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C. H, Beck^sche Verlagsbuchhandlung (Oskar Beck) in München
Handbuch
der
klassischen Altertums -Wissenschaft
in systematischer Darstellung
mit besonderer Rücksicht auf Geschichte und Methodik der einzelnen
Disziplinen
Herausgegeben GeheJiTirat Dr. IwEH von Mfiller, ''\^^'^: jj'kS!'^^'!''''
Inhalt der einzelnen Bände:
*I. Band: .Einleitende und Hilfsdisziplinen. Zweite sehr vermehrte, teilweise völlig
neubearbeitete Auflage, Mit alpha b. Register. 57 Bog. Lex.-8^ Preis geh.
\bJL\ geb. \7 JL
A. Orundlegang und Oetcblcbte der Philologie, von Qeheimrat Dr. v. Urlichs (Wflrzburg).
B. Hermeneutik und Kritik, von Professor Dr. Blass (Halle).
C. Paiaographie (mit 6 lithographierten Schrifttafeln), Buchwesen und Handtchriftenkunde, von
demselben.
D. Griechische Eplgraphlk (mit einer Schrifttafel), von Prof. Dr. Larfeld (Remscheid).
E. Römische Eplgraphlk, von Professor Dr. E. Hflbner (Berlin).
F. Chronologie, von Professor Dr. Unger (Wflrzburg).
O. Metrologie, von Professor Dr. Nissen (Bonn).
*II. Band, 1. Abtlg.: Griechische Grammatik (Lautlehre, Stammbildungs- und Flexions-
lehre und Syntax) von Prof. Dr. Karl Brugmann (Leipzig). Dritte Auflage. Mit
einem Anhang über Griechische Lexikographie von Prof. Dr. Leopold Cohn
(Breslau). Mit Wort- und Sachregister. 41 Bog. Lex.-8<>. Geh. \2 JL\ geb. 14 UK
*II. Band, 2. Abtlg.: Lateinische Grammatik (Laut- und Formenlehre, Syntax und
Stilistik) von Prof. Dr. Friedrich Stolz (Innsbruck) und Gymnasialdirektor J. H.
Schmalz (Rastatt). Dritte Auflage. Mit einem Anhang über Lateinische Lexiko-
gaphie von Prof. Dr. Ferdinand Heerdegen (Erlangen). 37 Bog. Lex.-8^
eh. nJL\ geb. 13 c^
♦IL Band, 3. Abtlg.: Rhetorik von Dr. Richard Volkmann, weiL G3rmn.-Dir. in Jauer.
Neubearbeitet von Gymn.-RektorK. Hammer (Würzburg) und Metrik nebst einem
Anhang über die Musik der Griechen von Prof. HugoGleditsch (Berlin). Dritte
Auflage. 22 Bog. Lex.-8*>. Geh. 8 e^ 80 ^; geb. 10 e^ 60 ^
IIL Band, 1. Abtlg., 1. Hälfte: Grundrifi der Geographie und Geschichte des alten
Orients» von Prof. Dr. Hommel (München). 1. Hälfte Bog. 1 — 25 nebst provisor.
Register. Geh. JL 7.50. (Die 2. Hälfte kann nun bestimmt für 1909 in Aussicht
gestellt werden.)
IIL Band, 2. Abtlg., 1. Teil: Geographie von Griechenland und den griechischen
Kolonien« von Prof. Dr. Arnold Rüge (Dresden). [In Vorbereitung.]
IIL Band, 2. Abtlg., 2. Teil: Topographie von Athen, von Prof. Dr. Walter Judeich
(Erlangen). 26V4 Bog. mit & Textabbildungen, einem Stadtplan im Maßstab von
1 : 5000, einem Plan der Akropolis im Maßstab von 1 : 1000 und einem Plan des Peiraieus
im Maßstab von 1 : 15000. Geh. 18 e^ In Halbfranz geb. 20 Jf.
*IIL Band, 3. Abtlg., 1. Hälfte: GrundHfi der Geographie von Italien und dem Orbis
Romanus, von Prof. Dr. Jul. Jung (Prag). Zweite umgearbeitete u. vermehrte
Auflage. Mit alphab. Register. 12 Bog. Geh. 3 ^^ 50 ^.
*IIL Band, 3. Abtlg., 2. Hälfte: Topographie der Stadt Rom, von Gymn.-Dir. Prof. Dr.
Otto Richter (Berlin). Zweite vermehrte u. verbesserte Auflage. 26 Bog. Lex.-8^
Mit 32 Abbildungen, 18 Tafeln u. 2 Plänen des antiken und des modernen Rom.
Geh. 15 JL vr In Halbfranz gebundene Exemplare der vollständigen III. Abtei-
lung des III. Bandes — Geographie von Italien und Topographie der Stadt Rom —
sind zum Preise von 20 1^ 50 ^ zu beziehen.
1
*ni. Band, 4. Abtlg.: OnindrUI der griechischen Geschichte nebst Quellenkunde, von
Prof. Dr. Robert Pöhlmann (München). Dritte neu bearbeitete Auflage, 1906.
20 Bog. Geh. 5 UK 50 ^ In Halbfranz geb. 7 uK 20 <)
*III. Band, 5. Abtlg.: Grundriß der römischen Geschichte nebst Quellenkunde, von
Prof. Dr. Benedictus Niese (Marburg). Dritte umgearbeitete u. vermehrte Auf-
lage. 1906. 26 Bog. Geh. 7 JH. 20^ In Halbfranz geb. 9 uK
*IV. Band, 1. Abtlg., 1. Hälfte: Die Griechischen Staats- und Rechtsaltertflmer, von
Prof. Dr. G. Busolt (Kiel). Zweite umgearbeitete Auflage. Mit Register. 24 Bog.
Geh. 6 c^ 50 ^ In Halbfranz geb. 8 UK
*IV. Band, 1. Abtlg., 2. Hälfte: Die Griechischen i>rivataltertfimer von Prof. Dr. Iwan
V. Müller (München). Die Griechischen Kriegsaltertflmer von Prof. Dr. Ad.
Bauer (Graz). Mit 11 Tafeln. Mit Register. Zweite umgearbeitete Auflage.
32Vs Bog. Geh. 8 Jl 50 ^ In Halbfranz geb. 10 .^ 30 <^.
*IV. Band, 2. Abtlg.: Die Römischen Staats-, Rechts- und Kriegsaltertflmer von Prof.
Dr. Schiller (Leipzig). Mit 3 Tafeln. Die Römischen Privataltertflmer und
römische Kulturgeschichte von Prof. Dr. Mor. Voigt (Leipzig). Zweite umge-
arbeitete Auflage. mtRe^siem. 30V« Bog. Lex.-8«. Geh. SVä In Halbfranz geb. 9.^ 80^
*V. Band, 1. Abtlg., 1. Teil: Geschichte der alten Philosophie, von Prof. Dr. Win de 1-
band (Straßburg). Dritte Auflage. [In Vorbereitung!]
*V. Band, 1. Abtlg., 2. Teil: Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften
im Altertum und Mittelalter. Von Prof. Dr. Siegmund Günther (München).
Dritte erweiterte Auflage. [In Vorbereitung!]
V.Band, 2. Abtlg.: Griechische Mythologie und Religionsgeschichte. Von Dr. O.
Gruppe, Prof. in Berlin. Zwei Bände. 121 Bogen. Geh. 36 JH In zwei Halb-
franzbänden 40 tÄ
*V. Band, 3. Abtlg.: Griechische Kultusaltertflmer. Von Prof. Dr. Paul Stengel
(Berlin). Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 5 Tafeln. 15 Bog. Geh.
5 c^; geb. 6 c^ 50 ^
V.Band, 4. Abtlg.: Religion und Kultus der Römer. Von Prof. Dr. G. Wissowa
(Halle). 35 Bog. Geh. 10 Jk\ geb. 12 uK
VI. Band: Archäologie der Kunst Von Prof. Dr. Sittl (Würzburg). [Vergriffen!] (Der
zur Archäologie der Kunst gehörige Atlas, über 1000 Abbild, auf 65 Tafeln ent-
haltend, kart 13 e^ 50 ^; in Halbfranzband \7 JH 50 ^ ist noch zu beziehen.) —
Ueber die seit längerem geplante Neugestaltung des VI. Bandes hoffen wir in Bälde
nähere Mitteilung machen zu können.
•Vn. Band: Griechische Literaturgeschichte, von Prof. Dr. v. Christ (München). Fünfte
Auflage in Verbindung mit Dr. Otto Stähl in, Prof. am Ma^^mn. in München, be-
arbeitet von Dr. Wilhelm Schmid, o. Prof. an der Univ. Tübingen. Nebst An-
hang von 43 Porirätdarstellungen aus der griechischen Literatur nach Auswahl von
A. Furtwängler und J. Sieveking. Erster Teil: Die Iclassische Periode der
griechischen Litteratur. 45»/« Bog. Geh. ISJLbO^; geb. 15 ^ 80 ^ — Der zweite
feil erscheint im Lauf des J. 1909.
*VIII. Band: Geschichte der römischen Litteratur, von Prof. Dr. M. Schanz (Würzburg).
*/. Teil, erste Hälfte: Von den Anianfl^en der Litteratur bit zum AuMgmng des Bandet|rcnotsen-
krieires. Mit Register. 3. Auflage. 23 Bog. Lex.-S«. Geh. 7 UK; in Halbfranz geb. 8 UK 80 A —
/. Teil, zweite Hälfte : Bit zum Ende der Republik. 3. Auflage erscheint bestimmt im Herbst 1906.
•2. Teü, erste Hälfte: Die augustltche Zelt. 3. Auflage erscheint im J. 1909. — *2. Teü. zweUe Hälfte:
Vom Tode des Anguttut bis zur Regierung Hadrians. 3. Auflage erscheint im J. 1910. — *J. Teil:
Die römische Litteratur von Hadrian bis auf Constantin (324 n. Ch.) 2. Auflage. 33 Bog. Lex.-S«.
Geh. 9 uK ; geb. 10 UK 80 ^ — ^. TeU, erste Hälfte: Die Litteratur des 4. Jahrhunderts. 32 Bog.
Lex..8o. Mit Register. Geh. %JLffS^\ geb. 10 Jk pie zweite HAlfte des 4. Teils erscheint bald-
möglichst.)
*IX. Band, 1. Abtlg.: Geschichte der byzantinischen Litteratur von Justinian bis zum
Ende des oströmischen Reiches (527 — 1453) von Prof. Dr. Karl Krumbacher
(München). Zweite Auflage bearbeitet unter Mitwirkung von Prof. Dr. A. Ehr-
hardt (WürzburR) und Prof. Dr. H. Geiz er (Jena). 75V4 Bog. Lex.-8«. Geh. 24.^;
in Halbfranzband geb. 26 .>Ä 50 A
IX. Band, 2. Abtlg.: Geschichte der römischen Litteratur im Mittelalter von Dr. M.
Manitius. [Erscheint baldmöglichst]
In neuen Auflagen erschienen sind die mit * bezeichneten Bande und Abteilungen, namllch:
Band L II. Hl, 1, i. III,2,s. III, 3. III, 4. 111,5. IV, 1. 1. IV, 1. a. IV, 2. V, 1. V, 3. VII. VUI, 1. VIII, 2. x.%. VIII, 3. IX, 1.
Am Absdiluß des Gesamtwerkes fehlen nun nur noch Band VIII, 4. Teil
zweite Hälfte: Schanz, Römische Litteraturgeschidite: Die Litte-
ratur des fünften Jahrhunderts und Band IX, 2. Abtlg.: Manitius,
Geschichte der röm. Litteratur im Mittelalter. Diese beiden Teile
werden in den nächsten Jahren erscheinen.
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung (Oskar Beck) in Mflnchen
Handbuch
der
Erziehungs- und Unterrichtslehre
für höhere Schulen
In Verbindung mit den Herren Arendt (Leipzig), Bninner (München),
Dettweiler (Leipzig), Fries (Halle), Qlauning (Nürnberg), Günther
(München), Jaeger (JBonn), Kießling (Hamburg), Kirchhoff (Leipzig),
Kotelmann (Hamburg), Loew (Berlin), Matthaei (Kiel), Matthias (Berlin),
Mfinch (Berlin), Plew (Straßburg), Simon (Straßburg), Toischer (Prag),
Wendt (Karlsruhe), Wickenhagen (Rendsburg), Zange (Erfurt), Ziegler
(Straßburg) u. a.
herausgegeben voa
Dr. A. Baumeister
Erster Band, l. Abteilung:
A. Geschichte der Pädagogik mit besonderer Berücksichtigung des höheren
Unterrichtswesens von Dr. Theobald Ziegler, ord. Professor an der
Universität Straßburg. 2. neubearbeitete und vermehrte Auflage.
1904. 25 Bog. Geh. 7 Jk In Leinen geb. 8c^ In Halbfranz geb. 8 c^ 50^
Erster Band, 2. Abteilung:
B. Die Einrichtung und Verwaltung des höheren Schulwesens in den
Kulturländern von Europa und in Nordamerika, in Verbindung mit
zahlreichen Mitarbeitern unter Redaktion des Herausgebers. 57 Bog.
Geh. 16 c^ In Halbfranz geb. 18 Jk
Zweiter Band, 1. Abteilung:
A. Theoretische Pädagogik und allgemeine Didaktik von Dr. Wendel in
Toischer, Professor am I. deutschen Gymnasium in Prag.
B. Die Vorbildung der Lehrer für das Lehramt von Dr. Wilhelm Fries,
Geh. Reg.-Rat, Direktor der Francke'schen Stiftungen in Halle. Geheftet
7 Ji 50^ In Halbfranz geb. 9 Jk
W* Die beiden Unterabteilungen A und B: Toischer, Theoretische Pädagogilc
und allgemeine Didaktik, und Fries, Die Vorbildung der Lehrer für das
Lehramt, sind auch gesondert zu haben ä 4uK geheftet
Zweiter Band, 2. Abteilung, 1. Hälfte:
Praktische Pädagogik für höhere Lehranstalten. Von Dr. Adolf
Matthias, Geh. Ob.-Reg.-Rat u. vortragendem Rat im k. preuß. Kultus-
ministerium. 2. neubearbeitete und vermehrte Auflage. 1903.
17 Bog. Geh. 5 ^; in Leinen geb. 6 Jk
Zweiter Band, 2. Abteilung, 2. Hälfte:
Schulgesundheitspflege. Von Dr. phil. et med. Ludwig Kotelmann
in Hamburg. 2. neubearbeitete und vermehrte Auflage. 1904.
14 Bog. Geh. 5 ^; in Leinen geb. 6 Jd
pr Bd. II, 2. Abteilung — Dr. A. Matthias, Praktische Pädagogik. 2. AufL
und Dr. L. Kotelmann, Schulgesundheitspflege. 2. AufL — in Halbfranz ge-
bunden jf: 12.—.
Dritter Band
Didaktik und Methodik der einzelnen Lehrfächer. Erste Hälfte.*)
I. Protestantische Religionslehre von Dr. Friedrich Zange, | Band III, 4. Abtlg.
Direktor des Realgymnasiums in "Erfurt. j 18 Bog. Geh.5o^^^
II. Katholische Religionslehre von Joh. Nep. Brunner, Reli- \ Band III, 5. Abtlg.
gionslehrer an der legi. Luitpold-Kreisrealschule in München. ) 4^8 Bog. Geh. 1^4:20^
III. Latelni8chvonGeh.OberschulratProf.Dr.PeterDettweiler. ) Band III, 1. Abtlg.
2. völlig umgearbeitete Auflage 1906. J I.Hälfte. Geh. 5*^
IV. OriechischvonGeh.OberschulratProf.Dr.PeterDettweiler. jg^^J*^ Geh^'l^^A
V. Französisch von Dr. Wilhelm Münch, Geh. Regierungsrat ) « . yw, « ....
und Universitätsprofessor in Berlin. 2. umgearbeitete und \ , „ii«i r^uAif
vermehrte Auflage 1902. ^ j ^' "^**^- ^^^' ^ ^
VI. Englisch von Dr. Friedrich Glauning, Professor und! o^nH tu o ak««
Stadtschulrat in Nürnberg. 2. umgearbeitete und vermehrte \ 2 Hälfte Geh TJ^SOk
VII. Deutsch von Dr. Gustav Wendt, Geheimrat und Direlctor i Band III, 3. Abtlg.
des Gymnasiums in Karlsruhe. 2. Aufl. 1904. 1.10 Bog. Geh.3c^^^
VIII. Geschichte von Dr. Oslcar Jaeger, (rpnas.-Direktora.D.; | Band III, l.Abt.,2.Hällte
o. Honorarprofessor an der Universität Bonn. 2. Aufl. 1904. / geh. 2 o^ 50 ^
Band III Icomplett. Preis geh. 26 Ji; in Halbfranz geb. 28 c^ 50 ^
Vierter Band
Didaktik und Methodik der einzelnen Lehrfächer. Zweite Hälfte.*)
IX. Rechnen und Mathematik von Dr. Max Simon, Pro- 1 Band IV, l,i. Abtlg.
fessor am Lyceum in Straßburg. 2. Auflage 1907. J 13V2Bog.Geh.4ui:50*
X. Physilc von Dr. Kießling, Professor an der Gelehrten- j Band IV, 1.2. Abtlg.
schule des Johanneums in Hamburg. / Geh. 1 <4I 50 ^
XI. Erdiciinde von Professor Dr. Alfred Kirchhoff. ) Band IV, 2. Abtlg.
XII. Mathematische Geofirraphie von Dr. Siegmund Günther, [ 2. Auflage 1906.
Professor am Polytechnikum in München. J Geh. 3 Jt.
XIII. Naturbeschreibung von Dr. E. Loew, Professor am k. Real- 1
^mnasium in Berlin. I Band IV, 3. Abtlg.
XIV. Chemie von Dr. Rudolf Arendt, Professor an der öffent- 1 11 Bog. Geh,3o€Sb^
liehen Handelslehranstalt in Leipzig. j
XV. Zeichnen von Dr. Adelbert Matthaei, Professor an der
Universität Kiel. | Band IV, 4. Abtlg.
XVI. Gesang von Dr. Johannes Plew, Oberlehrer am Lyceum [ 9»/« Bog. Geh. SJU
in Straßburg. j
XVII. Turnen und Jugendspiele von Professor Hermann) Band IV, 5. Abtlg.
Wickenhagen in Rendsburg. j6Bog. Geh. IJUSO^
Band IV komplett. Preis geh. 17 t^ 30 (^; in Halbfranz geb. 19 c^ 50 ^
*) Wft Außer der Band- und Abteilungsauseabeder .Didaktik und Methodik der einzelnen
Lehrfächer' stehen von den einzelnen Fächern auch folgende Sonderausgaben zur Veifflgung:
Zange, Didaktik und Methodik des evangeUsdien ReUgionsunterrithU, Qeh. 5Jk 50 Ji ; geb. 6JL 50^
Brunner, Didaktik und Methodik der kathoUsdien ReligionsUhre, Geh, 1 Jk 20A: geb, 2 Jt 20 4,
Dettweiler, Didaktik und Methodik des iateinisthen Unterridits. Zweite völlig umgearbeitete
Auflage. 1906. Geh. 5 Ji: geb. 6 Ji
Dettwelier, Didaktik und Methodik des QriethUthen Unterridits. Geh. IJidO^.: geb. 2jia0 4.
Oskar Jaeger, Didaktik und Methodik des OesthidUManterritHts, 2, Anfinge 1905, Geh. 2jk50^' geb.3Jk 50 4,
Mündi, Didaktik und Methodik des französisdien Unterrithis. 2. nmgearbeitete nnd vermehrte Anf'
läge 1902. Geh. 4 Ji: geb. 5 Ji
Oianning, Didaktik und Methodik des engUsdien Unterridits. 2, nmgearbeitete nnd vermehrte Auf-
lage 1903. Geh. 2 Ji 50 A: geb. 3ji50A
Wendt, Didaktik und Methodik des deutsdien Unterridits. 2, Auflage 1905, Geh. 3 Ji50 J^: geb.4 Ji 50^
Simon, Didaktik und Methodik des Redinens und der Mathematik, 2, umgearbeitete und vermehrte
Auftage 1907, Geh. 4 Ji50 4.: geb. 5ji50 ^
KießUng, Didaktik und Methodik des Phystk-Unterridits. Geh. 1 Ji 50 4
Kirdüioff u. Qüniher, Didaktik und Methodik des Geographie-Unterridits (Erdkunde und matkematisdie
Geographie), 2, Auflage 1906. Geh. 3Ji: geb. 4 Ji
Loew, Didaktik und Methodik des Unterridits in der Naturbesehreibung, Geh. 2 Ji 20 4.: geb. 3 Ji 20 4,
Arendt, Didaktik und Methodik des Unterridits in der Chemie. Geh. 1 JiSO^.: geb. 2 Ji 90 4.
Matthaei, Didaktik und Methodik des Zeidtenanterridits, Geh. 2Ji: geb. 3ji
Ptew, Didaktik und Methodik des Qesangunterridits. Geh. 1 Ji 20 J^: geb. 2 Ji 20 4
Widtenhagen, Didaktik und Methodik des Tumnnterridita. Geh. 2Ji: geb. 3 Ji
HANDBUCH
DER
KLASSISCHEN
AUERTÜMS-WISSENSCHAFT
in systematischer Darstellung
mit besonderer Rücksicht auf Oeschichte und Methodik der einzelnen
Disziplinen.
In Verbindung mit Gymn.-Rektor Dr. Autenrieth f (Nürnberg), Prof. Dr. Ad.
Bauer (Graz), Prof. Dr. Blassf (Halle), Prof. Dr. Brugmann (Leipzig), Prof. Dr.
Busolt(Göttingen),Prof.Dr.vonChristt(München),Prof.Dr.Leop.Cohn(Bres-
lau), Prof.H.Gleditsch(Berlin), Prof. Dr. 0. Gruppe (Berlin), Prof. Dr. Günther
(München), Gymn.-Rektor C.Hammer (Würzbmg), Prof. Dr. Heerdegen (Er-
langen), Prof. Dr. Hommel (München), Prof. Dr. Hübner f (Berlin), Prof.
Dr. Judeich (Jena), Prof. Dr. Jul. Jung (Prag), Prof. Dr. Krumbacher
(München), Prof. Dr. Larfeld (Remscheid), Dr. LoUingr f (Athen), Dr. M.
Manitius (Radebeul), Prof. Dr. Niese (Marburg), Prof. Dr. Nissen (Bonn),
Priv.-Doz. Dr. öhmichen (München), Prof. Dr. Pöhlmann (München), Gymn.-
Dir. Dr. 0. Richter (Berlin), Prof. Dr. M. von Schanz (Würzburg), Prof.
Dr. Schiller t (Leipzig), Gymn.-Dir. Schmalz (Freiburg i. Br.), Prof. Dr.
Wilhelm Schmid (Tübingen), Prof. Dr. Sittl t (Würzburg), Prof. Dr. Otto
StähUn (München), Prof. Dr. F. Stengel (Berlin), Prof. Dr. Stolz (Innsbruck),
Prof. Dr. ünger t (Würzburg), Prof. Dr. von Urlichs f (Würzburg), Prof. Dr.
Moritz Voigt t (Leipzig), Gymn.-Dir. Dr. Volkmann f (Jauer), Prof. Dr.
Windelband (Straßburg), Prof. Dr. Wissowa (Halle)
herausgegeben von
Dr. Iwan von Müller,
ord. Prof. der klassischen Philologie in Manchen.
Siebenter Band.
Geschichte der griechischen Litteratnr von W. v. Christ.
Erster Teil: Die klassische Periode der griechischen Litteratur.
Fünfte Auflage, besorgt von W. Schmid.
HÜNCHEN 1908
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
OSKAR BECK.
WILHELM VON CHRISTS
GESCHICHTE
DER
GRIECHISCHEN LITTERÄTÜR.
FÜNFTE AUFLAGE,
UNTER MITWIRKUNG VON OTTO STÄHLIN, PROFESSOR AM K. MAX-
GYMNASIU^I IN MÜNCHEN, BEARBEITET
VON
WILHELM SCHMID,
O. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT TÜBINGEN.
ERSTER TEIL:
KLASSISCHE PERIODE DER GRIECHISCHEN LITTERÄTÜR.
HÜNCHEN 1908
C. H. BECK'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
OSEAR BECK.
/^ I- / '
AUo Rechte vorbohalteu.
C. H. BeckVhe Bnrhdrnrkerei in Nördlingen.
''S «x.
Vorrede.
Weuii man mit Recht von dem Verfasser eines Buches zu hören wünscht,
was ihn bestimmt habe, den alten Dai*stellungen des gleichen Gegenstandes
eine neue zur Seite zu stellen, so kann ich mich im vorliegenden Falle einfach
auf das große Unternehmen, von dem dieses Buch nur einen Teil bildet, be-
ziehen. Denn es ist ja selbstverständlich, daß in einem Handbuch der klas-
sischen Altertumswissenschaft die klassische Literatur und diejenige, welche
vor allen diesen Ehi-ennamen verdient, die gi-iechische, nicht fehlen darf. Ich
selbst wäre aus eigenem Antrieb schwerlich je dazu gekommen, eine gi'iechische
Literaturgeschichte zu schreiben; es bedurfte der ehrenvollen Aufforderung der
Leiter jenes Unternehmens und der ermunternden Zurede lieber Freunde, um
in mir den Entschluß zu reifen und die eigenen Bedenken zm*ückzudrängen.
Die Bedenken betrafen nur meine Person und das Mißverhältnis der Schwierig-
keit der Aufgabe zum Maße meiner Kräfte; daß an und für sich eine zu-
sammenfassende Darstellung der giiechischen Literaturgeschichte, die den
heutigen Anforderungen der kritischen Forschung entspreche, äußerst wünschens-
wert sei, darüber besteht ja nirgends ein Zweifel, nachdem die gepriesenen
Werke von Bernhardy, Müller, Bergk unvollendet geblieben sind und auch
das neueste Buch von Sittl nur bis Alexander reicht. Auch die Beschränktheit
des Raumes, der durch den Plan des Gesamtunternehmens gegeben war,
schreckte mich nicht ab. Zwar würde ich ja lieber eine Literaturgeschichte
in 4 Bänden geschrieben haben, um auf die Begründung meiner Ansichten
tiefer eingehen und die literarischen Hilfsmittel ausführlicher vorführen zu
können. Aber ich habe fi'ühe gelernt, meine Neigungen den gegebenen Ver-
hältnissen unterzuordnen, und über einen umfangi*eichen Gegenstand ein Buch
von kleinem Umfang zu schreiben ist auch eine Kunst, die ihi-en Mann fordert.
So bin ich also nach einigem Zögern auf das freundliche Anerbieten eingegangen
und habe mich nach Kräften bemüht, dem in mich gesetzten Vertrauen zu
entsprechen. Freilich erst während der Arbeit lernte ich so recht die Schwierig-
keiten der Aufgabe kennen, und mehr wie einmal drohten die Flügel mir zu er-
lahmen; aber die Liebe zur Sache und die Ermunterung der Freunde hoben
/f ^^^0*
VT Vorrede.
mir immer wieder den Mut, so daß ich schließlich doch mit Gottes Hilfe zur
festgesetzten Zeit zum Ziele kam.
Was die Anlage des Buches anbelangt, so war mu* schon dui'ch den
Plan des gesamten Handbuches die Auflage gemacht, mich nicht nach Art
Ottfr. Müllers auf die Darlegung des Entwicklungsganges der griechischen
Literatur zu beschränken, sondern auch Nachweise über die gelehrten Hilfs-
mittel beizufügen. Mu* selbst ward so in erwünschter Weise die Möglichkeit
gegeben, den Urhebern derjenigen Auffassungen, denen ich mich in meiner
eigenen Darstellung anschloß, die Ehre der Erfindung zu wahren, wie es den
Benutzern des Buches erwünscht sein wird, durch jene philologischen Schluß-
bemerkungen über die Handschriften, Ausgaben und den jetzigen Stand der
Forschung in Kürze orientiert zu werden. Außer am Schlüsse der einzelnen
Absätze habe ich aber auch gleich unter dem Text zu den einzelnen Sätzen
die literarischen Belege und die Hauptzeugnisse aus dem Altertum angemerkt,
die letzteren meist im vollen Wortlaut. Trotzdem, fürchte ich, werden viele
nicht alles finden, was sie von gelehrter Literatur suchen und wünschen;
aber zugleich hoffe ich, daß die Knappheit des zugemessenen Baumes mich
entschuldigen wird, wenn ich den Foi*tschritt in der Textesbearbeitung nicht
historisch verfolgt und bezüglich der ins Unendliche anwachsenden Programmen-
und Aufsätzeliteratur auf Engelmann und andere Hilfismittel im allgemeinen
verwiesen habe. Bei der Ausarbeitung im einzelnen kam es mir zunächst
dai'auf an, einen gedrängten Lebensabriß der Autoren und ein Verzeichnis
ihrer Werke mit kurzer Bezeichnung des Inhaltes und des ästhetischen Wei*tes
derselben zu liefern. Aber bei Entwerfung dieses Grundgerüstes bin ich doch
nicht stehen geblieben, ich habe mich auch bemüht, die Stellung der Autoren
in ihrer Zeit zu zeichnen, eine Charakteristik der einzelnen Perioden zu geben
und die äußeren Bedingungen des literarischen Lebens, die musischen Agone^
die Organisation der Bühne, die Gimstbezeugungen der Könige und Musen-
fi'eunde zu schildern. Ich gestehe, daß ich diese durch die Sache gebotene
Gelegenheit gerne ergriff, um hie und da auch über den engen Ki'eis der ge-
lehrten Forschung hinauszugehen und meine Gedanken über die Weltstellung
des Hellenismus und das Geheimnis seiner Macht anzudeuten. Nahe hätte
es gelegen im Anschluß daran auch öftere Exkurse in die vergleichende
Literaturgeschichte zu machen und das Fortleben der griechischen Literatur
in der modernen anzudeuten. Doch einer solchen Aufgabe fühlte ich mich
nicht gewachsen; in diesen Fragen gehe ich lieber selbst bei meinen lieben
Freunden Bernays und Carriere in die Lehre.
Auch bezüglich der Ausdehnung der Literaturgeschichte möchte ich mich
gern in dieser Vorrede über einige Punkte mit meinen Lesern auseinander-
setzen. Vor allem handelte es sich hier, wie weit soll herabgegangen werden?
An und für sich schien mii- der Vorgang von Fabricius, Scholl, Nicolai, die
auch die byzantinische Zeit mit hereingezogen hatten, äußerst nachahmens-
wert zu sein. Aber da ich selbst auf diesem schwierigen, erst allmählich sich
Vorrede. VE
aufhellenden Gebiete viel zu wenig bewandert bin, so mußte auf anderem
Wege Ersatz gesucht werden. Der fand sich in erwünschter Weise dadui'ch,
da& mein junger Freund Dr. Krumbacher sich bereit finden ließ, einen Abi-iß
der byzantinischen Literatur als Ergänzung dieser Geschichte der altgriechischen
Lite>ratur auszuarbeiten. Deraelbe ist bereits so weit gediehen, daß sein Er-
scheinen im Laufe des nächsten Jahres in Aussicht gestellt werden kann. Ich
führte also mein Buch nur bis auf Justinian oder bis auf die Aufhebung der
Philosophenschule Athens herab. Innerhalb dieses Zeitraums mußten aber
alle literarischen Größen, also auch die Philosophen herangezogen werden.
Zwar ist in diesem Handbuche ein eigener Abschnitt von Professor Windel-
band der Geschichte der alten Philosophie gewidmet worden, so daß einige
Wiederholungen nicht vermieden werden konnten. Aber Piaton und Aristoteles
haben nicht bloß für die Geschichte der Philosophie Bedeutung; wollte man
ohne Piaton eine griechische Literaturgeschichte schreiben, so hieße dieses die
Literatur eines ihrer schönsten Juwele berauben; auf Aristoteles' Schultern aber
ruht so sehr die gelehi-te Tätigkeit der Alexandriner, daß ohne jenen diese
nicht begriflfen werden kann. Ich persönlich habe mit Eifer diese Seite des
gnechischen Geisteslebens aufgegriffen, da ich mich mit ihr seit meinen
Studentenjahren mit Vorliebe beschäftigt hatte. Desgleichen kann ich mich
nicht bezüglich der Fachwissenschaften und der christlichen Schriftsteller rühmen;
aber beide gehören, wenigstens in der ihnen von mir gegebenen Begrenzung,
zur griechischen Literatur, so daß ich mich entschließen mußte, in einem
Anhang auch diese Partien in den allgemeinsten Umrissen zu behandeln.
Einen den bisherigen Handbüchern fremden Schmuck hat dieses Buch
noch am Schlüsse durch die Abbildung von 21 (24) Köpfen oder Statuen
griechischer Autoren erhalten. In unserer Zeit, wo sich die literarischen und
graphischen Darstellungen überall die Hand reichen, lag die Beigabe von
solchen Abbildungen gewissermaßen in der Luft, zumal durch den Kunstsinn
der Griechen auch nach dieser Seite ihre Literatur vor der anderer Völker
in entschiedenem Vorteile ist. Ich habe daher von vornherein diese artistische
Beilage in den Plan meines Werkes gezogen und durfte deshalb im Text mir
die Charakteristik der Gestalt der griechischen Geistesheroen erlassen. Für
die Auswahl der Köpfe, wobei in erster Linie auf inschriftlich bezeugte Porträte
Wert gelegt >vurde, und für die sorgfältige Aufnahme der Originale oder
Gipse bin ich meinen verehrten Kollegen Prof. Heinr. v. Brunn und Dr. Julius
zu besonderem Danke verpflichtet.
So möge denn das mit Liebe gepflegte Werk hinausgehen in die Welt,
sich und seinem Verfasser Freunde werben, vor allem aber dazu beitragen, daß
die Liebe und Begeisterung für die Werke des klassischen Hellenentums, diese
uneraetzbare Grundlage jeder echten Bildung, lebendig erhalten werden.
München, im Oktober 1888.
VIII Vorrede.
Vorrede zur zweiten Auflage.
Schneller als mir lieb war ist die Anforderung, eine neue Auflage vor-
zubereiten, an mich herangetreten. Denn ein längerer Gebrauch des Buches
hätte voraussichtlich in mehr Fällen mich auf Mängel und Irrtümer desselben
aufmerksam gemacht. Aber auch so habe ich mir angelegen sein lassen, nach
Ba'äften das Werk zu vervollkommnen, und habe dabei die Urteile und Winke
meiner Rezensenten, mochten dieselben in fieundlichem Tone gegeben oder
mit Wermut gemischt sein, gewissenhaft berücksichtigt. Zu einer tiefer-
greifenden Änderung der ganzen Anlage, wie sie von Herrn Crusius und
Dräseke gewünscht wurde, habe ich mich nicht entschließen können. Nament-
lich mußte ich, wollte ich nicht meiner ganzen Auffassung von der Stellung
des Hellenismus zu den neuen Ideen des Christentums untreu werden, die
Verweisung der chnstlichen Schriftsteller in den Anhang aufrecht erhalten.
Doch habe ich mich bemüht, diesen am meisten verbesserungsbedürftigen Teil,
auf dessen Boden ich mich am wenigsten heimisch fühle, so viel als möglich
zu verbessern und zu erweitern. Im ganzen ist auf solche Weise der Umfang
der neuen Auflage um etwas über 6 Bogen gewachsen. Denjenigen Hen-en,
welche mich auf einzelne Versehen privatim aufmerksam gemacht haben, fühle
ich mich zu warmem Danke verpflichtet; namentlich sei meinen jüngeren
Freunden Krumbacher, Römer, Weyman, Zollmann für die vielen wert-
vollen Beiträge auch öffentlich hiemit mein Dank ausgesprochen.
München, im Juni 1890.
Vorrede zur dritten Auflage.
Die landläufigen Klagen der Bücherkäufer, da& gerade von den belieb-
testen Büchern die früheren Auflagen infolge von weitgi'eifenden Änderungen
bei ihrem neuen Erscheinen so rasch veralten, kenne ich und weiß ich wohl
zu würdigen. Aber was tun, wenn inzwischen, ohne eigenes Zutun, der Stoff
durch neue Funde und neue Untersuchungen sich vergrößert hat? Man wird
doch nicht im Jahre 1898 eine griechische Literaturgeschichte hinausgeben sollen,
in der von den Mimiamben des Herondas, der athenischen Politeia des Aristo-
teles, den Oden des Bakchylides und all den anderen seit 1890 gemachten
Funden nichts zu lesen ist. Ebensowenig aber könnte ein Literarhistoriker
auf Nachsicht rechnen, wenn er, unbekümmert um die inzwischen erschienenen
Werke, die alten und nun zum Teil wirklich veralteten Ausgaben von 1888
und 1890 unverändert stehen b'eße. Und wahrlich, nicht klein ist der Ertrag,
den so vortreffliche Werke wie Susemihls Geschichte der griechischen Literatur
in der Alexandrinerzeit, Harnacks Altchristliche Literaturgeschichte bis Eusebius,
Wachsmuths Einleitung in das Studium der alten Geschichte, Reitzensteins
Vorrede. IX
Geschichte der griechischen Etymologika dem Verfasser einer allgemeinen Ge-
schichte der griechischen Literatur geliefert haben. Selbstverständlich waren
auch die neuen Ausgaben, deren in den letzten Jahren auch viele von der
allgemeinen Heerstraße weiter abliegende Autoren sich zu erfreuen hatten,
zu berücksichtigen und nachzutragen. Und nachdem nun einmal die alten
Linien nicht mehr eingehalten werden konnten, habe ich mich nicht mehr
gescheut, auch überall sonst die bessernde und erweiternde Hand an das alte
Buch anzulegen, so daß schlieMich dasselbe zu meinem eigenen Erstaunen
um mehr als zehn Bogen größer wurde. Nur an den Gioindlinien des Werkes
habe ich nichts geändei*t; ich glaubte dies schon den alten Freunden des
Buches schuldig zu sein, es entsprach dies aber auch meiner eigenen, mit der
Zeit immer mehr gefestigten Überzeugung: ich wollte eben kein Bepertorium
aller möglichen literanschen Erscheinungen auf dem Gebiete der griechischen
Autoren liefern, und ich wollte ein Buch für Philologen und Freunde der
klassischen Literatur, nicht füi* Theologen und wissenschaftliche Spezialforscher
schreiben. Hat auch in diesen Grenzen das Buch an Umfang und hoffentlich
auch an innerem Gehalt nicht unerheblich zugenommen, so verdanke ich dieses
zum großen Teil den alten wie neuen Freunden, die mich teils durch brief-
liche Mitteilungen, teils durch Übersendung ihrer Abhandlungen freigebigst
unterstützt haben. Ihnen allen sei auf diesem Wege auch ohne Nennung von
Namen der wäi'mste Dank gesagt! Mit Namen sei nur meines leider über
der Arbeit erkrankten jungen Freundes Jos..Hirmer gedacht, der mit un-
verdrossenem Eifer die Korrekturbogen durchzusehen und zu bessern die auf-
opfernde Güte hatte.
München, im Mai 1898.
Vorrede zur vierten Auflage.
Die vierte Auflage habe ich eine revidierte genannt, da das Buch in
der Anlage und den Hauptlineamenten wesentlich das gleiche geblieben ist
und auch an Umfang nicht erheblich zugenommen hat. Und doch wird
man kaum eine Seite finden, die nicht kleine Zusätze und Verbesserungen
erfahren hätte. Ganz neu bearbeitet ist der Anhang der Abbildungen. Unter
Leitung von Herrn Prof. A. Furtwängler hat Hen- Dr. J. Sieveking eine
veränderte, zugleich bedeutend erweiterte Auswahl von Porträts nach neuen
Vorlagen zusammengestellt und jede Darstellung mit einem kurzen erläuternden
Text versehen.
München, im September 1904.
Wilhelm Christ.
X Vorrede.
Vorrede zur fanften Auflage.
Ende Oktober 1906 wendete sich die Verlagsbuchhandlung an mich mit
der Aufforderung, die fünfte Auflage von Christs Litteraturgeschichte zu be-
arbeiten. Nach einigem Bedenken entschloß ich mich, die Aufgabe zu über-
nehmen. Es galt zunächst, ein Buch, dessen Nützlichkeit, ja Unentbehrlich-
keit in den zwanzig Jahi*en seit seinem ersten Erscheinen sich bewährt hatte,
für den Gebrauch der Studierenden und der Gelehrten zu erhalten und wo-
möglich zu verbessern, nicht aber ein völlig neues Buch zu schreiben. Als
ich die Arbeit in Angriff nahm, zeigte sich ft*eilich, da& es mit dem Streichen,
Berichtigen und Nachtragen nicht getan war. Wenn auch Chiist in manchen
Teilen, in denen er mit eigener Forachung eingesetzt hatte, wie in den Ab-
schnitten über Homer, Demosthenes, Piaton, Aristoteles, streckenweise vor-
läufig das Wort unverkürzt behalten konnte, so waren anderwärts tiefer grei-
fende Umstellungen und Umai*beitungen dringend notwendig. Im ersten Band,
der die klassische Litteratui* umfaßt, ist, wie billig, die neuattische Komödie
ausgeschieden, die „Fachwissenschaft", die Christ in den Anhang verwiesen
hat, hereingearbeitet, die Disposition besonders in den Kapiteln über Euripides,
Xenophon, Piaton verändert, in Charakteristik von geistigen Richtungen und
einzelnen Persönlichkeiten dem Buch etwas mehr Fülle gegeben worden. Daß
es dabei an Umfang zugenommen hat und denn nun auch in zwei Bände zer-
legt ist, wird schwerlich getadelt werden. Von Christs Anhang wird auch in
dieser Auflage ein Teil bestehen bleiben, die christliche Litteratur, die sich
ohne Schaden für die Sache von der Profanlitteratur absondern läßt. Zu
meiner lebhaften BeMedigung ist es dem Herrn Verleger gelungen, für diesen
Teil, dem ich mich nicht gewachsen gefühlt hätte, in Professor Otto Stählin
in München einen berufenen Bearbeiter zu gewinnen.
Die Revision der bibliographischen Angaben hat, soweit das mit den
Mitteln der hiesigen Universitätsbibliothek möglich war, unter meiner Aufsicht
Herr cand. phil. Alois Volz mit rühmenswerter Sorgfalt und Hingabe besorgt.
Für wirksame Mithilfe bei den Korrekturen bin ich den Freunden Otto Stählin
und Edwin Mayser, in dem Schlußabschnitt über die Philosophen auch
Constantin Ritter zu herzlichem Dank verpflichtet.
Tübingen, im Mai 1908.
Wilhelm Schmid.
Inhaltsverzeiclmis zmn ersten Band.
Seite
Einleitung. Begriff und Gliederung der Litteraturgeschichte .... 1
Erste Abteilung.
Klassische Periode der grriechischen Litteratur.
I. Poesie.
A. Epos 11
1. Vorlitterarische Anfänge der griechischen Poesie 11
2. Homers llias und Odyssee 29
3. Der epische Kyklos 85
4. Die homerischen Hymnen und Scherze 96
5. Hesiodos 103
6. Die späteren Epiker 123
B. Lyrik 135
Anfänge der Lyrik. Ihre Gattungen 135
I. Monodische Lyrik 158
1. Die Elegie 158
2. Die iambische Poesie und die Fabel 174
3. Die lesbische und ionische Eitharodie 184
IL Chorlyrik 195
Pindar 216
Die attischen Lyriker 235
C. Drama 243
1. Anfänge und äußere Verhältnisse des Dramas 243
2. Die Tragödie 265
a) Die Anfänge der Tragödie bis auf Aischylos 265
b) Aischylos 270
c) Sophokles 294
d) Euripides 328
e) Die übrigen Tragiker 367
3. Die Komödie 375
a) Die Anfänge der Komödie in Griechenland und Sizilien 375
b) Die altattische Komödie 381
c) Aristophanes 393
d) Mittlere Komödie 415
II. Prosa.
1. Anfänge der Prosa 421
2. Die Geschichtsschreibung 424
a) Die Logographen und ältesten Memoirenschreiber .... 424
b) Herodotos 434
XJI Inhaltsverzeichnis zum ersten Band.
Seit«
c) Anfänge der attischen Prosa. Thukydides 450
d) Xenophon 466
e) Die kleineren und verlorenen Geschichtswerke. Die Begründung der
rhetorischen Geschichtsschreibung. Geographie 492
3. Die Beredsamkeit 510
a) Anfänge kunstmäßiger Beredsamkeit 510
b) Antiphon und Andokides 518
c) Lysias und Isaios 523
d) Isokrates und die sophistische Beredsamkeit 531
e) Demosthenes 546
f) Die Zeitgenossen des Demosthenes 571
4. Die Philosophie und die Anfänge der fach wissenschaftlichen Litteratur 581
a) Anfänge der Philosophie außerhalb Attikas. Medizin. Mathematik . 581
b) Die attische Periode der Philosophie 601
. c) Piaton und die ältere Akademie 613
d) Aristoteles 668
Einleitung.
Begriff und Gliederung der Litteraturgeschichte.
1. Das Wort Litteratur, das jetzt in alle Kultursprachen übergegangen
ist, stammt aus dem Lateinischen, ist aber selbst einem griechischen Aus-
druck nachgebildet. Mit lUteratura übersetzten nämlich die Lateiner wort-
getreu das griechische yga/Lijuanx^ *) und verstanden darunter im allgemeinen
Kenntnis der litterae oder ygd^fxaxa. Wurde dabei litterae in dem ursprüng-
lichen Sinne genommen, so bezeichnete litteratura die niedere Stufe der
Grammatik oder die Kenntnis der Buchstaben beim Lesen und Schreiben.
Mit dieser niederen Grammatik, die im Altertum die Aufgabe des ygafi-
juarioTi^g (nicht yga^ijuarixog) bildete, haben wir es hier nicht zu tun. Wir
verstehen Litteratur im höheren Sinn, wonach alles in einer Sprache mit
bewußter Kunst Geformte und insbesondere schriftlich und buchmäßig Auf-
gezeichnete Gegenstand der Betrachtung ist, also hier die gesamte ge-
schriebene Hinterlassenschaft des griechischen Volkes. Die durch Zufall
oder zeitweiligen Geschmackswechsel verursachten Lücken und Ungleich-
heiten des Litteraturstoflfes, wie er auf uns gekommen ist, sollen in der
Behandlung nach MögUchkeit gefüllt und ausgeglichen und die litterarischen
Erzeugnisse in Zusammenhang mit Leben und Eigenart ihrer Verfasser
wie mit der gesamten Kulturentwicklung des Volkes betrachtet und auch
nach ihrer technischen Seite beleuchtet werden. Der Nachdruck fällt aber
billigerweise auf die Werke, die vermöge ihrer inneren Bedeutung und
ihrer künstlerischen Ausarbeitung den größten Einfluß auf die gesamte Er-
ziehung des altgriechischen Volkes und des Abendlandes überhaupt aus-
geübt haben. Aber auch die einzelnen Autoren und Werke selbst haben
wieder ihre Geschichte und auch diese erheischt Berücksichtigung: man
verlangt zu wissen, welche Aufnahme, welche wissenschaftliche Bearbeitung
die großen Autoren bei den nachfolgenden Generationen gefunden haben
und durch welche Kanäle ihre Schriften auf uns gekommen sind. Die
Scholien und Handschriften verlangen also ihren Platz in einer Litteratur-
geschichte des Altertums, und wenn hier in beschränktem Maße auch
*) Qmnt. II 1, 4: grammatice, quam in latinum transferentes litteraturam vocaverunt.
Handbuch der klasa. AltertiunswUsenschaft. VII. 5. Aäfl. 1
2 Qriechische Litteratnrgeschichte. Einleitung.
bibliographische Angaben über Hauptausgaben und wichtige Erläuterungs-
schriften beigefügt werden, so dürfte damit vielen des Guten eher zu wenig
als zu viel getan zu sein scheinen.
2. Die Darstellung der Litteraturgeschichte kann sich entweder ledig-
lich an die Zeit halten (synchronistische Methode) oder von den verschie-
denen Gattungen der Litteratur (eTdrj ulyv ovyygajujudr(üv) ausgehen und
nur innerhalb dieser die zeitiiche Folge berücksichtigen (eidologische Me-
thode). 0 Welche von diesen beiden Methoden den Vorzug verdiene, läßt
sich nicht im allgemeinen festsetzen; das richtet sich vielmehr nach dem
jeweiligen Charakter der darzustellenden Litteratur. Ehe wir jedoch diese
Frage bezüglich der griechischen Litteratur zur Beantwortung bringen, müssen
wir zuerst die Grundlinien beider Methoden an und für sich betrachten.
3. Die Gattungen der Litteratur. Die obersten Gattungen der
Litteratur sind Poesie (jioirjoig) und Prosa (köyog, bestimmter jieCog Äoyog
oder T« xaraXoyddrjv yeyQaf^ifxhfCL),^) Äußerlich sind sie so unterschieden, daß
die Werke der Poesie durch das Versmaß gebunden sind {oratio vincid)^^)
die der Prosa einer solchen Fessel entbehren (oratio soluta), somit frei,
ohne Rückkehr zum gleichen Gefüge vorwärts schreiten {prosa i, e. proversa
oratio).^) Aber Versmaß und Vortragsweise sind nur äußere Unterscheidungs-
zeichen; der Unterschied geht tiefer und berührt das innere Wesen der
beiden Litteraturgattungen: die Poesie wendet sich an die Phantasie oder
die sinnliche Vorstellungskraft, die Prosa an den Verstand und das ab-
strakte Denkvermögen.^) In der Poesie spielen daher die äußeren, in die
Sinne fallenden Elemente der Darstellung, die Zusammenfügung der Worte
und der Rhythmus, eine größere Rolle als in der Prosa. Da nun die Lit-
teraturgeschichte nicht den Inhalt an sich, sondern den in kunstvolle Form
gegossenen Inhalt betrachtet, so steht ihr die Poesie und die Kunstprosa im
Vordergrund des Interesses und widmet sie denjenigen Werken in Prosa, die
ihre Bedeutung lediglich im Inhalt haben, wie den Schriften über Mathematik,
Mechanik und dergleichen, nur eine untergeordnete Aufmerksamkeit.
*) A. BöCKH, Encyklopädie d. PhUoL. ' ßovXe, ff wreg, oi ygvoaft.^vxcov fg ditpQCr
Leipz. 1877, 615 fF.. wo auch eine Gliederung Moiaäv eßan'oy xki^xi}. q:6of4tyyi awavröfuvoi,
der Litteratur nach fT6ri gegeben ist Vgl. Gregor Naz. or. 20 p. 332 a ed. Colon.
*) KnraÄoydStjr schon bei Plat. sympos. I neCoi ?jfin' jiagu Av^im' änftn {^FotifQ.
p. 177 b (über Piatons Terminologie s. G. ') G. Kühlmann, De poetae et poematis
FiNSLER, Piaton u. die aristotel. Poetik, Leipz. | Graecor. appcllationibus. Diss. Marburg 1906.
1900, 37, 3) und Isokr. 2, 7. Ueber .t^C/v koyog ' — fttÄOs, yvO/wg und fteigov sind die Merk-
== orri/iojof (/<',s7rf>Strab.p. 18 C. nach Poseido- male der poetischen Darstellung Plat. Gorg.
nios (G. Kaibel, Abb. der Gott. Ges. d. Wiss., | p. 502 c.
N.F. II 1898 nr. 4, 21 f.): ?eai avro de t6 jzeCov *) Varro fragm. gramm. 79 Wilmarns;
hyOiivm lov ävev lov fietgov loyov euqpaivet 1 Donat. ad. Terent. Eun. II 3, 15: prorsum est
Tov (isio ri/'oi's Tivog xaraßmia xal oxyfjajoi: I porro versum . . , hinc et prorsa oratio,
fU Toröaqog (umgekehrt Ael. Aristid. or. \ quam non inflexil cantilena.
XLV 8 Keil xatä q:voir ftdU,6y ianr cii'- '') Oft angeführt wird dafür die Weise,
dguKto) Jtei^(f> xo}'f/> /gr/odat, (oojteg ye xat ßadi- wie Homer B 123 ff. bildlich die Größe des
Cetr olfiai ftrdXnr tj oyorfin'oytf^FosoOfu. Weitere | Heeres bezeichnet. Siehe besonders, was
Stellen bei E. Nokden, Jahrbb. f. Philol. Suppl. Aristot. po6t. 9 über den wesentlich nicht in
18 (1891) 274 f. und Antike Kunstprosa, Leipz. der Form, sondern in dem Verhältnis zum
1898, 32 ff.; R. Hirzel. Der Dialog, Leipz. Gegenstand bestehenden unterschied zwischen
1895. II 208 ff. A.). Schon Plat. sophist. , Prosa (Geschichte) und Poesie ausführt: der
p. 237a: -Tfc/) xal ftfut nhgior. Dasselbe Historiker stellt dar ra ynoftera, der Dichter
Bild Pindar I. 2, 1 oi fih naXat, w Ogaav- oia äv yhoiio.
Begriff und Oliedemng der litteratnrgeBchichte. (§§ 2—4.) 3
4. Die Poesie pflegt man jetzt nach den Darstellungsformen in Epos,
Lyrik, Drama einzuteilen, und diese Einteilung werden auch wir unserer
Darlegung zugrunde legen, müssen aber gleich hier bemerken, daß diese
Terminologie nicht ganz auf die Arten der griechischen Poesie paßt und
daß die griechischen Gelehrten abweichende Einteilungen aufgestellt haben,
sei es auf Grund der verschiedenen Darstellungsformen oder der verschie-
denen Vortragsweisen oder des verschiedenen sittlichen Gehaltes. Diese
unterschieden nämlich, ausgehend von einer Stelle Piatons, *) zunächst
zwischen dem yhog /liijlujtixov oder dga/buxrixav und dem yevog dirjytj/üianxov
oder äjiayyehixov^ und fügten diesen dann noch ein vermittelndes yivog
Hoivov oder uixröv hinzu. 2) Zu dem letzten stellten sie Dias und Odyssee,
weil in diesen bald der Dichter erzählt, bald Agamemnon, Achilleus oder
ein anderer in direkter Rede spricht, während ihnen die Erga des Hesiod
das yevog dirjyrjjuarixov repräsentierten. Eine andere Teilung in ojiovdaTov
und (pavlov ist ebenfalls von Piaton ausgegangen und von Aristoteles über-
nommen. 5) In der jetzt üblichen Teilung hat das Epos seinen Namen von
dem Gegensatz der gesprochenen (JhtrjY) und gesungenen Gedichte (^a/^ara)^)
und von dem für das Epos bei den Griechen typisch gewordenen Versmaß,
dem daktylischen Hexameter, der bei den Metrikern den Namen ^nog hatte.^)
Der Name Lyrik') ist insofern nicht ganz bezeichnend, als er nur auf
einen Teil der lyrischen Poesie, die von Saiteninstrumenten (insbesondere
der Lyra) begleiteten Gedichte paßt, während wir unter demselben auch die
rezitierte iambische und die vom Aulos begleitete elegische und chorische
Poesie begreifen. Der Name Drama kommt von ögäfm „Handlung" her
und ist aus dem Griechischen unverändert in die modernen Sprachen über-
gegangen.
Die drei Hauptgattungen der Prosa sind Geschichtschreibung, Rhe-
torik, Philosophie. Von diesen entspricht in mehrfacher Beziehung die Ge-
schichte dem Epos: beiden eignet die erzählende Form der Darstellung,
*) Fiat. reip. DI p. 394 bc: t^? tjoiri- j *) Auch die lamben und Trochäen des
oeatg tc xai fivOoXoyiag ?) fihv öta juifirioeoig \ dramatischen Dialogs heißen so (Ar. ran. 862:
oXtf iauvj . . Tonycpdia xe xai xiofupdia, fj de ' Galen. T. XVII 1 p. 897 K.). insofern sie nicht
dt* ojfayyeXia»; aviov tov Ttoitjtov ' evgoig S* äv gesungen worden sind ; der Worttext im
avTfjv fidXiöTd :iov h SiOvQaftßois ' tj 6* av i Gegensatz zur Melodie Alkman fr. 25.
dl* d/ig^ouQ(ov fv ts tfj iwv ejiöjv jrottjofi,
:io?.Xaxov 6f xai äXXodi. Dieselben drei Haupt-
arten hat Aristot. poöt. 1. Fr. Stählin,
Die Stellung der Poesie in der platonischen
Philosophie. Diss. München 1901, 18 f. Ein-
gehend über die antiken Einteilungen J. Kay-
SBB, De veterum arte po6tica. Diss. Leipzig
') fwfAa in technischem Sinn CIA 11 1246
(= Dithyrambus) ; Ch. Miguel, Recueil d'inscr.
grecques n. 959. 7 {ao/ia uerd xoQor). Tzetzes
(Kayser a. a. 0. p. 58, 2) macht eine beson-
dere, von Dithyrambikern. H}'mnographen,
Epithalamiographen, Elegikern, lambikern,
Epigrammatikern unterschiedene Gruppe lyri-
1906, 8 fF. scher Dichtung, die (WfiaToyodffni^ die aber
*) Procl. ad Hes. p. 4G.; Procl. Chrest. nur auf die homerischen Aöden gemünzt zu
p. 230 W. ; Proleg. Schol. ad Theoer. VI ; Schol. B sein scheint.
ad Hom. A 16, Z46, Eur. Phoen. 1225 ; Sueton. I «) Plat. reip. 111 p. 386 c und Arist metaph.
depoetis3; ProbusadVerg.Bucol.p.7, 12KEIL. ^ A- 6 p. 1093a 30. Mitgewirkt haben bei Fest-
Vgl. A. Rbifferscheid , Suetoni rell. p. 4 f. i Stellung der Terminologie die homerischen
•) G. Finsler a. a. 0. 191 ff. Analog ist Wendungen fnea nrendFVTa nooofjvdn, fiet?.tyj'
die Antithese des Heroischen und Biotischen otm F.^eooi u. ä.
(Dionys.Thr.ar8§2; Schol. Dionys.Thr.p. 307, ^) Er ist erst hellenistisch für die Ältere
i ff. }iiLQ.)j des dteoTaXfih'ov und ovvfOTaifiFror Bezeichnung fit?.rj (0. Jahn zu Cic. de opt.
(Cleonid. isag. härm. p. 206, 3 ff. v. Jan). gen. or. 1).
1*
4 Oriechische Litteratnrgeschichte. Einleitimg.
und beide sind von den loniem in Eleinasien ausgegangen. Insbesondere
schlössen sich die Städtegründungen (xtioeig) der Logographen aufs engste
an das genealogische Epos an. Das Drama und die Redekunst sind in
derselben Stadt, in Athen, zur Blüte gelangt, und die Verteidigungs- und
Anklagereden vor Gericht haben in dem Wortstreit und den Gegenreden
(^rjoeig) des Dramas ihr Analogen.
6. Die Perioden der griechischen Litteratur. Die chrono-
logische Darstellung muß sich von selbst, will sie übersichtlich werden und
sich nicht mit einer kunstlosen Aneinanderreihung begnügen, nach großen
Wendepunkten umsehen. Einen solchen Hauptwendepunkt bezeichnet der
Untergang der Freiheit und Selbständigkeit der griechischen Staaten durch
Philippos und Alexandres d. Gr. Dieser hat nicht bloß politische Bedeutung,
er scheidet auch die Zeit des produktiven und auf das Ganze gerichteten
Schaffens in Kunst und Philosophie von der Periode des Sammeins, Ver-
arbeitens, Verifizierens in spezialistischer Vereinzelung der Fachwissen-
schaften. Innerhalb der ersten Periode bilden wieder die Perserkriege
einen Markstein, weniger wegen der Besieguug des Nationalfeindes, ala
weil infolge des hervorragenden Anteils der Athener an dem Sieg nun-
mehr Athen in den Vordergrund des politischen und geistigen Lebena
der Nation tritt. Denn während zuvor die einzelnen Stämme, jeder für
sich und in seiner Sprache, an der Entwicklung der Litteratur sich beteiligt
hatten, reißt nun Athen die geistige Führung, ja das Monopol der Bildung
an sich. Das bedeutete aber mehr als einen bloßen Ortswechsel: die Lit-
teratur gewinnt eine universelle Richtung i) und nimmt das Gepräge dea
athenischen Volkes an, d. i. den Charakter geistiger Aufklärung, prak-
tischer Verständigkeit, schwungvollen Freiheitssinnes. In der zweiten Haupt-
periode bezeichnet der völlige Untergang der aus Alexandres' Weltmonarchie
hervorgegangenen hellenistischen Reiche einen wichtigen Abschnitt; er fällt,
zusammen mit der Schlacht von Aktium (31 v. Chr.) und dem Untergang
des Ptolemäerreiches. Denn von da an bilden die Griechen nur dienende
Glieder der großen römischen Weltherrschaft. Wir lassen diese letzte
Periode bis auf den Regierungsantritt des Kaisers Justinian (527) oder bis
zur völligen Aufhebung der altgriechischen, nunmehr heidnisch geschol-
tenen Philosophenschulen reichen. Innerhalb dieser vier Perioden, nament-
lich innerhalb der letzten, lassen sich noch leicht weitere Unterabteilungen
gewinnen, von denen aber vorläufig nicht gehandelt zu werden braucht.*)
6. Kehren wir nun zu der Frage zurück, ob die Darstellung nach
Litteraturgattungen oder die nach der zeitlichen Zusammengehörigkeit für
eine griechische Litteratnrgeschichte die angemessenere sei, so springt uns
*) Über die universelle Natur Athens, I griechischen Nation bis auf Homer voraus
das die Kultur loniens und Eorinths in sich ' und lassen ihnen eine sechste Periode «von
aufnahm, ü. v. Wilamowitz, Hom. Unters. | Justinian bis zur Einnahme von Konstanti-
256 ff.; über die attische Sprache Isokr. 15. i nopel" nachfolgen. Die letzte Periode, die
295 ; über die Stämme der Griechen und ihre l byzantinische, ist in diesem Handbuch selb-
st eilung im Geistesleben der Nation über- i ständig von K. Krumbacheb behandelt: die
haupt Tu. Berok, Kl. phil. Sehr. II 365 ff. ' erste erscheint bei uns als Eingang zum ersten
=*) F. A. Wolf imd nach ihm G. Bern- | Teil. Mehr ünterperioden stellt Th. Bkbok.
hardy schicken diesen vier Perioden eine \ Gr. Litt. I 302 ff. auf.
Periode von den politischen Anfängen der i
Begriff und Gliederung der Litteratnrgeschichte. (§§ 5—6.) 5
sofort ein großer Unterschied der griechischen Litteratur von der modernen,
und innerhalb der griechischen Litteratur zwischen der Zeit vor und nach
Alexandres in die Augen. Schiller und Goethe haben in Prosa und in Versen
geschrieben, haben Lieder, Epen und Dramen gedichtet; eine Darstellung
nach Litteraturgattungen würde daher dieselbe Persönlichkeit nach den
verschiedensten Seiten auseinanderreißen. So etwas ist in der griechischen
Litteratur nicht zu besorgen, wenigstens nicht in der klassischen Zeit vor
Alexandres. Hier zerteilte sich in der Regel die Kraft eines Mannes nicht
auf verschiedene Gattungen, hier machte die Beschränkung den Meister.
Femer begegnen wir im Eingang unserer deutschen Litteratur einem Werk
in Prosa, und in der römischen Litteratur tritt uns als erster Schriftsteller
Livius Andronicus, ein Dichter von Tragödien und Komödien, entgegen;
das ist eine Verkehrung der natürlichen Ordnung, herbeigeführt durch die
Einwirkung fremder Kultur. Bei den Griechen hat sich die Litteratur fast
ohne jeden fremden Einfluß entwickelt; es lösten sich die ausgebildeten
Litteraturgattungen, deren keimhafte Vorstadien in dem mimisch-dichteri-
schen Treiben des illitteraten Volks neben- und durcheinander zu liegen
pflegen, in naturgemäßer Folge ab. Zuerst im Jugendalter der Nation,
noch bevor es Schrift und Bücher gab, erblühte die heitere, leichtgeschürzte
Poesie, die im Kreise jugendfroher Sinnlichkeit erwuchs und, von der
lebendigen Stimme des Volkes getragen, keiner schriftlichen Aufzeichnung
bedurfte. Gegen die Zeit der Perserkriege entwickelten sich die Anfänge
der Prosa, die, losgelöst von dem sinnlichen Reize des Metrums und der
Bildersprache, sich von vornherein an den Verstand wendete und zu ihrer
Fortpflanzung die Fixierung durch die Schrift erheischte. Und von der
Poesie selbst hinwiederum entwickelte sich zuerst das Epos, wie auch der
Mensch in seiner Kindheit zuerst Märchen und Erzählungen liebt. Es
folgten die verschiedenen Arten der Lyrik, die von der reizvoll entfalteten
Außenwelt in die Tiefe der inneren Empfindungen und Betrachtungen hinab-
stieg und zum Ausdruck mannigfacher Gefühle auch einer kunstvoller ver-
schlungenen Form bedurfte. Erst als das Epos und die Lyrik ihren Höhe-
punkt bereits überstiegen hatten, folgte das Drama, das jene beiden Ele-
mente in sich aufnahm und die alten Mythen in einer neuen, dem attischen
Geist mehr entsprechenden Form gleichsam wiedergebar. Innerhalb der
Prosa ist die Reihenfolge nicht eine gleich regelmäßige; doch bleibt es
immerhin bezeichnend, daß die ersten Denkmäler der Prosa der dem Epos
entsprechenden Historie angehören, und daß die Rhetorik später als die
Historie und Philosophie zur Entfaltung kam. So empfiehlt sich also für
die klassische Periode der griechischen Litteratur unbedingt die Darstellung
nach Litteraturgattungen, die nach dem Gesagten ungesucht auch die
richtige zeitliche Ordnung im Gefolge hat. — Anders stellen sich die
Verhältnisse für die Zeit nach Alexandres. Hier ist von jener natür-
lichen Folge ohnehin keine Rede mehr, da ja in Alexandria der Kreislauf
der Litteratur nicht wieder von neuem begann. Aber auch die Arten
scheiden sich nicht mehr in gleich scharfen Linien voneinander. Apollonios
und Kallimachos schreiben als Gelehrte in Prosa, verzichten aber dabei
nicht auf den Ruhm, als Dichter von Elegien und Epen zu' glänzen; Plu-
6 QriechiBche Litteratnrgeschichte. Einleitang.
tarchos zeigt zwar keine dichterische Ader, aber in der Prosa tritt er zugleich
als Historiker, Philosoph und Rhetor auf. Hier werden wir also Modifikationen
anbringen und die Gleichzeitigkeit mehr berücksichtigen müssen. Wie? Das
wird sich später passender erörtern lassen. Ohnehin werden wir nicht dem
System zulieb uns dem Vorwurf praktischer Unzweckmäßigkeit aussetzen.
Wir werden also z. B. den Xenophon nur an einer Stelle behandehi, wiewohl
er historische und philosophische Schriften geschrieben hat, werden dagegen
die Dichter der neueren Komödie von denen der mittleren trennen, wiewohl
z. B. manche Stücke des Diphilos der mittleren zuzurechnen sind.
7. Die litterarhistorischen Studien im Altertum. Die Studien
zur griechischen Litteratnrgeschichte reichen bis in das Altertum selbst
zurück.^) Sie waren zunächst teilweise durch aktuelle Kontroversen der
Sophistenzeit veranlaßt, wie das für die musikgeschichtliche Schrift des
Glaukos von Rhegion, die in den Streit über die Priorität der Kitharis- oder
Aulosmusik in Griechenland eingreift, sicher, bei anderen Versuchen aus
dem 5. Jahrhundert, wie Stesimbrotos' yevog 'Omjgov oder Damastes' Tiegl
jioirjTwv Hai oo(pioT(bv möglich ist, wenn es sich bei den letzteren nicht um
Schriften für Zwecke des sophistischen Unterrichts oder epideiktische Vor-
träge handelt. Mit der Teilnahme für alles Individuelle, Persönliche er-
wachte aber dann im 4. Jahrhundert das Interesse für biographische Dar-
stellungen. Auch hier gab, wie auf so vielen anderen Gebieten, Aristoteles
die Anregung und ihm zur Seite der geistesverwandte Schüler Piatons,
Herakleides Pontikos. Die Peripatetiker Demetrios von Phaleron, Aristo-
xenos, Phanias, Praxiphanes, Chamaileon, Satyros traten in die Fußtapfen
ihres großen Meisters. Aus den Philosophenschulen verpflanzte sich dann
die Neigung für derartige Studien, deren ja auch die Schriftstellerexegese
bedürftig war, auf die grammatischen Schulen in Alexandria und Pergamon:
Antigenes der Karystier, die KaUimacheer Hermippos und Istros sind hier
die Hauptvertreter der biographischen Forschung geworden. Was von diesen
Philosophen und Gelehrten über das Leben der hervorragenden Dichter und
Philosophen erforscht und erfabelt worden war, ging mit Neuem vermehrt
teils in die den Ausgaben der Autoren vorausgeschickten Abrisse jieqI rov
yevovg xal ßlov, teils in die großen zusammenfassenden Werke eines Her-
mippos von Berytos, Herennios Philon, Aelius Dionysius, Rufus, Hesychios
Milesios über. 2) Am Ende der alexandrinischen Periode verfasste Demetrios
von Magnesia noch ein zur Vermeidung von Mißverständnissen bei dem
massenhaft aufgespeicherten Namenmaterial sehr nützliches Buch mgl
Ttüv 6fio)vi\uo)v 7Ton]TO)v TB xoi ovyyQaq)e(ov, Auf uns gekommen sind
außer den zerstreuten biographischen Notizen der Scholien und den
Spezialwerken des Diogenes und Pseudo-Plutarchos über die Philo-
sophen und Redner das große Lexikon des Suidas (10. Jahrhundert)^)
M E. KoEPKE, Quid et qua ratione iam
(^iraeci ad litterarum historiam condendam
elaboraverint, Berol. 1845.
Hesychii Milesii Onomatologi quae supers..Lips.
1882. Über die Einrichtung von Hesychios*
'QyoftaToXöych; G. Wentzel, Herrn. 33 (1898)
2) F. Leo, Die griechisch-römische Bio- 275 ff. ; über Interpolation der Komikerartikel
graphie. Leipz. 1901. beiSuid.aus AthenaiosR. J.Tn.WAONER.Sym-
^) Die litterarhistorischen Artikel des bolae ad comicor. Gr. histor. crit. Diss. Leipz.
Suidas ausgezogen und bearbeitet von H.Flach, i 1905, 30 ff.; über Zusammenziehung verschie-
Begriff und Oliedemng der litteratorgeBchichte. (§ 7.) ^
und die Chronika des Eusebios.^) Außerdem haben wir inschriftliche
Quellen, wie sie schon im Altertum litterarisch verwertet und be-
arbeitet worden sind, insbesondere für die Geschichte der Lyrik (amtliche
Verzeichnisse der Sieger in lyrischen Agonen, private Weihungen der Sieger
mit Aufschriften) und Dramatik (Verzeichnisse dramatischer Siege und
Sieger besonders aus Athen) ;*) dazu kommen inschriftliche Denkmäler
litterarhistorischen Inhalts für Zwecke des Schulunterrichts wie die Marmor-
chronik von Faros aus dem Jahr 264 v. Chr.^) und die Bilderchroniken auf
Stein aus der Kaiserzeit,*) Wir würden uns den Zugang zu unserer eigent-
lichen Aufgabe übermäßig erschweren, wollten wir gleich hier auf die ein-
zelnen Namen und Schriften so eingehen, wie es eine kritische Beleuchtung
der biographischen Studien des Altertums verlangte. Daher genüge hier
die allgemeine Bemerkung, daß schon von den Peripatetikern und Alexan-
drinern die wenigen sicheren Notizen über das Leben großer Männer, be-
sonders infolge von willkürlicher Auslegung einzelner Stellen in ihren
Werken oder von unkritischer Benützung wissenschaftlich anfechtbarer
Quellen wie der Komödie oder tendenziöser Partei- und Schuldarstellungen,
mit einer Fülle haltloser und anekdotenhafter Züge versetzt wurden, und
daß die chronologischen Angaben aus der älteren Zeit^) meist auf fingierten
Stammtafeln und ungenauen synchronistischen Kombinationen beruhen, so
daß viele der auf ein bestimmtes Jahr lautenden Angaben -sich bei ge-
nauerer Betrachtung in eine vage Allgemeinheit verflüchtigen ß.)
Zu den biographischen Forschungen gesellten sich in der alexan-
drinischen Periode bibliographische Aufzeichnungen {avayQa(pai) der
Litteraturdenkmäler. Schon bald nach Gründung der Bibliothek in
Alexandria verfaßte Kallimachos Verzeichnisse {nivaxeq) der Autoren
und ihrer Schriften mit genauen Angaben des Titels und der Zeilen-
zahl der einzelnen Bücher samt kurzen Notizen über die Echtheits-
fragen. Später wurden ähnUche Kataloge auch von der Bibliothek in
Pergamon angelegt und veröffentlicht. An die Pinakes des Kallimachos
schlössen sich dann litterarhistorische, ästhetische und technische Erläute-
rungen des Aristophanes von Byzanz und anderer Gelehrten an, die zur
Aufstellung von Verzeichnissen der Schriften in den einzelnen Gattungen
dener Artikel in eiDen und über Wiederholung \ Analecta Graecolatina , Cracov. 1893 , 55 if.
desselben Artikels bei Suidas ders. 56 ff. über derartige Litteraturdenkmäler auf Stein
») Eusebii Chronica ed. A. Schöne. Berol. 1 F. Jacoby, Rhein. Mus. 59 (1904) 94 ff.
1875. Dazu A. v. Gütschmid, Kl. Sehr. I | ^) Ausarbeiter des chronologischen Sy-
416 ff. stems ist Apollodoros von Athen. H. Diels,
*) A. Wilhelm, Urkunden dramatischer Rhein. Mus. 31 (1876) 1 ff.; F. Jacoby, Apollo-
Aufführungen in Athen, in den Sonderschriften dors Chronik. Berl. 1902.
des österr. archäol. Instituts, Wien 1906; da- *) Die richtige Schätzung der alten Nach-
zu WiLAMOwiTZ, Gott. gel. Anz. 1906, 611 ff.; richten wurde in unserer Zeit besonders klar-
E. Reisch, Zeitschr. f. die österr. Gymnasien gestellt und zur Berichtigung der herkömm-
58 (1907) 289 ff. ; liehen Nachrichten verwertet von Erw. Rohde
') Chronicon Parium (parische Marmor- I in verschiedenen Aufsätzen des Rhein. Mus.,
Chronik), neubearbeitet von H. Flach, Tüb. 1 jetzt gesammelt im 1. Band seiner kleinen
1884; nebst neugefundenen Bruchstücken Schriften, 1901; schon zuvor wurden die An-
herausgegeben von F. Jacoby, Das Marmor gaben der Alten auf ihren richtigen Wert
Parium, Berl. 1904. zurückgeführt von K. Lehrs, Wahrheit und
*) 0. Jahn und A. Michaelis, Griechische ; Dichtung in der griechischen Literaturge-
Bilderchroniken, Bonn 1873. P. Bienkowski in ; schichte, in Pop. Aufs. 2. Aufl. Leipz. 1875.
8 Oriechiflche Lüteratnrgeschiohte. Einleitung.
und im weiteren Verlauf zur Festsetzung eines Kanons mustergültiger
Autoren führten. Die daher stammenden Charakteristiken der hauptsäch-
lichsten Autoren sind durch Quintilian Inst. or. X auf uns gekommen.
Tiefer ins einzelne gingen die Inhaltsangaben {vno&ioeig) einzelner Werke,
namentlich der Tragiker und Komiker, mit deren Abfassung sich vornehm-
lich Dikaiarchos und Aristophanes von Byzanz beschäftigten, i) Sind sie uns
auch nur teilweise und in stark verstümmelter Form erhalten, so bilden
sie doch mit ihren gelehrten Notizen über die Abfassungszeit und die be-
nützten Mythen eine Hauptquelle unserer litterarhistorischen Kenntnisse.
Endlich verdanken wir noch mannigfache Belehrung über Werke der grie-
chischen Litteratur, die uns nicht vollständig erhalten sind, den Exzerpten,
die gegen Ende des Altertums und im byzantinischen Mittelalter ge-
lehrte Männer veranstalteten. Dahin gehören die Chrestomathie des Pro-
klos, die Anthologie des Stobaios, die Bibliothek des Patriarchen Photios
und die im Auftrag des Kaisers Konstantinos VII. Porphyrogennetos her-
gestellten Auszüge aus älterer, besonders geschichtlicher Litteratur. — Zu
litteraturgeschichtlichen Leistungen in unserem Sinn, d. h. zu einer den
zeitlichen und kulturellen Hintergrund, Persönlichkeit und Leben des Ver-
fassers, ästhetische, ethische und technische Analyse der Werke in eine
organische Einheit zusammenfassenden Darstellung hat es das gesamte Alter-
tum nicht gebracht. Nur die zerstreuten oder notdürftig nebeneinander-
gestellten Elemente liegen in Qeschichtswerken, chronologischen oder biblio-
graphischen Aufzeichnungen, Biographien, Kommentaren, ästhetischen oder
echtheitskritischen Schriften vor.
8. Die neueren Werke über griechische Litteratur. In der
neuen Zeit nach dem Wiederaufleben des klassischen Altertums hatte man
anfangs so vollauf zu tun mit der Herausgabe, Verbesserung, Übersetzung
der griechischen Schriftsteller, daß man zu einer systematischen Darstellung
der griechischen Litteraturgeschichte wenig Zeit fand. Das oft aufgelegte
Büchlein von L. 6. Gyraldus, De historia poetarum tam graecorum quam
latinorum dialogus (1545) ging nicht viel über eine Zusammenstellung der
biographischen Überlieferungen des Altertums hinaus. Von selbständigerer
Bedeutung waren die Einzeluntersuchungen von 6. J. Voss, De historicis
graecis (1624)*) und von D. Ruhnken, Historia critica oratorum grae-
corum (1768). 3) Den Versuch, das weitschichtige Material zur grie-
chischen Litteraturgeschichte mit Einschluß der Kirchenväter und Byzan-
tiner zu einem großen Sammelwerk zu vereinigen, machte im 18. Jahr-
hundert J. A. Fabricius in seiner Bibliotheca graeca. Wertvolle Beiträge
lieferten um dieselbe Zeit die Zweibrücker Ausgaben (Bipontinae) , in
denen den Texten der Autoren die Nachrichten (testimonia) über die
betreffenden Werke und eingehende Lebensbeschreibungen (vitae) vor-
*) F. W. ScHNEiDKWiN, De hypothesibus ! Lips. 1838, wonach wir zitieren,
tragoediarum graec. Aristophani Byzantio vin- | ') Erschienen als Einleitung zur Ausgabe
dicandis, in Abhdl. der Gott. Ges. Vi (1853) 3 des lateinischen Rhetors Rutilius Lupus 1768,
bis37; A.I'rendelenburo, Grammaticor.Grae- aufgenommen in J. Reiskes Oratores Graeci
cor. de arte tragica iudicior. reliquiae, Bonn j VIII 121—173 und in Ruhnkenii Opusc. I
1N67; vgl. WiLAMOwrrz, Eur. Herakl. V 145 f. | 310—92.
*) Neubearbeitet von A. Wbstermann,
Begriff und Gliederung der Litteratorgeschichte. (§ 8.) 9
ausgeschickt wurden. Die methodische Behandlung der Litteraturgeschichte
datiert von Fr. A. Wolf, der hier wie in anderen Disziplinen der Philo-
logie, die bloß stoffliche Anhäufung verschmähend, auf systematische An-
ordnung und organische Entwicklung drang. Seine in Halle gehaltenen
Vorlesungen über die Geschichte der griechischen Litteratur wurden erst
nach seinem Tod von J. D. Gürtler (1831) herausgegeben. Auf seinen
Schultern steht G. Bernhardy, der in seinem unvollendet gebliebenen
Grundriß der griechischen Litteratur mit reicher Gelehrsamkeit und Streben
nach Verbindung der Litteratur mit dem gesamten Geistesleben die Fächer
ausfüllte, zu denen Wolf die Grundlinien gezogen hatte. Unvollendet
blieben auch die Werke der beiden Männer, die neben Bernhardy sich das
meiste Verdienst um unsere Wissenschaft erworben haben und jenen an
lebensvoller Frische der Auffassung und Darstellung weit übertreffen,
K. Otfr. Müller und Th. Bergk. Mehr aber noch zur Förderung der
Sache trugen die Untersuchungen über einzelne Zweige der griechischen
Litteratur bei. Allen voran leuchten in dieser Richtung drei Männer: Fr.
Jacobs, der im 13. Bande seiner Ausgabe der griechischen Anthologie
(1813) und in den Nachträgen zu Sulzers Theorie der schönen Wissen-
schaften (1792 ff.) den Weg gelehrter und geschmackvoller Behandlung
litterarhistorischer Fragen wies, Aug. Meineke, dessen unvergleichliche
Sorgfalt in der Sammlung und Ordnung der Fragmente, namentlich der
Komiker, die Lücken der erhaltenen Litteratur glücklich überbrückte, und
Friedr. Gottl. Welcker, der vornehmlich durch seine Werke über den
epischen Zyklus und die griechischen Tragödien unserer Wissenschaft neue
Bahnen brach und das Band zwischen Litteratur und Kunst neu knüpfte.
J. A. Fabbicii Bibliotheca graeca sive notitia veterum scriptomm graecorum, Ham-
burg 1705—28, 14Bde. 4., ed. IV von G. Ch.Hablbs, Hamburg 1790-1809, 12 Bde. 4. Index 1838.
— G. Bbbnhabdy, Grundriss der griech. Lit., 1. Teil Innere Gesch., 2. Teil in 2 Abteil. Gesch.
der griech. Litt, (nur die Poesie enthaltend), 2 Bde. Halle 1886 {l* 1876, ^ besorgt von R. Volk-
MAiiK 1892, II», 2. Abdr. 1880). — K. 0. Müller, Gesch. d. griech. Lit. bis auf das Zeitalter Ale-
xanders, Breslau 1841, 2 Bde., neubearbeitet von E. Hbitz mit Fortsetzung, 4. Aufl. 1882—4;
in England wurde das Werk fortgeführt bis auf die Einnahme Konstantinopels durch die Tüi'ken
von J. W. DoNALDsoN, London 1858, 2 Bde. — M. S. Fr. Scholl, Histoire de la littörature
grecque, Paris 1813, deutsch bearbeitet von Fr. Schwarze und M. Finder, Berlin 1828 — 30,
3 Bde. — Th. Bbuqk, Griech. Literaturgeschichte, 1. Band vom Verf. selbst besorgt, Berlin
1872, die drei folgenden Bände aus den Papieren Bergks unter Beiziehung von Bergks Artikel
«Griechische Litteratur" in Ersch und Grubers Encyklopädie herausgegeben von G. Hinrichs
und R. Peppmüller 1883—7, umfaßt in den von B. selbst ausgearbeiteten Teilen nur Epos,
Lyrik, Drama bis Euripides, Anfänge der Prosa. Index von R. Peppmüller u. W. Haun 1894. —
R. Nicolai, Griechische Literaturgeschichte in neuer Bearbeitung, Magdeburg 1873 — 78, 3 Bde.
mit Einschluß der byzantinischen Lit., Auszug in 1. Bd. 1883. — K. Sittl, Geschichte der
griech. Lit. bis auf Alexander d. Gr., München 1884—87, 3 Bde. — W. Mure, A critical
History of the Lang, and Lit. of ancient Greece, London 1850—1857, 5 vol.; 2. Aufl. 1859,
4 vol., nur bis Alexander ohne Drama und Redner. — J. P. Mahaffy, A History of Clas-
sical Greek Literature, London 1. Ausg. 1880; 2. Ausg. 1883; 3. Ausg. 1890—95. 2 vol. in
je 2 Teilen. — Alpb. et Maur. Croiset, Histoire de la litt, grecque, Paris 1887—99, 5 Bde.
Den allgemeinen Bericht über griechische Litteraturgeschichte in dem Jahresbericht über
die Fortschritte der klass. Altertumswissenschaft, begründet von C. Bürsian, jetzt heraus-
gegeben von W. Kroll, erstattet C. Häberlin, zuletzt 1900, 3. Abt., S. 235 fF. Daneben eine
Reihe von Spezialberichten über die einzelnen Gattungen. — Den neuesten Stand der For-
schung stellen dar die einzelnen Artikel über die griechischen Autoren in der seit 1894 unter
Leitung von G. Wissowa, seit 1906 unter der von W. Kroll erscheinenden Neubearbeitung
von A. F. Paülys Realencyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft. Für die noch
nicht erschienenen Buchstaben ist man noch auf das alte, Stuttgart 1839—52 in 6 Bänden
<Y0D Bd. I eine 2. Aufl. unter Leitung von W. S. Teuffel 1861) erschienene Werk angewiesen.
10 Griechische Litteratnrgeschichte. Einleitung.
Kompendien : Fr. Passow, Grnhdzüge d. griech. u. röm. Literaturgesch. u. Eonstgesch.,
2. Aufl., Breslau 1829. — E. Munk, Gesch. der griech. Lit. mit vielen Auszügen in Ueber-
setzung, 1849—50, 2. Aufl. 1862—63, 3. Aufl. besorgt von R. Volkmann, Berlin 1880, 2 Bde.
— Th. Bergk, Griech. Literatur, AbriB in Ersch und Grubers Encykl. 1863. — W. Kopp,
Gesch. der griech. Lit. (für Gymnasiasten), 4. Aufl. besorgt von Hubert, Berlin 1886, 5. Aufl.
besorgt von G. J. Müller. 1893. — J. Mähly, Gesch. der antiken Litteratur, Leipzig 1880,
2 Bde., für weitere Kreise der Gebildeten bestimmt. — F. Bender, Gesch. d. griech. Litt,
bis auf die Zeit der Ptolemfter, 1886 in der bei Friedrich in Leipzig erscheinenden Gesch.
d. Weltlitteratur, ohne gelehrtes Beiwerk. — J. Sitzlbr, Abriß der griech. Litteratnr-
geschichte, Leipzig 1890, unvollendet — E. Kroker, Geschichte der griech. Litteratur, I.,
Leipzig 1895. — A. Gerokb, Griech. Litteraturgeschichte, 1898 in Sammlung Göschen. —
Unter den Darstellungen, die sich an weitere Kreise wenden, verdient als die zugleich
knappste und an eingehender Vertrautheit mit den Quellen und dem Stand der Probleme
wie an Anregung für die Forschung bedeutsamste trotz ihrer starken Ungleichmäßigkeit
der Abriß von U. v. Wilamowitz in dem Gesamtwerk Die Kultur der Gegenwart I. Abt. VIII,
Leipz. 1905 (2. Aufl. 1907) zuerst genannt zu werden. Hervorragend sind auch die die
Litteratur bebeffenden Abschnitte in E. Meyers Geschichte des Altertums; anregend J. Burck-
HARDTs Uebersicht (nach seinen Vorlesungen) in seiner Griechischen Kulturgeschichte III
(herausgegeben von J. Oeri 1900) ; eine geschickte und im ganzen geschmackvolle Kom-
pilation gibt A. Baumgartner in seiner Geschichte der WelÜitteratur III. (3. u. 4. Aufl.,
Freiburg i. B. 1902). Feine Charakteristiken einzelner Erscheinungen in E. Rohdes Psyche
(I. Freiburg 1891; II. 1894; 2. Aufl. 1898; 3. Aufl. 1903) und Th. Gomperz* Griechischen
Denkern (I 1895; 2. Aufl. 1902; II 1902; III 1906 f.).
Hilfsmittel: A. Westermann, Bioyadtpot vitanim scriptores graec. min., Brunsv. 1845.
— H. F. Clinton, Fasti hellenici civiles et litterarias Graecorum res ab ol. 45 ad ol. 124
explicantes, ex altera anglici ezemplaris edit. conversi a C. G. Kruegero, Lips. 1830. —
\V. Enoblhann. Bibliotheca scriptorum classicorum. 8. Aufl. von E. Preuss, Leipzig 1880,
die in Deutschland seit 1700 erschienenen Bücher und Abhandlungen umfassend. Eine
Bibliotheca scriptorum classicor. von 1878—96 von R. Klussmann ist im Druck. — S. F.
W. Hoffmann, Lexicon bibliographicum, Lips. 1832—36, 3 vol., umfaßt auch die ältere und
die außerhalb Deutschlands erschienene Litteratur. — E. Hübner, Bibliographie der klass.
Altertumswissensch. ((irundriß zu Vorlesungen über die Gesch. u. Encykl. d. klass. Phil.),
2. Aufl., Berlin 1889. - Bibliotheca philol. classica als Anhang zu Bürsian-Müller-Gürlitt-
Kroll, Jahresbericht über die Fortschritte der klass. Altertumswissenschaft, quartalweise er-
scheinend. — J. Kirchner, Prosopographia Attica, 2 Bde., Berlin 1901. — E. Klebs-
H. Dessaü-P. V. RoHDEN, Prosopographia imperii Romani saec. I, II, III, 2 Bde., Berlin 1898.
— H. Schöne, Repertorium griech. Wörterverzeichnisse u. Speziallexika, Leipzig 1907.
Ein Quellenbnch zur griech. Litteraturgeschichte, das außer den in den Scholien er-
haltenen ßi'oi und ktoüeoFis die litterarischen Artikel des Suidas, Eusebios und der parischen
Chronik, femer die Kanones der Alexandriner und die litterarischen Inschriften enthielte,
gehört noch zu den frommen Wünschen der Philologen und Litteraturfreunde.
Erste Abteilung.
Klassische Periode der griechischen Litteratur.
I. Poesie.
A. Epos.
1. Vorlitterarische Anfänge der griechischen Poesie.!
9. Die griechische Sprache. i) Die Sprache in dem entwickelten
Zustand, in dem sie als Trägerin einer Litteratur in Betracht kommen
kann, ist ein System konventioneller Lautbilder, deren jedes bei den Sprach-
genossen bestimmte Sachvorstellungen erweckt. Sie hat aber abgesehen
von dieser material-symbolischen Seite noch eine rein sinnliche, vermöge
der sie sich lediglich an das Ohr wendet und eine freilich nicht ganz eben-
bürtige Rivalin des reinen musikalischen Klangs ist. Die Fähigkeit, die
Vorstellungen durch Lautbilder kurz und treffend zu bezeichnen, beruht
auf dem Vermögen, alle vor Sinne oder Geist tretenden Erscheinungen
in ihrer wesentlichen Besonderheit klar und scharf zu erfassen, das Ahn-
liche wie das Verschiedene in den Erscheinungsbildern fein zu empfinden.
Wo so eine allgemein geistige Begabung sich in der Sprachschöpfung
glücklich betätigt und zugleich das Gefühl für sinnlichen Wohlklang die
Bildung lautlicher Monstrositäten und Kakophonieen in Schranken hält, da
sind vonseiten des sprachlichen Werkzeugs die Bedingungen für die Ent-
wicklung einer künstlerisch hochstehenden Litteratur günstig. Für die
griechische Sprache triflFt das in hohem Grad zu. Sie hat in der soge-
nannten klassischen Periode der Litteratur noch den besonderen Vorzug,
daß die Bildung zentripetaler Gemeinsprachen neben einem reich differen-
zierten Leben dialektischer Idiome hergeht, so daß zur Mitteilung allgemein
menschlicher Inhalte wie auch zur künstlerischen Gestaltung epichorisch
und persönlich intimer Stimmungen die Organe reichlich vorhanden sind.
Indogermanische Elemente. Es gilt heutzutage als eine all-
gemein anerkannte Wahrheit, dafä die Griechen mit Unrecht sich Kinder
ihres Landes (avTox&oveg) nannten, daß sie vielmehr als Zweig des indo-
') J. Wackbbnaoel in dem Gesamtwerk Die Kultur der Gegenwart I. Abteil. VIII, 286 iF.
12 Griechische Litteratorgeschichte. I. ElasBische Periode.
germanischen Stammes in grauer Vorzeit durch die nördliche Balkanhalb-
insel in ihre späteren Sitze eingewandert waren und aus ihrer alten Heimat
eine reich ausgebildete Sprache und einen gewissen Vorrat religiöser Vor-
stelhmgen mitgebracht hatten, i) Und da nun jede Poesie in der Sprache
ihr sinnliches Organ und in dem religiösen Volksglauben ihre kräftigste
Wurzel hat, so werden wir auch die Anfange der griechischen Poesie auf
jenen indogermanischen Stamm zurückzuführen haben. Das soll aber nicht
so verstanden werden, als ob die Griechen aus der Urheimat vollständige
Gesänge oder auch nur ganze Verse mitgebracht hätten; wenigstens fehlen
uns zu einer solchen Annahme alle Belege.*)
Aus der Fremde hat die Sprache der Griechen nur außerordentlich
wenig aufgenommen; haben sich die Hellenen schon in der Entwicklung
ihrer Kultur rasch von den Einflüssen der älteren Kulturvölker Asiens und
Ägyptens emanzipiert,') so haben sie noch mehr darauf gesehen, ihre
schöne Sprache von dem Mißlaut fremder, barbarischer Wörter rein zu er-
halten.*) Was sie von den Karern und Lykiern entlehnten, läßt sich bei
der mangelhaften Kenntnis, die wir von der Sprache jener Völker haben,
nicht mehr ganz sicher feststellen; abgesehen von den zahlreichen geo-
graphischen Namen, besonders auf -ivdog, -rjaoog, "ajuog, welche die Grie-
chen von den vorhellenischen, mit der" kleinasiatischen Urbevölkerung sprach-
verwandten Bewohnern der Balkanhalbinsel übernommen haben, wird die
Entlehnung über einige Göttemamen, wie Atjrco, Ai^da, 'AnokXcDv, und die
Appellativa idßgvg (Doppelbeil), kaßvgiv^og, äoyvgog kaum viel hinaus-
gegangen sein. Mehr entnahmen sie der Sprache jenes Volkes, das ihnen
vorzugsweise die Kultur Ägyptens und Innerasiens vermittelte, der see-
fahrenden Phöniker. Nicht bloß die Buchstabennamen nebst den Zeichen
und Eigennamen, wie MehxeQxr^g, Zvgogy Magai^iovt 0eid, stammen aus dem
Semitischen, auch die Appellativnamen ÖekTog, ßvßUov^ xddog, /Liäxaigdf x^^^^>
dggaßcoy, fiagdyva, juvä, ;f^t'ödg, jtaXXaxig, ovgty^f xtvvga, vielleicht auch
olvogf vExxag^ ike<pag, Xißavog, ygvyj waren zugleich mit der Sache durch
die Phöniker den Griechen übermittelt worden.^) Übrigens ist bezeich-
Titanensage Sparen bewahrt zu haben scheint.
*) Die entgegengesetzte Meinung, daß
die Indogermanen vor ihrer Trennung einen
*) Über das Verhältnis des Griechischen
zur indogermanischen Grundsprache und den
Sprachen der benachbarten Völker Europas
und Kleinasiens nach dem jetzigen Stand der Vers, den Achtsilber, und den aus zwei Acht-
Forschung: P. Kbetschmeb, Einleitung in die | silbern bestehenden Doppel vers ausgebildet
Geschichte der griech. Sprache, Göttingen hatten, vertritt R. Westphal Zur ältesten
1896. In der Zurückführung griechischer Metrik der indogermanischen Völker. Ztschr. f.
Religionsvorstellungen auf indische bezw. i vergl.Spr. 9 (1860) 437 ff., und in seinem letzten
indogermanische ist man , nach einer Zeit , Werk. Allgemeine Metrik, Berlin 1893. In den-
wilden Phantasierens, mit Recht sehr vor- selbenBahnengohtH.UsENER, Altgriechischer
sichtig geworden (Kbetschmer 76 ff.). Als , Versbau, Bonn 1887. Vgl. 0. Schbadeb, Sprach-
indogermanische Bestände darf man z. B. die vergleichung und Urgeschichte', Jena 1890,
Vorstellung imd Verehrung eines väterlichen 40 ff.
Himmelsgottes {Zeix jraTt)g, epirot. AeuidufocK, ^) Sehr schön ist dieser Grundzug der
Juppiter, Dyaus pitft), eines göttlichen Zwil- hellenischen Kultur ausgedrückt von Ps. Plat.
lingspaares und einige andere mythologische Epinomis p. 987 e: o n .teg äv "EUt/ve^ ßag-
Phantasien, sowie einen entwickelten Toten- | ftaofov .lagakdßcoat, ydlXiov tovto eI^ rekog
und Heroenkult ansprechen, vielleicht auch d.Tcoj'duorra/.
(G. Kaibel, Nachr. der Gott. Ges. der Wiss., " *) Siehe bes. J.Wackbbnaobl a.a.O. 289 f.
1901, 494 ff.) einen Phalloskult, von dem die ! ^) A. Mülleb, Semitische Lehnwörter
A. Epos. L YorlitterariBche Anfänge der griechischen Poesie. (§§9—10.) 13
nend für die Äußerlichkeit der Beziehungen zwischen Griechen und Phö-
nikem, daß die griechische Seetechnik trotz der nautischen Überlegenheit
der Phöniker in der älteren Zeit doch keinen einzigen phönikischen Kunst-
ausdruck aufweist. Aber auch diese fremden Sprachelemente mußten es
sich ebenso wie die aus der Fremde überkommenen Eunstformen gefallen
lassen, mit griechischem Stempel versehen und nach der Analogie vater-
ländischer Wörter umgemodelt zu werden. Bedeutsamer als die sprach-
lichen Bereicherungen waren die neuen Ideen, namentlich die religiösen,
welche die Griechen in den älteren Zeiten von den fremden Völkern ent-
lehnten. Nur ein Teil der Götter des griechischen Olymp war altarischen
Ursprungs, die Mehrzahl war fremder Herkunft,^) Karisch-lykischen
Ursprungs ist vieles in den Kulten des Zeus und Apollon (Avxiog)^
semitischen Einfluß zeigen die Kulte der Kabiren, der Aphrodite, des He-
rakles, aus der thrakisch-phrygischen Religion stammen die Dienste des
Ares, der Musen, der Rhea-Kybele, des ekstatischen Dionysos, und aus der
Religion der vorhellenischen Bevölkerung Griechenlands haben die Griechen
mehrere Kulte von lokal gebundenen Höhlendämonen (Amphiaraos, Teiresias)
und Erdgeistern (Hyakinthos, Asklepios) übernommen.
10. Dialekte des Griechischen. Jener Zweig des indogermani-
schen Yolksstammes, der sich später den gemeinsamen Namen Hellenen
gab,*) setzte sich, über den Balkan vor den Thrakophrygern vorrückend,
etwa seit Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr. allmählich in seinen euro-
päischen Sitzen fest. Stammesunterschiede traten zwar gewiß im Lauf
der Zeit infolge der lokalen Trennung stärker hervor, aber die hauptsäch-
lichsten waren doch schon bei der ersten Niederlassung in Europa vor-
handen. Von Nordgriechenland und Thessalien aus, vermutlich dem ältesten
gemeinsamen Sitz,*) verbreiteten sie sich in verschiedenen Vorstößen nach
Süden und Westen über ganz Hellas, von der älteren Bevölkerung die
fremden Bestandteile aufsaugend, die verwandten sich angliedernd. So
gingen die alten Bewohner des Landes, für welche die griechische Tradition
desGriech., in A.BES^BNBEROEBsBeitr. 1(1877) i und das 'EUtp'im' in Naukratis (Herodot. JI
273 ff. ; H.Lbwy, Die semitischen Fremdwörter 178) zeigen den Hellenennamen als Gesamt-
im Griechischen, Berlin 1895; Muss-Abnolt, I bezeichnnng schon seit dem 7. Jahrhundert
On semitic words in Greek and Latin, in ' in allgemeiner Anwendung. Die Italiker
Transactions of the American Philol. Ajsso- ' kennen ihn nicht, sondern haben die Griechen
ciation 23 (1892) 35 — 156. Ägyptische Lehn- mit dem Namen eines alten nordgriechischen
Wörter sind sicher im älteren Griechischen | Nachbar8tammes(/))a/7s, ■r(>af;fo/, über welchen
ßvaaog, oOoyrj (diese beiden durch Semiten Namens. W. Dittknbkrgeb, Herm.41 (1906)
vermittelt), virgov, öaoig, ißa*og, vielleicht 97ff.)Graeci benannt, wie die Orientalen sie
auch x(ov€oy} und ^iqpog: W. Spiegblbbbo, nach dem ihnen benachbarten lonierstamm
Zeitschr. f. vergl. Spr. 41 (1907) 127 ff. , Javan oder Javana (IdfovFg) nennen. Vgl.
^) Den Griechen selbst klangen die Namen Wilamowitz, Hellas vor der Völkerwande-
ihrer Götter fremdartig, Herodot. 11 50 ff. rung, in Euripides Herakles P 258 ff. und Herm.
*) IlavüXfjves kommt zuerst im Schiffs- i 21 (1886) 91 ff.
katalog B 530 und bei Hesiod. Op. 528 vor. ') Entgegen dieser Annahme hat E. Cur-
Über die spätere Ausdehnung des Namens tius, Die lonier vor der ionischen Wanderung,
Elkrjvtg, der anfangs nur einem kleinen i Berl. 1855, die haltlose Hypothese aufgestellt.
Stamm Thessaliens zukam, ist die Haupt- daß die lonier gesondert von den übrigen Hei-
stelle Thuk. I 3, wozu Homerscholien bei i lenen aus Kleinasien über die Inseln nach
K. Lbhbs, Aristarch* p. 225 kommen. Die den Küstenländern der griechischen Festlande
Hellanodiken in Olympia (wo nur griechische ■ gekommen seien. Darüber G. Busolt, Griech.
Kämpfer zugelassen waren, Herodot. V 22) I Gesch. P, Gotha 1893, 278.
14 Ghiechische Litteratnrgesohiohte. I. ElaaaiBche Periode.
die Namen Pelasger und Leleger gebrauehtO und von denen sich aufier
zwei neuerdings aufgefundenen Inschriften der Insel Lemnos mit gi*iechi-
schen Zeichen noch Erinnerungen in alten Berg- und Ortsnamen erhielten,
fast spurlos in der neuen Bevölkerung der Hellenen auf.^) Diese erste
Periode griechischer Ansiedelung auf der Balkanhalbinsel, die zu einer be-
trächtlichen Beimischung barbarischer Elemente in Rasse und Kultur ge-
führt hat, nennt man die achäische. Ihr ist ein Ende gemacht worden
durch den Vorstoß griechischer Stämme, die sich im Norden der Halbinsel
national reiner gehalten, aber lange nicht die Kulturhöhe der Achäer er-
reicht hatten, 8) der Derer. Sie zwangen, wo sie die Oberhand behielten,
wie in einem großen Teil des Peloponnes und auf Kreta, die achäische
Bevölkerung zur Unterwerfung oder Auswanderung. Die glänzende Kultur
der Achäerzeit wurde durch sie zerstört oder beeinträchtigt und durch
einen, äußerlich betrachtet, kümmerlicheren Zustand ersetzt. Aber sie
stärkten überall im Mutterland und auf den Inseln das nationalhellenische
Element, sie sind die Schöpfer der aristokratisch sich regierenden spezifisch
griechischen noiig, ihre hervorragend musikalische Veranlagung ist für die
Entwicklung der griechischen Musik und Lyrik bedeutungsvoll geworden,
wie denn auch die dorische Tonart im Gegensatz zur phrygischen immer
als die eigentlich griechische Nationaltonart gegolten hat. Unberührt von
der dorischen Wanderung blieb Attika, Euboia nebst dem gegenüberliegenden
Qraiergebiet bei Oropos, die peloponnesische Kynuria zwischen Argos und
Lakonien, lauter Gebiete, in denen sich die lonier hielten.
Die Entwicklung der Dialektverhältnisse im geschichtlichen Griechen-
land ist durch die dorische Wanderung bestimmt worden. Das Ionische
und Nordachäische (oder ÄoUsche) ist durch die Mundart der Derer fast
ganz unberührt geblieben (nur der böotische Dialekt zeigt stärkere dorische
Einflüsse), dagegen sind die südachäischen Dialekte im Peloponnes von ihr
beinahe völlig verdrängt worden. Das Dorische selbst teilte sich infolge
der räumlichen Absonderung und vielleicht auch besonderer Einflüsse vor-
dorischer Lokalmundarten*) wieder in zwei Gruppen, eine nördliche in
Mittelgriechenland (Lokrisch, Phokisch) und dem Nordwestpeloponnes (Eleisch)
und eine südliche (Peloponnes und dorische Inseln). Die alten Gramma-
*) Strab. p. 661: oi Kägeg iW Mivw Pelasger galten. C. Pauli, Eine vorgriechische
hdziovTOy TOTs Aeleyeg ftaXovfifvoi , xai laf | Inschriftvon Lemnos, Altitalische Forschungen
vi)oovg iüxovv sh* tjjieiQoJzat yevo/tevoi jiol- II 1, Leipz. 1886; 112, 1894; W. Dbecke, Die
Xrjv Tijg TiaoaXiag xai rffg jueaoyaiag xareaxov, tyrrhenischen Inschriften von Lemnos, Rhein.
Tovg :tQoxazF.xovtag dq)€i6^evoi ' xai ovtoi 6* \ Mos. 41 (1886) 460 ff. Über die Pelasger-
fjoav oi jTAFiovg AeXeyeg xai IleXaayoi, jtdXiv frage am besten E. Mbyeb, Forschungen z.
de TovTovg d(f fiXovto fteoog oi "FA).r)%'eg, "Icorsg alten Gesch., Halle 1892, I, 3 ff.
TF xai AatgiFtg. Vgl. Strab. p. 221 u. 321 f. ') Daß die Dorer analphabet in das
') Die zwei auf einem Steinblock der i achäische Griechenland gekommen sind, zeigt
ehedem von „Pelasgem** bewohnten (Strab. F. Hiller v. Gäbtringen, Jahresber. über
p. 221) Insel Lemnos i. J. 1885 gefundenen ' die Fortschr. der klass. Altertumswiss. 118
Inschriften sind in griechischer Schrift ge- i (1903) 171.
schrieben und gehören, nach dem Schrift- *) Über R. Meistebs Versuch (Abh. der
Charakter zu schließen, dem 6. Jahrhundert j sächs. Ges. d.Wiss. 24, 1904, nr. 3), achäische
an. Die Sprache der Inschrift ist nicht grie- Spuren im peloponnesischen Dorisch nachzu-
chisch und zeigt offenbare (bezweifelt von i weisen, s. A. Thumb, N. Jahrbb. f. kl. Altert.
Kretschmer 408) Verwandtschaft mit der 15 (1905) 385 ff. und 0. Hoffmann, BerLphilol.
Sprache der Etrusker, die ja gleichfalls för | Wochenschr. 26 (1906) 1392 ff.
A. Epos. 1. Yorlitterarisohe Anfänge der griechischen Poesie. (§ 10.) 15
tiker unterschieden, indem sie wesentlich nur die litterarischen Denkmale
in Betracht zogen, vier Dialekte, den äolischen, dorischen, ionischen, atti-
schen. Die neueren Forscher sind, indem sie von den Zeugnissen der In-
schriften ausgingen, zu einer wesentlich anderen Einteilung gekommen. ^)
Danach sind zunächst zwei Gruppen zu unterscheiden, 2) das Ionische und
das Nichtionische. 3) Von dem Ionischen differenzierte sich infolge lokaler
Trennung, vielleicht unter Mitwirkung dorischer Dialekteinflüsse (Rück-
umlaut), das Attische.*) In der nichtionischen Gruppe reichen die Unter-
schiede des Dorischen (inLakonien, Korinth, Argos, Kreta lokal differenziert)
und Äolischen (in Thessalien, Böotien, Lesbos und dem gegenüberliegenden
Festland) in die älteste Zeit hinauf.^) Jene vier Dialekte, Ionisch, Attisch,
Dorisch, Äohsch, haben zugleich im Laufe der Zeit hohe Bedeutung für das
litterarische Leben Griechenlands gewonnen. Hingegen ist nicht in die Lit-
teratur eingetreten, zum großen Teil schon vor Erwachen des litterarischen
Strebens untergegangen der Dialekt der Achäer oder der alten Bewohner
des Peloponnes, von dem inschriftliche Reste im Arkadischen und Kyprischen
erhalten sind. Ebenso kennen wir fast nur aus Inschriften und dem Lexikon
des Hesychios die lokalen Schattierungen des Nordwestgriechischen (in
Phokis, Akamanien, Epirus), des Elischen und des PamphyUschen u. a.
Die Dialekte spielten in der griechischen Litteratur eine größere
Rolle als in irgend einer andern der alten oder neuen Zeit. Die scharfe
räumliche Sonderung und die dadurch bedingte kulturelle und politische
Eigenart der hellenischen Stämme, die Eifersucht der einzelnen Staaten
auf ihre Selbständigkeit brachten es mit sich, daß bis über die Zeit des
peloponnesischen Krieges hinaus die Privaten und Behörden sich in den
öffentlichen Urkunden und Inschriften des ungeschminkten einheimischen
Dialektes bedienten. Sprachliche Kunstwerke freilich, die zur Wirkung
auf weitere Kreise bestimmt waren, sind seit sehr alter Zeit nicht in irgend-
einem Lokaldialekt, der einige Stunden weiter ab nicht mehr verstanden
*) L. Ahbens, De graecae linguae dia- Aiolis stellte.
lectis, Gott. 1839—43; vollständig neubear- 1 ') Hauptunterschiede sind, daß das lo-
beitet von R. Meister, Die griech. Dialekte, ] nische altes ä in >; verwandelte (sog. Vokal-
noch unvollendet, I 1882; II 1889; 0. Hoff- erhöhung), das Digamma frühzeitig, sicher
XAiTK, Die griech. Dialekte in ihrem histo- | schonim?. Jahrhundert, aufgab, zum Ausdruck
rischen Znsammenhang, 3 Bde., Gott. 1891 bis der Eventualität är statt xe verwandte.
1898, unvollendet; H. W. Smyth, The Sounds ■ *) Hauptzeugnis für die auf die Götter-
and Inflections of the Greek Dialects, Ox- | feste ausgedehnte Stammesverwandtschaft ist
ford 1894, unvollendet; Gu. Meyer, Griech. Thuc. HlÖ: zu dgxaioTsoa Aiovvata zfj öcode-
Gramm.' p. XI — XU u. S. 6 iF.; H. Collitz. xdifj TioieTiai h firjvi *Av&eaTi]Qicbvi, aJo.Tcp xai
Die Verwandtschaftsverhältnisse der griech. oi dsi* 'Jdf)vauov*'Icov€g hi xat vih' vofÄtCovoir.
Dialekte, Gott. 1885. Übersicht bei J. Wacker- ^) Hauptunterschiede waren . daß das
KAOBL a.a.O. 290 ff. — Dialektische Inschriften- , Aeolische durchweg den Hochton von der
Sammlungen von H. Collitz, Sammlung der { Schlußsilbe zurückzog, wie das Lateinische,
griech. Dialektinschriften. Göttingen 1884 ff., > und den harten Hauch aufgab (ifikayotg), den
Hauptwerk; P. Cauer, Delectus inscriptio- alten Lantweit des v = u wenigstens teil-
nnm graecarum propter dialectum memora- i weise, namentlich im Böotischen, bewahrte
bilium, ed. II, Lips. 1883; F. Solmsen. In- ' und häufig ein o in v (ähnlich wie die La-
scriptiones Graecae ad inlustrandas dialectos teiner) verwandelte. Dazu kamen später die
selectae, Lips. 1903 (2. Aufl. 1906). . Unterschiede der Ersatzdehnung und Kon-
■) Schon im Altertum hat Strabo p. 333 | traktion, vermöge deren äol. Moloa^ dor.
die vier Dialekte auf zwei reduziert, indem Mwoa, ion. Movaa aus altem MorTJa^ äol.
er die Atthis zur las. und die Doris zur raig, dor.-ion. rag aus altem rdvg entstand.
lg Ghriechisehe Litteratnrgeschichte. L ElaaaiBehe Periode.
worden wäre, sondern in einer allerdings auf einem bestimmten Lokal-
dialekt aufgebauten, gewissermaßen idealisierten Gemeinsprache^) abgefaßt
worden. Die erste derartige Gemeinsprache, auf altionisch-kleinasiatischer
Grundlage, reden die homerischen Gedichte, die auf die Bildung aller spä-
teren griechischen Litteratursprachen einen ungeheuren Einfluß geübt haben.
In ähnlicher Weise sind das Dorisch der Chorlyrik, das Neuionisch Hero-
dots, der Logographen und Mediziner, das Attisch des tragischen Dialogs
litterarische Gemeinsprachen, die sich mit keinem lebenden Dialekt genau
decken. Am meisten sprachlichen Lokalton und damit Intimität der Wir-
kung gestattet sich der Dichter, wo er nur an einen kleinen Kreis von
Sprachgenossen sich wendet, wie das bei der lesbischen Monodie des Al-
kaios und der Sappho, den Chordichtungen Alkmans und der Korinna der
Fall ist. Aus der Entstehung der poetischen Gattungen in bestimmten
Gegenden erklärt sich deren dialektische Tönung, die dann im wesentlichen
das ganze Altertum hindurch festgehalten worden ist. So ist die Sprache
des Epos immer im wesentlichen die Homers, der lambographie die des
Archilochos und Hipponax, der Chorlyrik die des Stesichoros geblieben.
11. Vorzüge der griechischen Sprache. Die griechische Sprache
überhaupt hatte von vornherein für die Entwicklung der Litteratur außer-
gewöhnliche Vorzüge: der Wohllaut ihrer Vokale und die Weichheit ihrer
Konsonantenverbindungen, zusammen mit der Freiheit der Wortstellung
machten sie zu einem vorzüghchen Instrument des musikalischen Vortrags;
der Reichtum ihrer Flexionsformen, von denen der Ursprache gegenüber
in den Kasusformen einiges aufgegeben, dagegen infolge von Durchführung
der Modusformen durch die verschiedenen Zeiten und schärferer formaler
Differenzierung zwischen Medium undPassivum^) sehr viel gewonnen worden
ist, führte von selbst zum klaren, die verschiedenen Beziehungen scharf
scheidenden Gedankenausdruck; die Reinheit des Sprachschatzes ließ den
nationalen Charakter in voller Stärke hervortreten; die Mannigfaltigkeit
der Mundarten endlich ermöglichte eine den Stilarten sich anschmiegende
Modifizierung der allgemeinen Sprachmittel. ^)
12. Die Schrift. Neben der Sprache und den in der Sprache aus-
geprägten Ideen bildet ein drittes Element der Litteratur die Schrift; sie
ist es, die zumeist dazu beiträgt, den Schöpfungen des Geistes Dauer zu
verleihen. Die Griechen und Römer dachten sich sogar die Schrift so sehr
mit der Litteratur verwachsen, daß sie beide mit dem gleichen Wort^
yga/ujüiaTa litterae, bezeichneten. Das ist freilich einseitig; denn unauf-
gezeichnete griechische Dichtungen hat es ohne Zweifel auch vor dem
Gebrauch der Schrift und nach ihrer Einführung gegeben. Der Gebrauch
der Schrift zu Aufzeichnungen von Listen oder Weihungen auf Stein oder
Metall beginnt wahrscheinlich um den Anfang der Olympiaden: im T.Jahr-
hundert sollen Gesetzgeber, wie der Lokrer Zaleukos, schriftlich fixierte
*) E. Zarncke, Die Entstehung der griech. I chischen Sprache in dem Gebrauche ihrer
Literatursprachen, Leipzig 1890. i Mundarten. München 1808, Vermischte Schrif-
'^) Der Aoristus Passivi ist griechische tenIII375ff. H.L. Ahbbns, Kleine Schriften I,
Erfindung. ' Hannover 1891, 157 ff.
') F. Jacobs, Über einen Vorzug der grie- ,
A. Epos. 1. Yorlitterarische Anfänge der griechischen Poesie. (§§11—12.) 17
Gesetze an die Stelle mündlicher Spruchweisheit (^fjrgai) gesetzt haben, i)
Daß aber die Schrift schon früher für Aufzeichnungen auf flüchtigerem
Material (Leder, Membran, Papyrus) gedient hat, ergibt sich schon aus der
Tatsache, daß die nordsemitischen Buchstabenzeichen dem Handelsvolk der
Phöniker von den Griechen abgenommen worden sind, sowie aus dem offen-
sichtlich kursiven, nicht von Anfang an für Stein bestimmten Charakter
der ältesten inschriftlichen Buchstabenzeichen aus Kreta und Thera. Wie
weit freilich die Schrift in ältester Zeit schon zur Aufzeichnung um-
fangreicher Litteraturwerke benutzt worden ist, können wir nicht wissen.
Jedenfalls aber darf man gegen solche Verwendung nicht das Fehlen eines
Lesepublikums anführen, das ja auch im 5. Jahrhundert noch nicht vorhanden
war; die Aufzeichnung kann auch für Zwecke des Vortrags, der Erhal-
tung des richtigen Wortlauts'*) in der Sängerzunft gemacht worden sein;
für die Zeit des Archilochos ist die Anwendung der Schrift in poetischen
Episteln gesichert.^) — Die Schrift haben die Griechen nicht selbst
erfunden, sondern von den Aramäern durch Vermittlung der Phöniker
herübergenommen, und dieses zu einer Zeit, als sie bereits durch eine lange
Entwicklung aus einer ursprünglichen Bilderschrift zu einer Lautschrift
sich umgestaltet hatte. Die Griechen waren sich, wenn auch Palamedes
gelegentlich als Erfinder der Schrift genannt wird, des fremden Ursprungs
dieses wichtigen litterarischen Hilfsmittels wohl bewußt, indem sie die
Buchstaben, wie Herodot V, 58 bezeugt, ^oivixi^ia yga/i/^axa nannten.*) Die
Zeichen der Schrift wurden wahrscheinlich bereits im 10. Jahrhundert über-
nommen.*) Bei Anfertigung von Büchern gebrauchten die Griechen ehe-
dem ebenso wie die alten Perser das rohere Material von Ziegen- und
Schafhäuten (diq^>&eQai),^) Durch den alten, seit mykenischer Zeit bestehen-
^) Strab, ^.2b9: :tou)Toi de rofwtc: eyygdji' 1 Handbuch der griech. Epigraphik I, Leipz.
Toii /^»yortoi?a< jis.^ioTevuh'oi siolv (oi Aoxooi \ 1907. Eben diese Namen zeigen durch den
Ol 'E.itCetpvQtoi). Ausgang auf a, daß sie und somit die Schrift
') Dieser Gesichtspunkt ist besonders ! selbst auf das Aramäische zurückgehen,
bei kultlichen Formeln schon sehr früh maß- ■ *) So Ed. Meyer, Geschichte des Alter-
gebend gewesen, wie wir z.B. wissen, daß ' tumsII,Stuttg. 1893.380; WiLAMOwiTz,Hom.
die alte römische Arvalbrüderschaft ihre For- | Unt., Berl. 1884, 287. — Die Kyprier haben
mein aus Büchern ablesen mußte. ihre von der der übrigen Griechen abweichende
') Archilochos fr. 89 erwähnt bereits die ' Syllabar-Schrift nicht von den Phönikern ent-
axvtn/.tj, den um einen Stab gewickelten j lehnt (R. Meister, Griech. Dial. II, Göt-
Lederriemen zum Behuf brieflicher Mitteilung. I tingen 1889, 130). — Auch bei den „Myke-
*) Herodots Etymologie ist wahrschein- ■ näem" hat man den Gebrauch von Schrift-
lich falsch. Der Name (fotnxtjia für Buch- ' zeichen vermutet, aber die Sache ist sehr un-
staben war allgemeiner ionisch (Dirae ThIo- sicher. Sicher hingegen hatten die Kreter
rum bei Ch. Michel, Recueil d'inscriptions ' schon im 2. Jahrtausend v. Chr. eine Schrift,
Grecques, Bruxelles 1900, nr. 1318, 37), kommt : was durch die im Königspalast von Knossos
aber von der roten Farbe der Buchstaben auf ' gefundenen Täfelchen feststeht, wenn auch
Stein, die häufig gefunden wird (S. Keinach, i deren Entziffei-ung noch nicht geglückt ist.
Trait^ d'6pigraphie Grecque, Paris 1885, 149; ' Für die griechische Litteraturgeschichte hat
Bücheler-Zitelhann, Das Recht von Gortyn . übrigens die my kenische Schrift schwerlich Be-
1885, 2; A. Schiff. Festschrift f. 0. Hirsch- . deutung, zumal es wahrscheinlich ist, daß die
feld, Berlin 1903, 388; für altrömische Ge- ' Mykenäer und Kreter, deren Burgen man jetzt
seiztafeln Juv. sat. XIVM92). Eine sichere Be- aufdeckt, nicht echte Hellenen, sondern ein
stAtigung der semitischen Herkunft liegt aber Mischvolk mitnichtgriechischer Sprache waren,
in den Namen der Buchstaben, der Reihenfolge i ^) F. Blass, Paläographie, im Handb. der
und der Form derselben; s. A. Kirohhoff, ' klass.AlteiiumswissenschaftI2', 333if. Auch
Stadien zur Geschichte des griechischen AI- | die Aegypter gebrauchten vor dem Papyrus
phabets, 4. Aufl. Gütersloh 1887. W.Larpeld, . Leder zum Schreiben, die Lateiner Linnen.
Handbach der klass. Altertomswissonschaft VIT. 5. Anfl. 2
18
Ghriechische lätteraturgeschichte. I. Elaasische Periode.
den Verkehr mit Ägypten erhielten die Griechen die aus dem Mark der
Papyrusstaude (ßvßkog) verfertigten Rollen; seit etwa 200 v. Chr. machte
zunächst in Pergamon wieder das besser präparierte Pergament dem
Papyrus Konkurrenz. Aus dem Abschreiben von Büchern entwickelte sich
dann zur Zeit des peloponnesischen Krieges, zuerst in Sizilien und Athen,
ein lebhaft betriebener Buchhandel, der zugleich die Anlage von Biblio-
theken erleichterte.^)
13. Vorhomerische Poesie. Daß die griechische Litteratur in ihren
uns erreichbaren Anfangen von einer der älteren barbarischen Litteraturen
beeinflußt worden wäre, ist bis jetzt nicht erwiesen; insbesondere ist, je
mehr der Einfluß der ägyptischen Kultur auf die mykenische aus den
kretischen Ausgrabungen vor Augen tritt, desto merkwürdiger, daß das
ägyptische Schrifttum in keiner Weise auf das älteste griechische gewirkt
hat. Unter allen europäischen Litteraturen ist die altgriechische die einzige
vollkommen originale. An der Schwelle der griechischen Litteratur stehen
die lUas und Odyssee. Dichter, die so Großes und Vollendetes schufen, die
mit solcher Leichtigkeit und Meisterschaft die Sprache und den Vers hand-
habten, können nicht die ersten gewesen sein; sie müssen eine Reihe
von Vorgängern gehabt haben, durch die erst der sprachliche Stoff ge-
formt und der Boden geebnet wurde, auf dem sich der stolze Bau der
großen homerischen Dichtungen erheben konnte. Zunächt leuchtet ein, daß
die Litteratur nicht mit großartig angelegten, in behaglicher Breite sich
ergehenden Werken begann, daß diesen vielmehr eine Periode kurzer Er-
zählungen und kleiner Heldenlieder vorausging. Die homerischen Gedichte
tragen noch die deutlichsten Spuren jener älteren Sangesübung an sich,
ja sie haben zweifellos viele jener älteren kleinen Lieder in ihren neuen
Rahmen aufgenommen. Sodann sind dem altionischen Grundton des home-
rischen Dialektes viele ältere Formen, wie Genetive auf oio und aojv, In-
strumentale auf q)i, Infinitive auf ^levai, beigemischt, die nach Äolien und
zum Teil über das äolische Kleinasien hinaus weisen und in die homeri-
schen Gedichte nur aus älteren, nichtionischen Dichtungen gekommen sein
können. Ebenso macht es die Form des heroischen Hexameters wahrschein-
lich, daß er nicht das älteste und ursprüngliche Versmaß der Griechen
war, sondern aus anderen Formen hervorgegangen ist. Die Zusammen-
fassung von sechs Füßen zu einem Vers ist für einfache Zeiten und volks-
tümliche Lieder zu groß, und die bei Homer vorherrschende Cäsur nach
dem 3. Trochäus in Verbindung mit Resten asynartetischer Zusammen-
fügung der beiden Elemente, wie in
äXX' dxeovoa xd&j]oo, \ i/xo) d*ijiui€i&eo fiv^co {A 565),
vvv d' äye rija jueXaivav \ Feovooou^v eig äXa diav {A 141)
läßt uns vermuten, daß der Hexameter erst aus der Vereinigung zweier
kleineren, ehedem selbständigen Tripodien entstanden ist, daß also der
epischen Poesie mit ihren langen Zeilen eine andere vorausging, die kürzere
*) Th. Bibt, Das antike Buchwesen in
seinem Verhältnis zur Litteratur, Berlin 1882;
ders., Die Buchrolle in der Kunst, Leipz. 1907;
E.DziATZKO, Untersuchungen über ausgewählte
Kapitel des antiken Buchwesens, Leipzig 1900.
W. Schubart, Das Buch bei den Griechen
und Römern, Handbb. der k. Museen zu
Berlin 1907.
A. Epos. 1. Yorlitterarische Anfänge der griechischen Poesie. (§§ ]3— 14.) 19
Verse hatte und sich demnach mehr dem Charakter der lyrischen Poesie
näherte. Der Annahme von dreihebigen Verselementen ist aber nebst dem
deutschen Nibelungenvers insbesondere die Analogie des lateinischen National-
verses günstig, da auch der Saturnius sich in zwei dreihebige Teile zer-
legt. Übrigens braucht sich die vorhomerische Poesie keineswegs auf den
dreimal gehobenen Kurzvers beschränkt zu haben. Die Häufigkeit der
bukolischen Diärese bei Homer läßt z. B. den Schluß zu, daß es in älterer
Zeit auch eine kleine daktylische Strophenbildung aus vierhebigem Lang-
und zweihebigem Kurzvers gegeben hat. Überdies müßten auch die lyri-
schen Verse und Strophen, die nur durch die Zufälligkeit der Überlieferung
erst aus einer jüngeren Periode auf uns gekommen sind, zur Rekonstruktion
primitiver Verse beigezogen werden. LäßUchkeiten der prosodischen Tech-
nik i) der homerischen Hexameter sowie gewisser äolischer Liedverse, die
sich in mangelhafter Füllung besonders des ersten {priyoi &xi(pakoi) und
letzten (jueiovgoi)^ seltener eines in der Mitte liegenden (XayaQoi) Fußes
mit Silbenmaterial zeigen, lassen einen Blick in den vorhomerischen Vers-
bau tun.
14. Zu den an die Form der ältesten Poesie anknüpfenden Er-
wägungen^) kommt noch eine andere aus dem Inhalt geschöpfte hinzu.
Die homerische Poesie entstand in Kleinasien, in den vom europäischen
Festland ausgegangenen Kolonien. Die Verhältnisse des wohlhabenden, mit
der reichen Küstenentwicklung in den Weltverkehr hinausreichenden Landes
und die befruchtende Nachbarschaft der älteren Kulturvölker Phrygiens,
Lydiens und Lykiens mochten hier der aufstrebenden Entwicklung beson-
ders günstig gewesen sein.») Aber soll das Mutterland den Auswanderern
nur den kräftigen Arm und die nautische Geschicklichkeit, nicht auch den
Samen höherer Kultur und mit den religiösen Ideen und Bräuchen nicht
auch einen Schatz heiliger Gesänge und volkstümlicher Lieder mitgegeben
haben? Das werden wir von vorneherein nicht leicht bezweifeln wollen;
aber wir brauchen uns nicht mit bloßen Wahrscheinlichkeiten zu begnügen ;
wir haben bestimmte Zeugen einer aus der europäischen Heimat mit-
genommenen Poesie. Die Taten der Ilias spielen sich wohl auf asiatischem
Boden ab; aber daneben klingt durch Ilias und Odyssee ein reicher Nach-
hall von thebanischen, thessalischen, argolischen Sagen, und diese haben
alle eine so wirkungsvolle Darstellung, daß man auch für sie eine uralte
Verklärung durch die Poesie voraussetzen darf. Und wo thronen die Götter,
wo singen die Musen zur Phorminx des Apollon? auf dem Olympos,*) dem
*) Darüber s. bes. W. Schulze. Quae- *) Olympos. der halbmythische Flöten-
stionesepicae, Gütersloh 1892, und F. SoLMSBN, spieler. war ein Phryger; Haupttonarten der
Untersuchungen zur griechischen Laut- und
Verslehre, Straßburg 1901.
') Th. Bbrgk, Über das älteste Versmaß
Griechen waren die phrygische und lydische;
lykische Baumeister bauten die alten Burgen
der Achäer in Argos und Mykenai: dem
der Griechen. Kl. phil. Sehr. II 392 ff.; H.UsENER, Löwentor von Mykenai stehen ganz ähnliche
Altgriechischer Versbau, Bonn 1887. der über- j von Altphrygien zur Seite. Den Lydern haben
dies den Versuch wagt, die Tripodien auf ur- | die Griechen die Münzprägung abgelernt
sprttngliche Tetrapodien zurückzuführen; F. i *) Allerdings heißen erst in dem jungen
D. Allen, Über den Ursprung des hom. Vers- Schiffskatalog die Musen Ö/.vf4,-nddt<; Movom
maßes, Ztechr. f. vergl Spr 24 (1879) 556 ff. C. (B 491). aber auf dem Olympos. im Haus
HöBBiTZ, De vetustiore versus heroüci forma in i des Zeus, singen sie schon A 604. und Moroni
Homeri carminibus inventa. Progr. Berl. 1901. i 'OXvuma öwfiat^ Fj^ovaai heißen sie schon
2*
20 Griechische litteratnrgeschichte. I. ElassiBche Periode.
hochragenden Berg Thessaliens. Hier in Thessalien, an den Abhängen
des Olympos, im romantischen Tale des Peneios werden wir auch die
Wurzeln der griechischen Poesie suchen dürfen. Die Kultformen des bereit»
indogermanischen Heroendienstes mit den schon früh auch von Berufs-
sängern agonistisch vorgetragenen (Hesiod. op. 654 fif.) Lobgesängen auf die
verstorbenen Fürsten bei Begräbnis und Erinnerungsfeier boten eine feste
reale Grundlage für die stoffliche und formelle Ausgestaltung des Helden-
gesanges im Mutterland.^) Wir dürfen also nicht mit Homer die griechische
Litteraturgeschichte beginnen, wir müssen weiter hinaufsteigen zu ihren
Anfängen im europäischen Festland.
Von diesen Anfangen der griechischen Poesie und dem Inhalt der
alten vorhomerischen Lieder können wir uns wesentlich nur aus dem, was
die homerischen Gesänge uns lehren, eine Vorstellung machen.*) Denn die
überlieferten Namen der alten Sänger und die Erzählungen von ihrem Leben
sind nur geeignet, uns in die Irre zu führen, einmal weil mehrere der
Personennamen, wie Lines, Musaios, Eumolpos, erdichtet sind, und dann
weil auch an echte Namen, wie Orpheus, sich Vorstellungen aus Verhält-
nissen späterer Zeit angeschlossen haben. Das aber läßt sich unschwer
erkennen, daß die ältere vorhomerische Poesie eine doppelte war, einer-
seits lyrische, sei es hieratisch (Anrufungen und Verherrlichungen der
Götter) oder profan, anderseits epische Sagendichtung, die von den Ge-
schicken der einzelnen Stämme und ihrer Königsgeschlechter handelte.
15. Profane und hieratische Lyrik. Daß es schon in der frühesten
Zeit volkstümliche Gesänge, besonders auch Arbeitsgesänge gegeben habe,
müßte man annehmen, selbst wenn Homer solche nicht ausdrücklich er-
wähnte.*) Die Anfänge der hieratischen Poesie hängen unserer Überlieferung
nach mit dem Dienst der Musen und des Apollon zusammen.^) Die Musen
selbst,^) die wie viele Götter der alten Zeit in quellreichen Hainen verehrt
wurden,^) hatten ihre ältesten Sitze am Olympos in ThessaHen und am
A 218, 5 508, 77 112. Daß aber "Okvfi.^og (3. Aufl. 1902); C. Hbntzb, Philo!. 60(1901)
im echten Homer nicht die verblaßte Be- : 374 ff. ; Wilamowitz, Sitzber. der Berl. Ak.,
deutung , Himmel, Götterwohnimg", sondern ; 1902, 892 hebt eine mykenische Darstellung
die konkrete eines Berges in Thessalien hatte, von Bäckerinnen, denen ein Pfeifer spielt,
bemerkte bereits Aristarchos (K. Leiius, De hervor.
Aristarchi studiis Hom.', Leip. 1882, 163 f.); *) Die Ansicht von 0. Gruppe (Grie-
die Echtheit der Verse Od. <r42— 7, in denen chische Culte u. Mythen, Leipz. 1887, I 540 ff.)
eine verwaschenere Bedeutung hervortritt, ist über eine uralte, vom Orient aus beeinflußte
zweifelhaft, jedenfalls gehören sie der jüngeren Hymnenpoesie der Griechen harrt noch immer
Dichtung an. urkundlicher Bestätigung.
^) W. ScHMiD, Zur Geschichte des griech. *) Über die Zahl der Musen Haupt-
Dithyrambus. Progr. Tübingen 1901. FürBe- stelle Paus. IX 29, 2; nach ihr hießen die
urteilung des geschichtlichen Gehalts solcher drei alten Musen Mekiitj, Mvyfui, \4otdtj,
Enkomien kann, was Cicero Brut. 62 über die was auf die Zeit hinweist, wo bei dem Mangel
römischen laudationes funebres sagt, auch schriftlicher Aufzeichnung die Gedächtnis-
auf griechischem Gebiet gelten. Siehe auch
über altlakonische Enkomien Plut. Lyc. 21.
^) Fünf poetische Gattungen fanden die
Übungen eine Hauptsache waren; die Zahl
von neun Musen zuerst Od. oj 60. Siehe
Pbeller-Robert, Griech. Mythol., Berl. 1894,
alten Grammatiker bei Homer bezeugt (Schol. 484 ff. über den animistischen Charakter der
BT zu 11. .1 478): namvtxöy, ihjfjrtfTtxdr, v.too- Musen und ihre Verwandtschaft mit den Si-
yt]naiix6r, owq oorioTixdr und Fyxtoiiuaoitxor. renen E. Pfühl, Jahrbuch des arch. Inst. 20
3) K. BCcHER, Arbeit und Rhythmus, (1905) 83. 131.
Abh. der Sachs. Ges. der Wiss. 17 (1896) nr. 5 «) Tu. Berok, Gr. Lit. I 320 will gerade-
A. Epos. L Yorlitteransche Anfänge der griechiBchen Poesie. (§15.) 21
Helikon in Böotien.^) Vom Olympos und Pierien, wo sie an der Quelle Pim-
pleia und in der Grotte von Leibethron wohnten, hatten sie die Beinamen
'OXvfuztddeg und Iliegiöeq, und daß dort ihr ältester Sitz war, zeigt sich
Auch darin, daß Hesiod, der böotische Sänger, neben dem neuen Beinamen
^E)ux(oviddeq noch jene alten beibehielt. Diener der Musen hießen auch die
thrakischen Sänger späterer Tradition, die, in Pierien, Böotien und Phokis
heimisch, vielleicht auch zu einem Volksstamm des historischen Thrakien
in Beziehung standen.*) Bei diesen handelt es sich um Fiktionen, die ihre
Entstehung nicht litteraturgeschichtlichen Tatsachen oder Erwägungen,^)
sondern religiösen Tendenzen verdanken und im Zusammenhang stehen
mit der seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. in philosophischen und religiösen
Kreisen hervortretenden Opposition gegen die homerische Theologie.
Man fing nun in den apollinischen Priesterschaften von Delos und Delphoi
sowie in den dionysisch-orphischen Sekten an, Archegeten neuer,
priesterlicher Lebensideale vor Homer hinzusetzen.*) Damals ist auch
der ursprünglich griechische Sänger Orpheus, der noch von Piaton als
Grieche und Apollonverehrer angesehen wird,^) zum Weihepriester und
Dichter einer von thrakischen Religionsvorstellungen beeinflußten dionysi-
schen Sekte gemacht worden, ein Sinnbild der Verbindung zwischen apol-
linischer und dionysischer Religion, die sich im 6. Jahrhundert in Delphoi
vollzog. ö) Als Heimat des Orpheus galt Pieria am Olympos; '') dort, an
alten Sitzen orphischer Verehrung, in Leibethron und Dion zeigte man sein
Grab.®) Die Sagen, daß er, ein Sohn der Muse Kalliope, mit seinem Saiten-
spiel die Bäume und Felsen nach sich gezogen habe, daß er in die Unter-
welt hinabgestiegen sei, um seine Gemahlin Eurydike zurückzuholen, daß
-er als Sänger an der Argonautenfahrt teilgenommen habe und schließlich
2a die Musen mit den Nymphen identifizieren l Phil. 1877 S. 225 ff. — Nach den Thrakern in
und ihren Namen auf lydisch /itot« * t6 vöcog I Phokis und Böotien läßt die stammverwandten
<Hesych.) zurückführen. Eher ließe sich zu
dem partizipiaien fiovaai das Nomen vvfitpai in
dem Sinne , sinnende Mädchen* ergänzen.
Eine andere gewagte Deutung (Mdvrja Berg-
jungfrau) schlägt J. Wackbrnagel, Ztschr.
f. vergl. Spr. 33 (1895) 571 ff. vor.
nördlichen Thraker benannt sein P. Kbetsch-
MEB, Einleitung in die Gesch. der griech. Spr ,
Gott. 1896, 171 u. 242.
*) Es mag aber sein, daß das seit Ari-
stoteles (poöt. 1448 b 28; dann Cic. Brut. 71)
auftretende litterarhistorische Postulat einer
') Paus. IX 29; Strabo p. 410 u. 471. | vorhomerischen Poesie durch dieseFälschungen
') Solche Thr^er finden wir in Phokis ; vorbereitet worden ist.
bei Thuc. II 29, im böotischen Anthedon bei *) Plat. apol. 41 a erscheinen Orpheus
Lykophron 754 und Steph. Byz., in Delphoi und Musaios vor Homer und Hesiod.
bei Diodor XVI 24, bei dem Städtchen Dorion I ^) F. Weber, Platonische Notizen über
im Schiffskatalog 11. iB 595; im übrigen s. j Orpheus, Diss. München 1899; R.H.Woltjeb,
K 0. Müller, Orchomenos 379 ff.: G.H.BoDE, De Piatone praesocraticorum philosophorum
Gesch. d. hell. Dichtk., Leipz. 1838, I 99 ff. existimatore et iudice, Leiden 1904, S. 129 ff.;
Unterschieden werden sie von den historischen auch Plat. Tim. 40 d u. leg. X 886 cd beziehen
Thrakern bei Thuc. II 29. Die Späteren folgten , sich wohl auf Orpheus,
der seit Euripides verbreiteten Anschauung von | ®) E. Rohde, Psyche IP 52 ff.; ders., Kl.
der Identität der thrakischen Sänger und des | Sehr. II 300 ff.
barbarischen Volkes der Thraker. Daher die | •) Eur. Bacch. 561 ff. (vgl. Ale. 967 ff.;
Sage, daß die Leier des Orpheus von der Rhes. 944): Apoll. Arg. I 23 ff.; Paus. IX 30.
thnücischen Küste nach Antissa auf Lesbos. ") Paus. IX 303 ff. ; nach Dion ließ man
der Vaterstadt des Terpandros, geschwommen die Gebeine des Orpheus gebracht sein, nach-
sei; 8. Stob. Flor. 64, 14; G. H. Bode, Gesch. d. dem dort zur Zeit des makedonischen Königs
liell. Dichtk. I 143 ff.; A. Riese, Jahrbb. f. kl. • Archelaos musische Agone eingerichtet waren.
22
Griechische Litteratnrgeschichte. L ElasBische Periode.
von ekstatischen Frauen zerrissen worden sei, haben seine Person so in
mythisches Dunkel gehüllt, daß schon Aristoteles seine Existenz leugnete 0
und in kritischen Kreisen frühzeitig die Echtheit der unter seinem Namen
umlaufenden Gedichte bestritten wurde.*) — Als Schüler des Orpheus und
erster Aufzeichner von dessen Gedichten 3) galt Musaios;*) er war von
Pierien am Olympos mit den Thrakern nach Böotien an den Helikon ge-
wandert (Strab. 471) und hatte in Athen sein Grab gefunden (Paus. I 25, 7);
er und sein Sohn Eumolpos sind mit dem eleusinischen Geheimdienst der
Demeter eng verknüpft. Die von Musen und Gesang abgeleiteten Namen
der beiden Sänger erwecken wenig Vertrauen auf die persönliche Existenz
ihrer Träger. Pausanias I 22, 7 verwirft alle damals umlaufenden Gedichte
des Musaios mit Ausnahme eines einzigen auf Demeter für die Lyko-
miden gedichteten Hymnus, und auch dieser wird kein hohes Alter gehabt
haben. ^) — Mit dem Demeterkultus in Attika stand auch der alte Hymnen-
dichter Pamphos«) in Verbindung, der nach Pausanias Vin37, 9 vor Homer
gelebt und verschiedene Hymnen, darunter auch solche an Eros (Paus. IX
27, 2) gedichtet hatte. — Der jüngste der thrakischen Dichter war Tha-
myris (oder Thamyras), dessen Blendung durch die Musen, die er zum
Wettgesang herausgefordert hatte, der Dichter des Schififskataloges (Il./?594)
erwähnt.') Er wird von dem Schohasten und Suidas ein Sohn des Phil-
ammon genannt, der eine Erfindung der delphischen Priesterschaft ist.®)
^) Cic. de nat. deor. I 107. Vgl. Suidas:
'0^7^ i'C 'Odovatji; Lionoioq ' dimn'Oiog df lov-
T(n' ovÖF yFyorfvai kryei.
*) Platon als ältester Zeuge führt i'firoi,
ifkexnif j(ot)oitoMii und eine ihoym'ia auf ihn
zurück (Prot. 31 6 d, Crat. 4ü2b. vgl. Legg. IV
715 d und dazu die 8cholien: ferner Phileb.
66 c. reip. 364 e, Phaed. 69c, Ion 536 b) und zitiert
zwei kosmogonische Verse von ihm; s. Chr. A.
LoBEOK, Aglaoph. Elegim. 1829, 529 ff.; 0.
Gruppe, Die rhapsodische Theogonie und ihre
Bedeutung innerhalb der orphischen Litteratur.
Jahrbb.f.class.Phil.Suppl. 17(1890)687—747.
Die unter Orpheus' Namen auf uns gekom-
menen Gedichte ^Joyoravu^in, Atfhxa, rur(n
sind Fälschungen aus der Zeit n. Chr. und
werden unten in dem Kapitel von den Or-
phika zur Sprache kommen. Über die ün-
echtheit der übrigen Orphika und über Or-
pheus selbst brachte zuerst Licht Lobeck,
Aglaophamus 233 ff. Als Fälscher der or-
phischen ' Dogmata wird bei Schol. Aristid.
p. 545^ 1 ff. DiNi). der Athener Onomakritos
bezeichnet (s. u. S. 24). -Von einer auf Orpheus
zurückgeführten Aoo;;c xdi^odoc, in der eine
starke Benützung des homerischen Demeter-
hymnus bemerkbar ist, enthält ein Berliner
Papyrus s 1. a. Chr. Reste, die F. Bücheler,
Berliner Klassikertexte V 1 (1907), heraus-
gegeben hat. — Im ganzen s. E.Maass, Orpheus,
München 1895, besonders S. 76 ff. und dazu E.
RoHDK. Kl. Sehr. II 293 ff. Diener des Apollon
war Orpheus den Aelteren. Pindar P. 4. 176
und Aiachvlos in den Bassariden. Die Nach-
richten über ihn und die ihm und seinen An-
hängern, den Orphikem, untergeschobenen
Verse bei H. Dibls, Fragmente der Vorsokra-
Uker», Berl. 1901, 489—496.
») Berliner Klassikertexte V IS. 2 col. 1,4.
*) Suidas: Movaaios fia&rjtiß X)(jffF.(og,
ftäXXov 6f noFoßviFoog ' ijxfia^F yao xata tov
SevzFoor KFxoojta. E. Rohde, Kl. Sehr. 16,2;
J. TöPFPEE, Att. Genealogie 31. Die Reste
bei H. Dibls. Fragmente der Vorsokratiker*
496 ff.
'^) Aristot. polit. VIII 5 p. 1339b 22 führt
aus Musaios den Halbvers ßooioli; Pj^iorov
(iFiÖFtr an. Im 3. Jahrhundert n. Chr. treffen
wir auf einer eleusinischen Inschrift CIG 401
einen Hierophanten o? tfäftik; avi(ft}VF xnl
onyia ndvrv/n /irora/c EvftoXnov nooj(^FU)V
f/4F()dFooftr nna.
•) H.UsENEB, Göttemamen, Bonn 1896, 58
sucht hinter ihm einen Himmelsgott Hau-
^) Die Blendung läßt Homer bei dem
Städtchen Dorion in Elis geschehen; wahr-
scheinlich aber nannte die alte Sage Dotion
in Thessalien, wohin die Verbindung mit
Oichalia weist; s. Steph. Byz. u. Adirinr, und
B.NiESE, Der hom. Schiffskatalog, Kiel 1873.22.
Verse des Thamvris erwähnt Platon Ion 533 b
und leg. VIII 829 e.
®) Eusebios setzt den Philammon 1292
V. Chr. ; nach Pausanias X 7, 2 folgte Philam-
mon selbst auf Chrysothemis aus Kreta,
welche Insel bekanntlich mit dem delphischen
Priesterdienst in Verbindung gesetzt wurde.
A. Epos. L Yorlitterarische Anfänge der griechischen Poesie. (§ 16.) 23
Ein Geschöpf der delischen ApoUonpriesterschaft ist Ölen aus Lykien,
dem PausaniasVIII21,3 mehrere Hymnen, darunter einen an die Eileithyia
zuschreibt, und auf den Herodot IV 35 die alten in Delos gesungenen
Hymnen zurückführt, i) Pausanias X 5, 7 macht in oberflächlicher Deutung
der Stelle des Herodot den Ölen zu einem Hyperboreer und berichtet, daß
nach den einen dieser Ölen, nach andern Phemonoe, die Prophetin in
Delphoi, den Hexameter erfunden habe. 2) Sehen wir von dem Ursprung
aus dem Lande der .Hyperboreer ab, die von Hause aus der delphischen
Priesterlegende angehören, aber schon früh (Herodot IV 33) von der deli-
schen Priesterschaft aufgenonmien worden sind, so scheint Ölen Vertreter
des aus Lykien stammenden Apollondienstes zu sein und mit der Einführung
der Kreter in den delphischen Apollondienst zusammenzuhängen.^)
Lines war nachweislich keine individuelle Person, sondern nur Re-
präsentant einer alten Liedweise (Hom. II. 2! 570).*) Zwar machten
ihn der Historiker Charax bei Suidas und der Verfasser des Agon zu
einem Ahnen des Orpheus und somit auch des Homer; 5) aber trotzdem
uns auch noch Verse unter dem Namen des Lines durch Stobaios auf-
bewahrt sind und man sein Bild in einer Grotte am Helikon zeigte, 0) kann
es doch nicht zweifelhaft sein, daß es nie einen Dichter Lines gegeben
hat, und daß ihn nur die Mythenbildner aus dem Verse der Ilias 2* 570
IjLUQoev xi&dQiCe, ilvov ö' vno xaXöv äeide (seil. Tialg) herauslasen, indem sie
das Wort Xivov im Sinn eines Eigennamens faßten. Angeblicher Schüler
dieses Lines war der oben schon genannte Pamphos.
16. Bei dem heutigen Stand der kritischen Forschung bedarf es nicht
erst langen Nachweises, daß nicht bloß sämtliche Verse, die unter den
Namen jener hieratischen Dichter auf uns gekommen sind, sondern auch
alle diejenigen, welche die Alten kannten, von jüngeren Fälschern her-
rühren. Das Richtige sah bereits Herodot, indem er H 53 sagt: ol jiqo-
TEQOV jioiTjrai Xeyoßievoi tovtojv xibv ävdo(bv (^OjuiJQOv xal 'Iloiodov) ytv£oi}ai
vaxEQov ejuoiye doxhiv iyevovxoJ) Später hat dann ein sonst nicht näher
Erwähnt ist Philammon zuerst bei Hesiod ' erscheint schon bei Hesiod fr. 192 Rz.; vgl.
fr. 111 Kzach: rj (seil, ^äojvig) texev Avto- Carm. pop. 2. Die Linosmelodie war orienta-
Xvxoy ze 0udfifiovd ts xkvzor av^rjv. Vgl. 1 lischen Ursprungs und nach Herodot. 11 79
Schol. ad Od. r 432. Pherekydes (fr. 63 M.) I (vgl. Paus. IX 29, 7) über Phönikien. Kypros,
macht ihn an Orpheus* Statt zum Teilnehmer Aegypten (vgl. Plutarch de Isido 17) ver-
an der Argonautenfahrt. breitet; s. H. K. Bbuosch, Die Adonisklage
*) Nach Kallimachos hymn. IV 304 und das Linoslied, Berlin 1852; 0. Gbuppb,
scheint man damals noch in Delos einen 1 Die griech. Culte und Mythen 1543 ff.; Wila-
Nomos des Ölen unter Tanzbeglcitung ge- j mowitz zu Eur. Herakl. II 119 ff.
sungen zu haben.
*) Nach andern galt Orpheus als Erfinder
des Hexameters; s Lobeck, Agiaoph. 233.
^) Die Stammtafel gibt E. Rohde, Kl.
Sehr. I 8.
«) Paus. IX 29. 6; nach Paus. II 19, 8
') Auch von Melanopos in Kyme, den 1 befand sich in Argos sein Grab: bei Suidas
die Logographen in das Ahnenstemma des heißt er Xa).xtöevg. Vgl. H. Flach, Gr. Lyr.
Homer und Hesiod aufnahmen, hatte man I o ff.
nach Paus. V 7. 8 Hymnen. Hauptstelle für ") Ebenso Joseph, c. Ap. I 2: (Uro? jraoä
diese alten hieratischen Dichter: Herakleides | loT^ "EkXrjoiv ovdlv oftoAoyovjitn'ov FVQioy.Frai
Pontikos bei Plut. de mus. 3 mit dem Kom- ' ygdftftn rz/i,- 'Ou/joor .To<>;oewcr :zoFnßvTeoor,
mentar von R. Volkmann. Sext. Emp. adv. math. I 203: änj^aiordit) eoüv
*) Der Vers steht in der jungen Schild- 1) Vutigov noiijois ' Jionifia ydo ovöev .-iqfo-
beschreibung im Abschnitt von der Wein- 1 ffriegoy rjxn' eig tj^iäq Tijg fxfivov nouiaF(o;,
lese. Lines als personifizierter Klagegesang ! Schol. Dionys. Thrac. p. 785 Bekk.: fI xai
24 Griechische Litteratnrgeschichte. I. EXaesische Periode.
bekannter Epigenes, der nach Harpokration (unter "l(ov) vor Kallimachos
gelebt haben muß, in einer Schrift Tiegl xrjg elg ^Ogq^ea ävatpego/tJLivtjg
Tioujoecog^) die überlieferten Gedichte einzeln geprüft und den größeren
Teil derselben dem Schwindler Onomakritos zugeschrieben, der nach Hero-
dot VII 6 von dem Musiker Lasos aus Hermione über der Fälschung von
Orakelsprüchen des Musaios ertappt worden war. Es drücken sich daher
auch die guten Autoren, wo sie von Gedichten des Orpheus und jener alten
Sänger sprechen, mit zweifelnder Vorsicht aus, wenn sie nicht geradezu
den Namen des Orpheus durch den des Onomakritos ersetzen.*) Aber wenn
wir uns auch bezüglich der apokryphen Litteratur ganz dem ablehnenden
Urteil der alten und neuen Kritiker anschließen, so muß doch daran fest-
gehalten werden, daß es vor Homer Kultgesänge gegeben hat, wie denn
in der Ilias (.4 473; X391) der Paian auf ApoUon erwähnt wird. Unsicher
sind aber alle Namen von Dichtern. Über die oben Angeführten schweigen
Homer und Hesiod, wenn wir von der Stelle des jungen Schiffskataloges
i? 595 und den zweifelhaften Versen des Hesiod fr. 192 Rz. absehen.
17. Anfänge der Sagenpoesie.') Neuer Stoff und neue An-
regung wurden den Dichtern zugeführt, als sich im heroischen Zeitalter
ein lebhafter Tatendrang der Nation bemächtigte und die Wanderungen
der Stämme zu heftigen Kämpfen und mutigen Wagnissen führten. Die
Kämpfe jener ritterlichen Helden, die Ruhmestaten der einzelnen wie
die gemeinsamen Unternehmungen zu Land und zur See boten der Sage
reiche Nahrung, wobei es nicht fehlen konnte, daß die historischen
Taten und Persönlichkeiten vielfach umgeformt, typisiert, auch durch
Hereinziehung der Göttermythologie erweitert und ausgeschmückt wurden.
Schon auf dem Festland hatte sich auf solche Weise ein Schatz von
Mythen gebildet; er ward wesentlich bereichert, als im 12. und
11. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung*) infolge des Vordringens
löTOQovoi Tiveg jtoujtus Jigoysyerf^odai 'O^yiqov '. x^vrai Movoaim} xai X)g(f^t:(og, Der Sophist
Movoalm' ts xai XJofpea xai Aivov, dXX* oficos \ Hippias scheint nach Clemens Alex, ström.
oi^dfv :iQEoßvi€Qov rifg *lAidAo<; xai ^OSvoaeiai i VI p. 745 P. die Echtheit der Gedichte des Or-
otoCrrai .-loifjfia ' dXX' eoei rtg, nMg : K:rFi ygdfi- | pheus und Musaios nicht bezweifelt zu haben ;
fiara ow^avTai Jigeoßvrega ; xai (pafiev Sri rd < s. LoBECK a. 0. 336 f.
fih Tovuor iyevofih'ovg exovoi rovg ^gdvorg, ') G. W. NiTZSCH, Die Sagenpoesie der
td ds veo)jego)v nvojr Exdrrcoy 6iiwtn\niag rojv Griechen, Braunschweig 1852 ;K.MCllenhoff,
:TaXaio)v rag imygaf/ dg F^orm. Das war eben Deutsche Altertumskunde 1 8 — 73 wo indes
die Meinung des Aristarchos und der alexan- allzusehr die phönizische Sage als Grundlage
drinischen Kritiker. der griechischen betont ist; H. Usener. Der
*) dem. Alex. Strom. I p.397u.Vp.675P.; ' Stoff des griechischen Epos, Sitzb. d. Wiener
vgl. Lobeck. Aglaophamus p. 340 f. Siehe o. ! Ak. 137 (1897), betont das Mythische viel zu
S. 22, 2. stark auf Kosten des Geschichtlichen.
*) Aristot. de an. gen. II 1 p. 734a 19: h *) Eratosthenes und ApoUodoros setzen
töig xalovftn'otg X)n<pe(og f.ifoiv, ebenso de die Eroberung Troias 1184, die dorische
an. 15 p. 410b 28, und dazu Philoponos: Wanderung 1104, die Auswanderung der lo-
ijiFidtj liij doxel 'OgtjpFwg Ftrat xd f.^7}, <üs xai i nier aus Attika 140 post Tr. oder 1044 v. Chr.,
avTog Fv xolg nFgi qdoao(f.iag /JyFi ' ainov i was im wesentlichen mit den Ergebnissen
fih ydg eioi rd ddy/taia, xama Af (frjoiv 'Ovo- | der Forschung über die Chronologie des ,my-
ftdxgiTov h' Kt f Ol xaraiFTrai SextEm^'iT.Vyrrh. kenischen* Zeitalters (Untergang der myke-
III 30 und adv. math. IX 361 sagt schlechtweg nischen Kultur ca. 1 100 v. Chr.) übereinstimmt.
Xh'ofidxnixog h' xoig 'Ogqixotg. Weder Zweifel , Über den verschiedenen Ausatz der Troika
noch Zustimmung enthält der Ausdruck | selbst s. F. Jacoby, Das Marmor Parium,
Piatons reip. II 3G4e: ßtßkwv ouaöov jiagi- . Berlin 1904, 146 ff.
A. Epos. 1. Yorlitterarische Anfänge der griechischen Poesie. (§§ 17 — 18.) 25
thessalischer Völkerschaften nach Böotien und der Wanderung der Derer
nach dem Peloponnes die alten Bewohner der bedrängten Länder nach
Eleinasien auswanderten und dort unter mannigfachen Kämpfen neue Reiche
und Niederlassungen gründeten. Bei der Übersiedelung nach Kleinasien
vollzog sich eine sehr wichtige religiöse Veränderung, die auch auf die
Sagendichtung einwirkte: das kleinasiatische lonien der homerischen Zeit
kennt keinen Heroenkult mehr. Daraus ergibt sich, daß hier der Dichter
der Heldensage mit viel weniger religiöser Befangenheit und viel mehr
ästhetischer Freiheit gegenübersteht als der mutterländische Dichter der-
selben Zeit. Die Auswanderer brachten nun die alten mutterländischen
Sagen mit in ihre neue Heimat, aber auch die Ereignisse der Wanderung
selbst bildeten sich mit Notwendigkeit in dieser illitteraten Periode als-
bald zu Sagen um. Solche Sagen gestalteten sich von selbst bei einem
begabten Volke, das an Saitenspiel und poetische Sprache gewöhnt war,
zum Gesang, und der Gesang selbst wieder verklärte die Sage und gab
ihr reichere Gestalt und festere Dauer. Das ganze Volk zwar dichtete
nicht, immer nur ein einzelner gottbegnadeter Sänger schuf den Helden-
gesang; aber indem der einzelne Dichter nur die im Bewußtsein seiner
Hörer lebende Sage wiedergab und sich in seinem Singen und Dichten
mit seinem Publikum eins fühlte, ward sein Gesang zum Spiegel einer
allgemeinen Stimmung und trat seine Person ganz hinter dem Inhalt
seiner Dichtung zurück. Übrigens ist zu beachten, daß die alten Sänger
in den östlichen Ansiedelungsgebieten abhängige Leute (dTjjuioegyoC) waren,
keineswegs in der Lage, ihrem Publikum, der äolischen oder ionischen
Adelsgesellschaft, etwa ihre eigenen Anschauungen von Welt und Leben
vorzutragen oder reformatorisch zu wirken, daß sie also nur ein dem Sinn
der Adelsgesellschaft im ganzen konformes Weltbild entwerfen konnten und
wollten. Mit diesem beträchtlichen Vorbehalt mag das homerische Epos
und was an epischen Dichtungen vor ihm liegt, als Volksepos angesprochen
werden. Daß bei Homer nur das spezifisch ionische Leben geschildert
werde, empfanden die Derer deutlich (Plat. leg. IH 680 c).
18. Das heroische Epos ging naturgemäß von der Dichtung kleinerer,
balladenartiger Lieder aus, von denen die Serben in ihren epischen Volks-
liedern, wir Deutsche in unserem Hildebrandslied Beispiele haben. i) Der
Dichter von solchen Liedern, die wie vordem sich als Diener Apollons und
der Musen fühlten,*) gab es natürlich viele vor Homer; ja es hat große
Wahrscheinlichkeit, daß die Äolier und Achäer aus ihrer europäischen
Heimat schon festgeformte Heldenlieder mit nach Asien brachten. Die
') Beachtenswert sind besonders die zum großen einheitlichen Epos gekommen.
Volkslieder der Serben aus der Zeit ihrer Vgl. E. Drerüp, Homer (Weltgeschichte in
Kämpfe gegen die türkischen Bedrücker; es Karakterbildem). München 1903 S. 17 fF.
zeigt sich nicht bloß in ihrem Vortrag durch i *) Od. 0 488. Daher riefen sie die Musen
blinde Sänger zu einem Saiteninstrument, der im Eingang an : der formelhafte Vers fojTFre
Gusle, eine merkwürdige Aehnlichkeit mit vvvi4oi MnvaaiY)?.rt4madwfiai*ex"voni stammt,
dem griechischen Heldengesang, sie lassen | wie das vorionische fo.tftf und die Erwäh-
auch am besten die Vorstufe des homerischen , nung des Olympos zeigt, aus alter, vorhome-
Epos erkennen. Denn die Serben sind bei rischer Zeit. Ihr Gesang gilt so als Ein-
den Einzelliedem stehen geblieben, nicht gebung der Gottheit; vgl. Od. q 518, x 347.
26 Oriechische LitteratargeBchichte. L ElassiBche Periode.
Dichter, zugleich Sänger ihrer Dichtungen, bildeten einen eigenen Stand,
anderen Handwerksständen {drj^oegyol) analog (Od. t? 481 qpvkov äoidcbv;
Q 383 ff.). Sie traten meist an den Höfen der Fürsten auf, ihren Vortrag
mit einem kleinen, dünnklingenden Saiteninstrument (xl&aQig, (poQjLuyS, Xvga)
begleitend, und sangen ihre Lieder als dva^/iata dairog, wenn die Gäste
gesättigt waren (Od. a 152; ^ 72 ff.; i7; o 270 f.; 9? 430; x 352; Hesiod.
fr. 163 Rz.). Wie sonst bei primitiven Völkern^) waren die Sänger meist
arme, alte, blinde und zu anderen Verrichtungen unbrauchbare Leute.
Namen jener älteren Dichter sind uns unbekannt; denn Phemios und De-
modokos in der Odyssee sind gemachte, redende Namen.*) Aber die
Sagenkreise kennen wir durch die Epen, die aus ihnen den Stoff
nahmen, und durch die Andeutungen, die Homer über sie gibt.^) Sie
waren geteilt nach den Landschaften, da fast jede Landschaft ihre
Stammeshelden und ihre sagenhafte Geschichte hatte, so daß man von
einem thessalischen,^) thebanischen, argivischen, elischen, attischen, äto-
lischen, kephallenischen, kretischen Sagenkreis spricht. In den Vorder-
grund des allgemeinen Interesses und der volkstümlichen Erzählung traten
die nationalen Helden und die mächtigen Stammeskönige der Vorzeit, wie
die Atriden und Peliden bei den Achäern, die Labdakiden bei den The-
banern, Theseus bei den Attikern, Herakles bei den Dorern. Der Faden,
an dem die Helden und Könige verschiedener Stämme aufgereiht werden
konnten, war gegeben durch sagenhafte Gesamtexpeditionen größeren Stils.
So wurden Lieblingsgegenstände der Sage und des Heldengesangs die
Kämpfe der Sieben gegen Theben und die Einnahme der Stadt durch die
Epigonen, '^) die Fahrt der Argo vom Hafen lolkos am pagasäischen Meer-
busen nach dem Hellespont und dem fernen Kolchis,«) der zehnjährige
^) Vgl. Jon. Schmidt, De Herodotea quae Terpiaden; er ist der Übermittler der neuen
fertur vita Homeri, Halle 1875, 61 fF.; Cl.Faü- | q^fifiai^ die den Hörer ergötzen (vgl. a 351,
RiEL, Ohants populaires de la Grece moderne, ^74); aber auch Demodokos ist der vom
Paris 1824, p. XCff.; B. Schmidt, Volksleben Volk mit Ehren aufgenommene (vgl. i9479f.).
der Neugriechen, Leipz. 1871, 187; für die In der Ilias übt den Gesang auch einer der
Aegypter H. Erman, Aegypten 342; für die i Helden, Achilleus IL 1 186 ff.
Borystheniten Dio Chr. XXXVl 10: für die 1 ') Die Anschauung von B. Niese (Die Ent-
Serben Globus 86, 91. Ganz falsch ist die ! wicklung der homerischen Poesie, Berl. 1882),
Auffassung von C. Fries, Rh. Mus. 57 (1902) ! als wären alle bei Homer beiläufig erwähnten
265 ff. In den homerischen Gedichten ist Sagenzüge Improvisationen der Sänger ohne
der Typus des blinden Sängers, unter dem volkstümlichen Rückhalt, widerspricht allen
späterhin Homer selbst (nach Hvm. Ap. sonstigen Analogien (vgl. die Anspielungen
Del. 172) vorgestellt wurde, durch Demo- im Beowulf 879 ff., 1071 ff., 1728 ff. Heyne
dokos (Od. {> 63 ff.) vertreten (eine ätio- , auf Sigmund den Drachentöter) und ist mit
logische Motivierung für die Blindheit, analog j Recht verworfen von E. Thbamer, Pergamos,
deijenigcn, mit der bei Apoll. Rhod. Arg. II Leipz. 1888, 100 ff.
181 ff. die Blindheit des Phineus erklärt wird, ; *) Von thessalischen Sagen wurde ins-
ist II. B 597 ff. gegeben). — Die homerischen besondere früh besungen die Fahii der Argo-
Gedichte geben in diesem Stück ein in allem
Wesentlichen geschichtlich zu nehmendes Bild
der frühesten Sangesübung; nur wenn Od.
{y 496, /. 367 der Vortrag des doibög mit xara-
nauten und der Kampf der Lapithen und
Kentauren; auf die erstere geht Hom. Od.
fi 69, auf den letzteren Hom. II. A 263—8,
Od. (p 295 ff. Hesiod scut. 178 - 190.
UyEn' (rezitieren) bezeichnet wird, so ist das ! *) Erwähnt II. J 378 ff., 405 ff.; £'801 ff.;
ein Anachronismus ; Od. 7' 406 ff. ist die soli- Z 222 ff.
darische Verbindung zwischen Gesang und ®) Od. /t 70 an einer jungen Stelle:
Phorminx lichtig gegeben. 'ÄQyo) jiäot fjilovoa. Die Ausdehnung der
'') Klar ist das bei Phemios [fpii^tti) dem | Fahrt bis nach Kolchis stammt natürlich
A. Epos. 1. Yorlitterarische Anfänge der griechischen Poesie. (§ 19.) 27
Kampf um Bios,') die Feste des Königs Priamos. Diese großen verbinden-
den Sagenmotive nahmen die einzelnen Stammsagen in ihren Rahmen
auf und führten von selbst über den Horizont kleiner Einzellieder hinaus
zu großen Epen oder Liedercyklen.
19. Der troisehe Sagenkreis. Von den verschiedenen Sagen-
kreisen erhielt im Verlauf der Zeit der jüngste, erst in Asien infolge der
Kolonisation ausgebildete, der troisehe, die größte Beliebtheit.*) Er war
nicht bloß der neueste,») er bot zugleich das meiste Interesse für die Ab-
kömmlinge der alten Geschlechter, da er mit den neuen Ruhmestaten der
Aoler in Kleinasien die Erinnerung an die alten Geschlechter der euro-
päischen Heimat verband; er trat überdies früh mit seiner Verbreitung
über die ionischen Kolonien aus den^ Rahmen einer äolischen Lokalsage
heraus, indem er auch die Helden der Achäer des Peloponnes, der lonier
Attikas und zuletzt selbst den dorischen Heraklessohn Tlepolemos an dem
Kampf gegen Troia sich beteiligen ließ. Wie alle echten Heldensagen, so
hatte auch die troisehe einen historischen Hintergrund, nämlich Ansiedlungs-
versuche, die im 11. Jahrhundert v. Chr. Äoler aus Südthessalien und
Böotien an der nordwestlichen Küste von Kleinasien machten. Die Grie-
chen fanden hier eine ältere Bevölkerung vor, und die neuen Ansiedler
werden den Boden nicht ohne schwere Kämpfe den alten Einwohnern ab-
gerungen haben.*) Diese Kämpfe gaben der Sage und dem Lied Stoff
und wurden nach der alten berühmten Hauptstadt der Landschaft, der
Feste des Priamos, verlegt, wenn sie auch tatsächlich um die von den
Äolern zuerst eingenommenen Inseln Lesbos und Tenedos und die kleineren
Städte am adramyttenischen Meerbusen stattgefunden hatten.^) Von dem
wirklichen Schauplatz der Kämpfe haben sich noch Andeutungen in Epi-
soden der Ilias von den Unternehmungen des Achilleus gegen Lesbos
(/ 129) und die Städte Theben, Lyrnessos, Pedasos, Chryse (.4 366, // 153,
F92) erhalten. In unserer Zeit hat man durch die Ausgrabungen von
Mykene Kenntnis von dem Hauptsitz einer älteren, der äolischen Koloni-
aas späterer Zeit. Auf die Argonautensage vom teuthrantischen Krieg. Vgl. P. Cauer,
geht auch die Stelle // 467—75 von Buenos, N. Jahrbb. f. das klass. Altert. 15 (1905) 14;
dem Sohn des lasen und der Hypsipyle, derselbe, Jahresber. über die Fortschr. der Alt.
femerx 137— 9, /< 61— 72, /. 14—19, welche j XXX Bd. 112, 77 erinnert gut daran, daß
Stellen jedoch zum Teil der Interpolation die Idee einer Eroberung Troias gerade in
verdächtig sind. | den älteren Partien der Ilias zurücktrete.
*) Der Name Troia ist nicht griechisch; ') Die äolischen Kolonien in der Land-
er findet sich mehrfach für Oertlichkeiten ' schaft Troas gehörten nicht zum alten äoli-
etruskischen Gebietes in Italien (K. Schmidt, sehen Städtebund und sind kaum vor dem
Berl.philol.Woch. 26(1906)1585). — Analoge 7. Jahrb. gegründet worden; aber deshalb
zentralisierende Handlungsmotive sind im konnte doch die Sage schon vor Gründung
irischen Volksepos die Wiedergewinnung des jener Kolonien die Kämpfe der Achäer vor
Stiers von Cooley (Gott. Gel. Anz. 1906 524 f.),
im serbischen die Belagerung von Wien 1683.
») Isoer. 4, 158; 9, 6.
die alte Hauptstadt des fremden Landes ver-
legen. Für die Auffassung von der Art, wie
sich in der Sage Personennamen, Charakter-
•) Was die Neuheit des Gesanges aus- i typen, Handlungsmotive, Geschichtliches und
macht, deutet Homer Od. « 351 an: ti/v yäo Typiach-Novellenhaftes in- und durcheinander-
doidijv [läilov enix/.eiovo* ävi}Q(07ioi, fj xig schieben, ist noch immer vorbildlich die aka-
axovoyjeöat vecoTazrj dfi(ftjTFX?jTai. Vgl. i!^ 74. demische Antrittsrede von L. Uhland über
*) Spuren von langen und erfolglosen die Sage vom Herzog Ernst (Schriften zur
Kämpfen bewahrt die alte von E. Thbämkr j Geschichte der Dichtung und Sage V 323 ff.).
(Pergamos 161 ff.) richtig verstandene Sage !
28 Oriechische litteratargeschichte. I. KlassiBche Periode.
sation um drei bis vier Jahrhunderte vorausliegenden Kultur Griechenlands
erhalten; und da in der Ilias Agamemnon, der Herr Mykenes, Oberkönig
der Griechen ist, und da die Streitwagen und Rüstungen der troischen
Helden zum Teil unverkennbare Ähnlichkeiten mit bildlichen Darstellungen
aus Mykene haben, 0 so lag es nahe, die troische Sage mit der my keni-
schen Kultur und dem alten Reich auf der Pelopsinsel in Verbindung zu
setzen. Der Verfasser der Geschichte des Altertums, Ed. Meyer H § 133,
hat diese Kombination gewagt, indem er die ganze troische Sage aus
einem Heereszug peloponnesischer Fürsten oder des Königs von Mykene
und seiner Mannen hervorgehen ließ. Aber von einem alten Zug der pelo-
ponnesischen Herrscher nach dem Nordwesten B^einasiens wissen wir nichts,
und der Hauptheld der Ilias ist nicbt Agamemnon, sondern Achilleus, der
König der südthessalischen Äoler, wie auch in Aulis und nicht in einer
Hafenstadt des Peloponnes sich die Schiffe der Achäer zum Heereszug
nach Kleinasien sammeln.*) Wir werden also bei der alten Annahme
bleiben, daß nicht Unternehmungen der Mykenäer den Ausgangspunkt der
troischen Sage bildeten, sondern daß nur der Ruhm des altberühmten
Herrscherhauses von Mykene in die jüngere äolische Sage eingeflochten
wurde. Die äußere Größe der Macht geht aber nicht immer Hand in Hand
mit der Entfaltung der Sage und Poesie; auch in Böotien redet die Sage
und Dichtkunst von Theben, schweigt aber so gut wie ganz von dem
mykenischen Orchomenos. — Nicht in der Sage, sondern im Märchen
wurzelt die Gestalt des Odysseus (s. unten S. 32), die, allmählich von
Schiffersagen umsponnen, erst verhältnismäßig spät an den troischen Kreis
angeschoben, von den ionischen Epikern aber mit Geschicklichkeit zu
einem Gegenstück gegenüber den altäolischen Rittercharakteren heraus-
gearbeitet und immer mehr in den Mittelpunkt der troischen Aktion (jttoAi-
jToodogy) gestellt worden ist. Die Spuren dieses ümbildungs- und Um-
*) WoLFo. Rbiohel, über homerische \ und sie durch äolische Kolonisten nach
Waffen, Abh. d. archäol.-epigraph. Sem. in Kleinasicn getragen sein läßt. Dieser Hypo-
Wien 1894, 2. Aufl. 1901. these ist namentlich der Doppelname Ale-
^) Gegen Ed. Meyer, dem wenn auch in xandrosParis günstig: aber die Nachricht dea
vorsichtiger Wendung Jül. Schultz, Das Lied unzuverlässigen Istros bei Plutarch. Thes. 34
vom Zorn Achills. Berl. 1901, 99 beitritt, hat die von einem Kampf des Achilleus und Patroklos
alte Anschauung von dem äolischen Hinter- mit einem gewissen Alexandros bietet doch
grund der troianischen Sage gut veiteidigt P. eine zu schwache Stütze für eine so kühne
Cauer. Grundfragen der Homerkritik, Leipz. Annahme. Gegenüber diesen und noch gewag-
1895, S. 133, wenn auch seine Hypothese, daß teren Kombinationen Betues (N. Jahrbb.18,
Homer unter Argos nicht das peloponnesische. 1904, 1 ff.) mahnen mit Recht zur Besonnenheit
sondern thessalische Argos verstanden habe, P. Cauek (N. Jahrbb. 15, 1905, 1 ff.) und 0.
zweifelhaft ist. — Daß der Dichter auch CRUsius(Sitz.ber.derMünch.Ak. 1905, 749ff.).
einer späteren Zeit noch Formen einer älteren — In ähnlicher Weise faßt E. Dberüp, Homer
Kultur beibehalten konnte, hat mit Bezug auf S. 116 seine Meinung von dem Ursprung der
die mykenische und homerische Frage gut Ilias dahin zusammen, daß der Achilleus-
ausgeführt W. Helbig, Sur la question my- mythus im äolischen Thessalien entstanden
c6nienne, M4m. de l'acad. des inscr. 35 (1896) sei. dann auf seiner Wanderung nach dem
291 ff., besonders p. 338. — Einen neuen Peloponnes eine Verbindung mit dem Helena-
Weg schlägt E. Bethe ein, indem er in einem mythus erfahren habe, und daß endlich die
geistreichen Vortrag. Die Sage vom troischen Weiterbildung der Sage und ihre Zusammen-
Krieg (N. Jahrbb. f. Phil. 7, 1901. 658 ff.), die fassung im Epos der ionischen Periode des
Heimat der troischen Sage in dem griechi- griechischen Heldengesangs angehöre,
sehen Mutterland, im Tal des Spercheios sucht ') Siehe u. S. 30, 1.
A. EpoB. 2. Homers Iliafl und Odyssee. (§ 20.) 29
deutuDgsprozesses, der dann in den cyklischen Epen zu Ende geführt ist,
treten sehr deutlich in der Dias hervor.
2. Homers Ilias und Odyssee.
20. Ilias. Aus dem troischen Sagenkreis sind die zwei großen, welt-
berühmten Dichtungen Homers hervorgegangen, die Ilias und die Odyssee,
von denen die eine kriegerische Szenen aus den Kämpfen vor Ilios, die
andere Bilder der Seefahrt und des Lebens an den Fürstenhöfen im
Anschluß an die Heimkehr der Helden enthält. Der Name Ilias der
ersten Dichtung ist nicht ganz passend und stammt gewiß nicht von dem
Dichter selbst her. Die kleine Dias begann mit ''IXiov äeidco xai Aagöavirjv
ivnwXovj und sie wird zuerst von jenem Vers den Namen Dias erhalten
haben. Aber der Ruhm der Helden vor Ilios knüpfte sich an das ältere,
größere und berühmtere Werk, und so werden die Homeriden das kleine
Gedicht 'IXidg juixQa, das große des Homer hingegen ^Ridg schlechthin ge-
nannt haben. In der Tat erzählt die Dias nicht den ganzen zehnjährigen
Krieg um die Feste Ilios, sondern nur einen Teil aus dem letzten der
zehn Jahre, der sich um die Entzweiung des Oberkönigs Agamemnon und
des tapfersten Recken der Achäer, des Achilleus, gruppiert.^) Mit jtifjviv
äeide &eä Ilrjkrjiddea) *Axdfjog hebt das Proömium der Ilias an, und Mtjvig
AxdXFjog oder *AxiU.rjtq wäre wohl auch das Gedicht überschrieben worden,
wenn es nicht in seinen Rahmen Gesänge aufgenommen hätte, die zwar
auch den Zorn des Achilleus zur Voraussetzung haben, aber ganz dem
Preis anderer Helden gewidmet sind. Mit glänzender Meisterschaft aber
hat der Dichter nicht den ganzen Krieg zu besingen sich vorgenommen,
sondern nur eine Handlung aus ihm herausgegriffen,*) die sich in wenigen
Tagen (51)3) abspinnt und dem Ganzen einen einheitlichen Mittelpunkt
gibt. Diese eine Handlung ist aber dann auch, wie es Aristoteles verlangt,
vollständig besungen, so daß das Ganze Anfang, Mitte und Ende hat.
Ohne langwierige Orientierung über den Stand des Krieges und die Kämpfe,
die vorausgegangen, werden wir mitten in die Sache,*) in den Ausbruch
des Streites zwischen Achilleus und Agamemnon, hineingeführt. Mit der
Beilegung des Zwistes und dem, was davon untrennbar war, der Rache,
die Achilleus an Hektor, dem Überwinder seines Freundes Patroklos nimmt,
schließt das alte Gedicht. Die Mitte umfaßt die Leiden, die der ver-
derbliche Hader den Achäern gebracht hat. Da aber der griechische Sänger
vermeiden wollte, auch nur in einer Phase des Krieges die Barbaren stets
siegreich sein zu lassen, so werden der schweren Niederlage der Achäer
') Dasselbe Motiv dominiert in der ar-
menischen Volkssage von Chosra mid Rostem
(B. Chalatianz, Zeitschr. f. Volkskunde 14
290 ff.).
he ev fi^oa; cuiokaßcov i.ieioodioig yJxQV^^
.loV.oTc.
^) Zenodotos rechnete 1 Tag weniger als
Aristarchos, worauf mehrere Scholien gehen ;
*) Aristotpoöt. 23 p. 1459a 31: j9fa.T/ö/os darüber K. Lachmann, Betrachtungen über
ay ffaveiti T)^rjgog jtaoä xovg äkkavg ko urjbs I Homers Ilias^ S. 90 ff. ; Th. Bebqk, Kl. Sehr.
zav noXefACV xalneg f/oiT« dgxrjy xai ze?.og II 409 ff.
ejiiXetQTjoat nottiv oXov kiav yoQ av /leya xai ; *) Trefflich erkannt von Horaz a. p. 148 f.:
ovx evoiyvoTixov r/jieXXer soeoüai tj uo fieyißsi in medias res nan secus nc noias auditoreni
ftrtgidCov xarojtejiXeyfih'ov jfj notxiXiff vvv rap<7 nach Aristot. po^t. 1460 a 10.
30 Griechische Litteraturgeschichte. I. Klassische Periode.
und dem Sturm auf das Schiifslager glänzende Siegestaten des Agamemnon,
Diomedes, Aias gegenübergestellt,^) und um die Handlung nicht allzu ein-
fach verlaufen zu lassen und die Aussöhnung des Achilleus zugleich auf-
zuhalten und zu motivieren, kommt zuerst Patroklos mit den Myrmidonen
des Achilleus den bedrängten Achäern zu Hilfe, und nun überwindet in der
Brust des edlen Helden der Schmerz über den Fall des Freundes den Groll
über die schmähliche Zurücksetzung. Das sind die Hauptzüge der Hand-
lung, die dem Geiste des Dichters von Anfang an vorschwebten; denn ge-
wiß nicht ohne Vorbedacht läßt er den Achilleus schon im ersten Gesang
A 240 ff. drohen:
7j Jtox* *AxMfjog nodrj i^erai vlag ^Ayaicov
avjLuiavrag' rote d' ov ri dvvrioeai dx^vv/bievog neg
XgaiojLieiv, evx äv JiokXoi u(p* ''Extogog &vdQoq?6voio
ävfjoxovreg nijTxcüOi,
Aber jene Hauptzüge sind nur die Angelpunkte der Handlung; reichere
Ausschmückung und Erweiterung brachte die Ausführung des Planes. Da
sind teils Episoden eingewoben, wie der Abschied Hektors von Andromache,
das nächtliche Kriegsbild der Doloneia, der Tod des Lykierfürsten Sar-
pedon, die Betörung des Zeus, der Flußkampf, teils ist für einen weicheren
Ausklang des wilden Kampfgetümmels durch die Leichenspiele des Patro-
klos und die Lösung Hektors gesorgt, teils endlich ist die Haupthandlung
selbst durch die Einlage einer Gesandtschaft an den hartherzigen Achilleus
komplizierter gestaltet.*)
Nach der heutigen, von den alexandrinischen Gelehrten herrührenden
Einteilung zerfällt das Ganze in 24 Bücher oder Rhapsodien. Dieser Ein-
teilung liegt ein ganz äußerliches, von der Zahl der Buchstaben her-
genommenes Motiv zugrund, wodurch teils ganz Verschiedenartiges, wie
die Volksversammlung und der Schiffskatalog, in einen Gesang zusammen-
geworfen, teils Zusammengehöriges, wie die Betörung des Zeus {Aiog äjidirf)
und ihre Folgen, in zwei Gesänge auseinandergezogen wurde. "Dem Plan
des Homer und der Vortragsweise der Rhapsoden führen uns die alten
Namen näher, von denen mehrere Älianus Var. bist. 13, 14 erhalten hat:
xä '^OjiOjQOu ¥jir} JigoxEQOv ÖijjQtjjnh'a fjdov oi naXaioi ' olov ikeyov Ttjv ijü
vavol jtid/j]v (iV) xal Aok(ovetdv xtva {K) xai ^Agioxfiav ^Ayajuejiivovog {A) xal
NfO)v xaxdXoyov {B 484 — 760) xai üaxgoxXeiav {HP) xal Avxga (ii) xal
'Em Ilaxgoxhp ä»Xa {W 262—897) xal 'Ogxmv äq^dvioiv (A 1—222).»)
21. Odyssee. Der Name der Odyssee ("Odvoaem) kommt von Odys-
seus, dem Träger der Handlung her und ist wahrscheinlich durch den
ersten Vers des Proömiums 'Avdga ßioi hwene Movoa nokvxgojiov veranlaßt.
Aber eine Odyssee im vollen Sinne ist auch dieses Gedicht nicht. Manches
*) Odysseus hat in der Ilias keine oqlo' , gegeben wird, liegt nicht im Geist der alten
Tf/rt (eine Art Surrogat dafür gibt die späte i und echten Troiasage.
Dolonie Buch Ä), ein Beweis neben anderen 1 ^) Die Gesandtschaft des Buches / machte
dafür, daß er von Hause aus mit der troisclyen | wiederum die Einlage eines dritten Unglück
Sage nichts zu tun hat. Die Einnahme Troias
durch List, um deren willen ihm schon an
einigen späten Stellen der Ilias [li 278; A' 363)
und in der Odyssee der Beiname nToU:iooi>og
lieh verlaufenden Schlachttages, die xolos
jLidxn des Buches H, notwendig.
') Näheres im 1. Kapitel von W. Christs
Prolegomena zur Ilias.
A. EpoB. 2. Homers Ilias nnd Odyssee. (§21.) 31
ist zwar aus dem früheren und späteren Leben des Helden vermittelst
der Kunst episodischer Einlage herangezogen, wie seine Verwundung auf
der Jagd bei seinem mütterlichen Großvater Autolykos (t 392 — 466), die
List des hölzernen Pferdes (;» 492—520, d 271—289), der Streit um die
Waffen des Achilleus {X 545 — 567), die Ausspionierung Troias {d 242 — 264),
der friedliche Tod des Helden in hohem Alter. (A 119 — 137), aber die Haupt-
erzählung dreht sich doch nur um eine Handlung, die Heimkehr des Odys-
seus und die Rache, die er heimgekehrt an den übermütigen Freiern seiner
Gattin Penelope nimmt. 0 Indes so einfach und kurz war diese eine Hand-
lung nicht, da Odysseus zehn Jahre umhergeirrt war und bei der Heim-
kehr erst mannigfache Vorbereitungen zur Überwindung der Freier treffen
mußte. Aber der Kunst des Dichters gelang es, die Handlung trotzdem
auf die kurze Zeit von 41 Tagen zusammenzudrängen, indem er gleich
im Eingang, ähnlich wie in der Ilias, in das letzte Jahr der Irrfahrten
versetzt und den Odysseus seine früheren Erlebnisse im Haus des Alki-
noos nacherzählen läßt. Er erlangte damit zugleich den Vorteil, länger
bei der Schilderung des Königshofes im Lande der Phäaken verweilen zu
können und die lieblichen Szenen von der Königstochter Nausikaa, den
Gärten des Alkinoos, dem blinden Sänger Demodokos, den ritterlichen
Spielen am Hof des Alkinoos in sein Gedicht einzulegen. Weniger wahrte
er die Einheit des Ortes. Denn nicht bloß treffen wir Odysseus anfangs
bei der Kalypso, dann bei den Phäaken, dann bei dem Sauhirten Eumaios
und schließlich in seinem eigenen Hause, sondern es gehen auch bis zur
Hälfte des Epos zwei Fahrten nebeneinander her, die des Haupthelden
und die seines Sohnes Telemachos, indem kurz vor der Rückkehr des
Odysseus Telemachos auf Kundschaft nach seinem Vater auszieht^) und
beide auf ihrer Rückkehr bei dem Sauhirten Eumaios zusammentreffen.
Dies hatte das Gute, daß der Dichter gleich in den ersten Gesängen
über die Zustände im Haus des Odysseus orientieren und über die Ge-
schicke auch der übrigen Führer, namentlich des Nestor, Menelaos, Aga-
memnon, aufklären konnte; aber dadurch wurde zugleich die Erzählung
der Odyssee bunter und verflochtener, was nicht ganz ohne Unzuträg-
lichkeiten abging, indem Telemachos zwischen dem 4. und 15. Gesang aus
den Augen verloren wird und weit länger als er wollte und sollte (s. Ö
594 — 599)^) bei Menelaos zu verweilen in die Lage kommt.*) Aber diese
^) Dabei beachte man, daß alle die auf- in der persischen (Röstern und Sohrab) nnd
gezählten Odysseosepisoden jüngeren Partien ! deutschen Heldensage (Hiidebrand und Hadu-
der Odyssee angehören und zum Teil sicher | brand) vorliegt. Siehe L. Uhland, Schriften
erst nachträglich eingelegt sind. Die beherr- zur Gesch. der Dichtung und Sage 1 164 ff.
sehenden Motive der Odyssee gehören zu den , ') Auch im Schluß von v und Anfang
typischen Motiven der Volkssage und be- von o stimmt die Zeit nicht zusammen, aber
gegnen auch da in der Weltlitteratur, wo hier durch Nachlässigkeit des Redaktors.
Abhängigkeit von der Odyssee nicht (wie
etwa in der Orendelsage, über die s.K.Möllek-
HOFF, Deutsche Altertumsk. I. Berl. 1890, 32 ff.)
nachweisbar ist. Siehe W. ^^plettstötteb, Der
heimkehrende Gatte nnd sein Weib in der
Weltlitteratur, Diss. Berlin 1898.
*) Hier setzt ein Motiv ein, das in der
Telegonie zu Ende gesponnen ist und auch
Siehe die Rechnung von F. Blass, Die Inter-
polat. in der Odyssee, Halle 1904, 15 ff.
*) Störender noch ist die Wiederkehr
der Szene des Anfangs der Odyssee im Ein-
gang des 5. Gesangs, aber die Partie e 1 — 27
ist Flickwerk, das in dieser Gestalt nicht
von dem alten Dickter herrührt.
32
Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
Unzukömmlichkeiten werden durch die größere Spannung der Erzählung
und die Überraschung der Erkennungsszenen wieder reichlich aufgewogen, ^
zumal der Dichter gerade diese Szenen, wie die von der Fußwaschung des
verkleideten Odysseus durch die alte Amme Eurykleia (r 357 — 504), mit
unvergleichlicher Zartheit zu behandeln verstand.*)
Der Held, von dem das ganze Epos den Namen hat, Odysseus, steht
im Gegensatz zu Achilleus, dem Helden der Ilias; in ihm war die Klug-
heit und verschlagene List verkörpert wie in jenem der Heldenmut, dem
das Leben der Güter höchstes nicht ist (Plat. apol. 28 c), und die hoch-
sinnige Kühnheit; 3) sie repräsentieren die Gegensätze des äolischen und
des ionischen Mannesideals. Die Ilias ist in ihren wesentlichen Motiven
weit reicher an geschichtlichem Gehalt als die Odyssee, deren Kern das
Novellen- und Märchenartige bildet. Die Figur des Odysseus, der als
dämonisches Wesen*) zu betrachten ist, muß uralt sein. Der Name ist
schwerlich griechisch.^) Seine älteste, nicht auf litterarischem Weg früh-
zeitig nach Italien gekommene Form ist OtM^tjg (Ulixes).
^) Treffend urteilt über diesen Punkt
Aristot. poöt.p. 1459 b 14.24: ^ fjh 7liäg au^kovr
xai jia{ftjTtx6v, jj dk'Odvaoeia siejikEyfiivov (ava-
•p'iogiaetg yäg Öt* oAov) xai rjdixöv. In älterer
Zeit war die Ilias das beliebtere Gedicht. Dies
wird auch durch die weit ausgiebigeren Scho-
llen zur Ilias und die größere Häufigkeit der
Jliaspapyri (der bis jetzt einzige frOhptole-
mäische Odysseepapyrus ist Hibeh Pap. (1906)
nr. 23) dargetan. Der Kurs der Odyssee
stieg, seit gegen Ende des 5. Jahrhunderts,
insbesondere durch den Einfluß des CvDis-
mus, der .toAi'too.to^- als Lebensideal wieder
aktuell und die Odyssee als xaXov dvOgo}-
mvov ßiov xaro-Tinov (so Alkidamas bei
Aristot. rhet. 1406 b 12) geschätzt wurde. Der
Niederschlag dieses Urteils liegt vor bei
Eustath. ad Od. 1 1, 38, der die Od. als das
gedankentiefere Gedicht der Ilias vorzieht;
s. a. Schol. Pind. N. 4, 63: ftnXkov irj^ 'Ihddog
ij Odvon&ta (ßayxoÖFTiai. In dem Prozeß spie-
gelt sich die allmähliche innere Ionisierung,
d. h. Rationalisierung der griechischen Kultur.
^) Auch die Kunst hat sich dieses herr-
lichen Motives bemächtigt, wie wir noch aus
einem Relief der Sammlung Oampana tab. 71
sehen. Über den malerischen Charakter
dieser Szene [Plut.] vit.Hom. 217. Zwei Relief-
darstellungen derselben aus dem 5. Jahr-
hundert bespricht K. Robert, Mitt. des ath.
In8t.25(1900)325ff.
') (fikoniios, ajfXovg, tf'iXah)dt)^, ßaQv{^v-
fiOs, euKoy, i}vfiixdg, ftFyiO.oq^oiov sind nach
Schol. BT 11. / 309, 622 die (Charaktereigen-
schaften des Achilleus, während Odysseus
orj'fToV, .Tai'orf>;'Os, OfoojrevTtxds heißt. Vgl.
Plat. Hipp. min. 364 e ff". Die Griechen gind
sich bewußt geblieben, daß die Verschieden-
heit der Stimmung der beiden Gedichte auf
die Untei schiede zwischen dem äolodorischen
und dem ionischen Charakter zurückgehen
(vgl. die Charakteristiken bei Heraclid. Pont.
im Ath. XIV 624 e; [Hippocr.] de hebd. 11;
[Dionys. Hai.] art. rhet. VI 3, XI 5; Schol.
Dionys.Thr. p. 117, 24 if. Hilo.. in denen die
vorwiegend intellektualistische Begabung der
lonier bei gleichzeitiger Charakterschwäche
(über die auch Herodot I 143) der ritterlich-
temperamentvollen , warmherzigen , aber
schwerfälligeren Art der Äoler gegenüber-
gestellt wird. Odysseus und die Odyssee
waren dem äolodorischen Stamm unsympa-
thisch (Pind. N. 7, 20; Plat. leg. III 680d), wie
andererseits Achilleus von rationalistischer
Seite getadelt wird (Plat. reip. III 390 e ff.; W.
A. MoNTooMEBY lu Studies in Honour of B. L.
Gildersleeve, Baltimore 1902,412). Einen Aus-
gleich bahnt Sophokles am Schluß des Aias
und im Philoktetes an. Eine Wiederholung
des Achilleustypus ist Aias, der mit Ach.
zusammen dem Odysseus entgegengesetzt
wird (Cic. ad fam. X 13, 2).
*) Vom Odysseuskult auf Ithaka macht
nur Heliod. Aeth. V 22 eine Andeutung. Am
meisten Beziehungen zeigt der Odysseus-
mythus zu Arkadien: Ahn des Od. ist der
arkadische Dämon animalischer Fruchtbai keit,
Hermes (Pherekyd. fr. 63: Od. r 395); in Ar-
kadien soll Od. Kulte und Heiligtümer für
Poseidon und Athena gestiftet haben (E.
RoHDE. Kl. Sehr. II 290), Penelope sollte die
Mutter des arkadischen Hirtengottes Pan sein
(Preller- Robert, Griech. Myth. I 745).
*) Die Volksetymologie von dSvaoofiat
(Od. a 62; t275. 407; vgl. f 423) beweist natür-
lich nichts für griechischen Ursprung. Ueber
die alte Form Plut. Marceil. 20: P.Kretschmbr
in Ztschr. f. vergl. Spr. 29 (1888) 433 f. — W.
Meyer, De Homeri patronymicis, Diss. Gott.
1907 S.80 findet mit Recht darin, daß Od. nur
in jungen Partien der Ilias ein Patronymikon
hat, einen Beweis dafür, daß er von Hause
aus kein Heros ist.
A. Epos. 2. Homers Ilias und Odyssee. (§ 22.) 33
Die Einteilung der Odyssee in 24 Bücher, die man jetzt mit den
Buchstaben des kleinen Alphabets zu bezeichnen pflegt, rührt gleichfalls
aus der alexandrinischen Zeit her. Auch hat der gleiche ÄlianV.H. 13, 14
mehrere ältere Namen einzelner Teile* uns erhalten, wie Tä iv IIvXco (y),
Tä iv Aaxedaifwvi (eJ), KaXvxpovq ävxQov {e 1 — 281), Tä Jiegl rijv axediav
(ß 282 — 493), iv *Akxivov änokoyog (i — ^/i),^) Kvxkcojieia (i), Nixvia (X), Td
xflg KiQXTjg (x), Nutiga (t), MvrjortjQcov cpovog ix), Tä iv dygo) xal rä iv
AaiQTov (co 205 — 548). Aber weit mehr als die kleinen Gesänge treten
in der Odyssee die größeren Abschnitte hervor, wie die Irrfahrten des
Odysseus (e — /j), die Reise dos Telemachos (a — <J), die Heimkehr des Odys-
seus {v — jt) und der Freiermord (g — tp)^ so daß innerhalb dieser Gruppen
die einzelnen Gesänge sich nicht mehr gleich gut wie in der Ilias zum
Einzelvortrag eigneten und die selbständigen, breit ausgeführten Episoden
fast ganz fehlen.^)
22. Was die Alten über die Person des Homer^) zu wissen be-
haupten, verflüchtigt sich bei genauer Betrachtung meist ins Typische oder
erweist sich als falsche Kombination aus vermeintUchen Zeugnissen. In
den Wust der Notizen über Homers Zeit und Herkunft, die von M. Senge-
busch vielfach falsch gedeutet waren, hat zuerst E. Rohde*) Klarheit ge-
bracht. Ihm wird verdankt, daß wir jetzt die Prinzipien verstehen, aus
denen die einzelnen antiken Daten entstanden sind, damit zugleich freilich
auch deren vollkommene Wertlosigkeit für die Geschichte. Versuche, den
Homer zeithch festzulegen und in einen genealogischen Zusammenhang zu
rücken, sind, so viel wir sahen, nicht vor dem 5. Jahrhundert gemacht
worden. Die Legende über seine Erlebnisse und seine Persönlichkeit hat
sich aber schon lange vorher in einem zuerst wohl poetisch geformten,
nachher in Prosa umgesetzten Volksbuch ^) (ßiog '0/i^gov) konzentriert, von
*) iv 'AXxivov cbroXoycp kommt ebenso 1 der Vittorio-Emmanuelebibl. (K. Sittl, Sitz.ber.
wie iv roTg Nt'jngotg schon bei Aristoteles in | d. bayer. Ak. 18, 1888 11 274 f.). Von diesen
der Poetik c. 16 vor. Nach W. Christ, Vitae reicht keine über die Kaiserzeit hinauf.
Proleg. Iliadis p. 4 ist der Ausdruck ver- Die erste ist in dem ionischen Dialekt der
kürzt aus cLioXoyog ev 'AXxivov sc. douo} „Er- ' Eaiserzeit. über den H. Lindemann, De dial.
zählang im Hause Alkinoos'* im Gegensatz | Ion. recentiore, Kiel 1889, p.91ff., geschrieben
zur .Erzählung beim Sauhirten **. i und trägt den Namen des Herodot;ihrVerfasser
*) Kleinere Episoden innerhalb eines Ge- 1 ist nach J. Schmidt, De Herodotea quae fertur
sanges finden sich öfter, wie das Liebes- ' vita Homeri, 1875, ein stoisierender Gram-
abenteuer des Ares und der Aphrodite (t> 266 i matiker des 2. oder 3. Jahrh. n. Chr. Die
bis 366), die Handelslist der phönikischen i Schrift IlXovidgxo^f ^^Q*' ^ov ßiov xai xijg
Seefahrer (o 403 — 484), die Verwundung des jroirjaeoK 'Ofirjoov ist aus zwei Schriften zu-
Odysseus auf der Jagd (r 399 — 466). — In • sammengesetzt, von denen keine von Plut-
der überlieferten Bucheinteilung erkennt man
den Grammatikerwitz darin, daß mit dem Ende
der Irrfahrten die erste Hälfte des Werkes
arch herrührt, und auch die zweite erst im
2. Jahrh. n. Chr., unter Benützung der uns
verlorenen echten ofjtjgixai fAfXhat des Plut-
(a — ju) abschließt und daß die Telemachie arch, von einem Gelehrten stoischer Schule
gerade soviel Gesänge (a — 6) enthält wie der
Nostos des Odysseus (i -fi).
•) Auf uns gekommen sind 7 Vitae, ab-
verfaßt ist. Siehe H. Schbader, Porphyrii
quaestionum Homericar. ad lliadem pertinent.
reliquiae, Leipz. 1880, p. 395 ff.; derselbe. De
gedruckt in A. Wkstermanns Btoygdq?oi, Flui. Ch&eron. ofujgixaTg fifieratc, Gotha 1S99.
Braonschw. 1845, 1—33 und besprochen von Am wertvollsten sind die aus Proklos' Chresto-
M. Senoebusch, Homerica dissei*tatioII 1856; 1 mathie gezogene Vita und das Certamen
für dieVit. 6 sind jetzt vollständigere Fassungen ! Hesiodi et Homeri, beide aus-Hadrians Zeit,
gefunden in einem Codex Mureti (E. Piccolo- *) Kl. Sehr. I 1 ff .
Km, Herm.25(1890)451ff.) und imCod.gr. 6 , *) O.CRüsiüs,Philol.54(1894)710 ff. Die
Handbach der klass. AlterloiiiBwiBsenBchaft. VII. 5. Aafl. 3
34 Griechische Litteratnrgeschichte. L Elassische Periode.
dem einen wesentlichen Teil der im Auszug erhaltene äycov 'Ojuijgov xal
'Hotodov ausgemacht zu haben scheint. Zu der in dem Volksbuch ent-
haltenen Überlieferung treten seit dem 5. Jahrhundert mehr und mehr Ver-
suche, durch gelehrte Deutungen und Kombinationen das Wissen über
Homers Person zu erweitern: man macht Stammbäume des Dichters, in
denen man ihn teils auf Musaios (so Gorgias und Damastes), teils auf
Orpheus (so Hellanikos und Charax) zurückführt; man sucht seine Zeit
genauer zu bestimmen und weitere Daten über seine Person aus den ihm
zugeschriebenen Gedichten zu gewinnen.^)
In den Zeitansätzen 2) lassen sich im wesentlichen folgende Prin-
zipien erkennen:
1. man orientiert den Homer nach dem troischen Krieg und macht ihn
a) zum Zeitgenossen des Kriegs (Hellanikos, Schol. BT D. A 470);
b) 60 — 80 Jahre jünger als die Tganxd, weil er (II. B 494 ff.) schon
Böoter in Böotien kennt (Thuc. I 12, 3; der Ansatz ist von Krates
von Mallos: s. auch Jacoby, Marmor Par. 155);
c) 140 Jahre jünger als die Tgcoixd, zur Zeit der ionischen Wande-
rung (Aristoteles, Eratosthenes, Aristarchos, dem dieser Ansatz zu
seiner Annahme paßte, Homer sei ein Attiker, mit den Aus-
wanderern nach lonien gekommen);
d) 400 Jahre jünger als die Tgayind (Herodot. II 145; vgl. II 53, und
so wohl auch Thuc. I 3, 3);
2. man orientiert ihn nach dem freilich (s. u. S. 106) gleichfalls unsicheren
Hesiod und macht ihn
a) zum Zeitgenossen des Hesiod (Certamen Hom. et Hes., Hellanic,
Herodot. n 53);
b) älter als Hesiod (Hcrakleides Pont., Eratosthenes und die Alexan-
driner, auf Grund des erweiterten geographischen Gesichtskreises
bei Hesiod);
c) jünger als Hesiod (Ephoros, Marmor Par. ep. 28 f., Accius).
3. man orientiert ihn an Lykurgos, der (in älteren oder jüngeren Jahren)
mit Homer (oder dessen Nachkommen) zusammengekommen sein sollte
(Ephoros, Sosibios, Apollodoros — letzterer läßt den Homer 983 — 914
leben: Rohde, Kl. Schriften I 78);»)
4. man identifiziert die Kimmerier von Od. X 12 — 19 mit dem gleich-
namigen Volksstamm, der in geschichtlicher Zeit in Kleinasien ein-
gefallen war, und kam so dahin, den Homer ins 7. Jahrhundert, in die
scbon von Tu. Berok und E. Rohde (Kl. , ^) So schon Ephoros bei [Flut.] vit. Hom. 2;
Sehr. I 104) vertretene Annahme einer ur
sprünglich poetischen Fassung wird beson-
ders durch die Bezeichnung Homers als Me-
Xrjor/Fv/j^ (über die s. F. Marx, Interpretatio-
num hexas altera. Rostock 1890. 3 ff.) gestützt.
über solche Versuche G. Wiemer, Ilias und
Odyssee als Quellen der Biographie Homers I.
Progr. Marien bürg 1905.
*) Im ganzen 14 bei F. Jacoby, Marmor
Par. 154 f.
Die frühesten Zeugen für die Existenz dieses ! ') Wie aus Apollodoros' Angabe durch
ßtog'Ofnjoov sind für uns Archilochos, Asios
von Samos, Simonides, Herakleitos, der Horo-
graph Eugaion von Samos (fr. 2 in C. Müllers
FHG II 16) u. a.
Mißverständnis die etwas abweichende des
Cornelius Nepos entstanden sein kann, zeigt
E. Rohde, Kl. Sehr. 1 68 ff.
A. EpoB. 2. Homers Dias nnd Odyssee. (§ 22.)
35
Zeit des Archilochos zu rücken (Theopompos und die Gewährsmänner
des Eusebios).
In den Angaben über Homers Herkunft sind Tradition und
Kombination zu scheiden. Traditionen existieren folgende:
1. Homer sei als Sohn des Flußgottes Meles und der Nymphe Kri-
theis in Smyrna geboren, wo sich Spuren von Homerkult erhalten haben. ^)
Dieser Tradition folgen Pindar und Stesimbrotos, und mit ihr darf wohl
die andere zusammengerückt werden, die Hellanikos (fr. 6 M.), Pherekydes
und Damastes vertreten, die den Homer als Sohn des Lydereponymen
Maion darstellt — auch sie scheint nach Smyrna zu führen.*)
2. Homer habe sich auf Chios aufgehalten, wo ein Geschlecht der
Homeriden sich nach ihm nannte ^) und die ihm zugeschriebenen Gedichte
vortrug. Ein yvjuvdatov 'Ojuijoetov befand sich hier noch in der Kaiserzeit
(CIG 2221). Dieser Tradition,^ der auch die Stelle Hymn. Hom. Ap. Del. 172
Tvrpkög ävrjQf olxei de Xico ¥vi jiauiaXoeoai]^) zur Stütze diente (wenn sie nicht
etwa eben aus dieser Stelle erst entstanden ist), folgte Simonides von Keos
und erweiterte sie dahin, daß er Chios zum Geburtsort des Homer machte,
was von Anfang an nicht die Meinung war.
3. Homer sei auf der kleinen Insel los in der Nähe von Thera ge-
storben (aus Ärger über das nichtgelöste Fischerrätsel Gert. Hom. etHes. 19)
und begraben. ß)
Der geschichtliche Wert aller dieser Angaben ist jedenfalls schon
von den alten Gelehrten sehr niedrig eingeschätzt worden, da diese ohne
Rücksicht auf sie allerlei andere Kombinationen gemacht haben. ^)
*) 'Ofiriofiov in Smyrna (Stoa nebst
SchnitzbUd Homers und Tempel) Strab. 646,
daifiiov fiovöOTidXoq nennt ihn Hermesianax
bei Ath. XIII 597 v. 28. — Plat Tim. 40d
wird sich auch auf Homer bezichen.
2) E. RoHDE, KI. Sehr. I 9.
') Harpocrat. s. v. 'O^irjniSat' yevog h
Xiq)f oTteg 'AxoifoUao^ sv y, 'EV.dvtxog h rfj
'AtXavxi&i ojio Tov JioirjTov (ptjoiv dyvoftda^at,
SeXevxih; de ev ß zitql ßUov dfiaQxdveiv q^rfoiv
KguTtjva rofu^mta rovg sv rdtg Uoojrottaig
'OjUTjQidag djtoyovovg etvat tov jioirjTov' ojvo-
fida&Tjoav yag o-to tcov SfitjQMv, ejiei ai yvvai-
xig 710TS T(bv Xicov iv Atowaioig jiaoa(fQOVj)-
oaoai eig fiaxt^y rjl&ov roig dvdodai xal dövieg
dXXtjXoig ofiTjoa wfiq^iovg xal vvf-iqag Liav-
aavxo, MV tovg djioyovovg 'OfU)gidag /.eyovotv,
vgl. Strab. p. 645; Schol. Find. Nem. 2, 1.
*) Schon von Thuc. III 104 auf Homer
bezogen.
^) Strab. 484; Varr. imag. I bei Gell. IJI
11,6; Plin.nat.hist.IV69; Procl. bei Wester-
MANN, BioyQ. p. 25, 27 ff. ; die Tradition ist
durch fremdartigen Pragmatismus getrübt bei
Aristot. fr. 66 Berol.; daß Homer auf los
auch geboren sei, soll Bakchylides gesagt
haben (Westbrmann, 1. c. p. 28, 29).
**) Ephoros (fr. 164 M.) nimmt oifenbar
nur auf die Traditionen von Smyrna und
Chios Rücksicht, wenn er die für seine Me-
thode sehr bezeichnende Ausgleichung vor-
trägt, daß Homer in Kyme (denn im kymäi-
schen Dialekt heißt ofitjoog blind, was Lycophr.
Alex. 421 wirklich annimmt) empfangen, in
Smyrna aber geboren sei (über derartige kon-
ziliatorische Manipulationen in der kultlichen
Praxis s. R. Herzog, Berl. Ak. Sitz.ber. 1905,
988 ff.). Außerdem nahm er an, Homer habe sich
in dem kleinen äolischen Städtchen Bolissos auf
Chios aufgehalten (Steph. Byz. s. Bohoofk), Hier
sind die pseudo-biographischen Grundlagen für
den äolischen Homertext, der schon im Alter-
tum (Dikaiarchos und Zopyros von Magnesia:
F. OsANN. Anecdot. Rom., Gießen 1851 p. 5) an-
genommenwurde. Ohne allen Halt in derTradi-
tion sind die Annahmen, Homer sei ein Argeier
(Philochor. fr. 54 c M.), ein Kolophonier (bei
den beiden Epikern aus Kolophon, Antimachos
und Nikandros); reiner Schwindel kommt
dann in hellenistischer Zeit aus semitischer
(H. ein Babylonier, von Zenodotos von Mallos
aus IL A 591 geschlossen, vgl. auch Luc. ver.
bist. II 20 ; oder ein Aegypter, worüber s. A.
WiEDEMANN, Hcrodots 2. Buch, Lcipz. 1890,
S.240 f.; E. RoiiDE, Griech. Roraan^ 487, 1; M.
RüBENsoHN, Berl.philol.Wochenschr. 13 (1893)
705 ff. ; Tu. SiNKO , Eos 12 (1906) 12) oder römer-
freundlicher (Aristodemos von Nysa machte
aus Liebedienerei gegen seine römischen Zu-
hörer den H. zum Römer: F. Marx, Inc. auct.
3*
36 Griechiflche Litteraturgeschichte. I. Klassische Periode.
In den Legenden über Homers Person und Erlebnisse ist nichts In-
dividuelles; er ist der Typus eines armen, blinden, nach Rhapsodenart
fahrenden Sängers, und nach diesem Typus sind im Äufaerlichen auch die
Homerbüsten des Altertums gearbeitet. 0 Die sicherste Gewähr dafür, daü
es einen Dichter Homeros wirklich einmal gegeben hat, liegt in dem Namen
selbst, den alte*) und neue^) Deutungskünste nicht zu einem redenden haben
machen können. Was dieser Homeros aber gedichtet hat, darüber gibt es
keine zuverlässigen äußeren Zeugnisse.
23. Homerische Frage, ihre Geschichte.*) Die Zweifel sind
bei der Person und dem Namen des Homer nicht stehen geblieben; die
Kritik ist auf die dem Homer beigelegten Werke selbst übergegangen.
Diese Kritik begann bereits im Altertum in der Zeit des Herodot;^) sie
sprach zunächst dem Schöpfer der Ilias und Odyssee die Gedichte des
epischen Kyklos ab. Wie man dabei verfuhr, ersieht man aus Herodot
II 117, wo zum Beweise dafür, daß die Kyprien nicht von Homer her-
rühren, auf den Widerspruch zwischen den Kyprien und der Ilias hin-
gewiesen wird, indem Paris in jenem Gedicht in drei Tagen direkt von
Sparta nach Ilios heimfuhr, nach der Ilias Z 291 hingegen lange um-
herirrte und bis nach Sidon verschlagen wurde. Weiter gingen in der
alexandrinischen Zeit die sogenannten Chorizonten, Xenon und Hellanikos,
die für Ilias und Odyssee verschiedene Verfasser annahmen. Sie be-
folgten dabei die gleiche Methode, indem auch sie von den Widersprüchen
zwischen Odyssee und Ilias ausgingen. So betonten sie, daß in der Ilias
2* 382 Charis, in der Odyssee t^ 267 Aphrodite Frau des Hephaistos ist;
daß Nestor in der Dias A 692 elf Brüder, in der Odyssee X 286 nur zwei
hat;^) daß Kreta in der Ilias H 649 exato/ijTo/Js heißt, in der Odyssee
T 174 aber nur 90 Städte hat; daß die Dias den Aiolos als Herrscher der
Winde nicht kennt und ebensowenig davon etwas weiß, daß Hebe, die
jungfräuliche Dienerin der Götter, dem dorischen Nationalhelden Herakles
angetraut ist.*^) Aber die Ansicht der Chorizonten drang nicht durch:
derat.dicendipraef.,Leipz. 1894,159) Tendenz Ursprang der hom. Gedichte, orspranglich
hinzu. Siehe auch Anth. Plan. 297, wozuAnth. (1860) ein Vortrag, 5. Aufl. von R. ^eubaubb
Plan. 295. 296. 298. 299; Epiplian. adv. haer. 1 besorgt, Wien 1881 ; B. Niese. Die Entwicklung
326; Tzetzes Cliil. Xlll 621—646. Die Aporio der homer. Poesie. Berlin 1882; W. Christ,
über Homers Geburtsort ist schon in einem Epi-
gramm des 2. Jahrh. v. Chr. formuliert (Ber-
liner Klassikertexte V 1, Berlin 1904 S. 78 f.).
^) Ueber antike Homerbildnisse s. jetzt
Homer oder Homeriden, 2. Aufl.. München 1885.
Vieles Einschlägige bei H. Düjitzer, Hom.
Abhandlungen, Leipz. 1872; Wilamowitz,
Hom. Untersuchungen. Philol. Unters. 7. Heft
J. Bernoülli, Jahrb. des arch. Inst. 11 (1896) 1884 ;Jul Erhardt, Die Entstehung der home-
160 if; S. Reinach. Mölanges Weil 1898: J. rischen Gedichte, Leipz. 1894; R. ,C. Jebb,
Six, Mitteil, des röm. Inst. 13 (1898) 59 ff. Homer, Cambridge 1887, übersetzt . nach der
2) "Oinfo(K = Tvq/.o^ Ephor. fr. 164 M.; 3. Aufl. von Emma Schlesinger, Berlin 1893,
^= Geisel Aristot. fr. 66 Berol. zur Einführung empfehlenswert.
») „DerZusammenfüger*' deutet G. Cur- ») Herodot. II 117; IV32; Pind.beiAelian.
Tiüs, De nomine Homeri, Kiel 1855;, der Gesell** var. bist. IX 15.
K. MüLLENHOFF. Siehe dagegen H. Düntzer, : ®) Auffällig ist auch, daß die Ilias von
Die homer. Fragen, Leipz. 1874, 13 ff. und | dem oft in der Odyssee genannten Sohne des
Wilamowitz. Homer. Untersuch., 1887, 378. Nestor, Peisistratos, nichts weifs.
*) Zusammenfassende Schriften von W. ^) E. Geppert, Über den Ui-sprung der
Müller, Homerische Vorschule. Leipzig 1836,
jetzt veraltet; J. Minckwitz, Vorschule zum
Homer, Leipzig 1863; H. Bonitz, Ueber den
homer Gedichte, Leipz. 1840, I 1 - 62, und
W. Christ, Homer oder Homeriden^ 8 — 15,
besprechen die Divergenzen im einzelnen.
A. Epos. 2. Homers Ilias und Odyssee. (§§ 23—24.) 37
Aristarchos, dem die Übereinstimmung der beiden Gedichte im großen
Ganzen, namentlich gegenüber dem epischen Kyklos und den Neueren (ol
vect)T£Qoi)^ mehr bedeutete als die paar nebensächlichen, obendrein zum Teil
leicht durch Annahme von Interpolationen zu beseitigenden Unebenheiten,^)
hielt an der Einheit fest, 2) und seine Autorität behielt im Altertum die Ober-
hand, so daß man, auch wenn man sich eines erheblichen stiUstischen Unter-
schieds zwischen den beiden Gedichten bewußt war,^) an Homer als Dichter
der Ilias und Odyssee festhielt und sich höchstens nur dazu verstand, die Dias
dem jugendlichen, die Odyssee dem gealterten Homer zuzuschreiben.*)
24. Einen stärkeren Angriff unternahm F. A. Wolf, der in seinen
Prolegomena ad Homerum 1795,^) angeregt durch die von Villoisson 1788
zuerst veröffentlichten Iliasscholien des Codex Venetus A das Problem
stellte, aus den schon von den alten Grammatikern großenteils bemerkten
Widersprüchen und den Mängeln der Komposition zu erweisen, daß keines
der beiden großen Epen für sich allein das Werk eines einzigen Dichters,
sondern mehrerer Sänger sei, und daß die Zusammenfügung der alten Ge-
sänge zu einem einheitlichen Ganzen erst viele Jahrhunderte später von
unbedeutenden Geistern, im wesentlichen von den Redaktoren des Peisi-
stratos vollzogen worden sei. Seine Beweise entnimmt Wolf weniger aus
sorgsamer Analyse der beiden Dichtungen als aus vermeintlichen Zeug-
nissen des Altertums von der Vereinigung der zuvor zerstreuten Gesänge
durch Peisistratos und aus zwei äußeren Momenten. Denn einmal sei zur
Zeit Homers die Schrift noch nicht bekannt gewesen, ohne Schrift sei aber
die Dichtung so umfangreicher Werke nicht denkbar, und dann habe in
jener Zeit zur Abfassung so großer Epen kein Anlaß bestanden, da damals
die Sänger nur kleine Gesänge vorzutragen pflegten. Der von dem großen
Philologen angeregte Streit, der die Geister nicht bloß der zünftigen Ge-
lehrten, sondern aller Gebildeten und nicht zum wenigsten unserer großen
Dichterfürsten Goethe^) und Schiller mächtig ergriff, hat im Laufe der
Zeit wesentlich zur Klärung der Sache und zum richtigeren Verständnis
des Volksepos beigetragen, hat aber seinen Abschluß noch nicht in einer
allseitigen Verständigung gefunden.'') Einesteils haben die Unitarier, auf
*) Ein Hauptanstoß l 603 gegenüber \ remigum habuisset, prior scripta esset Ilias
E 905 ward durch Athetese von x 565 — 627 an Odtfssea, praeterea an eiusdem esset auc-
glücklich behoben. toris. Vgl. Lucian. ver. hist. II 20.
') Er schrieb Jigog x6 Eevwvog :iagddo^or. *) Ed. lll curavit R. Peppmüller, Halle
') Plat. Hipp. min. 863 b; Aristot. poöt. 1884, mit dem Briefwechsel zwischen Heyne
1459 b 15; Heraclit. all. Hom. 60; Eustath
ad 11.14,36; ad Od. II. 38.
*) Ps. Longin. de sublim. 9, 18 wohl nach
dem Cert. Hom. et Hes. 16; auch die Alexan-
driner waren offenbar dieser Ansicht, nach
den Stellen der Scholien, wo sie die Vor-
bereitung der Odyssee in einzelnen Partien
der Ilias {jtgooixovofiFi, jtgoöiaovvioTrjoi irjv
'Odvaaeiav) oder die Rückverweisung auf die
und Wolf. Uebrigens hat Wolf Vorgänger
gehabt (R. Volkmann, Geschichte und Kritik
der Wolfschen Prolegomena, Leipz. 1874),
deren bedeutendster, von W. mit Unrecht in
Schatten gestellt, jetzt durch G. Finsler
(N. Jahrbb. f. d. klass. Altert. 15 (1905) 495 ff.)
wieder beleuchtet ist, der Abb6 Fran9ois H6de-
lin d'Aubignac mit seinen 1664 geschriebenen,
aber erst 1715 gedruckten Conjectures aca-
Odyssee in solchen der ilias anmerken (Schol. a^miques ou dissertation sur TUiade.
A 11. B 260. 278; Schol. Od. Ö 497; Schol. T «) Vgl. M. Bernays, Goethes Briefe an
IL A' 231. 251; M 16). Spöttelnd bemerkt Fr. A.Wolf, 1868; W. Christ, Homer und
Seneca de brev. vitae 13: Graecorum iste Homeriden S. 84.
morbus fuit qt*aerere, quem numerum ülixes ; ^) Orientierend R. Volkmann (s. Anm. 5),
38 Griechische Litteratnrgeschichte. I. ElassiBche Periode.
deren Seite sich gleich anfangs Schiller 0 und Voß stellten und deren Sache
in gelehrter Ausführung besonders Nitzsch verfocht, die Hauptvoraussetzung
der Wolfschen Hypothese, den Nichtgebrauch der Schrift, bestritten und
den ganzen Gedanken von einem Flickhomer als barbariscli verworfen.
Anderseits haben sich die Wolfianer nicht dabei beruhigt, nur im all-
gemeinen die Existenz des einen Homer zu leugnen, sind aber, indem sie
den von Wolf aufgeworfenen Gedanken weiterverfolgten, auf verschiedene
Wege gekommen, die sie teils den Unitariem näherbrachten, teils zu der
extremen Annahme einer unbestimmten Menge von Homeriden führten.
Nachdem in den nächsten 30 Jahren nach Erscheinen der Wolfschen
Prolegomena die durch Wolf angeregte, von ihm selbst aber dann liegen-
gelassene analytische Arbeit, abgesehen von einigen tüchtigen Schriften
über die Odyssee, ins Stocken geraten war, sind der Reihe nach ver-
schiedene Hypothesen über die Entstehungsweise der homerischen Gedichte,
die, im großen und ganzen so wundervoll aufgebaut, im einzelnen und
kleinen so viele Schwächen der Komposition zeigen, hervorgetreten:
1. die Erweiterungs- oder Entwicklungstheorie, der zufolge
ältere Gedichte mäßigen (aber doch nicht mehr balladen-, sondern schon epo-
pöenartigen) Umfangs durch Anschiebungen und Einschaltungen, die auf den
alten Kern berechnet waren, nach und nach zu der Ausdehnung der jetzt
vorliegenden Epen angeschwellt worden wären, wobei immer auch noch
die Annahme kleinerer, den Gesamtplan nicht wesentlich modifizierender
Interpolationen offen blieb. Der früheste Vertreter dieser Theorie ist G. Her-
mann,2) der schon 1831 3) gegenüber der Wolfschen Analyse die Einheits-
faktoren im Homer betont hatte. Ihm folgte K. L. Kayser mit zwei 1835
bezw. 1843 entstandenen Abhandlungen,*) in denen die Analyse der Odyssee
entschieden glücklicher ist als die der Hias. Die plausibelste, noch jetzt
in England vorherrschende Anwendung dieser Theorie auf die Dias^) hat
G. Grote in seiner History of Greece II (1846) vorgetragen; er nahm an,
das von ihm vorausgesetzte Kerngedicht Achilleis könnte von dessen Ver-
fasser selbst zur Uias erweitert worden sein. Das Verdienst, Grotes An-
sicht in Deutschland verbreitet und sie gleichzeitig in manchen Punkten
berichtigt und ergänzt zu haben, gebührt L. Friedländer. <5) Die folge-
richtigste Durchführung der Entwicklungstheorie wird B. Niese ^) verdankt.
der zugleich über die Vorgeschichte der Pro- ' homerischen Epos, beide jetzt in K. L. Kay-
legomena handelt, d. i. über die Männer, die sers Homerischen Abhandlungen, herausgeg.
schon vor Wolf ähnliche Gedanken aus- von H. Usener, 1881, S. 29 flf. 3 ff.
gesprochen hatten, wie G. B. Vico (1686 bis ^) Hinsichtlich der Odyssee war Grote
1743) und R Wood, An Essay on the Original der Meinung, wenn nur dieses Gedicht vor-
Genius of Homer, London 1769 (deutsch von läge, würde niemand auf den Gedanken einer
C. F. Michaelis) Frankf. a. M. 1773. auflösenden Behandlung gekommen sein. In
^) Siehe besonders Briefwechsel zwischen der Uias unterscheidet er ein Urgedicht
Schiller und Goethe nr. 459 (Schiller). 472 , Achilleis A H A—X, durch die Zusätze B
(Goethe).
*) De interpolationibus Homeri, 1832 (=
Opusc. V 52 fF.) und de iteratis apud Home^
rum, 1840 (= Opusc. VI 11 ff.).
8) Opusc. VI 80 ff.
*) De diversa Homericorum carminum
origine und Versuch einer Geschichte des
bis Z und / zu einer Hias erweitert, durch
spätere Anschiebungen (AT ^ Ü) zum jetzigen
Umfang vergrößert.
*) Die homerische Kritik von Wolf bis
Grote, Berlin 1853.
^) Die Entwicklung der homerischen
Poesie, 1882.
A. Epos. 2. Homers Dias nnd Odyssee. (§ 24.) 3g
der eine Reihe wichtiger Kriterien zur Unterscheidung älterer und jüngerer
Schriften in den homerischen Epen aufgestellt, aber durch seine Abweisung
aller vorhomerischen oder außerhomerischen Volkssage in alter Zeit die
Betrachtung der homerischen Poesie aus allem Zusammenhang mit dem,
was sonst über Volkssage und Volksepos bekannt ist, herausgerissen und
die poetische Produktion des homerischen Alters nach Stoff und Form in
unerhörter Weise auf eine kleine Sängerzunft von engstem Schulzusammen-
hang eingeschränkt hat.^) In neuester Zeit sind Vertreter dieser Theorie
W. Leaf *) und H. C. Jebb. ^) Grundsätzlich auf demselben Boden stehen
die Versuche, mit sprachlichen*) oder einer Kombination von sprachlichen
und sachlichen Indizien 0) eine äolische Ur-Ilias oder gar Ur-Odyssee zu
rekonstruieren, die einer illusionsfreien und alle Möglichkeiten zum Wort
kommen lassenden Prüfung nicht standhalten.
2. Fast gleichzeitig mit den Anfängen dieser Theorie hat K. Lach-
mann seine Liedertheorie (neuerdings spricht man auch von Sammel-
oder Agglutinationstheorie) aufgestellt,^) für die er sich mit Unrecht"^) sogar
auf die Autorität alexandrinischer Grammatiker berufen zu dürfen glaubte.
Von dem litterarhistorisch richtigen Postulat ausgehend, daß der Zeit der
Epopöe eine Periode vereinzelnder Aventiuren-, Balladen- oder Lieder-
dichtung vorangegangen sein müsse, hat er nur darin geirrt, daß er ver-
mittelst des Kriteriums logischer Widersprüche selbständige ältere „Lieder"
ohne weiteres aus der uns vorliegenden Ilias herausschneiden zu können
glaubte; er hat dabei die Vorgeschrittenheit der epischen Technik in plan-
mäßiger Verarbeitung älterer Sagenmotive, wie sie unsere Ilias zeigt, ebenso
unterschätzt, wie er die Bedeutung des logischen Widerspruchs an sich
als eines Kennzeichens für Zusammenfügung ursprünglich nicht auf Zu-
sammenhang berechneter dichterischer Einheiten überschätzte, und die
nüchterne Zerspaltung eines doch so vielfältig organisch verbundenen
Ganzen, die dann durch unpoetische Köpfe weitergeführt und sogar auch
auf die Odyssee®) angewandt worden ist, führte zur Herausstellung lebens-
unfähiger Einzelgebilde. Den an sich durchaus möglichen Gedanken, die
Inkonvenienzen, derengleichen übrigens auch in zweifellos einheitlichen
Gedichten technisch vorgeschrittener Kulturperioden nachweisbar sind, aus
der unvermeidlichen UnvoUkommenheit erster Versuche zu größerer Epo-
') Siehe gegen Niese besonders E. Thbä- i Buches findet man bei E. Kammer, Die Ein-
MKB, Pergamos, Leipz. 1888. Vgl. o. S. 26, 3. heit der Odyssee, Leipz. 1873, 345 f.
') W. Lbaf, A Companion to the Iliad 1902. ') Die jtakmoi\ die Lachmann (Betr.'^ 33)
») Homer p. 104 flF. der oben S. 36, 4 an- anruft, bei Eustath. ad II. (edit. Lips. 1827) I
geführten Uebersetzung p. 309, 6 (= Schol. T zu Ä' 1 ; vgl. Schol. Dionys.
*) A. FicK s. unten § 33. Thr. 180, 1 Hilg.), sind keinesfalls die Ale-
^) K. Robert, Studien zur Ilias mit Bei- xandriner (vgl. namentlich Eustath. ad IL II
trägen von F. Bechtel, Berlin 1901. Siehe 2S9,4^ (/.aniv 01 .icdaioi, öii'AgiatagxcK ygd(pei;
daza die Kritik von P. Cauer, N. Jahrbb. f. über die Verschwommenheit des Begriffs .ia-
klass. Altert. 9 (1902) 77 ff. kaioi s. K. Lehrs, Pindarschol., Leipz. 1873,
*) K. Lachmann, Betrachtungen über 167; E.Schwabe, Ael. Dionysii et Pausaniae
Homers Ilias, zuerst in Einzelabschnitten in ; fragm., Lips. 1890 p. 13 f.).
der Berliner Akademie 1837 und 1841 vor- «) So P. D. Ch. Hennings, Ueber die
gelegt, dann mit Zusätzen von M. Haupt ! Telemachic, N. Jahrbb. Suppl. 3 (1858) 133 ff.;
herausgegeben 1847 (3. Aufl. 1874). Inter- , ders., Homers Odyssee, Berl 1903; H.Köchly
essante Materialien zur Vorgeschichte des I zersägte die Odyssee, da eigentliche .Lieder'^
40 Ghiechische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
pöenbildung zu erklären, hat Lachmann^) nur gestreift, um ihn im weiteren
dann zu ignorieren. Den inneren Einheitsfaktor, der für seine Theorie
notwendig war, um die Möglichkeit einer Zusammenordnung von Liedern
überhaupt glaublich zu machen, findet Lachmann in der zusammenhängenden
Volkssage, den äußeren (wie vor ihm Wolf, nach ihm Kirchhoff) in der
Legende von der Redaktion des Peisistratos, deren Ungeschichtlichkeit schon
lange zuvor d'Aubignac, später Grote, Lehrs, Niese u. a. durchschauten.
Sehr wichtig für die Klärung der Begriffe ist A. Heusler, Lied und Epos
in germanischer Sagendichtung, Dortmund 1905, der nachweist, daß der
Unterschied zwischen Lied und Epos nicht in der Quantität der eingeführten
Motive, sondern lediglich im Stil (liedhafte Knappheit — epische Breite)
zu suchen sei, daß ein Epos nicht durch Summierung von Einzelliedem
entstehe und daß die aus dem Epos herausgeschnittenen „Lieder" Lach-
manns schon deshalb keine wirklichen Lieder sein können, weil ihnen die
epische Breite anhaften bleibt. Über denkbare, aber auf germanischem
Boden nicht nachweisbare Zwischenstufen zwischen Lied und Epos s. Heusler
S. 26 flf.
3. Die natürliche Reaktion auf diese ohne künstlerischen Takt vor-
genommene Homersektion war die Wiederaufnahme der antiken Inter-
polationstheorie durch ö. W. Nitzsch u. a.^)
4. Eine Umarbeitung des Lachmannschen Prinzips in dem Sinn, daß
die homerischen Epen zwar nicht in die kleinen, selbständiger Lebens-
fähigkeit ermangelnden „Lieder**, aber in umfangreichere epische Dich-
tungen aufgelöst werden sollten, stellt sich in der Kompilations-
theorie ^) dar, die fast ausschließlich auf die Odyssee angewendet
worden ist>) Ihr erster Vertreter ist A. Kirchhoflf,^) der die Odyssee
in drei ursprünglich selbständige Gedichte (alter Nostos, die nach Kirch-
hoflf dichterisch minderwertige Darstellung von Odysseus* Schicksalen und
Taten auf Ithaka, die Telemachie) zerlegt. Diese Hypothese ist dann
unter Benützung der Kritik B. Nieses«) und Ch. Heimreichs^) umgearbeitet
aus ihr nicht zu gewinuen waren, in fünf ^Rhap-
sodien** (Züricher Programme 1862—1863).
*) Betrachtungen * 76 ; ebenso später A.
KiRCHHOFP, Die homer. Odvssee u. ihre Ent-
mit Entachiedenheit für die Einheit im großen
Ganzen ein. Bei den Franzosen findet ohnehin
der Gedanke der Einheit größeren Anklang,
mit Geschick vertritt denselben A. Boüoot,
stehung, Berl. 1859, 294, 304. Etüde sur Tlliado d'Homere, invention, com-
*) G. W. Nitzsch, Meletemata de histo- position, ex^cution, Paris 1888.
ria Honieri, Kiel 1834—39: Die Sagenpoesio ') Der Name von E. Kohdb, Kl. Sehr,
der (^riechen, Braunschw. 1852—53; Beiträge II 274.
zur Geschichte der epischen Poesie, Leipzig *) Nur N. Weckleins (Studien zur Ilias,
1862. Einen ähnlichen Standpunkt vertreten Hallo 1905) Hypothese, im Sachlichen stark be-
W. Bäum LEIN, Comment.de Homero in Tauchn. einflußt von Grote, Kayser und Niese, kann
Ausg. 1854 ; F. NuTznoRN (Schüler N. Madvigs als ernst zu nehmender Versuch, die Grotesche
und Interpret von dessen Anschauung), Ent- Ansicht nach der Richtung der Kompilations-
stehungsweise der hom. Gedichte, Leipz. 1869; theorie zu schieben (durch Annahme zweier
E. Kammek. Die Einheit der Odyssee, Leipz. i ursprünglich selbständiger Gedichte Ilias und
1873; E. Buchholz. Vindiciae carminum ho- 1 Achilleis), genannt werden,
mericorum, Lips. 1885; F. Blass, Die Inter- I ^) Die homerische Odyssee und ihre Ent-
polationeu der Odyssee, Halle 1904. Ferner i stehung, Berlin 1859. 2. Aufl. 1879.
E. Kammer. Ein ästhetischer Kommentar zu i ^) Die Entwicklung der homerischen
Homers Ilias. 2. Aufl., Paderborn 1901. Unter Poesie, 1883.
den Neueren treten auch E. Roiide und ^) Die Telemachie und der jüngere Nostos,
KirchhoflFs Schüler K. Rothe (s. u. S. 45, 2) Progr. Flensburg 1871. •
A. Epos. 2. Homers Dias und Odyssee. (§ 25.)
41
worden vonU. v. Wilamowitz,^) und durch diesen wiederum wurde 0. Seeck*)
angeregt.
Unbestreitbar ist, daß durch alle diese Untersuchungen eine zwingende
Lösung der Fragen nicht gefunden, aber der Einblick in die Technik und
Motivzusammenfügung des homerischen Epos vielfaltig geklärt und vertieft
worden ist. Weitere Aufklärung ist weniger von neuen Hypothesen zu er-
warten als von einem gewissenhaften induktiven und vorläufig am besten
unter der Voraussetzung der Einheitlichkeit der Gedichte vorzunehmenden
Studium der dichterischen Technik^), weiter von dem Versuch einer sorg-
faltigen Klassifikation der angenommenen Interpolationen und einer Erklä-
rung ihrer Entstehungsweise nach Möglichkeit.*) .
Volle Einigung der Ansichten ist, abgesehen von der Annahme einer
Anzahl kleinerer oder größerer Interpolationen und Zusätze (wie der Schiflfs-
und Troerkatalog in 5, die Bücher A"^) W Q k a>),^) nirgends erzielt. Eine
Menge von Kriterien sachlicher, sprachlicher, stilistischer Art für mangeln-
den Zusammenhang sind aufgestellt, aber über ihre Tragweite für Ent-
scheidung der Kompositionsfrage, über die Ursachen der beobachteten
Störungen sind die Ansichten geteilt. So stehen sich noch jetzt alle vier
Theorien gegenüber, und nur die Liedertheorie ist stark zurückgetreten.')
25. Stand der homerischen Frage. Es wäre vermessen, die all-
gemach zu einer großen Litteratur angewachsene homerische Frage in
diesem kurzen Abriß lösen oder nur vollständig diskutieren zu wollen.
Gleichwohl werden einige zusammenfassende Schlußsätze am Platze sein.
Kein vernünftiger Mensch ist heutzutage noch reiner Unitarier oder reiner
Wolfianer. Die Verfechter des einen Homer und unter ihnen nicht bloß
') Homerische Untersuchungen, 1884.
W. scheidet einen wieder aus verschiedenen
kleineren Teilen zusammengestückten Nostos,
eine (aber nicht bloß a — d umfassende) Tele-
machie, deren jüngster Bestandtteil a sei,
und eine Mnesterophonie, Einzeldichtungen,
die jedenfalls entschieden lebensfähiger sind
als die von Kirchhoff angesetzten.
») Die Quellen der Odyssee, 1887.
•) Dazu sind wichtige Anfänge gemacht:
P. Cauer. Über eine eigentüml. Schwäche
der homerischen Denkart, Rhein. Mus. 47
(1892) 74 ff.; Th. Zielinski, Die Behand-
long gleichzeitiger Ereignisse im antiken
Epos, Philol. Suppl. 8 (1901) 407 ff.; 0. Im-
misch, Die innere Entwicklung des griechi-
schen Epos, 1904; Hedwig Jobdan, Der Ep-
z&hlungsstil in den Kampfszenen der Ilias.
Diss. Zürich 1904. Insbesondere beachtens-
wert sind die Arbeiten von G. Finsler (Das
3. u. 4. Buch der Ilias, Herrn. 41 (1906) 426 ff. ;
Die olymp. Szenen der Ilias, Progr. Bern
1906), der unter völliger Verwerfung der
^Ür-Ilias* auf Grund sorgfältiger Motivschei-
dnug kleinere epische Zusammenhänge in der
Ilias nachweist, die dann von einem bedeu-
tenden Dichter (dem Verfasser des A) auf
den einen Faden der Mijvig gereiht und durch
Einführung eines von olympischen Szenen
getragenen göttlichen Hauptplans verklam-
mert worden seien. Aehnlich, aber ohne Einzel-
ausführung, hatte schon Chr. G. Heyne das
Verhältnis aufgefaßt. In K. L. Kaysers Sinn
sucht F. die ursprünglich selbständigen Einzel-
stücke auch stilistisch zu charakterisieren.
*) Auch dazu sind Vorarbeiten vorhanden :
A. Steitz, Die Werke und Tage des Hesiod,
1869, 16 ff.; H. Düntzer, Die homer. Fragen,
1874, 195 ff.; E. Kammer, Die Einheit der
Odyssee 758 ff.; J. Schultz, Das Lied vom
Zorn Achills, Berl. 1901, Einleitung; F. Blass,
Die Interpolationen der Odyssee, 1904.
*) Die Meinung A. Römers (Festschr.
der Universität Erlangen zum 80. Geburts-
tag des Prinzregenten Luitpold, 1901), als
wäre die ursprüngliche Aufeinanderfolge von
/ A ohne A" durch Schol. I 709 bezeugt, be-
ruht auf Mißverständnis (A. Ludwich, Berl.
philol. Wochenschr. 22, 1902, 37 f.).
*) Schon die Alexandriner erklärten den
Schluß der Odyssee von v' 296 an für unecht.
^) Versuche, sie wieder zu beleben, wie
sie neuerdings von D. Müloer unternommen
werden, sind in wesentlichen Punkten schla-
gend zurückgewiesen von 0. Wilder, Wiener
Studien 28 (1906) 84 ff.
42 Griechische litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
die Königsberger,*) sondern selbst Nitzsch haben nach und nach zugegeben,
daß unsere Ilias und Odyssee viele jüngere Bestandteile enthalten, und
zwar nicht bloß kleine, aus wenigen Versen bestehende Interpolationen,*)
sondern auch größere Erweiterungen (Diaskeuasen)^) und selbst ganze Ge-
sänge, wie den Schluß der Odyssee {yf 297 bis co fin.), die Doloneia, den
läppischen aus Reminiszenzen zusammengestoppelten Zweikampf des Aineias
und Achilleus (T 75— 852), den SchiflFskatalog (ß 484—779) und dessen Er-
gänzung (77 168 — 199). Ebensowenig wird es heute noch jemand Wolf oder
Lachmann nachreden, daß Peisistratos erst die Dias und Odyssee als Ganzes
geschaffen habe. Umgekehrt hat G. Grote^) allgemeinen Beifall mit der Be-
merkung gefunden, daß unmöglich ein Werk mit tatsächlich bestehender Ein-
heit aus Atomen von nicht aufeinander berechneten Liedern entstanden sein
könne. Noch handgreiflicher beweist die Sprache, deren Entwicklungsstadie
man seit Wolf viel schärfer zu unterscheiden gelernt hat, daß alle Gesänge
Homers in derselben Sprachperiode entstanden sind und nicht um zwei
Jahrhunderte auseinander liegen können. Über 150 Jahre vor Peisistratos
war Ilias und Odyssee fertig, die Redaktoren Attikas haben zu den alten
Gedichten nicht 100 Verse hinzugetan oder weggenommen. So oder noch
ungünstiger für die Wolfsche Theorie lautet jetzt das allgemeine Urteil
der Sachverständigen.*)
Ferner hat der Grundgedanke Lachmanns, daß auch bei den Griechen
der Zeit großer Epen eine Periode kleiner balladenartiger Heldenlieder
vorausgegangen sei, und daß sich in den ältesten Bestandteilen der Ilias
noch viele Anklänge, selbst Reste jener alten Lieder finden, bei Freunden
und Gegnern Lachmanns immer mehr Boden gewonnen. Jeder wird es
Lachmann und seinen Anhängern Dank wissen, daß sie die willkürlichen
Schranken der späteren Einteilung in 24 Bücher niederrissen -und die alten
Lieder, wie sie Homer und die Homeriden in dem Männersaal und der
Festversammlung sangen, wiederzugewinnen und abzugrenzen suchten.
Das Verständnis der kunstvollen Komposition der alten Gesänge hat da-
durch wesentlich gewonnen,^') und es ist ein weitertreibendes Prinzip ein-
geführt worden, wenn man auch jetzt darüber im klaren ist, daß das Aüs-
einanderschneiden weit schwieriger sei, als Lachmann sich vorgestellt hatte,
und daß durch das Auseinanderschneiden nicht ohne weiteres «Lieder*
*) Das Verdienst, die Einheit des Planes | Menelaos durch die ergötzliche Gardinen-
energisch vertreten zu haben, gebührt dem szene zwischen Paris und Helena verständ-
Haupte der Königsberger, K. Lehrs.
'^) Verschiedene Arten solcher Inter-
polationen von W. Chbist nachgewiesen
Proleg. §§ 12-18.
8) Siehe W. Christ, Proleg. §§ 19 u. 20.
lieber, ebenso, daß der Gesang von den
Großtaten des Agamemnon (-1 1 — 595) im
entscheidenden Wendepunkt der Handlung
mit großartiger Perspektive abbreche und der
folgende Gesang [M] mit Uebergehung der
*) Siehe o. S. 38. wenig anziehenden Zwischenfälle gleich mit
^) F. A. Palby, Homeri quae nunc ex- | einem neuen Knotenpunkt der Handlung,
taut an reliquis cycli carminibus antiquiora dem Kampf um die Schiffe, anhebe. Die
iure habita sint, London, Iftßt freilich noch Zwischenverse und Zwischenszenen seien alle
im Jahre 1878 die Ilias in der Zeit des Anti- erst später eingelegt worden, als man die
machos und Piaton entstanden sein.
«) So findet W. Christ bei der An-
nahme von Einzelliedern den heitern Abschluß
des Gesangs vom Zweikampf des Paris und
älteren, ehedem selbständigeren Lieder zu
einer geschlosseneren Einheit zusammenzu-
fassen suchte.
A. Epos. 2. Homers Uias und Odyssee. (§ 26.) 43
gewonnen werden können. Aber an allem, was darüber hinausgeht, halten
hentzutage nur eingefleischte Lachmannianer, und selbst diese nur mit ge-
wissen Einschränkungen fest. Wenn Homer vom Sänger Demodokos ^ 499 flf.
sagt (paive d' äoidrjv, evf^ev ihhv, (hg 01 /mkv ivaoek/uojv im vrjajv ßdvzeg djii-
TiXeiov, so hat er damit selbst ein Zeugnis dafür abgelegt, daß die Praxis
des Vortrags einzelner Lieder nicht die Dichtung mehrerer, zu Gliedern
eines größeren Ganzen bestimmter Gesänge ausschließt. Der dritte Gesang
der Ilias vom Zweikampf des Paris und Menelaos ist zwar sehr wohl
in sich abgerundet 0 und eignete sich vortrefflich zum Einzel vertrag, aber
er kündigt sich doch zugleich als Vorläufer einer Reihe größerer Kampfes-
szenen an, und der vierte Gesang bildet dazu den natürlichen Schluß (die
oQxuov ovyxvaig zu den oQxia)^ nicht eine für sich bestehende Dichtung.
Und wollten wir auch das Proömium der Ilias als nachträglichen Zusatz
preisgeben, so ist doch der ganze erste Gesang, und selbst schon der erste
Teil des ersten Gesangs {A 1 — 305), so breit angelegt, daß man ihn nicht
als Eingang einer kurzgefaßten Erzählung, sondern als Ankündigung eines
großen, weit ausgesponnenen Epos ansehen muß. Wenn daher auch noch
so sehr Einzellieder, die für sich singbar waren, der Ilias zugrunde liegen,
so muß man doch daran festhalten, daß jene Einzellieder zueinander vom
Dichter selbst in Beziehung gesetzt, umstilisiert und auf ein großes gemein-
sames Ziel gerichtet worden sind. Also auch über die Bedeutung des
Liedes im alten Epos läßt sich eine Verständigung finden.
Auf der anderen Seite hat die Ansicht G. Hermanns von einem ur-
sprünglichen kleineren Kern, der sich allmählich durch Einschaltungen zu
einem großen Epos entwickelt habe, im Lauf der Diskussion solche Gestalt
angenommen, daß sie mit der Liedertheorie allenfalls in Einklang ge-
bracht werden kann. Alle nämlich, die den Gedanken Hermanns weiter
verfolgt und aus unserer Ilias den ursprünglichen Kern wieder heraus-
zuschälen versucht haben, kamen auf eine Ur-Ilias nicht von einigen Hun-
derten, sondern von vielen Tausenden von Versen. Ein so umfangreiches
Gedicht eignete sich aber nicht mehr zum Vortrage auf einmal, sondern
mußte für den Vortrag notwendig in mehrere Teile oder Lieder zerfallen, so
daß wir also auch auf diesem Weg in den Anfang einen Zyklus von mehreren
zusammenhängenden Liedern setzen müssen, wie wenn wir den „Kern" der
Bias, die Achilleis, aus Mfjvig, 'Agioieia \4yajuejuvovog, Jlargoxkeia, "ExxoQog
ävcugeaig, und die erste große Einlage vom Kampf um Uios (ohog ^Jh'ov)
aus 'Ayogd, ''Ogxia, Mevekdov xal ^AkE^dvdgov ßiovojuax^, Teixooxoma, ^Oq-
xiwv avyxvoig, ^Emjicokrjaig, Aiojuijdovg ägioxeiay ''Exxogog xal ^Avdgojudxrjg
dfjukia, AXavTog xal 'Exxogog iiovoiiax^-o. bestehen lassen.
26. Auf solche Weise kann man nicht sagen, daß die homerische
Frage, wie so manche andere, vollständig im Sand verlaufen sei; vielmehr
hat man sich von verschiedenen Seiten die Hände gereicht und ist über
mehrere Hauptpunkte zu einer gegenseitigen Verständigung gekommen.
Aber freilich gehen innerhalb dieser Grenzen, wenn es zur Entscheidung
im einzelnen kommen soll, die Meinungen noch stark auseinander. Es
>) Siehe G. Finslbb, Herrn. 41 (1906) 426 ff.
44: Oriechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
sind hauptsächlich drei Punkte, in denen weniger infolge grundsätzlicher
Meinungsverschiedenheit als infolge verschiedener Beurteilung des einzelnen
Falles die Stimmen der Forscher sich scheiden. Es handelt sich erstens
um solche Partien, von denen zugegeben wird, daß sie nicht von
vornherein in dem ursprünglichen Liederzyklus standen. Hier
fragt es sich, wer hat diese hinzugedichtet, derselbe Dichter oder
ein anderer? Nichts nämlich nötigt uns zu der Annahme, daß die Gesänge
der Ilias und Odyssee so nacheinander gedichtet worden seien, wie sie jetzt
hintereinander stehen. Jeder moderne Schriftsteller erlaubt sich, nachdem
er den Plan seines Werkes im Geist entworfen hat, je nach Stimmung
und äußerem Anlaß bald eine frühere, bald eine spätere Partie heraus-
zugreifen und zur Ausarbeitung vorzunehmen. Weit mehr noch wird das
der Dichter in einer Zeit getan haben, da ein größeres Epos nie als Ganzes
zum Vortrag kam, sondern immer nur einzelne Lieder verlangt und ge-
sungen wurden. Wenn nun z. B. in der Patrokleia // 370 nur von einem
Graben um die Schiffe der Achäer, nicht auch von einer Mauer die Rede
ist, die Gesänge M N E O aber sich um die Mauer als Mittelpunkt des
ganzen Kampfes drehen, so muß man daraus allerdings schließen, daß die
letztgenannten Gesänge, auch wenn sie vor der Patrokleia stehen, doch
erst nach ihr gedichtet wurden, i) Aber konnte nicht derselbe Dichter mit
der Zeit sein Werk selbst erweitem und nachträglich auch eine Mauer in
den Plan seiner Dichtung aufnehmen? Dieselbe Frage wiederholt sich be-
züglich der Lykier am fernen Xanthos neben den Lykiern am nahen Ida,*)
bezüglich der Unterweltszene in der Odyssee, bezüglich der Telemachie
und vieler anderen Partien. Mit allgemeinen Grundsätzen ist da nicht viel
anzufangen, sondern es wird die Entscheidung der Frage, ob die betreifende
Partie vom Originaldichter selbst oder von einem fremden Nachdichter
herrühre, immer von einer sorgfältigen Untersuchung des einzelnen Falles
abhängen. So füllt z. B. die Episode vom Zusammentreffen des Diomedes
und Glaukos, ZI 19 — 236, vortrefflich die Zeit aus zwischen dem Weg-
^) Dio Chronologie der homerischen Gc- lieh dadurch auf Abwege gekommen, daß
sänge, wie W. Christ sie für die liias in sie allgemeine ästhetische Erwägungen höher
seinen Proleg. p. 55—78 und 731—733 fest- als die sicheren Anzeichen der Chronologie
gestellt, hat er als Grundlage der weiteren ' anschlugen.
Untersuchungen über die homerische Frage ^) Die Unterscheidung der beiden Lykier
in der Hauptsache bis zuletzt festgehalten, | verwirft G. Schmid, De Pandaro venatore ho-
doch im einzelnen manches zurückgenommen. merico, inComm. Ministerii instr.publ., Peters-
So verband er zuletzt A 306—611 mit /? 1 bürg 1901, indem er nachweist, daß die wilden
bis 52 und ließ diese Fortsetzung von A 1 bis Ziegen {aJyeg äyouu) , aus deren Ilörnem
805 nicht unmittelbar nach dem 1. Lied ge- Pandaros, der vermutete Held der nörd-
dichtet sein. Ferner gab er die Wahrschein- liehen Lykier, seinen Bogen gefertigt hatte
lichkeit zu, daß 7/8 312 unmittelbar nach (J 105 ff.), wohl in den Bergen des südlichen
Z 5 — // 7 und daß M — O vor 2' 243 — 335, Lykiens, nicht aber bei Zeleia im Lande der
T 1—139, 357—424, Y S7b—0 227 ge- nördlichen Lykier vorkommen. Aber Zeleia
dichtet seien. Auch war ihm schließlich ist nun doch einmal, wenn auch irrig, vom
zweifelhaft geworden, ob er mit Recht i Dichter A 103 als Heimat des Pandaros be-
Hektors Tod oder 0 526 — A' 394 zum alten ' zeichnet, und eine Veränderung des Verbrei-
Bestande der ursprünglichen Achilleis rech-
nete. Siehe § 29. Die neueren Forscher,
dio wie Kammer die Gesandtschaft und was
sich an sie anschließt wieder zum alten halten werden.
Kern der Ilias gehören ließen, sind wesent-
tungsgebietes dieser Tiergattung im Lauf der
Jahrhunderte (wie sie z. B. für den Löwen
erwiesen ist) muß als möglich im Auge be-
A. Epos. 2. Homers Dias und Odyssee. (§ 26.) 45
gehen des Hektor (Z 116) und seiner Ankunft am skäischen Tore (Z 237),
und da sie von den südlichen Lykiem abgesehen, gar nichts enthält
was gegen die Sprache und den Mythus der alten Partien der Ilias ver-
stieße, so kann man trotz der zweifelweckenden Bemerkung des Scholiasten
A ßieiaji'&eaoi riveg ^äXXax6o£ ramrjv Trjv avoraatv^ unbedenklich annehmen,
da& der erste Dichter selbst diese Episode nachträglich eingelegt habe,
um den Lykierfürsten Glaukos, dem er im zweiten Teil seines Epos eine
so große Rolle zuwies, doch auch einmal in den Kämpfen des ersten
Schlachttages auftreten zu lassen. Die gleiche Entschuldigung kann aber
für die ähnliche Episode vom Kampf des Sarpedon und Tlepolemos, E 628
bis 698, nicht gelten, und zwar aus drei Gründen nicht, einmal weil der
Gang der Erzählung keine gleich passende Zwischenzeit läßt, dann weil
die dorische Sage von dem Herakliden Tlepolemos dem alten Sänger fremd
war, und endlich, weil von der in dieser Episode geschilderten schweren
Verwundung des Sarpedon im folgenden (M 101 flf.) gar keine Notiz ge-
nommen ist. Auch soll man zwar nicht von kleinen sprachlichen Uneben-
heiten, die sich durch Erweiterung der alten Gesänge ergaben, allzuviel
Aufhebens machen; aber schwer glaublich ist es doch, daß der Dichter
der Presbeia, wenn er selbst den beiden Abgesandten der Achaier, Odys-
seus und Aias, nachträglich als dritten den greisen Phoinix beigegeben
hätte, die Duale ßdrrjv, evxofievoif ioxov (/182. 183. 192. 198) der alten
Erzählung hätte stehen lassen.^)
Eine zweite Streitfrage betrifft die Widersprüche innerhalb der
beiden großen Dichtungen.^) Viele von ihnen, die schon die alten
Grammatiker beschäftigten, sind unbestreitbar; aber wie groß ist ihre Trag-
weite? muß man immer zum Äußersten, zur Annahme verschiedener Ver-
fasser schreiten? W. Christ möchte nicht leicht zu dem horazischen
quandoque bonus dormitat Homerus seine Zuflucht nehmen, glaubt aber
doch z. B., daß, wenn Diomedes im fünften Gesang verwegen auf Aphrodite
eindringt, im sechsten dagegen in heiliger Scheu sagt ovd* äv iya) ßiaxd-
geaai ^eolg t&ikoiixi judxea&ai (Z 141), dieses nicht zur Annahme verschie-
dener Dichter nötigt, sondern in der Verschiedenheit der Situation und
dem Vorkommen in verschiedenen, nicht notwendig hintereinander zu sin-
genden Gesängen seine ausreichende Entschuldigung hat. Und selbst
') Vgl. W. Chbist, Proleg. p. 29 und
Note zu / 168. Oft kann man schwanken,
ob eine Partie ganz einer jüngeren Periode
des epischen Gesangs zuzuschreiben, oder
gedichtet worden ist, hängt wesentlich da-
von ab, ob man die Partien, die 8puren
jüngeren Alters tragen und hauptsächlich
Anstoß erregen {A 668-763 und 806—838
nach Ausscheidung der jüngeren Bestandteile | mit O 390 — 405), ausschneiden will oder nicht.
in ein höheres Alter hinaufzurücken ist. So
ist z. B. der zweite Teil des 11. Gesangs der
Dias A 596 — 838 samt der einleitenden Partie
A 499 — 510 jedenfalls erst nach der Patro-
kleia gedichtet, da A 604 und 796 die Patro-
kleia ankündigt, die Patrokleia aber und ins-
besondere deren Anfang, den zweiten Teil des
11. Gesangs vollständig ignoriert. Aber ob
A noch von Homer oder von einem jüngeren
Homeriden, zur Zeit, als bereits in Olympia
der Wagenkampf eingeführt war (.1 699—702),
Gute Gedanken entwickeln bezüglich
der Widersprüche K. Frey, Zur Poetik Homers,
Bern. Progr. 1881, S. 23 fp.; K. Rothe, Die
Bedeutung der Widersprüche für die home-
rische Frage, Progr. des Berliner collöge
fran<?ais 1894; F. Jelinek, Hom. Unters.,
Widersprüche im zweiten Teil der Odyssee,
Wien 1896. Einen neuen Weg psychologi-
scher Deutung schlägt ein Tu. Zielinski (s.
0. S. 41, 3).
46 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
wenn in dem ersten iPeil des ersten Gesangs der Dias Athene vom Olympos
zum Lager der Achäer herabsteigt {A 194 f.), im zweiten Teil hingegen
(A 424) mit allen Olympiern tags zuvor zu den Aithiopen abgereist ist,
so durfte nach Christ sich der Dichter auch das in der Voraussetzung
erlauben, daß seine andachtsvoll lauschenden Zuhörer den Widerspruch
nicht merken, und wenn sie ihn merkten, keinen Anstoß an ihm
nehmen würden. Sogar ihm selbst konnte der Widerspruch entgehen,
wenn er nicht den ganzen ersten Gesang auf einmal, sondern dessen
zweiten Teil erst geraume Zeit später als den ersten dichtete. Aber
wenn Pylaimenes, nicht ein gemeiner Soldat, sondern ein König der Pa-
phlagonier, im 5. Gesang {E 576 ff,) im Kampf mit Menelaos fällt, im 13.
hingegen (A'^GSS) die Leiche seines Sohnes begleitet, so erregt dieses
schon schwerer zu beseitigende Zweifel an der Einheit des Verfassers. *)
Doch ist auch hier noch zuversichtliches Absprechen wenig am Platz,
einmal da die sich widersprechenden Stellen in verschiedenen, nicht zum
Vortrag nacheinander bestimmten Liedern stehen, und dann da auch bei
anderen Dichtern ähnliche Ungenauigkeiten vorkommen und z. B. selbst
der sorgsame Ariosto im Orlando furiose 18, 45 den Balastro fallen, 40, 73
aber und 41, 6 wieder unter den Lebenden weilen läßt.*) Aber wenn
selbst auch in diesem Punkte noch das operi longo fas est obrepere somnum
seine Geltung hat, so darf doch unter keinen Umständen der Widerspruch
leicht genommen werden, wenn er auf einem Mißverständnis der Situation
oder des sprachlichen Ausdrucks beruht. Ein solcher liegt in dem Gesang
von der Max^] TragaTzord/Hog (0) vor, wo sich der ältere Dichter den Achil-
leus von der rechten, der Fortsetzer von der linken Seite des Skamandros
kommend (0 247) dachte.»)
Einen dritten Streitpunkt bildet die Frage nach dem Zusammen-
ordner oder Diaskeuasten und dem Umfang seiner Tätigkeit. Dieser
spielt namentlich bei Bergk, aber auch bei Kirchhoflf, Fick und Wilamo-
witz-^) eine sehr große Rolle, indem diese Gelehrten von der Voraussetzung
*) Die Alten hatten für solche Fälle das gängers mißverstanden wurde, gehört vor
Auskunftsmittel der öftcovvfiia, Porphyr, ad
Iliad. p. 85 Schrader.
'^) Darauf wurde W. Christ von M. Ber-
nays aufmerksam gemacht; von Max Koch
allem / 234 gegenüber Af 107—126 (den ver-
schiedenen Gebrauch der gleichen Phrase
hält indes für möglich Ed. Göbel. Progr.
Fulda 1891. 13—15). Ob das gleiche auch
auf den Engländer Thackeray, der sich bezüglich 0 196 gegenüber li 190 ov ar
in dem Ftoman The Newcomes am Schluß ^oi?cf xaxov (oc: ÖeihionFodm anzunehmen
selbst entschuldigt, daß er die Mutter des , sei, ist eine wichtige, aber schwer zu ent-
Bräutigams killed at one page nnd brought scheidende Frage. Die Wiederholung formel-
to life at another. An der Homerstelle hafter Ausdrücke führte zu Mißverständnissen
läßt sich zur Not auch mit Ausscheidung a 424 ^// x6x£ xaxxsiorjFs eßav oixm'dF fxa-
der Verse K 676 — 89 helfen. Eine Ana- orog (sc. fi%'i]nxi}oFQ, und ähnlich a 428). da
logic zu der oft (H. Bonitz, Ueber den Ur- die Freier aus Dulichion, Same. Zakynthos
Sprung der homerischen Gedichte ' 26 ff.) be- doch nicht zum Schlafen in ihr Haus gehen
merkten Inkonsequenz in der Sendung des konnten; s.J.MÄHLY.Bay.Gymn.Bl. 25 (1889)
Patroklos J 599 ft. bietet sich in einem Bei- 266.
spiel aus Wilhelm Meisters Wanderjahren, ' *) Tu. Bergk, Griech. Lit an zahlreichen
auf das A. Biklschowsky, Goethe II 531 hin- Stellen; A. Kirchhofp in Ausg. der Odyssee,
weist. Vgl. J. Endt, Wiener Stud. 28 (1906) und in Abhängigkeit von diesem A. Fick in
205 ff.; R. Kalter ebenda 23 (1902) 103. 1. Ausg. der Odyssee und Ilias. wo die ganze
*) Zu den Stellen, in denen vom Nach- Auffassung vom Ursprung der homerischen
dichter ein sprachlicher Ausdruck seines Vor- Dichtungen in jenem Diaskeuasten ihren
A. Epos. 2. Homers Ilias und Odyssee. (§ 27.)
47
ausgehen, daß die alten Bestandteile der Ilias und Odyssee ursprünglich
eigene Epen für sich waren, und daß erst in viel jüngerer Zeit ein Dia-
skeuast durch Schneiden, Zudichten, Umdichten, Versetzen aus ihnen
die uns vorliegenden Werke Dias und Odyssee zustandbrachte. Einen
entgegengesetzten Standpunkt vertritt B. Niese, indem er die Erweiterer
und Fortsetzer immer selbst die Verbindung mit den älteren Gesängen
herstellen läßt, so daß für den Zusammenordner wenig mehr zu tun
übrig blieb. 0 W. Christ neigt sich entschieden auf die letztere Seite,*)
gibt aber zu, daß der Gedanke Kirchhoflfs, der alte Nostos sei ursprüng-
lich in der dritten Person geschrieben gewesen und erst später von einem
Einordner in die erste umgesetzt worden,») etwas Bestechendes habe, und
daß sehr schwer zu entscheiden sei, wie viel von den jüngeren Partien
des 15. und 16. Gesangs der Odyssee (o 1—300. 454—554. n 321—451)
von dem Dichter der Telemachie selbst herrühre, und wie viel erst von
einem Diaskeuasten, der die Telemachie mit der alten Odyssee zu einem
Ganzen verband, zum Behuf des besseren Zusammenschlusses zugefügt
worden sei.-*)
27. Hiemit ist die Stellung bezeichnet, zu der W. Christ in der
homerischen Frage allmählich gelangt ist. Viele Forscher, wie z. B.
Cobet, bleiben bei solchen allgemeinen Sätzen stehen und halten die Ver-
suche, die ursprünglichen Bestandteile der homerischen Dichtungen heraus-
zufinden, für eine Danaidenarbeit, von der sich ein besonnener, der Grenzen
seiner Kunst bewußter Kritiker fernhalten solle.*) Andere dagegen gehen
von der Überzeugung aus, daß der Prüfstein für die Richtigkeit der all-
Angelpunkt hat; Wilamowitz. Hom. Unters.,
besonders S. 228; Ed. Meyer, Gesch. d. Altert-
tums II 406 ff., der wesentlich von Kirch-
hoff und Wilamowitz abhängig ist; Jul.
Schultz, Das Lied vom ^om Achills, Berlin
1901.
') Zur Erläuterung mag der Gesang B
der Ilias dienen. Ihm liegen nach Christ
sechs Stücke zugrund : . das Gedicht von dem
Traum (ß 1—47, Mittelstück), die Ratsver-
sammlung {B 53—85, junges Stück), die
Volksversammlung oder Aid::tfiQa [B 48—52
n. 86—483, altes Stück) mit Vorbereitung zur
Schlacht {B 780-815), der Schiffskatalog
{B 484—779, junges Stück), das Vei-zeichnis
der troischeu Heerscharen {B 816—877, ganz
junges Stück). Aber nicht ein Diaskeuast
erst hat diese verschiedenen Stücke zu einer
Einheit verbunden, vielmehr hatten schon
die Verfasser der jüngeren Stücke diese zur
Einfügung in das alte Lied bestimmt, und
zwar zur Einfügung gerade an den Stellen,
wo wir sie jetzt lesen: nur bezüglich des
Schiffskatalogs kann das letztere bezweifelt
werden.
*) Dabei nimmt aber Christ doch auch
einzelne Zusätze von der Hand späterer Re-
daktoren an. Auch möchten später einzelne
Partien versetzt worden sein; so seien die
Proömien S 1—27 und « 1—87 in der Haupt-
sache altes Gut, aber erst von den jüngeren
Erweiterem an ihre heutige Stelle gesetzt
worden.
^) A. KiKCHHOFF im 2. Exkurs, haupt-
sächlich gestützt auf die anstößigen Verse
fi 374 - 388; beistimmend Wilamowitz, Hom.
Unters. 126. Vgl. J: Mähly in der Rezension
der ersten Auflage dieses Werkes Bayer.
Gymn Bl. 25 (1889) 267 f.; P. Cauer, Homer-
kritik S. 295. Sachlich schließt sich übrigens
fi 391 ff. leicht an /< 373 an, so daß man
auch zu der alten Athetese von u 374—390
seine Zuflucht nehmen kann.
*) Sehr auffallig ist, daß die Verse
ö 613 — 9 in o 113—9 wiederkehren, was viel-
leicht so zu erklären ist, daß ehedem die
jetzt S 620 abgebrochene Erzählung in den
Versen o 121 ff. ihre Fortsetzung hatte.
*) C. G. CoBBT, Miscell. crit. p. 402; quo
saepitis carmina lonicOy quae Homeri nomine
feruntur, relego et diligenter omnia considero,
eo magis magisque mihi confirmatur sen-
tentia eorum, qui haec non unius dotSor car-
mina esse arbitrantur, sed a compluribus
cantoribus neque aetatis eiusdem neque pa-
triae f/s tijv avTt/r vnd&eoiv olim composifa
et cantata fuisse, deinde in unum coUecta et
ordine disjwsita, ut eig ev oioftdriov coale-
scerent . . . plura non addo, quia talia omnia
sentiri possunt^ sed demonstrari non possunt,
48
GriechiBche Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
gemeinen Sätze in ihrer Durchführbarkeit im einzelnen zu suchen sei, und
wagen daher eine Zerlegung der Gedichte in ihre Elemente, eine Rekon-
struktion der alten Dias und Odyssee und eine Scheidung der verschiedenen,
älteren und jüngeren Zusätze. Ausgeführt ist dieses Wagnis in der Art,
daß auch durch den Druck die verschiedenen Bestandteile bemerkbar ge-
macht sind, von A. Kirchhoflf in seiner Homerischen Odyssee (2. Aufl.
1879)0 und von W. Christ in der Ausgabe Homeri Iliadis carmina, Lips.
1884.*) Auf das ähnliche Unternehmen Ficks wird, da es von einem be-
sonderen, erst später zu besprechenden sprachlichen Gesichtspunkt aus-
geht, weiter unten zurückzukommen sein. Außerdem ist die Stellung
einzelner Gesänge und Gesangspartien in zahlreichen Abhandlungen dis-
kutiert worden, deren Hauptgedanken durch die sorgfaltigen Referate in
den Anhängen von C. Hentzes Ausgaben auch dem Femerstehenden jetzt
leicht zugänglich gemacht sind. 3)
Ü8. Im folgenden wird die in einige Sätze gefaßte vermittelnde Ge-
samtanschauung W. Christs und seine Vorstellung von der Entstehungs-
weise der beiden Epen wiedergegeben:
1. Ilias und Odyssee beruhen auf nationalen, bereits von älteren
äolischen Sängern poetisch gestalteten Sagen, die durch die Kämpfe äoli-
et nolo videri ultra Lycurgi aetatem inda-
gando procedere velle. Achnlich ist der
Standpunkt, den J.Mähly, Bayer. Gymn.Bl. 25
(1889) 263 einnimmt.
') Vielfach weicht von KirchhofP die
neuere Rekonstruktion von Wilamowitz,
Homer. Unters, ab, namentlich in der An-
nahme, daß von den drei Epen, die dem
Kontaminator vorgelegen haben sollen, das
dritte, vom Sieg des Odysseus über die Freier
(ftvfjOTtjoofforia), jünger als die Telemachie
gewesen sei. Den Boden verliert unter den
5Mßen 0. Seeck, Die Quellen der Odyssee,
Berlin 1887, indem er die Quellenfoi-schung
der Historiker auch auf die Dichtung der
Odyssee zu übertragen wagt.
') Lineamente zur Scheidung zog schon
S. A. Naber, Quaestiones Homericae, Amstel.
1877; ein neuer Versuch ohne strenge Be-
weisführung von E. H. Mbyer, Indogerm.
Mythen, 2. Bd. Achilleis, Berlin 1887. Be-
achtenswerteres bietet K. Brandt, Zur Ge-
schichte und Komposition der Ilias, Jahrbb. f.
Phil. 1885 89. Eine Scheidung nach kultur-
historischen Gesichtspunkten verlangt, führt
aber nicht im einzelnen durch P. Caukr,
Grundfragen der Homerkritik (1895) S. 168.
Den Vemuch einer Scheidung von Partien
mit älterer mykenischer Bewaffiiung und von
jüngeren ionischen Partien mit Rundschild,
Panzer und Beinschienen macht, den An-
regungen von W. Reichel (s. o. S. 28, 1) fol-
gend, K. Robert (s. o. S. 39, 5). Nach Versuchen,
die er selbst angestellt hat. zweifelt Christ
an der Durchführbarkeit der Scheidung, da
Homer Kulturzustände, wie er sie für die
ältere Lebenszeit seiner Helden voraussetzte,
I und solche, wie er sie in der eigenen Um-
I gebung fand, nebeneinander za stellen keinen
I Anstand nehme. Das zei^t sich namentlich
I in dem Nebeneinander von Waffen aus Erz
; ixaAxös) und solchen aus Eisen [aiÖTjQog);
s. Od. i 391—3. Auch in der von König
Servius angeordneten Bewaffnung des römi-
schen Heeres kommen Abteilungen mit langem
viereckigen und solche mit kleinem runden
Schild nebeneinander vor. Zudem sind jetzt
Rundschilde (E. Drkrüp, Homer 119; P.Wol-
ters, Mitt. des ath Inst XIV 103 ff.), Bein-
schienen (Tu. Lenschau, Jahresber. über die
Fortschr. der klass. Alteiiumsw. 122, 126) und
Brustpanzer (Savignoni in Monumenti antichi
pubbl. p. cura della r. acc. dei Lincei XIII p. 42
fig. 35, p. 118: ibid. tav. 1) auch aus Monu-
menten des mykenischen Zeitalters nach-
gewiesen. Der bewußte Archaismus, mit
dem noch Apollon. Rhod. (Schol. Ap. Arg. I
430) das Broncealter für seine Helden fest-
hält, ist sehr alt und drückt sich am be-
zeichnendsten aus in dem Vers Hesiod. op.
151 x^Äxin b^FUjydCo^'To, ftelag /i*ovx Eoxe oi-
ÖriQog. Aehnlich ist es, wenn Pind Pyth. 2,
70 noch von der siebensaitigen Lyra redet.
Entgleisungen von derartiger archaistischer
Observanz aus kommen in früheren, naiveren
Zeiten vielleicht eher als in späteren, bis
ins Kleinliche pünktlichen vor. — Für die
Einheitlichkeit der in den homerischen Ge-
dichten geschilderten mateiiellen Kultur tritt
übrigens A. Lano, Homer and his Age, London
1906, ein.
^) Statt die Litteratur im einzelnen an-
zugeben, genügt es, auf Hentze zu verweisen.
A. Epos. 2, Homers Ilias und Odyssee. (§ 28.) 49
scher und achäischer Ansiedler Asiens mit den ehemaligen Herren des
Landes und durch die kühnen Wagnisse der Äolier und lonier zur See
ihre Nahrung empfangen hatten.^) Durch die Sage und die älteren Einzel-
lieder waren dem Dichter, der zur Dichtung großer Epen überging, die
Gestalten der Haupthelden, des Agamemnon, Achilleus, Aias, Nestor, Odys-
seus, bereits vorgezeichnet.
2. An den neuen großen Schöpfungen der Ilias und Odyssee haben
sicher mehrere Dichter gewoben, aber der Gedanke, den Streit zwischen
Achilleus und Agamemnon in seinem ganzen Verlauf zum Mittelpunkt der
Dichtung zu machen, ist sicher nur im Kopf eines einzigen reichbegabten
Sängers entstanden, ebenso wie der Plan, den Odysseus im Phaiakenland
seine früheren Irrfahrten erzählen und dann nach erlangter Heimkehr die
übermütigen Freier seiner treuen Gattin erschlagen zu lassen, nur von
einem Manne ausgegangen ist.
3. Beide Dichtungen, Ilias und Odyssee, sind aus derselben Sänger-
schule hervorgegangen, und manche der jüngeren Partien der Ilias und
Odyssee mögen auch denselben Dichter zum Verfasser haben. So konnte
die Überlieferung von Homer als dem gemeinsamen Dichter von Ilias und
Odyssee entstehen, ohne daß man deshalb genötigt wäre, die Odyssee
demselben Dichter wie die Ilias zuzuweisen.
4. In Sprache und Versbau stimmt ebenso wie im Mythus 2) die
Odyssee mit der Ilias wesentlich überein; namentlich behauptet in beiden
Dichtungen das Digamma, das frühzeitig bei den loniern zu schwinden
begann, noch seine Kraft, und die ehedem durch s r j getrennten Vokale,
wie in äi>, ieooaro, ii^djiißeov^ stehen unkontrahiert nebeneinander. 3) Doch
sind daneben kleine Unterschiede nicht zu verkennen; so findet sich das
Digamma von olvog in der Odyssee und in den jüngeren Gesängen der
Ilias öfters vernachlässigt,*) die positio debilis ist in der Odyssee
häufiger als in der Ilias ohne Wirkung, und nur in den jüngeren Partien
kommen die Formen ixelyog statt xeivog, ^jueag statt a////^, vjbtsag statt
vfxjLiE vor; ebenso hat die Caesura hephthemimeres ohne einen Ein-
8) Das Nähere lehren 0. V. Knös, De
digammo Homerico. Ups. 1872. 73. 79; J. Mek-
BAD, De contractiouis et synizeseos usu Home-
rico, Monachii 1886. So gebraucht Homer noch
nicht (wohl aber der Dichter des Margites fr.
2, 2 K.) das später (seit dem 6. Jahrh.) so häufige
Wort aoq)6g, enthält sich (aus stilistischen
Gründen, ebenso wie die attische Tragödie)
aller Deminutiva, sagt durchweg fiagtroogf
nicht wie die Späteren /^aoris-, wendet .tgo-
qwyeiv im Sinn von vnFxqvyelv an, gebraucht
bloß je einmal in Ilias (/ 42) und Odyssee
(o 21) das konsekutive looxe und das Wort
loyog (0 393; «56).
*) Belege geben die Proleg. zu W. Christs
*) Es fehlen auch nicht mythologische
Niederschläge in der troischen Sage; solche
suchen im Übermaß Osk. Meyer. Quaestiones
Homericae, Bonn 1868, E. H. Meyer. Indo-
germ. Mythen Bd. II Berl. 1887 und H. Usenbb,
Der StoflF des griechischen Epos, Wiener Ak.
Sitz.ber. 137 (1897). Zu weit in der Annahme
ethischer Ideen in der Achilleus- und Odysseus-
sage geht M. Carkiere, Die Kunst im Zu-
sammenhang der Kulturentwicklung II 49 ff.
^) So ist Herakles durchweg gedacht
fiuf, yeveff imv Tga>txon' TrooyFveazeong (O 638,
<p 21), und nicht bloß von den Söhnen des
Priamos, sondern auch von denen des Laome-
don und Antenor findet sich überall die gleiche , ^ ^ ^
Anschauung. Einzelne Unterschiede wie in 1 Iliasausgabe p. 163. Über das allmähliche
der Stellung von Hermes und Iris in den
beiden Gedichten sind immerhin bedeutend
genug, um schon für sich allein den Ge-
danken an Identität des Verfassers beider , contraction bei Homer, Halle 1908.
Gedichte auszuschließen
Überhandnehmen der Kontraktion in den jün-
geren Partien der Odyssee s. W. Christ, Homer
und Homeriden S. 60. F. Bechtel, Die Vocal-
Handbaeh der klass. Altertamflwissenschaft VII. 5. Aufl.
50 Griechische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
schnitt im 3. Fuß geringere Verbreitung in der Odyssee als in der
Ilias.^) Nur in der Odyssee ist der Versuch gemacht, ^(og als Final-
partikel zu gebrauchen.
5. Dias und Odyssee sind nicht erst nachträglich dadurch zustande
gekommen, daß ein Redaktor alte, ursprünglich selbständige Lieder oder
Epen zu einheitlichen Werken umschuf; vielmehr hat von Anfang an der
alte Dichter der Ilias und ebenso der der Odyssee die einzelnen Lieder,
wenn sie auch zunächst zum Einzelvortrag bestimmt waren, doch schon
als Teile eines gegliederten Ganzen gedacht, und auch die jüngeren Home-
riden haben die Einlage ihrer Zudichtungen an ganz bestimmten Stellen
von vornherein im Auge gehabt. Von kleinen Störungen der ursprüng-
lichen Ordnung aus älterer Zeit reden die Schollen zu Z119 und Kl.
29. Entstehung der Ilias. Den Kern der uns vorliegenden Ilias
bildet das Gedicht vom Zorn des Achilleus (ju^vig ^Axdkijog);^) es zerfallt
in vier Teile, von denen der erste den Ausbruch des Streites zwischen
Achilleus und Agamemnon und im Anschluß daran die Bitte der Thetis
um Rache für die Entehrung ihres Sohnes enthält (Gesang -4), der zweite
den Versuch des Agamemnon, ohne Achilleus den Kampf gegen Hektor
und die Troer zu führen, und den schlimmen Ausgang erzählt, den dieser
Versuch nahm {A 1 — 595 und 0 592 — 746), der dritte, die TlaTQoxkeia,
die Hilfeleistung durch Patroklos, den Tod dieses Helden und den Kampf
um seine Leiche umfaßt (77 — Z 242), der vierte {T — X 393) ») den Namen
'AxMrjtg im engeren Sinn insofern verdient, als er sich um Achilleus allein
gruppiert und mit der Erlegung des Hektor durch ihn abschließt. Ob ein
Dichter diese vier Teile des Heldengesanges vom Zorn des Achilleus un-
unterbrochen nacheinander in der angedeuteten Folge gedichtet oder auch
nur alle vier von vornherein im Auge gehabt hat, ist zweifelhaft. Viel-
mehr scheint der Dichter die Aussöhnung des Achilleus und den Fall
Hektors nicht von vornherein in den Plan seiner Dichtung gezogen zu
haben ;^) auch sollte man denken, daß er nicht so rasch seinem Ziele zu-
gesteuert und gleich von dem Gesang A zu dem Gesang A übergegangen
sei.*) Jedenfalls beginnt erst mit A die Verwirklichung des von Zeus der
Thetis gegebenen Versprechens, das dem Achilleus zugefügte Unrecht durch
*) K. Lehbs, Aristarch.' p. 387 — 413; 1 zusetzenden ^Ur-Ilias" nicht angehören können,
Th. D. Seymoub, On the homeric caesura and ! zeigt G. Finsler. Die olymp. Szenen der Ilias,
the close of the veree as related to the ex- Progr. Bern 1906.
pressiou of thought, Harvard Studies in Class. ') Üher die Ausscheidung der TeUe
Philol. 3 (1892) 91 fF. In D. B. Monkos jener vier Gesänge, die zur alten Achilleis ge-
Grammar of the Homeric Dialect (2. AuÜ., hörten, sowie über die ähnliche Ausscheidung
Oxford 1891) sind sprachliche Eigentümlich- ; der alten Patrokleia aus den Gesängen II PI*
keiten. welche die Bücher / Ä' U^ ü mit der 1 s. W. Christs Ausgabe. Daneben vergleiche
Odyssee gemein haben, hervorgehoben. ' man die im einzelnen abweichende, aber im
') N. Wecklein, Studien zur Ilias. Halle ganzen doch übereinstimmende Ausscheidung
1905, sieht in der ////r/c nur ein struktives , bei A. Fick, Ilias S. 18 — 75.
Motiv, um das alte Achilleusgedicht mit der
alten Ilias, in der kein Achilleus vorkam, zu
verbinden, da das Fehlen des Achilleus in der
Ilias habe begründet werden müssen. Aehn-
lich D. Mülder. Homer und die altionische
Elegie, Hannover 1906, S. 18 ff. Daß die
olympischen Götterszenen der etwa voraus-
*) Beachtenswert ist, daß sich davon
noch nichts in dem Proömium findet und dort
nur von den Leiden der Achäer die Rede ist.
^) Die Gesänge A und /' — K haben viele
Verse und Situationen miteinander gemein,
aber auch diese geben kein sicheres Mittel
zur Bestimmung der Priorität an die Hand.
A. Epos. 2. Homers Dias nnd Odyssee. (§ 29.) 51
schwere Niederlagen der Achäer zu rächen. Aber in diesem Gesang
werden rasch hintereinander Agamemnon, Diomedes, Odysseus, Eurypylos
verwundet und außer Kampf gesetzt, und nur Aias widersteht mit Mühe
dem Eindringen der Troer in das Schiflfslager der Achäer. Damit war für
eine breitere Schilderung der Heldentaten der Achäer, die das National-
gefühl der Griechen verlangte, kein Platz gegeben. Daher scheint der
Dichter, wenn er wirklich zunächst von A gleich auf Ä übergegangen war,
doch hintendrein, noch ehe er zur Patrokleia überging, einen zweiten
Schlachttag, jetzt den ersten, hinzugedichtet und die Erzählung dieses Tags
dem Gesang von Agamemnons Taten (Ä) vorausgeschickt zu haben. Das
geschieht in den Gesängen 5 — £* oder ß-r-/^ 312, in denen in breiter Aus-
führung und trefflicher Exposition die Volksversammlung vor der Wieder-
aufnahme des Kampfes, der Zweikampf der Kriegsstifter Paris und Mene-
laos, die Mauerschau und die Musterung des Heeres, die Heldentaten des
Diomedes, der Abschied des Hektor von Andromache, der Abschluß des
ersten Schlachttages durch den Zweikampf zwischen Hektor und Aias be-
sungen sind. Angeregt durch G. Grotes Analyse haben H. Düntzer und
A. Fick diese sechs Gesänge als ein eigenes Epos vom Schicksal Troias
(phog ''lUovY) fassen wollen, das ursprünglich eine ganz selbständige Stel-
lung gehabt habe und erst nachträglich in das Epos vom Zorn des Achil-
leus eingelegt worden sei.^) Aber der Umstand, daß an den Kämpfen
jenes ersten Schlachttages Achilleus keinen Anteil nimmt, kann auch zum
Beweis dafür benützt werden, daß jene sechs Gesänge mit Bezug auf den
Streit des Achilleus und Agamemnon gedichtet sind und von vornherein
zur Einlage zwischen dem 1. und 11. Gesang bestimmt waren. Richtig
ist allerdings, daß in ihnen der Zorn des Achilleus in den Hintergrund
tritt*) und Zeus seines der Thetis gegebenen Versprechens ganz zu ver-
gessen scheint.^) Aber das läßt sich aus der retardierenden Stellung
dieser zwischengeschobenen Gesänge begründen und ist auch bei dem
cyklusartigen Kompositcharakter des älteren Heldenepos nicht allzu auf-
fallend.
Die breite und umfangreiche Schilderung des ersten Schlachttages
hatte zur Folge, daß der Dichter nun zur HersteUung des Gleichgewichtes
auch den zweiten Schlachttag erweiterte; er tat dies, indem er zwi-
schen die Verse A 547 und O 592, die ehedem unmittelbar aufeinander
folgten, mehrere Gesänge einschob. Dabei erweiterte er zugleich den
Hintergrund der Dichtung, indem er einesteils das Schiflfslager, statt wie
zuvor nur durch einen Graben, nun auch noch durch eine Mauer umgeben
dachte, und andern teils den Kriegsscharen der Troer und nächsten Nach-
barvölker auch noch die südlichen Lykier unter Sarpedon und Glaukos
^) Für den Namen war bestimmend der *) Die Bezugnahme auf Achilleus am
Vers der Odyssee 0 578 'Agyetcov Javaöjv Schluß der Rede des Thersites B 239—42
ffd* 'IXiov ohov axovfov. ist sicher interpoliert, aber nicht der ver-
') Die Gesänge B — H werden auch nicht steckte Hinweis in B 376.
berücksichtigt von Thetis in der Rekapitu- *) Dieser Umstand ist von geringem Be-
lation der Ereignisse 2' 444 fF. Aber darauf lang, da der 2. Teil des 1. Gesanges .1 806
ist bei der summarischen Art jener Rekapi- bis 011 nicht unmittelbar nach dem ersten
talation kein Gewicht zu legen. gedichtet zu sein scheint.
4*
52 Oriechische Litteratorgeschichte. I. ElasBische Periode.
zugesellte.*) So kamen zu den allmählich einförmig gewordenen Schilde-
rungen von Kämpfen in der Ebene neue Bilder in dem Mauerkampf (Teixo-
juayta in M) und in dem Kampf bei den Schiffen (ij im vavoi jbuixrj in N)
hinzu. Neu belebt aber wurde insbesondere die Darstellung durch die reiz-
volle Dichtung von der Überlistung des Zeus durch seine Gemahlin Hera
{Aiog ämm] in E) und die damit herbeigeführte Veränderung der Situation
zugunsten der Achäer.
Die Patrokleia und Achilleis waren von vornherein breiter angelegt,
so daß sie weniger der Erweiterung bedurften; doch nahmen auch sie
neue Kampfepisoden in den ursprünglichen Rahmen auf; insbesondere er-
hielt die Achilleis einen versöhnenden, auch das religiöse Gefühl befriedi-
genden Abschluß durch die Zudichtung von der -Bestattung der Leiche des
Patroklos {W \ — 256) und von der Lösung des Hektor {Amga in ß).«)
Was wir bis jetzt von der Ilias besprochen haben, rührt wohl ganz
oder doch zum allergi'ößten Teil von einem Dichter her;*) dazu kamen
aber später noch mannigfache Zusätze von Homeriden, die sich nicht auf
die Einlage einzelner Verse beschränkten, sondern auch ganze Gesänge
hinzudichteten. Die bedeutsamste Zudichtung stammt von einem begabten
Dichter, der den genialen Einfall hatte, eine Gesandtschaft mit demütigen
Bitten an den grollenden Achilleus abgehen zu lassen (/).*) Da aber zu
einer solchen Demütigung sich Agamemnon nicht verstehen konnte, wenn
er nicht zuvor in die trostloseste Lage versetzt war, so legte der Dichter
vor der Presbeia einen anderen Schlachttag {KoXog /aäxrj in ß) ein, der
mit vollständiger Niederlage der Achäer endete. Um auf der anderen
Seite das Selbstgefühl der Achäer wieder zu heben und einen passenderen
Übergang zu der ^Ayajuifivovog dgioreia herzustellen, schob dann der Dichter
der Presbeia oder ein anderer jüngerer Homeride zwischen den 9. und
11. Gesang die Doloneia ein, die zugleich den Vorteil der Neuheit eines
nächtlichen Streifzuges bot. Außerdem sind von jüngeren Dichtern zur
^) Zu den später hereingezogeDen Völ- 1 ihr andere Dichter abschließende Supplemente
kern gehören auch die Paioner am Axios; ; zugedichtet hätten.
sie sind, von /? Ä' abgesehen, ei-wähnt in der ') Am ehesten kann man das vom
Achilleis 0 139 — 212, aber auch schon in 24. Gesang bezweifeln, da dieser in Sprache
der Patrokleia // 287—292. Bedenken er- und Ton stark an die jüngeren Gesänge der
regen auch die fernen Paphlagonier E biß Odyssee erinnert. H. Köchly ließ sich dadurch
bis 589 und A' 643—673; möglicherweise nicht bestimmen, ihn aus dem Kranz der
sind beide Stellen spätere Zudichtungen. — alten Lieder der Ilias auszuschließen, aber
Die Störungen, welche durch die Einlage von mit guten Gründen läßt ihn neuerdings W.
Helbig, Rh. M. 55 (1900) 55—61 von einem
jüngeren ionischen Dichter dem älteren äoli-
schcn Epos als milden Schluß zugedichtet
sein. Auch F. Blass (Interpol, der Od. 291 flF.)
rückt ^ü näher an die Odyssee.
*) Gerade die IlgFaßria in / hielten K.
L. Kayser (Homer. Abhandl. 57, 1) und F.
NüTzuoRN (Entstehungsweise der homer. Ged.
B—H und M—O in das Gedicht kamen,
verdienen Beachtung, könnten aber gegen
die Annahme eines einheitlichen Dichters
nur dann verwendet werden, wenn wir an-
nehmen müßten, daß Homer die Gesänge A
bis /' hintereinander gedichtet und zum Vor-
trag in einem Zug bestimmt hätte. Beides
aber ist bei dem Charakter des homerischen
Epos keineswegs anzunehmen. | 175) für den Wendepunkt der ganzen Ilias.
^) Ohne diesen Abschluß wäre es wohl | Unbekannt ist/ den Dichtern der Verse J 609;
auch der Ilias wie der Aeneis (darüber H. // 72 f., 85 f.; N 115 (D. Mülder, Homer
Kern, Supplemente zur Aeneis aus dem 15. und die altion. Elegie 3 tf.), wird auch von
und 17. Jahrhundert, Progr. Nürnberg N. G. dem Verfasser des Schitfskatalogs (vgl. B
1896) und dem Nibelungenlied begegnet, daß , 569 fP. mit 7 150 ff.) ignoriert.
A. Epos. 2. Homers Ilias nnd Odyssee. (§ 30.) 53
alten Ilias noch hinzugedichtet die Schmiedung der Waffen des Achilleus
aOnkoTioua Z 369—617), die Aineiasepisode (F 75—352), die Götterschlacht
(* 383 — 514), die Leichenspiele zu Ehren des Patroklos (M»?Aa im IIa-
xQoxkcp W2hl — 817), mehrere kleine, zur strafferen Verknüpfung der früher
locker aneinandergereihten Lieder bestimmte Einschiebsel, wie D 239 — 42,
H 69—72, H 313—482, / 345—356, // 60—63, endlich der Schiffskatalog
{B 484—759) mit dem Anhang des Troerkatalogs (ß 816—877). Der Schiflfs-
katalog hängt mit Böotien, wovon er selbst den Namen Boioyxia erhielt, zu-
sammen imd gehört zur katalogisierenden Richtung der hesiodischen Schule. 1)
30. Entstehung der Odyssee. 2) Die Odyssee, wie sie uns vor-
liegt (nicht die Odysseussage) ist eine jüngere Schöpfung als die Ilias.
Das beweisen zur vollen Evidenz die zahlreichen Nachahmungen von Stellen
der Ilias;*) das zeigt sich aber auch in dem weiter entwickelten Kultur-
leben*) der Odyssee und in der ganzen Anlage des Gedichtes. Denn in
der Odyssee tritt das Einzellied zurück, und wir haben statt eines grad-
linigen Fortschrittes der Erzählung eine kunstvolle Ineinanderflechtung der
einzelnen Teile. — Die Odysseussage"^) ist bei Homer an die Sage vom
troischen Krieg angeknüpft, indem Odysseus als achäischer Führer auf-
tritt, der nach der Einnahme der Feste Ilios unter mannigfachen Aben-
teuern in seine Heimat zurückkehrt. Aber diese Anknüpfung ist offenbar
eine ganz junge; der alte Kern, eine zeitlose märchenartige Novelle von
dem Schicksal eines kühnen Seefahrers, der heimgekehrt sein treues Weib
von übermütigen Freiern bedrängt findet und diese in mutigem Kampf
erschlägt, hatte mit dem troischen Kriege ursprünglich nichts zu tun.
Woher nun stammt jener alte Kern der Sage?^) Halten wir uns an die
Örtlichkeit, in der die Odyssee spielt, so werden wir in das alte achäische
Reich der seekundigen Kephallenier im Westen Griechenlands gewiesen,
von denen nach Strabo p. 637 die Insel Samos besiedelt worden war.^)
*) üeber den Schiflfekatalog im Zusammen- ungefähr gleichzeitig mit der Odyssee ent-
hang mit altionischer geographischer Litte- ' standen, so daß sogar in der Doloneia und
ratur M. P. NiLSSON, Rh. M. 60(1905) 161 ff. Hoplopoiie einzelne Stellen begegnen, die
') Hauptschriften über die Komposition Verse der alten Odyssee zum Vorbild gehabt
der Odyssee sind : P. D. Ch. Hennings, Ueber zu haben scheinen.
die Telemachie, Jahrbb. f. Phil. Suppl. 3(1858) *) Daß indessen die Darstellung des
133 ff., und: Homers Odyssee, ein kritischer Königtums in Ilias und Odyssee (mit Aus-
Kommentar, Berl. 1903 ; A. Kibchhoff, Die ' nähme der sehr altertümlichen Stelle B 102
Homerische Odyssee, 2. Aufl., Berl. 1879; E. 1 bis 108) ganz gleichartig und verhältnismäßig
Kammbb, Die Einheit der Odyssee, Leipz. modern sei, zeigt G. Finsler, N. Jahrbb. f.
1873; WiLAMowiTz. Hom. Untersuchungen, das kl. Alt. 17 (1906) 313 ff.
Phil.Unt. 7. Heft 1884; F. Blass, Die Inter- ' ^) Für das Motiv von Odysseus* Aben-
polationen der Odyssee, 1904. i teuerfahrten braucht man nicht nach orien-
•) Schon K.L.Kayser arbeitete mit diesem talischen Vorlagen zu suchen, da es ein ur-
Kriterium , das freilich sehr vorsichtig ge- alt-internationales, man kann sagen allgemein
handhabt werden muß; s. u. S. 59, 1. K. menschliches ist (P. Jensen, Das Gilgamis-
81TTL, Die Wiederholungen in der Odyssee, Epos und Homer, Ztschr. für Assvriologie 16
München 1882. Daß im besonderen Ü, also , (1902) 125 ff.).
einer der jüngsten Gesänge der Ilias, Vorbild , ®) Möglich ist, daß hinter der Novelle
für die Odyssee, wenigstens die Telemachie war, ' noch ein Natunnythus steckt,
behauptet, ohne zu überzeugen, M. Gboeoeb, ') Es handelt sich hier übrigens um
Rh. M. 59 (1904) 1—33. Die Nachahmungen
zeigen indessen, daß das oben Gesagte nur
von den alten Partien der Ilias nnd Odyssee
gilt Die jüngsten Gesänge der Dias sind
einen Versuch, die Namen Same (= Kephal-
leniaStrab.455) und Samos etymologisch und
sachlich in Verbindung zu setzen.
54 Griechische Litteratorgeschichte. L Klassische Periode.
Man kann zugeben, daß die alte Odysseussage, noch ehe sie zu einem
Epos sich kristallisierte, durch Erzählungen der Kreter und anderer see-
fahrender Stämme mannigfache Erweiterungen erhalten hat. Kreta war,
wie jetzt durch die Ausgrabungen der Engländer und Italiener offenkundig
geworden ist, ein Hauptsitz „mykenischer" Kultur, und in unseren Tagen,
wo man so sehr geneigt ist, die homerischen Gedichte mit den neuent-
deckten Zeugen jener alten Kultur in Verbindung zu bringen, hat daher
E. Drerupi) die Hypothese aufzustellen gewagt, daß Kreta die eigentliche
Heimat der Odysseussage gewesen sei. Aber Ithaka, die Heimat des
Odysseus, stand zu keiner Zeit mit der Seeherrschaft der Kreter in Be-
ziehung, und die Lügenerzählungen des Odysseus von seiner Herkunft aus
Kreta (f 250 flf., t 172 flf., v 256) wollen eben Erdichtung (ym^dog),*) nicht
alte Überlieferung sein.
Zu einem Heldengedicht wurde die alte Novelle gestaltet in unserer
Odyssee. Den ältesten Bestandteil dieses Epos bildet das Gedicht von der
Irrfahrt des Odysseus (yoorog ^Odi^oorjog, i x jn). Der eigentümliche Charakter
dieses alten Gedichtes, das vielleicht der Dichter der Odyssee schon vor-
fand und nur mit geringen Veränderungen in sein neues Gedicht einlegte,
besteht in der märchenhaften Natur der Abenteuer und in der Knappheit
der schlichten, mit dem poetischen Mittel der Gleichnisse und Götter-
maschinerie sparsam schaltenden Erzählung. — Das neue Epos knüpft
vermittelst einer Götterversammlung an den alten Nostos an, indem es
zunächst (e — 9) den edlen Dulder von der Insel der Kalypso^) in das Land
der Phaiaken gelangen und dann dort seine früheren Irrfahrten erzählen
läßt. Der Dichter erreicht auf solche Weise, daß die Erzählung sich nicht
durch viele Jahre hinzieht, sondern ähnlich wie in der Ilias sich auf kurze
Zeit konzentriert und mitten in die Handlung hineinführt. Mit den Ge-
sängen von der Heimkehr (v — f) schlägt er dann die Brücke zu dem zweiten
Hauptteil der Odysseussage, der Rache, die der heimgekehrte Held unter
mancherlei Listen an den übermütigen Freiern der treuen Penelope nimmt.
Die Ermordung der Freier wird im Anschluß an das von Penelope ver-
anstaltete Wettschießen erst in den Rhapsodien cf) x ei'zählt; voran läßt
der Dichter mehrere vorbereitende Szenen gehen, von denen die erste auf
dem Gehöfte des Sauhirten Eumaios, die folgenden auf dem Weg zur
Stadt und im Königspalast spielen (ji — t»). So lernen wir die einzelnen
Freier und ihr gottloses Treiben kennen, und Odysseus bekommt Ge-
legenheit, teils vorbereitende Schritte zur Rache zu tun, teils sich
nach und nach seinem Sohn Telemachos, der alten Amme Eurykleia und
dem treuen Sauhirten zu erkennen zu geben. Man wird nicht leugnen
können, daß sich so die Erzählung etwas lange hinzieht, daß insbesondere
die Wiederholung des rohen Wurfes (a 394 und r 299) Anstoß erregt, und
das Wegschaffen der Waffen (r 1 — 52) sehr unvermittelt eingelegt ist.
M E. Drerüp, Homer S. 127. Dagegen
P. Caüer, N. Jahrbb. f. d. kl. Alt. 15 (1905) 16.
^) Die Stellen sind die frühesten Illustra-
tionen zn dem Sprichwort KofjrFc dfi ifFvornt j man noch aus i 29 — 33 ersehen kann.
(Call. hymn. I 8; Corp. paroemiogr. Gr. I 101
zu 62).
') Die Gestalt der Kalypso selbst ist
eine Variante der alten Zauberin Kirke, wie
A. EpoB. 2. Homers Dias nnd Odyssee. (§ 30.)
55
Auch hat sich der Dichter in der im übrigen vortrefflich erdichteten Fuü-
waschung (vijtTQa) die Sache etwas leicht gemacht, indem er durch die
Helferin in der Not, die Göttin Athene, bewirkt, daß der Sinn der Pene-
lope abgewendet wird, damit sie die Wiedererkennung des Odysseus durch
die Amme nicht gewahre (t 479). Aber man braucht deshalb noch nicht
mit dem Verfasser der homerischen Untersuchungen^) zu der Annahme von
zwei durch einen jungen Bearbeiter mit Schneiden und Flicken zu einem
Werk vereinigten Odysseen seine Zuflucht zu nehmen.
Zu der Odyssee im engeren Sinne ist später die Telemachie (a ß y d
und Teile von o n) gekommen, die den Irrfahrten des Odysseus die Er-
kundigungsreise seines Sohnes Telemachos zur Seite stellt. Diese ward
erst von jüngerer Hand dem alten Gedicht beigefügt; sie ist nicht bloß
ärmer an Schönheiten der Erfindung und Darstellung, sie verrät auch den
Charakter einer fremden Zudichtung durch die geringe Geschicklichkeit in
der Einfügung.^) Aber von einem ganz selbständigen Epos der Telemachie
kann keine Rede sein; diese ist vielmehr von vornherein gedichtet, um
eine Ergänzung und somit einen Teil der Odyssee zu bilden. Nur leitet
der erste Gesang (a) nicht sowohl die Telemachie als die ganze Odyssee
ein, indem er durch Absendung der Athene nach Ithaka über die ganze
Situation, den Aufenthalt des Odysseus bei Kalypso, das Unwesen der
Freier in Ithaka, die Stimmung der Penelope, des Telemachos und selbst
des alten Laertes orientiert. Wie auch bei uns in der Regel die Einleitung
und das erste Kapitel zuletzt geschrieben wird, so ist wohl auch dieser
erste Gesang der Odyssee, wie man aus der zum Teil recht ungeschickten
Nachahmung von Versen und Motiven der älteren Dichtung erkennt, erst
nach den anderen Gesängen gedichtet. Aber der Gedanke, das Epos mit
einer allgemeinen Exposition einzuleiten, war gut, und auch die Ausführung
ist nicht so schlecht ausgefallen, daß man den ersten Gesang statt dem
Dichter der Telemachie notwendig einem späteren Flickpoeten zuschreiben
müßte. 5) — EndHch haben auch in der Odyssee jüngere Dichter durch
Einlage neuer Gesänge das alte Epos erweitert. Eine solche Einlage ist
>) WiLAMowiTZ, Hom. Unt. 55. 56, 228 ;
ähnlich E. Schwartz. Fünf Vorträge über den
gr. Roman, Berl. 1896 S. 191. Ausscheidung
einzelner Zusätze nahm A. Kirchhoff in seiner
Ausgabe vor. Schließlich erkennt selbst P.
Cauer, Homerkritik S. 307 an, daß sich eine
sichere Grenze zwischen den beiden Hauptteilen
der Odyssee nicht finden läßt und wir besser
ton, das einzugestehen, als mit einem ge-
waltsamen Schnitt den Knoten zu durch-
hauen. Jüngere Zusätze indessen hat auch die
Odyssee, wie die Schilderung von den Gärten
desAlkinoos (i) 103 — 131), die Reminiszenzen
aus der Argonautensage {ji 3 4. 61—72),
die Visionen des Sehers Theoklymenos (o 256
bis 286. 508—546. q 151—166. v 347—383).
Die Verwandlung des Odysseus v 397 ff.
braucht aber nicht erst erfunden zu sein, um,
wie Kirchhoff annahm, die verschiedene Er-
scheinung des Helden im ersten und zweiten
Teil der Odyssee, da er im 2. Teil ursprüng-
lich (also entsprechend auch Penelope?) tat-
sächlich als alter Mann aufgetreten sei. in
Einklang zu bringen.
^) Siehe oben §21. Schon in dem alten
Epos kamen Odysseus und Telemachos bei
dem Sauhirten Eumaios zusammen, aber Tele-
machos war dort (.t 27 — 9) nur zufällig von
der Stadt auf das Land gekommen. Erst
der Einfüger der Telemachie brachte durch
eine noch deutlich erkennbare Interpolation
(j7 24. 26) einen Hinweis auf die Telemachie
in das alte Gedicht.
') Die Schwächen des Gesangs sind
rücksichtslos aufgedeckt von Wilamowitz,
Hom. Unt. Kap. 1 : aber W. geht zu weit,
wenn er sagt S. 20 ,das a ist von Anfang
bis Ende ein Flickpoem * und sich dann zu
der Annahme genötigt sieht, daß der alte An-
fang der Telemachie, die natürlich nicht mit
ß habe beginnen können, , abgeschnitten sei**.
56 Griechische Litteraturgeschichte. L KlasBische Periode.
die Nekyia oder Hadesfahrt (x 490 bis// 30), die von vornherein unnütz war,
weil Odysseus das, was ihm in der Unterwelt der Seher Teiresias weis-
sagt, im alten Nostos schon von Kirke erfahren hatte. 0 Noch jünger ist
der schon von den alten Grammatikern verworfene Schluß der Odyssee
(v 297 — (ü fin.),*) in dem eine jüngere Nekyia (to 1 — 204) jener älteren
nachgedichtet ist. Auch diese Einlagen, insbesondere die Xekyia, haben
später noch bei dem flüssigen Charakter der ganzen alten Poesie aller-
jüngste Erweiterungen erfahren; solche sind z. B. der von einem Dichter
hesiodischer Schule herrührende Frauenkatalog (X 225—332) und die Schil-
derung des inneren, von Odysseus nicht betretenen Totenreiches (k 566
bis 627).
31. Die dichterische Kunst des Homer. 3) Die Kunst Homers
steht, so sehr sie auch an sich betrachtet zu werden verdient, doch auch
mit der eben behandelten homerischen Frage in Zusammenhang. Genies
wie Homer, hat man gesagt, sieht die Welt alle tausend Jahre einmal,
und das kleine lonien sollte auf einmal ein Dutzend solcher Genies hervor-
gebracht haben? Fragt man aber, worin das Genie und die Kunst Homers
besteht, so wird man finden, daß die einen Vorzüge nicht allen Teilen der
homerischen Dichtung gemeinsam sind und daß andere nicht dem Homer
besonders eigen sind, sondern im Volkscharakter ihre Wurzel haben.
Der geniale Gedanke, mitten in die Sache zu versetzen und um eine
Handlung voll spannender Kraft alle Erzählungen zu gruppieren, ist unserer
Darlegung nach in der Ilias gewissermaßen von selbst aus der Erweiterung
des Grundepos herausgewachsen; schon die Komposition der Odyssee verrät
in diesem Punkt eine bewußte, wenn auch in selbständiger Weise durch-
geführte Nachahmung der Ilias. Anders steht es mit den nächstbewun-
derten Schönheiten Homers, der jugendlichen Kraft und erfinderischen Klug-
heit der Helden, der heiteren, menschlich faßbaren Vorstellung vom Walten
der Götter, dem Adel und der Tiefe der Empfindungten in ihrer ganzen
Skala vom zarten Liebestraum der Königstochter bis zum rührenden Ab-
schied der Gattin, von der zornigen Aufwallung über erlittene Schmach
bis zum wehmutsvollen Mitleid mit dem greisen Vater des erschlagenen
Feindes. Hier sind allerdings Saiten, die an jedes fühlende Herz anschlagen,
Schwungfedern, die heute noch beim Lesen Homers unsere Seele über
die gemeine Wirklichkeit erheben; aber diese Vorzüge sind nicht dem
Dichter allein eigen; sie gehören dem gesamten Volkskreis an, in dem er
schaffend stand, und er bewährt sich hierin nur als ein Dichter, der in
seinen Dichtungen das Weltbild seiner Zeit und die Art seines Publikums
verklärend widerspiegelt. Das tut der Bedeutung und dem Zauber seiner
Poesie keinen Abbruch, läßt uns aber einen ihrer Hauptvorzüge auf Rech-
nung nicht seiner Person, sondern seines Volkes und seiner Zeit setzen.
*) Es wiederholen sich geradezu die- die Rekapitulation der Haupthandlang v' 302
selben Verse /. 110 — 114. /i 137 141. Im : bis 848. Uebrigens s. Wilamowitz, Hom.
übrigen siehe die meisterhafte Darstellung i Unt. 67 ff., wo gut gezeigt ist, daß auch noch
von der Entstehung und Erweiterung der frühere Partien von v fallen müssen.
Nekyia bei E. Rohde, Kl. Sehr. II 255 ff. ' ») Tu. Berok, Gr. Litt. I 780—873. Ein-
-) Anstößig (aber doch von Aristot. rhet. . zelne Schriften zur Technik der homer. Ge-
III 16 p. 1417 a 13 bewundert) ist namentlich \ dichte s. o. S. 41, 8.
A. EpOB. 2. Homers Ilias nnd Odyssee. (§ 31.)
57
Auch der melodische Fluß der Verse und die biegsame Schönheit der
Sprache darf nicht als besonderes Eigentum eines einzigen Dichters an-
gesehen werden. Diese herrlichen Mittel der Darstellung waren durch
lange Übung und durch das Zusammenwirken vieler Dichter gereift; sie
anzuwenden stand frei, und die Kunst leichter Versifikation wird unter
den griechischen Dichtern jener Zeit, nachdem einmal die dichterische
Phraseologie für das Epos geschaffen war, ebenso verbreitet gewesen sein,
wie sie es z. B. bei den kirgisischen Volkssängem noch jetzt sein soll.*)
Andere Vorzüge möchte man mehr der Eigenart eines bestimmten
Dichters zuschreiben, die ruhige Objektivität der Erzählung, die des Dichters
Person ganz in den Hintergrund treten 2) und nur die Sache reden läßt, die klare
Anschaulichkeit (ivdgyeia) der Schilderung, 3) durch die wir alles mit eigenen
Augen zu schauen und das Erzählte mitzuerleben vermeinen, der belebende
Wechsel im Ton der Erzählung, der uns nach aufregenden Kämpfen wieder
in Szenen gemütvollen Stillebens aufatmen läßt, der dem beflügelten Cha-
rakter der Sprache entsprechende Fluß der Erzählung, der alles im Werden
und Fortschreiten erfaßt und auch die Bilder auf dem Schiläe des Achilleus
vor unseren Augen entstehen läßt, nicht als fertige beschreibt, endlich die
Fülle und Schönheit der Bilder und Gleichnisse, die Kunst der dem Cha-
rakter der Sprechenden angepaßten Rede, die vornehme Ebenmäßigkeit in
der Empfindung und ihrem Ausdruck. Das scheinen mehr individuelle Vor-
züge zu sein, die aus dem allgemeinen Wesen der Volkspoesie nur zum
Teil abgeleitet werden können. Wenigstens halten die Volksepen anderer
Völker, selbst unsere Nibelungen und der Mahabharata der Inder darin
keinen Vergleich mit Homer aus.*) Aber nach dieser Seite zeigt sich auch
ein erheblicher Unterschied zwischen Ihas und Odyssee, indem die Ilias
wohl die größere Zahl ausgeführter Gleichnisse '^) und den Glanz lebensvoller
Schlachtenbilder voraus hat, der Dichter der Odyssee aber in Erfindung
») E. Dkerup, Hom. 31: .Dem Sänger
steht je nach seiner Gewandtheit eine Menge
formelhafter sprachlicher Wendungen und
dichterischer Motive zu Gebote, und in der
passenden ZusammenfUgung dieser Vortrags-
teilchen und ihrer Verbindung durch neu-
gedichtete Verse beruht im wesentlichen die
Kunst des epischen Gesangs." Bezeichnend
sind auch die von Th. D. Seymoür, Harvard
Studies III (1892) 121 f. bemerkten sehr häu-
figen Fälle bei Homer, in denen der nach der
Cäsur des dritten Fußes folgende Versteil dem
Sinn nach nur eine umschreibende Wieder-
holung des vorangehenden Teiles bildet.
*) Siehe übrigens 0. S. 25 f.
•) Aristot. poöt. 24 hat mehrere dieser
Vorzüge verzeichnet: "OftrjQOi; äXXa re noXXä
ä^tog iaaiVEio&ai xai dij xai oti fiövog tcov
:toti]t(bv ovx ay%'0€i S ÖeT jzoieU' avTor ' avxm'
yoLQ dei Tov jr(M;;r//v F-Xd^iara leyeiv ' ov ydg
fall xard tavta fUfitjTtjg • oi fjkv ovv äkXoi
avxoi fi€v dl* olov dyMviCottai , fiifioTn'Tm Öe
oXiya xai oXiydxig, 6 de dXiya q^goifAiaodfievog
Eir&vg eiodyei avöga rj yvvaXxa ij äXXo u xai
ovötv* driihi . . . öeSiöaxs öe fiaXiara "OfitjQog
xai xovg dXXovg yerStj Xeyetr w? Sei , , . enel
xai rd er 'OSvooeia äXoya . . . xoTg oDJ^oig
dya{}otg d jiotrjxrjg dcpavi^ei ^Svvwr x6 dxojrov.
In diesem wohl durch Hesiod theog. 27 (vgl.
Hesych. s. v. dfUjQtdöetv) provozierten Urteil
war dem Philosophen der Dichter Pindar
Nem. 7, 20 fF. vorangegangen.
*) Instruktiv F. Miklosicu, Die Darstel-
lung im slawischen Volksepos, Wiener Ak.
Sitz.ber. 1889.
*•) Die Ilias hat 182, die Odyssee 39 aus-
geführte Gleichnisse; meist begnügt sich der
Dichter der Odyssee mit einem einfachen
Hinweis auf den zur Vergleichung heran-
gezogenen Gegenstand. Indes auch die ein-
zelnen Gesänge der Ilias und selbst die in-
haltlich auf einer Stufe stehenden weichen
hieiin je nach der Situation stark voneinander
ab; an Bilderreichtum zeichnet sich vor allen
die Aristeia Agamemnons (^1) aus. Vgl. A.
Passow, Do comparationibus Homericis, Diss.
Berl. 1852. A. Hirzel, Gleichnisse und
Metaphern im Rigveda. verglichen mit den
Bildern bei Homer, Hesiod, Leipz. 1890.
58 Griechische Litteratargeschichte. L Klassische Periode.
wunderbarer Mären und in gemütvoller Erfassung des Menschen- und Tier-
lebens überlegen ist. Wohl rührt uns auch in der Ilias die herrliche Szene,
wo Hektor beim Abschied von Andromache den kleinen Astyanax, der
sich vor dem Helmbusch und der ehernen Rüstung des Vaters furchtet,
den Helm abnehmend herzt und küßt (Z 466 — 496), aber einen noch
tieferen Blick in das Seelenleben selbst der Tiere läßt uns der 17. Ge-
sang der Odyssee an jener Stelle (290 — 327) tun, wo den Odysseus
beim Eintritt in das Heimathaus sein Hund Argos, der dem Verenden
nahe auf dem Misthaufen liegt, allein, vor Frau und Dienern, wieder-
erkennt und sterbend mit dem Schweif wedelt, sein Herr aber sich die
Träne der Rührung abwischt.^) Größere Unterschiede noch zeigen sich
zwischen dem alten Kern der beiden Dichtungen und ihren jüngeren Er-
weiterungen. Wohl zeichnen sich mehrere der Gesänge, die wir für jün-
gere Einlagen halten, wie die Gesandtschaft und der Schild des Achilleus,
durch große poetische Schönheiten aus, und wir müssen zugeben, daß auch
noch manchem der Homeriden ein glücklicher Wurf gelungen und daß das
Axiom, unter dem noch Lachmann und Kirchhoflf stehen, als wäre das
Älteste immer das dichterisch Vollkommenste, falsch ist.*) Aber die meisten
der Zudichtungen erkennt man doch als solche eben auch aus dem ge-
ringeren Vermögen des Dichters und der Ungeschicklichkeit des Nach-
ahmers. Die Verse von Achilleus und Aineias, die vor dem Kampf lange
und langweilige Reden halten {Y7b — 380), sind nicht cannina Hotneri
sein per ad eventum festinantis, die unruhige Hast der KoXog jiidxf] (6) ver-
rät nichts vom Dichter der alten Ilias, der, wenn alles Eile hat, ruhig
seines Weges geht, die trockene Aufzählung der Schiffe der Achäer und
der Namen ihrer Führer hat nichts von dem belebenden Wechsel in Si-
tuation und Ausdruck, der in den anderen Gesängen uns ununterbrochen
fesselt.
Von besonderer Bedeutung sind in dieser Beziehung die Nachahmungen
und Wiederholungen. Die oft drei- und viermalige Wiederkehr der gleichen
Verse ist eine Eigentümlichkeit der homerischen Poesie;^) sie ist nicht an
und für sich ein Anzeichen der Nachahmung, sie hängt vielmehr mit der
Objektivität der Erzählung und den stehenden Epitheta zusammen. Wenn
die Sonne von neuem in der Natur aufzugehen beginnt, so singt auch der
Dichter von neuem ohne Variation ////os d'yfjr/heia q?dvi] Qoöoddxxvkog
/}(/>s, wie er immer von neuem das Bild des Schiffes durch das Epitheton
irooeluog oder fielaiva veranschaulicht. Aber das Epitheton kann nicht
bloß unnötig, es kann auch unpassend werden; der Vers oder die Verse
können in unpassendem Zusammenhang und in mißverstandenem Sinne
wiederholt sein; eine ganze Stelle kann aus zusammengestoppelten Versen
und Halbversen bestehen. Solche Centonen kommen in unserem Homer
^) Dargestellt ist diese Szene auf einer ganzen alten Poesie verglichen werden könne,
Gemme bei J. Ovekbeck, Gal. her. Bildw. I ; und Schiller sprach es aus: ,Wenn man
(Braunschw. 1853) 7, 33, 10. | auch nur gelebt hätte, um den 23. Gesang
■'') K. Ö. MüLLEK, Gesch. dergriech. Litt. I ' 1 der Ilias zu lesen, so könnte man sich über
80 ui-teilt von der Szene der Zusammenkunft sein Dasein nicht beschweren.*
des Achilleus und Priamos im letzten Gesang j ') Siehe o. S. 53, 3.
der Ilias, daß sie mit keiner andern in der |
A. Epos. 2. Homers Dias und Odyssee. (§ 32.) 59
vor, wie in dem Füllstück zwischen dem ersten und zweiten Schlachttag
(ff 313— 482) oder der ßovXri 5 76—83, der Götterversammlung J? 7 flf./)
gehören aber gewiß nicht der alten Dichtung an.*)
32. Zeit des homerischen Epos. Erst jetzt kann auf mehrere
Fragen zurückgekommen werden, die oben nur gestreift wurden, zuerst
auf die nach der Entstehungszeit der homerischen Dichtungen. Da offen-
bar die Alten von der Zeit, in der Homer lebte und Ilias und Odyssee
entstanden sind, keine geschichtliche Überlieferung hatten, so sind auch
wir wesentlich auf Kombinationen angewiesen. Diese müssen von dem
zeitlichen Verhältnis der altgriechischen Epen zueinander ausgehen.^) Nun
gilt es jetzt als ausgemachte, durch Anzeichen der Nachahmung erwiesene
Tatsache, daß Hesiod jünger als Homer war und nicht bloß die Ilias, son-
dern auch schon die Odyssee, wenigstens in ihren älteren Bestandteilen,
vor Augen hatte; mit Hesiod dürfen wir aber nicht, wenigstens nicht viel
unter 700 herabgehen. Femer liegt es in der Natur der Sache und läßt
sich aus Sprache und Mythus erweisen, daß die Gedichte des epischen
Kyklos erst zur Zeit, als die zwei großen homerischen Epen bereits fertig
waren, entstanden sind.*) Nun wird Arktinos, der Dichter der Aithiopis,
in die 1. oder 9. Olympiade gesetzt, und wenn diese Ansätze auch nicht
ganz außer Zweifel stehen und vermutlich etwas zu hoch gegriffen sind,
so dürfen wir doch mit Zuversicht den Beginn des kyklischen Epos noch
in das 8. Jahrhundert setzen. Einen dritten Vergleichungspunkt bilden die
Werke der bildenden Kunst. Auf dem amykläischen Thron waren, wenn
Pausanias die Bilder richtig deutet, bereits Szenen der Ilias und Odyssee,
wie der singende Demodokos, Menelaos in Ägypten, Proteus, dargestellt.^)
Damals waren also schon die jüngsten Gesänge der Odyssee allgemein
bekannt; leider läßt sich die Zeit jenes Thrones selbst nicht genau fest-
*) In der Chryseisepisode A 430 — 492 j vgl. B. Niese, Entwicklung der homerischen
scheint man gleichfalls einen solchen Cento Poesie 27 ff. u. 225 ff. F. Blass, Intei-pol. d.
vor sich zu haben, doch ist zweifelhaft, ob Odyssee 283 ff. Anspielungen auf die ent-
die Gemeinverse aus der Odyssee und nicht
vielmehr aus älteren Gedichten entlehnt sind.
Dieses Kriterium für das Alter, schon von
Köchly und Kirchhoff beachtet, ist von W.
Ohbist besprochen in dem Aufsatz Die
Wiederholungen gleicher und ähnlicher Verse
in der Rias, Sitz.ber. d. bayr. Ak. 1880, S. 221
wickelten Mythen des Kyklos finden sich
allerdings auch in der Ilias, aber nur an
interpolierten Stellen 7 326—337, ß 28— 30,
e 230—2, B 699—709. 721-8. Die in der
Odyssee, in der Telemachie und Nekyia vor-
ausgesetzten Gesänge vom Falle Ilions durch
das hölzerne Pferd, vom Streit um die Waffen
bis 272. des Achilleus, von der Heranziehung des Philo-
*) Der Cento f 1 ff . verrät die Fuge, mit | ktetes, Neoptolemos, Eurypylos, von der Heim-
der die mit einer Götterversammlung be- ! kehr der Könige und der Rache des Orestes
ginnende Telemachosdichtung an den Nostos- berühren sich mit den Dichtungen des Ark-
komplex anstößt und die mangelhaft über- tinos, Lesches, Hagias, brauchen aber nicht
tfincht ist. notwendig aus denselben geflossen zu sein, da
•) Davon aus hat W. Christ die Frage \ auch deren Epen Einzellieder vorausgegangen
behandelt in dem Aufsatz Zur Chronologie des , waren. Daß indessen Arktinos vor dem Dichter
altgriechischen Epos, in Sitz.ber.d. bayr. Akad.
1884 S. 1 — 60, wo auch die auf ägyptischen
Kombinationen beruhende Datierung Glad-
Btones zurflckgewiesen ist. Vgl. H. Düntzbr,
Die homerischen Fragen, Leipzig 1874.
*) Im einzelnen erwiesen von F. G.
der jüngsten Partien der Odyssee blühte,
glaubte W. Christ festhalten zu sollen (s. da-
gegen F. BLASS a. a. 0. 284 f.).
^) Paus. III 18; es fanden sich auf ihm
auch schon Szenen aus den Kyprien und der
Aithiopis, wie das Parisurteil und der Kampf
WsLCKSB, Der epische Cyklus, Bonn 1849. 65 ; | des Achilleus und Memnon.
60 Griechische Litteratorgeschichte. I. Klassische Periode.
stellen, und die Angabe, der Thron sei aus dem Zehnten des messenischen
Krieges gestiftet worden, kann nicht als zuverlässig gelten, i)
Zu der durch Vergleichung gewonnenen Zeitgrenze kommen mehrere
äußere Zeugnisse und historische Anzeichen im Homer selbst. Im SchifiFs-
katalog, der die Ilias mit Einschluß der Leichenspiele zur Voraussetzung
hat, 2) wird die Blüte Megaras,^) die mit der Befreiung der Stadt (OL 10)
begann, völlig ignoriert; ja selbst der Name Megara ist noch unbekannt,
und Nisa erscheint noch als Teil Böotiens (B 508), geradeso wie Korinth
noch als Teil von Agamemnons Reich {B 570). Das führt also auf eine Zeit,
in der entweder die neuen Verhältnisse noch gar nicht eingetreten waren
oder doch die alten noch in der Erinnerung der Leute fortlebten. Auf
der anderen Seite kennt der Schiflfskatalog kein selbständiges Messenien
und zieht zur Landschaft Lakedaimon die Städte Pharos, Amyklai, Helos
(B 582 — 4), die erst durch die Könige Taleklos und Alkamenes in der zweiten
Hälfte des 8. Jahrhunderts unterworfen worden waren. ^) Nehmen wir
dazu, daß der Schiffskatalog sich nicht bloß im Fahrwasser der hesiodischen
Dichtungsart bewegt, sondern auch bereits auf Sagen anspielt, die wie der
Fall des Protesilaos und die Zurücklassung des Philoktetes in den Kyprien
und der kleinen Ilias erzählt waren, ^) so werden wir ihn allerdings
kaum vor 700 v. Chr. ansetzen dürfen, aber dann auch jedenfalls an-
nehmen müssen, daß damals bereits die ganze Ilias in allen ihren
wesentlichen Teilen fertig war. — Ferner verrät die Ilias und ins-
besondere der Eingang des 13. Gesangs noch gar keine Kenntnis von dem
Schwarzen Meer und der an seinen Gestaden im 7. und 8. Jahrhundert
durch die Milesier gegründeten Kolonien; ihre Entstehung muß also, wofern
nicht der Dichter mit Bewußtsein archaisiert, über die Zeit der Gründung
*) H. Brunn, Gesch. der griech. Künstler Städten an der Küste Besitz ergriffen hatten.
P (Stuttg. 1889) 39 f., setzt seine Verfertigung Dann liegt die Zeit dieses Gesangs, den wir
um Ol. 60; andere gehen höher hinauf, 580 — 540 | oben einem Homeriden. nicht dem Homer
v.Chr.; s. J.O verbeck, Gesch. d.griech. Plast. I*, ; selbst zugeschrieben haben, nicht weit ab von
Loipz.1893, 68 ;A.FüBTwÄNOLER, Meisterwerke i der Zeit des Schiffskatalogs. Gegenüber von
d. griech. Plast.. Leipz. 1893, 689. Neuestens B. Nieses Versuch (Der homerische Schiffs-
setzt W.Reichbl. Ober vorhellenischen Götter- katalog als historische Quelle betrachtet, Kiel
kulte, Wien 1897 S. 15 die Statue des Apollon, 1873), den Schiffskatalog nach den in ihm ge-
dio als Siegeszeichen aufgestellt worden sei, in schilderten geschichtlichen Zuständen zn da-
das 7. Jahrhundert, den Thron, den ßathykles 1 tiorcn, hat übrigens E. Rohde (Kl. Sehr. 1 109 ff.)
für jene Säule herrichtete, erheblich später. I an das bewußte Archaisieren des Dichters
Ähnlich K.Robert, Realencycl. 5. Halbb. 241 ff. erinnert, in Anbetracht dessen auch andere
") Daß der Schiffskatalog auch erst nach ; Schlüsse aus Erwähnung altertümlicher Zu-
der Tolemachie gedichtet sei. möchte man ' stände auf Unbekanntschaft des Dichters mit
nach dem Stilcharakter glauben, kann aber jüngeren Verhältnissen fraglich erscheinen,
nicht zuversichtlich behauptet werden. Denn Siehe a. o. S. 53, 1.
die Epitheta xoiXtjv AcixFdaiftora xffTojFaoar '^j W. Christ hat die in seiner Ausgabe der
passen gut zum Land, wie in dem Schiffs-
katalog ß 581, schlecht zur Stadt,
der Telemachie d 1.
Ilias ausgesprochene Ansicht, die betreffenden
Stelleu/?699 - 709 und 7^72 1—528 seien einem
späteren Interpolator zuzuweisen,8päter zurück-
') Schon zu Ol. 15 wird ein Sieger X)o- gezogen; übrigens wird auch dann an derZeit-
ö/.T.Toc MFyaoFVs angeführt. j rechnung wenig geändert. Insbesondere ver-
*) Vielleicht gehen auch die Verse der setzt uns so wie so der Heraklid Tlepolemos,
Gesandtschaft / 149 — 153, die übrigens mit ' der aber nicht bloß im Schiffskatalog /V 653 — 70,
der Darstellung von Agamemnons Reich im sondern auch in der Ilias E 628 vorkommt, in
B nicht stimmen (s. o. S. 52, 4), auf Verhältnisse die Zeit, wo die Derer vom Peloponnes aus ihre
einer Zeit, in der die Lakedaimonier bereits | Kolonisation über die Inseln des ägäischen
von dem südlichen Teil Messeniens und den I Meeres, Kreta, Rhodos, Kos, ausdehnten.
A. Epos. 2. Homers nias und Odyssee. (§ 32.) gl
von Trapezunt und Sinope hinaufgerückt werden. i) — Für die Abfassung
des letzten Gesangs der Odyssee, also eines der allerjüngsten, gibt der
Vers ft> 89 ^(owvviai re veoi xal htevxvvovxai äe^ka einen annähernden Ter-
minus ante quem an die Hand. Denn da in der 15. Olympiade die Wett-
kämpfer in Olympia den Gurt ablegten und die Einführung der nackten
Ringkämpfe so ziemlich gleichzeitig in allen Teilen Griechenlands erfolgt
sein wird, so muß jener Vers vor, kann sicher nicht lange nach 720
gedichtet sein.*) In ähnlicher Weise führt die Erwähnung der sizihschen
Dienerin in den jüngeren Partien der Odyssee (v 383. co211. 366. 389)
auf die Zeit der beginnenden Kolonisation Siziliens (Ol. 9), und die Erwäh-
nung der Quelle Artakie Od. x 108 scheint mit der Gründung von Kyzikos
(676 V. Chr.) zusammenzuhängen.») Der Name Alybas ö> 304, womit das
775 gegründete Metapontion wirklich gemeint sein wird,*) ist wohl bewußter
Archaismus. Nicht nach dem 7. Jahrhundert kann die Schilderung des
durch die Aristokratie stark eingeengten Königtums der Odyssee wie der
nias angesetzt werden.^) Damit bleibt man also in der Zeit um 700;
nur mit den kleinen Interpolationen der Uias und Odyssee wird man
noch weiter herabgehen müssen. Zwar die Verse A 699 ff. brauchen nicht
auf die in der 25. Olympiade in Elis eingeführten Wettkämpfe mit Vier-
gespannen bezogen zu werden, ß) aber die Stelle der Odyssee cp 15 — 41 setzt
die vollständige Unterwerfung Messeniens unter Lakedaimon voraus,')
kann also erst nach dem Ausgang des ersten messenischen Krieges ge-
dichtet sein. In der ganzen Frage aber müssen wir uns gegenwärtig
halten, daß einzelne Gesänge, wie die oben S. 53 und 56 erwähnten,
leicht noch von Homeriden und Rhapsoden zugefügt werden konnten,
nachdem Ihas und Odyssee in ihrem Grundgerüste längst fertig waren,
daß aber die volle Ausführung des Grundplans der beiden Dichtungen
sich kaum durch mehr als 3 bis 4 Generationen hingezogen haben wird.®)
') Selbst das Gegenstück des Schiffs- *) So nach Schol. a> 304 Wilamowitz,
kataloges, das Verzeichnis der troischen Heer- Homer. Unters. 70.
scharen, geht nach Osten nur bis zum Land der
Paphlagonier, also höchstens nur in die Gegend
von Sinope, noch nicht in die von Trapezunt.
') Der Gebrauch des Schurzes beim
Wettkampf entgegen der jüngeren Sitte der
Nacktheit ist schon hervorgehoben von Thuc.
^) G. FiNSLER, N. Jahrbb. f. kl. Alt. 17
(1906) 393 fif.
«) Vgl. A. MoMMSEN. Philol. 8 (1853) 721 ff. ;
aber notwendig ist es durchaus nicht, an die
Pferdewettkämpfe der olympischen Spiele zu
denken; eines spricht sogar dagegen, daß die
I 6, 5; Schol. AT Hom. ^ 683; Dionys. Hai. Stelle A 700 Dreifüße als Preise erwähnt, in
antVJI 72. Weiter herunter geht a!^ Kirch- Olympia aber schon mit der 7. Olympiade
HOFP S. 340, indem er aus (o 417 schließt,
daß Eugammon, der Dichter der Telegonie
(um Ol. 53), den Schluß der Odyssee noch
nicht gekannt habe, und so ähnlich auch
Wilamowitz, Hom. Unt. 185. Aber einfacher
der Wertpreis durch den Ehrenpreis eines
Kranzes ersetzt wurde.
"') Dafür sprechen die Verse rp 13 — 15
Öo*oa ra oi ^fTvog Aaxedatfwvt öo)xf. rvxrjoag
^IqptTOs EvgvTtörjg ejtieixfko; adavdxoioiv'
ist die Lösung, daß entweder Proklos oder i 6^ h Msoo7}yf} $vfißXi]aTo aXh)kouv. Aber
der Exzerptor bei ol fivfjoTooF<: vm) xwv ngog- ! mit dem letzten Vers beginnt eine Inter-
tfxdvTiov ^djiioi'rai (p. 241, 5 W.) die Freier , polation, so daß schwerlich der erste Vers
mit den am Schluß (o> 523 ff.) gefallenen Itha- i von demselben Dichter wie der letzte her-
kesiem verwechselt habe, oder daß die Worte
Qüseres Odysseetextes d/Wrfs fffoinoi' (o) 415)
bis u^evreg (co 419) einer jungen Interpolation
entstammen.
«) K. RoTHE in Jahresb. d. Alt. XIII (1885)
rührt. Die Interpolation aber geht über den
Dichter der Presbeia / 149—156 hinaus, da
dort erst die Eroberung der Küstenstädte
Messeniens durch die Lakedaimonier voraus-
gesetzt zu werden scheint.
1, 182. ^) Weiter zu gehen und von Jahrhun-
62
Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
Sollen wir zum Schluß bestimmte Zahlen geben, so scheint uns aus
den angedeuteten Kombinationen zu folgen, dafi die Dias im 9. und der
ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts, die Odyssee im 8. Jahrhundert entstan-
den ist') und dais nach dieser Zeit, vom Troerkatalog abgesehen, keine
ganzen Gesänge mehr, sondern nur noch kleine Interpolationen, zum Teil
zur besseren Verbindung der Teile und in Zusammenhang mit der schrift-
lichen Fixierung des Textes hinzukamen. Im allgemeinen pflichten wir so
dem Herodot bei, der den Homer 400 Jahre vor seiner Zeit, also um 840,
gelebt haben läßt.*) Nur ist zu beachten, daß der Ursprung der Sagen,
die im Homer widerklingen, und teilweise auch die Anschauung, die Homer
von der außergriechischen Welt hatte, in weit frühere Vergangenheit
zurückreichen. Merkwürdig ist in letzterer Beziehung namentlich, daß der
Dichter noch Sidon, nicht schon Tyros die Meere beherrschen, und noch
nicht Memphis, sondern das ältere Theben Hauptstadt Ägyptens sein läßt.')
33. Sprache und Heimat des homerischen Epos. Diese Frage,
für die Alten die persönlich gefaßte Frage nach der Heimat des Homer
und seines Geschlechtes hängt eng mit der Sprache der Gtedichte zusammen.
Die Sprache, in der sie uns durch die Alexandriner überliefert sind, hat
das Gepräge des altionischen Dialektes, geradeso wie sich auch in dem
ganzen Ton der Dichtung loniens heitere und aufgeklärte Lebensanschauung
widerspiegelt.*) Wenn jenes Gepräge vielfach von dem der Sprache des
derten zu reden, wie oft geschieht, wider-
rät schon der geringe Unterschied der Sprache
namentlich im Gebrauch des Digamma und
in der Abneigung gegen Kontraktion. Die
historischen Kimmerier, die um 660 in Lydien
und lonien einbrachen, beweisen nichts für
die Zeit Homers, da es umgekehrt größere
Wahrscheinlichkeit hat. daß diese räube-
rischen, aus dem dunklen Norden kom-
menden Horden von den Zeitgenossen mit
den homerischen Kimmeriem (Od. X 14) ver-
glichen und nach ihnen Kififieotoi benannt
wurden, ähnlich wie später die germanischen
Völker des Nordens den Namen Cimbri,
das ist eben Ki/ififotoi, erhielten. Übrigens
stammt der Name KtfifiiQioi aus Innerasien,
da in assyrischen Keilinschriften die nor-
dischen Skythen Gimirai heißen, so daß so-
wohl die Kinfismot {). 14) als die Ktjreiot
(X 521), d. i. Hethiter, der Odyssee Beweise
sind, wie die Griechen Kleinasiens allmäh-
lich mit den großen Heichen Innerasieus
Fühlung bekamen.
*) Etwas höher noch hinauf geht Jul.
Schultz. Das Lied vom Zorn Achills 79 ff.,
nach dem die Monis und die Ur-Odyssee eher
ins 10. als ins 9. Jahrhundert fielen.
*) Herod. II 53: 'HoioÖor yäo x(uX>fuiQov
yhxitjy XFTonx<Hitoioi etfoi doxeio fitrv jrgen-
ßvTKQov^ yn'FaOm xai ov Trkf/omy.
^) IL / 381 — 4 : oi*d' oifj' Fg 'OoyouFvov ttotI'
rtaoFTai, ortY iioa S//ßag AiyvjtTiac, o{}i nkFioxa
ddjuoti; Fv xrijuaia xFixai, ai Ö' FxaTOfiJiv/.ot
eiai, öttjxdnioi <^' dr ixdorag dvFosg F^otxvff'oi
I aifv uijioioiv xai oxeoqriv. J. Krall, Manetho
I und Diodor, Sitz.ber. d. Wiener Ak. 96 (1880)
281 sieht darin eine dunkle, im Lied fort-
lebende Erinnerung an die Zeit der Raines-
siden, wo griechische Stämme (eher Karier)
mit Aegypten und seiner damaligen Hanptr
Stadt Theljen in Berührung kamen. — Die
Aegypter und ihre Fabrikate lernten die
Griechen in frUhmykenischer Zeit, zumal auf
Kreta, vermutlich durch unmittelbaren See-
verkehr, später durch die Vermittlung phö-
nikischer Kaufleute kennen. Der Versuch,
den D. Müldeb in seiner für die Fragestellnng
vielfach anregenden Schrift Homer und die
altionische Elegie, Hannover 1906. macht, auf
Grund gewisser paränetischer Stellen der
llias. die sich mit der altionischen Elegie,
besonders Tyrtaios, in der .modernen** An-
schauung von Kriegstechnik und -disziplin
berühren, in dem spezifischen Zusammenhang
der llias aber übel angebracht erscheinen,
die llias als Ganzes unter die Elegie
herabzudatieren. ist durchaus problematisch;
zu bedenken ist namentlich, daß ein großer
Teil der betreffenden Stellen dem Nestor,
einer der jüngsten Gestalten der llias, in
den Mund gelegt ist. M. setzt das quod erat
; demonstrandum, die Einheitlichkeit der uns
i vorliegenden llias, voraus.
' **) Die anderen Züge der homerischen
j Poesie, die auf lonien hinweisen, hat gut
K. 0. Müller, Gr. Litt. 1^ 72 ff. besprochen,
ohne von Neueren widerlegt worden zu sein.
A. Epos. 2. Homers Dias nnd Odyssee. (§ 33.) 63
Herodot abweicht, so fand man das ehedem durch die Größe des zeit-
lichen Abstandes genügend erklärt. Aber so leicht darf man sich mit jenem
Unterschied nicht mehr abfinden, seitdem man weiß, daß in den frühsten
Stadien der homerischen Dichtung das von R. Bentley^) zuerst beobachtete
Digamma noch ein lebendiger Laut gewesen ist, der in einigen Wörtern,
wie im Pronomen der 3. Person ov, of, i\ oc, ferner in ava|, e&yog, etog regel-
mäßig stärkere (Positionsbildung) oder schwächere (Hiatusverhinderung)
prosodische Wirkungen ausübte.*) Denn diesen Laut hatten im 7. Jahr-
hundert die ionischen Landsleute der Elegiker und lambographen schon
vollständig abgeworfen, so daß sie ihn schwerlich im 9. und 8. Jahrhundert
noch in dem Umfange gesprochen haben werden, den wir für die Lands-
leute und Zeitgenossen des Homer voraussetzen müssen. Auch mit der
Annahme, daß Homer vieles aus der Sprache seiner Vorgänger könne
herübergenommen haben, 3) reichen wir zur Erklärung jenes sprachlichen
Unterschiedes nicht aus. Denn aus älteren Dichtungen können wohl
einzelne formelhafte Ausdrücke, wie vecpekrjyegha Zevg, biJioxa NeotcoQ,
Tiozvia "Hqtj, jiQoa^ev ^aidjuoio '&vgd(ov, judvrig äjuvjucDv, herübergenommen
sein, aber in dem durchgängigen Gebrauch eines Lautes, wie es das Di-
gamma ist, in der Diärese der Vokale,*) in den Formen der Pronomina^)
und der Worte des Alltagslebens richtet sich jeder für größere Kreise in
ursprünghchen Verhältnissen schaffende Dichter nicht nach der Sprache
früherer Jahrhunderte, sondern nach der seiner Zeit und seiner Umgebung.
Die Sprache der Dias und Odyssee verbietet uns daher, die Landsleute
Homers in dem Lande des Archilochos oder Kallinos zu suchen, sie führt
uns ebenso wie die Sage vom troischen Krieg nach Aolien oder doch
nach einem nördhcheren, äolisierenden Teil loniens.^) Denn nicht alle
Bewohner loniens redeten die gleiche Sprache, vielmehr unterscheidet
Herodot I 142 ausdrücklich vier verschiedene Dialekte der lonier. Geradezu
zimi Aoler stempelt den Homer in unserer Zeit August Fick, indem
er die ganze ältere Ilias und Odyssee ursprünglich in äolischer Sprache
gedichtet und erst später in den Mischdialekt der jüngeren Zusätze um-
») R. C. Jebb, Homer p. 189 der Schle-
singerschen Uebersetzung.
*) Für den altionischen Dialekt können
sehen können nicht ohne Gewaltsamkeit ganz
ausgetrieben werden.
*) Diese Verschiedenheit der Sprache
wir Digamma nur postulieren, nicht empirisch ' hängt mit der Verschiedenheit der Einwan-
erweisen (A. Thumb, Indogerman. Forsch. 9, ' derer zusammen; so hatten sich in Prione
1898,294ff.). — Auf die durchgängige Geltung Thebaner unter Philotas (Strab. 633), in Teos
des Digamma gewisser Wörter ist ein Haupt- Minyer unter Athamas (Anakr. fr. 114, Paus,
gewicht zu legen, da damit die Erklärung VHS, 6, Steph. Byz.) angesiedelt; nach Kolo-
des Gebrauchs jenes Lautes infolge kon- phon waren außer Kretern Manto und Mopsos
ventioneller Vererbung bestimmter Phrasen (Paus. VII 3. 1 und Schol. Apoll. Rhod. III 74)
wegfällt Zur Sache Esös (s. o. S.49. 3) und
W. Chbist, Proleg. Iliadis carm. p. 150 sqq.
•) Diesen Standpunkt vertritt G. Hin-
BiGHS, De Homericae elocutionis vestigiis
gewandert, in Milet waren die Thaliden phö-
nikischen oder kadmeischen Ursprungs (vgl.
Herod. 1 170); s. 0. Immisch. Klares, in Jahrbb.
f. Phil. Suppl. 17 (1890) 127 ff. Über home-
Aeolicis, Jena 1875. 1 rische Äolismen s. jetzt auch F. Solmsen,
*•) J. Mekbad, De contractionis et synize- Ztschr. f. vergl. Spr. 39 (1906) 211 ff. Zu ihnen
seos usu Homerico, Monachii 1886. gehört auch der Gebrauch der Patronymika.
**) In unseren Texten stehen von den den wir aus äolischen (thessalischen, böoti-
Pronomina äolische und ionische Formen; sehen) Inschriften nachweisen können (W.
die äolischen überwiegen und lassen sich Meyer, De Homeri patronymicis, Diss. Gott.
noch weiter ausdehnen; aber auch die ioni- 1907).
64
Griechische Litteraturgeschichte. I. Klassische Periode.
gesetzt sein läßt.^) Aber die glänzende Hypothese hat nicht nur kein
Analogon in der griechischen Litteratur, da umgekehrt jüngere Dichter,
auch wenn sie einem anderen Stamme angehörten, den Dialekt des älteren
Vorbildes beizubehalten pflegten, sie lälit sich auch nur mit großen Will-
kürlichkeiten und gewaltsamen Änderungen durchführen, indem sich ebenso-
wenig die „festen" lonismen auf die jüngeren Gesänge, wie die „festen"
Äolismen auf die älteren einschränken lassen. 2) Es wird deshalb eher geraten
sein, auch die Heimat der homerischen Dichtung nicht in der reinen Aolis zu
suchen, sondern dort, wohin auch die beste Tradition des Altertums führt, 5)
auf dem Grenzgebiet von lonien und Aolis, wo leichter neben alten äolischen
Liedern eine wohl auf äolischer Grundlage (Digamma, xey statt äv, ä/ujueg,
äfivfuüv etc.) beruhende, aber mit lonismen der Nachbarn (ofv, lg, fffielg^ rj
statt a) allmählich mehr durchsetzte Kunstsprache aufkommen konnte.
Dabei möchte man zunächst an Smyrna denken, das ehedem von Äoliem
besiedelt worden war, später aber dem ionischen Städtebund sich anschloß.
Aber auf einen anderen Punkt führen uns zwei Stellen der Ilias W 227 und
Ü 13, welche die Sonne über dem Meere aufgehen lassen.^) Der Dichter
dieser Stellen lebte also vermutlich nicht auf dem Festlande Asiens,
sondern auf einer der Inseln im Westen der kleinasiatischen Küste.
Als solche bietet sich im nördhchen lonien einzig Chios,^) wo oben-
drein nach dem Geographen Stephanos von Byzanz ein Städtchen
Bolissos lag, das eine äolische Kolonie war und wo Ephoros den Homer
0 A.FicK, Die homerische Odyssee, 1883
(Supplementband von A. Bezzenbergeis Bei-
trägen zur Kunde der indogerm. Sprachen), Die
homerische 1 lias, itött. 1886, Das Lied vom Zorne
Achills, A. Bezzeubergers Beiträge 21, 1896.
Neuerdings (in Bezzenb. Beitr. Bd. 24 u. 26)
hat Fiele drei Schichten unterschieden: 1. die
ursprüngliche Monis in vier Hauptgliedern,
2. die Erweiterung und 3. die Erbreiterung,
deren dlröße in dem geheimnisvollen Zahlen-
verhältnis 4. 8. 12 zueinander stehen sollen.
— Die Ur-Ilias allein setzt in altäolischen
Dialekt um F. Bechtel in K. Roberts Stud. zur
Ilias, S. 258 — 349 und sucht sein Verfahren
zu rechtfertigen in leong, Abhandlungen z.
indogerm. Sprachgesch., 1903 S. 17 ff. Voraus-
gegangen war teilweise schon, aber ohne die
nötigen sprachlichen Kenntnisse und ohne
Klarheit des Standpunktes der Engländer
R. Payne Knight in seiner Ausgabe von 1820.
Schon im Altertum verlangten einige Gram-
matiker, wahrscheinlich veranlaßt durch
Ephoros (s. o. S. 35,6), einen äolischen Homer,
worüber Anecd. Rom. von F. Osann p. 5 : riiv
ök jioujotv dvayiv(oox€o&ai d^toi ZwjrvQog 6
Afdyvtfg Aiolidi i)ia)Jxi(n^ ro <^* avio Atxai-
(WX(K. Bezüglich des äolischen Ursprungs
der troischen Sago s. indessen K. Sittl. Die
Griechen im Troerland und das homerische
Epos. Philol. 44 (1S85) 201 ff.
2) W. Christs Einwände in der Be-
sprechung von A. FicKs Odyssee, Phil. Anz. 14
(1884) 90 ff., worauf FicK in der Einleit. seiner
Ilias p. III sqq. mit nicht beweiskräftigen
Analogien antwortete. Aber in der Haupt-
sache hat W. Christ Fick doch recht gegeben
und eingeräumt, daß im Lauf der Zeit, beim
Vordringen des epischen Gesangs nach dem
mittleren und südlichen lonien, die ionischen
Elemente wuchsen und auch später noch durch
den Einfluß der alexandrinischen Grammatiker
manche nichtionische Form getilgt worden
sei und von uns wieder zurückgeführt werden
dürfe.
') Diese fühii eben zumeist nach Smyroa
und dann nach Chios ; vgl. H. Düntzer, Hom.
Fragen 33 ff.
*} */' 227 y.ooxonejiloc: v.-ieig aXa xlö-
varai /}(Us, U \Z i)wc qntrouh'tj Xrj^foxev
{'.iFto äka Tjidrag tf. Die Verse stehen aller-
dings nicht in den allerältesten Partien der
Ilias; das tut aber ihrer Bedeutung wenig
Eintrag, da die alte homerische Schule
schwerlich an einem anderen Orte sich be-
fand als Homer selbst. Die Bedeutung dieser
Stellen für unsere Frage wurde erkannt von
Tu. Bebgk. Gr. Litt. 1 451; leichthin wider-
spricht H. Düntzer, Hom. Fragen 81. Be-
merkenswert ist auch die Erwähnung des
ikarischen Meeres H 145.
^) An Lesbos. das keine der alten Über-
lieferungen für die Heimat Homers ausgab,
wollte A. Fick, Ilias S. 108 denken.
A. Epos. 2. Homers Ilias und Odyssee. (§ 34.)
65
verweilen ließ.^) Wer sein Gefallen an phantastischen Korabinationen hat,
mag es den Alten glauben, daß Homer im äolischen Smyrna geboren,*)
dann aber nach Chios ausgewandert sei, wo sich neben einer ionischen
Hauptbevölkerung auch äolische Siedelungen befanden. Früh aber sind
die homerischen Gesänge über das äolisch-ionische Grenzland hinaus-
getragen worden und haben an den Königshöfen loniens eine zweite
Heimatstätte gefunden. Dort in lonien wird auch die Sage neue Nahrung
gewonnen haben, und könnte (s. o. S. 53, 7) Samos, das früh weite Fahrten
nach dem Westen unternommen hat, von Einfluß auf die Ausbildung der
Odysseesage gewesen sein.*)
34. Die antike Tradition läßt den Homer von seiner Heimat aus als
wandernden Sänger viel im Land herumkommen und gibt damit vom
Typus des altionischen Sängers ohne Zweifel ein richtiges, den Zeitverhält-
nissen entsprechendes Bild; von Orten, an denen sich Homer aufgehalten
habe, werden genannt: Phokaia, wo er bei Thestorides Aufnahme fand,**)
Neon Teiches bei Kyme, wo er um des lieben Brotes willen seine Gedichte
vortrug,^) Koloiftion, wo er den Margites dichtete,^) Samos, wo er von
Kreophylos gastlich aufgenommen wurde, '^) los, wo man sein Grabmal
zeigte.®) Also über Äolis hinaus nach den ionischen Kolonien Kleinasiens
war frühzeitig die homerische Poesie gedrungen. Ähnliches lehren uns
die Ilias und Odyssee selbst. Ihr Dichter feiert, indem er die Kämpfe
besingt, welche die achäischen Ansiedler mit den alten Herren des Landes
zu bestehen hatten, zugleich die Stammheroen der äolischen Kolonien
Kleinasiens ;^) er schmeichelt daneben mit dem Preis des Nestor und der
Lykierfürsten Sarpedon und Glaukos den ionischen Königen, die von
jenen Heroen ihr Geschlecht ableiteten ;io) er flicht mit der Verherrlichung
') Steph. Byz.: BoXtooo^- jroXig AioXixtj
hi* axQov Xiov jiXtjoiot .... xai tpaotv oxi
X)fJifjQ<K h xovxfp lag öiargißag estoinio, mg
"Eifogog. Äolische Beimischung zeigt der
ionische Dialekt von Chios und Erythrai auf
älteren Inschriften.
«) Vgl. A. BöcKH zu Find. fr. ine. 86 und
den Rhetor Alkidamas bei Arist. rhet. 11 23
p. 1398b 11.
*) Vgl. EL D. Müller, Historisch-mytho-
logische Untersuchungen S. 49 f. u. 129 ff.
*) Ps. Herod. vit. Hom. 15. H. üsenbb,
De Iliadis carmine quodam Phocaico, Bonn
1875. sucht nachzuweisen, daß IL A mit
der Beschreibung der Waffen Agamemnons
(A 15 — 42) und dem Vergleich des den
Hirsch zerreißenden Löwen (.1 474—82) auf
die Stadt Phokaia hinweist, die lebhafte
Verbindung mit den Phönikiem unterhielt
und deren Kolonie Velia als Stadtwappen auf
ihren Münzen eben jene Bewältigung eines
Hirsches durch einen Löwen zeigt.
*) Ps. Herod. vit. Hom. 9.
•) Cert. Hes. et Hom. 1 extr.
^) Strab. p. 638 nach Kallimachos: an-
gedeutet von Piaton reip. X 600 b. Ein Nach-
komme des Kreophylos war Hermodamas,
Himdbneh der klass. Altertamswissenschaft. VII.
den nach Diog. 8, 2 Pythagoras auf Samos
hörte.
®) Aristoteles bei Gellius III 11, 6.
^) In Lesbos herrschten die Nachkommen
des Penthilos, des Enkels Agamemnons (Arist.
pol. V 1311b 26 ff), in Tenedos neben Böo-
tiem Nachkommen des Peisandrosaus Amyklai
(Pind. N. 11, 34); das Gros der äolischen Be-
völkerung war aus Böotien und Südthessalien
eingewandert und hatte die Sage der Myr-
midonen und ihres Königs Achilleus mit-
gebracht.
»0) Herod. 1 147. Auf den Pylier Nestor
führten ihr Geschlecht zurück die alten Kö-
nige von Kolophon (Mimnermos fr. 9) und
Milet (Strab. 633) : vgl. J. Töpffer, Att. Genea-
logie, Berl.l889,235ff. Die dorischen Sagen hin-
gegen sind dem Homer fremd; die Episode vom
Zweikampf des Sarpedon und des Herakliden
Tlepolemos {E 628—98) sieht ganz wie ein
aufgepfropftes Reis aus und kann glatt aus-
geschnitten werden; die übrigen Stellen, an
denen des dorischen Nationalheros Herakles
Erwähnung geschieht, 7 95—136, 0 639 44,
H 363, X 601 -27, sind teils interpoliert, teils
gehören sie den jüngsten Partien der home-
rischen Gesänge an.
5. Aafl. 5
66
Griechische Litteraturgeschichte. L Klassische Periode.
der Heldentaten des Idomeneus die Sagen der alten kretischen Ansiedler
Kleinasiens in den Kranz der äolischen Stammsage. ^) Seine Gleichnisse
nimmt er mit Vorliebe von den Natur- und Kulturverhältnissen der mitt-
leren Küstenlandschaft Kleinasiens, von dem Geschnatter der Gänse in der
asischen Wiese am Kaystros (B 459 flf.), von dem Wirbelsturm der aus
Thrake her wehenden Winde Boreas und Zephyros (/5), von dem Stier,
der dem Poseidon beim Panionion geopfert wird {Y 404).*) Er zeigt sich
daneben wohlbewandert an den Küsten des adramyttenischen Meerbusens
und kennt die hochragenden Grabhügel, die man beim Vorbeifahren am
weiten Gestade des Hellespont gewahrte (H 86). ») Seine Schilderungen
von dem Berg Ida, der Ebene des Skamandros {E 773), der hohen Warte
Samothrakes (N 10) zeigen so viel Naturwahrheit, daß man zuversichtlich
annehmen darf, er habe den Schauplatz der Taten seiner Helden, den
SchUemanns Ausgrabungen jetzt wieder der gebildeten Welt erschlossen
haben, mit eigenen Augen geschaut.*) Wenn er anderseits entgegen der
Wirklichkeit die Priamosfeste auf einem ringsumlaufbaren Hügel gelegen
und vor ihren Mauern zwei Quellen, eine warme und eine kalte, empor-
sprudeln läßt (X 147 flf.), so sind das Freiheiten, die sich der Dichter erlauben
durfte, zumal in der Schilderung einer Stadt, die inzwischen vom Erdboden
verschwunden war und deren Lage nur wenige seiner Zuhörer aus eigener
Anschauung kannten.
Nach einer anderen Richtung weisen die Irrfahrten des Odysseus
und die Lokalitäten der Odyssee. Die Person des Königs von Ithaka und
die Kunde vom alten Reich der Kephallenier mögen dem Dichter aus der
alten Sage der nach Kleinasien ausgewanderten Pylier und Kephallenier
zugekommen sein, aber Farben und Leben erhielt das Bild erst durch die
Fährlichkeiten, denen die ionischen Landsleute des Dichters auf ihren See-
fahrten begegneten. Der Dichter selbst scheint nicht weit nach Westen
gekommen zu sein: er hatte von Sizilien und dem Westmeer, wohin er
') Die Kreter als ältere Bewohner der
Gegend von Milyas. Milet and Kolophon be-
zeugen Herod. I 173 und Paus. VII 2, 5; 3, 1.
') Auf den Poseidonkult der ionischen
Achäcr nimmt auch die Abstammung des
Riesen Briareos-Aigaion A 404 Bezug, der, im
(regensatz zu Hesiods Theogonie, als Sohn
des in Aigai (6> 203) verehrten Poseidon aus-
gegeben wird.
') Vielleicht weil er noch Trümmer von
Troia, aber nichts mehr vom achäischen
Lager am Hellespont sah. erdichtete er die
vollständige Zerstörung des Lagers durch
Poseidon //459— 63 und M 1—84.
*) Die Kenntnis aus Autopsie stellte mit
übertriebener Skepsis in Abrede R. Hercheb,
Über die homerische Ebene von Troia, Abhdl.
der Berl. Akad. 1875, 101 ff. Für die ganze
wurde erst ein sicherer Grund geschaffen Frage
durch die weltberühmten Ausgrabungen H.
SoiiLiEMANNS. dargelegt in dessen Werken:
Ilios. Stadt und Land derTroianer, Leipz. 1881,
Troia 1883 (weitergeführt von W. Dörpfeld,
Troia und Ilion, 1902), Mvkenä 1877, Tiryns
1886. (Kritik und lesbare Zusammenfassung
der Schliemannschen Ergebnisse bei G. Sohuoh-
HABDT, SchUemanns Ausgrabungen in Troia,
Tiryns, Mykene, Orchomenos, Ithaka im Licht
der heutigen Wissenschaft dargestellt, Leipzig
1891.) Schon vor Schliemann hatte das Itich-
tige getroffen G. v. Eckenbrecher, Über die
Lage des hom. Ilion, Rhein. Mus. 2 (1843); Die
Lage des homer. Troia, Düsseid, 1875. Auf
die Wahrheit der Naturschilderungen Homers
hatte zuerst aufmeiksam gemacht R. Wood,
An Essay on the Original Genius of Homer,
Lond. 1769. Wir wissen jetzt, daß Homers
Troia auf dem Hügel von Hissarlik lag, der
nördlich vom Simoeis, westlich vom Ska-
mandros umflossen in die troische Ebene vor-
ragt; das Schi^slager der Achäer befand
sich auf der linken Seite der Skamandros-
mtindung (gegen Dörpfelds Annahme, daß
der Skamandrosunterlauf in homerischer Zeit
weiter gegen Osten als heutzutage gewesen
sei, A. Busse, Der Schauplatz der Kämpfe
vor Troia. N. Jahrbb. f. kl. Alt. 19, 1907,
457 ff).
A. Epos, 2. Homers Ilias nnd Odyssee. (§ 34.)
67
großenteils die Irrfahrten des Odysseus in märchenhafter Ausschmückung
verlegt, nicht aus eigener Anschauung, sondern nur aus den fabelhaften
Erzählungen von Landsleuten und phönikischen Seefahrern Kenntnis, i)
Auch Ithaka hatte wahrscheinlich keiner der Odyssee-Dichter, jedenfalls
nicht der des alten Nostos mit eigenen Augen gesehen.*) Daraus erklärt
sich, daß das Bild, das wir uns nach den Schilderungen der Odyssee von
der Heimat ihres Helden machen, ungleich weniger als das der troischen
') Der Sta-eit über die Lokalität der Irr-
falirtea des Odysseus wurde schon im Alter-
tum mit Heftigkeit geführt, wie man beson-
ders aus dem 1. Buch des Strabon sieht. Die
einen suchten die In*fahrten um Sizilien und
Italien (schon Thuc. VI 2, 1, dann Polybios),
andere fanden Plfltze der homerischen Schil-
derung am Pontes und selbst im nördlichen
Ozean (Krates), andere hinwiederum, wie
Eratosthenes, zogen sich auf den vorsichtigen
Standpunkt der poetischen Fiktion zurück
und warnten nur vor einem Hinausgehen über
das Mittelmeer (i^coxEaviafiog), In neuerer Zeit
verirrte sich wieder der große Naturforscher
K. E. V. Baeb, Die hom. Lokalitäten in der
Odyssee (in dessen Reden III, Petersburg
1873, 13—61) nach dem Schwarzen Meer; K.
Jabz in Ztschr. f. wiss. Geogr. II 1881, 10 ff.
und Fr. Soltau. Die Mythen und Sagenkreise
in Homer, Berl. 1887, nach Teneriffa. Den vor-
sichtigen Standpunkt des Eratosthenes nimmt
auf M. Hebot, Quam vere de Ulixis enoribus
Eratosthenes iudicaverit, Landshut 1887, und
Blätter f. bayer. Gymn. 28 (1892) 83 ff. ; ebenso
K. Breusino, Die Irrfahrten des Odysseus,
Bremen 1889. Die Frage ist in Zusammen-
hang gebracht mit der Vorstellung vom Ur-
sprung der Odyssee aus mehreren älteren
Epen von Wilamowitz, Hom. Unt. 163 — 198.
Der Sturm bei Maleia i 80 f. bildet deutlich
die Überleitung in fabelhafte Regionen, in
denen einen festen Kurs geographisch veri-
fizieren zu wollen vergebliches Bemühen ist;
nur noch ein allgemeines geographisches
Schema der vier Himmelsrichtungen schim-
mert durch (i 80 weist nach Süden, « 25 nach
Westen, x 86 in den äußersten Norden, fi 3 ff.
nach Osten). Daß einzelne Züge, wie die
polaren Beleuchtungsverhältnisse bei den
Laistrygonen (die freilich dann in die Gegend
von Kyzikos nicht passen). Realität haben,
ist freilich zweifellos. Schwerlich werden
aber die neuerdings in Frankreich gemachten
Versuche, der Odyssee zeitgeschichtliche Be-
richte abzunötigen, zu wissenschaftlich halt-
baren Ergebnissen führen (V. B^rard, Les
Ph^niciens etFOdyssee, 2 voll., Paris 1902 ff.,
und an ihn anschließend Ph. Champault,
Phöniciens et Grecs en Italic d'apres l'Odys-
s^, Paris 1906).
^) Gegen Autopsie spricht deutlich die
ungenaue Ansicht von Ithakas Lage Od. t
25 f., wo id^l^^V doli äußersten Horizont
(ganz drunten) und Ttawnsgxdxri (offenbar
falsch infolge mangelnder Autopsie) die letzte
(für den von Osten kommenden Seefahrer)
bedeuten soll, denn Odysseus, dessen Heim-
fahrt am meisten Zeit und Mühe kostet, muß
eben am fernsten wohnen. Der Dichter scheint
nur von Ithaka als einem kleinen, weit nach
Nordwesten liegenden Eiland der kephalleni-
schen Inselgruppe gehört zu haben, ohne
selbst in jene Gegend gekommen zu sein.
Der von früheren Gelehrten zur detaillierten
Ausmalung des homerischen Ithaka miß-
brauchte Glaube an die Autopsie Homers
wurde mit nüchternem urteil zerstört von R.
Hercher, Über Ithaka, Herm. 1 (1866) 263 ff.
Entgegen aller Tradition und der von Homer
n 251 vorausgesetzten Kleinheit der Insel sucht
neuestens zuerst M^langes Perrot, Paris 1903,
79 ff., dann gegen den Widerspruch von Wila-
mowitz (ßerl. philol. Wochenschr. 23, 1903,
380 ff.) W. DöRPPELD, Arch. Anz. 1904, 65 ff.
(Dörpfelds beide Aufsätze jetzt in: Leukas,
2 Aufs, über das hom. Ithaka, Athen 1905) und
nach ihm K. Reissinger, Bayer. Gymn.Bl. 39
(1903) 369 ff. und ebenda 42 (1906)497 ff., E.
Drerup, Homer 122 ff. (der aber Litt. Central-
blatt 1906, 864 sich wieder zurückzieht), P.
GössLER, Leukas-Ithaka , die Heimat des
Odysseus, Stuttg. 1904, P. Cauer, N. Jahrbb. f.
kl. Alt. 15 (1905) 14f..W. v.Marbes, ebendal7
(1 906) 233 ff. das homerische Ithaka in der durch
einen schmalen Sund vom Festland getrennten
Insel (ursprünglich Halbinsel) Leukas. Da-
gegen G. Lang, Untersuchungen zur Geographie
der Odvssee, Karlsruhe 1905, Übersicht bei
H. Draheim, Wochenschr. f. kl. Phil. 1906,
1351 ff. Eine beachtenswerte Instanz gegen
Dörpfeld bringt auch E. Bethe, Rhein. Mus.
62 (1907) 326, indem er aus Strab. 452 schließt,
daß dem Verf. der Alkmeonis (s. VI) Leukas
Leukas und Ithaka Ithaka gewesen ist. Bei
der Annahme von W. Vollgraff (N. Jahrb.
f. kl. Alt. 19. 1907, 617 ff.), daß die ältesten
Dichter der Vorlagen unserer Epen nach Aut-
opsie berichtet, die Späteren aber, ohne Aut-
opsie, die ursprüngliche Deutlichkeit der Orts-
schilderungen allmählich verwischt haben, er-
klärt sich das eigentümliche Schillern der
Bilder befriedigend. Die Sage von der Ver-
steinenmg des heimkehrenden Schiffes der
Phäaken (r 156 ff.) scheint ätiologisch und
durch das schiffsförmige Felsriff Pontikonisi
südwestlich der Stadt Korfu veranlaßt zu sein.
68
Griechische LitteraturgeBohichte. I. Klassische Periode.
Ebene zur Wirklichkeit stimmt. Selbst das griechische Festland kannten die
Dichter des alten homerischen Epos schwerlich aus Autopsie; dieses hatte
auch inzwischen so gewaltige Umänderungen erfahren, daß einem kleinasia-
tischen Dichter die alte Sage bessere Kunde von den Königsburgen in My-
kenai, Tiryns, Orchomenos brachte als ein eigener Besuch jener Gegenden.
So führen uns also auch die homerischen Dichtungen nach dem
äolischen und ionischen Kleinasien und zeigen uns die Sage auf der Stufe,
die sie auf ihrer Wanderung von Äolis nach den ionischen Niederlassungen
des mittleren Küstenlandes eingenommen hatte, bevor sie noch weiter nach
Süden gedrungen und auch von dort durch Einmischung dorischer Elemente
bereichert worden war. All das Gesagte gilt indes nur bezüglich des Kerns
der homerischen Dichtungen. Die Eindichtungen und Zusätze sind ver-
mutlich nicht bloß in späterer Zeit, sondern auch an verschiedenen Orten
entstanden ;i) aber über das ionische Kleinasien hinaus zum griechischen
Mutterland führt nur der Schiflfskatalog, der den Charakter der böotischen
Dichterschule an sich trägt und wohl auch in Böotien entstanden ist.^)
•io. Überlieferung der homerischen Gedichte in der frühsten
Periode. Wenn im homerischen Epos die Sänger Demodokos und Phemios
ihre Lieder vom Ruhm der Helden zur Phorminx vortragen, so müssen
wir uns dagegen den Vortrag der homerischen Epen selbst ebenso wie
den der hesiodischen») als bloße Rezitation ohne Lyra vorstellen.*) Den
homerischen Dichtern die Kenntnis und den ausgiebigen Gebrauch der
Schrift abzusprechen, wie Wolf unter dem Beifall vieler Homerforscher
getan hat,^) ist nach dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens gar kein
Grund. Auch die Alexandriner nahmen zwar an, Homer schildere seine
^) A. FiCK in seiner Ilias und in Hesiods
Gedichte S. 124 f. sucht zu erweisen, daß
speziell in Kreta die Telemachie und Tisis
und von der llias die Gesänge N S O ent-
standen seien. Das sind luftige Vermutungen,
aher genaue Kenntnis von der Sage der
Pylier und Epeier zeigt die Episode II. A 668
bis 763, von der attischen die interpolierten
Verse Od. /; 80 f. und r 518—24. Jn neuster
Zeit suchten einzelne Gesänge auf verschie-
dene Lokalitäten zurückzuführen Wilamo-
wiTZ, Hora. Unters. 26 und 81: K. Robert,
Studien zur llias, Berl. 1901, 565; Jül. Schultz,
Das Lied vom Zorn Achills 88 ff. Von böotischen
und dorischen Einschaltungen spricht E. Tiirä-
MER, Pergamos, Leipz. 1888, 111 ff. 122 ff., von
rhodischen Tu. Berok. Gr. Litt. I 559 f.
2) Der Schiffskatalog hatte den Titel
Botonin, weil er von Böotien ausgeht, was
mit dem Sammelplatz der Schiffe in Aulis,
wahrscheinlich aber auch mit der Heimat des
Dichters zusammenhängt. — Mit dem Schiffs-
katalog stimmt im Stil der Frauenkatalog
in der Nekyia Od. /. 225—337, was wohl auf
die gleiche Herkunft bezogen werden darf.
Ober den 'Hntodftos /aoaxrr/o K. Leurs, Ari-
ötarch.» 337.
') Hes. theog. 30; Paus. X 7. 2.
'*) So richtig Pind. Isthm. 3, 55; ebenso
Archelaos in der Apotheose Homers (A. Bau-
meister, Denkm. des kl. Altert. I 112), wo H.
einen Zweig in der Rechten hält. Zwei ver-
räterische Stellen der Odyssee, an denen der
Vortrag mit xaiaXeyeiy bezeichnet wird, s. o.
S. 26, 1. Die Griechen guter Zeit haben sich
I fast ausnahmslos den Vortrag des homerischen
I Epos als bloße Rezitation gedacht (Plat. leg.
! II 658 b; Aristot. poöt. 1 p. 1447 a 28; rhet.
111 1 p. 1403b 23). Dagegen kommen Be-
hauptungen wie die des Aristoxenos (?) bei Ath.
; 632 d oder des Chamaileon ebenda 620 c und
I Sext. Emp. adv. math. VI 16 nicht auf. Wenn
I Stücke aus Homer (von Terpandros Plut. de
mus. 3; Stesandros Ath. 638 a; nichts anderes
, meinen vielleicht auch Chamaileon und Sext.
I Emp.) oder Hesiod (Plut. symp. quaest IX
I p. 736e. 743c) nachträglich komponiert und
1 lyrisch vorgetragen wurden, so ist das eine
' andere Sache.
^) F. A. Wolf. Proleg. p. 73 sqq.; M.
Senoebusch, Hom. diss. post. 27 ff. : H Düntzbr,
Die hom. Fragen S. 175 ff.; L. Friedländeb,
Schicksale der homerischen Poesie S. 9. Da-
gegen G.W. Nitzsoh, Historia Homeri. Han-
nover 1830. 1837; ebenso Th. Berok, Gr.
Litt. I 526 — 31. Auch Wilamowitz, Hom.
Unters. S. 293 nimmt für die Odyssee den
Gebrauch der Schrift in Anspruch.
A. Epos. 2. Homers Uias und Odyssee. (§§ 35—36.) 69
Heroen als Analphabeten,^) erkennen dagegen ihm selbst ohne Einschränkung
den Gebrauch der Schrift zu.*) Es wäre auch in der Tat widersinnig,
zwischen zwei notorisch schriftkundige Zeitalter, das mykenische und das
ionische von ca. 700 an (soweit etwa reichen unsere ältesten Inschriften
zurück), ein völlig analphabetes im kleinasiatischen Kolonisationsgebiet, wo
man doch achäische Kulturtraditionen weiterspann, einzusetzen. Der Ein-
wand von Qrote und Wilamowitz, aufgeschriebene Gedichte würden in
jener alten Zeit keine Leser gefunden haben, trifft die Sache nicht, insofern
doch die Aufzeichnung ja ihren Sinn auch als Substrat für das Memorieren
durch die Rhapsoden hat;^) er würde auch noch die Zeit des Aischylos
treffen, die ebenfalls kein Lesepublikum hatte. Die Schwankungen in der
homerischen Prosodie (so daß derselbe Vokal bald kurz, bald lang gebraucht
wird, daß einfache Liquida oder Digamma oder Muta cum liquida bald
Position bilden, bald nicht), die schon in A. Gieses tüchtigem Buch über
den äolischen Dialekt (1837) als Beweise für eine länger dauernde aus-
schließlich mündliche Verbreitung der homerischen Gedichte angeführt
worden sind, haben mit der Schriftfrage gar nichts zu tun, sondern gehen
zurück auf gewisse altertümliche Lizenzen des Versbaus und prosodische
Vergewaltigung schlecht oder gar nicht in daktylische Verse passender
Silbenfolgen, Dinge, die durch die Untersuchungen von W. Schulze und
F. Solmsen aufgehellt worden sind,-*) teils auf die begreifliche Vorliebe
der Dichter für (ältere und jüngere) Doppelformen, die sie nach Bedarf
abwechselnd im Vers verwenden konnten. Daß die gedächtnismäßige
Überlieferung, deren sich noch in attischer Zeit eifrige Homerverehrer
befleißigten,^) auch von Anfang an ihre Bedeutung hatte und unter Um-
ständen zur Entstellung des schriftlichen Textes beitragen konnte, soll
nicht bestritten werden. ß)
36. Die Rhapsoden. Verbreiter der homerischen Gesänge waren
im ganzen Altertum die Rhapsoden {^tpcodol).'^) Diese trugen mit einem
*) K. Lehbs, Aristarch.' 95. Die Stelle 1 quacst. ad IL p. 94, 3 ff. Schr. gibt sogar den
loseph. c Ap. I 12 : xai q>aaiv ovde Tovioy (sc. 1 Heroen die Schrift.
Homer) iv ygdfifiaat xijv avtov jioirjoiv xataXi-
jieiVf dXXa dtafirtjinovevofÄEVTjv ix täv qofAdicov
vciegov avyiBiHjvai xal Öid xovio jtoXXdg iv avxfj
o/«v tag 6ta<f€oviag darf nicht auf die alexandri-
nische Grammatik zorückgeführt werden, steht
vielmehr im Zusammenhang der jüdischen Ten-
denz, das Vorhandensein geschriebener Werke
der griechischen Litteratur möglichst tief
3) So K. L. Kayskr, Homer. Abh. 24;
schriftliches Substrat für den Rhapsoden ist
Xen. mem. IV 2, 10 vorausgesetzt.
*) W. Schulze, Quaestiones epicae, Güters-
loh 1892; F. SoLMSBN, Untersuchungen zur
griechischen Laut- und Verslehre, Straßburg
1901.
*) Nikeratos (Xen. symp. 3, 5) wußte
hernnterzurücken, um der jüdischen Littera- , Ilias und Odyssee, Alexandros d. Gr. (Die
tur die PrioritÄt vor der griechischen zu
sichern, hat also überhaupt keinen wissen-
schaftlichen Wert. Auch wo im Altertum
von dem Zustand der Zerstreuung der home-
Chr. IV 39) wie G. Hermann die Ilias aus-
wendig. Aehnliche Leistungen aus der Eaiser-
zeit an Prosaikern erwähnt Suid. s. v. 2!a-
kovoTiog oviog. Siehe auch Plat. leg. VII811 a.
rischen Gedichte geredet wird, sind dieselben *) Erster Zeuge für den buchhändleri-
(80 richtig Th. Bibt, Das antike Buchwesen sehen Vertrieb der homerischen Gedichte ist
497, 2) doch immer geschrieben vorgestellt. Xen. mem. IV 2, 10.
Auch Plut. Lyc.4 will nicht besagen, Lykurgos ") F. G. Wblcker, Ep. Cycl. I 335 ff. Die
habe die Gedichte überhaupt zuerst auf- ältesten Zeugnisse für Wort und Sache geben
geschrieben, sondern er habe sie für sich 1 Herodot. V 67 und der in Dodona gefundene
abgeschrieben (iyoaxpaxo), Dreifuß mit der archaisch-ionischen Inschrift
') Schol. B zu 3/ 22. P 719; Porphyr. I TeQifuxkijg xcji Ai Naicoi Qaxpwiöog ävi^jxe
70 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
Stab {§dßdog, aioaxogY) in der Hand und geschmückt mit einem Kranz
die Verse Homers und andere zur Rezitation geeignete Dichtungen in
Festversammlungen {h äyiboi) vor.*) Für den Vortrag vor größeren Ver-
sammlungen auch des niederen Volkes, wie er in lonien üblich geworden
sein muß, sei es im Freien, «) sei es bei ungünstiger Witterung in den
UoxoLi oder Werkstätten,*) eignete sich singender Vortrag mit Begleitung
der dünnklingenden Phorminx nicht mehr, und die Rezitation ohne Instru-
ment trat an seine Stelle. Homer kennt nicht das Wort, offenbar aber
die Sache. ^)
Die Qabe eigener dichterischer Erfindung tritt beim Rhapsodenstand
zurück. Der Name, von den Alten verschieden abgeleitet,^) ist wohl von
Hause aus als Spottname gemeint^) und nach Analogie von xi^agcpöög,
avk(üd6g ironisch gebildet, da die Rhapsoden mit dem aÖEiv überhaupt gar
nichts zu tun hatten. Daß in Tempeln, bei denen musische Agonen statt-
fanden, wie in dem der helikonischen Musen, früh Exemplare der home-
rischen Gedichte zur Kontrolle oder zum Gebrauch der Rhapsoden auf-
bewahrt wurden, ist wahrscheinlich.®)
37. Da die Rhapsoden verschiedener Dichter Werke vortrugen, so
hießen diejenigen, die im besonderen den Homer zum Vortrag sich erkoren,
'0/biT]Qidai^ so bei Pindar Nem. 2, 1: Sdev jteg xai ^OjurjQidai gajircbv biicov
ja TioW äoidoi ägxovrai^ wobei jedoch die Möglichkeit, ja Wahrscheinlich-
keit offen bleibt, daß der Name ursprünglich nur denen zustand, die,
von Homer abstammend, sich die Aufgabe stellten, die Gedichte des
Ahnherrn ihres Geschlechtes vorzutragen.^) Durch diese Homeriden
wurden die Werke Homers fortgepflanzt und rasch über Hellas verbreitet.
In den vielgestaltigen Überlieferungen von der Heimat des Homer hat
M. Sengebusch Anzeichen von den Sitzen solcher Rhapsodenschulen er-
kennen wollen. 10) So wurden die Dichtungen Homers im Lauf des 7. und
6. Jahrhunderts über ihre Heimat im äolisch-ionischen Kleinasien hinaus
nach den Inseln und dem Mutterland getragen. Wenn seit Ephoros die
(C.CABAPANos,Dodone et sesruines, Paris 1878, | ') [Herodot] vit. Hom. 10.
140 nr. 3; II pl. XXIII 2). Spätere Zeugnisse : *) Od. a 329; Hesiod. op. 493. 501; vgl.
C. V. Jan, Verh. der Züricher Philologenvers., | [Herodot.] vit. Hom. 9. 12. 15.
1887, 72. 75; J. Frei, De certaminibus thy- ■ *) Siehe o. S. 26. 1.
melicis, Basell900,20. 62ff. Erst im 4. Jahrh. | «) Unmöglich ist die Ableitung xarä
n. Chr. verschwinden sie aus den dytbveg: ' gdßdov qöetv Pind. Isthm. 3, 56; Callimach.
Diomedes in H. Keils Gramm, lat. III 484. 1 fr. 38 Schn. ; richtig die von ^djiretv ejiij
1) Hesiod erhält (Theog. 30) von den [Hesiod.] fr. 265 Rz.; Pind. Nem. 2, 2.
Musen ein axfjjtxQov, 6d<pvrjg igt^kdog SCov. \ ') Vom Aneinanderflicken epischer Stel-
*) Über die Tracht der Rhapsoden Haupt- ' len, wie es beim Vortrag i$ vjioßokfjg oder
stelle Plat. Ion in. Analog ist die Sitte, < e$ vjio/Ltjyeeog (s. u. S. 71, 11) üblich war.
daß den Stab oder Zweig der Myrte beim | ®) Siehe A. Kirchhoff. Berl. Ak. Sitz.-
S^mposion in die Hand bekommt, wer nicht her. 1893, 893 und dazu W. Schmid, Philol.
singen kann, wenn die Reihe des Vortrags i 61 (1902) 633 f.
an ihn kommt: Ar. vesp. 1239; nub. 1364. | ®) Unter '0/i»/ß<örat (Ath. 620b; H. Reich,
Theogn. 939 ff.; Hesych. s. v. jrgog fiVQgivf/v ■ Der Mimus I 226) versteht man im späteren
gdnv. Der Sprechende in der Versammlung j Altertum Homerakteurs. Übrigens scheint
erhält bei Homer A 24b, /'218. ^'568, ß Hl I auf schauspielerischen Homervortrag schon
den Stab oder das oxfiTirgov. Welcker, Ep. | Ion (Plat. Ion. 535 b c) hingearbeitet zu haben.
C^cl. I 337 erinnert an den Stab, den auch *°) M. SENOEBUscH.Hom.diss. po8t.p.85f.
die französischen Nouvellistes führten. | Dagegen E. Rohde, Kl. Sehr. I 1 ff.
A. EpoB. 2. Homers Ilias und Odpisee. (§37.) 71
Legende auftritt, Lykurgos habe, sei es von Samos, sei es von Chios, sei
es von Kreta die geschriebenen Qedichte des Homer^) nach Sparta ge-
bracht, 80 kann dieser Fabel die historische Tatsache zugrund liegen, daß
Homerrezitationen, wozu man Rhapsoden von den alten Sitzen des home-
rischen Gesanges, zunächst von dem befreundeten Samos, kommen ließ, in
Sparta früh eingeführt worden sind.*) Genaueres erfahren wir über die
Verpflanzung des homerischen Gesanges nach Sizilien durch ein altes Scho-
lion zu Pindar,») wonach der Rhapsode Kynaithos aus Chios, dem man
auch den Hymnus auf Apollon beilegte, in der 69. Olympiade, 504/1 v. Chr.
den homerischen Gesang nach Syrakus brachte. An dieser Zeitangabe, die
wohl urkundlich begründet ist, braucht nicht gezweifelt zu werden, da es
sich nicht um private tudei^eig von Rhapsoden in Syrakus, sondern um
ihre offizielle Aufnahme in städtische Agone dort handelt. Vermutlich ist
den Dorem Homer zunächst nur in der musikalischen Bearbeitung des
Terpandros bekannt geworden; empfanden sie doch noch in Piatons Zeit
den bei Homer dargestellten ßiog 'Icovtxog als etwas ihnen Fremdartiges.^)
Zuerst scheinen die lakonischen Dorer den Rhapsodenagon staatlich zu-
gelassen zu haben. Bestimmte Nachrichten über rhapsodische Vorträge
und Wettkämpfe haben wir überdies von Salamis auf Kypros,^) Sikyon,®)
Epidauros,'') Brauron in Attika,^) * Athen.^) Am berühmtesten wurden
die Vorträge in letztgenannter Stadt an dem alle vier Jahre wieder-
kehrenden Fest der Panathenaien. Sie waren nach dem Zeugnis des
Redners Lykurgos durch ein Gesetz angeordnet, ^°) das aller Wahrschein-
lichkeit nach auf Selon selbst zurückging. Zweifelhaft ist es, ob die weitere
Anordnung, daß bei dem Vortrag die einzelnen Gesänge in richtiger Ord-
nung aufeinander folgen sollten, gleichfalls schon von Selon ausging und
nicht vielmehr erst unter Peisistratos durch dessen Sohn Hipparchos ge-
troffen wurde. ^^)
*) Diese Nachrichten bei Heraclid. Pont | Suidas einen Parthenios, Sohn des Thestor
pol. II 2; Flut. Lycurg. 4; Ephoros bei Strab. und Abkömmling des Homer aus Chios.
482; Ael. var. bist. XIII 14 und Dio Chrys. I *) Plat. leg. III 680c.
11 45 betrachtet Wilamowitz, Hom. Unters, i *) Hom. hymn. VI 19 u. X 4.
271 mit Unrecht als erdichtete Dubletten der I ®) Herodot. V 67: Kletodiv^jg 'Agysioig
Solonlegende. Tatsächlich geben sie die ältere 1 ^oksjtii^aag QmpqySovg ejiavosv h Ztxviovi
Tradition. I dycovi^ea^at uov 'OfttjQtxMv smorv,
^) Maxim. Tyr. diss. 23, 5. 1 ^) An den Asklepien nach Fiat Ion in.
•) Schol. Find. N. II 1 : Vfirjgiöag sXeyov I *) Hesychios s. Boavgcovtotg und Athen.
to fiev dgx^f^ rovg outo tov 'OfirJQOv yevovg, \ p. 275b.
o? xai ttfv jToifjotv avxov ex diadoxijg fjdov * , ®) In den zusammengesetzten musischen
fieia 6i ravia xai oi oayff{}Soi ovxhi x6 ySvog \ Agonen seit dem 4. Jahrhundert, über die
eig X>/iTjgov dvdyoyteg ' imq)aveig de eyhovxo , wir inschriftliche Nachrichten haben, behielten
ol siegi Kuvatdov, ovg qpaai TtoXXd zmv eji(x>v \ die rhapsodischen die erste Stelle ; s. J. Frei,
TtoirioavTag e/nßcüieTv eig xr^v 'OfufQov jxoitjatv ' De certaminib. thymelicis 62 ff.
rjv de 6 Ki'fvatüog Xiog, Sg xai xwv imygaq^o- ^^) Isoer. paneg. 159; Fiat. Ion 530b;
/lerior 'Ofitjgov jxotfffidxcov xov eig *Aji6U,(ova Lycurg. in Leoer. 102: vofiov ei^evxo (sc.vfKov
yeygaßtfjiivoy v/nvov Xeyexai jte:iottjxevat ' ovxog \ oi Jiaxegeg) xa&^ exdoxrjv jxevxaerfjgiÖa xmv
ovv 6 Kvvai^og jxgcoxog ev Zvgaxovaaig ig- ITava^^rjraicov fim'ov (sc. 'OjiiTJgov) xwv aKkoiV
gay'foSrjae xd 'Ofii^gov ejxrj xaxd xrjv e^rjxo' \ jioiijxwv gayffodeiaOai xde:^i],Yg\.A.Moyiw.3ESf
öxrjrewdxTjv'OXvfjuxtdöa, d)g'I:i:i6oxgax6gq:Tjatv. ^ Heortologie, Leipz. 1864, 138.
Die Olympiadenzahl wollte Welcker, wenig i ") Dem Solon wird die Anordnung zu-
glanblich, in ixxrjv rj xijv ewdxqv, Düntzer in i geschrieben von Diog. I 57 und Suid. s. vjio-
eixooryv ewdxrjv ändern. Außerdem erwähnt | ßoXrj auf Grund der Angabe des Historikers
72
(Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
38. Angebliche Redaktion des Peisistratos. Die Nachricht von
einer Zusammensetzung der angeblich vorher zerstreut gewesenen homeri-
schen Qedichte durch Peisistratos, für die F. A. Wolf irrigerweise die vox
totius antiquitatis als Zeugnis anrief, tritt zuerst bei Cicero auf,^) der sie
selbstverständlich aus griechischer Quelle, und zwar aus Asklepiades von
Myrleia,^) einem wenig älteren Grammatiker des ersten vorchristlichen Jahr-
hunderts, geschöpft hat; sie ist offenbar nicht so gemeint, als wären die
homerischen Gedichte vor Peisistratos überhaupt nicht geschrieben gewesen.
Von einer Beschäftigung des Peisistratos mit dem Homertext weiß unsere
Tradition bis in das 4. Jahrhundert v. Chr. nichts; die von Ephoros zuerst
vorgetragene Legende über Lykurgos^) schließt das, was von Peisistratos
gemeldet wird, geradezu aus. Dagegen wollte man wohl schon im 5. Jahr-
hundert wissen, daß die bei den Panathenäen üblichen rhapsodischen Homer-
rezitationen^) von Selon oder dem Peisistratiden Hipparchos eingeführt
worden seien. Diese Tradition wiederum scheint einigen megarischen Lokal-
historikern, die dem Anspruch Athens auf die früher einmal von Megara
besessene Insel Salamis seine Rechtfertigung aus der Diasstelle B 557 f.*)
entziehen wollten, nämlich dem Hereas«) und Dieuchidas,') Anlaß gegeben
zu haben zu der weitergehenden Behauptung, Selon (so sagt Hereas bei
Plut. Sol. 10) oder Peisistratos (so derselbe bei Plut. Thes. 20 und Dieu-
chidas), die ja beide bei dem athenisch-megarischen Krieg um den Besitz
Dieuchidas. der vor Strabon (p. 394) lebte:
TCL Te'OfAt)oov e$ vjtoßokfjg yeyoaq?F oai^*o}detö&ai,
olov Sjtov 6 jTQcJTOs ^hf^et', ß.?eeWev äoj^eo&ai
tov ixoiiievov, dem Hipparchos, der über-
haupt nach Herodot VII 6 (vgl. Aristot. Ath.
resp. 18, 1) seinen Vater Peisistratos in seinen
wissenschaftlichen Unternehmungen wesent-
lich unterstützte, nach Ps.Plato Hipp. p. 228 b
(daraus Ael. var. bist. VIII 2): t« 'O/i^^oi» fjitj
jiocöxog ixofUöFy eig rijv yfjv Tavtrjrt\ xat ijyay-
xaoe Toi'g gayrodovg Ilavadtjvaioig i^ vjio-
h'nifeoyg dnh'at, toonsQ r?»' oiÖe jioiovoi. Zwischen
ik tKioßol^g «nach Anleitung" und /^^ r.To-
X/Hf>Fiog «nach der Reihe** mag ursprünglich
ein Unterschied bestanden haben, hier aber
sind die beiden Ausdrücke offenbar gleich-
bedeutend gebraucht. Über die Bedeutung
von s^ vjToßoXfic (auch auf einer Inschrift von
Teos über Schüleragone CIG 3088) G. W.
NiTzscH, Sagenpoesie 413 ff., E. Rohde, Kl.
Sehr. 1 103 und Wilamowitz, Hom. Unt. 264 ff.
^) Cic. de or. III 137 (geschrieben a. 55
v. Chr.) qtti (PisistratusJ primus Homeri libros
cofifufios antea sie diaposuisse dicitur^ utnunc
habemtis. Spätere Stellen Ael. var. bist. XIII 14
{ort'ayay(ür djtfqr'ijve xifv Iktdöa xai 'Oövoaeiav)^
Paus. VH 26, 6 {enri xd 'OfirjQov öieonao^iva
xe xai u/Mt dkXaxo? fn'Tjfiovsvofuva rjOootCe);
lul. Afric. Kfotoi in Oxyrhynch. pap.IIIp.39;
Liban. or. XII 56 Förster; id.T. III 25 Reiske;
Epigr. Anth. Pal. XI 442 (= I.Bekker, Anecd.
p. 766). Die Meinung von Weloker (Ep.
Cykl. I 354) und Nützhorn (Entst. 63), dieses
Epigramm sei die Quelle der Peisistratos-
legende, ist widerlegt von R. Volkmahh,
Gesch. u. Kritik 355 und H. Flach, Peisistr.,
Tübingen 1885. 5 ff.
*) So hat G. Kaibel. Abh. der Gott. Ges.
der Wiss. N. F. II 1897/99 nr.4,26, aus Said. s.
V. 'Ogifm^g Kgoxwvtdxtjg geschlossen (s. a. B. A.
Müller, De Asclepiade Myrl. Diss. Leipzig
1903, 43). Gegen H. Düntzbbs Meinoog
(Homer. Abhandlungen 17 f.; Homer. Fragen
188), die Nachricht stamme aus Dikaiarchos,
s. R. VoLKMANX, Osterprogramm von Janer
1887. S. 5 ff. Der Name des Athenodoros
Kordylion, auf den H.Flach. Peisistr. 11 ff. n.
WiLAMowiTZ, Homer. Unters. 261. 24, Wert
I legten, verdankt seine Nennung in diesem Zn-
sammenhang lediglich einer paläographischen
Konjektur, die an den Rand des Tzetzestextes
im Cod. Paris, s. XVI nr. 2677 geschrieben ist
(Comicor. Graecor. fr. ed. Kaibel I p. 20,29) um
das unsinnige Wort F.ii xoyxvhß) zu verbessern.
3) Ephor. fr. 64 M.; s. E. Rohdb, Kl.
Sehr. I 21 ff.
I *) Siehe o. S. 71, 11.
I ^) Vgl. über die Berufung auf Homer
Aristot. rhet. II 15 p. 1375b 30.
j «) Plut. Thes. 20. Sol. 10.
I ^) Diog.Laert. 157; die Stelle ist jedenfalls
dem Sinn nach richtig ergänzt von F. Ritsohl,
Die alexandrin. Bibliotheken, Bresl. 1838, 64:
fiä/J.ov orv 2l6},(ov XJutjoov F<piOTioFv ij JJetai'
axgaxog K.og.iFg av/.AF$a; xd 'Ofif/fjov FVFjxoiijai
xiva Fig xrjv 'A^jvatojv ;jfaoa'> wg (ptjai Aisv-
Xidag Fv jiE^uixco MFyaotxtbv. t)v Sf ftakiara zä
FJit) xavxi (B 546 ff.). '
A. Epos. 2. Homers Ilias und Odpisee. (§ 88.)
73
von Salamis beteiligt gewesen waren, hätten zugunsten Athens den Homer-
text interpoliert, insbesondere die ganze Stelle B 546 — 558 eingeschoben.
Die Alexandriner nahmen an den von dieser Seite beanstandeten Versen
zwar ebenfalls Anstoß, begründeten diesen aber auf andere Art,^) haben
also von jenen megarischen Behauptungen entweder nichts gewußt oder
sie für wissenschaftlicher Beachtung ganz unwert gehalten.*) Die mega-
rischen Historiker mögen etwa im 2. Jahrhundert v. Chr. geschrieben
haben.*) Die Benützung ihrer lediglich politisch gemeinten, tatsächlich
ganz windigen Verdächtigung zur Grundlage einer litterarhistorischen
Hypothese, die wohl zur Beantwortung der seit dem Einsetzen der ale-
xandrinischen Homerkritik aktuell gewordenen Frage nach der Herkunft
der Homerinterpolationen beitragen sollte, scheint das Werk des Askle-
piades zu sein. Der Vorwurf der Textfalschung wurde nun von Solons
geweihtem Haupt ab auf Peisistratos allein geleitet, an dessen Hof ja
auch sonst^) gefälscht worden sein sollte. Aus dem Fälscher Peisistratos
wird aber schließlich der „Ordner", der also das eigentlich Größte an den
homerischen Epen, die von Aristoteles und Quintilian so hoch bewunderte
dispositio totius operis erst gemacht haben soll. Weiterhin wird dann dem
Peisistratos eine Redaktionskommission unterstellt, in der sich neben dem
altberüchtigten Fälscher Onomakritos von Athen noch Zopyros von Hera-
kleia und Orpheus von Kroton befinden;^) zuletzt wird gar eine Homer-
septuaginta daraus.^) Geschichtlich ist an alledem, wie zuerst K. Lehrs
betont,') aber schon d'Aubignac bemerkt hat, rein gar nichts, und der Glaube
an die Peisistratosredaktion wird heute kaum von einem ernsthaft zu neh-
menden Forscher mehr bekannt, wie denn auch die Nachforschung nach
weiteren Indizien peisistratischer Interpolation über das von den Megarern
Angeführte hinaus weder im Altertum*) noch in der Neuzeit irgend nennens-
werten Ertrag gebracht hat. Dagegen hat uns die Abräumung des Akro-
polisplateaus von Athen bis auf den natürlichen Felsen gezeigt, daß hier
schon in mykenischer Zeit ein bedeutender Herrensitz gewesen ist, über
') Schol. A zu r230; Strab. 394. Der
Vers B 558 fehlte, offenbar infolge der ari-
starchischen Athetese, schon in antiken Aus-
gaben nach Qnint inst. or. V 11, 40 und fehlt
auch im Cod. Ven. A, einem Papyrus des
5. Jahrhunderts n. Chr., ttber den s. A. Lud-
wich, KOnigsbcrger Index lectionum 1892/93
p. 12 und Tebtun. pap. IL
') F. RiTSCHLs Argum. ex silentio, als setz-
ten die Alexandriner die Peisistratosredaktion
stillschweigend voraus, ist unmöglich.
*) Die von A. v. Gutschmid (bei H.
Flach, Peisistr. 18 A. 59) und Wilamowitz
in den homer. Untersuchungen für frühere
Ansetznng angeführten Gründe sind nicht
zwingend; Megara ist auch im 3. und 2. vor-
christl. Jahrhundert nicht so politisch null
und andrerseits Athen nicht so mächtig ge-
wesen, daß die alte Rivalität um Salamis
nicht auch in hellenistischer Zeit noch denkbar
wäre; vgl. z. B. Ch. Michel, Recueil d'inscr.
Grecques nr. 20; Polyb. XXXIX 8, 2; Th.
MoMMSEN, Rom. Gesch. V 255). Die Grenze
nach unten gibt Strab. 394.
*) Herodot. VII 7.
^) Tzetzes bei G. Kaibel, Com. gr. fr. I 1
p. 20, 27 ff.; 23, 31 ff.; 30, 170 ff: eijiov avv-
i^slvai tov "Ofuigoy im TlFiaiöTQdxov eßdoiitj-
xovta ovo aoffovg, dtv ißdojutjxovxa ovo eivai
xai TOV Zrjvohoxov xal lov ^AqIotoqxoVj xaizoi
xnaadgcov ovzcov em ThiotoiQdrov ain^OrvTCOv
xov "OfiTiQOVf oixiveg sioir oviot ' *Ejiix6yxvXog
(verderbt aus Liixa; xrxXog, aus "Oxfllog
nach D. Comparetti), Uyo/tdxoirog 'A^rjvaTog,
Zo)Jivo(K'JfoaxX۟jzTjg xal X)gq}evg KgoTcovtdTTjg.
Schol.^ Plaut, bei G. Kinkel, Ep. gr. fr. p. 239 L
^) So Heliodoros nach dem 6. Jahrb. n.Chr. :
G. Kaibel. Abh. der Gott. Ges. der Wiss. N.F.
II nr, 4, 47. Weiteren byzantinischen Unsinn
s. R. Volkmann, Gesch u. Kritik 853.
') K. TiEHBS, Aristarch.« 437 ff.; s. a. A.
Lud WICH, Aristarchs hom. Texktkrit. II 390 ff.
®) P. Cauer, Grundfragen der Homer-
kritik, Leipz. 1895, 87 f.
74 GriecblBclie litteratnrgeschichte. I. KlaBsisehe Periode.
dessen Erwähnung auch in den frühsten Teilen der homerischen Gedichte
sich zu verwundem man demnach keinerlei Veranlassung hat. Ein Rudi-
ment von der Peisistratoslegende lebt noch in dem Glauben an eine wenn
nicht sachliche, so doch sprachliche „attische Interpolation" oder „Attiki-
sierung" des Homertexts, für die aber eine wissenschaftliche Beweisführung
bis jetzt noch aussteht. Mit der Legende von der Redaktion des Peisi-
stratos hängt wahrscheinlich die andere von seiner Bibliothek und ihrer
Entführung durch Xerxes zusammen. >)
39. Einfluß der homerischen Gedichte. Homer wurde früh der
Nationaldichter der Hellenen; in den Helden der Dias und Odyssee fanden
sie die schönsten Eigenschaften ihres Volkes, heldenhafte Tapferkeit und
erfinderische Klugheit verkörpert. Mit der allgemeineren Verbreitung der
Gedichte durch die Schrift, den rhapsodischen Vortrag, die Einführung in
den Schulunterricht*) wuchs ihr Einfluß auf das ganze Geistesleben der
Nation. Homers Anschauungen von den Göttern blieben neben denen des
Hesiod maßgebend für die griechische Theologie und die allgemeinen Vor-
stellungen der Gebildeten vom Wesen und Walten der Götter.^) Aus seinen
Mythen sog die chorische Lyrik, insbesondere aber die Tragödie ihre beste
Nahrung, wie denn Aischylos seine Dichtungen Brosamen von der reich-
besetzten Tafel Homers nannte.*) Die von ihm in Worten gezeichneten
Typen der Götter und Heroen schwebten den Künstlern bei ihren Schöp-
fungen als Norm vor, wie Pheidias, um die Majestät des olympischen Zeus
auszudrücken, sich die Verse des ersten Gesangs der Dias A 528 flf. vorhielt:
f] xal xvavef}oiv in öqygvoi vevoe Kgovicov'
äfißgöoiai d* äga ;farTa£ IjiEQQdyoavro ävaxrog
XQaxog d^r' d^avdroio, [xeyav ö* Hehler ^Okvfjmov.^)
Die ganze griechische Litteratur, die Gesprächsformen der gebildeten Grie-
chen'') waren durchsetzt von Reminiszenzen an die homerischen Gedichte.
Es schwanden so vor dem Lichtblick homerischer Idealgestalten die
rohen und abergläubischen Vorstellungen der älteren Zeit, und unter dem
Einfluß der Sonne Homers durchdrang ein hochstrebender, idealer, auf-
geklärter Sinn die ganze Nation. Von besonderer Wichtigkeit für die Ent-
wicklung der griechischen Religion war die in den homerischen Gedichten
sanktionierte Auslese vorwiegend reingriechischer Göttertypen aus der Un-
zahl großenteils halb oder ganz barbarischer und primitiver Lokalkulte
und der resolute Anthropomorphismus dieser homerischen Götter. Je fester
der Gottesbegriflf in menschliche Form geschlossen wurde, desto mehr
*) Gell. VII 17, 1 (aus Varro de biblio- Tragödie auf Ilias und Odyssee zurück. In
thecis?); Ath. 8a; Hieronym. ep. 34, 1. der Apotheose des Homer (A. Baumeister,
^) Xenophan. fr. 10 Diels. Denkmäler I 112) huldigen dem Homer die
') Herodot. II 53 ; Simonides im Gnomo- allegorischen Figuren der Iloitjaig, 'loxoQia,
7oayo)6iaf Ko)fio}öia.
^) Strab. 354; Dio Chr. XII 25; Procl.
ad Plat. Tim. I p. 265. 18 Diehl; Quelle fftr
diese alle Poseidouios. Über den Einfloß
Homers auf die Bildung der Götterideale H.
Brunn, Griech. Götterideale, München 1893.
•) J. Teufer, De Homero in apophtheg-
matis usurpato, Leipz. 1890.
logium Vaticanum (L. Sternbach, Commentat.
in hon. Ribbeckii, Leipz. 1888, 358) 2!ifuüvtd7jg
i6v 'Haioöov xtjjtovnov fXeye, rov dk "Ofitjoor
öTfqrm'r]jT/.6xor, xov fikv w? q-vrevoavia rag jifqi
t?fö>v 9<ai ijOiowv fJi'Ooloyin^, rov Sk w-; f|
avTiüv avfi.iXe^avTa toi» *J/udSog xai XJdvoanag
oii(favo%'.
*) Ath. 347 e. Aristot. poöt. 4 führt die
A. EpoB. 2. Homers IliaB und Odyssee. (§§ 39-40.) 75
mu&ten die in aller primitiven Religion stark vorwiegenden Beängstigungs-
gefühle verdrängt werden, die „Götterangst* (deioidaijLiovla)^ die von nicht
körperlieh festgelegten Seelenwesen ausgeht. Homers Religion stellt auf
dem Weg vom Animismus zur ethischen Vernunftreligion eine weit vor-
geschobene Stufe dar. Auch dem Unterricht und den Übungen im Lesen,
Memorieren und Erklären wurden frühzeitig homerische Verse zugrunde
gelegt, so daß es nicht wenige gab, welche die ganze Rias auswendig
wußten.^) Kurz nach allen Seiten drang Homer, der Dichter xaj i^oxtjv,
in das Nationalbewußtsein der Griechen ein, so daß selbst Piaton, der sonst
den Dichtern wenig hold war, unumwunden zugab, Homer verdiene Griechen-
lands Erzieher zu heißen.*)
40. Anfänge der homerischen Studien. Nachdem der Text der
homerischen Gedichte durch die Schrift fixiert und sein Bestand etwa seit
dem 6. Jahrhundert v. Chr. infolge der Einführung der Gedichte in Schulen
und Agone unter eine gewisse öffentliche Kontrolle gestellt war, hat die dar-
auffolgende Zeit bis zu den Alexandrinern weder in der Gestaltung des Textes
wesentliche Änderungen noch bedeutende Leistungen für das Verständnis
und die Erklärung des Dichters gebracht.^) Einige bis in unsere Texte fort-
gepflanzte Irrtümer in Wiedergabe der alten Sprachformen mögen bei der
Umsetzung des Textes aus dem altionischen in das neuionische Alphabet*)
(durch die fieTaxagaxrrjQioavzeg oder fiexayQaipdfievoi) eingedrungen sein.^)
Den Homer eingehend und fortlaufend zu kommentieren fand man in dieser
Zeit noch nicht notwendig, wiewohl schon mit Hesiod die Spuren der Un-
sicherheit über die Bedeutung homerischer Glossen beginnen und in dem
Athen des 5. Jahrhunderts Homers Sprache keineswegs ohne weiteres ver-
standen worden ist.^) Doch fing das Reflektieren über Homer an: teils
suchte man Näheres über die Person des Dichters, sein Geschlecht und das
Schicksal seiner Werke zu ermitteln,') teils versuchte man seinen Witz
an der Beanstandung eines und des andern Ausdrucks, teils endlich be-
*) Siehe o. S. 69, 5 und über die wech-
selnde Beliebtheit beider Gedichte o. S.32, 1.
*) Plat reip. X 606 e : r^v 'EXldöa Jienai-
sten Od. rj 107, wo statt xatgovaaewv über-
liefert ist xaiQoaecDv. Siehe W. Christ,
Proleg. p. 104 — 115. Jene Umschreibung wird
devxer oviog 6 jioirfirjg. Protag. 339 a : ;ra£«^«a? i in Abrede gestellt von Wilamowitz, Hom.
lAiytatov fiigog :iegl ijicüv dsivov eivai. Ein Lob Unters. 286 ff. und A. Lüdwich, Arist. hom.
Homers in anapästischen Monometem aus
8. L p. Chr. oder früher Berl. Klassikertexte
V 2 S. 133 f.
•) üeber die geringen Leistuugen der
ylioaaoygcupot s. K. Lbhrs, Aristarch.* 36 ff. ;
ein Schulmeister, der sich mit Homerdiorthose
abgibt, erscheint in der Alkibiadesanekdote
Flut. Ale. 7.
^) Dieses begegnet freilich schon auf
Textkr. II 420 ff. Siehe dagegen P. Caüer,
Grundfragen 69 ff. Wie geläufig dem spä-
teren Altertum der Begriff des fisiaxagaxTrj-
gi'Cftv war, zeigt sich in seiner falschen An-
wendung auf den Hippokratestext bei Galen
(L. 0. Bröcker, Rhein. Mus. 40, 1885, 420).
Auch die Zerdehnung suchte J. Wackerxaoel
(Bezzenb. Beitr. 4, 1878.259 ff.) aus graphischen
Irrtümern, die sich im Lauf der Textgeschichte
Inschriften des 7. Jahrhunderts, gekennzeich- I eingeschlichen hätten, zu erklären, schwerlich
net durch das Fehlen des /, die Wertung H ; richtig (G. Cürtiüs in seinen Studien III
= 6, die Verwendung der giiechischen Zu-
satzzeichen *, X (= kh), y' (= ps), Ü und
der Eonsonantengemination.
*) So r 201 TQOLtprj für TQOKfSV, II 434
fygero für tjygexo, elog für yog, eiaxai für
fjauu a. ä., fMLxrjoofJUu neben fiaxeooofiat,
^edrtfcjg neben te{hei€og. Am einleuchtend-
192).
«) Aristoph. fr. 222 K. ; M. Bodenheimer,
De Homericae interpretationis äntiquissimae
vestigiis, Diss. Straßb. 1890; J. Wackernagel,
Ztschr. f. vergl. Sprachf. 83 (1895) 48 ff.
') Siehe o. S. 33 f.
76
Griechische Litteratnrgeachichte. I. Elassische Periode.
kämpfte man des Dichters Ansichten über die Götter oder legte den dies-
bezüglichen Worten einen geheimnisvollen Sinn {vjiovoia) unter. Dahin
gehörten im allgemeinen die Arbeiten der alten Homeriker, von denen
Aristoteles^) sagt, daß sie die kleinen Ähnlichkeiten sahen, die großen
übersahen. Namen gibt Piaton im Eingang des Ion;*) zu den dort ge-
nannten, Metrodoros,*) Stesimbrotos, Qlaukon,*) kommt noch Theagenes
von Rhegion aus der Zeit des Kambyses, der zuerst über Homer geschrieben
haben soll und deshalb auch der erste Grammatiker genannt wird.^) An-
derer Art waren die hauptsächlich auf Herausstellung und Lösung von
Schwierigkeiten und Widersprüchen gerichteten Bemerkungen der Philo-
sophen und Sophisten (Cj^r^y/iara, auch äTiogi^juara, xai Xvoeig). Von den
älteren, Demokritos,®) Anaxagoras, Hippias von Thasos, ist uns nichte er-
halten, dagegen liegen uns noch viele derartige Streitfragen vor bei Ari-
stoteles poöt. 25, einem Kapitel, das wohl die Quintessenz aus des Aristo-
teles Jugendschrift äjioQijjuata 'OjutjQixd enthält und uns zeigt, daß auch
die aberwitzigen Beinstellereien, die der kynisierende Sophist ZoYlos von
Amphipolis in seinen 9 Büchern 'OjurjQojLidon^'') an Homer übte, ernsthaft
genommen worden sind. Eine ironisch gemeinte Probe orthodoxer Homer-
erklärung gibt Piaton im Kratylos (391 d — 396 c). In die Problemlitte-
ratur schlagen auch Arbeiten des Duris von Samos und des Hermo-
genes von Ephesos»*) ein. Großen Respekt flößt uns die Interpretations-
kunst der voralexandrinischen Homerphilologen nicht ein, wenn z. B. der
Widerspruch im Eingang der Doloneia zwischen Tiävxeg fiev §a ^eol xe xal
ävEQeg bijioxoQvorai tifdov nawvxi'Oi {K 1 f.) und ^ roi 8t ig ttsöIov tö Tqcdücöv
&&Q})oei£v (nämlich Zeus), avlibv ovgiyycov ^'Sjüiadov (K II. 13) mit der An-
nahme gelöst wird, daß Tidvxeg metaphorisch für noXkoi stehe.®) Die hef-
») Metaph. A' 6 p. 1093a 26: o^aoioi dr/
xal ovTot Tolg doxaioi^ 'Oftrjoixoig, oi fiixQag
oitioinTt^Tag SgAai, jUEydXag Sk Jiaoog(ooiv.
*) Vgl. M. Senoebusch, Hom. diss. prior
133 f.; Xen. conv. 3, 6; Aristot. poet. 25
p. 1461b 1.
3) W. Nestle. Philol. 66 (1907) 503 ff.
*) Für Glaukon ist im Schol. B zu A 636
Glaukos verschrieben.
») Schol. B ad II. r 67 p. 231, 27 Dind.:
ovtck: fiev ovv xoonog ojioXoyiag aQ^aiog wv
Tidvv xai Qjio ßeayivovg tov 'PrjytvoVf og jigcö-
zog tygayie jieQt 'Ojti/iQov ; Tatian. adv. Graecos
c. 31: Jieoi ydg xijg 'O/n^gov Jtottjoeog yivovg
TS avTOV xal X9<^^'ov, xa&* ov rjx/iaaer, :igo-
TjgF.vrtjoav jrofoßvTaToi fih' Ssayh'Tjg rs 6
'P/fyh'og xaid Kafißvarjv yeyovwg ^xt]oi^ißgo-
x6g tf 6 Gdotog xal !AvTtfiayog 6 Koloipwviog
HgoSoTÖg TK 6 'Aktxagvaooevg xai Aiovvoiog 6
XJXvvOtOQf //f rot fie ixe/vovg "Etpogog 6 Kt^jtiatog.
Vgl. M. Sengebüsch a. 0. p. 210 ff. In weiterem
Sinn gehören hierher auch noch die Logo-
graphen Pherekydes (fr. 118 M.), Akusilaos
(fr. 30 M.), Hellanikos und Damastes.
®) Unter den Werken des Demokritos
erwähnt Diogenes IX 48: Tiegi 'Ojtitjgov tj
ogdoe.^eirjg xai ykeoooiwv. Die Restis bei H.
DiELS, Vorsokr.* 412 f. Bemerkenswert ist
Demokritos' günstiges Urteil ttber Homers
geniale Anlage {q^voig ^fidCovoa fr. 21 Dibls).
Vgl. M. Senoebusch a.O. p. 135. Anaxagoras
war der Lehrer des oben genannten Metro-
doros und vertrat schon die allegorische Er-
klärung.
' ) Über diesen Zoilos, einen Zeitgenossen
des Isokrates, ein Artikel bei Snidas, wo er
gtJTcog xal (pdoaoq^og heißt und von ihm an-
geführt wird xard Tt^g 'Ofirjgov noirfotfag Xoyot
5' (daß der Titel dieses Buches 'Ofitjgofidaxi^
war. beweist K. Lehrs, Aristarch.* 205 A.).
Bei Herakleitos Alleg. Hom. c. 14 heißt er von
seiner Heimat Amphipolis ßgtpctxov dvdgd"
jiodov. Näheres Ulb. Fbiedlaxder, De Zoilo
aliisque Homeri obtrectatoribus. Diss., Königs-
berg 1895. Ueber Homertadler s. a. E. Weber,
De Dione Chrys. c^'nicor. sectatore. Leipz.
Stud. 10 (1887) 152.
^) Ilgoßkrifiaxa 'Ofitjgixd des Duris Schol.
Genavens. II. 0 257. 481. 497; Ttegi jigoßXtj-
fidriov von Hermogenes ibid. 363.
») Arist. poet. 25 p. 1461a 16. Die
Schwierigkeit ist in unseren Texten gelöst
durch die Lesart äXXoi fih Jtagd yrjvalv dgi-
I oTtfeg üavaxaiiöv. S. A. Römer, Die Homer-
A. £po8. 2. Homers IliaB und Odyssee. (§ 41.) 77
tigen Angriffe auf Homers Ethik und Theologie, die, von Pythagoras und
Xenophanes eröffnet, von Herakleitos fortgesetzt, in Piaton gipfeln, trieben
die Homerorthodoxen mehr und mehr in die Arme der allegorischen Er-
klärung, die von Antisthenes übernommen, durch die Stoa recht eigent-
lich in ein System gebracht wurde. 0 Piaton imd Aristoteles verwarfen sie
und Aristoteles insbesondere ist der Vater der ihr entgegengesetzten histo-
rischen (freilich ästhetisch auch nicht ganz vorurteilsfreien) Homerexegese
geworden, die dann durch die alexandrinischen Kommentatoren ins ein-
zelne durchgeführt wurde. Das 25. Kapitel der Poetik kann geradezu als
das Arbeitsprogramm der großen alexandrinischen Homeriker bezeichnet
werden. Ungeachtet aller Anfechtungen fuhr übrigens Homer fort den
mächtigsten Einfluß auf die ganze Nation, auf das Denken, Dichten und
Handeln der Gebildeten wie der Leute aus dem Volk zu üben. Für sein
Ansehen in hellenistischer Zeit war ohne Zweifel die energische Partei-
nahme Alexandres' des Großen und der Diadochen zu seinen Gunsten von
größter Bedeutung.
41. Homerkritik und -exegese bei den Alexandrinern.*) Das
sehulmäßige Studium Homers beginnt mit dem alexandrinischen Zeitalter
unter der die Allegorie abweisenden Devise, die Eratosthenes^) formuliert
hat: Jioitjzrjv ndvra oioxdC^o&ai tpvxaycoyiag, ov 6idaoxakiaq, und die gegen den
Mißbrauch des Homer als eines Lehrbuchs für allerlei Sittenlehre, Kunst
und Wissenschaft protestierte. Auch hier hat sich die Bedeutung Homers
darin gezeigt, daß von ihm die gelehrten Studien Alexandrias überhaupt
ausgingen und an ihm die philologische und kritische Kunst gewisser-
maßen sich emporrankten. Die drei hervorragendsten Grammatiker Ale-
xandrias, Zenodotos, Aristophanes und Aristarchos, haben nach-
einander kritisch berichtigte Texte {dioQ&woeig) Homers, der letzte sogar
zwei besorgt. Zu dem Zweck der Herausgabe notierten sie sich als
Grundlage ihrer eigenen kritischen Tätigkeit die Lesarten alter Ausgaben
(hcdooetg). Wir hören von zwei Arten von Handschriften, von solchen,
die im Besitze von Städten gewesen waren (xarä nokeig)^ und von solchen,
die einzelne Männer besessen und beim Gebrauch verbessert hatten (xarä
ävÖQo). Zur ersten Klasse gehörte die Ausgabe von Massalia, die am
häufigsten zitiert wird, dann die von Chios, Sinope, Kypros, Kreta, Aiolis,
Argolis,*) zur zweiten die von Antimachos,*^) Euripides (dem Jüngeren
nach Suidas), Aristoteles. ß) Von hohem Alter und besonderer Güte waren
jene Handschriften nicht. '^) Das Beste taten die Grammatiker selbst durch
«täte und die hom. Fragen des Aristoteles, dem Kommentar zu 11. ^ Oxyrhynch. pap. 11
Sitz.ber. d. bayr. Ak. 1884 S. 264—314. p. 62. 17.
*) Siehe u. S. 80, 6 ^) Vielleicht war sie identisch mit der
•) J. La Roche, Die homerische Text- i berühmten, von Aristoteles revidierten Ihaq
kritik im Altertum, Leipzig 1866. | »/ ex i<w vagi>t}xog, welche Alexandres in einer
•) Strab. 15. | kostbaren Kapsel (vdoOi]^) aufbewahrte; s.
*) Nur von den Ausgaben von Massalia 1 Plut. Alex. 8 und Strab. p. 594
and Argos ist ausdrücklich bezeugt, daß sie
Ilias und Odyssee enthielten.
^) Nur diese exöoaig xax* a Sga erwähnen
auch die alexandrinischen Scholieo. Die Aus-
gabe des Euripides ist vielleicht zitiert in
') A.Römer. Homerrezension des Zcnodot,
Abh. der bayer. Akad. 17 (1886) 662 ff. Über
Aristarchos' handschriftlichen Apparat handelt
A. Lüdwich, Aristarchs hom. Textkr. Kap. 1.
Zur Bezeichnung des Wertes der Handschriften
78 Qriechische Litteratnrgeschiohte. I. Elassisohe Periode.
Festsetzung der Bedeutung verschollener Wörter und Aussonderung des
Unechten (d^eteiv). Weit überragte hierin seine Vorgänger Aristarchos,i)
der mit unerreichtem Scharfsinn und feinstem Verständnis der poetischen
Kunst das Wahre vom Falschen zu scheiden und die Eigentümlichkeiten
des Homer im Gegensatz zu den späteren Dichtern herauszufinden ver-
stand. Seine Ausgabe versah er am Rand mit kritischen Zeichen (aiy/icui),')
unter denen der Obelos und die Diple die häufigsten sind.«) Außerdem
hinterließ er Kommentare {vTxofjLvrnAaia) zur Ilias und Odyssee und besondere
Abhandlungen über einzelne Punkte, wie über das Schiflfslager {jie^ vav-
(nd&juov). Daß von ihm auch die Einteilung der Dias und Odyssee in je
24 Gesänge herrühre, ist eine unbeweisbare und nicht sehr wahrscheinliche
Behauptung. Beweisen läßt sich nur, daß er sie kannte; vermutlich aber
war sie schon von Zenodotos eingeführt worden;*) Aristoteles hat sie noch
nicht gekannt. Die Meinung von A. Lud wich, 0) als habe eine dem nach-
alexandrinischen Vulgattext völlig gleiche Vulgatüberlieferung des Homer-
textes schon vor den Alexandrinern bestanden und die textkritische Arbeit
der Alexandriner in der spätem Vulgata keine Spuren hinterlassen, ist
durch den Textbefund in den frühptolemäischen Papyri^) widerlegt. Die
Zahl der in unseren mittelalterlichen Handschriften fehlenden, sachlich in
der Regel ganz wertlosen Plusverse ist in diesen wenigen Papyrusresten
verhältnismäßig weit größer als in der frühestens seit 200 v. Chr. erkenn-
baren Vulgatüberlieferung, und so wird schwerlich bestritten werden können,
daß die kritischen Ausgaben der Alexandriner wenn nicht auf die Les-
arten, so doch auf den Versbestand der Vulgata Einfluß ausgeübt haben.
Vor den Alexandrinern war der Homertext viel ausführlicher.') — Die
drei berühmten Rezensionen von Zenodotos, Aristophanes und Aristarchos
waren nicht die einzigen; es gab noch weitere von Aratos (nur Odyssee),
Rhianos, Philemon, Sosigenes, Kallistratos dem Aristophaneer.*) Haupt-
werden die Ausdrücke ai lagteoreoai (aristo- Vers als unecht bezeichnet (o/Jc^t'C«»', d^eT«»») ;
telischer terminus techn.), rlfcaioreoat, xotvai, 1 mit der Diple (sc. yoafiuri^ Doppellinie) >
drfiwjÖFtg gebraucht (A. Ludwich a. a. 0. I wurde angedeutet, daß die betreffende Stelle
12 f.). I für Lösung einer kritischen Frage oder zur
*) K. Lehrs, De Aristarchi studiis home- | Erkenntnis einer homerischen Eigentümlich-
ricis, 2. Aufl. 1865, 3. unveränderte Aufl. keit von Bedeutung sei.
1882, Hauptwerk; A. Ludwich, Aristarchs *) So nach H. Düntzeb (Homer. Fragen
hom. Textkritik s. u. S. 79, 3. 183), Wilamowitz, Hom. Unters. 369. Ps.Plut.
*) Die Zeichen stehen noch heutzutage vit. Hom. H 4. 11 schreibt die Einteilung den
im cod. Ven. A, wovon zuerst J. La Roche, ygaftfmrtxoi jzegi lAgiarnoxo^' zu; Heraclit.
Text, Zeichen und Scholien des berühmten , alleg. Hom. 23. 28. 30 zitiert die Gcs&nge
Cod. Venetus der Ilias, Wiesbaden 1862, Mit- ! nach unseren Nummern. Siehe a. Th. Bibt,
teilungen machte, ebenso in manchen Homer- | Das antike Buchwesen 444 ff. 468.
papyri (s. A. Ludwich, Über die Papyrus- '■ ^) A. Ludwich, Die Homervulgata als
Kommentare zu den homcr. Gedichten, Königs- 1 voral^xandrinisch erwiesen, Leipz. 1898.
berg 1902; das Iliasfragment in den Teb- | ®) Siehe besonders B. Grenfell und A.
tunispapyri I, 1903). Über die kritischen 1 Hunt, The Hibeh papyri, 1906, p. 67—75
Zeichen überhaupt s. A. Reiffekscheid. Suet.
rell. p. 137 ff.; F. Osann, Anecdotum Roma-
num de notis veterum criticis, inprimis Arist-
archi Homericis, Gissae 1851; A. Nauck,
Lexicon Vindobonense, Petrop. 1867, 270 ff.;
Scholia in Hom. II. ed. G. Dindorf I praef.
XLII ff.
') Siehe auch E. Hefermehl, PhiloL 66
(1907) 192 ff.
®) Aus unbestimmter Zeit sind tj xvxXtxri,
ri F.X Movosiov{= der 07 *'EXtxöJrog*? W.Schiud,
Philol. 61, 1902, 635), 17^ jro/.iWf;roc. Über
die größere Verszahl der' gemeinen (xoival)^
nicht durchgesehenen und nicht von unnützen
^) Mit dem Obelos (Spieß) — wurde ein 1 Versen gereinigten Exemplare, die wir aus
A. Epos. 2, Homers Uias und Od3rs8ee. (§ 42.) 79
gegner des Aristarchos war der Pergamener Krates, der eine diög^coaig
'liiddog xal ^Odvooeiag schrieb und ihm nicht bloß in der Wahl einzelner
Lesarten entgegentrat, sondern auch in der Methode der Mythenerklärung
und der geographischen Auslegung der Irrfahrten des Odysseus einen ver-
schiedenen, von seinem Schüler Panaitios übrigens nicht geteilten i) Stand-
punkt vertrat. Eingehende Sachkommentare zur Boiiotia (IL B 484 flf.)
schrieben im 2. Jahrhundert v. Chr. Demetrios von Skepsis über den TgcDixög
diäxoojuog, Apollodoros von Athen über den Katalog der Griechen.*)
42. Was in den nächsten Jahrhunderten auf dem Gebiet der Homer-
kritik geleistet wurde, geht fast alles von Aristarchos aus und bedeutet
keinen nennenswerten Fortschritt. Zunächst gehen direkt auf Aristarchos
die Schriften zweier Grammatiker aus der Zeit des Augustus zurück, denen
wir zumeist unsere Kenntnis der aristarchischen Kritik verdanken, nämlich
des Didymos negl x^g ^AgiaxaQxeiov diogi^coaecDg^^) und des Aristonikos
Tiegl ai]iu€uov xfjg ^IXiddog xal ^Odvoaeiag.^) In dem ersten Buche war über
die bereits damals schon vielfach verdunkelten Lesarten des Aristarchos auf
Grund seiner zwei Ausgaben und seiner Kommentare weitläufig gehandelt,
in dem zweiten waren die Gründe der von Aristarchos gesetzten kritischen
Zeichen kurz und bündig entwickelt. 0) Selbständiger, aber nicht bedeu-
tender waren die Arbeiten derjenigen, welche zu den Lesarten und Er-
klärungen des Aristarchos Stellung nahmen, teils abwehrend, teils ver-
teidigend. Die Polemik gegen Aristarchos hielten aufrecht Kallistratos,
der sich gegen die Athetesen des Aristarchos wandte, Zenodotos von Mallos,
Demetrios Ixion, Ptolemaios, ein Schüler des Chorizonten Hellanikos, der
von seinen Angriffen auf Aristarchos den Beinamen 6 ini^htjg erhielt, und
Seleukos.«) Für Aristarchos, das gefeierte Schulhaupt, traten besonders
ein die Aristarcheer Dionysios Thrax, Ammonios, Parmeniskos, Dionysios
Sidonios, Chairis, Seleukos und Apollodoros. Alle diese lebten und schrieben
vor oder gleichzeitig mit Didymos; nach ihnen spannen die alten Fragen
bis zur Ermüdung^) fort Tyrannion der Jüngere, Herakleon der Ägypter,
Alexion, Philoxenos, Apion, Epaphroditos, Pius.®) Mehr eigene Wege
frfihptolemäischenPapyri(neuesteosdenHibeh- | Didymi, Programme, Ratibor 1890. Gott. 1891
apyri, London 1906) kennen lernen, s. J,
MxiTRAD, Sitz.ber. d. bayer. Ak. 1891 S. 551;
A. Ludwich, Homervulgata 71 ff.
^) A. ScHMEKEL, Die Philosophie der
mittlem Stoa, BerL 1892, 207.
') Über die ästhetische xgiaig der Alexan-
driner R.6BissiN0£R,Die ästhet. Anschauungen
der antiken Homererklärer, Diss. Tüb. 1907.
•) A. LuDwicH, Aristarchs hom. Text-
kritik nach den Fragmenten des Didymos,
Leipzig 1884. 85, 2 Bde., dazu die Einwände
von E. Maass, Herm. 19 (1884) 565 ff. Die so-
genannten ScholiaDidymi sind Vulgatscho-
lien, die mit Didymos nichts zu tun haben,
meist Worterklärungen, dergleichen man jetzt
auch auf einem Papyrus des 3. nachchrist-
lichen Jahrhunderts gefunden hat (Wilamo-
wiTZ, Gott Gel. Anz. 1900, 39). S. Schimbero,
ders., Festschr. z. lOOjähr. Jubelfeier des
Friedrich- Wilhelmgymn. Berl. 1897, 63 ff.
*) Aristonici J^egi orj/neicov 'Ikiddog rell.
ed. L. Friedländbr, Götting. 1853, zur Odys-
see von 0. Carnüth, Leipz. 1869.
^) Daher hat man das Eigentum des
Aristonikos an dem Kennzeichen on aus der
Masse der homerischen Scholien heraus-
gefunden.
®) Sei. lebte unter Augustus. Daß er
mindestens 3 Bücher xara tcüv 'Jgiatdgxov
atjfisio}}' geschrieben hat, erfuhren wir erst
aus dem Kommentar zu II. 0 Oxyrhynch.
pap. II nr. CCXXI. Ueber die anderen Gegner
des Aristarchos s. A. Lud wich, Arist. hom er.
Textkritik I 48 f.
") Lucian. ver. bist. II 20.
«) Über Pius E. Hiller, Philol. 28 (1869)
Zur handschriftl. Überlieferung der Scholia ! 86ff.;W.DiTTKNBEROER,Herm.40(1905)467A
80
Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
gingen Nikanor unter Hadrian, der die Fälle strittiger Interpunktion bei
Homer besprach/) und der berühmte Grammatiker des 2. nachchristlichen
Jahrhunderts Älius Herodianus, der im Anschluß an Aristarchos über
die Prosodie (Akzent, Hauch, Quantität) bei Homer handelte.*)
43. Lexikalische und erklärende Arbeiten zu Homer. Erklä-
rungsbedürftige Wörter des Homer bildeten schon bei Zenodotos einen
Gegenstand der Untersuchung. Auf uns gekommen ist neben unbedeutenden
Exzerpten aus Apion^) und Zenodoros*) ein homerisches Speziallexikon
von dem Aristarcheer Apollonios Sophistes (um 100 n. Chr.), in welchem
die Kommentare des Aristarchos und die Lesarten {U^eig) des Apion benützt
sind.^) — In Gegensatz zur historischen Erklärung trat schon seit alter
Zeit die allegorische. Sie fand auch bei Grammatikern Eingang, wie ins-
besondere bei Krates von Mallos, galt aber immer als eine spezielle Do-
mäne der Philosophen. Namentlich hatten die Stoiker sich auf dieses Ge-
biet geworfen, und in der Zeit des Augustus ward die allegorische Deutung
in ein förmliches System gebracht.^) Daraus ist das uns erhaltene Buch
'AUrjyoQiai 'O/urjgixai von Herakleitos hervorgegangen,'') neben Cornutus'
Tiegl i?cö>v, Pseudoplutarchos' Vita Homeri und den Iliasscholien der Hand-
schriften Venetus B, L und Townleyanus unsere Hauptquelle für die stoische
Homertheologie. — Daneben wandten sich Grammatiker und Philosophen
auch der antiquarischen Seite der homerischen Gedichte zu. Besonderes
Ansehen erlangte das Buch eines gewissen Dioskurides über die Sitten
der homerischen Helden, das fleißig von Athenaios,®) daneben aber
Eine Anzahl neuer Namen von Homerkritikem
bieten die Genfer Scholien zu U. 0: Aridikes,
Duiis (der bekannte Historiker), Hermapias,
üemiogencs von Ephesos, Parmenion von
Byzantion, Peisistratos von Ephesos, Phano-
dikos.
*) Nicanoris jregl ^IXiaxrjg auyftfjg rell.
ed. L. Friedländeb, Regiom. 1850; :TeQi
XJdvaoFtaxijg oziy/ttjg ed. 0. Carnüth, Berlin
1875.
^) Das Buch Herodians hatte den Titel
'Ofirjgixf/ mjooqjdln und war geteilt nach llias
und Odyssee; es verfolgte die kontroversen
Stellen Buch für Buch. Hauptausgabe von A.
Lbntz, Herodiani technici rell., Lips. 1867. 70.
') Apions 77ö)aoa/ 'Oi^trjQixai von F.W. Stürz
aus einer Damistädter Hschr. im Anhang des
Etym. Gud. p. 601 publiziert, sind ein elendes
Exzerpt ; daß es aber doch auf Apion zurück-
geht, beweist A.Kopp, Herm.20 (1885) 161 ff. ;
ders., Beiträge zur griech. Exzerptenlitteratur,
Berl. 1887, 106 ff. Ein Exzerpt » tov Ujiicovog
im Cod. Vind. 169 veröffentlichte Kopp, Rh.
Mus. 42 (1887) 118—121, und eines ist noch
in einem Oxforder Baroccianus enthalten.
*) Von diesem Zenodoros, der nach Dio-
nysios Halic, den er zitiert, lebte, imd den
Porphyrios und Eustathios öfters anführen,
gibt E. Miller, Mölanges, Paris 1868, 407
bis 411, eine 'EirriTOfirj zwv jrsgi ötn'fj^Fiag (in
10 ß.), worin die Abweichungen Homers vom
gewöhnlichen Sprachgebrauch behandelt sind.
*) ^A:iokk(ovlo%) aorpiözov Xe^txov (erhalten
in einem cod Sangermanensis) rec. Ihm. Bek-
KER, Berol. 1833. Daß das Lexikon in ver-
dünnter Gestalt auf uns gekommen ist, weist
nach L. Leyde, De ApoUonii sophistae lex.
Homerico, Leipz. 1884; vgl. A. Kopp a. 0.
«) H. DiBLS, Dox. gr. p. 88 ff.; H. Schra-
DBR, Porphyrii quaestion. Homericar. ad Iliad.
pertin. rel. 395 ff. ; A. B. Hersman, Studies in
Greek allegorical Interpretation, Chicago
1906. Ihre Blüte erreichte die Spielerei
allegorischer Deutung im Mittelalter, worüber
G. Kaufmann, Gesch. d. deutschen Universi-
täten 1 (1888) 25 f.
'') Heraciiti Allegoriae Homericae ed. E.
Mehler, LB. 1851; es sind in dieser Ausg.
vollständigere Handschriften als in den frü-
heren benützt; neue kritische Beiträge gibt
A. Ludwich, Arist. Textkr. II 642 ff. Ver-
treter der stoischen Homerauffassung ist
weiterhin der Grammatiker Telephos von
Pergamon im 2. Jahrhundert n. Chr. (H.
ScHRADER, Herm. 37, 1902, 530 ff.), ebenso
Cassius Longinus im 3. (D. Rühnken,
Opusc. 341 ) neb.st den übrigen Neupiaton ikem
wie Syrianos und dessen Schüler Proklos
(s. bes. dessen Kommentar zu Piatons Staat
T. I 69 ff. Kroll).
8) Bei Athenaios I 8c läuft die Schrift
Ttegl TOV Tcjv tjQwcov xa&* "Ofifjgot' ßtov anonyvi;
A. Epos. 2. Homers Dias und Odyssee.
43—44.)
81
auch von Plutarchos und dem Rhetor Dion Chrysostomos benützt wurde. 0
Die von Piaton besonders in Bewegung gebrachten Fragen über die Be-
deutung der homerischen Ethik und Theologie wurden in Philosophen-
kreisen weitergesponnen: Philodemos der Epikureer schrieb über das home-
rische Fürstenideal,*) Dion Chrysostomos vjteg 'Oju^qov jigog IlXdxoyva^ ein
Gegenstand, den auch Älius Aristides in seinen platonischen Reden streift;
Cassius Longinus et cpdöoocpog "OjbtrjQog leitet über zu der Reihe der Neu-
platoniker, die zwischen Piaton und Homer zu vermitteln suchen, wie
Syrianos^) und Proklos.-*) Am Ende steht die Homererklärerin Demo im
5. Jahrhundert.^) Das letzte Sammelbecken für die im Lauf der Jahr-
hunderte zusammengeflossenen Hauptprobleme sachlicher Art bilden die
'OfiriQixä Cv^T^fiaza des Neuplatonikers Porphyrios.*)
44. Scholien zu Homer. Die Arbeiten der alten Grammatiker sind
nur in Auszügen auf uns gekommen. Der wohl vor 600 n. Chr. entstan-
dene') Auszug eines anonymen Grammatikers aus den Viermännern Ari-
stonikos, Didymos, Herodianos, Nikanor ist uns bezeugt durch die Unter-
schriften des Cod. Venetus A der Ilias: nagoxeixai xa ^AqigtovIxov atj/Lma
xal xd Aidv/uotf negi xrjg ^AgioxaQxelov diog&cooecog, xtvd dk xal ix xijg ^IXiaxrjg
jiQoacpdiag 'HgcDÖiavov xal ix xcov Nixdvogog negl axiyfirjg.^) Dazu waren
in der nachfolgenden Zeit noch Scholien aus anderen Grammatikern, be-
sonders aus den Zrjxrjjtiaxa des Porphyrios gekommen. Auf diese Auszüge
gehen die Scholien unserer Handschriften zurück; sie sind uns am besten
in dem Venetus 454 (A) des 11./ 12. Jahrhunderts erhalten, und zwar viel-
fach in doppelter Fassung als ausführlichere Rand- oder Hauptscholien
und als kürzere Zwischen- oder Textscholien.^) Zunächst an Wert stehen
die Scholien des im 12./13. Jahrhundert^^) geschriebenen Townleyanus^*) und
die des Venetus 453 (B) aus dem 11. Jahrhundert.^*) Unbedeutender, zu-
der Verfasser ergibt sich aas Suidas 8. v.
X^fifjQoq. (Siehe aber E. Schwartz in der
Realenc. 9. Halbb. 1129, 28 ff.)
*) R. Th. Wkbbb, De Dioscuridis Tiegi xiov
xaQ"OiAfiQffi vofAwv libello, Leipz. Sind. 11, 1889.
Ehedem identifizierte man, durch Snidas s.
X^firiQog irregeführt, den stoischen Grammatiker
mit dem Isokrateer Dioskurides. In Wahr-
heit lebte er nach Aristarchos, dem er folgte,
imd vor Dion Chrysostomos, der ihn exzer-
pierte; Weber setzt ihn 160—60 v. Chr., was
modifiziert Wilamowitz, Herrn. 35 (1900) 543.
*) F. BüoHELBB, Rh. M. 42 (1887) 198 ff.
*) Syrianos las über Homer (Procl. ad Plat.
remp. I 205, 21 ff. Kboll) und schrieb Ivoetg
'Ofiffgixcbv jiQoßkrjfidjoiv (id. I 95, 30).
*) Procl. ad Plat. remp. I 69 ff. Kboll.
*) A. Lüdwich in der Festschrift zu
L. Friedlftnders 25jähr Doktorjubiläum, Leipz.
1895, 296 ff. ; ders., AUegoriae Homericae ex
codice Vindobon. prim. editae, Königsberger
Index lect. 1895.
*) Porphyrii quaestionum Homericarum
ad üiadem pertinentium rell. ed. Hbbm.
Sohradbb, Lips. 1882, mit Nachträgen im
Herm. 20 (1885) 380 ff.; Porphyrii qoaest
Handboeb der kUss. AJieiioBSwiaseiiMbsft. TU.
Hom. ad Odysseam pertinentium rell. ed.
Hebm. Schbadeb, Lips. 1890. Erhalten ist der
1. Teil des Buches mit dem Widmnngsbrief
im Vat. 305, das Ganze exzerpiert in den
Homerscholien, Eustathios und Tzetzes. Eine
Probe seiner oft albernen ethischen Erklärung
zu A 298 : Öia ri 6 ^;f axtrc lijv fikv BgiorftÖa
(fifjoi öoHjeiv, xatv 6* dlk(oy oi'dev jrgoteadai (prjatv
ävetf Jtokffjiov; grjteov ovv öti ojnog ftit/ dxgarijg
ehai Soxfj. Einen speziellen Versuch allegori-
scher Deutung bietet Porphyrios in dem Büch-
lein Jieoi Tov fv ^OövaüFi'n tojv viffiqHov ävxoov.
') W. ScHMiD, Philol. 48 (1889) 553.^
®) Th. Beocard, De scholiis in Hom.
Diadem Venetis I, Beriin 1850.
•) A. Kömbb, Die Werke der Aristar-
cheer in Cod. Ven. A, in Sitz.ber. d. bajrr. Ak.
1875. 241 ff. und A. Lüdwich, Arist. I 83 ff.
>«) So T. W. Allen, Joum. of Philol.
19 (1891) 62 ff. gegen E. Maaß.
**) Die Townleyana wurden ehedem Vic-
toriana genannt nach einer in der Mfinchener
Staatsbibliothek befindlichen Abschrift des
P. Victorius. A. ßöMEB, De schol. Victorianis,
Mflnch. 1874.
") Idie Scholien zuerst bekannt gemacht
5. Aufl. 6
82
GhdecblBche Litteratnrgeschichte. I. Elassische Periode.
meist nur die Worterklärung berücksichtigend, sind die fälschlich dem Di-
dymos zugeschriebenen, schon von Aldus herausgegebenen Scholia minora.O
Düiftiger sind im allgemeinen die Scholien, namentlich die kritischen, zur
Odyssee, vornehmlich erhalten durch zwei Handschriften des 13. Jahr-
hunderts, den Harleianus 5674 des Britischen Museums (H) und den Yenetus
613 (M).*) Außer den Auszügen der Viermänner und den Abschnitten aus
Herakleitos und Porphyrios enthalten die Scholien rhetorisch-ästhetische')
und exegetische Bemerkungen^) sowie Notizen zur historia fabularis.ö)
45. Homer im Mittelalter. Das Mittelalter hat nichts Neues und
Standhaltendes in der Kritik und Exegese Homers geleistet; Eustathios
und Johannes Tzetzes haben wesentUch nur breitgetreten, manchmal auch
entstellt, was ihnen aus dem Altertum überkommen war. Der früher
überschätzte Kommentar des Eustathios (12. Jahrhundert),**) IlagexßoXal
(d. h. Auszüge) elg rijv ^O/arJQov ^Odvooeiav xal ^Ikidda^'^) findet jetzt, seit
Villoison die alten Scholien bekannt gemacht hat, wenig Beachtung mehr.
Sein Wert besteht wesentlich nur in dem, was Eustathios aus alten Quellen,^
einem Auszug des Kommentars der Viermänner, den Lexeis des Aristo-
phanes, den attizistischen Wörterbüchern des Dionysios und Tansanias aus
durch J. B. C. d'Ansse de Villoison, Ven.
1788 fol. — Neuere Ausgabe: Scholia in
Homeri Iliadem ex rec. I. Bekkeri, Berol.
1825. — Vollständigste, aber nicht ganz zu-
verlässige Ausgabe nach Handschriften ge-
sondert: Scholia graeca in Homeri Iliadem ex
codicibus aucta et emendata ed. Gu. Dindorf,
t. I-IV, Ox. 1875; t. V— VI die Scholia
Townleyana enthaltend, besorgt von £. Maass,
Ox.l888. Ergänzungen aus einer Genfer Hs. Les
scolies Genevoises de Tlliade, par J. Nicole,
2 Bde., Genf 1891 (mit den Genfer Scholien wie
mit denen in B und T stimmen vielfach die in
Oxyrhynch. pap. T. II 1899 nr. 221 s. II p. Chr.
enthaltenen, nachWiLAMOwiTz, Gott. Gel. Anz. |
1 900, 38 auf einen Kommentar der Claudierzeit !
zurückgehenden Scholien überein). Die Scholia
codicisLipsiensis,dieL BACHMANTf. Lips. 1835
bis 38 herausgegeben hat, haben keinen selb- ,
ständigen Wert, da sie, wie E. Maass, Herm. 1 9
(1884) 264 ff. nachgewiesen hat, aus Ven. B u. I
Townl. genommen sind. Über den Cod.Laur.
32, 3 s. XI s. H. ScHRADBB, Henn. 22 (1887) :
282 ff. Über die bis 1902 entdeckten Pa-
pyruskommentare zu Homer s. A. Ludwich,
Königsberger Index lect. 1902.
') Siehe o. S. 79, 3. |
-) Scholia antiqua in Homeri Odysseam '
ed. Ph. Büttmann, Berol. 1821 ; Scholia graeca
in Homeri Odysseam ex codicibus aucta et
emendata ed. Gu. Dindorf, 2 vol., Ox. 1855. |
Über die nmbrosianischen Odvsseescholien
H. SciiRADKR, Herm. 22(1887) 337 ff. Neue
Ausgabe der Scholien zu Od. a von A. Lud- t
WICH in den Köuigsberger Indiccs lectionum
von 1888 an. Wörtliche Benützung unserer i
Odysseescholien bei dem Romanschriftsteller ■
Heliodoros (s. III p. Chr.) bemerkt E. Rohde,
Griech. Rom.^ Leipz. 1900, 490, 2. |
') G. Lehnert, De scholiis ad Hom. rhe-
toricis, Diss. Leipz. 1896. Siehe a. o. S. 79,2.
*) A. Römer, Die exegetischen Scholien
der Ilias, München 1879. Diese stehen fast
alle in Cod. B u. T.
^) Ed. Schwartz, De scholiis Homerids
ad historiam fabularem pertinentibus, in Jahrbb.
f. Philol. Suppl. 12 (1881) 405-463. J.Panzeb,
De mythographo Homerico restituendo, Dias.
Greifsw. 1892, sieht die Quelle der mytho-
logischen Scholien nicht in einem Homer-
kommentar, sondern in einem mythologischen
Handbuch nach Art von Apollodors Bibliothek.
®) Eustathios, der anfangs Diakon und
Maistor rhetoron zu Konstantinopel und seit
1175 Erzbischof von Thessalonike war, hat
den Kommentar zu Homer vor seiner Er-
nennung zum Erzbischof veröffentlicht; daß
er den zur Ilias vor dem zur Odyssee be-
arbeitete, wiewohl er sich wechselweise in
dem einen auf den andern bezieht, macht
wahrscheinlich Fr. Kuhn, Quo ordine et
quibus temporibus Eustathius commentarios
suos conscripserit, in Common t. in hon. Stude-
mundi, Straßb. 1889 p. 249— 57. Siehe jetzt
L. Coiw, Realenc. 11. Halbb. 1458 f.
') Die erste Ausgabe Rom 1542 — 50; die
neuste ohne neue Hilfsmittel Lips. 1825—30.
2 vol. Wir haben diese Kommentare noch in
eigenhändigen Niederschriften ihres Verfas-
sers: E. Martini, Rhein. Mus. 62 (1906) 273 ff.
*) J. La Roche, Hom. Textkritik, Leipz.
1866 S. 151 ff.: M. Neumann, Eustathios als
kritische Quelle für den Iliastext, Jahrbb. f.
Phil. Suppl. 20(1894) 145 ff.; L. Cohn, De
Aristophane Byzantio et Suetonio Tranquillo
Eustathii auctoribus. in Jahrbb. f. Phil. Suppl.
12 (1881) 285 ff. H. Schrader, Porphyr, quaest.
ad II. 382; ad Od. 207.
A. EpoB. 2. Homers Ilias und Odyssee.
45—46.1
83
hadrianischer Zeit, der Scholiensammlung des Apion und Herodoros,^) den
Paralipomena des Porphyrios, aufgenommen hat. Noch unbedeutender ist
die von Johannes Tzetzes in seiner Jugend (1143) verfaßte 'E^tjyrjatg
^IJUddo^.*) Neben den Kommentaren spielten in den Studien der Byzantiner
die Paraphrasen eine Rolle, von denen uns mehrere in Handschriften, teil-
weise auch in Drucken vorliegen.^) — Schon gegen Ende des Altertums
kam die Spielerei auf, Verse und Halbverse des Homer zu neuen Gedichten
zu verbinden; solche Centonen {'OjurjQÖHevTQa) sind uns von der Kaiserin
Eudokia, dem Bischof Patrikios, dem Philosophen Optimus und dem Meloden
Kosmas erhalten.^)
46. Homer bei anderen Nationen. Homer, der schon von Ale-
xandria aus zu fremden Völkern bis nach Indien^) gedrungen war und in
Rom gleich beim ersten Erwachen des litterarischen Lebens an Livius
Andronicus (Odyssee) und später an Cn. Matius (Ilias) Übersetzer gefunden
hatte, <^) war im Mittelalter den Völkern des Abendlandes nur durch eine
metrische Epitome der Ilias, den sogenannten Homerus latinus,'^) bekannt. Zu
neuem Leben erblühte er in der Zeit der Wiedergeburt der Wissenschaften :»)
im Jahr 1488 erschien zu Florenz die erste Ausgabe der Ilias von Demetrios
Chalkokondyles: zuvor schon hatte für Boccaccio der Calabrese Pilato eine
lateinische Übersetzung der Hias angefertigt. Aber wiewohl 1542 auch schon
der weitläufige Kommentar des Eustathios gedruckt wurde, so dauerte es doch
noch Jahrhunderte, bis Homer volles Verständnis und gerechte Würdigung
fand. Es überwog eben infolge des romanischen Einflusses die von Jul. Cäs.
Scaliger (gest. 1558) in seiner Poetik vertretene Anschauung, daß nur dem
Vergil die Palme des klassischen Dichters gebühre,®) dem gegenüber die
homerische Poesie die Rolle einer plebda ineptaque muliercula spiele. Die
') Neben Herodoros kommt auch die
Variante Heliodoros vor. Siehe L. Cohn,
Realencycl. 11. Halbb. 1464 f.
*) ZvlA 1 — 102 gedruckt in G. Hermaitns
Ausgabe des Drakon, Leipz. 1812. Außerdem
verfaßte Joh. Tzetzes Allegorien zur Ilias und
Odyssee, worüber K. Krumbacheb, Byz. Litt.
2. Aufl. S. 529 ff.
') Eine Paraphrase veröffentlichte I.
Bekker, Scholia in Homeri Iliadem« am Schluß.
Nene Mitteilungen über Homerparaphrasen
gibt A. Lud WICH, Arist. hom. Textkr. II 486 ff.
B. Gehricann, Demosthenis Thracis fieiaßoXwv
'Odvooeiag fragmenta. Diss. Königsberg 1890.
Über eine Homermetaphrase des Prokopios
von Gaza Phot. bibl. cod. 160. Am belieb-
testen war im Mittelalter die unter dem
Namen des Michael Psellos laufende (heraus-
gegeben von J. F. BoissoNADB, Paris 1851).
*) Eudociae Augustae fragm. ed. Lüdwich
in Bibl. Teubn. 1897 p. 79 ff. Vgl. Anth. Pal.
1X381.382. Das Orakelsuchen aus den
homerischen Gedichten wird schon Ar.
pac. 1089 ff. erwähnt. Ein Beispiel liefert der
Fi^yrus Brit. muscum papyri catalogue p. 82
bis 89; vgl. [Plut] vit. Hom. H 218 extr.; R.
Heim, Jahrbb. f. Phil. Suppl. 19 (1892) 514 ff.:
Berliner Papyri Bd. IV nr. 1026 (aus dem 4.
bis 5. Jahrb. n. Chr.) benutzt Homerverse als
Zaubersprüche.
5) Bio Chr. Lin 6.
*) J. ToLKiEHN, De Homeri auctoritate
in cotidiana Romanorum vita, Jahrbb. f. kl.
Phil. Suppl. 23 (1897); ders. Homer und die
römische Poesie, Leipz. 1900.
^) M. Schanz, Gesch. der röm. Litt. II 2*,
München 1901 S. 98.
*) L. Friedländer, Schicksale der home-
rischen Poesie, in der Deutschen Rundschau
12 (1886) 5. Heft. Reichhaltiger E. Stemp-
LiNGER, Studien z. Fortleben Homers in Stud.
z. vergl. Literaturgesch. 6 (1906) 1—25.
^) So mit einiger Verschämtheit noch
Gottsched : Fr. Braitmaier. Gesch. der poet.
Theorie und Kritik von den Diskursen der
Maler bis auf Lessing I, Frauenfeld 1888,
S. Hof. Interessant ist als Zeugnis des auch
in weiteren Kreisen sich durchsetzenden Ge-
schmacksumschlags die 1780 erschienene
Schrift des Stuttgai-ter Karlsschulprofessors
Fr. Ferd. Drück (in dessen Kleineren Schrif-
ten, Tübingen 1810, I 1 ff). De virtutibus
vitiisque Homeri et Virgilii, die in dem Satz
gipfelt (p. 128): in Homero ingenii fidem, in
Virgilio ai'tem mireris.
6*
84 Griechische Litteratnrgesohiohte. I. Klassische Periode.
richtige Auffassung ging von England aus, wo Alexander Pope 1715 seine
berühmte Homerübersetzung veröflFentlichte und der in Griechenland selbst
vielgewanderte Robert Wood mit seinem Buch An Essay on the Original
Genius of Homer (1769) das Verständnis der Natur- und Volkspoesie erschloß.
In Deutschland fanden die Anschauungen der Engländer bei Lessing, Goethe, 0
Heyne lebhaften Anklang, und Winckelmanns geniale Erfassung und an-
dächtige Verehrung der griechischen Kunst im Gegensatz zum Barock kam
auch dem richtigen Verständnis Homers zugute. Mit der Übersetzung
von J. H. Voß*) ist dann bei uns Homer in den weitesten Schichten des
Volkes populär geworden, wie es sonst nur Werke nationaler Dichter zu
werden pflegen, und mit den Prolegomena von Fr. A. Wolf (1795) begann
für die Homerforschung und die ganze Philologie eine neue Epoche kri-
tischer Studien und tieferer Erkenntnis.
Codices: Aufzählung der wichtigsten bei J. La Roche, Homer. Textkr. 439 ff.; ins-
gesamt sind es, von den Papyri abgesehen, über 200. Versuche einer Klassifikation der
Iliashandschriften von C. A. J. Hoffkank, Das 21. u. 22. Buch der Ilias, Clausthal 1864,
S. 1—86; W. Leaf, Joum. of Philol. 18 (1890) 181 ff.; 20 (1892) 287ff.; A. Lüdwich in der Fest-
Schrift zu C. F. W. Müllers 70. Geburtetag, 1900; T.W. Allen, Class. Rev. 18 (1899) 110. 834.
429; 14 (1900)292. Die reine aristarchische Rezension bietet keine unserer Handschriften,
selbst Ven. A hat nur etwa zwei Drittel der als aristarchisch bezeugten Lesarten (A. Lüdwioh,
Aristarchs hom. Textkr. II 188 ff.). Zu den bereits § 4-i genannten Iliashandschriften, von denen
A (Ven. 454) im phototypischen Druck, Leiden 1901, bei Sijthoff erschienen ist, kommen
noch: ein syrischer Palimpsest (ed. W. Cureton 1851; die obere Schrift enthält eine Ab-
handlung des syrischen Patriarchen Severus); Papyri (zu den schon von Bekker benutzten,
der Ilias Bankesiana und der Harrisiana. kommen fortwährend neue Bruchstücke. Die
ältesten, von der kritischen Tätigkeit der Alexandriner noch nicht berüluten in den Fldtdbbs
Petbie pap^i I 1891 und den Hibeh papyri 1906); Miniaturen hat der Cod. Mediolanensis
(enthält Teile aus fast allen Gesängen der Ilias, im ganzen etwa 800 Verse mit den ältesten
uns erhaltenen Buchillustrationen: Iliadis fragm. antiquissima cum picturis ed. Ano. Mai,
Mediol. 1819, Romae 1885, antiquiert durch Iliadis pictae fragmenta Ambrosiana phototypice
reddita cura A. M. Ceriani et A. Ratti, Mailand 1906). — Odysseehandschriften: außer
den oben § 44 erwähnten noch die Laurentiani F u. G, beide s. X, und Palatin. 45 (a. 1201).
Interessante Notizen über Odysseehandschriften in Aolia Capitolina, Nysa und Rom bei
Jul. Africanus KfoxoI XVIII extr. (Oxyrh. pap. III nr. 412). Siehe auch T. C. Molhutsen,
De tribus Odysseao codicibus antiquissimis. Leiden 1906; J. v. Leeuwen, Mnemos. N. S.
25 (1897) 145 ff.
Schollen s. oben §$ 42. 44.
Ausgaben: ed. princ. ex rec. Demetrii Chalcocondylae, Flor. 1488; mit gelehrtem
Kommentar von S. Clarke u. J. A. Ernesti, ed. 2., Leipz. 1759 — 64, 5 vol.; Ilias cum vers. lat.
et annot. cur. Chr. G. Heyne, Lipa. 1802 ff., 8 vol., Bd. 9 mit Indices von E. A. G. Gräfenhak,
Leipz. 1822; berichtigter Text von F. A. Wolf, mit epochemachenden Proleg., Hai. 1794. 95;
tumultuarischer Versuch der Herstellung eines Ur-Homer von R. Payne-Knight, Lond. 1820;
Ilias rec. F. E. H. Spitzner, Gotha 1882—36, 4 vol. mit kritischen Noten und Exkursen. —
Kritische Hauptausgabe mit Digamma im Text und dem Anfang eines kritischen, wesentlich
auf den Scholicn basierten Kommentars von Ihm. Bbrker, 2. Ausg., Bonnae 1858 (die 1. Ausg.
1843 ohne Digamma); dazu dessen Homerische Blätter, Bonn 1863. 72, 2 Bde. — Homeri
Odyssea ad iidem librorum optimorum ed. J. La Roche, Lips. 1867. 68. Ilias 1873. 76, mit
einem reichen, aus Scholion und Handschriften geschöpften kritischen Apparat — Odyssee
und Ilias cd. A. Nauck, Berl. 1874. 1877 mit kritischem Apparat und einschneidender, die
von Bekker eingeschlagenen Wege weiter verfolgender Recensio. (Kritik der Nauckschen
Methode bei A. Lüdwich, Aristarchs homer. Texticr. II 152 ff.) — Ilias und Odyssee cum
^) über Goethes Homerstudien E. Spario, hardstöttnbr, Jahrb. für Münch. Gesch. 1
Ehrengabe der Latina. Halle 1906, 45 ff.
*) Die Odys.see erschien 1781 in erster
Gestalt, die llia.s folgte 1793. M. Berxays,
Einleitung zu Voß' Homers Odyssee, Stuttg.
1881. Die erste deutsche Uebersetzung der
Odyssee lieferte im Jahre 1537 ein Mün-
chener Schaidenreisser, worüber K. v. Rein-
511 ff., die erste der Ilias der Augsburger
Meistersänger Spreng, worüber Keinz, Sitz.-
ber. d. bayr. Ak., 1893, 1 165. Siehe A. Schrö-
ter, Geschichte der deutschen Homerüber-
setzung im 18. Jahrhundert, Jena 1882; E.
Stemplinger (s. 0. S. 83, 8) 5 ff.
A. £po8. 3. Der epische Eyklos. (§ 47.) 85
apparata critico rec. J. van Lebuwbn, J. F. et M. B. Mendes da Costa, Lugd. Bat. ed. alt.
1895. 96. — Homeri carmina rec. et selecta lectionis varietate instruxit Abth. Ludwich,
Lips., davon Odyssea 1889, Rias I.Teil 1902; 2. Teil 1907. — Textausgaben der Bibl. Teubn.
von W. DiNDOBF mit Sengebuschs Hom. Dissertationes, 1855. 56; der Bibl. Schenkeliana
von A. RzACH Dias 1886. 87, von P. Caueb Odyssee 1888. 87. — Ausgaben, welche die home-
rische Frage berücksichtigen: Iliadis carm. XVI ed. H. Köchly, Lipsiae 1861 ; Die homerische
Odyssee von A. Kibchhoff, 2. ed. Berlin 1879; Iliadis carmina seiuncta discreta emendata
ed. W. Chbist, Lipsiae 1884; Die homerische Odyssee, Die homerische Ilias, in der ursprüng-
lichen Sprachform hergestellt von A. Fick, Göttingen 1883 u. 1886; K. Robebt, Studien z.
Ilias, Berl. 1901 S. 272—349 (der Text der präsumptiven Ur-Ilias). — Schulausgaben mit
erklärenden Anmerkungen von K. Fb. Ameis und C. Hentzb mit gelehrtem, unentbehrlichem
Anhang; von J. U. Fäsi und F. R. Fbanke; von J. La Roche; von H. Düktzeb; von V. H.
KoGH. — Einzelausgaben: Erklärende Anmerkungen zu Homers Odyssee von G. W. Nitzsch,
Hann. 1826 40, 3 vol.; Das 21. u. 22. Buch der Ilias herausg. von C. A. J. Hopfman»,
Clausthal 1864; Anmerkungen zu II. A B F von K. Fb. Nägelsbach, 3. Aufl. von G. Auten-
rieth, Nürnberg 1864: R. Peppmülleb, Kommentar des XXIV. Buches der Ilias mit Einleit.,
Berlin 1876 ;,H. K. Benicken, 12. und 13. Lied vom Zorn des Achill, Innsbruck 1883. 84;
E. Eammeb, Ästhetischer Kommentar zur Dias, 2. Aufl., Paderborn 1901.
Hilfsmittel, lexikalische: Index Homericus studio W. Sebebi, ed. Oxon. 1780
(verdiente eine Neubearbeitung); Index Homericus compos. Aug. Gehbino, Lips. 1891 ; Lexicon
Homericum ed. H. Ebelino, Lips. I 1885, II 1880, Haupthilfsmittel; Parallelhomer von C. Ed.
Schmidt, Gott. 1885 (Nachträge dazu: Festschrift zu L. Friedländei-s 50 jähr. Doktorjubil.
Leipz. 1895, 399 ff.) ; H. Duvbab, A complete Concordance to the Odyssey and the Hymns of
Homer. Lond. 1880. — Grammatiken: D. B. Monbo, Grammar of the Hom. Dialect, Oxf.
1882, 2. Aufl. 1891; J. vanLeeuwen, Enchiridium dictionis epicae, Leiden 1892; G. Vogbinz,
Grammatik des homerischen Dialektes, Paderborn 1889; W.Ribbeck, Homerische Formenlehre,
2. Aufl., Berl. 1879, 3. Aufl. 1895; W. Habtel, Abriß der Grammatik des homerischen und hero-
dotischen Dialekts, Leipz 1888. — Realien: J. B. Fbiedbeich (Mediziner), Die Realien in der
Hiade und Odyssee, Erl. 1851—56; E. Büchholz, Die homerischen Realien, Leipzig 1871 bis
1885, 3 Bde.; W. Helbio, Das homerische Epos aus den Denkmälern erläutert, 2. Aufl., Leipzig
1887; W. Reichbl, Über homerische Waffen, Wien 1894, 2. Aufl. 1901; F. Stüdbiczka, Beitr.
z. Gesch. der altgriech. Tracht, Wien 1885; St. Fellneb, Die homer. Flora, Wien 1897; Bericht
über die Litteratur zu den homer. Realien 1896 - 1902 von A. Gemoll im Jahresber. über die
Fortschr. d. kl. Alt. 117 (1903) Iff. — Archäologisches: J. Ovebbeck, Galerie heroischer
Bildwerke der alten Kunst, Braunschw. 1853; H. Bbunn, Troische Miscellen in Sitz.ber. d,
bayr. Akad., 1868 S.47ff. 217ff.u. 1880 S. 167 ff.; K. Wöbmann, Die antiken Odysseelandschaften
vom Esquilin, München 1875; R. Engelmann, Bilderatlas zum Homer, Leipz. 1889. - Geo-
graphie: K.H.W. VöLCKEB, Homer. Geographie, Hann. 1830 (bedarf einer Neubearbeitung);
KoFBJKiOTiQ, 'Ofii]Qixrj yE(oyQa(pla, Athen 1884. — Weltanschauung: K. Fb. Nägelsbaoh,
Homerische Theologie, 3. Aufl. von G. Autenbieth, Nürnberg 1884 ; E. Rohde, Psyche P, Tübingen-
Leipz. 1903, 33 ff. — Sprachliches, Stilistisches und Prosodisch-Metrisches: Ph.
BüTTMANN, Lexilogus, 4. Aufl., Bedin 1860. 65, 2 Bde.; C. A. J. Hofpmann, Quaest. Hom.,
Clausthal 1842—48; O.V. Knös, De digammo homerico, Ups. 1872.73.79; J.Classen, Beobach-
tungen über den homer. Sprachgebrauch, Frankf. 1867; W. Habtel, Homer. Studien, aus
8itz.ber. d. Wien. Ak., 1871 Bd. 68, 283 ff.; 1874 Bd. 76, 329 ff, Bd. 78, 7 ff. (1. Teil auch ge-
sondert, Berlin 1873); J. Menbad, De contractionis et synizeseos usu Homerico, München 1886;
F. Bechtel, Die Vocalcontraction bei Hom., Halle 1*908; W. Schulze, Quaestiones epicae,
Gütersloh 1892; J. Solmsbn, Untersuchungen zur griech. Laut- und Verslehre, Straßburg 1901;
W. Bebnhabdt, De allitterationis apud Hom. usu, Diss. Jena 1906.
Litteratur über Homerbiographien oben § 22, über homerische Frage §§ 23 u. 24, über
die Lebenszeit Homers § 32, über Ortskunde Homers § 34.
3. Der epische Kyklos.
47. Von den Werken des sogenannten epischen Kyklos wurden in
alter Zeit einige dem Homer als dem Repräsentanten des alten Helden-
gesangs zugeschrieben:») später, seit der Zeit der Perserkriege, setzte sie
*) Alte Zeugnisse dafür, daß man dem L. Kjellbebg, De cyclo epico, Upsala 1890).
Homer ohne weiteres alle cyklischen Epen Diese Ansicht findet sich erst in nachale-
zugeschrieben habe, gibt es nicht (R. Volk- > xandrinischer Zeit und ist von den alexan-
MAKK, Ueber Homer als Dichter des epischen drinischen Philologen sicher nicht geteilt
Kyklos, Jauer 1884, E. Hilleb, Homer als worden. Procl. ehrest 233 W.: oi fievrot y
KollektivnameBh.M. 42, 1887, 321—361 und | aqyaXoi xai t6v xvxXov avafpEQOvoiv eigVfirjgov,
86 Griechische Litteratnrgeachichte. I. KlaswiBche Periode.
eine verfeinerte ästhetische und sachliche Kritik viehnehr in Gegensatz zu
den Schöpfungen Homers, und nun werden als Verfasser der einzelnen Ge-
dichte andere, vielfach zweifelhafte Namen genannt. Ilias und Odyssee
waren eben die beiden mächtigsten Aste an dem Baum der epischen Poesie,
der daneben noch viele kleinere Zweige trieb, die alle als Schößlinge des-
selben Stammes angesehen wurden. Der Name inixog xvxXog für diese
Sammlung alter epischer Gedichte läßt sich erst aus der Zeit nach Christi
Geburt nachweisen.*) Aber das hohe Alter des xvxkog in diesem Sinn
ergibt sich daraus, daß das Adjektivum xvxhxog schon in den Philologen-
kreisen Alexandriens im 3. Jahrhundert v. Chr. in einer übertragenen Be-
deutung gebräuchlich war, die sich aus dem für die Alexandriner maß-
gebenden Urteil des Aristoteles (po6t. 23)*) über die ästhetische Minder-
wertigkeit des Kyklos gegenüber von Ilias und Odyssee ergibt.') Der Sach-
begriflf war schon lange da. der Terminus mag noch Ende des 4. Jahr-
hunderts geschaflfen worden sein. KvxXoc: wird ursprünglich, wo es auf
epische Dichtungen übertragen wurde, die Darstellung des gesamten Sagen-
stoflFs von der Weltschöpfung bis zum Ende des troischen Krieges bezeich-
net haben,^) wie denn das Wort für prosaische Mythenenzyklopädien noch
später gebräuchlich geblieben ist. In alexandrinischer Zeit gab es mehrere
solcher prosaischen xvxkoi^ aber schon ein Buch des Aristoteles xvxXog fj
jiegi jTott]T(ov^ dann von Asklepiades von Tragilos einen xvxXog rgayixög.
Der berühmteste unter den Verfassern solcher mythologischen Sammlungen
war der vom xvxXog beigenannte Kyklograph Dionysios, der um 100 v. Chr.
einen die Mythen oder alten Geschichten in geordneter Folge umfassen-
den xvxXoq loxoQixög in 7 Büchern herstellte, in dem bei jedem ein-
zelnen Mythus auf die Stellen und Verse der alten Dichter und Mytho-
ebenso Philoponos ad Arist. an. post. I 12, 1 steckt auch in dem seltsamen ^Emxoyxvloc:,
soph. el. 10 und ähnlich Suidas s. X>fif}goi: \ den Joh. Tzetzes (s. o. S. 73, 5) in die pei-
mid Ps. Herodot vit. Hom. 9. Nach Aelian . sistralische Redaktionskommission versetzt,
y. h. IX 15 erzählte Pindar, daß Homer die I — Analog ist das Bestreben, die orphischen
Kypria seiner Tochter als Mitgift gegeben ' Dichtungen zu einem Cyklus zusammen-
habe (die Stelle Pind. Isth. 3, 55 braucht zufügen, worüber s. E. Rohde, Psyche II*
nicht notwendig auf die Aithiopis oder kleine i 102, 1.
Dias bezogen zu werden). Außerdem legte | *) Ucbrigens schon Isoer. 12, 263 {nÄior
Kallinos nach Paus. IX 9, 5 dem Homer die j ajioXeketfmhoi rojv oun' Fiotr rj rry? 'Ofii^gov
Thebais bei, und bezeugt Herodot II 117 und ' <5fJ^»;s of jirgi rfjv avrifr fxeivti) jrottfotv yeyo-
IV 32 (vgl. V 67), daß einige für die Kypria voreg) angedeutet,
und Epigonoi Homer als Verfasser ausgaben. 1 •) Kallimachos Anth. Pal. XU 43:
Auch Simonides fr. 53 beschränkt den Namen ' f.x^^"J^ "^^ noii]\Aa lo xvxhxov ovdk xelstf^fo
Homer nicht auf Ilias und Odyssee, wogegen | X^"J^'^t ^''*'' '"^oÄkorg möf. xal möf q^eget.
Aischylos' bekannter Ausspruch (s.o. S. 74, 4), Vgl. R. Merkel, Apoll. Argon, prol. p. XXXI f.
daß seine Dramen reftd/jj dFiinoi' 'Oftt/gov , In der Schule des Aristarchos bedeutet xvxXt-
seien, nur im allgemeinen als bescheidener ! xcog , trivial" in den Scliolien zu IL Z 325,
Ausdruck der Dankbarkeit gegen Homer ver- , / 222, Od. ^ 248, »/ 115 (s. W. Bachmann,
standen zu werden braucht. Bei Ps.Demosth. ! Die ästhetischen Anschauungen Aristarchs, II.
60, 29 wird Homers als Dichters der Kyprien Progr. Nürnberg 1904, 81 f.). Direkt an den
und der kleinen Ilias gedacht, und von Anti- | Vers des Kallimachos schließt sich an Pol-
gonosCaryst.Parad.25 wird einVers des Homer I lianos (aus Hadrians Zeit) Anth. Pal. XI 130:
zitiert, der nicht in Ilias und Odyssee steht, i rovg xvxkiovg xovxovg xovg atmtg F^iena
') Philostr. ep. 73: o tojy imhioidn' xv- ' keyovrag
pfAo^; Proklos a.a.O.: Schol.Hephaestion.p. 126, i ^iiaa>, Iwno^vrag (uXotqüov f:tf(ov.
20 CoNSBR. <)Fiyim (nämlich der hcxametri- I Aehnlich sagt Statius silv. II 7, 51: irita
sehen l*oesie) ()f t) 'Ofitjgov non^oig xal "Hoioöog ; vaiibus orbita sequantur. Vgl. Hör. a. p. 1 33.1 36.
xal 6 xvxkog mlg. Der Name Fmxog xvxkog I *) So Procl. chrestom. p. 233, 17 flf. W.
A. Epos. 3. Der epische Eyklos. (§ 48.) 87
logen verwiesen war.^) In diesem Mythenkyklos hatten auch, wie im
epischen Kyklos des Proklos, die Erzählungen des Homer ihre Stelle, wie
denn Athen, p. 481 e aus dem 6. Buch desselben das Eyklopenabenteuer
anführt.*) Aber auch jüngere, von den älteren ionischen Epikern nicht
behandelte Mythen, wie die von den Argonauten, von Herakles, von
Dionysos, hatten in ihm Aufnahme gefunden. Derartige Kykloi gab es
mehrere; der des Dionysios war nur der gelehrteste und umfangreichste.
Ein anderer war der des Lysimachos,^) ein dritter der des Theodoros,
welcher den Bildern der bei Bovillae aufgefundenen, nachher in das
kapitolinische Museum verbrachten Tabula Uiaca zugrunde lag.^) Nichts
anderes als ein solcher xvxXog ist die uns vorliegende sogenannte apollo-
dorische Bibliothek, und einen xvxXog lorogtjuevcov vjikg Kgrjrag trug im
2. Jahrhundert v. Chr. der teische Gesandte Menekles in der kretischen
Stadt Priansos vor.^) Eine Verengerung des Begriflfs xvxkog muß sich aus
dem von Aristoteles besonders^) formulierten ästhetischen Gegensatz zwi-
schen Ilias-Odyssee einerseits und den anderen Epen homerischen Stils
andererseits ergeben haben. Nun verstand man unter xvxkog diejenigen
Epen, die das in Ilias und Odyssee betretene StoflFgebiet zu Ende be-
arbeiteten.')
48. Die Gedichte des epischen Kyklos sind nach der beträchtlichen
Zahl poetisch gefaßter Zitate, die in älteren Scholiensammlungen erhalten
sind, von den alexandrinischen Philologen und wohl noch von Gelehrten
des 2. Jahrhunderts n. Chr.«) in der ursprünglichen dichterischen Gestalt
gelesen worden. Sie nach ihrer technisch-ästhetischen Bedeutung zu wür-
digen fehlen uns die Mittel; aber über ihren Inhalt sind wir noch ziem-
lich gut unterrichtet durch die Exzerpte aus ihnen in der grammatischen
Chrestomathie des Proklos,^) die uns der Patriarch Photios Bibl. cod. 239
erhalten hat. Im Eingang bemerkt dieser: „Am Anfang des sogenannten
») Diodor 11166,6: Aiowalw xw ov^ta- | nr. 66, 9 f.
$afiev€p tag jtcdatag fjivdonouaq ' ovTog yao rd *) Das aristotelische Urteil ist indivi-
re nFQi rov Atowaov xai rag ^AfiaCot'ag, hi i dueller gefaßt bei Procl. ehrest. 241, 30 flf. W.
de rwg ^Agyarat^iag xai rä xara xov 'IXiaxov xov ejitxov xvxkov xa jiott/^axa diaoq)Cexat
jiölefiov Ttga^Oevra xai 7xd?.X* ^xega ovrxexaxxai, xai ojtoiMCsxai xoTg TioXkoTg ovx ovxio dtä
Jta^xtdeig xä JtottjjLiaxa xtov dg^auor xcbv xyv dgsxijv (hg 6id xrfv dxoXox^&iav xdiv
re fAV&oldyoyv xai xah' 7ioti]xdjr. Vgl. Ed.
ScHWABTz, De Dionysio Scytobrachione, Bonn
1880.
») Die ,kyklische Odyssee' (Schol. Od.
jt 195 und g 25) bleibt hier besser aus dem
Spiel. Daß es eine Ausgabe des xvxXog ein-
schließlich der Odyssee gegeben habe (R.
iv avxw :igayiiax(DV.
') So auch Scholion zu Clem. Alex, protr.
II 30 (T. I p. 305 f. Stählin): xvxhxoi dk
xaXovvxat jtoitjxai oi rd xvxkfp xfjg ^Ihdöog rj
xd jxgdjxa tj xd ftfxayn'earega f^ {i^ tilgt Kroll,
e^o) schlägt dafür wohl richtig Schwartz vor)
avxiüv x(7>v Xjfttjgtxwv ovyygdyavxeg.
YoLKMANN, Gesch. und Kritik der Wolfschen i *•) Ob auch von Proklos, ist freilich,
Proleg. 193) . darf aus dem (vielleicht nur trotz der oben A. 6 zitierten Aeußerung des-
eine minderwertige Ausgabe bezeichnenden) selben, fraglich. Quintus von Smyma scheint
Namen xvxkixrj Oövaasia nicht geschlossen sie nicht mehr gehabt zu haben (F. Noack,
werden. Gott. Gel. Anz. 1892, 769 flf.).
*) Lysimachos aus Alexandria lebte unter ^) F. G. Welcker, Ep. Cycl. I 3 flf. unter-
Augustns; s. C. Mülleb, FHG III 334 flf. ; scheidet diesen Grammatiker Proklos von dem
*) Die Tafel trägt die Inschrift w (pike \ Neuplatoniker Proklos und weist ihn dem
:tai ßeod]wgijov fid^e xd^iv 'Ofirjoov, dfpga ; 2. Jahrh. n. Chr. zu. Ebenso W. Schmid, Rhein.
diuig jidoijg fiixgov exv^ acxpiag. Sie gehört Mus. 49 (1894) 133 flf. und Berl. phil. W.schr.
der Zeit um Christi Geburt an. | 27 (1907) 5 f. gegen 0. Immisch. Festschr. f.
^) CH.MiOHBL,Recueild'inscript.Grecques | Th. Gomperz, 1902, 237 flf.
88 Griechische Litteratnrgeschiohte. L KlaswiBche Periode.
epischen Kyklos steht die Verbindung des üranos mit der 6e, aus der die
Dichter die drei Hunderthänder und die drei Kyklopen hervorgehen lassen;
alsdann geht er alles durch, was sonst Fabelhaftes die Hellenen von ihren
Göttern erzählen und was in alter Zeit sich ereignet hat, bis zur Landung
des Odysseus in Ithaka/ Es ging danach in dem epischen Kyklos eine
Göttergesehichte voraus und folgten dann die Epen der Heroensage, zu-
nächst der thebanischen, dann des troischen Sagenkreises. Von den
letzteren sind Inhaltsangaben auch durch Uiasscholien ') auf uns gekommen;
illustriert und bereichert werden diese außerdem durch bildliche Dar-
stellungen insbesondere auf der Tabula Iliaca und Borgiana, sowie durch die
Mythen der Lyriker und Tragiker, denen die Gedichte des epischen Kyklos
eine sehr erwünschte und eifrig ausgenutzte Fundgrube waren. Leider
können wir aber trotzdem kein ganz zuverlässiges Bild vom Inhalt jener
Gedichte gewinnen, da es unserem hauptsächlichsten Gewährsmann Proklos
mehr darum zu tun war, seine Leser in die Mythenwelt der Griechen im
allgemeinen einzufahren, als ihnen ein im einzelnen genaues Exzerpt jener
Gedichte zu liefern. Daher folgte er der gewöhnlichen Form des Mythus auch
da, wo das exzerpierte Gedicht, wie wir aus anderen Quellen wissen, eine be-
deutsame Variante hatte. So läßt er im Exzerpt der Kyprien den Paris
mit der geraubten Helena auf der Heimfahrt nach Sidon kommen, während
wir aus Herodot II 117 erfahren, daß der Dichter der Kyprien im Gegen-
satz zu Homer den Paris von Sparta in drei Tagen bei günstigem Fahr-
wind direkt nach Ilios kommen ließ. Ebenso scheint er in der Erzählung
vom Streit der Dioskuren Kastor und Pollux mit den Apharetiden Lynkeus
und Idas der jüngeren, durch Pindar aufgebrachten Sage, nicht der des
alten Epos gefolgt zu sein.^) Neuere Kritiker nehmen daher, zumal seit
nach Auffindung neuer Stücke eines vollständigeren Textes der apollo-
dorischen Bibliothek in Rom und Jerusalem wörtliche Übereinstimmungen
des Proklosexzerptes mit diesem Kompendium 3) zutage getreten sind, mit
Grund an, daß Proklos die alten Gedichte gar nicht mehr im Original ge-
lesen, sondern sich mit Exzerpten beholfen habe.'^)
Die einzelnen Gedichte des epischen Kyklos, welche die fertige Dias
und Odyssee voraussetzen,*) waren folgende: Tiravojuaxia^^) [Oldmodeia],
M Im Ven. 454 (A); die Inhaltsangabe ; il ciclo epico in Studi ital. di filol. cl. 9 (1901)
der Kyprien fehlt in diesem (s. G. Wissowa, 35 ff. Nach R. hätte Pr. zwar nicht die kykli-
Herm. 19 (1884) 198 ff.) und ist uns in einem , sehen Epen selbst, aber (ebenso wie „Apollo-
Codex des fiskurial erhalten, in den sie zur dor*) einen zuverlässigen Auszug aus ihnen
Zeit, als das fehlende Blatt in A noch vor- | vor sich gehabt, der aus aristotelischer Schule
banden war, gekommen ist. stammen könne.
3) Vgl. Seh. Find. N. 10, 60 und Christs ' *) Einfluß der jüngsten Teile von Dias
Anmerkung zu der Stelle. 1 und Odyssee auf die kyklischen Epen weisen
') Durch den Druck hervorgehoben in ! z. B. nach E. Thrämer, Pergamos 156 und
R. Wagners Apollodorausgabe (Mythographi I F. Blass, Die Interpolationen in der Odyssee
Graeci I, Leipz. 1894, 238 ff.). 283 ff.
*) Nach WiLAMOwiTz und K. Robert, «j Ath. 277 d nennt als Verfasser der
Bild und Lied 222 f., hat besonders E. Bethe,
Herrn. 26 (1891) 593 ff und Theb. Helden-
lieder 33 ff. die Zuverlässigkeit des Proklos
angegriffen. Dagegen R. Waoner, N. Jahrbb. ' 6 K. (vgl. Schol. Apoll. Rhod. I 554).
145 (1892) 241 ff. und E. Romaonoli, Froclo e '
Titanomachie zweifelnd den Eumelos oder
Arktinos. Eine ytyarTofiaxia als homerischen
Gegenstand nennt Philostr. vit. soph. p. 32,
A« Epos. 3. Der epische Eyklos. (§ 49.)
89
Orjßatg, *Enlyovoh Kvngia, \^lhäg\ Al&iojügt 'Ihäg jluxqol, 'IUov negoig, Nooioi,
\^06voaeia\ TrjXeyoveia. Auch diesen Epopöen war so gut wie der Dias
die Ausbildung der Sage durch Einzellieder vorausgegangen, da bereits die
homerischen Epen Achilleus' Fall (X 359), die Fahrt des Paris (Z 290), die
Versammlung der Schiffe in Aulis (B 303), die Heimkehr der Helden von
Troiä (y 130 ff., d 351 ff., A, co passim), die thebanische Sage (J 376 ff.,
405 ff., £802 ff., Z 222 ff., Ä' 285 ff., £'114, !F346, 679) u. a. an Stellen
erwähnen, die den Verdacht nachträglicher Interpolation ausschließen.
49. Die Darstellung der Heroensage beginnt mit dem thebanischen
Kreis. 0
Orjßatg in 7000 Versen,*) auch kyklische Thebais im Gegensatz zu
der Thebais des Antimachos und Antagoras genannt,^) enthielt anhebend
mit dem Auszug aus Argos den Zug der Sieben gegen Theben ; sie berührte
sich also im Inhalt mit dem daneben genannten Epos i^eXaaig 'Ajucpiagdov.^)
Von Pausanias IX 9, 5 wird die Thebais hoch geschätzt und neben Uias und
Odyssee gestellt. Nach demselben Gewährsmann hat der Elegiker Kallinos
das Gedicht als homerisch anerkannt.*^) Suidas und Ps.Herodot im Leben
Homers lassen es von Homer nach seiner Vertreibung aus Smyrna in
Neonteichos bei Kyme gedichtet sein.
*E7tiyovoi, gleichfalls in 7000 Versen, behandelten die Einnahme der
Stadt Theben durch die Nachkommen der beim ersten Zug vor Thebens
Mauern gefallenen Helden. Daß Homer das Epos gedichtet habe, be-
zweifelt bereits Herodot IV 32; der SchoUast zu Aristoph. Pac. 1270 schreibt
es einem Antimachos aus Teos«) zu.
OtdiTtödeia in 6000 Versen enthielt die Geschicke des Königs Oidipus
übereinstimmend mit Od. X 271 — 280, aber in einer wesentlich anderen Dar-
stellung als sie später die Tragödie gab:*^) die 4 Oidipuskinder stammten nicht
von Oidipus' Mutter lokaste bezw. Epikaste, sondern von seiner zweiten Frau
') E. Bethe, Thebanische Heldenlieder,
Leipz. 1891; N. Wboklein, Die kyklische
Thebais. die Oedipodee, die Oedipussage und
der Oedipus des Euripides, Sitz.ber. d. b. Ak.
1901 S. 661—692; L. Legbas. Les legendes
Th^baines dans Töpop^e et la tragedie Grec-
ques, Paris 1905. Gegen Bethes Willkürlich-
keiten 8. bes. P. CoBssEN, Die Antigene des
Sophokles, Berl. 1898, 18 ff.
*) Cert. Hes. : 6 de "0/4rjoog djiotvxMV
Tffg vlxfig jiEQieQx^fAsvog Heye xa Jtottjfiataf
ngtbtov f*kv TTfv Srjßatda, ejitf ,C • • • • ^tia
'Ejiiyarovg, ejitj ,C- Nach der Tab. Borg, scheint
die Zahl 7000 abgerundet zu sein für 6600.
Aus Properz I 7, 3 ergibt sich für den Ver-
fasser nichts ; die Darstellung in der Odyssee
o 244 ff. stimmt nicht mit der der Thebais
flberein.
») Vgl. Ath. 465 e, Asklepiades in Schol.
Pind. 0. 6, 26 Dbaohmann, Schol. Soph. Oed.
Col. 1375.
*) O. Immisch, Jahrbb. f. Phil. Suppl. 17
(1890) 171 f. sucht nachzuweisen, daß die
i^eiaats *Afi<ptaQdov ein eigenes Gedicht neben
der Thebais, nicht bloß ein Gesang derselben,
wie Welcker annahm, gewesen ist.
^) Auch die Angabe des Herodot V 67,
daß der Tyrann Kleisthenes von Sikyon die
Rhapsodenvorträge rdjv 'O/urjgeicov ejiecov hin-
derte, weil in ihnen die Argeier und Argos
gepriesen seien, will G. Gbote, History of
Greece IP 129 auf die Thebais beziehen,
weil in dieser weit mehr als in der Ilias von
Argos die Rede gewesen sei.
•) Dieser *Avxlfiaxog 6 TTJiog ejzojtotog ist
genannt von Plut. Rom. 12 und Clemens
Alex, ström. VI p. 743 P. Ein neues Fragment
der Epigonen B. 9 des A. gewinnt G. Kkaack,
Beri. phil. W.schr. 23 (1903) 284 f. aus einer
Hippokratesvita. Siehe auch u. § 81. Auf-
fällig ist die Angabe des Scholiasten Por-
phyrie zu Horaz a. p. 146: Antimachus fuit
cyclicus poeta. hie adgreasus est materiam,
quam sie extendit, ut viginti quatuor Volu-
mina impUverity antequam Septem duces ad
Thehas duceret,
'') Siehe P. Cobssen a. a. 0.
90 Orieohische Litteratnrgeschichte, I. Klassische Periode.
Euryganeia. Neu war in der Erzählung das päderastische Verhältnis des
Laios zu Chrysippos, dem Sohn des Pelops, und der daraus abgeleitete
Zorn der eheschützenden Göttin Hera.^) Das Gedicht wird auf der Borgia-
schen Tafel dem Lakedairaonier Einaithon zugeschrieben, den Eusebios,
man weiß nicht aus welchem Grund, in Ol. 5 setzt.
50. Es folgt der troische Kreis. Die Kvjioia (sc. ¥,7irj) in 11 Büchern
umfaßten die der Ilias vorausgehenden Ereignisse. Sie begannen unter offen-
barer Anspielung auf das Proömium der Ilias') mit einer Beratung zwischen
Zeus und Themis und dem Entschluss des Zeus, die übervölkerte Erde
durch Erregung des ilischen Krieges zu erleichtern. Sie erzählten dann
das Parisurteil, den Raub der Helena, die Versammlung der Heerführer
in Aulis, den ersten erfolglosen Feldzug nach Teuthrania, dem Reich des
Telephos,^) die Zerstreuung der absegelnden Schiffe durch einen Sturm.
Hiemit endete der erste Teil des Gedichtes. Im folgenden Teil war die
zweite Unternehmung gegen Bios, die Zurücklassung des von einer Schlange
gebissenen Philoktetes auf Lemnos,*) die Landung der Achäer und die ersten
Kämpfe vor Troia geschildert. Mit einem Katalog der Bundesgenossen
der Troer schloß das Gedicht nach der Angabe des Proklos.*) Die Kyprien
setzten also die Bekanntschaft mit der ganzen Ilias einschließlich des
Schiffskataloges^) voraus. Das Werk ward nach Herodot II 117 von einigen
dem Homer beigelegt, aber derselbe Herodot erkannte richtig aus sach-
lichen Gründen die Verschiedenheit der Verfasser der IKas und der Ky-
pria.^) Andere schrieben das Gedicht teils dem Stasinos aus Kypros,
teils dem Hegesias (oder Hegesinos) aus (dem ky prischen?) Salamis oder
Halikarnassos zu. Vielleicht darf aus dem Namen KvjiQia und dem erotischen
Charakter der Mythen geschlossen werden, daß das Gedicht auf Kypros
entstanden ist und dort an dem Fest der ky prischen Göttin zum Vortrag
kam. Kypros hatte seit alter Zeit enge Beziehungen zum achäischen
Kulturkreis. Die Insel ist von Griechen aus dem Peloponnes kolonisiert
worden, bevor noch dort die nordsemitische Schrift übernommen war, und
sie ist in Fühlung mit dem Mutterland geblieben. Das zeigen die Verse
der Dias A 21 f.:
M Den Inhalt des Gedichtes findet E. . logischen Handbuchs, aus dem die Exzerpte
Bethe in dem Exzerpt des Peisandros, Schol. des Proklos geflossen sein sollen, gewesen
Eur. Phoen. 1760. sei, sucht nachzuweisen E. Bethe, Herrn. 26
^) Dabei ward von dem jüngeren Dichter i (1891) fill.
der Halbvers .1/r>s d^FTEÄnfio fiovÄf/ falsch ge- *^) Aus den Kyprien ist vielleicht der
deutet. Dieser Deutung folgt Eurip. Hei. 40; , Anhang zum Schiflfskatalog der Ilias ß 816
Or. 1640 f. bis 876 ausgezogen, wofür auch das Fehlen
') Diese Erzählung leitet Aristarchos aus des Asteropaios in jenem Verzeichnis spricht;
einem Mißverständnis des Verses A 59 rCfv \ s. K. 0. Müller. Gr. Litt. I* 91. Leider lassen
uftfu .Tcuir :imyxi}e%'xag (statt ::ia).tfi:iL) oUo uns über diesen Punkt die Scholien im Stich.
atp (htovoaiijottv ab. | ') Die Kyprien ließen nämlich den Paris
"*) Auffällig ist die Angabe des Aristo- nicht nach Sidon kommen wie Homer Z 291,
nikos zu 11.^722: ön h At)ft%'u> fiterp xaia- ' sondern in drei Tagen nach Troia zurück-
XeAFiuffu'Os 6 4>i}.oxT9ixrjg, ot /ie vfwTfnot tr segeln; vgl. oben § 48. — Bei dem Gram-
vtjntöuo ti)tßw\ Ob hier bei vFunFoot an den ' matiker Glaukos in Schol. Eur. Hec. 41 und
sophokleischen Philoktetes gedacht ist? in vielen sonstigen Zitaten läuft das Oiledicht
^) Daß dieser Katalog nicht ein Teil ' anonym (o t« Kvjigia jioiyoas).
der Kyprien selbst, sondern des mytho- '
A. Epos. 3. der epische Eyklos. (§§ 50—52.) 91
nev'&exo yäo KvjiqovÖe jueya xXiog, ovvex* ^Axo.toi
ig Tqoitjv rqeooiv Avankevaeo^ai ijuekXov,
Uralte Beziehungen zur Troas verrät auch die Ähnlichkeit der ältesten
Töpferware von Hissarlik-Troia mit der von Kypros und die Sage von der
Gründung der Stadt Gergitha in der Troas durch den kyprischen Stamm
der Gerginer (Klearchos bei Athen. 256 b).
51. Die Ai^ionig in 5 Büchern von Arktinos aus Miletos hat von
den Äthiopiern des Memnon seinen Namen. Nach dem Anfangsvers
'ßc oi y &iJi(piejiov rdcpov ^Exrogog, fjX'&e ö' 'AjuaC(ov
schloß sie sich eng an den letzten Gesang der Ilias an. Das Gedicht be-
gann mit den Ruhmestaten der Amazone Penthesileia und ihrer Tötung
durch Achilleus. Dieser, von Thersites wegen der Liebe zu der gefallenen
Amazone beschimpft, tötet den Lästerer und segelt dann nach Lesbos, um
sich von der Blutschuld entsühnen zu lassen. Nun tritt Memnon, der Sohn
der Eos, als Bundesgenosse der Troer in einer von Hephaistos geschmie-
deten Rüstung auf den Schauplatz und tötet bei erneutem Zusammenstoß
der Heere Antilochos, den jugendlichen Freund des Achilleus. Achilleus
erschlägt den Memnon, der durch die Verwendung seiner Mutter Eos un-
sterblich gemacht wird, und treibt die Troer zu Paaren, wird nun aber,
als er schon in die Stadt eindringt, vom Pfeil des Paris getroffen. Seine
Leiche wird unter heißem Kampf von Aias und Odysseus ins Lager zu-
rückgebracht. Den Schluß des Ganzen bildete die Bestattung des Achilleus
mit den der Ilias nachgebildeten Leichenspielen, der Streit des Aias und
Odysseus um die Waffen des Helden und der Selbstmord des Aias. Als
Verfasser des an spannenden Motiven, aber auch an Nachbildungen von
Motiven der Dias reichen Epos galt unbestritten Arktinos, Sohn des Teles,
aus Miletos, der von Eusebios in die erste, von Suidas in die neunte Olym-
piade gesetzt wird,») was wohl zu früh ist. Durch den hochpoetischen
Stoff fühlte sich Goethe angezogen, um als letzter der Homeriden das un-
vollendete Epos Achilleis zu dichten.
62. 'Tklov Jiigoig in 2 Büchern von demselben Arktinos,^) steht in
den Auszügen des epischen Kyklos wegen der zeitlichen Folge erst hinter der
Kleinen Ilias. Das Gedicht begann mit den Vorbereitungen zur Eroberung
*) Die zweite Angabe des Eusebios, die | nicht bis nach Kolchis gekommen. Die An-
ihn in die 4. Ol. setzt, scheint aus der Ver- klänge der Aithiopis an die Odyssee, auch
wecfasliing von A und A herzurühren. Bei | deren spätere Partien, sind ohne Zweifel auf
Suidas *A^?crTvog y«7ova>ff xara trjv i>' 6k. fterä i Abhängigkeit von der Odyssee zu deuten
TeTQoxoaia hrj x<bv Tqoaxwv ist wahrschein- | (F. Blass, Die Interpol, der Od. 284 f., der
lieh ie(faagd?eovra hinter xexQaxoaia ausgefal- den Arktinos ca. 650 setzen will). Beachtens-
len. Weiter herab würde uns der von Phanias wert ist das erstmalige Vorkommen der Mord-
bei Clemens Alex. Strom. Ip. 398 P. überlieferte sühne in der Aithiopis (£. Rohde, Psyche
Wettstreit des Arktinos mit Lesches führen, P 271, 3j. Pindar Pyth. 6, 28 flf. geht auf
wenn ihm Glauben beizumessen wäre. Von die Aith. zurück. Auf dem Kypseloskasten
Wichtigkeit für die Chronologie und das
hohe Alter des Arktinos ist der Umstand,
daß er den Achilleus zwar nach der Insel
Lenke im Schwarzen Meer entrückt werden,
aber die Amazonen aus Thrake, noch nicht
aus Pontes kommen läßt. Die Milesier hatten
also damals wohl schon ihre Seefahrten nach ; Störung Ilions enthielt; vgl. S. 92 Anm. 5
dem Pontes ausgedehnt, waren aber noch |
fanden sich nach Paus. III 18 bereits Szenen
aus der Aithiopis (Achilleus und Memnon)
und den Kyprien (Parisurteil).
2) Pausanias X 25, 5 nennt als Verfasser
der 'lUov :zegoig den Lesches, vielleicht weil
auch die kleine Ilias des Lesches eine Zer-
92 Oriechiflche Litteratnrgeschichte. I. SlassiBche Periode.
Troias, der List von dem hölzernen Pferd mit den aus Yergil bekannten
Geschichten von Laokoon und Sinon. Es folgte das düstere Gemälde von
der Einnahme der Stadt mit all ihren Greueln und am Schluß stand die
drohende Gestalt der zürnenden Göttin Athene J) Ob den von Proklos ex-
zerpierten zwei Büchern noch ein anderes Buch, wenn nicht mehrere
Bücher, vorausgingen, worin die Zimmerung des hölzernen Pferdes,*) der
verstellte Abzug der Achäer, die Abholung des Neoptolemos und die Ent-
wendung des Palladiums geschildert war, ist fraglich. ») K., Robert (Phil.
Unt. V 223) nimmt geradezu an, daß die Iliupersis mit der Aithiopis ur-
sprünglich ein einziges zusammenhängendes Epos gebildet habe.^)
53. '/Aidg juixQd in 4 Büchern war die stofiFreichste der troischen
Dichtungen. Nach dem Auszug des Proklos begann sie mit dem Streit um
die Waffen des Achilleus und endete mit der Aümahme des hölzernen Pferdes
in die Stadt. In der Tat aber war sie umfangreicher und enthielt nicht
bloß noch die Einnahme der Stadt,*) die Proklos lieber nach Arktinos er-
zählte, sondern holte auch im Anfang etwas weiter aus, wie uns schon
der erhaltene Eingang lehrt:
^Ihov äeldcD xai Aagdavlfjv ivmoXov,
fjg Jiigi TiokXä nd^ov Aavaol 'äegoTiovreg 'Agrjog.
Auf den Streit des Aias und Odysseus um die Waffen des Achilleus und
den Selbstmord des Aias folgte die Herbeiholung neuer Streitkräfte von
Seiten der Achäer und Troer, der Tod des Paris durch den Pfeil des Phi-
loktetes und der Fall des Eurypylos durch Neoptolemos, den Führer im
neuen Kriege, dann das Weitere bis zur Verteilung der Siegesbeute nach
dem Fall Troias wie in der Uegoig. Als Verfasser des Epos wurde so ziem-
lich allgemein Losch es (Pausanias schreibt Aeaxecog)^^) der Sohn des
Aischylinos aus Pyrrha in Lesbos, angegeben,^) den zu einem bloßen Re-
*) Wir folgen der von K. Lehrs vor- j allen Einzelheiten. So ließ nach Paus. X 27, 2
geschlagenen Umstellung der Schlußsätze I Arktinos den Priamos von Neoptolemos anf
des Exzerptes. i dem Altar des Zeus ermordet werden (so auch
^) Daß dessen Erbauer Epeios in der | Pindar in den neugefundenen Paianen Oxyrh.
Woaig oder YAiots /i«x(>a vorkam, ist sicher
(WiLAMowiTz. Jahrb. des arch. Inst. 14 (1899)
54 f.).
') Die Entwendung des Palladiums fand
vielleicht noch in einem vollständigeren Exem
pap. V), während Lesches solchen Frevel von
dem griechischen Helden fem hielt
«) Diese Form ist (trotz 0. Ixmisoh^
Rhein. Mus. 48 (1893) 290 ff. und obwohl nach
Inscr. Gr. insul. maris Aeg. nr. 709 jetzt das
plar Dionys. Hai. Ant. 1 69, 2. ' Zeugnis der altrhodischen Inschrift fttr die
*) Auf beide Gedichte zusammen geht
die Angabe der Tab. Borg., daß das Gedicht
des Arktinos 9500 Verse gehabt habe; auch
diese Zahl weist auf mehr als 7 (5 -f 2)
Namensform Aia^ns wegfällt) ein aus dem alt-
ionischen Genitiv Aeaxfw unrichtig erschlos-
sener Nominativ, dessen ünzulässigkeit schon
alten Grammatikern auffiel (Schol. Paosan. X
Bücher. Abhängigkeit der lleQaig von Od. i 25,6ed.SpiRO.Herm.29,1894,149). J.Waokkr-
(^ 500 ff. nimmt F. Blass, Die Interpol, der naoel, Beiträge zur Lehre vom griech. Accent,
Od. 287 f. an. , Basel 1894, 31. 1; W. Schmid, Rhein. Mus. 48
'') Aristot. po6t. 23 las in seiner kleinen I (1893) 626 ff.
Ilias noch die Zerstörung der Stadt, woraus ! ') Nach Ps.Herodot vit. Hom. 16 hätte
er die Erzählung von den gefangenen Tro- I Homer die kleine Ilias in Phokaia gedichtet
erinnen anführt. Das Gleiche gilt von Pau-
sanias, wenn er X 25 den Polygnotos in seinem
Gemälde der Zerstörung Troias dem Lesches
folgen läßt. Die Dai-stellung in der Ifegaig
und der 'Ihä^ fuxgd deckte sich nicht in
und dem Schulmeister Thestorides, der
ihm gastliche Aufnahme gewährte, zum Ab-
schreiben überlassen. Das Scholion zu Eur.
Troad. 822 nennt neben diesem Thestorides
den Lakedaimonier Kinaithon oder den Ery-
A. Epos. 3. Der epische Eyklos. (§§ 58—55.) 93
Präsentanten der Erzählung in der Halle (ieoxrj) zu verflüchtigen der
myihenbildenden Scheinkritik unserer Zeit vorbehalten war. ^ Nach Euse-
bios lebte derselbe in der 30. Olympiade; der Peripatetiker Phanias bei
Clemens Alex, ström. I p. 398 P setzt ihn vor Terpandros, den er jünger
als Archilochos macht, läßt ihn aber zugleich einen Wettkampf mit dem
Dichter Arktinos bestehen.*)
54. Nöaroi in 5 Büchern, von Hagias aus Troizen,^) schlössen sich
an den Ausgang der Iliupersis des Arktinos oder an den durch den Frevel
der Sieger hervorgerufenen Zorn der Göttin Athene an.^) Sie enthielten
die Geschicke des heimkehrenden Heeres der Achäer: des Kalchas, Leon-
teus und Polypoites, die über Kolophon längs der kleinasiatischen Küste
zogen, der Hauptmacht der Achäer, die den Seeweg einschlug, aber
an den kaphereischen Felsen Euboias Schiffbruch litt, des Neoptolemos, der
zu Land quer durch Thrake und Makedonien in das Gebiet der Molosser
gelangte. Um die Teile des Gedichtes nicht ganz auseinanderfallen zu
lassen, kehrte der Verfasser im letzten Buch wieder zu Agamemnon und
Menelaos zurück und erzählte die Rache, die Orestes an den Mördern
seines Vaters nahm,*») und die gleichzeitige Rückkehr des Menelaos. 0) Das
Gedicht sollte somit die Odyssee ergänzen; sein Verfasser hat auch aus-
drücklich auf sie und den Aufenthalt des Odysseus bei dem Priester Maron
im Land der Kikonen (Od. i 197) Bezug genommen, aber gewiß nicht eine
Ilias post Homerum geschrieben und nicht die Heimkehr des Odysseus von
neuem erzählt. "') Die in diesen Kreis gehörigen Sagen wurden schon in
der Odyssee, selbst gestreift (y 130 ff., d 351 ff., o 117 ff.). Vermutlich«)
war das Gedicht eine Fundstätte für Kolonisationssagen.
65. TrjXeyoveia in 2 Büchern, von Eugamon (v. 1. Eugammon)^) aus
Kyrene (nach Eusebios Ol. 53), war das jüngste der kyklischen Gedichte,
das die letzten Geschicke des Odysseus und seines Hauses erzählte; den
thraier Diodoros als mutmaßliche Verfasser
and statit sich, was beachtenswert, für Kinai-
thon anf das Zeugnis des Hellanikos; s. E.
Buches zu dem von Ath. 281b und 395 d er-
wähnten Epos ^AigeiScov xd&odog ^ worüber
WiLAMowiTZ, Hom. Unt. 157.
RoBBBT, Phil. Unt. V 3*26 f., der die These ] *) A. Olivibri, II mito di Oreste nel
ao&iellt daß der Kyklograph Lysimachos j poema di Agia, Riv. difil. 25 (1897) 570 flf.
den Lesches als Verfasser nicht anerkannt | ®) Die Nostoi enthielten auch eine Ne-
habe. ! kyia, die Polygnotos in seinem Gemälde der
*) Die Deutung aufgestellt von Welckeb,
Ep. Cycl. I 254, und von andern nachgeredet.
Bei Flut. conv. sept. sap. p. 154 a wird auch
das Certamen Hesiodi et Homeri dem Lesches
zugeschrieben; aber dies ist ein offenbarer
Irrinm, wahrscheinlich aus einer interpolie-
renden Randbemerkung hervorgegangen (s.
F. NiBTZscHB, Rh. M. 25, 1870, 535 f.).
Unterwelt berücksichtigte (Paus. X 28, 7) und
deren Umrisse F. Dümmleb, Kl. Sehr. II 382 ff.
wieder herzustellen sucht. Siehe a. K. Robert,
Die Iliupersis des Polygnot, Hallisches Win ckel-
mannsprogramm 1892.
') Das Umgekehrte behauptet A. Kibch-
HOFF im Exkurs seines Buches über die
Odyssee; ihm tritt Wilamowitz, Hom. Unt.
*) Siehe o. 8. 91, 1. j 174 ff. bei, der die Nostoi als ein Konglomerat
') Eustathios zu Od. jt 118 nennt ihn | von Versen der verschiedensten Dichter und
Kolophonier, was vielleicht davon herkommt, ; Zeiten ansieht.
daß in dem Gedichte Kolophon und sein 1 **) R. Wagner, Der Entwicklungsgang
Orakel eine große Rolle spielte. In den der griechischen Heldensage, Dresden 1896,
SchoL Pind. 0. 13, 13 ist ein Noatog xwv \ XVII.
*Elkf\vmv des Eumolpos (korrigiere : Eumelos)
erwälmt.
^) Unklar ist das Verhältnis des letzten
») 0. Crüsiüs, Philol. 54 (1895) 733 läßt
den Namen EvydjiKov erdichtet sein nach den
Hochzeiten, mit denen das Gedicht schloß.
94 Oriechische Litteratnrgeschichte. I. SlassiBche Periode.
Namen hatte es von dem tragischen Zusammenstoß des Odysseus mit
seinem von Kirke geborenen Sohn Telegonos, der den Vater mit einem
Bochenstachel (äxav&a) erschlägt, ohne ihn zu erkennen.^) Das Oanze
schloß romanhaft mit der Heirat des Telegonos und der Penelope einer-
seits und des Telemachos und der Kirke andrerseits. Im ersten Teil be-
nützte der Erzähler vornehmlich die heimischen Sagen des Thesproter-
landes, die er nach Clemens Alex, ström. VI p. 751 P. aus dem jiegl Seo-
jTQcoTöJv ßißXlov des Musaios schöpfte.^) Sophokles hat der Telegonie den
Stoflf zu seinem ^Odvaoevg äxav&oTih)^ entnommen.
56. Außerhalb des Kyklos stehen einige ältere epische Bearbeitungen
der Herakles- und der argolischen Sage:
OlxaXiag äXcooig. Das Gedicht behandelte die Einnahme von Oichalia
durch Herakles und stand mit dem troischen Sagenkreis insofern in Ver-
bindung, als Odysseus seinen Bogen von Iphitos, dem Sohn des Königs
Eurytos von Oichalia, erhalten hatte (Od. (f 37).») Nach einem Epigranun
des Kallimachos*) galt es als Werk des Homeriden Kreophylos aus
Samos. Da eine andere Überlieferung es dem Homer zuschrieb, so haben
ausgleichende Litterarhistoriker beide Angaben in der Art vereinigt, daß
sie den Homer das Gedicht dem Kreophylos als Lohn für die gastliche
Aufnahme schenken ließen.
0o)xatg hatte nach Ps.Herodot im Leben Homers den Namen davon,
daß Homer das Epos in Phokaia gedichtet hatte. Nach Welckers Kom-
bination (Ep. Cycl. 1 237) war es identisch mit der Miwdg, die nach
Pausanias IV 33, 7 den Phokaier Prodikos zum Verfasser hatte. Diese
Minyas behandelte den Fall des miny sehen Orchomenos durch Herakles;
in ihr kam auch eine Unterweltsszene mit Büßertypen vor, aus der Poly-
gnotos die Figur des Fährmanns Charon entnahm (Paus. X 28, 2),
Javatg, in 6500 Versen nach der Borgiaschon Tafel, handelte von
den Geschicken der Danaostöchter.^)
57. Über den inneren Wert und den Kunstcharakter der kyklischen
Epen läßt sich bei der Spärlichkeit der Fragmente nicht sicher urteilen.
Einige von ihnen scheinen an Anschaulichkeit der Schilderung und Lebendig-
keit der Charakteristik den homerischen Gedichten nicht viel nachgestanden
zu sein; doch überwog im allgemeinen in ihnen die stoflfliche Fülle, der
*) Damit stellte der Dichter den Od. •) Beziehungen der Tragödie anf diese
A 134 prophezeiten Oavarog f$ dlog (was Sagenepisode sammelt A.Fahlnbbro, De Hei>
manche = f^co nko^ deuten, also dem Ver- j cnletragico,Leipz.l892,p.9;auchBakchylide8
fasser der Telegonie ein Mißverständnis schuld | carm. XV Blass schöpft aus dieser Quelle.
geben) dar. Uralt und international, bez. Vasendarstellungen s. A. BiENKOWsKi^Jahres-
vielleicht indogermanisch, ist das Motiv vom | hefte des österr. archäol. Inst. III 66.
Kampf zwischen Vater und Sohn, das aus *) Strabon 638, Hesychios Milesios bei
der persischen (Rostem und Suhrab) und i Suidas u. Äofmr/i/os, Schol.Plat. reip.p.600b.
deutschen (Hildebrand und Hadubrand) Helden- I Dem Kallimachos (ep. 6 Wil.) ist es ein ,ky-
sago illustriert wird von L. ühland, Schriften kli8ches'*,minderwertigesCTedicht(K.DiLTHBY,
zur Gesch. der Dichtung und Sage I 164 ff. \ De Callim. Cydippa. Lips. 1863, 8 f.).
Siehe a. M. A. Potteb, Sohrab and Rustem. . *) Vielleicht hat auf dieses Epos Bezug
The epic Theme on a Combat between Father | der von Apollodoros II 1, 3, 3 angeführte Ker-
and Son. London 1902. ! kops. Nach N. Wecklein, Sitz.b^. d. bayr. Ak.
2) Vgl. WiLAMOwrrz. Hom. Unters. 188. 1893. 373 ff. schöpft aus der Danais Aischyloe
H. DiELS, Vorsokr.* 497 n. 6. ^ in den Hiketiden.
A. Epos. 3. Der epische Eyklos. (§§ 56—57.) 95
gegenüber die künstlerische Anordnung und die aus der Konzentration der
Handlung entspringende Spannung zurücktraten.*) In der Vorliebe für
erotische und romantische Motive erkennt man den Geist eines neuen, von
dem Ethos der Ilias und Odyssee sich mehr entfremdenden, novellistisch
und lyrisch gestimmten Zeitalters. Auch in den religiösen Vorstellungen
macht sich der wachsende Einfluß des Orakelwesens und der Priesterlehren
geltend. Von den Namen und den Persönlichkeiten der Verfasser der ein-
zelnen Epen hatte man offenbar schon zur Zeit der Perserkriege keine
genaue Kenntnis mehr.^) Doch kann man immerhin aus den spärlichen
Fragmenten und den dürftigen Nachrichten über die Dichter des Kyklos
entnehmen, daß zur Zeit der Kykliker im 7. Jahrhundert der epische Ge-
sang sich über die Gegend von Smyrna und Chios hinaus nicht bloß nach
den übrigen Städten des ionischen und äolischen Kleinasiens, wie Kolophon,
Miletos, Lesbos, sondern auch weiter bis nach Kypros, Argos, Troizen, Lake-
daimon, Kyrene^) verbreitet, und daß die homerische Sängerschule zeitig
über den troischen Kreis hinaus auf die thebanischen, argolischen und
Herakles-StoflFe übergegriffen hat. Aber das Interesse für epische Dichtung
nahm im 7. Jahrhundert bei dem raschen Aufblühen der iambischen und
lyrischen Poesie immer mehr ab, so daß kein Gedicht des Kyklos gleich
der Ilias und Odyssee eine nationale Bedeutung erlangte. Gleichwohl
wurden von den Künstlern und den späteren Dichtem die kyklischen Ge-
dichte wegen ihres stofflichen Reichtums viel mehr als selbst die Ilias und
Odyssee benutzt, und in diesem Sinn bemerkt schon Aristoteles Poöt. 23,
daß die Hias nur zu einer oder zwei, die kleine Ilias aber allein zu acht
Tragödien den Stoff hergegeben habe.
Die Fragmente sammelt G. Kinkel, Epicor. Graecor. fragm., vol. I. Lip8.1877. C.W. Müller,
De cyclo Graecornm epico, Lips. 1829. — F. G. Welcker, Der epische Cyclus, Altes Rhein.
Museum Supplementbände 1 u. 2, Bonn 1835. 1849 (1. Teil« 1865), Hauptwerk. — 0. Jahn,
Griechische bilderchroniken, nach des Verf. Tod herausgegeben von A. Michaelis, Bonn
1873. — U. V. WiLAMOwiTz, Der epische Cyclus, in Hom. ünt. 7, 328—380. — K. Robert,
Bild und Lied, in Phil. Unt. 5. — 0. Luckenbach, Das Verhältnis der griechischen Vasen-
bilder zu den Gedichten des epischen Kyklos, in Jahrbb. f. Phil. Suppl. 11 (1880) 491—637, wo
namentlich das freie Schalten der Künstler mit den Ueberlicferungen der Dichter hervor-
gehoben wird. Seit Welcker und Jahn sind neu hinzugekommen Homerische Becher, heraus-
gegeben von K. Robert, Winckelmannsprogramm Halle 1891. und die Reliefdarstellungen
des Heroons von Gjölbaschi in Lykien (jetzt in Wien) aus dem 5. Jahrh. v. Chr., die einen
ganzen Cyklus von Darstellungen des thebanischen und troischen Krieges und überdies von
Perseus- und Theseustaten enthielten; s. 0. Benndorp und G. Nibmann, Das Heroon von
Gjölbaschi-Trysa, Wien 1889.
*) Siehe o. S. 86. ' Robert, HalleschesWinckelmannsprogr. 1891;
^ Die Namen kamen bei Logographen | F. Winter, Jahrb. des arch. Inst. 13, 1898, 80).
Aristoteles und die alexandrinischen Philo-
logen verschmähen sie, und auch späterhin
begegnen noch häufig unbestimmte Bezeich-
wie Hellanikos (W. Schmid, Rh. M. 48, 1893,
626 f.). dem Horographen Artemon von Klazo-
menai (Ael. bist. an. XII 28 ; Welcker, Ep. Cy kl.
1211 versteht unrichtig den Mechaniker Art.) ' nungen der Verfasser (o xä Kvjrgia jzott/oag u. ä.;
vor, ungewiß, in welcher Verbindung mit den s. Welcker, Ep. Cykl. II 433). Erst seit
einzelnen Epen. Daß die Namen wirklich AugiLstusetwa(Dionys. Hai., Bilderchroniken,
alte Epiker und deren Geburtsorte bezeichnen, Pausanias, Athenaios) werden die Zitate mit
braucht nicht bezweifelt zu werden. Die peri- 1 bestimmten Verfassemamen zuversichtlicher,
patetischen Litterarhistoriker des 4. Jahrhun- | Siehe Wilamowitz, Homer. Unters. 329 flf.
derts (Phanias fr. 18 in C. Müllers FHG. H ; «) Zu beachten, daß nach Pindar P. 5, 88
299) flbemehmen sie ; dann begegnen sie auf ; die Antenoridon nach Kyrene kamen (Fr. Stud-
Tonbechem der frühptolemäischen Zeit (K. niczka, Kyrene, Leipz. 1890, 129 ff.).
96 Oriechiflche Litteratnrgeschichte. L Elaaaische Periode.
4. Die homerischen Hymnen und Scherze.
58. Hymnen.') Unter Homers Namen ist außer Dias und Odyssee
eine Sammlung*) von Hymnen und scherzhaften Kleinigkeiten (naiyvia) auf
uns gekommen. Homerische Hymnen sind es 34, darunter 5 größere.
Mit ihrem eigentlichen, noch von Thukydides EI 104 und Pindar Nem. 2, 2
gebrauchten Namen hießen sie nQoolfua^ so genannt, weil sie bestimmt
waren, dem Vortrage homerischer Heldengesänge {plfiai Od. ^ 481, x 347)
bei Götterfesten voranzugehen. ») Demnach schließt der 31. Hymnus auf
Helios mit ix aeo ö'äQ^d/ievog xXfjoco /iuqöjkov yivog ävöowv^ und mehrere
andere mit avrcLQ iyio xai oeTo xal äXXrjg juvrjaoibi' äoid^g,*') Die Rhapsoden
traten nämlich, sei es in förmlichem äya)v^^) sei es in frei epideiktischer
Weise^) in den Versammlungen (jiavr^yvgeig) auf, die sich bei Götterfesten
zusammenfanden, und pflegten dabei der Festgottheit durch solche der
Rezitation vorangeschickten „Hymnen", die mit Kulthymnen nicht das Ge-
ringste zu tun haben, die Reverenz zu erweisen.') So waren die Hymnen
auf ApoUon bestimmt in Delos und Delphoi, der auf Demeter an den Pan-
athenaien in Athen, der 9. bei dem Artemistempel in Klares bei Kolophon,
der 6. und 10. beim Aphroditefest im kyprischen Salamis, der 17. und 33.
an dem Fest der Dioskuren in Lakedaimon oder Sizilien vorgetragen zu
werden.«) Wie auf solche Weise die Hymnen an sehr verschiedenen Orten,
wohin nur immer Homeriden den homerischen Gesang trugen, gesungen
wurden, so sind sie auch in sehr verschiedenen Zeiten entstanden. Wäh-
rend die älteren bis in das 7. Jahrhundert hinaufreichen und an die alten
') Das Wort leitet schon Proklos Chrest. 1 Ansicht, daß den Göttern Hymnen lieber
p. 244, 3 W. richtig von rdco (tfdea)) ab; es 1 seien als Opfer, s. Schol. AB zu IL A 474.
scheint äolischen Urspiungs (aus v6-fto<: > I Kallimachos hat die Form des rhapsodischen
ri'-/ioc)zusein(W.ScHMiD,Rh.M.61.1906,480; ' Hymnus wieder erneuert,
dagegen H. Ehrlich ebenda 62, 1907, 321 f.). i '') Auf kitharodische, nicht rhapsodische
Mit einem vf^ra; (auf den verstorbenen Amphi- | Vorträge bezieht sich, mag aber gleichwohl
damas von Chalkis) siegte schon Hesiod j als Analogie angeführt werden, Plut. de
(op. 657). Den Namen vil4voi gibt den home- | mus. 6: rä yäg :ig6g tovq ^ewg dq>oai(oad-
rischcn Proömien Ps.Herodot. vit. Hom. 9. fuvoi i^eßaivoy etfdvi ixl zrfv 'Oftt'igov xai rtbv
*) Eine Sammlung homerischer vfo'ot, 1 äXlwv noitjaiv bijkcv Si tovxo iau öiä t6)v
die sich aber nicht mit der uns handschrift- | Tcgnavögov jt^ooifiuar. Vgl. Find. 0. 3, wo
lieh erhaltenen deckt, setzt Diod.Ul 66 voraus. , von der kurzen Erwllmung der Tyndariden,
^) Außer den daktylischen Proömien gab denen das Fest galt, mm Preis des Siegers
es auch lyrische und kitharodische. Vgl. i übergegangen ist. Über das Auftreten der
Aristot. rhet. p. 1415a 10; Rhet. anon. bei Rhapsoden bei Dionysosfesten älterer Zeit
Spengel I 427, 7 jrgooifua ^Xryov oi jialatoi | Clcarch. Sol. fr. 62 M. F^ektJie 6e avzrj (näm-
To ra)r xi&agwdiüv. Vgl. Pind. P. 1,4, O. 6, lieh das Phagesienfest) xa^oLieg i} rcor ^-
88, Plut. conv. sept. sap. 161 d, Suidas s. | wwöibv, f^v t}yov xata lyv tibv Aiowaiiov iv
TifJoÜFOs- fi jragim'TFg exaorot r<p ^etf) olov ufitfv ottc-
*) Diese Schlußformel ist ähnlich der I tekovv ttjv tjayHoöiav.
allgemeinen Dedikationsformel, mit der man ^) Nach Pind. N. 2 in. o&evjrEg xai
den Göttern eine Gabe reicht; vgl. 11. Ä' 462 f.; | 'Oftrjgiöai {xxjnwv Lifmv xa noXX^ dotdoi
G. Kaibbl, Inscr. Sic. et It. 652: Theoer. id. i äg^oiiai Ai<*? ex jTgootftiov fingen die Rhap-
I 145. soden in der Regel mit dem Preis des Zeus
^) An einen solchen scheint Hymn. 6, 19 i an. wie auch Arat pham. noch tut. Da uns
gedacht zu sein. I aber in unserer Sammlung nur ein einziger
®) über das Verhältnis der daktylischen (nr. 23) und dazu recht kurzer Hymnus auf
rezitierten , Hymnen** zu den gesungenen i Zeus erhalten ist, so spricht hier Pindar
melischen Götterhymnen s. 0. Gruppe, Griech. j wahrscheinlich unter dem Einfluß des nemei-
Culte u. Mythen I 518 ff. Ueber die stoische | sehen Zeusfestes verallgemeinernd.
A. Epos, 4. Die homerischen Hymnen nnd Scherze. (§§ 58—59.) 97
Götter ApoUon, Zeus, Hermes, Aphrodite gerichtet sind, wenden sich andere
an Halbgötter wie Herakles (15.), Asklepios (16.), die Dioskuren (17. und 33.)
und stammen aus viel jüngerer Zeit. Der 19. auf Pan und der 34. auf
Dionysos (aus Diod. HI 66) sind erst in alexandrinischer Zeit entstanden,*)
andere, wie insbesondere der auf Ares (8.), der ein richtiger v/nvog xkTjnxog
aus lauter Beinamen {imxXrjoeig) ist, und der auf Herakles (15.), weisen
in den Kreis der jüngeren Orphiker.*) Von religiöser Erhebung ist, zumal
in den längeren Hymnen, nicht sowohl die Rede als von Unterhaltung durch
Mythen und Novellen. Besonders gilt das von den beiden volkskundlich
höchst interessanten Stücken nr. 3 und 5, deren Ton zum Teil an die
Götternovelle des Demodokos im d der Odyssee gemahnt.
59. Der älteste und schönste der Hymnen ist der auf den delischen
Apollon, der ehedem in den Handschriften und Ausgaben mit dem auf den
pythischen Apollon zu einem Hymnus vereint war. 8) Aber beide Hymnen
sind für verschiedene Kultstätten bestimmt und tragen ganz verschiedenen
Charakter. Der zweite stammt aus der hesiodischen Schule,*) der Dichter
des ersten bezeichnet sich selbst (V. 172) als blinden Sänger von Chios,
der Heimstätte des homerischen Gesangs. Den verschiedenen Kultorten
entspricht auch der verschiedene Inhalt der beiden Hymnen: der delische
erzählt die Niederkunft der umherirrenden Leto und die Geburt des
Zwillingspaares Apollon und Artemis auf der Insel Delos;^) der pythische
handelt von der Gründung des Heiligtums in Delphoi durch Apollon nach
Erlegung des Drachen und von der Einsetzung der kretischen Fremdlinge
als Tempeldiener des pythischen Gottes. «) Den Homer nahmen ohne
Bedenken Thukydides (III 104) und Aristophanes (Vögel 575) als Dichter
des älteren delischen Hymnus an. Dagegen wurde nach dem Scholion
zu Pindar Nem. 2, 1 bereits von einigen Alexandrinern der Homeride
Kynaithos, der die homerische Poesie in Syrakus eingeführt hatte, als
Verfasser ausgegeben.^) Diese Meinung gründete sich offenbar auf die
Verse 14 — 18, in denen der Artemis in Ortygia gedacht ist; aber diese
sind unecht, wie G. Hermann erkannt hat, und der Rhapsode Kynai-
thos kann daher nur als Interpolator, nicht als Verfasser des Hymnus
') So 6. Eaibel nach F. v. Jak, De Calli- j B 522. Anzeichen des hesiodischen Stils, der
macho Homeri interprete, Straßb. 1893, 12 A. 1 europäischen Heimat des Dichters und der
') A. Baumeisteb in der Ausgabe schreibt . Nachahmung des älteren delischen Hymnus
geradezu den Vers 15, 8, der nach dem un- i weist nach A. Baumeister in Ausg. 115 f. (s. a.
echten Vers der Od. k 604 gedichtet ist, dem ' 0. Crüsixjs, Philol. 54, 1895, 718; E. Rohde,
Onomakritos zu. Siehe auch Wilamowitz, Psyche H' 119, 2). Benützung der Boicoua
Homer. Unters. 226. erweist B. Niese, Der homer. Schiffskat. 58.
■) Die Scheidung wurde vorgenommen ' *) Über das delische Apollonfest A.
vonD. RüHNKENin Ep. crit., Leiden 1749; Ath. Mommsen, Philol. 66 (1907) 433 ff.
22h er Toig eig *Ajt6XA(ova v/avoig hatte noch I •) Abweichende Gründungslegende in
in seinem Exemplar zwei Hymnen. Vgl. K. | Aesch Eum. (s. 0. Crüsiüs, Philol. 53, 1894,
LsHBS, Pop. Aufs.* 423 ff.; 0. Crusius, Philol. Ergänzungsheft 13 ff ).
54(1895)718; A.EiBOHHOFF,Berl.Akad. Sitz.- ^) Für die SteUung des Aristarchos zu
her., 1893, 906 ff. — Die Nomosform sucht der Frage ist beachtenswert, worauf A. Rö-
im 1. Hymnus nachzuweisen 0. Gbusiüs, mer aufmerksam machte, daß in den Scho-
Verh. der 39. Philol.vers. 1887, 266 ff. . lien kein einziger Vers der sogenannten
*) Auch das Haften des Digamma weist homerischen Hymnen als homerisch an>
auf nichtionischen Ursprung. Als hesiodisch geführt ist.
wird der Hymnus atiert Schol. A Hom. |
Handbuch der klass. AltertmniwiMeDsefaaft. vn. 5. Aufl. 7
98 Oriechische Litteratargeschichte. I. KUssische Periode.
gelten.') Auf die Abfassungszeit des pythischen Hymnus, der offenbar
dem delischen nachgebildet ist, scheinen die Schlußverse 362 — 365,
die eine Veränderung in der Stellung der alten aus Kreta stammenden
Tempelpriester prophezeien, eine Vermutung zu gestatten. Diese Verse be-
ziehen sich nämlich auf den dominierenden Einfluß, den damals der Bund
der Amphiktyonen auf die Satzungen des delphischen ApoUonfestes ge-
wonnen hatte, und weisen demnach auf die Zeit unmittelbar vor Gründung
der Pythien durch die Amphiktyonen hin (582). — Umfangreich und alt
ist auch der Hymnus auf Hermes, in dem die Geburt und die ergötzlichen
Schelmereien des Gottes, die Verfertigung der Schildkrotleier und der
Diebstahl der Rinder ApoUons, anmutig in der Art der ionischen Sänger
erzählt sind; in dem jüngeren Schluß 507 — 580 einigen sich dann die
Brüder Hermes und Apollon über die Verteilung ihrer Rechte. Dem Homer
wird dieser Hymnus von Antigenes von Karystos, Paradox. 7, beigelegt.
Alkaios in seinem Hermeshymnus setzt ihn jedenfalls voraus.*) — Der
Dichter des großen Hymnus auf Aphrodite hing ganz von Homer ab, aus
dem er eine Menge von Versen, Halbversen und Wendungen genommen
hat,^) verstand es aber im übrigen gut, das Liebesabenteuer der Göttin
mit Anchises recht anmutig und mit lebhaftem Lokalkolorit zu erzählen.*)
Daneben steht an 6. Stelle ein kleiner Hymnus auf Aphrodite, der die
Geburt der Göttin aus dem Meerschaum und ihre Einführung in den Olymp
schildert. — Der lange Hymnus auf Demeter wurde erst im Jahr 1780
aus einer Moskauer Handschrift ans Licht gezogen. Er gibt die Legende
von der Stiftung der eleusinischen Mysterien: die Entführung der Perse-
phone durch den Unterweltsgott Pluton und das lange Suchen der Mutter
Demeter nach ihrer Tochter, bis sie sich endlich in Eleusis niederläßt
und dort, für zwei Drittel des Jahres mit ihrer Tochter wiedervereint,
die heiligen Weihen gründet. Der Hymnus ist, wie J. H. Voß in seiner
trefflichen Ausgabe (1826) auch aus sprachlichen Anzeichen nachwies, in
Attika zu Anfang des 6. Jahrhunderts in der Zeit des Selon entstanden. «»)
Leider ist das Verständnis des Gedichtes durch zahlreiche Lücken der
einzigen Handschrift arg gestört. Auch ist nicht zu verkennen, daß ein
älterer Mythus vom Raub der Persophone erst nachträglich mit der Kult-
sage von Eleusis in Verbindung gebracht wurde; aber die Mehrheit der
Mythen rechtfertigt nicht die Annahme, daß der Hymnus selbst aus Fetzen
») Über Kynaithos 8. o. § 37. A. Fick. *) A. Schweoler, Rom. Gesch. I 294
Hom. Odyssee S. 280 widmet dem Hymnus nimmt an, der Hymnus sei für den Hof der
eine eingehende Besprechung, indem er die Aeneaden in Troas gedichtet worden,
fraglichen Verse aus einem doppelten Schluß i *) Voß pflichtet bei K. Fbakoke, De
des Hymnus herleitet. j hymni in Cererem Homerici compositione
=*) Versuch, einen älteren Hymnus heraus- i dictione aetate, Kiel 1881: nt posae Carmen
zuschälen K. Robert, Herm. 41 (1906) 389 flf. compositum esse pont Uesiodum, itn non posae
— R. Böttcher, De hymno in Morcur. Home- ^;oä/ Solonem. Daß Solon den Hymnus vor-
rico, Halle 1907. j aussetze, sucht auch N. Riedy, Solonis elo-
') Dieses Verhältnis anschaulich gemacht ' cutio quatenus pendeat ab exemplo Homeri,
in der Ausgabe von J. R. S. Sterbett. Boston , München 1903, zu beweisen. Über eiDon
1881. Vgl. R. Thiele, Proleg. ad hymn. in I orphischen H^-mnus vom Raub der Perse-
VeneremHomericum, Halle 1872; H. Trüber, phone, in dem der homerische Demeter-
De hymno in Venerem Homerico, Diss. philol. hymnus stark benützt ist, s. o. S. 22, 2.
Halens. XV (1903) 2.
A. Epos. 4. Die homerischen Hymnen und Scherze. (§ 60.) 99
mehrerer älterer Hymnen zusammengeflickt sei.*) — Aus Attika stammt
wahrscheinlich auch der 7. Hymnus auf Dionysos,*) in dem das auch am
choragischen Denkmal des Lysikrates dargestellte Abenteuer des von tyrse-
nischen Seeräubern gefangen genommenen Gottes und die Verwandlung
der Seeräuber in Delphine graziös und anschaulich erzählt sind. 8) — Der
Dioskurenhymnus scheint (v. 9) in dem ins 6. Jahrhundert gehörenden
Diskus Tysciewicz*) vorausgesetzt zu werden.
Wann und von wem die Sammlung unserer Hymnen veranstaltet
wurde, wissen wir nicht. Der Redaktor ging offenbar von den großen
Hymnen aus und ließ diesen die kleineren als Anhang nachfolgen; aber
auffallig ist, daß Hymnen auf dieselbe Gottheit auseinander gerissen sind,
ohne daß immer der später gesteUte kleiner wäre oder jüngeren Ursprung
verriete,^) ein Umstand, der zu der Vermutung führt, daß unsere Samm-
lung erst allmählich durch Vereinigung mehrerer älterer Sammlungen
entstanden sei.
Ueberlieferung: im Certamen Homeri et Hesiodi ist von dem Hymnus auf den de-
lischen Apollon erzählt, daß ihn die Delier auf einer Tafel im Tempel der Artemis aufbewahrten,
wie die Rhodier das Siegeslied Pindars auf Diagoras. — Unsere Ueberlieferung geht auf zwei
Quellen zurück, von denen die eine durch den Mosquensis s. XIV repräsentiert wird ( ein Facsimile
in F. BüCHBLERs Ausgabe des Hymn. Cer., Lips. 1869), die andere aus einem von G. Aurispa
1423 in Konstantinopel gefundenen, zugleich die Hymnen des Kallimachos, Orpheus und Proklos
enthaltenden Codex (R. Vabi, Jahrbb. f. Philol. 145, 1892, 81 flf.) stammt, von dem selbst nur
Abschriften von Abschriften auf uns gekommen sind; über diese H. Holländer, Die hand-
schriftliche Ueberlieferung der homerischen Hymnen, Progr., Osnabrück 1886, mit Nachtrag
von A. Lüdwich. Jahrbb. f. Phil. 145 (1892) 239 f.; H. Holländer, Ueber die neu bekannt ge-
wordenen Handschriften der homerischen Hymnen. Festschr. zur 300 jähr. Jubelfeier des
Gymnas. Osnabrück, 1895. — Ausgaben: Homeri hymn. rec. et animadv. illustr. C. D. Iloen,
Halle 1796; Homeri hymn. et epigr. ed. G. Hermann, Lips. 1806; Hymni Homerici rec. A. Baü-
MBiSTBB, Lips. 1860; Die homer. Hymnen, herausgegeben von A. Gemoll, Leipz. 1886; Homeri
hymn. epigr. Batrachom. ed. E. E. Abel in Bibl. Schenk. Lips. 1886. Am besten A. Goodwins
Ausg. (The homeric Hymns edited by the late A. G. and T. W. Allen, Oxford 1893); neuste
Ausg. von W. Allen und E. Sikes, 1904. - Sonderausgabe des Demeterhymnus (Ed. princeps
von D. RuHNKBN, Lugd. Bat. 1780) von F. Bücheler, Lips. 1869; von V. Püntoni, Livomo
1896, wo der Hymnus in verschiedene Teile (3 Hymnen und Redaktorenerweiterungen) zer-
stückelt wird; der Hermeshymnus von A. Lüdwich, Ind. lect. Königsberg 1891; s. dens.,
Revision meiner Ausg. des homer. Hermeshymnus, Königsberg 1905. — Erläuterungs-
schriften: E. Eberhard, Die Sprache der homer. Hvmnen verglichen mit derjenigen der
Dias und Odyssee, Husum, Progr. 1873 und 1874; A. Guttmann, De hymn. Homer, historia
critica, Greifsw. Diss. 1869.
60. Homerische Epigramme. In der fälschlich den Namen des
Herodot tragenden Vita des Homer sind uns noch ein paar poetische
*) Diese Annahme aufgestellt von V.
PxjHTONi, L'inno Homerico a Demetra con
apparato critico scelto, Livomo 1896. Gegen
Atheiesen im Schlußteil E. Rohde, Psyche P
evoeßeiag 48: KAiorvoor de "OfitiQog i%' Toig
v/ivotg vjrdy Atjoitüv aA<(ora/> ygd(f'Fi , Kai
n<iv6d^Q0(; fif. ^leg/exai jifoi tijg ÄtjoiFtag.
*) Die Erzählung geben auch Ovid. met.
281, 2. Sachliches zum Demeterhymnus J. III 576 ff. ; Scneca Oed. 449 ff. und Nonnos
Töpffbr, Att Geneal. 31 ff. ; E. Rohde, Psyche Dion. XLV 105 ff. Eine bildliche , eng an
I' 280 f. unseren Hymnus sich anschließende Darstel-
*) Beziehungen zu Attika und zu den , lung bei rhilostr. mai. imag. I 19. Auf eine
religiösen Bräuchen und Agonen von Brauron altattische Amphora mit Dionysos und Satyr-
vermutete schon Wblokbb, Ep. Cycl. I 391. gefolg in einem Zweiruderer macht aufmerk-
Gegen A. Ludwioh (Eönigsberger Studien I sam E. Maass, Ind. Gryph. 1889 p. 9.
1887, 63 ff.), der den Hymnus in die Zeit der *) Fböhneb, Rev. archöol. 1891, 46.
Orphiker herabrücken wollte, wendet sich 0. ^) Jünger sind wohl 2 3 10 gegenüber
Cbusiub, Philol. 48 (1889) 193 ff. Ein Zeugnis 1 18 6, kaum aber 29 und 28 gegenüber 24
Aber das Alter des Hymnus enthält nach (V. 4 wird abnormerweise Hestia als mobile
wahrscheinlicher Ergänzung Philodemos Ttegi Göttin vorgestellt) und 11.
7*
100 Oriechiflche LitteraturgeBohichte. I. KlassiBChe Periode.
Kleinigkeiten überliefert, die hinter den Hymnen als ' Ernyadfi/xaTa 'Ojhijqov
den älteren Ausgaben der Odyssee angehängt sind. Sie enthalten zum Teil
außerordentlich wertvolles Material, darunter ein Abschiedsgedicht an die
undankbare Vaterstadt Smyrna, eine Bitte an die Kymäer um freundliche
Aufnahme,') ein Gebet an Poseidon um günstige Fahrt von Chios zum
Fuß des Waldgebirges Mimas, eine Anrede an die reiche Stadt der Ery-
thräer, ein von vorn und hinten lesbares Epigramm für die eherne Jung-
frau (Kr]Q tiixvfxßiog) auf dem Grab des phrygischen Königs Midas (gest.
Ol. 21),*) ein anmutiges Bettlerlied, elgeaicovi]^^) für samische Singknaben,
die am Fest des Apollon von Haus zu Haus zogen, um Gaben einzu-
sammeln, ein scherzhaftes Bittgedicht für das Geraten des Töpferbrandes,
das bekannte Kätsel 8oa ikojuev kuiöjiieo&'f 8oa d' ovx eko^v (pegojuea&a^
welches heimkehrende Fischer, die keine Fische gefangen, aber von Läusen
sich möglichst gereinigt hatten, dem Homer aufgaben.*) Diese Spielereien
gehören zur Homerlegende. Beachtenswert ist, daß das Epigramm auf
Midas, das die Homerbiographen dem Homer beilegen, bei Piaton noch
anonym geht.*)
61. Margites. Auch Spottgedichte wurden dem Homer^) beigelegt.
Das berühmteste und älteste war der Margites,') so benannt nach dem
Helden des Stückes, dem ersten Stupidus der griechischen Litteratur, der
trefflich durch den Vers gezeichnet wird jtoA/' i]m(naxo egya, xaxd>g d'^TTiorato
mivra. Das Gedicht spielte nach dem erhaltenen Eingang in Kolophon
und gab Anlaß, den Homer selbst zu einem Kolophonier zu machen. Denn
dem Homer schrieb es schon Archilochos*) zu, und an dieser Überheferung
hielten ohne Bedenken der Verfasser des Alcibiades n,^) Aristoteles, >ö)
Zenon^O und Kallimachos'*) fest; Aristoteles, dessen Darstellung in diesem
Stück freilich nicht ganz tendenz- und schablonenfrei ist,^*) stellt das
Gedicht sogar neben Ilias und Odyssee, indem er von ihm die Komödie»
M R. Peppmülleb, Jahrbb. f. kl. Phil. | Mid(} uö 0ovyi tpaoi rtveg L^tyrygdqp&ai, Diog.
151 (1895) 433 ff. I 89 ftthrt Verse des Simonides dafür an, daß
') Th. Pregeb, De epigramm. Graec. 1 das Epigramm nicht von Homer« sondern
meletemata sei., München 1889, Kap. 6; 0. | von Kleobulos aas Lindos herrühre.
Cbusius in Roschersmytholog. Lexik. 11 1154 A. ®) Zuerst, wie es scheint, von Antimachos
•) Benannt von dem mit Wolle um- von Kolophon (A. Kibchhoff, Berl. Ak. Sitz.-
wundcnen Ölzweig, den die unter den Schutz her. 1895, 767).
des Gottes sich stellenden Knaben trugen. ^) Der Eigenname Magyog ist inschrift-
R. Peppmülleb, Drei bei Umgängen in Grie- | lieh belegt (F. Bechtel, Abh. der Gott. Ges.
chenland gesungene Bittlieder, Jahrbb. f. kl. I d.Wiss., N.F. II, 1898. nr. 5, 52f.). dieEndung
Phil. 149 (1894) 15fif.; A. Dietebich, Archiv f. ' wie in (r^Fooixfjg. Siehe Hesych. s. v. Mao-
Religionsw. VIII Beiheft 62 ff.: H. Useneb, , ym;<:, fidgyo^. Ähnliche Tölpeltypen sind
Göttemamen, Bonn 1896, 284 if. ; M. P. Nilsson, I Amphietides (oder Amphistides), Koroibos und
Griech. Feste, Leipz. 1906. 116 f. Ähnlich das Melitides, über die s. Th. Kock zu Ar. ran.
KarridelnsingeninderMark(R.MiELKE.Ztschr. 1 991; G. Knaack. Rh. Mus. 59 (1904) 314 f.
des Vereins f. Volkskunde XII, 1902, 470 ff.). I «) Archil. fr. 153 (Eustratios zu Arist
A. Lüdwich, Do Iresiona carmine Homerico, Eth. Nie. VI 7). Archil. fr. 118 stammt aus
Königsb. 1906. vergleicht die 2 Rezensionen i dem Margites. Auch Aristophanes av. 907
(Pscudoherodot und Suid.), in denen das Ge- I hält den Margites für eine Dichtung Homere,
dicht vorliegt. ») Ps.Plat. Alcib. II 147 c.
*) Es ist eine der zahlreichen Exempli-
fikationen für den Triumph des Mutterwitzes
über die „Studierten" (\V. Schwabtz, Ztschr.
f. Volksk. lll, 1893, 126 A.).
^) Plat. Phaedr. 264 cd: ejtiyQdfifiaTog, S
»0) po6t. 4 p. 1448 b 30.
»») fr. 274 Abnim.
") fr. 74 a Sohn.
^') G. FrNSLEB, Piaton und die aristoteL
Poetik 199 ff.
A. EpoB. 4. Die homerischen Hymnen nnd Scherze.
61-62.)
101
wie von jenen die Tragödie ableitet.^) Erst später kamen Zweifel; man
half sich aber mit der Annahme, der Margites sei, wie die Dias, von
Homer in jungen Jahren gedichtet worden.*) Nur der Gewährsmann des
Suidas macht den Karer Pigres aus Halikarnassos, den Bruder der Arte-
misia, zum Verfasser.*) Vielleicht hat die Tatsache, daß Pigres den Ein-
gang der nias durch eingelegte Pentameter zu einem elegischen Gedichte
umgestaltete:
Mrjviv äside ^ecl Tlrjkrjiddeoj ^Axdtjog,
Movoa' av yaQ Jidotjg nelgav ?x^ig ooq)it}g'
den Anlaß zu dieser Behauptung gegeben, da auch der Margites einzelne
-eingelegte Verse (iambische Trimeter) zwischen den daktylischen Hexametern
hatte:*)
''HXM Tig ig KoXoq)6jva yegwv xai '&€iog äoidög,
Movodiov '^egdTiojv xal ixrjßökov *Ä7i6U.(ovog,
qjiXfjg ^x^'^ ^ X^Q^^^ e^qr&oyyov Xvgrjv.
An der parodischen Absicht dieser Einlagen kann nicht gezweifelt
werden.*)
Ein anderes durch die Metopen von Selinunt berühmt gewordenes
Gedicht waren die Kegxojneg^ worin die Schelmereien dieser bübischen
Kobolde und ihre Bezwingung durch Herakles im Anschluß an das dem
Homer zugeschriebene Epos OixaXiag äXcoaig erzählt waren.*)
62. Batrachomyomachia. Aus einer Anzahl scherzhafter Epyllien,
von denen wir sonst nur die Titel kennen, hat sich ein Stück unversehrt
erhalten, die Bargaxojuvojbiaxia (v. 1. Bargaxojuaxia),'^) der Frosch- und Mäuse-
krieg, wie in seiner Übersetzung Chr. v. Stolberg das Gedicht betitelt.«) Es
ist eine Parodie, angelehnt an die Tierfabel,®) mit harmlosem Scherz ohne
*) Aristpoötp. 1448 b 37: 6 yäg MaQyirrjg
^vdXoyov exet woneo 'Ihag xal »} 'Oövoaeia JiQog
xag TQay<^iag, oifTco xai ovrog jrgog tag xw-
fzfpdiag. Für die Komödie paßten allerdings
viele Stellen des Gedichtes, wie wenn Mar-
gits heiraten soll und nicht weiß, wie er
es anfangen soll.
«) Zenon s. o. S. 100, 11.
') Dies hält A. Kischhoff a. a. 0. auf-
recht, während es 0. Cbüsius, Philol. 54
(1895) 735 für Erfindung des Ptolemaios
Ohennos erklärt. Der Name Pigres ist in
Karlen häufig (P. Ksbtsohmeb, £inl. z. Gesch.
d. griech. Spr. 358).
*) F.G.WELOKBB,Kl.Schr.IV27ff.; gegen
die Meinung, als wären die Trimeter im
Magyirtjg interpoliert, s. E. Hilleb, Jahrbb. f.
Phil. 135 (1887) 13 ff. und ähnlich 0. Cbü-
sius, Philol. 54 (1895) 71 1 ff. Diese Verbindung
zeigt auch Xenophan. Sill. fr. 14 Djbls. Von
anderen ähnlichen Künsteleien des Idaios und
Timolaos berichtet Suidas.
*) Ein neues Fragment des Magyitrig
gewinnt aus Theodoros Metochites 0. Immisoh,
PhüoL 64 (1905) 633 f. Neue Belege und
Parallelen f&r einen der Margitesschwänke
£e ihn seine Frau zur f^el^lg brachte) G.
▲AOi:, Rhein. Mus. 59 (1904) 313 ff.
«) Vgl. Chb. A. Lobeck, Aglaoph. 1296 ff
Außerdem nennen Suidas, Proklos p. 27
Westebm . und die Vita des Ps.Herodot 24 noch
die Scherze 'Ejriejtdxitov (die verschiedenen
Formen, in denen dies Rätselwort überliefert
ist, bei Westebmann, Bioyg. 27, 70), AT^, 'Em-
xixUöeg (vgl. Ath. 65 a. 639 a), ^Agaxvo^iaxia,
FFoavouaxla, Wagofjaxia, Kegaftig^ von denen
die Ksoa^iig mit dem schon erwähnten Töpfer-
lied, der xvxXog bei Suid. mit Epigr. 4 iden-
tisch zu sein scheint.
^) über die Variante der Aufschrift s.
A. Lüdwich in Ausg. p. 1 1 ; dieser entscheidet
sich für BargaxofAaxia, dagegen J. Tominsek,
Wien. Stud. 23 (1901) 6 ff. — Maus und Frosch
als Typen von Land- und Wassertier s. Herodot.
IV 132.
®) Gesammelte Schriften der Brüder Chr.
F. u. L. V. Stolbebo XVI (1827) 167 ff. Rollen-
hagen gebraucht in seiner Nachdichtung den
Namen ,Froschmeuseler* (1595).
*) Ein ähnliches Motiv wie dieser Frosch-
mäusekrieg enthält die äsopische Fabel nr. 298
Halm = Babrius 195; doch ist wohl die
Fabel erst dem Tierepos nachgebildet, nicht
umgekehrt das Tierepos aus der Fabel heraus-
gewachsen. Über das verwandte Gedicht
Kaiofxvofiaxia des Prodromos s. K. Kbüm-
102 Griechische litteratnrgeschichte. I. Elaseiache Periode.
bissige Seitenhiebe, wenn auch ohne jenes gemütvolle Verständnis des Tier-
lebens, das uns in unserem Reineke Fuchs entzückt. Die Maus Psicharpax
wird von dem Froschkönig Physignathos, dem Sohn des Peleus (von 7ttj}i6g\
eingeladen, sich von ihm auf dem Rücken zu seinem gastlichen Haus tragen
zu lassen. Anfangs geht die Fahrt ganz gut vonstatten; da läßt sich plötz-
lich eine Wasserschlange blicken; darob großer Schrecken bei den beiden;
der Frosch taucht unter, die Maus ertrinkt. Infolgedessen grimmer Krieg
zwischen den Mäusen und Fröschen, dem schließlich der Kronide Zeus ein
Ende macht, indem er mit dem Blitzstrahl dreinfahrend die Streitenden von-
einander trennt, und als auch das noch nicht fruchten will, das Heer
der Krebse mit ihren Scheren über die Mäuse schickt. Ergötzlich sind die
Namen gebildet, der Lecker, der Brotnager, der Käsefresser, der Loch-
schlüpfer unter den Mäusen, der Lautschreier, der Wasserfreund, der Kot-
water unter den Fröschen. In witziger Parodie ist auch die Rüstung der
beiden Heere geschildert, und wenn gleich die Kämpfe nach Art der
KoXoc: /idxr] der Ilias rasch und ohne viele Episoden verlaufen, so begreift
man doch, daß das Gedicht viele Leser und im Altertum wie im Mittel-
alter viele Nachahmer fand. Mit „Homer* hat diese Parodie nichts zu
tun.i) A.. Ludwich in seiner Ausgabe bezeichnet sie als Werk des Pigres
(s. 0. S. 101), während 0. Crusius*) den Namen Pigres für eine Erfindung
des Aufschneiders Ptolemaios Chennos hält; dem Pigres schreibt sie Suidas-
zu. 3) Einen Terminus post quem ergibt die Benützung eines Ausdrucks
des Alkaios (fr. 170) in der Batrachomyomachie (v. 78). Auf die Zeit
der Perserkriege paßt die Bezugnahme auf den Schriftgebrauch (iv
öekrotq V. 8) und die Erwähnung des Hahns (V. 193), der erst zur Zeit
des Theognis von Persien nach Griechenland kam.*) Der Versuch H. van
Herwerdens,*) aus sprachlichen und metrischen Gründen das Gedicht in
das 4. Jahrhundert herabzudrücken, ist verfehlt; nachdem die Homerparodie
im 5. Jahrhundert durch Hegemon von Thasos zu einer hohen Blüte ge-
bracht war, ist ein so schwaches Erzeugnis der parodischen Poesie schwer-
lich mehr denkbar. Die Batrachomyomachie muß an den Anfang dieser
Entwicklung gesetzt und als ein sprachlich zur Vulgärlitteratur hinneigendes
Gedieht betrachtet werden.
Codices sehr zahlreiche, darunter stark interpolierte; ein Steinina versucht aufzu-
stellen A. Ludwich in seiner Ausg. ; die ältesten sind Baroccianus nr. 50 in Oxford s. X/XI
und Laurentianus 32. 3 s. XI; über eine Handschrift in Capodistria Ziliotto im Archeografa
Triestino 3. serie vol. 11 1. — Scholien, wertlose aus dem Mittelalter von Moschopulos ed.
A. Ludwich, Königsb. 1890. — Ausgaben: ed. princ. besorgt von dem Kreter Laonikob, Ven.
1486; mit den Hymnen von C. D. Iloen, mit Dedikation an Goethe, Halle 1796; kritische Ausg.
BACHER, Byz. Litt.', München 1897 p. 51. 1 A. Ludwich veiteidigt seine Meinung im
Vnlgär^riechische Bearbeitung der ^aro. nebst ' Königaberger Index lect. 1900/01.
Kommentar in Martin Crüsius' Turcograecia, •) Die Stelle Plut. de maUgn. Herodoti
Basel 1584, 373 ff. ] 43 ist nach R. Pbppmüllbr, BerL philoL
') Auf dem bekannten Marmorrelief des W.schr. 21 (1901) 676 f. interpoliert.
*) V. Hehn, Kulturpflanzen und Haus-
1. Jahrh. v. Chr. , Apotheose Homers* sollen
der Frosch und die Maus am Fußschemel des
Dichters die Autorschaft Homers, die dann
auch Procl. vit. Hom. extr. und Suid. ver-
tiere', Berlin 1902. S. 323 ff.
^) Mnemos. 10 (1882) 163: ähnlich K^
Witte, Singular und Plural, 1907. 168 ff.,
treten, andeuten; 8. A. Ludwich in Ausg. S. 15. 1 dessen Datierung nach 438 ganz haltlos ist.
•'') Philol. 54 (1895) 734 ff., 58 (1899) 577; |
A. EpoB. 6. HesiodoB. (§ 68.) 103
von A. Baumeistbb, Gott 1852; HanptauBgabe von A. Ludwioh, Die homerische Batracho-
machia des Earers Pigres nebst Schollen und Paraphrase, Leipz. 1896. Das Gedicht auch
aufgenommen von P. Brandt in das Corpusculum poesis epicae graecae ludibundae, Bibl.
Teubn., 1888.
5. Hesiodos.
63. Der epische Gesang, dessen Samen dereinst die Ansiedler aus
Europa nach Asien mitgenommen hatten, wurde, noch ehe er in der neuen
Heimat verblühte, von dort infolge des fortdauernden Verkehrs mit dem
Mutterland wieder nach dem Festland und insbesondere nach Böotien zurück-
gebracht, um hier in neuer Eigentümlichkeit sich zu entwickeln. Die neue
Richtung lehrhafter Poesie wurde von Hesiod inauguriert, an den sich
dann ähnlich wie an Homer eine ganze Schule von Dichtern gleicher Rich-
tung anschloß. Auch vom Leben des Hesiod haben wir keine ausführ-
lichen Nachrichten, aber seine Person ist doch weit davon entfernt, hinter
seinem Stoff zu verschwinden oder nur die Stimmung und Lebensauffassung
seines Publikums wiederzugeben. Ein innerer Drang, dem er die Ein-
kleidung einer persönlichen Inspiration durch die Musen gibt, treibt ihn
zu dichten, seinen Standesgenossen, den armen, unwissenden, von einer
harten und egoistischen Aristokratie bedrückten und ausgesogenen Bauern
und Hirten in gebundener Form zu vermitteln, was ihm über Götter, Welt
und Leben teils aus der Quelle der ionischen Kultur oder volkstümlicher
Überlieferungen zugeflossen, teils auf Grund eigener Erfahrung und eigenen
Nachsinnens zur persönlichen Gewißheit geworden ist. Er scheut sich
nicht, dieses alles als sein redlich erworbenes geistiges Eigentum darzu-
bieten und auch von seiner Person, seinen Erlebnissen zu reden. Sicher
hat er aus dem homerischen Epos sehr vieles, in formaler Beziehung fast
alles ^) übernommen, aber deis Beste, die ernste, den letzten Fragen mensch-
lichen Lebens nachhängende Geistesrichtung ist sein eigen und ist ein
nachdrücklicher Protest gegen die ästhetisierende Oberflächlichkeit des alt-
ionischen Lebensprospekts. Man vernimmt bei ihm das erste noch dumpfe
Grollen jenes Mißvergnügens der Enterbten, das dann bei Archilochos in
grellen Blitzen sich entlädt. So weit er an Gewandtheit der Form hinter
Homer zurücksteht, so weit übertrifft er ihn an Tiefe, Originalität, Ehr-
lichkeit und Gründlichkeit sittlicher Fragestellung. Das was er selbst sagt^)
und die erhaltenen Werke uns lehren, ist so ziemHch das einzige, was wir
von ihm wissen. Denn nicht bloß ist das uns erhaltene Leben Hesiods
(^Hoiodov yh'og) von Job. Tzetzes eine geringwertige Kompilation des Mittel-
alters,*) sondern auch Proklos und Plutarch und selbst die alexandrinischen
Gelehrten*) ermangelten besseren Wissens. Die wertvollste Überlieferung
') J. A. Scott. A comparative Study of Robinson und von Götthng-Flach in ihren
Heaiod and Pindar, Chicago 1898, stellt \ Ausgaben.
fest, daß, von den Eigennamen abgesehen, ') Das levo^, ehedem fälschlich dem
83** /o der hesiodischen Wörter aus Homer Proklos zugeschrieben, trägt in mehreren
entnommen sind. ! Handschriften den Namen des Tzetzes; s. H.
*) Naiv Velleius I 7: vitavit (Hesiodus)
ne in id quod Uomerus inciderety patriam-
que et parentea testatus est. Die Nachrichten
zu einer Vita zusammengestellt von Th.
Flach p. LVHI.
*) Proklos berührt manches aus dem
Leben des Dichters in dem uns erhaltenen
Kommentar; Plutarch hatte einen uns ver-
104
GhriechiBche LitteratorgMchiohte. I. Klassische Periode.
enthält, von den eigenen Dichtungen des Hesiod abgesehen, der ^Ayiyp
'Hoiodov xai 'O/ui^gov.^)
64. Die Familie des Hesiod stammte aus dem äolischen Kyme.') Der
Vater des Dichters^) hatte aus Not die Heimat verlassen und sich am öst-
lichen Fuße des Helikon in dem elenden Dorf Askra, nahe bei dem musen-
freundlichen Städtchen Thespiai niedergelassen.*) Dort ist Hesiod ge-
boren; er weidete als Knabe auf den waldigen Triften des Helikon die
Herde. ^) Neben dem Vater und Heimatsort ist es der Bruder des Dichters,
Perses, der durch seine Gedichte bekannt geworden ist. Dieser hatte
nach dem Tod des Vaters in einem Rechtsstreit über das hinterlassene
Vermögen den Hesiod durch Bestechung der Richter um sein Erb-
teil gebracht,«) war aber dann selbst durch Arbeitsscheu in Not ge-
kommen, so daß er hintendrein wieder seinen Bruder um Hilfe angehen
mußte. Hatte Hesiod durch die Ungerechtigkeit der Richter Haus und
Hof verloren, so hatten ihm die Musen dafür die Kunst des Gesanges
verliehen. Er erscheint als begeisterter Archeget eines sektenartigen
Kultes der helikonischen Musen, in dem er ein Mittel sieht (theog. 26),
das niedere Volk aus dem Zustand geistiger Dumpfheit emporzuheben;
ihm sind die Musen Trösterinnen in dem Jammer menschlichen Lebens,')
und ihre Gaben preist er mit einer Wärme®) ähnlich wie etwa in Euri-
pides' Bakchen die Segnungen der Dionysosreligion gepriesen werden. Seine
glänz- und farblose Poesie war freilich weniger geeignet, ihn als Sänger
für Fürstenhöfe zu empfehlen; aber nicht bloß haben seine Wirtschafts-
loren gegangenen, von Pausanias und Proklos
benutzten Kommentar in vier Büchern zu den
Werken seines Landsmannes geschrieben,
den Proklos und überdies Gellius XX 8 be-
zeugen und dessen InhaltF. Leo, Hesiodea, Gott.
1894, p. 6 f. näher zu umschreiben sucht. Die
sicheren Reste Plut. mor. T. VII 51 -98 Beb-
NABDAKis. Von älteren Grammatikern hatten
über Hesiod geschrieben Herakleides Pontikos
(Diog. V 92), Kleomenes(Clem. Alex, ström. I
p. 351 P.), Autodoros ans Kyme (J. A. Cbameb,
An. Ox. IV 310, 26 f.).
*) Über diesen s. u. § 72.
») Vgl. Ephoros in Ps.Plut. vit. Hom. 2
und Steph. Byz. u. Kvfuj. Auf Lokalsagen
von Kyme geht es auch zurück, wenn Me-
lanopos aus Kyme (Paus. V 7, «) bei Suidas
und Ps.Plutarch zum Ahnen des Hesiod und
Homer gemacht wird. Strab. 622 will schwer-
lich sagen, Hesiod sei in Kymo geboren.
') Der Name des Vaters (den das Coit.
Hom. et Hes. ebenso wie den der Mutter ver-
schweigt) war nach der Überlieferung Dies
(so schon Hellanic. fr. 6 M.; Strab. 622; In-
schrift aus Thespiai s. III v. Chr. Bull, de corr.
hell. 1890, 546 f.), aber dieser ist wahrschein-
lich nur eischlossen aus Op. 299 njydi:fv
IlFoat) fiior j'/roc, wo D, Ruhnken geradezu
/lior yerfh; nach Analogie von Laevinum
Valeri genus bei Hör. sat. I 6, 12 und Vergil
Aen. VI 792 Augtistus Caesar Divi genus her-
stellte und vielleicht auch schon Velleios
I 7 und der Verfasser des Agon lasen. Ohne
Zweifel ist aber ^roi» (nach dem Vorbild von
Hom. II. / 538) zu lesen und, sei es ironisch,
sei es als ernste Mahnung für Perses an das
noblesse oblige zu verstehen. Noch weniger
Verlaß ist auf den Namen der Mutter des
Dichters, Pykimede, der ganz wie eine etymo-
logische Fiktion aussieht. Den Namen Hesiod
hat F. G. Welcher, Hes. Theog., Elberf. 1865, 5
im generellen Sinn = ifis <oA//v , Sänger* ge-
deutet, und diese Deutung ist auf besserer
etymologischer Grundlage neuerdings wieder-
holt von F. SoLMSEN, Unters, z. griech. Laut-
und Verslehre 208. Sie würde unterstützt,
wenn man mit E. Lisco, Quaest. Hesiod. 52
die Stelle Op. 208 als Anspielung des Dich-
ters auf seinen Namen verstehen dürfte.
Falls diese Erklärung richtig wäre, wüßten
wir den eigentlichen Namen des Dichters
nicht, sondern nur einen Beinamen. — In
der attischen Zeit war der Name nicht mehr
lebendig: Lys. fr. 67 Tiialheim.
*) Hes. op. 633 if. Den Namen "jicfe^rf
statt des tiberlieferten ''AQvtj hatte Zenodot
in den homerischen Text B 507 bringen
wollen.
*) Hes. theog. 22 f.
«) Hes. op. 27-39; 213 ff. ; 248 ff.; 274 ff.
') theog. 55. 100 ff. 917.
8) theog. 280. 380 ff 772.
A. EpoB. 6. Hesiodos. (§ 64.)
105
regeln bei den Bauern und Schiffern offenes Ohr gefunden, i) auch religiöse
Erbauung und sittliche Förderung mochte man in den Hymnen und mytho-
logischen Dichtungen*) finden, die jetzt seinen größeren Werken einver-
leibt sind, aber so, daß man ihre ehemalige selbständige Stellung noch
unschwer erkennen kann. Daß diese Gedichte nicht alle für das armselige
Dorf Askra bestimmt waren, versteht sich von selbst; vielmehr wird He-
siod ähnlich wie Homer als fahrender Sänger im Land umhergezogen
«ein. Und nicht bloß in den Städten Böotiens, wie Thespiai und Orcho-
menos,') fand er Anklang, auch über die Grenzen seiner engeren Heimat
hinaus drang der Ruhm seiner Muse. In den Werken 650 ff. lesen wir,
daß der Dichter einst von Aulis nach Chalkis auf Euboia zu den Leichen-
spielen des Amphidamas gefahren sei,*) bei diesen mit einem Hymnus ge-
siegt und den Dreifuß, den er als Siegespreis errungen, den Musen des
Helikon geweiht habe. Zwar ist auf diese Nachricht kein sicherer Ver-
laß, da die Echtheit der ganzen Stelle (op. 648 — 662) schon von den ale-
xandrinischen Grammatikern beanstandet wurde. ^) Aber auch die Nach-
richten von dem Tode des Dichters«) weisen darauf hin, daß er von
seiner böotischen Heimat nach Westen über Delphoi hinaus bis ins Land
der ozolischen Lokrer gekommen war. Vom Orakel in Delphoi, so er-
zählten die Alten, gewarnt, den Hain des nemeischen Zeus zu betreten,
da ihm dort zu sterben bestimmt sei, hatte er sich nach Oineon in Lokris
gewandt, ohne zu ahnen, daß auch dort ein dem nemeischen Zeus ge-
*) So eignete sich für Schiffer op. 618
his 94, fttr Bauern op. 383— 617, für Richter
op. 213 — 69, als guter Rat beim Heiraten
op. 695 — 705. Von der praktischen Ver-
wendung derartiger didaktischer Verse im
Arbeitslied gibt Theocrit. X 42 S. eine Vor-
stellung. Daß für das Inhaltliche der didak-
tischen Partien ältere ionische Vorlagen vor-
handen waren, vermutet M. P. Nilsson, Rh.
Mus. 60 (1905) 161 ff.
') So in der Erzählung vom Titanenkampf
th. 617—819, der Prometheussage th. 535
bis 610, dem Pandoramythus op. 42—89, den
fanf Weltaltern op. 109—201, den Hymnen
auf die Musen und Hekate th. 36 — 104 und
413—49.
') In Orchomenos zeigte man das Grab
des Hesiod auf dem Marktplatz der Stadt;
8. Cert Hes., Paus. IX 38, 3, Vit. Hes. Die
Nachricht geht auf Aristoteles iv rfj X)gxo'
fievüov jioliTeiq, zurQck (s. Vit. Hes. und Pro-
klos zu op. 631) ; vgl. V. Rosb, Arist. pseudep.
p. 505 ff. üeber die Meinung von H. Schlie-
mann und W. Dörpfeld, als wäre der orcho-
menische ^^OijoavQog* Hesiods Grab, s. Chb.
Bblobb, Archäol. Anz. 1891, 186; Berl. phil.
W.8chr. 12 (1892) 98 ff.; 19 (1899) 1212 ff.
^) Von jenem Amphidamas sagt Plu-
tarch Conv. sept sap. c. 10, wahrscheinlich
nach Aristoteles: tjv Se ^AfKpiÖd/aag dvijg
staXitixog neu noXkd ngayfiara TtoQaaxwv
*EQ€XQievöt¥ h %aXg Jtegi ArjXdvTov fid^atg
ixtaev, woran Th. Bbbgk, Gr. Litt I 930 die
von E. RoHDE, Kl. Sehr. I 43 ff. bekämpfte
Vermutung knüpfte, daß Amph. nicht vor
i Ol. 29, 1 gestorben sei. Nach Rohdes Be-
I rechnungen hätten die Alten vielmehr den
Amphidamas 160 nach den Troika leben
I lassen. Daß die Stelle Hes. op. 648 ff., die
I Plutarch für interpoliert hielt (s. A. 5), den
j Keim der Sage vom dyojv 'Ofii>)oov xai 'Hoioöov
enthalte, hat lauge vor A. Kirchhoff (Berl.
I Akad. Sitz.ber. 1892, 865 ff.) E. Rohde (Kl.
j Sehr. a. a. 0.) kurz und klar gezeigt.
' *) Proklos fand zu V. 649 ein kritisches
' Zeichen: arj/Aeiovrai 6 arij^og ovxo<;' eLiiov
I ydo eivai äjteioog vavziUac: jicog vTtoxiOexai
; avit)v'y der Athetese war nach Proklos z. St.
auch Plutarch und nach ihm Pausanias IX
\ 31, 3 beigetreten. Vgl. Procl. ehrest, p. 232.
20 W. ddXiot ÖS ol ro aiviyfia (corr. ijiiynafifia)
, jT?.daavTeg tovxo
j 'HoioSog Movoatg 'EXixcovloi xovb^ dve&rjxev^
I v/ivw vtxqoag iv XaXxlöi öXor "OfirjQov.
\ dXkd ycLQ eTtkavrj&riöav ex twv 'HaioÖeicov rj-
i fiegcov ' exsgov ydg xi (corr. xiva) otiftaivei.
I Neuerdings schreibt Kirchhoff in seiner Aus-
i gäbe S. 72 ff. die Stelle wieder dem Hesiod
I zu. Siehe auch E. Rohde a. a. 0.
I *) Es gab zwei Überlieferungen über
den Tod des Dichters, eine von Alkidamas
und eine von Eratosthenes ; E. Hilleb zu
Eratosth. carm. fr. 21 p. 81 ff . ; s. 0. Friedel,
Die Sage vom Tod Hesiods, Jahrbb. f. Phil.
Suppl. 10 (1878. 79) 235 ff.
106 Oriechisohe LitteraturgeBohichte. I. ElassiBche Periode.
heiligter Ort war.^ In Oineon also kehrte er bei den Söhnen des Phegeus,
Amphiphanes undGanyktor,*) ein, geriet aber in den Verdacht, die Schwester
seiner Gastfreunde, Klymene, verführt zu haben. Die Brüder, darüber er-
grimmt, erschlugen ihn und warfen seinen Leichnam in das Meer. Del-
phine brachten den Toten ans Land, wo er in einem Felsengrab bestattet
wurde. Die Sage ist natürlich poetisch ausgeschmückt und alle die Züge,
die nur zur Illustration des Motivs, daß der Sänger in göttlichem Schutze
stehe,') bestimmt sind, müssen für die geschichtliche Betrachtung weg-
fallen; aber die Tatsache, daß Hesiod im Land der Lokrer gestorben ist,
darf doch aus ihr entnommen werden. Wenn auch Orchomenos auf dem
Markt das Grab des Hesiod zeigte, so ward das früh so gedeutet, daß
die Orchomenier, einem Orakelspruch zufolge, die Gebeine des Dichters
aus dem Land der Lokrer nach ihrer Stadt übergeführt hätten.*) Später
errichteten ihm auch die Thespier auf dem Markt ein ehernes Standbild,*)
und auf dem Helikon zeigte man einen sitzenden Hesiod mit der Eithara
auf den Knieen, welche Darstellung Pausanias tadelt, da dem Hesiod nach
seinen eigenen Worten im Eingang der Theogonie der Lorbeerstab, nicht
die Kithara zukomme. ß)
65. Lebenszeit des Hesiod. Verwickelt ist die Frage nach der
Lebenszeit des Hesiod, über die schon die Alten zwiespältiger Meinung waren.
Es handelt sich hiebei zunächst um das Verhältnis des Hesiod zu Homer.')
Herodot II 53 nahm, wahrscheinlich auf Grund der Legende vom dj'oiv,«)
beide als gleichzeitig an und ließ sie 400 Jahre vor seiner Zeit gelebt
haben. Ephoros nach Ps.Plutarch vit. Hom. 2 hielt den Hesiod für etwas
älter, indem er dessen Vater zum Großoheim Homers machte,^) welches
Verhältnis das Marmor Parium (Z. 44 f.) derart in Zahlen umsetzt, daß
es den Hesiod 30 Jahre älter als Homer macht. *ö) Dem entgegen schlössen
die alexandrinischen Kritiker Eratosthenes und Aristarchos, ebenso Philo-
choros aus der Erweiterung der geographischen Kenntnisse'*) und Mythen
») Thucyd. III 96: «• uo rot- Ato^ lov j *) Paus. IX 27, 4.
XfUFiov tFoipf Fv fj) 'Hatodog 6 jroirjxrjg Aeyexai \ ^) Paus. IX 80, 2.
{\io Kißv T(WTf) anoOaveiv, j^otjodh' arrco h' ') Siehe O. S. 34.
SFuhf lovio Tiadeh'. Damit stimmen überein 1 *") Ebenso Varro bei Gell. III 11. 3.
Cert. Hes., Plut. conv. sept. sap. 19, Paus. IX •) Vgl. M. Sengebusch. Hom. diss. I 160;
31, 5 und 38, 3, Vit. Hes., Anth. Pal. VII 55. da6 vor Ephoros schon Simonides von Keos
^) So nannte sie Alkidamas; Antiphos die gleiche Meinung geäußert habe, erweist
und Ktimenos hingegen hießen sie bei Era- , L. Steknba.cii, Comm. Ribbeck. 358 ans der
tosthenes (und Suidas) nach dem Zeugnis des ! oben S. 74, 3 zitierten Stelle.
Certamen. *^) Ähnlich Tzetzes in Vit. Hes., wenn
') Vgl. die Legenden von Arion, Ibykos, er den Hesiod in den Anfang und den Homer
Simonides, Aisopos. , an das Ende des 35 Jahre dauernden Archon-
^) Die Deutung wäre sehr alt, wenn auf tats des Archippos setzt. Dem Ephoros
die Angabe Verlaß wäre, daß Pindar mit folgten Accius bei Gellius HI 11, 4 und Philo-
Bezug auf jenes Doppelbegräbnis das Epi- stratos Heroic. p. 162, 5if. K. Nach Vit. Hom.
gramm gedichtet habe: p. 31, 11 Westerm. hielt schon Herakleides
XaToF. big ij/itjoag xal &ig TOKfov avrißoh'pag, ! den Homer für älter als Hesiod.
'IIoio6\ dvOgco.TOig fiexgov Fyjov ooqJrjg, *>) Strab. p. 23 u. 29, wo richtig hervor-
Das darauf bezügliche Sprichwort IIoioÖfiov gehoben ist, daß Hesiod bereits den Nil
yfjQag erwähnte nach den Parömiographen , (th. 338), den Ätna (th. 860), die Tyrsener
I 456 schon Aristoteles fv 0(>;fo/«T<W jroA<r«Vi. (th. 1016) und Ortygia kenne, die bei Homer
lieber Translation von Gebeinen s. E. Rohdb, I noch nicht vorkommen. Man kann diesen
Psyche I' 161. \ Namen noch hinzufügen den Latinos, den
A. Epos. 5. Heoiodos. (§ 65.)
107
bei Hesiod,') daß er nach Homer gelebt haben müsse.*) Die Beweis-
kraft der in diesem Sinn verwerteten Stellen steht zwar nicht ganz außer
Zweifel, da dabei nicht allein die ältesten und zweifellos echten Werke
des Hesiod, die Erga und Theogonie, sondern auch jüngere Gedichte
und Verse von zweifelhafter Echtheit in Betracht gezogen wurden. So
kann z. B. an Fortbildung des Mythus gedacht werden bei Vergleichung
der Stelle der Odyssee y 464, wo die jüngste Tochter des Nestor, die
schöne Polykaste, dem Gast Telemachos die Füße wäscht, mit den
Versen des Hesiod (fr. 17 Rz.), die aus jenem harmlosen Brauch der alten
Gastfreundschaft eine geschlechtliche Verbindung des Telemachos und der
Polykaste ableiten, deren Frucht der Heros Persepolis gewesen sei.^)
Aber die Verse stehen nicht in dem echten Hesiod, sondern gehörten
zu dem aus der Schule des Hesiod stammenden Frauenkatalog. Ebenso
finden sich die meisten der geographischen Namen an Stellen, deren
Echtheit von der modernen Kritik in Zweifel gezogen wird. Indessen
wenn so auch viele Belegstellen wegfallen, so bleiben doch noch genug
zum Beweis, daß zur Zeit Hesiods die geographische Kenntnis des
Westens infolge der fortgeschrittenen Seefahrt und der Kolonisationen der
euböischen Chalkidier weit ausgebreiteter war,'*) und daß Hesiod nicht
bloß die Färbung des Dialektes aus Homer entlehnt, sondern auch in zahl-
reichen Versen Stellen des Homer nachgeahmt hat.*) Vor den Werken
Sohn der Kirke (th. 1013), den Eridanos und
Istros (th. 338 f.), die Insel Erytheia mit den
Hesperiden (th. 290 u, 518).
') Aristarchos setzte in diesem Sinn seine
Zeichen Schol. A IL K 431 nooq xa .Tsgi f^li-
xiag 'Hmodov, I 246 oxi xrjv oXrjv IleXojTOV-
yrjaoy ovx oidev 6 noiv}xrig, 'Hoiodo^ de, A 750
ort evxeir&ev'Hoiod<K''AxxoQog xax^ s:tixXr)öiv xai
MoltovTjg avxovQ yeyevealoyrjxev, ferner Schol.
A IL M 22, 3 119, Ü 527, SchoL B fl. ^^ 683.
*) An Aristarchos schloß sich sein Schüler
ApoUodoros an bei Strabon p. 299 und 370,
ebenso Velleius I 7. Siehe F. Jacoby, Apollo-
dors Chronik 118 ff. Übertrieben drückt sich
Cicero Cat mai. 54 ans: Homer us qui multis
ut mihi videtur ante Hesiodum saeculh fuit.
Schon vor den Alexandrinern soll Xenophanes
(in den Sillen nach H. Diels, Fr. der Vor-
sokr.» S. 53 fr. 13) nach Gellius III 11, 2 die
gleiche Meinung vertreten haben, lieber die
antiken Zeitansätze E. Rohde, Kl. Sehr. I
39 ff.; F. Jacoby, Marm.Par., BerL1904, 157 f.
•) A. KiBCHHOFF, Diehomer.Odyssee315 ff.
*) Auf die von den Chalkidiem ge-
grandete Kolonie Cumae weist insbesondere
die Erwähnung des Latinos in Theog. 1013
KiQXij yeivax* Odvoaijog rakaaiq^govog h q^i-
X^TtjTi Aygiov ^Sk AaxXvov. Auch die Ver-
legung der Kirke in jene Gegend hängt mit
dem nach der Kirke benannten Promontorium
Circetum zusammen. Ob auch 'Aygiog aus ^Af-
Qiog entstanden ist und mit dem Avemersee,
dem Sitz der Sibylle, zusammenhängt?
*) Siehe o. S. 103, 1. Über ein Fünftel
der Verse und Halbverse der Theogonie
sind aus Ilias und Odyssee übernommen.
Die Stellen Homers, die Hesiod nachahmte,
sind jetzt in der Ausgabe von A. Rzach an-
gemerkt. Schon zuvor E. Kausch, Quate-
nus Hesiodi in theogonia elocutio ab exemplo
Homeri pendeat, Regiom. 1876 und Elbing
1878, St. iM artin, Quatenus Hesiodeae ra-
tionis vestigia in carminibus Homericis re-
periantur I. de Odyssea et theogonia, Progr.
Speier 1889. Die Nachahmung selbst steht
außer Zweifel, und es fragt sich nur, in-
wieweit auch Stellen der jüngsten Partien
homerischer Gesänge nachgeahmt sind. In
dieser Beziehung ist von Wichtigkeit die
Vergleichung von op. 403 f-iefor rofiög und
r249;'op.721 und r 250; op. 299 dror r^ro^
und / 538 ; op. 648 fthoa Üakaaatjg und fthoa
xFlevdov ö 389, X 539. femer von op. 318
und Ü 45: th. 129—30 (mit kontrahiertem
vvuq:.ibr) und ü 615—6: th. 341— 2 und M
20-1; th.890 und a 56; th. 212 und o> 12.
Auch die häufigere Vernachlässigung des
Digarama bei Hesiod beweist die spätere Zeit
der Abfassung, zumal außer Zweifel steht,
daß seine Landsleute das Digamma noch
sprachen. Bedeutungsvoll ist weiter, daß in
die Darstellung der Sage von den 5 Welt-
altem mit offenbarer Rücksicht auf das
homerische Epos (E. Rohde, Psyche P 93 ff.)
das Heroengeschlecht (op. 156—173), das
den Zusammenhang stört, eingefügt ist. Die
von A. KiBCHHOFF und E. Lisco (Quaest. Hes.
62) ins Auge gefaßte Streichung der Verse
op. 156 — 173 ist nicht anzunehmen.
108 Oriechisohe LitteratnrgeBohichte. I. KlasoiBche Periode.
des Hesiod liegt die Dichtung der ganzen Ilias mit Einschluß des letzten
Gesangs und ebenso die der Odyssee, wenigstens in ihren älteren Teilen,
und zwar in der uns jetzt vorliegenden, von Hesiod trotz seiner Zugehörig-
keit zu der äolischen Dialektgruppe doch nachgebildeten Sprachform. —
Auf der anderen Seite steht ebenso fest, daß Hesiod den lambographen
Semonides und Archilochos bereits bekannt war. Denn gewiß waltet nicht
der Zufall im Zusammentreffen von Hes. op. 702
Ol) fiev yvLQ XI yvvatxdg ävijQ XtjtCez' ä/bieivov
T^g äya^g, xrjg d'avxe xaxrjg ov §iyiov äilo
und Semonides fr. 6
yvvaixdg ovdev XQVi^' ^^Q X^tCexcu
ioMfjg äjiieivov ovdk ^yiov xax^g,^)
Sappho fr. 145 erzählt dem Hesiod die Prometheussage nach. Auch der
korinthische Epiker Eumelos, der von den Alten in die 6. oder 9. Olym-
piade gesetzt wird, lebte sicher erst nach Hesiod; dagegen kann man
zweifeln, ob der homerische Schiffskatalog der hesiodischen Theogonie
nachgefolgt oder ihr vorausgegangen ist.
Demnach läßt sich für die Zeit des Hesiod sowohl ein terminus post
quem als einer ante quem mit Sicherheit feststellen. Die Versuche, dar-
über hinaus zu einer engeren Abgrenzung zu kommen, schlugen in der
Mehrzahl fehl.*) Auch die Beziehung der Verse über Typhoeus theog.
820 — 80 auf einen Ausbruch des Ätna,') die den Beweis liefern würde, daß
die Theogonie in der Zeit nach Gründung der Kolonien Siziliens durch
Chalkis, die Mutterstadt von Naxos, Leontinoi und Katane, gedichtet wurde,
beruht lediglich auf einer zweifelhaften Textänderung Schümanns. Wenn
A. Fick, Hesiods Gedichte S. 4, indem er auch noch die Fabel, daß Stesi-
') Die Verse sind schon zusammengestellt '. mittel der alten Chronologen. Endlich die
bei Clemens Alex. Strom. VI p. 744 P. und Por- 1 Erwähnung eines nackten Ringkampfes, der
ph3rrios bei Eus. pr. ev. X 8, 18. Aehnlich ist ' uns in die Zeit nach Ol. 15 führen würde
gedichtet Archil. fr. 88 nach op. 202 ff. und ! (s. Schol. AT IL !^683 und Hes. fr. 22 Rz.;
Archil. fr. 85 nach theog. 120; Alcaeus fr. 39 vgl. J. H.Voss, Mythol. Briefe, Leipz. 1834, 2),
nach op. 584 ff.; Alkman fr. 106 nach th. 961. , findet sich nicht in den echten Werken des
Vgl.A.8T£iTZ. Die Werke und Tage des Hesiod, | Hesiod. sondern stand in irgend einem der
1869, S. 1 ff. Einfluß Hesiods auf Solons dak-
tylische Gedichte : N. Ribdy, Solonis elocutio
quatcnus pendeat ab exemplo Homeri I
(München 1903) 2 f.; II (1904) 4-13.
untergeschobenen Epen.
•) Th. 860 (ovgsos h' ßTJoojjoiv 'Ainnjg
jrauTaXofaatjg) liest Schümann 'Airvt^g für das
überlieferte diSrf/g, Auch Ilias i5 783 wird
^) Die astronomischen Berechnungen aus Typhoeus als Repräsentant feuerspeiender
den Stemdeklinationen sind in Seifenblasen Berge im Land der Arimer erwähnt; diese
aufgegangen; wichtig scheint besonders zu Stelle bezieht sich aber nicht auf den Ätna,
sein op. 566 f. u. 610 über den Aufgang des sondern auf den Vulkan Argaios in Eappa-
Arkturus; s. Th. Robinson, Vit. Hes. p. LIX ff. ; dokien (J. Partsch, Geologie und Mythologie
J. L. Ideler, Handb. d. Chronologie I 246; in E[leinasien, Philol. Abh. zu Ehren von M.
J. Gallenmüller, Progr. des alten Gymn. in i Hertz. Berl. 1888 S. 105—122). Verschwiegen
Regensburg, Stadtamhof 1885. Die Angabe
femer, daß Stesichorosein Sohn des Hesiod und
der Elymene sei (s. Schol. ad op. 271 und Vit.
Hesiodi) sieht ganz wie eine leere, aus der
Mythenverwandtschaft abgeleitete Fiktion aus.
Des weiteren stützt sich der Ansatz der Zeit
des Amphidamas (op. 650 ff.) in die Jahre 1020
bis 980 V. Chr. (s. E. Rohdb. Kl. Sehr. I 43 ff.)
auf die schlechten und unzuverlässigen Hilfs-
BoU indessen nicht werden, daß Gruppe u. a. die
Verse 820—880 für ein jüngeres Einschiebsel
halten. Die Beziehung der Theogoniestelle
auf den Ätna ist festgehalten von W. Chbisv,
Der Ätna in der griech. Poesie, Münch. Ak.
Sitz.ber. 1888, 1 350 ff. — 0. Gruppes Versuch,
die Theogonie auf ca. 600 herunterzudatieren
(Griech. Culte und Mythen I 611) ist nicht
glücklich.
A. EpoB. 6. Hesiodos. (§ 66.) 109
choros ein Sohn des Hesiod und der Klymene gewesen sei, zur Zeit-
bestimmung heranzog, Hesiods Blüte auf 675 angesetzt hat, so begnügen
wir uns mit der runden Zahl 700, eher nach als vor. Aus der Benützung
hesiodiseher Motive in der bildenden Kunst geht hervor, daiä Anfang des
6. Jahrhunderts die Theogonie in Euboia, Attika, Korinth und Kyrene
bekannt war. Werke und Tage und ^Aonk wirken im 5. Jahrhundert auf
die attischen Künstler, i)
66. Charakter der hesiodischen Poesie. Hesiod ist Vater und
Hauptvertreter des didaktischen Epos, wie Homer des heroischen. Diese
neue Richtung der Poesie hing zunächst mit der individuellen Anlage
unseres Dichters zusammen: Hesiod war eine ernst gerichtete, kritische,
über Gott und die Welt, den Zusammenhang zwischen Leistung und Glück,
die Ziele des menschlichen Lebens nachgrübelnde und die Gedanken des
Volkes über solche Dinge aufnehmende und weiterbildende Natur. Er
sucht Wahrheit, nicht ergötzliches Spiel und glänzenden Schein, wie er
denn seinen Musen in bewußtem Gegensatz zu der homerischen Art und
an eine Stelle der Odyssee (r 203) anklingend die Worte in den Mund
legt (theog. 27 f.):
idjuev y^fsvöea JiokXd kiyeiv hvfxoioiv ö/biöia,
Tdfiev d\ evr' i&eXcojuev, äXrjMa yrjQvoao&aL
Und er sucht die Wahrheit nicht auf den gleißenden Höhen menschlichen
Daseins, sondern in der Tiefe, in der Not und Arbeit des Alltags, wo der
naturgemäße Zusammenhang zwischen Verschulden und Erleiden am un-
verhülltesten vor Augen liegt und die ewigen Grundwahrheiten aller Sitt-
lichkeit sich am deutlichsten und einfachsten zu erkennen geben. Seine
Aufgabe sieht er darin, seinen Landsleuten zu vermitteln, was sie von
Götterlehre zu wissen brauchten, und ihnen den nötigen Vorrat sittlicher
Grundsätze für ernste Lebensführung und praktischer Regeln für vernünf-
tigen Haushalt zu bieten. So ist er ein Dichter für Bauern, wie Homer
einer für Könige.*) Die Verschiedenheit der beiden Dichter hängt auch
mit den verschiedenen Zuständen ihrer Heimatländer zusammen: dort in
Asien eine frische, aufstrebende, an die Blüte der mutterländischen Kultur
in der Achäerzeit unmittelbar anschließende Entwicklung, ein leicht beweg-
liches, durch die See in die Ferne gewiesenes Volk, Hörer voll Lust an
Mären und Abenteuern; hier in Böotien ärmliche, durch den von der dori-
schen Wanderung verursachten Kulturbruch noch verstörte Verhältnisse,
ein hochfahrender, geldsüchtiger, egoistischer Adel (die dcogotpdyoi ßaodrjec;)^
durch dessen parteiisches Regiment tief heruntergedrückt eine wesent-
lich auf Ackerbau und Viehzucht angewiesene Bevölkerung ohne viel
geistige Beweglichkeit, ohne Empfänglichkeit für die Reize künstlerischer
Formvollendung, tn Technischen knüpft die Poesie des Hesiod teils an
das homerische Epos an, dem sie in Versmaß, Dialekt^) und sprachlichem
') Hub. SoHiODT, Observationes archaeo- i II 8 ff. ; ähnlich der Spartaner Eleomenes
logicae in carmina Hesiodea, Diss. phüol. | bei Ael. var. bist. XIII 19.
Halenses, XII, 1894. | ') Dem homerischen Gnindton der Sprache
*) So soll Alexandros d. Gr. den Unter- ' sind nur einige lokale Eigentümlichkeiten bei-
Bchied aasgedrückt haben nach Dio Ghrys. | gemischt, wie die Acc. plur. auf äg (delphisch
110 OriechiBche Litteraturgeschichte. I, KUssische Periode.
Ausdruck folgte, teils trat sie in Gegensatz zu ihm durch den Charakter
einfacher Aufzählung und lockerer assoziativer Aneinanderreihung, wobei
zur Belebung kürzere oder längere Episoden erzählender oder ekphrasti-
scher Art eingelegt werden, i) Von den alten Kunstkritikern wurde diese
Stilform llotodeioq yaQaxxif]Q genannt und daher z. B. das trockene Ver-
zeichnis der Nereiden in der Hias Z 39 — 49 verworfen Aq 'Haiödeiov 1%^
xaQaxTTjoa.^) Damit verband sich die gleichfalls von den Alten schon
erkannte Neigung zur gnomischen und allegorischen Darstellung,') die
den Gegensatz zu der heiteren Phantasie und plastischen Naturwahrheit
Homers bildete. So gern man aber den homerischen Dichtungen die weit
größere Fonnsicherheit, Eleganz und Beweglichkeit zugestehen mag, so
darf doch nicht übersehen werden, daß die Probleme, die den Hesiod be-
wegten und zur Aussprache drängten, der dichterischen Darstellung weit
größere Schwierigkeiten bereiteten. Dafür leitet Hesiod mit seinen weniger
gelenken und beredten Versen viel mehr in die ernsten Tiefen mensch-
lichen Lebens und Denkens als der immer fröhliche homerische Sang. Dafi
die Griechen trotz dieser starken Verschiedenheiten doch im allgemeinen
beide Dichter ihrer Kulturbedeutung nach gleichgestellt haben,*) gereicht
ihnen zur Ehre.
Mit den Werken des Hesiod^) ist es ähnlich gegangen wie mit denen
Homers; auch dem Hesiod ist vieles zugeschrieben worden, was von seiner
Schule ausging, und auch seine echten Werke haben viele Interpolationen
erfahren, die um so eher Eingang finden konnten, je lockerer Form und
Disposition waren. Voranzustellen ist die Theogonie als das ältere Gedicht. •)
67. Die Seoyovia in 1022 Versen ist ein ehrwürdiger Versuch,'') die
bunten Gestalten der hellenischen Götterwelt in ein System zu bringen.
Den Grundbestand bilden die '^ bei Homer erwähnten Götter und Mythen.
und thessaliach), die 3. Pers. plur. auf oi- statt 1 Vasenmalerei, weniger Anregung bot, worüber
ooav {i^idov op. 139, FÖov th. 30). ^ixa (th. ! H. Bbunn, Sitz.ber. d. b. Ak. 1889, 11 73. Siehe
326) statt l^ffiyya (böotisch); das Einzelne auch o. S. 109, 1.
bei Kühnbr-Blass, Griech. Gramm. I* S. 28 f.; | *) Xenophan. fr. 10 Dibls; Herodot. EI 53;
A. FicKS Versuch (Hesiods Gedichte, 1887) | Plat reip. 377d ff. u. s.
der Rückübersetzung von Hesiods Gedichten *) P. Waltz, De la poit^e morale et de
in ältere Dialektform ist tibereilt. rauthenticit^desoeuvresattribuöesäHösiodein
*) Siehe u. S. 112 f. Mit demselben Mittel Rev. d6s^tude8anciennes9(1904)205ff.29dff.
arbeitet in langen Kampfschilderungen schon *) Der Vers op. 11 wx äoa fwvvov srjv
die llias, später z. B. die alexandrinischen Di- 'KoiScor yhog scheint auf Theog. 225 zurück-
daktiker. auch Cicero in dem lehrhaften Dia- | zuweisen (A. Kibchhoff, Hesiods Mahnliedei
an Perses, Berl. 1889, 42; E. Lisco. Quaest
Hes. 39), die Theogonie also als das ältere Ge-
dicht erscheinen zu lassen. Noch bestimmter
weist der Vers 659 auf die Theogonie als
log de oratore (VV. Kboll, Rh. Mus. 58, 1903,
573 f.). Von 0. F. Gruppe, Über die Theog.
des Hes., Berl. 1841, G. Hermann, DeHesiodi
theog. forma antiquissima, 1844 (Op. VIII 47 ff.),
H. KöcHLY in seiner Ausgabe (vgl. dessen Ak. i das ältere Gedicht zurück; aber die Echtheit
Vortr. I, Zürich 1859, 387 ff.) und neuerdings I der Versgruppe, zu der er gehört, ist von
noch von A. Fick gemachte Versuche, eine Plutarch bestritten
Teilung der Theogonie in drei- oder fünf-
oder sechszeilige Strophen durchzuführen, sind
ohne wissenschaftlichen Wert.
^) Einer von vielen nach E. 0. MOllbb,
Prolegom. zu einer wissensch. Mythol., Gdtt.
1825, 371 ff. Spuren theogonischer Poesie bei
K. Lehrs, Aristarch.' 337. Homer G. F. Schömann, Comparatio theogoniae
') Schol. B zu II. 0 21 p. 74, 2 Dind. und | Hesiodeae cum Homerica, in dessen Oposc.
Od. o 74. Mit dem Mangel an plastischer : acad. II25ff. Über das Verhältnis dieser epi-
Darstellung hängt es auch zusammen , daß sehen Theologie zum Kult s. G. Eaibbl, Nachr.
Hesiod der Kunst, namentlich der älteren : der Gott Ges. der Wiss. 1901, 491 f.
A. Epos. 6. HesiodoB. (§ 67.) m
Hesiod gestattet sich aber Abweichungen und Ergänzungen gegenüber der
homerischen Darstellung. Seine Ergänzungen betreffen einerseits Götter und
Sagen zum Teil animistischen Charakters aus den Kulten der niederen Be-
völkerungsschichten (Demeter, Dionysos, Hekate, Hestia, Ariadne, Prome-
theus) und ethische Volkslegenden (die ätiologischen Sagen von Prometheus
und Pandora, von den 5 Weltaltem), anderseits Begriflfsabstraktionen, die
aus der primitiven Metaphysik des Dichters selbst herausgebildet sind.^ Das
Verwandtschaftsschema für die Gruppierung der Götter fand er bei Homer
schon vorgebildet vor. Neu ist bei ihm die auch den Olymp mit um-
fassende Idee des Werdens und Vergehens, der Entwicklung. Das typisch
ruhige Bild des Heroen- und Götterlebens, wie es die homerischen Gedichte
isolierend hinstellen, bekommt bei Hesiod Bewegung und zeitliche Per-
spektive und Anschluß an die geschichtliche Menschheit: er dichtet eine
Geschichte der Weltschöpfung und der Göttergenerationen, die in einer
Descendenzlinie zu den heroischen Stammvätern der lebenden Adels-
geschlechter herabreicht. In der Theogonie erscheint das erste Aufleuchten
nicht nur ethischer und metaphysischer Spekulation, sondern auch welt-
geschichtlicher Betrachtungsweise. Wie Hesiod sich bei seiner Ergänzung
des homerischen Göttersystems durch die Rücksicht auf lokale Kulte be-
stimmen ließ, zeigt sich in der bevorzugten Stellung, die er in der Theo-
gonie dem Gott von Thespiai Eros anweist (V. 120 flf.),^) ebenso in dem
unverhältnismäßig starken Hervortreten der Hekate, deren Kult in Aigina
und Argos blühte. »)
Durchgeführt ist der Plan in folgender Weise: Die Einleitung
(1 — 115) besteht aus zwei lyrischen Proömien, einem ganz persönlich
gehaltenen, das Hesiods Dichterweihe durch die helikonischen Musen
schildert (1 — 35), und einem abgeschlossenen, den homerischen Proömien
ähnlichen*) Hymnus an die olympischen Musen (36 — 104).^) Dieser Hymnus
enthält die Ausführung des Auftrags, den die Musen v. 34 dem Dichter
bei seiner Weihe erteilt haben, in seiner ersten Hälfte {ocpäg avräg jiganov
. . . deideiv) und zeigt, daß das ganze Gedicht zum Vortrag bei einem
Musenfest bestimmt war. Es folgt (105 — 115) die Ankündigung des
Inhalts der Theogonie. Mit Vers 116 beginnt die epische Ausführung,
zunächst die Beschreibung der Urgeneration (116 — 336). Im Anfang war
dem Hesiod das Chaos (die Leere oder der gähnende Schlund), sodann die
breitbrüstige Erde {räia)^ die dunklen Abgründe {Tdgraoa^ vielleicht ur-
') Hesiod heißt deoX6yog und 6 :iowxm' | mit den Schlüssen der homerischen Hymnen.
^eoXoyijaag bei Aristot. met. p. 983 b 29 und I ^) Daß das 1. Proömium in seiner ur-
1000a 9. sprünglichen Gestalt (1—4. 9 - 12. 22—24.
') Fein bemerkt Aristoteles met. I 4 26 — 34) nachhesiodisch sei, behaupten mit
p. 985b 23 ff., daß Hesiod von dieser einzigen allzugroßer Zuversicht neuere Kritiker; be
in seine Schöpfungsgeschichte eingeführten
geistigen Potenz keinen weiteren Gebrauch
mache.
*) 0. Gruppe, Griech. Mythol. I, München
1906, 129. Die Theogonie enthält (411—452)
einen den Znsammenhang zwar störenden, aber
nicht TO beseitigenden Hymnus auf Hekate.
*) Vgl. namentlich die Schlußformel
X^Ugete, tixva Atog, doxe 6* IfieQÖeooav dotdi^v
kannt war es schon dem Interpolator der
Erga V. 659. Nach Plutarch quaest. conv.
IX 14 p. 743 cd wurde ein Teil des Proömiums,
V. 36 — 67, als besonderer Hymnus gesungen.
Drei Proömien und drei Theogonien, deren
Zusammenstellung in Eorinth unter dem Ty-
rannen Periandros erfolgt sein soll, will 0.
Gruppe, Die griech. Culte I 597 ff., heraus-
finden.
112
Oriechische Litteratnrgescbiohte. L Klassische Periode.
sprünglich Westland bei Tartessos) und der Allbezwinger Eros (Liebes-
gott); aus dem Chaos entstanden die Finsternis ("Egeßog) und die Nacht
(AY'f), aus der Erde der Himmel {Ovgavog), die Berge und das Meer (Jldyioq).
Von diesen Urelementen werden im folgenden als göttererzeugende Kräfte
zunächst verwendet Erde und Himmel (126 — 210) und der Pontos (23S
bis 336), so daß aus ihnen mit oder ohne Liebesvereinigung neben ab-
strakten Wesen wie Themis, Thanatos, Eris, Nike, Nemesis, auch Gestalten
der lebenden Volkssage, wie Kyklopen, Erinyen, Moiren, Gorgonen, Eronos,
Nereus, Kerberos, hervorgehen. Eingekeilt ist der Abschnitt von dem
Geschlecht der Nyx (211 — 232) zwischen die Descendenz von Uranos-
Gaia und von Pontos. Der trockene Ton dieser Partien, der durch die
parallele Anordnung der Sätze mehr Durchsichtigkeit als Schönheit hat,
wird angenehm unterbrochen durch die breiter ausgefQhrten Erzäh-
lungen von der Entmannung des Uranos (154 — 210), von der Bezwingung
des Geryoneus und der lernäischen Schlange durch Herakles (288 — 318),
von der feuerschnaubenden Chimaira und ihrer Erlegung durch Bellerophon
mit dem Pegasos (319 — 325). — Mit V. 337 beginnt die zweite Generation,
die Descendenz der Titanenpaare *) außer den lapetiden (337 — 458), unter-
brochen durch die Episode vom Geschlecht der Okeanide Styx; da der
vorläufige Schluß der Titanendescendenz mit den Kindern von Kronos und
Rheia gemacht wird (453 — 458), so fügt hier der Dichter gleich die Ge-
schichte des Zeus bis zur Lösung der Hekatoncheiren und Titanen hinzu
(459 — 506). Dann wird wieder an v. 458 angeschlossen und die lapetiden-
familie nachgeholt, die oifenbar in künstlerischer Absicht, weil sie ein er-
zählerisches Prunkstück gab und auch aus sittlichen Gründen dem Dichter be-
sonders wichtig war, auf das Ende des Titanenabschnitts aufgespart worden
ist (507 — 616). Dann wird der Faden von v. 506 wieder aufgenommen
und der Kampf der von Zeus erlösten Hekatoncheiren gegen die götter-
feindlichen Titanen geschildert; die Bannung der Titanen vno xOovög evgvodelrjg
gibt Anlaß zu einer Tartarostopographie (736—819).^) An diese wiederum
schließt sich Gaias letzte Geburt, Typhoeus, die Personifikation der Vulkane,
und dessen Nachkommenschaft, das Geschlecht der Sturmwinde (820 — 880).
Ein neuer Teil beginnt v. 881 mit der Descendenz der Kroniden Zeus (aus
Verbindungen mit göttlichen Frauen 881—923; ohne Begattung 924—29)
und Poseidon (930 — 37). Dann folgen die in unebenbürtigen Ehen von
Göttern mit Nymphen oder sterblichen Frauen erzeugten Dei minorum
gentium Hermes, Dionysos, Herakles (938 — 44) und die kinderlosen Götter-
paare Hephaistos-Aglaia, Dionysos-Ariadne, Herakles-Hebe (945 — 55).')
Angehängt ist die Descendenz des Titanensohns (371) Helios (956 — 62).
In Vers 963 darf man wohl den Rest eines ursprünglich ausführlicher
gewesenen Musenanrufs sehen, der noch v. 34 am Schluß des Gedichtes zu
*) Über die urspillnglich ithyphallische
Natur der Titanen G. Kaibel, Nachr. der Gott.
Ges. d. Wissensch. 1901, 494 ff.
*) Daß weder die Titanomachie in ihrer
jetzigen Fassung noch die Tartarostopographie
dem ursprünglichen Gedicht angehören kön-
nen, sucht E. Lisco, Quaestiones Hesiodeae
criticae et mythologicae, Diss. Göttingen
1903, 63 ff. zu beweisen.
') Hier setzt Wilamowitz, Eur. Herakl.
ir 328 A. 116 den Schluß des echten Ge-
dichtes.
A. Epos. 5. Hesiodos. (§ 67.) 113
erwarten war. Was folgt, ist ein als Gegenstück zu v. 938 — 44 gedachter
Katalog von Verbindungen zwischen göttlichen Frauen und sterblichen
Männern, 1) der den Übergang bildet zu den Verbindungen sterblicher
Frauen mit Göttern oder Heroen, dem KaxdXoyog yvvaixöjv (s. v. 1021).
Daß hier ein in allem Wesentlichen durchaus planmäßig angelegtes
Werk vorliegt, daß die auf den ersten Anblick befremdlichen Versetzungen
und Einkeilungen großenteils wohl begründet sind, ist ebenso klar, als daß
es an kleineren Zusätzen und Umarbeitungen aus einer späteren Zeit nicht
fehlt. Die sinnlosen Metzeleien, die man noch im vorigen Jahrhundert im
Text der Theogonie anzurichten liebte, haben jetzt glücklicherweise auf-
gehört zugunsten einer vernünftig konservativen Kritik.*) Wo es sich um
einen ersten Versuch auf dem Gebiet der didaktisch-systemhaften Epik
handelt, darf man natürlich nicht die logischen und ästhetischen Maßstäbe
unserer Tage anwenden, um das Echte vom Unechten zu sondern; nur
bei vorsichtig konservativem Verfahren lernt man aus der Theogonie
etwas für die Geschichte der ältesten poetischen Technik der Griechen.
Was den Verfasser der Theogonie anbelangt, so hat das ganze Altertum,
mit Ausnahme der Gewährsleute des Pausanias IX 31, 4, 3) d. h. wohl zunächst
des Plutarch, sie für ein Werk des Hesiod angesehen, insbesondere der Ge-
schichtschreiber Herodot, wenn er H 53 sagt: 'Hoiodog xai 'V/xtjgog eioi 61
jioifioavxeg i^eoyovirjv ''EU.7]oi xai xoloi d^eoToi läg ijKovvjbuag dövreg xai rifxdg
T€ xai xixvag diskovreg xai eidea avrwv orjiur]vavTeg.^) Schömann hat die Zweifel
des Plutarch-Pausanias wieder aufgenommen und die Theogonie für eine
Komposition aus dem peisistratischen Zeitalter erklärt.^) Von einer so
späten Zeit kann nun gar keine Rede sein; dagegen spricht schon ein un-
trügliches Zeugnis, die Sprache und das Digamma. Aber überhaupt ist es
übertriebener Skeptizismus, die Theogonie dem Hesiod abzusprechen. Für
die Gleichheit des Dichters der Theogonie und der Werke sprechen die
*) Da hier von Latinus und den Tyr- ipso carmine Hesiodi artem cognoscere ne-
rhenem (1011-6) die Rede ist, so kann cesse est, sollte Leitsatz für alle Hosiodkritik
dieser Abschnitt nicht vor der Gründung von ; werden. Die Leidensgeschichte der Theo-
Comä gedichtet sein. Der fehlerhafte Vers i gonie im 19. Jahrh. entwirft Lisco p. 1 tf.
1014 'lt)).Eycn'6v te ftixte dia /o»'öf'/;»' 'Aq.oo-
dUtjv fehlt in dem maßgebenden Cod. Medi-
ceus, kann also nicht verwendet werden,
um den Anbang unter die Telegonie herab-
V.PuNTONi, Studi iUl. 3 (1«95) 3o ff. 198 tf.
^} An einer anderen Stelle VllI 18, 1
unterdrückt Pausanias selbst den Zweifel.
"*) Siehe o. S. 110.6. Das älteste Zeugnis
zudrücken. Natürlich ist mit Anfügung des für den gleichen Verfasser der Werke und
Anhanges zugleich der alte Schluß der Theo- der Theogonie liegt in dem Vers op. 659 h-Oa
gonie nach 962 oder, wie andere annehmen, fit zu nmoior Äiyvfjf/g t.ießtjoav doihrfc, der
nach 955 weggefallen. offenbar auf den Eingang der Theogonie hin-
*) Verständige Anschauungen schon bei weist, und. wenn auch unecht, doch jeden-
O. Gruppe, Griech. Culte u. Mythen I 567 tf. falls aus alter Zeit stanmit. Auch in op. 48
Epochemachend im Sinn der richtigen Me- ist ein Hinweis auf die ausführliche Erzählung
thode war A. Meyer, De compositione theo- vom Betrug des Prometheus in theog. 535
goniae Hcsiodeae, Berlin 1887, an den sich \ bis 553 enthalten; ebenso ist op. 83 — 89 eine
F. Leo (Hesiodea, Gott 1894) und dessen I weitere Ausführung von theog. 511 — 14 (Lisco
Schüler E. Lisco in seinen scharfsinnigen
Quaestiones Hesiodeae, Gott. 1903, auch
K. Robert, M^langes Nicole, Genf 1905, 461 ff.
a. a. 0. 47 f.). Einen verschiedenen Verfasser
hat für die Theogonie unter den Neueren
F. G.Welcker, Hes. Theog. 57 angenommen.
anschließen. Der Satz, den Lisco S. 6 auf- | "*) F. G. Schümann. De compositione theo-
stellt: nee ipsi Hesiodo quomodo tale carmen goniae. in Opusc. II 475 ff., und in seiner
faerit instituendum praecipere licet, sed ex Ausgabe der Theogonie S. 20 ff.
Handbuch der klasa. AltortnmswUsenBcliaft. Vll. 5. Aufl. 8
in Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
Gleichheit der Sprache und Technik sowie der ganzen Lebensauffassung,
namentlich inbetreff des Ursprungs des Übels, wie sie sich besonders in den
Sagen von Prometheus und den 5 Weltaltem kundgibt, weiter das gleich
innige Verhältnis zum Musenkult und der Hinweis auf die gleiche Heimat
am Helikon (th. 2, op. OiiO) in der Nähe von Thespiai (th. 120 flf.). Be-
achtenswert ist auch theog. 80, wo schon eine Spur der dann in den Opera
so scharf sich äußernden Kritik der ßaodfjeg sich zeigt. Die Abweichung
in den beiden Darstellungen des Mythus von der Erschaffung des Weibes
(theog. 570 — H12, op. 47 — 104) erklärt sich aus dem stark interpolierten
Zustand der Stelle in der Theogonie. — Das Gedicht erfreute sich, wie-
wohl es nach Quintilians Bemerkung (inst. or. XI, 52) großenteils aus
Namen besteht, doch im Altertum großer Beliebtheit wie die genealogische
Poesie überhaupt.*)
68. Die ""Eoya w^aren nach der Tradition der Böotier am Helikon das
einzige echte Werk des Hesiod;^) jedenfalls sind sie dasjenige, in dem
seine Persönlichkeit am klarsten uns entgegentritt. Es ist gerichtet
an den Bruder des Dichters, Perses, und hat den Doppeltitel "'Egya xai
^jiiFQat {Opera et dies), weil es eine Anweisung zur Verrichtung der Arbeiten
(v. 382 Foyov ijT* ^oyco iQydCfoäat) und im Anhang dazu einen auf Tag-
wählerei (765 ff.) beruhenden Arbeitskalender enthält. Eine vollkommene
Einheit bilden die 828 Verse des Gedichtes in keinem Fall; es bestehen
nur hier, ähnlich wie bei Homer, zwei Möglichkeiten, daß entweder der
Dichter selbst ein Ganzes überhaupt nicht beabsichtigte, so daß nicht
Hesiod, sondern ein späterer Ordner als eigentlicher Vater des Gesamt-
gedichtes zu gelten hätte, oder daß die Mängel der Ordnung erst durch
Einlage fremder Zusätze und Zusammenfügung von ursprünglich selbstän-
diger gedachten Teilen entstanden sind. Die auflösende Kritik hat auch
hier in unserer Zeit eine geschäftige Tätigkeit entfaltet;*) aber so anregend
') Lisco a. a. 0. 40 ff. fixion. tabellao Att. = CIA. III 3, 1897 p. II f.).
^) Plat. Hipp. mai. 285 d (danach Philostr. **) A. Twesten. Comment. crit. de Uesiodi
vit. soph. p. 14, 1 K.); Ephor. bei Strab. 465; carmine quod iuscribitur Opera. Kiel 1815: K.
Polyb. 1X1,4: Scbol. B II. E 119. ! Lehrs, Quacst. ep. Regiom. 1887,179-252, wo
3) Paus. IX 31,4 (nach Plutarchs Kom- i Anordnung der Sprüche nach dem Alphabet an-
mentar): BoKOTon' ol nFQi lov'Ehxmra oixovv- genommen wird; F. Thiekscii, De gnomicis
Tfs nanFthjnnha do^f) )Jyovon' io< allo'Hato- \ carminibus Graccorum, Acta pliilol. Monac. III,
(^oc :Toi/jn(u orSh i) ra Egya. Aus Ar. ran. München 1820 — 22, 402 ff. Dagegen konserva-
1033 f. darf, da in demselben Zusammenhang tivC.F.M.RANKE.DeHesiodioperibusetdiebus,
als Werk Homers auch nur die Ilias zitiert | Gott 1838; E.Vollbehr, Hesiodi Opera et dies,
wird, nicht geschlossen werden, Aristophanes Kiel 1844: D. J. vanLennep, Ausg. mit Komm.,
anerkenne als hesiodisch nur die'Eoj'«. übri- Amstolod. 1847: vermittelnd A.Steitz, De Ope-
gens ist das Urteil der helikonischen Böotier ■■ rum et dierumHes.compositionc, forma pristina
vermutlich nicht unbeeinflußt von der ge- ^ et interpolationibus, Gott. 1856; J.Hetzbl, De
lehrten Kritik des Praxiphanes, Aristarchos, carminis quod O. et D. iuscribitur compositione
Krates u. a.. die op. 1 — 10 vei-warfen, weil | et interpolationibus, Weilburg 1860. Vgl. F.
die hier genannten pierischen Musen zu den 1 Susemihl, ZurLitteraturdes Hesiod, in Jairbb.
helikonischen op. 658 nicht zu stimmen f. cl. Ph. 89 (1864) 1 ff. Eine Zerlegung in die
schienen (analoge von der Wissenschaft in- • einzelnen Teile stellt A. Fick in seiner Aus-
spirierte „Volkstradition ** Paus. VI 22, 6). Das gäbe auf. A. Kirchhoff (vgl. o. S. 110. 6)
bleierne Exemplar der ^Enyn ohne Proömium, , macht den Versuch, den alten, dem Hesiod
das dem Pausanias (IX 31, 4) am Helikon ' zuzuschreibenden Grundbestand von den spä-
gezeigt worden sein soll, ist schon durch sein teren Zusätzen durch verschiedene Schrifl
Material höchst verdächtig (R. Wünsch, De- | zu scheiden und das alte Gedicht in acht
A. Epos. 5. Hesiodos. (§ 68.)
115
und fruchtbar auch die Nachweisungen mangelnden Zusammenhanges ein-
zelner Teile gewesen sind, so überwiegen doch auch hier die Anzeichen
der Zusammengehörigkeit der Hauptteile. Die Anrede an Perses rührt
unzweifelhaft nicht von einem späten Diaskeuasten, sondern von Hesiod
selbst her. Da nun diese sich an mehreren weit auseinanderliegenden
Stellen des Werkes findet, so spricht von vornherein für alle diese die
Wahrscheinlichkeit, daß sie vom Dichter zu Teilen eines Ganzen bestimmt
waren. Eher dagegen sind diejenigen Partien, in denen der Name Perses
gar nicht vorkommt, dem Verdacht nachträglicher Eindichtung ausgesetzt.
Solche sind das Anhängsel der Tage (765 — 828), die beiden Sentenzen-
nester 317—382 und 695—764, der Pandoramythus (49—104), die Schil-
derung der fünf Weltalter (109 — 201). Daß sich die in den beiden letzt-
genannten Mythen gegebenen Erklärungen für den Ursprung des Übels,
die eine historisch-ethisch, die andere naturgesetzlich-evolutionistisch, dem
Grundsatz nach eigentlich ausschließen, dessen ist sich der Dichter ohne
Zw^eifel bewußt gewesen; sonst hätte er nicht durch die fast leichtfertige
Wendung v. 106:
ei d'i&iXeig, etegöv toi iyo) koyov ixxoQvq)(6o(o
dem Hörer gewissermaßen zwischen beiden die Wahl gelassen. In der Tat
sind diese Partien, wenn sie auch mit dem Grundgedanken des Gedichtes,
daß in der gegenwärtigen schlimmen Zeit vor allem Arbeit und Tätigkeit
nottue, in idealem Zusammenhang stehen, doch zum Teil nur locker mit
dem übrigen Gedicht verbunden, so daß man den Eindruck erhalten könnte,
als hätten sie ursprünglich für sich bestanden und seien erst später, viel-
leicht noch von Hesiod selbst, den Erga einverleibt worden.*) Die im
Altertum mehrfach bezweifelte Echtheit des Proömiums an die Musen
(1 — 10) kann jetzt nicht mehr bestritten werden.^) Was nach Ausscheidung
dieser Einlagen und einiger kleineren Zusätze *) übrig bleibt, ist aber auch
noch kein geschlossenes Ganze, sondern besteht aus zwei gleichmäßig an
einzelne, sehr ungleiche Lieder zu zerlegen.
Gründlich widerlegt ist Kirchhoifs Hypothese
durch Lisco a. a. O. 48 ff.
') Am meisten noch hängt der Pandora-
mythus mit dem Grundstock des Gedichtes
zusammen und ist im engen Anschluß an
dessen Grundgedanken gedichtet, da ja die
Sendung der Pandora, wie die Sünde der Eva
im alten Testament, Unheil und damit die
Nötigung zur Arbeit gebracht hat. Auch die
Dichtung von den fünf Weltaltern, V. 109 ff.,
deren Anklänge an altindische Poesie R. Roth,
Der M3rthus von den fünf Menschengeschlech-
tern bei Hesiod und die indische Lehre von den
vier Weltaltem, Tüb. 1860. nachgewiesen hat
(über Umformung des Mythus in den Sibyllen-
büchem A. v. Gütschmid, Kl. Sehr. IV 223 f..
Ober ähnliche Anschauungen bei anderen Völ-
kern A. WnsDEMANN zu Hcrodot. II, Leipz.
1890, S. 25 ff.), macht den Eindruck echter
hesiodischer Poesie, und die Echtheit dieser
ganzen mythologischen Partie (50 201) ist
▼OD Lisco a.a.O. 57 ff. überzeugend dargetan.
*) Die Echtheit des Proömiums, das Praxi-
phanes, Aristarchos und Plutarch sympos.
l.X^ 1, 2 verwarfen, ist von F. Leo, Hesiodea
14 ff. außer Frage gestellt (unrichtig S. Mar-
tin. Das Proöm. zu den Erga des Hes., Progr.
Würzburg 1898).
^) Solche Interpolationen sind die Verse
504 - 536 von den Leiden des Winters, in
denen der ionische Monatsname AtjvaKov (504)
und der Name IlavilXrjveg auf späten, nicht-
böotischen Ursprung hinweisen, die Parallel-
rezensionen zu 60-68 in v. 69— 82 (Pan-
dora, die nur hier genannt wird, ist durch-
sichtige etymologische Fiktion; das erste
Weib hatte wohl ursprünglich gar keinen
Eigennamen; auf einer attischen Vase heißt
me'AvrimöcoQn'. P. Kretschmer, Griech. Vasen-
inschr., Gütersloh 1894, 203): ebenso v. 90 bis
105 (Lisco 32. 39 ff.) und zahlreiche lose an-
gefügte Spruchverse. Sehr weit geht in der
Annahme von Zusätzen A.Fick (s. o. S. 109. 3)
S. 43 ff., so daß ihm für die echten Werke nur
144 Verse übrig bleiben.
8*
216 Qriechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
Perses gerichteten Teilen, einem Rügegedicht (11 — 48, 213 — 316),*) in dem
Hesiod seinem Bruder und den bestochenen llichterkönigen ihr Unrecht vor-
hält, und einem Lehrgedicht, das in leidenschaftslosem Ton Anleitung zum
Ackerbau und zur Schiffahrt gibt (383 — 616 und 618 — 694), auf das aber*)
schon V. 320 hingewiesen wird. Für die Entwicklungsgeschichte des
Lehrgedichts ist es interessant zu sehen, daß nicht mit ethischen Allgemein-
heiten und Gemeinplätzen der Anfang gemacht, sondern an einen ganz
bestimmten Fall von erlebtem schreiendem Unrechte angeknüpft wird.*)
Die beiden genannten Teile sind w^ohl nicht zu gleicher Zeit entstanden,*)
aber sie sind doch zur Zusammenfügung in ein Ganzes bestimmt: es findet
sich nur ein abrundender Schluß (V. 694 xaiooq d'im tzuoiv ägiorog), und
die Mahnung zur Arbeit zieht sich als roter Faden durch beide Teile hin-
durch. Denn sie spricht gleich aus dem Eingang von der doppelten Eris,
der bösen (Zank) und der guten (Wettstreit), und sie schlägt die Brücke
vom ersten zum zweiten Teil, indem Perses ermahnt wird, statt durch
ungerechte Uechtshändel durch redliche Arbeit sein Auskommen zu suchen
(286 — 302, 315 f.). Das ganze Gedicht ist für Volkskunde eine ergiebige
Quelle.^) Angehängt ist eine 'OQyiOoßiaiTia^ in die op. 826 — 28 überleitet
und die ApoUonios für unecht erklärte.^)
In der Zeit vor Theophrastos müssen allerlei landwirtschaftliche Zu-
sätze zu den "Ao/a gemacht worden sein, da Theophrastos und Plinius für
dergleichen Dinge, die nicht in unserem Text stehen, sich auf die 'Ti^gya be-
ziehen. Vielleicht waren das die Meydka ^gya, die Proklos (Schol. Hes.
op. 126) und Schol. Aristot. Eth. Nie. (V 8 p. 222, 22 H.) zitieren.
6y. KaxdkoyoQ, genauer rvvaixo)^ xazdkoyoq oder xaxdkoyoi hieß
das dritte, nicht erhaltene Hauptwerk des Hesiod, das große Magazin, aus
dem namentlich Chorlyrik ^) und Logographie die alten Sagen entnommen
haben. Mit ihm scheint die Aufzählung der berühmten Frauen der Unter-
welt in Homers Nekyia Od. / 235 — 327 zusammenzuhängen. Frauenkatalog
hieß das Werk, weil es ein zum Vortrag ohne Musik {xaTakeyrtv) bestimmtes
Verzeichnis der sterblichen Frauen enthielt, die aus Verbindung mit Göttern
Heroen geboren hatten; es bildete also gewissermaßen eine Ergänzung
der Sehlußpartie der Theogonie, die von Heroen aus Verbindungen von
.Göttinnen mit sterblichen Männern handelt, wie von Telcgonos, dem Sohn
der göttlichen Kirke und des sterblichen Odysseus, oder von Aineias,
dem Sohn der Aphrodite und des Anchises.^) Das Werk ist ohne Zweifel
im Dienst des Adels, der seine Stammbäume auf Götter zurückführte, ver-
faßt worden und insofern bezeichnend für die veränderte Stellung der
^) Cbor den Zusaminenhang von V. 274 1840, p. 172 f.
an a. VVilamovvitz, Nachr. der (Jött. (res. tl. ') Für Stesichoros s. K. Seeliger, Die
AVinsonsch. iJSl^s, 215 tF. übcrlieferunj^ »ler /Lcriecli. Heldensage bei
■•^1 Lisco p. 56. ,Steaichoro.s, J. Moisseu \f>X6.
^! Analof<dioalUif?yptisoheOcschidito von *^i ViuUeicbt ist der JSchhiß der Thoo-
dem unirerecht behandelten Bauern, ca. 20UU gonie V. iJ<JJ^ Ur22 vom Verfasser des Kata-
v.Chr.(Hdb.d.k.MuseenBerLVlIl,L^9ih4<)ff.). lo^es selber gedichtet. Daraul" lührt die er-
^1 ViltI. V. X.4 ff. mit 31M). woiterte Kenntnis von Italien V. 1010 16 und
■''1 K. E. SiKES. Folklore in tlie Works ' die Henennun;;; des Chiron nach der Mutter
and Days. Cla.ss. Rev. 7 ( l>^l)8,i BSU Ö'. *PiÄrni()ij^ \ . 1002 (onV.^orf: äjtö /(>yToöc o^y-
®i \V. Makckscheffel, Hes. iVaj^ni., Leipz. ; ftar/^ft "Ofttjtjo^:, 8chol. A II. .1 750).
A. Epos. 5. Hesiodos. (§ 69.) 117
hesiodischen Schule, die mit einer entschieden demokratischen Stimmung an-
gefangen hatte. Der Dichter der KatdXoyoi steht nun im Mutterland politisch
und sozial ganz ähnlich in Abhängigkeit vom Adel wie der homerische
Dichter in lonien. Schon daraus geht hervor, daü der Verfasser der Kata-
loge mit dem der Theogonie und der Werke und Tage nicht identisch
sein kann. Wie die Theogonie, so bestand auch der Katalog aus kleinen,
locker aneinander gereihten Absätzen in der Manier der hesiodischen Schule,
und bildete in einer Zeit, wo es noch keine Staatengeschichte gab, ein
versifiziertes Lehrbuch der Heroengeschichte. Das Ganze bestand aus fünf
Büchern, die alle^) oder zum Teil^) auch den Titel ^Ildiai hatten. Dieser
Titel 'Hdiai hatte seinen Grund darin, daß die einzelnen Absätze mit T] oTrj
anfingen,») wie
fj otT]v 'Ygirj BoKorirj ho£(ps xovgrjv.
Da die ^Höiai und die MeydXai 'Holm nach dem Zeugnis des gutunterrichteten
Scholiasten zu Apollonios Rhodios II 181 und IV 57 sich öfter widersprachen,
so müssen sie zwei verschiedene Gedichte gewesen sein. Der Plan des
Katalogs, an dem Faden berühmter Frauen eine Heroengeschichte auf-
zuziehen, hängt zusammen mit der besonderen Verehrung der Frauen in
dem Kulturkreis, für den der Dichter sein Werk schuf.*) Der Mythen-
schatz der fünf Bücher des Katalogs reichte weit über den Horizont der
äolischen und ionischen Epiker Kleinasiens hinaus, er umfaßte die Sagen
aller Stämme, wenn auch die Sagen Thessaliens, der Wiege des hellenischen
Volkes, vornehmlich berücksichtigt waren.*) — An der Echtheit des Kata-
logs haben selbst die besten Kritiker Alexandrias nicht gezweifelt. Philo-
choros (Strab. p. 328) und ApoUodoros (Strab. p. 370) führen unbedenklich
Stellen daraus als hesiodisch an;^) demnach scheint auch Aristarchos, der
Lehrer des ApoUodoros, keinen Zweifel an der Echtheit gehegt zu haben.')
Nur Pausanias IX 31, 4 spricht ihn auf Grund der Aussagen seiner Führer
am Helikon dem Hesiod ab.^j Schwerlich sind die KaTakoyoi von An-
^) Hesychios^HoTai' 6 fcaidloyog'HatoSov, \ vofti^eo&ai rorc «.to to)p Fxatov oix«ov Xfyo-
und Et, Gud. ^HoTai' Faxt xaTt'doyoc:'Hoi6^ov. ''■ jLievovc xrL Vgl. Pind. 0. 9 und E. Lübbebt,
Von einer Geliebten Hesiods namens 'Hoirj De Piudaro Locrorura Opiintiorum amico et
fabelt Hermesianax bei Ath. XIU 597 v. 24. patrono, Bonn. Ind. Schol. 1882. (Ihren be-
*) Arg. Scuti 111: xfjg l4omA(h; t) dgxy sonderen Zweck hat die Anrede fii]To6{^ev
Fv Tto d* xazaXoycp ffegsrai, der Anfang des 1 Aesch. Prom. 18.)
Schildes beginnt aber mit /) oi'r). Daher ver- ^) Auch die losage führt L. Deübnkb,
diente sicher das 4. Buch des Kataloges den i Philol. 64 (1905) 481 ff. auf die Kar. zurück.
Spezialtitel ^HoTai. F. Lbo, Hesiodea Ind. > Dem bunten Reichtum derMythen des Katalogs
aest., Gott 1894, p. 8 ff. identifiziert mit Recht ■ und der Eöen steht der gleiche Reichtum in
Karaioyog und *HoTai und unterscheidet von , den Reliefdarstellungen der um dieselbe Zeit
diesen MeytUai'Hoiat, die im Altertum nicht entstandenen Kypseloslade zur Seite; auch
für hesiodisch gegolten hatten; ihm folgt dort standen Szenen aus den Sagen von
A. Rzach in der Ausgabe. Das Material zur Troia und Theben. Herakles und Theseus.
Beurteilung der Frage bei W.Mabcksoheffel, Pelias und Medea nebeneinander.
Hes. fragm. p. 106 ff. *) Siehe W. Marckscheppel p. 182 f.
*) Zu dieser Formel vgl. Hom. II. .4 263. Asklepiades in Anth. iX 64 schreibt dem
J 319. H 133. Hesiod zu ftaxagcor yh'o; (Theog.), Foyn (Erga)
*) Siehe o. S. 116, 8; über die Lokrer und yfvo^ agyaiow ijocowy (Eatalogos).
sagt Polyb. Xll 5, 6 nach Aristoteles: özi ') Auch Lukianos .tooc 7fm'o<^or 1 erkennt
^dyra ra dta jrgoyovcov Mo^a jiag* avzotg | das Werk unter dem Titel yvvaixojv ugeiai
ojio Twv yvvaixwv, ovx olio zwv dvSoMv \ als echt an.
ioTÖQow, olov ev^dwg evyeveXg szagd aq>iai , ®) Zweifelnd äußert sich auch der Scho-
Hg Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
fang an streng einheitlich gewesen. Interpolationen lassen sich bei der
lockeren Anlage des Werkes von vornherein vermuten 0 und werden durch
sprachliche Unterschiede zur Gewißheit erhoben. Während z. B. in anderen
Fragmenten das Digamma des Pronomens der dritten Person noch fest
haftet, ist es fr. 144, 2 Uz. ganz vernachlässigt. *) Stand Fr. 128, das
sich auf die Gründungsgeschichte von Kyrene in Afrika bezieht, im alten
Katalog, so muß man mit dessen Abfassungszeit bis unter das Gründungs-
jahr von Kyrene Ol. 37, 2 (630 v. Chr.) herabgehen.^) Übrigens führt
auch ein anderes Anzeichen, das Fehlen des Gürtels im Kingkampf der
Atalante (fr. 22 Rz.), das die Scholien AT zu Hom. ¥ 683 bezeugen,
auf die Zeit nach Ol. 15. Und da auch die geographischen Notizen und
die Weiterbildung der Mythen*) auf verhältnismäßig späte Zeit hinweisen,
so werden wir trotz des altertümlichen Charakters der Sprache^) nicht an
eine Abfassung vor dem Ende des 7. Jahrhunderts denken dürfen. Die
KardXoyot sind poetisch durch die Chorlyrik, historisch durch die Logo-
graphie aufgesogen worden, haben aber doch, wie die Berliner Papyri
(fr. 94 Rz. und Beriiner Klassikertexte V 1, 1907, S. 22 ff.) zeigen, noch
im 4. Jahrhundert n. Chr. existiert. Die Eöen- und Katalogform hat in
der attischen und alexandrinischen Zeit mehrere Sprossen getrieben.^)
70. \Aonig '^IlgaxXeovg in 480 Versen trägt den Namen des Hesiod,
wiewohl schon der Grammatiker Aristophanes die Unechtheit erkannte.^)
Das Proömium (1 — 50) ist, wie uns die alte Hypothesis lehrt, aus dem
vierten Buch des Frauenkatalogs herübergenommen und hängt nur locker
mit dem Hauptinhalt des Gedichtes zusammen, so daß es diesem erst nach-
träglich vorgesetzt zu sein scheint. An das Proömium schließt sich in
ganz äußerlicher Weise die Erzählung vom Kampf des Herakles mit dem
Unhold Kyknos im pagasäischen Hain des Apollon an, bei dem Kyknos
unterliegt und Ares selbst, während er seinen Sohn beschützt, verwundet
Hast zu Pindar P. 3, 14 n« to?^ ei^ IIoUhSov Digamma in der Heimat der hesiodischen
dra</FoouFroi^ t'nFnir. i Schule noch weit länger als in lonien ge-
*) Von interpolierten Versen spricht Plut. sprechen wurde, was sich auch in dem
Thes. 20 und Paus. 11 20, 6. 2. Hymnus auf Apollon geltend macht.
*) Fr. 134. 6Rz., wo die gleiche Vernach- «) Dahin gehört schon die Lyde des
lässigung begegnet, ist vielleicht koirupt; ' Antimachoa, dann die ^HoToi des Sosikrates,
hingegen ist in der Eöe der Alkmene das der Kaxaloyos ymuxun' des Nikaiuetos, die
Digamma bewahrt fs. 8cut. 11. 15. 2U. 22. 34. *'Eowth: !} xalni des Phanokles (F. Skctsch,
38. 40. 45). j Aus Vergils Frühzeit I, Leipz. 1901, 52 f.).
^) F. Stüdniczka, Kyrene 42 zieht diesen ! '') Argum. lil: inmrrxEvxF. dk ^«larcw/ ar*;?
Schluß, er ist aber ganz unsicher. A. Kirou- 6 yoaftttnTixa; ro? ovx ovoav avryv 'Hoi(hU)v,
HOFF, Odyssee 315 tf. und B. Niese. Entw. d | dlÄ* htoor nros ri/r 'OfirjQixi/v aomba fti^ttf-
homer. Poesie 223 setzen den Katalog zwischen i anoOai -rntHuoovfiFvnv. Die Echtheit verfocht
Ol. 40 u. 50, WiLAMOwiTZ, Homer. Unters. dagegen mit IJerufung anf den Katalog der
169 ,, nicht viel vor (JOO". | Grammatiker Apollonios. Zweifel an der
*) In beachtenswerter Weise stimmen Echtheit hegen auch Ps.Longin de suhl. 9. 5,
bezüglich der Zwölfzahl der Kinder des Ne- der anonyme (Grammatiker in 1. Bekker, An.
leus die junge Homerstelle A H92 und Hes. gr. 1165 und J. A. Ckamer, An. Ox. IV 315.
fr. 15 Rz. überein Die Ei-wähnung der Pyg- Siehe das Material bei W. Margksciieffel^
maien. Makrokephaloi und anderer Wunder- Hesiodi fr. p. 141 ff.; Chr. Küxneth, Der
menschen führt Alarckscheffel p. 137 auf die | pseudohesiodische Heraklesschild, sprachlich-
von Herodot IV 152 en^'ähnten Fahrten des I kritisch untersucht, Progr. Belangen 1901.
Samiers Korobios (Ol. 30) zurück. 1902.
^) Dabei ist aber zu beachten, daß das j
A. Epos. 5. Hesiodos. (§ 70.) 119
wird. Den größten Teil des Gedichtes aber nimmt die Beschreibung des
Schildes des Herakles ein, wovon es auch seinen Namen hat. Daß damit
der Verfasser ein Seitenstück zum Schild des Achilleus liefern wollte, liegt
auf der Hand, aber ebenso auch, daß er damit weit hinter Homer zurück-
geblieben ist.^) Daß bei Homer die Teile des Schildes aus Hephaistos'
Hand hervorgehend (aber ohne irgend anschauliche Schilderung seiner
technischen Manipulationen) dargestellt, bei Hesiod einfach aufgezählt
werden, ist ein von Lessing im Laokoon viel zu stark betonter, tatsäch-
lich ganz irrelevanter Unterschied der äußeren Form. Ein wirklich be-
zeichnender Unterschied dem Homer gegenüber liegt dagegen in der Art
der Schildverzierung; bei Homer sind es Bilder des Lebens, genremäßige
Szenen des Krieges, der Weinlese, der Hochzeit, bei Hesiod mythologische
Gestalten, Herakles im Kampf mit den Schlangen, Streit der Lapithen und
Kentauren, ApoUon inmitten der Musen, der beflügelte Perseus in frei-
schwebender Bildung, verfolgt von den Gorgonen-) u.a. Dieselbe Art der zu-
sammenreihenden Kunst treffen wir auf dem Kypseloskasten (Paus. V 17 — 19),
so daß eine Wechselbeziehung zwischen Dichtung und Bildnerei hier recht
wahrscheinlich ist. 3) Auf der anderen Seite lebte der Dichter des Schildes
vor Stesichoros und Peisandros, von denen der erste nach der ersten
Hypothesis irgendwo des hesiodischen Schildes gedacht hat,^) der zweite den
Herakles nicht mehr wie der Dichter der 'Aomg homerisch stilisierend mit
Schild und Speer,*) sondern nach altdorischer Weise mit Keule und Löwen-
fell darstellte. Das Gedicht mag daher noch vor 600 entstanden sein.
Dazu stimmt, daß die Szene nach Pausanias (HI 18, 10) auch auf dem
Thron des Bathykles (zweite Hälfte des 6. Jahrh.) abgebildet war. In der
Sagengeschichte nimmt das Stück insofern eine bedeutsame Stellung ein,
als in ihm alles sich um den Ruhm des Herakles dreht. Diese Gestalt
ist während der Blütezeit des ionischen Epos auf das Mutterland beschränkt
geblieben und erst durch dorischen Einfluß zu immer größerer Bedeutung
gelangt als Verkörperung des dorischen Mannesideals. ^)
Die Verse Scut.466— 480 sind auch auf einem Papyrus (Oxyrh. pap.IV 1904 nr. 689) er-
halten. Zur Textüherlieferung A. Rzach, Herrn. 33 (1898) 591 flf.; zur Kritik v. Wilamowitz,
Herrn. 40 (1905) 116 ff.
71. Außerdem wurden dem Hesiod noch mehrere andere, aus seiner
') F. W. Stegbmann, De scuti Herculis
Hesiodei poeta Homeri carminum imitatore,
Diss. Rostock 1904. Der Berliner Homer-
papyms 9774 (Berl. Klassikertexte V 1, 18 ff.)
aus dem 1. Jahrh. v. Chr. zeigt einen aus
Hesiods Schild interpolierten Text der home-
in der homerischen Beschreibung einen älteren,
noch mit der mykenischcn Art zusammen-
hängenden Kunstcharakter als in der hesio-
dischen (von ihm ca. 650 gesetzten) findet.
*) Argum.IRz. : (ooavxiog de xai ^^Ttjoi-
Xooog fftjotr 'Hoiddov ftrat xo .TOii]fia. Nament-
rischen Schildbeschreibung. liehe und anonyme Zitationen sind dem Stil
*) Hiemit sucht der Dichter den home- ■ der Chorlyrik nicht fremd (Simonid. fr. 5, 8.
lischen Schild offenbar an Raffinnement der i 53; Bacchyl. V 192 Bl.; Find. 4, 277; Aesch.
Metalitechnik zu überbieten. Prom. 887; Soph. Ant. 621).
*) H. Bbuit!?, Die Kunst bei Homer und ihr ^) Diese Vorstellung hält Soph. Philoct.
Verhältnis zu den Anfängen der griech. Kunst- 726 (o x^tlxaa.iig avi)^) fest,
geschichte, Abb. d. bayr. Ak. 11 (1868) 17 ff.; ^) v.Wilamowitz, Euripides' Herakles I\
G. LöscHCKB, Arch. Zeit. 39 (1882) S. 46 ff.; K. Beil. 1889. W. äufsert zu Eur. Herc. v. 110
SiTTL, Jahrb. d. arch. Inst. 2 (1887) S. 182 ff.; den Gedanken, in dem Kampf mit Kyknos
F. Studniczka, Über den Schild des Herakles, sei Herakles ) ubstitut des ursprünglichen
in Serta Harteliana, Wien 1896 p. 50—83, der Achilleus.
120 Qriechische Litter atorgeschichte. I. Klassische Periode.
Schule hervorgegangene Werke zugeschrieben, i) von denen uns nur spär-
liche Reste erhalten sind, nämlich:
1. Epische, unter denen wieder dorische Stoffe bedeutsam hervor-
treten :
Ki]vxog yduog, Hochzeit des Herrschers von Trachis und V^etters des
Herakles, der auch Herakles beiwohnte, mit Alkyone.^) Die Echtheit wird
von Athen. 49b und Plut. sympos. VHI 8 p. 730 f. angezweifelt.') Als
Episode aus dem Krjvxog yd/iog versteht Marckscheffel (S. 154) das 'Etii-
fhi/.dßuov f'ig FlijXea xal ßhiv, das in der alexandrinischen Vorlage zu
CatuUs 64. Gedicht nachzuwirken scheint;*) wenigstens muten Breite der
Episoden und stagnierende Komposition hier hesiodisch an.
AiyijuiOi; in mindestens 2 Büchern/') von manchen ebenso wie eine
^9//a^coc ek 'Aidov xaxdßaois dem Milesier Kerkops beigelegt,^') der in der
Zeit des Onomakritos lebte und dem Fick auch die jetzige Fassung der
Theogonie und der Erga zuschreibt. Dieser scheint in einer legendarischen
Hesiodbiographie als Hesiods Rivale aufgetreten zu sein.*^) Das Gedicht
behandelte den Kampf des zur dorischen Urgeschichte gehörigen Aigimios
mit den Lapithen und muß an Episoden reich gewesen sein.*»)
Mekafijzodla in mehreren Büchern, benannt von einer Figur des dio-
nysischen Kreises (Herodot. H 49), dem pylischen Seher Melampus,^) dessen
Geschlecht wie in die Telemachie und Thebais so auch in die Gründungs-
sage von Kolophon verflochten wurde. Unter anderem war in dem Epos
ähnlich wie in dem \iyd)v 'Ifoiddov xal 'OuiiQov ein Rätselwettsti*eit der
Seher Kalchas und Mopsos vorgeführt, i^) wobei Kalchas (ähnlich wie der
Homer der Legende) an einem ungelösten Rätsel starb.
Ein hesiodisches Gedicht vom Ehezwist zwischen Zeus und
Hera, in dem die Typhonsage vorgekommen sein soll, haben neuerdings
H. Usener und A. v. Meü^*) zu. rekonstruieren versucht.
2. Didaktische:
XfiQiovos vTroüi/xat, eine poetische Erziehungsschrift. Pindar P. 6,
21 ff. spielt auf sie (fr. 170 Rz.) an, indem er aus ihr den an die Zehngebote
erinnernden Spruch anführt: „Nebst dem Herrseher Zeus ehre zumeist die
Eltern"; ebenso Horaz (Epod. 13, 11 ff.), parodierend Aristophanes (fr. 227
Kock). Nach Quintil. 11,15 hat Aristophanes von Byzantion das Gedicht,
in dem bereits der Schroibunterricht der Knaben erwähnt war, dem Hesiod
abgesprochen.
') W. Marckschkffel. Hesiodi fragin. I ^) fr. 185. 186 Rz.
p. .^8 ff. Die große Zahl der Fälschungen ' '^) Ath. p. ^OHd; Apollodor. II 1, 3.
auf Hesiods Namen erwähnt Ael. var. hist. 1 ') Diog. Laert. 11 46: Arg. FV zu Ar. ran.
XII m. \ in Bkrgks Aristoph. II. Leipz. 1861. p. 172, 7.
'^) Vgl. sout. 355 f. 472 f. I «) Die losage fr. 186. 188. 189 Rz.
^) Das Gedicht ist von Bakchylides ^'i Zur Erklärung des Namens s. F.
(fr. 22 Bl.) und den Trfigikern (A. FAnLXBEit(j. 1 KnETsmiMER. Einl. in die (Jesch. der griech.
De Hercule tragico Graec, Leipz. 18tH. 16 f.) | Spr. 87 f.; s. a. E. Roiide, Psyche IP 51 f.
benützt worden. ! »<>) Vgl. Strab. p. 642; E. Rohde. Kl. Sehr.
"*) über den Stoff s. J. Heumaxn, De i I 1U3 f. Aus der Me/.au,-Tt><iin scheint Eaphor.
epvllio Alexandrino. Leipz. Diss. Königsee . fr. 46. 50 Meineke zu schöpfen.
1904, 38 ff. I '') Rhein. Mus. 56 (1901) 167.
A. Epos. 5. Hesiodos. (§§ 71-73.) 121
Apokryph sind: 'AargovojLua,^) ^Idaioi AdxTvkoi*) u. a. Das von Suidas
angeführte ^Enixi^deiov eig Bdrgaxov xiva iQibfievov avxov mag in einer
legendenhaften Hesiodbiographie vorgekommen sein. Über weiteres Apo-
kryphe 8. W. Marekscheffel Hes. fr. 197 ff.
72. Aufgenommen ist in die neueren Hesiodausgaben (am besten in
der von A. Rzach 1902) auch der \Ay(ov 'Hoiodov xai ^Oju/jgov^ oder der
Wettstreit des Hesiod und Homer bei den Leichenspielen des Königs Am-
phidamas in Chalkis. Die Legende ist lediglich aus einer Stelle der hesiodi-
schen ""Egya (650 ff.) herausgesponnen. 3) Die uns vorliegende Fassung in
Prosa stammt aus der Zeit des Kaisers Hadrian, dessen Namen sogar in ihr
vorkommt,*) geht aber auf eine ältere Erzählung des Rhetors Alkidamas
zurück.^) Zum Wettstreit werden alte und neugeschmiedete Verse der
beiden Dichter vorgeführt; Sieger bleibt nach dem Schiedsspruch des
königlichen Preisrichters Paneides^) Hesiod. der Begründer der lehrhaften
Poesie, während die Zuhörer sich mehr für Homer erwärmen. Angeknüpft
sind an den Wettkampf die weiteren Schicksale der beiden Dichter Hesiod
und Homer. Nach Plutarch (Conv. sept. sap. 10 p. 154 a) galt Lesches als
Verfasser des Wettkampfs,
Erste kritische Ausgabe des ^Aycov von F. Nietzsche. Acta soc. philo! . Lips. I (1871)
1 ff.; Quellenuntereuchung von dems.. Rhein. Mus. 25 (1870) 528 ff. Über die Textquelleu
A. Rzach, Wien. Stud. 15 (1893) 139 ff.
73. Früh verbreitete sich die Kenntnis der hesiodischen Gedichte
auch über das griechische Festland hinaus nach dem ionischen Kleinasien,
und es traten Kreuzungen zwischen homerisch-ionischer und hesiodisch-
mutterländischer Weise ein, wie die Interpolation der homerischen Epen
durch Zusätze hesiodischen Charakters (s. o. S. 68, 2; 119, 1), die Berück-
sichtigung dorischer Sage in späteren Werken der homerischen Schule (s. o.
S.94), die Weiterführung der genealogischen Dichtung durch den lonier Asios
von Samos, die Einreihung des Milesiers Kerkops in den Kreis der hesio-
dischen Dichterschule und der Einfluß der Erga auf die Entwicklung der
iambischen Poesie beweisen. Daß von Peisistratos die schriftliche Redaktion
veranlaßt und dabei auch Onomakritos beteiligt war, ist eine Vermutung
ohne jeden wissenschaftlichen Wert, wahrscheinlich ausgegangen nur von
der Behauptung des megarischen Historikers Hercas (Plut. Thes. 20),
Peisistratos habe einen Hesiodvers getilgt, und gestützt durch die analoge
Legende über die homerischen Epen. In der Zeit nach Peisistratos wurden
die Werke des Hesiod, die echten wie die unechten, als eine Fundgrube für
*) Die Astronomie, vor 500 entstanden, | rov OEioxdiov avToxodiooog 'Afimavov FiQtj-
enthielt bereits die Anfänge der Sternbilder- 1 ^thov r,io r/ys nrßia>; nroi 'Ofitjoov.
sagen, worüber A. Rehm. Mytbogr. Unters., ^) Beacbtenswert für die Entstehungs-
Progr., München 1896. p. 36ff. Dagegen läßt | zeit ist, daß die Verse 101 f. schon bei Ari-
sie nach K. O. Müllers Vorgang E. Maass, stoph. pac. 1282 f. vorkommen. E. Meyer,
Aratea, Phil. ünt. XII 268 erst später, „viel- Herrn. 27 (1892) 363 ff. Ein Rest einer älteren
leicht erst nach Arat** entstanden sein. Fassung des dytor ist auf dem PapjTus s. 111
*) Der Gegenstand ist auch Phoronis v. Chr. bei J. P. Mamaffy, On the Flinders
fr. 2 Kinkel berührt. Ueber die phallische Petrie Papyri, Dublin 1891, p. 70 ff. gefunden
Natur der Daktylen G. Kaibel. Nachr. der worden.
Gott Ges. d. Wissensch. 1901, 488 ff. ®) Dieser scheint als Typus der Toiheit
*) Siehe o. S. 105, 4. i schon bei Simonides von Keos vorgekommen
*) p. 358, 19 Göttl.: ÖJieo dxrjxoa/aev lil \ zu sein (\V. Schmid, Rhein. Mus. 59, 1904,320).
122 Griechische Litteratorgeschichte. I. Klassische Periode.
Fabelgescliichten und als ein Schatz von Lebensweisheit*) in Schule und
Haus fleiüig gelesen und auswendiggelernt. Von einer kritischen oder kom-
mentierenden Behandlung des Dichters aus jener Zeit hören wir aber nichts;
nur data der Philosoph Xenophanes ihn neben Homer als Begründer fal-
scher Vorstellungen von den Göttern heftig befehdete.^) und der Logograph
Akusilaos ihn in Prosa umsetzte und berichtigte. *) Später erklärte Zenoo,
der Stifter der Stoa, die Theogonie.^) In der alexandrinischen Zeit wurde
neben Homer auch der Text des Hesiod von den hervorragendsten Kritikern,
Zenodotos, ApoUonios Rhodios, Aristophanes, Aristarchos, Krates, Seleukos,
bearbeitet. Aristophanes und Aristarchos setzten auch bei ihm ihre kriti-
schen Zeichen, die dann in ähnlicher Weise wie bei Homer den Ausgangs-
punkt für die Kommentare des Didymos und Aristonikos bildeten. 5) Übri-
gens ist die kritische Tätigkeit der Alexandriner am Hesiodtext weit
weniger intensiv und erfolgreich gewesen als am Homertext. Vermutlich
wirkte hier Aristoteles' geringschätziges Urteil über die Lehrdichtung auf-
haltend. Die Götterlehre des Hesiod bot den Stoikern und Neuplatonikem
willkommene Gelegenheit zu allegorischen Erklärungsversuchen. Plutarch,
der Landsmann und Verehrer Hesiods, schrieb vier Bücher Kommentare
zu den Werken,'') welche die Grundlage für den Kommentar des Neu-
platonikers Proklos bildeten. Auf den Kommentar des Proklos und einen
Gi'ammatikerkommentAr (des Choiroboskos?) gehen die erhaltenen Scholien
zurück. Im byzantinischen Mittelalter fohlte es nicht an Erklärern der
Erga und der Theogonie, aber die Kommentare des Tzetzes, Moschopulos,
Planudes und die \4Utjyooiai flg tI/v tov 'Hoioöov (-hoyoriar des lo. Dia-
konos Galenos (11. Jahrhundert)") verarbeiteten nur den überkommenen
Stock alter Scholien, so daü es die Aufgabe der modernen Philologie war,
den Kern alter Gelehrsamkeit aus der Umhüllung byzantinischer Geschwätzig-
keit herauszuschälen.
Überlieferung. F]ine Gesamtuusjjabe der drei uns noch vollständig erhaltenen
(iediohte war schon im 4. Jahrhundert n. Chr. vorhanden (Rest eines Pergamentexcmplars in
IJcrlin, 8. W. Ckönert. Arch. f. Papyrusf. 2. 1903. 847). Die Alexandriner müssen den Hesiod-
text ähnlich wie den der homerischen Gedichte stark gekürzt haben. Denn Chrysippos las
nach theog. 926 ein in unseren Handschriften fehlendes JStück über die Geburt der Athena
(Galen. T.V 851 K.). Siehe G. F. Schömann, Opusc. II 398 ff. Auskunft über die Über-
lieferung gibt A. RzACH in der Praefatio der Ausgabe. Leipz. 1902. Älteste Zeugnisse ent-
halten die zahlreichen Papyri, deren Varianten Rzach mitteilt und die uns auch mehrere
neue Fragmente, besonders gröüere Stücke aus den Knnuoyoi (fr. 94 Rz. Berliner Klassiker-
texte V 1, 22 tf.) geliefert haben. Nicht selten bieten Zitate bei Schriftstellern des 4. Jahr-
hundert^s v. Chr. einen besseren Text als unsere Handschriften (F. Leo, Hesiodea 16 ff.;
') Der Elegiker llermesianax bei Ath. Schrift .Tfo/ twv oijufUov ron' er rß f^Foyovta
XJII '»97, V. 22 nennt den II(?siod -Tao/yc Hotöt^or. Die Fragmente zusammengestellt
tjonror ('moonj^. von H. Flach. Glossen und Scholien zur hesiod.
I Xenophan.fr. 11. 12 Dikls ( Vorsokrat.);
Athen. 462 f.; Diog. Laeit;. II 46: Kfoxcoy
'IIoi<k)(o C(om (sc. f:<f i/.oyi-i>cft), jy/Lfvz/joarTi Öf.
6 .inoFiofjiin'o^ ZFVorpdrrjs-
^) Clem. Alex, ström. VI p. 752 P.: ra
Ifniddov UFTijU.a^F^' fU hf^ov Äoyoy. loseph.
c. Aji, I 16: öoa dk öiooOorTui tov 'lioiodov
Axovnu.ao^.
^1 H. V.Arnim. Stoicor. vct. fragm. I (Lips.
1905) p. 71.
^j Suidas erwähnt von Aristonikos eine
Theog., Leipz. 1876. S. 100 ff. Die Zeugnisse
über die kritische Tätigkeit der Alexandriner
an Hesiod bei (}.¥. Schümann, Opusc. 111 47 ff, ;
s. a. DiMiTRiJEVio unten S. 123.
*"') Die Reste in Plut. moral. ed. G. N.
Bkrnardakis T. VII 51—98.
^) Die Zeit steht nicht ganz fest und
hängt mit der Frage über die Identität des
Pediasimos und Galenos zusammen; s. K.
Krumbacher, Byz. Litt.* 557.
A. Epos. 6. Die spätereren Epiker. (§ 74.) 123
M. R. üimTRiJEVic in der sogleich anzuführenden Schiift). Die besten Codd. sind für die
Theog. u. Scut Laur. 32, 16 s. XIII (D), außerdem die Fragmente Paris, suppl. 663 s. XII vom
Berg Athos (C); für die Opera Laur. 31, 39 s. XII (D), Messanius praeexistens 11 s. XIII u.
Paris. 2771 s. XI (C); für Opera und Scut. Ambros. C 222 inf. s. XIII (D).
Scholien, über deren Bestandteile bereits § 73 gehandelt ist, herausgegeben von
Th. Gaisford, Poetae min. graec. vol. II des Leipziger Druckes 1823. — Glossen und Scholien
zur hesiodischen Theogonie von H. Flach, Leipz. 1876. über ihre Quellen M. R. Dimitbi-
jEVic, Studia Hesiodea, Leipz. 1899.
Ausgaben: ed. princ. Mediolani 1493; cum notis variomm cur. C. F. Lösner. Königsb.
1778; rec. et commentariis instruxit C. Göttling, ed. III. cur. J. Flach, Lips. 1878; ed. K.
SiTTL, Athen 1890; Textausg. mit Comment. crit. von G. F. Schümann, Berol. 1869; rec. Al.
RzACH, Lips. 1902, Hauptausg. mit den Fragmenten, wonach kleinere Ausg. in BT. (übersehen
ist das Fragm. bei Bacchylid. V 193 ff. Blass). — Zerlegung der Gedichte in ihre Teile und
Ziu*Uckführung auf ihre ursprüngliche Form versucht von A. Fick, Hesiods Gedichte, Bezzenb.
Beitr. 12. Gott. 1887. — Soparatausgaben : ""Egya comment. instr. D. J. van Lennep, Amstel.
1847; Die Werke und Tage des Hesiod von A. Steitz, Leipz. 1869; von A. Kirchhoff s. o.
S. 110, 6. — Die hesiodische Theogonie von F. G. Welcker, Elberfeld 1865; von G. F. Schö-
MANN, Berl. 1868. — Hesiodi quod fertur Scutum ed. C. F. Ranke, Quedlinburg 1840; H.
Deiters, De Hes. scuti Herculis descriptione, Bonn 1858; dazu K. Lehrs, Pop. Aufs.'*^ 427 ff.
— Hesiodi Eumeli Cinaethonis Asii et canninis Naupactii fragm. coli. W. Marckscheffel,
Lips. 1840. — Certamen s. o. S. 121.
Erläuterungsschriften: G. F. Schömanns Abhandlungen zu Hesiod. im 2. Band
seiner Opusc. acad., Berl. 1857; 0. Gruppe, Die griech. Culte u. Mythen 1 567 — 612; Hub.
Schmidt s.o. S. 107, 1. — R. Peppmüller, Hesiodos ins Deutsche übertragen, mit Einleitungen
und Anmerkungen, Halle 1896.
6. Die späteren Epiker. 0
74. Genealogisches Epos. Auf die Blütezeit des homerischen und
hesiodischen Epos folgt eine Zeit des Weiterwirkens der beiden Kunststile
im Mutterland und östiichen Kolonien. Im Mutterland verbreitet sich vor-
wiegend die hesiodische Weise; sie dringt aber auch in das Stammgebiet
der homerischen Epik hinüber und kreuzt sich hier mit der homerischen
Art, bis vom 5. Jahrhundert an die Parodie dem ganzen Epos alten Stils
den Lebensfaden abschneidet und sich immer mehr die Anschauung be-
festigt, daß Homer und Hesiod zwar als Erzieher Griechenlands in Ehren
zu halten seien, ein Weiterdichten in ihrem Ton aber nicht mehr angehe.
Neue Anläufe werden gemacht schon im 5. Jahrhundert von Panyassis und
Choirilos. Der Finder des neuen Stils aber und der Archeget des alexan-
drinischen Epos ist Antimachos geworden.
Im Mutterland nimmt seit dem 8. Jahrhundert Korinth wie in der
politischen Stellung so auch auf geistigem Gebiete den Wettkampf mit
den übrigen Staaten Griechenlands auf. Es war eben die Zeit, in der die
Stadt unter der kräftigen Führung des adeligen Geschlechtes der Bak-
chiaden und der volkstümlichen Tyrannen Kypselos (657 — 627) und Perian-
dros (627 — 587) zu ungewöhnlicher Macht emporstieg. Die Blüte der
epischen Poesie ging dort Hand in Hand mit dem Aufschwung der Toreutik
und Vasenmalerei; kann man doch geradezu die berühmten, mit metrischen
Beischriften versehenen Darstellungen der Kypseloslade*) die älteste Bilder-
chronik der Griechen nennen. Der berühmteste der korinthischen Epiker 3) war
*) W. Mabckscheffel , Hesiodi Eumeli graeconim fragmenta, I, 1877, in Bibl.Teubn.
Cinaethonis Asii et carm. Naupactii fragm., (p. 185 ff.).
Lips. 1840 (p. 216 ff. 397 ff.); H. Düntzer, Die
Fragmente der epischen Poesie der Griechen,
Köhi 1840—42, 2 Teile; G. Kinkel, Epicorum
-) Bescluieben bei Paus. V 17 — 19.
') Dunkel ist der korinthische Dichter
Aison bei Simonid. fr. 215 Bekgk.
124 Griechische Litteraturgeschichie. L Klassische Periode.
Eumelos,») Sohn des Amphilytos aus dem Geschlecht der Bak-
chiaden. Seine Blüte wird von den Alten in die Zeit des Archias, des
Gründers von Syrakus, also um 740 gesetzt. 2) vermutlich zu früh. Sein
Hauptwerk waren die KoQirOuixd, in denen die sagenhafte Vorgeschichte
Korinths behandelt war, darunter auch die Verstoßung der Medeia und die
Heirat des lason mit Kreusa, der Tochter des Königs Kreon von Korinth.
Dies Gedicht scheint später in einen prosaischen Auszug gebracht worden
zu sein (Paus. II 1, 1). Außerdem dichtete Eumelos eine EvQcoma. in der
die Fabel von der Europe, der Tochter des phönikischen Königs Agenor,
vorkam, und ein ländliches Gedicht Bovyovin^ als dessen Gegenstand Sal-
masius die Geschichte von Aristaios (Philitas bei Antig. ('aryst. mirab. 19;
Vergil. Georg. IV 315 ff.) ansah. Auch ein Prosodion, d. h. Prozessionslied in
Hexametern, das er für die Messenier auf den Gott in Delos dichtete, erwähnt
Pausanias (s.u. A. 2), dessen Vermutung (V 19, 10), Eumelos habe auch die
Verse auf dem Kypseloskasten verfaßt, für uns unkontrollierbar ist. Be-
merkenswert ist das Fehlen dorischer Sagen in Eumelos' epischen Gedichten.
Wenn man dies jedoch auf eine dorierfeindliche Tätigkeit im Dienst der
korinthischen Tyrannen deuten will, so kann man dem Eumelos das Pro-
zessionslied, das noch ein freies Messenien voraussetzt und den Zeitansatz
der Alten bestimmt zu haben scheint, nicht zuschreiben. Auch könnte er
dann schwerlich Bakchiade gewesen sein. Auf seine Bedeutung als Dar-
steller der Sagengeschichte wird seine Bezeichnung als nonpr]^ JoroQucog
(Schol. Pind. 0. 13, 74a p. 373, 8 Drachm.) zu beziehen sein.
Dem argolischen Sagenkreis gehörte die Alkmaionis an, deren
Verfasser nicht vor dem Schluß des 7. Jahrhundeiis lebte, da er als
Sohn der Penelope den Leukadios anführt (Strab. p. 452), der von der
unter Kypselos oder Periandros gegründeten korinthischen Kolonie Leukas
seinen Namen hat.^) Das Epos behandelte im Anschluß an den Zug der
Epigonen gegen Theben die Schicksale des heimkehrenden Alkmaion und
die Gründung des amphilochischen Argos. In diese Gründungssage waren
auch die Geschicke d<?s Tydeus und Diomedes veitiochten.-*) Die Mythen
des Epos boten später den Tragikern reichen Stoff für ihre Dramen.
Die XavTiaxTKi pjiij waren ein genealogisches Epos auf berühmte
Frauen nach Art der Eöen; als ihr Verfasser wurde nach Paus. X 38, 11
von den einen ein Milesier (KerkopsV), von anderen (Charon von Lamp-
sakos) Karkinos aus Naupak tos genannt. Es war indem episodenreichen
Gedicht namentlich auch, im Anschluß an Medeia, die Argonautensage
behandelt, weshalb es öfters in den Scholien zu Apollonios Ilhodios an-
*) E. WiLiscii, Über die Fraj?inente dos erhalteucn Verse dieses (.icdichtes, das manche
Epikeis Eumelos, Pro^r. Zittau 1(S75. Spuren allein für echt oumeliscb hielten (Paus. IV
altkorinthischer Diclitungen außer Eumelos, 88. 8). daktvlische Hexameter in äolischem
Jalnbb. f. Phil. 123 ilmi) 161 flf. Dialekt aufweisen. Das Digamma läßt E.
-) So Clemens Alex, ström. 1 p. 898 P.: ebensowenijj; wirken wie der Dichter der
Eusebios setzt ihn Ol. h u. 9. Zu diesen An- Verse des Kvpseloskastens.
m'aben stimmt im allgemeinen die Über- ^i E. Oherhimmer. Akarnanien. München
iieferung (Paus. IV 4, 1). dafj er für den 1887 S. 74: Wilamowitz. Homer. Unters. 78.
König von Messenien Phiutas ein Prosodion *) JSiehe hierüber O. Immiscii. Klaroe,
;.n den Apolhm von Delos gedichtet habe. Jahrb. f. Phil. Suppl. 17 (1890) 182—193.
Höchst seltsam ist, dafs die zwei einzigen
A. Epos. 6. Die späteren Epiker. (§ 75.) 125
geführt wird. Das erste Fragment zeigt einen schon an die Logographie er-
innernden Pragmatismus im Zusammenreimen verschiedenartiger Traditionen.
Kinaithon aus Lakedaimon, nicht zu verwechseln mit dem chiischen
Rhapsoden Kynaithos,») wird von Pausanias II 3, 9 als genealogischer
Dichter bezeichnet. Auf ein genealogisches Gedicht weisen auch die ihm
zugeschriebenen Nachrichten über Medeia, Helena, Orestes, Talos. Nament-
lich scheint er als Peloponnesier die Genealogie und Sagengeschichte der
Dorer und Herakliden behandelt zu haben (Paus. II 18, 6); eines der ihm
beigelegten Gedichte hieß 'Hgänleia, Andere machten ihn auch zum Ver-
fasser einer Trj^yovia(?), Olduiodeia und der 'IXiäg fxixod. Seine Zeit steht
nicht fest; denn der Ansatz des Eusebios auf Ol. 4 ist ohne Zweifel zu hoch
gegriflfen; seine Angaben über Medeia bei Paus. II 3, 9 rücken ihn unter
Eumelos herab.
Chersias aus Orchomenos lebte um Ol. 40 zur Zeit des Periandros.^)
Seine ejiri konnte schon Pausanias (s. IX 38, 9) nicht mehr auftreiben. In
der Vita des Hesiod wird ihm auch das Epigramm auf dem Grabdenkmal
des Hesiod in Orchomenos zugeschrieben. Seine Bezeugung durch den
fragwürdigen Kallippos, der auch von einem Hegesinoos als Verfasser
einer Atthis wissen will (Paus. IX 29, 1), ist sehr schwach.
76. Schärfer als alle diese nebelhaften Gestalten hebt sich Asios,
der Sohn des Amphiptolemos aus Samos ab. Auch er hat Genealogien
gedichtet, die Pausanias häufig zitiert. Begreiflicherweise behandelten seine
£711} zunächst die Genealogie der Herrscher seiner Heimatinsel Samos (Paus.
VII 4, 1), enthielten aber auch die Abstammung anderer Fürstengeschlech-
ter, wie z. B. der Phoker (Paus. II 29, 4). Außerdem hat uns Athenaios
p. 525 e mehrere Hexameter auf den Luxus der Samier erhalten, wie sie
schön gekämmt in langen, weißen Leibröcken und mit goldenen Diademen
und Zikaden im Haar») zum Tempel der Hera zogen. Die Verse gehören
aber schwerlich dem genealogischen Epos des Asios an, sondern einem
anderen Gedicht von satirischem (yharakter. Auch Verse einer Spottelegie
auf den bei der Hochzeit des Meles ungeladen erscheinenden Bratenduft-
schinder {xviooxoXa^) Kreophylos-*) werden von Ath. p. 125 d angeführt.
Schon diese dienen zum Beweis, daß man den Ausdruck "Aoiov tov Tiakaiov
Ixelvov bei Ath. 125 b nicht streng nehmen darf, und lassen K. L. Urlichs'
(Rhein. Mus. 10, 1855, 3) Ansatz auf Ol. 35 — 40'^) annehmbar erscheinen.
Besonderen Sagenkreisen galten folgende Epen:
^Ax^ig des Hegesinoos (s. o. § 75 Schi.).
0ooa)vig benannt nach Phoroneus, dem Adam und Prometheus der
*) Verwechselt von Welckeb. Ep. Cvcl. kennt in diesen Versen 0. Crüsiüs, Philol.
I 227. 242 ff. *^ i 54 (1895) 727.
^) Nach Flut. conv. sept. sap. p. 156 e
*) Einen ähnlichen Haarschmuck trugen
die alten Athener nach Thuc. I 6. Aristoph.
Equ. 1328, Schol. Arist. Nub. 980. Ein Terra-
*) WiLAMOwiTz, Textgeschichte der griech.
Lyriker, Berl. 1901. 61. will ihn nicht vor 550
setzen. L. A. Michelanoeli. 1 frammenti di
Asio. in Rivista di stör. ant. 3 (1898) 71 ff.
kottenköpfchen mit ähnlichen Haan^erzie- ' macht auf die Übereinstimmung von Aus
rungen aus Kleinasien besitzt das Antiqua- drücken in den Fragmenten bei Ath. lll 125
rium in München nr. 35. Zu vergleichen ist mit solchen der Hatrachomyomachie aul-
die Schilderung der lonier Hymn. Hom. I 147. merksam und schließt daraus, daß Asios
*) Welckeb, Ep. Cykl. 1 144 f. Einen nach dem Verfasser der Batrachomyomachie
R«8t eines alten poetischen f^io<; Vfi/jour er- um 400 lebte.
126
Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
argolischen Mythologie, der in Argos noch in geschichtlicher Zeit Ver-
ehrung genoß (Paus. II 20, :^).») Das Epos benutzten als Quelle die Logo-
graphen Hellanikos und Akusilaos.
OiFOTioamsn angeführt von Paus. VIII 12, 5, schließt an die Odysseus-
sage an (f 315 ff.); über Musaios' ßr?; negi HFonocorayv vgl. o. S. 94.
'HodxXfiat,^) von denen eine bald dem Kinaithon,'*) bald einem Konon
zugeschrieben wird.
SjjntjiQ, angeblich von Diphilos, vermutlich von einem ionischen Dichter
nach dem Muster der Heraklcen gedichtet.*)
76. Epische Gedichte mit religiöser Tendenz. Sie treten auf
im Zusammenhang mit der mächtigen mystisch-religiösen Bewegung^) des
6. Jahrhundorts und verfolgen den Zweck, durch dichterische Einkleidung
in weiten Kreisen Propaganda zu machen teils für die apollinische Reli-
gion, die mehr und mehr in Delphoi^) ihren festen Mittelpunkt erhielt, teils
für die orphischen Soktenbildungcn, deren Schauplatz in jener Zeit be-
sonders Athen und der griechische Westen war. Am meisten dichterischen
Glanz scheinen unter diesen die phantastischen ^AQijLidojreia ijit] des ohne
Zweifel geschichtlichen Aristeas aus Prokonnesos in 3 Büchern entfaltet
zu haben.') Über den Verfasser und den Inhalt dieser ^jtrj ist Haupt-
quelle Herod. IV 18— 1() u. III IH). Danach stammte Aristeas aus einer
angesehenen Familie von Prokonnesos, einer Kolonie der Milesier an der
Propontis, und stand im Ruf eines Wundermannes {q?(Hß6kaujiTog). Von
seiner Heimat aus machte er ausgedehnte Reisen nach dem Norden bis
zu den Issedonen und erzählte in seinen ?n}j fabelhafte Dinge von den
^' Eiläutcriiiig der Fragmente von G.
Kaibkl. (iött. Naciir. li^l, r>02 ff.
'^) Aristot. poel. 8: <)to .-rurzes foixaotr
nuaijT(i)'Fiy 6o(H kuv jionjTior '^IfnaxÄt/tAa xai
Ht/Offt6a xai r« roiavia :Toit'i/iaTn nFnon)xnm%"
oiorrat '/(to, f.Tsi fI^ >))• o Y/oa;<A/yc, fva xai
Tm' (wOin- Fiviu nnoo/jXFtr. Dasselbe meint
Iftocr. 5, 109 f. Diese Gedichte, aus deren
einem llerodot IV H ff. die merkwürdigen Ge-
ftcliicliten von Herakles im Skvthenland ge-
schöpft haben wird, sind vom '>. .lahrhundert
an aufiiesogcn worden Utih durch dramatische
Bearbeitungen der Heraklessage, teils durch
j)ro.saische Darstellungen, sei es in Foiiu
eines mythologischen Romanes iHerodoros),
sei es in Form sophistischer Lobreden (Plat.
8ymp. 177 b).
') Kt'rniihK heißt der Verfasser in Schol.
Apoll. Rhod. 1 1 857, Körmr zu 1 lltJo. Wila-
MowiTZ, Kur. Herakles V 800 ff. nimmt einen
dorist'hen, vor Hesiod lebenden Dicliter der
zwölf Taten des Heiakles {<)o)ötxaO).m') an.
^1 Einer späten Zeit gehörte Zopyros an,
der nach Stob. Hör. ^4.88 (vgl. Ts. Plut. parall.
84 1 im 8. Buch seiner in IVosa geschriebenen
Thes(?i.s den iMedeiamythus erzählte (s. C.
MCllkk, FHG. lVr)81--88). Die dem Diphilos
vom Scholiasten zu l*ind. 0. 10, 88 b zugewie-
senen choliambischen Trimeter gehören viel-
leicht in ein parodisches Gedicht. Aus einer
Theseis schöpfte Hakchylides in den Ge-
dichten nr. IG u. 18 die Schilderung der Taten
des Theseus. Es ist wahrscheinlich, daß die
Translation dei Thesensgebeine aus Skyros
nach Attika durch Kimcm im Jahr 4ß8 der
Theseusdichtung Anregungen gegeben habe.
Etwa derselben Zeit gehören die llieseua-
meto|>en des Athenerschatzhauses in Delphoi
an (P. Pekdrizet, N. Jahrbb. f. kl. Altert. 21,
11)08. 32 f.).
*) Vgl. die Charakteristiken bei Chb. A.
Loreck, Aglaopham.812f.; £. Rohde, Psyche
F 200 ff. Diese Epen sind die frühesten
giiechischen Ei Zeugnisse des Geistes, der die
romanhaften Biographien des l\>i;hagora8,
Apollonios von Tyana, die pseudoclcmentini-
sehen Rekognitionen und die christliche
Legendenlitteratur geschaffen hat.
*^i Im alten Epos ist Delphoi als Orakel-
sitz ganz selten erwähnt (11. / 404: Od. ^
7yf. ; Hes. theog. 499), dagegen zeugen die
beiden ersten homerischen Hymnen für die
wachsende Bedeutung der apollinischen Kulte
in Delphoi und Delos.
' I »Suidas führt von ihm auch eine Theo-
gonie und Schriften in Prosa an: die Echt-
heit aller Schriften bezweifelt Dionys. de
Thuc. 28; s. E. Tournikr. De Aristea Procon-
nesio et Arimaspeo poemate, Par. 1863.
A. Epos. 6. Die späteren Epiker. (§ 76.) 127
Völkern jener fernen Länder, von den einäugigen Arimaspen,*) den gold-
hütenden Greifen, den Hyperboreern, Kimmeriern, Skythen u. a.^) Das
Schwanken in der Bestimmung seiner Lebenszeit — seine Blüte setzt
Suidas Ol. 50 (58?) unter die Regierung des Kyros und Kroisos;«) Herodot
(IV 15) läßt ihn 240 Jahre vor seiner Zeit, also über 100 Jahre früher
leben*) — hängt mit der Tradition über seine Entrückung und Wiederkunft
nach 240 Jahren zusammen. Das Gedicht muß den Interessen des Apollon,
dessen Kult Aristeas in Metapontion einführte, gedient haben. Aischylos im
Prometheus (703 ff.) benützt es, ebenso Pindar nach Orig. adv. Geis. Ilf 26,
und noch im Anfang der Kaiserzeit ist es gelesen worden {ti. vii>. 10. 4).
Von dem Hyperboreer Abaris, der nach Herodot IV 36 mit einem
von Apollon ihm geschenkten Pfeil umherzog,*) erwähnt Suidas skythische
Orakelsprüche,*'') ein Gedicht von der Reise des Apollon zu den Hyperboreern,
Reinigungen und eine Theogonie in Prosa. Seine Legende ist namentlich
durch Herakleides Pontikos fixiert und ausgeschmückt worden. '') Seine
Lebenszeit schwankt mit der des Phalaris, zu dem er in Beziehung gesetzt
wurde, ^) zwischen Mitte des 7. und Mitte des 6. Jahrhunderts.
Hier sind auch die Orakelsprüche (xQ^ojaoi) von Delphoi zu er-
wähnen, die seit dem 6. Jahrhundert mit dem steigenden politischen Ein-
fluß der delphischen Priesterschaft zahlreicher und kunstvoller wurden;
erhalten sind uns solche nur durch gelegentliche Anführungen bei Histo-
rikern und Grammatikern.^) Die älteren halten sich durchaus im epischen
Dialekt und daktylischen Hexameter, den die Pythia sogar als ihre Er-
findung reklamierte. 1^) Sammlungen sind wohl schon für das 6. Jahrhun-
dert anzunehmen (vgl. z. B. Herod. V 43. 90).
Von einem eigentümlichen Versuch mystischer Umwertung des uralten
kretischen Zeuskultes gibt die kathartische Tätigkeit des Kreters Epime-
nides Kunde. Er gewann seine Inspirationen durch Inkubation in der Höhle
des idäischen Zeus.^^) Als geschichtlich ist sein Auftreten in Athen nach dem
kylonischen Frevel Ende des 7. Jahrhunderts zu betrachten, als fabulos die
bei Piaton (leg. 1642 de) berichtete Überlieferung von seinem Wiederauftreten
') Das Wort ist iranisch und bedeutet
, wilde Pferde habend '^.
') Aristeas beschrieb Land und Leute
vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee. Daß
in der Tat griechische Handelswege so weit
hinaufreichten, bezeugen die Funde von 39
altgriechischen Autonomraünzen an der Netze
und von großen Goldgeräten bei Vettersfelde,
worüber A. Fübtwängler im 43. Winckel-
mannsprogr , Berl. 1883.
') Suidas: yFyors öe xaxa KooToov xai
KvQov 6XvftJnddi V (»•>/ em. Flach nach Rohde).
Vgl. E. RoHDB, Griech. Roman^ 186 f. Wenn
A. auch als Lehrer des Homer ausgegeben
wurde (Strab. p. 639), so ist das wohl als
religiöse Repristination (s. o. § 15) zu verstehen.
*) Dort liest jetzt H. Stein nach den besten
Handschriften xeooe^ydxovxa xai dirjxoaioioi
statt TQitjxooloioi.
*) Nach Ps.Plat. Axioch p. 371a haben
Opis und Hekaergos die mystischen Lehren
von der Unterwelt aus dem Hyporboreer-
land auf eherner Tafel nach Delos gebracht;
vgl. E. RoHDE, Psycho IP 90 ff.
®) Über die zur Anweisung der y.a&do-
öfis nötige, der poetischen analoge Inspiration
Plat. Phaedr. 244 d f.
') A. Dyroff, Philol. 59 (1900) 610 ff.
Vgl. E. RoHDE, Psyche IP 90 ff
«) E. RoHDE. Kl. Sehr. 1 105.
**) R. Hexdess. Oracula giaeca, in Diss.
philol. Hai. IV (1877). Die französischen Aus-
grabungen in Delphoi haben keine Über-
raschungen gebracht.
^^) Procl. ehrest, p. 230. 8 Westph. Andere
hieratische Ansprüche auf diese Erfindung
Lobeck, Aglaoph. 238 f. (Orpheus); Paus. X
5, 7 (Ölen). Die in iambischen Trimetern ab-
gefaßten hielt schon Apollonios Molon (Scbol.
Ar. nub. 144) um ihrer Form willen für unecht.
»0 E. Rohde, Kl. Sehr. 11 201 ff.; ders.,
Psyche IP 96 ff.
128 Oriechische Litter atnrgeschichte. I. Klassische Periode.
ebenda 100 Jahre später.*) Zugeschrieben werden ihm eine Orakelsamm-
lung,2) eine Theogonie. ein Epos vom Argonautenzuge, überdies Schriften
über Opfer und Reinigungen in Prosa;'») auch eine Geschichte der fabel-
liaften Teichinen wurde von einigen auf seinen Namen gesetzt.*) Diels
führt die poetischen Fragmente alle auf ein Gedicht {Heoyovla fj KgtjTixd
^ XO^I^f^^^O zurück und hält die Kaf^aofioi für eine Prosaschrift. Demoulin
hält alles Überlieferte für Fälschung und gibt nur die Möglichkeit zu, dafi
in der Seoyovin einige epimenideischon Gedanken seien.
Am üppigsten blühte die orphische Tendenzdichtung unter der Füh-
rung des Onomakritos,^) der von Hipparchos aus Athen verjagt wurde,
weil er von Lasos aus Hermione der Fälschung von Orakeln überführt
worden war, der uns aber später wieder bei dem Perserkonig als Freund
der Peisistratiden begegnet;") er dichtete auch selbst Pm}, die nach den
Zitaten des Pausanias V'III 31, 3: 37, 5 und IX 35, 5 in das Gebiet der Theo-
gonie einschlugen. Die unter den Namen von Musaios und Orpheus in die
Litteratur gekommenen Dichtungen hat er nicht bloü bearbeitet, sondern
im wesentlichen selbst gemacht.")
Neben Onomakritos werden noch Zopyros aus Herakleia, Nikias
von Elea und die Pythagoreer Brontinos und Kerkops als Verfasser
solcher mystischen Dichtungen genannt, auf die wir unten bei den Orphika
zurückkommen werden. Wohl zahlreicher noch als die auf einen be-
stimmten Namen zurückgeführten hieratischen Gedichte waren die ano-
nymen, an dem verschiedenen Mysterien- und Orakelplätzen (Eleusis, An-
dania, Samothrake, Delphoi, Dodona) bei den Weihen, Sühnungen und son-
stigen religiösen Übungen gesungenen Verse. Auch astrologische Gedichte
erwähnt schon aus jener alten Zeit Herodot II 82.
77. Das jüngere Heldenepos. Im 0. und 5. Jahrhundert haben
mit bedeutender Gestaltungskraft^) zwei Dichter, Peisandros und Panyassis,
noch einmal einen alten Stoff ergriffen und ihn, wie es scheint, in der
\) Über di<? Zeitiinsätzc vgl. E. Roiidk, \ Diels, Fragm. der Vorsokratik er' S. 499 — 505.
Kl. Sehr. I ir»<) f.; (lors., Psyche a. a. 0. — • "*) Ath. 2^2 e: o rifV l'fA^iviaxi^r iaro-
l^uelleiianalyse der Ei>iinciiidesvita von II. omr oirlhi^, Hirt *Hittifr{dt}^ foxiv 6 Kgr^^ if
IJemoulin. Kp. de C-rete iHiblioth. de la fac. Ttj/.fy.h/t^t/^ tur' a/./.o^* t/c.
de philos. et de lettres ä Liege fasc XII. V.mi ^'i A. Loheck, Aglaüphamu-s 332 ff. 698;
J. Töi»FFEK. Att. Uciieal. 140 ff. F. Hitsi-hl. Onomakritos von Athen. Opusc.
•^1 Arist. rhet. 111 17 p. 141Sa 23; Flut 1 2^\f< ff.: K. Hohle, F.syche IP 111 ff.
de orac. d(?f. 1. , «i Herodot VU 6.
•♦; Suida.s: ryoni^f ^^r .To/./.a y.-jty.oK y.n't ' •) Clemens Alex, ström. I p. 397 P : ov
y.anü.oydi^ijr. Diog. I 111: i.iottiOF «W A'or- y(.h't>it<iy.nixin) rn ^/s Oix/ tu ^fFoouera :tcnit)'
o/jran' y.tu Kftovßävjinr ytvFoir y.ni ih(t/.oyiay iiaTu /Jyyrm fh'<u . . . yai Toi's //«' dyntf-fgo-
y.Ttj .iFrray.io'/O.ia, 'Aoyorc rar.T //;•/«»• tf yju itn'or^ //c Muroiuor //J'i^."^*^'^ Oyoftaxoirov
lanoroc fi\: Kok/ov^ a.-jönhtvr f.tij F^ny.toxtktii- \ fn'cii /Jyfnnir. Die lU'Ste in G KINKELS
jiFrTny.nnia' nvvFyiKOj^F (Vf y.ai ynTa/.oydÖtjy Fragm. epic. 23>^ ff
.-TFoi Ovniüty xtu r//s n' Kn/jTij .7o/./rfmc yai 1 "*) Ein Ui teil können wir freilich mit den
.TFoi Mt'yo)^ y.ai 'PadnudyOrth: fu F.Tt/ iftou- \ erhaltenen dürftigen lie^sten nicht mehr be-
y.ioyÜMi. Über die geringe Zuverlässigkeit der . gründen, aber wir kennen das günstige Ur-
Angaben vgl. E Hilleh. Hb M. 33 il^TJ^.i 020 f. , teil der alten < Grammatiker: Procl. ehrest
Die Ke.ste der Theogonie besprochen von 0. ' p. 2oO\V. : yFyoyaca tVt rur Fni>r< nonfrai xoa-
Kkux. C^uaest. crit. de Oq)ii(?i. Ej>imeniilis. xmjot uiy iJutjot,^, ']Ioi<t<^(Kf IfFinttvÖnog, IIa"
Pherecydis thoogoniis. l»erol 18?«:8 IL Diels, I rrnoi^,\iyriiitty<,^; Anecdot. Estense (Tzetzes)
über Epimenides von Kreta. Berl. Ak. f>itz.ber. bei J. Kayseh. De veterum arte pottica, Diss.
1><1JI. 3iJ3 ff. — Die Fragmente jetzt bei H. I Leipz. 1900. p. 56.
A. Epos. 6. Die späteren Epiker. (§ 77.) 129
Hauptsache noch im alten Stil behandelt. Nur stimmen sie beide unter
dem Einfluß der Chorlyrik i) und der durch sie vermittelten dorischen Sagen-
versionen den Ton mehr ins Volkstümliche, gelegentlich ins Humoristische*)
herab. Ein dritter, Choirilos, greift kühn aus dem mythischen in das ge-
schichtliche Gebiet hinüber, um dem durch die Konkurrenz der farben-
reichen Gattungen von Drama und Dithyrambus stark bedrängten Epos
neue Reize zu gewinnen. Antimachos endlich verzichtet auf Volkstümlich-
keit und wendet sich mit einem neuen, kapriziösen Stil an die Kenner.
Peisandros, Sohn des Peison und der Aristaichme aus Kamiros
in Rhodos, 3) verfaßte eine Herakleia in 2 Büchern. Die Zwölfzahl der
Arbeiten, das Löwenfell und die Keule des Heros gingen von seiner Dich-
tung aus in die Fabelgeschichte über.*) Die Kraft der Darstellung und
die Konzentrier ung der Erzählung auf eine Person verschafften dem Ge-
dicht sein hohes Ansehen ;5) erhalten sind uns nur wenige Verse; ver-
mutlich aber enthält die Schilderung der 12 Athla des Herakles bei
dem Mythographen Apollodoros H 5 Exzerpte aus Peisandros. Die Zeit des
Dichters wird von Suidas Ol. 33 (um 645) gesetzt; nach den Resten seines
Gedichtes kann er kaum älter als das 6. Jahrhundert gewesen sein.^) Das
Gedicht scheint in der frühptolemäischen Zeit in Zusammenhang mit der
Heraklesverehrung der Diadochen, vielleicht auch der Kyniker, eine Re-
naissance erlebt zu haben. '^) Zu unterscheiden von ihm ist ein jüngerer Pei-
sandros, der unter Alexander Severus eine ^ozogta noixih] di inibv schrieb.®)
Panyassis aus Halikarnassos,») Oheim des Historikers Herodot, der in
den Freiheitskämpfen seiner Vaterstadt gegen den Tyrannen Lygdamis den
Tod fand, behandelte denselben Stoff weit ausführlicher in 14 Büchern und
8000 Versen, unter Benützung von Kreophylos' OlxaXiag äXcooK;.^^) Außer-
dem dichtete er in elegischem Versmaß ^lovixd, in denen er die Gründungs-
geschichte der ionischen Kolonien Kleinasiens erzählte. Einen fröhlichen
Sinn voll Weineslust atmen einige schöne Fragmente (4. 12 — 14 K.), denen
ein neues aus einem Papyruskommentar zur Ilias anzureihen ist.^^)
*) Insbesondere Stesichoros wirkt auf sie | ^) Quint. X 1, 56: Quid? IlercuUs acta
ein: Stesich. fr. 7 (Herakles mit Keule und | {nthla coni. E. Wölfflin, Rhein. Mus. 53,
Löwenhaut; also Strab. 688 nicht ganz richtig); | 1898,327) non hene Pisawfrosif
Paus. IX 11, 1. Aus derselben Quelle schöpft I ®) Wilamowitz, Euripides Herakles I
Pherekydes populäre Züge der Heraklessage
(Th. Bebqk zu Stesich. fr. 5).
') Hieher gehört der Herakles nicht in
der ritterlichen Rtlstung, sondern in Kostüm
and Bewaffnung des Urmenschen, mit Tiöwen-
feil und Keule, die Veracheuchung der stym-
phalischen Vögel vermittelst einer Klapper
309. An der Richtigkeit des Namens zweifelt
nur Strab. p. 688 (p. 655 wird ohne Bean-
standung Peisandros als Verfasser der Hera-
kleia genannt). Auch cyklische Gedichte
wurden auf diesen Namen gesetzt, worüber
s. V. Wilamowitz. Textgesch. der gi-. Lyr.
(Abh d. Gott. Ges. d. Wiss. N. F. IV 1901) 66, 1.
bei Peisandros, das Schießen nach Göttbm , ') Darauf weisen Theoer. epigr. 20 u. id.
und die Vorliebe für den Wein bei Panyassis 24. 25 hin.
(fr. 6. 20. 21 Kinkel). Man meint schon den ' ^) Auf den Mythographen Peisandros
dorischen Mimus und den Herakles des Satyr- l beziehen sich die Scholien zu Eur. Phoeniss.
Spiels anklingen zu hören. I 834. 1760 und zu Apoll. Argon. I 152. 471.
*) Das Ar seine Statue auf Rhodos be- | **) Der Historiker Duris bei Suidas nennt
stimmte Gedicht des Theokritos steht in Anth.
Pal. IX 598.
<) 0. MüLLBB. Dorier II 475 ff. Schon
Pindar Is. 6, 48 u. 0. 3, 19 setzt die Ar-
beiten in bestimmter Reihenfolge voraus.
ihn Sohn des Diokles (andere des Polyarchos)
und Samier, vielleicht weil er, wie Herodot,.
zur Zeit seiner Verbannung in Samos lebte.
»0) Clem. Alex, ström. VI p. 751 P.
") Wilamowitz, Gott. gel. Anz. 1900, 42f.
Handbuch der klass. Altertomswiasenschaft. VII. 5. Aufl. 9
130 Griechische Litteratorgeschichte. I. ELassiBche Periode.
78. Choirilos aus Samos,') jüngerer Zeitgenosse und Liebling des
Herodot, dem wir gegen Ende des peloponnesischen Krieges zuerst als
Begleiter des Feldherrn Lysandros*) und dann neben dem Tragiker Aga-
then, dem Komiker Piaton u. a. am Hof des Königs Archelaos von
Makedonien begegnen. 3) Nach dem Vorbild des Phrj^nichos und Aischylos
wählte er zu seinem Epos Ileoofjk (IleQotxd bei Herodian) den Stoff aus
der Zeitgeschichte. Schön begi'ündet er in dem erhaltenen Proömium
diesen seinen Plan damit, daß dem Diener der Musen, nachdem alles ver-
teilt sei, nichts übrig bleibe, als einen neuen Weg zu suchen. Die Perseis
hatte ihren Mittelpunkt in dem Sieg der Athener über den Perserkönig
Xei-xes; durch Volksbeschluß der Athener erhielt sie die Ehre mit den
Gedichten des Homer öffentlich, vermutlich an den Panathenäen, vorgelesen
zu werden (Suidas). Ein zweites Gedicht des Choirilos 2a//iaxa ist früh-
zeitig verschollen.^) Diesem will D. Mülder (Klio 7, 1907, 42 f.) fr. 6 K. zu-
weisen. Die Abhängigkeit des (choirilos von Herodot ist offenbar.^) Die
Darstellung war sehr gewandt und besonders reich an kühnen Bildern.«)
Im 4. Jahrhundert war der Dichter noch wohl bekannt und gelesen.')
Verschollen sind die epischen Erzeugnisse der gleichzeitigen Dichter
Nikeratos von Herakleia (panegyrisches Epos auf Lysandros), des So-
phisten Antiphon von Athen, der Xoyoßmyeiooc genannt wurde, des Epi-
lykos, Bruders des Komikers Krates, des Lyrikers Melanippides von
Molos und des lambographen Aischrion {"Kqtatg bei Tzetz. ad Lycophr. 68).
Die Zukunft gehörte der Richtung des Anti machos. Er ist Sohn
des Hyparchos aus Kolophon,**) Schüler des Panyassis und Stesimbrotos,*)
lebte zur Zeit dos peloponnesischen Krieges bis in die Regierungszeit des
Artaxerxes II. hinein, »ö) Piaton zollte seinen Dichtungen hohe Anerken-
nung und veranlaßte seinen Schüler Herakleides Pontikos zu ihrer Samm-
lung und Herausgabe. ^0 Vielleicht erst nacli einem Mißerfolg auf dem
Gebiet der historischen Epik^^) wendete er sich einem alten mythologischen
Stoff zu in seiner Thebais, aus der Zitate bis zum 5. Buch vorliegen. Das
*) Choerili Saniii quae supersunt coli. ; Über seine Vergleichung mit Homer A.
F. Naekk, liijjs. IH\7. KiEssLiNo zu Hör. ep. II 8. 357.
2) IMut Lysand. l-^. ») Claiiiis heißt er bei Ovid. Trist. I 6. 1
^) Marcellinus vit. Thuc. 29. '; nach dem benachbarten Klaros. — Über
einen angeblich älteren Epiker Antimachos
ans Teos s. 0. Immiscd. Jahrbb. f. Phil. Suppl.
17 (18901 129 f.
•*) Verschieden von dem Verfasser der
Perseis ist der Epiker ('hoiiilos aus lasos in
Karien. der Herold der Ruhmestaten Alexan-
dres', der durch Horaz epist, II 1, 232 ff. u. 3, *) Suid. s. 'AvrifuixoQ.
357 f. eine traurige Berühmtheit erlangt hat. *") Unter Artaxerxes, d. h. a. 404. setzt
^) Daß fr. 4, 2 ein Mißverständnis von i .seine Blüte Diodor X 111 10« nach dem Chrono-
Hdt. Vll 70 vorliege, hat E. Petersen erwiesen graphen Apollodoros.
(P. Kkktsoiimer, Einl. in die Gesch. d. griech. ' **) Cic. Brut. 191 läßt ihn sagen: Plato
.S|)r. 393). Umgekehrt läßt D. MüLDKK, Klio 7 mihi unun instar est vvntnm milium. Plat.
(19U7) 29 ff den Herodot von Ch. abhängen, ! Ly.*4and. IS; vgl. Procl. in Plat. Tim. T. I
den er deshalb über Herodot hinauf datiert ! p. 90, 21 Dieiil. Herakleides Pont, bei Pro-
und von dem Hofdichter des Lysandrosscheidet. j klos zu Plat. Tim. 1. 1. erzählt von einer
^) .Vristot. top. VIII 1 p. 153a 14 vgl. I »Sammlung der Uedichte des Antimachos, die
fr. 9. 11. 12 K. I er auf Veranlassung Piatons gemacht habe.
^) Aristoteleskennt. Ephoros(Strab.p. 303) ") Im Wettbewerb um Ly.sandros' Gunst
benützt ihn. losephos kennt ihn nicht mehr mit einem iyxtouiov ktixuv stach ihn Nike-
direkt (A. V. (lUTscHMiD, Kl. »Sehr. IV 577 f.). , ratos aus (Plut. Lvs. 18).
A. Epos. 6. Die späteren Epiker. (§§ 78—79.) 131
Epos holte sehr weit aus von der Urgeschichte Thebens an und war reich
an Episoden, 0 die dem römischen Epiker Statins zum Vorbild gedient
haben.*) Litterarhistorisch bedeutsamer ist das große, mindestens 2 Bücher
umfassende elegische Gedicht Äi)d}], in dem er sich über den Tod seiner
Frau Lyde durch Erzählung unglücklicher Liebesverhältnisse der mythischen
Vorzeit zu trösten suchte. Vorbild war der Kranz erotischer Erzählungen,
den Mimnermos seiner Geliebten Nanno geweiht hatte, und die Lyde wieder
ist nebst der Bittis des Philitas Vorbild der erzählenden Liebeselegie der
Alexandriner geworden, so sehrauch Kalhmachos die Nase über sie rümpft.^)
71). Die ästhetische Beurteilung des Antimachos spielt in dem großen
Kampf der Geschmacksrichtungen, der im 3. Jahrhundert entbrannte, eine
Hauptrolle.**) Für Antimachos stehen Piaton, dem sich später die Neu-
platoniker hierin anschlössen.^) Lykophron,^) Apollonios von Rhodos,'') Ni-
kandros,^) Asklepiades (Anth. Pal. IX 63), Krates von Mallos,») gegen ihn
Kallimachos und sein Nachbeter Euphorien. *o) Seine Tadler setzen an ihm
Breite, Rauheit, -Mühseligkeit und Qezwungenheit des Ausdrucks aus.*^) Wir
können aus den spärlichen Fragmenten nur einige Besonderheiten der
äußeren Technik entnehmen. Zunächst die Vorliebe für glossematischen
Ausdruck; Antimachos, der ja auch eine Homerausgabe gemacht hatte,**)
suchte seiner Sprache einen neuen Reiz zu geben, indem er sie übersäete
mit seltenen, veralteten, zum Teil mißdeuteten Wörtern, die dem raffinierten
Geschmack des Kenners wie Edelsteine auf kostbarem Gewebe funkeln
mochten. Außerdem fällt die Häufigkeit der Verse mit Spondeus im 5. Fuß
auf. '3) Diese beiden Eigentümlichkeiten haben die Alexandriner, vor allen
auch Kallimachos, der Verächter des Antimachos, übernommen. Zur Zeit
des Klassizismus hat er einen Verehrer in dem Freund alles Kapriziösen,
Kaiser Hadrian, gefunden. i^)
Die Reste der ßrjßalg (von R. Reitzenstkin, Index lect. Rostock. 1890/91 p. 9 um
zwei neue vermehrt) und des fast verschollenen Gedichtes AeXzot bei (1. Kinkel, Fragm. ep.
273 I 308; die der Avötj bei Tu. Bergk, P. L. II* 611 ff.
*) Der Vorwurf der Breitspurigkeit, der ®) Porphyr, bei Euseb. praep. ev. X 3, 20.
dem A. öfter gemacht wird (Cic. Brut. 191; j ") Eine Schrift des Ap. über Ant. ist
Schol. Stat. Theb. III 466; Plut. de garrul
p. 513b) kann sich zwar immer auf die
Lyde beziehen, die von Kallimachos (fr. 74 b
bezeugt (Berliner Klassikeitcxte III, 1905, 27).
Nachahmung des Ant. bei Ap. ergibt sich aus
den Apolloniosscholien.
ScHN.) jraxi' ygafifta xnl ov tooov genannt j **) Schol. Nie. Ther. 3.
wurde, scheint aber auch auf die Thebais zu j ®) C. Wachsmuth, De Crat. Mall., Leipz.
passen. 1860,30.
«) Schol. Stat. Theb. III 466. Ein sicherer >") Callim. fr. 74 b Sohn.; A. Meineke,
Nachweis weitergehender Benützung durch Sta- | Anal Alex., Berl. 1843. 30 ff.
tius ist übrigens noch nicht geführt (E. Eiss-
FELDT, Beiträge zu den Quellen des Statius,
Helmstedt 1900). Über die nachhomerischen
ThebaYden überhaupt F. G. Welcker, Kl.
Sehr. I 395.
») E. RoHDE, Griech. Roman« 77 ff. Eine
Epitome aus der Lyde erwähnt Phot cod. 213.
*) Belege für Antimachos' Stellung im
Epikerkanon G. Wentzel, Roalenrykl. I 2435.
*) Longinos (Suid. s. v.) verfaßte ein
»») Dionys Halic. de imit. p. 204,15 Us.
imd de comp. verb. 22 ; ähnlich Quint, inst.
X 1, 53; Pluterch Timol. 36, der an ihm die
Kraft [ioyvv >cai toi'ov) ruhmt, aber die Anmut
(;if«oo') veiTnißt.
^'*) M. Senoebusch, Diss. Hom. I 197.
Sein Glosscngebrauch läßt auf ein eigen-
artiges System der Etymologie schließen, in
dem auch das Prinzip der Deutung xm' dvil-
ffiHwir (fr. 92 K.) vorkam.
Antimachoslexikon, Plotinos' Schüler Zotikos ^') Schon bemerkt von Porphyrios bei
befaßte sich mit Antimachoskritik (Porphyr. '■ Euseb. praep. cv. X 3, 20.
Vit. Plot 7). I »*) Spart. Hadr. 15; Dio Cass. LXIX 4.
9*
132
Griechische Litteraturgeschichte. L ElassiBche Periode.
80. Die philosophischen Lehrgedichte {cpiXoooq^a Sjirj) waren
Ausläufer des didaktischen Epos und auch stilistisch von diesem beeinflußt/)
Die Theogonie des Uesiod galt und gilt auch jetzt noch als die Vorhalle
der philosophischen Spekulation. Die Sitte der frühsten ionischen Philo-
sophen, nur im Kreise ihrer Schüler mündlich zu lehren, aber keine
Schriften ^hinauszugehen" {ixdovvai)^^) weicht vom Ende des 6. Jahrhunderts
an dem Bestreben, auch weitere Kreise für die Lehrmeinungen zu inter-
essieren, aufzuklären, für sittliche oder religiöse Anschauungen Propaganda
zu machen. Dazu eignete sich der Stil nüchterner prosaischer Erörterung
nicht — das Gebotene und Zeitgemäße war die Fassung in epischer Form
für den Vortrag ganzer Systeme, in lyrischer für vereinzelte Flugschriften;
Satiren konnten sich auch an die parodierenden Epen anschließen.
Der Erste, der den Samen der Philosophie als wandernder Rhapsode ')
kühn über die ganze Breite der griechischen Welt von lonien bis nach
Sizihen ausgestreut hat, ist Xenophanes aus Kolophon,*) der Gründer der
eleatischen Schule.^) Er blühte in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts*^) und
brachte aus seiner Heimat, einer alten Pflegestätte homerischen Gesangs,
die er bei dem Persereinfall c. 540 fünfundzwanzigjährig verließ, die Übung
des rhapsodischen Vortrages mit. Er dichtete selbst in der Manier der
Genealogen die Epen Kokofpclfyvoq ycriois und ^Ajioixiojudg elg ^Ekeav rfjg ^Iraila^
(Diog. IX 20). Aber größere Berühmtheit brachten ihm das philosophische
Lehrgedicht Jieol (pvoecog und die gegen Philosophen und Dichter gerichteten
Spottverse (Silloi).^) Als Vertreter des Monotheismus eiferte er leiden-
M Für Parmenides s. H. Diels, Parmeni-
des' Lehrgedicht Berl. 1897. S. 4 ff.
'j Der alten Philosopliensitte blieben
noch späterhin Sokrates, Pyrrhon. Arkesilaos,
Kameades treu.
*) Diog. Laert. IX 18 «rroc Fonaifut^Et xa
eaviov.
*) Die Re.ste gedruckt in den älteren
Sammlungen der Fragmente der griechi.sc]ien
Philosophen von Ritter- Preller, Karsten. Mul-
lach, jetzt in dem Hauptwerk: Poet^irum
philosophonim fragni. ed H. Diels, Berl. 1901
= Fragm poet. Graec. auctore Ud. de Wila-
MowiTZ coli et ed. III 1 (Berl. 1901), ebenso bei
H. Diels. Die Fragmente der Vorsokratiker,
Berl. 19U8 (mit deutscher Übersetzung). — In
der römischen Zeit ist das Interesse für die
philosophischen Lehrgedichte wieder erwacht:
Lucrez ist von Empedokles beeinflußt, und
Schriftsteller des 2. und 3. nachchristlichen
Jahrhunderts wie Clemens AI., Origenes,
Porphyrios zitieren diese Gedichte häuiUg.
'") Plut. soph. 242 d. Auf die Lehre vom
Alleinen scheint übrigens X. nach Timon von
Phliuö fr. 59 D. erst in höherem Alter ge-
kommen zu sein.
**) E Zellek, Die Philosophie der Grie-
chen P, Leipz. 1892. 521 ; die Zeit des X. wurde,
wie es scheint, orientiert nach dem Einfall des
Harpagos (Ol. 60», den er (fr. 22 D ) erwähnte,
mit dem also seine Blüte 1^40. Lebensjalu*)
gleichgesetzt wurde (Diog. Laert. IX 20). Dem-
nach war seine Gebuii in Ol. 50 zu setzen,
wie auch Apollodoros getan haben wird (bei
Clem. AI. Strom. I 353 P. wäre also statt i/
zu lesen >•', ebenso S Emp. adv. math. I 257j.
Den Ansatz des Eusebios auf Ol. 56 (bezw.
59) sucht E. RoHDE, Kl. Sehr. I 143, 1 aus
I anderen Synchronismen zu erklären. Dai
I er über 91 Jalure geworden ist, bezeugt er
selbst (fr. S D ), ebenso (nach der ansprechen-
den Kombination von Diels zu fr. 8), daß er
> zur Zeit des Medcreinfalls 25 Jahre alt ge-
wesen (wodurch Apollodoros' Ansatz der äxfii)
I widerlegt wird). Sein Geburtsjahr ist somit
! etwa 5ß5, gelebt hat er noch frühestens 474,
also hat die Angabe des Timaios (fr. 92 M.
Plut. apophth reg. p. 175 c). er habe noch den
Hieron (regierte seit 478 ) erlebt, ihre Richtig-
keit Dazu stimmt, daü X. den Pythagoras
I kennt, den er als Erster in der griech. Lit-
teratur erwähnt (fr. 7 \}.}, und daS ihn Hera-
kleitos (fr. 40 D.j kennt.
^ Dali er solche Sillen geschrieben,
wenn der Titel oakoi auch erst später der
j Dichtung gegeben sein sollte, überliefert
: Strabon p. 643 und erweist C. Wacusmüth
in Coq)Usc. po6s. ep. Gr. ludib. II (Lips. 1885)
, 55 ff. Identisch mit den oüloi werden die
I bei Ath. Il54e zitierten .lanuHMai sein. Stellen
über den Begriff der oikkoi H. Diels, Poet.
phiL fr. p. 181 f.
A. Epos. 6. Die spftteren Epiker. (§ 80.) 133
schaftlich gegen Homer 0 und Hesiod, die bei den Menschen unwürdige
Vorstellungen von den Göttern verbreitet hätten; berühmt sind die Verse:
Tidvra '^edig dv^rjxav "Ofirjoög '&' 'Hoiodog re,
Sooa nao* äv&QWitoiaiv öveidea xal y)6yog ioriv . . .
(bg TtXeiOT iq?äey^avro t%(bv di^ejutoria sgya,
xkijtxBiv /Ltoi^eveiv re xal dXkijXoug djiareveiv.
Hohen Ansehens erfreuten sich auch seine uns zum Teil noch erhaltenen
Elegien, in denen er in edler Sprache den Vorzug der Lehren der Weis-
heit vor den törichten Anschauungen des großen Haufens preist und eine
neue, gehaltvollere Art von Unterhaltung beim Gelage einzuführen sucht.
Parmenides,^) Sohn des Pyres aus Elea, der angesehenste unter
den eleatischen Philosophen, der außer Xenophanes auch den Pythagoreer
Ameinias^) hörte, blühte nach Diog. Laert. IX 23 in der 69. Olympiade ca.
504.*) Sokrates soll als ganz junger Mann (Plat. Theaet. 183e, soph. 217c)
den hochbetagten, nach Piaton Parm. 127 b 65 Jahre alten Parmenides, der
von Italien nach Athen gekommen war, gehört haben. Dichterische Origina-
lität und Bedeutung seines Lehrgedichtes Jiegl q^vaecog ist von den Alten mit
Recht ^) nicht hoch angeschlagen worden. Auch die imponierende Schil-
derung im Eingang, wie er, von den Sonnentöchtem geführt, zu dem
Heiligtum der Weisheit aufgefahren^) sei und dort aus dem Mund der
Göttin die Lehren der ewigen Wahrheit und die trügerischen Meinungen
der Sterblichen erfahren habe,") ist aus der orphischen Visionslitteratur
geborgt. Sonst wirkt namentlich die hesiodische Didaktik ein. Bestritten
ist die Frage, ob Parmenides, angeregt von den Pythagoreern, schon die
Lehre von den Erdzonon (pT€q?drat) vorgetragen habe.^)
Empedokles, Sohn des Meton von Akragas, aus berühmtem, vor-
nehmem Haus^) (geb. frühstens 495), i^) leistete im philosophischen Lehr-
gedicht das Höchste unter den Griechen, so daß der römische Dichter
') "OjUTjgcuzditjt; Fjrtxojrrtfg nennt ihn Timon ®) Eine neue Anschauung , wonach es
von Phlius fr. 60 I)., einen neuen Herakles, der 1 sich nicht um eine Himmelfahrt, sondern
das Untier , Homerschwindel * niederschlägt. | eine Höllenfahrt handle, vertritt O. Gilbert,
«) llaQßtevtdfjg, nicht IlaQfisreidfjg ist die ; Arch. f. Gesch. der Philos. 20 (1907) 25 ff.
richtige Form nach F. Blass, Fegag, Festschr. j ") Die Fragmente jetzt bei H. Dikls,
f. Fick, Göttingen 1903, l ff. Vorsokr.^ 108—129.
•) Diog. IX 21 und dazu H. Diels, Herm. *) Behauptet und gegen die Einwendungen
35 (1900) 196 ff.; E Rohde, Psyche II» 158, 2. von H. Diels (Lehrged. 104) verteidigt von
*) Die auf ApoUodoros zurückgehende H. Bergek. Ber. der sächs. Ges. d. Wissensch.
Zeitbestimmung steht in Widerspruch mit der 47(1895)59; Geograph. Zeitschr. 11 (1905)492.
Überlieferung des Piaton, der aber keinen *) Sein Großvater siegte 496 mit einem
Anspruch auf geschichtliche Zuverlässigkeit | Renner in Olympia (Diog. VIH 51).
erhebt, wie F. Jacoby, Apollodoi-s Chronik ^*) Der früheste mögliche Ansatz seiner
232 ff. richtig betont. Für die zeitliche Fixie- Lebenszeit ist 495 — 435. weil er jedenfalls
mng des P. ist seine scharfe Polemik gegen i etwas jünger als Anaxagoras and Parmenides
Herakleitos von Bedeutung (alles Wesentliche | sein muß (so E. Zeller), der späteste mög-
darüber bei H. Diels, Parmenides' Lehrgedicht. ) liehe, weil er den sizilischen Krieg (doch
Berl. 1897, 69 ff.; sehr breit ohne sichere neue offenbar den von 415) nicht mehr erlebt hat,
Ergebnisse H. Patin, Jahrbb. f. cl. Alt. Suppl. 475—415. Daß er 60 Jahre alt geworden
25, 1899, 491 ff.). Wenn Herakl. sein Buch sei, ist durch Aristoteles (bei Diog. VIII 52.
wahrscheinlich etwa 490 verfaßt hat. so ist 74 1 gut bezeugt. Die Gleichsetzung seiner
damit für das Gredicht des P. ein terminus post 1 Blüte mit der Gründung von Thurioi bei
qnem gegeben. ApoUodoros (Diog. VIII 52) beruht lediglich
*) H. Diels, Parmenides* Lehrgedicht, 4 f. | auf der Tatsache, daß er Thurioi besucht hat,
134 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
Lucrez voll Bewunderung zu ihm hinaufschaute und hauptsächlich an ihm
sich bildete.*) Für das Wohl seiner Vaterstadt wirkte er in einflußreicher
Stellung. 2) Zugleich ragte er durch reiches Wissen in der Heilkunde,')
Rhetorik*) und Philosophie hervor, endigte aber infolge der Mißgunst seiner
politischen Gegner fern von seiner Vaterstadt im Peloponnes.*) Schon im
Leben nicht frei von pathetischer Überhebung^) und geheimnisvoller Wichtig-
tuerei, ^) ward er vollends nach seinem Tod zu einem Wundermann ge-
stempelt. Ohne Zweifel haben dazu romanhafte Ausschmückungen in einem
Dialog des Herakleides Pontikos») beigetragen. Nachdem er einst, so er-
zählten die einen, ^) ein totes Mädchen zum Leben wieder erweckt hatte,
veranstaltete er ein großes Opfermahl, und wurde dann in der Nacht,
während die anderen schliefen, von einer geheimnisvollen Stimme ins
Jenseits abgerufen. Die anderen fabelten, er sei auf den Ätna gestiegen
und habe sich selbst in den Krater gestürzt, um seine Gottähnlichkeit zu
besiegeln. 1") Seine Blüte wird Ol. 84, d. i. gleichzeitig mit der Gründung
der athenischen Kolonie Thurioi (444) gesetzt. Er hat zwei philosophische
Gedichte hinterlassen, '0 ©i" theoretisches :if(ji q^voEOK^ an seinen Freund,
den Arzt Pausanias gerichtet, in dem er seine Lehre vom Streit (Neixog)
und der Liebe (^Pddrrjg) und die so ungemein weit wirkende von den
vier Elementen 1*) entwickelte, und ein ethisch-religiöses, Kai^ag^wi betitelt,
in dem er, ausgehend von der Lehre der Seclenwanderung, seine Mitbürger
zur sittlichen Reinigung aufforderte. Von beiden haben w^ir nur Fragmente,
aber ziemlich zahlreiche und solche von größerem Umfang. Poetisch
schön ist besonders die Schilderung von dem goldenen Zeitalter, wo
statt des Kriegsgottes die mild herrschende Kypris unblutige Opfer erhält
will aber nicht peinlich jjjenau genommen ' Timaioa.
werden. i ^) Dlog. VIII «(J führt zum Beleg die
^) JjUcrA12(yf(. : QMte(Sicilin)cHm magna | Wolle an: A'mWr', Fy<o d^ vftfur &f6g ä/n-
modift ffiuÜis miranda videtuVj .... NU tarnen fiooja:, ovyJn ßrt/zo^ n<oi.(vfiat.
hoc hnhuisAe riro prneciarius in sfy Nee ') Diog. VITl 59.
satictum mfiffis et mir um carnmque ridetur; **) Heraclid. Pont. fr. 77 Vo88.
Carmina quin etiam divini pectoris eius *» Diog. VII l <)7 f. nach Herakleides
Vociferantur et exponunt praeclara rejHfrtny Pontiko.s.
Ut rijT humann rideatur stirpe creatus. Vgl. ^^) Diog. VI 11^)9. Horat. a. p. 464. Schon
das Urteil des jugendlichen Aristoteles bei Timon in seinen Sillen hatte die Großtuerei
Diog. VIII 57. Weniger günstig derselbe des Kmpedokles zur Zielscheibe seines Spottes
später meUipli. 985a 5 [ij^Fkki'toihu); Cic. Acad. gemacht. Siehe E. Rohde, Psyche II* 173, 3.
II 74 stellt ihn hoch. "iDaß es nur 2 waren, beweist H.Diels,
2) E. Meyer. (Jesch.d. Altert. III 042 f. — Berl. Ak. Sitz.ber. lsl»S. 403. Da er in seiner
Er selbst .schildcii (fr. 112 Diels) glänzend, Heimat wahrscheinlich die ersten philosophi-
wie er als WundeiTuann hoch gefeiert durch sehen Einflüsse von pythagoreischer Seite
die Städte zog. Daß er Sturmzauber und empfangen hat, so werden die stark pytha-
Beschwörung gebraucht hat, ist sicher bezeugt. gorisierenden KnOaouni das frühere Gedicht
^) über seine Bedeutung als Hau]>t der , sein, die weit selbständigere Darstellung des
sizilischen Aerzteschule s. M. W'ellman>% Systems in .Tfoi 7 vofu}^ das spätere, wie das
Fragmentsammlung der griecli. Arzte 1, Berl. von Bidcz angenommen ist.
1901. 15 tf. 85 ff. Gegen diese spekulative '*) Sie wäre nach Schol.Medic. zu Aeschyl.
Medizin Hippocr. .7. nox. it/rn. 20. Prom. S8 schon von Aischylos übernommen;
*) Satyros nach Diog.VlII58 macht den , Piaton im Timaios hält an ihr fest (Th.Gom-
(rorgias zu seinem Schüler. Danach (^uintil. perz, Grioch. Denker II, Leipz. 1903, 490); in
III 1. 8. H. Diels. Berl. Ak. Sitz.ber. 1884. der Medizin ist an sie die Lelue von den vier
343 if . Temperamenten angeschlossen worden (C. Fre-
-) Diog. VIII 67 nach den Angaben des brich, Hippokrat. L'nters., Berl. 1898, 27 ff.)-
B. Lyrik. Anfänge der Lyrik. Ihre Gattungen. (§§ 81--82.) 135
(fr. 128 D.). Das Gedicht Tiegi tpvoecog sucht eine rationale Erklärung
der Vorgänge in der Erscheinungswelt auf dualistischer Grundlage, unter
Vervielfältigung der entgegengesetzten Begriffe von Stoff (4 Elemente)
und Kraft (q)d6Tr]g und veixog), während die xadagjuoi eine spiritualistische
Mystik im ethischen Gebiet ausführen. Ob sie zwei Marksteine in der
Entwicklung des Dichters darstellen, der also, sei es von der Mystik zum
Rationalismus,^) sei es vom Rationalismus zur Mystik*) übergegangen
wäre, oder ob Empedokles immer zwiespältig gewesen sei, 3) ist bestritten.
Offen bleibt die MögUchkeit, daß Empedokles auch Prosaschriften ge-
schrieben habe.**)
81. Dem alten Epos blieb sein Einfluß auf die griechische Kultur
erhalten dadurch, daß es in den Schulen seit dem 6. Jahrhundert gelesen^)
und von Rhapsoden vorgetragen wurde, teils in freier epideiktischer Weise
bei verschiedenen Gelegenheiten, teils in agonistischer Fonn, fest ein-
gegliedert in staatlich angeordnete Götterfeste (s. o. S. 71). Als vom
4. Jahrhundert an den Theat^raufführungen die konzertartigen dydjveg
^fiehxoi zur Seite traten, behielt hier in der Abfolge der Vorträge die Re-
zitation einer Partie aus dem alten Epos durch einen Rhapsoden immer
die erste Stelle; erst nach ihm folgt der Ittcov noiTjrrjg mit einer neuen
Dichtung. <5)
B. Lyrik.')
Anfänge der Lyrik. Ihre Gattungen.
82. Das Bezeichnende für die Gattung von Gedichten, die wir lyrische
nennen, bestand für die Alten in der rhythmischen und melodischen Regu-
*) So J. BiDEZ, La biographie d'Erape- siod schließlich Werke wie die fiovmxrf
docle, Gent 1894. iorooia des Aelius Dionysius und die Chresto-
*) So H. DiELS a. a. 0. maÜiie des Proklos. — Neuere Litteratur:
») So E. RoHDE, Psyche IP 174 f. 182 f., F. G. Welcher, Kleine Schriften, Bonn 1844,
dessen Ansicht W. Nestle, Philol. 65 (1906) 3 Bände, von denen die 2 ersten wesentlich
545 flf. näher ausführt und modifiziert. Stark fällt den Lyrikern gewidmet sind; H. Flach. Ge-
för diese Ansicht ins Gewicht, daß fi-. 115 D. schichte der griech. Lyrik, Tüb. 1884, 2 Bände,
offenbar(nachPlut.deexil.l7 ,fKdr>;f/y rr/s r/äo- ohne Pindar; E. Nageotte, Histoire de la
ö09r/a^*)indasLehrgedicht.Tfoi7iWoKgehört. poesie Ivrique grecque, Par. 1889. 2 Bände,
*)H.DiEL8,Berl. Ak.Sitz.ber. 1898, 397. bis Pindar incl. Letzter Bericht über die
») Xenophan. fr. 10 D. griech. Lyriker von 1898—1906 (mit Aus-
•) J. Frei , De certaminib. thymelicis, nähme Pindars) von J, Sitzler in Jahresber.
Basel 1900, 20. 25. 57 ff. " üb. d. Fortschr. d, klass. Altertumswiss. 133
") Die antike Litteratur zur Geschiclite (1907) 104—322. — Poetae lyrici graeci. rec.
der Lyrik beginnt, wie es scheint, mit der Th. Berok. 4. Aufl., Leipz. 1878. 82, 3 Teile
wichtigen Schrift des Glaukos von Rhegion (kleiner Fragnientenzuwachs aus Phot. lex.:
über musische Aufführungen, die Plut. de R. Rkitzknstein , Der Anfang des Lex. des
mos. benützt; es folgen die biographischen Phot., Leipz. 1907, XXVI; die neuen Papyrus-
nnd Musik betreffenden Arbeiten des Aristo- fragmente s. bei den einzelnen Dichtem);
xenos von Tarent und anderer Peripatetiker Anthologie aus den Lyrikern der Griechen,
(besonders Dikaiarchos jifQi fjovatxcjv «j'r/^iwr, erklärt von E. Buchholz. I. 5. Aufl. besorgt
Biographien des Chamaileon u. a.), zusammen- von R Peppmüller, Leipz. 1900, II. 4. Aufl.
fassende Darstellungen jtfoi fif-Xo.iown' von von J. Sitzler. 1898; Anthol. lyr. praeter Pin-
Istros (C. Müller, FHG I 425) und Euphorien darum ed. E. Hiller 1890 in Bibl. Teubn., neu-
(ibid. III 73). JiFQt XvQixcöv von Didymos (M. bearbeitet von 0. Crusius. 1897. 1903. 07.
SoHHiDT, Didymi fragm. Lips. 1854 p. 380 f.), Wilamowitz, Die Textgeschichte der griech.
die Spezialschrift JieQi vo^wjzoicüv eines Theo- Lyriker in Abh. der Gott. Gesellsch. der
doros (Diog. Laert. II 103). Sammelbecken , Wissensch. N. F. IV 3, 1901.
136 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
lierung des vorgetragenen Worttextes und in dem Hinzutritt eines be-
gleitenden Instrumentes, sei es der Lyra (Kitharis, Phorminx) oder des
Aulos. Die Vortragsweise heißt ffdetv^) im Gegensatz zu xaxaleyeiv^ und
es gibt nun xiOaofpdia und avXcüöia. Der Vortragende ist entweder ein
einzelner (jnovcodia) oder ein Chor, der aber im Altertum regelmäßig uni-
sono sang (Chorlyrik, im Altertum dii^vgajtißixov yivos).^) Die Leistung des
begleitenden Instrumentes bestand wesentlich in Vorspiel {ävaßaXXeo^tu) und
Zwischenspiel (uTioyffU/Lia)^ allenfalls Zusammengehen mit der Stimme unisono
oder in Oktaven; an eine polyphone Wirkung, wie sie die heutige Musik
kennt, 3) ist für das gesamte Altertum nicht zu denken. Der Oang der
Melodie war durch die Sprachmelodie, der Rhythmus durch die Silben-
quantitäten in der Hauptsache vorgezeichnet. Als das Wesentliche beim
Gesang empfanden die Alten den Rhythmus,*) und die kunstmäßige Lyrik
hat aus dem Schatz der volkstümlichen Tanz- (lamben, Trochäen, Chor-
iamben, loniker), Marsch- (Anapäste) und Prozessions- (Paion) Rhythmen
eine Fülle neuer Formen herangezogen und neben der Würde (oe/jtvdrrjg)
der alten daktylischen Kunstpoesie nun auch der Anmut, der Leidenschaft
zu adäquatem künstlerischem Ausdruck die Mittel verfügbar gemacht. Die
Überzeugung von der sittlichen Bedeutung der Musik und der mit ihr
verbundenen Dichtung wurzelt tief im griechischen Volk und ist erst in
der Sophistenzeit bestritten worden; damals wurde auch ein Versuch ge-
macht, den Glauben an das Ethos der Musik wissenschaftlich zu begründen
durch den Hinweis darauf, daß das Leben der Seele in Bewegungen be-
stehe, die durch die analogen Bewegungen der Töne beeinflußt und geleitet
werden könnten.^) Unter den Tonarten, die sich durch die Lage des Halb-
tonschritts voneinander unterschieden, galt die dorische nebst der hypo-
dorischen oder äolischcn als Ausdruck spezifisch griechischer, männlich-
fester Seelenstimmung, im Gegensatz zu der phrygischen nebst der hypo-
phrygischen oder ionischen, in denen man eine enthusiastisch-passive Stim-
mung fand; jene wurden vorwiegend in der national-griechischen Kitharis-
lyrik, diese in der stark von Kleinasien aus beeinflußten Auloslyrik ver-
wendet.^) Demnach ist auch die ethische Haltung in der kitharodischen
Lyrik wohl ursprünglich eine weit gemessenere gewesen als in der aulo-
dischen, aber freilich müssen sich in dieser Beziehung die Gattungen früh
gekreuzt haben.
Wenn sich das dichterische Wort in die rhythmischen und melo-
dischen Formen der Musik^) fügen lassen muß, so sind künstlichere Wort-
stellungen nicht zu vermeiden, und diese erwecken oder veretärken ihrer-
\) Das Wort hat in der späteren Sprache | "*) Abert a. a. 0. 54.
eine f?anz abgenützte Bedeutunj^ bekommen (W. ^) Aristot. probl. li>, 27. 29. Begründer
StnMii), Der Atticism. III, Stuttg. 1893. 229 f.). der Lehre scheint Dämon zu sein (Aristid.
'') riat. reip. III 894 b: Aristot. poet. 1 | Quint. de mus. II 14 p 58. 13 Jahn), ohne
p. 1447a 15. b 24 (dieser, der in seiner Poe- ' Zweifel angeregt vom Pythagoreisnios.
tik die Lyrik überhaupt fast ignoriert, er- i <^) Plat leip. III 399a; Aristot. pol. 1290a
wähnt die Chorlyrik, von monodischen Gat- 19: 1342a 32 ff.; Keinach und Weil zu Flut
tuugen aber nur den Nomo.s). , de mus § 103. Abekt a. a. 0. 61. 5.
*j Ps. Aristot. probl. 19.39 ; H.Abert, Die ') Der (»egensatz von e.Ttj und ftdXog
Lehre vom Ethos in der griech. Musik. Lcipz. schon bei Alcman fr. 17 f,T>/ rdöe xai /jeXas
1899, 58 f. I evQF.)' "AAxfidv,
B. Lyrik. Anfänge der Lyrik. Ihre Gattungen. (§ 82.) 137
seits wieder den Eindruck irrationaler Inspiration des Dichters. Entsprechend
den gesteigerten Vortragsmitteln wird von selbst auch der sprachliche Aus-
druck lebhafter und farbenreicher. Größere Wortkomplexe werden wieder
zu rhythmisch-melodischen Einheiten zusammengefaßt, die entweder för
sich allein stehen {äjtoX£A,v/Lieva) oder mit ebenso gebauten anderen (x^ra
oxioiv^ strophisch) korrespondieren. Im allgemeinen ist anzunehmen, daß
der strophische Bau der ältere sei.^) In sehr früher Zeit schon findet man
auch die Verbindung aller Bewegungskünste zum Tanzlied (vTtogxrj/bid).^)
Eine gemeinsame Benennung für die Dichtungen, die wir als lyrische
bezeichnen, kennen wir aus der älteren Zeit nicht. Der Name Melik ist teils
zu allgemein, insofern er auch die Instrumentalmusik (dieser im besonderen
gelten die Ausdrücke xQovjua, xQovaig) mit einschließt, teils in späterem
Gebrauch wieder zu eng. 3) In alexandrinischer Zeit wurde die Gesamt-
bezeichnung XvQixol üblich,*) die eigentlich auch zu eng ist, insofern sie
streng genommen nur die Kitharodik umschließt.^)
Über die frühsten Spuren der Lyrik s. 0. S. 20. Als Archeget der
Kitharistik gilt gewöhnlich der Thraker Orpheus (Timoth. Pers. 234 Wil;
Plut. de mus. 51, s. aber Ath. 637 f.), als Archeget der Kitharodik Amphion
(Heraclid. bei Plut. de mus. 3). Die Auletik sollte der Phryger Olympos
(Strabo 470), die Aulodik Klonas erfunden haben (Plut. de mus. 3. 5; Poll.
onom. IV 79). Bei Homer ist der Aulos ein barbarisches Instrument (K. Lehrs,
Aristarch.» 195); Homers Sänger, Demodokos, Phemios und Achilleus (7186)
sind alle Kitharoden. Selbst der Hirt Anchises führt Hymn. Hom. IV 80
die Lyra.
Aus allem Gesagten ergibt sich, daß die griechische Lyrik in ganz
anderer Weise als die heutige Buchlyrik mit der Geschichte der Musik eng
verwachsen ist.
Über die Priorität von Flöten- oder Kitharismusik stritten sich, wie
aus dem plutarchischen Dialog über die Musik zu ersehen ist,<^) die grie-
chischen Gelehrten. Der Anlaß war vermutlich gegeben durch die Ab-
neigung der Pythagoreer gegen die Flötenmusik. Sehr alt ist der Agon
in der Kitharodie bei den Kameen in Sparta (seit 676) und jedenfalls auch
*) Die ersten Spuren strophischer An- ] den Tambus ausschließt. Plut. de mus. 8.
Ordnung findet man bei Hom. IL ü 723—776
in der Totenklage um Hektor. Auch die
Musen singen bei Homer (A 604. co 60, Hymn.
Hom. Ap.Pyth. 11) dfieißöfiEvat 6ni xa).fi, d. h.
responsorisch. Siehe auch Ps.Aristot. probl.
*) Siehe o. S. 3. Cic. or. 183. Tzetz. Anecd.
Estense bei J.Kayser. Do vet. artepoet, Leipz.
1906, 56 § 2 : Dionya. Tlir. §2, dazu die Scholien
p.21. 15; 173, 28; 308. 13: 476, 29 Hilo. Von
den Römern rezipiert Hör. carm. I 1, 35;
19, 15. , Scn. cp. 49, 5; 27, 6; Quint. X 1. 61.
«)0d. ^261 ff. 378 f. y> 145. II. 2" 569 ff. I s) Der erweiterte Gebrauch des Wortes
Hesiod. scut. 278 ff. Schol. BT zu II. A 473. | wird von den oben zitierten Scholiasten zu
Procl. ehrest. 246, 7 W. Beispiele aus Neu- : Dionys. Thr, hervorgehoben und kann erst
griechenland W. Vischer, Erinnerungen aus | aufgekommen sein, nachdem die Aulodik
Griechenland, Basel 1857, 464; Kannenbero, | aufgegeben war (über deren Rückgang J. Frei,
Globus 66 (1894) 191 ff. Siehe Simonid. bei | De cert. thymelicis 28. 30. 34). — Über die
Plut. symp. quaest. 748 ab. Einteilung des Piaton und Aristoteles s. o.
*) Cic. de opt. gen. or. 1 scheidet von §4. Über eine von Philosophen aufgestellte
den tragici, comici, epici die dithyrambici
und melici; unter m. versteht er also die
MoDodiker. Ebenso Procl. ehrest, p. 243, 14
W., der von der Melik auch die Elegie und
Einteilung der ufhj in i/Oixd, :iQaxux<'t und
Fr\}ovoiaonxd s, Aristot. pol. 1341b 33.
«) Siehe Abert a. a. 0. 60 ff. Plut. symp.
p. 638 bc.
138 Griechische Litteratorgeschichte. I. Klaamsche Periode.
bei den Pythien in Delphoi, der in der Auletik in Delphoi jedcnfaUs seit
582, im Peloponnes wohl früher. Der Agon in der Kitharistik igt m
Delphoi erst 558 eingeführt und dann allgemein geblieben, während der
aulodische Agon nach einem Versuch 582 in Delphoi sogleich wieder ab-
geschafft wurde.*)
83. Nomenpoesie. Alt ist ein musikalischer Satz, der bei gottea-
dienstlichen Anlässen teils nur von Instrumenten (Kitharis oder Aulos),
teils von singenden Solisten^) mit Instrumentalbegleitung vorgetragen wurde,
besonders im Kultus des Apollon, der Nomos.») Es gibt also auletische,
kitharistische, aulodische und kitharodische Nomen. Die rein instrumen-
talen Nomen waren, wie die gesamte griechische Instrumentalmusik (yfdij
xiddoiaiqy yft?Jj avh]otc:), tonmalend. Dem Melos nach wird der vojtuxdg rgoTtog
von dem zoaytxoc: und diOvQnußixoq untoi-schieden (Aristid.Quint.demus. 112).
Die Bezeichnungen für die einzelnen Nomen sind teils von ihrer Art
(tnnvftßiÖioQy Jiokvxhtpnkocii imxijöeioq, äo/ndreiOst TQi/ieo/j<;)^ teils von ihrem
Metrum {rgoxaloq, Yanßoq, öof}ios, ßdxx^iog), teils von den Menschen oder
Göttern genommen, zu denen der Nomos in Beziehung steht (Kgadiag,
^Aoeiog, \iß}]yäs* rivOixos).^)
84. Musikinstrumente.^) Die antiken Saiteninstrumente {xaxaxeivo'
fiEvn oder evrani sc. öoyavn) unterscheiden sich von den modernen nament-
lich dadurch, daü sie keine Griffbretter, also nur so viel Töne als Saiten
haben, und daLi sie alle nicht gestrichen, sondern nur gezupft oder geschlagen
werden. Das alte Saiteninstrument der homerischen Zeit heißt <p6<)ßuy$.
Daneben kommt schon bei Homer der Name xif}aotg vor:^) im Margites
und Hymnus auf Hermes tritt dazu das später meistverbreitete Wort xr^.
Ein nachweisbarer Unterschied der Gestalt des Instrumentes war mit den
drei verschiedenen Namen nicht verbunden.'^) Als Resonanzboden diente
in ältester Zeit die Schale einer Schildkröte, wovon auch das ganze In-
strument den Namen ;r/^/rs (testudo) erhielt. Bespannt war es mit Darm-
saiten, anfangs vier, seit Terpandros**) sieben, wovon die Namen rergdxogdog
Vi J.Frei. De eertam. thyiiiel. 45ff. 27,8. 1 rouioc hat jedenfalls seinen Beinamen als
^) Dali die Noinoi von einem einzelnen, I Gott der ^Veiden. Für Ai>ollon besonders
nicht einem Chor vorgetraj;en wurden, be- , nimmt Procl, ehrest. 244, 2U ff. 245, 29 W. den
zenj;t Ps.Arist. probl. VA, 15. Was Clem. AI.
stron». 1 p. 8()5 V. und Procl. ehrest, 245, 1 W.
von chorisclien rotutt wissen wollen, verdient
keinen Glauben.
3) Flut, de mus. (I richtig: roi4<n hikk-
tj'/omrOfjoay, f.-jFifii/ avx F^fjr .laoafitjrni >cu{V
N. in Anspruch: allgemeiner Schol. Ar. eq. 9
ff/V Of(U'C).
*) .1. Fkki. De cert. tbym. 30 f. 46.
'") Cber Firfinder der Musikinstrumente
Clem. AI. Strom. I p. 3<)8P.
'•) Kiih'ina, was Homer nicht kennt, ist
hxaoTor %'FvoinoitFViw FifitK; ri}^ TuntaK. Suid. s. ein anderes Instrument als xiihwi<:, wiewohl
roiiOs : aoftortav Fyotr rnxTi/v xai ovOiiov omm- i im Klangcharakter von dieser nicht viel ver-
/inoy. V^gl.Thucyd. V70 An>cF^nun'tvtoi öf ßoa- \ schieden (Aristid, C2"i»t. de mus. II IG p. 62, 3
i^FO)^ /lofjorvTF^ xni r.to tir/.fiTo,r nft/Moy rnfun .Iaiisi. Arist. polit. VI IT 6 p. 1341a 17 ff,
Fyxaihnjomoy, nr rar i'ht'ov //toiy, «//.' i'ya untei scheidet die einfachen, für die Übang
otm/MK nFTu orOuor [iai'yoyTF^ .looF/.OoiFy. j der Freien allein geeigneten Saiteninstrumente
Alkman (17: r»AVt rV onyi'/fny youoi^ .-rr'wrfoy. I und die kunstreicheren Instrumente der
Von KotjTixoi yofini Archiloch. fr. 13H. i)ie Virtuosen.
Spielereien mit den ähnlichen Wörtern youo^ I ^i Im Hymnus auf Hennes werden /eoiy
und yomk i schon llymn. Ap. Del. 2U) und , und y.iOttoic ganz synonym gebraucht,
mit der zwitjfachen Bedeutung von youo^ ' *) Die Nachrichti'n über Terpandros*
sind ohne Wert (K. F. Hermann, Abh. der i Neuenuig sind kaum brauchbar: Wilamowitz
Gott. Ges. d. Wissensch. IV V.) ii.). Apollon , zu Timoth. Pers. p. 68 ff.
B. Lyrik. Anfänge der Lyrik. Ihre Gattungen.
83—84.)
139
und httdxoQÖog seil. Ivga herkommen. Die Lyra wird an einem Band oder
auch frei in den Händen getragen, ») woher sieh am einfachsten der Name
qwQfuy^ (von q?€Q(o) erklärt. Die Erfindung des Instrumentes sehrieb die
Sage dem Gott Hermes zu.*) Doeh ist eine Entlehnung aus der Fremde, im
besonderen aus Ägypten, wo wir ähnliche Saiteninstrumente auf uralten Denk-
mälern finden, nicht ausgeschlossen. Später kamen zu der alten Phorminx
infolge der großen Verbreitung orientalischer Künstler fremde Saiteninstru-
mente hinzu; ihr Tönereichtum wurde unter dem Einfluß des tönereicheren
Aulos (Plat.. reip. 399 d), der die Technik des Baus der Saiteninstrumente
zur Nacheiferung anreizte, gesteigert; so die Pektis oder Magadis^) aus
Lydien, die dreiseitige Harfe {igiycovogy) aus Syrien, die Nebel^) und
Kinyra^) aus Phönikien, die Samfoyke*^) und der Barbitos.*) In der alten
Zeit waren bei den Griechen nur Saiteninstrumente in Gebrauch; Homer
und Hesiod kennen nur Kitharisten; selbst das alte Klagelied, der Lines,
wird II. 2" 341 zur Kithara, nicht zur Flöte gesungen. Von dem hohen
Alter der Lyra zeugt auch der Umstand, daß die Kreter, welche die alte
Sitte der Derer am treuesten bewahrten, unter dem Klang der Lyra ins
Feld zogen.ö)
Von Blasinstrumenten (i/ijivevord) kommen für die lyrische Dichtung
nur die Auloi in Betracht. Wir nennen sie gewöhnlich Flöten, wiewohl
sie unseren Klarinetten oder Oboen ähnlieh sind.*^) Die Griechen reden
gewöhnlich von avXoi im Plural, weil in der Regel ihrer zwei zugleich
geblasen wurden. Der Name ist zwar griechisch, i^) aber das Instrument
kam nicht bloß später als die Phorminx in Brauch, sondern scheint auch
*) A. Baumeister, Denkmäler des klass.
Altertums, München 1885—88, I 99; III
1539 f.
*) Hymn. auf Hermes 30 ff.
•) Phot. JtTfXTi^' siavdovotov rjtoi Avdtov
oQyavov /copiV :^h}xigov ytaXXdftFvov. Herod.
I 17 von dem Lyderkönig Alyattes: iaiga-
xrvaaxo vnö avgiyyoiv re xai :tt)xti^(ov xal
avkov. — Magadis mit 20 Saiten bei Anacr.
fr. 18, schon erwähnt bei Alcman fr. 91.
Instrument der abioXot nach Aristid. Quint.
de mus. II 5 p. 42, 6 J.
*) Erwähnt bei Sophocl. fr. 1, 219. 375 u. a. ;
die syrische Herkunft bezeugt durch Ath. 1 75 d.
Zu ihr singt das Mädchen bei dem Komiker
Piaton (Ath. 665 d) ein /nsXog iwvixöv. Viel-
leicht identisch mit der Aoiag (I. Bekker, An.
gr. 451 und Et. M. 153, 32).
*) Nebel, Hauptinstrument der Juden,
kommt zuerst bei Sophocl. fr. 764 Nauck^
vor: ov vdßXa ho)xvtoioiv, aif Xvga qiXtf.
•) Dem hebräischen Kinnor entspricht
das griech. xtvi^ga; davon scheint das seit
Aischylos in Griechenland verbreitete Verbum
xirvQOfMLi herzukommen.
') Sambyke, vielleicht aramäisch, ward
von Ibykos nach Ath. 175 e erwähnt. Sie
hat im Gegensatz zur Lyra kurze, hoch-
kUngende Saiten.
•) Den ßoQßixos soll nach Ath. a. 0.
Anakreon erfunden, d. i. in Gebrauch ge-
bracht haben; er ist aber schon von Ter-
pandros, Sappho und Alkaios gebraucht. Wort
und Sache sind, wie beim ßagtüfjov aus-
ländisch. Über die bei Anakreon vorkom-
menden Saiteninstrumente s. L. Weber, Ana-
creontea, Gott. 1895, 72 ff. Piaton verwirft
(reip. III 369 c f.) alle die saitenreichen alten
Instrumente, und tatsächlich sind im 4. Jahr-
hundert sifjxzis, ftdya<)ig, LiTaywror, igiytorov
imd anfjßvxt] abgekommen (Aristot. pol.VIII 6
p. 1341a). Über den Klangcharakter der
Instrumente Aristid. Quint. de mus. II 16.
Über die Handhabung der Lyra und die
Namen ihrer Saiten M. C. P. Schmidt, Bcrl.
phil. W.schr. 26 (1906) 798 ff.
«) Plut. de mus. 26; Ath. 627 d; Cleni.
Alex. paed. p. 193 P.
*°) Die Querflöte hXdyifK avXoc: Poll. on.
IV 74; Long. past. 1 43) ist im Altertum ledig-
lich Bauern- und Hirteninstrument gewesen
wie die orgiy^ , über die Plat. reip. 399 d.
Im ganzen s. über die nvXoi C. v. Jan in der
Realencykl. 4. Halbb. 2416 ff.
") Die ursprüngliche Bedeutung war ge-
höhlte Röhre, in welchem Sinn das Wort
noch bei Homer vorkommt. Auf die zur
Flötenanfertiguug verwendete Knochenröhre
weist auch das lat. tibia hin.
140
Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
aus der Fremde, und zwar aus Phrygien, nach Griechenland gekommen
zu sein. Denn während die homerischen Sänger und Helden zur Phor^
minx singen, ebenso wie Apollon (Hymn. Hom. Ap. Pyth. 4 ff., 336 ß.)
nur die Kitharis spielt, hört man den Lärm der Flöten und Pfeifen
im Lager der Troer (II. K \S).^) Auch die Sage von Marsyas und die
Überlieferungen von Olympos führen nach Phrygien als ursprünglichem
Sitz des Flötenspicls, für das die Oegend von Kelainai ein Kohr und das
berekyntische Gebirg das Holz des Buchsbaums lieferte.*) Außerdem
kommen von ausländischen Blasinstrumenten bei den Griechen vor: die
fi6fißrxF<;, die beim Kult der thrakischen Göttin Kotytto gespielt wurden,»)
der ägyptische Monaulos,*) die karischen bei den Adonisfesten gebrauchten
yiyyoot avloi,^)
Der Einfluß der Fremde und der fremden Götterkulte auf die An-
fange der griechischen Musik und Lyrik wird schon von den Alten her-
vorgehoben (Strab. p. 471; Clem. Alex, ström. I p. 363 P.). Sicher ist, dafi
die Griechen auf keinem Gebiet mehr als auf dem der Musik Anregung von
') Siehe o. S. 137. Aristot. |K)lit. VIU 7
{). 1842a 82 ff.; vgl. Heiod. I 17. In der
Jüngeren Hoplopoiie 2' 495 und Hes. «cut. 27H.
281 freilich werden auch schon die Flöten
neben der Phorminx beim Hymenaios er-
wähnt. Von einem qnvyioy ////.oc Kuj^ijotor
zur Flute Alcman fr. .^2. Siehe a. Lobeck.
Aglaoph. 298 n: Eur. Bacch. 12(i ff. Vgl. Te-
lestes fr. 2: ^Porya . . . ni'Aor «Tc tjouftoe
.lotojfi^ A<noi(io^ avTi.Ta/.or norntj^. Alt, aber
bei Homer nicht erwähnt, ist der Gebrauch
der Flöten bei Opfern, so daß die ilroiai
avavhu besonderer ätiologischer Erklärnng
bedürftig schienen (Lohrck. Aglaoph. (i8<)).
Die Sitte, mit Flötennnisik auszumarschieren
(Thuc. V 70 nnt J. Classens Anm.; Xen. Lac.
re.sp. 13. 8: l'oll. IV 7^; etwas andei-s Philod.
de mns. III p. 28 fr. 17 Kk.mkk). werden die
lakonischen Dorer aus dem Norden und von
ihren thrakischen Nachbarn mitgebracht haben,
während die kretischen den ält4?ren Brauch
(s. o. S. 139. 9) festhielten. Der Apollon.
dessen Musik Thalctas aiw Kreta bracht«-
und dem dann ziun Paian die Flöte geblasen
wurde (Archiloch. fr. 70: Alcm. fr. 8; Soph.
'IVachin. 210 f.), ist schwerlich ein rein grie-
chischer (lott. In Delphoi wurde v(»r 582
keine Flöte geholt: Hynm. Hom. Ap. Pyth.
822. 88(> ff wird der l*aian mit Lyrabeglei-
tung gesungen. Solidarisch verbunden ist
dageg(?n die Flöte mit der Musik im Dionysos-
kult iPoU. IV 81) wie im Kult der i»hiTgi-
schen Kybele. Sie gehört zmn lustigen
xtoiKK (Hes. scut. 281; Theogn. KMj.Vi und
zum ("lela^^e. w«?nn die Elegie vorgetragen
wird ( E. Rohde. (triech. Rom.'-' 149, 1 : Hippocr.
Epid. VII 80: noch die römischen Elegiker
halten die Fiktion fc?st: M. Kotil-stein zu
Prop. II 7. 12). Auch die Mu.sen nahmen sich
allmählich der Flöten an «Soph. Ant. 965:
Ar. nub. 318 — nicht Aiwllon Diod. V 49. 1;
[Tibull.] 111 4. G9 f.\ imd spätestens im 5. Jahi^
hundert ist das Zusammenwirken der beiden
feindlichen Instrumente Aulos und Kitharis
bezeugt (s. die Vasen bild er s VI/V bei P. Wol-
ters, Jahrb. des ath. Inst. 14 (1899) 108 ff.: W.
Chkist. Proleg.zu Pind.,Leipz. 1896,p XCVIII;
Theogn. h'^\\ f. 701 ; Xen. conv. 3. 1 : es gibt iran
«r/.ot xiOamoriioioi (Ath. 176 f. 182c. 634 f.)
und rouoi xiOnotar/fOtin, o/s 9f(u :tooafjvXovr
PolL IV 84). Die Verbindung der beiden Instni-
mente geradein Delphoi ((1. Colin. Bull, de corr.
hell. 8U, 190C. 291, 2) wird Ausdruck der hier
vollzogenen Kultverbindung zwischen Apollon
und Dionvsos sein. — Aristoteles teilt zwar
(pol 1342a 88 fr.) nicht Piatons (reip. 399 cd)
Abneigung gegen den nr/.fl:, beschränkt diesen
aber doch ((m)]. 1841a 21) auf den orgiastisch-
katliartischen Gebrauch, während er ihn von
der Erziehung ausschlieOt. über die ethische
Wirkung der Flötenmusik s. auch Plut. symp.
quaest. 712 f ff.; .\uct. .-ryoi r»/'- 39,2.
=* I Über das für die Flötenzungen {yX<l>o€fai)
geeignete K^>hr von Kelainai s. Strab. p. 578;
dortliin verlegte die Sage auch den Streit des
Mai-svas und Apollon: s. Herod. VII 26 Über
den ihichsbaum vgl. V. Hehn. Kulturpflanzen
und Haustiere^ 227 ff., und Ath. 176f: xovf
yno yÄi'utn'c ar/.or>:, un' /n'i^ßwrF.ret ^oqKtxX^
n' A'/o/^// TF xt\r TvunariaraU , ovx aXlovs
Ttras Ftrni dx(n''oiiF%' Tj mvc; 4*ovytovi.
') Er>vähnt von Aischylos nach Strabon
p. 470.
*) Ath. 175 f: Pollux IV 75; nach der
ersten Stelle kam er schon bei Sophokles
vor. Das Flötc»nspiel wiu-de auch Ar eine
Erfindung der Libver angesehen; s. Ath. 618c
und Nonnos Dion. 28. (i22: 40.227.
*) Ath. 174 u fllSc; Pollux IV 102. Die
fünf von Anstoxeuos untei-schiedenen Sorten
von nr/,oi bei Ath. 176 f. ö34 f.
B. Lyrik. Anfänge der Lyrik. Ihre Gattungen. (§ 85.) 141
aufien empfangen haben: unter den hauptsächlichsten Tonarten öwqkjxI^
ipQvyunh XvdioTi, aiohari, iaoxi haben zwei von fremden Ländern, Phrygien
und Lydien, ihren Namen; das älteste Lied, dessen Namen uns überliefert
ist, das Linoslied stammt aus dem Orient;') die Totenklage, die von jeher
mit Musik, Oesang und ekstatischen Gestikulationen verbunden war, trägt
orientalisches Gepräge;^) die orgiastischen, mit Pauken und Flöten ge-
feierten Kulte der Kybele, des Dionysos in jüngerer Gestalt und der Bendis
kamen von den Thrakophrygern zu den Griechen.
Der Gegensatz zwischen Flöte und Lyra^) spielte nicht bloß in den
Götterkulten und Landschaften, sondern auch im ganzen Verlauf der
griechischen Musik eine große Rolle; er fand seinen symbolischen Aus-
druck in dem Mythus vom Streit des Marsyas und Apollon. In der Vor-
zeit der thrakischen Sänger, aus der keine Melodie sich in die historische
Zeit rettete, herrschte einzig die Phorminx. Der erste Aufschwung der
Musik ward der Flöte und dem Meister des Flötenspiels, dem phrygischen
Olympos, verdankt.^) Der Flöte sicherte schon ihr größerer Tönereichtum
(Plat. reip.ni399cd; Plut. de mus. 29), ihre Fähigkeit, den Ton festzuhalten
und dynamisch deutlicher abzustufen, einen Vorzug vor den Saiteninstru-
menten. Bald folgte ihr die Vervollkommnung des alten Saiteninstrumentes
und die Dichtung neuer Weisen für die Lyra durch Terpandros. Dann
hielten sich eine Zeit lang die beiden Musikarten die Wage, so aber, daß
die Flöte als begleitendes Instrument bei Choraufführungen allmählich, da
ihre größere Tonstärke sie dafür empfahl, das Übergewicht erhielt, im
übrigen der saitenlose Klagegesang {IdXe^ioq äkvgoq) im Gegensatz blieb zu
den hehren Kitharweisen des Lichtgottes Apollon.^) Im allgemeinen ge-
hörte die Pflege und Kenntnis der Musik bei den Hellenen zum Wesen
des freien Mannes, so daß auch in dem Unterricht der Knaben die Musik
einen Hauptgegenstand bildete, ohne den man sich eine liberalls educatio
nicht denken konnte. 0)
85. Reiner Instrumentalmusiker ^) ist Olympos, der Begründer der
^) Dazu die fjiilfj Toggrißia von der lydi- i *) öfter wird auch dem festfrohen Klang
sehen Stadt Torrebos bei Steph. Byz. \ der Kitharia der klagende Ton des Aulos
*) MoQiavövvog ^Qtjytjitfy bei Aesch. ; entgegengesetzt (Soph.Trach. 641 f. mit »SchoL;
Pere. 992: vgl. Kagtxfj fAovojj bei Plat. leg. 1 Flut de Ei ap. l)elph. 394 b c ; Apul. flor. 17
VII p. 800e und Kagtxdv fjisXog bei dem 1 p. 177, 11 Vliet). Im 4. Jahrhundert taten
Komiker Piaton in den AaxMveg 1, p. 620 sich besonders die Thebaner im Flötenspiel
V. 12 KocK. I hervor; aus Theben stammten die berühmten
•) An diesen Gegensatz knüpfte sich im , Flöteuvirtuosen Pronomos, Diodoros, Anti-
5. Jahrhundert die Kontroverse über die Prio-
rität von Aulos oder Lyra, in die (glaukos
von Rhegion mit seiner bei Plut. de mus. be-
nutzten Schrift eingriff. Vgl. Plat. reip.I11399ü.
genidas, Timotheos, Theon, Dorotheos.
^) Darüber belehrt insbesondere Aristo-
teles im letzten Buch der Politik und Piaton
symp. 187 d, wo Kenntnis der Musik mit
Siehe a. o. S. 137. Die Stellen über den Bildung {jraiöeia) identifiziert ist. Dazu vgl.
angriechischen Charakter des arxo^ aus Schol. Cic. Tusc. I 4, Plut. Themist. 2, Cim. 4.
Townl. Hom. IL bei W. Ditteiibekoer, Herrn. , Bildlich ist dieser edle Zweig der Jugend-
40 (1905) 464. | bildung dargestellt auf der Schale des Malei-s
*) Marsvas und Hyagnis, die angeblichen j Duris (um 450); s. A. Michaelis, Attischer
Eltern des Olympos, sind die mythischen Er-
finder des Flötenspiels. Olympos ward als
jugendlicher Knabe neben Marsyas dargestellt
von Polygnotos; s. Paus. X 30, 9.
Schulunterricht auf einer Schale des Duris,
Arch. Zeit. N. F. 6 (1874) 1 ff.
') Die griechische Instrumentalmusik ist
durchaus tonmalerische Programm usik (Pratin.
142 Griechiache Litteraturgeschichte. I. KUsaische Periode.
auletischen Nomenpoesie. Er lebte gegen Ende des 8. Jahrhunderts unter
dem phrygischen König Midas IL (738— 695). i) Plutarch de mus. 11. 29
nennt ihn Begründer («o;r?/;'or) der hellenischen Musik, was insofern richtig
ist, als der Aufschwung der griechischen Musik von seinen Flötenweisen
ausging. Von Worten, die er zu seinen durchaus für gottesdienstliche
Zwecke bestimmten Melodien gedichtet, erfährt man nichts. Schwerlich
hat er seine Melodien niedergeschrieben, sondern durch Vorspielen auf seine
Schüler verpflanzt.^) Um so leichter konnte sich ein Streit über die Autor-
schaft der ihm zugeschriebenen Nomen erheben. Zugeschrieben aber
wurden ihm mit mehr oder weniger Recht: der tonmalende vojtiog noXuKi-
fffUos auf Apollon, nach Pindar F. 12, 7 ff. so benannt von den vielen das
Modusenhaupt umgebenden Schlangenköpfen, deren schrillen Klageton er
nachahmte,*) der ro//o^ aoiuirmK, eine klagende Weise für Bestattungs-
feiern,*) ferner Nomoi auf Athene,^) Ares und die Qöttermutter.*) Er g^t
ferner als Erfinder des enharmonischen Musikgeschlechtes, '^) dessen Wesen
darin bestand, dal3 es bestimmte Töne der diatonischen Skala für die Me-
lodie unbenutzt ließ. Auch mehrere neue Khythmen, wie der Trgooodiaxog
(- —<^ — ^ — '-), yoofioq (- --X-— w_)^ ßaxynoQ (-v>^- «w^«.). wer-
den auf ihn zurückgeführt.**) — Schüler des Olympos waren Hicrax aus
Argos, von dessen Erfindungen Pollux IV 79 und Plutarch de mus. 26 be-
richten, Krates (Flut, de mus. 7) und andere (FUit. 19). Das Herüberfluten
der phrygischen Künstler nach den kleinasiatischen Griechenstädten ist
vermutlich durch den Zusammenbruch des phrygischen Reiches infolge des
fr. 1 bei Hkk«;k PL(J. UM TmS f.; Aristot. ,-Toi/jiiajn bei IMut. de mus. 18 bezieht sich
poßt. 20 p. 14(>1 b 30 ff. ;: H. (Ti!iiK.\ujäR, Alt- j nur auf Kompositionen.
in*iech. Programmusik. Wittenberg 1904), und ') Neuere lassen ihn von den vielen Ab-
deshalb von JMatoii (le.^. II f)00e) und seinen , sätzen {y.ft/n/ju) benannt Hcin. Die Erfin-
Anhän)L?ern (IMut. symp. quae.st. 718d; s. a. | dunt; des Polykephalo» wird der Athene lu-
.TFoi rif'. :V.K 2 oMv oiifiturn) vei'worfen. Krst gesehriebe» von JN'ndar P. 12; nach andern
die phrygisrhe Auletik machte die (iriechen soll Krates, ein Schüler des Olympos, ihn
mit der vom VVoit losgelösten Wirkung der erfunden haben (Plut. de mus. 7». »Siehe H.
Instrumentahnusik eigentlich bekannt (Alex. ' (iuhkaukh. Verb, der Philo!. vers. (iörlitz 1889,
Polyb. bei Plut. de mus. ö; K. Kitsohl. 4;W ff.: anders 0. Schröder. Herrn. 89(1904)
Opusc. I 2f)0 miOdcutet diese Stelle, als hätte \\\h i.To/.rx. bedeute den Rhythmen Wechsel).
Ol. auch kitharistische Weisen komponiert). *) Enr. Or. 18!^"). Man hat etwa an den
') Seine zeitliche Absetzung i.st durch " Wagensturz des Amphiaraos beim böotischen
die oben S. 141,4 berührte Kontrovei-se vor- Harma iStrab. 404) oder an das bei Barbaren
wirit. Wer sich für Prioritiit des Aulos ent- (Hdt. IV 7:^. IX 2-)) und (iriechen (A. Baü-
schied. mochte ihn vor Homer setzen (so mf.tstek. Denkmäler III 1948 eine Dipylon-
Suid. s.T>;.r//.7o.' b und wohl alle, die ihn als | vase) übliche Führen der Leichen Vornehmer
Schüler des Silens Marsyas ansehen, wie auf Wagen zu denken. Von Fmrvußidiot
Pind. bei Schol. Ar. ran. 228; Plat. symp. ruimt des Ol. redet Poll. IV 78, von {Poffvrf-
215 c). Wer an die Prioritiit der Lyra glaubte. ' Tixni xui tw}.t,nxoi rnnoi Schol. Ar. eqn. 9; ein
hatte kein Interesse, die richtige Oberliefe- . f.^ty.iffitor h.ii rnt Jlrüotn (für Delphoi?) Ari-
rung zu ändern, nach der er unter den phrA'- stox. bei Plut. de mus. 15.
gi.schen Königen Midas und «iordios gelebt hat | '') Die Stellen bei II. Volkmasn zu PInt
(Suid. s. "O/. d). Die Annahme zweier Olym- . de mus. p. 70. 12 ff. Das .-row«r//or zu diesem
pos ist nur einer der den Alten geläufigen ro//oc muü Piaton Cratyl. 417e meinen.
Vermittlungsversuche, der in diesem Fall ') Plut. de mus. 2*J; vgl. Aristoph. eq 9.
auf Pratinas (Plut. de mus. 7) zurückzugehen ') Plut. de mus. 11. IL Auert, Lehre
scheint. v. Ethos los ff.
*) Schol. Ar. Equ. 10: l)).vn.iv^ f'yfKvpFv **) Cber diese Khythmen s. W. Christ,
uvf.qiixoh y.tti fhjfp-tjTixnrg ro/ioiv ist mit Metrik *, Leij»z. 1879, 2r)8 u. 478.
Voraicht zu deuten. ^Okvunov xni TetKtdt'^onv ;
B. Lyrik. Anfänge der Lyrik. Ihre Gattungen. (§ 86.)
143
Kimmeriereinfalls veranlaßt. Ihre Sprache wurde hier nicht verstanden
und so mußten sie sich, selbst wenn sie nebenbei Dichter gewesen wären,
auf das Musizieren beschränken, ebenso wie die etruskischen histriones in
Altrom auf pantomimische Vorstellungen. Die Nomen des Olympos wurden
immer als etwas Besonderes empfunden, enthusiastisch im Charakter und
durch Einfachheit vor den späteren derartigen Kompositionen aus-
gezeichnet, i)
Die Einflüsse der Flötenmusik auf die ionische Litteratur äußern sich
zunächst im Aufkommen der Elegie, deren stehendes Begleitinstrument
der Aulos ist. Der Schauplatz des bedeutsamsten Umschwungs auf dem
Gebiet der Musik und Lyrik ist aber vom 7. Jahrhundert an der Pelo-
ponnes, wo die Derer, weit musikalischer veranlagt als die lonier, den von
außen kommenden musikalischen Anregungen den fruchtbarsten Nährboden
gewährten. Zuletzt wirkt hier, durch Terpandros eingeführt (noonr] xard-
GxaoiQ Plut. de mus. 9), die altäolische Kitharodik. Bald folgen aber die
Auleten'und Auloden und machen hier Schule {devriga xaTaoraoig),
86. Terpandros, Sohn desDerdenis aus Antissa^) auf Lesbos,») dessen
Zeit sich dadurch bestimmt, daß er Ol. 26 =- 676/3 v. Chr. an den Karneien
in Sparta siegte,*) gilt als Begründer der kitharodischen Nomendichtung
und der lyrischen Poesie der Griechen.^) Er soll den alten vier Saiten der
Lyra drei neue hinzugefügt^) und neben dem alten daktylischen mehrere
neue Rhythmen in die Poesie eingeführt haben. In seinen Nomen knüpfte
er der Überlieferung nach an die Weise älterer Sänger und Kitharisten
an; das will die Sage ausdrücken, daß Haupt und Leier des erschlagenen
Orpheus durch das Meer nach dem lesbischen Antissa geschwommen seien.')
Außerdem verwertete er die musikalischen Weisen der benachbarten Lyder
') Aristot pol. VITI 1340a 9 ff.; Plut. de
mnB. 18.
•) So nach den äxotßeoTFQoi Schol. Aristid.
p.592, 29ff. DiND.; fimoth. Pers. 239 Wil.
•) Alte Apollon- und Dionysoskulte auf
Lesbos (Pbeller-Robert, Griech. Mythol. I
292, 2. 678 f.) gaben Anregung zur Übung
der Musenkünste. Einem dymv jtdxmos t<ov
jifHrjTiov in Mitylene wohnte Pompeius bei
(Plut Pomp. 42).
*) Ath. 635 e: rä Kaovela jrQWTO<; :idvTO)v
TeQJiavÖQog vtxqi, oyg' Ekldvixog iorogsT er re toi<;
^fiftexQoig KoQveovixatg xdv xoig xaraXoydöjp' *
eyevexo 6h rj &eotg kov Kagveiojv xaxd rijv
fxrtjv xai etxooxijv ^OlvfundÖa. Nach dieser
urkundlich sicheren Nachricht war Terpan-
dros um ein geringes älter als Archilochos,
wie auch Glaukos bei Plut. de mus. 4 be-
zeugt und R. Wbstphal, Verh. der 17. Phil.-
VeiB., Breslau 1857, S. 51— 66 aus der Ge-
schichte der Musik nachweist (später als Archi-
lochos setzen den Terpandros der Peripatetiker
Phanias bei Clemens Alex, ström. I398P.. das
Mann. Parium ep. 34 zu Ol. 33, 4 = 645 v. Chr.,
und Eusebios zu Ol. 36, 2 = 635). Alle Stellen
zur Chronologie bei F. Jaooby, Marmor Par.
S. 95 f. Erwähnt wurde er bei Stcsichoros
(fr. 71). Siehe auch E. Rohde, Kl. Sehr..
I 97.
*) Über fabulose sonstige ^Erfinder*
der Kitharodik s. Plut. de mus. 3 u. Reinach-
Weil zu dieser Schrift § 27 ff.
®) Strabo 618: Ttonavdoa; dvxi rijs xf-
Ton/ogdoi^ Ai'f>«<: s.^xa/dgdo) ygrjodfiei'og. Ge-
naueres Plut. de mus. 28. Timotheos Pers. 237
Wil, TeojtavbooQ ö' rnl xo) ( X)QCfF.t) ÖFxa lfv^f
fwvoav Fv (odaT^, was Wilamowitz auf eine
zehnsaitige Lyra bezieht. Siehe a. S. 138. 7.
Etwas vei-schieden Ps. Aristot. probl. 19, 32.
") Phanokles bei Stob. ilor. 64,14; Antig.
bist. mir. 5; Ovid. met. XI 50; Lucian. adv.
ind. 11. Bei Timoth. Pers. 215-248 Wil.
sind die zwei Epochen der ältesten Kitha-
rodik durch Orpheus und Terpandros be-
zeichnet. Anderwärts wird T. an Chryso-
themis angeknüpft. (Procl. ehrest, p. 245, 2
W.: Xgvod(}Fiag 6 Kgi/s :igo)xog oxokfj xQV^d-
fiFVog FX.^gF.nF.T xai xif^dgav dvakaßcov eig fii-
ftrjoty xov 'A.idkXatvog fiorog fjoe . . . SoxsT Öf
TF.gnav()gog fikr ngwxog xFÄeuooai xov rduov
fjgwo) ftFxgoj xofjodfjevftg.) Von Homer leitet
ihn (als dessen Ururenkel) der Gewährsmann
des Suidas (s. TFgnardgog) ab, wieder andere
von ücsiod (Suid. 1. L).
144
Griechische Litteraturgeschichte. L Klassische Periode.
zur Vervollkommnung der griechischen Musik. ^) So rühmt Pindar fr. 125
von ihm, daß er den Barbitos zuerst aufgebracht habe, als er bei den Ge-
lagen der Lyder horte, wie er gegen die hohe Pektis erklang. Epoche-
machend für die Verbreitung der Musik nach dem griechischen Festland
war die Berufung des Terpandros nach Sparta, das im 7. Jalirhundert nach
der Bezwingung Messcniens eine Hauptpflegestätte der Musik und der
Götterfeste war. Spätere sagenhafte Ausschmückung hat dieser Berufung
die politische Absicht einer Beschwichtigung der Parteien untergelegt.*)
Sicher ist, daß der lesbische Musiker in Sparta mit großer Auszeichnung
aufgenommen wurde, wodurch der sprichwörtliche Ausdruck entstand: uerä
Aeoßior (odov, d. i. zuerst der lesbische Sänger und dann die andern.») Die
Namen der kitharodischen Nomen des Terpandros waren: Alohog, Bouüriog
(von Völkern benannt), öothoi;, jooyalo^ (von Rhythmen),*) ^fiV, Tetgaotdiog^
Kfjmmr, TfüJidvögiOs.^) Außerdem werden von ihm kitharodische Prooimia,
d. i. Melodien zu Hymnen, genannt.") Allen diesen Kompositionen lagen
Texte zugrund,^) und zwar teils Dichtungen Homers,®) teils von ihm selbst
gedichtete Verse. V^ou seinen langgedehnten Rhythmen (ooihog und rgo-
yaioq orjjiiavtog: Plut. de mus. 28) will fr. 1 eine Vorstellung geben:
Zfr nnjTfoy (loyd^ tkivtcov
<iyf)TO)0, ZlrV^ not OJTfvdd)
TarTdv (^Tuvy ruvfor doyär.
Aber schwerlich ist uns ein echtes Fragment erhalten,^) also auch die
Frage, in welchem Dialekt Terpandros gedichtet habe, wo er eigene Text«
bot, nicht zu entscheiden. Die Nomen waren, ähnlich wie unsere Sym-
phonien und Kantaten, sehr kunstvoll*^) in mehrere Sätze gegliedert. Der
*) P^infilhruDg der patlietisch-tragisrlien
inixolydischeii Touait Plut. de mus. 2><.
*') DiiKlor. bei Schol. Aristid. p. 5U2, 20 ff.
DiND.; Aristid. or. XLIV 825 Dind.; Pliilod.
de muö. XIX 1« und XX 2; Flut, de mus. 42;
Aelian v. h. XII 50 ; Zenub. 5. 1). über Musik als
JSühiiemittel IL Diels, JSibvll. Blätter, lierl.
189U, UO.
'j Aristot. fr. 497, wo von V.Rose (Aristot.
pseudepigr.) die ganze Littei'atur zusammen-
getragen ivst. Auch Sapphü fr. 92 spielt auf
das Sprichwort an. Die vier delphi.s('hen Siege
des T(?rpandros scheinen spätere Erfindung
zu sein, da wir aus so früher Zeit nichts von
Wettkämpfen in Delphoi wissen.
"*) Hom. 11. .1 10 f. nO(t oräo* tjvoF Ofu inya
JF. dnroy tu onOi \ Dio Chr. 1, 1. — Die Stellen
üb(;r die uoroty.H o<n'hi W. Cukist zu Find. fr. 32.
Flut, de Fvth.gr.O deutet die strenge. Aristid.
or. XLVI 888 Dinü. die richtiKe Musik.
'M Die Stellen Tu. Bergk, FL(t. III* 7.
Acht Nomen zählt Pollux IV^ 05 auf. indem er
Innzufügt, dafj andere ihm noch zwei weitere
Nomen b(älegten. Darauf scheinen die zelm
co^ai des Terpandros bei Timoth(?os Fers. 237
zu gehen.
•') Flut, de mus. 4; Schol. Arist. nub. 595.
") Clem. Alex, ström. I 3ß4f. P.: fieXa;
iY «r .TotTßTfi^ .ifoifOtjxe roU :ion)fiaot xai xovg
AaxF^aifiorUov vvitovs FiiF/.o;tot9joe Tigjraf'
«^mv o 'ArrtoaauK:.
•*) Flut, de mus. 3: toTc f.^foi rd; kivrov
xai ToiV 'Outjnor fuhj .-TFoinderia fjiÖeiv iv roTf
i\yt7iai%'\ ibid. 5: F^tjhoxhai xov TeQJtavdooi^
'()i//joftr //n- Tri F.itf, 'OoffFfog Ae rä fiiXi^l
ibid. G von den Nomensängern: lä jigoi rai^
♦Vforc ihf ooKoodfitroi i^tßatror (vgl. rxßaats
Flut. 1. 1. 83) Frißt'c f.Ti' Tf rjyr Ofirjoov xai
T(i>»' U.)M0V JKUtfOlt'.
9) Schon die Alten zweifelten (Strab. 618).
Siehe Wilamowitz, Eurip. Herakl. I * 71 and
dens., Timoth. Ferser S. 92.
>") Frocl. ehrest. 245, 18 ff. W.: r^oy-
ftFroK xai //^•;'«/o.tof.to>^ xai roti ^vdfiotg
(hfiTtu {(1. h. ruhige Rhythmen) xai dutXa-
o/rt/>r rafs ?.^2F0l /jjtjTai. Den Gegensatz bil-
det der lebhaft eriegte Dithyrambus. O.
(i KUPPE, (jr riech. Culte und Mythen I 549 ff.
vergleicht passend unsere Kirchenkonzert-
ötücke. Die Strenge des Satzes betont Suid.
S. yöuo^: aaiinvtar F/(or zaxrtfV xai ov^fiov
ioinnuFvny. Den rouixo; tno.ifh; im MeloS
scheidet Aristid. Quint. de mus. I 12 vom
öiOvnaitßixo^ und Toayixog.
B. Lyrik. Anfänge der Lyrik. Ihre Qattnngen. (§ 87.)
145
Kitharode trug sie in feierlichem, lang wallendem Talar vor.^) Nach PoUux
IV 66 hatten die terpandrischen Nomen 7 Teile: dgxd^ iMxaoxd^ xarargoTid,
fujaxaxoTQond^ djutjpakog (dies der Hauptteil mit der Mythenerzählung), oq^ga-
yk (persönliche Äußerungen des Dichters), biiXoyog.^) Wenn schließlich
Plut, de mus. 28 den Terpandros auch den Erfinder des Trinkliedes {oxo-
JUor) nennt, so mag das dahin verstanden werden, daß er diesen Liedern
bei den lakonischen Syssitien zuerst eine kunstmäßigere Form gab. 3)
87. Klonas, Polymnestos, Sakadas, Echembrotos waren die
Hauptvertreter der erst nach Terpandros aufgekommenen aulodischen Nomen-
poesie. Von diesen hat Klonas,'*) den die einen zu einem Tegeaten, die
anderen zu einem Thebaner machten, gegen Mitte des 7. Jahrhunderts die
aulodische Nomenpoesie begründet und seinen Melodien Elegien und dakty-
lische Hexameter zugrund gelegt.^) Wenn ihm auch Prosodien beigelegt
werden, so sind demnach damals aulodische Kompositionen auch bei Pro-
zessionen gesungen worden. — Sakadas aus Argos, der hochgefeierte «^j Ver-
fasser von fiiXi] und ikeyeJa /le/ieA.ojtoirjjueva,"') war der Schöpfer des berühmten
auletischen ro^og Ilvdixog^ einer Programmusik, die den Kampf des
Apollon mit dem Drachen Python darstellte.^) Seine Zeit wird dadurch
genau bestimmt, daß er nach Paus. X 7, 4 (vgl. Plut. de mus. 8) in den
Jahren 582, 578 und 574 bei den pythischen Wettkämpfen siegte. Von
ihm oder Polymnestos rührte auch der vo^og rgtfxeg/jg (oder rgijuehjg) her,
von dessen drei Strophen jede in einer anderen Tonart (diogiori, (pgvyiorl^
Ivöiaii) gesetzt war. Vielleicht war Sakadas auch Erfinder der Instru-
mentalnotenschrift, die älter war als die der Vokalnoten, aber mit dieser
darin übereinstimmte, daß sie die Lautzeichen des Alphabetes zur Bezeich-
0 Proci. ehrest, p. 245, 2 W.; bei Herodot.
I 24 singt Arion den voftog ogifioc: ivövg jiäoav
trfv axevijv xai Xaßon' ri/v xiädQfjr. über das
prunkvolle Kostüm der Kitharoden in späterer
Zeit J. Fbei, De certaminib. tlivmel. 47. 49 f.
«) Nach Poll. IV 84 und^ Strab. p. 421
hatte der berühmte TfvOtxog vo^kk: des Sakadas
fünf Teile (E. Lübbert, De Pindari carminuni
compositione, Bonn 1887). Die Zahl der Sätze
in tonmalenden Instrumentalnomcn mußte
natürlich von der sachlichen Gliederung des
Gegenstandes abhängen. Ob Plut. de mus.
33 auf Nomen mit drei Teilen (dg/r'f, fieoov,
ixßaotg) gedeutet werden darf, ist zweifelhaft.
Vor dem komplizierten siebensätzigeu Nomos
lag aber wahrscheinlich (J. Jüthner, Wiener
Sind. 14, 1892, 9 ff.) ein einfacherer dreisätziger
(1. Proömium. 2. erzählender Teil mit Mythus,
3. Schluß). Vom eigentlichen rouog oder
ftväog scheidet Dio Chr. V 4 das :zgootfiim'
vofiov. Daß dem Nomos die Strophenform
nicht zukommt, sagt Ps.Aristot. probl. 19, 15.
— In dem neuaufgefundenen Nomos des
Timotheos sind die letzten Teile ^/afpaXtk,
wpgayig und Mkoyog noch deutlich erkenn- i
bar, die ersten nicht mehr, da der Anfang
des Nomos verstümmelt ist; s. Wilamowitz '
in der Ausgabe S. 96 ff. Das Nachwirken
der Nomosform im Apollonhymnus zeigt 0.
Handbuch der klass. AltertnmswissenBchaft. VII.
Crüsiüs, Verb, der 39. Philol.versamml. Zürich
1887 S. 266 ff.
') Ein sehr individuell gefärbtes lakoni-
sches Trinklied bewahrt Theogn. 879 ff.
*) Plut. de mus. 3. 5. 8; Poll. IV 79.
Sonst wird er nicht erwähnt. Sein Name
war aber in der alten agonistischen Inschrift
von Sikyon genannt (Plut. 8). Cber das
Kostüm der Auleten in älterer Zeit (ärmel-
loser, ungegürteter. mit Stickereien verzierter
Rock) J. Frei a. a. 0. 31 f.
^) Plut. de mus. 3. Erfinder eines voiiog
Tot^ieh'is, in dem drei Tonarten (dorische,
phrygische, lydiachc) vorkommen, nennt ilm
Plut. 8.
^) Statuen von ihm in Argos und auf
dem Helikon er^'ähnt Paus. II 22, 9: IX 30, 2.
") Plut. de mus. 8.
8) Strab. p. 421; Paus. II 22. 9; Poll. IV
78. H.GunRAüER, Der pythische Nomos, eine
Studie zur griech. Musikgeschichte, Jahrbb. f.
Phil. Suppl. 8 ( 1875— 76)309ff. Ath. 610c führt
von Sakadas (besser mit Kaibel: Agias) auch
eine Daov .linots an. Die ihm beigelegten
rdftot hießen (hroäeTog und o/oivian: — Der
pythische Nomos. für den eine besondere Art
von Auloi verwendet wurde, wurde noch in
der römischen Kaiserzeit von pythaulae ge-
blasen (J. Frei, De certam. thym. 60 ff.).
5. Aufl. 10
146 Ghriechisohe Litteraturgeschichte. I. SlaBsisohe Periode.
nung der Tonhöhe in den verschiedenen Tonarten verwendete.*) — Zeit-
genosse des Sakadas ist der Arkadier Eehembrotos, der bei den ersten
pythischen Spielen (582) mit einem aulodischen Nomos siegte, aber durch
den traurigen Charakter seiner Dichtung Anlaß gab, daß die Gattung der
aulodischen Nomen wieder aus der Liste der zulässigen Dichtungen ge-
strichen wurde.*) — Nur ein lonier begegnet unter den frühsten Meistern
griechischer Flötenmusik, Polymnestos von Kolophon;*) er soll sich auf
die drei alten Tonarten dorisch, lydisch, phrygisch beschränkt und die-
selben Dichtungen wie Klonas gemacht haben.*) Vielleicht ist er für den
Peloponnes der Vermittler der neuen phrygischen Weise geworden.*^)
88. Orchestik und Anfänge des Chorgesangs. Die kitharodi-
schen und aulodischen Nomen waren zum Einzelvortrag bestimmt. Die
Nomenpoesie bildete daher auch zunächst nur für die eigentliche Melik
oder die Liederpoesie den Ausgangspunkt. Der Chorgesang begegnet zu-
erst in Verbindung mit Reigentänzen. In älterer Zeit singen einzelne vor
{iSuQyoiTFg), die Gesamtheit stimmt mit einem Ruf oder ausgeführten Re-
frain {eqvfiviov) ein: später übernimmt der Gesamtchor oder ein Teil von
ihm den ganzen Vortrag. Das Wort x^Q^^ bedeutete in der älteren Zeit
und so noch bei Homer den Tanzplatz (verwandt dem lat. co-hors, hortun)
und wurde dann erst auf die Gesamtheit der Tänzer, die auf dem umfrie-
deten Platze ihre Reigen aufführten, schließlich auch auf den Chorgesang
übertragen. Festliche Tänze waren bei allen Griechen üblich; einer be-
sonderen Pflege erfreuten sie sich aber auf der Insel Kreta. Schon Homer
schildert den Tanzplatz (xoooc:) der Ariadne im kretischen Knossos (2*5901?.)
und nennt den Kreter Meriones einen Tänzer (oo;f/;or//(: FI (517).^) Wie die
übrigen Künste, so war auch der Tanz in Kreta in den Dienst der Gott-
heit gestellt; so galten die Paiane den Festen des Heilgottes Apollon und
^) Der Vükalnot(;nsohrift der Griechen ' doßv uF/.Fn xaUyov^.
liegt das zur Zeit der IN'rserkriege ausjüiebil- ' ^j KrwÄhnt von Alkman fr. 114, also
dete iüuiscliü Alphabet von 24 Buchstaben spÄtestens Mitte des 7. Jahrhundert« zu setzen.
zugrund. Die Instrunientalnott^nsehrift hin- i "•) Die Nachrichten sind nicht ganz wider-
gegen enthielt nicht bloß noch das Digainina, I spruchsfrei (Plut. H. 5. 9. 10). Die Meinung,
sondern auch das gebrochene .Tot«, das nach ' als hätte 1*. lascive Dichtungen verfaßt (Schol.
<h'n Inschriften nur in altdorisclien und Ar. eq. 12S7 und danach Suid.: 0. C-Rüsnm,
achüischen (Jebieten (Kreta, Melos. Thera. Philol. 47. 1888. 40; Wilamowitz, Textgesch.
Korinth, Unteritalicn) Verbreitung hatte und der griech. Lyr. 13). beruht auf einer Miß-
iusbeson<lere die spezifisch argolische Form deutung von Ar. eq. 12S7. wo der Komiker,
<h's Lanibda i |- ». Siehe die ninsikalischen . indem er von Ariphrades sagt xai IlaXvft-
Traktate bei C'. v. Jan. h?criptores mus. iW., \ r/jorna .7oiyJ, nur den Heuchler charakteti-
Leipz. 189.'>, 298 ff.; vgl. D. B. Monko. The sieren will, wie wenn wir sagen würden:
Modes of auc. iire«*k Music p. 7o. Auf diest?n ^Dieser Lump komponiert auch noch (^'horäle.*
Vorrang der Argeier in der älteren Musik be-
zieht W.CmasTlferodot III 131 \ioytiot fjy.orov
nniniy.i/i' fivhi 'EkkijVtnr naioiot (Finde des
.Jahrh.i. Das Musikinstrument aaxm^my.
Daß seine ITauptleistung oftdioi waren, be-
zeugt Plut. de mus. y.
''') Daß er für die Lakonier dichtete, sagt
Paus. 1 14. 4. Vielleicht hat er in Lakonien
dessen Ilesych. ged(?nkt. ist wohl eine Er- j noch mit Thaletas zusammengewirkt,
lindung des Suk. ^'i Auch JSappho fr. 54 besingt den Tanz
'-) Paus. X 7. 3 hat die Aufschrift des der Kieti'dnnen um den reizenden Altar.
ehernen Dreifußes erhalten, den Echembrotos t'ber die Tiinze der Kreter im allgemeinen
für einen Sieg nach Theben stiftete: 'A>//i- Aiistoxenos bei Ath. (»30b und Sosibios in
(iomiK 'Any.a::n>fiy.t Tto'IfnaxAFt, rixt/on^ V/wV Schul. Pind. P. 2, 127. Von Kreta benannt ist
uyaku* Atiff iXTvonor ir «fV//.o/c. "K/./.fjoir dei- 1 der on')no^ Ktjfjny.oy — v^ __ ,
B. Lyrik. Anfänge der Lyrik. Ihre Qattnngen. (§88.) ^47
die WaflFentänze {nvQQixai) denen des Kriegsgottes Ares.') Schwerlich
indessen waren dies alte nationale Tänze der Derer; vielmehr scheinen sie
unter fremden Einflüssen aus der vordorischen Kultur der altberühmten
Insel entstanden zu sein. Dahin weist die Verwandtschaft der kretischen
Kureten mit den phrygischen Korybanten und die Verbindung der idäischen
Daktylen und Kureten mit dem Kultus der großen Göttermutter. 2) Von
Kreta verbreitete sich dann der religiöse Tanz und Gesang nach dem
griechischen Festland, zunächst nach Delphoi und Sparta. Von der Ver-
pflanzung nach Delphoi haben wir ein litterarisches Denkmal in dem home-
rischen Hymnus auf Apollon.^) Nach Sparta brachte die neue Art der
Götterfeier durch Chorgesang Thaletas aus Gortyn. Dieser wurde zur Zeit
einer Pest von den Lakedaimoniern berufen, um durch musikalische Süh-
nungen aus der apollinischen Religion*) den Zorn der Götter zu beschwich-
tigen.*) Bei dieser Gelegenheit, wahrscheinlich bald nach dem Jahr 665,
in das Eusebios die Einführung der Gymnopaideia in Sparta setzt, ^) führte
er die mit feierlichem Tanz vorgetragenen Heillieder an ApoUon, die Paiane,
und die in raschem Tempo sich bewegenden kiiegerischen Tänze der Pyr-
riche {vnoQyjniaTa) in Sparta ein.^) Deshalb wird er von Plut. de mus. 9
zusammen mit Xenodamos von Kythera und Xenokritos aus dem unter-
italischen Lokroi®) Begründer der zweiten Musikperiode in Sparta {devTsgag
xaraordaeojg rcbv jieol Tr]v jiiovoixijv iy rj] Zjidox}]) genannt. Die erste war,
wie oben gesagt, von dem Lesbier Terpandros ausgegangen. Der Ein-
führung der Kameen und Gymnopaidien in Sparta folgten bald ähnliche
mit Musik und Tanz begangene Feste bei den übrigen Griechen, die Apo-
deixeis (&rid€f|£(cem.E. Hiller) in Arkadien,'^) die Endymatia (fetes costumees
übersetzt Th. Reinach) in Argos, ^0) die Festspiele des ApoUon in Delphoi (seit
582) und Delos, ^ *) die Py thien in Sikyon, ' 2) die Panathenaien und Dionysien ' ^)
^) Das waren die Fv6n),iog ogxrjoi^ bei fjEkonouT} drdgi y.ai vofto{^FTi>cio Strabon). Ob
Strabon p. 480 und die evojr/ua jzaiyvta bei
Piaton leg. VII p. 796 b.
*) Call. hymn. I 46. 52; Strab. p. 478.
An die Waffentänze der Kreter erinnern die
Tänze und Lieder der römischen Salier; ob
aber dabei an griechischen Einfluß zu denken
»ei, ist problematisch. — An Olympos knüpfte
Thaletas an nach Plut. de mus. 10.
die Gymnopädien sogleich von ihrer Stif-
tung an musisch waren, ist fraglich. Aber
jedenfalls ist 665 für die Ansetzung des
Thaletas terminus post quem. Glaukos von
Rhegion glaubte zu wissen, daß er den Archi-
lochos, nicht aber ihn Stesichoros nachahme
(Plut. de mus. 7. 10).
') Plut. de mus. 9; Schol. Pind. P. 2, 127;
*) Das Verhältnis kehi-t um Wilamowitz, Strab. 480.
Eur. Herakl. P 265; Pbeller-Robert, Griech. **) Auf die Bedeutung dieses Xenokritos
Mythol. I 654 flf. — Im allgemeinen s. den in der Musik weist der umstand hin, daß
Artikel Chor von E. Reisch in der Real- i es auch eine lokrische Harmonie gab. Wila-
encyklopädie. • mowitz, Timoth. Pers. p. 103 f. nennt ihn
*) Paiane (Plut. de mus. 9) in strengem, ( Xenokrates. Xenodamos ist nach Ath. 15 d
altertümlichem Stil {>ccdfK rgöno^ Plut. 12). Begründer des r:Too/?}unTix6^ toojtck.
^) So sagte Pratinas in irgend einem «j Ath. 626b; Polyb. IV 20"", 8.
Lied nach Plut. de mus. 42. Anders Philod. '' ) Plut. de mus. 9.
de mus. p. 85, XVIII 39 K. »>) Hymn. Hom. Ap. I 150; Paus. X 7, 4.
^) Andere machen den Thaletas viel *-) Diese waren allmählich erweitert
älter, indem sie ihn mit Lykurgos zusammen- aus gymnischen Wettkämpfen zu rhapsodi-
führen, so Aristoteles pol. II 12 p. 1274a 28 sehen, dann lynschen, s. Tu. Berok, Gr. Litt.
und Strabon p. 482, vielleicht infolge einer II 149.
Verwechslung der beiden Bedeutungen von *^) Die Dionysien sind später, d. h. vom
rofiog _ »Gesetz* und , Gesangsweise' {ßd).tjn 6. Jalu-hundert an, par excellonce das Fest
10*
X48 Griechische Litteraturgeschichte. I. Klassische Periode.
in Athen,*) die Hyakinthien in Samos,*) die Museia und Erotidia in Thes-
piai.3) Diese Art von Festfeier nahm eine mittlere Stelle in der Entwick-
lung der griechischen Agone ein. Vorausgegangen waren die rein gym-
ni sehen Spiele, die lediglich in körperlichen Kraftproben bestanden.*) Weit
später, gegen Ende des 6. Jahrhunderts, kamen die dionysischen Festspiele
in Schwung, aus denen sich im Nordpeloponnes und in Attika die drama-
tische Poesie entwickelte. In der Mitte stand die aus musikalischen und
orchestischen Vorstellungen zusammengesetzte Festfeier, die sich, wie sie
von den Dorern Kretas ausgegangen war, so auch bei den Dorern des Fest-
landes einer besonderen Beliebtheit erfreute, während die lonier und seit
dem 6. Jahrhundert auch die Attiker bei ihren Festagonen die ältere Weise
des rhapsodischen Vortrags epischer Heidengosänge zu kultivieren fort-
fuhren.
89. Blicken wir zum Schluß nochmals zurück auf jene älteste, text-
arme Periode der griechischen Musik, so sehen wir, daß sich im Laufe
des 7. Jahrhunderts alle jene Elemente entwickelten, die wir später in der
Glanzperiode der griechischen Lyrik vereinigt sehen. Zu dem eintönigen,
feierlich ernsten Rhythmus des daktylischen Taktgeschlechtes gesellte sich
der rasche Gang der dionysischen Tanzmusik, des spitzigen lambus und
eiligen Trochäus nebst ihren Wechselformen sowie der energische Schritt
des anapästischen Marschgesanges der Derer (noooodiaxfk). Neben dem
üreitakter (Trimetron) und dem aus dessen Wiederholung entstandenen
Hexametron kamen die ebenmäßigeren, in gleiche Hälften teilbaren Verse,
die Dimetra und Tetrametra zur Geltung.^) Diese waren von Hause aus
den iambischen, trochäischen und anapästischen Reihen eigen, fanden aber
mit der Zeit auch in die daktylischen Verse Eingang. Neue Formen ent-
standen dann dadurch, daß die Katalexis, die ursprünglich auf den Vers-
ausgang beschränkt war, auch auf die Vorderglieder eines Verses aus-
gedehnt wurde (Prokatalexis). Auf diese Weise entwickelte sich aus der
katalektischen trochäischen Dipodie der Pseudo-Creticus ( -i - l_).6) Die
Ausbildung der Rhythmengcschlechter hing auch mit der Entwicklung des
dritten Hauptfaktors der griechischen Lyrik, des Tanzes, zusammen. Denn
musischer Agone, so dnü Aristot. pol. 1323 a 2 | erweisen. Diesem Grundgedanken von H.
den dyotrfy: yvfiri>coi die Aiovvaia entgegen- Uskners Buch über den altgriechischen Vers-
setzt, bau stimmt Christ vollständig bei; aber den
^) Sicher seit Perikles nach Plut. Per. 13.
") Athen. 180e.
*) Paus. IX 31, 3; Athen. 561 e; von
diesen freilich und den Hyakinthien ist die
Zeit der Einführung nicht bestimmbar. Vgl.
E. Reiscii, De musicis Graecorum certamini-
Versuch. die Hälften des Hexametera nun
auch zu solchen Vieitaktern zu machen, hält
er für verlorene Mühe: im Anfang stehe eben
die Messung nach der Zahl der Takte, nicht
nach der der Silben.
yor/jixo^ xara Tooynlov nennt ihn
bus, Vind. 18S5, und ders. Artikel ^Agones** i Aristoxenos und unterscheidet ihn von dem
in der Roalencykl. I 839 f. eigenartigen, echti?n Creticus, der fünfzeitig
*) So noch in den '4iVa« Lii Tlainoxkoj ' ist und zum Geschlecht der Päone ( - ^ ^ ^
r T^. Tt i. . x^ ,. ! oder w w vv _ "i gehört. Dieses Geschlecht
") Die Zusammenfügung von zwei Füüen i i . • t x- j
„., / n- T 1 • w 1- stammt, wie die Manien sagen, aus dem
zu einer Dipodie und von zwei Dii>odien zu , .. ,' , n- • i %- • t j
einen, Dinu'ter ma« von N.U..r einfacher sein ^'f^^'^^, "'"' «Po'l'n'^f^'e'} Kre.s In der
und sich auch durch ihr Vorkommen bei l *"7™ thorlyr.k «i, olt dieser Rhythmus
anderen Völkern als verbreiteter und älter '""='' ''•''"*' 8'''^'= «^'"''-
B. Lyrik. Anfänge der Lyrik. Ihre Gattungen. (§ 89.) 149
beide, Rhythmus und Tanz, gingen bei den Griechen derart Hand in Hand,
daß zur Bezeichnung der rhythmischen Begriffe Takt, Doppeltakt, Auftakt
sowie der Melodie lauter von dem Schreiten und dem Tanz hergeholte
Ausdrücke (jiovg^ ßdoig^ 7iQooodia>c6g, Tiegiodog, orgoq)/], ävxiotQOipi]^ xa/uti^)
gebraucht wurden. Die Liebe zum Tanz, nicht dem einförmigen, beide
Geschlechter vereinigenden Rasen unserer Walzer, sondern den eurhyth-
mischen Bewegungen religiöser Festfeier, jeweils entweder von Männern
oder von Frauen ausgeführt, war den Griechen schon zu Homers Zeiten
in Fleisch und Blut übergegangen; nicht bloß tanzen bei ihm die Jüng-
linge bei der Hochzeit und Weinlese, auch zur Versöhnung des Apollon
führen die Söhne der Achäer Reigen auf, zum Tanz den Paian singend
(A 472). Glänzendere Entfaltung fand dann aber erst in nachhomerischer
Zeit, namentlich in den dorischen Staaten, aber auch in Altattika*) die tech-
nisch verfeinerte Orchestik, und bald wurde kein Götterfest ohne Tanz
begangen.
Dem Aufschwung der Lyrik kam die außerordentliche Bereicherung
und Vertiefung des ganzen Lebensprospektes entgegen, die das Zeit-
alter der großen Kolonisationen im Norden, Süden und Westen, der wilden
Verfassungskämpfe in allen alten griechischen Aristokratien, der philo-
sophischen und religiös-mystischen Reaktionen gegen den naiven Traditio-
nalismus und den verflachenden Intellektualismus der älteren ionischen
Kultur brachte. Es war die Zeit, um Persönlichkeiten reifen zu lassen,
die das Bedürfnis empfanden, innerlich Erlebtes und Empfundenes aus-
zudrücken, und die um die künstlerische Fähigkeit rangen, ihre Konfessionen
so zu formen, daß sie auch auf weitere Kreise erleuchtend, erwärmend,
inneres Leben weckend wirkten. Wo die Lyrik in volle Öffentlichkeit tritt,
wie bei Götterfesten, Heroenfesten, Siegesfeiern, wo um den Preis in der
Konkurrenz gestritten wird, also in Hymnen, Enkomien, Siegesliedern, ins-
besondere wenn der Chor singt, da spricht sich Intimstes natürlich nicht
aus und wirkt das nüchterne Licht der Publizität für unser Gefühl er-
kältend, feierlich-hyperbolische Pose stellt sich leicht ein. Wo aber ein
inspirierter Sänger im engen Kreis der Genossen, beim Gelage oder in
poetischer Epistel sein Herz öffnet, da entfalten sich Blüten, deren Frische
und Glanz durch die Menge der Jahrhunderte nicht im mindesten verblaßt
ist, deren Echtheit und Schönheit selbst die romantische Lyrik unserer
Tage beschämen könnten.
Von den verschiedenen Arten der griechischen Lyrik ist der lambus^^)
und das monodische Strophengedicht in Ton und Form dem Volkslied am
nächsten geblieben, auch die ältere Elegie, wiewohl formal stark vom Epos
abhängig, hält sich noch einfacher; die Chorlyrik dagegen ist durch ihren
') In Attika existierte ein Geschlecht I wiTZ,Borl. Ak.Sitz.ber. 1904. 619 fF.). Bezeich-
Ei*veTSaty das Hesychios als yeyng oQxrjouTn' \ neiid ist die älteste, noch linksläufige attische
xai xt^aoiaxwv bezeichnet, und das bei Staats- Vaseninschrift ( H. Röhl, Imag. insc. Gr. anti-
festen (JfQot^Qyiai) den Dienst von Tänzern, ' quiss.'-, Berl. 1894, p. 81). eine Dedikation an
Kitharaspielem und Sängern vei*sah. Ahn- einen Tänzer: o*: %'vv oQxtjoTwv nm^xiov am-
lich ist die alte milesische Sängergilde der ionaia .kiufic:.
Onitaden, deren Satzungen neuerdings in- *) Daninter befaßt man auch Gedichte
schriftlich gefunden worden sind (Wilamo- in trochäischem Maß.
150 Griechische Litteratnrgeschichte. I. KlassiBche Periode.
agonistischcn Charakter mehr und mehr nicht blolä ins Kunstvolle, sondern
auch ins Künstliche hineingetrieben worden.
JK). Die Gattungen der griechischen Lyrik. Die vollständigste
Einteilung bietet Proklos,*) indem er drei Hauptklassen aufstellt, Elegie,
lambus und die an Unterabteilungen sehr reiche Melik. Diese Gegenüber-
stellung ist bloß zu begreifen aus der Voraussetzung, daß für Proklos
bezw. seine hellenistischen Quellen Elegie und lambus keine gesangs-
mäßig vorgetragenen Gedichte mehr waren. Das trifft indessen für
die ältere Zeit nicht zu, in der vielmehr die Elegie zur Begleitung des
Aulos, der lambus zu der eines Saiteninstrumentes {lajußrxfj bezw. xkeyn-
a/ißo^ Ath. 636b) gesungen worden ist; beide gehören also zur monodischen
Lyrik, jene zur Aulodie, diese zur Kitharodie. Aber diese beiden Arten
lyrischer Dichtung müssen schon früh zum rein rezitatorischen Vortrag
übergeführt worden sein,*) so daß sie den übrigen gegenübergestellt werden
konnten. Alle anderen Gattungen lyrischer Poesie zerfallen ihrem Stil und
Vortrag nach in monodische und chorische Gesänge, ihren Anlässen nach
in Kultgesänge, Preislieder auf Menschen, Kriegslieder und Gesellschafts-
liedcr. Die einzelnen Gattungen halten die Spuren ihrer landschaftlichen
Entstehung durch die ganze griechische Littcratur hin in ihrem Dialekt
fest: das erotisch-sympotische Strophenlied behält den äolischen, der Chor-
gesang den dorischen, Elegie und lambus sowie das anakreontische Lied
den ionischen Dialekt. Doch werden die schroffsten dialektischen Eigen-
tümlichkeiten bei solchen Gedichten, die auch von einem panhellenischen
Publikum verstanden werden sollen, ausgemerzt, während für intimste
Kreise Sappho und Alkaios den lesbischen, Alkman den lakonischen, Ko-
rinna den böotischcn Lokaldialekt sprechen. »)
öl. A. Kultlieder, teils von einzelnen, teils von (Chören vorgetragen,
sind folgende:
Hymnos^) ist die allgemeinste Bezeichnung für eine von dem stehen-
den**) Solisten oder Chor gesungenen Götteranruf in fostfroher Stimmung. <^)
*) Chrestom. p. 242, 12 ff. W. vennutlich pocsis mclicae gcneribus. Halle 1866. — über
aus Didyni. moi nouiiwr. Mehrfach ab- die Tonarten der chorlyrischen Gattungen
weichend Tzetzes (Anecdot. Estense bei J. s. A. RossBAcn. Spezielle griech. Metnk'.
Kayskk. De vet artepoöt. p. 58 f. ). — Plat. leg. ' Leipz. 1889, 8. 448 ff.
") Den Rückgang des Flötonblasens bei
111 700 b nennt als Teile der Melik Hymnen,
Klagegesänge {Ooi]roi), Paione, Dithyramben,
kitharodische Nomen, wobei der Stimmung
den veoi und fÄfrOriKu im 4. Jahi'hnndert be-
zeugt Aristot. pol. 1841 a 26.
nach rfiroi und ihijvoi, ebenso .laifoi'F^ und ^) L. Ahkes», Kl. Schriften I, Hannover
<5/i!/rt>a////o/ als Gegensätze dargestellt werden. 1891, 157 ff.
v/ivoi von naiiovFs: geschieden Plat. Phaedr. j *) Das Wort aus vS-tto^ {vr^iog, vßtvOi:)
177a; Polyb. IV 20, 8. — Pindar fr. 139 deutet von vS- (vdoi, rdno singen) entstanden, wohl
folgende Arten an: uoifiai rnuaruSfc, A/j9ron//- äolische Bildung. Siehe o. S. 96, 1. Nachweis
ßoi, Oofjiot, '/.hol, vfteyaioi, uuffiot. Procl. des Gebrauchs der Ausdrücke r/iror und
ehrest, p. 243 W. unterscheidet: r« f/V Ofov^, .Ta/ar bei E. Lojla.n, Poösis melicae genenim
tu t/V di'Ofnonovs, Tii eh Veois xal dn'>o</>.To»s-, nominibus quae vis subiecta sit a scriptoiibus
TU fh Tu^ not>nnt:tTovoas JTFfiioidoei^', das Et. i classicis, 1. Progr.. Lauban 1898. P. Maas,
M. 600, 41 nrjooohtn, rnoQytjfidrn, oidaiun. Phil ol. 66 (1907) 596 verbindet r/n'o; mit «»/«t/r.
Außerdem zählt Pollux IV 53 auf i(}rff(U./.iy.d, i rueynin^.
iboxoi/ ooixd , idfiaxx<n , Fnd//via, hifiartinia, \ ^) Procl. ehrest. 244, 12 o <5if pcroi'w^ 171-
:T(ß(ioima u. a. Vgl. C. A. Bapp, Leipz. Stud. ros .tooc xiOdouy f/dero fotojtmv.
8 (1885) 134 ff.; C. H. Waltheb, De graecae . «) Gegensatz ist bei Piaton a. a. 0. ^gij-
B. Lyrik. Anfänge dejr Lyrik. Ihre Gattungen. (§§ 90—92.) 151
Der Rhetor Menandros*) gibt von dem in der späteren Rhetorik auch auf
prosaische Götteranrufungen übertragenen Begriff eine ausgeführte Ein-
teilung in xXrjTixoi (Zusammenreihung von Götterbeinamen, die eine zauber-
artige Wirkung haben soll; vgl. den orphischen Hymn. Hom. 8),^) djro-
nefjmxtxoi (auf Reisen von Göttern), (pvoixoi (auf Götter als personifizierte
Naturgewalten), /iv&ixoi^ mit denen von manchen die yeveaXoyixoi identifi-
ziei-t wurden, jiejilaajuevoi (auf Phantasiegötter, die keinen Kult haben),
djievxTixoi und jiQoaevxrixoi (diese beiden Gattungen können logischerweise
mit den übrigen nicht auf eine Stufe gestellt werden). Regel war, daß
nach Schluß des Mahles ein Hymnus auf den Gott gesungen wurde (Plat.
symp. 176a). In weiterem Sinn umfaßt ü/ivog auch das Prozessionslied
{ngooodiov)^ zu dem dann der v/iyog jiagaßcojuiog als Standlied während
der Opferhandlung den Gegensatz bildet. 3) Zur Ausführung des chorischen
Hymnengesangs bildeten sich spätestens im 6. Jahrhundert, wahrscheinlich
aber schon früher, Zünfte von Kultsängern, die man mit unsern Stadt-
kapellen verglichen hat, in den Städten ; aus hellenistischer und römischer
Zeit lassen sich aus Inschriften mehrere Hymnodenvereine nachweisen.^)
Die echten Kulthymnen waren in melischen Maßen gehalten; die hexa-
metrische Form der rhapsodischen Hymnen ist von Dichtern der Helle-
nistenzeit, besonders KaUimachos, für den Litteraturhymnus in Aufnahme
gebracht worden.^)
Sammlungen von Götterhymnen muß es früh in Tempelarchiven ge-
geben haben, ß)
92. In primitiven Vorstellungen der griechischen und aller Religion,
daß es für jeden Gott einer besonderen Methode bedürfe, sich seine Gunst
zu verschaffen und daß man ihn durch richtige Handhabung dieser Methode
wie durch einen Zauber zwingen könne, liegt es begründet, daß der Ver-
ehrer des einzelnen Gottes diesem die richtigen Namen geben und ihm
auch den richtigen Hymnus singen muß. Von einzelnen Göttern wissen
wir, daß sie ihren eigenen, auch besonders benannten Hymnus hatten.')
vog. Inhalt sind svyai :jg6c: roh i^eovs (Plat. ' hellenistischer Zeit besonders in Arkadien ge-
1. 1.), ejiaivog eig ißeoi'g (Menand. 331, 20 Sp.), pflegt und bildete hier einen Gegenstand des
Darstellung der Taten der Götter und ihrer ] Jugendunterrichts.
evegyeoiat gegen die Menschen (Diod. V 46, S).
') L. Spbngkl, Rhet. Graec. 111 333 fl^.;
andere Stellen s. 0. Gkuppe. Griech. Culte u.
Myth. I 548, 30.
^) 0. Gruppe, Griech. Culte und Mythen
1 551. Es ist bcachtenswei-t, daß auch
römische Kulthymncn nach griechischem
Muster von Dichtem des ersten Jahrh. v. Chr.
«) Plat. Cratyl. 400 E.; Phileb. 12c; I die melische Fonn haben (so Catull. 24, Hör.
CatuU. 34, 21 ; Hör. sat. II 6. 20.
») Procl. ehrest. 244, 10 W.; Ch. Michel,
Recueil d'inscr. Grecques nr. 499, 8 ff. rraoa-
carmen saoculare).
*) Von Ahlffixd redet Choiroboskos zu
Hephaest. p. 249, 2 Coxsbr.; über Aijhdxd s.
ßfoma sind ?.. B. Aesch. Ag. 104 ff.; Ar. ran. , Wilamowitz. Textgesch. der gr. Lyr. 38, 4.
874 ff. — Über jigooodta s. a. Ar. nub. 307
pac. 397; Xen. an. VI 1, 11; Etym. magn.
690, 43. Nach Plut. de mus. 3 wäre Klonas
der .Erfinder** der ,^ooo6dta, die natürlich
immor Chorgesänge waren.
*) Siehe o. S. 149. 1 ; E. Ziebakth, Das
Hervonagende Hymnen wurden auch auf
Stein gesetzt, wie es für Pind. Ol. 5, 4 (Schol.
p. 195, 13 Dr.) bezeugt und auf Inschriften von
Delphoi (0. Cruhius, Philol. 53, 1894, Ergän-
zungsheft; H. Weil. Bull, de corr. hell. 19,
1895, 393 ff ) und Epidauros noch zu sehen ist.
griech. Vereinswesen, Leipz. 1896, 90 ff. ; Mit- ' j Diog. Babyl. bei Philod. de mus
teil, des ath. Inst. 29(^1904)168. Nach Polyb. p. 89, 20 K. uhv üeöjy hegovg htga ^nXr)
IV 20, 8 wurde der Hymnengesang noch in | jigooisaOai xai .^Qejreiv exdoxotg i6ta\ vgl. H.
152 Griechische Litteraturgeschichte. I^ KlassiBche Periode.
So ist das Chorlied für Dionysos insbesondere der Dithyrambos, das für
Apollon der Paian. Der Dithyrambos') ist ein Preislied auf Dionysos,
dessen Ursprung man willkürlich nach irgend einer der Hauptstätten des
Dionysoskultes, sei es nach Naxos oder Theben, versetzte.*) Der älteste
Dithyrambos war nach Art eines Volksliedes strophisch angelegt;*) einer
stimmte an, der Chor der bakchischen Gemeinde*) fiel ein.*) Begleitinstru-
ment war der Aulos, Tonart die zu diesem Kult gehörende phrygische.*)
Künstlerisch reguliert wurden diese Gesänge vermutlich im Zusammenhang
mit einer von dem Tyrannen Periandros veranlaüten religiösen Reform in
Korinth; als künstlerischer Leiter dabei galt der Kitharode Arion, dem die
Einführung des kyklischen (Jhores im Altertum zugeschrieben wird.') In
Athen wurden dann im (>. Jahrhundert die kyklischen Chöre von Männern
und Knaben als fester Bestandteil in die Feier der städtischen Dionysien
(zur Kr()ffnung des musischen äyoßv, vor den dramatischen Aufführungen)
aufgenommen, offenbar schon mit dem Stoff aus der Heldensage,^) und
aus diesem Hcroendithyrambos ist dann die Tragödie (nach Aristoteles)
hervorgewachsen. Um die Wende des (>. Jahrhunderts ist auch, wahr-
scheinlich auf Veranlassung des Lasos von Hermione,^) die strophische Glie-
derung des Dithyrambos aufgegeben und jener frei und scheinbar regellos
leidenschaftlich hinströmende Gesang geschaffen worden, von dem uns
Pindar das erste sichere Beispiel liefert,*^) während Bakchylides noch die
alte strophische Form beibehalten hat. Die Kultvereinigung, die sich im
f). Jahrhundert in Delphoi zwischen Dionysos und Apollon vollzogen hat,")
führte auch zu einem Austausch der beiderseitigen Kultgesänge, die hier
zuerst getrennt nebeneinander erklungen waren, i-)
Der i6ßaxyj)i genannte Chorgesang *••) war vielleicht nur in Sekten
Abkrt. Die Musikanschaiiuiif? des Mittelalters, gibt Callim. hymn. IV 812 ff.
Halle 190'), 59 (über die Neupythagoreer). ®) t)oon>efj v.-ioißFni^ Pliit. de mus. 10. Wie
*) M. 8t UMiDT. Diatribe in dithyrambuin, solcbc ^lOvnaußoi ausHahen. wissen wir erat
Heil. lH4r>. l)(?r Name ist wobl pbrvgiscb seit der Entdeckung der bakchylideischen
un<l hängt vielleicht mit Omafifio^ triumpluis Gedichte auf Papyrus, deren Titel ^bi&v-
zusammen. W. Sohmid. Zur Geschiclite des oafi/ioi" mit Wilamowitz, Textgesch. der
griecli. Dithyrambus, Progr. Tübingen 1901, gr. Lyr. 48 f. für willkürh'che Grammatiker-
S. r>ff. ; F. Äi»AMi, N. .Tahrbb. Suppl. 2f) (1901) eriindung zu erklären kein Grund ist.
215 fr. Zur Ktvmologie J. Wackkknauel, *) K. Volkmann zu Phit. de mus. p. 119,
Rhein. Mus. 45(1890)482 (1). hat mit Zeus 44 ff.
nichts zu tun). i *^) Pind. fr. 75 Chkist; Procl. 245, 14 W.;
'•'i Pind. bei »Schol. Pind. Ol. XIII 25a llor. Od IV 2. 10: seit per audacea nova di-
Dha(-hm. tht/rambos verha derolrif numerisque fertur
-') Ps.Ari.stot. probl. 19, 15. lege Holtttis. F. Blass, Henn. 30(1895)314ff.
•* 1 In dem Chorgesang beim Dionysos- sieht schon in Simonides' Dauae einen freien
kult sieht Herodot. II 48 etwas spezilisch ' Dithyrambos.
Griechi.sches. ii) E. Rohük, Psyche IP 52 ff.
^i Anhiloch. fr. 77 (früheste Erwälmung *=*) Bacchyiid. XVI ist ein Dithyrambos fQr
des Dithyrambos). das delische ApoUonfest. J. A.Crameb, Anecd.
"' Poll. IV Sl; Aristot. pol. 1842b 1 ft'. Ox. IV 814 i^iOvnuitfifk ton .Tohjfta .Tßoc /li-
•I llerod. I 28: Schol. Pind. O. 13, 25. i örmov ft^oimov ?} .t/hk \-i.-T6/./.opra jiaofurXoxai
Procl. ehrest. 244. 26 \V.: ror r>f «oc<i/'^»'or rz/s ' ioTonuTn' oixyiotr <,.TFntFynry iso liest A. HiL-
<i')A//c Mo/nror/z./yc Mo/o)rx fftjntv Ftiai, o^ .inot- <jAin>, Scliol. Dionys. Thr. 451, 22i. Das Gegcn-
roc Tor xrxhny ri-/(r'F xf'ooy. Vgl. 8chol. Pind. stück ist der von H. Weil iBulI. de corr.
O. 1. 1. 25. Cher die Stellung des Kory- bell. 19. 1H95. 398 f.,' pu)>lizierte Ilaiay €k
phaios Ath. 125b. Ein Bild von einem sol- J^drroor.
chcn im Kreis um den Altar tanzenden Chor , *') Procl. ehrest. 246, 5 W.
B. Lyrik. Anfänge der Lyrik. Ihre Gattungen. (§ 92.) 153
dieses Namens, wie wir eine aus Athen insehriftlich kennen gelernt
haben, >) gebräuchlich.
Zum athenischen Dionysoskult gehören die (haxo(poQixä jueXrj^ die
ein Chor von Jünglingen vortrug.^)
Apollinische Chorgesänge sind Paian und Hyporchema, ihrer Stimmung
nach dadurch charakterisiert, daß sie alles Klagende völlig ausschließen.^)
Der Paian^) hatte seinen Namen von dem Ausruf trj naidv^ mit dem der
Chor in den Gesang des Vorsängers einfiel.^) Es gab zwei Arten von
Paianen, ein choralartiges Tischgebet, das ohne Tanz bei der Spende von
den Tischgenossen zur Flöte L^esungen wurde (s. u. S. 156), und ein Tanz-
lied auf den Heilgott Apollon, das man bei besonderen Anlässen, besonders
zur Abwendung von Seuche und Krankheit sang. 6) Diese zweite Art
von Paian, die vornehmlich Pflege und Ausbildung in der griechischen
Litteratur fand, findet sich schon bei Homer IL A 473 und im Hymnus
auf den pythischen Apollon V. 326. Weitergebildet wurde dieser Paian
in Kreta, von wo er sich nach Delphoi, Sparta und dem übrigen Festland
verbreitete."^) Einen Paian im ersteren Sinne hat Tynnichos aus Chalkis
gebildet, von dem Piaton Ion p. 534 d sagt, er sei das einzige erwähnens-
werte Gedicht des Mannes, dieses aber lebe in aller Mund, ein wahres
evQtj/na Moioäv,^) Ursprünglich gab es nach Proklos nur Paiane an Apollon
und Artemis, nachher kamen auch solche an andere Götter auf, die mit
jenen nur den feierlichen Gesang und den Vortrag durch einen in ge-
messenem Takt (ijujueXeid) sich bewegenden Chor teilten.^) Chthonische
Gottheiten, zu denen auch die Nymphen*^) gehören, haben keinen Paian.
Später wurden auch zu Ehren von Menschen, zuerst des Lysandros, dann
auf Diadochenfürsten wie Krateros, Ptolemaios Lagu, Antigenes, Demetrios
Poliorketes, Paiane, d. h. Preislicder mit dem Refrain nj naidv gesungen. ^^
Übrigens gebraucht schon Homer II. X 391 das Wort auch von dem Sieges-
gesang, den die Söhne der Achäer beim Fall Hektors anstimmten, wie
») Siehe S.Widb, Mitt. des ath. Tnst. 19 durch Pindars Paian Oxyrh. pap. V, 1907,
(1894) 248 ff.; Archiloch. fr. 120. 121. p. 43, 62 ff.) adoufva;. xaiaxtifjoiixcog dk xai ra
*) Procl. ehrest. 249. 17 ff. W.: Ath. 631h. ; :iQoa6öid nves :Tniävag. Uyovaiv. Der Vortrag
*) Aesch. Ag. 1079 f. Dind. ; CaUim. hymn. i durch einen kyklischen Chor ist gesichert bei
II 20 ff. Die apollinische Musik ist eben dem athenischen ApoUonfest Thargelia; s. A.
ßwvaixa 6g{>d 8. o. S. 144 A. Über die Zu- | Mommsen, Feste der Stadt Athen, Leipz. 1898,
sammengehörigkeit von .laidv u. {^jrogxfifia ' S. 4<S1.
8- u. S. 154, 2. Einen jtaidy auf Poseidon er- ') Doch gab es auch einen lesbischen
wähnt Xenoph. Hell. IV 7. 4.
*) A. Fairbanks, A Study on the Greek
Paean (Comell Studies XII 1900). Siehe
Paian: Arcliilochos fr. 78 ariix; e^d^xiov ,iq6c:
avkov ÄFoßtov jian'iora.
^) Vgl. Porphyrius de abstin. II 18: t6v
a. O. Gruppe, Griech. Mythol. II 1239 u. o. yovv Aio^rkor fpaoi, kov ^If/.yror d^toivKov
S. 150, 1. [ fl>; Toy i}e6v ygdtffai jraiära, FiJieTv oti ßelrtoxa
*) Vgl. Suidas u. e^dgyovieg, und Ath. | Tviiuxu* ^f^^oujTm' :Taoaßa)16uevov öe rov
696 f. über das Jiaiavixov Lii(f{^eyfia. Callim. 1 avTov notK tov f.xfivov raviov jTFtoeo&at rolg
Hymn. II 103; vgl. den inschriftlich erhal- ' dyd),^amv toXq xaivoTg noiK tol dn/aia.
tenen Paian des Aristonoos bei 0. Crusiüs, ; ^) Ath. 628a stellt deshalb den gemes-
Philol. 53 (1894) Ergänzungsheft 4 f. senen Paian dem Dithyrambus entgegen.
*) Proclus chrestom. p. 244 W.: 6 <)t I »») Inscr Gr. ant. 379 Rokhl.
:raidv iauv etöog riJÖF/s ek .^dvia-; vvi» yga- ' *M Plut. Lys. 18; Ath. XV p. 696; Zosini.
g'Ofifvay üeovg. x6 de jtaXatov töicos djiFrFiiSTo II 5; s. a. Liban. or. XVIII 306 F. Im 4. .lahr-
r(o ^AjzoXjudvi xal tfj 'Agrefjidi im xatanavaei j hundert empfand man Paiane auf Sterbliche
ioiftöjv xai v6o(av (dies wird jetzt illustriert | noch als BlavSphemie (Ath. 696 b. 697 a).
154 Griechische Litteraturgeschichte. I. Klassische Periode.
älmlich in den neugefundenen Persern des Timotheos V. 211 die Hellenen
nach dem Sieg bei Salamis tanzend einen Paian anstimmen. Diese Art
von Paian scheint sich aus Dankliedern an ApoUon nach glücklicher Be-
endigung der Not, wie uns ein solches bei Aristoph. vesp. 869 — 874 er-
halten ist, entwickelt zu haben. Das eigenUiche Versmala der Paiane war
der Paion ^^ ^ ^^, der von dem Paian den Namen hat. Der auf einer
delphischen Inschrift des 2. Jahrhundeits v. Chr. erhaltene Paian des
Korinthiers Aristonoos ist in glykoneischen Strophen mit pherekrateischem
Kcfrainvers gehalten (s. o. S. 153, 5), ebenso das mit Instrumentalnoten
versehene Bruchstück eines zweiten delphischen Paians, während der dritte
hier gefundene mit Vokalnoten kretischen Rhythmus durchgeführt zeigt
Der Chor der Paiane bestand aus Männern; einen gemischten Chor von
Mädchen und Jünglingen finden wir erst in den römischen Paianen auf
ApoUon und Artemis bei CatuU. 34 und Horaz od. 121, IV 6, 31 flf., carm.
saec.,*) aber ein Zusammenwirken beider Geschlechter zum Preis des gött-
lichen Gesehwistcrpaares kommt schon, bei Sophokles (Trach. 205 flf.) vor.
Das Hyporchema war ein Tanzlied, bei dem der Tanz, und zwar
ein in lebhafteren Rhythmen sich bewegender Tanz die Hauptsache war.*)
Auch er galt wie der Paian dem Gott Apollon und fand wie jener seine
Ausbildung in Kreta,») so daü man oft schwer beide auseinander kennen
konnte.^) Wie andere lyrische Gesänge, so hat auch das Hyporchema seine
Fortbildung im Drama, und zwar zunächst in den kretischen Gesängen der
Komödie gefunden. Aber auch das in lebhaftesten Rhythmen gedichtete
Chorlied an Apollon in Soph. Trach. 205 — 224 dürfen wir für die Nach-
bildung eines solchen kretischen Tanzliedes halten. Daneben gab es eine
andere Art von Hyporchema, bei dem, während der Chor sang oder singend
nur einfache Tanzbewegungen ausführte, einige ausgewählte Tänzer sich
mit kunstvolleren Tanzfiguren produzierten. Die frühste Schilderung eines
von Mädchen und Jünglingen ausgeführten Hyporchema nach kretischer
Art gibt Homer II. 2' 590 flf.; wir finden es dann ausgebildet in der
Exodos der Wespen des Aristophanes, und genauer beschrieben von Lucian
in dem Buch vom Tanz c. 1<): müdmv xogo) ovreXädriFs M avko) xai xt§dQq
o? jiih iyoQEvov, imuujyovvro dl: ol notoroi nooxgti^h^TEs f's clvtwv. rd yovv
*) In ähnlicher Weise läßt Philon den .-roitjux/j xoivotria näoa xai ftcOE^tg dlXfjiuir
Miises einen Chor von Männern nntl einen tori, xai fiä/jora fiiftorurrai nfoi t6 vjtogxi'
von Weibern zur »Sieges- und l)ankfeier auf- ^innov yh'oc hffjyor dftifmegai trfv Siä jwv
stellen nach Philon vit. Mos. I l8Up. 119M. i o/ffudrwv xai Tior orotjurwi' fiififfotv cbrore-
'} Procl. 240: rnonyijiia to ithr* 6o//jnfoj^ Aovoiv. Siehe a. o. S. 137.
adotiFvot' fieko^. Ath. 031 c: i/ r.i(ujj(^tjiiaxixii "i Ath. l^^lb: xntjztxd xakovai xa v.toq-
yoTir er // n(i(or 6 /lujo^ oo^firat. Mcnandros /tjuara' A'o//ra //m' xaÄiorni roojroyf t6 d*oQ'
de encom. p. i^31, 21 8p.: roh [liv ;'ao f/V yaror M()Änoadr. Sinionides (? 8. Tii. Reikach
'A.ToÄktora natära^ xai vnooyt'ffiaTa orofitunnfr, in Melanj^es Weil1<!>X, 412 f.) fr. 11 oioaai vi'P
Torc <V: ^v's .iidyroov ^iÖr(tdf4fior^ xai iofidx- t/.affooi' *\>yj}a' (unf)ä .Ttidior /tiyrvfirr. In
//>r^. Näheres über diese Tänze j^ibt Plut. Delos wurden solclic Tanzlieder auch von
quaest. conv. IX 15. (). Citusius. Pliiiol. .')3 weiblichen (hören gesungen (Hymn. Hom.
Ergänzungslieft 60 versteht unter r.i. (iesang Ap. Del. löf)— 104; Cailiin. Hymn. IV 304 fP.).
mit Tanz während des Opfers. Simonides (bei •*) Nacli Plut. de mus. i> war es möglich
IMut. quaest. conv. 1. 1. p. lAi< A.) nannte den zu unterscheiden, o)) ein (iedicht ein Paian
Tanz schweigende Poesie, die Poesie reden- oder ein Hyporchcm sei.
den Tanz; Plutarch fügt liinzu: do'/fjonxfj xai ^
B. Lyiik. Anfänge der Lyrik. Ihre Gattungen. (§ 92.) 155
Tofe x^Q^ yQaq)6jiUva rovroig ao/iara vnoQyri/JiaTa IxaXeixo xai i/LtJiejiXrjaxo xcbv
zaiovTCüv f) Xvga.^)
Ein besonderer Chorgesang im thebanischen ApoUonkult waren die
da<pvti<poQixd^ bei deren Vortrag ein Jüngling, dem noch beide Eltern
lebten {nalg ä^tpi^akrjg), voranzog und ein Jungfrauenehor mit Lorbeer-
zweigen Schutzflehender in den Händen singend nachfolgte.^) Kultgesänge
auf Adonis heißen !^d cor /d«a. 5) — Für ein lokalböotisches Sühnefest diente
das TQi7iodi]q)OQix6v jueXogA)
Zum Totenkult stehen die Threnoi in Beziehung. Sie waren Klage-
gesänge auf Verstorbene, die bei verschiedenen zu Ehren derselben ver-
anstalteten Feierlichkeiten vorgetragen wurden. Daß die Reste von Pindars
Klagegesängen allerlei orphische Lehren von dem Fortleben der Seele und
der Wiedervergeltung nach dem Tod enthalten, hat seine individuellen
Gründe, und es darf daraus nicht einmal mit Sicherheit auf orphische
Neigungen des Pindar, wohl aber auf solche der Besteller dieser Gesänge
geschlossen werden.^) Seit Ausbildung der sophistischen Kunstprosa tritt
an die Stelle der ^qtjvoi der prosaische Xoyog i7iixdq)iog. — Im Gegensatz
zu den tröstlich gehaltenen Threnoi standen die leidenschaftlichen Klagen
idleßwi, die sich in den xojujuol der Tragödie fortsetzten. «)
An die religiöse Feier der Vermählung schließen sich die EpithaJamien
und Hymenaien an.
Epithalamion^) hieß das Ständchen, das am Abend den Neuver-
mählten vor dem Brautgemach (MXajuog) von Mädchen und Bui^schen
dargebracht wurde.®) Diese Gattung ist besonders von Sappho^) gepflegt
worden. Im weiteren Sinn verstand man darunter ein Hochzeitslied über-
haupt, auch dasjenige, unter dessen Gesang die Braut aus dem Elternhaus
zu der neuen Wohnung geleitet wurde. Von jener Art gibt das 18. Idyll
des Theokritos ^EXivrjg ijii&aXdjüLiog einen Begriff, von dieser die der Sappho
») Zum Vergleich bietet sich die Er- *) Procl. ehrest. 248. 29 flf. W.
zfihlong von dem Verfahren des römischen ^) E. Rohde, Psyche IP 215.
Dichters Livius Andronicus bei Livius VJI 2: *) Schol. Eur. Rhes. 892: qaoi d' ld/.8fiov
fuarum carminum actor diciturj cum saepius TiaQwvofidox^ai fjii rififf 'Icdeiwv tov 'AnöXkcovog
rerocatus vocem obtudisset et venia petita \ xai Ka^Mojirjg, wg gTjoi IlivdaQog' ä b' (sc.
puerum ad canendum ante tihicinem cum
statuisset, eanticum egittse aliquanto magia
vigtnte motUf quia nihil vocis usus impediebat.
inde ad manum cantari histrioftibus coeptum
doiba vfjvFi) *Ia/.efiov ioftoßoQC^ vovö(iy Jieda-
dtvra odivog, viov Oidygov; s. a. Aristoph.
Byz. bei Ath. 619 b. — Von den Onffvoi im
allgemeinen unterscheidet Procl. ehrest 247,
diverbiaque tanium ipsorum voci relicta. < 16 W. die bei der Bestattung selbst (>cj)öog)
Übrigens war diese Teilung der Aufgabe gesungenen ejiixrjösia,
des Tanzens und Singens gewiß nicht auf | ') W. Körber, De Graecor. hymenaeis
das Hyporchem beschränkt. Auch die Par- et epithalamiis, Bresl. 1877.
thenien des Alkman scheinen ganz ähnlich ®) Pind. P. 3. 17 ähxeg ota jiaodh'ot
vorgetragen worden zu sein. 1 (pdtoiotv haignt | Fanfgiatg vnoxovgiCBO^^
*) Procl. 247, 21 ff. W. Reste eines pin- ' doidalg. Procl. ehrest. 246, 31 W.
darischen datpvrjq. Oxyrhynch. pap. IV 1904 ®) Demetr. de eloc. 167 läßt für die Epi-
iir.659; s. dazu O. Schröder, Berl. philol. thalamien die Annahme des Vortrags durch
W.scbr. 24 (1904) 1476 f. ; Wilamowitz, Gott. die Dichterin oder durch einzelne, gegen-
Gel. Anz. 1904,670. Auch die Anapäste Alcm. einander sprechende Choreuten (zogog ÖiakEx-
fir. 17 gehören zu einem da<frti<fogixm'. uxog) frei. Einwendungen von H. Flach,
•) Procl. ehrest. 246, 3 if. W. ; Anacreont. Gr. Lyr. 509 f. Auf Chorgesang weist auch
57, 8. Bions *Enixdq,'tog 'Aöomöog ist kein Sappho fr 54 und bezüglich des Anakreon
Kultgesang. Siehe a. 0. Immisch, Verh. der ' Kritias bei Ath. 600 e.
Görlitzer Philol.vers. 1889, 380 ff.
156 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klaasische Periode.
nachgebildeten Hymenaien des Catull (61. 62). Die Schölten zu Theokritos 18
erwähnen außerdem ogil^gia fj iyeoTixd, die scherzende Mädchen vor dem
Haus der Neuvermählten am Morgen nach der Brautnacht sangen. >)
Der Hymenaios (mit Refrain 'Yjtujvaov bei Sappho fr. 91, o Hymen,
Hymenaee bei Catull. 61, 62) wurde während des Hochzeitsmahles gesungen.')
Kultgcsänge für den Kheadienst hießen iv^govioßioi,^)
B. Preislieder auf Menschen.
IKl Bei verschiedenen Gelegenheiten konnten fyxdjjuia (beim xd>/ioc<
d. h. dem Festzug)^) auf Lobende von einzelnen oder Chören vorgetragen
werden.
Die Festgesänge auf Sieger in gymnischen Wettkämpfen, deren wir
eine größere Zahl von Pindaros und Bakchylides ganz erhalten haben,
heißen f.nivixoi (sc. vßivoi)\^) sie wurden entweder sogleich nach dem Sieg
noch am Ort des Agon oder nachher bei der Siegesfeier in der Heimat
der Preisgekrönten von (-hören gesungen.
C. Kriegsliedor.
1)4. Sie sind besonders in Lakonien von der Jugend gesungen worden
in anapästischem Rhythmus und heißen, insofern sie die Marsch bewegung
begleiten, ißißaTijoia oder ivoiiXia jtifhj,^) Sammlungen solcher Lieder
mag es schon im 6. Jahrhundert gegeben haben; bestimmte Verfasser
waren aber nicht bekannt.")
D. Gesellschaftslieder.
J)5. Zum Vortrag beim Gelage durch einzelne oder die Gesamtheit
der Gäste ^) bestimmt waren die Skolien.^) Es gab nach den Zeugnissen
der Alten ^ö) mehrere Arten von Trinkliedern: zuerst wurde zur Spende von
Vorsängern mit rcspondierendem ("hör unter Flötenbegleitung ein Paian
als Tischgebet gesungen;^*) dann sangen beim Gelage die einzelnen kurze
M Über die mxVof« u. i^yrrnixa al« Träger , ®) Ath. H80 f. R. Volkmann zu Flut, de
gnomischer PooHio A. Brücknek. 62. Berl. I mus. p 114, 41 ff.
Winckehnannsprogr. 1907. 13 f. \ ') Wilamowitz. Textgesch. der gr. Lyr.
«) «iiid. 8. V.; Procl. ehrest. 247. 3 ff.; I 06 f.
Plut. «vinp. qiiaost. 667 a: Aristoph. Byz. bei ®) Dicaoareh. bei Phot. lex. s. v. axo/Uar,
Ath. 6ii)b. Früheste Ei-wähniing Hom. II. ») C. D. Iujkx, »Scolia, Jenae 1798: A.
2' 41)3. Über die axohwia der Hymeuäen ; G. Engklbrecht. De Hcoliorum poesi, Vind.
schilt loh. Chrysost. T. ITI 210 ff. Miüne. Der , 1882; K. Keitzkxstelv, Epigramm u. Skolion,
Name bezeichnet nach A. Bkücknek, Ath. Gießen 18U3, Kap 1.
Mitt. 32 (1907) 90. den im jungfräulichen Hy- , ^^) Dikaiarchos u. Aristoxenos in Schol.
nien wohnenden Gott, der in der Brautnacht j Plat. (iorg. 4f>le uSuidas. Photios, Schol. Ali-
stirbt; s. aber P. Maas. Philol.66(1907):)90ff. stoph. nub. 1364i. Artemon bei Athen. 694»
^) Solche gab es von Pindar: zur Sache . aus Dikaiarchos: Plut svmpos. I 1, 5 und
s. Plat. Euthyd 277 d ; Dio Chr. XII 33; A. Proklos in Phot.bibl. p. 32la nach Didymoß;
LoBEOK. Aglaoph. 115 f. 368 f.; E. Rohde, i Eustathios ed. Rom. 1574, 14; Schol. Aristoph.
Kl. Sehr. II 298. vesp. 1222.
*•> über den Begriff' pfo^/iocs.E.G.WELCKER *M Siehe o. S. 153. Darauf bezieht sich
zu Philostr. niai. im. 1 2; Wilamowitz. Gott. \ Alcman fr. 22: ffomus t^K >cai er ^idaotatP
(iel. Anz. 190(), 625 f. Pind. Ol. 10. 75: aFiSsTo nrdoior nnoa dniri'unreoni .tqs.tfi natära xatoQ'
^e nur TFiifro<: TFiKTraTot daXiaig lov tyx(!)ino%' . x^*'' Dieses waren die nicht getanzten Paiano
afiq'tjijo.ior; i\iiv*i.^ii\\\.^,h(): e.iiyuiiuo^ vuro^. \ des Athenaios p. 631 d. Plat. symp. 176ae;
Von einoni ithoor iypcot/tioloytyör Hephaestion Ar. v(^sp. 1219 : Ath 694a: Plut. quaest symp.I
p.50, 19 CoNSBR. Auch das Lob Verstorbener , p. 615 b, woraus wohl Clem. Alex. paed.
heißt iy^fo/tun' Diod. 1 72, 2; 92. 5. I p. 194 P. : rraou tus ovfijiojtxn^ evc^xta^ ....
^1 Procl. ehrest 246, 14 \V. ; enivUiot | rja//a \to xn).oruFvo%' oxukior] f/Seio hoiv^
doi^ai Pind. Nem. 4, 78. ; dszarTtov fita q:iov[j :TntariCoruoy. — Auch am
B. Lyrik. Anfänge der Lyrik. Ihre Gattnngen. (§§ 93—95.) 157
Trinklieder, indem ein Myrtenzweig (ataaxog Plut. quaest. symp. 615 b) in
die Runde ging, den der Vortragende, wie vordem der Rhapsode den Stab,
beim Gesang in die Hand nahm, wofern er bloß rezitierend (wie z. B. bei
Theogn. 939 ff.; Ar. vesp. 1259), nicht zur Lyrabegloitung vortrug; drittens
gab es auch kunstvollere Gedichte, wie die Tischoden des Pindaros*) oder
Simonides,*) die geübte Sänger beim Mahl zur Lyra vortrugen. Die mitt-
lere Art hatte den besonderen Namen oxoha jLieXrj, Ursprung und Be-
deutung des Namens (schon bei Aristoph. fr. 222 K.) sind unsicher. Die
Alten gehen alle von der Etymologie axoXiog „krumm" aus und beziehen
den Namen meistens auf die Sitte, daß der Zweig nicht in gerader Linie
herumging, sondern in die Quere von einem dem andern gereicht wurde. ^)
Eustathios gibt eine musikalische Deutung,'*) wonach sich das axokov jbiikog
dem doxfuog gv^juög zur Seite stellte. Der Skoliengesang blühte in den
aristokratischen Klubs,^) in denen auch der Tyrannenhaß, der sich z. B.
in dem Skolion auf die Tyrannoktonen ausspricht, eigentlich zu Hause war.
Die gewöhnliche Begleitung für melisch geformte Gesänge war die Kitharis,^)
für elegische der Aulos, welcher von der zum ständigen Inventar der Sym-
posien gehörigen Flötenspielerin jederzeit geblasen werden konnte (Theogn.
943 f.). Zur Belebung wurde wohl auch dieser musischen Tischunterhaltung
gelegentlich etwas von der Form rhapsodischer Agone gegeben. 0 Die be-
liebteste Form der Skolien scheint eine vierzeilige Strophe aus zwei pha-
läcischen Trimetem, einem choriambischen Dimetron mit anapästischem
Anfang (->w-w_|— ww_) und einem versus Asclepiadeus minor gewesen
zu sein; es finden sich aber auch stichische Bildungen (elegisch eines der
ältesten Stücke bei Aristot. Ath. resp. 20, 5; sonst anaklastische ionische
Trimeter und Dimeter). Zu einer Art von Kommersbuch«) sind diese
Lieder wohl schon früh gesammelt worden, und einen Auszug dieser Samm-
Schluß der Mahlzeit singen die Gästo den 1 Gleichwohl hat sich die alte Sitte außerhalb
Paian (Xen. symp. 2, 1). I der philosophischen Kreise noch lang ge-
») Find. fr. 122—8; besonders fr. 124 halten (Aristeas ep. 247; Liban. T. IV, 1112,
Tovjo TOI jiefAJtfo fieradoomor' iv ^wto xev 22 R.). Gegenstand des Skolienvortrags waren
Eiri I avfutotaialv re yXvxeoov xai Aicovvaoio entweder eigens für solche Zwecke gedich-
xoQjiip I xai xvXixeaaiv 'Jdaraiataiv xsvxQoVy tete Lieder oder Stellen aus den Epikern
deixvov Sf IriyovTOc: yXvxv xoioydXiov, {Hesych.s.Tp/a2'ri;oi/opoij;Plut. symp. quaest.
•) Simonid. fr. 5 wird von Blass und 736 e), Lyrikern (Aristoph. fr 223 K.; Grit. lyr.
WiLAMOwiTZ (Nachr. der Gott. Ges. der Wiss. | fr. 7. 5 ff*. Bbrok; F. G. Welcker, KI. Sehr. I
1898, 204 ff.) als Skolion betrachtet. I 166; R. Reitzenstein. Epigr und Skol. 30 ff.),
*) Beleuchtet wird die Sitte durch Ari- l Tragikern (Reitzenstein 34), Komikern (Ar.
stoph. vesp. 1217 ff., nub. 1354 ff. Die Sitte | eq. 529).
war besonders im 5. Jahrh. im Schwung; zur , ■•) So auch Engelbbecht p. 40, der auf
ZIeit der neuen Komödie kam sie ab, wie i Maximus Tyr. 23. 5 verweist.
Antiphanes fr. 85 K. zeigt. Schon Plat. symp. | ^) avvoöoi bei Selon fr. 4. 22; Plat. Theaet
176e und Prot. 347 cd kritisiert sie, und 173d; sonst hießen sie später hatoiai. Der
das Skolion ist beim Philosophensymposion Haß des Themistoklcs gegen die sympotische
durch den Xoyog ersetzt worden, wie die Sym- Lyrik (Cic. Tusc. 1 4; Plut. Them. 2: Cim. 4)
posien des Piaton und Xenophon zeigen. ist gewiß vorwiegend politisch, nicht ästhe-
Aristoteles ist der letzte, von dem wir wissen, tisch zu verstehen
daß er ein Skolion (für den Tyrannen Her-
maios von Atameus) gedichtet hat (Th. Bbbok,
Lyr. Gr. II p. 360 f.). Aber schon der blasierten
«) Ar. nub. 1355 ff. ^
•) Herod. VI 129 (ro h x6 fiioov); Ar.
vesp. 1223. 1225 {dexfoika).
Jagend im Zeitalter der Sophistik erschien ^) Reitzenstein 13. Wilamowitz. Ari-
Geaang zur Lyra beim Symposion etwas Ver- stot. u. Athen, Berl. 1893, II 316 ff. ; Text-
alteies (Ar. nub. 1355; Antiphan. fr. 1 K.). , gesch. der gr. Lyr. 37.
158 Ghdechisühe Litteratnrgeschichte. I. SlaBsiBche Periode*
lung hat Ath. 694c flf. erhalten. Über die Metra der SkoHen schrieb Ty-
raiinion ein Buch an Julius Cäsar (Suid. s. axoktovh).
96. Von Arbeitsgesängen, die aber nicht zur Kunstlyrik gehören,
ist schon oben (S. 20) geredet worden. Genannt werden Gesänge mahlender')
und backender*) Sklavinnen, der Wasserschöpfer, ») der Lastträger, Ruderer,
Winzer, Hirten,*) zum Teil auch bloüe Instrumentalweisen. Nur eine Art
der volkstümlichen Berufsliedor, das Hirtenlied, ist später von der Eunst-
pocsie, als der Sinn für die Idyllik des Landlebens geweckt war, in Be-
handlung genommen und freilich stark verfeinert worden. — Ohne weiteres
klar ist, data auch die kunstmäiaige Erotik ihre altvolkstümlichen Substrate
hat,^) ebenso das Trink- und Spottlied in den Augenblickserzeugnissen, die
in den volkstitmlichen Kultgebräuchen des Dionysos- und Demeterdienstes
wild wuchsen.'*) Auch davon, daß die Poesie der Kinderstube sich in
lyrischen Erzeugnissen niederschlug, fehlt es nicht an Beweisen.')
97. Von den alexandrinischen Grammatikern ist eine Auslese {xav(6r)
von 9 Lyrikern zusammengestellt worden,^) bestehend aus den 6 Chor-
lyrikern Alkman, Stesichoros, Ibykos, Simonides, Bakchylides, Pindaros
und den 3 Monodikern Alkaios, Sappho und Anakreon.
L Monodische Lyrik.
I. Die Elegie,^)
98. Begriff und Anfänge. Im 7. Jahrhundert zuerst begegnet in
V) Ar. nub. 1358; erh«ilten ist ein lesbi- ganz unwahrHcheinlich. Sie setzt schon fÄr
sches StUck. ans dum Anfang des <). .Jahr- das 3. Jahrhundeii v. Chr. eine nnglaubliche
hunderts, Beu«k, VlA\. \U* p. 073; der Name Zerstörung der antiken Littcratur voraus und
ist nach Aristot.Byz. (Ath. 619 b) und Tn'phon wird auch durch die neugefundenen latercnli
(id. ßl.sd) ffifutK. I Alexandrini aus dorn 2. Jahrb. v. Chr. (H.
^) mv/.oi Erat<>sth. Hemi. fr. 12 Hiller; Diels, Ijerl. .^k. Sitz.ber. 1904, 1233) ihrem
denselben Namen gibt Tryphon (Ath. 618 d) Prinzip nach in Frage gestallt. — O. KbOh-
dem (iesang der Spinnerinnen. nkrt, Canonesne poetarum scriptonim arti-
*) iuortooinofpov uthj Ar. ran. 1297; ficum per antiquitatem fuenmt? Diss. Königs-
Callimach. Hecale col. IV Oompekz. berg 1897, 30 fF. Die frühesten Zeugen sind
*) S.Emp.adv.math.V124: I»oll. lV:.3ff.; Anth. Pal. IX 1S4: Quint. inst. or. X 1.61;
Ath. (JlSd tf.; im allgemeinen H. Ahert, Die S«5n. ep. 27, 6. Erst Byzantiner fügen als
Musikanschauung des Mittelalters, Halle 1905, lU. Koriniia hinzu iKröhnert 32; Anecdot
8.99; A. Nä«ele, Sitz. bor der sUchs. Ges. d. Est*?nse g2 extr. bei J. Kayseb, De veter.
Wissensch. 57 (1905) lOl ff. , art« poet., Leipz. 1906, p. 56).
^) Vgl. das Tagelied bei Tu. Berok. Carm. '•') J. A. Hartux«, Die griech. Elegilcer,
pop. fr. 27; das chalkidische .-raifity.ür fr. 44. giiech. mit motr. Übersetz., Leipzig 18^8.
'■) Proben dionysischer Volkslieder bei j 2 Bde. — J. V. Frangke. Callinus sive quae-
Bkrok fr. 6. X. stiones de origine carminis elegiaci, Altona
') Ber(;k fr. 19—21. 26. 41 (dazu F. 1816. — N. Baoh. De lugubri Graecornm
Mkndelssohx-Bartiioldy, (»esch. Griechen- elegia, I. II. Bresl. 15^35. 36; De symposiaca
lands I, Leipz. 1870 S 41). Künstlerisch ge- Graeconim elegia. Fulda 1837: Quaestionum
adelte Wiegenlieder (fiavxfdt/uaia epist. 8ocr. elegiacar. spec. I, Fulda 1839; Historia critica
27,2) findet man .Soph. Philoct. 827 ff. ; Eur. ^ poesis Graecorum elegiacae, Fulda 1840. —
Or. 174 mit seinen erregten dochmi.schen .1. Caesar, De carminis (^raecorum elegiaci
Rhythmen geliöit dagegen nicht hierher. origine et notioue. Marb. 1>:37. — O. Immisgh,
*") Die These von Wilamowitz (Text- über den Ursprung der griech. Elegie, Vorh.
gesch. der gr. Lyr.), da(3 die Alexandriner | der Philologoiivers! in (liirlitz, 1889, S. 372 ff.
tatsächlich nur noch diese neun Lyriker ge- ' - K. Keitzkn stein. Epigramm und Skolion,
habt hätten, eine auf ä.sthetischer Beurteilung Gieüen 1^93 »S. iut ff., und dazu 0. Cbusiüs,
beruhende Auswahl also nicht vorliege, ist Litt. Centralbl. 1894, 725. - F. Dümhlbb, Der
B. Lyrik. I. Monodische. 1. Die Elegie.
96—98.)
159
der uns erhaltenen griechischen Litteratur eine kleine Strophenbildung») aus
akatalektischem und dikatalektischem daktylischem Hexameter. Der kata-
lektische Vers wird entweder jievrd/neTQov^) oder iXeyeiov^) genannt und kommt
in der Litteratur vor dem Ende des 5. Jahrhunderts nie isoliert oder stichisch
wiederholt, sondern immer als Abgesang zu dem Hexameter vor. ') Die Namen
iieyeTov oder iXeyog, deren Etymologie dunkel ist,^) werden dann auch für das
Distichon«) gebraucht, das sonst auch pluralisch iXeyela'^) heißt. Seit dem
4. Jahrhundert ist der Name ^ iXeyela für ein aus Distichen bestehendes Ge-
dicht nachweisbar.^) Das lateinische elogium ist dasselbe Wort wie ikeyeiov^
aber nicht durch gelehrte Vermittlung nach Italien gekommen. Da die
älteste Elegie nach den unumstößlichen Zeugnissen der Alten^) mit der
Flötenbegleitung solidarisch verbunden, also eine Spezies der Aulodie ist,
so kann der Ursprung der elegischen Dichtung nicht über das 7. Jahr-
hundert zurückgerückt werden, dazu stimmt, daß die Elegie von Anfang
an in Stil und Dialekt^^) die stärkste Abhängigkeit von dem ionischen Epos
zeigt. Schon vom 7. Jahrhundert an nimmt diese Form die allerverschie-
densten Inhalte auf — kriegerische Paränese, sinnende Betrachtung, Lehren
der Lebensweisheit, Gedenksprüche auf Verstorbene, Widmungssprüche auf
Weihgeschenken an die Götter; dann werden seit dem 6. Jahrhundert ero-
tische Stimmungen, lyrische Erzählungen in Distichen gefaßt, wobei Satz-
und Strophenschluß keineswegs zusammenzufallen brauchten. *i)
Ursprung der Elegie, Phüol. 53 (1894) 201 if.
K. Zacher, PhUol. 57 (1898) 8 ff. — 0. Crusius
in der Realencykl. V 2260 ff.
M Carmen epodicum Atil. Fortunat.
295, 7 K.
') So zuerst Hermesianax bei Ath. 598 a;
der Sinn ist 2V2 -h 2>/2 = 5 Daktylen (Th.
D. GooDELL, Chapters on Greek Metrie, New-
york 1902, 30— 42j.
*) Hephaestio p. 51, 21 Consbr , und so
schon Eritias fr. 3, 3 Bach.
*) A. Rossbach, Griech. Metrik, Leipz.
1889, 84 f.
*) Die Alten dachten an e keyeiv (Suid. s.
eleyog) oder eXfeiv oder ev UyEiv (Schol. Dionvs.
Thr. p. 20, 25 ff. H.; Mar. Vict. 110, 18 K.).
Manche Neuere sahen in dem Wort ein sei es
armenisches (P. de Lagarde, Armen. Stud. 8)
«:der phrygisches (Zacher a. a. 0. 22) Fremd-
wort. Zacher erinnert an die altgermanische
Inteijektion welago.
«) Thuc. I 132, 2.
») Pherecrat. com. fr. 153 K. (Plat. Men.
95 d geht auf eine Reihe von Distichen);
P8.Dem. LIX 98.
*) Aristot. Ath. resp. 5, 2; Theophr. hist.
plant IX 15, 1.
•) Eur. Troad. 119: sm rovs atEt öaxomor
iXiyotfg. Iph. Taur. 1091: E^.Eyor otxioor.
Hei. 85 und Iph. Taur. 146: n),voov Ehyor.
Didymos hei Schol. Arist. Av. 217: flEyai ot
XQog av/.6r qöofievoi {^gtp'ot. Procl. 242, 15 W.:
to yag ^Qrjvog eleyov ixcuoifv oi JiaXaiot. Et. M.
826, 49: ileyog. ÜQfivog 6 xoXg zsOvewaiv L^t-
XF.ydfiFrog. Ps.Ovid. epist. XV 7 elegeia fiebile
Carmen; Synes. encom. calv. 2: iksyEia jioiu)
{}Qt}v(7)v ETii ifj xouij. Wenn Properz (M. Roth-
stein zu Prep. I 7, 19) den duri versus des
Epos das molle Carmen der Elegie gegenüber-
stellt, so verrät er hier dieselbe Anschauung,
die Hermesianax bei Ath. 598 a mit tialaxov
jzrevfi* djio nFvrafAhoov ausdiltckt. Zuerst
kommt das Wort in der Inschrift des Echem-
brotos Paus. X 7 vor. flEyEia dichten die
alten Auloden Plut. de mus. 4. 8. 15. Suid. s.
"ÜArfUTog; die Elegie wird rvi' avki]xfjoog ge-
sungen Archil. fr. 122; Theogn. 533; ehyfln
jiQ0öq.^6itEva ToT<; aidoi<; Paus. X 7, 5.
'^) Kleine Abweichungen von Homer im
Anschluß an den jüngeren Dialekt seiner
Heimat, wie xcög statt .to>s, erlaubte sich
schon Kallinos; außerdem gaben die Elegiker
die altertümlichen oder äoli sehen Formen
Homers, wie die Instrumentale — (fi und
die Infinitive — uEvai auf; vgl. J. G. Renner,
Quaestiones de dialecto antiquioris Graeco-
rum poesis elegiacae et iambicae, in G. Cür-
Tius, Stud. 1 1 1808) 134 ff. Mit 0. Hoffmann
und A. FicK (N. Jahrbb. 1. 1898, 507 If.) unter
Berufung auf epichorische Inschriften aus
altionischen Gebieten den Elegikern einen
konsequenten Lokaldialekt zu oktroyieren, ist
in Anbetracht ihrer lexikalischen und phraseo-
logischen Anlehnung an das Epos stilwidiig.
") Erst die römischen Elegiker nacli
Catull haben diese Fessel eingeführt (M. Rotu-
STEiN, Properz I p. XXXIX).
lOO Griechische Litteratnrgeschichte. I. ElassiBche Periode.
Diese Buntheit des Inhalts hat schon den alten Grammatikern, die
sich übrigens mit der Elegie als Kritiker in Ausgaben kaum befaüten,^)
die Aufdeckung des littorarhistorischen Ursprungs dieser Gattung erschwert.*)
Die alexandrinische Philologie (Didymos) schlieüt damit ab, den klagenden
(thrcnetischen) Charakter der Elegie als den ursprünglichen zu betrachten,
und tatsächlich erklärt diese Auffassung die vorliegenden Tatsachen weit
besser als moderne Hypothesen.*) In den musischen Teilen des Toten-
und Heroenkultes finden sich ja nebeneinander die Elemente der Klage
um den Verstorbenen, des Lobpreises auf seine Taten, deren Darstellung
nach ihrer vorbildlichen Seite hin wieder Anlaß zur sittlichen Betrachtung
und zur Paränese geben kann. Die laudes clarorum virorum werden dann
von ihrem nächsten Anlali losgelöst und bilden einen Bestandteil der Sym-
posienunterhaltung, wie das für Altrom ausdrücklich bezeugt^) und hier ver-
mutlich als Nachbildung griechischen Brauches zu betrachten ist. Daß die
elegische Form, die in wunderbarer Weise lebensvolle Beseeltheit mit
edlem Ebenmaü verbindet und durch ihre gedrungene Kürze zu knapp
epigrammatisch-geistreicher, antithetischer Fassung der Gedanken anlockt,
für allerlei Gegenstände ratsch sehr beliebt geworden ist, versteht man
leicht; haben sich ja in einer widerstrebenden Sprache sogar unsere Klas-
siker für ihre ausgereiftesten Erzeugnisse ihrer besonders gern bedient. Die
betrachtende Elegie wird schon früh von dem musikalischen zum rhapso-
dischen Vortrag übergegangen sein,^) und in hellenistischer Zeit gab es
ohne Zweifel keine gesungenen Elegien mehr. FreiKch hat auch die An-
sicht des Didymos vom ursprünglich thrcnetischen Charakter der Elegie
nur den Wert einer Hypothese, die aus der antiken Etymologie des Namens
Elegie (s. o. S. 159,5) hervorgegangen zu sein scheint. Tatsächlich kann die
aus dem alten feierliehen Maü des ionischen Heldengesanges entwickelte
Strophe auch einfach als die den Taftßm und ihren Wechselformen gegen-
über vornehmere, gemessenere Form lyrischen Ausdrucks verstanden werden,
die von Anfang an an keinen bestimmten Inhalt gebunden war, aber jeden
Inhalt mit einer gewissen Mäßigung und ohne die springende Lebhaftigkeit
' ) V. WiLAMOwiTZ. Text^escli. der grioch. stehondo Entblößung bezogen werden kann)
Lyrik«'!- 57 ft'. nnd auf Solons Sahunirtelegie in patriotischer
-} Honiz u. p. 77: qtiis tarnen exigiioa Ekstuse. Woit^TO Mciuunf<en A. Dietebioh,
elegoH etnisen't auctor, yrammatici certnnt Pliilol. 52 (l^O^i 1 if. 577; F. Jacoby.RH. Mns.
ei ndhur suh ittdice Us est. Vgl. Didymos <)0 (1905) 44.
p. 3S7 «CUM. ' ^) Cato mai. bei (-ic. Tusc. I 3; IV 8.
') Huraz a. p. 75: rersihuft im pa riter ^ Für griechische »Sitte vgl. Aristot. Ath. resp.
iunctis querimottia primum, poat etiam in- 20, 5 das iSkolieniUstichon f^yxfi xni Ktjdtort,
cluHa est roti sententia compox. Ilesych. iWixovF, fitfh' Fnth)i)ov, ti xifh ^"'V dyaöofc
tÄF'/Ft^n' Ta F.Tirdffm noiiiuara. Siehe o. S. 159 , ardoa(n%' otvoyoFlr.
A. 9. Inimisch findet in den zwisclien Jubel | ^) Von den ElegitMi des »Selon gebrancht
und Schmerz wecliselnden Stimmungen des Platou Tim. 21b bald den Ausdruck ndetv^
(für die illtesto griechische Kultur gewiß sehr bald den niuf^toi^FTv \ die Elegien des Phoky-
wenig beiangleichen I Adoniskultes den Nähr- | lidus wunlen nach C.'hamaileon bei Ath. 62Üc
boden der Elegie; Keitzenstein will sie ganz gesungen, nach einem anonymen Metriker
auf symjKisiastischt? Anlässe zurückführen; , bei Ath. (»32 d aber gehr»rte Phokylides mit
Dünmiler sucht ihren Ursprung unter Hin- | Xenojihanes, Solon, 'Iheognis, Periandros zu
weis auf die Hesychiosglosse hlFyairFn" \ denjenigen, die zu ihren (iedichton keine
am'f.yai'rFiy (di«.» aber aucli auf die durch Melodie mehr fügt^^n. Siehe a. Wilamowitz
Kleiderzerreiljeii bei der Totenklage ent- zu Timoth. l*ei"s. p. 80.
B. Lyrik. I. Monodische. 1. Die Elegie.
99-100.)
161
und elastische Weichheit der volkstümlichen Tanzrhythmen vortrug. Aus-
gangspunkt für die Verbreitung dieser lyrischen Form mögen die Sym-
posien der ionischen Aristokratie gewesen sein, bei denen sich auch nach
dem Zusammenbruch des Phrygerreichs zuerst die phrygische Flöte als
Begleitinstrument eingefunden haben wird. Auch bei den ovvodoi des
attischen Adels scheinen zunächst Elegien,^) dann erst die volkstümlichen
Weisen der melischen Skolien erklungen zu sein.
Mutterland der Elegie als Dichtung ist das asiatische lonien. Die
Fragestellung der Alten nach dem „Erfinder" der Elegie, ob Archilochos
oder Kallinos oder Mimnermos,^) hat für uns keine Bedeutung, sondern
gehört dem naiven Schematismus der beginnenden antiken Kulturgeschichts-
forschung an. Tatsächlich treten die ersten Elegiendichter für uns im
7. Jahrhundert hervor; die Form wird aber älter sein.
99. Kallinos aus Ephesos, älterer Zeitgenosse des Archilochos,»)
lebte in der 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts, als die Kimmerier von Norden
her in das Land der Phryger, Lyder und der griechischen Kolonien ein-
brachen. Auf diesen Einfall und den Krieg seiner Vaterstadt mit Mag-
nesia am Mäander beziehen sieh die wenigen Fragmente unseres Dichters,
in denen er mit kraftvollen, vom Geist der Ilias inspirierten Versen seine
Mitbürger zum ruhmvollen Kampf für das Vaterland anfeuert.
100. Tyrtaios, Sohn des Archembrotos, zeigt ganz den Ton des Kal-
linos. Er blühte im 7. Jahrhundert zur Zeit des zweiten messenischen
Krieges, wie er selbst in einem schon von den Alten zur Zeitbestimmung
herangezogenen Vers (fr. 5) ausspricht.*) Über seine Heimat und Herkunft
gehen die Meinungen weit auseinander. Nach der offenbar tendenziösen
Erzählung der Athener hatten die Lakedaimonier, als sie durch den lang
sich hinziehenden ersten messenischen Krieg in Bedrängnis gekommen
^) Vielleicht das älteste unter den atti-
schen Skolien (Aristot. Ath. resp. 20, 5) hat
die elegische Form.
*) Orion p. 58, 7 ff. aus Didym. .Tfoi
JlOlfJTÖJV.
') Sein Name wird von Kallisthenes bei
Strab. 627 zuerst erwähnt. Callinous nennt
ihn Terent. Maur. 1722. Nach Strabon p. 647
sah Kallinos Magnesia noch in Blüte und
sprach Archilochos schon von dessen Fall;
ähnlich Clem. Alex, ström. I p.398P. Die Er-
oberung von Sardes durch die Eimmerier ge-
schah unter Ardjs (nach den Chronographen
663—626) etwa 657 oder einige Jahre später
(Herod. I 15); über den Anfang des Einfalls
unter Gyges untenichten uns die Keil-
inschriften, worüberW. Geiger, De Callini eleg.
Script aetate, Erlangen 1877, der die Blüte
des Kallinos auf 652 setzet; vgl. J. Caesar, De
Callini aetate, Marburg 1837, mit einem
Nachtrag 1876; G. Busolt, Griech. Gesch. IP,
Gotha 1895, 461 ff.
*) Die alte Überlieferung und die bis-
herigen Annahmen bekämpft, nachdem schon
A. W. Vebball, Class. Rev. 10 (1896) 269 ff.
Handbuch der kltss. Altertmnnriuenscbaft. VII.
versucht hatte, die Tyrtaiosfragmente auf
den dritten messenischen Krieg zu beziehen,
E. ScHWARTZ. Herrn. 34 (1899) 427—468, in-
dem er die betreffenden Worte naieoa)v ifite-
TFO(ov nmeoa^ im uneigentlichen Sinn von
„unsere Vorfahren* faßt und den zweiten
messenischen Krieg auf einen von Plato leg.
III p. 692 d und 698 c bezeugten Aufstand
der Messenier bezieht, der im Anfang des
5. Jahrh. vor der Marathonschlacht stattfand.
Die haltlosen Kombinationen von Seh. sind
durch E. Meyer, Forschungen zur alten Gesch.
II, Halle 1899, 544 ff. und namentlich Wila-
MOWiTZ (Textgeschichte der griech. Lyr. 97 ff.),
der wohl selbst (Eur. Herakl. P 69) zu den
Zweifeln von Seh. und Reitzensteiij (Epigr.
und Skolion 46) den Anstoß gegeben hatte, er-
ledigt. Siehe a. H. Weil, ^ßtudes sur l'antiquit^
Grecque, Paris 1900, 193 ff. und H. Pistblli,
Stud. ital. di filol. class. 9 (1901) 435 ff., wo
die Litteratur über die Frage sorgfältig ver-
zeichnet ist. P. hält an einem Dichter T.
für das 7. Jahrh. fest, meint aber, die auf
seinen Namen überlieferten Fragmente seien
alle später interpoliert.
5. Anfl. 11
162
Griechische Litteratnrgeschichte. I. ElassiBche Periode,
waren, sich auf Rat des Orakels Hilfe von den Athenern erbeten, und
hatten diese ihnen den Dichter Tyrtaios geschickt, der sie mit seinen
Kriegsliedern so begeisterte, dalB sie über ihre Feinde HeiT wurden,^) Wenn
Suidas^) ihn einen Lakonier nennt, so folgt er hier vielleicht einer jung-
lakonischen Tradition, deren EIxistenz aber bereits Piaton mit seiner kon-
ziliatorischon Darstellung (leg. I 629 a) vorauszusetzen scheint. Ein lakoni-
scher Dichter ist im Anfang des 7. Jahrhunderts nach allem, was wir
wissen, ebenso undenkbar wie ein attischer. Dagegen steht außer Frage
die Tatsache, daß in jener Zeit eine Reihe auswärtiger Dichter und Musiker
nach Sparta gezogen und dort sehr ausgezeichnet worden sind, so dafi
Alkman singen durfte fV>.Tf/ yng nvxa no otduo<o rö xahlK xiüanioöriv (fr. 35).
Stellt man neben die Ausländer Terpandros, Thaletas, Alkman. Polymnestos
den Tyrtaios,*) so gewinnt die ganz versteckte Notiz des Suidas {Afbccor
J) Mikfioio^), daß T. ein Milesier gewesen sei, sehr an Glaubwürdigkeit.*)
Warum sollten sich die Lakonier nicht aus lonien, wo eben Eallinos die
Elegie künstlerisch zu adeln und sie zum Werkzeug kriegerischer Be-
geisterung zu härten lehrte, einen wirksamen moralischen Bundesgenossen
verschreiben in der schweren Zeit der Kämpfe um die Hegemonie im Pelo-
') Die ältesten Schriftsteller, die den T.
erwfthnoD, sind Piaton leg. 1 p. 029 n (hier
heiüt er </ rnn \ithfyai<h:) und Lykiirgos in
Leoer. 106 (t/c yiii» ovs< tHÜF T<oy 'JikÄZ/ron',
ort TvoraTor ojoanjyov ^i.aßi)v naoh tTj^ .to/.Ko^,
finT or >cfu Tiov nokeftion' txijuTtjoav, xui rifV
jinji Torc r/orc h.tint).FUir orrytaiai'Tn, ov
fuWor f/V r/rt' nanovin xirArror, d/./.* fU «.Tarrft
Tor (utorn (iur),FvoduF%'tH xn/.ot-. xnrthnFV yao
arrou F/.F'/hin .Tonjoac, n>r dxorovTF>: .Tcc/Afror-
Tfu -7oö,- arfWmr), denen er beiden ein ge-
borener Athener ist, nach L. den Spartanern
al« Strateg zu Hilfe geschickt, zugleich
Dichter, nach IM. zum lakonischen Bürger
gemacht. IMaton zitiert von ihm (auch leg.
II (>60c; Phaedr. 2r)9a) fr. 12, Lykurgos fr. lO,
Aristoteles (pol. ISOOb 39 f.) ein auf innere
mit dem messenischen Krieg zusammen-
hängende Unruhen bezügliches Gedicht Frm-
lun, zu dem nach Strab. 8()2 das fr. 2 gehört-.
Als Athener sprach ihn auch KaHisthenes
an, aus Aphidna in Attika leitete ihn Philo-
choros I Strab. 1. 1.); jener ,und andere* er-
zählton von dem Orakels]»ruch, der die La-
konier veranlaljte. .sich einen fi^Finnv aus
Athen zu holen. Dementsprechend erscheint
T. als Stratege und Poet auch Diod. VIII
27, 2: XV 66, 3; Themist. or. XV p. 242. 13
DiND.; lustin. III 5. 5 (hier lahm); der lahme
Schulmeister taucht erst Paus. IV lö. 6
und Schol. Plat. leg. 629 a auf, der Wahn-
sinn bei Heraclid. Lemb. fr. 13: FUG. 111 170;
Paus. IV 15, 6. Daß T. Stratege und spar-
tanischer Bürger gewesen sei. glaubte man
(Strab. 362) aus fr. 2 schließen zu sollen, wo
von den Dorem in 1. i'ei-son Plur. geredet
wird. Aber dieser Schluß ist nicht bündig,
selbst wenn man die Echtheit der fraglichen
Verse zugibt i Zweifel an ihr Strab. L 1.), da
ja doch 'Y. im Namen und Sinn der Spartaner
reden kann, ohne einer der Ihrigen zn sein.
Diodor. Pausanias und lustinus setzen schon
eine T.-Legende voraus, deren Urheber wir
nicht kennen. Die Reklamiening des T. als
Athener mag zur Zeit des dritten messeni-
schen Kriegs aufgekommen sein, ans Ärger
über die Beschimpfung Athens; ob dabei die
Homonymie des attischen und des lakoni-
schen Aphidna (Steph. Byz. s. v.) eine Rolle ge-
.spielt hatte, steht dahin. Anders Wilamowitz
a. a. 0. 116; Kritik der Oberliefemng schon bei
Fr. Tiherscii. Acta phil. Mon. III 587 ff. Eine
ähnliche Anekdote bei Valer. Max. 15 p. 24
Halm: Samii PrieneHnibits auxiUum adrersw
('(trespetentibuif in deri»um Sibyllam miserunt,
haue 2)1-0 exerritu ac claMse offerentes; qua
(iure usi Prienenaen bellum conftummaverunt.
Widerspruch von Tu. Bergk. Gr. Litt II 244.
■') Ebenso Tzetzes Chil. 1 692.
^) Neuerdings hat E. Sohwabtz, Herrn.
34 WSm 4<;r> die Sache so gedeutet, daß er
den Tyrtai(»s zu einem athenischen Dichter
dcK 5. Jahrli. aus der Zeit des peloponnesi-
sehen Krieges matrhte, der seine Gedichte
einem Spartiaten. dessen politische nnd mili-
tärische iStellimg er im Unbestimmten ließ,
in den Mimd gelegt habe. Eine vermittelnde
Stellung nimmt Wilamowitz, Die Text-
geschiciite der gr. Lyr. 114 ff. ein, indem er
den Kern der Dichtungen einem lakonischen
Dichter des 7. Jahrb., die angebliche Über-
arbeitung aber einem jüngeren athenischen
Dichter zuschreibt.
•*) 0. Crl'sii s in der Kealenc. 2. Halbb.
1565; anders Wilamowitz, Eurip. Herakl. P
79 A.
B. Lyrik. I. Monodische. 1. Die Elegie. (§ 101.) 163
ponDes und um Sicherheit im eigenen Hause? Die erste Tradition kann
dadurch, daß T. als Typus in den athenisch-spartanischen Eifersüchteleien
hin- und hergezogen wurde, zurückgedrängt worden sein, unter dieser
Voraussetzung erklärt sich auch die starke Stilverwandtschaft zwischen T.
und Kallinos. — Von seinen Gedichten, deren Inhalt Suid. mit Tiohxeia für
die Lakedaimonier (= der von Aristot. und Strab. zitierten evvojula), vno{^xai
dl iXeyelag und ßiiXrj jiokeßucnrJQia bezeichnet, existierte in alexandrinischer
Zeit eine Sammlung in 5 Büchern, die ohne Zweifel vieles unechte ent-
hielt. Unter den erhaltenen Resten müssen die von Schriftstellern des
4. Jahrhunderts zitierten größeren Fragmente 10, 12, von einzelnen Inter-
polationen abgesehen,*) für echt galten, ebenso fr. 11,*) die drei vollständigen
Elegien, die ganz im Geiste des Kallinos zur Tapferkeit mahnen und vor
der Schande der Feigheit warnen, 3) und, ihrer geschichtlichen Details wegen,
5, 6, 7. Ein vaticinium ex eventu dagegen, nicht älter als das 5. Jahr-
hundert ist fr. 3 d (pdoxQrjjuatla ZmiQxav ökeX^ &U,o de ovdev.^) Von i/ißa-
TTJoia^ Marschliedern^) in anapästischem Rhythmus und dorischem Dialekt
voll kriegerischen Feuers, sind uns einige Verse erhalten, deren Zurück-
führung auf Tyrtaios aber keine Gewähr hat. Auch nach des Dichters
Tod blieben seine Werke bei den kriegerischen Dorern in hoher Ehre: sie
wurden nicht bloß nach Kreta gebracht, 0) sondern auch von den Lakedai-
moniern regelmäßig im Lager nach dem Tischgebet oder Paian gesungen,
wobei der Polemarch nach alter Sitte dem, der am besten gesungen, ein
Stück Fleisch als Preis gab. 7)
101. Mimnermos, ein Aulet®) und Dichter aus Kolophon,^) blühte in
der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts, ^0) als die ionischen Städte Klein-
asiens, insbesondere auch Smyrna und Kolophon, den Angriffen der Lyder-
könige unterlegen waren. In einer Elegie, fr. 13, 14, stimmt er noch die
kraftvollen Töne des Kallinos an, indem er den Heldenmut der Smyrnäer
in der Schlacht gegen den König Gyges besingt, vermutlich in der Ab-
sicht, seine Landsleute zu gleich mutiger Ausdauer gegen den erneuerten
*) WiLAMOwiTz, Textgesch. 111 ff . Das
Eriterium von der älteren und jüngeren Be-
waffiiang verfängt übrigens, wie Pistelli
p. 443 ff. richtig betont, nicht
*) Der Vers wird auch dem delphischen
Orakel zugeschrieben Diod. VII 14, 5.
6) Cic. Tusc. disp. II 37; Dio Chrys. I 59;
WiLAMOWiTZ, Textgesch. d. griech. Lyr. 96 f.
*) Gerade in diesen Stücken fehlt auch ' bestreitet die allerdings schlecht, aber nicht
nicht, was von Wilamowitz vermißt wurde, | erst von Tzetzes, sondern schon von Paus,
das individuell lakonische Kolorit: die ästhe- ' IV 15, 6; Ath. 630 f bezeugte Autorschaft des
tische Motivierung der Tapferkeit fr. 10, 20 Tyrtaios.
und 11, 19; die rgeooayze^ 11, 14; die Heroi- *) Plat. leg. I p. 629 b.
sierung des tapferen Mannes 12, 27 flf.; der '■ ^) Philochorosbei Ath. 630f; vgl.Lycurg.
Herakleskult 11, 1; s. a. Wilamowitz a.a.O. adv. Leoer. 107.
110, 2. Gegen fr. 2 bringt J. Wackebnagel, , ^) Plut. de mus.8; Hermesianax bei Ath.
Studien z. griech. Perf., Gott 1904, 4 einen XIII 598 V. 37.
nicht ausreichenden sprachlichen Grund vor. | *) Suidas: Miuvsoko^ Atyvgzmdov, Kolo-
•) Daher Horaz a. p. 402 f. : Tyrtaeiisque \ q-(ovio<; ij ^fivoruia; Pf ^AoTVjraXaisrg. Mit
mores animos in Martia hella rersibus exa- dem Namen AtyvaaTuör}^ einem patronymi-
euU. Übereinstimmung des T. mit Stellen der sehen Scherznamen (H. Dikls, Herm.37, 1902,
Ilias, in denen die „moderne" Disziplin j 480 f.), redet ihn Solon fr. 20 an. Er selbst
(Massenkampf, Gemeinsamkeit der Beute, I besingt fr. 9 die Einnahme von Smyrna durch
Eintreten der jüngeren Kämpfer für die Äl- : die Kolophonier.
teren) proklamiert wird, beweist D. Müldeb, | *®) Suidas setzt ihn Ol. 37, was E. Rohde,
Homer und die altion. Elegie, Hannover 1906. I Kl. Sehr. I 158 aufklärt.
11*
164 Griechische Litteratiirgeschichte. I. Klassische Periode,
Ansturm des Königs Sadyattes anzufeuern. Aber in seinen anderen Ele-
gien herrscht durchweg eine erotisch-weiche Stimmung. . Sie waren seiner
Oeliebten mit dem kleinasiatischen Lallnamen Nanno^) gewidmet und er-
zählten allerlei Liebesgeschichten in einem resigniert-sentimentalen Ton,
der zeigt, daß er nicht mehr jung war, als er sich ihrer Gunst erfreute.
An diese erotischen Elegien erzählenden Inhalts knüpfen Antimachos in
seiner Lyde, die alexandrinischen und römischen Elegiker an.*) Von seinen
auletischen ro/io/ war der Koadiag berühmt.')
1()2. Selon (um 639 — 559),*) der Sohn des Exekestides, der weise
Gesetzgeber und groüe Patriot Athens, ist zugleich der erste athenische
Dichter. Er hat mit Bewußtsein den Strom ionischer Kultur in seine Vater-
stadt, die zuvor wesentlich unter dorischen Einflüssen^) gestanden hatte,
hereingeleitct, persönliche Beziehungen zu Mimnermos gepflegt, den rhapso-
dischen Vortrag der homerischen Gedichte bei den Panathenäen (wahr-
scheinlich) eingeführt, selbst in den Formen der ionischen Elegiendichtung
und lambographie zu seinen Landsleuten Worte unvergleichlicher Weisheit
gesprochen und darf wohl als der Begründer der attischen Aufklärung be-
zeichnet werden, deren Auseinandersetzung mit den Mächten der Tradition
die folgenden zwei Jahrhundeite der attischen Geistesgeschichte füllt. Athen
wird nun für die ionische Kultur ein Asyl wie Florenz für die byzanti-
nische, je mehr die politische Macht der lonierstädte vor Lydem und Per-
sern zusammensinkt. Die Stadt begann damals sich als See- und Handels-
macht in kriegerischen Verwicklungen mit Megara und Lesbos zu heben
und hatte das Glück, aus der Krisis innerer Parteiungen mit gesteigerter
Kraft hervorzugehen. Selon, der selbst von dem Geschlecht der Kodriden
abstammte, aber nicht zu den Reichsten gehörte^) und einen besseren
Adelsbrief sich durch edle Gesinnung und reiche, auf Reisen in Ägypten
und Asien") vermehrte Erfahrungen erworben hatte, war berufen, in jenem
politischen Gärungsprozeß seiner Vaterstadt eine hervorragende Rolle zu
spielen. In dem Streit der Megarer und Athener um den Besitz von Sa-
^) V. Kketsciixer, Einl. iii die Gesch. ' der sogenannte RQckumlaut des attischen
der griech. Spr. 341 f. Dialektes (K. Brugmann. Griech. Gramm.',
^) Hör. ep. II 2, 100 f.; Propert. I 9, 11: München 1900. $j 10).
plus in amore rnlel Mimner mi verauH Hotnero. ®) Aristot. pol. 1296a 19.
E. RoHüK, Griech. Rom.' 77. Charakteristisch ') Die Reisen des Öolon sind besonders
für ihn ist der Vers r/c ^f /iio^, xi Ar tfo.t- in Fabeln gehüllt worden. Die Angaben
»'Ol' uvFr xnvohjQ 'Äff oodirfjg ; über ihre Veranlassung durch die Tyrannis
') Plut. de mus. 8 : ^ai vlüjk: A'^arir des Peisistratos und über die Gründang von
no/nTih: fötio^ xaXoruFvog Koa6ing, dr (ftjotr Soloi in Kilikien (bei Hesych.) sind ganz
'I.izjon-a^ MtftrFojiiov av/.ijoar h nn/i] yao unhaltbar; die Unterredung mit Kroisos, von
FAFyFTa /tFiiFÄo.tonjfin'n ni ur/.(it(ioi [jonv. Vgl. der Herodot I 29 berichtet, erregt chrono-
Strab. p. 043. Das Wort bedeutet Feigenast- i logische Bedenkon und gehört zu dem seit
weise, worüber K. 0. Müllkr, Gr. Litt. I* 175. dem i). Jahrhundert in der Bildung begriffenen
*) Plutarch, Leben Solons; seine mit Roman von den sieben Weisen. Gut bezeugt
Diog. Laert. gemeinsame Hauptquelle war ist die Reise nach Ägypten durch Herodot
Hermippos. der aber schon eine halb roman- 129, Plat. Crit. 10><d. Plut. Sol. 2 und Selon
hafte Darstellung gegeben hatte, daneben die selbst fr. 2^. ebenso durch Selon fr. 19 die
Schrift des Didymos (p. 399 Schmidt i über die ; Reise nach Kvpeni. Nach Herodot I 29 und
solonischen azovF^, Andere Berichte geben i Aristoteles Athen, jwl. 11 machte er die
Aristot. Athen. resp. 5 — 12, Diog. I45ff.,Suidas. zehnjährige Reise nach seiner Gesetzgebung:
vervollstjlndigt durch Schol. Plat. reip.X 590 e. von Handelsreisen des jungen Selon spricht
^) Aus diesen erklärt sich wohl auch Plut. Sol. 2.
B. Lyrik« h Monodische. L Die Elegie. (§ 102.) 165
lamis rief er seine Mitbürger zu einer letzten Kraftanstrengung und zur
Wiedereroberung der schönen Insel auf (610). ^ Den äußeren Schwierig-
keiten folgten die inneren auf dem Fuß: die sozialen Mißstände in Attika
schienen zum Bürgerkrieg zu drängen. Schon in dieser schwülen Zeit
hatte Selon in Elegien (fr. 4 und die bei Aristot. Ath. resp. 5 überlieferten
Stücke) — in diese Form kleidete sich damals die Publizistik — , Versen
voll weitblickender Umsicht und warmherziger Vaterlands- und Gerechtig-
keitsliebe, den Ausweg der evvojuia empfohlen und gezeigt, daß er sich zu-
trauen durfte, wieder gesunde Zustände zu schaffen. Im Jahr 594/3*)
wurde er zimi Archen gewählt und führte nun die kühne, wie ihm selbst
klar war, revolutionäre und nicht des allgemeinen Beifalls sichere Maß-
regel der oeiodx&eia, d. h. Aufhebung der hypothekarischen Schulden und
zugleich der Schuldknechtschaft, durch öj^iov ßitjv re xai Sixijv owag^aoag^
wie er fr. 36, 14 sagt. Sein großes Gesetzgebungswerk fand in der Sank-
tionierung und Aufstellung der hölzernen Gesetzestafeln (xvgßeig oder ä^oveg)
auf der AkropoUs seinen Abschluß, s) Eine dauernde Beilegung des Partei-
haders gelang ihm freilich nicht; er selbst verließ, des Streites müde,
Athen und suchte durch eine Abwesenheit von zehn Jahren dem Drängen
der Parteien zu entgehen. Selbst die Herrschaft im Staat an sich zu
nehmen, konnte er sich nicht entschließen, so sehr ihm das teils als
schmählich teils als töricht verübelt wurde; aber schließlich mußte er es
noch erleben, daß Peisistratos, gestützt auf die demokratische Gebirgs-
bevölkerung, die Macht der Optimaten brach und die Tyrannis an
sich riß (561); den Beginn der Tyrannis überlebte er nur zwei Jahre;
achtzig Jahre alt starb er auf Kypros,^) wo er schon in früheren Jahren
Freundschaft mit dem Herrscher Philokypros von Soloi geschlossen hatte.
— Auch während und nach seiner gesetzgeberischen Tätigkeit wandte er
sich mit Elegien und lamben aufklärend über seine wahren Absichten,
verteidigend, kritisierend, zum Guten mahnend teils an seine Freunde und
adeligen Standesgenossen, teils an das Volk im großen. Seine von un-
erschütterlichem Idealismus gefestigte Persönlichkeit gibt den nüchtern^)
betrachtenden Versen immer Haltung und Würde, manchmal aber auch
Schwung und wahrhaft dichterische Stimmung (vgl. besonders fr. 4, 14 ff.;
13); auch an treffenden Bildern aus Natur und Tierleben (fr. 9. 12. 13,
18 ff.; 37, 5) und anschaulichen Schilderungen (13, 14 ff.; 36; 38—40) fehlt
es nicht, so daß man Piatons Bewunderung für Solons Poesie 0) wohl ver-
*) Zur Chronologie s. G. Busolt, Griech. etwas vollständiger als von Suidas wieder-
Oesch. 11* 218 fF. 247 ff. gegeben ist. Das Todesjahr f</ ' 'IlyFOToäjov
*) Oder 592/1 (die Entscheidung ist «o/oiros gibt Phanias bei Plut. Sol. 32. Nach
schwierig: Th. Lenschau im Jahresber. tiber Eferakleides bei Plut. Sol. 31 blieb Solon noch
die Fortschr. der klass.Altertumsw. 122, 1904, längere Zeit in gutem Einvernehmen mit
156 f.). Peisistratos. In diesem Sinn ist der unechte
•) Über die Gesetze Plut. Sol. 19—24 Brief des Peisistratos an Solon geschiieben
and besonders Aristot Athen, resp. 5 — 12, wo Diog. I 53.
zum Beleg auch Stellen aus seinen Ge- . ^) Zur Illustration seines praktischen
dichten angeführt sind. Wilamowitz, Aristot. I Realismus ist die Anekdote von seinem Ge-
u. Athen. II 304 ff. ; sprach mit Thespis (Plut. Sol. 29) erfunden
*) Diog. I 62; ebenso Schol. Plat. reip. ' worden.
X p. 599e, wo der Artikel des Hesychios Mil. | ») Plat. Tim. 21c (s. u. S. 166, 5); dem
166 Griechische Litteraturgeschichte. I. Klassische Periode,
steht. Die erhaltenen Reste, die durch Aristoteles' Schrift vom Staat der
Athener beträchtliche Vermehrung und Ergänzung erfahren haben, ver-
teilen sich folgendermaßen auf seine Lebensperioden :^)
1. vor dem Archen tat das erotische fr. 25 (Plut. amator. 5), die Sa-
lamiselegie, die elegischen Stücke bei Aristot. Ath. resp. 5 und fr. 4;
2. Gedichte zur Rechtfertigung nach dem Gesetzgebungswerk, fr. 5—8,
32—33;
3. Gedichte aus der Zeit der Reisen, fr. 19 (Kypros), 28 (Ägypten);
4. Gedichte aus dem hohen Alter, das erotische fr. 26 und fr. 18.
Sicher unecht sind nur die melischen Verse fr. 42,-) die Diog. Laert.
I 61 überliefert. Nach Diog. 169 hatte man von ihm in 5000 Versen Elegien,
lamben und Epoden. In der Form lehnte er sich au seine ionischen Muster
an, doch gCvStattete er sich in der Sprache auch einzelne Eigentümlich-
keiten des Attischen einzuführen. ') Er hat das ionische Gesellschaftslied
in seiner vornehmeren {^Xfyeta) und seiner volkstümlicheren (Tajtißot) Ge-
stalt auf den attischen Boden verpflanzt und auch in Sachen der pro-
sodischen Technik noch die ionischen Regeln beobachtet.'*) Die Athener
haben die Gedichte des Selon, wie die Spartaner die des Tyrtaios, in Ehren
gehalten. Am Fest der Apaturien sangen sie die Kinder im Wettgesang,
indem die Eltern dazu Preise gaben, ^) und nicht bloß Piaton lobt den durch
Kritias ihm verwandten Dichter in überschwenglichen Worten, sondern
auch Demosthenes konnte auf die Aufmerksamkeit der Richter rechnen,
als er ihnen in der Rede über die falsche Gesandtschaft § 255 eine ganze
Elegie des groEien Volksfreundcs vorlas.
103. Selon ist als Vertreter Athens schon früh von der Legende in
das Kollegium der Sieben Weisen {ooqtoTui bei Isoer. 15, 235)^) gestellt
worden. In ein Kollegium zusamraengefalat treten uns die Sieben mit
Namensnennung zuerst entgegen bei Piaton Protag. p. 343a, zwei lonier
(Thaies aus Milet und Bias aus Priene), zwei Derer aus Lakonien (Cheilon
PI. ist sein Uitoil wahrscheinlich von den ' Accedit index .Soloneus. I. München 1908.
aller Didaktik a))^enoigten Peripatetikern ver- II. 1904. Die Honiernachahmung Solons wurde
übolt worden : Procl. ad. Plat. remp. T. I 48, , schon im Altertum festgestellt und in eine
P2 ff. Üo. 1 tf Kkoll. : Anekdote gefaßt, die Schol. ABT zu Hom.
') »Siehe besondtMs Wilamowitz, Aristot. II. I*2i')r> wiedergeben,
u. Ath. II 304 if. -*) Siehe über die Behandlung der positio
-) Das Metrum gemahnt stark an den debilis A. v. Mess. Rh. Mus. 58 (1903) 273 ff.
Lieblingsvers der Lyrik der späteren Kaiser- ^) Plat Tim. j). 21b. wo Piatons eigenes
zeit, den anapästisch -iambi.schen Vicrfuü, Uiteil: rn Tf a/./.n oo(fonaT<n' yfyovevni 2o-
den z. B. Philostr. Heroic, Luc. Tragodop., /jnvn xai xara ri/r .Tonjotr av uov sioiyrwv
das Papyrusfragment bei W. CRiiNERT, Arch. .-TuvTojr f/tri7fn(f/>7«ror . . . . fT yf firj :ia^
f. Pajjyrusf. 2 (1903) 357 f. aufweisen. ^W*'* ^'7 ^f**f'i"''i xarF/o/jonTo . . . xard )'V/i/;p
*j Vielleicht sind in unseren Texten die docur ovif 'Ilotn(in^ orjF "Ofiffnog mrre alka;
Attikismen teilweise wieder durch die bekann- orÖFh .-rf»//;T/)c FtWnximnTFoa; Fyh'Fxo ar .tot*^
teren lonismen verdrängt worden, worüber A. nrror. An ihn denkt wohl auch Plat. leg.
FiCK in Hezzenbcrgers Beitr. zur Kunde der i V^IT811de.
indogerm. 8pr. 14 (IbX^S) 252 ff. Übrigens weist ' *) Das Wort oof/ n^- findet sich bei Homer
die Sprache Solons homerische Reminiszenzen noch nicht (nur oor/ /;/ II. 0412; vgl. o. S. 49, 3),
in Fülle auf. am meisten in den Hexametern, bezeichnend aber ist die intellektualistische
weniger in Pentametern, am wenigsten in Umwertung des Wortes (^aufofor, das in der
den lamben, worüber N. Riedy, Solonis elo- llias ^tapfer*, in der Odyssee und späterhin
cutio quatenus pendeat ab exemplo Homeri. ,klug* bedeutet.
B. Lyrik. L Monodische. 1 Die Elegie. (§ 103.)
167
und Myson), je ein Äoler (Pittakos aus Mytilene), Athener (Selon) und
Khodier (Kleobulos aus Lindes) J) Die Sieben sind nicht Männer der
theoretischen Philosophie, sondern der praktischen Klugheit, die mit über-
legener Einsicht und Selbständigkeit des Urteils den Fragen des ethisch-
politischen Lebens gegenüberstehen und in schwierigen Lagen Rat wissen.
Ihre Epoche ist bei den alten Chronologen die 48. Olympiade (588). Die
Aufstellung dieses Menschheitsideals in der Zeit der großen Parteiwirren
und Verfassungsumwälzungen ist bezeichnend. Es liegt darin die Verherr-
lichung der Unparteilichkeit und des gesunden Menschenverstandes in einer
Periode, die sonst ängstlich nach religiösen Hilfen Umschau hielt (s. o.
S. 126 ff.)-*) D^r Bestand des Kollegiums wechselt, 3) bis seit Ende des
4. Jahrhunderts durch den Einfluß des Demetrios von Phaleron,*) der eine
Sammlung der Aussprüche der Sieben verfaßte, die Namen Bias, Thaies,
Selon, Cheilon, Pittakos, Periandros, Kleobulos ziemlich allgemein ange-
nommen werden. Seit alters kursierten kurze Kernsprüche, wie yva)&i
aeavtov, /nrjder äyav^ /xergov ägioravt iyyva Jiagä ö*äxa^ als deren Verfasser
teils alle die Sieben zusammen, teils einzelne von ihnen, teils der delphische
ApoUon bezeichnet wurden. Einige dieser Sprüche waren auch in Delphoi
im Apollonheiligtum angeschrieben. Darin wie in der Siebenzahl der Weisen
^) Diesem Kleobulos wurde auch das
Epigramm auf der Grabsäule des Midas zu-
geschrieben (Simonides bei Diog. I 89), und
eine Rätselsammlung lief auf seinen Namen
(WiLAMOwiTZ, Textgesch. der gr. Lyr. 40, 3) ;
ebenso auf den seiner Tochter Kleobulina
Rätsel, die nach 0. Crüsius, Philol. 55 (1896)
1 ff. aus dem Äsoproman stammen. Kleo-
bulina scheint nach dem Titel einer Komödie
des Kratinos KXeoßovlTvai typische Figur ge-
worden zu sein.
*) Der Kultus des dvtjo oo<p6<; in diesem
Sinn hat vielleicht bei den Pythagoreern zu-
erst Wurzel gefaßt, Porphyr, quaest. Hom.
ad n. p. 12. 18 ff. SCHRADEB.
>) Einzelne von den späteren Sieben nennt
zuerst Hipponax (fr. 45 Myson; fr. 79 Bias).
Allezeit fest sind nur 5 (Bias, Thaies, Solon,
Pittakos, Chi Ion). Die Siebenzahl ist unter
Einflüssen der apollinischen Religion, in der
sie besonders für heilig galt (H. Dibls in der
Festschr. f. Th. Gomperz, Wien 1902, 9 ff.)
abgerundet worden. Sammlung der Stellen
über den Wechsel des Bestandes bei 0. Kböh-
FKBT, Canonesne po^tarum scriptorum arti-
ficum per antiq. fuerunt, Königsb. 1897, 64.
Im 6. Jahrhundert, in das die Anfänge der
Legendenbildung zurückreichen (J. Miko-
LAJCZAK, Bresl. nhilol. Abb. 9, 1902, 1), gab
es wahrscheinlich noch allerlei Kandidaten;
so könnte an den Siriten Amyris gedacht
werden (Herod. VI 127). Bei Feststellung
der Mitglieder wird zunächst die Rivalität der
Stämme und Städte mitgespielt haben: den
kleinasiatischen loniem scheinen von Anfang
an zwei, den Athenern, Spartanern und les-
bischen Äolem je ein Platz zugestanden ge-
wesen zu sein. Um stärkere Vertretung
(Myson. nach Schol. Pind. Isthm. 2, 17 Aristo-
demos) bemühten sich die Lakonier, um Auf-
nahme eines Mitbürgers die Rhodier und
Korinthier. Besonders merkwürdig ist, daß
Anfang des 4. Jahrhunderts auch das neue
durch die Kyniker vertretene Lebensideal des
kulturfreien Naturmenschentums durch den
skythischen Barbaren Anacharsis, den Ephoros
zuerst in diesem Zusammenhang erwähnt, in
das Kollegium eingeführt ist (R. Heinze,
Philol. 50, 1891, 458 ff.).
*) Übrigens war Demetr. schwerlich der
erste Sammler (P. Wendland, Anaximenes v.
Lamps., Berl. 1905, 90 ff.). Aus den a.TO(ft'}Fy-
ftarn des Demetrios schöpfen Stobaios floril.
3, 79, Anth. Pal. IX 366 und spätere griechi-
sche und lateinische Spruchsammluugen. W.
Bbünco, De dictis septem sapientium a De-
metrio Phal. collectis. Acta sem. Erlangensis
3 (1884) 299—398, mit einer Ergänzung
aus dem Wiener Apophthegmen-Corpus von
C. Wachsmuth, Die Wiener Apophthegmen-
sammlung, Freiburg 1882. Eine griechische
Sammlung in lamben publizierte E. Wölfflin
in Sitz.ber. der bayr. Ak. 1886 S. 287 ff.,
zwei lateinische W. Bbünco, Bayreuther Progr.
1885. Von Sosiades tiov Liza onqajy vno-
Orixm (Stob. T. III 125 f. Hensb) ist neuer-
dings ein großer Teil auf einer Inschrift von
Kyzikos ca. 300 v. Chr. (F. W. Haslück,
Joum. of Hell. Stud. 27, 1907, 62 f.) gefunden
worden. Siehe 0. Hense, Berl. phil. W.schr.
27 (1907) 765 ff. Über die Unechtheit der den
sieben Weisen zugeschriebenen, durch Dio-
genes zum Teil noch erhaltenen Skolien
vgl. K. 0. MüLLEB, Gr. Litt. P 318.
IQQ Griechische Litieratnrgeschichte. L Klassische Periode.
und in der Sage von dem goldenen Dreifuß, den die Milesier nach ApoUons
Spruch dem Weisesten geben sollten und der nun bei allen Sieben herum-
ging und schließlich dem ApoUon geweiht wurde,0 zeigen sich Beziehungen
der delphischen Priesterschaft zu den Sieben.^) Die frühste uns bekannte
Zusammenfassung der die Sieben betreffenden Sagen ist von Andron von
Ephcsos ca. 400 v. Chr. in dem Roman Tgmovg gemacht worden. Uns
liegt in Plutarchs Dialog 2!vii7i6oiov nov fjnd ooqojv ein später Nieder-
schlag dieser Dichtungen vor. Litterarische Werke hat außer Selon keiner
der Sieben hinterlassen. 3)
104. Die Blüte des Phokylides aus Milet wird von Suidas auf 544
V. Chr. gesetzt, wozu die Bezugnahme auf den Fall von Niniveh 606 in
fr. 5 Bgk. stimmt; er hatte Sittenregeln in Hexametern und Distichen ge-
schrieben, die durch den einförmig wiederholten Anfang xai rode 4>a>xi»-
Xidto) in Absätze von wenigen Versen zerfielen.*) Von ihnen sind nur
wenige, zumeist aus der Bhmienleso des Stobaios, auf uns gekommen.
Dagegen sind vollständig erhalten die Fvionni ^Pdixvkiöov^ ein ehemals, be-
sonders zur Zeit der Renaissance, vielgelesenes, den zehn Geboten gleich-
gestelltes Lehrgedicht in 230 Hexametern^) ohne feste Disposition,®) das
gleich im Anfang durch den Vers jroona äfov rijua, jLt^TfjfetTa di oeio yovtjog
an die Gesetze der Juden erinnert. Zweifel an der Echtheit des Gedichtes
dämmerten zuerst dem Heidelberger Friedrich Sylburg auf;') Jos. Scaliger
wies dann bestimmter auf die Übereinstimmung einzelner Sätze, wie von
der Auferstehung des Fleisches (V. 103) und der Aushebung der Vogel-
nester (V. 84 f. = Deut. 22, 6), mit der Lehre der Bibel hin und ließ die
Wahl zwischen einem jüdischen oder christlichen Fälscher. Zum Abschluß
brachte die Frage Jak. Bemays in einer für die Kenntnis der sittlichen
Unterscheidungslehren zwischen Judentum, Christentum und Heidentum
sehr ertragreichen Abhandlung (Über das phokylideische Gedicht in Ges. Abh.
Berhn 1885 I 192 — 2G1), indem er nachwies, dali der Fälscher zu den ale-
xandrinischen Juden gehörte und in der Zeit zwischen dem 2. Jahrhundert
V. Chr. und dem Kaiser Nero lebte, noch ehe der jüdische Hellenismus
^) Auf ein ähnliches orientalisches No- legt von H. (jompkbz. Arch. f. Gesch. der
vellenmotiv weist E. Rohde, (iriech. Rom.*, 1 Philos. 19 (1906) 246 f. In hellenistischer Zeit
Leipzig 1900, 882. 1 hin. werden die Siehen als Beispiele bei Erörterung
^) Sieben delphische Sjirüche nachzu- der Frage ff jtohievtrjat o ooqxl: beigezogen:
weisen und auf die sieben WeiHcn zu ver- Cic. de rep. 1 7, 12. Bildliche Darstellung
teilen, ist nicht gelungen (W. H. Röscher, der Sieben in hellenistischer Zeit: A. Fübt-
Philol. 59, 1900, 21 If.). wängler, Berl. philol. W.schr. 20 (1900) 274.
') Fieigebig in Erdichtung von Werken •*) Dio Chiys. or. 36, 12.
war besonders der von Diogenes Lacrtios be- ; ■''*) Von Suidas genannt .Taitaivfofig, yrw-
nützte Grammatiker Lobon; s. E. Hiller, Die ftm, xFifuhua, in der ed. princ. nohjfAa voi»-
litt.Tätigkeit(lor8iebenWeisen.Rh.M.33(187S) Otuxur. Text bei Berok. PLG. II* p. 81 ff.
518 ff. (jinndlegende Schrift von F. E. Bohren, *) A. Lüüwich. über das Spruchbuch des
De VII sapientibus. Bonn 1867. Weitere falschen Phokylides, Königsberg 1904.
Litteratur s. in der oben S. 167.3 angeführton ') Nach einer Mitteilung von J. NicoLl
Abhandlung von Mikolajczak. Was K. Joel I in Album gratul. in hon. llorwerdeni p. 164
in seinem Buch „Der echte und der xeno- sind in einem Genfer (Jod. 21 Verse des Ge-
phontische Sokrates* II, Berl. 1901, 759 ff. über dichtes teils dem Phokylides, teils demDichter
ein kynisches Gastmahl der sieben Weisen in Proklos Megaieus, teils dem Rhetor Herodianos
Antisthenes' IlnnroF.-nixi'h; veraiutet, ist wider- beigelegt.
B. Lyrik. L Monodische. 1 Die Elegie. (§§ 104—105.) 169
christliche Färbung angenommen hatte. >) Mit dem echten Phokylides be-
rührt er sich kaum (nur V. 229 klingt an Phoc. fr. 17 an). Zitiert wird
das Gedicht erst von Stobaios, aber schon der Verfasser des zweiten Buches
der Sibyllinischen Orakel (II 56 — 148) hat Verse aus ihm (5 — 77) in sein
Gedicht eingeschmuggelt,*) welches Verhältnis freilich Suidas in dem
Artikel über PhokyUdes umkehrt. Dion von Prusa (36, 10) kennt es offenbar
noch nicht.
Nach Bias von Priene, auf den er (bei Diog. Laert. I 84) Bezug nimmt,
und vor Aristoteles, der ihn (Eth. Nicom. 1151a 8) zitiert, vermutlich in
das 6. Jahrhundert v. Chr. ist der Gnomiker Demodokos von Leros zu
setzen, von dem nur zwei zweifelfreie Fragmente, ein elegisches Distichon
und ein trochäischer Tetrameter, erhalten sind.
105. Theognis ist der einzige Spruchdichter, dessen Elegien in einiger
Vollständigkeit auf uns gekommen sind. Seine Abkunft und seine Lebens-
zeit war bestritten: der älteste Zeuge, Piaton in den Gesetzen I p. 630a
nennt ihn einen Bürger des hybläischen Megara in Sizilien.'*) Das muß
aber ein Irrtum sein; Theognis mag nach Sizilien gekommen sein und in
einem Gedicht der rühmlichen Taten der hybläischen Megarer gedacht
haben;*) aber er bezeugt selbst V. 11 fif. (vgl. Pausan. I 43, 1), 773 und
782 flf., daß seine Wiege nicht in Sizilien, sondern in dem nisäischen Me-
gara, der Stadt des Alkathoos, stand. Nicht minder waren bezüglich seiner
Lebenszeit schon im Altertum falsche Meinungen verbreitet. Eusebios und
Suidas setzen ihn Ol. 58, 3 (546); nun spricht aber Theognis selbst an zwei
Stellen V. 764 und 775 von der Gefahr, die seiner Heimatstadt von den
Modem drohe. Das kann man mit jener Überlieferung nur vereinigen,
wenn man den Mederkrieg auf die Unternehmungen des persischen Heer-
führers Harpagos gegen die ionischen Städte Kleinasiens deutet.^) Aber
die Gefahr für Megara lag damals noch in sehr weiter Ferne; sie ward
erst greifbar mit dem Zug des Mardonios gegen das griechische Mutter-
land (492). Auf diesen also sind jene Verse zu deuten, und das um so un-
*) Nur der eine Vers 129 lij? de ^eo- \ Zuflucht zu der unmöglichen, weil durch
jivevazov atxpiijg koyog iaiiv ä^ioxog scheint Theogn. 782 ausgeschlossenen Annahme, daß
die christliche Logoslehre vorauszusetzen. Theognis in dem sizilischen Megara geboren
Bemays hat diesen als Interpolation ge- und von doit um 490 vertrieben, in dem
strichen. Näheres über die Kontroverse bei nisäischen Megara Aufnahme gefunden habe.
F. SusBHiHL, AI. Litt. II 642 Anm. 63. Nach R. Reitzenstbin , Epigr. 277 will sich mit
Ä- DiETBBiOH, Nekyia, Leipzig 1893, 178 iff., j der Annahme von zwei Dichtem des Namens
hAtte das Gedicht seine gegenwärtige Gestalt | Theognis helfen.
zwischen 80 u. 130 n. Chr. erhalten. *) Piaton könnte die Tradition von
*) Die Wertlosigkeit der sibyllinischen Theognis' Abstammung aus Megara Hyblaia
ParallelQberliefening zeigt A. Lüdwich,
Pseudophocjlidearum quaestionum pars II,
Königsberg 1904. Über die Handschriften
W. Kboll, Rhein. Mus. 47 (1892) 457 ff.; N.
ö. D088108, Philol. 56 (1897) 616 ff.
') Nach Piaton auch Suidas; dem ent-
von Sizilien mitgebracht haben (Reitzbnstein
a. a. 0. 270 ff.».
*) So nach Th. Bergks Vorgang E. Rohoe
(Kl. Sehr. I 123 f., 6), der jene Verse um 540
gedichtet sein läßt; ebenso T. H. Williams.
Th. and his Poems, Journ. of Hell. Stud. 23
trat, offenbar auf Grund der Aus- ' (1903) 1 ff., der sich auch mit der wenig
legung der Verse 773— 787, Didymos in den glücklichen Theognisbehandlung von Fr.
Scholien za Piaton 1. 1. ftlr das nisäische ' Cauer (Parteien und Politiker in Megara und
Megara ein, ebenso Harpokration u. Oeoyvig.
J. Bblooh, Jahrbb. f. Phil. 137 (1888) S. 729
und Rhein. Mos. 50 (1895) 255 nimmt seine
Athen, Stuttg. 1890, und Studien zuTh., Philol.
48—50, 1889—91) auseinandersetzt
170 Griechische Litteratorgeschichte. L Klassische Periode.
bedenklicher, als auch eine andere Stelle, V. 891 — 4, von der Verheerung
der lelantischen Ebene durch die Kypseliden, d. i. die Athener unter
dem Kypseliden Miltiades (?), bis auf 506 herabführt.*) Danach blOhte
Theognis in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts und erlebte noch die
Gefahr eines nahenden Kriegszugs der Perser. Sein Leben war ein aufier*
ordentlich bewegtes und fiel in die Zeit heftigster innerer Parteikämpfe.
Es befehdeten sich nämlich im 6. Jahrhundert in Megara wie in anderen
Staaten Griechenlands aufs leidenschaftlichste der alte Adel und der mit
Hilfe von Tyrannen oder demagogischen Parteihäuptem zur Macht strebende
Demos. Theognis selbst war ein fanatischer Anhänger der Adelspartei und
schaute mit dem ganzen Hochmut eines eingefleischten Junkers auf die
Gemeinen {xaxoi, dfdoi) herab.*) Aber er hatte, als die Yolkspartei zur
Herrschaft gelangt war, seinen Hochmut schwer büßen müssen. Seiner
Güter beraubt, mußte er lange das Brot der Verbannung essen und kam
bei dieser Gelegenheit nach Sizilien, Euboia, Sparta. 3) Später scheint er
wieder in seine Vaterstadt zurückgekehrt zu sein und sich in die ver-
änderte Staatsordnung geschickt zu haben,^) doch ohne den Verlust seiner
Güter zu verschmerzen und ohne seiner aristokratischen Gesinnung untreu
zu werden.
Geschrieben hat Theognis nach Suidas eine Elegie auf die bei einer
Belagerung geretteten Syrakusier.*) ein Spruchgedicht in Elegien an
seinen Geliebten Kyrnos, Unterweisungen an andere Genossen. «) Auf uns
gekommen ist eine Sentenzensammlung von 694 Distichen in zwei Büchern,
von denen das erste (1 — 1230) politisch-moralische Sprüche, das zweite,
das nur in dem Cod. Mutinensis und in diesem nicht vollständig erhalten
ist, erotische Verse auf die Liebe zu schönen Knaben (natdtxn) enthält. '')
Den Grundstock der Sammlung bildet das Spruchgedicht an Kyrnos, den
Sohn des Polypais, einen edlen Jüngling, den der Dichter mit väterlicher,
aber doch der Sinnlichkeit nicht entbehrender Zuneigung*) in die Lebena-
*) ü. BusOLT, (Ti-ioch. Gesch. 11* 443. hiofu fnm')i'fxn<: .^nnnn'FTixu<;, la Trdvra i:tix(Of.
'*) Siehe besonders V. 847 — oO. Man ver- Daß er außer Elegien auch Gedichte in an-
gleiche dennoch im 4. Jahrhundert üblichen deren Versmaßen dichtete, schließen Th.
Oli^archeneid (Aristot. pol. V p. 1310a 9) y.ai , UEB(iK, (ir. Litt. II 309 und R. Reitzehstuh,
rin ()/fiiof y.nxorot\; looftni xni por),¥vr,o> t'iit Epigr. 54 aus Plat. Meno 95 d.
ily y/ot xnxov. \ ') Die Echtheit des 2. Buches bestreiten
') V. 783 ff.. 891. Die Nachrichten über | E. Hiller. Jahrbb. f. Phil. 123(1881) p. 471 1,
i:fmyrna, Kolophou. Magnesia (608. 1103 f. A. Codat. Le second livre d'elegies attribo^
u. 1024) können aus Kallinos genommen sein. a Theognis. Bordeaux 1883, A. CoBSEinr,
*) V. 945 f. u. 831 f. Zuverlässige Schlüsse QaaestionesTheognideao.GeestemfinderProgr.
auf das Leben des Dichters lassen sich
freilich aus jenen Versen nicht ziehen, da es
nicht ausgemacht ist. ob sie wirklich von
1887. U. KöHLKR. Mitt. des ath. Inst. 9
(1884) 1 ff. hat die Entdeckung gemacht, dai
ein Vers aus dem 2. Teil (1865) auf einer
Theognis herrühren. So werden 945 ff. von tanagräischen Vase ca. 500 v. Chr. steht.
Bergk und Fcsta dem Selon zugewiesen. Neuerdings tritt mit Recht Reitzensteut,
<^) Der geschichtliche Anlaß kann in den Epigr. 81 ff. für die relative Echtheit und daa
neunziger Jahren des 5. Jahrhunderte gesucht ; gleiche Alter des 2. Buches ein. Da in dem
werden (A.noLir, Geschichte Siziliens], Leipz. | 2. wie im 1. Anreden an KjTnos sich finden,
1870, 170). I so hat offenbar erst der Anordner aus AnstandB-
*) Suidas: foya^j^pv ihynav tt^ roiv aio- ' rücksichten die erotischen und päderastischen
On'Tuc Totv l'rnaxoauor h tj") :roÄionxin, yrw/tui 1 Verse in eine eigene Abteilung verwiesen.
<^/' t?.yyFin<; ti^ fhij fß<o , \>c<u} :iijiK; Kvoror xm' \ •*) V. 1049: ooi 6* eyo) old rs :taiöi Jtat^Q
uvTor yn<ifft€ror yvMfioAoyiny hC f-hytUur, xai I v:ioO /jao/nui avrog. Das sinnliche VerhftltlUS
B. Lyrik. I. Monodische. 1. Die Elegie. (§ 105.) 171
Weisheit und die Grundsätze des aristokratischen Regimentes einführen und
mit glühendem Haß gegen den Demos erfüllen will. In diesen ältesten
Bestand eingelegt sind Stücke aus den übrigen imoöfjxai des Theognis,
namentlich aus Elegien an seine Freunde und Zechgenossen Simonides,
Klearistos, Onomakritos, Damokles, Akademos, Timagoras, Damonax, die
alle, ebenso wie Kymos, wiederholt in den Elegien angeredet sind. Weiter
aber wurden auch Verse von anderen Dichtem (von Selon 153 — 4; 227
bis 32; 1253—4; Mimnermos 793 f.; 1017—22; Tyrtaios 935—8; Buenos
472; Phokylides 147) eingeschaltet.^) Es begegnen aber auch an ver-
schiedenen Stellen zwei Fassungen derselben Sentenz, eine vollere, ge-
wähltere, und eine gekürzte, der gangbaren Sprache näher gerückte (vgl.
besonders V. 213 — 8 mit 1071 — 4), oder auch eine individuellere und eine
allgemeiner gehaltene.*) Wir haben also offenbar eine allmählich, auch
wohl unter Verdrängung älterer Bestandteile, angewachsene Blütenlese vor
uns, die, da sie den Namen des Theognis an der Stirne trägt und zahl-
reiche scharfe, unter sich übereinstimmende Charakterzüge einer ganz be-
stimmten Dichterpersönlichkeit aufweist, offenbar auch Elegien des Theo-
gnis, und in erster Linie dessen Spruchgedicht an Kymos zur Grundlage
hat, die aber dann nicht bloß durch Kernsprüche anderer alter Elegiker
und Scherze zur Unterhaltung bei Symposien, 3) sondern auch durch Um-
dichtungen jüngerer Nachahmer erweitert wurde. Die Aussonderung der
verschiedenen Bestandteile bildet eine Sisyphusarbeit für den Philologen,
zumal an diese Aufgabe sich noch andere Fragen anknüpfen, insbesondere
wann und zu welchem Zwecke die Sammlung angelegt und stufenweise
umgebaut wurde.*) Eine gewisse stoffliche Disposition schimmert nur im
Anfang des Gedichts durch ;ö) im übrigen ist die Aneinanderreihung der
Stücke teils durch Stichwörter (wenn auch nicht in dem von F. Nietzsche
angenommenen Umfang), teils durch das Bestreben der Ergänzung oder
Berichtigung^) geleitet, teils zufälhg. Das „Siegel", das der Dichter durch
erkennbar aas V. 253 f. Über die Knaben- 181 ff. läßt die Sammlung zwischen Piaton
liebe der Megarer vgl. Theokrit XII 27 ff.;
seit den Ausgrabungen von lliera ist jeder
Zweifel an der Realität der sinnlichen Knaben-
liebe, zumal im altdorischen Gebiet, aus-
geschlossen; vgl. Carm. pop. 47 Bok. F. G.
Wklckers Versuch (Theogn. p. XXXIII),
KjmoB als Appellativum zu deuten, hat mit
Recht keinen Anklang gefunden.
*) Analog finden sich in der attischen
SkoHensammlung Stücke von Kallistratos ,
Hybreas, Praxilla.
und Ptolemaios Philadelphos entstanden, aber
später erweitert und zwischen dem 4. und
6. Jahrhundert n. Chr. in die jetzige Form
gebracht sein. Einen mißlungenen Versuch,
die Zusammensetzung der Sammlung aus
einem äußerlich-mechanischen Prinzip zu er-
klären, machte W. Studemund, De Theogni-
deorum memoria libris manuscr. servata, Bresl.
1890. Vermittelst subtiler metrischer und
prosodischer Beobachtungen sucht die spä-
teren Bestandteile aus der attischen und
') M. SchIfeb, De iteratis apud Theo- alexandrinischen Zeit von den alten des
gnidemdistichis, Diss. Halle 1891; R.Rkitzen- Theognis zu sondern J. Sitzler im Tauber-
8TEnv,£pigr.60. J.HEiNEiiANH,Herm.34(1899) bischofsheimer Progr. 1885. (Ders. im Jahres-
590 ff. Ähnliche Varianten gab es von den her. über die Fortschr. 133, 1907. 133 über
Hannodiosskolien (F. Köpf, N. Jahrbb. f. kl. , Entstehung unseres lli. aus Kontamination
Altert 9, 1902, 614 f.). | zweier Sammlungen.) E. v. Geyso, Studia
») Ein Rätsel 1229 f., zu dem K. Ohlebt, | Theognidea. Diss. Straßburg 1892 unter-
Hiilol. 57 (1898) 598 eine lettische Parallele . scheidet drei Anthologien von versus morales,
liefert j convivales, erotici.
*) F. Nietzsche , Zur Geschichte der i *) Heinemann a. a. 0. 595, 1 .
theogn. Spmchsammlang, Rh. M. 22 (1867) | *) Reitzenstein 76 f. Kritik von Nietz-
172 Griechische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode,
Nennung des Kyrnos (V. 19 fF.) aufprägen wollte, war zu leicht nach-
zumachen, als daß es ein sicheres Kennzeichen des echten Bestandes bilden
könnte, und so ist eine vollkommene Scheidung des Echten vom Unechten
kaum möglich. 1) R. Reitzenstein (Epigramm und Skoh'on 52 — 86) läfit
die beiden Bücher um 400 v. Chr. entstanden sein und gibt ihnen, indem
er von jedem Unterrichtszweck absieht,*) die Bestimmung, als Kommers*
buch für attische Trinkgelage zu dienen. Das „Kommersbuch* ist aber
nicht die frühste Stufe in der Entwicklung des Buches, auch nicht die
späteste, denn es ist zum Gebrauch für Schulzwecke umgearbeitet, er-
weitert und aus dem Individuellen ins Allgemeine umgesetzt worden.
Dieser Prozeü ist schon im 4. Jahrhundert v. Chr. im Gang (Isoer. 2, 43);
aber der damalige Theognis sah noch sehr verschieden von dem unsrigen
aus.^) Wann unser Theognistext seine abschließende Form erhalten hat,
läl3t sich nicht genau bestimmen.*) Der Grundbestand dieser Elegien
war (V. 241 f.) zum V'ortrag beim Gelage mit Flötenbegleitung bestimmt,
aber mit der Verstärkung der allgemein gnomischen Bestandteile trat das
musikalische Element zurück und verschwand schließlich ganz.^)
Haupthandschriffc Cod. Mutineusis (vielmehr Veronensis) s. X (A). jetzt in Paris (C.
0. ZuKETTi, Riv. di filol. 19, 1891. 161 if.); ihr zunÄchöt Vatic. 915 s. XIII (neue Mitteilungen
von H. Jordan. Quacst. Theognideae. Regiom. 1880). — AuHgaben mit krit. Apparat von
1. Bkkker. Leipzig I8l5. Berlin 1827. — Chk. Zieulkr ed. II Tab. 1880. — J. Srrzun.
Ueidclb. 1880. — Daneben die einschneidende Bearbeitung von Th. Bbbgk in PLü. — Der
Erklärung und Anordnung gewidmet ist die Ausgabe von F. G. Wblckeb, Francof. 1826.
— Zur Kritik N. Festa, Studi ital. 1 (1893) 1 if . — Lateinische Übersetzung der Distlcben
von Hugo Gbotiits.
lOß. Elegien haben aiiüerdem in der älteren Periode die an
anderer Stelle behandelten Dichter Arehilochos, Asios, Xenophanes, Par-
scuES Stichwörtei-theorie bei Williams 1. 1. \ Men. 95 d. Welche Rolle das Buch in den
12 if. I sophistischen und philosophischen Eiörte-
') Die Tatsache, dali ältere Autoren bis rungen über den Wert des Adels (vT^(>i frjT-
auf Aristoteles nur aus der Paitie V. 1 — 438 rn'iu) um die Wende des 5. Jahrhunderts
zitieren (8. die Stelleusammlung bei Welckek, zum 4. gespielt und wie es in einer Kontro-
Theogn. 73 ff.; ob auch Demokritos den Th. verse zwischen Xenophon und Antisthenee
benutzt, ist trotz P. Natorp. Die Ethika des als (Grundlage gedient hat, ist von 0. Immibch.
Demokiit, Marburg 1803, 63 ff. fraglich), hilft Commentat. in hon. 0. Ribbeckii, Leipz. 1888,
auch nicht viel, da ja doch aucli in dieser Partie 71 ff. beleuchtet. Benützung in Ps.Isocr. praec.
sicher Nichttheognideisches ebenso wie in der ad Dem. P. Wesulanü, Anaximenes 87 f.
nach folgenden sicher Echtes enthalten ist. Siehe *) Die von HKiTZEXSTErN a. a. 0. 69 f. 81
auch WiLAMowiTZ. Textgesch. d. gr. Lyr. 58. aufgeführten vermeintlichen Anklänge helle-
L. JoiiANNssEN. Studia Theognidea, Berlin nistischer Dichter au Theognis sind ganz
1893. Äußerst konservativ sind T.W. .-^LLEN. belanglos und somit auch der Schluß daraus,
Cla.ss. Rev. 19, 1905, 386 ff. u. E. Haukison. daß das Buch vor dem 3 Jahrhundeii fertig
iStudies in J'heognis, Cambridge 1902. ' geworden sei, hinfällig. Tief in hellenistische
*•') Rücksichten auf Erziehungszwecke i Zeit weist z. B. der Gebrauch von vjitiyto =
liegen aber schon in der Aussonderung der weggehen V. 921: der des Inf. fut in aori-
päderastischen Verse des 2. Buches zutag. stischeni Sinn 1101.
Die Fordeiung ethisch-pädagogisch normieiler ^) Die Angabe dc^ Ath. 632 d, dafi
Dichteranthologien ist von Isokrates (Nicocl. 44 Theognis keine Melodien für seine Elegien
m (Y n r/,- yy./J^tif uhr nuoyyöyron' .Toir/To)r gedichtet habe. i.*<t der Übung der späteren
z(u xtdoritn'ac yvotfia^) und von Piaton leg. Zeit entnommen, und ebenso ist die Bemer^
800 äff. 811dff. ausgesprochen (vgl. die kung tu .nirrti Kiixof.: bei Suid. s. ßeoyrtf
Prinzipien des Aristoteles pol. 1336b 6 ff . ; zu verstehen; auch Xenoph. bei Stob. flor. 88,
1340 a 35 ff.). Siehe a. G. Einsler. Piaton u. 14 redet inmier von /'.ti/ des Th., meint aber
die aristotelische Poetik 170 f. , die Elegien. Th. V. 23 spricht selbst von
•) Xenoph. bei Stob. lior. 88, 14; Plat. seinen /T.t/;.
B. Lyrik. L Monodische. 1. Die Elegie. (§§ 106—107.) 173
menides gedichtet, neben denen auch die epigrammatischen Spnichverse
des Peisistratiden Hipparchos auf den von ihm an den Landstraßen ge-
setzten Hermen (Ps.Plat. Hipparch.228c) zu erwähnen sind. In der attischen
Periode, nach den Perserkriegen fand das Epigramm und die Elegie,
namentlich die sympotische, eifrige Pflege, 0 so daß fast alle großen
Dichter, wie Simonides, Aischylos, Ion, Antimachos, überdies Piaton und
Aristoteles nebenbei auch Elegien dichteten. Im besonderen als Elegiker
machten sich einen Namen: Dionysios, der von dem Vorschlag, kupferne
Münzen statt silberner zu schlagen, den Beinamen Chalkus erhalten hatte
und in einigen seiner Elegien die Abgeschmacktheit beging, den Penta-
meter dem Hexameter vorauszuschicken;*) Buenos aus Paros,*) ein Zeit-
genosse des Sokrates, den Piaton und Aristoteles öfter nennen und von
dem einige Sprüche in die Theognissammlung und die späteren Anthologien
aufgenommen worden sind; der entartete Schüler des Sokrates, Kritias,
bei dem Verfassungsumsturz des Jahres 403 Führer der dreißig Tyrannen,
einer der bezeichnendsten Vertreter der sophistischen Übermenschenmoral,
der außer sophistischen Reden, politischen Schriften und Tragödien auch
Elegien schrieb, darunter eine über das sophistische Thema von den Er-
findungen und eine andere {jiohrelai eju/^iergoi) über die Sitten und Einrich-
tungen verschiedener Völkerschaften.-*) Aus einer delphischen Inschrift^)
kennen wir .den Samier Ion, der nach dem Sieg von 404 das unbedeutende
ileyelov auf die Lysanderstatue in Delphoi machte. Einer jüngeren Periode
gehören die Scherze (jiaiyvia) des Philosophen Krates aus Theben an,
der ein Schüler des Kynikers Diogenes war und teils in elegisch geformten
Hymnen, teils in parodischen Dichtungen das zynische Lebensideal ver-
herrlichte.*)
107. Die kürzeste Zuspitzung der gnomischen Elegie, das distichische
Epigramm sehen wir in der Litteratur (Archilochos, Sappho, Anakreon)
wie auf den Steinen seit dem 7. Jahrhundert gepflegt. Die Steinepigramme
') Auf elegische Erotika bezieht sich 1 Homer und Archilochos handelte er in pro-
wahrscheinlich Plat. Lys. 204d. Eimon b'eß \ saischen Schriften, ebenso über Staatsverfas-
sich mit Elegien ansingen von Melanthios ; sungen {jtohjFtai), weiter gab es von ihm
und dem Philosophen Archelaos Flut. Cim. 4. prosaische atfOQio/toi, ofu'/Jai (popularphilo-
') Plut. Nie. 5; Ath. 699 d. , sophische Erörterungen) und jr^tooiuia d/;/o;-
•) Der armenische Hieronym. merkt die yoQixdf diese interessant als frühestes Bei-
dxfiii des Enenos ad ann. Abr. 1560 {^= 460) ' spiel einer Schablonensammlung für die Gat-
an; damit ist aber wohl das Geburtsjahr ge- tung der beratenden Rede. Zur Zeit der Neu-
meint. Über die Frage, ob zwei Dichter I sophistik erlebte seine Prosa eine Renaissance
dieses Namens zu unterscheiden seien, wie (Aristid. rhet. p. 517, 20; 530. 13Sp.; Heimog.
unseres Wissens zuerst Eratosthenes (Har- de id. p. 415 f. Sp. Philostrat. vit soph. p. 18.
pocT. 8. ▼. Evtjrog) tut, während Piaton und 27. 72, 7 ff. K.). Die Reste bei C. Müller,
Aristoteles immer nur von einem reden, s. FHG. 11 68—71; H. Diels. Fragm. der Vor-
Bbbok. PLG. II* 271 ff; Reitzenstein, Epigr.
und Skol. 57 f. A. 2. Mit Recht identifiziert
man (G. Kkaaok, Berl. phil. W.schr. 15, 1895,
1126) den Sophisten mit dem Erotik er; über
seine von Plat. Phaedr. 267 a erwähnten
sokr.^ 562—577. W. Nestle, N Jahrbb. f.
klass. Altert. 11 (1903) 81 flf., 178 ff.
'^j Berl. philol. W.schr. 22 (1902) 734 ff
H. PoMTOW, Ath. Mitt. 31 (1906)507 möchte
ihm auch das inschriftliche Epigramm auf
rfaetorischen Leistungen s. F. Blass, Att. Arakos und das Diod. XI 14 namenlos er-
Bereds. P, Leipzig 1887. 262. haltene zuschreiben.
*) In einem hexametrischen Gedicht > ^) H. Diels. Poetar. philosophor. fragm.
(fr. 7) preist er den Anakreon ; auch über | 207 ff.
174 Griechische Litteraturgeechichte. I. EUsBisehe Periode.
(Grab- und Weihinschriften) sind zum Teil von Lokaldichtem (Schul-
meistern?) und technisch minderwertig; neben der elegischen Form zeigen
sie auch die in stichischen daktylischen Hexametern, seltener in iambischen
Trimetem (das frühste Grabepigramm in einem iambischen Trimeter aus
dem 6. Jahrhundert CIA I 475). >) Geistreiche Pointen findet man in den
älteren Epigrammen nicht; der Ehrgeiz des Dichters ist lediglich darauf
gerichtet, das Sachliche möglichst knapp und dabei klar und vollständig
auszudrücken.
2. Die iambische Poesie und die Fabel.
108. Die iambische Poesie (i; tmv lnfißonou7)v jioitjöi^) hat ihren Namen
von dem iambischen Rhythmus. Dieser Tanzrhythmus, den wir bereits in
den Melodien des Terpandros vertreten fanden, hat etwas Erregtes, Un-
ruhiges, das schon in der rascheren Aufeinanderfolge der Hebungen in den
paarweise zu Sechsachteltakten zusammengenommenen Dreiachtelrhythmen*)
( ^ - oder - ^ ) gelegen war, noch mehr aber durch den Beginn iam-
bischer Reihen mit der Senkung zum Ausdruck kam. Dadurch entfernte
sich die iambische Poesie von der Feierlichkeit daktylischer Hymnen und
näherte sich dem raschen Ton der Umgangssprache.') Wie aber überall
in der griechischen Litteratur, so hatte auch hier die Eigenartigkeit der
metrischen Form einen ähnlichen Inhalt hinter sich: aus derf iambischen
Versen tönte nicht der erhabene Ernst der heroischen Vorzeit, sondern
der Streit des gegenwärtigen Alltagslebens und der Lärm des Marktes, in
ihnen kommt die erregte Persönlichkeit mit ihren Wünschen und Sorgen,
ihrem Hau und ihrer Liebe, ihrer Lust und ihrem Leid zum Wort. Wohl
kam dieser Rhythmus auch bei gottesdienstlichen Festen vor, aber nicht
in Hymnen auf Zeus und ApoUon, sondern in der ausgelassenen Festfeier
der Bauerngottheiton, des Bakclios und der Demeter.*) Der Kult dieser
Götter war bei den loniern in Naxos, Paros und Attika zu Haus;
dorn ionischen Stamm gehörte auch recht eigentlich die iambische Poesie
an. Im ionischen Kleinasien ist sie zuerst litterarisch kultiviert worden,
M Die bei »Schriftstellern erhaltenen in- , ( w _ ^^ » oder — ^ — ^ )• I^*^^ diese
schrifüichcn Epigramme sammelt Tu. rKKGER, ; Rhythmen immer dii^disch. also sechszeitig
Inacriptiones < Jraecae metricae ex scriptonb. | gcniessen wurden, zeigt sich in der techni-
praeter anthologiam collcctae, Leipz. 1801; »sehen Behandlung, wonach immer die Äußere
die auf 8tein erhaltenen (;. Kaibel, Kpigram- 1 Senkung der Dipodie kurz oder lang, die
mata Graeca ex lapidibua collecta «in toiK)- I j^^^,^ ^^er nur kurz sein kann ( ^ - v. «
graphischer Ordnung), nerlm 1878, mit Nach- j \
trag Rh. Muh. 34(18710 181 ff. Die ältesten ^^ - ^ _ - j.
metrischen Epigramme aus Inschriften bis , *) Der lambus ist das uhgov lexuxu»-
Mitte des 3. Jahrh. V. Chr. stellt praktisch zu- | ]nTov Aristot. poöt. 1449a 23; rhet 1408b
saminon E. Hoffmann, Sylloge epigrammatum 33 ff. : C^uint. inst. or. IX 4, 88. Cic. er. 189
Graecor. quae ante medium saocul. a. Chr. ■ (senarios et Hipponacteos eflfugere vix pos-
n. III. incisa ad nos pervenerunt, Halle i sumus).
1898. *) Vgl. Aristoph. ran. 384—444. Die
*) Der Dreiachtelrhythmus für sich allein Fabel machte die Dienerin lambe, die mit
gehört zum yhiK Mn?Mntoy (Senkung : He- ihren Spässen die um ihre Tochter trauernde
bung = 1:2); sind aber, was durchaus die i Demeter zum Lachen brachte, zur Erfinderin
Regel, die Dreiachtelrhythmen gepaart, so l des lambus; s. ProcI. ehrest, p. 242, 28 W.
entsteht ein durch 2 ohne Bruch teilbarer Siehe auch Wilamowitz, Commentarioi. metr.
Takt, ein d(b<trXng xaia i'aftßoy von 6 Zeiten . II, Göttingen 1895, 31 f.
B. Lyrik. L Monodische. 2. Die iambisohe Poesie and die Fabel. (§§ 108—109.) 175
natürlich auf Grund volkstümlicher Versifikation, und in dem stammver-
wandten Attika hat sich aus ihr die reichste Blüte der Poesie, die Komödie
und Tragödie, entwickelt. Ihre litterarischen Anfänge fallen fast gleich-
zeitig mit dem ersten Auftauchen der Elegie, die vermöge ihrer würde-
volleren Haltung und schwierigeren Technik immer die vornehmere Gattung
geblieben ist; die Volkstümlichkeit der iambischen Dichtung ist durch sie
aber in keiner Weise beeinträchtigt worden; sieht man doch an den byzan-
tinischen Versus politici, die noch heute in der Volksdichtung der Balkan-
völker vorherrschen,*) wie viel größer die Lebenskraft des lambus war als
die des künstlicheren Daktylus. In den Kanon der Alexandriner erhielten
nur drei lambographen Aufnahme: Archilochos, Semonides, Hipponax.^)
109, Die lambendichtung mit ihrem verstandesmäßig-kritischen, zu-
gleich zornmütig erregbaren Geist ist ganz Schöpfung des iom'schen Stammes
und seiner Anlage entsprechend.^) Ihr Gründer ist Archilochos aus
Faros,*) jüngerer Zeitgenosse des Kallinos; er blühte um 650,*) jedenfalls
nicht vor dem Lyderkönig Gyges (687 — 652), dessen Reichtum er in dem
mimischen Vers (fr. 25) ov juoi rd Fvyeo) roü noXvxQvoov /LtiXei den redend
eingeführten Zimmermann Charon verachten läßt. Sein Vorfahr Telesikles
(Steph. Byz. s. v. Odoog), mit Kosenamen Tellis genannt, hatte von Faros
eine Kolonie nach der Insel Thasos geführt; diesen Tellis brachte der Maler
Polygnotos, der selbst aus Thasos stammte, in der Unterweltszene neben
Kleoboia, der Stifterin des Demeterkultus von Thasos,«) an (Faus. X 28, 3,
nach dem T. der Urgroßvater des Archilochos gewesen wäre). Dem Archi-
lochos selbst war ein wechselvolles, an Kämpfen und Drangsalen reiches
Leben beschieden. In einem Distichon (fr. 1) drückt er schön seine doppelte
Stellung mit Leyer und Schwert aus:
eijul d' iyü) ^egoTicoy juev ^EvvaUoio ävaxrog
xal Movaeov igarov dcbgov ijtiordjueyog.
Aus Not verließ er seine Heimat Faros und brachte seine Jugendjahre auf
') K. DiBTERioH, Zeitschr. des Vereins
f. Volkskimde 12 (1902) 409.
*) O. Kböhnebt, Canonesne po6taram
1897 p. 21.
») Heraclid. Pont. fr. 84 Voss (= Ath.
625b) to xci>v MiXrjoio)v fj&og, o diaqpaivovaiv
ol 'Icavgg, ijii zätg zcov ooy^idxoyv eve^iaig ßgev-
&v6fi€voi xai &VIXOV jrh'iQsig, dvoxaToXkaxxoi ,
qjiXoretxoi, oifSkv (piXdvßQwnov oi'd' iXagm' er-
Siddytss, dazogyiav de xal oxXrjooirjTa iv roTg
ijdetHv ifttpavtCovTf-g.
*) Ü. Bahittjb, Qoaestiones Archilocheae,
Dis8. Gott. 1900.
») Die SteUe bei Herodot I 12 (7^;^)
rot? xcu 'AgxtXoxog 6 Jldgiog xaid rov avxov
XQOVor yev6fi£vog iv tdiußfo toiftiroio EJZFfjvrja&fj
iBt der Unechtheit verdächtig. Th. y. Oppolzeb,
Sitz.ber. der Wien. Akad. 1882 math.-naturw.
Klasse 790 ff. S. 1 hat die von Archilochos fr. 76
geechilderte Sonnenfinsternis auf 648 v. Chr.
berechnet and damit den einzigen völlig sicheren
Punkt fixiert Die Alten halten sich an zwei
achwankende Sjnchronismen, den mit Gyges
(s. o. S. 161, 3) und mit der Kolonisation von
Thasos (Ol. 16 oder 18), und kommen dadurch
mit A. zu weit hinauf (Mai-m.Par. 33 setzt die
Blüte 681); nur Eusebios (665) und Apollodo-
ros (dem Cornelius Nepos bei Gell. XVII 21, 8
zu folgen scheint: unter Tullus Hostilius 670
bis 638) gehen, unsicher aus welchen Gründen,
weiter herunter. Auch die alt«n Orientierungs-
versuche nach Terpandros oder Kallinos be-
ruhen auf unsicheren Vermutungen. Vgl.
H. Gelzer, Zeitalter des Gyges, Rh. M. 35
(1880) 514 ff.; E. Rohde, Kl. Sehr. I 94; G.
BüsoLT, Griech. Gesch. P 459; II « 459 f.,
F. Jacoby, Apollodors Chronik, p. 142 ff.
Bei Suidas ist der aus Hesychios Milesios
stammende Artikel Archilochos ausgefallen.
Neue Nachrichten über Archilochos bietet
eine Inschrift aus Paros, in die Verse des
Archilochos eingelegt sind, worüber F. Hillbr
VON Gäbtrinoan, Ath. Mitt. 25 (1900) 1 ff.
^) Die Zusammenrückung beruht wohl
auf dem lafißiC^tv, dessen Nährboden der
Demeterkultus war.
176
GriechiBche Litteratnrgeschiohte. L ElassiBohe Periode«
der rauhen und unwirtlichen Insel Thasos zu,i) auf der ihm aUer Jammer
Griechenlands zusammengeflossen zu sein schien (fr. 52). In den Kämpfen
gegen die thrakischen Saier verlor er seinen Schild, über welchen Verlust
er sich leichten Sinnes hinwegsetzte, da er das Leben gerettet habe und
einen anderen Schild leicht erwerben könne.') Zu Hause in Thasos und
Faros erlebte er manche Kränkung und Zurücksetzung: ein parischer
Bürger Lykambes hatte ihm seine jüngere Tochter Neobule verlobt, dann
aber ihre Hand einem anderen gegeben, wofür sich der Dichter in beißen-
den lamben an seinem vordem erhofften Schwiegervater und dessen ganzer
Sippe rächte.^) Dann führte er als Kriegsknecht ein abenteuerliches Leben^)
und fand schließlich in einem Krieg mit Naxos den Tod.*)
Als Dichter wiesen die Alten dem Archilochos die nächste Stelle nach
Homer als einem Antipoden des Epikers an: wie jener das Epos geschaffen
und gleich auch zur Vollendung gebracht, so er die Poesie der subjektiven
Empfindung und des beißenden Spottes. 0) Als ein Hauptverdienst rechneten
sie ihm die Erfindung neuer metrischer Formen an:^) außer Elegien dichtete
er iambische Trimeter und trochäische Tetrametcr;**) aber auch die Ver^
bindung von Versen verschiedener Länge, eines iambischen Trimeters und
iambisehen Dimetors und von Versen verschiedener Art, des gleichen und
ungleichen Uhythmengeschleehtes. zu einer Periode brachte er in seinen
Epoden und Asynarteten auf und wurde so Begründer der volkstümlich
lyrischen Formen der griechischen Litteratur.^) Auch eine neue melodram-
*) Älian V. h. X 13 referiert aus dem
Elegiker Kritias, daß Archilochos selbst be-
zeuge, ÖTt xtirn'fA.-twy Ilaijor diu nyriar xai
fjt.TooiVir ij/Jhr /c Hdnof. Auf Reine aunyiiria
geht Pindar V. 2, 54. der ihn als Aristokrat
ebenso haßt wie Kritias (fr. 148 Bgk.) und
Herakleitos (fr. 42 Dikls).
*) Fr. 6, nachgeahmt von Alkaios nach
Hcrod. V 95. Anakreon fr. 28 und Horaz od.
II 7, 10.
») Fr. 27 u. 34. worauf Horaz epist. 1 19,
25; epod. G. 13 anspielt.
■*) Fr. 23: xai r^/) ^.TixovofK otOTf Katj
y.t'xh'ionuat. Seine Teilnahme an den Kämpfen
um das lelantische Feld i.st aus fr. 4 nicht
ersichtlich.
^) Heracl. Pont, in C. Müllers FH(4. II
210. Den Naxier Kalondas wies die del-
phische Pytliia mit den Worten ab: Muroninr
ihim.im'Tfi y.njhxrarFg' i^iOi rfjor. So »Suidas U.
Uif/iA. nach Älian; nach l)emeas auf der
Inschrift Mitt. des ath. Inst. 25 (1900: 19 be-
richtete A. selbst von einem Sieg der Parier
über die Naxier; die Verehrung, die er trotz
seiner /l/.noff t/uai in Paros genoß, bezeugt
Arist. rhet. 1398b 10, vielleicht nach dem
Museion des Alkidama.s.
**) Cic. or. 4 nennt ihn neben Homer,
{>ophokles und Pindar; Velleius I 5: ficque
tjuenujuam aliiim. rulus operi» primuH fuerit
aucfory hl eo perfecthsimum praeter llome-
rum et ArchUochum rejieriemus. Schon Hcra-
k leides Pont, hatte nach Diog. V 87 rrfoi
\UjXt/,ö/nr xiu 'Ou/jnor geschrieben. Beide
sind zusammengestellt von Antipatros Anth.
XI 20 und Dio Chrys. 33, 11. 53, 1; vereint
stellte sie die Kunst dar. wie diu Doppel-
heime des Vatikan; der gestrenge, bärtige
Kopf mit einem bitteren Zug in den Mand-
winkeln bei E. Cj. Vi.scokti. Icon. gr.. Mailand
1824—26, pl. 2, 6 und A. Bauxeisteb, Denkm.
d. klass. Altei-t. p. 116.
^) Den alten Metrik ern ist A. im Ge-
biet der Versmaße der eigentlich erfinde-
rische Kopf: s. Mar. Victorin. p. 140, 10 ff.
148. 17 ff. Keil, in dessen Quelle ein beson-
deres Kapitel (iber die Variationskunst des
A. gestanden hat (W. Christ, Sitz.ber. der
Münch. Ak. 186«. I. 29).
*•) Interessant ist ein uraltes Exemplar
eines trochäischen Tetrameters auf emer
parischen Bustrophedoninschrift, hergestellt
von F. Htllku v. Gärtrinoek, Jahresh. des
östeiT. arch. Inst. 5 (1902) 9 f.
") Theocrit. epigi-. 21 WiL.
;) nu itty ui MoToni xai 6 Adhcu; »y;'djr«i'
'A.tdkÄoyv
w^ ttiuh'/.rjc r* yyn'FTO xij,ttAf.^iOs
y.Tfd Th .TfurTy .Toöc /.rnnv t* dfiöeir.
Die metrische Analyse von Archilochos'
Asynarteten der Foim ^Koaofjoridff Xagilfu,
yoi]fm Tot yh/MTor stand im Altertum nicht
ganz fest: Hephaestion p. 49. 10 ff. Coxsbb.
B, Lyrik. I. Monodische. 2. Die iambiBche Poesde und die Fabel. (§ 109.) 177
artige Vortragsweise, die Parakataloge, die zwischen dem vollen Gesang
und der einfachen Rezitation die Mitte hielt, soll er erfunden haben, indem
er halb singend und halb sprechend sich nur an den Hauptstellen durch ein
begleitendes Instrument, den Klepsiambos, im Vortrag unterstützte.*) Aber
der Reichtum und die Vollendung der metrischen Form war es nicht allein,
was dem Archilochos eine so hervorragende Stelle in der griechischen
Litteratur verschaffte; er war auch ein echter Dichter, voll Glut der Leiden-
schaft und Klarheit des Blickes, der mit den Spottiamben sich energisch
gegen die Unbill und Gemeinheit seiner Feinde zur Wehr setzte,*) daneben
aber auch in lieblichen Bildern seine Geliebte und in Hymnen das Lob der
Götter und den Preis gymnischer Siege^) sang (fr. 7. 13). Für den Stil
des Spott- und Rügeliedes fand Archilochos Vorarbeit in Hesiods ^Eoya^
und es ist bezeichnend, daß er ebenso wie Hesiod die Fabel^) zu satirisch-
paränetischen Zwecken öfter (fr. 86 — 91) verwendet. Aber sein Ton wie
sein Rhythmus drückt nicht die Resignation der duldenden Unschuld, son-
dern das heiße und rachsüchtige Bestreben aus, den verhaßten Gegner zu
vernichten. So sehr er in Dialekt, metrischer Technik*^) und Phraseologie
unter dem Einfluß des homerischen Stils steht, so zeigt sich doch der
kühne Neuerer auch in diesen Stücken durch die Zulassung einer Menge
derber Provinzialismen und Vulgarismen, von denen sich der heroische Stil
ängstlich fernhielt. Leider sind von einem im Altertum so hochgefeierten
Dichter, der schon auf die lesbische Monodie anregend wirkte (Hör. ep. I
19, 28), von Aischylos gelesen war,«) der altattischen Komödie') und später
in Rom dem Horaz zum Vorbild diente, nur spärliche Bruchstücke auf uns
gekommen, die übrigens neuerdings durch Papyri®) und Inschriften^) wert-
*) Plut de mu8. 28 ; Ps. Aristot. probl. 19, 6 ;
Ath. 636 b. Über den Vortrag der Verse des
Archüocbos durch Rhapsoden s. Heraclit.
fr, 42 DiKLs; Plat. Ion p. 531a; Clearch. bei
Ath. 620 c. Daß er daneben auch Gedichte
zur Flöte dichtete, sagt er selbst fr. 76. 123; 1
selbstverständlich ist diese Begleitung für |
seine Gedichte in elegischer Form.
') Quintil. X I 60 rühmt an Archilochos:
cum validae tum breves vihrantesque senten-
tiae, plurimum sanguinis atque nervorum^
€uieo ut videatur guihusdamf quod quoguam
minor est, materiae esse, non ingenii Vitium,
') In dem iambischen Gedicht auf die
Siege des Herakles und seines Wagenlenkers
lolaos, das noch in Pindars Zeit den Siegern
zu Ehren in Olympia gesungen wurde, s. Find.
0. 9, 1, Schol. Find. Nem. l^, 1 ; Schol. Ar. av.
1764 und L. ▼. Sybhl, Herrn. 5 (1871) 192 ff. !
*) fr.86u.88; vgl. Julian or.VIIp.207. :
•) Starken Einfluß von Archilochos' i
metrischer Technik auf die alexandrinische
Poesie sucht H. Dettiier, De arte metrica 1
Archilochi quaestiones, Marb. 1900, nach- |
zuweisen. Die Positio debilis wird fast immer
bei A. beobachtet. i
•) A. V. Mbss, Rh. Mus. 58 (1903) 285 f.
') Kratinoe schrieb 'Agz^'^oxot, Alexis !
HAndbneh der Umb. AltertnmswiMenBchaft YII. 5. Anfl,
einen ^Agx^Xoxog, Aristophanes entlehnte ihm
die schönsten Versmaße ; Aristokraten freilich
wie Findar oder Herakleitos (s. o. S. 176)
hassen die in ihm verkörperte schmählende
Armut, und in Sparta waren seine Gedichte ver-
pönt (Plut. inst. Lac. 34; Val. Max.VI 3 ext. 1).
®) Zwei neue Epodenfragmente, worunter
das Vorbild zu Hör. epod. 10, aus Straßburger
Papyri des 2. Jahrb. n. Chr. herausgegeben
von R. Reitzenstbin, Sitz.ber. der Berl. Ak.
1899, 857 flf. Sie sind gegen die Zweifel von
F. BLASS (Rh. Mus. 55, 1900, 342) dem Arch.
mit Recht vindiziert von F. Leo, De Horatio et
Archilocho, Gott. 1900 und A.Hauvettb, Rev.
des 6t. Grecques 14 (1901) 71 ff. Siehe auch W.
Crönert, Arch. f. Papyrusforsch. 1(1901) 509.
®) Von einer Schrift des parischen Gram-
matikers Demeas über Arch. hat F. Hiller
V. Gärtrikobn (Mitt. d. ath. Inst. 25, 1900, 1 ff.)
auf einer parischen Inschrift des 3. Jahrb.
n. Chr. einen Auszug gefunden, der auch
Stücke archilochischer Gedichte enthält. In
manchen Kreisen mag dem Arch. die Ab-
neigung des Aristoteles und Kallimachos gegen
die persönlich-aggressive Art der archilochi-
schen Satire (H. Reich, Der Mimus I, Berlin
1903, 324 ff.) geschadet haben. Ein großer
Verehrer des Archilochos war übrigens Aristo-
12
178 Griechische Litteraturgesohiohte. L KlamriBoha Periode.
volle Vermehrung erhalten haben. Gelesen ¥rurde er noch in den Schulen
des 6. Jahrhunderts n. Chr. (Ghoric. apol. mim. VI 10). SchoL Aristid.
p. 429, 18 Dind. hat ihn nicht mehr.
110. SemonidesO stammt aus Samos, wird aber der Amorginer ge-
nannt von der kleinen Insel Amorgos, nach der er selbst von Samos aus
eine Kolonie führte und auf der er sich (in Minoa nach Steph. Byz. u.
'Auooyog) niederlieia. Seine Zeit ist nicht näher bestimmbar.*) Nach Suidas
hatten die Alten von ihm Elegien, eine „Geschichte von Samos' (doxato-
koyin T(bv 2!a/aa)v) und zwei Bücher lamben. Nur von letzteren sind noch
Reste vorhanden, nämlich außer losgerissenen Kleinigkeiten bei Stobaios
ein pessimistisches Gedicht in der Stimmung der hesiodischen 'TJgya auf
das schlimme Los der Menschen und ein großes Spottgedicht auf die
Weiber. 3) In diesem führt er den auch bei Hesiod (an Op. 702 schließt
sich Semon. fr. 6: ywaixdc: ovdh XQ^IJ^' drrjg XrjtCetcu \ io&irjg äfietvov oidk
Qiyiov xaxi]s) behandelten Gemeinplatz*) von der Schlechtigkeit der Weiber
näher aus, indem er die Weiber, analog einem in der späteren Physiognomik
durchgeführten Prinzip, nach Tiertypen einteilt in solche, die vom Schwein,
Fuchs, Hund, der Erde, dem Meer, dem Esel, Wiesel, Pferd, Affen stammen
und nur die von der Biene herkommenden in Ehren bestehen läßt.^) Im
ganzen sind die größeren erhaltenen Stücke der lamben weit zahmer,
beschaulicher und unpersönlicher als die des Archilochos.^) Doch hatten
die Alten auch giftigere Verse von ihm, in denen er einen gewissen Oro-
doikides angriff. 7) In der prosodischen Technik folgt Semonides noch
mehr als Archilochos dem alten Epos, im Dialekt ist er modemer, bezw.
realistisch-volkstümhcher als Archilochos.®)
111. Noch viel tiefer in die niederen Schichten des Volkslebens f&hrt
Hipponax von Ephesos, der Sohn dos Pythos, der zur Zeit des Vor^
dringons der Perser nach der griechischen Küste lebte®) und um 542 vor
dem unter persischem Schutz in seiner Vaterstadt eingesetzten Tyrannen
Athenagoras nach Klazomenai floh, wo er sein übriges Leben in Dürftig-
phanes von Byzanz (Cic. ad Att. XVI 11, 2), i ') Die Fragmente neu bearbeitet von
und yoUcs Verständnis für die Bedeutung I 0. Hoffmann, Griech. Dial. II, GMt 1898,
solcher Konfessionenlyrik zeigt Synes. de in- I 125 — 135.
somn. 13. j *) Vgl. J. Boltb. Zeitscbr. des Vereiiis
») So ist der Name zu sclu-eiben nach ' f. Volkskunde 11 (1901) 252 ff.
Choerobosc. im Etym. m. 713. 17. '') Man erwartet in dem großen Gredicbt
-) Suidas setzt ihn gleichzeitig mit Archi- von 118 Versen Gleichheit der einzelnen Ab-
lochos 490 post Troica. Wenn die Gründung schnitte ; diese suchten durch kühne Eoinek-
von Thasos Ol. 15 oder 18, die von Amorgos turen herzustellen A. EiESBLnro und 0. niB-
01.22 angesetzt wurde, so spiegelt sich beük. Rh. M. 19(1864) 136 ff. u. 20(1865)74«:
darin der Zeitunterschied zwischen Archi- ^) o l^fwnidor /ta?<o(k loyoe bei AristoL
lochos und Semonides wieder. Proklos ehrest. met. p. 1091 a 7 (nach Alexander Aphrod. z.
p. 243, 10 W. setzt den Archilochos unter St. = Entschuldigungsreden von Sklaven)
(.Tyges, den Semonides unter die Regienmg wird einen Ausdruck des Semonides {jiaxQos
des makedonischen Königs \iyay/oi\ was aus hiyog —■ Ausrede) meinen.
'Aoyaiov korrumpiert scheint und auf 640 ^) Luc. Pseudol. 2.
bis 010 führt. Tatsächlich wußten die Alten ») A. FicK, N. Jalirbb. f. klass. Altert
über seine Zeit nichts, sondern rückten ihn 1 (h'S 98) 503 ff. fordert für ihn den amorginisch-
nur in die Nähe des Archilochos, sei es vor naxischen LokaUlialekt.
diesen oder nach ihm (E. Rohde, Kl. Sehr. ®) Seine Zeit wurde, wie es scheint (K.
I 154 A). Robert in der Realencykl. II 2042 f.), Yon
B. Lyrik. I. Monodische. 2. Die iambisohe Poeeie und die Fabel. (§§ 110—111.) 179
keit als Bettelpoet (fr. 16 — 19) verbrachte. In seinen Dichtungen zeigt
er den Lästerton des Archilochos, nur daß er diesen durch das Pöbelhafte
seiner von der Gasse geholten, auch mit phrygischem und lydischem Jargon
versetzten Sprache und seines den iambischen Trimeter vulgarisierenden
und parodierenden Hinkverses noch übertrumpfte. Mit grimmigem Spott
verfolgte er namentlich die Bildhauer Bupalos und Athenis, die seine häß-
liche Gestalt karikiert hatten. Er wird Erfinder der Parodie und des Chol-
iambos genannt.^) In hinkenden lamben ist kein ganzes Gedicht auf uns
gekommen, wohl aber haben wir einzelne hinkende Trimeter und Tetra-
meter, wie die famosen (fr. 29)
dv' fifiigai yvvaixög eloiv fjdiorai,
oxav yanfj rig xäxq?80f] te&vrjxvXav.
Man fühlt die Geschicklichkeit des Griffes, mit der Brechung des Rhythmus
das Lahme und Häßliche nachzuahmen. <) Übrigens heißt auch hier Er-
finden so viel als aus der volkstümlichen Sphäre in die der Eimstlitteratur
erheben. Die Volkstümlichkeit der Skazonten erkennt man noch in ihrer
außerordentlichen Beliebtheit bei den Byzantinern. Hipponax* Satire fand
in alexandrinischer Zeit als zu direkt und plebejisch (Callimach. fr. 37 a.
223 Sehn.; 0. Schneider, Callimachea H, Leipz. 1873, 231) keine Nachahmung
mehr, um so mehr lehnte sich der realistische Mimus an ihn als Vorbild an,
so daß Herondas seinen höchsten Ruhm darin findet (mim. VIII 77 Crusius)
devrigf] 'yvibo^ai
fied^ ^InTKbvaxxa rdv ndXai <xk€ivdv>
rd xvXX' äeideiv EovMdaig inatovoiv.
Erst in der Zeit nach Tzetzes, der noch viel aus ihm zitiert, sind die Ge-
dichte, welche die Alexandriner in zwei Bücher ijafxßoi) geteilt hatten,
verloren gegangen.
Aus der älteren lambographie besitzen wir sonst nur noch einige Verse von
Ananios, dessen Fischküchenkalender (in hinkenden trochäischen Trimetern
fr. 5) Epicharmos (fr. 58 Kaibel) erwähnt und der selbst des Pythermos ge-
denkt, womit seine Zeit [ß. Jahrhundert) bestimmt ist. 3) Den späteren Jahr-
hunderten gehören an: Hermippos, ein Zeitgenosse des Perikles, der Ko-
mödien und lamben schrieb. Skythinos aus Teos, der nach dem Philosophen
Herakleitos lebte, der Kyniker Kerkidas aus Megalopolis, der zur Zeit des
den Alten richtig orientiert nach den in
seinen Gedichten angegriffenen Künstlern
Bnpalos und Athenis, den Söhnen des Archer-
mo8 von Chios, auf Ol. 60 (540), womit Mann.
Par. ep. 42 ühereinstimmt; s. Plin. nat. hist
XXXVI 11.
^) Die hinkenden lamben haben nach
ihm den Namen versus Hipponactei erhalten ;
Erfinder der Parodie nennt ihn Polemon bei
Athen. 698 b, indem er zugleich vier parodi-
sehe Hexameter von ihm anführt. Danach
ist die Angabe des Aristot po6t. 1448 a 12
zu berichtigen (unrichtig P. Bbandt, Corpuscul.
poös. ep. Gr. ludib. I, Leipzig 1888, 31 ff.). Über
einen äytov mit Parodien in Eretria berichtet
eine Inschrift 'Afhjvä 14 (^1902) 362.
•) Die Wirkung des Skazon schildert
Demetr. de eloc. §301; koidogrjam yag ßov-
Xofievo^ Tovg ix^QOvg t&Qavoev t6 fihgov,
xai enolrjoev xwXov avit fv^eog, xal ägvO^fioVy
tovxFori SsiroTtjTt jiqbjtov xai loidogiq.' x6
yoLQ Fogv^uov xai evi)xoov syxMftioig av jTgK:^oi
ftä).?.ov tj ydyoig. — Über die Frage, ob die
neuen Bruchstücke dem Archilochos oder
dem Hipponax zuzuweisen seien, s. o. S. 177,3.
*) Die Meinung von 0. Kröhnbrt,
Canonesne poötarum fuerunt, 1897, p. 22 ff.,
als wäre der Dichter Ananios aus einem
(unbekannten) Makedonierkönig dieses Na-
mens konstruiert, ist unmöglich.
12*
180 GriechiBche litteratnrgeschichte. L Klassische Psriods.
Philippos die Gattung des lyrischen Spottgedichtes (Meliamboi, Diog. Laert
VI 76) erfand,^) Aischrion von Samos, ein Zeitgenosse des Aristoteles, von
dem uns durch Ath. 335 c eine Ehrenrettung der Hetäre Philainis in Form
einer choliambischen Grabinschrift erhalten ist,') Hermeias aus Eurion in
Kypros, von dem Hephaistion p. 66, 3 Consbr. auch einen Vers aus einem
monostrophischen Gedicht in kretischen Tetrametem aufgezeichnet hat,
Phoinix aus Kolophon, der zwischen 292 und 289«) ein Gedicht auf die
Einnahme seiner Vaterstadt machte,^) und von dem Athenaios ein Bettel-
liedchen KoQ(ovioTai in iambischen Skazonten erhalten hat.^) Die neuen
Phoinixfunde auf Papyrus zeigen das bisher unbekannte Genre versifizierter
Diatriben gegen Gewinnsucht, Reichtum u. a. im kynischen Ton. Demnach
wäre Phoinix unter die Vorgänger der lucilianischen und horazisehen
Satire zu rechnen.
112. Die Fabel (aiVoc, firf^og, Xoyog, &;i6/,oyogy) ist ihrem ältesten
Namen {alvog) nach eine Erzählung von lehrhaftem Charakter; insbesondere
verstanden schon Hesiodos und Archilochos darunter eine Erzählung ans
der Tierwelt. 7) Sie läßt sich nicht trennen von allen den anderen kurzen
auf Unterhaltung und nebenbei auch Belehrung berechneten Scherzen und
Geschichtchen, den Schwänken, Anekdoten, Märchen,®) Novellen, Rätseln,
die immer und überall dem müßigen Volk von berufsmäßigen Erzählern
vorgetragen werden. So ist es im Orient seit Urzeiten gewesen*), und
sicherlich sind solche Erzähler auch im alten lonien schon aufgetreten, im
Winter wohl in erwärmten Räumen, ^o) im Sommer auf Marktplätzen.**) Die
Form des Vortrags wird in der Regel prosaisch gewesen sein, und hier
») W. Crönert. Rhein. Mus. 62 (1907) i ') Hes.op. 198—208; Arch fr. 86; A.Lüd-
31 1 f. schreibt dem K. auch die Verse bei wich in der Einleitung zur Ausg. der home>
Ath. 164o zu. rischen ßatrachoinyomachie.
') Aischrion schrieb auch ein groües *) über die Ümbiegung alter tendenz-
episches Gedicht 'E<fFoi<; (Tzetzes Schol. i loser Märchen in lehrhafte Fabeln s. A. Mabx,
Lycophr. 68.) Griech. Märchen von dankbaren Tieren, Stnttg.
>) E. Roiide, Griech. Roman* 80 ff. 1889. 181 ff.; Beispiele fOr das Ineinander-
*) Von Phoinix wurden neuerdings größere spielen von Fabel und Märchen, Itlr die Vcr-
Restc choliambischer Gedichte aus einem ' Schiebung der Motive und für die FortwiikoDg
Heidelberger Papyrus s. II a Chr. bekannt, der äsopischen Fabel 0. Dahnhardt, Ztschr.
herausgeg. von G. A. Gerhard, Phoinix von | des Vereins f. Volksk. 17 (1907) 1 ff.
Kol.. Leipzig 1907, der auch noch Londoner I ^) Instruktiv ist die Vergleichung der
und Oxforder Papyrusreste herangezogen hat. heute noch in türkischen Kaffeehäusern sich
^) Herausgegeben hinter dem Hcrondas produzierenden Meddahs. deren Erzählungen
von 0. Cbusiüs\ Leipzig 1905. S. 92 f. erst jetzt von H. Jacob (Vorträge türkischer
«) riorv = Erzählung bei Hom. Od. ^ Meddahs, 1904) litterarisch fixiert worden
508, = Ticrfabel bei Hes. op. 202. Archil. fr. sind; bemerkenswert ist auch die bei diesen
^^\ uvDnc, wovon fubula die lat. Übersetzung Vorträgen übliche Mischung der Darstellnng»-
ist. findet sich zuerst bei Aeschyl. fr. 135 und formen (dramatisch-dialogisch und erzählend,
Plat. Phaod. 61b, reip. I 350e; Ao;'oc (d. h. poetisch und prosaisch: s. Jacob. Vorrede
Prosaerzählung) bei Herod. I 141 und II 134; I S. 3).
apnloffHH in der Bedeutung einer Erzählung ^^) Der yalyMoi: 0(7txtK und die ijioXtf^
aus der Tierwelt steht bei Quintil. VI 3. 44 ^^ropj bei Hes. op. 493 darf unbedenklich
und Gellius II 29, 1; t^.TttivOm und KiiÄoyoi i darauf bezogen werden,
hieik'n die Nutzanwendungen am Schluß, die ' ") E. Koiide a. a. O. 591, 2; die ytr-dÄiw
schwerlich alle erst in den Schulen der dyont'i (auf ThasosV) Hippocr. Epid. III 8. 12
Grammatiker und Pädagogen hinzukamen wird auch so zu deuten sein. Siehe a. Die
(vgl. Hom. Od. 0 329 mit theogn. 329 : Achae Chr. 20, 1 : 27. 6.
trag. fr. 34 N.«}.
B. Lyrik. I. Monodisohe. 2. Die iambische Poesie und die FabeL (§ 112.) 181
liegen die Anfänge der historischen Prosa der lonier und des Stils, der in
den Werken der Logographen und des Herodotos noch mit Händen zu
greifen ist. Doch mag auch frühe schon die Formulierung in iambischen
Trimetern oder Hinkiamben, wie wir sie aus den späten Bearbeitungen
des Phädrus und Babrios kennen, aufgekommen sein.
Auch in den Kreis der öötter- und Heldensage sind Märchen- und
Schwankmotive früh eingeführt worden, wie denn z. B. Demodokos in der
Odyssee (d 266 — 332) eine vollständige Novelle mit moralischer Nutz-
anwendung zum besten gibt.^)
Märchen, Novellen, Tierfabeln und dergl. pflegen wie keine andere
Oattung der Litteratur von Volk zu Volk zu wandern, und so haben nicht
bloß die griechischen Fabeln zu den Römern, Deutschen, Indern ihren
Weg gefunden, sondern sind umgekehrt auch nach Griechenland aus
fremden Ländern viele derartige Geschichtchen gekommen.^) Ist es auch
sehr fraghch, ob schon die Indogermanen, wie Jak. Grimm in der Einleitung
zum Reinhart Fuchs annahm, einen Schatz von Tierfabeln in ihre späteren
Wohnsitze einführten, so stammen doch unzweifelhaft viele Fabeln der
Oriechen aus der Fremde, aus Ägypten, Indien, Phrygien, Karlen. Es
waren wohl zumeist die fremdländischen Sklaven, daneben aber vielleicht
auch reisende Erzähler von Beruf, die solche Erzählungen aus ihrer Heimat
mitbrachten. Mit der Zeit wurden auch Sammlungen von Freunden dieser
volkstümlichen Poesie veranstaltet. Neben den äsopischen Fabeln kennt
schon Aischylos fr. 139 N.« und Aristoteles rhet. II 20 p. 1393 a 30 die
libyschen Erzählungen :») dazu kommen die sy baritischen Witzfabelij aus
dem Kreis der menschlichen Gesellschaft*) und die Aufzeichnungen von
phrygischen,*^) karischen, kilikischen, ägyptischen, «) kyprischen Tier- und
Pfianzenfabeln und Schwanken.^) Dabei darf man sich nicht wundern,
») Vgl. die Andeutungen von Wilamo-
wiTZ, Eurip. Hippolyt, Berl. 1891, 35 ff.
') Näheres darüber 0. Keller, Geschichte
der griechischen Fabel (Jahrbb. f. Phil. Suppl.
rV, 1861—67, 309—418), worauf bezüglich der
-vielen hier in Frage kommenden Kontroversen
verwiesen wird. Die Wanderung der Fabeln
lehrt im einzelnen Th. Benfet in der berühm-
ten Bearbeitung des indischen Fabelbuches
Pantschatantra, Leipz. 1859, 2 Bde. Vgl.
G. E. Lessing, Über die äsopischen Fabeln,
Gresamtausg. von K. Lachmann V 395 ff. ; K.
Praittl, Über das Tierepos bei den Schrift-
steilem des späteren Altertums, in Philol.7
<1852) 61—76. E. Rohde, Griech. Roman»
578 ff. (über gnechische Novellendichtung
xmd ihren Zusammenhang mit dem Orient).
•) Einen Aißvxog /nv&os erzählt Dio
Chrys. or. 7.
*) Arist. vesp. 1259: Alocomxov yiXoiov
fj ZvßcLQiTixov, Einen Svß. erzählt Ar. vesp.
1427 ff. (sonstige Schwanke bei Ar. vesp.
1401 ff. 1435. 1446; pac. 129; Lys. 781 ff.
^05 ff.; Thesm. 477 ff.; Antiphon soph. fr. 128
Blass). SchoL Arist. av. 471 : xwv de fivdcov
4)i fisv aXoytav C<p(ov eiaiv Ahamov, ol de jicgi
dväowmor ZvßoQixixol. Gegen diese Sonde-
rung polemisiert Theon in Rhet. gr. 111 73, 9
Sp. Über die ^vßaoitixoi C. Cbssi, Studi
ital. 9 (1901) 1 ff.
*) ffovytov ioxoQTjaov Epicharm. fr. 86
Kaibel.
®) AiyvjiTiot koyoi xai ojioScuioi Plat.
Phaedr. 275 b.
') In den Rhetorenschulen war die Formu-
lierung von solchen fiv&oi Gegenstand des
Elementarunterrichts, weshalb die verschie-
denen Gattungen in den Progymnasmen in L.
Spenoels Rhetores Graeci aufgezählt werden
bei Hermog. p.3 ; Aphthen, p. 21 ; Nicol. p. 452
und besonders Theon progymn. c. 3 : oi Xöyoi
xaXovyzai Aiocojieiot xni Aißvortxoi ;y 2vßa-
giTixoi re xai ^gvyiot xai KiXixioi xai Kaoixoi
xai Kv.TQioi; weiter unten werden als Verfasser
von Fabeln genannt Aiocotto^, Kowtg 6 KiXi^,
Oovgos 6 ^vßaQtrrjg, Kvßiooog ex Atßvrjg. Übri-
gens beweist schon Aristoph. av. 471 die päda-
gogische Verwendung der Fabel, über die
Hermog. prog. p. 3, 1 ff. zor fivi^ov jtocütov
d^tovoi jiooodyeiv roTg vioig, ou zag i^wj^dg
avzojy Jigog z6 ßeXztov gv&ftiC^iv öm'azat ; Herm.
denkt sich (p. 3, 8 f.) den Äsop offenbar als
182 GriechiBche Litteratnrgeschichte. L gla«»i»che Period«,
wenn teils die Tiernamen je nach dem Ort wechselten,^ teils dieselbe
Fabel früher im politischen, später im ethischen Sinn gedeutet wurde.«)
Die erste Zusammenfassung von Fabeln und Schwänken mufi Anfang des
5. Jahrhunderts vorgelegen haben; sie knüpft sich an den Namen des
Aisopos.3) Auch das Zeitalter der Sophistik hat diese Formen zur Ein-
kleidung philosophischer Ideen nicht verschmäht, sie aber zu veredeln und
zu verbreitem gesucht^) Auf die harmlosen, originellen Scherze der alten
Zeit freilich fing man damals an hochmütig herunterzusehen.»)
113. Aisopos {Atoomo^) war nach der einzigen glaubwürdigen Nach-
richt des Herodotos II 134 Sklave des ladmon in Samos zur Zeit des Königs
Amasis, also um die Mitte des 6. Jahrhunderts. Herodotos erzählt auch,
daü der Enkel jenes ladmon von den Delphiern ein Sühngeld für den er-
schlagenen Aisopos empfangen hatte. Die Veranlassung des Todes gibt
er nicht an; die Späteren wissen bald von der bösen Zunge des Aisopos
zu erzählen, bald von der Unterschlagung der Geschenke des Könjgs E^roisos,
bald von dem Diebstahl einer silbernen Schale.^) Quelle der Äsoplegende
ist ein vor Herodotos anzusetzendes Volksbuch ßiog Aioümavj das neben
der Biographie eine Sammlung der Schwanke enthielt. Einhellige Tra-
ditionen über die Einzelheiten von Aisopos' Leben hatte das 4. Jahrhundert
nicht. So schwanken die Angaben über seine Herkunft.'') Herakleides Pon-
tikos machte ihn zum Thraker,^) vielleicht weil seine Mitsklavin, die be-
rüchtigte Hetäre Rhodopis, nach Herodots Zeugnis eine Thrakerin war;
andere ließen ihn aus Phrygicn stammen.^) Zusammenkommen ließ man
Schulmeister. Daü diese Schwanke auch zur | Prot. 320 d ff.) und Prodikos (Xen. mem. 11
Unterhaltung heim Gelage dienten, sagt Ar. ] 1, 21 ff.); eine Gattung für sich sind die
vesp. 1260. — Eine Pflanzenfahel ist die vom ' Mythen Piatons.
Streit des Ölbaums und Lorbeers bei Callim. j ') Ar. vesp. 1179 ff. sagt Bdelykleon.
fr. 93 SciiN. AüO. WCnsciib, Die Pflanzen- i fj// fwi yf fivOovg, aika rtbv äv&g(OJi{ratv, Oiovc
fabel in der orientalischen und klassischen kt-youer fudiara tovc xai* oixiav, woranf Phflo-
Litteratur, Heil. d. Allg. Zeit. 1897 Nr.59— Hl. kleon die Fabel von //rc und yaX^ anbietet;
') Den Schakal als Berater des Löwen ! aber Bd. fragt nun entrüstet fws xai yaläe
bei den Indern ersetzte bei den Griechen der ftfXXeic Uynv h drSodmv; vgl. anch Ariatot.
Fuchs : s. O. Keller a. 0. 337 f., ders., Tiere des 1 eth. Nie. 1 1 1 7 b 33 f.
klasH. Altert.. Innsbr. 1887, S. 193. Wahr- ' «) Arist Vesp. 1446 bringt die Beschul-
schcinlich kommt auch der Name dhn.ttß von digimg des Diebstahls mit einer Fabel dea
I6pd<(t, was im Sanskrit Schakal bedeutet. — ' Äsop vom Käfer und Adler in Verbindung;
In den ältesten Fabeln ist Hauptfigur der Fuchs, der Ausdruck Ahionum' aJfia wurde aprich-
neben dem Löwe ( auch ein Tier der Balkanhalb- i wörtlich, s. Zenob. 1 47, Ps.Diog. 1 47, ^mer.
insel nach Herodot VII 120), Adler, Hund, Esel, ' or. 13. 5. Aristoteles gedachte der Sage in
Wolf stehen, also lauter europäische Tiere. der Politie der Samier, fr. 445 Rosa.
^) So erzählte Stesichoros die Fabel vom ^) Erhalten ist ein vollst&ndiger Roman
Pferd, das, um sich au dem Hirech zu rächen, über das Leben des Äsop aus dem Mittei-
den Zaum von dem Menschen annahm, den alter, der fälschlich — wir haben ältere Hand-
Himcräei-n, damit sie sich vor dem Tyrannen , Schriften — unter dem Najnen des Planudea
Phalaris hüteten (Arist. rhet. p. 1393a 8 ff.). geht; vgl. K. Krumbachbr. By«. Litt.« 897»
Eben.so warnte Äsop selbst die Samier vor Erste kritische Behandlung der Legende bei
den Demagogen, indem er ihnen die Fabel ' K. Bentley. De fabulis Aesopi, im Anhang
vom Fuchs, Blutegel und Igel erzählte ; ahn- zu der Dis.sertation upon the episÜea of Pha-
lieh ist die Erzählung von Menenius Agrippa. laris, 1699. Vgl. W, H. Graubrt, De Aesopo
Vgl. L. Spen(jel im Kommentar zu Aristot. ' et fabulis Aesopeis, Bonn 1825; F. G.Wblcxkb,
rhet. (Leipz. 1^67) II 20, 8. | Kl. Sehr. U 22^ ff.
') Der Begriff Aiofo.iFiog Aoyo^ steht in ®) fr. 3; danach Schol. Arist. Av. 471.
seiner Eigenart fest Aristoph. vesp. 566 , Suidas u. Aho.-iog • Erysmor Sk Meofjftßotarwf
{AlcKojiav n ye/.oior); av. 651. ! Ft:in\
*) Vgl. die M^iJien des Protagoras (Plat. ' ») Dio Chrys. or. 32, 63; Gelliua II 29;
B. Lyrik. L MonodiBche. 2. Die iambische Poesie und die Fabel. (§ 113.) 183
ihn mit dem König Eroisos und mit den sieben Weisen Griechenlands.^)
In Athen sollte er wie Homer auch gewesen sein.^) Eine Sage ließ ihn
vom Tod auferstehen. 3) Von Gestalt dachte man ihn sich bucklig und
verwachsen;*) so ist er ein Wahrzeichen für die neue, demokratische An-
schauung, daß Schönheit und Tugend, xaiöv und äya^öv, nicht zusammen-
fallen müssen, die von den der Aristokratie dienenden Sängern der Dias
{B 260 flf.) so hämisch verworfen, von Archilochos dagegen zuerst keck
hingestellt (fr. 58) und durch Sokrates' klassische Häßlichkeit sanktioniert
worden ist. Eine Menge von Abenteuern wurde ihm angedichtet, bis
er schließlich selbst für eine bloße Fiktion ausgegeben wurde. Seine
Fabeln erzählte Aisopos in Prosa, was auch in den Namen Xoyoi und koyo-
noiog ausgedrückt ist.^) Dies ergibt sich auch daraus, daß Sokrates im
Gefängnis äsopische Fabeln in Verse gebracht haben soll.®) Die lambo-
graphen, die Komiker, unter den Melikern besonders Timokreon von Rhodos
(fr. 4. 5 Bergk), in späterer Zeit Lucian, Alkiphron und Aristainetos schöpfen
gern aus diesen volkstümlichen Schätzen, von denen dagegen die bildende
Kunst wenig Notiz genommen zu haben scheint.*^) Ende des 4. Jahrhun-
derts veranstaltete Demetrios von Phaleron eine Sammlung äsopischer
Fabeln in Prosa {X6y<ov AloiojieUov ovvayojyai); als Verfasser von Samm-
lungen libyscher Fabeln wird Kybissos, kilikischer Konnis, sybaritischer
Thuros genannt.®) Die Sammlung des Demetrios ist so wenig wie eine der
andern auf uns gekommen; erhalten sind uns aus dem Altertum nur die
poetischen Bearbeitungen des Phädrus, Babrios, Avianus. Aus dem Mittel-
alter stammen prosaische Metaphrasen äsopischer Fabeln, die Fabeln des
Syntipas, und eine in choliambischen Tetrametern verfaßte Sammlung des
Ignatius Diakonos aus dem 9. Jahrhundert.^) Die Masse der prosaischen
Fabeln ist im 11. Jahrhundert gesammelt worden; uns liegen davon drei
Rezensionen vor, die frühste in einem Parisin. des 11. Jahrhunderts. Um
1300 machte der Mönch Maximus Planudes daraus eine Schulausgabe unter
Voranstellung des ßiog Aiocojiov.^^)
Fabelsammlangen : Die zuerst (1479) gedruckte Sammlung (über die s. G. C. Eeidel,
Americ. Joum. of Philol. 24, 1903, 804) war die des byzantinischen Mönches Planudes von
144 Fabeln. Dazu kamen neue Fabeln von Nivoletti, Ex bibl. Palatina, Frankfurt 1610,
Aelian v. h. X 5 ; Himer. or. 13, 5. — Neuere 1 Namen überlieferten beigelegt worden sein.
Vermatnngen s. F. G. Welokbb, Kl. Sehr. II | •) Als eine Fiktion des Piaton betrachtet
254f.; J.ZOWDBL, Rh. M. 5(1847)447ff. und ' die Angabe in Plat. Phaed. 60 d. 61b M.
Rev. archM. n. s. 3 (1861) 354 ff.; dagegen Schanz, Herm. 29 (1894) 597; die erhaltenen
0. Kbllbb a. 0. 375. Verse in Distichen sind allerdings Fälschungen.
>) Plut Sol. 28; conv. sept. sap. 150 a.
*) Phaedr. 12 u. II epil. Alexis dichtete
eine Komödie Atocojtogf in der ein Zwiegespräch
des Äsop und Selon vorkam.
Aristodemos, ein Schüler des Lysippos, nach
Tatian adv. Graec. 55, hatte ihn neben den
sieben Weisen in Athen gebildet.
*) Theon progymn. p. 73, 27 Sp. O. Cbü-
sros, Philol. 52 ( 1893) 202 ff. meint, schon in dem
Alteren Äsopbios konnten dem Äsop auch Verse,
wie z. B. aie Anthoi. Pal. X 123 auf seinen
') 0. Benndorp, Jahresh. des österr.
archäol. Inst. 5 (1902) 3 ff.
8) Siehe o. S. 181, 7.
•) Letztere herausgegeben hinter dem
•) ^laton com. bei Schol Arist. Av. 471. ' Babrios von 0. Crusiüs, Leipz. 1897.
*) Lysippos nach Agathias epigr. 35, I *<>) Diesen kennt auch der Armenier Moses
von Chomi (A. v. Gütschmid, Kl. Sehr. III
297). Die zunehmende Kürzung des fiio<;
Aio. lehrt ein Papyrusfragment aus dem
6./7. Jahrh. n. Chr. kennen, über das s. F.
BLASS, Arch. f. Panymsf. 3 (1906) 487. über
die Ausgabe des Planudes s. A. Hausrath,
Byz. Ztschr. 10 (1901) 91 ff.
184 GriechiBche Litteraturgesohichte. L Kl>üiri«oha Periode«
von F. DEL FcntiA aus einer Florentiner Handschrift, Flor. 1809, von J. G. SommDiB, Breelea
1812 aus dem cod. Augustanus -^ Monac. 564, von P. Ehöll, Wien 1877 ans dem ood. Bod-
leianus 2906, von L. Stbrnbach, Krakan 1894 aus cod. Paris, gr. 690. — Sammelaosgpaben:
MrO<or Ainw.ieion' owayoty// von A. EoBABS, Par. 1810; Fabulae Aesopieae coUectae tob
K. Halm in Bibl. Teubn. 1874. — A. Hausräte, Untersochungen zur Überlieferang der
äsopischen Fabeln in Jahrbb. f. kl. Phil. Suppl. 21 (1894) 247 ff.; ders., Das Problem der laop.
Fabel. N. Jahrbb. f. d. klass. Altert 1 (1898) 805 ff.
3. Die lesbische und ionische Kitharodie.
114. Dem Aufschwung der religiösen Lyrik auf Lesbos, der sich an
den Namen Terpandros knüpft, folgt Ende des 7. Jahrhunderts auf derselben
Insel die höchste Blüte der Profanlyrik, die in Griechenland, ja vielleicht
in aller Litteratur je erlebt worden ist. In den Gedichten von Alkaios
und Sappho liegen uns Konfessionen, Gcfühlsergüsse von einer solchen Un-
mittelbarkeit und Wärme vor, wie sie nur in ganz intimen Kreisen ge-
äußert worden sein können; wir vermöchten sie nur dann vollkommen
zu verstehen, wenn uns die gesellschaftlichen Verhältnisse und Organi-
sationen der beiden Geschlechter auf Lesbos näher bekannt wären. ^)
Die Charakteristik äolischen Lebens und äolischer Art, die wir aus dem
Altertum haben, betrifft aber nur die Männer und scheint wesentlich aus
thessalischen Verhältnissen abgezogen zu sein.*) Über den Gedichten der
Sappho liegt so für uns noch ein Schleier. Sie und Alkaios schöpfen mit
glücklicher Kongenialität aus dem Schatz volkstümlicher Liedformen,*) wie
sie auch den Dialekt ihrer Heimat gebrauchen. Von Einflüssen des home-
rischen Stils sind sie fast ganz unberührt, also ganz modern. Dagegen
mag Archilochos, so anders er in der ganzen Gemütslage geartet ist, doch
dazu beigetragen haben, ihnen zu ihrem unendlich seelenvolleren Gesang
die Zunge zu lösen. Daß uns von dieser Lyrik so wenig erhalten ist, gibt
einen traurigen Beweis von der rhetorisch-philosophischen Verdummung
des spätesten Altertums.*)
115. Alkaios*) bildet zusammen mit Sappho das ruhmgekrönte les-
bische Dichterpaar, das am Schluss des 7. und in der ersten Hälfte des
6. Jahrhunderts^) das Volkslied künstlerisch veredelt hat Das Geschlecht
M Des youfo^ gedenkt zuerst Hesiod. ' Subjekt! vitAt mehr Wert beilegt als den rhe>
op. 722 f. torisohenSchnlexerzitien. DieGeringschätzuiig
*) Heraclid. Pont, bei Ath. 624 e hebt die der Lyrik fängt in Philosophenkreisen, im
Charaktereigenschaften des ynrnoy, 6yx<7}dF^, Zusammenhang mit der Lehre von der «Lto-
v.-iöyarror hervor, die zu Pferdesport und j i>Fia, seit Aristoteles an und findet einen be-
Gastereien paßten; ferner (ftkonttoin (dazu > sonders törichten Ausdruck bei Cicero (Sen.
stimmt das Gesetz des Pittakos. daü Tnmken- ep. 49, 5). Sympathisch urteilt noch Aristoxen.
hei t ein Straf Verschärfungsgrund sein solle, i fr. 58 M., enthusiastisch über Sappho Strab. 617.
Aristot. pul. 1274b 19; rhet. 1402b 11), foto- \ •») Der Artikel WXxaXfK ist bei Soidas
Tiy.d, ndoa ij .inu rijr A/mnir arfo/c. ausgefallen. F. G. WelcKEB, AlkftOS, in Kl.
») Clearch. Sol. fr. 40 M. Sehr. I 126 tf.
*) Auf Catull und Horaz haben die beiden «) Euseb. setzt ihre Blüte 600/599 (F.
Losbicr gewirkt. Saj)pho wird zwar bei Stat. ' Jacoby, Marm. Par. p. 165, Mann. Pariom
silv. V 8. 155, nicht aber bei Quintil. X 1, 68 ep. 80), Sapphos Flucht nach Sizilien zwischen
unter den Gegenstanden der SchullektUre er- 604 u. 590. Suidas setzt die Sappho Ol. 42
wähnt. Die Hpate!Ht<;n griechischen Rhetoren, = 612. Nach Herod. II 135 muß Sappho
besonders Himerios, holen sich noch Floskeln noch bis in die Regierungszeit des Amasis
aus der lesbischen Lyrik, und dem Synesios (570—526) hinein gelebt haben. Über die
ist es zu besonderer Ehre zu rechnen, daß i Stelle des Herodot V 95, die den Alkaios
er (de iusomn. 9) solchen Erzeugnissen freier | in die Zeit des Peisistratos herabnirflcken
B Lyrik. L Honodisohe, 8« Die lesbisohe und ionische Kitharodie. (§§ 114 — 115.) 185
des Alkaios gehörte zu den altadeligen Familien von Mytilene; er selbst, ein
nicht weniger leidenschaftlicher Junker als Theognis^ und befangen in der
für die griechische Aristokratie bezeichnenden maMosen Überschätzung des
Reichtums,^) nahm mit seinem Bruder Antimenidas lebhaften Anteil an
den Kämpfen des Adels gegen den von der Demokratie auf den Schild ge-
hobenen Tyrannen Melanchros und dessen Nachfolger Myrsilos.^) Der
erste von dem Dichter geleitete Anschlag auf Myrsilos mißlang, und Al-
kaios entging der Bestrafung durch Flucht nach Pyrrha.*) Über den Tod
des Tyrannen jubelt er in wildem Parteihafi (fr. 20)
viry XQV fie^a^v xal tiva Jigdg ßiav
ncovrjv, hceidri xdx'&ave MvQoiXog.^)
Auch in dem Krieg, den seine Vaterstadt um die Kolonie Sigeion im
Troerland gegen Athen führte, kämpfte er mit, wobei er seinen Schild
verlor, den dann die Athener im Athenetempel in Sigeion aufhängten.«)
Als die Mytilenaeer zur Schlichtung der inneren Zerwürfnisse den von
Alkaios und seiner Partei glühend gehaßten und tief verachteten Volks-
mann Pittakos zum Aisymneten aufstellten, verließ Alkaios mit seinen Ge-
nossen die Heimat'') und trat in fremde Kriegsdienste, die ihn bis nach
Ägypten und wohl auch nach Thrake führten.®) Den Abend des Lebens
brachte er wieder in der Heimat zu, wohin ihm Pittakos die Rückkehr
gestattete mit dem berühmten Ausspruch ovyyvojjut] TijuLoyQiag xgeiaacov.^)
Diesem Leben entsprechend durchweht die Lieder des Alkaios ein kriege-
rischer Geist, mit dem sich die äolische Neigung zu rauschenden Weingelagen
und leidenschaftlicher Liebe verband. *o) Auch die veilchenlockige, süß-
lächelnde Sappho sang er in seinen Liedern an, ohne bei der schönen
scheint, s. S. 185, 6. Das angebliche Gedicht
der Sappho an Anakreon bei Athen. 599 d
mnß ganz außer Betracht bleiben, da es
Aihenaios selbst als untergeschoben anführt.
Das chronologisch unmögliche Liebesverhält-
nis zwischen Sappho und Anakreon ist eine
Erfindung des Chamaileon und Hermesianax
aus Mißdeutung von Sapph. fr. 75 und Anacr.
fr. 14.
^) Richtig stellt ihn Julian. Misopog. init.
um seiner Leidenschaftlichkeit willen mit
ArchUochos zusammen und dem Anakreon
gegenüber.
■) fr. 38. 49. 92 stimmen zu dem xQ^h
fiota, XQV/*^^* avrjQ und ovdkv tjv äga läXka
xkrfv 6 xQvoög des Pythermos; eine Persiflage
dieser Lebensweisheit gibt Herodot. VI 125,
der von der Unzertrennlichkeit von Jievirj und
iXev^Qlfl (VII 102; VIII 137) ebenso wie
Demokrit (fr. 251 D.) überzeugt ist. Die
weichliche Eleganz von Alkaios' Auftreten
nodert Ar. Thesm. 162.
') Auf diesen beziehen sich fr. 18—21.
^ Schol. zu fr. 23 auf einem Berliner
Pajmrus ed. W. Sohübabt, Berl. Ak. Sitz.ber.
1902, 206 ff. (= Berl. Elassikertexte V 2
p. 6).
*) Nachgeahmt von Hör. od. I 37; vgl.
Strab. p. 617.
») Herod. V 95. Der Historiker bringt
den Fall des Alkaios in Verbindung mit dem
Kampf, den Peisistratos um Sigeion führte
(550—40). Aber Herodot hat offenbar, wie
die Erwähnung des Periandros zeigt, an die
Erzählung von den jüngeren Kämpfen um
Sigeion episodenartig den Fall des Alkaios
in den älteren Kämpfen der Athener und
Mytilenäer um jene Küste angeknüpft; das
weist entgegen J. Belooh (Rh. M. 50, 1895, 255
bi8'267) nach 0. Crüsius. Litteraturgeschicht-
liche Parerga, Phüol. 55 (1896) 1 1 ff. Alles Ma-
terial zur Beurteilung der chronologischen
Fragen bei G. Büsolt, Griech. Gesch. II* 249 ff.
^) Arist. polit. 111 9 p. 1285 a 35. Für
Alkaios (fr. 37 a) ist Pittakos ivgm'vos und
xax6naTQiq\ die Schimpfnamen, die Alk. ihm
gibt, 8. Diog. Laert. I 81.
«) Strab. p. 37; Ale. fr. 109. Sein Bruder
nahm Kriegsdienste vermutlich unter Nebu-
kadnezar in Babylon, von wo er den elfen-
beinernen Schwei-tgriff zurückbi achte (Ale.
fr. 33).
») Diog. I 76.
»0) Hör. od. I 32 u. II 13. Ath. 429a sagt,
Alkaios und Aristophaues hätten trunken
{fAe:&vovxeg) ihre Gedichte geschrieben.
186 GrieohiBche Litteratnrgeschiohte. L Klasrisdie Periode.
Dichterin geneigtes Ohr zu finden. >) Seine Gedichte waren nach dem
Inhalt geordnet; sie umfaßten Hymnen auf die Götter,*) Streitlieder
{üxaoiwTixd Strab. 617) voll kriegerischen Feuers, darunter die glänzende
Beschreibung eines Waifensaales (fr. 15), Trinklieder, von denen mehrere
der glückliche Nachahmer unseres Dichters, Horaz, nachgebildet hat
(od. I 9. 18. 37), endlich Liebeslieder {iganixd), von denen uns die Nach-
ahmung des Horaz od. III 12 einen Begriff gibt. Dem feurigen, aus der
Frische des Lebens genommenen Inhalt entsprach eine wundervolle Voll-
endung der Form. Die Gedichte des Alkaios und der Sappho sind die
melodischsten Schöpfungen der Griechen. Volkstümliche Weisen auf-
nehmend und regulierend reihen sie die elastisch wechselnden Formen
sechszeitiger Takte, lamben, Trochäen, Choriamben, loniker, Antispaste
zu Langversen wie dem auch von der Skolienpoesie übernommenen
Asclepiadeus maior') zusammen, oder sie binden kürzere Verse dieses
Rhythmus mit Auf- und Abgesang zu jenen auch unser Ohr noch unmittel-
bar anmutenden vierzeiligen Strophen, welche die Namen der sapphischen
und alkäischen noch heute führen.
Ol' XQ^I ^(i>ioiai ^v/ior imxQhii^v, w_w-|C7«ww|— wi^
nooxoif'Oinev ydg ovdh äodjuevotf — _w -|c7_w<^|-.wii
o) Bvxxh q)dQiiiaxov d'ägiorov — «. w_j— --^— cj
olvov heixafAevoig /Ließvo&r]y. _v^w|_v^vy|_w_ii
Als Beispiel der von Alkaios ebenfalls (z. B. fr. 5) verwendeten^) sapphi-
schen Strophe Sappho fr. 1
noixikoi^QOv d&dyaT 'Aq^oodira, - ^ - -|-v^— j^ - ^
jial AioQ, doXoTiXoxF, kioaojuni of, „ w _ c?] _v-^-
//i; fi' äontoi fujx* öylaioi ddjitraf - ^> - ^ |
jTOTyta, dvfioy.
Der Technik des äolischen Liedes ist die Festhaltung einer bestimmten
Silbenzahl innerhalb jedes Verses, also die Ausschließung von Zusammen-
ziehungen zweier Kürzen und Auflösungen einer Länge, zugleich eine weit-
gehende Freiheit in der prosodischen Gestaltung des ersten Versfußes eigen.
Der Form nach sind die Lieder des Alkaios nicht nur freie Eonfes-
sionen des Dichters ins Allgemeine, sondern auch poetische Episteln (Hero-
dot. V 95) oder mimische Projektionen der Empfindung in andere Personen
(so das „verlassene Mägdlein" fr. 59, das Hör. od. III 12 nachbildet). Seine
^) Arist. rhet. I 9 p. 1367a 8 ff.; Herme- ! licher Harmonie: der Zug des Gottes in das
sianax V. 47 (bei Ath. 598 b). Daraufhin sind Land der Hyperboreer auf einem von SchwAnen
beide vereinigt auf einer Vase der Münchener : gezogenen Wagen und seine R&ckkehr nmch
Sammlung; vgl. 0. Jahn, Darstellungen grie- | Delphoi unter dem Gesang der VOgel und
chischer Dichter auf Vasenbildcrn, Abhandl. dem melodischen Rauschen des kastalischen
der Sachs. Ges. d. Wiss. 3 (1861) 697 ff.; A. Quelb wird geschildert; Himerios or. 14 gibt
FuRTWÄNGLBR Und K. Reichhold , Griechi- : diesen Hymnus in Prosa wieder, und Synea.
sehe Vasenmalerei 2. Serie, München 1905/6 i hymn. 9 schildert mit seinen Farben Christi
Tafel 64. Der Kopf des Alkaios auf einer ' iferabkunft auf Erden ; den auf Hermes Ober-
Münze des Pariser Kabinetts, worüber A. setzte Hör. od. I 10.
Baumeistek, Denkm. unt. Alkaios. | ') fn^fihv äkXo (f^vzeifOfjg 7iq6xfqov divögeoit
^) Der Hymnus auf ApoUon zeigt eine dit^iüo) Ale. fr. 44.
herrliche Zusammenstimmung zwischen der ■ *) Ebenso verwendet auch Sapj^o i. B.
Natur und einem göttlichen Wunder zu fest- | fr. 28 die alkäische Strophe.
- v/ — ii
B. Lyrik, h Honodisöhe. 8. Die lesbische und ionische Kitharodie. (§ 116.) 187
Skolien, von denen Aristoteles (pol. 1285 a 38) redet, waren vermutlich von
Einfluß auf die attische Skolienpoesie des 6. Jahrhunderts, und im Attika
des 5. Jahrhunderts ist er ein so bekannter Dichter, daß die großen Dra-
matiker mit Anspielungen auf Stellen aus ihm verstanden zu werden er-
warten können (fr. 23 — 25). Die Alexandriner teilten seine Gedichte in
10 sachlich angeordnete und mit den Götterhymnen beginnende Bücher.
Ausgaben machten Aristophanes von Byzantion und Aristarchos; die ari-
starchische war in der Kaiserzeit die herrschende.*) Ein Exemplar des
Alkaios in einem dreieckigen Behälter befand sich auch im Schatz des
delischen Apollon.*) Schriften zur sachlichen Erklärung gab es von Di-
kaiarchos {negl ^AXxaiov Müller FH6 II 246 f.) und von Kallias von Myti-
lene {negl rrjg jtag' *AhcaUp Xenddog)^^) der nach Aristophanes Kommentare
zu Sappho und Alkaios schrieb.-*) Kommentatoren des 4. Jahrhunderts
n. Chr. sind Drakon und Horapollon. Die Fragmente haben in der neusten
Zeit eine kleine Vermehrung erfahren.*)
116. Sappho^) aus Eresos (nach andern aus Mytilene)^) auf Lesbos
war Zeitgenossin des Alkaios. Von ihren Lebensverhältnissen weiß man
nur wenig Sicheres, da sie früh durch die Sage und die Komödie entstellt
wurden.®) Ihr Vater hieß Skamandronymos, von ihrer Verheiratung mit
Kerkylas aus Andres redet nur Suidas;^) von ihren drei Brüdern lebte der
eine, Charaxos, längere Zeit als Handelsmann in Naukratis mit der ver-
führerischen Hetäre Doriche, genannt Rhodopis, zusammen. *<^) Vermutlich
^) Hephaest. p. 74, 13 Gonsbr.
') Th. Homolle in Monuments grecs,
7 (1878) p. 49.
•) WiLAMo WITZ, Textgesch. d. gr. Lyr. 74 flf.
*) Strab. 618; Ath. 85 f.
^) Ans den Genfer Schollen zu II. <^ 319
(H. DiELS, Berl. Ak. Sitz.ber. 1891, 576), aus
Oxyrh. pap. II 1899 (v. Welamowitz, Gott. Gel.
Anz. 1900, 41), einem Papyrus Aberdeen
(Th. Rkinaoh, Rev. des 6t. Gr. 18, 1905. 295 ff),
zwei Berliner Pap. (Berliner Klassikertexte
V 2 p. 3—8).
•) ^a:i<p(o nennt sie sich selbst fr. 1, 20.
59; fr. Berolin. 1, 6; die Form l'd^rfoi macht
das Fragm. 55 des Alkaios verdächtig. Der
Name ist ohne Zweifel Kurzname mit innerer
Konsonantenyerdopplung, worüber F. Solmsen,
Unters, z. griech. Laut- und Verslehre, 1901,
70. Snidas nimmt zwei Sappho an, was auf
eine moralistische Hypothese des Nymphis
(Ath. 596 e) zurflckgeht. Manches über die
Dichterin bei Ps.Ovid. Heroid. 15. Ein Buch
des Chamaileon über Sappho erwähnt Ath.
599 c. Über den Kommentar des Kallias s. o.
Etym. magn. 77, 1 ff. Vgl. F. G. Wblcker,
Sapi^o von einem herrschenden Vorurteil be-
freit, in Kl. Sehr. II 80—144; K. Lbhbs, Pop.
Aufs.' 899 f. ; A. Schöne, Untersuchungen über
das Leben der Sappho, in Symb. phil. Bonn. II.
Leipz. 1867,371—762. Ausgabe der Fragmente
Ton C. F. Neue, Berol. 1827. Eine Erzstatue
hatte Silanion gefertigt (Cic. Verr. IV 57, 126) ;
Kopien derselben hat man in Marmor und
Ton wiederzufinden geglaubt; s. F. Gamübbini,
Testa di Saffo, Ann. deir Inst. 51 (1879)
S. 246 ff.
^) Gelebt hat sie wahrscheinlich meist
in Mytilene, wo ihr Bruder Larichos Pagen-
dienst tat (fr. 189): auch ihren anderen Bruder
Charaxos nennt Herodot. II 185 Mytilenäer,
und die Mytilenäer machten nach Aristot.
rhet. 1898 b 12 Anspruch auf sie als Mit-
bürgerin.
^) Diphilos ließ in seiner Sappho, gegen
die Zeitrechnung, Archilochos und Hipponax
als ihre Liebhaber auftreten; s. Ath. 599 d.
O.RiBBBCK, Gesch. d. röm. Dichtung P, Stuttg.
1894, 165. Siehe a. o. S. 184, 6.
®) Suidas u. ^üajrqoj; auch hierin, beson-
ders in dem Namen Aridros (Männerstadt), hat
man einen Witz der Komödie gefunden.
Unter den Fragmenten redet von Männerliebe
nur 75, und zwar in ablehnendem Sinn.
Fr. 186 mit Maximos Tyrios auf eine Tochter
der S. zu beziehen, ist kein Grund. Das-
selbe gilt von fr. 85.
>oy Herod. II 185; von dem Gedicht, in
dem sie dem Ch. seine Entfremdung von der
Familie vorwirft, scheint auf dem Papyrus
Oxyrh. pap. I (1898) 10 ff. ein Rest erhalten zu
sein; zur Rekonstruktion dient auch Ps.Ovid.
epist. 15, 68. Des zweiten Bruders Larichos, der
Mundschenk in Mytilene war, gedenkt Sappho
bei Ath. 424 f.; von einem dritten kennen
wir nur den Namen Eurygios.
188 Griechische Litteraturgeschichte. L Klaasische Periode.
infolge der politischen Wirren verließ auch sie ihre Heimat und floh nach
Sizilien.^) Romantisch ausgeschmückt wurde in alter und neuer Zeit das
Verhältnis der Dichterin zu dem schönen Jüngling Phaon, der ihr untreu
wurde und dem in heißer Liebe in der Richtung nach Sizilien nacheileody
sie sich vom leukadischen Felsen in das Meer hinabstürzte. Wahrschein-
lich diente der romantischen Erzählung die politische Flucht der Sappho
nach Sizilien zum Ausgangspunkt, und die Erwähnung des leukadischen
Felsens in einem ihrer Lieder') bot Anlaß zur weiteren Ausschmückung der
Sage. Verzerrt und ins Gemeine herabgezogen wurde die Beziehung der
enthusiastischen Dichterin zu dem Kreise ihrer Freundinnen. In Lesbos
und bei den Äoliern überhaupt hatte das Weib eine freiere Stellung, die
den engeren Zusammenschluß gleichgesinnter Mädchen und Frauen zu
musischen und geselligen Vereinen (haigiai) ermöglichte. Auch Sappho
versammelte in ihrem Hause, das sie selbst Musenheim {jnoiaonokov otxiav)
nannte,^) schöne junge Freundinnen, mit denen sie dichtete und sang und
an denen sie mit der überschwenglichen Liebe einer heißblütigen Süd-
länderin hing.^) Sie wirkte hier nicht bloß als Chormeisterin wie die
XooooTdrig^) Hagesichora in Alkmans Mädchenlied, sondern sie dichtete
auch selbst die Lieder für ihren Chor. Eine religiöse Verbindung des
ganzen Kreises etwa um den Kult der von Sappho so oft angerufenen
Aphrodite anzunehmen liegt nahe.^) Maximus von Tyrus denkt sich das
Verhältnis ähnlich wie das des Sokrates zu seinen Schülern. '') Hier wie
dort spielte neben der geistigen Begabung die Schönheit der Qestalt eine
Rolle; aber erst die Ausgelassenheit der Komiker und- die schmutzige
Phantasie der Römer haben aus den schwärmerischen Versen, mit denen
Sappho ihre Freundinnen, die Atthis, Telesippa, Megara u. a. feierte, ein
*) Marm. Par. ep. 36 zwischen 604 und Plin. n. h. IV 89 endeten die Hyperboreer
591: ^a.iqo) ry MiTvh)ytii fIs Sixfkiat' i im Greisenalter ihr Leben durch Sprung von
Fn?.FroFr ffvynroa. Ihre Rückkunft und ihren ! einem Felsen: hoc genus »epuUurae frfo-
Tod in der Heimat setzen die Grabschriflen , tissimum.
Anth. Pal. VII 14 u. 17 voraus. ») fr. 136. Herod. H 135 nennt dem-
*) Siehe F. G. Wklcker, Kl. Sehr. II 105. ! gemäß die Sappho selbst fAovoojtotoi,
In Leukas, der vom Festland losgetrennten | *) Davon zeugen insbesondere auch die
Insel Akarnaniens, bestand ein alter religiöser zwei neuaufgefundenen Gedichte der Sappho,
Brauch, einen Menschen zur Sühne der Gott- . publiziert von W. Schubert, Neue Bracb-
heit vom Felsen ins Meer hinabzustürzen; stücke der Sappho und des Alkaios, Sitz.ber.
ihn erwähnten Stcsichoros fr. 43 und Ana- d. pr. Ak. 1902 S. 195 ff.; F. Solxsbn. Rhein.
kreon fr. 19: über die Lokalität J. Faktsch, Mus. 57 (1902) 329; F. Blass, Herrn. 37 (1902)
Die Insel Leukas, Petermanns Mitteil. Erg.- 456 ff.
Heft 95, 1889, p. 17 iQf. Sappho und Phaon ^) Nach dorischen Begriffen bestand ein
brachte damit in Verbindung Menandros bei wesentlicher Teil der Erziehung in der An-
Strabon p. 452; s. K. 0. Müller, Dorier 1 233 ' leitung zum Reigentanz: Epicharm. fr. 13 E.;
und E. Oberhummer, Akarnanien S. 226. Den Ar. ran. 729.
Sprung vom leukadischen Felsen kennt schon | ^) Die Beschränkung auf weibliche Enlt-
der Logograph Charon von Lanipsakos fr. 6 M. genossinncn hätte ihr Analogon in der Tai-
und noch die echte neugriechische Volks- ! sache, daß in Eresos auch ein die Fraoen
sage (K. Dieterich, N. Jahrbb. f. kl. Altert ausdrücklich ausschließender Kult für hel-
17, 1906,87). Über den Todessprung vom leu- lenistische Zeit inschrifblich (P. Erbtschmbr.
kadischen Felsen vgl. H. Cseuer, Göttemamen Jahresh. desösterr.archäol.Inst 5, 1902, 139ff.)
328 f., über seine Verwendung in Novellen bezeugt ist. Auch an den parischen Frauen*
J. TöPFFER, Att. Geneal. 266 f.; über den thiasos um 'JffnodiTtj OhrQU) (Mitt des ath.
mythischen Ursprung des Motivs S. Wide, i Inst. 18, 1893, 16 ff.) darf erinnert werden.
Festöchr. f. O.Benndorf, Wien 1898, 13 ff. Nach ! ') Max. Tyr. 24, 8.
B. Lyrik. L Xonodisohe. 8. Die lesbiBche und ionische Eitharodie. (§ 116.) 189
gemein sinnliches Verhältnis herausgelesen, von welchem Vorwurf die Dich-
terin in unserer Zeit F. G. Welcker, Kl. Sehr. 11 80 flf., gereinigt hat.^
Anlai zu dichterischer Betätigung fand Sappho namentlich beim Abschied
(fr. Berol. 2) oder der Verheiratung (im^aMjuia) ihrer Schülerinnen; auch
Grabepigramme hat sie den Gestorbenen gemacht. Die Rhetoren der
Eaiserzeit wie Dion von Prusa, Alius Aristides und besonders Chorikios
ahmen das in Prosawerken nach. Die Gedichte der Sappho haben die
Alexandriner in 9 Bücher eingeteilt; maßgebend war bei der Anordnung
im Prinzip das Versmaß, so daß z. B. das 1. Buch Gedichte in sapphischen
Strophen, das zweite PentÄmetra, das dritte Versus Asclepiadei maiores,
das vierte sapphische Hexakaidekasy Ilaben enthielt.^) Wir sind so glück-
lich, außer zahlreichen Fragmenten noch zwei vollständige Gedichte zu
haben, eine Anrufung an Aphrodite um Beistand in Liebesnot und ein Be-
kenntnis eifersüchtiger Liebe zu der süßredenden, wonniglachenden Freun-
din;') dazu sind in unserer Zeit noch einige seelenvolle, tiefes Naturgefühl
atmende dreizeilige Strophen aus ägyptischen Pergamentstücken in Berlin*)
gekommen. Der Grundton, der alle ihre Gedichte, die Liebeslieder, Epi-
thalamien, Epigramme durchklingt, ist der verzehrender Liebesglut, die sie
mit einer bei einer Frau uns doppelt auffallenden Offenheit ausspricht, wie
wenn sie singt (fr. 52):
dedvxe jLikv ä oeXdwa \ xal TlXrjiadeg, jueoai de
rvTcreg, naga d' sq^st' wga, \ iya> dk juöva xa^evöco,^)
Der sinnliche Reiz gehört zur Erotik, namentlich bei den Alten, die
geneigt sind, Schönheit und Tugend sich festverbunden vorzustellen, ß) aber
es ist nicht die schöne Gestalt allein, die Sappho begeistert, sie verschmäht
den Reichtum ohne Tugend (fr. 81) und verweist in das Dunkel des Hades
das Mädchen, das nicht teilhat an den pierischen Rosen (fr. 68). Alle ihre
Gedanken aber kleidet sie in die anmutigste Sprache, die harte Lautver-
bindungen sorgfaltig meidet^) und liebliche Bilder, wie vom sonnengeröteten
einsamen Apfel am hohen Ast, der bei der Ernte vergessen worden ist
(fr. 93), uns vorzaubert. An Reichtum und Zartheit des Rhythmus über-
triflft sie noch den Alkaios. Außer der nach ihr benannten vierzeiligen
*) Der Sinn von Horaz epist. I 19, 28
temperat Archilochi musam pede masctäa
Sappho erkl&rt sich aus Eorinna fr. 21 und
Stet sUv. V 3, 154 f. Pedantische Gram-
matiker wie Didymos untersuchten schon im
Altertum allen Ernstes, an Sappho publica
fuerit, 8. Seneca ep 88, 87.
•) WiLAMOwrrz, Textgesch. der griech.
Lyr. 71 ff.
') Übersetzt von Gatull 51, der uns auch
in dem Epithalamion 62 einen Begriff von
den gleichnamigen Liedern der Sappho gibt.
*) Berliner Klassikertexte V 2 p. 9—18;
ein schon von J. Rkiske bemerktes Fragment
im Anfang von Julian, epist. 60 ist jetzt von
WiLAMOWiTZ (Textgesch. der griech. Bukol.,
Berl. 1906, 179) hergestellt.
*) Diese wundervollen Verse fllr unecht
erklären (Wilamowitz, IsylJos, Berl. 1886
S. 129, 7; ders.. Textgesch. d. gr. Lyr. 33, 1)
ist übel angebrachte Prüderie, zumal wir ja
gar nicht wissen, ob hier die Dichterin von
sich redet. Auch fr. 90. 96. 102. 169 sind
mimisch zu verstehen.
*) Sapph. fr. 101 drückt das etwas vor-
sichtig aus: 6 /nev yäg xdkog, öooov idfjv,
jzelFTai äya&oq, 6 Se xäyaOog avrtxa xai xaJ.og
faoFiai.
^) Dionys. de comp verb. 28, wo sie als
Muster der ykaqvga xni dv&rjQa ovvüfoig ge-
priesen wird; Demetr. de eloc. 166 f., wo auch
das Anpassen der Worte an die verschiedenen
Personen in den Epithalamien hervorgehoben
wird. Die Anmut der von ihr erweckten
Sach Vorstellungen lobt Demetrios.
190 (hieoMsche LüteratnrgMchiohte. L EUunisohe Ptriod«.
Strophenform und der dreizeiligen Strophe, die uns die Berliner Fragmente
kennen lehren, dichtete sie in einfachen Systemen aus gleichen Oliedem
(pvozrjjuara i( ö/nomv), mehrgliedrige zu je zwei verbundene Verse ans
wechseiförmigen Takten der sechszeitigen Gattung, daktylische Reihen mit
freierer Bildung des ersten Fußes, ähnlich den homerischen arixoi dxhpaloi
{AloXiHCL /nhga); auch die „Erfindung" einer neuen Tonart, der mixolydir
sehen, und eines voller klingenden Saiteninstruments, der nrixjk oder /id-
yadtc:^ wird ihr beigelegt. ^ Sappho hat früh hohe Anerkennung gefunden.
Schon Mimnermos (fr. 5) klingt an sie (fr. 2, 13) an. Zur Nachahmung
bekennt sich der ungenannt« Dichter bei Bergk PLG III^ p. 706, 62. Ana-
kreon ist ohne ihren Vorgang gar nicht denkbar. Als eine Erscheinung
ohnegleichen gilt sie dem Strabon.^) Sie hat als erste die liebende Seele
sprechen gelehrt, und von dem Bilder- und Vorstellungsschatz, den sie mit
der feinfühligen Treffsicherheit echter Empfindung geschaffen hat, zehrt
die erotische Lyrik der folgenden Jahrtausende. Insbesondere lieben es
die Khetoren und Poeten des spätesten Altertums im 4. und 5. Jahrhundert,
ihre Exerzitien mit Sapphos Rosendüften zu parfümieren. CatuU und
Horaz haben mit der Nachahmung ihrer Lieder die römische Lyrik über
die seelenlose Künstelei der Alexandriner erhoben.^) Die meisten der
Lieder waren zu monodischem Vortrag mit Lyrabegleitung bestimmt, zum
Chorvortrag nur die Hochzeitslieder oder Epithalamien.*) In einem von
diesen, das Catull 62 übersetzt oder nachgebildet hat, kamen zwei Chöre,
einer von Mädchen und einer von Knaben vor, und war obendrein dadurch,
daß am Schluß der einzelnen Strophen der Gesamtchor mit jubelndem
Ephymnion einfiel, ein schöner Wechsel in den Vortrag gebracht. Das
Bildnis der Sappho erscheint auf mytilenäischen Münzen, und ihre Statue
von Silanion wird von Cicero in Verr. IV 126 als unübertroffenes Meister-
werk gerühmt.^)
117. Von dem glühenden Farbenreichtum der lesbischen Monodik ist
der ionische Liederfrühling, der für uns allein durch Anakreon vertreten
wird — denn Pythermos von Teos ist uns nur ein Name^) — , ein matter
Abglanz. In der ionischen Erotik und Sympotik herrscht ein stark reflek-
tierender, kalmiert-quietistischer, sinnlicher Zug, eine innere Kälte, ein
egoistisches Genußverlangcn, das mit der Befriedigung des Begehrens ver-
schwindet, ein tändelndes Spielen mit dem Gegenstand, das bis an die
Grenze ironischen Verhaltens geht, nirgends die innere Ergriffenheit tief
') Flut, demiis. 16 (s. aber auch dcns. c. 28).
Ath. 635 b nach MeDaichmos ^fq} xF.yviT&v,
*) Strabon p. 617 nennt sie i}avfta<jzöy
*) Aber dazu nach Demetr. de eloc. 167
nicht passend.
^) Auch auf Vasen wird S. dargestellt
r/ xorifia. Die zehnte Muse heißt sie Anth. (P. Kketsghmer, Die griech. Vaseninschriften
Pal. IX 506. 93. 182 f.).
*) Philostr. Vit Apoll. I 30 erwähnt eine ; «) P. di'^.htete Skolien, von denen AtL
Pamphylierin Damophyle, die damals Sap- \ 625 c einen Vers erhalten hat Ananiosfr. 2
phos Lebensweise und Dichtung nachahmte. zitiert ihn. Möglicherweise ist er etwas ftlter
Schon Balbilla, die Hofdame der Kaiserin
Sabina, die sich mit einem äolischen Epi
gramm auf der Memnonsäule verewigte
als Anakreon. Seine Kompositionen sollen in
der ionischen Tonart gehalten gewesen sein,
die Piaton (reip. 398 e) nebst der lydischen
(G. Kaibkl, Epigr. Gr. 990^ kam sich ohne als erschlaffend, zur fifOrj^ fmkaxia^ &QykL
Zweifel als neue Sappho vor. I stimmend charakterisiert
B. Lyrik. L Ifonodische. 3. Die lesbiBche und ionische Eitharodie. (§117.) 191
and stark empfindender Seelen. Anakreon^) aus der ionischen Stadt Teos
schloß sich im erotischen Ton seiner Dichtungen ganz an die lesbische
Melik an, bediente sich aber des ionischen Dialektes seiner Heimat. In
bewuitem Gegensatz gegen die Aulodik hat er bloß kitharodische Lieder
gedichtet.*) Infolge des Angriffs des persischen Satrapen Harpagos auf
lonien (545) wanderte Anakreon nach Abdera, einer teischen Kolonie in
Thrake, aus.*) In diese Zeit werden die hübschen Verse auf das „thra-
kische Füllen* (ifr. 75. 96), vielleicht auch die auf den Thraker Smerdies
(fr. 48; Anth. Pal. VII 25, 8; 27, 6) zu setzen sein; ebenso seine wenig
rühmlichen Kriegstaten, deren er selbst scherzend gedenkt (fr. 28. 29).
Später treffen wir ihn neben Ibykos am Hofe des Polykrates, des mächtigen
und kunstsinnigen Tyrannen von Samos (533 — 522), bei dem er als Herold
der Liebe und des Lebensgenusses in besonderer Gunst stand.*) Nach
dessen Fall*) zog ihn Hipparchos nach Athen, 0) wo er mit den vornehmen
Kreisen Athens, insbesondere mit Kritias, dem Großvater des „Tyrannen"
Kritias, und Xanthippos, dem Vater des Perikles, Beziehungen anknüpfte;
nachdem auch Hipparchos gefallen war (514), scheint er einer Einladung
des Echekrates, eines thessalischen Dynasten aus dem Hause der Aleuaden,
gefolgt zu sein.^) Er erreichte das hohe Alter von 85 Jahren,®) und als
lebenslustigen Greis, der trotz der gebleichten Haare nicht von Wein und
Liebe ließ, pflegte man ihn mit Vorliebe sich vorzustellen. ») Die Alexan-
driner hatten von ihm Elegien, Epigramme, lamben und juüt] und ver-
teilten sie in 5 Bücher ;^o) auf uns sind davon außer zwei vollständigen
Liedern (fr. 43 und 75) nur zerstreute Trümmer gekommen. Die lamben,
namentlich das durch Athenaios erhaltene Spottgedicht auf Artemon (fr. 21),
beweisen, daß Anakreon auch archilochische Töne anzuschlagen weiß.^^)
Aber die Mehrzahl seiner Lieder zeigt den heiteren Gesellschafter und ge-
») Eine dttrftige Vita bei Suidas; F.G.
Wklokbb, Kl. Sehr. I 251 ff.; L. Wbbkb, Ana-
creoDtea, Diss. Gott. 1895.
*) avXc^ avxuioXog, (pdoßdgßiioc, yjdvg,
äXvjiog nennt ihn Kritias fr. 7 (PLG.n<283).
') Strab. p. 644; Suidas spricht irrtam-
lieh von Histiaios.
*) Herod. IH 121, Strab. p. 638.
*) Den sprichwörtlich gewordenen Vers
ixfjTi 2vXoo(bvT<s: evQvxcjgitj^ der sich auf
Syloson, den nach Polykrates' Fall mit per-
sischer Gewalt eingesetzten Bruder des Pol.
bezieht, schreibt 0. Cbusiüs (Realencykl. I
2038, 22) recht wahrscheinlich dem An. zu.
•) Ps.Plat Hipparch. 228 c; Charm. 157 e.
') Geschlossen aus fr. 103 u. 109 von
A. Mbekeius. Siehe auch Webeb a. a. 0. 33.
') Luc. macrob. 26; sein Grab befand
sich in Teos nach dem Epigramm in Anth.
Pal. VII 25; X 699; s. indessen Th. Bebok,
Gr. Litt II 339.
*) 80 ist er aufgefaßt auf teischen Mün-
zen, auf einer attischen Vase mit Namens-
beiachrifb (Jahresh. des österr. arch. Inst. 3,
1900, 89) und in einer Marmorstatue der Villa
Borghese; s. A. Baümbisteb, Denkm. 79; als
Sänger in halbtrunkenem Zustand dargestellt
sah ihn Pausanias I 25, 1 auf der Akropolis
in Athen. Über die beste Büste, jetzt im
Berliner Museum, R. Kekul^, Jahrb. d. arch.
Inst 7 (1892) 119 ff. tab. 3. — Über seine
unmöglichen Beziehungen zu Sappho s. o.
S. 184,6. Daß dem anakreonteischen Lebens-
ideal der igvift] (Julian. Misopog. init.) die
Lebenshaltung der ionisierten reichen Athener
vor den Perserkriegen entsprach, mag man
aus Thucyd. I 6, 3 und Heraclid. Pont. fr. 1
Voss (= Ath. 512 a) entnehmen. Ein eigen-
tümliches Licht wirft, wenn sie wahr ist, die
Bemerkung bei Ath. 429 b, daß Anakreon gar
kein Trinker gewesen sei, auf sein trunkenes
Gebaren.
10) Von Krinagoras Anth. Pal. IX 239 be-
zeugt ßvßXojv.-zFrTdg; zitiert finden sich nur drei
Bücher ftekrj ; nach 0. Cbüsius bei Wissowa I
2041 enthielten die zwei übrigen Bücher
ekeyeia xal id^ißovg.
11) Epodenform läßt sich übrigens bei
ihm nicht nachweisen, auch nicht fr. 21.
1 92 GhriechiBche Litteraturgeschiohte. I. KUuMdsche PeriodA.
nußfrohen Lebemann, der nicht Überfluß und hohes Alter, Bondem sorgen-
freies Behagen wünscht (fr. 8), dem das Saitenspiel beim Weingelage Aber
alles geht, der nur durch das Beil des Eros verwundbar ist (fr. 48), und
auch beim Herannahen des grauen Alters mit Wein und Lied sich den
Gedanken an den dunklen Abgrund des Hades verscheucht (fr. 43). Unter
seinen Hymnen an die Götter trägt der auf Dionysos (fr. 2) einen BbBxk
subjektiv erotischen Charakter. Objektiver ist der Artemishymnus (fr. 1)
für Magnesia am Maiandros, dessen Bewohnern er ein Kompliment macht.
Dem spielenden und weichen Inhalt entspricht auch die Form seiner Lieder;
als Strophe verwandte er zumeist die gefälligen, aber leicht einförmig
wirkenden glykoneischen Systeme, wie in fr. 4
Yi TiaT Tzaodeviov ßAhrcov, -.w-w|w-w»
ovx eidiog ort rrjg ijufjg „ — _ vy | v^ - ^ -
daneben mit besonderer Virtuosität die zum Ausdruck artigen Liebesspiels
vorzüglich geeigneten loniker^) a minore, deren anaklastische Form mit
verwischten Taktgrenzen für seinen bewußt taumelnden Gang besonders
bezeichnend und auch seiner leichten Handhabung wegen bis in das späteste
Altertum von Dichterlingen, die Trunkenheit simulierten, besonders gern
nachgebildet worden ist. Ein Beispiel gibt fr. 43:
Tiohoi /idy tjutv ijÖj] xodrnqroi xaQrj re Xetfxöv,
yaoieooa d' ovxh' fjßj] ndoa, yrjgakeot 6' ddövreg.^)
Von Tonarten soll Anakreon nur die dorische, lydische und phrygische
angewendet haben.') Zu dem subjektiven Ton seiner Lieder pafite nur
der Vortrag durch einen einzelnen. Wenn dagegen Kritias fr. 7 in einem
Preislied auf Anakreon von nächtlichen Mädchenchören spricht
ovnoxF nor (ftX()xr]g y}]odoeT(u ovde t^avdrnt,
tOT är vöcoo ou'O) ovjuuetyvvjuevov xvUxeooiv
Jiaig Öinnof.inF,vj]f TTOOJiooeig ijtide^ia v(t)/n(bi*,
Tian'vxtdag i^' ffofis dtjkeig ;|^ooo{ d/nq-ifSTwaiVf
so kann sich das nur auf den Vortrag einzelner Lieder, insbesondere
Hymnen, beziehen. Wie Anakreon im Leben als höfischer Dichter und
heiterer Gesellschafter überall beliebt war, so hörte man auch nach seinem
Tod noch gern, besonders in Attika,*) wo er gewirkt und wohl auch die
dort einheimische Skolienpoesie befruchtet hatte, bei Gelagen und nächt-
lichen Festfeieni seine liebestrunkenen Lieder. Was die neunzehn in der
palatinischen Anthologie auf Anakreons Namen laufenden distichischen Epi-
*) Die gebrochene Form des lonicus. die verhältnismftfaig früh (Tractat. metr. Ozyrh.
Anakreon neben der regelrechten verwendete. pap. II 1899 nr. 120 col. 10; Hephaest. p. 16, 18
erschien .Späteren als Nachlässigkeit, welche ' Consbb.) in metrische Handbücher aafgenom-
Anschanung sich in Horaz epod. 14, 12 tton ! men nur fr. 92.
elaborntum ad pedem ausspricht. Ohne ') Posidon. bei Ath. 635c.
Zweifel fand A. diese Formen im Volks- *) Siehe o. S. 191, 9; vom Anakreon-
gesang Toniens vor (Wilamowiz, Isyllos 159). kultus in Athen meldet uns das zitierte ijpi-
*) Von Hemiamben (o utv {>Fko)v ^nxeo- gramm des Kritias. Einfluß auf Aischyfoa
Oai, I nnrnoii yuo, fiayjoihn), wie sie von den behauptet Schol. Aesch. Prom. 130. Ansto-
späteren Anakreontikem in Menge produziert phanes Ach. 848 kann auf ein Lied Ad»-
w Orden sind, findet sich als anakreon tisch | Kreons anspielen.
B. Lyrik. L Xonodisohe. 8. Die lesbische nnd ionische Kitharodie. (§§ 118—119.) 193
gramme betriflffc, so ist die Echtheitsfrage von Fall zu Fall zu prüfen und
fQr fünf unter ihnen (fr. 102. 106. 108. 115. 116) jedenfalls zu verneinen.^)
In hellenistischer Zeit schrieb Chamaileon über ihn, die großen Philologen
Zenodotos und Aristophanes von Byzantion beschäftigten sich mit der Kritik
seiner Gedichte, Aristarchos besorgte eine Ausgabe und schrieb vielleicht
einen Kommentar.*) In der Kaiserzeit lag auch eine nacharistarchische
Ausgabe vor.*) Allmählich traten seine echten Gedichte hinter den tän-
delnden Spielereien seiner Nachahmer zurück.*)
118. Die Anakreontea sind eine Sammlung von 62 Gedichten in
der Art des Anakreon {\4vaxQeovrog rov Trjtov ovujiooiaxa fjjutdjußia), die
der Anthologie des Konstantinos Kephalas angehängt sind. Sie galten
früher allgemein als echt und fanden noch im vorigen Jahrhundert bei
unseren Anakreontikern, Uz, Götz u. a., überschwengliche Bewunderung.
Davon ist man jetzt abgekommen, nachdem man diese Lieder mit den
echten Fragmenten des Anakreon achtsamer verglichen und ihre große
Verschiedenheit in Versbau, Dialekt und Ton erkannt hat. Daß die Samm-
lung Nachahmungen enthalte, ist indes früh bemerkt worden; trägt doch
das zweite die Überschrift rov avxov Baouiou, und spricht das sechzigste
geradezu von Nachahmung des Anakreon. Aber R. Bentley, F. Mehlhorn,
C. B. Stark, F. G. Welcker^) begnügten sich mit der Annahme einer Ver-
mischung von Echtem mit Unechtem, während heutzutag allgemein die
ganze Sammlung als spielende Nachahmung aus verschiedenen Zeiten an-
gesehen wird. Der erste Teil, der die zwanzig ersten Gedicht« umfaßt
und mit einem Lied in Glykoneen und Pherekrateen abschließt, ^0 scheint
schon dem Gellius XIX 9 vorgelegen zu haben, der daraus das dritte unter
dem Namen des Anakreon anführt. Der zweite Teil (21 — 34) enthält eine
Doppelgruppe von sieben Gedichten in Hemiamben und sieben in ge-
brochenen ionischen Dimetern, darunter das artige, von Goethe nachgebil-
dete Gedichtchen auf die Zikade (32). Der Rest umfaßt Gedichte jüngeren
Datums, zum Teil schon mit starken metrischen und prosodischen Fehlem,
wie 52, 8 und 58, 9. In diesen jüngeren Gedichten tritt auch entsprechend
den Sittlichkeitsbegriffen der Zeit die Knabenliebe ganz zurück.^) — Dem
aus dem Altertum stammenden Corpus Anacreonteorum läßt Th. Bergk
PLG III* p. 339 — 375 noch aus den Anekdota von P. Matranga eine Appendix
ähnlicher Nachbildungen aus dem beginnenden Mittelalter folgen, die mit
den christlichen Anakreonteen des Sophronios verwandt sind.
119. Neben den großen Meistern Alkaios, Sappho, Anakreon hat
Griechenland noch eine Reihe von Liederdichtern und auch Liederdichte-
*) WiBEB a. a. 0. 31 ff.; Wilamowitz, | ^) F. Haussen, Über die Gliederung der
Textgeschichte d. gr. Lyr. 36 f. Das Stück . Anakreontea in Vhdl. der 36. Vers. d. Phil, in
fr. 104 findet sich auf einer attischen Herme I Karlsruhe 1 882, 284 ff.; Anacreonteorum sylloge
vom Ende des 6. Jahrh. (CIA I 381). , Palatina, Lips. 1884. Jn den Gedichten 21 bis
») Orion 3, 11.
>) Wkbbb a. a. 0. 6—9.
*) Horaz hat noch Anklänge an den
echten Anakreon; so od. I 23 u. III 11. 9 an
fr. 52 u. 75; vgl. od. I 27 u. fr. 63.
*) F. 6. Wblcker, Die Anakreonteen,
Kl. Sehr. II 356 ff.
31 weist 0. Cbüsiüs, Philol. 47 (1888) 236 ff.
Anklänge an Wendungen der Sophisten der
Kaiserzeit nach. Nr. 5 trägt in Anth. Pla-
nudea 388 die Aufschrift dio *Iov?,tarov d.-io
vjidnyuiv AlyvTixlov.
') Anth. Pal. VII 25 versteht Anakreons
Erotik als Tiaibixo^ FQiog.
Handbuch der klaas. AlteriamswiBseiiachaft. VII. 5. Aafl. 13
194 Griechiaehe LüteratnrgeBchiehte. L KlaasiBohe Periode.
rinnen^) in äolischen und dorischen Landschaften hervorgebracht. Yen
diesen sind die namhaftesten: Myrtis aus Anthedon in Böotien,*) Korinna
aus Tanagra, die beide zur Zeit Pindars lebten, jene sogar in einen Wett-
streit mit dem großen Chormeister sich einliefi. Korinna will im Gegen-
satz zu Pindars weithin schallendem Ton reine Volks- und Landschaft»-
dichterin sein: sie trägt einheimisch boötische Sagen (Orionsage, Sieben
gegen Theben, Minvaden, Sängerstreit zwischen den Berggöttem Helikon
und Kithairon, ein Motiv bukolischen Charakters, aber in den Olymp ver-
setzt, die Töchter des Asopos) in böotischem Lokaldialekt und einfach
populären Versmaßen (ionischen und choriambischen Dimetra, Pherekrateen,
zu kurzen Strophen monostrophischen Baus zusammengefaßt) vor, wie wir
jetzt aus den beträchtlichen Berliner Papyrusfragmenten*) sehen. Pra-
xilla aus Sikyon, die nach Euscbios um 455 blühte, erwarb sich besonders
durch ihre Trinklieder (nagoma) Ruhm und ist demnach als Hetäre*) zu
verstehen; nach ihr ist auch ein logaödisches Metrum IlgaSiUetoy genannt,
von dem die Metriker als Muster den logaödischen Tetrameter in äolischem
Dialekt anführen:
, I
v-zw \y \J ^ WW. W_W
ü) did TÖyy &vQida)v xakoy ijußkeTioioa.
Unter ihren /nüt] oder v/nvoi wird um eines drolligen Zuges willen ein
Adonislied erwähnt.*) Sonst hat sie auch Dithyramben heroischen Inhalts,
z. B. einen Achilleus gedichtet. Telesilla aus Argos dichtete Lieder in
ionischen Dimetem a maiore mit trochäischem Schluß, Hephaistion gibt als
Beispiel
'Ad' ''Agrefug, d) xooai, — - ' — ' - ^ -
(fEvyoioa Tov ^AhpEov. - - v^^ | — ^ i^
Gefeiert war sie durch ihren Heldenmut, indem sie, als Kleomenes die
Argeier besiegt und die waffenfähigen Männer getötet hatte (im Jahr 510),
die Frauen zur Verteidigung der Stadt aufgerufen haben solL^) Auffällig
ist nur, daß Herodot, sonst ein Bewunderer weiblicher Größe, der VI 76 flf.
jene Kämpfe erzählt, nichts von Telesilla meldet; auch Eusebios setzt
sie weit später, Ol. 82, 2, an. Noch weniger kann Erinna, wahrschein-
lich von Telos, die angebliche Freundin der Sappho,'') von der es ein
berühmtes Gedicht in Hexametern, die Spindel (ijXaxdTtj) gab,®) unserer
Periode zugewiesen werden; vielmehr lebte sie im Anfang der alexandri-
*) Antipatros Anth. Pal. IX 56 zählt neun i griech. Lyr. S. 76—80 sucht die Überliefenuig
Dichterinnen, so viel wie Musen, auf. , zu veiieidigen und auch aus den ersten Versen
^} Corinna fr. 21 ; Plut. aet. Gr. 40. - des Orakelspruches bei Herod. VI 77 heiaos-
^) Berliner Klassikertexte V 2 p. 19 flf. i zulesen.
(dazu 0. Schröder, Berl.phil.W.sclii". 27. 1907, ^) So Suidas, der sie haioav Sasripfn^g
1441 flf.); der Pap. stammt aus dem 2. Jahrh. ' xai ouöyom'ov nennt, womit aber Eosebios
n. Chr. und enthält einige kurze Randscholien. : nicht stimmt, der sie auf 352/1 v. Chr. setzt,
*) WiLAMOWiTZ, Eurip. Herakl. P 69. , ebensowenig Plinius (N. H. 34, 57), nach dem
^) Zenob. prov. 1V21. Der hexametrische ' sie Werke des Myron erwähnt haben soll.
Wortlaut, den der Cod. Coislin. darbietet 1 Siehe Wilamowitz. Textgesch. 58, 4.
(fr. 2 Bgk.). ist für ein //f/oc unmöglich. ®) Die Echtlieit war im Altertum be-
*) Paus. II 20, 8; Plut. de virt. mul. 5; ' zweifelt (Ath. 283d).
Polyän. Vlll 23. Wilamowitz, Textgesch. d. |
B. Lyrik. IL Chorlyrik. (§§ 120—121.) 195
nischen ZeitO und ist nur dadurch, daß sie mit Glück Sappho nachahmte,
zum Ruhm einer Freundin der lesbischen Dichterin gekommen.*)
120. Daß ims griechische Volkslieder ä) nur wenige erhalten sind,
ist in der durch das homerische Epos vorgezeichneten einseitig aristokra-
tischen Haltung der griechischen Litteratur, besonders der von ionischem
Qeist inspirierten begründet, vermöge der nur das mit voll bewußter
Technik bis ins Detail Durchgearbeitete der Erhaltung wert gefunden
wurde. Daß es aber in Griechenland, und zwar in allen seinen Teilen,
eine Fülle von Volksliedern ebenso wie sonst überall gegeben hat, ist
selbstverständlich. Wir haben zu bedauern, daß auch die Wissenschaft,
selbst die empirisch gerichtete, wie die peripatetische Geschichtsforschung
und die alexandrinische Grammatik, von dieser wichtigen Unterströmung
griechischen Dichtens und Sinnens, sofern nicht für ethische Betrachtung,
Realien oder Sprachlehre etwas aus ihr zu holen war, kaum Notiz ge-
nommen hat. Die einfachste Form des rhythmischen Volkswitzes ist das
Sprichwort (Tiagoi/Ma), das bei den Griechen auch in der Form des davon
benannten Versus paroemiacus auftritt, wie (piXel dk vorog fiexä ndxvrjv oder
äXXoi xdjuov äUot dvavroA) Dahin gehören auch die später den Sieben
Weisen zugeteilten prosaischen Kemsprüche, wie yvöj^i oeavrov, juhgov
ägtoTovy und die in landläufige Verse gekleideten volkstümlichen Rätsel
(yQlq^oi).'^) Kunstvoller sind die aus mehreren, meist lyrischen Versen be-
stehenden Volkslieder, wie das Mahllied {cddi] hzifxvXioq) der Lesbier, das
Spinnerlied, das Kelterlied, das Lied auf den Gott Dionysos, das die Frauen
in Elis sangen, das Schwalbenlied der Rhodier^) u. a. Das Schönste aber,
was wir aus der griechischen Litteratur in dieser Gattung besitzen, ist in
den attischen Trinkliedern enthalten, in denen sich kerniger Freiheits-
sinn mit fi'ohem Lebensmut verbindet. Einen Kranz solcher Skolien, eine
Art von Kommersbuch aus dem 5. Jahrhundert, verdanken wir der Auf-
zeichnung durch Athenaios p. 694.')
n. Chorlyrik.
121. Über den Chorgesang im Gegensatz zur Monodie und seine ein-
zelnen Formen ist bereits oben § 93 gehandelt. Auch er ist aus volks-
») Die in Anth. Pal. IX 190; X! 322 sich
zeigende Verherrlichmig der Erinna im Gegen-
satz zn Homer weist in die Zeit der von
Eallimachos formulierten Geschmacksgegen-
sfttze.
*) R. Rbitzenstein. Epigr. 142. Einige
in Oxyrhynchos gefundene Hexameter in do-
rischem Dialekt möchte F. Blass, N. Jahrbb.
3 (1899) 30 der Erinna zuweisen.
») Brbok, PLGm<654— 688; F.Ritschl,
Oposc. I249ff.; L. E. Bbnoist, Des chants
genannter Schrift ist zugleich der Nachweis
geliefert, daß viele hexametrische Sentenzen
der Eunstdichter aus solchen volkstümlichen
Sprichwörtern erweitert sind.
») Siehe o.S. 167,1. Ein Rätsel ist auch in
dieTheognissammlung aufgenommen V. 1229 f.
(vgl. Ath. 457 b).
«) H. UsEXER a. a. 0. 80 flf. Über den
Brauch der mit einer Schwalbe oder Krähe
in der Hand herumziehenden Bettelknaben
s. Ath. 359. Anklänge im Neugriechischen
popnlaires dans la Gröce antique, Nancy 1857 ; j bei F. Passow, Neugr. Volkslieder Nr. 305 —8.
8. a. o. S. 158. Ein Schnitterlied [htveQm^q) steht bei Theo-
*) Zusammenstellungen von A. Meineke i crit. id. 10, 42—55.
zu Theokrit 524 ff. ; M. Haupt, Opusc. III 520; ^) R. Reitzenstein, Epigramm u. Skolion
H. UsEHSB, Altgriech. Versbau 43 ff. In letzt- I p. 13-24. Siehe o. S. 156.
13*
196 Griechische Litteraturgeschichte. I. ElasslBche Periode.
tümlichen Anfängen hervorgegangen. Anlässe zu gemeinschaftlichem Ge-
sang gab gemeinschafth'che Arbeit, gemeinschaftliche Freude, gemeinschaft-
liche Trauer, gemeinschaftliche Anrufung von Göttern im Kultus. So
bestehen seit frühster Zeit im Chor gesungene Arbeitsgesänge, Hochzeits-
gesänge, Kriegslieder, Zechgesänge, Siegesgesänge, Bestattungs- und Trauer-
gesänge, Götterhyninen , daneben auch heitere Scherz- und Spottchöre
namentlich im Dienst der alten Bauerngötter Demeter und Dionysos ;*)
aber auch der Apollonkult hat seine ("horhymnen. Nach Geschlecht und
Alter der Singenden zerfallen diese Gesänge in Männer- und Knaben-,*)
Frauen- und Jungfrauenchöre. Begleitendes Instiiiment ist Lyra oder
Aulos.3) Die Zalü der Chormitglieder wechselt von 7 bis 50. Der Vor-
trag geschieht entweder durchweg durch den ganzen Chor oder durch ab-
wechselnde Gruppen des Chors (amöbäisch), oder einzelne singen vor, der
Chor fällt dann ein.
Bei lyrischen Chören scheint die Sängerschar im Kreis um den In-
strumcntalisten gestanden zu haben, daher sie xrxkioi xoQoi im Unterschied
von den dramatischen (xoyjtuxoi, roayixoi) heiüen. Im 6. Jahrhundert ist
die Existenz fester Singchöre in allen größeren Orten anzunehmen, so daß
der Dichter oder ein ihn veiiretender Künstler als yooodiMaxako(; die Ein-
studierung auch schwierigerer Stücke mit geschultem Material unternehmen
konnte. Die im öffentlichen Kultus mitwirkenden Chöre dürfen bloß aus
Bürgern oder Bürgerinnen bestehen.*) Besonders viel zur künstlerischen
Hebung der Chorlyrik bei Götterfesten leisteten in älterer Zeit die dorischen
Gemeinden, namentlich Sparta,'^) daher dorisch-abrupte, ungeglättete Dar-
stellung des Sachlichen, dorischer Dialekt»'») und dorische Tonart der Chor-
lyrik von ihrem Ursprünge an eigen bleiben und auch von ionischen
Dichtern wie Simonides und Bakchylides nicht wesentlich modifiziert
werden. Je mehr die Musik in der Chorlyrik über das Wort die Herr-
schaft gewinnt, je künstlicher die Rhythmen werden, desto mehr entfernt
sich auch der Ausdruck von dem einfachen und natürlichen Charakter des
') Spottchöre bei Demeter-(Damia-)fe.sten ■ die musikalische Begabung der Lakonier
in Aigina und Epidauros Herodot. V 83; I Aristot. pol. 133yb 2: nv fiavOavovTFQ ouuk
dionysische Chöre Herodot. II 48: Chöre im drmrTat y.nivttv ooOot^, w^ *fam, rä /o/;oTa xai
Heroenkult dei-s. V 67; Soph. EI. 280: ein tu iit/ xijfjorn rotv fn/.otr. über das lieder-
alter Dionvsoschor der eleischen Weiber bei reiche Sparta der älteren Zeit Plut. Lyc. 21
Tu. Bekgk, PLG HI* p. er^H. «. und Ath.()32f. Namen älterer Dichter Spartas
'^) Männerchöre mit Flötenbegleitung waren Gitiades (Paus. III 17, 2), Spendon
heißen arktjrnl (0'(Ws, Knabenchöre mit der- (Plut. Lyc. 28). Dionysodotos (Ath. 678c).
selben <u/.i/Tai .larAfv ; in den Agon der athe- Plutarch a. 0. hat uns über das alte Sparta
nischen Dionysien wurden Männerchöre 509 den berühmten Lobpreis des Pindar erhsüten:
(Marm. l*ar. ep. 46), Knabenchöre erheblich | ni^a fi<n'kai yfoöijior xai rerov ar^oihr uoi-
früher eingeführt (H. Soiienkl, Berl. philol. oTerototr (uynai xai yonoi xai MoTaa xai
W.schr. 27; 1907, 445 ff.). 'Ay/iata, Cf. Pind. fr. 199.
') Procl. ehrest. 245, 1 \V. *) L. Ahrkxs, Über die Mischung der
'') Pind. Nem. 2,24; Dem. 21,56: Plut. ; Dialekte in der griechischen Lyrik, Vhdl. d.
Phoc. 30. Philol. in (iöttingen 1852, 55ff. (^ KL Sehr. I
^) TU ouor yoooi inkovit Ar. Lys. 1806; 157 ff.). Auf die lokalen Dialekte will die
vgl. Pratinas fr. 2 Bgk. (PLG HP p. 559). Sprache der einzelnen Lyriker zurückführen
Eur. Ale. 440 N.: xa/M/ono:: heißt Sparta I A. Führer, Die Sprache und Entwicklung der
auf dem Lvsanderepigramm des Ion von griechischen Lvrik. Progr. von Münster 1885,
Samos (Mitt.\les ath. Inst. 31, 1906, 505). Über und Philol. 44*^(1885) 49 ff.
B. Lyrik. IL Chorlyrik. (§ 122.) 197
Volksgesangs, und die größte Kühnheit in Wahl und Vermischung der
Bilder, in Wortwahl und -Stellung, in syntaktischer Fügung wird geradezu
Stil dieser poetischen Gattung. Eine Entfernung vom Volksmäßigen liegt
auch darin, daß die Dichter mehr und mehr die in der Natur der Sache
liegende absolute oder relative Objektivität des Gefühls- und Gesinnungs-
ausdrucks im Sinn einer Mehrheit von Vortragenden außer acht lassen und
den Chor lediglich als ein vollerklingendes Instrument zum Ausdruck ihrer
eigenen Gedanken und Stimmungen benützen. Am weitesten ist hierin nach
der Seite der Gefühlsinnigkeit Ibykos gegangen, der an manchen Stellen der
äolischen Monodik nahekommt, nach der Seite des Gesinnungsausdrucks
Pindar, während Stesichoros, wie er auch von den Alten als „homerischer"
Lyriker bezeichnet wird,^) der objektivste gewesen zu sein scheint. Das
Strophenlied scheint von Hause aus monostrophisch gebaut gewesen zu sein :
so in Alkmans Parthenion, dessen Einzelstrophen aber doch schon die später
am meisten verbreitete Form der rgidg incodixi^ (Strophe, Antistrophe,
Epodos) keimhaft enthalten.^) Die responsionsfreie Form des Chorgesangs
{ojiolekviueva) scheint erst um die Wende des 6. Jahrhunderts durch den
neuen attischen Dithyrambus aufgekommen zu sein. Mit der melodischen
Gruppierung gingen immer Tanzbewegungen Hand in Hand.
122. Alkman^) blühte in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts,
nach Archilochos und Thaletas und vor Alkaios.^) Seine Heimat war, wie
er selbst fr. 24 bekennt, das lydische Sardes.*) Der Abstammung nach
ist er ohne Zweifel lonier, denn nur so erklärt sich seine Beherrschung
der im Osten ausgebildeten Formen der Lyrik. Er ist nicht der erste
lonier, der in Lakonien wirkte. Schon vor ihm waren Polymnestos von
Kolophon^) und Tyrtaios von Milet hier tätig gewesen. Er mag zunächst
als Unfreier dahin gekommen sein, hat aber dann eine liberale Erziehung
genossen.') Seine Tätigkeit entfaltete er in Sparta, wo bereits Terpandros
*) F. G. Wblckeb, Kl. Sehr. I 162 ff. : Dichtere, Spaila als dessen eigene bezeichnet.
*) 0. Cbüsiüs, Commentat. Ribbeck. 3 ff., Für die lydische Heimat spricht auch die
der die alte Meinung, als hätte Stesichoros ' lydische Version der Niobesage fr. 109 (E.
die Toiag €:ti{)öii<T) erfanden, widerlegt.
') \4lxfmiMv nennt ihn Eimer, or. 5, 3
undHieronym. chron. ann. Abr. 1359; er selbst
nennt sich \4?.y.fmr fr. 25. 33.
♦) Suidas setzt ihn Ol. 27, Eusebios Ol.
Thrämer, Pergamos22), die Erwähnung der Ir-
dischen Pferderasse fr. 23, 59 (H. Diels, Henn.
31, 1896. 358). Die Aneignung des lako-
nischen Lokaldialekts durch einen geborenen
lonier ist durchaus möglich. Der Gedanke,
30, 4 und 42, 2; entscheidend ist, daß er nach den A. für Sparta zu reklamieren, dürfte
Suidas unter dem lydischen König Ardys kaum vor der alexandrinischen Zeit auf-
lebte, was wohl aus einer Stelle seiner Ge- gekommen sein, und vielleicht ist es der
dichte hervorgegangen sein wird. E. Rohde, Lakone Sosibios, der damit einen Versuch
Kl. Sehr. I 156. G. Busolt, Griech. Gesch. ! machte, seiner Heimat eine Beisteuer zu
I* 601. Im Kanon stand er vor Alkaios. • den produktiven Genies der griechischen
*) Offenbar redet hier der Chor wie auch Litteratur zu sichern.
fr. 66 von seinem Chormeister Alkman. Die ^) Diesen erwähnte Alkman: Flut, de
Alexandriner schlössen (Suid. s. v.) nach mus. 5.
ihrer Art aus dem Dialekt, vielleicht auch ^) Was darüber Herakleides Pontikos
aus dem Inhalt so gedeuteter Stellen, die wir (pol. 2) berichtet (s. a. Suidas s. v.: ujtö oixf-
nicht mehr haben, A. sei Lakone. Richtiger lojy di], ist keineswegs unglaubwürdig. Ana-
Krates, der vielleicht von fr. 24 ausging, j logien sind Livius Andronicus und Tereuz.
Eine kompromissarische Ansicht äußert der ' So erklärt sich auch seine spätere angesehene
Verfasser des Epigramms Anth. Pal. Vll 709, Stellung (Teles p. 20, 10 ff. Hense). — Die
der Sardes nur als Heimat der Väter des j Meinung von H. Diels (Herm. 31, 1896, 339),
198 GriechiBche litteratnrgeBchichte. L Klassuche Periode.
und Thaletas den Grund zur Pflege musischer Künste gelegt hatten/) als
Chormeister insbesondere für Mädchenchöre, und er hat ohne Zweifel in
der Geschichte der musischen Erziehung des weiblichen Geschlechts in
Sparta Epoche gemacht. Den Tod fand er hochbejahrt, da er fr. 26 über
das Alter klagt, das ihm die Kniee lähme, und sich das Los des Eisvogels
wünscht, den im Alter die Weibchen über das Meer hintragen. Die
Pietät Spartas setzte dem Dichter der Jungfemlieder bei den Turnplätzen
der spartanischen Jugend ein Denkmal, das noch Pausanias sah.^ Seine
Gedichte (in 6 B.) waren in altlakonischer, mit epischen und äolischen
Elementen versetzter Mundart geschrieben.*) Den Hauptruhm verdankte
er seinen Parthenien, die mindestens 2 B. füUten') und von deren einem
Mariette 1855 ein großes Bruchstück mit alten Ra.ndbemeikungen aus
einem ägyptischen Grab an das Licht gezogen hat. An gottesdienstliche
Anlässe anschließend bieten diese Chorlieder dem Dichter das Organ, unter
der Maske der singenden Mädchen eigene Angelegenheiten vorzutragen,
wenn er z. B. dem Chor Äußerungen über des Dichters Abstammung (fr. 24)
oder neckische Schönheitsurteile über Chorteilnehmerinnen (fr. 23, 39 ff.)
in den Mund legt.^) In dem erhaltenen Parthenion ist die erste Hälfte
ernsthaft, von einem Mythus gefüllt, erst die zweite nimmt eine Wendung
zu schelmischem Scherz.*) Wahrscheinlich hat bei der Aufführung dieser
Gesänge Alkman selbst als Kitharist begleitet (fr. 66). Die Parthenien
waren bestimmt zum Vortrag durch Chöre oder Riegen (äyiXai) von Jung-
frauen, wie sie in Sparta für die turnerischen Übungen der Mädchen in
der Laufbahn (doojnos) gebildet, dann aber auch zu Gesängen und gottes-
dienstlichen Handlungen verwendet wurden.«) Außer Parthenien dichtete
A. sei, wie Teqiandros und Thaletas, als ' der lakonischen Stellen in Aristophanes*
Sühnepoet nach Sparta gekommen, läßt sich Lysistrate die Dialektform, in der Alkman im
weder mit der tendenziösen Notiz bei Ael. | Athen des 5. Jahrh. gelesen wurde, wieder-
var. hist. XII 50 (dagegen s. Aristot. pol. I Zugewinnen, verzichtet aber auf Herstellung
VIII 5) noch mit richtiger Exegese von fr. 23 der von Alkman selbst geschriebenen Form.
begründen. Alkmans Poesie klingt wahrlich Siehe a. F. Solmsbn, Unters, z. gr. Laut- und
nicht nach Bußpsalmen. Verslehre 152.
*) Paus, lll 15.2. Poetische Grabschriften, j «) Steph. Byz. u. ^Korai^rj. Als «Erfinder*
natürlich jüngere, in Antli. Pal. VII 18 und 19. I der Parthenien galt Philammon (Pherecyd.
Schwer erklärlich ist die schon bei Aristot. fr. 63 M.).
hist. an. V p. 557 a 2, dann bei Piin. nat. hist. *) Auf derailige Stellen stützt sich zum
XI 112 und Plut. Süll. 36 auftretende Notiz, Teil das Urteil des Athenaios (600 f.). der
A. sei an der typischen Krankheit der Gottes- in A. den t)yriion' iwy fotouxwv sucht. Übri-
verächter, der ff i)t:iniaoi^ (J. Kbabincek zu ' gens brauchen nicht alle erotischen Stellen
Synes. encom. calv. 21 n. 17Migne) gestorben. in den Parthenien gestanden zu haben, flag-
Vielleicht ist ihm dieser Tod in Kreisen, die Ohfor Liairht}^ nennt ihn Aristid. er. 45
seine Kult- und Musiklyrik zu weltlich und p. 40 Dind.
frivol fanden, angedichtet worden. *) Die Angabc des Uephaistion p. 74,
2) n.SpiE8sinCurt.Stud.X(187«)331ff.; ! 17 fif. Consbr. von dem Zerfallen mancher
F. Schubert, Sitz.ber. d. Wien. Ak. 92, 1879, alkmanischer Gedichte in zwei verschieden
S. 517 ff.; R. Meister, G riech. Dial. I 20; H. gebaute Strophengruppen von gleicher Aus-
JuRENKA. Zur Aufhellung der Alkmanscheu dehnung legt es nahe anzunehmen, dafi diese
Poesie. Wiener Stud. 18 (1896) 235 ff. Leider
ist der Boden zur Erkenntnis der sprach-
lichen Form sehr unsicher, wie bei allen
Gedichte auch dem Sinn und der Stimmung
nach ähnlich zweigeteilt gewesen seien.
*) Unterrichtet werden wir über die Ver-
Dichtern, die wir wesentlich nur aus Zitaten einigung von 240 Altersgenossinnen (ofia-
kenneu. Wilamowitz (Textgesch. der griech. lixe^:) unter 12 Vorsteherinnen hauptsächlich
Lyriker 53 ff. 93 ff.) sucht unter Benützung i durch Theokrit XVIII. wozu G. Eaibbl,
B. Lyrik. H. Chorlyrik. (§ 122.) 199
Alkman auch Hymnen, Paiane, Skolien. Von Rhythmen verwendet er zum
Teil noch in altertümlicher Weise die Daktylen, daneben aber auch die
spielenden Wechselformen der sechszeitigen Füße samt den Logaöden.
Anapäste begegnen nur in dem da(pvt](poQix6v fr. 17, Kretiker nur fr. 38
in Langversen. Über seine Kunst in der Strophenbildung läßt sich schwer
urteilen, da die Fragmente zu dürftig sind und keine seiner Strophen
Nachahmer gefunden hat oder populär geworden ist. In dem erhaltenen
monostrophischen Parthenion hat der Scharfsinn von F. Blaß und L. Ahrens
Strophen von vierzehn kurzen Versen nachgewiesen, die sich in zwei
gleiche, epodisch gebaute Vordersätze aus rein trochäischen und ionisch-
trochäischen Zweitakten (V. 1 — 4 = 5 — 8) und in einen größeren, aus
trochäischen und logaödischen Elementen gebildeten Zugesang gliedern. 0 In
anderen Gedichten wandte er einfachere Strophenformen an, wie in dem
Hymnus auf Zeus (fr. 1) dreigliedrige Strophen, bestehend aus einer
akatalektischen Tetrapodie, einem daktylischen Enoplios und einem iam-
bischen Epodos:
M(bo' äy€t Mcboa Xiyeia Tzokvju/Lielkg — ^^!- ^^|- v^ — ^^
äevdoide, jueXog - ^-^ - | ^ — ' '-'
veoxjLiov ägxe nagaSvoig äeidev. ^ ^ ^ -|^ - ^ -|^ -^
In der ionischen Atmosphäre seiner Heimat wäre Alkman vielleicht zum
tändelnden Anakreon geworden und über die schäkernde Stimmung, die
sich fr. 23 und 26 äußert, nicht hinaus gekommen; der dorischen Um-
gebung wird er die tieferen und wärmeren, herzlicheren Töne verdanken,
die in der' ruhevollen Gefühlsintensität mancher Naturschilderungen, be-
sonders in den herrlich plastischen Versen fr. 60^) erklingen und mit denen
er den größten Lyrikern aller Zeiten sich ebenbürtig zeigt.
Monographien über ihn schrieben in hellenistischer Zeit Philochoros
und Sosibios negi ^Ahcfiavog und Alexandres Polyhistor negl tmv nag' ^AXxfmvi
Tomxcog eigrjjuevcov.^) Daß sich die großen Grammatiker der Alexandriner-
zeit mit seiner Kritik und Exegese befaßten, ist aus den Scholien des
Pariser Parthenion zu ersehen.
J. Sitzler, Die Lyriker Eumelos Terpander und Alkman in ihrem Yerhttltnis zu Homer.
Festschr. d. bad. Gymnasien, Karlsruhe 1886, 37 ff. — H. Dibls, Das ägyptische Parthenion
nach neuer Vergleichung, Herm. 31 (1896) 339 ff., ist durch die Interpretation von Wilamowitz.
Herrn. 32 (1897) 251 ff. überholt. Neue Erklärung von R. C. Küküla, Philol. 66 (1907) 202 ff.
— H. JuRENKA, Der ägyptische Papyrus des Alkman, Sitz.ber. d. Wiener Ak. 135, 1896, 1 ff.,
Wiener Studien 29 (1907) 2, Philol. 56 (1897) 399 ff. Ob das Stück Oxyrhynchus papyri I
nr. 8 in daktylischen Hexametern als Zuwachs zu den Parthenienfragmenten des Alkman
zu betrachten sei, ist eine Frage, die Wilamowitz (Textgesch. der griech. Lyr. 53, 4) gegen
F. Blass und F. Solmsen (Unters, z. griech. Laut- und Verslehre, 1901, S. 152 f.) verneint. —
Im ganzen s. 0. Crusius, Realenc. u. d. W. Alkman.
Herm. 27 (1892) 255. Wie dann diese Mädchen-
riegen mit Reigengesängen auftraten und die
jungfräuliche Jagdgöttin Artemis feierten,
davon gibt Aristophanes am Schluß der
Lysistrate ein anschauliches Bild. Vgl. Plut.
Lyc. 14.
') 0. Crusius (Comm. in hon. Ribbeoki
6 ff.) findet hierin die Keime der T(>ia<: Fmo-
Öixt),
') Auch fr. 25 u. 67 zeugen für sein in-
times Zusammenleben mit der Natur.
•) Auf diesen spielt Aristid. or. 49 p. 508
DrND. an.
200
GriechiBche Litteratorgeschichte. L EUunisohe Periode.
123. Stesichoros^ (um 640 — 555)*) stammte aus dem sizili-
sehen ^) Matauros, einer Gründung der Lokrer, heißt aber immer Himeraier,^)
da er in Himera (gegründet von Zankle aus 650) den größeren Teil seines
Lebens zubrachte. Die Himeraier warnte er auch vor den ehrgeizigen
Plänen des Phalaris (regiert 570 — 554), indem er ihnen die Fabel von
dem Pferd erzählte, das, um sich an dem Hirsch zu rächen, von dem
Menschen den Zaum annahm. 0) Sonst geht nur noch die Geschichte von
seiner Blendung durch Helena und der Palinodie, die ihm das Augenlicht
wieder verschaffte, auf ältere Überlieferung^*) zurück. Gestorben sein soll
er in Katane, wo man vor dem Tor sein Grabdenkmal zeigte.') — In der
Entwicklung der griechischen Poesie nimmt Stesichoros eine hervor-
ragende Stellung ein; er war nicht bloß ein ungewöhnlich fruchtbarer
Dichter (seine Werke umfaßten nach Suidas 26 Bücher), er hat auch,
offenbar anschließend an die musischen Traditionen des dorischen Heroen-
kults s) im Westen, den Stil der älteren Heroenballade mit Lyrabegleitung^)
geschaffen und auch das epische Volkslied künstlerisch geadelt. Vor-
gearbeitet war ihm in diesen westlichen Landen durch den alten sizilischen
*) Artikel ]>ei Suidas; F. G. Welckek,
Stesichoros in Kl. Sehr. I 148 ff.; (x. E.
Rizzo, l^uestioni Stesicoree (Vita e scuola
poetica) Riv. tli storia ant. 1 (1895), 1 p. 25 IF.;
E. RoHDE, Kl. Sehr. I 155 ff. Die parische
Marmorchronik erwähnt (A Z. 65. 85) zu 485
und 370 V. Chr. zwei jüngere Dichter des
Namens Stesichoros. Ober die richtige An-
sicht, daß der erste von diesen mit dem
Chorlyriker identisch und ein Ansatz des
ChorJyrikers in die Zeit Gelons anzunehmen
sei, s. F. Jacoby. Marm. Par. p. 176 — 180.
Den Dithyram])iker St. des 4. Jahrhunderts
erwähnt auch Didym. ad Demostli. Philipp.
(Berl. Klassikeiiexte I) col. 12, 61. ApoUo-
doros scheint das Todesjahr des St. mit dem
Geburtsjahr des Simonides zusammengelegt
zu haben auf ca. 556 (F. Jacoby, Apollod.
Chron., Berlin 1902, 196 tf.). Der Name St.
ist eigentlich Standesbezeichnung (Welukeb
a. a. 0. 168; l'TtfOiyoon heißt eine Muse auf
der Franc^oisvasel. aber Individualname ge-
worden. Eigentlich solJ der Dichter Teisias
geheissen haben. Zuerst nennt ihn, mit dem
Namen St., Simonid. fr. 53. 219 A.
^) Die Zahlen sind danach berechnet,
daß er nadi Luc. Macrob. (der aber dieses
Datum schwerlich aus Apollodoros hat: F.
Jacoby. Apollod. Chron. 198) 85 Jahre alt
wurde und nach Apollodoros (Suidas und Euse-
bios) Ol. 56, 2 starb. Einen tenninus post
quem bildet jedenfalls die Rhadinadichtung,
welche die Gründung der 'IVrannis in Korinth
(657 )voraussetzt. Die fr. 73 erwähnte Sonnen-
finsternis mag die des Jalires 585 sein.
^) So Steph. Byz. s. Afdraino^; Suid. s.
^Tf/o. nennt ein italisches Matauros.
*) Suidas: yi< .Toha^' Ifinmi: n"}^ ^ixF).ing,
xa/.ehai yorr lueoaTf);;, nf Af d.io Marnvoia^
Tfj; t:r *lTa/.i</i, ot dt' djto IJfikavtiov ri}g 'Ao-
xadia^:. Vgl. Steph. Bvz. u. Mdravoo^. Lokroi
wird als GeburtsstaJt des Stesichoros aach
von dem Rhetor Himerios bezeichnet or. 29
^A).X(UO^ Aynftov xai At^XQor^ {idyovs cod., em.
Wilamowitz) x(>ni4f7 ^rtjof^oofK:. Von einem
den Lokrem gegebenen Rat berichtet Aristot
rhet. 1393b 11 ff. Nach der von Alkidamas
verbreiteten Sage war er Sohn des Hesiod
und der Klymone. worüber oben § 65 und F.
NiETZscHK/Rh. M. 28 (1873) 222 ff. ; E. Rohdb.
Kl. Sehr. 1 104 ff. Suidas zählt fünf ver-
schiedene Namen seines Vaters auf; Eakleides
heißt er auf einer Herme IGSl 1213, Eophe-
mos Plat. I'haedr. 244 a.
^) Arist. rhet. 11 20. In Himera sah
Cicero in Verr. 11 87 seine Statue: sein Bild
als Greis mit einer Rolle auf einer Münze
von Himera bei E. Q. Visconti, Xeon. gr.
(Paris 1808} III 7 und A. Baumeister, Denkm.
S. 1710.
«) Plat. Phaedr.243a. Isoer. Hei. 65; die
, weiteren Stellen Tu. Bercjk, PLG IH* p. 218.
' ') Suidas in der Vita; Anth. Pal. VI 75;
nach Poll. IX 100 war das Grab in Himera; das
Denkmal hatte acht Ecken und acht Säulen ;
ähnlich ist das etruskische sogenannte Grab-
mal der H(>ratier bei Albano. Die Fälscher
! des uns erhaltenen Briefwechsels zwischen
Stesichoros und Pbalaris setzen ein freond-
schaftliclu'8 Verhältnis der beiden Männer
voraus (Wklckkk a. a. 0. 215 ff.).
*) Die Heroenkulte waren besonders in
den Kolonien verbreitet und beruhten auf den
Sagen von deren Gründung; verehrt wurden
z. B. die Atriden in Tarent, Philoktetes in
Sybaris, Diomedes in Thurioi, Odysseus in
Kvme.
9) Quint. inst. X 1, 62; Suid. s. ::i:T>jaiX'
B. Lyrik. H. Chorlyrik. (§ 123.)
201
Meliker Xanthos, den er selbst in der Orestie nachgeahmt haben soll,^)
und durch Xenokritos aus Lokroi, der unter den Mitbegründern der
zweiten Musikperiode in Sparta genannt wird.*) In den musikalischen und
rhythmischen Formen soll er sich weniger an die lesbischen Meliker als
an den alten Nomenstil des Auleten Olympos*) angeschlossen haben, von
dem er das xarä ddxivkov eldog (die enoplischen Rhythmen, vgl. fr. 18) ent-
nommen habe. Der inneren Kunstform nach bezeichnet den Charakter
seiner Dichtungen Quintilian X 1, 62 mit den Worten: epici carminis onera
lyra stistinuit.^) Der Mythus mit seinem reichen und stets von neuem be-
reicherten Inhalt bildete wie bei Homer und Hesiod das Hauptelement
seiner Muse. Dem epischen, insbesondere homerischen Vortrag der Helden-
sagen gegenüber bedeutet die chorlyrische Fassung^) eine Belebung, die
auf das Ziel der dramatischen Darstellung^) hinweist. Bedeutsam ist zu-
gleich, daß Stesichoros neben den im ionischen Epos behandelten Sagen
auch nordgriechische und dorische (besonders die in Unteritalien und
Sizilien volkstümliche Heraklessage) heranzieht oder von den epischen
Sagen dorisch gefärbte, ohne Zweifel zum Teil altertümlichere, oft mit
Hesiod übereinstimmende Versionen mitteilt.^) Den Helenastoflf hat er
zuerst in der 'Ekeva auf Grund der rein ästhetischen, religiös indifferenten
homerischen Vorlage, dann in der Ilnhvcpöia mit Rücksicht auf die Über-
lieferung und den Glauben der Derer dargestellt, denen Helena eine Kult-
göttin war. Das Auskunftsmittel, widersprechende Mythologerae durch
Zerlegung einer Sagenfigur in zwei Teile, die echte Person und ihr fYdaykoy^
zu versöhnen, wie es Stesichoros durch Einführung der Schein-Helena in
Troia angewandt hat, stammt wohl aus Homer (Od. / 601 ff.).*) Wenn die
Alten oft vom homerischen Charakter der stesichoreischen Gedichte reden, ^)
so muß sich das nicht sowohl auf den Sagenstoff als auf stilistische Ähn-
>) Atii.513a; Ael. var. bist. IV 26. Für
Piktion h< den Xanthos K. Robert, Bild und
Lied, Berl. 1881, 173 ff. Dagegen K. Seelioeb,
Die Überlief, der griecb. Heldensage, Meißen
1886, 17 ff.
«) Oben § 91; Plut. de mus. 10.
*) Plut. de mus. 7 (freilich kann die
Notiz auf die Tendenz des Glaukos von
Rhegion, die Kitharmusik jünger als die
Flötenmosik zu machen, zurückgeführt
werden).
**) Ähnlich von ihm Antipatros Anth. Pal.
VIl 75 : ov xaia IJv&ayögov (pvoixav (pattv d jrgiv
'^O/^rjgov I yfvxa evi oriovotg devregov wxionxo'
ebenso Anth. Pal. IX 184; Plut. de mus. 3 über
St. und ähnliche Dichter jioiwvtes ejirj xovxotg
f^ifj nsgisri&soav.
*) Ob Stesichoros alle seine Gedichte,
auch die rein erzählenden, durch Chöre vor-
tragen lieB, bleibt freilich sehr zweifel-
haft. Auch das lange Gedicht des Pindar
P. 4 von der Argonautensage kann man sich
trotz seiner Abfassung in Strophen, Anti-
strophen und Epoden nicht leicht durch einen
vielatimmigen Chor oder wechselnde Halb-
chöre vorgetragen denken. Der Wechsel des
Metrums gegenüber der eintönigen Wieder-
holung desselben Verses belebte den Vortrag,
auch wenn er von einzelnen erfolgte. Aber
jedenfalls kann das halbepische Gedicht des
Pindar P. 4, das gleichfalls in sog. Daktylo-
Epitriten gedichtet ist, am besten eine Vor-
stellung von den verloren gegangenen Ge-
dichten des Stesichoros geben.
®) Welcker spricht von .lyrischen Dra-
men** des St.
^) K. Seelioer s. o. A. 1. K. Robert,
Bild und Lied 149 ff. 189. Es fehlt auch
nicht an Spuren dorischen Humors ; die kuli-
narische Schilderung fr. 2 gemahnt an Epi-
charmos; ebenso fr. 7,
*) R. HiRZEL, Ber. der sächs. Ges. d.
Wissensch. 48 (1896) 290 ; zur stesichoreKschen
Version s. A. v. Premerstein, Philol. 55 (1896)
634 ff.
») Welcker a. a. 0. 1 162 ff. Nach der
Andeutung bei Quintil. X 1, 62 (redundat
afque effunditur) kann man an epische Breite
der Ausführung denken, auch an das Zurück-
treten der Dichterpersönlichkeit.
202 GrieoMsche Litteratnrgesohichte. I. KlaasiBohe Periode.
lichkeit beziehen, die wir aber bei der Dürftigkeit der wörtlich erhaltenen
Bruchstücke nicht mehr nachweisen können (vgl. o. S. 197). Dem Inhalt
nach verteilen sich seine episch-lyrischen Gedichte auf folgende Sagenkreise;
Argonautenkreis lAMa im Ihlia;^) Herakleskreis rrjQvovrjtg, Kigßegog,
Kuxvog; thebanische Sage fJvgo)7ieia, ^EgKpvia; kalydonische Sage ^vo^gcu;
troische Sage 'Ikiov Tregaig, Noaxoiy ZxvXXa (derselbe Gegenstand, den später
Timotheos in einem Dithyrambos behandelte), ^Ogeoreia,^) 'EXeva nebst /7aJU-
vcpdia. Einen {^ofjvog auf die Syrakusierin Klearista erwähnen nur die Phalaris-
briefe, Paiane des Stesichoros nur Athenaios (250 b). Epochemachend für die
italische Sagenentwicklung war seine Iliupersis, weil darin die Sage von
Äneas' Wanderung nach Italien vorkam,') erfolgreich für die Entwicklung
der tragischen Poesie seine Oresteia und Helena.^) Neben den heroischen
Mythen berücksichtigte er aber auch erotische Volksmärchen der Heimat
und wurde damit Vorgänger der idyllischen Poesie der Alexandriner.*) So
führte er zuerst die später vielgefeierte Gestalt des Hirten Daphnis in die
Poesie ein, den eine Nymphe liebte, dann aber, als er die Treue in den
Armen einer Königstochter brach, elend zugrunde gehen ließ.<^) In einem
andern Lied besang er das traurige Ende der von dem schönen Euathlos
verschmähten und so in den Tod getriebenen Kalyke,') in einem dritten
im Skolienmaß®) des größeren asklepiadeischen Verses das blutige G^chick
der treuen Rhadina, die dem Tyrannen von Korinth^) angetraut, von der
0 Diese Sage ist nach der Dichtung des I Homer and Acnsil. fr. 26 M. bleibt Äneas
Stesichoros dargestellt auf einer Vase von ' in seiner Heimat.
Cäre, publiziert in Monum. ined. pubbl. dall' ^) Den Einfluß der stesichoretechenMytho-
Inst. X (Rom 1874) tab. 4. 5; ebenso nach poie, insbesondere der Tligaig, XJgeareüi ond
Paus. V 17, 10 auf dem Kypseloskasten. ' 'KAh'a-IIa/urcpdia auf Euripides weist nach
Die Dichtung wurde im Altertum auch dem M. Mayer, De Euripidis mythopoeia, Berlin
Ibykos zugeschrieben (Wilamowitz, Text- : 1883. Inhaltsrekonstruktionen dieser G^
gesch. d. gr. Lyn 83. Eine Verschiebung der dichte versucht Sssuoer a. a. 0. Den Ein-
Grenzen zwischen Ibykos und Stesichoros fluB des Stesichoros auf die bildende Kunst
scheint auch Ath. 601a vorzuliegen, wenn zeigt K. Robert, Bild u. Lied 26 f., desaen
St. als Begründer der päderastischen Lyrik Ansicht, als ob die Abweichungen des St. von
bezeichnet wird). Hier kam wohl auch die Homer auf poetischer WillkOr beruhten, von
Kyrenesage vor (Callimach. hymn. 111 206; Seeliger widerlegt ist.
8. J. V AHLEN, Berliner Akad. Sitz.ber. 1896, *) Aelian. v. h. X 18 tx de tovzov {bc. Ja-
821 f.). 7 j7<^oc) T« fiovxohxa jhfäi] jrocoroi' f/o^ . . 9eai
*) Nach fr. 34 hfttte die^^ Orestie zwei l'xtjot'xooor yf lov 'IfiFoaiov rfjc jotavztfg lifio-
Bücher umfaßt. Wilamowitz (Äschyl. Choeph. .To^ac v:tdo^no{)ai. Ath. 601 a : ZxrjoiioQog d' o^
Berl.1896 p. 249) denkt nicht an ein größeres ; fiFigiog FooTty.o^ yEvöufrog arreaTtjar xal rov^
Gedicht, sondern eine Mehrheit von Gedichten ' rov tov Tgiiim' twv fto/mroyv. E. Rohde, Qt.
mit dem Titel , Orestes*. Rom.* 30.
3) Auf der Tabula Iliaca, der die lliu- ®) Vgl. Parthenios c. 29 nach Timaios und
pcrsis des Stesichoros, nicht des Arktinos zu- Aelian. v. h. X 18; n. a. XI 13. Beachtens-
grunde gelegt war, steht geschrieben Ahftac: wert ist die Verlegung des Schauplatzes von
dnaujMv tU 'Ea^iegiav; merkwürdigerweise Daphnis' Leiden an den Fluß Uimera (bei
aber weiß Dionys. Hai. ant. 1 45 davon nichts. Theocrit. id. 7. 75), die Heimat des Himeräefs
Vgl. L. G. Chadzi Konstas, Die iliupersis nach Stesichoros.
Stesichoros, Leipzig 1877; die Glaubwürdig- ^) Eine ähnliche Sage von Harpalyke
keit der Angaben auf der tabula Iliaca stützt war nach Aristoxen. bei Ath. 619 e Cregen-
M. Paulcke, De tabula Iliaca quaestiones stand von Mädchenliedem, die agonistisch
Stesichoreae , Diss. Königsberg 1897. gegen vorgetragen wurden.
die Skepsis von Seeliger p. 32 ff. Die An- ^) Demnach durfte Welcker S. 211 f.
knüpfung westgriechischer Stämme an Troia dem St. Skolien nicht absprechen,
wird St. schon in der Tradition seiner Heimat *) Die Tyrannis in Korinth fängt an 657.
vorgefunden haben (Thucyd. VI 2, 3). Bei , Rhadina als Kosename eines schmächtigen
B. Lyrik, ü. Chorlyrik. (§ 124.)
203
alten Neigung zu ihrem geliebten Vetter nicht lassen wollte. Auch fr. 66
behandelt einen volkstümlichen Märchenstoff. ^) Dieses Hineingreifen in die
Sphäre -des Volkslebens darf wohl mit dem politischen Erwachen des
Volkes bei Gelegenheit des Sturzes der alten Aristokratien in Sizilien im
6. Jahrhundert in Zusammenhang gebracht werden. — In der Form wurde
Stesiehoros der eigentliche Begründer der chorischen Lyrik. Daß er auch
die Dreiteilung in Strophe, Antistrophe und Epode erfunden habe, hat man
früher auf Grund des sprichwörtlichen Ausdrucks ovde rgia tcov 2:t7]oix6qov
ytvioaxeig angenommen, aber diese Elemente der triadischen Komposition
finden sich, wie oben gesagt, schon bei Alkman.*) In den erhaltenen
Resten tritt am meisten der daktylische Rhythmus hervor, der mit seiner
gemessenen Gravität zu der ernsten dorischen Tonart stimmt. 3) Daneben
hat er aber auch die Wechselformen der sechszeitigen Takte in der
äolischen Weise. In der Sprache mischte Stesiehoros dem dorischen Grund-
ton ionische Elemente bei, die in der Hauptsache auf das alte Epos, teil-
weise aber wohl auch auf die ionischen Gründer von Himera und Rhegion
zurückzuführen sind.*) Möglich ist, daß die Sprache in den Heroenballaden
und den mehr volkstümlichen Märchendichtungen dialektisch verschieden
getönt war. Über seinen Stil lassen die dürftigen Reste kein Urteil zu.
Die Alten schrieben ihm wie dem Homer den „mittleren" Stil zu.*) Seine
Weisen waren im Athen der perikleischen Zeit geläufig und wurden bei
Symposien gesungen. 0) Sein Einfluß erstreckt sich über Aischylos und
Euripides (besonders Helena, Orestes, Troades) hinaus auf die Alexandriner
Alexandres Aitolos, Euphorien, Lykophron.')
124. Eine weit erregbarere Subjektivität zeigt Ibykos*) aus Rhegion,
Zeitgenosse des Anakreon. Der angesehenen Stellung, die ihm in seiner
Heimat winkte, zog er das unstete Leben eines Wandersängers vor.^)
Er durchzog die Städte Unteritaliens und Siziliens, lebte eine Zeitlang am
Hof des Tyrannen von Samos^^) und kam schließlich auf einer Reise nahe
Liebchens hat noch Lucret. IV 1167 ; Mädchen-
namen von ähnlicher Bedeutung bei C. Th.
SoNDAo, De nominib. apud AIciphron. pro-
priis. Diss. Bonn 1905, 51. Da das Grabmal
des Paares, ähnlich wie das von Romeo und
Julia in Verona, in Korinth gezeigt wurde
(Paus. VII 5, 13), so liegt wohl eine ätio-
logische Sage vor.
') A. Marx, Griech. Märchen von dank-
baren Tieren, Stuttg. 1889, 29 ff.
') 0. Crusius, Stesiehoros und die epo-
dische Komposition in der griechischen Lyrik,
in Comment. Ribbeckianae p. 3 — 22 gibt jenem
sprichwörtlichen Ausdruck den einfacheren
Sinn ,Du kennst nicht einmal drei Verse des
Stesiehoros''. — In Sparta führte zur Drei-
gliederung die xQtxogia oder der Gebrauch
von drei verschiedenen Chören, worüber Plut.
Lyc. 21 und PoUux IV 107.
•) Stesichori graves camenae Hör. od. IV
9, 8. Übrigens gebrauchte Stesiehoros auch
die phxygische Tonart (fr. 34) und den agfid-
retog vö/nog des Olympos (Plut. de mus. 7).
*) Den einheimischen lonismus betont
R. HoLSTBN, De Stesichori et Ibyci dialecto
et copia verborum, Greifswald 1884; dazu
die Einwände von E. Hilleb, Jahresber. über
die Fortschr. der Altert.wiss. 46 (1886) 1, 68 ff.
^) Dionys. Hai. de comp. v. 24; de imit.
II 2. Ein Stesichoroszitat in dem Kommentar
zu Hom. 11. ^ Oxyrh. pap. II zeigt, daß St.
die Personen auch direkte Reden halten ließ
(WiLAMOwiTZ, Gott. gel. Anz. 1900, 42).
«) Eupol. fr. 139. 361 K.
') Seelioer a. a. 0. 12.
®) Ein Artikel desSuidas; F.W.Schneide-
wiN, Ibyci rell., Gott. 1833 mit umständlichen
Proleg.; F. G. Welokbr, Kl. Sehr. 1220 ff. —
Eine geschichtliche Anspielung (auf Kyros?)
enthält fr. 20.
*) Davon das Sprichwort bei Diogenian.
II 71: dg/aiozeyog 'Ißvxov ovrog yao ivoav-
vsXv ÖvrdiLiEvog dji£Ö/jftr)an'; vgl. ibid. V 12.
^^) Himer. or. 22, 5; in Samos war er wahr-
scheinlich vor Anakreon, da ihn Suidas Ol. 54
setzt und zur Zeit, als der Vater des Poly-
204 Qriechische Litteratnrgeschichte. I. Klassisohe Periode.
bei Korinth ums Leben. Sein Tod ward später, ähnlich wie der des Arion
und Hesiod, durch die schöne, von Schiller verherrlichte Sage von den
Kranichen, die den versammelten Festgenossen die Mörder verrieten, poetisch
verklärt.^) Seine Gedichte wurden in 7 Bücher geteilt und zeigten zwar
in Dialekt und Versbau den Einfluß der dorischen Chorlyrik, näherten sich
aber in Ton und Inhalt mehr der äolisch-ionischen Melik. Denn die Liebe
zu schönen Knaben bildete das Hauptthema seiner Gedichte. Es sind die
Tiaidfloi liiFliydoveq vfivoi, auf die Pindar Isth. 2, 3 anspielt,*) und die
vielleicht, nach Welckers geistreicher Vermutung, bei den griechischen
Schönheitswettkämpfen, wie sie in Elis und Arkadien») üblich waren, von
Knabenchören gesungen wurden. Kein anderer Chorlyriker hat so un-
mittelbar wie Ibykos den Chor zum Organ des intimsten und subjektivsten
Gefühlsausdrucks gemacht: den Stimmungsgehalt der äolischen Monodie
lälit er von einer Mehrheit ausdrücken. Es fallt uns schwer, darin keine
Stilwidrigkeit zu finden.*) Sieht man aber von diesem Mißverhältnis zwi-
schen Inhalt und Vortragsweise ab, so steht Ibykos an Macht und Glut
der Empfindung und der Phantasie wie an Treffsicherheit des Ausdrucks
auf gleicher Höhe mit Sappho, von der er übrigens ohne Zweifel auch be-
einflußt ist. Sonst hat er mancherlei Verwandtschaft mit Stesichoros: wie
bei diesem findet sich bei ihm das Nebeneinander von Heroensage (fr. 12 flf.,
21, 30) und Volksmärchen (fr. 25), die Abhängigkeit von Hesiod (fr. 31),
das Hinneigen zu dorischer Sage (fr. 9, 16, 37), das Vorwiegen der dak-
tylischen Rhythmen neben sechszeitigen Wechselformen und Logaöden;
auch in Einzelzügen stimmen sie überein. ^) Westgriechischer Lokalton
wird in einigen sachlichen und sprachlichen Besonderheiten erkennbar.*)
125. Bei allen Vx*rschiedenheiten im einzelnen bilden die genannten
krates herrschte, nach Samos kommen laut. 7/^., der päderastische insbesondere A. P. VII
Auf seine Lebensweise an diesem üp]>igen 714,3. Letztere Art des foo»^ beruht bei Iby-
Hof wird sich wohl der ihm und dem Ana- kos auf altchalkidischen, nach Rhegion über-
kreon gemeinsam (aber auch dem Alkaios) gegangenem Brauch (Carm.pop. bei Th.Berok,
bei Aristoph. Thesm. 161 ff. gemachte Vor- PLG 111*673 nr. 44 aus Plut Erot 17; Hesych.
wurf weichlicher £leganz beziehen. \ s. v. ya).y.i(MZny). Die hellenistische Philo-
') Die Sage zuerst bei dem Epigram- ■ sophie betont die sitt<;n verderbliche Wirkong
matiker des 1. Jahrh. v. Chr. Antij)atroa Anth. von Ibvkos' (Tcdichten (Philod. de mos. p. 79,
Pal. Vll 745, dann bei Stat. silv. V 3, 152, XIV 10 K.). Von Namen der gefeierten
Plutarch.degarr. 14undSuidas: vgl.WELCKER, Knaben ist nur (lorgias (fr. 30) bekannt.
Kl Sehr. I lüO ff. Das Motiv ist international ^) E. Reisch. Realenc. 1 837, 8.
und tritt noch in neuester Zeit auf (F.Reuters ^) Weloker a. a. 0. 234 f. hat das Ver-
Hanue Nute; ein neues Exemplar des Typus dien.st. dieses Problem formuliert zu haben.
s. Tägliche Rundschau PJ05 Nr. 545). Siehe '-*) Vgl. fr. 34 A mit Stesich. fr. 69; fr. 35
a. E. RoHDE. Kl. Sclir. II 147. Ob der Name mit Stesich. fr. 25.
eines (unbekannten) Vogels 'tY>rz (Hesych. **) Bei der frühen Verbreitung der Orphik
8. V.) Anlaß zu der Übertragung des Motivs im Westen wird es nicht Zufall sein, daß
auf Ibykos gegeben hat, ist recht zweifei- 1. als Erster (fr. 10) den M'oiwxlvtfK XhKft)¥
haft. Das Grab des Dichters in der Heimat erwähnt. Dem Odysseus gibt er fr. 11 den
setzt das Epigramm der Anth. Pal. VII 714 westlichen Namen T>/.ic//> (Ulixes) ; west-
voraus. griechische Mythen fr. 22. 23. 38. Den lokal-
■*) Schol.Arist.lliesm. 161 stellt gerade so dialektischen Eigentümlichkeiten fr. 51. 54.
wie der Pindai-scholiast Alkaios, Ibykos und 55. 56 i.st vielleicht auch das von den Gram-
Anakreon als Dichter von mu^ixa neben- ' matikern notierte (Lesbonax de fig. ed. R.
einander. Der erotische Charakter von Iby- Müller, Loipz. 1900 p. 34. 76. 90) oxiit*o.
kos' (Jesängen wird sehr stark betont von \ ^IßvxFtor anzureihen.
Cic. Tusc. IV 33, Ath. 601b und Suid. s. v.
B. Lyrik. IL Ghorlyrik. (§ 125.) 205
drei Chorlyriker in rhythmischer Beziehung durch das Vorwiegen des alter-
tümlich-feierlichen Daktylus eine zusammengehörige Gruppe, die noch unter
stärkerem Einfluß des Epos und der Nomenpoesie steht. Die drei jüngeren
Chorlyriker, die zwei lonier, Simonides und Bakchylides, und der Äoler
Pindar gehen im Rhythmus weit mehr auf die beweglicheren und leb-
hafteren Formen der dionysischen Tanztakte ein, denen sie aber durch
Binnenkatalexen ernstere Haltung zu verleihen suchen. Es ist zu ver-
muten, daß ein wesentlicher Faktor beim Zustandekommen dieses Stil-
wechsels die künstlerische Regulierung des Bakchoschors, des Dithy-
rambos, 1) gewesen sei, auf dessen nunmehr teils strophisch gebundene
teils ohne Korresponsion ganz frei rhythmisierte Gestaltungen sich die
Chorlyrik im ganzen einließ. Die künstlerische Reform des Dithyrambos
wird von den Alten an den Namen Arion angeschlossen. Dieser apolli-
nische Kitharode aus dem lesbischen Methymna soll unter der Tyrannis
des Periandros in Korinth (625 — 585) „zuerst einen Dithyrambos gedichtet,
benannt und dem Chor einstudiert haben". 2) Was von seinem Leben und
seiner Person berichtet wird, läßt sich fast restlos in typische Züge auf-
lösen,») nach deren Abzug nur der Name Arion und die geschichtliche Tat-
sache übrig bleibt, daß unter dem Einfluß der apollinischen Kunst in Ko-
rinth, das schon Pindar*) als Ausgangspunkt des Dithyrambos (allerdings
neben Naxos und Theben) bezeichnet, eine Erhebung des Dithyrambos zu
einer vornehmeren Kunstform vollzogen worden sei. Daß Periandros, ver-
mutlich unter Mitwirkung des delphischen Orakels, zu dieser Reform des
dionysischen Volkskultus und seiner Eingliederung in den staatlichen Gottes-
dienst Veranlassung gegeben habe, wird im Zusammenhang deutlicher
religionspolitischer Strömungen des 6. Jahrhunderts überaus wahrschein-
lich.^) Genaueres läßt sich bei der legendenhaften Verschleierung der
Nachrichten über Arion nicht ermitteln. Der Dankhymnüs an Poseidon,
den ihm Älian (N. A. XII 45) zuschreibt, muß aus Gründen des Stils und
des Rhythmus in viel jüngere Zeit gehören, 0) ebenso das Epigramm über
Arions wunderbare Rettung auf dem Bronzedelphinreiter bei Tainaron, das
auf einer allerdings alten (Herod. I 24 extr.) ätiologischen Legende beruht.^)
*) Siehe o. S. 152 f. l Schmid. Z. Gesch. d. griech. Dithyr., Tübingen
') Herodot. I 23 f.; Hellanic. fr. 85 M.; 1901, 21. Wertlos ist die Notiz bei Suidas,
Ael. n. a. XII 45; ein Artikel bei Suidas; A. sei Schüler des Alkman gewesen; ebenso
der dort angegebene Name seines Vaters die andere xai oaTrooii: fisfrFyxfiy Fiiiteroa
Kvxkevg (von xvxkuK x^Q^^) Js^ offenbar fin- //-orras, die aus späterer Theorie über den
giert und findet in der Böckhschen Her- Ursprung der Tragödie hervorgegangen ist.
Stellung einer alten (ca. Ol. 40) Inschrift von Übei Arions Leistung s. a. E. Reisch in der
Thera (bei G.Kaibel, Ep. gr. 1086 Kcy.XFidrjg Festschr. f. Th. Gomperz (1902) 451 ff.
K]vxkffog ddeJiq:>€iat /igicavi, \ xov bF.XqAg [owoe, *) Find. 0. 13, 18 von Korinth: rai
fivrjfioöifvov reXeoer) keinen Rückhalt, da Aio)yroov ndi^FV i^FCfarev ovv ßoiildxn yoQiJFg
diese auf falscher Lesung beruht (Mitt. des > dtOroäftßo);
ath. Inst. 21, 1896, 253). Vgl. Anth. Pal. IX 88. ^^) W. Schmid a. a. 0. 20 ff.
Eine apokryphe Nachricht, die aus Job. 1 ^) Th. Bergk, PLG. III* 79 ff. K. Lehrs,
Diacon. ad Hermog. H. Rabe. Rh. Mus. 63 Popul. Aufs.* 385 ff. Die bei Suid. angeführten
(1908)150, 7 f. mitteilt, führt den Bericht über 1 zwei Bücher noooi/ua sind erschwindelt (von
die Begründung des igaycpdiag doäua durch I Lobon, meint 0. Ckusiüs, Realenc. II 840,
Arion auf Solons Elegien zurück. 25 ff.).
») 0. Cbüsiüs, Realenc. I 839, 19 ff.; W. ') F. Stüdniczka, Kyrene 175 ff. 184 f.
206 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassisohe PeriodA.
Was damals in Korinth geneuert worden ist, sehen wir in den Wirkungen
bei den jüngeren Chorlyrikern vor uns. Die drei jüngeren Chorlyriker
sind gewerbsmäßige Festpoeten, die gar kein Hehl daraus machen, daß sie
durch ihre Muse Geld verdienen wollen, i) Das bestellte*) Lied studieren
sie entweder persönlich als xoQodiddaxaXoi ein (Pind. Nem. 1, 19) oder sie
schicken es dem Besteller, der das Einstudieren durch einen anderen be-
sorgen läßt.') Sind sie schon durch die Bezahlung dem Besteller gegen-
über in abhängiger Lage, so wird diese noch bedenklicher durch die seit
Ende des 6. Jahrhunderts aufkommende Sitte, Lobgesänge auch auf lebende
Menschen zu dichten und aufzuführen. Der Gefahr, auch Unwürdige in
schmeichlerisch übertreibender Weise zu verherrlichen, ist wohl keiner von
diesen Dichtern ganz entgangen. Sie bemühen sich aber wenigstens, wo
es sich um persönliche Enkomien handelt, ihren Gegenstand aus der Sphäre
individueller Beschränkung heraus auf die Höhe allgemeiner Betrachtung
zu heben und nicht bloß den Besteller zu loben, sondern alle Hörer zu-
gleich zu erbauen. Die beiden lonier sind ihrer nationalen und persön-
lichen Eigenart nach mehr ruhig und nüchtern in der Empfindung, glatt,
schlicht und durchsichtig in Sprache und Rhythmen, während Pindar, der
letzte große Vertreter des äolischen Genius in der griechischen Litteratur,
zugleich Erbe von Alkaios' ritterlichem Temperament und von Hesiods
grübelnder Art, sich von dem kühnen Flug seiner Phantasie emportragen
läßt und zugleich in die Tiefen sittlich-religiöser Betrachtung hinabdringt,
ohne vor dem Harten, Kühnen, Sprunghaften in der Formgebung zurück-
zuschrecken.
126. Simonides (556 — 468),*) Sohn des Leoprepes und Enkel des
Hyllichos, war auf der ionischen Insel Keos, die auch die Heimat des So-
phisten Prodikos war, geboren. Auch auf der Heimatinsel, wo er schon als
Knabe an der Bedienung des Dionysoskultes sich beteiligte, war er ge-
legentlich in dem Städtchen Karthaia mit der Dichtung und Einübung von
Chorgesängen beschäftigt.*^) Aber einen großen Teil seines Lebens scheint
er auf Reisen zugebracht zu haben, an lyrischen Agonen beteiligt^) oder
sieht in dem Delphinreiter den Poseidon hatte ein Buch über Simonides geschrieben.
selbst. Albr. Dürers Zeichnung des reitenden F. W. Schneidbwin , Simouidis Cei rell.,
A. bei 0. Jahk, Aus der Altertumswiss., Bonn 1 Brunsv. 1835. Das Geburtsjahr ist von dem
1868, 351. Karikatur auf einer aloxandri-
nischen Terrakotta, Berl. phil. W.schr.9(1899)
1437.
*) über Simonides, den Xenophancs fr. 21
Dichter selbst angedeutet fr. 147 ; das Todes-
jahr Marm. Par. ep. 57. Die Lebensdaaer
gibt Suidas auf 89, Marm. Par. auf 90 Jahre an.
*) Ath. 456 d— f. Auch Pindar dichtete
DiELS Knauser (xiftßi^) nennt, und seine | nach Is- 1, 8 eine Ode für Keos. In dem In-
ioydnc fwvoa s. Callim. fr. 77 Sohn.; Aristot. | ventar des Apoll ontempels von Karthaia bei
eth.Nic.ll21b; Ps.Plat.Hipparch.228c. Siehe ; Ch. Michel. Recueil d*inscr. Gr. nr. 834 sind
a. Pindar. Isthm. 2,6; 1, 9U; Pyth. 11. 43; ' mehrere Weihegaben kelscher Ghoregen s. IV
Scliol. Pind. Isthm. 5, 2; Nem. 7, 24. Nach a. Chr. verzeichnet.
Schol. Nem. 5, 1 erhielt Pindar für ein Sieges- •) Von 56 Stieren und Dreifüßen, die
lied 3000 Drachmen. Im 4. Jahrh. scheinen die ' er gewonnen, redet das Weihepigramm fr. 145.
Preise gesunken zu sein (L. GuBLiTT, Philol. 65, Einmal unterlag er dem Pindar (Schol. Pind.
1906. 382 ff.). Siehe a. u. S. 207, 11. 208,2. i Ol. 9, 74, wo zu lesen: xnra toi) xoivavtoc
*) Als Besteller wird bei Bacchyl. 9, 9 | [<iuafh7»^] FlniFiduor)^ einmal besiegte er mit
ein Schwager des Gefeierten genannt. einer Elegie den Aischylos (Vita Aesch. p. 119,
») Pind. Ol. 6. 88; Isthm. 2, 47. 4') W.). Epideiktisches Auftreten in Olympia
*) Ein Artikel des Suidas; Chamaileon , bezeugen fr. 19. 20.
B. Lyrik. IL Chorlyrik. (§ 126.) 207
im Genuß forstlicher Gunst als Hofdichter. Von Keos kam er zunächst
nach Athen an den Hof des kunstverständigen Hipparchos,^) wo Lasos
von Hermione (Herod. VH 6) sein Konkurrent war (Ar. vesp. 1410). Nach
der Ermordung des Hipparchos (514) ging er nach üjrannon und Larissa
in Thessalien, wohin ihn die mit den Peisistratiden verbündeten (Herod.
V 63. 94) Machthaber jener Städte riefen. Für Skopas dichtete er ein
berühmtes, von Piaton im Protagoras zergliedertes Chorlied; dem Andenken
des Antiochos von Larissa weihte er einen gepriesenen Trauergesang;*)
bekannt ist seine später poetisch ausgeschmückte wunderbare Bettung bei
dem Einsturz des Saales, durch den Skopas und alle übrigen Tischgenossen
verschüttet wurden.^) Nach der Schlacht von Marathon treflfen wir ihn
wieder in Athen, wo er mit einer Elegie auf die gefallenen Vaterlands-
verteidiger den Sieg über Aischylos davontrug. Zu Themistokles scheint
er in freundlichen Beziehungen gestanden zu haben.*) In Athen gewann
er auch im März 476 mit einem Dithyrambos den Preis, wie er selbst in
einer poetischen Didaskalie meldet.*^) Bald danach ging er nach Sizilien,
wo er die Aussöhnung des Theron und Hieron vermittelte (476/5) ö) und
sich an den Höfen der glanzliebenden Fürsten dieser gesegneten Insel be-
sonderer Gunst erfreute,'') vielleicht auch seinen NeflFen Bakchylides bei
Hieron einführte. Auch ein Aufenthalt in Tarent ist wahrscheinlich.®) In
Sizilien fand er seinen Tod (468); vor den Toren von Syrakus befand
sich sein Grabdenkmal, das später ein roher Soldatenhauptmann zer-
störte.») Ob er längere Zeit (476 — 468) in Sizilien verweilte, ist nicht aus-
gemacht;'**) sicher hatte er dort nach''476 die Anfeindungen seines großen
Rivalen Pindar zu bestehen, den gleichfalls die Könige Siziliens an ihren
Hof berufen hatten. Im übrigen ließ er sich durch die vielen Aufträge,
die ihm für Siegeslieder, Choraufführungen und Aufschriften zuteil wurden,
bald hierhin bald dorthin ziehen. Sein poetisches Talent und seinen feinen
Witz stellte er eben in den Dienst aller, die ihn verlangten und bezahlen
konnten. Denn für seine Gedichte sich honorieren zu lassen, betrachtete
er als eine selbstverständliche Sache, i^) Dadurch freilich, sowie durch die
*) Die Freundschaft des Hipparchos be- ' ^) Xenophon läßt ihn in dem Dialog
zeugt Ps.Platon Hipp. 228 c; Aristot. Ath. 'Ugwv mit dem Tyrannen ein Gespräch über
resp. 18 ; Ael. v. h. VIH 2. . das Los des Herrschers führen. Ein an
*) Auf die Verherrlichung des Antiochos
und der Skopaden durch ihn weist Theokrit
16, U hin.
«) Callimach. fr. 71 Schn. ; Cic. de or. II 86 ;
Phaedrus IV 25 ; Valer. Maximus 1 8, 7 : Aelian.
fr. 63 u. 78; Quint. XI 2, 11; vgl. K. Lehbs,
Popul. Aufs.* S. 393 f. Eine zweite wunder-
bare Rettung des S. erwähnt Liban. T. FV
1101 R.
*) Simonid. fr. 222, wozu seine Ver-
ungUmpfang von Themistokles' Gegner Timo-
kreon (fr. 169) und wiederum Timokreons
Schelten auf die Krjla (plvagia (Timocr. fr. 10
Bebok) stimmen würde.
*) Der Schluß des Epigramms fr. 147
lautet: afji(pi didaoxaXiij de ^i^icovidji eojteio
xvdog X)ydo}XOvtaexEi Jtatdi Aetojigejisoc.
•) Schol. Find. 0. 2, 29.
Hierons Frau gerichtetes Wort des S. ver-
zeichnet die frühptoiemäische Anthologie
Hibeh papyri 1906 nr. 18. Siehe a. u. S. 208, 2.
8) WiLiMOwiTz, Gott. Ind. lect. 1893/94
p.8.
9) Callim. fr. 71 Schn.; Aelian. fr. 63.
*°) Daß er noch nach 468 Athen zu Ehren
ein Epigramm auf die Sieger am Eurymedon
verfaßte, ist man nicht berechtigt anzunehmen,
da das betreffende Epigramm untergeschoben
und sicher nach 423 geschrieben ist, wie Bb.
Keil. Herrn. 20 (1885) 341 ff. nachgewiesen hat.
^^) Suidas: ovkk :io<7)iog öoxei ftixQoXoyiav
r.ion'FyxEtr ei^ x6 aofia xal yoaxpai q.oua fun-
i7ov. Vgl. Schol.' Find. Isth. 2, 9; Chamai-
leon bei Ath. 656d. Siehe a. o. S. 206. 1.
Schlimmer sind die Folgen, die aus dieser
Feilheit für den Charakter des Dichters er-
208 Ghriechische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
Skrupellosigkeit in Annahme von Bestellungen verweltlichte er die Poesie^
indem er unter den Dichtem eine ähnliche Stellung einnahm wie die
Sophisten unter den Philosophen i^) den griechischen Voltaire hat ihn Lessing
im Laokoon genannt. Zu der Frau des Hieron sagte er einst mit witziger
Unverfrorenheit: Reichtum geht vor Weisheit; denn die Weisen kommen
zu den Türen der Reichen.*) Mit seiner verstandesmäßigen Nüchternheit*)
und enipiristischen Illusionslosigkeit, mit seiner Neigung, die sittlichen An-
sprüche herabzustimmen, die auf einer pessimistisch-resignierten Stimmung
beruht, ist er Vorläufer der einseitigen Verstandeskultur der Sophistik ge-
worden und hat mit seiner vorsichtig egoistisch abgewogenen, dabei das
Uecorum wahrenden Lebensklugheit ein außerordentliches Ansehen ge-
wonnen.*) Seine Verse sind nicht nur sehr gewandt und klar, sondern an
manchen Stellen von wunderbarer Zartheit und Wärme der Stimmung,
wofür besonders der Uanaedithyrambos^) (fr. 37) ein glänzendes Beispiel
bietet. Auch die malerische Wirkung, die er betonte,^) kommt hier be-
sonders schön heraus; im übrigen hält er das eigentlich Bildliche, das dem
Ausdruck leicht etwas Gedunsenes und Prätentiöses gibt, geflissentlich fem.
Besonders gerühmt wird von den Alten seine Kunst in der ergreifenden
Schilderung und in Erregung des Mitleids. '') Diese Eigenschaften führten
ihn von Erfolg zu Erfolg bis in sein höchstes Alter**) und machten ihn zu
einem der beliebtesten Dichter des 5. Jahrhunderts, dessen Gedichte bei
attischen Symposien gern gesungen wurden. »)
Die Dichtungen des Simonides waren sehr mannigfaltig und zahl-
reich; die chorischen Gesänge wiegen vor, religiöse und weltliche. In
wuchsen: er pries in einem Grabepigranini kung übertriebener Bestattungsgebräache in
fr. 111 die Tochter des Hippias, Archedike, lulis (Cn. Michel, Recueil nr. 398 ; £. Rohdb,
verfaule aber auch ein Epigramm fr 181 auf Psyche P 221 ff.). Siehe a. B. Schmidt, N.
die Statue der Tyrannenmörder Harinodios ; Jahrbb. f. kl. Alt. 11 (1903) 617 f.
und AristDgciton : freilich ist die Echtheit **) «07 öc ;?«< /Mr^ «r/Jo nennt ihn Fiat.
dieser Epigramme fraglich. reip. I 331 e; wäre er ein Jahrhundert früher
^) Bezeichnend für das sophistische Wesen geboren, so hätte man ihn wohl unter die
des Dichters ist der Vers fr. 70 : ro doxtir sieben Weisen gesetzt, neben denen ihn Plat.
xni rav u/.nOFiar ptäxai. Aus dieser Weisheit reip. I 335 e nennt.
ist wohl auch die Lebensrogel in dem Sei- ' *) F. Blass. Herm. 30 (1895) 314 flf.;
kilosliedchen (0. Crusius, Philol. 52, 1S1»3, Wilamowitz. Isyllos 145 ff.
l()ü) iioov Ct'fig (fuhor geflossen. *) Horazens (a. p. 361) ut pictura poesU
') Arist. rhet. 1391a 8; vgl. Plat. Prot. ist ein simonideischer Gedanke (Plut. eymp.
346 b. Die andere Anekdote von den zwei quaest. 748 a). der in die hellenistische Poetik
Kästchen bei Stob. flor. 10, 39 (vgl. (^allim. übergegangen ist (Auct. ad. Here;in. IV 28,39;
fr. 77) läßt sich nur griechisch erzählen: , Oic.Tusc. V 114; Schol. THom.i:.'664. Z467.
^'///Cf>i7<^//C .KumxahtrrTn^ itnt^ i'/xfonior .loit'j- I* 136. // 107. il 163 U. S.).
aat y.ai y/ujti' t'^nr '/.hyorro-, nnyrnnty fif fii) ') Q}xmi,W,i^A: prnecipua etiis in cotH'
()nVn'T(K, ()ro, FL^Fr, f/o) xifionov;:, rip' /ih j ffiovetida wiaeratione rirtuSf ut quidatn in
ynoiKor, Ttjy dr vLQyvoiov, y.tti ttooc tu^ /oFim: hac eiwi jmrte omnibu» eixis operis auctoribun
lijv /ah T(hv yuiu'rwt' xFi'f/v froioyo) niav praeferani , Dionys. de imit. II 2, 6: J^ifito-
ni'<n'::(i), lijV <)f ZQtjot'/ii/r ttnvfjp. Gegen die vu^ot mumit'njFt rtp' ix'/.oyiji' rihr (Wofidreov,
(Geldgier dos Simonides ist auch gerichtet r/}c nwOhotcK Tt^r dxotßkiav, .loog tovxok
Thuc. 11 44, 4 (vgl. Simonid. bei Plut. an seni xmV o ßF/.ittni' FvotoxFiai xai Hii'bdoov, x6
786b; Aristot. rhet. 1390a 15 f.; Ter. Ad. oixTUFoOw fit/ /tFynAo.ToF.iv)^, cb? exfirog, dkka
884) und Arist rhet. 1405 b 24. naiitiuxö,^. Vit. Aeschylip. 119,46 W.; CatuU.
^) oox/ooorr/y nennt das Aristid. or. 38.8: Hör. od. 11 1.38.
49 p. 510 D'ind. Die Nüchternheit liegt im «) fr. 145 und 147.
Charakter des kelfschen (Gemeinwesens und ^) Ar. nub. 1356.
zeigt sich z. B. in der gesetzlichen Einschrän- ■
B. Lyrik. IL Ghorlyrik. (§ 126.)
209
diesen behielt er den für diese Gattung typisch gewordenen dorischen
Dialekt bei, wiewohl er von Geburt ein lonier war und der Geist
seiner Dichtung mehr die weltmännische Feinheit eines Attikers als
die derbe Charaktertüchtigkeit und die Gemütstiefe eines Dorers aus-
spricht. Wir haben Fragmente von Hymnen, i) Paianen (die Echtheit
von fr. 26 B ist unverbürgt), Skolien,^) Epinikien,^) Enkomien, Dithy-
ramben,*) Hyporchemen,*) Thronen.«) In der letztgenannten Gattung
erfreute er sich im Altertum eines besonderen Rufes; in den Klageliedern
entfaltete er in glänzender Weise die Kunst, Mitleid zu erregen (s. o.
S. 208). Vereinzelt in der griechischen Lyrik steht sein melisches Ge-
dicht auf die Seeschlacht bei Artemision. Es wird als Dithyrambus mit
geschichtlichem StoflF zu betrachten sein, analog den geschichtlichen Tra-
gödien, die das Zeitalter der Perserkriege gezeitigt hat. Das herrliche
Fragment auf die bei Thermopylai Gefallenen (fr. 4) gehört zu einem lyri-
schen Enkomion, einer Gattung, die später durch die prosaischen koyoi
i7iixd(pioi ersetzt worden ist. Außerdem glänzte er als Dichter von Elegien,
wie auf die Siege von Marathon, Salamis, Plataia (fr. 81 — 84). Dem spä-
teren Altertum ist Simonides insbesondere der Epigrammatiker^), und die
Alexandriner haben ein Buch Epigramme von ihm gehabt,®) das aber sicher
*) Unter ihnen eine Sturmbeschwörung,
xnxivxai (fr. 24) ; über dergleichen s. H. Stein
zu Herod. VII 191, 7; Fs.Hippocr. T. VI, 360
LiTTR^; Philostr. Vit. Ap. VIII 7 p. 313,
20flf.K.
") Zu dieser Gattung rechnen Blass und
WiLAMowiTz (Gott. Nachr. 1898, 204 if.) das
in Piatons Protagoras besprochene Gedicht
fr. 5, das Berok und H. Jurenka. Z. f. ö. G.
57 (1906) 885 ff. unter die Epinikien stellen.
*) Geordnet waren diese nach Kampfes-
arten. Vor Simonides scheint es keine kunst-
mäßigen Epinikien gegeben zu haben (Find.
N. 8, 85 ff. ist fabulos). Er wird also den
Stil dieser Gattung geschaffen haben (F. Blass,
Bacchyl.* praef. XXII).
*•) Sicner unterscheiden lassen sich Mhi-
vojv (fr. 27), EvQwmj (fr. 28 : daraus vielleicht
Hör. od. III 27, 25 ff.) ; mit Wahrscheinlich-
keit Danae (s. S. 208), Orpheus (40), Argo-
nauten (48. 52. 202 A. 204. 205. 212), Ly-
kurgos (51), Theseus oder Aigeus (54—56),
Herakles (58), Sieben gegen Theben (52),
Ikiov TiFQotg (209). Idas (206. 216; vgl. Bac-
chylid.l9); Ätna (200 B).
*) Daß die Hyporchemfragmente bei
BsBGK 29—31 dem Sim. gehören, ist nicht
erweislich.
*) Nach Suidas schrieb er auch eine Tra-
gödie, worunter A. Böckh den Meranon. den
Strabon p. 828 einen Dithyrambus nennt,
verstehen wollte; vgl. E. Lübbert, Ind. Bonn.
1884 p. 16. Dagegen nahm G. Hermann,
Opusc. VU214 eine wirkliche Tragödie an.
H. Flach hat jenes xai rgayf/jöiai bei Suidas als
Interpolation eingeklammert: s. 0. Immisch,
Handbaeb der klaas. Altertumswissenschaft. VII.
Rh. M. 44 (1889) 556.
') Vgl. Tn. Preger, De epigrammatis
graecis, Monachii 1889, p. 3sqq.; A.Hauvette,
De l'authenticit^ des öpigrammes de Simonide,
in Biblioth^que de la facultö des lettres de
Paris, 1896 (dazu Preger in Neue phil. Kund-
schau 1897 n. 9) , dessen Urteil unter dem
Einfluß von G. Kaibels Untersuchungen
(Rhein. Mus. 38, 1883, 436 ff.) steht, wenn er
in der beaut6 simple et naturelle und der
Pointenlosigkeit ein Kennzeichen der Echt-
heit sucht. Diese Eigenschaften fallen zum
Teil auch zusammen mit der altmodischen
Trockenheit der Küsterpoesie, die zu dem
Schatz der griechischen Stein epigram me viel
beigetragen hat. In dem einzig sicher echten
Epigramm des S. (fr. 94) tritt eine antithe-
tische Pointe zutage, und man möchte wohl
gerade die Begründung des Pointenepigramms,
wie wir es jetzt verstehen, dem geistreich
spielenden lonier zuschreiben. Mit der Le-
gende von dem Epigrammatiker Simonides
gründlich, vielleicht etwas zu gründlich auf-
geräumt zu haben, ist das Verdienst von
Wilamowitz, Gott. Nachr. 1897, 306 ff. (vor-
sichtiger ders., Textgesch. der gr. Lyr. 37).
Während Hauvette noch 41 Epigramme füi-
echt hielt, ist M. Boas, De epigrammatis
Simonideis l, Diss. Groningen 1905, der An-
sicht, um Echtheit könne es sich höchstens
für elf Stücke handeln. — über die Sprache
der melischen Gedichte W. Schröter, De
Simonidis Cei melici sermone quaestioncs,
Diss. Leipz. 1906.
") Hephaestio p. 60, 5 Consbr. ; Herodian.
,T. //or?/£>. /f^. p. 950, 17 L.; Suid. s. 2'///.;
5. Anfl. 14
210 Ghriecliisolie LitteraturgetMhiclite, L EUMisclie Periode.
unechtes enthielt, i) Die Sammlung umfaßte, wie neuere Funde gezeigt
haben, auch alte Inschriften, die von den Steinen gesammelt, aber im Lauf
der Überlieferungsgeschichte auch interpoliert wurden^) und fflr deren cdmo-
nideischen Ursprung keinerlei Gewähr geleistet werden kann und konnte.
Nun ist ja bekannt, daß in der großen Zeit des nationalen Aufschwungs
Gemeinden und Private in der Errichtung von Siegestrophäen und in der
Ehrung des Andenkens tapferer Vaterlandsverteidiger wetteiferten. Auf
den Statuen, Grabsteinen, Dreifüßen, Tempeln wollte man in Worten
die Erinnerung an die großen Ruhmestaten festgehalten wissen, und das
nicht nur in Prosa, sondern auch in Versen. Es wäre wunderbar, wenn
in so gelegener Zeit der gewandte und spekulative, als Gelegenheitsdichter
vielbewährte Simonides nicht auch sein Talent angeboten und verwertet
hätte. Aber die Frage der Echtheit des Erhaltenen muß von Fall zu Fall
geprüft werden, und sichere Kriterien allgemeiner Natur sind trotz allen
Bemühens bis jetzt nicht gefunden. Ganz feststehend ist nur, daß er dem
Seher Megistias 480 ein Grabepigramm gewidmet hat (Herod. VH 228),
und da er dies „aus Gastfreundschaft'' getan, so kann auf Grund dieses
Einzelfalls mit wissenschaftlicher Sicherheit nicht einmal von Epigramm-
bestellungen bei ihm geredet werden. — Dunkel ist der Sinn der ätcüctoi
Xoyoi^ aus denen fr. 189 stammt; nach den Worten des Alexandres von •
Aphrodisias könnte man an prosaische Mimen denken, zu denen Simonides
in Sizilien angeregt worden sein kann. Mit Welckers Vorschlag, dieses
Werk dem Semonides zuzuschreiben, ist nichts geholfen.
An den Namen des Simonides knüpfte sich auch der Ruhm erfinde-
rischen Geistes: er, der bis in sein 90. Lebensjahr sich ein wunderbar
frisches Gedächtnis erhielt, galt zugleich als Erfinder der Mnemotechnik.')
Daß er auch die Buchstabenzeichen HÜZWI erfunden habe,*) die schon
Jahrhunderte vorher auf kleinasiatisch-ionischen Inschriften in ihrem spä-
teren Lautwert erscheinen, ist reine Fabel.
127. Bakchylides (um 505 bis 450 oder später),*^) der jüngste der
drei großen Dichter der chorischen Lyrik, stammte gleichfalls aus Keos.«)
Er war Schwestersohn des Dichters Simonides; sein gleichnamiger Gro&-
Eustath. ad Hom. ^ 350 p. 1761, 25; Schol. j fttr ein mit der Beischrift ^2:ifji€ovi6rjg ^o/ec*
Find. N. 7, 1. versehenes spätes megarisches Epigramm Be-
^) Hoph. 1. 1. zitiert als simonideisch ein nützung der litterarischen Simonideasamm-
Epigramm auf einen Olymjjioniken vom Jahr lungannimmt. ^ Simonides "imitation auf Stein-
388: in der langen Reihe von Epigrammen, inschriften illustriert 0. Benitdobf, Jahreah.
die in der palatinischen Anthologie als simo-
nideiwch bezeichnet werden, sind viele (z. B.
VI 145; VII 20 auf den Tod des Sophokles),
des österr. Inst. 3 ^1900) 115; E. Zisbabth,
Philol. 54 (1895) 296.
') Die Legende vielleicht zuerst in dem
die sicher mit S. nichts zu tun haben. Epigramm fr. 146, vorausgesetzt Mann, par,
-) Vgl. die von St. N. Dkagümis f Ath. ep. 54 u. s.
Mitt.22. 1897. 52 ff. nebst Tafel IX) gefundene *) Die Stellen bei H. Flach, Gesch. der
salaminische Inschrift in korinthischem Alpha- gr. Lyriker, Tübingen 1884, 619, 3.
bet und Dialekt mit der zuerst bei Plutarch *) Ein dürftiger Artikel des Soidas L.
und Favorinus belegten Fassung fr. 96, wo A. Michelangkli. Della vita di Baccbilide,
der dorische Dialekt getilgt und ein zweites ! Riv. di storia ant. 2 (1897) 3, 73 ff.
Distichon beigefügt ist; eine ähnliche Inter- \ ®) Seiner Heimatinsel Keos gedenkt er
polation von fr. 150 bespricht A. Wilhelm, ; 3, 98; 5, 10; 16, 130; 18, 11: epigr. 1,4 Bl.
Jahresh. d. österr. arch. Inst. 2 (1899) 231 ff., der ,
B. Lyrik. H. Chorlyrik. (§ 127.)
211
vater war Athlet; so wies ihn Abstammung und Verwandtschaft auf die
chorische Lyrik und den Preis der Sieger an den Nationalspielen. Seine
Blüte setzt Eusebios Ol. 78 = 468 v. Chr.,i) in welchem Jahr er das Preis-
lied auf den olympischen Wagensieg seines Gönners Hieron dichtete. Bald
nach der Schlacht von Salamis war er als Dichter von Epinikien auf-
getreten; 479 oder 477 feierte er zugleich mit Pindar den nemeischen Sieg
des Aigineten Pytheas.*) Wann er geboren und wann er gestorben ist,
darüber mangeln uns zuverlässige Angaben. Von seinen Lebensverhältnissen
sind uns nur zwei Punkte überliefert, sein Aufenthalt am Hof des Königs
Hieron von Syrakus*) und sein Exil im Peloponnes.*) Zuerst trat er mit
Hieron in nachweisbare Beziehung, als er ihm 476 von Eeos aus ein Epi-
nikion auf seinen Sieg in Olympia mit dem Rennpferd schickte (5), den-
selben, den Pindar in der ersten olympischen Ode verherrlicht. Der devote
Ton dieses breit angelegten Gedichtes läßt vermuten, daß er dem Tyrannen
damals noch nicht näher stand. Das zweite Lied an Hieron (4) auf
dessen pythischen Wagensieg 470 ist schwerlich auf Bestellung gemacht,
sondern ein kurzes Gratulationsbriefchen in chorlyrischer Form, da der
Dichter wohl eine zweite Konkurrenz mit Pindar, der auch diesen Sieg in
der gewaltigen ersten pythischen Ode besungen hat, scheuen mochte.
Zwischen 5 und 4 scheint ein Aufenthalt bei Hieron in Syrakus zu fallen
— die (pdo^evia des Tyrannen, auf die er 5, 49 bedeutungsvoll anspielt,
wird er damals erprobt haben und scheint dafür auch 3, 10 flf. zu quittieren.
Pindar empfand die Rivalität der beiden lonier schon 476 lästig, wenn er
sie in der Ode auf Therons olympischen Wagensieg (0. 2, 95) als krei-
schende Raben bezeichnet, die sich nicht messen dürfen mit dem göttlichen
Vogel des Zeus.*) Über seine Verbannung geben uns weder die Reste
seiner Dichtkunst noch andere Zeugnisse des Altertums näheren Aufschluß.
Wir können nur allenfalls aus dem Zusammenhang, in den Plutarch ihn
mit Thukydides und Xenophon bringt, vermuten, daß seine Verbannung
längere Zeit dauerte und in seine spätere Lebenszeit fiel. Sicher war er
im Jahre 468 in Keos, wie wir jetzt aus seinem in diesem Jahr aus Keos
nach Syrakus gesandten Siegeslied auf Hieron (3, 98) nachweisen können.^)
^) unmöglich ist der andere Ansatz bei
Euseb. zu Ol. 87.
«) P. BLASS, Ausg.« praef. LXI f.
■) Aelian v. h. IV 15 : 'ligcov otnt'jv 2'<^w-
r/(3j7 rq) Ksicp xai IIivddQfp xio ßrjßaifo xai
BaxxvUdn Ttfi 'lovXirJTff. Vgl. Schol. Find. 0.
2, 154.
*) Plutarch de ezilio 605 c, wo unter den
großen Männern, die aus ihrem Vaterland
verbannt in der Feme große Werke schrieben,
auch Baxxvltdrjg 6 jToitjtifg h IhXonm'vrjori)
genannt wird.
') Schon von den alten Scholiasten wurde
in den Worten Pindars 0. 2, 94 oo(f6g 6
nakXa eidiog q/vq' fm^ovreg Xcißgoi jtayyhoooiq.
xoQoxeg &g axQavra yaovFxov der Dual yogve-
Tor auf die rivalisierenden Dichter Simonides
und Bakchylides gedeutet, worauf B. fr. 5
mit dem nflchtemen Satz ezegog i^ hegov
aoq^og (d. h. die ooqia ist lernbar) t6 tf naXai
t6 re vvv antwortet. 5, 16 ff. tritt B. noch
hochfahrend unter dem von Alkaios fr. 7 in-
spirierten pindarischen Bild des Adlers auf,
während er sich in dem späteren Gedicht
3, 97 mit der bescheideneren Nachtigall rich-
tiger vergleicht. Mit unrecht wird die Rivali-
tät der Dichter bestritten von Michel angeli,
F. BLASS (Ausg. praef.' XV), H. Jurbnka
(Bacch. p.V) u. a.
^) Zu einer Verbannung des Bakchylides
in höherem Alter stimmt es auch, daß sich
die Keier i. J. 458 ein Chorlied bei Pindar
bestellten (s. W. Christs Einleitung zu Pind.
Is. 1). Denn das war begreiflich, wenn damals
nicht bloß Simonides bereits tot, sondern
auch Bakchylides aus seiner Heimat Keos
verbannt war.
14*
212 Qriechische Litteraturgeschichte. L Klasaische Periode.
Auch die beiden Gedichte (1. 2) auf seinen gefeierten Landsmann, den
Athleten Argeios hat er noch in seiner Heimat gemacht, das zweite im-
provisiert (2, 11); er gedenkt hier der siebzig Kränze, die Keos schon bei
den Isthmien gewonnen habe.O
Die Dichtungen des Bakchylides bewegten sich in allen Formen der
chorischen Lyrik; erwähnt werden von ihm Epinikien, Hymnen, unter denen
der Rhetor Menandros^) die Klasse der äjiOTreßijmxot (Abschiedschöre an
Götter, die auf Reisen gehen) als ihm eigentümlich hervorhebt, Paiane,
Dithyramben, Prosodien, Parthenien, die Plutarch de mus. 17 neben denen
des Alkman, Pindar und Simonides nennt, ferner Tanz-, Wein- und Liebes-
lieder und Epigramme. Bisher hatte man von allen Dichtungsarten des
BakchyUdes nur späriiche Fragmente; seit Ende des Jahres 1896 sind wir
so glücklich, neben Bruchstücken auch mehrere ganze Gedichte, darunter
solche von größerem Umfang zu besitzen. Sie stammen aus den Resten
zweier ägyptischen, jetzt im britischen Museum befindlichen Papyrusrollen
aus dem 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr. (so Grenfell-Hunt). Durch müh-
selige Zusammensetzung der geretteten Stücke haben sich außer ein paar
Dutzend Bruchstücken zwanzig zusammenhängende Gedichte in teilweise
vorzüglicher Erhaltung gewinnen lassen. Die erste Rolle enthält vierzehn
Epinikien,^) vier an Landsleute des Dichters, Argeios (1. 2) und Laches
((i. 7),*) drei an König Hieron (3 — 5), die übrigen an verschiedene
Sieger aus Phlius, Athen, Metapontion, Aigina und Thessalien, und zwar
auf Olympioniken vier (3. 5. 6. 7), auf Pythioniken 2 (4. 10), je drei
auf Isthmioniken (1. 2. \)) und Nemeoniken (8. 11. 12), eines auf einen
Wagensieg beim Fest des Poseidon Petraios in Thessalien (13). Ein be-
stimmtos Prinzip der Anordnung läfst sich nicht erkennen. Sicher war
nicht wie bei Pindar die Rangordnung der vier groL^en oder heiligen Spiele
maL^gebeud, nur daü ganz an den Schlula dasjenige Epinikion gesetzt ist,
das zu keinem der vier grolaen Nationalspiele in Beziehung steht. Im
übrigen sind die Epinikien auf den gleichen Sieger zusammengestellt und
stehen unter diesen wie in der pindarischen Snmnilung die auf den glän-
zendsten Sieg, den Wagensieg {ltjtok), voran. ^) Interessant ist, daß sich
unter den neuen Epinikien drei befinden, die Siege feiern, deren Verherr-
lichung uns schon aus Pindar bekannt war. Es feiern nämlich Pind.
(). 1 und ßakch. 5 den Sieg des Hieron mit dem Renner Pherenikos zu
Olympia, IMnd. I\ 1 und Bakch. 4 den Wagensieg des Hieron in Delphoi,
und Pind. N. 5 und Bakcli. 13 den nemeischen Siei des Aigineten Pytheas
im l^mkratiou; beachtenswert ist dabei, daß in dem letzten Fall beide
Dichter in gleicher Weise, wohl infolge (iincs Winkes des Bestellers, mit
') Eine keische luschrift (A. Pridik. De ei neu Siej: beziehen, s. F. Blass, Herrn. 36
Cei in.snlae rebus, Dorpat 1892, p. 161 nr. 39) (19Ul) 274 tf.: H. Juuenka. Festschr. f. Gom-
zoii;t, diili diese Sie^e «lort gebucht wurden. perz 22(1 ff.
-) Menand. bei Spenoel, Khet. gi*. III •') Zu den Epinikien des Bakchylides.
383. 10. 33(), 12 .Sr. die. wie die des Pindar. bei den Gramniatikern
3) Melir als ein Buch E[>inikien des B. mehr Interesse als die religiösen Lieder fan-
hat auch das Altertum nirht gehabt (F. Blass, den, schrieb Didymos einen Kommentar, wie
Ausg.- Praef. Vll I. wir aus einer Bemerkung des Ammonios de
^) Über die Frage, ob sicli 6 und 7 auf ditfercntiis p. 97 Valck. ersehen.
B. Lyrik. II. Chorlyrik. (§ 127.) 213
dem Preis des Siegers Pytheas den seines Turnlehrers Menandros ver-
binden.^) Die Art des Siegesliedes ist im wesentlichen die gleiche wie bei
Pindar: kräftig wird die Tugend gepriesen, die mehr wert ist als Geld und
Macht; es wird mit der Verherrlichung des gegenwärtigen Sieges auch die
rühmende Erwähnung früherer Ruhmestaten verbunden; es wird endlich
in das Preislied meist ein Mythus eingelegt (er fehlt nur in den kurzen
monostrophischen Liedchen 2. 3. 6); einmal, in dem Epinikion auf den
olympischen Wagensieg des Hieron (3, 23 — 62), wird eine geschichtliche
Sage, die aus Herodot I 87 bekannte wunderbare Errettung des Königs
Kroisos durch den auf den Scheiterhaufen herabströmenden Regen, in einer
eigenartigen, mit Vasenbildern übereinstimmenden Version verwendet, die
durch das tertium comparationis der „Milde" (vgl. auch Pind. P. 1, 94) an
Hieron angeschlossen ist. Der sachliche Zusammenhang zwischen dem
Anlaß und dem Mythus ist in einigen Fällen noch deutlich.*) Bestimmt
sind von den Epinikien die einen zum Vortrag am Ort des Sieges selbst,
die anderen zur Verherrlichung des Siegers nach seiner Rückkehr in die
Heimat. Zu letzterem Zweck wurde zumeist ein Feiertag ausersehen, so
daß das ganze Volk an dem Fest teilnehmen und der eingelegte Mythus
zugleich zur Verherrlichung der Gottheit dienen konnte; oder es wurde in
mehr privater Weise dem heimgekehrten Sieger ein Ständchen gebracht
(6, 14).
Die zweite Rolle umfaßt sechs für Götter- und Heroenfeste gedichtete
Choroden. Sie haben eigene auf den Inhalt bezügliche Titel, wie die atti-
schen Tragödien {^Avrfjvogidai, "Hgaxh'jg, ^Hi\%oiy ßrjoevg, 7a», T^Sac) und bil-
den, wie man aus der alphabetischen Anordnung') ersieht, ein Ganzes, von
dem nur die erste Hälfte erhalten ist. Zwei von ihnen (16 und 17) tragen
im Metrum und Inhalt den Charakter von Paianen, andere sind Dithy-
ramben (19) oder Hymnen. Dem Ganzen gab F. Blaß in seiner Ausgabe
den Titel AWYPAMBOI^ da der Grammatiker Ser\'ius zu Vergil. Aen. VI 21
auch das 16. Gedicht unter dem Lemma Bakchylides in dithyrambis zitiert.
Das 15. Gedicht war für ein Fest des delphischen, das 16. für eines des
delischen ApoUon, das 19. für ein spartanisches Heroenfest bestimmt.
16 und 17 sind schwerlich vor der Translation der Theseusgebeine nach
Athen 476 verfaßt. Der Dichter setzt im allgemeinen Bekanntschaft des
Hörers mit dem Sagenstoflf voraus, aus dem er dann hie und da eine Epi-
sode herausgreift und lebhaft koloriert, um dann rasch und hart abzu-
brechen.*) Den vollsten Eindruck von Bakchylides' Kunst gibt das lange
und gut erhaltene 17. Gedicht "Hitftoi, das die schöne, bisher nur aus Mytho-
graphen und Vasenbildern bekannte Sage erzählt,^) wie Theseus, um den
*) Ähnlich ist der Renner Pherenikos ' kies im Hades trifft, dem leidenden Hieron
hervorgehohen von Pind. 0. 1 und Bakch. 5. ein tröstliches Gegenbild hinstellen zu wollen
*) Siehe darüber besonders F. Blass, (anders Blass XVI).
Ausg.* pi*^^^' XX f" auch H. Jurenka, Ausg. i ^) Dieselbe Ordnung herrscht auch in
XV f. Lose ist der Zusammenhang, wo eine den erhaltenen Listen von Tragödien der
beliebige Sage aus der Heimat des Siegers i attischen Tragiker.
eingef> wird, wie in 1 u. 10 und wohl auch ! ^) So in 14; 5, 176; 9, 51. Das 15. Ge-
12; über 3 s. oben; 5 scheint in der ge- 1 dicht ist nach Wilamowitz (Textgesch. der
flissentlich idealisierten Gestalt des vom | griech. Lyr. 41) in der Erhaltung verstümmelt.
Schicksal heimgesuchten Meleagros, den Hera- i ^) K. Robert, Theseus und Meleagros bei
214 QrieohiBche Litteratargeschichte. L KUuNdaehe Periode.
Spott des Minos zurückzuweisen und sich als Sohn des Poseidon zu
zeigen, ins Meer springt und den von Minos hinabgeworfenen Ring au»
dem Haus der Amphitrite im tiefen Meeresgrund zurückbringt — das erste
Auftreten des Tauchermotivs in der Litteratur. Durch seine dramatische
Form beansprucht besondere Aufmerksamkeit das 18. Gedicht 0i]O€vg. Es
ist ein Zwiegespräch in vier Strophen, so angeordnet, dag auf Frage und
Antwort immer je eine Strophe kommt. Der eine der Sprechenden ist der
König Aigeus, der von dem Nahen des siegreichen Theseus bereits Nach-
richt erhalten hatte, der andere ein Bürger Athens (nach F. G. Kenyons
Vermutung Medeia), der bestürzt fragt, was das Signal der ehernen Trom-
pete bedeute und was man von dem nahenden Fremdling zu erwarten
habe. Jedermann sieht, daß wir hier das lange vermißte Zwischenglied
zwischen Chorlyrik und Drama vor uns haben, und daß die Beden der
beiden Sprechenden, mögen wir den zweiten nun als Führer eines Chors
oder als einzelstehende Person denken, uns den Übergang des Dithyrambus
zur Tragödie vor Augen führen. Von weiteren Dithyramben lassen sich
mit Sicherheit ein Aaoxowv (fr. 9 Bl.) und eine EvQumri (fr. 10),^) mit
Wahrscheinlichkeit Kaaadvdga (Blaß* p. 147 und fr. 8), Krjvxog ydfiog (fr. 22)
und (Pdoxi/jxrjg (fr. 7) erkennen.
Bakchylides reicht weder an Originalität noch an Großartigkeit der
Diktion oder Tiefe der Gedanken an Pindar heran. Manchmal hat es so-
gar den Anschein, als habe der jüngere Dichter den älteren kopiert, und
zwar nicht bloß im Gebrauch von Epitheta, sondern auch in der Wieder-
holung ganzer Sätze, wie z. B. die Worte tcoc vvv xai ijuoi /ivgia Tiavt^
xeXev&og ujueregav ägerdv vjuveiv xvavoTtXoxdfiov ixan Nlxag (Bakch. 5, 31,
gedichtet 476) auffallig anklingen an Pindar Isthm. 4, 1 (gedichtet 478)
FOTi juoi &8(üv Exaxi ßWQia Jiavia xiXeväog, o) Mihaa', evjJLajiaviav ydg itpavag
'loä/Liioig ufjrregag ägerdg v/uvco dtcüxeiv. Auffallig ist die Naivetät, mit der
Bakchylides auch nach der derben Abfertigung von seiten Pindars 0. 2, 9ß
fortfährt die Pfade seines Rivalen zu wandeln. Die ganze Art seiner
Mythenerzählung hat in der dekorativen Ausstattung etwas Konventionelles,
in der ethischen Ausdeutung etwas stark Gemeinplätziges. Damit hängt
ein Vorzug vor Pindar zusammen, den Bakchylides mit seinem Oheim
teilt, die Leichtverständlichkeit. Die Einfachheit der Metra und die triviale
Weisheit der Sentenzen erinnern vielfach an Euripides und sind ebenso
frei von dem Bombast des Aischylos, wie von der Dunkelheit pindarischer
Wendungen, haben freilich aber auch nichts von dem Gedankenflug und
dem Bilderreichtum der Meister des erhabenen Stils. Im sprachlichen
Ausdruck hängt er stark vom Epos ab.^) In richtiger Erkenntnis seiner
Eigenart hat er sich in den Siegesliedern 3, 97 und 9, 10 nicht mehr mit
dem hochfliegenden Adler wie in 5, 16, sondern mit der lieblich singenden
Bakchylides, Herni. 33 (1898) 130 ff., der aus der I '^) V.Tommasini, ImitÄzioni e reminiscenze
häufigen Ubereinstiminung zwischen B. und . omeriche in Bacchilide, Studi ital. 7 (1899)-
den rotfigurigen Vasen schließt, daß die bei 1 415 fif. Über sein stilistisches Verhältnia m
B. vertretenen Sagenversionen meist die land- I Pindar K. Prenticb, De B. Pindari artis socio-
läufigen seien. et imitatore, Diss. Halle 1900.
0 Siehe o. S. 209, 4. \
B. Lyrik. IL CJhorlyrik, (§ 128.) 215
Nachtigall von Keos oder der schwirrenden Biene verglichen. Gefeiert
ist mit Recht die behaglich breite, farbige Schilderung des Friedens, der
den Sterblichen Reichtum und Sangeslust bringt uud die Spinnen in den
eisernen Schildhaltem ihre Gewebe ziehen läßt (fr. 4) ; aber auch den Ver-
gleich des Dichters mit dem Vogel des Zeus hat Bakchylides in dem
Siegeslied auf Hieron (5, 16 flf.) mit größerer Kunst als selbst Pindar
durchgeführt.^) Die mit Worten nicht sparende«) Klarheit, Sauberkeit
und Anschaulichkeit seiner Darstellung, vielleicht auch der Reichtum an
einfachen Sentenzen machten den Dichter auch bei den Römern beliebt.
So hat Horaz (Porphyrie zu od. I, 15) mit der Mahnrede des Meergreises
Nereus an den flatterhaften Paris ein Gedicht des Bakchylides nachgebildet*)
und gibt auch in dem berühmten Ausspruch epist. I 4, 13 omnem crede
diem tibi diluxisse supremum einen Gedanken des Bakchylides 3, 80 wieder.
Noch von Kaiser Julianus berichtet Ammianus Marcellinus XXV 4, 3 : reco-
lebat saepe dictum lyrici Bacchylidis, quem legebat iucunde id adserentem
quod ut egregius pictor vultum speciosum effingit, ita pudicitia celsius consur-
gentem vitam exomat. Ein Römer ist es auch, der seinem Haupt die Ehre
erwiesen hat, es mit dem Pindars zusammen zu einer Doppelbüste vereinigen
zu lassen.*) Richtig taxiert seine korrekte Mediokrität der Verfasser der
Schrift negi vtpovg 33, 4 : ädidjiKorog xal iv tco yXaipvgq) jzdvrrj x€xaXhygag?t)'
juivog,
C. F. Nbuk, Bacchylidis Cei fragmenta, Berlin 1822. — F. G. Kbnyon, The poems of
Bacchylides from a papyrus in the British Museum, London 1897; ed. F. Blass in Bibl.
Tepbn., 1. Aufl. 1898; 2. 1899; 3. 1904; mit Übersetzung und Kommentar von H. Jübbnka,
Wien 1898; B., testo greco, traduzione e note von N. Festa, Firenze 1898; B. The poems and
fragments, ed. with introduction, notes and prose translation by R. C. Jebb, Cambridge 1905.
Popularisierender Essai von Wilamowilz, Bakchylides. Berlin 1898. — J. Schöne, De dia-
lecto Bacchylidea, Leipz. Stud. 19 (1899) 181 ff.; H. Mrose, De syntaxi Bacchylidea, Diss.
Leipz. 1903; 0. Meisbb, Mythographische Untersuchungen zu B., Diss. München 1904.
128. Timokreon aus laiysos in Rhodos ist durch seine Beziehungen
zu Simonides bekannt geworden. Dieser war mit Themistokles , dem
großen Feldherm und Staatsmann Athens, befreundet; jener erging sich
in bitteren Schmähungen über ihn, weil er ihn, der wegen des Verdachtes
medischer Gesinnung aus seinem Vaterland verjagt worden war, nicht
wieder in seine Heimat zurückgeführt hatte. ^) Dafür strafte ihn Simo-
nides mit dem sarkastischen Epigramm :«)
UoXkä Tiitbv xal nokkä q?ay(hv xal jiokXd xdx' ebiiov
äv&QCOJiovg xeijuai Tijuoxg^wv 'Poöiog.
Die erhaltenen Reste stammen aus melischen Skolien mit ausgesprochen
sarkastischem Charakter und aus Epigrammen (Suidas nennt ihn geradezu
^) Besser auch ist dem Bakchylides 9,
41 ff. die Heranziehung des Nil und Ther-
modon zur Bezeichnung der weiten Verbrei-
bis 63 dem Menelaos in den Mund gelegt
K. Brandt, De Horatii studiis Bacchylideis,
in Festschrift für Vahlen, Berl. 1900, 297 ff.
tung des Ruhmes des Herakles gelungen i *) R. Lanciani, I busti di B. e Pindaro
als dem Pindar an der verzwickten Stelle ! nelle ville antiche, Rendiconti della r. accad.
Is. 2, 41 f. I dei Lincei, 1897, 6 ff.
«) laXg aeiQtiv wird er Anth. Pal. IX 184 j ») Plut. Them. 21. Siehe a. Schol. Aristid.
angeredet I p. 720, 11 Dind.
') Eine ähnliche Moralrede wird in einem ^) Anth. Pal. VII 348; Ath. 416 a. Auch
uns erhaltenen Gedicht des Bakchjl. 15, 50 I Simon, fr. 57 ist gegen Timokreon gerichtet
216 Ghriecliische Litteraturgeschichte. L Klasaische Periode.
einen Dichter der alten Komödie). Die alten attischen Komiker (Cratin.
fr. 156 K., Ar. nub. 985) erwähnen einen zu ihrer Zeit für ganz veraltet
geltenden Dithyrambendichter Kedeides,^) der spätestens der ersten Hälfte
des 5. Jahrhunderts angehören kann.
Einzehie Fragmente sind uns noch erhalten aus Epinikien des Dia-
goras von Melos, Erotika des Kydias und von den unten zu besprechen-
den attischen Dithyrambikem.
Pindar (518 bis c. 442).
129. Leben. Von dem größten und höchstgefeierten Lyriker der
Griechen sind wir so glücklich noch 44 Oden zu besitzen, so daß auch
aus seinen Werken selbst ein Bild von seiner Kunst und seinem Schaffen
gewonnen werden kann. Auch an direkten Nachrichten über seine Ab-
stammung und sein Leben fehlt es nicht. Aber zwischen die Wahrheit
drängt sich hier die Dichtung. So erzählte man, um seine Inspiration zu
beleuchten, daß eine Biene dem gottbeschirmten Knaben, als er vor Müdig-
keit auf dorn Helikon eingeschlafen war, Honig auf die Lippen geträufelt
liabe,^) daß dem göttlichen Sänger auf den Triften der Waldflur der ge-
hörnte Pan und die Mutter Demeter erschienen seien, um ihn zum Ver-
künder ihres Lobes zu weihen. 3) Solche Sagen, vermischt mit bestimmten
Angaben über seine Abkunft und sein Leben, erzählten bereits die ältesten
Biographen des Dichters, Chamaileon und Istros.*) Aber deren Biographien
sind ebenso, wie die seines Landsmannes Plutarch*^) verloren gegangen:
auf uns gekommen sind nur außer einem Artikel des Suidas ein alter in
seinem Grundstock wahrscrheinlich auf den Grammatiker Didymos zurück-
gehender Lebensabrißö) und eine zweite Biographie aus dem Kommentar
des Eustatliios (lIirdaoiyMi TJdmxfiohil), in die ein älteres, aus dem 5. Jahr-
hundert n. ("hr. stammendes Gedicht von Pindars Geschlecht eingelegt ist.";
Aus den dürftigen Nachrichten der Alten und den Werken des Dichters
selbst haben in neuerer Zeit nuihrere Gelehrte zusammenhängende Dar-
stellungen vom Leben Pindars zu geben versucht, am ausführlichsten Leop.
Schmidt, Pindars Leben und Dichtung, Bonn 18G2.®) In diesem Buch
M ^>o. nicht Ktjy.n'<)t,\' odor A'rA/A//c. ist Dichters, von Photios bibl. p. 104 b, 3 Bbkk.
der Name zu schreiben. Ein Sohn oder Enkel und im LampriaHk atalog nr. 36.
von ihm scheint der auf einer choregischen ^) Ehedem Vita Vratislaviensis (jetzt
Inschrift ca. 420 aus Athen genannte A'//- Ambrosiana) genannt nach dem Codex, ans
A^/A//j zu sein. Siehe U. Köhlek, Ath. Mitteil. dem sie zuerst ans Licht gezogen wurde.
8 ■! 1883) 38 ff.: A. Ijrin'ck. Diss. |diilol. Halens. Sämtliche Vitae vereinigt in W. Christs Aus-
7 (1886) lo:', f. gäbe Prol. C ss.
-) Eine ähnliche Vorstelhuig bei IMaton ') Der Kommcntiir selbst ist bis auf die
Ion p. 534a. Theokrit 7. X''2, Horaz od. 3. 4. V'ita verloren gegangen; das eingelegte /Vro^
13 fl". Vgl. au(jh H. üsENER, Khein. Mus. 57 Iln-fVinor in 31 Hexametern zeigt den Vera-
(1002 1 177 ff. bau des Xonnos und seiner Schule; s. A.
^) Etwas Ähnliches erzählt Tansanias LuDWicn, Rh. M. 34 (1879) 357 flf. — Eine
IX 23. 3 von (?iner dem P. gewordenen Traum- Vit^i des Thomas Magister aus dem byzan-
eischeinung dt;r Persephone. Man denke aucrh tiuischen Mittelalter enthält gleichfalls einige
an Ilesiod theog. 22 ff. uns sonst nicht überkommene Nachrichten.
^) E. V. Lkitscii. Die Quellen für die ") Außerdem behandelten neuerdings Pin-
Hiograpliien des Pindar, Philol. 11 (1856) 1 tf. dar» Leben: T.Mo mmsen', Piudaros, Kiel 1845;
^) Bezeugt von Eustathios im Leben des Alfr. Ckoiset. La po^sio de PindarOf Paris
B. Lyrik. DL CJhorlyrik. Pindar. (§§ 129—130.) 217
sucht der feinsinnige Verfasser, indem er der zeitlichen Folge der er-
haltenen Gedichte nachgeht, ein Bild der geistigen Entwicklung des
Dichters zu entwerfen. Sehr farbenreich ist es nicht ausgefallen; von
einem Vergleich mit ähnlichen Darstellungen des Geistesganges der großen
Dichter unserer Nation kann ohnehin nicht die Rede sein; dafür war einem
antiken Dichter der Typus seiner Kunst zu fest von vornherein vor-
gezeichnet und der Freiheit individueller Empfindung ein zu kleiner Spiel-
raum gestattet. 1) Auch stilistisch und sprachlich ergibt die Vergleichung
der Jugendgedichte mit denen des Alters keine scharfen Unterscheidungs-
merkmale.*)
130. Pindar ist in Theben aufgewachsen, wie er selbst (fr. 198: omoi
fie ^evov ovo* ädaijjuova Moioäv inaiöevoav xkvxai ß^ßai) bezeugt. Seine
eigentliche Heimat aber war das Dorf Kynoskephalai bei Theben, in dem
sein Geschlecht seit alters begütert war. Aus der Stelle P. 5, 76 Alyädai
iuol Tiaregeg schließt man, daß seine Familie zum Geschlecht der Aigiden
gehörte, von dem ein Teil zur Zeit der dorischen Wanderung nach Lake-
daimon und später nach Thera und Kyrene ausgewandert war. 3) Von
der Musenquelle Dirke in der Nähe Thebens, die er wiederholt in seinen
Liedern feiert,*) erhielt er den Namen des dirkäischen Schwans. Sein
Vater hieß nach den einen Daiphantos, nach den andern Pagondas oder
Skopelinos,*^) seine Mutter Kleodike. Ein Bruder des Dichters war Eritimos
(Erotion bei Suidas), der als guter Jäger und Faustkämpfer bekannt war.
Der Geburtstag Pindars fiel auf das Fest des Gottes in Delphoi,*') woraus
wir entnehmen, daß er im dritten Jahr einer Olympiade geboren war.
Nach Suidas war dieses die 65. Ol. (= 518); das ist aber nicht unbestritten
geblieben, da er schon Ol. 70, 3 (a. 498) als Dichter des 10. pythischen
Siegesgesanges auftrat.^) Deshalb ließ ihn A. Boeckh, dem hierin C. Gaspar
1880 (2. ed. 1886); £. Lübbert, Pindars Leben kann allerdings auch auf die Thebaner tiber-
und Dichtungen, Bonn 1882 ; C. Gaspar. Essai haupt gedeutet werden. Entgegen dem Sprach-
de Chronologie Pindarique, Bruxelles 1900 | gebrauchPindars deutet F. Stüdniczka. Kyrene
(hier am Anfang eine vollständige Pindar- S. 73 flf. und Gott. gel. Anz. 1901. 142 das
bibliographie). Die Chronologie der Sieges- Fuoi .-laTsge^ auf die Vorfahren der Kyrcnaier.
gesänge steht auf viel festerem Grund, seit | *) Isth. 6, 74: nioio ocft .Moxa^ ayvov
auf einem Papynis des 3. Jahrh. n. Chr. Reste ■ vÖcoo, lo ßaO^r^on'oi x6mu x^^'oojif.^Xov Mvu-
eines Olympionikenverzeichnisses für die 1 fjoavvag dvheikar .tuo' erretx^oiv Kddfwv
Olympiaden 75 — 78 und 81—83 gefunden .TiUaic.
sind. Das Dokument ist veröffentlicht Oxyrh.
pap. II p. 85 ff. , für die Pindarchronologie
verwertet von K. Robert, Herm. 35 (1900)
181 ff. und J. H. Lipsius, Ber. der sächs. Ges.
d. Wifls. 52 (1900) 1 ff.
*) Siehe Fr. Mezger, Disput. Pindaricae
1 Hof 1866; 11 Augsb. Progr. 1873.
*} Für Pindars Verhältnis zur epischen
^) Daiphantos hieß der Sohn Pindars
von Megakleia oder Timoxena, woraus viel-
leicht Daiphantos als Großvater bloß ver-
mutet ist. Skopelinos wird auch sein Musik-
lehrer genannt.
0) Vit. A zitiert dafür eine Stelle Pindars
fr. 193: jiei'Taeitjols tooTa, ßovTiounos^ fy «
jioiozor EvvdoOfjy dya^Taroc; vjto o.iaQydroi^,
Diktion ist das von H. Schultz, De elocutionis ') Übrigens darf nicht verschwiegen wer-
Pindaricae colore epico, Gott. 1905, 25—31 den, daß der Ansatz von P. 10 auf Ol. 70, 3
nachgewiesen. Bedenken unterliegt, da einerseits in jener
•) In Anaphe, einer Insel östlich von Pythiade der gefeierte Knabe auch im Stadion
Thera, findet sich öfters inschriftlich der Name siegte, dessen Pindar in jener Ode nicht ge-
Pindaros; s. E. Lübbert, Diatriba in Pindari denkt, und anderseits die nächsten pythischen
locom de Aegidis et sacris Cameis, Bonn 1883. Siegesoden Pindars P. 6 u. 12 erst acht Jahre
Dagegen Einwände von L. BoRNEMANN, Philol. danach fallen. .(Siehe übrigens C. Gaspar,
43 (1884) 79 ff. Das Alyetbai ifioi :jaT€g€g | Essai 35, der zwei andere (5den zeitlich vor
218 Griechische Litteratnrgeschichte. L KUuNoaehe Periode,
folgt, schon Ol. 64, 3 = 522 geboren sein. J. EL Lipsius will bis 526 zurQck-
gehen, während 0. Schröder mit Wilamowitz das Datum des Suidas 518
festhält.
Als Pindars Lehrer im Flötenspiel wird sein Oheim Skopelinos, von
sonstigen Lehrern der athenische Chormeister Ägathokles oder Apollodoros,
auch Lasos von Hermione genannt. 0 In der Dichtkunst hatte er an der
älteren Dichterin seiner böotischen Heimat Myrtis ein Vorbild. Zu Eoriima
stand er mehr auf dem gespannten Fuß eines Rivalen, wenn man bei der
ganz verschiedenartigen Richtung der beiden in Oeist und Technik so sagen
darf; Pausanias IX 22, 3 sah im Gymnasium von Tanagra ein Bild der
mit der Siegesbinde geschmückten Dichterin und deutete dieses auf einen
Sieg, den sie im Wettkampf über Pindar davongetragen habe.*) Und als
Pindar einst einen Hymnus auf Theben mit den Versen begann
^lajurjvöv P] ;^()i;aaAdxaTov MeUav,
f) KadjLiov, fj onaQTcbv legöv yevog ävögcav,
fj TGLV xvavdfjmvxa ßtjßav,
fj tö TidvToXjLiov ai^ivog 'HganXeog,
fj rdv Jia)vvaov noXvya&ea u/udv,
rj ydjbiov Xeifxco^ov 'AgjLionag vfiv^aoiJ£v;^)
soll ihn Korinna witzig mit der Bemerkung zurechtgewiesen haben tfj x^tgi
aneigeiv jurjö' Sixo tco ßvXdxco.^)
Als angehender Zwanziger begann Pindar Siegeslieder zu dichten,
zunächst für die kleineren Wettspiele. Das älteste sicher datierbare, P. 10
auf einen siegreichen Knaben aus dem Geschlecht der Aleuaden fällt nach
der Angabe der SchoHen in Ol. 70, 3 (498) oder in das 20. Lebensjahr des
Dichters. Schon im frühen Lebensalter ist er auch, wie das die fünfte
nemeische und sechste isthmische Ode bezeugen, mit der Insel Aigina, zu
der ihn die Stammverwandtschaft,*^) die alte gegen Athen gerichtete poli-
tische Freundschaft seiner Vaterstadt mit der Insel«) und die Vorliebe für
das aristokratische Regiment hinzog, in Verbindung getreten.^) Sein
P. X setzt.) Wilamowitz, Aristot. a. Athen ' ') Dieselbe ÜberschweDglichkeit findet
II 302 bleibt bei 518 als Geburtsjahr des sich Isth. 7 in. und N. 10 in.
Dichters stehen. Übrigens scheint der Streit, *) Plut. de glor. Athen, c. 4 p. 847 f.
ob Ol. 65 oder 64, mit dem verschiedenen I ^) Das ist Is. 8, 16 dadurch ansgedrOckt,
Ansatz des Beginns der Pythiaden zusammen-
zuhängen, von dem wir jetzt (Gaspar 3 ff.)
sicher wissen, daß er Ol. 49, 3 (wie nach
Schol. Pyth. 3 init. Th. Bergk angenommen
hatte) = 582 fällt.
*) Nur von Eustathios. aber weder in
dem metrischen Ihth; noch in der Vit. A.
'^) Die Deutung wird dadurch zweifel-
haft, daß Korinna fr. 21 die Myrtis tadelt,
weil sie, ein Weib, mit Pindar in einen
Wettkampf sich eingelassen habe. Auch der
Grund, daß die Preisrichter sich durch den
heimischen Dialekt der Lieder der Korinna
bestimmen ließen, schmeckt nach Gramma-
tikerwitz. Fünfmal läßt Pindar von Korinna
besiegt werden Aelian v. h. XIII 25 und Suidas
u. Aop/iTa.
daß Theba und Aigina als die zeusgeliebten
Töchter des Asopos bezeichnet werden. Auch
in dem Preis des Waffenbündnisses zwischen
Telamon aus Aigina und Herakles aus Theben
(N. 4, 25, Is. 6. 31) gibt sich das gleiche Be-
streben kund. Äginetischen Siegern galten
0.8; P.8; I. 5. 6. 8; N.3— 8; fr. 1.4.. Mit der
Steigerung des Wohlstandes der Ägineten
durch die Perserkriege (Herodot IX 80) hftngt
vielleicht der Aufschwung des Sports dort
zusammen.
«) Gaspak 1. 1. 18.
') Zu den ältesten Epinikien Pindars
gehören außerdem P. 6 auf l^enokrates ans
Akragas (490), P. 12 auf Midas aus Akragas
(ebenso). Die 7. isthraische für Strepaiades
von Theben setzt Gaspar 502, die 10. ne-
B. Lyrik. H. Chorlyrik. Pindar. (§ 181.)
21^
Mannesalter fiel in die große Zeit, in der Hellas unter schwerem Elingen
die nationale Läuterungsprobe bestand und die Überlegenheit des freien
Geistes über barbarische Despotie für immer begründete. Auf Pindars
Geist wirkten die Heldentaten der Perserkriege \iicht so gewaltig wie auf
Aischylos und Simonides. Das hängt mit der Politik seiner Vaterstadt
zusammen, die mit kurzsichtiger Engherzigkeit in einem Kampf, in dem
es 9ich um die Ehre und den Bestand der Nation handelte, neutral bleiben
wollte, dafür aber auch nach der Schlacht von Plataia schwer die Sünden
treulosen Vaterlandsverrates büßen mußte. Polybios IV 31, der unpar-
teiische Historiker, der sonst so schlecht auf die Anmaßungen athenischer
Hegemonie zu sprechen ist, macht es doch dem Pindar zum bitteren Vor-
wurf, daß er jener Politik der Neutralität und Ruhe das Wort geredet
habe mit den Versen:
rd xoivov rig äorcov h evdiq xi&eig
igewaoaioD /leyaXdvoQog 'Hovxtci? ^o (paidodv <pdog.
In der Stunde der Gefahr vermochte eben Pindar ebensowenig wie seine
Landsleute die kleinen Rücksichten des Partikularismus zu überwinden.
Später, nach den glänzenden Siegen der Athener über die Perser hat auch
er, ausgesöhnt mit der Vergangenheit, die hohen Verdienste Athens um
die Freiheit von HeUas voll anerkannt,^) so daß er in einem Dithyrambus
der Stadt den unverwelklichen Ruhmeskranz flocht:
(b ral XiTiagal xal looT€q>avoi xal äoldi/Lioi,
'EUAdog igeiojua, xXeival 'A^ävai, daij^Lonov Jirolie&Qov.
Die Athener ehrten ihn dafür mit der Proxenie und einer Ehrengabe von
10000 Drachmen,*) die Spätere als eine Entschädigung für eine angeblich
von Theben über ihn verhängte Strafe ansahen.^) Tiefe Bewegung über
das Mißgeschick seiner Vaterstadt nach der Schlacht von Plataia spricht
sich in der achten isthmischen Ode (478) aus;*) doch hofft er, die erhaltene
Freiheit werde alle Wunden heilen. Wie er sich in der schweren Zeit
der Erniedrigung Thebens und Aiginas unter die athenische Suprematie 457
bis 447 verhalten hat, ist nicht ersichtlich, da die Beziehung der siebenten
isthmischen Ode auf die Schlacht von Oinophyta, die Böckh angenommen
hatte, unsicher ist.^) Es wird aber nicht Zufall sein, daß wir aus dieser
Periode nur ein Gedicht (0. 4 a. 452) besitzen.
131. Inzwischen war auch der Ruhm des Dichters weit über die
Grenzen der Heimat und der benachbarten Gebiete gedrungen, so daß er
meische an Theaios von Argos 501. Unter
den olympischen Oden ist die frühste und
zugleich anmutigste die 14. an Asopichos
von Orchomenos a. 488.
') Außer in dem gleich zu erwähnenden
Dithyrambus fr. 76, besonders noch in P. 1, 75
u. N. 4, 19. Das Lob der fieycdojtolieg 'A{}ävai
in der 7. pythischen Ode (486) gilt mehr den
Alkmaioniden. Sonst verherrlicht P. nur
noch einen Attiker, den Achamer Timodemos
N. 2 (487 nach Gaspar).
*) Isoer. de permut. 166: IlivSaQov fikv x6v
noirjirjv Ol :ig6 fjfuov ysyovoteg if :iko ivog
ftdvov grjf^arog, oxi tijv :i6ki%' ?oeiOfia xfjg 'EX^
Xddog (hvofiaoF.v, ovieog irifirjoav, ujotb xai
jTQo^evov jtotrjoao^at xai dfogeäv fivgiag avt(ß
dovvat ögaxjiidg.
') Aeschines ep. 4, 2 f. Nach Paus. I 8, 4
haben ihn die Athener auch mit einem Stand-
bild geehrt; vgl. Böckh zu fr. 46.
*) Gaspab 1. 1. p. 66 ff.
^) Gaspa» 22—28 will I. 7 in das Jahr
502, an den Anfang aller Epinikien, hinauf-
rücken.
220 Griechische LitieratnrgeBohichte, L ELasoBche Periode.
in gleicher Weise wie Simonides das Ansehen eines hellenischen National-
dichters erlangte. Viel trugen dazu die Verbindungen bei, die ihm die
großen Nationalspiele der Hellenen verschafften. Durch sie trat er in Be-
ziehung zu den vornehmen Geschlechtem von Rhodos, Tenedos, Eorinth,
zu Arkesilas von Kyrene,^ zu König Alexandres von Makedonien,*) und
vor allem zu den fürstlichen Höfen des Theron von Akragas und Hieron
von Syrakus.3) Pindar wird regelmäßig den Spielen in Olympia, Delphoi
und anderen Orten beigewohnt haben, und er ging wohl auch mit den
heimkehrenden Siegern, wie mit Diagoras aus Rhodos, in ihre Heimat, um
selbst die Aufführung des Festchors zu leiten.*) Sizilien und die Könige
Theron und Hieron besuchte er vielleicht 476,^) um dieselbe Zeit wie
Aischylos, mit dem er in der Beschreibung des Ausbruchs des Ätna wett-
eiferte.^) Während aber andere, wie Simonides und Bakchylides, sieh
längere Zeit an den Fürstenhöfen aufhielten, kehrte Pindar bald wieder
nach Hellas und Theben zurück; er wollte eben, wie er sagte, lieber sich
als andern leben. ^)
In andere Beziehungen brachte den Pindar seine Stellung als Dichter
religiöser Festgesänge. In jener Zeit des allgemeinen Aufschwungs wurden
auch die Feste der Götter überall mit erhöhtem Glanz gefeiert, und Pindar
war der verehrte Dichter, den die Priesterschaften von nah und fern um
poetische Spenden für die Götter angingen, s) So dichtete er nicht bloß für
Chöre der Götterfeste Thebens und der nächsten Umgegend heilige Lieder,
sondern sandte selbst den Priestern des Zeus Ammon einen Hymnus, den
auch noch die späteren Generationen so in Ehren hielten, daß ihn Ptole-
maios Lagu auf eine dreieckige Säule neben dem Altar des Gottes ein-
graben ließ.^) Besonders nahe aber stand er den Priestern in Delphoi,
deren Weisheit er in den Kernsprüchen seiner Gedichte verkündigte, wie
P. 2, 72, und die ihm mannigfache Aufmerksamkeiten erwiesen. Noch in
*) Den Sieg des Arkesilas im J. 462 war er nicht in Sizilien, wie die Worte
feiert P. 4 u. 5. .PI, 27 (470) iVar/w de xal jiOQ iöomov
*) fr. 120 stammt aus einem Enkomion {.lantorTor vel. jinofdyKor codd., cm. Cobet)
auf Alexandros. ! bezeugen. Der Ausbruch ist besangen von
') WiLAMowiTz. Hieion und Pindaros, I Pindar P. 1, 21 fF. und Aischylos Prom.
Berl. Ak^ Sitz.ber. 1901 8. 1278—1318. , 379 tf. Die Palme trägt dabei entschieden
*) Stelleu wie 0. 1, 17. 7, 13: J'. 5, 80; j Pindar davon, wiewohl in einem Punkte, in
N. 1, 19 können freilich immer auch im Sinn I dem Bild von den Feuerströmen (.toto/mh
des singenden Chores verstanden worden. .77ooV) Aischylos glücklicher als Pindar war.
'") Ilieron hatte mit einem Rennpferd , Genaueres darüber W. Christ, Der Ätna in
476 und 472 gesiegt; ob in der 1. olympi- der griechischen Poesie. Sitz.ber. d. bayr. Ak.
sehen Ode der erste oder zweite Sieg gemeint 1888, 1 S. 359 ff.
ist, fragt sich; für den zweiten spricht der ') Apophth. Pind. p. CI 21 Christ un4
Hinweis (1, 112 — 4) auf den erwarteten Wagen-
sieg (errungen erst 468), für den ersten das
Alter des Rennpferdes, Pherenikos, das schon
478 und 482 in Delphoi gesiegt hatte und
daher kaum mehr 472 einen neuen Sieg in
Olympia erringen konnte. Deutet man 0.
1, 17. 106 auf persönliche Anwesenheit des P.
in Syrakus, so wäre diese demnach entweder
nach 476 oder erst nach 472 zu setzen.
(taspar p. 98 ff. setzt die Anwesenheit des
P. in Sizilien 476 — 475.
«) Zur Zeit des Ausbruclis (478 oder 475)
Eust. vit. Pind. p. CIV 8: IJtvdaoog egayr^äe/i,
diii Tt 2!tfio)yid//<; /ner nnog uwg iVQciyvovi
a:tefiiiftt)OFv fU 2!txFÄiar, avTo^ de ovx i^eXsi,
f</;;, ()idTi fior/.ount ^ftnvrut ^fjv, oi'X aJJiq}.
8) Oxyrhynch. pap. V p. 41 Nr. VI, 8 ff.
*) Paus. JX 16, 1. Ähnlich wurde nach
den Schollen die 7. olymp. Ode auf Diagoras
mit goldenen Buchstaben in dem Tempel der
lindischen Athene aufgeschrieben. Analogien
bieten jetzt die inschriftlichen Hymnen von
Delphoi.
B. Lyrik, ü. Chorlyrik. Pindar. (§ 132.) 221
später Zeit war es Brauch, daß bei den Theoxenien in Delphoi der Herold
in dankbarer Erinnerung an die ehemalige Beteiligung des Dichters beim
Fest ausrief: IHv&agog hü x6 dehtvov rqJ ^eco.^)
Den Tod fand Pindar in hohem Alter, nach dem Jahr 442, 2) in das
sein letztes datierbares Gedicht P. 8 fällt ;^) aus diesem klingt wohl eine
schwermütige Stimmung heraus,*) aber es verrät nichts von geistiger Ab-
nahme. Er verschied fern von der Heimat in Argos, wie die Sage erzählt
im Theater, im Schoß seines Lieblings Theoxenos. In Theben, wohin seine
Töchter Protomache und Eumetis die Aschenurne brachten, stand noch
zur Zeit des Pausanias (IX 23, 2) sein Grabdenkmal. Der Perieget (IX 25, 3)
sah auch noch jenseits des Baches Dirke die Trümmer seines Hauses und
daneben ein Heiligtum der Göttermutter Dindymene, in das der fromme
Dichter ein Götterbild gestiftet hatte.*^) Von dem Haus erzählt man sich,
daß es Alexandres allein von allen Häusern der Stadt Theben verschont
habe, indem er darauf schreiben ließ: TTivddgov rov aovaojioiov rijv 0Tfyi]v
jÄtj xaiere.^) Er hinterließ neben den zwei genannten Töchtern einen Sohn
Daiphantos, den er selbst noch als Reigenführer eines apollinischen Mädchen-
chors in die musische Kunst eingeführt hatte.
132. Die Werke Pindars hat wahrscheinlich Aristophanes von Byzan-
tion in seiner Ausgabe in siebzehn Bücher geteilt.^) Nach der Vita waren
in ihr enthalten: vjuvoif jiaiäves, iyxd)juia, dQijvoi je ein Buch, öidvoafißoL
zwei Bücher, TTQooodia zwei Bücher, Tiagüeria drei Bücher, vjioQxii]i^ara zwei
Bücher, biivixoi vier Bücher. Das dritte Buch der Parthenien hatte den
besonderen Titel ra xFXMQiofuva rcov Tiao&e^'icov, woraus man schließen
kann, daß die Parthenien ursprünglich den Schluß der Sammlung bildeten,
und daß in das letzte Buch außer dem Rest der Parthenien allerlei Ge-
dichte, die unter den andern Titeln nicht wohl untergebracht werden
konnten, zusammengefaßt waren. ^) Suidas fügt zu den erwähnten Gedicht-
*) Eustath. vit. p. CIV 14 Chr. Vgl. den 1 ®) Von Alexandros erzählen das Plinius
Heroldsrnf fiera Aeaßiov oßöm' zu Ehren des n. h. VII 29, 109 und Aman. anab. I 9 und
Terpandi'08 S. 144. Nach Paus. X 24, 5 stand ' daraus Suidas, von Pausanias, dem König der
zu Delphoi nahe bei dem Opferherd der , Lakedairaonier, die Vita A p. C 23 Chr. und
eiserne {^govog Utvöagov^ auf den fr. 90 an- ' Eust. p. CVI 6 Chr., von beiden die Vita des
zuspielen scheint. Siehe a. Paus. IX 23, 3. 1 Thomas Magister p. CVIII 21 ff. Chr.
*) Das Todesjahr steht nicht ganz fest. ^) Vit. Ambr. p. CI 8 Chr.; Suid., Dionys.
Nach dem Ffvog starb er 80 Jahre alt, was i Hal.decomp.22p. 102,2 Us. Siehe a.O.ScHuö-
aber vielleicht eine abgerandete Zahl ist; der, Pindarausg., Leipz. 1900, p.387 f. Außer-
Eustathios p. CHI 17 f. (E. Rohde, Kl. Sehr.
I 144 A. schreibt Tedrrjxf dr, ojf (j^ara) xa
MfQotxa rjxfiaCe, xarä trjv ng' o/j'ft,itdÖa, d.h.
436/32) laßt ihn 80 oder 66 Jahre alt werden
dem berichtetThomasMag.inderVit. Pind.von
der Ode 0. 1: noorhaxim rno Jotannf urovQ
rov orvTa^ayrog ra Jlivdufjixd. Timaios scheint
diese Ausgabe noch nicht gekannt zu haben.
und setzt seine Geburt unter den Archen ; da er sonst schwerlich ein nemeisches Sieges-
Bto}v (korrupt). Die Lebensdauer von vf lied mit einem olympischen vei-wechselt
Jahren bei Suidas ist offenbar verderbt.
•) So nach der Überlieferung, für die
W. Christ gegen die Zweifel neuerer Gelehrter
eintritt Sitz.ber. d. bayr. Ak. 1889, 1 S. 1 ff.
*) P. VIII 95: fjrd/ieooi' ri de Tic, ti d^
ov itg; oxiäg wao fo't^owjroc.
5) Schol. zu P. 3, 137 erzählt, daß Pindar
ein äytUfia /Arjioog &fü)v xai llaros neben
seinem Hans gegründet hatte.
hätte, wie das von den Schol ien zu Nem. 1
inscr. bezeugt ist; vgl. auch Schol. zu P. 2
inscr.
^) So stehen auch in unseren Hand-
schriften am Schlüsse der Nemeonikai Oden
auf ganz verschiedenartige Sieger, wozu der
Scholiast p. 491 Böckh gleichfalls bemerkt:
du) XF/(ooionn'fu cfF.Qorrai.
222 OrieohiBohe Litteratnrgesohichte. L KUssiaehe Periode.
arten noch hinzu :^) iv&goviojnoi, ßaxxixd, da(pvtjq)OQixd, tncSha, dgäßMOta rga-
ytxd, imygdjujuara, jiagaivioeig. Aber diese Titel stammen wahrscheinlich
nicht aus einer anderen älteren Ausgabe, wie A. Böckh und Th. Bergk
vermutet hatten (dagegen spricht schon die gleiche Zahl von siebzehn
Büchern bei beiden Gewährsmännern), sondern, wie W. Christ meint, aus
der Aufzeichnung (ävaygacpi^) der Werke Pindars durch einen Litterar-
historiker des 4. oder 5. Jahrhunderts n. Chr., der neben die alten Namen
der einzelnen Dichtungsarten auch die neuen, in seiner Zeit gebräuch-
licheren, wie dgdßara rgayind neben di&vga/xßoi,*) iv^govioßwi^) neben ngo'
odöia setzte, und in seiner Vorlage bereits Unechtes (wie buygdfifwxa und
prosaische nagaiveoeig oder djicxp^eyiiaTa) dem Echten beigemischt fand.*)
Jedenfalls hat sich Pindars dichterische Tätigkeit auf die Gattung der
chorischen Lyrik beschränkt, innerhalb dieser hat er aber die verschie-
densten Arten kultiviert: er weihte seinen Sang dem Preis der Götter
(Hymnen, Paiane, Dithyramben, Prosodien, Parthenien) wie dem Lob der
Heroen und Menschen (Epinikien, Enkomien, Threnen); er dichtete Lieder
zum Einzug in die Tempelhallen (Prosodien, Enthronismen) wie zum Chor-
gesang mit Tänzen (Hyporcheme);*») er verherrlichte den Herrscher des
Alls, Vater Zeus, wie den Heilbringer Apollon und den Spender des
Weins Dionysos; er gab der Freude Ausdruck bei dem Siegeseinzug
(Epinikien) und dem Festmahl (Skolien) wie der wehmütigen Trauer bei
der Totenfeier (Threnoi). Erhalten sind uns von seinen Werken, mit Aus-
nahme der Siegeslieder, nur Bruchstücke, darunter aber doch einige größere,
80 namentlich von einem schwärmerischen, für das dionysische Frühlings-
fest in Athen gedichteten Dithyrambus (fr. 75, im Frühling 474 oder etwas
später), von einem Tanzlied oder Paian auf die Sonnenfinsternis des Jahres
463,^) von zwei lieblichen Trinkliedern (pxoha) auf die Hierodulen von
*) Eustathios p. CVII 16 fF. Chr. folgt in j Beinamen eidoyQaqrog hatte: ß. Et M. 295, 51
der Aufzählung der Vit. Vrat., fügt aber noch ; und Schol. zu P. 2 inscr. (Ober die Bezeidi«
in betreff der £pinikien die stichometrische nung siTirj ,weil jedes ein Ton f&r sich ist* s.
Angabe hinzu: y,aTä ri^v auxoftfTQiav (so Th. , Wilamo wirz, Textgesch. der griech. Bukoliker
Birt statt: ioTogiuv) woei TFrgctxiaxilioi. Unsere | Berl. 1906, 129). Außer den in den aufgeftihrteii
Handschriften schreiben über 5800 Zeilen, Titeln vorkommenden Arten werden noch
woraus folgt, daß die Zeilen {xdua) der erwähnt .-ranoivta (d. i. oxo/ita) von Didymos
antiken Ausgabe länger waren. zu N. 1 inscr., und {^t'oiaitjota von Timaios
*) Daß die dimfiara rgayixd, die so viel zu P. 2 inscr. Horaz (od. IV 2, 9 ff.) onter-
Staub aufgewirbelt haben, nur ein anderer scheidet, das Bekannteste herausgreifend,
Name für dtOvoa/tfim sind, folgt zwar nicht | Dithyramben, Hymnen auf Götter und Heroen,
aus Himerios or. 11, 4 ijr /.iiorvoia xni ro Epinikien, Threnoi.
Omrgov FixF fierä t//^ Arnas IltrSagos, oder ') Der Name bezieht sich auf die in dem
Chorikios i\ieg fiificov § 16 töo.^eg JJirdagfK Rheamysterien übliche Ogoytoatg, worüber Fiat.
ndo)y (iv noiFi öuyqgovFir lor dxo/.aozov^ ovkos \ Euthyd. 277 d; Dio Chr. 12, 33; A. LoBBOK,
u^ofTF^ fuiwi TOI« iyxgaTt') xal OFiivm' ng<y<; \ Aglaoph. 115f. 368 f. ; E.RonDE,Kl.Schr.ir298.
*) So nach E. Hilleb, Die antiken Ver-
zeichnisse der pindarischen Gedichte, Herrn.
aio/gd ov ftFraifFgot^oir^ wird aber durch die
analoge Benennung; der ögdfiara dn'>rgnfißixd
des Diagoras bei Schol. Ar. ran. 323 wahr-
21 (1886) 357 ff.; dazu 0. Immisch, Rh.M.44
scheinlich. So auch 0. Crüsiüs, Realcnc. V i (1889) 553 ff.
1215, 38 ff. Nichts zu geben ist auf die sub- ^) Da Clemens Alex, ström. I p. 365 F.
tilo Unterscheidung E. Lübberts, De Pindari den Pindar als Erfinder der v.^dgxrjoig preist,
carminibuR dramaticis tragicisquc. Bonn 1884.
Über die Dichtungsarten {fldt]) mit besonderer
Bei-ücksichtigung der Tonarten hatte der Gram-
so muß er in dieser Gattung der Lyrik eine
besondere Berühmtheit erlangt haben.
®) Neue Stücke von diesem Lied Oxyrh.
matiker Apollon ios gehandelt, der davon den | pap. V (1908) nr. 841 p. 73 f.
B. Lyrik. H. Ghorlyrik. Pindar. (§ 188.) 223
Eorinth und den schönen Knaben Theoxenos, von einigen tiefernsten Klage-
liedern (ß^voi)^ in denen die pythagoreische und orphische Lehre von der
Unsterblichkeit und dem Leben nach dem Tod^) in erhabener Sprache vor-
getragen ist. Neuerdings hinzugekommen sind Reste eines daq)vtjq>0Qix6v
für einen Mädchenchor,') das nicht vor 454 fallen kann, und größere Stücke
von neun Paianen oder vjioQxtjß^ara auf einem Papyrus ca. 200 n.Chr.»)
133. Die Siegeslieder. Vollständig sind nur die vier Bücher Sieges-
lieder auf uns gekommen, und selbst von diesen ist das letzte am Schluß
verstümmelt.^) Geordnet sind die vier Bücher nach dem Rang, den die
verschiedenen Nationalspiele bei den Hellenen einnahmen: voran stehen
die Epinikien auf Siege in den olympischen Spielen, es folgen die pythi-
schen, nemeischen, isthmischen. 5) Auch innerhalb der einzelnen Bücher
war, ähnlich wie bei Simonides und Bakchylides, eine Rangordnung nach
dem Ansehen der Wettkämpfe durchgeführt; voran stehen die Lieder auf /
Sieger mit dem Viergespann (ägfiari oder i7i7toig\ dem Gespann von Maul-
tieren (djnjyi/), dem Renner {xiXrixi)^ es folgen Pankration, Lauf, Flöten-
spiel (dies der einzige von P. verherrlichte musische äycbv P. 12). Doch
ist diese Ordnung nicht genau eingehalten, und die Ode auf den Sieg des
Hieron mit dem Renner Pherenikos steht z. B. der ganzen Sammlung
voran, weil in ihr der Ursprung der olympischen Spiele besungen ist.
Auffallender sind andere Unregelmäßigkeiten, wie daß unter den Pythio-
niken an zweiter SteUe ein Lied steht, das sich gar nicht auf einen Sieg
an den Pythien bezieht,^) und daß den Schluß der Nemeoniken drei Lieder
bilden, die mit nemeischen Siegen nichts zu tun haben, eines (9) zur
Feier eines Wagensieges des Chromios beim Adrastosagon in Sikyon, eines
(10) für den Ringer Theaios zu einem Sieg beim Heraagon in Argos und
eines (11) zum Amtsantritt eines Ratsherrn in Tenedos, der allerdings
*) Über die Übereinstiinmang von Pindars 1 imvixioi (pdai hat Pindar selbst N. 4, 78.
Eschatologie mit der Orphik s. A. Dietebioh, { ^) Da den nemeischen Oden am Schlüsse
Nekyia, Leipz. 1893, 1 19 ff. Pindar kommt nur
in den Threnen (fr. 129—139; fr. 132 unecht:
E. RoHDE, Psyche n» 214 A.) und 0. 2. 57 ff.
auf diese Dinge, gibt aber darüber wohl seine
eigenen Ansichten, nicht die der Besteller
(E. RoHDB, Psyche n> 214 ff.). Sonst akkom-
modiert er sich der homerischen Vulgat-
yorstellong und kennt auch in dem neu-
gefundenen Parthenienfragment (Oxyrhynch.
pap. IV nr. 659, 14 ff.) Unsterblichkeit nur im
Fcntleben des Geschlechts.
*) Oxyrhynch. pap. IV nr.659 s.I. p. Chr.,
mehrere fremdartige Oden auf nichtnemeische
Siege angehängt sind, so vermutete E.O.Mül-
ler, Gr. Litt. P 370, 16, daß ehedem in der
attischen Ausgabe die Nemeen zuletzt standen.
Auch Piaton, Lys. p. 205 c setzt Nffidn nach
*Io&fioT; dagegen Bakchyl. 8, 2 NefAfav vor
^loOfjiov. Die Familie des Psaumis in Sizilien
hatte den Ordnern neben dem echten Sieges-
lied, 0. 4, auch eines von einem Lokaldichter,
0. 5, übergeben, das sich aber — ein Be-
weis für die Konstanz des chorlyrischen
Stils — stilistisch von den echten Oden nicht
behandelt von Wilamowitz, Gott. Gel. Anz. unterscheidet (H. Schultz, De eloc. Pind. col.
1904, 607; 0. Schbödbb, Berl. phil. W.schr. , ep. 1905, 30). Einen nemeischen Sieg preist
24 (1904) 1476 f. die 3. isthmische Ode. die seit Heyne und
•) Oxyrhynch.pap. V(1908) p. 11 ff. Siehe Böckh mit der 4. isthmischen, mit der sie das-
dazuO.ScHBÖDERjBerL phil. W.schr. 28 (1908) selbe Strophenmaß hat, zusammengenommen
170 ff.
^) Auf Grund sehr unzuverlässiger junger
Zengnisse nimmt Bebok, PLG V p. 21 f. an,
und als nachträgliche Ergänzung der vierten
aufgefaßt wird (Gaspar p. 80 ff. 107).
^) Dieser Fehler scheint auf ApoUonios
daß auch im Anfang der Isthmien eine Ode den Eidographen zurückzugehen, da dieser
und ebenso eine unter den Nemeen aus- i nach den Scholien die Ode zu den pythischen
gefallen sei. Fragmente sind nur von isth- stellte, während sie Eallimachos mit nicht
mischen Oden vorhanden; die Bezeichnung | viel mehr Recht den nemeischen zugesellte.
224 GriechiBche Litteratnrgeschichte. L ElaMdsohe Periode.
auch manche Siege in den Wettkämpfen davongetragen hatte. Diese
Mängel der Redaktion zeigen zur Oenüge, daß die Ausgabe nicht auf den
Dichter selbst, sondern auf einen späteren, sei es attischen, sei es alexan-
drinischen Herausgeber zurückzuführen ist.
134. Die Epinikien waren wie alle Gedichte Pindars bestimmt zum Vor-
trag durch Chorea iyoQoi oder xd^toi);^) diese waren aus Altersgenossen und
Freunden des Siegers zusammengesetzt, 3) und wurden durch den Dichter
selbst oder einen eigenen Chormeister eingeübt.*) Die Gedanken und Ge-
fühle sind aber, wie schon bei Alkman und Ibykos und dann in den Chören
der attischen Tragödie,*) oft ganz aus der Person des Dichters gesprochen,
der sich durch den Mund dos Chors auch an Fürsten mit Mahnreden und
Zurechtweisungen wendet. Daraus sieht man, daß der Chor früh seine
ursprüngliche Bedeutung als Stimme der Gemeinde verloren hatte und
lediglich ein vollerklingendes Organ des Dichters geworden war.«) Auch
die volkstümliche Zerteilung des Chors zum Wechselgesang in Halbchöre
erscheint aufgegeben, wenn Strophe und Antistrophe sich bei Pindar durch
den Sinn weit weniger voneinander abheben als bei den attischen Drama-
tikern, vielmehr oft der Satz über die Strophengrenze hinüber sich fort-
setzt. — Das Siegeslied wurde bestellt, von dem Sieger oder dessen
Freunden oder Verwandten.') Der Dichter erhielt dafür ein Honorar und
erlaubte sich ohne Ziererei bezüglich der Höhe desselben an die Freigebig-
keit des Bestellers zu appellieren.*) Man scheint darin nichts gefunden zu
haben, was gegen die Dichtorwürde verstoße: Pindar vergleicht sein Pi'eis-
lied der Ehrenstatuc (X. 5. 1) und findet es daher selbstverständlich, daß er
auch in der Entlohnung seiner Kunst hinter dem Bildhauer nicht zurückstehe.
') In den auf die Vita A folgenden 'Ato- p((/>//ri)r r^ar/Vz/, Nem. 2,24 mit.Toxf rai angeredet
V *7/;7/ara ///r<Vioorj).CI 2(3 Chr. wird ein arr/or ■*) Als Chormeister ist 0.6,88 ein ge-
dafür erzählt, daß I*. nur Chorlyrik dichtete: wiKser Aineas genannt.
'KntoTiji'hi:: .TH/.tr rnö Ttvfh:, «Va ti fttktj yon- ^) Schol. Eur. Or. 1691.
ifiDv n()Fty <,ry. tninrarni, thtv xai yan tu *) Ausdrücklich Spricht das der Dichter
vdr.Ttjyni jnjfid/jn xnTaoxFvaZat'TFc: xv{ittndr P. 10. 55 aus, WO cr vom Chor sagt: fhiofiat
ovy. hitornriai, WOZU die Scholien zuO. 6, 14Sa «^' 'E(fVoaiwr nn' diif/ ( Ihjyf'un' yXvxeXav jrpo-
stimmen: Aiyni>: o/roc j^ooodidaoxfuo^ , ot yFÖrrtov F/idr roy "7.7.7 o;///«r fre xai fiä/JLov
t'/n/jO(uo ö ///ivVioOs (^tu rö nvToy toyyi'nf (nyny ovy rJo/rVaV . . {hufjoy fv tUi^t {}tjaeiui: Aus
Fiyni y.al iiij firynoUni /r un (Stjuooifo rS/' Fnirar dem Schluß VOn N. 2 ae^r/zfA« A* i^dox^re
xdnüJyny ToT,; ytujolc. Ähnliches wurde von (fonui könnt« man vennuten, daß dasTorans-
Sophokles und Isokrates erzählt. 1 atsächlicli gegangene Lied nur die Einleitung (.Tooo//i#oi')
ist die chorische Form für I'indais natürliches bildete, dem das eigentliche, vom Chor ge-
Hedürfnis nach starkem und nachdrücklichem sungene Festlied erst nachfolgte. Aber gegen
Vortrag (liFyTdfjFioy finay nennt das Aristid. diese Annahme sprechen die zahlreichen
or. 45 p. J>4 DiND.) die angemessene. Stellen anderer Epinikien, die nur vom
-) //>oö^ bedeutete ursprünglich den Chor, Hauptlied gelten können. Eher ist glaub-
insofern er tanzt, xotim^ eigentlich den diony- lieh, daß einzelne, besonders persönlich ge-
sischen Festzug (Wilamowitz. (iött. gel. Anz. haltene Strophen, wie P. 1.^1—100 und Ja.
1906. f)25 f.; E. Retscii. Zeitschr. f. die östr. 2, 4o— 48, nur dem Sieger vom Dichter Ober-
( Jymn. 5S. 1907. 294 if. will in den xuinoi der reicht, nicht auch vom Chor gesungen wurden.
attischen Siegesliste die vorlitterarischen ago- Einige Oden haben sogar die Form von
nistischen Anfänge der Komödie, dieva//./;^« Briefen, wie P. 2, Is. 2, sind aber gleichwohl
iinden. was kaum richtig sein kann). Der nach des Dichters eigener Angabe zum Vor-
letztere Aufdruck und dtis davon abgeleitete trag durch Chorgesang bestimmt,
Verbuni xomd::ny ist dem Pindar am ge- ') Bacchyl. 9. 9 durch den Schwager
läutigsten. Auch durch noh'qantc i'uy<K ist des (lefeierten. War ein musisch begabtes
O. 1, s. N.T. 81 das von einem Chor ge- (ilied der Familie des Siegers da (Pind. N. 4,
sungene Lied bezeichnet. 13. 89). so sorgte dieses für den Hymnus.
'j In Nem. 8, 4 werden sie mit jF.xToye^ \ **) Siehe o. S. 206.
B. Lyrik. IL Ghorlyrik. Pindar. (§ 184.) 225
Gelegenheit zum Festgesang bot zunächst der Jubel, mit dem auf
dem Festplatz selbst die Freunde den Sieg ihres Genossen aufnahmen.
Aber so rasch war das Lied nicht zur Hand; daher beschränkte man sich
bei der ersten Begrüßung in der Regel auf den alten archilochischen Zuruf
ri^veUa xaklivixe, •) unter dem man den Sieger im festlichen Zug zum Altar
des Oottes geleitete. Daran schloß sich ein Gelage entweder auf Kosten
des Siegers*) oder, was die Regel war, auf Kosten der Eleer in ihrem
Gasthaus.^) Das eigentliche, besonders für den einzelnen Sieg gedichtete
Preislied wurde erst bei dem feierlichen Einzug in die Heimatstadt ge-
sungen.*) Denn der Sieg eines Mitbürgers, namentlich bei den großen, so-
genannten heiligen Spielen,*) galt als eine Ehre für die ganze Stadt, an
deren Feier sich daher auch die ganze Bürgerschaft beteiligte®) und bei
der es auch der Sieger nicht an gastlicher Bewirtung und freigebigen
Spenden fehlen ließ.'') Man holte teils den Sieger, der sich schon unter-
wegs auf der Heimreise hatte} feiern lassen,^) im festHchen Zug ab und
geleitete ihn wie im Triumph zur heiligen Stätte, wo er den Siegeskranz
am Altar der Gottheit niederlegte, teils zog man am Abend zum Haus
des Siegers und brachte ihm ein Ständchen,^) teils endlich feierte man ihn
beim Festmahl. Bei einer dieser Gelegenheiten also ward das Siegeslied
gesungen, unter Begleitung musikalischer Instrumente, bald der Lyra oder
des Aulos allein, bald der Lyra und des Aulos zusammen.^o) Auch der
Tanz oder Aufzug fehlte nicht. Ihn nennt Pindar P. 1, 2 den Anfang der
Festfeier (ßdoig äylätag ägxd)j weil der Chor in der Regel zuerst schwei-
gend in gemessenem Schritt in den Saal einzog und erst angesichts des
gefeierten Siegers zu den Klängen der Phorminx den Gesang anhob. Der
Tanz und Schritt fiel selbstverständlich weg, wenn kein Aufzug stattfand
>) Vgl. 0. 9, 1 und die Erklftrer z. St. j Athen, die Herakleia oder lolaia in Theben,
*) So Alkibiades nach Ath. 3bc. { die Aiakeia in Aigina etc. Eine Zusammen-
') Paus. V 15, 12. I Stellung sämtlicher Spiele in den Proleg. zu
*) Eine Ansnahme macht 0. 8, die für : W. Chbists Ausgabe p. LXXXVI ss.
einem Aufzug in Olympia bestimmt war, da *) Bezeichnend ist, daß der Spartaner-
damais die kriegerischen Zustände von Aigina 1 könig Demaratos nach einem Wagensieg nicht
einen festlichen Einzug in der Heimat nicht < seinen, sondern den Namen Spartas ausrufen
gestatteten. Das gleiche gilt für P. 6 u. 7; '
auch fOr 0. 4 hat es Böckh angenommen.
*) Heilige Spiele waren: 1. in Olympia
zu Ehren des Zeus seit Ol. 1 alle vier Jahre
Ende Juni oder Anfang Juli im 1. Olympiaden-
jahr, 2. in Delphi zu Ehren des Apollon
im August alle vier Jahre seit Ol. 49, 3
(= 582 V. Chr.) im 3. Olympiadenjahr, 3. in
Nemea zu Ehren des nemeischen Zeus seit
01. 51, 2 (578) alle zwei Jahre im Juli des
2. und 4. Olympiadenjahres (s 6. F. Unoeb,
Phil. 34, 1876, 50 ff. und 37, 1877, 524 ff.; da- Feldherm Chromios. N. 1, 22 u. 9, 51.
gegen J. G. Dbotsew, Herrn. 14, 1879, 1 ff.) ; 1 ®) Phot. lex. s. v. nFQtayRtoofievoi.
4. auf dem Isthmus zu Ehren des Poseidon ' ®) VinA.\s.%,Z:TFlEödnxov,iaoa:io6dvQov
alle zwei Jahre im April des 2. und 4. Olym- iwv dveyeiohcj xiof.wv. Vgl. Bacchyl. 6, 14.
piÄdeiijahres(s.G.F.ÜNGKB, Phil. 37, 1877,1 ff. | »«) Lyra erwähnt P. 1, 1, Flöte 0. 5, 19,
und W. Chbist, Sitz.ber. d. bayr. Ak. 1889, | Lyra und Flöte 0. 3, 8; 11, 93; N. 3, 12 u.
124 ff.). Außerdem gab es zahkeiche Lokal- 79; 9, 8; vgl. A. Böckh, Pindar I 2, 258 und
spiele, andenen sich aber auch Nichteingebome j E.Graf, De Graecorum veterum re musica,
beteiligen durften, wie die Panathenäen in | Marb. 1889.
Handbneh der klass. AltertnouwiBsenscliaft. VII. 5. Anfl. 15
ließ (Herodot. VI 70). Vgl. Xenophanes, der
fr. 2 D. gegen diese Auszeichnung der körper-
lichen Überlegenheit eifert, und Isoer. 4, 1.
Ehrung des Siegers von Staats wegen erwähnt
der chiotische Volksbeschluß vom Jahr 276
V. Chr. bei Ch. Michel, Recueil 365, 18. Über
das inschriftliche Siegerverzeichnis auf Keos
s. o. S. 212. 1.
') Der gastlichen Bewirtung der Sänger
mit Speise und Trank ist gedacht in den
Siegesliedem zu Ehren des syrakusischen
226 Griechische Litteratnrgeschichte. I. KUssuMshe Periode.
und der Chor nur ein einfaches Ständchen darbrachte oder beim (Belage
den Gesang anstimmte.^)
135. Metrische Form. Für jedes Lied dichtete Pindar, offenbar
nach stehendem Brauch, eine neue Melodie und somit auch neue metrische
Formen. Davon gibt es nur eine Ausnahme, indem die dritte und vierte
isthmische Ode das gleiche Versmafs gemein haben; aber das hat seinen
Grund in den besonderen Verhältnissen jener beiden Gedichte, deren erstes
Pindar, wenn es überhaupt von ihm herrührt, als Ergänzung nachträglich
hinzufügte, nachdem der Gefeierte inzwischen zu dem isthmischen Sieg
auch noch einen nemeischen errungen hatte. Im übrigen sind die Unter-
schiede in Versmaß und Ton zwischen den einzelnen Epinikien sehr groß.
Ganz zweifelhaft ist, ob dies mit der Verschiedenheit der Tonart zusammen-
hängt, in der die Melodien der einzelnen Oden gesetzt waren. Leider
können wir über diese musikalische Seite der pindarischen Muse, die von
den Alten besonders hoch geschätzt wurde,^) nicht mehr klar urteilen, da
uns mit den bloßen Andeutungen des dorischen Fußes (0. 3, 5), der äolischen
Saiten (0. 1, 102, P. 2,69), der lydischen Weise (0.5,19. 14,17, N. 4, 45.
8, 15) nicht viel gedient ist, und die wenigen Melodienreste zu P. 1, die
im 17. Jahrhundert der Jesuit A. Kircher aus einem angeblichen Codex
der St. Salvatorbibliothek Messinas publiziert hat, unecht sind.**) — Wich-
tiger und sicherer erkennbar sind die in der metrischen Form ausgeprägten
Anzeichen des Charakters der einzelnen Oden. Pindar hat im Unterschied
von der Rhythmik der älteren Gruppe der Chorlyriker nur ganz selten rein
daktylische Glieder. Am meisten herrschen bei ihm die früher willkürlich
so genannten Daktyloepitriten vor, die tatsächlich weder Daktylen noch
Epitriten, sondern Verbindungen wechseiförmiger sechszeitiger Takte sind,
wie TvvöaQidaK; je (fiXo^eiroig äöeTv xakMJikoxdfup &* 'EXevft
Trotz der erhaben-ernsten Stimmung, die ihn beherrscht, hat er also doch
im Rhythmus die heiteren Töne angeschlagen und wohl anschlagen müssen,
die dem Zeitgeschmack entsprachen, wie etwa Beethoven zunächst auf die
musikalisch-rhythmischen Formen Haydns und Mozarts, nicht Bachs ein-
gegangen ist. Nur vermeidet Pindar die Versformen des Volkslieds, wie
Glykoneen, Pherekrateen, Asklepiadcen u. ä., geflissentlich und zieht es vor,
originale Kombinationen aus diesen Tanzrhythmen zu gestalten. Ernsthaftere
Stimmung bringt er, ähnlich wie Aischylos, durch katalektische Bildungen
herein. Neben jenen Rhythmen gebraucht er den apollinischen Prozessions-
rhythmus des Paion (Ol. 2. 10; P. 5). So ist seine Rhythmik von Trivia-
') J)as Stellen ist ausdrücklich hervor- E. Graf, De Graecor. vet. re musica, BCarb.
gehohen P. 4, 1 : oanyoor //n- /o;/ of .lao \ 1889, cap. II.
dri)o} 7//.0* orauFv, 80 daß man hier an Vor- ^) Uher die Frage der Echtheit B.We8T-
tra^ ohne Tanz denken möchte, zumal das phal, Mctr. d. Gr. II-, Leipz. 1868, 622 ff. W.
Gedicht schier den Umfang einer homerischen Christs Uncchterkläiiing stützt sich aaf die
Rhapsodie hat. W. Christ hat in seiner Aus- Wahrnehmung seines ehemaligen Schülers
gahe im einzelnennachzuweisen gesucht, ob ein Höckl, daß die Melodienschlüsse mit der
Lied beim Marsch oder im Stehen gesungen falschen Versteilung der Überlieferung, nicht
worden sei. mitden echten, von Böckh wiederhergestellten
'-) Pindars Melodien lobt Aristoxenos bei \ Versen in Einklang stehen.
Plut. de mus. 2Ü u. 81. Über Pindars Musik
B. Lyrik. IL Chorlyrik. Pindar. (§§ 135—186.) 227
lität weit entfernt. Die meisten Siegeslieder zeigen den kunstvollen epo-
dischen Bau; den einfacheren monostrophischen nur 0. 14; P. 6. 12; N. 2.
4. 9; I. 8. Seine Verse und Strophen sind viel mannigfaltiger als die der
szenischen Dichter Attikas, bei denen frühzeitig einige besonders gefallige
Formen, wie die Glykoneen, eine herrschende Stellung gewannen. Erst
in den späteren Gedichten, wie P. 8 und N. 2, macht sich in dieser Be-
ziehung attischer Einfluß auch auf den böotischen Dichter bemerkbar.^)
In den epodischen Gesängen, namentlich in denen seiner späteren Lebens-
zeit, hat sich Pindar bemüht, Strophe, Antistrophe und Epode zu einer
abgeschlossenen Einheit des Inhalts zusammenzufassen.^) Ein volleres
Verständnis des pindarischen Versbaus ist durch die Pindarausgabe von
A. Böckh angebahnt worden, der zuerst die Zusammenfassung der kleinen
rhythmischen Glieder (xü>ka)^ die unsere Handschriften bieten, zu größeren
Komplexen (Perioden) gefordert und auf Grund der von ihm gefundenen
Kennzeichen für die Periodengrenzen durchgeführt hat.
136. Anlage des Siegesliedes. Bezüglich der Anlage der Sieges-
lieder hat in neuerer Zeit R. Westphal, Proleg. zu Aeschylos Tragödien,
Leipz. 1869 S. 49 die These aufgestellt, daß Pindar genau der Gliederung des
terpandrischen Nomos gefolgt sei, und hat mit diesem Gedanken bei vielen
Erklärern Anklang gefunden. 3) Tatsächlich beschränkt sich die Ähnlichkeit
auf die natürliche Abfolge der drei Hauptstücke Einleitung, Mittelstück und
Schluß, die Pindar nicht aus dem Nomos zu borgen brauchte, der für den
Nomos bezeichnendste Teil, die ocpgayig spielt bei Pindar gar keine Rolle.
Das Mittelstück ist bei Pindar wie im Nomos regelmäßig durch einen
Mythus gebildet, der nur 0. 12, 14; P. 1, 7; N. 6 und in der unechten 0. 5
fehlt und I. 1, 18 — 31 durch einen kleinen allgemein mythologischen Exkurs
ersetzt ist. Ausnahmen bilden N. 1 und 10, wo der Mythus am Schluß
steht. Der Dichter entnahm diesen in den meisten Fällen der Heroen-
geschichte des Landes, so daß von den zahlreichen Oden auf aiginetische
Sieger keine des Preises der Aiakiden entbehrt. Er schmeichelte damit
dem Lokalpatriotismus der Griechen und ihrem Stolz auf die Ruhmestaten
der Vergangenheit, der um so größer war, je unerfreulicher und ruhmloser
*) Das hat W. Christ in Ausführung der ' Siegeslieder, Leipzig 1880; E. Lübbert, Com-
CrTondgedanken Grafs nachgewiesen in Grund- mentatio de priscae cuiusdam epiniciorum
fragen der melischen Metrik der Griechen, > formae apud Pindarum vestigiis (Bonn 1885),
Ahh. d. bayr.Ak. Bd. 22 (1905)8.296 f. Dort ist 1 de poesis Pindaricae in archa et sphragide
auch S. 261 f. nachgewiesen, daß Pindar dem componendis arte (1885/6), Meletemata de
grayitfttischen Charakter seiner Poesie ent- ' Pindari studiis Terpandreis (1886), De Pin-
sprechend öfter zwei dreizeitige Längen auf- dari carminum compositione et nomorum
einander folgen ließ, indem er wie P. 1, 3 j historia illastranda (1887). Dagegen sprachen
den brachvkatalektischen Ausgang auf zwei I sich aus C. Bulle in der gehaltvollen Re-
gedehnte Längen auch auf den Versanfang zension von Mezgers Buch in Phil. Rundschau
übertrug. 1 (1881) 1 ff., E. Hiller im Henu. 21 (1886)
») So besonders in 0. 7. 8. 13, N. 10. 11. 1 357 ff. Weitere Litteratur in Jahresber.d. Alt.
E^e Entwicklung von Pindars Verskunst I 42 (1885) 59 ff. 0. Crusids, Über die Nomos-
sachen £. Gbaf, Pindars logaödische Strophen frage, Verh. der 39. Vers. d. Phil. Zürich 1887,
(Marburg 1892) und 0. Schröder, N.Jahrbb. | 258-276. W. Christ (Ausg. p. XCIX 97) gibt
f. klass. Altert 15 (1905) 102 nachzuweisen. | nur für 0. 13 die Möglichkeit der Nomosform
') M. Schmidt, Pindars olymp. Sieges- | zu, weil hier die Grenzen der Sätze mit denen
gesftnge, Jena 1869; F. Mezobr, Pindars der Strophen zusammenfallen.
15*
228 OrieohiBche Litteratnrgeechichte. L Klassisohe Periode.
sich bei den meisten von ihnen die Oegenwart gestaltet hatte; er knüpfte
damit aber auch an die Festgelegenheit an, da die Epinikien gewöhnlich
an einem Feiertag, sei es der Schutzgottheit der Stadt, sei es des Stamm-
heros, aufgeführt wurden. In anderen Liedern ging der Dichter auf den
Ursprung der Spiele oder die Art des Wettkampfes zurück, wie er in
0. 1. 3. 10 die Gründung der olympischen Spiele durch Herakles und ihr
Vorspiel unter Pelops besingt und in P. 12 auf den Auleten Midas die Er-
findung des Flötenspiels durch Athene verherrlicht. Wieder in anderen
Oden wird der Mythus den persönlichen Beziehungen des Siegers ent-
nommen oder ersetzt durch den Preis geschichtlicher Ruhmestaten. Das
letzte ist besonders da der Fall, wo, wie bei Hieron, Theron, Chromios,
das Land oder das Geschlecht des Siegers des mythologischen Hinter-
grundes entbehrte und die Persönlichkeit des Siegers selbst Stoff genug
zu würdiger Siegesfeier bot. Dabei zeigt Pindar überall eine außerordent-
liche Vertrautheit mit den alten Überlieferungen des Landes, 0 zugleich
aber auch eine bewundernswerte, gelegentlich auch überkünstelnde Ge-
schicklichkeit in der Verknüpfung des Mythus mit der Person des Siegers;
diese Zusammenhänge aufzudecken betrachten die Erklärer mit Recht als
eine ihrer Hauptaufgaben.*) Der Mythus und der erzählende Teil bilden in
der Regel auch ästhetisch den Glanzpunkt der pindarischen Siegeslieder; doch
gelingt es dem Dichter nur da den Leser durch anziehende Schilderung
zu fesseln, wo er sich in der breiten Vorführung eines Mythus ruhig gehen
läßt, wie in der liebeswarmen Erzählung von dem schweren Geschick der
schönen Koronis (P. 3) oder der Liebe Apollons zu der kühnen Jägerin
Kyrene (P. 9), oder in der breit und farbenreich erzählten Sage vom Argo-
nautenzug (P. 4). Vielfach aber bleibt er bei einem Mythus nicht stehen,
sondern geht, um den ganzen Glanz der mythischen Vergangenheit einer
Stadt zu entfalten, ohne viel Aufenthalt von einem Mythus auf den andern
über. Um diese desultorische Behandlung zu verstehen, muß man sich
gegenwärtig halten, daß der Dichter einem mit dem Sagenmaterial ver-
trauten Publikum gegenüberstand und sich mit Andeutungen begnügen
konnte. Wo er ausführlich wird, da reißen ihn die ästhetischen oder
^) Aristides or.48 p.484DiND. : IJirSantK: terischer Persönlichkeit völlig verkennt und
ftaXtai' (Ut/ihin<: dyjFXf^of^at hoy.Fi rotr nniijuTtv ungebührlich hcrabBetzt. Dr. macht anch
nf^ji TfW iarootac. Die Kenntnis der Mythen ohne weiteres den Dichter persönlich fÄr an-
schöpfte er hauptsächlich aus Hesiod und gebliche Schwächen verantwortlich, die in
dcnKykUkern(E.LüBBKKT, De Pindari studiis dem nicht von P. geschaffenen Stil der £pi-
Hesiodeis et Homericis, Bonn 1H81). nikien (s. F. Blass, BacchyL* praef. XXII)
*) Schon die Alten empfanden hier liegen. Es darf nicht vergessen werden, dai
Schwierigkeiten (Schol. N. 1,49); wo sie nicht der Mythus, den A. Böckh und L. Dissen im
zu einer rationellen Erklärung kommen, reden ganzen richtig als ideales Spiegelbild ftkr
sie von a/ovo,: .laQ^xfinoi^: (Schol. P, 10, 47). Sieger und Publikum ansahen, dem Dichter
A. Böckh und seine Anhänger haben in der i einen wesentlichen Teil der weniger er-
AufspUrung eines Zusammenhangs manchmal | wünschten Pflicht des Lobes auf den Sieger
des Guten zu viel getan; dagegen A.B. Drach- . und seine Familie abnimmt und daß die
MANN , Moderne Pindarfortolkning . Kopen- Heranziehung der nooyorot im weitesten Sinn
hagen 1891 (im Anliang p. 318—326 latei- bei jeder gegenwärtigen Gelegenheit zum
nischc Inhaltsangabe der dänisch geschrie- Preis menschlicher Tüchtigkeit griechischem
benen Schrift), der aber die bewußt schroffe Empfinden durchaus entsprach (Thuc. II36, 1.
und abspringende Eigenart von Pindars dich- 43, 2).
B. Lyrik. IL Chorlyrik, Pindar. (§ 187.) 229
ethischen Vorzüge des ergriflFenen Sagenstoflfes mit fort, und er entwirft
mit breitem Pinsel Bilder von gewaltiger Leuchtkraft und Oroßzügigkeit.
Das dichterische Verdienst Pindars und der gesamten Chorlyrik besteht
nicht in der vorsichtig abgewogenen Klarheit des Aufbaus, ^) sondern in
dem die Ordnung beiseitesetzenden mächtigen Schwung der Phantasie und
der stimmungsvollen Ausgestaltung der Einzelsituation. Horaz (od. IV, 2)
und der Verfasser der Schrift Tiegl vipovg bringen ihm kongeniales Ver-
ständnis entgegen. In Liedern der Art, wie z. B. in dem Siegeslied auf
den Eorinthier Xenophon 0. 13, das aus lauter Lobeserhebungen auf den
Sieger, seine Vaterstadt Korinth und seine Familie besteht, oder 0. 8, wo
er die achtzehn Siege des Rhodiers Diagoras (v. 80 — 90) herzählt, oder
dem ähnlichen N. 6 hat er freilich nach unserem Gefühl der Eitelkeit der
Heimatstadt des Siegers und der Ruhmsucht des Siegers selbst zuliebe
den Forderungen der dichterischen Kunst etwas vergeben.
137. Gedankeninhalt.*) Mehr als durch die Kunst der Anordnung
und die Wahl des Stoffes verdient Pindar unsere Bewunderung durch die
Tiefe der Gedanken, die Hoheit der Sprache und die Majestät der Rhyth-
men. Alles ist bei ihm groß und erhaben; selbst wo er, wie in der vier-
zehnten olympischen Ode, die Huld der Chariten preist, verschmäht er
kleine, tändelnde Weisen. Von stolzem Selbstgefühl auf sein angeborenes
Genie durchdrungen, vergleicht er sich dem hochfliegenden Aar, der gering-
schätzig von seiner Höhe auf die mühsam erlernte Kunst kreischender
Raben herabschaut. 3) Den Garten der Musen pflegte er nicht bloß mit
ausnehmender Kunst, er weiß auch ihre Gaben, die allein der Tugend Un-
sterblichkeit verleihen, in allen Tonarten zu preisen;*) wie Hesiod betrachtet
er sich als den Diener der Musen und nennt sich daher fr. 90 ITieoldcov
7iQ(Hpäxav. Geradeaus in seinen Anschauungen, wagt er auch den Hohen
der Erde gegenüber ein freies, mahnendes Wort,^) und weit entfernt von
kraftloser Gutmütigkeit tritt er mit energischem Zorn seinen Feinden ent-
gegen.«) Ein heiliger Sänger voll tiefer Religiosität hat er herrlich wie
kein zweiter die Hoheit des Zeus und die Macht der lichten Gottheiten
gegenüber den Dämonen der Finsternis besungen.^) Mit frommem Sinn
hielt er fest an dem Glauben der Väter, ») erlaubte sich aber doch auch
*) Pindar will sich in diesem Stück nicht j p. 509 f. Dind.
schulmeistern lassen: P. 10, 53 <?j'>fo>//«W yog ; •*) 0. 9,27: e^aiQFTov Xaotzcov veuoftai
ätotog vfivo}v in* äXXor* ä?^Aoy lore fiiXiaoa xcLim'. P. 3, 114: « A* doeiä x/.eivaTc doidatg
&{frei loyoy; vgl. P. 11, 38; unten S. 232, 2. zQori^ teXeOei. Vgl. 0. 10,'"95; N. 4, 6; I. 3, 58.
') A. Cboisbt, La poösie de Pindare et ^) Einen F.vOvyXconaog dri/o nennt er sich
les lois du lyrisme Grec, Paris 1880. selbst P. 2, 86; sein Freimut zeigt sich be-
•) 0. 2, 96; N. 3, 80; 5, 21; vgl. beson- sonders gegen Hieron in P. 2 und gegen Ar-
ders den Schloß von 0. 1 : «>; fie loaöuSe kesilaos in P. 4, 263 ff.
vixaipOQOtg SfiiXsTv jigoq^avTOv oo<fi(f xad^ "EX- \ ®) P. 2, 84: :ioii <^' ix&Qoy ut* fx^Qo^ icov
Xavac Bovxa navtq,. Die Scholiasten deuteten ', Xvxoto öiy.av vnodtroofiai. Vgl. I. 3, 66.
die Raben anf Simonides und Bakchylides, , ^) Einzig schön im Eingang von P. 1,
die Hanptrivalen Pindars. Mit Bescheiden- i wo L. Schmidts Vergleich mit Rembrandt-
heit rflhmt sich dagegen Bakchylides fr. 5 Bl. sehen Gegonsatzwirkungen am Platz ist, und
nur der von andern gelernten Kunst. Pin- in P. 2, 49 fF. u. 89 ff.
dars Überhebung fand selbst bei seinem Be- ^) N. 8, 20 jioXXd yog jioXXq. XiXexTiu *
wunderer Plutarch de se ips. citra invid. veagd d' s^sv^övia dofisr ßaadvq) ig FXeyxov
land. 1, 539 c Tadel. Anders Aristid. or, 49 i änag xivöwog.
230 Oriechische latteraturgesohichte. I. Elassiflche Periode.
Mythen, die gegen seine Anschauung von der Hoheit und Reinheit der
Götter verstießen, in seiner Weise umzudeuten und umzugestalten. Wenn
z. B. die Überlieferung bei Hesiod erzählte, ein Rabe habe dem Apollon
Kunde von der Untreue seiner geliebten Koronis gebracht, so sträubte
sich gegen die Niedrigkeit dieses Zwischenträgers sein reineres Oottes-
bewußtsein, und er ließ deshalb den Apollon selbst mit seinem allsehenden
Geist die treulose Tat erspähen.^) Für die ionische Göttemovelle und
Götterburleske hat Pindar keinen Sinn. Sittlicher Ernst, sittliche StraflF-
heit durchdringt seine ganze Religionsanschauung, die in der starken
Hervorhebung des Zeus einen ähnlich entschiedenen monotheistischen Zug
hat wie die des Aischylos. Der Monotheismus dieser Männer ist aber auf ganz
anderem Boden als der des Xenophanes gewachsen.^) Wenn Pindar philo-
sophische Einflüsse erfahren hat, so sind diese vom Pythagoreismus und
der Orphik ausgegangen. Die mystischen Lehren dieser Sekten trafen in
Pindars Wesen eine mitklingende Saite und stehen nun bei ihm kaum
vermittelt neben den altepischen Sagen. So preist er fr. 137 den glücklieh,
der in die Mysterien eingeweiht unter die Erde geht, denn der kennt des
Lebens Ende und den von Gott gesetzten Anfang, und anderwärts vertritt
er die dem altionischen Kationalismus fremde Lehre von der Unsterblich-
keit der Seele und der Belohnung der Guten nach dem Tod.») Es könnte
scheinen, als würde unser Urteil über Pindars dichterische und sittlich-
religiöse Eigenart getrübt durch den zufälligen Umstand, daß wir nur
seine Siegeslieder, also bestellte Arbeiten, vollständig kennen. Indessen
ist doch hier sein Vortrag so voll von eigenartigen sittlichen Akzenten,
daß wir nicht zu befürchten brauchen, auf Grund dieses Materials in
unserer Einschätzung fehlzugreifen. Nur der Vorbehalt ist zu machen, dafi
seine mystische Seite in den />o;/i'o/, seine Fähigkeit zu anmutig-humori-
stischer Darstellung in den naniHnn erst zu vollem Ausdruck gelangt sein
muß. Die Frage, ob die Verherrlichung von Athleten und Sportsleuten
einem Dichter von so großen ethischen Prätensionen anstehe, ist erlaubt.
Vergegenwärtigt man sich aber die dem Pindar eigentümliche Auffassung
von diesen Dingen, so wird man sie unbedenklich bejahen. Der Mensch
an sich ist ihm ein Nichts, axiaq orao (P. 8, 95, vgl. I. 7, 42; 5, 14), aber
die Götter können, indem sie ihm Kraft, Weisheit, Reichtum, Erfolg zu-
wenden, ein helles Licht auf ihn werfen (P. 8, 77. 97). Wer diese Güter
hat, ist Liebling der Götter, also auch den Menschen verehrungswürdig
ohne weiteres.*) In den körperlichen Glanzleistungen aber sieht er Be-
^) P. 3. 27; ähnlich ist der TautaloH- satz ist: fon 6' uyi\H ffduey ioixoi dfufi ^ni
inythus iinigestaltet 0. 1,31 fF.. und die Sage lu'mor y.n/.n 0. 1, 36.
von der Erhaaung des Mauerkranzes von *) Pindars Urteil über die ionische Physik
Troia in 0. H, 31. Mit Entrüstung weist er i liegt vor fr. 209: dTfAi] aotf/a^ xag.-rw Sgejini:
die Sago vom Kampf zwischen Apollon und ") 0. 2, 62 fF. und die Fragmente aus den
Herakles um den Dreifuß zurück 0. 9, 35 fF. ' Threnoi; merkwürdig ist der Satz fr. 131 von
Den ij'friSt/ der ionischen Epik gegenüber ist der Seele: ^foor hi hiiFTat nicövog eJdo>ior.
ihm eben diese sittlichere Auffassung von 1 *•) Dieselbe naive Anschauung haben
den Göttern die dkäihni, die er 0. 4, 4 und auch Hom. Od. a, 19 u. Herodot VIII 88;
fr. 205 preist, und er verwirft die dichterische Bacchvl.5,193; vgl. L.Sohmidt, Pindars Leben
/ao/s , die den Menschen Unglaubwürdiges und Dichtung. Bonn 1862, 35 ff. In der Schftt-
annehmlich macht. 0. 1, 32 ff. Sein Grund- ! zung des Reichtums schimmert noch etwas
B. Lyrik. IL Ghorlyrik, Pindar. (§ 138.) 231
tätigungen einer ritterlich-wehrhaften Lebenshaltung, die allerdings sein
Ideal ist.O Daneben weiß er auch die oocpia zu schätzen; aber sie läßt
sich nicht erraffen und erlernen, sondern muß Gottesgabe sein.*) Dem
entspricht, daß ihm Aias und Achilleus sympathisch, Odysseus antipathisch
ist.^) Was diese ganze Eukomiendichtung adelt und vor dem Vorwurf
niedriger Gelegenheits- und Schmeichelpoesie schützt, das ist die auf-
richtige Freudigkeit des Dichters, zu verherrlichen, was irgend von Gottes
Gnaden ist. Denn darin besteht nach Pindars Auffassung der Beruf des
Dichters: er hat Recht und Pflicht, der edlen Leistung {xaXov egyov) durch
sein Wort Ewigkeit zu verleihen, im Wettkampf des Lebens die Palmen
auszuteilen, und vermöge dieser Mission und Befähigung steht er auch über
dem Fürsten.*) Bei dieser Betrachtung schwingt sich der Dichter mit einem
Mai auf eine Höhe, von der sich die alten Bettolsänger nichts träumen
lassen konnten. Für die soziale Hebung des Dichterstandes in Griechen-
land hat Pindar Ähnliches geleistet wie Ennius in Rom. Mit vollem Einsatz
seiner Persönlichkeit und mit priesterlicher Weihe hat er noch einmal
vor dem Zusammenbruch der alten Aristokratien die Ideale ritterlicher
Lebenshaltung in seinen Siegesliedern verherrlicht. Die glanzvollsten
freilich unter den letzten Rittern, denen sein Sang gilt, die sizilischen
Tyrannen, waren in den Augen der mutterländischen Aristokratie homines
novi. Nach Pindar stirbt die Gattung des üurog imrUiog aus. Der letzte
aus der klassischen Periode, von dem wir wissen, ist der des Euripides
auf einen olympischen Wagensieg des Alkibiades (PLG II* p. 266). Dann
wird nur noch ein elegisches Imvixiov des Kallimachos (fr. 69 Sehn.) auf
Sosibios genannt, das mit der Chorlyrik nichts mehr zu tun hat.
138. Sprache Pindars. Mit dem Ernst und der Tiefe der Gedanken
harmoniert bei Pindar der sprachliche Ausdruck. Im Reichtum und in
der Großartigkeit der Bilder sucht er seinesgleichen, aber er deutet den
Vergleich nur an, verweilt nicht wie der ionische Epiker behaglich in der
Ausmalung des Bildes. Nicht geneigt, ausgetretene Wege zu gehen, be-
reichert er die Sprache mit neuen, kühnen Metaphern und Bildern. Die
Vergleichung der Schöpfimgen der Poesie mit den Werken der bildenden
Kunst hat er in die Litteratur eingeführt,*^) und wahrhaft großartig ist
die Zusammenstellung des Proömiums mit dem Säulenportal des Saales
(0. 6, 1) oder die Entgegensetzung der auf derselben Basis beharrenden
Statue und des gleich einem Schiff in die weite Welt hinausfahrenden
durch von der Verblendung des altaristokra- | ^) 0. 2, 86 vgl. P. 8. 44.
tischen xQW^^^if ;r«W^«T* «>'')l>» dasHerodot so | ^j n. 7, 21; 8, 25. Das achilleische Le-
bitter ironisiert (s. o. S. 185, 2), Doch dämpft bensideal 0. 1, 83 OureJr <5' oloiv avdyxa, zi xi
Pindar ab: N. 8, 27 orv i?f<I) (5f' toi (fvievi^eig ; n* dyoWriwr yijoac h' oxdzco xa\%)fiBV(K etpot
Skßog dv^QOiJiotoi jiciQfiovojTeoog. Bezeichnend
auch 0. 11,4 c« de ovv jim-ft} xig ev Jigdoof^, fitjXi-
ydot'eg vfivoi vaieQMv doxa Xdycov TiXXejiu^ s.
auch 0. 1 Anfang.
*) Vgl. mit Hom. {> 147 f. ov ^tev ydo
ftdiav, ujrdrTMr xnAdn' «/<//ooOs. Vgl. 0. S. 32, 2.
*) Hauptstellen N. 4, 6 ff. ; 7, 13; 1. 3. 59 ;
7,18; 5,26; P. 1,90 ff.; 3,114; 8, 39; 0.
4, 11; 10, 91 f.; fr. 121; ähnliche Anschau-
ungen Sapph. fr. 68: Theogn. 237 ff.; Hör.
fietCoy xUog dvegog, ö<pQa xev fjoiv, t) on \ od. IV 8. 9; ep. II 1, 229 f.; Epicur. bei Sen. ep.
noaalv te Qe^U xai xF.Qoiv kfjoiv, Pind.N.5,19f. , 21,3; Synes. ep. 49.
ei 6* oXßcv fj xeigaw ßiav rj oidagirav FJTaivrj- I *) Über die Beziehungen Pindars zu den
acu Jidiefwv dedoxtjtai, fiaxgd fiot avxodev äX- 1 Kunstwerken seiner Zeit handelt R. C. Jebb,
vjioaxdjiToi ug. \ Journal of Hellenic Studios 3 (1882) 174 ff.
232 Griechische LitteratorgeBchichte, L ElaMOBohe Periode.
Liedes (N. 5, 1). Wie in dem Strome Welle auf Welle sich drängt, so
erzeugt in seinem reichen Geist ein Gedanke den andern,*) ohne daß er
sich immer die Mühe nimmt, den einen sorgfältig zum anderen hinQber-
zuleiten.^) Dadurch entstanden die unvermittelten Übergänge') und die
rauhen Fugen, die das Verständnis des oft rätselhaften Ausdrucks er-
schweren*) und dem späteren, an Glätte und Weichheit gewöhnten Publi-
kum die Lektüre des Dichters verleideten.^) Auch im Metrum strebte
Pindar das Erhabene und Großartige an; das tritt besonders in dem die
trivialen Formen meidenden Bau seiner Verse und Strophen hervor. Ele-
ganz und Ebenmaß der Verse und Kola erstrebt Pindar nicht um ihrer
selbst willen, vielmehr das Originale, Kraft- und Charaktervolle, auch auf
Kosten symmetrischer Schönheit, wie ihm auch die Alten die avaxTjQa äg-
fwria zuschreiben, ö) — Im Ausdruck schließt er sich vielfach, oft leise
umbildend, an die Sprache des homerisch-hesiodischen Epos an, zumal in
den mythologischen Partien, und zwar so, daß er nicht nur epische Rede-
wendungen direkt übernimmt, sondern auch ii^ eigenen Neubildungen den
Einfluß der epischen Diktion nachwirkend zeigt.') Fremd ist freilich dem
klaren Fluß der epischen Sprache die Verschränkung von Bild und Sache
*) Daher der schöne Vergleich mit dem ! xcW ixetvo xai xo avarrjoav^ u:fayzes äv M*
Strom bei Horaz od. I V 2, 5 : monte decur- ou ftaorvntjasiav. Ähnlich bedeutet Ilivdd-
rens velut amniSf imhres quem super notaa \ osto^ a^tuorla im Ind. acad. philos. col. XIV 10
aluer e ripas, fervet itnmensuffque ruit pro- p. 52 Mkkler eine rauhe Art Horaz kennt
fundo Pindarus ore. Vortrefflich sind auch den Pindar und hat ihn, wie man aus Qoint
die wenigen Striche bei Quintilian XI, 61: XI, 61 vermuten könnte, vielleicht in Born
Pindarus princeps Spiritus magnificeniiaf eingeführt (Cicero weiß herzlich wenig von
HeHteniiis, fiyuris, beatissima rerum rerbo- ihm); in der triadischen Anlage des Preis-
rumque copia et telut quodam eloquentiae licdesaufAugustus od. 1 12 scheint er sich an
fluni ine. 0. 2 und in dem Vergleich der politischen
^) An welch schwachem Faden oft der Gegner des Kaisers mit den unholden Titanen
Dichter einen Gedanken zum andern hinüber- od. III 4 an P. 8 angelehnt zu haben,
leitet, dafür liefert ein belehrendes Beispiel *) Versuche, eine größere Harmonie und
die Stelle P. 4, 262, wo der Preis der Klug- Symmetrie in unseren Strophenschemen her-
heit der Battiaden ooOo/iovk(A' fttlTiv etfev- zustellen, machten besonders J. H. H. Schmidt,
oofin'ojv genügt, um ihnen ein Rätsel auf- , Die Kunstformen der griech. Poesie, Bd. I,
zugeben: yrtoOi rrr rar Oidtjrdda 007 mr. Siehe ' Leipz. 1868, und M. Soumidt in seiner Ausgabe
a. o. S. 229, 1. der olympischen Siegesgesänge (Jenal869), and
') Mancher dieser Sprünge verdient frei- Über den Bau der pindarischen Strophen, Leipx.
lieh kein Lob, indem eine Sentenz oder eine | 1882. Dionys. Hai. (s. a. A. 5) de imit. II 2
mythologische Bemerkung an den Haaren p. 205, 1 ff. Us. empfiehlt den P. wegen fol-
herbeigezogen ist P. 4, 45; N. 1. 53; 3,75; gender Eigenschaften dem Redner: /ieyaXo-
10, 78; I. 1, 63. .Tof.7f/ac xai tovov xai .tfutova/ag xaxaaxstiifs
*) Pindar selbst deutet diese dunkle ; xai tivrauKo^, xai mxgia^ fis&* rjAor^' xai
Weisheit an 0.2,93: /V^v.// fVi^oi- erti f/am- ' .TvxroTf/Tth; xai aFfit'dnjrO'; ' xai yvoifiokoyiaf
Hjag <f<in'dFria ovvFjfpiaif, f\; f)F rd ndr f^ofttf- < xai FvaoyFia^ xai ax*)ftaxiafiihv xai r/^oxodof
VHoy yaruFi. xai ar^t}oF(o>; xai dFifiooecog' ftaXiara 6k itbr sie
^) Ath. p. 3a: rd Ilirddoor d xfoitnu^to- ao)ff ooorvtjr xai FvaFßFtav xai fieyaXojiQSJi€UKr
jToidc Erno),U (ftjoiv tjdti xaraoFoiyaofiFva j'.to , ijOon'; vgl. a. Quiut. X 1, 61. Daß der Ton in
Tf/s T<oy no)l(7)r uff doxa)Ja^. Dionys. de comp. den Pai-thenien nicht so streng wie sonst '
22 p. 100. 10 ff. Us. von einem pindarischen bemerkt Dionys. Hai. und wird bestätigt durch
Ditliy rambus : xari^' du uiv fohv inyriid xai H. Schultz a. a. 0. (s. o. S. 217, 2) 56 sowie
oTißtiod xai diuouartxd xai .To/.r ro arorijodt' durcli das neugefundene Parthenienfiragmeni.
F/fi T(ja/rrFi tf d/.v.TOK, xai .iixtjaivFi utTtmog j ') H. SCHULTZ a. a. 0., wo auch ältere
xd^ dxodi:, .-rarrFg dv fThoifv dvaßFßbjTai tf \ Litteratur verzeichnet ist. Eine sprachliche
rors ;ifooVoN xai dtaßFßtixFv F.m ,tokv xai^ Entwicklung Pindars im Lauf seiner dichte-
dofioitai^ xai ovtf fhaxQixdr 6ij xovio xai 1 rischen Tätigkeit ist nicht erkennbar.
ylaffvodv FjTtÖFtxyvxai xiD.lo^^ dXXd xd ao/ai- >
B. Lyrik. II. Ghorlyrik. Pindar. (§ 188.)
233
oder die Vermischung verschiedener Bilder, i) die bei Pindar, aber viel-
leicht nicht bei ihm zuerst, und jedenfalls nicht bei ihm allein, sondern
auch in den tragischen Ghorpartien auftritt.
Auch der Dialekt Pindars steht mit dem großartigen Charakter seiner
Poesie in Einklang. Im Gegensatz zu seiner Rivalin Eorinna hat er es
verschmäht, die lokale Mundart Böotiens zu reden; er will nicht bloß für
seinen Kanton, sondern für ganz Oriechenland singen, gebraucht also den
dorisierenden Eunstdialekt der chorischen Lyrik: Alolevg ^ßaive Acogiav
xeXev^ov vfxvoyv (fr. 191).*) Die dem dorischen und äolischen Dialekt ge-
meinsamen Formen, namentlich das lange a gegenüber ionisch-attischem ?/,
und die Pronominalformen tv, v^i/xe, ü/x/luv, äju/uv führte er streng durch;
bei Diskrepanzen beider Dialekte in metrisch gleichwertigen Formen und
in Fällen, wo sich die äolische Form besser in den Vers fügte, gab er
dem äolischen den Vorzug, wie namentlich bei den durch Ersatzdehnung
und Mouillierung entstandenen Formen Moioa, q^evyoioa, xaUoioi, scheute
sich aber auch nicht, jenem äolisch-dorischen Grundton epische und selbst
attische Formen, wie Genetive auf oiOy Acc. pl. auf ovg, beizumischen») und
die Partikeln xev und äv nebeneinander zu gebrauchen. In den Texten
unserer Handschriften wechseln dorische und äolische Formen, und man
hat daher die Vermutung aufgestellt, daß Pindar selbst je nach Tonart
und Heimat des Bestellers kleine Variationen im Dialekt angebracht habe.*)
Aber vielleicht rührt dieser Wechsel nur von der Unbeständigkeit der
attischen Herausgeber, nicht von dem Dichter selbst her, da sich z. B. in
demselben Gedicht ägdovri und vaioioi (I. 6, 64 u. 66)^), juerä und Tiedä (P. 5,
47 u. 94), Sjieoeg und efjmexeq (P. 8, 21 u. 81) nebeneinander finden. Überall
aber klingt der Laut seiner Rede voll und tief wie feierlicher Choral-
gesang.
') Schultz p. 57 ü.
') Gregor. Cor. p. 1, 12 Schaf, nennt
PindarB Sprache xon^ti.
*) So müssen wir wenigstens nach der
handschriftlichen Üherlieferung urteilen, wo-
bei aber nicht zn übersehen ist, daß, wenn
Pindar noch nicht das ionisch-neuattische Al-
phabet gebrauchte und im acc. pl. sec. decl.
02 scluieb, dies ebensogut in ovg wie oyg
angeltet werden konnte; übrigens endet der
acc. plur. auf ovg auch in den Versen des
Böotieis in Aristoph. Ach. 874, 875, 876, 880.
Die Annahme, dao Pindar auch acc. pl. auf
<M^ nach böotischer Art gebrauchte (I. 1, 24;
8, 17; N. 7, 51), steht nicht ganz fest, wohl
aber scheint er dem Vers zulieb, wie Hesiod
▼eieinzelt, solche auf og (0. 2, 78; N. 3, 29;
10, 62) sich gestattet zu haben. Im allge-
meinen richtig urteilten die alten Gramma-
tiker, deren Meinung Eustathios in der Vita
Pind. wiedergibt: aloXi^ei de tä jiokkd, et xal
fifj dxQtß^ dieioiv AloUda, xal xaxa Amoisig
de fpgdCti, ti xal tijg axXtjgordgag AcootÖog
dxixerai. Vgl. B. MsiSTaB, Griech. Dial.^I 22
und W. A. Pbtbb, De dialecto Pindari, Halle
Diss. 1866. — A. Fühbeb, Der böotische Dia-
lekt Pindars, Philol 44 (1885) 49 ff. sucht in der
Weise seines Lehrers A. Fick nachzuweisen,
daß Pindar den epichorischen Dialekt seiner
Heimat sprach und daß die angeblichen Do-
rismen Pindars vielmehr Eigentümlichkeiten
des Böotischen seien.
*) G. Hebmakn. De dialecto Pind., Opusc.
I 245 ff. — In der Syntax, besonders im Ge-
brauch der Modi folgt Pindar öfter noch den
Epikern im Gegensatz zu den Attikem; s.
B. Bbeyeb, Analecta Pindanca, Bresl. Diss.
1880; B. L. Gildebsleeve, Studios on Pin-
daric Syntax, in American Journal of philol.
3 (1882) 434 ff. u. 4 (1883) 158 ff. ; W. Chbist,
Beiträge z. Dialekt Pindars, Sitz.ber. d. bayr.
Ak. 1891 S. 25—86. 0. Sohbödeb, Pindarausg.
praef. p. 1 1 — 46, wo Einzellitteratur über Pin-
dars Sprache reichlich verzeichnet ist.
^) Wahrscheinlich gebrauchte Pindar in
der 3. pers. pl. nur vor Vokalen die Endung
-oioiv der lesbischen Dichter, sonst immer
'ovn nach der Sprechweise der Derer, Lo-
krer und Böoter, nur daß diese -ovri in ovdi
verändern.
234 Oriechische Litteratnrgeschichte. L Klaanache Periode.
Einen Rückgang der Hochschätzung Pindars im Attika des aus-
gehenden 5. Jahrhunderts deutet Eupolis (fr. 366 K.) an, und man versteht,
daß er der ausgebildeten Demokratie unsympathisch war. Ein Yerkleinerer
von ihm soll Amphimenes von Kos (Aristot. fr. 65 Berol.) gewesen sein.
Aristoteles, der Vemachlässiger aller Lyrik, beachtet ihn nicht. Aber in
der hellenistischen Zeit wird er im Kanon der Lyriker obenan gestellt,
neu herausgegeben und kommentiert und in den Schulen gelesen. Diese
Beurteilung und Tradition übernehmen die Römer, denen er als lyricorum
longe princeps (Cic. or. 1, 4; Hör. od. IV 2; Quint. VH! 6, 71; X 1, 61) gilt;
auch hier ist er Schulschriftsteller (Stat. Silv. V 3, 151), und diese Aukto-
rität bleibt ihm in der Byzantinerzeit. Seine Wirkung ist der Schillers
zu vergleichen: wie dieser ist er eine in höchstem Grad energische, sitt-
lich Farbe bekennende Persönlichkeit, stolz und hoch aufgerichtet, zu seinen
Idealen emporblickend und emporweisend, Feind aller kleinlichen und
niedrigen Gesinnung, mit weithin schallendem, prachtvollem Vortrag Be-
geisterung für seine Lebensanschauung weckend. Diesem starken sitt-
lichen Gehalt vor allem verdankt er es, daß er trotz der außerordentlichen
Schwierigkeiten, die er in alter und neuer Zeit dem Verständnis entgegen-
setzte, doch durch die Jahrhunderte hin Schulautor geblieben ist. Der
dithyrambische Stil, dessen glänzendster Vertreter er ist, wurde aber bis ins
18. Jahrhundert den modernen Dichtern durch Horazens Oden vermittelt;
unmittelbare Nachbildung Pindars hat erst A. v. Platen in seinen Fest-
gesängen versucht.^)
TextQberlieferung und Schollen: Vcrniutungen über die frühste Verbreitnng des Pindar-
textes von Attika aus s. W. Christ. Phil. 25 (1867) 607 ff., dessen Ansicht über die erate
Niederschrift des Pindar in dem unvollkommeneren alten Alphabet mit Recht von Wila-
MowiTZ (Textgesch. der gi-. Lyr.) verworfen ist. In Alexandria beschäftigte sich zuerst
Zenodotos mit Pindarkritik (Öxyrhynch. pap. V 15), dann veranstaltete Aristophanes eine
(lesamtausgabe in 17 Büchern (s. oben S. 221), in der die Verse oder Kola, nicht ohne Fehler,
abgeteilt waren (W. Christ, Die metrische Überlieferung Pindars, Abhdl. d. bayr. Ak. 11, 1868,
120 ff.). A ristarchos konstituierte den Text, nicht immer mit Verständnis und Geschick, und
versah ihn mit kritischen Zeichen (P. Feine, De Aristarcho Pindari interprete, Commentat.
philül. Jen. 2, Loipz. 1883; E. Hobn, De Aristarchi stud. Pind., Greifsw. 1883); aus der Tat-
sache, daß unsere Scholien nirgends abweichende Lesarten verzeichnen, schließt Wilamowitz
(Eurip. Herakl. P 144). daß die Ausgabe des Aristarchos alle anderen Texte verdrängte. Außerdem
liabon die Grammatiker Kai listra tos, Ammonios, Aristodemos, Asklepiades, Ari-
stonikos und Chrysippoa (nicht der Stoiker, wie A. Körte, Rh. M. 55, 1900, 131 ff. erweist)
sich mit dem Dichter beschäftigt (s. A. Böcku, Pindar II 1 praef. IX sqq.). Unsere alten Scholien,
die eine fortlaufende Paraphrase, durchzogen von dazugehörigen Erklärungen, enthalten (K.
Lkhbs, Die Pindarscholien. Leipzig 1873), gehen auf Didymos zurück, der öfters namentlich
angeführt ist (vgl. Ammonios de diff. p. 70 und M. Schmidt, Didymi fr.. Leipz. 1854p. 214 ff.);
ihre Redaktion setjX Wilamowitz, Eur. Herakl. P 185 in das 2. Jahrhundert n. Cnr., indem
er den zu 0. 3, 52 erwähnten Amyntianos mit dem zur Zeit des Antoninus Pius lebenden Histo-
likcr Amyntianos identifiziert und unter o 'Alixamaoon'':: sc. .l/oiro/oc zu N. 9, 2 nicht den
Khctor, sondern den Verfasser der Musikgeschichte versteht; vielleicht ist der Redaktor jener
Grammatiker Palamedes, der unter den Tischgenossen des Athenaios vorkommt und von dem
Suidas ein v.idftvfjitu fig Iliydngov tov non)Tt)r anführt. — Über die Metra, die den Byzantinem
ih'n ycai dyroorfjeya waren (0. Kröhnkrt, Canonesne poctar. fuerunt p. 7 — 10), hatte Drakon
von Stratonikeia gehandelt; unsere metrischen Scholien, die in Prosa und die in Versen (von
Tzetzes in J. A. Ckamer An. Par. 1. 1), sind von geringem Wert und beruhen auf falscher Vera-
teilung. — Aus dem Mittelalter stammen die Scholien von Thomas Magister, Moscho-
pulos (bloß zu den Olympien) und Triklinios; zur letzten Klasse gehören auch diejQngst
*) Charakt^jristik Pindars von W. v. Hum- ; 1896) 34 ff. — Über eine Pindarstatue F.
BOLDT in Sauers Deutschen Litteraturdenk- i Wüßter, Jahresh. des Osten*, arch. Inst 3
mälem des 18. und 19. Jahrh. 58/62 (Stuttg. | (1900j 91.
B. Lyrik. II. Chorlyrik. Die attischen Lyriker. (§ 139.) 235
pablizierten ^xoXia UaTfAtaxd (ed. D. Ch. Semitelos, Athen 1874). Der Kommentar des
Eustathios ist bis anf die Vita verloren gegangen. Die Scholien sind den größeren Aus-
gaben, wie der von Böckh, beigefügt. Neue Ausgabe von E. Abel, wovon Schol. vet. zu Nem.
u. IsÜun. erschienen, Berol. 1884; Scbol. rec. zu Ol. u. Pyth. 1891, durch den Tod des Her-
ausgebers unterbrochen; im Erscheinen die neue musternafte Bearbeitung von A. B. Dbaoh-
MANH in BT. (I 1903).
EUindschriften : Pindar ist durch eine einzige Handschrift auf das Mittelalter gekommen,
da alle erhaltenen in gleicher Weise am Schluß verstümmelt sind und mehrere Fehler mit-
einander gemeinsam haben (s. Proleg. zu W. Christs Ausg. p. Vff.). Dieser (verlorene) Arche-
t3rpus unterschied sich von der alexandrinischen Ausgabe durch Umstellung der nemeischen
und isthmischen Oden, welche letzteren in unseren Codd. den Schluß bilden. Die erhaltenen
Codd. zerfallen in alte und interpolierte; von den alten sind die besten (die T. Mommsen
zuerst herangezogen hat), zugleich jeder Vertreter einer eigenen Rezension: A = Ambros.
s. Xn (davon ist der Vratislav. eine Abschrift), der nur die Olympien enthält, mit den ScÜol.
Ambros.; B = Vatic. sive liber Ursini s. XII, alle Epinikien mit den Schol. Vatic. ent-
haltend. Das Verhältnis der Codd. ist klargelegt von T. Mommsen in der großen kritischen
Ausg.. Berol. 1864; Nachträge von E. Abel, Zur Handschriftenkunde Pindars, Wiener Stud.
4 (1882) 224—62; 0. Schböder, Ziu- Genealogie der Handschriften Pindars, Philol. 56 (1897)
78 ff. und Ausgabe (= 5. Aufl. von Th. Beroks Poetae lyr. Gr. II, Leipz. 1900). Neue
Fragmente in Oxyrhynch. pap. IE nr. 408 u. 426, IV nr. 659 u. V p. 11 ff.
Ausgaben und Hilfsmittel : ed. princ.ap. Aldum Venetiisl513, editio Romana des Calliergis
mit den Scholien 1515. — ed. Er. Schmid, Wittenberg 1616, mit vielen guten Emendationen.
— ed. Chr. G. Heyne mit lat. Übersetzung und Kommentar, Gott. 1778. 74, neu bearbeitet von
G. Hermann, Lips. 1817. — Hauptausg. von A. Böokh, Berol. 1811—21, 3 tomi in 4^ mit Scholien,
metrischer Erläuterung und erklärendem Kommentar (letzterer teilweise von L. Dissen). —
Kleinere Ausg. mit lat. Kommentar von L. Dissen, Gotha (1830). bearb. von F. W. Schneidewin,
Gotha 1843—50,2 Bde. — Pindari carmina prolegomenis et commentariis instructa ed. W.Christ,
Lips. 1896. — Die Konjekturalkritik glänzend gefördert, nicht ohne übertriebene Kühnheit
von Th. Berok in PLG I, namentlich ed. IV (Lips. 1878) ; eine 5. Aufl. ganz neu bearbeitet von
0. Schröder 1900. - Textausg. von W. Christ in Bibl. Teubn. 2. Aufl. 1896. — Pindars
Siegeslieder erklärt von F. Mezoer, Leipz. 1880. — Pindars ol3rmp. Siegesgesänge, griech. und
deutsch von M. Schmidt, Jena 1869. — Pindar olymp. and pyth. Od. by B. L. Gildersleeve,
Newyork 1885 (2. ed. London 1892). — Pindars sizilische Oden von Ed. Böhmer, Bonn 1891. —
J. Rukpel, Lexicon Pindaricum, Lips. 1883. — Übersetzung mit guten Einleitungen von
Fr. Thiersch, Leipz. 1820, 2 Bde; Le odi di Pindaro, dichiarate e tradotte da G. Fra^gcaroli,
Verona 1894. Weitere Litteratur in den Ausgaben von W. Christ praef. XII f. und 0.
Schröder p. 78. Letzter Jahresbericht von L. Bornemann im Jahresber. über die Fortschr.
der klass. Altert. wiss. 1903, 2 p. 110 ff.
Die attischen Lyriker.
139. Vom 5. Jahrhundert an tritt die lyrische Dichtung mehr und
mehr zurück. Zwar bleiben die äußeren Anlässe zum Vortrag von Ge-
sängen, die Götterfeste, die Symposien, die Wechselfälle des Lebens, be-
sonders des erotischen,^) die poetischen Widerhall locken; und wenn die
Siegesgesänge verstummen, so weckt der Ehrgeiz politisch hervortretender
Männer eine jenen geistig verwandte Art von Lobgesängen zur Verherr-
lichung Lebender, wie denn Kimon und besonders Lysandros sich um die
Wette ansingen ließen.*) Aber bei den Symposien zehrt man nur vom
Erbe der älteren Zeit,^) deren Erzeugnisse in Kommersbüchern gesammelt
werden (Skolienbuch, Theognis), und die sophistisch gebildete Jugend des
perikleisehen Alters fing an das Singen beim Gelage überhaupt altmodisch
zu finden; in philosophischen Kreisen ist es tatsächlich durch den Agon
in prosaischer Rede, den uns die Symposien des Piaton und Xenophon
^) Siehe z. 6. Plat. Lys. 204 d; Aeschin. 1 stides fand einen Lobsänger in dem Rhodier
1, 41. 185. ! Timokreon (Plut. Them. 21).
') EimoD durch Melanthios u. den Philo- ') Ar. nub. 1355 ff.; Antiphan. fr. 85 K.;
sophen Archelaos Plut. Cim. 4; über Lysan-
dros Plut Lys. 18. Auch der gerechte Ari-
Eupol. fr. 139 K.
236 Ghriechische Litteratorgeschiohte. I. KlaMuche PeriodA.
schildern, verdrängt worden. Die reich entwickelten rhythmischen Formen
der äolodorischen Lyrik schrumpfen allmählich zusanmien, wie anch im
Drama der Chorgesang immer mehr Nebensache wird; die Oberhand ge-
winnt die bequeme ionische Form des daktylischen Distichons, in der nun
jeder Gebildete Elegien und Epigramme mit mehr oder weniger Gtoist zu
dichten versteht; vulgärere Formen ionischer Poesie treten erst mit der
lonikologie und Kinaidologie der hellenistischen Zeit in die Litteratur ein.
Das Vorwalten dieser ionischen Form ist aber nur Symptom für den Sieg
des durch die Sophistik vertretenen ionischen Oeistes der rationalistischen
Aufklärung. Der Geist der Sophistik und der Aufschwung des attischen
Dramas sind für die Gestaltung der attischen Lyrik des 5. und 4. Jahr-
hunderts die ausschlaggebenden Faktoren. Die Fülle neuer Aufgaben der
inneren und äußeren Politik, die der Ausbau der attischen Demokratie
und des Seebundreiches mit sich bringt, rufen zu praktischer Betätigung,
für welche die Sophistik die zu sicherem Erfolg führende Methode zu lehren
verspricht. Damit wird dem beschaulich-ästhetischen Verhalten zur Welt, der
für lyrische Ergießung eine Voraussetzung bildet, der Boden entzogen, und
auch der Ausdruck spontaner Leidenschaft ist wider den Geist der Sophistik,
die in der Form das Gewaltsame und Ungezügelte auszuschalten sich bemüht,
das Instinktive verdächtigt. Es ist bezeichnend, daß Themistokles, wenn
auch kein Schüler, so doch ein Geistesverwandter der Sophistik, der Lyrik
und Musik völlig abgeneigt war.^) In dieser Zeit wurde die Frage er-
hoben, ob die ethische Wirkung der Musik, an welche das alte Griechen-
land fest geglaubt hatte, nicht reine Illusion sei.*) Das Werk der Sophistik
ist die Kunstprosa: sie sucht sich der erfahrungsgemäß vorhandenen Über-
redungskraft, die der poetischen Darstellung durch ihren sinnlichen Glanz
beiwohnt, für ihre egoistisch-praktischen Zwecke zu bemächtigen und
arbeitet im übrigen mit Bewußtsein auf Verdrängung der Poesie hin.*)
Wirkte die Konkurrenz von sophistischer Seite schädigend auf den
Sinn für lyrische Poesie und damit, da die lyrische Erregung Wurzel aller
wahren Dichtung ist, überhaupt auf den Sinn für Poesie, so drängte das
attische Drama die zeitgenössische Lyrik auf neue, bedenkliche Bahnen.
Die Tragödie war aus dem Dithyrambus hervorgewachsen, die Komödie
hatte den Spottgeist der lambographie in sich aufgenommen. Damit waren
die älteren Gattungen in den Schatten gestellt, zumal dem Drama unendlich
reichere Darstellungsmittel als ihnen zur Verfügung standen. Nun blieb
aber der Ditliyrambenagon ein fester Bestandteil der städtischen Dionysien
in Athen, ^) wo er, in unmittelbarer Nachbarschaft neben der tatsächlich über
ihn hinausgewachsenen Tragödie, künstlerisch einen schwierigen Stand hatte,
^) Philodem, de mus. p. 76 XI 38 mit 1 Verteidigangsschrift zugonsten der ethischea
Kemken Note. Bedeutung der Musik, deren TatsächlicIlkeR
*) Unsere Hauptquelle für diese in die Piaton und Aristoteles voraussetzen.
Sophistenzeit zurückreichende Kontroverse ist ■ *) Aristot. rhet. III p. 1404a 24 ff.; Isoer.
Philodems Schrift über die Musik (H. Abbrt,
Lehre v. Ethos 38 ff., 48), der neuerdings das
interessante alte Fragment Hibeh papyri n. 13
(geschrieben zwischen 280 und 240 v. Chr.) I Micqel, Recueil nr. 915 — 935.
zur Seite tritt. Dämon schrieb damals seine ;
9, 8 ff.; für spätere Zeit vgl. E. Rohdb,
Griech. Rom.' 357. 2; Julian, or. I p. 2ab.
) Vgl. die Inschriften s. VI— I V bei Ch.
B. Lyrik. IL Chorlyrik. Die attischen Lyriker. (§ 140.)
237
ähnlich wie das Oratorium neben der Oper. Der neue Dithyrambus, dessen
Begründer Lasos von Hermione gewesen zu sein scheint, legt nun, um
sich durch Eigenartigkeit seine künstlerische Existenzberechtigung als
Gattung zu erhalten, überwiegenden Nachdruck auf das Musikalische, trotz
aller Proteste der künstlerisch Konservativen. ') Die alte strophische Bin-
dung wurde aufgegeben,*) der Sprach text in der musikalischen Kom-
position mit früher unerhörter Willkürlichkeit rhythmisiert, der vokale Teil
dem instrumentalen gegenüber derart zurückgedrängt, daß man von einem
Auletenkonzert mit Chorbegleitung sprechen kann, wobei nach der Weise
der griechischen Instrumentalmusik die Tonmalerei auf das äußerste ge-
steigert wurde;*) gewaltsame, unerhörte modulatorische Effekte wurden
gesucht, Sologesänge in den Chor eingelegt,*) die Sprache durch kühne Zu-
sammensetzungen ins Auffallende gesteigert;^) das Gewagteste aber war,
daß nun auch im Vortrag eine Art symbolisch nachmalender Mimik ein-
geführt wurde, in die sich Aulet und Chorführer geteilt zu haben scheinen.«)
Diese Neuerungen einer dekadenten und nervös überreizten Richtung wirkten
auch auf die Nomenpoesie') und auf die jüngere Tragödie*) hinüber.
140. Der neue Dithyrambus blühte in Athen,^) wo am Ostabhang der
Akropolis gegen 440 Perikles für lyrisch-musikalische Produktionen einen
*) Gegen diese Verkehrung der natür-
lichen Verhältnisse eifert Pratinas in dem
dorch Ath. 617 h erhaltenen Hyporchem aus
einem Satyrspiel : zav dotSav xaieoiaae Thrgig
ßaoiksiav xrk. Damit verbinde man die Angabe
des Flut, de mus. 30, daß bis auf Melanip-
pides die Flötenspieler vom Dichter den Lohn
empfingen, nachher umgekehrt, weshalb auch
in didaskalischen Urkunden der Flötist vor
dem Chorodidaskalos genannt ist (E. Rbisoh,
De mnsicis Graecor. certaminibus, Wien 1885,
28 t). Lucian. de salt. 2 erwähnt die Auffilh-
nmg von Dithyramben geradezu unter dem
Namen xvxXixwv avlrjtwv. Die Stellen, in denen
Angriffe auf den neuen Dithyrambus enthalten
sind, sammelt M. Schmidt, Diatribe in dithy-
rambum, ßerl. 1845, 252 ff. (Hauptstelle Phere-
crat. fr. 145 K.) ; auch Piaton Gorg. 502 a ff. ver-
wirft ihn schroff. Das einzelne s. 0. Cbusiüs.
Realenc. V 1222 f.
*) Ps.Aristot probl. 19, 15 p. 918b 18 ff.,
wo diese Neuerung mit dem mimetischen
Charakter des jüngeren Dithyrambus in Zu-
sammenhang gebracht wird.
») Plat. reip. III 394 c. 396 b {lijioi xQf-
/leriCovreg, tavgoi /ivxw/nevoi, jtoiafioi rpoqovv-
reg, ^aXaaoa xtimovoa). 397 a; auf das die
Einheit der Melodie zersplitternde kleinliche
Nachmalen des Textes durch die Musik be-
zieht sich auch das xaiaxegfiaTtuEiv trjv /nov-
oixify Aristox. bei Flut, de mus. 30 extr. Als
Urheber derartiger Mimetik werden der ka-
tanäische Aulet Andren (Theophr. bei Ath.
I 22c) und der böotische Pronomos (Fausan.
IK 22, 5) genannt; über diesen s. a. Ath. XIV
631 e f., wo auch die Klage des Aristoxenos
Ober die Musikverderbnis des 4. Jahrhunderts
erhalten ist.
*) Plut. de mus. 30.
«) Aristot. rhet. 1406b 1; poöt. 1459a 9.
«) Aristot. po6t. 1461b 32 ff. Ps.Aristot.
probl. 19, 15. Dio Chr. 78, 32. Hör. a. p. 214 f.
Im ganzen s. Th. Gompbrz, Jahrbb. f. cl.
Fhüol. 133 (1886) 771 ff. und MitteU. aus der
Sammlung der Papyrus Erzh. Rainer I, Wien
1887, 86 ff. W. ScHMiD, Zur Gesch. des griech.
Dithyr. 7 f.
^) Timotheos zog auch zum Vortrag des
Nomos einen Chor heran (Clem. AI. Strom.
I p. 865 F.). Nach Flut, de mus. 4 behielt Ti-
motheos in seinen ersten röftoi den alten
daktylischen Rhythmus bei zu dithyrambi-
scher Sprache, änderte aber später auch den
Rhythmus, wie wir jetzt an seinen Persem
sehen. Von xatvoirjg rib fji/.tog dye^'vffs redet
das gefälschte lakonische Dekret bei Boetius,
das WiLAMOWiTZ (Timoth. Fers. 70) in das
2. Jahrh. v. Chr. setzen will. In den musi-
kalischen Neuerungen handelt es sich um
starken Wechsel der Tonarten und ausgiebi-
gen Gebrauch der Chromatik anstatt der alten
Diatonik und Enharmonik. also analoge Dinge,
wie die sind, um derenwillen die Wagnersche
Musik viel getadelt worden ist (H. Abebt,
Lehre vom Ethos 105 ff.. 113 ff.).
^) J. EsTEVE, Les innovations musicales
dans la trag^die grecque ä l'öpoque d*Euri-
pide. Paris 1902.
9) F.W.L.E.LüTCKE, De Graecor. dithy-
rambis et poetis dithyrambicis, Berlin 1829:
M. Schmidt, Diatribe in dithyrambum, Berlin
1845; E. ScHEiBEL, De dithyramborum graec.
argumentis, Liegnitz 1862.
238 Griechische Litteraturgeechichte. I. Klaflsische Periode.
eigenen überwölbten Rundbau, das cAdeiov, gebaut hatte. Hier erfreuten
sich^ die chorischen Aufführungen, insbesondere die Dithyramben, grofier
Beliebtheit. Kyklische Chöre sangen nicht bloß an den großen Dionysien,
an denen der lyrische Agon seit 508 (erster Sieger Hypodikos von Chalkis)*)
eingerichtet ist, sondern auch an den Thargelien, Prometheen, Hephaistien
und Panathenaien;*) bei den großen Dionysien wurde der Sieger im Dithy-
rambus sogar mit einem höheren Preis als der Sieger im Drama geehrt,
indem ihm ein mit großem Prunk aufzustellender Dreifuß (TQmavgY) ge-
geben wurde. Im übrigen können wir uns von keinem Teil der alten
Poesie weniger eine klare Vorstellung machen als von dem attischen Dithy-
rambus. Es sind uns eben aus dem Altertum überhaupt so gut wie gar
keine Melodienreste erhalten; unrichtig aber ist die Meinung, als wäre
dem Text dieser Kompositionen gegenüber der Musik eine untergeordnete
Bedeutung beigelegt worden. Der älteste auf uns gekommene litterarische
Papyrus (aus dem 4. Jahrhundert v. Chr.), der die Perser des Timotheos
ohne Musiknoten und ohne rhythmische Gliederung enthält, zeigt, wie früh
schon diese Dichtungen auch bloß gelesen wurden.
141. Lasos von Hermione in Argolis, der am Hof des Hipparchos
lebte (Herod. VII 6), wird als Lehrer Pindars bezeichnet. Nach Suidas
hat er zuerst ein theoretisches Buch über Musik geschrieben und den
Dithyrambus in die athenischen Wettkämpfe eingeführt, wobei unklar
bleibt, ob er zu dem Sieg dos Hypodikos a. 508 in Beziehung stand. Auf
einen Wettstreit des Lasos mit Simonides und die Niederlage des ersteren
spielt Aristophanes vesp. 1410 an. In der Musik begründete er die neue
dithyrambische Weise, indem er in Rhythmus und Melodie die altertüm-
liche Einfachheit und Strenge der terpandrischen Hymnenpoesie verließ
und im Einklang mit dem größeren Tönereichtum des Aulos mannigfaltigere
und in weiter auseinanderliegenden Tönen sich bewegende Weisen ein-
führte.^) Von einigen ward er (Schol. Arist. av. 1403) Erfinder des Dithy-
rambus genannt. In Erinnerung blieb eine Spielerei von ihm, ein Lied
ohne o {äoiyf.ioq (o^i^iY) mit dem Titel Khxavooi^ also wohl ein Dithyrambus.
Von Titeln seiner Gedichte wird sonst genannt ein Hymnus auf die De-
*) Den Einfluß des Dithyrambus auf die | uTtr dk rrotfjT(7)v ko ukr ztQioioy ßovg istadkov
bildende Kunst sucht besonders in Fällen. ^)r, no lif ()FrTFno} diKfOQevg, up dr^ rgm/ß
wo man sonst Beeinflussung seitens der ToaytK, nv jovyi >cFyntafih'or ihifjym'. Ähnlich
Tragödie angenommen hatte, G. E. Rizzo. Schol. Find. 0. 13, 25.
Riv. di filol. 30 (1902) 447 ff. nachzuweisen. *) Plut. de mus. 29: eig t;;v di^vgaftßixrfv
") Mann. Par. ep. 46. dyojyijr nFmorf/oa^ torg ^vOfiovg xai rfj T(by
*) W. DiTTENBERGER. SvH.*, Leipz. 1900. ar/Aor nokvqiorln y.aTaxoXovOijoag JtXeioai re
Ol. nr. 712. <f-06yyoi^ xal (iiFooiftfisrotc: (d. h. woU: in
■*) Die Tripodenstraßo östlich der Akro- keine der sanktionierten Tonleitern sich ein-
polis hatte ihren Namen von den auf präch- fügend) yotindftFvog fU fteidOsaiv rrfv ;rßof»-
tigen Postamenten hier aufgestellten Drei- .läoyovoav tjyaye /tovotx/jr. Siehe Wml-
füiscn. deren einem das Lysikratesdenkmal REiNAcn z. d. St., die sich aber nicht daran
als Basis diente. Von Dithyrarabenwett- stoßen durften, daß Bakchylides diese Neue-
kämpfen und dabei gewonnenen Siegen geben : rung nicht mitgemacht hat.
Inschiiften Kenntnis; s. CIA I nr.'336. 837. ' «) Pind. fr. 79a; Clearch. bei Ath. X
11 nr. 1284—1299, Dittenbeboer, Syll.^ 701 455 c; Dionys. Hai. de comp. verb. 14 p. 55, 1
bis728; vgl.E.REiscH, De musicis Graecorum üs. Es handelt sich um eine Leistung in
certaminibus p. 82 ff. Über den Preis der einem Scherzagon (j'oivos), an deren Histo-
alten Zeit berichtet Schol. Plat. reip. 111394 c: rizität man nicht zu zweifeln braucht
B. Lyrik. II. Ghorlyrik. Die attischen Lyriker. (§ 141.) 239
meter von Hermione, den Herakleides Pontikos noch kannte. Chamaileon
schrieb eine Monographie über Lasos.
Von dem Dithyrambiker Lamprokles aus Athen rühmt Aristophanes
in den Wolken 967 ein Loblied auf Pallas in enoplischem Rhythmus, das
schon bei dem Tragiker (?) Phrynichos angezogen war.
Auch von einigen der großen Tragiker des 5. Jahrhunderts gab es
chorlyrische Kompositionen, zwar nicht von Aischylos, der an Lyrischem
nur Elegien gedichtet zu haben scheint (s. o. S. 206, 6), aber von Sophokles
einen Paian (PL6 II* 245 f.) auf Asklepios, von Ion von Chios Dithyramben,
Hymnen, ein Enkomion auf Skythines (ibid. 255 flf.), von Phrynichos
einen Hymnus auf Pallas (ibid. IIP 561), von Euripides ein Siegeslied
auf Alkibiades (ibid. H 266).
Diagoras*) 6 ä&eog aus Melos, der nach 421 als Gesetzgeber in
Mantineia, etwa seit 418 in Athen wirkte, ist in weiteren Kreisen durch
den Volksbeschluß der Athener (414), der ihn als Gottesleugner aus der
Stadt verjagte, bekannt geworden. Der von Philodemos uns erhaltene
Vers deög ^eög Jigö naviog egyov ßgoxelov vojjua cpQev vTiegidiay w^ill zu
dieser Anklage nicht stimmen.
Melanippides aus Melos^) hat die neue Richtung des Dithyrambus
mit den langen Introduktionen (ävaßoXai) und fremdartigen Stoffen inau-
guriert (Pherekrates bei Plut. de mus. 30). Gegen Ende des 4. Jahrhunderts
galt er nach Xenophon Mem. I 4, 3 als der berühmteste Meister seines
Faches. Er ward an den Hof des Königs Perdikkas II von Makedonien
berufen, wo er vor 413 starb. Von nur wenigen seiner Dithyramben, wie
Javatdsg, UeQoeqpovrj, Magovag haben sich Titel und Bruchstücke erhalten.
In einem Fragment des Marsyas wirft die Göttin Athene die Flöte weg,
weil sie die Schönheit des Körpers entstelle; 3) in der Persephone ver-
abscheuen die Menschen das Wasser, nachdem sie die Gottesgabe des
Weins kennen gelernt.
Kinesias, Sohn des Kitharoden Meles von Athen, gehörte schon
ganz der neuen Richtung der Musik an; er war die Zielscheibe des Spottes
der Komiker wegen seiner dürren Gestalt und seiner neumodischen Ka-
denzen,*) konnte sich aber als xuxhodiddoxaXog cpvkaig jiegijudxrjiog rühmen
(Ar. av. 1372). Der Grund, aus dem die attischen Komiker so sehr gerade
über ihn herfallen, ist vielleicht, daß er unter diesen Kunstverderbern der
einzige geborene Attiker ist. Zwei Dithyramben von ihm {^Aoxh]m6g und
AxdXevg) sind noch erkennbar, und inschriftlich erhalten ist der Anfang
eines von ihm beantragten Volksbeschlusses zugunsten des Tyrannen
Dionysios a. 393, zu dem er also wohl Beziehungen gehabt hat.^)
*) Siudasu./imyoßas;Ps.Lysias6,7; Arist. I Marsyas schlägt, bei Paus. I 24, 1.
ran. 320; av. 1071 und die alten Scholien zur *) Aristoph. av. 1372; pac. 832: Pherecr.
letzten Stelle; vgl. Wilamowitz, Textgescli. ! fr. 145, 8K. Hart ui-teilen über ihn Piaton
d. grieeh. Lyr. 80 ff. 1 Gorg. p. 501e und Lysias fr. 143 Thalh. in
•) Ein Irrtum liegt vor bei Suidas, der ' einer gegen ihn gerichteten Paronomenrede,
zwei Melanippides, einen älteren und einen über die s. F. Blass, Att. Bereds. ^^ Leipz.
jflDgeren, unterscheidet: es gab nur den 1 1887, 621. Das Material über ihn s. A. Mbi-
Jüngeren*, E. Rohdb, Kl. Sehr. 1 170 ff. ' neke, Bist. crit. com., Berl. 1839, 227 ff. und
') Die gleiche Anschauung in dem Weih- 1 Th. Eock zu Ar. ran. 153.
geschenk der AkropoUs, wo Athene den | ^) CIA II 8.
240 Oriechische Litteratorgeschichte. L KlaMÜohe Periode«
Antigenes ist uns als Dithyrambendichter bekannt durch das Epi-
gramm Anth. Pal. Xm 28, das er zum Andenken eines von ihm errungenen
Sieges auf den der Gottheit geweihten Dreifuß setzte. i) Da in der versi-
fizierten Didaskalie neben dem Dichter-Didaskalos auch noch der Flöten-
spieler Ariston aus Argos genannt ist, so kann er kaum vor Mitte des
5. Jahrhunderts gelebt haben.
Philoxenos aus Kythera, Sohn des Eulytidas (435 — 380 nach Marm.
Par. ep. 69), kam nach Einnahme seiner Heimatinsel 424 als Kriegsgefan-
gener nach Athen, wo er zunächst Sklave eines gewissen Agesylos wurde,
der ihn erziehen ließ und Mvofirj^ nannte.*) Dann ging er in den Besitz
des Melanippides über. Da ihn Aristophanes (Plut. 296 ff.) parodiert, muß
er wohl auch in Athen aufgeführt haben. Weiterhin lebte er längere Zeit
am Hof des älteren Dionysios in Syrakus, den er durch sein freimütiges
Urteil über dessen schlechte Gedichte reizte (Diodor XV 6). Noch heute
erinnert an ihn die Latomia del filosofo bei Syrakus. Er soll sich darauf
nach Tarent^) oder Kreta*) zurückgezogen haben und in Ephesos*) gestorben
sein. Von seinen vierund zwanzig Dithyramben, die bei gleichen Toojtot
sich im Charakter von den pindarischen stark unterschieden,«) war am
berühmtesten der Kvxkmii^ in dem der Kyklop ein schmachtendes Liebes-
lied auf die schöne Galateia sang. In Konkurrenz mit den gleichnamigen
Dithyramben des jüngeren Stesichoros und des Oiniades ist der Kyklop
des Philoxenos vor König Philippos von Makedonien aufgeführt worden.*^
Auch Timotheos hat diesen Gegenstand behandelt. Es ist der erste buko-
lische Dithyrambus, der der späteren bukolischen Poesie wichtige Anregung
gegeben zu haben scheint.®) Die umfänglichen Fragmente von der Be-
schreibung eines schlemmerischen Mahles {AeTttvov) können aus keinem
Dithyrambus stammen, sondern sind wohl schon im Altertum mit Recht
(Ath. 146 f.) dem Philoxenos aus Leukas zugeschrieben worden.®) Die
Dithyramben dos Philoxenos standen in hohen Ehren'®) und wurden noch
zur Zeit des Polybios (IV 20, 8) zusammen mit denen des Timotheos all-
jährlich von den Arkadern im Theater aufgeführt. — Auch der böotische
Aulode Antigenidas, dessen sich Philoxenos bediente, wird bei Suidas
s. V. als Verfasser von lÄtXr] genannt.
») Vgl.WiLAMowiTZ,Herin.20(1885)62ff. ' aus Ph. Verg. ecl. 2, 17 ff. geht uomittelbar
^) Vgl. Pherecrat. com. fr. 14t>,22K. (mit ' auf Theoer. 11 zurück, ebenso, aber ver-
KocKS Note), wo dem Timotheos seine fx- breiternd. Ov. met. XIII 778 ff. In der Kaiser-
ToanFKOi ftvoNijxiai vorgeworfen werden. ! zeit ist der Stoff zu Couplets und Balleiten
') So Suid. 8. ^Pdo^n'ov yQafiftdjoyv. benützt worden (Hör. sat I 5, 63).
*) So Schol. Aristid. p. 688, 23 Dind. *) Wilamowitz, Teztgesch. der gr. Lyr.
^) Suid. ; auf den Aufenthalt in Ephesos > 85 ff. verweist sie in ein opsartjtisches Oe-
bezieht sich die Anekdote Ath. I 6 a. dicht.
«) Philod. de mus. fr. 18 K. »o) Antiphanes fr. 209 K. Aber verspottet
") Didym. ad Demosth. Philipp, col. 12. 61 wird Philoxenos von dem Feind der neuen
(Berliner Klassikertexte I). Musik, von Aristoph. Plut. 290; über die Frei-
*) E. RoiiDE, Gr. Rom.* 588 f. Callimach. heit des Tonarten- und Rhythroenwechsels
ep. 46 WiL. kennt den Kyklops. Theociit. id. vgl. Dionys. de comp. verb. 19 p. 85, 18 ff.
11 ahmt ihn nach (Schol. Ar. Plut. 290 und Us. Von dem naturwidrigen Versuch des Ph.,
Theoer. 11, 1 behaupten satirische Tendenz einen Dithyrambus in dorischer statt phry-
von Philoxenos' K. gegen Dionysios). Th. gischer Tonart zu setzen, spricht Aristot. pol.
Bkrgk vermutet, auch Synes. ep. 121 schöpfe 1842 b 9.
B. Lyrik. II. Chorlyrik. Die attischen Lyriker. (§ 141.) 241
Timotfaeos, Sohn des Thersandros ausMilet,*) der gefeiertste Musiker
und Nomendichter seiner Zeit, war ein Schüler des Phrynis von Mytilene,
der vermutlich der eigentliche Neuerer in der Nomenkomposition ist, in-
sofern er die epischen Texte durch eigene ersetzt hat.^) Aristoteles
metaph, p. 993b 15 berührt das Verhältnis zwischen beiden: et jxev yaQ
Tt/xadeog jui] iyeveTO, 7ioXki]v äv jueXojiouav ovx eixouev' et dk jui] 0gvvig,
Tijuöi^eog ovx äv iyevero. Er lebte frühstens 453 — 363, spätestens 448 bis
358.*) Der Schauplatz seiner Tätigkeit war vor allem Athen, aber auch
am Hof des makedonischen Königs Archelaos, in Ephesos, Sparta und in
seiner Vaterstadt trat er mit seinen Produktionen auf. In Sparta wollte
man von seinen Neuerungen nichts wissen, so daß ihm die Ephoren die
vier neuen Saiten seiner elfsaitigen Lyra abgeschnitten haben sollen.**) Für
Ephesos verfaßte er c. 395 einen Artemishymnus. ^) Von einem Sieg über
seinen Lehrer Phrynis redet er selbst (fr. 27 Wil.); aber auch er ist ein-
mal von seinem Schüler Philotas besiegt worden (Ath. 352 b). Hochbetagt
starb er in Makedonien. Ein erschöpfendes Urteil über seine Leistungen
ist uns heute nicht mehr möglich; denn seine Stärke lag in den Melodien,
die verloren gegangen sind.^j Das Altertum hatte von ihm achtzehn
Bücher vo/iot, jigoot/ua, 18 didyga/ußoi,"*) vjiivoi (erhalten zwei Fragmente des
Artemishymnus für Ephesos), iyxivjuia. Von diesen Dichtungen ist ein
Stück, ein kitharodischer Nomos, Persai betitelt, 1902 aus einem Grab
Ägyptens bei Abusir (Busiris) ans Tageslicht gebracht worden.^) Er be-
zieht sich auf den Sieg der Hellenen bei Salamis. Der Anfang ist ver-
loren gegangen, der erhaltene Teil {dficpakog, n(pQayig und imXoyog) beginnt
mit einer allgemeinen Schilderung des Kampfgewühls (1 — 35), dem einzelne
typisierte Bilder aus dem Verlauf der Niederlage von persischer Seite, aber
ohne jede Namensnennung, folgen: der Wutausbruch eines ertrinkenden
Barbaren, Klagen auf den Strand geworfener Asiaten, Bitten eines gefan-
genen Phrygers in geradebrechtem Griechisch. Es folgt die Flucht, der
Befehl des Perserkönigs zum Rückzug unter Klagen über sein Geschick,
kurze Andeutung der hellenischen Siegesfeier (36 — 214). Diese Schilde-
rung der Schlacht und der Flucht, die keinerlei geschichtlich wertvolle
*) Suid. u. Tifwdeog; Steph. Byz. u. Ml- \ ®) über die Neuerangen des Timotheos
AfjTog, I 8. S. 237, 7.
') Plut. de mus. 6 ; nach Schol. zu Arist. I ') Die Wiederaufführang seines Dithy-
nnb. 971 siegte er an den Panathenäen 446 '■ rambus Elpenor a. 819 bezeugt die Inschrift
unter dem Archon Kallias. Poll. IV 66; | CIA II 1246.
WiLAMOWiTZ, Timoth. Pers. 66, 1; Ar. nub. ®) Wilamowftz, Timotheos, die Perser,
971 und Pherekrates fr. 145, 14K. rügen ihn 1 Leipzig 1903 (im Anhang 106 ff. die übrigen
scharf. ' Fragmente des T. neu herausgegeben). Der
•) Mann. Par. ep. 76; Diod. XIV 46, 6. Papyras, von dem die Kolumnen 3 — 6 gut
^) Paus, in 12, 10; Boetius de mus. I 1 | erhalten, der Anfang teils verloren, teils
p. 182 Fbusdl. in einem fingierten sparta- ; schwer lesbar ist, befindet sich jetzt im Ber-
nischen Volkfibeschluß; Cicero de leg. II 39; , liner Museum. Er ist im 4. Jahrh. v. Chr.
jetzt Timotheos selbst Pers. 215 — 48, und ' geschrieben und unser ältestes Litteratur-
Ober die Ausschmückung der überlieferten denkmal auf Papyrus. Der seltsame Vogel,
Tatsache Wilamowitz z. St. p. 68 ff. In Meso- | der im Papyras vor die otpgayig gemalt ist,
potamien sind elfsaitige Instramente uralt :C.F. wird das Wappen des Dichters, nicht, wie
LsHiLuni, Beitr. z. alten Gesch. 3 (1903) 171. | J. Stbzygowskt (Denkschr. der Wiener Ak.
*) Alexander Aetol. bei Macrob. sat. V I 51 II, 1906, 172) meint, ein ägyptischer Phönix
22,4. Siehe L.GuBLiTT,Pliüol.65 (1906) 382 ff. i sein soUen.
Handboeli der klass. AltertuxnswiBsenschaft VU. 5. Aufl. 16
242 Ghriechische Litteratnrgeschichte. L Daaeische Periode.
Einzeldaten enthält, bildet den djxfpaloq des Oedichtes. Der Schlafi besteht
aus der persönlichen Verteidigung des Dichters {afpgayig) gegen den Vor-
wuif der Neuerungssucht (zu der er sich übrigens fr. 12 Bergk offen bekennt)
und dem Gebet an den pythischen Gott um Frieden und Wohlfahrt {jbitXoyoQ).
Der Nomos, wohl für eine Festversammlung der lonier Eleinasiens ge-
dichtet,^) war im Altertum hoch berühmt und wurde noch bei dem kitha-
rodischen Agon der Nemeen des Jahres 206 von dem Kitharoden Pylades
gesungen.^) Daß der Nomos mit einem enoplisch gebauten Hexameter
begann, wissen wir aus Plutarch (s. Anm. 2). Der auf dem Papyrus er-
haltene Teil besteht vorwiegend aus iambischen oder ähnlichen sechs-
zeitigen Maßen. Von dem großen Zug, der in Aischylos' und Herodots
Darstellungen lebte, ist hier nichts zu spüren; alles ist ins Kleine, Per-
sönliche, Genrehafte herabgestimmt, wobei dem Dichter manches Charak-
teristische wie die Karikatur des Phrygers, die an den phrygischen Sklaven
in Euripides' Orestes erinnert, wohl gelungen ist. An dem wüsten Bom-
bast und der fettigen Gedunsenheit der Sprache kann sich nur erbauen,
wer eine Caprice für den Asianismus hat. Im übrigen zeigt diese Leistung,
zusammengehalten mit der Geschichtschreibung des Ktesias, daß Klein-
asien um das Jahr 400 geistig zum Orient gehörte. — Von den anderen
Dichtungen des Timotheos haben wir nur spärliche Reste und dürftige
Nachrichten. Berühmt war seine Schilderung der Geburtswehen der kreis-
senden Semele {(hök 2:F/iü}]g) und seine Skylla (Aristot. poöt. 26), ein Dithy-
rambus, in dem in halb burlesker Weise der Aulet den Koryphaios zupfte,
um das Wegschnappen der Gefährten durch die Skylla zu veranschau-
lichen. 3) Nebst Philoxenos ist Timotheos bei den dycoreg ^v/aelixai der
späteren Zeit am meisten aufgeführt worden*); sie waren die Lieblinge
des Publikums wie unter den Tragikern Euripides, unter den Komikern
Menandros.ö) Neben diesen beiden wird®) noch Krexos genannt.
Von sonstigen Dithyrambikern des 4. Jahrhunderts kennen wir: Telestes
aus Selinus, der noch gegen Melanippides auftrat (Ath. 616 f.) und sich
nach Dionysios (de comp. verb. 19 p. 86, 6 Us.) im Wechsel der Rhythmen
und Tonarten gefiel, was die erhaltenen Fragmente bestätigen, Ariphron
aus Sikyon, der in einer didaskalischen Urkunde des 4. Jahrhunderts CIA II
n. 1280 erwähnt ist"^) und von dem uns Athenaios p. 702 einen berühmten
^) Darauf deutet der Hinweis auf die
zwölf Städte des aus Achäerblut stammenden
Volkes am Schluß des Nomos V. 24i> ff.
Näher begründet Wilamowitz S. 63 die Ver-
r;/s, *EXnririOQ, NavjiAtOs, Ntoßrf, ^tveUku.
*) J. Frei, De certaminibos thymelicis
68, 5.
*) Aus Inschriften des 2. Jahrh. v. Chr.
mutung, daß Timotheos etwa 398—96 die (Ch. Michel, Recueil nr. 65. 66) wissen wir,
Perser beim Poseidonfest des Panionion an i daß die kretischen Städte Enosos und PriuiBoe
der Mykale vorgetragen habe. ! den teischen Gesandten Menekles fftr den
*) Flut. Fhilopoem. 11. Vortrag von rdfiot des T. und Folyeidoe nnd
') Ein zu der Skylla gehöriger Onf/roi kretischer Dichter belobten.
Tov YJdvamo)^ (vgl. Arist. poöt. 15) des Timo- «) Flut, de mus. 12. 28; FhUod. de mos.
theos wird angeführt in dem ästhetischen p. 74, X 2 K.
Fapyi-us der Sammlung Erzherzog Rainer, ! ^) In der Urkunde steht übrigens bloß
publiziert und erläutert von Th. Gompebz, I *AoiqQ(o%' ohne den Zusatz 2'ixt>e6rf<v. Audi
Mitteilungen aus d. Samml. der Fapyrus Erzh. I der Paian ist uns inschriftlich auf einem
Rainer 1 1887.84— 8. Andere Titel von Nomen \ jetzt in Kassel befindlichen Stein eriialten
oder Dithyramben waren ATag^ l'e/iekfj, Aaig- : (CIA III p. 66).
G. Drama. 1. Anf&nge und äußere Yerhälinisae. (§ 142.) 243
Paian auf Hygieia erhalten hat, Polyeidos der Sophist, etwas jünger als
Timotheos, ein Mann von vielseitigem Talent, der sich auch in der Tragödie
und Malerei versuchte, i) Likymnios aus Chios, der nach Aristot. rhet.
in 12 p. 1413b 14 Dithyramben dichtete, die mehr beim Lesen als bei
der Aufführung wirkten,*^) Lykophronides, von dem uns ein paar Frag-
mente in bukolisch-erotischem Ton^) erhalten sind, Nikokles aus Tarent,*)
Argas.*) Nur aus attischen Siegesinschriften (Dionysien und Thargelien)
kennen wir folgende Namen von Chorlyrikern: aus dem 5. Jahrhundert
Pantakles (CIA I 337), Nikostratos (ib. 336), Kedeides (s. o. S.216, 1);
aus dem 4. Archestratos (CIA 11 1257), Dikaiogenes (ib. 1280), Poly-
chares (ib. 1280), Nikomachos (ib. 1249), Eukles (ib. 1236 a.364), Epi-
kuros von Sikyon (ib. 1240 a. 333), Lysiades von Athen (ib. 1242 a. 334),
Charilaos der Lokrer (ib. 1244 a. 327), Karkidamos (ib. 1249 a. 319);
aus dem 2. Eraton aus Arkadien (ib. 1295), Lysippos ebendaher (ib.
1293 a. 270), Pronomos von Theben (ib. 1292 a. 270). Auf einer sala-
minischen Lischrift (ib. 1248) wird Paidias genannt. Der letzte Dithy-
rambiker, von dem wir Reste haben, ist Kastorion von Soloi, Zeitgenosse
des Demetrios von Phaleron. Der Aristonoos von Korinth, von dem ein
Hymnus in Delphoi inschriftlich gefunden worden ist, gehört nicht, wie
0. Crusius (Philol. 53, 1894, Ergänzuugsheft 26 ff.) gemeint hatte, in das
4. Jahrhundert, sondern zwischen 235 imd 210 (H. Pomtow, Rhein. Mus. 49,
1894, 577 flf.). Ende des 4. Jahrhunderts hören die Gesangaufführungen
von Dilettanten-Bürgerchören mehr und mehr auf, und bei den thyme-
lischen Agonen werden kleinere Chöre von geschulten Berufssängern (zwi-
schen 5 und 15), die der dionysische Künstlerverein stellt, verwendet.^)
C. Drama. 7)
1. Anfang und äussere Verhältnisse des Dramas.
142. Das Drama ist eine originale Schöpfung des griechischen Geistes :
kein Volk des Altertums hat etwas Ähnliches hervorgebracht, und was in
späterer Zeit in Rom und anderwärts auf dem Gebiete der dramatischen
>) Diodor. XIV 46, 6; Aih. 352b; Ch. I V^ilamowitz, Gott. gel. Anz. 1906, 614.
MiOHBL, Becüeil d'inscr. gr. nr. 65, 9; 66, 8. ^) Quellen aus dem Altertum: Aristo-
') Er klingt auffällig an Melanippides
und Ariphron an (Lic. fr. 2 = Mel. fr. 3; Lic.
fr. 4, 4—6 = Ar. 3. 4. 9). Seine Poesie und
teles Jiegi TToifjTixfjg^ wozu die Reste seiner
AtAaaxaXiai bei V. Rose, Aristot. pseud. LVl u.
552 ff.; Horatius ars poSt nach dem grie-
Prosa gingen stilistisch fast ineinander über 1 chischen Werk des Neoptolemos von Parion;
(8. O. Immisch, Rhein. Mus. 48, 1893, 522 und I Tzetzes (12. Jahrh.) jzFgi iQayiafjg noii^aewg
Cic de or. in 185). i und Jiegi xoyfupbiag (bei G. Kaibel, Com. gr.
') E. RoHDS, Griech. Rom.* 121 A. fragm. I 43 ff.). Spurlos verschwunden sind
^) Ein Verzeichnis seiner Siege gegen
Ende des 4. Jahrh. erläutert von U. Köhler,
Rh. Mus. 39 (1884) 298.
^) Argas wird als schlechter Nomen-
des Grammatikers Teleph OS (unter Hadrian)
Bloi TQayixcJv xai xMfÄioöwv (Suid. S. Ttfie-
<pog), — Neuere Werke: A. W. v. Schlegel,
Vorlesungen über dramatische Kunst und
dichter verspottet bei Ath. 131b und 638 c; ' Litteratur, Leipz. 1809—11, 2 Bde. = Sämtl.
' " ' Werke Bd. 5 u. 6, Leipz. 1846.47; J.L.KLBp,
Gesch. des Dramas, Leipzig 1865 ff. (hier
einschlägig die zwei ersten Bde.); M. Rapp,
Gesch. des griech. Schauspiels, Tüb. 1862;
16*
Name steckt wahrscheinlich auch in
Aristot po6t 2 p. 1448a 15.
') Das einzelne bei J. Fbei, De certami-
nibos thymelicis, Diss. Basel 1900. Siehe a.
244 Griechische Litteratnrgeschichte. L KlaBsuiche Periode.
Kunst geleistet wurde, geht auf die Anregung der Griechen zurück.*) Das
griechische Drama wird gespeist aus den beiden älteren Gattungen der
Poesie; es ist erst zur Ausbildung gekommen, nachdem die erzählende
Dichtung fast ganz verklungen war und die Poesie der subjektiven Cte-
danken und Empfindungen ihren Zenith bereits überschritten hatte. Die
beiden Elemente, aus denen das Drama entsprungen ist, geben sich formell
in dem Gegensatz der gesprochenen und gesungenen Partien zu erkennen.
Die Chorgesänge, Duette und Monodien bezeugen ihren Zusammenhang
mit der Lyrik, insbesondere der chorischen, nicht bloß im Inhalt und
gesangmäßigen Vortrag, sondern auch in Versbau und Sprache. Fast alle
Metra der gesungenen Partien lassen sich bei den älteren Lyrikern nach-
weisen, die daktylischen und logaödischen Glieder sowie die Fülle der
wechselnden sechszeitigen Formen (lamben, Trochäen, loniker, Choriamben),
und auch die anapästisehen Systeme schließen sich an alte dorische Marsch-
lieder an; nur die Dochmien seheinen erst in der Tragödie eigentlich zur
Entfaltung gekommen zu sein. Auch die Sprache der Chorgesänge weist
deutlich auf die dorische Chorlyrik zurück und hat aus ihr die Tönung
des dorischen Dialektes, namentlich im Vokalismus (a statt des ionischen ?)
übernommen. Weniger tritt im Dialog der Zusammenhang mit dem Epos
hervor, da für diesen die Dichter ein anderes Metrum wählten, nicht den
gravitätischen Hexameter, sondern den beweglichen, der Sprache des
Lebens sich nähernden und bei den stammverwandten loniern zuerst aus
der Sphäre der dionysischen Scherze, wo er heimisch war, in die Litte-
ratur eingeführten Trochäus und lambus.^) Aber wenn auch die Form
von der epischen abweicht, so bleibt doch die Übereinstimmung des In-
haltes: der Dialog ist der Träger der Handlung und des Mythus, Fund-
grube des Mythus aber waren die epischen Gedichte, nach dem Wort des
Aischylos, seine Dramen seien Brosamen vom Tisch Homers (s. o. S. 74, 4).
Der große Fortschritt bestand darin, daß jetzt nicht mehr die Handlung
in ihrem Verlauf vom Standpunkt des Dichters aus erzählt, sondern
leibhaft von redenden und handelnden Personen den Augen und Ohren
der Zuschauer vorgeführt wurde, so daß diese das Geschehene selbst
miterlebten. Im Drama ist die nicht mehr zu überbietende Höhe in Leb-
St. Victor. Les deiix masques, Paris 1881, ; Sanskrit und Prakrit, angewendet sind.
ins Deutsche übertragen von Carmen Sylva, | ^) Arist. rhet. III 8 p. 1408b 32 sagt vom
Berlin 1900. mit überschwenglicher Aus- Hexameter: aFftvn<: xni kfxtix^g agfiorüiH S€6'
malung der mythologischen Hintergründe. — 1 iteroc, po6t. 4 p. 1449 a 24 (ähnlich rhet. III
Sammelausg.: Poetae scenici Graecorum, rec. | p. 1404a 31) vom Jambus: /luXiora iexrtxov
F. H. BoTHE. Lips. 1825 — 58, 10 Bde., dazu twv fihtuov to laftßF.Tov iauv. Auf die ionieehe
von denis., Poetar. scenicor. Graecor. quorum
integra opera supersunt fragmenta, 4 voll.,
Lips. 1844. 46; Poetar. scen. gr. fabulae super-
stites et perditar. fragmenta ed. Guil. Din-
Stamm Verwandtschaft führt Wilamowitz,
Comment. metr. II (Gott. 1895) 29 es auch zu-
rück, daß in den Chorgesängen der älteren Tra-
gödien des Aischylos die lamben vorherrschen,
DORF, 11^46, ed. V. Lips. 1869. nur nicht die eintönigen Trimeter, sondern die
M Nicht der Rede wert sind die drama- freier gebauten und reicher gestalteten lam-
tischen Ansätze der Chinesen. Für die Inder ben der ionischen Lyrik. Älteres Dialogmaß
weist den Einfluß der Griechen nach E.Wijt-
Discii, Der griecliische Einfluß im indischen
Drama. Berlin 1882. Bezeichnend ist, daß
auch in dem indischen Drama zwei Dialekte,
(auf das nach Aischylos archaisierend Euri-
pides wieder mehr zurückkam) ist der tro-
chäische Tetrameter, der dann durch den
iambischen Trimeter ersetzt wird: Aiistot 1.1.
G. Drama, l Anfänge und äußere Verhältnisse, (§ 143.) 245
haftigkeit des Mythenvortrags erreicht, eine Tatsache, die nicht bloß
ästhetisch, sondern auch religionsgeschichtlich von größter Bedeutung ist.
Denn das griechische Drama ist von Hause aus ein Stück Gottesdienst,
keine künstliche Veranstaltung zur Unterhaltung oder Belehrung erholungs-
oder bildungsbedürftiger Leute. Gerade in der Zeit, da auf die epische
Sagenüberlieferung nach ihrer religiös-sittlichen Seite hin die heftigsten
Angriffe eröffnet werden, findet der alte Glaube in der Tragödie seine
mächtigste und eindrucksvollste Darstellungsform. — Deutlich tritt der
Zusammenhang des Dialogs mit der ionischen Poesie in der Sprache her-
vor: übrigens sind schon Solons lamben im wesentlichen attisch dem Dia-
lekt nach, und ebenso der Dialog des Aischylos und seiner Nachfolger,
wiewohl (nicht sowohl in der lautiichen und flexivischen Form als in der
Wortwahl und Phraseologie) nicht wenige ionische Ingredienzien namenÜich
bei Sophokles sich geltend machen. Daß wir aber aus dem Stand unserer
Klassikerüberlieferung in diesem Stück nicht zu weitgehende Schlüsse
ziehen dürfen, haben wir zu unserer Überraschung aus zwei völlig ionischen
Dialogversen aus Phrynichos* Phönissen gelernt, die durch einen Papyrus
von Oxyrhynchos aus dem Homerkommentar des Ammonios auf uns ge-
kommen sind. *) Wir wissen jetzt, daß vor Aischylos in Attika auch Tra-
gödien mit ionischem Dialog vorkamen.*)
143. Haben so die Sprach- und Stilformen des Epos so gut wie die
der Lyrik Bausteine für die neue Gattung der dramatischen Poesie ge-
liefert, so ist sie doch unmittelbar aus der Lyrik und der religiösen Fest-
feier des Dionysos hervorgegangen. Darauf weist schon der Name. Agäua,
d. h. Handlung, hieß das neue Festspiel, 3) dgcojuera hießen auch die Zere-
monien, mit denen man an den Götterfesten, namentlich bei den Mysterien
den Mythus des Gottes, seine Geburt, seine Wanderungen und Leiden den
andachtsvollen Gläubigen vor Augen führte.*) Zu solchen mimischen Dar-
stellungen boten wohl auch die Mythen anderer Götter Stoff, wie die vom
Kampf ApoUons mit dem Drachen Python,^) von der Bewachung des
') H. DiELS, Rhein. Mus. 56 (1901) 29 ff. i zelnen) und die ergebnisreichen Unter-
•) Das Ionisieren der tragischen Dialog- suchungen über den Wortvorrat von H. Witte-
sprache wird teils sprachgcschichtlich aus . kind, Sermo Sophocleus quatenus cum scrip-
der näheren Verwandtschaft des älteren atti- | toribus lonicis congruat, at differat ab Atticis,
sehen mit dem ionischen Dialekt (so W. G. Büdingen 1895 und W. Aly, De Aeschyli copia
RuTHERFOBD, Zur Geschichte des Atticismus, verborum, Berlin 1906.
übersetzt von A. Fünck in Jahrbb. f. Phil. ») Nach Arist. poöt. 3 p. 1448 a 29 ff.
Snppl. 13. 1884, 355 — 399), teils ästhetisch (so suchte man aus diesem Namen den dorischen
Eühnsb-Blass 8. u.) erklärt; tatsächlich legt Ursprung des Dramas zu beweisen, weil die
es Zeugnis ab von dem Pnnzipat des ionischen | Dorier doar, die Athener --rf>«Tr«i' sagten. Die
Dialektes in der vorattischen Litteratur. In I Benennung Soäna für Tragödie und Komödie
dem Dialog der Tragiker, selten der Komiker, zusammen ist schon im 5. Jahrh. üblich : H.
finden sich z. B. Dative pl. auf oioi, mm, Weil, Etudes sur le drame ant., Paris 1897,6.
foot^ die ablativen Genetive ifieOn', ori/fy, die i *) Daher der Gegensatz bei Paus. II 37, 3
lonismen yoin'aTog, dovgi, ^e(%'(K, Exovrfihv (vgl. III 22, 2) : tu AFyöfifra fjti lotg dowfiei'oig.
(Eur. ffipp. 1247), eamv (Eur. Phoen.'"l246), Vgl. Tu. Bergk. Gr. Litt. III 4; Chr. A. Lo-
die nichtattischen Wörter närga statt Tiargl^, beck. Agiaoph. 688 ff. über die Öocofieva bei
deigw statt aio<o, dotdog, argex/jg, ägOntog, den Dionysos-Mysterien berichtet Clemens
d/i<pijioXoSf dXvco, evtpgovrj, egöco, ^so.ig/Ktoi; , | Alex, protrept. II 12 p. IIP.
xaaiyvrjxog^ xtxXr'iaxMj y.otgavo^, ogysiov, oxv- ^) Daß dieser auch wirklich mit
fifo, <pägog. Siehe Eühner-Blass . Griech. ahmender Kunst dargestellt
Onunm. I 31 ff. (Litteratnrangaben im ein- s. oben S. 145.
246 Oriechiflche LitteratnrgeBchichte. L KlassiBche Periode.
jungen Zeus durch die Daktylen und Eorybanten; insbesondere ist der
Demeterkult der Eleusinien und der ThesmophorienO reich an dramatischen
Elementen. Zu voller Reife in einem kunstmäßigen Btthnenspiel sind aber
nur die dramatischen Keime des Dionysoskultes ausgewachsen. Das erklärt
sich aus der nachdrücklichen Förderung, die im 6. Jahrhundert von Seiten
der delphischen Priesterschaft und der Tyrannen gerade der dionysischen
Religion zugewandt wurde.*)
Von Delphoi aus ist man zu dieser Zeit bemüht, die mystischen, auf
das Gemüt wirkenden Faktoren der Yolksreligion im Kampf gegen die
Aufklärung zu verstärken; die Tyrannen aber, die sich auf den Schultern
des niederen Volkes zu ihrer Alleinherrschaft erhoben hatten, suchten
durch Veredlung der Kulte eben dieser Volkskreise und Aufiiahme der-
selben unter die Staatskulte die neue Staatsreligion auf eine breitere und
für ihre eigenen politischen Zwecke günstigere und sicherere Grundlage zu
stellen. Der Dionysoskult, dem griechischen Landvolk seit uralter Zeit
vertraut und zeitenweise durch Einströmungen von Seiten der verwandten
thrakischen Sabaziosmystik in eigenartiger Weise modifiziert, bietet, wie der
Demeterkult, eine ernste und eine heitere Seite. Dionysos ist ein Gott, der
stirbt und wiederauflebt mit der Pflanzenwelt, deren Repräsentant er ist.
Als Vegetationsdämon hängt er mit allem Seelen wesen zusammen: er wird
selbst als abgeschiedener Geist, tjooK, angerufen,') und den Schlufi des
Anthesterienfestes, das ihm jedes Frühjahr die Athener feierten, bildet die
Austreibung der mit ihm gekommenen Seelengeister (xfjgeg),*') Auf der
anderen Seite steht die ausgelassene Lustigkeit bei allen den Anlässen,
wo man sich dem Genuß der von ihm gespendeten wertvollsten Gabe, des
Weines, hingab.^) Solche Anlässe stellten sich ein gegen Winters Ende,
wenn der Wein vergoren war, und beim Erwachen des Frühlings. Der
heidnische Mummenschanz mit allen seinen Neckereien, wie er sich dabei
entfaltete, lebt noch heute, zu derselben Jahreszeit, in den Fastnachts-
gebräuchen katholischer Gegenden weiter. Was hier in lustigen Aufzügen
Maskierter, in Darstellung einzelner komischer Szenen aus dem Leben
oder aus Sphären kecker Phantastik, in derben Obszönitäten, in Spott-
und Schimpfreden gegen einzelne oder ganze Klassen verstreuterweise
durcheinanderwirbelte, das konnte einem poetischen Talent die Elemente
zu einem einheitlicheren, kunstvollen Aufbau liefern. Der Staat überliefi-
diese wildwachsende Komik anfangs der privaten Initiative; ihm war
es zunächst mehr darum zu tun, für seine Feier die ernsthaft-mystischen
Züge des Dionysosdienstes wirksam zu verwerten. Ein Schritt zur künst-
lerischen Veredlung des dionysischen Gemeindegesangs war schon im Anfang
des G. Jahrhunderts gemacht worden durch Regulierung des Dithyrambus
M E. RoHDE, Kl. Sehr. II 301 ff. ») Auch der Dcmeterkult kennt diese
^) W. »ScHMiD. Zur Geschichte des griech. Erntefestscherze, das aioxookoynr, iafißi^tiv,
DitliyranibuH, IVogr. Tübingen 1901, 22 flf. xForouFir: Schömann-Lipsius, Griech. Altert.
^) f/./hh' fjoo) iiorroF bginnt der alte II, Berl. 1902,396; Pkkllkr-Robbrt, Griech.
Gesang der eleischen Weiber, Bergk, PLG i Mythol. I 778. 789). Von Spottchören der
II I^ p. 656 nr. 6. I Weiber Herodot. V83; vgl. für den sizilischen
*) E RoHDE, Psvche P 239—40 A. 2. , Demeterdienst Diod. V 4, 5.
G. Drama. 1. Anfänge und änfiere Yerhältnisae. (§ 144.)
247
(s. o. S. 205 f.). Der zweite führte zur Schöpfung der Tragödie in Attika
unter der Herrschaft des Peisistratos. Wenn die Stoffe, die in dem re-
formierten Dithyrambus wie in der Tragödie zur dichterischen Darstellung
kommen, nicht bloß, ja nicht einmal vorwiegend aus dem Kreis der
Dionysossage, sondern vielmehr aus allen Teilen der Heroensage ent-
nommen sind, so wird diese Erweiterung des Stoffgebiets in einer für uns
freilich nicht mehr recht faßbaren Zusammenrückung von Dionysos- und
Heroenkult ihren Ursprung haben. Die Grundlage für das Drama war
da, sobald dem Chor ein „Respondent* {imoxQixrjg) gegenübergestellt wurde.
Dieser Schritt muß in ionischem oder ionisch beeinflußtem Sprachgebiet,
also wohl eben in Attika gemacht worden sein, denn vjioxQivojuLai im Sinn
von Antworten ist ionisch. Freilich können wir vjioxgiri^g im Sinn von
Schauspieler nicht vor Aristophanes nachweisen und bleibt demnach die
Mögb'chkeit, daß diese Gesamtbezeichnung erst in der Zeit der Sophistik
etwa für die älteren Spezialnamen zgaycodog^ Hcüjuupdög aufgekommen dei
(s. u. S. 267, 6). Von dem Übergangsstadium zwischen Dithyrambus und
Drama gibt der Theseus des Bakchylides (17) eine Vorstellung (s. o. S. 214).
144. Arten des Dramas.^) Allen Dramen war gemeinsam, daß sie
ihren Gegenstand durch Handelnde zur Darstellung brachten. Der Gegen-
stand selbst mußte demnach eine Handlung {jigä^ig) sein und zwar, ent-
sprechend dem gottesdienstlichen Charakter des Dramas, ein Stück „heiliger
Geschichte* (juv&og^ fabula), von den Taten und Leiden jener götternahen
vorzeitlichen Übermenschen,*) zu denen der gläubige Grieche mit andäch-
tiger Verehrung und romantischer Sehnsucht zurückzublicken nicht satt
werden konnte. Eine ästhetische Notwendigkeit war es, daß die zu dra-
matischer Belebung ausgewählte Episode eine gewisse sachliche Ab-
geschlossenheit haben mußte. Nach Gegenständen und Darstellungsformen
sind drei Arten dionysischer Dramen zu unterscheiden: die Tragödie, die
Komödie und das Satyrspiel. Die Tragödie {rgaycodla), die aus dem
Dithyrambus hervorgegangen ist,^) muß sprachhch als xgdyoyv <hdri ge-
deutet werden, hat also den Namen nicht von dem Bock, der als Preis
dem Sieger zugefallen sein soU,*) sondern bedeutet: Gesang der Böcke.
') Diomed. p. 487—492 K. ; J. Kaysbr,
De veterum arte poöt 1906 p. 10 ff. 71 ff.
•) vjikg Tifidtg doetrj, ^gojixy rtg xai Osia
Aristot eth. Nie. VIII p. 1145 a 19.
•) Arist. po€t. 4 p. 1449 a 10: ij /ifv rga-
yqßSia djio twv i^oQyovTCJV xov dMgafAßov
xma fiixQov rjv^rj&rj. Dieser Anschauung, die
wir kaum bestreiten können, widerspricht —
80 sehr das z. B. E. Reisoh, Festschr. f. Gom-
perz 472 und H. Reich, Der Mimns I 253 zu
verschleiern suchen — die andere Behaup-
tung bei demselben Aristot p. 1449a 19 (s.a.
Aoth. Pal. VII 37), daß die Tragödie aus dem
Satjrspiel erwachsen sei, die auch bei Suid.
8. ovdev JtQog xov Atmnjoov (vermittelnd Suid.
8. ^Agltüv) vorliegt Die Angaben des Aristo-
teles beruhen zum größten Teil auf Kon-
struktion, besonders in zwei Punkten: 1. alle
Poesie geht aus von avioaxeSido/mia ein-
zelner p. 1448 b 23 (daher die i^doxovreg);
2. die Entwicklung der Kunstgattungen steht
unter einem teleologischen Gesetz (poöt 1449 a
14 vgl. Aristot. phys. II 8).
*) Hör. a. p. 220: carmine qui tragico
viletn certavit ob hircum; ein rgdyog als Preis
angeführt Marm. Par. ep. 43, ebenso von Dio-
scurid. Anth. Pal. VII 410; Eusebios zu 01.48, 1.
R. Bentley nahm diese Deutung an; ihre
Unmöglichkeit erwies F. G. Wblcker, Satyr-
spiel, Frankf.a.M. 1826. 240 A. 178. Daneben
tritt bei lateinischen Grammatikern (P.Wbss-
NER, Unterauchungen zur latein. Scholien-
litt, Bremerhaven 1899 p. 3j die ebenso un-
mögliche Deutung , Gesang um den Preis
eines Bocksschlauches voll Wein* auf. Die
richtige Etymologie im Et M. 764, 6: tQa-
248
Griechische Litteratorgeschichte. L Klaamsche PeriodA.
Unter diesen Böcken verstand Welcker, dem hierin die meisten
Neueren folgen, bocksgestaltige Satyrn. Da solche in der Tragödie selbst
nicht auftreten, so drängt diese Auffassung zu der Konsequenz, der Name
Toaycodia sei vom Satyrspiel auf die ernsthafte Tragödie übertragen, oder
die Tragödie sei aus dem Satyrspiel hervorgegangen, was ja auch Aristo-
teles im Widerspruch mit sich selbst (s. S. 247, 3) behauptet. Indessen
selbst zugegeben, was bis jetzt auch nicht von ferne bewiesen werden
kann, das Gefolge des Dionysos sei schon im 6. Jahrhundert als ein Chor
bocksfüßigcr und -schwänziger Dämonen dargestellt worden, i) so läßt sich
eine Übertragung des Namens für das Satyrspiel auf die ernsthafte Tra-
gödie — die doch in Attika vor sich gegangen sein müßte — mit den
Tatsachen ^ nicht vereinigen; denn das Satyrspiel ist nach Attika durch
Pratinas importiert, nachdem sich hier die ernsthafte Tragödie schon ge-
bildet hatte. Zur Lösung dieser Schwierigkeiten ist neuerdings*) vor-
geschlagen worden, den Namen Touyoc: als spöttische, vom Adel auf-
gebrachte Bezeichnung für die Bauern zu verstehen, die in ihrer Tracht
aus Tiorfellen an lleroenfesten (,'horgesänge aufführten; diese Gesänge
mögen dann zufolge der oben angedeuteten Verbindung von Dionysos- und
lleroendienst mit dem Dithyrambus zusammengerückt worden sein. Das
Wesen der frühsten Tragödie drückt die theophrastische Definition bei
Dioraed. p. 487, 12 K. {xoaycoöia tonv /yoro/x//»: tv/i]^ Treoiaraatc;)^) viel richtiger
ytoAin, ort r« .toxA« oi //iooi tx 2Lmrmoy I
oryiararro, orc ty.aXorr radyorc. Zu ihrer ;
Bestätigung zog Welcker den Vers in <les
Aiscliylos lIijofnfihi'Q nvnxayr-: fr.207 Nal'CK*
herbei, wo Prometheus den Satyrchor an-
redet: Toayo^, ytfFiin' uoa .-rui/f'/nn^ or -/t ;
K. O. Müller, Kl. Sehr I 489 ff. denkt nach
J. M. Voss an den desang um diLS brennende
Opfer eines Bockes, und auch E. Kkisch, ;
Festschr. f. Gomperz 46^^ neigt noch zu difst-r
Ansicht. Unsinnige Etymologien Schol. Dionvs.
Thr. p. IS. 8 ir. li ILO ARD.
*) Mit Nachdruck ist gegenüber künst-
lichen Vermittlungsversuchen (G. Kr>RTK bei
E. Bktiik. Proleg. z. Gesch. des Tlieateis im
AlttM't.. Leipz. lx\H\ :>:jy ll". ) daraufhinzuweisen,
dali auf Kunstwerken der älteren Zeit das «be-
folge des Dionysos lediglich aus pferdes<:hwän-
zigen Silenen besteht, (laß die frühste Darstel-
lung bocksgestaltiger Satyrn sich auf dem rot-
ligurigcn Krater c. 4">U (Journ. of Hell. Stud. 11,
WMK plates 1 1 . 12 ; < ;. Lösoiicke. Mitt. des ath.
Inst. 19. is9i, ->22) findet, daß rna-'i»^ in dem
Satyrspielfragment aus Alschylos' llimittjOtrs
nrny.iur^ sehr wohl (so |jösch<'ke) meta-
phoris<-h veixtanden werden kann und nicht
einmal für Eurip. Cycl. ><<) notwendig ein
bocksg(?sta]tig("r Ghor anzuneliuu.'U ist, daß
wir wt'der für das nordwestp«doponnesische
Satyrspiel noch für das aus diestim hervor-
gegangene attische des .">. Jahrb. Anlaß haben
anzunehmen, der Chor sei aus Böcken und
nicht aus I*fenlemensehen (Silenen) gebildet
gewesen (dies alles klar und richtig ent-
wickelt bei E. Rkisoh. FeHtschr. f. Th. Gom-
IMJi-z, 1902. 451 if., auch M. P.NiL88oy, Com-
ment. philol. in hon. J. Paalson, Gotenborg
1900. 7 ff.).
*) W. ScuMiD, Zur Gesch. des griech.
Dithvramb. 12, wo an Belegstellen ffir die
ländliche Tracht aus Tier-, besonders Bocks-
fellen noch anzuführen ist Hom. r 436; f 530;
Theocrit. id. 7, 14; Menand. 'A'.Tiro. p. 35,12
Lefkrvre; Eratosth. fr. 83 Hilleb; Varro r.
r. ir 11, 11; Lucret. V 1418; Prop. IV 1, 12
(pelliti patres) ; Caes. bell. gall. IV 1. 10; V 14, 2.
Die neue Deutung njny(o!)m = Speltgesang, die
.Iane Ellkn* Harrisox in ihrem Buch Prolego-
mena to the Study of (Ireok Religion. Cam-
bridge P.»ü3, vorschlägt, geht unmethodischer-
weise von einer erst ganz spät belegten Bedeu-
tung des Wortes ro'i-/«v aus. Die Möglich-
keit, daß Toa;'f;>«V»s: r= 6 xov roaj'o»* (d. h.
das Lie<l auf den ror«;'o.% ähnlich wie //«lof
Name des Liedes geworden ist) r/dfor wäre.
verdient auch Erwägung.
^) Ähnlich Diomed. p.487, 12 BL; Etym.
magn. 7^)4, 1 ro. tnil (iion' xni loyiov tjguHXWP
uiiifjrnc. Wichtig ist auch die Art, wie Ps.Isocr.
1. 4^ <lie Tragiker von Homer unterscheidet:
Homer aytofd^ y.ni nn)Jnov^ jwy f/fit&eiov fiv^o^
)jtyn, Ol iVf Titrc: itrhav^ f-U dyun'ag xai ^gd^fis
X(tT^nn]nar inotf fiij iinvor axororovs »}/*"'i dXka
xai thnt(u\' yn-toihu. Vom christlichen Stand-
punkt aus deüniert Isidor. orig. XVIII 46 tra-
tjoeiii aunt qiti nntinua gesta atqiie facinora
srelerutorum reyum lurtuoso carmine »pec^
tante populo conchiehant.
G. Drama, 1. Anfänge und ändere Yerhältnisse. (§ 144.) 249
aus als die berühmte und viel umstrittene des Aristoteles (poät. 6), die
den religiösen Faktor völlig aus dem Spiel läßt und den Begriff der Tra-
gödie einseitig unter eine nicht aus der Sache selbst geholte ethisch-poli-
tische Betrachtung stellt.^) Daß die Tragödie gleich von Anfang an ihren
Stil gefunden habe, ist nicht anzunehmen; gewiß wogen in den ersten
Versuchen die lyrischen und epischen Elemente über das eigentlich Drama-
tische vor und waren unter sich nicht in die richtigen Proportionen ge-
setzt. Aber in weniger als einem Jahrhundert sind die Unsicherheiten
des Anfangsstadiums überwunden, und beim Beginn des perikleischen Zeit-
alters ist die fertige Tragödie aus der dramatisierten Historie entwickelt,
der Stil des Heroencharakters mit seiner jueyakoi^fv/J^ ^^ Stimmung und
Ausdruckformen, ebenso das Bild des Heroenlebens — im ganzen nach
Maßgabe der homerischen Darstellung, freilich mit einzelnen Anachronismen, 2)
die sich zumal seit Euripides immer ungescheuter hervortun — so fest-
gestellt, daß nun große Künstler mit Hilfe einer gesicherten Technik sich
der Entfaltung ihrer künstlerischen Eigenart hingeben können. Künst-
lerisch betrachtet war der griechische Tragiker in demselben großen
Vorteil vor den Komikern») und vor den modernen Tragikern, wie jetzt
der Bearbeiter biblischer Stoffe vor einer christlichen Zuhörerschaft gegen-
über dem Bearbeiter profaner Stoffe ist: daß er den Gegenstand als be-
kannt voraussetzen und nun alles Interesse auf die Kunst seiner Dar-
stellung lenken konnte.
Die Komödie {xcojucodia) ist nach Aristoteles hervorgegangen aus
den Gesängen der phallischen Prozessionen,-*) die sich auch später noch
neben den Dithyramben und der ausgebildeten Komödie erhalten haben.
Nach Aristoteles poöt. 3 haben einige in bewußter Anlehnung an den länd-
lichen Charakter des alten Dionysoskultes und mit der Absicht, den Dorern
die Erfindung dieser Kunstgattung zu vindizieren, das Wort von xcojut],
Dorf, abgeleitet, womit die Derer dasselbe was die Attiker mit öfjjuog be-
zeichneten. Aber der Name kommt vielmehr von xwjuog, d. h. bakchischer
Aufzug, wovon auch xcojtidCeiv und das lateinische comissari gebildet ist.^)
*) G. Fii^SLEB, Piaton und die aristotel. die verschiedenen Anschauungen F. Enoke,
Poetik 135 ff. 212. Über die Theorie des Begriff der Tragödie nach Aristoteles, Berlin
Aristoteles verdienen unter den zahlreichen 1906, 25 ff.
Erläuterungsschriften besondere Beachtung ^) J. A. Stricker, De tragicorum ana-
außer Lbssinos Dramaturgie: J. Bbrnays, i chronismis, Amsterdam 1880. Die Abhängig-
Grundzüge der verlorenen Abhandlung des ' keit vom homerischen Stil zeigt sich auch
Aristoteles über Wirkung der Tragödie in Ab- 1 in der Vonneidung aller Deminutiva in der
handl. der histor.-philol. Ges. in Breslau 1857, Tragödie, in Nachwirkungen der homerischen
Zwei Abhandl. über die aristot. Theorie des 1 Verstechnik, die sich öfter in unattischer
Drama, Berlin 1880; L. Spenoel, Über die Behandlung der positiodebilis zeigt (A.v.Mess,
xd&aoatg xiov 7fadr)fmxcov, Abhandl. d. bayr. ' Rhein. Mus. 58. 1903, 290 ff.).
Akad. 9 (1863) 1 ff.; K. Meisbb, Beitrag zur ») Antiphanes fr. 191 Kock.
Lösung der Katharsisfrage, Blätter für bayr. | *) Arist. poöt. 4 : /y Ök xiofKoöta d.To uov
Ojrmn. 23 (1887) 211 ff.; N. Festa. Sülle piii ' xä (pakXixa F^agxovuoy, ä fti xai vvv iv .10).-
recenti interpretazioni della teoria Aristotelica i XaTg io)v tioXeuw diauhei vout^ojtm'a.
della catarsi nel dramma, Firenze 1901. Die | ^) Diomedes p. 488, 5 K : comoedia dicta
Kontroverse dreht sich hauptsächlich darum, djio ribv xo)ft(7)v . . . vel dji6 zov xcofiov, id
ob wir bei der Katharsis an eine sittliche 1 est comessatione. Über xajfwg s. o. S. 224.
Reinigong (Lessing) oder an einen patho- | Völlig vergessen ist die richtige Ableitung
logischen, Vergnügen erzeugenden Prozeß Etym. magn. p. 764.
(Bemays) za denken haben. Übersicht über |
250 GriechiBche LitteratnrgeBchichte. L XlaMdsohe Periode.
Neben dem Namen Komödie findet sich bei Aristophanes der scherzhaft nach
dem Muster von Tgayciydia gebildete Name xQt^yqMa, der entweder von
TQvyrj „Weinlese" oder tqv^ „Hefe'' herkommt.^) Mit den PhaUosUedem
war der Komödie von vornherein Scherz und Lustbarkeit als Grund-
stimmung gegeben, aber erst nach und nach erhob sie sich zu planmäßigerer
Darstellung einer lächerlichen Handlung.') Den Stoff nahm sie aus dem
Leben der Gegenwart (ßiog, ßianixdg im Gegensatz zu fiQioixog und t^-
yixog),^) ihre Personen gehörten der Wirklichkeit an, sei es als Typen oder
als Individuen. Wo die Komödie Typen menschlicher Schwäche vorführt^
hat sie humoristischen, wo sie bestimmte geschichtliche Personen oder Zu-
stände vorführt, satirischen Charakter.
Das Satyr spiel {61 adtvgoi; bei Plat. symp. 222d oarvgtxov i) oedtjvuear
dgä^m) hat seinen Namen davon, daß in ihm der Chor aus Satyrn^) ge-
bildet wurde. Zugrunde liegen Tänze in Tiervermummungen, wie sie den
meisten primitiven Kulturen noch heutzutage eigen sind. Der Zusammen-
setzung und dem Charakter des Chors entsprechend wählte der Satyr-
dichter aus der Heldensage solche Charaktere (besonders Odysseus und
Herakles) oder Situationen, die eine humoristische Behandlung ertrugen.
Die heitere Wirkung ergab sich aber auch schon aus dem bloßen Neben-
einander ernster und großangelegter Heroengestalten und der in allen
Schwächen der Sinnlichkeit befangenen tanz- und springlustigen Satyrn.
Das Satyrdrama hat treuer als die Tragödie den ursprünglichen Charakter
des Dionysosspieles festgehalten.^) Es ist ein heiteres mythologisches
Märchenspiel geblieben, in dem das Phantastische den Hauptreiz bildet.
Die Szene ist regelmäßig in ländlicher Umgebung.«) Entstanden ist es im
nordöstlichen Peloponnes, in Phlius aus volkstümlichen Mummereien. Der
Dichter Pratinas von Phlius, hat es Anfang des 5. Jahrhunderts in Athen
eingeführt. Es wurde in die städtische Dionysosfeier aufgenommen und
in der Regel als Nachspiel zu der tragischen Vorführung gegeben.^)
») Schol. Arist. Ach. 498; Ath. 40 b; Et ; Woch. 25 (1905) 164.
m. 764, 12; Anon. de com. in G. Kaibel. Com.
Gr. fr. I p. 7, 3; davon Horat. a. p. 277: qui
canerent agerentque peruncti faecibus ora,
*) Arist. poöt. 5 p. 1449 a 30: tj xto^uo-
dta Eoii filf-ujai^ tfavloTFooyv hfv, ov fth'Tot
') Chamaileon bei Said. s. ovdh stgo^
TOI' A/ovvaor.
«) Vitr. de arch. V 6. 8.
^) M. Casaubonüs, De satyrica Graeco-
ruin poesi et Homanonim satura, der Ausgabe
>caTa .-zäoar xuxiav, dX?.ä tov aioxt>ov, ov iau des Pereius angehängt (Paris 1605). Dort ist
To yfXoior fiootor. Die Definition im Traktat ■ zuerst der Unterschied des griechischen Satyr-
HFoi xoy(io)btaQ des Cod. Coislin. bei G. Kai- dramas und der römischen Satire (alt Satora)
BEL. Com. gr. fr. I p. 50 § 3 ist eine Nach- festgestellt. — Einziger Repräsentant ist f&r
bildung der aristotelischen Definition der Tra- 1 uns der Kyklops des Euripides. Vieles läßt
gödio. Durch den Charakter der neuen Ko- > sich aus Darstellungen auf Vasenbildem hin-
mödie beeinflußt ist die Definition des Theo- Zugewinnen, worüber F. Wieselbb, Das Satyr-
phrastos bei Diomedes p. 488, 4 K.: xwfiojöia spiel, Gott. Stud. 1847 S. 565—770. Die wich-
eoTir IfiKoiixiTiv noay^MKov dxirövrog uFoioy/f. tigste bildliche Quelle für imsere Kenntnis
') Schol. Dionys. Thr. p. 172, 25ff. HiLG. der Inszenierung des Satyrspiels, die apoli-
*) über den Sinn des Namens odrroot, sehe Vase von Ruvo, ist neu behandelt von
der gewöhnlich ohne weiteres auf Grund von , H. v. Prott in den Schedae philologae H.
Angaben des Hesych. s. mrooc und des Ety- | Usenero oblatae, Bonn 1891, p. 47 ff., der das
mol. magn. 764, 6 mit riivnog (und dieses mit Bild auf den Weihepinax eines siegreichen
T^a;'oc) identifiziert wird, tragen neue Ansichten i Schauspielers zurückfilhrt. 0. Jahn, Perseus,
vor G. LöscHCKE, Ath. Mitt. 19 (1894) 510 ff. i Herakles, Satyrn auf Vasenbildem und das
und F. Hiller v. Gärtringen, Berl. philol. ! Satyrdrama, jfhilol. 27 (1868) 1—27. Wenig
G. Drama. 1. Anfänge und ändere YerhältniBse. (§ 145.) 251
Die Unterschiede der drei Arten von Dramen waren auch äußerlich
in der Eostümierung des Chors und der Schauspieler ausgeprägt; ins-
besondere war für die Tragödie bezeichnend die stelzenartige Fußbekleidung
{ijLLßdrtjg, x&&oQvog), die Verbreiterung der Gestalt durch Auspolstern (ocüjud-
Tiov) und der hohe Haaraufsatz (ßyxog)^ welche die Heroen über das Maß der
gewöhnlichen Menschen erhöhten, entsprechend der Vorstellung von der über-
ragenden Körpergröße der Heroen J) Umgekehrt trugen die Personen der
Komödie einen niederen Schuh {i/ußäg^ lat. soccus) und banden sich als
Diener des befruchtenden Gottes der Zeugung einen großen roten ledernen
Phallos um. Die Choreuten des Satyrdramas trugen jedenfalls Ende des
5. Jahrhunderts einen Schurz aus Ziegenfell, hatten vom einen Phallos,
hinten ein Bocksschwänzchen; früher haben sie wohl die Verkleidung in
pferdeschwänzige Silene*) gehabt. Masken wurden in allen Arten des
Dramas von den Schauspielern getragen. Dadurch war aus den theatra-
lischen Wirkungen das Mienenspiel ausgeschaltet und der Schauspieler an
einen gewissen Typus von Haltung gebunden, der auch für seine Körper-
bewegungen maßgebend sein mußte. Wechsel der Maske innerhalb einer
und derselben Rolle kommt im griechischen Drama nur sehr selten vor.^)
145. Athens Bedeutung für das Drama. Nach Aristoteles poöt. 3
erhoben die Derer den Anspruch, das Drama erfunden zu haben, die Me-
garer die Komödie, andere Peloponnesier die Tragödie. Das war gewiß
nicht ganz unbegründet, da tatsächlich durch Pratinas das Satyrspiel von
Phlius nach Athen verpflanzt wurde und die in dorischem Dialekt ge-
schriebenen und zur Aufführung in einer dorischen Stadt bestimmten Stücke
des Komikers Epicharmos sicher nicht von Athen aus ihre Anregung em-
pfangen haben. Aber zur Entwicklung und glänzenden Entfaltung kam
das dramatische Spiel erst in Attika. Hier hatte schon früh auf dem
Land, namentlich in dem rebenreichen Dorf Ikaria, der fröhliche Dionysos-
förderlich ist, was G. Thiele, N. Jahrbb. f.
kl. Alt 9 (1902) 422 ff. über den UrspruDg des
Satyrspiels matmaßt.
des 5. Jahrb., eher ernsthaft ertragen als das
Zeitalter des zunehmenden Realismus; auch
K. K. SiHTH, Harvard Studies 16 (1905) leugnet
') Siehe W. Schmid, Zur Gesch. des gr. , den Kothurn fOr das 5. Jahrb.; vorsichtiger
Dithyr. 25A.; Aristot. pol. 1254b 85; 1332 b M. Bieber, Das Dresdener Schauspielerrelief,
18 f.; P8.Plut Vit. Hom. 113; Schol. Dionys. Bonn 1907.
Thr. p. 17, 28 ff.; Schol. Hom. ft 103; es ist 1 *) Daß die Trennung von adivgog und
die fiberall volkstümliche Vorstellung von den ' aedijv6<; anfangs nicht streng war, zeigt Eupol.
Riesen, Heunen,Joten,Thur8en der Vorzeit (aus l fr. 443E. und Xen. an. 1 2, 13. Mythologische
annenischer Sage vgl. z.B.CHALATiANZ.Ztschr. | Systematiker freilich wie Hesiod. bei Strab.
f. Volkskunde 14, 1904,296; die Neugriechen 471 hielten sie auseinander. Siehe A. Furt-
stellen sich die ^EXkrjvsg* auch als Kiesen 1 wängleb, Der Satyr aus Pergamon, Berl. 1880,
vor: K. Dietbbioh, N. Jahrbb. f. kl. Alt. 17, ' 24 f. Neben den Pferdemenschen (Silenen)
1906, 95). Der Kothurn läßt sich nicht unter i und den Bocksmenschen (Satyrn, deren Ge-
Aonahme von Mißverständnissen des Cha- stalt wohl durch den Typus des arkadischen
maileon so leichten Kaufs, wie A. Koste in Pan beeinflußt ist), tritt noch eine dritte Gat-
der Festschr. zur 49. Philologenvers, zu Basel I tung von dionysischen Dämonen tanzend, mit
1907 S. 198 ff. will, aus der Tragödie des 1 dicken Bäuchen und Hinterteilen, auf alt-
5. Jahrb. wegdemonstrieren. Er hängt mit korintliischen Vasen auf; in diesen letzten will
der ganzen Vergrößerung der Gestalt der Tra- ! G. Löschcke die eigentlichen ndivgoi (= saturi
gOden solidarisch zusammen. Den für uns i die Vollen oder Sättigung Spendenden) sehen.
ans Komische grenzenden Eindruck dieser I ') 0. Hense, Die Modincirung der Maske
nachgemachten Riesen der Vorzeit konnte i in der griechischen Tragödie, Freiburg i. B.
jedeDÜELlls ein gläubiges Publikum, wie das | 1902, 2. A. 1905.
252 Griechiache Litteraturgeachichte. L KUssische Periode.
dienst Boden gefaßt. Aber auch in Athen waren spätestens seit dem
Anfang des 6. Jahrhunderts am westlichen und südlichen Abhang der
Burg Kultbezirke des Dionysos. Die Feste des Gottes hat Peisistratos im'
Zusammenhang seiner religionspolitischen Bestrebungen mit besonderem
Glanz ausgestattet.^) Im Jahr 534*) trat zum erstenmal Thespis als
Schauspieler dem dionysischen Chor gegenüber vermutlich bei den städti-
schen Dionysien, in deren Agon hiemit neben dem lyrischen Dithyrambus
das Drama aufgenommen war. Damit war der Anfang gemacht zu einer
religiösen und künstlerischen Entwicklung von größter Tragweite: die wirk-
samste Form für die Darstellung der alten religiösen Ideen,*) zugleich für
eine mögliche Umbildung derselben war gefunden, und Athen hatte sich
derjenigen Gattung der Poesie bemächtigt, durch die gerade ihm bestimmt
war, den nachhaltigsten Einfluß auf die gesamte griechische Kultur aus-
zuüben. Schon nach sechzig Jahren trug Aischylos die attische Tragödie
nach dem gi*iechischen Weston, und nach der Gründung des attischen See-
bundes wirkte von der dionysischen Orchestra Athens aus attischer Geist jedes
Frühjahr mächtig auf die herbeiströmenden Massen der östlichen Bundes-
glieder. Die Pracht der Feste stellte an die Freigebigkeit und das Ver-
mögen der reicheren attischen Bürger, die dafür in Anspruch genommen
wurden, ungewöhnlich hohe Anforderungen, und die Freiheit der Rede im
Theater hatte die Freiheit des Wortes im öffentlichen Leben zur Voraus^
Setzung. Wie das Epos im ruhigen Sonnenglanz der kleinasiatischen
Fürstenhöfe erblüht war, die Lyrik im Drang der Kämpfe, die dem Unter-
gang des patriarchalischen Königtums folgten, geboren wurde, so war das
Drama ein Kind der Volksherrschaft und desjenigen Staates, der als das
Bollwerk der Demokratie in ganz Uellas angesehen wurde.*) Auch der
Charakter des athenischen Volkes war der Entwicklung des Dramas
günstig: das Interesse für sittlich-religiöse Gegenstände war hier besonders
lebendig, die Neigung des Atheners zu dialektischer Auseinandersetzung
fand in dem Wortstreit des dramatischen Dialogs willkommene Nahrung.
') Über das Temcnos Aiovroor 'AV.fnVc- | der Olympiade das Marmor Parium ep. 4S,
ni'o)^ 8. jetzt W. DöRPFELD, Das gricch. Theat. i nur daß hier von der Jahresnnmmer bloß die
tab. I und S. 16 f. W.JcDEicn.Topogr. V.Athen, | Zeichen HHP ~ 250 erhalten sind; daß
München 1905, 282 f.; es standen hier zwei i dazu noch AA ergänzt werden muß. folgt ans
Uionysostenipcl. der ältere mit dem Schnitz- | der Olympiadenangabe bei Suid., welche die
bild des (iottes, Spätestensaus peisistratischer Wahl des Jahres im Rahmen von 536 — 532
Zeit, wenig südlich davon der jüngere mit läßt. Da aber nach Seldens Angabe hinter der
dem (Joldelfenbeinbild von Alkamenes. Ein 1 erhaltenen Zahl im Marm. Par. noch fttr 3
noch älteres Heiligtum des Dionysos, in dem ' Zeichen Platz ist, so kann außer 534 noch
das älteste ionisch-attische Dionysosfest, die 535 in Betracht kommen.
A nth es terion, gefeiert wurden, lag /r /./'/n«/c ; , ') Ps.Plat. Min. 321 A fou de n/^ jtoii}-
aucli dieses nebst «lem dionysischen Kelter- ; ofros fit)ttoTFonF.oiaTov je xai yn^xfiytoytHanazor
bezirk (Lenaion) glaubt Dörpfeld wieder ge- t) ro«;'o>Am.
funden zu haben in der Einsenk ung am West- *) Wie die Macht Athens wesentlich auf
abhang der Akropolis südlich vom Areshügel. dem geistigen Vorrang beruhte, drückte, nach-
Vgl. Jl'deich 2r)l f. Callimach. Hecale bei dem auch noch die Öophistik ihren Sitz in
Scliol. Ar. ran. 216 verlegt die Fonral yooo- Athen genommen hatte, Perikles (Thuc. II
miuSf^ im athenischen Limnebezirk schon in 41) mit den berühmten Worten aus: ^wbX^v
die mythische Zeit zurück. )Jy(n rt/v .to'//»» r/yc: 'Ekkaöo^ jraiÖFvaiv eiVou.
'^) Ol. 61 r^ 536/32 V. Chr. führte nach ; Über die Vorzüge des attischen Dialektes,
Suidas Thespis ein Drama auf (tMa^F) ; das seine xom'mj^ xal fteroiortfi Isokrates 15, 295.
Datum gibt genauer mit Angabe des Jahres
G. Drama. 1. Anfänge und Andere YerhältniBse. (§ 146.)
253
Rasch war es allgemein anerkannt, daß der oberste Gerichtshof des Ge-
schmacks in Beurteilung der Tragödie das Publikum von Athen sei.>)
146. Bühnenaltertümer. Ehe wir uns zu den Dichtem und zur
geschichtlichen Entwicklung der dramatischen Poesie wenden, sollen die
Hauptpunkte der szenischen Altertümer,^) das Theater, die Spieltage, die
Aufführungen, sowie die Ökonomie des Dramas kurz berührt werden.
Das Theater, 3) Matgov^ bedeutet der Etymologie nach Platz zum
Schauen; gibt es aber etwas zum Schauen, so stellen sich die Zuschauer
im Kreis (corona) um den Künstler; kreisrund war auch in der älteren Zeit
der Markt (nyogä)^^) der das natürliche Lokal für solche Produktionen ab-
gab, und im Kreise stellte sich der dithyrambische Chor (xvxXiog x^Q^^)
auf, der inmitten der Zuschauer um einen Altar {üvjueh]) seine Reigen
und Gesänge aufführte. Um das Zuschauen für eine größere Masse mögUch
zu machen, schritt man zum Aufschlagen von Gerüsten {ixQia), so daß
sich die Zuschauerbänke terrassenförmig, die einen über den andern, er-
hoben. Bei großem Zudrang konnte leicht ein solches Gerüste zusammen-
brechen, wie von einem derartigen Unfall in Athen zur Zeit der 70. Olym-
piade (500/497) eine Notiz bei Suidas erhalten ist.^) Trotzdem hat man
sich das ganze 5. Jahrhundert hindurch mit diesen Holzgerüsten beholfen.
Erst im 4. Jahrhundert wurde mit dem Bau steinerner Stufen für die Zu-
schauer gegenüber dem Bühnenhaus im Bezirk des Dionysos Eleuthereus
begonnen und dieser Bau unter der Finanzverwaltung des Redners Lykurgos
(338 — 26) ausgeführt. Auch ein massives Bühnenhaus ist erst damals er-
richtet worden. 6) Das Theatergebäude von Epidauros ist wahrscheinlich
älter als das von Athen. Dieses ist 1862, jenes 1881 ausgegraben
worden.')
^) So führt den athenischen Demos in
Gestalt des Gottes Dionysos Aristophanes in
den FrOschen als Ästhetiker vor, und Piaton
l&ßt im Laches 183 ab den Laches sagen: os
ar otTjTou TQaycpSiav pecdtbg jiotsTv, ovx e^w^sv
xvxXfp jieQi xrjv *Aixixi]v xatä zag äXXag jzoketg
ijiideixvvfityog nsgiegysTai, all* ev&vg devoo
<piQ€xcu xai zoigö* embsixvvoiv flxörcog.
') A. MüLLEB, Lehrbuch der griechischen
Bflhneoaltertttmer, Freiburg 1886; Ders., Das
attische Bühnenwesen, kurz dargestellt, Güters-
loh 1902, mit Besprechung der neueren Kon-
troversen, iiltere Werke : W. Schiveider, Das
attische Theaterwesen, Weimar 1835, K. £.
GxppBBT, Die altgriechische Bühne, Leipz. 1843,
J. SoiuauiBBODT, Scaenica, Berl. 1876. — In
dem Handbuch der klass. Altertumswissen-
schaft gibt von den szenischen Altertümern
V, 3 (1890) eine spezielle Darstellung G.
Oehkiohkn. Ein gutes englisches Handbuch
ist A. E. Haioh, The Attic Theatre, Oxford
1898. Anderes in folgender Note.
') W. DöBPFiLD u. E. Rbisch, Das grie-
chische Theater, Athen 1896, grundlegendes
Hauptwerk. Daneben aber noch zu gebrau-
chen Fs. WnsBLKB, Theatergebäude u. Denk-
mäler des Bühnenwesens bei den Griechen
! und Römern, Göttingen 1851, mit Nachträgen.
I Den Aufstellungen Dörpfelds tritt vielfach
i entgegen E. Bethe, Prolegomena zui- Ge-
schichte des Theaters im Altertum, Leipz.
1896; 0. PucHSTEiN, Die griechische Bühne,
Berlin 1901.
*) 11. 1 304, wo die Richter auf Steinen
sitzen iFOfo eri xvxho. Rund war auch der
durch Schliemann bloßgelegte Markt von
Mykene. — Die alte, am Markt gelegene
Orchestra zu Athen diente vielleicht bis An-
fang des 5. Jahrhunderts als Spielplatz für
die tragischen Agone (W. Judeich, Topogr.
v. Athen 304).
^) Xen. Cyrop. VI 1, 54 erwähnt eine
Toayixi] oxtfvrj aus Holzbalken.
*) Suidas u. Tlgarivag und Aioyvlog. Da
Pratinas nur einmal, Aischylos erst 484 den
ersten Sieg erlangte, so ist bei Suidas viel-
leicht die Zahl o (70) verderbt bezw. der
Unfall falschlich mit einem Ereignis aus Ai-
schylos' Leben verknüpft (W. Schmid, Philol.
47, 1888, 573 f.).
^) Die heutigen Reste des athenischen
Theaters zeigen neben einer älteren, etwas
weiter südlich gelegenen Orchestra noch die
Anzeichen zweier Umbauten, welche die
254 Griechische LitteratnrgeBchichte. I. KUssische Periode,
147. Teile des Theaters. In einem griechischen Theater sind drei
Hauptteile zu unterscheiden: 1. der Zuschauerraum {^iatgov oder xöiior,
cavea), der aus allmählich ansteigenden, über den Halbkreis hinausgezogenen
Sitzreihen für die Zuschauer (rotg decopiivoig) bestand, 2. der kreisrunde
Tanzplatz (ÖQXfjorga) mit dem Altar (;&vßiiXrjy) in der Mitte, auf der ebenen
Erde für den Chor, 3. das Spielhaus (pxtjvtj, scaena),*) das zunächst das
Zelt, in dem sich die Schauspieler an- und umkleideten, dann im weiteren
Sinn den Platz, auf dem die Schauspieler spielten {Itü axtjv^g)^ bedeutete.
Zu diesen drei Hauptteilen kommen noch die seitlichen Zugänge {Ttägodoi)^
die zwischen den vorderen Stützmauern der Gavea und den Seitenwänden
der Bühne lagen und durch die nicht bloß der Chor, sondern in der klas-
sischen Zeit auch die von außen kommenden Schauspieler eintraten (rechts,
vom Zuschauer aus gesehen, vom Hafen, links vom Land). Der Zuschauer-
platz war durch Umgänge {diaCojfiaxa, praecinctiones) und radienförmig ange-
legte Treppen in mehrere Abteilungen (xeQxideg, cMwei) gegliedert (in Athen 13,
in Epidauros 12, in Thorikos nur 3, im Peiraieus 13 im unteren, 26 im
oberen Teil). In der Orchestra hat anfangs wie der Kitharöde, so auch der
Schauspieler seinen Platz gehabt. ») Noch die ältesten Stücke des Aischylos,
die Schutzflehenden und die Perser, scheinen in der Orchestra gespielt zu
haben.*) Die Skene bestand, wie angedeutet, ursprünglich aus einer rück-
wärts von der Peripherie des Orchestrakreises aufgeschlagenen, für die
Theaterrequisiten bestimmten Bretterbude; der Name ging dann auf den
vor jener Bude sich ausbreitenden Spielplatz über, auf dem die Dramen
(nicht die Dithyramben) aufgeführt wurden. Dieser war gedielt und außer
durch die Rückwand {oxi]V}] im engeren Sinn) auch noch durch beiderseits
vorspringende Seitenflügel {naoaoxrjvia) begrenzt. Die dem Zuschauer
zugekehrte vordere Dekorationswand der oxrjyn) heißt Jigooxifjviöv, Zutritt
zum Spielplatz hatten die Schauspieler entweder durch eine der Türen der
Rückwand, oder, wenn sie aus der Fremde kamen, durch einen der großen
unteren Seiteneingänge {nt xuto) Jidoodoi). Später brachte man auch an
den Paraskenien Türen an, so daß durch diese die Schauspieler, die vom
Hafen oder dem Marktplatz oder dem Lande kommende Personen vor-
stellten, auftreten konnten. Bei dem regen Verkehr, der zwischen den
Buhne in hellenistischer und in römischer *) Was Pollux IV 123 über den Opfer-
Zeit (durch Nero und durch Phaidros im tisch (f/lf<>s) berichtet, von dem henib der
3. Jahrhundort n. Chr.) erfahren hat. Am , Schauspieler vor Thespis dem Chor respon-
reinsten zeigt die echt griechische Ursprung- ! diert haben soll, führt auf MißverstänaniB
liehe Anlage das epidaurische Theater mit ' einer Komikerstelle zurück E. Hillsb, Rhein.
seiner kreisrunden Orchestra. Mus. 39 (1884) 329. Auch für das große Theater
^) über das Verhältnis von 6(iyj)ojna zu in Pompeii hat jetzt A. Mau (Mitt des röm.
{>vnfh] A. MüLLEB S. 129 ff.; Dörpfeld- Inst. 21. 1906, 1 ff.) Spielplatz zu ebener £Me
Reiscu, Das griech. Theater 277 ff. Seit dem nachgewiesen.
4. Jahrhundert werden von den oxtjvixoi *) Wilamowitz, Die Bühne des Aischylos,
dyiovE^ (Schauspiele) die übrigen, in der Or- Herm. 21 (1886) 597 ff. Nach ihm fand der Ban
chestra vorgetragenen Solistenlcistungen als
{h^fif)Axoi ayMVF.^ unterschieden, worüber J.
Frei, De certaminibus thymelicis, Diss. Basel
1900.
einer Rückwand erst um 460 vor AuMhmng
der aischy lischen Orestie statt Einwendungen
von B.ToDT, Phil. 48 (1889) 505 ff. Diegenannten
zwei Stücke sowie die Sieben des Aiach. be-
^) 0. ScHERLiNG, De vocis oxtjvt) quatenus • dürfen auch keiner gemalten Hinterwand (H.
ad theatrum Graecum pertinet significatione. \ Weil, ^tudes sur le drame ant. 16 ff.).
Diss. Marburg 1906. |
G. Drama. 1. Anf&nge und ftußere Verhältnisse. (§ 147.) 255
SchauBpielem und dem Chor im klassischen Drama stattfand, ist es nicht
zu bezweifeln, daß zur Zeit des Aischylos, Sophokles und Euripides Chor
und Schauspieler auf demselben Platz sich befanden und auf demselben
Niveau sich bewegten, wenn auch in der Regel die Schauspieler näher bei
der Skenenwand, der Chor näher der Orchestra sich bewegen mochten.
Aber eine in der letzten Zeit lebhaft erörterte Streitfrage ist es, ob dieser
Spielplatz erhöht war und eine eigentliche Bühne bildete oder nicht. ^
Zur Entscheidung der Frage beweisen die erhaltenen Theaterreste nichts,
da keiner von ihnen in die Zeit der drei großen Tragiker hinaufreicht;
nichts auch die Bauvorschriften des Vitruvius de archit. V 6, da sich diese
auf das hellenistische Theater beziehen. Beweiskräftig sind allein neben
den allgemeinen Oesetzen der Optik die in den Dramen der Klassiker uns
erhaltenen Anzeichen.*) Diese aber, namentlich der Gebrauch von ävaßaiveiv
und xaxaßaiveiv in Aristoph. eq. 149, vesp. 1342, 1514, Ach. 732, Eccl.
1152, av. 175, die Erwähnung des buckeligen Anstieges (oifiöv) in Aristoph.
Lys. 288 und zwei andern in den Scholien zu jener Stelle angeführten
Komödien, die Klagen der Greise über die Mühen des ansteigenden Weges
in Eur. El. 489, Ion 727 u. 738 fif., Herc. 120, Aristoph. av. 20 «. u. 49 flf.
legen die Annahme nahe, daß der Spielplatz erhöht war.^) Wie hoch,
läßt sich nicht leicht ausmachen, da hiefür bestimmte Anzeichen mangeln
und die Höhe der hellenistischen Bühne (3 — 4 m) für die klassische Zeit
nicht maßgebend war. Allgemeine optische Erwägungen lassen eine Höhe
von ca. 5 Fuß und einen Aufstieg entweder durch Stufen oder auf einer
schiefen Bretterebene vermuten.*) — Zu diesen Hauptteilen des griechi-
schen Theaters kamen nun noch allerlei Ausrüstungsstücke, wie die dreh-
baren Prismen an den Seitenwänden {neglnyaoi^ machinae Versailles trigonoe
bei Vitruv), die mit je drei Tafelbildern bedeckt waren und durch deren
Drehung eine Veränderung der Szene angedeutet werden konnte;*) zahl-
reiche Maschinen, unter denen besonders nennenswert die Rollmaschine
{ixxvxXrjfjia), durch die Personen aus dem Innern des Bühnenhauses auf
die offene Bühne herausgerollt wurden, die Schwebemaschine, eine Art
^) Daß der Spielplatz erhöht war, ist 1 ciat. 22, B^rl. 1893, E.Bodbnsteinbb, Szenische
die hergebrachte Meinung, für die E. Weiss- | Fragen über den Ort des Auftretens und Ab-
XAKH, Die szenische Aufführung der grie- { gehens von Schauspielern und Chor im griech.
chischen Dramen, München 1893, mehrere i Drama, gekrönte Mttnchener Preisschrift,
beachtenswerte Beweise beibrachte, darunter ' publiziert in Jahrbb. f. kl. Philol. Suppl. 19
die Stelle aus der Parodos des Herakles (1893) 637 ff. und E. Reisch in Dörpfeld-
120 ff., auf die Christ zuerst hinwies, um zu 1 Reisch, Das griechische Theater IV. Abschn.
beweisen, daß auch der Chor beim Einzug in < ') Dagegen Dörpfeld-Reisch 188 ff.
die Höhe sieigen mußte. Für die Zeit nach , ^) Den Aufstieg von der Seite benennt
427 nimmt auch E. Bethe, Prolegomena zur ' Plat. symp. 194b dxoißa? (s. aber E. Roude,
Gteftchichte des Theaters im Altertum, Leipz
1896, eine erhöhte Bühne an. Die entgegen-
gesetzte Meinung, daß das ganze Drama zu
ebener Erde auf dem Boden der Orchestra ge
Kl. Sehr. II 386 ff.). Dazu dienten Stiegen, wo-
von der Name sca<larum> via, Fragm. Bob.
in Gramm, lat. VI p. 620, 2 ed. Keil. Siehe
aber Dörpfeld-Reisch 303 f.
spielt habe, vertritt im Gegensatz zur Überliefe- j *) Nachweisen läßt sich der Gebrauch
nmg des Altertums (Vitruv. V 6) W. Dörpfeld. | der Periakten in keinem der uns erhaltenen
•) Über sie handeln mit Bezug auf ' Stücke. Ober den nur in der Orestie und
unsere Frage £. Capps, The stage in the dem Aias vorkommenden Szenenwechsel, bei
greek theatre according to the extant dramas, dem Periakten nicht anzunehmen, Dörpfeld-
in Transactions of the American philol. asso- Reisoh 211 ff.
256 Griechische LitteraturgeBchichte. L Elassiflche Periode.
Krahnen, an dem Personen schwebend (cbro piijxctvfjs) vorgeführt werden
konnten, die Göiterbühne (Oeo/ioyeiov, im Gegensatz zum gewöhnlichen
loynov), die Götter auf einem höheren, durch das Dach der Spielbude ge-
bildeten Standplatz erscheinen ließ.^)
148. Spieltage und Agone. Der Ursprung des Dramas aus dem
Kult des Dionysos gab sich bei den Athenern bis in die spätesten Zeiten
darin kund, daß Dramen nicht alltäglich und nicht zu beliebigen Zeiten,
sondern nur an den Festen des Gottes Dionysos zur Aufführung kamen.
Den Ehrenplatz hatte deshalb im steinernen Dionysostheater zu Athen in
der Mitte der ersten Reihe der Priester des Dionysos Eleuthereus.*) Das
Drama trat so in den Kreis der musischen Wettkämpfe {dytbveg juovotxoi)
ein, indem zur Feier der Götterfeste durch poetische und musikalisch-
orchestische Produktionen vom Staat eine Preisbewerbung eingerichtet
wurde. 3) Die Hauptfeste, an denen Dramen zur Aufführung kamen,*)
waren die groüen oder städtischen Dionysien,*) gefeiert im Frühlingsmonat
Elaphebolion (März/ April), und die Lenäen oder das Kelterfest, begangen
im Monat Gamelion (Januar/Februar).«) Die Dionysien überstrahlten seit
den Perserkriegen an Glanz und Dauer alle anderen Feste.*') Athen zeigte
sich dabei im Festgewand gegenüber ganz Hellas, insbesondere auch gegen-
über den Bundesgenossen, deren Abgesandte um jene Zeit die Tribute
nach Athen brachten und dem Festspiel im Theater beiwohnten. Die
Leitung der Festfeier hatte der erste Beamte des Staates, nach dem das
Jahr benannt wurde, der äQ^cov iTKovvjiioi;. Aus der geringen Zahl der
Dichternamon, welche die inschriftlichen attischen Listen vor Aischylos auf-
weisen, scheint zu folgen, daß in der frühsten Periode (534 — 484) der
Tragödienagon anders eingerichtet war: entweder er fand nicht alljährlich
statt oder die Zahl der Konkurrenten war kleiner, s) Seit Aischylos kamen
an drei aufeinanderfolgenden Tagen je drei Tragödien, und zwar neue,
*) Aischylos und Sophokles' Aias er- ; ihnen nur ein Bürger, an den Lenäen auch
fordern kein iho).oynov nach Wilamowitz, ; ein Metöke (Schol. Arist. Flut 953) die Cho-
Euripid. llerakl. I' 854, 26. j repie leisten durfte.
*) Sein Sessel mit der hezttglichen In- j •) Das Fest genannt nach dem Kelter-
Schrift wurde aus den Ruinen hervorgezogen; ! platz, daher der Ausdruck o em Ativaitp dytor
die Abbildung bei A. Müller a. O. 94. An- bei Arist. Ach. 508; vgl. Hesych. em Afjvait{}
gespielt ist auf den Platz bei Arist. eq. 536, i und 1. Bekkek, An. gr. 278. *£. Maass, Ind.
wenn man liest naoa Ttp itovroor. \ lect. Grj'ph. 1891 leitet Atiiwov nicht von
^) Das ältere musische Fest Athens, die Ai/roc dor. Xardi: »Kelter*, sondern von l//rfj
Panathenücn, blieb auch nach Einführung .Bakchantin' ab.
der neuen Dionysosfeste noch bestehen, diente ') Durch die Theaterstücke wurden die
aber nach wie vor den älteren Agoncn der ! Dionysien scaenici ludi; rnnsisch waren sie
Rhapsoden, Auleten, Kitharisten. i schon zuvor, aber der musische Teil wird
*) Interpoliert ist die ganze Stelle Diog. ehedem (Fi ov .^oo^toi- pcw/not ijtfctr) nur in
Laert. 111 56: i)onuaon' i/yonu^orro Aimvotoiy, Dithyramben bestanden haben; daß in noch
Atjraioi^, I lavafhpaioQ {Hfotrioic: coni. Böckh), • älterer Zeit das Fest apollinisch war, schließt
AVroo/c (Xvjijoi hieß der dritte Tag des A.Momusen, Heortologie 59 schwerlich richtig
ältesten Dionysosfestes, der Anthesterien, ge- daraus, daß später noch der Preis fÄr lyrische
feiert am 18. des Monates Anthesterion, Siege in einem Dreifuß bestand.
Febmar März); richtiger Schol. Arist. Ach. ®) A. Wilhelm, Urkunden dramatischer
Aufführungen in Athen. Wien 1906. S. 184.
508; vgl. A. Müller S. 309 f.
^) (ienannt t« Fr uotfi ,1/orrom, im
Gegensatz zu den Dionysien auf dem Land
(pcfir' dynor^). Die Superiorität der großen
E. Reisch, Zeitschr. f. östr. Gymn. 58 (1907)
307 nimmt an, fOr die Zeit vor 500 habe man
keine vollständigen Verzeichnisse der Anf-
Dionysien zeigte sich auch darin, daß an ; führungen und Siege mehr gehabt
G. Drama. 1. Anfänge und äußere Verhältnisse. (§ 148.)
257
nebst je einem Satyrspiel nach einer tragischen Trilogie zur Aufführung, i)
Neben Tragödien waren schon zu Aischylos' Lebzeiten,*) seit 488, auch
Komödien in den Agon der großen Dionysien aufgenommen, im 5. Jahr-
hundert in der Regel drei im Ganzen, im 4. auch fünf (s. u. S. 258, 5). Über
die Stelle, welche diese einnahmen, widersprechen sich die Zeugnisse.
Aus den Versen der Vögel des Aristophanes 789 flF., wo den Zuschauern
Flügel gewünscht werden, um während der langweiligen Tragödie hinaus-
zufliegen und nach gutem Frühstück zur lustigen Komödie wieder zurück-
zukommen, möchte man schließen, daß damals auch an den Dionysien die
Komödie an demselben Tage wie die Tragödien, und zwar an letzter Stelle
nach den Tragödien gegeben wurde. ^) Nach dem Gesetz des Euegoros
hingegen^) und nach den Didaskalien im CIA II 971 folgten lyrische (zuerst
Knaben-, dann Männerchor), komische, tragische Aufführungen aufeinander, '^)
wahrscheinlich so, daß am 6. und 7. Elaphebolion die lyrischen Wettkämpfe
der Knaben und Männer stattfanden, am 10. die Komödien in einer durch
das Los bestimmten Reihenfolge (Ar. Eccl. 1158) und am 11. — 13. die Tra-
gödien zur Aufführung kamen. An dem älteren, vom äQX(jiyv ßaodevg ge-
leiteten Feste der Lenäen^) war umgekehrt die Komödie das Hauptfest-
spiel. Die Athener waren da, wie Aristophanes Ach. 504 sagt, unter sich
allein und konnten sich so ungescheuter über ihre politischen Verkehrt-
heiten lustig machen. Übrigens wurden, jedenfalls schon geraume Zeit
vor 420, vielleicht schon seit etwa 440,^) auch Tragödien an den Lenäen
gegeben.®) — Neben diesen zwei städtischen Festen hatten auch die länd-
lichen Dionysien theatralische Vorstellungen; an ihnen kamen aber in der
Regel nur Stücke zur Aufführung, die in der Stadt bereits die Probe be-
') Vier Tage zur Zeit des Schauspielers
Polos bei Plut. an seni 3 p. 785 b: vier Kon-
kurrenten hatte Aristophanes im Plutos (i. J.
888; s. arg. IV). Siehe A. Mölleb, Bühnen-
alt 321 f. Der Name Trilogie ist erst von
den alexandrinischen Bibliothekaren erfunden,
die den Begriff der tragischen Tetralogie
nicht kennen (H. Usensr, Gott. Nachr. 1892
218; Schol. Ar. ran. 1124). Wie es kommt,
daß jeder Tragiker gerade drei Stücke liefern
mußte (wiewohl dies, wenigstens für die
Lenften, nicht immer zutri£Pt, s. für a. 467
Arg. Aesch. sept. ; weiteres Wilhelm, Urk. 53),
wissen wir nicht; Vermutungen bei H. Wbll,
£t. sur le drame ant 13 ff.
«) Wilhelm a. a. 0. 108 f.
•) Davon geht aus H. Saüppb, Ber. d.
sachs. Ges. d. W. 7 (1855) 19 ff.
^) Das Gesetz des Euegoros, erhalten in
Demosthenes Midiana 10, lautet: Evr'iyogog
elxeVf Sxav t) nofutrj /y ifp Aiovvocij fv IleiQaifX j
xai oi xwfiofdoi xal oi xQayq>öoif xai t) Em
Arfnäfp stofuiif xai oi toayioöoi xal oi xcofuodoi,
xcd Töig ir äaxet Aiovvaioig tj siofijirj xai oi
JtaiSeg xai 6 xtofiog xai oi xu)fj(f)doi xai oi
rgaytifdoit xai SaQyrj/uayv xfj Jtofi^ff xai up
dyutvi fAf) i^eivat fit'fxe hfX^iQaaai fitjxe Aafi- i
ßAftiy iregov iregov xxL Übrigens brauchte I
Handbuch der Ums. AltertiunawiBsensebaft. YII.
weder hier noch auf der Inschrift die Reihen-
folge chronologisch gemeint zu sein.
^) J. Caesab, Quaestiones duae ad Arist.
aves spectantes, Marb. Ind. lect. 1881 hilft
sich mit der Annahme einer Änderung nach
der Zeit der Vögel (414). Arist. ran. 376
{t)f)ioist'Tai d' i^aQxoin'TO)^) ist die Lesung
unsicher, jedenfalls aber zu beachten, daß
die Frösche an den Lenäen aufgeführt wurden.
®) Die Lenäen sind ein Fest bei der
Kelter (A?/ros), und zwar ein ionisches, über
dessen Einzeltage vgl. H. v. Prott, Ath. Mitt
23 (1898) 222 ff.; oben S. 256, 6.
") Wilhelm, Urk. 37; Wilamowitz. Gott.
Gel. Anz. 1906, 627. E. Reisoh, Zeitschr. f.
östr. Gymn. 58 (1907) 308 setzt den Anfang
des Tragödienagons bei den Lenäen, mit dem
sogleich auch ein Agon der tragischen Schau-
spieler verbunden war, ca. 432.
®) Der Sieg des Agathon an den Lenäen
ist bezeugt durch Ath. 217a; daß Sophokles
an den Lenäen wie an den Dionysien Siege
errang, steht aus den didaskalischen Angaben
(Wilhelm, ürk» 102) fest. Die Divergenzen
in den didaskalischen Notizen bezüglich der
Zahl der Siege sind darauf zurückzuführen,
daß die lenäischen Siege teils eingerechnet
wurden, teils nicht.
5. Aufl.
17
258
Ghriechische Litteratorgeschichte. I. Klassische Periode.
standen hatten. ^ Besucht waren besonders die Dionysien im Peiraiens;
Theater gab es überdies in Thorikos, Munichia, Eleusis, Aiione, Salamis.*)
Beim Anthesterienfest findet sich nur eine Spur von Beziehung zu drama-
tischen Aufführungen in dem dyojv komischer Schauspieler am dritten Tag
des Festes, den ;^(;Toof. Diese Vorprobe, die eine Zeitlang in Vergessenheit
geraten sein muß, hat der Redner Lykurgos, der eifrige Förderer der
dionysischen Aufführungen, durch Gesetz aufs neue verbindlich gemacht.*)
Möglicherweise ist der Chytrenagon Rudiment älterer vollständiger Dramen-
aufführungen.
149. Aufführung und Preise. Wollte ein Dichter ein Stück an
den großen Dionysien zur Aufführung bringen, so mußte er es bei dem
Leiter des Festes, dem Archen eponymos, zur Prüfung {doxißjtaoia) ein-
reichen*) und um einen Chor nachsuchen {xoqov aheiv). Entsprechend wird
es für die vom Archen Basileus geleiteten Lenäen gehalten worden
sein. Gab der Archen einen Chor, so ward dem Dichter ein Chorleiter
{xoQ^]y6';) zugewiesen,*) der aus Sängern, zunächst seiner Phyle, einen
Chor zusammenzusetzen und für dessen Einübung {didaoxalUa) durch
einen Chormeister (diddaxakog) zu sorgen hatte. Die Bestellung und
Ausstattung der Schauspieler {vjzoxgirai) ging diesen nichts an, da
diese eigens vom Archen den Dichtem zugelost*) und vom Staat
honoriert wurden. Schauspieler gab es anfangs nur einen, durch Aischylos
wurde die Zahl auf zwei, durch Sophokles auf drei erhöht.') Bis auf
') E. Roiide, Kl. Sehr. II 420 ff. |
') Über die Spiele in Salamis s. jetzt
Aristot. Ath. pol. 64, 8. Das kleine Theater
von Thorikos ist jetzt ausgegraben ; sein Plan
bei W. DöBPFKLD S. 110.
») A. Müller. (Ir. Bühnenalt. 309, 3.
*) E. RoiiDE. Kl. Sehr. II 393; an diesen
Brauch «chlieüt Plat. leg. VII 817 d an.
*) über Verweigerung des Chors, wie
sie Sophokles und Kratinos erfuhr, s. Cratin.
fr. 15 mit Kocks Anm. Die liturgische
Leistung der Choregie, die für einen dramati-
schen Chor viel kostspieliger war als für
einen lyrischen, datiert nach Marm. Par. ep.
46 von 509/8 ; seit dem Archontat des Kallias
406/5 traten zwei zur Leistung derselben zu-
sammen (Schol. ad Arist. ran. 406; CIA II
1280), was für lyrische Chöre, offenbar weil
diese billiger waren, nicht vorkommt; an die
Stelle der Choregen traten in der Zeit nach
Alexandros, wahrscheinlich 309/8, die Agono-
theten ; s. ü. Köhler, Ath. Mitt. 3 (1878) 229 ff. ;
A. Müller, Bühnenalt. 339 f. Die Kosten
einer tragischen Choregie betrugen nach
Lysias 19, 14 an 3000, die einer komischen an
1600 Drachmen. Die Auswahl der drei tragi-
schen Chorogen für das laufende Jahr war
eine der oi-ston Amtshandlungen des f\tyji)v
F.Ton-vfto^: Aristot. Ath.resp. 56, 3. Im 4. Jahrb.
wurden die fünf komischen Clioregen, deren
Auswahl früher ebenfalls Sache des Epo-
nymos gewesen war. von den Phylen prä-
sentiert, wie es bei den lyrischen Choregen |
immer gehalten worden war (Aristot. 1. ].)• —
A. Brinck. Inscr. gr. ad choregiam pertineiiteB
(Diss. phil. Hai. 7, 1886, 71 ff.); E. BoDSir-
STEINER, Über choregiscfae Weihinschriften,
in Comment. philoL Monac. 1891, 88 ff.; J.
IL Lipsius, Leipz. Stud. 19 (1899) 310 ff.
*) Phot. Hesych. Suid. u. ve/Af/ofic r;ro-
xoiTUiv' oi .^otffTai fXdftßai'or igels twoxpifoff
x/.tjnm ryfifj^Fvzni v:inxQivovfAfrm^ ja dpa-
iiarn, iu%' 6 vixtjoas fh tovTttov axQtros sragf-'
hmßdvFTo. Urkundliches über die Znteilaog
der Schauspieler an die Phylen Wilhbuc
Urk. 46 f. Trotz der Regel des Loses waßten
die großen Dichter, wahrscheinlich durch
Verständigung mit ihren Mitbewerbern, be-
stimmte Schauspieler sich ständig zu sichem
(A. Müller a. a. 0. 184 f.).
'') Über die Zeit der Vermehrung unten
bei Aischylos und Sonhokles. Der durch die
Vermehrung der Schauspieler entstellende
Mehraufwand wird schwerlich ,im Verwal-
tungsweg*^ vom spielleitenden Archen be-
schafft, sondern auf Grund bestimmter An-
träge der großen Tragiker vom Volk be-
willigt worden sein. Ebenso bedurfte es
wohl für die Erhöhung der Choreuiensthl,
die den Choregen anging, eines Volks-
beschlusses. Ober die Verteilung der Rollen
J. Richter, Die Verteilung der Rollen unter
die Schauspieler der griech. Trag., BerL 1842.
In der Regel fiel die Titelrolle dem Prota-
gonisten zu; doch war das nicht immer der
Fall: Aischines spielte als Tritagonist die BoUe
C. Drama. 1. Anfänge und ändere Verhältnisse. (§ 149.)
259
Sophokles war der Dichter in der Regel selbst Chormeister (diddoxakog)
und Schauspieler in seinen eigenen Tragödien, i) In der Regel fielen einem
Schauspieler mehrere Rollen zu; aber auch so waren dem griechischen
Dichter durch die geringe Zahl der Schauspieler starke Beschränkungen
auferlegt. — Der Chor bestand in der Tragödie aus zwölf, seit Sophokles
aus fünfzehn Mann;') der Chor der Komödie aus vierundzwanzig Mitgliedern
ist als Doppelchor (zwei sich neckende Streitchöre) zu verstehen; ein
Flötenspieler diente zur Begleitung des Chors, ein Kitharist zur Begleitung
der Monodien.*) Diesen wurde im musikalischen Ethos sowohl durch das
Begleitungsinstrument als durch die Tonarten (äolisch oder hypodorisch
und hypophrygisch) eine der heroischen Großsinnigkeit angemessene ruhigere
und ernstere Haltung gegeben, so daß sie vom Ethos der Gesänge des
passiven Chors sich abhoben.*) Das ganze Personal war aus Männern
zusammengesetzt; die strenge Sitte verbot den Frauen Anteilnahme am
öffentlichen Spiel. Aufgestellt war beim Einzug der Chor im Viereck
{rsTQdycovog x^Q^^)i nicht im Kreis (xvxXiog x^Q^^) ^® beim Dithyrambus.
Mit der viereckigen Aufstellung war die Gliederung des Chors in mehrere
Lang- und Querreihen {aiolxoi, Cvyd) verbunden. Während des Spiels trat
er, um den Blick auf die Schauspieler nicht zu hindern, in zwei sich gegen-
überstehende (ävTiTZQooayTioi) Abteilungen auseinander, welche Stellung auch
die Regel bei den in Strophen und Antistrophen gegliederten Standliedern
{ardaifia) bildete.*)
War alles für das Festspiel vorbereitet und bei der Probe (ngodycov)
im Odeion als richtig befunden worden,«) so fand an dem Dionysosfest
des enripideischeii Oinomaos nach Dem. 18,
180; auch in Aischylos* Agamemnon fiel
schwerlich die unbedeutende Rolle des Aga-
memnon dem ersten Schauspieler zu; ebenso
ist es zweifelhaft, ob in der enripideischen
Alkestis die Alkestis, die fast nichts zu sagen
hat, vom Protagonisten gespielt wurde.
') Aristot rhet. m p. 1403 b 23; A.Wil-
HBLM a. a. 0. 62 n. s. ; auch in hellenistischer
Zeit sind Schauspieler und Dichter nicht
selten identisch (Wilhelm 154. 183).
*) Wahrscheinlich ist man dabei von
den 50 Mann des älteren dithyrambischen
Chors ausgegangen, und hat die 48 Mann,
die man ftlr eine viereckige Aufstellung
allein brauchen konnte, in vier Partien ge-
teilt; je eine Portion wurde der Einzel tragödie
bezw. dem Satyrspiel, eine Doppelportion der
EiDzelkomödie zugewiesen. Eine andere Erklä-
nmg wird aufgestellt von Th. Ziblinski, Gliede-
rong der altatt. EomOdie, Leipz. 1885, 273 f.
») Ps.Aristot. probl. 19, 48 ; Hör. a. p. 202 ff. ;
Arist. ran. 1304. Bloß Auleten erwähnt De-
mosth. 21, 13; s. E. Graf, Philol. 46 (1887) 68.
P. GnuLBD, M^langes Weil 133 weist darauf
hin, dafi auf Vasenbildem Satyrn mit Saiten-
instrumenten vorkommen.
*) Über die Tonarten in der Tragödie Ps.
Alistot. DTobL 19, 48; Plut de mus. 16. 17. 20.
*) Über die Gliederung des Chors handelte
zuerst E. 0. Müllbr im Anhang (Gott. 1834)
seiner für die szenischen Altertümer epoche-
machenden Ausg. von Aesch.s' Eumeniden.
Neueres bei W. Chbist, Teilung des Chors, in
Abhdl. d. bayr. Ak. 14, 2 (1877) 198 ff. und A.
Müllbr, Btthnenalt 202 f. Für die Aufstellung
beim Vortrag gibt das Hauptzeugnis in der
Definition der komischeu Parabase Hephaest.
p. 72, 13 ff. CoNSBB.: xaXetrai ds jiagdßaaig^
ijreidrj elösk&ovxeg eig lo ^eargov ?eai dvTi-
jtooacojtot dXXrj?,oig otdvisg oi x^ogevral
TiaQEßaivov xal Ftg t6 MaxQOv djroßXejTOvreg
sXeyov rtra, wonach die Choreuten bei den
Stasima sich gegenüber standen.
') Dieser Proagon fand am 8. Elaphe-
bolion statt (Schol. Aesch. in Ctes. 67). Den
Proagon faßt als Ankündigung des Stückes
E. RoHDE, Kl. Sehr. 11 381 ff. und P. Mazon,
Rev. de philol. 27 (1903) 263 ff. Für eine
vollständige Generalprobe war jedenfalls die
Zeit zu kurz. Eine Analogie bietet die von
Wilhelm, Urk. 255 aus einer Inschrift von
Eretria s. IV beigebrachte Verfügung, daß
alle aktiven Teilnehmer an den musischen
Agonen in der Tracht, die sie beim dya>v
haben werden, in der aidi^ Aufmarschprobe
abzulegen haben (jigoaodtov dyo)viCe<y&ai). Mit
der Annahme von drei Arten von Proagonen
sucht sich zu helfen G. Oehmiohbn, Sitz.ber.
d. bayr. Ak. 1889, II 103 ff.; auf eine zweite
17*
260
Qriechische LitteratorgeBchichte. I. Elasmche Periode.
selbst im Theater, zu dem jeder Bürger zuerst vieDeicht unbedingt, seit
Anfang des 5. Jahrhunderts aber jedenfalls gegen Eintrittsgeld, 0 Zutritt
hatte, die Aufführung statt. Mit ihr war eine Preisbewerbung (dycov) ver-
bunden; die Entscheidung hing ab von dem Urteil besonderer Preisrichter,
fünf an der Zahl.») Preise wurden in der Tragödienkonkurrenz an die
beteiligten Dichter und Choregen •^) drei verteilt, so daß, da in der Regel
auch nur drei Dichter und drei Choregen konkurrierten, jeder derselben
einen Preis erhielt und nur ein Unterschied im Grad des Preises statt-
fand, jedoch so, daß nur der erste Preis als Sieg galt. Höher standen im
Ansehen die Siege bei den großen Dionysien {dorixal vixai) als die bei den
Lenäen {A7]vaixai vTxai); von Siegen und Preisen bei den ländlichen Festen
hören wir nichts. Der Preis galt nominell dem Choregen, der die Kosten
getragen hatt^; daß er in einem Dreifuß {rgtJTovg) wie bei den lyrischen
Siegen bestanden habe, ist unerwiesen.*) Der Dichter erhielt eis Chor-
meister einen Ehrenlohn (juaO<k),^) dessen Höhe in den verschiedenen
Lagen des Staates verschieden war; auch den Schauspielern oder richtiger
den Protagonisten wurden, aber nicht von Anfang an, sondern den tra-
gischen an den großen Dionysien seit 449,^) an den Lenäen spätestens
seit 420, den komischen an beiden Festen erst in der zweiten Hälfte des
4. Jahrhunderts,') Preise zuerkannt.*) Über die Preisverteilung wurde
eine Urkunde {diöaoxaUa) aufgenommen; von solchen sind uns noch
Ankündigung unmittelbar vor der Aufführung
führt allerdings Aristoph. Ach. 9 f. u. Schol.
zu Arist. vesp. Ilü9.
M Das Eintrittsgeld {0F(om>c6v), das seit
Perikles die Bürger aus der Staatskasse er-
hielten, betrug für einen Spieltag zwei Obolen,
daher Dem. or. 18, 28: h toTv ^voh' ofioAoTr
Ffh(ünory. Ehrengäste des Staates erhielten
kostenfrei bevorzugte Plätze. Die ätiologi-
schen Notizen über freien Eintritt in ältester
Zeit (A. MüLLEB 347, 2) sind verdächtig.
*) Sprichwörtlich fv .lyrif xoiiwr yovvaoi
xflrai. Die sieben Richter bei Luc. Harm. 2
und Vitniv. VII prooeni. 4 scheinen auf spä-
tere Zeiten, wo die Zahl der Phylen vermehii
war, zu gehen. Die Reduzierung von zehn
urteilenden Richtern, die aus einer größeren
von den Phylen gewählten Zahl gezogen
wurden, auf fünf aus diesen zehn nach Sclüuß
der Aufführung erlöste, stimmende hat H.
Sauppe. Über die Wahl der Richter in den
mus. Wettkämpfen an den Dionvsien. in Ber.
d. Sachs. Ges. d. W. 7 (I8r)5) 1 ff. aufgeklärt;
vgl. Müller a. 0. 369 ff.
') Im lyrischen ChoT-uydjr siegt nicht
der Dichter oder Chorege. sondern die Phyle,
in deren Namen der siegreiche Chorege den
gewonnenen Dreifuß mit Weihinschrift auf-
stellt.
'') Bei Plutarch Them. 5 heißt es nur
arnhjy.F .-Ji'vnxa iTj^ v(xt)Q. über diese Weihe-
nivnxfc der tragischen Choregen und die uns
erhaltenen Gemälde und Reliefs, die nach
H. V. Protts. K. Roberts und E. Reischs Ver-
mutungen auf sie zurückzuffihren sind, 8. G.
E. Rizzo, Riv. di filol. 30 (1902) 447 ff. Das
berühmte choregische Denkmal desLyaikraies,
bekannt unter dem Namen Demostheneslaterne,
verherrlicht einen Dithyrambensieg. Der
Dreifuß als Preis speziell für einen dithyram-
bischen Männerchor, bezeugt von Lys. 21, 2,
wird für die dramatischen Agone in Abrede
gestellt von Bergk und Lipaios bei Müller
S. 418. Über Vasenbilder und Relieüs, die
diese Weihung des Dreifußes darstellen,
Rizzo a. a. 0. 471 ff.
*) Arist. ran. 367; Schol. Ar. pac. 697;
wie groß der Lohn war, können wir nach
den bei den Panathenäen ausgeteilten be-
messen ; bei diesen erhielt nach Gl A 11 965
der erste Kitharode einen goldenen Oliven-
kranz von 1000 Drachmen und 500 Dr. Silb«-,
der zweite 1200 Dr., der dritte 600, der vierte
400. der fünfte 300. Agvrrhios soll den fua-
{f(k für die Komiker (durch Antrag beim
Volk) geschmälert haben, Schol. Ar. ran. 867;
Eccles. 102.
6) Bezw. 447 : E. Reisch, Z. f. östr. Gymn.
58 (1907) 294. 1.
^) Für die Lenäen nimmt Rbisgh a. a. 0.
309 an, daß der Agon der komischen Schau-
spieler bei diesem Fest von Anfang an mit
dem Agon der komischen Dichter verbanden
gewesen sei. während die erste Preisvertei-
lung an komische Schauspieler bei den stftdti-
schen Dionysien nach 329 und spätestens 812
stattfand.
8) A. WiLUKLM a. a. 0. 187 f. 210.
C. Drama. 1, Anfänge und äußere Verhältnisse. (§ 150.)
261
mehrere inschriftlich, andere aus der Schrift des Aristoteles negl didaaxa-
Xubv in Notizen der Grammatiker erhalten.»)
150. Chorgesänge. Die Anlage und Gliederung des Dramas*) har-
monierte mit den Teilen des Theaters und der Zusammensetzung des
Theaterpersonals. Schon im Dithyrambus konnte der Vorsänger (i^dgxcov)
selbständig dem Chor gegenübertreten; deutlicher ausgeprägt wurde dieser
Unterschied im Drama, wo sich bestimmter die Gesänge des Chors (ja xogixd),
die Reden der Schauspieler (didkoyog, diverbium oder deverbium) und die
Wechselreden zwischen Chor und Schauspieler schieden. Die eigentliche
Handlung ruhte in den Reden und Aktionen der Schauspieler; der Chor
nahm zwar, seltener in der Tragödie, öfter in der Komödie, am Fortgang
der Handlung teil, repräsentierte aber mehr den zuschauenden, beobach-
tenden Teil, in der Tragödie besonders das die verschiedenen Phasen der
Handlung mit seinen Sympathien begleitende Volk. 3) In der älteren Zeit
hatte der Chor, entsprechend dem Ursprung des Dramas, den Vorrang.
Damals also eröffnete*) und schloß der Chor das Spiel; aus seiner Stel-
lung in jener Zeit erklärt es sich, daß auch später noch beim Beginn des
Spiels der Herold den Dichter oder Choregen aufforderte, den Chor herein-
zuführen.*) Der Gesang, mit dem der Chor von dem Seitenzugang (jiaQodog)
einzog, hieß Parodos,*') der, mit dem er die Bühne am Schlüsse verließ,
*) Über diese Didaskalien die erste Haupt-
erläutening von A. Böokh CIG I p. 350 ff.;
seit der Zeit hat sidh das Material durch
neue Funde in der Nähe des Dionysostheaters
bedeutend vermehrt. Alles ist jetzt behandelt
bei Ad. Wilhelm, Urkunden dramatischer
Auffühi-ungen in Athen, Wien 1906. Siehe
oben S. 7, 2. Aristoteles' Didaskalien waren
auch Grundlage der attischen didaskalischen
Inschriften, worüber s. Wilhblm 34 ff., Reisoh
310 ff. Übrigens möchte Wilhelm S. 257 die
Benutzung der aristotelischen Nixai auf die
Siegerlisten CIA II 977 einschränken. Die
▼on Wilhelm behandelten Urkunden gehen
auf drei groBe Inschriften zurück: 1. Liste
der Sieger an den städtischen Dionysien, auf-
gestellt ca. 330 nach Vollendung des steiner-
nen Theaters, angeordnet nach dem Schema :
a) Archen, b) Phyle, die mit Enabenchor
siegt, nebst Choregen, c) Phyle, die mit Män-
nerchor siegt, nebst Choregen, d) siegreicher
Chorege und dtdaaxaXog in der Komödie, e)
desgl. in der Tragödie, wozu später auch der
siegreiche Protagonist kommt. 2. Didaskalien,
aufgestellt Anfang s. III, nach dem Schema: a)
Archon, b) siegreiche Dichter und Protagonisten
in der Reihenfolge des ersten, zweiten und
dritten Preises, wobei auch die Stücke, mit
denen gesiegt wurde, genannt sind. Die Di-
daskalien sind nach städtischen und lenä-
ischen Aufführungen getrennt und betreffen
Tragödien und Komödien. 3. Verzeichnisse
dramatischer Dichter und Schauspieler, an-
geordnet nach der Reihenfolge ihrer ersten
Siege unter Beifügung der Zahl der Siege,
die jeder gewonnen, gesondert nach städti-
schen Dionysien und Lenäen, vom Votivbau
eines Agonotheten aus dem Jahr 278 (E.
Reisoh, Ztschr. f. die östr. Gymn. 58, 1907,
302 f.), der wahrscheinlich auch die Inschrift
nr. 2 trug.
») Arist poöt. 12; PolluxIV53;Eukleides
bei Tzetzes jreoi igaycpdiag (G. Kaibel, Com.
gr. fragm. I 43 ff.), dazu R. Westphal, Prol.
z. Aesch. Tragödien, Leipz. 1869; F. Asciieb-
soN, Umrisse der Gliederung des gr. Drama in
Jahrbb. f. Phil. Suppl. 4 (1861—67) 419 ff.; G.
Oehmiohsn, De compositione episodiorum trag,
graecae externa. Erlang. 1881 ; Th. Zielinski,
Gliederung der altattischen Komödie, Leipz.
1885; D. Detschepf, De tragoediarum grae-
carum conformatione scaenica ac dramatica,
Gott. Diss. 1904. Über die lyrischen Formen
der Tragödie zusammenhängend P. Masqüeray
in dem unten S. 264 A. 4) angeführten Buch.
*) Über die Funktion des Chors s. bes.
Ps.Aristot. probl. 19, 48 (xtjdEVTt/g ajigaxTog,
errotav fidrov :iaQ8/FTai ois jidofOTir) ; entspre-
chend Hör. a. p. 193 ff. (v. 193 nach Aristot.
poöt. 1456 a 26). F. Helmbeicu, Der Chor bei
Sophokles u. Euripides nach seinem i)0(k be-
trachtet, Erlangen 1905.
*) So noch in Aesch. Suppl. Pers.; in den
Bukoloi des Kratinos, die mit einem Dithy-
rambus anfingen, liegt der Fall besonders.
**) Arist. Ach. 10: o Ö' dveijtev etaay*, (L
ßeoyri, loy ;ifoooi', was sich aber auf eine
Vorstellung vor der Aufführung bezieht (s.
o. S. 259, 6). Freier gebraucht ist Jigosian-
yeiv vom Schauspieler bei Aristot. poUt. VII
17 p. 1336 b 29.
®) Aristoteles definiert: x^Q^^^^ Jidoodog
262 Griechische litteratnrgeschichte. L EUssiache Periode.
Ex 0 dos; zog er während des Stückes nach zeitweiliger Entfemaog zum
zweitenmal ein, wie im Aias, so hieß dieser zweite Einzug sowie das be-
gleitende Lied Epiparodos. Die Marschbewegung forderte ein ent-
sprechendes Metrum; dazu eignete sich in der feierlichen Tragödie zumeist
der Anapäst, in der lustigen Komödie der Trochäus. Diese Rhythmen
pa&ten mehr zum rezitierenden Vortrag als zum Gesang, weshalb auch
die Parodos von Aristoteles als ^'fcc, nicht als ijikog bezeichnet wird»
Im weiteren Verlauf des Dramas folgen andere Gesänge, die der Chor,
nachdem er bereits seinen Standplatz eingenommen hatte, vortrug. Die
Sitte, das Stück mit dem anapästischen Aufzug des Chors beginnen zu
lassen, scheint früh abgekommen zu sein; unter den erhaltenen Stücken
beginnen so nur des Aischylos Perser und Schutzflehende. Von Sophokles'
Stücken hat nur der Aias rein anapästische Parodos, aber erst nach einem
dialogischen Prolog; in epirrhematischer Komposition, iiikr} mit Anapästext
gekreuzt, ist die Parodos der Antigene gehalten. In allen übrigen Stücken
ist die Parodos melisch. Später kam auch vor, daß der Chor stumm wäh-
rend der Reden der Schauspieler in die Orchestra einzog oder dafi der
Gesang sich sogleich zu einem Wechselgesang zwischen dem Chor und den
Personen der Bühne gestaltete. Aber immer verblieb dem ganzen ersten^
beziehungsweise dem ganzen letzten Gesang der Name Parodos oder
Exodos.i) Bei der Exodos nahmen sogar mit der Zeit die Schauspieler-
partien einen solchen Umfang an, daß Aristoteles die Exodos unter den
szenischen, nicht den chorischen Partien aufführt. — Die mittleren Chor-
lieder, welche die Dialogpartien unterbrachen und in der Regel bei leerer
Bühne vorgetragen wurden, hießen in der Tragödie Stasima, d. i. Stand-
lieder, im Gegensatz zu den Marschanapästen.*) Solche Standlieder zwischen
dem Abtreten und Wiederauftreten der Schauspieler sind auch der Komödie
nicht fremd, doch haben sie hier keine gleich ausgebildete, regelmäßige
Stellung gehabt.*) Eine besondere Klasse dieser Zwischengesänge bilden
die Hyporchemata,^) bei denen der Chor in jubelnder Stimmung den
fiev t) HQMxrj AF^ig ohf (ökov cod.) x^fj^^^'- Aus die Parodos drei Teile: aDapästisches Elin-
der falschen Lesart oXov entwickelte sich die zugslied (40—103), daktylische Perikope an»
falsche schon hei Plutarch an seni p. 785 a Strophe, Antistrophe, Epode (104 — 169), tro-
vertretene Meinung, daß in Soph. Ocd. Col. chäische Slrophenpaaro (170—269).
das Lohlied auf AÜen (668— 719i, das erste, ^) Daher Arist. a. 0. : ordotfjiov de fiiloe
das der (tesamtchor singt, als die Parodos ;i;oßor to arfv m-a.inioxov xai TQoxaiov. SchoL
angesehen werden müsse. Im übrigen stimmt Ar. ran. 1281 erklärt: o qL^ovatv lordfievtH ol
Christ ganz L. Schmidt, Rh. M. 18 (1863) 286 /oo^rra/. U. Hermann, Epitdoctr.metr.^Leips.
bis 91 und Quaestiones de parodi et stasimi ! 1818, § 665 deutet das Wort orcioi/zorcf« cAora
nominibus Ind. Marb. 1889 bei. der den vor- 1 tenente sfotiones sua«, weil nach früherer An-
witzigen Fragen neuerer Gelehrten, welche I nähme der Chor bei allen GesAngen Tanz-
Verse in den einzelnen Dramen nach des bewegungen machte.
Aristoteles Definition sei es der Parodos, ') Th. Zielin ski a. 0. nimmt, zumal An-
sei es den Stasima zuzuweisen seien, den ' stoteles jene Teile speziell bei der Tragödie
Satz entgegenhält, daß die Fragen der tragi- , aufzählt, eine schärfere Scheidung von Tra-
schen Technik das klassische, die der Ter- ' gödic und Komödie an, indem er jener die
minologie das nachklassischc Zeitalter an- episodische, dieser die epirrhematische Kom-
gehen, und daß leicht Aristoteles mit dem 1 position zuweist.
ersten Versuch einer Feststellung der Termine- ' *) Eukleides bei Tzetzes de trag. 114 f.
logie nicht alle Fälle der Praxis getroffen habe. (hier die Form {,T6oxrjoi<; nur des Versea
^) Daher Arist. poöt. c. 12: .Tdoo^o<; fur 1 wegen). Aristoteles hat das i';Tc^;|fj;/<a offen-
ij no(üTfj Ät^is fikrj. So hat in Aesch. Agam. ! bar wegen seines selteneren Vorkommens'
G. Drama. 1. Anf&nge und ändere Verhältnisse. (§ 150.)
263
Fufi zum Tanz erhob, wie in Soph. Aias 693 ff. und Arist. Lysistr. 1247 ff.
Welche Ausdehnung dieser Tanz hatte und inwieweit auch mit dem Vor-
trag der übrigen Chorgesänge eine Bewegung verbunden war, ist schwer
zu sagen. 0 unterschieden wurden drei Arten dramatischen Tanzes, die
feierliche Emmeleia der Tragödie, der laszive Kordax der Komödie und
die hüpfende Sikinnis des Satyrdramas.*) — Außer den genannten Chor-
liedern, die allen Arten des Dramas gemeinsam sind, hat die Tragödie
und Komödie noch einige besondere. In der Komödie, in welcher der
Chor auch durch Zwischenlieder weit öfter in den Gang der Handlung
eingriff, war ein Hauptchorgesang die Par abäse. In der vollentwickelten
altattischen Komödie bildet sie, den Gang der Handlung unterbrechend,
ein ganzes Zwischenspiel, das der Chor den Zuschauem zugekehrt auf-
führte und das, wenn die Parabase vollständig war, sich in sieben, teils
gesungene, teils gesprochene Teile (xojujüidTiov, jiagdßaoig fj ävänaiaroi, fxaxQov
fj Tiviyog, qidi^, iTuggrijua, ävrcodijf ävzemQQtjfia) gliederte.*) Tatsächlich bildet
dieses Stück wahrscheinlich den Kern, an den sich heitere dramatische
Szenen anschlössen.^) — Der Tragödie besonders eigen waren die Klage-
gesänge, xojLifioi genannt von der bei Totenklagen üblichen Sitte, sich
die Brust zu zerschlagen;*) sie wurden nicht vom Gesamtchor, sondern
von einzelnen Choreuten oder einzelnen Abteilungen des Chors und einer
oder der anderen Person der Bühne duettartig abwechselnd gesungen
(jiiitj äfioißäia).^) Überhaupt aber war der Chor durchaus nicht immer
als geschlossenes Ganze tätig; vielmehr entwickelte er ein wechselreiches
Leben dadurch, daß er bald in seiner Gesamtheit (Ao;^oc) auftrat, bald sich,
wie in Aischylos' Agamemnon, in Einzelchoreuten auflöste (oTioQddrjv), bald
in zwei Reihen sich gegenüberstellte (ävTuiQoacoJioi)^ bald reihenweise sang,
bald durch seinen Führer {xoQvtpäiog oder ^ysfioveg xibv ^jbuxoglcov) sich
vertreten ließ.^)
ganz fibergangen. Die getanzten Chorgesänge
gingen aus der älteren Form der Tragödie
hervor, in der nach Arist. po3t. c. 4 p. 1449 a 22
nnd Ath. p. 22a der Tanz eine größere Rolle
spielte. Siehe o. S. 153 f.
*) Das Verbum ;i;oop(Viv gebraucht auch
vom Stasimon Soph. OR. 896. 1095.
«I I. Bbkkbb, An. gr. p. 101 ; PoU. IV 99.
Vgl. H. BüOHHOLTZ, Die Tanzkunst des Euri-
pides. Leipzig 1871; Chb Eibchhoff, Die or-
chestische Eurythmie der Griechen, Altona
1873 ; Ders., Dramatische Orchestik der Hel-
lenen. Leipzig 1899.
') Hauptstelle Hephaistion p.72,1 1 Consbb. ;
75» 19 ff. ; Tzetzes bei G. Kaibel, Com. gr. fr. I
p. 28, 130 trennt die jrao. ganz von der xco-
fupdia. — W. H. EoLSTEB, De parabasi veteris
eomoediae Att. parte antiquiss., Altona 1829;
C. Agthb, Die Parabase, Altona 1866; W.
Christ, Metrik' §§ 734 ff. Den Kern der
Parabase bildeten ursprünglich die melischen
Partien, die dann durch die Epirrhemata ge-
krenzt werden. Die drei ersten, unter sich
nieht respondierenden Teile sind in Anapästen
gebaat, der zweite wohl auch in sticluschen
Liederversen, die dann gleichwohl auch dvd-
jtcuoToi heißen ; die vier letzten Teile respon-
dieren sich übers Kreuz, die roelische Ode
der Antode, das aus einer regelmäßig durch
vier teilbaren Reihe trochäischer Tetrameter
bestehende Epirrhema dem Antepirrhema.
*) W. ScHMiD, Zur Gesch. des griech.
Dithyramb. 13 ff.
*) Aesch. ChoSph. 422 exoif>a ftofi/uov
"Agtov.
•) Arist. poöt. 12 : xo^^os de Ogijvog xoi-
vog x^9^^' ^"' ^^ axrjvrjg. Indessen gibt es
auch Klagegesänge, die bloß von Choreuten
oder bloß von Buhnenpersonen gesungen wur-
den: aber der Wechselgesang war die Regel,
weshalb bei Tzetzes Jiegi igay. jioti^o. 118 f.
bei Aufzählung der Teile der Tragödie tj i|
dfioißfjc: (iiSri an die Stelle der xofifwi getreten
ist. Poll. IV 53 sagt xofifiauxd für xofifioi.
^) Leider sind diese Unterabteilungen des
Chors in unseren Handschriften und Scholien
selten angemerkt und sind wir fast lediglich
auf Vermutungen angewiesen, in denen sich
besonders G. Hebmann in seinen Ausgaben
versuchte.
264 Chriechische Litteratnrgeschichte. L Klansigohe Periode.
151. Schauspielerpartien. Die Schauspieler betätigen sich sprechend
im Prolog und den Epeisodia. Der Prolog, oder diejenige Partie^ die
dem ersten Auftreten des Chors voranging, fehlte, wie bereits bemei^t,
in den ältesten Stücken ganz, später hat er bei den verschiedenen Dichtem
verschiedene teils dialogische, teils (seit Euripides) monologische Gestalt
angenommen. Der Name Epeisodion bezeichnete zur Zeit, als es noch
keinen Prolog gab, das erste Zwiegespräch der Schauspieler, indem dabei
zu dem Chor, der zuvor schon eingezogen war, nun auch die Schauspieler
in das Theater eintraten {^jreiafjFoav);^) des weiteren hießen so dann auch
die übrigen Dialogpartien zwischen den einzelnen Standliedem, in denen
die Schauspieler, die in der Regel während des Chorgesangs abwesend
waren, von neuem auf die Bühne traten. Man ersieht leicht, wie sich
daraus die später bei den Römern und bei uns übliche Einteilung in Akte
(actus) entwickeln konnte;*) diese verdrängte die alte Gliederung des
Dramas in Prolog, Parodos, Epeisodia, Stasima, Exodos, nachdem der Chor
und damit auch die alten Chorlieder in Wegfall gekommen waren. Prolog
und Epeisodien, in älterer Zeit mehr in trochäischen Tetrametem, dann
vorwiegend in iambischen Trimetern gehalten, wurden einfach gesprochen;*)
gesungen Monodien und Kommoi, auch Duette der Schauspieler (rd d;io
axtjvrjg) vorwiegend in äolischer (liypodorischer) oder hypophrygischer Ton-
art (s. o. S. 259).*) Symmetrischer Bau dialogischer Partien in strophen-
artiger Itesponsion {ovorrjuam i-^ 6/wia)y) findet sich in altertümlicheren
Stücken, namentlich in der Schilderung der sieben Kämpferpaare in Ai-
schylos' 'AVfTfi, ist aber nur da anzunehmen, wo er im Sinn begründet ist.*)
(Charakteristisch für den älteren Stil der Tragödie ist auch die Neigung,
im Dialog von Vers zu Vers Personenwechsel eintreten zu lassen (Sticho-
mythie),'^) auch ohne psychologischen Grund. Die Entwicklung der Tra-
gödie geht im ganzen dahin, daü der (>hor aus seiner ursprünglich be-
lierrscliendcn Stellung von den Schauspielern Schritt für Schritt verdrängt
wird, was in dem unten A. 4 zitierten Werke von Masqueray nachgewiesen
ist. Ganz ausgefallen, wie in der neuattischeu Komödie, ist er übrigens
*) Vgl. JSoph. OC. 730 Tij^ yuij:: f.-jfiou^ov. ! legom. 103). Ihre Zunahme ist bezeichnend fllr
'^) K. VVestpual, Prolegomenazu Aischv- die Zurttckdräiigung des Chors, dem non der
1<>« 8. 18<^ ff. Der griechische Name für Akt Solist auch die lyrischen Leistungen abnimmt.
ist seit Aristophanes von Byzantion unjo:: (F. P. Masqueray, Theorie des formes lyriques de
Leo, i*lautin. Forschungen, Berl. 1895, 207,5); la tragedie grecque, Paris 1895.
davon kann das seit Varro belegte rihnischc ^) Sehr weit gehen in der Annahme
actus keine (Übersetzung sein. symnietrisclien Baues der Dialogpartien, anch
') Siehe Arist. poet. 4 p. 1449 a 21: to der iambischen Trimeter C. Pbien und J. Öbi,
fihoay Fx TFinauFTunv iaußFhtv Fyh'FTo' jn fih' denen gegenüber Christ seine beschrftnken-
yaij niKofitr TFitniuhoto F/oiTtvnt <Sta tu öutv- den Thesen in der Philologenversammlnng
nixii»' xai nn/t/oTifcunFOfty Ftrai tp/v noiijcur. zu Wiesbaden 1877 (Verhdl. S. 148 f.) auf-
Ein rezitation.sai-tiger. halb gesangsmäßiger stellte. Seine Ansichten führt J. Öbi weiter
Vortrag des tragischen Dialogs kauii aus Plut. in den Schriften Die euripid. Verszahlen-
de mus. 28 nicht geschlossen werden. Systeme, Berl. 1898, und Die sophokl. Re-
**) Die Monodien haben sich aus den sponsion, Progr. Basel 1903. Verständig dar-
Klagegcsäng<'n entwickelt; daher Phot. lex. über W Mas^ukkay, De la Symmetrie dans
uotto^Hy- ihjiivFir, und Philostr. vit. soph. les parties episodiques de la tragMie greeque
109.23 iioroMu xui Ooiji-ot. In den Tragö- I in Alelanges Weil, 1898, p. 283 flf.
dien filteren Stils vor dem peloponnesischen **) A. Gaoss, Die Stichomythie in der
Krieg sind sie sehr selten (E. Bethe, Pro- griechischen Trag, und Kom., Berlin 1905.
C. Drama, 2. Die Tragödie, a) Anfänge.
151—152.)
265
in der Tragödie nie,0 i^^r verloren die Chorlieder mehr und mehr die
organische Verbindung mit der Handlung und wurden zu lyrischen Inter-
mezzi {ijLißohfia Aristot. poöt. 18 extr.). Dichterisch gereichte die Ein-
schränkung des Lyrischen der Tragödie nicht zum Vorteil. Denn ohne
lyrischen Anhauch ist sie immer in Gefahr, ein kaltes, virtuosenhaftes
Spiel mit Rechensteinen zu werden.
2. Die Tragödie.«)
a) Die Anfänge der Tragödie bis auf Aischylos.')
162. Nach Aristoteles (poöt. p. 1449a 10. 1448a 29) ist die Tragödie
von den Vorsängern des Dithyrambus {äjio rcov i^aQxovrcov röv öMQafißov)
1) A. KöBTB, N. Jahrbb.f. kl. Alt. 5 (1900)
81flf.
*) Im Altertum schrieben: Asklepiades
von Tragilos, ein Schüler des Isokrates,
ToaycpSovfievaf eine zusammenhängende Erzäh-
lung aller irischen Mythen in mindestens
11 Büchern (fragm. coli. F. X. Webfbs in Acta
phü. Mon. n 4. 1818, 491 ff. ; C. Müller, FHG
III 301 ff. Zuwachs bei B. A. Möller, De Ascle-
piade Myrleano, Leipz.1903, 46f.); Duris der
Historiker und Istros aus Eallatis .tegi rga-
ycoStag (s. Ad.Tbendblbitbijbo, Granmiaticorum
graec. de arte trag, iudicia, Bonn 1867) ; Hera-
kleides Pont, i^egi tcov tqiwv Tgayqydojtoicöv
(Diog.V88; nach dem Titel jreoi xcov jiao' Evoi-
mdjj xai 2oq>oxXeX bei Diog. V 87 muß ein Sub-
stantiv ausgefallen sein). Der letztere und der
Peripatetiker Dikaiarchos handelten auch
von dem Inhalt {xsqdXma) und den mytho-
logischen Voraussetzungen der Tragödien, be-
sonders des Sophokles und Euripides (Sext.
Emp. adv. math. III 3; ob Antiphanes fr. 1 13 K.
mit A. Trendelenburg auf Herakleides zu be-
ziehen, ist fraglich); darauf beruhten die vno-
ßeoeig (argumenta) des Aristophanes von By-
zantion, von denen uns Reste in den Scholien
erhalten sind (s. F. W. Schnbidewin, De hypo-
thesibus trag. gr. Aristophani Byzantio vindi-
candis, Abhandl. d. Gott. Ges. 6, 1855, 3—37).
Die Bealkritik behandelte Aristarchos' Schüler
Dionysodoros Ttegl xwv jcaga toTg zgayt-
xoig rjfiagrij/jievojv (Schol. Eur. Rhes. 508). —
Neuere Werke: F. G. Welcker, Die griech.
Tragödien mit Rücksicht auf den epischen
Gyklus geordnet, Bonn 1839—41, 3 Bde.,
Hauptwerk; A.Böckh, De tragoediae graecae
principibus, Heidelb. 1808; W. K. Kaysbr,
Historia critica tragicorum graecorum, Gott.
1845; H. J.G.Patin, ^tudes sur les tragiques
grecs, 6. ed. Paris 1884, ästhetische Analysen
mit geistreichen Seitenblicken auf das moderne
Drama. — Fragmentsammlungen: Poetae
tragici gr. von F. W. Waonbb, Bresl. 1844
bis 1852, 3 Bde.; Poetar. tragicor. graecor.
fragUL (TGF) von A. Naück, Lips. (1856) 1889,
Hauptwerk; dazu Tragicae dictionis index
(niir zu den Fragmenten), Petrop. 1892, von
Nauck uid seinen rassischen Schülern. Die
Fragmente haben durch neue Funde in Papyn
und Handschriften (so den von R. Reitzen-
STEiN, Der Anf. des Lex. des Phot., Leipz. u.
Beri. 1907, veröffentlichten Anfang von Photios'
Lexikon XIU ff. u. den von H. Rabe, Rhein.
Mus. 63. 1908, 127 ff., ans Licht gezogenen
Eonunentar des Johannes Diakonos zu Her-
mogenes) bedeutenden Zuwachs erhalten. Was
bis 1899 aus Papyri hinzukam, verzeichnet
F. G. Kbwyon, The Palaeography of greek
papyri, Oxford 1899, 130 ff. Weiteres in den
Übersichten von W. Cbönert in U. Wilckens
Archiv f. Papyrusforschung (seit 1901). —
Für die Textkonstitution der drei großen
Tragiker ergebnisreich F. W. Schmidt, Krit.
Studien zu den griech. Dramatikern, 3 Bde.,
Beriin 1886—87. Über die Flexionsformen 0.
Lautensach, Grammat. Studien zu den griech.
Tragikern und Komikern, I Gotha 1896. II Han-
nover 1 899. Über die Dialektmischung B.Gebth,
Curtius' Studien 1 2 (1868) 191 ff.; A. v. Mess,
Quaest. de epigrammate Att. et trag, antiquiore
dialecticae, Bonn 1898 ; P. Menge, De poetar.
scaenicor. Graecor. sermone observat. selectae,
Gott. Diss. 1905. — Zur Technik: Chr. Riedel,
Die Alliteration bei den drei großen griech.
Tragikern, Diss. Erlangen 1900; N. Terzaohi,
Appunti sui paragoni nei tragici greci, Studi
ital. di filol. 14 (1906) 415 ff.; Trautner, Die
Amphibolien bei den drei großen Tragikern
und ihre Beurteilung durch die antike Ästhetik,
Erlangen 1907; W. Felsch, Quibus artificiis
adhibitis poetae tragici Graeci unitates illas
et temporis et loci observaverint, Bresl. philol.
Abh. IX, 4 (1907). Siehe a. oben S. 249, 2;
264, 6. — J. H. HüDDiLSTON, Greek tragedy
in the light of vase painting, London 1898.
R. Ekqelmann, Archäologische Studien zu den
griech. Tragikern, Berl. 1900. A. Römer, Zur
Würdigung und Kritik der Tragikerscholien,
Philol. 65 (1906) 24 ff.
') R. Bentlby, De origine tragoediae, in
Opusc, Leipz. 1781, 276 ff.; E.Hillbb, Rh. M.
39 (1884) 321 ff.; F. Nietzsche, Die Geburt
der Tragödie aus dem Geiste der Musik,
Leipzig 1872. (Dazu Wilamowitz, Zukunfts-
philologie, Berl. 1872, und E. Rohde, After-
philologie, Leipz. 1872).
266 Grieohische litteratiirgeschichte. I. KUflsiflohe Periode.
ausgegangen 0 und behaupteten manche peloponnesisehen Dorer, sie sei bei
ihnen entstanden. Daß in Korinth und Sikjon Umgestaltungen des Dithy-
rambus in religiöser und künstlerischer Beziehung im Anfang des 6. Jahr-
hunderts auf Veranlassung der Tyrannen vorgenommen worden sind, kann
als feststehend gelten; ob sie sich aber auch auf eine Entwicklung zum
Dramatischen hin bezogen, ob wir den Theseus des Bakchylides (18. Gre-
dicht) als Dokument der Übergangsform im vollen Sinn ansprechen dOrfen,
laut sich mit Bestimmtheit nicht sagen. Alte und moderne Vermutungen
über die Entstehung der Tragödie aus dem Satyrspiel werden, obwohl der
Name der Tragödie sie scheinbar empfiehlt, besser beiseite gelassen (s.
o. S. 205, 3. 248). Aus der herodotischen Nachricht über die tragischen
Chöre in Sikyon und ihre Reform durch Kleisthenes*) und aus dem Be-
streben der Derer, sich die „Erfindung^ der Tragödie zu vindizieren,*)
scheint spät die Fiktion des tragischen Dichters Epigenes entstanden zu
sein, dessen Name bedenklich an Epicharmos, den Archegeten der dorischen
Komödie anklingt.^) Er sollte Sikyonier und erster tragischer Dichter ge-
wesen sein. Durchaus glaubwürdig ist, daß in Phlius dionysische Mumme-
reien von Bockschören üblich gewesen, von dem Phliasier Pratinas veredelt
und in Attika eingeführt worden sind. Sie wurden als Nachspiele zu
den Tragödien beim dionysischen Agon in Athen zugelassen, haben aber
auf das Wesen der attischen Tragödie so wenig Einfluß geübt, als die
Mimen und Atellanen auf das Wesen der römischen.
153. Daß alte dorische Volksdramatik nach Attika schon in vor-
peisistratischer Zeit übergetragen worden sei, ist in Anbetracht des dorischen
Einflusses, unter dem diese Landschaft vor Selon stand, nicht unwahr-
scheinlich, wiewohl es Zeugnisse dafür nicht gibt, sondern nur tendenziöse
Legenden, denen andere, Athens Originalität verteidigende, von dem Oau
Ikaria und seiner alten Bedeutung für die Entwicklung des Dramas gegen-
überstehen.^) Aus Ikaria stammte Thespis, der schon in voralexandri-
*) Xooofnbaaxnkng war der gemeinsame ■ S. 201, 6. 209, 6. 214.
Name fQr den choreinttbenden Dichter im 1 ') Her. V 67: w J^ixvtovtoi iri/toar t^
Ditliyraiiibus und in der Tragödie. An meh- I "ASnrjarov xni Sif .toos tä na^sa avto^ rgo-
rercn Stellen wird die angehende Tragödie ' yixotai ;jfO(>oro< FyeQaigav. Richtig bemerkt
mit dem lyriHchcn Chor ganz nahe zusammen- E. Reiscii (Fcstschr. f. Gomperz 452 f.)» daß
gerückt, so Tzetzes Proleg. in Lycophr. ; vgl. j Her. hier nicht an BockschOre gedacht, Bondera
Diog. Laert. III 56: t6 nakaim' h rfi Tnay<oö(n rotr/ixil; in dem Sinn gebraucht habe, wie
rrgdjFooy fifv fjovo^ 6 /o(><*s dted()afidTt^Fv, vaTf- es ZU seiner Zeit in Attika verstanden wurde.
gov 6f H8o.^ls Fyav.-ioxotTt/v i^ertjer; Ath.ßSOci ' *) Dies besonders deutlich bei Sold. 8. ▼.
«) Zenob. V 40; Suidas s. v. BetKiif n.
ovi'FOTPjxs ^F xai oarvmxij nana .Toi'?;ms* to
nakaiov fx yooun' fo^ xai i) totf ntaytofiia.
A. BöcKn, Süatsh. d. Athener IP (Beil. 1817)
OMv HQOs xov Ai6%'vow\ Photioslex. p. 857,5.
361 ff., hat daraus die vielberufcne lyrische Das Sprichwort ovöh' jroog jov Atmt^aor^ das
Tragödie gemacht, welche Anschauung G.Her- nach den Lexikographen das Befremden Ober
MANN, De tragoedia comoediaque lyrica, Leipz. die von E. eingeführte, mit dionysischer
1S36(— Opusc. VII Öl 1—240) als leeres Phan- ' Lustigkeit nicht zusammenstimmende Tra-
tom bekämpfte. Den Gedanken Böckhs nahm , gödie ausdrücken soll , wird indessen von
wieder auf £. LüBBEKT, Commentat. de Pindari Plut. symp. I 615 a nicht auf Epigenes ge-
carminibus dramalicis, Bonn. Ind. 1884,5, wo i deutet, sondern auf die Neuerungen des
mit freier Phantasie definiert wird: doä/tara ' Phrynichos und Aischylos. Die Sikyonier
Toayixa rnrmhin »unt argumenti heroiriy in nennt Erfinder der Tragödie Themistios or.
quibus Uitcrhi Joco heroen prodihanty qui pro 27 p. 406 Dind.
gtnere humano propugnnntes fortunae tela 1 ^) kih.AQhx d:io pedrigxal^xfjg xtofiiiMais
et iduif inirepido pectore exciperent; s. oben xai /jtfj^TonyfoötagFVQeaigh'^IxaQÜfxifg'AtTix^,
0. Drama. 2. Die Tragödie, a) Anfänge. (§ 153.)
267
nischer ZeitO &ls der eigentliche Erfinder der Ti*agödie bezeichnet wurde,*)
wiewohl auch die Ansicht begegnet, die Tragödie sei eine uralte, lange
vor Thespis und Phrynichos zu setzende „Erfindung* Athens, Unter dem
kunstsinnigen Regiment der Peisistratiden wurde das dramatische Spiel
nach der Stadt verpflanzt, und im Jahr 534 führte hier Thespis die erste
Tragödie auf; für das Jahr 508, nach Yerjagung der Tyrannen, ist uns
die Übernahme der Ghorleistung für lyrische Chöre durch Bürger bezeugt. 3)
Wie die Tragödie in jener ältesten Zeit beschaffen war und worin sich
die altattische von der peloponnesischen unterschied, darüber läßt sich
nichts Bestimmtes aufstellen, und darüber hatte auch Aristoteles keine
sicheren Nachrichten mehr. Es werden zwar von Suidas mehrere Titel
von Tragödien des Thespis überliefert: UMa IleXiov ij ^ogßag, 'legelg,
*Hi^€oi, üev&evg, aber jene Stücke waren junge Fälschungen, die Herakleides
Pontikos gemacht hatte.^) Eher darf man aus den Angaben des Diogenes^)
abnehmen, dals bei Thespis zuerst der Schauspieler aus der Rolle eines
bloßen Chorführers zu der selbständigen Stellung einer dem Chor gegen-
überstehenden Person herausgetreten sei und davon, daß er auf die
Fragen des Chorführers antwortete (vnexQiveto)^ den Namen InoxQixtjg er-
halten habe.«) Aber was Horaz a. p. 276 von dem Wagen fabelt, auf
dem Thespis seine Tragödien herumgefahren habe, beruht vielleicht auf
Verwechselung der Tragödie mit den Spottreden der vom Wagen herab
die Leute neckenden Festschwärme {aHdju/LuiTa i^ ä/id^rjg) und wird wohl
auf Chamaileons Schrift jiegi Oeamdog zurückgehen, oder ist es aus dem
dionysischen Schiffskarren (car naval)*^) herausgesponnen; was der späte
*) Zuerst erwähnt ihn Ar. vesp. 1479,
wo der Schoiiast unnötigerweise einen von
dem Tragiker verschiedenen Lyriker Th. ver-
stehen will; dann Ps.Plat. Min. 321a. Eine
Hennenaufschrift Seojtig SefÄcovoc: ist in Aquae
Alhulae gefunden worden: A. Wilhelm, Ur-
kunden 181 A.
«) Dioscorides Anth. Pal. VU 410 u. 411 ;
Horat. a. p. 275, deren Ansicht R Bbktley a. 0.
verfocht. Dagegen nennt Suidas nach ver-
schiedenartig angelegten Tragikerlisten den
Thespis den 16. oder 2. Tragiker nach Epi-
genes. Die Neuerungen des Thespis sucnt
P. GiRABD, Revue des 6t. gr. 4 (1891) 159 ff.
näher zu bezeichnen.
•) Mann. Par. ep. 43 (nach sicherer Ver-
besserung) und 46. Nach E. Capps' (The in-
troduction of comedy into the city Dionysia
at Athens, Chicago 1903) Berechnung begann
die Liste der choregischen Sieger an den städ-
tischen Dionysien CIA 11 971 mit dem Jahr 502
und hing die Einsetzung des lyrischen Chor-
agons mit der Neuordnung des athenischen
Staatswesens durch KleisÜienes zusammen.
Siehe dazu F. Jacobt, Mann. Par. 110 und
A. WiLHJBLM, Urkunden 240 ff.
*) Diog.V92: q^tjol 6' *AQioT6^evog 6 fiov-
Cixos xcd tqaytpduK 'HgaxXeldrjv IIcvzixov
MOi^ xcu Bionihog IniyQdfpeiv. R. Bentlet
a. 0. 287 bezieht darauf die zitierten Titel
und erhaltenen Fragmente. A. Daub, De
Suidae biographicor. orig. et fide, Jahrbb. f.
Phil. Suppl. 11 (1880)412 zeigt, daß jene unter-
geschobenen Stücke nicht in den Katalogen
der Alexandriner standen. Aber Hör. ep. II 1,
163 beweist, daß man im augusteischen Rom
Echtes von ihm zu besitzen glaubte.
*) Diog. Laert. III 56 : hrfj tgaycijSiff, jiqo-
regov juev fiovog 6 X^Q^ ötedoafÄdziCrt', vareoov
de ßiajiig iva vnoxQiTijv s^evgev. Vgl. PoUux
IV123.
•) So deutet Pollux IV 123 das Wort
vTioxQizrig^ und so gebraucht das Verbum
vjioxQirofiat, synonym mit djioxQt'vofiai, Homer
i/407, 3/228, ß 111, o 170; ebenso Herodot.
Vgl. Apoll, soph. lex. Hom. p. 160 B., Hesych.
u. vjioxQivoiTo und G. CuBTius, Ber. d. sächs.
Ges. d. W. 18 (1866) 144 ff. und Rh. Mus. 23
(1868) 255 ff. Ob diese Deutung des Wortes
richtig sei und ob nicht vjioxoitrig vielmehr
denjenigen, der die Worte eines anderen, des
Dichters, wiedergab, bedeutete, darüber J.
SoMMBBBRODT, Rh. M. 22 (1867) 513 ff. u. 30
(1875) 456 ff. Die Frage kann jetzt für ent-
schieden gelten : vjroxQivofiat ist der ionische
Ausdruck für djroxgivofini. Siehe o. S. 247.
7) F. DüMMLEB, Kl. Sehr., Leipz. 1901,
in 26 ff.
268 GriechiBche Litteratorgeschichte. I. ElaBsische Periode.
Rhetor Themistios or. 26 p. 382 Dind. von der Erfindung des ngöSLoyog
und der ^fjoic; durch Thespis berichtet, ist mit freier Phantasie aus den
Andeutungen des Aristoteles po6t. 4 herausgelesen.
154. Außer Thespis werden noch als älteste Tragödiendichter und
Vorgänger des Aischylos genannt Choirilos, Pratinas, Phrynichos. Von
diesen hat Pratinas aus Phlius^) das Satyrspiel in Athen eingebürgert.')
Suidas legt ihm fünfzig Dramen, darunter zweiunddreißig Satyrspiele bei.
Es hat sich von ihm ein hübsches Hyporchem, vielleicht Teil eines Satyr-
spieles,^) erhalten, dessen rasche und wechselnde Bhythmen die lustigen
Sprünge seiner Satyrn erraten lassen. Sonst werden uns nur zwei Titel,
Ava/mirai i) Knovarideg und FlakaiaTal adrvQoi genannt. Er gewann nur
einmal den Sieg und muß 467, in welchem Jahr sein Sohn Aristias ein
Satyrspiel von ihm, die Ilakaiaxai, aufführte,*) schon tot gewesen sein.
In der 70. Olympiade (499 — 496) hat er mit Aischylos und Choirilos kon-
kurriert. Mehrere Fragmente von ihm (1. 6 — 8 Bergk) zeigen lebhaftes
Eingreifen in die musikalischen Zeitfragen, und zwar in konservativem
Sinn. — In des Vaters Fuütapfen trat sein Sohn Aristias. Sämtliche
erhaltene Titel außer den beiden Tragödientiteln Perseus und Tantalos
scheinen zu Satyrspielen zu gehören; besonders interessant sind die Titel
KvxMoy^) und ÜQqet^g. Sein Name (nicht der seines Vaters) ist auf einer
athenischen Siegerliste erhalten.^) Pausanias sah noch sein Denkmal in
Phlius.^) Zeitgenossen von ihm sind nach der angeführten Liste die sonst
unbekannten Tragiker Euetes und Nothippos (die Komiker verdrehen
den Namen scherzhaft in Gnesippos), Sohn des Kleomachos, wahrschein-
lich Sieger 470.^)
Der bedeutendste**) unter den Tragikern vor Aischylos scheint Phry-
nichos, der Sohn des Polyphrasmon, gewesen zu sein; er hat nach Suidas
zuerst weibliche Personen auf die Bühne gebracht und trochäische Tetra-
moter in seinen Tragödien gebraucht, ^^) womit wohl die vielen Tanzfiguren
zusammenhängen, die er nach Aristophanes (av. 749) aufgebracht haben
soll. Die ionisch-weichliche Eleganz seines Auftretens berührt Aristo-
phanes (Thesm. 164), und ionisch-äolische Formen zeigen auch die me-
lischen Stellen der Fragmente. Sein erster Sieg fällt in die 67. Olym-
piade (511 — 508). Teils durch Suidas, bei dem merkwürdigerweise die
Titel der zwei berühmtesten Stücke fehlen, teils durch andere kennen wir
noch zehn oder elf Tragödientitel, Alyvjinoi, \Axrakov, 14>lx?;onc,^0 ^Avxalog ^
*) Pr. ist das erste Beispiel dafür, daß tereu Namens [Myhi\TOs.
auch Ausländer zum dionysischen ayiov in ^) Paus. II 13, 5.
Attika zugelassen wuiden (A. Wiuielm, Ur- ^) Wilhelm a.a.O. 101 f.; Wilamowetz,
künden 57). Gott. (iel. Anz. 1906, 632.
«) Antli. Pal. VII 37. ; ») Ar. ran. 1299.
•'•) Vgl. P. GiRARD, Mdlanges Weil 131 f. *<*) Die Angabe des Suidas evgexijg rov
*) Arg. Aesch. sept. | TFToau/ioov tyh'Fro ist insofern schief, als
^) Kuripidcs hat das Stück gekannt; eine ' nach Arist. po^t. 4 der Tetrameter das alte
Rekonstruktion des Inhalts aus dem einen j Metrum des tragischen Spieles überhaupt war.
erhaltenen Vers versuclit G. Kaibel, Herrn. Die erhaltenen Fragmente zeigen, von den
30 (1895) 71. 1. melischen abgesehen, durchaus iambische
«) CIA m 977; s. A.Wilhelm, Urkunden Trinieter.
103. Unsicher ist die Ergänzung eines wei- | ^') Dieses Stück scheint, wie die Alk.
0. Drama. 2. Die Tragödie, a) Anfänge. (§ 154.)
269
Aißveg, Aixaioi [^ IJegoai fj 2!vr9(üxoi],^) Aavaideg, Mdijrov äXcoaig, ükev-
Qwvuxi,^) TdvtaXog, ^oivioaai.^) Am berühmtesten waren die ^olviooai, für
die Themistokles im Jahre 476 den Chor ausrüstete^) und die bald nachher
Aischylos in seinen Persern überbot. Bei beiden Dichtem ist die Szene
in ideale Feme, an den Hof des Großkönigs verlegt. Das Kolorit bei
Phrynichos scheint realistischer und ionischer gewesen zu sein als bei
Aischylos. Der Chor bestand bei ihm aus phönikischen Weibem vermut-
lich des königlichen Harems.*) Auch eine Schildemng der Schlacht bei
Salamis kam bei ihm vor; von ihr sind neustens«) zwei durch ihren rein
ionischen Dialekt- interessante Trimeter gefunden worden. Zeitgeschicht-
lichen Inhalts war auch das Stück Mdi^rov äkayoig, berühmt geworden durch die
Nachricht des Herodot, daß die Athener, die durch das Drama an eine
dunkle Partie ihrer Politik erinnert wurden, den Dichter mit einer Geld-
buße bestraften und eine Wiederaufführung des Stückes (in den Demen-
theatem) verboten. '') Sehr bedeutsam sind diese ersten, vielleicht von
dem großen Realisten Themistokles angeregten Versuche, geschichtliche
Gegenstände beim Dionysosfest vorzuführen. Sie haben wenig Nachfolge
geftinden,**) weil sie der religiös-romantischen Auffassung des Publikums
von der Tragödie nicht entsprachen. Nur der Perserstoflf macht eine Aus-
nahme; ihn durfte auch Aischylos noch einmal behandeln, weil — so ist
auch Herodots Auffassung — in dieser Zeit wie in der heroischen die
des Euripides, burlesken Charakter gehabt zu
haben (A. Dibtbbich, Polcinella, Leipz. 1898,
69). Scharfsinnig, aber nicht glücklich be-
handelt A. Schöne (Über Eurip. Alk., Kiel
1895) das Verhältnis der beiden Stücke.
') Aixatoi scheint aus AaSixat, dem
Namen eines persischen Volksstammes, ver-
derbt zu sein ; femer scheinen Zvv&caxoi oder
Ileoaat und ZvvÖwxoi Doppeltitel der 4^irio-
acu gewesen zu sein.
*) Das Stück ging auf die Meleagros-
sage, die Phrynichos ähnlich behandelt wie
Bi&chylides 3, 127 ff., worüber K. Robert,
Herrn. 33 (1898) 154 f.
*) Suidas erwähnt noch einen zweiten
Tragiker Phrynichos, den Sohn des Melan-
thas, dem er eine Andromeda und Erigone
beilegt; beide identifiziert F. G. Welokeb, Gr.
Tr. 1 19 unter Mißbrauch des interpolierten
Scholion zu Aristvesp. 1481.
*) Plut. Them. 5: hixrjae de xai x,oQrj-
ywv rgayfpdoTg, fiBydXrjv rjörj TÖze ojiovStfv xal
tpüUniftiav xov dyeavog exorrog, xai mvaxa trjg
vixijg dvS^xe toiavxrjv ejiiyQaq}ijv F^ovia ' ße-
fUOZOxXijg 4^edgQiog Bj^ootjyei, 4*otn'ixog eöi-
daaxev, 'Adeifiaviog tjqxsv. Der Name des
Stückes ist nicht genannt; daß es die Phoi-
nissai waren, ist eine wahrscheinliche Ver-
mutung von R. Bbntlbt, Abhandl. über die
Briefe des Phalaris, deutsch von W. Ribbeck,
Leipz. 1857, 286 f.
*) Wie die Witwen der phönikischen
Seesoldaten (so Wilaxowitz, Herm. 32, 1897,
892) an den Hof gekommen sein sollen, ist
nicht abzusehen.
*) Aus Ammonios* Kommentar zu Hom. 0
(Oxyrh. pap. II) hergestellt von H, Diels,
Rhein. Mus. 56 (1901) 29 ff.
") Herod. 6, 21: *AOfjvaToi öijXov ejioijjaav
vneQax^eoOevTsg xfj Mdrjxov d).cooi xfj X€
äXXfj Jiokkaxijf xai öij xai :ioi7jöavxi ^gwi^to
Sgäfia AliXyxov äXcoatv xai Sidd^avxi eg ddxgvd
xe F.iFoe x6 der)XQOv xai F.CtiftUoodv fitv cog
dvafivTJaavxa otxfjia (als Gegensatz ist wohl
TJQMixd gedacht) xaxd ;r<x//;a< Ögoxfifjot xai
ijzeza^av jtit/xht fujdeva ^gdaßat xovxq> x(o ögd-
/itaxi. E. Meyer, Gesch. des Altert. III 313
vermutet, in der Voraussetzung, daß auch die
M, ä. von Themistokles inspiriert sei, dieses
Stück sei unmittelbar vor 1 hemistokles*
Archontat, 494 aufgeführt worden, um nach
dem Mißlingen des ionischen Aufstandes
Stimmung für einen Perserkrieg zu machen.
Die Strafe ist wohl als eine in der Volks-
versammlung ir Aiovvaov nach den großen
Dionysien verhängte Polizeistrafe wegen Un-
fugs zu betrachten. Das Unziemliche wird
man in der Verwendung eines Stoffes aus
der nächsten Vergangenheit (vgl. Dio Chr. or.
21, 11 aioxQov Fv j^ xgaytüöif^ xoi^g vi}v m'xag
ovo^idCEtr), zumal eines so trostlosen, ge-
funden haben.
•*) Aischylos* Perser, Moschions ße/iioxo-
xkfjg u. <Pegaloty Theodektes' Maussolos, Lyko-
phrons KaoaarÖgFig. Auch die ältere Vasen-
malerei hat fast gar keine geschichtlichen
Gegenstände.
270 Grieohiflche Litteratorgescliiohte, I. KlaMosohe Period«.
Qötter und Heroen sichtlich in die Menschengeschicke eingegriffen zu haben
schienen. Besonders geschätzt waren die lyrischen Partien des Phrynichos.^
Phrynichos hinterließ seinen Sohn Polyphrasmon (so die Namensform
CIA II 977, 3) als Erben seiner Eunst;>) er siegte 471>) und trat 467
mit einer Trilogie Lykurgeia gegen die Sieben des Aischylos in Wettstreit,
wobei er der Dritte wurde (Argum. Aesch. Sept.).
Choirilos hat, wenn man daraus, daß Sophokles gegen ihn und
Thespis seine Streitschrift über den Chor richtete, diesen Schluß ziehen
darf (Suid. s. HocpoxXfjg), auf die Aufstellung und die Bewegungen des Chors
der älteren Zeit Einfluß geübt. Auch die Erfindung der Masken und
prachtvollen Gewänder legten nach Suidas einige ihm bei. Sein erster
Sieg fällt zwischen 523 und 520. Bedenken erregen in den Angaben des
Lexikographen mehr die 160 Dramen als die dreizehn Siege.^)
b) Aischylos (524--456).ft)
155. Leben. Aischylos, Sohn des Euphorien, stammte aus einem
edlen Geschlecht des Gaues Eleusis, worauf Aristophanes in den FrOschen
886 den Dichter selbst mit den Worten anspielen läßt JijjurixeQ ^ ^qixpaaa
rfjv i/ir]v (fgha. Geboren wurde er nach der parischen Chronik Ol. 63, 4
= 525/4.*) Die Jahre seines heranreifenden Mannesalters fielen in die
große Zeit der Perserkriege, die ihm nicht bloß Geist und Gemüt erhoben,
sondern an denen er auch selbst mit seinen Brüdern in den Schlachten
von Marathon, Salamis und Plataia als Mitkämpfer beteiligt war. Rühmend
ist seiner Tapferkeit bei Marathon, als wäre dies seine einzige Leistung,
in der Aufschrift seines Grabdenkmals gedacht:')
AlaivXov EvcpoQicovog 'A&tjvaloi' rode xev&ei
juvTJjua xaraq^^ijüterov JiifQoqpOQOio leXag,
äXxtjv d'evdoxijiioy MaQa&ioviov äXaog äv ehzoi
xal ßa^vxciiT/jeig Mijdog hnaiäjbtevog.
Sein Bruder Kynegeiros war jener von den späteren Deklamatoren un-
ermüdlich gepriesene Held, der bei Marathon mit der Hand ein persisches
») Ar. av. 750. ran. 1299; Ath. XIII 564 f. ; I der Ausg. der Sieben von F. Ritschi, Leipz.
r9.Ari8tot. probl. p. 920a 11. 1 1875. Neuere Bearbeitungen der Vita Aesdiyli
*) Diese Vererbung der Kunst hing zum ' von Th. Stanley in der Ausgabe des Dichten
Teil damit zusammen, daß der Sohn rechtlich (Lond. 1663 f.); Ohk. Pbtbbsen, De Aesch.
Erbe der Stücke des Vaters wurde. 1 vita et fabulis, Kopenh. 1814; R. V. Dahkb,
») Wilhelm, Urk. 17. 'De Aesch. vita, Berl. 1860; A. Dibtbrigh in
*) Auf seine Berühmtheit im Satyrspiel der Realenc. Die der Vita angeschlossenen
geht der Vers (Mar. Plot. in Keils Gramm. | ästhetischen Urteile stammen aas aIIhs Dio-
Lat. VI 508) 'Hvixa fiiv ßaod^ig tjv Xoinllog njsius' oder Rufus' fiovoixrj loxogia (p. 122,
fv 2«ri''oo(c. Über einen Wettstreit des Choi-
rilos mit Pratinas und Aischylos und den
dabei erfolgten Zusammensturz des Brctter-
gertistes in der 70. Olympiade s. o. S. 253
und Wilhelm, Urk. 183 f.
94 W.).
') Mit der Chronik stimmt nach leichter
Verbesserung Suidas: yytoviCeto avtos h rjf
O (H cod.) oXvfijfMi hiov &v xe; die ab-
weichenden Angaben der Vita sind unznver-
^) Erhalten ist uns aus dem Altertum l lässig und nicht untereinander in Einklang.
ein mittelbar auf Chamaileons Schrift ^pqi I ') Ath. 627 c; Paus. I 14, 4; Vit Aes(£.
AiayvXov zurückgehender Bio^ AioxrXov in ! Nach Eustratios zu Arist. eth. Nie. III 2 ward
den Aischyloshandschriften und ein Artikel er verwundet von dem Schlachtfeld weg-
des Suidas, zusammengestellt mit den anderen getragen.
Zeugnissen des Altertums von Fb. Scholl in !
C. Drama. 2. Die Tragödie, b) Aisohylos. (§ 155.)
271
Schi£F zurückhielt und dabei seinen Mut mit dem Tod besiegelte (Herod.
VI 114). Auch den Ameinias, der sich in der Schlacht von Salamis hervor-
tat, geben mehrere für einen Bruder des Dichters aus;^) da aber dieser
nach Herodot VIII 84 aus dem Demos Pallene stammte, so können wir
darin nur eine unhistorische Ausschmückung der Dichterlegende sehen. ^)
Über die Erziehung des Dichters und seine Lehrer fehlen uns Nachrichten.
Daß er Pythagoreerschüler gewesen sei, ist Legende, die vielleicht auf
Herakleides Pontikos Ttegl rcov rgicov rgaycodonoubv zurückgeht.*) Die Sage
ließ den Qott Dionysos selbst dem jungen Aischylos, als er die Trauben
hütete, erscheinen und ihn zum Dichten von Tragödien anfeuern.*) Noch
nicht dreißig Jahre alt trat er Ol. 70 = 499/496 als Mitbewerber um den
tragischen Kranz mit Pratinas und Choirilos in die Schranken.^) Den
ersten Sieg errang er aber erst im Jahr 484, als er bereits über vierzig
Jahre alt war.
Die ersten fünfzig Jahre seines Lebens scheint der Dichter in seiner
Vaterstadt zugebracht zu haben. Dann führte ihn und mit ihm die attische
Tragödie der Ruf des Tyrannen Hieron auf einen neuen Schauplatz. Zum
erstenmal ging er nach Sizilien in den siebziger Jahren, vermutHch nach
einem Ausbruch des Ätna,^) an den Hof Hierons in Syrakus, wohin in
jenen Jahren auch die drei jüngeren Chorlyriker gezogen worden waren.
Den Simonides soll er dort getroffen haben. Damals blühte bereits in
Sizilien die dramatische Kunst des Epicharmos, und auch Aischylos dichtete
für die syrakusische Bühne ein Lokalstück, die Ahvälai,'^) das ähnlich wie
die erste pythische Ode Pindars (aufgeführt 470) der Verherrlichung der
von Hieron 476 neugegründeten Stadt Aitne diente. Auch seine zweite
Reise nach Sizilien geschah auf Hierons Aufforderung, der ihn veranlaßte,
seine Perser in Sizilien noch einmal aufzuführen.®) Da die Perser zum
erstenmal 472 in Athen gegeben wurden und der Dichter 468 und 467
wieder in Athen aufführte, so ist der Zeitrahmen 472 — 468 für die zweite
Reise gegeben. Die peripatetische Biographie hat seine sizilischen Reisen
unnötigerweise mit Verstimmung motiviert und nun verschiedene schon aus
chronologischen Gründen ganz unmögliche Anlässe erfunden.^) Eine rich-
tigere Vorstellung von Aischylos' edlem Künstlerstolz, der sich von äußeren
Erfolgen unabhängig wußte, hegt der von Athenaios überlieferten Anekdote
zugrunde, wonach er, als ihm einmal die Theaterrichter den Preis ab-
erkannten, ruhig sagte, er weihe seine Tragödien der Zeit, die werde ihm
») Biodor. XI 27. 2; Aelian. v. h. V 19;
AristodenLpoliorc. I 3; Soidas und die Vita.
'; G. ÜBBHAirK, Op. ü 166 hat zuerst den
Irrtum ani^g^eckt.
») Cic. Tuflc. n 23.
*) Paus. I 21, 3.
*) Soidas n. Jlgativag.
*) Diesen, schildert er Prom. 364 ff. Ein
Ausbrach des Ätna fand 478 nach Mann. Par.
«p. 52, 475 nach Thuc. m 1 16 statt. Vit Aesch. :
iJL^djir slg JSixeXlav 'ligiovog t6t8 tv^v Ahvtjv
MtiCorvos ing&ei^axo rac Alrvaiag, oicoviCofAevog
ßlonf äyct^or tdig awoixiCovoi tifv noXiv. Pau-
sanias I 2, 3 läßt den Aischylos mit Simo-
nides hei Hieron verweilen.
^) Ahvai schreibt Wilamowitz mit dem
Cod. Mediceus Herm. 32 (1897) 395.
^) Ohne Grund wird diese zweite Reise
bestritten von Wilamowitz a. a. 0.
•) Vit. cod. Medic. in Kibchhoffs Aischy-
losausg. Berl. 1880 p. 380; Anth. Pal. VII 40
bezieht sich ebenso wie die Motivierung mit
dem Fiasko des Dichters bei Aufführung der
Eumeniden nur auf die letzte sizilische Reise.
Siehe J. v. Lbbuwbn, Mnemos. N. S. 18
(1890) 68 ff.
272 Griechische Litteratorgeschichte. L EUuMÖsche Periode.
die gebührende Ehre bringen. ^ Im Jahr 472 gewann er mit seiner Perser-
trilogie in Athen den ersten Preis, und nachdem er 468 dem jungen
Sophokles unterlegen war,*) wurde ihm 467 im Wettkampf mit Pratinas
und Polyphrasmon für seine thebanische Trilogie noch einmal derselbe
Erfolg zuteil. Der Sieg des kaum dreißigjährigen Sophokles über den
sechsundfünfzigjährigen Aischylos, der im ganzen achtundzwanzig erste
Preise gewonnen hat, wird den älteren Dichter veranlaßt haben, nun auch
seinerseits von dem jüngeren, der ihm so viel verdankte, zu lernen: in
dem Work, mit dem er 458 seinen letzten Sieg in Athen gewann, hat er
Neuerungen der sophokleischen Technik, den dritten Schauspieler, den auf
fünfzehn Mitglieder verstärkten Chor, die straffere Haltung des dramatischen
Aufbaus angenommen, ohne doch dabei seine Eigenart, die Vorliebe für
das Lyrische, für starke äußere Bühneneffekte und seinen teleologischen
Optimismus aufzugeben. Wenn er nach diesem Erfolg seine Vaterstadt
verläßt, wieder nach Sizilien wandert, ohne daß ihn Fürstengunst dahin
ruft, wenn er sich in die fremde Republik Gela begibt, um hier in frei-
willigem Exil die letzte Ruhe zu finden, so ist man berechtigt, nach
Gründen zu fragen. Das haben schon die Alten getan. Sie reden aber
nur von dem, was dem Aischylos weiteren Aufenthalt in Athen verleidet
haben soll. Aristoteles^) deutet ein unabsichtliches Vergehen des Dichters
gegen die Heiligkeit der Mysterien an, sein Kommentator Eustratios be-
richtet aus Herakloides Pontikos des weiteren, der Dichter habe sich bei
einem aus jenem Grund im Theater entstandenen Tumult zum Altar des
Dionysos flüchten müssen, und Clemens Alexandrinus fügt — sehr unwahr-
scheinlich^) — hinzu, er sei, vor Gericht gestellt, nur dadurch, daß er nach-
wies, nicht in die Mysterien eingeweiht zu sein, freigesprochen worden.*)
Aber wenn es auch mit jenem Prozeß wegen Entweihung der Mysterien
seine Richtigkeit haben mag, so ist doch noch sehr zweifelhaft, ob gerade
dieser ihn zum Weggang nach Sizilien bestimmte. Neuere haben andere
Gründe vermutet, so V^erstimmung über die Verbannung Eimons^^) oder
über die zunehmende Demokratisierung des athenischen Staatswesens zumal
seit Einschränkung der Befugnisse des Areopags, dessen Lob Aischylos in
den Eunieniden gesungen habe.^) Zu berücksichtigen ist aber auch das
Positive, was ihn gerade nach Sizilien ziehen konnte, wenn es ihm je in Athen
nicht mehr gefallen haben sollte: wenn er in der ihm zuvor fremden Stadt
') Ath. 347e: ?}7r;;iVWc dii/y.oK .^orr, ot^ Herakleides Pontikos gestützt, unter anderen
HyoffonnTn^- i) Xnnni/J(or h' rto hfqI /'/t^otf'jc: die Toxotides und Hiereiai. Spätere, derVer-
notjxfv, tt/ 1) xij'H'O) ras* rntruinMn,: uynnOf'rat, ' fasser der Vita und Apsines in Rhet. gr. I
ridot^ ort Homnrfu Tfjr nonoi'ixovoav Tiut)v. 340, 11 Sp., fabeln von den Eumeniden, die,
'^) Vit. cod. Med.p.3su, 4K.; Plut.Cim.8. wie wir uns selbst überzengen, nichts von
^) Außer Aristoteles eth. Nie. III p. Ulla Mysterienentweihung enthalten; vgl. G. HxR-
10 8. Aelian. v. h. 5. 19; Clem. Alex, ström. II , mann. Opnsc. II 163 flf., und Chb. A. Lobbok,
p. 461 und Eustratios zu Aristoteles. Schon Aglaophum. 76 ff.
Aristoplianes ran. 807 sagt orry yao \Uhj- «) J. v. Lekuwen a. a. Ö. 73.
vniotoi arvffifur Atayv).o^. '') H. Weil, Etudes sur le drame ant.
*) Ar. ran. ^S^ f. 54 f. Übrigens wird, genau genommen, in den
^) Über das Stück oder die Tetralogie. , Eumeniden 686 ff. der Areopag doch nur als
die einen solchen Tumult enegte. waren i unbestechlicherBlutgerichtshof gepriesen, und
schon die Alten auf das Raten angewiesen. diese Funktion blieb ihm ja auch nach dem
Eustratios nennt, auf seinen (.iewähi-sroann Gresetz des Ephialtos.
G. Drama. 2. Die Tragödie, b) Aischylos. (§ 156.) 273
Gela dauernden Aufenthalt nehmen konnte, so darf daraus wohl auf die
über einen großen Teil Siziliens verbreitete Beliebtheit seiner Poesie, zu
der er bei seinen früheren Besuchen in Syrakus den Grund gelegt hatte,
geschlossen werden. Wie er schon früher in Sizilien eingelebt war, das
ersieht man aus Anspielungen auf seine Sprache, die, mit der Aussicht,
verstanden zu werden, der Komiker Epicharmos wagen konnte,*) und aus
einzelnen Ausdrücken des sizilischen Dialektes, die er, ähnlich wie später
Piaton, sich angewöhnt hatte.*)
Bei dem dritten Aufenthalt in Sizilien fand er den Tod in der Nähe
der Stadt Gela Ol. 81, 1 = 456/5.») Darüber wird eine Sage berichtet:
ein Adler, der eine Schildkröte in den Krallen trug, habe diese auf das
kahle Haupt des Dichters fallen lassen und so seinen Schädel zerschmet-
tert.*) Man hat sie auf ein Grabrelief zurückzuführen versucht, auf dem
ein Adler mit einer Schildkröte als Symbol der Dichtkunst über dem Haupt
des vergötterten Dichters schwebte;^) wahrscheinlich aber ist damit nur
eine alte, schon dem Demokritos bekannte,«) zur Illustration der Zufalls-
wirkungen bestimmte Fabel auf unseren Dichter übertragen worden, wozu
den Komikern dessen Kahlköpfigkeit die Handhabe bieten mochte.^) Hinter-
lassen hat er zwei Söhne, Euphorien und Bion (v. 1. Euaion), und einen
Schwestersohn Philokles, die zugleich Erben und Fortpflanzer seiner Kunst
wurden. Seine Stücke durften nämlich auch noch nach seinem Tode in der
Art, daß für sie Dichterhonorar bezahlt wurde, wieder aufgeführt werden,
und sollen nach Quintilian X 1, 66 noch viele Siege gewonnen haben. ^)
Auch sonst wurde in Athen das Andenken des großen Dichters in Ehren
gehalten: zur Zeit des peloponnesischen Krieges galt er dem Aristophanes
und den Leuten seiner Richtung als unübertroffenes Ideal, später wurde
auf Antrag des Redners Lykurgos sein Standbild neben denen des Sophokles
und Euripides im Dionysostheater aufgestellt.^)
156. Dichtungen. Aischylos hat wie alle großen Dichter des klas-
sischen Altertums seine Tätigkeit um eine Dichtungsgattung konzentriert:
abgesehen von Elegien, die noch in der Kaiserzeit erhalten gewesen sein
müssen, 1®) hat er, so viel wir wissen, nur Tragödien und Satyrspiele ge-
>) Schol. Aesch. Eum. 616 K.
«) Ath. 402 b; W. Alt, De Aeschyli co-
pia verbor., Berlin 1906, p. 99 ff.
bringt die Erfindung mit dem Adlerflug des
Aischylos in recht zweifelhafte Verbindung.
V. Leeuwen a. a. 0. 72 f. meint, Aesch. fr.
•) Schol. Ar. Ach. lÖ;'Marm. Par. ep.59. ' 275 N.* habe Anlaß zu der Übertragung des
^) Sotades bei Stobaios flor. 98, 9; Val. ! Geschichtchens auf den Dichter gegeben.
Max.9,12;Plin.n.h.lO,3; Aelian n. a.7,16; »*) Vgl. Vit. p. 380 K; Schol. Arist. Ach.
Vita und Suidas. ! 10. ran. 868; Philostr. vit. Apoll. VI 11
*) K. W. GöTTLiNo. Opusc. acad., Leipz. j p. 220, 9K.; s. E. Rohde, Kl. Sehr. II 423 ff.
1869, 230 ff.; F. G.Welckek, AlteDenkm.il, Schön sagt Aisch. bei Arist. ran. 868: 6u tj
G<(tt. 1850, 337 ff. Danach wird der kapito- jToirjois or^l owiF.&^'tjxF. fwt.
linische Kopf, den früher die Tafel 4 wieder- i ®j Ps.Plut. vit. X orat p. 841 f.: «my-
gab, auf Aischylos gedeutet, wofiir sich auch ! reyxs rofiovg . . , toc ;K(t/Ä«s dxovag dva&eivai
E. Eboksb, Berl. Phil. Wochenschr. 5 (1885) j twv jTotr/Tcljr Aioxv?,ov 2!oq.ox)Jovg EvQiJiidov
S. 897 ff. ausspricht, aber dagegen neuerdings j xai mg rottycMag avtwv h xoivib yQayafte-
P. J. MöBIUS und F. Studniczka, N. Jahrbb. rovg qvldjTF.iv xai rov tijg .^oXecog yQafifiatFa
f. kl. Alt. 5 (1900) 161 ff. i jiaoarayivwoxFiv ToTs r.Toxoivoiin'otg. Vgl. Diog.
•) Eudem. fr. 22 Sp. , Laert. II 43; Paus. I 21, 2; Äth. 19e; s. F. G.
') E. RoHDB, Kl. Sehr. II 209 ff.; 0. Cru- Weloker, Alte Denkm. II 465 ff.
«US, Rh. M. 87 (1882) 308 ff.; 0. Keller, | »oj piu^, g^j^p. quaest. 1 628 e. Th. Bergk,
Tiere des klass. Altertums, Innsbr. 1887, 258 , PLGIM240ff. Siehe oben S. 206, 6. Jedenfalls
Handbiieli der klaas. AliertamawiBsensehAft. YII. 5. Aufl. 18
274 Griechische Litteraturgeachichte. I. KlaBsischa Period«.
dichtet. Suidas gibt die runde Zahl von neunzig Tragödien (richtiger
Dramen) an, dazu stimmte wahrscheinlich ehedem auch das alte Verzeichnis
der Dramen im codex Laurentianus, das jetzt in vier Kolumnen zu je achtzehn
Titeln (nur die zweite Kolumne enthält 19; die fünfte fehlt) dreiundsiebzig
Titel enthält;^) eines der verzeichneten Stücke, die Ahvaiai (sie), wird als
unecht bezeichnet; die Vita spricht von siebzig Tragödien und ,» beiläufig''
(s. aber u. A. 1) fünf Satyrspielen; bekannt sind die Titel von neunundsiebzig
Stücken. Siege errang er nach der Vita dreizehn, nach Suidas achtand-
zwanzig; in der größeren Zahl scheinen eben auch diejenigen inbegriffen
zu sein, die mit Stücken des Dichters nach dessen Tod gewonnen wurden.*)
Jedenfalls hat Aischylos mit mehr als der Hälfte seiner Tragödien und
Satyrspiele erste Preise errungen, wiewohl ihm erst im Jahr 484, etwa
fünfzehn Jahre nach seinem ersten Auftreten im tragischen Agon, ein Sieg
zuteil wurde. ^) Auf uns gekommen sind nur sieben Tragödien in folgender
Ordnung oder Unordnung:*) lUoaat, *Ayntu\uvo)v, Xoi]rf6ooit flgofJiri&eiKt
Er/uvidfi:, 'Etttu ßm ("J/jßas, 'IxhidFg. Von diesen sieben sind wiederum nur
drei, Prometheus, Septem, Persae, häufig in der byzantinischen Zeit ge-
lesen und kommentiert, worden. Die Erhaltung gerade dieser sieben Stücke
scheint nicht auf Zufall zu beruhen, sondern dem ästhetischen Urteil eines
Grammatikers aus der letzten Zeit des Altertums verdankt zu werden.
Wir sind für die Auswahl um so mehr dankbar, als sie uns nicht bloß eine
vollständige Trilogie erhalten hat, sondern uns auch den Entwicklungsgang
des Dichters, mehr als man bei einer so geringen Anzahl von Stücken
erwarten sollte, erkennen laut. Denn bei Aischylos treten deutlicher als
bei Pindar und Sophokles die Stufen der allmählichen Ausbildung seiner
Kunst hervor; er half eben selbst an der Schaffung der Tragödie mit und
verschmähte es zugleich nicht, ans den Fortschritten, die jüngere Genossen
einführten, Nutzen zu ziehen. In der Besprechung der einzelnen Stücke
verlassen wir die verwirrte Folge der Handschriften und halten uns an
die zeitliche Ordnung, die sich aus didaskalischen Angaben und inneren
Anzeichen^) mit ziemlicher Sicherheit fest-steilen lälAt. Da aber von den
liut Tlieoplirnsto8 (hist.plant. IX 15. 1) die Ele- zu AiscIiyloH* Zeit noch nicht bestand (s. o.
gien gehabt. Porphyrios de abstin. II 1 be- : 8.257, 7. Wilhelm 158). Zu beachten ist, daß
richtet, Aischylos sei von den delphischen Prie- zu einem Sieg immer vier Stücke gehören,
Stern zur Abfiissung eines Paian aufgefordeii die Zahl 2H also, da Wiederholungen von
worden, habe aber abgelehnt. : Tragödien an den städtischen Dionysien zu
M A. DiETKKicn, Rh. M. 48(1«98) 141—6 , Lebzeiten des Dichters ausgeschlossen waren.
nacli dem Vorgang Bergks macht durch >Strei- für städtisclie Siege des lebenden Dichters
chung 72 aus den 78. W. Bannier. Rh. Mus. jedenfalls zu groß ist.
55 (lliOü) 479 f. kommt unter Annahme von ^) Bezeugt durch Marm. Par. ep. 50.
ursprünglich filuf Kolumnen a 19 Titel und *) Die Ordnung ist die des Cod. Medi-
unter Heranziehung der Zahlen des Bios auf ceus; jüngere Hdschr. beginnen mit Prome-
95 Stücke, 10 Tragödien. 20 Satyrspiele und theus.
5 zweifelhafte. In der Vita p. 38üK. ist zu ^) Kriterien höheren Alters sind: Beginn
lesen (^nfifuud (im Sinn von Tragödien) o' xni mit der Chorparodos (Suppl. Pers.), Verwen-
^'.7/ rojTf»/c oarroixa (x'^, dfiif if)(ß/jt (AÄ) f'. ' dung von zwei Schauspielern (Suppl. Pers.,
*) So A. Wilhelm. Urkunden 188. Die vielleicht Prom.), Fehlen der Hinteignmd-
Diiferenz kann nicht daher kommen, daß ein- , dekoration (Suppl. Pers. Sept.), stärkeres Her-
mal bloü die dionysischen, das andere Mal die i vortreten der lyrischen und epischen Partien,
dionysis(;hen und' lenäischen Siege gerechnet | verhältnismäßige Seltenheit der Dochmien (am
waren, weil der Tragödienagon an den Lenäen seltensten in den Persem, am häufigsten in
C. Drama. 2. Die Tragödie, b) Aischyloe. (§ 157.) 275
Tragödien des Aischylos keine ein abgeschlossenes Ganze für sich bildete,
sondern jede mit zwei andern zu einem größeren, in Inhalt und Anlage zu-
sammenhängenden^Ganzen (Trilogie) verknüpft war, so wird es auch unsere
Aufgabe sein, mit der Besprechung der nur vereinzelt erhaltenen Tragödien
(Suppl., Pers., Sept., Prom.) zugleich die der mit diesen zusammenhängenden
Stücke zu verbinden.
157. Die ^Ixexideg haben ihren Namen von dem Chor der Töchter
des Danaos, die vor den Verfolgungen der Söhne des Aigyptos in Argos
Schutz suchen und finden. Den Stoff hatte auch Phrynichos schon be-
handelt. Die Tragödie, die bei dem Überwiegen des lyrischen Elementes
mehr einer Kantate als einem Drama gleicht, zeigt in der schlichten Ein-
fachheit ihrer Anlage sichere Spuren hohen Alters: sie teilt mit den
Persern die Eigentümlichkeit, daß sie eines Prologs entbehrt und gleich
mit dem Einzug des Chors beginnt; sie hat die geringste Anzahl von
Personen, nämlich nur drei (Danaos, König von Argos, Herold der Ägypter),
die so nacheinander auftreten, daß sie mit Leichtigkeit von zwei Schau-
spielern gespielt werden konnten ; sie verlangt endlich noch keinen beson-
deren szenischen Hintergrund, sondern spielt in der Orchestra um den
großen gemeinsamen Götteraltar {}iotvoßo)jLiin), der vielleicht an die Stelle
des Dionysosaltars in der Mitte der Orchestra gesetzt war.^) Leider ist
ihr Text ganz besonders schlecht erhalten. — Den Nachdruck legt der
Dichter auf die eindringlich warme Hervorhebung der ethisch-religiösen
Grundmotive — das rührende Schutzbedürfnis ^) der verfolgten Mädchen,
die vornehme Gastfreundschaft des edlen argivischen Königs, der das Vor-
bild des sophokleischen Theseus ist, und seines Volkes sind in großen
Zügen hingestellt. Dramatisches Leben kommt nur herein, wo der ägyp-
tische Herold, mit derbem Realismus in Sitten und Sprache als Barbar
{xQQßdv) charakterisiert, auftritt, um die Mädchen fortzuschleppen, auch
er Prototyp für den Kreon des sophokleischen Ödipus Col. und den Kopreus
der euripideischen Herakliden. Seine scharf kontrastierende Figur erhöht
zugleich die Sympathie für die Verfolgten und zeigt neben der Gestalt des
Königs bedeutsame Ansätze zu individueller Charakteristik. In der Hervor-
kehrung des konstitutionellen Sinnes des Königs tut sich eine politisch-
didaktische Tendenz kund. Dieses hohe Lied aus voller Brust auf die
Erhabenheit des griechischen Gastrechts, des Zehq ^hnog, ist das lyrische
Vorspiel zu den zwei folgenden Tragödien, den ßaXajuojioiol oder Aiyvjinot,^)
der Orestie), stärkerer Gebrauch des trochä- < auf Kolonos, Euripides in den Schutzflehenden
ischen Tetrameters im Dialog, mehr Spuren
von ionischem Dialekt und ionischer Prosodie
(A. V. Mbss, Rhein. Mus. 58, 1903, 290 ff.).
Siehe a. A. Bossbaoh, Griech. Metrik * (Leipz.
1889) 779 f.
*) E. Rbisoh (Dörpfeld), Das griech. Theat.
195 hfllt es für wahrscheinlicher, daß der Altar
und den Herakliden wieder aufgenommen.
Verfehlt ist der Versuch von F. Dummlbr,
Delphika (Basel 1894) 21 f., in dem Stück eine
Exemplifikation zum attischen Eherechte (das
übrigens die Heirat von Vetter und Base gar
nicht verbot: Isae. 3, 72 f.) zu finden.
») Die von Pollux VII 122 zitierten, aber
der Schntzgötter an der Tangente des Or- in dem Verzeichnis des Laur. nicht aufge-
chestrakreises angebracht war. | führten Oa/M/no.-zotoi hat G. Hebmann, Opusc.
«) Das Motiv der IxBxeia verfolgt durch I VIH (1877) 179 und Ausg. Berl. 1859 1 329
die dramatische Litteratnr F. Leo, Plautin. mit den Aiyvjixioi identifiziert. F. G. Welckeb
Forschungen 177. Sophokles hat es im Oidipus | zog anfangs die SaJ.afwnoioi zur Iphigeneia-
18*
276 Griechische Litteratnrgeschichte. L KlasuBche Periode.
welche die Hochzeit der Söhne des Aigyptos und der TOchter des Danaos
zum Gegenstand hatten, und den Aavatdet;,^) in denen Hypermestra, die
allein vor dem Frevel, ihren neuvermählten Gatten Lynkeus in der Braat-
nacht zu ermorden, zurückgeschreckt war, vor Gericht gestellt, aber durch
Vermittlung der Aphrodite freigesprochen wurde. Wenn in der Trilogie
Argos als Vertreterin hellenischer Gastlichkeit dargestellt wird, so ist
dieser Zug von der Sage gegeben gewesen; besondere Zuneigung des
Dichters zu dem geschichtlichen Argos spricht sich nirgends aus, und
Schlüsse auf die Abfassungszeit, die sich auf diese Auffassung stützen,
sind nicht anzunehmen.^) Den Stoff zu den drei Tragödien scheint
Aischylos, wie auch Bakchylides in der neunzehnten Ode, dem alten Epos
Danaides entlehnt zu haben. 3)
158. Die rifQoai bildeten nach der erhaltenen Didaskalie das Mittel*
stück einer Trilogie und wurden im Jahre 472 aufgeführt. Chorege war
Perikles.*) Sie haben die Wirkungen des Sieges der Hellenen bei Sa-
lamis auf die Perser zum Gegenstand; der Dichter hat die Szene nach
der persischen Hauptstadt Susa verlegt, wohin der König Xerxes nach
seiner schmählichen, durch eigene Überhebung verschuldeten Niederlage
in zerlumptem Gewand zurückkehrt. Der Stoff dieser Tragödie ist also
nicht dem Mythus, sondern der Geschichte entnommen; darin ist Aischylos
dem Phrynichos gefolgt, dessen vier Jahre zuvor aufgeführte 0oivioaai
nach dem Zeugnis des Glaukos dem Aischylos zum Vorbild oder auch zur
Folie für eine verbesserte Inszenierung desselben Gegenstandes dienten.*)
Auch die Perser erfordern wie die Schutzflehenden nur zwei Schauspieler
und entbehren wie diese des iambischen Prologs und des szenischen Hinter-
grundes; aber die Darstelhmg zeigt weit melir künstlerische Steigerung,
indem uns zuerst die Unheil ahnende Stimmung des Chors und die schweren
Träume der Königin Atossa in die dumpfe Atmosphäre vor dem Heran*
nahen des Gewitters versetzen, bis dann mit der Unglücksnachricht des
Boten und der Kückkehr des niedergeschmetterten Königs das Gewitter
sich mit allen seinen Schrecken entlädt.*) Kunstvoll ist auch die Weise,
trilogie, stimmte aber später Rh. M. 13 (18r»8) Technik setzt er das Stück vor 480. Daß
189 ff. Hermann bei. R. Wkstphal, Proleg. 4 das Stück vor dem Prometheus gedichtet war,
stellt die Aiyi\-niot als ein von den Hnka/tontnoi darüber s. u. 8. 283. G. Müller, De Aeschvli
vei'schiedenes Stück zu ;l///n'r'j)'u. '/'^r^ooraom. supplicum tempore atque indole. Dias. Halle
») (j. Hermann, De Aeschyli Danaidi- 190H.
bns, Opusc. II 319 ff. " ') N. Wecklein, MOnch. Akad. SitK.ber.
*) K. 0. Müller in Ansg. der Kumeniden h^93. 11 393 ff.
((iött. 1833) p. 123 u. (ir. Litt. IP 88 hat im -*.) CIA 11971a. Wilhelm. Urkunden 16.
AiiHchluü an A. Böckh die Schiitzflehenden Schlüsse auf ein persönliches Verhältnis des
an den Schluß von Ol. 79 (461) als in die Zeit, Dichters zu dem Staatsmann weist mit Recht
, in welcher der Bund von Athen und Argos Wilamowitz, (iött. Gel. Anz. 1906,681 «urück.
im Werk war*, setzen wollen. Auf das Jahr *) Argum. Pers.: I^urxfK ev tth negi
400 59 will F. Bücuelee, Rh. M. 40 (1X85) Am/rAor iirfhov r>t T(oy fPotviao€Üv q^rjat ^r-
627 ff. auch den Vers 152 (Anspielung auf den ! ri/or roi.: Jlynaa^ nnoa.iF.7oirfa&ai, e?eu&ffai
Parthenonbau) deut^in. Richtig urteilt da- iM' yni rifr no/J/r rov Aori/mro» ravzrfr'
gegen WiLAMowiTZ, Herrn. 21 1 1886) 608 Anm. rmV iort UFomTty to>v jidXat ßfßrixoxfor.
Viel weiter hinauf geht mit Recht A. Körte, .T/i)r yxtJ rivor/ds; forty ayyiiXtov h oqxH
Mclanges Nicole. Genf 1905, 289 ff'. Unter | ri/v ror Zhj^oi- JiTTnr aroQyrg ts ^qovwk: ura^
Hinwei.s auf V. 135 f.. wo er die ino.-nn auf ro/V r/yc (io/i)^ .^fw^^ool^, gyravÖa de :tqo-'
die voi'pei-sischen Propyläen deutet, und auf . koyt^ei /<>i'"^' nnFoßvuln*,
die groüe Alteiiümlichkeit der dramatischen | ®) Lückenhaftigkeit des Schlusses der
C. Drama. 2. Die Tragödie, b) Aischylos. (§ 158.)
277
wie durch Beschwörung des Geistes des Königs Dareios ein Gegensatz
von heute und ehedem geschaffen und der Blick der Zuschauer über die
Seeschlacht bei Salamis hinaus auf die Zukunft und die Niederlage bei
Plataia gelenkt wird. Aber sicherlich noch weit mehr wirkte im Theater
zu Athen der nationale Hintergrund, den der Dichter durch die von der
Königin provozierten Mitteilungen des Chors über die Zustände Athens
zu steigern verstand; lauter Beifall lohnte den Dichter gewiß bei den
Versen 241 f.:
AT. rig dk JioijbidvcoQ ejteori xäjtideojiöCsi argarco;
XO. ovTivog dovkoi xixlrjvtai (pcoxbg ovo* vjit^xool
Im übrigen steht das ganze Stück unter einer religiösen, nicht einer
nationalen Betrachtung. Xerxes und sein Volk sind kaum^ als Barbaren
charakterisiert, geschweige denn in gehässiges Licht gerückt; im Gegenteil
wirbt die ehrwürdige Patriarchengestalt des Dareios Sympathie für die Perser.
Ohne allen nationalistischen Chauvinismus sieht Aischylos wie Herodot in
der Niederlage der Perser das göttliche Strafgericht für die Überhebung
des Perserkönigs, die wie bei Herodot (VIII 143) und Isokrates (4, 155 f.),
zumal durch den Gegensatz gegen Dareios, als seine persönliche Schuld
gekennzeichnet wird. Eine wiederholte Aufführung der Perser in Sizilien
ist durch das Zeugnis des Eratosthenes^) verbürgt.
Die vollständige Tetralogie bestand aus den Tragödien ^ivevg, Ilegoai,
rXavxog IIoTvievg^) und dem Satyrdrama ngojurj^evg Jivgxaevg.^) Im ersten
Stück, das von dem alten Thrakerkönig der Argonautensage den Namen
hatte, war wahrscheinlich der Durchzug des Perserheers durch Thrake,
im Glaukos, der von dem Dorf Potniai auf dem Weg von Plataia nach
Perser nahm an und ergänzte ihn durch
eigene Nachdichtung H. Köchly, Vhdl. d. Phil,
in Innsbruck 1874, 65 ff.; doch erhob sich
dagegen allseitiger Widerspruch. Der Vor-
wiu^, es fehle Jede Einheit der Handlung'^
(WiLAMOvnrz, Herrn. 32, 1897, 390), ist maßlos
übertrieben und beruht auf einer ganz äußer-
lichen Auffassung von Einheit. Über die
dramatische Notwendigkeit der Dareiosszene
8. gegen Richters Einwendungen H. Weil,
iSltudes sur le drame ant. 35 ff.
^) Atossas auffällige Sorge um die Klei-
dung ihres Sohnes könnte so gedeutet wer-
den, wenn hier nicht in erster Linie szenische
Rflcksicht maßgebend wäre (es mußte moti-
viert werden, weshalb Xerxes im Stück nicht
in zerrissenen Kleidern erschien, wie eigent-
lich angekündigt war V. 199. 466. 825 f.
838 E. ; Aischylos brachte eben keine Helden
in Lumpen wie Euripides auf die Bühne; die
Aufforderung des Xerxes V. 1031 K. braucht
nicht sofort befolgt worden zu sein; 1001
konstatiert, was früher, sogleich nach der
Schlacht, geschehen war) ; wirklich orientalisch
ist das fassungslose, langgezogene sogen. Heul-
duett 889 ff. (vgl. Herodot IX 24); E. Rohde
(Psyche II* 233 A.) fühlte sich auch durch
V. 831 E. an orientalische Motive erinnert.
*) Schol. Ar. ran. 1028; gewiß hat aber
Eratosthenes seine Kenntnis von dieser Tat-
sache nicht aus der witzigen Karikatur des
Aristophanes an der angeführten Stelle ge-
zogen, aus der freilich schon im Altertum
und in neuer Zeit (Bergk) fälschlich auf eine
doppelte Redaktion der Pei*ser geschlossen
worden ist. Siehe H. Weil, Rev. des 6t.
grecques 1 (1888) 24ff.; J. Schönemann, Rhein.
Mus. 42 (1887) 467 ff.
') Der Zusatz FIoTrtfVs fehlt im Argum.
Pers. der alten Mediceerhandschrift , rührt
' aber trotzdem sicher aus der alten Tradition
I her; er sollte unseren Glaukos von dem Satyr-
I drama Glaukos, über das Servius ad Verg.
I Aen. V 823, unterscheiden. F. G. Welcker,
Aeschyl. Tril. 47 u. Rh. Mus. 5 (1837) 236
dachte an den Meergott Glaukos Pontios und
nach fr. 37 N.^» und Pind. P. I 75 an eine Ver-
herrlichung des mit der Schlacht von Salamis
gleichzeitigen Sieges über die Karthager bei
I Himera. — Einen JJuyuog I^arxog in Tetra-
I metern dichtete nach Plut. Cic. 2 der junge
I Cicero, sicher nicht nach Aischylos (s. Ath.
I 297ab).
*) Der Zusatz jzvQxaevg steht nicht in
der Didaskalie; der Tlo. :ivgxa£vg war jeden-
falls ein Satyrspiel (fi, 205 N.«).
278 Ghriechische litteratnrgescliichte. I. Elassische Periode.
Theben den Beinamen Potnieus liatte, die Schlacht von Plataia und der
gleichzeitige Seesieg der Griechen Siziliens über die Karthager bei Himera
berührt. Es haben also auch hier die Stücke der Trilogie in einem inneren
Zusammenhang gestanden, wenn sie auch nicht Teile einer und derselben
Handlung bildeten.
151>. Die 'Enra tTrl (-^/ffias — ein abgesehen von den alten theba-
nischen Epen auch in einem Dithyrambus der Korinna behandelter Stoff»)
— wurden als drittes Stück zusammen mit Laios, Oidipus und dem Satyr-
spiel Sphinx im Jahr 467 aufgeführt-. Aischylos siegte mit dieser Tetra-
logie über Aristeas und Polyphrasmon, die Söhne seiner alten Nebenbuhler
Pratinas und Phrynichos. Wir begreifen leicht aus dem einen uns erhal-
tenen Drama das Urteil der athenischen Richter. Es ist nicht bloß ein
donua l-lofri)? jutoToy, wie es Aristophanes in den Fröschen 1021 nennt,
sondern läfit auch weit mehr als die beiden ersten Stücke den Dialog zur
Geltung kommen, ohne daß deshalb die melischen Partien des von banger
Furcht erschütterten Frauenchors an wirkungsvoller Schönheit etwas ein-
gebüßt hätten. Einen Glanzpunkt der Tragödie bildet die Schilderung der
sieben feindlichen Heerführer und der sieben Thebaner,*) die an jedem der
sieben Tore der Stadt einander gegenüberstanden; mit fein berechnender
Kunst sind hier der besonders liebevoll nach dem Muster des gerechten
Aristeides^) gezeichnete Ampliiaraos und das unselige Brüderpaar Poly-
neikes und Eteokles, deren Zweikampf den Höhepunkt des Dramas bildet,
an den Scliluß gestellt. Indessen die volle Herrechaft über den Dialog
hat doch auch hier der Dichter noch nicht gefunden: in jener langen Partie
rückt die Handlung nicht weiter, und man meint mehr nur einen Zyklus
von Bildern zu schauen. Das Stück bedarf noch nicht eines dritten Schau-
spielers, sondern nur eines weiteren Sängers M füi* das Klageduett der Anti-
gene und Ismene, und steht dadurch technisch der älteren Gruppe näher.
L)ie großartig düstere (iestalt des Et4>okles, der freiwillig den alten Fluch
zur Vollendung führt (()38 K.), zeigt den Dichter auf dem Weg von der
Schicksals- zur Charaktertragcidio. Auffällig ist, daß der Schluß (989 bis
lOG^ K.) einen durch den Verlauf der Handlung nicht begründeten Hinweis
auf das Verbot der Bestattung des Polyneikes und die heroische Weige-
rung der Antigene, dem Verbot Folge zu leisten, enthält. Dieser Schluß
hat die Gelehrten, bevor J. Franz im Jahre 1848 die Didaskalie im Cod.
Laurentianus entdeckte, zu allerlei jetzt abgetanen Vermutungen über ein
*) Das Motiv von don /^omelnscliaftlich ffinf Kanipfpaare sind nicht individuell be-
reu; ierondo ii. sicli bekftmpfondon und schliofj- lebt (.1. Bruns, Das litterar. Porträt der Grie-
lirh tötenden Hrttdein lebt nocli in nennrie- oben im 5. u. 4. Jabrh., Berl. 1896, 56 ff.) —
chisrbor Volkssage (K. Dietkiuch. N. Jalirbb. Kuripides gibt in den 'lyJuüfQ eine Ver-
f. kbiss. Alt. 17, 1900, lUf.). bessening dieser Stelle — , erst mit dem
■) Über die (in «ler Tberliefening freilich sechsten Angreifer setzt eine schöne Steige-
zunächst nicht erkennbare) symmetrische An- ' rnng ein.
läge dieser Partie s. ¥. KrTSOHL. Opnsc. I ') Den V^ers 575 or yao SoxfTv aotnroct
ÜOO tf. r. MAsgiTKKAV. Melanges Weil 2s8tf.: ä/./.' ftvta ,'ff/.n })ezog das Theater unter lautem
gegen die Symmetrie R. Schild. De respon- Beifall auf Aristcides nach Piut. Ariat. 8.
sione quae in Acschyli fabula Thebana iriter i *) H. Weil, Rev. dea 6t Grecques 1
binivs nuntii et regis orationes intercedere (188^<) 20.
creditur. Trogr. Nordhausen 1900. Die ei-sten ,
C. DranuL 2. Die Tragödie, b) Aischylos. (§§ 159—160.) 279
den Sieben nachfolgendes Stück verleitet. 0 Durch die Didaskalie wissen
wir jetzt, daß die Sieben das letzte Stück der Trilogie waren, und seither
wird fast allgemein der Schluß für unecht gehalten, eine Auffassung, gegen
die sich neustens eine berechtigte Reaktion geltend macht.*) Ist der
Schluß echt, so enthält er den Keim zu Sophokles' Antigone.
Von den mit den Sieben verbundenen Stücken Laios, Oidipus, Sphinx
sind nur ganz dürftige Reste erhalten. 3) Aber so viel lernen wir auch
aus der erhaltenen Tragödie kennen, daß der Dichter mit großer Kunst
die tragischen Momente des alten Mythus teils beibehalten, teils durch
wirksamste Um- und Zudichtung verstärkt hat: die Selbstblendung des
Oidipus, von der die alte Sage bei Homer in der Nekyia (Od. X 271) ganz
schweigt,*) ließ Aischylos auf die Erkenntnis der blutschänderischen Ver-
bindung mit der eigenen Mutter folgen (Sept. 761 fif.); die vier Kinder
Eteokles, Polyneikes, Antigone, Ismene, die nach dem alten Epos Oidipus
mit seiner zweiten Gemahlin Euryganeia erzeugt hatte, ^) machte er durch
schaudererregende Modifikation der Überlieferung zu unseligen Sprossen
der gottlosen Ehe des Sohnes mit der Mutter, ß) Im übrigen paßte der
grause Fluch, den nach dem alten Epos der Vater über seine lieblosen
Söhne ausstieß, dem Tragiker trefflich in seinen Plan, und der trilogischen
Verknüpfung diente vorzüglich die zwiefache Schicksalsfügung, daß der Sohn
den Vater, der die Mahnung des Orakels in den Wind geschlagen hatte,
ohne Vorwissen tötet, und daß an den Söhnen wiederum der Fluch, den
der gereizte Vater im Zorn ausgestoßen hatte, in schrecklicher Weise
sich erfüllt.
160. Der nQojüit]{^fv<; deojüLiOTijg^ benannt von dem Hauptträger
der Handlung, ist der einzige erhaltene Repräsentant einer Göttertragödie. ^)
An ihn schloß sich jedenfalls der IlQOjUfjOebg Xuojuevog^ mit dem der inhalt-
liche Zusammenhang schloß.®) Der nQOßitjffsvg jivQxaevg scheint zur Perser-
*) Vgl. K.O. Müller, Gr. Litt. II' 84; A. ' wahrscheinlich aber dachte sich so auch
F. Nake, Rh. M. 27 (1872) 193 ff. , Homer a. 0. das Sachverhältnis. Nach Pau-
') J.Obebdick, De exitu fabulae Aeschy- ' sanias hat auch noch der Maler Onasias, ein
leae qnae Septem ad versus Thebas inscribitur, ! Zeitgenosse desPolygnotos, auf einem Gemälde
Arnsberg 1877. Den ursprünglichen Schluß , dargestellt xatTjf^fl lijv Kvnvydvfiav f.Tt ifj
und die jüngere Zutat zu scheiden, vorsucht ' ftd/ji '"''>»' -^aifiiov. K. Robert, Apophoreton,
WiLAMOWiTZ. Drei Schlußszenen giiechischer | dargebracht der Philologen Versammlung in
Dramen, Berl.Ak.Sitz.ber. 1903, 436 ff. Nach- Halle, 1903, 115, erblickt in der Euryganeia
dem auch H.Well (a.a.O. 17 ff.) sich neuer- nur eine Namensvariante für lokaste.
dings der Verwerfung angeschlossen hat, ist ^) Sept. 736. 910 K.
für die Echtheit mit überzeugenden Gründen I ') Zum ynoc TFoarwdf^ rechnet Aristot.
eingetretenM.WüNDT, Philol. 65 (1906) 357ff. poöt. 1456 a 2 den I/o. und die (pooxiöec.
•) Zum thebanischen Sagenkieis gehörten I ®) So richtig H. Weil, Etudes sur le
anch die drei Stücke 'AoyeToi , 'EXevoivioi^ i drarae ant. 86 ff. gegen R. Westphal, Proleg.
*E3iiyav<H, zu Äschyl. 207 ff., der den I/o. nvoqoooi; als
*) Das thebanische Epos Oidipodeia | Schlußstück verstand. Für die dabei voraus-
kannte die Blendung, wenn anders das Scho- j gesetzte Bedeutung von nvQqoQog spricht
lion zu Eur. Phon. 1760 ein Exzerpt der ! PoUux VUI 116: jivoqooos' jialg jtvq ejri tov^
Oidipodeia enthält (so E. Bethe, Thebanische , ßiouoh imnOFii;, was indessen auch auf die
Heldenlieder), aber unklar bleibt, ob es sie I Komödie //vtxfdgog des Diphilos bezogen
an derselben Stelle wie die Tragödie er- werden kann. Möglich ist auch, daß der
folgen ließ. | Scholiast zu Prom. 94 sich in seinem Zitat irr-
*) So sicher der Dichter der Oidipodeia tümlich auf den Ilgof^i. .^vgtfdgog statt auf den
nach dem Zeugnis des Pausanias 1X5, 11; | Hgofi. kvo^tevog bezogen hat; wenigstens er-
280
Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klaasisohe Periode.
trilogie als Satyrspiel zu gehören. Den TTQOfiTjdevg 7TVQ<p6gog^ der ebenCEÜls
zitiert wird, kann man sich als Anfangsstück einer Prometheustrilogie
denken. 0 Will man das nicht, so besteht auch die Möglichkeit, daß der
Prometheusstoff nur in zwei Tragödien abgewandelt war,') denen ein (uns
unbekanntes) Satyrspiel folgte. Der auf den deofiwTrig folgende (Schol. Prom.
513 K.) IIoomidFvg Xvofievog enthielt nach einem alten, bereits beiHesiod theog.
525 ff. vorkommenden Mythus die Erlösung des gefesselten Prometheus durch
Herakles, der den Adler, welcher dem Halbgott die Leber abfraß, offenbar
im Einverständnis mit Zeus (Hos. theog. 529; Matris bei Diod. IV 15, 2),
mit seinem Bogen wegschoü.^) Das Stück war in strenger Symmetrie
zum Ilgojujjßevg deo/uornjc; gebaut und schloß mit der Stiftung des athenischen
Prometheusfestes.*) Die hohe Bedeutung des uns erhaltenen Stückes,
dessen Szene am Ende der Erde in der skythischen Einöde (nicht am
Kaukasos) ist, liegt nicht in dem Aufbau der Handlung, die durch die
Unboweglichkeit des angeschmiedeten Helden fast völlig ausgeschaltet wird
— das Ganze ist eigentlich von V. 88 — 943 eine durch Episoden in ziem-
lich äußerlicher Weise*) unterbrochene lyrische Szene — , sondern in der
zählte nach dem Zitat des Philodcmos de pietate
p. 39 ed. GüMPKRZ Aio/vko^ ry rot krofin'ot
IIooiujOfT . . . r.To .I/<«? fitiXiobmy (vgl.
Naück, T(iF* p. 69) Prometheus auch in dem
gelüsten Prometheus von seiner Fesselung
durch Zeus. Sicher ist es weder Westphal
noch einem seiner Anhänger» auch nicht
dem neuesten, N. Teuzaghi, Prometeo, Con-
tributo allo studio di un mito religioso llel-
lenico, Firenze 1904, p. 77 gelungen, für das
von ihnen angenommene dritte Stück der Tri-
logie einen ausreichenden Stoff zu gewinnen.
*) F. G. Welckkk, Die äschyl. Trilogie
Prometheus und die Kabirenweihe zu Lemnos,
nebst Winken über die Trilogie des Asch.
überhauj>t, Darmstadt 1^24, mit Nachtrag,
Frankfurt 1826. Die Meinung, daß der
Ilnou. .iroffdoiK das criite Stück der Trilogie
gebildet habe, wird verteidigt von E. Buss-
LER, Jahrbb. f. kl. Phil. 147 (1898) 276 ff.
Schwierigkeit macht aber immer der Um-
stand, daß in dem erhaltenen Prometheus
selbst der Feiierdiebstahl und was mit ihm
zusammenhängt, ausführlicher erzählt ist, als
man, wenn ein Stück .Feuerholer Prometheus*
vorausgegangen wäre, erwarten sollte.
^) Siehe o. S. 257. 1. Die Auskunft von
Bemhardy. Dindorf und Bergk. das dritte
Stück der mit f/o, i^foft. uu(l h'ou. begon-
nenen Trilogie habe einen ganz anderen
Stoff behandelt, ist für Aischylos schwerlich
annehmbar.
^) Nach den zahlreichen Fragmenten des
griechischen Originals und der lateinischen Be-
arbeitung des Acciiishat ("ü.F. Sciiömann, Opusc.
ac. III (1858) 81 ff. eine poetische Rekonstruk-
tion des gelüsten Prometheus versucht, wobei
er freilich gleich im Anfang bedenklich von
dem Original abwich, da dieses nach Prokop
bell. Goth. IV 6, 15 (aus Arrian. peripl. 19)
i mit dem Chor der Titanen anhab. — Die
schöne Sago wurde auch durch die bildende
Kunst verherrlicht, auf alten Vasen wie aaf
dem kapitolinischen Promethenssarkophag,
einem pompeianischen Wandgemälde (W.Hn-
Biu nr. 1128), einem Gemälde der Villa Pam-
lili (0. Jahn, Abh. d. bayr. Ak. VIII. 1858,
237 ff. u. Taf. I), einer neuerdings anfgefon-
denen, von A. MilcuhGfeb, Befreiung des
Prometheus, 42. Berl. Winckelmannsprogramm
' (lb(82). richtig gedeuteten Marmorgrappe von
Pergamon.
**) Siehe H. Weil, £tudes sur le drame
ant. 70 ff. Dem Chor der Okeaniden, die
sich im <Vo//o>rr/^- dem verlassenen Prome-
theus nähern, entspricht im /.röurvtK: der
Chor der Titanen; der vielumgetriebenen lo
des d. der woltdurchwandemde Herakles
des /.., der die von lo gegebene Periegese
des Ostens und Südens durch eine solche
des Westens und Nordens ergänzte. Wird
Prometheus im d. von llitze versengt (v. 22.
148 K.), so quält ihn im /.. grimmige Kälte
; (Luc. Prom. 1 geht auf die im x. geschilderte
Fesselung an den Kaukasus). FOr die (frei-
, lieh sehr phantastischen) geographischen Ex-
kui-se darf bei dem Publikum des Aischylos
wie bei dem Shakespeares (M. Koch, Shake-
I speare, Stuttg. 1885, 67. 91) lebhaftes Inter-
esse vorausgesetzt werden.
I *) Okeanos wird in einer Szene, die übri-
gens Aischylos unmöglich gedichtet haben
kann, als besorgter Vater, der seine entflohenen
' Töchter sucht. lo als Leidensgefährtin des
Prometheus und Stammutter seines Retters
I Herakles eingefühlt. Auch die Okeaniden
sind nicht bloü, da man am Rand der Erde
, ist, Nachbarinnen, sondern auch Verwandte
des Prometheus (v. 550 ff. K.; Hesione, die
Frau des Prometheus, ist ihre Halbschwester).
C. DranuL 3. Die Tragödie, b) Aischylos. (§ 160.)
281
Charakteristik des Titanensohnes. Auf seinen Charakter ist die ganze
Tragödie gestellt — gäbe er nach, so wäre sie unmöglich — , und von
der Beurteilung dieses Charakters, beziehungsweise der Erkenntnis des
Urteils, das der Dichter selbst über ihn gehabt, hängt alles ab. Vor
Modernisierung, sei es im Sinn des Goetheschen Prometheus von Sturm
und Drang, sei es im Sinn eines Mystizismus, der sich vor dem gefesselten
Prometheus an den gekreuzigten Christus erinnert fühlt, ^) muß man sich
hüten. Indem Aischylos den attischen Handwerkerdämon aus dem Töpfer-
viertel zum tragischen Helden erhob, ist er in Hesiods Spuren weiter-
gegangen.') Spielt schon bei Hesiod Prometheus eine zwar bedenkliche,
aber jedenfalls bedeutungsvolle Rolle in der Geschichte der Menschheit
und ihres Verhältnisses zu den Göttern, indem er diese überlistet und
nun, als wäre er Repräsentant aller menschlichen Wünsche und Bestre-
bungen, durch seinen persönlichen Frevel den Fluch der Götter dem ge-
samten Menschengeschlecht zuzieht, so hat Aischylos diesem alten, Sisyphos-
oder Odysseus-ähnlichen Typus die naheliegenden dramatisch wirk-
sameren ethischen Züge maßlosen Stolzes und Trotzes gegen die Götter
und hilfsbereiten Erbarmens gegen die Menschen beigefügt. Von Aischylos
ist seiner ganzen Weltanschauung nach zu erwarten, daß er nicht die Partei
des Zeusfeindes ergreift. Der Prolog stimmt zwar, besonders durch das
brutale Auftreten des Kratos und die mitleidige Haltung des Hephaistos,
zur Sympathie für den Helden, dem Zeus seine Hilfe so schlecht gelohnt
hat, und die Götterfeinde ergehen sich frei in schweren Vorwürfen gegen
Zeus' rohe Willkürherrschaft.*) Aber nur ungeschichtliche Voreingenonmien-
heit kann meinen, der Dichter stimme in diese Vorwürfe mit ein, oder
sich verschließen gegen die vielen Züge im weiteren Verlauf des Dramas,
durch die er dem Helden die Sympathien nach und nach wieder entzieht.
Die Neigung des Prometheus, sich bemitleiden zu lassen (271 fif., 636 K.),
mit seinen Leiden und seinen Verdiensten zu prahlen (103 fif., 202 fif.,
441 fif., 507, 610 f. K.), die virtuosenhafte Art, wie er in der Prophezeiung
an lo sein geographisches Wissen ausbreitet,*) wie er den Hörern die
Wahl läßt, was er ihnen eröfifnen soll (778 f. — man erinnert sich an das
sophistische „jiooßdU.eze''), wie er sich einer Probe auf die Richtigkeit
seiner Verkündigungen aussetzt (822 fif.),^) sein mechanisch rationalistischer
Qerechtigkeitsbegrifif, der ohne weiteres Ausgleichung der Rechte zwischen
Göttern und Menschen fordert, des Abstandes uneingedenk, — alles dieses
sind Züge eines vorwitzigen Weltverbesserers, der den Namen oo<piGTijg
im tadelnden Sinn (461, 472, 943, 1010) verdient. Daß hier der Dichter
aktuelle Fragen seiner Zeit im Sinn gehabt und zu ihnen Stellung ge-
*) E. V. Lasaulx, Über den Prometheus-
mythus, die Sage und ihr Sinn, Würzb. 1843.
*) Über die ümbUdong der überlieferten
Sage bei Aischylos H. Wbil, Stades sur le
drame ant. 61—85.
') Von einer Charakterentwicklong des
Zena, von der jetzt wieder W. Nestle (N.
Jahrbb. 19, 1907, 235 ff.) spricht, kann keine
Rede sein. Dai ein Grott seine Übermacht gegen
die Verächter braucht, verstand sich für das
Publikum des Aisch. von selbst, und daß er
sie zum Segen gebraucht habe, muß im
zweiten Stück bei Prometheus' Unterwerfung
zutage gekommen sein.
*) Von einer ooq^ionxif axgoaoig redet
Luc. Prom. 4.
^) Ähnlich übrigens Kassandra Ag.
1138 ff. K.
282 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
nommen, dal^ er an die Auflehnung der neuen Wissenschaft und Technik
gegen die überlieferte Autoritätsreligion gedacht und eine Versöhnung in
der Art. daß diese neuen Strebungen, die ihm so wenig als dem Sophokles
sympathisch waren, sich in die göttliche Weltoi-dnung demütig einfügen
müssen, habe andeuten wollen, daran ist nicht zu zweifeln: die Menschen-
freundlichkeit darf nach seiner Ansicht nicht auf Kosten der Gottesfurcht
gehen. — In der Form freilich, wie uns das Stück vorliegt, kann es nicht
von Aischylos gedichtet sein. Zwar der Aufl)au des Ganzen ist durch die
genaue Korresponsion mit dem Iloouijthrs Ärniifroi:: geschützt und der
lyrische Charakter folgt mit Notwendigkeit aus der ganzen Situation;
aber nach dem Prolog, dessen Kchtheit sich aus der altertümlichen Sym-
metrie des Dialogs zwischen Kratos und Ilephaistos*) ergibt, müssen starke
Umarbeitungen vorgenommen worden sein, l'nmöglich kann der ungeschickte
Dialog zwischen Prometheus und Okeanos echt sein; daß die Partie V. 88
bis 437 ursprünglich anders ausgesehen haben muli, geht aus V. 438 f.
hervor, die zum Vorangehenden nicht pjissen. Auch die Sprache, die
metrische Tc^chnik, die Wahl der Versmaüe, der lyrischen Formen, ins-
besondere der starke Gebrauch der Monodien, der groüe Maschinenapparat
für die Inszenierung erregen berechtigte Zweif(4 an der Echtheit und Ein-
heitlichkeit der Form. Das Stück stellt sich als ein Zwitterding zwischen
altem und modernem Stil dar, und wir müssen die Frage offen lassen, ob
die Modernisierung sieh auf die Form beschränkt oder auch den Iiüialt
ergriffen habe.^) — Über die Zeit der Aufführung fehlen didaskalische
Zeugnisse.») Der Hinweis auf die Siziliens Fluren verwüstenden Feuer-
ströme des Typhon (V. '^71 ff. K.) zeigt, daU das Stück nach dem Ausbrach
des Ätna*) und dem Aufenthalt des Dichters am Hof des Uieron, ako
nach 475 gedichtet wurde. Die Chorparodos zur Eröffnung des Stückes
hatte schon Phrynichos 47G aufgegeben, während sie Aischylos noch 472
*) Kratos lint je zwoi (v. oS ist mit Kielil wie <!io Vasen derartige Mcennfldchen
zu streirheni, Ifepliaisto» je iMfien Vors. tlarsteilen (S. Heinagh, Repertoire des
-) Ältere Litteratur über die Kehtheits- peintji I. Paris iJSHy, 89 und sonst), jede da-
iiii'j^e verzeiehnet .J. Okkki>u:k. Wocheusehr. zelne auf betttigeltem Seepferd hereingekom-
f. kla^s. l*liilol.r> (188S; I3u51f.; liervcirzuhehen iiieii und von diesem ti/o^ (vgl. o/»/i*a Ar.pW.
istdievcrständigc Arbeit vonF.KrssMAiiLY.lJe- SGÖ: F^iir. Tro. .s84; Diog. Apoll, in H. Duu*
obachtiiniren zum Prom. des Asch., HerJ. l^SH. Vorsokr.^ p. ^54. 28: Aol. de nat. an. XII 45)
I>en niclit ^anz unbefangenen Kinwendun^en, dann abgestiegen. »Solche hölzernen rfoara, die
die K. Westphal (IVole^'. z. Äsrli., 18^)9. auch bei Festzügen im Gebrauch waren, hiefiei
S. 19ff.) Riegen «iie lyrischen Teile des Pr. er- yüraiinn (Xen. Ages. 8. 7; Polemo IL fr. ÖS
hob. suchte? IL Weil, Kev. des et. ur 1 (1><88) M.; Plut. Ages. 19; Hesych. s. fcdntidoar).
21 f. den Hoden zu entziehen. Die (legen- Klü^'elwa^en kennt die griechische Kunst nir
instanzen faljt unter selbständiger Weiter- für 'J'riptolemos.
behanillung der szenischen Fragen zusammen ^,i Die Ansetzung der PromeÜue zwisdMB
E. Hkthk. Proleg. z. ( Jesch. des Theaters im 472 u. 4*)7. die auch A. Körte annimmt, vA
Alteit. l.'»9 If. Nach Hethes Meinung könnte durch die Erwägungen von H. Wbil. £t SU
der i'r. die jetzige Form frühestens in den le drame ant. 17 nicht genügend gesttttxL
zwanziger Jahren des 5. Jahrhunderts er- "*i Die glänzende Schilderung Pindaii
halten haben. Sehr wenig glücklich btduin- P. 1. 1") 28 (470) ist offenbar Vorbild flr
delt K. KouKicr. Herrn. JU 1 18901 i}V)\ tf. die J*rom. :V).')—87() K. gewesen. Daß gerade ■
Hühnenfia.^e im Pr. Aufzugeben ist jeden- diesem Stück Pindars Einfluß wirksam ili»
falls die von V. 135 K. ausgegangene lächer- zeigt bescmders die Vergleichung von Rai
liehe Verstellung von einem beflügelten Is. 8, 32 mit Prom. 762 AT. K.
Okeaniden-Omnibus. Die Okeanidcu sind,
C. DranuL 2. Die Tragödie, b) Aischylos. (§ 161.) 283
in den Persem beibehält. Da nach 6. Hermanns zweifellos richtiger An-
sicht*) Prometheus' ungeheure und offenbar im wesentlichen unbekleidete
Gestalt durch eine Puppe dargestellt werden mufite, so genügten für die
Aufführung zwei Schauspieler (I. Hephaistos, Prometheus IL Kratos,
Okeanos, lo, Hermes). Die Vergleichung von Prom. 853 K. und 855 mit
Suppl. 8 und 58, insbesondere der phantastischeren Ausschmückung von
los Fahrt Prom. 705 fif., 788 flf. mit der einfacheren Darstellung 2) Suppl.
521 flf. lehrt, daß der Prometheus nach den Schutzflehenden anzusetzen
ist. Wenn — was aber sehr unsicher — Pindar P. 4, 291 mit kvoe dk
Zevg ätp^trog Tixävag, iv de XQ^^^P iieraßokal Xrj^avroq ovqov iarlcov auf die
Promethie anspielte, so wäre ein Terminus ante quem gegeben, da jene
Ode auf einen pythischen Sieg im August des Jahres 462 geht. 3)
161. 'Aya^ifxvoyv, XorjtpoQoi und Evuevideg bilden zusammen die
sogenannte Orestie,*) die 458 zur Aufführung kam und den ersten Preis
erhielt.^) Das Satyrspiel dazu war der Proteus, auf den schon im Aga-
memnon V. 595 fif., 652 fif., 805 f. K. hingewiesen ist®) und der mit den drei
Tragödien insofern zusammenhing, als der Meergott Proteus bei Homer
Od. d 511 fif. dem Menelaos das schauerliche Geschick des Agamemnon
weissagt. Die erhaltenen drei Tragödien waren wahrscheinlich die letz-
ten, die Aischylos in Athen zur Aufführung brachte, da er bald darauf
nach Sizilien auswanderte und dort den Tod fand. Jedenfalls sind sie die
vollendetsten unter den uns erhaltenen, und namentlich steht der Aga-
memnon an Stimmungsmalerei, Personencharakteristik, dramatischer Be-
lebung^) und Bühnenwirksamkeit unter den großartigsten Werken aller
tragischen Dichtung, unmittelbar an Shakespeares Seite. Den Stoff zu der
Trilogie, deren drei Teile, Ermordung des heimkehrenden Königs, Rache
des Orestes an der frevelhaften Mutter und ihrem Buhlen Aigisthos, Süh-
nung des von den Furien verfolgten Muttermörders, ein großes in sich
geschlossenes Ganze ausmachen, entnahm der Dichter in der Hauptsache
dem Homer. Dieser kannte bereits die Ermordung des heimkehrenden
Agamemnon und die Rache des Orestes an den Mördern seines Vaters.^)
*) So auch 0. Navabbe. Rev. des 6t, , von K. Robert (Herrn. 38, 1903, 634 fif.) ohne
anciennes 3 (1901) 105 ff. zureichende Gründe behauptet worden.
*) Siehe A. Eöbte, M^langes Nicole 289 f. , ®) Dieses ist fein bemerkt von A. Böckh.
•) Vgl. R. Wbstphal, Proleg. zu Aesch. ' De trag. gr. princ. p. 268. Mutmaßungen
14 ff. I über den Inhalt des Proteus bei Wilamowitz,
^) Aristoph. ran. 1127 versteht vielleicht Übersetzung von Aisch. Euraeniden (Berl.
unter Oresteia nur das Mittelstück, die Choe- I 1899) 95 f.; ders., Choephoren, Berl. 1896,
phcnren (Qbrigens bedeutet bei Ar. Thesm. 135 p. 252, 3.
Avxm^oyf.ia die Trilogie); von den Neueren ' ') In keiner anderen griechischen Tra-
wurde der Name auf die ganze Trilogie über- 1 gödie greift der Chor so wie hier tätig in
tragen. die Handlung ein.
») Arg. Agam.: FÖtdaxfrj t6 doä^a ejii | '') Hom. Od. a 30— 43, - 262— 314, <^ 517
aozot^og 0doxXeovg 6X. n etfi ß'. jtoätos i bis 537, A 405—435. Bei Homer ist Mörder
AiaxvXog 'AyafAfftvovt Xotjfpogotg KvftFviai i Agamemnons Aigisthos allein, wenn auch
noioxfi onrvQixM, fjoot)yFi En'oxkijs^'^fftfivFrg. unter Beihilfe der Klytairaestra , und von
Vollstibidig erhalten ist nur das erste und Orestes wird nur gesagt, daß er den Aigisthos
dritte Stack; dem zweiten fehlt der Anfang, i ermordet habe; wie Klytaimestra umkam
VerstOmmelung des Schlusses ist für Aga- : {y 309 f.), wird nicht angegeben. Pindar Pyth.
memnon von A. Kirchhoff (Berl. Ak. Sitz.- 1 11, 38 (a. 474) ist der erste, der den Orestes
ber. 1894, 1039 ff.; dagegen Wilamowitz, i deutlich als Muttermörder bezeichnet. Über
Henn. 84, 1899, 67 f.) und für die Eumeniden | die Entwicklung der Orestessage, die offenbar
284 Griechische Litteratargeschichte. I. KUsBische Periode.
Anderes, wie die treue alte Amme, die den kleinen Orestes vom Verderben
rettet, hatte der Lyriker Stesichoros in seiner Oresteia hinzugef>.^
Pindar, der in dem Siegesgesang Fytii. 1 1 nach den Spuren des Stesichoros
die Rückkehr des Orestes und die Ermordung der Elytaimestra und des
Aigisthos erzählt, hatte auch bereits den Versuch gemacht, die grausame
Tat der Klytaimestra aus der berechtigten Eifersucht der Königin gegen
die neue Nebenbuhlerin Kassandra und aus dem alten Groll der Mutter
über die Schlachtung ihrer Tochter Iphigeneia zu erklären.') Aischylos'
wiclitigste Neuerung ist, daü er die Ermordung des Agamemnon durch
Klytaimestra allein vollbringen laut; im übrigen fand er einen bis in die
Einzelheiten gut vorbereiteten Stoff vor; aber bewundernswert bleibt doch
die Kunst, mit der er teils überlieferte Züge der Sage für seine Zwecke
verwertete, teils neue Motive hinzu erfand, damit der Mythus einerseits
zu drei Stücken ausreichte, anderseits zu Athen und den Athenern in
nähere Beziehung trat. Im Homer (Od. d 524) las Aischylos bereits, dafi
Aigisthos einen Späher aufgestellt hatte, damit ihn nicht Agamenmon
durch i)lötzliche Ankunft überrasche; diesen Späher griff er auf, um die
Trilogie mit dem wirkungsvollen Prolog des auf dem Dach sitzenden,
mit Humor und derbem llealismus als Mann aus dem Volk charakteri-
sierten Wächters einzuleiten (1 — 39) und daran im weiteren Verlauf die
merkwürdige Schilderung von dem Telegraphen mit Feuersignalen*) zu reihen
(245 — 303 K.). In der Odyssee k 422 war auch schon angegeben, dafi
Kassandra als Kriegsgefangene dem Oberführer der Griechen zugefallen,
dann aber von Klytaimestra ermordet in das Schattenreich hinabgegangen
war. Aischylos griff auch diese Überlieferung auf, damit Kassandra einer-
seits die Eifersucht der Klytaimestra errege und somit deren Schuld min-
dere, anderseits mit ihrem Seherblick die grauenhaften Vorbereitungen
zur entsetzlichen Mordtat schaue und in ergreifenden Versen den Zu-
schauern voraus verkünde (Agara. 1025 — 1280 K.).*) Die Szene hat Aischylos
von der Alkinaionsage beeinflußt worden ist, nLs von Beziehungen des Orestes za Athen.
büi den ^riirliischen Dichtern L.Hadkrmachek, *) Über die Lyriker Xanthos and Stflsi-
N. Jahrbb. f. khtss. Altert. 12 (liH)3j .'>GS ff. choros. die schon den gleichen Mythus be-
WiLAMüwiTz. C'hoeph. 24 f : 24^5 ff. bemüht handelt hatten, vgl. D. Raoul Rochkttb, Ore-
sich, die Existenz eine^ delphischen Orestes- steide. in Monum. inöd.. Paris 1833. 115 ff.
epos, das Aisch. benutzt habe, wahrschein- ^) Die Ode ist gedichtet auf einen pjtlii-
lieh zu machen, ohne diese These zu be- . hchen Sieg des Jahrs 474, also vor der
weisen. Von Auflehnung des Aischylos gegen Orestie des ^Vischylos. Um die Priorität des
die delphische Religion kann vollends keine Tragikers zu retten, hatte W. Chbibt frtther,
Kode sein. Lokalpatrioti.^che Motive erklären Sitz.ber. d. bayr. Ak. 1889 S. 13 ff., eine andere
genügend den Abschluß mit der Arcojtag- Datierung des pindarischen SiegesgesangB
szene. (r. Fenslkk freilich in seiner aus- versucht, die er aber in seiner Pindaraoflg.
gezeichneten Analyse di*r Oiestie (Die Orestie p. 223 aufgab.
des Äschylus, Hern 18}K)) hält die Sagenform ^) Die Erfindung scheint persisch zn
bei Aischyh)s laufCxrund rechtsgeschichtlicher . sein. Hcrodot. IX 3 (s. aber H. Fisohl, Feni-
Erwäguiigen) für altertümlicher als die bei Sprech- un<l Meldowcsen im Altertum. Progr.
Homer, ja für älter als die dorische \Van<lerung. Schweinfurt 1904. 5 ff.).
Es sei die hellenische Sage vom Muttermord \\ Erst Aischylos hat der schattenhafte!
und seiner Suhnung, exemplifiziert an Orestes. Gestalt Ka.ssandras Leben eingeblasen. Ihre
Homer habe sie gekannt, aber aus ethisch- von P. Richter (s. u. Ö. 287, 2) völlig mißTor-
äbthetischen Gründen, um das Pelopiden- < st^ndene Stellung im Agamemnon wQrdigt
geschlecht nicht zu beschimpfen, ver- H. Wkil, Etudes sur le drame ant. 87 f.
schwiegen; doch vorrate er (Od. ;' 307) Kennt- richtig.
G. Drama. 2. Die Tragödie, b) Aischylos. (§ 161.) 285
(worin ihm Euripides im Orestes folgte) nach Argos verlegt, nicht wie
Sophokles und Euripides in ihren Elektren nach Mykenai oder wie Stesi-
choros und Pindar nach Sparta bezw. Amyklai.^ Ganz neu von Aischylos
hinzugedichtet ist der wesentliche Inhalt des dritten Stückes, die Frei-
sprechung des Orestes auf dem Areopag durch den Stichentscheid der
Gtöttin Athene (calculus Minervae)*) und die Versöhnung der Erinyen, die
aus blutgierigen Furien in segenspendende Huldgöttinnen (Evjuevidsg) sich
wandeln. Der Dichter hat diesen Teil besonders für Athen und zur Ver-
herrlichung des gerade damals von der demokratischen Partei hart an-
gegriffenen Gerichtshofes auf dem Areopag gedichtet. 5) In dem Mittel-
stück, das von den die Totenspende zum Grabhügel Agamemnons
tragenden Chorjungfrauen den Namen XorjcpoQoi erhielt, rührt die Art der
Wiedererkennung des Geschwisterpaares von der Erfindung des Dichters
her. Diese Partie, wo Elektra den Bruder an der dem Toten geweihten
Haarlocke und an der Größe der Fußtapfen erkennt, hat freilich Aischylos
mit Bewußtsein als nebensächlich behandelt und sich dadurch die Kritik
der Komödie und der beiden jüngeren Tragiker zugezogen.*) Aber über-
haupt den Bruder vor der Rachetat mit der gleichgesinnten Schwester
zusammenzuführen und in die Freude des Wiedersehens den Aufschrei
des gemeinsamen Schmerzes um den heißgeliebten, schmählich hingemor-
deten Vater zu mischen, war ein sehr glücklicher Gedanke des Aischylos.
Von ihm findet sich noch keine Andeutung weder bei Homer noch bei
Pindar. Zugleich hat Aischylos mit feinem Gefühl die Elektra vor der
Mordszene (V. 552) abtreten lassen. Das war allerdings durch szenische
Rücksichten bedingt, da der Schauspieler, der im ersten Teil des Stückes
^) Vermutungen über die Gründe dieser ; dem will, nickt brauchen. Eurip. Iph. T. 77 ff.
Dislokation bei Wilamowitz, Choeph. S. 255. | erwähnt das Areopagitcngericht nicht (nur
*) -Diese Abstimmung der Athena ist | El. 1258 ff. und Or. 1648). An der attischen
dargestellt auf dem berühmten corsinischen Vulgatsage (Finsleb a. a. 0. 2. 4) hat Aisch.
Süberbecher, A. Baümeisteb, Denkm. d. kl. j die Änderung vorgenommen, daß er das Ge-
Altert II nr. 1816. j rieht über Orestes nicht aus Göttern, sondern
') Die Einsetztmg des Areopags wird I aus Menschen unter göttlichem Vorsitz be-
feierlich von Athene verkündet Eum. 671 bis ; stehen ließ, weil er die Stiftung des areo-
700 K.; diese Rede will jedoch N. Wecklein, | pagitischen Blutgerichtshofs hereinbringen
Sitz.ber. d. bayr. Ak. 1887 I S. 64, hauptsäch- wollte. F. weist auch (S. 5) darauf hin, daß
lieh wegen der lokalen Schwierigkeit, die I Orestes durch die religiöse Sühnung nur den
das Pronomen oöe in Jidyov "Aofiov tovÖe . Göttern, nicht der Familie (und den Erinyen)
(675. 678 E.) bietet, für eine junge Inter- gegenüber gereinigt sei.
Delation ausgeben ; dagegen mit Recht H. Weil, l ^) Die Wiedererkennungsszene beruht auf
Bev. des 6t gr. 1 (1888) 13 ff. und G. Fins- klügelnder Schlußfolgerung, was Aristpoöt. 16
LEB, Orestie 2, 6. — Über die Verbindung i tadelnd bemerkt; über sie witzelt selbst Ari-
des Areopags mit dem Kult der 2>/n'a<', die i stophanes nub. 536, und Soph. El. 907 f. (vgl.
an der Erdschlucht des Areshügels einen Schol. zu der Stelle) verbessert offenbar Aesch.
altehrwürdigen Gottesdienst genossen, s. J. I Cho. 160 ff. K. Über die Unbilligkeit dieser
TöPFFEB, Attische Genealogie 170 ff. Übri- i Kritik s. Finsler a. a. 0. 31. Über das Ver-
gens hat Aischylos mit seinen Eumeniden • hältnis der Choöphoren und der Elektra ist
wahrscheinlich angeknüpft an eine alte von I unendlich viel geschrieben; es genügt zu
Hellanikos fr. 69 und 82 erwähnte Sage von i verweisen auf A. W. Schlegel, Vorles. über
einem Gerichtsstreit, den auf dem Areshügel ' drara. Kunst I 220—245; J. K. Fleischmann,
Poseidon gegen Ares wegen Ermordung seines \ Kritische Studien über die Kunst der Charak-
Sohnes iGilirrhothios erhoben hatte. Diese teristik bei Aesch. u. Soph., Nürnberg 1875
Sajge kennt er vielleicht, kann sie aber für ! und Jahrbb. f. Phil. 115 (1877) 513 ff. — H.
seinen Zweck, wo er die Einsetzung des ' Jobdan, Aisch. Choeph. in ihrem dramat. Auf-
Areopags ans Anlaß von Orestes' Tat schil- | bau, N. Jahrbb. f. kl. Altert. 19 (1907) 176 ff.
286 Griechische Litteratargeschichte. I. Klassische Periode.
die Elektra gab, im zweiten Teil die Rolle der Elytaimestra übernehmen
mußte: aber immerhin hat der Dichter aus dieser äußeren Notlage eine
ästhetische Tugend gemacht, und es verdient anerkannt zu werden, dafi
er damit die Seele einer Jungfrau menschlich sympathischer dargestellt
hat als Sophokles, der seine Elektra, indem er rücksichtslos die Eon-
sequenzen aus den gegebenen Umständen zieht, in eine peinliche Lage
versetzt, um sie dann durch einen Zufall von der Pflicht des Muttermordes,
auf die sie innerUch völlig vorbereitet ist, zu entheben; die dramatische
Spannung freilich ist auf solche Art bei Sophokles aufs äußerste, fast zum
Unerträglichen gesteigert. Auch Orestes hat bei Aischylos mehr persön-
liches Leben als bei Sophokles; er vollbringt die Tat der Rache nicht blofi
auf Befehl Apollons, sondern mit aus eigenem Antrieb.*) Sehr wirkungs-
voll sind in unserer Tragödie auch die aus Stesichoros herübergenommenen
und für die Bühne weiter entwickelten Motive der Amme (s. o. S. 284) und
des unglückverheißenden Traums der Königin.
Aber neben allen Vorzügen der Erfindung verdient der große Fort-
schritt Beachtung, den die Kunst des Dichters in der ganzen Anlage dieser
seiner letzten Trilogie zeigt. Er hat nicht blola von dem dritten Schau-
spieler vollen Gebrauch gemacht, er hat ihn auch meisterhaft verwertet, um
spannende Entwicklung in die Handlung zu bringen und die Charaktere
durch gegenseitige Beleuchtung schärfer hervortreten zu lassen. Er-
greifende Bilder stellt er hin in der rachebrütenden, nach dem Blut des
gebauten (jemahls lechzenden Klytaimestra,^) in der grausigen Szene des
die Muttor zur Mordstätte zerrenden Orestes (Choeph. 885 — 923 K.), in der
wirkungsvollen Gegenüberstellung der alten und neuen Weltordnung in den
Eumcuidcn. In den Chorliedern aber hat er anfangs durch Bückblicke in
die Vergangenheit, auf den Auszug der Achäer, die Opferung der Iphigeneia,
den Baub der Helena, die Züchtigung der Troer, die Gewitterwolken sich
allmählich auftürmen lassen, dann aber nach vollbrachter Bluttat das
Walten der höheren Mächte und die hehre Notwendigkeit unerbittlicher
Bestrafung begangenen Frevels in erhabenster Sprache verkündet. Wenn
irgendwo, so sieht man aus den Eumeniden, daü Aischylos nicht bloß den
Zuhörern einen Genuü durch Entfaltung seiner dichterischen Kunst be-
reiten, sondern auch Lehrer seines Volkes und Verkünder der höchsten
Sittengesetze sein w^ollte. P]inen gewaltigen Eindruck hat namentlich zu
allen Zeiten auf jeden em})tindenden Hörer die grandiose, tiefsittliche Auf-
fassung der Rachegeister gemacht; aus dieser Quelle hat Schiller in den
Kranichen des Ibykus geschöpft.
Unbillig ist es, von dem Dichter zu fordern, er hätte alle ihm im
Mythus gegebenen Motive in die Sittlichkeitsbegriffe seiner Zeit oder gar
\) (t. Finsler. Die Orestio des Äsch.. ' 1844 f. K. den Bliitstrahl des hingeschlach-
Progr. Beiu i><9i) (nach der ctliisch-religiösen teton Königs mit dem segenbringendeu Regen
und ästhetischen Seite die beste Erläuterung vergleichen läfit. Den Anstoß, den unser
der 'iVilogie). handelt über die psychidogische I (lefühl an der Untat der Gattin und des
Motivierung von Oiestes' 'lat S. 32 f. 39 f. Sohnes nimmt, hat G. Sisgebt in seiner Tr»-
'^) Bis zur äufierstcn Grenze geht im I gödie Klytämnestra durch vollständige Um-
Streben nach scharfer Charakteristik der ! dichtung zu beseitigen gewagt
Klytaimestra Aischylos, wenn er sie Agam. i
C. Drama. 2. Die Tragödie, b) Aischylos. (§ 161.) 287
in die unserer Zeit auflösen sollen. *) Sein Werk will nicht in erster Linie
als Exemplifikation sittlich-religiöser Ideen oder Illustration von Entwick-
lungsvorgängen aus der griechischen Kulturgeschichte verstanden werden
— welchen Reiz sollte es für das athenische Publikum des 5. Jahrhunderts
haben, sich den längst abgewickelten Vorgang der Ablösung eines
älteren, mechanischen Rechts durch ein jüngeres, lebensvolleres und ge-
rechteres vorführen zu lassen ? Es forderte vom Dichter mit Recht lebens-
volle Persönlichkeiten und Situationen, zusammengehalten durch den Gang
einer einheitlichen mythologischen Handlung. Und er bietet ihm die
Riesengestalt der Verbrecherin Klytaimestra, die mit frevlerischem Willen
frei handelnd außerhalb der den Orestes zwingenden Schicksalsnotwendig-
keit steht, den verwickelten Charakter des ritterlich-oberflächlichen Aga-
memnon, der für schwere, aber halbvergessene und nie mit voller Ehr-
lichkeit von ihm erkannte Schuld büßen muß, die köstlichen realistischen
Nebenfiguren des Wächters, des Herolds, der kilikischen Sklavin; er bietet
die unerreichte Stimmungsmalerei namentlich im ersten Stück, jene er-
stickende Dumpfheit, in der kein Strahl aufrichtiger Freude auflcommen
kann, bis endlich die Mordtat wie ein Gewitter die Luft reinigt, er bietet
in den Eumeniden den überwältigenden Gegensatz zwischen den Höllen-
geistern, die mit naturgesetzartiger Unbedingtheit ihrer häßlichen Bestim-
mung nachjagen, und der überragenden Lichtgestalt des Apollon, die
wirklich wie eine Sonne über einem Bild voll Nacht und Grauen aufgeht;
und dies alles in einer Sprache voll Erhabenheit, kräftiger Gedrungenheit
und bildlicher Farbenpracht, die zusammen mit dem sicher, in kunstvoller
Bindung und doch abwechslungsreich, vorschreitenden Gang der Handlung
Verstand, Gemüt und Phantasie des Hörers von Anfang bis Ende auf das
lebhafteste anregt und beschäftigt. Der Agamemnon hat in der Welt-
litteratur nicht seinesgleichen. Die Choöphoren glaubten Sophokles und
Euripides in ihren Elektren verbessern zu können. Die Eumeniden sind,
rein struktiv betrachtet, ein Notbau; die Lösung befriedigt nicht, ^) und aus
diesem Irrsal von Schuld und Verblendung ist ein Ausweg auf dem Boden
hellenischer Ethik überhaupt nicht zu finden. Uns befremdet, jedenfalls
viel mehr als dies bei dem athenischen Publikum der Fall war, die über-
laute lokalpatriotische Färbung des Schlusses, aber auch die juristisch-
medizinische Zuspitzung des Konfliktes auf die Fragen: ist Gattenmord
schwereres unrecht als Muttermord? und: ist die Mutter ihrem Kinde in
der Weise wie der Vater blutsverwandt?^) Die Art, wie die erste dieser
') Th. Plüss, Die Tragödie Agamemnon
imd das Tragische, Progr.Basel 1896. P.Mazon,
L'Oresde d'Eschyle, Paris 1908 p. XLIU sqq.
findet die reinere Idee der Sittlichkeit in
den von Aischylos eingeftihrten Erinyen aus-
gedrflckt, die auch dem Gott Apollon gegen-
flber das nnauslOschhare Unrecht des Mutter-
mofdes aofirecht erhalten.
aus zu dem seltsamen Ergebnis kommt, die
Sieben und den Prometheus künstlerisch über
die Orestie zu stellen.
*) Zu der physischen Frage, die zwischen
den alten Medizinern kontrovers war, vgl. M.
Wbllmann, Fragmentsanmilung der griech.
Ärzte I, Berl. 1901, 36. Dieselbe Anschauung
wie bei Aisch. findet sich nach Diod. 1 80, 4 bei
*) Das ist sachlich richtig, nur zu pedan- j den Ägyptern; Euripides (Or. 552 S.) hat sie von
tisch nnd nnehrerbietig^betont von P. Rigutbr, Aisch. übernommen. Dem griechischen Volks-
Zur Dramatni^e des Äschylns, Leipz. 1892, | bewußtsein kann sie nicht fremd gewesen
248 ff., der von seiner einseitigen Abschätzung | sein, wenn auch nach attischem Recht Ehen
288 Griechische Litteratnrgeschichie. I. Klawisohe Periode.
Fragen zugunsten des Orestes bejaht wird, ist höchst subjektiv (v. 615 flf.,
727 fr. E.); was die zweite betrifft, so scheint uns schon ihre Stellung
sophistisch. Übrigens ist nicht zu vergessen, daß die Athener sich mit
Stolz als Erfinder des Rochtsverfahrens betrachteten, i) den Gerichtsver-
handlungen ein außerordentliches Interesse entgegenbrachten (vgl. Aristo-
phanes' Wespen) und somit den Schluß der Trilogie mit einem Prozeß*)
vor ihrem berühmten Blutgericht, auf das, nach Aischylos' Darstellung,
der delphische Gott selbst als auf die oberste Instanz hingewiesen hatte,
gcwiü sehr schön fanden. Welch gewaltige Gedankenarbeit in der Trilogie
steckt, wie der Dichter besonders in den machtvollen, tiefen Chorgesängen
des Agamemnon auch dem zu fatalistischer Auffassung fast nötigenden
Stoff eine optimistische Deutung im Sinn seines Vorsehungsglaubens ab-
gerungen hat, das ist von G. Finsler (s. o. S. 286, 1) in feinsinniger Weise
nachgewiesen worden.
162. Verlorene Dramen. Aischylos hat seine Dramen tefxdxti tw
'Ou/joov fjiF.ydhov öeim'mv genannt. 3) Das darf nur von der vorbildlichen
Stellung Homers im allgemeinen, nicht von einem Vorwiegen der home-
rischen oder troischen Stoffe in den Tragödien des Aischylos verstanden
werden. Aus dem troischen Sagenkreis entlehnte er den Stoff zu der Tri-
logie von Hektors Tod und Lösung, oder zu den Tragödien Mvojiudore^,
X}ioEtdF<;, <Poryfs Pj "Kxtoqos Ivrnn (nach Dias / — il),^) femer zu Käoe^ (von
Sarpedons Tod), Mfjuytor und Vvyooraoin (Wägung der Todeslose, nämlich
des Memnon und Achillous, nach der Aithiopis unter Anschluß an IL ^
209 flf.),*^) zu ''Onkfor xnfaig, Hofjaaat (von Aias' Tod) und laka^ivim (nach
der kleinen Ilias), zu <I>tXoxTi)rii::^^) und A/juvtoi (ebenfalls nach der kleinen
Ilias), zu '/f/ lyhem, Ti])x(f(K und nakfifu)ö}]q (nach den Kyprien), zu !Pi;;pi-
ytoyoij IlrivtAomi, Kmx)j omvnixt] (nach Telegonie). Dem Dionysosmythus
war entnommen die Tetralogie ArxoroyFia, zu der die ^Ildwvoi, Baaadgat,
Ntarinxoi, Avxornyo»; oarviuxtK gehörten,'') ferner die Stücke Ilevüe.vg, Sa»-
Toiat, ^ftuh] /J vöoocfonoiy Atovrnov Toofpol, die gleichfalls zusammen eine
Tetralogi(> gebildet zu haben seheinen. Der Argonautensage gehörten an
\iOd/iag, "YiiujrrXtj, \4gy(t't, Kdßtinoi,^) vielleicht auch dEogoi i} ^la^jutaarai,
zwisclien niioui]foioi nicht erlaubt waren man daraus (Phaidros bei Plat. aymp. 180a)
(L. Mitteis, Reichsredit und Volksrcclit. Leipz. schloß, daß Aischylos entgegen dem Homer
l>^91,326f.; A. Kketschmar, DüMcnandrirel.. den Patioklos zu einem Geliebten des Achfl-
Leipz. 190(). 10). Der Rochtsfall des Orestes leus gemacht habe.
wurde noch in den römischen Deklamatoren- ^) A. Baumstark, Die zweite Achilleiis-
schulen eifrig behandelt (Cic. de inv. J 18 f. trilogie de« Aischylos. Philol.55 (1896) 277 if.
81. 92; Auct. ad Herenn. I 17. 2r>. 27). stellt zusammen P-sychostasia, Memnon, <LeIti-
') Acl. var. bist. III 38. des>.
-) Kommentar zu der (TerichKsszenc *^) Über die Abweichung des ischyleischeD
WiLAMowiTz. Aristot. u. Athen II 329 if. Philoktctes vom sophokleischen s. Dio GhiyB.
') Ath. 347 c; vgl. Procl. ad Plat. remp. or. r»2. Der Chor bestand aus Lemniem.
I 171, 18 Kk.; beachtenswert ist, dalj keiner ') Eine Lykurgeia batte auch Polyphns-
der Titel des Phrjnichos auf Homer hinweist. mon im Wettetreit mit Aischylos' Sie1>en anf-
■*) N. Wecklein. Über eine Trilogie des geführt. Über die Anlage der ftschvlelschen
Äschvlos u. über die Tril. fibcihaupt. Sitz.ber. Lykurgie mit Benutzung der Denkmale 0.
d. bayr. Ak. 1891 S. 327 ff. An zwei Vei-se der Haupt, Diss. Hai. 13 (1897) 137 ff.
Myrmidonen fr. 135 otfUu <V ittnxhr üyWtv ovx **) Aufgeführt wurden sie nach den Feld-
A7//A/oo>, (o tSrnytiotaTF Ti7)r .-Tvyyfnv (f ihfßidrwv , Zügen am Strj'mon um 466, nach Wiijlho-
knüpfte sich eine berühmte Streitfrage, indem witz, Herm. 21 (1886) 597 ff.
G. Drama. 3. Die Tragödie, b) Aisohylos. (§§ 162->163.)
289
Nifiea, Auf verschiedene andere Sagenkreise bezogen sich die ^Agyeloi,
^Elsvoivioi, 'Enlyovoi (Adrastossage),!) ^ogxldeg, nolvdixrrjg (Perseussage),
^AXxfAYjvr}, ^HganXeldai (Heraklessage),*) 'Hliädeg (Tod des Phaethon), To^oxtdeg
(Untergang des Aktaion), Nioßrj,^) 'AraXdvTr), ^KImv, neggaißideg, Ziovcpog,
Nimmt man noch hinzu, daß Aischylos auch die Göttersage auf die Bühne
gebracht, das Wagnis einer historischen Tragödie versucht, in den Ahvai
die Lokalsage dramatisiert, gelegentlich auch Elegien und Epigramme ge-
dichtet hat, so bekonmit man eine Ahnung von der Vielseitigkeit und
Originalität des Begründers der Tragödie. Von seinen Satyrspielen, die
im Altertum^) besonders hoch gewertet wurden, haben wir nicht mehr
genügend Reste, um uns eine deutlichere Vorstellung bilden zu können. —
Aischylos ist seiner Schwierigkeit wegen im späteren Altertum nicht mehr
viel gelesen worden ;'^) das zeigt auch die verhältnismäßig kleine Zahl der
Fragmente, die neuerdings nur wenig durch Papyrustexte, 0) mehr durch
Funde bei Lexikographen und Grammatikern^) vermehrt worden ist.
Bezeichnend ist auch die von R. Westphal (AUg. Theorie der griech,
Metr.5, Leipz. 1887, 313) bemerkte Tatsache, daß die Grammatiker eine
von Aischylos häufig verwendete Versart juergov Eöguilöeiov, nicht Alqxv-
leiov nennen.
163. Die Kunst des Aischylos. Die künstlerischen Verdienste des
Aischylos liegen weniger in dem Reichtum des Stoffes, als in der Gestal-
tung des Mythus und in der Ausbildung der dramatischen Darstellungs-
mittel. Die letzteren faßt Aristoteles poet. 4 in die Worte zusammen:
t6 TB j(bv vTioxgiTCOv Jikij^og i^ evog elg 8vo nocüiog Alo^v^og ijyaye xal rä
Tov x^Q^^ fjXdxxcDoe xal rov Xoyov TigcoraycovioTrjv nageoxevaoe.^) In diesen
Punkten hat sich, wie oben gesagt, der Dichter allmählich vervollkommnet:
in seinen älteren Tragödien, besonders in den Schutzflehenden, nehmen die
Chorlie'der noch einen übermäßig breiten Raum ein; erst nach und nach
erweiterte er die Dialogpartien, fügte den Prolog hinzu ^) und nahm von
0 Über die Aufführung i. J. 476 A. Hau-
VBTTB, Les äleusiens, in M^langes Weil
160 ff. Ein neues Fragment gibt Didymos
Berl. Elaasikertexte 1 col. U, 14.
*) Von den Herakliden wurde ein neues
Fragment aus Schol. Aristides des Cod. Marc.
428 hervorgezogen von Wilamowitz, De
Rhesi acholiis, Ind. lect. Greifew. 1877.
*) In der Niobe saß nach der Vita die
Heldin stumm in den Mantel gehüllt auf
dem Grabe der Kinder; ähnlich verhüllt saß
Achilleus da in Hektors Lösung, was den
Spott der Komiker, wie des Aristoph. ran. 912
herausforderte. Auch das lange Schweigen
des Prometheus gehört hierher. Siehe F.W.
DiOHAir, The idle actor in Aeschylus, Chicago
1905.
^ Menedem. bei Diog. L. II 133 u. Suid.
8. MevHirjfiog; Paus. II 13, 5. Vom Inhalt der
Amymone läßt sich aus Apollod. bibl. II 1, 4
ein !Begriff machen; zehn litel gehören sicher
za Satyrspielen: 'AfivfÄcovrj, Ksoxvcov, Ktjgvxeg,
KIqxi}, AvxovQYog, Aecov, ßgofnjdevg jn^g-
Hmndbneb dar Uam. AltertumBwtBMnBchftft. VII.
xasr'fg, TIocoTtvg, Ziovqpog SQOTiETtjg, ^gu'y^.
') Von erleichternden Bearbeitungen
spricht Quint. inst. X 1, 66; H. Weil, Rev.
des 6i. gr. 1 (1888) 7 ff. Zeugnisse für sein
Fortleben A. Müller, Griech. Bühnenalt.
325, 3.
^) Papyrus Didot aus dem 2. Jahrh.
V. Chr. (fr. 99 N.«).
') R. Rbitzbnstein , Inedita poötar. Gr.
fragm., Rostock 1890; ders., Der Anfang des
Lexikons vonPhotios, Leipz. 1907; E. Reisch,
Festschr. f. Gomperz 457, 1 ; oben A. 1.
8) Vgl. Diog. III 56; auch die Erfindung
des dritten Schauspielers wird ihm irrtümlich
zugeschrieben von Themist. or. 26 p. 382 D.
(das Zeugnis wegeraendiert von H. üskneb,
Rh. M. 25, 1870, 579 f.). und von einigen in
der Vita. Sogar noch einen vierten Schau-
spieler (.lagaxoQty/fjfia) führte er im Memnon
ein nach Pollux IV 110.
*) Ein Prolog fehlt in Suppl. u. Pers. ; mit
der Zufügung desselben war Phrynichos in
den Phönissen vorangegangen. Auch ein
5. Aufl. 19
290
Oriechische Litteratnrgeschichie. I. KUsBische Periode.
Sophokles auch den dritten Schauspieler an. Sehr richtig antwortete des-
halb der Verteidiger des Aischylos den Bewunderem des Sophokles, weit
schwieriger sei es nach Thespis und Phrynichos die Tragödie auf solche
Höhe zu bringen, als sie nach Aischylos zur Vollendung des Sophokles zu
erheben. 1) Auch auf die Erhöhung des Glanzes der äußeren Darstellungs-
mittel verwandte er große Sorgfalt: er heißt bei Horaz a. p. 278 personae
pallaeque repertor honestae.^) Endlich wird ihm die Erfindung mannigfacher
Maschinen und Dekorationen beigelegt. Dabei war Aischylos auch Chor-
moistcr und ersann außer dem Text auch noch die Melodien und Tänze.')
An der Darstellung der Rollen nahm er noch selbst als Schauspieler teil;
zu Genossen hatte er dabei die berühmten Schauspieler Kleandros und
Mynniskos.^)
164. Das am meisten hervorstechende Merkmal der äschyleischen
Poesie, das Großartige und Titanenhafte, zeigt sich in den Gedanken, dem
Versbau und der Sprache. Den sprachlichen Ausdruck zeichnet Kühnheit
der Metaphern, Pracht der Bilder und Redefiguren,^) Großartigkeit des
Periodenbaues aus; doch fehlt auch nicht die Härte im Satzgefüge, der
Bombast,^) die Eintönigkeit des Pathos, der Hang zum Grotesken und
Epilog findet sich im Agamemnon, der aber
keine weitere Aufnahme fand.
») Vita § 14.
«) Vgl. Vito 13 und F. Scholl vor F.
RiTscHLs Septem (2. A. Leipz. 1875) p. 29 ff.
— über den Gebrauch der Masken P. Gibard,
De l'expression des masques dans les drames
d'Eschyle, Revue des etudes grecques 7
(1894) 1 ff. und 8(1895) 88 ff.; 0. Hense,
Die Modificinmg der Maske in der griech.
Tragödie s. o. S. 251, 3.
>j J. A. Cbameu, An. Tar., Oxf. 1839-41,
1 19: ti fiFV <)tf .T«rra r/s Aio^vh^} ßovkfrai rot
ftaia xai nF^itdy.rovs >cai //;/;|rrtmc, i^iooioav tf
xat sTQoaxtjyin, xni ÖiOTtyia^ xai xFoavvoox(KiFia
xai ßijovTFTa xai {hoXoyFia xai yFod%'ovg xai .tov
xai ^voTii^ai: xai ßan>ayiöas xai .^ooocnjia xai
xoOoot'ovi; xai rarri ra :TOixtXa, ov(i/taTd tf
xai xalvjiTtmv xai xd/^u)fia xai rraQd.'itjxv xai
doytjnW xai r.-roxoiilp' F.fi rot Öfvtfoo) rar
ToiTor. Vitniv. praef. 1. VII 11: namque pH-
mum Agatha rchus Athenis Aeschylo docente
iragoediae scenam fecit et de ea commen-
inrium reliquit. Dazu J. Sommekbkodt, Scae-
nica, Bcrl. 1876. über die l^tthnc Wilamowitz,
Henn. 21 (1886) 597 ff. Den Gebrauch des
Ekkvklemabei Aischylos bestreiten 0. Neckbl,
Das'^Ekkyklema, Progr. Friedland 1889, P.
Richter, Zur Dramaturgie des Asch. 273, und
Dr^RPFELD-Rsiscn, Griech. Theater 240. 243.
Die vielen Maschinerien des uns vorliegenden
Prometheus können der Überarbeitung an-
gehören (E. Betiie, IVoleg. z. Gesch. d. Thea-
ters 159 ff.). Im Agamemnon kommt der
Titelheld zu Wagen hereingefahren. Die
Nachrichten über Aisch.' szenische Neue-
nmgen gehen auf Chamaileon zarQck, der
sie nach F. Leos (Die griechisch-römische
Biographie, Leipzig 1901. 105f .) und A. Köbtm
Meiimng (Festschr. z. 49. Philol.vere. 1907,
198 ff.) durch (schiefe) Deutung von Eomiker-
stellen (s. z. B. Aristophanes in Th. Kocbb
Com. att. fr. I 588) ersciilossen hätte.
*) Aus späterer Zeit erwähnt Ariatoph.
vesp. 579 den Oiagros.
^) Zu den Figuren gehOrt auch die von
Aischylos öfter als von den anderen Drama-
tikern angewandte Allitteration, namentlich
von Wörtern, die mit den kräftigen Laoten
.T und X anfangen, worQber C. Riedel in der
oben S. 265, 2 zitierten Schrift. Siehe a. W.
: Küux, De vocum sonorumque in stro^cis
! Aeschyli canticis aequabilitate, Diss. Halle
I 1905. Darin zeigt sich Aischylos' Hinneigmig
I zu volkstümlicheren Formen aes dichterisclien
'■ Ausdrucks, unter die auch der bei ihm be-
sonders häuhge. von Sophokles ganz ge-
miedene Refrain {Eqvftviov) gehört Über die
I Metaphern des Aisch. J. T. Lees, Stadiea in
I honour of B. L. Gildersleeve, Baltimore 1902,
i 483 ff. Besonders bemerkenswert sind auch
die prachtvollen, kahngebildeten, eine Ffllle
von Anschauung und Empfindung in sich
< zusammenpressenden, völlig unQbersetzbaren
j Epitheta composita.
*^) Den Zweck der Charakteristik hat die
Überladung, wenn Ag. 859 ff. K. die hench-
lerisch devote Klytaimestra ihre Scheinfrende
über Agnmemnons Ankunft in sechs anf-
einnndcrgehäuften Bildern ausspricht; auch
sonst wird überall, bevor man verurteilt, die
Absicht des Dichters sorgfältig zu prQlen
sein.
G. Drama. 2. Die Tragödie, b) Aischylos. (§ 164.) 291
Wunderbaren. 1) Lieblingsausdrücke, wie oiaxa vco/ncov, ov diyoogoTKog u. a.
kehren zu oft wieder. Die Späteren, die durch Sophokles und Euripides
an einfache Schönheit und ruhiges Ebenmaß gewöhnt waren, nahmen an
dieser Seite der äschyleischen Dramen Anstoß;*) die mächtige Inspiration
des Dichters, für die in der aristotelischen Poetik mit ihrer einseitig tech-
nischen Auffassung kein Platz mehr war, erschien einer ernüchterten Gene-
ration als Wirkung tatsächlicher Trunkenheit. ») Übrigens darf die über-
mäßige Gehobenheit von Aischylos' Phantasie und Sprache nicht allein als
Ausdruck seiner persönlichen Stimmung (juyakofpvia Schol. Aesch. Prom. 179)
verstanden werden; sie hat ihren Grund auch in dem künstlerisch-bewußten
Bestreben, den Abstand zwischen der Welt und den Charakteren der tra-
gischen Bühne, dem ßiog ^gcDlxog, und der gewöhnlichen Gegenwart, den
Euripides aufzuheben sucht, nach Möglichkeit zu erweitern.*) Dieser er-
habenen Stimmung entsprachen die Rhythmen des Aischylos: zu gewaltigen
Perioden bauen sich bei ihm die Verse auf.*^) Besonders liebt er in den
lyrischen Partien die Trochäen, die er ebenso wie die Jamben im Melos
durch katalektische Bildung ihres leichten und raschen Charakters ent-
kleidet; so gewinnt er ein Maß, das Würde mit Lebhaftigkeit verbindet.^)
Auch der Dialog ist streng gebaut, so daß Verteilung eines Verses unter
mehrere Personen noch nicht vorkommt; ein Streben nach symmetrischer
Anlage ist unverkennbar, wenn auch neuere Forscher, wie F. Ritschi,'')
mit der gewaltsamen Herstellung gleicher Reden in den Sieben, über das
*) Das Wonderbare txitt namentlich auch j ') Ath. 22 a und 428 c. Weitere Stellen
in der phantastischen Schilderung von fernen | bei F. Scholl vor Ritschls Septem p. 14 f.
Ländern hervor, was schon der Scholiast '. Quelle ist Chamaileon. Die Anschauung ist
tadelt (zn Prom. 371 u. 733) und die Komiker | in der hellenistischen Zeit zum Gemeinplatz
parodierten. — Die kritischen Stimmen des geworden: s. Hör. ep. 1 19. Vgl. 6. Fd^sleb,
5. Jahrhnnderts läßt, bei aller Bewunderung ' Piaton und die aristotel. Poetik 172 ff. Eine
f&r Aischylos, Aristophanes doch auch durch- i Kritik von Aischylos* Inspiration enthält schon
klingen in jenem wichtigsten Zeugnis ftir den i die Äußerung des Sophokles (Ath. 22 a): et
litterarischen Geschmack des klassischen xai rä öeovxa Tzotet, oXk* ovx slöok ys^ die
Athen, dem d^c6v zwischen Aischylos und i aber sicherlich stark übertreibt.
Euripides ran. 830 ff. Vgl. nub. 1370: eyoy *) Ar. ran. 1014 stellt die yn'vaXoi xal
yoQ AioxvXov vofÄi^ü} jiQtbrov h TiotTjtaig, I teroajri^x^^^ ^^ Aischylos den degenerierten
yfSqnw Jtliwv, d^vararoy, aiofiffoxa, Hotjfiro- Gestalten des Euripides entgegen.
3toi6r, Dazu Schol. nub. 1376; Longin. bei ^) Diese langen Verse und Perioden
loh. Sicel. VI 225, 9 ff. Walz; .t. vy. 15, 5: | treten freilich in der von Aristophanes von
tparraaüug InixoXfjiq, ^gauxiazarmg. Dio Chr. Byzantion eingeführten zerkleinernden Vers-
52, 4 lobt an Aischylos fieyaXoq^Qoovvtj xal i teilung {xa>XofieTgla) der Handschriften nicht
x6 oQX^^^r ^< ^^ T^ av^6eg ifjg Öiavoiag xal , unmittelbar zutage.
ipgaoefüg . . . ngenorta tfj tgavtpdu} xal ToTg ' *) Das Urteil der Alten drückt Aristoph.
jtalcudSg tj^ai tatv ^qmwv' <n?6ev emßeßovlsv- | ran. 1254 aus: ärdgl uj) noXv jiXFJara Örj xal
ftiror ovdk arwfivXov oifde TOJtfivov ; ygl, J)ionjS, j xdXXtOTa fteXr] jioujoavxi rcSr hi vvvi. Die
HaL de imit 11 10 p. 206, 2 ff. Us. I Technik der äschyleischen lamben behandelt
') Das ürteü der Späteren gibt wieder ' Wilamowitz, Commentariolum metricumll,
Qnintü. X 1, 66: Äeschylus sMimis et gravis \ GOttingen 1895, die der Trochäen ders., Äsch.'
et grandiioqutis saepe usque ad Vitium ^ sed ' Orestie II, Berl. 1896 p. 256 ff.
rudis in pUris^ et incompositus. Vita | ^) F. Ritschl, Parallelismus der sieben
Aesch. 5: C^XoT to ßagag jieQiu&hat, xoXg ztgo- , Redepaare in den Sieben gegen Theben des
cdimaig, iiQxoXw elvat xqivcov xovto x6 fiegog Äschylus, Opusc. I 300 ff.; H. Wbil, De la
fuyaXojiQsxig re xal ffgwixöv, x6 de :xavovgyov , composition symm^trique du dialogue dans
xoftyfOJiQejidg xe xal yvcoftoXoyixov dXXöxotm' les tragödies d'Eschyle, Paris 1860. Siehe
tffg xQayqtdias ^yovfuvog; vgl. M. Leohner, o. S. 278, 2.
Dearte Aeschyli rhetorica, Progr. von Hof 1867.
19*
292 Griechische litteratnrgeschichie. I. Klaasisohe Periode.
Ziel geschossen haben. — Die Gravität der Gedanken wurzelt bei Aischylos
in seiner gesamten sittlich-religiösen Weltanschauung. Sein Glaube an
die unbedingte Gewalt der Götter und die Schwäche und Abhängig-
keit aller Erdenkinder hat, wie bei Pindar, sehr starke sittliche Akzente
und neigt zu einem in Zeus gipfelnden Monotheismus.^) Die göttliche
Herrschaft betätigt sich bei ihm als weise Lenkung, als erziehende Vor*
sehung im Strafen wie im Helfen. Für die Götter- und Heroenwelt
fordert er, wiewohl er sich nicht immer streng an die überlieferte Sagen-
form hält,^) in allen Stücken Ehrfurcht, und Altathen, in dessen Namen
Aristophanes in den Fröschen spricht, hat gerade ihn mit Recht im Gegen-
satz zu der sittlich indifferenten Realistik der späteren Poesie und ihrer
Einschränkung auf den Zweck des Aufregens und Spannens als einen Er^
zieher im größten Stil verehrt, obwohl er nach dem Beifall der Menge
nichts fragte (Ar. ran. 807 ff.).
Die Überzeugung von der Allmacht der Götter schlägt aber bei
Aischylos nirgends in FataUsmus um. Er liebt es nicht, wie Sophokles^
durch Ausschaltung der Momente persönlicher Schuld die tragische Wir-
kung zu verstärken.*) Seine Götter lassen den Menschen nicht schuldig
werden, sondern sie weisen ihm, auch durch Leiden, den richtigen Weg^
und wenn er ihn nicht geht, so ist das seine Schuld, für die er nach
unverbrüchlichem Gesetz büüen muü. Seine TragiWie ist im vollen Sinn
Charakter-, nicht Schicksalstragödie. Seinem ethisch-religiösen Pragma-
tismus hat er die Form der Trilogic dienstbar gemacht, über deren Ge-
schichte vor Aischylos wir nichts wissen. Die Analogie des altdeutschen
Theaters macht es aber wahrscheinlich, daß auch das attische mit weit-
läutigen, über mehrere Stücke sich verbreitenden Darlegungen einer
Sagengeschichte begonnen habe. Das Verdienst des Aischylos besteht
vielleicht in der höheren Kunst der Konzentration und des dramatischen
Aufbaus; übrigens können wir nicht wissen, ob es ihm überall so herrlich
wie in der Orestie gelungen ist. Die jüngeren Tragiker fühlten sich
durch das technisch schwierigere Problem des .»Einakters* mehr an-
gezogen,^) wobei es freilich seit Euripides nicht ohne StoffQberladung
0 F. F. C. FisciiEK, De dco Acschyleo. Chor abgefeiiigt wird Ag. 1467 ff. K., und
Amsterdiim 1892. Im ganzen E. Rohdk, wie andererseits Klytaimestra die Verschul-
Psyohe W 227 ff.; W. Nestle, N. Jalirbb. f. düng Agameninons betont (Ag. 1369 ff. 1484ff.;
kl. Altert. 19 (1907) 225 ff. 305 ff. Cho. 911). In den Pereern und dem Prome-
^) »Sagenkorrektur im ethischen Sinn wie theus ist Zeus Rächer der vßgi^, in den
bei Pindar lindet sich bei Aisehylo« nicht. , Schutzflehenden Rettor der Bedrängten. Nicht
Wo er von der epischen Tradition abweicht, einmal die Sieben können als reine Schick-
geschieht es aus lokal -attischen oder all- , salstragödie betrachtet werden, noch weniger
gemein ilsthetischen Gründen. Wie die ' die Orestie. wie G. Finsleb (Die Orestie,
Notiz Heiodüt. 11 150 zu verstehen, ist nicht 1890) erwiesen hat. — Das Hervortreten
klar, bemerkenswert ist. mit welcher Schärfe altertümlichster Kulte, besonders des Erd-
Aiach. durch Apollon Eum. H80 ff. einen Ver- kults (.A. Dietericji, Archiv f. Religionswiss.
such ethischer Kritik der Sagenüberlieferung 8, 1905, 1 ff.) bei Aischylos bat nicht nur
(Fesselung des Kronos durch Zeus) zurück- ■■ religiöse, sondern, wie aller doxatofioi^ auch
weisen läik. ästhetische Gründe. Sophokles ist in allen
') Man beachte, wie scharf Klytaimestra i diesen Dingen o///;o/xojmioc.
mit ihrem bequemen Appell an das „Schick- ' "*) G. Kaibel zu Soph. El. (Leipz. 1896)
srV (Ag. 1487 ff. K. 1459 ff. ; Choüph. 903) vom p. 45 A.
8. Drama. 2. Die Tragödie, b) Aisohylos. (§ 164.) 293
(Phoinissen) und ohne Notbehelfe (Prolog und Deus ex machina zu stoff-
licher Entlastung) abging.
Handschriftliche Überlieferung: Die Tragödien des Aisch., Soph., Eur. wurden auf
Lykurgos' Antrag (s. A. Mülleb, BOhnenalt. 359 An. 1 ; 0. Korn, De publice Aesch. Sopk. Eur.
fabulamm exemplari Lycurgo auctore confccto, Bonn 1863) in einem Staatsexemplar auf-
geschrieben, das später nach Alexandria gebracht wurde (Galen. T. XVII 607 E.). Der Haupt-
kodex der sieben erhaltenen Stücke des Aisch. , den 6. Burges, Gebet, Dindorf (Phil. 18, 1862, 55 ff.),
Kirchhoff, Wecklein für den Archetypus aller Codd. halten, ist ein Mediceus sive Laurentianus
XXXH 9 s. XI (von Aurispa i. J. 1423 aus Griechenland gebracht und von Cosmo de' Medici der
Bibliothek einverleibt), der zugleich den Sophokles und die Argonautika des Apollonios enthält;
«in faksimilierter Abdruck dieses Cod. von R. Mebkel, Aeschyli quae supersunt in cod. Laur.
yeterrimo, Oxon. 1871 fol., besser in Lichtdruck L'Eschilo Laurenziano, Firenze 1896; die
zuverlässigste Vergleichung mit Unterscheidung der verschiedenen Hände von G. Vitelu in
N. Weckleins Ausg., Berlin 1885 — 93. Nur diese Handschrift enthält unter den älteren die
*Ixhidig und die Xofjq^oQoi, die letzteren ohne Anfang. Von den jetzt fehlenden Blättern aus
Agam. bietet die beste Abschrift der Florent. XXXI 8 s. XIV. Für die drei in Byzanz zumeist
^lesenen Stücke Prom. Fers. Sept. müssen jedenfalls außer dem Laur. (nach Sept. 177 K.
fehlt in Laur. ein Vers) Handschriften der zweiten E[lasse herangezogen werden. Über den von
HeimsOth zuerst hervorgehobenen Wert der jüngeren Handschriften 0. Dahnhabdt, N. Jahrbb.
149 (1894) 433 ff. Für den Text der Eum. erweist F. Blass in seiner Ausg. dieses Stückes
(Berl. 1907, 17 ff.) eine durch drei junge Codd. vertretene von M unabhängige Überlieferung.
Der Grundstock der Scholien, der ebenso viele feine Bemerkungen über die Kunst
des Dichters enthält als für die Wortkritik wichtig ist (s. F. Heim söth. Die indirekte Über-
lieferung des äschylischen Textes, Bonn 1862), aber früh durch die Albernheit jüngerer Er-
klärer zurückgedrängt wurde (s. A. Römer, Stud. zur handschr. Überl. des Äschylus und zu
den alten Erklärem desselben, in Sitz.ber. d. bayr. Ak. 1888 II 231 ff.), geht auf den Gram-
matiker Did3rmos zurück und stimmt vielfach mit Glossen des Hesychios überein (s. J. J.
Fbst, De Aesch. scholiis Mediceis, Bonn 1857). Diese alten Scholien sind samt ßiog, t''To-
^ö€ti, Interlinearglossen und kritischen Zeichen aus dem Laur. am besten herausgegeben von
G.ViTELLiundN.WBOKLBiN. Davou sind zu scheiden jüngere Scholien (besonders ausführlich zu
Prom. Sept. Fers.) von Tzetzes, Thomas Magister und Triklinios in codd. Paris. 2785. 2787 und
Leidenses Is. Vossii (s. C. M. Franoken van Muiden, Disputatio crit. de ant. Aesch. interpreta-
tionam ad genuinam lectionem restituendam usu et auctoritate, Utrecht 1845), herausgegeben
von W. DiKDOBF im 3. Bd. der Oxford er Aischylosausgabe 1851; die jüngeren Scholien zu den
Persem von 0. Dähkhabdt, Leipz. 1894 mit einer für die Abschätzung der älteren und jüngeren
Überlieferung des Aischylostextes belangreichen Einleitung. D. führt, nach dem Vorgang
von Wecklein und Wilamowitz, die kürzeren Scholien des Mediceus mit den Scholia recentiora
aof gemeinsame Quelle zurück, während Heimsöth glaubte, die Mediceerscholicn seien aus den
recentiora abgekürzt, Dindorf umgekehrt, die recentiora seien aus den mediceischen erbreitert.
Ausgaben: ed princ. Aldina 1518, in der Agamemnon und Cho^phoren (am Anfang ver-
stümmelt) noch nicht getrennt sind. — Ausgezeichnete Emendationen des stark korrupten Textes
lieferten A.Tubnebus (Paris 1552) und J. Auratus (Prometh. Paris 1549), der letztere wird von
G.Hebmakn, Ad Agam. 1396 omnium qui Aeschylum attigerunt princeps genannt. — Ausgaben
mit gelehrtem Kommentar von Th. Stanley, London 1663. 64; ed. K. G. Schütz, 3. Aufl., Halle
1809 — 1821 in 5 vol. — Die lang ersehnte Ausgabe von G. Hermann wurde nach dessen Tod
besorgt von M. Haupt, Lips. 1852„2 vol. (2. A., Berl. 1859). — Neuste kritische Gesamtausg.
von N. Wecklbin und G. Vitelli, Berol. 1885 — 93; mit griech. Kommentar von N. Wecklein u.
E.ZoMABiDis,3voll. Athen 1891— 97. — Textausg. von A. Kirchhoff, Berl. 1880, mit den Varianten
des Medio. ; H. Weil bei Teubner, 1884, 2. Aufl. 1907; von Weil auch eine größere kritische
Ausgabe, Gissae 1858—67, 2 vol. — Spezialausgaben : der Sieben von F. Ritschl ed. IL Lips. 1875 ;
des Prometheus von G. F. Sohömann, griech. u. deutsch, Groifsw. 1844; der Orestie von J.Franz,
griech. u. deutsch, Leipz. 1846, von 0. Mabbach mit deutscher Nachdichtung, Leipz. 1874,
von Th. Hbysb, Halle 1884, von N. Wecklein, Leipz. 1888; von Wilamowitz, Text. Über-
setznng. Erläuterung: Agam., Berl. 1885, Choöphoren 1896, Orestie 5. A. 1906; des Agamemnon
von R. Enobb und W. Gilbbbt, Leipz. 1874, 3. A. von Th. Plüss, Leipz. 1895 ; F. W. Schneidewin
nnd 0. EEsNSB, Berl. 1883, K. H. Keck, griech. u. deutsch mit Einl. u. Komment., Leipz. 1863 ; der
ChoSphoren von F. Blass, Halle 1906; der Eumeniden von 0. Müller (wichtig für Bühnenaltert.),
Ctott 1833; vonF. Blass, Berlin 1907. — Schulausgaben mit erklärenden Anmerkungen: Perser
von W. S. Tbuffbl, Leipz. 1866, 4. A. von N. Wecklein 1901; Prometheus von N. Wecklein,
Leipz. 1878; Sieben von dems., 1903; Schutzfl. von dems., Leipz. 1903. unter den frejpden
Ausgaben mit Kommentar verdient die von F. A. Paley, London, 4. Aufl. 1879, Erwähnung.
Erlänterungsschriften: Glossarium von Cn. J. Blomfield in dessen Ausg. des Agam.,
•Cambr. 1818, Lips. 1823; Lex. Aeschyleum comp. A. Wellaubb, 2 vol., Lips. 1830. 31; Lex.
294 Griechische Litteratorgeschichte. I. ElaMiaohe Periode.
Aesch. ed. W. Dikdobf, Lips. 1873. mit Supplement von L. Schkidt, Greiffenbeig 1875. —
R. Westphal. Prolegomena zu Aeschvlus' Tragödien. Leipzig 1869, Über Metrik und Kom-
position. — K. Aknoldt, Der Chor im Agamemnon des Aesch. szenisch erläutert, Halle 1881;
Chr. Muff, Der Chor in den Sieben des Aisch.. Halle 1882. — P. Richtkb, Zur Dramaturgie
des Aeschylus, Leipzig 1892 (dazu die Besprechung von H. Weil in dessen Etades aar le
dramc antiquo. Paris 1H97). — G. Haupt, Commentationes archaeologicae in Aeschylmn»
Diss. phil. Hai. 13 (1897) 105 ff. — Metiische Analysen der lyrischen Teile bei 0. ScbbOdkb»
Aeschyli cantica, Leipz. 1907.
c) Sophokles (406—406).')
105. Leben. Sophokles muß in der Bühnentechnik den Aischylos,
an dem er sich ohne Zweifel heranbildete, schon als angehender Dreißiger
erreicht, ja überboten haben. Mit den Werken seiner höchsten dichte-
rischen Kiaft aber fällt er in ein anders geaitetes Zeitalter, dem die Theo-
dicee im Sinn des Aischylos nicht mehr kongenial war, und dieses Zeit-
alter wirkt mächtig auch auf seine eigene Weltanschauung. Seine Re-
ligiosität hat einen starken Zusatz pessimistischer Resignation. Aber seine
Haltung ist gegenüber der sophistischen Aufklärung noch immer positiv,
und dem Venmnftradikalismus, der ihm in tiefster Seele zuwider war, hat
er nicht die geringste Konzession gemacht. Auch ihm ist die Sagen-
geschichte noch das heilige und unantastbare Gebiet verehrungswürdiger
göttlicher Offenbarungen. Aber die Götter, die er hier wirksam findet,
sind nicht milde, auch im Strafen väterliche und verständliche Lenker der
Menschheit, sondern sie sind die unnahbaren Herrscher der Welt, von un-
ermeßlicher Macht, von unerforschlichem, unbegreiflichem Rat; vor ihnen
sinkt der Mensch tief in den Staub. Das perikleische Athen, soweit es
noch nicht von dem die Persönlichkeit zersetzenden Geist der Sophistik
angegriifen war, hat diese fester auf den Boden der Tatsachen gestellte
Auffassung*) mit bewunderndem Verständnis angenommen und dem Dichter,
der an seinem Land mit ganzer Seele hing, seine Liebe') reichlich ver-
golten.
Sophokles stammte aus dem nahe bei Athen anmutig gelegenen,
zur Phyle Aigeis gehörigen Demos Kolonos Hippies. Sein Vater hiefi
Sophillos und hatte eine Waifenfabrik oder sonst einen größeren in-
dustriellen Betrieb, welcher der Familie reiche Einkünfte und dadurch
eine angesehene St<>llung verscnaifte.^) Geboren war er nach der alten
Vita 495/4, nach der parischen Marmorchronik 497/().^) In der Jugend
*) Aus dem Altertum ist uns erhalten Wirken, Frankfurt 1842, hypothesenreich; W.
ein aus Anjitaben des Aristoxenos, Satyros, T)rxi»uBF im 8. Hand seiner 3. Oxforder Ausg.
Istros zusammengesetzter lo<i ox)Joi'<: fiioc, 1860, und Tn. Bekgk in Aosg. Leipz. 1858.
mit ^uidas und den anderweitigen Zeugnissen '-) E. Kohde, Psyche !!• 288 £f.
zusammengestellt in 0. Jahns Ausg. der ') Vit. Soph.p. 128. 40 W. Von den beiden
Elektra. B. A. bes. v. A. Michaelis, Bonn Fragmenten, in denen man Sophokles' Heimfti-
1882. Einige sehr intime Züge aus den 'AVri- liebe bezeugt linden möchte (789 u. 848 N.*),
dijftifa des Zeitgenossen Ion bat Athenaios wird das zweite auch dem Aischylos (317 N.")
erhalten. Nach Suidas hatte Pliilochoros ein zugeschrieben.
Werk in fünf Büchern .tfoi nhr l\tff <ty./Joi'^ ■*) Der Vater war ftaxaiQOjroto;: oder
fivDtoy geschrieben. — Aus neuerer Zeit 0. E. rh.nov oder ya}.xtvg\ bei Plinius n. h. 87, 40
Lessino, Leben des Sojihoklcs. Teil eines ge- heißt Sophokles principe loco genitU9 Atheni»,
planten grölioren Werkes über Sophokles; ^) Die Vita geht wie Diodor XIII 108 d»-
F. ScHCLTz. Commentat. de vita Sophoclis. von aus. daß Soph. rund 90 Jahre alt ge-
Berl. 188G; A. iScHüLL. Sophokles Leben und worden sei; das Mann. Par. ep. 56. 64 gibt
C. Drama. 2. Die Tragödie, c) Sophokles. (§ 165.)
295
erhielt er Unterricht in der Gymnastik und Musik; in beiden Künsten
wurde er wiederholt bekränzt und erhielt bei der Siegesfeier der Schlacht
von Salamis die ehrenvolle Aufgabe, dem Chor der Knaben, der tanzend
und singend den Paian vortrug, mit der Lyra voranzuziehen. i) Die har-
monische Vereinigung körperlicher und geistiger Kräfte zeigt sich auch
sonst bei ihm, wenn er bei der Aufführung seiner Nausikaa durch die
Grazie im Ballspiel entzückte,*) und von dem Maler Polygnotos als
Kitharis spielender Thamyris in der bunten Halle dargestellt wurde. Zum
Lehrer in der Musik hatte er den von Aristoxenos hochgepriesenen
Lampros; die Melodien zu den Chorgesängen komponierte er selbst,
während sich Euripides dabei fremder Beihilfe bediente. In der Tra-
gödie, heißt es in der Lebensbeschreibung, ging er bei Aischylos in
die Schule, was natürlich nicht wörtlich zu verstehen ist. Zum erstenmal
siegte er im Jahr 468 mit dem Triptolemos.^) Der Mythus von dem ein-
heimischen Heros, den die Demeter von ihrem Heiligtum in Eleusis auf
schlangenbeflügeltem Wagen hatte ausziehen lassen, um die Pflege des
Ackerbaues und die damit verbundene mildere Gesittung in die Ferne zu
tragen, war so glücklich gewählt und so fesselnd durchgeführt, daß im
Theater eine ungewöhnliche Aufregung unter den Anhängern des alten
Meisters Aischylos und den Bewunderem des neu aufgehenden Sterns
entstand und der Archen, der die Spiele leitete, in außerordentlicher
Weise dem siegreich heimkehrenden Kimon und seinen Mitstrategen die
Entscheidung überließ. Sie fiel gegen Aischylos zugunsten des Sophokles
aus, der also schon im 28. Lebensjahr der Ehre des ersten Preises teil-
haftig wurde.*) In den folgenden zehn Jahren beherrschten die beiden
großen Tragiker mit abwechselndem Erfolg die attische Bühne, indem
Aischylos nicht verschmähte, auch von dem jüngeren Genossen zu
lernen,*) Sophokles aber bei aller Verehrung gegen den älteren Dichter
sich doch vor dessen Fehlern hütete, ß) Von einem Wettstreit mit Euri-
Sun 91 Jahre, ebenso Ps.Lucian macrob. c. 24
nach der Emendation von Schultz. Vgl. L.
Mmndslssohn, Act.8oc.phil.Lips.2 (1872) 171 f.
F. Jaooby, ApoUod. Chron. 250— 260 zieht das
Gebnrtegahr 496, weil es auf s3nachroiiisti-
Bchen Manipulationen beruhen kann, in Zweifel
und stellt die fünf verschiedenen Ansätze
des Gebnrtsjahrs, die zwischen 500 und 488
mch bewegen, aus den Alten zusammen.
Fest stand und steht nur das Todesjahr.
') Vita: //«a xijv h SaXafiivi vavfiaxtav
*A^fjvai€ov Jtegl jQOJtaiov ovtmv (cf. Timoth.
Pars. 210) /nerä Xvgag yvfivog dXtjkifijuh'og roTg
jfcucori^ovoi rcov ijttvtxicov i^ijQxtt'. Freunde
der Synchronismen heben hervor, daß zu-
gleich Aischylos bei Salamis mitkämpft«,
Sophokles den Siegesreigen fOhrte, Euripides
in Salamis das Licht der Welt erblickte;
u. S. 329 f.
•) Vita und Ath. 20 f. : xai t6v ßdfivQiy
Maaxwv avxog ixiddgtaev, äxQCog öe eotpai-
Qiaey, Stt rr^v Navaixdav xa&ijxe.
») Mann. Par. ep. 56; Plut. Cim. 8. Auf-
getreten ist Soph. nach Euseb. schon Ol. 77,
2 = 470. Daß es der Triptolemos war, mit
dem Soph. siegte, schloß Lessing aus Pliuius
n. h. 18, 65: ante mortem eius (Alexandri)
annia fere CXL V Sophocles poeta in fabula
Triptolemo frumentum Italicum ante cuncta
laudavif. Vgl. F. G. Welckeb, Gr. Tr. 1310.
*) Plut. Cim. 8. Ebenda und in Vit. Aesch.
ist die falsche Kombination, daß infolge der
Niederlage Aischylos Athen verlassen habe
und nach Sizilien gegangen sei; s. S. 271.
*) Schon 467 siegte wieder Aisch. mit
den Sieben, 458 mit der Orestie; beidemal
macht Aisch. vom dritten Schauspieler Ge-
brauch.
*) Von der Verehrung des Soph. gegen-
über dem älteren Meister, den er, als er
selbst zum Hades hinabkam, küßte und
dmch Handschlag begrüßte, s. Aristoph. ran.
788 ff. und 1516 ff. Auf der anderen Seite
lesen wir bei Ath. 22 a : fu^H^wv öe ejrotei r«s
Toay(odtag Aioxv'^og, «>!»' q^rjoi Xa/iadeojv' ^o-
(foxkfjg yovv MveiÖtCev ai'rcp, ort el xal ra
296
QriechiBche Litteratorgeschichte. I. Elassisohe Periode.
pides hören wir zum erstenmal im Jahr 438, wo Sophokles den ersten
Preis, Euripides mit der Trilogie, deren Nachspiel Alkestis uns erhalten
ist, den zweiten bekam. Auch im Jahre 431, als Euripides seine Medeia
aufführte, beliauptete Sophokles mit dem zweiten Preis vor ihm den Vor^
rang. Im übrigen ließ er sich in späteren Jahren auch von dem jüngeren
Rivalen beeinflussen. Das zeigt besonders der Dens ex machina im Phi-
loktctcs (aus dem Jahr 409) und schon der Prolog und die ganze Be-
handlungsweiso in den Trachinierinnen. *) Außerdem trat er auch mit
Choirilos, Aristias, Euphorien, Philokles und mit seinem eigenen Sohn
lophon in die Schranken ;*) Euphorien, der Sohn des Aischylos, gewann
ihm im Jahre 431 den ei^sten Preis ab. 3)
166. Daß er nach Aischylos' Tod der Liebling des athenischen
Publikums wurde, zeigt sich nicht allein in der Zahl seiner Siege,*) son-
dern auch in den hervorragenden St:ellungen im öffentlichen Leben, zu
denen ihn d«s Volk wählte, obwohl er gewiß weder hervorragender Feld-
herr noch hervorragender Finanzmann war.*) Im samischen Krieg (441
bis 439). nach der Aufführung der Antigene, war er Mitglied des Stra-
togenkollegiums, ß) Bei dieser Gelegenheit kam er in Chios mit dem
Tragiker Ion zusammen, der bei Athenaios p. 603 e die anmutige Anek-
dote erzählt, wie der lebensfrohe Dichterfeldherr beim Wein einem
schönen Knaben einen Kuß abgewinnt und dieses dann als dasjenige
Strategem erklärt, auf das er sich verstehe. 0 Um diese Zeit ist er auch
S^'ofTH .toifT, a/./.* orx Fititi't^ yr. Auch den
oyxtK Atn/r/.or tadelto er nach IMiit. de prof.
virt. 7 p. 79 b.
*) Auch ließ Sophokles nach Euripides'
Vorgang im nipj)onu8 den Chor seine per-
fiftnliche Sache führen; s. Pollux IV 111. Zu
beachten ist freilich, daß der Deus ex machina
im riiiloktet weit besser, als dies bei Euri-
pides der Fall zu sein ptlej;t, motiviert ist,
und daß die weitgehende Euripidesnachbil-
dung der Trachi nierinnen vielleicht anders
zu versftehen ist.
'') Vita Soph.
') Argum. Eur. Med.
*) Suid. gibt 24 an, von denen (nach
CIA Tl 977 A; Diod. XTII 108,4) is sUldtischc
waren.
^) Von den hochbedeutenden staatsmänni-
schen Eigenschaften, die E. Mkvjbii, Forsch, z.
alten Gesch. II, Halle 1«09. 87. und A. Bauku,
N.Jahrbb.f.kl.Altei-t.9(19U2) 2;U in ünn ent-
decken, weiß jedenfalls die antike Üherliefe-
nmg gar nichts. Dagegen sagt Ion, der ihn
im Kleis des Ferikles kennen lernte, er sei
in diesen J)irigen <n^ av t/c th nhy ym^nn7n'
\Mhjviii'<ny gewesen (Ath. 004 d). In einem
Zehnerkollegium neben tüchtigen Fachleuten
konnte er ja nichts verderben. Er erzählte
von sich die Außenmg des IVrikies i-nufir
fny HF t'f f/, oTtmrtfyFiv <Vy ovy. ym'nraoOai.
Demnach fühlte er selbst sich hier deplaziert.
Die anekdotische Entaiiung der Geschichte
von der samischen Strategie zeigt lastin. III
! ß, 12. der meint, nur Pcrikles und Sophokles
wären damals Feldherren gewesen. Plnt
Pericl. 20 er\i'ähnt beim samischen Krieg den
Soph. nicht.
®) Arguni. Antig.: qmai de rov SofpoxUa
i)hu)aOai Tfls fv ^Vtftto oroarfiytoi eiföoxtfi^'
aar Kl tr r/y ÖtÖaoxtUut ryg Avrtyot'ffg^ Vlts
Soph.: yni 'AOtjraToi Ä' avror ve ($&* codd.,
; VF stimmt zu der Elegie an Herodot) ho^v
• ovTft ojnanjyar FT?.orto :iq6 röv IleXtKrorr^-
oiaxo)}' FTFotv C' (corrige (y) ev np :tq6s
\irui(fr^ no/Jiiro. Suidas u. Mekiaoosx vsuq
2!(Uiiv)v nTonrrfytjon^ h'nvfmxrjae JTQog JSb^ro-
y/.rji' itiv rnnyixuv oA. .TfV (,Tir' coni. Bemhardy).
Wahrscheinlich war Sophokles im Jahr 440
Stratege, wurde aber die Antigone nicht un-
mittelbar zuvor 441, sondern 442 anfgefOhtt;
so auch WiL AHO WITZ. Aristot. und Athen 11
I 208. Vgl. noch Strab. p. 638; Plutl.I.; lustin.
1. 1. Dtis Verzeichnis sämtlicher zehn Stra-
togen aus /Vndrotions Atthis in Schol.Aristid.
111 p. 4x.j D. mit Ergänzung von Wilamowitx,
De Rhe.si scholiis, Greifsw. 1877.
^) ^Veiter ausgeschmückt ist der Vorfall
von Cicero de off. I 144: bene Pericies, cum
habeni voUeijam In praetura Sophoelem poe^
tarn llque de commnni officio convenisnent et
, cai^ii forniosus puer praeteriret ducisaetque
Sophocles „0 puerum pulchrum, PericU^', ^/ü
enim prnetomnf Sophocle, decet non solum
tnanus, sed etiam oiUilo8 abstinentes haber^.
C. Drama. 2. Die Tragödie, c) Sophokles. (§§ 166—167.) 297
zu Herodotos in nähere Beziehung getreten; nach Plutarch. an seni 3 hat
«r 55 Jahre alt eine Elegie an Herodotos gerichtet, deren Anfang lautete:
<ß&i]v 'HgodÖTCp revSsv Zocpoytlfjg hicov cöv nevr' im nevxrjxovra.^) Außer
dem Strategenamt im samischen Krieg bekleidete er in der wichtigen Zeit
der Neuordnung der Steuerbezirke Ol. 84, 2 = 443/2 die Würde eines
Hellenotamias oder Schatzmeisters der Bundeskasse. ^) Eine zweite Strategie
des Dichters erwähnt Plutarch. Nie. 15, wobei er, von Nikias aufgefordert
als ältester seine Meinung zuerst zu sagen, in liebenswürdiger Bescheiden-
heit erwiderte: iyio nakaioxaxdg elfu, ob dk ngeoßvraxog,^) Im hohen Alter
wurde er nochmals in die Politik hineingezogen, indem er, wenn anders die
Nachricht bei Aristoteles rhet. 1419a 26 auf den Tragiker bezogen werden
darf,^) im Jahr 411 in das oligarchische Kollegium der zehn Probulen ge-
wählt wurde. Deshalb nach dem Sturz der Oligarchen vor Gericht gestellt
und der Mitschuld der Einsetzung des Rats der Vierhundert beschuldigt,
verteidigt er sich nach Aristoteles mit der Verlegenheitsausrede, daß er
keine bessere Wahl gehabt habe.
167. In besonders vertrauten Beziehungen steht er zu Heilgöttem
und -heroen, in deren Kult vielleicht schon damals^) das sittliche Element
stärker betont war. Als Priester des Heilheros Amynos,^) der vor Askle-
pios am Westabhang der athenischen Burg eine Kapelle hatte, nahm er
durch Gründung eines Altars für Asklepios im Amynosbezirk den neuen
Gott, den Telemachos von Acharnai 420 zuerst nach Athen gebracht hatte,
auf. Dafür erhielt er selbst nach seinem Tod mit den beiden Heildämonen
zusammen als fJQoyg Ae^icav heroische Verehrung.'') Von einem Paian des
Sophokles auf Asklepios sind im Asklepieion am Südabhang der Burg in-
schriftliche Reste gefunden worden.®) Auch dem Herakles jui^vimjg scheint
*) l^dxtg hnaszei ergänzt geschickt, aber 1 (s. o. S. 245, 2) 53 f.
unsicher Th. Gompbbz. M61. WeU 145. Vgl. ' «) Bezeugt durch CIA I 237 p. 120.
H. ZuRBOBG, Herrn. 10(1875)206 ff., J.Classbn j ') Aristoph. pac. 697 wirft dem alternden
inVerh. d. Kieler Philol.vers. 1869, 114 ff. Von ; Sophokles Gewinnsucht vor, wozu Schol. ver-
dem Stadium, das Sophokles dem Herodot zu- i mutungsweise bemerkt : Xsyezai de ön ex zf^g
wandte, zeugt die Anlehnung von Oed. Col. | aigatriytag ifjg iv ^dfw} riQyvolaaxo.
837 — 41 an Herod. II 35, von Electr. 417 bis *) Bestritten wird dieses von W. Din-
423 an Herod. I 108. Oed. R. 267 f. kann
ebensogut dem Herod. V 59 nachgeschrieben
sein als umgekehrt. Verzeichnis der Anklänge
DORF, Vit. Soph. p. XX sq. Gegen die Herr-
schaft der großen Menge spricht sich unser
Dichter aus OC. 1534.
H. STiiN,Einl. zu Herod. I«,Berl. 1901p. XXVI *) J. Bernays, Theophrastos Sehr, über
A.2. Bezüglich des auffälligeren Anklaugs der i Frömmigk., Berl. 1866,68; die Inschrift auf
unechten Stelle Ant. 905 — 12 an Herodot lll 1 19 , dem Mosaikfußboden des Äskulaptempels von
weist R.P18OHBL, Herm.28 (1893) 465 ff. nach, ' Lambaesis CIL VIII 2584.
daß bierin Herodot und nach ihm Sophokles ^) So korrigiert A. Köbte, Ath. Mitteil,
einer alten in Iran und Indien verbreiteten An- I 21 (1896) 311 ff.; Gott. Gel. Anz. 1903, 843
sieht von dem Vorzug des Bruders vor Gatten ! nach den Inschriftenfunden den überlieferten
und Sohn gefolgt ist. Siehea. S.Reiter, Ztschr. f. Namen 14 Awro? der Vita (A. Meineke14x;«o»'o^).
«Btr.Gynm.49(1898)962ff.;W.ScHMiD,Philol. | ^) A. Körte a.a.O. 309 ff.; Etym. magn.
62 (1903) 25 ff. Die Entlehnung aus Herodot 256. 9; Philostr. iuu. im. 13; 0. Jahn zur Vita
bestreitet J. Möllbb, Ehrengabe der Latina, 1 Z. 88. — Über die Form der Aufnahme des
Halle 1906, 88. Weitere Ähnlichkeiten findet ' Amynos {^h'ia) s. Fr. Deneken, De theoxeniis,
man zwischen den Stellen El. 62 ff. u. Herod. ; Beri. 1881, 33 ff.
IV 95; El. 421 ff. u. H. I 108; OR. 981 f. u. ! '») St. Kumanudis, 'A^valov 5 (1876) 340
H.VI 107; Soph. fr. 432 N.« u. H. IV 64. Ahn- i und F. Böcheler, Rh. Mus. 32 (1877)318; G.
lichkeiten des sprachlichen Ausdrucks be- Eaibel 34 (1879) 207.
merkt H. Wittbkind, Sermo Sophocleus |
298
Qriechisohe Litteratorgeschichte. I. Klassische Periode.
er eine Kapelle gestiftet zu haben, ^ und von einem privaten Musenverein
tx T(7jv nFTraidev/iifycoy, dem er vorstand, berichtet Istros in der Vita*) —
lauter Beweise von innerlichem Interesse an Religion und Kultus.')
Im Privatleben muß Sophokles ein Charakter von seltener Harmonie
und Liebenswürdigkeit gewesen sein,*) fröhlich mit den Fröhlichen und
harmlos wie ein Kind. So gab er sich auch mit der lebhaften Sinnlich-
keit des Künstlers den Freuden der Liebe hin in den damals üblichen
Formen, auch der Knabenliebe, ^) einer Frucht des dorischen Gymnasiums
und Kriegslebens. Verheiratet war er mit Nikostrate; Sprosse dieser Ehe
war lophon, der, wie sein Vater, die Laufbahn eines tragischen Dichters
einschlug. Die Erzählung von der Liebe des greisen Dichters zu der
Sikyonierin Theoris und ihrem Kind Ariston verdient keinen Glauben.^
Enkel des Dichters war Sophokles d. J., der nach dem Tod des Großvaters
401 den Oidipus auf Kolonos zur Aufführung brachte. "') Der Liebling des
Dichters soll sein Enkel von Ariston, Sophokles, gewesen sein, während
sich sein Sohn lophon schlecht mit ihm vertrug. Anlaß zu Mißhelligkeiten
scheinen Geldangelegenheiten gegeben zu haben.*) Nach einer vielfach
bezeugten Überlieferung klagte lophon seinen greisen Vater bei den (Je-
schlechtsverwandten (rfwiTooei;) wegen Geisteszerrüttung {jTaQaroiag) an,
') Cic. de div. 1, 54: Sophocles, cum ex
aede Uerculh patera aurea gravis snrrepta
esnetj in soninitt vidit ipsum deutn dicentetu
qui id fecisset, quod aemel ille iterumque
neglexit. uhi idem saepius, aacendit in Ario-
pagum, dettdit rem. Ariopagifae comprehendi
iuhent eiim, qui a Sophocle erat nominatus;
is qttaestione adhihita confessus est jmteram-
que rtfttulity quo facto fanum illud Jndicis
Herculis nowinatum est. Die Viüi fügt hinzu,
daß Soj>h. für die Anzeige eine l^rilmie von
einem Talent erhalkm habe. (-. WATZiNciER.
Atli. Mitteil. 29 (1904) 241 ff. deutet die Er-
zfthlung auf Erneuerung eines alten Herakle«-
kults am Akropolisabhang.
-) H. Sauppe, De collegio artific. scaen.
Att., Jnd. Oütt. 1870. p. 4 f.: U. Köhler, Kh.
Mus. 89 (1.S84) 29r,.
^) Oft betonen die Sdiolien seine Frömmig-
keit und .seine Unfähigkeit zum ßkantfiiunr,
z. B. E1.H31.
**) nvijtt nntfiidth}'; n(uj oTrro xai rV^/Os
Ion bei Ath. 003 e; aucli T*hrj'nich. com. fr.
31 K. nennt ihn ^f^iö::, vielleicht mit An-
spielung auf den Beinamen Dexion; tvxolo^
fth' rvt}(uy, n-xfthh: <Yf:yt7 nennt ihn Ar. ran.
82. Auch in .<*einen Versen fanden die Alten
seit Aristoph. fr. 581 K. besondere Sttliigkoit.
Dio ChrvH. or. .V2. 17; J. A. Cramkk, An. Par.
1 10; Siiidas: Schol. zu Soph. Ai. 1190. Oed.
Col. 17: Anth. Tal. VII 22 u. 8<). Ath. 20e:
;to('»c Tio yjuJtc '/F'/FVilnitai Ttjv onmv i)r xai
ooytjoTiy.tjv {^FtSi^aytih'Oy yni intvoiy.t)i\ Vita:
xal .Tnoc nmirrmr firror aTFoyFoOat.
^) Bei Ath. C03e hei fit^ Sophokles ffdo-
ftFioat, wie Euripides qdoyvrtfi. AnBer dem
schönen Knaben von Chios^ von dem nns Ion
; bei Ath. 603 e erzfthlt. nennt Ath. 592 b noch
einen Knaben Smikrines. Eine gewiaae
Schwäche des jugendlichen Sophokles in
erotischen Dingen ist wohl Plat reip. 1 829 b
, angedeutet, für den alten Dichter aber mit
majestätischem Nachdruck zurückgewieseiL
Suid. s. 2o7 nxki}^.
^) TIermesianax bei Ath. 598 c. F. G.
Welckkk. (iriech. Trag. 1 304 sacht geistreich
den Ursfirimg der Legende in dem mißverstan-
! denen Halbvers 7//^ yag ?} ikemQtg. Snidas er-
wähnt noch als weitere Kinder des Sophokles
den Leosthenes. Stephanos, Menekleides. Von
Ath. 502 winl nach der trüben Qndle des
Anekdotenschreibers Ilegesandros noch eine
zweite <.ieliebte des Dichters genannt, die
, Hetäre Archippe, die er zur Erbin eingesetzt
habe. A. »Souöll. Leben d. Soph. 365 ff. ver-
wirft alles die.ses als Mißverständnis» ent*
I standen aus den b(>sen Nachreden der Ko-
miker, indem er sich auf die Darstellung des
Piaton 1. 1. (Ainmianus Marceil. XXV 42) be-
nift. wo Sophokles sich riihnit, im Alter den
. bösen Tyrannen der Liebesloidenschaft los-
geworden zu sein.
^) Arg. OC. Es gab einen Sophokles des
Ariston \ Vita 57) und einen des lophon, wor-
über die Inschrift CIA II 672, 37. Siehe A.
Wilhelm. T'rkunden 177, 1.
®) Nach Ar. pac. 696 wäre der alternde
Sophokles allzu haushälterisch geworden.
Apologeti.sche Versuche bei F. G. Welckxb,
( {riech. Trag. 1 26^ und Tir. Bebok, Vit Soph.
XVlIl.
C. Drama. 2. Die Tragödie, c) Sophokles. (§ 167.)
299
worauf dieser, zum Beweis für seine Geisteskraft, das herrliche Preislied auf
Attika im Oidipus Kol. vortrug und damit die Richter zu solchem Enthu-
siasmus fortriß, daß sie mit Entrüstung die Klage des Sohnes abwiesen.^)
Die Geschichte in dieser ausgeschmückten Form stammt aus irgend einer
Komödie, die den Handel des lophon auf die Bühne gebracht hatte. 2)
Sophokles hat seinen Rivalen Euripides überlebt und ihm neidlos eine
Totenfeier beim Proagon der Dionysien im Frühjahr 406 veranstaltet, in-
dem er, selbst in schwarzem Gewand, den Chor ohne Kränze hereinführte. 8)
Bald darauf ist auch er als hochbetagter Greis von 91 Jahren unter dem
Archen Kallias, im Herbste 406 gestorben.*) Sein Tod war ruhig und
sanft. Spatere dichteten, er sei beim Verschlucken einer unreifen Trauben-
beere von einem Geschenk des Schauspielers Kallippides erstickt.*) An
den Lenäen des folgenden Jahres (405) beklagten die beiden großen
Komödiendichter Aristophanes in den Fröschen und Phrynichos in den
Musen den Hingang der zwei Meister des tragischen Kothurns. Phrynichos
widmet ihm den warmempfundenen Nachruf (fr. 31 K.):
/üidxag üocpoxXhjg, Sg 7zoli/v xQ^vov ßiovg
äjii^avev, evdaifxcov ävrjg xai de^iog,
TioXXdg noirioag xal xakäg rgaycodiag'
xal(bg 6' ireievTfjo' ovdev tmo/neivag xaxöv.
Das Grabdenkmal in seinem Heimatort an der Straße nach Dekeleia war
mit einer Sirene, dem Symbol des Todes, geziert.®) Wie einem Heros
wurden ihm dort alljährlich nach einem Volksbeschluß Opfer dargebrachte)
') Satyros in Vita 13; Cic. de sen. 22;
Plut. an sen. 3 p. 785a; Apul. apol. 37; Ps.-
Lncian macrob. 24. Die Behandlung des Falls
Tor dem Phratorenkonseil hat ihre Analogie
im altrOmischen Branch (Leges XII tab. V 7
L23 Bbuns«; Varro r. r. I 2, 8) und wird
itorisch sein, wenn auch über die in ver-
schiedenen Versionen überlieferten Einzel-
heiien Zweifel möglich sind. — Auch Aristot.
rhet. 1416 a 15 weiß von einem Prozeß des
achtzigjfthrigen Sophokles, bei dem der Dichter
sein Zittern mit seinem hohen Alter ent-
schuldigte. Auffällig ist, daß Aristophanes
in den FrOschen V. 73 nichts von einem Streit
des lophon mit seinem Vater weiß, sondern
nur abwarten will, ob der Sohn auch nun,
wo er nicht mehr des Vaters Beihilfe habe,
etwas zu leisten imstande sei.
*) Vita 13: xai Jiore h dgaftari elarjyayev
*Ioq>wvja, Vermutet wird Aristophanes, der
eine Komödie dga/iaia schrieb, oder Leukon,
Ton dem ein Stück ^^gdreoeg betitelt war.
») Vita Eur. p. 135, 42 W.: Xeyovot ök
xcu 2o<poxXia axovoavxa Sri helevxriaev, avxov
fuv IfiaxUp <pai^ JtgoeJii^eTv, rov 6e ^ogov xai
tovs v^oxQixäs doretpaveoTOvg eloayayetv ev
t<p jrQodyayri.
*) Marm. Par. ep. 64 äQxovxog \4dtjytjai
KaXXiov, ebenso Diodor XIII 103, 4. Die Zeit-
angabe der Vita sregl xovg Xöag ist weder mit
der Erzählung von der Traube noch mit der
Aufführung von Aristophanes' Fröschen an
Lenäen (Jan./Febr.) vereinbar, außer man
denkt an die ländlichen Dionysien, die aller-
dings einmal zur Zeit des Demosthenes (or.
18, 160 und 262) in KoUytos zur Zeit der
Weinlese gefeiert wurden. Tod durch eine
Traubenbeere wurde auch dem Anakreon zu-
geschrieben, Plin. n. h. VII 44. Siehe a. F.
Jacoby, Apollod. Chron. 254, 10.
») Vit. Soph.; Anth Pal. VII 20; Sotades
bei Stob.flor. 98. 9; Ps.Lucian macr. 24. Die
Angabe des Satyros in der Vita, daß er beim
Vorlesen der Antigene erstickt sei, war viel-
leicht ursprünglich ein Spott auf die lange,
pausenlose Monodie der Antigene in Ocd.
Col. 243 — 53. Von diesen Todesursachen
weiß Phrynichos 1. I. nichts. Eine ähnliche
Fabel vom Tod des Anakreon berichtet
Plinius n. h. VII 44. Das Todesjahr und die
Fabeln über den Tod des Dichters sind be-
sprochen von L. Mendelssohn, Acta soc. phil.
Lips. 2 (1872) 161 ff.
«) Die Grabschrift soll nach dem wenig
zuverlässigen Lobon (anders bei Val. Max. 8, 7
ext. 12) gelautet haben:
xgvjrriü Twde rd<po} ^oqoxXij TiQCOtela Xaßm'ta
rfl rgaytxfj xs/vf} ox^jf^a x6 asfivoxaxor.
Andere sicher fingierte Grabepigramme Anth.
Pal. VII 20 21. 22. 36. 37.
^) Vita und Et. magn. 256, 6.
300
Qrieohische Litteraturgesohiehte. I. ElasBiBchtt Periode.
Die Sage, daß der spartanische Feldherr LysaDdros erst nachdem er ge-
hört, daü Sophokles gestorben sei, den Trauerzug aus der Stadt heraus-
gelassen habe, ^) läßt sich mit der Geschichte nicht vereinigen, da die Ein-
schlieiäung Athens erst im folgenden Jahr begann. Das Bild von der
Gestalt und dem Gesichtsausdinick des großen Dichters können wir uns
noch durch die Marmorstatue des lateranischen Museums vergegenwärtigen,')
vermutlich eine Kopie des Standbildes, das ihm auf Antrag des Redners
Lykurgos im Theater errichtet wurde: eine hohe, gesunde Gestalt von
kräftigen Formen mit vollem Bart- und Haarwuchs, den Kopf nur wenig
nach oben gerichtet, voll Klarheit und milden Ernstes.
liiH. Dichtungen des Sophokles. Sophokles hat nach der Angabe
des Grammatikers Aristoplianes außer Elegien und Paianen 123 Dramen
gedichtet.*) Demnach ist er der fruchtbarste unter den drei großen Tra-
gikern. Erfolge wurden ihm im dramatischen VVettkampf mehr zuteil ab
dem Aischylos und Euripides, indem er vierundzwanzig Siege errang,*) mehr-
mals den zweiten Preis davontrug, niemals auf die dritte Stelle herabgesetzt
wurde. Erhalten haben sich von ihm nur sieben Tragödien in folgender
Ordnung: Aiag, 'HkexiQa, Oidi:iov<; ivQavvog, \4rny6rf], Tga^iviai, ^iXoxrfjrriit
(Mhovs t^'i Kohnviü.'^) Wahrscheinlich waren diese die besten Stücke nach
dem Urteil des Grammatikei-s, der gegen Ende des Altertums die Auswahl
traf.*^) Der Ordnung lag vielleicht, wie F. W. Schneidewin vermutete,^
>) Vita; Plinius n. h. VU 109; Piius. l
21, 1. Th. Bergk deutet die Überliefening
auf das 0])fer. das die Angeliöngcn im
nächsten Jahr am Ster)>etag dem Toten dar-
brachten.
'') über die Statue F. G. VVklckkk, xMte
Denkm. I 4o7 ff. Weiteres zur Ikonographie
des Soph. J. J. Beunoulli, Jahrb. des arcli.
Inst. 11 (1N%) 170 ff.
^\ Diese Zahl gibt Suidas an, und damit
stimmt auch die Zahl der echten Stücke der
Vita, wenn wir mit Bergk lesen: yyji t^f
doduura, u>," t/ tjotr Woioroffiiytj^ o/.', tovrotv
dt rfvdOFVTut ^ (/^' codd.). Die Zahl ist nicht
restlos in Tetralogien zerlegbar. Siehe o.
S. 2:>7, 1.
**) 20 Siege gab Antigonos Karystios
nach der Vita an, 24 Suidas. 18 Siege au
den großen Dionysien geben Diod. XIII 103,4
und die didaskalische Urkunde CIA 11 977 A;
er hat also sechsmal an den Lenäen gesiegt.
Die Zahl 20 wird abgenmdet sein.
^) Es sind also ebenso viele Stücke
von Sojjhokles wie von Aischylos eihalten:
ebenso wurden von Sophokles in der byzan-
tinischen Zeit, wie mar. aus den Scholien
sieht, nur drei Stücke (Aias. El., Oed. K.)
häutiger gelesen; vgl. S. 274.
®) Von Antigene und Elektra heiht es
bei Dioskorides Anth. Pal. VII 87 nu*f diFoni yno
nx(un\ von Oed. R. in der 2. Hypothesis y^t.y/i
nantic rij^ 2inrf oy/.niv^ .lonjOFo)^ und ähnlich
bei Ps.Longin 83. o u. Statilius Anth. Pal. IX 98 ;
von Oed. Col. (HyiK)th. I) ro Afmua t&v Öot»-
ftaon7)r; Philoktetcs erhielt den erstoD Preis
und wird von Dio Chr^'S. or. 52 bewundert
Nur von den Trachinierinnen fehlt ein ana-
drücklichcs anerkennendes Zeagnis.
^) F. \V. ScHNEiDKwiir. Abhdl.d. Gött.G«e.
G (18o3— r.5) 264. Vgl. das Referat von N.
Wecklein. Jahresber. d. Alt 46 (1885) 1,242 f.
Einwendungen erhebt Th. Bergk, Vit. SodL
]). XL hauptsächlich deshalb, weil in der
Ordnung der StUcke der übrigen Tragiker
auf die Chronologie keine Racksicht genom-
men sei. Aber da& es eine Ordnung nach
der Zeit gab, macht die Angabe der aristo-
phanischen Hypothesis der Antigone, daß
diese an 82. Stelle stand, wahrscheinlich. (Ähn-
liche Angaben finden sich in Argum. Eur. Ale.
und Aristoph. aves und in 1. Bekker an. gr.
430. U\ zu Aristoph. njoac; s. A. Böckh Ausg.
der Antig., Berlin 1843 S. 120 A.) Der An-
nahme einer chronologischen Ordnung Algt
sich gut die zweite Reihe Ant., Trach., Phil.,
Oed. Col. : mit dieser steht außer chrono-
logischem Zusammenhang die erste Reihe Ai.,
EI.. Oed. K., die aus den in Byzanz am
meisten gelesenen Stücken gebildet ist. Ob
innerhalb dieser ersten Reihe das Alphabet
oder die Zeit maßgebend war, ist UDgewÜj,
doch ist das erstere wahrscheinlicher. Für
die Erkenntnis der chronologischen Folge er-
gibt der Versbau nicht« Sicheres. Auflösungen
im Trimeter hat El. 3. 16, Ant 4. 05, Oed.
Col. 5.06, Trach. 5,9, Oed. R. 5,98, Ai.6,89,
C. Drama. 2. Die Tragödie, c) Sophokles. (§§ 168—169.) 301
ein chronologisches Prinzip zugrunde, das nur ein wenig durch die Vor-
anstellung der dr^i im Mittelalter am meisten gelesenen Stücke (Aias,
Elektra, Oed. R.)i) gestört wurde.
169. Neuerungen in der dramatischen Kunst. Unter den
Neuerungen, die Sophokles in der äußeren Gestalt des dramatischen Bühnen-
spiels vornahm, war die augenfälligste die Vermehrung der Schauspieler
von zwei auf drei.*) Sie muß von ihm gleich bei seinem ersten Auftreten
(468) oder doch bald nachher durchgesetzt worden sein, da alle seine erhal-
tenen Tragödien mindestens drei Schaupieler zur Aufführung erfordern und
auch Aischylos schon in der Orestie (458), aber noch nicht in den anderen
erhaltenen Stücken, von drei Schauspielern Gebrauch machte. Denn es ist
selbstverständlich, daß die Gewährung von drei Schauspielern zu gleicher
Zeit allen Dichtern zustatten kam. Übrigens scheint von der nun vor-
handenen Möglichkeit, eine Unterhaltung wirklich zwischen drei Personen
zu führen, den erhaltenen Stücken nach zunächst recht wenig Gebrauch
gemacht worden zu sein,^) vielleicht mit künstlerischem Bewußtsein, um
die strenge Linienführung, welche die oejuvoTTjg forderte, nicht zu ver-
kräuseln. Wegen seiner schwachen Stimme gab es Sophokles auf, selbst
als Schauspieler in seinen Dramen aufzutreten,*) was vorher allgemein bei
den Dichtem üblich gewesen war, vermutlich in der Art, daß der Dichter
vom Staat nur insofern, als er zugleich Schauspieler war, bezahlt wurde.
Wirkung dieses Auseinanderfallens von Dichter und Schauspieler werden die
Einführung des besonderen Schauspieleragons seit 449^) und des Dichter-
soldes sein. Das Einstudieren der Aufführung (diddoxeiv) verblieb natürlich
dem Dichter. An die Einführung des dritten Schauspielers wird mit Recht
bei Diogenes Laertios (III 56) die Vollendung der griechischen Tragödie
geknüpft; denn über sie gingen die Alten nicht hinaus,^) und sie erst hat
dem Dichter die kunstvolle Durchführung einer verschlungenen Handlung
und den Schauspielern eine gründlichere Vertiefung in ihre nunmehr innerhalb
eines Stückes weniger oft wechselnden Rollen möglich gemacht. — Auch
FhU. 11, 00 auf 100 Verse, Versteilung durch " ror de xqixov ZocpoxXrjg, xai ovvejzXrjocooe rtjv
Personenwechsel Ant 0, AI. 4, Trach. 4, Oed. I xQay(i)öiav. Vgl. Dikaiarchos in Vit. Aesch. 13,
B. 12, El. 27, Phil. 32, Oed. C. 48, mehr als Suidas und Vita Soph. Siehe o. S. 258, 7.
einmaligen Personenwechsel in einem Vers
El. 1, Oed. C. 1, Oed. R. 2, Phil. 4 (so nach
Notizen von W. Christs Schüler Probst). Über
Eigentümlichkeiten der lyrischen Versmaße
8. unten bei den einzelnen Stücken.
*) Drei Stücke von Sophokles wie drei
von Aischylos analysiert um 500 Eugenios
(b. § 628 der 4. Aufl.). Triklinios gegen Ende
des Mittelalters erweiterte den Kreis auf vier,
indem er zu den drei ersten Stücken auch
noch die Antigene kommentierte. Etwas Ähn-
liches findet sich bei Aristophaucä.
«) Arist poöt 1449a 17 ; Diog. Laert. III 56 :
WOJUQ x6 sioXaiov ev rfj xQay<pöiq. :to6x€qov
fiiy fiopog 6 x^^ öisÖQa/ndxiCeVf voxeqov ök
Siojiig iva vnoxQixriv i^svgev vjikg xou dva-
jtaveadai xov x^Q^> ^"* öevxeQov AtaxvAog, , (1097. 1253. 1542).
^) WiLAMowiTZ, Griech. Tragödien übers.
Vm (Eur. Kyklop) Berl. 1906, 19 ff.
*) Vita: xal JtokXd exatvovQyrjaev iv xoTg
dycbai, JiQCJXov juev xaxcdvoag xi}v vJtoxQiaiy
xov jioiTjxov Öid xi}v iöiav fnixQoq?coviav' :iaXai
ycLQ xai 6 jroitjxtjg vjzexgtrexo avx(>g.
») Siehe o. S. 260. Nach dem oben Ge-
sagten müßten die beiden Stücke, in denen
Soph. noch selbst auftrat, Nausikaa und Tha-
myris, vor 449 gesetzt werden ; bei der Nau-
sikaa können dafür auch szenische Gründe
sprechen (K. Robert, Gott. Gel. Anz. 1897, 29) ;
übrigens steht auch aus anderen Gründen
fest, daß sie Jugendstücke sind.
*) Im Oed. Col. kommt zu den drei Schau-
spielern noch ein Statist für die Ismene
302 Qriechische Litteratorgeschiehte. I. Elaasisohe Periode.
die Zahl der Choreuten vermehrte Sophokles von zwölf auf f&nfzehn.^) Diese
Neuerung ist im Agamemnon dos Aischylos schon angenommen (1298 ff. K).
Wiewohl von minder hoher Bedeutung, hat sie doch eine ebenmäßigere
Aufstellung des Chors (6 ^- 6 nebst je einem Halbchorführer, dazu der Kory-
phaios des Gesamtchors) möglich gemacht und außerdem dem Koryphaios
eine selbständigere Stelle verschafft, zumal wenn der Chor in zwei gegen-
überstehende Reihen (arn.Tooao>.Toi) auseinandertrat. Darin beruht auch
der Zusammenhang der beiden Neuerungen, indem nunmehr der ChorfQhrer
in den Wechselgesprächen gleichsam als vierter Schauspieler den drei
Schauspielern der Bühne gegenübertrat.*) — Sophokles' wichtigste Neuerung
aber bestand in der Loslösung der einzelnen Dramen vom tetralogischen
oder trilogischen Zusammenhang, was Suidas mit den unklaren Worten
ausdrückt: fjQ^e tov doujiia 7io6(; doäfxa dyomCeodai, cdXä /ni] TergaioyeTadtu
(v. 1. TfToaXoyiav). Die Erklärung der Worte geben die Tragödien des
Sophokles selbst an die Hand, wenn es auch bedauerlich ist, dafi uns
gerade für ihn keine einzige vollständige Didaskalie und keine An-
gabe über die mit den einzelnen sieben Tragödien zugleich gegebenen
Stücke vorliegt. Vor wie nach aber traten die Tragiker an den großen
Dionysien mit vier Dramen, nicht etwa mit einem in den Wettkampf; vor
wie nach auch erhielten die einzelnen Choregen und Dichter nur einen
Preis auf Grund ihrer Gesamtleistung in den vier Stücken.') Ob seit
Sophokles' Neuerung die drei Stücke einer Trilogie auf drei Tage verteilt
und das Gesamturteil aus dem Urteil über die einzelnen Stücke gewisser^
maläen zusammengerechnet wurde, darüber lassen sieh nur Vermutungen
aufstellen.^) Aber was wir aus den erhaltenen Tragödien sehen, ist, dafi
Sophokles jede einzelne Tragödie in sich abrundete, so daß sie auch an
^) Vitii: Tovs bt- /oofi.'T«>- :iou)na<: uvri tov /*// Aodiia . . dem Artikel 0gvvtxoi Hl-
iß' if, ebenso Suidas. A. Müller, Biihnen- weisen. A. Scholl, Gründlicher Unterricht
altert. 202 f. über die Tetralogie des alten Theaters, Leizp.
^) 0. Uense. Der Chor des So))hokle8, 1851K polemisiert ohne Glftck gegen die im
Berl. 1877; vgl. auch W. Chuist. Metrik*, j Text gegebene, wesentlich anfWelcker zmflck-
670. Beachtenswert ist auch, daß gegenüber gehende Deutung und erklftrt S. 37 den Sati
den vielen nach dem Chor benannten Stücken ; des Suidas für eine falsche Vorstellung der
des Aischylos fast alle Stücke des Sophokles Späteren. Schölls Anschauung von einem in-
nach der Hauptperson den Namen haben. Seine neren Zusammenhang derOidipusstOcke suchte
Neuerung rechtfei tigte Sophokles in einer | geistreich, aber ohne Erfolg F. Th. Vibchbb,
Prosaschrift .-jt^ol ror /onor gegen Tliespis AUg. Ztg. Heil.lJ^Öl Nr. 186 — 9 zu verteidigen.
und Choirilos (Suid. s. 2o</ .). Die Sache ist endgültig zum Austrag gebriicht
') Die zahlreichen Belege für die beiden von L. Schmidt, Bilden die drei thebanischen
Sätze sind zusammengestellt von Th. Bekuk, Tragödien eine Trilogie? in Symb. phil.Bonn.
Gr. Litt. III 231. Über eine Tetralogie des j in honorem Ritschelii I (1864) 219—259. Die
Sophokles, bestehend aus AiyFv;: (?) Y/dmnFvi; \ Annahme einer Veiieilung der drei StQcke
^Ißfjoe^ Tt}/.et/(K, die nach dem 4. Jahrh. auf drei Tage begünstigt allerdings der Wort-
V. Chr. in Rhodos aufgefühi-t wurde, s. G. . laut der Suidasstelle und verteidigt H. Fbb-
Kaibel, Herm.23(18J^s) 273. Es ist aber ganz I ricks. Eine Neuerung des Sophokles, in
zweifelhaft, ob die nur in einer Kopie des . Comm. Ribbeck ianae 1888 S. 205 — 15. N.
Buonaroti erhaltene Inschrift den großen VVkcklein, über eine Trilogie des Aeschylos
Tragiker Sophokles meint. Siehe A. Wilhelm, | und über die Trilogie überhaupt, Sitz.ber. d.
Urkunden 205 ff. bayr. Ak. 1891 S. 3ß8 flF. verlangt, daß die
*) Cber diese Vennutungen s. Tii.Berok, | Worte des Suidas dahin gedeutet worden,
Vita Sojih. p. XXIX. W. Dixjjorf, Vita Soph. daß Sophokles die Zulassung auch eines ein-
p. XXXV bezweifelt die Echtheit der Über- i zelnen Stückes statt einer Tnlogie zum Agon
lieferung und will den Absatz in der Fassung . durchgesetzt habe.
C. Drama. 2. Die Tragödie, c) Sophokles. (§ 170.) 303
und für sich verstanden und gewürdigt werden konnte. Damit geht Hand
in Hand eine Erhöhung der Straffheit im dramatischen Aufbau, eine Aus-
merzung des epischen und Ijrrischen Überschusses, eine stärkere Betonung
des Persönlichen, des Charakters gegenüber dem Sachvorgang (s. o. S. 292).
Die drei Tragödien Oidipus Tyrannos, Oidipus Koloneios, Antigene, die dem
Inhalt nach zur trilogischen Zusammenfassung wie geschaffen scheinen und
früher z. B. von A. Scholl noch gewaltsam in einen solchen Zusanmienhang
gepreßt wurden, sind jede für sich gedichtet und jede zu einer andern Zeit
aufgeführt worden. Leider wissen wir nichts darüber, wie sich die atheni-
schen Preisrichter in der Einzelbeurteilung und der Zuerkennung des Ge-
samtspreises mit diesen Neuerungen abgefunden haben. Daß ein so ge-
waltiges, schon im Altertum (S. 300, 6) hochbewundertes Stück wie der
Oidipus Tyrannos unterliegen konnte, möchte man sich aus seiner Zusammen-
koppelung mit zwei anderen, vielleicht minder bedeutenden Tragödien er-
klären; es kann aber auch sein, daß das Stück den Preisrichtern doch zu
fatalistisch war, da sie ohne Zweifel nicht bloß nach ästhetischen Gesichts-
punkten geurteilt haben. — Bezüglich anderer unbedeutender und be-
strittener Neuerungen des Sophokles hören wir, daß er den Krummstab
der Greise und die weißen Schuhe der Schauspieler und Choreuten „ er-
funden*,i) den Schauspielern*) ihre Rollen auf den Leib zugeschnitten, die
Szenenmalerei vervollkommnet,^) die phrygische Tonart und dithyrambische
Weise in die Theatermusik^) eingeführt habe.
170. Kunstcharakter.*) Sophokles hat, auf dem Weg des Aischylos
weiterschreitend, die Charaktertragödie zur Vollendung gebracht, d. h. sie
auf eine flöhe geführt, über die sie in der Weltlitteratur vor Shakespeare
nicht hinausgekommen ist. Wenn bei Aischylos meist noch die Sagen-
historie oder das sittlich-religiöse Problem an sich im Vordergrund des
Interesses steht und die Personen, so geschlossen und lebensvoll sie sich
darstellen, für die Handlung doch nur die notwendigen Stützpunkte ab-
geben, so leitet Sophokles möglichst alles Geschehen aus der Eigenart der
Personen ab. Der Gang der Handlung im großen ist zwar natürlich auch
ihm durch den Mythus unverrückbar vorgezeichnet; aber er bemüht sich
nun doch viel mehr als Aischylos, den Einzelverlauf aus den Charakteren
der handelnden Personen hervorgehen zu lassen. Wie sich ein bestimmt
geformter Charakter in einer gegebenen Situation betätigt, das vor Augen
zu stellen, reizt diesen Tragiker am meisten. Nicht die göttliche Vor-
sehung wie Aischylos, sondern die Handlungsweise der Heroen will er
verständlich machen und rechtfertigen. Aus dem ins Schrankenlose aus-
*) Vita: ZdivQog de (prjaiv ou xai xtjv 1 oxevaaev. Aber schon für Aischylos hat
X€t/i3tvlrfv ßaxjtiQlav avxog ijin'orjoev ' q)fjoi de j Agatharchos nach Vitruv. VII praef. 1 1 De-
xa« "loTQog xag Xevxag xorjmdag avxov i^ev- j korationen gemalt.
Qffieivaif &s vnodovvxai ot xe vjioxgixai xai ol *)YitSL:(ftjoide*Aoiox6^e^'ogü>gjtQ<bxogxo)v
XOQevToU, xai jtgog xäg (pvoeig avxibv yodxpat \ ^A&rjyrj&ev :ioir]xd)v xrjv ^Qvyiav fielojtoitav eig
tä dgäfiaxa. xä lÖia (fOfiaxa ,iaoFkaße xai xov Si&VQafißtxov
*) Genannt werden Tlepolemos und Klei- xqojtov (tw — xQo.tq) Westermann) xaxefiigev,
demides Scbol. Ar. nah. 1266, ran. 791; Vit. ^) 0. Ribbeck, Sophokles und seine Tra-
Soph. p. 128, 32 W. I gödion, in Sammlung gemeinverst. wiss. Vor-
») Arist poöt. 1449 a 17: xgeTg de v.io- \ träge, 4. Serie Berl. 1869, 83. Heft, 383 ff.
KQixas xcd oxtjvoYQaqpiav ZoqpoxXrjg siaoe- I E. RoHDE, Psyche II' 233 ff.
304 Oriechische Litteratnrgeschichte. I, Elassisclie Periode.
gedehnten Begriff göttlicher Allmacht aber schaltet er alle menseUichnsitt-
lichcn Faktoren aus — es fällt ihm nicht ein nachzurechnen, wie sich die
Götter hätten verhalten sollen, oder mit menschlichem Raisonnement Gründe
und Zwecke ihrer Fügungen begreiflich machen zu wollen. Dergleichen wftre
ihm unfromm erschienen. Mit tiefster Ergebung, ohne irgendwelche Illusion^
aber auch mit männlicher Fassung schaut er in die dunkelsten Tiefen dea
Menschenwesens und betrachtet andachtsvoll das schauerlich-schöne Schau-
spiel des Waltens der xoehjovF^. Wenn nun unter solchem ungeheuren Sturm
göttlicher Schickung edelste Kräfte schuldlos*) im Bemühen, sich ihre Selb-
ständigkeit zu bewahren, physisch niedergemäht werden und doch sittlich
triumphieren, so liegt die Versuchung nahe, Götterpersonen, die so schalten,.
das sittliche Recht zur Weltregierung zu bestreiten. Ihr ist Euripides, nicht
aber Sophokles verfallen. Sophokles zeigt hier nicht Mangel an Einsicht
oder Hartherzigkeit, sondern eine fast übermenschliche Kraft der Beschei-
dung, eine Freiheit von vorlauter Nervosität, für die wir kaum mehr Ver-
stündnis haben, die aber Friedrich Hölderlin gefühlt hat, wenn er über die
sophokleischen Tragödien schrieb:
Viele versuchten umsonst das Freudigste freudig zu sagen.
Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.
In der Charakteristik seiner Helden steigt Sophokles nicht zur Gewöhn-
lichkeit des Alltags herab, wie der Verist Euripides,*) sondern schafft mit
genialer Natürlichkeit aus dem romantischen Geist der Heldensage heraus
jene über die ^Virkliclikeit emporragenden und doch* in sich ewig wahren und
echten Gestalten, die würdig erscheinen, den Kampf gegen das Schicksal zu
kämpfen, ja in ihm moralisch Sieger zu bleiben: so ergreifend ist der Adel
und die Keinheit ihrer Seelen. Bezeichnend für ihn ist, daß er die Schranken
zwischen männlicher und weiblicher Tugend, die dem Griechen sonst
meistens als selbstverständlich gelten, aufhebt^) und als erster auch der
weiblichen Natur Leistungen von heldenhafter Größe im guten Sinn über-
trägt: er ist aus Überzeugung der Schöpfer des Typus der Heldenjungfran
geworden, den sich dann Euripides zu theatralischen Effekten angeeignet
hat. Gern stellt er, wie um den Maßstab zu geben, einer solchen die
Grenzen der Regel überschreitenden Jungfrau einen Typus gewöhnlicher
Durchschnittsweiblichkeit zur Seite, ohne doch diese in ihrer Anmut irgend-
wie tendenziös zu beeinträchtigen: so neben Antigene und Elektra Ismene
und (Jhrysotliemis. Auch sonst benützt er die Differenzierung der Charaktere
zu schönen Kontrastwirkungen, wie im Aias neben dem trotzigen Titel-
helden der sanftere, doch noch immer temperamentvolle Teukros und die
weiblich hingebende Tekniessa, und diesen markigen, innerlichen (Je-
stalton gegenüber die beiden Atriden mit ihrer hohlen Amtsauktorität und
der schlaue Odysseus gestellt sind; am ergreifendsten ist die Gegensatz-
wirkung im Philoktetes: dem wunden Heidon, dem doch seine Krankheit
') Völlig verfolilt sind die iiiimer er- Fimr. Wie Sopli. einen veristischon Schul*
neuten (zuletzt P.Knoke. Begriff der Tragödie meister ad absurdum führte, berichtet in
nach Aristüt, Berl. 19U^), 74 tf.) Versuche, dem einer hübschen Erzählung Ion bei Ath. 604ab.
.Soph. „Schuld und Sühne* zu oktroyieren. ^) Auch in dieser Weitung des Weibes.
'^) Arist. poet. 14Güb 35: Ini/ox/Sf^ npj ist Sophokles dem Herodot verwandt
arros /«»' oi'ov^ dsl hoifTv, Evot.it6t}v öt oioi ;
C. Drama. 2. Die Tragödie, c) Sophokles. (§ 170.) 305
nichts von seiner Seelengröße geraubt hat, steht das edle Blut des Achilleus-
sohnes zur Seite gegen den geriebenen Fuchs Odysseus, dem der Zweck
die Mittel heiligt. Zur Gegensatzwirkung gehört auch, daß der Dichter
in Nebenfiguren wie djdtn Wächter in der Antigene, dem Boten im König
Oidipus mit glücklichem Humor dem Realismus sich nähert, worin ihm
Aischylos vorangegangen war. Ein weiterer Schritt zum Realismus ist es,
wenn er als erster in seiner Phaidra das nach ihm bis auf den heutigen
Tag zu Tod gehetzte erotische Motiv auf die Bühne brachte, i) Dem Stil-
gefühl der älteren Poesie widerstrebte es, Heroen in so gemein mensch-
liche Schwächezustände {jid^rj) versetzt vorzuführen. — Auf den Aufbau
des Dramas verwendet Sophokles weit mehr bewußte Kunst als Aischylos:
wenn dieser einen geradlinigen Verlauf liebt, so führt Sophokles Spannungen,
Irrungen, Verwicklungen ein, die seinem Publikum die bekannten Stoffe
fast wie neue erscheinen lassen mochten; dabei hält er immer den Blick
fest auf die eine Handlung und die in ihr verkörperte Idee gerichtet; alles
Beiwerk, das die struktive Einheit der Stücke stören könnte, wird sorgsam
vermieden. Mit bewußter Geistesklarheit, nicht nach den Eingebungen
eines dunklen Gefühles hat er den Plan seiner Stücke bis ins einzelne
entworfen und ihn in strenger Gesetzmäßigkeit so durchgeführt, daß kein
Glied aus der Reihe fallt. Insbesondere zeigt sich das in den Chorgesängen,
die stets bei der Sache bleiben und den Gefühlen, welche die Handlung
auf der Bühne in jeder fühlenden Brust erregen mußte, entsprechenden
Ausdruck leihen.*) Nur selten, wie im ersten Stasimon der Antigene, macht
er den Chor in vernehmlicher Weise zum Dolmetscher seiner persönlichen
Stimmung. Der mythischen Überlieferung gegenüber ist er ein treuer
Interpret, der keine dem ganzen Sinn der Sage fremden Lichter aufsetzt,
wie er denn in allem Wesentlichen tatsächlich auf dem Boden der home-
rischen Religion steht. 3) Wo er den Mythus modifiziert,*) geschieht es
aus künsÜerischen, nicht aus sittlichen Rücksichten, namentlich im Inter-
esse der Spannung, die er durch Hemmungen und Zwischenfalle bei aller
Prägnanz der Darstellung meisterhaft anzulegen weiß. Einfache Hand-
lungen (äTtXai TQaycpdiai), wie sie Aischylos liebte, paßten ihm nicht; selbst
im Aias und Oidipus Kol. wußte er die gegebene geradlinige Entwicklung
zu unterbrechen und zu beleben. Verwickelte Mythen {nenXeyfxhai xga-
yq>diai) mit großartiger Peripetie suchte er aus oder bereitete sie sich zu
durch zweckvolle Zudichtungen; so ist in der Antigene eine meisterhafte
Erweiterung der Sage die Einfügung des Haimon, durch den auch Kreon
mit in den Untergang der Heldin gerissen wird; in der Elektra bewirkt
die breite Erzählung von dem Mißgeschick des Orestes bei den pythischen
Spielen eine ungeheure Spannung. Und doch verläßt Sophokles nie so
ganz, wie Euripides, die Überlieferung oder verliert sich ins Romanhafte.
*) E. RoHDE. Griech. Rom.' 32. In der | EvQUTtdfj dW ojojieg Zofpoxkst.
Antigone ist die erotische Verwicklung ledig- ') E. Rohde, Psyche II* 233 ff.
lieh strnktives Nebenmotiv und im Sinn der *) Jon. Klein. Die Mythopöie des Soph.
Heldin ohne jede Bedeutung. in seinen thebanischen Tragödien, Progr.
«) Aristot.po6t 1456 a 26: xai xov xooov Eberswalde I 1890; II 1893. Zur Drama-
di Sya öeT vnokaßetv xCäv vjioxgirioy xai fiogtov , turgie des Soph. Th. Plüss, Jahrbb. f. Philol.
elyat Tov Skov xai ovvaywvi^eaihu, fii) a>o:ieo , 155 (1897) 721 ff.
Huidlnieli der Uftss. Altertnmswissenflchaft YII. 5. Aufl. 20
306 Griechische LitteraturgoBchichte. L Elassisohe Periode.
Auch kleinere Hilfsmittel der Spannung und Gemütserregung wendet er
mit vollendeter Kunst an. Die Wiedererkennungsszene in der Elektra
steht an ergreifender Wirkung keiner euripideischen nach. Besonders liebt
er die tragische Ironie in einzelnen Ausdrücken wie in ganzen Szenen. ^
Der Zuschauer, der schon den Verlauf und Ausgang der Verwicklung voraus
wußte, ist gewiß tief erschüttert worden, wenn er den Oidipus die Worte
sprechen hörte äU.' oJl^tiot elßu Toig qvTEvoaalv y 6^ov (V. 1007), während
dieser tatsächlich schon längst in unseliger Nähe mit seiner eigenen Mutter
zusammenlebte, oder wenn er den Jubelgesang des ahnungslosen Chors vor
der Katastrophe in demselben Stück (1088 flf.) oder im Aias (693 flf.) ver-
nahm. Überall gibt er die Lösungen der dramatischen Probleme in orga-
nischer Weise aus Situationen und Charakteren heraus. Nur einmal, im
Philoktetes, bringt er den euripideischen Dens ex machina auf die Bühne.
Aber auch dies nicht etwa in der rohen Weise wie Euripides, sei es ans
künstlerischer Verlegenheit oder zur stofflichen Entlastung des eigentlichen
Dramas, sondern weil er den Charakter des Philoktetes so stark und kon-
sequent herausgearbeitet hat, daß diesen zu der mit Bücksicht auf den
Mythus nötigen Nachgiebigkeit nur mehr eine übermenschliche Gewalt
bewegen kann, und eben der Träger dieser Gewalt, Herakles, erweckt für
seinen besonderen Einfluß auf Philoktetes, psychologisch betrachtet, ohne
weiteres Vertrauen infolge der engen Beziehung, in die beide Heroen durch
den Mythus zueinander gesetzt sind. Das andere euripideische Mittel der
Stoffentlastung, den Prolog, hat Sophokles nur in den Trachinierinnen, und
hier wohl aus eigenartigen Gründen, an Stelle der ihm sonst gebräuch-
lichen meisterhaften dialogischen Expositionen gesetzt. An Bewußtheit
und Takt künstlerischen Arbeitens stoht Sophokles unter den drei Tra-
gikern am höchsten. Nur in der Elektra ist er vielleicht im Streben nach
stärkster Spannung auf Kosten des psychologisch Möglichen zu weit ge-
gangen. Daß ihm die Grundbegabung jedes echten Dichters, die lyrische,
reichlich beschieden war, zeigt sich in seinen herrlichen Chorliedern, die
Aristophanes (pac. 531) mit Recht unter die erlesensten Genüsse Athens
zählen konnte. — Überblickt man die gesarate künstlerische Tätigkeit des
Sophokles, voi^ der uns Proben aus einer Zeitstrecke von etwa vierzig
Jahren erhalten sind, so muß man bewundern, wie der Dichter nie stille
gestanden, bei seiner ungeheuren Fruchtbarkeit doch nie in Manier und
Routine verfallen ist, sondern immer gelernt, das tragische Problem un-
ermüdlich immer von neuen Seiten angefaßt, jedem Stoff ohne Gewaltsam-
keit und falsche Beleuchtung immer wieder neue dramatisch wirksame
Züge abgewonnen hat.
171. Sprache und Metrik. Von edler Stilisierung wie die Cha-
rakterzeichnung ist auch die Sprache des Sophokles, die sich in Wortwahl
und Phraseologie dem lonismus ziemlich stark nähert.*) Auch hier hielt
er. seinem großen Zeitgenossen Pheidias vergleichbar, das schöne Maß,
*) C. TuiRLWALL, On the ironv of Sopho- ^) Wilamowitz, Eurip. Herakl. P 21 f.;
des. Phil. Mus. IJ 483 ff. = Philol. 6 (1851) II 93 f ; H. Wittekikd in der oben S.245,2
81 ff., 254 ff.; J. H. Schlegel, Die tragische citiert^n Ahhnndlung.
Ironie bei Soph., Progr. Tauberbischofsh. 1874.
C. Drama. 2. Die Tragödie, c) Sophokles. (§ 171.) 307
die rechte Mitte zwischen den Extremen; den Schwulst des Aischylos hat
er abgestreift, von dem Marktgezänke des Euripides hielt er sich fern.*)
In der Anmut der Sprache, nicht bloß in dem Anschluß an die Mythen
des epischen Kyklos und dem Festhalten der altepischen Weltanschauung
erkannten die Alten den homerischen Zug der sophokleischen Poesie.*)
Von dem Honigseim, den Aristophanes in seiner Rede fand, war bereits
oben (S. 298, 4) die Rede; doch vom Süßlichen ist seine Sprech- und Denk-
weise weit entifemt, ja auf unser Gefühl wirken die Gedanken und Worte
der Antigene und Elektra oft zu herb und verstandesmäßig. 3) Hie und
da will unserem Naturalismus auch in Eonzinnität und epigrammatischer
Zuspitzung, wenn z. B. die Personen Schlag auf Schlag nicht nur in ganzen
(Stichomythie), sondern auch in halben (ävrdaßai)^ gewöhnlich in der
Caesura penthemimeres abgesetzten Versen sich antworten, die Politur des
Dialogs fast zu glatt erscheinen.^) Das Überwallen der Phantasie, das
bei Aischylos oft unförmliche Bilder und Sprachformen hervortreibt und
überhaupt zu einem * starken Heraustreten des Bildlichen im Ausdruck
führt, hält Sophokles mit überlegenem Kunstverstand zurück. In Versbau
und Rhythmen ist er weicher, flüssiger, modemer als Aischylos. Im Tri-
meter des Dialoges hat er häufiger Auflösung der Längen und Zerschnei-
dung des Verses durch Personenwechsel, ja selbst einigemal Apokope am
Versschluß.*) Die lyrischen Maße seiner Chorgesänge und Monodien haben
weder die Mannigfaltigkeit noch den einfach durchsichtigen Bau des
Aischylos; das daktylische Element ebenso wie das rein iambische und
rein trochäische tritt hier zurück, dagegen wiegen die sechszeitigen Wechsel-
takte stark vor, besonders in den volkstümlichen Formen der Pherekrateen
und Glykoneen, was jedenfalls die Beliebtheit seiner Lieder steigerte.
Seine lyrischen Formen sind aber immer noch reicher und großzügiger
als die des Euripides. Man fühlt auch seinen Liedern an, mit welcher
Liebe sie ausgearbeitet sind; immer hat er Einfaches und doch Großes
zu sagen und kleidet es in Formen, aus denen uns der satte, weiche Glanz
einer voll ausgereiften Kultur entgegenleuchtet. ^) Fassen wir alles zu-
*) Plut. de profectu in virt. 7 p. 79 a ; die ' für und wider anzuführenden Gründe ver-
Mittelstelliing des S. zwischen Aischylos und
Euripides wird auch von Dionys. Hai. de
iinlt II 2, 10 f. (p. 206 Us.) und Dio Chr. 52,
15 gekennzeichnet
») Polemon bei Diog. L. IV 20: sXsytt'
de VfifjQor igayixov. Vgl. Vita 131, 96 W.,
Dionys. de comp. 24 p. 121, 16 Us.; Dio Chn^s.
or. 52, 14 f.
anlaßt habe. ^Gorgianische** Figuren (Anti-
thesen, Parechesen) weist aus S. nach 0.
Navabre, Essai sur la rhötorique Grecque
avant Aristote, Paris 1900, 102 flf.
*) W. Chbist, Metrik' 304; man nannte
diese Nachlässigkeit nach Choerob. zu Heph.
p. 226, 17 CoNSBB. oxtjfia üoqmxksiov.
*) Schol. Oed. C. 668: rov ZoqoxXiovg im
t6 löiov ajiavTiütTog x^oaxvrjQiöxixov, ro yXaqpv-
') Diog. 1. 1. von Polemon: ijv Sk xai j gov xai opdtxov fiüog. Dazu Dio Chrys. or. 52
^lAoootpoxXfjg xai ftaXiara iv ixeivoig . . ty&a \ fin. : ra de fishj ovx e^si jtoXv t6 yvfofjixov
ifv xata tov ^qvvixov ov ylv^ic ovo* vjtoxvxog, \ ovdk xi^v jxQog aoFxijv jiagdxhjöiv, 6joj(€q xa
aXXä Jlgdfivtog. Hier ist wohl auch an den i EvQisridov, rjdovijv de {^avfiaoxijv xai fisyaXo-
ehrlichen, vor keiner Eonsequenz zurück- :jg€jrFiar, wnxe fttj eixf] xotavxa negi avxov
schreckenden Pessimismus des S. gedacht. | x6v 'Agioxoqpdvri FigT^xhai'
*) Goethe spricht in seiner berühmten , 6 6* av ^offoxlforg xov /jeXixi xsxgiafievov
Anßerong über die Stelle Antig. 905 ff. an ' a>o:teg xaöioxov .legieksixe x6 axofia. Siehe
Eckermann 28. März 1827 von rhetorischer | a. o. S. 306.
Bfldong des S., die ihn zur Erschöpfung aller i
20*
308 Qriechisohe Litteraturgeschiohte. I. ElaMische Periode.
sammen, so begreifen wir die Huldigungen, die auch die Komiker^) dem
Sophokles darbringen, und die Künstler durch eine Tänie, die sie ihm ins
Haar flochten, ausdrückten.*) Das Urteil der Zeitgenossen gibt Xenophon
wieder, wenn er (Mem. I 4, 3) im Epos dem Homer, im Dithyrambus dem
Melanippides, in der Tragödie dem Sophokles die Palme reicht.*)
172. ATag juacriyotpögog ist so benannt im Gegensatz zu dem ver-
lorenen Aiag ÄoxQog von der Geißel, die Aias über dem Widder, dem
vermeinten Odysseus, schwingt (V 110).*) Der Stoflf, schon von Aischylos
in den Ogfjooai behandelt, war der kleinen Hias entnonmien,*) hatte für
Athen ein^besonderes lokales Interesse, da der Salaminier Aias zu den
Stammheroen Attikas gehörte.^) Das Stück beginnt mit einer dialogischen
Exposition zwischen Athena und ihrem Schützling Odysseus, der vor Aias'
Zelt spähend beobachtet, ob wirklich Aias die Verheerung unter den Vieh-
herden der Achäer angerichtet habe. Athene bestätigt seine Vermutung
und erklärt ihm, wie Aias rasend über die Tiere hergefallen sei in dem
von ihr selbst über ihn verhängten 7) Wahn, seine Feinde, die Atriden und
Odysseus, zu töten. Sie tritt dann selbst zu Aias hin und ermuntert ihn,
indem sie auf seine Wahnideen eingeht, in seinem Beginnen fortzufahren.
An keiner anderen Stelle einer giiechischen Tragödie tritt die tragische
Ironie und der ethisch-religiöse Sinn der Tragödienvorführung so grell und
fast verletzend entgegen wie hier, besonders in den Versen 121 flf.: in der
geistigen Vernichtung des Aias, der an Klugheit und zweckvoller Energie
sonst alle übertraf, sich nun aber gegen Athenas Entscheidung in der
Sjrkdjv xgioig auflehnen will, triumphiert die göttliche Übermacht, der
gegenüber sogar der gewaltige Heros — wie viel mehr der gewöhnliche
Mensch — ein Nichts ist. Bühnentechnisch betrachtet erspart sich der
Dichter durch diese Exposition die unmittelbare Vorführung von Aias'
Rasen. In der altertümlich gebauten, durch anapästische Systeme ein-
geleiteten Parodos beklagt dann der Chor der salaminischen Schiflfs-
mannen die durch der Götter furchtbaren Zorn herbeigeführte Sinnesver-
blendung des geliebten Führers. Bald darauf, nachdem das Zelttor geöffnet
ist, sieht man den Helden selbst in dumpfer Verzweiflung dasitzen. Er-
^) Mit ausgesuchtem Zartgefühl behan- | Ttjv re kei'av rcov jixatoJr Xv/iatverai xai iavTor
delt den soeben Verstorbenen Aristoph. ran. dvatgei. Daß auch die Grestalt der Athene
785 ff. 8. 0. S. 298. 4, 299. | dem Epos entlehnt war, macht aus einem
*) F. G. Welükkr, Alte Denkm. I 470 ff. alten Vasenbild, wo Athene zuschaut, wie
') Ähnlich der Grammatiker der Vita ^ Aias den Widder fortzerrt, wahrscheinlich
Aesch. p. 122, 90 W., der, vermutlich nach K. Robert im 50. Berl. Winckelmannspro-
dem Urteil des Aristophanes von Byzantion, gramm (1890) S. 31.
die Tragödie unter Sophokles ihren Höhe-
punkt (TtÄnfhtji:) erreichen läßt. Die Urteile
der Komiker sind schon o. A. 1 u. S. 807, 6
angeführt.
**) Nach der Hypothesis betitelte Dikai-
^) Den Chor hat Sophokles aus salamini-
schen Seeleuten des Aias, nicht wie Aischylos
aus gefangenen Thrakerinnen bestehen lassen.
^) Für Pindars Theodicee ist bezeichnend,
daß er den Wahnsinn des Aias überall (Nem.
archos dieses Stück .-iTairo^ »!^ai'aros und hatte 7, 25; 8, 23 ff.; Isthm. 3,53) verschweigt,
es in der Didaskalic einfach die Aufschrift | wiewohl ihn die kleine Ilias kennt. Möglich
Ami:. — Über Sinn und Bedeutung des ist, daß Sophokles mit der übematürliclien
Stücks F. G. Welcker, Kl. Sehr. 11 264 ff. I Ätiologie von Aias' Wahnsinn medizinischen
*) Proklos ehrest, p. 238 W.: ?; ^wr o.T/cor i Theorien, wie sie in der Schrift .tfoi legijg
xoiois yirertu xai 'OdvooFvg xaxa ßov/.tjotv rovoov ausgesprochen sind, entgegentreten
ji^jräg hi^tßdvei, Aiag ök ifi/iavtjg yerofisrog ; will.
G. Drama. 2. Die Tragödie, c) Sophokles. (§ 172.) 309
weicht durch das rührende Zureden der Tekmessa und den Anblick seines
einzigen Kindes Eurysakes, scheint er nochmals von Todesgedanken ab-
zustehen und sich der Notwendigkeit zu unterwerfen, so daß der
Chor in einem Tanzlied an Pan (693 — 718) seiner Freude über die üm-
stimmung des Führers Ausdruck gibt. Aber die Umstimmung war Täu-
schung; schon am Schluß des nächsten Epeisodion sieht der Zuschauer,
durch die vom Boten berichteten Warnungen des Kalchas auf das nahende
Geschick vorbereitet, den Aias in einsamer Waldgegend vor dem scharf-
geschliffenen Schwert, in das er sich nach dem berühmten Monolog an
den bitteren Todesbringer (815 — 865) stürzt. Mit dem Tod des Helden
endigt aber die Tragödie nicht; der zweite, über fünfhundert Verse füllende
Teil dreht sich um die Bestattung des Leichnams: die Atriden wollen
ihn den Hunden vorwerfen, aber nach langem Streit übergibt ihn doch
der treue Halbbruder Teukros dem Mutterschoß der Erde. Dieser zweite
Teil fällt uns auf, da wir nach der Katastrophe nicht noch ein so langes
Nachspiel erwarten, und er wurde daher von verschiedenen Seiten auf
eine spätere Überarbeitung des Stückes zurückgeführt. 0 Aber der Dichter
hat ihn deutlich in dem Monolog des Aias V. 827 f. angekündigt, und die
alten Zuschauer werden ihn bei dem Gewicht, das ihr religiöses Gefühl
auf die Totenbestattung legte, ^) anders beurteilt haben. Eine Analogie
bildet der Schluß von Aischylos' Sieben, der dem Sophokles wohl hier
schon vorschwebte. Der lange Streit, zumal des Teukros mit dem über-
mütigen Agamemnon und mit Menelaos, dem Repräsentanten des rohen
Spartanertums, mochte überdies den Athenern angenehm zu hören sein,
und sie nahmen gewiß den Vers 1102 ÜJidgxrjg ävdaacov fjX&eg, oux fiiMov
xgarcbv mit lautem Beifall auf. Versöhnend ist die Wendung, daß schließlich
Odysseus selbst, der Todfeind des Aias, von Mitleid mit dem toten Helden
ergriffen, die Bestattung des Leichnams herbeiführt. Sophokles gewinnt
so, wiewohl er den Streit um die Rüstung des Achilleus schon voraus-
setzt und die bei dieser Gelegenheit übliche*) Abwägung der entgegen-
gesetzten Charaktere Aias und Odysseus nicht vornehmen kann, doch noch
eine Möglichkeit, sein Werturteil über den Charakter des Odysseus zum
Ausdruck zu bringen. So wenig sympathisch im Anfang dieser Vertreter
der ionischen oo(pia gezeichnet ist, so läßt ihm der Dichter doch zum
Schluß den Triumph, aus einer schwierigen Situation einen auch sittlich
befriedigenden Ausweg zu finden. Daß der Aias mit dem Teukros und
Eurysakes-*) zu einer Trilogie verbunden gewesen sei, hat nicht die ge-
ringste Wahrscheinlichkeit. Im Gegenteil erklärt sich die struktive Dis-
») Th. Berok, Griech. Litt. HI 378 ff.; zu V. 1123 u. 1127.
0. Ribbeck, Sophokles 19; J. van Leeuwen, i *) K. Fries, Rhein. Mus. 59 (1904) 205 ff.
Oommentatio de authentia et integritate Aiacis ; ') Vgl. die Deklamationen des Anti-
Sophoclei, Utrecht 1881; A. Oliyieri, Studi sthenes. Zu dem CharaktergegensatS Aias —
itol. di filol. class. 7 (1899) 181 ff. Die hau- ' Odysseus Find. Nem. 7, 21 ff. (nach C. Gaspab
figen Auflösungen im Trimeter können für die a. 493). Vgl. o. S. 32, 3; 231, 3.
Annahme eines späteren Ursprungs oder einer *) Über den Inhalt des Eurysakes, den
späteren Umarbeitung angeführt werden. — Accius übersetzte, s. F. G. Welckbr, Griech.
Daß schon die Alten Anstoß an dem zweiten i Trag. II 197 ff. und 0. Ribbeck, Die Rom.
Teil des Aias nahmen, lehren die Scholien i Trag., Leipz. 1875, 419 ff.
310
QriechiBche LitieratnrgeBchichte. I. ElassiBohe Periode.
Proportionalität des Stückes am besten aus der Voraussetzung, dai es als
Einzeldrama von Anfang an komponiert war und der Dichter mit den
StofFmotiven, die er unterbringen wollte, nicht ganz befiiedigend zurecht-
kam. Schon dieser Mangel des im übrigen an Vorzügen überreichen
Stückes macht wahrscheinlich, daß es der früheren Periode des Dichters
angehöre. Dafür spricht weiter die stärkere Abhängigkeit von Homer in
der Charakterzeichnung und Situationsmalerei, ') und von Aischylos in Ein-
führung eines Schuldmotivs und versöhnender Gestaltung des Abschlusses;
endlich einige technischen Details, die anapästische Parodos, die Beglei-
tung des Schauspielerauftretens durch Choranapäste,*) die verhältnis-
mäßige Häufigkeit der Dochmien,') der zwölf gliedrige*) Chor, das Fehlen
des ^eoXoyeiov^) u. a. Das Stück ist ohne Zweifel unter den erhaltenen
des Sophokles das älteste.^)
173. 'AvTiyövi], das gefeiertste Drama der griechischen Litteratur,
das dem Dichter die Ernennung zum Strategen im samischen Krieg ein-
getragen haben soll, wurde nach der wahrscheinlichsten Berechnung 442
aufgeführt.^) Der Mythus ist zu einem Teil der alten Thebais entnommen,
in welcher der Kampf und Tod der feindlichen Brüder Eteokles und
Polyneikes erzählt war. Ob das alte Epos auch schon das Verbot
der Beerdigung des Vaterlandsverräters Polyneikes und dessen heim-
liche Bestattung durch seine heldenmütige Schwester Antigone kannte^
bleibt ungewiß; Pindar spricht 0. 6, 15 und Nem. 9, 24 von sieben,
nicht sechs Scheiterhaufen der bei jenem Kampfe Gefallenen, ^j Das
*) Eine Dublette des Achilleus ist der
Aiascharakter, eine Dublette der Briseis, wie
sie in jüngeren Partien der Ilias gezeichnet
wird, Tekmessa (P. Girard, Rev. des ^t. gr.
15, 1902, 275), eine Nachbildung von Hektors
Abschied II. Z die Szene Ai. 485 ff. Bezeich-
nend ist auch, daß Soph. dem Aias (V. 575 f.)
den mykenischen Lederschild (nach Hom.
II. // 2G6) läßt, während seine Heroen sonst
immer Metallschilde haben.
«) A. Rossbach, Metrik» 148.
') A. RossBACH a. a. 0. 785 f.
*) So auf Grund von V. 866 ff. G.Wolff
in der Ausgabe (Leipz. 1874), dem Chr. Müpp,
Die Chorische Technik des Sophokles, Halle
1877, beistimmt. G. Wendt in seiner Über-
setzung (Berl. 1866) S. 12 macht mit Recht
für die frühe Abfassung auch den Charakter
der Versmaße und den Umstand geltend,
daß nur an zwei Stellen, im Prolog und
kurz vor dem Schluß, drei Schauspieler gleich-
zeitig an der Handlung teilnehmen, was auf
eine Zeit hinweist, in der man den Vorteil des
dritten Schauspielers erst allmählich aus-
zunützen begann. Auch der Chor spielt in
dem Stück noch eine übergroße Rolle. —
Die politischen Anspielungen auf die Feind-
schaft mit Sparta (1102), die Gründung von
Salamis (1019), die Bedeutung von Delos
(704) passen auf die Zeit von 460—450, freilich
mindestens ebensogut auf den Anfang des
peloponnesischen Krieges.
*) Athena tritt zu ebener Erde auf, wie
WiLAMOwiTz, Euripides Herakl. I» 354, 26 be-
merkt hat.
®) Die Übereinstimmung der Verse Soph.
Ai. 665 ix(^Q(ov äScjoa öojQa xovx ortjöifia
und Eur. Med. 618 xaxov yag drögog Amq*
dyrjatv ovh ex^i will nicht viel besagen, eben-
sowenig die antike Deutung derselben (Clem.
Alex. Strom. VI 2 p. 740 P.), die den Vers des
Aias als Nachahmung der Medeia versteht Die
Notiz des Scholiasten, nach der Ai. 1295 bis
1297 auf die i. J. 438 aufgeführten Kc>i}noat des
Euripides Bezug nähmen, ist ohne Bedeutung.
0 Vgl. oben S.296,6; das Jahr sucht fest-
zustellen A. BöcKH im ersten Exkurs seiner
Ausg., Berl. 1843. Es dreht sich zumeist um
442 oder 441 ; da aber 441 der erste Sieg des
Euripides fällt, so wollte Th. Bergk, Griech.
Litt. III 415, um die Antigone doch 441 setzen
zu können, in der H^-pothesis des Stückes
schreiben: öe^löaxxai fie x6 ögäfia rovto
TQtaxooTov. öei'TfQOC Tjv statt rotaxooTov Afv-
TEoor, ein haltloser Einfall. — Aus den Zeit-
verhältnissen, der Gründung von Thurioi, er-
klärt man den Hinweis auf Italien V. 1118.
Eine sichere Feststellung des Jahres ist nicht
möglich ; daß aber seine Stellung als Helleno-
tamias 443 42 den Dichter an der Abfassung
der Tragödie gehindert habe (Wilamowitz,
Aristot. u. Athen II 298, 14), ist nicht nötig
anzunehmen.
®) Vielleicht gehören die ejiia m^Qai der
G. Drama. 2. IMe Tragödie, o) Sophokles. (§ 173.)
311
Motiv von Antigones Auflehnung gegen Kreons Bestattungsverbot war
im Schluß von Aischylos' Sieben gegeben,*) nur daß hier das Verbot noch
nicht von Kreon, sondern von den thebanischen nqdßovkoi ausgeht. Was
in der Chorlyrik (Ion iv roTg di^vgdfxßoigY) und Elegie (Mimnermos vermut-
lich in der Nanno; mit ihm übereinstimmend eine korinthische Vase bei
S. Reinach, Repertoire I p. 147) von den beiden Schwestern berichtet war,
wissen wir nur aus der Hypothesis des Sallustius zur Antigene. Demnach
scheint hier von ihrer Konspiration mit dem Landesfeind und ihrer Be-
strafung die Rede gewesen zu sein, Züge, die Sophokles völlig beseitigt
hat. Jedenfalls ist ganz neu von Sophokles hinzugedichtet die Bestrafung
der Antigene durch Einsperrung in ein unterirdisches Grabverlies, wozu
dem Dichter die Danaesage und die alten unterirdischen Grabkammem im
Lande der Argeier und Minyer die Handhabe boten,») ferner das Liebes-
verhältnis der Antigene und des Haimon,*) durch das Kreon mit in
das Verderben der Antigene gerissen wird, endlich das Eingreifen des
Teiresias zur Verstärkung von Antigones Position. Alle diese Änderungen
sind vorwiegend durch künstlerische Gründe veranlaßt. Gegeben ist dem
Dichter in der Hauptsache der völlige Untergang des Labdakidengeschlechts,
die Wirkung von Oidipus' Fluch. Der erste Teil des Fluchs ist erfüllt
durch den Wechselmord der Brüder. Nun reißt er auch die Schwestern
ins Verderben. Um die Handlung möglichst zu konzentrieren, macht
Sophokles Antigene allein zu ihrer Trägerin und stellt hinter sie als Folie,
auf der sich ihr Heroismus riesenhaft abhebt, die anmutige, aber einer
Tat heldenmütiger Aufopferung unfähige, in den Grenzen gewöhnlicher
Frauennatur sich haltende Ismene. Antigene weiß von Anfang an, daß
sie ihrem Schicksal nicht entgehen kann und will nun ihr Leben mit einer
ruhmvollen Tat schwesterlicher Pietät an dem toten Polyneikes beschließen.
Auch die Schwester Ismene sucht sie auf den Weg der Pflicht und Ehre
mitzuführen; als diese aber versagt, zögert sie keinen Augenblick, allein
zu gehen. Das verlassene Mädchen wirft sich der Staatsauktorität, die
Lokalsage an (s. A. Böckh zu Pindar 0. 6, 24)
und beziehen sich auf die Kämpfe an den
sieben Toren, so daß aus ihnen über Poly-
neikes* Bestattung nichts Sicheres geschlossen
werden könnte. Von Verbrennung der Leichen
des Eteokles und Polyneikes auf gemein-
samem Scheiterhaufen redet die ätiologische
Sage bei Ovid. trist. V 5, 31 ff.; Stat. llieb.
XII 429 ff. Indessen ist sehr wahrscheinlich,
daß Sophokles sonst der thebanischen Lokal-
sage Anregungen für die Antigene verdankt;
es gab bei Theben eine örtlichkeit 'Avn-
ym'Tjg orQfia (llygin. fab. 72; Paus. IX 25, 2;
vgl. Soph. Ant. 43). Der Name Ismene ge-
hört zum thebanischen Ismenos. Der Name
Antigene ist in Nordgriechenland verbreitet
und bedarf nicht (E. BRuror, Einl. z. Antigene,
Berl. 1904, S. 6) besonderer Deutung. Über
die Mythopoie der Ant. s. P. Cobssen, Die
Ant. des Sophokles, ihre theatralische und sitt-
liche Wirkung, Berlin 1898. Man scheint eine
attische Sagenversion (vertreten in Aischylos'
Sieben und Eleusiniem) von einer thebani-
schen (bei Pindar) scheiden zu müssen —
jene enthält das Bestattungsverbot, ein Motiv,
das dann in seinen weiteren Eonsequenzen
zu der attischen Intervention und der Be-
stattung der Gefallenen in attischer Erde
(Herod. IX 27 mit H. Steins Anm. ; Plut. Thes.
29 ; Eurip. Suppl.) führt, diese weiß von dem
Verbot nichts, womit freilich die Lokalsage
vom Antigone-öi''o/ua schwer zu vereinigen ist.
») Vgl. S. 278 f.
*) Vgl. S. Rbinach. Rupert, des vases
peints I p. 160; G. E. Rizzo, Riv. di filol.
30 (1902) 502.
•) Vermutlich wurden diese damals (vgl.
Pind. N. 10, 56) noch für Grabkammem und
noch nicht, wie bei Pausanias, für Schatz-
häuser gehalten.
*) hn alten thebanischen Epos ist Haimon
als Opfer der Sphinx erwähnt, Schol. zu Eur.
Phoen. 1760.
312 Griechische Litteratnrgeschichte. L Elassische Periode.
dem Polyneikes als einem Landesverräter die Bestattung versagt, entgegen
— sie wagt zuerst in der Morgendämmerung noch schüchtern einen unvoll-
kommenen Bestattungsversuch; kühner geworden, gießt sie dann am hellen
Mittag die volle Totenspende auf das Grab des Bruders; dabei wird sie
gefangen, und die sich unfehlbar wähnende Staatsraison des aufgeklärten
Despotismus, die in Kreons unsympathischer Figur mit greifbarer Ironie
verkörpert ist, bereitet ihr mit barbarischer Strafverschärfung ein äußerlich
schmachvolles Ende. Daß der Dichter sie sittlich triumphieren läßt, ist
ganz klar. Er hat das Problem in einer Weise vertieft, daß er den Kern-
punkt der ganzen sophistischen Aufklärung, die Antithese zwischen Natur
und Satzung trifiFt. Das Naturrecht fällt ihm aber zusammen mit dem
uralten heiligen Brauch der Familienpietät (450 flf.) und den vdfAOi x^ovog
(368), die der rationalistische Gewaltmensch Kreon ^) mißachtet, wo sie
ihm nicht „vernünftig** und „gerecht" zu wirken scheinen. Aus dieser
Anschauung heraus macht Sophokles im ersten Stasimon die großartig
ehrliche und weise Konfession über den Geist der Sophistik, der wohl
allerlei das äußere Leben Förderndes geschaffen hat, aber durch Über-
greifen auf die sittlich-religiöse Sphäre schweres Unheil anrichten kann.^)
Antigene ist von sittlicher Verschuldung völlig frei; denn der Tadel,
den der Chor andeutet, betrifft lediglich einen formalen Punkt: ihr Hinaus-
gehen über die Grenzen weiblicher Natur, nicht den Inhalt ihrer Tat. — In
ergreifender Weise hat der Dichter in diesem Stück zum erstenmal die
Form der verspäteten Peripetie angewandt, indem Kreon, erschreckt durch
die furchtbaren Weissagungen des Sehers Teiresias, das Verbot der Be-
stattung des Polyneikes rückgängig macht, während mittlerweile das auch
ihn mit vernichtende Geschick über seinen Sohn Haimon und Antigene
schon hereingebrochen ist. Die Chorlieder sind aufs engste mit der Hand-
lung verknüpft 3) und begleiten mit der Tiefe der Gedanken und der Wärme
der Empfindung den Wechsel der Szenen von dem ersten Sonnenstrahl des
Sieges nach langer Kampfesnot bis zur ernsten Schlußmahnung des ab-
ziehenden Chors. Zugleich ist durch symmetrische Anlage der Chorlieder
und Epeisodien durchsichtige Klarheit in den Gang des Stückes gebracht, wie
man sie in gleicher Vollendung weder im Aias noch in einem der späteren
Stücke wiederfindet.*) — Nach einer Notiz bei J. A. Cramer, An. Ox.
IV 315, erklärten einige die Antigene für ein Werk des lophon, was sich
auf eine nochmalige Aufführung und Umarbeitung durch lophon beziehen
^) Ph. Mayer, Studien zu Homer, So- a. a. 0. 12 ff. Anders Th. Zielinski, Der Ge-
phokles, Eurip., Racine u. Goethe, Gera 1874. 1 dankenfortschritt in den Ohorliedern der Ant.,
hat in dem Aufsatz, Über den Charakter des I Festschr. f. Gomperz 143 flf.
Kreon, die gleiche Charakterzeichnung des ; •*) Die fünf Chorgesänge und Epeisodien
Kreon in den drei Stücken. Ant, Oed. R. und 1 sind von fast gleichem Umfang; sechsmal
Oed. Col. durchzuführen sich bemüht. Es ist wird in gleicher Weise das Auftreten neuer
aber keine Einheitlichkeit vorhanden. Die epi- Personen (/.TFtaoAos) durch ein anapästisches
sehe Tradition scheint den Charakter des Kreon | System des Chorführers eingeleitet (155 — 164 ;
in keiner Weise präformiert zu haben, so 376— 83: 526— 30; 801— 05; 1250— 60); zwei-
daß ihn Soph. nach Bedarf bilden konnte. ' mal tritt in der Schicksalsnot zuerst der
«) W. SciiMiD. Philol. 62 (1903) 1 flf. Antigene (806), dann des Kreon (1261) an
^) Über den mißkannten Zusammenhang 1 die Stelle der gesprochenen Verse der er-
des ersten Stasimon (334 flf.) s. W. Schmid ; greifende Gesang des Klagelieds.
G. Drama. 2. IMe Tragödie, o) Sophokles. (§ 174.)
313
könnte. 0 Euripides hat den gleichen Stoff bearbeitet; er führt Haimon
und Antigone zusammen und läßt aus ihrer Verbindung den Maion hervor-
gehen,^) offenbar in derselben Absicht, in der er der sophokleischen Elektra
die seinige gegenübergestellt hat: die Überstiegenheit von Sophokles'
Heldenjungfrau zu kritisieren und das ganze Problem veristisch zu lösen.
Eine weitere griechische Bearbeitung des Gegenstandes hat Hygin. fab. 72
exzerpiert. Accius hat das sophokleische Stück für die römische Bühne
bearbeitet.*)
174. Das Problem, eine Jungfrau durch das an sich der weiblichen
Natur tief eingewurzelte Gefühl der Pietät bis an die äußerste Grenze der
einem Mädchen*) psychologisch zuzutrauenden Energie und Unerschrocken-
heit zu treiben, hat Sophokles noch einmal, in der ^Hkextga^ behandelt,
und zwar mit entschieden größerer technischer Objektivität und größerer
Kunst der Spannung, aber auch ohne die natürliche Wärme des Gefühls,
die sich in Antigones mystischen Stimmungen und Erwartungen,*) den
rührenden Äußerungen ihrer Liebe zu dem mißachteten Bruder, in ihrem
Zusammenbruch in dem schönen Kommos (Ant. 806 ff.) kundtut und diese
Gestalt so menschlich-sympathisch macht. Der Elektra ist eine viel
schwerere Last aufgelegt als der Antigone: sie schickt sich an, in der
Annahme, der nächst Verpflichtete, ihr Bruder Orestes, lebe nicht mehr,
eigenhändig die Ermordung ihres Vaters an ihrer Mutter Klytaimestra
und deren Buhlen Aigisthos zu rächen. Um diese namentlich für ionische
Begriffe von Frauenart unerhörte Kühnheit der Elektra psychologisch zu
rechtfertigen, betont der Dichter sehr stark die Leidenschaft ihrer Pietät
für ihren heroischen Vater und ihres Hasses gegen Klytaimestra und
Aigisthos, die sie in unerträglicher Knechtschaft halten. Hiemit ist Elektra,
die bei Aischylos nur lyrisch gefaßt ist und vom Schauplatz verschwindet,
sobald Orestes in Aktion tritt, in den Mittelpunkt gestellt und auf ihren
Charakter alles Licht geworfen, während Orestes in den Hintergrund tritt.
Da nun aber der Zuschauer vom Prolog an weiß, daß Elektras Voraus-
setzung irrig ist, daß Orestes lebt und schon da ist, die Blutrache ins
Werk zu setzen, daß also Elektra ihren Entschluß gar nicht ausführen
^) Vgl. die Angabe des Satyros in der
Vita p. 130, 65 W. von einer Vorlesung der
Antigone durch den sterbenden Dichter. Daß
aus dieser Bearbeitung die vermutlich nach
Herod. III 119 und jedenfalls vor Aristot.
rhet. 1417a 28 ff. interpolierten, in Gedanken
und Ausdruck gleich stümperhaften Verse
905 — 928 stammen, ist nicht nachweisbar.
G. Kaibels Versuch, diese gef&lschte Stelle
zum Ausgangspunkt der gesamten Auffassung
^er Antigone zu machen (De Sophoclis Anti-
gona, Güttingen 1897), ist alsbald mit Recht von
E. Brühn (N. Jahrbb. f. klass. Altert. 1, 1898,
248 ff. ; s. a. W. Schmid a. a. 0. 25 ff.) zurück-
gewiesen worden. Die Geschichte dieser
Echtlieitsfrage, die schon Goethe mit rich-
tigem Takt angefaßt hatte, gibt S. Reiter,
Zeitschr. f. östr. Gymn. 49 (1898) 966 ff. Un-
glücklich ist der neueste Rettungsversuch von
J. Möller, Ehrengabe der Latina, Halle 1906.
78 ff., der an der wichtigsten Instanz gegen
die Echtheit, der mit dem ganzen Sinn des
Stückes unvereinbaren Hervorkehnmg des
erotischen Nebenmotivs, vorbeigeht.
*) Vgl. Argum. Soph. Ant. ; N. Weckleik,
Sitz.ber. d. bayr. Ak. 1878 II 186—98; über
eine Antigone des Astydamas s. A. Naück,
TGF=» 777; F. Heydemann, über eine nach-
euripideische Antigone. Berl. 1868.
») 0. Ribbeck, Rom. Trag. S. 483, wo
ungeschickte Abweichungen von dem Ori-
ginal nachgewiesen sind.
*) Elektra ist bei Soph. höchstens 25 Jahre
alt: L. Parmentier, M^langes Weil 348 f.
*) E. RoHDE. Psyche IP 239 f.
314 GrieohiBche Litteratnrgeschichte. L KlassiBohe Periode.
wird, so ist alles Interesse von dem tatsächlichen Verlauf abgelenkt auf
die Kunst des Dichters, den unweiblichen Entschluß der Elektra mit psycho-
logischer Wahrscheinlichkeit bis zur Grenze der Tat hinzufahren. Darin
ist etwas Raffiniertes, fast Virtuosenhaftes, zumal der Dichter, je näher
die Ausführung der Tat durch Orestes kommt, desto mehr den Glauben
Elektras wie Klytaimestras^ an seine Existenz abschwächt, zuletzt durch
die nach homerischem Vorbild außerordentlich breit und anschaulich aus-
geführte Lügenerzählung*) des Pädagogen von Orestes' Todessturz bei den
pythischen Spielen (681 flf.). Die Wahrscheinlichkeit forderte nun, daß
Elektra, nachdem sie innerlich so vollkommen zur Tat herangereift war,
den Orestes nach der Erkennungsszene wenigstens bei der Ausführung
nachdrücklich in eigener Person unterstützte (1398 flf.). Den Stoflf und die
Anregung zu der Figur der Heldin fand Sophokles in den Choäphoren des
Aischylos. Die Schwester gab ihm der Vers des Homer / 145*) an die Hand.
Da aber bei Aischylos die Choäphoren das Mittelstück einer Trilogie gewesen
waren, so mußte er, um seinem Einzeldrama die Selbständigkeit zu wahren,
die letzte Partie der Choäphoren, die das Herannahen der Rachegeister an-
kündigt, beiseite lassen.*) Unter dem, was er sonst gegenüber Aischylos
neuert, ist besonders wichtig, daß er unt^r Benützung der epischen Über-
lieferung*^) das Motiv einer Verschuldung Agamemnons tilgt (560 flf.) und
dadurch der Klytaimestra alle Sympathie entzieht. Großartig wirkungsvoll
ist die Wiedererkennungsszene.ß) In solchen Dingen hatte man seit
Aischylos viel gelernt, aber etwas Ergreifenderes als die Szene, wo Elektra
zuerst die Urne mit der vermeintlichen Asche des Bruders aus Orestes'
Händen nimmt und dann in dem Überreicher der Urne ihren leibhaftigen
Bruder erkennt, hat das athenische Theater nicht gesehen. 7) — Über die
Abfassungszeit der Elektra gehen die Meinungen stark auseinander, so
daß sie z. B. Ribbeck für die älteste, Gruppe und früher auch Wilamowitz
für eine der jüngsten Tragödien des Dichters erklärten.®) Terminus post
*) In diesem Sinn deutet richtig G. Kaibel | Orestes die Elektra volle hundert Verse lang
zu El. (Loipz. 1896) 417 auch die Abänderung über seine Person im Unklaren läßt, rügt Eur.
des bei Aischylos poetisch viel wiiksameren , El. 230 ; s. L. Parmentier, Melanges Weil 336.
Traumes der Klytaimestra durch Sophokles. ^) Dabei verschmähte es aber Sophokles,
2) Hom. Od. T 172 ff.; vgl. Soph. Philoct. | an seinem Vorgänger, wie Eur. El. 530, Kritik
343 ff. zu üben; vielmehr läßt er im Anschluß an
^) Auf ihn ist angespielt El. 157: oia , Aischylos den Orestes eine Locke am Grabe
XgvooOFfii^ C(jj£t xai *I(f idvaoaa. Ein Unter- | des Agamemnon niederlegen (900) und Chryso-
schied besteht darin, daß die Tragiker die themis daraus auf die Rückkehr des Bruders
Aaodtxtj Homers 'HXtxjQa, wie die 'E:itxdoxfj schließen, woran aber Elektra nicht glaubt.
Homers *loxdoz7]y entweder nach einer alten ^) F. Flessa, Die Prioritätsfrage der soph.
Textvariante oder nach einer anderen Sagen- und eur. Elektra, Bamb. Progr. 1882; Fr.
quelle nannten. Bei Aischylos fehlt die zweite
Schwester ganz.
*) Eine leise Andeutung liegt in dem
Kraus, Utrum Sophoclis an Euripidis Electra
aetate prior sit, Progr. Passau 1890: vgl. 0.
Ribbeck a. 0.13; Wilamowitz, Herm. 18 (1883)
Vers 1425. 214 ff.; G. Kaibel in der Einleitung seiner
^) G. Kinkel, Epicor. fr. p. 19; Aischylos Ausgabe, 1896. übrigens hat Wilamowitz
Ag. 127 f. 187 f. hat dieses Motiv fast ganz
verwischt.
®) Vergleichung der Erkennungsszenen
bei Aisch. u. Soph. R. Wagner, Der Entwick-
lungsgang der griech. Heldensage, Dresden
1896, XVI f. Die Unwahrscheinlichkeit, daß
sein Paradoxon von der Priorität der euri-
pideischen El., nachdem H. Steiger (PhiloL56,
1897, 561 ff.) und L. Parmentier 1. 1. 333 ff.
dieser Ansicht den Boden entzogen hatten,
selbst (Herm. 34, 1899, 58 A.) zmück genommen.
C, Dranuu 2. Die Tragödie, o) Bophokles. (§ 174.)
315
quem ist jedenfalls der Abschluß von Herodots Geschichtswerk (frühestens
429);') tenninus ante quem die Elektra des Euripides (c. 413). Anhalts-
punkte bietet auch der Eunstcharakter des Stückes, namentlich seine
metrische Form und sein Verhältnis zu verwandten Stücken.*) Die kom-
matische Form der Parodos, die kurze, aus nur einem System bestehende
Exodos, die häufige Verteilung eines Verses auf mehrere Personen, endlich
das Zurücktreten der Chorgesänge gegenüber den Wechselgesängen führen
ups in die jüngere Entwicklungsstufe unseres Dichters,*) in der er, dem
Anstoß des Euripides folgend, die Heftigkeit der Affekte und die Spannung
der Peripetie und Wiedererkennung in den Vordergrund rückte und diesen
Zielen selbst die Chorpartien dienstbar machte. Daß dem Dichter seine
eigene Schöpfung, das kontrastierende Schwesternpaar in der Antigene, bis
ins einzelne für die Ausgestaltung des Paares Elektra-Chrysothemis vor-
bildlich war, liegt auf der Hand.*) Die Elektra des Euripides ist zwar
auch gegen Aischylos gerichtet*) (der Vorwurf des leichtgläubigen Ver-
trauens auf eine bloße Haarlocke Eur. El. 530®) mit auf Sophokles), aber die
latente Kritik gilt doch in erster Linie dem Sophokles: so im einzelnen
der Hinweis auf die Fiktion der pythischen Spiele (V. 883), 7) besonders
aber im Ganzen die seltsame Versetzung der Elektra in bäuerliche Um-
gebung, die Herabstimmung ihres heroischen Charakters ins Gewöhnliche,
ihre Verheiratung am Schluß mit Pylades — alles das will zeigen, wie
ein solcher Vorgang sich in den Verhältnissen des wirklichen Lebens voll-
ziehe, und es ist bezeichnend, daß alle neueren französischen Bearbeiter
des Stoffs in den Bahnen des Euripides weitergegangen sind.®) In der
römischen Litteratur haben Atilius und Q. Cicero den Gegenstand wieder
behandelt. Daraus, daß in den Handschriften die Elektra vor dem König
Oidipus steht, folgt nicht, daß jene vor diesem gedichtet sei, denn die
Handschriften beginnen mit den drei Lieblingsstücken der Byzantinerzeit
in alphabetischer Folge; ob Euripides im Hippolytos (428) mit der glän-
zenden Schilderung von den scheu gewordenen Pferden des unglücklichen
Jünglings (Hipp. 1230 — 48) die Erzählung des Sophokles vom Wagenunfall
des Orestes (El. 743 — 56) überbieten wollte oder für Sophokles das nicht
völlig erreichte Vorbild war,^) ist ganz unsicher.
M S. o. S. 297, 1.
*) Mit dem Gebrauch des Zweigespanns
702 und 721 f.) ist für die Zeitbestimmung
nichts anzufangen, da dieses tatsächlich
erst nach dem Tode des Sophokles in Delphoi
eingeführt wurde, der homerliebende Dichter
aber hier einfach den homerischen Leichen-
spielen des Patroklos gefolgt zu sein scheint.
') Dieselben Erscheinungen treffen wir
namentlich in den zwei jüngsten Dramen des
Sophokles, Phil, und OC, weniger in den
Trachinierinnen. Sprachlich hat man be-
obachtet, daß dasVerbum rijxäo&ai sich nur
Elektra V. 265. 1326, Phil. 383 und OC. 1200.
1618 findet; auf Einwirkung rhetorischen Ein-
flusses in der Szene 516 ff. weist 0. Navabrb,
Essai sur la rh^torique gr. 74 f. hin.
*) Die Parallelen zwischen Ant. und El.
stellt L. Parmentieb 1. 1. 334, 2 zusammen.
*) In Bezug auf die Art der Wiedererken-
nung; im übrigen s. H. Steiger, Warum schrieb
Euripides seine Elektra? Philol. 56 (1897)
561 ff.
«) L. Radermacher, Rhein. Mus. 58 (1903)
546 ff. hält die Verse Eur. El. 538—544 für
interpoliert.
') Erkannt vbn 0. Ribbeck, Leipz. Stud.
8 (1885) 382—6; J. Vahlbn, Zu Sophokles'
und Euripides' Elektra, Herm.26 (1891) 351 ff.
Siehe a. die Vergleichung der beiden Elektren
bei L. Pabkbntieb 1. 1. 351 ff.
«) L. Pabmentibb 1. 1. 354.
•) Eine Beziehung zwischen Tfirjjojy ifidv-
TMV Hipp. 1245 und rfirjioTg ifiäoi El. 747
anzunehmen ist naheliegend, ebenso wie
zwischen xa&oQirig x^^^ Ar. vesp. 1043 und
316
GriechiBche Litteraturgeschichte. I. Elassiache Periode.
175. Der Oldlnovg rvQavvog,^) eine erschütternde Schicksalstragödie,
wurde vermutlich nicht lange vor 425 gedichtet.*) Der alte thebanische
Mythus von Oidipus, der ohne Wissen seinen Vater erschlug, seine Mutter
heiratete und, als er nach langen Jahren von seinen Verimingen Kenntnis
erhielt, sich in Verzweiflung die Augen ausstach, war zur tragischen Dar-
stellung wie geschaffen.*) Die drei großen Tragiker haben ihn wetteifernd
bearbeitet;*) Sophokles hat die zwei äschyleischen Stücke Laios und Oidipus
in der Art in eines zusammengezogen, daß er die früheren Geschicke des
Oidipus in der Form episodischer Erzählungen den Zuhörern vorführte.*)
Die im Epos (Arg. Eurip. Phoen.) gegebene alte Erbschuld, die Laios durch
Vergewaltigung des Chrysippos auf sich und sein Geschlecht geladen hatte,
ist von Sophokles beiseite gelassen, während sie Aischylos in der theba-
nischen Trilogie wahrscheinlich, Euripides in seinem Chrysippos®) jedenfalls
benutzt hat. Die unerreichte Kunst des Sophokles besteht darin, daß er
erst nach und nach den Schleier von der unseligen Vergangenheit des
Königs wegzieht und mit glücklichster Anwendung der tragischen Ironie
den König selbst das Geheimnis enthüllen läßt: Oidipus sendet seinen
Schwager Kreon zum delphischen Orakel ab, um von Apollon ein Mittel zur
Abwendung der Pest in Theben zu erfahren; das Orakel befiehlt die Mörder
des Laios aufzusuchen und zu bestrafen. Oidipus läßt den Seher Teiresias
kommen, um von ihm eine Spur des unbekannten Mörders zu erfahren;
der Seher bezeichnet in dunklen, den Zuschauern aber wohl verständlichen
Worten ihn selbst als den Mörder. Durch den lauten Streit zwischen
Oidipus und Kreon herbeigerufen, kommt lokaste aus dem Palast und
pcnOagrifg ö<o/iiaroc: El. 70. Außerdem kann
die Bemerkung des Aristoph. cq. 558 (a. 424)
von den Unfällen bei den Wagenrennen, und
nub. 534 (a. 423) von der Locke des Bruders
sich auf Soph. El. beziehen.
*) Das Beiwort ist erst später zugesetzt
worden; von andern wurde das Stück nach
der Hypothesis II. Oid. i^Q^regos genannt.
Später deutete man nach der Hypothesis das
Beiwort auf den Vorzug des Stückes: x^Q^-
h'Tcos öe. TVQa%'i'ov obravieg avzov Litygdtfoi'otv
f^^ i^s^oyia :i(wijg TTjg 2!o(fOxkEOvg Jiotr)ae(ag,
xainsQ ijTTtj&nTa v:i6 ^iXoxXeovg, wg rftjoi
AtxaiuQxog, Aristides or. 46 p. 334 Dind.
meint mit Otdijiovg ohne Beiwort den zv-
gm'vog.
*) Ob die Schilderung der Pest im Ein-
gang der Tragödie durch die Pest in Athen
bei Beginn des peloponncsischen Kriegs in-
spiriert sei, ist ganz zweifelhaft. Den ein-
zigen sicheren Anhaltspunkt für die Datie-
rung bilden die Parodien OR. 629 o) no?,ig
.lo/.ic durch die Komiker Eupol. fr. 205, 2 K.
und Aristoph. Ach. 27 (a. 425). Unsicher ist,
ob man aus der Verwandtschaft zwischen
OR. 981 f. und Herod. VI 107 auf Priorität
des herodotischen Werkes schließen darf.
Klearchos bei Ath.276a überliefert, daß Euri- j
pides in der Medeia (431) und Sophokles im
Oedipus R. die (zeitlich nicht genau bestimm- ,
bare) yga^fiarixi] xoaycpöia^ eine Komödie des
Kallias, hinsichtlich der Disposition des Chors
nachgeahmt haben, eine Kombination, deren
Richtigkeit wir nicht kontrollieren können.
Unsicher sind die Versuche von Tii.Zielinski,
Phil. 55 (1896) 523,7, den OR. vor Eur. Hippel,
und von F. Marx, Festschr. f. Th. Gomperz,
1902, 129 ff., ihn zwischen Eur. Med. und
Andromache zu rücken.
«) Arist. poöt. 1453b 3 ff: dsT yäg xal
ävF.v Tov ooäv ovTw ovvfaidrat tov fivdov,
wäre tov dxovovTa xd nodyfiaxa yiyro/neva xai
(fgixTetv xai elseir f.x x(üv avfißairorxwy, Sbteg
dv :rrdi}oi xig dxovoyv xm' xov OiötjroSog ftvdov.
*) Aischylos schrieb einen Laios und
Oidipus, Euripides einen Oidipus, in dem er
wie in Antigene, Elektra, Philoktetes die Sage
stark umgestaltete, so daß Oidipus sich nicht
selbst blendet, sondern von den Dienern des
Laios geblendet wird, nach Schol. Eur. Phoen.
61, womit die Darstellung auf einer etruski-
schen Aschenkiste bei G. Körte, Ril. d. Urne
Etnische II p. 21 ff. übereinstimmt.
*) Im Gegensatz zur Manier des Euri-
pides läßt Sophokles den Helden nicht in
einem Prolog, sondern erst im zweiten Epei-
sodion V. 771 — 833 seine früheren Gescliicke
erzählen.
«) F. G. Welcker, Griech. Trag. 533 ff.
G. Drama. 2. Die Tragödie, c) SophokleB. (§ 175.) 317
erzählt, um den aufgeregten Gatten zu beruhigen, die Aussetzung des
jungen Oidipus und die Ermordung des Königs Laios am Dreiweg in
Phokis; die Erzählung läßt im Oeist des Oidipus die schreckliche Ahnung,
daß er selbst der Mörder des Laios sei, aufdämmern. Die Hoffnung, daß
ihm doch wenigstens das vom Orakel angedrohte Los, seinen eigenen
Vater zu erschlagen, erspart bleibe, scheint durch die Meldung vom Tod
des Polybos, des angeblichen Vaters des Oidipus, zur Gewißheit zu werden;
da verkündet der Bote, daß Polybos und Merope nur die Nähreltem des
Oidipus waren. Vor lokastes Auge zerfließen bereits die Nebel, Oidipus
klammert sich noch an eine schwache Hoffnung und verlangt stürmisch
den Diener zu sehen, der den kleinen Knaben dem Hirten des Königs
Polybos übergeben habe; der kommt und löst, von Oidipus selbst befragt,
die letzten Zweifel, so daß nun die ganze schauerliche Wahrheit enthüllt
vor den Augen des unglücklichen Königs liegt.») Durch diese Darstellung
ist Spannung und Erschütterung in unübertrefflicher Weise erreicht. Aber
in einer bei Sophokles sonst nicht üblichen Art wird alle Aufmerksamkeit
abgelenkt auf den äußeren Entwicklungsgang der Handlung, auf die Frage,
ob und wie das schreckliche, allen außer dem Oidipus selbst offenbare
Geheimnis herauskommen werde. Man hört zu wie in einem Kriminal-
prozeß. Auf Charakterzeichnung ist auffallend wenig Wert gelegt: Oidipus
selbst, der übrigens vollkommen schuldlos ist,*) stellt sich als ein wohl-
gesinnter, korrekter, pflichteifriger Fürst (Schol. OR. 1) von starkem Sicher-
heits- und Selbstgefühl dar, ähnlich dem Kreon der Antigene; Kreon ist
ein einfacher Biedermann,*) Teiresias der Sehertypus; in dem Boten von
Korinth klingen die humoristischen Züge des Wächters aus der Antigene
an; nur lokaste, die ahnungsvolle Seele, dem Sohn-Gatten mit inniger
Liebe und Fürsorge auch in der tiefsten Schmach und Verschuldung hin-
gegeben, verrät den feinen Psychologen Sophokles. Im übrigen ist es,
als hätte hier der Dichter ein Experiment machen wollen, wie weit tiefste
tragische Wirkung lediglich durch spannende Gestaltung des Handlungs-
verlaufs hervorzubringen sei. So hat er das Vorbild der Schicksalstragö-
dien geschaffen, das aber alle seine Nachahmungen in Schatten stellt.
Wie es schon auf die Griechen des 4. Jahrhunderts wirkte, zeigen die
zahlreichen Exemplifikationen und bewundernden Urteile in der Poetik des
*) Noch mehr Bewunderung verdient die ') Die Tötung eines unbekannten Mannes
Kunst des Dichtere in Anbetracht der Tat- auf der Reise in Notwehr ist vor dem Forum
Sache, daß die ganze Art der Wiedererkennung heroischer £thik keine sittliche Verechuldung;
von Sophokles selbst erfunden ist. Nach der ebensowenig sollte man dem Oid. aus den
Sage in den Schollen zu Eur. Phon. 1760 im Affekt getanen blasphemischen Äuße-
wurde nämlich Oidipus als Mörder des Laios rungen über Apollon und die Orakelweisheit,
von lokaste an dem Gürtel erkannt, den er an die allerdings Sophokles selbst fest ge-
dem erschlagenen König abgenommen glaubt hat, einen Strick drehen wollen. Wie
hatte, und nach einer andern durch Hygin. Sophokles selbst über diese Frage dachte,
fab. ß6 (vgl. schol. Eur. Phoen. 26) über- gibt er OC. 960 ff. (s. a. Schol. zu OC. 960
lieferten Version wurde der kleine Oidipus in rtp yao dm 6 OidtJiovg, et ug dxotßihg i^eidi^oi,
einem Kasten in das Meer geworfen und an ädixog fier ovx ioiiv, dxvxijs ^e xai Jtegtjtai^i^g)
den Strand von Sikyon getrieben, wo ihn zu verstehen.
beim Waschen die Königin Periboia findet ') Viel zu viel will Wilamowitz, Herrn.
Vgl.E.BETHE, Thebamsche Heldenlieder 67 ff. , 34 (1899) 61 f. in diesen Charakter legen.
318 OriechiBche Litteratnrgeschichte. L Klasidsche Periode.
Aristoteles. Piaton freilich, im Zusammenhang seiner Staatspädagogik,
verwirft derartige Schicksalstragödien (reip. II 380a). Ob die athenischen
Richter, die den Sophokles mit diesem Stück unter Philokles herabgesetrt
haben, 0 ebenso empfanden wie Piaton oder ob das Unterliegen des
Dichters in diesem Fall andere Gründe gehabt hat,*) wissen wir nicht.
176. Am schwersten zu verstehen sind unter allen sophokleischen
Tragödien die Tgaxiviai. Sie haben ihren Namen von dem Chor, der aus
Jungfrauen von Trachis gebildet ist. Der Titel erscheint aber, da der
Chor selbst nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt, so wenig passend
als bei den Phoinissen des Euripides. Der Stoff ist aus dem Epos Olxaliag
älooig genommen und wird auch von Archilochos- (Dio Chr. or. 60, 1),
Bakchylides (5, 173 und im 'Hgaxl^g) und Aischylos (fr. 30 N.*) berührt.
Die tragischen Motive hat übrigens Sophokles erst in die Sage hinein-
getragen: die gewöhnliche Sage läßt den Herakles die lole für Hyllos er-
obern und das Nessoshemd durch Lichas bei Deianeira holen. Bei
Sophokles will er lole für sich selbst, und das Hemd schickt ihm Deia-
neira.') Das Drama, dessen Authentizität oder Vollständigkeit anzu-
zweifeln*) kein Grund ist, zeigt einen von allen anderen Stücken des
Sophokles stark abweichenden Kunstcharakter: Sophokles in Geist und
Form ein Nachahmer des Euripides. Den Herakles, der im 6. Jahrhundert
in der attischen Religion eine Rolle gespielt hatte, dann aber durch
Theseus zurückgedrängt worden war,*) kennt die ältere griechische
Bühne zunächst nur als komische Figur, den starken Hans, den gewaltigen
Esser und Trinker — so das Satyrspiel, die sizilische und attische Ko-
mödie und noch Euripides in dem Nachspiel Alkestis a. 438. Ernsthaft
hat ihn zuerst, aber nur episodisch, Aischylos im befreiten Prometheus
auf die Bühne gebracht. 0) Im Mittelpunkt einer ernsthaften Handlung
steht er zuerst in dem 'Hgaxifjg /Liaivojüievog des Euripides und in den
Trachinierinnen des Sophokles.^) Die starken und zahlreichen Ähnlichkeiten
*) Aristid. or. 46 p. 334 Dind. ' jene Hypothese wendet sich in übertriebener
*) Siehe 0. S. 303. Daß die von Neueren 1 Bewunderung des Stückes R. Schbeiner, Zur
(E. Zamcke) vermißte , poetische Gerechtig- I Würdigung der Trachiniai des Soph., Progr.
keit" den Preisrichtern Sorge gemacht habe, v.Znaim, Wien 1886; auch N. Wecklbin, Bayr.
ist nicht anzunehmen ; ebensowenig die schon | Gymn.Bl. 22 (1886) 399 stellt die Trach. höher
im Altertum (Ar. poöt. 1454 b 7. 1460 a 30; als selbst die Elektra. Auffällig sind die zahl-
von Neueren s. J. Nusser. Soph. König ödi- reichen obra^ Fiotj/nfva unseres Stückes,
pus, Progr. Würzb. 1904 u. M. Adler, Ehren- I *) Die Porosskulpturen der athenischen
gäbe der Latina, Halle 1906, 61 ff.) bemerkten Akropolis aus dem 6. Jahrh. zeigen Herakles-
Äußerlichen ünwalirscheinlichkeiten. motive (E. Petersen, N. Jahrbb. f. klass. Alt.
') A. Fahlnberg, De Hercule tragico , 13, 1904, 322 f.); über die Verdrängung aus
Graecor., Leipz. 1892, 13 f. den Bildwerken der Akropolis durch ITieseus
*) Die Schlußpartie 1216—1278 erklärt C.Watzinoer, Athen. Mitteil. 29 (1904) 241 ff.
für unecht Th. Berok, Gr. Litt. III 394 f. ; «) A. Fahlnbero a. a. 0. Bedeutsam
G. Wendt in Übers. (Stuttg. 1884) S. 7 möchte ist die Begeisterung von Kimons Partei für
eher vermuten, daß der Schluß der Tragödie das dorische Heraklesideal Plut. Cim. 4.
verloren gegangen sei, zumal diese weniger , ') Übrigens hat auch der sophokleische
Verse als alle anderen zähle. In dem ganzen Herakles einen starken Zug zur Brutalität, so
Stück wollte A. W. Schlegel eine Bearbeitung daß sogar der Diener Lichas ihn an Takt
durch lophon finden; mit der Annahme dop- überbietet — wohl ein Rudiment des Hercules
pelter Rezension fand sich G. Hermann in comicus.
seiner Ausgabe (3. A. Berl. 1851) ab. Gegen
G. Drama. 2. IMe Tragödie, c) Sophokles. (§ 176.) 319
zwischen diesen beiden Stücken 0 lassen sich nur aus bewußter Bezug-
nahme des einen auf das andere erklären, und zwar muß, da in den
Trachinierinnen eine künstlerische Entgleisung des Sophokles vorliegt, der
euripideische Herakles dagegen dem Eunstcharakter dieses Dichters völlig
treu bleibt, das Stück des Euripides das ältere sein.^) Euripideisch ist in
den Trachinierinnen die Vorführung eines leidenden Helden und einer
ganz veristischen, bei aller Anmut doch in ihrer Kopflosigkeit nahezu
karikierten Frauenfigur, der Deianeira: eine kleine Frau, die ihrem meist
auf Abenteuerreisen abwesenden Mann innig zugetan ist, gewöhnt, sich
keine großen Sorgen um ihn zu machen; als er nun aber im fünfzehnten
Monat noch nicht zurück ist und sie sich nachträglich darauf besinnt, wie
er eben diesmal unter ganz besonderen Umständen auf die Reise gegangen,
wird sie doch ängstlich; auf den glanzvollen Gedanken, nach dem Ab-
wesenden forschen zu lassen, muß sie erst durch eine Magd gebracht
werden, die nun um ihres Scharfsinns wegen hoch gepriesen wird.») Den
Hyllos, der ganz wohl weiß, wo sich Herakles befindet, zu befragen, ist
der Deianeira nicht eingefallen. Als dann die kriegsgefangenen Frauen
von Lichas gebracht werden, unter ihnen lole, um derenwillen Herakles
den ganzen Zug ausgeführt hat, da nimmt sich arglos Deianeira ihrer an,
entschuldigt sogar die Untreue ihres Mannes — die Liebe gilt ihr (445 flf.)
als eine Krankheit, der sich niemand entziehen könne.*) Doch hält sie
für angezeigt, sich der Liebe des Herakles zu versichern und schickt ihm
in bester Absicht {xQrjoxd jncofiivr] V. 1136) das fatale <piXxoov des Nessos-
hemdes. Wiederum nachträglich fällt ihr aber (710 f.) ein, es sei doch
wahrscheinlich, daß das Geschenk des Kentauren Verderben stiften werde.
Als ihr endlich der ausgesandte Hyllos meldet, was sie für Unheil durch ihre
Sendung angerichtet habe, geht sie freiwillig in den Tod. Nirgends sonst
hat Sophokles das Weib so von der Seite ihrer Schwäche dargestellt.^)
Auch in der Technik verrät sich der Einfluß des Euripides: nirgends als
in den Trachinierinnen hat Sophokles den monologisch berichtenden Prolog,
nirgends den banalen Abschluß mit einer „Versorgung", wie sie hier der
lole durch Verheiratung mit Hyllos zuteil wird. Euripideisch ist auch die
weitläufige Auseinandersetzung von Herakles' Leidenszustand (983 flf.) und
die Gotteslästerung des Hyllos (1266 flf.). Sophokleische Kunst bemerkt
man nur, bei Vergleichung mit der Zerfahrenheit des 'HqaxXfjg juaivöjLievog^
in der Konzentration und Straffheit des Aufbaus, insbesondere der Ein-
fügung der Gestalt des Boten, die eine Kontrolle des der spannenden Ver-
zögerung wegen eingeführten Lichas und seiner schonungsvollen Lügen
M WiLAMOwrrz, Eurip. Herakl. P 344. | stehung.
382 ft. Fahlnbbro a. a. 0. 18 ff. I >) V. 61 ff. Der Gedanke ist euripideisch
2) Ein starker Mißgriff ist es, wenn Th. (Eur. Andr. 639 f.; El. 362 f. 487 ff.; Hei.
ZiELiNSKi, Philol. 55 (1896) 621 ff. unter Korn- 728 ff. 1641 ; Ion 854 ff.),
bination der Tr. mit der Anekdote vom '//^axA^s *) Ebenfalls ein euripideischer Gedanke:
(jirjv^nt):: und mit der Funktion des Soph. als W. Nestle, Euripides, der Dichter der griech.
Hellenotamias die Tr. 443/2 ansetzen will; Aufklär., Stuttg. 1901, 225 f.
auch Fahlnbero p. 18 ff. greift mit der An- ^) Man denkt an die Sentenz Eur. Hipp.
Setzung des Stückes vor den Hippolytos des 966 ro fiojgov dvögaotv /*«• ovx m, yii'a/|t
Euripides (428) fehl. Übrigens dachte auch ö' ifijreqrvxe. Anders freilich über Deianeiras
Th. Bergk, Gr. Litt. III 398 an frühere Ent- Charakter E. Rohde, Psyche IP 237.
320 QriechiBche Litteraturgeschichte. I. Klassische Periode.
möglich macht. Der verwirrenden Menge der Personen und dem Aus-
einanderfallen in zwei schlecht verbundene Hälften bei Euripides steht in
dem sophokleischen Stück das dominierende Personenpaar Deianeira-Herakles
und das dominierende Motiv der Liebe (V. 497 flf., 892 — auch dieses nicht
eigentlich sophokleisch, vgl. Eur. Hipp. 545 flf.) gegenüber. Also euripi-
deischer Verismus, Einzelheiten euripideischer Oedanken und Formen bei
sophokleischer Struktur — wer für dieses Oxymoron den Erklärungsgrund
findet, hat das merkwürdige Stück verstanden. Es sieht aus, als hätte
Sophokles, indem er den Stoflf des älteren 'HgaxX^g fjuzivöjtuvog ergriflf, zeigen
wollen, daß er auf die euripideische Art eingehen und es künstlerisch doch
weit besser machen könne als Euripides. Daß in diesen Formen auf der
attischen Bühne litterarische Politik getrieben wurde, zeigen die beiden
Elektron und Philoktete. Die Alten kannten auch in den Chorpartien
der beiden Dichter parabasenartig polemische Stellen (Poll. IV 1 1 1). Auch
mit der stilwidrigen Verwendung daktylischer Hexameter in der Elageszene
1009 flf., 1018 flf., 1031 flf.») könnte eine Persiflage der von Euripides seit
etwa 424 in die Monodie eingeführten Daktylen beabsichtigt sein. Von
späteren Tragikern haben den Gegenstand noch Spintharos {'Hgaxkfjg negt^
xaiofievog) und die Römer Accius (Trachiniae) und Seneca (Hercules Oetaeus)
behandelt. 2)
177. Der ^ikoxrrjrtjg, nach der didaskalischen Überlieferung 409
aufgeführt und mit dem ersten Preis ausgezeichnet,*) behandelt denselben
Stoflf wie die gleichartigen Stücke des Aischylos und Euripides, die beide
vor das sophokleische fallen. Der Stoflf ist aus der kleinen Dias genommen
und auch von Bakchylides in einem Dithyrambus*) behandelt gewesen.
Der Rhetor Dion Chrysostomos, dem noch die drei Philoktete vorlagen,
vergleicht sie und gibt dem Sophokles den Vorzug.^) Euripides, dessen
Philoktetes 431 zusammen mit der Medeia auf die Bühne kam,®) hatte sich
enger an Aischylos angeschlossen und wie jener den Chor aus einheimi-
schen Lemniern bestehen lassen; seine Tragödie scheint an einzelnen Rühr-
eflfekten vielleicht reich, im ganzen aber ein schales Intriguenstück ohne
psychologische Tiefe gewesen zu sein. Sophokles, der auch noch einen
zweiten, früh, wie es scheint, verloren gegangenen Philoktetes in Troia
schrieb,^) nahm stärkere Veränderungen vor, um einesteils dadurch, da&
er die Insel unbewohnt sein ließ, das Elend des Philoktetes zu erhöhen^
') A. Rossbach, Metrik M7 ff. 116 ff. I ») Dio Chrys. or. 52, 15: 6 SwfoxXrig
') Über Benützung der sophokleischen I fieaoc: foixfv dfi(f)oh' eivai, ovre ro av^aöeg
Trachinierinnen bei Ovid. met. IX s. H. KiENZLE, xai djrkovv to tov Aioyvlov fy/ov ovie z6
Ovidius ad metamorph, componendas qua ra-
tione compendium mythologic. adhibuerit,
Basel 1903, 54 f.
^) Argum.: sdtSdxlhj e:ti Fkax^xhnov ,
jigojzo^ t)v 2LO(]^oxXrjg,
*) Bacchyl. p. 163 fr. 7 Bl.^. Über die
Philoktctessage, deren Held eine Variante des
lemnischen Hephaistos zu sein scheint und
deren Ausgestaltung auf dem Zusammen-
äxQißh xal ögtfÄV xai jto/atixov tov EvQiTtibov,
oefivffv de xiva xal fieya/.ojzQc^i] sioitjotr roayi-
xwtaxa xai Fve^eoraia eyox'oav,
®) Auf ihn ist Bezug genommen von
Aristoph. Ach. 424.
') Dieser zweite ^PO.oxirirrjg spielte nach
der Überführung des Helden in das achäische
Lager in Troia, wie der erhaltene in Lemnos ;
eine klare Idee über ihn sich zu bilden, ist
Schluß mit der Heraklessage beruht, s. F. , bei der Spärlichkeit der Fragmente schwer;
Marx, N. Jahrbb. f. kl. Alt. 13 (1904) 679. , s. F. G. Welcher, Griech. Trag. I 138 f.
G. Drama. 2. I>ie Tragödie, c) Sophokles. (§ 177.) 321
andernteils durch den Kontrast der handelnden Personen ein verflochtenes
Drama {zgaycpdla nenleyfjiivri) mit glücklichem Ausgang zu schaffen. Die
epischen Quellen der Fabel erzählten die Zurücklassung des von einer
Schlange gebissenen Philoktetes auf der öden Insel 0 Lemnos und seine
Abholung nach Troia im letzten Jahr des Krieges.*) Nach dem Auszug
der Prokloschrestomathie und dem Gemälde des Polygnotos in der athenischen
Pinakothek') war es Diomedes, der den Helden, von dessen Bogen die
Einnahme der Priamosfeste abhing, aus Lemnos zurückholte. Aischylos
setzte an dessen Stelle nach einer anderen Version der Sage^) oder nach
eigener Erfindung den schlauen Odysseus, der sich für die Ausführung
eines auf Täuschung berechneten Unternehmens besser eignete. Euripides
vereinigte, da er über drei, nicht wie Aischylos über nur zwei Schauspieler
verfügte, die epische Darstellung mit der des Aischylos, indem er dem
Diomedes den Odysseus beigesellte.^) Sophokles ließ den im Epos wenig
individuell und sympathisch charakterisierten Diomedes ganz weg und
stellte dem Odysseus den jungen Sohn des Achilleus, den Neoptolemos, an
die Seite, offenbar nach eigener Erfindung. In dieser Veränderung, mit
der auch die Zusammensetzung des Chors aus Schiffsleuten des Neoptolemos
zusammenhängt, wurzelt die Stärke der neuen Tragödie des fast neunzig-
jährigen Greises; in ihrer lebensvollen Frische nimmt man nichts von der
schwächenden Einwirkung des Alters wahr. Die Einführung des Neopto-
lemos bot auch den technischen Vorteil, gegen Philoktetes einen Helden
vorschieben zu können, den dieser noch nicht kennt, gegen den er also
auch nicht voreingenommen ist (Euripides muiste, um dieser Schwierigkeit
Herr zu werden, seinen Odysseus von Athene verwandeln lassen). Der
Dichter hat nun in dem herrlichen Gegensatz der Charaktere, den er
ähnlich schon im Aias vorgeführt hatte, ohne ihm aber eine so beherrschende
Stellung anzuweisen und ohne ihn psychologisch so fein auszuführen, die
Pole gewonnen, zwischen denen die Handlung sich bewegt. Auf der
einen Seite steht der kluge Odysseus, der Typus des ionischen ao^pogy^)
der in seiner Schlauheit ohne jeden Gewissensskrupel Lüge und Hinterlist
anwendet, wenn es sich um die Durchführung eines im Interesse des Ge-
meinwohls geplanten Unternehmens handelt, auf der anderen der offen-
*) Die unzutreffende Schilderung von
Lemnos als einer wüsten Insel bei Soph. erklärt
P. CoRssEN, Philol. 66 (1907) 346 ff. daraus,
daß Soph die Beschaffenheit der Insel Chryse,
auf der nach älterer Sage Phil, litt, auf
Lemnos übertragen habe, wohin Homer den
Phil, versetzt hatte.
') Die Szene des Stücks stellte dem-
nach einen öden Platz der Insel dar, die
Mitteltür war zu einer höher gelegenen Höhle
mit doppeltem Ausgang nach vom und rück-
^) Auf den Diomedes ist noch hin-
gewiesen in Soph. Phil. 570.
*) Bemerkenswert ist, daß Sophokles im
Phil, dem Odysseus die Sympathie, die er
ihm im Aias doch schließlich erwirbt, ent-
zogen hat. Hierin kann eine Veränderung
seines Menschenideals (auch im Evovodog u.
'Odvoaeifg dxav&ojikrj^ war Odysseus ganz un-
sympathisch dargestellt), aber auch das bloß
künstlerische Motiv einer ganz klaren Heraus-
arbeitung der Gegensätze gefunden werden.
wärts {(^lüTOjnos Tifxoa V. 16) umgewandelt. \ Manches klingt doch (z. B. 82. 96 ff.) wie eine
^) Paus. I 22, 6. i Konfession des Dichters über altattischen
^) Pind. Pyth. 1, 53 (gedichtet 470) spricht
vielleicht nach Stesichoros, von mehreren
Abgesandten. Möglicherweise wichen in diesem
Punkt die epischen Quellen voneinander ab.
Handbach der klass. AltertomswiBseiiseliAft YIL 5. Aufl. 21
Adel der Gesinnung und ihre Ruinierung
durch sophistische Rhetorik und sophistischen
Egoismus.
322 Qrieohiflche Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
herzige, edle, gemütswarme Neoptolemos, der Ritter ohne Furcht und
Tadel, eine prachtvolle Verjüngung des Achilleustypus, der sich von vorn-
herein nur widerstrebend dazu hergibt, sich „\xm der Sache willen" durch
falsche Vorspiegelung in das Vertrauen des Philoktetes zu stehlen, und
der dann, als der unglückliche, von einem neuen Krankheitsfall erfaßte
Einsiedler ihm treuherzig den Bogen übergibt, Treue mit Treue erwidert
und das künstliche Gewebe der Täuschung dadurch zerreißt, daß er offen
die Wahrheit eingesteht und zuerst durch bittendes Zureden den tief ge-
kränkten Helden mit den Achäern zu versöhnen sucht, als aber dieses
nicht gelingt, den Bogen trotz der entschiedenen Einrede des OdysseuB
zurückzugeben sich entschließt. 0 Damit geriet jedoch der ganze Anschlag,
dessen Fäden Odysseus aus der Ferne gelenkt hatte, so in Verwirrung,
daß menschliche Kunst den Knoten zu lösen nicht mehr imstande war
und nach euripideischer Art ein deus ex machina, Herakles, dazwischen
treten mußte.*) In diesem Ausgang erkennt man ebenso wie in der Vor-
führung eines körperlich leidenden Helden und der realistischen, selbst
vor Erregung des physischen Ekels nicht zurückschreckenden Schilderung
des Leidens den Einfluß euripideischer Kunst.*) Auch sonst, in der
metrischen Form und in der Behandlung des Chors, zeigt sich die Wand-
lung, welche die Tragödie in der letzten Lebenszeit des Dichters erfahren
hatte. In keinem anderen Stück des Sophokles ist so häufig die Länge
des lambus in zwei Kürzen aufgelöst und so unbedenklich ein Trimeter
unter mehrere Personen verteilt.*) In den lyrischen Partien herrscht wie
in den jüngeren Stücken des Euripides fast ausschließlich der vielgestaltige
Glykoneus; auch die von Euripides eingeführten lyrischen Daktylen kommen
vor. Die Wechselgesänge haben den Chorgesang so sehr zurückgedrängt,
daß nicht bloß die Parodos kommatisch ist, sondern auch das ganze Stück
nur ein einziges eigentliches Chorlied (676 — 729) enthält. Der Chor selbst
hat seine ideale Stellung ganz verloren und spielt nur die Rolle eines
dienenden Begleiters des Neoptolemos. Auch die Epeisodien haben ihre
ursprüngliche, im Namen ausgedrückte Bedeutung insofern verloren, als
ihr Anfang nur selten mehr durch das Auftreten einer neuen Person be-
zeichnet wird.*) Übrigens ist in diesem Stück das Verhältnis zu Euripides
doch wesentlich anders als in den Trachinierinnen. Der Geist ist im
Philoktetes ganz echt sophokleisch, die euripideischen Einflüsse beschränken
sich auf technische Einzelheiten, in denen sich aber doch auch wieder die
Selbständigkeit der Handhabung bei Sophokles zeigt. In V. 11 f. möchte man
*) Vgl. die Beurteilung von Neoptolemos'
Charakter bei Aristot. eth. Nie. 1151b 18:
er gebe der edlen ^Öovtj an der Wahrheit
nach.
*) Daß die Göttererscheinung bei Sopho-
kles weit tiefer als bei Euripides motiviert
ist, 8. o. S. 306.
') Übrigens ist Philoktetes selbst keiner
nete Figur: so realistisch sein körperliches
Leiden und der in diesem begründete patho-
logische Eigensinn geschildert wird, so ist
er doch, insbesondere in seinem Bedttrfais
nach Ruhm (v. 254 ff.), ein voller Helden-
charakter homerischer Art.
*) Vgl. oben S. 300, 7.
^} Keine neue Person tritt mit dem An-
von den banalen Jammerhelden des Euri- fang eines neuen Epeisodion auf V. 219, 519,
pides, über die sich die Komödie lustig macht, 780, 865 ; umgekehrt tritt 542 u. 974 mitten
sondern eine mit großer Feinheit gezeich- im Epeisodion eine neue Person auf.
C. Drama. 2. Die Tragödie, c) Sophokles. (§ 178.) 323
80gar eine Kritik der langatmigen Prologe des EuripidesO angedeutet
finden. — Der Gegenstand ist nicht nur von den drei großen Tragikern,
sondern auch von Philokles, Kleophon, Antiphon, Theodektes, in römischer
Sprache von Accius^) behandelt worden.
178. Der Oldinovg inl KoXcovcp ist in alten Erzählungen, wie wir
oben (S. 299) sahen, mit dem höchsten Greisenalter des Dichters in Ver-
bindung gesetzt und einer didaskalischen Notiz^) zufolge erst nach seinem
Tod im Jahr 401 von seinem gleichnamigen Enkel auf die Bühne gebracht
worden. Aber strittig ist es, ob das die erste Aufführung war, ob nicht
vielmehr schon früher einmal, in den ersten Jahren des peloponnesischen
Krieges*) und vor den Phoinissai des Euripides, deren Schluß (1707) auf
die Bestattung des Oidipus im Gau Kolonos hinweist, das Stück zur Auf-
führung gelangt war. übrigens gehört das Grab des Oidipus in Kolonos
offenbar^) älterem attischem Heroenkult an und ist keineswegs etwa Er-
dichtung des Sophokles. Euripides hat vor Sophokles die Kultlegende in
Erinnerung gebracht, Sophokles aber sie zu einem patriotischen Tendenz-
stück^) ausgearbeitet. Die äußere Form, die häufige Verteilung eines
Verses auf zwei Personen, das Vorherrschen des glykoneischen Versmaßes
in den Chorgesängen, der kommatische Bau der Parodos, auch der weh-
mütige Ton des Liedes auf die Leiden des Greisenalters (1211 — 48) können
für die erstere Meinung angeführt werden. Freilich zeitgeschichtliche An-
deutungen in der Tragödie scheinen mehr in die erste Zeit des pelo-
ponnesischen Krieges zu weisen, als eben erst aus kleinem Anlaß der
Krieg begonnen hatte (V. 702 — 6). Aber das ist doch nur Schein; tat-
sächlich passen 7) die politischen Seitenblicke und insbesondere die Verse
92 f., 411, 604 — 6, 621 f., die einen Sieg der Athener beim Grab des
Oidipus prophezeien, einzig gut auf das Jahr 407, in dem nach Diodoros
XIII 72 die athenische Reiterei einen ruhmvollen Erfolg über die theba-
nische, vielleicht gerade im Gau Kolonos, in den die Straße von Acharnai
und Dekeleia her einmündete,®) erfochten hatte. Der Oidipus auf Kolonos
') Besonders breitspurig und gemein- | und der Athene L'tma Heroenkapellen ftU:
plätzig muß, der Paraphrase bei Dio Chr. : Theseus, Peirithoos, Oidipus und Adrastos.
or. 59 nach, der Prolog zu Euripides* Phüo- | Daß eine thebanische Legende (Schol. OC. 91 :
ktetes gewesen sein. I Grab des Oid. im boiotischen Eteonos) dem
*) 0. RiBBBCK, Rom. Trag. 376 ff. . widersprach, ist nicht verwunderlich.
') Arg. II: 2!o<foxifjg 6 viidovg idida^er | •) Das Grab des Oidipus galt, wie das
viog lüv 'AgioKovog ijtl ägxovTog Mix€ovog, og ' bei Heroengräbem die Regel, als Schutz für
iou rixaQtog. cuto KaXXiov, iqp' ov fpaaiv ol das Land, in dem es lag, gegen Feinde
jikFiovg rov 2!o<foxXia reXevTfjaai. Auf diese
Aufführung bezieht nach P. Foucart J. H.
Lipsius (Leipz. Stud. 19, 1899, 812 A.) die di-
daskalische Notiz CIA IV 8 nr. 1280 b. Siehe
A. Wilhelm, Urkunden 177 A. 1.
"*) Das letztere nehmen an K. Lachmanit,
. Rh. M 1 (1827) 313 ff. und An. Scholl, Phüol,
(Chr. A. Lobeck, Aglaopham. 280 f. ; E. Rohde,
Psyche P 159 ff.; H. Usbkeb, Wiener Ak.
Sitz.ber. 137, 1897, III 14 fL).
') A. Mayb, Über Tendenz und Ab-
fassungszeit des sophokleischen ödipus auf
Kolonos, in Comment. philol. Monacenses 1891
S. 160 ff. Auch Ar. ran. 1023 f. spielt viel-
26 (1867) 385 ff. Auf die nächste Zeit nach dem leicht auf den Konflikt an. Schol. Aristid.
Frieden des Nikias geht herab A. Böokh, Kl.
Sehr. 4, Leipz. 1874, 228 ff. Andere wollen
mit Ausscheidung von 919 — 923 als jüngerer
Interpolation helfen.
*) Paus. I 30, 4 (vgl. auch dens. I 28, 7)
bezeugt beim Tempel des Poseidon tjtmog
p. 560, 18 ff. DiND.
^) Lager schlug der Feind damals, nach
der Niederlage, bei der Akademie, wird also
nach Südwesten hin ausgewichen sein, um
den Weg nach Eleusis hin und zum Pelo>
ponnes sicher zu haben.
21*
824 GriechiBohe Lüteratnrgeschichte. L ElaasiBohe Periode,
fällt also lange nach dem König OidipusO und der Dichter hat mit dem
Abendglanz seiner Kunst Athens Vergangenheit und seinen Heimatort
Kolonos verklärt,*) indem er den geblendeten König im Hain der Eume-
niden bei Kolonos Ruhe und Erlösung von seiner Mühsal finden läßt. Die
aktuellen Beziehungen des Stückes, aus denen sich auch erklärt, daß ea
nicht nachgebildet worden ist, sind mit Händen zu greifen: der Sieg der
Athener über die hartnäckig andringenden böotischen Reiter erschien dem
Dichter und vielleicht auch dem Volk als Folge des Beistandes des Oidipus,.
von dem ein Heroon nahe beim Schlachtfeld lag. In weiterer Begründung
ließ er den Oidipus durch seinen Schutz dem gastlichen Athenervolk, daa
den von seinen Landsleuten verstoßenen Greis aufgenommen hatte, seine
Dankbarkeit erweisen.«) Da nun aber zwischen Böotem und Athenern
ein Streit über das richtige Oidipusgrab war (s. S. 323, 5), der nach grie-
chischer sehr konkreter Auffassung sich um das Vorhandensein der Gebeine
drehte, so ließ der Dichter — und das ist ohne Zweifel seine eigene Er-
findung — den Oidipus in Kolonos überhaupt nicht sterben, sondern ent-
rückt werden,^) so daß die Streitfrage ganz ausgeschaltet war und der
Kolonos doch als ein im Zusammenhang mit Oidipus' Abscheiden geheiligter
Ort gelten konnte. Mit dem Vorführen ätiologisch-patriotischer Motive war
Aischylos in der Promethie und Orestie, Euripides in der taurischen Iphi-
geneia, den Herakliden, dem rasenden Herakles, mit der Verherrlichung
athenischer Menschenfreundlichkeit gegenüber boiotischer Roheit Aischylos
in den Eleusiniem, Euripides in den Herakliden und Hiketiden voran-
gegangen; beide Dichter hatten auch den Theseus als Typi^ attischer
Ritterlichkeit (jigoaxarixög xäl ßor]i^Tix6g Plut. Thes. 36) schon ausgebildet.
Indessen werden durch die hier besonders starken außerpoetischen Reiz-
mittel die dichterischen Vorzüge des Stückes nicht verdunkelt.*) Der
Dichter bemüht sich erfolgreich, mehr Verwicklung in die an und für sich
übereinfache Handlung zu bringen, indem er zuerst Ismene dem blinden
König Kunde von dem neuen Zwist in Theben bringen läßt und dann
nacheinander Kreon und Polyneikes in die Handlung hineinzieht, von denen
der erste mit Gewalt, aber ohne Erfolg dem unglücklichen Vater seine
beiden Führerinnen zu entreißen sucht, der andere aber, nachdem er in
der Hoffnung, Beistand für sein Unternehmen zu finden, gekommen war,
mit dem schrecklichen Fluch des Vaters beladen von dannen ziehen muß.
Die Kunst der Charakterzeichnung konzentriert sich ganz auf die an der
Schwelle des Todes stehende Gestalt des Oidipus. Er ist keineswegs, wie
man früher in christlich-erbaulicher Mißdeutung^) meinte, ein frommer
Dulder, sondern unheimlich wie ein grollendes Gespenst ist dieser verbitterte,
zornmütige, Ruhe suchende Greis auf den Hintergrund der anmutig blühen-
*) Arg. OR.: slai ök xai oi jigoiegov, ov *) E. Rohde, Psyche IP 243, 2; über .
tvQavvor avTor imyQag^m'Teg Öta Toi^g XQo^'ovg I solche EntrttckuDgen ders., Psyche passim
Tc5i' SidaoxdXtcov xai Sia lä .todyfAara. (s. Register u. d. W.).
^) Arg. OC. F.noirjoE xciQt^ofievog ov /aovov ^) Wie günstig die Alten urteilten, sagt
T/7 najotötf a),),a xai Tqj iaviov öt/fjo), uns das Argumentum: ro de dgä/na nui' i)ai'-
') Vgl. dasselbe Motiv in betreff des /naaicor.
Eurystheusgiabes in Pallene Eurip. Heracl. , •) Siehe dagegen E. Rohde, Psyche II*
1026 ff. I 244,2.
G. Drama. 2. Die Tragödie, c) Sophokles. (§ 179.) 325
den Landschaft (668 ff.) hingesetzt. Beglückt, endhch geborgen zu sein,
erschöpft er den Rest seiner Kraft mit Flüchen auf seine Söhne und sein
Land und findet die letzte Genugtuung darin, seiner Heimat noch Schaden
zufügen zu können, bis er in geheimnisvoller Weise abgerufen wird. Über
welche Gestaltungskraft der neunzigjährige Dichter noch verfügt, zeigen
am deutlichsten die ergreifenden Chorgesänge und vor allem der herrliche
Hymnus auf Attika (668 — 719),0 der das euripideische Seitenstück in der
Medeia V. 824—845 weit hinter sich läßt. — Die drei Stücke, König Oidipus,
Antigene und Oidipus auf Eolonos, bilden die drei Phasen einer Handlung,
könnten also dem Inhalt nach recht wohl eine Trilogie ausmachen. Sie
waren aber keine Trilogie, da sie zu ganz verschiedenen Zeiten gedichtet
und nie zusammen auf die Bühne gebracht wurden.^)
179. Fragmente. Von den nicht erhaltenen Dramen des Sophokles
sind nur sehr spärliche Reste auf uns gekommen, die uns in vielen Fällen
nicht einmal eine sichere Vermutung über ihren Lihalt erlauben.*) Zu
einem großen Teil derselben hatte er den Stoff aus Homer und dem
epischen Kyklos entnommen;*) so bezogen sich einunddreißig seiner Tra-
gödien auf den troischen Sagenkreis ^Aki^avbqoqy 'EXivrjg yd/iog (Satyr-
drama), 2xvqioi, 'Oövaaevg fiaivofievog, 'Icpiyeveia (Opferung in Aulis), 'Axaicav
cvXXoyog, 2vv6euivoi (burleskes Drama, aber ohne Satyrchor),^) Mvooi f)
T^Xecpog,^) Uoifiiveg (Protesilaos' Tod), ^EXhrqg äjiaixrjaig, TgaytXog, IlaXa/bii^drjg,
^Qvyeg (Lösung Hektors nach II. ß), AWioneg f) Me/bivcov, 0om^, ^doxxrjrrjg
iv Tgoiq, Adxaivat (Raub des Palladiums), Aaox6(ov, 2iv(ov, ngia/biog, Aixfia--
IcoTidsg, IloXv^ivrj, Atag Aoxgog, Avrrjvogldai (Abzug der Söhne des Antenor
nach der venetischen Hadria), Naimhog jivgxaevg (Schiffbruch an den kaphe-
reischen Felsen), Tevxgog, Eifgvadxrjg, Xgvarjg, Navoixda fj IlXvvxgiai (neu ent-
worfen von Goethe), 0aiaxeg, 'Odvooevg äxav&ojiXr}^ f) Nimga (Tod des Odys-
seus durch den Rochenstachel seines Sohnes Telegenes; danach Pacuvius'
Niptra), Evgvakog (Sohn des Odysseus und der epeirotischen Königstochter
Euippe, vom Vater ohne Wissen getötet).'') Demnächst benützte Sophokles
*) Fälschlich wird dieses herrliche Chor- ! *) Ath. 277 e: eyrnge d' 6 2o<poxXijg rtp
lied von Plutarch an seni p. 785 a als Parodos ■■ snixc^ xvxXcp, wg xai oXa dgafiara jrotfjaai
bezeichnet Der Chor war schon V. 117 ver- ! dxolovd&v tfj ev Tovrcf) ftv&ojioitrt. Neun
einzelt {o.-zoQadrjv) eingezogen. — Merkwürdig j Stücke schöpfen aus den Kyprien, acht aus
ist das starke Hervortreten des Chors im
OC da der Philoktetes nur ein einziges wirk-
liches Chorlied aufweist. Die Erklärung da-
für darf aber schwerlich in äußeren Ursachen
der 'JXiov jitgaigf zwei aus der Telegonie
{Üdvöoevg axavOonltj^ u. EvQvodog) ; nur drei
aus der Odyssee {Navatxda, 4>ai(vcsg, NutxQo)
und eins aus der Ilias (i^gvyeg).
(so 0. Hense, Chor des Soph. 26 ff.) gesucht *) Die ^uvdeijtvoi bearbeitete Q. Cicero,
werden, eher in einer archaisierenden Nei- der Bruder des Redners M. Cicero, nach Cic.
gung. wie sie in dieser Hinsicht auch Euri- ' ep. ad Quint. fr. II 15, 3 (statt actam liest
pides' Bakchen erkennen lassen. ' F. Bücheleb factam). Daß sie von dem emst-
*) Ein Hinweis auf OC. scheint zu liegen ' haften M/atwr övaX. verschieden sind, zeigt
in OR. 1455 — 8, wenn anders diese auf den • aus den neuen Fragmenten des ^Ay, avÜ..
OC. vorbereitenden Verse echt sind. Siehe Wilamowitz, Berl. Klassikert. V, 2, 68 ff.
o. S. 303. Verschiedenheiten, die aber mit •) Die Ansicht von G. Kaibel, Herm. 23
seiner verschiedenen äußeren Stellung moti-
viert werden können, zeigt der Charakter des
Kreon in OR. einerseits, OC. u. Ant. andrer-
seits.
8) F. G.Welckeb. Griech. Trag, im 1. Band
und im Nachtrag des dritten.
(1888) 273, daß dieses Stück als Satyrdrama
mit einer Trilogie von Tragödien in Rhodos
aufgeführt worden sei, ist stark erschüttert;
s. o. S. 302, 3.
') Den Inhalt des Euryalos referiert Par-
thenios c. 3.
326 Grieohische Litteratargeschichte. I. ElaasiBche Periode.
am liebsten einheimische attische Sagen; außer dem Triptolemos und Oidipus
Kol. waren aus solchen genommen Trjgevg, 'Qgeii^ia, Koiovaa (im Stoff ver-
wandt mit Eur. Ion), ÜQoxgtg (motiwerwandt Shakespeares Cymbeline und
der Text zu Mozarts Cosi fan tutte), Alyevg, ßrjoevg, ^Idga (denselben
Stoff wie Eur. Hippolytos behandelnd).*) Endlich finden wir in den Frag-
menten des Sophokles neben den altberühmten Sagen des Hauses der
Tantaliden (sieben Stücke) und Labdakiden«) auch die Argonautenfahrt
('AMfiag, KoXxldeg, Zxv&ai, 'PiCoto/lioi)^ den Heraklesmythus und die Sagen des
Thamyris, Minos und Daidalos, Meleagros, Bellerophon (^loßarfjg), der Danae,
Tyro, Andromeda vertreten. Die mystischen Kreise des Bakchos {'Ydgtxpogoi)
und Herakles (Trach., 'AXeddat, 'A/üupirgvcor) betritt er selten, ebenso das
Gebiet der Göttersage (Ntoßt)).^) Gänzlich verschmäht hat er Stoffe aus
der Zeitgeschichte. Außer Tragödien hinterließ Sophokles nach Suidas
noch Elegien, Paiane (s. o. S. 297 f.) und eine Prosaschrift über den Chor»
in der er seine Neuerung gegenüber den alten Chormeistem Thespis und
Choirilos rechtfertigte. Von der Prosaschrift ist uns nichts erhalten, von
den Elegien (eine an Herodot) und Paianen kümmerliche Reste (PLG H*
243 — 250). — Vom 4. Jahrhundert an ist Sophokles von der lebendem
Bühne verdrängt worden durch Euripides, der der Lieblingsdichter der
hellenistischen Zeit wurde und blieb, wenn auch die durch Aristoteles be-
stimmte ästhetische Kritik der Alexandriner, insbesondere Aristophanes
von Byzantion, dem Sophokles den Vorzug gab. Erst mit dem Einsetzen
des römischen Klassizismus Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. sieht man in
Sophokles wieder den tragici cothumi princeps (Cic. or. 4; Verg. ecl. 8, 10;
Plin. n. h. VH 109); aber der Streit um den Prinzipat zwischen den beiden
Dichtern dauerte fort, und die utilitas sicherte dem ästhetisch tiefer
stehenden Euripides immer wieder Anhänger (Quint. X 1, 68 f.; Dio Chrys.
or. 52). Auch die Vasenmalereien (J. H. Huddilston, Greek tragedy in the
light of vase paintings, London 1898; R. Engelmann, Archäolog. Studien
zu den Tragikern, Berlin 1900) und die ägyptischen Papyrusfunde zeigen
die Bevorzugung des Euripides. Über die vermeintlichen Sophoklesauffüh-
rungen auf Rhodos in hellenistischer Zeit s. o. S. 302, 3.
Codices: Das Verhältnis ist das gleiche wie hei Aischylos: Hauutcod. ist Laurentianus.
XXXII 9 s. XI (L), nachträglich mit Scholien versehen und von versctiiedenen Händen kor-
rigiert und ergänzt, so daß z. ß. OR. 800 von später Hand s. XIII (ahcr nach Thompson noch
vor Verfertigung der ührigen Sophokleshandschriften, so daß die Möglichkeit bleiht, diese
als Kopien aus L anzusehen) zugefügt ist; in phototypischem Druck ist die ganze Hand-
schrift herausgegeben von E. M. Thompson u. R. C. Jebb, Facsimile of the Laur. man., London
1885. Der L ist zu der zweiten Junta-Ausgabe 1547 von P. Victorius benützt, aber dann
vergessen worden, bis 1824 P. Elmsley in seiner Ausg. des OC. auf seine Vorzüglichkeit
hinwies; für alle Stücke hat ihn dann auf Grund einer Vergleichung Dübners W. Dindobp
in der Ausg. Oxf. 1860 benützt, und noch S. Mekleb gründet den Text auf ihn. Nahe ver-
wandt dem L war die Handschrift, aus der die Sophokleszitate des Suidas stammen. Zu-
nächst steht Paris. 2712 s. XIII (P, bei früheren A, mit kurzen Scholien), der nicht aus dem
^) WiLAMOwiTZ,Euripid. Hippolytos, Berl. ' daran anschließenden ll/xw fror alle erhalten.
1891, 57 f. setzt den Hipp, vor die Phaidra ^) Ob das Fragment Oxyrhynch. pap. II
des Soph. nr. 123 zu der aischyleischen oder der sopho-
'-') Die theban. Tragödien sind uns außer ' kleischen Niobe gehört, ist zweifelhaft. Siehe
den ^Eniyoroi (oder Eriphyle), die der römische darüber auch G. E. lüzzo, Riv. di filol. 30
Tragiker Accius nachbildete, und dem sich (1902) 462 ff.
G. Drama. 2. Die Tragödie, o) Sophokles. (§ 179.) 327
Laurent abgeschrieben ist, sondern von einem gemeinsamen Archetypus abstammt, da er
die Verse OR. 800, OC. 1105, El. 1485, die in L von erster Hand fehlen, sowie das dort
felüende yhog So<poxUovg enthält Vgl. A. Sbypfert, Quaest. crit. de codicib. Soph. recte
aestimandis, Halis 1863; J. H. Lipsius, Be Sophoclis emendandi praesidiis, Leipz. 1860; C.
Meifebt, De Soph. codicibus, Diss. Hai. 1891 (tritt fttr die von C. G. Cobrt 1847 aufgestellte
Ansicht ein, daß alle unsere Sophokleshandschnften aus L stammen). Beachtenswert noch
wegen einiger guten Lesarten ist Laurent. 125 (F), Unbrauchbar sind die jüngeren, aus der
Rezension des Triklinios stammenden Codd.
Scholien: die alten, aber stark gekürzten gehen aufDidymos zurück, derzuAnt45,
OC. 237 u. s. mit Namen angeführt ist (Bidymos wiederum faßt zusammen, was Aristarchos,
Eallistratos u. a. in ihren Kommentaren beigebracht hatten); dazu eine Vita (fehlt in L) und
vjzo&ioetg in prosaischer und metrischer Form, die auf Aristophanes (genannt zu Ant. u. OR.)
und Sallustius (genannt zu Ant. u. OC.) oder Salutios (? L. Radermacheb, Berl. phil. W.schr. 27,
1907, 800; s. auch über diesen S. Wilamowitz, Eurip. Herakl. P 197 f.) zurückzuleiten sind;
auch von einem Sophokleskommentator des 2. Jahrb. n. Chr., Pius, haben wir (Schol. Ai. 408)
Kenntnis (s. R. Reitzenstein, Inedita po^tar. 6r. fragm., Rostock 1890/91, 17 f.). Jüngere
wertlose Scholien von Thomas Magister und Moschopulos zu den im Mittelalter zumeist ge-
lesenen drei Stücken Aias, El., OR., von Bemetrios Triklinios zu Aias, EL, OR., Ant. — Aus-
gabe der Scholien von P. Elmslbt und W. Bindobf, Oxon. 1825. 52, 2 Bde.; neue Ausg.
der alten Scholien von P. N. Papageobgios in Bibl. Teubn. 1888. Über die Quellen der
Scholien und ihre Bedeutung für die Kritik G. Wolff, Be Soph. scholior. Laurentianor.
variis lectionib., Lips. 1843; über ihr Verhältnis zu Suidas P. Jahit, Quaestionum de scholiis
Laurentianis in Soph. pars I, Berl. 1884.
Ausgaben: ed. princ. bei Aldus, Ven. 1502. Mit den Scholien von H. Stephanus,
Paris 1568, welche Ausg. mit ihrem triklinianischen Text bis in das 19. Jahrh. die Vulgata
blieb. Fortschritt in der Versteilung der Cantica von W. Canteb, Antw. 1579. — Ein-
dringende Studien wurden dem Soph. später als dem Eur. zuteil; grundlegend die kritisch-
exegetische Bearbeitung von F. R. Ph. Brunck (benützte Par. 2712), Argent. 1786; frucht-
bringend die wiederholten Neuauflagen der Ausgaben von C. G. A. Ebfubdt durch G. Her-
MANN, Lips. 1811 — 25; bedeutend für die Kritik durch Zmückgehen auf den Cod. Laur. mit
genauem Apparat die Ausg. von W. Biitdobf, 3. A. Oxon. 1860. In der von Jacobs und Rost
geleiteten Biblioth. graec. mit lat. Anmerk. gab den Sophokles E. Wunder (Leipz. 1825; Gotha
1831 — 50) heraus; die fünfte Neubearbeitung besorgte N. Wecklein 1875—80. — Ausgaben
mit erklärenden Anmerkungen von F. W. Schneidewin und A. Nauck bei Weidmann (in
10. Aufl. OR. 1897 u. Ant. 1904 von E. Brühn, Philokt. 1907 von L. Radebmacher) ; von
G. Wolff und L. Bellebmann bei Teubner; von N. Wecklein bei Lindauer in München; von
Chb. Muff bei Velhagen-Klasing; von B. Ch. Sbmitelos, Athen 1887; von R. C. Jebb I, 8. Aufl.,
London 1903. — Kritisch-berichtigte Textausgaben: von A. Nauck 1867 bei Weidmann; von
W. Bindobf und S. Mekleb, zuletzt 6. Aufl. 1901, in Bibl. Teubn.; von F. Schubert in Bibl.
Schenkl. — Einzelausgaben: Aiax Graece cum scholiis et commentario perpetuo ed. Chr. A.
Lobeck, Leipz. 1809, ed. III 1866. — Antigene griech. deutsch mit Exkursen von A. Böckh,
Berl. 1843; cum scholiis et virorum doctorum curis ed. C. F. Wex, Lips. 1829—33, 2 vol. —
Electra in usum scholarum cd. 0. Jahn, mit Vita und kritischem Apparat, ed. TII cur. A.
Michaelis, Bonnae 1882 (dazu A. Michaelis, Arch. Ztg. 38, 1880, 75 ff.); Ausgabe der El.
mit Kommentar von G. Kaibel, Leipz. 1896. — Oedipus Rex cum annot.'ed. tertium P. Elmslby,
Oxf. 1825; adnot. H. van Herwerden, Trai. 1866. — Oedipus Col. cum schol. vet. et suis
comment. ed. C. Reisig, Jenae, 3 voll, 1820 — 23; e. rec. P. Elmsley-Ph. Brunck, Lips. 1824.
Lexicon Sophocleum von F. Ellendt, ed. II cur. H. Genthb, Berl. 1872. Für die
Kenntnis von Sophokles' Sprachgebrauch wichtig der Anhang, den E. Bruhn als achtes
Bändchen zu Schneidewin-Naucks Ausg., Berl. 1899, herausgegeben hat. — W. Brambach,
Metr. Studien zu Sophokles, Leipz. 1869; ders., Die sophokleischen Gesängo, 1870. — H. Gle-
ditsch. Die Cantica der sophokl. Tragödien, 2. Aufl. Wien 1883. — 0. Schröder, Sophoclis
cantica, Leipz. 1907. — Chb. Mupp, Die chorische Technik des Soph., Halle 1877. — 0. Hense,
Der Chor des Soph., Berl. 1877 und Rh. Mus. 32 (1877) 489 if. — H. Genthe, Index com-
mentationum Sophoclearum ab a. 1836 editar. triplex, Berl. 1874. — H. Wittekind, Sermo
Sophocleus quütenus cum scriptoribus lonicis congruat, at differat ab Atticis, Büdingen 1895.
— Ad. Müller, Ästhetischer Kommentar zu den Tragödien des Soph., Paderborn 1904; die
neuere Litteratur besprochen von N. Wecklein, nach ihm von S. Mekler, zuletzt Bd. 129
(1906) 1 ff. in Bursian-Müllers Jahresber. d. Alt. — Lat. Übersetzung des Aiax lorarius von
J. Scaliger, Straßb. 1574. Erste deutsche Übersetzung der Antigene von M. Opitz, Danzig
1636. — A. Wilbrandt, Sophokles' ausgewählte Tragödien (König Oed., Oed. in Kol., Antigene,
Elektra) mit Rücksicht auf die Bühne übertragen, 2. Aufl., München 1903; M. Lechner,
Sophokles auf der modernen Bühne, in Verh. d. Philol.vers. München 1891. — Wilamowitz
hat eine Übersetzung des Oed. rex (3. Aufl. Berl. 1902) geliefert.
328 Grieohiflohe LitteratiirgeBchiohte. I. Klassische Periode.
d) Euripides (etwa 481— 406). 0
180. Bei aller Verschiedenheit der Weltanschauungen stehen doch
Aischylos und Sophokles zusammen auf einer Stufe. Sie sind beide Ro-
mantiker der Heldensage gegenüber und finden ihre Aufgabe darin, deren
Geist und Gehalt, jeder auf seine Weise, der Gegenwart zu vermitteln, ja
zu einer Lebensmacht für die Gegenwart zu machen. Durchaus ablehnend
verhalten sie sich zu den mit dem Anwachsen der sophistischen Bewegung
immer rücksichtsloser auftretenden Versuchen, die Geschichtlichkeit der
Heldensagen und noch mehr die sittliche Vorbildlichkeit der überlieferten
Götter und Heroen im ganzen zu bemängeln und mit Hilfe der absoluten
Vernunft neue ethische Ideale und Normen aufzustellen. Aischylos hatte
kaum mehr Veranlassung, sich mit der neuen Geistesrichtung auseinander-
zusetzen; Sophokles stand, als si^ tiefer auch in Athen zu wirken begann,
im reifen Maimesalter; er ließ sich in seinem Glauben, der aufs innigste
mit seiner ganzen sittlichen und künstlerischen Persönlichkeit verwachsen
war, nicht irre machen und sprach der SopMstik, bei aller Anerkennung
für ihre Verdienste auf dem Gebiet der Technik im weitesten Sinn, doch
das Recht und die Fähigkeit ab, auf sittlich-religiösem Gebiet förderlich
mitzuwirken. Der Heros-Übermensch ist ihm nicht eine Willkürschöpfung
der Phantasie, sondern eine geschichtliche und intuitive Gewißheit, und
durch seine unvergleichliche Kunst psychologischer Motivierung weiß er
auch dem Zeitalter der Skepsis und des Verismus diesen für die Erziehung
der griechischen Nation so ungemein bedeutsamen Idealtypus anziehend,
verständlich, verehrungswürdig zu machen. Dagegen zeigt sich Euripides
auf der ganzen Strecke geistiger Entwicklung, die uns die erhaltenen
Stücke zu überschauen gestatten, tief durchsetzt von dem neuen Geist:
er legt an die Götter und Riesen der Vorzeit die sittlichen Maßstäbe der
Aufklärung, vor denen sie nicht bestehen. Er glaubt nicht mehr an die
Möglichkeit eines Übermenschentums von innerer Überlegenheit, und doch
ist er in Anbetracht der unabänderlichen religiösen Traditionen der atti-
schen Bühne genötigt, solche Gestalten vorzuführen und sie einem ähnlich
wie er selbst gestimmteh Publikum menschlich nahe zu bringen. Damit
ist der tiefe Riß bezeichnet, der durch sein ganzes Schaffen /geht und
dieser Dichtergestalt etwas Tragisches und Sympathie Ford#ndes gibt.
Euripides kann seine Heroen nur als Menschen der gegenwärtigen Wirk-
lichkeit verstehen; der Mythus aber, dem er in der Regel folgen muß,
belastet sie mit übermenschlichen Leistungen und Leiden, deren der ge-
*) Aus dem Altertum ein Fhog Evqi- ' seinen Werken dargestellt von J. A. Hab-
jriöov xal ßiog (bei E. ScHWAKTz. Scholia in tüng, Euripides restitutus sive scriptor. Enri-
Eurip. 1 p. 1 — 6). Dazu ein Artikel des Suidas pidis ingeniique censura, Hamburg 1848. 44,
und ein Kapitel bei Gellius XV 20. Die fünf i 2 Bde. — 0. Ribbeck. Euripides und seine Zeit,
Briefe des Eur. (R. Heroheb, Epistologr. Gr. Progr. Bern 1860. — Wilamowitz, Das Leben
p. 275 ff.) sind ifrüliestens unter Augustus, des Euripides, in Eur. Herakles P 1 — 42. Die
vielleicht aber erst im 1. Jahrh. n. Chr. ent- I Notiz des Suidas, es habe einen älteren Tra-
standen und enthalten kein neues sicheres giker Euripides gegeben, der zwölf Dramen
Datum. — Sämtliche Quellen zusammen- dichtete und zweimal siegte, kann richtig
gestellt und verwertet von A. Nauck, De Eur. sein (Wilamowitz. Gott. Gel. Anz. 1906,
vita poesi ingcnio, in seiner Ausg., Leipz. 1871 i 621. l.i.
(3. Autl. 1895). Das Leben des Dichters mit
G. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripides. (§ 180.) 329
wohnliche Mensch bei normalem Eräftezustand nicht fähig ist. So muß
der Dichter, um psychologische WahrscheinUchkeit zu gewinnen, seine
Helden in heftige Aufregungszustände versetzen, wie sie Menschen er-
leiden, denen mehr aufgeladen ist, als sie tragen können. Er schafiFt die
bürgerliche und zugleich pathologische Tragödie mit einem Personal
depossedierter Heroen, die nur noch die Namen der alten Heroen tragen,
tatsächlich aber Alltagsmenschen mit alltäglicher Gesinnung und Rede-
weise sind und nur durch starkes Pathos zu einer Scheingröße aufgeblasen
werden. Die Kritik an der Sagenüberlieferung ihrem sittlichen Gehalt
nach drückt er oft genug ohne Scheu aus, fast wie wenn ihm die Sagen-
geschichte eine Sammlung abschreckender Beispiele wäre. Besonders un-
glücklich ist sein Verhältnis zu den Göttern, die er bald heftig tadelt —
am rücksichtslosesten im Ion — , bald nützlich verwendet als die großen
Zauberkünstler, die ihm mit einem Schlag aus dramatischen Verlegenheiten
heraushelfen müssen. Solcher inneren Disharmonie mußte jeder Dichter
verfallen, der mit der Weltanschauung und den Problemstellungen der
Sophistik im Herzen die alten Sagen dramatisieren wollte: an Stelle der
ruhevollen Hoheit der älteren Tragödie mußte jenes fatale Gemisch von
schrillem Pathos und hausbackener Vernünftigkeit treten, an Stelle religiöser
Erhebung der Nervenreiz des Rühr- oder Schauerstücks, das nicht stärkend
und reinigend, sondern spannend, aufregend, ja verstimmend wirkt. Die
Tragödie des Euripides ist ihrem ethischen Gehalt, ihrer Stimmung, ihrer
Stellung zur Sage nach das notwendige Produkt ihrer Zeit. Dem Dichter
bleibt aber der Ruhm tiefer Kenntnis des Menschenherzens und seiner
Widersprüche, von denen er selbst zerrissen ist, innerlicher Empfindung
und bewunderungswürdiger Kraft und Sicherheit bühnenwirksamer Dar-
stellung.
Die Biographie des Euripides, von unkritischen Schriftstellern wie
Hieronymos von Rhodos und Hermippos von Smyma festgestellt, hat stark
notgeUtten durch Aufnahme von allerlei bösartigen Klatschgeschichten, mit
denen die konservative Komödie den modern gerichteten Dichter über-
schüttet hat. Unter diese gehört die Behauptung von der niedrigen Ab-
stammung des Dichters, gegen die schon Philochoros (Suid. s. Evqui.) pro-
testiert hat. Sein Vater Mnesarchos oder Mnesarchides war vornehmer
Grundbesitzer, der die Erträgnisse seiner Gutswirtschaft auf dem Markt
von Athen verwertete — daher die Witze über ihn als Krämer {xdjirjkog)
und über seine Frau Kleito als Geraüsehändlerin {XaxavoJKokig), daher auch der
Spottname TraTg rfjg ägovgaiag ^eov, den Aristophanes (ran. 840) dem Dichter
gibt.\) Seine Eltern, die dem Demos Phlya*) der Phyle Kekropis an-
gehörten, hatten eine Zeitlang in Böotien als Verbannte gelebt. Auf einem
elterlichen Gut auf Salamis ist Euripides geboren. «) Die Beziehung zu
Salamis kann Veranlassung geworden sein, das Geburtsjahr*) mit der See-
^) Ar. Ach. 457. 478 (eq. 19); The8m.456; bei Gell. XV 20, 5 weiß von einer Grotte auf
ran. 840. Schon Theopomp. fr. 104 M. redet | Salamis, wo Eurip. gern dichtete. Vorliebe
das nach; ebenso Vit. Eur. § 1. ! für Salamis bekundet sich Eur. Tro. 799 ff.
*) Harpocrat. u. Suid. s. v. ^Ivsia. I *) Vita 1 ; Diog. Laert. II 45; Plut. svmp.
3) Vit. 1 ; CIG 6052; Philochor. fr. 166 M. [ VIII p. 717c. Die Angabe des Eratosthenes in
330
Griechische LitteratnrgeBchichte. I. Klassische Periode.
Schlacht von Salamis zusammenzulegen; der Dichter sollte an dem Tag
der Schlacht geboren sein; nach anderen war er ein oder ein paar Jahre
früher geboren. In der Jugend erhielt er eine sorgfaltige Erziehung, so
da& er an den Götterfesten der Heimat als Tänzer und Fackelträger des
ApoUon mitwirkte 1) und im Ring- und Faustkampf sich auszeichnete. Der
Tumkunst sagte er bald wieder Valet.*) Auch der Malerei, der er sich
in seiner Jugend widmete, scheint er nicht lange obgelegen zu haben, ob-
wohl er stets für das Malerische in der Poesie ein großes Talent an den
Tag legte. ^) Es war die Tragödie, auf die ihn seine eigentliche Begabung
hinwies. Im Jahr 455*) erhielt er zum erstenmal für seine Peliades
einen Chor, gewann aber bei diesem ersten Auftreten nur den dritten
Preis. Der Bühne blieb er bis zu seinem Ende treu, wiewohl er erst spät
mit der Richtung seiner Poesie durchdrangt) und auch dann noch manchen
Wandel in der Gunst des Publikums zu erfahren hatte.
181. Seine Tragödien sind voll vom Geist der Sophistik, deren
Problemstellungen, Theorien und Terminologie auf Schritt und Tritt an-
klingen. Er vertritt zwar keineswegs irgend ein bestimmtes „System*,
verrät aber Kenntnis verschiedener philosophischer Lehrmeinungen. Die
Alten machen daraus in ihrer Art Schülerverhältnisse zu Anaxagoras,
Prodikos, Protagoras, Archelaos.*) Wenn es dafür auch schwerlich Zeug-
der Vita p. 3, 4 Schw., der den Dichter 75 Jahre
alt werden läßt, führt auf 481/80. Dieparische
Chronik ep. 50 setzt die Geburt Ol. 83, 4 = 485/4,
gibt ihm also 79 Lebensjahre, was L. Mendels-
sohn, Acta soc. phil. Lips. 2 (1872) 161 ff. ver-
teidigt. Im Gamelion 406/5 (d. h. etwa Februar
405), als an den Lenäen die Frösche des Aristo-
phanes aufgeführt wurden, war Sophokles tot
(Ar. ran. 76) ; also muß die Trauerfeier, die
er beim Proagon (Vit. Eur. p. 3, 11 Schw.)
während des Chytrenfestes für Euripides hielt,
im Frühjahr 406 stattgefunden haben. Nach
Mann. Par. ep. 63 fällt sein Tod unter den
Archen Antigenes (Juli 407 — 406), genauer
also zwischen Juli 407 und Februar 406. Die
Unsicherheit des Geburtsjahrs schon im
Altertum ist von F. Jacoby, Apollod. Chion.
257 ff. erwiesen.
') Gell. XV 20, 3; Theophr. und Hieron.
Rhod. bei Ath. 424 ef und Vita § 2.
^) Hart ist sein späteres Urteil über die
Athleten fr. 282, 2 N.^ : ovdh xdxiov foxiv ddXtj-
Tcov yevovc. Über die Eleganz des jungen
Eur. Ar. Thesm. 173.
') Nach der Vita zeigte man von ihm
Bilder (jzivdxta) in Mcgara, die aber nach
WiLAMowiTZ, Eur. Herakl. V 20 einem anderen
Eur. gehört hätten. Die Kunst in der Be-
schreibung von Bildern tritt im Ion 190 bis
218 glänzend hervor; vgl. Hec. 807 wg yga-
qevg t' (iiooraäEtg Idov fie xdvdl^gr/oor, Andrem,
fr. 125, Hypsipyle fr. 764. Über die An-
regung seiner Phantasie durch Malerei und
Plastik 8. J.A.Stricker, De tragicor. Graecor.
anachronismis, Amsterd. 1880, 30 ff. und J.
H. HuDDiLSTON, The attitude of the Greek
tragedians toward art, London 1898.
*) Vit. p. 2, 14 ff. Schw. Gellius läßt
XV 20, 4 den Dichter schon im 18. Lebens-
jahr Tragödien schreiben.
*) Erst 441 siegte er nach Mann. Par.
ep. 60 zum erstenmal.
•) Vita p. 1, 10 Schw.: dxovazrjg yevo-
fievog 'Ava^ayooov xai IToodUoi} xal UocoTa"
yogov xal 2!coxQdtovg izaioog; 3, 17. Cicero
Tusc. III 14: fuerat auditor Protagorae. In
Versen des Alexandres Aitolos bei Gellius
XV 20 heißt er 'At'a^ayoQOv rgoipiftog, auf
Anaxagoras scheint (nach Wilamowitz, Eur.
Herakl. I ^ 25 ; anders A. Schöne, Über die
Alkestis des Eur., Kiel 1895, 23) zu gehen Eur.
Ale. 903—910; s. Diog. Laert. 11 45; genaue
Übereinstimmung zwischen der Physik des
Anax. und der des Eur. findet allerdings nicht
statt (E. Rohde, Psyche IF 255 f.); über Be-
einflussung durch Diogenes von Apollonia F.
DüMMLER, Akademika, Gießen 1889, 140 ff.; E.
Rohde a. a. 0. 11*256, 1; durch Epicharmos
Wilamowitz, Eur. Herakl. P 29 A. An Prota-
goras (H.DiELS, Vorsokr.» S. 516 nr. 20) klingt
fr. 189 an ; ganz unsicher ist die von Th.Gomperz
vermutete Beziehung von fr. 588 auf ihn. Son-
stige Anklänge verzeichnet W. Nestle. Man
sieht, Eurip. hat wirklich sehr viel gelesen
(s. u. S. 331, 1). Auch die sophistische Rhetorik
wirkt stark auf ihn: Th. Miller, Euripides
rhetoricus, Gott. 1887; 0. Navakre, Essai
de rhetorique Grecque avant Aristote 76 f.
Über seine Kenntnis der Orphik A. Diete-
bich, Nekyia 101 ff. Auch mit Herakleitos'
Lehre wurde Eur. bekannt: s. Diog. Laert. II
22 und Eur. fr. 638. 833 (vgl. Heraclit. fr. 62
G. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripides.
181—182.)
331
nisse gab, so hat Euripides doch jedenfalls die Schriften dieser Männer ge-
kannt. Soll er doch, was wohl möglich ist, eine Bibliothek^) besessen haben.
Dem Sokrates war er befreundet und hatte seinen Beifall; Aelian v. h. II 13
erzählt, Sokrates habe selten das Theater besucht und nur, wenn neue Stücke
des Euripides zur Aufführung kamen.*) Selbst ein eifriger Anhänger des
Rationalismus und Verächter des alten Götterglaubens trug er durch seine
Tragödien mehr als jene Philosophen selbst zur Verbreitung der philo-
sophischen Aufklärung bei.*) Nicht unverdient war der Ehrentitel eines
Philosophen der Bühne.*) Dagegen hielt er sich von politischer Betäti-
gung fern;^) er verriet auch darin im Gegensatz zu Aischylos und Sophokles
den Dichter der Neuzeit. Nur in seinen Dichtungen nahm er lebhaft an
den politischen Tagesfragen teil, indem er namentlich in den Tendenz-
tragödien aus der ersten Hälfte des peloponnesischen Krieges jede Gelegen-
heit ergriff, um seine Vaterstadt zu Ehren iu bringen und gegen ihre
Feinde Stimmung zu machen.«)
182. Mehr als im Interesse der geschichtlichen Wahrheit wünschens-
wert, beschäftigte sich die Komödie mit den häuslichen Verhältnissen des
Euripides. Verheiratet war er zweimal; die erste Frau hieß Melito, die
D.), auch Phoen. 535 if. (Heraclit. fr. 94 D.);
Arist. ran. 1082. W. Nestle, Euripides der
Dichter der griechischen Aufklärung, Stutt-
gart 1901; ders., Untersuchungen über die
philosophischen Quellen des Euripides, Philol.
Suppl. 8 (1901) 557-655.
') Ath. 8a: Suidas setzt dafür den
jüngeren Euripides, über den unten. Über
Euripides' Bücherstudien spottet Ar. ran. 943,
1409.
*) Sokrates* Lehre, daß Tugend auf
Wissen beruhe, ist wiedergegeben Herc. 347.
Anekdotische Ausschmückung des Verhält-
nisses zu Sokrates zeigt Cic. Tusc. IV 63;
die alten Komiker behaupteten starke sokra-
tische Einflüsse auf Eur. (Teleclid. fr. 39. 40
K.; Ar. ran. 1491). Bei den Sokratikem war
Eur. besonders geschätzt (Plat. Phaedr.268c;
reip. VIII 568 a; Wilamowitz, Eur. Herakl. P
24, 44). Daß der nüchterne Ethiker Sokrates
gerade an dem Verismus des Dichters und
seiner Neigung zum Moralisieren Gefallen
gefunden habe, ist durchaus glaublich.
*) Von Beweisen, sind die Stücke des
Eur. voll ; besonders sprechend sind Hec. 799,
Ion 436—51, Iph. Taur. 385—91, Troad. 884
bis 888 (nach Diogenes von Apollonia), Belle-
rophon fr. 286 u. 292, Chrysippos fr. 839, Peir.
fr. 593, fr. ine. 912. 964. Daß Eur. die Lehren
des Anaxagoras auf die Bühne gebracht,
deutet Piaton Apol. 26 d an. Vgl. Lucian
lup. trag. c. 41. Bei einem Prozeß bezichtigte
ihn nach Arist. rhet. III 15 p. 1416 a 29 sein
Gegner der Asebie wegen des Verses Hippol.
612. Die Litteratur bei F. Ubebweo, Grund-
riß der Gesch. d. Phil. I (9. Aufl. Berl. 1903) 94.
*) 2£xtivix6^ qrdoöoqpog heißt er bei Ath.
158 e und 561a, Vitruv. VIII praef. 1, Sext.
Empir. adv. math. I 288, Clem. Alex. strom.V
P.688P., Orig. contr. Gels. IV 77. Vgl. Plat.
reip. VIII p. 568 a: ^ re Tgayc(>dia SXcog ao<p6v
öoxeX slvat xai 6 Evguiidrfg diaq>eQü)v ev avifj.
*) Von Aristoteles rhet. II 6 p. 1384 b 16
wird eine EvQtmdov djtoxoioig jrgog ^t^ga-
xoolovg erwähnt, was der Scholiast auf eine
sonst nicht bekannte Gesandtschaft bezieht.
Die Stelle ist von Wilamowitz, Herm. 34(1899)
617 auf den Politiker Heurippides (CIA II 73)
bezogen. Von einer Klage, die dem Dichter
ein gewisser Hygiainon durch das Anerbieten
des Vermögenstausches anläßlich einer zu
leistenden Liturgie anhängte, meldet Arist.
rhet. III 15 p. 1416 a 29. MTer in den antiken
jioXfic: ein eingezogenes Leben führte, brauchte
für Verunglimpfung nicht zu sorgen: daher
wohl die Verdächtigung des Euripides als
eines Misanthropen. Über seine politischen
Ansichten K. Schenkl, Z. f. östr. Gymn. 13
(1862) 357 ff. 485 ff.
•) So pries er Athen, indem er zum Teil
die alten Mythen ummodelte, als Schützerin
der Verfolgten in Med. Heracl. Herc. Suppl.
Phoen. Im Menelaos der Andromache (s.
Schol. z. Andr. 445) und des Orestes brand-
markte er die treulose Härte und Geldgier
der Lakedaimonier. Durch die Herakliden
wird das Bündnis mit Argos empfohlen.
Gegen die Demagogen und Volksschmeichler
sind gerichtet Hec. 254 ff., Suppl. 232 ff.
Wegen der im Kresphontes repräsentierten
Vaterlandsliebe preist den Dichter Lycurg.
adv. Leoer. 100. Die Stellen der Schollen,
in denen Beziehungen des Eur. auf Zeit-
geschichte notiert werden, in der Scholien-
ausg. von E. Schwabtz II 410.
332 Ghriechische LitteratnrgeBchichte. I. ElasBiaohe Periode,
zweite Choirine (v. 1. Choirile);^ aber mit beiden scheint er schlechte Er-
fahrungen gemacht zu haben. Die Skandalsucht wußte namentlich von
einem Famulus des Dichters, Kephisophon mit Namen, zu erzählen, mit
dem die Frau in ehebrecherischem Umgang gelebt habe.*) * Die Alten
führten auf diese ehelichen Mißhelligkeiten seinen angeblichen Weiberhaß
zurück, der die Frauen in den Thesmophoriazusen zur Verschwörung gegen
den Dichter bewegt. Von diesem Weiberhaß hielt jedenfalls Sophokles
nicht viel, wenn er einem, der ihm von dem Weiberhasser Euripides
sprach, witzig entgegnete: ^ ye raig Tgaycpdiaig, biei Iv ye xfj xklvf) (piko-
yvvr]g. Wie Euripides in den Ruf des Weiberhasses gekommen ist, ver-
steht man nicht recht; er hat ja manches Schlimme, aber auch viel Gutes
über die Weiber gesagt, und insbesondere in seiner Andromache und
Klytaimestra (s. bes. Tro. 647 ff., Iph. Aul. 1158 ff.) Ideale veredelter Weib-
lichkeit nicht des emanzipierten, sondern des guten alten ionischen Typus
verherrlicht. 3) Söhne hatte er drei: Mnesarchides, Mnesilochos, Euripides;
der erste von ihnen wurde Kaufmann, der zweite Schauspieler, der dritte
brachte hinterlassene Stücke des Vaters nach dessen Tod zur Aufführung.
Die letzte Zeit seines Lebens seit Sommer 408 brachte er am Hof des
musenliebenden Königs Archelaos von Makedonien (413 — 399) zu,*) der
damals die erwähltesten Geister Griechenlands an seine neue Residenz in
Pella zu ziehen suchte und außer Euripides auch den Tragiker Agathen
und den Dithyrambiker Timotheos zur Übersiedelung von Athen nach
Makedonien veranlaßt hatte.*) Vielleicht auf dem Weg dahin wurde er
^) Vita: yvvatxa ös yrifiai jrgwrfjv MektTO), | spielen Frauen Hauptrollen (E.Rohde, Griech.
öeinegar ^k Xotgiyrjv. Das Verhältnis um- . Rom.' 33 ff.)- Siö sind alle, zum Teil in
gekehrt bei Suidas, zu einer Bigamie ge- | starkem Gegensatz zu der mythischen Über-
staltet bei Gellius XV 20. Die Heirat mit | lieferung und in bewußter Kritik aischylei-
Choirine erklärt Wilamowitz, Anal. Eur., Berl. scher und sophokleischer Vorgänge (besonders
1875. 149 u. Eur. Herakl. P 7 für Fabel. An i Klytaimestra und Elektra als gute Haus-
Bigamie ist bei einem Dichter, der die Mono- frauen), innerhalb der Grenzen der yvvatxeta
gamic so nachdrücklich preist wie Eur. (Andr. ! aoext) nach antikem Begriff gehalten. Den
177. 215 ff. 469. 909; El. 1033 ff.), schwerlich , sophokleischen Typus der Heldenjungfrau
zu denken. | bildet er oberfläclüich in der aulischen Iphi-
^) Dieser Kephisophon gehört mit zum i geneia und der Makaria (Heraclid.) nach. Am
Haushalt des Euripides nach Arist. Ach. besten gelingt ihm das durch Verletzung
395 ff. ran. 1408. 1452. Vers 944 derselben | seiner Instinkte in Verzweiflung gebrachte
Komödie wird in den Scholien so gedeutet, i und zu unweiblichen Taten gesteigerte aus-
als ob Kephisophon dem Euripides geholfen ' gereifte Weib (Med., Hec).
habe, namentlich in den Liedern. Von dessen *) Vita p. 4, 1 Schw.; 3, 20 f.; Philodem.
Umgang mit der Frau des Dichters erzählt | de vitiis 10 p. 20 Sauppe; Solimis IX 15;
die Vita , wohl auch nach Witzen der Ko- i Lucian. de paras. 35 ; Paus. I 2, 2 ; Syucellus
mödie (Ar. fr. 580 K. ; Ps.Eur. ep. 5 weiß | p 500, 7. Von einem goldenen Becher, den
nichts davon). Ebendaher wird die Anek- der König beim Mahl dem verehrten Dichter
dote von dem Verhältnis des Dichters zur 1 schenkte, erzählt Plut. de vit. pud. 531 d. P.
Schaffnerin im Haus des Königs Archelaos | Giraro, Rev. des 6t. gr. 17 (1904) 154 ff.
stammen ; s. Hermesianax bei Ath. 598 d. I ^) Von einer Liebkosung des jüngeren
3} über Euripides' Stellung zu den Frauen liebenswürdigen Dichters Agathon durch Euri-
im ganzen I. Bruns, Vorträge u. Aufs., München pides erzählen Plut. amator. 770c und Aeliwi.
1905, 154 ff.; C. Lanzani in Ateno e Roma, 4 v. h. XIII 4, wahrscheinlich nach einer Schrift
(1901) 148 ff. 208 ff.; W. Nestle, Eur. 254 ff. des Peripatetikers Praxiphanes. Von einem
Verfehlt macht L. Bloch, N. Jahrbb. f. kl. Alt. , Zerwürfnis des Dichters mit einem Höfling,
7 (1901) 89 ff. den Eur. zum Vorkämpfer der , der den Dichter wegen des übelriechenden
Frauencnianzipation ; auchP. Masqueray. Rev. 1 Atems verspottet hatte, erzählen Aristot. polit.
des t^t. anc. 5 (1903) 101 ff. 234 ff. urteilt wohl V 10 p. 1311b 33 und Stobäus floril. 41, 6.
nicht ganz richtig. In allen seinen Stücken |
G. Drama. 2. Die Tragödie, d) Euripides. (§ 183.)
333
in Magnesia eine Zeitlang festgehalten und durch öffentliche Auszeich-
nungen gefeiert. 0 Wie Aischylos für Sizilien ein Lokalstück, die Aitnaiai,
gedichtet hatte, so dichtete auch er zu Ehren seines königlichen Gönners
den Archelaos, in dem er den regierenden König unter der Gestalt des
Ahnherrn der makedonischen Dynastie verherrlichte.^) In den Jahren 415,
412 und 408, in denen Stücke von ihm aufgeführt wurden (Tro., Hei., Or.),
muß er jedenfalls in Athen gewesen sein. In Arethusa bei Amphipolis
starb er im Frühjahr 406, noch vor dem Fest der großen Dionysien;
die Sage erzählte, Hunde des Königs hätten den Dichter zerrissen. 3)
Bei Amphipolis, am Zusammenfluß zweier Bäche, befand sich auch sein
Grab, das noch in später Zeit ein Wanderziel seiner Verehrer war.*)
In Athen riß sein Tod eine große Lücke,^) die auch sein erbitterter Feind
Aristophanes bereitwillig anerkannte. Seine Mitbürger ehrten ihn durch
ein Kenotaph, für das angeblich Thukydides oder Timotheos die Aufschrift
dichtete.^) Später fügten sie auf Antrag des Lykurgos die Ehre eines
ehernen Standbildes im Dionysostheater hinzu. Die erhaltenen Porträts
des Dichters'') zeigen den Tragiker in älteren Jahren mit spärlichem Haar
über der Stirn und mageren Wangen; die sympathische Physiognomie ver-
rät den herben Ernst eines grübelnden Deiters.
183. Werke des Euripides. Euripides hat außer einem Epyiikion
auf einen Wagensieg des Alkibiades (Plut. Ale. 11) und einer Elegie auf
die bei Syrakus gefallenen Bürger (Plut. Nie. 17)®) zweiundneunzig Dramen
*) VitÄ p. 2, 7 ScHW.; fAsriorij de h
Mayvrjaiq. (d. h. eig Mayvrjaiav) xat ngo^Bvlq,
htfiff^fj xai diFXsia; welches Magnesia ge-
meint sei, ist nicht angegeben. Auch an
dem Tyrannen Bionysios von Syrakus hatte
er einen enthusiastischen Bewunderer, der
aus seinem Nachlaß um hohes Geld Leier,
Griffel und Schreibtafel erstand (Hermippos
in der Vita p. 5, 14 Schw.). Bamit vergleiche
Plut. Nie. 29: mo< >cai dt* EvguiiSrjv söco^rjoav
fKxhoza yao tog ioixs töjv exzog *EXXrjvo)v esto-
ihföav avTOv xtjv fiovaav ol :tf.Qi ZtxsUav.
') Bamit steht nicht in absolutem Wider-
spruch Biomedes p. 488, 20 K.: Euripides
petenle Archeiao rege, %U de se tragoediam
scriberetf abnuit ac precatus est, ne accideret
Archeiao aliquid tragoediae proprium, osten-
dens nihil aliud esse tragoediam quam mi-
seriarum comprehensionem. Über den histo-
rischen Hintergrund der Sage, durch die das
makedonische Königsgeschlecht auf den dori-
schen Ahnherrn Temenos zurückgeführt wurde,
s. A. V. GüTscHMiD, Kl. Schriften IV 54 ff.
') Älteste Zeugen dafür sind Sotades
bei Stob. flor. 98. 9 und Biodor. XIII 103;
gegen ihre Richtigkeit spricht, daß Aristo-
phanes von ihr nichts weiß. Nach einer an-
deren bei Suidas und AnÜi. Pal. VII 51 er-
wähnten Fassung waren es Weiber, nicht
Hunde, die den Bichter zerrissen. Bie Todes-
art will eine Strafe für den daeßrjg mit An-
klängen an die Sagen von Aktaion, Orpheus,
Penti^eus ausdrücken. Benseiben Sinn hat
die Notiz Vit p. 3, 11 Schw., die Grabmäler
der E. seien beide vom Blitz getroffen worden.
Bie Traditionen stellt W. Nestle, Philol. 57
(1898) 184 ff. zusammen. F. Jacoby, Apollod.
Ghron. 259 führt die Nachricht von dem Tod
durch Hunde auf Philochoros zurück. Siehe
a. W. Hektz, Ges. Abb., Stuttg. 1901, 328 ff.
*) Ammianus Marcell. XXVII 4, 8: pro-
xima Arethusa convalUs et statio, in qua
visitur Euripidis sepulcrum, Vgl.Vitmv.VIIl
8, 16; Plinius n. h. XXXI 19, 28; Paus. 1 2, 2.
^) Nach Athen kam nach der Vita die
Nachricht vor dem Proagon der Bionysien.
«) Vit. Eur. p. 3, 5 Sohw. und Ath. 187 d.
Anth. Pal. VH 45. Auf Thukydides als Ver-
fasser führte wohl lediglich der Anklang an
Thuc. n 43, 3.
') Siehe die angefügte Tafel. Erhalten
sind uns von dem meistgefeierten und meist-
gelesenen Bichter mehrere Hermen und Sta-
tuen, in Rom und Neapel allein ein Butzend ;
s. E Q. Visconti, Iconogr. gr. 1 5, 8 ; G. Kbüger,
Arch.Ztg. 28 (1870) Taf. 26 und 1871 Taf. 1.
Als Ergänzung diene die Charakterisierung
der Vita: axir&ocojtog Öe xal avwovg xai
avortjQog itpaivero xai fjnö6ye.Xo>g xal fiiao-
yvvTjg . . . eXiyezo de xai ßa^v 7Z(oycova ^gs-
tpai xai im xfjg dtpecog qpaxoi'g eax^xsvai. Ar.
Thesm. 190 (a. 411) läßt den Eur. sagen
TtoXiog elfii xai jicjyoyv* ¥xm. Von seinem
übelriechenden Atem spricht die Vita und
Aristot. polit. V p. 1311b 33.
8) AUeRe8tebeiTH.BEBGK,PLGn*265f.
834
OriechÜMhe Litteratiirgeschichte. L ElasBiBclie Periode.
oder dreiundzwanzig Tetralogien verfaßt, i) Davon hatten sich in die
hellenistische Zeit achtundsiebzig Stücke gerettet,*) darunter acht Satyr-
spiele;') für unecht galten unter diesen ein Satyrdrama und die drei Tra-
gödien Tiwrjg, 'Padd/biay^g, üetgl^oog. Auf uns gekommen sind neunzehn
Dramen, darunter ein Satyrspiel, Kvxhotp, und eine Tragödie von zweifel-
hafter Echtheit, 'Pfjoog. Von diesen neunzehn Stücken wurden im byzan-
tinischen Mittelalter am meisten gelesen 'Exdßrj, ^Ogeatrig, 0olviaacu^) Unter
den erhaltenen Dramen befinden sich mehrere, wie MrjdHa, ^olvioacu, 'iTmö-
XvTog, Bdxxaif die sich schon im Altertum eines hohen Ansehens erfreuten;
aber viele andere sind weniger bedeutend und wurden von den Gramma-
tikern in zweite Linie gestellt.^) Damit scheint zusammenzuhängen, daß
die neunzehn Dramen, ähnlich wie die Reden des Lysias, aus zwei Samm-
lungen stammen, von denen die eine, vermutlich im 2. Jahrhundert v. Chr.
entstAnden, eine Auswahl von neun Stücken enthielt (Hec, Orest., Phoen.,
Hipp., Med., Ale, Andrem., Rhes., Troad.),®) die andere ehedem, als sie
noch vollständig war, sämtliche Stücke in alphabetischer Ordnung um-
faßte.''j Anklang fand Euripides mit seinen Tragödien bei dem athenischen
Publikum weniger als Aischylos und Sophokles: nach der parischen Marmor-
chronik (ep. 60) errang er erst im neununddreißigsten Lebensjahre unter
dem Archon Diphilos (441) den ersten Sieg, und im ganzen genommen
erhielt er nur fünfmal den ersten Preis. ^) In das rechte Fahrwasser scheint
er erst im Beginn des peloponnesischen Kriegs gekommen zu sein, als
der alternde Sophokles allmählich in den Hintergrund trat und er selbst
durch Anspielungen auf politische Zeitverhältnisse und durch Einflechtung
') Die Zahl schwankt in der Vita und
bei Suidas zwischen 92 und 98 infolge der
Verwechselung der Zahlzeichen ß und f/.
*) Varro bei Gellius XVII 4, 3 spricht
von 75 Stücken; die Abweichung kommt
wahrscheinlich daher, daß die einen die drei
unechten Tragödien einrechneten, die anderen
diese ganz außer Betracht ließen. Auf der
Rückseite der sitzenden Statue des Euripides
im Louvre ist ein alphabetisches Verzeichnis
von 37 Stücken bis 'ÜQeoxrjg geschrieben;
8. F. G. Wblckkr, Griech. Trag. 444 f. Ein
anderes gleichfalls verstümmeltes Verzeich-
nis in teilweise alphabetischer Ordnung findet
sich auf einem Stein des Peiraieus, bei
WiLAMOwiTz. Anal. Eur. p. 139 = CIA II 992.
Wir kennen, abgesehen von den 19 erhal-
tenen Stücken, Titel und Fragmente von
62 Stücken.
*) Wenn Euripides 23 Tetralogien und
doch nur 8 Satyrdramen dichtete, so erklärt
sich das daraus, daß, wie das Beispiel der
Alkestis zeigt, für ein Satyrspiel auch eine
Tragödie mit glücklichem Ausgang eintreten
konnte. Unter den uns bekannten Titeln
gehören, vom Kyklops abgesehen, sicher zu
Satyrspielen Autolykos, Busiris, Eurystheus,
Theristai. Sisyphos, Skiron (Reste einer Hypo-
thesis dazu Ämherst pap. II, Lond. 1901, 17),
Syleus. Diese sind (Vit. p. 4, 10 Schw.) alle.
die er geschrieben hat.
^) Man sieht aus dieser Auswahl und
der ähnlichen bei Aischylos, daß die Byzan-
tiner ein besonderes Gefallen am Pathetischen
und Schauervollen hatten und in engher-
ziger Prüderie Stücke mit Liebesszenen ver-
schmähten.
*) Von der Andromache lesen wir in
der Hypothesis x6 ÖQOfxa x(öv öevtegcov, da-
gegen von dem Hippolytos t6 dgäfia tcov
ngwTcov.
^) Es sind die Stücke, die uns in einer
Handschriftenklasse mit Scholien erhalten
sind. Auffällig ist, daß in diese Auswahl
ein unechtes Stück, der Rhesos, und ein
sonst wenig geschätztes, die Andromache,
Aufnahme fanden.
') Alphabetische Ordnung gewahrt man
in der Reihenfolge des Laur. 32, 2: 'Ekenj,
*HXextQa, 'HgixxXfjg, 'HoaxXelSai,''Icüv, 'Ixrttdeg,
*I<fiyevsia ; darüber Wilajiowttz, Anal. Eurip.
136 ff., der die ähnliche Ordnung auf dem
Stein des Peiraieus vergleicht.
®) Gellius XVII 4: Euripidem quogue
M, Varro ait, cum quinque et septuciginta
tragoedias scripserit, in quinque solis vicisse,
cum eum saepe vincerent aliquot poetae ignct-
vissimi. Unter den fünf Siegen ist nach
Suid. einer, der erst nach seinem Tod mit
einem seiner Stücke gewonnen wurde.
G. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripidea. (§ 183.)
335
sophistischer Weisheit der bewunderte Liebling der jüngeren Generation
wurde. ^) Um so heftiger befehdeten ihn freilich jetzt als den StimmfÜhrer
des neuen Zeitgeistes die Dichter der Komödie, von denen namentlich
Aristophanes ihn erbarmungslos bei jeder Gelegenheit, insbesondere in den
Acharnem, den Thesmophoriazusen, den Fröschen verspottet hat.*) Aber
der Geschmack an Rhetorik, am Überraschenden, Pathetischen, Rührenden,
an Moralistik und philosophischer Aufklärung gewann in dem Geistesleben
der Griechen immer mehr die Oberhand, und so fand auch Euripides nach
seinem Tod bei Aristoteles Anerkennung, ä) bei den Dichtem der neuen
Komödie, wie Menandros und Philemon, aber begeisterte Bewunderung.*)
Von den Griechen der späteren Zeit ging dann die Vorliebe für ihn auf
die Römer über, so daß Ennius, Pacuvius, Accius, Seneca sich hauptsäch-
lich ihn zum Vorbild nahmen.*) Auch bei den Philosophen, namentlich
dem Stoiker Chrysippos«) und dem Akademiker Krantor') stand er in
hohen Ehren, und auf die bildende Kunst hat er wie kein zweiter Dichter
des Altertums befruchtend eingewirkt.®) Sein Ansehen erhielt sich im
Mittelalter;^) auch in der neueren Zeit ward die Aufmerksamkeit der Ge-
lehrten und Schöngeister, die erst durch Vermittlung des römischen Tra-
gikers Seneca die griechischen Meister kennen lernten, zuerst auf Euripides
.gelenkt, so daß er vor Aischylos und Sophokles Eingang in die moderne
Litteratur fand.i<>)
*) aoqxoxaxov nennt den Euripides der
Vertreter der Jagend Pheidippides in Aristoph.
nub. 1377 (vgl. 1369); Lys. 368; ran. 776.
1413; Aeschin. I löl. In allen diesen Stellen
hat das von Euripides selbst (Schol. Med. 665)
so gern gebrauchte Wort awpog einen ironi-
schen Beigeschmack, und so hat es vielleicht
auch der delphische Grott in dem bekannten
Orakelspruch (falls die Fassung bei den Scho-
liasten zu Plat. Ap. 21 a und Ar. nub. 144
echt sein sollte) gemeint
') Heimgezahlt hat Euripides den Ko-
mikern ihren Spott durch die bitteren Verse
in der zweiten Melanippe fr. 495:
avÖQWV de jtoXXoi tov yikcoTog ovvexa
äoxovoi x^Qixag xegTÖfwvs, iya) de Ttcog
fiiacj ysXoiovg, oixivfg ocKpiav negi
dxdXiv* fxovoi OTOfiaxa xrl.
Die Gründe der Abneigung gegen Eur. lehren
am besten die Verse des Ar. ran. 830 ff. und
die bei E. Scitwabtz, Schol. Eur. II 404 f.
gesammelten ästhetisch-kritischen Gramma-
tikemotizen kennen. Alle Stellen des Ari-
stoph. gegen Eur. gibt A. Nauck, Eurip. I '
praef. XL n. 86. 87.
») Arist.poet.p. 1453 a 29: 6 EvguriSrjg
ei xai rä äkka fxrj ev oixovojueJ, dXXa rgayi-
xwratog ye nor jiotrjKov rpaivexai.
*) Philemon (fr. 40a K.) ließ in einem
Lustspiel einen Freund des Eur. sagen: el
xalg cdT^&eiaiotv oi xeOvrjxoxeg ato&rjotv eT^ov,
ävdgeg oyg qpaoiv xiveg, djrtjy^dfjtr^v äv, ojax*
iSeiy EvQuitSrjv; s. a. Diphil. bei Ath. 422 b.
QuintiL X 1, 69: Euripidem admiratus tna-
xime estf ut saepe testatur, et secutus Menander,
^) Siehe auch die Zeugnisse bei A. Müllbb,
Griech. BOhnenaltertümer 390, 5; wenn in
hellenistischer Zeit eine naXaid wiederauf-
geführt wird, so ist es in der Regel ein Stück
des Euripides (U. Eöhlbr, Mitt des ath. Inst
3, 1878, 116, A.Wilhelm, Urkunden 40). Euri-
pidespapyri sind besonders häufig (s.u.S.366).
Über den Geschmackswechsel seit dem ersten
Jahrh. v. Chr. s. o. S. 326 und Auct. -t. vy».
15, 3. 40, 2. Den Umschwung bereitet schon
Accius vor, der als erster sich auch an äschy-
lelsche und sophokleüsche Stoffe wagte, viel-
leicht weil die euripidelschen ausgeschöpft
waren.
•) E. Weber, Leipz. Stud. 10 (1888) 210;
in den Florilegien ist Eur. besonders aus-
gebeutet worden.
') Diog. L. IV 26.
®) K. J. Vogel, Szenen euripideischer Tra-
gödien in griechischen Vasengemälden I, Leipz.
1885; J. H. HüDDiLSTON s. o. S. 330, 3. Wila-
MOwiTz, Eurip. Herakl. P 170; F. Wintbb,
Jahrb. des arch. Inst 6 (1891) 271 ff.
*) Ein Cento euripideischer Verse ist
das mittelalterliche Drama Xgtoiog jtdaxcovt
was am ausführlichsten von J. G. Brajcbs in
der neuen Ausgabe des Stückes, Lips. 1885,
nachgewiesen ist. — Eine Schöpfung des
M. Musuros ist das im Cod. Pal. 287 ent-
haltene Stück einer Danaö (R. Wünsch,
Rhein. Mus. 51, 1896, 138 ff.).
'0) Viele Leser fanden insbesondere die
lateinischen Übersetzungen der Hecuba und
336 Oriechische Litteratnrgeschiohte. L ElassiBche Periode.
184. Chronologie der Dramen. Bestimmte, aus den Didaskalien
geschöpfte Angaben über die Zeit der Auffährung haben wir nur von
wenigen euripideischen Tragödien; nach ihnen wurden aufgeführt die
Peliades bei dem ersten Auftreten des Dichters im Jahr 455/) Alkestis^)
zusammen mit Kressai, Alkmeon in Psophis und Telephos 438, Medeia
mit Philoktetes, Diktys und Theristai 431, Hippolytos stephanephoros
428, Troades mit Alexandres, Palamedes und Sisyphos 415, Helena und
Andromeda 412,«) Orestes 408,*) Iphigeneia in Aulis, Bakchen und
Alkmeon in Korinth nach des Dichters Tod.*) Im übrigen sind wir zur
Bestimmung der Abfassungszeit auf Kombinationen, hauptsächlich aus der
metrischen Form, den politischen Anspielungen und den Parodien bei Aristo-
phanes^) angewiesen. In erster Beziehung ist wichtig die Beobachtung
G. Hermanns,^) daß Euripides in seiner letzten Periode von Ol. 90 an (um
418) archaisierend den trochäischen Tetrameter neben dem iambischen
Trimeter in die Dialogpartien wieder einführte und in der Auflösung der
Längen,®) sowie im Gebrauch des vielgestaltigen (poly schematischen) Gly-
koneus eine größere Freiheit walten ließ. Auch in der Wahl der Stoffe
zeigen sich bemerkenswerte Unterschiede in den verschiedenen Lebens-
perioden des Dichters. Während er anfangs (etwa 455 — 431) vorzugsweise
durch neue Stoffe (Rhesos?, Alkestis, Alkmeon, Medeia) Interesse zu gewinnen
trachtete, versuchte er in der ersten Hälfte des peloponnesischen Krieges
sein Glück mit Tragödien, die zu Anspielungen auf die politischen Zeit-
verhältnisse in attisch-patriotischem Sinn Gelegenheit boten (Herakleidai»
Andromache, Herakles, Hiketides, Ion) und kehrte in der dritten Periode
seines Schaffens wieder zu den alten Mythen zurück, aber in der Art, daß
er in ihrer Behandlung teils in Einzelheiten von seinen Vorgängern, nicht
ohne polemische Seitenhiebe,^) abwich (Elektra, Phoinissai, Orestes), teils
eine ganz neue, in fremde Länder schweifende Romantik hereinbrachte
(Helena, Andromeda, Iphigenia Taurica). Nach diesen und ähnlichen Ge-
sichtspunkten ^ö) hat man die Chronologie der euripideischen Stücke zu
fixieren gesucht ;*0 wiewohl die gewonnenen Ergebnisse nicht in allem ein-
der aulischen Iphigeneia von D.Erasmus (1507) 1 751, gegen Aischylos und Sophokles El.
und die Excerpta e tragicis et comicis von | 530 u. 872» Anüg. fr. 165.
Hugo Gbotius (1626). ^®) Ein wichtiges Anzeichen sind die
*) Nach der VitÄ p. 2, 14 ff. Schw.; die Wiederholungen, worüber F. Schröder, Deite-
folgenden Zeugnisse stehen in den Hypo- ' ratisapudtragicosgraec, Straßb.l882(=Di8S.
theseis der betreffenden Stücke. phil. Argent. 6, 1882, 129 ff.). Anzeichen von
*) Alkestis war das 17. Stück, was sich Entwicklung in der Prologtechnik bemerkt H.
wahrscheinlich auf eine chronologische, schwer- v. Arnim, De prologorum Euripideor. arte et
lieh auf eine alphabetische Anordnung der Interpol atione, Greifsw. 1882. Sprachliche Be-
stücke bezieht; vgl. o. S. 334, 2. | obachtungen, die ohne Zweifel weiter fördern
3) Schol. Aristoph. Thesm. 1012 u. 1060. würden, sind noch lange nicht genug ge-
*) Schol. Orest. 371. macht, freilich in Eiinanglung eines Spezial-
^) Schol. Aristoph. ran. 67. lexikons zu Eur. auch sehr erschwert; einiges
®) Vor 425 fallen den Anspielungen in bei H. Tietzel, De coniunctionum temporal.
Ar. Ach. nach ülvns u. 4>oX%i^. usu Euripidoo, Bonn 1885. Im ganzen vgl.
^) G. Hermann, Elem. doctr.metr., Leipz. Wilamowitz, Eurip. Herakl. P 348 ff.
1816 p. 88 f. **) H. ZiRNDORFER, De chj;onologia fabu-
^j C. F. W. Müller, De pedibus solutis, larum Eur., Marburg 1839; Th. Fix, Chron.
Berl. 1866 p. 42 ff. fab. Eur., vor der Didotschen Ausg., Paris 1843,
*) Seitenhiebe gegen Aischylos Phoen. und besonders Wilamowitz, Analecta Eur.
G. Drama» 2. Die Tragödie, d) Enripides. (§ 185.) 337
zelnen sicher sind, wird hier doch die wahrscheinliche Zeitfolge der An-
ordnung der einzelnen Dramen zugrunde gelegt.^)
185. ^AXxrioxig wurde 438 an vierter Stelle, also anstatt eines Satyr-
dramas aufgeführt. Zu dieser Stellung stimmt die burleske Erzählung des
Dieners von der Ungeniertheit und Gefräßigkeit des Herakles (747 flf.), der
eine besonders beliebte Figur des Satyrspiels war, und der glückliche Aus-
gang der Handlung, indem Alkestis, die junge Gattin des Admetos, die allein
für ihren Mann zu sterben bereit war, von Herakles den Armen des Tha-
natos wieder abgerungen wird.*) Die Sage war schon bei Hesiod (fr. 126.
127 Rz.) behandelt, aber in ernsthaftem Sinn, ohne Einmischung des
Herakles, den — und mit ihm den burlesken Ton — bereits Phrynichos
hereingebracht hatte (auf ihn muß wohl Phryn. fr. 2 bezogen werden).
Der Gegensatz zu dem starken Hans führte nun vermutlich dahin, den
Admetos zu einer fast komischen Janmierfigur umzubilden, dessen thessa-
lische Gastfreiheit bis zu tölpelhafter Übergefälligkeit gesteigert wird; die
Auffassung des Admetos als eines Schwächlings lag nahe, sobald die Frage
gestellt wurde, wie denn ein Mann das Opfer des stellvertretenden Todes
von seiner Frau annehmen könne; der Stoflf ist auch später noch komisch
behandelt worden von Aristomenes, der 388 einen Admetos aufführte,^)
und von Antiphanes in einer Alkestis. Vielleicht stellt das euripideische
Stück einen Versuch dar, an Stelle des Satyrspiel-Exodiums ein solches
mit einer Märchenkomödie (denn Märchenzüge sind die Opferung der Frau
für den Mann und der Kampf mit dem personifizierten Tod) zu setzen, und
gibt somit einen Beweis für die Einwirkung der sizilischen Märchenkomödie,
die sich um dieselbe Zeit auch auf der komischen Bühne Attikas geltend
macht. Ein künstlerischer Mangel des euripideischen Stückes ist nur, daß
es in zwei unvermittelte Teile, einen ganz ernsthaften Anfang und einen
burlesken Schluß auseinanderfallt. Die ernsthaft sentimentale Darstellung
des Stoffs im Text zu Glucks Oper und in der von Goethe so übel mit-
genommenen*) Wielandschen Alceste ist durchaus modern. Von den Dramen
des Euripides war die Alkestis nach der Didaskalie das sechzehnte (oder
p. 172 ff. Die wahrscheinliche Folge ist: : Pulcinella, Leipz. 1897, 69 f. der richtig den
Alkestis (438), Medeia (431), Hippolytos (428), burlesken Charakter auch des Phrynichos-
Hekabe, Andromache, Herakleidai, Herakles, Stückes betont. Gekünstelt ist der Versuch
Hiketides, Troades (415), Kyklops, Iph. Taur.. von L. Bloch, Ajkestisstudien (N. Jahrbb. f.
Ion, Elektra, Helena (412), Phoinissai (zu
diesen nennt die Hypothesis p. 244, 14 Sohw.
den Archontennamen Nausikrates, den es aber
klass. Altertum 7, 1901, 39 ff. 113 ff.), die
Alkestis als wirkliche Tragödie, eine Art
griechischen Fidelio, zu verstehen, und sehr
nicht gegeben hat; vgl. A. Wilhelm, Urk. bedenklich dessen weitere Kombinationen
dramat. Aufführungen 62), Orestes (408), i (S. 120 ff.) über die Abfassungszeit des
Bakchai und Iph. Aul. j Stückes.
*) Gruppierung der Stücke nach den ! ^) Arg. Ar. Plut. Einen anderen burlesken
poetischen Motiven H. Weil, Et sur le drame ' Zug aus der Admetossage berührt schon
ant. 115 ff. Aesch. Eum. 717 f. K.
«) Arg. Ale. p. 214, Uff. Sohw. to dh \ *) .Götter, Helden und Wieland* (ge-
ÖQdfja x(ofttxo)TEgav Fj^et zr/v xazaaTQo<ptjv. schrieben 1774 bei einer Flasche guten Bur-
A. Schöne, Über die Alkestis des Euripides, gunders in einer Sitzung; vgl. A. Stein-
Eiel 1895, hält unser Stück schwerlich i berger, Goethe und die Alkestisfirage, Bayr.
richtig für eine Parodie der Alkestis des | Gym.Bl. 25 (1889) 24 ff.
Phrynichos. Gegen Schöne s. A. Dibtbbioh, |
Handbaeh der klass. AlUrtumswissenschaft. VII. 5. Aufl. 22
338 Grieohisohe LitteratnrgeBchichte. L Klassische Periode.
siebzehnte) Stück J) Bei der Einfachheit der Handlung hatte in ihr der
dritte Schauspieler noch eine sehr untergeordnete Rolle.*)
186. Die Mi^deiGj mit der Euripides seinen dankbarsten und in der
Weltlitteratur wirksamsten^) Stoff ergriffen hat, wurde nach der Hypothesis
431 als erstes Stück der Trilogie zusammen mit Philoktetes, Diktys und
dem Satyrspiel Theristai*) aufgeführt. Die Tragödie ist benannt nach der
Hauptheldin, der düsteren Zauberin aus dem Kolcherland. Aus ihrem
Mythus hatte Euripides schon zu seiner ersten Tragödie, den Peliaden,
den Stoff genommen. Aber während er dort ebenso wie Sophokles in den
^PiCoTÖjuoi einfach der Sage folgen konnte, mußte er hier erst die alte
Überlieferung umformen, um den Boden für eine Tragödie zu gewinnen.
Schon in der alten Sagengeschichte Korinths spielte der Medeiamythus eine
Rolle, insofern als Aietes, der Vater der Medeia, von Korinth aus nach
Kolchis gewandert sein sollte (Schol. Pind. 0. 13, 74); dann hatte bereits
der korinthische Epiker Eumelos nach Paus. H 3, 8 von der Herrschaft
lasons in Korinth und seiner Entzweiung mit Medeia, der er die Herr-
schaft verdankte, erzählt; dem hatte Kreophylos*) die Sage von der Er-
mordung des Königs Kreon durch Gift und von der Flucht der Medeia
beigefügt (Schol. ad Med. 264). Von den Kindern war erzählt, Medeia habe
sie immer sogleich nach der Geburt im Heraheiligtum verborgen, in der
trügerischen Hoffnung, sie dadurch unsterblich zu machen; als lasen dies
entdeckte, sei er grollend nach lolkos zurückgekehrt, und auch Medeia
habe, die Herrschaft an Sisyphos abtretend, Korinth verlassen. Erst in
der Tragödie ermordet die Mutter ihre eigenen Kinder, um sich an dem
treulosen Gemahl, welcher der reichen Königstochter zuliebe die unglück-
liche Gattin verstoßen hatte, in furchtbarer Weise zu rächen. Diese ent-
setzliche, von Eifersucht und Rachedurst eingegebene Tat, die mit den
Kindern zugleich die von den Geschenken der Nebenbuhlerin«) betörte
junge Frau des lasen mit ins Verderben riß, hat Euripides zum Mittel-
punkt der Tragödie gemacht. Die Sage bot ihm eine ausgezeichnete
Gelegenheit, Übermenschentum durch psychologisch motivierte Leidenschaft
zu ersetzen, und so darf Medeia als seine lebensvollste Heroine bezeichnet
») Vgl. S. 336, 2. menti figurati, Neapeler Dies. 1906, Berl.
*) A. Müller, Scenische Fragen zur AI
cestis des Euripides, Progr. Hannover 1860.
Derselbe, Bühnenalt. 173, A. 3 sucht den
Schauspielerbedarf für die Alk. auf zwei
nebst einem Nebensänger zu beschränken.
«) Über M. in der Weltlitteratur L. Mal-
LiNOER, Medöe, ^tude de litt^rature compar^e,
Louvain 1897. In der römischen Litteratur
gab es Medeatragödien von Ennius, Pompeius
Macer, Ovidius, Seneca und Osidius Geta.
Eine von der euripideischen verschiedene
Medeia parodiert Ar. pac. 1012 ff.; eine andere
sucht A. Körte, Berl. pliilol. W.schr. 18 (1898)
1462 aus einer Münchener Vase zu rekon-
stniieren. — Über die Einwirkung der Medeia-
sage auf die Malerei imd Plastik F. Wbege,
philol. W.schr. 27 (1907) 513 ff.
*) Euripides erhielt den dritten Preis:
erster war Euphorion, zweiter Sophokles. Der
Philoktetes war ein bewundertes Stück, über
dessen Anlage wir durch den Rhetor üion
Chrysost. or. 52 u. 59 Aufschluß erhalten;
vgl. S. 320 f. Daß auch der Diktys, der in
die Perseussage eingriff, viel gelesen wurde,
zeigen die zahlreichen Fragmente. Die ße-
giorat waren nach der Didaskalie schon zur
Zeit des Grammatikers Anstophancs verloren.
^) Vermutlich der von Ath. 361 c er-
wähnte Verfasser von ^E<feoiwv wooi, s. Wila-
MowiTZ, Herm. 15 (1880) 485ff.;"M. Gröoer,
De Argonauticarum fabularum historia, Diss.
Vratisl. 1889, p. 22 ff.
in einer Besprechimg von F. Gaxli, Medea i •) Über das Motiv vom vergifteten Ge-
corinzia nella tragedia classica e nei monu- | wand s. J. Lunak, Philol. 51 (1892) 739 f.
C. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripides. (§ 186.) 339
werden. In Begründung der inneren Antipathie zwischen lason und Medeia
ist F. Qrillparzer tiefer gegangen und hat einen von Euripides hingewor-
fenen Zug (V. 1339) zum Angelpunkt seiner Tragödie gemacht. Den
Ausgang der erschütternden Handlung, die Flucht der Medeia, nahm Euri-
pides wieder aus dem alten Mythus; er erfand nur die besondere Richtung
der Flucht nach Athen und ließ zu ihrer Vorbereitung schon in der Mitte
des Stückes (663 — 758) den König Aigeus auf dem Heimweg von Delphoi
mit Medeia zusammenkommen.^) Ob er damit zugleich das ehrliche und
bundesfreundliche Verfahren der alten Athener gegen Korinth hervorheben
(723 — 730) und in stillschweigenden Gegensatz zur Feindseligkeit der
Korinthier beim Ausbruch des peloponnesi sehen Krieges setzen wollte, ist
fraglich; jedenfalls aber spielt bei diesem Motiv ein patriotischer Neben-
zweck mit, der sich auch in dem Lob Attikas (824 flf.) verrät.*) Stofflich
bildet die Fortsetzung der Tragödie der Aiyevg, in dem Medeia in Athen
als ünheilstifterin und Qiftmischerin auftrat. — Eine Wiederaufführung
bei den Heräen in Argos in hellenistischer Zeit ist inschriftlich bezeugt.*)
— Die uns erhaltene Medeia hält nach früheren Vorgängern N. Wecklein*)
für die Umarbeitung einer älteren, von der mehrere, ehemals als Parallelen
an den Rand geschriebene Verse in den Text unseres Stückes gekommen
seien.*) In frühperipatetischer Litteratur (bei Dikaiarchos und dem Ver-
fasser der dem Aristoteles zugeschriebenen Hypomnemata) tritt die Be-
hauptung auf, Euripides habe sich die Medeia des Neophron von Sikyon
angeeignet und diese umgearbeitet. Aristoteles hat davon nichts gewußt,
wohl aber an der euripideischen Medeia einige Ausstellungen gemacht
(s. u. A. 1), die dann von dem Kommentator Timachidas (Argum. Eur. Med.
extr.) vermehrt wurden und gegen die Didymos (Arg. 1. 1.; Schol. Med. 167)
den Dichter zu verteidigen suchte. Die Ausstellungen des Aristoteles ver-
anlagten wohl einen dem peripatetischen Kreis nahestehenden Dichter aus
der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, Neophron, zu einer verbessernden
Neubearbeitung^) des Medeiastoflfs; zu dieser gehören die drei uns in den
Medeiascholien und bei Stobaios erhaltenen Fragmente von Neophrons Medeia;
das erste verbessert augenscheinlich einen von Aristoteles gerügten Fehler
Dittographien unseres Textes (V. 723. 724.
729. 730 = 735-8; 798—810 = 819—23;
1231 f. = 1233—5) können aber (Wilamo-
wiTZ, Herrn. 15, 1880, 488 flf.) auf den Zwiespalt
der Textüberlieferung zurückgeführt werden.
®) Suidasu. Neöqpgcov; Diog. Laert.ll 134.
Argum. p. 138, 8 Schw.: to dgäf^a öoxeX vjzo-
ßaXeo^at jzaga Nsocpoovog {jtavat6(pQOVog cod.
Pal. 287) diaoxevdoag, cog Aixaiagxog .^egi xov rfjg
*) Philol. 60 (1901) 441. i 'EUdÖog ßiov xai "AQiatoxürjg iv vjto^tvrjfmotv.
*) Ausgew. Tragödien des Eur. I (Leipz. j Neuerdings haben sich in dem Londoner Pa-
1874) p. 25 f. Die Hypothese ist, im Zu- \ pyrus Nr. 186 Reste des Anfangs einer nach-
sammenhang mit anderen Inkredibilien, wieder | euripideischen Medeia gefunden, die W. Cbö-
aufgenommen von L. Bloch, N. Jahrbb. f. kl. nert, Archiv f. Pap. 3 (1906) 1—5, publiziert
Alt. 7 (1901) 20 flf. ^ und ohne alle Wahrscheinlichkeit (C. Fbies,
0 Der Tadel des Aristoteles poöt. 1461b
22 : oo&rj de ijziTifAtjoig xai aXoyUf, xai /iox&tjqÜ},
oxav ^li] dvdyxrjg ovorjg /irjöev ;uß»Jöi/ra< tö)
dXoyo), moTiSQ EvQuzidtjg rc^ AlyeX bezieht sich
ohne Zweifel ebenso wie der ibid. 1454 b 1
auf die Medeia.
^) Moralische Deutungen der Medeiafabel
Epist. Pythag. 5, 7 Hsbcher und Liban. or. 64,
HOF.
^) Der ersten Medeia könnte man die
Verse in Schol. Arist. Ach. 119 und Ennius
Med. bei Cic. ep. ad fam. 7, 6 zuweisen. Die
N. Jahrbb. f. klass. Altert. 13, 1904, 171) dem
Neophron zugeschrieben hat.
22*
340 Griechische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
des Euripides, indem es die Ankunft des Aigeus besser motiviert; das
zweite stellt sieh als eine Kürzung und Vereinfachung des großen Medeia-
monologs bei Euripides 1021 flf. dar. Möglieherweise ist der voreuripi-
deische Neophron nur eine Mystifikation, zu der die Peripatetiker durch
den Neophron des 4. Jahrhunderts und seine verbesserte Medeia angeregt
wurden. Sehr fragwürdig ist jedenfalls die Notiz bei Suidas über diesen
Neophron, er habe zuerst Pädagogen und Folterung von Sklaven auf die
Bühne gebracht; das paßt eher auf einen Komiker, und daß hier eine Ver-
mischung von ünzusammengehörigem stattgefunden habe, wird auch durch
die enorme Zahl von hundertzwanzig Stücken, die Suidas dem Neophron
zuschreibt, wahrscheinlich gemacht.*)
187. Der 'InjiöXvrog^ im besonderen 'LmoXvtog arefpavtjq^ÖQog*) genannt,
hat als erotisch-pathologische Tragödie große Verwandtschaft mit der
Medeia und wurde bald nach ihr im Jahr 428 mit durchschlagendem Er-
folg aufgeführt.*) Wie dort die wilde Rachsucht eines gekränkten Weibes,
so bildet hier die verzehrende Glut unerlaubter Liebe den Angelpunkt der
Tragödie. Der Stoff ist der attischen Sage entnommen unter Anknüpfung
an den lokalen Kult des Heros Hippolytos in Troizen und das Heiligtum
der Aphrodite iq^' 'IjutoXikcp am Südabhang der athenischen Burg.*) Der
Mythus von der verbrecherischen Liebe der Phaidra, der Gemahlin des
Theseus, zu ihrem Stiefsohn Hippolytos und von dem tragischen Ende des
von seinem Vater verfluchten Sohnes hatte auch Sophokles angezogen,*)
und es war von Euripides selbst schon einmal vor 428 behandelt worden, ö)
Zugrunde liegen drei volkstümliche Motive: das Potipharmotiv, das Motiv
vom spröden Jäger') und das von der Liebe zwischen Stiefsohn und Stief-
mutter, das z. B. auch Schiller im Don Carlos verwendet hat.®) Der Titel
*) Die Fragmente des Neophron haben ■ /ovrog 6Xv/n^iddt jiC hei 6'. jiQoJrog EvQinidrjs,
ganz den Versbau der Dittographien des äl- i öevregog 'Ioq^(ov, tgirog "Iwv.
teren Euripides. Vgl. 0. Ribbeck, Leipz. Stud. *) Nähere Nachweisungen bei N. Weck-
8 (1885) 386 ff. Ganz verfehlt ist der Versuch i lein in der Einleitung seiner Ausgabe und
von N. Wecklein, die Neophronfabel mit seiner | Wilamowitz, Ausg., Berl. 1891, 23 ff.
Umarbeitungshypothese zu verquicken, indem i *) Ob die Phaidra des Sophokles Älter
er Ncophrons Medeia zwischen die erste und sei als der Hipp., darüberhaben wir keine Zeug-
die zweite Ausgabe der euripideischen hinein- ' nisse; Wilamowitz, Herrn. 18 (1883) 239 und
stellt. An der Ansicht, daß unsere Medeia | Hippol. 57 hält sie wohl richtig für jünger,
eine Bearbeitung der Neophronschen sei, hält , *) Der erste Hippolytos {xa).vjzt6f4n'og
H. Weil in seiner Ausgabe (Paris 1899) fest. genannt, weil sich H. vor den Zudringlich-
— Eine Szene der Medeia auf einem Wand- I keiten der Phaidra verhüllt, wie umgekehrt
gemälde von Pompeji s. A. Baumeister, Denk- in dem erhaltenen Stück 244 f. Phaidra tut;
mäler III nr. 1948. Weitere Nachweisungen j der Titel PoU. IX 50 und Schol. Theoer. id.
über M. in der bildenden Kunst in der Einl. zu 2, 10) wurde zugleich mit Aigeus und The-
N. Weckleins erkl. Ausg. Von anderen Medeia- seus gegeben ; s. Wilamowitz, Herm. 15 (1880)
Vorstellungen haben wir Spuren auf Vasen, 1 483 und Ausgabe 42 ff. Zur Rekonstruktion
worüber E. Bethe, Proleg. z. Gesch. d. griech. des Inhalts sind Sen. Phaedr. u. Ps.Ovid. He-
Theat. 147 ff. — Über Wiederaufführung der roid. 4 zu verwenden (E. Hilleb, De Soph.
M. in hellenistischer Zeit R. Hebzoo, Philol. ' Phaedra et de Eur. Hippol. priore in Liber
60 (1901) 441. miscell. edit. a soc. philol. Bonnensi 1864,
*) oiFfpai'iac; oder SevreQog heißt er in | 84 ff.; A. Kalkmann, De Hippolytis Euripidis
der Hypothesis; den Grund des Titels lehrt ; quaest. novae, Bonn 1881).
V. 73 ff. „Der von Rossen Zerrissene* deutet
den Namen S. Reinaoh, Arch. f. Religions-
wissensch. 10 (1907) 47 ff.
') Argum. idtödxOtj i:ii 'Ejtaf^eivovog äg-
^) Vgl. über das zweite Ar. Lys. 781 ff.
und über seine Verwendung in der Elegie F.
Skutsch, Aus Vergils Frühzeit I, Leipz. 1901, 15.
^) Auch der Gegenstand von Eurip. 4*ohH$
C. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripides. (§ 1B7.)
341
Phaidra, den Sophokles seiner Tragödie gab und den wieder aus Seneca
Racine aufgriff, zeigt, daß diesem Dichter der weibliche Charakter die
Hauptsache war. Man darf wohl vermuten, daß zuerst Euripides im 'Injid-
XvTog xaXvTttojuevog die Phaidra zum Typus weiblicher ävaiaxvvria aus-
gearbeitet hatte, daß dann Sophokles in seiner Art darzustellen versuchte,
wie die Heldin auch in der qualvollen Kollision zwischen Naturtrieb und
ehelicher Pflicht ihre heroische Haltung nicht preisgebe, und daß, an-
geregt durch die Leistimg des Sophokles, nun auch Euripides im iTuioXvxog
oT€(pavrj(p6Qog den Charakter der Phaidra modifizierte. Auf der einen Seite
malt er hier in meisterhafter Weise die seelischen Leiden des unglücklichen
Weibes: die unerwiderte Leidenschaft reibt sie körperlich und sittlich auf;
sie wird zur lügnerischen Verleumderin, die durch ihren Brief mit den
falschen Anschuldigimgen gegen ihren Stiefsohn Hippolytos diesem den
Fluch des Vaters Theseus und die Vollstreckung des Fluches durch den
göttlichen Ahnherrn Poseidon zuzieht. Im Bewußtsein ihrer Schuld er-
hängt sie sich, aber es ist klar, daß der Dichter ihre Schuld durch ein-
gehende Darlegung ihrer seelischen Notlage auf ein Minimum herab-
gesetzt, ja ihr vermöge ihres heldenhaften Ankämpfens gegen die über-
wältigende Leidenschaft Sympathie (s. bes. 1299 ff.) geworben hat. Ihr
gegenüber ist Hippolytos, der spröde, keusche Diener der Artemis Aidcog^ *)
den Euripides, der Wahl des Titels nach, als Hauptfigur angesehen wissen
will, nicht durchaus mit sympathischen Zügen ausgestattet: die mystische
Färbung seiner privaten, sich geflissentlich absondernden Religion ist in
den Augen des Dichters offenbar (V. 952 ff.) kein Lob; außerdem ist die
pharisäische Selbstgefälligkeit des Jünglings stark betont (991 ff.). Gleich-
wohl kann auch von einer Verschuldung des Hippolytos nicht die Rede
sein — er muß seiner festbestimmten Naturanlage nach handeln, wie er
tut. Wir sehen mit dieser Zurückdrängung der Schuldmotive*) den Dichter
in sophoklei'schen Bahnen wandeln, und es ist bezeichnend für den Geschmack
des attischen Publikums anfangs der zwanziger Jahre, daß der Dichter mit
diesem sophokleischsten unter seinen Stücken einen ersten Preis, und für die
Sophoklesliebe des Aristophanes von Byzantion, daß er auch den Beifall der
alexandrinischen Kritik ») gewonnen hat. Daß dem ganzen Drama ein
göttlicher Hintergrund gegeben ist, vermöge dessen nun alles als Exempli-
fikation für den ewigen Streit zwischen Artemis und Aphrodite erscheint
und die beiden Hauptfiguren etwas Marionettenhaftes erhalten, wirkt auf
unser Gefühl allegorisch-erkältend, scheint aber das antike Publikum nicht
gestört zu haben. Im einzelnen zeigt das Stück große Vorzüge: mit feinster
psychologischer Kunst ist die verzehrende Glut der im Liebesgram hin-
siechenden Fürstin dargestellt, und tiefergreifend ist die Schilderung von
ist ähnlich (Liebe des Sohnes znr Kebse seines
Vaters).
*) So heißt sie auf einer attischen Vase:
P. Kretschmer, Die griech. Vaseninschr. 197.
*) Auch Theseus ist, wiewohl ihm 1321 ff.
eine gewisse Übereilung vorgeworfen wird,
unschuldig: fioTga und äirj führen die Kata-
strophe herbei (1289.1325 flf. 1433 ff.).— Schwer-
lich richtig meint Th. Gompeez, Griech. Denker
II 12, Eur. verurteile im Einverständnis mit
der griechischen Volksethik die SprGdigkeit
des Hipp. — hat er doch mit offenbarer Liebe
die in diesem Punkt ähnliche Gestalt des
Ion geschaffen!
•) Argum. p. 2, 12 Sohw. : zo de Ögäfia
TCOV TIQWTCOV.
342 Griechische Litteraturgeschichte. I. Klamieohe Periode.
dem schrecklichen Geschick des unglücklichen Jünglings, den die durch
ein Meerungeheuer scheu gemachten Rosse über die Felsen schleifen»
Beifall fanden gewiß bei den alten Athenern, die das Unglück des Eriegea
und der Pest gewitzigt hatte, auch die Deklamationen gegen die Rechts-
verdrehungen und Prahlereien der Rhetoren und Tugendlehrer J) Selbst
die Chorlieder unseres Stückes,*) wie namentlich die auf die Allgewalt dea
Eros (525 — 42) und die Sehnsucht nach fernen Ländern (732 — 75), sind
von hervorragender Stimmungswärme. Auch Lykophron hat einen 'Ituiö^
XvTog geschrieben (Suid. s. Avx.). Nachgebildet wurde die Tragödie von
Seneca und Racine;*) sie hat auch besonders stark auf die bildende Eunst^
namentlich in Sarkophagreliefs, gewirkt.^)
188. 'Exäßrj heißt nach der Hauptperson die von Ennius, Accius und
Seneca den Römern nahegebrachte und auch in Byzanz neben den Phönissen
mit Vorliebe gelesene Tragödie, sachlich eine Fortsetzung zu den Tgcoddeg,^}
die jedoch etwa ein Jahrzehnt später gedichtet sind. Sie zerfallt zwar
in zwei scheinbar lose verbundene Teile, in deren erstem der Tod der un-
glücklichen, den Manen des Achilleus geopferten Königstochter Polyxena^
im zweiten die furchtbare Rache, die Hekabe an dem Thrakerkönig Poly-
mestor, dem Verräter und Mörder ihres Sohnes Polydoros, nimmt, den
Mittelpunkt des Interesses bildet. Aber durch die Person der Hekabe^
der erst ihre Tochter, dann ihr Sohn entrissen wird, ist alles zusammen-
gehalten. Je weniger sie gegen die Opferung Polyxenas auf Achilleus*^
Grab als Gefangene im Griechenlager ausrichten kann, um so mehr steigert
sich ihr Durst nach Rache an dem Mörder ihres Sohnes, zu dessen Bei-
bringung ihr Agamemnon selbst als Hebel dienen muß. Wie die durch
Alter und Unglück fast vernichtete Greisin, in ihren mütterlichen Instinkten
auf das empörendste verletzt, gewissermaßen galvanisiert und in eine
blutgierige Megäre verwandelt wird, das ist zwar ein grauenvolles, ja häß-
liches Schauspiel; aber seine psychologische Motivierung und bühnenwirk-
same Vorführung ist dem Dichter trefflich gelungen. — Die Abfassungs-
zeit fällt in die erste Hälfte des archidamischen Krieges.^) — In der philo-
*) Besonders V. 436 ff. (dazu steht Id Paris 1807; neuere Litteratur bei H. J. G.
Gegensatz die ungeschminkte Wahrheitsliebe | Patin, Euripide 1 42 ff. (in der 1. Aufl. 11 335 ff.)
des Hippolytos 984 ff.) 921 f. Manche der und N. Wecklein in seiner Ausg. S. 21.
Sprüche sind heutzutage noch geläufig, wie 1 *) Nachweisungen in der Einleitung zö
V. 436 ai devregai Ticog qgovxidsg aogw- N. Weckleins Ausg. Vgl. A. Balsam o, Riv. dl
Tfoai. Berüchtigt war freilich die Sentenz ; filol. 27 (1899) 422 ff. Ein Hippolytosgemälde
V. 612 ?; y?.o)oo* 6iid)/jox\ rj de rfoip» dvfofwroi; in Gaza im 6. Jahrh. n. Chr. erwähnt Choric.
8. 0. S. 331, 3.
*) Bemerkenswert ist übrigens die voll-
ständige Passivität des Chors, der ja die Vor-
gänge zwischen Phaidra und Hippolytos mit
angesehen hat und nur zu reden brauchte, um
die Katastrophe zu verhindern, der auch von
Hippolytos in seiner Not 1074 ff. nicht zum
Zeugen angerufen wird. — Technisch inter-
essant ist der Nebenchor von Hippolytos'
Jagdgefolge, der (61 ff.) vor der rarodos
auftritt.
') A. W. Schlegel, Comparaison entre
p. 156 ff. Boiss. Über K. Roberts (22. Halli-
sches Winckelmannsprogr. 1898) Deutungeines
Marmorgemäldes von Herculaneum auf eine
Szene aus Eur. Hipp. s. G. E. Rizzo, Riv. di
filol. 30 (1902) 460 ff.
^) Über die Mythopoie beider Stücke
V. Zanchi, L'Ecuba e le Troiano di Eur.,
Wien 1893. Quelle ist Stesichoros' 7/.tov
:z€ooi<;.
e) Die Parodien in den Wolken (1165
= Hec. 172; 718 = Hec. 161) weisen auf
die Zeit vor 423 hin, so daß die durch das
la Phedre de Racine et celle d' Euripide, i Pathos entfesselter Weiberleidenschaft aus-
C. Drama. 2. Die Tragödie, d) Euripides. (§§ 188—190.) 343
logischen Litteratur spielt das Drama eine Bolle durch die für das Ver-
ständnis der Metrik der Tragiker epochemachenden Ausgaben von R. Person
und G. Hermann.
189. 'Avdgojudxrj ist ein Intrigenstück mit scharfen politischen Neben-
tönen: in den Hauptpersonen, Menelaos und Hermione, wird die Treulosigkeit
und Ränkesucht der Spartaner bloßgestellt, was auf die erste Zeit des pelo-
ponnesischen Krieges hinweist. Andromache, die dem Sohne des Achilleus
als Beuteanteil zugefallen war, hatte die Eifersucht der Hemuone, der
rechtmäßigen Gattin des Neoptolemos, erregt, weshalb diese in Verbindung
mit ihrem Vater Menelaos während der Abwesenheit des Gatten die Fremde
zu ermorden beschUeßt, an der Ausführung des scheußlichen Planes schließ-
lich aber doch durch die Dazwischenkunft des alten Peleus gehindert wird.
Eingewoben ist die Ermordung des Neoptolemos im Tempel zu Delphoi
durch die Leute des Orestes, wobei Euripides die alte Sage zu seinen
Zwecken umgestaltete. *) Schon von den Alten (Arg. p. 246, 2 Schw.) wurde
die Andromache zu den Dramen zweiten Ranges gestellt; in keinem anderen
Stück ist die Faktur so roh; der Hauptfehler besteht in dem Mangel an
Einheit zwischen den zwei Teilen. Dichterischen Wert*) hat nur die
Charakterantithese zwischen den beiden Frauen Hermione und Andromache.
Bei der stark hervortretenden Verherrlichung des molossischen Königs-
hauses möchte man denken, das Stück sei vielleicht gar nicht zur Auf-
führung in Athen, sondern etwa zu einem Festspiel an diesem halbbarba-
rischen Hof bestimmt und eine Improvisation gewesen.»)
190. 'HgaxXeidai, ein einfaches, mattes Drama ohne spannende Ver-
wicklung, das nur durch die erhabene, struktiv freilich ganz überflüssige
Szene von dem heldenmütigen Entschluß der Heraklestochter Makaria, sich
dem freiwilligen*) Opfertod für der Brüder Rettung zu weihen, einigermaßen
gehoben wird. Die politischen Nebenabsichten treten zwar nicht so grell
wie in der Andromache hervor, sind aber unverkennbar. Der Dichter
will vor allem Athen verherrlichen, dessen König Demophon den nach
Attika geflüchteten Kindern des Herakles, ähnlich wie im 'HgaxXijg sein Vater
Theseus dem Herakles tut, Schutz bietet und um ihretwillen den Kampf mit
ihren Bedrängern auf sich nimmt:*) er will aber zugleich den Undank
gezeichneten Tragödien Medeia. Hippolytos,
Hekabe auch zeitlich nahe bei einander liegen.
Für 426 spricht sich J. Öri, Philol. 66 (1907)
287 flf. aus.
^) Die alte Sage, die von einer Beteili-
(Demokrates, wofllr Th. Bergk unnötig Mene-
krates vermutet; vgl. A. Wilhelm, Urkunden
dramat. Auff. 21. 113). Die politischen An-
spielungen, namentlich V. 733, bestimmten
A. BöCKH, De trag. gr. princ. 189 f., das Stück
gung des Orestes an der Ermordung des in das Jahr 418 zu setzen; Wilamowitz, Gott.
Neoptolemos noch nichts weiß , steht bei | Gel. Anz. 1906, 628 verwirft aber die Be-
Pindar N. 7, 34 ff. ; die euripideische Fassung i ziehung der Stelle auf Argos. H. Zirndorfbb
liegt dem Vasenbild Ann. dell* Instit. 40 (1868) und Th. Bergk, Herm. 18 (1883) 490 treten
Tav. d'agg. E zugrund. Besser motiviert er- für Ol. 89, 2 — 423 ein ; das zu V. 445 an-
scheint die Ermordung des Neoptolemos in i geführte Scholion verlegt mit Recht das Stück
dem Tgayojöovfin'ov bei Hygin. fab. 123. ' in den Anfang des Krieges, wozu auch die
') Merkwürdig sind die apologetischen Einfachheit der Gesangspartien besser paßt.
Versuche im Arg. p. 246, 3 ff. Sohw. I *) Die Sage ließ sie, wie es scheint (H.
*) Nach den Schollen zu V. 445 wurde | Weil, Ötudes sur le drame ant. 123), durch
das Stück nicht in Athen, sondern auswärts das Los zum Tod bestimmt werden,
aufgeführt, und zwar unter fremdem Namen | *) Damit rühmten sich die Athener be-
344 Griechische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
von Argos und Sparta (V. 742) brandmarken, die in der Gegenwart die
den Herakliden ehedem erwiesenen Wohltaten mit feindlichem Einfall ver-
galten. Die fast komische Wirkung, die der uralte lolaos auf uns ausflbt,
hat der Dichter jedenfalls nicht beabsichtigt. ^ Der argolische Herold
Kopreus') mit seiner Brutalität ist eine Kopie des ägyptischen Herolds in
den Hiketiden des Aischylos. In der ätiologischen Schlußwendung von dem
Eurystheusgrab in Attika, das Pausanias (I 44, 10) erwähnt, ist ein Motiv
des sophokleischen Oidipus in Eolonos vorgebildet. A. Böckh (De trag,
princ. 190) hat die Tragödie auf 417 ansetzen wollen, als die Argeier nach
dem Bruch des Bündnisses mit den Lakedaimoniern Frieden machten.
Aber die Einfachheit der Handlung und das Fehlen musikalischer Bravour-
stücke, sowie die Voraussagung des Einfalls der Spartaner (V. 1027) weisen
auf die ersten Jahre des peloponnesischen Krieges*) und auf die Zeit vor
dem motivverwandten, aber bei allen Fehlern doch kunstvolleren Herakles.
191. 'HgaxXfjg^) erinnert durch das erschütternde Pathos und den
Mangel der Einheit an die Hekabe. Bedeutsam ist das Stück besonders da-
durch, daß mit ihm Euripides die Gestalt des Herakles, die zuvor meist im
Satyrspiel und der dorischen Posse von ihrer komischen Seite her behandelt
und nur von Aischylos im befreiten Prometheus episodisch ernsthaft ein-
geführt worden war, für die tragische Bühne erobert hat. Damit ist in
Attika der Weg zur Ausgestaltung des Heraklesideals beschritten, auf dem
dann die Rhetorik'^) und der Kynismos weitergeschritten sind. Der erste Teil
endet glücklich, indem die dem Herakles angetraute thebanische Königs^
tochter Megara mit ihren Kindern, bedrängt durch den Usurpator Lykos,
im Augenblick der Todesgefahr durch die unerwartete Rückkunft des
Herakles gerettet wird. Unter dem Eindruck der erlösenden Macht jugend-
licher Helden stärke singt der Chor ein schönes Lied auf die Plagen des
Alters und die frohe Blüte der Jugend. Im zweiten Teil erwartet man
die Ausführung der von Herakles geplanten Rache an den Kadmeiem.
Nun scheint aber den Dichter das Oxymoron „der Retter seiner Familie
zugleich ihr Verderber " gereizt zu haben, und um die rührende Wirkung
dieses Gegensatzes darzustellen, hat er in überaus roh mechanischer Weise
die Situation im zweiten Teil umschlagen lassen: Herakles verfallt nach
Vollendung seiner letzten Arbeit wieder dem Groll der Hera, die ihn durch
Lyssa in Wahnsinn versetzen läßt, und nun tötet er Megara und ihre
Kinder.^) Aus dem Wahnsinn erwacht sinnt er auf Selbstmord, wird aber
durch Theseus' edle Freundschaft erhalten: dieser nimmt ihn mit nach
reits beiHerodotIX27; vgl. Aristid. or. 13 11, 1876,302) ist ganz zweifoUiaft. — Exkurse
p. 175 f. DiND.; von malerischer Darstellung ' zu den H. von Wilamowitz, Herrn. 17 (1882)
der Herakliden redet Ar. Plut. 385 (vgl. Schol. 337 ff.; ders.. De Eurip. Heraclidis, Greifsw.
dazu). 1 Index scholar., 1882.
») H. Weil 1. l. 129. *) Ursprünglich einfach IfgaxXr'ji betitelt,
^) Der Name gehört zu y-ciigog, schwer- ' welchen Titel noch Seneca vorfand ; der Zu-
lich zu y.d-TQo;; er findet sich auch Oxyrh. 1 satz /tiurduera;, dem lat. Hercules furens
pap. 111 p. 272, 27. j nachgebildet, stammt aus der Aldina.
^) Ob die Stelle Ammianus Marcellinus . *) Isoer. 5, 109; Matris 'Eyjnofuor 'Hga-
XXVIII 4, 27 auf eine aus Herakleidai, Kres- ' xkeovg (F. Susemihl, AI. Lit. II 496 ff.),
phontes und Temenos bestehende Trilogie I *) Die Tötung der Kinder im Wahnsinn
gedeutet werden darf (Wilamowitz, Herm. , kennen schon Stesichoros und Panyassis
C. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripides. (§§ 191—192.) 345
Attika und stellt ihm hier Heiligtümer und Opfer in Aussicht — ein ätio-
logischer Schluß, der die Gründung alter Herakleskulte in Attika^) moti-
viert. Der medizinische Realismus in der Darstellung des Wahnsinns ist
schon den Alten aufgefallen.*) Für die Geschichte des attischen Bühnen-
wesens läßt sich aus der Parodos des Stückes, in der die Greise des Chors
über den beschwerlichen Anstieg klagen, auf das Vorhandensein einer er-
höhten Bühne, zu der etwa Stufen oder eine schiefe Bretterebene führten,
kein sicherer Schluß ziehen.^) Die politischen Anspielungen führen auf
die Zeit nach der Schlacht von Delion (424); der Hinweis auf das Alter,
das den Chor (und also den Dichter?) nicht hindere, den Musen zu singen
(678), weist in die späteren Lebensjahre des Dichters.*) Das griechische
Original, das sich, vermutlich weil es zu schauspielerischen und athletischen
Kraft- und Virtuosenleistungen Gelegenheit bot, in hellenistischer Zeit
großer Beliebtheit erfreute,'^) hat Seneca in seinem Hercules frei be-
arbeitet.
192. Die 'Ixitideg^ in der Anlage ebenso wie die Herakliden an Aischy-
los' Hiketiden anklingend, werden in der Hypothesis passend ein iyxcojutov
^A^vöv genannt; sie sind von dem gleichen Gefühl des Hasses gegen
Theben wie der Herakles beseelt und scheinen auch um dieselbe Zeit, nur
etwas später, 421 oder 420, gedichtet zu sein.*) Euripides greift hier die
bereits von Aischylos in den Eleusinioi behandelte (Plut. Thes. 29) und von
Herodot IX 27 berührte Sage auf, nach der Theseus die Bestattung der
vor Theben gefallenen argolischen Heerführer den hartherzigen Thebanem
zum Trotz durchsetzte. Seinen Namen hat das Stück von dem Chor der
schutzflehenden Mütter der Gefallenen, die sich hilfesuchend an Theseus'
Mutter Aithra wenden.^) Die rührenden, eng an die Handlung sich an-
schließenden Chorlieder und die freilich ohne innere Notwendigkeit an-
(Pau8. IX 11, 2), die der Megara ist Erfindung 1 1898, 165 f.). Über das Verhältnis zu Soph.
des Euripides. Find. Isthm. 3, 81 gedenkt | Trach. s. § 176.
des Mordes nicht. '^) Von Wiederaufführung bei den So-
*) Eupol. fr. 135 K. ; Ar. AaixaXfjg (Th. terien in Delphoi berichtet die Inschr. Bull, de
KocK, Com. Att. fr. I p. 438); Isoer. 5, 33;
Aristid. or. 5 p. 58; 13 p. 174 Dind.
2) Ps.Aristot. probl. 30 p. 953 a 13 (Hera-
kles fiFXayxoXtxog),
') Dörpfeld-Reisch, Griech. Theater
corr. hell. 17 (1893) 15 (dazu R. Herzog, Philol.
60, 1901, 440 flf.); eine vermutlich von einem
Schauspieler geweihte Maske des rasenden
Herakles aus Rhodos bespricht F. Hiller
Y. Gärtrinoen, Strena Helbigiana, Leipz.
188 f. 343. 1900, 137.
*) WiLAMowiTZ, Eur. Herakl. P 344 u. ^) Anspielung auf das Bündnis mit
380 setzt demnach den Herakles in das vor- Argos nach dem Nikiasfrieden in V. 1190 flf.;
letzte Jahrzehnt des 5. Jahrb., zwischen die ' auf die Weigerung der Thebaner, nach der
Hiketides (421) und die Troades (415). Ganz Schlacht von Delion die Toten herauszugeben
unsicher ist die Beziehung des Lobes der j (Thuc. IV 97 ff ), bezieht sich die ganze Fabel
Bogenschützen V. 160 ff. auf die Ereignisse I der Tragödie; Find. 0.6, 15; N. 9, 23 berührt
von Sphakteria. Es handelt sich hier um ' sie nicht. Indizien zur Zeitbestimmung L.
die alte Kontroverse über die vergleichende Radermacher. Rh. Mus. 53 (1898) 505 ff.; Wila-
Schätzung von Bogen und Speer, die, viel- mowitz in seiner Übersetzung („der Mütter
leicht schon Od. x zugrunde liegend, durch - Bittgang* 2. A. Berl. 1906) setzt sie 422.
die Perserkriege aktuell geworden (E.Meter, < ^) Über die Zusammensetzimg des Chors
Gesch. des Altert. III 77), in sophistischer aus fünf Müttern und zehn Dienerinnen s.
Zeit mehrfach erörtert worden sein muß | R. Arnoldt, Die chorische Technik des Eur.,
(Soph. Ai. 1120 ff.; Dio Chr. or. 9, 17; 52, 10; | Halle 1878, 72 ff. Zur Metrik der lyrischen
58, 1; Schol. B Hom. J 386; schief H. v. Ar- ; Partien Wilamowitz, Commentariol. metr. I,
NIM, Leben u. Werke des Dio v.Prusa, Beri. . Gott 1895, 11 ff.
346 Grieohisohe Litteratargesohiohte. I. ElaBsiflohe Periode.
geheftete effektvolle Szene der in den Seheiterhaufen ihres Gemahls Kapa-
neus sich stürzenden Euadne (990 ff.) werden dem Werk bei der Auf-
führung Erfolg verschafft haben. Auch der zwar unsachliche, aber inter-
essante politische Exkurs 403 — 464 und die latente Kritik von Aischylos'
Sieben in den Versen 838 — 954 ^ fanden gewiß beim attischen Publikum
teikiehmendes Verständnis.
193. Die Tgcoddeg wurden nach der erhaltenen Didaskalie (Ael. var.
bist. II 8) 415 zusammen mit Alexandros, Palamedes und dem Satyrdrama
Sisyphos aufgeführt und mit dem zweiten Preis bedacht. Die drei Tra-
gödien waren durch den zusammenhängenden Inhalt zu einer sogenannten
Thementrilogie verbunden. Dem erhaltenen Stück — und bei den beiden
andern wird es nicht viel anders gewesen sein — ist der Charakter der
epischen Darstellung trotz der Dramatisierung des Stoffs geblieben: es
sind mehr einzelne, locker aneinandergereihte Episoden aus der Einnahme
der Stadt als Teile einer einzigen, streng zusammengefaßten Handlung.
Äußerlich bildet fast nur die Person der Hekabe das Band, das die ver-
schiedenen Jammerszenen, die ünglücksbotschaft des Talthybios, die Opfe-
rung der Polyxena, die Auslieferung der Kassandra und der Andromache,
die Tötung des kleinen Astyanax, die Wegführung der Hekabe selbst^
zusammenhält. Das Stück will aber nicht sowohl als Drama, sondern als
eine durch Stimmungseinheit zusammengehaltene dramatische Bilderreihe
verstanden werden, und welche Gewalt es bei dieser Auffassung ausübt,
davon gibt Schillers Siegesfest einen lebendigen Eindruck: das unendliche
Elend des Krieges wird in seinen trostlosen Folgen vorgeführt. Daß hier
Erfahrungen aus dem peloponnesischen Krieg mitsprechen, ist zweifellos,
fraglich dagegen, ob Euripides dabei auch paränetische Absichten gehabt
habe. 2) Der Dichter nimmt völlig die Partei der Troer und brandmarkt
auf das rücksichtsloseste die Anstifterin alles des Unheils, Helena und das
Spartanertum (V. 210 ff.). Auch die Götter, die bei Homer den Achaiem
günstig sind, läßt Euripides gleich im Anfang des Stückes von ihnen sich
abwenden.
194. Die 'Icpiyiveta iv Tavgotg^ so benannt im Gegensatz zu der in
Aulis, ein Intrigenstück, in dem griechische List über Barbarenplumpheit
triumphiert,^) gehört dem Versbau nach (die trochäischen Tetrameter und die
häufigen Auflösungen) in die Zeit nach Ol. 90.*) Der Dichter, unermüdlich
*) Die Kritik betrifft zwei Punkte: die herrscht, wird noch im Troiaroman (Dict. V
allzu einförmige Symmetrie im Aufbau der 10) hervorgehoben.
Wechselrede zwischen Eteokles und dem Boten
bei Aischylos, und die Äußerlichkeit der
Schilderung der Kämpfer. Siehe a. o. S. 278, 2.
*) So H. Steiger, Warum schrieb Euri-
pides seine Troerinnen? Phil. 59 (1900) 362 ff.
Der Dichter soll beabsichtigt haben, durch
die Schilderung der Greuel des Krieges seine
Mitbürger von dem Plan eines Angriffskrieges
gegen Syrakus zurückzuhalten. Dazu scheint
aber V. 207—229, besonders 220 ff. nicht zu
stimmen.
^) Dieses Motiv, das auch die Hei. be-
^) Eine bestimmte didaskalische Angabe
fehlt. Der Verfolgung des Orestes durch
die Furien bis nach dem Taurerland wird
weder in der Elektra noch im Orestes gedacht
(s. 0. S. 283, 8). Gleichwohl führt der um-
stand, daß die Helena starke Motivverwandt-
schaft mit der Iphigeneia bei größerem Raf-
finement der Ausführung zeigt, auf die
nächste Zeit vor der Aufführung der Helena
oder vor 412. Über die Berührungen zwischen
I. T. u. Hei. s. E. Bruhn in seiner Ausg. der
LT., Berl. 1894 und W.N.Bates, Proceedings
C. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripides.
193—194.)
347
in der Aufspürung und Verwendung lokaler Sagen und religiöser Gebräuche,
ging auch in diesem Stück von attischen Tempelsagen aus. An der
Ostktiste Attikas war der Kultus der Artemis-Hekate seit alter Zeit hei-
misch.^) In Halai Araphenides befand sich ein Tempel der Artemis Tauro-
polos;*) in Brauron (jetzt Wraona) zeigte man das Grab der Tempel-
wärterin Iphigeneia») und ward die Göttin selbst unter dem Zunamen 'fyi-
yiveia verehrt;*) hier auch wurden an dem Fest BgavQcovia junge Mädchen
der Göttin als Bärinnen (&qxxoi) geweiht, was darauf hindeutet, daß hier wie
anderwärts der ursprünglich theriomorphen Göttin ehedem Menschen geopfert
wurden.*) Nun bekamen die Athener, wahrscheinlich seit EröflEhung ihrer
Handelsbeziehungen mit dem Pontes im 7. Jahrhundert, Kunde, daß im
taurischen Chersones von den Barbaren einer jungfräulichen Göttin, die sie
ihrer Artemis verglichen, SchiflTbrüchige sowie alle in ihre Hände fallenden
Griechen geopfert wurden.®) Daraus wob Euripides die Sage, daß die in
Aulis der Artemis dargebrachte, von der Göttin selbst aber nach Tauroi
versetzte Königstochter Iphigeneia') später mit Hilfe ihres in jenes Barbaren-
land verschlagenen Bruders Orestes, der schon durch Aischylos in Beziehung
zu Athen gesetzt worden war, das heilige Götterbild nach Attika gebracht
habe. So dichtete er die Darstellung des Aischylos teilweise um: ein Teil
der Erinyen steht nach dem freisprechenden Urteil der Pallas Athene von
weiterer Verfolgung des Muttermörders ab, ein anderer aber setzt sie bis
zur vollständigen Entsühnung des Orestes fort. Um aber dem Zusammen-
hang der Iphigeneiasage mit dem attischen Kult der Artemis die göttliche
Weihe zu geben, läßt der Dichter gegen Schluß die Göttin Athene selbst
auf der Göttermaschine erscheinen und feierlich die Verehrung der Artemis
bei Halai einsetzen. Für die Handlung ist, nachdem die Flucht gelungen
ist, der Deus ex machina unnötig — die Griechen müssen, damit er seine
Rede halten kann, durch eine Welle erst wieder ans Land zurückgetrieben
werden. — Der glücklich erfundene Mythus ist auch dramatisch wirksam
durchgeführt. Eine Schöpfung des Euripides ist die schöne Gestalt des
getreuen Pylades, die bei Aischylos nur einen Moment, allerdings hier mit
entscheidender Wucht als apollinischer Mahner (Cho. 893 K.), eingreift, bei
Sophokles ganz stumm ist; Euripides hat ihn im Orestes noch einmal auf-
treten lassen. Muster anschaulicher fesselnder Erzählung sind die beiden
langen Botenreden von der Gefangennahme des Orestes und Pylades (260
of the Americ. philol. associat. 32 (1903)
p. CXXII. Über die Zeitansetzung auch Wila-
MowiTZ, Anal. Eurip., Berl. 1875, 177 f. ; J. Öri,
Eur. unter dem Druck des sizil. und deke-
leischen Kriegs, Progr. Basel 1905.
») Paus. 123, 7; 33,1; UI 16, 7.
«) Strab. p. 399 C; Eur. Iph. Taur.^1457;
Hesychios: TavQo:i6Xiaf ä elg ioQTTjv äyovoiv
») Iph. T. 1464; Euphorien in Schol.
Arist. Lys. 645.
^) Stesichoros identifiziert nach Hesiods
Vorgang Iph. und Hekate (Hes. fr. 100 Rz.).
Paus. II 35, 1 ; I 43, 1; VII 26, 3. Vgl. Wila-
jfowiTZ, Herrn. 18 (1883) 249 ff.; K Robbrt,
Archäologische Märchen (Philol. Unters. 10,
1886) 144 ff.
^) Iph. T. 1458 ff., Arist. Lys. 646 und
dazu die Scholien; Harpocr. unt. dexazeveir.
Vgl. F. G. Schöne in der Ausgabe 3. A. von
H. KöCHLY, Berl. 1872, Einl. 17 ff.
«) Herodot. IV 103.
^) Cypr. (G. Kinkel fr. ep. I p. 19) : 'Agrefiig
6h avTTjv }^ao:tdoaoa elg TavQOX^g fjisraxo^ii^ei
xai äOavarov jioteT, Danach scheint schon der
Dichter der Kyprien die Iphigeneia nach Taui'oi
versetzt zu haben, woraus folgt, daß schon die
Milesier bei ihren pontischen Kolonisations-
fahrten die taurische Göttin kennen gelernt
und mit Iphigeneia identifiziert haben müssen.
348 Ghrieohische LitteratargeBchiohte. L Klassische Periode.
bis 339) und von den Wechselfällen ihrer Flucht (1327—1419); voll von
Leben und Geist sind die wiederholten Stichomythien, in deren Anwen-
dung sich Euripides in dieser Tragödie besonders gefällt; vortreflElich die
beiden Wiedererkennungsszenen, von denen namentlich die erste, in der
Iphigeneia dem Pylades den für den Bruder bestimmten Brief vorliest und
so unwillkürlich das Geheimnis ihrer Herkunft enthüllt (755—797), das
volle Lob des Aristoteles (po6t. 1454 a 7) fand. Selbst die Lieder des
Chors, der hier mehr als sonst bei Euripides üblich in die Handlung herein-
gezogen wird, erheben sich über das gewöhnliche Niveau euripideischer
Melik; namentlich im zweiten Stasimon (1089 — 1152) ist mit rührender
Zartheit die Sehnsucht der ins Barbarenland verkauften Jungfrauen nach
dem Boden und den Götterfesten der geliebten Heimat ausgedrückt.*) Für
den Deutschen hat die Tragödie noch einen besonderen Wert, weil sie
Goethe zu einer seiner schönsten Dichtungen angeregt hat. Goethe hat
bekanntlich an der Lüge, mit der Iphigeneia den König Thoas hinter-
geht, Anstoß genommen und deshalb eine andere truglose Lösung des
Konfliktes ersonnen. Den Griechen, die den Barbaren gegenüber auch
List und Betrug für erlaubt hielten, lag jener Anstoß fern; vielmehr wird
bei ihnen die erfinderische Klugheit, mit der Iphigeneia den Argwohn des
Thoas einzuschläfern versteht (1153 — 1233), großen Beifall geerntet haben.*)
Auch wir empfinden bei aller Bewunderung für die Innerlichkeit und ideale
Hoheit des Goetheschen Stücks doch die größere Bühnenwirksamkeit des
euripideischen. — Im Altertum selbst hat an die euripideische Form der
Iphigeneiafabel Sophokles in seinem Chryses angeknüpft, indem er Orestes
mit Iphigeneia von König Thoas verfolgt nach Sminthe in der troischen
Landschaft zu ihrem Halbbruder, dem Priester Chryses, gelangen ließ. —
Größere Partien des Stückes enthält der frühptolemäische Hibeh-papyrus
Nr. 24 (1906). Das Motiv der taurischen Iphigeneia ist parodiert in dem
oxyrhynchischen Mimos von der Befreiung der Charition, dessen Text jetzt
auch 0. Crusius Herondas* (Leipz. 1905) p. 101 flf. bietet.
195. ^Io)v^ eine verschlungene Tragödie mit glücklichem Ausgang,
durch spannende Anlage, feine Charakteristik und zarte Empfindung aus-
gezeichnet. Die Fabel ist von Euripides unter Verwertung lokalattischer Über-
lieferungen zur Verherrlichung des reinen Geblütes des attischen Stamms er-
funden. Das Drama spielt in Delphoi; hier steht der priesterliche Knabe
Ion, den einst ApoUon mit Kreusa, der Tochter des Erechtheus, gezeugt
hatte, eine vom Dichter mit offenbarer, tiefer Sympathie entworfene welt-
fremde Gestalt, im Tempeldienst des Apollon;^) hieher kommen Kreusa
') In der nächsten Zeit nach Euripides ' Wandgemälde, Sarkophage zeugen,
haben der Sophist Polyeidos (Arist. poöt 1 *) Geistreiche Parallele von Ph. Mayer.
1455a 6. b 10) und der Tragiker Timesitneos , Die Iphigenien des Euripides, Racine und
<s. Suidas) den gleichen Stoff bearbeitet. Daß > Goethe, in dessen Studien. Gera 1874, 213 ff.;
unter den Römern Pacuvius in seinem Du- 0. JAHJf, Aus der Altertumswiss., Bonn 1868,
lorestes die Handlung der Iph. Taur. behandelt 353 ff. ; F. Thümen. Die Iphigeniensage in an-
habe, bezweifelt 0. Ribbeck, Die Römische Tra- tikem u. modernem Gewände, 2. A., Berl. 1895.
gödie S. 239 ff. Auch die Kunst hat sich der ^) Der Realismus in der Darstellung von
dankbaren Motive unserer Tragödie mit Vor- \ Ions Tätigkeit als vemxoqos läßt sich aus del-
liebe bemächtigt, wovon zahlreiche Vasen, . phischen Inschriften belegen: A.W. Nikitsky,
G. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripides. (§§ 195—196.) 349
und ihr Gemahl Xuthos, um wegen ihrer Kinderlosigkeit das Orakel zu
befragen. Die Enthüllung der dunklen Abkunft des Ion und die Wieder-
erkennung von Mutter und Sohn spielen sich auf überaus verschlungenen
Wegen ab, und die aus bloßen Mißverständnissen entsprungene bis zu
Wahnwitz und Giftmordplänen gesteigerte Erregung der Ereusa wirkt
auf einen von allem schon unterrichteten Zuschauer fast komisch;^) ebenso
die Art, wie Apollon, der Verführer, abgekanzelt wird; überhaupt bereitet
das Stück bei aller seiner leidenschaftlichen Überhitzung die Verwechs-
lungs- und Wiedererkennungskomödien*) vor. Für die Abfassungszeit
fehlen zuverlässige Anzeichen; doch ist das Stück jedenfalls nach dem
Erechtheus (421) geschrieben worden.') Eine freie Nachbildung hat in
unserer Zeit A. W. Schlegel gedichtet.^)
196. ^HXexxQa zeigt am besten die Manier des Euripides, alte Stoffe
neu zu gestalten, dabei die Erhabenheit der Heroenwelt zur Niedrigkeit des
Alltagslebens herabzustimmen und eben dadurch an den beiden älteren
Tragikern Kritik zu üben:*^) Elektra, König Agamemnons Tochter, ist auf
Veranlassung der Klytaimestra, damit sie keinen Rächer gebäre, an einen
gemeinen Bauern verheiratet und hat sich trefflich in diese Verhältnisse
gefunden, wie sie denn gleich zu Anfang des Stücks in der Frühdämme-
rung mit dem Eimer auf dem Weg zum Wasserholen vorgeführt wird;«)
Klytaimestra, durch List auf das Land gelockt, muß sich, bevor sie den
Todesstreich empfängt, noch ihr ganzes Sündenregister von ihrer Tochter
vorhalten lassen (1004 — 1146), und das mit einer leidenschaftlichen Schärfe,
die man der braven Bauersfrau nicht zutraut. Aber schön ist die Boten-
erzählung (774 — 858) von der Tötung des Buhlen, wobei der Dichter mit
raffinierter Erfindungsgabe den Aigisthos selbst dem Orestes das Messer
in die Hand geben läßt, gelungen auch die mit offenbarer Freude am
Bukolischen entworfene Figur des uralten Hirten, der als ehemaliger Päda-
goge der Agamemnonskinder die Bekanntschaft zwischen Elektra und
Orestes vermittelt. Zum Schluß, nachdem die Rachetat geschehen ist,
erscheinen die Dioskuren und verkünden die standesgemäße Verheiratung
Delphisch-epigraphische Studien I 1894/95 j 1880, setzt das Stück 412, auf Grund der
S. 163 ff. (nach Berliner phil. W.schr. 16, 1896, | häufigen Auflösungen im Trimeter und der
305). Bezugnahme auf die Grotte des Pan in
*) Solche Mißgriffe tadelt Aristoph. Ach. Arist. Lys. 911; ähnlich £. Ermatinoer, Die
442 f., natürlich nicht im Hinblick auf Ion,
aber auf Euripides' überkühne Änderungen
der Sage.
*) Der avayvwQtai^ioc: ähnlich in der Anti-
attische Autochthonensage bis auf Eurip.,
Berlin 1897, S. 139, auf 416—412; vor die
Vögel des Aristophanes A. Pisohingeb,
Vogelgesang bei den griechischen Dichtem,
gone: H. Weil, Etudes sur le drame ant ' Progr. Eichstätt 1901, 75. Auch die starke
230 ff. Neigung für Schilderung von Kunstwerken
') A. BöcKH, De gr. trag, princ. 191 machte
die feine Kombination, daB die V. 190 ff. be-
schriebenen Gemälde der Tempelhalle die-
selben seien, die Athen infolge des Seesieges
hat der Ion mit der um 412 gedichteten
Elektra gemein.
*) Der Ion war auch eine Quelle für
Wielands Agathon.
bei Rhion (429) gelobt hatte (Paus. XI 1,5 und ; *) über die Tendenz gegen Soph. El. s.
Eur. Ion 1592); aber neuere Ausgrabungen H. Steiger, Philol. 56 (1897) 561 ff.
haben gezeigt, daß jene Halle spätestens in •) Eur. Or. 1658 wird der Verheiratung
der ersten Hälfte des 5. Jahrh. gebaut worden i mit dem Bauern nicht gedacht, ein Beweis
ist; S.U.Köhler, Rh. Mus. 46 (1891) 1 ff. L. \ dafür, daß es sich hier um ein ad hoc ge-
Enthovei?, De lone fabula Euripidea, Bonn ! machtes Autoschediasma handelt
350 Ghieohische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
der Elektra mit Pylades, sowie die Freisprechung des Orestes vor dem
Areopag. Verfaßt ist das Drama 413 kurz vor der Helena, die V. 1280
angekündigt ist; diese Zeit empfiehlt auch der Hinweis auf die sizilische
Expedition und den Verrat des Alkibiades am Schluß der Tragödie.*)
197. 'EXevYf ist neben Ion das Muster eines romantischen Intrigen-
stücks; sie wurde zugleich mit der verwandten Andromeda 412 aufgeführt
und war gleich im folgenden Jahr Stichblatt für den Witz des Aristophanes
(Thesm. 850 flf.).*) In der Fabel lehnte sich Euripides an Stesichoros'
Helena an/) erlaubte sich aber eine ganz freie Umdichtung der Über-
lieferung/) Helena, von der Paris nur ein Schattenbild nach Troia ent-
führt hatte, wird in Ägypten von dem Königssohn Theoklymenos, der um
die Hand der schönen Griechin wirbt, bedrängt und sucht am Grab des
Proteus Schutz. Von der Bedrängnis wird sie durch die Ankunft des
heimkehrenden Menelaos befreit, mit dem sie gemeinsam Flucht und Täu-
schung des Barbarenkönigs plant und ausführt. Nur Menelaos und Helena
sind alte Namen des Mythus, Theoklymenos und seine prophetische
Schwester Theonoe, die Kinder des Proteus, sind von Euripides fingiert,
so daß von dem Stück die Bemerkung des Aristoteles poöt. 9 gilt, daß in
einigen Tragödien nur einige Namen altüberliefert, die andern neuerdichtet
sind. Den Helenacharakter in den Penelopecharakter umzuformen war
ein kühnes Wagnis und fast zu teuer erkauft mit der Hereinziehung des
eidcoXov^ das sich zu dem realistischen Kolorit des ganzen Stückes schlecht
fügt. Die Chorlieder, Gesänge gefangener Griechenmädchen, sind großen-
teils zwar ohne engere Verbindung mit dem Gegenstand (so besonders
1301 — 68), aber frisch, plastisch, von warmem Naturgefühl. Im übrigen
ist**) mit Recht darauf hingewiesen worden, daß die Helena mit ihrer ver-
wickelten, intrigenreichen Handlung und derVulgarität ihrer Charaktere eine
Vorstufe der neuattischen Komödie darstelle. Das Drama, das in seinem
Schluß eine Dublette der taurischen Iphigeneia ist, nur daß die Lage durch
die Notwendigkeit, die vorauswissende Theonoe auf die Seite des flüch-
tigen Ehepaars zu ziehen, noch etwas verwickelter wird, fand im Altertum
viele Leser und hat daher viele Interpolationen erfahren; Horaz (od. III
3, 17 ff.) scheint die Verse 878 ff. vor Augen gehabt zu haben.
198. Die ^oivioaai^ benannt nach dem aus Phönikiorinnen zusammen-
gesetzten Chor, gehören gleichfalls der letzten Periode des Dichters an
^) L. Radermacheb, Rh. Mus. 53 (1898) willkürlicher ist die Begründung, die J. Obi,
508; E. Brühn, N. Jahrbb. Suppl. 15 (1887) | Eur. unter dem Druck des sizil. und dekel.
314 fF. Als erwiesen kann gelten die Parodie Kriegs, Progr. Basel 1905 für den Ansatz 414
in Arist. ran. 1317 f., nicht die in av. 414 oder vorbringt. Dagegen sieht L. Radermacheb,
nub. 423. Über das Verhältnis zur Elektra des Rh. Mus. 53 (1898) 497 ff. in V. 744 ff. eine An-
8oph. s. S. 315. Wiederaufführungen nach spielung auf die sizilische Katastrophe a. 413
a. 300 bei den argivischen Heräen und den (Thuc.VlI 1).
delphischen Soterien sind inschriftlich bezeugt •) Dazu Schol. Od. <> 227 und Herod. 11
Bull, de corr. hell. 17 (1893) 15 (= Philol.60, 112. A.v.PREMER8TEiN,Pliilol.55(1896)634ff.
1901, 441). Der Anschluß an Stes. hat gewiß lediglich
^) Nach Schol. Arist. Thesm. 1012 und ' ästhetisch-dramaturgische Gründe.
1060. Th.Zielinski, DieGliedenmgderaltatt. *) Aristoph. Thesm. 850 nennt sie xatrifv
Kom. Leipz. 1885, 97 ff. findet in Arist. eq. 80 ff. 'EUvtir, was freilich nach Schol. 1. 1. so viel
eine Parodie von Eur. Hei. 835 ff. und setzt dem- als neulich aufgeführt bedeutet,
nach Helena und Elektra ins Jahr 425. Noch i ^) F. Leo, Plautin. Forschungen 149.
C. Drama. 2. Die Tragödie, d) Euripidee. (§§ 197—198.) 351
und wurden zusammen mit dem Oinomaos und Chrysippos aufgeführt.*)
Euripides erhielt mit diesen Stücken den zweiten Preis, aber die Gram-
matiker erkannten die Phönissen als eine der vollendetsten Schöpfungen
des Dichters an.*) In sieben Dramen behandelte Euripides die Labda-
kidensage: in den beiden ^Akxjuicoveg^ im XQvauinog und in den 'Ixhideg
gewann er dem alten Mythus neue Dramenstoffe ab; in dem Oidipus, der
Antigone^) und in den Phönissen suchte er durch Neugestaltungen alter
Stoffe Interesse zu wecken. Die Phönissen haben im allgemeinen den-
selben Inhalt, wie die Sieben des Aischylos, aber wie Euripides im Oidipus
die Mythen des Oidipus und der Sphinx in eins zusammenzog, so hat er
auch in den Phönissen nach allen Seiten über den engen Rahmen des
äschyleischen Stückes hinausgegriffen und damit dem neuen Drama eine
außerordentliche Mannigfaltigkeit und Ausdehnung (von 1766 Versen) ge-
geben. Mehr aber noch hat er in der Ökonomie des Dramas geneuert:
in den Sieben bestand der Chor aus thebanischen Jungfrauen, di6 angst-
voll zu den Altären der Götter flüchteten; Euripides setzte an ihre Stelle
phönikische Mädchen, die, vom König Agenor als Beuteteil nach Delphoi
geschickt, auf ihrem Weg Theben berührten. Das war keine gute Neue-
rung, insofern der Seeweg, den sie kamen (V. 210), nicht über Theben
nach Delphoi führte, hatte aber für Euripides den Vorteil, daß nun die
Chorlieder über Kadmos (638—689) und die Sphinx (1019—1066), die er
nach seiner Art einlegte, wenn nicht zur Handlung, so doch zur Person
des Chors einige Beziehungen gewannen. Aischylos hatte ferner in ein-
töniger und breitgesponnener Weise die zweimal sieben Führer in einem
Gespräch zwischen Eteokles und dem Boten nacheinander bildartig schil-
dern lassen; das mißfiel dem Euripides, und mit Recht;*) er erreichte das
Gleiche wirkungsvoller teils durch die Teichoskopie, in welcher der Päda-
goge der Antigone ähnUch wie in der Ilias die Helena dem Priamos die
einzelnen Helden zeigt (88 — 201),**) teils durch die wirkungsvollen Schlachten-
berichte des Boten (1090—1199. 1217—1269). Bei Aischylos sodann blieben
lokaste und Oidipus ganz außer dem Spiel; Euripides läßt sie entgegen
der Darstellung des Sophokles beide noch in Theben am Leben sein und
versteht es nun, ihre Anwesenheit zu ergreifenden Szenen zu verwerten.
Denn die ganze Tiefe der Mutterliebe tut sich in dem genial erfundenen
Versuch der Aussöhnung der feindlichen Brüder auf (355 — 637), und
rührend ist der Schluß, wo der blinde Greis durch die Weherufe der Anti-
gone aus dem Haus gezogen (1539 flf.) und von dem herzlosen Kreon aus
dem Land gestoßen wird (1589 flf.). Ganz neu hinzugekommen ist ein
allerdings sachlich überflüssiges, aber für Euripides' praktisch-politischen
^) Über die unbrauchbare didaskalische JtoXXij Xeystv, ix^QcHv vji' ainoTg reixeaiv xa^-
Notiz 8. o. S. 336, 11. Schol. Arist. ran. 53 läßt | nsvoiv.
das Stück kurz vor den Fröschen gegeben ! *) Diese Teichoskopie wird meist als
sein; vgl. Arist. av. 348. störendes Element im Aufbau des Stücks
*) Argum. und Schol. Arist. ran. 53. verurteilt, zuletzt von Wilamowitz, Berl. Ak.
•) Auf die Antigone und ihren Ausgang, | Sitz.ber. 1903, 588. Scharfsinnige, aber ge-
die Vermählung des Haimon und der Anti- | wagte Analyse ihres rhythmischen Baus
gone, bezieht sich Phoen. 1637 f. u. 1672 ff. 0. Schböder, De tichoscopia Eurip. Phoenissis
*) Phoen. 751: ovo^ia d* kxdaxov dtaxQißrj inserta, Progr. Berl. 1906.
352 Grieohisohe litieratnrgeschichte. L Klassische Periode.
Sinn bezeichnendes Emblem — denn die Rettung der Stadt Theben ist
in diesem Sagenzusammenhang ganz nebensächlich — , der heldenmütige
Opfertod des Menoikeus, des Sohnes des Kreon, von dem Euripides nach
der Weissagung des Teiresias den Sieg abhängen läßt (834 — 1018).*)
Euripides hat auch nicht versäumt, Stellen zur VerherrUchung Athens
einzulegen (852 — 857 und 1705 — 7), wenn auch dazu, wie namentlich an
der ersten Stelle, die Gelegenheit an den Haaren herbeigezogen werden
mußte. Abgesehen aber von dieser Reihe bühnenwirksamer Szenen und
Anspielungen hat Euripides den ganzen Gegenstand auf eine neue Grund-
lage gestellt durch Einführung von Schuldmotiven : die beiden Söhne haben
den geblendeten Vater eingesperrt, der sie nun verflucht und so den Unter-
gang seines Hauses herbeiführt (59 ff.). Darin mag man ein Zurückgehen
über Sophokles auf äschyleYsche Art erkennen. Wie viel Euripides aber von
Sophokles gelernt hat, zeigt sich in dem herrlichen Charakterensemble
lokaste-Eteokles-Polyneikes: die hingebende Mutter als erfolglose Ver-
söhnerin hineingestellt zwischen den pietätvoll weichen Polyneikes und
den kalten, herzensrohen, verstandesmäßigen Doktrinär Eteokles, zu
dessen Figur dem Euripides wie zu der des Kyklopen ohne Zweifel die
Ultras der sophistischen Aufklärung Modell gestanden haben. Man wird
zugeben, daß der Dichter mit diesen Neuerungen und zugleich durch die
Kunst der sprachlichen Darstellung*) das Stück reicher, erschütternder und
zugleich modernem Geschmack entsprechender gestaltet hat als seine Vor-
gänger, und man begreift, daß es den feinsinnigen Kenner des Euripides,
L. C. Valckenaer, zur gelehrten Bearbeitung (Franeker 1755) und Hugo Grotius
(Paris 1630) und Schiller zur Übersetzung reizte. Freilich ist das Stück von
einer gewissen Breite und zerstreuenden Überfülle nicht freizusprechen ;s)
besonders leidet der Schluß unter dem Streben, noch alles Mögliche herein-
zuziehen, die Heirat des Haimon und der Antigene, die Bestattung des
Polyneikes durch Antigene, die Begleitung des verbannten Oidipus nach
Attika durch Antigene.*)
199. '0Q€0T7]g, im Jahr 408 aufgeführt (Scholien zu V. 371), zeigt den
Verfall der euripideYschen Kunst. Die Fabel, die zur Zeit der Rückkehr
^) Die Gestalt des freiwillig den lodern- 9 (1901) 241 ff. sucht Kontamination zweier
den Altar besteigenden Menoikeus findet sich Entwürfe nachzuweisen, über Erweiterungen
auf Glaspasten, s. J. OvERBECK, Galerie heroi- durch Interpolation W. Zipperer, De Eur.
scher Bildwerke S. 133. Vom Schluß der Tra- Phoen. versibus suspectis et interpolatis ,
gödie eine Danstellung auf einem Becher des
britischenMuseums bei K. Robert, 50. Berl.
Winckelmannsprogramm (1890) 59 ; R. Engel-
Wirceb. 1875.
*) Man hat deshalb in der Exodos starke
Interpolationen angenommen. A. Böckh, De
MANN, Jahrb. des arch. Inst. 20 (1905) 179 flf. trag, gr.princ.c. 21, und ihm folgend G.Kinkel
^) Besonderes Lob verdienen die Monodie in seiner Ausg. (Berl. 1871) haben den ganzen
der im Schmerz rasenden Antigone (1485 fF.) j Schluß von 1746 an verurteilt; aber damit
und der Chorgesang auf den Kriegsgott Ares, wird die andere Schwierigkeit, wie Antigone
den Stifter des Elends (784 ff.). | zugleich den Vater nach Attika begleiten und
') Über die auch von den Alten (Arg. den Bruder in Theben beerdigen soll, nicht
p. 243, 6 ScHW.) bemerkte ambitiöse Stoff- gehoben. Wilamowitz (Drei Schlußszenen
anhäufung in den Phoen. V. Brugnola, Riv. di , griech. Dramen, Berl. Ak. Sitz.ber. 1903 S. 592),
filol. 31 (1903) 401 ff. Wilamowitz, Herrn. 32 der die Bedenken gegen V. 1705 ff. nicht teilt,
(1897) 390 findet in der Episodenhaftigkeit ein leitet die Bestattung des Oidipus in Kolonos
Zurückgreifen auf die archaische Tragödien- aus der Lokalsage her, und erklärt nur den
technik. A. Balsamo, Stud. ital. di fil. class. Schluß von V. 1787 an für eine Dublette.
G. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripides. (§§ 199—200.) 353
des Menelaos in Argos spielt und sich um die Hache dreht, welche der
zum Tod verurteilte Muttermörder Orestes mit Elektra und Pylades an
Menelaos und seinem Haus nehmen, ist ganz willkürlich vom Dichter zu
einem blutrünstigen Schauerstück mit manchen Anklängen an Sophokles'
Elektra zusammengebraut. Vom Geist der alten Sage ist nichts, von ihrer
Form wenig übrig geblieben. Alle Personen sind ins Gemeine herab-
gezogen: Menelaos ist ein herzloser, feiger Egoist, Elektra ein ränkesüch-
tiges Weib, Helena eine eitle Kokette, Orestes, dessen Verfolgung durch
die Erinyen rationalistisch in einen psychopathischen Zustand umgedeutet
wird, gleicht dem nächtlichen Raufbold und Dieb ^Ogeazrjg uaivöjusvog der
Komödie. 0 Schon Aristoteles poöt. 1454 a 28 verurteilt den Menelaos dieses
Dramas als naqdöeiyfia novtjgiag ij^ovg jui] ävayxaiag^ gleichwohl machte
es großen Effekt wegen seiner blendenden Szenerie und des musika-
lischen Bravourstücks V. 1369 — 1502,^) wo die Ermordung der Helena
und die wilde Flucht ihrer Diener durch den vor Angst schlotternden
Phryger in entsprechend zappelnden Rhythmen dem Auge und dem Ohr
zugleich vergegenwärtigt wird.^) Wirkungsvoll wird außerdem namentlich
der Schluß gewesen sein, wo die Flammen zum Gebälke der Burg empor-
züngeln und die Mauern mit schrecklichem Geprassel zusammenstürzen,
während die Frauen und der Chor voll Angst aus dem Theater zu den
Schiffen fliehen. Wenn dann freilich dem Banditentrio Orestes-Elektra-
Pylades, das im Schlußtableau mit Schwertern und Brandfackeln auf dem
Söller des Palastes erscheint, der Dens ex machina ApoUon die Waffen
wie Kindern aus der Hand schlägt und alles mit einem Mal hübsch
friedlich arrangiert, so verstehen wir das Urteil des Grammatikers in der
Hypothesis: xo/Ltixcoregav e^^ei xaxaoTQoq?riv,^)
200. ^(piyEveia fj ev Avkidi geht dem Mythus nach der taurischen
Iphigeneia voraus, fällt aber der Abfassungszeit nach in die letzte Lebenszeit
des Dichters.^) Euripides hinterheß die Tragödie unvollendet; davon zeugen
die unverkennbaren Spuren späterer Zusätze in unserem Text, namenthch
am Schluß und in der Parodos. Aufgeführt ist die aulische Iphigeneia erst
nach dem Tod des Dichters durch seinen gleichnamigen Sohn.^) Einzelne
Verse stammen aus noch späterer Zeit, aber diese können die Annahme
einer vollständigen Überarbeitung in römischer oder gar byzantinischer
Zeit nicht beweisen.^) Den gleichen Mythus von der Opferung der Königs-
*) Vgl. ^ÖQEOTTjg fiaivofievos in Arist Ach. i Wie entstand der Orestes des Eur. ? Progr.
1166 und av. 1491. ; Augsb. 1898, die Eigenart des Stückes aus
*) Argum.: to Öoäfia twv eni oxtjvijg ; der Absicht der Kritik an Aischylos und
evdopcifiovvTOJv. Das Stück ist nach inschrift- Sophokles zu erklären. Es ist nur der voll-
lichem Zeugnis in hellenistischer Zeit bei den gültige Beleg dafür, daß Eur. mit der Heroen-
städtischen Dionysien in Athen wiederauf- ; tragödie gänzlich abgewirtschaftet hatte,
geführt worden (Philol. 60, 1901, 441) und ; *) Mißglückt ist der Versuch von J.
war ein Lieblingsstück der Byzantiner. i Obi in der oben S. 846, 4 zitierten Abband-
3) Auch hier ist die Grenze des Komi- lung, das Stück in die Zeit 415/14 zurück-
sehen erreicht: s. A. Ouviebi, Riv. di filol. zudatieren.
28 (1900) 228; L. Radermachbr. Rh. Mus. 57 ' «) Schol. Ar. ran. 67.
(1902) 278 ff. Zur Metrik der Szene F.Leo, Abb. ^ ') H. Hennio. De Iph. Aul. forma ac
der Gott. Ges. d. Wiss. N. F. 1 7 (1897) p. 79 ff. ; condicione. Berol. 1870. unterscheidet Inter-
0. Schröder, Philol. 64 (1905) 473 f. polationen aus drei verschiedenen Zeiten. Aus
*) Unglücklich ist die Idee von H. Steiger, einem Schluß mit deus ex machina stammen
Handbuch der klasa. AltertimiBwiMenBcbaft. VIL 5. AolL 23
354 GrieoluBche Lüteratargeschichte. L Klassische Periode.
tochter, um den Zorn der beleidigten Göttin Artemis abzuwenden, hatten
vor Euripides bereits Aischylos und Sophokles behandelt; zugrunde lag
bei Euripides neben der Erzählung der Kyprien Stesichoros.^ Euripides
hat die ganze Fabel ins Alltägliche umgesetzt. Iphigeneia, deren Opferung
Kalchas fordert, wird durch die fiktive Aussicht auf Verlobung mit Achil-
leus nebst Kl3rtaimestra von ihrem Vater nach Aulis gelockt. Angekommen,
erfahrt Kly taimestra die ganze Wahrheit und sucht ' nun das Opfer zu
hintertreiben; auf der anderen Seite schürt Odysseus die Ungeduld der
Griechen. Agamemnon ist ratlos, Achilleus erbietet sich, zunächst noch
ohne daß er Liebe empfände, Iphigeneias Ritter gegen die drohenden Achäer
zu werden. Da reißt mit einem Mal Iphigeneia selbst, das zarte Mädchen,
die verwirrten Männer durch ihren Entschluß, sich freiwillig pro patria
zu opfern, aus allen Schwierigkeiten, ein psychologischer Salto mortale,
den schon Aristoteles (po^t. 1454a 30) tadelt; man darf zur Entschuldigung
des Dichters allerdings nicht vergessen, daß er das Motiv vom Opfertod
einer Jungfrau selbst schon in den Herakliden verwendet hatte und daß
es der böotischen (Corinna fr. 7) und attischen Sage (Agraulos, die Töchter
des Leos, des Erechtheus) geläufig war. Der Jammermann Agamemnon
und die brave Hausfrau und Mutter Klytaimestra sind recht wenig heroische
Gestalten; aber das junge Paar, und wie Achilleus vom Schützer zum Lieb-
haber wird, ist fein gezeichnet, die Chöre, wiewohl mit der Sache wenig
zusammenhängend, doch farbenreich. Bezeichnend aber ist für die mehr
und mehr überhandnehmende Richtung des Euripides auf das äußerlich
Bühnenwirksame, daß er die in dem StoflF dieser seiner letzten Tragödie
gebotene Gelegenheit, ein Charakterstück zu schaffen, kaum benützt,
sondern alles auf äußerliche Intrigen und Spannungen angelegt hat. Der
dialogische Prolog in Anapästen (in den aber noch ein monologischer
Prolog in iambischen Trimetern V. 49 — 119 eingekeilt ist) hat ein Analogen
nur in dem nacheuripidel'schen Rhesos, der übrigens eben den uns vor-
liegenden und jedenfalls schon dem Chrysippos^) und Ennius bekannten
Prolog der Iphigeneia zum Vorbild gehabt haben kann. Dem Euripides
selbst ist der erhaltene Prolog nicht zuzuti'auen, vielleicht aber seinem
Sohn, der wohl das am Anfang und Schluß unvollendete Stück ergänzte.
Das 4. Jahrhundert v. Chr. hat einen anderen, aber wohl ebenfalls un-
echten Schluß gehabt; der uns vorliegende ist jedenfalls nachalexandri-
nisch.3) — Das Stück ist von Schiller übersetzt worden.
die Verse bei Aelian. v. h. VII 39, die (A. ! Interpolation 1532, Wilamowitz 1510, A.Nauck
SwoBODA, Beiträge zur Beurteilung des un- 1540, H. Weil 1577. Siebe die Einleitung
echten Schlusses von Eurip. Ipb. Aul., Progr. zu der erkl. Ausg. von E. B. England, Lond.
Karlsbad 1893) schon Aristophanes von Byzan-
tion gekannt hat. Vielleicht setzt sogar schon
Aristot. po(5t. 1460b 32 die fxaf/^os xegovooa
des Schlusses voraus, von der in dem erhaltenen
1891, der dem Älian einen Irrtum zutraut
und Benützung der Hekabe im Schluß nach-
weist. — Alte Darstellungen von Szenen des
Stückes auf einem Becher bei K. Robert,
Stück nichts steht. Den Schluß von V. 1578 50. Berl. Winckelmannsprogr. (1890) 51 ff.
an läßt auch N. Wecklein, Sitz.ber. d. bayr.
Ak. 1899 II 312 von einem Byzantiner (re-
centissimo poeta. in a. Ausgabe) zugefügt sein.
Wo der interpolierte Schluß beginne, ist kontro-
vers ; R. PoRSON und P. Girard (Rev. des ^t.
gr. 17, 1904, 173 ff.) setzen den Anfang der
^) M. Mayer, De Euripidis mythopoeia,
Berlin 1883.
») Chrysipp. fr. log. 180 p. 53, 26 Arnim;
die Trimeterpartie des Prologs kennt Aristot.
poet. 1411b 29 (=Iph. A. 80).
') Die herrschende und wohl richtige
C. Drama. 2. Die Tragödie, d) Eoripides. (§ 201.) 355
201. Ebenso wie die aulische Iphigeneia sind auch die Bdxxai erst
nach dem Tod des Dichters auf die athenische Bühne gekommen, i) Es ist
aber möglich, daß Euripides das Stück in Makedonien gedichtet und zuerst
außerhalb Attikas aufgeführt hat.*) Nur mit den Bakchen und dem
Phaethon hat Euripides auf das Gebiet der Göttersage hinübergegriffen
und in den Bakchen eine der zahlreichen tendenziös erbaulichen Sagen
dramatisiert, die in eindrucksvollen Bildern vor Augen führen wollen, wie
der mystische Gott mit Wunderkraft alle niederwirft, die sich seinem
Dienst entziehen oder widersetzen wollen. Euripides läßt den Dionysos
auf einer Station seines großen Welteroberungszuges in Theben, seinem
Geburtsort, auftreten, als den unerkannten Führer des Thiasos seiner Ver-
ehrerinnen, aus denen der Chor gebildet ist. Den in Rhythmus und Geist
höchst charakteristischen fanatischen Missionsliedern des Chors haben die
Mutter des Königs Pentheus, Agaue und ihre Schwestern, schon Gehör
geschenkt und sind zu bakchischen Orgien ins Gebirge geeilt; das Greisen-
paar Kadmos und Teiresias schickt sich voll frommer Ergebung an, ein
gleiches zu tun. Mit allem Nachdruck aber widersetzt sich, ein neuer
Lykurgos mit starken Anklängen an den Kreon der sophokleischen Anti-
gene, der Vertreter des aufgeklärten Staats, Pentheus, dem mystisch-
wilden Treiben, in dem er eine Gefährdung der Nationalreligion (V. 482.
779), der öffentlichen Ordnung und der weiblichen Zucht^) sieht. An der
Spitze bewaffneter Macht will er dem Unfug ein Ende machen; aber
Dionysos betört seinen Sinn, und wie er als Späher im Wald von einer
Fichte aus den Bakchantinnen zuschaut, zerfleischt ihn in bakchischer
Raserei seine eigene Mutter; sie trägt am Schluß des Stückes triumphie-
rend seinen Kopf herein. Den Dens ex machina, der mit einem Ausblick
in die vom Schicksal beschiedene Zukunft alles wieder ins Geleise bringt,
gibt Dionysos selbst ab. Derselbe Stoff war schon von Aischylos in ^e/uih]
fj ^Ydgo(f6üoi, Bdxyai, IlevOevq, SdvxQiai auf die Bühne gebracht worden.
Das Stück steht an Konzentration der technischen Behandlung, die sich
besonders auch in dem völligen Fehlen politischer Zeitanspieluugen zeigt,
an Sicherheit, Klarheit und edlem Stil der Charakterzeichnung unter allen
euripideischen am höchsten und an Bühnenwirkung keinem seiner anderen
nach. Keine der blasphemischen Äußerungen,*) die bei Euripides sonst
Ansicht ist die oben geäußerte (Matthiä, G.
Hermann. Härtung, Monk, W. Dindorf, Kirch-
hoff, Nauck. Paley, Klotz, Hennig, Vitelli);
vereinzelt (Firnhaber, VV^eil) wird die Echt-
heit, abgesehen von vereinzelten Interpola-
tionen, aufrecht erhalten. Als aufgegeben
können gelten die Meinungen, aus den zwei
phanes auf Stellen der Bakchen sicher wäre.
Siehe H. Weil, fitudes sur le drame ant. 110.
') Die Aktualität dieses Zuges zeigt Ar.
Lys. 387 ff,; vgl. Plat. leg. VII 815c.
*) Was Agaue 1348 im Werben um
Strafmilderung vorübergehend sagt, darf nicht
mit P. Deohabme, H. Weil (Etudes sur le dr.
Iphigenien des älteren und des jüngeren Euri- ant. 108), Cl. Lindskoo (Studien zum ant
pides habe ein Grammatiker die erhaltene Drama, Lund 1897) zum Ausgangspunkt für
zusammengesetzt (Eichstädt, Böckh, Bremi, 1 eine Umdeutung des ganzen Stückes genommen
Zimdorfer) oder unsere Iph. sei von Chairemon. | werden, als sagte Eur. nur in diesem ein-
*) Schol. Ar. ran. 67. Anspielung auf zigen Vers seine wahre Meinung. In dem
Bacch. 1. 27. 84 f. 366. 416. 467. 725. 859 mystischen Galimathias, den Eur. V. 286 ff.
könnte Ar. ran. 631 sein.
*) Dieser Schluß wäre nötig, wenn die
in A. 1 angeführte Anspielung bei Aristo-
den Teiresias über den Sinn der Dionysos-
sage vortragen läßt, darf man gewiß nicht
boshafte Ironie, sondern nur einfachen Be-
23*
356 Griechische Litteratiirgeschichte. L ElaaBische Periode.
80 gewöhnlich sind (H. Weil, Etudes 99 flf.), verrät eine Kritik des
Dichters an Dionysos und seinem Kult, dessen ausgleichende, eriösende
Macht vielmehr in den Chorgesängen mit ungewöhnlicher Wärme gepriesen
wird. Wer das Stück in unbefangener Vergleichung mit den übrigen des
Euripides auf sich wirken läßt, wird weder glauben mögen, der Dichter
gebe in ganz unparteiischer Darstellung das Bild eines bühnenwirksamen
Vorgangs, 1) noch auch, es habe sich in seinem Verhältnis zur Religion hier
nichts Wesentliches verändert.*) Vielmehr ist klar, daß der gealterte
Dichter hier mit jugendlichem Feuer das Evangelium eines weltumspannen-
den, internationalen, von den alten Olympiern grundverschiedenen Gottes
der Zukunft verkündigt, dessen Wesen und Bedeutung ihm vielleicht erst im
Norden, der Heimat der Dionysosmystik, ganz verständlich geworden war.
Von einem reumütigen Zurücksinken in die altepische Orthodoxie'*) oder
einer Bezeugung der Buße des Dichters für seinen „Abfall vom Genius
seines Volkes"^) sollte man nicht reden, ebensowenig aber bestreiten, daß
der Dichter, müde gehetzt in Skrupeln und Zweifeln, sich endlich dem
Mystizismus in einer damals aktuellen Form zugewandt habe. An Vor-
zeichen für eine solche Wendung fehlt es nicht — der Vernunftradikalis-
mus wird schon in dem Eteokles der Phönissen und im Kyklopen bloß-
gestellt,*^) die mystische Weltflüchtigkeit im Ion verherrlicht.^) Daß aber
Euripides mit diesem Gegenstand und seiner Behandlung eine Saite berührt
hatte, die in seiner eigenen und in hellenistischer Zeit mächtig weiter-
klang, das zeigt die große Beliebtheit des Stücks^) und die Behandlung
desselben StoflFs durch lophon, Kleophon, Xenokles, Chairemon, Hera-
kleides, Lykophron und den Römer Accius. Einen Teil des (übrigens
durch Verstümmelung und Interpolation beschädigten)^) Schlusses hat
Goethe übersetzt.^)
202. Das einzige uns erhaltene Satyrspiel der griechischen Litteratur
ist der Kvxko)ti>^ eine Dramatisierung der Geschichte von der Blendung
des Polyphemos im neunten Gesang der Odyssee. Um eine sagengeschicht-
liche Wahrscheinlichkeit für den erforderlichen Satyrchor zu gewinnen,
fingiert der Dichter ein Dienstverhältnis des alten Silen mit seinen Satyr-
jungen, die auf einer Seefahrt mit ihrem Herrn Dionysos an das sizilische
Gestade beim Ätna verschlagen worden sind,^^) zu dem Kyklopen. Im
rieht über die Theologie der Sekte sehen Theologie, Nüiuberg 1857, 463 ff. nach 6.
(H. Weil, Et. 113 f.; R. Hirzkl, Ber. der . Bernhardys Vorgang.
Sachs. Ges. der Wiss. 48, 1896, 294). — Man *) Th. Gomperz, Griech. Denker II 12.
vergleiche dagegen die Kritik gegen ApoUon ! *) Vgl. auch fr. 913 N.*
im Ion. — Ganz anders urteilt F. Girard. Rev. •) Man darf hier wohl auch an Piaton
des öt. gr. 17 (1904) 175 ff., im Zusammenhang und die im einzelnen freilich andersartigen
eines phantastischen Versuches, in Iph. Aul., ; mystischen Strömungen bei den Frühperipa-
Alkmeon und Bakch. eine „txilogie libre* | tetikem (Aristoxenos, Herakleides Pont., Di-
nachzuweisen. kaiarchos) erinnern.
') So H. V. Arnim in der Einleitung zu ') Delphische Inschr. s. II. a. Chr. Bull,
seiner Übersetzung der B., Wien 1903. decorr.hell. 18 (1897) 84 (= Ch. Michel, Reo.
^) So. nach dem Vorgang von Decharme, 959); Plut. Grass. 33. Die B. sind auch Scbul-
Tyrrell, Weil (Et. 106), W. Nestle. Philol.
58 (1899) 362 ff., am radikalsten Cl. Lindskog
a. a. 0.
*) K. F. Nägelsbach, Die nachhomer.
lektüre geworden nach Callim. epigr. 48 Wil.
®) A. BücKH. Trag. gr. princ. c. 24.
») Ges. Werke 41, 2 (Weimar 1903) 237 flf.
***) Eine Münze der von Hieron gegrtin-
C. Drama. 2. Die Tragödie, d) Earipides. (§§ 202—208.) 357
übrigen verläuft, abgesehen von einigen Modifikationen, die der Dichter
mit Rücksicht auf die Inszenierung vornehmen mußte, ^) die Handlung wie
bei Homer. Nur läßt der Dichter das auch in der Helena und taurischen
Iphigeneia angeschlagene Motiv vom Triumph griechischen Witzes über
barbarischen Stumpfsinn^) deutlicher vorklingen und gibt dem Stück
aktuellen Iteiz dadurch, daß er dem Kyklopen Züge des karikierten sophi-
stischen Übermenschentums beilegt. Schon das weist das Satyrspiel in
die spätere Zeit des Dichters, 3) nicht vor 420. Der Humor, der wohl
überhaupt nicht Euripides' Sache war, ist nicht gerade überwältigend, aber
doch sind die Menschlichkeiten des Silens und der Satyrn drastisch charak-
terisiert, und das Stück hat sogar in der Vasenmalerei Spuren hinterlassen.*)
Vor Euripides hatten den Stoff schon in Komödien Epicharmos (KvxXmip)
und Kratinos {'Odvoofjg), in einem Satyrspiel Aristias (Kvxko^)) behandelt.
203. 'Pijaog ist nichts anderes als ein Iliadis Carmen (die Dolonie)
diductum in actus, nachgebildet von dem römischen Tragiker Accius in der
Nyctegersia. Die Echtheit der Tragödie war nach der Hypothesis schon
im Altertum angezweifelt;^) die alexandrinischen Kunstrichter fanden in
ihr mehr den sophokleischen Charakter.^) Das kann sich nun kaum auf
etwas anderes als den Mangel an euripideischem Pathos beziehen; denn
von der eigentlichen Kunst des Sophokles läßt sich noch weniger etwas
in der Tragödie finden. Aber sie weicht so sehr von der Art aller er-
haltenen Tragödien des Euripides ab, daß sie entweder aus einer ganz
anderen Kunstperiode unseres Dichters stammt oder ihm überhaupt fälsch-
lich zugeschrieben wurde. Für die Unechtheit sprachen sich L. C. Valckeuaer,
Diatribe in Eurip. p. 88 ff., und 6. Hermann, Opusc. III 262 flf. aus; aber
daß Chorlieder von so kunstvollem und reichem Versbau, wiö die des
ßhesos sind, in der Zeit der alexandrinischen Pleias, an die Hermann
dachte, noch gedichtet worden seien, hat keine Wahrscheinlichkeit. Wenig
glaubwürdig ist auch die Ansicht der alten Grammatiker Krates, Dionyso-
doros und Parmeniskos, denen sich in unserer Zeit F. Vater in seiner
Ausgabe (Berl. 1837) und J. A. Härtung, Eurip. restit. I 38 angeschlossen
haben, daß der Rhesos ein Jugendstück des Euripides soi.*^) Gegen Euri-
pides spricht schon das Sympathisieren mit der Orphik.^) In der Tat
deten Stadt Aitne zeigt den Silenkopf (B. Head (1891) 271 ff.
Hist. numor., Oxf. 1887. 114). P.Masqüeray, *) Arg. Rbes. p. 324 Schw. Dazu ein
Rev. des et. anc. 4 (1902) 165 ff. I Scholion zu V. 41: ro /» ^^* ovx eaxiv Evoi-
») G. Kaibel, Herrn. 30 (1895)71ff.; W. .-ridor 6 ou/o^.
ScHMiü. Philol. 55 (1S96) 57 ff. «) So auch Wilamowitz, Eur. Herakl. P
2) Dasselbe Motiv in dem hellenistischen 21 f. 41; s. dens., De Rhesi scholüs. 1877, 12.
Mimus Oxyrh. pap. III p. 45 ff. übrigens ist | ') Astronomische Irrtümer des Stücks
auch Polyphemos beliebte Mimenfigur (H. ! erklärte daraus Krates nach den Scholien
Reich, Der Mimus I 304). zu V. 528 (vgl. zu V. 5. 541). — Wilamowitz,
*) Parodien tragischer Stellen sind Cycl. De Rhesi scholiis. Anal. Eur. 147 f. u. Euripid.
218 (Aesch. Prom. 116: s. F. Hahne, Philol. 66, Herakl. V 41 läßt den Rhesos im 4. Jahrb.,
1907,47). 6S7 (Soph. Aut. 838). Gegen Kaibels in der Zeit des zweiten Seebundes gedichtet
Ansetzung vor der Alkestis s. W. Schmid sein. Die ganze Geschichte der Rhesosfrage
a. a. 0.; Hahne a. a. 0. 46; 0. Hense, Die
Modificirung der Maske' 16; Wilamowitz
in seiner Übersetzung 1906 p.20 (Grtlnde für
spätere Ansetzung aus der Technik).
*) F. Winter, Jahrb. des arch. Inst. 6
diskutiert von J. C. Rolfe in Harvard stud.
4 (1893) 61 ff.
8) Rbes. 943 ff. 966; vgl. dagegen Eur. Ale.
967 ff.; Hipp. 952 ff.; Cycl. 646 ff.
358 GriechiBche LitteraturgeBchichte. I. Klassische Periode.
hatte Euripides nach den Didaskalien, wie in der Hypothesis des Stückes
bezeugt ist, einen Rhesos geschrieben/) der vielleicht mit der Gründung
von Amphipolis am Strymon (um 435) zusammenhing; aber in dem uns
erhaltenen Drama weisen die häufige Verteilung eines Verses auf mehrere
Personen, der Gebrauch des Dens ex machina am Schluß des Stückes, die
Verwendung von vier Schauspielern, der gelehrte Beigeschmack durch
eine Menge von Glossen,*) für die der Geschmack durch Antimachos von
Kolophon geweckt wurde, entschieden auf spätere Zeit hin. Lob verdient
in dem Stück der melodische Charakter der Gesänge, die frisch und stim-
mungswarm sind, auch leicht und gefallig, wie kaum in einer anderen
Tragödie des Altertums, an das Ohr klingen; gelungen ist insbesondere
das Morgenlied 527 — 564, das freilich von dem neuen Phaethonfragment
(Berl. Klassikert. V 2, 81) abhängt. Der Dichter des Stücks hat sich aber
auch bemüht, den spröden epischen Stoff dramatisch zu beleben durch
Motivierung der Einzelvorgänge, insbesondere Einführung eines Schuld-
motivs, indem Rhesos für seine vßgig — er hatte sich gerühmt, ohne Bei-
hilfe der Troer in einem Tag die Achaier zu bezwingen — bestraft wird.
Nicht glücklich ist er in der Charakterzeichnung — sowohl Rhesos als
Hektor^) sind barbarische Renommisten, Dubletten, die eintönig wirken.
Die lyrische Begabung ist die stärkste bei diesem Dichter. Sein Stück
ist uns, als die einzige griechische Tragödie aus vorchristlicher Zeit, die
nicht einen der drei großen Tragiker zum Verfasser hat, von größtem
Interesse, da sie uns für die Leistung der drei einen Maßstab gibt.
204. Verlorene Stücke. Außer den neunzehn vollständigen Dramen
sind viele Fragmente des vielgelesenen und wegen seiner schönen Sentenzen
vielzitierten Dichters auf uns gekommen. Zahlreich sind namentlich die Bruch-
stücke der beliebten Tragödien Antiope,*) Alkmeon, Andromeda,*^) Bellero-
phontes,^) Stheneboia, Erechtheus, Kresphontes, Melaqippe (fj oofpij und ?/ Öeo-
fioni^), Oidipus,'') Palamedes, Philoktetes, Protesilaos,®) Telephos. Für den
*) Wenn nicht von zwei Tragödien 1 ') Interessant ist die in dem Stück zu-
Rhesos, so doch von zwei oder vielmehr drei | tage tretende philhellenische Homerinter-
Prologen eines Rhesos, dem erhaltenen in ; pretation, zu der auch die Degradierung von
Anapästen und zweien in iambischen Tri- ,' Hektors Charakter (die in den Schol. Townl.
metem, haben wir durch das Argumentum | zur 11. systematisch betrieben wird: W.
Kenntnis. Ahnlich haben wir in der Iphig. Dittenberoer, Herrn. 40, 1905,461, 1) gehört.
Aul. Spuren von zwei Prologen, einem ana- ' *) Aus dem Schluß größere Fragmente
pästischen und einem iambischen; ebenso I gefunden in Flinders Petrie papyri, heraus-
gab es zwei Ausgänge derselben Iphigeneia gegeben von J. P. Mahaffy in Cunningham
und des Archelaos; s. F. G. Welcker, Gr. Memoirs nr. 8, Dublin 1891.
Trag. 700 f. ^) Von der großartigen Wirkung, welche
*) über die Sprache L. Eysert, Rh. im die Andromeda noch zu Neros Zeit übte, er-
Lichte des euripidelschen Sprachgebrauches, \ zählt uns Eunapios p. 54 D. und Lukian,
Progr. Leipa I 1891. II 1893. — Sehr merk- Quomodo bist, conscr. 2; vgl. Aristoph. ran.
würdig sind auch die von Wilamowitz a. a. 0. 53. Die Rekonstniktion versucht E. Müller,
behandelten Scholien: ihren ältesten Bestand Philol. 66 (1907) 48 ff.
bildet ein Kommentar, der den Zweck ver- , ®) Bellerophon aufgeführt vor 42'), da
folgte, durch fortlaufende ästhetische Be- i auf ihn angespielt ist in Aristoph. Acharn.
anstandungen zu beweisen, daß das Stück ! 426 ff.
nicht von Euripides sein könne; gegen diesen ') Rekonstruktion versucht N. Wecklein,
Kommentar ist aber dann ein zweiter, der Münch. Ak. Sitz.ber. 1901, 661 ff.
die Echtheit zu erweisen sucht, geschrieben ^) M. Mayer, Herm. 20 (1885) 101 ff.
worden, die direkte Quelle der Scholien.
C. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripides. (§§ 204—205.) 359
Erfolg des Archelaos spricht seine inschrifÜich (Philol. 60, 1901, 441) be-
zeugte Wiederaufführung in hellenistischer Zeit bei den Naia in Dodona.
Über die gefälschte Danaä s. o. S. 335, 9. Die umfangreichsten Reste haben
wir auf den zwei Schlußblättem des Codex Claromontanus der Paulusbriefe
vom Phaethon;!) sie haben Goethe zur Wiederherstellung der Umrisse der
ganzen Fabel gereizt.*) Von der Hypsipyle hat B. Grenfell 1907 be-
deutende Reste auf einem Papyrus entdeckt. Das beliebteste Stück war
im Altertum die Antiope;^) sie schlägt zum erstenmal in der Welt-
litteratur das mächtige Motiv vom Gegensatz zwischen dem ßiog jigaxnxog
(Zethos) und ^eajgrinxog (Amphion) an,*) wenn auch formell nur beiläufig,
da das ganze Stück, eines der spätesten des Dichters,^) auf Verwicklungen
und Spannungen angelegt war. Auch die MeXavijtnrj fi ootpif) behandelte
in mythologischem Gewand ganz moderne Zeitfragen, wie die Frage von
der Möglichkeit des Wunders, mit dem größten rhetorischen Raffinement.
Die sachliche Fortsetzung dazu bildete die MeXavhzjirj f} deojuänig^ in der An-
lage der Antiope verwandt. Am meisten Spott der Komödie zog dem
Euripides seine Neigung zu, die Wirkungen des Unglücks an seinen Helden
in Wesen und Aufzug möglichst realistisch vor Augen zu stellen, in welcher
Beziehung er im Telephos das Höchste geleistet zu haben scheint. Be-
merkenswert ist die Vorliebe, mit der er, auch in den verlorenen Tragödien,
erotische Probleme behandelt, und zwar meist so, daß das Weib Trägerin
der verderblichen Leidenschaft ist (Medeia, Hippolytos, Protesilaos, Stheneboia,
Peleus, Phoinix); im Aiolos wagt er sogar ein blutschänderisches Verhältnis
auf die Bühne zu bringen. Die Komödie schilt über Pornographie.')
205. Kunstcharakter des Euripides. In Benützung der StoflF-
quellen ist mehrfach eine Bevorzugung des Stesichoros bemerkbar.^) Was
0 F. Blass, De Fhaeth. Eur. fragm. : viel Zawachs durch Papyrusfunde wie Eur.
Claromontanis, Kiel 1885. Restitutionsversuche j (F. G. Kenyon, The Palaeogr. of Greek papyri
von WiLAMOwiTZ, Herrn. 18 (1883) 396 ff. ' 137; Arch.f.Papyrusf. 1,510; 2, 354; 3,276 f.
Neues Fragment Berl. Klassikert. V 2, 79 ff. i 485; Berl. Klassikertexte V 2, 1907, 72 ff.
*) Goethe. Werke 41, 2, 32 ff. (Wei- bieten Stücke aus Kgfjteg, (pa^&wv u.a.).
mar 1903). — Die zerstreuten Fragmente zu ») Rekonstruktionsversuche von H.Wbil,
sammeln und zur Rekonstruktion der Dramen I ]6t. sur le drame ant. 243 ff.; A. Tacconb,
zu verwerten, bildete überhaupt eine die : Riv. di filol. 33 (1905) 32 ff.
Gelehrtenwelt viel beschäftigende Aufgabe, i *) Vgl. Ps.Plat. Anterast. 132b ff.; durch
Hauptleistungen von L. C. Valckenaer, Dia- i die Lebensanschauung des Aristoteles und
tribe in Euripidis perditorum dramatum rell. der anderen Nachsokratiker ist dieses Thema
LB. 1767; J.A. Härtung, Emipidesrestitutus, | in den Mittelpunkt des Interesses gerückt
Hamb. 1843. 44; F. G. Welcker, Griech. worden und hat besonders im 18. Jahrh. durch
Trag., 2. Bd.; N. Wecklein, über drei verlo- die Behandlung in Goethes Tasso und F. M.
rene Tragödien des Euripides (Antiope, Anti- i Klingers „Weltmann und Dichter" (Sämtl.
gone, Telephos), Bayr. Ak. Sitz.ber. 1878 ' Werke 9 Stuttg. 1862) neuen Anklang ge-
11 170 ff.; über den Kresphontes des Eur. in ' gefunden.
Festschrift für Urlichs, Würzb. 1880; Über ' ») Schol. Ar. ran. 53 ; Verwandtschaft mit
fragmentarisch erhaltene Tragödien des Eur. dem Ion bemerkt Weil 1. 1. 236 ff.
(Andromeda, Bellerophon etc.), Bayr. Ak. | *) Abgefaßt vor 411: Ar. Lys. 1124 ff.
Sitz.ber. 1888 I 87 ff. Neue Bruchstücke aus Fragmentzuwachs aus Job. Diac. ad Hermog.
den Temeniden (nach Wecklein aus Diktys) | gibt H. Rabe, Rh. Mus. 63 (1908) 145 f. Zur
aus Pariser Papyri publiziert von H. Weil, i Rekonstruktion des Inhalts der beiden Mela-
ün papyrus in^dit de la bibliothöque de M. nippen R. Wünsch. Rh. Mus. 49 (1894) 91 ff.
A. Firmin Didot. Par. 1879 ; F. Blass, Rh. M. i ') Ar. ran. 1043 ; vgl. ran. 850 ; nub. 1371 f.
35(1880) 74 ff ; N. Weoklein, Philol. 39 (1880) i ») Über die beiden Iphigenien, Hei., Or.,
406 ff. — Kein anderer Tragiker erhält so i EL, Troad. M. Maybb (s. o. S. 354, 1).
360 Orieohische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
die Form angeht, so fand Euripides bei seinem Auftreten die Tragödie
bereits vollständig ausgebildet vor. Formell verdankt sie daher seinem
Eingreifen keine wesentlichen Fortschritte. Was hier von ihm neu ein-
geführt und weiter entwickelt wurde, der Prolog und der Deus ex
machina, war nicht wesentlich und sicher kein Fortschritt. Der Prolog
stellt den Zusammenhang mit der Vergangenheit her, der Deus ex machina
eröffnet, abgesehen von seiner Verwertung zur Beseitigung unlösbarer oder
schwer lösbarer Konflikte, einen Ausblick in die Zukunft. Beide sind
also bequeme Mittel, das Drama im engeren Sinn stofflich zu entlasten,
bezw. ihm durch epische Zusätze in leichtester szenischer Einkleidung zeit-
lich und ätiologisch eine weitere Perspektive zu geben. Das Bedürfnis
nach solchen Mitteln mußte sich einstellen, sobald die Sitte, eine Hand-
lung über eine Trilogie hin zu verbreiten, aufgegeben und der Dichter
genötigt war, den ganzen Zusammenhang in einem Drama darzulegen;
es mußte aber besonders von einem Dichter empfunden werden, der sich
wie Euripides kühne Änderungen der überlieferten Sagenform erlaubte.')
In fast allen Stücken orientiert^) Euripides im Eingang durch den von
einer handelnden Person oder einem Gott gesprochenen Prolog über den
Mythus und die auftretenden Personen, wobei sich in den Stücken vor
dem Jahr 415 regelmäßig der Sprecher des Prologs sogleich mit dem
ersten Vers vorstellt. Daß diese Vorrede, die öfters auch schon den ganzen
Gang der Tragödie vorausverkündet, die Spannung der Zuhörer schwächte,
war dem athenischen Publikum, das die Mythen ja im wesentlichen immer
schon vorher kannte, gewiß Nebensache, aber die undramatische Breite
und Geschwätzigkeit der Prologe wurde' lästig empfunden. 3) — Ein Gegen-
stück zum Prolog bildete der Deus ex machina, mit dem Euripides die
Mehrzahl seiner Stücke schließen läßt,*) den er aber auch nicht selten
mitten im Stück zur Anwendung bringt. Götter hatte schon Aischylos
mittels der Maschine erscheinen und Verfügungen für die Zukunft treffen
lassen, aber Euripides benützte dieses Mittel in allzu bequemer und ein-
förmiger Weise. Manchmal wird so ein Kultusbrauch, wie in Iph. Taur.
1450 ff., Med. 1381 ff., Rhes. 962 ff., oder eine politische Einrichtung, wie
in Ion 1571 ff. und Andrem. 1244, vorausverkündet und gewissermaßen
sanktionieii;. In solchen Fällen wird der Deus ex machina seine Wirkung
*) Über Motiv versetzuDgen bei Eur. s. \ interpolatione, Bonn 1880; H. v. Arnim, De
Weil 1. 1. 125 fF. | prologorum Euripideor. aite et interpolatione,
•') Dies ist nach Aristot. rhet. 1415 a 18 i Greifsw. 1882.
der Zweck des Prologs. I *) Wilamowitz, Anal. Eur. 180. Die
') Ar. ran. 946 und 1198 flf.; vielleicht stniktive Bedeutung des i^foc d. fi. erörtert
geht auch Ar. Ach. 442 flf. auf die umstand- , H. Weil, Etudes 131. Als Verlegenheits-
lichen Prologe. Vgl. Vit Eur. p. 4. 7 Schw. : auskunft der Tragiker bezeichnet ihn Plat.
xai n' ToTi: .7oo/.o;'0(s ^f" o/Xijgos. Anon. in L. Crat. 425 d: L-retdav xi djionatair, fjzI tuc; [at}-
Spenokls Rhet. Gr. I4B6, 19. Auf den großen ] /«ras xaraffsryovni i}Foh nwovTFc. Über die
Abstand von der homerischen Technik, der , Einrichtung der Schwebemaschine für den
sich im euripidoYschen Prolog zeige, macht
Schol. Townl. Hom. O 64. wo auch die Breite
der Prologe gerügt wird, aufmerksam. Übri-
gens haben namentlich die Prologe viele
Deus ex machina s. Reisch in Dörpfeld-
Reisch. Das griech. Theater 230 flf. ; über die
Einführung derselben in den zwanziger Jahren
des 5. Jahrh. W. Christ, Jahrbb. f. cl. Phil.
InteiT)olationen erfahren, worüber J. Klinken- ; 149 (1894) 157 ff.; E. Bethe, Proleg. z. Gesch.
BERG, De Euripideorum prologorum arte et 1 d. Theat. 130 ff.
C. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripides. (§ 205.) 361
geübt haben und namentlich bei seinem ersten Gebrauch der gespannten
Aufmerksamkeit sicher gewesen sein; aber meistens verhüllt er nur schlecht
die Eilfertigkeit des Dichters und die Mängel der Anlage, weshalb mit
gutem Takt Seneca die Qöttermaschinerie in der Nachahmung der Medeia
und des Hippolytos wieder weggelassen hat, und gerade in Anbetracht
von Euripides' veristischer, das Wunder eigentlich ausschließender Gesamt-
haltung wirkt dieses Kunstmittel besonders stilfremd und erkältend.
Wesentlicher und bedeutsamer ist, was Euripides in der tragischen
Kunst innerhalb ihrer alten Formen geneuert und teils gebessert, teils ver-
schlechtert hat. Beginnen wir mit dem Stoff, so war es, zumal seitdem man
der Tragödie anstatt des religiösen mehr nur ästhetisches Interesse ent-
gegenbrachte, natürlich, daß die nun in Epos, Dithyrambus und Drama
so oft vorgeführten Heroen und Sagen sich nach und nach abnützten.
Euripides trug dem Rechnung, und da er den von Phrynichos und Aischylos
unter ganz besonderen Umständen betretenen Weg des historischen Dramas
nicht weitergehen wollte, völlig freie Erfindung der Fabel aber zu seiner
Zeit jedenfalls durch den gottesdienstlichen Charakter des Tragödienagons
ausgeschlossen war, so suchte er mit erfinderischem Sinn teils neue und
entlegene Lokalsagen auf,0 teils gestaltete er, namentlich in seinem
späteren Leben, alte Mythen um, teils endlich flocht er, in dieser Be-
ziehung nahe an die neue Komödie streifend, aus kleinen Anhaltspunkten
ganz neue romanhafte Erzählungen zusammen. Man muß anerkennen,
daß er auf diese Weise neue tragische Figuren, wie die Medeia und
Iphigeneia, für die Ewigkeit geschaffen und einer neuen Gattung des
Dramas mit frei erfundenem Gegenstand durch seine Helena und Andro-
meda die Wege gebahnt hat. — Aber der Stoff an und für sich be-
deutet noch wenig; er erhält erst Bedeutung durch den dramatischen
Funken, der ihm entlockt wird. Die Kraft des Idealismus, mit der Sophokles
für seine übermenschlichen Gestalten Überzeugung zu wecken verstanden
hatte, fehlt dem Euripides; er sucht Überzeugungskraft für seine Helden
durch treue Nachbildung der empirischen Menschentypen, die er weniger
durch Großsinnigkeit als durch Leidenschaften 2) über das Gewöhnliche
hinauf steigert. Auf die Leidenschaften {miäi]) allerdings, die auch die Zu-
schauer mit fortreißen, verstand sich Euripides wie kein zweiter. Ps.-
Longin rühmt ihm nach, daß er die Liebe und Raserei auf die Bühne ge-
bracht habe.^) Als Kenner der menschlichen Natur läßt er die dämonische
^) Das ist wohl der Nebengedanke von 1 die zur //^yaAoi/T/m den Gegensatz bildet
Aristoph. Ach.398: 6 vors fiev (sc. EvQUTtdov) (Aristot. eth. Nie. 1123b 4 ff.): Suppl. 555 ff.
€^(0 ^vlleyiov LivXXia. Vgl. F. NoAOK, Iliu- | 723 ff.; Med. 122 ff. 635 ff.; Ion. 119; Iph. A.
persis, Gießen 1890. i 543 ff. 920 ff.; ebenso jeder /i^oor^/c, auch in
*) r/xiora fisYaXofpvrjg nennt ihn Auct
Jt. t?»/'. 15, 3; r//s orrOfOfo)^ Jioitjrijg ftäXXov ij
Tov vov id. 40, 2. Vorzüglich ist die Be-
merkung des Schol. Soph. OR. 264 ai xoiavTai
ewoiai ovx f/orra« fiev xov öEftvou, xivtjTtxai
de elot lov t^edroov' ah xai Jilem'd^ei EvQi-
Tfidtfs, 6 de ^oqoxkfj'; :to6g ßwi^v fiovor avxmv
cbitfiai jTQog ro xivi)oai ro deaxQov. Um 80
mehr ist Eur. ein Lobredner der owffQoodvri,
der Politik (Phoen. 499 ff.; Suppl. 244 ff.). Im
Menschen schätzt er nicht das rassenhaft
Instinktive, sondern was ihn vom Tier unter-
scheidet, Vernunft und Kultur (Suppl. 195 ff. ;
fr. 910 N.«; vgl. Iph. A. 558 ff. 1085 ff.).
') Ps.Longin de suhl. 15, 3: eon fikv orv
(fikojiovdiiaxog 6 Evouiiötjg ovo xaini Jia&rj,
fiavia»; xe xal eofoxag, Fxxoayioöijaai xdr xov-
xots wg wx otÖ* et xig excQog estixvxeoxaxog.
362 Griechische LitieratorgeBchichie. L Elascdsohe Periode.
Gewalt dieser Leidenschaften zumeist in Frauen, am stärksten in der
Medeia und Hekabe, zur Erscheinung kommen. Aber auch die zarten
Saiten des Herzens weiß er anzuschlagen, und Rührung überkommt den
Leser in mehr als einem Stück. Diese Wirkung zu erreichen dienen
dem Dichter hauptsächlich die geschickt angelegten Wiedererkennungs-
Szenen, die dann ein bis zur Ermüdung gebrauchtes Liventarstück der
neuattischen Komödie geworden sind.^ In ergreifender Weise hat er
diese in mehreren Stücken mit dem Höhepunkt der Peripetie in Verbin-
dung gebracht. Außer dem Ion, der Elektra und der Iphigenia Taur. war
in dieser Beziehung besonders berühmt der Eresphontes, wo Merope in
falschem Wahn bereits das Beil über dem schlafend daliegenden Jüngling
schwang, als der Alte in ihm den Sohn der Merope erkannte und die
Mutter von der unseligen Tat zurückhielt. Durch solche Vorzüge ist
Euripides der tragischste {rQaytxihxarog) Dichter*) und der Meister der
verschlungenen Tragödie (rgay. Tienley/nevt]) geworden. Daneben war es
die Kunst anschaulicher Schilderung in den Botenerzählungen*) und Chor-
gesängen, auf die sich Euripides vortrefflich verstand und in der er mit den
großen Künstlern seines Jahrhunderts, Polygnotos und Pheidias, glücklich
wetteiferte. Schilderungen wie die von dem entsetzlichen Tod des ge-
schleiften Hippolytos werden nie ihre ergreifende Wirkung verfehlen; aber
auch anmutige Beschreibungen, wie von den Metopen des ApoUontempels
in Delphoi (Ion 184 flf.) werden dem kunstsinnigen Athener angenehme
Erinnerungen an das, was er in Delphoi und in seiner eigenen Stadt sah,
hervorgerufen haben.*) — Den Vorzügen stehen indessen auch Schatten-
seiten gegenüber. Euripides ist, wie oben (S. 328) ausgeführt, durch
seinen Verismus**) in einen unlösbaren Widerspruch mit seinen mytho-
logischen Stoffen geraten. Die Konservativen in Geschmack und Glauben,
wie Aristophanes, waren entrüstet über den Telephos in Lumpen und
über den Dichter von Prozeßreden,®) und auch wir empfinden die Stil-
widrigkeit in dem Bauernweib Elektra und dem Banditen Orestes.
Der Versuch, die Masse der sophistischen Problemstellungen und Tages-
fragen, zumal im Gewand der modernen Terminologie und Rhetorik, in
') Vit. Eurip. p. 1, 9 ScHW. nennt die dva-
yrwgiofioi unter den Erfindungen des Eur.,
und eine Wirkung euripideischer Technik ist
die große Rolle, die in der aristotelischen
Poetik die avnyrdtQioiQ als sanktioniertes
Mittel der tragischen Kunst spielt.
«) Arist. poöt. 1453 a 28; vgl. Quintilian.
X 1, 67: Euripides in iis quae in miseratione
confttant facile praecipuus. Ähnlich urteilt G.
Eur. als Erfinder der Erzählungen uov vtiq
rijv oxfjrtjr.
*) In solchen Beschreibungen von Kunst-
werken, die bei Sophokles ganz fehlen und
bei Aischylos nur spärlich vorkommen, ge-
fiel er sich besonders zur Zeit, als er den
Ion(V. 190— 218; 268—71; 1141-66; 1418
bis 1424). die Elektra (V. 455-^78; 1254-7),
die Phönissen (V. 1107—38) dichtete.
Fbbytag, Technik desDramas,Leipz.l863.239: : ') Arist. po6t. 1460b 34: ^oqwxAijg eqtf
, Keiner seiner großen Vorgänger versteht wie aiVoc ^th omr,; öeT .louXvy Evoi^ridtjv Ö£ oloi
er die epischen Bilder mit flammender, mark- eioiv.
zerfressender Leidenschaft zu füllen; keiner ®) Ari8toph.Ach.432: Ti))Jqov Qay.mfiaxa)
hat soviel wahre, schön empfundene, in- pac. 534 nonjTyr (jtjfmTio)v Sixari?<€T)v; ran.
dividuelle Züge in sie hineingetragen, keiner \ 842 o> nKoxo.-iott xai (Htxtoavooanrä^t]. 943
so reiches Detail, in welchem die Zuschauer p'?.or /iidm>^ arw/ndfuhMvcbto ßtßkton'n.-Tr}{ft7jv.
das gebildete Empfinden ihrer Tage wieder- Vgl. W. Ribbeck, Die dramatischen Parodien
fanden." i bei den attischen Komikern, im Anhang seiner
') Schol. Aesch. Eum. 47 bezeichnet den | Au8gabederAchamer(Leipz.l864)S.277— 316.
C. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripides. (§ 205.) 363
die Tragödie zu ziehen, war eine Geschmacksverirrung, weil auf solche
Art in den Mjrthus Ideen getragen wurden, die nicht aus seinem Geist
gewachsen waren oder hätten wachsen können. Daß Euripides weit weniger
als die älteren Tragiker Anstand nahm, von dem traditionellen Kostüm
der Heroenzeit abzuweichen, daß er an kühnen Anachronismen am reichsten
ist, kann bei seinem ganzen Verhältnis zur Sage nicht auffallen und ist
auch von der alexandrinischen Kritik öfter bemerkt (Schol. Med. 232. 233;
Hipp. 231. 953; Hec. 254 u. s.). Diese Umgestaltung der Tragödie hing
aber mit dem Streben des Euripides zusammen, sich nicht einzig dem
Dienst der Musen zu weihen, sondern durch die Muse auch für politische
und philosophische Ideen Propaganda zu machen oder solche wenigstens
als Zündstoff unter die Menge zu werfen — in diesem Stück ist Euripides
hochmodern. Vergessen darf man übrigens nicht, daß der spekulativen
Richtung des Dichters auch die vielen schönen Sentenzen (yvoj/Liai) ver-
dankt werden, die durch alle Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag
weiterklingen. 1) — Die hervorgehobenen Schwächen hängen mit der ganzen
Weltanschauung des Euripides, insbesondere mit seiner Stellung zur Reli-
gion^) zusammen. Was Klarheit und Sorgfalt der künstlerischen Aus-
arbeitung betrifft, so bedeutet seine Kunst gegenüber den beiden älteren
Tragikern einen erheblichen Rückschritt. Seine Charaktere sind fast alle
in die gleiche pathetisch-sentimentale Farbe getaucht (dies deutet Ar. ran.
948 flf. an) und nehmen sich auch da, wo er sie zu Gegensätzen gruppiert,
wie im Hippolytos, den Bakchen, wie Exemplifikationen zu Schulbegriffen
der Ethik aus. Am eigenartigsten ist sein Ion. Schon Aristoteles tadelt
seine Ökonomie (poöt. 1453 a 28): es fehlt überall an Straffheit und Sicher-
heit der Linienfiihrung, an Sichtung der Kunstmittel — struktiv über-
flüssige Szenen (Makaria in den Herakliden, Euadne in den Hiketiden)
werden angeflickt um eines Rühreffekts willen, Chorlieder ohne Zusammen-
hang mit der Handlung eingelegt (Ar. poöt. 1456a 27);^) das Ganze wird
mit Sentenzen, mit Diatriben über allerlei Gemeinplätze durchwoben, die
Handlung hie und da in zwei Teile zerlegt, die nur durch einen Zufall
äußerlich zueinander in Beziehung gesetzt werden.*) Überall wirkt der
Dichter nicht sowohl durch die Linien als durch die Farben, durch das
Bunte und Grelle im Vielerlei der auftretenden Personen, der ineinander
verwickelten Motive, in der Schrillheit leidenschaftlicher Äußerung. So wird
erzwar sehr bühnenwirksam^) für den Durchschnittsgeschmack des Theater-
») Euripides selbst rühmt sich bei Ar. ' Theol. 488^f.; E. Rohdb, Psyche II> 252, 4;
ran. 958. 971 ff. 1056 ff. des oixfia jigayfiai* \ H.Weil, Et. 96 f, und besonders G. Fenslbr,
eiodyFtr. Aber Theon p. 60, 29 Sp. tadelt. Die Orestie 12). Nicht vorsichtig genug W.
ort jtnga xaioor ahto 'Kxdßfj (fi?.ooo(peT; ahn- i Nestle, Euripides der Dichter der griech.
lieh Schol. Eur. Hipp. 953; Ale. 779. i Aufklärung, Stuttg.1901. Über seine religiöse
*) Die Aufgabe, aus den kreuz und Stellung am besten E. Rohde, Psyche II'
quer laufenden Maximen der Helden des Eur. 247 ff.; vgl. auch Weil, £t. 93 ff.
seine eigene Meinung, die ja gewiß auch *) A. Rahm, Über den Zusammenhang
nicht überall ganz in sich gefestigt und jeden- zwischen Chorliedem und Handlung in den
falls manchem Wechsel im Lauf der Zeit ' erhaltenen Dramen des Soph. u. Eur., Progr.
unterworfen war, sicher herauszustellen, kann Sondershausen 1907.
nur annähernd gelöst werden und ist mit der *) F. Leo, Plautin. Forschungen 144 f.
größten Vorsicht anzufassen (über die nötigen ') Gute Bemerkungen darüber Schol. Eur.
Kautelen 8. K. F. Nägelsbach, Die nachhomer. . Andr. 1284; Or. 128; Schol Soph. OR. 264;
364 GriechiBche Litieratnrgesohichte. L Klassische Periode.
Publikums; aber er hat das Jagen nach starken Gefühlserschütterungen,
jene nervöse Hast in die Tragödie gebracht, die den zwei älteren Tra-
gikern in ihrer ruhevollen Sachlichkeit, inneren Sammlung und Andacht
fremd war und überall Zeichen künstlerischer Dekadenz ist.
206. Die sprachliche Kunst des Euripides zwang selbst seinem
Feind Aristophanes Anerkennung ab.^) Indem Euripides den Schwulst
des Aischylos wegwarf und die veredelte Sprache des Lebens redete,')
schuf er eine mittlere Diktion, die allen leicht verständlich war und sich
doch über die Plattheiten des Marktes erhob. ') Zur Geltung kam selbst-
verständlich dieser Charakter der euripideischen Sprache zumeist in den
Dialogpartien, in den pointierten Stichomythien und in den sorgfältig nach
den Regeln der Symmetrie ausgearbeiteten Monologen und Botenreden
{^t]oeig)^) In ihnen zeigte sich auch die rhetorische Stärke des Dichters,
die seine Dramen zum Studium für angehende Redner empfahl.**) Die
melischen Partien, die in ihrer rhythmischen Anlage weit kurzatmiger
sind als die der älteren Tragiker, halten sich in der Diktion an die Über-
lieferungen der Chorlyrik, wobei oft ein ans Komische streifender Wider-
spruch zwischen Inhalt und Form zutage tritt, wenn z. B. in der Helena
(179 ff.) und im Hippolytos die Frauen des Chors in jenem prätentiösen
Stil ausführen, daß sie — vom Wäschetrockenplatz herkommen. Die Chor-
lieder erscheinen oft fast wie ein unbequemes Vermächtnis aus älterer
Zeit. Das Band zwischen ihnen und der Handlung wird lockerer; selbst
in einer so vorzüglichen Tragödie, wie die Phönissen, gleichen die meisten
Chorgesänge der Zwischenaktmusik (ijtißoktjLia),^) die das Umkleiden der
Schauspieler verdeckt, im übrigen aber, unbeschadet des Fortgangs der
Handlung, ebensogut wegbleiben kann. In den Vordergrund treten die
Monodien und Wechselgesänge, was in der ganzen Richtung der Musik,
die sich von der Pflege des Chorgesangs den Kraftproben der Solosänger
in den Arien (Monodien) zuwandte, seinen Grund hatte. Die Strenge der
metrischen Form und die Gesetzmäßigkeit des Rhythmus löst sich bei
Euripides. Im Trimeter häufen sich namentlich seit Ol. 90 die Auflösungen
der Längen und die Verteilung eines Verses unter mehrere Personen. In
Ar. fr. 130 K. stellt die allerlei Gewürze des *) H. Hirzel, De Euripidis in com-
Eur. in Gegensatz zu einem tüchtigen Stück j ponendis diverbiis arte, Bonn 1862. Zu weit
Fleisch. geht in der Annahme des symmetrischen
^) Aristoph. fr. 471 K.: /(>ö>/ia< yao avior Baues J.Öri, mit dem W. Christ über diesen
Tor oTÖuaTog rot oTooyyvAq), roi's vov^ A^ nyo- Punkt disputierte in Verhandl. d. Phil.vers.
Qaiors tjTxnv y 'xm-tK .toiw. Vgl. Schol. Plat. in Wiesbaden 1877, S. 142 -161; Th. Millbr,
ep. 19c VI p. 227 Herm. : 'Agiaroffdvtjg exw- Eur. rhetoricus, Gott. 1887.
fitoönio F.-Ti T(n oxcü.tTeiv fth EvQLtibrjv, //<- ^) Quint. X 1, 68: illud quidem nenw non
(leTaOiu «5' avrnr. fateatur necesse est iiSf qui se ad agendum
*) Arist. rhet. 1404 b 24: xkejtzezai d* ev, comparont, utiHorem longe fore Euripidem.
F.av xig Fx Ttjg euüOvt'ag diaXtxTov FxAeywv namque is et sermone . . . magis accedit ora-
ovvTtOfjf o.Tfo EvoiTiibrjs .Toiei xai v.isÖfi^f torio generi et sententiis densus etc. Vgl. Dio
nofTnoi;. Einzelnachweise über sein Herab- Chrys. or. 18, 7: .lobxtxio ar(\n ndw (oq^i-
steigen zur Umgangssprache C. Amati, Studi kifiog' fti öf tjOtj xai .tdOtj ÖFirfK jt/.tjowoai
ital. 9 (1901) 125 ff. — 0. Lautensach, Gram-
mat. 8tud. II 161, 6.
^) Dion. Hai. de imit. p. 206 Us.; Diog.
Laert. IV 26; Alexandres Aitolos bei Gellius
XV 20. 8.
xai yrcoua^; jroog (UTaria onfFAiuor^ xaia-
fiiyvvoi mU jTotfjunotr.
«) Tadel bei Arist. poöt. 1456 a 27 und
Schol. Eur. Phoen. 1019. Besonders anstößig
ist Hei. 1301 ff.
C. Drama. 2. Die Tragödie, d) Enripides. (§§ 206—207.) 365
den lyrischen Partien überwiegen in den Tragödien der letzten Periode
bis zum Überdruß die frei gebauten Glykoneen.^ In den Melodien glaubten
die Theaterbesucher die Weisen gemeiner Kneip- und Hurenlieder wieder
zu hören. ^) Übrigens sollen die Kompositionen zu Euripides' melischen
Partien nicht von ihm selbst, sondern von Kephisophon und Timokrates
stammen, 3) und diese standen unter dem Einfluß der modernen Konzert-
musik, die durch den jungattischen Dithyrambus in Aufnahme gekommen
war.*) Im übrigen dürfen wir bei der Beurteilung des Euripides nicht
vergessen, daß wir durch das bloße Lesen seiner Tragödien nur eine
mangelhafte Vorstellung von ihrer Wirkung im Theater bekommen. Denn
Euripides lebte und schrieb für die Bühne: til oxrjv^g evdoxijuti, okoq rov
^edroov ioriv urteilten die Alten*) von ihm, halb lobend und halb tadelnd.
Für den Effekt auf der Bühne waren die Botenreden mit ihrer unüber-
troffenen Anschaulichkeit, die Abschieds- und Erkennungsszenen, auch die
bei Euripides besonders häufig verwendeten Kinderrollen ß) mit ihren Rüh-
rungen, das erschütternde Pathos des rasenden Herakles und des geblen-
deten Polymestor, die Schlagwörter und geistreichen Sentenzen, kurz das
Schönste und Beste in der Kunst des Euripides berechnet.^)
207. Das Leben der Gegenwart und seine Fragen auf die tragische
Bühne zu bringen, dieses Leben, wenngleich in mythologischer Vermummung,
einmal ernsthaft zu nehmen, während es sonst im 5. Jahrhundert nur in
der Karikatur der Komödie dramatisiert oder im Mimos ideenlos abphoto-
graphiert wurde, das war in der Tat eine Leistung, eine Entdeckung.
Mit ihr bildet Euripides eine vollkommene Analogie zu Sokrates. Wie
dieser die Philosophie vom Himmel auf die Erde und in die menschlichen
Wohnungen herabgeführt hat, so jener die Tragödie aus dem Phantasie-
reich mythologischer Romantik in die Wirklichkeit. Aber der neue Wein
ließ sich nicht auf die Dauer in die alten Schläuche füllen. Der Weg
war gebahnt, den Mythus ganz abzustreifen, die bürgerliche Tragödie zu
schaffen.») Dazu ist es aber im Altertum nicht gekommen. Die enist-
*) Das ist das ÖMfiFxaiÄrjxoLvov bei Ari- | daDS la trag^die Grecque ä Töpoque d'Euri-
stoph. ran. 1327, wozu noch das Anhalten j pide, Paris 1902. Die Partituren zu den Ge-
einer Silbe durch mehrere Zeiten, das famose , sangspartien des Eur. hatten sich, wie das
eieieietXiaoETE (Aristoph. ran. 1314) kommt, das i Wiener Orestesfragment und Dionys. Hai. (s. u.
jetzt durch den delphischen Hymnus (0. Cbu- S. 367) zeigen, bis in die Kaiserzeit erhalten.
8iu8,PhUol.52, 1893, 187; 53, Ergänzungsheft *) Schol. Tro. 1; Or. 128; Schol. Soph.
93 f.) illustriert wird. Oed. R. 264.
*) Aristoph. ran. 1301: ovtog 6* dsio :zdv- *) K. Haym, De pueror. in re scaenica
T€ov fiFv (f^fuft jToortduoy, oy.okUov Meh'jTov, Graecor. partib., Diss. phil. Halens. 13 (1897)
Kagixwv nvlrjfidron'f öq//vo)v, xoof.icöv. Wila- ; 217 flf.
MOwiTZ, Berl. Ak. Sitz.ber. 1902, 865 ff. be- | ') Unter den Schauspielern des Euripides
zieht den Tadel auf die Aufnahme Ijrrischer ist durch die Witze der Komiker (Arist. ran.
Formen des Volksgesangs jener Zeit in die 303, Strattis fr. 1 K.) Hegel oc hos berüchtigt
Tragödie. geworden, der den Vers des Orestes 279 fh
*) Vit. Eur. p. 2, 2 Schw.: t« fiFXtj avxM xv/nduor ydg avdig av yaXtjv* ogoj so aus-
(paot Krjqiaoffun'xa noiFlv rj TifwxQaxrjv 'Aq- sprach, daß man ya)S)v (Wiesel) statt yahjvd
ypiov, Dunkel bleibt die Entlehnung der (Windstille) verstand. Vgl. E. Schweizer,
öid&Eoic: ufXu,v der Medeia aus der grammati- i Indog. Forschungen 10 (1899) 207 f.; H. Ehr-
schen Tragödie des Kallias, die Ath.p.453e | lich. Ztschr. f. vergl. Spr. 39(1906)583; J.
bezeugt (A. Müller, Griech. Bühnenaltert. ; Vendryes, Traitö d'accentuation Grecque,
218, 2). Paris 1904, 48.
*) J. EsTEYE, Les innovations musicales ^) Die Frage berührt AristotpoSt. 1451b
366 Qriechische Litieraturgeschichte. L Klassische Periode.
hafte griechische Poesie stand so im Bann der Heroenromantik, daß sie
sich nicht entschließen konnte, den reinen ßioq völlig ernsthaft zu nehmen.
Fortsetzerin des euripideischen Trauerspiels ist so die neuattische Komödie 0
geworden, und sie hat ihr tragisches Vorbild an Sauberkeit in Charakte-
ristik und Ökonomie weit übertroffen, infolge ihrer spielenden Behandlung
der ethischen Probleme aber lediglich Unterhaltungslitteratur geliefert.
208. Euripides hat es sehr schwer gehabt, sich in Athen durchzusetzen.
Nur vier erste Preise wurden ihm bei Lebzeiten gewährt. Aber die alt-
attische Komödie beschäftigt sich so unausgesetzt mit ihm,^) daß man
deutlich sieht, er war der Führer der stärksten ethisch-ästhetischen Unter-
strömung im damaligen Athen. Aristophanes war sich wohl selbst bewußt,
daß er eine Unwahrheit sagte, wenn er (ran. 869) dem Aischylos die Worte
in den Mund legte, mit Euripides sei auch dessen Poesie zu Grabe getragen
worden. Jedenfalls hat ihn die folgende Zeit Lügen gestraft. Mit dem
Sieg der Aufklärung, die er in weite Kreise hinausgetragen hatte, ist er
trotz seiner künstlerischen Schwächen der Liebhng des hellenistischen
Publikums' geworden und geblieben (s. o. S. 326. 335). Durch seine Vor-
liebe für erotische Gegenstände, für genrehaftes Detail in der Charakte-
ristik, für ätiologische Sagenmotive ist er künstlerisch ein Vorläufer des
alexandrinischen Geschmacks.
Codices: £in kritisch gesicherter Text war bei einem so viel aufgeführten und den
Schauspielerinterpolationen (über die F. G. Welokkb, Gr. Trag. 906 ff.) besonders ausgesetzten
Dichter sehr nötig. Der erste, der unseres Wissens einen solchen lieferte, war Aristophanes
(Schol. Or. 1038), dann sein Schüler Eallistratos. Uns sind die Dramen des Eur. in zwei
Handschriftenfamilien überliefert; die erste, neun Stücke (Ale. Andrem. Hec. Hipp. Med.
Orest. Rhes. Troad. Phoen. und wahrscheinlich noch Bacch.) umfassende liegt uns meist
in Handschriften des 12. Jahrhunderts vor, am besten Marc. 471, dann Vatic. 909, Paris.
2712, ferner in Marc. 468, Paris. 2713 (die älteste Handschrift dieser Klasse, aus der zweiten
Hälfte des 10. Jahrhunderts, aber ohne besondere Vorzüge: G. Vitblli, Stud. ital. 9, 1901, 298),
Havn. 417; die zweite, sämtliche 19 Stücke umfassende Sammlung findet sich nur in jungen
Handschriften vom 14. Jahrhundert an, nämlich in Laur. 32, 2 und in den aus Laur. 82, 2
abgeschriebenen Codd. (s. N. Wbcklein, Bayr. Ak. Sitz.ber. 1899, II 297 ff.) Palat. 287 und
Laurent, abb. Flor. 172, welche beide, wie K. Robert entdeckt hat, zusammengehören und
ursprünglich eine Handschrift bildeten. Euripidespapyri sind jetzt in Menge vorhanden (s.
o. Ö. 359, 2), die ältesten aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. (das Antiopefragment bei J. P. Ma-
HAFFY, The Flinders Petrie Papyri I, Dublin 1891; Hibeh pap., 1906, nr. 7 zeigt, daß schon
Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. Stücke aus Euripides in Anthologien aufgenommen wurden,
s. a. Berl. Klass. V 2, 80). Auch auf ägyptischen Ostraka hat man Stellen aus Kur. gefunden
(Wochenschr. f. klass. Philol. 6 1889, 701; H. R. Hall, Class. rev. 18, 1904, 2 ff). Aus dem
Kommentar des Johannes Diakonos zu Hermogenes hat H. Rabe, Rhein. Mus. 63 (1908) 144
bis 148 eine Hypothesis zum Peirithus und größere Stücke der Prologe zu MF).mi:tnti oogf)
und Stheneboia gezogen.
Melodie zur Parodos des Orestes gibt in Wortumschreibung Dionys. Halic. de comp.
15 ff., und einen vereinzelten Versuch in Verismus auf Kosten der Sittlichkeit (80 ff.
dieser Richtung scheint Agathen mit seinem i 850. 1053. 1079 ff.; vgl. nub. 1371 f.), Herab-
"ArOo^ gemacht zu haben. '■ steigen zum Alltäglichen (959 ff.), Schwäch-
') Jon. Schmidt, Euripides' Verhältnis lichkeit (941 ff.), Verstandesmäßigkeit (910.
zu Komik und Komödie I, Progr. Grimma 917), Künstlichkeit im Gegensatz zum Kraft-
1905, sucht zu viel komische Absicht bei
Euripides, wo oft nur unbeabsichtigte komi-
sche Wirkung auf unser Empfinden vor-
liegt. Siehe a. o. S. 335, 4.
«) Das größte Strafgericht hält Ar. in
voll-Instinktiven (810. 820. 822). Huchgelehr-
samkeit (1409). Kleinigkeitskrämerei (798 ff.
819 f. 841. 881. 901 ff. 956 ff.), Geschwätzig-
keit (91. 911 ff. 948 ff. 1069),' rhetorisch-dia-
lektische Spitzfindelei (775. 1169. 1445), Ver-
den Fröschen über ihn. Hier wird ihm vor- | fühmng von Jammergestalten, die vor ein
geworfen Untergrabung der Religion (892 ff.), ' Publikum von Lumpen gehören (771 ff. 842 ff.
der Männlichkeit und fÄsyaXoiftvx^a (1013 ff.), . 1063 ff.), neben einer Reihe technischer Fehler.
C. Drama. 2. Die Tragödie, e) Die übrigen Tragiker. (§§ 208—209.) 367
verb. 11; Rest einer Melodie zu Or. 888 ff. auf einem Wiener Papyrus: G. Wbssblt, Mitteil, aus
der Samml. der Papyrus Erzherzog Rainer 5 (1889) 65 ff., wozu 0. CTrüsius, Philol. 52 (1893) 174 ff.
Scholien haben wir nur zu den neun Tragödien der ersten Familie, die reichhaltig-
sten zu Hec. Phoen. Orestes. Die exegetische Arbeit an Eur. beginnt mit Aristoteles' dio-
QTifAaxa EvQuiiöov und seiner Po6tik. Die erhaltenen vno^ioBig (zu denen neuerdings noch
eine zu dem Satyrspiel Skiron gekommen ist: s. o. S. 884, 8) gehen auf Aristophanes und
Dikaiarchos zurück. In den Scholien sind uns Reste der kritischen Studien des Aristarchos,
Kallistratos, Erates, Didymos erhalten. Sonstige Euripideserklärer sind Anollodoros von
Eyrene (Schol. Eur. Or. 1885) und Apollodoros von Tarsos (Schol. Ar. ran. 320; Schol. Eur.
Med. 148. 169; Hesych. s. Aiayogag), Timachidas (zur Medeia: Arg. Med. p. 138, 14 Sohw.;
Schol. Med. 1. 167), aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Pius, Eirenaios und Alexandres von
Eotyaeion. Über die letzte Quelle der Scholien unterrichtet die Subscriptio zu Orestes: Tta^a-
ysygcuiTat sx xov /itovvotov (Vermutungen über diesen Dionysios Wilamowitz, Eurip. Herakl.
P 199 f.) vjiofivrjfiaiog oXoaxfQwg xal tcov fuxzöjv, und zu Med.: Jtgog Ötdqpoga arriygafpa Aio-
woiov Skoax^gh xai ztva uov Jidt'/^o?»; s. Th. Barthold, De scholiorum in Eur. veterum
fontibus, Bonn 1864. Im Mittelalter kamen zu den drei gelesensten Stücken Hec. Or.
Phoen. die breitgetretenen Scholien des Thomas Magister, Moschopulos und Triklinios hinzu.
Die alten Scholien des Vat B sind herausgegeben von C. G. Cobbt hinter den Phoenissen
von J. Gbel LB. 1846. Gesamtausgabe der Scholien von Gu. Dindobp, Ox. 1863, 4 Bde,
neue sorgfältige Ausg. von E. Scuwabtz, 2 Bde, Berol. 1887. 1891. W. Elsperqer, Reste
und Spuren antiker Kritik gegen Eurip., Philol. Suppl. 11 (1908) 1.
Ausgaben wurden erst nach und nach vervollständigt: zuerst bloß vier Stücke (Med.
Hipp. Ale. Andr., unter Benützung des Marcian. 471) in ed. princ. Flor. 1496, besorgt von
J. Laskaris; alle Stücke außer El. in der Aldina 1503, besorgt von dem Kreter M. Musubos;
die Elektra kam zuletzt hinzu durch P. Yictoriüs 1545. — Gesamtausgabe mit Scholien
und Kommentar von J. Barnes, Cant. 1694; von S. Musoravb, Ox. 1778. — Epochemachend
L. C. Valckbnaebs Ausgabe der Phoenissae Franeker 1755, Hippohrtus Lugd. Bat 1768, Dia-
tribe in Eur. perd. dram. rell. ebenda 1767. — Einschneidende ^tik geübt von den Eng-
ländern J. Mabkland (Suppl., Iph. Aul., Iph.Taur., Lond. 1763), R. Porson (Hec, Orest., Phoen.,
Med. Lond. 1797 ff.), P. Elmslby (Med. Oxf. 1818, ed. II Lips. 1822), J. H. Monk (Hipp.
Cantabr. 1811, Ale. 1816 mit reichen Noten), Ch. Badham (Iph. Taur., Hei. Lond. 1851). —
Gesamtausgabe von A. H. Matthiä, Lips. 1818—1837, 10 vol.; fhichtbarer die Separat-
ausgaben der meisten Stücke von G. Hebmann, Berl. 1881 — 41; für Kritik bahnbrechend
durch den ersten kritischen Gesamtapparat die große Ausgabe von A. Kirchhoff, Berol. 1855,
2 Bde, dazu ed. minor 1867 68; Hauptausgabe von R. Pbinz (Med., Ale. Hec), abgeschlossen
von N. Wbcklein 1902, 3 Bde., Leipz. 1878—1902; von G. Mübbay I Oxford 1902, II 1905.
— Textausgabe von A. Nauck in Bibl. Teubn. (3. Aufl. 1892—95); Ausgabe mit lateinischen
Noten in Bibl. Goth. (11 Stücke) von A. J. E. Pfluok und R. Klotz 1829—67, neubesorgt
von N. Wecklein 1877. — Spezialausgabeu mit erklärenden Anm. von N. Wbcklein, Leipz.
(Bacch., Hipp., Iph. Taur., Med.), von H. Weil, Paris {Hipp., Hec, Iph. Taur. et Aul., Med.,
Ale ); Phoen. von J. Gbel LB. 1846, von G. Kinkel, Berl. 1871; die Berliner Ausgabe der
ausgewählten Tragödien von G. F. Schöne u. H. Köchly (von Schöne Bacch., 2. Aufl. 1858, von
Köchly Iph. Taur., 3. Aufl. 1872) ist fortgesetzt von Th. Barthold (Hipp. 1880), H. v. Arnim
(Medea 2. A. 1886) und E. Brühn (Bacch., 3. A. 1891, Iph. T., 4. A. 1894) ; Ion von Ch. Badham,
2. Aufl. London 1867, von H. van Herwerden, Utr. 1875; Iphig. Aul. von G. Vitelli, Flor.
1879, E. B. England, Lond. 1891; Herakles von Wilamowitz, 2 Bde, Beri. 1889, 2. Ausg.
1895, Hauptwerk mit umfassender, die ganze Litteraturgeschichte berülirender Einleitung;
von demselben Hippolytos griech.-deutsch, Berl. 1891, auch Obersetzungen ohne griech. Text
(in der Sammlung Griech. Tragödien. Übers, von U. v. Wilamowitz), von Hipp., Suppl. («der
Mütter Bittgang"), Herc. 1899, Med., Cycl., Ale, Troad. 1906, bei Weidmann Berlin.
Erläuterungsschriften: P Dkcharme, Euripide et Tesprit de son th^ätre, Paris 1893.
— R. Arnoldt, Die chorische Technik des Eur., Halle 1878. H. Büchholtz, Die Tanzkunst
des Eur., Leipz. 1871; Chr. Kirchhoff, Dramatische Orchestik der Hellenen, Leipz. 1899. —
Lexicon Euripideum conf. C. et B. Matthiä I (.1—/'), Leipz. 1841. Ein Index verborum for-
mularumque von Chr. D. Beck im 9. Bde der Glasgower Ausg. 1821. — J. Vooel, Szenen
euripideischer Tragödien in griech. Vasengemälden, Leipz. 1886; J. H. Hüddilston, Greek
art in Euripides Aischylos and Sophokles, Diss. München 1898.
e) Die übrigen Tragiker.
209. Die Familien der drei großen Tragiker. Aischylos, So-
phokles, Euripides waren die Meister der griechischen Tragödie und als
solche alsbald im 4. Jahrhundert anerkannt durch die zusammenfassende
Behandlung in der Schrift des Herakleides Pontikos negl xwv xqiwv rgaya}-
368 Griechische LitteratnrgeBchichte. I. Klassische Periode.
dtojToicbv und das Staatsexemplar des Textes ihrer Tragödien, das der
Redner Lykurgos anfertigen ließ, aber sie waren nicht die einzigen Tragiker
ihrer Zeit: um sie gruppierte sich eine Schar verwandter Dichter.^) Neben
ihnen haben zunächst Achaios und Ion im Kanon der alexandrinischen Kunst-
richter Platz gefunden; aber enger schließen sich an sie ihre Verwandten
und Anhänger an, die gleichsam ihre Schulen bildeten.
Zu der Schule des Aischylos gehörte vor allem sein Sohn Euphorion,
der viermal mit Stücken seines Vaters gesiegt, aber auch Eigenes gedichtet
hat. Im Jahr 432 besiegte er den Sophokles und Euripides.*) Ein zweiter
Sohn des Aischylos, der ebenfalls Tragödien dichtete, Bion oder Euaion,
ist uns nur dem Namen nach bekannt. Der Schwestersohn des Aischylos,
Philokles, erscheint in Aristophanes' Thesmophoriazusen (411) noch als
lebend; nach Suidas hat er hundert Tragödien gedichtet, darunter eine
inhaltlich zusammenhängende Tetralogie Pandionis. Daß er nicht ohne
Talent war, zeigt sein Sieg über den König Oidipus des Sophokles. Aus
den häufigen Ausfallen der Komiker») gegen ihn darf man wohl schließen,
daß er von der modernen, euripideischen Richtung war. Söhne des Philo-
kles waren Morsimos, Tragödiendichter {jronjrrjg ifwxQ^^ nennt ihn Suid.)
und Augenarzt, und Melanthios, die beide den bitteren Spott des Aristo-
phanes erfuhren.'*) Die tragische Ader floß noch bei Philokles' Enkel
Astydamas und seinen Urenkeln Astydamas und Philokles.*)
Sohn des Sophokles war der Tragiker lophon,^) dem Suidas fünfzig
Dramen beilegt. Schon 428 erlangte er neben dem Hippolytos des Euri-
pides den zweiten Preis, aber man kannte sich, wie Aristophanes in den
Fröschen V. 79 boshaft bemerkt, nicht recht aus, inwieweit er auf eigenen
Füßen stand oder durch die Beihilfe seines Vaters in die Höhe kam. Ob
auch der uneheliche Sohn des Sophokles, Ariston, Tragödien gedichtet
hat, steht nicht fest, da Diogenes Laertios 7, 164 nur einen 'Aqiotwv jToitjrijg
TQayMÖias ohne Angabe des Vaters erwähnt. Der Enkel des großen Tra-
gikers, Sophokles der Jüngere, Sohn des Ariston, trat wieder als Dichter
von Tragödien und Elegien auf.^) Bereits oben wurde erwähnt, daß er
den Oidipus auf Kolonos nach dem Tod des Großvaters auf die Bühne
brachte; einen Sieg, den er im Jahre 396 gewann, erwähnt Diodor XIV 53.
Im ganzen soll er nach Diodor zwölf-, nach Suidas, der vermutlich nur
die städtischen Siege rechnet, siebenmal gesiegt haben. Noch in helleni-
stischer Zeit (jiexa Tr]v lüeidöa Suid.) hat sich ein gleichnamiger Nach-
*) F. (t. Welckeb, Griech. Trag. 931 ff. ^) Osw. Wolff, De lophonte poeta tra-
~) Arg. Eur. Med., Suid. s. AiaxrXog und gico, Leipz. Diss. 1884, Die sechs Titel bei
Suidas, !.*I//A^fj's, TTjXeqro^, \\xTaioyv^ *IXiov
jtfoois, AF^a/in'd^f Bux^m tj flrt'OFv? kommen
bei demselben Suidas neben weiteren alle
auch unter KkFoqwv ^AdrjvaXo:: rgayixög vor.
Evqooifor.
^] Ar. vesp. 462; av. 281 f. (mit Schol.);
Cratin. fr. 292 K. Dazu stimmt auch der Spott-
name z^^-^h den ihm wohl auch die Komödie
gab (Suid. s. 0//.). Über die Sippe des Phi- woran F Susemihl, Jahresbericht d. Alt. 34
lokles F. G. Welcker, Griech. Trag. 1052 ff. (1883)1, 18 die unmögliche Vermutung knüpft,
*') Ar. eq. 401. pac. 803, ran. 151. Ein i daß jener Tragiker Kleophon auf eine Ver-
jüngerer Tragiker Melanthios, der zugleich ; Schreibung von lophon hinauslaufe.
Philosopli war, ist erwähnt im Index acad. j ') Nach Suid. hat er 40 (nach andern
philos. col. XXXI 4. I 11) Stücke geschrieben.
'") A. Wilhelm, Urk. 29. |
C. Drama. 2. Die Tragödie, e) Die übrigen Tragiker. (§§ 209—210.) 369
komme des Sophokles als lyrischer und tragischer Dichter betätigt und
fünfzehn Stücke geschrieben.
Die Sippe des Euripides^) lebt weiter in seinem gleichnamigen Sohn,
der nach des Vaters Tod die Trilogie Iphigeneia Aul., Alkmeon und Bakchai
auf die athenische Bühne brachte, und seinem gleichnamigen Neffen, von
dem Suidas drei Stücke, Orestes, Medeia, Polyxene, anführt.
210. Die übrigen Tragiker des 5. Jahrhunderts. Zeitgenosse
des Euripides war Aristarchos aus Tegea,*) der unter anderem zum
Dank für seine Genesung einen Asklepios schrieb (Aelian. fr. 101) und nach
Suidas die Tragödie „auf ihren jetzigen Umfang" {ek rd vvv avrwv ßitjxoc:)
brachte. 3) Er soll über hundert Jahre alt geworden sein. Außer den
drei großen Tragikern ist er der einzige, von dem wir wissen, daß Stücke
von ihm noch in hellenistischer Zeit gegeben worden sind. Sein Achilleus
wurde von Ennius ins Lateinische übertragen.
Ion aus Chios,*) der Sohn des Orthomenes, Zeitgenosse der drei
großen Tragiker, kam in frühen Jahren nach Athen, wo er in den Kreisen
des Kimon verkehrte und den Aischylos kennen lernte.^) Seine ersten Stücke
führte er in Athen OL 82 (452—49) auf. Zwischen 445 und 440 war er
in Sparta.«) Während des samischen Krieges traf er in seiner Heimat
mit Sophokles zusammen und hat Erinnerungen an ihn in seinen 'Emdtjfuai
niedergelegt. Im Jahr 428 unterlag er beim Tragikeragon dem Euripides
und lophon (Arg. Eur. Hipp.). Der Tod traf ihn vor dem Frieden des Ari-
stophanes (421).^) Mit einer für jene Zeit merkwürdigen Vielseitigkeit
dichtete er außer Tragödien noch Elegien, Hymnen, Dithyramben und
schrieb in Prosa Reisememoiren {^EmdrjjüUai oder 'YjToßivrjßjiaTa) und ein Ge-
schichtswerk über die Gründung von Chios.^) Dem Volk der Athener
drückte er seinen Dank für einen Siegespreis dadurch aus, daß er nach
dem Sieg für jeden Bürger einen Krug Chierwein schickte.^) Fragmente
haben wir aus "'Aya/iejuvcoVf Ahcjui^vrj, 'AgyeJoi, EvQvudaif Kaivevg T] 0oiviS,
AaeQxtjgf Meya dgä/ua (?), TevxQog, die meisten aus dem Satyrspiel 'Ojnq^dXrj,
in dem er mit Behagen den Sieg des orientalischen Harems über das ab-
gehärtete peloponnesische Naturburschentum schilderte. An nüchterner
Korrektheit soll er den Sophokles übertroifen haben, an hinreißender Kraft
aber weit hinter ihm zurückgeblieben sein.^^)
Achaios.i^ Sohn des Pythodoros, geboren Ol. 74 (484—81) in Eret-
^) Von dem Sohn Eurip. Schol. ad Ari- et fragmentis, Berl. 1836. Fr, Scholl, Rh.
stoph. ran. 67 und Vita Eurip. , von dem Mus. 32 (1877) 145 ff.
Neffen Suidas s. v. Evi}. c. ^) Plut. Cim. 9 u. 16; de prof. in virt. 8.
') Euseb. zu Ol. 81, 4 = 453 v. Chr.
Arisfarchus tragoediographus agnoscitur;
vgl. F. G. Welcker. Gr. Tr. 931 f.
') J. URL Die Symmetrie der Verszahlen
im griech. Drama. Vortrag Aarau 1896. Der
Sinn der Suidasnotiz ist unklar (Vermutungen
s. A, Dieterich in der Realenzykl., 3. Halbb. Tgiay/wi, H. Diels, Vorsokr.* 229 ff.
861. 60 ff.). Vgl. unten. ; ») Ath. 3 f.
*) Eine alte Monographie von Baton
angeführt von Ath. 436 f.; aus neuerer Zeit
R. Bentley, Op. (Leipz. 1781) 494-510; E. S.
KöPKE, Dissertatio de Tonis Chii poetae vita
) U. Köhler. Herm. 29 (1894) 156 ff.
') Ar. pac. 835 mit Schol.
^) Schol. Arist. pac. 835; die prosaischen
Fragmente gesammelt von C. Müller FHG
II 44 — 51. Außerdem schrieb er ein Buch
philosophischen (pytliagorcYschen) Inhalts
»") Auct. -T. vir. 33, 5.
^M Artikel des Suidas; K. L. Ubuchs,
Achaei Eretiiensis quae supersont coflecta et
illustrata, Bonn 1834.
Handbuch der klass. AltertnniBwiMenschaft VII. 5. Aufl. 24
370 Ghrieohische Litteraturgeschiohte. L Klaasisohe Periode.
ria,0 also jüngerer Zeitgenosse des Sophokles, den er aber, wie man aus
den Fröschen des Aristophanes schließen muß, nicht überlebte, trat seit
c. 450, in mehrfacher Konkurrenz mit Euripides, auf; er brachte 44, nach
andern nur 30 oder 24 Stücke zur Aufführung und erlangte elf Siege,
worunter wahrscheinlich nur ein städtischer;*) einen Namen hatte er im
Satyrdrama.»)
Über Neophron aus Sikyon s. o. S. 339 f.
Begründer einer Tragikerfamilie, die Aristophanes übel mitnimmt,^)
war Karkinos aus Akragas, der im Jahr 431 Stratege war und zugleich
als Tragödiendichter und Tänzer auftrat.*) Namhafter war sein Sohn
Xenokles, der im Jahr 415 mit der Tetralogie Oidurovg^ Avxdwv^ Bdxxai,
'AMjuac; den Sieg über Euripides davontrug, worüber die Freunde des Euri-
pides empört waren, wohl mit Recht, wenn Aristophanes, gewiß kein Freund
des Euripides, den Xenokles so geringschätzig beurteilt. Sein Sohn, Kar-
kinos der Jüngere, gleichfalls Tragödiendichter, stand am Hof des jüngeren
Dionysios in Ehren. Er soll 160 Stücke geschrieben haben, wobei vielleicht
die Leistung des Großvaters mit der des gleichnamigen Enkels zusammen-
genommen ist; gesiegt' hat er elfmal. ö) Von ihm stammt noch ein weiterer
Xenokles. Man wird vermuten dürfen, daß in dieser sizilischen Tragiker-
sippe der Same aufgegangen ist, den Aischylos auf der Insel ausgestreut hatte.
Agathen,'') Sohn des Teisamenos®) aus Athen, bekannt durch die
witzige, Porträtzüge tragende®) Charakteristik, die Aristophanes in den
Thesmophoriazusen (411) von ihm entwirft, und die Rolle, die er in Pia-
tons Gastmahl spielt, blühte in den letzten Dezennien des 5. Jahrhunderts;
416 gewann er als junger Mann mit seinem ersten Stück an den Lenäen^^^)
den Sieg, dessen Feier Piaton in dem erhaltenen Symposion als Hinter-
grund benützt. Sein Geburtsjahr wird also spätestens 436, aber auch nicht
viel früher fallen. Durch seinen feinen Geist, der ihm auch die Freund-
schaft des Euripides und des sokratischen Kreises erschloß, und seine
eleganten Manieren mehr als jeder andere zum Hofmann geeignet, folgte
er um 407 mit seinem Freund Pausanias einer Einladung des Königs
Archelaos nach Makedonien, wo er wieder mit seinem älteren Genossen
Euripides zusammentraf, i^) Zur Zeit, als Archelaos starb (399), lebte er
*) Eretria hatte berühmte Dionysosfeste
(K, BuRsiAN, Geogr. Gr., Leipz. 1868, II 420);
Berlin 1897, S. 83 ff.
«) A. Wilhelm, Urkunden 103.
^) F. RiTSOHL, De Agathonis tragici ae-
tate, 1829, jetzt in dessen Opusc. 1411 ff.; F.
G. Welckek, Gr. Tratr. 981 ff.
«) A. Wilhelm, Urkunden 158. \ ») Suid.'; Scliol. Arist. ran. 83; J. A. Cra-
«) CIA II 977 b, Diog. Laert. II 133. Von mbb, Anecd. Oxon. IV 269. Tisamenos wird
über das von der amerikanischen Schule aus-
gegrabene Theater von Eretria W. Dörpfeld,
Gr. Theater 112 ff.
den 19 Titeln, die wir kennen, gehören sicher 6, ' auch als Vater des Tragikers Alkestor genannt ;
wahrscheinlich aber 10 zu Satyrspielen. Über
das Satyrspiel Aldcor s. J. 0. Schmidt, Comm.
Ribbeck. 112 ff.
*) Arist. pac. 781 ff., Thesm. 169 und
441, ran. 86; vgl. vesp. 1501, nub. 1261. F.
das veranlagte H. Müller-Stkübino, Aristoph.
und die bist. Kritik, Leipz. 1873, 562 f. zu
kühnen Hypothesen.
») I. Brüns, Das litterar. Porträt 156 ff.
^^) Ath. 271a: dazu stimmen die langen
G. Welcher, Gr. Trag. 1018 ff., 1068 ff. Nächte in Plat. symp. 223c.
^) J. Kirchner, Beiträge zur Geschichte *') Nette Anekdote von Euripides, der den
attischer Familien, Festschr. z. lOOjähr. Jubel- ; schönen, aber schon 40jährigcn Agathen beim
feier des k. Friedrich- Wilhelm-Gymnasiums, | G«lage küssen will, bei Aelian v. h. XIII 4.
C. Drama. 2. Die Tragödie, e) Die übrigen Tragiker. (§§ 210—211.) 371
entweder noch in Pella, oder war dort schon gestorben: beides kann Arist.
ran. 85 mit den Worten or;|rCTa« ig fxaxdQ(ov eucoxicLv andeuten (vgl. den
Scholiasten zu jener Stelle). Die Kunstrichtung des Agathon entsprach
seinem stutzerhaften Äußeren; in der Sprache ahmte er die gesuchten Anti-
thesen des Gorgias nach;i) in der Musik schloß er sich dem Raffinement
des neuattischen Dithyrambus an, so daß die 'Ayd&ayvog avXr}oig sprichwört-
lich wurde;*) seine Chorgesänge waren bloßer Ohrenschmaus und hatten
nur noch die Bedeutung von musikalischen Zwischenspielen dixßoh^d).^)
Im Inhalt wagte er die große, von niemanden nachgeahmte Neuerung, zu
seiner Tragödie "Av&og die Fabel ganz frei zu erfinden.*) Übrigens fand
er mit seiner feinen, geistreichen Art viel Anklang; insbesondere hat Ari-
stoteles für ihn fast nur Worte der Anerkennung. Mit Recht stellt Welcker
den Agathon an die Spitze einer neuen Entwicklung, die freilich in ihren
Anfängen stecken geblieben ist: er hat versucht, den von Euripides be-
schrittenen Weg fortzusetzen und die Tragödie aus der mythologischen
Hülle zu befreien, und er hat die moderne Sprachkunst und Musik in vollem
Umfang der Tragödie dienstbar gemacht, damit freilich ihren gottesdienst-
lichen Charakter zerstört.
Nur inschriftlich bekannt ist ein Tragiker Archestratos, mit dessen
Aristaios ein Schauspieler der hellenistischen Zeit bei den delphischen So-
terien einen Sieg gewann. Da er neben Euripides genannt wird, mag er
noch in das 5. Jahrhundert gehören.*)
211. Die Tragiker des 4. Jahrhunderts. Mit dem Tod des Euri-
pides und Sophokles verödete die tragische Bühne. Es lebten zwar noch im
4. Jahrhundert Dichter genug, die für die Bühne schrieben und die Aristo-
teles der Beachtung wert hielt; aber die dankbaren Sagenstoflfe waren er-
schöpft, und da das Hinübergreifen auf geschichtliche und rein fingierte Stoffe
mit der religiösen Bestimmung der Tragödie nicht vereinbar war, so bewegten
sich die Tragödiendichter wesentlich im Geleise der alten Fabeln und hatten
ihre Not, den vergriffenen Gegenständen durch Änderung in Kleinigkeiten,
wie des Ortes oder der Erkennungsweise, neue Seiten abzugewinnen;^) nur
selten glückte es einem Dichter, mit einer ganz neuen Tragödie zu debütieren;
er fand dann aber auch außergewöhnlichen Beifall, wie Astydamas mit seinem
Parthenopaios. Leichte und elegante Handhabung der Sprache war damals
eine sehr verbreitete Kunst, und die Tragiker verstanden sich auf sie um
so mehr, als sie meist aus der Schule von Rhetoren hervorgegangen waren;
aber die geschickte Mache und die geistreichen Metaphern vermochten
nicht den Mangel an Wahrheit und warmer Empfindung zu ersetzen. Drei
M Schol. ad Luc. rhet. praec. 11. Bei 1 *) Arist. po6t. 1451b 21.^ Außerdem
Aelian. v. h. XIV 13 sagt er witzig zu einem, | kennen wir von ihm die Titel *Aeo6.it], 'AXx-
der die Antithesen aus seiner Rede entfernen | fteojv, ßveoijjq, Mifaoi\ Tt/lefpog.
wollte: /JltjOnc: oavtov xov Ayd&wva ex tov
'Ayd{>wvoc: dfpariC(ov. Ganz im gorgianischen
Stil läßt ihn Plat symp. 194 e ff. reden.
^) Suidas und Hesychios unter ^Ayd^a}-
vos avkt]oiq. Nach Plut. symp. III 1 p. 645 e
brachte er die chromatische Musik in die
Tragödie. I vgl. 1454a 8 ff.
») Philol. 60 (1901) 441.
*) Arist. poöt. 1453 a 18. jrooJToy oi jtoi-
Tjxal Tovg TvxdvTag jnv{}ovg djrrfoi&fAOvv, vifv
de Jiegi oXiyag olxiag ai Toayqyöiai ovvri&evxai,
olov jieQt AXxfiaimra xai Oiöljiovv xai 'Oodo-
zrjv xai MsXiaygov xai Sveöxt)v xai Ttßeqfoy;
») Arist. po6t. 1456 a 30.
24*
372 Oriechische Litteraturgeschiohte. I. Klaasisohe Periode,
Dinge sind es insbesondere, welche diese Periode der Nachblüte tra-
gischer Kunst bezeichnen. Erstens wurde es üblich, auch an den gro&en
Dionysien neben neuen Tragödien alte zuzulassen; die neu aufgefundenen
Didaskalien CIA II 973*) zeigen, daß in den Jahren 341 — 339 regel-
mäßig eine alte Tragödie den neuen vorausging. Zweitens begann das
Publikum Aufmerksamkeit und Beifall fast in höherem Grade der Schau-
spielerkunst als den Dichtern und den Texten zuzuwenden,*) so daß der
Schauspieler in den Didaskalien genannt und für die tragischen Schau-
spieler, übrigens schon seit 449, ein besonderer Wettkampf eingerichtet
wurde. ^) Drittens konnte der Dramatiker jetzt für seine Stücke auch auf
ein Lesepublikum rechnen,^) und es gab Dichter, deren Stücke so fein ins
Detail ausgearbeitet waren, daß sie ihre volle Wirkung eher beim Lesen
als auf der Bühne erreichten, Arayvcoorixot» nicht äycoviorixoi noif]TaL Unter
diese rechnet Aristoteles (rhet. 1413b 12), dem diese mehr geistige Wir-
kung offenbar sympathischer ist, den Tragiker Chairemon, den er äxgißrjg
&qn€Q Xoyoygdifog nennt, und den Dithyrambiker Likymnios. In Chai-
remons Fragmenten tritt eine starke Neigung zum Blumigen, zur personi-
fizierenden Metapher hervor; übrigens hielten sich Stücke von ihm noch im
3. Jahrhundert v. Chr. auf dem Repertoire. 0) Ein Experiment von ihm,
aus dem man sieht, wie damals zur Erzielung unerhörter Überraschungs-
eflfekte Raubbau an den Kunstformen getrieben wurde, war das dga/ia noXv-
jueTQov Kevravoog^ in dem er alle Versarten verwendete. <*) Weniger be-
rührte die Kunst und das Wesen des Dramas der äußerliche Umstand, daß
seit dem 4. Jahrhundert Athen aufhörte, einzige Pflegestätte der drama-
tischen Kunst zu sein und daß auch in Syrakus, Korinth, Argos, Pherai,
Megalopolis, Eretria und anderen Städten Tragödien aufgeführt wurden. '')
Von Tragikern werden aus der Wende des 5. Jahrhunderts®) genannt
Kritias und Theognis, die beide zu den dreißig Tyrannen gehört hatten,
jener auch als Dramatiker, wie das Fragment seiner Tragödie Sisyphos
zeigt, ein Verkünder des radikalsten Rationalismus (s. 0. S. 173), dieser
*) A. Wilhelm, Urkunden 40. Das erste Gr. Bahn. 329. Berühmte Schauspieler waren
Beispiel von Wiederaufführung einer alten damals Polos, Theodoros, Tliettalos, Aristo-
Tragödie (muaioy dgäfta .ttigföiSa^ar oi rga- demos, Neoptolemos, Satyros, Athenodoros.
y(odoi) haben wir aus einer didaskalischen ' Vgl. F. G. Welcker, Gr. Tr. 911 ff. A. Wil-
Inschrift für das Jahr 386 (Wilhelm a. a. 0. , helm, Urk. 138 und G. Kaibel bei Wilhelm 188;
23), das erste für die einer alten Komödie 1 A. Müller a. a. 0. 358 ff.
für das Jahr 341/40 (ders. 28. 170 u. Jahresh. | *) Schon in Aristophanes' Fröschen V.53
des östr. arch. Inst. 10, 1907,39). Hier scheint j liest Dionysos während des Feldzugs auf dem
es sich aber noch nicht um eine regelmäßige Kriegsschiff für sich die Andromeda des Eu-
Einrichtung. sondern um eine Extraleistung | ripides.
der Schauspieler zu handeln. ! ^) Philol. 60(1901)441: über die ttm;'y€i>-
*) Arist. rhet. 1403 a 33: ftei^m' dvvai^ai j anpcot s.E.Szanto, Festschr. f. Gomperz 275 ff.
vvi' Tojv noti]TüJv oi vjioHQirai. Aristoteles* und 0. Crusius ebenda 381 ff.
Verstimmung darüber beleuchtet E. Szanto. *) Aristot. po6t. 1447 b 20; Ath. 608 c.
Ausgew. Abb. (Tübingen 1906) 343 ff. ") A. Müller, Gr. Bühn. 376 ff. In Sy-
^) Siehe oben S. 260. Alciphr. ep. III 12 ] rakus, wo Epicharmos lebte und Aischylos
Schepers. Etwas anderes ist der von Lykur- j seine Perser aufführen ließ, gab es gewiß
gos (Ps.Plut. vit. X or. 841 f) eingerichtete ; schon früher ein Theater.
Schauspieleragon am Chytrenfest, durch den ' ®) E. Capps, Chronological Studios in
die zur Festaufführung zuzulassenden Schau- ■ the Greek tragic and comic poets, Americ.
Spieler ausgelesen wurden. Vgl. A. Müller, ! Journal of philol. 21 (1900) 38 ff.
C. Ihrama. 2. Die Tragödie, e) Die übrigen Tragiker. (§ 211.;
373
auch ein Modemer,0 der einmal mit Euripides und Nikomachos in die
Schranken trat;*) ferner Meletos, der als Ankläger des Sokrates eine
traurige Berühmtheit erlangt hat, 5) Kleophon.*) Nur zum Gespött diente
Dionysios der Ältere, Tyrann von Syrakus, der auch als Dichter glänzen
wollte^) und sogar in Athen kurz vor seinem Tod (367) mit einer Tragödie
*'ExTooos Xvrga den ersten Preis gewann. ß) Dem 4. Jahrhundert gehörten
ferner an: Astydamas, Sohn des Tragikers Morsimos, der anfangs den
Rhetor Isokrates hörte, sich aber dann zur Tragödie wandte; ein außer-
ordentlich fruchtbarer Dichter (Suidas legt ihm 240 Tragödien bei), erfreute
er sich zugleich einer großen öunst des Publikums; er trug fünfzehn Siege
davon,') von denen uns zwei (341 mit der Trilogie Achilleus, Athamas, Anti-
gone; 340 mit zwei Stücken, Parthenopaios und Lykaon) inschriftlich be-
zeugt sind, und erhielt für seinen Parthenopaios die Ehre einer Statue.^)
Die Kunst des Vaters vererbte sich auf seinen Sohn, den jüngeren Asty-
damas. Theodektes aus Phaseiis in Lykien, Schüler des Piaton und
Isokrates, war gleich angesehen als Redner und Tragiker; ein schöner und
gewandter Mann, war er in den Kreisen der Platoniker, namentlich von
Aristoteles, gern gesehen; als Tragiker trat er zuerst 365 auf;®) auch am
Hof der Artemisia stand er in Ehren und feierte in einer Tragödie das An-
denken des kunstfreundlichen Königs Maussolos (352);*^) seine übrigen Tra-
gödion, deren er fünfzig geschrieben haben soll, scheinen lauter ältere Sagen-
stoife behandelt zu haben. Gestorben ist er in Athen im Alter von 41
Jahren; 11) an der heiligen Straße nach Eleusis stand sein großartiges Grab-
denkmal, auf dem er sich rühmte, bei dreizehn Wettkämpfen acht Sieges-
^) Das geht aus dem Spott des Aristo-
phanes Ach. 11, 140; Thesm. 170 hervor.
*) Dabei siegte der sonst unbekannte
Nikomachos (Suid. s. Ntxofi. a).
*) Meletos war Verfasser einer Oidi^o-
deia. Bei dem Scholiasten zu Plat. apol. 18 b
heißt er xoayojöCa'; (faTO.o^ noitji/jg, ßoft^ yj^ro^ ;
vgl. F. G". Welcker. Gr. Trag. 970'ff.
*) Aristot. soph. el. 174 b 27; weitere
Stellen aus Aristot., der ihn wegen der Klar-
heit und nüchternen Realistik seiner Sprache
öfter anführt, A. Nauck. TGF^ p.962,b. Frag-
lich ist. ob sein Mandiobulos (Schneidewin-
Leutsch zu Zenob. prov. in Paroemiogr. Gr.
III 82) eine Tragödie war.
*) Nach Suidas hat er Tragödien und
Komödien gedichtet und demnach die For-
derung des Sokrates in Platos Symp. extr.
erfüllt ; aber die Komödien werden bezweifelt,
8. Welcker 1229.
«) Tzetzes Chil. V 180: nach demselben
Chil. V 185 spottete er in einem Drama über
Piaton. Eine Darstellung aus der Tragödie
von Hektors Lösung findet sich auf einem
Wandgemälde von Pompeji; s. A. Baumeister,
Denkm. III n. 1949. — Über seine geschmack-
losen neuen Wortbildungen, die auch Epist.
Socraticor.85. 36 Hercher berührt werden, s.
J. Wackernag EL, Ztschr. f. vergl. Sprachf. 33
(1895). 48 ; über seine ganze litterarische Tätig-
keit C. 0. ZüBETTi, Riv. di filol. 25 (1897) 529 ff.
^) Einen Sieg, und zwar den ersten, er-
wähnt die pansche Chronik ep. 71 zu 372;
vgl. Welokeb 1052 ff.; den Sieg mit dem
Parthenopaios im Jahr 340 bezeugt CIA II
973. Wie sich dieser Ast, zu dem verhält,
der nach Diod. XIV 43 im Jahr 398 zuerst
auftrat und 60 Jahre alt wurde, ist noch
nicht aufgeklärt (Wilhelm, Urk. 103 f.). Ein
Fragment aus Ast. "Exxmo findet sich Am-
herst pap. II 10 (s. L. Radermacheb. Rhein.
Mus. 57, 1902, 137 f.). Da die didaskalische
Inschrift CIA II 977 nur sieben Siege von ihm
angibt (Wilhelm 104), die jedenfalls städti-
sche sind, so muß er achtmal an den Le-
näen gesiegt haben. In den 240 Stücken sind
ohne Zweifel die der beiden (vielleicht sogar
drei) Astydamas inbegriffen.
®) Diog. Laert. II 43. Die Basis der
Statue mit Inschrift wurde am Dionysosthea-
ter aufgefunden; s. U. Köhler, Amen. Mit-
teil. 3 (1878) 116; Dörpfeld-Rbisch, Das
griech. Theat. S. 38.
•) Wilhelm, Urk. 104.
»0) Gellius X 18, 7.
") Sein Geburtsjahr berechnet F. Suse-
MiHL, Rhein. Mus. 54 (1899) 631 auf 382/1;
richtiger E. Capps a. 0.: far from 390.
374 Ghriechisohe Litteratnrgeschichte. L ElassiBche Periode,
kränze davongetragen zu haben. 0 Wenn er in dem Aristeasbrief (§ 316
Wendl.) als Repräsentant der Tragödie erwähnt wird, muß er in der Ptolemäer-
zeit noch sehr beliebt gewesen sein. Außer Tragödien hatte er Reden und
eine berühmte rexvrj ^rjioQixi^ geschrieben.*) Moschion, ein oft verspotteter
Feinschmecker, griff auf die politische Tragödie zurück in seinem Themi-
stokles und seinen Pheräern,») von welchen Dramen das erste den Tod
des Themistokles behandelte, das zweite sich auf den Untergang des Ale-
xandres von Pherai bezogen zu haben scheint. Sonstige Tragiker unserer
Periode waren, abgesehen von dem Verfasser des oben (S. 357 f.) bespro-
chenen Rhesos, Polyeidos, der nach Arist. poöt. 1455b 10 eine neue
Lösung in der Wiedererkennung der Iphigeneia ersann, Euaretos,*) Di-
kaiogenes,^) Aphareus,^) der Stiefsohn des Isokrates, dessen Bühnen-
laufbahn zwischen die Jahre 368 und 341 fällt, und der zwei städtische
und zwei lenäische Siege gewonnen hat, 341 aber mit der Trilogie Ilehd^
deg, ^OgeoTtjg, Avyrj der dritte wurde, Timokles, interessant dadurch, daß
er sowohl Tragödien und Satyrspiele als auch Komödien dichtete, Verfasser
eines 340 aufgeführten Satyrspiels Lykurgos,'') Antiphon, der am Hof
des älteren Dionysios von Syrakus lebte und diesem bei der Abfassung
seiner Dramen assistiert haben soll; 8) Kleainetos. — Den Zerfall der
Formen zeigen einige merkwürdige Zwitterbildungen des 4. Jahrhunderts:
iyihon von Katane oder Byzantion schreibt ein Satyrspiel ^Aytjv mit An-
spielungen auf den harpalischen Prozeß ;ö) die Kyniker Diogenes von
Sinope und Krates von Theben schreiben humoristisch-parodistische rga-
yqydiai, in denen sie für die (pvaig (z. B. für Kannibalismus im Thyestes,
für Inzest im Oidipus) plädieren;*^) wieder andere machen unter MißbiUi-
gung des Aristoteles (poöt. 1453a 29) Tragödien mit heiterem Ausgang.
Insgesamt kennen wir (nach Naucks Sammlung) 141 Namen griechi-
scher Tragiker und 386 Titel von Tragödien; von diesen sind 56 von je zwei,
16 von je drei, 12 von je vier, 5 von je fünf, 3 von je sechs, 2 von je
sieben, einer {OidiJTovg) von zwölf verschiedenen Dichtern behandelt worden.
Vom 4. Jahrhundert an versehen sich immer mehr auch mittlere
und kleinere Städte mit festen Theaterbauten, von denen aus nun der Geist
attischer Kultur und Poesie über das gesamte griechische Sprachgebiet
verbreitet wird. Seit Erbauung der steinernen Theater werden die Schau-
*) Steph. fpaati/Jg ; Ps.Plut. vit. X or. 837d ;
Paus. I 37, 3. Da wir aus CIA II 977 wissen,
daß er sieben städtische Siege gewonnen
hat, so muß er einmal bei den Lenäen oder
außerhalb Athens gesiegt haben (Wilhelm
Alkmeon, mit dem er 340 der dritte wurde
(A. Wilhelm, ürk. 40).
'^) Schol. Ar. Eccl. 1. Eur. Med. 167; Ar.
poöt i455a 1.
«) Ps.Plut. Vit. X or. 839 c. Über Siege
104; G. Kaibel bei Wilhelm 185). ' des Aphareus CIA II 973 vgl. F. Susbmihl,
=*) Daher von Cicero or. 61 arfifex ge- Rh. Mus. 49 (1894) 474. A. Wilhelm, ürk.
nannt; auf dieses Handbuch scheinen auch die 40. 101. 103.
HtiH)FXTein des Aristoteles Bezug zu haben;
vgl. L. Spenoel, IWaywytj re/yiov, Stuttg.
1828, p. 168. C. F. T. Märcker, Do Theodectis
Phas. vita et scriptis, comm. I, Breslau 183-").
A. W^ilhelm, ürk. 40 f. 129.
®) A. Dietebich, Realenz. I 2526. 40 ff.
») A. Nauck. T(.4F-^ 810 ff.
*") E.RouDE. Kl. Sehr. I 182 f.; E.Weber,
3) 0. Ribbeck. Rh. Mus. 30 (1875) 147 flf. Leipz. Stud. 10 (1887) 141 ff. Die roay. des
*) Nur inschriftlich bekannt als Dichter
eines Teukros und Achilleus, mit denen er
341 den zweiten Preis gewann, und eines
Diogenes schreibt übrigens Jul. or. 6 p. 186 c
dem Aigineten Philiskos zu.
C. Drama. 3. Die Komödie, a) Di» Anfänge der Komödie.
211-212.) 375
Spieler bei den Aufführungen über den Chor, der auch der späteren Tra-
gödie noch erhalten bleibt/) erhöht, wodurch sich das Vorwiegen der soli-
stischen Virtuosenleistungen auch äußerlich ausdrückt. Da nun auch musi-
kalische und rednerische Vorführungen, soweit nicht wie in Athen be-
sondere Odeen vorhanden sind, in das Theater verlegt werden, so findet
sich seit dem 4. Jahrhundert die Teilung der musischen äyoyveg in oxtjvixoi
(dramatische) und ^vjuehxol (in der Orchestra stattfindende nichtdrama-
tische). ^) Übrigens lassen uns die Inschriften erkennen, daß die Komödien-
aufführungen in hellenistischer Zeit weit beliebter waren als die der Tra-
gödien, und es ist auch bezeichnend, daß jetzt in der Anordnung die Satyr-
spiele den Tragödien vorangestellt werden. 3) Im 4. Jahrhundert war die
Tragödie noch die beliebteste Gattung gewesen;*) es gibt aber schon zu
denken, daß Lykurgos, der gestrenge Wächter alter Sitte, zu ihrem Schutz
mit gesetzgeberischen Maßregeln vorgehen mußte.*) Gegen Ende des
3. Jahrhunderts scheint der Tragödienagon der Lenäen in Athen, auch die
Wiederaufführung alter Tragödien, ganz aufgehört zu haben. ^)
3. Die Komödie.')
a) Die Anfänge der Komödie in Griechenland und Sizilien.
212. Die Komödie läßt Aristoteles (s. oben S. 249, 4) von den
Vorsängern der Phalloslieder {ihid rcov i^aoxoyrojv m (paXXixd) aus-
gehen. Solche Aufzüge von Phallosträgern {(paXXoq?6ooi), die mit einem
') A. Körte, N. Jahrbb. f. kl. Altert. 5
(1900) 81 flf.
*) J. Frei, De certaminibus tliymelicis,
Basel 1900 Kap. I.
3) Frei a. a. 0. 21.
*) Plat. leg. 11 658 d.
^) Ps.Plut. Vit. X or. 841 f.
•) E. Reisch, Zeitschr. f. österr. Gymn.
58 (1907) 301. 309.
^) Im Altertum handelte Aristoteles im
2. Buch der Poetik von der Komödie, woraus
verzettelte Reste auf uns gekommen sind, die
J. Bernays, Zwei Abhandlungen über die arist.
Theorie des Drama, Berl. 1880, 133 ff. ine
rechte Licht gestellt hat. Außerdem schrieb
derPeripatetiker Chamaileon .t£^< x(ofuodiag in
mindestens sechs Büchern, und in Alexandreia
beschäftigten sich Lykophron, Eratosthenes,
Euphronios, Aristophanes Byz., Aristarchos
mit der Komödie. Der Krateteer Herodikos
schrieb Koyuofdovftfrn, die den Toay(obovfiF.va
des Asklepiades entsprochen zu haben scheinen.
Erhalten sind uns mehrere, den Aristophanes-
scholien vorangeschickte Traktate, nämlich
Platonios .lein öuufooä'; xwfifpduhv (Ii) und
.Tfo< dia(fo(tä;: yaony.Tt)oo)v (I2) . ferner ein
Anonymus nftn xw/ioMi^ (II) mit wertvoller
Charakteristik der einzelnen Dichter. Aus
dem Mittelalter stammen die Verse des die
Scholien zu Dionysios Thrax benützenden
Tzetzes .tfoi xiofiwöiag und dessen Prolego-
mena in Aristophanem (ed. H. Keil in F.
Ritschi Opusc. I 197 ff.), womit das Scholium
Plautinum, neubearbeitet von W. Stüdemünd,
Phil. 46 (1887) 1—26, zusammenhängt. Alle
diese einleitenden Stücke, noch um andere ver-
mehrt, im 1. Band von G. Kaibel, Comic, gr.
fragra. 1899; litterarhistorisch behandelt von
demselben, Abb. der Gott. Ges. der Wissensch.
N. F. 2, 4 (1898). — A. Meineke, Historia
critica comicorum graec, Bd. I von dessen
Fragm. com. Graec. Berol. 1839—57, 5 voll.,
Hauptwerk ; ed. minor Berol. 1847, 2 voll.; Th.
Kock, Comicorum atticorum fragm., Lips. 1880
bis 1888, 3 Bde, wozu wichtige Ergänzungen
von A. Nauck, M61. gr.-rom. VI, Petersburg
1891, 53 ff.; G. Kaibel, Comicorum graecorum
fragra., davon erschienen vol. I fasc. prior:
Doriensium comoedia mimi phlyaces, Berolini
1899. Eine Anzahl Fragmente sind aus Pho-
tios hinzugewonnen: R. Reitzenstein, Der An-
fang des Lexik, des Phot, Leipz. 1907, XVI ff.
Über den Zuwachs aus Papyri s. die einzelnen
Dichter. — Edelestand du Mi^ril, Histoire
de la com^die ancienne, 2 voll. Par. 1864. 69;
F. H. M. Blaydes, Adversaria in Comic, graec.
fragmenta, 2 Teile, Halis 1890 und 1896; A.
Körte, Archäologische Studien zur alten Ko-
mödie, Jahrb. d. arch. Inst. 8 (1893) 61 ff;
G. Thiele, Die Anfänge der griech. Komödie,
N. Jahrbb. f. Philol. 9 (1902) 405 ff. — Jahres-
bericht über die Komiker im Jahresber. über
die Fortschr. der kl. Alt. von C. v. Holzinoer,
zuletzt Bd. 116 (1903) 159—328.
376 Qriechische Litteratorgeflohichte^ I. KlaasiBche Periode.
Phallos, dem Symbol der Zeugungskraft des Vegetationsdämons, umher-
zogen, fanden an vielen Orten statt. Von dem Brauch an den ländlichen
Dionysien gibt Aristophanes in den Acharnem 259 ff. ein anschauliches
kleines Bild. Genauer beschreibt Semos von Delos bei Athen, p. 622 c aus
späterer ZeitO solche Aufzüge: die Phallophoren ziehen zuerst unmaskiert,
aber die Köpfe mit Blattwerk umhüllt, in Wieselpelzen im raschen, iam-
bischen Takt in die Orchestra ein; dann laufen sie auf die einzelnen zu
und überschütten sie mit Spottversen. Ähnlich war die von Herodot V 83
geschilderte, in Aigina heimische Feier der Fruchtgöttinnen Damia und
Auxesia, von der die Spottverse in Aristophanes' Fröschen 416 ff. ein Ab-
bild geben.*) Verwandter Natur waren auch die Spässe der Dikelisten')
in Sparta, die mit Geberden und Worten den fremden Quacksalber oder
den Krautdieb nachahmten,*) die Scherze der vermummten Bauern und
Hirten in Sparta und Sizilien,^) die komischen Gesänge der Lysioden und
Magoden in Unteritalien. 0) DeutUch lassen sich zwei Arten scherzhafter
Darbietungen unterscheiden: auf ionischem Boden die satirischen, mit per-
sönlicher Invektive, wie sie Archilochos und Hipponax litterarisch gefaßt
haben, auf dorischem die humoristischen, die zu der dorischen Typen-
komödie und dem Mimos hinführen. Die attische Komödie hat beide Ele-
mente in sich aufgenommen.
213. Aus solchen volkstümlicheil Schwänken und Neckereien sind die
verschiedenen Arten der komischen Muse hervorgegangen. Die Komödie
knüpfte insbesondere an die Phallika an; denn sie war und blieb mit dem
Kultus des Dionysos und seinen Festen aufs engste verknüpft. Gelegen-
heit zum Vortrag der Scherze bot der xw/tiog, der lustige Aufzug zu Ehren
des Bakchos, und von ihm hat die Komödie den Namen. ^) Die Anfänge
der Komödie sucht Aristoteles poet. 3 bei den dorischen Megarern, den
nisäischen im griechischen Festland und den hybläischen in Sizilien.*) Im
festländischen Megara mag die Ochlokratie nach dem Sturz des Tyrannen
M In spätere Zeit gehört jedenfalls auch lautliche Prägung in dorischem Gebiet er-
was Ath. 445b über Antheas von Lindos und : halten: A. Thumb, Die griech. Sprache im
seine bakchischen Ausgelassenheiten be- ' Zeitalter des Hellenism., Straßb. 1901, 60.
richtet. *) Ath. 62 Id.
■'') Von Phallophoren in Sikyon spricht , '^) Vgl. den Traktat Jt^gi xijc: Fvoeaeio^
Ath. 621 d. Über Neckereien und Obszöni- nov ftovxohx(7n' vor den Theokritscholien.
täten beim Demeterkult s. a. Diod. V 4, 5 und «) Ath. 621 ; vgl. C. J. Grysar, De Do-
dazu Wesscling; Weiteres Chb. A. Lobeck, riensium comoedia. Colon. 1827. H. Reich,
Aglaoph. 689. Spottreden zwischen Männern Der Mimus I 275 ff.
und Weibern beim Fest des Apollon Aigletes ') Der Ableitung von xu)iu] Dorf (Aristot.
in Anaphe Apoll. Rhod. Arg. IV 1717 ff. poöt. 1448a 35) liegt die Tendenz zugrund,
^) dixf/Äor = Fidouov, fuftjjfiu Hesych. die Komödie ganz aus dem dorischen Gebiet
s.v.; Hdt. II 171. Wenn das Wort, wie es herzuleiten. Über die Kontroverse in betreff
scheint, ionischen Ursprungs ist, so würde 1 des dorischen oder nichtdorischen Ursprungs
folgen, daß diese komischen Produktionen | der Komödie s. J. Poppelrküter, De com.
in Sparta aus dem Osten importiert und von ; Att primordiis, Berl. 1893. 14.
ionischen Künstlern ausgeführt worden sind. *) Aspasios zu Arist. eth. Nie. TV 6 nennt
Dem entspricht, daß Plat. leg. VllI 816 de, i die Megarer Erfinder der Komödie: vgl. Anth.
wahrscheinlich im Anschluß an dorische Sitte, Pal. XI 32. Wilamowitz. Die megarische Ko-
komisclie Rollen nur durch Sklaven oder mödie, Henn. 9 (1875) 319 ff. will die mega-
Ausländer übernehmen läßt. Übrigens haben 1 fische Komödie auf Witze attischer Komödien-
doch auch manche Wörter aus der Komödien- ! dichter reduzieren, mit Unrecht.
Sphäre wie y.oßa).o<;^ aoexaJ.oyogy (fkvaoog ihre
C. Drama. 3. Die Komödie, a) Die Anfänge der Komödie. (§§ 213—214.) 377
Theagenes (um 600) dem Spott der Phallophoren freien Lauf gegeben
haben ;0 zur kunstvollen Entwicklung ist aber der megarische Scherz
(MeyaQixöv axco/ijua) nicht gekommen; man sprach in Athen von ihm nur
im Sinne von grober Zote und Bedienten witz.*) Eine Hauptfigur der mega-
rischen Posse war der Maison, die stehende Maske eines gefräßigen
Koches.*) — Nach Attika, und zwar nach dem Demos Ikaria, wohin auch
die Entstehung der Tragödie verlegt wird, verpflanzte die Komödie angeb-
lich Susarion aus Tripodiskos.*) Es sind uns unter seinem Namen noch
fünf sicher gefälschte Verse erhalten, in denen er sich als Sohn des Phi-
linos aus Megara einführt und die große Weisheit verkündet xai yäo rö
yfj/xai xai tö /nij yij/Liai xaxov. Die pansche Chronik (ep. 39) läßt ihn zwi-
schen 581 und 562 in Ikaria auftreten und als Sieger einen Korb voll
Feigen und eine Amphora Wein davontragen. Aber die Stegreifwitze
(avToox^itdo^ra) dieses alten Lustspiels paßten nicht zu dem ernsthaft-
mystischen Charakter, den die Religionspolitik der Tyrannen im 6. Jahr-
hundert den städtischen Dionysien gegeben hatte und der ihnen auch nach
Einrichtung der Demokratie zunächst noch ausschließlich verblieb, bis man
zuerst mit Zulassung des Satyrspiels der bäuerlichen Lustigkeit des alten
Dionysoskultes eine Konzession machte. So blieb, wie Aristoteles sagt,*)
die Komödie unbemerkt, und es dauerte an hundert Jahre, bis in Athen
von Staats wegen Wettspiele für Komödiendichter eingerichtet wurden.
214. Sizilische Komödie. Inzwischen waren schon in Sizilien die
Keime der dorischen Komödie aufgegangen und hatte bereits Syrakus nächst
Aristoxenos vonSelinus und Phormis^) den großen Dichter Epicharmos'^)
») Plut. quapst. gr. p. 295 d; Anth. Pal. XI
440.
*) Aristoph. vesp. 57; nub. 539; pac.
739 ff.; Eupolisfr. 244 K.; EkphanUdes fr. 2K.
') Aristophanes Byz. bei Ath. 659 a; A.
'') Über Epicharmos Anon. de com. 4 p. 7,
16 K., ein Artikel des Suidas und Diog. Laert
VIII 78. A. 0. Fb. Lorenz, Leben und Schrif-
ten des Koers Epicharmos, Berl. 1864; Leop.
Schmidt, Quaestiones Epicharmeae, Bonn 1846.
Meineke I 55 f. I Die Fragmente gesammelt von H. L. Ahrens,
*) Die Zeugnisse ttber diese Figur, die { De gr. ling. dial. t. II, Gott. 1843, im Anhang;
ihre Existenz nur der Rivalität der attischen ; vollständiger von G. Kaibel, C. Gr. Fr. 1 91 bis
und dorischen Ansprüche auf die Komödie
verdankt, bei G. Kaibel, C. Gr. Fr. I 77.
*) Arist. poöt. 1449b 1 ff.: i) de xtoftfpöia
6ia x6 fiij ojiovSdü^EoOat f^ ^QX^^ ??.(i{^ev ' 9<ai
yao xooov fcojfKodioy oi/'e jroie 6 aQywv föiüxfv,
147. Daß Ep. aus Kos stamme, wird zuerst von
Diog. L. 1. 1. behauptet und geht wohl auf die
törichte Ableitung von xoyuuydia aus Kio^ (Dio-
med. bei Kaibel, C. Gr. Fr. I p. 58, 171 ff.) zu-
rück. Überall sonst heißt er Sikeliote (Ar. poöt.
akk' £&f?.oi'Tni fjoay ijdtj de oxfiftaid rtra avit^g [ 1448 a 32) oder Syrakusier (in den S 378, 2
zitierten Epigrammen; Columella VII 3, 6;
Anon. de com. p. 7 Kaibel; Suid.). Für seine
Bxovorfs Ol Aeyoiieyoi arrti'; Jioifirai firij/toveroy-
rat. Suidas s. ^EjTi'/aQua: nennt aus jener
älteren Zeit die Namen Euetes, Euxeni-
des, Myllos: der letzte steht auch bei Dio-
Zeit sind zwei unvereinbare Ansätze über-
liefert (F. Jacob Y, Marm. Par. p. 181; Wila-
medes p. 488, 24 K. Der erste bezeichnet , mowitz, Gott. Gel. Anz. 1906, 621 f.): 1. zur
einen inschriftlich bekannten Tragiker (A. j Zeit der Perserkriege und des Hieron (Timaios,
Wilhelm, Urk. 100). Marm. Par., Suid. u.a.); 2. lange vor Magnes
®) Aristot. poöt. 5; Suid. s. v. G. Kaibel, i und Chionides, d. h. im 6. Jahrh. (A. Wil-
C. Gr. Fr. 1 148. Den von Epicharmos fr. 88 K. helm, Urk. 108). Er muß aber bis unter
erwähnten Dichter Aristoxenos zu be- Hierons Tyrannis gelebt haben, bis ca. 470
zweifeln, ist kein Grund. Der Spott auf die , (fr. 98 K. bezieht sich auf ein Ereignis a. 477/6;
ftdvTFis, den der einzige unter seinem Namen Schol. Aesch. Eum. 616 K.), wie er denn 90
erhaltene Tetrameter ausspricht, gehört seit (Diog. L. VIII 78) oder 97 (Luc. macr. 25)
alter Zeit zu den Gemeinplätzen des Mimos Jahre alt geworden sein soll. Es ist kein
(H. Reich, Der Mimus I 306 f.). i Grund zu zweifeln, daß Neanthes von Kyzi-
378 Oriechisohe Litteratnrgeschichte. I. ElaaoisGhe Periode.
(c. 550—460) hervorgebracht. Ihr Element ist nicht die Satire, sondern der
Humor, was der Begabung des dorischen Stamms, aber wohl auch den politi-
schen (oligarchischen oder monarchischen) Verhältnissen der dorischen „n/io-
xQaxia" (im Sinn von Piatons Politeia) entspricht. Persönliche Angriffe
und die kühne Phantastik *) der altattischen Komödie fehlen hier, dagegen
werden drollige Charaktertypen in drolligen Situationen mit harmloser
Lustigkeit vorgeführt. Märchen und Mythenparodie bieten gewöhnlich die
Einkleidung. Von kunstvollem Aufbau der Handlung oder der Versmaße
ist keine Rede. Der Dialekt ist der epichorische. Alles dieses und der
stark sentenziöse Einschlag geben der dorischen Komöde erheblich mehr
volkstümliche Farbe, als sie die attische hat. Da& sie durch den Sieg des
Attizismus fast ganz verdunkelt worden ist, bedeutet für unsere Kenntnis
der antiken Kultur eine der schmerzlichsten Einbußen. — Das Andenken
des Epicharmos ehrten die Syrakusier später durch ein ehernes Standbild,
zu dem Theokritos ein Epigramm dichtete.*) Seine Komödien, deren Zahl
zwischen 35, 40 (darunter vier strittige) und 52 schwankt, 5) und von deren
keiner sich der Aufbau und die szenische Darstellung im einzelnen mehr
erkennen läßt, waren zum größeren Teil (19 von den erhaltenen Titeln)
mythologische Travestien,*) die, wie schon die Titel Kvxkmti^y "Apivxog^
BovoEiQis zeigen, dem attischen Satyrspiel ähnliche Gegenstände behandelten.
Öfter war eine Hauptperson der Nimmersatt und Kraftmensch Herakles,
eine Lieblingsfigur des dorischen Volksmärchens; so im Buseiris, wo er sich
in den Vorratskammern des erschlagenen Unholdes gütlich tat; im "'Hßag
ydjuog bildete den Mittelpunkt sein Hochzeitsschmaus mit den leckeren
Speisen von Fischen, Austern, Vögeln, Kuchen, wie denn überhaupt im
Lande der dapes Siculae der Humor sich mit Vorliebe in der Küchensphäre
bewegt. Auch die Figur des Parasiten hat Epicharmos schon *(Ath. 235 ef).
In den Kojuacrral f} "Acpaiorog war die Fesselung der Hera auf dem Thron,
weil sie aus Eifersucht dem Herakles Nachstellungen bereitet hatte, dar-
gestellt. 0) Andere Stücke (17 von den erhaltenen Titeln) mögen den Mimen
verwandt gewesen sein und boten Bilder aus dem gewöhnlichen Leben, wie
der Bauer QAygojonvog), die Festbesucher (Oeaooi), oder witzige Wettkämpfe
nach volkstümlichen Motiven^) und philosophischen Wortstreit wie Fä xal
&(üaoaa, Aoyog xal Aoyiva und Av^avo/Lievog Xoyog,'^) Aus den meist singu-
larischen Titeln ergibt sich, daß der Chor in Epicharmos' Stücken nicht die
kos fr. 8 M. richtig das auch Oxyrh. pap. IV
nr. 665, 13. 15 erwähnte Krastos (das F. G.
Welcker, Kl. Sehr. I 3, 279 wegzudeuten
sucht) als seinen Geburtsort angebe.
^) 0. Cbüsius, Mttnch. Ak. Sitz.ber. 1907,
Epicharmos W. Schulze, Quaest. ep. 392.
^) Darauf wurde ehedem das Vasenbild
bei F. WiBSELER, Theatergebäude Taf. 9, 14
bezogen, während Wieseler selbst die Dar-
stellung auf ein anderes Stück bezieht.
1 ff., wo besonders das Fehlen theriomorpher •) Neugriechische Analoga K. Dieterich,
Vermummungen erwiesen wird. • Zeitschr. des Vereins für Volkskunde 12 (1902)
*) Theoer. epigr. 17; ein anderes Epi- 276 f.
gramm bei Diog. Laert. VIII 78. ') J.Bebnays, Epicharmos und der ^T»^«-
*) Suid., Anon. de com. 40. •'©/««rx: /.o;os% Ges. Abb. I,Berl. 1895. 109—117.
*) Die Mythenparodie setzt sich in dem Rekonstruktionen epicharmischer Stücke ver-
unteritAlischen qXra^ fort: A. v. Salis, De | sucht 0. Crüsiüs, Philol. Suppl. 6 (1891 — 93)
Doriensium ludor. in com. Att. vestigiis, | 293 besonders glücklich für die Märchen-
Baseler Diss. 1905, 10 f. Homerparodien bei ; komödie XvTQat.
C. Drama, 8. Die Komödie, a) Die Anfänge der Komödie. (§ 214.) 379
Bolle gespielt haben kann wie in der altattischen Komödie. Die Lustspiele
waren im dorischen Dialekt der Syrakusier geschrieben mit manchen inter-
essanten Einsprengungen aus altitalischem Dialekt; 0 von Versen gebrauchte
er außer dem iambischen Trimeter insbesondere den trochäischen und ana-
pästischen Tetrameter, diesen in zwei Komödien, den XoQevovxeg und dem
^EniviKog^ durchweg;*) seine trochäischen Tetrameter hatten durch die häu-
figen Auflösungen der Längen einen ungleich bewegteren Charakter als die
entsprechenden Verse des attischen Dramas. Mit der Raschheit des tro-
chäischen und anapästischen Rhythmus paarte sich die Lebhaftigkeit der
Aktion, so daß seine Komödien zu den fabulae motoriae gerechnet wurden,
worauf sich der bekannte Vers des Horaz epist. II, 1, 58 bezieht: Plautus
ad exemplar Siculi properare Epicharmi.^) Daß die epicharmische Typen-
komödie auf die altattische in den dreißiger Jahren des 5. Jahrhunderts,
zur Zeit des Verbotes /t/; drofiaorl xco/Liciydelv, besonders auf Krates, und
dann wieder auf die mittlere und neue Komödie eingewirkt hat, kann zu-
versichtlich angenommen werden,*) und dasselbe ist auch hinsichtlich der
Atellane wahrscheinhch. Einen Hauptanziehungspunkt in den Komödien des
Epicharmos bildete die Fülle treffender Sentenzen,*) die schon früh aus ihnen
ähnlich wie aus denen des Menandros und bei den Römern aus denen des
Publilius Syrus ausgezogen und, zum Teil wohl mit Unechtem unter-
mischt, in Anthologienform gebracht worden sind. Ob er nur infolge dieser
starken philosophischen Beimischung in seinen Komödien zu dem Ruf eines
Philosophen gekommen ist oder ob er wirklich (wie Kaibel u. a. annehmen)
ein Lehrgedicht neol (pvoeojg geschrieben habe, das Ennius in seinem Epi-
charmos in lateinische versus quadrati übersetzte, ist fraglich. Jedenfalls
lag dem Ennius ein solches Lehrgedicht unter Epicharmos* Namen vor,
dessen Fälschung Wilamowitz/) da es schon von Euripides benützt zu sein
scheint, in das 5. Jahrhundert hinaufrücken will. Was der Lokrer oder
Sikyonier Axiopistos nach dem Zeugnis des Philochoros als Fvib^m und
KavcDv des Epicharmos ausgab (Ath. 648 d), braucht nicht alles gefälscht
gewesen zu' sein. Daß schon Ende des 5. Jahrhunderts der Flötenspieler
Chrysogonos dem Epicharmos eine Ilohreia unterschob, bezeugt Aristoxenos
(Ath. 535 d); was freilich Clemens Alexandrinus'^) als aus der epicharmischen
IIokiTeia stammend zitiert (fr. 255 — 57 K.), mag man selbst einem schlechten
Dichter des 5. Jahrhunderts nicht zutrauen. Piaton, der die Werke des
Dichters wohl in Sizilien kennen lernte und sie teils wegen ihres philo-
sophischen Gehaltes teils wegen ihrer Freiheit von persönlicher Satire
^) über die Wirkungen des Digamma qgevior. Reste einer ca. 280 — 40 v. Chr. ge-
bei Ep. F. Solmsen, Unters, z. griech. Laut- schriebenen Sammlung epicharraischer mono-
und Verslehre, Straßb. 1901, 154 ff. — Die stichischer Sprüche in trochäischen Tetra-
italischen Wörter s. in dem Glossarium Ita
liotic. bei Kaibel, C. Gr. Fr. I 198 ff.
^) Hephaestion c. 8 p. 25, 1 1 Consbr.
metem Hibeh papyri 1 (1906) nr. 1. 2.
•) Euripides Herakl. P 29 f.; W. Nestle,
, , ^. _., Philol. Suppl. 8 (1899-1901) 601 ff. Die Be-
') Vgl. Lorenz a. a. 0. 215. merkung, daß Euripides den Ep. benutzt habe.
*) LoREKz a. a. 0. 207 ff.; A. v. Saus , ist schon im Altertum gemacht worden und
a. a. 0. (s. o. S. 878, 4). hat zu Fälschungen auf Ep.' Namen geführt
») Viel zitiert ist der Vers fr. 250 K.: ! (G. Kaibel, C. Gr. Fr. I p. 146).
väcfe y.ni fiifivao' dmoTetv äg^ga xavxa räv ■. ^) ström. V p. 719 f. P.
380 , Griechische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
(leg. IX 935 b. d ff.) besonders geschätzt haben wird, hält ihn (Theaet. 152e)
für den ersten aller Komiker. Die zahlreichen Fälschungen ^ auf Epicharmos'
Namen beweisen seine große Berühmtheit. Aber im hellenistischen Zeit-
alter verdrängt der Gnomiker Epicharmos^) den Komiker. Diesen scheint*)
der Grammatiker ApoUodoros durch seinen gelehrten Kommentar in zehn
Büchern*) wieder mehr ins Licht gestellt zu haben. — Schüler oder Sohn
und Rivale des Epicharmos war Deinolochos (Ael. nat. an. VI 51; Suid.).
Im übrigen geben uns nur die wenigen Reste der pseudoepicharmischen
^Aiakdvjai eine Ahnung von dem sonstigen Leben der westgriechischen
Komödie. Vielleicht hat die Tyrannis der Dionyse dem Spiel ein Ende
gemacht und die weitere Entwicklung nach ünteritalien gedrängt, wo dann
Phlyax und Atellane aufblühten.
215. Auch die primitive Form der westgriechischen Komik, die veri-
stische Einzelszene, wurde im 5. Jahrhundert künstlerisch fixiert, der
Mimos.^) Das Wesen des Mimos besteht in photographisch getreuer
Wiedergabe typischer Vorkommnisse des Alltagslebens in Form kurzer
Monologe oder Dialoge, die als Intermezzi sei es bei Symposien wie dem
von Xenophon geschilderten, sei es bei Agonen in der Orchestra oder im
Hippodrom^) ohne Szenerie, aber im Kostüm rezitierend vorgetragen wurden.
Schöpfer des Mimos als litterarischer Gattung ist Sophron, von dem Suidas
folgendes überliefert: „Sophron aus Syrakus, Sohn des Agathokles und der
Damnasyllis, lebte zur Zeit des Xerxes und Euripides und schrieb fiifxovg
ÖLvÖQeiovg (wie äyyEkog^ &vvvoi^t]Qag) und /nißiovg yvvaixeiovc; (wie äxeoxQiai^
vif/iitf'OJiovog, JTev&€Q(i, rai yvrdixegj a? mv ^eov (pavri i^eläv, rat &djU€vai rd
^la&juia); sie sind in Prosa, in dorischem Dialekt geschrieben; man sagt,
daß der Philosoph Piaton sie immer las, so daß er sogar zuweilen auf
ihnen schlief." Auch Mythenparodien hat Sophron geschrieben, vielleicht
(H. Reich, Der Mimus I 239 f., 387) eine eigene Sammlung riQojuMia,
Auch seine Sprache war stark mit italischen Elementen versetzt und
*) Zu diesen gehören noch ein Lehr- | scheinlich umfaßte jedes Buch; oder richtiger
gedieht XiQior, das Kaibel mit einer 'Otpo- jeder Tomos eine Tetralogie.
jiou'a identifiziert, ein Xoyoc: jtoos 'Arrrjrooa
(Plut. Num. 8), ein landwirtschaftliches Lehr
gedieht, auf das Columella I 1 und Stat. silv
*) J. A. Führ, De mimis Graecorum, Berl.
1860. E. Haüleb, Der Mimus von Epicharm
bis Sophron, in Xenia Austriaca I, Wien 1893,
V 3, 155 dunkle Anspielungen machen. Man- \ 81 — 135; ders., Über Sophron, Theokr. und
ches epicharmische Wort ist in den Sprich- i Herondas. Verh. der Wiener Philol.vers. 1893,
Wörterschatz des griechischen Volkes über- ! 256 ff. Eine lebensvolle Darstellung der
gegangen (0. Crüsiüs, Philol. Suppl. a. a. 0. j antiken Mimen und ihrer Verwandtschaft mit
281 flf.). ! den Gauklern und Jongleurs gibt Herm. Reich,
*) Das ist er dem Theokritos ep. 17 und ' Die ältesten berufsmäßigen Darsteller des
den Römern, unter denen besonders Lucretius griechisch-italischen Mimus, Progr. Königs-
ihn begeistert verehrt (C. Pascal, Atene e berg 1897, jetzt in dem Hauptwerk: Der
Roma 3, 1900. 275 ff). Mimus, I, Berlin 1903. Im Altertum schrieb
') WiLAMOwiTZ, Textgesch. der griech. ApoUodoros einen Kommentar in mindestens
Lyr. 24 ff. Von einer Schrift des jüngeren drei Büchern zu Sophron. Athenaios (281ef)
Tyrannen Dionysios .ifgi tojv .^oit^fiduov 'K.ii- \ hat davon ein großes Stück erhalten. Die
//tijfioi^ kennen wir nur den Titel aus Suid. ! Fragmente gesammelt von G. Kaibel, Com.
8. V. Aiorrmo^. Von Apollodoros' Kommentar I Gr. Fr. 1 152—182, ein neues W^ilamowitz,
ist ein Splitter durch das Wiener Papyrus- ; Herm. 34 (1899) 208.
fragment aus dem Y>dr'oafi's-afTo//oAoc (Kaibel, *) K. Hertlino, Quaest. mim., Straßb.
C. Gr. Fr. I p. 108 f.) auf uns gekommen. 1899; Choric. apol. mim. 13, 6; 0. Crusius,
*) Porphyrios in Vit. Plotin. 24; wahr- Herondas übers., Gott. 1893 p. XXXIX f.
C. Drama. 3. Die Komödie, b) Die altattische Komödie. (§§ 215—216.) 381
in einer uns nicht mehr fa&baren Weise rhythmisiert. Der Einfluß seiner
ethopoetischen Kunst auf die spätere Litteratur ist sehr bedeutend gewesen.
In den Idyllen des Theokritos (II und XV) sind zwei stark umstilisiereude
Nachahmungen erhalten, die uns für den Verlust der Originale entschädigen
müssen.') Ob er dem Theokritos auch für seine bukolischen Mimen Vor-
bilder gab, ist fraglich. Da Sophrons Werke noch im 6. Jahrhundert
n. Chr. gelesen worden sind (Ch. Graux, Rev. de phil. 1, 1877, 209 f.), so
ist die Hoffnung, dafs noch etwas von ihm aus ägyptischen Papyri zutage
kommen werde, nicht unberechtigt. Neben Sophron wird als Mimendichter
sein Sohn Xenarchos aus der Zeit des Tyrannen Dionysios genannt.*)
Neben dem Mimos hat sich auch bereits im 4. Jahrhundert der Panto-
mimos entwickelt, wie wir aus dem Gastmahl des Xenophon c. 9 ersehen.
Dort nämlich führt zum Schluß des Mahls ein syrakusanischer Tanzmeister
mit seinem Personal den Pantomimos Ariadne und Dionysios zum großen
Ergötzen der Zuschauer auf. Es ist bezeichnend, daß auch noch ein an-
deres dvd^rjjua dairog, das Kottabosspiel, aus dem tafelfrohen Sizilien nach
Griechenland importiert worden ist. Von dem gleichfalls aus dem Mimos
entstandenen Mimiambos wird später unter Herondas zu handeln sein.
b) Die altattische Komödie.»)
216. Festen Boden und dauernde Heimstätte fand das heitere Spiel
in dem demokratischen Attika. Reichlich flössen die Quellen für die kunst-
mäßige Komödie in den vielerlei Scherzen und Neckereien, die mit den
volkstümlichen Kulten des Dionysos und der Demeter auch in Attika ver-
bunden waren. Ebenso wie in dem ionischen Kulturbereich, aus dem Archi-
lochos und Hipponax hervorgegangen sind, wog auch hier die Lust an
der Satire auf Personen und Zustände des aktuellen Lebens vor; daneben
werden aber auch humoristische Produktionen ohne persönliche Spitze nach
Art des dorischen Mimos hergegangen sein. Einzelne und ganze Gruppen
traten da in phantastischen Vermummungen auf — Frösche, Vögel, Ritter
können wir schon lange vor Aristophanes nicht nur bei Magnes, sondern
auch auf schwarzfigurigen Vasen aus der Zeit c. 520 — 480 nachweisen.^)
*) Theoer. II ist nach Sophr. rai yvvatxeg, \ rückgeführt (H. Reich, Mim. I 137, 1). — Üher
at xäv &f.6v ff am i^ekäv (über den Inhalt die Rhythmisierung s. Ar. poöt 1447 a 28 flf. ;
R. Wünsch, N.Jahrbb.f Philol.Suppl.27, 1902, Schol. Greg, Naz. bei G. Kaibel, C. Gr. Fr. I
111 ff.), llieocr. XV nach Sophr. rat {>d/4£vai p. 153, 9 (hier ist jtottjTojv zu ^vdfioi? zu ziehen
rot "laOnia gemacht. Piaton (Duris fr. 45 M.), und der Nachdruck auf den Partizipialsatz
Herondas, Moschos id. 5, Lucian, Alkiphron, jionjxixili: dvaXoyiag xaratfornn^ong zu legen),
nach Joh. Lyd. de mag. I 41 auch Persius Siehe E. Norden, Die ant. Kunstprosa, Loipz.
sind mehr oder weniger direkt von S. be- 1898, 47 f.
einflußt. Die Einteilung der Mimen in *) Suidas u. 'Priylvovg, Arist. poöt. 1.
dvöoeioi und yvraiy.noi wird, da Piaton (reip. V *) Außer den allgemeinen oben S. 375, 7
451c; leg. 11669 c; vgl. Procl. ad Plat remp. angezeigten Werken über griech. Komödie
T. I 63, 24 Kr.) auf sie anspielt, von Sophron seien hier noch erwähnt Th. Bebok, Com-
selbst sein. Ein ca. 100 n. Chr. geschriebener mentationum de reliquiis comoediae Atticae
oiiTvßoi: ^l\u(fom'o<: /nftoi yvvmxEioi* ist in antiquae libri II, Lips. 1838; P. F. Kanne-
Oxyrhynchos (Oxyrh. pap. II p. 303) gefunden oiesser. Die alte komische Bühne in Athen,
worden. Der rhythmische Abendhymnns Gre- Breslau 1817, geistvoll, aber antiquiert,
gors von Nazianz (W. Christ, Anthol. graeca l ^) J. Poppelrbuter, De comoediae Atticae
carm. christ., Berl. 1871 p. 29) wird von alten primordiis, Berl. Diss. 1893; Ar. eq. 522 ff.
Grammatikern auf das Vorbild Sophrons zu- ,
382 Grieohische LitteratnrgeBohichte. L ElaBOBche Periode.
Die Kostüme waren von Anfang an mehr drollig als kostbar.^) Wie die
zotigen Scherze {aloxQoloyia), so ist auch die niedrigkomische Tracht mit
dem umgehängten Lederphallos, den ausgepolsterten Bäuchen und Gesäßen
solidarisch mit den Lustbarkeiten des volkstümlichen Dionysosdienstes ver-
bunden und von hier in den westgriechischen Phlyax wie in die altattische
Komödie übergegangen.*) Gelegenheit zu dergleichen Scherzen bot sich
außer bei den phallischen Aufzügen der Dionysien {evxekddiov x^Q^ ^Q^'
^la/tiaxa Ar. nub. 312) auch bei den sogenannten Gephyrismen (yeqwgiajioi).
Es war nämlich bei den jährlichen Prozessionen zur Mysterienfeier in
Eleusis Sitte, daß an der Brücke (yeqyvga)^ die über den Kephissos führte,
Witzbolde sich zu beiden Seiten aufpflanzten und in bald scherzenden,
bald beißenden Versen die Vorübergehenden neckten.*) Auch die Freiheit,
mit der die Maskierten vom Wagen herab*) bei bakchischen Aufzügen auf
die Leute rechts und links ihren Spott ausgössen, gab der attischen Ko-
mödie Nahrung.
Die attische Komödie ist, technisch betrachtet, ein Potpourri aus den
Elementen des attischen Faschings, zusammengehalten durch das lockere
Band einer toll-phantastischen Idee*) und durchdrungen von dem Bestreben,
im Sinn eines bestimmten Ideals von öffentlicher Wohlfahrt politische,
sittliche, ästhetische®) Kritik in größtem Maßstab zu üben, Schädlinge am
Gemeinwesen rücksichtslos zu brandmarken, dabei die Zuschauer tüchtig
lachen zu machen. So ist sie nach und nach unter dem Schutz der tio^-
Q7]oia ein Faktor des öffentlichen Lebens geworden, dessen Nutzen für den
Staat sogar der greise Piaton (leg. VII 81 6 d) anerkennt.') Nachdem schon
um 500 in dem Satyrspiel ein heiteres Element zu den städtischen Dio-
nysien zugelassen war, eröffnete 488/87 der Archon Eponymus bei diesem
Fest auch für die Komödie einen Ayiov^ in dem als erster Chionides siegte.®)
*) Pherecr. fr. 185 K. 6 xoqo^ 6' avrot^
eIx^v dcbridag (jvnaoag xui oTgwfiaTodfnftac:;
ähnlich Aristoph. fr. 253 K. Noch später galt
es als Beweis ungebildeten Protzentums,
einen komischen Chor mit der Pracht eines
tragischen auszustatten, Aristot. eth. Nie.
1123 a 23. Siehe a. o. S. 258, 5.
*) Das ist gegenüber Th. Zielinski, dem
iudicibus, Harvard studies 15 (1904) 121 ff.
^) Vgl. Luc. pisc. 14 oMa y^Q <^^ ovx &v
xt v:z6 axiofif^iaxcK: /f-ioov yevotro, dXXa roti-
vavTiov Sjteg äv jj xaXoVf ojajrfo t6 /^vo/ov
cuioafKOjnfym' rol^ xofiftaoi Xa/ijrgoTegov cbro-
oTilßFi xni qavFQWTFoov yirFTni, Ps.Dionys. Hai.
rhet. 8, 11 t) öf yF xtofiotdia oii :iokixeverai
F.v xoig dodfiaai xai q?tAoao(fFT tj jtfqi xov Kga-
auch G. Thiele, N. Jahrbb. f. klass. Altert. xTrov xai 'Joiorofidrtp' xai Evjiohv^ xi deT xai
9 (1902) 420 beistimmt, von A. Körte, Jahrb. i XF.yFiv; ») ydo toi xcofio^dta avxfj x6 yeXoiov
des arch. Inst. 8 (1893) 61 flf. erwiesen. Siehe ■ ^roooxrjaafjeytj rfdoooqFt.
a. H. Reich, Der Mimus I 258. 626 f. * ^) E. Capps. The introduction of comedv
') F. V. Fritzsche in Ausg. von Arist. into the City Dionysiaat Athens, Chicago 1903.
ran., Zürich 1845, p. 197. A. Wilhelm, Urkunden 108 (bei Suid. s. Xuo-
*) Dem. de cor. 122; Harpocrat. lex. s. v. ' vlöijs liest Wilamowitz, Gott. Gel. Anz. 1906,
TtounFiaQ. , 626 statt :t(jo)Tay(ovioTtjv offenbar richtig
*) Antiphan. fr. 191 K. betont die freie ; jt/kutov «j-toivarx/r, s. a. H. Schenkl, Herm. 42,
Erfindung der Komödienstoffe im Gegensatz zu ; 1907, 333 ff.). Demnach ist Th. Bergks (Rh.
den Tragödien (s. a. Tzetz. bei K aibel, C. Gr. Fr. Mus. 34, 1879, 305) Meinung, der Komödienagon
I 17, 4 ff.). Besonderer Wert wurde darauf i sei zuerst an den Lenäen und erst dann an
gelegt, daß die komische Idee immer neu
sei (s. schon Semos bei Ath. 622 d; Ar. nub.
547. 553 mit Schol.; vesp. 1044. 1053; Eupol.
fr. 78 K.; Plat. leg. VII 816e); so wollte es
auch das Publikum (Ar. Eccl. 580).
6) G. W. Baker, De comicis Gr. litterar. \ IV 92).
den städtischen Dionysien eingeführt worden,
aufzugeben. An Einfluß des Realisten The-
mistokles bei jener Neuerung zu denken,
liegt aus zeitlichen und sachlichen Gründen
nahe (E. Meyer, Gesch. des Altert. III 342;
C. Drama. 3. Die Komödie, b) Die altatÜBohe Komödie. (§ 216.) 383
Vielleicht hat man in dieser Einrichtung nicht nur ein Zugeständnis an
das Belustigungshedürfhis des Publikums, sondern auch einen Ausdruck
der Überzeugung von der Gemeinnützigkeit der Komödie, i) vielleicht auch
von der apotropäischen Wirkung des Spottes *) zu sehen. Im 5. Jahr-
hundert kamen bei den großen Dionysien je drei, im 4. Jahrhundert an
den Lenäen je fünf Komödien zur Aufführung, im 2. Jahrhundert steigt
die Zahl sogar auf sechs,') ein Beweis für den zunehmenden Geschmack
des Publikums an der Komödie.*) Seit dem Jahr 440 finden sich in der
attischen Gesetzgebung Anzeichen dafür, daß man die Freiheit der Ko-
mödienkritik lästig empfand und einzuschränken suchte.*) Auch was Piaton
in den Gesetzen über die Komödie sagt, zeigt, daß er zwar ein Organ der
öffentlichen Kritik erhalten, es aber ganz unter staatliche Aufsicht stellen
und ihm den Stachel der persönlichen Invektive nehmen möchte;®) Aristo-
teles schließt aus seiner Ästhetik die lajußixrj Idea^ die offene persönliche
Satire, völlig aus, und seine Ansicht ist zum Dogma geworden, das seine
praktische Wirkung von der hellenistischen Zeit bis in das byzantinische
Mittelalter in der Litteratur äußert. Diese Entwicklung drängte die Ko-
mödie seit Ende des 5. Jahrhunderts nach der Richtung des harmlos humo-
ristisch Typischen und Parodischen hin, das in der mittleren und neuen
attischen Komödie '') sowie in der kynischen Humoristik zum Ausdruck
kommt. Für uns sind so die Stücke der alten Komödie ein Spiegelbild
der Zeit, freilich im Hohlspiegel; insbesondere lernen wir aus ihnen die
sozialen Zustände, Fragen, Ideale des damaligen Athen, über die uns Thu-
kydides so kärglich unterrichtet, vorzüglich kennen. Schon Piaton soll dem
Tyrannen Dionysios, um sich vom athenischen Staat ein Bild zu machen,
die Lektüre der Komödien des Aristophanes empfohlen haben.®)
In ihrem Aufbau und der Verwendung der Kunstmittel behält auch
die Kunstkomödie des 5. Jahrhunderts, vergUchen mit der Tragödie, von
ihren volkstümlichen Ursprüngen her etwas äußerst Luxuriantes und läßt
*) Diese wird von den altattischen Ko-
mikern wiederholt betont: Ar. vesp. 651 (id-
oao&ai vöoov dgxoLiav ev t// :x6X€i svTEXOHvTav) ;
ran. 389 f. (xai Jiokkd fih yelotd ft slneXVf jroXXd
6k a:iovdaia). 686 (roi» ifgov ;fo(>ov öixaidv iaxt
höhnung der Beamten untersagt wurde (s.
Phrynichos im Monotropos; vgl. Schol. Arist.
nub. 31. ran. 501; Xen. de rop. Ath. 2, 18).
Vgl. A. Mbinbkb I 40 ff.; Th. Bebgk, Über
die Beschränkungen der Freiheit der älteren
XQt}oza rfi jioXst ^vu.tagaivfTv xai Siödoxetv). \ Komödie zu Athen, Kl. Sehr. II (Halle 1886)
2) K. SiTTL, Die Gebärden der Griechen | 444 ff. ; H. Lübke, Observat. crit. in bist. vet.
und Römer, Leipz. 1890, 117. com., Berl. 1883.
») A.Müller, Griech. Bühnenaltert. 321; i ß) Fb. Stahlin, Die Stellung der Poesie
A. WiLHBLM, Urk. 53. 69. 72. 74. I in der piaton. Philos., München 1901, 58.
*) Vgl. R. Herzoo, Koische Forschungen \ Siehe bes. Plat. leg. XI 934 c ff.
und Funde, Leipz. 1899, 54 f. ^) Über die ältere Zweiteilung und die
*) Das erste Verbot des ovofiaori xMftqy- jüngere (erst seit hadrianischer Zeit auf-
6flv wurde unter dem Archon Morychides
Ol. 85, 1 = 440/39 erlassen und drei Jahre
später unter dem Archon Euthymenes (s.
Schol. Arist Ach. 67) wieder aufgehoben;
neue Beschränkungen scheinen 428 7 durch
tretende) Dreiteilung der attischen Komödie
in :iaXatd (jieotj), und rm s. Tu. Kock, Com.
Att. fr. n 11.
*) W.VisoHEB, Über die Benutzung der
alten Komödie als geschichtliche Quelle. Basel
Antimachos ergangen zu sein (s. Schol. Arist. 1840, in Kl. Sehr. I (Leipz. 1877)459 ff.; H.
Ach. 1150) und wurden durch ein Psephisma ' Mülleb-Strübino, Aristophanes und diehisto-
des Syrakosios 417/6 (s. Eupolis in den Poleis j rische Kritik, Leipz. 1873; J. Muhl, Zur Ge-
und Schol. Arist. av. 1297) erneut eingeschärft, | schichte der alten attischen Komödie, Augsb.
durch das insbesondere die namentliche Ver- Progr. 1881.
384 Chrieohische Litteratnrgeachichte. I. Klassische Periode.
sich nicht auf eine feste Formel bringen.*) Der Chor wird in weitest-
gehender Weise in die Handlung hereingezogen, auch in zwei Gegenchöre
zerlegt,') in seine Elemente aufgelöst, die Zahl der Rollen und der Schau-
spieler, die offenbar für die Komödie weit billiger als für die Tragödie zu
haben waren, ist, soweit wir sehen, viel größer als in der Tragödie, der
Aufbau überaus locker und jeder erheiternden Episode zugänglich, mag sie
auch noch so wenig zur Sache gehören. Die Satire äußert sich in der
ganzen Einkleidung, dem Gesamtplan, zahlreichen Einzelexkursen im Stück,
hat aber ihren eigentlichen Sitz in dem merkwürdigen Gebilde, das ent-
wicklungsgeschichtlich ohne Zweifel die Keimzelle der Kunstkomödie und
im übrigen das unterscheidende Merkmal der jiaXaid darstellt, der Papibase.
Sie hat ihren Namen daher, daß der Chor, ursprünglich in anapästischen
Rhythmen, am Publikum mit abgenommener Maske^) vorbeimarschiert und
im Namen des Dichters dessen persönliche Sache gegen Anfechtungen führt.
Die Bezeichnung paßt indessen eigentlich nur auf den ersten Teil der
Parabase,*) der in reinen Anapästen gehalten, also wohl dorischen Ur-
sprungs ist und in drei Gruppen zerfallt, eine kleine Reihe anapästischer
Kurzverse (z. B. Ar. eq. 498 — 506), mit denen der Chor sich von den
Schauspielern verabschiedet und der eigentlichen Parabasis zuwendet, xo/i-
jLidnov genannt, dann eine lange Partie aus anapästischen Langversen (Ar.
eq. 507 — 546) jiagdßaoig oder ävoTiaioToi im engeren Sinn genannt, auch
wenn sie nicht aus wirklichen Anapästen bestanden,*) endlich wieder einige
ohne Atemholen rasch zusammengesprochene anapästische Kurzverse, das
/tiaxgov oder jivTyog (Ar. eq. 547 — 50). Nach diesem „Aufmarsch* folgt
ein Standlied des Chors aus zwei korrespondierenden Strophen (cödtj und
(iVTfodt]) in lyrischem Maß (Ar. eq. 551 — 64, 581 — 94), das einen ursprüng-
lichen v/ivog 7iaQaß(x)inio<; darstellt;^) nach jeder Strophe wird nun aber, in
epirrhematischer Komposition, eine Reihe von gewöhnlich 16 trochäischen
Tetrametern, imoQtjjna und ävremQQTjjua (Ar. eq. 565 — 80, 595 — 610), ein-
geschaltet. Den Inhalt der Trochäen bildet regelmäßig politische oder
soziale Satire im öffentlichen Interesse. In diesem Teil der altattischen
^) Die Arbeiten von Th. Ziblinski, Die 1 basen liegen uns noch in Ar. Ach. eq. vesp.
Märchenkomödie in Athen, Petersb. 1885, und | av. vor.
die Gliederung der altattiachen Komödie, Leipz. ^) In der Blütezeit der Komödie scheinen
1885 sind anregend und scharfsinnig, aber viel die Dichter ihren Ehrgeiz darein gesetzt zu
zu sehr ordine gcometrico angelegt und in I haben, gerade in den sog. drdjraioToi im
ihren Ergebnissen nicht haltbar. , engeren Sinn neue Versmaße (und ihnen
*) Wahrscheinlich ist nur die e^odog I entsprechend ohne Zweifel auch neue Tanz-
immer vom Gesamtchor vorgetragen worden. weisen) zu produzieren : so Pherekrates in
A. CoüAT, M^Ianges Weil 39 ff. seiner Korianno die ^avftnxvxxoi dvdjzataToi'^ ,
3) dn<>dryt€s Vgl. Ar. pac. 729; Lys. 615. i die tatsächlich Dimeter aus lonici a minore
637.662.686; Thesm. 656.
**) über die Gliederung Hephaest. p. 72 f.
CoNSBR., wo die Definition gegeben ist: xn-
Iniat tSk zTavd(innic, LiFibij FtoEAÜdriFs sis t6
mit Molossus an erster Stelle sind (versus
Pherecrateus) ; versus Cratinei bei Kratinos
und Aristophanes ; ionische Tetrameter bei
Phrynich. fr. 70 K.; daktylische Hexameter
OftiToor y.ni arrino6o(i)not dAh'jkot? ordvxes oi Pherecrat. fr. 152. 153.
yooFrrni mmißanov xai Ftg t6 ßFargov djTo- | ^) Besonders deutlich ist der Hymnen-
ßAF.ioriFs F/.Fyoy ura: von naoaßaivFir ,io6g Charakter noch in Aristophanes' Rittern,
To {)mToor Ar. pac. 735. : eq. 507. Vgl. auch I Wolken und Vögeln , melir verwischt in
Platonius de com. 8; Schol. Ar. ran. 686. In Achamern. Frieden und Fröschen, ganz un-
allcn Teilen vollständig ausgebaute Para- , kenntlich in den Wespen.
C. Drama. 8. Die Komödie, b) Die altattische Komödie. (§ 216.) 385
Komödie schimmern noch deutlich kultliche Vorgänge aus dem alten Dio-
nysosfest hervor.*) An diesen Mittelpunkt schlössen sich wohl, vorher-
gehend oder nachfolgend, schon beim alten Volksfest selbst verbindungs-
los die allerlei komischen Szenen, die dann durch die Kunstkomödie leid-
lich auf einen Faden gezogen worden sind und die J. Poppelreuter passend
mit den Entremeses bei den Kirchenfesten in Spanien verglichen hat. Die
Charaktere, welche die altattische Komödie vorführt, sind zum Teil, zumal
in den Nebenfiguren, von der dorischen Typenkomödie beeinflußt,*) meist
aber unmittelbar aus dem attischen Leben der Gegenwart abgezogen, selbst
mit Porträtzügen — so Sokrates und Kleon bei Aristophanes — aus-
gestattet.«) Das Hauptinteresse wenden die Dichter auf die Schürzung des
phantastischen Knotens; die Lösung wird sehr leicht genommen und nicht
selten mit einem lustigen Hussah der Schluß eiligst abgemacht (so Ar.
Ach. pax av. Eccl. Plut.).**) Manche Stücke des Aristophanes zerfallen in
zwei schlecht verbundene Teile (vesp. nub. Lys. Thesm. ran.), die sich
als konstruktiver und exemplifizierender unterscheiden lassen; 5) der erste
schließt mit der Durchführung des phantastischen Planes, der zweite schil-
dert in Einzelbildern den erreichten Zustand, auch in der Form, die das
heutige Kasperletheater noch kennt, daß allerlei zweifelhafte Persönlich-
keiten auftreten, die aus der neuen Ordnung der Dinge für sich Vorteil
ziehen oder sie stören möchten, nun aber derb abgewiesen werden. Be-
liebt sind Szenen aus der Sphäre des niedersten Volkes und der Sklaven
mit allen hier üblichen Kalauern und Obszönitäten, Wortkämpfe,") märchen-
hafte Einkleidungen wie der Auszug in ein Schlaraffenland (Ar. av.), die
glückselige Urzeit (Ath. 267 e flf.), die verkehrte Welt (Eccles.), Natur-
zustände (Pherecr. ""Aygioi), Himmelfahrt (Ar. pax), Höllenfahrt (Ar. ran.,
Pherecr. Kgajtdmkoi, MeraXX^g), Zitation Verstorbener aus dem Hades (Pla-
tonios de com. 15) u. ä. Von besonderen Mitteln komischer Wirkung sind
bemerkenswert die Zerstörung der Illusion durch Herausfallen aus dem
Zusammenhang, Apostrophierung des Publikums, lokale Anspielungen, der
Wechsel zwischen Pathos und Niedrigkeit, poetischer und prosaischer Form
(Schol. Ar. eq. 941); ferner die Parodie ernster Dichtung in Sachen und Aus-
drücken,^) die Verwendung von Lokaldialekten (Böotisch und Megarisch Ar.
*) W. ScHMiD, Zur Geschichte des gr. | linskis Versuch, die ganze altatt. Komödie
Dithyrambus, Progr. Tübingen 1901, 13 ff. I aus dem dywv zu entwickeln, ist verfehlt
') I. Brxtns, Das litterar. Porträt 176 ff. I (s. J. Poppelreüter a. a. 0.; H. Weil, fit.
*) I. Bbtins a. a. 0. 171 ff. Den Typus ' sur le drame ant. 283 ff.). Wenig Sicheres
des athenischen Philisters hat Aristophanes
besonders reichlich variiert (Dikaiopolis, De-
mos, Trygaios, Pisthetairos, Euelpides, Dio-
nysos, Chremes).
*) Über die dm^ia der alten Komödie,
insbesondere die saloppen Schlüsse s. J.
Tzetzes bei Kaibel, C.Gr Fr. I p. 18. 28; Plato-
nios ibid. 6, 79; vgl. auch Aristoph. fr. 254 K.
bringt H. E. Sieokmann, De comoed. att. pri-
mordiis, Gott. 1906. Den Anregungen von
Zielinski und Poppelreuter geht W. Süss (Z.
Komposit. der altatt. Korn., Rh. Mus. 63, 1908,
12 ff.) weiter nach, handelt besonders über
die lustige Person {ßioi^okoxos). Auch die
Götter werden ins Possenhafte gezogen, nur
Zeus ist (vom Amphitryonstoff abgesehen) in
über die Älteren Komiker: wroK ai'Tor? ara^ai- ' der Regel verschont worden; die kynische
^ *) Th. Kock, Rhein. Mus. 39 (1884) 118 ff.
®) Die Altercatio begegnet schon bei
Epicharmos (s. o. S. 378) und in sonstiger
Volkskomik (M. Haupt, Opusc. III 20). Zie-
Handbnch der klass. AltertnmrwiBBenschaft. VII. 5. Anfl. 25
Humoristik (Luc. lupp. trag. u. lupp. conf.)
zieht auch ihn herein.
') W. G.RuTHBRPORD, Jahrbb. f. cl. Phil.
Suppl. 13 (1884) 386 ff.
386 Griechische Litteratorgeschichte. L Klassische Periode.
Ach., Lakonisch Ar. Lys.) oder barbarischem Kauderwelsch,») drollige Wort-
bildungen, besonders neue Komposita und Deminutiva. Alles dies zusammen
gibt der alten Komödie die Buntheit des Harlekingewandes, wie sie das
Publikum ohne Zweifel verlangte.^) Erst der Einfluß der Tragödie hat
strengeren Bau in der mittleren und neuen attischen Komödie bewirkt.
Die Fruchtbarkeit der altattischen Komödiendichter ist weniger grofi als
die der Tragiker, vielleicht weil es schwieriger ist, eine gute Komödie zu
schreiben als eine gute Tragödie, vielleicht auch mit aus dem äußerlichen
Grund, weil die Zahl der zur Festkonkurrenz zugelassenen Komödien kleiner
war als die der Tragödien; sie wächst aber enorm im Zeitalter der mitt-
leren und neuen Komödie. Kock weist 1483 Titel attischer Komödien und
c. 170 Namen komischer Dichter nach.«)
Die Sprache der Komödie schloß sich selbstverständlich eng an die
Umgangssprache des Volkes an, so daß epische Formen aus dem Dialog
mehr als in der Tragödie ausgeschlossen waren und die herv^orragendsten
altattischen Komiker, wie Pherekrates und Aristophanes, zugleich als die
reinsten Vertreter des Attikismos galten.*) Daneben aber verstanden es
die Dichter, durch kühne Wortbildungen, eingelegte Fabeln, Parodien
lyrischer und tragischer Verse der Diktion Reiz und poetischen Anstrich
zu geben. Poesie für das niederste Volk bieten sie nicht, sondern setzen
zu ihrem vollen Verständnis eine beträchtliche litterarische Bildung voraus
und konnten sie bei ihrem attischen Publikum offenbar voraussetzen. Die
Rhythmen, namentlich der gesungenen Stellen tragen entsprechend der aus-
gelassenen Art des Spiels und Tanzes einen munteren und bewegten Typus;
neben den anapästischen Tetrametern spielen die Trochäen und die sonst
in der Lyrik des Dramas ziemlich selten vorkommenden Paionen eine
Rolle. Auch der Hauptvers des Dialoges, der iambische Trimeter, wird
durch die häufigen Auflösungen und die Einmischung von Anapästen be-
wegter zugleich und lässiger. Im übrigen enthält die Komödie, soweit sie
nicht auch im Rhythmus ernste Dichtung parodiert, vorwiegend populäre,
leicht ins Gehör fallende Weisen.^)
217. Die ältesten Komödiendichter Athens nach den Perserkriegen
waren Chionides, Magnes,®) Alkimenes, Euphronios, Ekphantides.
Hauptstelle über die Urgeschichte der attischen Komödie ist Aristophanes
*) Vgl. Aesch. SuppL, Timoth. Pers.; P. ' tes; s. W. G. Rütherford, Zur Geschichte
Kretschmer, Griech. Vaseninschr. 80 f.
*) Das Publikum wollte hier kein Stocken,
keine Langeweile (Ar. Eccl. 582), keine ver-
brauchten Effekte (id. ib. 580). Neuheit der
iÖEm wird hervorgehoben, Plagiat gerügt, s.
des Atticismus. Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl. 18
(1884) 355—399, und o. S. 245, 2.
*) Sehr viele Metra sind nach Dichtem
der alten Komödie benannt, wie Cratineum,
Eupolideum, Pherecrateum, Aristophaneum,
o. S. 382, 5. I Phrynicheum. Siehe 0. Leichsenrino, De
') Die entsprechenden Zahlen ftir Tra- , metris Graecis quaestiones onomatologae,
gödien und Tragiker s. o. S. 374. Diss. Greifsw. 1888.
*) W. ScHMiD, Der Atticism. I, Stuttg. «) Nach Aristot. poöt. 3 p. 1448a 33 leb-
1887, 207 ff. Der strengere Attikismos der ten Chionides und Magnes lange nach Epi-
Komödie zeigt sich besonders in dem Ge- charmos. Das ,lange' erhält seine nähere Be-
brauch von TT statt on, in den Pluralen iJTJiijc, Stimmung durch das Jahr von Chionides*
'Axntn'fis statt der neuattischen iiJietg, 'Axng- erstem Sieg 487. Der Sieg des Magnes
rffs, und in der Seltenheit von Formen und a. 472 (CIA II 971 a) wird nicht sein erster
Wörtern des epischen und ionischen Dialek- gewesen sein (A. Wilhelm, ürk. 108).
C. Drama. 8. Die Komödie, b) Die altattiBche Komödie.
217-218.) 387
Ritter 520 flf. Der erste Sieger bei den städtischen Dionysien war Chio-
nides a. 487.*) Alkimenes und Euphronios haben je einen städtischen Sieg
gewonnen,*) der letztere im Jahr 458.*) Nach Anonymus de com. II 5
(p. 7, 20 Kaibel) und CIA II 977 hat Magnes elf städtische Siege davon-
getragen,*) eine bemerkenswert hohe Zahl; es hat sich aber von ihm nichts
erhalten.^) Titel seiner Stücke waren Aiovt^oog, Avdoi, TIodaTQiai, vielleicht
auch Bagßmoral, Bdroaxot, ""Ogvi&sg, W^veg, woraus man ersieht, daß er
phantastische Ausstattungen des Chors schon vor Aristophanes aus dem
Volksbrauch entnommen hatte.
218. Kratinos (gestorben zwischen 423 und 421), ß) der neben Eupolis
und Aristophanes in den Kanon aufgenommen wurde,'') soll der Begründer
der Komödie mit politischer Satire und kunstmäßigerer Haltung geworden
sein. 8) In seinen Sympathien (konservative Richtung, Lob der alten Zeit)
und Antipathien (gegen die Sophisten, Kallias, Perikles, die Obskuranten-
partei, die Verweichlichung, die neumodische Musik, die fremdländischen,
besonders orientalischen Kulte) stimmt er mit Aristophanes überein, wie-
wohl er sich gelegentlich (fr. 200. 307 K.) auch an ihm reibt. Ein An-
hänger des Kimon*) und der konservativen Partei, verfolgte er heftig den
Perikles, den er in den Sgarrai den zwiebelköpfigen Zeus schalt und in
den XeiQcoveg von der Zwietracht und dem Kronos geboren sein ließ.^^)
Im Privatleben war er ein Freund lustiger Gelage und der Weinflasche;
von ihm rührt der Vers her:
vdojg de mvcov .^grjordi' ovdev äv rexotg.^^)
Als Komödiendichter trat er nach Eusebios erst im Jahr 453 auf; Siege
») A. Wilhelm, ürk. 107 f. Siehe a. o.
S 382 8
«/Wilhelm 107. 110. Von Alk. u. Euphr.
kennen wir nur die Namen. Noch weitere
fünf jetzt verloren gegangene Namen standen
auf der Liste CIA II 977. Ekphantides, der
vier städtische Siege gewann, muß noch in
der Zeit des peloponnesischen Krieges ge-
dichtet hahen , wenn er wirklich (fr. 4 K.)
den Demagogen Androkles verspottet hat.
») Wilhelm 18.
*) Suidas gibt neun Komödien und zwei
Siege. Über die Zahlendivergenzen überhaupt
S. Mekleb, Zu den Nachrichten über die
griech. Komödie in Festschrift für Vahlen,
Berl. 1900, 31 if.
*) Eine Anspielung fig Mayy^jra notiert
das Scholion zu dem Komikerfragment Am-
herst pap. II (Lond. 1901) 5. Ob Aristophanes
etwas von M. gelesen habe, bezweifelt J.
Poppelbeütek a. a. 0. 41. Übrigens mußten
jedenfalls seit der Aufnahme der Komödien
in den staatlichen Agon die Stücke voll-
ständig aufgezeichnet werden, um dem Archen
zur Prüfung vorgelegt werden zu können.
Nach einer Notiz des cod. Salomonis (publi-
ziert von H. Usenbr, Rh. Mus. 28, 1873, 418)
hatten die Stücke der älteren Komiker nicht
mehr als 300 Verse.
^) Tot war er zur Zeit der Aufführung
von Arist. pac. 701, was Th. Zielinski, Rh.
M. 39 (1884) 301 ff. wegzuklügeln sucht; sein
letztes Stück, die //i'nViy, ist 423 aufgeführt
worden. Nach Luc. macr. 25 ist er selir alt
geworden, also schwerlich nach 500 geboren.
') Horat.sat.14,1; VelleiusI16,3; Quint.
X 1, 66; Platonios hfoI StatfOQäg ;ifaoa;tfry/oon',
p. 6 Kaibel, wonach Kratinos der bitterere
{.iixg(}T€gog)y Eupolis der feinere {e:iix(tgteoxe'
Qog) war, Aristophanes sich in der Mitte
hielt; vgl. Persius I 123. Vom Anonym, de
com. p. 7, 26 K. wird Kratinos mit Aischylos
verglichen; s. a. Ps.Dionys. art. rhet. 8, 11.
8) Joh. Tzetz; bei G. Kaibel. C.Gr.Fr. l
p. 18, 23 ff. Was dieser über die Festsetzung
von drei Schauspielern sagt, ist jedenfalls im
Sinn der Einschränkung einer früher größeren
i Zahl von ihm verstanden, übrigens recht frag-
lich. Siehe A. Köbte, Herrn. 39 (1904) 489.
•) Plut. Cim. 10; laudator temporis acti
ist er fr. 228. 274 K.
»») Plut. PericI. 3 u. 24; s. fr. 71. 111.
293. 300K.
*^) Nach dem Epigramm des Nikainetos
bei Ath. 39 c - Anth. Pal. XIII 29; vgl. Ho-
rat. epist. I 19, 1 ; A. Mbinbkb, Hist. com. I 47.
25*
388 Oriechische Litteratorgeschichte. I. Klassische Periode.
errang er neun (sechs an den städtischen Dionysien, drei an den Lenäen).^)
Er hinterließ einundzwanzig*) Komödien, die von den alexandrinischen
Grammatikern fleißig gelesen und von Kallistratos kommentiert wurden.*)
Berühmt waren die ^Agyßoxot, die Spötter, in denen ein Wettstreit von
Dichtern vorkam, die Ogarzai und Xeigojveg, die gegen Perikles gerichtet
waren, die EvvFiÖai, die man bei dem Tod Alexandres' d. Gr. unter dem
Kopfkissen des Königs fand (Phot. bibl. p. 151a 11), die ^Odvaarjg, mit
denen er die Reihe mythologischer Travestien eröffnete und dem Kvxhotp
des Euripides ein Vorbild gab,^) die Bovxökoi, die mit einem Dithyrambus
der Begleiter (JiovxoXot) des Gottes Dionysos begannen, insbesondere aber
die Ilvtivrj^ deren Hauptmotiv Lucian im Jk xartjyogovjLifvog benützt hat.
Nachdem nämlich Aristophanes in den Rittern V. 524 über ihn als alten
Schwachkopf zu spotten gewagt hatte, trat er im nächsten Jahr (423) mit
jener Pytine (Flasche) auf, in der Frau Komödia sich beklagt, daß der
Dichter, einst ihr getreuer Ehemann, nun in wilder Ehe mit der Mhh]
lebe. Er gewann mit dem Stück den ersten Preis, Aristophanes selbst
aber, der ihm mit den Wolken unterlag, gedachte noch in den Fröschen
V. 357 ehrend der „Zunge des stierverschlingenden Kratinos**, womit er
die Gewalt seiner dionysischen Inspiration bezeichnet. — Zwischen Kratinos
und Krates nennt die inschriftliche Liste CIA II 977 mit zwei städtischen
Siegen den sonst unbekannten Komiker Diopeithes. Schon lange vor
Kratinos hatte Xenophilos als erster einen Lenäensieg gewonnen.
Krates diente anfangs dem Kratinos als Schauspieler, trat dann aber
auch als selbständiger Dichter auf; zum erstenmal siegte er 449. Die
Ansetzung seiner Blüte gegen Ende der fünfziger Jahre bei Eusebios wird
richtig sein.ö) Nach Aristoteles war er der erste, der, von persönlichem
Spott abstehend, eine allgemeine Fabel seinen Stücken zugrunde legte. ^)
In der Weise des Epicharmos und ohne Zweifel unter dessen Einfluß liebte
er den harmlos heiteren Ton der dorischen Typenkomödie; er soll zuerst
Trunkene auf die Bühne gebracht haben. ^) Suidas gibt zwei Komödien-
dichter Krates an**) und schreibt dem unseren sieben Komödien zu; wir
*) Wilhelm, Uik. 108. geführt sein. Dionysos, der sich dem Paris-
^) Unter den uns bekannten 26 Titeln Alexandres unterschoben hatte, wird hier
scheinen also fünf unechte zu sein (A.Meineke durch den Ausbruch des troischen Kriegs
1 55). Die alexandrin. Ausg. ordnete die in große Verlegenheit versetzt und verwan-
Stücke alphabetisch (A. Körte, Herrn. 39, delt sich in einen Widder. Siehe über den
1904, 484 f.). I Ator., seine Rekonstruktion und sein Datum
*) Der Kratinoskommentar des Askle- ' M. Croiset, Rev. des 6t. Gr. 17 (1904) 297 flf.;
piades von Myrleia beruht auf Irrtum: B. A. P. Perdrizet, Rev. des et. anc. 7 (1904) 109 flf.;
Müller, De Asclepiade Myrl. 49. | W. G. Rutherford, Class. rev. 18 (1904) 440;
■*) Vermutlich fallen die tendenzlosen A. Körte, Herm. 39 (1904) 481 ff.
Mythenparodien (außer ^Odroorj^ die ^Foiqiot ^) Wilhelm, Urk. 110.
und BoroFtmc) in den Anfang der dreißiger •) Arist. poöt. 5 p. 1449b 8: Aoari^s :rpcu-
Jahre, in die Zeit, als das Komödienverbot roc rm^fv dqfftfvos tTj^ laußixtjs: iSeag xaOo-
wirkte. Sicher datierbar sind außer der Ilv- , kov nouh' koyon; xai //j'iVofv-
Ti'vtj nur AWauo/zfio/ (425) undÄrroo/ (424). ' ^) Anon. de com. p. 7. 28 Kaib.; Arist.
Der .Uoiroa/J^ardnoi:, von dem eine Hypo- eq. 537 ff. mit SchoL; Ath. 429a.
thesis neuestens (Oxyrh. pap. IV 1904 nr.663 j *) Auch der zweite Krates wird von Sui-
s. II p. Chr.) gefunden ist, enthielt Vorwürfe ' das der doyata xioino^ia zugewiesen, aber die
gegen Perikles als den Anstifter des pelopon- Titel seiner Stücke (^jonvitoc, {T)oiti}Fs), ^d-
nesischen Krieges und muß demnach 430 auf- | dgyvQog weisen mehr auf die neue Komödie ;
C. Drama. 8. Die Komödie, b) Die altattische Komödie. (§ 218.) 389
haben im ganzen noch fünfzehn Titel, unter denen Meineke, um Überein-
stimmung mit der Angabe des Suidas zu erzielen, ziemlich willkürlich sieben
als echt ausscheidet. Gesiegt hat der ältere Krates bei den städtischen Dio-
nysien dreimal.^) Nur von einem seiner Stücke, den Srjgia^ läßt sich ein
Teil des Inhalts deutlicher erkennen: im Wechselgespräch stellten hier
einander überbietend zwei Unterredner Wunschzustände dar, Tischlein
deck* dich, Fische, die sich selbst braten, Badeeinrichtungen, die selbst
funktionieren, Gegenstände, die von selbst kommen, wenn man sie ruft,
also Freiheit von der Dienstbotenplage; der Chor bestand aus Tieren, die
redeten und nicht gegessen werden durften. Zwischen den Spott über
die Weltverbesserungsaussichten der neumodischen Technik spielen hier
Beziehungen auf soziale und hygieinische (Vegetarianismus) Zeitfragen
herein.
Pherekrates war ein erfinderischer Kopf, der, mit Krates als Schau-
spieler wie als Dichter konkurrierend, 2) an die Stelle regellosen Spottes
feiner angelegte Fabeln setzte. Seine Wilden {"Aygtoi),^) eine Persiflage auf
die damals beliebte Verhimmelung der Naturzustände, wurden 420 an den
Lenäen aufgeführt; den ersten Sieg scheint er 437 errungen zu haben.*)
Von seinen siebzehn Komödien, von denen drei als unecht galten,*) be-
handelte der JovXodiddoxaXog die Zuchtlosigkeit der Sklaven, die Kogimn^o)
die Trunksucht der Hetären, die MvQjtnjxdvßocoTioi die Fabel von der Ent-
stehung der Menschen aus Ameisen, der Xelgcov die Mißhandlungen der
Frau Musica durch die Regellosigkeit der Kitharoden. Aus den MfraUfig
(Bergleuten), in denen, wie es scheint, die Jenseitsgläubigkeit von Weiber-
sekten orphischer Art verhöhnt war, hat Athenaios ein langes Fragment
erhalten, in dem das Schlaraffenleben des goldenen Zeitalters launig ge-
schildert ist. Übrigens verzichtete auch Pherekrates nicht ganz auf die
poHtische Satire; in einem Stück (bei Ath. 535b = fr. 155 K.) verspottete
er mit bitterem Hohn den Weiberhelden Alkibiades. Zwei Lenäensiege
verzeichnet die Liste ("lA II 977 gleich nach Kratinos.
Zur Zeit des Kratinos blühten noch mehrere andere Komödiendichter
gleicher Richtung, aber niederen Ranges, so Telekleides, dessen politische
Satire und Parteistellung^) an Kratinos anschließt, wie er in Schilderung
von Wunschzuständen (fr. 1 K.) an Krates erinnert, der in seinen 'HoMoi'^)
auch litterarische Kritik treibt, fünfmal Sieger an den Lenäen, und zwar
hier schon vor Kratinos, dreimal an den Dionysien;**) Hermippos der
Einäugige, der gleichfalls als Gegner des Perikles auftrat und gegen
Aspasia eine Klage wegen Gottlosigkeit einbrachte, viermal Sieger an den
vgl. A. Meineke 164. ; machos oder Piaton gedichtet haben ; s. Ath.
M Wilhelm, Urk. 107, 110. 364a; A. Meineke I 75; Th. Bergk 290 ff.
2) Anon. de com. p. 8, 32 ff K. «) Er ist Feind des Perikles (fr. 42—44.
') Über den Begriff äyouK s. Aristot. 17), dem zu Leid er das ancien regime unter
eth. Nie. IV 14 p. 1128b 2. Tliemistokles lobt (Tl^vtavEig), und Freund
*) Das erste überliefert Ath. 218 d, vgl.
Plat. Protag. 327 d; das zweite beruht auf
der Emendation des Anon. de com. vixa Lii
ßetiToor [fjii (r)tof)u)oov em. Dobree).
*) Den XFimov soll nach anderen Niko-
des Nikias.
^) Mit ihnen siegte er an den Lenäen
431 (Wilhelm. Urk. 203 f.).
8) CIA II 977. Siehe A. Wilhelm, Urk.
107. 110.
390 Griechische Litteraturgeschichte. I. Klasaische Periode.
Lenäen;!) eines seiner Stücke, die ^oQ/uotpogoi^ Lastträger, aus der Zeit
des Bundes zwischen Athen und Sitalkes (431 — 424), enthielt in Gestalt
einer Parodie interessante Angaben über die Einfuhrartikel des griechischen
Seehandels. Andere Komiker dieser Zeit waren Myrtilos, der Bruder
des Hermippos, einmal an den Lenäen siegreich, und Philonides.*)
219. Eupolis, Sohn des Sosipolis, ausgezeichnet durch feinen Witz
und anmutige Darstellung, erhielt sich neben dem wenig jüngeren Aristo-
phanes am längsten in der Gunst der Leser.») Er ist geboren 446, und
brachte schon als junger Mensch von siebzehn Jahren eine Komödie auf
die Bühne.*) Den Tod erlitt er im Hellespont, wahrscheinlich 411, im
Kampf für das Vaterland, worauf die Athener den Dichtem Befreiung vom
Kriegsdienst gewährt haben sollen.^) Man kannte von ihm vierzehn oder
siebzehn Stücke,^) von denen sieben mit dem ersten Preis gekrönt wai-en.
Drei Lenäensiege sind inschriftlich bezeugt;'') also hat er außerdem vier
städtische gewonnen. Alle seine datierbaren Stücke fallen in den Zeit-
rahmen des peloponnesischen Krieges.*) Mit Aristophanes war er anfangs
infolge der gleichen Abneigung gegen die zügellose Demokratie und die
neumodische Bildung gut befreundet; später entwickelte sich zwischen
beiden ein gespanntes Verhältnis, das in dem gegenseitigen Vorwurf des
Plagiates gipfelte.®) Perikles ist bei ihm durch den Tod geadelt und wird
sogar mit den alten Heiligen der konservativen Partei Miltiades, Aristeides,
Kimon^o) aus dem Hades zitiert in den Jrjjuot, um für die Mißwirtschaft
seiner Epigonen Folie zu bilden. Zielscheiben von Eupolis' Angriffen sind
besonders der harmlosere Hyperbolos {MuQixäo) und Alkibiades {Bdmai)
nebst dem Nährvater der Sophistik Kallias; dieser wurde mit seinem Para-
*) Plut. Pcricl. 32. Über seinen 8i)ott denkmal bei Sikyon, nach Ael. nat. an. X 41
auf Hyperbolos s. Aristoph. nub. 557 ; andere auf Aigina.
Stücke von ihm waren die 'Agrojiduidec (Ver- *) Die erste Zahl bei dem Anon. de com.
höhnung des Hyperbolos, zwischen 422 und p. 8, 40K., die zweite beiJSuidas; wir haben
418), Moigai (Vorwürfe gegen Perikles' lässige von rhm 19 Titel; von diesen sind drei sicher
Kriegführung, also wohl 430), l'ToaTiwrai. unecht (Ainiron', /lm>, Klomii), die Eüwtf^
*) Philonides ist bekannt durch sein Ver- : im Altertum bezweifelt (Ath. 400 e V. 638 f.:
hältnis zu Aristophanes; da er in seinen Ao'- Herodian. II 917, 3; 933, 1 Lentz), und die
Oooroi den Theramenes angriff, so muß er ' Adxoveg scheinen dem Eubulos zu gehören;
frühestens 411 noch gedichtet haben. Weitere j so kommen die 14 echten Stücke des Anon.
Namen, unter denen Eallistratos (in Bezie- heraus.
hungen zu Aristophanes, vielleicht auch tra-
gischer Dichter: Wilhelm, Urk. 112 f.), mit
Angabe der Siege in den Listen der Komiker
CIA II 977. Siehe Wilhelm, Urk. 107. 123.
M CIA H 977b 11.
**j 425 Xovfuiriat, mit denen er dem Ari-
stophanes und Kraünos unterlag, 424 0/ao/,
421 an den Lenäen Magixd^, an den städti-
^) Vgl. Juvenal. 1192; Lucian adv. ind. 27. sehen Dionysien Kö/,axf\', 420 Avro/.vHoc, 415
*) Anon. de com. p. 8, 37 K. Seine früh- Bd-rrat; zwischen 429 und 413 Af/fwi.
sten Stücke übergab er wohl ebenso wie Ari- ®) Den Vorwurf erhebt Arist. nub. 553,
stophiines anderen zur Auffülirung; für den dagegen Schol. Anst. eq. 531 u. 1291. Siehe
a. 420 gegebenen Autolykos ist Demostratos 1 Eupol. fr. 54. 78 K. Ar. veap. 1025 ff. mit
als Didaskalos bezeugt '(Ath. 216d). ' Schol.
^) Suidas u. Evnnhc. Das erinneit an ^^) Schol. Aristid. T. III 072. 6 Dind.
die racatio militiae bei Poi-phyrio zu Hör. ist statt des überlief ei-ten rnov nicht mit
epod. 1. 7. Die Fabel, daß Alkibiades den ; Valckenaer Zohov, sondern h'iito>r zu achrei-
böscn Komiker ertränken ließ, widerlegte ! ben: bei Eupolis treten also zuerst die von
schon Eratosthenesnach Cic. ad Att. VI 1, 18. Piaton im Gorgias angegriffenen, von Ari-
Nach Paus. II 7. 3 befand sich sein Grab- stides verteidigten xhiage^ auf.
C. Drama. 8. Die Komödie, b) Die altatüache Komödie. (§ 219.) 391
sitengefolge, darunter Protagoras und Sokrates' Freund 0 Chairephon,
heruntergerissen im Autolykos und in den KoXaxeg, deren Gegenstück
Piatons Protagoras ist. Den Hauptstoß, und den gefährlichsten, auf Kleon
überließ Eupolis dem Aristophanes in den Rittern, der sich auf seine
Kühnheit (nub. 549 flf., vesp. 1031 flf., pac. 754 flf.) auch etwas zugute tut.
An Athens äußerer Politik im Seebundsreich übte er in den Ilöieig^ an
seiner inneren in den Afj/uoi Kritik. Das Märchenmotiv vom glückseligen
Urzustand war im Xqvoovv yivog^) ironisiert; den Chor bildete hier eine
ganz defekte Gesellschaft, ähnlich den Rekruten Falstaffs. In seinem Ab-
scheu gegen fremde Geheimdienste (BaTtrai)^) und musikalische Neuerungen
(fr. 303 K.) stimmt er mit den älteren Komikern überein. In den Alyeg
muß litterarische Kritik geübt worden sein. Das Einkleidungsmotiv der
Ta^tQQxoi (Dionysos geht einen guten Feldherm suchen) hat Aristophanes
in den Fröschen wieder benützt; ob Eupolis wirklich der „Erfinder" des
schon von Aristophanes in den Wolken verwendeten Parabasenmaßes, des
sogenannten Verses Eupolideus, ist, wissen wir nicht.*)
Phrynichos, Eunomides' Sohn, der 429 zuerst auftrat und in Sizi-
lien umkam, wird zwar von Aristophanes in den Fröschen V. 13 übel
mitgenommen, hatte aber guten Witz und schneidigen Charakter. Von
seinen zehn Komödien waren besonders angesehen die Schmauser, der Ein-
siedler {MovoTQOTiog), mit dem er bei den städtischen Dionysien 414 dem
Ameipsias und Aristophanes unterlag, aber einen litterarisch sehr wirksamen
Charaktertypus der Komödie schuf, ^) die Mysten, Ephialtes, die Musen; in
diesen nahm er den Tod des Sophokles und Euripides zum Ausgangspunkt
für eine kritische Behandlung der attischen Tragödie in ähnlichem Sinn
wie gleichzeitig Aristophanes in den Fröschen. Unfreundliche Stimmung
gegen ihn zeigt sich bei Aristophanes (nub. 556) wie bei Eupolis. 0) An
den Lenäen siegte er zweimal.
Piaton') spielte von der Mitte des peloponnesischen Krieges an bis
über 390 hinaus eine hervorragende Rolle auf der komischen Bühne Athens.
Sein erstes Auftreten fällt zwischen 428 und 425;®) die letzte Anspielung
(fr. 185 K.) weist auf 390. Aus Armut verkaufte er Stücke an andere
Xogodiddoxakoi.^) 405 unterlag er mit seinem Kleophon dem Aristophanes
und Phrynichos. ^ö) Von seinen dreißig Stücken ^0 richtete sich nur ein
Teil, und zwar in der Regel unter Beschränkung auf Leute zweiten und
*) Den Sokrates selbst hat er nach Schol. | ^) Eupol. fr. 357 K. wird auf Phr. zu be-
Ar. nub. 96 kürzer, aber schärfer als Aristo- |. ziehen sein, dem ja (Schol. Ar. ran. 13) ieri'a
phanes angepackt. Siehe fr. 352. 353 E.
*) Ein Fragment des X, y. aus Moses
von Chorene: A. BAUMOARTifER, Zeitschr. der
d. morgenl. Gesellsch. 40 (1886) 468 f.
«) K. Lehbs, Popul. Aufs.« 396 f. Auf
das Stück spielt auch Juvenal 2, 92 an.
^) Über seine sprachlichen Kühnheiten
«nd Neuerungen A. Meinbke I, 112 f.
^) 0. Ribbeck, Abh. der sächs. Ges. der
Wissensch. 10 (1885) 1 ff. Das Stück fiel (fr.
26 K.) unter die Wirkung von Syrakosios*
Eomödiengesetz.
vorgeworfen wurde.
^) CG. CoBET, Observationes crit. in Pia-
tonis comici rell., Amsterd. 1840. Wilhelm,
Urk. 115.
8) Cyrill. adv. lul. I p. 13 b (Mionb t. 76
p. 521c). . ^ ^
®) Suid. s. */4gxdSag fit^ovfievoi.
»0) Arg. Ar. av. I.
") Verzeichnis, in dem der *Afiq^ia{)Fcog
fehlt, I. Bekkeb, Anecd. 1461; abweichend
Suid. 8. mdxiov; G. Kaibbl, C. Gr. Fr. I
p. 10, m.
392 Qriechische Litteratnrgeschiohte, I. EUadsche Periode.
dritten Rangs, gegen politische Mißstände, wie der '} jtc^/JoAoc, der Khfxpojv
(405), die Zvfifxaxia, welches letztere Stück sich auf die Verbindung des
Nikias, Alkibiades und Phaiax zum Zweck der Verbannung des Hyperbolos
durch das Scherbengericht bezog; die meisten, namentlich die aus der späteren
Lebenszeit des Dichters, griffen nach Art der mittleren Komödie in das
Gebiet der Parodie über, so die Iloirjrai, 2<xpi(naif "Adoyvig, Evgamri, Aäiog.
Berühmt war besonders der 0ac/>r, in dem der Titelheld mit seiner von
Aphrodite ihm verliehenen Salbe allen Weibern den Kopf verrückte.^)
Andere von Aristophanes und Eupolis verdunkelte Komödiendichter
dieser Zeit waren Kallias, der Verfasser der Buchstabentragödie,*)
Ameipsias, an dem sich Aristophanes gelegentlich reibt,') und der wie
dieser den Sokrates in dem Kovvoq (Musiklehrer des Philosophen) ver-
höhnte (der Konnos ist zugleich mit Aristophanes' Wolken 423 aufgeführt
und erhielt den zweiten Preis, die 414 aufgeführten Kojfiaaial des Amei-
psias den ersten), Aristomenes, den die Grammatiker zu den Komikern
zweiten Ranges (imöevregoi) rechneten,*) Archippos, dessen Stärke im
Kalauer gelegen haben soll,*) ferner Aristonymos, Leukon, Lykis (diese
beiden siegten bei den städtischen Dionysien, unbekannt wie oft), Lysip-
pos,ö) Metagenes (zweimal Sieger an den Lenäen).^)
220. Parodie. Ehe wir uns zum Hauptvertreter der attischen Ko-
mödie, zu Aristophanes, wenden, sei noch des Thasiers Hegemon, mit dem
von seinem Leibgericht, der Armenkost der Bohne, genommenen Beinamen
0axfj, gedacht; er dichtete eine Komödie Philine, war aber mehr als „Er-
finder"'*) der parodischen Dichtung berühmt. Wie schon diese Doppel-
stellung des Hegemon zeigt, stand in Attika die Parodie eng mit dem
Theater und besonders mit der Komödie in Zusammenhang. Die Stücke
des Aristophanes zeigen, wie gern und geschickt die Komödie die Gelegen-
heit ergriff, Verse und Situationen des Epos oder der Tragödie zu paro-
*) Servius ad Verg. Aen. III 279. gleichen Namens) und E. Capps a. 0. (ändert
*) Ath. 453; vgl. 0. Hbnse, Rh. Mus. 31 \AiHajo^hn)g in 'Agianorrfioc) sind unnötig.
(1876) 582 ff. Die 24 Choreuten trugen hier ^ *) Schol. Ar. vesp. 481; einen lenäischen
die Namen der 24 Buchstaben des neuionischen ; Sieg gewann er zwischen 415 und 412 (Suid.).
Alphabets: vgl. Ähnliches Philostr. vit. soph. *) Über eine didaskalischc Angabe der
U 1. 10 p. 66, lOK.; Pallad. bist. Laus. 32 Stücke des Lysippos E. Petersen, Wien. Stud.
p. 90 Butler. Übrigens wollen Kaibel und 7(1885) 181. Wilhelm, Urk. 116. 197. L. hat
WiLAMOWiTz (Gott. gel. Anz. 1906, 632) den ' 410 oder 409 (wahrscheinlich auch 408) und
Komiker Kallias, von dem wir fWiLHELM, wieder 394 und 390 gesiegt.
Urk. 18 f. 107) zwei städtische Siege, den ') Wilhelm, Urk. 123. Seine Avi^ai be-
einen vom Jahr 446, inschriftlich kennen, von , arbeitete Aristagoras (Ath. 571b).
dem Verfasser der yoniiitarixt/ Toayfodia ! *) So nennt ihn Aristot. po€t. 1448 a 12,
trennen. während Polemon bei Ath. 698 dem Hipponax
*) Aristoph. nub. 524; ran. 15; Vit. Ari- , die Erfindung zuschreibt. Aristoteles scheint
stoph. 2. ' von dida.skalischen Notizen über parodische
*) Suidas u. \4oioTOftFrffs. Aristomenes Agone abzuhängen, die in Athen an den Pan-
muß schon in den vierziger Jahren des 5. athenäcn seit ponkleischer Zeit (J. Frei, De
Jahrhunderts einen Lenäensieg gewonnen , certamin. thyniel. 11) und zu derselben Zeit
haben (Wilhelm, Urk. 114. 123); er unterlag auch in Eretria (Inschr. ed. I. D. Phokitis
424 gegen Aristophanes und Kratinos und \AOtiva 14, 1902, 362; hier sind zwei sehr
fühlte 388 gleichzeitig mit Ar. Plut. seinen niedere Preise. 50 und 30 Drachmen für die
"AfifitiTiK auf. Zwei Lenäensiege von ihm sind Sieger im Parodenagon festgesetzt) eingerich-
inschriftlich bezeugt; die Zahl seiner dionysi- tet waren. Litterarhistorisch ist die Parodie
sehen kennen wir nicht. Die Vermutungen von j viel älter und setzt mit dem Niedergang des
Th.Berük, Rh. Mus. 34 (1879) 307 (zwei Dichter ionischen Epos ein.
C. Drama. 8. Die Komödie, c) Aristophanes.
220—221.)
398
dieren,^) was von dem Grad der litterarischen Bildung des athenischen
Theaterpublikums einen hohen Begriff gibt.^) Hegemon blühte während
des peloponnesischen Krieges und soll durch seine Gigantoraachie die
Athener so zum Lachen gebracht haben, daß sie darüber die Niederlage
in Sizilien vergaßen. Besonders war es Alkibiades, der ihm seinen mäch-
tigen Schutz lieh und einmal eine gegen den beliebten Dichter gerichtete
Klage einfach mit dem nassen Schwamm ausgelöscht haben soll. 5) Er-
halten ist uns von ihm durch Athenaios p. 698 d ein Gedicht in parodi-
schen Hexametern, in dem er den Spott böswilliger Landsleute, daß er
aus dem armen Thasos in die Fremde nach Athen gegangen, aber von
dort nicht, wie andere Rhapsoden, Haufen von Geld nach Hause gebracht
habe, witzig abwehrt.
Ausgabe des Hegemonfragments mit biographischer Einleitung und Kommentar F.
Brandt, Corpusc. poäseos ep. Graecae ludibundae I (Leipz. 1888) 37 If.
c) Aristophanes (um 446 bis um 385).^)
221. Leben. Von den äußeren Lebensverhältnissen des Aristo-
phanes wissen wir und wußten bereits die Alten nur wenig. Er war
nach der Vita Sohn des Philippos aus Kydathenai;^) wenn er (Ach. 653)
sich als Aigineten bezeichnet, so ist dies entweder auf den Kallistratos,
der statt des Aristophanes die Acharner aufführte, zu deuten,^) oder hatte
er oder sein Vater zu seinem Besitz in Kydathenai noch ein Ackerlos auf
der Insel erhalten.') Die Zweifel an seiner attischen VoUbürtigkeit sind
schwerlich berechtigt, die Klage des Kleon gegen ihn Verlag wahrschein-
lich Fabel. ^) Daher die verschiedenen Vermutungen der Grammatiker, die
ihn bald für einen Rhodier aus Lindos oder Kameiros, bald gar für einen
Ägypter aus Naukratis ausgaben.^) Sein Geburtsjahr wird nicht angegeben;
^) W. H. VAN DB Sandb Bakhüyzen, De
parodia in comoed. Aristoph., Utrecht 1877.
E. W. HoPE, The language of parody. A study
in the diction of Aristophanes, Baltimore
1906.
*) A. Römer, Üher den litterarisch-ästhe-
tischen Bilduugsstand des attischen Theater-
publikums, Abh. d. bavr. Ak.22 (1902) 1—96.
») Chamaileon bei Ath. 406.
*) Außer einem Artikel des Suidas, mit
dem das gute Scholion zu Fiat. apol. 19 c
gleiche Quelle hat, ist erhalten ein 'Aotaro-
ff'drov^ fitfK (A. Westermann, Bioyo. p. 155 f.)
und ein Absatz im Anon. de com. p. 8, 41 ff.
Kaibel. Von Neueren: C. F. Ranke, De vita
Aristoph. in der Ausg. von B. Thiersch (Leipz.
1830) und abgekürzt in der von A. Mbinekb
(Leipz. 1860); H. Th. Rötschbr (mehr Hege-
lianer als Philolog), Aristophanes und sein
Zeitalter, Beri. 1827; Th Berok zu den Frag-
menten im 2. Bd. von A. Meinekes Fr. com.
gr.; H. Müller-Strübing, Aristophanes und
die historische Kritik, Leipz. 1873; A. Coüat,
Aristophane et Tancienne com^die attique.
Paris 1889 ; G. Kaibel in der Realenz. M. Croi-
SET, Aristophane et les partis ä Äthanes, Paris
I 1906. Auf falsche biographische Deutung
I von Stellen inAristophanes* Stücken als Quelle
! von Fehlern im ßt'a; des Dichters weist hin
F. Lbo. Plautin. Forsch. 61 ff.
I *) Ein Ratsherr 'AgioToqmtj^ Kv^aOt)-
vatEVs CIA II 865.
«) So nach Schol. Venet. Ach. 653 A.
Römer, Studien zu Aristoph., Leipz. 1902,
I 121 ff.
^) Theogenes bei Schol. Plat. apol. 1. 1.
•) Vita § 4 ^erinc xar^ aviov ynaq^ijv
fOfto K/Jon; und Schollen zu Acharn. 378 und
vesp. 1284. Aber wahrscheinlich liegt hier
nur ein Mißverständnis der Grammatiker vor
(unrichtige Beziehung von Eupol. fr. 357 K.
auf Ar. statt auf Phrynichos? s. o. S. 391,6)
und hatte die Klage des Kleon einen andern
Titel. A. Römer a. a. 0. I 130 ff. Daß Ar.
als Fremder seine Stücke nicht im eigenen
Namen habe aufführen dürfen, ist ein halt-
, loser Einfall von J. van Leeuwen (Mnemos.
! N. S. 16. 1888, 251).
*) Suidas: \4oioTorfd}'7jQ 'Pci^io^ ijrot Ah'-
dioQ, Ol ^F AiyrjTTior F(paonv (vgl. Schol. nub.
272 und Heliodoros bei Ath. 229 e), oi 6f A«-
I f^ioeUj dioei Sk 'AihjvaTo^.
394 Qriechische Litteratnrgeschichte. L Haasische Periode.
da ihm aber sein Alter erst in den Rittern (aufgeführt 424) einen Chor
für sich zu verlangen erlaubte,^) so muß er damals mindestens schon voll-
jährig gewesen sein; aus seinem eigenen Geständnis,') daß er 421, als er
den Frieden aufführte, eine Glatze gehabt habe, läßt sich für sein Alter
kein sicherer Schluß ziehen. Das Geburtsjahr wird 446 gewesen sein.*)
Über seine Erziehung und Bildung sind uns keine besonderen Zeugni^e
erhalten; aus seinen Werken sehen wir, daß er nicht bloß die ihm nächst-
stehenden Dichter, die Komiker und lambographen, gut kannte, sondern
auch in den Tragödien des Aischylos und den Gesängen des Stesichoros
und Pindar und in der ganzen älteren wie zeitgenössischen Poesie zuhause
war. Besonderen Einfluß auf den jungen Dichter übte das politische
Parteileben in den Klubs oder Hetärien aus. Mit der ganzen Leidenschaft-
lichkeit seines Wesens schloß er sich den Friedensfreunden und der ari-
stokratischen Partei an, denen die Herrschaft der bürgerlichen Empor-
kömmlinge, wie Kleon und Hyperbolos, und die neue Richtung der rheto-
risch-sophistischen Bildung ein Dom im Auge war.*) So gelang es ihm,
indem er Witz und Humor mit politischer Heißblütigkeit und sittlichem
Ernst verband, die Komödie zu einem Erziehungsmittel des Volkes und zu
einer politischen Macht ersten Ranges zu erheben. Über vierzig Jahre
lang (von 427 bis nach 388) beherrschte er die komische Bühne Athens
und machte auch die Wandlungen mit durch, die das Lustspiel infolge
der geänderten Zeitverhältnisse und des geänderten Geschmacks erlebte.
Die aristokratische Partei des Dichters war gegen Ende des peloponnesi-
schen Krieges ans Ruder gekommen, ohne es wesentlich besser zu machen;
der Bühnenfreiheit waren durch Gesetz und mehr noch durch die Furcht
vor den Machthabem beengende Schranken gezogen worden;*) der Staat
war durch den unglücklichen Ausgang des langjährigen Krieges verarmt
und hatte für Festspiele und Chorausstattung wenig Geld übrig; der
Dichter selbst wurde allgemach alt und verlor die Schneidigkeit rücksichts-
losen AngriflFs. So trat seit dem Frieden des Nikias die politische Partei-
leidenschaft in seinen Komödien zurück, und schließlich wurde er mit seinem
») Ar. eq. 513; nub. 530: xdyfo .^agdevo^ ») So O.NA2ARi.Riv.difil.22(1894) 50flf.;
yan fr' »y xorx e^f/r .lu) fjoi tfxfXv, F^e^xa. 1 WiLAMOWiTZ, Gott gel. Anz. 1906,630. Siehe
Daß Mcnandros sein erstes Stück als Fqprjßos | auch F. Jacoby, Apollod. Chronik 299 ff.
aufführte, wird besonders bemerkt, muß also ■ *) Daß Aristophanes nicht als objektive
wider die Regel gewesen sein. Von der Geschichtsquelle benützt werden dsuf, ist
Altersgrenze, die zm- Forderung eines Chors klar. Während A. Couat seine aristokrati-
berechtigte, wußten schon die alten Erklärer sehe Richtung aus einer für die ganze alt-
nichts Sicheres; das junge Scholion zu nub. attische Komödie gleichermaßen wirkenden
510 spricht von 30 Jahren. Unerheblich ist Zwangslage (der spielleitende Archen wie die
die Angabe Schol. ran. 504 oxf^ov fuionxioxog
tjdt) tj.iTFTo uor nydjfor.
^) pac. 767 ff.: xni roTi: (fakax^olai jia-
xoirai hätten den konservativen Kreisen an-
gehört) zu erklären sucht, möchte M. Croiset
für Ar. keinerlei gebundene politische An-
QnivnvfiFv jfrö.Tor^aCF/i' jifch r?]c rixtf^. Eupol. schauung, sondern nur die Haltung eines ord-
fr. 78 K. Vgl. Th. Bergk, Comment. de reli- nungsliebenden Bürgers und freien Verkehr
quiis comoediae Att.. Lips. 1838, p. 203. Daß , mit adeligen Kreisen anerkennen, eine An-
er der Flasche fleißig zugesprochen, bezeugt 1 nähme, bei der die Gleichheit der politischen
Ath. 429a: \\kxah>s ^f 6 jhf/.o:toi6^ xai \4oi- \ Farbe in allen altattischen Komikern un-
oio(fävi]Q 6 x(oit(t)dio7ioi6^ uedvot'TFg Fyoagor erklärt bleibt.
TU .lonifinni. Vgl. vesp. 80. "" ») Vgl. pac. 739 ff., vesp. 1023; vgl. § 216.
C. Drama. 8. Die Komödie, c) Aristophanes. (§§ 221—222.)
395
Plutos, Aiolosikon und Kokalos Begründer der mittleren Komödie.*) Die
letzten zwei Stücke überließ er seinem Sohn Araros zur Aufführung, um
diesen beim Publikum einzuführen.*) Den uns erhaltenen Plutos dich-
tete er noch für die Dionysien von 388; bald nachher aber muß er ge-
storben sein; sicher war er Ol. 101 (376 — 73), wo nach Suidas sein Sohn
Araros mit eigenen Stücken auftrat, schon tot; wahrscheinlich enthält das
etwa 384 geschriebene Gastmahl des Piaton ein Gedenkblatt für den kurz
zuvor verstorbenen Dichter. Söhne hinterließ er drei oder vier, von denen
sich Philippos und Araros gleichfalls der komischen Bühne widmeten.^)
222. Werke. Von Aristophanes kannte das Altertum vierundvierzig
Komödien, von denen vier als unecht galten.*) Auf uns gekommen sind
elf Stücke, die anderen kennen wir nur nach Titeln und Bruchstücken.^)
Die drei ersten Komödien, Jairakijg (427), BaßvXojvioi (426) und 'Axagvijg
(425) brachte er unter fremdem Namen durch Kallistratos auf die Bühne. ^)
Kallistratos und Philonides waren komische Dichter und Schauspieler und
haben auch später noch Stücke von ihm an seiner Statt aufgeführt (Phi-
lonides vielleicht Wolken, jedenfalls Wespen, Amphiaraos und Frösche,
Kallistratos Vögel und Lysistrate).'') Im Frieden ließ er nach der Hypo-
^) Vita Aristoph. 10: i/ftiq^tofiaro^ ytt'o-
fAfvov ;|fop»;y<xaf» woxe fiy m'Ofiaari xayfiwSeTv
Ttva xai TO)v x^QVy^^^ ^^'^ «rTf;fmT(ov .too^
t6 xogtjystv . . . k'yoaye KihxoJ.ov, ev cu eladyei
q?&oguv xal dvayvawtouoi' xai i&X),a Trdvra, ä
s^Yl'Aiooe Mfvavdooi:. Vgl. Platonios :isqI Sta-
q:'Ooäg x(Oft, p. 4, 31 K.; zoiovxog ovv ioxiv 6
T^? fiearjg xcojufodias rifnog, oltig eouv 6 AloXo-
otxoiv \4oioio(furovg.
«) Vgl. Arg. IV. Plat.: vielleicht auch,
weil Aristophanes zu alt war, um selbst noch
als Schauspieler die erste Rolle zu spielen.
^) Nach Dikaiarchos hatte er noch einen
Sohn Philetairos; Apollodoros nennt statt des-
sen Nikostratos. Siehe über die Söhne F. Ja-
COBY, ApolJodors Chronik 300 flf.
*) Die vier zweifelhaften Stücke Uoirjaisf
Jim'voog ravayoi:, iS'jyoo/, AVo/^Os wurden von
anderen dem Archippos zugeschrieben; über
die Gründe dieses Urteils gibt Vermutungen
G. Kaibel, Herrn. 24 (1889) S. 42 ff.
') Ein alphabetisches Verzeichnis von
44 Stücken im Cod. Ambros. L 39 (entdeckt
von F. NovATi, Herm. 14, 1879, 461 flf.: dazu
Nachträge von Wilamowitz ebenda 464 f.)
und in einem Vaticanus (entdeckt von C.
0. ZuRETTi, Anal. Arist, Torino 1892, 104).
Daß in der Liste der Sieger an den großen '
Dionysien Aristophanes fehlt (A. Wilhelm, i
Urkunden 110 f.), erklärt sich daraus, daß
er so oft seine Stücke durch andere aufführen
ließ, deren Namen dann in die Akten kamen ; i
er errang unter eigenem Namen zunächst
nur an den Lenäen Preise; s. G. Oehmichbn, |
Sitz.ber. d. bayr. Ak. 1889, II 156. Auf der '
Basis eines privaten Choregenmonuments, ;
das D. Philios. Ath. Mitt. 19 (1894) 174 ver- i
öffentlicht, ist ein Sieg des Ar. (in Elensis?) |
verzeichnet.
*) Den Kallistratos nennt auch für die
AauaATjg der Anon. de com. p. 8, 43 f. K.;
vgl. Schol. nub. 531. Übrigens versteht Ar.,
wenn er, wie Ach. 644, vom Dichter jener
Stücke spricht, wohl sich selbst, nicht ^ene
Strohmänner. Vita § 2 : eoxoinxov avxov Aoi-
axcovvfiog xe xal 'Afisiyuag, rexgddi Xeyoi'xeg
avxov yeym'Fvai xaxd xi)v jxagoifiiav (Zenob.
prov. Cent. VI 7) ok ukkoig jrwovvxa.
') Vita § 15 unklar (G. Kaibel, Realenz.
II 974, 30): did fiev 4>ucovtSov xd dfjftoitxd,
did 6k Ka/J.ioxgdxor xd iöuoxixd. Dazu Schol.
nub. 531; Th. Berok bei A. Meineke II
916 ff.; K. Zacher, Philol. 49 (1890) 313 ff.;
A.Wilhelm, Urk. 111 ff. Aus welchen Grün-
den Ar. so auffällig oft seine Stücke andeien
zur Aufführung überließ, hat er zum Teil
selbst bezeichnet (jugendliche Schüchternheit
nub. 528 ff., Scheu vor einem möglichen Fiasko
eq. 515; Neigung andere insgeheim zu unter-
stützen vesp. 1018, was sich auf Zuwendung
des Dichternonorars oder auf Hilfe zu dich-
terischem Ruhm beziehen kann, letzteres
allerdings nur unter der unwahrscheinlichen
Voraussetzung, daß der Archen und das
Publikum den wahren Verfasser nicht kann-
ten). Für die frühesten Stücke mag eine
gesetzliche Bestimmung über das Minimal-
alter des Siödoxidog hinderlich gewesen sein ;
für spätere kann man jedenfalls nicht daran
denken, daß sich Ar., ein Mann in guten
Verhältnissen, von anderen, denen er Komö-
dien lieferte, habe bezahlen lassen, wie es
für Piaton feststeht (A. Meineke I 162), eher
daran, daß er anderen den fjiaOög zuwenden
wollte (Kaibel) oder daß er zu bequem war»
das Einstudieren zn übernehmen (Wilamo-
896 Griechische litteratiirgeschichte. I. Klasflische Periode.
thesis die Hauptrolle durch den Schauspieler Apollodoros spielen. Übrigens
verschmähte er auch selbst nicht die Aufgabe eines Schauspielers; ins-
besondere wissen wir, daß er in den Rittern den Kleon gab, angeblich
weil keiner der Schauspieler die gefahrliche Rolle zu übernehmen wagte.*)
Nach dem Tod des Dichters konnten sich natürlich seine Dramen nicht
wie diejenigen der Tragiker auf der Bühne erhalten. Das verhinderte der
Ton und Inhalt der speziell für die jedesmaligen Zeitverhältnisse gedich-
teten Werke der alten Komödie. Um so eifriger wurden sie von den
alexandrinischen Grammatikern gelesen und kommentiert. Wiewohl daher
Aristophanes bei den zahmeren Geistern der Kaiserzeit, wie Dion Chryso-
stomos und Plutarchos,*) wegen seiner derben und unflätigen Spässe in
Verruf kam und dem feinen, wohlgezogenen Menandros nachstehen mußte,
so haben sich doch von ihm nicht weniger als elf Stücke, offenbar die
berühmtesten und charakteristischsten, erhalten^) und dazu gelehrte Scho-
llen, ohne deren Beihilfe wir vielfach bei der Erklärung und Zeitbestim-
mung im Stich gelassen würden. Diese elf Stücke sollen in chronologi-
scher Ordnung besprochen werden.*) Seine drei ersten Stücke AairaXtjg,
Baßvhovioi und ^AxaQvfjq Heß Aristophanes, wie bemerkt, durch Kallistratos
aufführen. In seiner frühsten Komödie, den Aairakilg, rollte er schon das
Erziehungsproblem auf; im Anschluß an den Brauch, daß in jedem Drama
zwölf vom Archen ßaotlevg erkorene „jiagdonot" sich von Zeit zu Zeit in
einem Heraklesheiligtum zu einem religiösen Zweckessen vereinigten, er-
findet er hier einen Gau der „Schmausd orfer ** (Kaibel); einer der Gau-
genossen hat zwei verschiedenartige Söhne, einen a(üq?Q(ov und einen xata-
nvyoiv, und die Durchführung ihres Gegensatzes machte den Inhalt des
Stückes aus. Das Motiv ist in den Wolken und in Menandros' AöeXcpoi a
variiert. In den Baßvkcovioi^) führte Ar. die Sache der unterdrückten
Bundesgenossen Athens^) ebenso wie Eupolis in den IloXeig.
WITZ. Gott. Gel. Anz. 1906, 629 f.). Merk- I Gaz. vet. scriptor. Graecor. stud., Kiel 1884.
würdig ist, daß an den Lenäen 422 Philo- I 63). Er erzählt or. I 9 F. von einem Diktat
nides ein eigenes Stück, den fJoodyfor, und aus den Achamem.
die Wespen des Ar. aufführte und damit den | *) In der Haupthandschrift, dem Raven-
ersten und zweiten Preis gewann nas, stehen die Stücke in folgender Ord-
*) Vita § 3: ovdet'o^ uov oxfvo.ioicüv \ nung: Plut. nuh. ran. eq. Ach. vesp. pax av.
Tolfu'jftavTog t6 jTpoofo.iov avTov (sc. Kkeiorog) Thesm. Eccl. Lys. Maßgebend war für diese
oxFvdoai, ^i* mvTov \'igioTO(fW't}<; {mexQirara,
avTOv To :Tg6o(onov fiikroi yoioai;^ was aus
Arist. eq. 230 ff. geschlossen zu sein scheint.
Folge nicht durchweg die Abfassungszeit der
Stücke, vielmehr stehen voran die drei Stücke,
die den späteren Grammatikern die lesens-
1. Bruns, Das litterar. Porträt 169. i wertesten schienen, der Plutos als Vorbild
*) Dio Chr. or. 16, 6; l^hit. ovyxoimg 'Ätna- ' der neuen Komödie, die Wolken und Frösche
TOf/diovg x(u Mn'drAgor; ders. symp. quaest. ' wegen ihrer Beziehung zu Sokrates und den
711 f. Ähnlich urteilt Cicero (R. Hibzel, Tragikern; ihnen scheinen andere noch als
Untersuch, zu Ciceros philos. Sehr. II, Leipz. | viertes Stück die Ritter angereiht zu haben,
1882, 371) und Alkiphron. Die attizistischen I da bei der folgenden Reihe, Ach. bis av.,
Puristen strengster Observanz verwerfen Me- die chronologische Folge bewahrt ist (s. oben
nanders Griechisch gegenüber dem der alten I bei Sophokles S. 300 f.). Den Schluß bilden
Komödie (W. Sohmid, Atticism. I 206 f.). Der , die drei Weiberkomödien.
Arzt Galenos schrieb ein Buch Ki /gi/aifim' *) Der Titel vom Chor, der entweder
drdyrtooua loTg .-raiöfrofth'oig {} jiaj.aid xo)- | aus orientalischen Sklaven (so Th. Bergk
f<o)()in. I und W. Dindorf) oder aus Gesandten vom
') Libanios kannte noch mehr Stücke I Perserhof (F. V. Fritzsche) bestand,
des Ar. als wir (J. Malchin, De Choricii i «) Daß das Thema zum Repertoire der
C. Drama. 8. Die Komödie, c) Ariatophanea. (§ 228.) 397
223. ^Axagvfjg, das älteste der erhaltenen Stücke, ist aufgeführt 425
an den Lenäen und mit dem ersten Preis gekrönt.*) Auf die Festzeit und
die an die Babylonier anknüpfende Anklage Kleons spielt der Dichter selbst
V. 502 an: ov yaQ jue vvv ye diaßaXei KXi(ov Sn ^evcov Tiagövrcov rijv Tiöhv
xaxcog Xeycot avxol ydg iajuev ovm Arjvaico x äycov, xovjio) ^evoi Ttdgeioiv.
Der Dichter macht hier zum erstenmal im Sinn der Agrarier (vgl. Eccl.
197 f.) und der Nikiaspartei Propaganda für den Frieden, ein Thema, das
er dann noch oft behandelt hat {'Ijimjg, ^Ohcädeg, Elg/ivt], ^Ogvt^eg, Avoi-
argdrt]). Den Namen hat das Stück von dem Chor, der aus Kohlenträgern
des großen und wehrhaften') Dorfes Achamai, handfesten, vierschrötigen
Kerlen, zusammengesetzt war, zu deren sehniger Kraft der rasche und
kräftige Rhythmus der Kretiker und Trochäen trefflich stimmt. Ausgangs-
punkt für den Dichter bildete der Gegensatz zwischen dem Friedensbedürfnis
der Landleute, die der Plackereien des Krieges überdrüssig waren, und
den Umtrieben der Demagogen und Eisenfresser nach dem Schlag des
Kleon und Lamachos, deren Weizen in den Unruhen des Krieges am
üppigsten blühte. Repräsentant der ersten Partei ist der Biedermann
Dikaiopolis, der durch Amphitheos^) einen Separatfrieden von den Lake-
dämoniem erhandeln ließ und nun mit heiterer Lust, wie ehedem im
Frieden, seine ländlichen Dionysien begeht.*) Verwicklung bekommt die
Handlung durch den Chor der Acharner, die den Verräter, weil er einen
Privatfrieden mit den Feinden der Stadt zu schließen gewagt, mit Steinen
verfolgen und zur Verteidigung auf dem Hackblock nötigen, wobei sich
Dikaiopolis für seine Verteidigungsrede die mitleiderregende Gewandung
und Phraseologie von Euripides' Bettelhelden erborgt,^) mehr noch durch
den effektvollen Kontrast des schlichten Landmanns und des Pascha mit
drei Roßschweifen, des kriegswütigen Lamachos, der zum Krieg gegen
den Einfall der Böotier auszieht, während jener zum Mahl sich laden läßt,
und schwerverwundet auf die Bühne zurückgetragen wird, während jener
nach fröhlichem Mahl jubelt und tanzt. Dieses alles ist belebt durch
sprudelnden Witz und ergötzlichste Szenen, wie von den Gesandten der
Perserkönige, dem Studierzimmer des Euripides, dem Ferkel verkauf des
Megarers auf dem von Dikaiopolis proklamierten Freimarkt. Über dem
Ernst des politischen Hintergrundes, der immer wieder und wieder durch-
bricht, verleugnet sich eben doch nicht die Ausgelassenheit des Dionysos-
festes, das die gröbsten Zoten hervorrief und entschuldigte.^) Die Ver-
aristokratischen Opposition gehört, sieht man
aus Ps.Xen. Ath. resp. 1, 14—18; 3, 2. Nach
der Aufführung der Baß. scheint Eleon einen
Prozeß gegen Kallistratos angestrengt zu
haben: Ar. Ach. 502; Schol. Ach. 503; vesp.
*) Mit einer aller Illusion spottenden
Freiheit versetzt Arist. von V. 240 an die
Szene aus der Stadt aufs Land, worüber
M. Haupt, Opusc. II 458 ff.
^) Über die (keine Porträtzüge tragende)
1285; A. Römer, Stud. zu Ar. I 126 ff. Figur des Eur. 1. Brüns, Litt. Portr. 154 f.
*) Nach dem Argumentum erhielt den •) H. Müller-Stbübino S. 498 ff. nahm
zweiten Preis Kratinos mit den XetfiaCö^ievotf ■ eine Überarbeitung des Stückes an, da La-
den dritten Eupolis mit den Novfitjviai. [ machos bald als Stratege, bald als Lochage
«) Thuc. II 20, 4.
') Hinter diesem sucht H. Weber, Philol.
63 (1904) 224 ff. den Bruder des reichen Kal-
lias, Hermogenes.
(1074) erscheint. Die Hypothese unterstützt
Th. Ziblinski, Gliederung 54 ff. durch die
Behauptung, daß an Stelle der schalen Polter-
szene 593 ff. in der ersten Bearbeitung ein
398 Qriechische Litteraturgeschichte. I. Klassische Periode.
teidigung des Dichters und namentlich seiner politischen Stellungnahme
führt kräftig der Chor in der Parabase V. 626—718.
224. Die Ritter {Ijinrjg) sind das erste Stück, das (im Jahr 424 an
den Lenäen) vom Dichter selbst auf die Bühne gebracht wurde;*) es war
bereits in den Acharnern V. 300 in Aussicht gestellt. Anlage und Tendenz
des Stückes sind schon im Titel angedeutet: die Elite der athenischen
Bürgerschaft, die Ritter und Söhne der edlen Geschlechter hatten dem
Aristophanes die Ehre angetan, selbst den Chor zu bilden.*) Das hob das
politische Selbstgefühl des jetzt vor aller Welt von den Besten unterstützten
Dichters, der mit einer unserem Polizeiregiment schwer begreiflichen Rede-
freiheit nicht bloß dem Mächtigsten im Staat, dem Kleon, rücksichtslos
sein Sündenregister vorhält, sondern auch dem souveränen Demos un-
verblümt die bittersten Wahrheiten sagt. Auch durch die Sorgfalt der
Disposition und der streng durchgeführten Fabel erheben sich die Ritter
über die geniale Ungebundenheit der Achamer: der Demos, ein alter, jäh-
zorniger, dem Aberglauben nicht minder als der Schmeichelei zugängUcher
Herr, wird ganz beherrscht von seinem neuen Diener Kleon, der auf jede
Weise den Alten zu ködern weiß und erst allerjüngst den Feldherrn Nikias
und Demosthenes bei Sphakteria den besten Bissen abgejagt hat. In
dem Prolog treten zwei andere Sklaven des Demos, welche die Gram-
matiker Demosthenes und Nikias getauft haben,*) auf, um sich über ihren
neuen Genossen, den Paphlagonier zu beklagen, der sie durch seine
Schmeicheleien ganz um die Gunst ihres Herrn bringe. Ein Orakelspruch,
wie sie damals zu Dutzenden in kritischen Momenten des öffentlichen
Lebens kolportiert wurden, zeigt ihnen den Weg, den durchtriebenen Ge-
sellen zu stürzen; sie treiben den Wursthändler Agorakritos*) auf, der an
Unverschämtheit den Gerber Kleon noch zu übertrumpfen versteht. • Die
Gliederung des Stückes in Akte ist vermittelst Parabasen und Szenen-
wechsel angedeutet: nach dem Prolog wird zuerst Kleon von dem Wurst-
händler auf oflFener Straße unter lautem Schreien und Toben, aber mit
dem Beistand der Ritter, der geschworenen Feinde des Demagogen, ver-
haftet; dann berichtet nach einer Parabase der Wursthändler in einer
langen parodischen Rede die Verhandlung vor dem Senat; darauf folgt die
weitläufige Hauptverhandlung vor dem Demos selbst, wobei zuletzt die
beiden Nebenbuhler ihren Herrn in ergötzlichster Weise regalieren. Nach
vollständiger Agon gestanden habe; dagegen 1023 die hohe Ehre an.
richtig H. Weil, it. sur le drame ant., Paris
1897, 291 ff.
*) Ar. erhielt den ersten Preis; zweiter
war nach der Hypothesis Eratinos mit den
luTvgot, dritter Aristomeues mit den 'Yao-
ff'ÖQoi, Von den Rittern sagt dieselbe: ro ök
') Die Namen stehen jetzt in den Aus-
gaben und Handschriften, sind aber, wie die
Hypothesis lehrt, erst von den alexandrini-
schen Grammatikern eingesetzt worden.
*) Name und Person dieses Rivalen sind
aus der Phantasie des Dichters hervor-
d(}äua rcor äyar naliög .^FjioirjftFVMr. Der j gegangen; aber manche Striche zur Zeich-
Dichter ist auf den in diesem Stück be- nung mochte dem Dichter die Figur des
wiesenen Freimut sehr stolz (s. o. S. 391) und I gleichzeitigen Demagogen Hyperbolos ge-
hat wohl wirklich die Einstudierung der
Komödie und die Rolle des Kleon in ihr
selbst übernommen, weil er dafür keinen
anderen fand.
^) Dankbar erkennt der Dichter vesp.
liefert haben. H. Mülleb-Strübino S. 556 A.
will den Namen aus 'Ayooaroi: -f- SsoxotTog
herleiten. Der Wursthändler ist symbolische
Figur, bloße Steigerung von ELleons Gemein-
heit (I. Bbüns, Litt. Portr. 170).
C. Drama. 3. Die Komödie, o) Aristophanes.
224—225.)
399
einer zweiten Parabase hält der Sieger Agorakritos, nachdem ihm das
Staatssiegel {daxTvXiov, V. 974) eingehändigt ist, als Repräsentant des neuen
Regiments mit dem umgekoehten Demos seinen festlichen Einzug. — Die
Handlung ist durchwoben mit tausend pikanten Einfallen und Witzen, zu
denen das Demagogentum der Zeit StoflF in Fülle bot. Prachtstücke sind
außerdem im Rhythmus und Inhalt die lustigen Reiterlieder und die histo-
rischen Rückblicke auf die Vorgänger des Dichters in der ersten Parabase
(505—610). Für seine großen Kühnheiten in diesem Stück gewann sich
der Dichter wohl Indemnität durch die sehr feine, an Plat. apol. 30 e er-
innernde Art, wie er bei allen Ausfallen dem Demos doch zu schmeicheln
weiß (V. 1111 flf.). Der Zwitterhaftigkeit seiner Hauptfiguren, des Demos, des
Paphlagoniers, des Wursthändlers, war sich der Dichter bewußt und treibt
eben mit ihr ein geniales Spiel. ^) Das Wunschziel ist auch in diesem Stück der
Frieden, aber es unterscheidet sich von den Achamern dadurch, daß nicht bloß
ein phantastisches Bild des Friedens vorgegaukelt, sondern ein praktischer
Weg zu seiner Erreichung gewiesen wird: Beseitigung des Kleon. Aristo-
phanes rühmt sich in den Wolken V. 549 eines durchschlagenden Erfolges,
aber der kühne Angriff auf den mächtigen Lederhändler und seine Tra-
banten trug ihm Verfolgung und eine Klage ein, wie er in den Wespen
1285 ff. andeutet.*) Sein Beispiel regte aber andere, besonders den Eu-
polis und Hermippos, zu ähnlichen Angriffen auf den Lampenfabrikanten
Hyperbolos an. 3)
226. Die Wolken (veipe/iat) wurden zuerst für die Dionysien von 423
gedichtet und dann, da sie hier eine kühle Aufnahme gefunden hatten,*)
umgearbeitet. Diese zweite Bearbeitung, die aber nicht zum Abschluß
und noch weniger zur Aufführung kam,*) liegt uns allein vor. Die alten
Grammatiker waren in der Lage, auch noch die erste Bearbeitung zum
Vergleich heranzuziehen, «) und bezeichnen insbesondere die Parabase, in
der sich der Dichter über die Unbill des Publikums beklagt (518 ff.),')
') I. Brüns a. a. 0. 170 ff. Das um-
kippen des Agorakritos ins Ernsthafte wurde
nicht schwer genommen.
'^) Auf die Klage des Eleon bezieht Th.
Berok, Kl. Sehr. II 467 die Stelle in Ps.-
Xenophon de rep. Athen. 2, 18. Schwerlich
richtig A. Römer, Stud. zu Ar. I 129 ff. —
Außer in den Rittern hatte Aristophanes in
den 'O'Axdöes an den Lenäen d. J. 423 die
Partei des Kleon angegriffen.
3) Aristoph. nub. 553 ff. Schol. nub. 554
führt aus den Bapten des Eupolis an: xa-
xsivov^ Toi'g 'L^jzeag ^vvejioirjaa xil) qpcdaxgtp
TovKp xddcogrfodurjv^ was die Alten auf die
zweite Parabase 1288—1315 bezogen. Eine
Erklärung, wie dieses zu verstehen sei, stellt
A. Kirchhofe, Herm. 13 (1878) 287 ff. auf.
*) Aristophanes erhielt den dritten Preis,
den ersten Kratinos mit der nvtn'rj^ den
zweiten Ameipsias mit dem Konnos.
*) Irrtümlich ist die Angabe Hypoth. IV
ni de devTFoat NfffeXai F,m 'Afietvtotf äQ^ovrog.
Dagegen Eratosthenes zu V. 552; s. J. N.
Gröbl, Die ältesten Hypoth eseis zu Aristo-
phanes, Progr. Dillingen 1890.
*) Darüber die sechste Hypothesis. Schol.
nub. 520. 543 und Eratosthenes in den Scholien
zu V. 552. Vgl. W. S. Tkuffel in der Ausg.
der Wolken, Leipz. 1856; W. Dindorf, De
Arist. fragm. I, Lips. 1829, 15—23; Th. Zik-
LiNSKi S. 34 ff. B. Heidhues, über die Wol-
ken des Aristophanes, Progr. Köln 1897, be-
streitet eine weitgehende Umarbeitung, nur
die alte Parabase sei teilweise durch eine neue
ersetzt worden; dagegen K. Zacher, Berl.
phil. W.schr. 20 (1900) 33 ff. G. Sohwandke,
De Ar. nubib. priorib., Diss. phil. Hai. 14, 2
(1898) nimmt die Daten der sechsten Hypo-
thesis an und sucht ohne viel Erfolg nach
weiteren Spuren der zweiten Bearbeitung. Be-
achtenswert ist, daß die uns vorliegenden
Wolken den sonst in den Stücken vor 411 so
beliebten päonischen Rhythmus fast gar nicht
haben (P. Giesbmann, De metro paeonico sive
cretico apud poätas Graecos, Trebnitz 1892, 50).
0 Ebenso vesp. 1044 ff.
400 Griechische Litteratargeschichte. L Klaamsche Periode.
den Streit zwischen dem dixaiog und ädixog Xoyog (889 — 1104), und den
Schluß, wo das Haus des Sokrates in Brand gesteckt wird, als neue Zu-
taten. Der Mißerfolg mit diesem Stück, das die Nachwelt hauptsächlich
der Figur des Sokrates wegen vorzugsweise interessiert hat, ist dem
Dichter, der es für sein feinstes hielt, besonders schmerzlich gewesen (s.
nub. 518 ff., vesp. 1023. 1043). Die Gründe, die er selbst dafür anführt
(nub. 537 ff., vesp. 1044 ff.), als wäre es für das Publikum zu hoch ge-
wesen, sind jedenfalls nicht ausreichend zur Erklärung; ebensowenig die
Wiederholung älterer Motive in Gedanken und Einkleidung (das Erziehungs-
problem war schon in den AairaXfjc; da;^) die Einkleidung scheint durch
Kratinos' llavÖTirai beeinflußt zu sein) oder der Mangel an Zusammenhang,
den man in einer Komödie nie streng beurteilte, wenn nur die vis comica
vorhanden war. Wenn die Gestalt des Sokrates, wie tatsächlich der Fall,
im Äußerlichen gut porträtiert war,*) so wird man es dem Dichter nicht
verübelt haben, wenn er ihn geistig in allerdings sehr weitgehender Weise
zum Sündenbock des gesamten Modernismus machte, in ihn Züge des Pro-
tagoras, Hippias, Anaxagoras, Demokritos, Diogenes von Apollonia, Dia-
goras von Melos, der pythagoreYsch-orphischen Mystik und Askese zu-
sammenpfropfte und ihn eine Schule mit stabilitas loci halten Ueß.^) Die
unheilvolle Wirkung dieses Sokratesbildes konstatiert Piaton (ap. 19c;
Phaed. 70 c) gewiß mit Recht, aber die Zuhörer von 423 konnten sie nicht
ahnen, und ob sie für Sokrates voreingenommen waren,*) wissen wir nicht.
So bleibt uns die Haltung der Preisrichter den Wolken gegenüber vor-
läufig unverständlich. Die Wolken also sind gegen den Geist der Neuzeit
und die neue sophistisch-rhetorische Erziehung gerichtet.^) Als Repräsen-
tanten dieser Richtung stellt Aristophanes den Sokrates hin, dessen Lehr-
tätigkeit den Athenern besonders mißfallen mußte: mochten die Lehrer
der neuen Wissenschaft aus Westen und Osten ihr Wesen in Athen
treiben — sie waren Metöken, mit denen die Polizei gegebenenfalls kurzen
Prozeß machen konnte und gemacht hat. Daß aber auch ein athenischer
Bürger eine Art von Sophistenberuf trieb und attische Bürgersöhne zu
ähnlicher Tätigkeit oder, wie das perikleische Zeitalter sagen mochte,
djToayjuoovvi] anregte, das nahm man schwer übel. Sokrates erscheint,
ganz entgegen den Lehren, die er auf der Höhe seiner geistigen Entwick-
^) A. RöHEB, Bayr. Ak. Sitz.ber. 1896, 1 nicht ertrageD. Der Unfug, den K. Joel, der
221 ff. will in dieser Selbstwiederholung den | echte und der xenoph. Sokrates II (Berl.
Grund des Fiasko sehen. Aber wie oft durfte | 1901) 809—895, mit dem aristophanischen
Aristophanes das Friedensmotiv wiederholen! I Sokr. treibt, indem er auch hinter ihm seinen
') A. Römer, Zur Kritik und Exegese | Antisthenes sucht, ist gut zurechtgewiesen von
der Wolken des Aristoph., Bayr. Ak. Sitz.ber. H. Gompebz, Arch. f. Gesch. der Philos. 19
1896. Siehe a. I. Bruns. Litt. Portr. 181 ff. ' (1906) 264 ff. (dagegen wieder K. Joel ebenda
R. PöHLMANN, Bayr. Ak. Sitz.ber. 1906, I 70ff. 20, 1907, 145 ff). — Daß bei Piaton über die
') Übrigens scheint nub. 488 doch auch schwere Anklage gegen Ar. schließlich doch
einen echten Zug zu enthalten (vgl. Xen. | die persönliche Sympathie für den Dichter die
mem. IV 1.2; Plat. Theaet. c. 33 ff.). Oberhand gewann, zeigt seine Behandlung
*) Die Verzeichnung des Sokratesbildes ' im Symposion (Olvmpiodor. vit. Plat. 3).
betrachtet ^G. Kaibel, Realenz. II 977 als I ^) J. W. Süverk, Über die Wolken des
Grund, überfein ist die Bemerkung von | Aristophanes, Berl. 1826; F. V. Fritzsche,
Bruns a. a. 0. 199, das Stilgefühl der Athener | De Socrate veterum comicorum. in Quaest.
hätte den Realismus des Sokratesporträts ; Aristoph. I (Leipz. 1835) p. 97 — 295.
C. Drama. 3. Die Komödie, c) AristophaneB. (§ 226.) 401
lung*) vertrat, als ein grübelnder Naturphilosoph, auf einer Schwebe-
maschine nach den Sternen lugend und die luftigen Gestalten der Wolken
als die Götter seines Himmels anrufend. Bei ihm sucht ein ungebildeter
Landmann, Strepsiades, den die Vornehmheit seiner adeligen Frau und
die noblen Passionen seines Sohnes Pheidippides in Schulden gestürzt
haben, Hilfe in der Hoffnung, mittelst der Kunstgriffe der neuen Weisheit
von den Plackereien seiner Gläubiger loszukommen. Zuerst tritt er selbst
in das Studierzimmer ein; als er aber von Sokrates wegen seiner Un-
gelehrigkeit und Vergeßlichkeit davongeschickt wird, bewegt er seinen
Sohn Pheidippides, sich dem Sokrates in die Lehre zu geben. Dieser zeigt
sich denn auch so gelehrig, daß der Alte schon über die langen Nasen
seiner Gläubiger jubelt; aber bald muß er zu seinem Schaden erfahren,
daß die Schlauheit der neuen Lehre an ihm ausgeht, indem der Junge
ihn durchprügelt und ihm dann rite vordemonstriert, daß es ganz in der
Ordnung sei, wenn die Alten von den Kindern die Prügel der Jugendzeit
zurückgezahlt bekommen. Mit einem Feuerwerk, der Verbrennung des
Hauses der Gottesleugner Sokrates und Chairephon, schließt das Stück. —
Der &y(hv zwischen loyoq dixaioc; und ädixog (V. 889 — 1104), der zur zweiten
Bearbeitung gehört und motivisch vielleicht durch Epicharmos' Aoyog xai
Aoyiva beeinflußt ist, hat einen Chor und ein Stück Dialog, wahrscheinlich
eine weitere Schulszene mit Belehrung über die zwei köyoi ävrixeijuevoi
ä}.^Xoig (s. V. 99. 112 flf. 1336 f.) verdrängt.
226. Mit den Wespen {ptpfjxeg)^ aufgeführt an den Lenäen 422, 2)
kehrte Aristophanes wieder zur politischen Komödie zurück, doch folgte
er im Aufbau des Stücks ganz der Anlage der Wolken, indem er nur
die Rollen umkehrte. Während dort der alte Strepsiades den jungen
Pheidippides in die neue Schule einführt, bemüht sich hier umgekehrt der
junge Hassekleon, Bdelykleon, den alten Kleonfreund, Philokieon, von seiner
Prozeßwut zu heilen. Er sperrt ihn also zuerst peinlich ab und weist die
Richterkollegen, die ihn früh morgens zum Gerichtshof abholen wollen, mit
Gewalt zurück. Dann läßt er ihm infolge eines Kompromisses zuhause
ein Privatgericht einrichten, in dem der Prozeß der zwei Hunde ver-
handelt wird, eine witzige Parodie auf den Streit des Kleon und Laches.^)
Li diesem Hauptteil des Stückes herrscht der Ernst der sittlichen Ent-
rüstung vor, der sich zunächst gegen ein Erb- und Erzübel des athe-
nischen Volkes (vöoov ägxcLiCLv iv rfj nokei ivreroHtnav V. 651), die durch
Erhöhung des Richtersoldes von ein oder zwei auf drei Obolen maßlos
gesteigerte Prozeßsucht, wendet,*) daneben aber auch die spitzigsten Pfeile
*) Daß er in jüngeren Jahren auch natur- | 'Afieiviov dtä ^dcoviSov eig Aijvata h rfj jf&'
wissenschaftliche Studien trieb, sagt Plat. ' dlvfimddi • öevi€Q<K i}v, xai evlxa jrocozog {xai
Phaed. 96 a; vgl. Xen. mem. IV 7, 3. 5. Übri- I h(xa nowiog- Ssviegog tjv corr. Leo) ^iXa)-
gens ist die Möglichkeit, daß auch Sokrates
einmal eine richtige Schule gehalten hat,
keineswegs so leichterhand, wie gewöhnlich
geschieht, abzuweisen. Piatons und Xeno-
phons Schilderungen stammen ans einer Zeit,
die gegen 20 Jahre nach der Aufführung der
Wolken liegt.
*) Arg. Vesp.: eöiÖdx(h] ejii ägxovxog
vidrjg Iloodyoyvi, Af.vxwv IlQF.aßeoi igiiog.
Gegen die Prozeßsucht waren auch die Pros-
paltier des Eupolis gerichtet.
') Daß Adxf]? unter dem Hundsnamen
Adßr/g steckt, vermutet schon Schol. vesp.
836.
*) Stimmungsverwandt Ps.Xen.Ath. resp.
3, 2 ff.; vgl. auch Ar. nub. 207.
Handbuch der Uaos. AltertnmswiaseiiBehftft. YII. 5. Aufl.
26
402 Oriechische litteratnrgeschiolite. L Klassiflche Periode.
gegen Eleon und die anderen Volksschmeiehler richtet, welche die Mara-
thonkämpfer mit dem armseligen Lohn des Richtersoldes abspeisten, um
desto schamloser den weit größeren Teil der öffentlichen Einkünfte in ihre
eigenen Taschen zu stecken. Der Schluß des Stückes ist dann wieder
für die Freunde der Posse und der lustigen Kneipszenen zugerichtet: der
alte Philokieon wird von seinem Sohn, um gründlich kuriert zu werden,
in ein fröhliches Gelage eingeführt, wo er bald seinen mürrischen Gries-
gram so völlig auszieht, daß er die schöne Flötenspielerin zerrt, die Tisch-
genossen schlägt und zuletzt tanzend und jubelnd mit dem Chor zur Bühne
hinauszieht. Den Namen hat die Komödie von dem Chor der Richter, die
wegen ihrer grimmen Härte als Wespen mit spitzem Stachel dargestellt
waren. *) Begleitet waren diese, da sie schon vor Tagesgrauen zum Richt-
platz aufbrachen, von drei lampen tragenden Knaben,*) die am Schluß als
die tanzenden Söhne des Tragödiendichters Karkinos wiederkehren. Das
Stück gehört zu den vorzüghchsten des Dichters; es vereinigt den sitt-
lichen Ernst des unbestechlichen Politikers mit dem unverwüstlichen Humor
des erfindungsreichen Dichters. Unverkennbar ist freilich, daß Aristo-
phanes zwei Ideen verquickt, die Kritik der Gerichtsmanie von Altathen
und der neuathenischen sophistischen Ttaiöeia (diese letztere tritt von 1121
an in den Vordergrund), und dadurch eine schillernde Unklarheit in die
beiden Hauptcharaktere gebracht hat; aber mit dergleichen nahm man es
in der attischen Komödie nicht genau. Nachgebildet wurde das Stück
von Racine in seinem einzigen Lustpiel Les plaideurs. — Wahrscheinlich
an den Dionysien desselben Jahres wurden die recogyot des Aristophanes
aufgeführt, in denen die Friedenssehnsucht der Grundbesitzer zu erneutem
Ausdruck kam.»)
227. Es folgt der Friede (eigi'jvr]), an den Dionysien 421 kurz vor
Abschluß des Friedens des Nikias aufgeführt und mit dem zweiten Preis
bedacht.*) Nach der dritten Hypothesis hatten die alten Grammatiker
noch Kenntnis von einer zweiten EtQ/jvr]^ die in dem Jahre zuvor, noch
zu Lebzeiten des Kleon, gedichtet war.*) Auf diese hat man die Verse
45 ff. und 479 f., in denen Kleon noch als lebend gedacht ist, zurück-
führen wollen, ö) Die Komödie ist gewissermaßen eine Vorfeier des sicher
') Die o<ft}x(odeig erscheinen als das zähe Aufführung der Eintjvrj und war im Zweifel,
Produkt der alten demokratischen nevia Ar.
Plut. 561.
■) Über die Anordnung des Chors und
der begleitenden Knaben s. R. Arnoldt, Die
Chorpartien bei Arist., Leipz. 1873, Kap. 1.
») Vgl. besonders fr. 109 K. Das Inter-
esse gerade der Landwirte am Frieden spricht
sich auch Ar. pac. 505. 511. 551 ff. 583 ff.
Ps.Xen. Ath. resp. 2, 14—16 aus.
*) Den ersten Preis erhielt Eupolis mit
den Kokay.F^, den dritten Leukon mit den
fPgaTFQFq, Um dieselbe Zeit dichtete Euri-
ob es sich um dasselbe oder um zwei ver-
schiedene Stücke handle; Krates von Mallos
aber wußte von dem Text einer zweiten Elo. :
Arg. pac. ni. Die vier Fragmente, die aus
der Eiotjrtj zitiert werden, in unserem Text
aber nicht stehen (Th. Kook, CAF I p. 468 f.),
erklärt A. Ruppebsbbro, Über die Eir. des
Ar., Saarbrücken 1888, für unecht.
®) J. Stanobr, Über Umarbeitung einiger
aristophanischen Komödien, Leipz. 1870; Th.
ZiBLU^SKi, Gliederung S. 63 ff. ; dagegen H.
Müller-Strübino 169 f. F. V. Fritzsohb,
pides den Kresphontes, in dem das Chorlied j Quaest. Arist 112, und Stanger glauben, daß
fr. 453 von ähnlicher Sohnsucht nach Frieden , die zweite Kiofjrtj nur dem Titel nach von
durchweht ist. <Jen recoftyoi verschieden gewesen sei.
*) Eratosthenes redete von einer zweiten |
C. Drama. 3. Die Komödie, c) AriBtophanes. (§§ 227—228.) 403
erwarteten und bald nachher abgeschlossenen Friedens. Im Eingang läM
der Dichter in spaihafter Verkehrung des euripidel'schen, auf dem Pegasus
durch die Luft reitenden Bellerophon den Trygaios als Repräsentanten der
friedliebenden Landleute auf dem Mistkäfer gen Himmel fahren, um von
dort die Opora und Theoria zum langersehnten Friedensfest abzuholen.
Ln Himmel also oder auf der oberen Bühne, dem deokoyEiov, spielt der
erste Teil des Stückes und das Gespräch des Trygaios mit dem Gott
Hermes. Im zweiten Teil, der auf der Erde vor sich geht, werden dann
die Vorbereitungen zum Festopfer getroffen und wird zum Schluß Trygaios
mit seiner Schönen vom Chor unter Hochzeitsgesang aufs Land geleitet.
Das Stück entbehrt der kunstvoll verschlungenen Handlung sowohl als des
lebhaften Streites; im übrigen sind die Freuden des friedlichen Landlebens
reizend geschildert (1127 — 1190), und gewiß hat die große Parabase (729
bis 818) durch die gelungene Verteidigung des Dichters und die hübsche
Aufforderung an die Musen zum fröhlichen Tanzlied ihre Wirkung nicht
verfehlt.
228. Durch den Tod Kleons und den Friedensschluß vom Jahr 421
waren dem Aristophanes seine Lieblingsthemen entzogen, und es scheint
nun in seiner Produktion eine Pause eingetreten zu sein. Bei den Lenäen
des Jahres 414 trat er wieder mit dem vielleicht durch Kratinos* Tropho-
nios inspirierten Amphiaraos hervor, in dem ein verjüngungsbedürftiges
Ehepaar nach Oropos zum Heilgott wandert und dabei der Schwindel an
dieser religiösen Heilstätte, ähnlich wie später im Plutos, verhöhnt wird.
Bei den Dionysien desselben Jahres brachte er die Vögel (ogvidsg), die
geistreichste und poetischste Schöpfung seiner Phantasie, ^ mit der er auf-
falligerweise nur den zweiten Preis erhielt.*) Sobald wieder Wolken an
Athens politischem Horizont aufsteigen, stimmt Aristophanes wieder idyl-
lische Friedensmotive an. Die Einkleidung ist ganz märchenhaft. Zwei
Athener, Euelpides, Hans Hoffegut.*) und Pisthetairos, Beschwatzefreund,
des Lebens in der händelsüchtigen Vaterstadt müde, kommen auf Kreuz-
und Querwegen zum Wiedehopf, dem aus der Vorgeschichte Attikas be-
rühmt gewordenen Vogel, um sich von ihm einen schikanenfreien Ort, ein
Wunschland, anweisen zu lassen. Aber mit den vorgeschlagenen Orten
wenig einverstanden, entschließen sie sich, bei den Vögeln selbst zu bleiben
und diesen die Gründung eines neuen Staates anzuraten. Die Vögel gehen
auf den phantastischen Vorschlag ein und gründen Wolkenkuckucksheim
{N£(f£?Mxoxxvyia) in der Luft zwischen Himmel und Erde. Die Gründung
der Stadt und die bei solcher Gelegenheit herkömmlichen Zudringlichkeiten
von Poeten, Wahrsageni, Aufsehern, Sykophanten werden in ergötzlichster
Weise geschildert, ebenso die Verwirrung der Götter, die durch die neue
^) K. Leubs, Populäre Aufs.' 408 fi. : yoaq^fj), aus dem diese Zahlen stammen,
^) Nach derHypothesis erhielt den ersten scheint die Stücke in alphabetischer Ordnung
Preis Ameipsias mit den KcDfiaoiai, den drit- I enthalten zu haben.
ten Phrynichos mit dem Movötqo.to;, Nach ') So übersetzt Goethe in der Nachbil-
dem zweiten Argumentum waren die Vögel das 1 düng des Eingangs der Vögel, Werke Bd. 17
35. (A. KöRTB, Herm. 39, 1904, 485 schreibt I (Weimar 1894) 75 ff. Zu der Namensform
Xa statt Xf') Stück, wie P^gag das 9. nach 1 Uio^eiaioo^ K. Meistbruans, Gramm, deratt
I.BEKKER,An.gr.430,16. Da8Verzeichm8(ova- ! Inschr.' § 15, 30 S. 54.
26*
404 Griechische Lüteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
Yogelstadt sich der Ehren und Opfer der Menschen beraubt sehen, so dag
Zeus genötigt wird, eine Gesandtschaft an den Vogelstaat abzuordnen, um
einen Modus vivendi herzustellen. Der Pakt kommt unter der Bedingung
zustande, dag Zeus dem Pisthetairos die Basileia, die Personifikation der
Weltherrschaft, 1) abtrete. Das leitet zum Schluß des Stückes, das in der
Art der meisten Lustspiele des Aristophanes mit einem Triumph- und
Hochzeitszug der Hauptpersonen, des Pisthetairos und der Basileia, endet.
Daß wir hier ein Meisterwerk des Witzes und der Phantasie voll duftiger
Natur- und Waldpoesie vor uns haben, ist zu aller Zeit anerkannt worden, *)
nicht minder, daß in der utopischen Zauberumhüllung eine Reihe kräftiger
Seitenhiebe auf stadtbekannte Persönlichkeiten, wie den Fresser und Feig-
ling Kleonymos (V. 289 f.), den von Schmeichlern und Weibern ausgebeu-
teten Kallias (285 flf.), den Geometer und Kalenderverbesserer Meton (992 flf.),
den Dithyrambendichter Kinesias (1373 ff.) u. a. abfallen. Aber über die
Tendenz der Gesamtkomödie hat man viel gestritten. J. W. Süvern») wollte
in ihr eine bis ins einzelne durchgeführte Allegorie auf die Begebenheiten
der Zeitgeschichte finden; umgekehrt leugnete J. G. Droysen in seiner Über-
setzung des Aristophanes jede tiefere Tendenz und sah in dem Stück nur
ein harmloses Spiel der Phantasie nach Art des Sommemachtstraums. Die
Wahrheit liegt in der Mitte und ist trefflich entwickelt von K. Bursian,*)
der dem poetischen Spiel sein volles Recht läßt und in den Hauptträgern
der Handlung keine Verspottung bestimmter Individuen annimmt, aber doch
dem Dichter die für die verhängnisvolle Zeit der sizilischen Expedition
wohlberechnete Absicht zuschreibt, dem athenischen Volk in der tollen
Projektenmacherei des Pisthetairos und der raschen Erwärmung der Vögel-
schar für abenteuerliche Pläne einen Spiegel der eigenen Leichtgläubigkeit
und gaffenden Gedankenlosigkeit vorzuhalten.
229. In sehr witziger Weise kombiniert Aristophanes seine Friedens-
tendenz mit einem alten und viel verbreiteten Schwankmotiv in der Ävoi-
oTQaxt] (redender Name, öxi kvei röv argarov)^ aufgeführt an den Lenäen
411.Ö) Sie ist die älteste und originellste der erhaltenen drei Weiber-
komödien des Dichters. Benannt ist sie nach der Hauptperson, die in
einer Versammlung von Frauen aus allen Teilen Griechenlands den Vor-
schlag macht, die Männer dadurch zum Frieden zu zwingen, daß sie ihnen
den Beischlaf kündigen,^) infolgedessen es dann auch wirkHch nach allerlei
obscönen Zwischenfallen zur Versöhnung der Lakedaimonier und Athener
^) H. Müller-Strübino , Jahrbb. f. cl. Muster der Vögel Archippos ein ähnliches
Phil. 121 (1880) 104. schließt aus V. 1738 im Stück 'IxOveg.
Zusammenhang mit Aesch. Eum. 813 K., daß i *) J. W. Süvern, Über Aristophanes*
mit BanÜFta die Stadtgöttin Athene gemeint ' Vögel, Berl. 1827.
sei. Dagegen J. Cäsar , Quaest. II ad Av. *) K. Bursian, Über die Tendenz der Vögel
ar. spect. Ind. lect. Marb.1881. G.Löschcke des Arist., Bayr. Ak. Sitz.ber. 1875 II 375 ff.
versteht unter ihr die Meter, Schutzherrin des *) Arg. Lys. ; eine Angabe des Preises
athenischen Buleuterion (0. Kern, Realenz. , und der Mitbewerber fehlt.
III 45). ®) Ähnliche Situation von isoliei-tenFrauen
'^) Arg. I : ro Sgäfia rovxo nov äyav öv- ' aus altfranzösischen und mittelhochdeutschen
vax(o^ .tfjionjuh'iov. Eine ähnliche Idee hatte Stoffen weist nach J. Grimm, Kl. Sehr. V
übrigens schon Pherekrates in seinen ''/4ymo« (Berl. 1871) 408 ff.
durchgeführt. Später dichtete nach dem |
C. Drama. 3. Die Komödie, c) Aristophanes. (§§ 229—280.) 405
kommt. Eine Parabase fehlt; der Chor ist in zwei feindliche Parteien
geteilt, die der Frauen und die der Greise, die sieh beide um den Besitz
der Burg streiten, indem die Greise durch Anlegung von Feuer die Frauen,
die bereits von der Burg Besitz ergriffen hatten, aus ihr wieder zu ver-
treiben suchen, eine Schar von Frauen aber mit Wassereimem ihren Kol-
leginnen zu Hilfe kommt. Die lüsternen Einfalle und unflätigen Witze des
Stückes waren nur im Theater zu Athen denkbar, wo die Männer unter
sich waren und auch die Frauenrollen von Männern gespielt wurden. Unter
diesen Voraussetzungen ist aber auch unerreicht die Szene des stanzen-
geplagten Kinesias und der den Mann mit ergötzlichsten Ausflüchten hin-
haltenden Myrrhine (845 — 979). Sehr anmutig sind auch die Tanzlieder
des Chors der Lakonierinnen und der Athenerinnen, mit denen glanzvoll
und heiter zugleich das geniale Stück abschließt. Die komische Wirkung
des Sprechens im Lokaldialekt ist stark ausgenützt.^) Der Aufbau der
Handlung ist in diesem Stück außergewöhnlich straff. Der Schluß ist ver-
stümmelt. Im Hintergrund des Musenspiels steht die kurz zuvor erfolgte
Verfassungsänderung Athens (387 ff. wird die neueingesetzte Behörde der
Probulen verspottet) und die damit genährte Hoffnung auf endlichen
Friedensschluß.
230. Die ßeojuocpogidCovoai, aufgeführt an den Dionysien desselben
Jahres, 2) sind gegen Euripides gerichtet, dessen neumodische Manier schon
in den Acharnern und im Proagon (422) die Zielscheibe des beißenden
Spottes unseres Dichters gebildet hatte. Das viertägige Fest der Thesmo-
phorien zu Ehren der Demeter war ausschließlich für Frauen bestimmt:
zum Thesmophorion, dem Ort der städtischen Feier am südöstlichen Ab-
hang der Pnyx, hatte kein männliches Wesen Zutritt. Gelegentlich dieses
Festes läßt Aristophanes die Frauen den Plan fassen, den Euripides, den
großen Verleumder ihres Geschlechtes, in die Acht zu tun. Euripides,
der von der Sache Wind bekommen, sucht zuerst den eleganten Liebling
der Frauen, den Dichter Agathen, den Aristophanes auch im Gerytades
noch einmal aufgezogen hat, und als dieser sich nicht dazu hergeben will,
seinen Schwager Mnesilochos') zu bewegen, sich rasiert, gerupft und in
Agathons weibischer Garderobe als Frau in die Weiberversammlung ein-
zuschleichen und seine Verteidigung zu führen.*) Der Aufgabe entledigt
sich Mnesilochos mit Witz und Geschick, vornehmlich durch den Nachweis,
daß die Frauen tatsächlich noch viel wollüstiger und schlechter seien, als
Euripides sie dargestellt hatte. Aber während so der Anschlag trefflich
abzulaufen beginnt, kommt plötzlich die Verlegenheit durch die Anzeige
des Kleisthenes, daß sicherem Vernehmen nach ein als Frau verkleideter
') Über das Lakonisch der Lys. s. A.
Thcmb, Die griech. Sprache im Zeitalter des
Hellenismus, Straßb. 1901, 30; Wilamowitz,
Textgesch. der griech. Lyr. 88 ff. (zu der
Didaskalie zu dem, wie sich auch aus der
Knappheit der Scholien ergibt, weniger ge-
lesenen Stück fehlt. Verwandten Titel hatten
die ^JAcoridCoraai des Philetairos.
Szene 1216 ff.). *) Der Name ist nicht genannt, indem
^^ Nach Schol. Thesm. 190, 804, 841. die Person nur als xtjdeoTtfs Evgimbov einge-
Neuere, worunter G. R. Hanow. Exerc. crit. in führt wird; s. E. HiLLBR,Herm. 8 (1874) 449 f.
com. gr., Halle 1830, 82 ff., F. Ritschl, Opusc. ! *) Über die Frage der Porträtähnlichkeit
I 429, plädieren für 410; dagegen für 411 I des Euripides und Agathon I. Brüns, Litt.
Wilamowitz, Arist. u. Athen II 343 ff. Eine i Portr. 159 ff.
406 Griechische Litteratnrgeschichte. I. KUcudflche Periode.
Mann sich eingeschlichen habe. Die Anwesenden werden unter allerlei
zotigen Witzen untersucht, und Mnesilochos nach vergeblichem Sträuben
als Mann erkannt. Der Bösewicht soll durch einen skythischen Polizisten
(To^orrjg) verhaftet und vor die Prytanen geführt werden; da gelingt es
noch den erfinderischen Listen des Euripides, sich mit den Frauen zu
vertragen und den Mnesilochos seinem Wächter zu entreißen. Der Ausgang
des Stücks ist mager, indem zum notdürftigen Abschluß der Chor, ähnlich
wie in der jüngeren euripideischen Tragödie, nur ein kurzes anapästisches
Exodion singt. Die Stärke der Komödie liegt in der Parodie des Euripides
und Agathen, wobei der geschniegelte und gebügelte Weiberpoet Agathen mit
seinen gedrechselten und verschnörkelten Versen noch schlechter wegkommt
als der erfindungsreiche Weiberfeind Euripides. Die Chorlieder sind, wie
bei der Situation des Stückes erklärlich, ganz anderer Art als in den son-
stigen Komödien; sie enthalten herrliche Tanzlieder zu Ehren der Götter,
in denen aber gewiß auch die Parodie eine große, uns nur infolge der
Dürftigkeit der Schollen wenig mehr erkennbare Rolle spielt. Die Para-
base (785 ff.) ist sehr zahm. Aristophanes dichtete später noch ein zweites
Stück gleichen Namens. Dieses war keine Überarbeitung unserer Komödie,
sondern ein ganz neues Stück, das, wie man aus der Sprecherin des Pro-
logs, Kalligeneia, erkannt hat, am vierten oder letzten Festtag spielte,
während die ersten Thesmophoriazusen auf den dritten Festtag fallen. Mit
Bezug darauf hat der Grammatiker Demetrios aus Troizen nach Athen,
p. 29a die zweiten Thesmophoriazusen ßeojno(poQidoaaai getauft. *)
231. Die 'Exx/it]oidCovoai^ das dritte Weiberstück, nach dem pelo-
ponnesischen Krieg im Jahr 389 (nach anderen 392) aufgeführt,*) sind ein
loser Schwank, der allerdings auch aus den politischen Zeitverhältnissen
erwachsen ist, aber ganz der ätzenden Schärfe persönlicher Persiflage ent-
behrt. Denn die Angriffe auf die neuerungssüchtige Gesetzgebung (V. 813 ff.),
den korrumpierenden Einfluß des Ekklesiastensoldes (308 flf.), das Dema-
gogentum des Agyrrhios (102. 184) sind alle so zahm, daß sie selbst unsere
Theaterzensur passieren könnten. Der Schwank zerfällt in zwei locker
verbundene Abschnitte. In dem ersten ziehen Frauen als Männer ver-
kleidet mit Stiefeln und Schnurrbärten in aller Frühe in die Volksver-
sammlung {ixxkrjGia), um durch ihre Wortführerin Praxagora den Beschluß
durchzusetzen, daß die Angelegenheiten der Stadt, nachdem die Männer
alles schlecht gemacht, nunmehr den Frauen überlassen werden. Im
zweiten Teil treten dann die Frauen mit ihren weltverbessernden Ideen
') Das Verhältnis ist klargelegt von F. poribus Eccles. Aristoph. in Act. soc. phil.
V. Fritzsche in seiner Ausg. (Leipz. 1838); Lips. II (1872) 335ff. verwertet die geschicht-
vgl. A. MoMMSEN, Heortologie S. 301 ff. Da- i liehen Verhältnisse für das Jahr 389 und er-
gegen Th. Zielinski 79 ff., der von H. Weil, \ klärt den Intum des Philochoros daraus, daß
Et. sur le drame ant. 295 widerlegt wird.
Siehe a. W. Lange, Quaest. in Ar. Thesm.
Gott. 1891. Ein kleines, schlecht lesbares
Demostratos, unter dem nach der verlorenen
Didaskalie das Stück gegeben worden sei, Ol.
97, 3 und 96.4 Archon war. Vgl. 0. Kahler,
Fragment der zweiten Thesmophoriazusen in , De Aristoph. Ecclesiaz. tempore et choio. Diss.
Pap. Oxyrh. 11 212 (W. Crönert, Arch. f. Jena 1889. Für 389 tritt ein W. Judeich. Klein-
Papyrusf. 1, 1901, 512 f.). asiat. Stud. (Marb. 1892) 87, 1. 91 ff. Die
^) Auf das Jahr 392 führt die Angabe Winterzeit, in welche die Lenäen fallen, er-
des Philochoros zu V. 193. G. Götz, De tem- | gibt sich aus V. 288.
C. Drama. 8. Die Komödie, c) Aristophanes. (§§ 281—282.) 407
der Güter- und Weibergemeinschaft hervor, machen aber gleich beim
ersten Versuch der Durchführung ihrer Prinzipien glänzend Fiasko, teils
infolge der Schlauheit einzelner Bürger, die mit der Auslieferung ihres
Vermögens an den Gesamtstaat zurückhalten, teils und mehr noch infolge
der Geilheit der alten Weiber, die von der Bestimmung der Männer-
gemeinschaft zunächst für sich Vorteil zu ziehen suchen. Neu ist in dem
Stück, dem die Parabase fehlt, die Apostrophierung der ngirai llbb ff ., die
an das plaudite der neuattischen Komödie erinnert, und die jiagemygaq?!]
y.XOQov"^) V. 730. 877. 1110 an Stelle ausgeführter Gesänge. — Die sozia-
listischen und konrniunistischen Ideen des aristophanischen Weiberstaates
haben vieles mit Piatons Republik Buch V gemein; aber davon, daß Ari-
stophanes sie aus Piaton entnommen und mit seiner Komödie eine Satire
auf den Staat des Piaton habe schreiben wollen, kann doch keine Rede
sein.^) Nicht nur fehlt jede Anzüglichkeit auf Philosophen, wiewohl der
Dichter, wenn derartige Lehren von einem Philosophen bereits aufgestellt
worden wären, sich schwerlich die Gelegenheit der Philosophenverspottung
hätte entgehen lassen;^) auch die Chronologie stimmt nicht: die uns er-
haltene Politeia des Piaton in zehn Büchern ist ohne Zweifel weit später
herausgegeben worden, und ob die angebliche ältere Ausgabe in zwei
Büchern in so frühe Zeit hinaufgerückt werden dürfe, ob diese über-
haupt etwas von der Weibergemeinschaft enthalten habe, ist in jeder
Beziehung zweifelhaft.*) Aber auch Piaton hat nicht etwa diesen Teil
seiner Staatskonstruktionen aus den Ekklesiazusen entnommen. Das Wahre
ist vielmehr, daß infolge der allgemeinen Verarmung der Bürger nach dem
peloponnesischen Krieg kommunistische Ideen, sicherlich von der Sophistik
längst theoretisch erörtert, mit neuer Kraft sich geltend machten*») und
daß diese zuerst von dem Komiker zu einem drolligen Schwank benutzt
und dann von dem Philosophen in eine ernstgemeinte Staatsutopie ver-
arbeitet und politisch-ethisch begründet worden sind.
232. In die Zeit zwischen Thesmophoriazusen und Frösche fallen der ver-
lorene erste ükovrog (408), der Tgiq)dXT]g (Gegenstand des Spottes die Un-
^) Ebenso auf Papyri von Stücken der NordiskTidskrift forfilologi 3.R. 11 (1902-3)
vEft 8. unten S. 416, 2. ; 49 ff. und E. Mbyer, GeBch. des Altert. IV 429
'^) Th. Bergk, Comment. p. 81 ; locuple- j vermitteln, indem sie denken, Ar. habe an
tissimus aiictor AHstophanes^ qui in Eccle- j mündliche Äußerungen Piatons über Eommu-
siazusis ipsam hanc doctrinam, quam Plato | nismus und Weiberemanzipation angeknüpft.
in Ulis lihris proposuit^ scite exagitat ipsum- Aber diese Ideen lagen im Zeitalter der So-
que eiiam PlcUonem ohscurato quidem nomine phistik in der Luft. Auch H. Radek, Piatons
(AoiaivlXfx; für ID.duov 6 lAotatwvo^) obiur- philos. Entw., Leipz. 1905, 197 f., weist eine
(/at. Ebenso A. Meineke, Eist. crit. com. I Bezugnahme des Aristoph. auf Piaton ab.
288. P. Brandt, Beitr. z. piaton. Lehre von ') Der Ausdruck qnhiooffog ^^^wns V. 571
den Seelenteilen, München-Gladbach 1890, 3 ff. beweist nichts dagegen.
Dagegen F. SusBMiHL, Die genet. Entwickl. der *) Vgl. J. Hirmer, Jahrbb. f. cl. Phil.
Plat. Phil. II 1, 296 ff.; H Dietzel, Über die , Phil. Suppl. 23 (1897) 655—660.
Ekklesiazusen des Aristophanes und die pla- *) Von der Weibergemeinschaft der Aga-
tonische Politeia, Ztschr. f. Litt. u. Gesch. d. ' thyrsen erzählt bereits Herodot IV 104. Daß
Staatsw. 1893 S. 373 ff.; E. Zeller, Arch. f. auch bei den Spartanern Umgang einer Frao
Gesch. d. Philos. 6 (1893) 146; 1). Comp ARETTi, mit mehreren Männern sehr verbreitet war,
Ateno e Roma 3 (1900) 73 ff.; 0. Immisch, N. j berichtet Xenophon de rep. Lac. I 7. Schon
Jahrbb. f. klass. Alt. 3 (1899) 452 ff.; R. Pohl- Euripides sagte im Protesilaos xotvöv yao
MANN ebenda 1 (1898) 31 ff. — G.R. Nielsen, I eivai XQW ywatxetov Xexog.
408 Oriechische Litteratnrgeschichte. L Elasaische Periode.
Sittlichkeit des nach Athen zurückgekehrten Alkibiades), die Arjjuviai^ in denen
der c. 410 nach Attika importierte Kult der thrakischen Bendis vorkam,
die ^olriaaai und ein Stück mit litterarästhetischer Kritik, ähnlich den
Fröschen, der rrjgvrddrjg^) Die Frösche (ßdtgaxoi), an den Lenäen
405 aufgeführt, wurden nicht bloß mit dem ersten Preis gekrönt, sondern
auch mit einem so außerordentlichen Beifall aufgenommen, daß sie zu
einer zweiten Aufführung kamen*) und der Dichter ihretwegen mit einem
Zweig des heiligen Ölbaums bekränzt wurde. 3) Den Stoff bot dem Aristo-
phanes und in merkwürdiger Übereinstimmung zugleich seinem Rivalen
Phrynichos der kurz zuvor eingetretene Tod der beiden großen Tragiker
Sophokles und Euripides. Die großen Dionysien standen bevor, und jeder
Theater fireund fragte sich besorgt, was jetzt aus dem dramatischen Agon
werden solle, da die großen Meister zu den Seligen gegangen seien und
nirgends ein Ersatz sich zeige. Da macht sich denn der Gott Dionysos
mit seinem Diener Xanthias auf den Weg, um den Euripides wieder aus
der Unterwelt heraufzuholen.*) Bei Herakles, der einst den Kerberos aus
dem Hades heraufgebracht hatte, holen sie sich Rat und steigen dann bei
dem melitischen Tor, wo Herakles einen Tempel hatte und sich auch ein
Begräbnisplatz befand, in die Unterwelt hinab. Nach der Fahrt über die
Styx tritt plötzlich eine Änderung der Szene ein; der Dichter versetzt
nun die Handlung in die Unterwelt.*) Nach allerlei Fährlichkeiten kommen
die beiden in der Behausung des Hades gerade zu der Zeit an, da zwischen
Aischylos, der bisher den tragischen Thron innegehabt hatte, und dem
neuangekommenen Euripides, der jetzt auf diesen Anspruch erhob, sich
ein Streit entsponnen hat. Sofort wird das Schiedsrichteramt dem Dio-
nysos zugewiesen, der zugleich den Sieger mit in die Oberwelt hinauf-
zunehmen verspricht. Der berühmte Streit, von Aristophanes nach sorg-
faltiger Disposition und mit feiner Komik durchgeführt,«) bildet für uns
die wichtigste Quelle des ästhetischen Urteils der Zeitgenossen über das
Verhältnis der großen Tragiker zueinander. Aristophanes steht natürlich
auf Seiten des Aischylos, des Vertreters der alten, ehrbaren Zeit; aber
^) Ein Papyrusfragment aus Oxyrhyn- j von den Toten hat auferstehen und in den
chos ist dem G. vielleicht zuzuweisen: 0. | Ta^iaoxoi den Dionysos auf die Suche nach
Crüsius, M^langes Weil 81 ff. \ einem guten Feldherrn ausgehen lassen, wor-
*) Arg. 1 : to df ögäfid t(ov ev .-rav?» >cai ] über A. Meinekk, Hist. crit. com. 126 f.
<fydoldyo)g :ienoirjfih<ov * Fdihdyßr) f.m KnlUm^ , *) Mit Vers 270 steigen Dionysos und
rov ftFia \irTtyFvtf diä *Pd(oridor ei^ Ar/vaia- Xanthias angeblich aus dem Kahn, der schwer-
3TQ(7noc: t)r, derregos ^orvi^fK Movoaig, IlXd- lieh sichtbar war. und treten durch eine Seiten-
TMv TOixiK KkeofpfovTi. ovT(o de i{>avftdoO*j t6 | tüF der Parodos aus dem Paraskenienraum
Aoäfta öin rifv h avuo nagdßaoiv {Öid xi^v ftg , in die Parodos ein, um sich dann nicht nach
Zitdov xardßaoiv coni. Weil), cootf. xal dvFdt- links zum Logeion, sondern nach rechts in
Sdxf>f}, dk f/tjot Atxaiaoxog. die Orchestra und zum Sitz des Dionysos-
*) Vit. Arist. 8, wo die Auszeichnung im be- | priesters (297) zu wenden,
sonderen auf die Partie rdv hodr yogov dixaior ' ®) In jenem Streit enthält das berühmte
,Tok/M xgrioxn xfj ndlfi ovfiminaivFTv xx),. sinnlose Füllstück von der Hauptcäsur des
(V. ^Hii) zurückgeführt wird. Spuren einer Trimeters an, hjxrOtor n.-T(olFOF\\ womit die
Dioi those versuchen nachzuweisen J. Stanokb Eintönigkeit der euripideischen Verse ver-
a. 0. 6 ff., Th. ZiELiNSKi a. 0. 150 ff., E. Graf, spottet wird, einen Anklang an den Paroden
Philol. 55 (1896) 312 ff. : Hegemon, von dem es in Paroem. gr. I 406
■*) In dieser Erfindung war dem Aristo- heißt: 'Hyyuoyr 6 Hdoios, d.idxF nagto^wv
phancs teilweise Eupolis vorausgegangen, der ! djiogtjofie, jigoaenOFi • xai xo jxFgdtxog oxekog.
in den .l/y/foi die großen Staatsmänner wieder
C. Drama. 8. Die Komödie, c) Aristophanes. (§ 283.) 409
SO schonungslos er auch die Erniedrigung der tragischen Kunst durch
Euripides geißelt, so läßt er doch auch dem Sophisten unter den Dichtem
Gerechtigkeit widerfahren, indem er schließlich sein Urteil über die Ver-
dienste beider in den schönen Vers (1413) zusammenfaßt: tov fjih yäo
^Yov/iiai aotpov, t(i> d' ijdo/uai, ein gesundes, subjektiv-ästhetisches Urteil
wie 1468 algi^oojuai ydg ^)V71£q t) y^vx^i '^ekei. Der Charakter des Dionysos,
der als Euripidesschwärmer in die Unterwelt gestiegen ist, kippt damit
freilich in bedenklicher Weise um. Noch größere Ehre erweist er aber
dem edlen, milden Charakter des Sophokles,^) der in seiner Bescheidenheit
gar keinen Anspruch auf den Thron erhoben hatte, von Aischylos aber
beim Weggehen zu seinem Stellvertreter eingesetzt wird. Jener Wett-
streit der Tragiker bildet den Mittelpunkt und für uns den hauptsäch-
lichsten Anziehungspunkt des Dramas; aber dem Umfang nach nimmt er
kaum die Hälfte der Dichtung ein. Aristophanes trug eben auch in dieser
Komödie dem Geschmack des gewöhnlichen Publikums Rechnung, wie
gleich in der Eingangsszene; hier erscheinen zwei köstliche Figuren, der
als Herakles mit Keule und Löwenfell bekleidete Weibergott Dionysos,
auf den zweifellos das Vorbild des kratineischen Dionysalexandros wirkte,
und sein auf dem Esel reitender und das Gepäck gleichwohl auf dem
Rücken tragender Diener Xanthias;^) ferner beim Eingang in die Unter-
welt, wo die Köchinnen ein Zetergeschrei über den vermeintlichen Viel-
fraß Herakles erheben und der finstere Unter welts Wächter Aiakos den
Dionysos und seinen Begleiter Spießruten laufen läßt; endlich am Schluß,
wo, um den Ernst des Streites zu verwischen, Pluton den Theatergott
und Theaterdichter zum Abschied bewirtet. Aber auch der politische Cha-
rakter der alten Komödie ist nicht ganz außer acht gelassen; er drückt
sich in zahbeichen derben Anspielungen aus, besonders aber in der auf
die Aussöhnung der Parteien bezüglichen Parabase (675 — 737), die beim
athenischen Theaterpublikum ganz besonders Gefallen fand und in bedeut-
samer Weise Stimmung machte für die im zweitfolgenden Jahr vom Volk
beschlossene Amnestie. Den Namen hat unsere Komödie nicht von dem
Chor der Eingeweihten (jivaxai)^ der diese Parabase vorträgt, sondern von
dem lustigeren Nebenchor der Frösche, die mit ihrem ßgexe^exki xoä^ xod^
die Überfahrt des Gottes über den See der Unterwelt begleiten.
233. Der Ilkovxog ist in der uns erhaltenen zweiten Fassung 388
aufgeführt worden, nachdem der erste Plutos bereits 408 über die Bühne
gegangen war. 8) Im Geist der mittleren Komödie ist hier an die Stelle
der persönlichen Persiflage eine allegorische Fabel vom Gott des Reichtums
getreten. Der Chor ist so gut wie ganz verschwunden; einen schwachen
^) In diesem findet I. Bhuns (Litterar.
Porträt 163 ff.) Porträtzüge, die dem Aisch.
und Eurip. fehlen.
*) Den Xanthias mit dem geteilten Ge-
päcksack stellt eine realistische Terrakotta
des Münchener Antiquariums nr. 113 vor.
^) Der erste Plutos wurde aufgeführt
Ol. 92, 4 nach Schol. Plut. 173; über die
Zeit des zweiten belehrt Arg. IV, wonach
] Mitbewerber waren Nixoxaotjg Atixcoaiv,
'AgiOTOfiFvrf^ M/iijTfp, Nixoffwv \4do)vi6i, Al-
xaXos IJaoKfdjj. Der erste Plutos war wahr-
scheinlich ganz verschieden ; s. Th. Kook zu
den Fragmenten desselben. L. Ludwig, Pluti
Aristoph. utram recensionem veteres gram-
matici dixerint priorem. Gommentationesphilol.
Jenens. 4 (1890) 61 ff.
410 Griechische litteratargeachichte. L EUsBische Periode.
Nachklang bildet die nach Motiven des Dithyrambus eingelegte Neckszene
zwischen der herbeigerufenen Schar der Armen und dem Sklaven Karion
(V. 288 — 321)^') aber auch diese bewegt sich in dem Geleise der gewöhn-
lichen Metra, des iambischen Trimeters und Tetrameters. Von der Politik
hält sich der Dichter ganz fern und führt nur einmal (V. 176) ganz neben-
bei einen Seitenhieb auf den Demagogen Ag3rrrliios, der damals das große
Wort in den Volksversammlungen führte. Dagegen gaben auch im Plutos,
wie in den kurz zuvor aufgeführten Ekklesiazusen, die sozialen Zustände
dem Dichter den StoflF an die Hand. Ein verarmter, biederer Bauer, Chre-
mylos, der sich auf Rat des Orakels dem Gefolge des blinden Plutos*) an-
geschlossen hatte, heilt mit seinem verschmitzten Sklaven Karion den Gott
von der Blindheit, indem er ihn im Asklepiostempel durch den köstlich
verspotteten Humbug der Inkubation kurieren läßt. Nun, nachdem der
Gott sieht, an wen er seine Gaben verteilt, kehrt sich die ganze Welt
um: die Gerechten schwimmen in Überfluß, die Sykophanten und alten
Huren kommen in Not, die Götter und ihre Priester sind um die fetten
Opfergaben gebracht. Zum Schluß wird der vergötterte Plutos auf der
Burg in dem Opisthodom der Göttin Athene aufgestellt, zum guten Zeichen
für die Stadt, damit es dem dort aufbewahrten Staatsschatz nie an Gold
und Geld fehle. Das alles ist recht lustig und mit feinem Verständnis
der sozialen Verhältnisse 3) dargestellt, aber ohne die jugendliche Keckheit
ausgelassenen Witzes. Wegen seines zahmen Charakters und der geschickt
durchgeführten Allegorie wurde das Stück im byzantinischen Mittelalter
besonders fleißig gelesen, so daß uns zu ihm die umfangreichsten Scholien^)
erhalten sind.
234. Nach dem zweiten Plutos hat Aristophanes nur noch zwei Ko-
mödien mit Mythenparodie, den Kojxakog und den Aloioaixcov durch seinen
Sohn Araros 388 aufführen lassen;*) jener behandelte denselben Stoflf wie
Sophokles in den KajtäxLoi scherzend und verwendete Motive, die dann in
der neuattischen Komödie stehend geworden sind {ävayvcoQiojuog und qrdoQd).
Vom Aiolosikon ist bezeugt,*) daß er keinen Chor hatte.') So leitet Ari-
stophanes mit seinen letzten Stücken selbst zur ueai] und vea hinüber.
Von anderen verlorenen Komödien, die nicht schon früher genannt worden
sind, seien hier noch erwähnt: die Nfjooi, in denen das Glück des Friedens
gepriesen war und von denen eine Stelle (fir. 1) Horaz in der zweiten
Epode auf die Freuden des Landlebens nachgeahmt hat; die 'Okxddegy in
') PauseDausfüIleDde Musikstücke müssen tretene Auffassung, daß .inurj und fkevdEou)
eingelegt gewesen sein vor V. 322, 627
und 958.
'') Das Motiv von der Blindheit des
untrennbar sind.
^) Ein Kommentar des Euphronios zum
Plutos ist erwähnt in dem Lexicon Messa-
Plutos ist alt (Hipponax fr. 90 Bok.; Timo- nense ed. H. Rabe, Rhein. Mus. 47 (1892)
creon fr. 8 in Th. Beroks PLG III* 540;
s. a. F. H. M. Blaydbs zu Plut. 90).
3) Sehr treffend setzt die Penia V. 507
bis 609 auseinander, wie nicht der Reichtum,
sondern sie, die Armut, die treibende Macht
im Staat sei, ohne die alles in träges
Schlaraffenleben verfallen würde. Hier lebt
die alte , von Herodot (s. o. S. 185, 2) ver-
411 fol. 283 r., 10.
*) A. Wilhelm, Jahresh. des östr. arch.
Inst. 10(1907)88.
«) Platonius p. 4, 24 K.
') Komische Chöre sind übrigens noch
für das 3. Jahrh. v. Chr. inschriftlich nach-
gewiesen (A. EöBTE, N. Jahrbb. f. klass. Altert
5, 1900, 81 ff.).
C. Drama. 3. Die Komödie, c) AriBtophanes.
234—285.)
411
denen Aristophanes gegen die Trabanten des Eleon zu Feld zog: die Agd-
juara fj Khnavgog und Agd/LKna fj Nioßog^ in denen der Handel des lophon
mit seinem Vater Sophokles vorgekommen sein soll;0 die Tayrjviorai und
der Tgiq)dXT]g, in denen Alkibiades und seine lustige Gesellschaft die Kosten
des Spieles tragen mußten; das Alter (rfjgag)^ worin die Greise nach Art
der Schlangen die alte Haut abgeworfen hatten und sich wie mutwillige
Jungen gebärdeten; die Hören, die Störche, die Danaiden, der Daidalos u. a.
236. Kunstcharakter. Die Kunst, die ein Komödiendichter in
erster Linie haben muß, die Kunst, seine Zuhörer und Leser zum Lachen
zu bringen, besaß Aristophanes in höchstem Maße. Über das ganze
Repertoire von Scherzen, Bummelwitzen (ßcojnoXoxia)^ Zoten, Verhöhnungen,
unerwarteten Ausgängen (jiagd ngoadoxiav\ Parodien, Anspielungen ver-
fügte er mit souveräner Herrschaft. Die Schwächen der menschlichen
Natur, insbesondere die Nacktheiten des Geschlechtstriebes bei Männern
und Frauen, hat er nicht minder wie die lächerlichen Auswüchse des
gesellschaftlichen und staatlichen Lebens, die Aufgeblasenheit der Empor-
kömmlinge, die noblen Passionen der adeligen Jünglinge, die Durchtrieben-
heit der Sklaven, den Humbug und Eigennutz der Wahrsager für seine
Stücke verwertet. In Erfindung lustiger und burlesker Szenen zeigt er
eine geradezu unerschöpfliche Originalität;*) auch da, wo der Ernst der
Situation und die Subtilität des Themas fröhliche Szenen auszuschließen
schien, hat er wenigstens zum Schluß durch irgend einen Aufzug oder
einen lustigen Schmaus dafür gesorgt, daß die Zuschauer nicht mit sauer-
töpfischer Miene nach Hause gingen. Aber so hoch auch seine witzige
Ader und derbe Natürlichkeit anzuschlagen sind, die Hauptsache waren
sie ihm nicht. Wie er selbst seinen Dichterberuf auffaßte, spricht er in
den apologetischen Parabasen seiner fünf ersten erhaltenen Stücke aus;
zusammenfassend beurteilt er sich selbst pac. 749 f.:
iTTOiTjoe zexy^iy /ueydXrjv rjjLUv xäjivgyfoa oixodo/u/joag
fjieaiv fieydXoig xai diavoiaig xal oxa>jujiiaoiv ovx äyogaioig.*)
Eine höhere sittliche Tendenz zieht sich durch alle seine Komödien: er
will das Gemeine und Verkehrte dadurch austreiben, daß er es lächerlich
macht; das horazische ridentem dicere verum steht ihm überall obenan;*)
ja er geht selbst hie und da über die Grenze des poetischen Spiels hinaus
und stellt mit sittlicher Entrüstung direkt ohne die Beihilfe des Lächer-
lichen die Gemeinheit von Sykophanten und politischen Gaunern an den
Pranger. Die Grundsätze, die er auf solche Weise durch seine Komödien
zur Geltung zu bringen sucht, betreffen teils die Politik, teils die Poesie
und die Erziehung, die damals vor allem durch die Poesie vermittelt wurde;
») Siehe oben S. 298 f. Wilamowitz, Ob-
seTv. crit. in com. graec, Berl. 1870 S. 11 ff.
bezieht hierauf das Scholion zu vesp. 60: fv
Totg jrgo loriov öfdiSayfisvoii: dodfiaoiv eh irjy
'Hoaxlmvc: dnXijoiim' noXXd jiQoeiotjxaij wo-
nach die Aodfiaxa vor den Wespen oder vor
422 aufgeführt worden seien.
=*) Th. Kock, Aristophanes als Dichter
und Politiker, Rh. Mus. 39 (1884) 118-140.
Siehe o. S. 382, 5.
') Seine Erhabenheit über die Bedienten-
sphäre der Meyaoixd oxdtfijuain ist freilich,
wenn man das Einzelne betrachtet, nicht so
unbedingt zuzugestehen, wie er es (auch nub.
537 ff.) verlangt.
*) Ach. 500: to yftg dlxaiov olde xai rgv-
yo)Öia. Siehe o. S. 383, 1.
412 Griechische Lüteratorgeschichte. L ElasBische Periode.
die bildende Kunst und ihre Künstler läßt er unberührt, wie sie auch die
öffentliche Meinung damals tief unter das Niveau der Poesie gestellt hat.
In der Politik neigt er, wie Kratinos und die meisten Dichter der attischen
Komödie, zur Friedens- und Ordnungspartei und vertritt den Standpunkt
der ehrenfesten dorisierenden Aristokratie. Nikias, Theramenes, Kritias
bleiben so gut wie ganz verschont,^) die Ochlokratie aber und das damit
verbundene Demagogentum des Kleon, Hyperbolos, Agyrrhios haben an ihm
den schneidigsten Gegner gefunden.*) In der Poesie zeigt er sich gleich-
falls als Freund der alten Zeit: Aischylos ist sein überschwenglich gepriesenes
Ideal,») die ganze Lauge seines Spottes ergießt er über die neumodische
Richtung des Euripides;*) von ihm, dem Lieblingsdichter der Jugend,
fürchtet er zumeist schlimmen Einfluß auf das Volk, ihn verfolgt er daher
über das Grab hinaus mit erbarmungslosem Spott. Mehr nur nebenbei
werden die Schnörkel des weichlichen Agathen und die ätherischen Tiraden
des Dithyrambendichters Kinesias verhöhnt. Seine Feindseligkeit gegen
Euripides hängt mit seiner Abneigung gegen die ganze Richtung der mo-
dernen Erziehung zusammen: das ethische Ideal des heroischen Über-
menschentums und seine erzieherischen Wirkungen, die alte Tatkraft,
Schlichtheit, Frömmigkeit will er unverkürzt erhalten, wenn er auch selbst
als Spaßmacher gelegentlich über die Göttermythen witzelt; von den Wort-
verdrehungen der Rhetorik, den Spekulationen und den Trugsätzen der
Sophistik befürchtet er den Ruin seines Vaterlandes. In seinem eigenen
Feld, der komischen Poesie, ist er, im Bewußtsein seiner Überlegenheit,
gegen seine Rivalen nichts weniger als rücksichtsvoll aufgetreten; dafür
hat Kratinos ihm den Spott über die ausfallenden Saiten seiner Leier
(eq. 531 — 6) im nächsten Jahr mit seiner „Flasche" gut heimgezahlt,
und Eupolis ihm den Vorwurf des litterarischen Diebstahls (nub. 554) in
seinen ßdjnai mit Bitterkeit zurückgegeben.*) Trefflich verstand es Ari-
stophanes mit seinem attischen Publikum: sowenig er sich scheut, ihm in
eigener Angelegenheit derbe Wahrheiten zu sagen, wenn er sich über
seinen Wankelmut*) und Mangel an feinerem Verständnis^) beschwert, so
weiß er es sich doch immer wieder durch Elogen^) warm zu halten. Ein
Meisterstück ist seine Charakteristik des Demos in den Rittern, der, im
ganzen auf den Typus des Bucco gearbeitet, sich doch schließlich klüger
zeigt als alle seine vermeintlichen Regenten (ähnlich ist Plat. apol. 30 e).
^) Nicht ebenso Alkibiades. Zwar wandte | 1864; W. H. van db Sande Bakhuyzbn s. o.
Arist. anf ihn in den Fröschen 1431 (vgl. Plat i S. 393, 1. Über nichtattische Ausdrücke in
Gorg. 483e; Plut. Ale. 16) den berühmten 1 den Parodien s. W. G. Rutherford, Zur Gesch.
Ausspruch des Aischylos an: ov ymj )Jovi(k ' d. Atticismus in Jahrb. f. Phil. Suppl. 13(1884)
oxvuror n' nolei rgetfEiv, P/r d* KxxfjFqjj Tis, 1 384 — 99.
To/V Tod.Tois i\it]Q€TFh\ aber herhalten mußte I *) Clemens Alex, ström. VI 752 F.: //Arirwv
er in dem Triphaies und den Tagenistai. 6 xtouixo^ xai \4oiOToqdyfjs fv ko Aaif^uXut
'^) vesp. 1043 lobt er sich selbst als
iÜF.^ixaxov Tf/s yiooas lijode xa{^aoTt)r^ einen
neuen Herakles (vgl. vesp. 1030; pac. 752).
^) P. Hennig, Aristophanis de Aeschyli
poesi iudicia, Lips. 1878. Siehe o. S. 382, 6.
*) W. RiBBEOK, Die dramatischen Paro-
dien, in der Ausgabe der Acharner, Leipz.
T« dXli'ikoyy rq (uoorvTfu.
«) eq. 518 ff^
') nub. 520 ff. vesp. 1043 ff., wo er sich
mit dem Beifall der 0070t tröstet, ähnlich
wie später Horaz und Lucian.
®) ds^iol, ofxpoi nennt er die OEaxai eq.
228. 233; nub. 521 f. 526. 575; ran. 676. 70a.
C. Drama. 8. Die Komödie, c) Aristophanes. (§ 236.) 413
Diese Grazie der Satirik hat die Alten wohl zu dem Urteil 0 bestimmt,
Aristophanes sei weniger TiixQÖg als Kratinos.
236. Die Originalität des Aristophanes in der Erfindung komischer
Motive können wir, da wir seine Vorgänger nicht genügend kennen, nicht
recht beurteilen. Daß er aber sehr vieles schon vorgefunden hat und nur
zu modifizieren und einzupassen brauchte, ist offenbar. In dem Aufbau
und der Ökonomie seiner Komödien will er sich (Frieden V. 748 flf.) hoch
über die desultorischen Possenreißereien älteren Stils erhoben haben, aber
die Kunst spannender Anlage und geschickter Verschlingung im vollen
Sinn haben doch erst, nach Ausscheidung des phantastischen Elements,
die Dichter der neuen Komödie ausgebildet. Am strengsten gebaut
ist von Aristophanes die Lysistrate. Die Anforderungen des Publikums
in Hinsicht der dramatischen Tektonik wurden durch die Leistungen
der Tragödie in dieser Beziehung gesteigert. Im 5. Jahrhundert legte man
aber den Hauptnachdruck noch auf die vis comica, mit welchen Mitteln
immer sie erreicht werden mochte. An einzelnen Stellen glaubt man
übrigens auch bei Aristophanes Einflüsse euripideischer Technik zu be-
merken, die nicht immer parodisch zu verstehen sind.*) Wo musikalische
Rücksichten mit in Frage kommen, finden wir bei ihm eine bemerkens-
werte Strenge des symmetrischen Baues, und zwar nicht bloß in lyrischen
Gesängen, sondern auch in parakatalogisch vorgetragenen, aus anapästi-
schen, trochäischen, iambischen Tetrametern bestehenden Partien. 3) Von
den beiden Bestandteilen des antiken Dramas weiß man nicht, welchen
man bei Aristophanes höher stellen soll, ob den leichtfließenden, spannen-
den Dialog oder die melodischen, wechselreichen, tiefste Empfindung, be-
sonders auch tiefes Naturgefühl ebenso wie schwungvollste Kraft atmenden
Chorgesänge. In der R^gel preist man die letzteren mehr, weil man so
etwas wie die aristophanische Parabase in anderen Litteraturen nicht
hat.*) Aber auch abgesehen von den Parabasen entwickelt Aristophanes
in den Chorpartien eine außerordentliche Kunst: weit inniger als bei den
Tragikern bleibt der Chor mit der Handlung und dem Spiel auf der Bühne
in Kontakt, weit mehr Leben entfaltet er in sich selbst dadurch, daß
er sich bald in Halbchöre und Reihen auflöst, bald alle einzelnen Choreuten
hintereinander zu Wort kommen läßt.*) Dem Dialog wie den Chorpartien
aber gibt einen besonderen Reiz die korrekte Schönheit des sprachlichen
Ausdrucks und der leichte Fluß der Verse. Die Sprache des aristophani-
schen Dialogs ist, soweit nicht in Paratragodien, Vulgarismen und Dialek-
tizismen besondere komische Wirkungen gesucht werden, die gebildete
attische Umgangssprache damaliger Zeit. Bei den Grammatikern galt er
als Muster des reinen Attikismos, den er, frei von den Fesseln eines tra-
^) Stellen bei G. Kaibel, Realenz. II 984. ! Gabel und dem Romantischen Oedipus und im
*) Prolog eq. 40 fF.; nub. 42 ff.; vesp. engeren Anschluß an Aristophanes J.Richter
54 ff.; pac. 50 ff.; Eccl. 1 ff.; Erzählung hypo- in den7:rc<7, Koxxvysg, Xe/.id6ves. Siehe auch
skenischer Vorgänge eq. 624 ff.; Plut. 653 ff. E. Stemplinger, B1. f. bayr. Gymn. 42 (1906)
') Vieles der Art ist erst in unserer 369 ff. über Aristophanesnachahmungen, be-
Zeit erkannt worden, worüber W. Chbist,
Metrik^ Leipz. 1879, 602 ff.
*) Nachahmungen versuchten in neuerer
Zeit A. V. Platen in der Verhängnisvollen
sonders die von Prutz.
*) R. Abnoldt, Die Chorpartien bei Ari-
stophanes scenisch erläutert, Leipz. 1873.
414 GhieohiBche Litteraturgesohiohte. L KlassiBche Periode.
ditionellen Stils in allen gesellschaftliehen Schichten .des attischen ßioq sich
bewegend, vollständiger als die Tragiker zum Ausdruck bringen konnte.
In der Verstechnik bildet er einerseits durch den freien Bau des Trimeters
die Lässigkeit der Umgangssprache nach und erhebt sich anderseits durch
die befiederten Anapäste und energischen Päonen zu kühnem Flug.^ Die
Kola der lyrischen Gesänge gehen alle leicht ins Gehör, so da& wir auch
nach dem Verlust der Melodien doch wenigstens ihre rhythmische Schön-
heit fühlen. Die Natur der altattischen Komödie bringt es mit sich, dafi
die Jugend an unseren humanistischen Gymnasien nicht vollständig mit
der aristophanischen Muse vertraut gemacht werden kann; aber Griechen-
land und Athen kennt nicht, wer nicht diesen ungezogenen Liebling der
Grazien gelesen hat.^)
Die Schollen zu Flut nab. ran. pac. av. reichhaltig, zu Lys. Thesm. Eccl. ganz spftr-
lich, bestehen in vjto&foeig, vjiofivtjfmxa und metrischen Analysen. Die ersten, in verschie-
denen Fassungen auf uns gekommen, gehen auf AristophanesByz., der die erste kritische
Ausgabe des Ar. mit Einteilung der W^rischen Partien m Kola gemacht (Schol. Ar. av. 1342;
Thesm. 162. 917; ran. 153. 1204) und Dikaiarchos jifqI ^ovoixwv nytovwv benützt hat, zurtkck.
J. N. Gböbl, Die ältesten Hypotheseis zu Aristophanes, Progr. Dillingen 1890. Die metrischen
Analysen rtthren von dem Metriker Heliodoros her. C. Thibmann, Heliodori colometriae
Aristophaneae quantum superest, Halle 1869. — An der Exegese und Kritik beteiligten sich
indirekt Er a tost hen es (jiroi dgxaia<: x(ofi<i}d{ag) und Lykophron (.t. xcuf«rjt>dmg), direkt be-
sonders Euphronios (auch Kommentator des Kratinos, Phrynichos und Metagenes ; s. o. S. 41 0, 4).
Aristophanes Byz. und dessen Schüler Kallistratos, femer Aristarchos (L. Cohn,
Realenz. 11 873), Timachidas, Didymos und die Pergamener Herodikos und Askle-
piades.') Die Redaktion der alten Scholien erfolgte durch Phaeinos (diesen rückt Wila-
MowiTZ, Eurip. Herakl. P 181 schwerlich richtig in byzantinische Zeit) und Symmachos nach
der Subscriptio zu nub. u. pac. Symmachos, auf den die erhaltenen älteren vjia&iong und
Scholien zu Aristophanes zurückzugehen scheinen (A. Köbte, Herrn. 39, 1904, 494 ff.), lebt um
100 n. Chr., s. Wilamowitz, Eur. Herakl. I* 179 f. Auf einen zusammenhängenden Kom-
mentar weist z. B. Schol. ran. 1159. Vgl. 0. Sghkeideb, Commentat de veterum in Aristoph.
scholiorum fontibus, Stralsund 1838; K. Zacheb, Die Hss. und Klassen der Aristophanesscholien,
Jahrb. f. Phil. Suppl. 16 (1888) 503 ff. u. PhUol. 41 (1882) 11 ff.; C. Stbeokeb, De Lycophrone
Euphronio Eratosthene comicorum interpretibus, Greifsw. 1884; G. Stein, Schol. in Anstoph.
Lysistr., Gott. 1891, mit Quellenuntersuchung in Prol. I— XXH; W. Meinbbs. Quaest. ad
scholia Aristoph. historica pert., Diss. Hall. 11 (1890) 219 ff.; C. B. Gttlick. De schol. Aristoph.
quaest. mythicae, Harvard Stud. 5 (1894) 83 ff. — Manche der alten Scholien sind besser bei
Suidas erhalten, worüber G. Büngeb, De Arist. apud Suidam rell., in Diss. Argent. 1 (1879) 149 ff.
— Aus dem Mittelalter besitzen wir Prolegomena zu Aristoph. von Tzetzes, welcher Plut.
nub. ran. av. kommentierte, publiziert aus Cod. Ambros. 222 von H. Keil, Rh. Mus. 6 (1848)
108 ff. 243 ff.; F. Ritschl. Op. 1 praef. p. XI u. 197 ff.; A. Naück, Lex. Vind., Petersb. 1867,
233 ff. Außerdem haben wir verwässerte Scholien von Thomas Magister und Triklinios.
— Gesamtausgabe der Scholien von W. Dindobf, Ox. 1819; 3 vol.; F. Dübneb, Par. 1843;
Ausgabe der Scholien des Ravennas von W. G. Ruthebfobd, London 1896, gegen den A.
RöMEB (Studien zu Aristophanes. Leipz. 1902) den größeren Wert der Scholien des Venetus,
zunächst für vesp., erweist, was übrigens schon K. Zacheb, Philol. Suppl. 7 (1899) 498 ff.
getan hatte; A. Mabtin, Les scolies du manuscrit d'Aristophane ä Ravenne, Paris 1882, wozu
ergänzende Berichtigungen von R. Scholl, Bayr. Ak. Sitz.ber. 1889 II 39—46. — Übersicht
der Textgeschichte Wilamowitz, Eurip. Herakl. P 179 ff.
Codices (annähernd vollständiges Verzeichnis von J. W. White, The manuscripts of
Ar. I. Chicago 1906 = Classical philology 1 1): Ravennas 137 s. XI mit minderwertigen Scholien
(photographiert in Codices Gr. et Lat. photogr. depicti duce Scatone de Vries t. IX, Leiden
1904); Venetus 474 s. XII ohne Ach. Eccl. Thesm. Lys.. mit vollständigeren Scholien. Zur ge-
') Nach Aristophanes ist von den Metri- \ rjhjov *Aoioio(fdroV';. Th. Bergk nennt, unter
kern der anapästische Tetrameter benannt. dem Einfluß romantischen Geschmacks,
') So nennt Goethe den Aristophanes im I die ältere attische Komödie den Höhepunkt
Epilog der Vögel. Werke 17 (Weimar 1894) 114, der griechischen Poesie,
nach dem Distichon des Philosophen Piaton *) Nicht der Myrleaner: B. A. Mülleb,
( 01}Tnpiodor. vit. Plat. 3): ai Kdoireg tefis^'d; i De Asclep. Myrl. 47.
ti Xaßelv, ojTso ov^i JieoFirai, ^rjzovoai V'^'ZV*' i
C, Drama. 8. Die Komödie, d) Mittlere Komödie. (§ 237.) 415
ringeren Klasse gehören Paris. 2712 s. XIII (A); Laor. 31, 15 8.Xiy (F), wozu die Ergänzung
der Leidensis 9 bildet; Vaücano-Urbinas 141 s. XIV {U) mit beachtenswerten Scholien des
Tzetzes; Ambros. L 39 s. XIV (A/). Ein paar Papymsblätter aus dem Altertum. Verse der
Vögel enthaltend, sind publiziert von H. Weil, Rey. de phil. 6 (1882) 179. Weitere Aristo-
phanespapyriW.CBÖKKBT, Archiv f.Papyrusf. 1 (1901)511 ff.; 2(1903)356; Berliner Klassiker-
texte V 2, 99 ff. — Überladener kritischer Apparat in den Sonderausgaben von F. H. M.
Blaydbs und Ad. vonVelsbk's. unten. Über die Klassifikation der Scholienhandschriften
K. Zachsb, Jahrbb. f. Phil. Suppl. 16 (1888) 503 ff. und Jahresb. über d. Fortschr. d. Alt. 71
(1892) 1-128.
Ausgaben: ed. princ. Aid. Venet. 1498 ohne Lys. Thesm., besorgt von M. Musübos;
die elf Stücke vereint Bas. 1532. — Ausgabe mit Kommentar von L. Küstbb. Amstel. 1710 f.
(mit Emendationen R. Bbntlbys) ; St. Bebolbbs Ausg. mit vorzüglichem Kommentar, besorgt
von P. BüBMANN d. J., 2 voll, Leiden 1760; von R. F. Ph. Bbükok, Argent. 1781—83; von
Ph. Invebkizzi, fortgesetzt von Bd. El an durch Chb. D. Bbok, von VII an durch W. Dnr-
DOBF, Lips. 1794— 1834, 13 vol.; von F. H. M. Blaydbs, Hai. 1880-1893 mit Conspectus
codicum et praecipuarum editionum; die einzelnen fabulae annotatione criüca et exegetica
instructae, cum prolegomenis et conmientarüs ed. J. van Leeuwbn, Leiden, seit 1893 einzeln
erscheinend, 19(>6 mit der Ausg. der Eigfjvrj abgeschlossen. — Ausgabe mit kritischem
Apparat begonnen von A. v. Velsen, Leipz. 1869—83 (eq. ran. Plut. Eccl. Thesm.), deren Fort-
setzung von dem 1907 verstorbenen K. Zaghbb erwartet wurde (editio altera der Ritter von
Zacheb erschienen 1897; angekündigt seit 1907 von dems. eine Ausg. des Friedens). —
Ausgewählte Komödien (Wolken, Ritter, Frösche, Vögel) mit erklärendem Kommentar von
Th. Kook, bei Weidmann seit 1852, wiederholt aufgelegt (zuletzt Frösche, 4. Aufl., Berl. 1898).
— Acham. ed. P. Elmsley, Oxf. 1809. 2. Aufl., Lips. 1830; von Alb. Mülleb, Hann. 1863;
von F. M. H. Blatdes, Halle 1887; von W. Ribbeok, griech. u. deutsch, Leipz. 1864. — Ritter
von W. Ribbeok, griech. u. deutsch. Berlin 1867. — Wolken von F. A. Wolf mit metrischer
Übersetzung, Berlin 1812; von G. Hebmann, Lips. 1830; von W. S. Teuffel-0. Kähleb. Leipz.
(1867) 1887. — Frieden recogn. et adnot. H. van Hebwebden, 2 partes, Lugd. Bat. 1897. —
Ran. emend. et interpr. V. Fbitzsche, Turici 1845. — Wespen und Frieden von J. Richteb,
Berl. 1858. 1860; Wespen von Blaydbs, Halle 1892—3. Kommentar zu den Wespen an der
Hand der Scholia Veneta A. Römeb, Studien zu Aristoph. I, Leipz. 1902, 62 ff.
Erläuterungsschriften: C. Beeb, Über die Zahl der Schauspieler bei Aristoph.,
Leipz. 1844; E. Dboysen, Quaestiones de Aristoph. re scaenica, Bonn 1868; J. H. M. Niejahb,
Quaest Aristophaneae scaenicae, Greifswald 1877; Chb. Muff, Über den Vortrag der chorischen
Partien bei Arist., Halle 1872; besser R. Abnoldt, Die Chorpartien bei Arist., scenisch er-
läutert, Leipz. 1873 ; P. Mazon, Essai sur la composition des com^dies d* Aristophane, Thdse,
Paris 1904 (gegen Th. Ziblinskis starren Schematismus). — J. van Leeuwen, Prolegomena
ad Aristophanem, Leiden 1908. — Übersetzung mit Erläuterungen von J. G. Dboysen, Berlin
1835 ff. (1869), wohlfeilere Ausgabe Leipz. 1871 ; besser von Ludw. Sebgeb, 3 Bde., Frankf.
1845 — 48. — Ein Lexikon wird vorbereitet von E. Wüst in München; bis jetzt gibt es
nur ein Wortindex von J. Cabavblla, Index Aristophanicus , Oxf. 1822; dazu H. Jagobi,
Comicae dictionis index in A. Meinekes Fr. com. Gr.V 129 ff. (1857) und H. Dunbab, A com-
plete concordance to the comedies and fragments of Ar., Oxford 1883. — C. Hille, Die
deutsche Komödie unter der Einwirkung des Ar., Leipzig 1907.
d) Mittlere Komödie. 0
237. Der alten Komödie wurde seit Eintritt der politischen und reli-
giösen Reaktion nach dem peloponnesischen Krieg in doppelter Weise der
Boden entzogen. Der empfindlich gewordene Staat ertrug die freche und
zügellose Kritik seiner Einrichtungen nicht mehr, wie Horaz (Ars poet. 284)
von dem Chor der Komödie sagt: turpiter obticuit sublato iure nocendL^)
*) W. H. Graubbt, De mediae Grae-
corum comoediae natura et forma, Rh. Mus.
2 (1828) 50 ff. 499 ff.; 0. Ribbeck, Über
die mittlere und neuere attische Komödie,
Leipzig 1857. In den Kanon aufgenommen
NEBT, Canonesne po^tar. scriptor. artific. per
antiquitatem fuerunt, Diss. Königsberg 1897
p. 6. 12.
') Den Unwillen über die Ausschreitungen
der politischen Redefreiheit der Komiker spricht
waren von den Dichtem der mittleren Ko- i Isokrates de pace 14 (vgl. ad Nicocl. 44) aus,
mödie Anüphanes und Stephanos (nach Cod.
Bodl.: Antiphanes und Alexis), von denen
der neuen Phileraon, Menandros, Diphilos,
Philippides, Foseidippos, Apollodoros. O.Kböh-
den über die persönlichen Verunglimpfungen
Flaton in der Apologie. Vgl. besonders Plat
leg. XI 985 e, wo sich die Anschauung von
der komischen jtoQQijaia ausspricht, die dann
416
Griechische Litteraturgeflchichte. L Elassische Periode.
Das Recht des Spottes ließ sich zwar die Komödie so rasch nicht nehmen;
sie rieb sich an Dichtem, Musikern und anderen Privatpersonen, seit sie
die Beamten aus dem Spiel lassen mußte; aber ihr Einfluß war damit
stark eingeschränkt; sie war nun kein Faktor des politischen Lebens mehr,
sondern nur noch ein Mittel erheiternder Unterhaltung. In derselben
Richtung wurde die Entwicklung der Komödie beeinflußt durch die Ver-
armung der attischen Bürgerschaft seit der Niederlage Athens, i) Eine
Erleichterung in den liturgischen Leistungen schien geboten, und an der
Komödie fing man zu sparen an, indem man die komische Choregie ab-
schaffte,^) um so lieber als damit die lästige Parabase zugleich beseitigt
wurde. Das Ausfallen des groteskesten und phantastischsten Elements aus
der Komödie mußte eine Zügelung ihrer gesamten technischen Anlage zur
Folge haben und sie formell in die Bahn der Tragödientechnik treiben,
materiell dem Geist der humoristisch-parodistischen dorischen Komödie nahe
bringen. Mit der Reduktion bezw. Abschaffung des Chors hängt, wie oben
S. 375 bemerkt wurde, eine Veränderung in der baulichen Anlage des
Theaters zusammen: die Einrichtung einer erhöhten Bühne für die dycoveg
oxrivixoi^ während die &yo)veq &vjbi€kixoi der Rezitatoren, Musiker u. a. in
die Orchestra {&v/uXr]) verlegt wurden.*)
238. Die neue Richtung der Komödie, die durch das Fehlen der
persönlichen Satire und durch kunstvolle Ausbildung einer zusammen-
hängenden Fabel gekennzeichnet wird, hat sich allmählich Bahn gebrochen;
ein scharfer Schnitt zwischen den Entwicklungsgruppen läßt sich nicht
machen; Motive der ägxaia hören nicht auf in der /ueorj und via weiter-
zu wirken.*) Die älteren griechischen Grammatiker unterscheiden nur alte
im römischen Staat die herrschende geworden
ist (Cic. de rep. IV 11 f. veteribus displicuisse
Romanis vel laudari quem quam in scaena
vivum hominem vel vituperari),
*) Die beiden Ursachen, die zum Unter-
gang der altattischen Komödie geführt haben,
hebt Vit. Aristoph. § 10 hervor.
') Schol. Arist. ran. 404: XQ^^H^ ^* ^»*^
-ToX^o) voxEoov xai xa^ojia^ ttfoifiXe Ktvrjoiac:
(den darum der Komiker Strattis fr. 15 K.
XOQoxtovos nennt) ras x^Q'D'^^^'i Traktat de
com. p. 18 zu Z. 30 KaiBEL x^Q^*^' eoTegr^tai,
ojieQ xfjq VFeoTf'gag vnijQXf xo)fio)6Uig\ ebenso
Platonios de com. p. 5. 60 Kaibel; Horat. a.
p. 284. Nach Vita Aristoph. § 11 fand sich
auch in den Stücken der neuen Komödie die
Überschrift Xoqov^ wofür jetzt der Papyrus aus
Ghorfln s. III./II. v. Chr. ed. P. Joüoüet, Bull,
de corr. hell. 30 (1906) 149 und der Menander-
codex aus Köm Ishkaou (Fragments d'un
manuscr. de Menandre ed. G. Lefebybe, Kairo
1907 p. 47. 163. 169) die Bestätigung bringt
zur Bezeichnung der Stelle, wo entweder ein
beliebiges Gesangstück oder ein Zwischen-
spiel des Flötenbläsers (Plaut. Pseud. 573)
einzulegen war. Einen Chor bei den länd-
lichen Dionysien erwähnt noch Aischines in
Tim. 157.
*) Nach Vitruv. V 7, 2 war die , griechi-
sche Bühne", d. i. die spätere, damals allein
bekannte hellenistische Bühne 10 — 12 Fuß
hoch und bildete ein langgestrecktes Rechteck,
dessen Tiefe und Länge im Verhältnis von
1 : 12 standen. Diesen Konstruktionsangaben
entsprechen nach Christ genau dieVerhältm'sse
des neuerdings ausgegrabenen Theaters des
Polykletos in Epidauros, das die Musterform
für die Bühnen der hellenistischen Zeit gebildet
hat und in seinem uns vorliegenden Ausbau
(Dörpfeld-Reisch, Griech. Theater 132 f.) für
das chorlose Drama nach Alexandros, ins-
besondere für die neue Komödie bestimmt
war: W. Christ, Das Theater des Polyklet
in Epidauros in seiner litterar- und kunst-
historischen Bedeutung, Bayr. Ak. Sitz.ber.
1894, I 1 if., dem E. Bethe, Prolegomena
zur Gesch. des Theaters (1896) Kap. XII, Das
hellenistische Theater, beistimmt. Dagegen
halten E. Capps, The chorus in the later
greek drama. Amer. joum. of arch. 10 (1895)
p. 287 ff. und A. Körte. N. Jahrb. 5 (1900) 81 ff.
an der Ansicht W. Dörpfelds fest, daß das
Drama nicht auf, sondern vor dem Proskenion
auf ebener Erde gespielt worden sei. Über
die Beibehaltung des rhalloskostüms für den
Chor bis Mitte des 4. Jahrh. A. Körte, Jahrb.
des arch. Inst. 8 (1893) 71.
*) F. Leo, Plautin. Forschungen 123 ff.
C. Drama. 3. Die Komödie, d) Mittlere Komödie, (§§ 288—289.)
417
(dgx<^^) und neue (via oder xain^) Komödie, i) spätere schieben eine Über-
gangsstufe, die mittlere (juearj) Komödie, ein und bemerken von mehreren
Stücken der alten Komiker, wie von dem Plutos des Aristophanes und
den Odysses des Kratinos, daß sie im Stil der mittleren oder neuen Ko-
mödie gedichtet seien. ^) Als Eigentümlichkeit der mittleren Komödie be-
zeichnen sie die versteckte Anspielung und die Vorliebe für Parodie und
Verspottung der Philosophen,*) Dichter und Mythen, Dinge, die freilich
auch in Komödien des 5. Jahrhunderts sich schon finden, während die neue
auf feine Zeichnung der Charaktere und Erfindung kunstvoll verschlungener
Handlungen den Nachdruck gelegt habe.^) Beiden gemeinsam war das
Fehlen von Chorgesängen und die Einfachheit der metrischen Form. Der
fast zur ausschließlichen Herrschaft gelangte Vers war der iambische
Trimeter; daneben trat an erregteren Stellen der trochäische Tetrameter
ein; außerdem fanden anapästische Dimeter oder Systeme in den Gesangs-
partien, namentlich der mittleren Komödie, ihre SteDe.*) In der Prosodie
und dem Sprachgebrauch merken die Grammatiker manche Abweichungen
von den strengeren Regeln der alten Komödie an.**) Der Zeit nach setzte
man die mittlere Komödie zwischen den peloponnesischen Krieg und den
Regierungsantritt des Alexandres (406 — 336), die neue unter Alexandres
und die Diadochen (von 336 an).
239. Zur alten Komödie zählten die Grammatiker noch mehrere
Dichter, die nach ihrer Lebenszeit und der Richtung ihrer Poesie der
mittleren näher standen, Strattis, Theopompos, Alkaios, Nikochares. Von
Strattis zählt Suidas sechzehn Stücke auf; mehrere von ihnen, wie Mrideia^
TgcolXog, ^oivioaai^ Xgvaumog^ waren offenbar parodischer Natur; sein Ki-
vrjoiag war gegen die bekannte Klappergestalt des Dithyrambendichters
Kinesias gerichtet; die Maxedöveg f) Ilavoaviag berührten den Aufenthalt
^) W. FiBLiTz, De Atticoram comoe- !
dia bipartita, Bonn 1866. Die Unterscheidung
von dg/aia und xaivt/ xcofifpdia findet sich
schon bei Aristoteles eth. Nie. p. 1128a 22.
Der Name fiioij läßt sich erst bei Schrift-
stellern nach Hadrian nachweisen, geht aber
doch wohl in frühere Zeit zurück: die Zwei-
teilung weist den Pergamenem, die Drei-
teilung, die schon Hör. sat. I 3, 11 f. anzu-
deuten scheint, den Alexandrinern zu G. Kai-
BEL, Zur att. Korn., Herrn. 24 (1889) 56 ff.
WiLAMowiTz, Eurip. Herakl. P 134 meint,
(.äorj bezeichne zunächst einen Art-, nicht
einen chronologischen Unterschied. Siehe a.
F. SusEMiHL, Alex. Litt. I 426, 88.
'*) Platonios de com. p. 4, 31 ff. K. : to<-
ovxog BOJLV 6 rfjg (tiorjg xcofifpdiag rvjroff, oTog
ioTiy 6 Aio/.ooixcov 'AQiaToq:dvovg xai ol tWva-
ö^^ Koaiivov xai jriETora x&v ztisXaitbv bqa-
/iidtcoy, OVIS yooixa ovxe jragaßdasig' i^^*^^'
^) Insbesondere die durch ihr Auftreten
auffälligen Pythagoreer und Kyniker (Wila-
MowiTz, De tribus carminib. tat. Ind. lect.,
Gott. 1893/94 p. 16) müssen herhalten.
*) Die Erfindung einer solchen Handlung
Uandbach der klass. Altertumswisaeiischait VII.
gehört zum nXdo^ia^ daher Anon. de com. p. 18
zu Z. 30 K. : 6 IJXovzog vscoTeglCet xatd x6
jtXdofia' Ttjv TS ydg xmd&eoiv ovx dXf}{Hj leyei.
Die Lateiner nannten eine solche erfundene
Handlung argumentum im Gegensatz zu
fabula.
*) Die gesungenen Teile sind Monodien
und Duette; außer Trochäen und Anapästen
kommen vor Kretiker bei Eubul. fr. 112 K.,
Anaxil. fr. 12 K.; Eupolidei versus, die dem
Diphilos und Menandros der lateinische Me-
triker Marius Yictorinus p. 104, 5 und 110,
21 E. zuschreibt, sind nachgewiesen von
A. Mehybke I 300 und 442 f. Ithyphallici
gebrauchte Menandros im 0dofjia nach Cae-
sius Bassus p. 255, 10. Noch mannigfaltiger
müssen die Metra, nach der lateinischen Be-
arbeitung des Plautus im Stichus zu schließen,
in den AdeXfpoi a des Menandros gewesen
sein. Übrigens stammt die Polymetrie der
plautinischen Komödie nicht sowohl aus der
vjfa, als aus der hellenistischen Gesangsposse
(F. Leo, Abb. der Gott. Ges. der Wiss. N. F.
1, 1897, nr. 7).
«) A. Mkinbke I 294 ff.
6. Anfl. ZI
418 Griechische Litteratargeschichte. L ElassiBche Periode.
des Agathon und seines Freundes Pausanias am Hof des makedonischen
Königs Arehelaos. — Theopompos schrieb nach Suidas vierundzwanzig,
nach dem Anon. de com. (p. 10 Kaibel) siebzehn Komödien; eine von ihnen,
Elgijvrj, scheint, nach dem gleichnamigen Stück des Aristophanes zu ur-
teilen, politischer Natur gewesen zu sein, ebenso wie seine Stratiotides
an die Ekklesiazusen des Aristophanes erinnern. Aus dem 'Hdvxdgrjg ist
uns eine Anspielung auf den Phaidon des Piaton erhalten.
Die mittlere Komödie zählte nach dem Anon. de com. (p. 9, 53 K.)
57 Dichter und 607 Dramen ;i) nur die namhaftesten sollen kurz be-
sprochen werden. Antiphanes von fremder Herkunft*) soll auf Antrag
des Demosthenes das athenische Bürgerrecht erhalten haben. Als Komödien-
dichter trat er (Anon. de com. p. 9, 55 K.) nach der 98. Olympiade
(388 — 5) auf. 8) Der fruchtbarste unter diesen Dichtern, schrieb er 260,
nach andern sogar 365 Komödien, mit denen er aber nur dreizehn Siege
(acht bei den Lenäen: A. Wilhelm, Urk. 123) davontrug. Wir haben Titel
und Fragmente von 140 unbezweifelten Stücken, die sich besonders in der
Schilderung von Gourmandise und Gastereien nach Art der dorischen Posse
ergehen, aber auch viele hübsche Sentenzen enthalten. Die Kunst ver-
erbte sich auf seinen Sohn Stephanos. — Anaxandrides aus Kamiros
auf Rhodos, geboren c. 400, errang nach der parischen Chronik (ep. 70)
im Jahr 376 einen Sieg in Athen und beteiligte sich im Jahr 348 an den
Festspielen, die König Philippos nach der Einnahme von Olynthos ver-
anstaltete.*) Eine hübsche Schilderung seiner Persönlichkeit hat aus
dem Werk des Chamaileon jugi xcoficodlag Athenaios p. 374 aufbewahrt.
Danach war er ein schöner, großer Mann, der die natürliche Schönheit
seiner Figur noch durch langes Haar und purpurnes Gewand mit goldenem
Saum zu heben wußte; dabei war er aber so heftigen und hochfahrenden
Sinns, daß, wenn er mit einer Komödie durchfiel, er sie nicht umarbeitete.
») Noch mehr Stücke (über 800) nimmt
Ath. 336 d an. Analogien aus neuerer Zeit
für die Fruchtbarkeit dieser Dichter bieten
Scribe mit über 400 und Lope de Vega mit
c. 1500 Stücken. 39 Dichtemamen sind
erhalten und aufgezählt von A. Meineke I
303. Neue Namen von Dichtem lehren uns
die neuaufgefundenen didaskalischen Ver-
zeichnisse CIA II 971—7 kennen. Im Alter-
tum schrieb Antiochos aus Alexandria Tiegl
xa>v ev xfj fieof^ x(Ofji(p6iq. xcDfiqidovfisvcov ttoitj-
jwv. Siehe Ath. 482 c.
*) Nach Stephanos Byz. aus Berga in
Pisidien, was aber vielleicht auf Verwechse-
lung mit dem Paradoxographen Antiphanes
beruht. Andere Notizen Suid. s. v.
') Die Schwierigkeiten in den chrono-
läßt. Über die Überlieferung der Zahl seiner
Stücke S. Mbkleb, Festschr. f. Vahlen 1900.
33. Sehr wahrscheinlich ist A. Wilhelms
(Urk. 55 ff.) Annahme, mit dem älteren Ant.
sei, was Lebenszeit und Zahl der Stücke be-
trifft, ein jüngerer Ant., Sohn des Panaitios,
komischer Dichter und Schauspieler aus dem
Anfang des 3. Jahrh. zusammengeworfen
worden. Unter dieser Voraussetzung können
die biographischen Angaben bei Suid. und
Anon. de com. über den älteren Ant. (geb.
408—5, erstes Auftreten nach 385, Tod 334
bis 331) bestehen bleiben. Neue Fragmente:
aus *Avi>o(o:ioyo%'ia Oxyrhynch. pap. III nr. 427
(F. BLASS, Arch. f. Papyr. 3, 1906, 277); aus
nagexbibofAevt) A. LuDWiCH, Berl. phil. W.schr.
23 (1903) 94 ff. — Seine 'Aluvo/ahri setzt R.
logischen Angaben löst E. Capps, Greek tra- ' J. Th. Wagner, Symb. ad com. Gr. bist, crit.,
gic and comic poets, Amer. joum. of phil. 21 I Leipz. 1905, 24 f. kurz nach 345
(1900) 54 ff., 80, daß er den Dichter Ol. 98 ge-
boren sein, Ol. 103 (c. 367, über welches Jahr
allerdings keines der erhaltenen Stücke hin-
♦) Mit seiner Beliebtheit am makedoni-
schen Hofe hängt vielleicht auch seine häu-
fige Berücksichtigung bei Aristoteles (rhet.
aufweist) den ersten Sieg gewinnen und 74 III 10. 11, 12; eth. Nie. VII 11) zusammen.
Jahre alt zwischen 314/3 und 311/10 sterben i Siehe auch F. Jacoby, Marm. Par. 186 f.
G. Drama. 8. Die Komödie, d) Mittlere Komödie. (§ 239.)
419
sondern als Makulatur zum Einwickeln verkaufte. Er siegte nur zehnmal
(dreimal bei den Lenäen: A. Wilhelm, ürk. 126), hinterließ aber 65 Stücke.
Aufführungen solcher Stücke, mit denen er zwischen 382 und 345 bei
den städtischen Dionysien und Lenäen der zweite, dritte, vierte und fünfte
wurde, verzeichnet eine römische Inschrift».) Aus seinen IToXeig haben wir
«in hübsches Fragment über die Verschiedenheit der griechischen und
ägyptischen Sitte, wobei auch das Schweinefleisch, das der Ägypter nicht ißt,
während es dem Griechen als Leckerbissen gilt, eine Rolle spielt. In einer
lyrischen Stelle des Protesilaos verspottet er mit feiner Ironie die kolossalen
Zurüstungen bei der Hochzeitsfeier des athenischen Feldherrn Iphikrates
mit der Tochter des Thrakerkönigs Kotys. Neben Komödien dichtete er
auch Dithyramben.*) — Alexis (Ol. 97 — 123), Sohn des Alexis, stammte
aus Thurioi in Unteritalien; vermutlich war aber schon sein Vater infolge
der Einnahme der griechischen Kolonie durch die Lucaner (390) nach
dem attischen Demos Oe, den Stephanos Byz. s. v. Olov^) als Heimat des
Dichters angibt, übergesiedelt. Neben Antiphanes, den er an Fruchtbar-
keit beinahe erreichte, galt er für den bedeutendsten Dichter der jueorj.
Viele seiner Komödien, wie AiocoTiog, 'Agxüoxog^ 'EXevrj, 'Emä hü &7]ßag^
^Houivr], ATvog^ ^Odvaoevg^ ^Ogetnrjg^^) tragen den Charakter der mittleren
Komödie an der Stirn geschrieben; aber dem Lebensalter nach ragte er
tief in die Zeit der neuen Komödie hinein. Bezeugt ist von ihm urkund-
lich CIA II 971 ein Sieg im Jahr 347; seinen ersten dionysischen Sieg ver-
mutet man in der Lücke der parischen Chronik (ep. 78) zum Jahr 356.^)
An den Lenäen hat er mindestens zweimal, höchstens viermal gesiegt ;ö)
im Hypobolimaios berührte er (fr. 244 K.) die Verbindung des Ptolemaios
Philadelphos mit seiner Schwester Arsinoe c. 270.') Diese Daten wären
glaubwürdig, wenn wirklich, wie überliefert ist, Alexis ein Alter von
hundertsechs Jahren erreicht hätte. Er soll auf der Bühne gestorben
sein.®) Komödien hinterließ er nach Suidas zweihundertfünfundvierzig,
von denen einige nach Gellius II 23, 1 auch in das Lateinische übertragen
wurden. Wir kennen noch von hundertdreißig Titel und Bruchstücke.
Außer der Parodie und Philosophenverspottung spielten Liebesabenteuer
und Parasiten witze eine Hauptrolle in seinen Dichtungen; jene hatte schon
Anaxandrides eingeführt, die Parasitenrolle galt als Erfindung des Alexis.^)
') A. Wilhelm, Urk. 200 ff.
*) Ath. 374 a. Nach Vermutung von Mu-
ret und Th. Ladewig sind die Captivi des
Plautus nach einem Stück des Anaxandrides
gedichtet wegen der Ähnlichkeit von Capt.
III 4, 103 f. mit Anaxandrides hei Ath. 688 b.
Die Vermutung wird bezweifelt von Fb.
Scholl in seiner Ausg. der Capt. (Leipz. 1887)
p. XVI sq.; die Captivi werden auf roseidip-
pos zurückgeführt von W. M. Lindsay in s.
Ausg., London 1900; auf Philemons Alrcolög
vonC. A.DiBTZK,DePhilemonecom.,Gött.l901.
s) G. Kaibel, Realenc. I 1468, will die
Stephanosstelle nicht auf den Dichter AI. be-
zogen wissen.
*) Vielleicht bezieht sich auf den Orestes
Aristoteles po6t. 13 p. 1453 a 37 (so A. Mei-
neke).
') E. Capps, Americ. joum. of philol.
21 (1900) 59.
•) A. Wilhelm, Urk. 123.
') Th. Bebgk, Gr. Lit IV 151 läßt die
betreffenden Verse von zweiter Hand zuge-
fügt sein.
^) Plut. an seni p. 785 b: ^dtffiova tov
x(ji)fjuxov xai ''AXs^iv im xfjg oxrjvijs dytoviCo-
fievovg xai Gzsq?avovfievovg 6 Odvaiog xais-
kaßev. Dazu vgl. Plut. de def. orac. p. 420 d.
•) Ath. 235 e; PolL VI 35. Daß dieses
jedoch mit Einschränkung anzunehmen ist,
27»
420 Grieehiache litteratiirgeBohichte. L KlassJBohe Periode.
Kulturhistorisch interessant ist ein längeres Fragment aus dem ^loooxdoiov
von den Mitteln der Kosmetik und Phelloplastik, mit denen die Hetären
den Mängeln der Natur nachzuhelfen wußten. Aus der westgriechischen
Heimat des Dichters erklären sich Anklänge an Epicharmos.^) — Andere
Dichter der mittleren Komödie waren Eubulos, Verfasser von hundertvier
Stücken, sechsmal Sieger an den Lenäen, der nach Suidas Ol. 101 (376/73)
blühte und in der Mitte zwischen der alten und mittleren Komödie
stand,*) Archippos, der schon Ol. 91 (415 — 12) einen Sieg gewann,^) der
mit seinen Fischen und dem Plutos im Fahrwasser des Aristophanes sich
bewegte*) und dessen 'A/Kpirgvcov vielleicht Vorbild für den Amphitruo des
Plautus war, femer Araros, Sohn des Aristophanes, zum erstenmal auf-
getreten Ol. 101 (375 — 72), Amphis,*) Anaxilas, dem Namen nach ein
Dörfer,«) Ephippos,'') Heniochos, Nikostratos,®) Sohn des Aristophanes^
Stephanos, Timokles,«) Philetairos, Nikochares, Sohn des Komikera
Philonides,iö) u. a.^^) — Die beste VorsteDung von der mittleren Komödie
macht man sich aus Plautus' Amphitruo, jenem köstlichen Lustspiel mit
den neckischen Verwechselungen des wahren und falschen Gemahls der
Alcmena und ihrer beiden Diener. Denn die mythologische Travestie und
die ausgelassene Leichtfertigkeit, mit der hier die alten Götter behandelt
werden, gibt ganz den Charakter der mittleren Komödie wieder. Aber
auch die szenischen Verhältnisse des Stückes, die der römische Uberarbeiter
nicht verwischen wollte oder konnte, führen ins 4. Jahrhundert oder
in die Zeit vor der neuen Komödie; denn der Amphitruo hat noch am
Schluß einen Deus ex machina nach euripidel'scher Manier, und läßt, wie
die Phönissen, den Mercurius auf das Dach des Bühnengebäudes steigen
(V. 1008). Dabei führt er, was besonders zu beachten ist, die Personen
noch von vorn durch die großen Parodoi der Orchestra ein, noch nicht
durch die Seitenzugänge der erhöhten Bühne. Seit dem 3. Jahrhundert
wurde das feinere Publikum aller Phantastik auf der Bühne, selbst in der
zeigt A. Mkineke I 377. Ael. ep. rust. 7. 8
wül C. Wabnkcke, Herrn. 41 (1906) 158 f.,
auf AI. 'Chtojoa znrückf (Ihren.
») G. Kaibel, Realenz. I 1470, 20 ff.
N.y der Dichter der via war: Wilhelm 132 f.
") Neue Bruchstücke von ihm: aus den
"HoMfs' (c. 342) bei Didym. ad Demosth. Phü.
col. 9, 70 ff. (dazu A. Körte, Rh. Mus. 60, 1905,
') Er ließ auch Stücke durch den Ko- i 410 ff.) ; aus den ^Ixdgioi bei dems. col. 9, 3 ff.
miker Philippos, den Sohn des Aristopha- ' Er war zugleich Tragödiendichter und siegte
nes (über ihn A. Wilhelm 126) aufführen 340 mit dem Satyrspiel Lykurgos: Wilhelm
nach Schol. Plat. ap. 19b. In den Bruch- "^^ ^"^^ *^-- ^^^ "^ ^"™" ^-' '^ — ^^-°
stücken tritt die Euripidesparodie stark her-
vor.
3) Wiuielm 116 f.
*) Daß die Fische den Vögeln des Ari-
stophanes nachgebildet waren, ist erwiesen
von G. Kaibel, Zur attischen Komödie, Herm.
24 (1889) S. 49 ff.
^) Ein Ehrendekret für ihn aus a. 322/21 A.
Wilhelm, Mitteil, des ath. Inst. 15 (1890)219 ff.
®) Seine Neottis setzt R. J. Th. Waoneb,
Svmb. ad com. Gr. bist, crit., 22 f. zwischen
385 und 330.
') Mindestens ein-, höchstens viermal
Sieger an den Lenäen: Wilhelm 123. 203.
^) Neben ihm gibt es noch einen späteren
29. 129. Über die Chronologie des Timokles
R. J. Th. Wagner, Symbolae ad com. Gr.
bist. crit. 25 ff., 60 ff. , der den Tragiker
(und aarvooyQOLtpog) Tim. von dem Komiker
scheidet und die dichterische Tätigkeit des
letzteren zwischen 345 und 315 einschließt.
10) Wilhelm 123.
**) Weitere Namen sind urkundlich be-
zeugt in den Siegerlisten der komischen Dich-
ter CIA II 971—7, die aber (E. Capps. Joum.
of the Archaeol. inst, of Amer. 4, 1900, 74 ff.)
auch Schauspieler enthielten. Sielie A. Wil-
helm, Urk., der S. 262 ff. ein alphabetisches
Verzeichnis aller inschriftlich belcannten ko-
mischen Dichter, 265 ff. ein solches der ko-
mischen Schauspieler gibt.
1. Anfänge der Prosa. (§ 240.)
421
Form der Parodie, müde, und wandte sich dem reinen Realismus zu, wäh-
rend die derbe Mythenparodie in tieferstehenden Gattungen und Volks-
schichten, besonders im griechischen Westen, sich noch weiter hielt.
n. Prosa.
1. Anfänge der Prosa.
240. Die Ansicht der stoischen Grammatiker, als wäre die Prosa eine
Art von Degeneration der ihr vorangegangenen Poesie, diese also die
eigentliche Muttersprache der Menschheit, i) ist offenbar bestimmt durch
die zufalligen Uberlieferungsverhältnisse und wird jetzt von niemand
mehr vertreten werden. Buchmäßig aufgezeichnet wurden in Griechenland
vor dem 6. vorchristlichen Jahrhundert nur solche Texte, auf deren For-
mung nach der Seite sinnlicher Wirkung hin besondere künstlerische Sorg-
falt verwendet worden war und die vermöge ihres Gehalts wie ihrer Form
ein über die EinzeDandschaft hinausragendes Interesse beanspruchten,
darum auch zu wiederholtem Vortrag vor Griechen verschiedener Kan-
tone, beziehungsweise zum Lesen geeignet waren, d. h. Werke der
Dichtkunst meist in den stilisierten Dialekten des Litteratur-Ionischen,
-Äolischen, -Dorischen. Daß aber schon früh auch sachliche Notizen
ohne kunstvolle Form, wie Rechtsnormen, sei es zum Gebrauch des
Richters oder zur Kenntnis des Publikums, Akten über Verträge, Festauffüh-
rungen und die Preisträger bei Festagonen, Namenlisten, 2) chronikartige
*) Strab. p. 18 C; Varro fragm. gramm.
79 WiLMANNs; Sueton. gramm. p. 4 Reifp.;
Schol. Dionys. Thr. p. 481, 8 f. Hilg. Daß
in den homerischen Gedichten das Wort Xoyog
nur zweimal (0 393 : a 56) vorkommt, ist
Sache des Stils und beweist nicht gegen das
Alter der Prosa oder des sie bezeichnenden
Wortes.
^) Uralte Satzungen an den Innenwänden
<ie8 gortynischen Pythion s. D. Compabbtti,
Monumenti antichi pubbl. per la reale accad.
dei Lincei 3 (1893) 20. Das ßovoTQO(frj66v ge-
schriebene sog. Stadtrecht von Gortyn (die Aus-
gaben verzeichnet F. Solmsen, Inscript. Gr. ad
inlustr. dial. selectae, Leipz. 1903, nr. 30) c. 450
V. Chr. Ein Gesetz der Eleer gegen Beschwö-
rung aus dem Anfang des 6. Jahrb. Solmsbn
nr. 38; etwas jünger die Vertragsurkunde
zwischen Eleem und Heräem ib. nr. 39. Seit
Ende des 7. Jahrb. die Gesetzeskodifikationen
des Charondas, Zaleukos, Drakon, Solon (ein
aus Drakons Gesetzgebung in die Solons über-
nommenes Kapitel CIA 161, 10 ff.). — Das
hohe Alter der Olympionikenliste, zu der uns
der Oxyrhynch. Pap. II nr. 222 einen neuen
wichtigen Beitrag geliefert hat, ist von G.
BusoLT. Gr. Gesch. I^ 584 ff., und A. Körte,
Herrn. 39(1904) 224 ff., ohne durchschlagende
Gründe bezweifelt worden. Alt sind auch die
Listen der Sieger bei den Karneien in Sparta,
den pythischen Agonen und die der Hera-
I priesterinnen von Argos, die zu Datierungs-
i zwecken von Thuc. II 2 und noch in der die
I Gründungsgeschichte von Magnesia am Mai-
\ andres behandelnden hellenistischen Inschrift
(O. Kern, Die Gründungsgesch. von Magnesia,
Berl. 1894) benützt ist. Litterarisch bearbeitet
ist die Olympionikenliste von Hippias von
Elis, die der Pythioniken von Aristoteles, die
der argolischen Herapriesterinnen und der
Kameioniken von Hellanikos. Alt ist auch die
von Glaukos von Rhegion schon benützte
sikyonische avayQacpii] (Plut. de mus. 3; Paus.
II 5, 5—6. 7; Euseb. chron. p. 11—56 Seh.;
W. Christ, Philol. Stud. zu Clemens Alex.,
München 1900. 63 ff.; über die Entstehungs-
zeit K.Frick, Jahrbb. f. Phil. 107, 1873, 707 ff. ;
E. LüBBERT, Comment. de Pindaro Clisthenis
Sicyonii institutor. censore, Bonn 1884).
Ferner Königslisten, unter denen die attische
und die lakonische für die griechische Chro-
nologie besonders wichtig waren (A. v. Gur-
scHMiD, Kl. Sehr. I 538 ff., IV 1 ff.), Priester-
listen (bis in die Periode der Götter hinauf
ergänzt ist die Liste der Poseidonpriester von
Halikarnassos, aus einer älteren Stele um-
geschrieben im 1. Jahrb. v. Chr., bei Ch.
Michel, Recueil d'inscr. gr. nr. 877), Beamten-
listen. — Welch reichen Stoff alte Inschriften
in Tempelbezirken dem Historiker liefern
konnten, zeigt Herodotos, der diese steiner-
nen Archive besonders in Delphoi und Samos
i
422
Griechische Litteratnrgeschichte. L KlassiBche Periode.
Daten,^ Orakelsprüche u. dgl. aufgezeichnet worden sind, ist nicht zu be-
zweifeln. Da solche Aufzeichnungen zunächst nur für die Landschaft Interesse
boten, waren sie im reinen landschaftlichen Dialekt gehalten und wurden, so-
weit sie sich mit^ ihrem Inhalt an ein größeres Publikum innerhalb der Land-
schaft wandten, auf dauerhafterem Material (Stein, Bronze) eingehauen oder
eingraviert und an öffentlichen Gebäuden ausgestellt;*) soweit das nicht der
Fall war, blieben sie in den Archiven. Die alten Beamtentitel juvi^imov^
leQOfivr}fjL(ov zeigen übrigens, daß ursprünglich durch das Gedächtnis geeigneter
Männer das schrifthche Verfahren nach Möglichkeit ersetzt werden soDte;
im Gegensatz zu dem schreibseligen Mesopotamien und Ägypten hat das
älteste Griechenland möglichst wenig geschrieben.
Mit dem Erwachen des wissenschaftlichen Sinnes im 6. Jahrhundert
ergab sich auch das Bedürfnis nach einer festgeordneten, rein sachlichen,
schmucklosen Form der Mitteilung, wie sie in den teils gegenwartsflüchtig
romantischen, teils leidenschaftlich erregten, teils anmutig spielenden
Werken der Dichtkunst nicht vorhanden war. Die inneren Voraus-
setzungen zur Ausbildung einer philosophischen und historischen Prosa
hatte zuerst das in intellektueller Richtung am meisten vorgeschrittene
Gebiet griechischer Kultur, lonien. Hier muß seit alter Zeit in den großen-
teils improvisierten und nicht schriftlich aufgezeichneten Darbietungen
wandernder Schwankerzähler eine Kunst volkstümlich pointierender und
anmutiger Prosaerzählung sich gebildet haben, deren Einfluß auf die
ältesten philosophischen und historischen Darstellungen noch deutlich er-
kennbar ist. Für die frühesten ionischen Prosaiker war, soweit sie über
ihre Landschaft hinaus wirken woUten, der Anschluß an die Sprache des
ausgiebig benutzt hat Darunter konnten auch
gefälschte Stücke sein, wie der sog. Diskos
des Iphitos (Flut. Lyc. 1 ; Paus. V 20, 1 ; s.
übrigens jetzt auch B. Niese, Herrn. 42, 1907,
447 if.). Auch die von Philostrat. Gymn.
p. 267, 27 Katseb erwähnten vofiot nvxxixoi^
die der Sieger im Faustkampf Ol. 23 (a. 688),
Onomastos von Smyrna, aufgezeichnet haben
soll, sind gewiß apokryph.
^) Die Existenz alter Stadtchroniken (io-
nisch woot = annales) ist zwar nicht aus-
drücklich bezeugt, sogar bestritten von Jo-
seph, c. Ap. I 20 f., aber doch mit Sicherheit
anzunehmen (VVilamowitz, Aristoteles und
Athen II 1 fif.; M. Vogt, Die griech. Lokal-
historiker, N. Jahrbb. f. Philol, Suppl. 27, 1902
699 ff.). — Sammlungen von Orakelsprüchen
vorwahrten die Peisistratiden (Herodot. V 90)
und die spartanischen Könige (id. VI 57) ; den
Mißbraucn derartiger Sammlungen karikiert
Aristophanes in den Rittern.
*) Sammlungen griechischer Inschriften:
Corpus inscriptionum Graecarum 4 voll, von
A. BöoKH und J. Franz, Berlin 1828—59
(Indices von H. Röhl 1877). Von der Neubear-
beitung (Inscriptiones Graecae consilioetaucto-
ritate academiae litterar. regiae Borussicae ed.)
sind bis jetzt erschienen das Corpus inscr. At-
ticar. (CIA), 3 Bde nebst einem Supplement-
band (I. die voreuklidischen Inschriften von
A. KiRCHUOFF, II. die nacheuklidischen bis
Augustus von ü. Köhleb, III. die aus der
Eaiserzeit vonW. Dittenbebgeb, 1873 — 1882),
Bd. IV (Peloponnes von M. Fbänkel 1902),
VII (Megaris, Böotien von W. Dittenbebgsb
1892), IX, 1 (Teil der nordgriech. Inschriften
von dems. 1897), XII (Inseln des ägäischen
Meeres von F. Hilleb v. Gabtbingen u. W.
Paton 1895-98), XIV (Italien und Sizilien
von G. Eaibel u. A. Lebegub 1890); dazu
Inscriptiones Graecae antiquissimae von H.
Röhl, Berlin 1882. Auswahl der sachlich
wichtigsten Inschriften: W. Dittei^bebgeb,
Sylloge inscr. 2 voll. Leipzig 1883; neue
Aufl. in 3 voll. 1898—1901; ders. Orientis
Graeci inscriptiones selectae 2 voll. Leipz.
1903—5. Ch. Michel, Recueil d'inscriptions
Grecques, Bruxelles 1900. — Die inschrift-
lichen Dokumente für die epichorischen Dia-
lekte bei H. CoLLiTz und F. Beohtel, Samm-
lung griechischer Dialektinschriften, 4 Bde,
Göttingen 1884 ff. Auswahl: F. Solmsen, In-
scriptiones Chr. ad inlustrandas dialectos
selectae Lips. 1903 (2. Aufl. 1905). — W.
Labfeld, Griech. Epigraphik in I. Müllers
Handb. der klass. Altertum swiss. 2. Aufl.
1892; ders., Handbuch der griech. Epigra-
phik I Leipz. 1907; II 1, 2 1898, 1902.
1 Anfänge der Prosa. (§ 241.) 423
homerischen Epos, die ja schon eine Art von dichterischer Gemeinsprache
geworden war, gegeben, 0 nur daß sie selbstverständlich ganz veraltetes
Wort- und Formenmaterial beiseite ließen und der gebildeten Redeweise
ihrer Zeit sich näher anschlössen. So beherrscht eine stihsierte, mit keiner
gleichzeitig gesprochenen völlig identische ionische Mundart die erste Pe-
riode der griechischen Prosa; in ihr schrieben zunächst auch Nichtionier,
wie Hellanikos von Mytilene, der Arzt Alkmaion von Kroton. Eine Prosa
in stilisiertem Dorisch tritt erst seit Ende des 5. Jahrhunderts in be-
schränktem Umfang bei pythagoreischen Philosophen (Philolaos, Archytas),
vereinzelten Sophisten und Rhetoren^) und Fachschriftsteilem (Archimedes)
hervor. Im Lauf des 5. Jahrhunderts, nachdem Athen als Haupt des See-
bundes, als Pflegestätte der dramatischen Poesie, der Sophistik und der
kunstmäßigen Prosarede in politischem und kulturellem Gebiet die führende
Stadt geworden war, wurde der ionische Dialekt durch den ihm nächst-
verwandten attischen aus seiner Stellung als griechische Litteratursprache
für die Prosa verdrängt und verschwindet seit dem 4. Jahrhundert auch
auf den Inschriften des ionischen Gebietes, obwohl er ebenso wie die
anderen Lokaldialekte als Sprache für den mündlichen Verkehr ohne Zweifel
seine Stellung in der alten Heimat noch bis in die römische Zeit bewahrt
hat. 3) Die älteste Phase des attischen Litteraturdialekts (Dialog der Tra-
giker, Prosa des Antiphon, Thukydides) zeigt in der Phraseologie und
Wortwahl, ja in Einzelheiten der Lautgebung (oa statt des attischen ir),
noch Einflüsse der ionischen Prosa,*) die dann besonders in der attischen
Komödie, der jüngeren attischen Beredsamkeit und dem philosophischen
Dialog verschwinden.
241. Älteste Prosa-Bücher. Die ersten von den Alten gekannten
Schriftsteller in Prosa blühten in der Mitte dos 6. Jahrhunderts;*) als
solche werden Kadmos von Milet und Pherekydes, der Sohn des Babys,
von Syros genannt. 0) Beide stammten aus lonien und schrieben in der
*) E. Zarncke, Die Entstehung der griech. j liehen Ausdruckes überhaupt zu besitzen
Litteratursprachen, Leipz. 1890. I (Aristoph. av. 1700 ff.; Fiat symp. 182b).
*) Vgl. die anonymen SiaXe^eig bei H. *) 0. Diener, De sermone Thucydidis
DiELS, Vorsokr. * 580 ff. Ein Fragment über , quatenus cum Herodoto congruens differat a
Rhetorik in dorischem Dialekt, schwerlich , scriptoribus Atticis, Diss. Leipz. 1889.
älter als s. IV Oxyrhynch. pap. III nr. 410 ! ^) Diog. I 121 setzt die Blüte des Phe-
p. 27 ff. rekydes nach Apollodors Chronik Ol. 59, ähn-
') A. TuüMB, Die griech. Sprache im Zeit- | lieh Eusebios Ol. 60, Suidas auf Grund eines
alter des Hellenismus, Straßb. 1901, S. 28 ff., Synchronismus mit den Sieben Weisen (Ari-
233 ff. St. Witkowski im Jahresbericht üb. , stot. fr. 65 Berol.) Ol. 45. Man ging davon
die Fortschr. der klass. Alt. 120 (1904) 165 ff. I aus, daß Pherekydes etwas vor PyÜiagoras
— über die ästhetischen Vorzüge des attischen lebte, für dessen Lehrer er galt. Die antiken
Dialektes s. Isoer. 15, 296 .^Qog de rovroig 1 Zeitangaben sind durch das Ineinanderspielen
xal xrjv tfjg (poyvijc: xoivöxijra xai fÄetgtoTrjTa ! zweier verschiedenartigen Ansätze verwirrt:
xai Tr/v äU.rjV evzocuTfUav xal (piXoXoylav ov
fiixndv Tfyovrzai ovfjßcüJaüai fiegog :106g xfjv
xCiV ?,6ycov naideiav. Demetr. de eloc. 177:
»7 'Axxixrj yXcJooa oi^veoxoa/jfisvov xi €/« xal
ötffAoxtxor xai raig xoiavxaig FvxgojreXtaig Ttoe-
jtov. Aristid. or. 13, 294 ff. Dindp. Schon
E. RoHDB, Kl. Sehr. 1 159 ff.; F. Jacoby, Apol-
lodors Chronik 210 ff.
*) Strab. p. 18: jtQfoxtoxa y jioirjxixij na-
qaoxevrj jiaQrjX^ev slg x6 {.iioov xai evöaxifitj'
oev, eixa ixsivTjv f^ifwvfisvot Xvaavxeg x6 /ii-
xoov, xoÄXa de (pvXd^avxeg xa Tioirjxixa ovvs'
im 5. Jahrh. äußert sich der Anspruch der ygaii'av oi jteqI KdÖuov xai ^eQexvStj xai
Attiker, ein Monopol auf die griechische 1 'ExaiaTov. Vgl. Suidas u. ^egexvStjg und
Sprache (der gegenüber andere Dialekte »bar- ' 'ExaxaTog. Bei Plin. n. h. V 112 ist Kadmos
barisch " erscheinen) und die Fähigkeit münd- , , Erfinder'' der Prosa.
424
Griechische LitteratargeBchichte. L KlassiBche Periode.
jüngeren las. Pherekydes von Syros wird den philosophischen Theologen
beigezählt; sein Ruhm, der erste Prosaiker gewesen zu sein, gründete sich
auf seine kosmogonische Schrift über die Natur und Götter. In ihr klei-
dete er nach Art der Oi'phiker naturphilosophische Spekulation in mytho-
logisches Gewand; sie hieß ITevrejuvxog von den fünf elementaren Urprin-
zipien Äther, Feuer, Luft, Wasser, Erde. *) Von dem anmutigen Erzähler-
ton der Schrift gibt das unlängst auf einem ägyptischen Papyrus gefundene
Fragment, in dem der legog yd/xog des Zag und der Xt%vir], vermutlich im
Anschluß an lokale Kultsagen von Syros, beschrieben wird, einen Begriff.
— Das Buch, das Dionysios von Halikamassos (de Thuc. 23) und Diodoros
(I 37, 3) von Kadmos erwähnen (Suid. nennt vier Bücher xrloig MdjjTov
xal rfjg öh]g 'Icoviag), ist apokryph, wenn auch ein SchriftsteDer Kadmos
gelebt haben mag.*)
Pherecvdis fragm. ed. J. W. Sturz, 2. Aufl., Lips. 1824; C. Mölleb FHG I 70—99; beide
vermischten den Pherekydes von Syros mit dem von Leros; H. Diels Fragm. d. Vorsokr.*
506 — 9. — 0. Kebn, De Orphei Epimenidis Pherecydis theogonüs quaest. crit.. Berl. 1888. —
D. Spbliotopulos, ITegi ^gexvSov, Erlanger Diss. Athen 1891. — Das neue Fragment zuerst
B. F. Grbnpell u. A. S. Hüijt, Greek pap. ser. II, Oxf. 1897, n. 11; dazu H. Diels, Zur Pente-
mychos des Pherekydes, Berl. Ak. Sitz.ber. 1897 p. 144 ff. — Über die Eosmogonie des
Pherekydes und ihre orientalischen Elemente noch vor Auffindung jenes neuen Fragmentes
Th. Gompebz, Griech. Denker I 70 ff.
2. Die Geschichtsschreibung.')
a) Die Logogrraphen^) und ältesten Memoirenschreiber.
242. Die ältesten Geschichtsschreiber hat man sich seit Friedrich
Creuzer gewöhnt mit dem Namen Logographen (koyoygdcpoi) zu bezeichnen.
*) Suidas u. ^eoexvdtjg Bdßvog Zvqtog'
eoTi de cbiarra a om'eygaye ravia' k^rdfivxog
{jte^Tifivxog corr. Preller nach Eudemos
p. 170 Sp.) rjroi {^soxgaoia, ?ati de ^soloyia
SV ßtßUoig t (?) e/oifoa {^ecbv yeveaiv xal öia-
öoxdg. Die Vorstellung von einer Höhle, in
der die Schöpfung vor sich gehe, begegnet
auch in der orphischen Theogonie (Chb. A.
Lobeck, Aglaopham. 501); vgl. die Mithras-
grotte.
«) F. RüHL. N. Jahrbb. f. Philol. 137
(1888), 116 ff. Ein Prokonnesier Bion zog nach
Clem. AI. Strom. VI p. 752 P. den Kadmos
aus, für einen historischen , Roman", wie E.
ScHWABTz (Realenz. III 483) meint.
') G. J. VossiüS, De historicis graecis
libri III (Leiden 1624), auctiores etemendatiores
ed. A. Westebmann, Lips. 1838; F. Cbeuzeb,
Die historische Kunst der Griechen (Leipz. 1803),
2. Aufl., bes. von J. Kayseb 1845 ; H. Ulbici,
Charakteristik der antiken Historiographie,
Berl. 1833, mit philosophischem Geist erfaßt.
A. Schäfeb, Abriß der Quellenkunde der griech.
und röm. Gesch. (Leipz. 1867), neu aufgel. v.
H. Nissen, 4. Aufl. der griech. Gesch. 1889 ;
M. BüDiNOKB. Die Universalhistorie im Alter-
tum, Wien 1895. — C. Wachsmuth, Einlei-
tung in das Studium der alten Gescliichte, Leipz.
1895. — Ältere Jahresberichte: H. Haupt,
A. Holm, A. Schäfer, A. Bauer, Rev. bist.
3(1877). 7(1878). 16(1881). 23(1883). 26
(1884) ; A. Bauer, Die Forschungen z. griech.
Gesch. 1888—98, München 1899. Letzter
Jahresbericht über die griech. Historiker außer
Herod., Thukyd. u. Xenoph. von F. Reüss im
Jahresber. über die Fortschr. d. Altert.wiss.
127 (1905) 1 ff. --Wir haben eine Liste von 10
Historikern, die aber nirgends im Altertum
mit kanonischer Bedeutung auftritt und jeden-
falls als Ganzes nachalcxandrinisch ist (0.
Kböhnebt, Canonesne poetar. scriptor. artific.
per antiquitatem fuerunt, Königsberg 1897,
13, 35 f.) : Thukydides, Herodotos, Xenophon,
Philistos, Theopompos, Ephoros. Anaximenes,
Kallisthenes, und dann nachträglich noch
Hellanikos, Polybios. Nur die vier ersten
dieser Liste gelten allgemein im Altertum
als die größten Historiker. — Sammlung
der Fragmente : C. Müller, Fragmenta histor-
corumgraecorum (FHG), Paris 1841—70, 5 voll.
Den Zuwachs an Historikerfragmenten aus dem
Berliner Didymoskommentar zu Demosthenes
verzeichnet F. Stähelin, Klio 5 (1905) 55 ff.,
141 ff. ; er betrifft Theopompos, Kallisthenes,
Anaximenes, Androtion, Dämon, Philochoros,
Duris, Marsyas, Hermippos. Wenig ist aus
dem neugefundenen Anfang des Photioslexi-
kons hinzugekommen : R. Reitzenstein. Der
Anfang des Lexik, des Phot., XXVI.
*) J. H. Lipsiüs, Quaest. logograpliicae,
2. Die GeBohichtsBohreibung. a) Die LogographexL (§ 242.) 425
Die Bezeichnung ist nicht ganz zutreffend: der Name hat mit der Ge-
schichtsschreibung im engeren Sinn nichts zu tun, sondern ist von Hause
aus identisch mit Xoyojtoiög^) und vieldeutig — er kann Geschichtsschreiber,
Redner, Fabelerzähler, Prosaist bedeuten und wird im Gegensatz zu wissen-
schaftlicher Schriftstellerei von Thuc. I 21, 1 zuerst gebraucht mit Bezie-
hung auf die älteren ionischen Erzähler einschließlich des Herodotos. In
dem Attika des 5. Jahrhunderts ist das Wort auf die Bedeutung „Schreiber
von Reden" eingeschränkt.
'loTOQia und iorogico sind von Hause aus ionische Wörter für »Er-
forschung, erforschen" im allgemeinen.*) lonien ist tatsächlich das Mutter-
land historischer und philosophischer Forschung, zunächst der Sammlung
und Kombination, dann auch einer gewissen Kritik des Überlieferten.
Ihren Stoff schöpfen die frühesten ionischen Historiker nicht aus urkund-
lichen Aufzeichnungen, auch nicht sowohl aus mündlich erkundeter Volks-
sage, als vielmehr aus der litterarischen Überlieferung des Epos, ins-
besondere des hesiodischen. Sie sehen ihre Aufgabe darin, die verschie-
denen Nachrichten aus der Vorzeit zusammenzufassen und zusammen-
zureimen, auch mit Hilfe von Genealogien, Königslisten und Generationen-
berechnungen 3) die Daten unter sich und der Gegenwart gegenüber in
bestimmte Distanzverhältnisse zu setzen. In diesem Verfahren betätigt
sich ein Trieb nach Ordnung und System, der zur Wissenschaft hinführt,
und die methodischen Grundsätze, die von diesen Logographen angewandt
worden sind, haben trotz ihrer ünvollkommenheit in der späteren grie-
chischen Historiographie noch lange nachgewirkt. Die Ergebnisse ihres
primitiven Pragmatismus sind freilich im einzelnen vielfach nur scheinbare,
doch ist bemerkenswert, daß z. B. die Berechnung der dorischen Wande-
rung nach Generationen zu einem Ansatz geführt hat, der durch die Ent-
deckung der mykenischen Kultur im wesentlichen bestätigt worden ist.
Ohne Zweifel hat die Geschichtsklitterung der Logographen von Anfang
an auch praktische Bedeutung beansprucht, insofern als Rechts- und Besitz-
ansprüche griechischer Staaten nicht selten auf Daten aus der Heroenzeit
begründet wurden.*) Meist begnügen sich diese ersten Historiker mit dem
Berichten und Arrangieren; wo sich Kritik äußert, da geschieht es ent-
weder in rein subjektiv axiomatischer Weise, wie bei Hekataios, oder es
ist hilflos naiver Rationalismus, der durch Abschneidung des Übernatür-
Ind. Lips. 1885 6. — G. Cübtiüs, Über zwei
Kunstausdrücke der alten Litteraturgeschichte,
in Kl. Sehr. II, Leipz. 1886, 239 ff.
') Herodot. II 143, V 36. 125 nennt den
Hekataios koyo.toiog; Pindar P. 1, 94, N. 6, 39
gebraucht koyioi und Xoyoi im Gegensatz zu
doidoi und doidai.
') W. Aly. De Aeschyli copia verbor.,
Diss. Berlin 1906, 26 ff. ^Erzählung* und
„Erzählen" heißen die Wörter erst seit dem
4. Jahrh. v. Chr. i'oTcog im gerichtlichen Sinn
= quaesitor hat schon Hom. 2' 501. ^^486.
^) Genealogien und Listen, wo sie nicht
auszureichen schienen, ergänzte man skrupel-
los, wie namentlich an der attischen Königs-
liste studiert werden kann. Das Gewöhn-
liche war wohl, drei Generationen auf ein
Jahrhundert zu rechnen, doch kommen auch
kürzere und längere Generationen vor (F.
Jaooby, Apollodors Chronik 39 f.). Auf die
Widersprüche in den Genealogien der Logo-
graphen weist Joseph, c. Ap. I 16 hin.
*) Aristot. rhet. I 15 p. 1375 b 30; Schol.
B Hom. B 494 p. 137 Dind. Berühmt ist die
Rolle, die B 558 in dem Streit zwischen
Athen und Megara um Salamis spielte. Vgl.
auch Tac. ann. IV 55 f.
426 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Slassische Periode.
liehen und allegorische Nachhilfen aus Sage Geschichte machen zu können
glaubt.^) Sofern die Diktion dieser Männer überhaupt stilistische Ansprüche
erhebt, bewegt sie sich im Ton der anmutigen Novellenerzählung, mit der
stereotypen Freude an kuriosen Geschichten oder Zuständen, an ethischen
Pointen. Gleichzeitig mit dem historischen ist im Zeitalter der Koloni-
sation auch das geographische Interesse erwacht, das sich für uns zuerst
in einer Schöpfung mutterländischer Epik, dem homerischen Schiflfskatalog
bekundet.*) Auch die geographischen Prosaschriften wollen zunächst den
praktischen Interessen der Landreisenden (Tiegirjyijoeig) und Seefahrer
(jiegiJiXoi) dienen. — Die Größe und die Zukunft der griechischen Historio-
graphie liegt von Anfang an in dem ruhig auf die wirkUchen oder ver-
meintlichen Tatsachen gerichteten, wenn auch nicht sogleich in die Tiefe
dringenden Blick. Eben dieser fehlt z. B. der ägyptischen und indischen
Geschichtsschreibung.'*) Im Kreis der alten Mittelmeerkultur finden sich
nur bei den Babyloniern und Hebräern ähnlich günstige Anlagen. Die
Bücher der Logographen wurden früh durch die kunstvolleren und kriti-
scheren Werke der attischen und hellenistischen Schriftsteller in den
Hintergrund gedrängt (Dionys. de Thuc. 23), so daß keines von ihnen voll-
ständig auf uns gekommen ist.
243. Hekataios, Sohn des Hegesandros von Milet, der bedeutendste
der Logographen und die erste stark ausgeprägte, selbstbewußte*) Persön-
lichkeit unter ihnen, ähnlich wie Herakleitos unter den Philosophen, lebte
vor und gleichzeitig mit den Perserkriegen und nahm eine hervorragende
Stellung in seiner Vaterstadt ein. Vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten
mahnte er in der Bundesversammlung der lonier vom Krieg mit dem mäch-
tigen Perserreich ab;^) später (494) ging er als Abgeordneter der lonier
zu dem persischen Statthalter Artaphernes und erwirkte, daß dieser den
ionischen Städten ihre Verfassung zurückgab, ö) Von ihm existierten zwei
Werke, beide auch an kulturgeschichtlichem und ethnographischem Detail
reich :^) reverjXoyiai in mindestens vier Büchern und ITeglodog yfjg in zwei
Büchern (EvQcomj und 'Aaitj, letztere mit Einschluß von Aißvt]^ s. Herodot.
II 16).®) Diese stoffreichen Werke lagen c. 490, als Herakleitos sein
Buch vollendet hatte (vgl. Heracl. fr. 40 Diels), abgeschlossen vor. Für
die Abfassungszeit des geographischen Buches gibt fr. 140, wo eine jeden-
0 S. Hecataeus fr. 341. 346. 349 M.; E. : «) Diod. X fr. 25. 2.
Meyer, Forschungen z. alten Gesch. II 239 ff. ! ') Vgl. fr. 123. 189. 290. 355.
Charakteristik der Logographen oder der **) Fragmente bei 0. Müller, FHG I 1
jialaiol ovyygarpetg Dionysios de Thuc. 5 I bis 31. IV 623. 627. Die zuletzt noch von
(Quelle ein alexandrinisches Historikerver- | H. Berger ausgesprochenen Zweifel an der
zeichnis: L. Radermaoher, Berl. phil.W.schr. ; Echtheit der zahlreichen auf den Westen be-
27,1907,301) 6. 23; B.Perrin, Americ.joum.
of philol. 18 (1897) 255 ff.
■') M. P. NiLssoN, Rhein. Mus. 60 (1905)
161 ff
») A. Erman, Berl. philol. W.schr. 26 (1906)
züglichen Fragmente sind nicht begründet.
F. Atenstädt, De Hecataei Milesii fragnientis
quae ad Hispaniam et Galliam pertinent,
Leipz. Stud. 14(1893) 1 ff.; G.Tropea, Ecateo
da Mileto ed i frammenti della periegesis,
1366 f.; H. Oldenberg, Deutsche Rundschau Riv. di stör. ant. 2, 2 (1897) 82 ff.; H. Dikls,
33 (1907) 362 ff. Herrn. 22 (1887) 41 1 ff. — über die allmähliche
'*) Hecat. fr. 332; über seinen Ahnenstolz j Ausdehnung des geographischen Horizonts der
spottet Herodot. 11 143. | Griechen H. Berqer, Geogr. Zeitschr. 12 (1906)
*) Herodot. V 36. 125. 442 ff.
2. Die Geschichtsschreibang. a) Die Logographen. (§ 243.)
427
falls nicht vor Dareios' Skythenzug (510) gegründete Perserstadt in Thrake
erwähnt wird, einen weiteren Anhaltspunkt. In seiner geographischen
Anschauung, von der uns charakteristische Züge durch Herodots scharfe
Kritik (besonders IV 36) bekannt sind, steht er auf dem homerischen
Grund; die Erde ist ihm eine runde Scheibe, umflossen vom Okeanos, aus
dem sich Nil und Phasis ergießen. Ägypten, das er jedenfalls bis Theben
bereist hat, gilt ihm als öwqov xov nora/xov (fr. 279). Im einzelnen läuft
allerlei Fabuloses mit unter, im ganzen aber machen die Nachrichten des
weitgereisten Mannes^) einen soliden Eindruck. In den Genealogien legt
er eine Rechnung nach Generationen von vierzig Jahren zugrunde. 2) He-
rodot hat beide Werke ausgiebig benützt,*) aber auch bekämpft. Von
einzelnen Abschnitten der negiodog^ wie von dem über Ägypten, wurde die
Echtheit aus nichtigen Gründen bestritten.*) Der Beschreibung in Worten
war eine Karte (mva^) beigegeben, wie schon vor Hekataios der Philosoph
Anaximandros eine solche entworfen hatte.*) Das Ionisch des Hekataios
stand der gesprochenen Verkehrssprache näher als das des Herodot.^) Sein
Stil war meist ganz schlicht, doch nicht ohne einzelne von den späteren
Ästhetikern bemerkte'^) Kühnheiten. Seine Schriften sind noch im späteren
Altertum viel benützt worden, besonders die Geographie von Pseudoskylax,
den Gewährsmännern des Plinius, Mela, Solinus, noch von Ammianus, und
die meisten Reste hat Stephanos von Byzanz in seinem geographischen
Lexikon erhalten. Verwechselungen mit dem hellenistischen Historiker
Hekataios von Abdera kommen vor.
Zu den älteren Logographen gehörten außerdem: Skylax von Kary-
anda, der von Dareios I mit der Umsegelung Arabiens beauftragt wurde®)
und die erste Monographie über einen Fürsten, den König Herakleides
von Mylassa, schrieb;*^) Akusilaos von Argos,^^) der FeveaXoyiai in min-
destens drei Büchern im Anschluß an Hesiod verfaßte, ^^) zugleich aber
^) :zo?.vjT?.avyg dvi]Q nennt ihn Agathe-
meros I 1.
2) E. Meyer, Forsch. I 169 ff. (schon
Porphyr, bei Euseb. praep. ev. X 3 p. 166 b).
') H. DiBLS und E. Meyer a. a. 0. Siehe
11. S. 436, 7.
*) Kallimachos bei Ath. 70 b und 41 Oe,
und Arrian. an. V 6, 5 ; vgl. Eratosthenes bei
Strab. p. 7 tov fisv ovv (sc. *Ava^^fJ^av6Qov)
Fxdovvai 71O0JT0V yewyoa(pix6v nivaxa, tov de
'EyaraTov xnra)A:isiv ygcift/ja jtiaTot'fisyov exsivov
elvai EX lij^ aXh]g avxov yoatpyg. Über die
Grundlosigkeit der Bedenken A. v. Gutschäid,
Kl. Sehr. 1 47 ff.
^) Eratosthenes bei Strab. p. 7; Agathe-
meros in C. Müller, Geogr. gr. min. (Paris
1882) II 471, und Schol. Dionys. ebenda II
428. Vgl. Herodot. V 49.
*) äxoaTog 'lag Hermogen. ;r. IS, p. 423,
25 Sp.
') Auct. .T. vy. 27, 2.
^) Herodot. IV 44, bezweifelt von H.
Berg ER, Gesch. der wissensch. Erdkunde d.
Gr. (Leipz. 1887) I 48 f.
•) Suid. s. SxvXa^, verteidigt von A. v. Gut-
soHMiD, Kl. Sehr. IV 139 ff. und E. Meyer,
Gesch. des Altert. III 100 f., denen U. Wil-
CKBN, Herrn. 41 (1906) 125 ff. sich anschließt.
Dieser Herakleides, dessen auch Sosylos
gedenkt, scheint als Typus der Schlauheit
früh von Legenden umsponnen worden zu
sein. — Über den ITegljiXovg s. IV. a. Chr.,
der auf Skylax' Namen gesetzt wurde, s. u.
*®) Das »böotische* Argos, das als sein
Geburtsort bezeichnet wird, ist späte Fäl-
schung.
**) Clemens Alex, ström. VI p. 752 P. tä
'Hoiodov fieTi]lla$av eig Jte^ov Xöyov xai d}g
idia e^Yjvsyxav EvfitjXog xs xai 'AxovaiXaog ol
ioiooioyQarpoi. Suidas u. 'ExaxaXogx ngöjxog
loxoQiav Jie^cog i^rfveyxe, ovyyQatprjv Se ^ggs"
xvöijg. xa yag AxovaiXdov vo^evexai. Dagegen
tritt I. H. Lipsiüs a. 0. 9 ff. für die Echtheit
ein. Die Ansicht des Akusilaos vom Chaos
führt schon Piaton sjrmp. 178 b an und be-
nützt ihn nach Clem. AI. ström. I p. 380 P.
im Tim. 22 a; ebenso Pindar nach Schol.
Pind. Ol. 7, 42 a Drachm. (e. a. W. Christ
428
Grieohisclie litteraturgesehichte. I. ElassiBche Periode.
auch der althellenischen Stammtafel mit Deukalion und Hellen an der
Spitze eine neue, auf argolische Lokalsage Rücksicht nehmende mit Inachos
und Phoroneus an der Spitze zur Seite setzte; Charon von Lampsakos,
dem von den vielen Werken, die ihm Suidas beilegt, mit Sicherheit nur
die Uegoixd in zwei Büchern und die ^Qgoi Aajutpaxrjvcbv in vier Büchern
angehören ;0 Eugeon von Samos, Verfasser von ^iigoi Za/uaxol;^) Dio-
nysios von Milet, der UeQoixd in ionischem Dialekt verfaßte;*) DeYochos
von Prokonnesos, der über die von thessalischen Pelasgem besiedelte und
in die Argonautensage gezogene Stadt Kyzikos schrieb und noch dem
Apollonioskommentator Sophokles c. 200 n. Chr. vorlag,*) femer Eudemos
von Paros, Demokies und Amelesagoras von Chalkedon (so die Hand-
schriften; Melesagoras schreibt Dudith).*) — Hier kann auch Theagenes
von Rhegion (s. o. S. 76, 5), der erste Grammatiker, der zur Zeit des Kam-
byses über Homer und seine Abstammung schrieb, erwähnt werden.
244. Als jüngere Logographen, die nach den persischen Kriegen
blühten und bis auf Thukydides herabreichten, werden von Dionysios nament-
lich angeführt: Hellanikos, Damastes, Xenomedes, Xanthos.
Xanthos, Kandaules' Sohn, der Lyder, der nach Suidas zur Zeit der
Einnahme von Sardes lebte, sicher aber erst unter Artaxerxes I (465 bis
425) schrieb, ö) war Verfasser von Lydiaka in vier Büchern. Er ist der
erste Barbar, der in griechischer Sprache die Geschichte seines Landes
schrieb, neben Hipponax ein interessanter Beweis für die rasche Auf-
saugung der lydischen Sprache und Kultur durch die griechische. Nach
Ephoros bei Ath. 51 5 e hat er dem Herodot Anregung und StoS {ä<poQjLiai)
zu seinem Geschichtswerk gegeben. Dabei ist aber merkwürdig, daß nach
Dionysios, ant. R. I 28, 2 bei Xanthos von der durch Herodot I 94 berich-
zu Find. Nem. 10, 80). Einen Kommentar zu
seinem Werk verfaßte in Hadrians Zeit
Sabinus (Suid. s. ^aßtrog). Fragmente bei C.
Müller, FHG I 100-104. IV 624. Die Frag-
mente sind neu gesammelt und durch einige
Stücke aus Philodem, jregi exmsß. vermehrt
in der Dissertation von A. Kordt, De Acu-
silao, Basel 1903. Die in den erhaltenen
Resten besonders häufigen Übereinstimmungen
des Ak. mit Hesiod erklärt K. (S. 74) aus
einer Schrift, die die Vergleichung der beiden
zum Gegenstand hatte. — Unter die sieben
Weisen scheint erst Hermippos (fr. 8 M.) den
Ak. aufgenommen zu haben.
') C. Müller, FHG I 32 ff.; F. J. Neu-
mann, De Charone Lampsaceno eiusque frag-
mentis comm., Bresl. 1880. Ch. schreibt nach
464 (fr. 5), aber vor Herodot, nach der rich-
tigen Ansicht der Alten, wiewohl ihn Herodot
nicht benützt zu haben scheint.
•') C. Müller, FHG H 16 und IV 653.
^) Suidas konfundiert denselben mit dem
jüngeren, um 100 v. Chr. lebenden Dionysios.
C.Müller, FHG II 5 ff. Die IhooiyA müssen
wohl ( J. H. Lipsius, Leipz. Studien 20, 1902.
201 f j mit den bei Suid. genannten xa xaxa
(so statt ^«ra zu schreiben) AaoeXov zusammen-
gerückt werden. Daß Herodot dieses Werk
benützt habe, ist zwar recht wahrscheinlich,
kann aber, da wir nur zwei Fragmente des
D. besitzen, nicht bewiesen werden (C. F.
Lehmann, Beitr. z. alten Gesch. 3, 1903, 330ff.).
<) G. Knaaok, Berl. philol. W.schr. 24
(1904) 581 ff. sucht den D. ins 4. Jahrb. herab-
zurücken.
') Die Reste aller dieser FHG II 16—22.
Auf den Namen des Amelesagoras, über den
vgl. E. ScHWARTz, Realenz. I, 1822, ist vor
s. III. eine schon von Kallimachos (Hecale
p. 11 GoMPERz) benützte ^Ai{>ig gefälscht
worden.
®) Das geht aus fr. 3 M. hervor; die An-
gabe des Suidas yeym'iog im zfjg ahooeog
2!dgdsoyv muß allen sonstigen Analogien nach
(E. RoHDE, Kl. Sehr. I 164) auf das Ereignis
des Jahres 546 bezogen werden, mit dem
das Werk des X. wahrscheinlich abschloß.
Da dieser Ansatz mit fr. 3 (in dem wohl epi-
sodisch vorausgreifend ein Ereignis aus X.'
Lebenszeit erwähnt wurde) unvereinbar ist,
80 muß ein Irrtum des Hesychios vorliegen.
2. Die Oeschichtsschreibong. a) Die Logographen. (§ 244.) 429
teten Gründung des Staates der Tyrrhener durch Lyder nichts zu finden
war. Die Auffindung der eskuri^schen Fragmente des Nikolaos (1848),
in denen das echte Lokalkolorit von Xanthos' Darstellung erscheint, hat den
von F. G. Welcker stark angefochtenen Eredit der Xanthosfragmente wieder
hergestellt. Merkwürdig ist, daß Herodot und Xanthos fast regelmäßig
(mit Ausnahme von Herod. I 8 ff. und Nicol. Damasc. fr. 49), wo sie über
dieselben Dinge berichten, nicht übereinstimmen, und doch können wir
uns nicht vorstellen, woher Herodot die lydischen Nachrichten, insbeson-
dere die mit ausgesprochen lydischer Parteifarbe (wie die Geschichte von
der Verbrennung des Kroisos durch Kyros) haben mag, wenn nicht aus Xan-
thos. Nach Diogenes Laert. VI 101 brachte ein gewisser Menippos das Werk
des Xanthos in einen Auszug, und nach Ath. 51 5 d hielt der pergamenische
Grammatiker Artemon den Kyklographen Dionysios für den wirklichen
Verfasser der unter Xanthos' Namen umlaufenden Lydiaka.^) Benützt
und ausgeschrieben wurde Xanthos vielfach von dem Historiker Nikolaos
von Damaskos in der Zeit des Augustus.
Pherekydes „der Genealoge", von Athen, der erste Prosaiker aus
Attika, ist verschieden von dem „Theologen" Pherekydes von Syros, aber
vielleicht eine Person mit dem Pherekydes aus Leros, von dem ihn Suidas
in einem konfusen Artikel unterscheidet.^) Seine Blüte wird von Eusebios
auf Ol. 81, 3 = 454/3 gesetzt; nach Ps. Lucian macr. 22 erreichte er ein
Alter Von fünfundachtzig Jahren. Den einzigen zeitlichen Anhaltspunkt
gibt fr. 113 M., wo Dareios' Skythenzug (510) erwähnt wird. Sein Haupt-
werk, das bald Toro^/a/, bald reveaXoylai oder Avrox^oveg betitelt wird, ent-
hielt in zehn Büchern die Abstammungen der Götter und edlen Geschlechter
und war in ionischem Dialekt geschrieben. Das erste Buch handelte von
der Theogonie und dem Gigantenkampf, das zweite von Prometheus, das
dritte von Herakles, das vierte von den argolischen und kretischen Sagen,
das sechste, siebente, achte von den äolischen Sagen und dem Argonauten-
zug, das neunte und zehnte von den arkadischen, lakonischen, attischen
Stammsagen. Dionysios ant. R. I 13, 1 nennt ihn den vornehmsten unter
den Genealogen. Die Methode, die Lücken der Überlieferung mit eigenen
Erfindungen auszufüllen, ist ihm ganz geläufig; so nahm er, und Hellanikos
nach ihm, eine Abstammung des Homer von Orpheus an^) und ließ wohl
schon beide durch einen Zeitraum von zehn Geschlechtem voneinander
') Ath. 515 e; Müller, FHG I p. XXH
nimmt eine Ummodelung der Lydiaka des
Xanthos durch Dionysios an. Vgl. J. H. Lbp-'
sius. Quaest. log. p. 12 ff. — Fragmente des
Xanthos bei C. Müller, FHG I 36—44; er-
gänzt und erläutert von A. v. Gutschmid,
Kl. Sehr. IV 307 ff., der unter den auf X/
Namen zitierten Mayixa einen Abschnitt aus
dem IV. Buch der Ävdiaxd versteht. Vgl,
der Stelle im Leben des Hippokrates p.449,
4 W. fjt^tjfjiovevsi ÖS Tfjg yevecdoyiag avxov
'EgarooT&evrfs xai ^sgeHvdrjg xai *AjioU.6Scogog
zwischen Eratosthenes und ApoUodoros gelebt
habe. Dagegen F. Jacob y, ApoUod. Chron.
213—215, der meint, Eratosthenes habe nur
gegen die unwissenschaftliche Annahme
zweier Pherekydes von Syros Verwahrung
eingelegt und neben dem Syrier nur noch
0. Wachsmüth, Einl. 463 ff. i den Athener anerkannt. Den Lerier habe
2) J. H. Lipsius, Quaest. logogr. p. 18
unterscheidet wieder beide und nimmt neben
dem älteren Pherekydes aps Athen einen
jüngeren Pherekydes aus Leros an, der nach
er entweder mit dem Athener gleichgesetzt
oder habe dieser erst nach Eratosthenes
gelebt.
») E. RoHDB, Kl. Sehr. I 7 f.
430
GhieohiBche litteratargeschichte. L KlassiBche Periode.
geschieden sein; dazu erdichtete er zehn Ahnen des Homer Evxkfjg, ^do-
TBQjirjg, XagidrjßMg etc., deren Namen ganz durchsichtig sind. Vielleicht
hat ihn Herodot gekannt (s. u. S. 436, 7). Fragmente bei C. Müller FHG I
70—99 und IV 637— 9. 0
Wesentlich unterscheidet sich von allen bisher genannten Logo-
graphen durch seine einzigartige Universalität und seine an die Alexan-
drinerzeit gemahnende gelehrt-systematische Art und schriftstellerische
Fruchtbarkeit Hellanikos von Mytilene.*) Er war Zeitgenosse, wahr-
scheinlich älterer, des Herodot und Thukydides, muß aber, wenn auf die
Angabe des Scholiasten zu Aristoph. ran. 694 und 720 Verlaß ist, das Jahr
406 überlebt haben.») Die Angaben des Suidas über seinen Aufenthalt
am Hof der Könige Amyntas (394—70) und Perdikkas (365—59) von
Makedonien sind chronologisch unmöglich und gehören wohl in den Kreis
tendenziöser Legendenbildung über die Musenfreundlichkeit der älteren
makedonischen Könige. Gestorben ist er in Perperene gegenüber seiner
Heimatinsel Lesbos. Seine zahlreichen Schriften waren teils chronologischen
Inhalts im Anschluß an die alten Tempelchroniken, wie al h "Agyei Ugeiai
rfjg "Hgag (diese führten ihr Amt lebenslänglich) in drei Büchern*) und die
KagveovXxat^^) teils behandelten sie die Geschichte einzelner Landschaften,
wie die ^Ar^k in vier Büchern, «) die erste der attischen Spezialgeschichten,
von der mythischen Vorzeit bis mindestens zum Jahr 407 herab geführt,
die <Pogcovlg (mythische Geschichte von Argos, = 'AgyoXixd)^ ^Aocomg oder
BoKOTixd^ AevHakcovela (hier fr. 10. 15 die Hellenengenealogie von Pro-
>) Dazu C. LüTKB, Pherecydea, Gott
Dies. 1893; Rekonstruktion des Inhalts A.
V. GuTSOHMiD. Kl. Sehr. IV 302 ff. ; H. Bbrtsoh,
Pherekydeische Studien, Progr.Tauberbischofs-
heim 1898.
*) F. W. Sturz, Hellanici Lesbii fragni.,
2. Aufl.. Lips. 1826; L. Pbeller, De Hellanico
Lesbio historico (Dorpat 1840) in Ausgew. Aufs.,
Berl. 1864, 23 ff.; C. Müller, FHGI45— 69 u.
IV 629 : R. Köhler, Analecta Hellanicea, Leipz.
Stud. 18 (1898) 213 ff.; H. Kullmer, Die Histo-
riai des Hellanikos von Lesbos. ein Rekon-
struktionsversuch, Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl. 27
(1901)455-698; A. v. Gütschmid, KL Sehr.
IV 316 ff. Der Name ist wahrscheinlich (P.
Kretschmer, Griech. Vaseninschr. 184) durch
Haplologie aus 'EXXavmixog entstanden.
») H. Diels, Rh. M. 31 (1876) 53 setzt nach
Paraphila bei Gellius XV 23 und Ps.Lucian
macrob. 22, d. i. nach ApoUodoros, den Hell.
496—411. WiLAMowiTZ, Herrn. 11 (1876)292
läßt ihn erst um 454 geboren und (Aristot. und
Athen I 19, 10) den Herodot (wegen Hell,
fr. 173) von ihm benützt sein. Der erste An-
satz ist jedenfalls falsch. F. Jacoby, Apollod.
Chron. 279—82, empfiehlt 480—396. Den
Ansatz des Geburtsjahrs auf 480 (Vit. Eurip.
p. 2, 5 Scnw.) beseitigt A. v. Gütschmid (Kl.
Sehr. IV 319, 2) durch die Emendation xad*
'EUdvixov statt xai 'EU., F. RüuL nach Wbl-
CKERS Vorgang (Rh. Mus. 61, 1906, 473 ff.) durch
die Annahme, die Worte xai 'EIL seien aus
einer Randnotiz entstanden. ROhl sucht
weiterhin die Gründe für die antiken Ansätze
der Lebenszeit (Synchronismus mit Euripides)
und Lebensdauer (85 Jahre = der Summe
der Regierungsjahre von Alexandres I -f Per-
dikkas II) zu ermitteln und meint, Hellanikos*
Geburt sei 480 gesetzt worden, weil man
seinen Namen von dem Griechensieg bei
Salamis hergeleitet habe.
*) Die Neubearbeitung der alten Tafeln
wird wesentlich darin bestanden haben, daß
der neue Herausgeber die gleichzeitigen Er-
eignisse anmerkte, worüber Dionys. Hai. ant. R.
I 72 o xag ieoeiag rag ev "Agyei xai rot xa^'
kxdaxtjv jzQax^evra avvayaycov. Siehe oben
S. 421, 2.
*) Nach Ath. 635 e gab es von diesem
auch für litterarhistorische Daten sehr wich-
tigen Verzeichnis auch eine versifizierte Fas-
sung, die schwerlich älter ist als die helle-
nistische Zeit, in der man derlei trockenen
Stoff in Verse zu kleiden pflegte (ApoUo-
doros' Chronik, Accius' Didascalica). Vgl.
Suidas avvsyQd^^aio de nksTara Jt€C(og re xai
noirjxixMg.
*) 'ArTixtj ^vyygaqi^ betitelt sie Thuc. I
97, 2. Daß Herodot die Atthis des Hella-
nikos noch nicht kannte, zeigt die Ver-
gleichung von Hellanic. fr. 74 mit Her. IX 73.
Gegenseitige Unabhängigkeit des Hellanikos
2. Die Geschichtsschreibung, a) Die Logographen. (§ 244.) 431
metheus an), Aiokixd oder Aeoßixd,^) Uegoixd^^) teils endlich hatten sie
denkwürdige Unternehmungen zum Mittelpunkt, wie die TgcotHa,^) Den
ionischen Dialekt, die anreihende Satzform und den Mangel an Kritik
teilte er mit den anderen Logographen. Außer Thukydides (s. o. S. 430, 6)
tadelt üngenauigkeiten und Irrtümer, auch Parteilichkeit an ihm Ephoros.^)
Ein lehrreiches Beispiel seiner Methode ist die Behandlung der attischen
Königsliste, an deren Anfang er den Ogygos setzte; um einen Synchro-
nismus zwischen ihm und Phoroneus zu gewinnen, schiebt er zwischen
Ogygos und Kekrops fünf Könige ein; auch den Menestheus hat er mit
Rücksicht auf den homerischen Schiffskatalog hinter Theseus eingeschaltet.
Mit dieser Quasiwissenschaft hat er eine Darstellung der Sagengeschichte
geliefert, die auf die Folgezeit von größtem Einfluß geworden ist.^) Nach-
dem seine Schriften durch die alexandrinischen Kritiker Eratosthenes und
Apollodoros eine Zeitlang in den Hintergrund gedrängt waren, wurden sie
von den unkritischen Sammlern und Antiquaren der Kaiserzeit, namentlich
wegen ihrer Nachrichten über die Pelasger und die ältesten Ansiedler
Italiens, wieder eifrig hervorgezogen, woraus sich die große Anzahl der
erhaltenen Fragmente erklärt.
Schüler des Hellanikos heißt Damastes^) aus dem troischen Sigeion,
der über die Ahnen der griechischen Führer vor Troia, über Völker und
Städte, über Dichter und Sophisten schrieb und außerdem einen wesentlich
auf Hekataios fußenden Periplus verfaßte.') Herodoros aus Herakleia
am Pontes, Vater des Sophisten Bryson, suchte mit dem kecksten Realis-
mus die altepische Heraklesüberlieferung in seinem Xöyog xa&* 'Hgaxkea
dem Zeitalter der Sophistik genießbar zu machen in mindestens siebzehn
Büchern, und schrieb außerdem ein in den Scholien zu Apollonios von Rhodos
häufig zitiertes Werk über die Argonauten (Müller FHG H 27 — 41). Dem
Sophisten Hippias aus Elis wurden neben verschiedenen Deklamationen,
*Eüvcby dyojuaoiai^ eine Hvvaycoyrj iJQcoldcov und auch eine 'OlvjLutiovixiav
ävayQacpri beigelegt (Müller FHG II 59 — 61),^) Hierher gehört wohl auch
und Herodot nimmt an J. Bass, Wien. Stud. 1
(1879)161ff. Den Tadeides Thukydides (197,2)
über die mangelhafte Chronologie will E.
Meyer, Gesch. des Altert. III 252 auf die
^) Vgl. Photios bibl. p. 43b 29; Strab.
p. 366. 426. 451. 602; auf Widersprüche mit
Akusilaos verweist loseph. c. Ap. 116.
*) A. V. GüTSCHMiD, Kl. Sehr. IV 322 f.;
Datierung nach attischen Archonten beziehen. E. Mbteb, Forsch. I 117 f.
^) AioAixd und Aeoßixd waren (A.v.Gur-
scHMiD a. a. 0. 316) verschiedene Titel des-
selben Werkes.
^) Hier kam die leichtfertige Anknüpfung
der Perser an Perseus vor und waren noch
die Perserkriege behandelt. Das Werk war
vor Herodot geschrieben (Dionys. Hai. ad
Pomp. 3) und enthielt eine starke Verschlech-
terung der Tradition (E. Meyer, Gesch. des
Altert. lU 247), auf die sich auch Dio Chrys.
or. 11, 145 bezieht.
^) Von bestrittener Echtheit waren die
®) Suidas setzt ihn mit ysyovotg noo tcöv
UskojtowTjoiax&v zu früh; schon als Schüler
des Hellanikos mu6 er an das Ende des
5. Jahrhunderts gerückt werden; er folgte
außerdem dem Gorgias in der Zurückfuhrung
des Geschlechtes des Homer auf Musaios.
Seine Zuverlässigkeit bestreitet der kritische
Strabon p. 47. Dagegen war sein negMovg
oder KatdXoyog i^(ov xai jrölecov einem
Antiquar wie Avienus eine erwünschte Quelle.
Das Buch über die Vorfahren der Troia-
kftmpfer wurde (Suid. s. IlcöXog) auch dem
Baoßagiy.d vöfiifia und die Älyvjttiaxdy die I Polos zugeschrieben.
nach C. Müller, FHG I, XXX einen Teil ') C. Müller, FHG II 64— 67 ; vgl. Aga-
jenes Werkes bildeten und von Müller dem themeros in C. Müller, Geogr. gr. min.
jüngeren Hellanikos beigelegt werden (s. a. i II 471.
A. v. GüTscHMiD, Kl. Sehr. I 57 flf.). ' ») Ohne Grund wollte F. Blass das Frag-
432 Ghiechische Lüieratargesohichte, I. ElassiBche Periode.
Phileas, den der archaisierende Dichter Avienus ora marit. 5 neben den
bekannten Logographen als seine Quelle aufführt.
246. Auch im griechischen Westen machte die Logographie der
lonier Schule: dasselbe universelle Interesse historischer und natur-
wissenschaftlich-geographischer Richtung wie die lonier zeigen die Reste
des Hippys aus Rhegion, der zur Zeit der Perserkriege nach Suidas
'Agyohxd in drei, eine Krloig ^Irailag und HixeXixd (diese wohl identisch
mit den Xqovixo) in fünf Büchern, alles jedenfalls in ionischem Dialekt,
schrieb (Müller FHG 11 12— 15);0 Phanias von Eresos las ihn noch.«) Plu-
tarchos kannte ihn nicht mehr unmittelbar. Ein gewisser Myes epitomierte
seine Schriften (Suid. s. Ijuivg). — Landsleute des Hippys sind der oben
(S. 76, 5. 428) angeführte Theagenes und Glaukos von Rhegion, dessen
Schrift negl x(bv ägxaUov Jtoirjrcbv xal juovoixdfv noch von einem Ge-
währsmann des Harpokration*) und von Plutarchos negi jnovoixtjg benutzt
wurde.*) — Antiochos von Syrakus, Xenophanes' Sohn, war Verfasser
einer ZixeXubTig övyygaq)t] in ionischem Dialekt, die mit dem König
Kokalos begann und bis auf das Jahr 424 oder den Frieden von Gela
herabgeführt war. Dieses Werk, noch von Thukydides benutzt,^) wurde
später durch die berühmteren Werke des Philistos und Timaios in Schatten
gestellt, so daß es schon zu Strabons Zeit verschollen war. Länger erhielt
sich sein Buch 'IraXlag oixio/x6g^ von dem uns durch Dionysios von Hali-
karnassos, Strabon und Stephanos von Byzantion noch manche Angaben er-
halten sind. Seine Schreibart war nach Strab. 254 schlicht und altertümhch.
246. Ein Anzeichen des für die Zeit der Sophistik charakteristischen
steigenden Interesses an der Gegenwart und des Zurücktretens der roman-
tischen Geistesrichtung liegt in der Erscheinung einer ionischen Memoiren-
litteratur um die Mitte des 5. Jahrhunderts. Ihre Vertreter sind Ion
von Chios (s. o. S. 369) und Stesimbrotos von Thasos,®) beide Re-
negaten des loniertums und seiner intellektualistischen Richtung, dagegen
Bewunderer des Kimon und seiner ^peloponnesischen Geistesart** im Gegen-
satz zu Perikles und Themistokles. Ion schrieb neben einer Xiov xrloig
ein Memoirenwerk 'Emörj/mlai^ dessen erhaltene Reste seiner Fähigkeit, das
Individuelle scharf aufzufassen und anmutig darzustellen, ein glänzendes
ment über Musik Hibeh pap. I nr. 13 einem ' diesen Begründern der Litterarhistorie auch
Buch des H. JtF.Qt fiovoixtjg zuweisen. | Antidoros, der nach dem Anonymus bei
^) Die Bedenken gegen die Echtheit der j J. A. Cramek, An. Ox. IV 310, 26 itsgl Vfxrjgov
Hippysfragmente, die Wilamowitz auf Grund xai 'Hoioöov geschrieben hatte und sich zu-
der Übereinstimmung von fr. 8 mit einem ; erst yga/j/jauxo;; nannte.
der inschriftlichen Wunderberichte aus Epi- *) Fragmente bei Müller, FHG I 181—4.
dauros ausgesprochen hatte, sind zerstreut E. Wölpflin, Antiochos von Syrakus und
von K. Zacher, Herm. 21 (1886) 468 f. ! Coelius Antipater, Winterthur 1872. Gegen
2) Plut. def. orac. 23 p. 422e. H. Steins Versuch (Rh. Mus. 55, 1900, 531 ff.),
^) Harpokration lex. rhet. u. Movoaiog. Benützung des Ant. auch bei Thuc. III u. IV
*) E. Hiller, Die Fragmente des Glaukos 1 nachzuweisen, s. J. Steup ibid. 56, 1901, 443 ff.
von Rhegion, in Rh. M. 41 (1886) 398— 436. Ob Aus Ant. stammt ohne Zweifel auch Aristot.
der Homeriker Glaukos und der FXavxog jistji pol. 1329 b 8 ff.
AloyHov fivOcov in Argnm. Aisch. Pers. und , ®) C. Müller, FHG H 46 ff. 53 ff. Fein-
Schöl. Eur. Hec. 41 eine Person ist, bleibt sinnige Charakteristik der beiden bei LBkl-^s,
dahingestellt. Siehe a. H. Abert, Die Lehre Das litterar. Porträt 46 ff.
vom Ethos 21, 5. — Vielleicht gehört zu
2. Die Oesohichtssohreibiuig. a) Die Logographen. (§§ 245—246.) 433
Zeugnis geben; es sind Reiseeindrücke von dem Verkehr mit den großen
Athenern der perikleYschen Zeit. Die Bruchstücke eines philosophischen
Werkes Tgiay/i6g^) zeigen den Ion als Anhänger der pythagoreischen
Zahlenmystik. — Die Memoiren des Stesimbrotos negl OejLuoroxXiovg xal Oov-
xvöidov xal üegixUovg (so zitiert Ath. 589 de) waren tatsächlich eine bös-
artige Parteischrift gegen die athenische Demokratie. 2) Sonst erscheint
Stesimbrotos bezeichnenderweise als Anhänger der allegorischen Homer-
erklärung ^) und Verfasser einer Schrift über die Mysterien (negl reXercbv).
Plutarchos hat im Themistokles, Kimon, Perikles die Memoiren dieser
Männer noch benützt.
Alle die bisher besprochenen Leistungen der ionischen Geschichts-
schreibung fallen unter das kurze, inhaltsschwere Verwerfungsurteil des
Thukydides (I 22, 1. 4), der ohne Zweifel auch den Herodot mit gemeint
hat: Unterhaltungslitteratur ohne wissenschaftliche Bedeutung. Dieses
Urteil ist gesprochen von der hohen Warte des methodischen Sicherheits-
gefühls, mit dem sich das Zeitalter der sophistischen Aufklärung den Er-
scheinungen der Welt und besonders den Leistungen der Vorzeit gegen-
überstellte. Vor der Forderung, nur vollkommen Verbürgtes und Ge-
sichertes mitzuteilen, bestehen alle Darsteller von Vergangenheitsgeschichte,
besonders aber die Logographen, schlecht. Die Eonsequenz aus dieser
Forderung war, die Vergangenheit überhaupt auf sich beruhen zu lassen.
Thukydides hat sie (I 1, 2) — freilich auch er nicht ganz rein — für den
Hauptteil seines Werkes gezogen. Tatsächlich war es in der ionischen
Logographie ebenso unfruchtbar wie in der altrömischen AnnaUstik, immer
wieder die Vorgeschichte zu behandeln, ohne daß wesentlich neue Daten
gefunden wurden und ohne daß man wissenschaftliche Methoden zur Er-
mittlung der Wahrheit auf diesem entlegenen und schlüpfrigen Stoffgebiet
besaß — denn was man von Methoden zu haben glaubte, Chronologie ver-
mittelst der Rechnung nach Generationen oder Regierungen, konziliatorischer
Pragmatismus, Rationalismus den Mythen gegenüber, das gab doch alles
mehr Schein als Wahrheit. Der älteren Logographie gegenüber bedeutet
nun aber das Werk des Herodot methodisch einen mächtigen Fortschritt:
er hängt nicht die Geschichte der Gegenwart als nebensächlichen Bestand-
teil an die Mythengeschichte an, sondern er stellt ein weltgeschichtUches
Faktum, das die nächste Generation vor ihm (freilich nicht er selbst,
worauf vielleicht Thuc. V 26, 5 zielt) miterlebt hatte, in den Mittelpunkt
und exkurriert von da aus bei Gelegenheit in die Vorgeschichte; weiter
verzichtet er auf die Kunst des Pragmatismus und berichtet mit gesundem
Tatsachensinn, nicht ganz ohne Kritik, aber mit noch mehr Respekt vor
dem Überlieferten, was er zu ermitteln imstande ist, Geschichte und Sage.
Ein unschätzbarer Stoff für Geschichte im weitesten Sinn und Volkskunde^
nicht beeinträchtigt durch vorlaute Einmischungen scheinwissenschaftlicher
') H. DiKLS, Vorsokr.» 230 f. l schmid, Kl. Sehr. IV 92 ff.
*) über die Echtheit der Fragmente W. *) Xenoph. conv. 3, 6; daß die stoische
A.Schmidt, Das perikl. Zeitalter (Jena 1877. 79) | Homererklämng aus ihm schöpft, zeigt die
1 183 ff. ; WiLAMowiTZ, Herrn. 12 (1877) 361 ff.; | Übereinstimmung des Krates mit ihm, Schol.
über den politischen Charakter A. v. Gut- | A Hom. II. O 193.
Handbuch der klass. AltertumswissensehafL VH. 5. Aufl. 28
434
GriechiBche LitteratiirgeBohichte. I. EUuudBche Periode.
Besserwisserei, ist so auf uns gebracht worden. Es scheint nicht, daß
einer von den anderen Logographen Ähnliches geleistet hat, und so ver-
dient Herodot den Namen des Vaters der Geschichte, den ihm Cicero (de
leg. II) gibt. Immerhin steht er durch die Universalität seiner Inter-
essen, eine gewisse Romantik der Auffassung und den Ton und Stil der
altionischen Prosaerzählung auf gemeinsamem Boden mit der Logo-
graphie.
b) Herodotos (um 484 bis um 425.) 0
247. Leben. Über Herodots Person sind wir nur mangelhaft unter-
richtet; selbst einer Vita, abgesehen von dem Artikel des Suidas, entbehren
wir. Seine Zeit bezeichnet Dionysios von Halikarnassos (de Thuc. 5) mit den
Worten: ^Herodotos aus Halikarnassos war kurz vor den Perserkriegen
gpboren und lebte bis in den peloponnesischen Krieg hinein.** Bestimmter,
aber ohne sichere Gewähr, setzte Pamphila, die Grammatikerin aus der Zeit
des Nero, das Geburtsjahr Herodots auf 484 an.*) Daß er den Anfang des
peloponnesischen Krieges und die Einfälle der Lakedaimonier in Attika
noch erlebte, geht aus seinem Werk selbst, namentlich aus IX 73 her-
vor;3) ebenso aus VII 170,*) daß er zur Zeit der großen Expedition der
Athener nach Sizilien nicht mehr lebte. Wahrscheinlich starb er kurz
vor oder bald nach dem Tod des Perserkönigs Artaxerxes I (425).*) Seine
Heimat war die dorische Kolonie Halikarnassos in Kleinasien, die damals
') Quellen sind ein Artikel des Suidas,
Plutarch de Herodoti malignitate. Neuere
Bearbeitungen: F. Chr. Dahlkann, Herodot,
Altona 1824, in Forschungen auf dem Ge-
biete der griech. Gesch. II 1 ; J. C. F. Bähb,
De vita et scriptis Herodoti, im 4. Bde. (2. Aufl.
Leipz. 1861) seiner Ausg.; An. Bauer, Hero-
dots Biographie, Wien. Ak. Sitz.ber. 89 (1878)
391 — 420; V. Costanzi, Ricerche su aicuni
punti controversi intomo alla vita e all' opera
di Erodoto, Mem. dell' Jstituto Lombardo,
1891 p. 181 ff. ; A. Hauvbtte, H^rodote historien
des guerres mödiques, Paris 1894, Haupt-
werk; H. Stein im 1. Händchen seiner er-
klärenden Ausgabe mit Einleitung über Leben,
Werk und Dialekt Herodots, 6. Aufl., Berlin
1901; E. Meyer, Forschungen zur alten Ge-
schichte II (Halle 1899) 196—268. Zur Chrono-
logie F. Jacoby, Apollodors Chronik 277 ff.
282 f. Die Einzelbelege bei R. Dietrioh,
Testimonia de Herodoti vita praeter itinera,
Diss. Leipz. 1899.
^) Gellius XV 23; dieser (apollodorische)
Ansatz beruht auf der Verlegung von Hero-
dots äxf-u) in das Jahr der Gründung von
Thurioi 444 (Jacoby a. a. 0. 278). Ad. Scholl,
Über Herodots Lebenszeit, Phil. 9 (1854) 193 ff.
278 geht, gestützt auf Eusebios zu Ol. 78, 1
mit dem Geburtsjahr auf 489 hinauf. Die An-
sätze der ax^u) (40. Lebensjahr) bei den Alten
beruhen auf drei Kombinationen: 1. Gleich-
setzung der ax(.i7] mit der Gründung von
Thurioi, weil man wnßte, daß H. nach Thurioi
gekommen war (Th. Gompbrz hat in den
M^langes Weil 141 ff. durch eine unsichere
Ergänzung der sophokleischen Elegie an H.
diesen Ansatz zu stützen gesucht), 2. mit
dem von H. beschriebenen Perserkrieg (xara
Seg^rjv Diod. II 32, 2). 3. mit der dx/nri von
Herodots Oheim Panyassis, die aus uns un-
bekannten Gillnden in das Jahr 468 gelegt
wird. Die Vita Saviliana des Cl. Ptolemaios
bezeichnet den H. als Zeitgenossen des Gor-
gias imd Zenon von Elea (Rh. Mus. 33, 1878,
169, 4).
») A. KiBOHHOFP, Beri. Ak. Abb. 1868,
24 ff. und H. Stbdt, Einl. P XXIII 2 geben
die Stellen.
*) Gegen die Stelle richtet sich Thuc.
Vn 85.
^) Dareios, Xerzes, Artaxerxes sind allein
als Perserkönige erwähnt VI 98 und an-
gedeutet VII 106. Auf die Zeit von 424 weist
auch der Umstand, daß H. VII 235 die Ok-
kupation der Insel Kythera durch Nikias
nicnt kennt (s. darüber nach A. Kibchhoff
a.a.O. 27 P. Knapp, Württ. Korrespondenzbl.
N. F. 4, 1897, 1 ff.); zu bedenken ist aber, daß
die Absicht, eine Insel beim Peloponnes zu
okkupieren, von Anfang an im Kriegsplan des
Perikles lag (Thuc. II 17. 4; 25). Ohne Nöti-
gung wurde früher die Nachricht I 180 von
dem Abfall der Meder auf die Ereignisse
von 408 bezogen.
2. Die Qescbiohtssohreibimg. b) Herodotos. (g 247.)
435
zu dem Vasallenstaat der durch ihn berühmt gewordenen Königin Arte-
misia gehörte. Seine Eltern hießen Lyxes^ und Dryo (v. 1. Rhoio), sein
Bruder Theodoros.^) Ein Oheim von ihm war Panyassis, der bekannte
Epiker. Beide wurden in die Freiheitskämpfe ihrer Vaterstadt gegen die
Gewalthaber Kariens, die Nachfolger der Artemisia, verwickelt. Panyassis
kam bei diesen Kämpfen um; Herodot, der anfangs zur Auswanderung
nach der ionischen Insel Samos sich genötigt sah,*) soll später nach seiner
Rückkehr zur Vertreibung des Tyrannen Lygdamis mitgewirkt haben.*)
Aber bald nachher verließ er, wie es in der Grabschrift (S. 436, 5) heißt,
wegen der Mißgunst der Bürger seine Vaterstadt für immer. Im Jahr
446 oder 445 soll er in Athen für die Vorlesung einer Partie seiner Ge-
schichte, vielleicht in dem neuerbauten Odeion, auf Antrag des Anytos
mit einer Staatsbelohnung von zehn Talenten ausgezeichnet worden sein.*)
Damals wird er die Freundschaft mit Sophokles, die auf tiefer Verwandt-
schaft der geistigen Anlagen und der Weltanschauung beruhte, geschlossen
haben.6) Später siedelte er sich in der im Jahre 444 von Athen neu-
gegründeten Kolonie Thurioi in Unteritalien an; er hat hier offenbar Bürger-
recht besessen und wird demnach auch Thurier genannt.') Von dort aus be-
^) Der Name auch auf einer halikar-
nassischen Inschrift des 5. Jahrh. (F. Bbchtel,
Inschr. des ion. Dialekts, Gott. 1887, nr. 240, 27).
*) Daß Herodots Familie zum Adel von
Halikamassos gehört habe, folgt weder aus
Suid. (*AXixaQvaooevg xutv ini(pav<ov = einer
der berühmten Halikamassier) noch ausHerod.
II 143 (E. Meykb, Forsch. I 193). Seine Sym-
pathien und Antipathien haben mit denen
des Junkertums gar nichts gemein (Spott
über die Prfttensionen adeliger Abstammung
II 143; über Olympia, den Tummelplatz
adeligen Sports II 160; Aversion gegen das
adelige Bummelleben II 177; Vorliebe für
die , arbeitende Klasse* II 167), weisen viel-
mehr in merkantile und industrielle Kreise.
Dem Namen seines Vaters und Oheims nach
muß karisches Blut in seinen Adern ge-
flossen sein.
') Über die Verhältnisse von Halikar-
nassos zur Zeit des Lygdamis unterrichtet
die Inschrift IGA 500 = Ch. Michel, Recueil
nr. 451 (dazu A. Kirchhoff, Studien z. Gesch.
des griech. Alphab.*, Gütersloh 1887, 1 ff.). A.
Baueb a. 0. hält die Angabe von einer Auswan-
derung nach Samos für erfunden, um den ioni-
schen Dialekt seines Geschichtswerkes zu er-
klären ; beides bringt allerdings Suidas in Zu-
sammenhang. Daß man aber auch in Halikar-
nassos damals ionisch schrieb, zeigen die In-
schriften, namentlich das unter der Oberhoheit
des Lygdamis zustandegekommene Gesetz der
Gemeinden Halikamassos und Salmakis, in
dem auch ein Panyassis vorkommt. Daß H.
zu Samos in nähcrem Verhältnis steht, ist
aus seiner eingehenden Behandlung samischer
Verhältnisse (III 118 ff.; IV 43. 88. 152 ff.;
VI 22 ff.), der gründlichen Darstellung der
Geschichte von Samos (III 39— 60 u. s.), der
Verteidigung der samischen Politik (H. Stein
zu V 10, 4) ersichtlich.
*) Das muß vor 454 stattgefunden haben,
da nach der Inschrift IGA 500 damals Hali-
kamassos dem athenischen Seebund schon
beigetreten war.
^) Die Hauptnachricht darüber bei Plu-
tarch de Her. mal. 26, geschöpft aus Diyllos,
einem Historiker der Diadochenzeit; als Jahr
ist Ol. 83, 3 oder 83, 4 von Eusebios an-
gegeben. Lucian. Herod. 1 und Suid. u. Bovxvd,
reden von einer Vorlesung in Olympia, die
durchaus möglich erscheint (es handelt sich
um Vorlesung zusammengehöriger Teile des
Werkes) ; Suidas, Marcellinus vit Thuc. c. 54
und Photios bibl. p. 60 b 19 lassen den Knaben
Thukydides unter den Zuhörem sein (dagegen
F. Chr. Dahlmann a. 0. 30 ff.). Von weiteren
Vorlesungen in Theben und Korinth melden
Plutarch de Her. mal. 31, Ps. Dio Chrys. (Favo-
rinus) or. 37, 7 p. 103 R. Eine tadebde An-
spielung auf solche Vorlesungen steht bei
Thucyd. I 22 xxrjfia ig dei fiäXXov fj dycoviafia
ig t6 TtoLQaxQrjfia dxovsiv. Siehe über Vor-
lesung von Geschichtswerken E. Rohde, Griech.
Rom.« 328 A.
®) Siehe o. S. 297, 1. Gemeinsam ist den
beiden Männern Abneigung gegen aufkläre-
rischen Radikalismus, tiefe Religiosität, Ver-
ständnis für Frauengröße. Die Elegie des
Sophokles vom Jahr 441 kann dem ab-
wesenden Herodot geschickt worden sein.
Der Schluß von A. Kirchhoff, daß Hdt. HI
119 dem Sophokles für Ant. 905 ff. schon
vorgelegen, also c. 442 noch in Athen ge-
schrieben sei, bricht, da die Unechtheit der
Antigonestelle außer Zweifel steht, zusammen.
') Vgl. Duris bei Suidas u. Tlavvaaoig,
Strab. p. 656, Steph. Byz. u. Oovqioi, Julian.
28*
436
Qrieohi8ohe LitteratargeBchiohte. I. Klassische Periode.
suchte er Italien und Sizilien,^) ohne aber irgendwo im Westen außerhalb
von Thurioi dauernd seinen Wohnsitz aufzuschlagen.*) Nicht unwahrscheinlich
ist, daß er sich schon vor Ausbruch des peloponnesischen Krieges in Athen
niedergelassen*) und hier sein Werk, das im Jahr 425 jedenfalls heraus-
gegeben war,*) soweit als es überhaupt kam, fertig gemacht habe. In
den ersten Jahren des peloponnesischen Krieges starb er, ungewiß ob in
Athen oder in Thurioi.^) Sein Bild, zugleich mit dem des Thukydides auf
einer Neapler Doppelherme erhalten,®) ist wohl nur ein Idealporträt aus
späterer Zeit.
248. Quellen Herodots (litterarische Studien und Reiseerfahrungen).
Eine der wichtigsten Fragen in der Beurteilung eines Geschichtsschreibers
ist die nach seinen Quellen. Diese Frage stellt sich bei Herodot anders
als bei Historikern unserer Zeit. Heutzutage sammelt ein Geschichtsschreiber,
wenn er nicht Selbsterlebtes erzählt, sein Material aus Archiven und Biblio-
theken. Herodot konnte aus den Schriften seiner Vorgänger nicht viel
lernen; er hat zwar bei der Geschichte fremder Völker die Logographen
Hekataios, Xanthos und Hellanikos, vielleicht auch Dionysios, benutzt;^)
ep. 22, Plinius n. h. XII 18, Avien. or. mar. 49.
Daß Herodot selbst I 1 'HgodoTov Sovgiov
^' laTOQiTjg oTiöds^tg geschrieben habe, wie
schon Aristot. rhet. 1409a 28 angibt, aber
in keiner Herodothandschrifb fiberliefert ist,
wird schon durch Flut, de Herodoti mal. 35
widerlegt (s. a. H. Stein, Rh. Mus. 56, 1901,
627, der nur nicht die Aristotelesstelle als
Interpolation ausscheiden sollte).
») A.KiB0HHOPEa.a.0. 18. 17; H. Stein,
Einl. zu I« p. LI f. •
«) C.Waohsmüth, Rh. Mus. 56, 1901,215.
Hdt. V 77 lo de doioTSQ^c x^igog iottjxe Jtg&rm'
iotöyti ig ta jrgoTivXaia rä ev rfj dxQ0Jt6Xft
bezieht sich auf das peisistratische Propylon,
nicht auf die Propyläen des Mnesikles, ist
also vor der Bauperiode der letzteren (437
bis 432) geschrieben (W. Judeioh, Topographie
von Athen, München 1905, 216 f. A. 8).
») A. KiBCHHOFF a. 0. 23 flf.; E. Mbybb,
Forsch. II 196 f. läßt den H. schon 439 wie-
der in Athen sein, wofür aber die Stelle aus
Perikles ,samischer Leichenrede* VII 162
eine sehr gebrechliche Stütze bildet
*) Ar. Ach. 70 (Hdt. VH 41), 85 (I 138),
89 (II 73), 92 (I 114), 523 ff. (I 4) müssen
wohl als Herodotparodien verstanden werden
(H. Stein, Einl. zu P p. LH 4).
*) In Thurioi auf dem Markt war er nach
Suidas begraben; das sicherlich gefälschte
Epigramm lautete nach Stephanos Byz. u.
ßovgtoi ;
'HgöSoTOV Av^eo) xgvjixEi xovig f/de ^avorrUf
*Iddog dgxatrjg loxoghjg :rgvxaviv,
Acogiöog ix mirgr^g ßlaaiövt* ' datoiv ydg ätXrjxov
fiwfjim' ifjrFX7rgo(pvy(ov ßovgtov eaxs ^xdxgrjv.
Andere bei Suidas lassen ihn in Pella sterben.
Nach Marcellinus vit. Thuc. c. 17 befand sich
ein Grabdenkmal des Herodot neben dem des
Thnkydides in den kimonischen Gräbern zu
Athen, was unmöglich ist (für 'Hgoöoxov ist
'HgMov oder *0'Ji6gov vermutet).
^) In der Bibliothek von Pergamon war
eine Büste des Herodot aufgestellt, worüber
A. Conze, Berl. Ak. Sitz.ber. 1884 S. 1261.
') Porphyrios bei Eusebios praep. ev. X 3
bemerkt auf Grund der speziellen Nachweise
des Grammatikers Pollio, daß Herodot im
zweiten Buch vieles wörtlich aus Hekataios
herübergenommen habe; dieses begründet den
Zweifeln der Neueren gegenüber H. Diels
Herm. 22(1887)441 ff. Herodot selbst II 143 u.
VI 137 verweist auf Hekataios. Das chro-
nologische System des Hekataios scheint H.
übernommen zu haben (E. Meter, Forsch.
I 169 ff.). Benützung des Hekat. bei Hdt. I
95 ff. sucht V. Pbasek, Beitr. zur alten Gesch.
4 (1904) 193 ff. zu erweisen. Die auffälligen
Gemeinsamkeiten zwischen Herodot und Hip-
pocr. :iegi degoiv vddxcov xosimv können auch
auf Hekat. als gemeinsame Quelle zurück-
geführt werden. — Über sein Verhältnis zu
Dionysios s. H. Stein zu Hdt. HI 61, 25 und
o. S. 428, 3. Benützung von Choirilos* Ilfgaixd
nimmt D. Müldeb, Klio 7 (1907) 29 ff., mit un-
sicherer Begründung an (s.o. S. 30 f.). Die Be-
nützung des Xanthos, die Ephoros bei Ath. 615 e
andeutet, läßt sich nicht in gleicherweise nach-
prüfen ; s. 0. S. 428 f. und B. Heil, Logographis
qui dicuntur num Herodotus usus esse videa-
tur, Marburg, Diss. 1884. Hellanikos ist offen-
bar für die mythische Vergangenheit Persiens
benfitzt VII 61, wie aus Hellan. fr. 160 und
159 erhellt, vielleicht auch in den Aeoßtoi
loyoi I 23 gemeint (s. aber E. Mkyer, Forsch.
I 119). Die polemische Bemerkung III 115
geht vielleicht (Hygin. fab. 154) gegen Phere-
kydes. Zu den schriftlichen Quellen des H.
2. Die GescbichtsBohreibong. b) Herodotos. (§ 248.)
437
er hat auch, wie sich das bei einem gebildeten Griechen von selbst ver-
stand, die alten Dichter, vor allen Homer und die kyklischen Epiker, auch
z. B. die 'Agi/LidoTteia ijtrj des Aristeas (IV 13), gelesen und die ersten Ver-
suche litterarischer Kritik an ihnen gemacht. 0 Aber die Werke der Dichter
und die Schriften der Logographen konnten ihn bei der empiristischen Art,
wie er seine Aufgabe verstand, nicht viel fördern; wesentlich war er doch auf
persönliche Erkundigungen bei Leuten der älteren Generation und auf den
direkten Besuch der in Betracht gezogenen Länder angewiesen.*) Dazu
bedurfte es ausgedehnter Reisen^), bei denen er übrigens auch geschäft-
liche Interessen verfolgt haben wird, und längeren Aufenthalts in den
Hauptzentren der alten Welt. Fremde Sprachen hat er nicht gekannt,
war also überall auf Dolmetscher angewiesen, woraus sich manche Miia^
Verständnisse erklären.*) Zunächst führten ihn seine oben geschilderten
Lebensverhältnisse nach Kleinasien, Athen, ünteritalien und in die verschie-
denen Städte des eigentlichen Griechenlands. Außerdem unternahm er
mehrere größere Reisen in entlegenere Gegenden, teils zu Land, teils zur
See: zur See nach dem schwarzen Meer bis zum kimmerischen Bosporos,
sowie nach Kypros, Ägypten, Kyrene, Tyros; zu Land durch ganz Ägypten
von Naukratis bis nach Elephantine,*^) und durch das persische Reich
von der Küste bis nach Susa. Die letztgenannte Reise, die bedeutendste
von allen, machte er wahrscheinlich auf dem leichteren Weg von der
syrischen Küste aus,^) nicht auf der großen, von Sardes ausgehenden
Königsstraße, wiewohl er von dieser gelegentlich V 52 und VIII 98 eine
genaue Beschreibung gibt.') Wann und in welcher Reihenfolge er seine
gehören weiter: Orakelspruchsammlungen (A.
V. GuTscHMiD, Kl. Sehr. IV 157 flf.), Verzeich-
nisse der persischen Steuerbezirke, die im
attischen Seebundsreich nachgebildet wurden,
und der Steuerbeträge III 89 ff., der 46 per-
sischen Stämme und ihrer Führer VII 61 ff.,
100 (vgl. IX 27), der griechischen Schiffe VIII
42 — 48, ein Itiuerar der persischen Königs-
straße V 52 ff. ; für Darstellung der ältesten
attischen Geschichte VII 159 ff., IX 26 flf.,
vielleicht (E. Meyer, Forsch. II 219 flP.) atti-
sche br/oi Lindqioi. Über Herodots Littera-
turkenntnis im allgemeinen A. v. Gütschmid,
Kl. Sehr. IV 163—167. Zu beachten ist, daß
die Betonung mündlicher Erkundigung (s. u.
A. 2), das Fernhalten des Scheines gelehrter
Studien zum Stil des herodotischen Werkes ge-
hört und nicht vorbehaltlos zu verstehen ist.
— B. Niese, Herm. 42 (1907) 426 flf. glaubt
an weitgehende mündliche Erkundigungen des
H. und sieht in jedem Bericht mit ausdrück-
lich genanntem Berichterstatter eine Variante
zu einer feststehenden Hauptüberlieferung.
^) Über das Zeitalter Homers 11 53, über
den nichthomerischen Ursprung der Kyprien
II 117, über die thebanischen Heldengesänge
IV 32. über die Rhapsoden in Sikyon V 67,
über die ältesten Dithyramben I 23. — Über
die Quellen Herodots im allgemeinen s. den
Index fontium Herodoti in A. v. Gutschmid,
Kl. Sehr. IV 145 flf.
*) Herod. II 123: eixoi de nagä Jidrza tov
loyov vjzoxsezaif oxi td Xeyofisva v:i6 Sxaarcov
dxofj ygd(p<o, VII 152: iycD de 6q;slk(a Isysiv
id Xeyofisva, Jiei^ea&ai ye fikv ov Jtavrdjtaoiy
d<fslXw xal fioi tovTO t6 ?Jtog ex^o> h Jrdvta
Tov Xdyov.
•) B. G. NiEBUHR, Die Geographie Hero-
dots, mit einer Karte, Kl. bist. u. pnilol. Sehr.
I, Bonn 1828, 132—258; C. Hachkz, De He-
rodoti itineribus et scriptis, Göttingen 1878;
F. R. HiLDBBBANDT, De itinenbus Herodoti
Europaeis et Africanis, Lips. 1883; R.
Müller, Die geographische Tafel nach den
Angaben Herodots, 1881. Im Westen ist He-
rodot weit weniger als im Osten bewandert;
80 macht er II 33 (vgl. IV 49) Uvq^vpj (die
Pyrenäen) zu einer Stadt und läßt bei ihr im
Land der Kelten den Istros entspringen^ (s.
übrigens Th. Bbrgk, Griech. Litt. IV 272).
♦) E. Meyer. Forsch. I 192 flf.
*) Über die ägyptische Route A. v. Güt-
schmid, Kl. Sehr. 1 70 flf. Er war in Ägypten im
Hochsommer während der Nilschwellen (II 97).
*) H. Matzat, Über die Glaubwürdigkeit
der geograph. Angaben Herodots über Asien,
Herm. 6 (1872) 392—486.
') W. Götz, Die vorderasiatische Reichs-
poststxaße der persischen Großkönige, in
Jahrb. d. geogr. Ges. München 1885, S. 90 ff.
438 (hieohisohe Litteratnrgeschiohte. L Klassische Periode.
Reisen unternahm, läßt sich nur teilweise ermitteln. Nach Ägypten kam
er sicher erst einige Zeit nach der Niederwerfung des ägyptischen Auf-
standes, wie aus III 12 und II 30 und 99 hervorgeht, wahrscheinlich von
Athen oder Thurioi aus zwischen 445 und 432. i) Schon zuvor war er in
Assyrien und Persien gewesen,*) und wohl noch früher in Pontes und im
Innern Kleinasiens, vermutlich schon vor 445, als er noch Untertan des
Perserkönigs war. Durch diese Reisen verschaffte er sich von den Ländern
und ihren Sehenswürdigkeiten, über die er berichtet, Kenntnis aus Autopsie
und nahm zugleich die Gelegenheit wahr, mit den Einheimischen, nament-
lich den Gelehrten (koyioi) der Perser und dem Kultpersonal der Tempel
Ägyptens^) in Verbindung zu treten. Auch monumentale Quellen verstand
er zu benützen.*) Die größeren Reisen kommen wesentlich dem ersten
Teil seines Werkes zugute; ihr Ertrag besteht, abgesehen von der Fülle
der ersammelten Einzelnotizen, besonders in der lebendigen Anschauung
von den Kulturen des Orients, Ägypten eingeschlossen, und der Bewunde-
rung für ihre Leistungen, aus der sich das Bestreben erklärt, den Orient
als Quelle aller, auch der griechischen Kultur zu betrachten; für den
zweiten und wichtigsten Teil war er vornehmlich auf Erkundigungen in
den Städten Griechenlands selbst und auf den intimeren Verkehr mit her-
vorragenden Staatsmännern angewiesen; ohne Zweifel haben vor allem
Athen und die Kreise des Perikles^) ihn gefesselt und beeinflußt.^) Mit
Namen nennt er seine mündlichen Gewährsmänner^) selten. Daß er von
einem griechischen Refugiö wie Dikaios von Athen,®) allenfalls auch von
den Nachkommen des Spartanerkönigs Demaratos®) vieles erfahren konnte
und erfahren hat, ist sehr wahrscheinlich. Die Art der mündlichen Über-
lieferung, die dem Herodot für seine Darstellung der Perserkriege vorlag,
charakterisiert E. Meyer ^<^) zutreffend: in den allgemeinen Umrissen waren
die entscheidenden Ereignisse und Persönlichkeiten festgehalten, dagegen
die inneren Zusammenhänge zum Teil vergessen und durch phantastisch-
anekdotische Kombinationen ersetzt, d. h. die Sagenbildung hatte sich der
Geschichte des Kriegs zu bemächtigen schon angefangen. Geblieben ist
dem Herodot die Stimmung seiner Zeit gegenüber dem Krieg, in dem man,
ohne Anwandlungen nationalen Chauvinismus, ein Gottesgericht über die
vßoig der Barbaren sah.
*) Nach Thuc. 1112 hielt sich im Jahre | Mutter Agariste in ihrer Schwangerschaft
449 noch Amyrtaios in den Marschen des geträumt habe, einen Löwen zu gebären und
Nildeltas, während Herodot III 15 dessen Sohn dann nach wenigen Tagen den Perikles ge-
Pausiris schon wieder mit seines Vaters Herr- i boren habe.
Schaft von den Persem belehnt sein läßt.
A. V. GüTscHMiD, Kl. Sehr. 1 106 f.; E. Meybr,
Forsch. 1 155 f.
den Unterbediensteten der Tempel verkehren
und ist in das Innere der Heiligtümer nicht
zugelassen worden (A. Wiedemann zu Hdt.
n p. 157. 497. 508; vgl. Hdt. II 148. 169).
®) K. W. NiTzscH, Über Herodots Quellen
für die Geschichte der Perserkriege, Rh. Mus.
27 (1872) 226 ff.
'^) Dies bezeugt Herodot II 150. ' ^) Verzeichnis der Stellen A. v. Gut-
') Sicher konnte er in Ägypten nur mit , sohmid, Kl. Sehr. IV 145 — 47, 167 — 82.
" "" ' * ' ®) Von , Memoiren des Dikaios **(?.? KAUT-
WBiN, Herm. 25, 1890, 527 ff.) zu reden, haben
wir keinen Anlaß.
^) E. Meyer, Forsch. II 231. IL Stein
A. V. GüTSOHMiD, Kl. Sehr. IV 148 ff. zu Herodot. VIII 126 denkt an persönliche
^) Ein Denkmal hat Herodot VI 131 dem j Beziehungen zu Artabazos.
Perikles gesetzt in der Erzählung, daß seine I *^) Geschichte des Altert. III 239 ff.
2. Die GeschichtsBohreibong. b) Herodotos. (§ 249.) 439
249. Das Geschichtswerk Herodots,*) Komposition und Ent-
stehungsweise. Herodots Geschichtswerk wurde von den Grammatikern
in neun nach den Musen benannte Bücher eingeteilt.^) Den Mittelpunkt
bilden die Kämpfe der Hellenen und Barbaren unter den Perserkönigen
Dareios und Xerxes. Diese Kämpfe werden schon im ersten Buch c. 1
bis 5 durch Zurückgehen auf die ersten Zusammenstöße Asiens und Eu-
ropas in der mythischen Vorzeit, den Raub der Helena auf der einen, die
Entführung der Europa und Medeia auf der anderen Seite, eingeleitet,*)
werden aber erst vom fünften Buch an in fortlaufender Erzählung vor-
geführt. In den vorausgehenden Büchern greift Herodot zunächst auf die
Geschichte der Lyder, deren König Kroisos den ersten Angriff auf die
Griechen Kleinasiens gemacht hatte, zurück; Kroisos führt ihn auf die
Perser, die Besieger der Lyder, diese wieder zu den Ägyptern, Baby-
loniern und Skythen, die der R^ihe nach den Persern unterlegen waren.
Es ist also ein lockeres Band, das die Teile, die wohl ursprünglich jeder
für sich {Xoyoi IleQOtxoi, AlyvTtnoi, Aißvxol, AvövhoI, Zxv&ihoI, Zdfuoi etc.)
niedergeschrieben waren und vielleicht auch vor der Gesamtredaktion so
stückweise vorgelesen wurden, zu einem Ganzen verbindet. Dazu kommen
noch innerhalb der einzelnen Teile zahlreiche, dem zwanglosen Ton der
Erzählung leicht sich anpassende Digressionen (Tr^ooi^^xm);*) so lehnt sich
das Werk stilistisch an die Odyssee mit ihrer verschlungenen Darstellungs-
weise an, und Herodot hat sich die Möglichkeit geschaflfen, die Behandlung
seines besonderen Gegenstandes in einer freilich wenig organischen Art
zu einer Weltgeschichte des Mittelmeerkreises zu erweitem. A. Kirchhoflf
(Über die Abfassungszeit des herodotischen Geschichtswerkes) hat den Ver-
such gemacht, die Abfassung der verschiedenen Teile des Werkes zeitlich
festzulegen;*^) er nimmt an, daß die Bücher I — HI 119 zwischen 445 und
443 in Athen,6) HI 120 bis V 76 zwischen 443 und 432 in Thurioi,') der
') Siehe die Übersicht über die Ökonomie I ixh xaxa 'Ptjyivovg te xal TaQavtivovg rov
des Werkes bei A. v. Gütschmid, Kl. Sehr. 1 löyov fioi :taQe%^xrj yeyove.
IV 183—187.
*) Als ioTOQirjg oLioöe^ig, d. h. Darlegung
des Erkundeten, bezeichnet H. sein Werk im
Proömium. Die sehr unsachgemäße Einteilung
in neun Bücher kennt bereits Diodor XI 37 ;
*) Gegen A. Kirchhoff (Berl.Ak.Abh. 1868,
1 ff. 1871 II 47 ff. ; 2. Aufl., Berl. 1878) wendet
sich Ad. Bauer, Die Entstehung des herodot
Geschichtswerkes, Wien 1878, indem er viele
spätere Einfügungen infolge der zwischen 445
nach den Musen fand sie benannt Lucian. imd 432 gesetzten ägyptischen Reise annimmt,
de bist, conscr. 42. Ebenso haben nach den und den Xerxeszug oder die letzten drei B.früher,
Musen der Historiker Kephalion (Phot. bibl. vor 445 entworfen sein läßt. Vgl. E. Ammbb,
p. 34a 8), der Rhetor Bion (Diog. Laert. IV 58), Herod. Hai. quo ordine libros suos conscrip-
der Lateiner Opilius (Gell. I 25) die Bücher serit, Virceb. 1881, und Über die Reihenfolge
ihrer Werke benannt. und Zeit der Abfassung des herod. Geschichts-
^) Nach dem Vorbild Herodots hat Poly- Werkes, Straubing Progr. 1889 ; V. Costanzi
gnotos in der bunten Halle die Schlacht von j a. 0. 14 ff.
Salamis mit dem Untergang Troias verbunden, | ®) Der Endtermin ergibt sich aus der
und ähnlich später Attalos in den Weih- , Annahme, Sophokles Antig. 905 ff. nehme auf
gescheuken der Akropolis Amazonenkämpfe, Herod. III 119 Bezug. Aber die Sophokles-
Marathonschlacht und Besiegung der Gallier. stelle ist offenkundige Interpolation (s. o.
Solche Kombination ist auch die Art der S. 313, 1).
attischen ?y>yoi Ltiidcfioi. '') In Thurioi ist sicher geschrieben IV 99,
*) Herod. IV 30 nQoo&tjxag yao dfj fioi wo die Gestalt des kimmerischen Bosporus
6 Aoyos i^ uQ^^ijg iötC^ito; VII 171 dXla r« an Attika und lapygien erläutert ist
440 Ghieöhisohe litteratargeschichte. L Klassisohe Periode.
Best in Athen zwischen 431 und 428 entstanden sei.^) Daß zwischen der
Abfassung des ersten Continuums und der Partie von III 120 an eine
längere Unterbrechung des Schriftstellers (infolge seiner Auswanderung
nach Thurioi) liege, schlieM Eirchhoff daraus, daß die I 106. 184 in Aus-
sicht gestellten ^egoi, 'Aoovgioi köyoi an der Stelle, wo sie zu erwarten
wären, III 150 nicht kommen. Dabei ist aber fraglich, ob die Vergeßlichkeit
des Herodot nur auf die eine von Kirchhoflf empfohlene Weise erklärt
werden kann, und noch fraglicher, ob III 150 die einzige oder auch nur
eine überhaupt mögliche Stelle für die Einfügung der ^Aoovgioi köyoi war;*)
auch besteht noch die Möglichkeit,^) daß Herodot in jenen Stellen des
ersten Buches ein besonderes Werk über assyrische Geschichte, das aber
nicht zur Ausführung kam, ankündigen wollte. Der Beweis dafür, daß
das Werk in der uns vorliegenden Abfolge der Teile, wenn auch mit Unter-
brechungen, verfaßt worden sei, ist also nicht erbracht. Das zweite Buch
über Ägypten wenigstens macht den Eindruck, als könnte es auch außer-
halb des Gesamtwerkes existiert haben, und vielleicht hätte sich Herodot
nicht zweimal, II 33 und IV 49, und an der zweiten Stelle ohne jede Rück-
beziehung, über den Ursprung und den Lauf des Istros ausgesprochen,
wenn das zweite Buch von vornherein bestimmt gewesen wäre, mit dem
vierten einen Teil desselben Werkes zu bilden.*) Noch auffalliger wäre
die zweimalige Erwähnung der Lage von Pedasos und des langen Bartes
der Athenapriesterin dieser Stadt I 175 und VIII 104, wenn nicht die zweite
Stelle nach einer Interpolation^) aussähe.
Eine zweite Kontroverse betrifft die Frage, ob Herodot sein Werk
zum Abschluß gebracht habe. Aus den 'Aoougioi kdyoi (siehe oben) ist
ein sicherer Schluß darüber nicht möglich. Mehr ins Gewicht fällt VII 213,
wo Herodot später {h roig omo^ev Xdyöig) von dem Tod des Verräters
Ephialtes zu berichten verspricht, während tatsächlich in den nachfolgen-
den Büchern davon nichts steht. ^) Demnach scheint es, als hätte Herodot
die Absicht gehabt, sein Werk, das jetzt mit der Einnahme von Sestos
*) Herod. V 77 erwähnt die Propyläen, 1 *) Auch in VI 60, wo eine Ergänzung zu
aber die vormnesikl eischen (s. o. S. 436, 2). | II 167 über gemeinsame Sitten bei den Lake-
*) E. Meyer, Forsch. II 198 f., findet, , daimoniern und Ägyptern gegeben ist, konnte
daß die Uaavgtot loyoi nur im ersten Buch j auf II 167 zurückverwiesen werden; eine in-
hätten untergebracht werden können. Gegen | direkte Bezugnahme auf 11 68 ff. liegt IV 44
die Möglichkeit, sie III 150 einzuschalten, : vor, aber in einem vielleicht später erst bei-
E. Bachof, N. Jahrbb. 115 (1877) 577 ff. gefügten Nebensatz.
«) So J.H.LiPsiüs, Leipz. Stud. 20(1902) ») So H. Stein zu VIII 104, 18 und Th.
200 f. Als Stütze für die Annahme eines eigenen Bebok, Griech. Litt. IV 246, 27.
Werkes über assyrische Geschichte benützt i ®) Gegen den daraus gezogenen Schluß
Lipsius die Stelle Aristot. bist. an. VIII 18
p. 601 b 1 T« fiFv ovv ya^tyfwrvxa . . . atojra
Ttdujiav ioTiV «/A* 'Höiodog {'Hgodozog var.
lect., 'Ho66o)gog coni. Th. Bergk, ^loiyovog
A. V. GuTscHMiD, Kl. Sehr. 11 119) f)yr6£i
erhebt Einwendungen Ed. Meyer, Rh. Mus. 42
(1887) 146 ff. In VIII 120 ist uns durch cod. B
eine kleine Lücke bezeugt; aber es wäre
doch ein sonderbarer Zufall, wenn die Er-
wähnung des Versprochenen gerade in der
tovTO' nFnoirjxe yäg lur Tijg fimtetag :tQ6f-Som' kleinen Lücke von zwanzig Zeilen gestanden
uFTor h xfj önfy?]oei t// jisoI ttjv jio?.ioQy.im' 1 wäre. Auch das Versprechen V 22 wird später
TTjv Ntrov nlvnrxa. Wo man diese Geschichte I VIII 137 nicht ganz erfüllt. Sonstige Vor-
bei Hesiod unterbringen soll, ist schwer zu Weisungen stimmen, so II 3s auf III 28;
sagen; Th. Bekgk, Gr. Litt. IV 258 denkt an 11 161 auf IV 159; VI 19 auf 77; VI 39 auf
die ^ÖQVii^ouavTeia. \ 103.
2. Die Oeschichtsschreibimg. b) Herodotos. (§ 250.)
441
(478) schließt, noch über dieses Ereignis hinaus fortzuführen. Denn wenn
man auch zugeben muß, daß mit jener Expedition der Flotte nach dem
Hellespont der Defensivkrieg der Griechen zum Abschluß gebracht istO
und daß die Erzählung von dem Zwiegespräch des Artembares imd Kyros
mit dem Schlußsatz äg^eiv eikovxo Xvng^v olxiovteg jnäkkov fj nedidda onei-
Qovreg äiloioi dovXeveiv sehr passend den betreffenden Abschnitt schließt,*)
so erwartet man doch die Fortführung des Werkes bis zu einem entschei-
denderen Wendepunkt, etwa bis zur Einnahme von Byzantion 477.^) In
Gedanken und Darstellungstechnik bildet aber das Werk ein geschlossenes
Ganze, und da eine mechanische Verstümmelung des Schlusses in der
Überlieferung keine Wahrscheinlichkeit hat, so hat die Annahme, Herodot
sei durch äußere Umstände an der Erreichung des von ihm erstrebten
Ziels verhindert worden, viel für sich.
250. Dialekt und Darstellungskunst. Der ionische Dialekt des
herodotischen Werkes, ohnehin bis c. 430 der allgemeine Dialekt für grie-
chische Prosaschriften, erregt vollends kein Befremden mehr, seit man
ionisch geschriebene Inschriften von Halikarnassos aus dem 5. Jahrhundert
kennt.-*) Herodot ist für uns neben dem Corpus Hippocrateum Hauptvertreter
der jüngeren ionischen Mundart.^) Mit der Weichheit und Flüssigkeit des
>) E. Meybr, Forsch. I 189 ff., U 217 ff.
Siehe dagegen die gewichtigen Einwendungen
von J. H. Lipsiüs, Leipz. Stud. 20 (1902)
195 ff.
*) Dieser Gedanke ausgeführt von Th.
GoMPERz, Herodoteische Studien, Wiener
Akad. Sitz.ber. 103 (1883) 141 ff.; dagegen
A. KiBCHHOPP, Berl. Akad. Sitz.ber. 1885,
S. 301 ff. Dem Inhalt nach ähnlich ist die
Stelle des Hippokrates :iegl degcDv vddtcoy
TOJTcov 23 (I p. 67, 21 Kühlew.): ojto (aev ^av-
/itjg xai Qi^&v^urjg rj dsditj av^erai, oJto de
Tfß TaXaiJzcogiTjg xal röjv Ji6vcov al ävdoEiai'
öia tovTo eioi fiaxififozeQoi oi zrjv Evocojitjv
oiüovvxEq, xai Öta rovg vofiovg, Sti ov ßaai'
/.evoyrat (oojieo oi 'AmrjvoL
') So J. H. LiPsiüs a. a. 0. Keinen Glau-
ben verdient die Angabe des Schwindlers
Ptolemaios bei Photios, bibl. p. 148 b 10: dtg
ID.rjoiQooog 6 Seoaa?,6g o v/ivoygdq^og igcbfie-
vog yeym'fhg 'HgoÖotov xal xXtjgovöfiog xwv
avTov, ovTog :toir)oEiE x6 ngooifiiov Tfjg Jio(bvrig
lOTogt ag 'Ilgodoiou 'jXixaovaaaecog' xr]v ydg
xata rpvaiv stvai zwv 'Hooöotov hrogtcov dg-
yj]v' JjEgnhor oi ?>6ytot xxl. Danach suchte die
Ünechtheit des Proömium zu erweisen F. La-
RocuE, Philol. 14 (1859) 281 ff.
*) Die wichtigste bei H. Röhl, IGA 500,
besprochen von A. Kibchhofp, Stud. z. Gesch.
d. griech. Alph., 4. Aufl., S. 4 ff. und F. Rühl,
Phil. 41 (1882) 54 ff.
*) über den Eindruck der Süßigkeit, den
der ionische Dialekt an sich hervorrufe, s.
Auct. .T. vtj). 23; Anon. Seguerian. p. 322,
27 Sp.; Aristid. Quint. de mus. II, 13; W.
ScHMiD, Atticism. III 16. Daß Herodots
Sprache kein reiner Lokaldialekt war, son-
dern viele poetische Elemente namentlich aus
Homer aufgenommen hatte, bemerkten be-
reits die Alten; s. Hermogenes in Rhet. gr.
II 423, 25 Sp., der dem Herodot im Gegen-
satz zu Hekataios 'Idda jtoixdtfv zuschreibt.
Dem Dionysios Halic. ep. ad Pomp. 3 ist
'HgoSoxog xfjg 'Iddog dgiaxog xavcbv. Vgl. F.
J. C. Bbedow, Quaest. critic. de dialecto He-
rodotea libri IV, Lips. 1846; über Herodots
Dialekt R. Merzdobp in G. Gürtius, Stud.
8 (1875) 125 ff. und 9 (1876) 199 ff.; H. Stein
in der Ed. mai. praef. XLIVsqq. 0. Hopf-
mann, Die griech. Dialekte III 186—193.
Unsere Handschriften schwanken vielfach,
wie zwischen ^ekü) und i^eXco, ixsTvog und
xEivog^ EtvExa und Etvsxevy und haben falsche
Formen, wie iyevdaxo, Kgoiasco u. a. V. Co-
STANZi in der Ausg. des ersten Buches (To-
rino 1895) gibt den Text in dem Dialekt der
ionischen Inschriften. Ob die Abneigung des
uns überlieferten Herodottextes gegen Vokal-
kontraktion und Krasis, die Weglassung des
Nv EifFXxvaxtxdv auf Herodot selbst zurück-
geht, ist sehr fraglich; die gleichzeitigen io-
nischen Inschriften verhalten sich anders.
Daß aber Herodot selbst mit Bewußtsein in
manchen Formen archaisierte, braucht man
nicht zu bezweifeln; hierher gehören Formen
wie dxgi^tog, dv^gcojttjiog bei Herodot gegen
— Flog bei Hippokrates, Substantiva wie ev-
jiadsifj, evvoit} gegen Evjrd&siaf evvoia, dann
dvayxairj gegen dvdyxrf ; ebenso die Produk-
tivität der femininalen Abstrakta -xvg bei
Herodot, die bei Homer häufig sind, in den
j hippokratischen Schriften dagegen fehlen.
442
Oriechische Litteratnrgesohichte. I. KlasBische Periode.
Dialektes steht in Einklang die Einfachheit des Stils und die Naivetät der
Erzählung. Von den Eigentümlichkeiten der herodotischen Darstellung
sind ohne Zweifel die meisten auf den altionischen Erzählerstil zurück-
zuführen. So die zahlreichen Novellen, die er einfügt, die Freude am
Wunderbaren und Märchenhaften, 0 &n rätselartig gestellten Pointen,^) an
Bonmots, 3) Ätiologien.*) Dem Novellenstil gehören auch gewisse typische
Figuren und Situationen an, die sich immerhin an Geschichtliches frei an-
gelehnt haben mögen: so die Figuren der Warner bei den Königen, wie
Artabanos, dem als Gegenstück Mardonios gegenübergestellt wird und den
dann der Grieche Demaratos^) ablöst, bei den Perserkönigen, Sandanis bei
Kroisos (I 71), Artabazos bei Mardonios; femer die Beratungsszenen (IV
118 — 120; VII 7 — 11), unter denen Herodot die Beratung der persischen
Verschworenen nach der Ermordung des falschen Smerdis (III 80 — 87) mit
merkwürdiger Bestimmtheit (HI 80; V 43) als geschichtlich hervorhebt.®)
An Geschichtlichkeit der eingelegten Reden und Gespräche ist natürlich
nicht zu denken. Was hier die strenge historiche Kritik etwa ver-
wirft, nimmt die Volkskunde um so dankbarer an, und jedenfalls geben
alle diese Züge dem Werk seine unverweUdiche Frische und Anziehungs-
kraft. Die Gefahr, sich in das bunte Vielerlei der Einzelheiten zu ver-
lieren, war zumal bei Herodots Sorglosigkeit in Einschaltung von Episoden^)
vorhanden; man fühlt sich oft an den Stil der orientalischen Rahmen-
erzählung erinnert. Die Einheit liegt aber in der religiösen Idee, der zu-
folge Herodot ebenso wie Aischylos die Niederlage der Perser als ein
^) Bericht über die russisch geschriebene
Schrift von W. Klinoeb, Die Märchenmotive im
Geschichtswerk des Herodot, Kiew 1 903,vonTH.
ZiBLiNSKi in der Berl. philol. W.schr. 23 (1903)
1505 ff. Besonders gelangen sind die tragischen
Geschichten von Kroisos und Periandros und
ihren Söhnen uud die Erzählungen von dem
Arzt Demokedes (III 125 ff.). Über die natio-
nalägyptischen (demotischen) Substrate für
die ägyptische Sage bei Herodot s. A. Ebman,
Handbücher der k. Museen Beriin VIII (1899)
13 f. Ein blspel vom törichten Mann, der seine
Liebe nicht verschwiegen genießen kann, ist
die Kandaulesgeschichte I 8 ff . (vgl. E. Wil-
helm, Rh. Mus. 59, 1904, 288).
^) Die Frage wird z. B. gestellt: wer in
irgend einem Stück die größte Befähigung
oder Leistung aufweise (so schon Hom. II.
B 216. 673. 761 ff.; vgl. E. Rohde, Kl. Sehr.
I 103), welche Einrichtungen und Sitten nur
bei einem bestimmten Volk zu finden seien,
wer als erster dies oder jenes getan habe,
welche Erscheinung, welches Werk in seiner
Alt das hervorragendste sei (vgl. II 148 f.
157. 182; III 10. 12. 20. 60. 125. 142. 148;
IV 5. 46. 53. 64. 85. 93. 104. 106. 141. 152.
166. 183. 184. 187. 204; V 3. 47. 49; VII
70. 106. 117. 170. 238; VIH 8. 11. 17. 79.
93. 104. 124; IX 7. 14. 37. 71. 96. 105 u. s.).
Pikantes Zusammentreffen wird notiert, so,
daß die Schlachten gegen die Karthager in
Sizilien und gegen die Perser bei Salamis an
demselben Tag geschlagen wurden, ebenso die
von PlatÄia und Mykale (VII 166; IX 90), daß
die Athener vom marathonischen Herakleion
zum Herakleion beim Kynosarges marschier-
ten (VII 116), daß sowohl bei Plataia als bei
Mykale ein Demeterheiligtum eine Rolle
spielte (IX 101), daß Kroisos vierzehn Jahre
lang König war und vierzehn Tage lang be-
lagert wurde (I 86). — Noch bei Thuc. z. B.
I 2, 1; II 11,1; Vn 75, 7 wirken solche Ge-
dankenschemata nach.
») Z. ß. IV 143. 144; VII 120. 226; VIU
125; IX 55. 82.
<) n 130 f. 136. 137. 141. 150. 175; IV
30. 166; V 12 ff. 75. 86. 87; VI 52. 138;
1X73.
*) I. Bbuks, Litt. Poitr. 92 ff.
ö) E. Meybb, Forsch. I 201 f.; zu dem
Motiv des Kronrats vgl. B.CHALATiANZ.Ztschr.
f. Volksk. 14 (1904) 290 f. Nachahmungen
Dio Cass. LH 1 ff., Philostr. vit. Apoll. V 33 f.
7) Siehe o. S. 439, 4. Mit einem Stich-
wort {ö/jcovv/jia der beiden Kleisthenes) ist
V 67 f. die Episode über den Tyrannen Klei-
sthenes eingeführt. Sehr gewaltsam erscheint
die Episode von Kypselos in der Rede des
korinthischen Gesandten V 92. Dagegen ist
der Ort für die Einschaltung der Peisistratos-
geschichte V 55—96 passend gewählt.
2. Die Oeschichtssohreibimg. b) HerodotoB. (§ 250.) 443
Gottesgericht, und der pragmatischen, der zufolge er den Perserkrieg als
letzten Akt in einer Reihe von Zusammenstößen zwischen Orient und
Occident betrachtet. Je näher Herodot an seinen Hauptgegenstand heran-
kommt, desto strafifer wird die Darstellung und desto mehr treten die Epi-
soden zurück. Zum Stil des ganzen Werkes gehört es, alles fernzuhalten,
was nach angestrengter gelehrter Durcharbeitung des Stoflfes aussieht. In
chronologischen Dingen fehlt es sehr an Schärfe: für die ältere Zeit
rechnet Herodot nach Generationen, deren gewöhnlich (aber nicht immer) 1)
drei auf ein Jahrhundert gehen, und nach Regierungszeiten, die teilweise mit
Generationen gleichgesetzt werden. Einen schwachen Anlauf zu annalistischer
Darstellung nimmt er, wo er an die Perserkriege kommt: er rechnet nach
natürlichen Jahren, 2) Monaten,*) Jahreszeiten,*) gibt auch gelegentlich
einen attischen Archen (VHI 51) oder griechische Festzeiten*) an. Bei
den Hauptentscheidungen im Perserkrieg bezeichnet er auch Tage.^) Die
überlieferten Züge hervortretender Persönlichkeiten zu einem widerspruchs-
freien Gesamtbild zu vereinigen gelingt ihm wenig,') und auffallig ist auch
die Prinziplosigkeit, mit der er gerade von den bedeutendsten Männern
keine Charakteristik, dagegen von untergeordneten Leuten charakteristi-
sches Detail gibt. 8) Wo ihm verschiedenartige Nachrichten über einen
Gegenstand vorliegen, da kann er sich, sehr im Gegensatz zu Thukydides,
begnügen, sie, unter kurzer Bezeichnung seiner eignen Auffassung, zu
registrieren und dem Hörer das Urteil zu überlassen.») Den Beispielen
eines unschlüssigen Gewährenlassens vor dem zudrängenden Stoflf stehen
aber Fälle gegenüber, in denen der Historiker mit überraschender Be-
stimmtheit ein Urteil abgibt, fremde Ansichten widerlegt, eigene umständ-
lich begründet *<^) oder betont, daß eine völlig sichere Darstellung unmöglich
sei infolge des Mangels an Berichten ^0 ^der der Unvereinbarkeit der vor-
handenen.»«) In diesem Stück wie auch sonst in manchen zeigt das Werk
Herodots zwei verschiedene Gesichter. Er steht auf der Übergangsstufe
von dem frischen und frohen Ausschütten des ersammelten interessanten
Materials zur kritischen Verarbeitung desselben. Der Geist der Sophistik,
der die geschichtliche Kritik hervorbrachte, hat ihn eben noch gestreift,
aber nicht, wie den Thukydides, durchdrungen.
Den Höhepunkt erreicht bei Herodot die Kunst des Auf baus und der
fast dramatischen Spannung in der Einleitung zum zweiten Perserkrieg,
») Vgl. II 142 mit I 7. Über chronolo- i ^) I. Bbüns a. a. 0. 73 S,
gische Irrtümer s. z. B. E. Bohren, De VII ■ ®) Bericht über einen Vorgang mit dem
sapientibus 40 ff. ; A. WiEDBMANN zu Herodot. Vorbehalt, daß er ihn nicht glaube, JI 73;
II p. 500 f.
^) VI 42. 46; VII 1. 4. 7. 20. 37; VIU
51. 130. 131; 1X39. 40. 41. 121.
3) IX 3.
*) VIII 12; IX 117.
^) Olympien und Karneen VIII 72.
«) VII 183; VIII 9. 12. 13. 15. 54. 107. 115;
IX 17. 84. 90. 92. 100. 101. Dabei kommen
auch Fehler vor: Th. Lenschaü, Jahresber.
über die Foilschr. der Altertumswiss. 122
(1904) 196.
') I. Brcns, Das litterar. Porträt 75 ff.
IV 5. 25. 105. 173. 187. 195; IV 42; V 10.
86; VI 121. 123. 173; VIII 119. 120; Neben-
einanderstellung verschiedener Berichte mit
oder ohne vergleichende Würdigung II; II 20 ;
m 1 ff. 9. 32. 47. 87. 120 f.; IV 5 ff. 150;
V 44. 85 f.; VI 75. 84. 134; VII 148 ff. 150 ff.
166 f. 213; VIII 85. 94. 118 ff.; IX 74.
»0) Siehe z. B. II 16. 20. 45. 135; III 45;
VII 214. 221; VUI 120.
>>) VIII 128. 133; IX 84.
»«) VIU. 82; VII 54.
444 GriechiBche Litteraturgeschichte, I. EUnusche Periode.
wo man die Einwirkung homerischer Technik (Dias B) spürt. 0 Voran
steht der Kronrat bei Xerxes (VII 8 — 12) mit verteilten Rollen der Sua-
sores und Dissuasores (Mardonios und Artabanos). Dann hat Xerxes in
der Nacht einen Traum, einen richtigen „ovXog dveigog'^, der sich wieder-
holt und auch dem Artabanos, um dessen Zweifel niederzuschlagen, er-
scheint. Durch die Macht der "Airj wird so der König in die vßgig hinein-
getrieben. Nachdem er entschlossen ist, erscheint ein weiterer verheißungs-
voller Traum (VII 19). Zur Erhöhung der Spannung wird dann darauf
hingewiesen, daß dieser Zug der weitaus bedeutendste Machtaufwand der
Perser seit jeher gewesen sei; der Abschnitt schließt in einer dem Herodot
sonst ganz fremden Weise mit einer pathetischen Figur, der rhetorischen
Frage VII 21. Es folgen die vorbereitenden Maßregeln und der Zug zur
Reichsgrenze. Die Überschreitung der Grenze wird wieder mit allem
Prunk ausgestattet: der Aufzug des Königs, der Rückblick auf den Zug
von Sardes nach Abydos mit dem wirkungsvollen Kontrast zwischen den
großartigen Opfern des Königs bei Ilion und dem panischen Schrecken,
der in der folgenden Nacht das Perserheer ergreift; dann der Höhepunkt,
die großartige Heeres- und Flottenschau, ein Seitenstück des homerischen
Schiffskatalogs (VII 61 — 99). Sonst vermeidet Herodot allen stilistischen
Aufwand, alle Formen, die logische oder künstlerische Anspannung aus-
drücken. Nur durch eine gewisse poetische Tönung, besonders in Homer-
reminiszenzen,«) erhebt sich der Ausdruck über das Gewöhnliche; Meta-
phorik und Bildlichkeit treten ganz zurück;*) ebenso die pathetischen Fi-
guren des Sinns*) und gesuchter Schmuck in Wortfiguren. ^) Der Satzbau
ist schlicht anreihend «) und beiordnend, ohne kunstmäßige Periodisierung
und Rhythmisierung. In einer gewissen Breite*^) und kleinen logischen
Entgleisungen®) zeigt sich die Läßlichkeit der Formgebung, ebenso in
einem sorglosen Hervortretenlassen der subjektiven Anschauung des Schrift-
stellers.») Mit allen diesen Eigenschaften stellt das Werk Herodots die
denkbar größte Reinheit und Einheitlichkeit des Stils dar und erweckt
nach Dionysios Hai. {n, fufxrio, B 3 p. 207, 20 f. üs.) den Eindruck der fjöovri,
7iet&(6, x^Q^^f ^ös avroq?vig; es ist der Typus eines „ethischen" Geschichts-
werks, in vollem Gegensatz zu dem „patketischen** des Thukydides.^^)
') D. MüLDBE, Klio 7 (1907) 29 ff. sucht
hier schwerlich richtig Beeinflussung durch
Choirilos' TTEgaixd.
*) H. Stein zu Hdt. IV 119, 17.
») H. Blümnke, Jahrbb. f. cl. Philol. 143
(1891) 9 ff.
Litotes, Jahrbb. für cl. Phil. Suppl. 15 (1887)
451 ff
*) Anakoluthien s. H. Stein zu IV 147,
14; Voranstellung der Begründung ders. zu
I 8, 4. 24, 17; öfter hat Her. die homerische
Verschiebung der Gegensätze, s. H. R. Grund-
*) Rhetorische Fragen nur VII 9. 21; ' mann. Quid in elocutione Arriani Herodoto
Hypophora III 6. ' debeatur, Beri. 1884, 50 ff.
*) Etymologische Figuren, Antithesen, 1 •) Hieher gehören vorausweisende Be-
Wortspiele fehlen; nur III 147 begegnet ein I merkungen wie fyco dtj^icooco, arjfiavko. Rück-
scherzhaftes Oxymoron. Verweisungen, scheinbare Willkürlichkeiten
<•) /.f'c/c: ftgofierrj Aristot. rhet. 1409a 24 ff.;
von Rhythmen des H. redet Hermogenes -t.
Id. p. 421, 13 f. Sp.
') Tautologien und Pleonasmen s. H.
Stein zu III 36, 29; oxfjfia xat* äoaiv xai
^eoiv C. Weymann, Stud. über die Figur der
{ov fiot tjdinr eiJisTv u. ä. vgl. II 46. 47. S6.
123; m 95; IV 43 extr.; V 72 extr.; VI 55;
VII 96. 99. 224; VIH 85); eine gewisse Ge-
heimniskrämerei in religiösen Dingen (H.
Stein zu II 3. 8).
*^) Cicero or. 39 vergleicht den Herodot
2. Die GeechiohtssGhreibnng. b) Herodotos. (§ 251.)
445
251. Wissenschaftlicher Charakter des Werkes. Den Zweck
seiner Arbeit bezeichnet Herodot im Anfang seines Werkes mit Worten
{(bg ju}]T€ rd yevojueva iS äv&Q(bn(ov Tq> XQ^^ iSirrjia yevrjrai fxrire k'gya
jueydXa xe xal doyvfJLaoxä xä juiv TJXXi]oi xä di ßagfiägoioi djiodex'&ivxa äxkeä
yivrjxai xd xe äXXa xal di fjv alxii]v ijtoXeßArjoav äXXijXoioi), die zeigen, daß
er weder eine zeitliche noch eine örtliche Einschränkung des Stoffes im
Auge hat, daß er Weltgeschichte schreiben will, unter dem Gesichtspunkt,
die Konflikte zwischen Griechen und Ausländem, insbesondere Orientalen,
im Zusammenhang zu betrachten und zu begründen. Er ist sich bewußt,
daß es zu diesem Zweck möglichst umfassender und gewissenhafter Stoff-
sammlung bedürfe, und betont, daß er in dieser Beziehung das Erforder-
liche getan habe (IV 192; V 57; IX 43 u. s.) durch Reisen und mündliche
Erkundigungen, zu denen auch, mehr als er aus stilistischen Gründen (s. o.
S. 436 A. 7 Schluß) zugibt, litterarische Studien Einzutreten. Seine Aufgabe
löst er in dem oben charakterisierten Stil des Geschichtenerzählers, der
belehren und unterhalten will. Wissenschaftliche Schärfe im vollen Sinn
liegt diesem Stil und liegt auch der Eigenart Herodots fem.*) Während
seines Aufenthalts in Athen ist er ohne Zweifel von dem kritischen Geist
der Sophistik berührt worden;*) aber die Äußemngen seiner Kritik sind
(s. 0. S. 443) weit entfemt von dem bohrenden, methodischen Intellek-
tualismus dieser Richtung; er ist nicht sowohl unfähig, als daß er sich
scheut, das zuströmende Tatsachenmaterial verstandesgemäß zu meistern.
Übrigens ist seine Kritik litterarischen Quellen gegenüber weit schärfer
als mündlichen gegenüber. In seinen Berichten über den Orient ist
manches Irrtümliche und Mißverständliche 5) aus seiner Unkenntnis der
barbarischen Sprachen zu erklären. In anderem hat er, auch auf grie-
chischem Gebiet, die „Legende" zu wenig kritisch übernommen.*) In
mit einem sedatus amnis; ähnlich QointU. IX
4, 18; Dio Chrys. or. 18, 10 p. 479 R.; Athen.
78 e nennt ihn fieliyriQvg. — Dion. Hai. ep. ad
Pomp. 3 giht eine sehr lesenswerte Verglei-
chung des Thukydides und Herodot zugunsten
des letzteren, aus der nur der Satz hervor-
gehoben sei: t; fikv'HQodotov dtd^eoig h obzaatv
ejiisixrjg xal xoXg fikv dya&oTg ovvrjÖofiivrj , toTg
de xaxoXg ovvakyovaa^ vgl. Dionys. de Thuc.
23. Hermogenes de ideis II 12 p. 421 Sp.:
/f/fTot Tov xaikLQOv xal evxgivovg noXvg ian
raig rjdovaig' xal ydg latg swolaig fiv&ixatg
oyfSov dsidaaig xal zfj ?J^ei Jtoirjrtxfj xe^Qt^rai
Sio/.ov.
^) Zusammenhängend handelt über Hero-
dots Weltanschauung E. Meter, Forsch. II
252 flf. über seine Religion J. L. Hsibbro,
Festskrift til J. L. üssing, Kopenh. 1900,91 ff.
^) Spuren davon finden sich in seinem
Operieren mit Begriffen der Sophistik: olxog
(III 108. 111; IV 31. 195; V 10; VI 82; VH
102. 104. 129. 160. 167. 218. 239; VHI 10.
60. eSß); Aoyog 6o06g (H. Stein zu VII 103,
11) ; Antithesen v6^iog-(f)votg (IV 39. 45), koyog-
ioyor (III 72; IV 8; V 24; VI 38; oft bei So-
phokles) ; prodikeKsche Auffassung der Sprache
als eines Naturproduktes II 2; sehr sophistisch
ist die Widerlegung von Hekataios' Erd-
einteilung (II 1 6) . Die Bewunderung für kultur-
lose Naturvölker (UI 21 f.) berührt sich mit
jenen Stimmungen der Sophistenzeit, die dann
in dem kynischen g^vaig-Ideal zum Durch-
bruch kommen.
•) Die Übertreibung von Herodots ün-
zuverlässigkeit über Orientalia (A. H. Satob,
The ancient empires of the east. Herodotos
books I — III, Lond. 1883) wird durch neuere
Funde und Untersuchungen (J. Oppebt in
Mölanges Weil 321 ff.; A. Croiset, Rev. des
6t. Gr. 1, 1888, 154 ff.; ü. Wilckbn, D. Lit-
teraturz. 22, 1901, 2211; H. SchIfer, Beitr. z.
alten Gesch. 4, 1904, 152 ff. ; F. W. v. Bissinq,
Der Bericht des Diodor über die Pyramiden,
Berl. 1901) stark eingeschränkt.
^) Hieher gehören die unmöglichen Zahlen
für die persischen Eontingente, die übrigens
nach B. Niese (Gott. Gel. Anz. 1901, 602 ff.)
doch nicht so stark vergriffen sind, wie H.
Delbrück (Geschichte der Kriegskunst im
Rahmen der politischen Geschichte I, Berlin
1900) annimmt. Siehe unten S. 448, 3.
446 GriechiBohe litteraturgesohiohte. L SlaMische Periode.
naturwissenschaftlichen und geographischen Dingen sind seine Kenntnisse
zum Teil unzureichend und seine GtesamtvorsteUungen schief, von ihm aber
mit besonderem Nachdruck verteidigt. Den Winden schreibt er z. B.
einen gewaltigen Einfluß auf den Sonnenlauf, das Klima, den Wasser-
reichtum der Flüsse zu,») Sonnenfinsternis bedeutet ihm ein Weggehen der
Sonne von ihrem Platz am Himmel (VII 32); wenn er sich II 23. IV 8.36
von Homers Anschauung, als sei die kreisrunde Erde vom Okeanos um-
flossen, losmacht, so steht er doch VH 70 mit seinem Glauben an die
zweierlei Äthiopen unter Homers (a 23) Einfluß.*) Der spekulativen natur-
wissenschaftlichen Geographie der altionischen Physiker und des Hekataios
begegnet er mit ähnlicher Skepsis wie Hippokrates der spekulativen Medizin.
Seine Geistesrichtung ist nach Niebuhrs Ausdruck der Empirismus. Seine
Religion, die sich mit der des Sophokles deckt, war einer objektiven Dar-
stellung der Vorgänge in keiner Weise hinderlich, da sie völlige Ergebung
in den Weltlauf in sich schließt: nach seiner Meinung waltet über der
Welt ein festes Gesetz, eine göttliche Macht, ^) die in Orakeln, Stimmen,
Träumen ihren Willen zu erkennen gibt — wer sich dem nicht fügt, hat
davon den Schaden.*) In das Wesen der Gottheit tiefer eindringen zu
wollen ist zwecklos; am besten ist es darüber zu schweigen.^) Die Benennung
der Götter und die Verteilung ihrer Wirkungskreise ist Menschenwerk«)
und unverbindlich. Gerechte Ausgleichung von Glück und Verdienst unter
Völkern (VIII 13) und einzelnen ist Beruf der Götter. Ihr Neid^) trifft
die, denen es über Verdienst wohl ergeht. Niemand, auch Herakles nicht
(II 43 f.), kann sich das Glück verdienen; die Götter haben aber ihre Lieb-
linge, und diesen mag auch einmal eine Freveltat ungestraft hingehen
(VU 133; VIII 88). In der Regel muß jeder auch einmal Unglück erleiden,
und je höher er stand, desto tiefer ist dann sein Fall (0133; VH 203).
Wenn dem Herodot auch die Göttersagen und die Kultgebräuche unter
den Begriff der Menschensatzung fallen, so anerkennt er doch die Berech-
tigung nationaler Spezifikationen im Kultus;®) aber der Gedanke, die ver-
schiedenartigen voßioi so, wie der Verfasser der AiaU^eig tut, gegen ein-
ander im Sinn eines immoralen Naturalismus auszuspielen, liegt ihm ganz
fern. Neben den Göttern, jedoch deutlich von ihnen gesondert,^) sind ihm
die Heroen Gegenstände des Glaubens und der Verehrung, ^ö) Im einzelnen
äußert er Zweifel, z. B. gegen die Existenz der athenischen Burgsehlange
(Vni 41) oder gegen die Wirksamkeit von Sturmbeschwörungen (VII 191).
Der sittlich-religiöse Radikalismus der Sophistenzeit ist ihm aber sicherlich
1) B. G. NiEBUHR, Kl. bist. u. philol. Sehr.
I 132 flf.
^) Kritische Äußerungen über geographi-
sche Dinge III 115. 116; IV 36 ff. über
seine geographischen Anschauungen im all-
gemeinen H. Bergeb, Gesch. der wissensch.
Erdkunde I, Leipz. 1887, 26. Richtige An-
schauungen II 10—12; VII 129.
3) ovvTvyu) IX 91; Osiri xv^V V 92y;
Tioovoh] III 108 (für uns erster Beleg einer
Theodicee in griechischer Litteratur).
*) VII 57; VIII 20. 77; IX 41.
^) H. Stein zu II 3 ; IX 65 ; ebenso denkt
Sophokles (E. Rohdk, Psyche H» 238. 3).
«) n 53.
^) I 32; III 40; VH 10, 5. 46; VIII 109.
Aischylos verwirft diese volkstümliche Vor-
stellung (G. Finsler, Orestie 22).
8) III 31. 38; V18.
ö) H. Stein zu VI 53, 4.
»oj VII 137. 169; Vfll 109; IX 116 ff.
2. Die GeeohiohtBsöhreibiuig. b) Herodotes. (§ 251.;
447
ebenso antipathisch gewesen wie dem Sophokles, und es ist möglich, daJg
sein auffällig ungünstiges Urteil über Themistokles, der ein ganz prosaischer,
„modemer" Mensch war,*) in der Verschiedenheit der Weltanschauungen
mit begründet ist. Dem Perikles dagegen war er trotz der engen Be-
ziehungen, in denen dieser zur Sophistik stand, innig zugetan.') Wiewohl
er im ganzen von der Superiorität der auf Freiheit begründeten griechi-
schen Kultur gegenüber derjenigen der orientalischen.Despotien überzeugt
ist,^) erfüllen ihn doch auch die großzügigen Staatsordnungen und Leistungen
des Orients mit ehrfürchtiger Bewunderung, und in seiner Darstellung der
Perserkriege hört man keinen Ton von nationalistischem Chauvinismus. —
Was seine Beurteilung der griechischen Stämme und Staaten betrifft, so
ist er ebenso wie Ion und Stesimbrotos Renegat des loniertums*) und sieht
in den Führern des ionischen Aufstandes lediglich gewissenlose Aben-
teurer.^) Seine Sympathien aber wendet er nicht dorischem Wesen zu,
sondern dem Staat, der sich im Freiheitskrieg am höchsten über den
Partikularismus erhoben und den Vorkampf für die hellenische Kultur über-
nommen hat, Athen. ^) Sein Werk, in einer Zeit erschienen, da Athen
ganz besonders verhaßt war wegen seiner egoistischen Politik, kann ge-
radezu als Apologie für Athen, bezeichnet werden. 7) Auch die Verfassung
Athens mit ihrer hovo/Lurj (III 143) und lorjyoQtrj (V 78) bewundert er, ohne
übrigens für die Schwächen der Demokratie blind zu sein (V 97), und
datiert Athens Aufschwung seit der Abschüttelung der Tyrannis.®) Diese
verwirft er im Prinzip,^) wiewohl er ihre fieyaXonQmeia (III 125) anerkennt.
Von der in den Aristokratien üblichen Vergötterung des Reichtums ist er,
wie die Kroisosgeschichten und die ironisch gemeinte Anekdote von Alkmeon
(VI 125) zeigen, weit entfernt; im Gegenteil gilt ihm wie dem Demokritos
die neviri als Schwester der Freiheit (VII 102, VIII 137; vgl. oben S. 185, 2;
230, 4). Seine Parteinahme für Athen hat seinen Blick für die Leistungen
anderer Staaten im Perserkrieg, weniger Spartas (s. IX 71) als Korinths^ö)
etwas getrübt.
Schon im Altertum glaubte man sich der Wahrheit gegen seine Ent-
stellungen annehmen zu müssen, wie in der erhaltenen wissenschaftlich
nicht sehr hoch stehenden Schrift negl rfjg ^Hgodorov xaxorj&elag Plutarchos
1) H. Stein zu Vlll 4, 11. E. Mbybb,
Forsch. II 223 f. findet in dem Urteil Hero-
dots das des Perikles und der attischen Adels-
kreise (s. a. Kritias bei Ael. var. hist. X 17).
Das Urteil des Thukydides (1 138, 3) ist gegen
Herodot gerichtet (s. a. Ar. eq. 812 ff.)-
^) Siehe VI 131 und besonders die Ver-
teidigung der Alkmaioniden VI 121 ff.
') Viele Errungenschaften der Kultur
führt er auf , barbarischen* Ursprung zurück
(II 4. 43. 49. 50. 58 f. 123; IV 180. 189; V
58. 88; VI 53 f. 55. 58 f.) ; aber für die besten
rofioi erklärt er VII 102. 104 die mit owfiij
verbundenen und dgeti^ bewirkenden, und
diese sind die griechischen. Das Urteil ßag-
ßfiQoioi ovre jtiotov ovrs dXrj&kg ovdiv wird
VIII 142 den Lakoniern in den Mund gelegt.
Siehe a. IX 79.
4) VI 11 f.
^) VI 2 f. 29. 124.
«) VII 139 f.; VIII 3. 144; IX 7. Die Be-
rechtigung dieser Auffassung anerkennt so-
gar Plut. de mal. Herod. 29.
^) E. Mbybb, Forsch. II 197. Daß H.
durch seine Darstellung der Taten der Vor-
fahren die Griechen seiner Zeit vom Bruder-
krieg habe abhalten wollen, ist eine absonder-
liche Idee von H. Nissen.
8) E. Mbybb a. 0. I 198; II 222 ff.
») III 143; V 78; Männer, die nach Be-
freiung ihrer Heimat auf die Alleinherrschaft
verzichtet haben, hebt er mit besonderer
Wärme hervor (UI 142; VU 164).
»0) E. Meyer, Forsch. II 202 ff.
448
Ghriechische litteratiirgeschichte. I. Klassische Periode.
{inkg Tojv jtQoyovcov äßxa xal x^g AXrj^etag) tut, indem er weniger positive
Tatsachen (einiges aus „simonideYschen'' Epigrammen, Charon und anderen
Logographen) bringt, als den Herodot durch Nachweis von Widersprüchen
aus ihm selbst zu widerlegen sucht. ^ Seit Thukydides ihn stillschweigend
ablehnt, Ktesias, wiewohl als Historiker tief unter Herodot stehend, ihn
der Lüge bezichtigt und Aristoteles (de gen. an. 756 b 6) ihn ^v^oXoyog
nennt, ist es Mode geworden, seine Fähigkeiten als Geschichtsschreiber
nach der sittlichen und intellektuellen Seite herunterzusetzen.*) An Irr-
tümern und Mißverständnissen fehlt es freilich bei Herodot nicht,') aber
bewußte Fälschungen hat ihm noch niemand nachweisen können; wo er
unrichtig berichtet, geschieht es bona fide. Seine Darstellung trägt aller-
dings die Farbe einer bestimmten Weltanschauung an sich; aber sein ehr-
liches Bekenntnis dieser Anschauung gibt jedem Leser, der sich ihr nicht an-
schließen will, das Mittel zur Verifikation in die Hand; die Sympathien und
Antipathien, die er hat, sind von ihm begründet und somit verständlich.
Herodot will aber nicht als sogenannte Quelle behandelt und aus-
genützt, sondern als eine ganze, und zwar überaus liebenswerte, von allem
pedantischen und gewaltsamen Rationalismus, von allem falschen Pathos
freie, aufgeschlossene, ernst und heiter in die Welt blickende und ihrem
Reichtum in Gestalten und Farben sich hingebende Persönlichkeit gefaßt
werden. Er hat ein echtes, volles, überreiches Bild des Lebens mit seiner
unendlichen Abwechselung, seinen Widersprüchen, seinen verschieden-
artigen Maßstäben, seinen heroischen Erhebungen wie seinen kleinen
Menschlichkeiten, eine wahre Weltbibel geschaffen, die nicht veralten kann.
Durch Einstellung der Pentekontaetie in sein erstes Buch hat auch Thuky-
*) Die Schrift ist schon von Favorinus
(Ps.Dio Chr. 37, 7. 18) benutzt.
*) Photiosbibl. p. 35 b 41 : Ktrjaiag sv abtaotv
dvrtxeifieva 'HooSorq) Iotoqwv, d).Xa xai ytn)-
azijv avxov ouieXeyx^'^ ^ jioXXoXg xai Xoyojioiov
astoxakwy, id. 43b 21; Diodor. I 69, 7; II
15, 2. Ähnlich urteilt Manethos bei losephos
C. Ap. I 14: nosla xov 'Hqoboxw eleyxet rujv
Aiyvjiuaxcjv v-V dyvoiag fxpevofihov. Eine
Schrift des M. gegen H. erwähnt auch Eustath.
ad II. A 480 und Et. m. s. Aeovxoxofiog, So-
gar Bestechlichkeit wird ihm vorgeworfen
von Favorinus (Ps.Dio Chrysost. or. 37, 7 p. 103
R.) und Marcellinus vit. Thucyd. c. 26. Be-
sonders animos Strab. 508. 818. Eine Schrift
des Alius Harpokration jisgi xov xaxetpevodai
xijv 'Hqoöoxov iaxoglav erwähnt Snid. s.
'Agjt. a. JuL. ScHVABGZ, Die Demokratie von
Athen, Leipz. 1882 S. 22 f. und 661 ff. macht
gar in seinem Eifer gegen die Größen des
Altertums den Herodot, weil er von Athen
eine Belohnung von zehn Talenten erhielt,
zimi offiziösen Eüstoriographen und sein Werk
zu einer Subventionsarbeit. Von einem fons
philodelphus redet, angeregt durch Wilamo-
wiTZ (Äschyl. Choöph. S. 20), A. Öri, De Hero-
doti fönte Delphico, Diss. Basel 1899. Wie
sollte aber ein von Delphoi aus beeinflußter
Mann die Bestechlichkeit der Pythia so rück-
sichtslos an den Pranger stellen wie Herod.
IV 150; V 63. 66; VI 123, und die Athener
so wie er VII 139 f. 143 loben, weil sie sich
nicht durch Orakelsprüche einschüchtern
ließen?
') So hatte er von dem Alter der Schrift
keine richtige Vorstellung, so daß er sich
V 58 Inschriften des Amphitr^'on aufbinden
ließ. Irrtümer in der Beschreibung des Phönix
finden sich II 73. Über das Mißverständnis
vom Herumgeben einer Mumie beim Mahl II 78 f.
A. WiKDBMANN z.d. St. uud A.Erman, Äg>^ten,
Tübingen 1885—87, II 516; eine falsche"^ Maß-
angabe VII 34; elementarer Rechenfehler VII
187; grobe ünwahrscheinlichkeiten z. B. 1170.
93; VU 187. VII 37 ist die Sonnenfinsternis
von 478 in die Zeit des Xerxeszuges gesetzt
(s. N. Wecklein, Über die Tradition der
Perserkriege, Bayr. Akad. Sitz.ber. 1876,
253) und V 89 der äginetisch- athenische
Krieg von 487 mit dem von 506 verwechselt
(WiLAMOwiTZ, Aristot. und Athen II 280 ff.).
Die übermäßigen Zahlenangaben über die
Kontingente im Perserkrieg nimmt gegen H.
Delbrück in Schutz B. Niese (s. o. S. 445, 4);
s. a. Th. Lenschau, Jahresber. über die Fort-
schr. des Altert;. 122 (1904) 192 f.
2. Die Gesohichtssohreibang. b) Herodotos. (§ 251.) 449
dides, so wenig günstig er sonst gegen Herodot gesinnt ist, doch anerkannt,
daß dessen Werk unter den älteren Geschichtsdarstellungen die bedeutendste
sei. Bewußter, aber nicht sehr glücklicher Nachahmer der herodotischen
Schlichtheit in attischem Dialekt ist Xenophon*); im Gegensatz zu Thuky-
dides ist dann Ephoros wieder auf Herodots Plan einer Welthistorie, freilich
in neuer Form, zurückgekommen. Daß Herodot dem vierten Jahrhundert
zu breit war, ersieht man daraus, daß Theopompos eine Epitome aus ihm
in z.wei Büchern verfaßt hat. Aristoteles hat den Herodot in geschicht-
lichen und naturwissenschaftlichen Schriften viel benützt.*) Nach der
abschätzigen Beurteilung, die er im hellenistischen Zeitalter erfahren, folgt
die Periode seiner stihstischen Renaissance. Dionysios von Halikarnassos
stellt ihn über Thukydides, und im zweiten Jahrhundert wird es Mode,
in herodotischem Dialekt und Stil Geschichte zu schreiben, wie Kephalion,
Arrianos in den 'Ivdixd^ Lucian de dea Syria, einige Historiker des zweiten
Partherkriegs tun, oder wenigstens seine Schlichtheit (äq)iXeia) in attischem
Dialekt nachzuahmen, worin sich Pausanias und Älianus versuchen.*)
Codd.: Zwei Familieo, die aber, da beide das interpolierte Kapitel VIII 104 enthalten,
auf einen Archetypus zurückgehen; die ältere vertreten durch A (Flor. 73, 5, s. XI) B C
(A und B mit stichometrischen Angaben), die jüngere, von G. G. Cobet und Th. Gomperz
höher geschätzte durch R (Vatic. 123), P (Paris. 1633), Vindob., Sancroftianus. Kritischer
Apparat am besten in den Ausgaben von Th. Gaisfobd und von H. Stein. Hinzugekommen
sind für das erste Buch Papyri von Oxyrhynchos (der älteste, 1 115 — 116 enthaltende, s. II p. Chr.,
in München), worüber ü. Wilckbn, Arch. f. Pap. 1 (1901) 471 f.
Hypomnemata schrieben Aristarchos (ein Rest Amherst papyri II, 1901, nr. 12, wozu
s. L. Radebmacheb, Rhein. Mus. 57, 1902, 139 ff.) und wahrscheinlich (SchoI.Soph.Philoct.201)
auch sein Gegner Hellanikos, in der Kaiserzeit nach Suidas die Rhetoren Heron aus Athen,
Salustius und Tiberius, auch Eirenaios (E. Milleb, M^langes de litt, grecque, Paris 1868,
397). Kritische Studien stellte in Hadrians Zeit der Granmiatiker Alexandres von Ko-
tyaeion an (Porphyr, quaest ad Iliad. p.288 Schbadeb). Damals etwa ist wohl auch der
fseudoherodotische ßiog 'O^ijgov (s. o. ö. 33, 3) entstanden. rXojaaai 'Hgodotoit von Apol-
onios erwähnt Et. M. (ed. nova Lips. 1816) p. 500. Auf uns gekommen sind kaum nennens-
werte Scholien und dürftige '//joo^orov Xe^eig^ abgedruckt im Anhang von H. Steins Ausgabe;
vgl. A. Kopp, Beiträge zur griech. Exzerptenlitt., Berl. 1887, 72 ff.
Ausgaben: cum annot. Galei, Fr. Gronovii, Valckenarii, ed. P. Wessblino, Amstel. 1763.
— cum annot. Wesselingii et Valckenarii aliommque ed. J. Schweiqhauseb, Argent. 1816,
6 Bde. — ed. Th. Gaisfobd, ed. III Oxon. 1840. — ed. J. C. F. Bähb mit Kommentar, ed. II
Lips. 1856—61, 4 Bde. — ed. H. Stein, Berol. 1869—71, 2 Bde. mit erlesenem kritischen
Apparat, ed. min. Berol. 1884. — Textausgabe mit km*zem Apparat von A. Holdeb in Bibl.
Schenkl 1886. 88; mit Einführung einer auf die ionischen Inscmriften gestützten Orthographie
hat A. Fbitsch in seiner Schulausgabe (I Leipz. 1906) einen Anfang gemacht. — Erklärende
Schulausgabe von H. Stein bei Weidmann 1856—62; von K. Abicht bei Teubner 1861—66
(zuletzt 1906); von Y. Hintneb in Wien (zuletzt 1904). Ihres brauchbaren Sachindex wegen
ist auch die Ausgabe von W. Dindobf (Paris 1844) noch zu nennen. — Herodotos 1. 1 — III
with notes introduction and appendices von A. H. Sayce, Lond. 1883, worin die neueren For-
schungen der Orientalisten verwertet sind ; in gleichem Sinn das 4. — 6. Buch bearbeitet von
R. W. Mac AN, London 1895. Herodots zweites Buch mit sachlichen Erläuterungen von A.
Wiedemann, Leipzig 1890, dazu J. Kball, Wien. Stud. 4 (1882) 33—54. — Nordafrika westlich
vom Nil nach Herodot von R. Neumann, Halle 1892. — Englische Übersetzung mit reichen
sachlichen Kommentaren von G. Rawunson, ed. lU. Lond. 1876, 4 Bde. Klassische Übersetzung
ins Deutsche von Fb. Lange, 2. Aufl., Breslau 1824. — Lexicon Herodoteum von J. Schweiq-
hauseb, Straßb. 1824. — Über den Dialekt Herodots s. oben § 248. — Letzter Bericht (über
1898— 1901)indem Jahresber.üb. d.Fortschr. d. kh Alt. wiss. von J. Sitzleb Bd. 114(1902) 26 ff.
*) Dionys. Hai. ti. fn/i^a. B 3 p. 208, 1
üs.; ad. Pomp. 4, 1.
*) ü. KöHLEB, Beri. Ak. Sitz.ber. 1892,
339 ff. (über Benützung der Peisistratos- und
Kleisthenesgeschichte in der 'A^vaiojv noki- | Apologeten, Leipz. 1907, 188, 3.
Handbuch der Idass. AltertomswiBseiiMhaft. vn. 5. Aufl. 29
xeia)\ H. DiELS, Herm.22(1887)430ff.; J. H.
Lipsiüs, Leipz. Stud. 20 (1902) 201.
') Über Herodotbenützung durch die spä-
teren Philosophen J. Geffcken, Zwei griech.
450 Griechische Litteratiirgeachichte. L Klassische Periode.
c) Anfänge der attischen Prosa. Thukydides (am 460 bis um 400).
262. In der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts gewinnt der
attische Dialekt auch auf dem Gebiet der Prosa dem ionischen die Herr-
schaft ab. Dieser Prozeß ist eingeleitet durch den Zusammenbruch der
Selbständigkeit der kleinasiatischen lonierstädte, durch die Gründung des
attischen Seebundsreiches, in dem der attische Dialekt über die Inseln des
ägäischen Meeres und die Küsten Kleinasiens und Thrakiens hin als amt-
liche Verkehrssprache getragen wurde, durch die Wirkung der attischen
Tragödie außerhalb Attikas, besonders im Norden und Westen, und nament-
lich durch die Ansiedelung der Sophistik in Athen. *) Zur Zeit des pelo-
ponnesischen Kriegs bediente sich der Perserkönig im diplomatischen Ver-
kehr mit Griechen, auch Nichtattikern, eines attischen Sekretärs,*) schon
427 hat der Leontiner Gorgias in Athen attischen Dialekt gesprochen.
Die attische Litteraturprosa des fünften Jahrhunderts weist, ebenso wie
der Dialog der Tragödie, selbst in den Lauten {po, go statt zr, gg), be-
sonders aber in der Phraseologie und Syntax Einwirkungen von seiten des
Ionischen auf.^) Unsere ältesten Dokumente für den attischen Dialekt
stammen aus der Zeit des beginnenden 6. Jahrhunderts.^) Selbstverständ-
lich ist, daß der attische Dialekt des 5. Jahrhunderts sich von dem der
solonischen Zeit stark unterscheidet*) und daß der Litteraturdialekt wiederum
nicht identisch ist mit dem attischen Vulgär, das wir aus Vaseninschriften
und Verfluchungstäfelchen kennen lernen.®) Je mehr im Lauf des 5. Jahr-
hunderts die Verfassung Attikas sich demokratisierte, desto mehr wurden
Gericht und Volksversammlung Schulen für die kunstmäßige Rede in atti-
schem Dialekt. Vielleicht die frühste Prosaschrift in diesem Dialekt hat
Dämon, der Musiklehrer des Perikles, ohne Zweifel aus pythagorei-
scher Schule, geschrieben, eine Rede an die Areopagiten zur Verteidigung
der ethischen Wirkung der Musik;') zweifelhaft bleibt, ob diese Schrift
durch eine die musikalische Erziehung beeinträchtigende Maßregel des
Demos®) oder durch eine gegen die pythagoreische Lehre vom Ethos ge-
richtete Polemik von sophistischer Seite®) veranlaßt ist. Auch der Kalender
*) A. Thumb, Die griech. Sprache im 1 Ps.Xen.Ath.resp. II 8 über den Mischcharakter
Zeitalter des Hellenismus, Straßb. 1901, 234 ff. I der attischen Umgan^prache zu bestätigen.
') W. ScHMiD, Deutsche Litteraturzeitung — K. Meisterhans, Grammatik der attischen
1896, 362. i Inschriften, 3. Aufl. von E. Schwyzer, Berl.
') 0. Diener, De sermone Thucydidis 1900.
quatenus cum Herodoto congruens differat a ; ^) F. Bücheler hat (Rhein. Mus. 40, 1885,
acriptoribus Atticis, Diss. Leipzig 1889. 309) diese Schiift ins Licht gestellt.
*) Der attische Teil der Inschrift von **) Bücheler verweist auf Ps.Xen. resp.
Sigeion (H. Röhl, Inscr. Gr. antiquiss. 492); i Ath. I 13.
ein aus der drakonischen Gesetzgebung über- i ^) Eine solche Polemik, die wohl ins
nommenes Stück von Solons erstem a^cov 5. Jahrhundert hinaufreicht, lernen wir jetzt
(CIA I 61, 10 ff.), ein yfi^qpiofÄa aus dem | aus Hibeh pap. I nr. 13 kennen. Vorher
6. Jahrh. (CIA IV p. 57 nr. la). ] waren Philodem, de mus. und Sext. Emp.
^) Lys. 10, 16 ff. ' adv. math. VI unsere Hauptquellen über diese
®) P. Kretschmer, Die griech. Vasen- i weitgreifende, auch von Piaton und Aristoteles
inschriften ihrer Sprache nach untersucht, in ihren politischen Werken berührte Kontro-
Gütersloh 1894; E. Schwyzer, N. Jahrbb.f.kl. l verse. Dämons Schrift ist auch von Aristid.
Altert. 5 (1900) 244 ff. Diese Dokumente haben , Quintil.de mus. benützt (H.Deiters. De Ar.
übrigens nichts dazu beigetragen, die offen- ' Q. doctrinaeharmonicaefontibus, Düren 1870).
bar gehässig übertriebene Behauptung von | Siehe a. H. Abert, DieLehrev. Ethos38ff.48f.
2. Die GeschichtBschreibimg. c) Anl&nge der attischen Prosa. Thukydides. (§252.) 451
auf Grund eines neunzehnjährigen Schaltzyklus, den der Astronom Meton
432 veröffentlichte, gehört unter die ersten Proben attischer Prosalitteratur.
Erhalten ist von diesen Anfängen nur die Schrift vom Staat der
Athener, die als Gegenstück zur xenophontischen Aaxedaifiovioyv no-
XiTEia in das Corpus von Xenophons Schriften aufgenommen worden ist.
Es ist eine bei einer gewissen Zurückhaltung in der Form tief leiden-
schaftUche Parteischrift, verwandt mit Schriften wie Andokides' ngog rovg
haiQovg oder Antiphons Aoidoglai xar *Ahcißiddov mit dem Zweck, die
Oligarchen darüber aufzuklären, daß die in Athen nunmehr voll entwickelte
Demokratie eine durchaus planmäßig auf den Ruin der Aristokraten an-
gelegte Verfassung sei. Der Verfasser drückt das mit theognideischer
Terminologie aus eXXovxo rovg novrjgovg äfieivov ngdrceiv fj xovg XQV^^^^
(I 1)^) und anerkennt die methodische Konsequenz, die alle Einrichtungen
dieser Demokratie beherrsche (III 1). Der Ton ist ein resigniert-ironischer.
Die Anschauungen, welche die Schrift vertritt, sind bei Thukydides, be-
sonders im ^Emxdq)iog des Perikles, sehr häufig berührt und widerlegt.
Für eine rein theoretische Abhandlung aus sophistischen Kreisen*) hat die
Schrift zu viel Temperament und zu wenig Form, sie ist aber anderseits
doch wieder zu gemessen, um als eine zur Revolution, etwa zu dem Staats-
streich von 411,3) aufreizende Brandschrift verstanden werden zu können.
Am ehesten mochte sie bestimmt sein, als Codex politischer Bj'itik für
die jungen Aristokraten in den Hetärien zu dienen, also nicht für die
volle Öffentlichkeit. Der Anfang negl dk r^g 'A'&rjvaUov nolireiag läßt ver-
muten, daß ursprüngUch ein jetzt verlorener Abschnitt voranging.*) Ver-
faßt ist die Schrift in der zweiten Hälfte des archidamischen Krieges.*)
Die mehrfach gebrauchte Anrede in zweiter Person ist nicht etwa mit
C. G. Cobet so zu deuten,*) als hätte die Schrift ursprünglich — eine litterar-
historische Unmöglichkeit — dialogische Form gehabt; sie ist vielmehr
eine Nachwirkung des Stils der alten lehrhaften Elegiendichtung, wie sie
auch sonst (z. B. bei Aineias) in der sophistischen Belehrungslitteratur
auftritt und in den späteren Diatribenstil übergegangen ist. Die zum Teil
an Andokides gemahnende Ungeschicklichkeit der Anlage und des Stils
ist nicht Folge von Umarbeitung oder schlechter Überlieferung,') sondern
*) Von derAuffasBung dieses Schriftstellers auf die Zeit 425 — 22 II 13 und vielleicht
lebt noch etwas in der aristotelischen Defi-
nition der Demokratie (pol. 1279 b 8) als einer
Herrschaft Jtgog t6 av(Äq)iQov to x&v aJiOQOiiv.
') So R. Scholl in seiner ausgezeichneten
Rede Die Anfänge einer politischen Littera-
tur bei den Griechen, München 1890, 14 ff.
und an ihn anschließend E. Ealinka, Wiener
Stud. 18 (1896) 27 flf. Als Vorläufer der isokra-
II 5. A. KiRGHHOFF, Über die Schrift vom
Staate der Athener, Berl. Ak. Abhandl. 1874.
M. Schmidt, Memoire eines Oligarchen in
Athen ttber die Staatsmaximen des Demos,
Jena 1876, setzt die Schrift , 430/29 , H.
Müllbb-Stbübino, Die attische Schrift vom
Staat der Athener, Philol. Suppl. 4(1881) 1 ff.
417—414, und so im wesentlichen auchTn.
tischen Pamphletlitteratur faßt sie A.Baübb, Bbbok, Gr. Litt. IV 238 Anm. 7. G. Hof-
Die Forschungen zur alten Geschichte 239 f.
') E. Meybb, Forschungen II 401 fL
^) Bei den Klassizisten sind solche An-
fänge mit äXXd oder öf,, offenbar nach xeno-
phontischem Vorbild, Mode geworden (W.
ÖCHMID, Atticism. IV 546).
^) Auf die Zustände im Anfang des
Krieges weisen II 15. 16 (vgl. Thuc. II 14, 1),
KANN, Beitr. z. Kritik u. Erkl. der pseudox.
*A^. noL, Progr. München 1907.
*) Die Hypothese von C. G. Cobet ist
aufgenommen von C. Wachsmuth, De Xeno-
phontis qui fertur libello 'A^. noX.j GOttingen
1874.
^) F. G. Rbttig, Über die Schrift vom
Staate der Athener, Ztschr. für österr. Gjmn.
29*
452
GhriechiBche Litteratnrgescliichte. I. ElassiBche Periode.
Folge des Naturalismus des Verfassers, i) Wer der Verfasser sei, darauf
läßt sich nur raten ohne wissenschaftliche Gnindlage.*)
Neue Ausgabe von E. EALn^KA» De republica Atheniensiain qui inscribitur libellus,.
Wien 1898.
253. Thukydides. An das Büchlein vom Staat der Athener reihten sich
von erhaltener altattischer Prosalitteratur an die Reden des Antiphon, über
die später zu handeln ist, dann das Geschichtswerk des Thukydides. In diesem
Werk bewundern wir die höchste wissenschaftlich-kritische Leistung, zu der
es die antike Geschichtsschreibung gebracht hat Es ist gesättigt vom Geist
der Sophistik, aber die Lust am dialektischen Spiel, welche die Sophisten
vielfach zu frivolem Experimentieren im Gebiet der Wissenschaft, Sittlich-
keit, Politik und Religion gereizt hat, ist hier gebändigt durch eine Per-
sönlichkeit von tiefem Ernst, festem Wirklichkeitssinn und unerbittlicher
Konsequenz, die auf Klarheit, Wahrheit, Abschluß der Erkenntnis dringt
und mit der beobachtenden und doch teilnahmsvollen Ruhe des Arztes
den Erscheinungen des öffentlichen Lebens sich gegenüberzustellen vermag.
Thukydides ist eine Denkernatur, die zur Theorie neigt, aber eigener Ent-
schluß und Lebensschicksale haben ihn aus der Studierstube hinaus in
Welt und Leben geführt, und so ist ein Werk entstanden, das bei aller
wissenschaftlichen Schärfe und Methodik doch keineswegs doktrinär, son-
dern im eminentesten Sinn praktisch gemeint ist und entsprechend wirkt.
254. Leben.») Thukydides ist Sohn des Oloros aus dem attischen
28 (1877) 241 ff.; L. Lange, De pristina libelli
de rep. Atheniensiom forma restituenda com-
mentatio, Ldpz. 1882 mid Leipz. Stud. 5 (1882)
393 ff.; E. Uebzog, Zm: Litteratur ttber den
Staat der Athener, Tübinger Doktorenverz.
1892; E. EALiNKAa. a. 0.
^) Charakteristik des Stils bei F. Blass,
Die att. Beredsamkeit P 276 ff.
*) Auf Kritias riet A. Böckh, Staats-
haushaltung der Atiiener I* 432 unter Hin-
weis auf Pollux VIII 25, verglichen mit Ath.
resp. III 6 ; ähnlich E. Müllsb, Wer ist der
Verf. der älteren Schrift von der ath. Ver-
fassung? Progr. Zittau 1891 und E. Dbbbuf,
Jahrbb. für class. Philol. Suppl. 27 (1902)
313 ff. (über eine echte *A&. jtoI. des Kritias
A. V. GüTsoHMiD. Kl. Sehr. IV 327 f. ; F. Dümm-
LEB. Kl. Sehr. II 417 ff.). Indessen zitiert
Pollux diese Schrift als xenophontisch, und
Kritias war nach allem, was wir von ihm
wissen, ein viel zu routinierter Schriftsteller,
um ein so ungelecktes Produkt zu verfassen.
Siehe o. S. 173. An Phrynichos dachte H.
Mülleb-Stbübing , unter Zustimmung von
E. Meyeb, Forsch. II 403, 1.
') Außer dem Artikel des Suidas und
zwei wertlosen Stücken (Vita eines Anonym,
und Aphthen, progymn. p. 36, 20 ff. Sp.) liegt
vor eine ausfuhrliche Vita von Marcellinus
in TÖ)v elg ßovH. oj^okicov JieQi tov ßiov nvxov
Sovy.v^idov xai rijg xov ),6yov tdea^j dem-
selben Rhetor, von dem wir auch Schollen
zu Hermogenes (Rhet. gr. IV 39 ff. Walz)
haben. Die echte Marcellinusbiographie bil-
dete die Einleitung zu einem Thukydides-
konmientar (Greg. Cor. p. 79 Sch.) dieses dem
5. Jahrb. n. Chr. angehörenden Rhetors. Die
uns unter seinem Namen vorliegende Bio-
graphie zerfällt, wie E. Petebsen, De vita
Thuc, Dorpat 1873, festgestellt hat, in drei
mechanisch zusammengeschobene Teile (§2
bis 44; 45—53; 54—57), die vielleicht der
Rhetor Zosimos von Askalon c. 500 ver-
bunden hat. Der echte Marcellinus steckt im
ersten Teil. Die Biographie enthält, was
richtiger- oder unrichtigerweise aus dem Werk
des Th. erschlossen worden ist, auch Ver-
wechslungen mit Th. dem Sohn des Me-
lesias. Nicht aufgenommen sind Daten, die
teils aus monumentaler (Familiengrab in
Melite und inschriftliches y't)(fioita auf der
Akropolis von Oinobios, s. Plut. Cim. 4 und
Paus. 1 23, 11) teils aus litterarischer (Kra-
tippos?) Überlieferung stammen (Dionys.Hal.
de Thuc. 16; vgl. Marcellin. 33). Die Vitae
des Marcellin. u. Anonym, in der Thuk.ausg.
von E. HüDE I (Leipz. 1898). — Neuere Dar-
stellungen: K. W. Kbügeb, Untersuchungen
über das Leben des Thukydides, Beri. 1832,
mit Nachtrag 1839; W. H.Rosoheb (der be-
rühmte Nationalökonom), Leben, Werk und
Zeitalter des Thukydides, Göttingen 1842;
J. Classen, Einl. zur Thukydidesausgabe I,
4. Aufl. von J. Steup, Berl. 1897 ; Wilamowitz,
Die Thukydideslegende, Herrn. 12(1877)326 ff.,
mit Entgegnungen von R. Scholl, Herrn. 13
(1878) 433 ff., und G. F. Ungeb, Jahrbb. f. cl.
Phü. 133 (1886) 97 ff. 145 ff. Orientierend über
^. Die aeschichtsschreibang. c) Anl&nge der att. Prosa. Thnkydides. (§§ 253—254.) 453
Demos Halimus.O Sein Stamm ging mütterlicherseits auf den thrakischen
König Oloros zurück, dessen Tochter Hegesipyle der Marathonsieger Mil-
tiades, der Vater des Kimon und der Großmutter unseres Historikers, ge-
heiratet hatte.*) Die Verwandtschaft mit den Peisistratiden ist leicht-
fertige Vermutung des Hermippos') auf grund der Exkurse über die Peisi-
stratiden I 20 und VI 54 — 59, wo der Historiker sich um Berichtigung
falscher Traditionen über die Tyrannen bemüht zeigt. Von seinen thrakischen
Ahnen oder von seiner Frau, die aus der attischen Besitzung Skaptehyle
an der thrakischen Küste stammte,*) hatte er die Erbpacht^) der reichen
Bergwerke in Thrake, nach denen er sich in der letzten Zeit seines
Lebens zurückzog. Die Wirkung des thrakischen Blutes hat man schon
in dem fast finsteren, ungriechischen Ernst seines Wesens, der sich auch
in seinen Gesichtszügen ausdrückt, finden wollen.*) — Die Angaben der
Alten über sein Geburtsjahr beruhen auf falschen Voraussetzungen; 7) aus-
zugehen ist von seinen eigenen Worten I 1 und V 26, 4, wonach er im
Jahr 431 nicht zu jung war, um dem Gang der Ereignisse mit Verständnis
folgen und darüber Aufzeichnungen machen zu können; demnach kann das
Oeburtsjahr bis gegen 452 herab- und schwerlich über 460 hinaufgerückt
werden.«) Der Einfluß, den die Sophistik auf seine Denk- und Ausdrucks-
formen ausgeübt hat, ist mit Händen zu greifen, aber die Angaben der
Biographie über bestimmte Lehrer wie Anaxagoras, Antiphon verdienen
keinen Glauben. 0) Auch das Geschichtchen von dem Eindruck, den eine
Vorlesung des Herodot auf den jungen Thukydides gemacht habe, ist
novellistische Erfindung späterer Grammatiker. ^0) — im Jahr 430/29 ward
die neueren biographischen Forschungen A.
Bauer, Die Forschungen z. griech. Geschichte,
München 1899, 210ff. und genauer E. Lakge,
Philol. 57 (1898) 465 ff.^
*) ßovxvdidrjg *016qov ' AXifiovoiog stand
auf seinem Grabstein in der kimonischen
Grabstätte (s. Marcell. 16).
') Vermutungen über den Stammbaum
von J. TöPFFER, Attische Genealogie 282 flf.
und E. Kirchneb, Beiträge zur Geschichte atti-
scher Familien, Festschr. z. lOOjähr. Jubelf. d.
Friedr.-Wilhelms-Gymn., Berlin 1897 S. 83 ff.,
vgl. Kirchner, Prosopogr. att., Berl. 1901. 03,
2 voll.
») Marcell. 18 und Schol. zu I 20. Die
Vermutung des Hermippos unterstützt H.
Müller-Strübino, Aristoph. 534 ff.
*) Marcell. 19 i/ydyero Se ywaTna cbio
ZfcojiTfjoidrjg rrjg Ogqxrjg nXovälav aqyoSga
9cal fiexakXa xepcTtjfievrjv ev xfj Gqoxjj, Nach
Plut Cim. 4 hatte er diö Bergwerke von
seinen thrakischen Ahnen.
^) L. Mitteis. Abb. der sächs. Gesellsch.
d. Wiss. philol.-histor. Kl. 20 (1902) 4 S. 6 ff.
®) A. Michaelis, Die Bildnisse des Thuky-
dides. Straßb. 1877, dazu Rh. Mus. 34 (1879)
149 ff.
^) Zwei widersprechende Angaben haben
wir aus dem Altertum, die der Pamphila bei
Gellius XV 23 (nach Apollodoros), wonach
er im Beginn des peloponnesischen Krieges
40 Jahre alt, also c. 470 geboren war, und
die des Marcellinus 34, wonach er über
50 Jahre alt starb, also um 450 geboren
war. Auszugehen ist von der sicheren Tat-
sache, daß er 424 das Strategenamt be-
kleidete, also damals mindestens 30 Jahre
zählte. Vgl. H. DiELS, Rh. Mus. 31 (1876) 48;
F. Jacoby, Apollod. Chron. 277 ff.
») E. Kalinka, Festschr. f. Th. Gom-
perz 110.
•) Marcell. 22: ijxovae öe didaaxdkcov
'Ava^ayogov fikv ev q)iXoa6rpoig, o&tt', (ftjoiv
6 "AvrvXXog, xai ädeog tjgd^a ivo/AiaOrj rfjg
exsT&ev ^scogiag ifÄqpogfj^sig, *AvTt(p(ovTog de
^riTogog öetvov trjv grjrogtxrjv dvSgög, ov xai
fiifjtvrixai h xfj dydojj (VIII 68). Aus dieser
Lobrede auf Antiphon wurde wohl zunächst,
und zwar zuerst von Caecilius (Ps.Plut. vit. X
or. p. 833 e) geschlossen, dieser sei sein Lehrer
gewesen, was man vielleicht schon im Alter-
tum (wie neuerdings Th. Bergk, Griech. Litt
IV 460, L. Herbst, Philol. 49, 1890, 177) durch
Beziehung von Plat. Menex. 236 a auf Th.
bestätigt fand. Vgl. A. Nieschke, De Thucy-
dide Antiphontis discipulo et Homeri imitatore,
Diss. Münden 1885.
»0) Marcell. 54, Suidas und Phot. cod. 60.
Nach Marcell. 36 fand man im Stil des
Thukydides auch Spuren der jtagiacooeig und
454 Griechische litteraturgeschichte. L KlaasiBche Periode.
er von der Pest befallen, i) Wie weit er in den ersten Jahren des archi-
damischen Krieges selbst mit auf dem Kriegsschauplatz gewesen ist, läfit
sich nicht genau feststellen. Im Januar 424 etwa, zu einer Zeit, da man
die Bedrohung der thrakischen Besitzungen Athens durch den kühnen Zug
des Brasidas noch nicht voraussehen konnte, wählten ihn die Athener zum
Strategen und übertrugen ihm, vermutlich in der Annahme, daß er vermöge
seines persönlichen Einflusses in dieser Gegend der athenischen Sache dort
nützen könne, das Gebiet an der thrakischen Küste zusammen mit seinem
Kollegen Eukles. Daß Thukydides, der die staunenswerten Erfolge des
Brasidas auf Chalkidike mit Augen sah und die außerordentliche Bedeu-
tung von Amphipolis kannte (IV 108), im entscheidenden Augenblick mit
sieben Trieren und den ihm unterstellten attischen Bürgertruppen eine
halbe Tagereise von Amphipolis entfernt bei Thasos lag, während Amphi-
polis nur durch die Söldner unter Eukles gedeckt war,') darin liegt ein
schwerer, in seinen Motiven nicht aufgeklärter Fehler, den Thukydidea
nicht sowohl in den undeutlichen Worten (V 26 xal Svvißrj ßioi (pevyeiv rrjv
ifxamov hrj eixooi ^erä rrjv ig 'Aßiq>bio3Uv oTQaTrjylav) als in seinem Verhalten
nach dem Fall von Amphipolis eigentlich zugibt: er kehrte nicht nach
Athen zurück, offenbar ohne seine nachher beschlossene Verurteilung ab-
zuwarten. Daß er keinen Hochverrat begangen hatte, darf man aus dem
Schweigen der Komödie schließen.*) Von der mit dem Frieden von 404
verbundenen allgemeinen Amnestie wagte er nicht Gebrauch zu machen^
sondern kehrte erst nach Athen zurück, als Oinobios, vielleicht der Sohn
seines ehemaligen Kollegen Eukles, durch ein besonderes x^^ricpiafia seine
Rückberufung beantragte.*) Die Muße der Verbannung, während der er
selbstverständlicherweise sich nicht auf der attischen Staatsdomäne in
Skaptehyle aufgehalten haben kann, benutzte er, um Materialien für sein
Geschichtswerk zu sammeln und an diesem zu arbeiten. Er betrachtet es
selbst als Vorteil, daß er während dieser Zeit auch die Verhältnisse der Gegner
kennen lernte. Timaios^) läßt ihn nach Italien in die Verbannung gehen;
an dieser von anderer Seite verworfenen Notiz kann so viel wahr sein,
dvriOFOfii des Leontiners Gorgias und der | keit der Angabe, da dem Thukydides ohne-
axoißoXoyia des Keers Prodikos; vgl. L. ' hin durch die allgemeine Amnestie von 404
Spengel, avvayoyyt) re/rcSv 53 flf. ; F. Blass, | die Rückkehr freistand. Dagegen R. Scholl,
Att-Bereds. P218; E. Scheel, De Gorgianae j Herm.l3(1878)438,undG.F.UNOERa.0. 138.
disciplinaevestigiis,Ro8tockl890; E. NoBDEN, I Die Pausaniasstelle ist durch Einwirkung
Die antike Kunstprosa S.96 — 101. Elinflußdes | herodotischer Phraseologie (Herod. IX 27. 73)
Aristophanes und selbst des Pindar auf Thuky- j getrübt, aber doch brauchbar. Die Deszen-
dides sucht nachzuweisen M. 6 üdinger, Poesie denzlinie Eukles-Oinobios ist von H. Müller-
und Urkunde bei Thukydides, Denkschr. d.
Wien. Ak. 39 (1891) nr. 3.
M Thuc. II 48. 3.
») Thuc. IV 103-7.
') Falschlich bezog H. Mülleb-Strübing,
Aristoph. 529, Ar. Ach. 603 auf Th. (L.
Herbst, Philol. 49, 1890, 151).
*) Pausanias I 23, 11. Epigrammatisch
pointiert Plinius n. h. VII 111: Thucydidem
imperatoretn Athenienses in exilium egere,
rerum conditorem revocavere, ehquentiam
mirati cuius virttUem damnaveratit, Wila-
xowiTz a. 0. 344 ff. bestreitet die Richtig-
Stbübing, Aristoph. 627 entdeckt (s. a. CIA
IV 15). G. BüsoLT, Herm. 33 (1898) 336 ff. will
das Oinobiospsephisma vor den Frieden von
404 und nach dem Psephisma des Patro-
kleides setzen. Siehe a. E. Meteb, Gesch. d.
Altert. IV 660, und P. Ustbbi, Ächtung und
Verbannung im griech. Recht, Berl. 1903, 127.
*) Mareen. 25 u. 33; Thuc.^V 26: $vvFßrj
fioi qpevysty trjv ijuainov hrj eTxooi fisra rijv
ig 'Afiqrütohv OTQorrjyinv xal y^vo/irro) nag*
dfitpoTegoig xotg Jigayfiant, xai ovx V^<iov röig
IleXojiovvrfotcov diä xrjv (pvy^v, xa&^ i/avj^iay
u avT&v fjLoXkov aio^ia&ai.
2. Die GeschichtBBchreibnng. c) Anfänge der attiachen Prosa. Thnkydides. (§255.) 455
daß er Italien und Syrakus, dessen Schilderung im sechsten und siebenten
Buch Autopsie verrät, besucht hat. Der aus einer schwer verdorbenen
Stelle des Marcellinus ^ erschlossene Aufenthalt des Thukydides bei dem
Tyrannen Archelaos von Makedonien gehört zur „Thukydideslegende" und
ist, wenn überhaupt im Altertum von irgendwem über ihn geredet wurde,
jedenfalls nicht als geschichtliche Tatsache angesehen worden. — Unsicher
ist, wie lange er die Zeit seiner Zurückberufung überlebte, wo und wie
er gestorben ist. Am glaubwürdigsten ist die anscheinend auf Kratippos
zurückgehende*) Nachricht, er sei in Thrake, wohin er schließlich von
Athen aus sich begeben haben muß, gestorben und in Athen begraben.^)
Daß der Tod ihn überraschte, läßt der unfertige Zustand seines Werkes
vermuten.*) Der Tod fällt jedenfalls nach 399, ob auch nach 396, wie
man unter Beziehung der Stelle III 116, 2 auf den bei Diodor XIV 59, 3
erwähnten Ätnaausbruch dieses Jahres annahm, ist fraglich, weil Thuky-
dides mit dem dritten Ausbruch des Ätna wahrscheinlich nicht den von
396, sondern einen vor 475 erfolgten meint.*)
255. Das Geschichtswerk und seine Einteilung. Die Geschichte
des peloponnesischen Krieges ist das einzige Werk des Thukydides, und
dieses eine Werk ist Torso geblieben, da es mitten im Krieg mit dem
Jahr 411 abbricht. Den ganzen Krieg hatte er zu schreiben im Sinn, wie
er gleich im Anfang ausspricht und V 26, 1 wiederholt. Auch hatte er
unzweifelhaft das Material zur Darstellung des ganzen Krieges gesammelt,
eine Arbeit, mit der er gleich im Anfang des Krieges in Voraussicht seiner
Bedeutung begann und die er während desselben ununterbrochen fort-
setzte, ß) Aber der Tod verhinderte ihn, die Verarbeitung des Stoffes zum
Schluß zu führen,') so daß die Geschichte der letzten Jahre ungeschrieben
^). Marcell. 29: ovvexQovMe 6\ c5^ (priai
IIoa^KpdvTjg iv icp :z£qI iorogiag (d. h. in einem
Dialog mit freierfundener Situation : R. Hibzel,
Herm. 13, 1878, 46 flf.)» nkdxoyyi toj xco/iixtp,
'AydOcovi TOJ xgayixcp, NtxtjQaTcp ijzojtoiw xai
Xoioucp aal MelavtJiJiidf). xai ejtei fih e^tj
*AoxeXaog, ädo^og rjv ü>5 isii nXeXarov, wg avxog
TIoa^Kpdvtjg SrjXoT, ifoxegov de Öatfiovicog i&av-
ftdoörj. Das angebliche Epigramm des Th.
auf Euripides' Grab (Anth. Pal. VII 45), das
auch ziur Bestätigung von Thuk.' makedoni-
schem Aufenthalt herangezogen wurde, ist
offenbare Fälschung mit starken Anklängen
an Thuc. II 41, 1. 43, 3.
*) W. ScHMiD, Philol. 60 (1901) 155 ff.
^) Marcell. 33. Die Angabe bei Stephanos
Byz. u. llaojidgMv, er sei bei Perperene, einem
äolischen Städtchen gegenüber Lesbos, ge-
storben, beruht auf Verwechslung mit Hel-
lanikos. Wilamowitz findet in der Angabe
des Marcellinus 31 (vgl. 17) von einem Keno-
taph des Thukydides in Athen ein grobes
Mißverständnis, das G. F. Unger mit kühnen
Hypothesen zu zerstreuen sucht. Das Keno-
taph scheint von Didymos vermutet zu sein.
*) Die Angabe von gewaltsamem Tod
kann daraus kombiniert sein. Dionys. Hai.
de Thuc. 12 und ad Pomp. 3, 10 freilich meint,
der Schluß sei von Thuk. mit Absicht ge-
wählt, und so auch, wohl als der einzige
unter den neueren, H. MüLLBR-STKÜBiNG,Thuk.
Forsch. 73.
'^) G. F. ÜNGEE a. 0. 164 ff. setzt den
Tod des Thukydides erst zwischen Spätsommer
395 und Sommer 393, weil die Stelle IV 74
voraussetze, daß die 394 in Megara aufge-
kommene Aristokratie seitdem wieder abge-
schafft worden sei. Die lobende Stelle II 100
über die Einrichtungen des Königs Archelaos
setzt, dem Stil des Thukydides nach, den
Tod des Arch. (399) voraus. 387 muß das
Werk der Öffentlichkeit übergeben gewesen
sein (W. Schmid, Philol. 52, 1893, 130 f.; F.
BLASS, Att, Bereds. II* 465).
•) Thuc. II und V 26.
') Aus dem Perfekt yeyga(pe de xai xavra
BovxvSiörfg (V 26) schließt H. Müllkb-Stbü-
BiNo, Thuk. Forsch. 74, daß Thuk. den ganzen
Krieg geschrieben habe, daß aber der Schluß-
teil des Werkes durch Ermordung und Be-
raubung des Verfassers verloren gegangen
sei. Beachtenswert ist, daß dem yiygatpe an
jener Stelle gegenübersteht ^wsygayfe I 1, 1;
il 70, 5. 103; m 25, 2. 88, 4. 116, 8; IV 51.
456
Griechische Litteratnrgeechiohte. I. Klassische Periode.
blieb.^) Das Fehlen direkter Beden im achten Buch,^) dessen Echtheit trotz
einiger Anzweifelung im Altertum sicher steht,*) ist übrigens nicht als
Zeichen der Unfertigkeit zu betrachten, sondern als Zeichen fOr einen
Wechsel der stilistischen Grundsätze, der für den Historiker bezeichnend
ist: er kam zu dem Entschluß, Reden, für deren Wortlaut er nicht ein-
stehen konnte, nicht mehr in direkter Form zu geben und hätte bei län-
gerem Leben vermutlich diesen neuen Grundsatz auch in Umredigierung
der direkten Reden der ersten sieben Bücher durchgeführt. — Welchen
Titel Thukydides seinem Werke gab, ist unsicher,*) vermutlich den in
einigen der besten Handschriften überlieferten Svyygaq?/]^ mit dem es
auch Libanios (or. I 148 F.) zitiert. Die überlieferten Buchteilungen des
Werkes rühren ebenfalls schwerlich von Thukydides selbst her; neben
der in den Handschriften herrschenden in acht erfahren wir von solchen
in neun und dreizehn Bücher. 0) Die alte Ansicht von K. W. Krüger und
J. Classen, nach der Th. den Ausgang des ganzen Krieges 404 abgewartet
und erst dann mit der Ausarbeitung begonnen hätte, hat gegen sich vor
allem die allgemein psychologische WahrscheinUchkeit, daß der Historiker
nach Abschluß des Nikiasfriedens der Meinung sein mußte, der Krieg sei
bis auf weiteres zu Ende, wonach die Annahme naheliegt, er habe um 421
den archidamischen Krieg darzustellen angefangen, der Ausdruck ode 6
Ttökeßiog beziehe sich zunächst^) nur auf diesen, und diejenigen Stellen, die
135, 2; VI 7, 4. 93, 4; VII 18, 4; VIII 6, 5.
60,3.
^) Nachgetragen wurde diese durch Xe-
nophon und Kratippos; tther den ersteren s.
unten S. 466 ff. ; den Kratippos (Fragmente hei
C.MüLLEB, FHGII75— 8) setzt Marceil. 33
mißverständlich (W. ScHifiD, Philol. 60, 1901,
155) nach Zopyros. J. M. Stahls Versuch, den
Kratippos in die römische Zeit herahzudatieren,
ist widerlegt von W. Schmid, Philol. 52 (1893)
118 ff., hat aber Unterstützung durch F. Süsb-
MiHL (Philol. 59, 1900, 537 ff.) und H. Weil
(Revue des 6t. gr. 13, 1900, 1 ff.) gefunden.
*) Nach Dionysios de Thuc. 16 hatte
Bjratippos, der Fortsetzer des Werkes, be-
richtet, Thukydides habe absichtlich im achten
Buche die direkten Reden weggelassen, weil
sie die Erzählung der Handlung störten und
den Lesern lästig seien. Siehe L. Holzapfel,
Herm. 28 (1893) 435 ff.; W. Schmid, Philol. 60
(1901) a.O.
') Marcell. 43: leyovai de ttveg xrjv 6y-
Sörjv ioTOQtav voi^even^ai xai firj eJvai Sovxv-
didov, du.* Ol fiiv (paoiv slvai rrjg {hyaigog
avTov, Ol 08 Eevo(f(x)-iTog. Den Xenophon, den
Fortsetzer des Werkes, nennt als Heraus-
geber Diog. Laert. II 57.
*) Die ^AxiHg des Hellanikos nennt er
I 97, 2 'AiTixij ^vyygaqW) (|. ist Gegensatz zu
Poesie Hippias fr. 6 bei C. Müller, FHG
II 61), und so mag der im Cisalpin., Vatic.
und Palat. überlieferte Titel ^vyyoaqprj au-
thentisch sein. Der Titel IleXo.^ovtfjaicixd ist
späte Gelehrtenbezeichnung (Plut. Lyc. 28),
wie flberhaupt der Name neXonovyijaiaxog
noiefiog vor Diodoros und Cicero nicht nach-
weisbar ist (F. W. ÜLLBicH, Beiträge I 10 ff.).
Die Athener nannten den Krieg Acogiaxog
(Thuc. II 54, 2) oder Äaxojvtxog (Aristot. pol.
1303 a 10) :i6k€fiog, die Peloponnesier l4TTiy.(h;
-T. (J. Classen zu Thuc. V 28, 2). Die Ein-
heit des gesamten Krieges, den andere in
zwei Stücke zerlegen (Plat. Menex. 242 d ff.)
hat Th. zuerst erfaßt und hervorgehoben,
wenn er auch den Einschnitt mit dem Nikias-
frieden V 26 betont.
*) Marcell. 58 : rtjv ngayfiaxFiav avxov oi
(ihv xathefiov eig rosig xai Sixa (Schol. Thuc.
II 78; m 116; JV135.2; IV 78) lotogiag,
älXot de äXloyg ' o/n<og de rj :iXeiOTrj xai i) xoivii
xexgdtrjxe z6 fie/^gi twv 6xtcj Öifjgfjo&ai irjv
jigayfjiaTelav wg xai ejzexgtvev 6 'AaxArjnidStjg.
Eine Einteilung in neun Bücher kennt Diodor
XII 37, 2 und XIII 42, 5 ; s. Wilamowitz, Curae
Thucyd., Gott. 1885, p. 6 f.: E. Kalinka, Zu
Thukydides, in Festschr. für Gomperz S. 109 ff.
Die Teilung in acht Bücher kennt Diodoros
a. a. 0. und Greg. Cor. p. 79 ff. Seh. ; ebenso
die Lexika Segueriana (Phrynichos, Anti-
atticist) und Herodian (II 1217 Lentz). Das
Unorganische der Einteilung scheint Schol.
Aristid. p. 402. 1 ff. Dind. hervorzuheben.
•) Die frühste Stelle, an der ode 6 :i6-
Xefiog im Gegensatz zu dem letzten Teil des
Gesamtkrieges vom archidamischen Krieg
gebraucht wird und der Schriftsteller auf ein
Ereignis des Jahres 410 (Diod. XIII 48) hin-
deutet, ist IV 48, 5.
2. Die GeschichtBsohreibimg. c) Anfänge der attischen Prosa. Thnkydides. (§ 255.) 457
Kenntnis des ganzen Krieges verraten, seien erst bei einer späteren Re-
daktion eingefügt (II 65. 100; IV 81, 2. 108, 4; V 20, 2. 24, 2).
Diese im ganzen durchaus wahrscheinliche Ansicht ist von Franz
Wolf gang Ullrich^) aufgestellt worden; es ist aber weder ihm noch seinen
Nachfolgern*) gelungen, von der schichtenweisen Entstehung des Werkes
eine im einzelnen einwandfreie Vorstellung zu geben, so daß jetzt nam-
hafte Forscher») wieder zu der unitarischen Auffassung neigen. An Spuren
davon, daß die Gesamtredaktion nicht eine völlig durchgreifende gewesen
ist, fehlt es nicht. Zwar ist es verfehlt,*) das erste Buch als ein „Un-
geheuer von Komposition" zu bezeichnen oder Spuren von ünfertigkeit im
achten nachweisen zu wollen;*) auch die beiden Peisistratosepisoden I 20
und VI 54 ff. haben jede an ihrem Ort ihren eigenen Grund und Zweck
und sind nicht etwa Dubletten. Wohl aber darf angenommen werden,
daß Thukydides, hätte er die angefangene Schlußredaktion ganz durch-
führen können, die Schlußpartie des fünften Buches vom 27. Kapitel an,
deren zerstückelter Charakter nicht bloß aus der Beschaffenheit des Stoffes
zu erklären ist, besser ausgearbeitet, auch sonst stilistisch manches aus-
geglichen und geändert hätte. Aber er starb über der Arbeit an der Fort-
setzung, nachdem er zu den älteren Büchern nur einige Zusätze nach 404
hatte fügen können. Unter diesen Umständen ist klar, daß Thukydides das
Werk nicht selbst herausgegeben hat. Der Herausgeber ist nicht bekannt;
man kann an die Tochter, die gewiß existiert hat, oder an einen der Fort-
setzer, am ehesten Kratippos, denken. Jedenfalls sind von einer etwa
verschlechternden Tätigkeit des Herausgebers keine Spuren mit irgend
') F. W. Ullrich, Beiträge zur Erklä-
rung des Thukydides, I Hamb. 1845; II 1846;
dagegen J. Classen in der Einleitung seiner
Ausgabe. Die Hypothese Ullrichs wurde teil-
weise modifiziert von J. Steup, Quaest. Thu-
cyd., Bonn 1868, weiter verfolgt von H. Mül-
lee-Strübino, Thukydideische Forschungen,
Wien 1881, S. 42 flf. Fest steht, daß II 23
vor 411 geschrieben (Wilamowitz, Herrn. 12,
1877, 342 A. 26; 21, 1886,97) und bei der
Gesamtredaktion nicht geändert worden ist.
Über spätere Zusätze Wilamowitz, Herrn. 35,
1900, 553—61.
*) L. Cwiklinski, Quaest. de tempore quo
Thuc. priorem historiae suae partem composu-
erit.Berl. 1873; ders.. Die Entstehungsweise des
2. Teils der thukvdideischen Geschichte, Herrn.
12 (1877) 23—87, stellt folgende Chronologie
auf: 1 . archidamischer Krieg I — V 24, nach 421,
aber vor 404 geschrieben, später durch sehr
umfangreiche Zusätze wie Archäologie (I 1,
2—22) und Pentekontaßtie (I 97—118, 2) er-
weitert; 2. der sizilische Krieg, ebenfalls vor
404 abgefaßt; 3. Geschichte der Friedenszeit
und des ionisch-dekelefechen Krieges, BuchV
von c. 25 an, einzelne Partien von Buch VI
und VII, endlich VI 11, geschrieben nach 404;
4. Einreihung des sizilischen Krieges und voll-
ständige Umarbeitung des ganzen Werkes,
die nur bis zum Ende des vierten Buches
gedieh. Modifikationen von G. Feibdbich, Die
Entstehung des Thukydideischen Geschichts-
werkes, Jahrbb. f. cl. Phil. 155 (1897) 175 flf., zu-
sammenfassend S. 255 ff. Die Schwächen von
Cwiklinskis Annahmen sind durch J. Fabeb,
Quaest. Thucyd.. Marburg 1885, dargetan.
Auch A. Kirchhoffs eigenartiger Versuch
(Thuk. und sein Urkundenmaterial, Berlin
1895), durch Konfrontation der thukydideH-
schen Urkunden in IV, V, VIII mit dem er-
zählenden Zusammenhang, in den sie ein-
gelegt sind, zu festeren Daten für die Ent-
stehungszeit einzelner Schichten des Werkes
zu kommen, ist mißlungen (W. Schxid, Deut-
sche Litteraturzeit. 1896, 359 ff.).
*) E. Mbyeb, Gesch. d. Altert. IH 262 f.;
A. Bauer, N. Jahrbb. f. klass. Altert. 9 (1902)
236.
*) Die Annahme eines Bruches vor I 97
(A. KiBOHHOFP, Herm. 11, 1876, 27 ff.) ist er-
ledigt durch M. Fränkel zu A. Böckh Staats-
haush. der Ath. II» A. 626. Gegen Wilamo-
witz, Herm. 20 (1885) 477 ff. u. E. Schwabtz,
Rh. Mus. 41 (1886) 203 ff. s. A. Baueb, PhUol.
46 (1887) 458 ff.
*) Siehe o. S. 456, 2; gegen L. Holz-
apfel, Herm. 28 (1893) 435 ff. s. E. Meybb,
Forsch. IL 409 f. Ohne Belang ist, was I.
Bbüns, Litterar. Portr. 23, für ünfertigkeit
von Vni vorbringt.
458
Ghriechische Litteratnrgesohichte. I. Elassisohe Periode.
welcher Sicherheit nachgewiesen. Die zwei einzigen größeren Interpola-
tionen in dem Werk (III 17. 84) stammen nicht vom Herausgeber.
256. Inhalt und Anlage des Werkes. Von seinen Vorgängern
unterscheidet sich Thukydides schon durch die Wahl des Stoffes, indem
er nur erzählt, was er selbst miterlebt hat, und in die Vergangenheit nicht
weiter, als es ihm der Zusammenhang zu fordern scheint, zurückgreift Er
betont mit Selbstgefühl wiederholt diesen Umstand, ^ weil er sich so über
die leitenden Persönlichkeiten ein sicheres Urteil bilden konnte und be-
züglich der Tatsachen nicht wie Hellanikos und andere Logographen auf
die fabelhaften Überlieferungen der Vergangenheit angewiesen war, son-
dern selbst gewissenhafte Erkundigungen einziehen konnte. Im Oegensat2;
zu Herodot bleibt er streng bei der Sache und erlaubt sich, abgesehen
von orientierenden Einleitungen, wie den Abschnitten über die Vorgeschichte
(Archäologie) Griechenlands (I 1 — 21), die Geschichte Athens seit den
Perserkriegen (Pentekontaetie I 89 — 118), das Reich der Odrysen in
Thrake (II 96—101), die Lage und ältere Geschichte Siziliens (VI 1— 5),»>
fast gar keine Abschweifungen. Nachdem er bei seinem eigentlichen
Gegenstand angekommen ist, schiebt er eine größere Episode (VI 54 — 59)
nur noch einmal, und bezeichnenderweise aus methodologischen Gründen,
recht gewaltsam ein.^) Den Angaben der Dichter und Logographen steht
er mit rationalistischer Kritik, der mündlichen Tradition mit Mißtrauen
gegenüber;*) im übrigen sucht er aus festen Daten gegenwärtiger Zustände
durch Wahrscheinlichkeitsschlüsse Gewißheit über Vorzeitliches zu ge-
winnen*) mit einer Methode, die mit Recht als Vorläuferin modernster
historischer Methoden bezeichnet worden ist.^) Auf diese Art ist er zu
Ergebnissen gekommen, die von mündlicher und schriftlicher Überlieferung
unabhängig jenes völlig neue, alles romantischen Glanzes entkleidete Bild
von Griechenlands Vorzeit in der sogenannten Archäologie geliefert haben. 0
*) Thuc. V 26 : ijteßimy dia navTog amov
aia&avöfjisvog te rfj riXixlq, xat jiqoosxcov rrjv
yvoafirjv, Sjicog dxgißeg ri etoofiat. I 1 : lo yäg
ngo avzcbv (sc. peloponnes. Krieg) xai ra hi
staXaiorega oaqputg fiev et^oeiv dia XQ^o^ nXfj-
Oog ddvrara ijv. Vgl. I 73, 2; VI 2, 1. Ab-
schätziges Urteil über Hellanikos 197; ver-
deckte Vorwürfe gegen Herodot I 20, 3 mit
Schol.; n 97, 6 (Her. IV 46); VII 85 (Her. VII
170); 8. im allgemeinen Aristid. or. 49 p. 513
DiND.; G. ScHNEEOE. De relatione historica,
quae intercedat inter Thuc. et Herodot., Bres-
lau 1884; A. Baüeb, Philol. 50 (1891) 420.
') In den Abschnitten über ältere Ge-
schichte war auch Thukydides auf ältere
Quellenschriftsteller angewiesen, und zwar hat
er in dem Abschnitt über Sizilien den Antiochos
benützt, wie E. Wölfplin, Antiochos von
Syrakus und Coelius Antipater, Winterthur
1872, erwiesen hat. In dem 1. Buch hat er
Homer, ein kyküsches Epos, Herodot, Hella-
nikos und eine chronikartige Aufzeichnung
benutzt (U. Köhler, Über die Archäologie
des Thuk., in Comm. in honor. Momms., Berl.
1877, 370—7). — H. StBiw, Zur Quellenkritik
des Thukydides, Rh. Mus. 55 (1900) 531-64,
dehnt die Benutzung des Antiochos über die
ganze ältere Geschichte Siziliens aus und nimmt
Ikir die spätere Zeit die weitere Vorlage einer
Biographie des Hermokrates an, wogegen
J. Steup, Rh. Mus. 56 (1901) 443-61.
') Über den Parallelbericht bei Aristot.
*A^. jioX, 18 s. WiLAMOwiTz, Aristot. u. Athen
1 108 ff.; weitere Episoden I 126, 3—12. 128
bis 138; II 15.29. Siehe über alle Episoden W.
H. RosoHER a. a. 0. 359 ff.
^) Für das Recht des Dichtei-s hält er
das xoofAfjoai kni ro /äcICov (I 10, 3; 21, 1),
und wo er den Homer zitiert, fügt er bei et
xq) ixavog xsxfxrjQiibaai (I 9, 3. 10, 3) u. ä. Sein
Urteil über mündliche Traditionen 1 9, 2; 20, 1.
») elxdCfiv s. J. Classen zu Thuc. I 9, 5.
Beispiele besonders 16,7; II 15, 4. Die Me-
thode ist von Aristoteles angenommen: J.
Bernays, Theophrastos'Schr. über Frömmigk.,
Beri. 1866, 51 ff.
•) R. Scholl, Die Anfänge einer polit.
Litt, bei den Griechen, München 1890, 26 ff.
'') Die Wirkung dieses Bildes zeigt Ari-
stot. pol. 1268 b 40; über sein Verhältnis zu
2. Die QeschichtBschreibang. o) Anfänge der attischen Prosa. Thnkydides. (§ 256.) 459
Die Geschichte der Gegenwart schöpft er teils aus der eigenen Er-
innerung, soweit er bei den Vorgängen gegenwärtig gewesen ist und die
Persönlichkeiten kennen gelernt hat, teils aus Erkundigung bei solchen,
die dabei gewesen sind, immer mit dem kritischen Vorbehalt, daß Partei-
lichkeit oder Gedächtnisschwäche oder Unfähigkeit zu genauer Wiedergabe
beim Berichterstatter die Wahrheit trüben könne, 0 teils aus urkundlichen
Aufzeichnungen, die er aus Archiven oder Steininschriften entnommen hat.*)
Was er bieten will, ist lediglich Geschichte des Krieges und der mit diesem
solidarisch verbundenen diplomatischen Aktion.*) Die Personen berührt
er in der Regel bloß insofern, als sie für die Gestaltung der öflFentlichen
Dinge Kraftzentren bilden; er vermeidet es auch, im eigenen Namen
Persönlichkeiten zu charakterisieren*) und nennt keine Personen, die zur
Zeit, da er schrieb, noch am Leben waren.*) Es ist also völlig verfehlt,
von ihm Verfassungs- oder Kulturgeschichte oder biographische Daten zu
erwarten.®) Alles Novellistische scheidet er mit Bewußtsein aus, strebt
vielmehr, im Sinn der Sophistik, aus den Geschehnissen eine Mechanik und
Statik der Geschichte zu entwickeln, die für den Staatsmann praktischen
Wert haben soll, weil die Situationstypen sich im Ablauf des öflFentlichen
Lebens wiederholen müssen. 7) Als unerläßliche Bedingung für diese prak-
tische Nützlichkeit der Geschichte gilt ihm größtmögliche Genauigkeit der
Darstellung. Um ihretwillen verzichtet er mit Bewußtsein auf den Reiz
gruppierender Erzählung, zerlegt vielmehr, um ein möglichst zutreffendes Bild
der zeitlichen Abfolge der Ereignisse zu bieten, seinen Stoff nach Kriegs-
halbjahren. Die Einteilung ist offenbar schon von Ästhetikern zu Thuky-
dides' Zeit,®) noch mehr nach ihm^) beanstandet worden; sie entspricht
aber den Verhältnissen der damaligen Kriegführung, die Winterfeldzüge
noch so gut wie gar nicht kennt, und da sie auf die natürlichen Jahres-
zeiten gegründet ist, hebt sie den Geschichtsschreiber über die Verwir-
rungen des mit rohen Schaltmethoden arbeitenden bürgerlichen Kalenders
und die Undeutlichkeiten der Rechnung nach Amtsführung von Magistraten
oder Priesterschaften griechischer Städte ;^o) eine festere und objektivere
Datierungsweise war zu jener Zeit und noch lange hin nicht möglich.
Homer handelte Porphyrios elg t6 Sovx. tzqo' ' ^) I 22, 4; II 48, 2; vgl. Aristot. rhet.
oiiL4ior (Suid. s. Ilogq?.). 1418a 1 flf.; Quint inst. III 8, 66.
^) Hauptstellen über seine methodischen ^) Daher die Selbstverteidigung Thuc.
Grundsätze I 22; V 26; vgl. VII 8, 2 und über V 20, 2.
die besondere Schwierigkeit, zutreffende
Schlachtberichte zu erhalten VK 44, 1.
^) über die im Wortlaut ausgeschriebe-
nen Urkunden in IV, V, VIII s. A. Kiboh-
HOFF (o. S. 457, 2) ; ein Grabepigramm benützt
Th. VI 59, 3, eine (neuerdings aufgefundene)
Altarinschrift VI 54, 7.
') Die Ttgaxi^evra zerlegt er in zwei gleich-
berechtigte Teüe, e(jya und koyoi (I 22, 1 f.),
ähnlich Plat. Tim. 19 c.
*) I. Bruns, Das litterar. Porträt 8 ff.,
64 f.
s) VI 60, 2 (Andokides).
•) So H. Müller-Stbübiko, Aristoph.
385 ff.; J. ScHVARcz, Die Demokratie 1 421 ff.
») Dionys. Hai. de Thuc. 9; ad Pomp. 3,
13 ff.
»0) Die Verwirrung des attischen Kalen-
ders war am Anfang des peloponnesischen
Krieges besonders groß (Aristoph. nub. 615.
pac. 406 ff. ; Aristoz. harmon. II p. 30 Meübs.;
vgl. CIA IV 27 b p. 59 Z. 53 f.). Das Kriegs-
jfdu: des Thuk. beginnt mit dem natürlichen
Frühjahrsanfang, der im Jahr 431 vier Mo-
nate vor Schluß des attischen Amtsjahres
fiel (II 2, 1). Den Überfall von Plataia hat
sich Thuk. mit dem Datum des attischen
bürgerlichen Kalenders notiert und berechnet
von da aus größere Zeitdistanzen V 20, 1
(vgl. I 125; II 2, 1). Bei wichtigen Epochen
460
QriechiBche Litteratnrgoschichie. I. Klassische Periode.
257. Charakteristik. Thukydides gilt mit Recht als der größte
Historiker des Altertums. Er brachte zur Geschichtsschreibung eine reife,
aus eigener praktischer Tätigkeit stammende Kenntnis der Staatsgeschäfte
und des Kriegswesens mit. Sein aufgeklärter Geist war frei von jeder
religiösen Befangenheit^ und erhaben über die engherzigen Parteivorurteile
der Politiker gewöhnlichen Schlages. Die Welt zerfällt ihm in die beiden
Sphären des Rationalen (yvwjutr]) und Irrationalen (rvxr]).^) Die Einwirkungen
der Tvxv ^^f ^^^ Leben der Staaten und einzelnen anerkennt er als un-
vermeidlich, tadelt aber den Staatsmann, der diese Wirkungen in seine
Pläne aufnimmt, da es doch seine Aufgabe wäre, das Gebiet der rvxrj nach
Möglichkeit einzuschränken und in dem der yvcofirj sich mit einem mög-
lichst hohen Maß von Intelligenz und Energie zu betätigen. Lediglich nach
dem Einsatz dieser rationalen Kräfte, nicht nach dem Erfolg wertet er die
menschliche Leistung. s) Jedem Staat erkennt er das Recht zu, seine Inter-
essen bis auf das Äußerste zu verteidigen, nur mit der Einschränkung,
daß ein Überspannen der Interessenpolitik ihrem Vertreter auch wieder
Schaden bringen könne.*) Was die Zuverlässigkeit des Thukydides betrifft,
so sind ihm Versehen und Irrtümer von nennenswerter Bedeutung nicht
nachgewiesen.*) Auch die leidenschaftlichen Angriffe auf seine Unpartei-
lichkeit, die nächst A. Schmidt besonders H. MüUer-Strübing unternommen
hat, sind wirkungslos abgeprallt. ß) Allerdings ist es uns nur selten mög-
zieht er subsidiär auch Datierungen nach
Amtsjahren bei (II 2; V 25; ein Olympionike
wird nur bei besonderem Anlaß III 8 ge-
nannt). Die beiden Hälften des Eriegsjahrs,
^igos (umfaßt als Unterabschnitte tjq [V 40, 1 ;
VI 94, 1] und (f&ivojiwoov [II 31]) und yjtfiaw
werden je zu sechs Monaten berechnet (V
20, 3) ; Abschnitte des i^egog werden gelegent-
lich durch landwirtschaftliche Daten näher
bezeichnet (Classkn-Stbxtp, Einl. zu I* S. LVI).
Siehe im allgemeinen H. L. Schmitt, Quae-
stioneschronol. ad Thucyd. pertin., Leipz. 1882 ;
G. F. ÜNGEB, Philol.43 (1884) 577 fr., 44 (1885)
622 fr. ; WiLAMowiTZ, Curae Thucydidiae, Gott
1885. Die hohe Wertung chronologischer Ge-
nauigkeit, die sich auch in dem Tadel I 97, 2
ausspricht, teilt Th. mit allen großen Ge-
schichtsschreibern.
*) Freigeistiges Urteil über die Orakel
II 17, 54, über Sonnenfinsternis II 28; über
seine Ansicht vom panischen Schrecken W.
ScHMiD, Rh. Mus. 50 (1895) 310 f. Vgl. über
Thuk.' Religion H. Meuss, Jahrbb. f. cl. Philol.
145 (1892)225 ff.; Th. Gompebz. Griechische
Denker I 409—413. Besonders ist das Fazit
bezeichnend, das Th. aus dem Leben des ihm
nicht unsympathischen religiös observanten
Nikias zieht VII 86, 5.
«) Siehe bes. 1 140, 1; IV 64, 1. Die ter-
mini für das Rationale s. Classen-Steuf,
Einl. zu I* p. XLVIIff.; über die tvxv bei
Thuk. H. Meüss, N. Jahrbb. 139 (1889) 469. Das
ixkoyiCea&ai und rol/tiäv findet er am meisten
bei den Athenern vereinigt II 40, 3.
*) So gilt ihm die sizilische Expedition
trotz ihres Scheiterns an sich nicht als yvcofAtj^
aficLQxrjfia (II 65, 1); aber Demosthenes steht
ihm, weil er auf Glück gerechnet hat. trotz
seiner Erfolge als Feldherr nicht hoch (III 97, 2 ;
IV 10, 1); noch weit tiefer der Glückspilz
Eleon. Verworfen werden eooyg (III 45, 5) und
khildeg (V 103. 113; IV 65, 4; Schol. Thuc. III
45, 5; VI 23, 3) als irrationale Ttdd^j.
<) Vgl. besonders IV 61, 5; VI 79. 85, 1;
V 85 ff. 90. Daß Th. an diesen Stellen nicht
von Privatmoral redet, betont mit Recht I.
Bbüns, Litterar. Portr. 65 ff. Wie weit er von
sophistischer Eannibalenmoral entfernt war,
zeigt er in der schönen Gestalt des Diodotos
III 37-48.
*) Von Namensverwechslungen, wie sie
bei Diodor öfter vorkommen (A. v. Mess, Rh.
Mus. 61, 1906, 257, 5) kennen wir nur einen
Fall (151, 4 müßte es nach CIA 1 179 Drakon-
tides statt Andokides heißen). Die Abwei-
chungen unseres handschriftlichen Textes
V 47 von der Steinurkunde CIA IV 1 p. 14,
46 b sind von A. Kirchhoff und A. Schöne
maßlos übertrieben worden; sie sind nicht
größer, als sie zwischen zwei von demselben
Steinmetzen gefertigten Exemplaren einer und
derselben Inschrift im 5. Jahrh. vorkommen
(A. Wilhelm, Jahresh. des östr. arch. Inst. 6,
1903, 14). Gegen die Verdächtigung der thuky-
didel[schen Darstellung von dem Mauerbau
des Themistokles durch E. v. Stern s. G. Bu-
soLT, Beitr. z. alten Gesch. 5 (1905) 255 ff.
«) A. Baueb, Thukyd. und Herr Müller-
2. Die Qesohichtsschreibang. o) Anfänge der attischen Prosa. Thnkydides. (§257.) 461
lieh, den Thukydides durch gleichwertige Parallelberichte zu kontrollieren.
Fest steht aber, daß der Wert späterer abweichender Berichte über den
peloponnesischen Krieg null ist. Abgesehen von den Peisistratosepisoden,
denen Berichte des Herodot und Aristoteles zur Seite stehen, haben wir
durch die Entdeckung des die aristotelische ^A'&rivaUov noXtreia enthaltenden
Papyrus eine von der thukydideischen mehrfach abweichende, mit neuen
Urkunden ausgestattete, darum aber im wesentlichen keineswegs richtigere
Schilderung des Umsturzes vom Jahr 411 bekommen, i) Wiewohl Aristokrat
von Geblüt und Anhänger einer gemäßigten Oligarchie,^) wiewohl ein
Kenner der Schwächen der Demokratie, 8) würdigt Thukydides doch die
Vollender der attischen Volksherrschaft mit begeistertem Verständnis.*)
Vor wahrer Heldengröße schwinden ihm alle Parteischablonen, und der
Mann, dessen Erfolge ihm selbst so verhängnisvoll geworden sind, Brasidas,
wird ihm zum Gegenstand enthusiastischer Bewunderung. Dagegen ist
diesem vornehmen Geist dünkelhafte Niedrigkeit trotz aller Glückserfolge
tief verhaßt: über Kleon äußert er sich mit einer Heftigkeit,*) die um so
auffälliger ist, je mehr er sonst mit eigenen Urteilen zurückhält, hinter
der man aber keineswegs egoistische Gründe zu suchen braucht; auch hat
noch niemand erwiesen, daß Thukydides die kriegerischen Leistungen des
Kleon — und nur um diese handelt es sich — unrichtig eingeschätzt habe.
Er ist auch weder einseitiger Parteigänger der Athener — wie könnte er
sonst so günstig über Brasidas und Gylippos urteilen? — noch der Lake-
daimonier — wie könnte er sonst die Schwächen der lakonischen Ver-
fassung, das altfränkische Wesen der Lakonier, die Unbehilflichkeit ihrer
Versuche im Seekrieg so ironisch beleuchten, wie er I 141 ff.; H 11. 37 — 40;
ni 26 ff. tut? Überall ist er ernstlich um Objektivität (t6 oacpeg) bemüht.
Strübing, Nördl. 1887. E. Lange, N. Jahrbb.
135 (1887) 721 ff. und Philol. 52 (1893) 616 ff.;
MüLLER-STBÜBiNos(N.Jahrbb.l31,1885,289ff.)
Angriffe auf die Darstellung der Belagerung
von Plataia weist H. Waoner, Die Belag, von
Plat., Programme Doberan 1892. 1893 zurück.
Eingehend handelt über die Zuverlässigkeit
des Th. W. H. Forbes in der Ausg. von Thuc. I
(Oxford 1895) LXXXI— CXXXII. Durch H.
NissENs (Histor. Zeitschr. N. F. 27, 1889, 385 ff.)
Mutmaßungen wird der solide Bericht des Th.
über die Ursachen des Krieges nicht erschüt-
tert. Siehe a. L. Holzapfel, Rh. Mus. 37 (1882)
448 ff. ; L. Herbst, Philol. 42 (1884) 707 ff. ; B.
Schmidt, Korkyräische Studien, Leipz. 1890;
G. B. Grundy, Joum. of hell. stud. 16 (1896) 1 ff.
1) U. Köhler, Beri. Ak. Sitz.ber. 1895,
451 ff., 1900, 808 ff., zieht den Bericht des
Aristoteles vor, während E. Meter, Forsch.
II 406 ff., und A. Bauer, N. Jahrbb. f. kl. Alt
9 (1902) 236, den thukydidetechen für authen-
tischer halten, ebenso, unter Beseitigung
einiger Differenzpunkte, W. Judeich, Rh. Mus.
62 (1907) 295 ff. Vgl. auch Chr. A. Vol-
QüARDSEN, Verb, der 48. Philologenvers. 1906,
123 ff
*) Thuc. VUI 97 (jieTQia es rovg dUyovg
xal Tovg jtokXovg ^vyxgaaig) ; vgl. Aristot. Ath.
resp. 33,2; über die Schwäche der Oligarchie
Thuc. VIU 89, 3. — Seine Unparteilichkeit in
Beurteilung der Monarchie ist aus I 17. 20;
VI 54 ff. ersichtlich.
») n21.65;in36;IV28;VI63; Vmi.
*) Über Themistokles I 138, 3; über Pe-
rikles besonders II 65. Die Darstellung der
Ursachen des Krieges im ersten Buch ist zu-
gleich eine Verteidigung des Staatsmanns
gegen den E^atsch der Komödie (Ar. Ach.
513 ff.), den dann Ephoros weitergetragen
hat; ebenso ist der 'Ejntd(ptog des Perikles
II 35 ff. eine glänzende Apologie des Geistes
der periklelschen Politik.
») m 36; IV 28, 5. 39, 3; V 7, 2. 10, 9.
Siehe W. H. Röscher a. a. 0. 230 ff. Was
A. KiRCHHOFP, Beri. Ak. Sitz.ber. 1882, 920 ff.,
vorbringt, um dem Th. Unterdrückungen der
Wahrheit zu Ungunsten Kleons vorzuwerfen,
hält nicht Stich. Ober die auffällig objekti-
vierte Form der Urteile über EQeon s. I.
Bruns, Litt. Portr. 10 ff. Im ganzen vgl. E.
Lange, Thuc. und die Parteien, Philol. 52
(1893) 616 ff.
462
Qriechisohe LitteratiirgeBchichte. L Elassisohe Periode.
Temperamentlose Indifferenz freilich darf man von einem so ausgeprägten
Charakter nicht erwarten, und die Alten haben die starke Persönlichkeit,
die hinter der statuarischen Ruhe seiner Darstellung steht, richtig em-
pfunden, wenn sie ihn im Gegensatz zu Herodot als den »pathetischen*
Historiker bezeichneten.*) Über seine lebhafte Teilnahme an seinem Gegen-
stand darf der ernsthaft-sachliche Stil, den er nur selten durchbricht, nicht
täuschen.*) Viel von seinen eigenen Anschauungen versteckt er in den
Reden, die entweder in direkter oder indirekter Form {J^vfuiaaa yvibput)
I 22, 1) gehalten, den Schein objektiver Berichterstattung erwecken, tat-
sächlich aber weder ihrer Form«) noch ihrem Inhalt*) nach authentisch
sein können. Übrigens braucht man an der Tatsache, da& bei den An-
lässen, bei denen Thukydides sie reden läßt, die Personen wirklich geredet
und die von dem Historiker ihnen in den Mund gelegten Gedanken zum
Teil auch ausgesprochen haben, nicht zu zweifeln. Doch sind im all-
gemeinen fQr Thukydides die Reden, die er als erster eigentlich in die
griechische Geschichtsschreibung eingeführt hat,*) ein Mittel, innere Motive
und Zusammenhänge, wie sie bei den politischen Verhandlungen wirklich
zutage kamen, darzulegen. Das Suchen nach psychologischen Motiven der
handelnden Personen, durch das Theopompos und später Tacitus«) ihren
Werken einen so pikanten, aber wissenschaftlich bedenklichen Reiz zu geben
wußten, hat er vermutlich mit Bewußtsein verschmäht.^) Ebensowenig
wie die Reden darf der Dialog der Melier und Athener V 85 ff.«) oder das
kurze Gespräch IH 113, 4 oder der Brief des Nikias VII 11 ff. für authentisch
gehalten werden.
258. Stil, Sprache und Überlieferung. Auf der gewaltigen
Spannung, die durch den überbrückten Gegensatz zwischen dem sachlich
ernsten Vortrag und der tiefen inneren Leidenschaft des Schriftstellers
») Dionys. Hai. de imit. ß 3 p. 207, 13
Ü8.; Quint. inst. XI, 73; Plut. Nie. 1; de
glor. Ath. p. 347 a.
*) Nur selten entfährt ihm ein Wort der
Teilnahme an einem fiirchtharen Ereignis
(in 98, 4; VII 80, 4). Auch Charakteristiken
von Personen (ITiemistokles, Perikles s. o.
S.461,4; Antiphon VIII 68,1) oder Zuständen
(III 82—83 die Pathologie des Kriegs) giht
er selten im eigenen Namen.
*) Aus den erhaltenen Apophthegmen
des Perikles (F. Blass, Att. Bereds. P 37)
sieht man, daß Perikles viel drastischer und
sinnlicher geredet hat, als ihn Thukydides
reden läßt, abgesehen davon, daß das bei
Aristot. rhet. p. 1365 a 31; 1411a 1 aus dem
perikleYschen Epitaphios (natürlich nicht dem
.samischen"!) zitierte Bild sich bei Th. nicht
findet.
*) Einen sehr akademischen Charakter
hat die Rede I 73 ff. ; oft berühren die Redner
nachträglich Eingetretenes, was sie nicht
wissen konnten (I 77, 5. 81, 6. 82, 4; beson-
ders I 140 ff.; I 144, 2 ist nach J. Classens
Bemerkung geradezu vom Standpunkt des
Schriftstellers aus gesagt) oder beziehen sich
auf andere Reden des Geschichtswerks, die
sie nicht gehört hatten (VII 67, 4 auf VII
61, 3). Siehe F. W. Ullbich, Beitr. I 58 f.;
L. CwiKLnvsKi, Quaest. de tempore 42 ff.; H.
SwoBODA, Thukydid. Quellenstudien.Innsbruck
1881, 27 ff. Die Alten waren von der freien
Fiktion der Reden völlig überzeugt (Dionys.
Hai. deThuc. 17; Schol. Thuc. I 22, 1). Siehe
a. F. BLASS, Att Bereds. P 203ff.
») Marcellin. vit. Thuc. 38 ; vgl. die Kri-
tik bei Diod. XX 1; lustin. XXXVIII, 3. 11.
•) C. NiPPBBDEY, Einl. zu Tac. ann. P
(Berlin 1884) 31 ff. K. Lehbs, Popul. Aufs.»
450 ff.
') H. Swoboda a. a. 0. 33 ff. ; vgl. bes.
die vorsichtige Form VII 86, 5; VUI 46.5;
56,3.
®) Das Fehlen jeder Ethopoie in diesem
für den ethischen Radikalismus der Sophistik
höchst interessanten Dokument bemerkt Albin.
isag. in Plat. dial. 2 extr. Sonst finden sich
in den Reden vereinzelte Ansätze zu indi-
vidueller Charakteristik und Illusion, wenn
z. B. die Lakedaimonier IV 17, 2 notwendig
finden, zu begründen, daß sie eine lange
Rede halten.
2. Die Oeschichtsschreibiing. c) Anfänge der attischen Prosa. Thnkydides. (§ 258.) 463
entsteht, beruht im wesentlichen der eigenartige und mächtige Eindruck
des ffeschichtswerks. Man fühlt sich gegenüber einer verwickelten, gehalt-
schweren Persönlichkeit, der es nicht leicht wird, die Fülle ihrer Gedanken
und den Drang ihrer Empfindungen zu bemeistem, einer im Grund ver-
schlossenen Natur, die, indem sie sich enthüllt, nur einer inneren Pflicht
gehorcht und durch ihre eigene Sprödigkeit zum kürzesten und knappsten
Gedankenausdruck hingetrieben wird. Mehr in diesem Charakter des Schrift-
stellers als in der Nötigung, unter der er stand, sich eine geschichtliche
Prosa in attischem Dialekt zu schaffen,^) liegt die Schwerflüssigkeit seiner
Darstellung begründet. Sie zeigt sich weniger in den verhältnismäßig
einfacheren erzählenden Partien, wiewohl auch diese im Vergleich mit
Herodot etwas Rauhes und Düsteres haben,*) als in der fast prätentiösen
Gedankenmäßigkeit der Reden; ihnen verleiht Thnkydides, in verspätetem
Anschluß an Modeliebhabereien altsophistischer Kunstprosa, einigen Schmuck
aus der Schematik des Prodikos und Gorgias,^) der die tief bohrende Ge-
dankenarbeit gerade in diesen Stücken oft seltsam umkräuselt. Von den
Künsten des Thrasymachos und Isokrates, der Rhythmisierung und Hiatus-
vermeidung, zeigt Thnkydides noch keine Spur.*) In der Erzählung strebt
er nach größter Anschaulichkeit,^) aber lediglich durch Mittel des Realismus,
nicht durch solche poetischer Verbildlichung®) oder Belebung.') Ein großer
Zug der Einheit geht bei ihm durch Gedanken und Worte und bewirkt eine
tadellose, bis ins Kleinste gehende Stilreinheit: die Richtung auf die Sache,
der Verzicht auf den Reiz der Darstellung um seiner selbst willen. —
Wohl oder übel muß sich bei ihm eine inhaltlich verbundene Gedanken-
gruppe mit allen ihren Seitenbeziehungen in einen Satz zusammenbinden
lassen, ohne daß auch bei besonders langen Sätzen sich der Schriftsteller
bemühte, die Übersicht durch sinnliche Nachhilfen wie Korresponsion
gleicher Satzglieder, Konzinnität zu erleichtem;«) im Satz wird die Stel-
lung der Worte rücksichtslos nach sachlichem Gesichtspunkt bestimmt.^)
Der Wortschatz ist nach der lautlichen wie nach der lexikalischen Seite
keineswegs peinlich gesichtet: neben ionischem aa, qo, Ijv steht das spezi-
fisch attische fvr; neben ionischen Konstruktionen und Redewendungen
stehen Neubildungen, besonders auf dem Gebiet der abstrakten Substantive,
die, von der Sophistik in Schwung gebracht, für das Bedürfnis des Thnky-
dides nach gedankenmäßiger Darstellung besonders bezeichnend sind,^^) und
1) Cic. Brut. 288 ipse Thucydides ai
posterius fuisset, muUo maturior fuisset.
«) Die Alten (Schol. Thuc. 1 126, 3; Theon
prog. p. 66, 23 Sp.) hoben die , Heiterkeit* der
Kylonepisode hervor.
») Siehe o. S. 453, 10.
*) Die von H. Diels, Gott. Gel. Anz.
1894, 298 aufgestellte Wohllautsregel im
Gebrauch von jtäg und abtag ist ganz un-
sicher. Siehe Cic. or. 39.
*) Siehe die oben 462, 1 zitierten Plu-
tarchs teilen.
^) J. F. CoBSTENs, De translationibus,
quibus usus est Th., Diss. Leiden 1894.
Sprichwörtliche Wendungen klingen nur 118,
1. 2; V 65, 2 ; Vn 68, 1 an; poetische Renu-
niszenzen VU 64, 2 (D. Z 429). 69, 2 (IL A' 68) ;
77. 7 und vielleicht II 44, 3 (Soph. OR. 56).
^) Rhetorische Fragen, von den Reden
abgesehen, nur VII 44, 1 ; VIII 96, 2. F. Stein,
De figurar. apud Thuc. usu, Progr. Köln 1881.
^) Beispiele der später besonders von
Tacitus nachgemachten Vermeidung des Kon-
zinnen Poppo-Stahl zu II 42, 2 ; J. Classen
zu III 77, 1.
^) Berühmt waren die vjisgßaxd des Th. :
Theo prog. 82, 20 Sp.; Fb. Dabpb, De verbor.
apud Thuc. coUoeatione, Diss. Münster 1865.
*®) H. R. Gbükdmann, Quid in elocut. Ar-
riani Herodoto debeatur, Berl. 1884; 0. Diener,
464
(Mechisohe Litteraturgeschichie. L KlassiBche Periode.
wieder veraltete, glossematischei) oder poetische Ausdrücke.^) Alles
dieses^) zusammen macht den Thukydides zum schwerstverständlichen
unter den griechischen Prosaikern, was schon die Alten so empfunden
haben.*)
Die hohe Bedeutung des Werkes ist sofort nach seinem Erscheinen
erkannt worden: Kratippos, Xenophon, Theopompos setzen es fort; Philistos
ahmt es nach; Demosthenes studiert es eifrig;^) Aineias der Taktiker,*)
Piaton,') Aristoteles, 8) Isokrates®) kennen und benützen den Thukydides; Theo-
phrastos stellt fest,*^) daß er und Herodot die principes historiae seien. In
der hellenistischen Zeit ist er fortwährend von Gelehrten benützt worden, i')
tritt aber als Stilist im allgemeinen zurück, ^^) bis man, des asianischen
Barockstils müde geworden, ihn seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. zuerst ver^
einzelt,^*) dann allgemeiner auch als Künstler wieder würdigen lernt.**) Die
Attici des 1. Jahrhunderts v. Chr. auf griechischer und noch mehr auf
römischer Seite begeistern sich so sehr für seinen Stil, daß Dionysios von
Halikarnassos und Cicero (nach Vorgang des Cäcilius?) vor törichter Nach-
ahmung warnen müssen. ^^) In diesem Zusammenhang sind die für die Ge-
schichte der antiken Stilkritik höchst wichtigen einseitig ästhetisch-rheto^
rischen Schriften des Dionysios von Halikarnassos über Thukydides (negl
Govxvöidov an AI. Tubero und jiegl xibv Govxvdidov IdicojLiajcov an Ammans)
entstanden.
Von dem Anfang der Kaiserzeit an findet man die Einflüsse von
Thukydides' Gedanken und Sprache fast überall bei Griechen und Römern —
unter jenen sind besonders die Rhetoren Dionysios von Halikarnassos»
s. 0. S. 450, 3. Besonders reichlich sind hei
Th. Neuhildungen von Substantiva abstracta
auf -oic oder ans substantivierten neutralen
Adjektiven {to xoXfirjQoVf ^nt'erov u. Ä.)» Nomina
agentis auf -t;/; (Hco?.vTt)c:).
*) Darüber klagt schon Dionys. Hai. ad
Amm. II 3; Marcellin. 52; Aufzählung bei
E. F. Poppo. De elocut. Thuc. p. 237 fF.
^) Ch. Fobstee-Smith in Transact of the
americ. philol. associat. 23 (1892) proceedings
XLVm ff.; ders. ibid. 25 (1894) 61 ff
') Charakteristiken von Thukydides' Stil
und Sprache bei Classen-Steüp, Einl.^LIIlff.;
F. BLASS, Att. Bereds. I* 203 ff.; E. Norden,
Ant. Eunstprosa 95 ff.
*) Dionys. Hai. de Thuc. 51 ; Cic. or. 30;
Brut. 83.
^) Ungenügend ist die Dissertation von
C. Waltheb, Num quae imitationis Thucyd.
vestigia in Demosthenis orationibus inveniri
possint. Gießen 1886; Ps.Dem. 59, 99 ff. fast
wörtlich nach Thuc. II 2 ff.
«) J. M. Stahl zu Thuc. II 4, 2.
^) Der Menezenos setzt den periklelschen
'Emidffio^ voraus; vgl. Plat. reip. 348d.
560 d mit Thuc. III 83; Plat. reip. 561 e mit
Thuc. U 41, 1 (Th.Gompebz, Gr. Denker II 406).
8) Siehe o. S. 458, 7. 461, 2.
») W. H. RoscHBB, Thuk. 513 ff. ; B. Keil,
Anal. Isoer., Leipz. 1885, 97 f.
»0) Cic. or. 39.
**) Über Benützimg durch Philochoros F.
ScHBöDEB, Thucydidis historiar. memoria quae
prostat apud Ael. Aristidem, Gott 1887, 33 ff.;
durch Aristarchos: A. Römeb, Blätter f. bayr.
Gymn. 15 (1879) 60 ff. ; über Polybios H. Stich,
Acta semin. Erlang. 2 (1881) 211, 3; durch
Demetr. Sceps.: R. Gäde, Demetrii Scepsii
quae supers., Greifswald 1880, 67; ohne Nen-
nung zitiert ihn Philodemos ^roi ^avaroif,
Wiener Ak. Sitz.ber. 110 (1886) 339 col. XI 6.
Die Nachwirkung der Archäologie insbesondere
zeigt H. ScHBADEB, Festgi'uB zu L.Herbsts 80.
Geburtstag, Hamburg 1891. 1 ff.
") Cic. Brut. 66. Ephoros und Theo-
pompos standen ihm im Licht; immerhin galt
er für kanonisch (J. Brzoska, De canone X
orator. Atticor. quaestiones, Breslau 1883, 35 f.),
auch sind erklärende Schriften über ihn vor
Dionysios geschrieben worden (H. Usekeb,
DionysiiHal. de imitat. libror. rell., Bonn 1889,
p. 72 ff).
") Agatharchides Bewunderer des Th.:
Phot. bibl. p. 171b9B.
") Lucretius de rer.nat.VI 1138 ff. ahiirt
die Pestschilderung des Thuk. nach (H.
ScHBöDEB, Lucr. und Thuk., Straßb. 1898).
^^) Dionys. Hai. de Thuc. 52; Cic. or. 30;
Brut. 287 f. ; Thukydidesnachahmer ist be-
sonders Sallustius.
2. Die GtoBchichtsschreibimg. o) Anf&nge der attischen Prosa. Thnkydidee. (§ 258.) 465
Lesbonax, Älius Aristides, Libanios, Chorikios (der ihn nrjyi] rijg §tjxoQWYjg
nennt Philol. 54, 1895, 119, 24), die Historiker loseplios,^ Pausanias,*) Pro-
kopios von Kaisareia,*) Dio Cassius, der Romanschriftsteller Chariten, unter
diesen Tacitus und Ammianus Marcellinus^) hervorzuheben. Am meisten ge-
lesen waren in der Kaiserzeit die beiden ersten Bücher.^) Tadelnde Urteile
über seinen Stil verstummen fast ganz,«) und er ist von den Attikisten in
den Kanon der Musterschriftsteller attischen Dialekts aufgenommen. 7) Sein
Werk ist so wirklich, wie er selbst voraussah, ein xTrjfia ig alei, kein
äycüviojua ig rd naQaxQfjfia geworden, und er heißt der Spätzeit des Alter-
tums 6 ^vyyQaq)evg^ wie Homer 6 TioujTrjg^ Demosthenes 6 ^fjrcoQ. Von er-
klärender Arbeit an Thukydides haben wir aus der hellenistischen Zeit
kaum eine Spur (s. o. S. 464, 12). Ob die biographischen Angaben aus Didy-
mos zu einer Vita und ob diese zu einem Kommentar gehört haben, ist
höchst fraglich.^) Numenios verfaßte Hypotheseis, Sabines und Heron
unter Hadrian Hypomnemata, hauptsächlich vom rhetorischen Stand-
punkt;®) 7Z€qI 'HgodÖTov xal Qovxvdiöov schrieb der Rhetor Tiberius; lexi-
kalisch scheint, abgesehen von dem großen Attikistenlexikon des Aelius
Dionysius und Pausanias, den Thukydides lulius Vestinus (ixXoyi] ix tojv
Qovxvdiöov u. s. w.) für Attikistenzwecke behandelt zu haben. Euagoras
von Lindos schrieb C^ri^aeig xarä cnoi^eiov Sovxvöiöov xal xwv naqa Govxv-
didf] ^TjTovjuivcov xarä Xe^iv.^^) In der Neuzeit ist namentlich von den Ge-
lehrten derjenigen Nation, die zuerst zu einem freien politischen Leben
erwachte, von den Engländern Th. Hobbes, J. Hudson, J. Wasse das Ver-
ständnis und die Bewunderung für den großen Staatsmann unter den Histo-
rikern wieder geweckt worden. L. v. Ranke hat das Bekenntnis abgelegt,
daß neben Luther und Niebuhr Thukydides auf ihn den größten Einfluß
ausgeübt habe.
Verschiedenheit der Lesarten bei Th. erwähnt schon Strabo 374. Ober die Abwei-
chungen des inschriftlichen Textes der Urkunde V 47 vom handschriftlichen s. o. S. 460, 5.
Sehr wenig zuverlässig ist der Text bei Dionysios von Halikam. (L. Sad^e, De Dionysii
Hai. scriptis rhet. quaest. crit., Argentor. 1878, 141 fF.) und Gregorios von Eorinth, besser bei
Aelius Aiistides und Syrianos zitiert, von denen wiederum Hermogenes abweicht (s. die oben
S. 464, 1 1 zitierte Arbeit von F. Schröder). Über die stichometrischen Angaben bei Dionys. Hai. s.
Th. Birt. Ant. Buchwesen, Berl. 1882, 170. 198. Libanios besaß bereits einen Th. in Codexform
*) H.Drüner, Unters, überloseph., Marb.
1896, 1 ff.
2) 0. FisoHBACH, Wiener Stud. 15 (1893)
161 ff. ; über die Historiker des zweiten Parther-
krieges Luc. de bist, conscr. 15.
») H. Braun, Acta semin. Erlang. 4 (1886)
161 ff.
*) Eine von Ammians Quellen ahmt die
Einteüung nach KriegsSemestem nach (0.
Seeck, Herm. 41, 1906. 481 ff.).
*) F. Schröder a. a. 0. 6.
') Bezeichnend sind die Entschuldigungen
bei Hermog. p. 421 f. Sp.; Longin. p. 324, 14
Sp. tadelt t6 xaxeoioißaoftivov xai jteQieiQyaa-
flFVOi'.
') W. ScHMiD, Der Atticism. I 206 ff.
*) M. H. E. Meier, Opusc. II 61 und M.
Schmidt, Didymi fragm. p. 334. R. Sohöll,
Herm. 13 (1878) 443 leitet die Th. betreffenden
Angaben des Didvmos aus dessen Pindar-
kommentar ab und bestreitet die Existenz eines
Th.kommentars von Didymos.
') E. DoBERBUTz, De scholüs in Thucy-
didem, Diss. phU. Halens. 2 (1876) 221 ff.; E.
Schwabs, Quaestiones de scholiorum Thuc.
fontibus, Leipz. Stud. 4(1881) 65 ff.; F. Al-
TiNOER, De rhetoricis in orationes Thucyd.
scholiis, München, Progr. 1885. Zitiert sind
in den Schollen Antyllos, Asklepiades, Phoi-
bammon (dieser im 5. oder 6. Jahrb., A.
Brinkmann, Rh. Mus. 61. 1906, 118. 634).
^^) Siehe über alle diese die Artikel bei
Suidas. Über Porphyrios elg t6 Bovxvdlöov
:zooolfAiov (s. 0. S. 458, 7) H. Schrader in
der Festgabe zu L. Herbsts 80. Geburtstag,
Hamburg 1891, 1 ff.
Handbuch der klass. Altertamvwuaenaehaft. VII. 5. Aufl. 30
466 Griechische Litteratnrgeechichte. I. KUasische Periode.
^or. I 148 F.). Der teztkritische Wert der Papyri, deren erster in Fajjam gefunden und von
C. Wesselt, Wiener Stud. 7 (1885) 116 ff., veröffentlicht ist, ist nicht sehr groß (J. Steup, Rh.
Mus. 58, 1898, 308 ff.). Siehe W. Cbönebt, Arch. f. Papyrusf. 1 (1901) 114. 519; F. Blass
ebenda 3 (1906) 281 f. 488. — Die alle auf einem Archetypus beruhenden Codd. bilden zwei
Familien, die eine (auf die auch die Thukydidesstellen in den konstantinischen Exzerpten
zurückgehen: Berl. philol. Woch. 26, 1906, 872) vertreten durch Laur. 69, 2 s. X (G) und
Monac. 228 s. XIII (G), die andere durch Vatic. 126 s. XI (B), der aber von VI 92, 5 an
einer abweichenden Rezension folgt (darüber ist viel geschrieben, zuletzt R. Riohtbb in
Dissert. philol. Halens. 16, 1906, 253 ff.), Cisalpin. (A) in Paris s. XI/XII. Palatin. (£) s. XI,
Monacens. Augustan. 430 (F) s. XI; in der Mitte steht der Britannus (M) s. XL Daß Ste-
phanos Byz. noch einen reineren Text hatte, meint B. Niese, Herrn. 14 (1879) 423 ff. — Früher
stark überschätzt wurde der kritische Wert der lat. Obersetzung von L. Valla 1452.
Schollen, die vorwiegend auf das atticistische Lexikon des Aelius Dionysius und Pau-
sanias zurückgehen (was 6. Wentzbl, Herrn. 30, 1895, 367 ff., auch für die Thiücydidesglossen
im Photioslexikon nachweist) und in die uns vorliegende Form zwischen dem 4. und 6. Jahrh.
gebracht worden, im Cod. Palatin. E von Joh. Tzetzes vermehrt sind, in der Ausgabe des
Thuk. von F. Haase, Paris 1840. Neue Scholien (meist Worterklftrungen) aus einem Codex
von Patmos s. X. herausgegeben von J. Sakkelion, Revue de philol. 1 (1877) 184 — 8. Er-
wähnt wird von Suidas des Claudius Didymus Buch jregl reot' rjpioQtrififvwv noQa xfjv ava-
koyUjLv ßovxvSidf),
Ausgaben: Ed. princ. Venedig 1502; Juntina mit Scholien 1526; von H. Stephanus,
Paris 1564 (1588); von J. Wasse u. C. A. Düker, Amstelod. 1731 ; cum diversorum comment.
(Hudson, Wasse, Düker) ed. E. F. Poppo, Lipe. 1821—38, 11 voll, neu besorgt von J. M. Stahl,
3. Aufl. Leipz. 1886, 4 volL; comment. F. J. Göller, ed. II, Lips. 1836, 2 Bde. Kritische
Ausgabe auf Grund des Vat. B von I. Bekker, Berlin 1821, 3 voll.; edit. min. gleichfalls mit
kritischem Apparat 1868; von F. Haase, Paris 1840; rec. C. Hüde (auf Grund eigener Neu-
kollation der sieben Haupthandschriften; der Text wesentlich auf C gestellt), Lips., 2 voll.,
1898. 1901 ; rec. et annot. H. v. Herwerden, Utrecht 1877, 5 Hefte (seine der handschrift-
lichen Überlieferung gegenüber radikale Kritik ist auf die Spitze getrieben von W. G. Ruther-
PORD in seiner Ausg. des vierten Buches, London 1889). — Thukyd. 1. 1 et II ed. A. Schöne.
Berol. 1874, mit Scholien und kritischem Apparat, wichtig durch die erstmalige ausgiebige
Heranziehung der besten Handschrift Laur. C. — Ausgaben mit erklärenden Anmerkungen
von K. W. Krüger, Berlin 1855—1861, neu aufgelegt von W. Pökel 1885 fF. ; von J. Classen
und J. Steüp bei Weidmann, von G. Böhme und S. Widmann bei Teubner.
Lexicon Thucyd. von E. A. Betant. der auch eine Übersetzung ins Französische ge-
liefert hat, Genf 1843 — 47 (ohne Präpositionen, Eigennamen, Partikeln; Supplemente von
E. F. Poppo in drei Frankfurter Programmen 1845. 47. 54); Index Thucydideus von W. H. N.
von Essen, Berlin 1887. — Gute Übersetzung mit inhaltreichen Anmerkungen von .1. D. Heil-
XANN. Lemgo 1760; 3. Aufl. von G. G. Bredow (auch in der Reclamschen Bibliothek), 1823.
Sehr zu wünschen wäre, daß die kaum mehr übersehbare Zahl der Schriften über Stil und
Sprache des Th. zu einer Grammatica Thucydidea, einer Erneuerung von E. F. Poppos Ab-
handlung de elocutione Thuc, verarbeitet würde. — Jahresberichte von E. Lanoe, Fnilol. 56
(1897) 658 ff.; 57 (1898) 436 ff. für die Jahre 1890—1X97; von 8. Widmann im Jahresber.
über die Fortschr. d. kl. Alt.wiss. 117 (1903) 166 ff. für 1900—1903.
d) Xenophon (um 430 bis um 354). 0
259. Leben. Xenophon, den die Historiker wie die Philosophen zu
den Ihrigen zählten, war Sohn des Gryllos und der Diodora und stammte
^) Biographie in Diog. Laert. II 48 — 59, wie die Xenophonbriefe bei Stobaios (Episto-
neben welcher der erste Artikel des Suidas (der l logr. p. 788—91 Herchek) sind mit Vorsicht
zweite ist Excerpt aus der Anabasis) nichts , zu benutzende Quellen. — K. W. Krügek.
Neues enthält. Diogenes schöpft aus De- De Xenophontis \iA quaost. crit. in dessen
metrios Magnes; die erhaltenen biographi- Histor. -philol. Stud. 2 (Berl. 1851) 262 ff. ; C.
sehen Daten stammen in letzter Linie aus F. Ranke. De Xenophontis vita et sciiptis
der Anabasis, aus Deinarchos' Rede für i commentatio, Berl. 1851; A. Croiset, Xono-
Aischylos, einen Freigelassenen des jüngeren phon son caracterc et son talent, Par. 1^73;
Xenophon, und aus den verlorenen Enkoraien | A. Roqüette. De Xenophontis viU. Diss.
auf Xenophons bei Mantineia gefallenen Sohn , Königsberg 1><84, wozu J.M.Stahl im Pliilol.
Gryllos (Aristot. bei Diog. L. 1155); 8. WiLAMO- Anz. 1886; J. J. Hartman, Analecta Xono-
wiTz. Phil. ünters.4(18><l)330— 5. Die Briefe phontea, Leiden u. Leipz. 1887, nova 1889.
der Sokratiker 18—22 (p. 623 if. Hbrcheb) so- '
2. Die QeBchiohtsschreibmig. d) Xenophon. (§ 259.)
467
•aus einer wohlhabenden Familie des Demos Erchia.^ Sein Geburtsjahr
wird nicht angegeben; ausgehend von der Überlieferung,«) daß Sokrates
in der Schlacht von Delion (424) den vom Pferd gestürzten Xenophon
gerettet habe, und daß Xenophon über neunzig Jahre alt geworden sei,»)
setzte es Krüger auf 444 an. Aber da Xenophon in der Anabasis noch als
junger Mann, sicherlich nicht über dreißig Jahre alt, erscheint,*) so verwarf
C. G. Cobet(Nov. lect., Leiden 1858, 534 ff.) jene Geschichte von der Errettung
des Schülers durch den Lehrer als tendenziöse Erfindung und nahm auf
örund von Athen, p. 216d, wonach Xenophon im Jahr 421, in dem sein
Symposion spielt, bestenfalls noch ein Kind war, als Geburtsjahr 434 an.*)
In der Jugend, etwa in den Jahren zwischen 404 und 401, «) schloß sich
Xenophon an Sokrates an; man erzählte, dieser habe ihn einst in einer
engen Gasse mit der Frage angehalten, jiov xaXol x&yai^ol ylvovrai äv^Q(o-
Tioi; und ihm dann, als er um die Antwort verlegen war, zugerufen: inov
TOI VW xai judvßave.'^) AUemnach aufgewachsen in der beschränkten Inter-
essensphäre des dorisierenden attischen Junkertums®) und zeitlebens leiden-
schaftlicher Sportsmann geblieben, war er wenig befähigt, den Sokrates
nach seiner ganzen, zumal intellektuellen Bedeutung zu verstehen. Sokrates
blieb ihm immer Sittenlehrer und Sittenvorbild, was er ja jedenfalls auch
gewesen ist, nur nicht in dem bürgerlich korrekten und konventionellen,
fast philiströsen Sinn, wie ihn Xenophon auffaßte. Immerhin mag die
charaktervolle Askese des Sokrates dahin gewirkt haben, den sittlichen
Begriffen des oberflächlichen, aber liebenswürdigen jungen Menschen etwas
mehr Ernst, Festigkeit und Klarheit beizubringen, und dafür fühlte er sich
dem großen Philosophen immer zu Dank verpflichtet. Sein religiöses, sitt-
liches und rechtliches Gefühl ist aber auf der Stufe des „anständigen*
Durchschnittsbürgers stehen geblieben, der sich begnügt, den bösen Schein
zu meiden — evjigejieia fxäXXov fj äXi^&eia^ wie Piaton (Euthyd. 305 e) der-
^) Daß er den Rittercensus hatte, ist
wahrscheinlich: E. Schwartz, Rh. Mus. 44
(1889) 164 ff.
2) Strab. p. 403; Diog. L. II 22.
') Ps.Lucian. macrob. 21.
*) Vgl. besonders anab. III 1, 14. 25;
2,37; 4, 42; VI 4, 25.
*) J. J. Hartman, Anal. Xenoph. geht mit
dem Geburtsjahr auf 425, E. Sohwartz auf 427
herab, und man könnte bis gegen 421 herab-
rücken. Den peloponnesischen Krieg hat er offen-
bar (E. RicuTER, Xenophonstudien, Jahrbb. f.
cl. Phil. Suppl. 19, 1893, 156) als zu jung nicht
mitgemacht. Die chronologischen Mutmaßun-
gen von H. 8cHE>KL (Festschr. f. Th. Gomperz
1902, 122 ff.) sind nicht überzeugend. Der An-
satz der Blüte bei Diog. L. II 55 und Suid. auf
ol. 94, 4 bez. 95 (= 401 v. Chr.) ist mechanisch
an die Epoche der Anabasis angeschlossen (vgl.
armen. Hieronym. ad ann. Abr. 1615). Daneben
hat Euseb. (Hieron. ad Ol. 101, 3 = 374 v. Chr.)
noch einen für Xenophon und Piaton und die
übrigen Sokratiker gemeinschaftlichen Ansatz
auf 375 (Plato et Xenofon nee non et alii
Socratici clari habentur), der ebensowenig
brauchbar ist wie der des Diog. L. II 59 auf
Ol. 89 (= 424 V. Chr.).
^) So weit die sokratischen Gespräche,
deren Zeuge X. gewesen sein will, in den
Memorabilien datierbar sind (II 7, 2. 8, 1),
fallen sie in die Jahre von 4()4 an. Auf E.
Richters (Xenophonstudien 57 ff.) bodenlose
Meinung, X. habe den Sokrates nur flüchtig
gekannt und sich in seiner Notlage nach der
Verbannung des Sokratesstoffs bemächtigt,
um mit Schriften über einen dankbaren Gegen-
stand Geld (von wem?) zu verdienen, braucht
nicht eingegangen zu werden.
') Diog. L. II 48. Nach Philostr. Vit. soph.
I 12 hatte er den Prodikos in B()otien als
Kriegsgefangener gehört, was vielleicht mit
der Anekdote von der Schlacht bei Delion
zusammenhängt.
®) f}ßtjxixoi xai {^rjoevTixoi nai tJTJiixoi
xai jiatStxoi loyot Hell. V 3. 20 (vgl. Theogn.
1253 ff.; Selon fr. 25 Bbrok^ dagegen Plat
Lys. 212e).
30*
468
QrleohiBche litteratnrgeschichte. L KUasische Periode.
artige Geistesrichtungen charakterisiert.^) Als ihn sein Freund, der Böoter
Proxenos im Jahr 401 zur Teilnahme an dem Zug des persischen Prinzen
Kyros gegen dessen Bruder König Artaxerxes 11. einlud, war es mit seiner
Philosophie vorbei:*) er ging rasch zu dem ihm mehr gemäßen Kriegs-
leben mit seinen Abenteuer- und Beutehoffiiungen über und gewann sich,
um über wohlbegründete Bedenklichkeiten Herr zu werden, in sehr be-
zeichnender, aber wenig anständiger Weise (anab. III 1, 7) die Zustimmung
des delphischen Gottes zu einem Vorhaben, von dem er wissen mußte, daß
es mit den Interessen seiner Vaterstadt Athen unvereinbar war.«) In der
Schule des Spartaners Klearchos ist er rasch zu einem tüchtigen Truppen-
führer herangewachsen, der nach dem Tod des Kyros in der Schlacht von
Kunaxa (401) und der Ermordung der hellenischen Führer durch die Perser
nach seiner eigenen, freilich wohl übertreibenden*) Schilderung mit staunens-
werter Klugheit und Unerschrockenheit den Rückzug der Zehntausend mitten
durch Feindes Land leitete. Am Hellespont angekommen, führte er die
Geretteten dem Heer der Spartaner zu, die bereits die Befreiung der klein-
asiatischen Griechen vom Joch der Perser begonnen hatten; er selbst schloß
sich im weiteren Verlauf der Dinge dem Zug des Agesilaos nach Griechen-
land gegen die Feinde der Spartaner an. An der Schlacht von Koroneia
(394) gegen die mit Athen verbundenen Thebaner hat er teilgenommen.
Infolge dieser seiner Verbindung mit den Feinden des Vaterlandes wurde
er wegen Hochverrats von den Athenern verurteilt. 5) Die Lakedaimonier
hingegen entschädigten ihn durch Verleihung der Proxenie. Nachdem er
mit der Verbannung jedenfalls auch seine Güter in Attika verloren hatte,
erwarb er ein Landgut in Elis bei dem Städtchen Skillus, eine Stunde süd-
lich von Olympia.®) Dort gründete er sich ein Privatheiligtum der Artemis,
die hier besonders als Jagdgöttin verehrt wurde,') und lebte mit seiner
Frau Philesia und seinen zwei Söhnen Gryllos und Diodoros*) in friedlicher
*) Sorgfältige SammluDg der Züge von
Xenophons geistiger und sittlicher Eigenart
bei K. JofiL, Der echte und der xenophontische
Sokrates I, Berlin 1893; treffende Charakte-
ristik bei A. V. GüTSOHMiD, Kl. Sehr. IV 328 ff.
«) anab. III 1, 4 ff.
») anab. III 1, 9 u. VI 4, 8 sind Flunke-
reien.
*) 6 :tooFOTi]xu)<: twv KvoeUov nennt er
sich HelL^III 2, 7. Th. Gompbrz, Grioch.
Denker I[ 98 meint, Cheirisophos habe tat-
sächlich die Hauptrolle gespielt. Ephoros-
Diodoros gedenken der Verdienste des X.
nicht; erst bei Paus. IX 15, 3 heißt er wieder
Leiter des Rückzugs. Über die Bedeutung
des Zugs der Zehntausend Xen. Hell. III 4, 2;
VI 1, 12; Isoer. 4, 145 f.; Pol. lU 6. 10.
^) Das Jahr der Verbannung steht nicht
fest. Nach Paus. V 6, 5, Dio Chrys. or. 8, 1,
Diog. L. II 51 wurde er infolge seiner Be-
teiligung am Zug des Kyros als eines
Feindes der Athener verbannt: wahrschein-
lich war auch hierauf in dem Verbannungs-
beschluß, den nach Istros bei Diog. L. II 59
Eubulos beantragte, Bezug genommen. Sicher
erfolgte aber die Verbannung weder während
des Zuges noch unmittelbar danach : das er-
hellt aus anab. V 3, 5 f. (als Verbannter hätte
er sein Weihgeschenk für den delphischen
Apollon nicht im Schatzhaus der Athener
niederlegen dürfen) und VII 7, 57.
«) Eine Schilderung anab. V 3, 7 ff. ; vgl.
Paus. V 6, 5 f. Der Anfang des Aufenthaltes
in Skillus wird teils ca. 394 (F. Klett, Zu
Xen.* Leben, Schwerin 1900; I. Pantazidis,
Vorrede zur Anab., Athen 1900), teils nach
387 (W. NiTSCHE. Über die Abfassung von
Xen. Hell., Berl. 1871) gesetzt.
^) L. Wekigeb, N. Jahrbb. f. kl. Altert.
19 (1907) 96 ff. Siehe auch die Schilderung
des gegenwärtigen Zustands von Skillus bei
J. Partsch im Textband zu der Kartenmai)pe
von , Olympia* S. 10.
^) Aus an. VII 6, 34 kann man schließen,
daß X. während des Aufenthalts bei dem
Thrakerfürsten Seuthes verheiratet war, aber
noch keine Kinder hatte.
2. Die Gesohichtsschreibimg. d) Xenophon. (§ 260.)
469
Zurückgezogenheit, litterarischen Arbeiten und den Freuden des Landlebens
hingegeben, bis die Kämpfe der Thebaner und Lakedaimonier ihn aus
dieser Ruhe wieder aufscheuchten. Als nach der Schlacht von Leuktra
die Eleier Skillus einnahmen (370), verlor er seinen dortigen Besitz und
rettete sich mit Mühe über Elis und Lepreon nach Korinth. Von hier aus
trat er wieder in gute Beziehungen zu seiner Vaterstadt, die sich damals
mit den Lakedaimoniern gegen Theben verbunden hatte. Der Verbannungs-
beschluß wurde aufgehoben ;i) er selbst zwar nahm an den Kämpfen keinen
Anteil mehr, aber er ließ seine beiden Söhne in die attische Reiterei ein-
treten. Von diesen fiel Gryllos bei Mantineia (362).*) Den Tod des Sohnes
überlebte der Vater; sicher starb er nicht, wie Stesikleides bei Diog. L.
n 56 ansetzt, schon 360/59, sondern erst nach 359, in welches Jahr die
Hell. VI 4, 36 gemeldete Ermordung des Tyrannen Alexandres von Pherai
fällt,*) wahrscheinlich erst nach 355, wenn anders die Schrift Ilögoi mit
Recht ihm beigelegt wird. Nach Demetrios Magnes bei Diogenes a. a. 0.
starb er in Korinth; danach scheint er also trotz der Auf hebung des Ver-
bannungsbeschlusses nicht mehr nach Athen zurückgekehrt zu sein.
260. Charakter, Schriftstellerei. Vor seiner Ansiedelung in
Skillus hat Xenophon jedenfalls nichts geschrieben. Als er sich schrift-
stellerisch zu betätigen anfing, war ihm das Sokratesideal bereits einiger-
maßen verdunkelt durch Fürsten- und Feldherrnideale. Auf dem Zug
durch Asien hatte er für den ritterlichen Perserprinzen Kyros, nachher
für den klugen und durch leutseliges Benehmen gewinnenden Agesilaos,
zwei ehrgeizige, in ihrer geistigen und sittlichen Bedeutung von Xenophon
weit überschätzte Männer, eine Begeisterung gefaßt, die bis an sein Lebens-
ende vorhielt; jenem hat er in der Anabasis und indirekt auch in der
Kyrupaideia, diesem in den Hellenika und dem Agesilaos Denkmäler ge-
setzt. Zwei schriftstellerische Pläne beschäftigten ihn aber zunächst nach
seiner Rückkehr, die Redaktion seiner Memoiren über den Zug mit Kyros,
mit der er gewiß bald nach den Ereignissen begonnen hat,^) und das Ein-
greifen in die Kontroverse über den Wert von Sokrates' Wirksamkeit, die
gegen das Jahr 390 in Athen brennend geworden war. Damals taten
Rhetoren verschiedener Richtung und Philosophen in Athen ihre Schulen
auf und eröffneten jenen Wettstreit zwischen Philosophie und Rhetorik um
die Ausbildung der Jugend, der das ganze Altertum hindurch nicht zur
Ruhe gekommen ist.^) Der „Fall Sokrates** wurde zum Gegenstand sophi-
*) Nach Istxos bei Diog. L. II 59 durch
denselben Eubulos. Die Sache selbst, nicht
bloß die Person des Antragstellers wird be-
zweifelt von C. G. CoBET, Nov. lect. 757 f.
^) Diog. L. n 54 erzählt die schöne Anek-
dote, wie Xenophon, dem beim Opfern die
Nachricht vom Tod seines Sohnes über-
bracht wurde, anfangs den Eranz vom Haupt
nahm, dann aber, als er vernommen, daß
sein Sohn erst nach tapferer Gegenwehr ge-
fallen sei, ihn wieder aufsetzte. Auf den
Heldentod des einen der Dioskuren wurden
unzählige Enkomien abgefaßt (Aristoteles
bei Diog. L. II 55) , von deren einem viel-
leicht Oxyrh. pap. HI nr. 431 ein Stück-
chen enthält. Ein anonymes Enkomion gibt
X. selbst Hell.Vn 5, 16 f. — Die Söhne des
Xenophon wollte man nach Paus. I 22, 4 in
den beiden Reitern am Aufgang zu den Pro-
pyläen wiedererkennen.
») Diodor XV 61, 2; XVI 14; A.Schäfbb,
Demosth. I« (Leipz. 1885—87) 151.
*) G. Cousin, Kyros le jeune en Asie
mineure, Paris 1905.
*) H. V. Aenim, Dio von Prusa, Berl. 1898,
Kap. I.
470
Orieehische LÜteratargesohiohie. L Elasaisohe Periode.
stischer Paradestücke gemacht, in denen die Rhetoren ihre Formkimst
zeigen und so Schüler für sich werben wollten, durch die aber doch auch»
mit mehr oder weniger Absicht Urteile über die Persönlichkeit und den
Einfluß des Sokrates in die Öffentlichkeit geworfen wurden. Zu diesen
mußten dessen Schüler Stellung nehmen. Insbesondere ein Erzeugnis dieser
Art, die einige Zeit nach 394 (Diog. Laert. II 39) ') herausgegebene xarrj-
yoQia Zwxgdxovg, die ihr Verfasser Polykrates dem Anytos in den Mund
legte, war so geartet, daß sie nicht bloß den Rhetoren Anlaß zu Ver-
besserungen in rein formalem Sinn,^) sondern auch den Philosophen sokra-
tischer Schule Anlaß zur Richtigstellung in sachlichen Punkten gab. Denn
Polykrates hatte in seiner gewiß an sich recht unbedeutenden Deklamation
insbesondere die Staatsgefährlichkeit*) des Sokrates in einer Weise be-
leuchtet, die für den Bestand der Sokratikerschulen in Athen sehr be-
denklich werden konnte. Xenophon hatte nun in Sokrates immer vor
allen Dingen den loyalen und korrekten Staatsbürger gesehen und mußte
sich durch das Bild, das Polykrates von ihm entworfen hatte, zum Wider-
spruch herausgefordert fühlen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er in
diesem Zusammenhang die Schutzschrift für Sokrates geschrieben hat, an
die er später seine sokratischen Denkwürdigkeiten anlehnte, Mem. I 1. 2.
Diese seine frühste Schrift ist vielleicht nicht sogleich herausgegeben
worden. Das Erste, was er, veranlaßt durch das Erscheinen von Sokrates-
apologien anderer Verfasser wie Lysias und Piaton, veröffentlicht hat,
wird die ^AnoXoyia HcoxQdrovg sein. Über seine weitere schriftstellerische
Tätigkeit wird bei Besprechung der Einzelschriften gehandelt werden.
Von den mächtigen geistigen Anregungen der Sophistik, die den Thuky-
dides zum größten Historiker, den Sokrates und Piaton zu den größten
Philosophen der Griechen gemacht haben, ist bei Xenophon kaum ein
Hauch zu verspüren. Sein anmutiger, aber schwungloser Geist kennt weder
scharfe Kritik noch gedankenmäßige Vertiefung, und am wenigsten ideale
Erhebung. In kurzatmigem Optimismus schmiegt er sich weich und
flüssig an die gegebenen Lebensformen und -anschauungen der herrschen-
den Gesellschaft an und verteidigt deren Recht so weit als möglich. Der
Verkehr mit Sokrates hat auf ihn ähnlich wie auf Antisthenes gewirkt,
nur daß dieser ein weit bedeutenderer und originellerer Kopf war. Von
Sokrates hat Xenophon die Abneigung gegen Naturwissenschaft und meta-
physische Spekulation, die Richtung auf das Praktisch-Ethische und Per-
sönlich-Private, die konservative Haltung in politischen und religiösen
Fragen, den Abscheu vor extremer Demokratie. Es fehlt ihm aber die
Denkschärfe des Sokrates in Stellung und Behandlung der Probleme; wenn
Sokrates den kultlichen Einrichtungen gegenüber schonende Zurückhaltung
übte und die Zeremonien der Staatsreligion eben noch mitmachte, so blieb
^) Aber nicht erst nach 387, wie F.
DüMMLEK, Akad. 29 will.
^) Isoer. 1 1 , 4 f. ; Lysias schrieb dagegen
eine ri-TOAnyia ^fox(jdTov<: (fr. IISThalh.).
^) Anytos kann in dem geschichtlichen
Prozeß, in dem wegen der Amnestie von 403
die politische Seite sicherlich gar nicht be-
rührt werden durfte, nicht gesprochen haben,
was ihn Pol. sprechen ließ (A. Menzel,
Untersuchungen zum Sokratesprozeß, Wiener
Ak. Sitz.ber. 145, 1902, II 36 ff.). Pol. hat
also ein neues und sehr gefährliches Motiv
der Verdächtigung eingeführt.
2. Die GMohichtBschreibimg. d) Xenophon. (§ 260.) 471
Xenophon in einer kleinlichen, unausgesetzt mit Beten, Opfern, Beobachten
von göttlichen Zeichen und Orakeln beschäftigten Observanz der äui^r-
liebsten Art stecken, rechnete nach Art des gemeinen Mannes über mensch-
liche Leistung und göttliche Gegenleistung ab und fQhlte sein metaphysi-
sches Bedürfnis durch eine ganz oberflächliche Teleologie und Theodicee
(mem. 14; IV 3) befriedigt, die später merkwürdigerweise von der Stoa
ausgebaut worden ist; wenn Sokrates bei allem Freimut der Kritik demo-
kratischer Ausschreitungen doch ein treuer Sohn seiner Vaterstadt Athen
blieb, so hat es Xenophon über sich gebracht, gegen sein Vaterland zu
kämpfen, ein Schritt, um dessen willen ihn B. G. Niebuhr^) den ausgeartet-
sten Sohn nennt, den jemals ein Staat ausgestoßen habe.
Sein sittliches Ideal verkörpert sich nicht sowohl in einem idealisti-
schen, weitabgewandten Asketen wie Sokrates als in dem Gentleman dori-
sierenden Zuschnitts, der, körperlich abgehärtet, sich in allen Lagen be-
herrscht (HeU. IV 8,22; V 3, 21; VI 1, 16), besonders Schlagfertigkeit,
leutselige Verkehrsformen, gute Einfälle hat, sich treue und dienstfertige
Freunde (siehe besonders Anab. I 5, 8 f.; 9, 15 flf.) zu verschaffen und zu
erhalten weiß. Derartige Persönlichkeiten kultiviert er und ist überzeugt,
daß sie zum Herrschen geboren seien; er fand sie in dem Athen des
4. Jahrhunderts nicht, dagegen im Ausland, bei den Persern und Spar-
tanern, und im Verkehr mit Kyros und Agesilaos haben sich ihm die un-
hellenischen, monarchischen Anschauungen befestigt, die er in der Kyru-
paideia zusammenhängend vorträgt und die, besonders durch die Wirk-
samkeit des Isokrates im Lauf des 4. Jahrhunderts, je mehr in Griechen-
land die Persönlichkeiten großen Stils ausgingen, desto mehr Boden fanden.
Xenophon ist neben Antisthenes der erste griechische Verkünder des
(pvoei ßaodevg, dessen als einer glücklichen Möglichkeit auch Aristoteles
(pol. p. 1310a 39 flf., 1284a 3 ff., 1288a 15 ff., 1289a 41 f., 1332b 20 f.)
gedenkt. Den praktischen Fragen der Erziehung, in der das Theoretische
für ihn eine sehr geringe, die Frömmigkeit und die körperliche und sitt-
liche Übung zu Mut und Selbstbeherrschung eine sehr große Rolle spielt,
und der Staatsorganisation gilt sein ganzes Interesse, und von diesen
Gegenständen handeln alle seine Schriften direkt oder indirekt, auch die
historischen, insofern in der Anabasis das Persönlich-Vorbildliche sehr
stark hervortritt und die Hellenika an dem Beispiel der spartanischen
Hegemonie zeigen wollen, wie das bestorganisierte Staatswesen durch
Verletzung göttlicher Gebote und Vertragsbruch zugrunde geht.
Den Sachgebieten nach lassen sich seine Schriften in die drei großen
Gruppen der philosophischen, historischen und lehrhaften teilen. In den
beiden ersten beruht Xenophons schriftstellerische Größe. Seine Begabung
kommt hier am reinsten in Werken persönlichen Charakters, in zwanglos
subjektivistischen Formen, im Memoire zur Geltung. Am meisten Frische
hat seine Anabasis, die lediglich Selbsterlebtes gibt; nahe stehen ihr der
Art nach die sokratischen Denkwürdigkeiten, die freilich zum kleinsten
Teil für Geschichte im strengen Sinn gelten können, wenn sie sich auch
^) B. G. NiEBUHs, Kl. Sehr. I 467; s..dle oben S. 468, 1 angeftthrten Charakteristiken.
472
Griechische Litteratnrgesohichie. L Klassiache Periode.
formell so darstellen; sie gehören vielmehr nebst dem S}rmposion und dem
Oikonomikos in die nach Aristoteles der Poesie zuzurechnende Gattung
der ücoxQarixol X6y Ol ; von den platonischen Dialogen unterscheiden sie sich
stark durch das Schwanken zwischen erzählender und dialogischer Form,
durch die ausschließlich praktisch-moralistische Haltung und ihre nirgends
einen Gegenstand erschöpfende bunte Vielseitigkeit und Oberflächlichkeit,
die in den ^Anofivrifiovev^aTa ermüdend wirkt, während die zwei mit Liebe
ins einzelne ausgearbeiteten, nach ihrem Sachinhalt den Xenophon offenbar
besonders interessierenden Stücke Symposion und Oikonomikos vorzüglich
gelungen sind. Mit den Hellenika wagt Xenophon den Thukydides fort-
zusetzen und steht, insofern als er Zeitgeschichte erzählt, methodisch unter
seinem Einfluß; aber Auswahl und Behandlung von Personen und Sachen
zeigen die subjektive Art des Schriftstellers nur zu deutlich. Sein kühnster
Wurf, die Kyrupaideia, ist formal eine Verbindung von Philosophie und
Historie — ein politisch-pädagogisches Ideal in freier Weise geschichtlich
lokalisiert und individualisiert, ein „^rdog*', aber ohne Piatons großartige
und hinreißende Phantasie. A. Krohn^ urteilt wohl in Xenophons eigenem
Sinn, wenn er sie als dessen bestgelungene Schrift betrachtet. In allen
diesen Leistungen ist ohne Zweifel viel eigenes schriftstellerisches Verdienst
des Xenophon, wiewohl wir nicht mit voller Sicherheit beurteilen können,
ob und wie weit etwa die Schriften des Antisthenes oder anderer Sokra-
tiker außer Piaton formal und sachlich auf seine sokratischen Schriften
eingewirkt haben mögen, und auch vermuten dürfen, daß die schlichte,
persönliche, der strengen rednerischen Schulung ermangelnde*) Art sich
schriftstellerisch zu geben, für die unter den vollständig erhaltenen grie-
chischen Schriftstellern jener Zeit nur allenfalls Andokides eine Analogie
bietet, schon von Memoirenschriftstellern wie Ion vorgebildet gewesen sei;
sicher hat er auch aus Herodot schriftstellerisch vieles gelernt. 3) Aber
jedenfalls ist seine läßliche, mehr psychologisch-assoziative als logisch
durchdringende Schreibweise in der attischen Litteratur ein neuer, eigen-
artiger Typus, der für alle Zeiten Vorbild der äcpeXeia des Stils geblieben
ist. Fremde schriftstellerische Formen hat er sich angeeignet im Agesi-
laos, der von isokratischer Manier abhängt, und in den Lehrschriften, für
welche die Sophistik, insbesondere Kritias, Muster geschaffen hatte. Aber
nicht nur stilistisch, sondern auch sprachlich ist Xenophon eine neue Er-
scheinung. Wenn man ihn im Altertum die attische Biene*) oder attische
Muse*) genannt hat, so bezieht sich das lediglich auf die Anmut seines
Ausdrucks, nicht auf die attische Reinheit seiner Sprache. Sein langes
Wanderleben, sein Verkehr mit Griechen anderer Staaten und mit Bar-
^) A. Krohn, Sokrates und Xenophon,
Halle 1875.
^) Bewußt rhetoiisiert X. nur im Agesi-
laos; sonst ist ihm nur einzelnes Rhetorische
angeflogen: H. Schacht, De Xenophontis
studiis rhetoricis. Diss. Berlin 1890.
') Dionys. Hai. ad Pomp. 4; F. Reuss,
Jahrbh. f. Philol. 145(1892) 564 f.; A. v. Gut-
scHMiD, Kl. Sehr. IV 832 urteilt , Herodot ist
wahrhaft naiv, Xenophon nur grün", und in
der Tat steht die Naivetät vor dem Einwirken
der Sophistik in einer wesentlich anderen
Beleuchtung als nach diesem. Siehe darüber
auch E. Meyer, Gesch. d. Altert. III 280.
*) Suid. S. Zeroqwv.
») Diog. L. II 57; Cic. or. 62; Quint. X
1,33.82; Tac. dial. 31.
2. Die Geschichtflschreibimg. d) XenopholL
261—262.)
473
baren, 0 der Mangel an einer geschlossenen Ausbildung seines Geistes und
Geschmacks haben zusammengewirkt^ nicht bloß seiner Gesinnung die aus-
gesprochen nationale Farbe zu nehmen, sondern auch das Gefühl für die
scharf umschriebene Eigenart des attischen Dialekts, für die Grenzen
zwischen poetischem und prosaischem Ausdruck*) bei ihm abzustumpfen. Die
Bezeichnung ^Vorläufer des Hellenismus", die man») ihm gegeben hat, trifft
auch auf seine Sprache zu.*) Bei Dionysios von Halikamassos sind mit
Recht Lysias und Isokrates, nicht Xenophon, als Vorbilder attischer Sprach-
reinheit hingestellt. Wenn man in alter und neuer Zeit seine Klarheit
hoch gepriesen hat, so soll nicht vergessen werden, daß diese Eigenschaft
bei der Seichtigkeit seiner Gedanken nicht allzu schwer wiegt. Hinter-
lassen hat er nach Diogenes Laertios H 56 an vierzig Bücher (nicht
Schriften);^) alle dann von Diogenes namentlich aufgezählten Schriften sind
auch unversehrt auf uns gekommen,^) darunter zwei unechte.
261. Die einzelnen Schriften. Eine Besprechung der einzelnen
Schriften in chronologischer Folge ist nicht möglich, weil wir nur für
wenige von ihnen (Laced. resp., Agesil., de vectigal.), und zwar solche aus
den letzten zwanzig Jahren von Xenophons Leben, feste Punkte zur Bestim-
mung der Abfassungszeit haben. Es empfiehlt sich daher, sie in die drei
großen Sachgruppen geteilt vorzuführen. Weitere relative Daten zur Fest-
stellung der Abfassungszeit können nur durch Fortsetzung einer umsichtigen
sprachstatistischen Untersuchung, mit der A. Roquette"^) einen Anfang ge-
macht hat, gewonnen werden.®)
I. Geschichtliche Schriften haben wir von Xenophon drei, die
Anabasis, die Hellenika und den Agesilaos. Jede von ihnen vertritt eine
eigene Gattung: die Anabasis ist ein Memoire, die Hellenika Zeitgeschichte
im Anschluß an Thukydides, der Agesilaos eine Lobrede auf eine geschicht-
liche Persönlichkeit.
262. KvQov ävdßaaig in sieben Büchern^) hat den Namen von dem
^) Helladios bei Phot. bibl. p. 533 b 25.
*) Hennog. .t. id. p. 419, 21 Sp.; Phot.
lex. in den Nachr. der Gott Ges. d. Wiss.
1897, 328, 9 oÄcog JtokXä ra ylcooorjftauxa
jraQ* avTo). Einzelheiten an X.' Sprache tadelt
Phrynichos (W. Schmid, Attic. I 207).
') J. P. Mahafpy, The progress of Hel-
lenism in Alexanders empire, Chicago 1905,
chap. 1.
*) Der Kompositcharakter tritt in der
Analyse des Wortschatzes von G.A.Sauppb,
Lexilogiis Xenophonteus, Leipz. 1869, hervor.
Die zahlreichen Neubildungen des X. bewegen
sich in den Bahnen der Koivrj. Vgl. W. G.
Rütherford, The new Phrynichus, Lond.
1887, 161 f. Über Xenophons Wortvorrat s. a.
F. RiEMANN, Observationes in dlalectum
Xenoph., Jever 1882.
^) Die erhaltenen Schriften machen zu-
sammen 37 Bücher aus, wenn man aber die
Einteilung der Hellenika in 9 Bücher zu-
grunde legt, 39; von der letzteren 2^hl läBt
daher C. Wachsmüth, Rh. M. 34 (1879) 334
den Diogenes ausgehen.
®) Nicht erhalten ist uns die von Sto-
baios Flor. 88, 14 erwähnte Schrift tibqi
Seoyvidogi 0. ImasoH. Xenophon über Theo-
gnis u. das Problem des Adels, in Comment.
Ribbeck. 71—98.
^) Siehe die oben S.466, 1 zitierte Schrift.
Die Bemängelung derartiger Untersuchungen
durch E. Schwabtz, RL Mus. 44 (1889) 184 f.
ist bedeutungslos.
8) Von den Fragen der Abfassungszeit
ist bei den einzelnen Schriften zu handeln.
Im voraus sei nur bemerkt, daß Ed. Sohwartz,
Quellenuntersuchungen zur griech. Geschichte,
Rh. Mus. 44 (1889) 190 £f. und ähnlich E.
Richter, Xenophonstudien 149 ff., den Xeno-
phon erst 370 nach seiner Ansässigmachung
in Korinth mit Schriftstellerei sich befassen
lassen. Wir können diese von vornherein
paradoxe Meinung nicht teilen.
®) Die Einteilung in Bücher rührt von
später Hand her, von derselben auch die
üjber den Inhalt orientierenden Einleitungen
474
Grieohiache Lüteratargasehichte. L Khuwasche Periode.
kleineren ersten Teil (I 1 — 6), in dem der Zug des Kyros vom Meer hinauf
nach Innerasien in der Form eines Reisejournals (ähnlich Herod. V 52 ff.)
beschrieben ist.^) Den Hauptgegenstand aber bildet die großenteils von
Xenophon geleitete Heimkehr der Zehntausend nach der Schlacht von
Kunaxa, ein Stück von einzigartiger geschichtlicher, geographischer und
ethnographischer Wichtigkeit, das obendrein durch die zentrale Stellung
Xenophons bei diesem außerordentlich schwierigen, ja abenteuerlichen
Unternehmen einen eigenartigen persönlichen Reiz erhält. Unter den
erhaltenen Memoiren des Alterturas dürften der Anabasis nur die Kom-
mentare Cäsars über den gallischen Krieg den Rang streitig machen.
Mit diesen teilt die Anabasis auch den Charakter als Rechtfertigungs-
schrift, ^) den aber Xenophon durch die Art der Stilisierung und Publi-
kation möglichst verborgen hat. Er redet nämlich, wie Cäsar, von sich
immer in der dritten Person,*) einigemal wird (I 8, 18; V 4, 34)*) sogar
auch eine Ansicht mit üyovol xiveg eingeführt, wo es sich nur um Be-
obachtungen des Verfassers selbst handelt. Femer hat Xenophon die
Schrift unter fremden Namen veröffentlicht.^) Hell. IH 1, 2 nimmt er offen-
bar auf seine eigene Anabäsis als auf ein Werk des Themistogenes aus
Syrakus Bezug. Daß vom Zug der Zehntausend außer Xenophon und dem
Stymphalier Sophainetos, dessen Anabasis* Stephanos von Byzantion viermal
zitiert,^) auch noch Themistogenes eine eigene Darstellung gegeben habe,
ist ebensowenig glaublich, 7) als daß Xenophon in den Hellenika diesen
Zug, dessen Seele er selbst gewesen war, mit Stillschweigen übergangen
und auf eine fremde Darstellung verwiesen hätte, wenn er nicht Verfasser
der Anabasis wäre. Was der Schriftsteller hier bietet, ist meist von ihm
selbst miterlebt oder bei Augenzeugen erfragt; doch hat er auch Litte-
zu Anfang jedes Buches; vgl. Th. Birt, Ant.
Buchw. 464 ff. Arrian las jene einleitenden
Inteipolationen schwerlich in seinem Exem-
plar, da er die Bücher seiner Anabasis ohne
jede Einleitung beginnt.
') Nur locker ist das erste Buch mit
den folgenden Büchern verbunden, so daß
an eine ehemalige selbständige Stellung des-
selben denkt G. Osbekoer, Studien z. 1. B. von
Xen. Anab., Progr. Speier 1896. Andere wie
A. Croiset scheiden die zwei ersten Bücher,
die eine rasche und summarische Darstellung
enthalten, von den übrigen, in denen die
Person des Xenophon in den Vordergrund tritt.
*) F. Dürrbach. Rev. des 6t. Gr. 6 (1893)
343 ff., der nur schwerlich mit R«cht die Ab-
fassung der An. auf die Absicht des X. zurück-
führt, seine Rückbenifung nach Athen zu be-
wirken und sie darum bis 370 herabrückt. W.
Vollbrecht in der Festschr., der 48. Philol.-
vers. dargebr. von dem Lehrerkolleg, des
Christianeums, Altona 1905.
') Nur in dem unechten Schlußkapitel
VII 8, 25 steht die erste Person sm)ldo^isv.
Auch Hell. III 2, 7 hält er die erste Person
fest.
*) Die Echtheit der Stellen wird von
C. G. Cobet und andern Kritikern bezweifelt ;
das Xeyeiai von II 2, 6 hat nichts Auffälliges.
^) Im Altertum ist die Pseudonymität
nicht bezweifelt gewesen (Plut. de glor. Ath.
1 p. 345e; Tzetz. Chil. VII 920), wohl aber
in neuerer Zeit (K. Schexkl, Wiener Ak. Sitz-
ber. 60, 1868, 635 flf. und G. Cousin in der oben
S. 469, 4 erwähnten Schrift). Unsicher ist
die Beziehung des äXXfj yiyQOJiTtu an. II 6, 4
von einer Sache, die X. sonst nirgends be-
rührt.
®) Steph. u. KoQÖovxot, Tdo^roi, ^voxoi,
Xaofidvdtf. Benützt zu haben scheint diesen
und vielleicht auch den Etesias Diodor. XIV
19 — 31 durch Vermittlung des Ephoros in
den Partien, die von Xenophon abweichen. —
Sophainetos von Stvmphalos hatte wohl vor
Xenophon sein Buch geschrieben, so daß im
Gegensatz dazu Xenophon, ohne sich das
merken zu lassen, seine Verdienste in besseres
Licht zu setzen suchte. Dementsprechend
findet Th. Gohperz, Griech. Denker II 98 in
der Anabasis eine große Selbstüberschätzung
des Autors.
') Suidas erwähnt von diesem Themisto-
genes außer der Anabasis noch iVJ.a urd
jtegi Tijg iavtov nargi^os. Die uns erhaltene
Anabasis kann dem Stil nach nur von Xeno-
phon selbst verfaßt sein.
2. Die GaBohichtssohreibang. d) Xenophon. (§ 263.) 475
ratur, z. B. den Ktesias (An. I 8, 26 f., vielleicht auch III 4, 8—12)0 ^^'
nützt. Der schlichte Fluß der Darstellung wird öfter unterbrochen durch
reflektierende Partien teils in Form von Personalcharakteristiken, die als
erste Versuche, in griechischer Prosa die Eigenart menschlicher Charaktere
schriftstellerisch zu fassen, sehr bedeutungsvoll sind,^ teils in Form von
Reden. — Die Anabasis war für die Darstellung der Kyrosexpedition bei
Ephoros neben Ktesias die Hauptquelle.') Die Abfassung der Anabasis
wird jetzt meist Mitte oder Ende der siebziger Jahre des vierten Jahr-
hunderts angesetzt,^) ohne daß für so späte Datierung ein zwingender
Grund vorläge. Fest steht nur, daß die An. V 3, 7 bezeichnete Olympiade
frühestens die des Jahres 388 sein kann, da die ganze Schilderung des
Lebens in Skillus^) voraussetzt, daß Xenophon schon seit geraumer Zeit
dort ansässig war.
263. Die 'Ellrjvixd in sieben Büchern^) setzen die Vollendung der
Anabasis voraus (HI 1, 2); sie enthalten die griechische Geschichte von
411 bis 362, d. h. von dem Zeitpunkt an, mit dem das Werk des Thukydides
endigte, bis zur Schlacht von Mantineia. Das Werk fängt ganz abrupt
an mit juezä dk ravta, will also sicher in seinem ersten Teil nur eine Fort-
setzung oder Ergänzung der unvollendeten Geschichte des Thukydides
bieten,') wiewohl der Schluß von Thukydides VIII und der Anfang von
Hellenika I nicht ganz genau aufeinander passen.®) Die Schlußworte ijtiol
fjiv dt) juixQi rovTOv yoacpia&co, rd dk fxe:iä ravra Towg äXXq) jue^oei machen
den Eindruck, Xenophon habe, als* er sie schrieb, bereits von einem be-
stimmten Fortsetzer gewußt. Der Abschluß mit der Schlacht von Manti-
neia, d. h. der endgültigen Niederwerfung von Spartas Hegemonie, ist
übrigens, dem ganzen Plan und Geist des Werkes nach, der von Xenophon
gewollte. Auf diese Schlacht folgt nach seiner Anschauung ein Zustand,
von dem er sich mit Widerwillen abwendet und den zu schildern er keine
Lust mehr hat. Das ganze Werk, an dem Xenophon, wie wir aus einer
gelegentliehen Bemerkung VI 4, 36 sehen, noch über das Jahr 359 hinaus
') 0. Neuhaus, Die Quellen des Pom- nötigerweise an, daß der Passus über Skillus
peius Trogus in der pers. Gesch., Progr. Königs- ähnlich wie der Epilog der Kyrupaideia erst
berg 1896; ders., Kh. Mus. 56 (1901) 272; M. ■ später bei einer Neuausgabe des Buches zu-
Pancritius, Studien über die Schlacht bei gefügt worden sei.
Kunaxa, Berlin 1906. ^) Daneben existierte eine Ausgabe in
*) I. Bruns, Das litterar. Porträt 141 fF. ; 9 Büchern, wie aus den Zitaten des Harpo-
F. Leo, Die griech.-röm. Biogr., Leipz. 1901, kration A. Schafbb, Jahrbb. f. cl. Phil. 101
87 ft. (1870) 527, nachgewiesen hat.
3) A.v.Mess, Rhein. Mus.61 (1906)362ff, ') G. Friedrich, Jahrbb. f. cl. Phil, lb^
*) Zwischen 379 u. 371 E. Meyer, Gesch. (1896)299 nimmt an, daß dieser Anschluß erst
des Altert. III 277 f. ; um 375 I. Pantazidis später durch den Redaktor gemacht sei ; das
(in seiner Ausg. Athen 1900) ; um 370 F. Dürr- j Gleiche könnte man für den Schluß anneh-
BACH a. a. 0. ; I. Bruns a. a. 0. findet in den Cha-
rakteristiken des Menon und Proxenos Ein-
flüsse von Isokrates* Euagoras und geht dem-
nach nicht über 373 zurück. K. Sghenkl,
Xenoph. Studien 11 (Wien 1875) 73 schließt
aus den Imperfecta an. V 3, 9, das Werk sei
erst nach Xenophons Abzug aus Skillus, also
nach 373 geschrieben; ähnlich E. Sohwartz,
Rh. Mus. 44 (1889) 193.
») Th. Berok, Gr. Litt. IV 313 nimmt un-
men. Der Redaktor hätte dann beabsichtigt,
in einem Eyklos von Geschichtswerken nach
Art des epischen die Hellenika zwischen
Thukydides und die Philippika des Theopom-
pos oder Anaximenes zu setzen.
^) 0. RiEMANN, Qua rei criticae tractan-
dae ratione Hellenicon Xenoph. textus con-
stituend. sit, Paris 1879, 52 ff.; Th. Lbi^schaü,
Jahresber. über die Fortschr. d. kl. Alt 122
(1902) 231.
476
Grieohische litteratnrgeBchiehte. L KlaariBche Periode.
gearbeitet hat, ist trotz einiger gelungenen Partien ^ weit entfernt von
der feinen Durcharbeitung der Anabasis und K}rrupaideia. Die Vermutung
liegt nahe, daß er es nicht zur Herausgabe als Ganzes abgerundet, nicht
die letzte Feile daran gelegt habe.') Auf solche Weise erklären sich
Spuren, die auf Abfassung der einzelnen Teile zu verschiedenen Zeiten
hinweisen. B. G. Niebuhr') hat zuerst darauf aufinerksam gemacht, da&,
wenn es am Schluß des zweiten Buches von den unter sich ausgesöhnten
Parteien Athens heißt hi xou vvv öfiov xe jioJUrevovrai xal röig Sgxoig iju/iieysi
6 dijjLLog^ Xenophon unmöglich zur Zeit der Schlacht von Mantineia, nach-
dem jene Aussöhnung längst vergessen und ein ganz anderer Zustand ein-
getreten war, noch so habe schreiben können. Er nahm deshalb an,
Xenophon habe zuerst nur die zwei ersten Bücher als Fortsetzung des
Thukydides*) geschrieben. Weiter gingen Neuere, indem sie auf den
stärkeren Einschnitt nach V 1 und die stilistische Verschiedenheit der ein-
zelnen Teile hinwiesen.^) Die ersten zwei Bücher oder genauer I 1 bis
n 3, 10 führen in annalistischer Anordnung, unter Beibehaltung der thuky-
didel'schen Formeln am Schluß und Anfang des Kriegsjahrs, ^) und trockenem
Ton sine ira et studio (nur daß in der ausführlichen Darstellung des
Arginussenprozesses sich das Interesse des Sokratikers verrät) die Ge-
schichte des peloponnesischen Krieges zu Ende; den Eindruck eines ab-
geschlossenen, mit Vorliebe ausgearbeiteten Teiles, der aber noch unter
thukydidel'schem Stilgesetz steht, ^) macht die Geschichte der Herrschaft
der dreißig Tyrannen H 3, 11—4, 43 (jJ 'A&tjvrjoi axdoig IH 1, 1).«) Diese
beiden ersten Bücher waren ursprünglich bestimmt, mit dem Werk des
Thukydides als dessen Ergänzung herausgegeben zu werden. Daran
schließt sich in freierer und lebhafterer, gruppierender Darstellung und
*) Einige besonders farbenfrische Teile
hebt I. Bruns, Litt. Portr. 42 f., heraus.
«) R. Gbossbb, Jahrbb. f.cl. Phil. 93 (1866)
721 ff. ; 95 (1867) 737 ff. ; 105 (1872) 723 ff. sucht
die Hellenika als einen späteren Auszug zu
erweisen, worauf insbesondere auch das äXXfj
yeyocuirai der Anab. II 6,4 (s. o. S. 474, 5) hinzu-
weisenscheine, da er dort etwas verspricht, was
in unseren Hellenika nicht steht. Zuvor schon
hatte A. Kyprianos, IIfqI töv 'ElXtjvixcoy tov
Ssi'offcJrTog, Athen 1859, den Gedanken einer
Epitome ausgesprochen. Dem tritt mit ge-
sundem Urteil W. Vollbbboht, De Xeno-
phontis Hellenicis in epitomen non coactis,
Hann. 1874, entgegen. Daß die den Agesi-
laos betreffenden Abschnitte uns nicht im
Auszug erhalten sind, dafür haben wir eine
Garantie in der Lobrede auf Agesilaos.
') B. G. NiEBüHR, Über Xenophons Hel-
lenika, Kl. Sehr. I 464 ff. Dagegen behauptet
auf Grund der unbewiesenen Voraussetzung,
daß die Hellenika lediglich den Zweck ver-
folgten, in Athen Stimmung für Sparta und
gegen Theben zu machen. Ed. Schwabtz,
Rh. Mus. 44 (1889) 182 ff., sie seien in einem
Zug und mit der gleichen Tendenz nach 859
abgefaßt E. Metbb, Gesch. des Altert. HI
281 schließt sich an Schwartz an.
*) Daß Xenophon den Nachlaß des Tlm-
kydides in die Hände bekam, scheint die ver-
worrene Nachricht bei Diog. L. II 57 (vgl.
auch Marcellin. vit. Thuc. 45) zu besagen.
*) W. NiTSCHB, Über die Abfassung von
Xen.* Hellenika, Progr. des Berliner Sophien-
gymn. 1871; vgl. A. Roqubttb S. 61, der mit
W. Dittbnbebgbb, Herm. 16 (1881) 330, auch
Eigentümlichkeiten des Sprachgebrauchs (na-
mentlich von fit/v) für die Scheidung ver-
wertet; vgl. J. Habtman, Anal. Xenoph. p. 35 ff.
Orientierend L. Lanoeb, Eine Sichtung der
Streitschriften über die Gliederung der Hell,
von Xen., Progr. Brunn 1897.
«) G. BüsoLT, Herm. 33 (1898) 661 ff.
') Eine Abweichung von ihm entschul-
digt nach der Bemerkung von I. Brüns (Das
litterar. Portr. 37) X. selbst II 3, 56 (vgl.
auch V 1, 4). Siehe a. E. Römpler, Studie üb.
die Darstell, der Persönlichk. in den Ge-
schichtswerken des Thuk. und Xen., Diss.
Eriangen 1898.
*) Vergleichung dieses Abschnitts mit
dem Bericht bei Aristot. *Ad. :io/.. G. Bcsolt,
Herm. 33 (1898) 71 ff.; Th. Lbnsohau a. a. 0.
122, 232 f.
2. Die GeBchichtsschreibimg. d) Xenophon« (§ 268.) 477
mit entschiedener Parteinahme für Sparta und gegen Theben die
übrigens recht lückenhafte und ungleichmäßige^) Erzählung der Ereignisse
bis 387 oder bis zum Frieden des Antalkidas (bis V 1, 36). Dieser Ab-
schnitt ist gewissermaßen eine Verherrlichung der Politik des Agesilaos
und scheint von Xenophon um 384 in dankbarer Anerkennung der von
Agesilaos empfangenen Wohltaten abgefaßt zu sein.^) Der im ersten Teil
beobachtete Grundsatz, alles genau in annalistischer Weise mit Unter-
scheidung der Jahreszeiten zu erzählen,') ist hier so wenig festgehalten,
daß so wichtige Ereignisse wie die Schlacht von Knidos keine direkte Er-
wähnung gefunden haben. Sehr bezeichnend für Xenophons ganze mora-
listische Auffassung ist der Einschnitt, den er nach V 3 macht und durch
ein neues Proömium (V 4, 1) hervorhebt. Dieser rein kompositorische
Einschnitt ist ihm offenbar viel wichtiger als der sachliche mit dem Antal-
kidasfrieden, V 1, 36. Man sieht, sein Thema ist die Geschichte der spar-
tanischen Hegemonie seit 403; sie zerfällt ihm in zwei Teile, 1. Auf-
schwung (bis V 3), 2. Niedergang infolge der spartanischen Gottlosigkeit
(V 4 bis Schluß). Der frömmelnde Ton ist hier noch stärker und, da die
Gottheit so weit als möglich die Spartaner begünstigen muß (IV 4, 12; V
4, 1; VI 4, 3 f.; VII 4, 9. 32; 5, 10. 12. 13), widerwärtiger als in der Ana-
basis. Noch mehr als zuvor kommt von V 4 an über der politischen und
moralischen Reflexion die nächste Aufgabe des Historikers, die erschöpfende
Darstellung der Ereignisse, zu kurz; noch mehr drängt sich die spartaner-
freundliche Tendenz auf. Männer wie Konon und Pelopidas werden kaum
erwähnt, Epimaneinondas als ehrgeiziger Streber mit einigen taktischen
Fähigkeiten (VH 5, 19) charakterisiert, der Sieg von Leuktra als Zufalls-
erfolg dargestellt (VI 4, 3 ff.), während die Trefflichkeit selbst mittelmäßiger
Spartaner wie des Derkyllidas (III 1, 8 ff. 21 ff.; 2, 7), die Gerechtigkeit
der spartanischen Ephoren und Feldherrn (HI 2, 6. 31; V 4, 64; VI 5, 12)
übermäßig herausgehoben werden.*) Besonders widerlich wirkt, daß Xeno-
phon (wie Isokrates)^) seine Parteilichkeit hinter dem Vorwand, für die
unterdrückten griechischen Kleinstaaten eintreten zu wollen, versteckt.
Infolge dieser materiell sehr starken Subjektivität der Anschauung bei
gleichzeitiger Festhaltung der objektiven Formen des Thukydides geht,
was den Stil betrifft, ein Riß durch das Werk.*) Die Anabasis in ihrem
*) Siehe darüber E. Meter, Gesch. des
Altert. III 278 ff.; grell beleuchtet ist die
Lückenhaftigkeit durch den Kratippospapyrus
(s. B. Grenfell und A. Hunt, Oxyrh. pap.
keit der Hell. L. Lohse, Quaest. chronolo-
gicae ad Xen. Hell, pertinentes, Diss. Leipz.
1905.
*) Dem Lucian (de bist, conscr. 39) war
V 1908 p. 120 f.). I es vorbehalten, den X. als öUatog ovyygaq^evg
*) Hell. IV 3, 16 wird die Schlacht von zu loben. Aber mit J.Six (Jahrb. des arch. Inst.
Eoroneia genannt oia ovx ällrf Twy y' i(p*
rjfKor, was nach der Schlacht von Leuktra
niclit mehr paßt; der Ausdruck ist freilich
mechanisch übernommen in den viel späteren
Agesilaos 2, 9. Die Ansicht von E. v. Lbutsoh,
Phil. 33 (1874) 97, daß Xenophon die ersten vier
Bücher unter dem Pseudonym Eratippos ver-
öffentlicht habe, widerlegt F. Rühl, Jahibb.
f. cl. Phil. 127 (1883) 738 f.
^) Über die chronologische Undeutlich-
20, 1905, 97 ff.) die Schilderung der Schlacht
bei Fhlius VII 2, 20 ff. für Ekphrase eines
Gemäldes zu halten, wird man sich doch
kaum entschließen.
^) F. BLASS, Att. Bereds. II« 91. Das
Rezept ist übrigens nach Maßgabe der lako-
nischen Tendenzlügen (Thuc. II 8, 4) schon
von der altattischen Komödie (Aristoph. Ba-
ßvltovioi) angewendet.
^) Siehebesonders I. Brunb a. a. 0. 87 ff.
478 Grieohisdie LitteratnrgeBchiclite. I. KUsaisohe Periode.
Memoirencharakter ist weit stilreiner. Die in den Hellenika eingelegten
Iteden sind, abgesehen von II 3, 24flF.; V 1, UflF.; VI 3, 4flF., sehr farblos.»)
Litterarische Quellen für die Hellenika kennen wir nicht. Was Xenophon
gibt, hat er teils selbst mit angesehen, teils sich von Zeugen berichten
lassen {icpaoav III 5, 21; VI 4, 29; VII 1, 30. 4, 40). Daher mag sich zum
Teil die Ungleichmä&igkeit der Darstellung erklären. Die Zusamraenord-
nung der zu verschiedenen Zeiten geschriebenen und vielleicht auch heraus-
gegebenen Teile kann wohl von Xenophon selbst herrühren, der ja noch
eine Reihe von Jahren nach 362 gelebt hat. Aber zu einer durchgreifen-
den Schlußredaktion ist er nicht gekommen. Von späterer Hand sind
Glosseme zur Ergänzung und chronologischen Fixierung hinzugekommen.*)
264. Der *AyrjaUaog^ eine Lobrede nach der Schablone von Isokrates'
Euagoras^) auf den verstorbenen König Agesilaos, hängt mit den Hellenika
eng zusammen; waren doch diese in ihrem Hauptteil der Verherrlichung
der politischen Ziele und der kriegerischen Tüchtigkeit dieses Königs ge-
widmet. Der Agesilaos verwendet die Materialien der Hellenika*) zu einer
Charakteristik des Agesilaos nach der ethischen Seite hin; das Verhältnis
der beiden Schriften ist ähnlich wie das zwischen Theopompos' Philippika
und iyxcojuiov <PiXbi7tov. Die Folge der Entlehnungen ist, daß die Einleitung
des Agesilaos viel rhetorischer als das weitere geformt ist. Nachdem
Agesilaos im Winter 361/60 auf der Heimkehr von dem ägyptischen Feld-
zug gestorben war, wurde eine Menge von Enkomien auf ihn geschrieben.*)
Sein Bewunderer Xenophon durfte hier nicht fehlen. Unter vielfach wört-
licher Benützung^) seiner Hellenika, aber selbstverständlich in wesentlich
verschiedenem Stil schrieb er die erhaltene Lobrede. Daß er ihr Verfasser
sei, ist ohne Grund bezweifelt worden.^)
^) I. Bruns a. a. 0. 402 f. oder habe sich Xenophon bei der Herausgabe
') G. F. Umoer, Die historischen Glos- des Agesilaos an das ältere Manuskript, die
seme in Xen. Hellenika, Bayr. Ak. Sitz.ber. I erste Niederschrift, gehalten (das erstere an-
1882I237ff.; J. Beloch, Phil.43(1884)261ff. genommen von H. Rosenstiel, De Xen. hi-
') G. Kaibel. Herm. 25 (1890) 581 ff.; storiae Graecae parte bis edita, Jena 1882, das
]. Bruns a.a. 0. 126 ff., der bemerkt, daCs der | letztere von G. Friedrich, Zu Xen. Hellenika
Ag. weit mehr Frische, wenn auch weniger , und Agesilaos, Jahrbb. f. cl. Phil. 153, 1896,
Kunst als der Euag. habe. < 298); sie erklären sich aus der bewußten
*) Daß die Hellenika zur Zeit der Publi- Stil Verschiedenheit der beiden Scliriften.
kation des Agesilaos schon als Ganzes her- ^) Anstoß erregte die Angabe I 6, daß
ausgegeben waren, ist nicht notwendig an- Agesilaos als junger Mann {fti vfoc: on') den
zunehmen. Der Ag. schöpft aus Hell. III bis Thron bestiegen habe, während er tatsäch-
V 1; nur Ag. II 22 berührt sich mit einer lieh damals bereits 40 Jahre alt war; doch
späteren Stelle der Hell. (V 4. 38), ohne daß I fällt eine solche Hyperbel bei einem Epi-
wir entscheiden können, welche der beiden deiktiker nicht ins Gewicht. Die Hypothese
Stellen hier der anderen vorgelegen habe. von H. Beckhaüs, Ztschr. f. Gymn.wesen 26
*) Isoer. epist. 9, 1. (1872) 225 ff., ist mit Recht allgemein (vgl.
•) Die kleinen sprachlichen und stilisti- | G. Kaibel a. 0. ; F. Blass. Att. Bereds. 11'^
sehen Abweichungen (der Hiatus ist im Ag. 479 ff.) verworfen; ebenso ist G. Sauppes Un-
zwar nicht ganz, aber mit größerer Sorgfalt : echterklärung des elften Kapitels von 1. Bruns
als früher vennieden; im Agesilaos stehen (De Xen. Ages. cap. XI, Kiel 1895; ders.. Litt.
Formen der älteren Sprechweise wie /'jrfo- | Portr. 132 f.) abgetan. Im Altertum (Polenion
■dui, afttfl c. acc, fifuüv, wo in den Helleni- " bei Ath. 138e; Cic. ad fam. V 12. 7) galt die
ka, dem jüngeren Attikismos entsprechend, i Schrift als xenophontisch. Vgl. W. Nitsoue,
(tHolovihlv, jieoi c. acc, iXdxnov steht) hat ' Jahresber. über die Fortschr. d. kl. Alt.wiss.
man irrig dahin deuten wollen, entweder [ 9 (1877) 31 flf.
seien die Hellenika später umredigiert worden |
2. Die Geschichtssohreibang. d) Xenophon. (§§ 264—266.) 47g
265. IL Philosophische Schriften sind uns von Xenophon fünf er-
halten : die Verteidigung des Sokrates, die Denkwürdigkeiten des Sokrates,
der Oikonomikos, das Gastmahl und der Hieron. Die ersten vier handeln
von Sokrates. Alle sind charakterisiert durch das einseitige Interesse für
die Fragen der praktischen Ethik, durch eine gewisse dialektische Stumpf-
heit und Oberflächlichkeit, vermöge der Probleme der Erkenntnistheorie
oder Metaphysik*) völlig zurücktreten. Als Schüler des Sokrates wählt
Xenophon für seine philosophischen Erörterungen nicht die Form der fort-
laufenden Rede, sondern des Gesprächs, das er aber stark mit berichtenden
Teilen versetzt, so daß eine auf die spätere Diatribe vorbereitende Misch-
form entsteht.^)
266. Die Apologie ist, wie oben (S. 470) gesagt, nicht die zuerst ver-
faßte, wahrscheinlich aber die zuerst selbständig veröffentlichte sokratische
Schrift Xenophons. Sie ist nicht eine Rede, wie die Apologie Piatons,
sondern ein Bericht über das Verhalten des Sokrates vor, während und
nach der Prozeßverhandlung in fünf Teilen (1. vor der Verhandlung macht
er sich und seinen Freunden klar, daß eine Verlängerung seines Lebens
nicht wünschenswert sei 1 — 10; 2. Verteidigung vor Gericht gegen den
Vorwurf der äaeßeia 11 — 21; 3. der Gegenantrag des Sokrates 22 — 23;
4. seine Ansprache und Verhalten nach der Verurteilung 24 — 26; 5. So-
krates nach der Verhandlung 27 — 34). Xenophon war bei dem Prozeß nicht
anwesend; er schrieb die Apologie, um einen Beitrag zur richtigen Würdi-
gung seines Lehrers zu liefern. Wie er selber im Eingang sagt, hatten
schon andere über die Verteidigung und das Ende des Sokrates geschrieben;
seine Schrift steht also in Zusammenhang mit der litterarischen Bewegung,
welche die nach 394 erschienene Anklage des Sophisten Polykrates hervor-
gerufen hatte. 3) An den bisher erschienenen Verteidigungsschriften für
Sokrates (unter denen jedenfalls auch Piatons Apologie)*) vermißt Xeno-
phon die innere Begründung der stolzen Worte, die dem Sokrates, im
Gegensatz zu dem gewöhnlichen Verhalten Angeklagter vor attischen Ge-
richten, in den Mund gelegt wurden, und trägt nun vor, was er zur Be-
richtigung und Ergänzung beibringen zu können glaubt, wobei er Materialien
aus den beiden ersten (damals schon geschriebenen, aber nicht veröffent-
lichten) Kapiteln der Memorabilien verwendet. Sprache und Stil*) sind ganz
>) Nur mem. 14. IV 3 mit ihrer Theo-
dicee berühren das metaphysische Gebiet,
freilich in höchst ungenügender Weise.
«) R. HiRZEL, Der Dialog I 140—174.
') über Polykrates und seine Schrift
unterrichtet uns Isokrates Bus. 5 und Schol.
Aristid. T. ITT 480 Dind. Siehe oben S. 470.
Aesch. I 173 muß an Polykr. oder die von
Diog. L. II 57) : verworfen wurde die Apologie
von L. C. Valokenaer zu mem. I 1 (auf
Grund starker Überschätzung von Xen.' gei-
stiger Bedeutung), dem Enkel zugeschrieben
von H. Beckhaüs, in das 2. Jahrh. v. Chr. ver-
wiesen von K. ScHENKL, Xen. Stud. II 146 f.,
für den Schluß einer älteren Ausgabe der
Memorabilien erklärt von A. Croiset, Hist.
diesem ausgegangene Legende anknüpfen, da ■ de la lit. gr. IV 365, wieder verworfen von
im Prozeß die politische Seite nicht berührt
wurde: A. Menzel (s. o. S. 470, 8) 37. 45.
*) So nimmt richtig M. Schanz, Einl. zn
seiner Ausg. von Plat. Ap., Leipz. 1893 p. 80 an.
^) Die Echtheitsfrage bildet eine alte
WiLAMOwiTZ, Herm. 32 (1897) 99 ff., und F.
Bbyschlao. Die Anklage des Sokr., Progr.
von Neustadt a. d. Hardt 1900, von neuem
verteidigt von I. Brüns, Litt. Portr. 210 f.;
K. JoäL. Der echte und der xenoph. Sokr. I
Kontroverse (im Altertum ist die Echtheit 479 ; bes. M. Wetzel und 0. Immisch, Neue
nicht bezweifelt worden: Demetr. Magn. bei Jahrbb. 5 (1900) 889 ff.
480 Griechisclie Litteraturgeschichte. I. KlasaiBohe Periode.
xenophontisch, und weder die Zerflossenheit der Darstellung noch die Un-
bedeutendheit des Inhalts sprechen gegen xenophontischen Ursprung. Am
Schluß der Memorabilien (IV 8, 4 — 10) hat der Schriftsteller Stücke aus
seiner Apologie (2 — 9) mit einigen stilistischen Verbesserungen wiederholt.
Die Bedeutung der Apologie als geschichtlicher Quelle wird neuerdings^)
immer mehr erkannt. Für die Zeitbestimmung ergibt sich aus dem Schluß-
satz von § 32, weil er vielleicht unecht und jedenfalls die Identität des
Anytos bei Lys. 22, 8 mit dem Ankläger des Sokrates ganz unwahrschein-
lich ist, nichts.*)
267. Die 'ATiojuvrjjnovevjuara ZcoxQdxovg {Memorabiliu Socratis) in
vier Büchern stellen sich dar als ein Aggregat von Berichten über Handlungen,
Anschauungen, Gespräche und vereinzelte Äußerungen des Sokrates. ') Die
Gespräche mit genannten*) oder ungenannten Personen, die nicht nach Art
der platonischen in großem dramatischen Aufbau einzelne Probleme dia-
lektisch durchbehandeln, sondern kurz und zwanglos erörternd durch alle
Gebiete des sittUchen Lebens führen, dienen den allgemeinen Urteilen über
Sokrates zur Illustration. Ihre Reihenfolge ist nicht von einer festen Dis-
position beherrscht, sondern durch lockere Assoziation bestimmt. Nur zwei
Gruppen zeigen straffere Geschlossenheit: die beiden ersten Kapitel, wahr-
scheinlich das Frühste, was Xenophon geschrieben hat, widerlegen im An-
schluß an die Klageschrift und Polykrates' KaxjjyoQia ZMxgdrovg^) den auf
Sokrates und seine Schule geworfenen Verdacht der Religions- und Staats-
gefahrlichkeit, wobei der Schriftsteller mit bemerkenswerter Vorsicht nicht
etwa eigene Erinnerungen an den Philosophen, sondern allgemein Zu-
gestandenes oder glaubhaft Berichtetes über ihn wiedergibt; offenbar ver-
folgt er hier einen unmittelbar praktischen Zweck, der ihn zu größt-
möglicher Objektivität nötigte, und so können diese beiden Kapitel ihrem
Sachinhalt nach, wenn man von einiger advokatischen Schönfärberei ab-
sieht, 8) zu dem Zuverlässigsten gerechnet werden, was wir über Sokrates
als Menschen und Bürger wissen. Außer diesem Stück hebt sich das vierte
*) K. JofiL a. a. 0.; A. Menzel (s. o. | gegen die Einwände von L. Breitenbach,
S. 470, 3) 5 flf. Insbesondere verdient die | Jahrbb. f. cl. Phil. 99 (1869) 801 ff. siegreich
Angabe betr. den Gegenantrag des Sokr. bei ' verteidigt von K. Schenkl. Xen. Stud. II 1 fF.
Xen. ap. 23 den Vorzug vor der ironischen I Ins Gewicht fällt namentlich die gegen die
Stelle Plat. apol. 38 a f. Über die Histori- Hereinziehung des Kritias und Alkibiades ge-
zität der Angabe betr. das Sokratesorakel | richtete Abwehr mem. I 2, 12, da für diese
Xen. apol. 14 s. E. Leorand, Mölanges Perrot, i Polykrates (Isoer. Bus. 5) den Sokrates ver-
Paris 1903, 213, 2. I antwortlich gemacht hatte, eine Ansicht, die
2) Gegenüber von Wilamowitz, Aristot.
imd Athen II 375 und Herrn. 32 (1897) 100, 1,
verwerfen den auf Anytos bezüglichen Satz
in § 31 M. Wetzel a. a. 0. 400 und A. Men-
beim attischen Publikum Erfolg gehabt hat
Aeschin. or. I 173). In der 'A.-ioÄoyia 2*0)-
x^firoiv von Libanios (Sonderausg. von H.
RoGGE, De Libanii apol. Socratis, Amsterdam
ZEL a. a. 0. 43 A. | 1891) ist die Knrtjyooia des Polykrates und
') I. Bruns, Das litt. Porträt 361 flf. | die (lTo?.oyia des Lysias benützt (R. Hirzel,
*) C. G. CoBET, Prosopographia Xeno- i Rh. Mus. 42, 1887, 239 fif.). Siehe a. o. S. 479, 3.
phontea, Leiden 1836. ' 470.
*) Dieses Verhältnis, daß unter dem i *) X. mißt hier dem Sokrates das Maxi-
y.aiiiyono^ nicht Meletos, sondern Polykrates ! mum von geschichtlich noch zu verantwor-
zu verstehen sei, wurde zuerst richtig er- 1 tender Loyalität in politischer und religiöser
kannt von C. G. Cobet, Nov. lect. 661 ff. und Beziehung bei.
Die Ge8chicht498clireibimg. d) Xenophon. (§ 267.) 481
Buch ab,i) eine geschlossene Abhandlung über die Erziehungsfrage, über
die als eine damals brennende alle hervorragenden Sokratiker, insbesondere
auch Antisthenes und Aristippos in eigenen Schriften sich geäußert haben;
dieses Stück kann wohl einmal selbständig publiziert gewesen sein, bevor
es an den Schluß der Memorabilien angeschoben wurde. Für die Bestim-
mung seines Verhältnisses zu den übrigen Teilen des Gesamtwerkes ist
wichtig die Vergleichung der Kapitel über die Theodicee*) IV 3 und I 4,
von denen das letztere*) als eine (namentlich durch Weglassung der läp-
pischen Kosmologie) verbesserte Auflage des ersteren gelten kann und
also später als IV 3 geschrieben sein muß. Es ergibt sich demnach diese
Abfolge sokratischer Schriften:
1. Piatons Apologie, in der die Schrift des Polykrates bezw. deren
Inhalt nicht berührt wird.
2. Polykrates' xarrjyoQia ZcoxQdrovq.
3. Xenophons Schutzschrift mem. 11.2.
4. Xenophons Apologie (s. o. S. 479 f.).
5. Xen. mem. IV.
6. Der Rest der Memorabilien.
Was zwischen I 2 und IV steht, ist eine lose Masse von Berichten,
die unter dem Gesichtspunkt zu zeigen, daß Sokrates seinen Schülern ge-
nützt habe, also immer noch in allgemein apologetischem Sinn, im übrigen
aber ohne festes Prinzip zusammengereiht sind. In einzelnen Abschnitten
zwai* läßt sich Zusammenhang nachweisen: so beziehen sich die sieben
Kapitel III 1 — 7 alle auf die Heranbildung des Feldherrn-Staatsmannes, und
von den Gesprächen II 2 — 10, die von der Freundschaft oder dem guten
Einvernehmen mit den Mitmenschen handeln, stehen die über die Nachsicht
gegen die Eltern (II 2) und die Eintracht unter den Brüdern (II 3) in
passender Weise voran. Aber sonst herrscht meist Unordnung, zu deren
Beseitigung verschiedene Wege*) eingeschlagen worden sind. Mit An-
nahme von Interpolationen sind zuerst maßvoll L. Dindorf und K. Schenkl,
dann in zügellosester Weise A. Krohn und J. J. Hartman vorgegangen,^)
andere suchen durch mehr oder weniger verwickelte Annahmen über die
Art der Abfassung zu helfen, ß) Billigung verdient jedenfalls, daß man
M Seine Sonderstellung ist klar erkannt man s. o. S. 466, 1.
von Tu. BiRT, De Xenophontis commentarior. *) A. Döring, Die Lehre des Sokr. als
Socraticor. compositione, Marburg 1893. soziales Reformsystem, München 1895, 62
^) über den ganzen Ciegeustand W. Ca- rechnet aus, daß nach Annahme von Krohns
PELLE. Z. antiken Theodicee, Arch. f. Gesch.
der Philos. 20 (1907) 173 «F.; Th. Gomperz,
und Hartmans Athetesen etwa noch zehn
Teubnersche Textseiten übrig bleiben würden.
G riech. Denker II 72 f. Die Auffassung F. *) Am besonnensten Th. Birt, s. o. A. 1.
Dümmlers (Akademika 96 ff.) von dem Ver- E. Richter nimmt fünf ursprünglich selb-
hältnis der beiden Kapitel und der Quelle , ständige Vorträge an: 1. die erste Apologie
(Diogenes von Apollonia) ist ganz schief und I 1 — 3; 2. die zweite Apologie I 4. IV 3. 5. 6;
durch K. Joül a. a. 0. 1 147 ff. widerlegt. | 3. Abschnitt über den Feldherrn-Staatsmann
') I 4 ist gekannt von Aristot. part. an. III 1—7; 4. die dritte Apologie I 5 — II 1. III
656a 12; 658b 15; 660a 22; 661b 8. i 8—9; 5. Abschnitt über^/Am 112—10; außer-
■*) E. Zellek, Geschichte der Philos. II* 1, | dem noch zwei Einzelblätter IV 2 und IV 4
236 ff. ; L. Dindorf, Praef. ed. Memorabil. \ und mehrere kleine Gedenkzettel. Anders
Oxon. 1862, VII ff.; K. Schenkl, Wiener Ak. ' K. Linüke, Jahrbb. f. cl. Philol. 153 (1896)
Sitz.ber. 80(1875) 87 ff.; A. Krohn. Sokrates 447 ff. 741 ff. und A. Döring (A. 5), der
und Xenophon, Halle 1875, 83 ff.; J. J. Hart- | vieles mißversteht.
Handbuch der klass. AlterttuxiBwissenBebaft. VIT. 5. Anfl. 31
482 Grieohiache Litteratargaschichte. L ElassiBche Periode.
allmählich die Versuche aufgibt, Ordnung zu schaffen, wo von Hause aus
keine gewesen war. Das Werk als Ganzes ist nach Gedanken, Stil und
Sprache durchaus xenophontisch, aber in einem schriftstellerisch so un-
fertigen und unausgeglichenen Zustand, daß man selbst dem Xenophon
den Entschluß, es in dieser Form zu veröffentlichen, nicht zutrauen möchte.
Die Konzeptblätter, die zwischen I 3 und IV liegen, hätte er gewiß zur
Herausgabe noch besser sortiert und arrangiert. Sogar im zweiten Kapitel
von Buch I und in IV sind eingeschaltete Blätter*) erkennbar, die Un-
gleichheiten und Widersprüche hereinbringen. Eine weniger weiche und
assoziative Natur als Xenophon würde wohl schon bei der ersten Nieder-
schrift den Stoff mehr gemeistert haben, und der Herausgeber, der nun
die Materialien im wesentlichen, wie er sie fand, zusammenreihte, hat sich
an dem Namen des Schriftstellers der Nonchalance nicht allzusehr ver-
* sündigt. Äußere Zeugnisse oder Anzeichen für die Abfassungszeit der ver-
schiedenen Schichten — an Abfassung in einem Zug ist ja nicht zu
denken — haben wir nicht.*) Nur daß I 1. 2 in ihrem Kernbestand c. 390
verfaßt sind, darf für sicher gelten, und daß sich Xenophon, nachdem er
die Begeisterung für Agesilaos gefaßt hatte und der attischen Sphäre ent-
rückt war, noch allzulang mit Sokrates beschäftigt habe, ist wenig wahr-
scheinlich. A. Roquettes Ansatz in Bausch und Bogen auf c. 384 — 80
dürfte dem Richtigen am nächsten stehen. Die Nachricht in Epist. Socratic.
22, daß Xenophon die Memorabilien bei Eukleides in Megara geschrieben
habe, ist wertlos. Eine besonders verwickelte Frage ist die nach der
Glaubwürdigkeit der Memorabilien als Quelle über die Lehre des Sokrates.
Wenn man die Banalität der sittlichen Anschauungen, die Xenophon dem
Sokrates beilege, gegen deren Authenticität angeführt hat,») so ist zu be-
denken, daß, was uns in christlichen Grundsätzen Aufgewachsenen heute
banal erscheint, dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. anders erscheinen konnte
und wohl mußte. Richtig ist aber, daß die Ansichten über Gott und Welt,
die Xenophon seinen Sokrates darlegen läßt, sich mit seinen eigenen völlig
docken,^) wobei die Zweifler übrigens von Fall zu Fall den Beweis zu er-
bringen hätten, daß, was xenophontisch ist, nicht auch sokratisch sein
könne. Richtig ist auch, daß Xenophons ethische Betrachtungsweise und
Terminologie starke Verwandtschaft mit dem, was über Antisthenes be-
richtet wird, erkennen läßt. Bevor man nun aber mit K. Joel den ganzen
Ethiker Xenophon in den Antisthenes, von dem wir eigentlich recht wenig
Sicheres wissen, aufzulösen oder gar den Antisthenes aus Xenophon zu
') ] 2. 17—28. 40—40. 03; IV 4. ' a. a. 0. I 22 ff. die Mem. in Xenophons Alter.
*) Über die Unglaubwürdigkeit von Ep. ' ^) So besonders Tu. Klett in dem übri-
Socratic. 22 R. Bentley, Über die Briefe des ' gens scharfsinnigen Programm Sokr. nach den
rhalaris, deutsch von W. Ribbeck. Leipz. xenophont. Memorabilien. Cannstatt 1893.
1807, 549 f. E. Richters Versuch (Xenophon- ■*) Dies genau dargelegt zu haben, ist
Studien 129 ff. und 150) nachzuweisen, daß das Verdienst von K. JoßL in dem ange-
das (Jcsprilch Mem. IlT 5 seinen Gegenstand i fühiien zweibändigen Werk (Berlin 1S93 bis
nur aus der nach der Schlacht bei Leuktra 1902). Nach ihm muß auf Benützung der
gegebenen Situation schöpfen könne, erledigt i Mem. als unmittelbarer geschichtlicher (Quelle
sich durch Hinweis auf das oben S. 323 f. über Sokr. verzichtet werden (s. bes. 11 901).
Berlllirte. Wenig überzeugend datiert K. JofiL
2. Die GeBchicht498clireibiing. d) Xenophon. (§ 268.) 483
rekonstruieren unternimmt, wäre erst die Frage zu beantworten, ob
nicht der gemeinsame Lehrer Sokrates der Grund der Ähnlichkeiten sei.
Jedenfalls findet sich von einer Reihe der bezeichnendsten Lehrmeinungen
des Antisthenes, wie der starken Betonung der q)voig im Gegensatz zum
v6iJ,og, der Etymologie, der allegorischen Homererklärung, seinem abstrakten
und bildlosen Monotheismus, seinem Kosmopolitismus und Kommunismus
bei Xenophon keine Spur, und in den Memorabilien gibt es sogar Stellen,
die gegen die kynische Lehre gerichtet sind.*) Es ist gut, den echten
Sokrates von dem xenophontischen zu unterscheiden,*) aber nicht in dem
Sinn, als schlösse sich sokratische und xenophontische Ethik schlechthin
aus, sondern in dem, daß von dem gewaltigen Dialektiker, der Sokrates
gewesen sein muß, allerdings nicht Xenophon, sondern nur der sonst weit
weniger historische Piaton uns einen Begriff gibt.
268. Der Olxovo/Liixog ist eine Ergänzung zu den Denkwürdigkeiten
des Sokrates, wie der Verfasser selbst im Eingang andeutet. Die kleine,
anmutige Schrift enthält ein Gespräch des Sokrates mit Kritobulos über
die beste Führung des Hauswesens, besonders in Bezug auf die Agrikultur,
die er die Mutter und Nährerin aller Künste nennt.*) Ein ähnlicher
Gegenstand ist Mem. H 7 behandelt. Cicero hat das Büchlein ins Latei-
nische übersetzt.*) Der abrupte Eingang ijxovoa de jtore^) veranlaßte einige
schon im Altertum, das Schriftchen als Anhang der Denkwürdigkeiten aus-
zugeben, ß) Aber die schriftstellerische Kunst ist hier viel bedeutender und
die Person des Sokrates viel freier gezeichnet, indem Xenophon ganz seine
eigenen Gedanken dem Sokrates unterlegt."^) Wahrscheinlich ist die Er-
örterung über die Kunst des Haushaltens, die dem Xenophon sehr am
Herzen lag, zuerst für den Zusammenhang der Memorabilien bestimmt ge-
wesen, dem Schriftsteller aber, seiner Neigung entsprechend, unter der
Hand zu einem eigenen kleinen Werk ausgewachsen. Nach allgemeineren
>) I 2, 17-23 (vgl. JogL II 613 f.). — 1895. M. Hodebmann, Xen.' Wirtschaftslehre
Gegen Joöls Übertreibungen s. 0. Apblt, Berl. unter dem Gesichtspunkt sozialer Tagesfragen
philol. Wochenschr. 21 (1901) 868 ff., und H. ; betr., Progr. Wernigerode 1899.
GoMPERz. Arch. für Gesch. der Philos. 19 | **) Vgl. Cic. fragm. in C. F. W. Müllebs
(1906) 240 ff., 251 flf. Von einer besonderen i Ausg. IV 3, 307—310. Siehe K. Schekkl,
Verehrung für Antisthenes ist im Symposion, Xen. Stud. II 3.
vro ihn X einführt, nichts zu bemerken (I. ^) Ahnliche Formeln in den Mem.: E.
Bruns, Litt. Portr. 388 ff.). Richteb, Xenophonstud. 126,
■*) A. Dörings Meinung (s. S. 481, 5), aus *) Galen. Comm. in Hippocr. de artic.
Xenophons Memorabilien, die er völlig schief 1 1: Szi x6 ßißkiov xovxo ratv ZwxQauxwv cLto-
als Schutzschrift im ganzen verstehen will. ' fjtvfjftm'Fv/taiToyv iari ro Foxarov, Ebenso Stob,
ohne weiteres den echten Sokrates entnehmen ; flor. 55, 19. K. Schbnkl, Wien. Ak. Sitz.ber.
zu können, bedeutet Joöl gegenüber einen i 80 (1875) 147 ff.
Rückachritt. Beachtenswert ist P. Wendland, ^) K. Lincke dachte deshalb an starke
Anaximenes (Berl. 1905) S. 65 flf., der aus der Interpolationen durch den jüngeren Xenophon,
Zusammenstellung von Xen. mem. III 6 mit den Sohn des Gryllos, der nach Photios bibl.
Anaxim. rhet. 2 und Aristot. rhet. I 4 auf 260 Schüler des Isokrates war. — Nachdem
gemeinsame Benutzung einer älteren rheto- E. Jo£l a.a.O. I 29 darauf hingewiesen hatte,
rischen Topik über die symbuleutischo Rede wie wenig nahe dem Interesse des Sokrates
schließen will, was eine neue Erschütterung der Gegenstand des Oik. liegen konnte, hat
der Geschichtlichkeit von Xenophons Bericht sich I. Brüns, Litt Portr. 418 ff., bemüht,
im einzelnen bedeuten würde. die Kunst zum Bewußtsein zu bringen, mit
\ I Zergliederung der Schrift von G.Vogel, der X. die inneren Unwahrscheinlichkeiten
Die Ökonomik des Xenophon, Diss. Erlangen beseitigt habe.
31*
484 Griechische Litteraturgeschichte. I. Klaiurische Periode.
Erörterungen zwischen Sokrates und Kritobulos über den Begriff der Haus-
wirtschaft und die Pflichten des Hauswirts berichtet Sokrates von Kap. 8
an aus dem Mund des Jungverheirateten Ischomachos eine Schilderung
von dessen Hauswesen und Familienleben, die an Reiz und Intimität ihres-
gleichen nicht hat und nicht bloß kulturgeschichtlich von höchstem Wert^
sondern auch schriftstellerisch eine glänzende Leistung ist.^ Bemerkens-
wert ist 4, 17 ff. der Anklang an die Anabasis, den man') nicht tilgen darf.
Kritisiert wiixl Xenophons Olxovoßuxög in der Schrift des Philodemos Jiegi
olxovojuiag (ed. C. Jensen. Leipz. 1907).
369. Nicht sowohl in den Sachkreis der Denkwürdigkeiten hinein
komponiert, sondern eine Art Gegenstück zu ihnen ist das ^vunooiov^ in
dem Xenophon den Sokrates auch von der heiteren Seite zeigen will.»)
Das Mahl, an dem hier der Philosoph teilnimmt, ist von dem reichen
Kallias zu Ehren seines Lieblings Autolykos, der an den Panathenäen einen
Sieg im Pankration errungen hatte (422), gegeben; es ist derselbe Kreis^
in den Eupolis in den KöXaxeg^ Piaton im Protagoras einführt. Sokrates^
Antisthenes und einige andere sind als Gäste geladen. Das Mahl wird so
geschildert, wie derartige Gelage in reichen Häusern gewesen sein mögen:
neben dem philosophischen Tischgespräch und der Rede des Sokrates über
die Liebe nehmen der Spaßmacher, die Tänzerinnen und die Lautenspiele-
rinnen einen breiten Raum ein. Die Art, wie während des Mahls Sokrates
an allerlei zufällig sich darbietende Gelegenheiten moralische Erörterungen
anschließt, will uns etwas pedantisch vorkommen. Nach Aufhebung der
Tafel veranstaltet er (cap. 4) eine Art von Aya)v zwischen den Gästen
— jeder soll sagen, auf was er sich am meisten einbilde — und hält dann
eine Rede über irdische und himmlische Liebe (cap. 8), deren Ernsthaftig-
keit bei 80 heiterem Anlaß er selbst (8, 41) unangebracht findet. Das Ganze
schließt mit einer hübschen Schilderung eines pantomimischen Balletts*
Neben und nach*) dem platonischen Symposion, dessen geistige Höhe gewiß
^) I. Bruns. Frauenemanzipation in Athen, und in seiner Ausg. von Plat. Sympos. (Leipz.
Kiel 1900, sieht in den Ausführungen des 1876); die umgekehiie Meinung vertritt K.
Ischomachos das Urteil der konservativen | Fb. Hermann, Disput, de eo num Plato an
Männer üher die damaligen Emanzipations- Xenophon convivium suum prius scripseritf
bestrebungen der Frauen Attikas. Marb. 1834 und 1841, neuerdings mitsprach-
■^) K. SciiENKL, Wiener Ak. Sitz.ber. 80, liehen Gründen M. Schanz, Herm. 21 (1886)
154 f. I 458. Auch H. Räder, Piatons ^»hilos. Entw. 159
') conviv. I 1: J/./.* tftol i^oxeT uov xio.iuv neigt zu dieser Auffassung. Vgl. K. Schenkl,
xayaOcor dvdocor toya ov fiovor ra uera onov- Xen. Stud. II 46; R. Hirzel, Der Dialog I 156,
Sf'jg jroaTToftfra d^iofiyijiioi'fVTa Fmu, d/.m y.<u F. DÜMMLER, Antisthenica, Halle 1882 p. 50 und
in h' Tau .-TmdmTy (vgl. Mem. IV 1, 1). Zum K. Joäl, Der echte und der xenoph. Sokrates,
Ganzen vgl. das Mustersymposion Cyrop. II 2. 11 912 ff. nehmen an, daß Antisthenes mit
*) Xen. conv. 8, 32 bezieht sich auf Plat. I seinem Symposion dem Xenophon und Platon
symp. 178 e, ebenso Xen. 8, 9 f. auf Plat. vorangegangen sei. ül)er Beziehungen zwi-
180 d. Siehe übrigens auch H. GoMPERz, Arch. sehen Xen. symp. einer-, Plat. Phaedr. und
f. Gesch. d. Philo«. 19 (1906) 247 f. Vgl. Xen. svmp. anderseits F. Dimmler. Akademika
conv. 8,84 und Plat. symp. l><2b (die Be- Kap.III: I. Bkuns, N.Jalirbb. f.kl. Alt5(1900)
Ziehung Xenoplious auf Platon leugnet für i 26 flf., 36 f. II. Räder a. a 0. 249 denkt an
diese Stelle II. Räder, Piatuns philos. Entw. eine Schrift des Antisthenes als gemeinsame
161 f.). Siehe a. Ath. 216e. Die Priorität des ' Quelle. Benützung von Piatons Ion in Xen.
Xenophon behauptet A. Böckh, Commentat. symp. sucht W. Jannell, Quaest. Plat. (N.
acad. de simultate, quam Plato cum Xeno- I Jahrbb. f. cl.Phil.Suppl.26, 1901, 2r)5ff.) zu be-
phonte exercuisse fertur, Berl. 1811 — Kl. Sehr. weisen. — Stilistische Vergleichung der beiden
IV 1 ff., und A. Huo, Philol. 7 (1852) 638 ff. Symposien Hermog. -t. id. p. 419, 2 ff. Sp.
2. Die GeschichtsBchreibiing. d) Xenophon. (§§ 269—271.) 485
nie in einem attischen Gastmahl erreicht worden ist, hat das xenophon-
tische mit seinem schlichten, kurzatmigen Realismus seine Berechtigung
und auch sein künstlerisches Verdienst. 0 Mit demselben Selbstgefühl wie
in der Apologie über die fxeyahfiyoQia der platonischen Apologie wird sich
Xenophon in dem Symposion über das platonische erhaben erschienen sein
und sich auf die praktische Nützlichkeit der ganzen Schrift und besonders
der moralischen Schlußwendung für Ehemänner etwas zugute getan haben.
270. Der einzige Dialog Xenophons, in demSokrates nicht auftritt, ist der
Vegcüv; er berichtet, in der Einkleidung an Simonidesnovellen (s.o. S. 207, 7)
angeknüpft, ein Gespräch des Dichters Simonides mit dem älteren Hieron
über den Vorzug des Lebens eines Privatmannes vor dem eines Tyrannen
und über die Mittel, mit denen ein Herrscher sein Land glücklich und sich
beliebt machen kann. Die Schrift kann zusammenhängen mit Beziehungen
Xenophons zum Hof des Dionysios, an dessen Tafel ihn Athenaios p. 427 f.
sitzen läßt; an eine bestimmte Gelegenheit, zu der die Schrift geschrieben
wäre (jedenfalls könnte nicht der Aufzug der Gesandten des älteren Dionysios
bei den olympischen Spielen 388, sondern eher die Thronbesteigung des
jüngeren Dionysios 367 in Frage kommen) zu denken, ist kein Grund.*) Die
Fragen nach dem Wesen der Monarchie, den Pflichten des Monarchen, dem
Unterschied zwischen dem wahren und dem falschen König, die für das
4. Jahrhundert immer mehr aktuell wurden, haben ja alle Philosophen jener
Zeit beschäftigt;^) auch Xenophon hat sie sonst (Oec. 21, 10 flf.; Mem. IV
6, 12) gestreift, und man kann sich nicht wundem, daß er, auf dem Weg
zu überzeugtem Monarchismus, ihnen eine besondere Schrift gewidmet hat.*)
Der Hieron kann als Vorarbeit zur Kyrupaideia gelten.
271. Die Lehrschriften Xenophons sind entweder unmittelbar
politisch oder haben sie die nächste Beziehung zu Staatsinteressen. Den
schriftstellerischen Formen nach bewegt er sich hier in den Geleisen der
sophistischen Lehrtraktate.^)
Die Aaxedaifioviov jioXireia ist im Geist der Kyrupaideia und
zur Empfehlung des spartanischen Königtums geschrieben.^) Sie sucht
^) Feinsinnig, aber zu enthosiastisch I.
Bruns, Litt. Portr. 383 ff.
') W. NiTSCHE, Jahresber. üb. d. Fortschr.
adeiag; Plat. reip. VIII extr. u. IX; Aristot.
pol. ni 14 ff.; V 10 f.; Aristoxen. fr. 15 Mül-
ler; Isoer. ad NicocI. Im allg. s. J. Endt
d. kl. Alt. 9(1877) 25 ff. denkt an 367 und I a.a.O. — Antisthenischen Einfluß vermutet
widerlegt J. Sitzler, der die Echtheit auch ' im Hieron K. Joth I 420.
dieser Schrift bezweifeln wollte. K. Lincke, *) Die Gründe, die R. Hirzel, Der Dia-
Xenophons Hieron und Demetrius von Pha- log I 171, für Ausatz des H. in Xenophons
leron, Piniol. 58 (1899) 224—51 erklärt den spätere Zeit vorbringt, sind nicht überzeugend.
Dialog, indem er die darin vorausgesetzten *) Über diese s. A. Espinas, Arch. f.
Zustände nur in dem Athen des Demetrios Gesch. d. Philos. 6 (1893) 499 ff.
von Phaleron wiederfindet , für unecht. ^) Interessant ist es, die ganz entgegen-
Beachtenswert ist der Nachweis E. Rich- gesetzte Beurteilung des lakonischen Staats
TERs (Xenophonstudien 147 f.) von den Ahn- bei Aristoteles (pol. II 9; ibid. p. 1334a 40;
lichkeiten zwischen Stellen des Hieron. und 1333b 12 ff.) zu vergleichen. Über den Kreis
Isoer. de pace 111 f. Es ist aber schwer- stoffverwandter Schriften jener Zeit, in dem
lieh hier gegenseitige Abhängigkeit, sondern das Büchlein steht, Thibron (Aristot. pol.
gemeinsame Benützung älterer Topik (Anti- j 1333b 10), Fausanias s. G. Büsolt, Griech.
sthenes?) anzunehmen. Siehe J. Endt, Wiener | Gesch. P 513. Den Inhalt der Schrift des
Stud. 24 (1902) 1 ff ; H. Gomperz ebenda 27 \ 394 verbannten Spartanerkönigs Fausanias IL
(1905) 175 f. gegen die lykurgische Verfassung (Strabo^366)
^) Vgl. AntiBthenes 'Aox^Aaog i} jieoi fta- sucht E. Meter, Forsch. I 233 ff. und
486 GriedÜBche Litteratnrgeschichte. L Klaiurische Periode.
den Grund von Spartas Macht und Ansehen in der Verfassung des Lykur-
gos, gibt aber zugleich im Epilog (c. 14 — 15) zu, daß die Gesetze des
Lykurgos nicht mehr in voller Kraft bestehen, und daß nur die Stellung-
der Könige die gleiche geblieben sei. Der Gegenstand wird in vier Ab«
schnitten behandelt: 1. die inneren Zustände und Einrichtungen auf Grund
der lykurgischen Verfassung (c. 1 — 10), 2. der Krieg und die Ausbildung-
dazu (11 — 13), 3. Spartas gegenwärtiger Abfall von der lykurgischen Ver-
fassung und daraus folgender trauriger Zustand (14), 4. das spartanische
Königtum (15). Auf die Abfassungszeit im Beginn des zweiten attischen
Seebundes (378) führt die Bemerkung 14, 6, daß früher die Hellenen Spartas
Führerschaft sich erbeten hätten, jetzt aber zueinander Gesandtschaften
schickten, um eine neue Herrschaft Spartas zu verhindern. ')
Die Notiz in dem Schriftenverzeichnis bei Diogenes Laertios II 57
*A'&r]vai(ov xal AaxedaijuovicDv Tzohreiav, fjv <pi]oiv ovx elvai Eevoq)CüVTog 6 Mdyvrjc
AtjjurJTgiog ist wohl ungenau und dahin einzuschränken, daß Demetrios die
A&7]vaio)v Ttohreia allein für unecht hielt. Denn ein Zweifel an der Echtheit
der AaxsdaijuovUov nohxeia konnte und kann nicht bestehen. Nur das letzte
Kapitel von den Königen Spartas sieht wie ein ursprünglich nicht zur
Sache gehöriges Anhängsel aus. Polybios aber, wenn er VI 45, 1 den
Xenophon von der Verwandtschaft der kretischen Verfassung mit der
spartanischen reden läßt, scheint keinen vollständigeren Text unserer Schrift
vor Augen gehabt, sondern nur ungenau referiert zu haben.*) Die Schrift
in ihrer heutigen Gestalt war eine Hauptquelle des Plutarchos im Leben
des Lykurgos und in den Lakedämonischen Einrichtungen.
Über die fälschlich unter Xenophons Schriften geratene ^Adrjvaiiov
noXixeia s. o. S. 451.
272. Uogoi J) ttsoI nQooodcov ist der Titel einer interessanten Schrift»
der wir vielfache Belehrung über das athenische Finanzwesen verdanken;
sie enthält ein wirtschaftliches Roformprogramm, indem sie die Mittel an-
gibt, durch die den schlechten Finanzen der Stadt, insbesondere durch staat-
liche Ausnutzung der Silberbergwerke von Laurion, aufgeholfen werden
könne. Mit zunehmender Verarmung dos attischen Staats zumal nach
dem Zusammenbruch des zweiten Seebundes wurde die Frage nach den :i6qoi
immer brennender. Xenophon berührt sie auch mcm. III G, 5 ff. und Hier.
42 (1907) 134 ff. wiederzugewinnen; s. a. B. führt, nennt pol. p. 1333b 18 unter den-
NiESE, Beitr. z. Gesch. u. Landeskunde Lake- jenigen, welche über den Staat der Lakedai-
dämons, Gott. Nachr. 1906, 101 ff. Auf eine monier geschrieben haben, nur den Thibron
Schrift über den Spartanerstaat will F. G. mit Namen, hat aber vielleicht pol. p. 12ö8b 41
Kenyon, Rev. de philol. 21 (1897) 1 ff. ein Pa- I Xenophons Schrift im Auge gehabt. Neuer-
pyrusfragment zurückführen; s. aber P. Gi- dings verteidigte die von Heyne, Lehmann,
BARD, Rev. des et. gr. 11 (1898) 31 ff. Hartman u. a. bezweifelte Echtheit E. Nau-
*) Diese Abfassungszeit ist auf den Epi- • mann a. 0., G. Erler, Quaestiones de Xeno-
log beschränkt und das übrige in 387 — 5 ge- I phonteo libro de rep. Lacedaem., Lipsiae 1874,
setzt von E. Naumann, De Xenophontis libro ' und abschließend U. Köhler. Berl. Ak. Sitz.-
qui Auy.FÖaiuovhiv .io?uTeia inscribitur, Berlin ; her. 1896, 361 ff., der meint, die Schrift sei
1876. I durch Piatons Staat veranlaßt: polemische
') Auf einen Auszug schließt aus jener : Beziehungen auf Thukydides kommen vor
Stelle C. G. Cobet, Nov. lect. 707. Aristot., (Lac. resp. 1, 2 auf Thuc. II 37. 1; L. r. 8, 2
der den Xenophon benutzt, aber nirgends an- auf Th. II 37).
2. Die GeschichtsBchreibimg. d) Xenophon. (§§ 272—273.) 487
9, 9; der Taktiker Aineias hatte eine noQiaxtxfi ßvßXog (tact. 14, 2) ge-
schrieben und Theozotides darauf bezügliche Anträge gestellt, die Lysias
in einer Rede*) bekämpfte. Später behandelt dasselbe Thema die pseudo-
aristotelische Ökonomik im zweiten Buch mit geschichtlichen Beispielen.
Die Schrift zeigt erneutes Interesse des Verfassers für sein bedrängtes
altes Vaterland, dem er guten Rat anbietet; sie enthält aber neben an-
regenden, praktischen, zum Teil höchst modern anmutenden Gedanken auch
unpraktische Phantasmen. Bezeichnend für den Rückgang der bürgerlichen
Tüchtigkeit ist der Ruf nach Staatshilfe an allen Ecken und Enden, der
die Schrift durchdringt, echt xenophontisch der fromme Augenaufschlag
am Schluß. Die Zeitverhältnisse, aus denen die Vorschläge erwachsen
sind, führen nach C. G. Cobets Auffassung (Nov. lect. 756 flf.) auf das Jahr
355 oder die Zeit unmittelbar nach Beilegung des Bundesgenossenkrieges.
Mit ihrem Rat zum Frieden ist die Schrift ein Seitenstück zum Zvjußiaxixog
des Isokrates. Andere^) gehen, anknüpfend an 5, 9, wo von der versuchten
Verdrängung der Phoker aus der Vorstandschaft des delphischen Orakels
die Rede ist, bis auf 346 herab. Wäre diese Meinung richtig, was aber
6. Friedrich (Jahrbb. f. cl. Phil. 153, 1896, 289 flf.) mit guten Gründen be-
streitet, dann könnte nicht Xenophon, der damals bereits tot war, sondern
nur irgend ein Parteigänger der Friedenspolitik des Eubulos Verfasser der
Schrift sein. 3)
273. Eng zusammen gehören die zwei Schriften über Kavallerie. Der
'Injiaoyjxog seil, koyog, geschrieben für einen Reiterführer, gibt sach-
gemäße Anweisungen zur Verbesserung der athenischen Reiterei. Der
Hinweis auf die mit den Athenern verbundenen Lakedaimonier (9, 4) und
auf den drohenden Einfall der Boioter (7, 3) führt auf die Zeit kurz vor
der Schlacht bei Mantineia, in der sich die attischen Reiter tatsächlich
ausgezeichnet haben. Von dem Gegenstand handelt Xenophon auch
mem. III 3.
Ueoi IjiTiixijg ist nach dem Hipparchikos, der am Schluß (12, 14)
zitiert wird, geschrieben. Wie jene Schrift für einen Reiterobersten be-
stimmt war, so diese für einen gemeinen Kavalleristen {iÖKOTj} btnei); sie
gibt praktische Ratschläge für Ankauf und Schulung des Pferdes, sowie
für Ausrüstung des Reiters. Aus 1, 3 und 11, 6 ersehen wir, daß schon
vor Xenoplion Simon von Athen über denselben Gegenstand geschrieben
hatte; aus dessen Schrift heoI eidovg xai ijidoyfjg himov ist ein Stück er-
halten.*) Wie alt derartige Anweisungen sind, ersieht man aus flom. II.
*) Hibeh pap. I nr. 13. ' insiotovro 5, 9 in nftotovro bessert. Siehe a.
2) H. Hagen, Eos 2 (1866) 149; L. Holz- j A. Pintschovtus, Xen. de vect. V9 und die
APFEL, Philol. 41 (1882) 242 ff. Siehe beson- ■ Überlieferung vom Anfang des phok. Krieges
ders A. Scbäfer, Demosth. I' 193 f.; A. bei Diodor, Progr. Hadersleben 1900.
BöcKH, Staatshaush. d. Ath. I* 698 ff. *) Zuerst von Ch. V. Daremberg notiert,
8) W. OxcKEN, Isokrates und Athen, dann von F. Blaß kritisch behandelt (liber
Heidelb. 1862, S. 96 hat die Schrift für unecht miscell. ed. a societate philol. Bonn 1864,
erkläi-t. Die Echtheit verteidigt der Heraus- 49 ff.) und von E. Oder (Anecdota Cantabrig. I,
geber der Schrift A. Zurbobu, De Xenophontis Berl. 1896) herausgegeben. Über Simon s. E.
libello qui Ilogot inscribitur, Berlin 1874; i Odbr, Rhein. Mus. 51 (1896) 58 ff., wo das
ebenso J. N. Madvio, Adv. crit. I (Hauniae ; Schriftchen p. 67—69 gedruckt ist.
1871) 364, der das chronologisch anstößige
488 Griechische Litteratiirgeschichte. I. Klassische Periode,
W 306 flF. Sie existierten wohl ursprünglich, bevor sich die Sophistik ihrer
bemächtigte, in gebundener Form.
Der Kvvrjyerixog enthält das Lob der Jägerei, die im griechisch-
römischen Altertum keinerlei rechtlichen Einschränkungen unterworfen
war^) und gibt viele praktische Anweisungen für die Abrichtung der Jagd-
hunde. Gegen Schluß wird das Waidwerk als Vorschule des Kriegsdienstes
gepriesen und der Wortklauberei der Sophistik entgegengesetzt. Das Werk
wird von dem Grammatiker Tryphon bei Athen. 400 a als xenophontisch
anerkannt, paßt auch seines Gegenstandes wegen ganz in den Interessen-
kreis des Schriftstellers (vgl. Xen. Lac. resp. 4, 7; Cyrop. I 2, 9 f. 6, 39 f.;
VIII 1, 34); es weicht aber im Stil und hyperbolischen Ausdruck stark von
der Schlichtheit des Xenophon ab, so daß man es zu den untergeschobenen
Schriften zählen muß.«) Übrigens gehört es, vom Proömium abgesehen,
noch dem 4. Jahrhundert v. Chr. an.
274. Die höchste schriftstellerische Aufgabe hat sich Xenophon ge-
stellt in der Kvqov jzaidela in acht Büchern. In quasigeschichtlicher Ein-
kleidung stellt er hier seine Gedanken über den Idealkönig, wie er erzogen
werden und wie er seines Amtes walten soll, verkörpert in der Gestalt
des älteren Kyros dar. Das Werk ist also ein pädagogisch-politischer
Tendenzroman. 3) Mit den überlieferten Tatsachen wird sehr frei um-
gesprungen. Aus ethischen Rücksichten wird z. B. die Entthronung des
Astyages durch seinen Enkel (^xoitwv i^yi^oaxo Mtjdayv I 1, 4) und die Ver-
brennung des Kroisos verschwiegen, aus ästhetischen dem Kyros (I 1, 4;
VIII 7, 20) auch die Eroberung Ägyptens zugeschrieben und sein gewalt-
samer Tod im Massagetenland (Herodot. I 214) durch ein erbauliches und
friedliches Ende im Kreis der Seinen (VIII 7) ersetzt.**) Redewendungen,
die auf mündliche Quellen hinzuweisen scheinen, wie t'(fHway (I 3, 4. 4, 25),
(ffioiv^ keyexai sind ebenso wie die kritischen Äußerungen VIII 5, 28 ledig-
lich stilistische Floskeln. Schriftliche Quellen, insbesondere den Ktesias,
hat Xenophon ohne Zweifel benützt, und bei genügender Vorsicht kann
*) H. V. Kayseb, Jagd und Jagdrecht in
Rom, Dias, (tött 1895; R.Johannes, De studio
venandi apud Graecos et Romanos, Gott. 1908.
*) Für eine Jugendschrift sprachen sich
aus C. G. CoBET, Nov. lect 774, und A. Ro-
QüETTE a. 0. Auffällig ist namentlich der dem
Xenophon sonst fremde Gehrauch des Infini-
tivus ahsolutus im Sinn des Imperativs. K.
SiTTL, Gr. Lit. II 462 findet Anzeichen spä-
teren ürspnmgs auch in der Foim der Ai-
neiassage 1 1, 15. Die Unechtheit überzeugend
begründet von L. Radermacher, Über den
Cyncgeticus des Xenophon. Rh. Mus. 51 (1896)
596—629. 52 (1897) 13—41 ; K. Lincke, Xeno-
3. Jahrh. v. Chr. setzen wollte, hält E. Norden,
Die ant. Kunstprosa 432 für ein Werk der
zweiten Sophistik: jedenfalls ist es dem Ar-
rian (Cynog. 1) bekannt gewesen.
') Über den politischen Gehalt der K3rr.
H. Henkel, Stud. z. Gesch. der griech. Lehre
V. Staat, Leipz. 1872, 136 ff.
*) Cicero epist. ad C^uiut. I 1, 28 be-
merkt: Cyrns i'lie a Xenojyhonte non ad hi^
sttoriae fidem scriptum, sed ad efpgiem iusti im^
perii. Vgl. Dionys. Hai. ep. ad Pomp. 4: Kvqov
jiaiöeiar, hixöva fiaat/Jm,; dyaOiw xai et'Öai'
finvo^. A. Chassang, Hist. du roman *, Par.
1862, 46 f., der S 45—70 eine gute Analyse des
phonsKvnegetiküs. in Jahrbb. f. cl.Philol. 153 Werkes gibt. Ihm gegenüber bezeichnet die
(1896)209—217. Einfluß des Isokrates sucht j Ansicht von R. Hibzel, Der Dialog I 165,
nachzuweisen (i.Kaibel, Herm. 25 (1890)581 einen Rückschritt. Die Vei-suche von E.
bis 597, Einfluß des Antisthenes F. DCmmler,
Philol. 50 (1.^91) 288 ff. Das Proömium. in dem
schon Radermacher Spuren von asianischen
Rhythmen finden und es deshalb nicht vor das
ScHWARTZ. Fünf Vortiäge über den griech.
Roman, Berl. 1896, 46 ft., dem Roman Daten
für Xenophons Biographie abzugewinnen, sind
höchst problematisch.
2. Die Qeschichtsachreibimg. d) Xenophoxu (§ 274.) 489
dem Roman einiges Geschichtliche abgewonnen werden.*) Interessant ist,
daß es Xenophon angemessen fand, eine erotische Episode einzuflechten in
der Geschichte von der edlen Pantheia, die auch als Kriegsgefangene
ihrem Gemahl Abradates die Treue wahrt, von ihm, als er in den Kampf
zieht, rührend Abschied nimmt (VI 4) und schließlich mit ihm den Tod
teilt (VII 3).*) Dem Titel des Werkes nach sollte man bloß eine Dar-
stellung der Erziehung des Kyros erwarten, das Buch gibt aber eine Ge-
schichte seines ganzen Lebens und will nicht bloß die Erziehung des
Königs, sondern auch die Einrichtungen des Volkes der Perser darstellen.
Der Titel soll wohl von vornherein die Tendenz des Buches andeuten,
nämlich zu zeigen, wie die Erfolge des Königs und seine guten Regierungs-
maximen in der richtigen Erziehung ihre Wurzeln hatten') und daß diese
daher auch für andere Menschen vorbildUch sei. Dafür, daß Xenophon
seinen Roman gerade in Persien spielen ließ, werden, abgesehen von der
Rücksicht auf die für das Idealisieren günstige Distanz und auf die farbige
Buntheit des Orients mancherlei Gründe maßgebend gewesen sein: ein Zug
zur Idealisierung Altpersiens ist schon bei Herodot und Aischylos unver-
kennbar, und auch in den Kreisen der Sokratiker zeigt sich lebhaftes Inter-
esse für die Perser;*) das des Xenophon insbesondere war geweckt durch
seine Begeisterung für den jüngeren Kyros. Das Wichtigste aber ist, daß,
wer damals einen aus inneren Gründen herrschaftsfahigen und also auch
herrschaftsberechtigten*») König vorführen wollte, dafür in Griechenland
kein Vorbild fand; denn Griechenland kennt nach Aristoteles (1313a 3 ff.)
keine ßaoueiai, sondern nur /novagxiai und rugm^vldeg, d. h. gesetzliche oder
gesetzwidrige Herrschaften einzelner sittlich nicht überragender Persönlich-
keiten. Xenophon mußte also, da er doch den lebenden Agesilaos nicht
bringen konnte, zu den ßägfiagoi hinübergreifen. Damit erreichte er auch
den Vorteil, seine Ideen über Erziehung von allen griechischen Vorurteilen
unabhängig (I 2) vortragen zu können: denn es ist gewiß nicht bloß Kon-
zession an das persische Kolorit, wenn er eine Erziehung der männlichen
Jugend empfiehlt, in der alles auf Ausbildung körperlicher und sittlicher
Vorzüge abzielt, in der das städtische Gymnasien der Griechen durch natur-
gemäßere Übungen im Schießen, Reiten und Jagen ersetzt ist und die
intellektuelle und musische Bildung völlig fehlt. Übrigens haben auf das
Bild der persischen dycoyt] und Verfassung, das Xenophon entwirft, auch
Züge des spartanischen Lebens abgefärbt, <*) wie das Bild des alten Kyros
A. V. GüTscHMiD, Kl. Sehr. V 43; E. *) Vgl. Antisthenes' Kvgoc:; Plat. Ale. I
Meyer, Gesch. d. Alt. III 8 f., der auf Über-
einstimmungen mit Herodot hinweist.
«) E. RoHDE. Griech. Roman* 139, 1; die
121c ff. Piaton kritisiert leg. III 694 c ff. die
Perserverherrlichung; ähnlich Isoer. jianeg.
150 ff., der vielleicht schon die Kynipaideia
Beliebtheit der Episode bezeugen Hermog. .t. , im Auge hat.
iß. p. 418, 18 Sp.; Philostr. vit. soph. 1 22. 3; *) Hauptstelle VIII 1, 37: oifxfoeio^jtooo-
imag. II 9. t)xeiy ovöefi do;if>7s, oarig fiif ßelriojv sTtj rwv
') Cyr. I 1, 6: :Toin iiri jtaidelq. jzaiSsv- uQ^ouevrov. Vgl. oben S. 471.
dei<; tooovtov dujreyxFv eh to ägyeiv dv&o(0' ®) E. Wetnek, Xen. in effingenda Per-
jrojv. Von Einfluß für die Benennung war sicae civitatis imagine quatenus Lacedaemo-
aber hier, wie ähnlich bei der Anabasis, zu- nior.institutaexpressit, Revall893. K.LI^'CKE.
meist, daß die Daratellung mit der naiöeia Xen.* persische Politie. Phil. 60 (1901) 541 ff.,
Kvoov begann. trägt sehr phantastische Vermutungen über
490 GriechiBche Litteratorgesohiohte. L Klassische Periode.
Züge von dem jüngeren, von Sokrates und von Agesilaos angenommen hat.
Das Ganze zerfällt in zwei ungleiche Hälften: 1. die Erziehung des Kyros
mit der Eroberung Asiens, wobei Xenophon allerlei strategische und tak-
tische Weisheit anbringt I — VII 5, 36; 2. die Organisation des Reiches VII
5, 37 — Vni 6. Im zweiten Teil verändert Kyros sein bisheriges kamerad-
schaftliches Verhältnis zu seinen Volksgenossen und geht zur königlichen
aejLivÖTrjg über. An Anachronismen und Widersprüchen im einzelnen fehlt
es nicht, wenn z. B. ein Sophist am armenischen Hof auftritt (HI 1, 14.
38 ff.) oder Kyros seine VHI 5, 20 ff. ausgesprochene Absicht nachher ganz
vergißt, ähnlich wie Patroklos in der Ilias seinen Auftrag. Geredet wird
überall teils in fortlaufender Rede, teils in Gesprächen viel mehr als ge-
handelt. Die Charaktere neben Kyros treten wenig hervor; am meisten
das Gegenstück zu ihm, der tyrannische Assyrerkönig (IV 6, 2; V 2, 28)
und der regierungstreue Kapuziner Chrysantas (II 3, 8 flf.; IV 3, 15 flf.; VI
2, 21; Vn 5, 55 flf.; VHI 1, 1 flf. 4, 11 flf.), ein Kynikertypus, der die Unter-
tanen bei guter Laune hält. — Das Werk muß dem Stü nach in die mitt-
lere Periode von Xenophons Leben gesetzt werden. Von dem Epilog VIH 8
freilich, in dem die Entartung der damaligen Perser und ihr Abfall von
der alten Sitte (Ttaideia) dargetan wird, steht fest, daß er nicht vor 364
geschrieben sein kann;^) aber er wird von namhaften Kritikern für un-
echt erklärt und scheint jedenfalls erst nachträglich, sei es (was wahr-
scheinlich) von Xenophon selbst oder von einem anderen zugefügt zu sein.*)
Von dem ganzen Werk setzt die Überlieferung bei Gellius XIV 3, 3, daß
Xenophon mit der Kyrupaideia ein Gegenstück zu den zwei ersten Büchern
der platonischen Politeia habe liefern wollen, voraus, daß es vor der Ver-
öflFentlichung der ganzen Politeia des Piaton, d. h. doch wohl vor 367 ver-
faßt worden sei. Ohne Wert ist die in neuerer Zeit von verschiedenen
Seiten geäußerte Vermutung, ») daß der Autor selbst HI 1, 38 — 40 auf seine
Aussöhnung mit seiner Vaterstadt Athen anspiele. — Den Römern war dieses
eminent praktisch gerichtete Buch besonders sympathisch: es war das
Lieblingsbuch des jüngeren Scipio (Cic. ad Quint. ifr. I 1, 23); auch Cicero
liebte es (ad fam. IX 25, 1) und hat den Schluß im Cato maior (79 f.) über-
setzt. In der griechischen Litteratur ist es Vorbild für Bücher wie Onesi-
kritos' jicog i]/ßv 'AXiSavdoog, Marsyas' 'AXe^ävögov Aycüyii% Lysimachos' jtfqI
Ttjg 'Arrdkov Jiaidelag, Nikolaos' von Damaskos KaioaQog äyoyyr} geworden.
perser freundliche und perserfeindliche Inter- | C. Valckenaer und F. A. Wolf; s. K. Schenkl,
polation des Textes der Kyrup. vor, für die ; Jahrbb. f. cl. Phil. 83 (1861) 540 ff. H. Beck-
er zum Teil den Jüngeren Xen.* in Anspruch j haüs, Ztschr. f. Gymn. 26 (1872) 226 f. schreibt
nimmt. Siehe H. Goxpebz, Arch. f. Gesch. d. ' dem jüngeren Xenophon den Epilog zu; ahn-
Philos. 19 (1906) 417 ff. lieh Th. Bbrgk, Gr. Lit. IV 312. Beachtens-
^) In die letzten Regierungsjahre des wert ist der ähnliche Schluß der AaxeSat/iw
Artaxerxes II (gestorben 362) setzt Diodor XV | vicov jrohTeta.
92 die in jenem Epilog erwähnte Roheit des ') Ed. Schwaktz, Fünf Vorträge über
Rheomitres. Sehr auf&llig ist der stilistische j den griechischen Roman S. 57 ; F. Beyschlao,
Unterschied des Epilogs von der übrigen ! Bl. f. bajT. Gymn. 37 (1901) 53. E. Schwartz
Kyrupaideia: von den 16 ye fir)v, die das '■ und E. Meyer (Gesch. d. Alt. III 8) setzen
ganze Werk enthält, entfallen fünf auf den die Abfassung Ende der sechziger Jahre des
Epilog. I 4. Jahrh.
') Für unecht erklärten den Epilog L. |
2. Die QeTOhiohtsBchreibnng. d) Xenophon. (§ 275.) 49 1
Auch einem Pehlewiroman über Artachschir, den Begründer des Sassaniden-
reiche's, hat die K. als Muster gedient. 0
Die Unechtheit der sieben meist bei Stobaios erhaltenen Xenophon-
b riefe (Epistologr. Gr. ed. Hereher 788 flf.) ist längst von R.Bentley (Opusc.
54) festgestellt.
276. In den zwei ersten Jahrhunderten der hellenistischen Epoche,
als in philosophischen Kreisen aller Nachdruck auf Verschärfung der dia-
lektischen Methoden gelegt wurde und in der Rhetorik der asianische Ge-
schmack blühte, erlahmte das Interesse für den populärethischen Xeno-
phon und seine dipikeia^ deren schwächliche Zerflossenheit dem scharfen
Urteil des Timon von Phlius (Diog. L. 11 55) nicht entgangen ist. Aber
seit in den heftigen Schulkämpfen des 3. und 2. Jahrhunderts v. Chr. die
rabies der Dialektiker sich ausgetobt hatte und man, mit unter dem Ein-
fluß der Römer, sich der Aufstellung klarer, allgemein verbindlicher Normen
des praktischen Lebens zuwandte, seit die Mittelstoa den Heroenkult der
attischen Philosophie und Litteratur aufrichtete, zog man ihn wieder her-
vor, und durch die vereinten Anstrengungen der Römer und des Panaitios
und Poseidonios*) kam er zu der unverdienten Ehre, unter die Klassiker
der Philosophie versetzt zu werden, unter denen er nun bei Diogenes
Laertios erscheint. Nun kommt auch der Stilist Xenophon wieder zu Ehren.
Schon der alte Cato (fr. 2 Peter) zeigt Spuren von Xenophonkenntnis
(conv. 1), Lutatius Catulus (Cic. Brut. 132) und andere (Cic. or. 32) ahmen
ihn nach, Cornelius Nepos benützt ihn.») Cicero, der seine Weichheit und
Anmut hervorhebt (de or. II 58; or. 62), liebt ihn und hat seinen Oikono-
mikos ins Lateinische übersetzt, findet ihn aber zum Vorbild für den
Redner nicht geeignet. Die griechischen Atticisten (Dionys. Hai. de imitat.
B HI 2 p. 208 Us.; ad Pomp. 4) heben bei aller Anerkennung doch seine
Schwunglosigkeit hervor. Dagegen rechnet ihn der Verfasser der Schrift
7i€ol vy^ovg (4, 4), wohl inspiriert von dem Urteil des Poseidonios, unter
die Heroen der griechischen Litteratur; Dion von Prusa ist (s. bes. or. 18,4)
ein begeisterter Nachahmer von ihm; nicht minder hoch stellen ihn Epi-
ktetos, Plutarchos (coni. praec. 145 c), Quintilianus (X 1, 82), und für die
Neusophistik*) ist er schlechthin das Vorbild der ätpekeia (Aristid. rhet. II;
Hermog. ji.iö, p. 418 f. Sp.), dem Pausanias, Arrianos, Appianos, Nikostratos,
Lucianus, Alianus, Philostratos nachstreben. Daß dieses Urteil bis zum
Ende des Altertums bestehen geblieben ist, zeigen die begeisterten Worte
des Eunapios (vit. soph. prooem.), der ihn Iv Xoyoig xal loyoig als Philo-
sophen, als Lehrer Alexanders des Großen in der Strategie bewundert.^)
Auffällig ist die Dürftigkeit und Wertlosigkeit (C. G. Cobet, Nov. lect. 546) der
Scholien zu X. (zur Anab. in der Ausg. v. L. Dindorf, Oxf. 1855, 381 ff.; dazu E. Picco-
LOMiNi. Stud. ital. 3, 1885, 518 ff.), zumal wir wissen, daß im Altertum zahlreiche grammatische
Schriften (aufgezählt bei G. Buohenau, De scriptore libri -T^gt vipov^, Marb. 1849 p. 63 ff.) über
^) A. V. GuTscHMiD, Kl. Sehr. III 133 f. I 51 Hense). — Siehe a.E. Richter, Xenophon
') M. Wellmann. Herm. 41 (1906) 632 f., in der römischen Litteratur, Charlottenb. 1905.
findet bezeichnend, daß der stoisierende Begrün- ') F. Leo, Griech.-römische Biogr. 211 ff.
der der pneumatischen Ärzteschule, Athenios, I ^j Siehe a. W. Schmid, Atticism. I 206 f. ;
eine Stelle ausXen. oecon. zitiert. Ebenso be- IV 657.
zeichnend ist die Xenophonbenützung in der 1 ^) Seiner vielsagenden Kürze wegen stellt
populären Diatribenlitteratur (Teles p. 47, 9 ff. ! ihn Schol. Townl. IL K 298 neben Homer.
492 Griechische Litteratorgeflushichte. L Klassische Periode.
ihn geschrieben worden sind. Nach Suidas hatten über seinen Stil gehandelt Harpokration
negt rwv naga EevogcbiTi öviTctleöw, ferner Heron, Zenon, Metrophanes, Theon, TiberiojK Auch
Ps.Longin. .1. vy, 8 spricht von einer Schrift, die er über Xenophon geschrieben habe.
Die handschriftliche Überlieferung ist zu den einzelnen Büchern verschieden, durch-
weg aber haben wir nur verhältnismäßig junge Codd.; die besten sind: zur Anabasis und
Eyrupaideia Paris. 1640 (C) vom Jahr 1320, der aber auf einen Cod. s. IX zurückgeht (A.
HüG, De Xen. anab. cod. C, Turici 1878); zur Kyrupaideia Marc. 511 s. XII, Paris. 1635 (A);
zu HeUen. Paris. 1738 (B) Auf. s. XIV, Ambros. A 4 inf. v. J. 1344 (M), Paris. 1642 (D)
8. XV; zu Memorab. Paris. 1302 s. XIII (enthält nur Buch I und II) und 1740. Kritischer
Apparat in den Oxforder Ausgaben L. Dindorfs (Hell. 1852, Cyrop. 1857, Mem. 1862); be-
reichert in der Ausgabe von E. Schenkl (2 voll., Berl. 1869. 76). dazu Mitteilungen über
die benutzten Codd. in dessen Xen. Stud. Neuerdings sind zahlreiche Papyrusreste aus
nachchristlicher Zeit hinzugekommen (F. G. Kbkyon, The Palaeography of the greek papyri
148; W. Cbönebt. Arch. f. Papyrusf. 1, 520; F. Blass ebenda 2, 281. 489 f.) mit Stücken
aus Anab., Hell., Mem., Oecon., CjTop.
Frühste gedruckte Gesamtausgaben: Juntina 1516, Aldina 1525 ; dann von H. Stephaitus,
Paris 1561; J. G. Sgh}(eid£b, 6 voll, (einzelne Bände neu bearbeitet von F. A. BoBinsMANK),
Lips. 1790 — 1849; rec. et coroment. instr. R. Eühneb, F. A. Bobkbhann, L. Bbettenbach,
Gotha 1838—63, 4 voll.; ed. G. Sauppb. Lips. 1867—1870, 5 voll., von der GesamUusgabe
(Sevotfcjytos ovyyQd^ifxata) von I. Pantazidis ist bis jetzt Bd. I (Anabasis Athen 1900) er-
schienen; Op. omnia rec. £. C. Mabchant, Oxf. 1900 ff. — Kritische Einzelausgaben auf
Grund von nandschriftl. Apparat: Expeditio Cyri rec. A. Hüg, Lips. 1878, mit Facsimile
des cod. Paris. 1640; exped. Cyri rec. W. Gemoll ed. mai. Lips.' 1899; Xenophontis Hei-
lenica rec. 0. Kelleb ed. mai. Lips. 1890 mit Wortindex; Commentarii Socratis rec. W.
Gilbert ed. mai. Lips. 1888; De reditibus libellus, rec. A. Zubbobo, Berl. 1876; Oecono-
micus ed. H. A. Holden, 5. Aufl., London 1895; Hipparchicus rec. P. Cerocohi, Berlin 1901;
de re equestri rec. V. Tommasini, Berlin 1902; Cynegeticus rec. G. Piebleoni, Berlin
1902; Resp. Laced. rec. G. Piebleoni, Berlin 1905. Apologie mit Wortindex von L. Trbt-
TBB, Graz 1903 (daneben die Ausg. von V. Lündstböm, Leipz. 1906, entbehrlich). — Text-
kritische Ausgaben auf Grund der Sprachgesetze des Atticismus von C. G. Cobet, Anabas.,
Leiden (1859) 1880, Hellen., Amst. 1862, Leiden 1880. — Einzelausgaben mit erklärenden An-
merkungen: Anabasis von K. W. Kbügeb, 7. Aufl. von W. Pökel 1888; von F. Vollbbbcht
bei Teubner, von C. Rehdantz und 0. Cabnuth bei Weidmann, 6. Aufl. von W. Nitschb
1905; Eyrupaideia von L. Bbeitenbach bei Teubner, von K. F. Hebtlein und W. Nitsohb
bei Weidmann, Hellenika von L. Bbeitenbach bei Weidmann, von B. Büchsekschütz bei
Teubner, von A. Zubbobo und R. Gbosseb bei Perthes, von E. Kubz. München 1874 (dazu
ders.. Zu Xen.* griech. Gesch. I. II, Progr. des Ludwigsgymn. 1873. 1875); Memor. mit Anm.
von Raph. Kühneb bei Teubner (6. Aufl. von Run. Kühneb 1902), von L. Bbeitenbach bei
Weidmann. Eine Art von philosophischem Kommentar zu den Mem. gibt A. Döbino, Die Lehre
des Sokrates als soziales Reformsystem, München 1895, 84 ff. — Lexicon Xenophonteum in
vier Bänden von F. W. Stübz, Leipz. 1801—4; Lexilogus Xenophontis von G. A. Sauppb,
Lips. 1868. Wortindex zu den Memorabilien von C. M. Gloth und M. Fb. Kellogg in
Comell studies in class. philol. 11 (1900); Wörterbücher zur Anabasis von F. Vollbbbcht
(10. Aufl. von W. Vollbbecht, Leipz. 1905) und W. Gemoll (1906). Letzter Jahresbericht
im Jahresb. üb. d. Fortschr. d. kl. Alt.wiss. 117 (1903) 47 ff. von E. Richteb über 1899—1902.
e) Die kleineren und verlorenen Geschichtswerke. Die Begründung
der rhetorischen Geschichtsschreibung:. Geographie.
276. Fortsetzer des Thukydides, wie Xenophon, war Kratippos
(FHG II 75 ff.), sein Zeitgenosse (Dionys. Hai. de Thuc. 16).i) Er scheint
in der Einleitung Mitteilungen über Thukydides gemacht, dessen Werk
bis zum kononischen Mauerbau fortgeführt (Plut. de glor. Ath. 1) und epi-
sodisch, vielleicht im Zusammenhang mit der Geschichte des Jahres 399,
auch den Hermokopidenfrevel berührt zu haben (fr. 1). In alexandrinischer
Zeit durch Xenophon und Theopompos in Schatten gestellt, ist er von Plu-
tarchos oder einer Quelle desselben wieder beachtet worden. Ein großes
M Die Versuche, den Kratippos in das 1 F. Susemiul, Philol. 59, 1900, 537 ff.) sind miß-
1. .Jahrh. v. Chr. herunterzudatieren (.T. M. I langen (W. Sohmid, Philol. 52, 1893. 110 ff.,
8tahl. De Cratippo historico. Index Münster 1 60, 1901, 155 ff. E. Kalinka, Zeitschr. f. östr.
1887,88; H.WEiL,Rev.de8^t.gr.,13,1900,lff.; 1 Gymn. 56,1905,402).
2. Die aeschichtsschreibiing. e) Kleinere Oeschichtswerke. (§§ 276—277.) 493
und wohlerhaltenes Stück geschichtlicher Darstellung von Ereignissen des
Jahres 396 (Vorbereitungen zum korinthischen Krieg, Agesilaos in Klein-
asien, Geschichte Konons, Krieg zwischen Boiotem und Phokem) ist auf
dem Oxyrhynchos-Papyrus Bd. V (1908) nr. 842 p. 147 flf. gefunden worden.
Die Herausgeber B. Grenfell und A. Hunt haben bereits erklärt, daß Ver-
fasser unseres Wissens nur entweder Theopompos oder Kratippos sein kann.
Wenn die sorgfältige Vermeidung des Hiatus für Theopompos sprechen könnte,
so spricht gegen ihn die außerordentlich glatte, ruhige, schlichte, von jeder
rhetorischen Prätension weit entfernte Darstellungsweise und das Fehlen
direkter Reden, zu denen (col. XIV 37 flf.) Anlaß vorhanden gewesen wäre.
Der Verfasser ist im Gegensatz zu Xenophon Bewunderer des Konon und kein
Freund des Agesilaos, dessen kleinliche und planlose Räubereien und dessen
bedenklich persönliche Behandlung der Dinge (col. XX 17 flf.) ohne ein
eigentlich tadelndes Wort doch sehr scharf beleuchtet werden. Das Er-
haltene genügt, um aufs neue und deutlicher zu zeigen, wie schlecht wir
mit dem Historiker Xenophon beraten sind. Das Darstellungsprinzip 1) und
auch eine sprachliche Einzelheit*) weist auf thukydideischen Einfluß, und
das Fehlen der direkten Reden stimmt zu Kratippos' Grundsätzen. Viel-
leicht für Kratippos, jedenfalls aber gegen Theopompos entscheidet die Äuße-
rung col. XIV 25 flf., 3) die nur von einem Zeitgenossen des korinthischen
Kriegs so geschrieben sein kann.
Ein anderer Konkurrent Xenophons ist mit einer Kvgov ävdßaoig sein
Mitstrateg bei der Kyrosexpedition, Sophainetos von Stymphalos ge-
worden, aus dessenWerkStephanosByz. einige geographische Daten anführt.*)
277. Der letzte bedeutendere Nachzügler der Geschichtsschreibung
im ionischen Dialekt, zugleich ein Beispiel für ihre Ausartung, ist Ktesias
von Knidos aus dem Geschlecht der dortigen Asklepiaden; er war in die
Kriegsgefangenschaft der Perser geraten und verbrachte, wegen seiner
ärztlichen Kunst hoch geehrt, siebzehn Jahre bei Artaxerxes (also frühestens
404—387, spätestens 401— 384)^) in Persien.^) In der Schlacht von Kunaxa
befand er sich im Gefolge des Artaxerxes und heilte den König von der
ihm durch Kyros beigebrachten Wunde. ^) Später wurde er vom König
zu diplomatischen Sendungen an Euagoras und Konon verwendet, wobei
er um 398 wieder nach seiner Heimat kam, um nicht mehr nach Persien
zurückzukehren.*^) Die reichen Kenntnisse, die er sich vom Orient an Ort
und Stelle durch den Verkehr mit dem persischen Hof und durch das
*) Teilung nach Sommern und Wintern 1 Theopompos zuschreibt,
col. XI 34. I *) Die Altere Ansicht, daß Ephoros die
2) .ingmM.nTTidi(K: col. XXI 17 hat außer j Darstellung der Kyrosexpedition aus Soph.
Thukydides nur Dio Cassius. Von ITiuky- ' geschöpft habe, ist widerlegt von A. v. Mess,
dides' Gedankenschwere und Dunkelheit ist 1 Rh. Mus. 61 (1906) 362 ff.
der Verfasser freilich weit entfernt. *) So richtig L. Holzapfel, Berl. phil.
*) FOTt xöig FÖvEoiv xovxoig djiKptaßrjti^ai' Woch. 25 (1905) 1266, nachdem Carolina Lan-
fiog y^oa . . . hfoI ijg xal rromeoth' txoxs .ib- zani (i Persica di Ctesia, Riv. di storia ant.
cjohinjy.nöir. Die Herausgeber sind p. 236 in N. S. 5. 6, Messina 1900. 1901) erwiesen
ihren chronologischen Folgerungen zu zag- hatte, daß Kt noch 393 in Persien gewesen
haft. Skeptisch in der Verfasserfrage K. Fuhr, | sein muß.
Berl. phil. Woch. 28 (1908) 196 ff. DieZuver- «) Diodor. U 32, 4.
lässigkeit des Berichts bemängelt G. Büsolt ') Xenoph. anab. I 8, 26.
(Herrn. 43, 1908, 255 ff.), der das Stück dem j «) Photios bibl. p. 44b nach Ktesias.
494 Ghiechische Litteratnrgesohiclite. L ElassiBche Periode.
Studium einheimischer Geschichtsbücher i) erworben hatte, legte er in
seinen ionisch geschriebenen IleQoixd in dreiundzwanzig Büchern nieder.
Dem Patriarchen Photios cod. 72 verdanken wir einen Auszug aus der
Epitome, welche die Grammatikerin Pamphila unter Nero in drei Büchern
gemacht hatte.*) Danach behandelten die ersten sechs Bücher die assyrische
und medische Geschichte; es folgte sehr ausführlich (7 — 11) die anekdoten-
und märchenreiche Geschichte von Kyros L, dann wesentlich kürzer die
der weiteren Perserkönige bis auf Artaxerxes 11., dessen Regierung bis
398 die letzten drei Bücher füllte (Diod. XIV 46). Ein Abschnitt des
Werkes, den Athenaios (II 67 a) wie eine besondere Schrift zitiert, han-
delte negl rcbv xar 'Aaiav (pogayv. In der Erzählung hofmeisterte Ktesias
mit Vorliebe den Herodot, indem er ihn nicht bloß vielfach berichtigte,*)
sondern geradezu als Lügner (loyoTioiog Phot. p. 106) hinstellte; aber er
selbst gab sich oft nur den Schein, besseres )Vissen aus einheimischeft
alten Pergamenten geschöpft zu haben, um damit seine eigenen Auf-
schneidereien zu verkleiden.*) Vergleicht man ihn mit Herodot, so kann
man sich überzeugen, wie die von attischer Wissenschaft ganz unberührte
ionische Geschichtsschreibung den schlichten Wahrheitssinn mehr und mehr
einbüßte. Bezeichnenderweise hat Ktesias, in der Nähe des königlichen
Harems, seine Darstellung auch mit erotischen Episoden gewürzt,*) während
ihm die echte Volkssage fremd geblieben ist.^) Das beste ist bei ihm noch
das Lokalkolorit des Perserhofes seiner Zeit, das er ungescheut auf die
Urgeschichte überträgt. Außer Herodot hat er, wie es scheint, Xanthos
und Hellanikos' Persika benützt. Ein zweites Werk ^Ivöixa gab in einem
Buch die ersten Nachrichten von dem Wunderland Indien, besonders von
seiner Tier- und Pflanzenwelt. Auch von ihm hat uns Photios a. 0. einen
Auszug erhalten. Außerdem wird von Ktesias ein geographisches Werk
IleQmkovg oder IleQioÖoq (Steph. Byz. und Suid.) erwähnt.^) Je weniger er
') Das waren die ßaadtxai ÖKpMoai des | Hauptechrift J. Marquart. Die Assyriaka des
Diodor 1132,4. Siehe a. E. Meyer, ^Gesch. Ktesias, Philol. Suppl. 6 (1891— 93) 501-658.
d. Alt. III 47. Über die Lügenhaftigkeit des Ktesias war im
*) Suidas 8. UaficpiXrj. Außer durch Pho- Altertum nur eine Stimme (die Stellen in C.
tios, der auf seine Gesandtschaftsreise nach 1 Müllers Ausg. p. 8 f.). Das Romanartige hebt
namentlich Flut. Artax. 6 hervor (ola .Tcia/«
6 /o;'o> avioi' noog tv fivOioöeg xai ÖQa-
f^tartxov exTOEnofin'og Ttjg aJ.tjOelag) ^ und
Demetr. tt. eofujv. § 215 nennt ihn geradezu
Persien den Ktesias als Reiselektüre mitzu-
nehmen besonderen Anlaß hatte, ist durch
die ersten Bücher des Diodoros. der aber den
Kt. nicht direkt, sondern für die Assyriaka
durch Vermittlung des Agatharchides (J. Mar-
quart) benützt hat, und Plutarchs Leben des • *) E. Rohde, Griech. Roman* 41.
Artaxei-xes (P. Krumbiiolz, De Ctesia aliis- \ *^) J. Marquart a. a. 0. 626 ff.
que auctorib. in Plut. Artax. vit. adhibitis, ') Fragmente gesammelt von C. Müller
Eisenach 1889) manches von Ktesias auf die im Anhang der Didotschen Ilerodotausgabe.
Nachwelt .gekommen. ■ Paris 1844. Dazu kommen aber die Stellen.
^) Daß seine Angaben über griechische 1 in denen Ktesias bloü benutzt, nicht zitiert
Geschichte zum Teil wirklich mehr Glauben 1 ist, wie namentlich in Diodor II 1—34 und
verdienen als die des Herodot. sucht C. Lak- ' in Plutarchs Leben des Ailaxerxes. worüber
ZANi a. a. 0. zu beweisen. Über sein Ver- C. Wachsmutii Einl. 367 f. — Spir. Lambros,
hältnis zu Herodot im ganzen xV. v. Mess, 'latontxa itF/.FTtjuaTa, Atli. 1883 p. 61 — 68 teilt
Rh. Mus. 61 (1906) 396 ff. drei neue Bruchstücke der Indika des Ktesias
*) Vielfach geben dem Herodot dicMonu- mit. J. Marquart a. a. 0. 542 eines aus den
mente recht ;s.M.Hauo. Die Quellen Plutarchs. I nfoinkoi. — P. Krumbholz. Zu den Assyriaka
Tübingen 1854, 88 f. Scharfer Tadel des Ktesias : des Ktesias, Rh. Mus. 50 (1895) 205—40; 52
schon bei den Alten, wie Plut. vit. Artax. 6. (1897) 237—285.
2. Die Geschichtsschreibimg. e) Kleinere QeBchichtswerke, (§ 278.) 495
von Wissenschaftlichkeit berührt war, desto angenehmer, rührender, an-
schaulicher, spannender^) wußte er zu erzählen und war bis in die Kaiser-
zeit gern gelesen, auch nachdem Pamphila ihre Epitome verfaßt hatte.
Platon,^) Xenophon,*) Ephoros*) haben ihn schon benützt. — Apokryph
sind Schriften jieqI öqojv und tzsqI Tiorajuöjv^ die dem Ktesias von Schwind-
lern wie Ps.Plut. de fluv. zugeschrieben werden.
Etwa gleichzeitig scheint Agathokles von Kyzikos eine Schrift :rrf^2
KvCixov, ebenfalls in ionischem Dialekt (FHG IV 288 flf.), geschrieben zu
haben.^)
278. Aineias der Taktiker lebte zu gleicher Zeit mit Xenophon und
berührte sich mit ihm durch die gleiche Vorliebe für die praktische
Beschäftigung eines Kriegsmannes. Er ist vielleicht, wie bereits J.
Casaubonus vermutete, identisch mit dem von Xenophon Hell. VE 3, 1
erwähnten Stymphalier Aineias. ö) Die erhaltene Schrift Taxnxov vjt6juv7]jua
Tiegi Tov ncbg ygij noXioQxovfxivovg aviixeiv ist nur ein Abschnitt eines
größeren, von Polybios X 44 unter dem Titel Ta jiegl rcov oroairjyrjjuanxcöv
vTzofivyifiaxa aufgeführten Werkes. Das Erhaltene bricht ab mit der Ein-
leitung zu einem Abschnitt über den Seekrieg. Die Regeln der Taktik,
die eine noch sehr niedere Stufe des erst unter den Diadochen ausgebil-
deten Geniewesens erkennen lassen, werden durch zahlreiche Beispiele er-
läutert, und eben diese geben dem Buch den Hauptwert. Nach ihnen
läßt sich auch die Abfassungszeit dahin bestimmen, daß es in den nächsten
Jahren nach 360 entstanden ist.'') Der Stil ist hart und dunkel, Fehler,
die indessen teilweise der schlechten Überlieferung des Textes zur Last
fallen. Später machte Kineas, der Feldherr des Königs Pyrrhos, von
dem Werk einen Auszug, dessen Arrian. tact. I 2 Erwähnung tut. Daß
nun wirklich dieser Aineias, den Aelian 1. 1. den frühesten Schriftsteller
über Taktik und Verfasser einer größeren Anzahl von oTQaTjjyixd ßvßUa
nennt, diese Schrift geschrieben habe, bleibt wahrscheinlich,®) wiewohl die
Handschrift den Aineias nur in der Unterschrift, in der Überschrift da-
gegen den Aelianus als Verfasser bezeichnet (letzteres ist nicht möglich).
Jedenfalls steht der Verfasser mit dieser Schrift und seiner ganzen Denk-
und Lehrart in den Bahnen der Sophistik: er hat Vorlesungen (äxovojLtara
38, 5) gehalten und veröffentlicht und eine Anzahl weiterer Lehrschriften,
die er zitiert (eine jzaQaoxevaonxi^, jiogiozixij, orgaTOTiedevTixfj ßvßkog), ge-
^) Demetr. ct. eg/i. §212. 216 f.; Apsin. De Aeneac commeutario poliorcetico, Berlin
rhet. p. 400, 26 Sp. 1879 und Animadv. crit. de Aen. comm. poli-
'^) A. V. GuTscHMiD, Kl. Sehr. III 494; E. orc.,CasselProgr.l883;K.ScHBNKL.Jahresber.
Meyer, Gesch. des Altert. III 8. Über spft- I üb. d. Fortschr. d. kl. Alt.wi8s.38(1884)261ff.
tere Benutzer P. Krümbholz, Rh. Mus. 52 ^) A. Huo, Aeneas von Stvmphalos,
(1897) 237 ff. Zürich 1877. nimmt d. J. 359—8, Ä. v. Güt-
») Siehe 0. S. 475. 488. E. Mbybr a. a.
0.8 f.
*} Über die Art, wie ihn Ephoros zur
scHMiD, Kl. Sehr. IV 218—221 d. J. 357—5
an, H. Sauppe, Ausgew. Schrift., Berl. 1896
631: nicht vor 360 und bald nach 346.
Ausfüllung oder Abänderung herodotischer Das jüngste geschichtliche Beispiel, das der
oder xenophontischer Berichte über die Perser- ; Verf. anführt (24,3), ist die Belagerung von
geschichte (Perserkrieg und Kyrosexpedition) i Hion durch Charidemos a. 360.
benützt, s. A.v.Mess, Rh.Mus.61 (1906) 360ff. ! ^) Über Wahrscheinlichkeit geht auch
^) E. ScinvARTz in derRealenz. Ip.758,68 ff. ! T. Hudson Williams. Americ. journ. of philol .
®) Über diese Kontroverse A. C. Lakge, 26 (1904) 390 ff. nicht hinaus.
496 Griechische Litteraturgeschichte. L Klassische Periode.
schrieben. Für seine geschichtlichen Beispiele hat er teils den Thukydides
(tact. 2, 3 aus Thuc. II 2 flf.), teils den Ephoros^) benützt.
Die Überlieferung beruht auf Cod. Laurent. 55, 4. Ausgabe mit Polybios von J. Ca-
SAUBONUS, Paris 1609; neuere kiitische Bearbeitung von R. Hebcheb, Berlin 1870; von
A. Huo, Lips. 1874.
279. Philistos aus Syrakus,^) der bedeutendste sizilische Historiker^
war schon herangewachsen, als der spartanische Feldherr Gylippos die
Verteidigung von Syrakus gegen die Athener leitete,^) kann also nicht
nach 430 geboren sein; später spielte er als Parteigänger und Feldherr
der beiden Dionysii eine hervorragende Rolle in seiner Heimat. Mit seinem
großen Vermögen half er 406 dem älteren Dionysios, mit dessen Nichte
er verheiratet war, zu seiner Usurpation (Diod. XIII 91), wurde aber nebst
seinem Schwiegervater Leptines 386 von dem Tyrannen verbannt und be-
gab sich zuerst nach Thurioi, dann in die junge Kolonie Hatria (Plut.
Dio 11), wo er sein Geschichtswerk zu schreiben begann. So sehr er in
diesem dem Dionysios I. schmeichelte, gelang es ihm doch nicht seine
Rückberufung zu erwirken (Pausan. I 13, 9); erst >< Dionysios H. rief ihn
366 zurück, und an ihn schloß er sich nun aufs engste an. Als dessen
Feldherr kam er in einer Seeschlacht gegen die Anhänger des Dion 356
um, sei es daß er sich nach seiner Niederlage zur See selbst entleibte,
wie Ephoros (fr. 152 M.) und Diodoros XVI 16, 3 erzählen, sei es daß er
gefangen genommen und von den wütenden Gegnern unter schmählichen
Insulten ums Leben gebracht wurde, wie Timonides als Augenzeuge bei
Plutarchos (Dio 35) berichtet. Sein Geschichtswerk zerfiel (Dionys. Hai.
ad Pomp. 5; Diod. XHI 103; Cic. ad Quint. fr. II 11, 4) in zwei Abteilungen
(ovvrd^eig). Die erste in sieben Büchern behandelte die ältere Geschichte
Siziliens bis zur Thronbesteigung des ersten Dionysios (406); im zweiten
Teil gab er zunächst in vier Büchern eine Geschichte des älteren Dionysios;
dieser ließ er dann später noch die Geschichte des jüngeren Dionysios
von 367 — 363 in zwei Büchern nachfolgen.*) Cicero^) nennt den Philistos
paene pusillutn Thucijdidem;^) mit seinem großen Vorbild teilte er die ge-
drungene, Digressionen vermeidende 7) Darstellung, die aus eigener Erfah-
rung entsprungene Sachkenntnis und die Belebung der Erzählung durch
eingelegte Reden; aber er stand ihm weit nach an mannhaftem Freiheits-
M Dies macht A. V. GuTSCHMiD, Kl. Sehr. I Büchern bestehen, indem er die spätere Fort-
V 193 If. 214 ff. wahrscheinlich. Die Be- , Setzung nicht berücksichtigt,
nützung müßte aber stattgefunden haben, *) Cic. ad Quint. fr. II 11, 4; vgl. Brut,
als erst ein Teil von Ephoros' Werk ver- 66; de or. II 57; Quint. X 1, 74 gesteht ihm
öffentlicht war. vor Thukydides den Vorzug der Leichtver-
*) Zwei konfuse Artikel des Suidas; G. i ständlichkeit zu.
W. Körber, De Philisto rerum Siculaiiim ®) Ähnlich Dionys. de imitat. B III
scriptore, Bresl. 1874; F. Rühl, Jahrbb. f. cl. | p. 208, 14 ff. Us. In der Kunst, ohne Auf-
Phil. 133 (1886) 128 f.; C. Müller, FHG I | wand ungewöhnlicher Wörter mit der Dar-
p. XLV ff. : IV 625. i Stellung den Eindruck der Erhabenlieit zu
^) Flut. Nie. 19. Philistos selbst gehörte machen, vergleicht ihn Ps.Longin. .t. rt/«.
zu den Jungen, von deren Keckheit Plutarch
Nie. 24 und Diodor. XIII 14 nach Philistos er-
zählen (G. BusoLT, Plutarchs Nikias u. Phi-
listos, Herrn. 34, 1899, 288).
*) Diodor. XIII 103 u. XV 89; Dionys. ep.
ad Pomp. 5. Suidas läßt das Werk aus elf
40, 2 mit Aristophanes und Euripides.
') Dionys. ad Pomp. 5; aber Theo prog.
p. 68 ff. Sp. imd Flut. Pelopid. 34 bezeugen,
daß er sich bei aller gesuchten Knappheit
doch die Einlage glänzender Ekphrascn nicht
versagen konnte.
2. Die Qeschichtsschreibnng. e) Kleinere Qeschichtswerke. (§§ 279—280.) 497
sinn; Dionysios von Halikarnassos (ad Pomp. 5) wirft ihm Schmeichelei
gegen die Tyrannen vor. Die Notiz bei Suidas (s. 0diaxog f. und s. <PlhoTog)y
daß er im Stil und in der rhetorischen Technik Schüler des Elegikers Buenos
aus Faros gewesen sei, hat schon C. Müller (FH6 I p. XL VI) als unglaub-
würdig erkannt. Nach Dionysios hätte er als Schriftsteller von seinem
Vorbild Thukydides nur dessen ästhetisch tadelnswerte Eigenschaften über-
nommen. Beurteilen können wir das nicht mehr, da er durch Timaios und
Diodoros völlig aufgesogen worden ist, so daß uns nur noch unbedeutende
Fragmente meist geographischen Inhalts vorliegen. Die Geschichte der
sizilischen Expedition soll er^) großenteils wörtlich aus Thukydides ge-
nommen haben. Einige Sizilien betreffende Notizen aus der Zeit des pelo-
ponnesischen Krieges, die sich bei Thukydides nicht finden, haben Ephoros
oder Diodoros vielleicht aus ihm gezogen ; auch Plutarchos im Nikias schöpft
aus ihm. Als Quellen benutzte er für die ältere Zeit auch karthagische
Nachrichten.«) Die Fragmente bei C. Müller FHG I 185— 192; IV 369 f.
Eine Fortsetzung des Philistos lieferte Athanas (v. 1. Athanis, ob
\i^dyrjg?% der die Geschichte des jüngeren Dionysios zu Ende führte und
daran die des Dion und Timoleon (362 — 337) reihte. Der Titel ist bei
Diodoros XV 94, 4 rcbv negi AUova Jigd^eoyv ßvßloi iy\ bei Athenaios 98 d
ZiviEhyta. Die Fragmente bei C. Müller FHG II 81 flf. Plutarchos im Leben
des Timoleon hat ihn vielleicht neben Timaios benützt. Sonst schrieben
im 4. Jahrhundert noch über sizilische Geschichte Hermeias von Mytilene
(FHG II 80 f.) und Timonides von Leukas (FHG H 83 f.).
280. Die großen attischen Historiker der älteren Zeit fühlten sich
durch praktische Tätigkeit im Staats- und Kriegsdienst zur Geschichts-
schreibung angeregt und berechtigt, ja verpflichtet. Ihre Werke haben
eine innere Notwendigkeit. Das wird anders, seit die Rhetorik zu Beginn
des 4. Jahrhunderts im Wettkampf mit der Philosophie den Anspruch er-
hebt, nicht mehr bloß zu praktischer Routine im Reden vor Volk und
Gericht anzuleiten, sondern eine für jeden Sonderberuf höherer Art un-
erläßliche allgemeine Bildung des Geistes und Charakters zu geben. Iso-
krates,3) der diese Auffassung zuerst vertritt, hat auch ein neues Programm
für die Geschichtsschreibung aufgestellt und in seinem Panegyrikos und
Euagoras vorläufig verwirklicht. Mit Bewußtsein macht er den Dichtern,
die bisher die Lehrer der griechischen Nation gewesen waren, den Rang
streitig. Nicht bloß daß die neue Kunstprosa formell der alten poetischen
Darstellung ebenbürtig werden soll, sie soll die Poesie überbieten durch
Wahl dankbarerer Gegenstände: statt der halbdunklen Gestalten des Mythos
sollen die verdienten Männer der Gegenwart durch die Kunst ins Licht
gestellt werden zu Nutz und Frommen der Nachwelt, die sich an ihnen
erbauen möge. Da es dem Rhetor besonders um das ethisch Vorbildliche
zu tun ist, tritt in der Geschichtsdarstellung, die er inauguriert, die Per-
sönlichkeit in den Vordergrund, in vollem Gegensatz zu der Ai't des Thuky-
») Theo prog. p. 63, 25 Sp. ^) R. v. Soala. Über Isokr. und die Ge-
2) 0. Mkltzer. Geschichte der Karthager 1 Schichtschreibung, Verhandl. der Münchener
I (Berl. 1879) 125, 134; A. v. Gutschmid, Kl. ! Philologenvers. 1891, 102 ff.
Sehr. II 89 ff.
Handbuch der klass. Altertomswissenscbaft YU. 5. Aufl. 32
498 Ghiechisohe Litteratnrgeflushichte. I. Elasaische Periode.
dides; sie wird nach Verdienst gelobt oder getadelt. Die Geschichtsschrei-
bung ist auf dem Weg, sich in lyxm^uov und xpoyog^ die beiden Teile des
Xoyog ijiideixTixog, aufzulösen. Es ist durchaus glaubhaft, daß Isokrates
systematisch die Eroberung des überaus dankbaren Gebietes der Historio-
graphie durch die Rhetorik betrieben und den Geschichtsstoflf zur Be-
arbeitung in seinem Sinn geradezu an begabte Schüler verteilt habe.
Gegeben waren durch ihn auch die Grundzüge des Sinns, in dem man
Geschichte schreiben sollte: ein für die kunstmäßige Darstellung und
ethische Wirkung geeigneter Stoff soll beherrscht sein vom Glauben an
die Superiorität der auf attischer Grundlage ruhenden griechischen Kultur
und an die Notwendigkeit des Zusammenstehens der in dieser Kultur Ver-
einigten gegen die Barbarenwelt unter einer einheitlichen Leitung. Im ein-
zelnen hat der Historiker das Recht, die Überlieferung nach ethischen und
ästhetischen Rücksichten zu modifizieren. Die Grundsätze, die in dieser Be-
ziehung Dionysios von Halikarnassos in seinem Urteil über Thukydides aus-
spricht, sind ganz aus dem Geist des Isokrates. Die Isokrateer machten von
Anfang an eifrig Propaganda^ für ihre Richtung, und diese hat sich, zum
großen Schaden der Geschichtswissenschaft, tatsächlich im allgemeinen durch-
gesetzt, zumal seit Aufrichtung des atticistischen Ideals. Cicero kennt zwar')
den Gegensatz zwischen iyxco/buaorixöv und ImoQixov wohl, aber die isokra-
tische Geschichtsschreibung gilt ihm doch als die wahre.*) Den Sieg der
isokratischen Richtung haben die beiden Schüler des Rhetors, Ephoros und
Theopompos, entschieden. Isokrates hatte dem langsameren Ephoros die
Aufgabe zugewiesen, die Geschichte der Vergangenheit, dem temperament-
volleren Theopompos die andere, die Geschichte der Gegenwart im Anschluß
an Thukydides zu schreiben.*)
281. Ephoros ist zwischen 408 und 405 geboren^) in Kyme^) im
äolischen Kleinasien, Sohn des Demophilos; er hat die Schule des Isokrates
zweimal durchgemacht.^) In der eigentlichen Redekunst soll er es nicht
weit gebracht haben; doch verfaßte er eine Schrift jieol ieSecog, die Cicero
*) In der Schilderung von dem Weit- ad historiam contulerunt; dicehat Isoerates
lauf der isokratischen Historikerschule um j se calcarihus in Ephoro, contra autem in
die Stellung des Hofhistoriographen am | Theopompo frenis tUi solere. Suidas unter
makedonischen Hof in den Sokratikerbriefen "Etpogog: ^looxodxrig xov fth etptj x^^*^^
nr. 30 ff. (p. 629 ff. Hkrcher) darf man gewiß
einen Nachhall geschichtlicher Vorgänge fin-
den. Hat ja doch Isokrates selbst seine
Korrespondenz mit Fürsten nachdrücklich
betrieben.
») Cic. ad Att. H 19, 10.
') Cic. or. 207. Man darf übrigens nicht
deio{^ai, ror Öe ^Eqooov xerroor.
*) Dieses Datum darf wohl aus den ver-
worrenen Angaben des Suidas s. ^Erpogos u,
Bedjiofuiog entnommen werden. F. Blaß
setzt, von der Annahme ausgehend, Eph. u.
Theopompos seien etwa gleichalterige Mit-
schüler bei Isokrates gewesen, das Geburts-
meinen, daß das Altertum sich über die jähr des Ephoros 380; aber Ephoros ist ja
Glaubwürdigkeit der rhetorischen Historiker | zweimal, vermutlich in größerem Zeitabstand
Illusionen gemacht habe: diese Eigenschaft Isokratesschüler. und vielleicht das zweite
vom Rhetor zu erwarten, fiel niemandem i Mal mit Th. zusammen, gewesen.
ein, wie man z. B. aus Dionys. Hai. de Thuc.
und Cic. Brut. 42. 62 sieht.
^) Phot. bibl. cod. 176 p. 121a27.Ps.Plut.
Vit. X or. 839 a. Cicero de or. II 57 und
III 36 : ex clarissima rhetoria Isocratis offi-
«) Artikel bei Suidas. M. Marx, Ephori
Cumaei fragm., Karlsruhe 1815; J. A. Klüg-
MAKN, De Ephoro historico graeco, Gott.
1860; C. Waohsmüth, Einl. 498ff.; M. Bü-
DiNGER, Die Universalhistorie im Altertum 32 ff.
cina duo 2)rae8tante8 ingenio, Theopompus j ') Deshalb scherzweise Aicponoi genannt
et Ephorus, ab hocrate magistro impulsi ae \ von Ps.Plut. vit. X erat. p. 839 a.
2. Die QeBchichtssohreibimg. e) Kleinere Geschichtswerke. (§ 281.) 499
(or. 57 ff., danach Quintil. inst. IX 4, 87) und Theon (Rhet. gr. II 71 Sp.)
anführen; es war in ihr vom Rhythmus der Kunstprosa gehandelt. Sein
historisches Hauptwerk in dreißig Büchern war die erste kunstmäßig durch-
geführte Universalgeschichte der Griechen (lörogla xotvwv Tigd^eoDv);^) sie
begann mit der Rückkehr der Herakliden als dem ersten beglaubigten Er-
eignis^) und ging herab bis auf die Belagerung von Perintbos (340). Daß
gerade hiemit das Werk schloß, daran scheint der Tod des Verfassers schuld
gewesen zu sein. Denn jenes Ereignis bezeichnet keinen Einschnitt in der
Geschichte, und Ephoros selbst hatte die ganze Regierung des Philippos
und auch noch den Zug des Alexandres gegen das Perserreich miterlebt.
Auch besorgte sein Sohn Demophilos die Herausgabe des Gesamtwerks,
indem er zugleich im letzten Buch die Erzählung des heiligen Krieges zu
Ende führte.*) Die Darstellung wurde, je mehr sie sich der Gegenwart
näherte, desto ausführlicher: mit Buch X war Ephoros beim ersten Perser-
krieg, mit XX bei der Auflösung von Mantineia a. 384, mit XXV bei der
Schlacht von Mantineia 362. Einzelne Abschnitte scheinen schon vor 360
gesondert herausgegeben gewesen zu sein.*) Das vielgerühmte^) Werk
stellt sich nach Inhalt und Form zu Thukydides in Gegensatz und bedeutet
ein Zurückgreifen auf Herodots Art, insofern Ephoros nicht Zeit- und
Spezialgeschichte, sondern Vergangenheits- und Universalgeschichte, und
zwar nicht in annalistischer, sondern in gruppierender ß) Darstellung geben
will. Über die Forderung vollständiger Genauigkeit der Berichterstattung
setzt er sich (fr. 2 M.) offenbar mit Thukydides auseinander und lehnt sie
für sein Gebiet ab, wiewohl er sonst den Unterschied zwischen Geschichte
und Epideixis betont,'') die Wichtigkeit wahrheitsgemäßer Darstellung
hervorhebt,^) dem Hellanikos Irrtümer nachweist,^) das Mythische verwirft,*®)
beziehungsweise rationalistisch umformt.**) Dem Herodot nähert er sich
durch Einschaltung von Exkursen i*) und eine respektvolle Beurteilung der
barbarischen Kulturen.* 5) Den rhetorischen Stubenhistoriker verriet sein
Sentenzenreichtum**) und die Einlegung unpassender Reden besonders vor
Schlachten, worüber das Witzwort gesagt wurde ovdelg oidrjQov xavia fM}-
Qaivei jrfAa?,*ö) ebenso die topographischen Unmöglichkeiten in seinen
Schlachtschilderungen* ö) und die Mangelhaftigkeit seiner geographischen
hatte sein eigenes Proömium (Diod. XVI 76, 5),
konnte also gesondert herausgegeben werden.
-) Polyb. XII 28, 11.
*) Polyb. V 33, 2: "Expooov xov nowrov
xal fioror ijTißeßXrj^ih'ov rä xa^oXov yQd(feiv,
'^) Diod. IV 1 ; durch diese Abgrenzung
unterscheidet sich Eph. vorteilhaft von ZolÜos *) fr. 1. 3 M
und Anaximenes, die ihre Geschichtswerke *) los. contr. Ap. I 3.
mit der Theogonie anfingen. Die dorische '^) Siehe o. A. 2.
Wanderung setzte Eph. 735 Jahre vor Ale- **) Siehe bes. Strab. p. 422 von dem del-
xandros' Übergang nach Asien, also 1069 v. phischen Drachen, der bei Eph. ein x^^^^
Chr. Seine Verwahrung gegen das Mythische » ovtjq Ilv&oiv Tovvo/4a, i:iixXrjotv öe ÄQaxtov
(Strab. p. 422) und überhaupt ein koketter i wird.
Gegensatz gegen die Musenkunst (fr. 1 M.) | ") Polyb. XII 28, 10.
ist im Sinn des Isokrates. ") Diod. I 9.
8) Diodor XVI 14, 3; vgl. Ath. 232 d. | »*) Polyb. XII 28, 10.
*) A. V. GüTscHMiD. Kl. Sehr. V 214 f. ' ") Plut. praec. reip. ger. 803b, der mit
*) Polyb. VI 45, XII 28; loseph. c. Ap. demselben Wort auch den Theopompos und
I 67 (E. unter den dxotßsazaroi avyygaq^eig), Anaximenes trifft.
«) xard yhog Diod. V 1. Jedes Buch | »«) Polyb. XH 25 f.
32*
500 Qriechische LitteraturgeBchichte. I. Klassische Periode.
Kenntnisse,*) die er in großem Umfang anbrachte;*) das vierte Buch hatte
von seinem geographischen Inhalt den Titel Evgwjirj; Pseudoskymnos (c. 90
V. Chr.) bekennt, seine Darstellung von Hellas dem Ephoros entlehnt zu
haben. Hinsichtlich der innergriechischen Politik bekennt er sich zu dem
Dualismus seines Lehrers') sowie zu dessen Abneigung gegen die theba-
nischen Emporkömmlinge.*) In der Sammlung des Stoflfes war Ephoros,
da der weitaus größte Teil seines Werkes jenseits seiner eigenen Be-
obachtungen und Erinnerungen lag, auf die Benützung älterer Geschichts-
werke angewiesen. Er benutzt den Xanthos (fr. 102 M.) und Hellanikos, den
letzteren mit vielen Einwendungen (s. o- S. 499, 9); aus Herodot nament-
lich hat er ganze Partien, wie man aus Diodoros sehen kann, fast wörtlich
herübergenommen, neben Herodot aber für die persische Geschichte auch
mehr vereinzelt den Ktesias benutzt^) und jenen aus diesem korrigiert.
Ähnlich hält er sich weiterhin an die Werke des Thukydides und Xeno-
phon, indem er im einzelnen deren Darstellungen mit rhetorischem Putz
verbrämt und durch Kontamination mit anderweitigen Berichten^) modi-
fiziert. Wo seine Vorlagen voneinander abweichen, findet er mit unerfreu-
licher Handfertigkeit eine konziliatorische Formel, wie am besten aus
seinem höchst fatalen Arrangement der verschiedenen Traditionen über
Homers Heimat zu ersehen isf) Für die Geschichte des Philippos von
Makedonien hat er auch die attischen Redner ausgebeutet.®) Sein Stil galt
für temperamentlos;^) gleichwohl ist er viel gelesen und benützt worden:^")
an sein Werk knüpften die Historiker der Diadochenzeit an, Diodoros nahm
es sich zum Muster, hat es vom elften bis zum Anfang seines sechzehnten
Buches fortlaufend als Hauptquelle benützt und so mit zu seiner Verdrän-
gung beigetragen, nachdem es in der Aloxandrinerzeit die beherrschende
Weltgeschichte gewesen war. Auszüge aus dem Hauptwerk scheinen die
unter Ephoros' Namen von Suidas aufgezählten Bücher Ilegi Ayadayv xal
xaxcov und Flagado^aiv to)v ixaoTaxov ßißkia le zu sein. Der Geschichte
seiner Vaterstadt Kyme, die er auch in seiner Weltgeschichte in oft
^) Sein KailenbUd ist das altionische:
fl. Beruer, Gesch. der wissensch. Erdk.*
108 f.
*) Daher schätzt ihn der Geograph Stra-
bon besonders 302. 332, 422. JSehr bezeich-
nend fr. 108 M.
^) Seine Darstellung des peloponnesischen
Krieges, dessen Ursachen er auf Grund des
athenischen Stadtklatsches (fr. 119 M.) ganz
anders als Thukydides gibt, ist durchaus
athenerfreundlich (L. Holzapfel, Unters, über
die Darstellung griech. Gesch. von 489 — 413
®) So nimmt er zu Xenophons Anabasis
die Persika des Ktesias (s. o. S. 495. 4).
^) fr. 164 M. Weitere Exempel in dem
lehrreichen Aufsatz von A. v. Mess, der die
Arbeitsweise des Eph. treffend beleuchtet,
Rh. Mus. 61 (1906) 382 f.. 385.
') R. Schubert, Unters, über die Quellen
z. Gesch. Philipps 11., Königsberg 1904. Über
die weitverzweigte ältere Ephoroslitteratur
orientieren die Programme Beiträge zur Epho-
roskritik von C. F. H. Buuchmann, Breslau
1890. 1893.
v. Chr., Leipz. 1879, 8 ff.); er lobt aber auch | ») F. Blass. Att. Bereds. IP 434 ff. Dio
die ypaiianische Erziehung (fr. 64). Chrys. or. 18, 10; Suidas u. VtV/ooo^- r//)' di^
*) fr. 67. . egjmp'etar t/;» iorooias rjnioi xui rcot9oo>r xai
^) A. Bauer, Die Benutzung Herodots > fitj^efuav f'x^or tnhaoiv.
durch Ephoros bei Diodor, Jahrbb. f. cl. Phil. , **) Benützung im Marmor Parium für die
Suppl. 10 (1878—79) 279—342. A. v. Mess, ' universalhistorischen Notizen ei-weist F. Ja-
Rh. Mus. 61 (1906) 390 ff. Lysimachos von | coby. Mann. Par. XIV f. Die zahlreichen Be-
Aloxandreia hatte nach Euscb. praep. ev. X rührungen mit Aristoteles' J/o/urfTai scheinen
3, 23 .-leol 'Effooov xÄojiifg geschrieben. | sich aus Quellengemeinschaft zu erklären.
2. Die Qeschichtsschreibang. e) Kleinere Gescbiobtswerke. (§ 282.) 501
komischer Weise berücksichtigt hatte/) widmete er noch ein besonderes
Buch ^Em/wQiog (sc. koyog). Ob auch die zwei Bücher Erfindungen (ci'g^-
fidxcov ßißUa (f) aus den Historien ausgezogen waren oder ein selbstän-
diges Werk für sich bildeten, läßt sich schwer entscheiden. Die Schrift
betraf die von der Sophistik formulierte, von den Peripatetikem weiter ver-
folgte Frage nach den Anfängen und den Urhebern der menschlichen
Kultur;*) Ephoros nahm hier, indem er die Ableitung der Erfindungen
von Göttern und Heroen ablehnte, grundsätzlich eine den Peripatetikem
entgegengesetzte Stellung ein und ist später von Strabon bekämpft worden.
Fragmente bei Müller FH6 I 234—277; IV 641 f.
282. Theopompos,*) Sohn des Damasistratos aus Chios, geboren
376,^) kam, aus seiner Heimat vertrieben, mit seinem Vater, der Führer
der lakonischen Partei gewesen war, wahrscheinhch vor 357 nach Athen,
von wo er erst im fünfundvierzigsten Lebensjahre durch Vermittlung des
Alexandres nach Chios zurückkehren durfte. Nach Alexandres' Tod, als
die makedonierfeindliche Volkspartei unter Theokritos'*) Führung zur Herr-
schaft gelangt war, von neuem in die Fremde gestoßen, ist er viel herum-
gereist und unter anderem auch nach Ägypten zu König Ptolemaios I. ge-
kommen, der Lust gehabt hätte, ihn als unruhigen Kopf aus dem Weg
zu räumen, wenn nicht Freunde sich für ihn verwendet hätten. Wahr-
scheinlich ist er in der Fremde auch gestorben. In jüngeren Jahren ver-
folgte er die Richtung seines Lehrers Isokrates und trat in verschiedenen
Städten als epideiktischer Redner auf; auch gab er Reden im Umfang
von zwanzigtausend Zeilen (= etwa fünfhundertsechzig Seiten Teubner-
schen Druckes) heraus. Insbesondere erhielt er mit einem Panegyrikos
auf den König Maussolos von Karien 351 den Siegespreis. 0) Rede-
unterricht zu geben hatte er bei seiner günstigen Vermögenslage nicht
nötig. Von seinen beiden großen historischen Werken waren das erste
die Hellenika in zwölf Büchern, die, an Thukydides anknüpfend, die Ge-
schichte von 410 — 394 oder bis zur Schlacht von Knidos behandelten; es
folgten die Philippika in achtundfünfzig Büchern, welche die Regierung
des Königs Philippos von Makedonien zum Mittelpunkt hatten, aber in
zahh-eichen und teilweise bis zum Umfang von Büchern'^) ausgedehnten
Digressionen die ganze Zeitgeschichte und vieles andere umfaßten. So
enthielten sie drei Bücher sizilischer Geschichte (Diod. XVI 71, 3), einen
') Strab.623: Ch.A.Volquardsen, Unter-
such, üb. die Quellen der griech. u. sizil. Gesch.
bei Diodor, Kiel 1868, 59 f.
2) E. Wendung, De Peplo Aristot., Straßb.
1891. p. 61 ff.; F. Jacoby, Marm. Par. praef.
XVI. Letzter Niederschlag derartiger Schriften
richtigend M. H. E. Meier, Opusc. II 284 ff.;
I. Dellios, Zur Kritik des Geschichtsschreibers
Theopompos, Diss Jena 1880; R. Hibzel,
Rh. Mus. 47 (1892) 359 ff. Neue Fragmente
im Demostheneskommentar des Didymos
(Berliner Klassikertexte I 1904).
sind für uns die Erfinderkataloge, über die M. *) Das Jahr der Geburt folgt daraus, daß
Kkemmer, De catalogis heurematum, Leipz. er bei seiner Rückkehr nach Chios im Jahr
1890. — Die Reste von Ephoros' Schrift bei 332 gerade 45 Jahre alt war, worüber E.
P. EicHHOLTZ, De scriptorib. jt. evgri^dxwv, \ Roiiüe, Kl. Sehr. I 345 f.
Halle 1867, 31 ff. *) Tb. denunziert ihn dem Alexandros
*) Suidas 8.*'E(fogo^ u. OsöjtofAjiog; Phot. fr. 276 M.; s. a. Strab 645.
cod. 176; A. J. E. Pplügk, De Theopompi \ «) Gellius X 18,6.
Chii vita et scriptis, Berlin 1827, wozu be- \ ^) Theo progym. 81, 1 ff. Sp.
502 Griechische Litteratorgeschichte. I. Klassische Periode.
Exkurs über die Demagogen Athens (im zehnten Bueh),i) einen über die
aus Delphoi geraubten Schätze; an Wundergeschichten war seine Dar-
stellung so reich, daß man sie sich besonders exzerpierte;*) am berühmtesten
war die Märchenerzählung im achten Buch der ^duimxd von dem Wunder-
land Meropis.') Die Philippika sind erst nach 324 herausgegeben worden.*)
Als Photios das Werk las und exzerpierte, waren die Bücher VI. VII. IX.
XX. XXX verloren. Die Philippika verdanken ihre Entstehung der schranken-
losen Bewunderung des Schriftstellers für den Vater Alexandres' d. Gr. ; er
hielt ihn für den größten Mann, den Europa hervorgebracht habe (fr. 27),
und hat auch noch (fr. 285) ein besonderes iyxwfuoy auf ihn geschrieben;
wenn er gleichwohl auch seine Schwächen aufdeckte, so dürfte er das
weniger aus Unbesonnenheit^) als aus Skandalsucht getan haben. Die
Philippika wurden später von König Philippos V unter Weglassung des
Fremdartigen in einen auf die eigentliche Oeschicht'O des Philippos be-
schränkten Auszug von sechzehn Büchern gebracht. Den Titel hat sich
der lateinische Universalhistoriker Trogus Pompeius in seinen Historiae
Philippicae, von denen wir die Epitome des lustinus besitzen, angeeignet.
Außerdem verfaßte Theopompos eine Epitome des Herodot in zwei Büchern.
Die drei Werke scheinen dann später, ähnlich wie die Annalen und Historien •
des Tacitus, zu einem Gesamtwerk von zweiundsiebzig Büchern vereinigt
worden zu sein.®) Aus Bosheit wurde dem Theopompos von dem Rhetor
Anaximenes die Schmähschrift TgixdQavog unterschoben, in der alles Unheil
Griechenlands auf die Häupter der drei Städte Athen, Sparta, Theben geladen
war.'') Uns sind nur Fragmente und Auszüge erhalten, und so sind wir auch
in der Charakterisierung des Theopompos wesentlich auf die Urteile der
Alten angewiesen. Dionysios, der mehr auf die Form sieht (ad Pomp. 6),
rühmt an ihm die Ökonomie, den Sammelfleiß, den Stoffreichtum, die
moralistische Reflexion, die reine Diktion und die leidenschaftliche, an
Demosthenes anstreifende Gehobenheit der Darstellung, die freilich durch
die Monotonie des unablässigen Periodisierens*) beeinträchtigt werde, be-
sonders aber das Eindringen in die geheimen Motive der Handelnden.^)
Der mehr sachlich urteilende Polybios dagegen findet an ihm viel zu tadeln.
») .iFol Ttor *A(h)%^oi Si]fiayo)Y(ov Schol. Paus. VI 18, 5; Aristid. or. 14 p. 342 Dikd.
Luc. Tim. c. 29, d. h. über Tkemistokles, Gegen den Tg. schrieb der Isokrateer Phi-
Kimon, Perikles u. s. f., vielleicht eine Aus- liskos (Suid. s. ^ätmog). Nach dem griechi-
einandersetzung mit Piatons Ansichten im sehen Vorbild dichtete der Römer M. Terentius
Gorgias. Varro (fr. 556 Bücheler^) die Satire Tgixd-
*) Apollon. hist. mir. 10. Siehe a. Strab. 1 Qaros auf Pompeius, Cäsar und Crassus; s.
43; Cic. de leg. I 1, 5; Dionys. ad Pomp. 6 | A. Riese, Varr. sat. Men., Leipz. 1865 p. 232.
p. 245, 13 Us. über solche böswilligen Unterschiebungen s.
') Daß dies ein tendenziöses Märchen Ch. A. Lobeck, Aglaoph. 359 m.
war, beweist gegen R. Hirzel E. Rohde. Kl. *) Vgl. Cic. or. 207.
Sehr. II 19 ff. ; s. a. dens. Griech. Rom.* 219 ff. ®) In diesem von Dionysios besonders
*) Theop. fr. 108. 334 M. hervorgehobenen Stück hat Tacitus von Theo-
*) So meint Polyb. VIII 11. 13,8; s. a. pompös gelernt, aber mit dem, was er an
Dionys. Hai. ad Pomp. 6, 8. , feeiz psychologischer Beleuchtungseffekte ge-
«) So erklärt sich die Angabe des Suidas winnt. den Wahrheitsgehalt seines Werkes
^t).i:imxa fv ßtßUoig oß' , wie C. MüLLEB, ! herabgesetzt, und dasselbe wird bei Th. der
FHG I p. LXIX nachgewiesen hat. Fall gewesen sein.
^) los. c. Ap. 1 221; Lucian. Pseudol. 29; ;
2. Die Oeschichtsschreibimg. e) Kleinere Qeschichtswerke. (§ 283.) 503
namentlich seine mit Schmähsucht vermischte Parteilichkeit für König
Pbilippos und seinen Hof und den Mangel an militärischen Kenntnissen
in seinen Schlachtenberichten ;i) auch er konnte sich wie Ephoros nicht
genug tun im Einschalten von Reden, besonders vor den Schlachten (s. o.
S. 499, 15) und wurde darum bespöttelt.*) Stilistisch ist er, wie auch die
neugefundenen Fragmente bestätigen, völlig Schüler des Isokrates, dessen
wohlgeglätteter Ausdruck nur nicht immer zu der Erregtheit von Theo-
pompos' Stimmung paßt.^) Mochte übrigens auch Theopompos den Namen
maledicenfissimus scriptor^) verdienen und in seinen Darstellungen mehr
den gewandten Rhetor als den erfahrenen Politiker verraten, so war er
doch einer der bedeutendsten und einflußreichsten Historiker Griechen-
lands. Davon zeugt schon der Umstand, daß er von den Späteren eifrig
gelesen und benutzt wurde; an der Art, wie der Aristeasbrief (§314) ihn
erwähnt, wie Cicero ihn schätzt^) und wie Didymos im Demostheneskom-
mentar ihn zitiert, sieht man, daß seine Philippika in der hellenistischen
Zeit als klassisches Buch galten, und auch im 1. Jahrhundert n. Chr. noch
rangiert er als Schriftsteller neben Herodotos und Thukydides. Dagegen
hat die Neusophistik ihn wenig geschätzt, und so sind seine Werke
in Vergessenheit geraten, ß) Eine Hauptquelle war er namentlich für
Trogus Pompeius, die Paradoxographen und den Freund der chronique
scandaleuse, Athenaios, durch den uns auch die meisten Fragmente er-
halten sind.') Neben den Geschichtswerken waren auch epideiktische
Reden und Briefe {Xiaxal tnaxokai zitiert Dionys. ad Pomp. 6, 1, 10; einen
Brief an Philippos Didym. ad Demosth. col. 5, 21 ; Weiteres fr. 276—278 M.)
von ihm herausgegeben; endlich eine bösartige Schmähschrift xarä r^g
IIMroyyog diaxQißfjg (Ath. 508 c), in der er dem Piaton alle Originalität ab-
stritt^) und den zu Piatons Lebzeiten latent gebliebenen Gegensatz zwischen
diesem und der isokratischen Rhetorik in voller Schärfe zum Ausdruck
brachte.
Theopompi fragm. coli. R. H. E. Wichbbs, LB. 1829; C. Müller, FHG 1278—333.
IV 643—5 ; Zuwachs aus Didymos' Demostheneskommentar (s. dazu W. Cbönert, Rh. Mus.
62, 1907, 382); C. Bünoer, Theopompea, Argent. 1874, der besonders dem Sprachgebrauch des
Theopompos nachgeht.
283. Der dritte bedeutende Historiker mit rhetorischer Richtung
(s. 0. S. 499, 15) aus dieser Zeit ist Anaximenes von Lampsakos,^) Schüler
') Polyb. Vlll 11—13. XII 25 f, 6. Er- 1 Studemundi, Straßb. 1889, 145 fif. und Diodor
dichtungen (/^rt^oi's) macht ihm zum Vorwurf und Theopompos, Progr. Durlach 1891.
Clemens Alex, ström. I 1 p. 316 P. i ^) fr. 279 M. Arr. Diss. Epict. II 17, 5 fif.
2) Proben Didym. ad Demosth. X col. \ fehlt bei Müller. Die Art der Kritik erinnert
8, 64 ff.: 14, 57 ff. j an Aristot. metaph. I 6. In diesen Zusammen-
') Über seinen Stil F. Blass, Att. Be- hang gehört auch die Nachricht über Theo-
reds. IP 419 ff. pompös' Schimpfen gegen Piaton am makedo-
^) Com. Nepos, Alcib. 11. Daß er trotz- nischen Hof (epist. Socratic. 30, 12 Hercheb).
dem selbst sich nicht frei von litterarischem Bezeichnend ist dem gegenüber seine Ver-
Diebstahl hielt, weist Porphyrios bei Eusebios ehrung für Antisthenes (Diog. L. VI 14).
praep. ev. X 3, 3 nach. •) J. Brzoska in der Kealenz. I 2086 ff.;
'^) R. HiRZEL, Rh. Mus. 47 (1892) 369. F. Blass, Att. Bereds. IP 378 ff.; P. Wbnd-
®) Hermog. .t. 16. p. 424. 10 ff. Sp. land, Anaximenes von Lamps., Berlin 1905.
^) Seine Benützung durch Diodoros ist Weitere gewagte Hypothesen über Anazi-
überschätzt von W. Stern, Comm. in honor. | menes* Verbindung mit Demochares bei W.
504 Griechische Litteratorgesohichte. L Elasflische Periode.
des Zoilos und Diogenes, e. 380 — 320, später Lehrer und Begleiter Ale-
xandres' des Großen. Schon die Titel seiner beiden ersten Werke '£>Ui;-
vixd oder :Tod)Trj lotogia (in zwölf Büchern von der Weltschöpfung bis zur
Schlacht von Mantineia, Diod. XV 189, 3) und 0tlumixd (mindestens acht
Bücher), denen er später auch eine Alexandergeschichte {m jieol 'AUSav^
dgov)^) hinzufügte, verraten den Konkurrenten des Theopompos. Seine
Leistungen als Historiker sind im Altertum nicht gering eingeschätzt
worden,*) waren uns aber ganz schattenhaft, bis P. Wendland auf Orund
einer Notiz im Didymoskommentar zu Demosthenes (col. 10 b. 11, 10) nach-
wies, daß zwei in unser Demosthenescorpus eingeschlossene Stücke, der
Brief des Philippos und die Rede gegen diesen Brief (Demosth. 11. 12)
aus dem siebenten Buch von Anaximenes' Philippika entnonmien sind und
daß dieses Buch, da in der Rede gegen den Brief die demosthenische
Kranzrede verwendet ist, nach 330 ausgearbeitet sein muß. Man sieht
jetzt, welch große Rolle die Rhetorik in seinen Geschichtswerken gespielt
hat, wie wir denn auch sonst wissen, daß er großer Improvisator (Paus.
VI 18, 3), Verfasser von Gerichtsreden und nalyvia (iyxwjinov 'Elevijs) war.
Ihm gehört auch die in das Corpus Aristotelicum verschlagene und schon
von Ath. 508 a als aristotelisch zitierte sogenannte Rhetorik an Alexandros
(der Titel hängt zusammen mit dem gefälschten Widmungsbrief an den
König, in dem übrigens Wendland S. 29. 48 auch einen echten Kern finden
will). Daß sie kein Werk des Aristoteles sein könne, hat zuerst D. Eras-
mus gesehen, und ihre Zuweisung an Anaximenes durch P. Victorius und
L. Spengel ist von Wendland abschließend begründet worden. Daß sie dem
4. Jahrhundert angehört, ist zudem durch den Hibeh-papyrus I (1906) nr. 26,
der etwa ein Neuntel der Schrift enthält und zwischen 285 und 250 v. Chr.
geschrieben ist, gesichert. In der desultorischen und empiristischen Dar-
stellungsweise zeigt sich, daß sie einer der ersten Versuche ist, auf dem
Grund der isokratischen Lehren und Beispiele dieses Gebiet zusammen-
fassend zu behandeln. Von den drei Gattungen der Rede, die er bereits kennt
(L. Spengels Athetese in cap. 1 ist falsch), behandelt der Verfasser zwei,
das yh'og dixavtxov und ovjußovXevrixov, am ausführlichsten; Quellen sind
hier Korax und die dem Anaximenes durch Theodektes vermittelte isokra-
tische Lehre (Wendland 35. 64).
284. Unbedeutender waren andere rhetorisierende Historiker, die
wir kurz aufzählen: Kephisodoros von Theben, Verfasser einer Geschichte
des heiligen Kriegs (FHG II 85); Deinen von Kolophon (FHG K 88 flf.).
NiTSCHE, Demosth. und Anaxim., Jahresber. *) Wenn Didym. ad Dem. col. 9. 43
des Berl. pliilol. Vereins (in Zschr. f. Gymn. 60) richtig ein Datum aus der Zeit der Schlacht
1906, 73 ff., der dem A. auch Ps.Dem. Rede 10. von Issos aus dem neunten Buch der Ale-
13. 25, Briefe 1— 4u. Prooem. zuschreibt. Die xandergeschichte zitieren würde, so wäre das
Fragmente ed. C. Müller im Anhang von F. j Werk des An. das ausführlichste über Ale-
Dübners Airiänausg.. Paris 1877, p. 33 ff., zu xanders Taten, das wir kennen; das ist aber
vermehren aus Didym. ad Demosth. Über den | nicht wahrscheinlich und somit die Zahl bei
dem Theopompos untei-schobenen Trikaranos Didymos entweder unrichtig oder anders zu
s. S. 502, 7. Als schlechter Poet (s. übrigens i verstehen (A. Körte. Rh. Mus. 61, 1906, 476 ff.).
Paus. VI 18. 3j ist Anaximenes mit Choirilos ■ '') Anax. ist in den Kanon der Historiker
aufgeführt in einer herkulanischen Rolle, s. aufgenommen: 0. Kröhi^ert. Canonesne . . .
H. üsENEB, Rh. Mus. 43 (1888) 150. | fuerunt. Diss. Königsb. 1897, p. 7. 13. 35 ff.
2. Die Gescbichtssobreibimg. e) Kleinere Gescbicbtswerke. (§ 284.) 505
Vater des Kleitarehos, Verfasser umfangreicher Persika, die bis auf die
Eroberung Ägyptens durch Artaxerxes III. (340) herabgingen und für die
Späteren neben Herodotos und Ktesias Hauptquelle über persische ße-
schichte waren (benützt von Diodoros, Trogus, Nepos, Plutarchos im Artax.
und Athenaios); ebenfalls Verfasser von IleQotxd^ die sich in breiten Zu-
standsschilderungen ergingen, ist Herakleides von Kyme (FHGHOöflf.).
Femer Theokritos aus Chios,^) Gegner des Theopompos, von dem
Suidas eine Geschichte Libyens und Wunderbriefe anführt (FHG H 86 f.) ;
Kallisthenes aus Olynthos, Schüler und Schwestersohn des Aristoteles,
der Hellenika in zehn Büchern,*) ein Werk über den dritten heiligen Krieg
und eines über die Taten des Alexandros {Ttgä^eig ^AkeSävdgov) verfaßte; er war
als warmer Verehrer des Alexandros mit nach Asien gezogen; als er aber
ein kritisches Verhalten gegen den zunehmenden Orientalismus des Königs
kundgab, fiel er in Ungnade und wurde seit 327 in grausamer Gefangen-
schaft mitgeschleppt.*) Außer ihm und Anaximenes sind noch eine Reihe
von Zeitgenossen von dem überaus dankbaren Alexanderstoflf zur Dar-
stellung gereizt worden.*) Von allen diesen Werken ist uns keines mehr
erhalten, vielmehr haben wir nur abgeleitete Werke, unter denen Arrians
Anabasis und Plutarchs Alexanderbiographie am wertvollsten sind (sonst
Diodor. XVH, lustin. XI. XH; Q. Curtius Rufus und der in griechischer und
lateinischer Form vorliegende Alexanderroman). Wiewohl die Teilnehmer
an Alexanders Zug, die Darstellungen verfaßt haben, in der Lage gewesen
wären, auf Grund des Selbsterlebten, des königlichen Journals, ß) etwa auch
der Briefe des Königs^) Verbürgtes zu bieten, so hat doch die unerhörte
Fülle völlig neuer Eindrücke, mit denen der nunmehr sich ganz erschließende
Orient die Griechen überschüttete, und der märchenhafte Erfolg des Königs
selbst den Besonnensten unter ihnen den Blick getrübt. Zu bedauern ist
M Eine Schrift vonBryson (W. Crönert,
Rh. Mus. 62, 1907, 384. danach Diog. L. V 11
zu verbessern) über ihn zitiert Didjm. ad
Demosth. col. 6, 44.
'^) Nach Diodor XIV 117, 7 reichten sie
Über die zwei entgegengesetzten, durch das
Altertum gehenden Auffassungen von Alexan-
ders Charakter W. Hoppmann, Das literar.
Porträt Alex.' d. Gr. im Altertum, Leipz. 1907.
') Dieses, von Eumenes und Diodotos ge-
von 387 oder dem Frieden des Antalkidas bis führt (Ath. 434b), ist jedenfalls dem Ptole-
zum phokischen Krieg 357, s. E. Schwartz, ' maios zugänglich gewesen. Die Reste dieser
Kallisthenes'Hellenika. Herm.35(1900) 106ff. *E(pTff4egidei^ welche die Dicta und Facta des
Dai3 das Alexanderbuch nicht ein Teil der Königs von Tag zu Tag in der von ihm an-
Hellenika war, begründet gegen Schwartz | erkannten Form enthielten, sammelt ü. Wil-
C. Wachsmuth, Rh. Mus. 56 (1901) 224 flf. cken, Philol. 53 (1894) 80 ff. Solche Jouniale
^) Über seinen Stil Auct. .t. ri/'. 3,2; hielten sich auch die Diadochen (Aristeas ep.
Athen, -t. ftrjzar. p. 7 Wkscher. üntergescho- 298) und die Form wirkt in den aus Papyri
ben wurde ihm eine romanhafte Alexander- i bekannten römischen Beamtenjoumalen nach
geschichte {\4/.e^dydgov ,Tod|«s), auf die wir j (L. Mitteis, Aus den griech. Papyrusurk.,
unten zurückkommen werden. ' Leipz. 1900, 9. 37 f.).
*) Die Fragmente hinter F. Dübners Ar- *) Die Echtheit der Alexanderbriefe (es
rian herausgegeben von C. Mülleb, Scriptores
rerum Alexandri M., Paris 1877; St. Cboix,
Examen critique des anciens historiens d'Ale-
xandre le Grand, 2. edit. Paris 1810; R.
handelt sich besonders um den bei Plutarch
mitgeteilten über die Porosschlacht) ist von
J. Karst, PhUol. 51 (1892) 602 ff., und A. Bauer
bestritten, während E, Pbidik, De Alexandri
(JEiKK. Scriptores historiar. Alexandri Magni M.epistular.commercio,Dorpat 1893, Mischung
aetate suppares. Lips 1844; A. Fbänkel, Die von Echtem und Unechtem annimmt, über
Quellen der Alexanderhistoriker, Bresl. 1883 ; die in den Alexanderroman aufgenommenen
A Schäfer, Abriß der Quellenk. V (Leipz. Schwindelbriefe s. E. Rohde, Gr. Roman*
lH82j P)4 ff.; C. Wachsmuth, Einl. 565 ff. — i 200 ff.
506 Oriechisohe Litteratnrgeschichte. L KlassiBche Periode.
der große Einfluß, den auf die spätere Alexandergeschichtschreibung der
höchst unzuverlässige, dem Alexandres ungünstig gesinnte Kleitarchos,
Sohn des Deinon und Schüler des Kyrenaikers Aristoteles und des Megarikers
Stilpon, ausgeübt hat. Seine jiegl 'AXeSdvdgov taiogiai in mindestens zwölf
BüchernO in asianischem Stil*) scheinen vor den Memoiren des Ptolemaios
herausgekommen zu sein. Seine süßliche Manier diente dem Kömer Sisenna
zum Vorbild. Ptolemaios Lagu^) und Aristobulos von Kassandreia
waren nach Arrianos (Anab. prooem.) die zuverlässigsten Autoren über das
Leben des Alexandres; jener hat sein Buch erst als König (Ptolemaios I.
seit 306) verfaßt und hauptsächlich das Kriegstechnische berücksichtigt;
dieser hat erst nach der Schlacht von Ipsos als vierundachtzigjähriger
Greis, nicht bloß aus seiner Erinnerung, sondern auch mit Benützung von
Litteratur (Kallisthenes) geschrieben; er bot viel Geographisches und Ethno-
graphisches und dient dem Arrianos zur Ausfüllung des trockenen Grund-
risses, den Ptolemaios gab. Beide berichteten für Alexandres günstig. Ob
Arrianos ihre Werke direkt oder durch Vermittelung des Strabon benützt
habe, ist kontrovers.^) Auch drei Mitglieder von Alexandres' Flottentruppe
haben Beiträge zur Geschichte des Königs geliefert: der Admiral Nearchos
von Kreta, der 326/25 die indische Küste befuhr, und Androsthenes von
Thasos in ihren naoankoi boten vorwiegend Geographisches; Onesikritos
von Astypalaia aber, Schüler des Kynikers Diogenes und als Steuermann
des Nearchos bei der indischen Expedition beteiligt, wobei er sich (fr. 10.
11) als Kyniker für die indischen Asketen (yv^voi) begeisterte, machte in
seiner Schrift Jicog fiyßrj *AU^avdgog nach dem Vorbild der xenophontischen
Kyrupaideia (Diog. Laert. VI 84) den König zum Helden eines Bildungs-
romans, in dem viel Abenteuerliches vorkam, der aber wohl auch nicht mit
dem strengen Maßstab, den Strabon*) an ihn anlegt, gemessen sein wollte.
— Marsyas von Pella, Halbbruder des Generals Antigenes und a. 306
Strateg des makedonischen Reiches, schrieb als erster eine Geschichte
Makedoniens {Maxeöovixd) vom Anfang bis zum Jahr 330 in zehn Büchern
und eine AXe^dvögov uyoiyrj.^) Auch Ephippos von Olynthos, auf den
Nachrichten über Alexanders Tod und Bestattung zurückgehen, Medios
von Larissa und Kyrsilos von Pharsalos waren Begleiter des Alexandres
und Berichterstatter über ihn. Chares aus Mytilene wußte als Zeremonien-
meister (eioaycoyeu';) viel von dem Privatleben des Königs zu erzählen.
Im 4. Jahrhundert setzt auch die historische und antiquarische Lokal-
^) Die von Schönle verworfene Ansicht. | *) Vermittelung durch Strabon nehmen
daß Diodoros für die Alexandergeschichte | nach dem Vorgang von M. Lüdecke, Leipz.
hauptsächlich den Kl. benutzt habe, ist aufs Stud. 11 (1889) 1 ff., J. Karst und B. Niese an.
neue gestützt durch 0. Maass, Kl. und Dio- *) p 698; ähnlich Plut. Alex. 46; Arr.
dor, Petersburg 1894. Die Annahme von F. an. VI 2. 3; E. Schwartz, Fünf Vorträge über
Reüss (Rh. Mus. 57, 1902, 559 ff), Kleitarchs den griech. Roman 82 ff.
Darstellung sei die für die Folgezeit mafa- *) Es gab zwei Marsyas. einen ans Pella,
gebende geworden, geht über das Beweisbare einen anderen aus Philippoi, die beide Mn- '
hinaus. xfboviyA und manches andere (s. Suidas)
2) 0. Immisch, Rh. Mus. 48(1893)517. schrieben; über ihreUnterscheidungF.RiTscHL,
') Ein Fragment bei Synesios encom. i De Marsyis rerum scriptoribus, in Opusc. I
calv. c. 16 nachgewiesen von E. Rohde, Kl. 449—70. Zwei neue Fragmente bei Didvm.
Sehr. I 847 ff. | ad Demosth. col. 12, 49. 57.
2. Die GeBohichtsflchreibimg. e) Kleinere GeBchichtswerke. (§ 285.) 507
forschung ein, die sich dann in der alexandrini sehen Zeit weithin verzweigt.
Sie ist für uns am greifbarsten vertreten durch die Atthidenschreiber, über
die unten gehandelt werden wird. Sonst nennt Diodoros (XV 95, 4) zwei
böotische Darsteller der thebanischen Hegemonie, Dionysodoros und
Anaxis. — Insofern Geschichte und Mythos nach der Auffassung der
Alten unter eine Kategorie fallen, kann hier noch angeführt werden:
Asklepiades von Tragilos, Schüler des Isokrates, der in den sechs Büchern
Tgaycpdovjiuva die von den Tragikern auf die Bühne gebrachten Mythen
in pragmatischer Zusammenfassung, ohne Trennung der verschiedenen
Versionen darstellte (Fragmente gesammelt von F. X. Werfer, Acta phil.
Monac. II, 1818, 491—557, und C. Müller, FHG III 301— 6).i)
286. Geographie.*) Die Geographie und Ethnographie waren in
klassischer Zeit in der Regel mit der Geschichte solidarisch verbunden.
Bei Hekataios, Herodotos, Ephoros waren reichlich Mitteilungen über fremde
Länder, Städtegründungen, Sitten und Bräuche fremder Völker eingestreut.
Wichtig für die Ethnographie sind auch Schriften von Ärzten; so gibt
Hippokrates im letzten Teil seines Buches Tiegl degov vddroyv totccov
äußerst interessante Beobachtungen über die von Luft und Boden ab-
hängigen physischen und geistigen Eigenschaften der Bewohner Europas
und Asiens. Sie sind uns doppelt interessant, da der Verfasser mit dem
erfahrenen Blick des Arztes zugleich den hohen Sinn des für Freiheit be-
geisterten Hellenen verbindet; insbesondere erhalten wir durch ihn und
das vierte Buch des Herodotos die ersten genaueren Nachrichten über die
Anwohner des Schwarzen Meeres, die Skythen und Sauromaten.*) Leider
ist durch eine große Lücke am Schluß des zwölften Kapitels der von
Ägypten und Libyen handelnde Abschnitt verloren gegangen.*) — Auch
die Anfange kartographischer Darstellung finden wir bereits in der Zeit
vor den Perserkriegen. Nach Strabou I p. 7 hat zuerst der Philosoph
Anaximandros eine geographische Karte {yecoyoacpixbv mvaxa) hergestellt.
Bei Herodot V 49 kommt Aristagoras von Miletos mit einer ehernen Tafel,
auf der der ganze Erdkreis eingraviert war, zum König Kleomenes von
Sparta, um ihn durch Vorzeigung der Länder des persischen Reiches zum
Krieg gegen den Perserkönig zu bewegen. Die richtige Vorstellung von
der Kugelgestalt der Erde kam schon durch die Pythagoreer Italiens im
5. Jahrhundert auf.
Eine Litteratur von Reisebeschreibungen zu Land {7ieQn]yt]oeig) und
zur See {neobikoi und TtagdjiXot) für praktischen Gebrauch muß es schon
M G. Wentzel in der Realenz. II 1628.
^) H. Berger, Geschichte der wissen-
schaftlichen Erdkunde der Griechen, Leipz.
(1887) 1908. — Sammlung der Fragmente
und kleinen Geographen: J. Hudson, Geo-
graphiae veteris scriptores graeci minores,
damit vergleiche man Herodot V 16 über die
Pfahlbaaten der Paioner und die ähnlich zu
deutenden 'Axr^tdeg jrdgoixoi Sqj}xI(ov ejiav-
k(ov in Aesch. Fers. 872.
^) Zu dem berühmten Buch des Hippo-
krates hatte Galcnos einen Kommentar ge-
Öxoniae 1698 — 1712; C. Müller, Geographi schrieben, der durch eine lateinische Über-
graeci minores(GGM), 2 voll., Faris 1855. 1861. Setzung auf uns gekommen ist; leider l&ßt
^) Über die Ffahlbauem am Fhasis Hip- sich auch aus diesem nichts zur Ausfüllung
pocr. de aq. 15 p. 56, 22 ff. Kühl.: ^ rs diana
ToU (h'Ooconoi^ Fv Toig ileair id t€ otxtjfAaTa
^vkiva xai xaXduiva h vöaai fiejiirjxavrjfuvaj
jener Lücke gewinnen; s. J. Ilbebg in Comm.
Ribbeck. p. 343 Anm.
508 Griechische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
in Altionien gegeben haben. Der homerische Schiffskatalog zeigt bereits
die Wirkungen derartiger Schriften, Hekataios und Ktesias, vielleicht auch
der alte Skylax von Karyanda, sind Verfasser von solchen (s. o. S. 426 f.).
Mit der gewaltigen Erweiterung des geographischen Horizonts der Griechen
im 4. Jahrhundert durch Alexandros' Zug nach Osten, durch Forschung»-
reisen nach Süden und Nordwesten wächst Zahl, Umfang und Bedeutung
dieser Werke. Über Nearchos und Androsthenes ist oben S. 506 geredet
worden, ebenso über die an geographischem Detail reichen Alexanderhisto-
riker. Etwas später unter Seleukos Nikator gab Patrokles, der als Befehls-
haber von Babylon (seit 312) den Osten aus eigener Anschauung kennen zu
lernen Gelegenheit hatte und die Aufzeichnungen des Gelehrtenstabs des
Alexandros benützte, 0 eine Beschreibung der Länder am Kaspischen Meer.
Auf uns gekommen ist eine Küstenbeschreibung unter dem Namen des
Skylax, der, aus Karyanda in Kurien gebürtig, im Auftrag des Dareios I.
die Küsten des arabischen Meerbusens umfahren hatte. ^) Der erhaltene
IleQbikovg Tfjg ^idoorjg r^g olxavfiivrjg Evgcojijjg xat ^Aalag xal Aißvrjg ist
eine allgemeine Küstenbeschreibung und rührt aus viel späterer Zeit her,
trägt aber alte Angaben weiter.») G. F. Unger (Phil. 33, 1874, 29 ff.) setzt
ihn in das Jahr 347.*) Ausgabe in C. Müllers GGM I 15—96.
Der größte Mehrer geographischen Wissens in diesem Jahrhundert ist
Pytheas von Massilia gewesen, der zur Zeit, da Alexandros das Perserreich
eroberte, mit einigen Begleitern von seiner Vaterstadt aus an den Küsten
Spaniens und Frankreichs hin eine Entdeckungsfahrt nach Norden machte, um
festzustellen, wie weit sich der Kontinent in dieser Richtung erstrecke und
von welchen Völkern er bewohnt sei. Er ist bis zu den Shetland- und
Orkney-Inseln, vielleicht sogar bis Island vorgedrungen. Im äußern Meer
{(hxeavog) lernte er die Gezeiten kennen, deren Wirkung die Anwohner
des Mittelmeers kaum verspüren, und verglich ihr Wesen mit Meerlungen.*)
Das Wattenmeer dagegen kennt er offenbar nur vom Hörensagen, ist also
nicht an der germanischen Nordküste gewesen. ß) Die Fixierung des nörd-
lichen Polarkreises ist wahrscheinlich ihm zu verdanken.'') Die Ergebnisse
seiner Reise, die er in dem Buch negl (hxmvov niederlegte, sind von der
konservativen stoischen Geographie (Polybios, Strabon) mit hartnäckigem
Unglauben abgelehnt worden; ein Urteil, das trotz der gerechteren Wür-
digung von Seiten des Astronomen Hipparchos bei Aelius Aristides (or. 48
p. 475 Dind. ovd^ 6 Maoonhonr^g djnouog ydbg eiJinv xal mnzog, nkkn zig äg^niog
jiiäXXov xal jioujrixog) nachklingt. Die Nachrichten des Pytheas wurden
nachher von einem Geographen aus der Schule dos Eratosthenes oder Hip-
*) Strab. p. 69. H. Bretzl. Botan. For- des Buclies und sein Verhältnis zu Herodotos
schungen des Alexanderzuges, Leipz. 1903, 3. H. Berger, (tcscIi. der wiss. Erdk.* 86 fF.
^) Herod. IV 44. Siehe o. S. 427. *) Das l^ild von fIs-tvo/j und fx^tvot) hatte
') F, Hiller v. Gärtrinoen, Zu Inschr. ' schon Piaton für Wasserverhältnisse gebraucht
V. Priene (Berlin 1906) nr 1. (H. Bergek. (lesch. der wiss. Erdk.« 289).
*) C. Th. Fischer, Griech. Studien, H. '^) Strab. p 104; zur Inteq)retation der Stelle
Lipsius dargebracht, Leipzig 1894, 141 ff., ! G.GERLANi),Beitr.z. Geophysik 11 (1895) 185 ff.,
sucht im Skylax Stücke aus Phileas' von und E. Gerland, Berl. phil. W.schr. 25 (1905)
Athen Periplus (5. Jahrh.) in einer Über- I 94 ff. (anders S. Nilsson, Ureinwohner des
arbeitung aus dem Ende des 4. Jahrh. nach- scandinav. Nordens, Hamb. 1863, 123 f.).
zuweisen, über den geographischen Wert i ') H. Berger, Geogr.Ztschr. 12(1906)447.
2. Die Geschichtsschreibung, e) Kleinere Oesohichtswerke. (§ 285.) 509
parchos zu einem Periplus der Westküste Europas verarbeitet; diesen legte
im 4. Jahrhundert n. Chr. Avienus dem ersten Teil seines uns erhaltenen
geographischen Lehrgedichtes Ora maritima zugrund. Dieses Gedicht ist
neben den vereinzelten, meist polemischen Angaben älterer Schriftsteller
die Hauptquelle, aus der wir unsere Kenntnis von den Entdeckungen des
Pytheas schöpfen.^) Aristoteles weiß von Pytheas noch nichts, wohl aber
sein Schüler Dikaiarchos.
Vor Pytheas hatte Antiphanes von Berga in einem geographischen
Märchenbuch {'"Amaia) auch über nordische Zustände schwindelhafte Nach-
richten verbreitet, die zur Diskreditierung des Pytheas beigetragen haben
mögen. Bei Eratosthenes und Polybios erscheint er als Typus des Auf-
schneiders, *) und ßegyatCeiv heißt späterhin soviel als unverschämt lügen.
Antiphanes ist von dem Romanschreiber Antonius Diogenes benützt worden.
Im 4. Jahrhundert, wie es scheint, ist den Griechen auch bekannt
und in ihre Sprache übersetzt worden die Beschreibung einer Küstenfahrt,
die der Karthager Hanno zwischen 466 und 4508) an der Westküste
Afrikas südwärts wahrscheinlich bis zum Gap Palmas und der Zahnküste
gemacht und deren punisch geschriebenen Originaltext er im Kronostempel
in Karthago deponiert hatte.*) Die frühste Spur von Benützung dieser
Schrift zeigt eine auf Theophrastos zurückgehende Stelle in Ps. Aristoteles
mirab. auscult.*^) Ausgabe bei C. Müller, GGM I 1 ff.
Wichtige Beiträge zur Erweiterung und Befestigung des Kartenbildes
konnten auch die Routenmesser (ßrjjbiariorai) liefern, die Alexandres auf
seiner Expedition aufgestellt hatte, Baiton und Diognetos; von ersterem
erwähnt Athenaios ein Werk oTa&juol rijg ^Ake^dvdgov nogeiag^ das auch
Notizen über Ethnographisches enthielt und um deswillen nicht für un-
echt gehalten zu werden braucht. ö) Es scheint, daß sich Eratosthenes
der hier gebotenen Mittel bedient hat.
^) Siehe bes. K. Müllenhoff. Deutsche habe den Pytheas parodiert, ist nicht haltbar.
Altertumsk. I (Berl. 1870) 211—497; H. Bbr-- ») Plinius n. h. II 169: Hanno Cartha-
GER. Gesch. der wiss. Erdk.*327ff.; einiges , ginis potentia florente circumvecttis a Gadibus
NeuefügtG. Knaack, Rh.Mus. 61 (1906) 135ff. j ad finem Arabiae, natngationem eam prodi-
zu den Fragmenten. W. Christ hat seine An- ' dit scriptOf sicut ad extera Europae noscenda
sieht (Avien und die ältesten Nachrichten über missus eodetn tempore Himilco, Vgl. V 8.
Iberien und die Westküste Europas, Münch.
Ak. Sitz.ber. 11. 1868, 113 ff.) gegen Müllen-
G. F. ÜNGEB. Philol. Suppl.4(1883) 197 ff. und
Rh. Mus. 38 (1883) 182 sucht zu beweisen, daß
hoffs Einwände verteidigt (Jahrbb. f. cl. Philol. der Periplus erst zwischen 390 und 370 verfaßt
103, 1871, 707 ff.) und sich später betr. die sei. C. Th. Fischer, De Hannonis Carthag.
Quellen des Avienus der Auffassung von F
Marx, Rh. Mus 50 (1895) 321 ff. (Münchener
Allg.Zeit. Beil. 1897 nr. 162 f.), angeschlossen.
*j Siehe außer der bei W. Scumid in der 1 Dind. an,
Realenz. 12521 f. angeführten Litteratur noch ^) Fischer a. a. 0. 116 f.
periplo, Lips. 1892 (= Unters, auf d. Gebiet
der alten Länder- und Völkerkunde I).
*) Darauf spielt auch Aristid. or. 48 p. 475
0. Crusius, Ad Plut. de prov. Alex. lib.
comm., Tüb. 1895, 26. C. Wunderer, Poly-
biosforschungen I. Leipz. 1898, 101 ff.; K.
Büroer, Stud. z. Gesch. des griech. Romans
II (Progr. Blankenburg 1903) 6, 2. Daß Anti-
«) C. Müller, Script, bist. Alex. M. 134 ff. ;
E. ScHWARTz, Artikel Baiton und Bematistai
in der Realenz.; H. Beroer ebenda Artikel
Diognetos. Anathem des Alexanderbematisten
Philonides an den Zeus in Olympia, Archäol.
phanes in das 4. Jahrb. gehört, ist von Wi- , Zeitg. 37 (1879) 139, 209. Illustration des
LAMüwiTZ, Herrn. 40 (1905) 149 f., erwiesen; ' ßtifiaui^eiv Pallad. Hist. Laus. cap. 47 init
G. Knaacks (Rh. Mus. 61, 1906, 135 ff.) Ansatz | ed. Butler.
nach Polybios und seine Auffassung, Ant. ]
510
Griechische Litteratnrgeschichte. L EUssische Periode.
3. Die BeredsamkeitO
a) Anfänge kunstmässigrer Beredsamkeit.
286. Gelegenheiten zur Übung im Reden und zur Ausbildung einer
gewissen Technik war schon in den engeren Ratsversammlungen und den
öffentlichen Gerichtsverhandlungen der alten griechischen Aristokratien ge-
geben. Homer bietet dafür Beispiele genug (insbesondere mag auf die
kunstvollen und charakteristischen Reden der Ugsaßeia ngog ^AydXia^ die Ge-
richtsszene D. 2 499 flf. und die feine Charakteristik der Redestile U. 7^212 flf.
hingewiesen werden) und hat in Nestor schon den Typus eines gewandten
und erfolgreichen Redners hingestellt, so daß die Alten, insbesondere die
Stoiker, mit Recht in Homer auch den Vater der Beredsamkeit gesehen
haben. 2) Zur Entwicklung rhetorischen Schmuckes freilich war vor kleinen
^) Von den älteren alexandrinischen Ge-
lehrten wurden die Redner wenig beachtet, wo-
für die Ignorierung der Redner in der parischen
und apollodorischen Chronik bezeichnend ist
Erst Dldymos schrieb Kommentare zu attischen
Rednern (M. Schmidt, Didymi fragm. p. 310 ff.),
von deren Art uns die rapyrusreste zu De-
mosthenes' Philippischen Reden (Berliner
Klassikertexte I) eine Vorstellung geben. Mehr
Interesse als die Alexandriner scheinen die
pergamenischen Grammatiker an der rhetori-
schen Prosa gehabt zu haben (J. Brzoska, De
canone X orator.Attic, Breslau 1883), und seit
dem Einsetzen der atticistischen Strömung
werden die attischen Redner Gegenstand lit-
terarhistorischer und rhetorisch-ästhetischer
Untersuchungen, die besonders von Cftcilius
und Dionysios von Halikamassos geführt
worden sind. Erhalten sind uns außer den
Schriften des Dionysios die Bioi xtor dexa
QYjxoQMv des Ps.Plutarchos, die auf Diony-
sios und Cäcilius zurückgehen. Mit diesen
stimmen im wesentlichen die betreffenden
Abschnitte des Photios cod. 259—268; über
ihr Verhältnis A. Schöne. Die Biographien der
zehn att. Redner, in Jahrbb. f. cl. Phil. 103 (1871)
761 ff., und dagegen A. Zucker, Quae ratio
inter vitas Lysiae Dionysiacam Pseudoplutar-
cheam Photianam intercedat, Erlangen 1878.
L. Radermacher, Philol. 58(1899) 161 ff. (über
die Dinarchvita). — Neuere Werke: D. Rühn-
KEN, Hist. critica oratorum graecorum, in der
Ausg. des Rutilius Lupus, Leiden 1768 =
Opusc. I Lugd. Bat. 1807, 310 ff.; einen be-
deutsamen Schritt zu geschichtlicher Auffas-
sung des Technischen bezeichnet L. Spenoel,
Zvraycoyrj xf/vmv, Stuttg. 1829; A. W ESTER-
MANN, Gesch. der Beredsamkeit in Griechen-
land und Rom, Leipzig 1833. 35, 2 Bde.; F.
BLASS. Die attische Beredsamkeit, Leipzig
1868-80. 3 Bde., 2. Aufl. 1887—1898; G.
Perrot. L'eloquence politique et judiciaire
a Athoncs, Paris 1873; J. Girabd, ifitudes
sur l'eloquence attique, Paris 1874, ed. II (un-
veränd. Abdr.) Paris 1884; R. C. Jebb, The
Attic orators from Antiphon to Isaeos, London
1876; Selections from Attic orators, 1 880, 2 voll. ;
R. Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und
Römer, 2. Aufl , Leipzig 1885; wertlos ist der
geschichtliche Abschnitt bei A. E. Chaionet,
La rh^torique et son histoire, Paris 1888 : E.
Norden, Die antike Kunstprosa vom 6. Jahrh.
V. Chr. bis in die Zeit der Renaissance, Leipz.
1898 ; wichtig 0. Navarre, Essai sur la rh^-
torique Grecque avant Aristote, Paris 1900,
wo die Anfänge der rhetorischen Theorie und
ihrer praktischen Anwendung beleuchtet wer-
den; E. Drerup, Die Anfänge der rhetori-
schen Kunstprosa, Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl.
27 (1902) 219ff. — Sammelausgaben : Oratorum
graecorum quae supersunt monumenta in-
genii ed. J. J. Reiske, Lips. 1770 — 5, 12 voll,
(ohne Isokrates und Hypereides); Oratores
attici ex rec. Imm. Bekkeri, Berol. 1823 bis
1824, 5 voll. ; Oratores attici rec. J. G. Baiterus
et Herm. Sauppius, Zürich 1838-50. 9 fasc.
mit Fragmenten, Schollen und Onomastiken,
'Hauptausgabe. Orat att. ed. C. Müller, 2 voll.,
Paris 1846—58, wertvoll durch den Sach-
index von J. HuNziKER. Neue Rednerfrag-
mente aus Photios: R. Rbitzenstein, Der An-
fang des Lexik, des Phot , Leipz. 1907, XXVII.
— Indices graecitatis zu den einzelnen att. Red-
nern auf Grund von Reiskes Sonderindices von
T. Mitchell, Ox. 1828, 2 voll. — Jahres-
bericht über die griech. Redner im Jahresber.
üb. d. Fortsch. d. kl. Alt.wiss. von K. Emminoeb,
Bd. 133 (1907) 1 ff. (für 1886—1904); über
Rhetorik ebenda von G. Lehnert, Bd. 125
(1905) 86 ff. (für 1894-1900).
«) Ar. nub. 1056. Cic. Brut. 40; beson-
ders Ps.Plut. Vit. Hom. II 161 ff. Über die ho-
merische Rhetorik schrieb der stoische Gram-
matiker Telephos von Pergamon (H. Sohra-
DER, Herm. 37, 1902, 530 ff ; K. Fuhr, Beri.
phUol. Woch. 22. 1902. 1499 f.). M. Hecht. Zur
homer. Beredsamk. in der Festschr. z. 50jähr.
Doktorjubil. L. Friedländers. Leipz. 1895, 1 13 ff.
Einzelne rhetor. Figuren weist aus Hom. nach
N. Wecklein, Studien z. llias, Halle 1905, 1 ff.
3. Die Beredsamkeit, a) Anfänge kunstmäfiiger Beredsamkeit. (§ 286.) 511
Kreisen Sachverständiger, die knappe Sachlichkeit verlangten, i) weniger Ge-
legenheit. Aber je mehr die Demokratien sich ausbildeten und poUtische
wie rechtliche Fragen vor großen Versammlungen zu sachlich-ruhiger Be-
urteilung großenteils unfähiger Leute gezogen wurden und politische Streber
vermittelst ihrer Redegewandtheit um die Jigoaraota xov drjixov sich be-
mühten, desto mehr Anlaß war zur Ausbildung dialektischer Kniflfe und
von der Sache ablenkender Reizmittel der Form (Aristot. rhet. III 1). Die
großen Staatsmänner Athens im 5. Jahrhundert, Themistokles*) und be-
sonders Perikles,^) sind auch große Redner gewesen, die sich aber im Vor-
trag noch der altertümlich ernsten Ruhe befleißigten, während Kleon
(Aristot. Ath. resp. 28, 3) die plebejische Aufregung in die Staatsrede ein-
geführt haben soll. Dialoge und §rioei<; der jüngeren attischen Tragiker*)
verraten schon Einflüsse rhetorischer Art.
Die wichtigste Gattung der Rede war die gerichtliche (Xoyog dixavtxög)^
weil vor dem attischen Gericht jeder seine Sache selbst vertreten mußte. Zwar
scheint hier in älterer Zeit nicht sowohl zusammenhängend geredet als dia-
logisch zwischen den Parteien und dem Richter verhandelt worden zu sein,
wie sich das in der ältesten Schilderung einer attischen Gerichtsszene bei
Aischylos in den Eumeniden und noch in der platonischen Apologie c. 12 ff.
(s. bes. p. 25 d) darstellt. Aber die Ansprüche an die Form wuchsen — soll
sich dochPerikles auf jede Gerichtsrede genau schriftlich vorbereitet haben,^)
und wer nicht von Natur zum Redner veranlagt war, mußte sich, um sein
Recht durchzusetzen,^) nach Unterstützung umsehen. Diesem Bedürfnis
entsprach der Stand der ^nyyo^oi,') die aus Rechtsräten allmählich zu
loyoyodqjoi wurden, d. h. ihren Klienten Reden schrieben, die von jenen
memoriert und vor Gericht vorgetragen wurden. Bei solcher Tätigkeit
entwickelte sich von selbst eine gewisse Schablone der Gedanken und
Redeformen.®) Der verstandesmäßigen Zuspitzung der Gerichtsrede kamen
die sprachlichen und dialektischen Studien der ionischen Sophistik, ins-
besondere die ÖQ^omeia des Protagoras und die Synonymik des Prodikos
zustatten.^) Man wollte nun, wie Aristophanes in den Wolken kari-
kierend zeigt, bei den Sophisten für die praktische Prozeßbehandlung die
*) F^(o Tov noayftaT<K Xeyeiv war vor dem 1 ro xevtgov iyxareXetJie rolg dxQOCOfievotg,
Areopag verboten (Lys. 3, 46 ; Aristot. rhet. | danach Cic. Brut. 38 und 44.
1354 a 22, Lycurg. Leoer. 11; Alex. Numen. ! *) Schol. Aesch. Prom. 311; M. Leohnek,
in Spengels Kh. Gr. I 432, 14; s. a. I. Bruns, | Derhetoricae usu Sophocleo, Berlin 1877; Th.
Litt. Portr. 483 ff.). [ Miller, Euripides rhetoricus, Gott. 1887. Ober
*) Die Rede, die ihm Herodot VIII 83 in Sinnfiguration bei den Tragikern G. Thiele,
den Mund legt, ist freilich nicht authentisch, Hermagoras, Straßb. 1893, 156 ff. — Ander-
auch der Bericht des Herodot VI 136 über seits setzt Aesch. Suppl. 603 K. kunstvolle
das im Miltiadesprozeß aufgewendete redne- Volksreden voraus,
rische Feuerwerk fragwürdig. Siehe aber *) F. Blass, Att. Bereds. I* 35, 5.
Thuc. I 138, 3; Isoer. 15, 307 f. «) Antiph. 5, 2; Demosth. 21, 141; vgl.
') Den erhaltenen Apophthegmen nach Xen. apol. 4.
(Schriftliches hat er außer seinen Psephismen ; ') Schon in Aesch. Eum. ist Apollon
nicht hinterlassen) muß er ganz anders, d. h. 1 ^wijyooog des Orestes. Aristophanes verhöhnt
weit derber und sinnlicher geredet haben. ; die ct^v/Jyooo* Ja/roA. fr. 198 K.; vesp. 687ff.;
als ihn Thukydides reden läßt (F. Blass, Ach. 705;"eq. 1318.
Att. Bereds 1« 37). Eupolis von Perikles in ^) Vgl. Cratin. fr. 185 K. mitAndoc. 1, 1;
den Atuioi fr. 94: F. Blass, Att. Bereds. 1« 115 f.
IIsi&oj Tig L-TExd&i^Fv ijil ToTg yfiXeoiv •) Darüber am besten L. Spengel, Zwa-
ovxoyg ixtjlei, xai fidvog xwv Qrjröoeov \ y(oyij tsx,vwv.
512 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
Kunst Tov rJTTO} X6yov xgeixTü) noieiv^ das dem Prozessierenden günstige
Scheinbare und Wahrscheinliche (elxog) gegen das Wahre auszuspielen
(Plat. Phaedr. 272 d ff.; vgl. P. Wendland, Anaximenes 31, 2), systematisch
erlernen; die Wirkungen treten in den Reden des Antiphon, die nur auf
verstandesmäßige Überlistung angelegt sind, deutlich hervor.
Auch die Anfange der epideiktischen Prosarede in Athen fallen um
die Mitte des 5. Jahrhunderts: 0 den frühsten Gegenstand bilden die öflFent-
lichen, von einem staatlich bestellten Sprecher zu haltenden Reden bei der
Bestattung der für das Vaterland Gefallenen, ein Ersatz für die älteren
^QTjvoi in musikalisch-lyrischer Form. Wir haben Anlaß anzunehmen, daß
die Leistungen der einheimischen attischen Beredsamkeit, was Auffindung
{evgeoig) und Anordnung (tdSig) des Stoffs betrifft, schon eine beträchtliche
Höhe erreicht hatten,*) bevor Gorgias im Jahr 427 seinen sinnfälligen
Flitterkram aus Westgriechenland dort importierte.
Die Bedeutung der sizilischen Beredsamkeit ist in unseren
auf die tendenziöse Darstellung des Siziliers Timaios im wesentlichen
zurückgehenden Berichten vielleicht zu stark betont.*) Was Aristoteles
berichtet, daß nach dem Sturz der Tyrannis in Sizilien, in den sech-
ziger Jahren des 5. Jahrhunderts, infolge der vielen mit der politischen
Umwälzung verbundenen Eigentumsstreitigkeiten das Bedürfnis nach
advokatischem Beistand und rednerischem Erfolg eine technische Rhetorik
hervorgetrieben habe, ist glaublich, und der Westen scheint es darin, daß
er das erste rhetorische Lehrbuch schuf, die rexyrj des Syrakusiers Korax,*)
dem Osten zuvorgetan zu haben. Die Definition der Rhetorik als jieiüovg
örjjuiovgyog^ die Gorgias und Isokrates beibehalten haben, und die Ein-
teilung der Rede in jigooijutov, dycbveg, biiXoyog geht auf dieses Buch
zurück, das eine Anweisung zu den dialektischen Kniflfen skrupellosester
Rabulisterei, besonders mit dem Begriff des eixog^ gegeben haben muß.
Im übrigen hat sich die Anekdote^) des Korax und seines Schülers Teisias
von Syrakus, von dem es ebenfalls eine rhetorische rexvt] gab, bemächtigt.
Dieser, der die Lehre vom dxog eingehend behandelte,^) ist als Lehrer des
Gorgias, Lysias und Isokrates auch für die attische Beredsamkeit wichtig
geworden. Neben diesen Nachrichten über das Hervorgehen der sizilischen
M Diod. XI 33, 3 läßt den Xoyog imidqHog
seit Plataia eingeführt sein, wahrscheinlich
zu früh (ähnlich Dionys. Hai ant Rom. V
17, 4), wie auch die Ansätze von Wilamo-
wiTZ auf 475 (Arist. und Athen 1 14ö, 41) und
A. Hauvette (MelangesWeil 159 ff.) auf c. 470
wohl zu früh sind. Sicher steht erst der sa-
mische Epitaphios des Perikles 440 (Plut.
Per. 28). Vgl F. 8cuinnerer. De epitaphiis
Graecor. vet, Erlangen 1886; J. Chaillet, De
orationib. quae Athenis in funerib. publ. habe-
bantiu*, Leiden 1891; Th. C. Hurgess, Epi-
deictic litterature, Chicago 1902, 146 ff.
^) TOV {tf'/Togo^ Tf^' TF/rt]y fI^ov xai oi
do/aioTnrot nov orrt]y6go)v sagt richtig Philod.
de rhct. suppl. p. 15, 7 Sudhaus.
^) Timao. bei Dionys. Hai. de Lys. 3
(dazu L, Radermaciiek, Rh. Mus. 52, 1897,
412 ff.); außerdem Aristot. bei Cic. Brut. 46.
*) Aristot. (rhet. 1402 a 17) kannte das
Buch, vielleicht auch Piaton (Phaedr. 273 b)
und Anaximenes (P. Wendland, Anax.30 ff.),
und es ist kein Grund, mit F. Susemihl. F.
Blaß (Att. Bereds. 1=^ 19 f.) u. a. an seiner
Existenz zu zweifeln (L. Spenuel, Xvray, 29).
*) Sext. Emp. adv. math. II 96 ff.: Rhet.
Gr. IV 1 3 ; VII 6 Walz. Quelle für dergleichen
mag w^ohl auch die Komödie des Westens ge-
wesen sein: schonEpicharmos(A. O.F.Lorenz,
Epich. 94 ff., 116 ff.) witzelt über die Kunst-
beredsamkeit.
«) Plat. Phaedr. 267 a. 273a. Das inter-
essante rhetorische Bruclistück in dorischem
Dialekt (Oxvrh. pap. 111 p. 27 ff) will W. R.
Roberts, class. rev. 18 (1904) 18 ff., auf T.
zurückführen.
3. Die Beredsamkeit, a) Anfänge kanstmäßiger Beredsamkeit. (§ 286.) 515
Beredsamkeit aus der Advokatur steht ein anderer Bericht in Aristoteles'
Jugenddialog -To^föTi/cO ^^r sie aus philosophischer Quelle ableitet: Empe-
dokles wird als „Erfinder" der Rhetorik bezeichnet oder gar, nachdem
Empedokles in den pythagoreischen Schulverband eingegliedert ist, Pytha-
goras selbst. 2) Gorgias ist dann wieder Schüler des Empedokles gewesen;
aber ob er auch rhetorische Anregungen von ihm empfangen hat, ist un-
sicher. 3) Jedenfalls ist Gorgias für die Entwicklung der griechischen Kunst-
prosa epochemachend geworden durch die Idee, den in den Sprachformen
liegenden musikalischen Reiz der Gleichklänge oder Reime der Prosa dienst-
bar zu machen und ihr dadurch ein von der vornehmeren Poesie mit Be-
wußtsein verschmähtes, in Sizilien wahrscheinlich besonders populäres'*)
Mittel sinnlicher Wirkungen auf das Ohr zur Verfügung zu stellen. Mit
seiner Entdeckung auf dem Gebiet der Xe^ig hat er die attische Beredsam-
keit auf das nachhaltigste befruchtet. Aber unabhängig von ihm und viel-
leicht schon vor seiner Ankunft in Athen ^) hat der Sophist Thrasy-
machos von Chalkedon, von dessen sittlichem Radikalismus Piaton im
ersten Buch des Staates ein vielleicht allzugrelles Bild entwirft, den Be-
griff der Periode aus der Poesie in die Prosa übertragen und dadurch dem
in sich geschlossenen Gedankenkreis des prosaischen Satzes auch nach der
sinnlichen Seite hin eine deutlich ins Ohr fallende Abgeschlossenheit ver-
schafft. Er knüpfte hiemit an die im homerischen Versbau stark hervor-
tretende, aber auch von der attischen Chorlyrik mehr und mehr angenom-
mene Tendenz an, Sinnschluß und Schluß der rhythmischen Gruppe zu-
sammenfallen zu lassen. Um den Vortrag der Periode oder des Periodengliedes
in einem Atem möglich zu machen, mußte im Inneren der Periode der
Atemvergeudung bewirkende Zusammenstoß der Vokale vermieden werden.
Durchgehende Rhythmisierung der Sätze, die ja die Grenze zwischen Kunst-
prosa und Dithyrambus neuen Stils verwischt hätte,") gestattete Thrasy-
machos nicht, ^) aber Anfang und Schluß der Periode sollte durch paionischen
Rhythmus markiert sein.®) Auch über den Vortrag hat er zuerst An-
weisungen gegeben.'^) Theophrastos (bei Dionys. Hai. de Dem. 3) nennt
ihn Erfinder des „gemischten" Stils, der zwischen Erhabenheit und Nüchtern-
heit die Mitte hielt. Er war Advokat in Athen, legte aber den Nachdruck
auf seine Leistungen als Epideiktiker und Techniker.*") Neben einem Lehr-
») Diog. Laert.VIII57; 1X25; Scxt.Emp.
adv. dogra. I 6: Qaint. inst. III 1, 8.
*) Schol. lambl. vit. Pvth. bei E. Rohde,
Kl. Sehr. I 232 A; 284 A. H. Diels, Arch. f.
*) Thrasyraachos wird schon von Aristo-
phanes in den AatmXfi^ fr. 198 K. (aufgeführt
427) genannt; Prodikos war vielleicht sein
Lehrer (Aristot. rhet. 1400 b 19 ist ebenso
Gesch. der Philos. 3 (1^90)4541, sieht darin wie 1361a 5 Jlgodtfcoi: statt 7/oo(5. zu lesen),
schwerlich richtig eine Mißdeutung von He- •) Theophr. bei Cic. de or. III 185 (vgl.
roclit. fr. 129 D. Spätere Mache ist die An- j Cic. or. 183).
gäbe des Schol.. Korax und Teisias seien ") Das Verbot blieb : Aristot. rhet. 1408b
Schüler des Empedokles. 21 ff.; Cic.de or. 111 175; or. 189. 194.
») H. Diels, Berl. Ak. Sitz.ber. 1884, ; «) Aristot. rhet. 1409a 2 ff.; Quint. III
343 ff., sucht das zu erklären; s. aber auch 3, 4.
0. Navarre, Essai 96, und schon F. Blass, ^) Aristot. rhet. 1404a 14; vielleicht
Att. Bereds. P 66, 5. i spottet darüber Aristoph. FfcoQyoi bei Phot.
*) Über sizilische xofti/u'mjc 0. Jahn zu lex. init. p. 48, 10 Reitzenstein.
Cic. Brut. 46; E. Norden, Ant.Kunstpr. 25,2; ^o) Dionys. de Isaeo 20.
0. Navabre, Essai 4.
Handbuch der klass. Altertnmswisaenschaft. VU. 5. Aufl. 33
514
Griechische Litteratnrgeschichte. L KLassische Periode.
buch der Rhetorik*) und Musterstücken für die pathologischen Teile der
Rede {v7TeQßdU.ovTeg, noooifua und ^leoi)^) schrieb er jiaiyvia und ovjußov-
Xtvxtxoi; die letzteren müssen, da er als Metöke nicht selbst in der Volks-
versammlung auftreten konnte, als politische Pamphlete verstanden werden.
Ein langes Stück aus einem solchen ovjußovknmxog, freilich in schwer ver-
derbtem Zustand, hat Dionysios von Halikamassos (de Dem. 3) erhalten;
die Rede scheint 403, in demselben Jahr mit dem ovjußovXevuxog des Lysias
geschrieben zu sein.^) Eine politische Rede von ihm für die Larissäer
(Clem. AI. Strom. VI 2, 16 p. 746 P.), zwischen 413 und 399 verfaßt, hat
Herodes Atticus in der uns erhaltenen Deklamation jtegl nohxeiai; benützt.*)
Wie angesehen Thrasymachos als Technograph war, zeigen die Äußerungen
des Piaton (im Phaidros), Aristoteles und Metrodoros*) über ihn. Seine
Reden wurden noch in der Kaiserzeit gelesen und nachgeahmt.^)
287. Gorgias, der Sohn des Charmantidas, von Leontinoi') kam
427 als Abgesandter seiner Vaterstadt nach Athen und gefiel dort so sehr,
daß er, übrigens ohne festen Wohnsitz (Isoer. 15, 155), in Hellas zu bleiben
sich entschloß und in Athen und anderen Städten, namentlich Thessaliens,
teils als Redner, insbesonders auch Improvisator (Philostr. vit. soph. p. 3,
19 ff. K.), teils als Lehrer der Beredsamkeit auftrat, wodurch er sich ein
sehr großes Vermögen erwarb. Wie groß sein Einfluß war, erhellt vor-
züglich aus Piaton, der seine Polemik gegen die Rhetorik an die Person
des Gorgias in dem nach ihm benannten Dialog anknüpfte. Über seine
Ausbildung*) ist glaubwürdig nur berichtet, er sei Schüler des Empedokles
gewesen (Diog. L. VIII 58; Quint. III 1, 8); er wird aber dann durch den
Transcendentalismus der Eleaten zu der skeptischen Stimmung geführt
worden sein, aus der seine nihilistische Schrift neQl (pvoeox; f) Jiegl rov juiii
övTog hervorwuchs. ^) Folgerichtigerweise mußte er sich nun gestehen, daß
der Mensch und sein Wille für ihn die einzige Realität sei, und tatsächlich
^) '^^■X^'^i QTjxoQixi) (Said. 9. Ggaa.), fieydXtj
xf-yvrj (Schol. Ar. av. 880) und aq^oof-iai grj-
toQiy.ai (Suid.) sind vielleicht identisch (F.
BLASS P 249, 0. Navarbe 155).
^) Scharfe Kritik derartiger Leidenschafts-
erregung Plat. apol. 34 b ff. (danach Aristot.
rhet. I 1), 38 d.
») So U. Köhler, Berl. Ak. Sitz.ber. 1895,
457. F. Blaß datiert es 411.
*) W. ScHMiD. Rh. Mus. 59 (1904) 512 ff. ;
ü. Köhler. Berl. Ak. Sitz.ber. 1893, 502 ff.
Dagegen E. Drerüp in Stud. z. Gesch. und
Kultur des Altert II 1 (Paderborn 1908),
der die Herodesrede in „den Hochsommer,
d. i. Juli/August d. J. 404 v. Chr." datieren
und sie einem Litteraten aus dem Kreis des
Theramenes zuweisen zu können meint, und
dies „mit voller Sicherheit" (S. 123).
*) Philod. de rhet. suppl. p. 43 Sudu.
^) Dionys. Hai. de Dem. 3 ; über Herodes
Att. s. A. 3 ; lulius Vestinus hat sie für sein
Lexikon exzerpiert (Suid. s. Ch)t]OTTvog). Über
Thr. im allgemeinen E. Sohwartz, Commen-
tatio de Thras}Tnacho Chalced., Rostock 1892;
F. BLASS, Att. Bereds. P 245 ff. Einen stilisti-
schen Gegensatz zwischen Gorgias und Thras.
konstruiert E. Drerup, N. Jahrb. f. Philol.
Suppl. 27 (1902) 219 ff
^) Philostr. Vit. soph. 1 9; H. E. Foss. De
Gorgia Leontino comm., Halle 1828. Gorgias
erreichte nach Apollodoros ein Alter von 105
oder 108 bis 109 Jahren; sein Leben setzt
demnach Foss 496—388, Frei 483—375, E.
Drerup, N. Jahrbb. f. Phil. Suppl. 27 (1902) 251 f.
480 — 370, WiLAMOWiTz, Aristot. und Athen
I 172 A. 75: 500/497—391/88. Daß Gorgias
zur Zeit des gleichnamigen Dialogs des Piaton
(um 390) noch lebte, ist möglich (Ath. 505 e;
F. Jacoby, Apollodors Chronik p. 264 f.).
über die späteren Anhänger des Gorgias s.
den Brief des Philostratos epist. 73 an die
Kaiserin lulia. Alle Zeugnisse und Frag-
mente H. DiELS, Vorsokratiker * S. 523 ff.
8) H. DiELS, Beri. Ak. Sitz.ber. 1884,
343 ff.; dagegen E. Meyer, Gesch d. Altert
III 658.
®) Sie gipfelt in dem Satz (Ps. Aristot. de
Xenoph. Mel. Zen. V p. 979 a 12) ov>c elvai
ovÖev ei 6*faTir, ayvwoTov etvai' ei de xai
I eart xai yvcooröv, ov dtjXiOTov äkloig.
3. Die Beredsamkeit, a) Anfänge knnstmäfiiger Beredsamkeit. (§ 287.) 515
wandte er schließlich sein ganzes Interesse der Kunst zu, durch die Rede
den eigenen Willen durchzusetzen und den fremden zu leiten: er wollte
nicht mehr ao(pioTi^gj sondern ^tJTcoQ heißen (Plat. Gorg. 449a. 456c), nicht
ägsTij oder Realkenutnis (Plat. Men. 95 c) lehren, sondern nur Redekunst»)
Um die radikalen ethischen Konsequenzen aus seiner Überzeugung prak-
tisch zu ziehen, dazu war er eine viel zu vornehme und zu wenig aggres-
sive Natur — wie hierin seine Schüler folgerichtiger gewesen sind,
zeigt sehr fein Piaton im Gorgias. Als reiner Ästhet hielt er sich von
der Advokatur fern (Dionys. Hai., Rhet. Gr. V 548 A. 2 Walz) und widmete
sich ganz der Ausbildung der epideiktischen Rede; in ihr wollte er einen
Ersatz für die Poesie schaffen (Aristot. rhet. 1404a 24 flf.), im rhetorischen
Unterricht ein Mittel zur Formung auch des Charakters. Welchen Erfolg
er damit und auch durch sein eigenes Vorbild hatte, spricht die Inschrift
von Olympia aus:
roQyiov daxfjoai tpvyji]v ägexijg ig äycbvag
ovdeig tzo) ^i]Tcbv xalkiov rjvge xe^vriv,
ov xal ^AnoXkayvog yvdXoig eix(bv ävaxeirai
ov Jikovrov naoddeiyju, dmeßiag de tqoticov.
Am berühmtesten waren unter seinen Reden der Uv^ixog (sc. koyog)^ ge-
halten in Delphoi, wo er nachher ein vergoldetes Standbild von sich auf-
stellen ließ,*) der ^OXvfxnixog^ in dem der später oft wiederholte Gedanke,
die Hellenen sollten ihre inneren Händel lassen und ihre vereinten Kräfte
gegen die Barbaren wenden, zum erstenmal glanzvoll durchgeführt war»)
(beide Reden hielt er von den Stufen der Tempel aus an die panhelleni-
schen Festversammlungen), femer AQr^Emxdifiog auf die gefallenen Athener,
der, selbstverständlich nicht von ihm selbst, da er Metöke war, gehalten,
für die später so häufigen Grabreden auf die Vaterlandsverteidiger Vor-
bild wurde. Wir haben von diesen berühmten Reden nur Inhaltsangaben
(bei Philostratos) und spärliche Fragmente; hingegen sind unter seinem
Namen zwei sophistische Reden, "Elivrjg iyxwjiuov und TTakajurjdrjg^ auf uns
gekommen, an deren Echtheit nicht mehr gezweifelt werden sollte.*) In
seinen Werken^) hat Gorgias einen durch Figuren- und Metaphemschmuck
gehobenen, halbpoetischen Stil ausgebildet; unter seinen Figuren werden
hauptsächlich die Antithesen, die Parisa und Paromoia (das sind die log-
yma oyjjjuam) von Cicero or. 175 und Dionys. de Thuc. 23 hervorgehoben.^)
M Übrigens reklamierte er schon (fr. 28
Sacppe) den Namen <pi),ooo(fia für seine Lehre.
Die Macht der Redekunst, die er als :teidovg
dtjfnoi'oyog definierte (test. 28 D.), preist er
Hei. 8~fr.; vgl. test. 26 D.
') Philostr. a. 0.: Ath. 505 d.
8) Auch in Olympia wurde ihm später
eine St«tue gesetzt, deren Inschrift (Inschr.
V. Olympia nr. 239) s. oben: der Dedikant
ist Gorgias' Großneffe und Schüler Eumolpos,
*) Für die Echtheit bringt neue Gründe
vor E. Maass, Herrn. 22 (1887) 566—81.
ebenso G.Thiele, Herrn. 36 (1901) 218—71,
und E.Drerüp, Jahrbb. a.O. Die Verschieden-
heit der Hiatusbehandlung in den beiden
Reden kommt von der verschiedenen Ab-
fassungszeit: in dem späteren Palamedes
erst tritt G. in die Fußstapfen des Thrasy-
machos und meidet den Hiatus.
') Eine rhetorische Techne hat er nicht
Über eine übersehene Stelle des Olympikos . verfaßt: seine Reden sind seine reyraii E.
s. J. Beknays, Ges. Abh. I 121. Versuche, Maass, Herm. a. a. 0. 578.
die Rede zu datieren (F. Dümmler, Akadem. 23 *) Einzelne solche Gleichklänge kommen
setzt sie 391 ; WiLAMO WITZ, Aristot. u. Athen i natürlich auch vor Gorgias schon vor (E.
II 72: 408) führen zu keinem sicheren Ergebnis. | Norden, Ant. Kunstpr. 16 ff.).
33*
516 Griechische Litteratorgeschichte. I. Klassische Periode.
Übrigens greifen manche seiner Lehren, wie z. B. die Anweisung, über den-
selben Gegenstand kurz oder lang reden zu können (Plat. Qorg. 449 c) oder
das Lachen der Gegner durch Ernst, ihren Ernst durch Lachen zu Fall
zu bringen (fr. 12 D.; vgl. Cic. de or. II 236), auch in das Praktische ein.
Zur Verbreitung des attischen Dialektes hat er, als ein von allen Griechen
gesuchter Redner, viel beigetragen.') So sehr man späterhin*) die gor-
gianischen Figuren kindisch fand, so sind sie doch Ende des 5. und An-
fang des 4. Jahrhunderts derart Mode geworden, dafa die ernsthaftesten
Schriftsteller sie anwendeten.*) Systematiker der gorgianischen Technik
wurde der aus Piaton bekannte Gorgiasschüler Polos von Akragas (geb.
c. 440); ins Süßliche und Überladene führten Agathen und Likymnios
seinen Stil, während Isokratcs ihm das kleinlich Unruhige und Schillernde
nahm und ihn zu seinem breiten und vollklingenden Periodenstil umbildete.
Die Ideen einer Zusammenfassung aller griechischen Kräfte zum
Gegensatz gegen das Barbarentum, einer sittlichen Erziehung durch die
Rhetorik, einer mit Mitteln der Poesie wirkenden Prosa schlugen zündend
ein in eine Zeit der Zerrissenheit, die, dem Geist der alten Dichtung
entfremdet, eine würdige Form suchte, um die Gedanken, Interessen,
Empfindungen der Gegenwart, auf welche die ernsthafte Poesie nicht ein-
gehen mochte, zum Ausdruck zu bringen, und eine Methode der Erziehung,
die weltläufige Formgewandtheit und Erfolg beim öffentlichen Auftreten
in Aussicht stellte, mußte gerade damals höchst zeitgemäß erscheinen.
Daraus erklärt sich die Begeisterung der Zeitgenossen für Leistungen, die
uns jetzt von mäßiger Bedeutung zu sein scheinen. Wenn von der Mitte
des 4. Jahrhunderts an der Kunstredner neben den Dichtern und Musikern
in die Konzert- und Rezitationsvorstellungen im Theater, die als äyojveg
{^vjueXixol in hellenistischer Zeit ein wichtiger Kulturfaktor geworden sind,*)
mit aufgenommen wird, so zeigt sich darin die Wirkung des gorgianischen
Gedankens, daß die schön geformte Rede eine der Dichtung ebenbürtige
Kunstleistung und Bildungsmacht sei.
288. Ihre weitere Entwicklung fand die Beredsamkeit in Athen; hier
vereinigte sich alles, um die neue Kunst zur Blüte zu bringen. Vor allem
war hier die Redefreiheit {jiaogijoia, d. i. Trav'gtjoia^ Freiheit, alles zu
sagen) ein Grundpfeiler des attischen Staatswesens zugleich und ein
Lebenselement der Beredsamkeit. Dazu traten die Öffentlichkeit der Ver-
handlungen, die Macht der Volksversammlungen, die Häufigkeit der Pro-
zesse, das Wohlgefallen an schönen Reden. So kamen in Athen zwischen
der Zeit des poloponnesischen Krieges und der Herrschaft des Alexandres
0 WiLAMOwiTZ, Entstehung der griech. vestigiis, Rostock 1890 (bei Thukydides. der
Schriftsprachen, in Verh. der Vers. d. Phil. besonders dem Öizilier Hermokrates solche
in Wiesbaden, 1877, und Phil. Unt. 7 (1884) , Figuren in den Mund legt, dann bei Isokrates,
312 f.; E. Zarncke. Die Entstehung der
griech. Litteraturspr. S. 18 f. und 49 f.; E.
Norden, Antike Kunstprosa 15 ff.
*) Dionys. Hai. de Isaeo 19; ad Amm.
11 17; Diod. XII 53; Plut. mor. fr. 138 (vol.
VII 167 Bern.).
') E. SciiEEL, De Gorgianae disciplinae
Agathon, Alkidamas, Archytas, Lysias, Ver-
fassern von .Schriften des hippokratischen
Corpus); J. C. Robertson, The Gorgian
figures in earlv Greek prose, Diss. Baltimore
1893.
*) J. Frei, De certaminib. thymelicis,
p. 10. 12.
3. Die Beredsamkeit, a) Anfänge knnatmäßiger Beredsamkeit. (§ 288.) 517
alle drei Gattungen von Reden zur Blüte, die Reden vor Gericht {yivog
dixavixöv)^ die bei den Beratungen im Senat und in den Volksversamm-
lungen (yevog ovjußovkevuxov oder drijLii]yogix6v)^ endlich die in den Fest-
versammlungen (yivog imdeixTixöv oder Jiavi]yvgtx6v), Anfangs scheuten
sich die großen Staatsmänner noch, ihre Reden herauszugeben;*) bald aber,
gegen Ende des peloponnesischen Krieges, wurde auch diese Scheu über-
wunden, und die Politiker betrachteten nun geradezu die Veröffentlichung ihrer
Reden als ein Hauptmittel zur Stärkung ihres politischen Einflusses. Aber
auch Gerichtsreden in nachträglich redigierter Form wurden als Muster-
stücke zur Nachahmung von hervorragenden Logographen herausgegeben;
wie groß das öffentliche Interesse an ihnen war, zeigt das Urteil des
Thukydides (VIII 68, 2) über die Verteidigungsrede des Antiphon. Theorie
und Praxis sind in dieser ganzen Periode insofern nebeneinander hergegangen,
als die Lehrer der Beredsamkeit zugleich Redner waren, nur daß bei den
einen die Tätigkeit des Lehrens, bei den andern das öffentliche Wirken in
den Vordergrund trat.*) Diese Redekünstler haben nach und nach alle
Mittel aufgefunden, irgend einen noch so bedenklichen Gegenstand dem
Publikum in der Art mundgerecht zu machen, daß die vom Redner ge-
wünschte Einwirkung auf Willen und Entschließung der Hörenden nicht
ausblieb. Der Rhetor wird — ein scharfes, aber wahres Urteil des Piaton
— tatsächlich zum Kochkünstler, und die Wort- und Gedankenköche haben
den Griechen den Gaumen so verwöhnt und den Magen so verderbt, daß
für die einfach rauhe Kost der Wahrheit nur noch wenige empfänglich
blieben und das Gesinnungstüchtige ohne formellen Aufputz bei den Ge-
bildeten sich immer weniger durchsetzen konnte. Die ausdörrende und
verfälschende Wirkung der Rhetorik wird nicht erst von Piaton, sondern
schon von Euripides konstatiert.^) Aber so sehr sich Philosophie und
Fachwissenschaft in der hellenistischen Zeit gegen solche parasitenartige
Wucherung des an sich edlen Strebens der griechischen Anlage nach
schöner Form wehren,*) sie war schließlich doch nicht mehr aufzuhalten
und hat die geistige und sittliche Verödung des ausgehenden Altertums
wesentlich befördert.
In der Entwicklung der Überredungsmittel lassen sich vier Stufen
unterscheiden: 1. man sucht den Verstand durch Künste der logischen
(bezw. paralogistischen) Beweisführung zu gewinnen (Antiphon), 2. die sinn-
lichen Reize der Sprache werden für die Prosa fruchtbar gemacht (Thra-
symachos, Gorgias, Isokrates), 3. die Überzeugungskraft, die in der (echten
oder nachgemachten) ethischen Persönlichkeit des Redenden liegt, wird
entdeckt (Lysias), 4. der Redner ist oder stellt sich dar in leidenschaft-
licher Erregung und wirkt dadurch entsprechend auf das Publikum (Isaios,
') Plat. Phaedr. 257 d.
-) Von den Rednern Athens gut nament-
lich der sprichwörtliche Ausdruck Piatons,
legg. I p. 642 c, daß, wenn die Athener irgend-
wo tüchtig sind, sie dieses in hervorragendem
Maße sind: to vjto :io/J.u)v Igyofievov, wg oaot
'Ai}T]vai(ov eloiv ayadoi, Sta(feo6vT(og eioi xoi"
ovTot, doxsT akij^ioraxa Xeyea&ai.
») Eur. Hippel. 469 ff., 486 ff., 988 f.;
Tro. 966 f. ; Phoen. 526 f. : fr. 600 ; Hec. 1 187 ff.,
1238 f. (dagegen Hec. 814 ff.).
*) Der Kampf ist dargestellt bei H.
V. Arnim, Leben und Schriften des Dio
V. Pmsa Kap. I.
518
Griechische Litteratnrgeschichte. I. ElasBische Periode.
Demosthenes und seine Zeitgenossen). Daß diese Künste meist lediglich
darauf hinzielen, den Hörer von der Sache abzulenken und ihm ein sach-
liches Urteil unmöglich zu machen, bemerkt Aristoteles im Anfang seiner
Rhetorik; immerhin können sie, wie namentUch Demosthenes zeigt, auch
in den Dienst ernster und wahrer Überzeugung gestellt werden.
Von den Grammatikern, vielleicht von den Pergamenem um 125
V. Chr., wurde ein Kanon von zehn attischen Rednern aufgestellt:^) Anti-
phon, Andokides, Lysias, Isokrates, Isaios, Aischines, Demosthenes, Hyper-
eides, Lykurgos, Deinarchos.
b) Antiphon und Andokides.
289. Antiphon,^) Sophilos' Sohn aus dem Demos Rhamnus, etwas
jünger als Gorgias, fand bei den politischen Wirren gegen Ende des pelo-
ponnesischen Krieges den Tod. Ein eifriger Anhänger der Oligarchen und
Mitbegründer des Rates der Vierhundert wurde er nach dem Mißlingen der
Staatsumwälzung von seinen Gegnern des Landesverrates angeklagt und
zum Tod verurteilt (411).«) Er war als Redner in der Volksversammlung
nicht aufgetreten, auch von seiner Tätigkeit als Lehrer der Beredsamkeit*)
*) Über das Verzeichnis M. H. E. Meier,
Opusc.1 120 ff. und besonders W. Studemund,
Herrn. 2 (1867) 484 ff., wo die abweichenden
Angaben über die Zahl der Reden bei Ps.-
Plutarch-Photios und einem anonymen, in
mehreren Handschriften erhaltenen Verzeich-
nis der zehn Redner und ihrer Werke er-
örtert sind. Die erste bestimmte Kunde von
dem Kanon haben wir bei Gäcilius (in der
Zeit des Augustus), der eine Schrift Jirgi rov
Xagaxxijgog kuv Sf.xa qtjtöomv schrieb. Daß
er aber von den Pergamenem ausging, sucht
J. Bbzoska, De canone decem oratorum atti-
corum, Bresl. Diss. 1883, in apagogischer Art
zu beweisen. Dagegen lassen R. Weise,
Quaestiones Caecilianae, Berl. 1888, und P.
Hartmann, De canone decem oratorum, Gott.
1891, den Kanon erst von Gäcilius ausgehen.
Die These von Wilamowitz (Textgesch. der
griech. Lyriker 63 ff.), daß die Alexandriner-
zeit mehr als die zehn Redner nicht gekannt
habe, von einem Kanon, d. h. einer Auswahl
also nicht geredet werden könne, wird durch
das von W. selbst 67 — 69 Vorgebrachte wider-
legt. Der mangelhaften Echtheitskritik der
Alten, von der Dionys. Hai. de Din. den
besten Begriff gibt, verdanken wir, daß eine
Anzahl unechter Reden in die Sammlungen
des Antiphon, Lysias und Demosthenes auf-
genommen worden sind. Wir kennen also
auch einige rednerischen Werke dieser Zeit,
die nicht von einem der zehn, sondern von
anderen teils unbenennbaren (Ps.Antiph. Te-
tral., Ps.Lys. 6. 15. 20, Verschiedenes im
Gorp. Demosth.) teils benennbaren (Hegesip-
pos. d. h. Ps.Dem. 7, Apollodoros) Verfassern
stammen.
«) Außer Ps Plutarch Vit. X or. und Pho-
I tios, Philostr. vit. soph. I 15 und Suidas dient
I als Quelle ein wesentlich auf Ps.Plutarch
I zurückgehendes Fevog *AvTi(pu)yTog unserer
; Handschriften. D. Ruhnken, Dissertatio de
Antiphonte oratore Att., Opusc. (Leiden 1807)
214—256. — Von dem Redner Antiphon wird
der Sophist Antiphon unterschieden, über den
H. Sauppe, De Antiphonte sophista, Ausgew.
Schriften, 508 ff. Die Unterscheidung des So-
^ phisten von dem Redner stützt der Rhetor
Hermogenes de id. II 11. 7 p. 414 Sp. haupt-
sächlich auf Unterschiede des Stils. Die
Fragmente des Sophisten, von dem es eine
erkenntnistheoretische {\4?,i]&eia) und eine
ethisch-politische {'OfÄovoia) Schrift, außerdem
ein Traumbuch {Ttegi xgiaeoyg 6veIoo>v) gab
(ein IloXiupcog gehört wohl dem Rhanmusier),
neubearbeitet von H. Diels, Fragm. d. Vor-
sokr.* 550—562. K. JoSls (Der echte und der
xenoph. Sokr. II 638 ff.) Versuch, den Redner
und den Sophisten zu identifizieren, ist miß-
lungen; aber das Stück aus lambl. Protr. 20,
das F. Blaß dem Sophisten Ant. zugewiesen hat,
bleibt bis auf weiteres besser anonym (Diels,
Vorsokr.i 577 ff.; JofiL a. a. 0. II 673 ff.).
») Thuc. VIII 68: 'AyiKpwv tjv drijQ 'A^-
vaicov Td>v xad* eavToy dgerf} te ovdeva; vote-
Qog xai fcgdriaTog ev&vfjirj&fjvai yerofisvog xai
ä «r yvoiti ebteXv, xai eg fin' örjuov ov noQiiov
ovd* ig nllov dyibva fxoraiog ovdfva, o/./,*
VTionxoyg T<h :i).r)Oei did Öo^av deivortjTog dta-
xsifievog, zovg fjEtnroi dycovtCofievovg xai ev
dtxaazrigio} xai n' ^f'ifto) Jt/^eiora elg dyijg ooxig
^vfißov/.eraaiTo ri Svrdftevog oxpeXeir.
*) Plat. Menex. 236 a. Siehe a. o. S.453, 9.
Von einer dem Antiphon untergeschobenen
QfjTooixij iF-xv^j Stellen bei L. Spenoel, ^way.
xexv, p. 115—8.
3. Die Beredsamkeit, b) Antiphon nnd Andokides.
9.)
519
läßt sich nicht viel Sicheres nachweisen. Von der Komödie wird er unseres
Wissens zuerst um 420 angegriffen, i) ist also vorher wohl wenig hervor-
getreten.*) Sein eigentliches Feld fand er in der Advokatentätigkeit, die er
gegen Entgelt ausübte.*) In eigener Sache war Antiphon wenigstens einmal
bei jenem Hochverratsprozeß aufgetreten; die Alten hatten noch seine
Verteidigungsrede :i€ol ^letaotdoewg oder über die Verfassungsändenmg,*)
aus der uns ein Stück jetzt auch aus einem in Genf befindlichen Papyrus
des 2. Jahrhunderts n. Chr. (s. unten A. 2) bekannt geworden ist.
Unter Antiphons Namen waren sechzig Reden in Umlauf, von denen
Cäcilius fünfundzwanzig für unecht erklärte. Auf uns gekonmien sind nur
fünfzehn, lauter Reden in Mordsachen {dixai (povixal); man hat also den
Antiphon als eine Hauptautorität im Kriminalrecht, wie später den Isaios
in Erbschaftssachen, angesehen. Von jenen fünfzehn Reden sind zwölf
bloß skizzierte Musterschablonen in drei fingierten Rechtsfallen (unerwie-
sener Mord (povog (biaQdarjjuog^ unfreiwilliger Totschlag q?6vog äxovaiog^^)
Körperverletzung in der Notwehr mit nachgefolgtem Tod q)6vog dtxatog)^
80 angelegt, daß immer je vier (Anklage, Verteidigung, Replik, Gegen-
replik) zu einer Tetralogie zusammengehören.^) Die drei größeren Reden
sind: xaxxjyooia (paofxaxeiag xatä x^g ju}]Tovtäg (1), Jiegi xov 'Hgcodov q^ovov (5),
negi xov ypQEvxov (6). Die vorzüglichste und als solche schon von den Alten
anerkannte ist zweifellos die zweite, mit der sich ein gewisser Euxitheos^)
gegen die Anschuldigung verteidigt, den auf einer Fahrt mit ihm von
1) Plat. com. fr. 103 K.
*) Das wird bestätigt durch den Genfer
Papyrus (J. Nicole, L'apologio d' Antiphon,
Genf-Basel 1907, j». 19 f.), zu dessen Texther-
stellung vgl. Th. Thalheim, Berl. phil. Woch.
27 (1907) 1505 ff.
») J. Nicole a. a. 0. 20, 25 f.
*) Arist. eth. Eud. III 5 p. 1232b 6.
*) Der Fall von Tetr. II war Gemein-
platz in den sophistischen Erörterungen über
Fragen des Kriminalrechts (Flut. Per. 36) und
auch Aristot. eth. Nie. 113Äb 11 ff. scheint
ihn im Sinn zu haben.
^) L. Spengels Vermutung, die Tetralo-
gien hätten einen Teil der jexvi} gebildet, die
seit s. IL p. Chr. auf Antiphons Namen zitiert
und von £. Norden (Ant. Kunstpr. 72) un-
richtig dem Sophisten vindiziert wird, ist
schwerlich haltbar; wohl aber können dahin
Antiphons Troooitna und ijit).oyot gehören. Die
Tetralogien haben Eigentümlichkeiten im
sprachlichen Ausdruck, namentlich, wie L.
Spengkl, Rh. Mus. 17 (1862) 167 hervorhob,
häufiges TF . . . Tf . Anstößig ist der öfter vor-
kommende Aorist ane),oyi)Otiv und das ioni-
sche oiöafiew Vgl. F. J. Brückner, De tetra-
logiis Antiphonti Hhamnusio adscriptis. Baut-
zen ly»7. Sprachliche Indizien gegen die
Echtheit sind sonst von H. v. Hebwebdbn,
Mnem. N. S. 9 (1881) 203 ff., vorgebracht.
Auch sachlich-juristische Bedenken erheben
W. DiTTENBEROER, Herm. 31 (1896) 271 ff.
und 32 (1897) 1 ff., E.Szanto, Archäol.-epigr.
Mitteil, aus Österr.-Ungam 19 (1896) 71 ff.
Nachdem Dittenberoer, Herm. 40 (1905)
450 ff , seine Unechterklärung gegen F. Blass
(Att. Bereds. P 151 ff., UI 2' 863 ff.) und J.
H. Lipsius (Ber. der sächs. Ges. der Wiss.
56, 1904. 192 ff.) verteidigt hat, kann im all-
gemeinen gesagt werden, daß die sachlichen
Bedenken nicht genügen würden, die Echt-
heit auszuschließen, die sprachlichen aber in
voller Schwere bestehen bleiben (die letzteren
sind neuerdings vermehrt durch Beobachtun-
gen von K. Fuhr, Berl. phil. Woch. 22, 1902,
872; R. S. Radford, Personification and the
use of abstracte subjects in the attic orators
and Thucyd., Baltimore 1901). Für die Echt-
heit haben sich 0. Navarre, Essai 147 f., H.
Richard, Class. rev. 20 (1906) 148 ff., W. Ro-
senthal, De Antiph. in particular. usu pro-
priet.. Rostocker Diss. Leipz. 1894, ausge-
sprochen, auch E. Rohde (Psyche IP 436 A.)
hat frühere Zweifel zmlickgenommen. Ter-
minus post quem ist jedenfalls 428 (vgl. lß\2
mit Thuc. III 19, 1). aber Altertümlichkeiten
der Anschauung (H. Meuss, Jahrbb. f. cl.
Phil. 139, 1889, «08 f.) verbieten über 400 her-
abzugehen. Eine eigentümliche Auffassung,
als ob die Tetr. Exemplifikationen einer neuen
rechtsphilosoph. Theorie wären, vertritt E.
SzANTO, Ausgew. Abb., Tüb. 1906, 114 ff.
^) Euxitheos genannt von Sopatros, Rhet.
gr. IV 316 Walz (H. Meuss, De ajtayioyijg
520 Grieohische Litfceratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
Mytilene nach Ainos spurlos verschwundenen Kleruchen Herodes ermordet
zu haben. 1) Interessant ist auch der erste Rechtsfall, in dem ein unehe-
licher Sohn gegen seine Stiefmutter wegen eines ihrem Mann gereichten
Liebestrankes klagend auftritt; die Stellung der Erzählung (dirjytjaig) mitten
zwischen den Beweisen und der Mangel einer eigentlichen Peroratio haben
ohne Grund Anstoß erregt und Zweifel an der Echtheit der Rede hervor-
gerufen.*) Auch die Rede negl xov ^ooevrov^) gehört zu den Eriminal-
reden, da darin ein Chorege gegen den Vorwurf, an dem Tod eines Knaben
seines Chors schuld zu sein, verteidigt wird. Der Stil des Antiphon zeigt
noch die Strenge und schlichte Einfachheit der alten Zeit; aber in der
geradezu aufdringlichen Verstandesmäßigkeit der Beweisführung, die frei-
lich hie und da mit Tönen altertümlich religiöser Feierlichkeit eigentümlich
gemischt ist, in gewissen gorgianischen Spielereien, in dem ebenmäßigen
Satzbau, der seine Reden denen des Thukydides gegenüber auszeichnet,
und in der häufigen Wiederkehr von Gemeinplätzen und Sentenzen erkennt
man den Einfluß dialektisch-rhetorischer Schule. Eine Eigentümlichkeit
seiner Reden, die Br. Keil*) schwerlich richtig mit dem Gesetze jui] övojuaoü
xiojucpdeJv in Verbindung gebracht hat, besteht darin, daß die Namen der
in dem Prozeß irgendwie kompromittierten Personen in der Regel nicht
angegeben werden. Dies steht in Zusammenhang mit der ünpersönlich-
keit der Behandlung überhaupt: es fehlen alle individualisierenden Charakter-
züge,*) Ethopoie ist dem Redner noch terra incognita.^) Die Art der
Beweisführung ist so sophistisch als möglich; mit Verdrehungen, Unter-
drückungen, Schlüssen auf Grund unvollständiger Prämissen wird skrupellos
gearbeitet. Sehr bezeichnend ist in dem Fragment der Apologie Antiphons
Versuch, den Verdacht einer Mitwirkung bei dem Staatsstreich im Jahr 411
durch Hinweis darauf zu beseitigen, daß unter der Demokratie seine Advokaten-
praxis viel besser gedeihen könne als unter der Oligarchie (col. 2, 12 flf.).
Ein Element der Frische in der allgemeinen Steifheit der Darstellung ist
das Fehlen fester Dispositionen — nur Proömien haben alle drei Reden,
der Schluß fehlt (aus rhetorischen Gründen) in VI.^) — Wiewohl in den
Kanon aufgenommen, ist Antiphon doch späterhin in den Schulen wenig
gelesen worden; nur die Glossographen exzerpieren ihn noch.*^)
Der Text des Antiphon und der kleinen attischen Redner überhaupt beruht auf Cod.
Crippsianus des britischen Museums (A) s. XIII und Oxoniensis (N) s. XIV, die zwei selb-
ständige Nachkommen eines nicht mehr erhaltenen Archetypus sind. — Ausgabe mit Kom-
mentar von E. Mätzner, Berol. 1838; von V. Jernstedt, Petersburg 1H80; von F. Blass in
actione apud Athenienses, Breslau 1884 p.27 und B. Keil, Jahrbb. f. cl. Phil. 135 (1887)
und A. BoHLMAKN, Antiphontis de caede ! 89 if.
Herodis oratio, Liegnitz 1886, nach einer An- \ ') Vor 415 setzt sie B. Keil, Herm. 29
deutung in E. Mätzners Antiphonkommentar i (1894) 32 if.; §§1—6 sind aus einer Proömien-
p. 205). Sammlung genommen ( Wilamowitz, Berl. Ak.
') Gehalten geraume Zeit nach der Ein- ' Sitz.ber. 1900, 398 if).
nähme von Mytilene (427), als die Seemacht *) a. a. 0. 101.
der Athener noch nicht erschüttert war, um j ^) I. Bruns, Litt. Poi-tr. 430 ff.
417; s. F. Blass I^ 178. über die Rechts- i «) Gut bemerkt O. Navarre, Essai 115,
Verhältnisse in or. V A. Böckh, Staatshaush. kein Redner habe je mit solcher Kunst über
P 479 f. seine künstlerische Unfähigkeit geklagt, wie
'') Gegen die Ausstellungen von Mätzner Ant. im Anfang von or. V.
und Blaß wird die Rede in Schutz genommen ') A. Reuter. Herm. 38 (1903) 481 ff.
von Wilamowitz, Herm. 22 (1887) 194 flf. | ») B. Keil, Herm. 29 (1894) 32 f.
3. Die Beredsamkeit, b) Antiphon und Andokides. (§ 290.) 521
Bibl. Teubn. 1871; 2. A. 1881. — F. Ignatius, De Antiphontis Rhamn. elocutione, Gott. 1882;
Ch. L. f. Cücükl, Essai sur la langue et le style d*Antiphon, Paris 1886. Neuere Litteratur be-
sprochen von G. HüTTNEB, Jalu-esb. über die Fortschr. d. kl. Alt.wiss. 46 (1886) 14—23 u. K. Em-
MiNGEB. ebenda 133 (1907) 38—57. Wortindex von Fb. L. v. Cleep, Boston 1895.
290. Andokides, 0 Sohn des Leogoras aus Kydathenai, Sprosse des
alten Geschlechts der Krjgvxeg^^) ist der kunstloseste der in den Kanon
aufgenommenen Redner, aber eben dadurch ein eigenartiger und inter-
essanter Typus. Er trat weder als Lehrer der Beredsamkeit auf, noch
trieb er als Logograph eine Sachwalterpraxis; die wenigen Reden, die wir
von ihm kennen, hat er alle in eigener Sache gehalten. Geboren nicht
viel vor 440 '') und als junger Mensch Mitglied des politischen Klubs (haigia)
eines gewissen Euphiletos und Verfasser eines Pamphlets Jigog lovg hai-
001'?,*) führte er ein unstetes Leben seit der Zeit des Hermokopiden-
prozesses (415), wo er in der Hoffnung auf eigene Straflosigkeit sich zur
Denunziation seiner Genossen herbeiließ, hintendrein aber doch von Markt
und Opfer ausgeschlossen wurde. •'^) Er verließ daher seine Vaterstadt und
kehrte, nachdem er zuerst 411, dann 407 (in diesem Jahr ist die Rede
jT€ol rfjg iavTov xa&odov gehalten) vergebliche Versuche gemacht hatte,
sich durch billige Lieferung von Schiflfsmaterialien bei den Athenern be-
liebt zu machen, erst 402 unter dem Schutz der allgemeinen Amnestie
nach Athen zurück. Aber auch jetzt noch wurden ihm Chikanen be-
reitet, indem ihn im Jahr 399 der Demagoge Kephisios wegen un-
befugter Teilnahme an den Mysterien durch eine evdei^ig anklagte. Aber
diesmal sprach ihn der aus Mysten zusammengesetzte Gerichtshof frei,
und er wurde sogar 392/91 im korinthischen Krieg mit der Mission be-
traut, über den Frieden mit Sparta zu unterhandeln. '') Aber die Unter-
handlungen erregten in Athen solche Verstimmung J) daß er selbst infolge-
dessen von neuem ins Exil wandern mußte. Während seiner wiederholten Ab-
wesenheit von Athen war es ihm indessen gelungen, durch Handelsgeschäfte
großen Reichtum zu erwerben, so daß er durch glänzende Ausstattung
eines kyklischen Knabenchores (nach 403) die Augen auf sich zu ziehen
vermochte.®)
Unter dem Namen des Andokides sind vier Reden auf uns gekommen,
und schon die Alten scheinen nicht viel mehr gehabt zu haben. Von
*) Aus dem Altertum ein Kapitel in Ps.-
Plutarch. vit. X orat. und Artikel des Suidas.
Von Neueren F. Vater, Remm Andocidearum
capita IV, I, Berol. 1840; II. III. Jahrbb. f.
•*) Geschrieben nach A. Kirchhoff und
F. Blaß c. 420/18. Letzterer identifiziert sie
mit dem ovfjtßovkevTixog^ der zweimal zitiert
wird.
cl. Phil. Suppl. 9 (1848) 165 ff.; IV. ebenda " *) Thuc. VI 60, 2 nennt ihn, vermutlich
Suppl. 11 (1845) 426 ff.; M. H. E. Meibb, | als noch Lebenden, nicht; Andoc. 1, 25 ff.;
De Andocidis quao vulgo fertur oratione I Ps.Lys. adv. Andoc. 21 ff.
contra Alcibiadem dissert. VI, Halle 1836—42.
Opusc. I 74 ff. ; II 1 flf. J. H. Lipsius in der
Ausgabe des Redners.
■-) Darüber Hellanic. fr. 78; J. Töpfpeb,
Attische Genealogie 83 ff.
^) Ps.Lysias adv. Andoc. 46; Andoc. 2, 7;
Ps.Plutarch p. 885 a setzt seine Gebmt Ol.
78, 1 (468,7), von der falschen Voraussetzung
ausgehend, dafi er mit dem Strategen Ando-
kides (sollte heißen: Drakontides) bei Thuc.
1 51 identisch sei: s. Meier, Opusc. I 96 ff.
*) Datum und nähere Umstände sind jetzt
gesichert durch Philoch. bei Didym. ad De-
mosth. Philipp. (Berliner Klassikertexte 1)
col. 7, 19 ff.
^ ) Philochoros im Argumentum der drit-
ten Rede.
»j Ps.Plutarch p. 835 b stützt sich bei
dieser Angabe auf die Inschrift eines Drei-
fußes; bezeugt ist die Liturgie durch die In-
schrift in CIA II 553, 21.
522
Ghriechiache Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
diesen vier Reden, Tiegl rcbv fxvoxriQiwv (gehalten 399), tuqI Ttjg iavrov
xa'&odov (gehalten 407), neoi xrjg nobg Aaxedaijuoviovg elgi^vrjg (gehalten
391), xaTci 'Ahcißiddovy sind die zwei ersten unzweifelhaft echt. Die Ver-
anlassungen, bei denen sie gehalten wurden, sind bereits erwähnt; sie sind
für Kenntnis des Mysterienwesens und der Parteiverhältnisse in der letzten
Zeit des peloponnesischen Krieges äußerst wichtig; der ersten sind auch
Urkunden beigegeben, i) Ein spätes und konfuses Machwerk ist die An-
klagerede gegen Andokides in der Mysteriensache, die als sechste unter
den Reden des Lysias erhalten ist.*) Dasselbe gilt von der vierten Rede
der Andokidessammlung.») Ihr liegt die Voraussetzung zugrund, daß die
Strafe des Ostrakismus einen von den dreien, Nikias, Alkibiades oder den
Sprecher (Phaiax) treffen sollte, und daß nun der Sprecher die drohende
Verbannung von sich auf den Alkibiades abzuwälzen suchte. Die Situa-
tion ist etwa in das Jahr 418 gedacht. Auch die dritte Rede ist be-
anstandet worden,*) namentlich wegen der schweren historischen Veretöße,
an denen die Darstellung der früheren Friedensschlüsse (§§ 3 — 9) leidet.
Aber gerade diese Paragraphen sind wörtlich von Aischines in seine Ge-
sandtschaftsrede (§§ 172 — 5) herübergenommen, imd ihre historischen Irr-
tümer müßten bei einem späteren Fälscher noch mehr als bei einem un-
gelehrten Praktiker des 5. Jahrhunderts befremden. Einen entwickelten
Kunstchai'akter zeigen die Reden des Andokides nicht; sie entbehren be-
sonders der Kunst berechneter Ökonomie sowie des Figurenschmuckes und
leiden an Weitschweifigkeit; am meisten Lob vordient die Frische und
*) Die Echtheit verteidigt Joh. Dboysen,
De Demophanti Patroclidis Tisameni popu-
liscitis quae inserta sunt Andocidis orationi
.T€()i jiivaTtigiüJv, Diss. Berl. 1873.
^) Dai3 die ps.lysianische Rede 6 nicht für
die gerichtliche Anklage geschrieben sei, sucht
zu erweisen Val. Schneider. Ps.Lysias ;^«t*
'Avdoxidov doEßein?^ Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl.
27 (1902) 352—72. Wiewohl sie einiges ge-
schichtlich Brauchbare enthält, kann sie nicht
dem 4. Jahrh. angehören, auch nicht als eine
nach dem Prozeß geschriebene Invektive, wie
nach J. H. Lipsius' Vorgang W. Weber, De
Lysiae q. f. contra Andoc. or. VI., Leipzig
1900 meint; völlig bodenlos ist die Idee von
E. Drerup (Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl. 27, 1902,
339 ff.), sie dem Theodoros von Byzantion
zuzuschreiben. Sie braucht nicht lange vor
Harpokration, der sie als erster zitiert, ent-
standen zu sein ; für die richtigen historischen
Daten kann Dionys. Hai. de Andoc. Quelle
gewesen sein. Als Sprecher ist ein Eumol-
pide gedacht (§ 54).
*j Die Unechtheit zuerst aufgedeckt von
J. Taylor. Lectiones Lysiacae (in J J. Reis-
kes Or. gr. VI, Leipzig 1772) c. 6; gegen-
über inzwischen erhobenen Zweifeln streng
bewiesen von M. H. E. Meier, Opusc. I 74 ff.
Andokides war damals (41Si als Politiker
noch unbekannt; er schrieb überhaupt nicht
Reden für andere, und beim Scherbengencht
wurden gar keine Reden gehalten. Nach Ath.
408 c wurde die Rede von anderen dem Lysias
zugeschrieben. Die sprachlichen Besonder-
heiten beleuchtet A. S. Kilpeläinen, Quaest
Andoc. cum specimine lexici, Helsingfors 1900.
E. Drerup, Jahrbb. f. Phil. Suppl. 27 (1902)
328 nimmt, um die Echtheit der Rede auf-
recht zu erhalten, zu der Annahme seine Zu-
flucht, daß Andokides sie erst in späterer
Zeit, nach 891, als Invektive gegen Alki-
biades verfaßt habe, ist aber völlig zuiilck-
gewiesen von K. Fuhr, Berl. philol. Woch.
23 (1903) 411 ff. I. Brüns, Litt. Portr. 514 ff.,
sieht in ihr ein in Form einer Invektive ge-
kleidetes Enkomion des Alkibiades und stellt
sie in die Gruppe der pro und contra Alki-
biades geschriebenen Schriften (Isoer. 16;
Lys. 14). Sachlich und stilistisch steht nichts
im Weg, sie, wie Bruns und Blaß tun, in das
4. Jahrh. zu setzen.
*) Gegen die Echtheit erklärt sich schon
Dionysios in der Hypothesis der Rede; für
die Echtheit tritt mit überzeugenden Gründen
ein F. Blass, Att. Bereds. I^ 329 ff. Das
attische Publikum, über dessen Vergeßlich-
keit sich die Redner mehrfach beklairen
(Ps.Dem. 7. 18; Dem. 18. 138; Lys. 34.*' 2;
A. Schäfer, Demosth. IP 198, 56; auch dem
Demosthenes kommen 23, 205 ähnliche Dinge
vor), merkte die Schnitzer schwerlich.
3. Die Beredsamkeit, c) Lysias und iBaios. (§ 291.) 523
Anschaulichkeit der Erzählung, während die logische Schärfe der Beweis-
führung sehr zurücktritt.^)
Die Textüberlieferung ist die gleiche wie bei Antiphon. — Sonderausgaben von
C. Schiller, Lips. 1835: von J. H. Lipsiüs, Lips. 1888. Textausgabe der Bibl. Teubn. von
BLASS (3. Aufl. 1906). — S. A. Nabeb, Mnem. 3 (1854) 66 ff., wollte sämtliche Reden des Ando-
kides der Schule des Isokrates zuweisen. Zum Sprachgebrauch M. H. Mobgajt, Harvard Studies
in class. philol. 2 (1891) 57 ff.; L. L. Fobman, Index Andoc. Lycurg. Dinarch., Oxf. 1897.
c) Lysias und Isaios.
291. Lysias und Isaios stehen in diesem Abschnitt als die Haupt-
vertreter der gerichtlichen Redeschreibekunst zusammen. Beide waren
Fremde und konnten deshalb in Athen nicht als Staatsredner oder auch
nur vor Gericht außer in eigener Sache auftreten. Aber beide waren die
berühmtesten Sachwalter ihrer Zeit, und beide haben, wenn auch nicht in
Athen geboren, den Ton der attischen Rede in mustergültiger Weise ge-
troffen.
Lysias^) war Sohn des Kephalos. Diesen hatte Perikles bewogen,
von Syrakus nach Athen überzusiedeln, wo er dreißig Jahre lang als
Metöke wohnte und mehrere Häuser und eine Schildfabrik mit hundert-
zwanzig Sklaven besaß. In das Haus, das er im Peiraieus hatte, ist die
Szene im Staat Piatons verlegt, der dem Gespräch auch den Lysias, aber als
stumme Person, beiwohnen läßt. Das Geburtsjahr des Lysias läßt sich nicht
mit Bestimmtheit angeben. Die Alten lassen ihn 459/8 unter dem Archen
Philokles geboren sein; aber diese scheinbar so bestimmte Angabe beruht
nur auf unsicherem Schluß. Dionysios wußte nämlich, wahrscheinlich aus
einer Rede des Lysias selbst, daß er fünfzehn Jahre alt mit einem seiner
Brüder nach Thurioi ausgewandert war; indem er nun voraussetzte, daß
diese Auswanderung gleich bei Gründung der Kolonie stattgefunden habe,
kam er auf 444 -|- 15 ^ 459. Aber diese Voraussetzung ist unsicher, da
Lysias erst später nach Thurioi gegangen sein kann. Denn wenn Kephalos
auf Perikles' Veranlassung nach Athen gekommen ist und hier dreißig
Jahre als Metöke gelebt hat (Lys. 12, 4), so kann sein Umzug nach Athen
nicht vor 459, sein Tod nicht vor 429, also die Auswanderung des Lysias
nach Syrakus, die erst nach dem Tod des Kephalos stattfand (Ps.Plut.
vit. X or. 835 d), frühestens 429 gesetzt werden. Sie kann aber auch
schwerUch viel später fallen; denn nach Piaton (Phaedr. 278 e) war Lysias^)
erheblich älter als Isokrates (geb. 436). Demnach ist Lysias um 445 in
Syrakus geboren,*) bald nachher mit seinem Vater nach Athen über-
* ) Bei seiner niederen Einschätzung durch ' xGiv Idiwv svEgyeotcjv (fr. 36 Th.). Aus dem
die alten Eunstrichter (Philostr. vit. soph. Altertum haben wir neben den allgemeinen
p. 72, 13 K.; Hermog. de id. p. 416, 30 Sp.) Quellen die Schrift des Dionysios von Halik.
könnte seine Aufnahme in den Kanon auf- über Lysias. Aus neuerer Zeit J. Taylor in J.
fallen. J. Brzoskas Erklärung derselben ReiskesOr.gr.VI lOOif.; F.Blass, Att.ßereds.
(De canone X orat.) aus einem Kompromiß I P 339 ff.; B Pretzsch, De vitae Lysiae ora-
zwischen attischer u. asianischer Geschmacks- toris temporibus definiendis, Halle Diss. 1881.
richtung ist schief; A. ist immerhin als eigen- ^) Die völlig frei fingiei*te Szenerie von
artiger Typus der Aufnahme wert gewesen. , Piatons Staat I ist nicht geeignet, irgend-
*) Er selbst gibt Material über sein Leben j welchen chronologischen Schlüssen über das
in der erhaltenen Rede gegen Eratosthenes 1 Leben des Lysias als Grundlage zu dienen.
(12) und gab weiteres in der verlorenen ;7€^i ; *) Irrig Cicero Brut 63: est enim AUU
524 Griechische Litteratnrgeschichte. L Elassiache Periode.
gesiedelt, um 429 aber mit seinem älteren Bruder Polemarchos wieder nach
dem Westen, und zwar nach Thurioi, der von Perikles gegründeten und
begünstigten Kolonie, zurückgekehrt. Einen Teil seiner Jugend verlebte
er demnach in ünteritalien, wo er den Unterricht des Teisias in der
Rhetorik genoß und vielleicht auch einige philosophische Anregungen er-
hielt.^) Als aber nach dem unglücklichen Ausgang des sizilischen Feld-
zugs die antiathenische Partei in Thurioi die Oberhand erhielt, kehrte er
wieder nach Athen zurück (412).*) Wahrscheinlich hat er damals als
Übungsstück die fingierte Verteidigungsrede für den Feldherm Nikias mit
ihrem gorgianischen Qekräusel (fr. 191 — 193 Th.) geschrieben;») eine öffent-
liche Rolle als treuer Anhänger der Demokratie hat er erst nach dem
Schluß des peloponnesischen Kriegs gespielt. Das große Vermögen seines
Hauses hatte die Habgier der dreißig Tyrannen gereizt; so wurde,
wie er anschaulich und ergreifend in der Rede gegen Eratosthenes er-
zählt, sein Bruder Polemarchos von den Schergen der Gewalthaber er-
mordet, und er selbst entkam nur mit knapper Not und mit dem Verlust
des größten Teiles seines Vermögens nach Megara. Von hier setzte er
sich mit Thrasybulos in Verbindung und wirkte für die Rückkehr des Demos.
Zm* dankbaren Anerkennung seiner Verdienste beantragte Thrasybulos die
Aufnahme des Metöken unter die athenischen Bürger; aber das Dekret
wurde von Archinos, einem Rivalen des Thrasybulos, wegen eines Form-
fehlers angefochten und annulliert.
Lysias mußte sich also mit der bevorzugten Stellung eines gleich-
steuemden (tooteXi^g) Metöken begnügen.*) Diese erlaubte ihm bald nach
seiner Rückkehr (403) gegen Eratosthenes, den Mörder seines Bruders
Polemarchos, vor Gericht als Ankläger aufzutreten.*) Die Rede ist uns
noch erhalten, sie ist die einzige, die (nach einer alten Beischrift) Lysias
selbst vor Gericht gesprochen hat. Aber schon zuvor hatte er sich mit
technischen Studien über Beredsamkeit beschäftigt. In Piatons Phaidros
begegnet uns Lysias als angesehener Lehrer der Beredsamkeit. Der in
diesen Dialog eingelegte erotische Brief (koyog igomxog^ den er als Muster
seinen Schülern zum Auswendiglernen diktiert hatte,®) ein frostiges Pro-
CU8, quoniam cerie Athenis est et natus et
mortuus et functus omni civium tnunere.
Schwerer wiegt das Urteil des Timaios, des
guten Kenners der sizilischen Verhältnisse,
von dem Cicero an derselben Stelle berichtet:
quamquam 2'imaeus eum quasi Licinia et
Mucia lege repetit Syracusas,
nysios ist ungerechtfertigt.
*) über die Privatverhältnisse des Ly-
sias, namentlich seinen Umgang mit der ife-
täre Metaneira erfahren wir Näheres aus der
ps.demosthenischen Rede gegen Neaira 21 f.
*) Formell handelt es sich hier nicht
um einen MordprozeB, sondern, da Eratosth.
*) Ps.Plutarch p. 835 d: xäxei (seil, h als Beamter die Tötung des Pol. bewirkt
BovQioig) disfietve jraidevöjiuy'Os ^iolqu. Teioiqi \ hatte, um eine Euthynenklage (Bulss, Att.
xai Nixia roig ZvQoxovaioigy xzrjadfievog t* Bereds. 1* 541 f.).
otxt'av xai xh'jQov tvxo)v i:zo?ATSvaaTo suyg •) über den Sti'eit, ob der löyog igont-
K/.€oxoiTov (413/2). Lys. fr. 115 Th. verrät x6g von Lysias selbst herrühre oder von
Kenntnis der empedoklelschen Lehre, freilich Platondem Lysias zugeschrieben sei, F. Blass,
vielleicht nur eines sprichwörtlich gewordenen Att. Bereds. I* 423 flf. Die Echtheit erweisen
Teils derselben. außer Blaß L. Schmidt. Über die lysianische
-) Ps.Plutarch a. 0. nach Dionysios. Rede im plat.Phaedrus,Vhdl.d.l8.Vers.d. Phil.,
S) Theophrastos hielt die Rede für echt Wien 1858, S. 93— 100, und J.Vahlen, Berl.
(Dionys. de Lys. 14); der Zweifel des Dio- | Ak. Sitz.ber. 1903 S. 788— 816. — Ob Piatons
3. Die Beredsamkeit, c) Lysias nnd Isaios. (§ 291.) 525
dukt, ist das einzige, was wir aus dieser Sphäre seiner Tätigkeit noch
besitzen. Indessen soll ihm Theodoros von Byzantion in der Technographie
den Rang abgelaufen haben, wiewohl wir aus der Schilderung in Piatons
Phaidros schließen müssen, da& er auf die attische Jugend auch mit seinen
naiyvia tiefen Eindruck gemacht habe.^) Da zu den naiyvia auch seine
äjioXoyia Zcoxgdxovg^ eine Replik auf Polykrates' xarrjyogia gehört, so muß
die technographische Tätigkeit bis Ende der neunziger Jahre des 4. Jahr-
hunderts gedauert haben. Nach der Wiederherstellung der Demokratie in
Attika wandte er sich mehr und mehr einer anderen Seite rhetorischer
Tätigkeit zu,^) der Logographie.^) Lysias ist der Entdecker der Tatsache
geworden, daß weit mehr Überzeugungskraft als in scharfsinniger ver-
standesmäßiger Beweisführung oder pathetischer Erregung in dem sym-
pathischen Eindruck liege, den der Charakter des Redenden seinen Worten
nach auf die Richter mache, und er ist der Künstler gewesen, seinen
Klienten Worte zu leihen, die diesen Eindruck hervorriefen. Das ist seine
berühmte fj^onoila^ die unter Umständen auch darin sich betätigt, den
wahren Charakter des Klienten zu verhüllen,*) immer aber eine unbegrenzte
Fähigkeit der Akkommodation des Logographen an die Einzelumstände
des Prozesses zeigt und alles Schablonenhafte in Gedanken, Stimmungen
und Worten ausschließt. Das Schlichte (xö äq^ekeg)^ das Einfache (to xa-
^ao6v\ das Klare (ivdgyeia, oacprjveia) gelten den Alten als die Charakter-
züge der lysianischen Rede.^) Mit diesen Eigenschaften verbindet er große
Knappheit und Sachlichkeit des Ausdrucks, ohne doch je dunkel oder
trocken zu werden. Bei allem diesem setzt er eine besondere Kunst darein,
die Kunst, die er auf Denken und Formen wendet, so zu verbergen, daß
alles sich wie selbstverständlich ausnimmt.^) In Anbetracht dessen, daß
er viele Jahre im Westen zugebracht hat, ist die Reinheit seines attischen
Ausdrucks bewundernswert.^) Auf der Höhe seines Könnens zeigt er
sich in der Erzählung. Man kann kaum etwas Anschaulicheres lesen, als
verwerfende Kritik der lysianischen Schrift Polystr. Lysiaca, Diss. phil. Argentor. 5, 1881,
mit der feindseligen Stellung des Lysias gegen | 332 fif.; F. Blass, Att. Bereds. 1* 508 ff.;
die Sokratiker zusammenhängt, die sich in Wilamowitz, Arist. und Athen II 356 ff.;
den zwei Reden gegen Alkibiades den Jün-
geren, namentlich aber in der ehrenrührigen
Anklagerede gegen den Sokratiker Aischmes
kundgab (Th. Gomperz, Griech. Denker II
332 ff.), ist sehr fraglich, da er ja doch auch
eine 'Anoloyia ^ioxodrov? geschrieben hat.
Unter den jFyvai des L. fPs.Plut. vit. X or.
836 b; Suid.i'vgl. Marcellin. ad Heim og. IV
352 W.) sind derartige Stücke zu verstehen.
*) ÖFAroiarry; t(x>v vvr youfpeiov nennt ihn
Phaidros bei Plat. Phaedr. 228 a.
'^} Cicero Brut. 48 nach Aristoteles: Ly-
siam primo profiteri solitum ariem dicendi,
deinde quod Theodorus esset in arte subtilior,
in orationibus ieiunior^ orationes tum scri"
bere aliis cnepisse, artem removisse.
^) Die Privatreden, die uns erhalten sind,
fallen nach 404; die für Polystratos (20),
zwischen 411 und 407 gehalten, ist nicht
lysianisch (s. über sie A. Pohl, De or. pro
1. Brüns, Litt. Portr. 437 f.).
*) I. Bbüns, Litt. Portr. 544 ff. ; W. L. Dk-
VBiEs, Ethopoiia, arhetorical study of the types
of character in the orations of Lysias. Balti-
more 1892; s. a. Cic. or. 70 ff., de or. II 182 ff.
Das Prinzip drückt auch der Komiker Menan-
dros fr. 472 K. aus: xqojioq ea&* 6 nel^wv xou
ÄF.yovTogj ov Xoyog.
^) Aristoteles scheint dieseVorzüge wenig
gewürdigt zu haben; er berücksichtigt den
Lysias fast gar nicht in seiner Rhetorik ; hin-
gegen sagt Dionysios Lys. 2 von ihm : xaiki'
Qog ioTi TTjv eofiffvsiav jzdvv xai rrfg 'Aitixfjg
yXiüTxrjg ägtOTOs xavojv.
«) Dionys. Hai. de Lys. 8; Cic. or. 145
eloquentiatn Uli ipsi qui consecuti sunt, ta-
rnen ea se valere dissitntdant,
^) Dionys. de Lys. 2; einzelne Verstöße
wie die Formayr/oxa kommen freilich vor. Siehe
W. G. RuTHEBFOBD, The new Phrynichus 202.
526
Griechische Litteratnrgeachichte. L Elassiache Periode.
die Erzählung von den schurkenhaften Gewalttaten des Eratosthenes und
seiner Spießgesellen in dem Xoyog xax' ^Egaroa&evovg (vgl. S. 528, 3), oder
von der raffinierten Überlistung des Ehemanns und seiner gerechten Not-
wehr in der änoXoyla neol rov 'EgaToo&evovg <p6vov. Die jedem Einzelfall
genau angepaßte Sachlichkeit der lysianischen Rede zeigt sich auch in
dem Fehlen der Gemeinplätze; Dionysios (de Lys. 17) macht die im ganzen
treffende Bemerkung, daß, wiewohl Lysias so viele Reden geschrieben
habe, doch jedes Proömium sein Eigentümliches habe.^ In ähnlichem Sinn
Favorinus bei Gellius II 15 über das Verhältnis der Redeweise des Piaton
zu der des Lysias: si ex Piatonis oratione verbum aliquod demas mutesve
atque id commodatwsime facias, de elegantia tarnen detraxerisy si ex Lysiae,
de sententm. Kein Wunder also, daß Lysias mit diesen Vorzügen auch
glänzende Erfolge bei den Richtern erzielte, daß er ein vielgesuchter
Rechtsanwalt wurde und mit seiner Redenschreiberei sich ein anständiges
Vermögen erwarb. So begegnen uns denn in den nächsten zwei Dezennien
nach 404 zahlreiche, in einzelnen Jahren sich häufende Reden; die letzte
chronologisch fixierbare, für Pherenikos^,) fällt um 380, und viel länger
wird er wohl auch nicht gelebt haben. ^)
292. Im Altertum waren unter Lysias' Namen vierhundertfünfund-
zwanzig Reden vorhanden; von diesen haben die alten Kritiker zweihundert-
dreiunddreißig als echt anerkannt.*) Auf uns gekommen sind vierunddreißig
Reden und diese nicht alle vollständig und nicht alle von unzweifelhafter
Echtheit,^) überdies Reste erotischer Briefe, ein Genre, das Lysias als erster in
die Litteratur eingeführt zu haben scheint; nicht alle sind so steif rhetorisch
*) Das Lob muß, wie M. H. E. Meier.
Opusc. II 315 nachweist, insofern eingeschränkt
werden, als or. 19 ein schablonenhaftes
Proömium (Andoc. 1, Cratin. fr. 185 K.) hat.
— Auch der politische Standpunkt ist nicht
immer der gleiche, indem Lysias auch hier
sich dem Charakter und den Anschauungen
seiner Klienten anbequemte, wie besonders
die Vergleichung der 21. und 25. Rede lehrt.
*) Dionys. de Lys. 5 : in diese Zeit fällt
auch die erhaltene 26. Rede.
*) In noch spätere Zeit fallen zwei dem
Lysias zugeschriebene Reden für Iphikrates,
deren eine dem Jahr 371. die andere dem
Jahr 354 angehört; aber Dionysios verwarf
beide; s. F. Blass, Att. Bereds. I" 344. Die An-
gaben über das Lebensalter des Lysias diffe-
rieren zwischen 76, 80, 83 Jahren.
*) Die Zahl von 233 echten Reden wird
bei Plutarchos auf Dionysios und Cäcilius
zurückgeführt; außerdem soll nach Photios
p. 489a 35 Bekk. und Suidas sich Paulus
von Germe aus Mysien mit der Kritik der
Echtheit beschäftigt haben.
*) Die elfte Rede ist eine Epitome der
zehnten (die Unechtheit auch der zehnten
suchen K. Herrmann, Zur Echtheitsfrage von
Lys. zehnter Rede, Hannover 1878, und I.
Bruns, Litt. Portr. 460, zu beweisen, ohne
zu überzeugen), die fünfzehnte in demselben
Prozeß wie die vierzehnte und für denselben
Kläger Archestratides, aber nicht von Lysias
gehalten (F. Nowack, Leipz. Stud. 12, 1890,
1 ff., hält die vierzehnte für unecht. Zur Sache
1. Bbüns a. a. O. 494 flf.); über die zwanzigste
pro Polystrato s. o. S. 525, 3. Die Echtheit
der sechsten Rede gegen Andokides (s. o.
S. 522, 2) ebenso wie die der neunten v:i'f,q
rov oToaxicoTov war schon im Altertum (Har-
pokration) mit Recht bezweifelt; für die Echt-
heit der neunten tritt H. Keller, Die Rechts-
frage in Lysias' 9. Rede, Progr. Nürnberg 1894,
ein, doch ist die Rede jedenfalls unbedeutend
und entbehrt der lysianischen Ethopoie und
Klarheit in sachlicher und sprachlicher Bezie-
hung: über ihre Datierung Tii. Thalheim, Berl.
phil. W.schr.28(1908)30ß. Die achte Rede
erregt wegen der Sorgfalt in Vermeidung des
Hiatus Verdacht; s. F. Blass 1« 642 und H.
RöHL, Ztschr. f. Gymn.. 35 (1881) Jahresber.
191 ff. Die einunddreißigste Rede gegen
Philon verdächtigt wegen der vielen Gemein-
plätze und des unlysianischen Sprachgebrauchs
nach dem Vorgang von K. F. Scheibe und Ad.
Büchle (Lys.' Rede gegen Philon, Progr. Dur-
lach 1894) Fr. Vogel, Analecta I Aus griech.
Schriftstellern, Progr. Fürth 1901. Weitere
Einzellitteratur über die Echtheitsfragen ver-
zeichnet zu den einzelnen Reden Th. Thalheim
in seiner Ausg., Leipz. 1901 p. XXXVI ff.
3. Die Beredsamkeit, c) Lysias nnd Isaios. (§ 292.) 527
geformt gewesen wie der einzig ganz erhaltene in Piatons Phaidros. Die
Reden sind größtenteils Gerichtsreden, doch fehlen auch die köyoi ovfÄ-
ßovhvxixoi und imdeixrixoi nicht ganz. Eine Demegorie, wenn auch vielleicht
keine wirklich gehaltene, also wohl ein Pamphlet in Form einer Rede, war
die Rede tieq! tov jutj xaxaXvoat trjv ndxQiov nohxeiav 'A^vrjoi (34), von der
Dionysios ein Bruchstück erhalten hat: geschrieben unmittelbar nach Ver-
treibung der Dreißig (403), tritt sie mit Nachdruck för die Wiederherstel-
lung der vollen unbeschränkten Demokratie gegen den reaktionär-agrari-
schen Antrag des Phormisios ein. — Von den epideiktischen Reden bezieht
sich der Epitaphios (2) auf den korinthischen Krieg, dessen Schluß vermut-
lich (vgl. Plat. Menex.) die Federn der Rhetoren stark in Bewegung gesetzt
hat; die Rede greift aber, wie es zum Stil der attischen bindtpioi gehört,
beim Lob der Vorfahren in die Vorgeschichte Attikas bis auf die Ama-
zonenkämpfe zurück. Der Redner denkt sich in den Anfang des korinthi-
schen Krieges, hält aber die Situation nicht fest.') Lysias konnte als
Metöke die Rede nicht halten. Sie ist aber auch nicht für praktischen
Zweck geschrieben, um von einem anderen gehalten zu werden. 2) Der
^Emtdfpiog war seit Gorgias ein beliebter Gegenstand der Zierberedsam-
keit geworden, und so ist auch dieser nur ein litterarisches Paradestück.
Er verrät Benützung des Thukydides und berührt sich stark mit Isokrates'
Panegyrikos, und zwar allemnach in der Art, daß Isokrates aus dem ^Em-
Td(fiog schöpft, woraus sich die Abfassungszeit zwischen 387 und 380 er-
geben würde. Wenn also der Zeit nach'*) Lysias der Verfasser sein könnte,
so ist doch fraglich, ob dieser noch in so späten Jahren epideiktische
Reden geschrieben hat (s. 0. S. 524 f.). Stilistisch ist die Rede natürlich von
den lysianischen Prozeßreden sehr verschieden; die Echtheitsfrage wird in-
dessen davon nicht berührt und könnte nach der stilistisch-sprachlichen
Seite nur entschieden werden, wenn wir noch eine weitere in vollem Sinn
epideiktische Rede des Lysias hätten.*) — Zur Klasse der epideiktischen
Reden gehört zwar auch ^QT^Okvfjmiaxdgi^^), von dem uns ein Fragment mit
den bei solchen Festreden üblichen Phrasen vom einträchtigen Zusammen-
gehen der Griechen gegen ihre Feinde erhalten ist; er ist aber wesentlich
anderer Art als AQv''Emxd(piog; denn er ist wirklich gelesen beim Olympien-
fest 388 und hat eine praktische Spitze, aber nicht gegen den Perser-
könig, sondern gegen Dionysios, den Tyrannen von Syrakus; der Erfolg
') F. BLASS, Att. Bereds. P 437; übri- ' sich auch F. Blass, Att. Bereds. P 437 if.
gens wäre dieses xaxojikaoiov kein entschei- ' aus, glaubt aber, ausgehend von einer Stelle
dendes Anzeichen gegen die Echtheit. | des Theon, Rhet. gr. II 63 Sp., daß die sophi-
*) Daß die erwählten Sprecher der 'Em- I stische Übungsrede in der Zeit des Lysias
xdq)toi Leute waren, die nicht nötig hatten, ' vor dem Panegyrikos des Isokrates entstanden
sich von anderen Reden machen zu lassen, sei. F. Reuss, Rh. Mus. 38(1883) 149, setzt sie
geht aus Thuc. II 34, 6 hervor.
^) Aristot. rhet. p. 1411a 30 meint den
lysianischen T,:nx, (falsch E. Maass, Herrn.
22, 1887. 575).
*) Für die Echtheit tritt ein L. le Beau,
nach Isokr. Areop oder nach 353. E. Wolfp,
Quae ratio intercedat inter Lys. epit. et
Isoer. Paneg., Diss. Berlin 1895, hält Iso-
krates' Rede für das Vorbild und setzt dem-
nach den Ep. zwischen 380 und 371. Die
Lysias' Epitaphios als echt erwiesen, Stuttg. Echtheit bestreitet R. Nitzsche, Über die
1863. Dagegen H. Saüffe in der Rezension, griech. Grabreden der klass. Zeit I (Progr.
Gott. Gel. Anz. 1864 S. 824 ff. = Ausgew. | Altenburg 1901).
Schriften 369 ff. Gegen die Echtheit spricht |
528 Ghriechisohe Litteratnrgeschichte. L Elassische Periode.
war, daß die FestversammluDg über die von Dionysios geschickten Zelte
herfiel und sie plünderte.^) — Ein sophistisches Paradestück war endlich
die &jioXoyia Zwxoaxovs^ bestimmt, die mehrere Jahre nach dem Tod des
Sokrates geschriebene Anklagerede des Sophisten Polykrates zu widerlegen. 2)
Weitaus am wichtigsten für die Kenntnis der künstlerischen Eigen-
art des Lysias sowie der politischen Verhältnisse Athens sind die gericht-
lichen Reden. Voran stehen unter diesen die schon oben berührte, im
Altertum am meisten gelesene'*) Rede 12 gegen Eratosthenes (403) und
die verwandte, ein paar Jahre später gehaltene Rede 13 gegen Agoratos,
ein gemeines Subjekt, das im Dienst der Oligarchen den Tod des Dionyso-
doros und anderer Häupter der Demokratie herbeigeführt hatte. In dieser
bewährt Lysias nicht bloß seine Meisterschaft in lebensvoller Schilderung
des Schreckensregiments, sondern zeigt auch eine besondere Geschicklich-
keit in der kunstvollen Anordnung, indem er den schwächsten Teil, daß
die Anklage erst viele Jahre nach dem Verbrechen und vor dem unstatt-
haften Gerichtshof der Elfmänner angebracht worden war, in die Mitte
zwischen die packende Erzählung und die pathetische Peroratio stellt, ein
Kunstgriff, dessen sich in ähnlicher Weise auch Piaton in der Apologie
und Demosthenes in der Kranzrede bedient haben. — Einen politischen
Hintergrund in den Verhältnissen der dreißig Tyrannen haben auch die
Anklagereden gegen Philon (Sl)-*) und Euandros (26) und die Ver-
teidigungsreden für Mantitheos (16) und einen andern wegen oligarchi-
scher Gesinnung verfolgten Ungenannten (25), die alle vier bei Doki-
masieklagen (Prüfung, ob der ausgeloste Senator oder Beamte die Be-
dingungen zur Übernahme des Amtes erfülle) gehalten wurden. — Auf die
Rechenschaftsablage (eP&vrai) nach Verwaltung des Amtes beziehen sich
die Reden gegen Epikrates (27) und Nikomachos (30); die erste ist
bloß ein kurzer Epilog, in der zweiten handelt es sich um willkürliche
Änderungen, die sich der Angeklagte infolge von Bestechung als dva-
yQacpevg bei der Aufzeichnung von Gesetzen, namentlich von Sakralgesetzen
hatte zu schulden kommen lassen.^) Interessanter noch sind die zwei Reden
gegen den jüngeren Alkibiades (14. 15, gehalten 395/4) wegen Versäumung
militärischer Pflichten (//jioraf/ot'),^) sowie die Rede v:ikQ tcov 'Agiotocpdvovg
XQYjuaT(ov Tzoog xö drjjnoatov (19), und die vorzügliche Deuterologie Jiegl tj)s:
dTjjuEvoEcog Tojv Tov Nixiov ädeXcpov biikoyog (18j, in denen sich der Streit
*) Diodor XIV 109, 3; Dionys. de Lys. | 447: ,Maii kann ohne Übertreibung sagen.
29 ; Ps.Plutarch vit. X or. 886 d. daß es nicht nur in der griechischen, sondern
2) Schol. Aristid p. 320, 4D. Xen. apol. 1 in der Litteratur überhaupt nicht viele Bei-
kann sich auch mit auf diese lysianische spiele einer so vollendeteu Erzählung gibt."
Apologie beziehen ; Isoer. Busir. 4 ignoriert ; *) I. Bruns, Litt. Port. 469 ff.
sie. Die Anekdote, Lysias habe diese Rede *) 0. Gülde, Quaestiones de Lysiae ora-
dem Sokrates angeboten, begegnet zuerst tione in Nicomachmii. Diss. Berlin 1H82.
Cic. de or. 1 231, dann Quint. inst. II 15, 30; ®) In Sachen des jüngeren Alkibiades
Val. Max. IV 6 ext. 2. Daß die Reden des sprach zu dessen Gunsten Isokrates, worül)er
Lysias und Polykrates noch von dem Rhetor j unten S. 587. Siehe a. o. S. 522, 3. Auch in
Libanios in seiner Apologie benutzt wurden, ! Sachen der zeugenlosen {afidorvoo;;) Rede
führt nach einer Andeutung L. Dindorfs aus stand Isokrates auf selten der Gegenpartei;
R. HiRZEL, Rli. Mus. 42 (1887) 239 if. | vgl. E. Dbebup, Jahrbb. für cl. Phil. Suppl.
3) J.MALcinN,DeChoriciiGaz.vet.Graecor. 22 (1896) 352 ff.
scriptstud. (Kiel 1884) 58. I. Bau ks, Litt. Portr. |
3. Die Beredsamkeit, b) Lysias nnd Isaioa. (§ 292.) 529
um Güterkonfiskationen wegen Staatsverbrechen dreht. 0 In die humane
Fürsorge der Athener für erwerbsunfähige Mitbürger gewährt einen erfreu-
lichen Einblick die kleine Rede vTikg xov ädvvdrov (24), mit der ein Krüppel
den Fortbezug der Pension, die Mißgünstige ihm entziehen wollten, von
dem Rat sich erbittet.^) Die Angst der Athener vor der Gefahr einer
Monopolisierung des Getreidehandels in Privathänden veranschaulicht die
24. Rede gegen die Getreidehändler (22), die das Gesetz, das ihnen auf
einmal mehr als fünfzig Trachten (q^ogjuovg) zu kaufen verbot, in den Wind
geschlagen hatten.*) Ein besonderes religionsgeschichtliches Interesse knüpft
sich an die Rede irnkg rov arjxov (7), in welcher der Angeklagte sich
gegen den Vorwurf verteidigt, daß er einen auf seinem Grundstück befind-
lichen heiligen Ölbaum (juogia) ausgerodet und mitsamt der Umzäunung
(arjxog) habe verschwinden lassen. Im übrigen drehen sich viele der Reden
um Bagatellsachen, die nur durch die Art der Behandlung einiges Inter-
esse erregen; eine, ein ovvovaiaorixog (8) von zweifelhafter Echtheit (s. o.
S. 526, 5), hat nur private Zänkereien zum Gegenstand und ist ein in
Redeform gekleideter Absagebrief. Von der am meisten gerühmten Privat-
rede xaTOL Aioyekovog (32) wegen unehrlicher Vormundschaft {imjQOJifjg) sind
uns nur Bruchstücke durch Dionysios überkommen.
Durch seinen ungemein akkommodationsfähigen stilistischen Rela-
tivismus tritt Lysias in Gegensatz zu dem Schöpfer des feierlich ge-
hobenen rednerischen Universalstils, Isokrates, und schon bei Lebzeiten der
beiden Redner scheint der Streit über die vergleichende Wertung der
beiden ausgebrochen zu sein.*) Ende des 4. Jahrhunderts ist man in dem
Bestreben, das Steife zu vermeiden und die lysianische x^Q^^ nachzubilden,
wieder in Ziererei verfallen, und so führt seltsamerweise eine Entwick-
lungslinie von Lysias über Charisios zu dem Begründer des Asianismus,
Hegesias (Cic. Brut. 286). 0) Im Kampf gegen die poetisierende Überladen-
heit und Gedunsenheit der Asianer zitieren dann die Attikisten, insbeson-
dere die gegen Cicero kämpfenden römischen im 1. Jahrhundert v. Chr.,
den Geist der lysianischen loxvorrjg (exilitas), die keine Rhythmen, keinen
Metaphernschwulst kennt; Cäcilius von Kaie Akte erhob ihn gegenüber
von Piatons poetisierender Prosa auf den Schild (jt, vi^k 32, 8). Er gilt nun,
wie besonders Dionysios das in seiner Schrift über Lysias im einzelnen
darlegt, als Muster des schlichten Stils. Die philosophisch beeinflußte
Ästhetik der Kaiserzeit aber stellt ihn gegen Piaton {jt. vy>. 35, 1), die um
*) R. Scholl, Quaestiones iiscales iuris *) Zur sachlichen Erklärung der Rede
attici ex Lysiae orationibus illustratae, Gra-
tulationsschr. der philos. Fak. Greifswald
zu G. F. Schömanns 60jähr. Lehrerjub.. Berl
WiLAMOWiTZ, Aristot. und Athen II 374 ff.
*) Plat. Phaedr. 278 e gab dem Isokr.
den Vorzug, Antisthenes in einer Schrift
1873. Zu der 18. Rede vgl. I. Bbuns, Litt. (Diog. L. VI 15), deren Titel M. Pohlenz,
Portr. 490 f. Herrn. 42 (1907) 157 ff., lesen will ,.Tfo< tcöv
*) Daß die Sache des Verteidigten faul dixoygdq^cov Aeoiag (= Avoiag) rj 'laoyodtpog
war, daß aber doch die Rede nicht, wie A. (= 'looxgdxjjq)*, vielleicht dem Lysias (s. a.
Böckh und I. Bruns angenommen hatten, eine H. Usener, Quaest. Anax., Gott. 1856, 8).
untergeschobene Cbungsrede sei, beweist gut
G. WöBPEL, De Lysiae oratione vjisq xov
u6v%'dxov quaest., Lips. 1901.
"O Bezeichnend ist, daß Rutilius Lupus
in seiner asianisch beeinflußten Figurenlenre
öfter Beispiele aus Lysias heranzieht.
Handbach der klass. Altartamswissenschaft. VII. 5. Aafl. 84
530 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Elassische Periode.
große Formen beflissene zweite Sophistik gegen Demosthenes zurück, i)
Didymos hat, so viel wir wissen, keinen Kommentar zu ihm geschrieben,
und die rhetorischen Kommentare der Kaiserzeit von C. Harpokration,
Zosimos von Gaza, Zenon von Kition, Paulus von Qerme (Suid. s. w.) sind
für uns verschollen. Bezeichnend ist auch, daß der bis jetzt einzige ge-
fundene Lysiaspapyrus (Hibeh pap. I nr. 13) noch der ersten Hälfte des
3. vorchristl. Jahrhunderts angehört. Aus den Artikeln in Valerius Harpo-
krations Rhetorenlexikon sieht man, daß das Interesse der späten Zeit an
ihm wesentlich antiquarisch-historisch war.
Einzige Grundlage des Textes ist für die meisten Reden, wie zuerst H. Saüppe, Epist.
crit. ad God. Hermannum, Leipz. 1841 = Ausgew. Sehr. 80 ff. nachwies, der cod. Palatinus s. XII
in Heidelberg ; er hat eine Lücke, in welcher der Schluß von Rede 5, und der Anfang von
6, und eine größere, in welcher der Schluß von 25, eine ganze Rede xaia Nixiöov und
der Anfang von 26 untergegangen ist. Nur die Reden über Eratosthenes' Mord und der
Epitaphios (1. 2) sind auch noch durch eine andere Quelle auf uns gekommen, die am besten
durch Marcianus F vertreten ist, worüber R. Scholl, Bayr. Ak. Sitz.ber. 1889 II 26—38.
Die übrigen neunundzwanzig Reden gehen auf zwei Sammlungen zurück, von denen die eine
sämtliche Reden nach den ProzeBarten geordnet enthielt und von der die Reden tieoi rgav-
fMTog, doEßeiag, xaxoXoyuov (8 — 11) auf uns gekommen sind, die andere eine Auswahl der
politisch interessantesten Reden umfaßte (12 — 81), unter denen die Rede gegen Eratosthenes
(12) voranstand. 22 neue Fragmente der Rede gegen Theozotides (LIX Thalheim) gibt der
frühptolemäische Hibeh pap. I nr. 18 (dazu K. Führ. Berl. phil. Woch. 26, 1906, 1413 f.); eines
der Rede :^eoi rov diftfi^ogorog rov 6<fdaXfi6v aus dem Hermogeneskommentar des Joh. Diac.
herausg. von H. Rabb, Rh. Mus. 63 (1908) 144.
Hauptausgabe von J. J. Reiske cum annot. Taylori, Marclandi, suis, Lips. 1772,
2 voll. Kritische Textausgabe von C. G. Cobet, Amstel. 1863; in Bibl. Teubn. zuerst von
C. Scheibe, 1868 u. 1887, dann von Th. Thalheik mit kritischem Apparat und Verzeichnis
der neueren Lysiaslitteratur, edit. maior. Leipz. 1901, wozu die gediegene Rezension von K.
Führ. Berl. phil. Woch. 21, 1901, 1508 ff.. 1537 ff. Erklärende Ausgabe ausgewählter Reden
von R. Raüchenstein und K. Fuhr bei Weidmann, von H. Frohberger und Th. Thalheik
bei Teubner mit kritischen Anhang.
293. Isaios,*) Sohn des Diagoras aus Chalkis auf Euboia,«) wurde
von Hermippos unter den Schülern des Isokrates aufgezählt, wirkte aber
so ziemlich zu gleicher Zeit wie jener, um 390 — 350, und hat sich in
seiner Redeweise mehr an Lysias als an Isokrates angelehnt. Beachtens-
wert ist übrigens, daß er den Hiatus sorgfaltig vermeidet, was er jedoch
von Isokrates angenommen haben kann, ohne dessen Schüler gewesen zu
sein. Da er Fremder war, so war ihm die Laufbahn des Staatsredners
versagt, er betätigte sich daher nur als Lehrer der Beredsamkeit und
Logograph. Seine Spezialität waren Erbschaftsangelegenheiten, bei deren
Behandlung er Rechtskenntnis mit geschickter Beweisführung und Anord-
nung verband. Von den vierundsechzig oder, nach Ausscheidung der un-
echten, fünfzig Reden, die er hinterließ, sind nur die koyoi xkrjQixoi auf
uns gekommen, die von dem Privatleben und den Kulturzuständen des da-
maligen Athen sehr anschauliche Bilder geben (vgl. besonders Reden 3.
6. 8; 4, 7 flf. erinnert an den Anfang von Jean Pauls Flegeljahren). Es
M Aristides, der ihn natürlich kennt (or. 1 Bioyo. p. 261 f. und ein Artikel des Harpo-
26 p. 520 D.). erwähnt ihn im zweiten Buch | kration 'JaaTog.
seiner Rhetorik nicht ;Hermogencs(.T./ö.p. 410, j ') Diese Angabe geht nach Suidas auf
20) tut ihn sehr kurz ab ; Moiris zitiert nicht Demetrios Magnes zurück ; wenn er nach an-
aus ihm. ■ dern (Hermippos?) Athener hieß (Dionysios.
^) Außer den gewöhnlichen Quellen | Suidas, yh'og lo.), so bezog sich dies wohl
(Dionys. Hai. de Isaeo, Ps.Plut. vit. X or., i auf die Adoptivheimat.
Suidas) ein yh'og 'loaiov bei A. Westkbmann,
3. Die Beredsamkeit, d) Isokrates. (§§ 293-^294.) 531
waren deren dreizehn, aber durch den Wegfall der Schlußblätter des Codex
archetypus sind uns nur zehn und die Hälfte der elften erhalten. Außer-
dem hat uns Dionysios ein großes, in den Ausgaben an zwölfter Stelle
gednicktes Bruchstück aus einem anderen Rechtsfall aufbewahrt, in dem
ein gewisser Euphiletos gegen die Gemeinde der Erchiäer wegen wider-
rechtlicher Streichung aus der Bürgerliste Appellation einlegt. Die elfte
Rede über die Verlass^nschaft des Hagnias zugunsten des Theopompos hat
dadurch für uns ein besonderes Interesse, daß uns aus demselben Erb-
schaftsprozeß eine pseudodemosthenische Rede (43 gegen Makartatos, den
Sohn des Theopompos) erhalten ist. Die Aufnahme in den Kanon ver-
dankte Isaios neben dem Umstand, daß er als Lehrer des Demosthenes
betrachtet wurde (Dionys. de Isaeo 20), der Subtilität der Beweisführung,
durch die er zu der sachlichen Schlichtheit des Lysias in Gegensatz trat.
Das Verhältnis beider ist von dem Biographen gut mit dem Satz be-
zeichnet, daß Lysias überzeugte, auch wenn er für Ungerechte eintrat,
Isaios Verdacht erregte, auch wenn er für Gute sprach; in der Wirkung
vergleicht Dionysios (de Isaeo 4) die Reden des Lysias mit Zeichnungen,
bei denen die Linienführung alles ist, die des Isaios mit Gemälden, bei
denen Lichter, Schatten und Farben spielen. In der Ethopoie aber kommt
er, so sauber und anschaulich seine Erzählungen sind, dem Lysias nicht
gleich; etwas schablonenhaft wird dem Gegner Geldgier und Hinterlist
vorgeworfen, während der Klient als ein Mann dasteht, der durch selbst-
lose Aufwendungen für das Staatswohl seine edle Gesinnung bekundet.*)
Die Disposition behandelt er mit zielbewußter Freiheit von Schematismus.
Der schlauen Gewandtheit in der Behandlung des Rechtsfalls entspricht
das größere Pathos und die mehr gesuchte Weise der Rede. Auf den
bei Isaios zuerst stark hervortretenden Gebrauch der Sinnfiguren, durch
die wirkliche oder fiktive Erregungszustände ausgedrückt und analoges
Pathos nebst Trübung des ruhigen Urteils beim Hörer bewirkt wird, hat
als auf ein bedeutsames Symptom in der Entwicklung der Redekunst
Cäcilius hingewiesen.^) In dieser Richtung ist Demosthenes fortgeschritten.
Die Atticisten der Kaiaerzeit stellen ihn über Lysias. 5)
Zu neun Reden ist einzige Quelle der Cod. Crippsianus A. — Ausgaben: recogn.
adnot. crit. et comment. adi. G. F. Schömakn, Greifsw. 1831 : rec. H. Bübmakn, Berl. 1883,
wozu textkritische Beiträge in Herrn. 19 (1884) 325 ff. Textausgabe in Bibi. Teubn. von C.
Scheibe, Leipz. 1860, dann Th.Thalh£ik, 1903. Beste Ausgabe mit Kommentar jetzt von W.
Wyse, Cambridge 1904.
d) Isokrates und die sophistische Beredsamkeit.
294. Isokrates (436—338),*) Sohn des Theodoros, eines wohl-
habenden Flötenfabrikanten aus dem Demos Erchia, war geboren nach
^) I. Bruns. Litt. Portr. 532 f. ' or., Photios cod. 260 and Suidas die Spezial-
^) Caecil. fr. 103. 103a Ofenloch; über ■ schrift des Dionysios über Isokrates und
die sittliche Seite der Sache K. 0. Müller, eine anonyme Vita, vielleicht von dem Rhetor
Griech. Litt. IPBlOf.; Longin. in Rhet. Gr. Zosimos, alles zusammengestellt bei A.
l 325, 9 ff. Si>. ; Wbstbrmann. Bioyg, 245—259. Wichtig ist
^) Hermog. :i. id. p. 411, 1 S, Sp.; Isid. | überdies Socraticorum epist. 30. Zur Lebens-
Peius, ep. IV 91 p. 1152 B Mione: öixavi- und Quellenkunde B. Keil. Analecta Isocra-
pcwreoo^ /<fi' 'laoxgdtovg, vyrfXoTEQog de Avoiov. tea, Prag-Leipz. 1885.
Quellen sind außer Ps.Plutarch vit. X
34
*
532 Griechische LitteratnrgeBchichte. L Klassische Periode.
seiner eigenen Angabe de permut. 9 im Jahre 436. Mit aller Sorgfalt
erzogen,') hörte er in den Jünglingsjahren von Philosophen den Prodikos,
von Rednern den Gorgias, Teisias und Theramenes. Mit den Kreisen der
Sokratiker kam er erst etwa zehn Jahre nach Sokrates' Tod in Beziehung,*)
Piaton läßt am Schluß des Phaidros den Sokrates glänzende Erwartungen
von dem jungen Isokrates aussprechen, und der Peripatetiker Praxiphanes
führte in dem Dialog über Dichter den Isokrates alg Gast des Piaton auf
dem Land ein. 3) Aber seine philosophische Neigung ging nicht über ein
in würdevoll schöner und anständiger Form befriedigtes allgemeines Bil-
dungsstreben hinaus, und so fühlte er sich mehr zu der Tätigkeit eines
Redners hingezogen. Anfangs trat er, wie Lysias, als Redenschreiber
(koyoyQdq)0(;) auf; aus dieser seiner Laufbahn sind uns noch sechs Reden
(16—21) aus der Zeit von 402—390 erhalten.*) Aber bald suchte er
infolge von Unannehmlichkeiten, die ihm diese Anwaltspraxis zugezogen
haben soll,^) ein anderes Feld rednerischer Tätigkeit. Von der Beteiligung
an den öffentlichen Kämpfen auf dem Markt und in der Ratsversammlung
hielt ihn eine angeborene Schüchternheit und die Schwäche seiner Stimme
ab; aber zu einem Lehrer der Beredsamkeit glaubte er das Zeug in sich
zu haben. Um 390 also eröffnete er des Erwerbs wegen (15, 161) eine
Schule,^) nach der Angabe des Ps.Plutarch p. 837b zuerst mit neun Schülern
in Chios. Das Programm, mit dem er seine Schule in Athen um 388 er-
öffnete, liegt uns in der Rede gegen die „Sophisten" vor. Er versprach
darin, seine Schüler nicht bloß, soweit sie dazu die Begabung {q?vaig)
hätten, zu Rednern zu bilden, sondern überhaupt in die Bildung und prak-
tische Lebensweisheit einzuführen. Damit trat er als Konkurrent der
Dichter,^) anderer Sophisten und der Philosophen sokratischer Schule auf,
die sich eben damals in Athen etablierten.^) Den Polykrates scheint er
ausgestochen zu haben, und auch der weit gewandtere und geistreichere
Alkidamas, der in der erhaltenen Rede negl rcov ao(pioTO)v dem steifen iso-
kratischen Lehrstil gegenüber das Recht der kecken Improvisation ver-
ficht, kam nicht gegen ihn auf. Unter den Sokratikern kritisiert er be-
sonders, aber ohne Namensnennung, den Antisthenes, so viele Gedanken
') Isoer. 15, 161. (17, 36); der Aiginetikos 391 oder 390 jR.
*) Spuren philosophischer Bildung R. Mende. Prolegomena in Isoer. Aeginet. Diss.
V. ScALA, Jahrbb.f. el. Phil. 143(1891)445if.; ! Lips. 1899 p. 15). Siehe a. E. Drerup, De
sokratiseher Einfluß H. F. Schröder, Quaest. Isocratis orationib. iudieialib. quaest. sei.,
Isoer., Utrecht 1859, und besonders H. Gom- Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl. 22 (1896) 335 ff.
PERZ, Wiener Stud. 27 (1905) 163 ff. ; 28 (1906) ; ^) Cicero Brut. 48 nach Aristoteles: cum
1 flf., der nachweist, wie die Sokratik, nament- i ex eo, quia quasi committeret contra legem
lieh antisthenischer, aber auch platonischer | 'quo quis iudicio circumveniretur\ saepe ipse
Art, seit der Sophistenrede immer stärker auf ' in iudicium rocaretur, orationes aliis desti-
Isokr. abfärbt. Von persönlichen Beziehungen iisse scrihere totumque se ad artes compo-
des Is. zu Sokrates kann (Gomperz a.a. 0.28, nendas transtulisse,
26 f.) keine Rede sein. •) D. h. er wurde ooqtmfjs, wie ihn Auct.
') Diog. L. III 8. ji. vif. 4, 2 nennt. Eine Andeutung der Zeit
*) In die Zeit unmittelbar nach Hei"stel- in der Rede de permut. 195, wonach er die
lung der Demokratie fällt die einundzwan- Programnirede gegen die Sophisten schrieb
zigste Rede {nudoTvgog) gegen Euthynus; der veioTFoo^ xai dx/nuior.
Trapezitikos ist einige Jahre nach Wieder- ") B. Keil. Analecta Isoer. 3 tf.
aufrichtung der athenischen Seemacht oder ®) C. Reinhardt, De Isocratis aemulis,
nach der Schlacht von Knidos (394) gehalten , Bonn 1873.
3. Die Beredsamkeit, d) Isokrates. (§ 294.) 533
er auch späterhin von ihm entlehnt hat. Die von L. Spengel in sehr
bestechender Weise begründete Annahme von einem besonders gespannten
Verhältnis zwischen Isokrat^s und Piaton 1) muß aufgegeben werden; erst
nach Piatons Tod hat Isokrates einige weniger freundliche Seitenblicke auf
ihn geworfen (or. 5, 12; 12, 117 f.). Piaton seinerseits trifft allerdings mit
den scharfen Bemerkungen Euthyd. 304 d einen Typus, den auch Isokrates
vertritt, aber nicht diesen persönlich, und Phaedr. 278 e anerkennt er,
wenn auch mit einiger Reserve, daß unter den Rhetorenschulen damaliger
Zeit die des Isokrates sich verhältnismäßig am meisten dem Ideal der
philosophischen Rhetorik nähere.') Die praktische Wirkung dieser gegen-
seitigen Würdigung wird wohl von H. Gomperz richtig dahin verstanden,
daß die Schüler der Akademie bei Isokrates Rhetorik, die des Isokrates
in der Akademie Philosophie und Fachwissenschaften studieren durften.
Erst als Aristoteles seit 355 eine eigene Rhetorikschule eröffnete, macht
Isokrates gegen ihn und die Sokratik stärkere Ausfälle, zuerst in der Rede
vom Vermögenstausch (15, 258 gegen Aristoteles). InnerUch freilich ist
Isokrates, dem die imoTTJjurj für Chimäre galt (15, 271flf.), der mit Bewußt-
sein im Bereich der do^a blieb und zur Empfehlung der von ihm gelehrten
ägen] anführte (15, 84), daß sie nicht dem Streit der Philosophen sekten
unterworfen, sondern allgemein anerkannt sei, der Lust, Gewinn und Ehre
für die einzigen Motive menschlichen Handelns hielt (15,217), dem Piaton
immer fremd geblieben. Den sittlichen Relativismus der Sophistik hält
Isokrates völlig fest, aber er verheißt seinen Schülern als Frucht seines
rednerischen Unterrichts die leidenschaftslos vornehme Form der Worte
wie des gesamten Auftretens, die für den Redner gewinnt (15, 278), und
das ohne die schwere Mühe fachwissenschaftUcher oder philosophischer
Vertiefung. 3) Diese Versprechungen, die er ohne schwindelhafte Reklame
machte — natürliche Begabung bezeichnete er immer als unerläßliche Be-
dingimg — , der Anspruch, über die Kniffe der rabuUstischen Gerichts-
beredsamkeit weit hinaus zu etwas viel Erhabenerem zu führen (13, 19;
15, 46 ff. 276) und der verhältnismäßig niedere Preis*) des Kurses führten
^) L. Spengels Auffassung (Isokrates und | wird dadurch (268 — 279) zu der gezwungenen,
Piaton, Bayr. Ak. Abhdl. 7, 1855, 729 if. mit auch von E. Pfleiderer schon vorgetragenen
einem Nachtrag im Phüol. 19, 1863, 593 ff.; | Auffassung geführt, die Phaidrosstelle sei
ins Phantastische weitergeführt von F. Dumm- schneidende Ironie gegen Isokr., wobei er
LEK, Akademika, 52 ff.) ist verworfen von Th. übrigens richtig hervorhebt, daß zwischen der
Gomperz, Griech. Denker II 339. 434. 590 f., Auffassung von Rhetorik bei Piaton im Phai-
widerlegt von H. Gomperz, Wiener Stud. dros und der des Isokrates noch immer ein
28 (1906) 27 ff. und B. v. Hagen, Niyn simul- i großer Unterschied sei.
tas intercesserit Isocrati cum Piatone, Diss. | ') 0. Navarre, Essai sur la rh^t. Gr.
Jena 1906. Beide betonen besonders die Tat- 194. 272 f.
Sache, daß Isokrates und Piaton einige ge- ') Der Mathematik und Naturwissenschaft
meinsanie Schüler (Theodektes, Hypereides, , gesteht er einen gewissen propädeutischen
Lykurgos, Philiskos, Isokrates von Apollonia, Wert zu (15, 264 ff.); aber wie Aristoteles
Klearchos) gehabt haben. Man darfauch auf (pol. 1337 b 15) warnt er vor zu grflndlichem
die gemeinsamen Feinde der beiden, Antisthe- Eingehen : die sju^töXatog jiaiöela ist sein Ideal
nes und ZoKlos (Dionvs. ad Pomp. 1, 4. 16; (2, 39; 12, 30 ff.).
Ael. v. h. XI, 10, Suid. s. Zwlkog) verweisen. *) 1000 Drachmen; die großen Sophisten
H. Räder, Piatons philos. Entwickl. 137 f., des 5. Jahrh. nahmen das Drei- und Vier-
hält die Spengelsche Auffassung fest und fache.
534 Qriechische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
ihm eine Menge von Schülern aus allen Teilen Griechenlands, abgesehen
von den westlichen Kolonien, zu. Nicht bloß künftige Redner, sondern
auch solche, die sich der Staatsverwaltung widmen oder nur einen
höheren Grad von Bildung überhaupt sich erwerben wollten, drängten sich
in seine Schule. Cicero de orat. II 94 ^ hat den berühmten Ausspruch ge-
tan: Isocratis e ludo tamquam ex equo Troiano meri principes exierunt^ und
im 3. Jahrhundert v. Chr. schrieb Hermippos ein eigenes Buch negi tcov
'laoxQOTotjg jua^rcov.*) Staatsmänner wie Timotheos und Leodamas nannten
sich seine Schüler; die Historiker Ephoros und Theopompos und der
Tragiker Theodektes hatten aus seiner Schule die Anregung erhalten; die
groiaen Redner der nächsten Zeit, Isaios, Lykurgos, Aischines, Hypereides,
waren durch ihn in die Redekunst eingeführt worden ; mit den bedeutend-
sten und mächtigsten Persönlichkeiten seines Jahrhunderts, mit den Königen
Euagoras von Kypros, Archidamos von Sparta, Philippos von Makedonien
trat er durch seine Schule in Verbindung. Der Kurs dauerte gewöhnlich
drei bis vier Jahre ;^) allmonatlich fand ein Certamen statt; der Preis be-
stand in einem Kranz.*) Dem Unterricht lag eine entwickelte, aber von
Isokrates nicht buchmäßig fixierte^) Theorie {^exvrj) zugrund, von der
manches noch in spätere Lehrbücher der Rhetorik übergegangen ist; die
Hauptsache aber bildeten die zur Einübung vorgelegten Musterbeispiele
und die Anleitung zum Ausarbeiten von Reden und Redeteilen. In der
Geschichte der antiken Pädagogik verdient Isokrates Beachtung als Be-
gründer dessen, was wir Seminarbetrieb nennen, im Gegensatz zu dem
Vorlesungsbetrieb der Sophisten; wahrscheinlich hat in diesem Stück
Sokrates auf ihn eingewirkt.
Am meisten angesehen war indessen Isokrates nicht als Lehrer
der Beredsamkeit, sondern als Verfasser epideiktisch-politischer Reden;
diese sind nicht wirklich von ihm gehalten, sondern nur vorgelesen
worden, ö) hauptsächlich wohl als Schulreden, die den Schülern als
Muster in der Redekunst dienen sollten; si^ wirkten aber als politische
Pamphlete auch auf die weitere Öffentlichkeit') für Isokrates' politisches
Ideal, die Vereinigung aller Hellenen zum gemeinsamen Krieg gegen
die Barbaren; als Träger dieses Ideals dachte er sich zunächst den
spartanisch-athenischen Dualismus — Sparta führt die Land-, Athen die
Seemacht; je mehr aber, zumal im Bundesgenossenkrieg, Athens Seemacht
und in den Zeiten der thebanischen Hegemonie Spartas Landmacht zu-
sammenbrach, desto mehr wird seine Richtung monarchisch — er wendet
sich an die Fürsten, zu denen ihn seine kyprischen Beziehungen zuerst
^) Vgl. Cic. Brut 32: Isocratis dotnus land, Anaxim. 35 if., zeigt den durch Theo-
cunctae Graeciae quasi ludus quidam patuity dektes veruiittelten Einfluß der isokratisclien
atque officina dicendi. Siehe a. Philod. de rhet. Technik auf Anaximenes und Aristoteles,
suppl. 20, 17 SuDH. *) Die Vorlesung besorgte ein dvayvMOTtjg
*) Ath. 342c und 451 e; Dionys. de Isaeo ' jrati (Philod. de rhet. 1 199 Slt)H.); vgl. E.
1; Ps.Plutarch p. 837 c. Roude. Kl. Sehr. I 265. 1.
^) Isoer. 15, 87. ') Siehe A. 3. Daß Isokrates mit seinen
*} Menandros in Rhet. gr. III 398, 11 Sp. Reden bei den auswärtigen Großen betteln
*) Daß Is. keine texvrj geschrieben hat, ging und dieselbe Rede mit kleinen üm-
erweist M. Sheehan, De fide artis rhet. Iso- arbeitungen mehreren antrug, wird ihm vor-
crati tributae, Diss. Bonn 1901; P. Wend- I geworfen epist. Socratic. 30, 13.
8. Die Beredsamkeit, d) Isokrates. (§ 294.) 535
geführt hatten, und bietet ihnen die Führung Griechenlands au: dem
Dionysios I. von Syrakus (wenn ep. I echt ist), dem Archidamos, schließ-
lich dem Philippos von Makedonien; so wird er in aller Gemütsruhe zum
Landesverräter. Die von B. G. Niebuhr inaugurierte tiefe Verachtung des
Isokrates als Politikers ist allerdings insofern nicht gerechtfertigt, als ja
tÄtsächlich vieles so geworden ist, wie er voraussagte.^) Aber ein Real-
politiker ist er freilich nicht gewesen; denn zwei Illusionen lösen einander
bei ihm ab: zuerst glaubt er an die Möglichkeit des Dualismus, ein Ge-
danke, der noch unpraktischer war als ehemals der großdeutsche; dann
macht er sich von der Selbstlosigkeit der Monarchen, die er anruft, ganz
unrichtige Vorstellungen und erwartet offenbar nichts weniger als die
Niedertretung der Staaten des Mutterlandes, die dann erfolgt ist. Es
fehlt ihm der derbe und gesunde Nationalinstinkt des Polis-Bürgers : Athen,
Griechenland sind ihm nur noch Kulturfaktoren, die er als solche hoch
verehrt (Panegyrikos, Panathenaikos) ; aber den heimischen Traditionen in
Verfassung, Religion, Sitte steht er, wiewohl er es einmal (Areopagiticus)
angezeigt findet, das Lob der alten Zeit zu singen, ohne Temperament und
Verständnis gegenüber.*) Nach dem Untergang der spartanischen und
thebanischen Hegemonie konnte, wer an Athens Zukunft nicht mehr
glaubte, allerdings das Aufgeben der inneren Händel und die Zusammen-
fassung aller griechischen Kräfte unter monarchischer Leitung empfehlen,
wie Isokrates getan hat; aber ein attischer Staatsmann, der an den ethi-
schen Fonds seiner Mitbürger glaubte, dem die Überlieferungen seiner
Heimat heilig waren, konnte nur den Weg gehen, den Demosthenes ge-
gangen ist, und mußte den Versuch auf Leben und Tod wagen, die Vor-
macht Athens wieder herzustellen. Insofern ist Demosthenes, in dem sich
das ganze Pathos der altgriechischen Polis noch einmal zusammenballt,
doch mehr als Isokrates Realpolitiker gewesen, wiewohl der Erfolg gegen
ihn war. Isokrates aber mit seinen humanistischen, kosmopolitischen,
monarchischen Neigungen ist neben Xenophon Vorläufer des Hellenismus.
Kurz nach der Schlacht von Chaironeia, welche die Erfüllung seiner
Wünsche in einer übrigens doch vielleicht auch für ihn beängstigenden
Weise einleitete, ist er gestorben, aber gewiß nicht aus Herzeleid;*) wenn
er sich selbst den Tod durch Verweigerung der Nahrungsaufnahme gab,
so wird es geschehen sein, um der ünerträglichkeit seiner Altersleiden
(12, 267) ein Ende zu machen. Er hinterließ einen als Redner und
tragischer Dichter bekannt gewordenen Stiefsohn Aphareus, den ihm seine
Frau Plathane, die er in späten Jahren als Witwe heiratete, aus ihrer
ersten Ehe mit dem Sophisten Hippias zugebracht hatte, und eine Tochter,
*) panath. 171 spielt er ein wenig Kas- ep. II 10, 1 ; VIII 2 ; Liban. or. XI 184 F.) weiter-
sandra. wirkt und überhaupt die ganze hellenistische
2) Besonders bezeichnend ist 12, 153, Weltanschauung beherrscht. — Über Iso-
wo der Unterschied zwischen lakonischer und krates' Anschauungen betr. Staatsverfassung
athenischer Verfassung verwaschen wird. Den s. H. Henkel, Stud. z. Gesch. der griech.
Gegensatz zwischen Hellenen faßt er nicht Lehre v. Staat, Leipz. 1872, 147 ff.
als Kassengegensatz, sondern als Kulturgegen- ') Den sentimentalen Anekdoten (F.Blass,
satz (paneg. 50). eine Idee, die bei Erato- Att. Bereds. II* 96 f.) widerspricht der glaub-
sthenes (Strab. 66) und Späteren (Sidon. Ap. , würdige 3. Isokratesbrief.
536 (hiechische Litteraturgeschichte. L Klasaiflche Periode.
die er mit der Hetäre Lagiske gezeugt hatte. Eine Statue, gefertigt
von dem berühmten Leochares, hatte ihm sein Schüler Timotheos, eine
Büste auf einer Säule sein Stiefsohn Aphareus gesetzt.
295. Von dem litterarischen Nachlaß des Isokrates sind einundzwanzig
Reden und neun Briefe auf uns gekommen; die Alten hatten von echten
Werken schwerlich mehr; Cäcilius erkannte achtundzwanzig, Dionysios
fünfundzwanzig unter den sechzig zirkulierenden Reden als echt an.^) Die
uns erhaltenen Reden, außer denen auch das spätere Altertum keine mehr
von Isokrates gehabt hat, gehörten jedenfalls zu der engeren Auswahl der
beiden Attikisten. Unter die Fälschungen gehört auch eine tixvv^ deren
Reste L. Spengel, ^vvaycoytj xexvcbv p. 154 — 172, sammelt und erläutert.*)
Die erhaltenen Reden stehen in unseren Ausgaben in der Reihenfolge, die
ihnen Hieronymus Wolf gegeben hat,*) voran die paränetischen (drei), dann
die epideiktischen (zwölf), zuletzt die gerichtlichen (sechs). — Zeitlich am
frühesten fallen die sechs gerichtlichen Reden {jieol xov C^vyovg, tga-
TcsCiTixogt :^g6g KaXUfxayov, Alyivrjtixog, xaxä Aoyjtov, Jigog Ev&vvovv\ die,
wie schon bemerkt, zwischen 402 und 390 gehalten oder vielmehr von
Isokrates für andere geschrieben worden sind.*) Von ihnen ist die zweite
eine Synegorie für einen bosporanischen Metöken gegen den Bankier
(TQajieC(Ti]g) Pasion wegen vorenthaltenen Depositums; sie gibt über die
Handelsbeziehungen, die in jener Zeit Athen mit dem bosporanischen Reiche
unterhielt, höchst interessante Aufschlüsse. Die vierte Rede heißt Alyrnj-
nxog, weil sie (in einer Erbschaftsangelegenheit ähnlich der in Isae. 2. Rede)
vor einem aiginetischen Gerichtshof gehalten worden ist; auch sie ist ge-
schichtlich bedeutungsvoll, weil sie ein Bild der trostlosen Zustände auf
den griechischen Inseln gegen das Jahr 390 hin gibt. Die letzte der Ge-
richtsreden, in ihrer heutigen Gestalt nur ein Bruchstück, ist eine Syne-
gorie für Nikias, der berühmte köyog äjudoxvgog^ so genannt, weil in der
Sache keine Zeugen beigebracht werden konnten.*) In dem bezüglichen
*) Umföngliche Fälschungen erwähnt ' mit Erfolg verteidigt von E. Drerup, Jahrbb.
schon Aristoteles (Dionys. de Isoer. 18). und i f. cl. Phil. Suppl. 22 (1896) 355 ff., zugleich
Zosimos (A. Westermakn, ^/oj»^. p. 258, 128) ' mit Aufhellung der verwickelten Rechtsver-
gibt Titel von Xoyoi F.^st^qeoo/tevoi, Die Atti- hältnisse von P. Galle, Beiträge zur Erklä-
kisten nahmen wahrscheinlich Reden und rung der 17. Rede des Isokr. (Trapezitikos)
Briefe unter dem Namen Xoyoi zusammen und und zur Frage der Echtheit, Progr. Zittau
athetierten einige von den Briefen. B. Keil, j 1896.
Anal. Isoer. c. 2 weist nach, daß schon Her- ' ^) Diese Prozeßlage beschäftigte sophi-
mogenes nicht mehr als unsere einundzwanzig I stischen Scharfsinn schon lange (Ar. nub.
Reden, und zwar in der Ordnung unserer 777.1152: Antiph. or. 5; Isoer. 4. 188). Die
Hdschr. hatte. ' Rede ist läppisch in der Beweisführung und
^) Inhaltlich stimmen die Reste mit der i schmeckt nach den Künsten der Schule, aber
Lehre des Isokr. überein. Siehe o. S. 534, 5. | schon das Zeugnis des Aristoteles rhet. 1392b
*) Über ihre Folge in den verschiedenen 11 schützt sie gegen die Angriffe auf ihre
Klassen der Handschriften s. E. Drerup, Kh. Echtheit von E. Drerup a. 0. 364 ff., Berl.
Mus. 51 (1896) 21 ff. ; phil. Woch. 19 {1x99) 7 ff.. Jahrbb. f. cl. Phil.
*) Wie wir aus Dionys. de Isoer. 8 j Suppl. 27 (1902) 333, und K. Münscher, Gott,
sehen, hat Aphareus nach dem Willen des I Gel. Anz. 1907. 77« f. — Wie beliebt diese
Vaters die Autorschaft dieser gerichtliehen Depositumsprozesse als Übungsgegenstände
Reden später verleugnet. Die Echtheit des in den Rhetorensehulen blieben, zeigt der
Trapezitikos, wegen der sprachlichen Beson- von F. G. Kenyon, Melanges Weil 243 ff.,
derheiten und sachlichen Unklarheiten an- ' veröffentlichte Papyrus aus dem 1. Jahrb.
gezweifelt von G. Benseier und Grosse, wird | n. Chr.
3. Die Beredsamkeit, d) Isokrates. (§ 295.)
537
Streit, der um 402 kurz nach Vertreibung der Dreißig zum gerichtlichen
Austrag kam, stand Isokrates dem Lysias gegenüber, und die beiderseitigen
Reden gaben dem Antisthenes Anlaß zu einer gegen Isokrates gerich-
teten Streitschrift Jieol xdfv dixoyQdq)cov f) Avalag xal ^laoxgdrrjg, Jigog tov
Vaoxgdrovg äjLidQtvgov.^) Auch in der Bede Jtegl tov l^evyovg für Alkibiades
den Jüngeren, in der es sich um ein fremdes Gespann 2) handelt, mit dem
der berühmte Alkibiades, der Vater des Angeklagten, in Olympia gesiegt
hatte, trat Isokrates den Kreisen des Lysias feindlich gegenüber, da dieser
zu den Gegnern des Alkibiades, des Freundes der Sokratiker, gehörte und
einige Jahre nach jenem Rechtshandel (395/4) eine uns noch erhaltene
Rede gegen Alkibiades hielt. Isokrates erlaubte sich, bei der Publikation
seiner Rede^) die vor Gericht gehaltene Rede zu erweitern und in sie
überschwengliche Lobpreisungen auf die Verdienste des Alkibiades ein-
zulegen,*) die technisch als Vorläufer des Euagoras interessant sind. —
Einen ganz anderen Charakter trägt die 1812 durch A. Mustoxydis aus
dem Cod. Ambros. 415 vervollständigte Rede Tiegl dvndoaecog. Sie ist
353^) von dem Redner in eigener Sache im zweiundachtzigsten Lebensjahre
geschrieben worden, hat aber von einer Gerichtsrede nur die Form. Ver-
anlaßt war sie durch eine Chikane des Lysimachos, der ihm durch das
Anerbieten des Vermögenstausches die Leistung einer kostspieligen Trier-
archie zuschob. In Athen konnte nämlich einer, dem eine Liturgie zu-
gemutet wurde, einen anderen Bürger, den er für reicher hielt, dadurch
zur Übernahme der Leistung zwingen, daß er ihm für den Fall der Wei-
gerung Vermögenstausch (ävridoatg) anbot. Nun stand Isokrates im Ruf,
sich durch seine Lehrtätigkeit und vornehmen Verbindungen ein enormes
Vermögen erworben zu haben, und daher bot ihm jener Lysimachos zwei-
mal Vermögenstausch an. Darüber kam es zur gerichtlichen Verhandlung,
und beim zweiten Mal mußte sich wirklich Isokrates, wollte er nichts
Schlimmeres über sich ergehen lassen, zur Übernahme der Tierarchie ver-
stehen. Hintendrein schrieb er dann die vorliegende Rede, die längste und
») Diog. L. VI 15. Siehe o. S. 529, 4. Die
Parteinahme des Antisthenes für Lysias er-
kannt von H. UsENEB, Quaest. Anax. 7 ff.,
von demselben in weitere Kombinationen ge-
zogen Rh. Mus. 35 (1880) 135 ff.
-) Auffälligerweise heißt der Eigentümer
des Gespanns in unserer Rede Teisias, bei
Ps.Andokides 4. 26 aber, mit dem Diodor.
13, 74, 3 und Plutarch. Alcib. 12 stimmen,
Diomedes. Vielleicht war, wie der Heraus-
geber Frohberger annimmt, Teisias der Sohn
des Diomedes, wenn nicht der Name Dio-
medes überhaupt auf einem Irrtum beruht.
R. Münsterberg in der Festschr. f. Th. Gom-
perz 298 f. sucht die Schwierigkeit zu lösen
durch die Annahme, die Rosse seien diome-
dischen Geblüts gewesen.
*) Die R^de des Isokrates setzt F. Blass,
Att. Bered. IP 205 in das Jahr 397; sie fÄllt
nach § 40 jedenfalls vor den Wiederaufbau
der Mauern.
*) Vorliebe für Alkibiades verrät Isokr.
auch Busir. 5. I. Brüns, Das litterarische
Porträt S. 495 ff. erweist, daß die Rede des
Isokrates und die Hauptrede des Lysias gegen
Alkibiades (or. 14 § 24 — 29), so wie sie uns
vorliegen, vor Gericht nicht gehalten sein
konnten, sondern litterarische Produktionen
sind. Im Anschluß daran nimmt derselbe,
um die wechselseitige Bezugnahme des Iso-
krates (16, 10. 11. 12. 13) auf Lysias und
des Lysias (14. 32. 37) auf Isokrates zu er-
klären, an, daß einerseits Isokrates, als er
seine Rede veröffentlichte, auf das lysiani-
sche Plaidoyer Bezug nahm, anderseits dem
Lysias, als er die vierzehnte Rede heraus-
gab, die isokratische Publikation bereits vor-
lag. Ähnlich hatte schon Fr. Nowack. De
Isocratis jtfqI tov C^vyovg oratione (XVI) et
Lysiae xat* *AXxiß, priore (XIV). in Comm.
Ribbeck. 463—74 eine nachträgliche Umar-
beitung der Rede des Isokrates angenommen.
*) Das Jahr gibt Isokrates selbst § 9.
538
Qriechische LitteraturgoBchichte« L Klassische Periode.
langweiligste von allen, in der er sich gegen die Mißgunst seiner Mitbürger
zu verteidigen und seine Verdienste in helles Licht zu setzen suchte.^)
Als Aktenstücke über sein eigenes Loben und Denken legt er Teile seiner
früheren Reden ein,*) die den Gang der ohnehin formlosen«) Rede noch
schleppender machen. Die Anklänge der Rede an die Apologie des Piaton
im ganzen und in Einzelheiten sind schon von dem Augsburger Huma-
nisten Hieronymus Wolf bemerkt worden.*)
296. Sophistische Jialyvia und paränetische Reden. Den eigent-
lichen Gerichtsreden stehen der Zeit nach am nächsten die schon erwähnte
Programmrede xarä rcov aoipiatcoVf mit der Isokrates eine feindselige Stel-
lung zunächst gegen die Eristiker vom Schlag des Antisthenes, aber doch
auch gegen die Philosophen überhaupt einnimmt, und die sophistischen
Schulreden auf Bovaeigig und 'Ekivtj,^) zwei durch das Drama populär
gewordene Gestalten. Durch den Buseiris will er seinen Rivalen Polykrates,
durch die Helena seinen Lehrer Gorgias (doch gewiß erst nach dessen
Tod)®) überbieten. — Paränetische Reden sind uns drei als isokratisch
überUefert: der Fürstenspiegel (jigog Nixoxkia)^ gerichtet an Nikokles,
den Sohn des Euagoras, der um 374 seinem Vater in der Herrschaft
über Kypros') gefolgt war (das Thema wird 3, II bezeichnet cbg xQV '^^*"
gawsiv);^) die Mahnrede an die Untertanen des Nikokles, NixoxXfjg be-
titelt, weil sie dem Nikokles selbst in den Mund gelegt ist; die Spnich-
rede an Demonikos, mit dessen Vater der Verfasser befreundet sein
will. Alle drei Reden enthalten eine Fülle schöner, zum Teil ohne erkenn-
bares Band aneinandergereihter Sentenzen; aber die letzte wird von Harpo-
kration unter inaxrög ogxog als Werk des Isokrates von ApoUonia zitiert
und enthält auffällige Abweichungen vom isokratischen Sprachgebrauch,
») Eingeflochten ist in die Rede (§ 107
bis 139) eine mit ähnlichem Schematismus
wie Xenoph. Ages. arbeitende Lobrede auf
Timotheos, den berühmten Schüler und Freund
des Isokrates.
*) Über die Abweichungen des Textes
dieser Zitate von dem der ganz erhaltenen
Reden C.Münscheb, Quaest. Isoer., Gött.Diss.
1895.
•) Über Isokrates* Unfähigkeit in dieser
Rede sich selbst zu charakterisieren, I. Bbüns,
Litt. Portr. 526 flf.; über ihre Bedeutung für
die Geschichte der Autobiographie, deren
erstes Specimen sie ist, G. Misch, Gesch.
der Autobiographie I (Leipz. und Berlin 1907)
90 ff.
*) Siehe jetzt die Zusammenstellung von
H. GoMPERz, Wiener Stud. 28 (1906) 1 ff.
^) Den vollständigeren Titel 'E),ivtfg fy-
fccüutor hatte nach § 14 die Rede des Gor-
gias. Th. Berok, Fünf Abhandl. z. Gesch. der
Philos. u. Astronomie, herausg. von G. Hin-
RicHS, Leipz. 1883 S. 34 rückt diese Rede,
weil in ihr Antisthenes als gealtert bezeich-
net werde, in spätere Zeit herab; ebenso
setzt sie B. Keil, Anal. Isoer. p. 6 um das
J. 366. F. BLASS, Att. Bereds. I* 47 f. geht
mit Recht erheblich weiter hinauf, wenn auch
das J. 393 zu früh sein dürfte. W. Judeich,
Eleinasiatische Studien, Marburg, 1892 S. 156,
tritt für 385 ein; ebenso G Thiele, Herrn. 36
(1901) 253 ff., und K. Münscher, Rh. Mus. 54
(1899) 248 ff. Der Buseiris kann von der Helena
nicht weit abgerückt werden und ist von W.
Judeich a. a. 0. 152 ff., wiewohl auf Grund
eines nicht ganz sicheren Indiziums, c. 387
richtig angesetzt. Der Ansatz von H. Gom-
PERZ (Wiener Stud. 27, 1905, 192 ff.) c. 372 ist
unmöglich und beruht auf der irrigen Vor-
aussetzimg von einer sehr weitgehenden Be-
nützung des platonischen Staats im Bus. (§17
kann sich auf Pythagoreer beziehen).
^) Gegen die Sophisten und Philosophen
überhaupt ist insbesondere das Proömium der
Helena §§ 1 — 15 gerichtet, durch das sich
entschieden auch Piaton beleidigt fühlen
I mußte. Siehe H. Gomperz, Wiener Stud. 27
(1905) 174 ff.
") Geschichte des kyprischen Fürsten-
hauses bei W. Judeich a. a. 0. 113 — 136.
") über die verkürzte Textfassung, in
der Stellen der Rede ad Nie. in der Rede
Tiegi dvTi<)uoe(oc: zitiert werden, s. K. Mün-
scher, Gott. Gel. Anz. 1907, 775 ff.
3. Die Beredsamkeit, d) Isokrates.
296-297.)
539
so daß an Echtheit nicht gedacht werden kann.i) Sie ist uns aber als
erste Probe der Ersetzung der alten poetischen vno^xai in elegischer
Form durch ein prosaisches Sentenzenbuch sehr interessant. Sie vertritt,
mit einer kynischen Tönung, die Vulgatmoral der gebildeten Stände des
4. Jahrhunderts, in das sie ohne Zweifel noch zu setzen ist, 2) und hat in
der Weltlitteratur später eine wichtige Rolle gespielt.'*) — Mit den Er-
mahnungen an Nikokles hängt die Lobrede auf Euagoras zusammen. Sie
war die erste dieser Gattung, da man zuvor das Gebiet der iyxcojuia auf
Zeitgenossen ganz den Dichtern überlassen hatte.*) In der Entwicklung
der griechischen Rhetorik und Geschichtsschreibung macht dieses iyxcofuov
Epoche als erste Applikation von Isokrates* ästhetischen Grundsätzen auf
einen geschichtlichen, und zwar zeitgeschichtlichen Gegenstand, als Protest
gegen die unpersönliche Geschichtsschreibung des Thukydides, als erste
Festlegung eines Schemas für die Behandlung der Biographie historischer
Größen.^) Geschrieben ist sie nach dem Tod des Euagoras (374) und nach
der Mahnrede an Nikokles (s. 9, 78), längere Zeit vor 360. Von einer
Gegenschrift aus dem 4. Jahrhundert ist ein Rest auf einem Wiener
Papyrus^) erhalten.
297. Große epideiktische Reden. Das Höchste leistet Isokrates
als Redner in den epideiktischen Reden: IlavrjyvQixog, Preisrede auf
Athen, geschrieben im Sinn einer vor dem versammelten Hellenenvolk
(jiavi^yvQig) gehaltenen Festrede im Jahr 380 kurz vor Stiftung des zweiten
Seehundes,*^) das sorgfältigst ausgearbeitete Meisterwerk isokratischer Form-
*) Die von Dionys. Hai. geglaubte Echt-
heit wurde zuerst angefochten von G. Ben-
seier. Die Echtheitsfrage ist seitdem eine
Seeschlange in der philologischen Litteratur
geworden, worüber erschöpfend K. Emmingeb,
Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl. 27 (1902) 373-442.
E. Drerups und Emmingers Ansicht, Theodoros
von Byzantion sei Verfasser, ist ganz unerweis-
lich, ebenso aber P. Wendlands Zuweisung
an Anaximenes von Lampsakos (Anax.
S. 97 flf.).
*) Die Stellung in ethischer Beziehung
hat schon A. Dyropp, Arch. f. Gesch. der
Philos. 12 (1899) 55 if., und Demokritstudien,
Leipz. 1899, 127 fF. im wesentlichen richtig be-
zeichnet. Abhängigkeit der Schrift von einer
älteren Sammlung der Siebenweisensprtiche,
von Theognis, Demokritos, Isokrates, der So-
kratik, Aristoteles* Protreptikos erweist P.
Wendland a. 0. 80 ff.
») Eine syrische Übersetzung publiziert P.
deLagarde, Anal. Syr. Lips. 1858; A. Baum-
stark, Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl. 21 (1894)
438 ff. ; im 4. Jahrb. n. Chr. war das Buch
neben Theognis und Phokylides viel gelesen
(Julian, adv. Christ. 203 Neümann), auch Cho-
rikios zitiert es öfter; im byzantinischen
Mittelalter ist es unter dem Namen Spaneas
in verschiedenen Versionen in vulgärgrie-
chische Verse gebracht worden.
*) Dieses hebt der Redner § 8 mit Stolz
auf die neue Erfindung seiner Weisheit hervor
(s. aber Aristoteles rhet. 1368 a 17 und Wila-
MowiTZ, Herm. 35, 1900, 533 f.) Auch ein iy
xcüfiiov auf Gryllos, den Sohn des Xenophon,
soll er geschrieben haben, nach Diog. L. II 55 :
äXXa xal "Eg/nJiTiog ev xq) Jiegi Seofpgdotov
xai ZmxQdxTj (loongarrj em. M. H. E. Meier,
Opusc. II 287) (prjol rQv)lq) eyxoifiiov yeyQa-
<fEvat. Bei dem Wettstreit der Lobredner auf
Mausollos war nicht er, sondern Isokrates
von Apollonia beteiligt (Gellius X 18, 6 und
Meier a. 0.).
*) F. Leo, Die griech.-röm. Biogr. 92 f.;
L Brüns. Litt. Portr. 115 ff.
«) Mitteil, aus der Samml. der Pap. Erz-
herzog Rainer 2(1887) 79 ff. Auf einen Verfasser
zu raten (C. Wessely: Alkidamas; F. Blass:
Polvkrates) ist nutzlos. B. Keil (Herm. 23,
1888, 389 ff.) setzt das Stück in römische Zeit.
") Das Jahr geht hervor aus § 126; über
die sich daraus ergebende politische Tendenz
der Rede Wilamowitz, Aristot. und Ath. II
380 und E. Drerüp, Philol. 54 (1895) 636 ff.
Festzuhalten ist die zehnjährige Dauer des
kyprischen Kriegs 390 — 81. Diodor gibt den
Anfang (XIV 98), nicht aber den Schluß (XV 8
auf 385) richtig an. Wenn nun 153 so ge-
redet wird, als sei der Krieg beendigt. 134
und 141 aber so. als dauerte er noch, so ist
wohl nicht darüber wegzukommen, daß Iso-
krates die Diskrepanzen des geschichtlicfaen
540 Griechische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
kunst nach Disposition des Stoffs und der Sprache, schon von den Zeit-
genossen angestaunt (Isoer. 5, 11; Aristot. rhet. zitiert die Rede sechzehD-
mal) und ungefähr den Anforderungen des Piaton (Phaedr. 264 c) ent-
sprechend; nXara'Cxog, den Plataiern in den Mund gelegt, die, von den
Thebanern aus Haus und Hof vertrieben, den Schutz der Athener anflehten
(373); ^ÄQxidajLiogj angeblich von dem Kronprinzen Archidamos in der
spartanischen Volksversammlung in einer in das Jahr 365 passenden
Situation gehalten, i) um die Bürger zur Ausdauer in dem Kampf gegen
die thebauische Neugründung Messenien zu bewegen;^) Zvjujuaxixdg fj
Ttegl eioi^vtjg^ Flugschrift aus dem Jahre 357 oder 355, in der Isokrates
der Kriegspart^i des Chares entgegentritt und ein gerechtes Entgegen-
kommen gegen die Bundesgenossen, d. h. im Grunde Aufgebung des atti-
schen Seebundsreiches befürwortet; ^AgeoTiaytrixog^ wahrscheinlich nach
dem Bundesgenossenkrieg um 354 geschrieben zugunsten des Areopags,
indem Isokrates einen Ausweg aus den zerfahrenen Zuständen nur in der
Rückkehr zur alten Verfassung und in der Wiederherstellung des Areopags
sah;8) ^UiJiTiog, Sendschreiben an König Philippos nach Abschluß des
philokratischen Friedens (346), in dem der altersschwache Greis den sieg-
reichen König auffordert, die Städte der Hellenen untereinander zu ver-
söhnen und die Führerrolle im Krieg gegen die Perser zu übernehmen;
IIava&r]vaix6g^ geschrieben 342 — 339, eine Neuauflage des Panegyrikos,*)
in der mit dem Lob Athens gegenüber Sparta die Verherrlichung der
eigenen Kunstrichtung in ermüdender Breite verbunden ist. I. Bruns
nennt die Rede*^) ein Unikum von Stillosigkeit. Sie stellt aber einen
(freilich greisenhaft unbeholfenen) Versuch des Redners dar, von der hoch-
trabenden Vornehmheit seiner eigentlich klassischen Reden zu einem neuen
Stil der schlichten Nonchalance überzugehen (vgl. § 2. 3), wie ihn Xenophon
mit Glück gehandhabt hatte und die Diatribe ihn fortführte.^)
Den Reden sind neun Briefe angefügt, 7) über deren Echtheit das
Standpunktes, die sich aus der sehr lang- ! zwischen 356 und 351.
Samen, stückweisen Ausarbeitung der Rede j ') Über die k^^nisierende Farbe des Areop.
(4, 14; von zehn Jahren redet Tim. bei Auci
JT. ry. 4, 2) erklären, nicht ganz ausgeglichen
hat. Siehe a. J. Mesk, Wiener Stud. 24(1902)
309 ff. G. Friedrich, Jahrbb. f. cl. Phil. 147
H. GoMPERz, Wiener Stud. 27 (1905) 204 ff.
*) Der Titel kommt daher, weil den
Hauptteil der Rede (42 — 99) das Lob Athens
büdet und weü dazu das nahende Fest der
(1893) 21 f. und 155 (1897) 175 f., hilft sich aus Panathenäen (§ 17) Anlaß bot.
den Bedenken, welche die Widersprüche über *) I. Brüns, Litt. Portr. 526. Sprachliche
die Zeit des Feldzugs des Tiribazos erwecken Härten s. F. Blass, Att. Bereds. II* 174, 4.
(paneg. 134 und Diodor XIVllO), mit der An- Das seltsame Abbrechen der Lobrede auf
nähme, daß der Panegyrikos zuerst 385, dann Athen und Anfügen einer ausgleichenden
in einer zweiten Ausgabe 380 veröffentlicht 1 Lobrede auf Sparta sucht aus rhetorischen
worden sei. Gegen Friedrich F. Reuss, Der \ Gründen J. Mesk, Der Panath. des Is., Progr.
isokr. Paneg. und der kj-pr. Krieg, Leipz. 1894. Brunn 1902, aus litterarhistorischen K. Führ.
») Natürlich war die Rede nicht wirk- Berl. philol. Woch. 22 (1902) 1602 zu er-
lich von Archidamos gehalten worden; sie I klären.
wurde von den Alten wegen ihres ethischen ^) Bemerkenswert ist die eigentlich ganz
Gehaltes besonders hoch geschätzt; s.Dionvs. unisokratische .-rof^jiGirjotc axfötaa/nov in den
de Isoer. 9 und Philostr. vit. soph. I 17. ' späten Reden 12^". 88; 15, 140.
^) Gerichtet war die Rede gegen Alki- ; ") Einen zehnten von Theophylaktos her-
damas, der in seinem Meootp'ia?e6g die Partei rührenden Brief haben die Züricher Heraus-
der Messenier ergriff, oder der Meao. ist die geber wieder ausgeschieden.
Antwort auf den'AgxiÖ,; geschrieben ist sie i
3. Die Beredsamkeit, d) Isokrates. (§ 298.) 541
Urteil schwankt, die aber jedenfalls ganz im Stil des Isokrates geschrieben
sind-O Sie sind gerichtet an Dionysios, den Tyrannen von Syrakus, an
König Philippos,*) den jungen Alexandros, an Antipatros, Timotheos (Ty-
rannen von Herakleia), Archidamos, die Kinder des lason von Pherai, die
Archonten von Mytilene. In dem dritten Brief an Philippos, der nach
der Schlacht von Chaironeia geschrieben ist, geht der Schreiber in seiner
Einfalt so weit, auch noch nach der Niederwerfung der Athener von einer
Fuhrerrolle des Königs in einem Perserkrieg zu träumen.^) — Endlich
bewahrte man in den Rhetorenschulen das Andenken an Aussprüche
(äjioip'&iyjuaTa) des Lehrers, darunter den schönen rrjg jiaideiag xi]v /tikv
^'fav elvai nixodvt tov de xaQjrdv yhfxi^v.^)
298. Charakteristik. Die Bedeutung des Isokrates liegt in der
Ausbildung des hohen, leidenschaftslosen Stils.*) Anknüpfend an die
Grundsätze des Thrasymachos und Gorgias,«) dabei die kleinliche, glitzernde
Wirkung des Wortfigurenschmuckes ebenso wie alle Formen der Erregung
und der volkstümlichen Lebhaftigkeit vermeidend, hat er die Prosaperiode
zu ihrer höchsten Ausbildung gebracht. In seinen Perioden stellen sich
satzmäßig zusammengefaßte Gedankenkomplexe sowohl ihrem Abschluß
als auch ihrer inneren Gliederung nach der sinnlichen Wahrnehmung
durch das Ohr mit zuvor nicht gekannter Klarheit und Ebenmäßigkeit
dar; dem Sinn und der Struktur nach unter sich korrespondierenden Satz-
gliedern gibt er etwa gleiche Ausdehnung an Silbenzahl {jidgtaa) oder
macht sie durch Anklänge {nagouoia) kenntlich; um diese Abmessungen
zustandezubringen, versteht er es, die sprachlichen Ausdrucksformen je
nach eurhythmischem Bedarf zu kürzen oder durch umschreibende Wen-
dungen zu dehnen.^) Dabei entfernt er sich nirgends von den eigentlichen
Ausdrücken der gebildeten attischen Umgangssprache und meidet alle
Kühnheiten und Härten der poetischen Bildlichkeit ebenso wie der Wort-
stellung.«) Die Beziehungen der Sätze und Satzteile untereinander werden
*) WiLAMowiTz, Aristoteles und Athen
II 391 ff. erklärt sich für die Echtheit des
ersten, zweiten, fünften, siebenten, achten.
Sämtliche Briefe hält für Fälschungen De-
METBius DE Gratia, De Isocratis quae fe-
runtur epistulis, Catinae 1888. Zu beachten
ist. daß Dionysios Halik. sehr oft Reden,
aber nirgends Briefe des Isokrates anführt.
C. WoYTE, De Isocratis q. f. epistulis. Diss.
Leipz. 1907, erklärt den 8. 4. 6. 9. Brief für
unecht (s. a. K. Münscher, Berl. phil. Woch.
28, 1908, 421 ff.).
^) C. Rehdantz, Gott. Gel. Anz. 1872
S. 1169 ff.; E. Norden, Die antike Kunst-
prosa 113 ff.
«) Cic. or. 174—176; Quint. lU 1, 13;
nicht leicht ist der Rhytiimus der isokrati-
tischen Periodik zu fassen (F. Blass, De nu-
meris Isocrateis, Kiel 1891; K. Münscheb,
Die Rhythmen in Isokr.* Panegyr., Progr.
Ratibor 1908); das demosthenische Kürzen-
gesetz kennt er jedenfalls noch nicht. Verse,
die ihm entschlüpften, wies Hieronymos 30
nach (Cic. or. 190).
*) Von einem Feind des Redners stammt ') W. Höss, De nbertate et abundantia
der dreißigste Brief der Sokratiker, in dem sermonis Isoer., Diss. Freiburg 1892. Cic. or.
das Vertrauen des Philippos zu Isokrates und 37 f. 40 primus instituit dilatare verbis et moU
seiner Schule erschüttert und damit gegen , lioribtis numeris explere sententicts; über die
die isokratische Historiographie angekämpft | Wirkung der jteoiq:Qaoig Auct. -t. vyf. 28, 2
wird. I xa&djteg agfioviay nva ttjv ex rfjg nsQiqQaasoyg
^) WiLAMOWiTZ, Unechte Briefe, Herrn. jisgi/FUfifvog n^^ehiav. Durch diese Variations-
33 (1898) 494; ders., Aristot. und Ath. II 391 \ künste gewinnt Is. die Fähigkeit, deren ersieh
hält den Brief für gefälscht. 4, 8 rühmt, rot :r«>laia xaivwg diekdeXv xai
*) Zusammengestellt von H. Sauppe, Orat
att. II 227.
jfeol xwv vEcooii ysyevrjfiEvmv dgxatcog ebtetv,
^) Geringe Modifikationen der Wortstel-
542 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
durch konjunktionale Ausdrücke sorgfältig vermittelt. 0 Innerhalb der Satz-
glieder ist der Hiatus, d. h. der Zusammenstoß zweier Vokale, mit Sorg-
falt vermieden;*) auch die Aufeinanderfolge gleicher Silben oder gleicher
Konsonanten im Auslaut des vorangehenden und Anlaut des nachfolgenden
Wortes wird ferngehalten; ein wohlklingender Rhythmus, doch ohne be-
stimmtes Metrum, schlägt an das Ohr des Hörenden, und eine bis ins ein-
zelne durchgehende Sauberkeit und Deutlichkeit der sprachlichen Gedanken-
fassung befriedigt seinen Geist. Isokrates hat es sich schwere Mühe kosten
lassen, diesen Sieg der Form über den Sprachstoff zu einem vollständigen
zu machen. Auf die Ausarbeitung des Panathenaikos hat er nach seinem
eigenen Geständnis drei Jahre verwendet, und zu seinem schönsten Werk,
dem Panegyrikos, soll er gar zehn Jahre gebraucht haben, wozu Timaios
bei Ps.Longinus in dem Buch vom Erhabenen 4, 2 witzig bemerkt,*) daß
Alexandres in weniger Jahren Asien erobert, als Isokrates den Panegyrikos
geschrieben habe. Was Isokrates wollte, hat er so vollkommen wie keiner
vor und nach ihm erreicht — ein Non plus ultra von Bemeisterung des
Gedanken- und Sprachmaterials, und insofern verdient er die Bewunderung,
die ihm das Altertum gezollt hat, vollauf. Wer nach tiefen Gedanken,
nach Frische und Abwechselung der Darstellung sucht, kommt freilich bei
ihm nicht auf seine Rechnung, legt aber auch einen falschen Maßstab an
ihn an. Der Mangel an Originalität seiner Gedanken ist ihm gelegentlich
selbst aufgefallen^) und jedenfalls auch von Zeitgenossen ebenso vorgerückt
worden, wie ihm Alkidamas in der erhaltenen Rede die Steifigkeit seines
Stils vorhält. Alles das wird ihn wenig angefochten haben; er war stolz
darauf, den einheitlichen Kanon der ygacpixrj Xi^ig festgestellt zu haben;
um den Preis der äycovianx/j bemühte er sich gar nicht. Passend ver-
glichen ihn die Alten ^) mit den zum festlichen Agon gerüsteten Athleten,
den Demosthenes mit dem zur Schlacht gewappneten Hopliten. So ein-
förmig uns sein streng unitarischer, dissonanzloser Stil erscheint, so hat
doch eben diese straffe Konzentration auf ein stilistisches Ziel hin ihre
große erzieherische Bedeutung bewährt: die schleppende, hiatusfreie Periode
des Schreibestils der Koiv/j ist ein Erbe des Isokratismus, und seine letzte
Entartung ist die hohläugige, vornehmtuerische Feierlichkeit des byzan-
tinischen Bildungsbegiiffs. Aber auch der Humanismus mit seinem »for-
malen** Bildungsideal hat in ihm seinen eigentlichen Vater zu verehren.
Johannes Sturms Straßburger Schule ist ein Kind isokratischen Geistes.
Isokrates nannte das q)dooo<pia^ aber nur selten tut ihm ein Alter den
long aus Hiatusrücksicht kommen immerhin
vor: K. Fuhb, Berl. phU. Woch. 25 (1905) 335 f.
1) Auct. .1. tV- 21, 1.
*) Entdeckt von G. Benseler. De hiatu
und besonders in der S. 538. 5 zitierten Ab-
handlung von H. Gomperz. Um so mehr be-
tont Is. die Vielheit seiner ideai oder elÖrf
(über den Begriff 0. Navabke. Essai sur la
in oratoribus atticis et historicis graecis. Frei- rhöt. Gr. 190) 15, 11.
berg 1841; F. Blass, Die att. Bereds. IP , ») König Philipp nach Ps.Plut. j). 845d.
139 ff. In den Reden 17 und 21 ist die i Kleochares bei Phot. p. 121b. 9. Ähnlich
Hiatusvermeidung noch nicht streng. urteilte der Peripatetiker Hieronymos bei
») Vgl. Plut. de glor. Athen. 350 f.
*) Isoer. ep. 6, 7; Epist. Socrat. 30, 13;
Nachweis fremder Gedanken bei Isokr. J.
Dionys. de Isoer. 13 und Philodemos rhet. I
198 SuDH. Die meist sehr treffenden ästhe-
tischen Urteile Späterer über Isokr. s. bei
Vahlen, Wiener Akad.Sitz.ber. 43(1863)518 i F. Blass, Att. Bereds. 11*202.
8. Die Beredsamkeit, d) laokrates. (§ 298.) 543
Gefallen, ihn g?d6oo(pog zu nennen.^) Aber auch die sachliche Wirkung
seiner großen epideiktischen Reden darf nicht gering veranschlagt werden:
er hat die kulturelle Überlegenheit der griechischen Bildung und ihr Herr-
schaftsrecht proklamiert, hat ihr Wesen nicht in ausgeprägter nationaler
Eigenart, sondern in allgemein humanen und formalen Eigenschaften ge-
sucht, er hat die monarchische Leitung Griechenlands als eine Notwendig-
keit im Interesse der Aufrechterhaltung der griechischen Kultur verstehen
gelernt und gelehrt und so alle Grundgedanken des Hellenismus in seiner
wohltönenden Sprache der Welt eindringlich verkündet. Die rednerische
Bedeutung des Isokrates ist schon in der aristotelischen Rhetorik anerkannt;
seine Schule hat, anscheinend in Rivalität mit der peripatetischen Rhetorik,*)
über die Periode des Hellenismus gedauert. Der Rhetor Matris ist Iso-
krateer;^) Lucilius (I p. 14 v. 186 Marx) kennt isokratische Disziplin. Die
Römer lehnen ihn im allgemeinen als zu leblos und unpraktisch ab,<)
ebenso wie die Asianer tun.^) Aber in der Stil- und Geschichtsbetrachtung
der griechischen Attikisten, insbesondere des Dionysios von Halikarnassos,
erlebt er eine glänzende Auferstehung. Aelius Aristides ist, wiewohl er in
seiner Rhetorik mehr auf demosthenische Beispiele hinweist, ein neuer
Isokrates in Weltanschauung und Redekunst,^) und durch ihn wirkt Iso-
krates wieder auf die großen Sophisten und Prediger des 4. und 5. Jahr-
hunderts. Über seine Renaissance in der Humanistenzeit s. E. Norden,
Ant. Kunstprosa 796 flf.
Die handschriftlichen Verhältnisse sind in allem Wesentlichen von H. Bübmakn
(Die handßchriftl. Üherlieferung des Isokr. 1. die Handschr. der Vulgata, 2. der Urbinas.
Berlin 1885. 1886) festgestellt. In alexandrinischer Zeit ist keine Isokratesausgabe gemacht
worden; den ersten Kommentar schrieb wohl Didymos. Die 121 Codices bilden zwei nach
E. Drbrup, Leipz. Stud. 17 (1896) 1 ff. auf eine Quelle zurückgehende Familien (was aber K.
MüNscHER, Quaest. Isoer., Gott. 1895 und Gott. Gel. Anz. 1907, 759 ff., bestreitet) ; die ältere
und bessere vertritt der Urbinas CXI der Vaticana (F) s. IX oder X, in dem aber die acht-
zehnte und einundzwanzigste Rede fehlen (beschriebeil ist der Cod. von A. Martin, Le
manuscr. d'Isocr. Urbin. 111 de la Vaticane, Paris 1881; dazu E. Drerüp, Zur Textgeschichte
des Isocrates, Philol. 55, 1896, 654 ff.); die zweite Familie (Vulgatüberlieferung) spaltet sich in
zwei Zweige, deren einer ausschließlich durch Laurent. 87, 14 s. XII [ (ß) repräsentiert wird,
während der andere sich in zwei Gruppen teilt (die eine vertreten durch Vatic. 65a 1063 (-i),
die andere durch Paris. 2932 s. XIV (II) und Laurent. 58, 5 s. XV). Reste stichometri-
scher Angaben in /' weist nach K. Fuhr, Rh. Mus. 37 (1882) 468 ff. Zu den mittelalterlichen
Handschriften sind zahlreiche nachchristliche (s. I — IV) Isokratespapyri gekommen (einen
großen Pap. des Paneg., aus § 19—116, bringt Oxyrh. Pap. V, 1908, nr. 844 s. II p. Chr.).
Über sie und alle Handschriften sowie über die oben S. 539, 3 erwähnte syrische Übersetzung
der Praec. ad Demonic. gibt am eingehendsten E. Drerup in der Vorrede zu Bd. I seiner
Isokratesausgabe Auskunft. Siehe a. die Übersicht über die Textgeschichte von K. Müx-
SCHER, Gott. Gel. Anz. 1907, 762 ff. Dürftige Schollen und Inhaltsangaben bei Baiter-
^) Den isokratischen Gebrauch des Wortes 1 Psaon und Sosigenes als Nachahmer des Iso-
(ydoaoqia illustriert E. Scheel, De Gorgianae ! krates; s. a. K. Münsgheb, Gott. Gel. Anz.
discipl. vestig. 9 ff. Von Epikureern wird er 1907, 763.
wohl auch als Philosoph bezeichnet (S. Sud-
haus, Rh. Mus. 48, 1893, 561).
2) Cic. de inv. II 8; ad Att. II 1, 1; ad
fam. I 9, 23. G. Ammon. B1 .f. bayr. Gymn.
27 (1891) 231 ff. meint, die beiden Jamiliae"
lebten in den Apollodoreem (isokratische Tra-
dition) und Theodoreem wieder auf.
») Philod. de rhet. 11 233, 15 Sudh.;
Dionys. de Din. 8 bezeichnet den Timaios,
*) Cic. or. 37. 40 (auch der Atticus Brutus
verschmäht ihn). 42; Tac. dial. 25 übergeht
ihn.
6) W. ScHMiD, Atticism. II 4, 3.
' «) W. Schmid a. a. 0. II 3, 3. Isokrates-
nachahmer ist der Verfasser des pseudolucia-
nischen Charidemos. Merkwürdig ist, daß wir
von kommentierender Arbeit an Isokrates fast
keine Spur haben.
544: Griechische Litteraturgeschichte. I. Klassische Periode.
Sauppb p. 3 — 11 (sie werden in Bd. II der Ausgabe von E. Dremp neu erscheinen). Ober die
unter dem Namen des Isokrates in den Florilegien überlieferten, schwerlich von Isokrates
selbst stammenden Sprüche A. Elter. Gnomica homoiomata, Bonn. 1902. p. 184. — Die Briefe
stehen nicht in den Vulgathandschriften ; für ihre Überlieferung hat E. Dremp im Vatic. gr. 64
a. 1270 {4>) den Archetypus gefunden; der zehnte Brief ist erst von A. Schott aus einem Cod.
des Fulvius Ursinus gezogen. — Eine textlich wertlose Sonderüberlieferung der Praecepta
ad Demon. ist von Drerup gefunden (K. Münscher, Gott. Gel. Anz. 1907, 777 f.).
Ausgaben: Edit. princ. von D. Chalcocondtles Mediol. 1493. Die Yulgata bildete
bis in unser Jahrhundert die Ausgabe von Hibronymus Wolf, Basel 1548, neue Ausgaben
von G. E. Benseler und F. Blass, Lips. 1882, E. Drerup I, Lips. 1906 (auf Grund des Urb.).
leider mit neuer Numerierung der Reden. — Ausgewählte Reden mit Anmerkungen für die
Schule von R. Raüchenstein und E. Reinhardt (4. 7.) bei Weidmann, von 0. Schneider
(1. 4. 5. 7. 9.) bei Teubner. — Antidosis von E. Havet, Paris 1863. — Geschichte und
Verzeichnis aller Ausgaben bei E. Drerup I, CLXIV fF. — Index Isocrateus von S. Preuss,
Leipz. 1904.
299. Nebenbuhler des Isokrates in der sophistischen Beredsamkeit
waren besonders Antisthenes, Alkidamas, Thrasymachos (s. o. S. 513),
Theodoros, Polos, Lykophron (Aristot. soph. el. 174b 32), Polykrates
und sein Schüler Zoilos. Den Streit des Isokrates gegen Aristoteles setzte
sein Schüler Kephisodoros fort, der auch Geschichte schrieb (C. Müller
FH6 II 85). Von Antisthenes, dem Sokratiker, wird eine theoretische
Schrift 71€qI U^ecog i} tteqi yaQaxTYjQcov angeführt; erhalten sind^ von ihm
die zwei kurzen charakteristischen Schulreden Aiag und *Odvooevg^ die,
selbst wenn sie Prosaparaphrasen tragischer ^rjaEig (etwa aus Aischylos
"OtiAcov xo/aec) wären,*) keineswegs unecht zu sein brauchten. Alkidamas
aus dem äolischen Elaia war Schüler des Gorgias und lehrte in Athen
gleichzeitig mit Isokrates. Gegen diesen, mit dem er übrigens den perio-
disierenden Stil gemeinsam hatte, ^) ist die erhaltene Rede Tiegl rwv tavg ygan-
Tovg Xoyovg ygatpövrayv Tj tieqi oocpiardn'^) gerichtet, in welcher der Verfasser
als ein Haupterfordernis des Redners die Fähigkeit der Improvisation be-
zeichnet. Auch der verlorene Messeniakos stand zum Archidamos des Iso-
krates in Gegensatz (s. o. S. 540, 2); in ihm kam bereits der denkwürdige,
den Anschauungen der Zeit vorauseilende Satz vor: iXev&^oovg ä(pf]xe
Tidvxag "^eog, ovÖeva dovXov t] ffvoig jieTioitjxev. Bunten, teils litterarhistori-
schen, teils ethisch-pädagogischen Inhalt hatte Alkidamas' Schrift Mov-
oeiov (d. h. Schule, eine Art Lesebuch zur Unterhaltung, Belehrung,
Erbauung), ö) in der unter anderem die Erzählung von dem äycov zwischen
Homer und Hesiod und vom Tod des Hesiod vorkam; in dem Museion
wurde der Satz illustriert, daß die Dichter Kinder der Musen sind und
unter dem Schutz der Götter stehen;^) viele Anekdoten der älteren Litte-
*) Der Gegenstand blieb als rhetorische I. Bekkers Orat. Attici p. 673—9, auch
Übung beliebt (Ov. met. XIII 1 fF. ; Quint. hinter der Antiphonausg. von F. Blass (ebenda
Smyrn. V 181 flf.). Im Katalog der Schriften die sicher unechte Reklamation ^OdvooFv;
des Antisthenes hei Diog. L. VI 15 werden ! xara Ilahifn'iöovg n^ooöoniag^ die auf Alk.'
außerdem angeführt: Vofotov (iiokoyla, .lenl ' Namen läuft).
itjv bixoyod<fO)%' 7] Avoiaq xai'IanxgaTfjg jtoo; j *) Ähnlich spricht Plat. Phaedr. 267 c
Tor ^In<ty.(uixovq aud()TVoov (s. O. 8. 529. 4. 537). | von fioroFia ).oyov des PoloS.
^) SoL. Radermacher, Kh. Mus. 27 (1802) i ^j I. Vahlen, Der Rhetor Alkidamas.
569 tf.; Ähnliches haben wir ja von DioChrys. Wien. Ak. Sitz.ber. 43 (1863) 491 -528. und
*) Demetr. de eloc. 12.
*) Die Rede muß vor Isokrates' Paneg.
(380), dessen § 11 auf Aleid. 12 anspielt,
verfaßt sein; sie steht im fünften Band von
J. Brzoska in der Realenzykl. I 1533 ff. Über
das Museion im besonderen F. Nietzsche,
Rh. Mus. 25 (1870) 528 flf., 28 (1873) 211 ff.
-- Ein Bruchstück, das dem ayiov Vf(f]oov
3. Die Beredsamkeit, d) Isokrates. (§ 299.) 545
raturgeschichte gehen auf dieses Buch des sophistischen Rhetors zurück.
Sonst werden technische Schriften und Lobreden auf paradoxe Gegen-
stände, z. B. den Tod, von ihm angeführt. Aristoteles (rhet. II 3) ent-
nimmt mit Vorliebe aus seinen Schriften die Beispiele für Geschmacklosig-
keiten des Ausdrucks (ywxQov). — Theodoros von Byzantion lief als
theoretischer Techniker dem Lysias den Rang ab (Cic. Brut. 48). Was
Piaton und Aristoteles aus seiner Techne, insbesondere von der Dispositions-
lehre, mitteilen, macht den Eindruck starker Tiftelei; gleichwohl wirft ihm
Dionysios (de Isae. 19) Mangel an Genauigkeit vor. Ihm Ps.Lys. Rede 6
oder Ps.Isocr. 1 zuzuschreiben^) ist nicht der geringste Grund, wenn er auch
(Suid. s. Oeod.) eine Rede gegen Andokides geschrieben haben mag. —
Polos von Akragas, Schüler des Gorgias, Gesprächsperson in Piatons Gor-
gias, verfaßte ein technisches Lehrbuch, von dem Reste bei Piaton und
Aristoteles vorliegen.^) Mit ihm zusammen wird der Dithyrambendichter
Likymnios genannt, ebenfalls Verfasser einer reyvr]^ in der der bildliche
Schwulst sogar in die Terminologie eindrang. Auch der Elegiker Euenos
von Paros befaßte sich mit rhetorischer Technik. 3) — Polykrates von Athen,
etwas älter als Isokrates (Isoer. 11, 50), verfaßte meist rhetorische Spiele-
reien und paradoxe Lobreden, mit denen er dem Isokrates ins Gehege kam;
dieser setzt dem Buseiris des Polykrates seinen eigenen besseren, und Poly-
krates wiederum der Helena des Isokrates die seinige entgegen. Für die
Litteraturgeschichte bedeutsam geworden ist er durch seine Kaztjyogia
Zcjxodrovg^ die auf eine politische Verdächtigung des Sokrates und seiner
Schule hinauslief, die Etablierung der Sokratiker in Athen c. 390 verhin-
dern wollte und so der sokratischen Schriftstellerei einen wichtigen Anstoß
gab (s. 0. S. 470. 479, 3. 525). Die Rede, die dem Anytos in den Mund ge-
legt war, läßt sich im wesentlichen aus einigen Zitaten,*) aus Xen. mem.
I 2 und Liban. apol. Socr. rekonstruieren. Eine xix^ri von ihm erwähnt
nur Quint. inst. III 1, 11. — Ähnlich gerichtet ist sein Schüler Zoilos von
Amphipolis, Verfasser einer rexvri (Ps.Plut. vit. X or. 844c; Quint. IX 1, 14),
einer Lobrede auf Polyphemos, daneben Homerkritiker und Historiker.*) —
Die Techne des Pamphilos und Kallippos, die Aristoteles«) anführt,
scheint sich ausschließlich mit dem dialektischen Teil der Rhetorik (Schluß-
lehre) beschäftigt zu haben. — Über das wohl in diese Zeit gehörige merk-
würdige rhetorische Fragment in dorischem Dialekt aus Oxyrhynch.
pap. III p. 27 flf. s. 0. S. 512, 6.7)
xai 'Hoiodov zugrunde lag, wurde aus einem
alten Papyrus ans Licht gebracht von J. P.
Mahaffy, On the Flinders Petrie papyri,
Cunningham Memoirs 1891 tab. XXV.
^) E. Drerup, Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl.
27 (1902) 334 ff.; vgl. K. Führ, Berl. phil.
Woch.schr. 28 (1908) 57S f. A.
*) Siehe o. S. 516. Die 6i:i}.aöioXoyUif
über die so viel gemutmaßt ist, hat wohl J.
Vahlen, Wiener Akad. 8itz.ber. 43(1868)508,
Quaest. Anaxim. 41.
^) Isoer. Busir. 5 f. (vgl. Xen. mem. I 2,
12 ff.); Schol. Aristid. p. 480, 29 D. (vgl. Xen.
mem. I 2, 58); Diog. L. II 39.
^) Siehe 0. S. 76. 7; FHG II 85a Müller;
über seine Feindschaft mit Piaton und Iso-
krates o. S. 533. 1.
•) Aristot. rhet. 1400a 4; s. 0. Navarre,
Essai sur la rh^t. Gr. 158. 270.
') Vgl. auch K. Führ, Berl. philol. Woch.
am richtigsten erklärt: es ist der verbreiterte. ' 23(1903) 1473 ff. P. Wendland. Anaxim. 39.3,
zweigliedrige Ausdruck, den man dann bei , will darin die Nachschrift der Vorlesung des
Isokrates und Demosthenes findet. Theodektes durch einen dorischen Schüler
») Plat. Phaedr. 267 a; vgl. H. üsener, \ sehen.
Handbuch der klass. Altertnnuiwissenschaft VII. 5. Aufl. 35
546
(hiechische Litteratnrgeschichte. I. Elasaische Periode.
6) Demosthenes (384—322).
300. Als Demosthenes in Athen in die politische Arena eintrat, waren
für eine höchste rednerische Leistung dort alle Bedingungen schon gegeben.
Topik und Disposition ^ für die drei Gattungen der dikanischen, symbu-
leutischen und epideiktischen Rede waren festgestellt, die Ausformung des
Gedankenmaterials nach der logischen Seite hin durch die Dialektik und
Eristik der Sophisten eingeübt, die Mittel sinnlicher Klangwirkung erprobt
und verfügbar gemacht, die Kunst, die Person des Redners durch seine Rede
günstig zu beleuchten und zu charakterisieren, gefunden, die für die Öffent-
lichkeit passende attische Sprache nach Satzbau, Phraseologie und Wortwahl
fest geprägt. Die Kämpfe aber um Athens und Griechenlands Selbständig-
keit mit dem Makedonierkönig entfachten die große Leidenschaft, in deren
Dienst nun alle jene Kunstmittel erst zu voller und ergreifender, weil tief
innerlich begründeter Wirkung in der Staatsrede gebracht worden sind.
Auf diese höchste Höhe hat Demosthenes die attische Beredsamkeit ge-
führt. Seine Reden sind, wenn er sie auch zu einem wesentlichen Teil
als politische Pamphlete nachträglich selbst veröffentlicht hat, doch vor
allem für das Hören und für praktische Wirkung bestimmt,*) wie denn
jede seiner Staatsreden ein Stück seines eigenen Lebens ist; sie sind aber
bis in die kleinsten Einzelheiten der Form mit einer Pünktlichkeit aus-
gearbeitet, die schon im Altertum manchen ganz unglaublich vorkam. 5)
Das künstlerische Gewissen des Isokrates verbindet sich hier mit tiefster
Ergriffenheit von patriotischem Pflichtgefühl. Nirgends wird Demosthenes
von den Formen beherrscht, sondern überall beherrscht er sie mit jener
souveränen Freiheit, welche die Alten als detvdTrjg bezeichnen.*)
301. Leben des Demosthenes.*) Ausbildung. Advokatur. Die
») 0. Navabbb, Essai sur la rh^t. Gr. 213 ff.
') Daher die große Bedeutung, die De-
mosthenes dem Vortrag (vjröxoiaig) beimaß:
Ps.Plut. Vit. X or. 845 a; Philod. rhet. 4, 16
p. 196,3 SüDH.; Cic. de erat. III 213 (= Plin.
n. h. VII 1 10) ; Brut. 142 u. a. ; s. A. Schäfer,
Demosth. I«298 f.
') Dionys. Hai. de comp. verb. 25; de
Dem. 51.
*) Dionys. Jisoi xi)g Arjfxoadhovs SetvS-
rrjTOs; Longin. in L. Spenoels Rhet. Gr. 1 325,
24 ovx dei F.fifttrFi rf] rix^Vt «^^»' f^^-^^^? y^Y'
VFTai TFX^V'
*) Die Quellen (abgesehen von Reden
des Demosthenes [18. 19. 21. 27—31], Ai-
schines, Hypereides, Deinarchos), gedruckt bei
A. Westermann, Bwyg. p. 281 — 312u. Quaest.
Demosth.IV(Leipz.l837) sind: Ps.Plutarch,
vit. X or., mit dem im wesentlichen Photios
cod. 265 stimmt; Plutarch, Vita Demosth.
(F. Gerhard, De Plutarchi in Dem. vita fonti-
bus ac fide. München 1880; W. Sturm, De
fontibus historiae Demosthenicae quaestiones
duae, Halle 1881); Dionysios ad Am-
maeum c. 4 und 10 (wichtig für die Chrono-
logie der Reden) imd .teai t>/c ÖFimTtjtOs Arj-
jiiooi^Fvovg ; Ps.Lucian, Dem. encom.; Li-
banios, Vita et hypotheses Dem.; Zosi-
mos Vita Dem.; anonyme Vita aus der-
selben Quelle mit dem dritten Suidasartikel;
Suidas, drei Artikel. Die uns erhaltenen
Biographien gehen auf die Reden des De-
mosthenes und seiner Gegner und die bio-
graphischen Nachrichten des Demetrios aus
Phaleron (s. Dionys. de Dem. 53), Hermippos
und Satyros zurück. — Neuere Bearbeitungen:
das Hauptwerk, im Gegensatz zu der jetzt
bei Stubenhistorikem und Anbetern des Er-
folgs Mode werdenden Verkleinerung des D.
von warmer Verehrung für den Redner ge-
tragen, A. Schäfer, Demosthenes und seine
Zeit, 3 Bde, Leipz. 1856—58, 2. Aufl. 1885—87
von M. Hoffmann (ohne die in III 2* ent-
haltenen Beilagen); F. Blass, Die attische
Bereds. III 1 ; H. Köchly, über Demosthenes,
in Akad. Vortr. u. Reden N. F.. Heidelb. 1882,
131 f.; A. Hüo, Demosthenes als politischer
Denker, in Studien aus dem kl. Alt., Freiburg
1881 ; M. Croiset, Les idöes morales dans l'^lo-
quence polit. de Dömosth., Montpell. 1874; L.
Bbedif, L'eloquence politique en Grece, Dömo-
sthene, Toulouse 1878, A. Boügot, Rivalit^
d'Eschine et Dömosth^ne, Paris 1891. Bei
Einschätzung der überlieferten Lebensdaten
8. Die Beredsamkeit, e) Demosthenes.
800-301.)
547
Herkunft des Demosthenes ist in dem Vers bezeichnet, mit dem Philippos
von Makedonien nach dem Sieg von Chaironeia seinem Übermut Luft ge-
macht haben solhO Arjjuoo&eyrjg Arjfioo'&ivovg Ilaiavievg (so auch auf der
Trierarchenliste CIA II 804 Ba 167) rdd' ehtev. Der Vater des Redners
war Besitzer einer Waflfenfabrik {jiaxaiQonotog)^ in der dreißig Sklaven
arbeiteten,*) und hatte außerdem noch durch Pfändung eine Stuhlfabrik
mit zwanzig Arbeitern erhalten. Das Geschlecht der Mutter Kleobule
stammte angeblich aus dem Skythenland. ^) Als Geburtsjahr läßt sich aus
den eigenen Angaben des Redners das Jahr 384 berechnen.*) Der junge
Demosthenes hatte noch nicht das achte Lebensjahr erreicht, als sein
Vater, ein begüterter, zur ersten Vermögensklasse gehörender Mann, starb
und durch Testament drei Vormünder seiner Kinder, eines Sohnes und
einer Tochter, bestellte. Aber die Vormünder, Aphobos, Demophon und
Therippides, rechtfertigten das in sie gesetzte Vertrauen nicht, sie brachten
das Vermögen von vierzehn Talenten, statt es durch gute Verwaltung zu
verdoppeln, fast ganz durch,*) so daß es die erste Handlung des volljährig
gewordenen Demosthenes (zu der er übrigens als Ephebe schon berechtigt
gewesen wäre nach Aristot. Ath. resp. 42, 5) war, seine Vormünder, zu-
nächst den Aphobos, vor Gericht zu ziehen (364). Die nötigen Rechts-
kenntnisse und rhetorischen Kunstgriffe hatte er sich bei Isaios erworben,
als dessen Schüler ihn Hermippos (Dionys. de Isaeo 1) bezeichnet.^) Daß
das Werk des Thukydides auf seine Bildung nachhaltig eingewirkt habe,
ist folgendes in Anschlag zu bringen: 1. vieles
ist aas Reden von Demosthenes* Gegnern
entnommen, 2. anderes aus Komikerwitzen
(Ath. VI 223 ff.; VIU 341), 3. die Peripatetiker
seit Aristoteles, der ihn in der Rhet. nicht
erwähnt, sind dem Demosthenes nngfinstig
gesinnt (vgl. Theophrastos' Urteil Flut. Dem.
10), 4. Episoden aus Demosthenes' Leben
waren in den Rhetorenschulen beliebte De-
klamationsthemata (A. Wbstebmann, Qnaest.
Dem. IV 80 ff.), 5. ist Demosthenes in den
philosophisch-rhetorischen Schulkämpfen der
hellenistischen Zeit Gegenstand von Kontro-
versen geworden, indem man die Frage auf-
warf, ob der Redner seine ösivoxrjg philoso-
phischer Schulung zu verdanken habe oder
nicht; im Zusammenhang damit ist er von
verschiedenen Fhilosophensekten als der
Ihrige angesprochen worden (durch Gharma-
das und Panaitios für die Akademie Gic. de
or. I 84; or. 15; vgl. Ps.Dem. ep. 5; A.Schkb-
KEL, Die Philos. d. mittl. Stoa, Berl. 1892,
232 ff. : von Ktesibios für den Gynismus vit.
X or. 844 c; für die Peripatetiker von jenen,
denen Dionys. ad Amm. I nachweist, daß
eine Benutzung der aristotelischen Rhetorik
durch Demosth. ausgeschlossen sei; über den
Streit, ob Dem. texvixrjg gewesen sei, S. Sud-
haus, Praef. Philod. de rhet. I, Leipz. 1892,
p. XXIX). Auch der Gharakter des Dem. inter-
essierte die Philosophen, zumal die Mittel-
stoiker, die (S. Sudhaus, Philod. vol. rhet.
suppl., Leipz. 1895, praef. XLI) zu der Über-
zeugung kamen, er sei von sittlichen Mängeln
nicht ganz freizusprechen (s. Plut. Dem. 30;
id. comp. Gic. et Dem. 5); sehr ungünstig
Kritolaos bei Gell. XI 9.
>) Plut. Dem. 20.
*) Daraus wird dann Abkunft von einem
Schmied bei luvenal. sat. X 130: quem pater
ardentia massae ftdigine lippua a carbone . . .
ad rhetora misit.
') Dinarch. adv. Dem. 15 schilt ihn des-
halb einen Skythen. E. Gubtius, Gr. Gesch.
III 549: «Die außerordentliche Spannkraft
deines Geistes mag damit zusammenhängen,
daß etwas von dem Blute der nordischen
Völker in seinen Adern floß. Auch der gei-
{ stesverwandte Thukydides stammte mütter-
licherseits von einem nordischen Barbaren-
I Volk."
^) In Betracht kommt besonders 30, 15 f.
und 21. 154; s. F. Blass, Att. Ber. III V la.
, A. Schäfer III Beil. 2. Irrtümlich läßt Apol-
; lodoros den Dem. 381/0 geboren sein, worüber
F. Jacoby, Apollodors Ghronik p. 328 ff.
^) Dergleichen war im damaligen Athen
nicht ungewöhnlich: Plat. Theaet. 144 d; Lys.
i or. 32, vgl. F. BLASS, Att. Ber. I« 608 ff.
I ®) Anklänge an Isaios 0. Navabre, Essai
sur la rh6t. Gr. 168 f. 271. Anklänge zwischen
Dem. und Isokrates, dessen Schüler er aber
schwerlich gewesen ist (Plut. Dem. 5; A.
' Schäfer P 310) bei J. Mesk, Wiener Stud. 23
! (1901) 209 ff. Siehe a. M. H. E. Meier, Gpusc.
i II 317 ff.
35*
548 (hiechische Litteraturgeschichte. L Klassische Periode.
galt im Altertum für notorisch.*) Philosophie hat er nicht getrieben (s.
S. 546, 5). Großen Eindruck soll auf ihn der Prozeß wegen Verrat (der
sog. oropische Prozeß) gemacht haben, der im Jahr 366 gegen den Feld-
herm Chabrias und den Führer der Spartanerpartei Kallistratos verhandelt
wurde, und insbesondere die glänzende Verteidigungsrede, die Kallistratos
bei dieser Gelegenheit hielt. Die beiden Reden, die der junge Demosthenes
im Kampf um seine Existenz vor Gericht hielt, die Anklagerede gegen
Aphobos und die Replik auf dessen Verteidigung, sind uns erhalten (27.
28), und so überzeugend wirkte die Darstellung des zwanzigjährigen Jüng-
lings auf die Gemüter der Richter, daß sie den Aphobos zum Schadenersatz
von zehn Talenten verurteilten.*) An diesen Prozeß reihte sich aber ein
anderer (i^ovXrjg) gegen Onetor, den Schwager des Aphobos, der, als es
zur Pfändung kam, ein Grundstück des Aphobos als Unterpfand für die
nicht zurückbezahlte Mitgift seiner von Aphobos geschiedenen Schwester
in Anspruch nahm. Auch die Reden gegen Onetor sind uns erhalten (30.
31), der Ausgang des Prozesses aber ist unbekannt; wahrscheinlich kam
es schließlich zu einem Vergleich, bei dem Demosthenes weniges aus dem
Schiffbruch seines Vermögens rettete.*) Doch war er 359 wieder in der
Lage, eine Triere auszurüsten (51. Rede).*) So wurde auch er, ähnlich wie
vordem Lysias, durch äußere Verhältnisse, durch die Nötigung, auf Ersatz
des verlorenen Vermögens zu sinnen, auf die Bahn eines Xoyoygdfpog ge-
drängt. Auf diesem Weg fand er aber zugleich Gelegenheit, sich in der
Beredsamkeit praktisch zu üben und die Aufmerksamkeit des Volkes auf
sich zu lenken, wie später auch Cicero durch die Tätigkeit vor Gericht
sich den Weg zur politischen Laufbahn geebnet hat. Freilich konnte
infolge der athenischen Verhältnisse Demosthenes nicht, wie Cicero, sich
selbst dem Volk zeigen und zum geschickten Entwurf der Rede auch
noch die packende Gewalt des Vortrags fügen. Er schrieb bloß die Reden,
damit der Angeklagte oder Kläger sie vor Gericht vortrage; nur in der
Rede für Phormion gegen ApoUodoros (36) ist er vielleicht selbst in der
Eigenschaft eines Fürsprechers {ovvrjyogog) vor den Richtern aufgetreten.*^)
Im übrigen muß er großen Erfolg in seiner Advokatenpraxis gehabt
haben, wiewohl ihm die Leichtigkeit und Akkomodationsfahigkeit des
Lysias nicht eigen ist und ein gewisses monotones Pathos auch in Bagatell-
sachen seine Gerichtsreden beherrscht. Zahlreiche Reden in Privatprozessen,
die bis über das Jahr 345 herabreichen,') geben davon Zeugnis, und doch
1) Außer A. Schäfer P 315 ff., IP 303 f. Isaios aus.
Choric. Philol. 54 (18J)5) 120, 1 und das Epi- i ') Darauf führt Aesch. 3, 173: ix loui-
kedion s. IV. Berl. Klassikertexte V 1 p. 84, \ Qo^yor loyoyodqog dvFcpdrf), t« .-rarpipa xara-
28ff. : anders nur Cic. or. 31. ; yeluoTcog jioofftFvog.
0 Daß Dem. seine Ersatzansprüche nach ! *) Die Echtheit der 51. Rede erweist
oben abrundete, kann nach den Ausführungen nach F. Blaß C. Rüoer (s. u. S. 550, 1).
von 0. ScHüLTHESs, Die Vonnundschafts- , *) Daß der ai'i7/;'oooir nicht Demostlienes,
rechnung des D., Progr. Frauenfeld 1899, sondern ein anderer war, nimmt Blass III
nicht bezweifelt werden. — Die beiden Reden P, 31, 2 an. I. Brüns, Litt. Portr. 534 ff.
gegen Aphobos zeigen tüchtige Schulung (be- ^) I. Brdns, Litt. Portr. 547 ff.; Auct.
sonders wirksam ist das Proömium von 27 .t. ri/;. 34, 2 ff.
und der Schluß von 28) und zeichnen sich ") Die Privatrede Jigog ^aiyijz.iov fällt
durch persönliche Wärme vor den Reden des erst 330, ist aber unecht. Aber auch die
8. Die Beredsamkeit, e) DemosthenoB. (§ 301.)
549
hat er gewiß nur einen ganz kleinen Teil seiner gerichtlichen Reden der
Veröffentlichung wert gehalten. Wenn ihm der Vorwurf der Zweideutig-
keit und des Verrats der Sache seines Klienten an die Gegenpartei ge-
macht wurde,') so beruht das wohl nur darauf, daß er für und gegen
Apollodoros, den prozeßsüchtigen Bankier, in verschiedenen Reden auf-
getreten war.^) Daß er daneben auch als Lehrer der Beredsamkeit wirkte,
erfahren wir nur aus Aischines I 117 und 175; es hat aber bei der in
Athen herkömmlichen Verbindung der beiden Tätigkeiten des Redners und
des Redelehrers durchaus nichts Unwahrscheinliches.
In den schweren und verstimmenden Kämpfen, die der junge, auch
mit physischen Schwierigkeiten^) beim rednerischen Vortrag ringende
Mann zu bestehen hatte, wird sich seine illusionsfreie, pessimistisch an-
gehauchte, in der Hauptsache aber doch großartig ideale und optimistische
Lebensanschauung ausgebildet haben. Ohne im Sinn des Traditionalismus
religiös observant oder von mystischen Strömungen berührt zu sein,*) ist
er doch eine tief religiöse Natur, fest überzeugt, daß schließlich Wahr-
heit und Recht vermöge ihrer natürlichen Superiorität (s. bes. 2, 3 — 10)
siegen müssen, fest überzeugt auch, trotz aller Einsicht in die Schwächen
seines Volkes, von Athens kultureller, geistiger und ethischer Überlegen-
heit über alle übrigen Griechenstaaten, also von seinem berechtigten An-
spruch auf Freiheit und Glück und auf Führerschaft in panhellenischen
Fragen,^) überzeugt endlich von der Überlegenheit der Hellenen über
die Barbaren. ö) Aus dieser Anschauung und seinem leidenschaftlich-
düsteren Temperament erklärt sich der ernste,^) herbe, oft stürmisch an-
kaum anzuzweifelnde Rede gegen Phormion I
(34) föllt in die Zeit nach Zerstörung Thebens
oder nach 335. Demosthenes bemerkt selbst
32, 32: ifioi avfißsßijxsv ä(f ov jz€qI xcbv xoi-
v<bv keyeiv TJg^d^tjv, fitjde jrgog Pv jigäyina
Tdtov jrQooehßv&^vat. Vgl. jedoch A. Schäfer
P 350; F. BLASS III P, 30 f.
M Aesch. 2, 165; Plut. Dem. 15.
^) Die betreffenden Reden sind : fQr Phor-
mion (36), gegen Stephanos (45 und 46), den
Zeugen zugunsten des Phormion. Doch ist
die Rede 46 sicher unecht, und auch die
Echtheit der Rede 45 wird bestritten, worüber
J. E. Sandys, Select private orations of De-
mosth., Cambr. 1896,11 p. 36—46. Möglicher-
weise änderte sich aber auch das Verhältnis des
Demosthenes zu Apollodoros infolge des kräf-
tigen Eintretens des Geldmannes für die Politik
des Redners. Übrigens ist gar kein Grund,
dem Advokaten Demosthenes eine beson-
ders sublime Moral anzusinnen. Andererseits
aber sind die verleumderischen Bosheiten und
Verdrehungen, vor denen er sich zumal in
eigener Angelegenheit so wenig als Aischines
scheut, nicht ihm persönlich allein, sondern
wesentlich auch der tiefen Gesunkenheit des
attischen Tribunals im 4. Jahrh. zuzuschreiben
(I. Brünö a. a. 0. 552 ff.).
^) Er scheint drei Fehler gehabt zuhaben:
er stammelte, d. h. konnte das R nicht aus-
sprechen (wie auch von Alkibiades berichtet
wird), seine Unterlippe war, den Porträt-
statuen nach, zu kurz, und er hatte (wie
Kaiser lulian) ein nervöses Zucken mit den
Schultern, das dem an fi»o;fi7/Moavvi; der Redner
gewöhnten Publikum Athens gegenüber fatal
war. Aischines ist darin das volle GegenteU.
Wieweit die Anekdoten über die Mittel, die
D. zur Bekämpfung jener Übelstände an-
wendete, Glauben verdienen, ist zweifelhaft.
Zungen-, Lippen- und Atemgymnastik, Be-
obachtung der Artikulationsbewegungen vor
dem Spiegel sind noch heute die Mittel, mit
denen Stammeln und Stottern bekämpft wird.
*) H. Meüss, Jahrbb. f. cl.Phil. 139 (1889)
445 ff. 801 ff. Einzelne Götter werden nur in
Beteuerungsformeln genannt, besonders Zeus;
stark tritt bei D. die Tvxfj hervor; vom Leben
nach dem Tod findet sich nur in einer
echten Rede (24, 104; 25 ist unecht) eine
Andeutung.
') Dem. 2, 1 ff 22; 18, 253; 14, 16; 20,
109.
«) Dem. 15, Uff. 30 ff.; 19, 226; 23,
204 ff.
^) Das Fehlen des Witzes, der evrocute-
IIa, bemerkten seine Gegner und die späteren
Ästhetiker (F. Blass, Att Ber. III 1 «, 186, 4).
550 Griechische Litteraturgeschichte. L Klassische Periode.
schwellende Ton, der alle seine Staatsreden und die in Staatsprozessen
gesprochenen Plaidoyers beherrscht und auch in seinen übrigen Gerichts-
reden sich nicht ganz verleugnet.
302. Politische Tätigkeit. Erste Periode bis zum philo-
kratischen Frieden (355 — 346). Die Tätigkeit als Sachwalter bildete
die Stufenleiter, auf der Demosthenes zur Stellung eines Parteihauptes und
schließlich leitenden Staatsmannes emporstieg. Das Aufsteigen geschah
allmählich; bevor er in der Volksversammlung sich an das souveräne Volk
wandte, trat er vor Gericht und im Senat in Streitfallen auf, welche die
öffentlichen Angelegenheiten berührten. Die erste Rede dieser Art war die
über den trierarchischen Kranz (51. jieol rov axetpdvov Tfjg TgirjoaQxiag)^ die
er 359 nach der Niederlage der Athener in dem Seetreflfen bei Peparethos
zugunsten eines Unbekannten^) hielt, da dieser von dem Senat nach deofi
Gesetz den Kranz verlangte, weil er zuerst seine Triere fertig gestellt hatte.
Schon im folgenden Jahr (358) soll er nach Aischines (3, 51 f.) gegen den
Feldherm Kephisodotos als Ankläger wegen Hochverrates aufgetreten sein;
die Rede ist nicht erhalten. Seine staatsmännische Tätigkeit Angt an
355/54. Wie es damals in Athen bei Leuten, die eine politische Rolle
spielen wollten, üblich war, begann er mit Klagen wegen gesetz-
widriger Anträge {ygaq^al jiaoavöjuiov) sein Interesse für die öffentlichen
Dinge und seine Bereitschaft, in dieselben einzugreifen, dem Volk zu be-
kunden. Die erste Periode reicht bis 346. Demosthenes wird mehr und
mehr Haupt der Opposition gegen das Einschläferungssystem des Eubulos.
Zuerst schrieb er 355/4 für Diodoros eine Anklagerede gegen den Iso-
kratesschüler Androtion (22), weil dieser eine Bekränzung des Rates
der Fünfhundert beantragte, wiewohl der Rat während seines Amtsjahres
nichts für die Flotte getan hatte. *) Daran schloß sich die 352 wieder
für Diodoros geschriebene Rede gegen Timokrates (24), einen Genossen
des Androtion, der zugunsten der Staatsgläubiger Ausstand für die Rück-
zahlung der dem Staat geschuldeten Gelder beantragt hatte; die Rede
hat im Altertum als Muster erschöpfender Beweisführung (die aber zum
Teil sehr schikanös ist) gegolten. Erfolg scheint Demosthenes nicht
gehabt zu haben. Zum erstenmal trat er persönlich in der Eigen-
schaft eines Synegoros an der Seite des Ktesippos, eines Sohnes des
Chabrias, in einer öffentlichen Prozeßsache mit der Rede gegen Leptines
auf (355/4). Dieser hatte, um der finanziellen Bedrängnis des Staates ab-
zuhelfen, die Abschaffung der Steuerbefreiung (drekeia) für alle, mit Aus-
nahme der Nachkommen der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton,
beantragt. Demosthenes, der bei aller Sorge für die Hebung der Finanzen
doch keine Knauserei zu unrechter Stunde wollte, befürwortete in einer
') Nach Libanios war es Apollodoros, 1865 S. 65— 108: C. Rügeb, Oratio de Corona
was man deshalb vermutet zu haben scheint, navali num a Dcmosthene scripta sit. inqui-
weil die Rede mitten unter solchen steht, die ritur. Progr. Dresden, Wettiner Gymn. 1900.
für Apollodoros gehalten wurden; nach an- ^) Dionys. ad Amm. 4 nennt sie die erste
deren sprach Demosthenes in eigener Hache. öffentliche Rede, indem er die Rede wegen
Ober die Rede, deren Echtheit bestritten des trierarchischen Kranzes außer Betracht
wird. 8. A. KiRCHHOFF, über die Rede vom läßt,
trierarchischen Kranze, Berl. Ak. Abhandl.
3. Die Beredsamkeit, e) Demoathenes. ($§ 802—303.) 551
glänzenden, wohldurchdächten, durch den großartigen Idealismus ihrer Be-
trachtungsweise berühmt gewordenen Rede das Recht, ja die Pflicht des
Staates, hervorragende Verdienste einzelner Männer zu belohnen und auf
solche Weise die andern zum Wetteifer in Erfüllung der Bürgerpflichten
anzuspornen. 1) In die auswärtige Politik griflf die vierte öflFentliche Rede
gegen Aristokrates (23) ein (352), in der er, gegenüber dem Aristo-
krates, der besondere Vergünstigungen füi* den Odrysenkönig Kersobleptes
und dessen Schwager Charidemos beantragt hatte, den Satz verfocht, daß
Athen am besten seine Besitzungen im Chersones behaupten könne, wenn
es den Zwiespalt und die Eifersucht der angrenzenden thrakischen Fürsten
möglichst nähre. Der Erfolg war, daß diö Privilegierung des Charidemos
unterblieb. Mit diesen vier Reden steht Demosthenes schon auf der Höhe
seines rednerischen Könnens;*) insbesondere ist die Aristocratea von un-
übertrefflicher Klarheit der Anlage und Vollständigkeit der Beweisführung.
Diesen Reden schließt sich die Rede wegen vßgig gegen Meidias (von
der . Ohrfeige, negl tov xovdvkov) an, mit der Demosthenes 347 *) den
Meidias, der ihn 350 als Choregen beschimpft und damit das Dionysosfest
gestört hatte, zu belangen gedachte. Meidias, ein brutaler Protze, der
schon in dem Vormundschaftsprozeß gegen Demosthenes Partei ergriffen
hatte, war über Demosthenes ärgerlich, weil dieser gegen die von Meidias
beantragte Expedition nach Euboia (350) gewesen war. Die Rede wurde
indessen nicht gehalten, da es Demosthenes noch in letzter Stunde vorzog,
gegen eine Abfindung mit dreißig Minen die Klage fallen zu lassen.^)
303. Inzwischen hatte Demosthenes auch unmittelbar als Volksredner
in die Politik einzugreifen begonnen, und wir konmien somit zu seiner be-
deutsamsten Tätigkeit als des leitenden Staatsmanns und Verfassers von
Volksreden {&r]jLi7]yogiai).^) Zur Zeit seines ersten Auftretens waren die
Verhältnisse Athens überaus traurig und zerfahren. In den Kämpfen mit
den Thebanem und Thessalem war die Grenzstadt Oropos an die The-
baner verloren gegangen (366), und der Tyrann Alexandres von Pherai
konnte es nach der Niederlage des athenischen Admirals Leosthenes bei
Peparethos wagen, mit seiner Flotte in den Hafen des Peiraieus ein-
zulaufen (361). Sodann war Athen durch den unglücklichen Ausgang des
Bundesgenossenkrieges (357 — 5) fast aller seiner auswärtigen Besitzungen
') Die Rede, die als Deaterologie nicht
den ganzen Stoif zn erschöpfen brauchte und
deshalb in der Komposition etwas lose ist,
8. A. BöoKH, Von den Zeitverhältnissen der
dem. Rede gegen Meidias, Ges. El. Sehr. V,
Leipz. 1871, 153—204.
ist mit der Gegenrede des Rhetors Ar i 8 tides ! *) Strittig ist es, ob Demosthenes die
(53) herausgegeben und erläutert von F. A. Rede herausgegeben hat oder ob sie erst
Wolf, Halle 1789. Der Gegenstand ist in
den späteren Rhetorenschulen sehr beliebt
gewesen (W. Schmid, Atticism. I 34, 10; E.
Wenkbbach. Quaest. Dion., Kirchhain 1907,
54 ff.). Zwei Deklamationen des Aelius Ari-
stides (or. 53. 54) sind erhalten.
«) Theo prog. p. 61, 14 ff. Sp. hält sie
nebst der Kranzrede für die beste des De-
mosthenes.
*) Nach § 154 war er dvo xai xQidxovra
h}} alt, was Schäfer in xeoaaoa x. tq. änderte;
nach seinem Tod aus seinen Papieren heraus-
gegeben wurde; über diese Kontroverse G.
Hüttner, Jahresb. üb. d. Fortschr. d. kl. Alt.-
wiss. 50 (1887) 218 f. Streng zur Sache ge-
hören nur § 1 — 76 ; dann folgen maßlose Be-
schuldigungen, über die 8. 1. Bruns, Litt. Portr.
557 ff.
^) L. Spenqel, Die Atjfirjyogiai des Demo-
sthenes, Bayr. Ak. Abhdl. 9 (1863)51 ff. 277ff.;
W. Habtel, Demosthenische Studien, Wiener
Ak. Sitz.ber. 87 (1877) 3 ff.; 88 (1877) 365 ff.
552 Grieohiache litteratnrgeschichte. I. Elaasisohe Periode.
beraubt und auf den dürftigen Besitz von Lemnos, Imbros, Skyros und der
Südküste Thrakiens beschränkt worden. Im Innern war auf die kräftige
Leitung des Staates durch Kallistratos, der 361 in die Verbannung gehen
mußte, eine Periode der allgemeinen Erschlaffung und spießbürgerlichen
Friedens- und Handelspolitik gefolgt. Ihr Träger war Eubulos, der, hoch-
fahrenden Plänen abhold, lieber die verringerten Kräfte des Staates auf
Pflege gemächlichen Lebens als auf Übernahme einer rühm-, aber mühe-
vollen Führerstellung Athens wenden wollte. Demosthenes' ganze Natur
widerstrebte von vornherein einer so mattherzigen Politik; doch ist seine
volle Energie erst durch das Vorgehen des Königs Philippos geweckt
worden, und selbst diesem gegenüber war sein Verhalten anfangs noch
zaudernd und zurückhaltend, bis endlich die helle Flamme des Hasses gegen
die Vertreter der Friedenspolitik, die Vaterlandsverräter, wie er sie schalt,
emporschlug. Bis zum ersten Vorgehen gegen Philippos in der ersten
philippischen Rede (351) war überhaupt sein politisches Auftreten mehr
ein gelegentliches, je näher aber die makedonische Gefahr kam, desto
mehr sah er in ihrer Bekämpfung seine Lebensaufgabe und wurde wirk-
liches Parteihaupt.
Die Volksreden, die er in dem vorbereitenden Stadium seiner politi-
schen Tätigkeit hielt, waren folgende: In der trefflich disponierten Rede 14
negi tcov ovjujuoqiöjv (über die Steuerverbände) suchte er 354/3, als
ein Krieg mit dem Perserkönig auszubrechen drohte, das überstürzte von
Stubenpolitikern und Rhetoren wie Isokrates geschürte Kriegsfieber der
Athener zu dämpfen, i) indem er vor allem auf bessere Ausrüstung der
Flotte durch Vermehrung der zur Trierenleistung verpflichteten Bürger
und durch Erhöhung der Zahl der Schiffe auf dreihundert drang. De-
mosthenes hätte gern die Symraorien aus einer nur für dringende Notfalle
dienenden Ausnahmeeinrichtung zum ständigen Organ der Steuererhebung
gemacht. Bei seinem Rat, sich schlagfertig zu machen, schwebt ihm
wahrscheinlich unausgesprochen schon der nordische Feind vor Augen.
Durchgedrungen ist er nicht; der alte Schlendrian im Besteuerungswesen
dauerte an, bis 340 Demosthenes sein trierarchisches Gesetz einbrachte.
Im folgenden Jahr (353/2), als Gesandte der Spartaner und der von diesen
hart bedrängten Stadt Megalopolis in Athen erschienen waren, warnte er
in der Rede vTiko MeyakonokiTcov (16) vor einem unbedingten Eintreten
gegen die Megalopoliten und empfahl eine bloße Aufforderung zum billigen
Ausgleich an die streitenden Parteien. Ähnlich wie in der Aristocratea
(§ 102. 124) vertrat er auch hier den Grundsatz, daß es für Athen günstig
sei, in seiner Interessensphäre keine große Machtkonzentration, in diesem
Fall weder bei den Lakedaimoniem noch bei den Thebanern. aufkommen
zu lassen. In der Rede vnhQ rfjg 'Podlcov IXev^egias (353)^) tritt er
schon für eine aktivere Politik ein, indem er den alten Gedanken, daß die
^) Dem. befand sich damals in einer ; und Phrasen vom ^Erbfeind* einen Anschluß
ähnlichen Lage wie Bismarck (Gedanken und
Erinn. I 156 ff.) während seiner Pariser Ge-
sandtschaft, als er gegenüber den vom Be-
freiungskrieg her eingewurzelten Vorurteilen
Preußens an Napoleon III. betrieb, um Preu-
ßens Isolierung zu verhindern.
*) Den Ansatz 353 vertritt W. Jcdeich.
Kleinasiat. Stud. 186 f.
8. Die Beredsamkeit, e) Demoathenes. (§ 304.) 553
Athener sich als ein Bollwerk der Demokratie hinstellen müßten, aufiiahm
und der Unterstützung der Demokraten von Rhodos gegen die von Mausollos
begünstigten Oligarchen trotz der im Bundesgenossenkrieg bewiesenen Un-
dankbarkeit der Rhodier und trotz der Gefahr eines Konflikts mit dem
Perserkönig das Wort redete. Neuerdings wird von manchen^) auch die
Rede jtegl avvxdSecog (13), in der Aufhebung der Theorikenkasse ge-
fordert wird, für echt gehalten und 350/49 gesetzt.
304. Von da an konzentrierte sich Demosthenes' ganze politische
Tätigkeit auf die Abwendung der größten Gefahr, die Athen und ganz
Hellas von Norden, von PhiUppos, dem König der Makedonier (seit 359),
drohte. Demosthenes erkannte sie von Anfang an^) und setzte mit immer
steigender Energie seine ganze Beredsamkeit und seinen ganzen Einfluß
ein, um die Athener aus dem Schlaf aufzurütteln und die Gegenpartei des
Eubulos, Aischines, Philokrates, Demades niederzuwerfen. Die erste Rede,
die er in dieser Richtung hielt, ist die erste philippische, gehalten 351
bald nach dem Zug gegen Pylai, auf den § 17 angespielt ist.*) Den be-
sonderen Anlaß der Rede kennen wir nicht. Mit Mäßigung, Einsicht und
Kraft, ohne Rücksicht auf den Beifall der genußsüchtigen Menge mahnt
er zur Rüstung, namentlich zur eigenen Beteiligung der Bürger, die wenig-
stens ein Viertel des Heeres stellen sollten. Athen sollte nach seiner
Meinung für alle Feinde des Philippos einen Sammelpunkt bilden. Ernst in
der Kriegführung war in der Tat äußerst notwendig, da Philippos nicht
bloß Pydna, Methone, Potidaia bereits weggenommen hatte, sondern auch
schon die alten Besitzungen der Athener auf Imbros und Lemnos bedrohte.
AuffälUgerweise nimmt Dionysios (ad Amm. 4) an, daß mit § 30 unserer Rede
eine neue Rede beginne, wahrscheinlich verleitet durch die Überschrift
II600V djiödei^ig^ die aber nicht eine neue Rede einleiten sollte, sondern
dem eingelegten, jetzt verlorenen Finanzplan zur Aufbringung der von
ihm für die Rüstungen geforderten neunzig Talente galt/) In die nächste
Zeit fallen die drei olynthischen Reden, von denen die letzte im Jahr
348 gehalten wurde. Philippos begann schon 351 Olynthos, die mächtigste
Stadt der Chalkidike, zu bedrängen, und die Athener, wohl einsehend, daß
es sich dort für sie um vitale Interessen handle, sandten im ganzen drei
Hilfskorps zum Entsatz der bedrängten Stadt ab; aber die Lage bei der
ersten und zweiten Rede ist im wesentlichen die gleiche,*) und nur zwischen
die dritte und die beiden ersten Reden fiel ein kleiner Erfolg der atheni-
schen Hilfstruppen. <5) Demosthenes trat mit aller Kraft für eine ent-
») WiLAMOwiTz, Aristot. und Athen II ' (1884) 173—205.
215 f.; P. Wendland, Gott. Gel. Anz. 1906, ^) Schon 1, 2 und 17 ist, wie W.Hartel,
364 f.
=») Er rühmt sich dessen 18,246; Hin-
weisungen in den früheren Reden A. Schäfer
IP 57 f.
*) Die gewöhnliche Datierung der Rede
auf 351 (nicht 349) verteidigt Th. Thalheim,
Berl. phil. Woch. 14 (1894) 1480 und 17 (1897)
Dem.Stud. I 15 hervorhebt, aller Nachdruck
darauf gelegt, daß die Bürger selbst ins
Feld ziehen. sollen ; es war also wahrschein-
lich damals schon die Absendung von Söld-
nertruppen vorausgegangen.
*) Dem. 3, 85. Dionys. ad Amm. hatte,
wohl durch Philochoros' Nachrichten von den
643 ff. verschiedenen Hilfszügen verleitet, einen grö-
*) A. Baran, Die einheitliche Kompo- , Beren Zwischenraum zwischen der ersten und
sition der ersten phil. Rede, Wien. Stnd. 6 | zweiten Rede angenommen und die zweite
554 Griechische LitteratnrgeBchichte. L ElassiBche Periode.
ßchiedene Hilfeleistung ein, und die wuchtige Sprache macht die drei
kurzen Reden fOr Olynthos zu den vorzüglichsten Erzeugnissen der demo-
sthenischen Beredsamkeit. Aber die Anstrengungen des Redners blieben
ohne Erfolg; er selbst wagte es nicht, einen förmlichen Antrag auf Ver-
wendung der Theatergelder für Kriegszwecke zu stellen, ^ und ehe sich
Athen zu einer tatkräftigen Hilfeleistung mit einem Bürgerheer aufraffte,
fiel Olynthos durch den Verrat der beiden Reiterführer Lasthenes und
Euthykrates in die Gewalt des Makedonierkönigs.
806. Schon in das zehnte Jahr ging der Krieg mit Philippos; die
Kräfte Athens waren erschöpft, ein Staat, der wie Athen so ganz auf den
Handel und den Export von Artikeln der Kunstindustrie angewiesen war,
konnte nicht auf die Dauer die Unsicherheit der Meere und den alles ge-
fährdenden Kriegszustand ertragen. Auch an seinen Verbündeten hatte
Athen keine Freude erlebt: der schändliche Tempelraub der Phoker erfüllte
ganz Griechenland mit Abscheu; die jahrelang fortdauernde Verwüstung
griechischen Landes durch die gegenseitigen Raubzüge der Phoker und
Thebaner war gewiß nicht bloß einem unpraktischen Friedensfreund wie
Isokrates, sondern auch vielen anderen Athenern ein Greuel. Auf der
anderen Seite litten auch die Küsten des makedonischen Reiches schwer
unter dem langjährigen Krieg mit einem zur See überlegenen Feind, so
daß sich auch Philippos zum Frieden, namentlich zu einem Separatfrieden
mit Athen, geneigt zeigte. Unter solchen Umständen beschloß Athen auf
den Antrag des Philokrates eine Gesandtschaft von zehn Männern an
Philippos zur Einleitung von Friedensverhandlungen abzuordnen, und nach-
dem diese über die zu erwartenden Friedensbedingungen günstigen Bericht
erstattet hatten, durch dieselben Gesandten den Frieden zu ratifizieren und
den Philippos zu vereidigen. So kam 346 der Friede nach dem Antrag des
Philokrates zustande. An seinem Zustandekommen hatte Demosthenes mit-
gewirkt; denn er war beidemal zugleich mit Aischines Mitglied der Gesandt-
schaft gewesen, und wenn er auch mit seinen Kollegen in bezug auf die
Langsamkeit der Reise und die Schönfärberei der Berichterstattung nicht
einverstanden gewesen war, so hatte er sich doch auch nicht entschieden
von ihnen getrennt oder seine Mitwirkung offen versagt. Er war wohl gleich
den andern von der Notwendigkeit des Friedensschlusses überzeugt und sah
sich außer stand, den Phihppos zu schleunigerer Eidesleistung und zur
Einbeziehung der Phoker in den Frieden zu zwingen. Aber wenn er nicht
mit gleich guter Hoffnung an dem Friedenswerk mitarbeitete, so zeigte
sich bald, wie sehr seine Besorgnisse begründet waren. Der schlaue
vor (lio erste gesetzt. Ihm pflichtete in neue- 1 Croiset, M^langes Perrot, Paris 1908, 64 fF.,
ster Zeit G. F. Unoer, Zeitfolge der vier | die überlieferte Reihenfolge für die richtige
ersten demosthen. Reden (Bayr. Ak. Sitz.ber.
1880 S. 273 ff.) insofern bei, 'als er die erste
Olynth. Rede im J. 352 vor der ersten phi-
lippischen gehalten sein ließ; dagegen A.
Baran, Zur Chronologie des euböischen
Krieges und der olvnthischen Reden des Dem.,
Wien. Stud. 7 (1885) 190—231. F. Blass
schließt sich (Att. Bereds. III P 319 f.) der
Anordnung des Dionysios an, während M.
hält. Die zuletzt gehaltene ist jedenfalls die
dritte, zugleich die bedeutendste.
^) Bloß eine Anregung enthält Olynth.
3, 10; einen förmlichen Antrag hatte imlTrüh-
jahr 349 bei der Expedition nach Euboia und
Olynthos Apollodoros gestellt, er war aber
infolge der Anklage des Stephanos wegen
gesetzwidrigen Antrags nicht durchgedrungen
(in Neaer. 3 f.).
8. Die Beredsamkeit, e) Demosthene«. (§§ 805—806.) 555
Philippos hatte sich nicht bloß durch sein Säumen vor der Eidesleistung
in den Besitz mehrerer wichtiger Punkte an der thrakischen Küste
gesetzt, er warf auch nach dem Abschluß des Sonderfriedens bezüglich
der Phoker die Maske ab, setzte sich mit seinen nun freigewordenen
Truppen sofort gegen Thessalien in Bewegung und nahm in Ausführung
eines Amphiktionenbeschlusses an den Phokem, den vormaligen Bundes-
genossen der Athener, blutige Rache für ihre Frevel. Über eine solche
Treulosigkeit, die so gar nicht den verlockenden Vorspiegelungen der Ge-
sandten entsprach, geriet man in Athen außer sich; sogar Aischines hielt
damals eine Philippika; aber man hatte keine Macht, dem Philippos ent-
gegenzutreten, zumal da die formellen Friedensbedingungen von ihm nicht
verletzt worden waren. Noch im Herbst 346 gelang es dem Demosthenes,
die Wut des Volkes, das gute Lust gehabt hätte, einen Krieg gegen Phi-
lippos und die Amphiktionen vom Zaun zu brechen, durch die Rede über
den Frieden (5) zu dämpfen.
306. Nach dem philokratischen Frieden folgt die zweite Periode
von Demosthenes' politischer Tätigkeit, in der er sich, je mehr die
Makedonierpartei das öffentliche Vertrauen verlor, desto mehr zum Leiter
der athenischen Politik {noocxärrig xov drifiov) aufschwang, 345 — 338. Die
Patriotenpartei (außer Demosthenes: Lykurgos, Kallisthenes, Polyeuktos,
Hypereides, Hegesippos, Diotimos, Nausikles) ging nun systematisch mit
Prozessen gegen die Verräter vor. Zuerst brachte Hypereides den Haupt-
anstifter Philokrates zu Fall, der sich nach seiner Verurteilung durch frei-
willige Verbannung dem Todesurteil entzog. Bald kam auch Aischines an die
Reihe, gegen den Timarchos und mit ihm Demosthenes eine Klage
{eloayyeUa) wegen Truggesandtschaft (19, jiagoTiQeaßeiag) einbrachte.
Die Klage kam nicht sogleich zum Austrag, da ihr Aischines mit einer
Klage gegen Timarchos in den Weg trat, indem er diesen der Unzucht
{haigeiag) beschuldigte, wodurch er als ärißwg das Recht öffentlicher Klage
verlor. So kam der Prozeß gegen Aischines erst 343, und zwar jetzt in
der Form eines Rechenschaftsprozesses (ei^^&vvai)^ zur Verhandlung; die An-
klagerede des Demosthenes wie die Verteidigungsrede des Aischines sind
uns erhalten, doch muß Demosthenes seine Rede erst hintendrein sorg-
fältig ausgearbeitet und zum Teil auch umgearbeitet oder (so Blaß) seinen
Entwurf von 346 anstatt der gesprochenen Rede veröffentlicht haben.
Denn wie man aus Aischines (2, 86) sieht, kamen in der wirklich ge-
sprochenen Rede des Demosthenes Dinge vor, die in der geschriebenen
und uns erhaltenen nicht stehen.*) Die lange Anklagerede nimmt gegen
Aischines ein, genügt aber nicht, um von dessen Schuld, daß er sich
nämlich nicht bloß durch den schlauen König überlisten ließ, sondern auch
um Geld die Interessen seines Vaterlandes verraten habe, vollauf zu über-
zeugen. Übrigens ist die Rede des Aischines nicht eine Widerlegung,
sondern nur eine entrüstete Zurückweisung der Klagepunkte. Aischines,
für den Eubulos seinen Einfluß einsetzte, wurde mit einer Mehrheit von
*) Über die neuere Litteratur hierüber G. Hüttneb, Jahresb. üb. d. Fortschr. d. kl.
Altwiss. 50 (1887) 217 f.
556 GrieohiBohe Litteratnrgesohichte. I. Elassiiche Periode.
dreißig Stimmen freigesprochen. ^ Im Jahr vor diesem Prozeß war De-
mosthenes als Gesandter nach dem Peloponnes gereist, um den engeren
Zusammenschluß von Athen und Sparta gegen die unter makedonische
Protektion übergegangenen Staaten Messene und Argos zu betreiben. Eine
Beschwerde makedonischer Gesandter in Athen über sein Vorgehen gab ihm
Anlaß zu der zweiten philippischen Rede (6). Die Rede, mit der er
342 die Ansprüche Athens auf die von Philippos besetzte Insel Halon-
nesos verteidigte,*) ist nicht erhalten, dagegen diejenige, welche Hege-
sippos von Sunion damals in derselben Angelegenheit hielt; wiewohl schon
an der derben Sprache und Ungeschicklichkeit der sachlichen Behandlung
als undemosthenisch erkennbar, ist sie doch als Nr. 7 in unser Demosthenes-
corpus aufgenommen worden. Seine beiden letzten^) und gewaltigsten
Staatsreden, die uns unversehrt erhalten sind, fallen ins Jahr 341, die über
die Angelegenheiten in Chersonesos 8. (März 341) und die dritte
philippische 9. (Mai 341). In der Rede über Chersonesos verteidigt er
den athenischen Söldnerführer Diopeithes gegen die Beschwerde, die
Philippos in Athen über seine Übergriffe geführt hatte, in der dritten
philippischen reißt er mit überwältigendem sittlichen Pathos dem Philippos
und der Verräterpartei die Maske vom Gesicht. Die dritte philippisehe
Rede ist in zwei Rezensionen erhalten, einer kürzeren und einer erweiterten,
deren Verhältnis verschieden beurteilt wird.*) Von nun an ist Demosthenes
der Vertrauensmann des Volkes, das er zu der letzten heldenmütigen Kraft-
anspannung für die Freiheit Griechenlands hinreißt. Er macht Gesandt-
schaftsreisen in Griechenland und betreibt mit Erfolg die Bildung einer
Allianz gegen Philippos; er ist der moralische Urheber der endgültigen
Befreiung Euboias von makedonischer Abhängigkeit und einer Reihe
kleinerer maritimer Erfolge über PhiKppos. Für aUes das ehrt ihn das
Volk 340 auf Antrag des Aristonikos durch Verleihung eines goldenen
Kranzes. Wiewohl formell der philokratische Friede noch zurecht bestand,
traten nach Ausbruch des Krieges zwischen Philippos und den Städten
Perinthos und Byzantion die Athener offen auf die Seite der Städte.
Philippos beschwerte sich brieflich darüber, und Demosthenes hielt eine
Rede gegen diesen Brief. Rede und Brief stehen als Nr. 11 und 12
*) So Idomeneu8 bei Flut. Dem. 15 ; Plut.
selbst nahm an, der Prozeß sei gar nicht
zur Entscheidung gekommen. Aber Demo-
sthenes de cor. 142 spricht gegen diese An-
nahme; s. F. BLASS III 1', 348 ff.
38, 1907, 37), wäre die vierte Philippika
(10) 341,40 zu setzen.
*) Die kürzere liegt uns im cod. 2" vor,
nach dem die Rede von A. Westermann in
seiner Ausgabe abgedruckt ist. Sie liegt auch
*) Der Satz des Demosthenes, daß Phi- ' den stichometrischen Angaben der Attikus-
lippos das Inselchen den Athenern zwar fL-ro- , ausgäbe zugrunde; s. W. Christ, Die Atti-
dovvai, aber nicht doDva< könne, hat den Witz l kusausgabe des Dem., Bayr. Ak. Abhdl. 16
der Komiker geübt (Ath. 223 e). Hegesippos , (1882) 3, 205 ff. Über die zwei Redaktionen
Verfasser nach Liban. Arg.. Harpocr. s. 'Hyt'i'
ouT.TOs und Phot. bibl. 491a 11. Siehe L.
Heinlein, Heges. Rede jt. '^Äoirr/öot; verglichen
mit den demosth. Reden, Progr. Würzb. 1900.
^) Im Fall ihrer Echtheit, die jetzt wieder
Verteidiger findet (A. Körte, Rh. Mus. 60, 1 905,
388 ff.; P. Wendland. Gott. gel. Anz. 1906,
362 ff. ; P. FouoART, M6m. de l'ac. des inscr.
handelt J. DrÄseke. Die Überlieferung der
dritten phil. Rede des Dem., in Jahrbb. f.
cl. Phil. Suppl. 7 (1873— 75)97ff. A.Spenoel,
Bayr. Ak. Sltz.ber. 1887 II 272 ff. weist nach,
daß die längere Redaktion nicht von Demo-
sthenes, sondern von Interpol atoren herrührt.
Siehe a. F. Blass. N. Jahrb. f. kl. Alt. 13
(1904) 486 ff.
3. Die Beredsamkeit, e) Demosthenes. (§ 307.) 557
in unserem Demosthenescorpus. Die richtige Beleuchtung ist den beiden
Stücken, für und gegen deren Echtheit früher viel geschrieben worden ist,
erst durch eine Notiz aus dem Berliner Demostheneskommentar des Didy-
mos^ zuteil geworden, aus der P. Wendland 2) die Folgerung gezogen
hat, daß beide aus dem siebenten Buch von Anaximenes' Philippika ge-
nommen und noch im 4. Jahrhundert unter die Werke des Demosthenes
gestellt worden sind. Anaximenes hatte beide teils frei komponiert, teils
(die Rede 11 unter Benützung von Dem. Reden 1. 2. 8. 9. 18, also nach
330) stilisiert, auch die verletzenden Spitzen und Namensnennungen heraus-
genommen. — Nun zerstörten die Athener die Urkunde des philokratischen
Friedens und traten in offenen Krieg gegen den König ein. Der wichtigste
Erfolg der Patriotenpartei war, daß es ihr allmählich gelang, die Leitung
der Finanzverwaltung in die Hände zu bekommen: 340 setzte Demosthenes
sein trierarchisches Gesetz durch, und 338 erhielt Lykurgos auf zwölf Jahre
das oberste Finanzamt. Aber doch war es möglich, daß 340 drei Männer
der Makedonierpartei , unter ihnen Aischines, als Abgeordnete Athens
(Pylagoren) bei der Amphiktionenversammlung funktionierten und, um einen
von ihnen denunzierten Religionsfrevel der Lokrer zu ahnden, die Herbei-
rufung des Philippos bewirkten. Blitzschnell stand Philippos in Phokis und
besetzte Elateia. Anfang Winter 339 rückten die Athener in Böotien ein.
Demosthenes erhielt damals auf Antrag des Hypereides und Demomeles den
zweiten goldenen Ehrenkranz. Anfangs waren die Athener glücklich; der
Beredsamkeit und diplomatischen Geschicklichkeit des Demosthenes gelang
es sogar, eine Aussöhnung und ein Bündnis der Athener und Thebaner zu-
standezubringen, aber die entscheidende Niederlage bei Chaironeia (August
338) machte allen Berechnungen und Hoffnungen ein Ende. 3)
307. Letzte Periode 338—322. Nach der Schlacht von Chairo-
neia, an der er persönlich ohne besondere Auszeichnung teilgenommen
hatte, beginnt die letzte, traurigste Periode von Demosthenes' Leben, nur
flüchtig erleuchtet von einigen trügerischen Hoffnungen der Patriotenpartei
und einem Vertrauenserfolg des Redners bei seinen Mitbürgern, im ganzen
^) Berliner Elassikertexte I col. 11, 7 ff. 1 Vorsokr.^582) beugen konnte und daß nur ein
^) P. Wendlakd, Anaximenes, 1905, Iff. | Staatsmann, der den Staat dementsprechend
Die Fassung in dem Zitat bei Didymos deckt leitete, den Geist und Charakter seines Staats
sich übrigens (Wendland 14) nicht genau
mit der in unseren Demostheneshandschnften.
Der Brief (n. 12) fehlt in unseren Demosthe-
neshandschriften außer F Y ü und fehlte in
der Ausgabe des Didymos.
') Das durch Aischines inspirierte ab-
schätzige Urteil über die griechische Heeres-
leitung bei Chaironeia ist berichtigt von J.Kbo-
MAYER,AntikeSchlachtfelder,Beri.l903,143ff.,
der auch die Chronologie dieser Ereignisse
aufklärt. Der schiefen Darstellung von A. Holm
zum Ausdruck brachte: die Frage, die Demo-
sthenes in der Kranzrede wiederholt stellt,
T( izQ^y f*s jioietv; kann keiner seiner post
eventum klugen modernen Beurteiler beant-
worten. Ein Verständnis für Makedoniens
weltgeschichtliche Mission, als Riegel gegen
die Invasion der nordischen Barbaren und
als Sturmbock für die Eroberung Asiens zu
dienen, kann von einem damaligen Athener
nicht verlangt werden. In der ^schütznng
der beiderseitigen Kräfte hat sich DnirrosthoTiGS
(Griech. Gesch. III, Berl. 1891, 315 ff.) gegen- I (Rede 1. 2) keine lUnsion^D gemacht, ubor ein
über ist zu sagen, daß sich eine Republik von , Erfolg war, zumal bei richtiger Diploma^tie,
Athens Vergangenheit nicht kampflos einem 1 keineswegs ausgeschloseen, tmd ohne ^
barbarischen König (und für Barbaren hielt 1 sthenes würde Athen wohl das Si '
man damals in Athen allgemein die Make- | Thebens erlitten haben.
donier, s. z. B. AiaXe^. 2, 12 bei H. Diels, |
558 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Elassische Periode.
aber eine dumpfe Zeit für ihn, in der er nur noch in eigener Sache ge-
redet hat. Zunächst legte er auch nach der verhängnisvollen Niederlage
die Hände nicht in den Schoß; er hielt nicht bloß die Leichenrede auf die
in der Schlacht gefallenen Athener, 0 er beantragte auch die Ausbesserung
der Mauern und trat selbst in die damit beauftragte Kommission ein, wobei
er zu den vom Staat ausgeworfenen Mitteln noch Geld aus seiner eigenen
Kasse zuschoß.*) Wegen dieser Verdienste beantragte Ktesiphon im Jahr
336 kurz vor Philippos' Tod 3) eine — die dritte — öffentliche Bekränzung
des Demosthenes und zwar, um die Demonstration der Patrioten und
Makedonierfeinde desto glänzender zu gestalten, im Theater, an den städti-
schen Dionysien, vor den versammelten Bundesgenossen. Sofort erhob
Aischines gegen den Antrag Einsprache und verhinderte dessen Aus-
führung, indem er den Ktesiphon mit einer Klage wegen Gesetzwidrigkeit
belangte. Der Prozeß verschleppte sich, man weiß nicht warum, sechs
volle Jahre und kam erst im Jahr 330 zur Verhandlung. Daß er gerade
damals, als die Schilderhebung des Agis in Sparta die Hoffnungen der
Patrioten neu belebte, verhandelt wurde, ist wohl auf die Partei des De-
mosthenes zurückzuführen, die in einem ihr günstig scheinenden Moment
den Aischines gezwungen haben mag, zu seiner Anklage zu stehen (Dem.
21, 47; 58 6).*) Die Klage war formell gegen Ktesiphon gerichtet, galt
aber in der Tat dem Demosthenes und der von ihm vertretenen Politik;
sie hängte sich an Nebenpunkte, daß die Bekränzung beantragt war ohne
den ausdrücklichen Zusatz, daß Demosthenes zuvor Rechenschaft abgelegt
haben müßte, und daß die Gesetze eine Bekränzung im Theater verboten;
in Wahrheit sollte sie die Handlungsweise des Demosthenes treffen, der,
weit entfernt eine solche Auszeichnung zu verdienen, an allem Unglück
der Griechen schuld sei. Der Prozeß war so von vornherein ein hoch-
politischer, wiewohl es sich um eine tatsächliche Bekränzung des Demo-
sthenes im Fall von Ktesiphons Freisprechung im Jahr 330 nicht mehr
handeln konnte; er erhielt noch mehr den Charakter einer großen Staats-
aktion, in der ein Verdikt über die beiden sich gegenüberstehenden Par-
teien, der käuflichen Friedensfreunde und der ungebeugten Verteidiger der
Ehre des Vaterlandes, gefallt werden sollte, durch die Kunst der beiden
') Dem. de cor. 285. Der erhaltene fm-
xdqnag (60) ist unecht, eine Schulübung eines
unbekannten Rhetors mit Benutzung des thu-
Hauptstelle, de cor. 113, heißt es in i^rany-
XwfiBva eSojxay in B sachlich richtiger xony-
Icofih'a FjzeScoxa, So stellt die Sache dar
kydideltschen Epitaphios, des platonischen ' H. Reich in Abhdl., W. Christ dargebracht,
Menexenosund desHypereides; s. A. Schäfer j München 1891, S. 286—291.
IIP 36. ») Aesch. 3,219; f&lschlich lassen Cicero
^) Die Angaben über den von Demo- de opt. gen. orat. und Plut. Dem. 24 die Klage
sthenes geleisteten Zuschuß weichen von- '■ schon vor der Schlacht von Chaironeia an-
einander ab. Nach Aesch. in Ctes. 17 betrug gebracht sein; s.C. G. Böhnecke, Forschungen
er 100 Minen, nach dem Ehrendekret für i auf d. Gebiete der att. Redner u. der Gesch.
Demosthenes bei Ps.Plutarch p. 851 drei | ihrer Zeit, Berl. 1843, 587 ff. und A. Schäfer
Talente und eine weitere Summe für die ' IIP 84 f.
Gräben im Peiraieus. Wahrscheinlich gab
Demosthenes selbst an, er habe drei Talente
im ganzen aus seiner Tasche hinzugegeben.
*) Dagegen weist F. Blass III P, 432 auf
Anzeichen dafür hin, daß zur Zeit der Pro-
zeßverhandlung die Makedonier wieder un-
speziell 100 Minen für den freiwillig über- I bedingt die Herrschaft hatten; aber das
nommenen Weiterbau (eoyor fiei^ov i^etoyao- braucht zur Zeit der Einbringung der Klage
jiitvor Aesch. Ctes. 17) der Gräben. An der noch nicht der Fall gewesen zu sein.
8. Die Beredsamkeit, e) Demosthenes. (§ 808.)
559
Redner, die sich im entscheidenden Redekampf maßen, des Anklägers
Aischines und des als Rechtsbeistand für Ktesiphon auftretenden Demo-
sthenes. Cicero sagt in der seiner Übersetzung der beiden Reden voraus-
geschickten Einleitung [de optimo genere oratorum): ad quod iudidum con-
cursus dicitiir e tota Graecia f actus esse; quid enim tarn aut visendum auf
audiendum fuit quam summorum oratorum in gravissima causa accurata et
inimicitiis incensa contentio?^) Beide Reden sind uns erhalten; die demo-
sthenische, die Rede vom Kranz {neoi areqjdvov^ nicht vjihg rov oxetp,^
wie Aristid. or. 26, 530 D. zitiert, oder vTikg rfjg ävaggijaeayg Aristid. 49,
516 D.), ist ein unübertroffenes Meisterstück;*) der Redner verdeckt durch
geschickte Anordnung die schwachen Punkte') und verbindet mit der Ver-
teidigung seines Klienten die Verherrlichung seiner Verdienste und die
moralische Vernichtung seines Gegners; die Rede ist ein glänzendes Denk-
mal des Patriotismus und zugleich der Beredsamkeit des Mannes, der
durch seine flammende VaterlandsUebe und hinreißende Redegewalt diese
Zeit des Niedergangs der hellenischen Freiheit verklärt hat.*) So urteilten
auch bereits die Geschworenen Athens, die so zahlreich für die Politik des
Demosthenes eintraten, daß Aischines nicht einmal ein Fünftel der Stimmen
erhielt, worauf er Athen für immer verließ.
308. Dem Thronwechsel in Makedonien 336 jubelte Demosthenes zu,
aber er hatte sich stark verrechnet mit der Erwartung, in Alexandres
werde ein „Margites** den Thron besteigen. Gegen die großen Siege des
Alexandres in Asien konnten die in ihrer Vereinzelung ohnmächtigen Ver-
suche der Auflehnung gegen die makedonische Oberherrschaft, und konnte
auch ein Politiker von dem Scharfblick und der Redegewalt des Demosthenes
nichts ausrichten. Zwar fällt in jene Zeit^) die unter seinem Namen um-
*) Die grJTOQog judxrj Theophr. char. 7,
wofür Casaubonus otjtoqcov fi. las, bezieht
sich nicht auf den Eranzprozeß (H. Weil,
Rev. de phil. 14, 1890, 106 f.).
^) Die günstigen Urteile der Alten bei
F. BLASS III 1^ 436, 3 und A. Schäfer IIP
387, 2; doch wird von skeptischer (Sext Emp.
adv. math. II 38) und namentlich später von
christlicher Seite (I. Bekkeb, Anecd. 1447 f.;
Job. Sicul. Rh. Gr. VI 75. 175 f. Walz; Phot
bibl. p. 491 B.) auch die advokatische Kniffig-
keit nicht ofa^e Grund hervorgehoben, und
was Unflätigkeit desVerleumdens betrifft, steht
die Rede keineswegs über der des Aischines.
') Die schwache Seite bildet die Erörte-
rung der Rechtspunkte; diese sind in die
Mitte genommen, so daß Demosthenes durch
Darlegung seiner Politik der Ehre und des
Patriotismus im ersten Teil die Richter (Qr
sich einnimmt und im dritten diejenigen,
welche durch die schwache Rechtfertigung
der Rechtspunkte wankend geworden waren,
wieder für sich gewinnt und durch das Pa-
thos des Epilogs zur rückhaltlosen Partei-
nahme fortreißt. Formell war Aischines
zweifellos im Recht; die Schwächen seiner
Beweisführung bezeichnet F. Blass, Dem.
Rede v. Kranz, Leipz. 1900, S. 14.
*) L. SPBNQEL,DemosthenesTerteidigung
des Ktesiphon, Bayr. Ak. Abhdl. 10 (1866) 27 ff. ;
A. Huo, Der Entscheidungsproz. zw. Äsch.
und Dem., Zürich 1870; J. Bärwinkel,
De lite Ctesiphontea, Progr. Sondershausen
1878; H. Reich, Beweisführung des Äschines
in seiner Rede gegen Ktesiphon, I. II. Progr.
Nürnberg 1884. 85; W. Fox, Die Kranzrede
des Dem., Leipz. 1880. Über die vermeint-
liche Redaktion der Rede A. Kirohhoff, Über
die Redaktion der demosthenischen Kranzrede,
Berl. Ak. Abhdl. 1875, 59 ff., der ohne Ver-
ständnis für die Künste der Rhetorik als Be-
weis mangelhafter Redaktion betrachtet, was
bewußte Absicht des Redekünstlers ist; H.
Reich, Die Frage der sog. zweiten Redaktion
der Reden vom Kranze im Festgruß an die
41. Versamml. deutscher Philol. von dem
Lehrerkoll. des Wilhelmsgymn. , München
1891 (vollständige LitteraturUbersicht) ; A.
Rabe, Die Redaktion der demosthenischen
Kranzrede, Diss. Gott. 1892.
») C. G. BöHKECKE, ForschuÄgen I 628,
ebenso Spengel, Blaß setzen die Rede vor
Thebens Zerstörung im Sommer 335, ebenso
St. Sohüllbr, Wiener Stud. 19 (1897)211, der
560 Ghriechiache Litteratnrgeschichte. I. KlassiBche Periode.
laufende Rede ji€qI tcov ngög ^AXiSavdgov ovv&rixibv^ die eine Aufforderung
zum Aufstand gegen die Makedonier wegen Bruchs der Verträge enthält;
aber sie kann, wie bereits die Alten sahen, >) nicht demosthenisch sein.
Auch kam die Leitung der beiden Parteien Athens allmählich in andere
Hände, in die des Hypereides auf der einen und die des Demades auf der
anderen Seite. Eine neue Bewegung, in die auch Demosthenes verwickelt
werden sollte, brachte die Angelegenheit des Harpalos. Dieser war mit
Schätzen des Königs Alexandres davongegangen und begehrte Einlaß in
Athen. Demosthenes erklärte sich gegen die Aufnahme und riet, nachdem
Harpalos doch Einlaß gefunden hatte, Deponierung der Gelder auf der
Akropolis. Als hintendrein, nachdem Harpalos nach Kreta geflohen war,
das Depot untersucht wurde, fand sich ein bedeutender Abmangel (von
siebenhundert Talenten fehlte die Hälfte) und entstand der Verdacht, daß
die fehlende Summe zur Bestechung der Redner verwendet worden sei.
Der Areopag nahm selbst die Voruntersuchung in die Hand und veröffent-
lichte eine Liste derjenigen, welche Geld von Harpalos empfangen hätten
{x(bv dcogodoxrjadvTcov). Auf dieser stand auch Demosthenes mit fünfund-
zwanzig Talenten.*) Die Sache kam darauf vor Gericht, vertreten von
einer Kommission von zehn öffentlich bestellten Anklägern unter Stratokies,
in der auch Hypereides war, und da Demosthenes nicht leugnen konnte,
Geld empfangen zu haben, und nur behauptete, dieses nicht für sich, son-
dern für die öffentlichen Bedürfnisse der Stadt erhalten zu haben, so ver-
urteilten die Richter, ohne die Sache näher zu untersuchen,*) den Redner
zu einer Geldbuße von fünfzig Talenten (324). Da er die Summe nicht
bezahlen konnte, so entfloh er nach Aigina und weiter nach Troizen, wo
auch schon nach der Schlacht von Chaironeia flüchtige Athener Aufnahme
gefunden hatten (Hyperid. adv. Athenog. 29). Seine Rechtfertigung und
Bitte um Rückberufung, die den Inhalt des zweiten an Volk und Rat der
Athener gerichteten Briefes bilden, fruchteten nichts; eine Wendung trat
erst ein, als nach dem Tod des Alexandros (323) Athen, Argos und Korinth
sich gegen die makedonische Zwingherrschaft erhoben. Demosthenes schloß
sich noch als Verbannter den athenischen Gesandten, die zum Ki'ieg gegen
die Makedonier aufriefen, an und wurde bald feierlich auf Demons Antrag
zurückberufen. Die Zahlung der Buße übernahm unter der Form einer
sie für Improvisation (!) eines alten, mit den
Schriften des Isokrates vertrauten Mannes
hält; hingegen A. Schäfer IIP 208 f. in das
Jahr 330, ebenso J. Windel, De oratione quae
est inter Demosthenicas decima septima, Leipz.
1881, und A. Kornitzer, Ztschr. f. österr.
Gymn. 33 (1882) 249-270.
*) Nach Libanios in der Hypothesis fan-
den einige in ihr den Charakter des Hype-
schickt habe; ebenso den schlechten Witz,
den einige über Dem. machten, als er mit
verbundenem Hals auf den Markt kam und
nicht sprechen zu können erklärte: ovx r:i6
ovvdyx^jg erftjnCo}', dÄA' tvi* a^yx^QdyxV^ eiXrjq:'-
dai vvxxiOQ n)v ^rjftaycoyoi'.
^) Wir haben aus dem Prozeß noch die
von Invektiven überfließende Rede des Dei-
narchos und Teile der Rede des Hypereides.
reides. was nicht ganz zutrifft (St. Schülleb ; Über mangelhafte Untersuchung beschwert
a. a. 0.). sich Dem. im zweiten Brief. Für die ün-
^) Plut. Dem.25 erzählt nach feindseliger schuld des Demosthenes spricht das von Pau-
Quelle die 'Anekdote von dem goldenen Be- sanias II 33, 4 erwähnte Zeugnis des Kassiers
eher, der bei der Musterung dem Dem. in des Harpalos, daß in Harpalos' Ausgaben-
die Augen gestochen habe und den ihm Har- buch der Name des Demosthenes nicht ge-
palos dann gefüllt mit 20 Talenten zuge- standen habe.
3. Die Beredsamkeit, e) DemosthenoB. (§ 809.) 561
Anweisung von fünfzig Talenten an Demosthenes zu einem Opfer an Zeus
Soter der Staat. Aber der Traum der wiedererstandenen Freiheit sollte
nicht lange währen; die Niederlage bei Krannon vernichtete vollständig
die Hoffnung der Patrioten. Athen wurde eingenommen und mit einer
Besatzung belegt. Demosthenes und Hypereides, auf Antrag des Demades
zum Tod verurteilt, ergriffen die Flucht. Dem Demosthenes gelang es,
nach Kalaureia in den Poseidontempel zu entfliehen; aber die Schergen
des Antipatros rissen ihn vom Altar. Um sich den Insulten seiner Feinde
zu entziehen, nahm er Gift, das er in einem Ring oder Schreibrohr bei
sich trug.i) So starb Athens größter Redner im Oktober 322, nachdem
er in seinen letzten Jahren ein ähnliches Geschick wie später der größte
Redner Roms zu erleiden gehabt hatte.
309. Kunst des Demosthenes. Die überragende künstlerische Be-
deutung des Demosthenes läßt sich auf keine Schulformel bringen, wiewohl
er technische Anregungen ohne Zweifel von Isaios, Isokrates, noch mehr
vielleicht von praktischen Staatsrednem wie Kallistratos empfangen hat.
Sie hat ihre Wurzel in dem sittlichen Ernst seiner Politik, in der mann-
haften Entschiedenheit, mit der er in einer Zeit der Verweichlichung und
des Kleinmutes für die Ehre und Freiheit seines Vaterlandes eintrat, in
der Eigenart seiner Persönlichkeit und seines Temperaments, in dem Feuer,
mit dem er seine Ideale ergriff und seine Zuhörer fortzureißen verstand.*)
Dionysios hat mit dem Wort deivdrrjg^ mit dem er eine Zusammenfassung
aller rednerischen Vorzüge und ein freies Verfügen über sie je nach Um-
ständen bezeichnet, die Bedeutung des Demosthenes charakterisiert.*) Er
weist sie in dem erhaltenen Teil seiner Schrift über Demosthenes aus der
sprachlichen Kunst der Reden nach; den Abschnitt über die Sachbehandlung
{jigayjuauxdg to.tos) hat Dionysios vielleicht nie ausgearbeitet (de Dem. 58 extr.).
Aber wenn auch die Reden des Demosthenes ganz aus dem Leben und aus
den Kämpfen einer bewegten Zeit hervorgegangen sind und dadurch einen
ganz anderen Eindruck auf uns machen als die in dem Schatten der Schule
ausgearbeiteten Deklamationen, so war er doch nicht ein einfaches Natur-
genie, sondern hatte sich mit Mühe und Sorgfalt zum großen Redner
herangebildet. Daß er alle Kunstgriffe der Rhetorik kannte, daß er ganz
nach den Regeln der Schule die schwachen Teile durch die Kunst der
Anordnung {rd^ig) zu verstecken und durch das Pathos und die Zuversicht-
lichkeit der Rede die Schwäche der Beweisgründe zu übertönen wußte, das
hat besonders L. Spengel verstehen gelehrt. Ist durch dessen Analysen der
Glaube an die Unparteilichkeit des Demosthenes und an die Wahrhaftig-
keit seiner Anklagen in nicht wenigen Fällen herabgemindert worden, so
wird dadurch die Bewunderung für seine Kunst nicht abgeschwächt.
Die Regeln der Kunst und die Gewandtheit im sprachlichen Ausdruck
hat Demosthenes zunächst in den Rhetorenschulen und in dem Studium
*) Ai}ftoodevr]s Ltißoj/iKx; ist dargestellt I §§95—101. Zur Beurteilung von Demosthe-
auf einem in England befindlichen Terra-
kottarelief: 8. A. Michaelis im Anhang zu
Schäfers Demosth.'-.
*) Besonders schön in der Kranzrede
Handbnch der Idass. Altertnnuwissenschaft. TU. 5. Aufl. 86
nes* Politik s. o. S. 557, 3.
') Aischines schon nennt ihn Seivöi Dem.
de cor. 276. Siehe o. S. 546, 4.
562 Ghriechische LitteraturgOBchichte. L Slassische Periode.
geistesverwandter Autoren gelernt.^) Ganz besondere Aufmerksamkeit
wandte er der von den früheren Rednern wenig beachteten*) Kunst des
Vortrags (vjioxQioig) zu. Gefragt, was beim Reden das erste sei, soll er
der Kunst des Vortrags die erste, zweite und dritte Stelle zugewiesen
haben. 5*) Er soll auch bei Schauspielern in die Lehre gegangen sein und
sich insbesondere von dem berühmten Schauspieler Satyros öfter einzelne
Stellen haben vorsagen lassen.^) Mit der Zeit brachte er es so im Vortrag
und Gebärdenspiel zu großer Virtuosität. Beobachteten die Früheren, mit
einzelnen plebejischen Ausnahmen wie Kleon, eine feierlich steife Haltung,
indem sie die Rechte unverrückt im Gewände behielten, so sprach er
zuerst degagiert, frei und lebhaft die Hand bewegend.*) Der Geist, der
ihn beseelte, trat dann in seine Augen und gab seinem Gesicht jenen
energisch, fast krampfhaft konzentrierten, von innerer Erregung glühenden
Ausdruck, den wir an seiner Büste bewundern.«) Die ephemeren Lorbeeren
des geschickten Improvisators, mit denen sich sein Gegner Demades be-
deckte, lockten ihn nicht; er war auch dazu nicht geboren. Vielmehr
verwandte er den größten Fleiß auf die Ausarbeitung und Feilung der
Rede. Deine Reden riechen nach der Lampe, warf ihm Pytheas vor;')
andere schalten ihn einen Wassertrinker, der sich vor lauter Studieren
nicht die Zeit zu lustigen Gelagen nehme. Jedenfalls hat er die Reden,
bevor er sie veröffentlichte, sorgfaltig durchgearbeitet, vielleicht auch bei
zweiter Herausgabe nochmals revidiert. Wir haben das bereits oben bei
der Rede von der Truggesandtschaft angedeutet; bei der Rede vom Kranz
scheint er auch auf die inzwischen veröffentlichte Gegenrede des Aischines
Rücksicht genommen zu haben. ^) Vorzüglich aber wird sich die Feilung
vor der Veröffentlichung auf die Feinheiten des sprachlichen Ausdrucks
und den Rhythmus der Rede erstreckt haben. Demosthenes trat hier
insofern in die Fußtapfen des großen Stilmeisters Isokrates, als er den
Hiatus, wenn auch nicht peinlich, so doch sorgsam zu vermeiden suchte;
auch die ihm beliebte Verbreiterung des Ausdrucks durch synonymische
Zweigliedrigkeit {oxomTv xal ögav u. ä.) ist isokratische Art. Eigentümlich
ist ihm selbst die Abneigung gegen gehäufte Aufeinanderfolge kurzer Silben;
sie schien ihm die Kraft des Ausdrucks zu brechen, ^^ ^i°® Anschauung,
^) über seine Aasbildung s. o. S. 577 f.
*) Vgl. Arist rhet. III 1 p. 1403b 21.
') Siehe o. S. 546, 2.
*) Plut. Dem. 6.
^) Darauf spielt an Aesch. 1, 25 und Dem.
T(ov eq-1} Tovg Xoyoi^g xov Arjftoo^eyovi kvxvoiv
«LtoC«»', ähnlich Plut. Dem. 8. L. RiJ>ER-
MACHBB, Berl. phil. Woch. 27 (1907) 301.
zeigt, daß der Vorwurf gemeinplätzig (Ar.
eq. 347) ist.
de fals. leg. 255: vgl. das Bild des Redners. ») A. Schäfer III* 68 ff.; H. Reich a. 0.
Den peripatetischen Salonprofessoren war •) Das wichtige , rhythmische Gesetz*
sein Vortrag zu leidenschaftlich (Demetr. wurde erst von F. Blass III 1*, 105 f. erkannt
Phal. bei Philod. de rhet. vol. I 197 Sudh.) Aus ihm erklärt es sich z. B., daß D. or. 41. 6
und doch nicht aktuell wirksam genug (Theo- i dti&eto ooovg ijiioiijoat den Plural Sgovg statt
phrast. bei Plut. Dem. 10). ' ogov anwandte, wiewohl es sich dort nur um
®) Siehe die Büste der Münchener Glj'pto- ein Pfand handelte. — Rhythmische Analysen
thek n. 149. Vgl. H. Schböder, Über die (solche findet man schon bei Dionys. de comp.
Abbild, d. Demosthenes, Braunschweig 1842; ; verb. 18) aus der ersten philippischen Rede
A. Michaelis in A.Schäfers Demosthenes : gibt E.Norden, Die antike Kunstprosa 911 ff.,
IIP 165. indem er die Kola nach den Anzeichen des
') Liban. vit. Dem. Z. 79 : Ilv^iag axco.i- Sinns, vielfach aber auch nach sehr subjek-
8. Die Beredsamkeit, e) Demosthenes. (§ 309.) 563
die sich schon in der Vermeidung zu vieler Auflösungen im Dialog der Tra-
giker ausdrückt. Wirkungsvoll ist namentlich seine rhetorische Kunst der
Wortstellung und die nicht überhäufige, aber doch gern gesuchte Belebung
der Rede durch Figuren, von denen er einige, wie die Leiter (xAZ/caf), zuerst
einführte.^) Auf diese Weise vereinigen die Reden des Demosthenes auf
das schönste das Feuer und die Kraft, welche die Hitze des Redekampfes
auf dem Markt erzeugte, und die Sauberkeit und Sorgfalt des Stiles, welche
die nachträgliche Feilung im Studierzimmer dem ersten Erguß der Rede
hinzufügte.*)
Um das Gesagte an Beispielen zu erläutern, seien ein paar Stellen ans der dritten
philippischen Rede herausgegriffen: § 13 lesen wir eh* oUad'* avj6v, oi ijioiijoav /lev ovdh
äv xaxm', firj jia&eTv ö* itpvld^avt* av tawg, rovtovg fiev i^ouiatäv aigeXo&at fiäXXov tj jtooXeyovxa
ßtai^eodai, vfiTv S* ix jrgooQi^oecjg jzoXefirjaetv, xal xavd* «üff av kxovxsg i^ouiaräa^e; Wir hahen
hier ein kondizionales Sachverhftltnis, aber das bringt der Redner nicht in der Form der
Logik mit Vorder- und Nachsatz vor (wenn er diejenigen ... so wird er euch . . .), son-
dern in kraftvoller Nebeneinanderstellnng der Gegensätze, und, statt in der einfachen Form
der Behauptung, mit wirksamstem Appell an das eigene UrteU der Zuhörer (oTead* avzoy
. . . :ioXffjirjoeiv;), Gestellt sind die Worte so, daß nicht ein nichtssagendes Fronomen dem
Relativsatz vorangeht, sondern das Relativum o? mit dem Demonstrativum rovxovg wirkungs-
voll aufgenommen wird, daß femer die entgegengesetzten Pronomina xovxovg und vfiiv an
die Spitze der Sätze treten, und daß die Gegensätze e^<maxäv und ßtd^eo^t die nebensäch-
lichen Worte algeio&ai — jtgoXsyoyxa in die Mitte nehmen. Um femer dem Zweifel, ob die
Duodezstaaten sich überhaupt zur Wehr setzen würden, kräftigeren Ausdmck zu geben,
ist von der gewöhnlichen Stellung Tacog äv e<pvXd^avxo Umgang genommen und das zweifelnde
locog mit Nachdruck an den Schluß gesetzt. Um endlich den anstößigen Hiatus algeiaücu
tj HQokiyovxa zu vermeiden, erlaubt sich der Redner, ein überflüssiges oder doch nicht not-
wendiges fjäXXoy zwischen die klaffenden Vokale zu schieben. — Ein ähnliches Verhältnis
liegt in § 17 vor: 6 ydg olg äv «yw Xtjfp^eitjVf xavxa jigdxxoDV xcu xaxaaxeifaCofuvog, oöxog efioi
nolefiel xäv ^rjjico ßdXXfj fitjdk xo^evjj. Auch hier wiid zweimal das Demonstrativum xavxa
und ovxog dem Relativsatz kraftvoll nachgestellt, im übrigen aber ist zum Ausdrack der
logischen Verhältnisse eine andere Form gewählt; die gleiche Form, wenn auch noch so
gut, hätte bei öfterer Wiederholung Überdruß erzeugt; aber auch so kein mattes Wenn,
sondern ein direktes Hinweisen auf den alle Vorbereitungen zur Überlistung der Stadt
treffenden Feind (6 . . ovxog eftoi), dann aber auch nichts mehr von einem bloßen Glauben,
sondern bestimmte kategorische Behauptung (jioXefxeZ). Beachtenswert ist sodann in unserer
Periode der Unterschied in den Satzschlüssen oi'xog ijuoi jtoks^X und firjde xo^eiffj : im ersten
vermeidet Demosthenes, in dessen Rede schon die Alten, vorzüglich der Rhetor Dionysios,
einen gewissen Rhythmus fanden, selbst nicht die Ähnlichkeit mit der ersten Hälfte des
Hexameters, in dem zweiten führt er durch die Schwere der gehäuften Längen den Athenern
tivem Ermessen abteilt. — Neue, aber sehr I Isokrates unterscheidet sich Demosthenes
bedenkliche Sätze über den Rhythmus in der i durch Femhaltung der bloß klingenden und
prosaischen Rede überhaupt stellt auf F
Blass, Die Rhythmen der attischen Kunst-
prosa. Leipz. 1901. K. Fuhr, Rh. Mus. 57
(1902) 426 f., versteht den von 355 an häufigen
Gebrauch der x-Formen im Plural der Aoriste
von Verba -/« als Wirkung des „rhythmischen
Gesetzes*; vgl. dens., Berl. phil. Woch. 24
(1904) 1030 f. A. 5. Eine rhythmische Scha-
blone kennt Dem. nicht, aber eine Vorliebe
für trochäisch-kretische Klauseln verbindet
spielenden und durch Anwendung auch volks-
tümlicherer und derberer Figuren wie Ana-
phora, Frage. In diesem Sinn sind auch die
Improvisation vortäuschenden Redewendungen
(jiQoajfoitjatg o^fdiaofiov) sehr charakteristisch
für ihn: s. F. Blass, Att. Bereds. IIl 1«, 183 f.
') Quintil. X 1, 76: oratonim longe prin"
ceps Demosthenes ac paene lex orandi fuit:
tanta vis in eOy tarn densa ornntOj ita qui-
busdam nervis intenta sunt, tarn nihil otio^
ihn mit den späteren Asianem. | sunty is dieendi modus y ut nee guod desit in
0 J- Straub, De tropis et figuris quae I eo nee quod redundet invenias. Vergleich mit
inveniuntur in orationibus Demosthenis et i Cicero bei Auct. jt. vyf. 12, 4.
Ciceronis, Progr. Aschaffenburg 1883. Von
36*
564 Griechische Litieratnrgeschichte. I. KlasBische Periode.
eindringlichst die Größe der Gefahr zu GemQt und schließt zugleich, ähnlich wie im Ein-
gang der Kranzrede tiqwtov fih', w ävSgeg *AOi]vaToi, roig dcoii evxoftai jtäat xai jidoatg^ mit
wuchtigem doppelkretisch katalektischem Rhythmus die Periode. — Von besonderem Inter-
esse sind die ziemlich zahlreichen Stellen, an denen uns die Rede in zwei Rezensionen,
einer demosthenischen und einer nachdemosthenischen, erhalten ist; denn an ihnen kann
man zumeist den großen Unterschied zwischen dem gedrungenen, wuchtigen Stil des
echten Demosthenes und der matten Breite seiner Nachtreter oder Bearbeiter^) kennen
lernen. Auf die besonders lehrreiche Stelle § 46 kann hier nicht näher eingegangen werden ;
erwähnt sei nur noch ein einfacherer Fall. In § 25 hatte Demosthenes auf die Ankündi-
gung 7idv&* 56' e^fffidQTTfzai AtuceSatftovlotg eXdrrov* iailv, m ävögeg 'A^vdioi, ihv
^ÜLuijrog h tgioi xai Sex* oi'/ okoig heatv, oTg emnoka^n, rjfiixrjxe xovg "EkXipfog, fiäikov
6* ovdk jidfuiTov fiioog tovicov ixetva sofort das Sündenregister des Philipp mit X>lvv&or
/UV dy xai Me&wvtfv xai lAjioXXcoriav xtX. folgen lassen. Was tut der Nachtreter und
was würden wir Epigonen in ähnlichem Falle tun? er ersetzt das individuelle jiefunov mit
dem verwaschenen noUootov und schiebt zwischen die kurz abgebrochene Propositio und
die Schlag auf Schlag erfolgende Argumentatio den langweiligen Satz xai xovxo ix ßoaxeog
loyov gqtStov dei^at,
310. Persönlicher Charakter des Demosthenes. In der Hoheit
der Gesinnung und der rhetorischen Kunst beruht der hohe Wert der
Reden des Demosthenes. Diese Vorzüge würden bleiben, auch wenn er
selbst im Leben weichlich und feige gewesen wäre. Aber die Vorwürfe,
die in dieser Beziehung gegen ihn erhoben wurden, sind gewiß nur aus
dem Haß und Neid seiner politischen Gegner hervorgegangen. Hätte er
wirklich, wie ihm Aischines (3, 152) vorwirft und Plutarch (Dem. 20) gläubig
nacherzählt, in der Schlacht von Chaironeia in feiger Flucht den Schild
weggeworfen, so hätten ihn schwerlich seine Mitbürger der Ehre gewür-
digt, den Gefallenen die Grabrede zu halten.*) Und daß er kein Wüstling
war, der sich durch Ausschweifungen entnervte, beweist die zähe Energie,
mit der er für seine politischen Ideale zeitlebens eintrat. Der Spitzname
Bdrakos, der allerdings auf derartiges deutet, kann dagegen nichts be-
weisen.») Wie skrupellos man im Athen des 4. Jahrhunderts mit der-
artigen Verdächtigungen umging, lehren abgesehen von der Komödie die
Reden des Demosthenes und Aischines selbst. Daß er sieben Tage nach
dem Tod seiner einzigen Tochter*) auf die Nachricht vom Tod des Phi-
lippos hin Festkleider anlegte, darf nicht mit Aischines^) als rohe Gefühl-
losigkeit gedeutet werden, sondern war Wirkung jener hochentwickelten
Vaterlandsliebe, vor der bei den Alten alle Rücksichten des Privatlebens
zurücktreten mußten. Für seine Unbestechlichkeit aber spricht schon das
Zeugnis seines Erzfeindes Philippos, der, als einst seine Ratgeber in losen
-) Derartige Stellen werden nach der oben selbst (Mid. 103) mit Entrüstung. Deinarchos
S. 504 erwähnten Entdeckung über Nr. 11 und (or. 1, 12) versteigt sich zu der lächerlichen
1 2 unserer Demosthenessammlung noch weiter Behauptung, Dem. sei allein geflohen,
auf die Möglichkeit zu prüfen sein, daß de- *) Der Name besagt /at'ro.TpwpfTo^ nach
mosthenische Reden mit einigen stilistischen L. Radermacher, Berl. phil. Woch. 27 (1907)
und sachlichen Abänderungen in Creschichts- 301. Über die unbewiesenen Nachreden vom
werke aufgenommen und aus ihnen in der Umgang mit Hetären bei Ath. 592 f., Diog. L.
veränderten Form wieder in das Corpus De- VI 34 und andern s. Schäfer IIP 395.
mosthenicum zurückversetzt worden sind. *) Außerdem hatte er noch zwei Söhne
-) Das hat schon J. J. Reiske richtig
geltend gemacht und Demosthenes selbst de
cor. 285. Daß früher seine Gegner eine Klage
keijxoza^iov gegen ihn planten, bemerkt er
von derselben Mutter, die den Vater über-
lebten; s. Ps.Plut. 847 c.
^} Aesch. o, 77.
8. Die BeredBamkeit. e) Demoathenes. (g§ 310—311.)
565
Schimpfreden über den attischen Redner sich ergingen, diese mit den
Worten zurechtwies: Demosthenes darf schon ein freies Wort sprechen,
denn von ihm allein findet sich der Name nicht in meinen Ausgabebüchern, i)
Und so haben denn auch seine Mitbürger zweiundvierzig Jahre nach seinem
Tod, als ein ruhiges Urteil an die Stelle erregter Parteileidenschaft getreten
war, in dankbarer Anerkennung seiner patriotischen Gesinnung und der Auf-
opferung für das gemeine Beste, die er auch durch freiwillig übernommene
Staatsleistungen, Loskauf von Kriegsgefangenen, Unterstützung bedürftiger
Bürger betätigt hatte, ihm auf Antrag seines Neffen Demochares ein von
Polyeuktos gefertigtes ehernes Standbild auf dem Markt gesetzt*) mit der
vielsagenden Inschrift:
emeg Torjv §d)jut]v yvco/u]], Arjjuoa&eveg, elxe^f
ov no% hv 'EU.r]v(ov fjQ^ev ^jiQtjg Maxedibv,
311. Werke des Demosthenes. Unter dem Namen des Demo-
sthenes sind auf uns gekommen einundsechzig Reden oder richtiger, nach
Ausscheidung des Briefes des Philippos (12.), sechzig, ferner eine Samm-
lung von sechsundfünfzig Einleitungsmustern zu Staatsreden (TtQooijuia) und
sechs Briefe, die alle mit Ausnahme des fünften von Demosthenes aus dem
Exil an Rat und Volk der Athener gerichtet sind. Die Echtheit der Briefe
wird bezweifelt; ob bei allen mit Recht, ist noch nicht ausgemacht.')
Unter den Proömien decken sich mehrere mit den Eingängen wirklicher
Reden, andere sind Schulvariationen, die schwerlich den Demosthenes
selbst, eher seine Schüler und Anhänger zu Verfassern haben.*) Von den
Reden ist so ziemlich alles erhalten, was die Alten als demosthenisch an-
erkannten. Ps.Plutarch gibt die Zahl der echten Reden auf fünfundsechzig
an,s) es fehlen demnach nur vier, die wahrscheinlich von den späteren
Kritikern noch ausgeschieden wurden, darunter die sicher unechte neol rov
*) Ps.Lucian. Dem. enc. 33: öixatos 6 Atj-
fioaOh'rjg :iaQoriaiag rvyxotveiv fiovog ye xtbv
ijti Tf^g 'EXXdSos brifiaycoywv wöafiov obroAo-
ytauoTg iyyiyocuixai xdtv ificbv dvaX(Ofidt(ov.
Daß Demosthenes als Agent des Perserkönigs
Subsidien bezog, wirft ihm Deinarchos in
Dem. 18 und 20 f. vor.
-) Plut. Dem. 30; Zosim. vit. Dem. p.302
Westekmann. Das Dekret im Wortlaut bei
Ps.Plut. p. 850. Auf jenes Standbild gehen
vermutlicn zurück die lebensgroße Marmor-
statue des Vatikan, die vorzügliche Statue
in Schloß Knole (Eigentum des Lord Sack-
ville), die Bronzebüste von Hefkulaneum und
der Marmorkopf der Münchener Glyptothek.
') A. Schäfer verwirft sie alle. Gegen
eine Unechterklärung in Bausch und Bogen
erklärt sich F. Blass III 1*, 439 ff. und Jahrbb.
f. cl. Phil. 115 (1877) 541 ff., indem er nament-
lich die beiden umfangreichen Biiefe zwei und
drei, weniger bestimmt auch den ersten und
sechsten, dem Demosthenes zuweist; gegen
die Echtheit A.Neupekt, De Demosthenicarum
quae feruntur epistularum fide et auctoritate,
Diss. Lips. 1885; auch den zweiten und dritten
Brief verwirft Wilamowitz, Herm. 33 (1898)
496 f. Vgl. F. SusBMiHL, AI. Lit. II 581 f.
Quintilian X 1, 107 redet von echten Briefen,
ohne daß wir wissen, ob er die uns erhaltenen
meint; Cic. Brut. 121. or. 15 meint jedenfalls
andere, ebenso Plut Dem. 20 extr. Von dem
dritten Brief ist ein Teil auf einem Papyrus
s. I p. Chr. erhalten (F. Blass, Jahrbb. f. cl.
Phil. 145, 1892, 33 ff.).
*) R. SwoBODA. De Dem. quae feruntur
prooemüs, Vindob. 1887, spricht sie insgesamt
dem Demosthenes ab, läßt sie aber bald nach
seinem Tod entstanden sein. Vgl. P. Uhle,
De prooemiorum collectionis quae Demosthe-
nis nomine fertur origine, Chemnitz 1885. Von
Prooem. 26 — 29 finden sich Stücke auf einem
Papyrus s. I/II p. Chr. aus Oxyrhynchos
(Oxyrh. pap. I 53). ITgooifiia dtjfiTfyogi)cd von
Kritias werden erwähnt (s. o. S. 173, 4). Daß
Demosthenes, der keinen Redeunterricht er-
teilte, solche für fremden oder eigenen Ge-
brauch (wie Cicero seinen liber prooemionim)
verfaßt habe, ist nicht wahrscheinlich.
*) Das von W. Stüdemünd, Herm. 2 (1867)
443 veröffentlichte Verzeichnis gibt 71 Reden.
566 Griechische latteratnrgeschichte. L ElasBische Periode.
fArj ixdovvai "Agjiaiov,^) Aber auch viele von den erhaltenen Reden sind
mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit von der modernen und
teilweise schon von der alten Kritik verworfen worden. Dionysios scheint
sechsundvierzig Reden (darunter zweiundzwanzig itjjuoaioi) für echt gehalten
zu haben (Blaß HI 1«, 62 f.).
Die Gerichtsreden (Xoyoi dixavixoi) werden eingeteilt in ArjßjiSaiOi*) und
IdicoTixoi; neben ihnen stehen avjußovXevrixol^) und imdetxrixoL Die zwei
epideiktischen Reden, der ijtiT(iq)iog*) und igayrixög^ sind zweifellos unecht;
von der letzten, einer durch Piatons Phaidros und Isokrates beeinflußten
Lobrede auf einen schönen Knaben Epikrates, die, in Briefform gekleidet,
in einen Jigotgemixog isokratischer Art ausläuft, ist es schwer zu begreifen,
wie sie sich überhaupt unter die Reden des Demosthenes verirren konnte;*)
wahrscheinlich liegt dem schon die Annahme zugrunde, Demosthenes sei
Piatons Schüler gewesen (s. o. S. 546 f. A. 5). Von den öffentlichen Reden,
den in der Volksversammlung (drjfirjyoQiai) und den vor Gericht gehaltenen,
ist bereits im Lebensabriß gehandelt worden. Unter ihnen stehen auch
zwei gegen Aristogeiton (25. und 26.), die ziemlich allgemein als
unecht gelten.^) Sie geben sich für Deuterologien (Reden an zweiter
Stelle) aus, gehalten bei der Klage, die unter Alexandros' Regierung
Lykurgos gegen jenen der Atimie verfallenen Demagogen erhoben hatte.
Dionysios de Dem. 57 hatte bereits mit gesundem Urteil die ünechtheit
der beiden Reden erkannt; wenn bezüglich der ersten andere, wie Plinius
(ep. IX 26), Ps.Longinus (27, 3), Photios (bibl. p. 491a 29), für die Echtheit
eintraten, so ließen sie sich durch die allerdings schönen Gemeinplätze,
wie namentlich über den Wert der Gesetze, täuschen. Die Privatreden (25.
bis 59.) sind für die Kenntnis des Privatlebens der Athener und des
attischen Rechts von großer Bedeutung. Sie sind teils nach der Klage-
form, teils nach der Person der Streitenden folgendermaßen geordnet:
sieben Reden in Vormundschaftssachen {IjiiiQomxoi)^ sieben in Fällen von
Schuldvemeinung {jiagayQaq)al)^ namentlich in Handelsprozessen {dixai ijn-
Ttogixai)^ sechs in Prozessen des Widerstreites {diadixaala)^ wo jede der
Parteien das Recht sei es der Erbschaft sei es der Lastbefreiung für sich
in Anspruch nahm, drei wegen falschen Zeugnisses {y^evdojuagtvgicbv).
^) Unsicher ist es, ob die Rede v:teo rwr *) P. Wkndland, Anaxiraenes S. 71 ff.
grjTogwv, gegen die Auslieferung der Redner,
wirklich existierte; s. F. Blass III I*, 61.
Über nicht erhaltene Privatreden s. A. Schäfer
III 2. 315. Schulübungen im Stil des De-
will, unter berechtigtem Widerspruch von
W. Crönebt (Gott. Gel. Anz. 1907, 274 f.),
'E:itzd(p. u. 'EgcDT. einem Verf. zuschreiben.
®) Die Gründe der ünechtheit der ersten
mosthenes wurden in Menge gemacht (A. Rede, meist sachlicher Natur, sucht abzu-
Westermanx, Quaest. Demosth. IV 80 ff. ; vgl. j schwächen und wegzuemendieren H. Weil,
Aristid. or. 53. 54; zwei demosthenisch sein I Revue de phil. 6(1882) p. 1 — 21 und Melanges
sollende Reden in Ps.Callisth. bist. Alex. II ' Renier, Paris 1887 p. 17 ff.; dagegen J. H.
3 ff.). Lipsiüs, Über die ünechtheit der ersten Rede
*) Suid. s. V. 2>üo»'ör/^>c ovuk. gegen Aristogeiton, Leipz. Stud. 6 (1883) 317
^) Über die Echtheitsfragen, betr. die bis 331 ; R. Wagner, De priore quae Demo-
siebenzehn ovufiov/,£VTty.oi 8. o. S. 504. 553 f. sthenis fertur adversus Aristogitonem oratione,
556 f. 559. 5 (es handelt sich um 7. 10 bis Diss. Rost. 1883. Schon die orphisch-mysti-
13. 17). sehen Vorstellungen in Rede 25 (A. Dieterich,
*) Rede auf die Gefallenen von Chairo- Nekyia 137 ff.) zeigen ihre ünechtheit.
neia, s. 558, 1.
8. Die Beredsamkeit, e) DemoBthenes. (§ 311.) 567
eine wegen tätlicher Beleidigung (atxiag)^ acht in Rechtshändeln des
Apollodoros. Von diesen Privatreden verdienen am meisten gelesen zu
werden die gegen Konon (54) in einem Prozeß wegen Körperverletzung
und die für Phormion (36), den Geschäftsleiter in dem einflußreichen
Bankhaus des Pasion. i) Die unechte Rede gegen Neaira, eine durchtriebene
Hetäre (59), hat ein besonderes kulturhistorisches Interesse. Sie gehört
zu den aus dem Familienarchiv des Apollodoros stammenden Reden und
richtet sich gegen Stephanos, einen Gegner des Hauses des Apollodoros, der
jene Neaira ins Haus genommen und die mit ihr gezeugten Kinder als recht-
mäßige Kinder und athenische Bürger ausgegeben hatte. — Schwierig ist
bei den Privatreden die Echtheitsfrage, da zu ihrer Veröffentlichung Demo-
sthenes selbst weniger Grund hatte, so daß diese vermutlich alle, abgesehen
von den Vormundschaftsreden {Xoyoi imxgomxol),^) erst nach dem Tod
des Redners von den Herausgebern seiner Werke aus den Papieren der-
jenigen, für die sie geschrieben waren, gesammelt und veröffentlicht
wurden. Dabei konnte es aber leicht vorkommen, daß die Inhaber der
Reden, wie namentlich die Familie des Apollodoros, 3) auch manche Reden
hergaben, die sie sich von andern hatten aufsetzen lassen. Einige der
Privatreden können schon deshalb nicht von Demosthenes geschrieben sein,
weil sie in eine Zeit fallen, in der er noch zu jung war (52. 53. 49),
oder umgekehrt sich schon ganz den Staatsgeschäften gewidmet hatte
(48. 56. 58. 59). In einer, der Anzeige gegen Theokrines (58), die übrigens
für die Parteistellung des Demosthenes sehr wichtig ist, wird gegen
Demosthenes selbst wacker losgezogen (58, 42 f.). Wieder andere sind aus
sprachlichen oder stilistischen Gründen der Unechtheit verdächtig,*) so daß
schließlich F. Blaß außer den Vormundschaftsreden nebst der Rede (29) für
Phanos (27—31) nur noch zehn Privatreden (36—39. 41. 45. 51. 54. 55. 57)
^) Über die im Altertum besonders ge- ! Schafeb, Dem. III 2, 184 ff. und J. Sioo, Der
feierte 36. s. I. Bruxs, Litt Portr. 534 ff. ; Qber | Verfasser neun angeblich von Demosthenes fttr
die 54. dens. 548 ff. Unter den Privatreden Apollodor geschriebener Reden, Jahrbb. f. cl.
stehen zwei (57 und 58), die gegen Eubulides
in einer Klage wegen entzogenen Bürger-
rechts (ihre Echtheit verteidigt, gegen A.
Schäfer I. Bruns a. a. 0. 546 f.) und die
gegen Theokrines in einer Anzeige {hdei^tg)
wegen Verschuldungen gegen den Staat, die
Phil. Suppl.6 (1872—73) 397 ff. Die Echtheit
der ersten Rede gegen Stephanos wird mit guten
Gründen aufrecht erhalten von G. Hüttnbr,
Demosthenis oratio in Stephanum prior num
Vera sit inquiritur, Progr. Ansbach 1895; s.
a. L Bruns a. a. 0. 534 ff. Die übrigen ge-
Libanios mit Recht zu den öffentlichen nannten Reden außer 36., die ebenfalls echt
rechnet. ist, sind dem Stil nach alle von einem Ver-
*) Es sind deren vier (27. 28, 30. 31), ; fasser (A. Schäfer meinte, von Apollodoros, Was
die wahrscheinlich, weil in eigener Sache ge-
halten, von Dem. selbst herausgegeben wur-
den; von der dritten (die gegen Aphobos,
aber nicht in der Vormundschaftsache, son-
dern als Synegorie für den Kläger Phanos
geschrieben ist) wird indessen die Echtheit be-
zweifelt; s. dagegen S. Reichenberoer, Demo-
aber fraglich bleibt: F. Blass, Att. Ber. III 1*,
592 f.). Ebenso sind die unechten Reden 35.
43.48. von einem, rhetorisch wenig geschul-
ten Verfasser; vielleicht auch 33. 34. 56., die
stilistisch höher stehen als die unechte 44.,
aber ebenfalls nicht von Demosthenes sind.
*) In der Rede gegen Euergos (47) steht
sthenis tertiam contra Aphobum orationem i nur Tm, nie o.-Kog in Absichtssätzen; über
esse genuinam, Würzb. 1881. , andere sprachliche Anzeichen K. Sittl, Gr.
^) Es sind der in Sachen des Apollodoros Litt. II 223. Vgl. P. Uhle, Quaestiones de
geschriebenen Reden acht (36. 45. 46. 49. orationum Demostheni falso addictarum scrip-
50. 52. 53. 59), von denen F. Blaß nur die 45. toribus, I. Hagen 1883, II. Leipz. 1886.
gegen Stephanos als echt anerkennt; s. A. |
568 (hiechische litteratiirgeBcliiohte. L Klassiflohe Periode.
als echt anerkannte, während andere noch unter diese Zahl herabgehen. ^)
Nimmt man dazu die achtzehn sicher echten Staatsreden, so ergibt sich ein
unangefochtener Bestand von dreiunddreißig (elf ovjbtßovXevrixol^ sieben duca-
vixol drjfiooLoi und fünfzehn dixavixoi lÖKonxoi) demosthenischen Reden.
312. Studien über Demosthenes. Einen Teil seiner Reden, jeden-
falls die, welche Anaximenes in seinem Geschichtswerk benützte (2. 4.
8. 9. 18), hat Demosthenes als Pamphlete und Rechtfertigungsschriften,
auch als Stilmuster selbst herausgegeben;^) weiter mag sich sein Ne£fe
Demochares, selbst Redner und Politiker, der 280 die Ehrung für De-
mosthenes durchsetzte (s. o. S. 565), um Sammlung und Herausgabe seines
Nachlasses verdient gemacht haben. In Alexandreia fanden zwar die Werke
des Demosthenes Aufnahme in die Bibliothek und wurden von Kallimachos
katalogisiert,*) aber ein besonderes Studium scheint ihnen dort zunächst
ebensowenig wie den übrigen rednerischen Prosawerken zugewendet worden
zu sein. Die eingehenderen exegetischen, ästhetischen und echtheitskritischen
Studien datieren aus dem Beginn der römischen Kaiserzeit und gehen auf den
Grammatiker Didymos und die beiden Rhetoren Dionysios von Halikarnassos
und Cäcilius von Kaie Akte zurück. Von jenem sind uns die für die ästhetische
Kritik und die Chronologie der Reden wichtigen Schriften Jtegl rtjg Atj/Ao^
a&evovg Xe^ecog und biiöxoXr] jig&g ^Afxfialov erhalten. Hypomnemata des
Didymos zu Demosthenes werden erwähnt von dem Lexikographen Harpo-
kration p. 73, 5 Bekk., und ein sehr stoffreiches Stück aus seinem Kom-
mentar zu den philippischen Reden (zu 9 — 11. 13), der den Schluß seines
achtundzwanzig Rollen umfassenden Gesamtkommentars zu Demosthenes
bildete, ist neuerdings in einem Berliner Papyrus*) aufgefunden worden; Didy-
mos gibt, ältere Werke kompilierend, meist Sacherklärung, und wir müssen
bedauern, daß er von unseren einseitig sprachlich-rhetorischen Scholien
nicht mehr benützt worden ist. Sachliche Richtung zeigt auch der Kom-
mentar zur Androtionea, von dem Reste auf einem Straßburger Papyrus
c. 100 p. Chr. erhalten sind.^) In hellenistischer Zeit hatte die asianische
Richtung das Pathos des Demosthenes ins Barocke hinein fortgebildet, so
daß die strengeren Attikisten des 1. Jahrh. v.Chr. ihr Ideal zunächst mehr
in Lysias und Hypereides verwirklicht fanden. Aber das energische Ein-
treten des Cicero von römischer, des Cäcilius und Dionysios von griechi-
scher Seite für Demosthenes hat zu dem nunmehr im Altertum nicht mehr
angezweifelten Urteil geführt,®) daß Demosthenes der größte griechische
Redner sei. Unter den Klassikerausgaben, die dem Bedürfnis der Zeit
entgegenkommend der Freund Ciceros T. Pomponius Atticus mehr in guter
*) Ein chronologisches Verzeichnis der ' des Didymos in derselben Reihenfolge wie
echten und unechten Reden bei A. Schäfer III | in unsem Handschriften, nur daß 12 fehlte.
2, 316. Der Papyrus ist im 2. Jahrh. n. Chr. ge-
^) P. Wkndland, Anaxim. 12. schrieben.
') Darüber Dionys. Hai. de vi Dem. 13 '^) B.Keil f Anonym. Argentinensis.Straßb.
p. 157, 5 üs. ; C. Rehdantz bei A. Schäfer III 1902) hatte in diesen Stücken Fragmente eines
2, 317 flf. Hermipp. bei Flut. vit. Dem. 5 zi- Historikers aus dem 2. oder 1. Jahrh. v. Chr.
tiert ddfo.-TOTa v.ionr/jfmra, die Biographisches
über Dem. enthielten.
*) Berliner Klassikertexte I 1904. Rede
vermutet; als Stücke eines Kommentars zu
Dem. Androt. sind sie von U. Wiloken, Herrn.
42 (1907) 374 ff., erkannt worden.
1—13 standen in der Demosthenesausgabe ®) W. Schmid, Rh. Mus. 49 (1894) 142.
8. Die Beredsamkeit, e) Demosthenes. (§ 312.)
569
Ausstattung als mit wissenschaftlich festgestelltem Text erscheinen ließ,
ist auch eine des Demosthenes (s. u. S. 570). In den nächsten zwei Jahr-
hunderten, als Demosthenes der Redner schlechthin hieß, entstanden die
nicht zum kleinsten Teil auf Demosthenes fußenden lexikalischen Verzeich-
nisse der Attikisten, die Spezialschriften über den Stil des Demosthenes,
wie die erhaltene Monographie des Tiberius jtegl tojv jiagä Atjjuoo&evei o;^?/-
juaTcov (Rhet. gr. II 59 — 82 Sp.), endlich die Inhaltsangaben {vna&ioeig) zu
den einzelnen Reden. ^) In dieser Zeit kamen die Erklärer auch auf den
Gedanken, zu den meistgelesenen Reden, vom Kranz, von der Truggesandt-
schaft, gegen Meidias, gegen Timokrates, Urkunden, deren Vorhandensein
im Text nur durch Überschrift angedeutet gewesen war, zu verfertigen und
in die Reden einzulegen.*) Sie mochten zu diesen Fälschungen dadurch ver-
anlaßt werden, daß sie in einigen Privatreden, wie gegen Neaira,^) Lakritos,
Pantainetos, Stephanos, Makartatos (Erbschaftsreden) schon seit alters Ur-
kunden in den Text eingelegt fanden. Denn daß die Urkunden jener öffent-
lichen Reden, die so lange die Forscher in die Irre führten, zum größeren Teil
erst nachträglich von den Grammatikern gemacht wurden, steht durch die
Untersuchung von G. Droysen fest,*) so daß es sich nur noch um die Hilfsmittel
handelt, welche diese bei ihren Fälschungen benützten. Im 3. Jahrhundert
schrieb der Rhetor Menandros seinen verlorenen Demostheneskommentar.^)
Auf uns gekommen sind von Erläuterungsschriften aus dem Altertum die
für den Römer Montius verfaßten Hypotheseis des Rhetors Libanios und
die Scholien des Zosimos aus Askalon und des Grammatikers Ulpianus, die
auf die älteren Scholien des Menandros und Zenon zurückgehen, ß) In
^) Verächtlich redet von Demosthenes-
exegeten Hermog. .t. 16. 384, 3 ff. Sp.
*) W. Chkist, Die Attikusausgabe des
Dem., Bayr. Ak. Abh. 16 (18H2) 3, 192 ff. hat
bewiesen, daß die Urkunden zu den bezeich-
neten Reden noch nicht in der Attikusausgabe
standen und die zur Midiana selbst den Scho-
liasten noch nicht vorlagen, so daß sie kaum
vor dem 3. Jahrh. entstanden sein können.
Kleinasiatischen Urspnmg will aus der Form
der Urkunden nachweisen J. J. Wortmanit, De
decretis in Demosthenis Aeschinea, Marburg
1877. Aber was er für kleinasiatisch hält, ist
XOlVfj.
^) Die Urkunden zur Rede gegen Neaira,
teilweise auch zur Aristocratea und Timo-
cratea, standen schon in dem Archetypus
unserer Handschriften, wie aus den Angaben
der Zeilenzahlen hervorgeht. Über die innere
Glaubwürdigkeit derselben J. Kiehemann, De
litis instrumentis in Demosthenis quae fertur
oratione adv. Neaeram, Diss. Leipz. 1886. Aus
inneren Gründen erweist auch die Echtheit
der Erbschaftsgesetze der Macartatea H. Büb-
MANN, Rh. Mus. 32 (1877) 353 ff. gegen K.
Seelioer, Rh. Mus. 31 (1876) 176 ff.; auch
für die Echtheit der Gesetze in der Midiana
ij 47 und 113 tritt ein H. Brewer, Wien. Stud.
22 (1900) 258 ff. Die weitere Litteratur in
dieser Frage zusammengestellt und geprüft
von E. Drerup, Über die bei den attischen
Rednern eingelegten Urkunden, Jahrbb. f. cl.
Phil. Suppl. 24 (1898) 223-365.
*) G. Droysen, Die Urkunden in Demo-
sthenes' Rede vom Kranz. Zeitschr. f. Alt. 6
(1839)537 ff. mit Nachtrag 3 (1845) 13ff. (= Kl.
Sehr., Leipz. 1893, 1 95 ff.); A. Westermann,
Untersuchungen über die in die attischen Red-
ner eingelegten Urkunden, Abhdl. d. sächs.
Ges. 1 (1850) 1 ff.; W. Christ, Die Attikus-
ausg. (s. o. Anm. 2) ; R. Scholl, Über attische
Gesetzgebung, Bayr. Ak. Sitz.ber. 1886 S. 83
bis 139. Schon vor Droysen hatten die Ur-
kunden der Kranzrede und namentlich die
archontes pseudeponymi in ihnen Anstoß er-
regt und verschiedene Lösungsversuche her-
vorgerufen, worüber einen geschichtlichen
Überblick gibt E. Drerup a. 0.
*) W. NiTSCHE, Der Rhetor Men. und
die Scholien zu Demosthenes, Berl. 1883. Aus
den Kommentaren des Menandros u. Phoibam-
mon zur Androtionea ein Rest bei Job. Dia-
konos ed. H. Rabe, Rh. Mus. 63 (1908) 143.
®) Über die Quellen der Scholien W. Din-
DORF im siebenten Bande der Oxforder Aus-
gabe 1849; W. ScHüNK, De scholiorum in De-
mosthenis orationibus XVI II. XIX. XXI. fon-
tibus, Progr. Koburg 1879; Em. Wangrin,
Quaestiones de scholiorum Demosthenicorum
fontibus, Diss. Halle 1883. W.Nitsohes.A.5.
570 Oriechische latteratnrgeschichte. I. ElaasiBche Periode.
neuerer Zeit wurde das Abendland auf den großen Redner wieder hin-
gewiesen durch den Kardinal Bessarion, der im Jahr 1470, um die christ-
lichen Fürsten zum Kampf gegen die Türken aufzurütteln, die erste olyn-
thische Rede in lateinischer Übersetzung herausgab. Eine Gesamtausgabe
der Reden erschien erst 1504 in der Venediger Offizin des Aldus. Be-
merkenswert ist Ph. Melanchthons Urteil^) «antecellunt Demosthenis ora-
tiones forenses omnibus quae scriptae sunt. Ciceronis orationes sind Pawren-
Predigt dagögen; denn Cicero hat sich nach den Krieges-Gm^geln müssen
richten, sed Qraeci dicunt accuratius et eruditius**. Besondere Aufenerk-
samkeit wurde dann dem redegewaltigen Politiker zuerst wieder in Eng-
land zugewandt, wo schon zu Elisabeths Zeiten die Staatsmänner in Demo-
sthenes die beste Schule für Ausbildung in der öffentlichen Debatte er-
kannten und noch im vorigen Jahrhundert der Parlamentsredner der zwan-
ziger Jahre Lord Brougham*) den Demosthenes als unerreichtes Vorbild
politischer Beredsamkeit pries. Mit J. J. Reiskes Ausgabe nahm die philo-
logische Tätigkeit in der Erklärung und Kritik der Reden einen neuen
Aufschwung, der nicht bloß zur Herstellung eines reineren Textes, sondern
auch zur richtigeren Würdigung der Politik des Demosthenes und seiner
Gegner führte.
Von den Reden des Dem. gab es, wie die Subscriptio zur 10. Rede in B und F ht<oo-
ütorai ix ovo 'Atrixtanov zeigt, eine Ausgabe, die in der römischen Buchhandlung des Atticus
erschienen war; auf diese scheinen auch die stichomettischen Angaben in 2 Y B F zurück-
zugehen (W. Christ, Die Attikusausgabe d. DemosÜi., s. o. S. 569, 2, mit berichtigenden
Nachträgen von H. Bürmann, Herrn. 21, 1886, 34, und F. Bürger, Herm. 22, 1887, 650, und
Stichometrische Untersuchungen zu Demosthenes und Herodot, Progr. München 1892). Aus
diesen Utzixiavd kennen wir vier Lesarten (zu 1, 7; 3, 7; 22, 20; 24. 11), von denen
drei falsch sind; ihr Text war also jedenfalls nicht hervorragend, wahrscheinlich (22, 20)
nicht einmal streng einheitlich, und es ist gar kein Grund, unsere beste Überlieferung
mit J. Th. Vömel als attikianisch zu bezeichnen. — Infolge der Interpolationen der Kaiser-
zeit und der Umschrift aus Papyrusrollen in Pergamenthandschriften entstanden zwei Fa-
milien von Codd., die sich besonders in Rede 9 durch kürzere und längere Fassung des
Textes unterscheiden. Zu der a^;i^am exÖGoig^ die Schol. Dem. 21, 133. 147 von der örj-
ft(ü6T)g unterscheidet, stimmt Cod. 2\ Starke Textverderbnis in der Kaiserzeit, in der be-
sonders die rhetorischen Variationsübungen (Auct. ad Herenn. IV 42, 54 ff. ; Fronto ep. 89 f.
NiEB.; Suet. de rhet. 1; Apsin. rhet. 386, 28 ff. Sp.; Hermog. de inv. 197, 16 f. Sp. 242, 3;
Greg. Cor. VII 1294 Walz; Joh. Diacon. ed. H. Rabe, Rh. Mus. 63, 1908, 141) den Text ge-
fährden mochten, zeigt das Zitat bei Hermog. .t. Id. 353, 24 Sp. Der Hauptcodex der älteren
Überlieferung ist 2" = Par. 2934 membr. s. IX (in phototypischer Reproduktion par H. Omont,
Paris 1892. 93); zur anderen Familie gehören F = Marcian. 416 membr. s. X oder XI und der
davon abgeschriebene B = Monac. (Bavaricus) 85 bomb. s. XIII; ferner A = Monac. (Au-
gustanus) 485 membr. s. XII; Y = Paris. 2935 s. X/XI. Gegen H. Useners (Nachr. der Gott.
Ges. 1892 S. 188 ff.) kühnen Versuch, unsere beste Überlieferung auf die Attikiana und diese
auf ein Exemplar der Aristotelesbibliothek zurückzuführen, s. J. H. Lipsius, Zur Textesgesch.
des Demosthenes, Ber. d. Sachs. Ges. d. Wiss. 45 (1893) 1 ff. und Leipz. Stud. 18 (1898) 319 ff.,
wo auch von den neuerdings gefundenen Papvri (über diese auch F. Blass, Jahrbb. f. cl. Philol.
145, 1892. 29 ff., 149, 1894. 441 ff.; das Neuste Arch. f. Papyr. 1, 116. 523 ff.; 2, 360 f.; 3,
283 ff. 493) gehandelt ist; £. Bethe, Demosthenis scriptorum corpus ubi et qua aetate collectum
editumquo sit, Ind. lect. Rostock 1897; E. Drerup, Philol. Suppl. 7 (1899) 533 ff.; ders.. Vor-
läufiger Bericht über eine Studienreise zur Erforschung der Demosthcnesüberlieferung, Bayr.
Ak. Sitz.ber. 1902, 287 ff. — Über den Papyrus der .loooifua s. o. S. 565, 3.
Scholien zu achtzehn Reden von Ulpianus und Zosimos, meistens rhetorischer Art,
am besten bei J. G. Baiteru.H. Sauppe, Or. att. 1149—126. Kritische Zeichen insbesondere zur
Midiana von W. Christ nachgewiesen (Attikusausg. 177 ff.) und aus 2" von H. Weil, Mel.
Graux, Paris 1884 p. 13—20. W. Christ, Attikusausg. S. 163 f., gibt aus den Codices Nachweise
^) Aus seinen Vorlesungen bei W. Meyer, | *) Lord Broügham im siebenten Band
Gott. Nachr. 1894, 170. | der Werke, Edinburgh 1872.
8. Die Beredsamkeit, f) DemoBthenee' Zeitgenossen. (§ 313.) 571
von Kolenteilang durch den Rhetor Lachares aus Athen s. v.; s. Rhet. gr. III 721 f. Walz
und W. Studemukd, Ps.Castoris excerpta rhet, Breslau 1888, p. 23 (Spuren von Eolenteilung
in Papyri F. Blass, Gott Gel. Anz. 1891, 730). — Neue Schollen aus einem Cod. von
Patmos publiziert von I. Sakkelioit in Bull, de corr. hell. 1 (1877) p. 1 ff. 137 ff. Bruchstücke
eines Speziallexikons zur Aristocratea aus den Papyri von Fajjum, veröffentlicht von F.
Blass, Herrn. 17 (1882) 148 ff., zusammen mit umfangreichen Resten eines Didymoskommen-
tars zu Dem. aus Pap. Berol. 9780 herausgegeben von H. Diels und W. Schubabt, Berliner
Klassikertezte I, Beri. 1904. Glossen aus Cod. Marc. 433 gibt H. Rabe, Rh. Mus. 49 (1894)
625 ff. Alte, aber wertlose Schollen zur Midiana enthält der Papyrus, in dem Aristot.
U^rcUoyv jiokiT, steht (gedruckt in der Ausg. von Arist *A^. jt. von J. van Lbbuwen und
H. VAN Hebwebden, Leiden 1891).
Ausgaben: ed. princ. ap. Aidum Venet 1504. — Grundlegende Ausg. mit Übers, und
Noten von Hieb. Wolf, Basil. 1547, Öfters wiederholt. — cum comment. Wolfii Taylori Mark-
landi suis ed. J. J. Reiske in Orat graeci, Lips. 1770; in verbesserter Aufl. von G. H. Sohäfeb,
Lips. 1823 — 26, 4 voll, (bequeme Zusammenfassung der alteren Leistungen zur Demosthenes-
kritik u. -exegese in A. Schäfebs Apparatus crit et exeget ad Demosth., 5 voll., Lond. 1824 — 27,
dazu Indices von E. Seilbb, Leipz. 1833) — ex rec. G. Dnn>OBFn mit Noten der Früheren und
Schollen, Oxon. 1846—51, 9 voll. — Ausg. mit kritischem Apparat von I. Bekkeb( Berlin 1824)
und H. Sauppe (1841—44) in Orat attici. — Textausg. von F. Blass in Bibl. Teubn. 1885 ff.
mit bedenklicher Umformung des Textes nach rhythmischer Theorie. — Spezialausg. : Dem.
adv. Lept c. comm. perp. ed. F. A. Wolf, Hai. 1789; Dem. in Midiam ed. Ph. Büttmann, Berol.
1864; Dem. contiones, de Corona et de fals. leg. ed. J. Th. Vöhel, Lips. 1862; Les harangues
und les plaidoyers politiques ed. H. Weil mit krit. und exegetischen Noten, Paris ed. II
1881 und 1883; Dem. de cor. explic. L. Dissen, Gott. 1837, ed. J. H. Lipsiüs mit krit.
Apparat, Lips. 1876 (2. Aufl. 1887). — Ausgewählte Reden mit erklärenden Anmerkungen
von A. Westermann u. £. Rosenbebo bei Weidmann; von C. Rehdantz u. F. Blass bei Teubner
(in letzterer Ausgabe auch treffliche rhetorische und grammatische Indices), von J. Söboel und
A. Dbueblino bei Perthes. — Demosthenes* Staatsreden nebst der Rede für die Krone über-
setzt mit Einl. und Anm. von F. Jacobs, 2. Aufl., Leipz. 1833; die erste Aufl. Leipz. 1805
veröffentlicht, um den von Napoleons Gewaltherrschaft bedrohten Deutschen ein Mahnbild
aus alten Zeiten vorzuhalten. — Index Demosthenicus compos. S. Pbbuss, Lips. 1892. —
B. Kaiseb, Quaestiones de elocutione Demosthenica, Diss. philol. Hai. 13 (1897) Iff.
f) Die Zeitgenossen des Demosthenes.
313. Lykurgos,^) Sohn des Lykophron aus dem alten Geschlecht
der Eteobutaden und dadurch erblicher Inhaber des Priestertums für Posei-
don Erechtheus, erwarb sich seine größten Verdienste als Staatsmann durch
die ehrliche und besonnene Politik, die er in den schweren Zeiten der Be-
drohung Athens durch Makedonien vertrat, insbesondere aber durch die
geschickte Finanzverwaltung, die er zwölf Jahre lang (338 — 327), teils in
eigener Verantwortlichkeit (338 — 335 und 330 — 327) als Finanz- und Bauten-
minister,^) teils unter dem Namen vorgeschobener Freunde (334 — 331) zum
Heil der Stadt leitete. Lange scheint er das letzte Jahr jener Verwaltung
(327) nicht überlebt zu haben, da sich für seine Kinder, die man nach dem
Tod des Vaters wegen angeblicher Kassendefekte in den Kerker warf,
noch Demosthenes in treuer Anhänglichkeit an seinen ehemaligen Partei-
genossen verwandte.») Lykurgos soll zuerst Schüler des Piaton, dann des
Isokrates gewesen sein, ist aber weder Philosoph noch Epideiktiker ge-
worden. Seit 343 können wir seine Tätigkeit als Mitglied der Patrioten-
partei verfolgen; geboren ist er wohl um 390. Er war ein Mann des sitt-
^) Quellen: P8.Plutarch (aus Cäcilius),
Inschriften (CIA U 162. 168. 173. 176. 180.
180b. 202 Reste seiner Psephismen, von
denen allen nach einem Volksbeschluß von
307 Kopien auf der Burg aufgestellt wurden)
und Suidas. F. Dürkbach, L'orateur Lycur-
gue. Paris 1889.
') Ob ihm schon der sonst erst seit 307
nachweisbare Titel 6 ejiI r// Ötoixtjaei zukam,
ist fraglich.
») Dem. ep. 3; außerdem trat Hype-
reides (or. XXX[ Bl.» p. 115 f.) mit für die
Kinder seines Parteigenossen ein.
572 GriechiBche lätteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
liehen Pathos, von priesterlicher Strenge und Reinheit des Lebenswandels,
ein warmer Verehrer und Förderer der heimischen Religion und ihrer Ver-
kündiger, der Dichter. Besonders bemühte er sich, um dem eindrucks-
vollsten der staatlichen Kulte, dem Dionysosdienst, seine Bedeutung zu
erhalten und zu erhöhen: auf seine Veranlassung wurde der Agon der
komischen Schauspieler am Ghytrentag erneuert, das halbfertige Dionysos-
theater ganz in Stein ausgeführt und in ihm die Porträtstatuen der drei
großen Tragiker aufgestellt, auch ein staatliches vor Schauspielerinterpola-
tionen gesichertes Exemplar des Textes der drei Tragiker angefertigt. Er
war für seine Zeit ein wahrer Censorinus, der mit unnachsichtlicher Strenge
über Zucht, Sitte und Gerechtigkeit wachte und alle, die sich dagegen ver-
gingen, teils selbst als Ankläger teils als Unterstützer fremder Anklagen
zur Strafe zu bringen sich bemühte; und dabei kam er, weil jedermann
wußte, daß ihm jeder egoistische Nebenzweck fem lag, nicht in den Ruf
eines Sykophanten, sondern erhielt schon bei Lebzeiten Ehrenkränze, und
lange Zeit nach seinem Tod, noch im Jahr 307 nach Wiedererlangung ihrer
Selbständigkeit, erstatteten ihm seine Mitbürger den Tribut des Dankes
durch ein Ehrendekret, das in litterarischer (Ps.Plutarch p. 852) und in-
schriftlicher Überlieferung (CIA II 240) auf uns gekommen ist.^) Das Reden
ist ihm nicht leicht geworden, er entschloß sich dazu nur, wo er ver-
pflichtet zu sein glaubte. Politische Reden konnte er dem Demosthenes
überlassen. Er sprach nur vor Gericht, und zwar abgesehen von zwei
Euthynenklagen, in denen er sich selbst verteidigen mußte, immer als An-
kläger. Vor 340 scheint er nicht öffentlich aufgetreten zu sein; seine
meisten Reden fallen nach 338. Die Alten hatten von ihm fünfzehn Reden;
auf uns gekommen ist die einzige gegen Leokrates, der nach dem Unglück
von Chaironeia feige die Stadt verlassen hatte, und deshalb von Lykurgos,
als er 331 wieder zurückzukehren wagte, mit einer Hochverratsklage (efaay-
yekla) belangt wurde, ein ähnlicher Fall wie der des Autolykos, den Lykurgos
schon 338 vor Gericht gezogen hatte. Die Rede wirkt namentlich durch die
sittliche Entrüstung, die aus ihr spricht; der Angeklagte entrann mit
knapper Not der Todesstrafe, indem die Stimmen der Richter zu gleichen
Teilen auseinandergingen, ein Fall, für den die Bestimmung galt, daß
das mildere Urteil obsiegen sollte.^) In die Rede flocht Lykurgos mehrere
Dichterzitate und den berühmten, aber gefälschten Eid der Hellenen vor
der Schlacht bei Plataiai (§ 78) ein.»)
Die handschriftliche Überlieferung ist die gleiche wie bei Antiphon und Andokides.
Spezialausgaben mit Kommentar von G. Pinzger, Leipz. 1824; von C. Rehdantz, Leipz. 1876;
von C. Scheibe, Leipz. 1853; A. H. G. P. van den Es, Groningen 1862. Kritische Bearbeitung
^) Eine Erzstatue des Lykurgos beim Magnesia a. M. ist die Unterschrift noch er-
Areopag erwähnt Paus. I 8, 2; die Basis eines | halten (Inschr.v. Magnesia, Berl. 1900nr.349);
Denkmals aus römischer Zeit mit der Aufschrift ' ebenso von einer aus Tivoli (IGr. XIV 1178;
Avxoroyog 6 qijtwo CIA III 944. W. Jüdeich, | vielleicht beziehen sich auch die Aufschriften
Topogr. V. Athen ^"311. 23; über weitere Sta- , ib. nr. 1176. 1177 auf den Redner L.).
tuen des L. im Erechtheion und dem Theater | ^) Aeschin. 3. 252.
s. dens. S. 249. 280; ein Porträt des Lyk. i ») Daß der Eid, der bei Diodor XI 29. 2
mit Nike vermutet auf einer panathenäischen I wiederkehrt, gefälscht sei, behauptete bereits
Amphoravona.313C.ToRB,Rev.archäol.,3.s6r. | Theopompos bei Theon in Rhet. gr. II 67,
26 (1895) 160 ff. ; von einer Lykurgosherme aus I 21 Sp.
8. Die Beredsamkeit, f) DemostheneB' Zeitgenossen. (§ 314.) 573
von Th. Thalh£im, Berl. 1880; mit den Fragmenten von F. Blass, Leipz. 1899. Wortindex
von L. L. FoBXAN s. o. S. 523. Ein neues Fragment aus dem Hermogeneskommentar des
Joh. Diakonos herausg. von H. Rabe, Rh. Mus. 63 (1908) 148.
814. Aischines (c. 389 — 314)^) war der Sohn ehrbarer, aber in
kleinen Verhältnissen lebender Eltern, des Schulmeisters Atrometos, dessen
Name die Schmähsucht seiner Gegner in Tromes (Zag statt Unverzagt)
verwandelte,*) und der Glaukothea, die als Priesterin von Mysterien sich
Geld verdiente. Der Lebenszeit nach war er einige Jahre älter als Demo-
sthenes. Da er nach seiner eigenen Angabe 1, 49 zur Zeit des Prozesses
wegen der Truggesandtschaft fiinfundvierzig Jahre alt war, so muß er
389 geboren sein. Der Vater wußte aus allen seinen drei Söhnen etwas
zu machen: der eine, Philochares, wurde Vasenmaler, der andere, Apho-
betos, Staatsschreiber;*) auch Aischines fing mit dem Schreiberdienst an,
wandte sich aber dann zur Schauspielkunst, wobei er es indessen nicht über
den Tritagonisten brachte. Vom Theater wandte er sich der öffentlichen
Tätigkeit als Redner und Staatsmann zu; übrigens lag ihm eine regel-
mäßige staatsmännische Tätigkeit fern,*) und es fehlte ihm dazu auch die
Autorität beim Volk. Zum erstenmal trat er 348 nach dem Fall von
Olynthos auf, um den Zusammentritt eines hellenischen Kongresses zu
empfehlen,^) aber bald ging er ganz in das Lager der Friedenspartei über,
die unter Eubulos' Führung um jeden Preis eine Beendigung der kriege-
rischen Verwicklungen suchte. Wie schon oben (S. 554 f.) erwähnt ist,
wirkte er als Gesandter in hervorragender Weise zum Abschluß des philo-
kratischen Friedens mit (346) und mußte sich dann gegen die Anklage der
Truggesandtschaft vor Gericht verantworten, wobei er zuerst den Haupt-
ankläger Timarchos durch die Gegenanklage wegen Unsittlichkeit (hat-
geiag) glücklich beiseite schob, dann aber dem Demosthenes gegenüber nur
mit knapper Not und durch den Einfluß seiner Fürsprecher Eubulos,
Phokion und Nausikles der Verurteilung entging (343). Im Jahr 339 war
er Vertreter Athens (Tivkayogag) beim Amphiktionenkongreß und spielte
dadurch, daß er die Achtung der Amphissäer bewirkte, dem Philippos die
Entscheidung über die griechischen Angelegenheiten in die Hände. Nach
der Schlacht von Chaironeia (338) sank selbstverständlich das Ansehen
seiner Partei, und er kam in immer weiteren Kreisen in den Verdacht,
von Philippos Geld zum Verrat seines Vaterlandes genommen zu haben.
Die Ungunst seiner Mitbürger erfuhr er 330 in dem Prozeß gegen
Ktesiphon wegen gesetzwidrigen Antrags, bei dem er trotz des Auf-
gebotes aller Mittel der Beredsamkeit gegen Demosthenes nicht auf-
zukommen vermochte, so daß er mit seiner Anklage nicht einmal ein
*) Außer Ps.PIut. vit. X orat, einem | 570 ff. — Eine Büste des Aischines mit Na-
Kapitel des Philostr. vit. soph. I 18 und zwei
Artikeln des Suidas haben wir noch die Vitae
eines gewissen Apollonios und eines Anony-
mus. Die Lebensverhältnisse sind entstellt
durch Dem. de cor. 129 ff. und 282 ff., Stellen,
deren Glaubwürdigkeit schon dadurch ver-
ringert wird, daß von den meisten Vorwürfen
in der Rede de fals. leg. noch keine Spur
sich findet. Vgl. I.Bruns, Das litterar. Porträt
mensinschrift im Vatikan; eine Statue aus
Herculaneum in Neapel s. Anhang.
*) Dem. 18, 129.
«) Nach Dem. 19, 249 waren die Brüder
anfangs Unterschreiber {vjtoyoan^iazevovxEg),
brachten es aber dann b^ide zum Staats-
schreiber {yga/n/narei^g tco dtjficp).
*) Dem. 18, 308.
*) Dem. 19, 10 und 303.
574 GriechiBche Litteratorgeschichte. L ElassiBche Periode.
Fünftel der Stimmen erhielt. Da er so der Atimie verfallen war und das
Recht, vor dem Volk aufzutreten, verlor, so verließ er Athen und wandte
sich nach Ephesos, später nach Rhodos, wo er eine Rednerschule eröffiiet
haben soll,^ und Samos. Auch nach dem lamischen Krieg kehrte er nicht
nach Athen zurück, sondern starb fünfundsiebzig Jahre alt in der Fremde.^)
Aischines verdankt seinen Ruhm bei der Nachwelt dem Konflikt, in
den er mit seinem berühmten Gegner Demosthenes geriet. Denn auf uns
gekommen sind von ihm nur die drei Reden aus Prozessen, in denen
Demosthenes ihm als Kläger oder Rechtsbeistand der Gegenpartei gegen-
überstand. Sie sind uns erhalten infolge der Aufmerksamkeit, die zu allen
Zeiten den Entgegnungen auf die demosthenischen Reden neQi naoangeo'
ßeiag und ttsqI Giecpdvov zugewendet wurde. Dieses Verhältnis gibt ihnen
auch heute noch ihre hervorragende Bedeutung. Es sind die Reden: xaxä
TifxoQxov (1), TieQl Tiagangeo ßeiag (2), xard KrrjocqHbvrog (3). Über ihre Ver-
anlassungen ist schon oben, im Leben des Demosthenes, gesprochen wor-
den; die erste, eine wichtige Quelle für die sittlichen Zustände im da-
maligen Athen, aber widerlich zu lesen infolge der geheuchelten sittlichen
Entrüstung, muß im Altertum viel gelesen worden sein, da die Grammatiker
in die ersten einundneunzig Paragraphen gefälschte Urkunden einlegten;
in der dritten Rede, gegen Ktesiphon, hält Aischines trotz aller Kraft-
ausdrücke doch keinen Vergleich mit der hinreißenden Gewalt demostheni-
scher Beredsamkeit aus;*) dem Demosthenes ist es eben, wiewohl auch er
in der Leidenschaft namentlich bei rein persönlichen Auseinandersetzungen
übertreibt und verdreht, doch immer um ein ideales Interesse zu tun und
er hat seine Hände rein gehalten. Aischines, der notorisch für Athen
keinerlei Opfer gebracht, von Philippos dagegen Geld und ein Landgut an-
genommen und doch nicht den cynischen Mut eines Demades und Philo-
krates gehabt hat, sich zu seiner Bestechlichkeit offen zu bekennen, ist
immer damit beschäftigt, durch gleißnerischen Schein seinen Mangel an
Charakter und tieferer Bildung*) zu verdecken, und diese sittUche Minder-
wertigkeit setzt auch seine künstlerische Bedeutung dem Demosthenes
gegenüber herunter.*) Am meisten Lob verdient die zweite Rede, die
auch Lord Brougham (s. o. S. 570) für Aischines* bestes Werk erklärt
1) Ps.Plut. p. 840 d, Philostr. (willkürlich ; III 2«, 208 ff. und H. Reich in der ohen
wird diese Schule mit der rhodischen Rhe-
torenschule in Ciceros Zeit oder gar mit der
zweiten Sophistik von manchen Alten in Ver-
bindung gesetzt: F. Blass, Att. Bereds. III
2*, 265 f.) und Suidas; zum Elementarlehrer
macht ihn der unzuverlässige Anonymus.
«) Die 75 Jahre gibt ApoUonios (p. 268.
63 Westermann) an, verbindet aber diese
Angabe mit dem Mißverständnis seiner Er-
S. 559, 4 angeführten Schrift. Selbst A. Weid-
ner, der so sehr für die Politik seines Ai-
schines eintritt, meint, man werde bei dem
Lesen der beiden Reden an den Kampf des
Riesen mit dem Zwerg erinnert.
*) Bezeichnend ist der Aufputz mit Dich-
terzitaten 1, 144 ff., der lächerliche Schwur
bei avveoig und nmöeia 3, 260 (vgl. dazu Dem.
18, 127), die Übernahme einer langen Stelle
raordung durch Antipatros, wodurch auch jene i nebst ihrem geschichtlichen Schnitzer aus
Angabe zweifelhaft wird. ' Andocid. 3, 3 ff. bei Aesch. 2, 172 f. Ein
') Die Rede des Aisch. ist so wenig aus ' kynischer Anklang 1, 190 f. (vgl. E. Norden,
einem Guß wie ^ie des Dem.; sie scheint Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl. 18, 1892, 329 ff.),
zum Teil schon zur Zeit der Klagestellung, *) Hermog. n. ib. p. 413, 26 Sp. Über
als Dem. noch nicht Rechenschaft über sein seine Lügen F. Blass, Att. Bereds. III 2*,
Amt abgelegt hatte, verfaßt zu sein ; s. F. Blass i 169 ff.
3. Die Beredsamkeit, f) Demosthenea' Zeitgenossen. (§ 815.) 575
hat. Die drei Reden sind noch in der Kaiserzeit viel gelesen und wegen
ihrer Klarheit geschätzt worden, ^ die dritte hat Cicero nebst der deraos-
thenischen Kranzrede ins Lateinische übersetzt. Die Alten kannten
unter seinem Namen noch eine delische Rede, hielten sie aber für
unecht,*) zumal der Areopag die Wahl des Aischines zum Vertreter
Athens in Delos annulUert und dem Hypereides die Führung der Sache
der Athener aufgetragen hatte. Die zwölf uns teils in epistolographischen
Sammlungen (1. 3. 6. 7), teils in Handschriften von Aischines' Reden
erhaltenen Briefe sind schon deshalb unecht, weil sie, an Private (1. 2.
4 — 6. 8. 9) oder an Rat und Volk von Athen (7. 11. 12) gerichtet, meist
auf der falschen geschichtlichen Voraussetzung beruhen, Aischines sei
wirklich verbannt worden und habe nötig, um seine Rückberufung zu
bitten. 3) Der zehnte Brief ist eine Milesia in Briefform.*) Der Verfasser
kennt schon (12, 14) die Demosthenesbriefe, aber noch nicht die Legende
von der Gründung der Rednerschule auf Rhodos,*) gehört also spätestens
in das 1. Jahrhundert der Kaiserzeit.
Die Codd. des Aisch., die auf einen schon stark interpolierten Archet3rpus zurück-
gehen, scheiden sich in zwei Klassen, denen sich eine dritte kontaminierte zugesellt. Ein
Stemma von ihnen stellt H. Ortnbb, Krit. Unters, zu Aesch. Reden, München 1886, S. 23
auf. Siehe a. M. Heyse, Über die Abhängigkeit einiger jüngeren Aeschineshdschr., Progr.
Bunzlau 1904. Ein Fragment (3, 168—186) enthält ein Papyrus aus Fajjum, worüber W.
Habtel, Ober die griech. Papyri Erzh. Rainer, Wien 1886, S. 45. Reste aus Rede 2 und 3 auf
oxyrhynchitischen Papyri s. II/III p. Chr., Arch. f. Papyr. 3, 293. 494. — Schollen haben sich
viele und gute erhalten ; am besten herausgegeben in der Ausgabe von Fbbd. Schultz ; den
Grundstock bilden die Kommentare von Didymos, Aspasios und ApoUonios; s. Ferd.
Schultz, Jahrbb. f. cl. Phil. 93 (1866) 289—315. Th. Fbeybb, Quaest. de scholiorum Aeschi-
neorum fontibus, in Leipz. Stud. 5 (1882) 239 — 392, erweist als Hauptquelle die Attikisten
Aelius Dionysius und Pausanias. — Ausgabe von J. J. Rbiskb, Lips. 1771. mit den Noten
von Hier. Wolf, J. Taylor, J. Markland; mit erklärenden Anmerkungen von J. H. Bbemi, 2. voll.,
Turici 1823— 24, mit Apparat von Fbbd. Schultz, Lips. 1865; crit. Ausg. von A. Wbidneb,
Leipz. 1872. Erklärende Ausg. der Ctesiphontea von A. Weidnbr bei Weidmann, Berlin 1878.
315. Hypereides (389— 322),6) Sohn des Glaukippos aus dem atti-
schen Demos Kollytos, war neben Demosthenes ein Hauptvertreter der
antimakedonisehen Partei, aber in Temperament und Auftreten das Gegen-
teil von Lykurgos' asketischem Ernst, ein leichtlebiger Freund von Hetären
und Tafelgenüssen, so daß er fast eine stehende Figur der neuen Komödie
wurde.'') In die Beredsamkeit durch Isokrates eingeführt,®) wagte er sich
^) Günstig urteilt Philostr. vit. soph. I,
18; To aa<peg xal kevxov lobt Isidor. Peius, ep.
IV 91 p. 1152 b MiGNE.
») Philostr. Vit. soph. I 18, 4. Ein Frag-
öffentlicher Diätet war, berechnet von
Th. Reinach, Rev. des 6tud. gr. 5 (1892) 250.
^) Ath. 341 e ff., wo er als Gourmand,
der jeden Morgen den Fischmarkt besucht,
ment daraus vielleicht Choric. p. 106 Boiss. i aufgezogen wird; die vier Hetären, die er an
') Diese Meinung ist zuerst bei Ps.Plut. ; verschiedenen Orten hatte, zählt Ath. 590 c
vit. X or. 890 c angedeutet. auf. Übrigens möchte L. Radebmachbr (Berl.
*) Zur sachlichen Erklärung A. Brück- phil. Woch. 27, 1907, 302) manches von diesen
NEB, Mitt. des ath. Inst. 82 (1907) 113. Gerüchten auf die Schmähschrift des Ido-
*) Phot. bibl. 490 a 34 und 20 a 8 kennt meneus nsgi drjftaytoycbv zurQckführen. Be-
nur neun Briefe ; Philostratos a. 0. gibt keine zeichnend ist aber doch, daß von den uns
Zahl an. Kritische Bearbeitung der Briefe von bekannten Prozeßreden sechs sich auf He-
E. Drerup, Lips. 1904.
«) Die Vita des Ps.Plut und der Artikel
des Suidas bei A. Westebmann, Bioyg. 312
bis 816. Das Geburtsjahr daraus, daß er
tärenangelegenheiten beziehen.
") Daneben wird er von Ps.Plut p. 848 b
Mitschüler des Lykurgos bei Piaton genannt
Von platonischer Philosophie und Philosophie
576 Oriechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
bereits zur Zeit des Bundesgenossenkrieges mit einer Klage an den da-
mals allmächtigen Staatsmann Aristophon.^) Feste Stellung zur Politik
nahm er in der Hoehverratsklage gegen Philokrates, dessen Verurteilung
er 343 herbeiführte. Zu derselben Zeit vertrat er im Auftrag des Areopags
seine Vaterstadt mit Erfolg als avvdixog in einem Prozeß wegen Verwaltung
des delischen ApoUontempels. Von nun an kämpfte er als imerschrockener
und uneigennütziger Patriot an der Seite des Demosthenes gegen die Vater-
landsverräter, wie er denn 338 den Demades, der die Schamlosigkeit be-
saß, für den geächteten Verräter von Olynthos, Euthykrates, Proxenie
beim Volk zu beantragen, vor Gericht zog. Aber in der Sache des Har-
palos trennte er sich von Demosthenes und trat sogar als sein Ankläger
auf. Nach dessen Verbannung wurde er Führer der Partei, versöhnte sich
auch später wieder mit Demosthenes. Nach dem unglücklichen Ausgang
des lamischen Krieges wurde ihm noch die Ehre zuteil, für die gefallenen
Athener die Leichenrede halten zu dürfen, aber bald mußte er seinen
Patriotismus mit dem Tod büßen. In Gefahr, von dem Volk dem Anti-
patros ausgeliefert zu werden, floh er nach Aigina, wurde dort von dem
ehemaligen Schauspieler Archias ergriffen und vor Antipatros geführt, der
ihm die Zunge ausschneiden und ihn grausam töten ließ (322);*) sein Leich-
nam wurde unbeerdigt hingeworfen und erst später nach Athen gebracht
und im Erbbegräbnis seiner Familie vor dem Reitertor beigesetzt.
Als Redner wurde Hypereides sehr hoch geschätzt; man rühmte an
ihm die Anmut (xdoig), wie an Demosthenes die Kraft. Der Verfasser der
Schrift vom Erhabenen c. 34 vergleicht ihn mit einem Pentathlos, weil er,
in jeder Einzelleistung tüchtig, doch mit keiner das Höchste erreiche,
und urteilt, daß er der Zahl, aber nicht der Größe der Vorzüge nach über
Demosthenes zu stellen sei, wie ihn einige wirklich dem Demosthenes vor-
zogen.^) Einer seiner römischen Bewunderer, der Redner Messalla Cor-
vinus, übersetzte seine Rede für Phryne ins Lateinische.^) Die geistvolle
Freiheit, mit der er die Sache seiner oft recht zweifelhaften Klienten und
Klientinnen führte, spricht sich in der Anekdote von Phryne aus: wie
andere im Epilog, um das Mitleid der Richter zu erregen, die weinenden
Kinder des Angeklagten vorführten, so soll er am Schluß seiner Rede den
Busen seiner Klientin entblößt haben, um durch den Anblick ihrer Schön-
heit die Richter zur Milde zu stimmen.*) Das Altertum hatte von ihm
siebenundsiebzig Reden, von denen zweiundfünfzig die Probe der Kritik
bestanden. Noch zur Zeit des Matthias Corvinus soll in Ofen eine
Hypereideshandschrift existiert haben, aber diese ist, wenn nicht über-
haupt ein Irrtum vorliegt, verschollen, und so war man lange einzig auf
überhaupt merkt man aber in den erhaltenen ' dies Urteil auf die rhodische Schule zurück,
Reden, abgesehen von dem sofortigen Hinweis i in der H. seiner von Pathos freien Eleganz
auf die Unsterblichkeit im Epitaph., nichts. | wegen als Musterredner galt (Dionys. de Din.
*) Hyperid. pro Eux. col. 38 § 28. 8; vgl. Petron. sat. 2).
«) Nach andern (Ps.Plut. p. 849 b) wurde *) Quintil. X 5, 2.
er gefoltert und hat sich dabei selbst, um ' *) Ath. 590 e; der Komiker Poseidippos
nicht gegen seine Freunde zeugen zu müssen, | (Ath. 591 e), der den Prozeß der Phrj-ne auf
die Zunge abgebissen. | die Bühne brachte, wußte aber von jenem
'; Ps.Plut. p. 849 d; wahrscheinlich geht ,' Kunstgriff des Redners nichts.
8. Die Beredsamkeit, f) Demosthenes' Zeitgenossen. (§ 816.) 577
die Berichte der Alten angewiesen, bis im 19. Jahrhundert (seit 1847) aus
Gräbern von Theben in Oberägypten nach und nach sechs Reden {xarä
Atjfioo&evovg vjikg rcbv ^Agnakelmv, vjitg Avxocpqovog äjioXoyia, vTtkg Ev^evbuiov
äjtoXoyia Jigög Uoivevxrov, hivzäfpiog, xaxä 'A&rjvoyevov^t xatä ^ihnmdov) ans
Tageslicht gezogen wurden. Am vollständigsten erhalten sind die im Alter-
tum hochgeschätzte^) Anklagerede gegen den Salbenhändler Athenogenes
wegen betrügerischer Manipulationen in einem Kaufvertrag, die einzige
erhaltene Rede des Hypereides in einem Privatprozeß, und die Verteidigungs-
rede für Euxenippos. In diese Rede, die als Deuterologie in einem zwischen
330 und 324 wegen Verteilung der Ländereien von Oropos ausgebrochenen
Prozeß gehalten wurde, sind interessante Mitteilungen über frühere Rechts-
falle eingeflochten. Lehrreich für Erkenntnis der Grenzen von Hypereides'
Begabung ist der Epitaphios, den er zu Ehren der im lamischen Krieg
Gefallenen, besonders des Führers Leosthenes hielt, und in dem mit An-
klängen an Piaton die Gefallenen selig gepriesen werden wegen ihres ruhm-
vollen Loses und des ehrenden Empfanges im Hades. ^) Der Anlauf zum
Pathetischen ist hier dem Meister der eleganten, geistvollen und schlag-
fertigen Nonchalance mißglückt; es ist die einzige sorgfältig nach der
Regel stilisierte, aber auch die kälteste Rede von Hypereides.
Sprache, Figuration und Komposition sind bei Hypereides lange nicht
so abgeklärt und vornehm wie bei Isokrates, aber dafür steht er auch an
Wirkung weit über dessen ermüdender Steifigkeit. Bei Hypereides ist nichts
Schablone und äußerlicher Zierrat, sondern alles voll Leben, Natürlichkeit,
Temperament. Gern schiebt er vor die Erzählung einen. Teil zur Gewin-
nung des Wohlwollens der Richter (l9?o<5oc, insinuatio bei den Technikern
genannt); die Erzählung fangt er, wenn es ihm paßt, auch einmal von
hinten an, den Beweis führt er nicht im großen Aufbau, sondern ver-
einzelnd, stoßweise. So ist auch bei ihm deiv6Ty]q^^) freilich eine ganz
andere, von hohem Pathos freie, als bei Demosthenes.
Zuerst veröfTentlicht sind die 1847 von J. Arden und A. C. Harris gefundenen Reste
der Reden gegen Demosthenes (1848) und fOr Lykophron und Euxenippos (1853); dazu
kamen später 1858 der Epitaphios, von dem zuvor nur der Schluß aus Stobaios bekannt ge-
wesen war, in dem Stobartschen Papyrus in London und neuerdings die von E. R^villoüt
in der Revue ^gyptologique 6 (1891) veröffentlichte Rede gegen Athenogenes. Zuletzt be-
kannt wurde die Rede gegen Philippides, herausgegeben von F. G. Kenyon, Class. texts,
London 1891, p. 42 — 55. Der Name des Verfassers fehlt; dem Hypereides wird die Rede
zugeschrieben, weil wir aus Athen. 552 d wissen, daß er in dem Prozeß gesprochen hat;
nicht dem Hypereides, sondern dem Demochares oder einem andern schreibt die Rede zu
0. Ribbeck, Jahrbb. f. cl. Phil. 145 (1892) 44 ff . — Gesamtausgabe von F. Blass in Bibl.
Teubn. 3. Aufl. 1894; von F. G. Kenyon, Oxford 1906. Ein neues Fragment der Rede gegen
Demades ist von H. Rabe (Rh. Mus. 63, 1908, 144) aus dem Hermogeneskommentar des
Johannes Diakonos gezogen.
316. Deinarchos,*) Sohn des Sostratos aus Korinth, geboren c. 360,
war um 342 nach Athen gekommen, hatte bei Theophrastos studiert und
^) Ps.Longin :i. v\i\ 34. Die erhaltene *) Außer den allgemeinen Quellen die
Rede ist die erste von den zwei in dem Pro- i für Echtheitskritik wichtige Spezialschrift des
zeß gehaltenen Reden. I Dionysios über Deinarchos, über deren Ver-
^) Ps.Longin. 34 sagt lobend von ihm: hältnis zu Cäcilius und Ps.Plutarch L.Rader-
Tor F.iiTarfiov i.TiÖetxzixöjg fbg ovx olb' et rig | MACHER, Philol. 58 (1899) 161—9. Dieser
a//.oc öädero. leitet mit Unrecht die pseudoplutarchische
^) Hermog. .t. iö, p. 411 , 21 Sp. i Vita direkt aus Cäcilius ab; sie ist vielmehr
Handbuch der klus. AltertnmswisseiMchaft. YII. 5. Aufl. 87
578 (hiechische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
dann seit 336 hier als Fremder, wie Lysias und Isaios, zunächst die Tätig-
keit eines Redenschreibers betrieben. Eine einflußreiche Stellung gewann
er überhaupt erst nach dem Hingang der großen Redner unter der Re-
gierung des Demetrios von Phaleron. Wegen der Tätigkeit, die er unter
dessen Ägide entfaltete, drohte ihm 307, als nach dem Einzug des Demetrios
Poliorketes die demokratische Partei wieder Oberwasser bekam, die Todes-
strafe. Der Verurteilung entzog er sich, indem er nach Chalkis auf Euboia
ging, wo er fünfzehn Jahre lang lebte, bis er 292 auf Verwendung seines
Lehrers Theophrastos wieder die Erlaubnis zur straffreien Rückkehr er-
hielt. In die Zeit unmittelbar nach seiner Rückkehr fiel der Prozeß gegen
seinen ehemaligen Freund Proxenos, den er in einer von Dionysios noch
gelesenen Rede, die die meisten Angaben über sein Leben enthielt, wegen
Unterschlagung seiner Habe belangte. Er war damals schon ein Greis;
wie lange er diesen Gerichtshandel überlebte, wissen wir nicht. Als
Redner bildete er keinen bestimmten Charakter aus und wurde von Dio-
nysios, wiewohl ihn Cäcilius in den Kanon aufgenommen hatte, nicht zum
Gegenstand besonderer ästhetischer Untersuchung gemacht wie Demosthenes
und Aischines. Obgleich politischer Gegner des Demosthenes, suchte er
doch die Kraft demosthenischer Rede nachzuahmen, freilich ohne sie zu
erreichen, wovon er den Beinamen xqL&ivoq Atjfioo^€vt]g erhielt. ^ Über
die Zahl seiner Reden und ihre Echtheit schwanken die Angaben. Ps.-
Plutarch und Photios geben vierundsechzig, das ambrosianische Verzeichnis
vierhundert {v\ wofür vielleicht f', d. i. 60, zu lesen), Demetrios Magnes*)
und Suidas hundertsechzig, Dionysios sechzig echte und siebenundzwanzig
unechte an. Leser fanden nur die Reden, die zu Demosthenes in Beziehung
standen, und so sind uns auch nur drei auf die harpalische Sache bezüg-
liche erhalten. 8) Die erste, die übrigens Demetrios für unecht erklärte,
ist die für Beurteilung des Demosthenes und der Parteiverhältnisse Athens
äußert wichtige Rede xard Jrjuoo^hovg; sie wurde nach der Anklagerede
des Hauptanklägers Stratokies gehalten; Deinarchos schweift hier von der
Sache ab, um sich in der Verurteilung der Politik des Demosthenes und
in maßlosem Schimpfen über seine Person unter starken Anklängen an
ältere Redner, besonders Aischines' Ctesiphontea, zu ergehen. Auch die
Rede für Aischylos gegen Xenophon, den Enkel des Sokratikers, bewegt
sich vorwiegend in persönhchen Verunglimpfungen.*) Das günstige Urteil
des Demetrios von Phaleron über seine rednerischen Eigenschaften^) ist
schwerlich ganz unparteiisch. Kommentare zu ihm verfaßte vielleicht
Didymos, jedenfalls Heron (Suid. s. v.).
Die handschriftliche Üherliefening wie für Antiphon, Andokides und Lykurgos. Er-
klärende Spezialausgahe von E. Mätzneb, Berol. 1842; kritische Ausgabe von F. Blass,
Leipz. 1871, 2. Aufl. 1888; Th. Thalheim, Berlin 1887. Fragment aus der Rede gegen Kephi-
sokles Schol. Aristid. p. 517. 10 Dind.; aus der für Dokimos Didym. Philipp, col. 9, 55.
fast restlos aus Dionys. Hai. entnommen (Wi- I ') Dionysios will ihm auch die unter
LAMOwiTz, Textgesch. der griech. Lyr. 70, 3). Demosthenes' Namen laufende Rede gegen
*) Hermog. rr. Id. p. 413, 15 Sp.; daher Theokrines zuweisen (de Din. 10).
der lateinische Ausdruck hordearius rhetor *) Rekonstruiert aus Diog. L. durch Wi-
bei Suet. rhet. 2 (vgl. Liban. or. I 8 Förster). lamowitz, Antigonos von Karj'stos 330 fF.
^) Bei Dionys. de Din. 1. *) Dionys. de Din. 2.
8. Die Beredsamkeit, f) Demosthenes' Zeitgenossen. (§ 317.) 579
317. Von sonstigen Rednern jener Zeit hatte einen Namen Demades,
Sohn des Demeas aus Paiania, zuerst Ruderer und ohne höhere Bildung,
später Lebemann auf König Philippos' Kosten, der als genialer Naturredner
und Erzähler sich eines ganz außerordentlichen Rufes bei seinen Lands-
leuten erfreute. Von ihm haben sich witzige Aussprüche, Arifiddeia^ wahr-
scheinlich durch Vermittlung des Theophrastos, der ein Bewunderer von
ihm war, erhalten, ^ und ihm wurden in der Sophistenzeit \4erzehn Reden
untergeschoben,^) von denen eine, vtieq rfjg dcodexaerlag^ uns noch aus Ex-
zerpten bekannt ist. 5) Ein yn](piojua von ihm ist inschriftlich (CIA II 124)
erhalten. Femer seien erwähnt Hegesippos von Sunion mit dem Spitz-
namen Krobylos, dem wahrscheinlich die Rede negl 'Akowrjaov angehört;*)
Stratokies, Hauptankläger des Demosthenes im harpalischen Prozeß und
Verfasser des Ehrendekrets für Lykurgos, seit 307 als Politiker und
Schmeichler des Demetrios Poliorketes hervortretend;^) Pytheas, der an-
fangs auf Seiten der Patrioten stand und sich der Vergötterung des Ale-
xandros widersetzte, später aber seit dem harpalischen Prozeß in den Sold
der makedonischen Herrscher trat, Naturredner wie Demades; sein Partei-
genosse Aristogeiton, gegen den die pseudodemosthenischen Reden 25
und 26 gehalten sind, Verfasser unbedeutender, zum Teil unter die dein-
archischen geratener Reden;®) Charisios, den Cicero (Brut. 286) einen
Nachahmer des Lysias nennt und der wiederum Vorbild des Asianers
Hegesias geworden ist (Cic. 1. 1. und or. 226); Glaukippos, der Sohn des
Hypereides; Demochares, Schwestersohn des Demosthenes, der 302 — 287
aus Athen verbannt war; in guter Meinung, aber ohne Verständnis für
den Wechsel der Zeiten und in romantischer Phrasenhaftigkeit redete er
einer Politik stolzer Selbständigkeit Athens im Stil seines Oheims das
Wort. 271/270 setzte sein Sohn und der Erbe seiner Phrasen, Laches die
Errichtung einer Statue für ihn beim athenischen Volk durch;') 280 be-
antragte er das Ehrendekret für Demosthenes und 306 unterstützte er in
einer Rede vjikg 2!oq)oxX€ovg ngog 0iX(ova den Antrag des Sophokles auf
Beschränkung der Lehrfreiheit der Philosophen als geschworener Feinde
der Demokratie.^) Außerdem haben wir aus ägyptischen Papyri ein Bruch-
^) Diese A tjjudöeia (Demetr. de eloc. 282 fF. ;
W. ScHMiD, Rh. Mus. 49, 1894, 147) sind aus
einer Wiener Hdschr. nicht unerheblich ver-
mehrt von H. DiELs, Rh. Mus. 29 (1874) 107 ff.
Schon C. Gracchus benützte JrjfidSeia (Gell. XI
10, 6) ; in der Polemik des Kritolaos gegen
die Rhetorik als Te^vr] spielt Demades neben
Aischines eine Rolle für den Beweis, daß man
auch ohne technische Vorbildung ein großer
Redner sein könne : Philod. de rhet. vol. II 97 f.
SüDH.; Sext. Emp. adv. math. II 16 ff.). Siehe
mitgeteilt von H. Haupt in Herrn. 13 (1878)
489 ff.
<) Siehe oben S.556.
*) Eine Anekdote über Str. noch bei Pro-
cop. epist. 91.
•) L. Radbrmaoher, Philol. 58 (1899)
167 f. Ein neues Fragm. aus seiner Rede
gegen Hypereides aus dem Hermogeneskom-
mentar des Job. Diakonos gibt H. Rabe, Rh.
Mus. 63 (1908) 139.
^) A. Westermann, BtoyQ. p. 292.
Baiter-Sauppe, Ör.Att. II312f. NochChoric. : *j Über jene Polizeimaßregel Wilamo-
p. 60, 4 Boiss. scheint die J. zu benutzen. witz, Antigenes von Karystos 189 ff. Demo-
'^) Ein Katalog der vierzehn Reden aus ! chares hatte auch Zeitgeschichte (/arooiot«),
einer Florentiner Hdschr. veröffentlicht von
R. Scholl, Herm. 3 (1869) 277 f. Cic. Brut. 36
sagt noch: cuius tiulla extant scripta und
ähnlich Quintil. XIl 10, 49.
') Die Exzerpte aus einem Palat. 129
die Polybios benützte, in mindestens 21 Bü-
chern geschrieben; Fragmente (fr. 1 macht
einen sehr üblen Eindruck) bei C. Müller,
FHG II 445 — 9. Kritische Behandlung seiner
Lebensumstände F. Ladbk, Wiener Stud. 13
37*
580 Chriechische LitteraturgeBchichte. I. Elasaische Periode.
stück einer Rede, in der ein Feldherr angegriffen wird (wahrscheinlich
Chabrias von Leodamas), weil er nach einem Seesieg die Toten zu be-
statten und die noch Lebenden zu retten versäumt habe.O — Bedeutender
als alle diese Redner war Phokion, der fünfundvierzigmal zum Peldherrn
erwählt in der Zeit des Demosthenes und über dessen Tod hinaus bis zum
Jahr 317 die Sache der gemäßigten - Politik im Feld vertrat. Wiewohl
kein Redner von Profession, machte er sich doch auch bekannt durch eine
Reihe schlagender Aussprüche. So soll er, ein Verächter der Volksgunst,
als einmal seine Worte beklatscht wurden, zu seinem Nachbar gewandt,
gefragt haben: „Habe ich doch nicht, ohne es zu merken, etwas Schlechtes
gesagt?** 8)
318. Aus den attischen Rednern und den zu ihrer sachlichen Erklä-
rung dienenden Glossen in dem Onomastiken des Julius Polydeukes (Pollux)
und in dem Lexikon zu den zehn attischen Rednern von Harpokration stammt
das meiste von dem, was wir durch die Litteratur über griechisches
Recht, insbesondere attisches Straf- und Zivilrecht wissen. Eine grie-
chische Rechtswissenschaft, durch welche die Arten der Anwendung der
allgemeinen Rechtsnormen auf die Einzelfälle festgelegt und motiviert
worden wären, wie das in Rom geschehen ist, hat es nicht gegeben. Die
Kodifikation der wichtigsten Sätze des Staats-, Verwaltungs-, Kriminal-
und Zivilrechts ist in Griechenland wie anderwärts durch demokratische
Bewegungen der Aristokratie abgezwungen worden. So sind die alten
Gesetzesaufzeichnungen in ünteritalien und Sizilien 3) (Zaleukos und Cha-
rondas) sowie in Athen (Drakon, Selon)*) im 7. und 6. Jahrhundert, und
ebenso vermutlich auch die uns inschriftlich vorliegenden Stadtgesetze von
Gortyn^) zustandegekommen. Die Grundgesetze (vo^wi) sowie die Psephis-
men des Volkes wurden zur Zeit der Demokratie in Athen nicht bloß im
Archiv (im Metroon) verwahrt, sondern auch vielfach auf Stein gehauen
und an öffentlichen Plätzen aufgestellt; in hellenistischer Zeit sind Samm-
lungen von solchen in Buchform veranstaltet worden von Krateros und
Heliodoros.*) Das Recht, insbesondere das Staatsrecht, ist seit der Sophisten-
zeit Gegenstand lebhafter philosophischer Diskussionen und Spekulationen
geworden, deren Niederschlag die Staatsutopien von Hippodamos. Piaton,
(1891) 119 ff. Beziehungen zwischen Anaxi-
menes und Dem. mutmaßt W. Nitsche. De-
mosth. und Anax.. Berlin 1906 (s. o. S. 503, 9).
^) Ein Bruchstück einer nachattischen
Rede in Oxyrh. Pap. II Nr. 116. W. Crönert,
Arch. f. Pap. 1, 526 f. möchte sie s. III oder
II a. Chr. setzen. Spätestens Anfang s. III
») G. BüsoLT, Griech. Gesch. P 424 ff.
*) Der erste ä$a)v von Drakons Blut-
gesetzgebung ist in der Erneuerung von 409
inschriftlich erhalten CIA I 61. Über Solons
Gesetzgebungswerk G. Büsolt a. a. 0. II *
264 ff.
6) Siehe o. S.421,2. Das sog. Stadtrecht
a. Chr. verfaßt ist die Rede isokratischen von Gortyn. in Bustrophedonschrift auf zwölf
Stils, in der Leosthenes (so meint F. Blaß) ; Tafeln an die Innenwand eines großen Rund-
die Athener zum Widerstand auffordert, Hibeh baues geschrieben, ist den Buchstabenformen
pap. I nr. 15. > nach schwerlich älter als das 5. Jalirh.
*) Die griechischen Worte bei Plut. vit. : «) B. Keil, Herm. 30 (1895)199 ff. Echte
Phoc. 8 : ov <Wj :iov ii xaxov leycov F.fiavror Urkunden sind in einer Anzahl attischer Reden
XikrjOa; — J. Bernays, Phokion und seine ' (Andocid. 1; Aeschin. 1; Demosth. 21. 23. 24.
neueren Beurteiler, ein Beitrag zur Geschichte | 35. 37. 43. 45. 46. Ps.Deni. 59; Lycurg. adv.
der griechischen Philosophie und Politik, Leoer.) eingelegt; sicher gefälscht sind die
Berlin 1881. in Dem. 18 und Aesch. 1.
4. Die Philosophie, a) Anfänge der Philosophie. (§§ 318—819.) 581
Aristoteles, Diogenes, Zenon u. a. bilden; überall handelt es sich aber hier
de lege ferenda, nicht de lege lata, so daß man diese Litteratur nicht
zur positiven Rechtswissenschaft rechnen kann. Materialien für Rechts-
geschichte und Rechtsvergleichung sammelte zuerst in großem Stil, nach-
dem die Sophisten mit rechtsvergleichenden Erörterungen schon gespielt
hatten, 0 Aristoteles in seinen nohxetai. In dem Geist der sophistischen
Rhetorik und seiner praktischen Betätigung in der attischen Gerichtspraxis
liegt das Bestreben begründet, die Anwendung der Rechtsnormen möglichst
flüssig von Fall zu Fall zu erhalten, und so sind grundsätzliche Erörte-
rungen über das positive Recht in der Litteratur nicht angestellt worden.
Je mehr rechtliche Inschriften und Papyri gefunden werden, desto deut-
licher zeigt sich, bei allen Einzelverschiedenheiten in der kantonalen
Rechtspflege, eine Einheitlichkeit der hellenischen Rechtsanschauungen im
Unterschied von den barbarischen und römischen.*) Am besten bekannt
ist uns das attische Recht, 3) aber durch die wachsende Masse der Rechts-
urkunden auf Stein und Papyrus*) wird uns auch das sonstige griechische
Recht, insbesondere das der hellenistischen und der kaiserlichen Zeit in
Ägypten, immer deutlicher.
Allgemeine Litteratur: R. Dareste, La science du droit en Gr^ce., Piaton, Aristot,
Thöophraste, Paris 1893. L. Beauohet, Histoire du droit priv^ de la r^publique Ath^nienne»
4 voll., Paris 1897; R. v. Scala, Die Staatsverträge des Altertums I, Leipz. 1898; H. Henkel,
Studien zur Geschichte der griechischen Lehre vom Staat, Leipz. 1872. R. Löniho. Ge-
schichte der strafrechtl. Zurechnungslehre I, Die Zurechnungslehre des Aristoteles, Jena 1903.
Eine Reihe einzelner Beiträge zum griech. Recht gibt E. Szanto. Ausgewählte Abhandl.,
Tübingen 1906, 1—142.
4. Die Philosophie und die Anfänge der fachwissen-
schaftlichen Litteratur/)
a) Anfänge der Philosophie ausserhalb Attikas.
319. Die Quellen. Vollständige philosophische Werke aus der vor-
alexandrinischen Zeit sind uns nur von Piaton, Xenophon, Aristoteles und
») JmAf|«?beiH.DiEL8,Vor8okr.»580ff.; 1 tümer, Freiburg-Tübingen 1884.
über Kritias* IloliTeiat s. o. S. 173. | *) Recueil des inscriptions juridiques
-) J. H. Lipsius, Von der Bedeutung des Grecques par R. Dabestb, B. Haussoullieb,
griech. Rechts, Leipziger Rektoratsrede 1893 ; Th. Reikach, Paris 1895. — Leges Graecorum
besonders das ausgezeichnete Werk von L. sacrae e titulis collectae edd. J. de Pbott et
Mitteis. Reichsrecht und Volksrecht in den L. Ziehen, 1, Leipzig 1896; II 1 1906. — Bi-
östl. Provinzen des röm. Kaiserreichs, Leipz. bliographie über die Papyri rechtlichen In-
1891. H. Hitzig, Die Bedeutung des altgriech. • halts ^^. Hohl wein, La papyrologie Grecque,
Rechts für die vergleichende Rechtswissensch. : Louvain 1905, p. 111 ff.
inZeitschr. f. vergl.Rechtswiss. 19 (1906) Iff. ^) Fragmentsammlungen : rell. coli. S.
») M. H. E. Meier und G. F. Schömann, Kaksten. 2 voU., Haag u. Amsterd. 1830—8;
Der attische Prozeß, Halle 1824. Neue Be- Fragm. philos. graec. ed. F. G. A. Mullach,
arbeitung von J. H. Lipsiüs in 2 Bden., Berlin Paris 1860—81, 3 voll., nicht vollendet und
1883—87; J. H. Lipsius, Das attische Recht unzuverlässig: ein sehr brauchbares Quellen-
und Rechtsverfahren I, Leipzig 1905, n 1 1908, buch ist Historia philos. giaec. et rom. ex
stellt eine Umarbeitung dieses Werkes dar. ' fontium locis contexta cur. H. Ritter et L.
Über die Terminologie des attischen Prozesses Pbelleb, ed. VIII (Gotha 1898) cur. E. Well-
H. ScHODORF in M. Schanz* Beiträgen z. histor. mann; Die Fragmente der Vorsokratiker, griech.
Svntax des Griechischen, Heft 17 (1904). Th. und deutsch von H. Diels, Berlin 1903 (P
Thalheim, Lehrbuch der griech. Rechtsalter- 1906; II 1* 1908), Hauptwerk. — Geschichte
582
Griechische litteraturgeschichte. L Klassische Periode.
einem namenlosen dorisch schreibenden Sophisten erhalten, wozu noch
das freilieh meist fachwissenschaftliche Corpus Hippocrateum kommt. So
sind wir vielfach auf die indirekte Überlieferung des Altertums angewiesen,
deren richtige Verwertung wesentlich von der Einsicht in die Quellen-
verhältnisse abhängt. Diese sind, soweit es sich um die Traditionen über
die Lehren der Philosophen handelt, aufgeklärt worden von H. Diels, Doxo-
graphi graeci, Berlin 1879. Begründer der Geschichte der Philosophie und
der Fachwissenschaften im Altertum ist Aristoteles. Das erste Buch seiner
Metaphysik ist das Zuverlässigste, was wir über die ältere griechische
Philosophie haben, während Piatons Angaben über frühere Philosophen
mit großer Vorsicht aufzunehmen sind;^) für die Geschichte der Rhetorik,*)
der Geometrie,*) der Medizin*) hat Aristoteles die Materialien in owaycoyai
teils selbst gesammelt, teils durch Schüler sammeln lassen, und aus seiner
Anregung ist auch das Grundwerk der griechischen Schriftstellerei über
die philosophischen Lehrmeinungen (Doxographie) hervorgegangen, Theo-
phrastos' do^ai (pvoixwv in achtzehn Büchern, aus denen schon in helle-
nistischer Zeit eine Epitome in zwei Büchern hergestellt wurde. Auf
diesem Werk beruht die von Diels Vetusta placita genannte verlorene
doxographische Darstellung aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts
V. Chr., aus der Cicero, Varro, Areios Didymos im 1. Jahrhundert v. Chr.,
der Philosophie: J. Jonsiüs, De scriptoribus
historiae philosophicae libri IV, Francof. 1659,
ex rec. J. Chr. Dorioi, Jena 1716; W. G.
Tennemann, Gesch. d. Philos. (Leipz. 1798 bis
1819), neue Aufl. von A. Wendt, Leipz. 1829;
Chr. A. Brandis, Handbuch der Gesch. d.
griechisch-römischen Philos., Berlin 1835—66,
in drei Teilen bis Aristoteles incL; ders.,
Gesch. der Entwicklungen der griech. Philos.
und ihre Nachwirkungen im röm. Reich,
2 Bde., Berlin 1862—4; E. Zeller, Philosophie
der Griechen in drei Teilen. Tübingen 1844 bis
1852. 4. Aufl., Leipz. 1876-1903; 5. Aufl.
von I 1. 2 1892, Hauptwerk Hegelscher Fär-
bung; ders., Grundriß der Gesch. der griech.
Philos., 7. Aufl.. Leipzig 1905: F. Über-
weg, Grundriß der Gesch. der Philosophie,
1. Band das Altertum behandelnd, 9. Aufl. be-
sorgt von M. Heinze, Berlin 1903, mit voll-
ständiger Bibliographie ; K. Prantl, Übersicht
der griechisch-römischen Philosophie, 2. Aufl.,
Stuttg. 1863; K. Prantl, Gesch. der Logik im
Abendlande, 4 Bde., Leipz. 1855—70, 1. Band
die griech.-röm. Philos. umfassend ; A. Schweg-
LER, Gesch. d. griech. Phil., 3. Aufl. besorgt
von K. KöSTLiN, Freib. 1881 ; die beste Dar-
stellung der inneren Geschichte der griech.
Philosophie nach den Problemen von W.Win-
delband. Gesch. d. alten Philos., in diesem
Handbuch V 1, 2. Aufl. 1894; ders., Lehrbuch
der Gescliichte der Philosophie, Tübingen 1889,
4. Aufl. 1907; Th.Gomperz, Griechische Den-
ker, worin die Philosophie im Zusammenhang
mit den Wissenschaften behandelt ist, I (Vor-
sokratiker) Leipz. 1896 (2. Aufl. 1903); II (So-
krates, Sokratiker und Piaton) 1902 (2. Aufl.
1903); III, 1. Heft 1906, 2. Heft 1908; von
einseitig ethischem Standpunkt aus und der
biographischen Überlieferung gegenüber un-
kritisch A. Döring, Geschichte der griechi-
schen Philosophie, gemeinverständlich nach
den Quellen, 2 Bde., Leipz. 1903. Vom Stand-
j punkt des Marburger Neukantianismus W.
Kinkel, Gesch. der Philos. als Einleitung in
j das System der Philos. I (von Thaies bis auf
I die Sophisten), Gießen 1906. Vieles bietet
I auch E.RoHDE, Psyche UM 37 flf. 263 ff". Unter
' einem neuen Gesichtspunkt betrachtet die
griech. PhilosophieW. Benn, The philosophy of
Greece considered in relation of the character
and history of his people, London 1898. —
Archiv für Geschichte der Philos., heraus-
gegeben von L. Stein, Berl. seit 1888, darin
auch Jahresberichte über die neuen Erschei-
nungen, über die sokrat, piaton. und aristo-
telische Philos. von H. Gomperz, über die
nacharistot. von A. Dyroff; in dem Jahres-
bericht über die Fortschr. der klass. Alter-
tumswiss. berichtet über die vorsok ratische
Philos. F. LoRTziNO (Periode 1876—97: Bd. 96,
1898, 156—276; Fortsetzungen: Bd. 112, 1902,
132—322; 116, 1904, 1—158), über die nach-
aristotel. K. Prächter (Periode 1876—97
Bd. 96, 1898, 1—106).
*) E. Zelleb, Arch. f. Gesch. der Philos.
5 (1892) 165 if.
') L. Spengel, ovray(oyi} Tf;^rä>r, Stuttg.
1828.
^) Eudemos' von Rhodos doi^firjTix// und
yscjfjfioixrj iorooia.
*) Menons laxQiyJj ovvayioyn) s. H. Diels,
Herm. 28 (1893) 407 flf.
4, Die Philotsophie. a) Anfänge der Philosophie. (§ 820.) 583
Aetios Tiegi twv Ageoxovxcov im 1.— 2. Jahrhundert n. Chr., stellenweise
Philon^) unmittelbar geschöpft haben. Das Werk des Aetios, nach Sach-
kapiteln geordnet in der Art, daß die Antworten verschiedener Philosophen
auf einzelne Fragen der Physik und Metaphysik gegeben werden, hat H.
Diels (p. 273 — 444) aus Pseudoplutarchos* Placita philosophorum, Stobaios'
Anthologie und Stellen aus des Bischofs Theodoretos (c. 400 p. Chr.) "EUtj-
vixöjy Tza&fjjbuncov '^BQcuievxixri^ und ebenso (p. 447 — 472) das des Areios Didy-
mos aus Stobaios, Clemens und Eusebios rekonstruiert. Erhalten sind uns
zwei Fälschungen auf berühmte Namen, die im 2. Jahrhundert n. Chr. dem
Plutarchos beigelegte Schrift negi x(bv ägeaxovrcov <piXoo6q)oig (pvaixcav do^cbvj
und die im 5. oder 6. Jahrhundert dem Qalenos beigelegte cpd6oo(pog lorogia.
Dazu zwei tendenziöse Darstellungen der griechischen doSat von christ-
licher Seite, des Hippolytos (3. Jahrhundert n. Chr.) ""EXeyxog xarä naacbv
algeoecDv, von dessen zwölf Büchern das erste, gewöhnlich ^doocxpoviueva
betitelt, sich unter die Schriften des Origenes verirrt hat, und des Her-
meias (wahrscheinlich 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr.) AianvQ/idg tcov I5a>
(pdoa6(pü)v. — Auch die biographische Darstellung der griechischen
Philosophen ist von der peripatetischen Schule (Aristoxenos, Herakleides
Pontikos, Dikaiarchos) ausgegangen. Nicht ohne manche Gewaltsamkeiten
und Verdrehungen sind dann die Verzeichnisse der Schulen nach ihren
Häuptern und Mitgliedern zurecht gemacht worden, die sog. diadox^h die
Sotion mit einem Werke von dreizehn Büchern, das dann Herakleides
Lembos in zwei zusammenzog, in die Litteratur eingeführt hat; in ihnen
ist auch, was Gunst und Haß der Schulfreunde und -gegner von Geschichten
aufgebracht und die Schriftsteller negl algeoewr (deren erster Epikuros)
gebucht hatten, aufgenommen.*) Beispiele solcher biographisch-doxogra-
phischen Darstellungen haben wir in dem Academicorum philosophorum
index Herculanensis, den nach F. Bücheier S. Mekler (Berlin 1902) neu
herausgegeben hat, und in der nach Schulen in zehn Bücher geordneten
Exzerptenmasse von Diogenes Laertios' Bioi (pdooocpiov. Verloren, aber
von Hesychios (Suidas) benützt,*) ist des Neuplatonikers Porphyrios bis auf
Piaton gehende <pd6ao(pog lorogia,
320. In der satten und aufgeklärten Diesseitigkeit der homerischen
Gedichte mit ihrem festen Weltbild und ihrer abgeschlossenen Welt-
anschauung ist von philosophischem, über den Traditionalismus hinaus-
drängenden Trieb kaum eine Spur, und wo einmal tiefere Fragen berührt
werden, wie die von der Provenienz des Übels (Od. a 32 flf.) oder von dem
Verhältnis zwischen persönlicher Providenz und naturgesetzartiger Moira
(H. X 209 flf.), geschieht das in spielender OberflächUchkeit. Tiefer ein-
dringende Spekulation über den Weltzusammenhang, insbesondere den Ur-
sprung der Welt, enthalten in mythologischer Verkleidung die Lohrdich-
tungen des Hesiodos und der Orphiker und das Prosabuch des Pherekydes
von Syros.*) Daneben kristallisiert sich allerlei ethische Lebensanschauung
') P. Wendland, Berl. Ak. Sitz.ber. 1897, '• ») E. Rohde, Kl. Sehr. I 125. 160.
1074 ff. <) Aristot. met 983b 27 ff.: eial öi uveg
^) H. Schmidt, Studia Laertiana, Dias, i o? xai rovg jtafiJiaXawvg xal JtoXv jiqo rrfg vvv
Bonn 1906. yeviaecag xai :iQco%ovg &eoXoyt)ooa^ag ovrcog
584 Griechische Litteratnrgeechichte. L Klassische Periode.
und Lebensweisheit seit alters in Sprichwörtern, deren kulturgeschichtliche
Bedeutung Aristoteles^ und seine Schule verstanden haben, in Fabeln,
Novellen, Bildern und Beispielen, Sprüchen, wie denen der sog. Sieben
Weisen (s. o. S. 166 flf.) oder den poetisch gefaßten der Skolien- und Ele-
giendichtung. Die ethischen Probleme sind aber erst in der Sophistenzeit
Gegenstand wissenschaftlichen Nachforschens geworden. Die frühesten grie-
chischen Philosophen,*) aus der intellektualistischen Sphäre loniens hervor-
gegangen, knüpfen an die systematischen Bestrebungen der mythologischen
Lehrgedichte an, reißen sich aber los von den mythischen Anschauungs-
formen. Sie suchen aus einem UrstoflF (&Qxrj), den sie von dem BegriflF
der Urkraft nicht reinlich sondern, alle Naturerscheinungen abzuleiten,
d. h. die Welt als Ganzes, als Geordnetes («da/iog),*) in sich Notwendiges
zu begreifen. Mit bewundernswerter Kühnheit abstrahieren sie vom sinn-
lichen Schein und fassen meist alles, was sich den Sinnen bietet, als Trans-
formation eines bestimmten, einheitlichen ürstoflFs oder Sekretion aus einem
Urgemisch im Sinn eines materialistischen Monismus. Eigentliche Schul-
gründungen und propagandistische Absichten sind diesen altionischen
Naturphilosophen (cpvoixoi) nicht zuzutrauen.*)
An den Anfang stellt die antike Tradition den Thaies, Sohn des
Examyes, phönikischen Geblütes,^) aus Miletos. Seine Zeit bestimmt sich
nach der von ihm vorausgesagten Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585,*) wonach
seine Geburt von Apollodoros 625 gesetzt wurde. Er bezeichnete, vielleicht
an Homer IL 5* 201 äußerlich anknüpfend,') aber mit neuer Motivierung,
das Wasser als den Urstofif. Schriftliches hat er nicht hinterlassen.«)
Der erste, von dem ein Buch erwähnt wird,^) war Anaximandros
von Miletos, geboren c. 610, der bedeutendste und originalste unter den
alten Physikern loniens; er setzt das neue Erklärungsprinzip der Ableitung
des einzelnen aus einem qualitativ wie quantitativ unbestimmten UrstofF
{äjieiQov) an Stelle der Transformationshypothese. Er soll auch als erster
eine Erdtafel (yecoyQaq^ixdg mva^) und eine Sonnenuhr (yvco^iwv) gemacht
oioyTai jregi rr/s (fvo£(og v:ioXaßsiv. met. 1000 a | 244 ff.) ist von E. Ziebarth (Griech. Vereina-
9: Ol nfgi 'Hoiodov xai jiävTFg ooot dfoXoyoi, \ wesen, Leipz. 1896, 69 ff.) mit Recht zurück-
Über Pherekydes s. o. S. 423 ff. ; etwas zu viel
Philosophie zieht wohl Th. Gomperz, Griech.
Denker I 70 ff., aus ihm.
M Aristot. fr. 2 Berol
gewiesen.
^) Herodot. I 170.
®) Die Voraussage gelang ihm wohl in-
folge seiner Kenntnis von dem babylonischen
*j Hervorragend J. Bürnet, Early Greek ' Saros, einem Zyklus von 18 Jahren, inner-
philosophy, Edinburgh 1892. Über die immer halb dessen die Finsternisse sich wiederholen,
noch nicht zur Ruhe gekommenen fruchtlosen Babylonischen Urspi*ungs scheinen auch seine
Versuche, die griechische Philosophie aus dem nicht unbeträchtlichen mathematischen (M.
Orient abzuleiten, berichtet zusammenfassend C. P. Schmidt, Kulturhistor. Beitr. z. Kennt-
F. LoRTZiNo. Jahresber. über die Fortschr. nis des griech. und röm. Altert. 1, Leipz. 1906,
derkl. Alt.wiss.ll2(1902)143ff. — Über die '■ S. 29 ff.; aus Ägypten war in diesem Stück
ionischen Physiker sehr lehrreich 0. Gilbert, nicht viel zu holen: A. Wiedemakn zu Herod. II
Die meteorolog. Theorien des griech. Altert., ; S. 424) Kenntnisse zu sein. H. Beroer. Geogr.
Leipz. 1907. i Zeitschr. 12 (1906) 440 f.. geht zu weit, wenn
3) xonfiog im Sinn von Welt kommt erst | er ihm schon die Kenntnis von der Kugel-
vou Empedokles an vor (H. Diels, Lehrged. , gestalt der Erde zuschreiben will,
des Parmenides 66) ; der ältere Ausdruck ist ; '') Aristot. met. 983b 18 ff.
öidy.oofAOs (E. Roiide, Kl. Sehr. I 226, 1). ^) Daher sagt Aristoteles met. 984a 2:
*) H. Diels' dahingehende Meinung (Phi- öcd^s leyexai ovriog oL^oqrtjvaaOm.
losoph. Aufsätze für E. Zeller, Leipz. 1887, «) Themist. or. 25 p. 317.
4. Die Philosophie, a) Anfänge der Philosophie. (§ 821.) 585
haben.') Die Erde dachte er sich als freischwebende Trommel, eindrittel-
mal so tief als breit. Ihm folgte Anaximenes von Miletos, gleichfalls
Verfasser einer Schrift negl q?voiog^ in der er wieder ein Einzelelement,
die Luft, zum ürstoflf machte.*)
321. Wenn die genannten drei Physiker sich ganz mit der Ableitung
des Stoffes beschäftigen, so ist das weit reizvollere Problem, die Spezi-
fikation der in den verschiedenen Stoflfelementen sich darstellenden Formen
in ihrer Gesetzmäßigkeit zu erkennen, zuerst von Pythagoras von Samos,
dem Sohn des Mnesarchos, angefaßt worden, der sich zugleich auch als
Organisator des sittlichen Lebens im Kreis der von ihm gegen 530 in
Kroton gegründeten philosophisch-politischen Brüderschaft betätigt hat.
Echte Schriften von ihm gab es im Altertum nicht, und er scheint über-
haupt nichts geschrieben zu haben.*) Der erste Pythagoreer, der die
Hauptsätze der Lehre in einem Buch zusammenfaßte, war Sokrates' Zeit-
genosse Philolaos von Kroton, der die Zersprengung der pythagoreischen
Vereine in Italien miterlebte. Aus seinen drei Büchern Jiegl (pvoiog haben
wir noch umfangreiche Fragmente in dorischem Dialekt, für deren Echt-
heit A. Böckh eingetreten ist.*) Vier mathematische und physikalische
Bruchstücke sind uns auch von Archytas aus Tarent, dem als Politiker
und Strateg nicht minder denn als Mathematiker, Mechaniker und Musiker
bedeutenden Freund Piatons, erhalten.*) Dem Pythagoreer Timaios
Lokros untergeschoben ist die aus dem platonischen Timaios aus-
gezogene Schrift 71€qI ipvxäg x6ofAo> xai (pvoiog.^) — Pythagoras hat,
neben Xenophanes, im griechischen Westen das Licht der Philosophie an-
gezündet und die Anregung zur Entstehung einer wissenschaftlichen Lit-
teratur in dorischem Dialekt gegeben. Auf Reisen, deren Umfang von der
späteren Legende ins Abenteuerliche erweitert worden ist,^) hat er die schon
von Herakleitos (fr. 40. 129 D.) bemängelte Fülle der Kenntnisse und Er-
*) Strab. p. 7 ; L. Diog. II 2, wo dem Ana-
ximandros ein Globus beigelegt wird: Aga-
thein. geogr. 1,1; vgl. H. Berobr, Gesch. der
wissensch. Erdkunde der Griechen I 7. Nach
Herodot. II 109 ist die Sonnenuhr babyloni-
sche Erfindung.
^) Die Titel Jitgl tpvoiog fttr die Bttcher
der ältesten Philosophen sind wahrscheinlich
erst von Rhetoren gegeben, da der Gebrauch
von ffvois in allgemeinstem Sinn = Natur
für diese frühe Zeit nicht nachweisbar ist.
5) Diog. Laert. VIII 15; E. Rohde. Kl.
Sehr. I 240. über die untergeschobenen Schrif-
ten der Neupythagoreer s. unten. Über die
Schriften der alten Pythagoreer H. Dibls,
math., in M6L Graux, Paris 1884, p. 573—84.
G. HABTENSTEnc , De Archytae Tar. fragmentis
philosophicis, Lips. 1833. H. Dibls, Vorsokr.*
261 if. Die Anführungen aus philosophischen
Schriften, wie negi navrog, :neQt dgxäv, Jicgi
Tvjv dexa xaxtjyoQiiöv , Jiegi voftov xai dixato-
avyrjg sind unecht und nacharistotelisch. Von
dem Ansehen des Archytas bei den Späteren
zeugt die Ode des Horaz I 28 (dazu Wilamo-
wiTZ, De trib. carminib. lat, Ind. lect. Gotting.
1893/94, 3 ff.; A. Elter, Analecta Gr., Bonner
Kaiserprogr. 1899, 37 ff). Über ein Pseudepi-
graphnm, vier Bücher 'AgxvTa Ma^ifwv xai^o-
Xixfjg {^ecogias /neretoQOiv s. A. Elteb und L.
Radermaohbb, Bonner Progr. 1899 ; über Be-
Fragm. d. Vorsokrat. ' 243—303. nützung des Krantor in den falschen Archy-
*) A. Böckh, Philolaos des Pythagoreers tasfragmenten K. Pbächteb, Arch. f. Gesch.
Lehren, Berlin 1819 (nebst den Bruchstücken). 1 der Philos. 10 (1897) 186 ff.
F. Beckmann, Quaest. de Pythagoreorum reli- I *) Plat. Tim. 20 a.
quüs, Berlin 1850; H. Diels, Fragm. der | ^) Die Reise des Pythagoras nach Ägyp-
Vorsokr.* 243 ff. Über die musikal. Frag- ten berichtet als ältester Zeuge Isokrates,
mente P. Tannery, Rev. de philol. 28 (1904) I Bus. 28; die späteren Zeugnisse bei E. Zeller
233 ff. ' P 303 ff. Auch die Lehre des Zoroaster soll
^) F. Blass, De Archytae Tarentini fragm. i er gekannt haben; ebenda S. 301 f. Daß auch
586
Grieohische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
fahrungen gesammelt und eine Höhe und Freiheit der Auffassung gewonnen,
die ihn ebenso wie später den Xenophanes, Herodot, Ion, Stesimbrotos
zum Renegaten der ionischen Kultur und ihrer Ideale 0 gemacht hat. Seine
mystische und innerliche Natur fühlte sich von der oberflächlichen Sinnen-
freudigkeit, die am Hof des Polykrates von Samos wie in den Städten
Gro&griechenlands herrschte, abgestoßen, und er glaubte sein Lebensideal
nur in klösterlicher Abgeschlossenheit mit Gleichgesinnten erreichen zu
können;*) so bildeten die unteritalischen Pythagoreergemeinden immer
einen Staat im Staat und waren bei dem übrigen Volk nicht minder ver-
haßt und verdächtigt als später die ersten Christengemeinden. In diesen
Kreisen wurden die Formen und Proportionen in der Natur wie im sittlichen
Leben zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht und geradezu als wir-
kende Kräfte angesehen. Durch Erhebung der Zahl zum Prinzip der Welt-
erklärung ist man zu jener Zahlenmystik und Zahlenspielerei gekommen,
die auch große Geister umnebelt hat, wie sie denn zu primitiven Neigungen
der menschlichen Psyche in engster Beziehung steht und im Zahlenaber-
glauben und der Tagwählerei ihren Rückhalt findet.») Aber andrerseits
sind hier gewaltige Gedanken und Wahrheiten gefunden oder verbreitet
worden: die Lehre von der sittlichen Wirkung der Musik, die Wissenschaft
der Akustik, neue mathematische Erkenntnisse,^) die Entdeckung der
Kugelgestalt der Erde,^) der erste Schritt auf dem Weg, der zum Ver-
ständnis der Achsendrehung durch Ekphantos*) und zur Aufstellung des
indische Weisheit auf irgend welchem Weg
zu Pythagoras gedrungen sei, behauptet L.
V. ScHRÖDBB, Pythagoras und die Inder, Leipz.
1884: dagegen Einwände von F. Lobtzino,
Jahresb. über die Fortschr. d. kl. Alt.wiss. 112
(1902) 146 ff. Mit assyrischen Weisen und
Brahmanen läßt den Pythagoras zusammen-
kommen Alexandros Polyhistor bei Clemens
Alex. Strom. I p. 358P. Pythagoras ist, wie er
sich als Heiliger und Asket gab und so von
seinen Anhängern schon bei Lebzeiten verehrt
wurde, alsbald von einem dichten Schleier der
Sage umsponnen worden, ans der wir kaum
mehr imstande sind, geschichtliche Tatsachen
herauszuheben (E. Rohde, Kl. Sehr. II 102 ff.).
Schon seine frühste Biographie muß eine Le-
gende gewesen sein, in der er natürlich nicht
als der große Forscher, sondern als Wunder-
mann erschien. Im 4. Jahrh. schrieb Aristo-
xenos von Tarent eine rationalisierende Py-
thagorasbiographie, aus der dann, Witze der
Komödie über den Abstinenzler P. beifügend,
Hermippos von Smyrna Stoff für seine Bio-
graphie schöpft. Materialien über Pythagoras
bot auch Duris in seinen mqoi Za^iloiv. Den
Zustand der Pythagoraslegende in der helle-
nistischen Zeit stellt uns ziemlich rein Diog.
L. VIII 1 dar. Dem neubelebten mystischen
Pythagoreüsmus schuf Apollonios von Tyana
in seinem ßloc: Uvi^ayooov sein neues Pytha-
gorasbild. Die weiteren Pythagorasbiogra-
phen haben lediglich kompiliert, sowohl die uns
verlorenen (Antonius Diogenes, Nikomachos
von Gerasa, Moderatus) als die erhaltenen
(Porphyrios, der aus den drei zuletzt ge-
nannten und einer dem Diog. L. ähnlichen
Biographie schöpft, und lamblichos, der fast
ausschließlich den Nikomachos und Apollo-
nios von Tyana benützt).
») Siehe bes. Diog. L. VIII 21.
*) ^li) jiazetv lijv Xecoqrogov ist pythago-
retecher Grundsatz (vgl. Flut, de gen. Socr.
16 extr.).
•) Auch andere Lehren der Pythagoreer,
wie die von der Seelenwanderung (A. Diete-
BiCH, Archiv f. Religionswiss. 8, 1905, 1), die
Speiseverbote (E. Rohde, Kl. Sehr. II 368;
M. Wellmann, Fragm. d. griech. Ärzte I
30 f. A.) knüpfen an primitive und animisti-
sche Anschauung an. Siehe a. H. Abert, Die
Musikanschauungen des Mittelalters und ihre
Grundlagen, Halle 1905, 176.
*) Darüber M. C. P. Schmidt, Kultur-
histor. Beiträge I 54 ff. M. Cantor, Vorles.
üb. Gesch. d. Math.«, 1894, 137 ff.
^) Aristot. de caelo II 13; Plat. Phaed.
p. 97 d. Die damit verbundene Einteilung der
Erde in fünf Zonen wird auf Parmenides zu-
rückgeführt; s. Strab. 94. H. Beroer, Ber.
der Sachs. Ges. d. Wiss. 47 ( 1 895) 57, und (gegen
die Einwendungen von H. Diels) Geogr. Zeit-
schrift 12 (1906) 442 ff. G. V. Schiapakelli,
Die Vorläufer des Kopemikus im Altertum,
Deutsch von M. Cürtze, Leipz. 1876.
6) H. Diels, Voi-sokr.^ S. 275 fr. 5. P.
Tannbry, Arch. f. Ge^ch. der Philos. 1 1 (1898)
4. Die Philosophie, a) Anfiüige der Philosophie. (§ 322.) 587
heliozentrischen Systems (dieses schon im 4. Jahrhundert)^) geführt hat.
Mächtig ist auch der Einfluß, den der Pythagoreismus auf Piaton und
eine Gruppe frühperipatetischer Philosophen (Aristoxenos, Herakleides
Pontikos, Dikaiarchos) wissenschaftlich, ethisch und schriftstellerisch geübt
hat. 366 hörte der pythagoreische Schulverband auf (Diod. XV 76, 4;
Aristox. fr. 11. 12 Müller), nicht aber die Wirkung der Lehre, die vom
1. Jahrhundert v. Chr. an wieder mit neuer Gewalt hervorgetreten ist, je
weniger sich die Welt von der ethisch-ästhetischen Seichtigkeit des reinen
Rationalismus befriedigt fühlte.*) Von einer systemartigen Lehre des
Pythagoras selbst weiß übrigens weder Aristoteles noch Aristoxenos etwas;
eine solche haben erst die Pythagoreer ausgebildet.
322. Die Eleaten Xenophanes und Parmenides haben in der Ab-
sicht, ihre Gedanken in weitere Kreise zu tragen, die poetische Form der
Darstellung gewählt (s. o. S. 132 flf.). Der Begründer der eleatischen Schule,
Xenophanes aus Kolophon, proklamierte eine höhere Auffassung des Gottes-
begriflfs und bekämpfte, indem er nur einen Gott annahm und diesen
Einen sich ewig gleichbleibend dachte, den Polytheismus und die anthro-
pomorphen Vorstellungen der Volksreligion. 3) Dem Bestreben der ionischen
Physiker, den Ursprung und Verlauf des ewigen Werdeprozesses der Welt
objektiv betrachtend zu verstehen, setzen die Eleaten, darin dem Pytha-
goreismus wesensverwandt,*) das wahrscheinlich zunächst auf sittlichem
Gebiet entstandene lebhafte Bedürfnis nach dem Unwandelbaren, nach der
festen Norm entgegen, das sie nun in eine transzendente Welt des ewigen
und wechsellosen Seins projizieren. Um deren Wesenheit und die Unhalt-
barkeit des sensualistischen Hylozoismus der lonier zu beweisen, haben
sie eine spitzfindige Dialektik ausgebildet, die schließlich zur völligen
Leugnung der sichtbaren Erscheinungswelt {<pvoig) durch den Eleatenschüler
Gorgias führte, daher Aristoteles diese Richtung ätpvoixoi nennt.*)
Parmenides aus Elea in Unteritalien erwies im ersten Teil seines philo-
sophischen Lehrgedichtes jenes Eins als das aUein wahrhaft Seiende, das
ewig und unveränderlich, denkend und gedacht zugleich sei, behandelte
aber im zweiten Teil auch das Werden und Vergehen oder die Welt der
trügerischen Meinung (<5dfa im Gegensatz zu dlrj'&eia)^ indem er sie auf zwei
durch eine zentrale Göttin beherrschte Prinzipien, Licht und Finsternis
263, hält den Ekph. für eine von Herakleides
Pont, fingierte Gesprächsperson; ehenso den
Hiketas, Rev. des et. gr. 10 (1897) 127 ff.
^) C. Ritter, Piatos Gesetze, Komm.
Leipz. 1896, 230 ff.; H. Staiomüllkr, Arch.
f. Gesch. d. Philos. 15 (1902) 141 ff.
^) Über die Fortdauer der pythagorei-
schen Sekte in der alexandrinischen Zeit und
ihr Neuaufleben bei den Neupythagoreem s.
unten und E. Zeller, Philos. d. Gr. III' 2, 79 ff.
') Den Kern der Lehre enthalten die
Verse slg dsog f.v te Ceolat xai dv&QOiJioioi
fiiyioiog, ov ri dejua^ dvrjtoXoiv öfioitog ovSe
Theologie des Xenophanes, Breslau 1886. wo-
nach bei Xenophanes doch noch von keinem
reinen, streng durchgeführten Monotheismus
die Rede sein kann. H. Beroer, Unters, über
das kosm. System des X., Ber. der sächs.
Ges. der Wiss. 46 (1894) 15 ff.
*) Parmenides war nach Diog. L. IX 21
Verehrer des Pythagoreers Ameinias: s. H.
DiBLS. Herm. 35 (1900) 196 ff. E. Rohdb,
Psyche II* 158, 2, meint, P. sei in der prak-
tischen Ethik Pythagoreer gewesen.
*) Sext. Emp. adv. dogm. IV 46. Von
'EXsaxixov e&vogj das mit Xenophanes und
vorjfia. Vgl. Ps. Aristot. de Xenophane^ Zenone schon vor ihm (etwa mit Pythagoras?) an-
Gorgia c. 3 und J. Fbeüdenthal, über die | fange, redet Plat. soph. 242 d.
588 Qriechische Litteratnrgdschichte. I. Klassische Periode.
{(pdog xal oxorog, xal rä ovaxoixa ägatov oxXrjgov etc.), zurückführte.^) Diese
Lehren wurden später von Parmenides' Schülern Zenon und Melissos
in prosaischer Rede, nach Diog. L. III 48 auch in Dialogform, dargelegt
und dialektisch begründet und verfochten. Über die Ergebnisse des Elea-
tismus urteilt der Empiriker Aristoteles sehr geringschätzig;*) aber Piatons
wie Spinozas Gedankenwelt ist von dieser Lehre aufs tiefste beeinflußt
worden, und in Fichte ist sie neu erstanden.
Mit Parmenides teilt sein Zeitgenosse Empedokles aus Akragas in
Sizilien die Form der poetischen Darstellung (s. oben S. 133 fF.). Die Philo-
sophie verdankt ihm die Unterscheidung von Stoff und Kraft. Den StoflF
bilden ihm die vier Elemente (tSooaga rwv nävTcov ^i^cojuaxa), die er zuerst
unterschied, aber noch allegorisch mit Namen von Göttern {Zevg Feuer,
*Hjoa Luft, *Ai'dcov€vg Erde, Nfjang Wasser) bezeichnete. Die Kraft (ävdyxT])
tritt ihm in zwiefacher Gestalt in wechselnden Weltperioden auf, als Liebe
{^iXorrjg)^ die alles in die eine Kugel (ptpalgog) zusammenmischt, und als
Streit (Neixog)^ der das Vereinigte wieder scheidet, bis von neuem wieder
die Liebe ihr Werk beginnt.*) Seine Anschauung erscheint als ein Kom-
promiß zwischen dem materialistischen Monismus der lonier und dem
spiritualistischen der Eleaten, deren transzendentale Erkenntnistheorie er
(fr. 4 D.) ablehnt.
323. Der erste unter den ionischen Physikern, der sich uns schrift-
stellerisch als eine, bis zum Eigensinn, scharf markierte Persönlichkeit
darstellt, ist Herakleitos von Ephesos, aus dem hohen Adel seiner
Vaterstadt, ein stolzer Verächter alles Pöbelhaften, eine einsiedlerische
Denkematur von tiefster Leidenschaftlichkeit. Zugunsten eines jüngeren
Bruders verzichtete er auf die Vorrechte seines Geschlechtes, dem das
Opferkönigtum zukam*) und zog sich, tief verstimmt über den Gang des
politischen Lebens in Ephesos, zumal sein Freund Hermodoros verbannt
worden war, vom öffentlichen Leben zurück {idiCrjoa/Lirjv ejusovröv fr. 101 D.),
ohne aber durch Reisen nach Erweiterung seines Gesichtskreises zu streben
(fr. 40 D.). Um 490 verfaßte er*) sein Buch und deponierte es im ephesi-
schen Artemistempel. ^) Seine Weltanschauung, die er nicht in einem fest-
verbundenen, auf Beweise gestützten System, sondern in kraftvollen apho-
ristischen, dogmatisch hingestellten Kernsätzen, absichtlich mehr andeutend
als breit ausführend') und in heftiger Polemik gegen die führenden Geister
*) Zum zweiten TeU geht Parmenides Opferkönige kennen wir auch inschriftlich
über mit den Versen (fr. 8, 50 D.): (Wilamowitz, Berl. Ak. Sitz.ber. 1904, 627).
iv T(p aoi jiavco jitorov loyov tjök vdtjfAa *) Die Abfassungszeit nach H. Diels,
dfAqri^ aXrj&eiag' Öo^ag ö* ano tovöe ßgoreiag Lehrged. des Parmenides S. 71 f.; s. a. A.
fAdvdav€,x6a^to%'F^to)vkn£iov ojiazrjKov axovMv. ! Patin, Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl. 25 (1899)
2) Aristot. de gen. an. 325 a 17: ejii pihv . 653 f. Die Blüte des H. setzte Apollodoros
Tibv Xoycor doxf.T ravta oviißatvstv, Fm de twv , auf Ol. 69 = 504/1 (Diog. L. IX 1); ein zweiter
nQayfidnov fiavia naoajiXijöiov Ftrai i6 öo^d- unsicherer Ansatz bei Eusebios rückt sie auf
^eiv ovTco. Die ethischen Konsequenzen des 460/59 oder 456/5 herab, worüber F. Jacoby,
eleatischen Standpunkts deutet Piaton Par- Apollodprs Chronik p. 229.
menid. 134 d an; sie führen zu der anthro- ^) Ähnliches erzählt von Krantor Diog.
pozentrischen Betrachtung des Protagoras. L. IV 25.
') Formal wirkt diese Anschauung nach ^) Er erhielt davon den Beinamen der
in dem Mythos von Piatons Politikos. ! Dunkle {n axoxEtvog). Aristoteles rhet. 1407 b
*) Strab. 633; Diog. L. IX 6; G. Finsler, | 14: xd'HQOxldiov Öiami^ai egym' öid to ädrj-
N. Jahrbb. f. kl. Alt. 17 (1906) 395. Milesische ?.ov Fivat, Ttoteoq) noooxeuM, rtp votsqov tj rqß
4. Die Philosophie, a) Anfänge der Philosophie. (§ 823.)
589
der ionischen Kultur (fr. 40. 57. 105 D.) vorträgt, ist monistisch und hyio-
zoistisch wie die der älteren Physiker, indem sie das Feuer als &Qxri hin-
stellt; neu ist aber an ihr das Streben, eine deutliche Anschauung von
dem Werdeprozeß, durch den aus dem Urelement das einzelne wird, eine
Erklärung der Erscheinungen in der Natur zu gewinnen, neu auch das
Eingehen auf die Phänomene des psychischen und ethischen Lebens, die
von der gesamten Naturanschauung aus scharf beleuchtet werden. Am
meisten ist er wohl angeregt durch Anaximandros,^) dessen Sekretions-
hypothese er mit der Transformationshypothese der übrigen lonier kom-
biniert; aber auch an Spuren pythagoreischen Einflusses fehlt es nicht
(fr. 20. 21 D.). Ohne dualistischer Auffassung sich zu nähern, versteht er
das ganze Leben von Natur und Mensch als einen Kampf der Gegensätze,
als einen unaufhörlichen Fluß, eine ewige Mischung und Entmischung, als
Koexistenz der entgegengesetzten Formen desselben ürprinzips und er-
schöpft sich in Bildern, um diese widerspruchsvolle Einheit zu veranschau-
lichen.*) Diese Anschauung, die, auf das sittliche Leben angewandt, eigent-
lich zum Indifferentismus führen mußte, hat er dadurch einer positiven
Sittenlehre dienstbar gemacht, daß er eine Rangordnung vom reinen Feuer
abwärts zu dessen Zersetzungszuständen einführt, die menschliche Seele,
je mehr sie sich ihre Feuer-Reinheit bewahrt, sittlich desto höher wertet*)
und den vojjiog im Staat, als einen Teil der Weltvernunft, d. h. des Welt-
feuers, in Analogie zur menschlichen Seele stellt und in dem Fluß der Er-
scheinungen als das Bleibende betrachtet (fr. 44. 114 D.). Sein Stil be-
wegt sich, im Gegensatz zu der läßlich breiten Anmut und Anschaulichkeit
der sonstigen altionischen Prosa, in gedrängten, stark akzentuierten Anti-
thesen, kräftigen Bildern, die das Dunkel seiner Gedanken blitzartig er-
leuchten. Von diesem einsamen und bizarren Denker ist eine mächtige,
noch nicht abgeschlossene Bewegung in der Philosophie ausgegangen.*)
jiQoxeQov. Diese Schwierigkeit begegnet außer
in dem von Aristoteles selbst angeführten
Satz Tov Xoyov rovö* iovro^ äei d^vverot oi
är&Qcojioi yiyvovrai besonders in dem locus
conclamatus ev xo ao(p6v fiovvov keyea&at ovx
sdelei xai idelei Zfjvog ovvofia» Von drei Stoif-
kapiteln der herakleitischen Schrift (jtegi rov
jtavTog, jtoAiTixov, &Eokoyix6v) redet Diog. L.
1X5.
*) Vgl. Anaximandr. fr. 9 D. mit Heracl.
fr. 94 D.
2) fr. 36. 51. 60. 62. 67 D.
») fr. 36. 47. 72. 118 D.
*) Heracliti Ephesii rell. rec. I. Bywater,
Oxon. 1877 ; H. Dibls, Herakleitos von Ephe-
sos. griechisch und deutsch, Berlin 1901. —
F. Lasalle, Die Philosophie Herakleitos des
Dunkeln v. Ephesos, 2 voll., Berlin 1858; J.
Bernays, Heraclitea, in Ges. Abhdl. I 1 ff.;
F. Schuster, Heraklit von Ephesus, Acta soc.
philol. Lips. 3 (1873) 1 ff.; E. Pfleidbreb.
Die Philosophie des Heraklit von Ephesus im
Lichte der Mysterienidee. Berlin 1886; A. Pa-
tin, Heraklits Einheitslehre, Progr. des Ludw.-
Gymn. München 1885 ; Herakli tische Beispiele,
Progr. Neuburg a. D. 1892 und 1893; Parme-
nides im Kampfe gegen Heraklit, Jahrbb. f.
cL Phil. Suppl. 25 (1899) 489— 660. M.Wundt,
Die Philos. des H. v. Ephes. im Zusammen-
hang mit der Kultur loniens, Arch. f. Gesch.
der Philos. 20 (1907) 431 ff. — A. Bbibgbr, Die
Grundzüge der herakl. Physik, Herrn. 39 (1904)
182 ff.; ders.. Her. der Dunkle, N. Jahrbb. f.
cl. Alt. 13 (1904) 686 ff. — Über ein neues
Fragment, hervorgezogen aus den Kgr^a^iol zwv
'EXXtjvixün' &e6)v, K. J. Neumann, Herm. 15
(1880) 605 f. — Bald nach Erscheinen von
Herakleitos' Buch hat Parmenides lebhaft
dagegen Stellung genommen (s. bes. Parm.
fr. 6 D.), und es beginnt der Streit der gewreg
gegen die oxaoiojtai (Plat. Theaet. 181a;
179 d; Cratyl. 411b f. 439 c. 440 d). Heraklei-
teer war der aus Piatons Dialog bekannte
Kratylos. Einen Kommentar zu H. in vier
Büchern schrieb Herakleides Pontikos (Diog.
L. V 88). Einflüsse auf Demokritos (A. Brib-
GBR, Jahrbb. f. cl. Phil. a. 0. 702), die pseudo-
hippokratische Schrift Jiegi Siaiirfg (J. Ber-
nays, Ges. Abh. I 1 ff.; K. Frbdbioh, Hippo-
krat Unters, in Philol. Unters. 15, Berl. 1898,
590 Griechische litteraturgeschichte. I. Klassische Periode.
Die neun unter seinem Namen uns erhaltenen Briefe rühren von einem
hellenistischen Juden aus der Zeit der Kleopatra her.»)
324. Dem Herakleitos gegenüber erscheint Anaxagoras von Klazo-
menai(c.500 — 428) als der geistig wie stilistisch 8) einfachere und anspruchs-
losere. Sein langer Aufenthalt in Athen (c. 460 — 430) und seine Freund-
schaft mit Perikles sowie die Bewunderung des Aristoteles (met. 984b 17
olov vYjq)(ov i(pdvrj nag' elxfj kiyonnag xovg tiqötbqov)^ der einen Vorgänger
seines eigenen Dualismus in ihm sieht, haben ihn wohl zu sehr ins Licht
gerückt. Seine Physik steht auf der Grundlage von Anaximandros' Hypo-
these, nur daß er durch seine Homoiomerienlehre das Problem der StofiF-
differenzierung in den Uranfang zurückschiebt. Die einfach dualistische
Formel vovg — Stoff hat er zwar aufgestellt, aber nur für den Schöpfungs-
akt der großen Sonderung des ürgemisches ((5/iou oder Iv) in die Einzel-
gebilde benützt, nicht für die Erklärung der weiteren Weltentwicklung.»)
Die Aufstellung der weltschaflfenden bezw. -ordnenden Potenz des vovg
führte ihn zu seiner Teleologie, die kein Philosoph vor ihm aufgestellt
hatte, für die aber ein Analogon in der sittlichen Auffassung Altathens
gegeben war; durch sie hat er auch der Ethik wichtige Anregungen ge-
geben. Im übrigen ist sein Verdienst eine richtige wissenschaftliche Er-
klärung einzelner Naturerscheinungen. Anknüpfend an ein c. 468 in
Aigospotamoi gefallenes Meteor erklärte er auch die Sonne für einen durch
die Raschheit der ümschwingung glühend gewordenen Stein.*) Die Finster-
nisse erklärte er aus dem Dazwischentreten {ävxicpQdrceiv) von Weltkörpem
zwischen die Erde und das sich verfinsternde Gestirn. «>) Solche Ansichten
schienen die traditionellen Vorstellungen von der Göttlichkeit der Gestirne
und der Würde des Wettergottes Zeus^) zu beeinträchtigen, und so wurde
er 432/1 wegen Gottlosigkeit {äoeßeia) verurteilt und mußte die Stadt ver-
lassen. Gestorben ist er in Lampsakos. Sein Buch jieol (pvoiog wurde zur
Zeit des Sokrates und Piaton in Athen viel gelesen.') Hauptschüler von
ihm war Archelaos aus Athen, der Lehrer des Sokrates gewesen
sein soll.*)
Eine vermittelnde Stellung zwischen der Lehre des Anaxagoras vom
vovg und der des Anaximenes von der Luft nahm der Kreter Diogenes
aus Apollonia ein, der zur Zeit des Perikles nach Athen kam und hier
eine gewisse Bedeutung gewonnen haben muß; von seinem Buch über die
89 ff.), insbesondere die stoische Physik sind 1 ternen Gelehrtenstil.
bekannt, Spuren des H. in der patristischen *) Dies werfen ihm Piaton Phaed. 97 b
Litteratur (J. Dräseke, Arch. f. Gesch. der I und Aristoteles met. 985a 18; 988a 32 ff. vor.
Philos. 7, 1894, 158 ff.) und selbst in Heiligen- | *) Als Jahr des Ereignisses ist überliefert
akten (Di Pauli, Arch. f. Gesch. der Philos. 468/7 durch Marm. Par. ep. 57,. 467/6 durch
19, 1906, 504 ff.) erwiesen. Unter den Neueren | Plinius n. h. II 149, 470/69 durch Seilenos bei
sind besonders Hegel, Goethe und Nietzsche j Diog. L. II 11 (F. Jacoby, Marra. Par. S. 182).
sachlich oder formal von H. beeinflußt. j *) H. Diels, Vorsokr.* 320 f. test. 77. 80.
») J. Bernays, Die heraklitischen Briefe, «) J. Geffoken, Herm. 42 (1907) 127 ff.
ein Beitrag zur philos. und religionsgeschicht- ^) Plat. apol. 26 d: von seinem Einfluß
liehen Litteratur, Berlin 1869; E. Pfleibereb, , auf Euripides s. o. S. 330, 6.
Die ps.heraklitischen Briefe und ihr Verfasser, *) Einflüsse des Arch. sucht in Schriften
Rh. Mus. 42 (1887) 153 ff. des Cori)us Hippocrateum nachzuweisen (be-
') Diog. L. II 6 berichtet. An. schreibe ! sonders in .t. dtaiztjg und jr. sßdoudSog) K.
fj^ecog xai fteycü^oTiQSJiojg] fr. 12 D. zeigt n lieh- j Fbedbich, Hippokrat. Unters. 135. 139.
4. Die Philosophie, a) Anfänge der Philosophie. (§ 324—825.)
591
Natur (negi <pvaiog) hat Simplikios, der es noch las, zahlreiche und längere
Bruchstücke erhalten. Aristophanes scheint Vorstellungen des Diogenes, z. B.
von der Herrschaft der Luft (*Ai^q) und von den beseelten Wolkenwesen (nub.
264 ff.) auf Sokrates übertragen zu haben. i) — Unbedeutend ist Hippon
von Kroton, der auf die Lehre des Thaies vom Wasser als ägx^ zurückkam.
325. Den letzten Versuch einer Lösung des Weltproblems auf moni-
stisch-materialistischer Grundlage, also im Geist der altionischen Physik, und
den gewandtesten macht Demokritos von Abdera, ein weitgereister*) Mann,
Sokrates' jüngerer Zeitgenosse,^) dessen Gestalt der hellenistischen Laien-
bildung zum leblosen Typus des lachenden Philosophen*) verflacht ist. An
Stelle der Transformations- und Sekretionshypothesen, die einen sei es ein-
fachen, aber verwandlungsfähigen, öder einen als Aggregat aller Einzel-
stoflFe gedachten UrstoflF voraussetzen, proklamiert er die Hypothese von
einem qualitätslosen, aufs äußerste zerkleinerten, d. h. aus den Atomen zu-
sammengesetzten Urstoff, von dem sich die sinnlich faßbaren Erscheinungen
nicht durch ihre Qualität, sondern durch ihre spezifische Verbindung unter-
einander unterscheiden sollen. Da die Atome sich der sinnlichen Wahr-
nehmung nirgends unmittelbar darbieten, so ist auch für Demokritos das
durch die Sinne vermittelte Bild der Welt zunächst nur ein willkürliches
(vo/Lup). Eine neue Leistung von ihm ist der Aufbau einer Ethik,*) deren
Ziel das Wohlbefinden {evearcbf eifdv^ir], ä^ajußirj, ag/novlrjf öv/Ltjuetgli], ära-
ga^irj) ist,^) auf seine Naturlehre — die erste Natur und Mensch im vollen
Sinn umfassende philosophische Weltanschauung. Unter seinen zahlreichen,
meist naturwissenschaftlichen Schriften in ionischem Dialekt, die Thrasyllos
unter Kaiser Tiberius in fünfzehn Tetralogien ordnete,^) waren der /icyac
didxoo/iog^) und juixgög didxoajuog und das Buch Jiegi ev^^rjg am berühm-
*) H. DiBLs, Verh. der PhUol.vere. in
Stettin 1880, 105 ff. Gegen die übertriebenen
Ansichten vom Einfluß des D. auf Euripides,
Xenophon, Aristophanes, die F. Dümmmlbr,
Akademika 96 ff. ausspricht, s. K. JoSl, Der
echte und der xenoph. Sokrates 1 147 ff. E.
Krause, Diog. v. Apoll. I, Progr. Posen 1908.
*) Sein eigenes Zeugnis dafür fällt frei-
lich weg, weil fr. 299 Dibls gefälscht ist (für
Echtheit Th. Gomperz, Wiener Akad. Sitz.ber.
152, 1905, 23 f.).
») H. DiELS, Rh. Mus. 42 (1887) 1 ff.; E.
Zelleb, Philos. d. Gr. P 839 ff. Der Wahrheit
scheint am nächsten zu kommen der Ansatz
von Apollodoros: 460-370; s. F. Jacoby,
Apollodors Chron. 290 ff. Anhaltspunkt war
lediglich das angebliche SchOlervemältnis zu
Anaxagoras.
*) Aelian. v. h. IV 20; Suidas u. Atjfio-
9<oiTog; Anth. Pal. VII 56; Hör. ep. II 1, 194;
Seneca de tranqu. an. 15, 2; de ira II 10, 5;
Lucian. vit. auct. 13; Peregr. 7; luvenal. 10
28 ff.; lul. ep. 37 p. 534, 7 Hbrtl. J. F.
Marcks, Svmb. ad epistologr. Gr., Bonn 1883,
42 ff.; H. DiELS, Vorsokr.» S.371 nr.21. Offen-
bar ist der Name des lachenden Philosophen
aus dem Charakter der ihm beigelegten, später
allein gelesenen Sentenzen entstanden.
') Die Echtheit der ethischen Fragmente
ist von P. Natorp, Die Ethika des D., Mar-
burg 1893 sehr wahrscheinlich gemacht; ein
eigentliches System der Ethik hat D. freilich
nicht entworfen.
^) An Sinnenlust denkt D. dabei nicht:
s. fr. 235 D. und Natorp a. a. 0. 96 f.
7) Diog.L.IX45. Auch Schüler hinterließ
Demokritos, darunter den Anaxarchos, den
Gefährten des Alexandres; s. Th. Gomperz,
Anaxarch und Eallisthenes, in Gomm. in hon.
Momms., Berl. 1897, 471—80. — Benützung
des Dem. bei Aristoteles sucht A. Dtroff,
Philol. 63 (1904) 41 ff., ohne viel Erfolg nach-
zuweisen.
*) Der /wiyaff öidxoofAog wurde von Theo-
phrast dem Leukippos beigelegt; s. Diog. L.
IX 46. Auch Aristoteles redet von Leukippos
als einer geschichtlichen Persönlichkeit, einem
hatgog des Dem. Die Bedenken aber, die
E. RoHDE (Kl. Sehr. I 209 ff.) auf Grund von
Epikuros' Zeugnis (Diog. L. X 13) und sach-
lichen Erwägungen gegen die Geschichtlich-
keit des L. vorgebracht hat, sind weder
durch die Rettungsversuche von H. Diels
(Verh. der Stettiner Philologenvers. 96 ff.).
592
Ghriechische Litteraturgeschichte. I. Klassische Periode.
testen ;0 wir haben aus ihnen nur wenige Zitate. Auch philologische
Themen behandelte er in den Schriften negl noirjoiog^ negl 'O^tjqov fj dg^oe-
Tieit^Q xal ykcoaaioyv, Tiegi ^fjKxrcDv, dvo^aGxixov. Zu den echten Werken
kamen später viele Fälschungen; diese rührten größtenteils von dem
Schwindler Bolos aus Mendes in Ägypten aus der Alexandrinerzeit her,
über den Columella VII 5 sagt: Bolus Mendesius, cuius commenta, quae ap-
pellantur graece vTzojuvrjjuaTaf sub nomine Democriti falso produntur,*) Die
Fälschungen des Bolos waren als vTzojuv^/naxa xax Idiav terayfjUva schon in
die Tetralogien des Thrasyllos aufgenommen; vom 4. — 6. Jahrhundert
kommen dann alchemistische Pseudepigrapha, weiteres noch in byzantini-
scher Zeit hinzu. Zu den Fälschungen gehören der zum Teil auf uns ge-
kommene Briefwechsel zwischen Demokritos und Hippokrates und die zer-
streut zitierten Stellen aus den Büchern Jiegl ov^adeiwv xal äyruia^eicbv,^)
(pvoixd xal fxvoxixdf xeigoxjurjta.^) — Aus einer Sentenzensammlung haben
sich viele Kemsprüche des Demokritos bis auf unsere Zeit erhalten; sie
gehören zum Schönsten, was in dieser Art das Altertum hervorgebracht
hat, und stehen teils zerstreut bei Stobaios, teils sind sie zu einer eigenen
kleineren Sammlung zusammengefaßt.^) Seine stilistischen Vorzüge**) können
wir aus den erhaltenen Resten kaum mehr ahnen; jedenfalls näherte er
sich in seiner Art der läßlichen Anmut des altionischen Stils. Sein Ein-
fluß reicht sehr weit, nicht nur auf Philosophen des Altertums, wie Epi-
kuros, Philolaos,'') Aristoteles,^) sondern auch auf moderne Denker.^)
326. In engem Zusammenhang mit den Bestrebungen der Philosophen
steht seit dem 5. Jahrhundert die Entwicklung der ältesten Fachwissen-
schaft, der Heilkunde. ^0)
P.Tannery (Rev. des 6t. gr. 10. 1897, 127 AT.),
der übrigens weder Rohde noch Diels kennt
und den Namen L. als Pseudonym des Demo-
kritos auffaßt, A. Dtboff (Demokritstudien,
Leipz. 1899, 3 ff.) noch durch E. Zbllers Be-
hauptungen (Phil, der Gr. P838A.) erledigt
*) Aus der Schrift ne^i FvÜv^Urfc; schöpfte
Seneca de tranquillitate animi, worüber R.
HiBZEL, Herm. 14 (1879) 354 ff.
«) F. SüSEMiHL, AI. Lit. I 482 ff., berich-
tigt von E. Oder, Rh. Mus. 48 (1893) 1 f.
Suidas unterscheidet BoAog At^fioxalrsiog qrt-
koooffoc: und Bd)?.og Mevörjaia; Uifdayogetog.
Erhalten ist von dem zur Zeit des Eallimachos
lebenden Bolos eine Wundergeschichte des
Kreters Epimenides bei dem Paradoxographen
Apollonios in Rer. nat. acript. ed. 0. Keller, I
Leipz. 1879. p. 43 f. Über die Demokritfäl-
schungen im ganzen H. Diels, Berl. Ak. Sitz.-
ber. 1902, 1101.
*) Nepualii fragm. jreoi id)v xaia avxi-
naÜFtar xal oviinaOum' et Democriti .t^oi
avft.t. X. drr/.T. rec. W. Gemoll, Striegau 1884.
Vgl. Th. Weidlich, Die Sympathie in der an-
tiken Litt., Progr. Stuttgart Karlsgym. 1894.
*) Vgl. E. Meyer, Gesch. der Botanik,
Königsb. 1854—57, I 277. unter dem Titel
' y6oooxo:nxo%' AfjftoxgtTov haben wir in Geo-
pon. II 6 ein interessantes Kapitel über Quel-
lensucher. Daß aber der Name Demokritos
hier auf einem willkürlichen Lemma beruht
und der Abschnitt vielmehr auf Poseidonios
zurückgeht, beweist E. Oder, Ein angebliches
Bruchstück Demokrits über die Entdeckung
unterirdischer Quellen, Philol. Suppl. 7 (1899)
23 1 334
») Vgl. P. Natorp, Die Ethika des Demo-
kritos. Die Gnomensammlung auch bei H.
Diels, Fragm. d. Vorsokr.* 417 — 25 in neuer
Rezension. Derselbe S. 466 f. über gefälschte
•p'iofÄai des Demokrit.
«) H. Diels, Vorsokr.» S. 374 nr. 34; G.
Ammon in Xenien, der 41. Philologenvers, in
München dargeboten, 1891, 1 ff.; Th. Birt
hinter P. Natorp a. a. 0. 187 ff.
^) Tu. GoMPERz, Griech. Denker II* 490 f.
«) A. Dyroff s. o. S. 591, 7; Piaton er-
wähnt ihn nicht, was zu gehässigen Ge-
rüchten (Aristoxen. fr. 83 M.) Anlaß gegeben
hat. Neuere haben daran gedacht, den pla-
tonischen Philebos oder Plat. Theaet. 155 e
oder Plat. Lys. 2 14 ab (H.Räder. Plat. philos.
Entw. 155, 1) auf D. zu beziehen, was nicht
walirecheinlich ist.
^) LOwENHEiM, Arch. f. Gesch. der Philos.
7 (1894) 280 ff. (besonders über den Einfluß
auf Galilei).
*^) Allgemeine Litteratur zu den Real-
4. Die Philosophie, a) Anfänge der Philosophie. Medizin.
^)
593
Auf dem Weg der Loslösung einer rationellen B[rankenbehandlung
von den Wahnvorstellungen primitiven Aberglaubens ist das Zeitalter des
homerischen Epos schon weit vorgeschritten. Die Ärzte bilden bei Homer
einen hochangesehenen (11.^1514) Teil des Handwerkerstandes {StijuioeQyoi
Od. Q 384), dessen Schutzpatrone Asklepios und seine Söhne Podaleirios
und Machaon sind; Verwundungen werden durchaus vernunftgemäß be-
handelt; von hieratischen Kuren mit Zaubersprüchen, Inkubation u. dgl.
findet sich keine Spur außer Od. t 457, wo biaoi&rj zur Blutstillung an-
gewendet wird; Od. £ 411 scheint sogar die Meinung, als gebe es von Gott
geschickte Krankheiten, gegen die der Mensch nicht ankämpfen könne und
solle (^Qoi voöoi), ironisiert zu werden.*) Die abergläubischen Ansichten
und Methoden, zu denen auch der Glaube an die Bedeutung gewisser
Zahlen, besonders der Siebenzahl, gehört,*) bestehen aber immer und
überall neben der Aufklärung im niederen Volk weiter, in Griechenland
gepflegt durch die Priesterschaften des Paieon ApoUon {taxQ6fiavxiq\ Askle-
pios, der Rhea und durch allerlei Wundermänner. 3) Je mehr die wissen-
wissenschaften: E. Meiners, Geschichte des
Ursprungs, Fortgangs und Verfalls der Wissen-
schaften in Griechenland und Rom, Lemgo
1781—82, 2 Bände; S. Günther, Mathematik,
Naturwissenschaft und Erdkunde im Altertum,
Handb. derklass. Alt.V 1,2. Aufl. 1894.229ff.;
J. G. Schneider, Eclogae physicae, Jena u.
Leipz. 1801, 2 vol., eine Chrestomathie aus
naturwissenschaftlichen Werken der Alten; M.
C. P. Schmidt, Realistische Chrestomathie aus
der Litteratur des klassischen Altertums, in
3 Büchern, Leipz. 1900; Derselbe im Jahres-
ber. üb. d. Fortschr. d. kl. Aliwiss. 73 (1892)
und 90 (1896) 71 if.
Litteratur zur griech. Medizin: Medi-
corum graecorum opera omnia graece et
latine ed. C. G. Kühn, Leipz. 1821—33, 26 vol. ;
Physici et medici graeci minores ed. J. L.
Ideler, Berl. 1841—42, 2 voll., größtenteils
Byzantiner. Von der Berliner, Leipziger und
Eopeuhagener Akademie ist geplant ein auf
32 Bände berechnetes Corpus reterum medi-
cor um. Siehe H. Diels, Die Handschriften
der antiken Ärzte. Griech. Abteilung. Abh. der
Berliner Akad. 1906; ders.. N. Jahrbb. f. kl.
Altert. 19 (1907) 722 flf., Fragmentensamm-
lung der griechischen Ärzte, von M. Well-
XANN, auf 5 Bde. berechnet, wovon 1. Bd.
Berlin 1901. — K. Sprenoel, Versuch einer
pragmat. Geschichte der Arzneikunde, 4. Aufl.,
Leipz. 1846 ; H. Häser, Lehrbuch der Geschichte
der Medizin u. der epidem. Krankheiten, 3 Bde.
3. Aufl.. Jena 1875—1882; in Th. Püsch-
XANNs Handbuch der Geschichte der Medizin
ist die griech. Medizin in Bd. I von R. Fuchs
(1902) behandelt S. 153—393; J. Hirschberg,
Geschichte der Augenheilkunde, I.Band das
Altertum betreffend im Handbuch der ges.
Augenheilk. XII. Leipz. 1899; H. Magnus,
Die Augenheilkunde der Alten, Breslau 1901. —
Eine zusammenfassende doxographische Dar-
Handbach der klass. Altertamswissenschaft. VII,
Stellung der älteren griechischen Medizin bis
c. 370 ließ Aristoteles durch seinen Schttler
Menon herstellen. Von dieser awayojy^
iargixrj oder Mevwvtia iaiQixd ist ein in-
direkter, zunächst aus der abschließenden
doxographischen Schrift des Alexandros
Philale th es aus Laodikeia sieoi rd>i^ ägeo-
xovxoiv xolg iaxQoig (um Chr. Geb.) geschöpf-
ter Auszug in einem Londoner Papyrus ge-
funden (H. Diels, Beri. Ak. Sitz.ber. 1893,
101 ff.; ders., Herrn. 28, 1893,407 ff. Ausgabe
von H. Diels im Supplementum Aristotelicum
III 1. Berlin 1893). Später schrieben Biogra-
phisches Soranus. Herennius Philonund
Dionysios der Ephesier Jitgi iaiQwy. In
den von Montfaucon und Gramer veröffent-
lichten Eanones steht folgendes Verzeich-
nis berühmter Arzte : Atjfnöxgizog/IjEJioxQdTtjg,
AtoüxoQidi]g,'AQXiyevTfg,'Povq?og, Fcdfjvdg, ^dd-
ygiog, Sioyv, AXe^avSgog ^Aqrgodiatevg , *AXi^av-
Sgog TgaXXiavog . . Aijfioa^evtjg, Hevrjoog, ^dov-
iievog, Aioxlfjg, AetoviSrjg, "AvtvkXogf Soioavog,
Ogeißdaiogf 'Aettog, 'Idxcoßog Zxvjiakog (Kojv-
aiavuvojioUxtjg corr. Brinkmann bei Kröh-
nert). Vgl. 0. Kröhnert, Canonesne poe-
tarum scriptorum p. 54 — 63, wo noch ein
älteres Verzeichnis besprochen ist. Ein drittes
Verzeichnis hinter dem Celsustext erläutert von
M. Wellmann, Herm. 35 (1900) 367 ff. — Über
die Anfänge der Medizin bei den Griechen
Th. Gomperz, Griech. Denker I* 221—254;
J.Ilberg, N. Jahrbb. f.kL Alt. 13 (1904)401 ff.
Über Medizin und Naturgeschichte berichtet
im Jahresber. über die Fortschr. der klass.
Alt.wiss. H. Stadler (Bd. 114, 1902. 26 ff.).
*) Vgl. Hippocr. de aq. vent. loc. 22 ; Eur.
fr. 292 N.«.
') W. H. Röscher, Die Hebdomadenlehre
der griech. Philosophen und Ärzte, Abh. der
Sachs. Ges. der Wiss. 24 (1906) nr. 6.
') Chr. A. Lobegk. Aglaoph. 639 ff. und
5. Aufl. 38
594 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
schaftliche Medizin aufblüht, desto mehr stellt sie sich zu der Priester-
medizin in Gegensatz, 1), wenn auch zeitenweise, wie es in der von Empe-
dokles gegründeten sizilischen Ärzteschule der Fall ist, eine gegenseitige
Annäherung stattfindet. Ein vernünftiger Betrieb scheint übrigens in der
Erankenbehandlung durch die Asklepiospriester von Eos geherrscht zu
haben, von der Hippokrates Nutzen gezogen haben soll.*) Die rationelle
Ausübung der auf Erfahrung begründeten Heilkunst hielten die griechi-
schen Ärzte des 5. Jahrhunderts für etwas spezifisch Griechisches,*) und
tatsächlich konnten sie in diesem Stück von den Ägyptern^) und anderen
Barbaren nichts Brauchbares lernen. Schon im 6. Jahrhundert wurden
von Gemeinden Ärzbe mit festem Gehalt^) angestellt, und der berühmte
Wundarzt Demokedes von Kroton«) konnte durch eine glückliche Kur
bei Dareios I. die ägyptischen Ärzte am persischen Hof verdrängen und
die griechische Medizin dort einführen, wie denn auch späterhin der Grieche
Ktesias als Leibarzt des Artaxerxes H. begegnet. Alte Ärzteschulen waren
in Kroton, der Heimat des Demokedes und des Alkmaion, in Kyrene,^)
Rhodos,^) besonders aber bei den Asklepiostempeln von Kos und Knidos.
Die knidische Schule, die ihre Erfahrungen auch litterarisch {Kvidiai yvcofim
8. Ps.Hippocr. 71, dtaiT. d^, 1) niederlegte, stand Mitte des 5. Jahrhunderts
unter Leitung des Euryphon.») Etwas älter als er ist der Krotoniate
Alkmaion, 10) der, in seiner dualistischen Grundanschauung von Pythagoras,
in seiner Psychologie von Herakleitos abhängig, durch seine Lehre von
den TTOQoi auf Empedokles und die Atomisten, durch die vom Gehirn als
Zentralorgan auf Hippokrates und Piaton gewirkt hat. Sein Buch mgi
(pvoiog in ionischem Dialekt scheint später durch die Gegnerschaft des
Aiistoteles in Schatten gestellt worden zu sein; es ist das frühste uns be-
kannte Stück medizinischer Litteratur, aber sicherlich nicht überhaupt das
frühste.
P. FoüCART, Des ossociations r^lig. chez les *) Über Entwicklang der Priestermedizin
Grecs, Paris 1873, 98. 171 über Kuren der zu rationellerer Behandlung hin Th. Lbfort.
Rheapriester; über die Inkubationskuren, die Notes sur le culte d'Asklepios (Mus^e Beige
wir am besten aus Aristoph. Flut, den inschrift- | 10, 1906, 21 ff.) ; J. Ilbero,_N. Jahrbb. f. kl. Alt.
liehen Wunderberichten aus dem Asklepieion -
von Epidauros (Ch. Michel. Recueil d'inscr.
Grecques nr. 1009; F. Cavvadias, M^langes
Perrot, Paris 1903, 41 ff.; N. Festa, Atene e
13 (1904)415; R. Fohl, De Graecor. medicis
publicis, Berl. Diss. 1905, 14 ff. (erst in später
Zeit verbinden sich Arzt und Asklepios-
priester).
Roma 3, 1900, 7 ff.) und den irooi koyoi des | ') Hippocr. de vet. med. 5 p. 6, 3 Eühlbw.
Aelius Aristides (or. 23 — 27 Dind.) kennen, j *) A. Wibdemann zu Herodot. II p. 323 ff.
s. L. Deubner, DeincubationecapitaIV, Leipz. I 345; nur für die Augenheilkunde, in der das
1900; M. Hamilton. Incubation or the Cuie 1 19. Jahrh. unmittelbar an die griechische
of Disease in Pagan temples and Christian Medizin anknüpft, ist ägyptischer Einfluß
Churches, St. Andrews 1906. Bei Flaton bedeutender.
Chamiid. 156 d ff. verteidigt ein thrakischer : *) So Demokedes in Aigina mit 1 Talent,
Medizinmann die e:nMf ^wissenschaftlich*. dann in Athen mit 100 Minen Gehalt (Herodot
Vgl. auch F. G. Welcker, Kl. Sehr. 3,..64 ff.; III 131). Siehe R. Foul a. a. 0. 8. 67.
M. Wellmann, Fragm. der griech. Ärzte I ^) Herodot. III 125. 131 ff.
29 f. A.; W. ScHMiD. Fhilol. 62 (1903) 15 f. ") Herodot. III 131.
M Ar. Flut. 407 ff.; Aristid. or. 45 p. 24 ^) (lalen. T. X 5 Kühn.
Dind. ; 49 p. 534 u. ö. über den Kampf •) M. Wellmann, Realenz. s. v.
zwischen christlich-religiöser imd profaner ■ *®) J. W achtler. De Alcmaeone Croto-
Krankenheilung im 5. und 6. Jahrh. n. Chr. niata. Leipz. 1896: H. Diels, Vorsokr.^ 103ff. ;
G. LuMBRoso, L'Egitto al tempo dei Greci
e dei Romani*, Roma 1895, 151 f.
R. Fohl a. a. 0. 12, 9.
4. Die Philosophie, a) Anfänge der Philosophie. Medizin. (§ 327.) 595
327. Aus der Schule von Kos hervorgegangen ist der gefeiertste
griechische Arzt, Hippokrates;*)er stammte aus einem alten Asklepiaden-
geschlecht der Insel Eos, d. h. wohl aus einem altthessalischen, in Eos ein-
gewanderten Adelsgeschlecht; geboren ist er nach Apollodoros Ol. 80. 1
oder 460 v. Chr., nach Soranos am 23. des Monats Agrianos.*) In den
Zeiten, wo in solchen Geschlechtern zugleich mit dem Eultus des Gottes
sich die Heilkunst und ärztliche Praxis vererbte, war der Vater der natür-
liche Lehrer des Sohnes; aber außer bei seinem Vater Herakleides soll der
junge Hippokrates bei dem Arzt Herodikos aus Selymbria in die Schule
gegangen sein. Wenn auch Gorgias') und Demokritos als seine Lehrer
genannt werden, so deutet das vielleicht auf Beziehungen hin, die Hippo-
krates mit jenen Männern unterhielt.*) Als berühmter Arzt kam er ver-
mutlich viel in der Welt herum; ob aber die Aufenthalte in Thasos, Abdera,
Eyzikos, Erannon, die Behandlung des Eönigs Perdikkas von Makedonien,
die Einladung an den persischen Hof im einzelnen als geschichtlich an-
gesprochen werden können, ist sehr fraglich; es können hier Schlüsse aus
den Epidemien, die von verschiedenen Verfassern sind, vorliegen. Nur
ein Aufenthalt in Thessalien kann, schon wegen des Namens Thessalos,
den einer von Hippokrates' Söhnen führte, für sicher gelten. Auch die
Annahme, daß er längere Zeit in Athen gelebt und in der großen Pest
zu Anfang des peloponnesischen Erieges seine Eunst gezeigt habe, ist
ganz unverbürgt.*) Den Tod fand er im thessalischen Larissa. Die An-
sätze für das Todesjahr schwanken mit den Angaben über die Lebensdauer
(85, 90, 104, 109 Jahre). — Unter dem Namen des Hippokrates ist eine
Sammlung von dreiundfünfzig Schriften (in zweiundsiebzig Büchern) in
ionischem Dialekt auf uns gekommen. Hippokrates (und nach ihm alle
Ärzte dieser älteren Periode) schrieb wie sein älterer Landsmann Hero-
dotos nicht in dem Dialekt seiner dorischen Heimat, sondern in der
^) Quellen sind außer einem Artikel des
Suidas und Stephanos Byz. u. K&g eine bei
C. G. KüHK III 850 abgedruckte Vita, die
vermutlich aus Soranos' B(oi laxQwv exzerpiert
ist; eine neue lateinische, von Soranos un-
abhängige Vita publiziert aus einer Brüsseler
Handschr. von H. Schöne, Rh. M. 58 (1903)
56 ff. Die Briefe, weil unecht, kOnnen nur
mit Vorsicht in Betracht gezogen werden. —
Historia litteraria Hippocratis auf
Grund der Vorarbeiten von J. A. Fabricius
und Chr. Ackermann in Kuhns Ausg. I ; Chb.
PETERSEy, Hippocratis scripta ad temporum
rationes disposita, Hamb. 1839. Vgl. Th. Gom-
PERZ, (Triech. Denker I* 226 ff.
2) F. Jacoby, Apollodors Chronik 295 ff.
Die Zeitbestimmung bei Apollodoros ist durch
den Synchronismus zwischen Hipp. u. Demo-
kritos beeinflußt.
*) Prodikos, der bei Suid. als Lehrer des
H. figuriert, ist sicher aus 'Hoodixog ver-
schrieben (vgl. o. S. 513, 5). Herodikos wird
genannt Epid. VI 3, 18.
*) Der untergeschobene Briefwechsel des
Demokritos und Hippokrates steht in R. Heb-
CHERS Epistel, gr. nr. 18. 20—23 (p. 306 ff.),
tlber die Zeit, in der die Briefe unter Be-
nützung der Schriften des Hippokrates unter-
geschoben wurden, s. J. F. Marcks, Symb.
crit. ad epist. gr. 30—45. Ep. 1—1? sind
von einem Verfasser und älter als die
übrigen; ein Brief des H. an KOnig Ptole-
maios (!) bei J. F. Boissonadb, Anecd. HI
422 ff. ; eine textlich von der bisher bekann-
ten abweichende Sammlung der Briefe, io
der auf V sogleich XI folgt, repräsentieren
zwei Berliner Papyri (Berl. Elassikertexte
III 6 ff.).
') Dankbare Ehrenbezeugungen der Athe-
ner erwähnt unter Beigabe eines gefälschten
Volksbeschlusses die Vita. Plinius n. h. VII 123
Hippocrates medicina (scenituit), qui venientem
ab Illyriia pestilentiam praedixit discipulaa-
que ad auxiliandum circa urbes dimisit. Gale-
nos nennt unter den Städten, denen Hippo-
krates mit seiner Kunst Hilfe geleistet, wohl
Krannon und Thasos, nicht aber Athen. Ohne
alle Beweiskraft ist die Stelle in Piatons
Protagoras p. 311b, wo nur der Homonymität
wegen der Koer Hippokrates angeführt ist.
38*
596 Griechische Litteratnrgeschiohte. I. Klassische Periode.
Sprache, die vor dem peloponnesiscben Krieg in der Prosa herrschend
war.^) Die dreiundfünfzig Schriften sind an Gehalt und Stil sehr ver-
schieden, und von keiner einzigen steht die Abfassung durch Hippokrates
völlig fest;^) sie sind aber seit dem 4. Jahrhundert die Handbibliothek der
griechischen Arzte geworden, rj jioXv^gvXrjTog xai nokv&avfxaatog iirjxovrd^
ßißkog 7) näoav iaTgixrjv &reoTiJ//iyv xe xcd ocxpiav ijJuifQiexovoa (Suid.). Zum
Teil sind es konzeptartige Notizen über Beobachtungen, zum Teil schlichte
Abhandlungen für Fachmänner, zum Teil flüssiger geschriebene Erörte-
rungen über Gegenstände von allgemeinem Interesse für weitere Kreise,
zum Teil (dies trifft nur für negi Tsyvrjg zu) kokette Erzeugnisse sophisti-
scher Epideiktik. Eine der Schriften, negi (pvotog ärdgcinov^ wird von Ari-
stoteles (bist. anim. p. 512 b 12) als Werk des Polybos, eines Schwiegersohnes
des Hippokrates, angeführt;') andere wurden von den Kennern, man weifi
nicht auf welche Zeugnisse hin, dessen Söhnen Thessalos und Drakon zu-
geschrieben; andere wieder waren erst von jüngeren Ärzten unter dem
falschen Namen des berühmten Asklepiaden den Königen Ägyptens ver-
kauft worden;-^) endlich haben auch die alten und echten Werke im Lauf
der Zeit Zusätze und Änderungen erfahren. In der Kaiserzeit, als die
medizinischen Studien neu erblühten, suchten daher die philologisch ge-
bildeten Ärzte das Echte vom Unechten auszuscheiden.'') Der berühmte
Arzt Galenos schrieb darüber ein eigenes, nicht auf uns gekommenes Buch
und kommt in den uns erhaltenen Kommentaren sehr oft auf Echtheits-
fragen zu sprechen. <^) Am meisten tragen das Gepräge der Echtheit und
sind durch Zeugnisse der Alten verbürgt: nQoyvioorixd, jiegl diaiTrjg ö^icov,'^)
hn&qfjiiai Buch 1 und 3,®) negl tojv iv xetpakf} rgojfxdrcov. Echtes mag
^) Über den ionischen Dialekt des Hip- '. K. Fredrich, Hippokr. Untersuchungen. 11.
pokrates 0. Hofpmann, Die griech. Dialekte ! 80 setzt das Zustandekommen der Samm-
111 p. 192 ff. und die Ausg. von H.Kühle WEIN Inng in den Anfang der Alexandrinerzeit,
1 praef. LXV ff. spätestens 250. Eine reiche medizinische
*) Schriften des Hippokrates waren schon , Litteratur setzt schon Xen. mem. IV 2. 10
zu Piatons Zeit in Umlauf; s. Plat. Phaedr.
270c, Protag. 311b; aber Piaton nennt uns
keine Titel und läßt uns auch bezüglich des
voraus.
') Daß der Aristoteliker Menon schon
unechte Schriften als hippokratische zitierte,
Ursprungs der Rede des Arztes £r}'ximachos . beweisen die latrika Menoneia. »Siehe H.
im Symposion mu* raten; s. indessen die Dibls, Herm. 28 (1893) 480; R. Schöne, Gott.
Ausleger zu p. 186 d (die Stelle ist wohl auf gel. Anz. 1900. 660.
Alkmaion zurückzuführen). Aristoteles be- *) C. G. Kühn I p. XX sq.
nützte bereits die meisten Schriften unserer , ^} Von unechten Schriften des Hippo-
Sammlung, wie F. Poschenrieder, Die natur- \ krates im allgemeinen spricht Augustinus
wiss. Schriften des Aristoteles im Verhältnis I contra Faust. 22, 6.
zu den Büchern der hippokratischen Samm- ! ^) Galenos erkannte nur 13 Schriften
lung. Bamberger Progr. 1887 nachwies. Die als echt an und statuierte auch bei diesen
ganze Sammlung kann, schon des ionischen weitgehende lQter|)olationen ; sein Urteil hat
Dialektes wegen, nicht jünger als das 4. Jahr- aber, da er besonders die Echtheit der sicher
hundert sein; sie hat wahrscheinlich schon unechten Schrift .Tfot <yvoio^ uv\)qio:iov be-
dem großen athenischen Arzt Diokles von tont, wenig Bedeutung; 30 echte Schriften
Karystos c. 3o0 vorgelegen, wenn auch die anerkannte Erotianos (J. Ilberg, Abh. der
von*^ M. Wellmann früher vertretene Ansicht. 1 sächs. Ges. d. Wiss. 14, 1894, 103 ff.), 11 Pal-
daß dieser sie veranstaltet habe, nicht halt- ! ladio8(s. VII.): s. J. Ilberg, Studiapseudhippo-
bar ist: fest steht nur, daß Diokles 12 (viel- cratea, Lips. 1883; L. 0. Bröcker. Die Me-
leicht 16: M. Wellmann, Fragm. gr. Arzte thoden (ralens in der litterarischen Kritik,
I 61 ff.) Schriften unseres Corpus gehabt und Rh. Mus. 40 (1885) 415 ff.
daß er nicht sicherer als wir gewußt hat, ') Daher akute Krankheiten.
was echt hippokratisch sei und was nicht. ®) Die Bücher 2 und 4 — 7 galten schon
4. Die Philosophie, a) Anfänge der Philosophie. Medizin. (§ 327.) 597
auch in den Aphorismen 0 stecken. Als echt gelten auch noch fast all-
gemein die Bücher Jieol dQxairjg IrjxQixijgf negl äyfjubv, negi x^M^'f ^«^^
degcov vddrcov roncov,^) negi legijg vovoov,^) Tiegl äg^gcov (von den Oelenken).
Das Buch jiegl cpvoiog äv^gamov wird von Aristoteles, wie gesagt, dem
Polybos zugeschrieben. Unter den zweifelhaften Büchern gehen zum Teil
in die Zeit vor Hippokrates zurück die Kcoaxai ngoyviooeig^ sechshundert-
neunundvierzig kurzgefaßte Notizen der Asklepiaden von Kos, benützt in
den IlgoggrjTixd, Die meisten der unechten Schriften aber stammen aus
späterer Zeit; interessant sind unter diesen besonders die ngoggrjjuid^ deren
Unechtheit Erotianos nachzuweisen versprach, das Buch von den Muskeln
{Tiegl oagxayy) und die sich daran anschließende, nur in arabischer und
lateinischer Übertragung erhaltene Schrift über die Siebenzahl, in der
schon die Alten pythagoreische Einflüsse erkannten (s. 0. S. 586. 593^ 2),
die vier Bücher negl dialrrjg. für die Galenos ein halbes Dutzend von Ver-
fassern {Evgv(p(bv^ Haupt der knidischen Schule, fj 0d(ov fj 0diati(ov fj
"AgioTcov tj Tig äXXog töjv 7iakaid}v) aufführt.*) Zu den Büchern über Diät
gehört auch das Buch über die Träume {negl hvjiviayv)^ die älteste Schrift,
welche die Weissagung aus Träumen lehrt und zu erklären sucht. Gegen
Sätze der Schrift über Diät, des weiteren aber gegen naturphilosophische
Richtungen der Medizin (insbesondere gegen Empedokles) überhaupt ist
gerichtet die besonnene Schrift eines aufgeklärten Praktikers der alten
Schule negl dgyalrjg li^rgixrjg.^) Die Schrift negl qrvoiog dv&gconov ist Aus-
zug aus einer ausführlicheren Schrift, von der die Kapitel negl diaiTtjg
ifyieivijg einen integrierenden BestandteD bilden.«) Aus den Kreisen der
sophistischen Physiker stammen die Schriften negl qwocjv (de flatibus), negl
(fwoiog naidtov, negl vovocdv vier Bücher.^) In den Schulen der Rhetoren
erdichtet sind die Briefe und die Rede am Altar (Xoyog inißd)jMog), in
dem GaleDOs als unterschoben. Orientierend
über den Inhalt der 'Emdrjfiicu J, Ilbebo, N.
Jahrbb. f. kl. Alt. 18 (1904) 41 1 ff. Schauplätze
der hier niedergelegten Krankengeschichten
sind Thasos, Abdera und andere nordgriechi-
sche Städte, Thessalien; die Patienten aus
allen BevölkerunRsklassen.
^) Syrische Übersetzung ed. H. Pognon,
Leipz. 1903.
^) Auf diese interessante Schrift, welche
die Elemente der Hygiene enthält, wird in
einem jungen Scholion Arist. nub. 332 Bezug
genommen; über ihre Bedeutung für Ethno-
graphie s. S. 507. Wilamowitz, der einen Teil
der Schrift in sein Griechisches Lesebuch auf-
genommen hat, spricht sie zwar dem Hippo-
krates ab, setzt sie aber in perikleüsche
Zeit. Ein Indicium der Zeit liegt c. 15, wo
Herodot. 11 104 zurückgewiesen wird (über
den Einfluß des Herodotos auf Hipp. H.
Berger, Gesch. der wiss. Erdk. I 99). Die
Grundsätze dieser Schrift sind später beson-
ders von Poseidonios weitergeführt (E. Oder,
Philol. Suppl. 7, 1899, 325 A. 124; 326 ff.).
') Darunter ist die Epilepsie verstanden,
die heilige Krankheit hieß, weil das Volk
die plötzlichen Konvulsionen auf die Kraft
der Dämonen zurückführte und mit den Ver-
zückungen der Priester und Prophetinnen ver-
glich. Hippokrates selbst bekämpft diese Auf-
fassung und sucht die Wurzel der Krankheit
im Gehirn. Über die Verwandtschaft der
Schrift mit der jtsqI äimov Wilamowitz, Berl.
Ak. Sitz.ber. 1901, 2 ff.
*) Über die Beeinflussung des Autors der
Schrift :tegi Aiahijg durch Herakleitos und
Empedokles Th. Gomperz, Griech. Denker I*
449 zu S. 230, der nach dem Vorgang von F.
Spät, Die geschichtl. Entwicklung der sog.
hippokratischen Medizin im Lichte der neusten
Forsch., Beri. 1897, 22 f., an Herodikos als
Verfasser denkt. Analyse des Werkes von
C. Fbedrich, Hippokratische Untersuchungen,
Philol. Unters. 15. Heft, 1899.
^) Die Bedeutung dieser Schrift trefflich
erläutert von Th. Gomperz, Griech. Denker I*
238 ff
«) E. HöTTERMANN, Horm. 42 (1907)
138 ff.
') Vgl. H. DiELS, Herm. 28 (1893) 426 f.
598 Griechische litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
welcher der Redner, angeblieh Hippokrates als Schutzflehender am Altar der
Athene, die Thessaler zur Hilfe gegen die Athener, die Unterdrücker seiner
Heimat Kos, aufruft. Dem Hippokrates als dem Vater der Arzte wurden auch
mehrere Schriften allgemeinen Charakters zugeschrieben, wie der Eid der
Asklepiaden, das Gesetz der Ärzte, von der ärztlichen Kunst. Die beiden ersten
ganz kurzen Stücke zeugen von der hochentwickelten Humanität der alten
Asklepiadenschulen und enthalten manche auch noch heute beachtenswerte
Vorschriften. Die Apologie der Heilkunst (jTegi rixvrjg) gegen den Vorwurf, als
gebe es in diesem Gebiet nur tvx^, hat gorgianischen Stil und stark sophisti-
schen Anstrich, aber seine Meinung, Protagoras sei der Verfasser, scheint
Th. Gomperz selbst nicht mehr aufrecht zu halten. i) — Über die Lehre des
Hippokrates selbst ist uns nur so wenig und so allgemein Gehaltenes (Plat.
Phaedr. 270 c, Ps.Aristot. probl. 326 a 15) sicher bekannt, daß daraus für die
Echtheitskritik keine sichere Grundlage gewonnen werden kann. Der alte
Hippokrates scheint aber ebenso die banausische und kasuistische Empirik
und den Traditionalismus der Knidier {mgl dtcuirjg ö^ioiv) wie den Priester-
aberglauben {Txegl leQtjg vovoov) und die vorlaute philosophische Spekulation
der sizilischen Schule {negl ägxalrjg Irjrgix^g) verworfen und die Ansicht
vertreten zu haben, daß voraussetzungslose Beobachtung des Menschen der
beste Ausgangspunkt für, die Erkenntnis der gesamten Natur (und nicht
umgekehrt) sei, daß man aber dabei den Blick immer auf das Ganze der
(pvmg gerichtet halten müsse. ^) Aus dieser Gesamtanschauung ergibt sich
die solide und bescheidene Fassung der Aufgabe des Arztes, der Natur in
Heilung der Krankheiten ein Helfer zu sein: vTxevavxiovo&ai reo vooyjiiau
t6v vooeovra juerä xov Itjtqov (epid. I 11), denn vovocov (pvoieg IrjTgoi (epid.
VI 5, 1). Auch auf diesem Gebiet wie auf dem der Geschichtschreibung
und der Philosophie vertritt so die ionische Litteratur einen gesunden, von
Kurzsichtigkeit und Befangenheit ebenso wie von phantastischem und
mystischem Wesen sich fernhaltenden Empirismus.
Ausgaben im Altertum: in Alexandreia hatte im 2. Jahrh. v. Chr. Mnemon aus Side
eine öidQ&moig von Epid. III vorgenommen, von der aber schon Galenos nur durch Hörensagen
etwas wußte (Galen. XVIIa 603 ff.). Unter Hadrian besorgten neue Ausgaben Artemidorus
Capito und (mit mehr Vorsicht) Dioskorides; s. C. G. Kühn I p. XXIV sq. und J. iLBEBOf
Rh. Mus. 45 (1890) 111 ff — Gedruckte Ausgaben: ed. princ. apud Aldum 1526; cum vers.
et not. ed. A. Fobsiüs, Frankf. 1595, oft wiederholt; ed. R. Chartier 1638—79: ed. C.
G. Kühn in Bd. 21—23 der Gesamtausgabe der Medici gr., Lips. 1821—27, 3 Bände; ed. M.
P. E. Littr6 mit kritischem Apparat, Par. 1839—61, 10 Bände; ed. F. Z. Ermerins. ütr.
1859—64, 3 Bände. Eine neue Ausgabe mit kritischem Apparat von J. Ilbero und H.
Kühlewein in BT. im Erscheinen (Bd. I 1895; 11 1902). — Spezialausgabe n^tn dfocov
vöduor Tojiwv von A. KoRAES (dem berühmten griechischen Arzt und Philologen), Paris 1800,
2 Bde. An der Erklärung der hippok ratischen Schriften beteiligen sich seit der Alexandriner-
zeit Ärzte aller Richtungen.
Glossare: T(7}v na(j 'IjrsioxQdiF.i ?.F^e(or avvaycoyt} von Erotianos (J. Ilbero, Abh. der
Sachs. Ges. d. Wiss. phil.-hist. Kl. 14, 1894, 103 ff.) mit einer Widmung an den ngziarga; 'Av-
d(j6im/f.h;, Leibarzt des Kaisers Nero (dessen gleichnamigen Sohn nimmt nach J. Klein M.
Wcllmann an) ; das Glossar ist in alphabetischer, nicht vom Verfasser henührender Ordnung
auf uns gekommen, neubearbeitet von J. Klein, Lips. 1865. — Jüngere Glossare haben wir
von Galenos, uov tov 'In.ioxndiov? ykioooiov e^fjytjnic, und Herodotos Lykios, alle her-
ausgegeben von J. G. F. Franz, Erotiani, Galeni et Herodoti gloss. in Hippocr., Leipz. 1780.
^) Tu. Gomperz, Die Apologie der Heil- i Denker P 392.
kunst, Wien 1890, und derselbe. Griechische | *) Geis, de med. p. 8, 29 ff.
4. Die Philosophie, a) Anfänge der Philoeophie. Medizin. (§§ 328—329.) 599
Haaptkommentator ist Galenos, der Kommentare zu siebzehn Schriften des Hippokrates-
corpus schneb. Außerdem haben wir noch mehrere kleinere Kommentare: Apollonii Gitiensis
(um 70 V. Chr.), Stephani (8. Jahrh. n. Chr.), Palladii (7. Jahrb.), Theophili (7. Jahrb.), Meletii,
Damascii, loannis, aliorum scholia in Hippocratem et Galenum ed. F. R. Dietz, Königsberg
1834, 2 Bde. Scholia inedita in Hipp. ed. C. Dabbmbbbo, Archives des missions scientif.
Paris 1852. Die Scholien meist ans Galenos, Erotianos. und Theodoros Protospatharios'
Komm, zu den Aphorismen. Kommentar des ApoUonios aus Kition zu Hippocr. jteoi äoOgoav
mit antiken Zeichnungen, herausg. von H. Schöne, Leipz. 1896. — Übersetzung mit Erläu-
terungen von R. Fuchs in drei Bänden, München 1895 — 1900.
Die ältesten (nicht alle Schriften enthaltenden) Handschriften sind Vindobonensis med.
IV d s. X, Parisin. gr. 2253 A s. X, Vatican. 276 V s. XII, Marcian. Ven. 269 M s. XI, und
Laurent. 74, 1 B a. XI/XlI. Neben ihnen kommen zur Textkonstitution die Zitate bei Ero-
tianos und Galenos sowie alte Übersetzungen^) in Betracht.
328. Zunächst nach Hippokrates nennt Plinius in der Naturgeschichte
(XXVI 10) als Begründer der Heilkunde den Diokles aus Kaiystos, einen
philosophisch gebildeten Arzt aus der Zeit des Piaton, den Führer der
athenischen Ärzteschule Anfang des 4. Jahrhunderts; er schrieb auch in
attischem Dialekt und verband die Lehren des Hippokrates mit denen der
sizilischen Schule. Aus seiner Gesundheitslehre {vyieivd = Hygiene) ist uns
durch die medizinische Enzyklopädie des Oreibasios ein Abschnitt erhalten,
den Wilamowitz in das Griechische Lesebuch (Berlin 1902) p. 279 — 284 auf-
genommen hat. Er verdient diese Auszeichnung, da er uns in ungekünstelt
schöner Sprache von dem Tageslauf eines Hellenen der besten Zeit ein
anschauUches Bild entwirft, aus dem wir verstehen lernen, wie durch ver-
nünftige Körperpflege, einfache Nahrung und regelmäßige Gymnastik der
Grieche sich die Voraussetzungen nicht bloß zu geistiger Überlegenheit,
sondern auch zu kräftiger und schöner Körpergestalt zu verschaffen suchte.
Für alle Folgezeit maßgebend ist Diokles geworden durch sein Kräuterbuch
{giCoTojLuxov) mit Beschreibung der offizineilen Pflanzen. Theophrastos und
alle folgenden botanischen Schriftsteller bis auf Dioskorides hängen hier
von ihm ab.*)
Die sizilische Schule des Empedokles führen im 5. Jahrhundert Akren
von Akragas und Philistion von Lokroi, der auf Piatons medizinische An-
sichten eingewirkt hat, weiter. 8)
Den älteren Ärzten gehört auch Mnesitheos aus Kyzikos (nach
anderen aus Athen) an, von dem Oreibasios einen Abschnitt Tzegl xQdjußrjg
aufgenommen hat und den auch der alte Cato benutzt zu haben scheint.*)
329. Die Mathematik und Astronomie*) beginnen sich in dieser
') Die arabischen Hippokratesübersetz-
ungen verzeichnet M. Steinsohneioeb in Vir-
chows Archiv f. pathol. Anat. 124 (1891)
115 ff.
^) Seine Theorien und Schriften bespricht
eingehend M. Wellmann in der Realenz.
9. Halbb. 802 tf. ,, Die Fragmente bei dems.,
Fragm. griech. Ärzte I 117 ff. L. Rader-
Die Fragmente der beiden Sizilier (von denen
aber keines im Wortlaut erhalten ist) ebenda
S. 108-116.
*) P. Reuther, De Catonis de agricultura
libri vestigiis apud Graecos, Diss. Lips. 1903
p. 37 ff. Einige weitere Namen von doxuToi
(voralexandrinischen?) iarooi Galen. XV 136.
*) Veterum mathematicorum Athenaei
MACHER, Berl.phil.Woch. 27 (1907)305 möchte Apollodori Philonis Bitonis Heronis et alior.
auf Grund eines gefälschten Briefes des D. opera ed. M. Thevenot, Par. 1693 (enthält die
an Antigonos von Makedonien die Lebens- Mechaniker); Opera mathematica ed. J.Wallis,
zeit des D. bis nach 323 ausdehnen und Xen. Oxon. 1699, 3 voll. — Uranologion sive sy-
Cyr. 1 6^ 16 auf ihn bezichen. stema variorum authorum qui de sphaei-a ac
^) Über Piatons Abhängigkeit von Phi- sideribus eorumque motibus graece commen-
listion s. M. Wellmann, Fragm. I 10. 74 f. , tati sunt, Gemini, Achillis Tatii, Hipparchi,
600 Ghiechische LitteratnrgeBchichte. L Klassische Periode.
Periode schon von der Philosophie loszulösen. Sie sind bodenständig in
Babylonien, wo schon im dritten Jahrtausend v. Chr. die Rechenkunst mit
einer praktischen, Sexegesimal- und Dezimalsystem verbindenden Methode
des Zahlenschreibens sowie die Beobachtung des Himmels hoch entwickelt
war, und in Ägypten, ^ wo die eigenartig verwickelten Ackerbau- und
Pachtverhältnisse eine genaue Landvermessung notwendig machten. Dem
griechischen Volk im Ganzen war die Mathematik durchaus nicht kon-
genial.*) Die gewöhnliche Rechenkunst (loyiarixt]) der Griechen ist immer
in ihren Methoden (Arm- und Fingerrechnen, Rechenbretter) höchst ele-
mentar geblieben.*) Auch die Technik ist, wie die Vulgarität ihrer Kunst-
ausdrücke schon zeigt, lange Zeit im roh handwerklichen Empirismus stecken
geblieben, bis sie sich in hellenistischer Zeit mit der Mathematik verband
und in dieser Verbindung bedeutende Fortschritte machte. In älterer Zeit
sind es beschränkte Kreise, die sich mit diesen Studien abgeben, und
diese sind im Anfang, wie z. B. Thaies und Pythagoras, ohne Zweifel
vom Orient aus inspiriert. Die mathematischen Interessen sind zunächst am
meisten im pythagoreischen Kreis gepflegt worden, von dem auch Piatons
Eifer für die Mathematik^) entzündet worden ist. Aber schon Aristoteles
zeigt in mathematischer Kenntnis dem Piaton gegenüber wieder einen
Rückschritt;*^) wenn auch er, wie schon Sokrates^) und Isokrates,') der
Mathematik einen gewissen propädeutischen Wert beimaß, so wünschten
sie doch alle keine eingehendere Beschäftigung mit ihr. Die späteren
Philosophenschulen haben sie alle abgelehnt; erst Poseidonios führte sie
in den Kreis der philosophischen Disziplinen ein. Bemerkenswert ist
übrigens, daß die griechische Geometrie, wiewohl aus der Fremde impor-
tiert, doch abgesehen von jivQajulg keinen fremdsprachlichen Kunstausdruck
Ptolemaei etc., cura Dion. Petavii, Par. 1630, verdanken wir sehr willkommene Angaben
Amstel. 1703. — J. B. J. Delambre, Histoire de dem Kommentar des Proklos zu Eukleides
l'astronomieancienne, 2. voll., Paris 1817; Th. I p. 19 ed. Bas., der selbst wiederum ans des
H. Martin, Astronomie grecque et romaine, I Eudemos FEco^EXQixr} torooin schöpfte.
Paris 1875. — H. Hankel, Zur Geschichte ») Aristoteles met. 981 b 23 hält die Ma-
der Mathematik, Leipz. 1874. M. Cantor, Vor- thematik für eine Erfindung der ägyptischen
lesungen über Geschichte der Mathematik, i Priester.
4 Bde., Leipz. 1880—92; 2. Aufl. I— III 1894 i «) 0. Apelt, Beitr. z. Gesch. der griecb.
bis 1900; 3. Aufl. I 1907; G. Zeuthen. Gesch. ' Philos., Leipz. 1891, 253 ft. (die Widersacher
d. Mathematik im Altertum und Mittelalter, der Mathem.).
Kopenh. 1896. — P. Tannery, La g^ometrie ^ *) M. C. P. Schmidt, Eulturgeschichtl.
grecque, Paris 1887; ders., Recherches sur l Beiträge zur Kenntnis des griech. und röm.
l'histoire de l'astronomie ancienne, Paris ' Altert. I, Leipz. 1906.
1893; F. RüDio, Archimedes, Huygens, Lam- *) Index philos. acad. p. 16 ff. Meklbb.
bert, Legendre, vier Abhandl. über die Kreis- G. Milhaüd s. o. S. 599 A. 5. Die Oberlegen-
messung. Deutsch herausgeg. u. mit einer 1 heit der Äg3rpter in der Mathematik über die
Übersicht üb. die Gesch. des Problems von der ' Griechen seiner Zeit konstatiert Piaton (leg.
Quadratur des Zirkels versehen, Leipz. 1892; 819a b; vgl. Plut. de gen. Socr. 579c) und
N. Herz, Geschichte der Bahnbestimmung | wirbt unter Hinweis auf ihren vielfachen prak-
von Planeten und Kometen I, Leipzig 18H7; I tischen Nutzen für sie. Die reine Mathematik
G. Milhaud, Les philosophes g^omdtres de la stellt er übrigens (Phileb. 56 d ff".) über die
Griice. Piaton et ses prödecesseurs, Paris 1900. angewandte, aber unter die Dialektik.
— A. V. Braünmüul, Vorlesungen über Ge- *) <t. Miluaud, Aristote et les math^-
schichte der Trigonometrie I, Leipz. 1900. — i matiques, Arch. f. Gesch. d. Philos. 16 (1903)
Jahresberichte über alte Mathematik, Mecha- I 367 ff.; A. Görland, Aristot. und die Mathem.,
nik u. Astronomie im Jahresber. üb. d. Fortschr. Marbm-g 1899.
dA'l.Alt.wis8.v.K.TiTTEL,Bd.l29(1906)113ff. «> Xen. mem. IV 7, 8.
über die ältere Geschichte der Mathematik ") Isoer. 15, 265.
4. Die Philosophie, b) Die attische Periode der Philosophie. (§ 330.) 601
hat. Originalschriften aus voralexandrinischer Zeit sind nicht erhalten,
nur ein Exzerpt aus einem mit Figuren ausgestattet gewesenen Buch des
Mathematikers Hippokrates von Chios bei Simplicius.^)
Bedeutende Astronomen des 5. Jahrhunderts, über deren schriftstelle-
rische Betätigung wir aber wenig Sicheres wissen, waren Oinopides von
Chios,*) Eleostratos von Tenedos,') der erste Grieche, der Sonnenbahn
und Tierkreis gekannt hat, Meton von Athen,*) der Erfinder eines neuen
Schaltzyklus; als Geometer ragt hervor der aus Piatons Theaitetos be-
kannte Theodoros von Kyrene, als Mechaniker Archytas von Tarent.*)
Vor Piaton beschäftigte sich Hippokrates von Chios mit der Verdoppe-
lung des Würfels.^) Vielseitig wie Archyias war Eudoxos von Knidos 7)
(408 — 355), ein Schüler des Archytas, des Piaton, der Ärzte Philistion und
Theomedon, als Philosoph, Mathematiker, Astronom, Geograph, Akustiker
bedeutend. Die Geometrie des Eukleides beruht großenteils auf seiner
Vorarbeit, Aratos' ^aivojLteva sind eine Versifikation von Eudoxos' gleich-
namigem Prosabuch. Eine Verbesserung der Zeitrechnung durch einen
achtjährigen Schaltzyklus ist sein Verdienst. Als Philosoph ist er von
Piaton ausgegangen, hat aber als TeXog die ^don^ bezeichnet.*) Die Sphären-
theorie des Eudoxos verbesserte bald nach ihm der Astronom Kallippos,
über dessen Verhältnis zu Eudoxos uns hauptsächlich Aristoteles metaph.
IX 8 und des Simplicius Scholien zu Arist. de caelo II 12 unterrichten.*)
b) Die attische Periode der Philosophie.
330. DieSophistik. Zu einhellig angenommenen Ergebnissen hatte
die Spekulation der alten lonier zwar nicht geführt, und der Praktiker und
Ethiker mochte in allen ihren Lehrsätzen nur ein buntes Gewirre unverein-
barer und also unhaltbarer Behauptungen sehen, ^o) ^^er doch war durch
sie eine Fülle neuer Probleme formuliert und durchgedacht, mit einer Menge
von Vorurteilen des Traditionalismus gebrochen, ein Schatz positiver neuer Er-
kenntnisse und Betrachtungsweisen gewonnen und so eine gewaltige geistige
Kraft freigemacht, und diese Kraft des Verstehens, Wissens, Könnens
wollte sich nun nicht mehr auf theoretische Studien beschränken lassen,
sondern sich auch in praktischer Beherrschung der Einrichtungen des
^) H. UsENER, Rh. Mus. 48(1893)96; H. | thematischen Schriften des Eudoxos. Ein
DiELs, Vorsokr.* 241. stark interpoliertes Stück der Evfio^ov tfx^
'^) H. DiELS, Vorsokr.* S. 239 f. •. veröffentlichten aus einem Pariser Papvrus
3) H. DiELS a. a. 0. S. 505 ; J. L. Heibebo, , Brunet de Pbeslb, Notices et extraits t. xVlII
Nordisk tidskrift for filol. 3 R. 12 (1904) 97 ff. I pl. 1—5; dann F. Blass, Eudoxi ars astro-
*) Siehe o. S. 451; Vitruv. IX 6, 3 ; Ael. nomica, Kiel 1887; vgl. C. Wachsmuth, Joh.
var. hist. X 7. Über einen in Milet gefunde- Laur.Lydiliberdeostentisetcalendariagraeca
nen , Steck kalender" (jiagdjnjyfia) s. H. Diels omnia, Lips. 1897 p. 272—5. Über die Ver-
und A. Rehh, Berl. Ak. Sitz.ber. 1904, 752 ff. I Wechsel ung des Astronomen Eudoxos mit dem
Über die ältesten Kalendersysteme G. F. | gleichnamigen Verfasser der geographischen
Ukoer in J. Müllers Handbuch der klass. Flegiodoc: yrjg s. unten.
•) Th. H. Martin, Memoire sur les hy-
potheses astronomiques d'Eudoxe, de Callippe,
Altertumswiss. P 736 ff.
*) Diog. L. Vni83; s. o. S. 585.
^) WiLAMowrrz, Nachr. der Gott. Ges.
der Wiss. 1894, 2 ff.
Siehe den Artikel von F. Hultsch in
d'Aristote, Paris 1880; darüber referiert F.
Hultsch, Jahresber. üb. d. Fortschr. d. kl. Alt.-
wiss. 40 (1884) 50 a ff.
der Realenzvkl. ^^) So tun Gorgias (Ps.Aristot. de Xenoph.
8) Eutokios (6. Jahrh.) zu Archimedes Mel. Zen. p. 979 a 13 ff.), Sokrates (Xen. mem.
de sphaera et cyl. II 2 kannte noch die ma- | I 1, 15) und Isokrates (15, 268). *
602 Griechkehe LüteratnrgeMliififate. L XlusiBche Periode.
Lebens betätigen und durchsetzen: das Wissen sollte zur Macht im Leben
werden.^) Dieser neue Geist wirkt sich nach negativer Richtung aus in einer
durchgeführten Kritik des Herkömmlichen auf allen Gebieten und in Be-
seitigung aller nicht vor dem Richterstuhl der Vernunft (Svveaig) bestehen-
den Vorstellungen und Einrichtungen, nach positiver durch Aufstellung einer
vernunftgemäßen Lebenskunst, deren Erfolg sein soll, das Einwirken des
Irrationalen (rvxv) ^^^ ^^^ menschliche Leben auf ein Minimum zu be-
schränken, das ganze Leben durch rexvrj unter die Macht der Vernunft
(yvcüfirj, i7iujT7i/xrj) zu stellen und dem einzelnen diejenige geistig-sittliche
Ausrüstung zu geben, die ihn, womöglich ohne Anwendung roher Gewalt,
durch Künste des Überzeugens oder Überredens, befähigt, seine Zwecke
zu erreichen (ägBr/j).^)
Die Träger dieser Richtung heißen Sophisten, ein Name, der ur-
sprünglich berufsmäßige Beschäftigung mit irgend einer Kunst oder Wissen-
schaft ausdrückt und erst durch die sokratische Bewegung und die Gegner-
schaft altkonservativer Kreise ») Attikas den gehässigen Beigeschmack
des unwissenschaftlichen und sittlich indifferenten Strebers und Routiniers
bekommen hat.*) Der Zusammenbruch der philosophischen Systeme hat
im ionischen Osten und im italisch-sizilischen Westen (Gorgias) ganz ana-
loge Erscheinungen des Kritizismus und Praktizismus hervorgerufen. Von
beiden Seiten, zuerst aber infolge des Untergangs der ionischen Selb-
ständigkeit von Osten her, ist die Sophistik, begünstigt durch den Geist
der aufstrebenden Demokratie seit Themistokles, nach Athen getragen
worden, wo sie sich mit einem bodenständigen, in Aischylos, Sophokles
und endlich in Sokrates verkörperten ethischen Positivismus auseinander
zu setzen hatte. Der Hauptvertreter der neuen Weisheit hier war Prota-
goras aus Abdera (geb. um 480);^) wie die meisten Sophisten führte er ein
Wanderleben, wählte aber Athen zum Hauptsitz seiner Tätigkeit ;ö) wenn
Herakleides Pontikos (bei Diog. L. IX 50) von v6/ioi Sovgioi berichtet, die
Protagoras verfaßt habe, so braucht darunter nicht eine dann tatsächlich
in der 444 gegründeten Kolonie Thurioi eingeführte Verfassung, sondern
^) Vgl. die bezeichnende Anekdote vom l xnl jiQaxTOftevoi. Herodot nennt noch die
praktischen Wert des Wissens Aristot. pol. , sieben Weisen (II 49), die Dionysospriester
1259 a 6 ff. (H 49). den Pythagoras (IV 95), Pindar die
^) J. Ludwig, Quae fuerit vocis d(>frij Dichter (Isth. 5, 28), Hippocr. (jt. äo^. ItjxQ.
vis ac natura ante Demosth., Leipz. 1906. I 20) und Diog. Apoll. (H. Dibls, Vorsokr.*
') Siehe besonders Aristoph. nub. 445 ff. i S. 342, 14) die Philosophen ooqrwTm; vgl. auch
Eupol. Kolaxpg. Diog. L. prooem. 12; Luc. Hipp. 2 (ünter-
*) G. Grote, Hist. of Greece VIII' schied zwischen 00990c und 007:1071;^): Schol.
(London 1855) 473—550; M. Schanz, Beitr. Luc. p. 175, 3 Rabe. — Daß das Wandern
zur vorsokrat. Philosophie aus Plato, Gott. ! zum Begriff der Sophisten gehört, sagt Plat.
1867: A. Espinas, Arch. Jür Geschichte Tim. 19 e.
der Philos. 7 (1894) 193 ff. über den Namen 1 ^) J. Frei, Quaestiones Protagoreae, Bonn
bei Piaton H.Räder, Plat. philos. Entw. ' 1845. F. Jacoby, Apollod. Chron. 266 ff. Die
68 f. Über die spätere Bedeutung des Wortes Reste der älteren Sophisten bei H. Diels,
K. Brandstätter, Leipz. Stud. 15 (1894) Vorsokr.» 511 ff.
129 ff. Siehe besonders die Definition des , ®) In Athen verkehrte er im Anfang des
Sophisten bei Piaton Men. 91b: 01 vmo- peloponnesischen Krieges mitPerikles; dadn
yvovfin'oi ugt'Ttjc: dtddaxa/.oi fircu y.ai djio(f i}- verließ er Athen, um, als Kallias Herr seines
rarre^ eai'iorg xotrovg xutv 'EXh)%'cov no ßov- Vermögens geworden war, wieder dorthin
Äoiih'O) ^lavdavEtv, fiioOtW tovtov ra^dfievoi xe [ zurückzukehren.
4. Die Philosophie, b) Die attische Periode der Philosophie. (§ 880.) 603
es kann auch eine Utopie gemeint sein, die der Sophist bei Gelegenheit
jener Neugründung als ein Muster des sophistischen Vemunftstaates ent-
worfen haben mag. Die Reaktion des Jahres 41 1 beseitigte den unbequemen
ausländischen Modemisten durch eine Anklage wegen Gottlosigkeit, die
sich wohl auf seine Schrift jugl ^ewv (fr. 4 Diels) gründete; er mufite
fliehen und fand c. 410 auf der Flucht nach Sizilien im Meer den Tod.^)
Seine Hauptschrift, auf die mehrfach von Zeitgenossen angespielt wird,')
führt den Titel KaxaßaXkovxeg (sc. XoyoC) oder 'AXrj^eia.^) Ausgehend von
der durch Herakleitos inspirierten Ansicht, daß das Erkenntnisobjekt {vXri
^Bvorrj) ebenso wandelbar sei wie das Erkenntnissubjekt, kam er zu seinem
berühmten Homo-mensura-Satz*) und weiterhin zu seiner Lehre von Natur-
recht und Contrat social*^) und zu der von der Sprache als einer künst-
lichen Schöpfung menschlicher Konvention,*) woraus ^r wieder das Recht
willkürlicher Änderung der gegebenen Sprachformen im Sinn des Ana-
logismus ableitete.') Der griechischen Sprachwissenschaft hat er durch
seine Studien über Sprachrichtigkeit {ÖQ^oineia),^) der Rhetorik durch
seine dialektischen Künste») bedeutende Anregung gegeben. Seine Schriften,
von deren Stil wir kaum mehr eine sichere Vorstellung gewinnen können,^®)
waren noch nach 429 in ionischem Dialekt geschrieben, i^) Nächst ihm
waren von großer Bedeutung Gorgias aus Leontinoi,**) Hippias aus Elis
und Prodikos aus Keos.
Der Einfluß dieser Männer auf den Geist der Zeit, auf die Loslösung
vom Glauben an das Überlieferte, auf die gänzliche Umgestaltung der Er-
') Vor 411 oder vor die Zeit des Rates
der Vierhundert setzt die Anklage gegen
Protagoras H. Müllbr-Strübino, Jahrbb. f. cl.
Phil. 121 (1880) 84. Einer der Vierhundert,
Pythodoros, wird als Ankläger genannt bei
Diog. L. IX 54.
») Eur. Bacch. 202; Herodot. VIII 77 (L.
Radermacher, Rh. Mus. 53, 1898, 501), viel-
leicht auch Democrit. fr. 125 D.
') Die beiden Titel Sext. Emp. adv. dogm.
I 60; Plat. Theaet. 161c. J. Bbrnays, Ges.
Abb. I 117 ff. Der Schriftenkatalog bei Diog.
L. IX 55, der die xazaß. nicht enthält, ist
unzuverlässig und aus Stellen des Piaton und
Aristoteles teilweise konstruiert. Ähnlich ist
der Titel von Thrasymachos' vnsQßaXkovrsg
(Flut, quaest. symp. 616 d). — über die ver-
meintlich protagoreXsche Sehr, mgi xeyvrig s.
o. S. 598.
*) 7idvxo)v xQ^t^^^ff^v fJisxQOv ioTiv äv^Qco-
Jtog, TMv fih oyrcov <hg eou, tö>v d* ovx Svrcov
(bc ovx ?oTt. Platon hat diesen Satz, viel-
leicht mehr seiner tatsächlichen Eonsequen-
zen als seiner ursprünglichen Meinung nach
(s. übrigens H. Räder. Piatons philos. Ent-
wicklung 281, 1) im Sinn des schrankenlosen
Individualismus verstanden (Cratyl. 268 a;
Theaet. 182a) und ihm (leg. IV 716c) den an-
dern entgegengestellt: 6 {^eog rjfiiv ndvnov
XQfjfiaKov fiexQov äv eii] fidXioza,
^) J. KÄbst, Gesch. des hellenist Zeitalters
I, Leipz. 1901, 40 ff. Die Lehre wird von Plat.
reip. 358 e ff. wiedergegeben und verworfen.
«) Plat. Protag. 322 a.
^) Aristot soph. el. 173b, 17 ff.; Ar. nub.
655 ff.
") Die Feststellung der drei Geschlechter
des Substantivs (Aristot. rhet 1407 b 6), die
Scheidung der Satzarten nach Modalitäten
(Diog. L. 1X53; Aristot. poöt 1456 b 10 fl.;
vgl. A. WiLLMANKS, De Varronis libris gramm.
6 ff.), der Tempora (Diog. L. IX 52) geht auf
ihn zurück.
•) Tov tjooco X6yov xgeiaoco jioteTv Aristot.
rhet. 1402a 23. Auch je nach Bedarf ßgaxv-
XoysTv und fia^goloyeiv verstand er (Plat. Prot
329 b).
^^) Die Rede in Piatons Prot, macht auf
stilistische Treue keinen Anspruch. Einen
Versuch, von der blühenden, poStisierenden
Art der altsophistischen imdei^eig eine Vor-
stellung zu geben, macht 0. Navabre, Essai
sur la rh^torique Grecque, 66 ff.
»>) Plut. consol ad ApolJ. p. Ii8e.
") Vgl. oben S. 514 ff. ^eme philo
sehen Anschauuni^eD kmen wir aus
stoteles. De Xenophane Zenotie Gorgi^j
Sextus Empiricus kt^nneo. Siehe H, r
Vorsokr.i 528 ff.
604
Griechische Litteratargeschichte. I. EUBsieche Periode.
Ziehung und des Unterrichtes ^ war ein enormer, dem der Enzyklopädisten
im 18. Jahrhundert vergleichbar; aber ihre Schriften sind früh unter-
gegangen.^) Das liegt zum Teil daran, daß sie ihre Anschauungen weniger
durch Schriften als durch Vorträge (del^eig oder biideiieu;) und hochbezahlte
Lehrkurse ^) verbreiteten, zum größeren Teil aber daran, daä ihre halt-
baren Ideen ähnlich wie die Herders sehr rasch Gemeingut geworden, die
unreifen und ephemeren aber durch die sokratische Philosophie rasch ver-
drängt worden sind, so daß man auf ihre Originalschriften nicht mehr
zurückgriflf. Auch ihren zahlreichen praktischen Lehrschriften*) scheint
ein bedenklicher Doktrinarismus angehaftet zu haben.^) Von dem viel-
seitigen Hippias werden mehr geschichtliche und moralistische {ävayQaq>ii
^OXvjumovixwv und TgcDixög didXoyogy) als philosophische Schriften angeführt.
Gorgias hatte ohnehin seine Stärke in den Reden, neben denen seine
dialektische, an die Lehre der Eleaten anknüpfende Schrift tuqI tov fxii
dvTog fj Tzegi tpvoetog'') zurücktrat. Von Prodikos (geb. c. 470 — 60), dem
Schüler des Protagoras und Lehrer des Theramenes, wird ein Buch 'jQpcu
gerühmt,®) in dem der schöne Mythus von Herakles am Scheideweg stand.*)
Er wird im platonischen Protagoras, wenn auch nicht ohne Ironie, als ein
ernsthafter Mann geschildert. Seine Studien galten hauptsächlich der
Sprache, die er für eine Schöpfung der Natur und infolgedessen für eine
wichtige durch Etymologie zu erschließende Quelle der Sacherkenntnis
hielt, eine Anschauung, mit der er besonders auf Antisthenes gewirkt zu
haben scheint;^®) seine synonymischen Studien (negi övojudxcov ÖQ^&tri^
0 Th. Bebgk, Gr. Litt. IV 330: .Bisher
hatte sich der Unterricht auf Musik, Gym-
nastik und die Elemente des Lesens, Schrei-
bens und Rechnens beschränkt; alles was
darüber hinausging, suchte sich der einzelne
selbst im öffentlichen Leben anzueignen. Jetzt
nahmen die Sophisten den wissenschaftlichen
Unterricht der Jugend in die Hand; die Ju-
gend, die seit alters in den Gymnasien und
Ringschulen den Leibesübungen oblag, sollte
jetzt in der Palästra der Sophistik geschult
werden, welche zu ihren Vorträgen gerade
jene Gymnasien mit Vorliebe wählte.*
«) Dio Chrj's. or. 54, 4.
*) Protagoras und Gorgias haben für den
Kurs einen Lohn von 100 Minen genommen;
s. Diog. L. IX 52; Diodor. XII 53; Suidas u. log-
yiag. Prodikos gab in der Grammatik (jteoi
6(}{>6xTjTog m'ofidtcov) einen Kurs für 50 und
einen kürzeren für 1 Drachme.
*) yeowyixd, xrjTrovQiyd, fiaystnixd (eine
Opsartytik des Philoxenos erwähnt Plat com.
0aQ)r fr. 1) nvyyfmuuata nennt Ps.Plat. Min.
316c ff. neben :ro).nixd und iarnixa; vgl. auch
Aristot. pol. 1258b 40 f. und" Plat. Euthyd.
271 d; Prot. 318 e. 323c. In diese Klasse ge-
hören auch die politischen Lehrschriften des
Kritias und die praktischen des Xenophon.
Siehe a. W. Schmid, Philol. 62 (1903) 13.
^) Aristot. eth. Nie. 1181a 12 ff. poL
1331b 19 {ov yao xakejiöv eoit t« Toiavia
I vofjoatf dkla JToiffoat ftäXXm'),
I ') Alte Zweifel an der Urkundlichkeit von
! Hippias' Olympionikenliste hat, angeregt durch
das Olympionikenverzeichnis Oxyrh. pap. II
nr. 222, A. Körte, Herrn. 39 (1904) 224 ff. wieder
aufgenommen. — Der Towixog war kein rich-
tiger Dialog, sondern ein dem Nestor in den
Mund gelegter moralistischer Monolog (R.
HiBZEL, Der Dialog I 59 f.).
') Der Inhalt dieser Schrift steht bei
Sext. Empir. adv. math. VII 65 ff. und Ps.-
Aristot. de Melisse 5 f. (H. Dibls, Vorsokr.*
528 ff.); er gipfelt in den Sätzen: -tocötot oti
ov^kv Fouv, öfineQov ou ei xai eoTiv, axaid"
Al/.TTOV dvdQ(O7t0), TOITOV OTI El xui xataXrjsK'
Tor, d),}.d xoi ;»' avs^oiaxm' xai nvrofii^vevroy
TCO :iüag. Siehe o. S. 514, 9. über die Ab-
weichungen der beiden Berichte 0. Apblt,
Gorgias bei Ps. Aristoteles und bei Sextus Em-
puicus. Rh. Mus. 43 (1888) 203ff.
») Nach H. DiELs. Vorsokr.* 537 ist da-
mit identisch das von Plat. symp. 177 b zi-
tierte Fyxojfuov 'HimxÄFovg.
») Xen. mem. II 1,21—34, eine stilistisch
freie Wiedergabe der Originalerzählung. Über
spätere Nachahmung des Mythus s. E. Nor-
den, N. Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl. 18 (1892)
313 f. — Daß fr. 5 Diels nicht in ein Lob der
Landwirtschaft von Pr. gehört, zeigt A. Kalb-
fleisch, Festschr. f. Gomperz 4 ff.
»0) F. DüMMLER, Akad. 156 ff.
4. Die Philosophie, b) Die attische Periode der Philosophie. (§ 330.) 605
Togy) haben die sokratische Definitionsmethode unzweifelhaft beeinflußt^) und
auch in den Reden bei Thukydides deutliche Spuren hinterlassen.') Gerade
diese dem damaligen Publikum sehr abstrus erscheinenden Studien brachten
ihn in den Geruch unheimlicher Weisheit.*)
Unmittelbar (in Handschriften des Sextus Empiricus) erhalten ist uns
nur eine ziemlich dürftige Probe altsophistischer Schriftstellerei, die so-
genannten AiaXe^eig, ein in sechs Kapitel geteilter Schulvortrag über das
Recht und die empirische Begründung des sittlichen Relativismus in do-
rischem Dialekt aus der Zeit nach Athens Fall.*) Der Verfasser ist nicht
genannt.*) Es ist eine interessante Probe sophistischer Eristik. Der
vöjuog wird hier als etwas rein Subjektives entkräftet nicht durch Gegen-
überstellung der (pvoig, sondern durch Hinweis auf die Widersprüche der
vojLioi verschiedener Völker, eine Betrachtungsweise, aus der der fünfte
TQOTiog der späteren Skepsis von den v6/xoi ävTixei/iievoi (Diog. L. IX 83)
hervorgewachsen ist.
Im übrigen sind wir darauf angewiesen, den Geist, die Problem-
stellung, die Methoden, die Terminologie der Sophistik aus Schriften kennen
zu lernen, die teils ihre Anschauungen weitertragen und verarbeiten, teils
sich polemisch mit ihnen auseinandersetzen. Allen voran steht das Ge-
schichtswerk des Thukydides, der sprechende Beweis für die große wissen-
schaftliche Kraft, die von der Tätigkeit der Sophisten ausging, dann die
Tragödien namentlich des Euripides, die Komödien des Aristophanes, Piatons
Dialoge, Antiphon, Isokrates, Xenophons philosophische und praktische
Schriften. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts verflüchtigen sich die An-
regungen der älteren Sophistik teils in die Dialektik der philosophischen
Systeme, teils in den Formalismus und die Schönrednerei der Rhetorik.
Nachzügler, die noch in das 4. Jahrhundert hereinragen, sind Thrasy-
machos von Chalkedon (s. o. S. 513 f.), Polykrates (s. o. S. 545), die
eristischen Klopffechter Euthydemos und Dionysodoros, die Piaton mit
unübertroffener Ironie in dem Dialog Euthydemos verspottet hat, Bryson,
Sohn des Historikers Herodoros von Herakleia, Verfasser von Diatriben,
aus denen Piaton vieles entnommen haben sollte (Ath. p. 508 d).'')
M Spuren davon vielleicht schon Soph. | kein Eigenname. Simmias wurde vermutet
Ant. 215. 217; Ar. ran. 1181: karikierend : von Th. Bbbok, Fttnf Abhdl. z. Gesch. d. gr.
Plat. Prot. 341 ff.; s. Schol. Fiat. Phaedr. Philos.u. Astron. (Leipz. 1883)8. 119— 38, und
267 b und J. Classbn, De grammaticae Gr. , von F. Blass. Jahrbb. f. cl. Phil. 123 (1881)
primordiis, Bonn 1829, 25 ff. ; 739, Simon von G. Teichmülleb, Litterar.
') K. JofiL, Der echte und der xenophont. 1 Fehden des 4. Jahrh. II, Breslau 15^84, 97, wo
Sokrates I 330 f. ! auch der Text der Schrift mit Übersetzung
') L. Spenoel, üwayfoytf xexv&v 53 ff. { gegeben ist. Über das Verhältnis der Atak.
*) Ar. nub. 361; Sprichwort Ilooöixov zur Sophistik C. Tbiebeb, Herm. 27 (1892)
ootpcoTegog Said. 8. Jloodixog, 210 ff. Über die Codd. und die Emendation
*) WiLAMOwiTZ, Ind. Gott. 1899 p. 9 weist
nach, daß die Schrift um 400 von emem By-
zantier oder Rhodier verfaßt sei. Es heißt
deutiich 1, 8 p. 581, 20 f. Diels (VorsokraU)
vixa, av evixiov {oi Aaxedaiuovioi) *A{^rjvaiiog
xni uog ovfifidxcog. Auf Kypros als Heimat
der Schrift M. Schanz, Herm. 19 (1884) 369 ff.
Eine Neubearbeitung von E. Webbb in Philol.-
histor. Beiträge C. Wachsmuth überreicht,
Leipz. 1897, 33ff , wozu Philol. 57 (1898) 64 ff.,
über den Dialekt der sogenannten Dialexeis.
Der Text jetzt auch bei H. Diels, Yorsokr.^
des Verfassers schloß Th. Bergk aus p. 224. 29 p. 580 -587.
(= 4, 5 p. 585, 12 f Diels »). . ') P.NAT0BpinderRealenzykl.,5.Halbbd.
«) Das Wort uvoia^ p. 584, 36 Diels ist | 927 f.
606 Ghiechische LitteratargeBohiohte, L Klaasische Periode.
331. Daß der Relativismus der Sophistik, der einer ernsthaften
Wissenschaft ebenso wie einer gesunden Sittlichkeit Schaden drohte, in
Schranken gehalten wurde, ist das Verdienst des Sokrates (469 — 399),
des ersten eingeborenen Atheners, der sich das Philosophieren zum Lebens-
beruf machte. Die von den Sophisten geschhfifene Waffe der Dialektik
wandte er gegen diese selbst, und die Verbindung hervorragender Ver-
standesschärfe mit unbeugsamem Willen und klaren, festen sittlichen
Instinkten, die er sich schließlich durch keine Vernünftelei verkümmern
ließ, sicherten ihm in dem Kampf gegen die Sophistik um eine zugleich
rational begründete und sittlich positive Weltanschauung den Sieg. In
dem Streit darüber, ob Sokrates nur Denker und Theoretiker oder nur
Sozialreformer gewesen sei, 9 ist die Frage schief gestellt. Agitatorisch oder
praktisch reformatorisch aufzutreten lag ihm völlig fern, aber die Oedanken,
die er gesprächsweise in Bewegung setzte, konnten so wenig wie die
Kants verfehlen, sich in Taten umzusetzen. Seine Ansprüche an äußer-
liches Lebensglück nieder zu stellen, mochte er in den handwerklich dürftigen
Kreisen, aus denen er stammte, gelernt haben, und dadurch vermochte
er sich den BUck freizuhalten für die wahren Lebenswerte. Er war im
Demos Alopeke geboren als Sohn des Bildhauers Sophroniskos und der
Hebamme Phainarete. Von seinem Vater hatte er die Bildhauerkunst er-
lernt, und am Eingang zur Akropolis zeigte man später noch die von ihm
gefertigten drei Chariten.*) Im peloponnesischen Krieg kämpfte er tapfer
mit bei Potidaia, Delion und Amphipolis; im Jahr 406 trat er als Rats-
herr {jigvrangy) mutvoll, wenn auch ohne Erfolg, für die mit dem Todes-
urteil bedrohten Feldherrn der Schlacht bei den Arginussen ein. Ver-
heiratet hatte er sich mit der Athenerin Xanthippe; da er aber ein Leben
in der Öffentlichkeit mit dem Zweck intellektueller und sittlicher Auf-
klärung der athenischen Bürgerschaft für Pflicht hielt, so versäumte er
seine Obliegenheiten als Familienvater, und wenn aus seinen Kindern
nichts Tüchtiges geworden ist (Arist. rhet. II 15), so wird ein Teil der
Schuld auf ihn fallen. Sophist von Profession war er so wenig, daß er
nichts schrieb, nie in festen Kursen zusammenhängende Vorträge um Geld
hielt, in seinem ganzen Auftreten die Regeln der Schulweisheit verleugnete.
Er bestritt durchaus, den Namen diddaxaXog zu verdienen und nannte seine
Schüler nicht ftaihjrai, sondern ovvovreg oder halgot, den Verkehr mit
ihnen durch Gespräche ojudeTv, diaXeyea^ai, oweivai. Auch von dem An-
schluß an eine bestimmte Schule kann bei ihm nicht die Rede sein; er hatte
wohl den Protagoras, Archelaos, vielleicht auch Parmenides gehört und war
in den Schriften der älteren Philosophen nicht unbewandert,*) aber seine
*) Die Alternative ist am schärfsten for- 1 Heiitlei'S : ^coxqux?]? xai :i?.etm'eg (jiV.ot Oew^ta
muliert durch die zwei Bücher von K. JofiL, fikv qatroviat /otjod/^evoi jroAXfj, ravifi de ovx
Der echte und der xenophontische Sokrates, äV.oi* /Aq"' «'^'^« ^'1> ^gd^fo)^.
2 Bde., Berlin 1893—1901, und A. Döring,
Die Lehre des Sokr. als soziales Reform-
system, München 1895. Zu Joöls Buch vgl. die
Besprechung von H. Gomperz, Arch. f. Gesch.
«) Paus. 122, 8; 1X35,7.
') Wahrscheinlich nicht als einfacher
Pr^lane, sondern als Vorsteher {sjuardttj^),
wie Em. Müller, Sokrates in derVolksversamm-
der Philos. 19 (1906) 234 if. Die richtige i lung, Progr. Leipz. 1894, nachweist.
Lösung hat schon Julian. or.VI p. 246, 14 ff. | *) Xen. mem. 1 1, 14; IV 7, 6. Nach
4. Die Philosophie, b) Die attische Periode der Philosophie. (§ 331.) 607
Denkweise war ebenso persönlich originell, wie seine Lehrweise. Mit den
Sophisten teilte er die rationale und ethische Bichtung des Denkens: von
ihm konnte man ebenso wie von den Sophisten sagen philosophiam devo-
cavit e caelo et in urbibus coUocavü et in domus etiam introduxit;^) von ihm
gilt wie von den Sophisten, daß er jede Einengung der Denkfreiheit durch
Schranken dogmatischer tJberlieferung von sich wies und in den richtig
entwickelten Denkgesetzen allein den Weg zum wahren Wissen erblickte.
Es ist daher nicht zu verwundem, wenn er von femerstehenden, unphilo-
sophischen Köpfen mit den Sophisten zusammengeworfen und für das von
jenen angerichtete Unheil verantwortlich gemacht wurde. Es ist aber ein
gewaltiger Unterschied, der nicht bloß die Art des äußeren Auftretens
betriflft: Sokrates bedient sich des von der Sophistik ausgebildeten Kriti-
zismus nicht, um den vöjuog zu beseitigen, sondern um einen neuen, tieferen,
rational mit aller Umsicht begründeten vojLiog für das menschliche Leben
zu schaffen, und so sehr er durch Natur und Neigung zum Rationalisten
bestimmt ist, so bleibt er doch ehrlich und einsichtig genug, einen irratio-
nalen, für sein Handeln sehr bedeutsamen Faktor in seinem Wesen, das
daijuoviov, anzuerkennen.*) Zu den bestehenden Einrichtungen der attischen
Demokratie und Religion stellte er sich, wenn er auch kritische Äuße-
rungen nicht scheute, praktisch nicht in Gegensatz. ») Über den Inhalt
von Sokrates' „Lehre" — wenn man von einer solchen reden darf; ein
„System** hat er aber jedenfalls nicht gebaut — ist mit den uns vor-
liegenden Mitteln nicht volle und allseitige Klarheit zu gewinnen. Piaton
will in keiner seiner Schriften, auch in der Apologie nicht, einen geschicht-
lichen Bericht geben, sondern „^coxQarixol Xoyoi'^^ d. h. Poesie in Prosa,*)
und daß auch Xenophons Memorabilien, abgesehen von den besonders zu
beurteilenden zwei Anfangskapiteln, nicht als geschichtliche Quelle ohne
weiteres benützt werden dürfen, ist das bleibende Ergebnis von A. Joöls
Untersuchung, mag man seinem Buche (s. o. S. 606, 1) sonst noch so
Ion von Chios bei Diog. L. II 23 reiste er nach | haltloser politischer und religiöser Recht-
Samos mit Archelaos, dem Schüler des Anaxa- j gläubigkeit und «Gesinnungstüchtigkeif zu
goras
') Cic. Tusc. disp. V 4, 10; Acad. post.
I 4, 15. Über das Sokratesbild bei Aristo-
phanes in den Wolken s. o. S. 400. Beachtens-
wert für das Verhältnis des geschichtlichen
Sokr. zu den Sophisten ist, daß Xenophon
ihn zu diesen überhaupt gar nicht, Piaton
erst in seinen späteren Dialogen in Gegen-
satz bringt (H. Rädbb, Piatons philos. Entw.
91. 102).
') Jeder Versuch, das dcujuoviov wegzu-
deuten und zu verflüchtigen (s. z. B. R. Pöhl-
MANN, Sokrat. Studien in Münch. Ak. Sitz.-
ber. 1906, 122 f.), bedeutet einen Ansatz
zu rationalistischer G^schichtsverödung und
-Vergewaltigung.
*) Xenophons Verteidigung mem. I 1. 2
stützt sich auf das allgemein Zugestandene,
erweisen. Bezeichnend ist jedenfalls, daß
die höchste religiöse Instanz, das delphische
Orakel, ihm eine Anerkennung zuteil werden
ließ, die bei einem auf&Uigen Verstoß des
S. in Kultsachen ganz undenkbar wäre. An
der Geschichtlichkeit des bekannten Sokrates-
orakels (dessen versifizierte Form freilich
nicht authentisch ist) zu zweifeln (R. Pöhl-
MANN a. a. 0. 80 ff.) ist gänzlidi verfehlt. Die
authentischste Form des Orakels bietet Xen.
apol. 14; sie macht den Eindruck, das Orakel
sei bei einer ganz bestimmten Veranlassung
(etwa Sokrates' Auftreten im Arginussen-
prozeßV) provoziert worden.
*) Aristot. poöt. 1447b 10; rhet. 1416a
20; fr. 55 R.; pol. 1265a 11; [Plat] ep. 13
p. 368 A.; Diog. L. II 64; Hör. carm. lU 21, 10.
K. JoßL, Arch. f. Gesch. der Philos. 8 (1895)
vermag freilich nicht den Sokrates als einen 476 ff. Piatons umständliche Auseinanderset-
durchaus korrekten Bürger im Sinn rück- I zungTheaet. 148a ist nicht ernst zu nehmen.
608 GriechiBche litteratnrgesohichte. I. Klassische Periode.
reserviert gegenüberstehen. Nicht zu überschätzen^) sind die wenigen,
auf Piaton- und Xenophonstellen zurückgehenden Zeugnisse des Aristoteles.
Immerhin bezeichnet dieser richtig^) die induktive Erkenntnismethode
und die Entwicklung allgemein gültiger Definitionen als das Wesentliche
von Sokrates' Philosophie. Übereinstimmungen zwischen den so verschieden-
artigen Berichterstattern Piaton und Xenophon fallen immer ins Gewicht;
aber sie reichen nicht zu, ein vollständiges und einhelliges Bild von Sokrates'
Philosophie zu gewinnen, wie denn auch, je nachdem ein Zug oder der
andere mehr betont wurde, Sokrates neuerdings bald als einseitiger Logiker
und Theoretiker, bald als einseitiger Praktiker und Ethiker, bald als
Mystiker, bald als atheistischer Freigeist dargestellt wird.») Festhalten läfit
sich etwa folgendes: In seinem Streben, das sittliche Leben auf einen
festen Boden zu stellen, gab er die Naturspekulation als unergiebig und
irreführend auf und suchte durch gewissenhafte Abstraktion aus der Er-
fahrung feste Allgemeinbegrifife zu gewinnen, aus denen sich ohne weiteres
die Normen des sittlichen Lebens ergeben sollten. In Sätzen wie dem,
daß Tugend Wissen sei, daß richtiges Wissen (d. h. nicht do^a, sondern
iniGxrjfii]) das richtige Handeln bei normaler Geistesbeschaflfenheit zur not-
wendigen Folge habe {pvdek f,xa)v äjuagtävei), tritt eine Unterschätzung der
Seite des Willens im menschlichen Wesen zutage, die für die gesamte
griechische Philosophie charakteristisch ist. Dem Aufbau der positiven
Begriffe mußte die Beseitigung der Wahnvorstellungen und die Erkenntnis
eigenen Nichtwissens vorangehen. In diesem Sinn wirkte Sokrates in freier
Öffentlichkeit, auf Straßen und Plätzen die Menschen, besonders die em-
pfängUche Jugend, ihres Scheinwissens überführend (Elenktik) und die rich-
tigen Begriffe aus ihnen mit Hebammenkunst (Maieutik), wie er das humo-
ristisch selbst nannte, dialektisch herausholend. Denn er war ebenso wie
Christus überzeugt, daß die Besserung der Begriffe und Sitten von dem
Einzelnen ausgehen müsse und erwartete von Staat oder Oesellschaft nichts.
Tugend und Glück setzte er, im Gegensatz zu den oberflächlichen Glücks-
idealen des älteren Griechentums, in eins,*) und dieser Grundsatz ist der
philosophischen Ethik der Griechen geblieben.
Daß Sokrates' Verkehr mit der attischen Jugend das Mißfallen der
konservativen Kreise erregte, dafür bieten die Wolken des Aristophanes
(423) das früheste Zeugnis. Naseweisheiten seiner Schüler, 0) schlimme
poUtische Streiche, wie sie Kritias und Alkibiades machten, wurden auf
ihn zurückgeführt, und gewiß erregte auch das schon Verstimmung, daß
er als eingeborener Athener die Betrachtungsweisen der ausländischen
I
^) K. JoÄL, Der echte und der xenoph. aristophanischen Sokrates s. o. S. 400, über
Sokr. I 223 ff. I die des platonischen und xenophontischen
2) Arist. met. 1078b 27 (vgl. 987b 1 ff.): I. Bruns. Das litt. Porträt 281 ff. 376 ff.
6ro ydo hur ä ii<; är usiobnit] l\oy,gdTei d(- , ■•) Kleanthes bei Clemens Alex, ström.
xat'oK, Torg t' EJtaxjixovg koyovg xnt to ooi- II 22 p. 499 P. lov llioxodzrjy q^rjoi .Tao'
CeoOai xaOÖArtv, vgl. de part. anim. 642a 28. Kxaoia <^ihdoxFiv mg <> ahog Üixamg xe xal
') A. Döring a. a. 0. i s. o. S. 606. 1) Einlei- i evdaiiuov dvrjo.
tung: dazu kommt in neuester Zeit H. Rück. Der ' ^) Plat. ap. 23 c; Xen. mem. I 2, 40 ff.;
unverfälschte »Sokr., der Atheist und Sophist, vgl. den Ktesippos in Piatons Euthydemos.
Innsbr. 1903. Über die Porträttreue des .
4. Die Philosophie, b) Die attisohe Periode der Philosophie. (§ 331.) 609
Wanderredner systematisch auf die attische Jugend übertrug. Doch nahm
ihn achtzehn Jahre nach den Wolken sogar Aristophanes (ran. 1491 ff.
bezieht sich trotz Panaitios' Widerspruch auf den Philosophen) noch ganz
harmlos, bis im Zeitalter der altdemokratischen Restaurationspolitik ein
Konsortium aus einem Poeten (Meletos), einem Politiker (Anytos) und
einem Rhetor (Lykon) ihm in demselben Jahr, in dem Andokides wegen
des Mysterienfalls vor Gericht stand, wegen Gottlosigkeit anklagte.^) Von
Staatsgefährlichkeit des Sokrates ist, um die von Anytos auch sonst nach-
drücklich vertretene Amnestie von 403 zu wahren, in dem Prozeß kein
Wort gesprochen worden, wenn auch politische Motive mitgespielt haben
mögen. ^) Die Motive für das Schuldig, das die Richter mit kleiner Majo-
rität sprachen, waren vermutlich recht verschiedenartig; die Verurteilung
zum Tod aber muß wohl, da Sokrates keinen Gegenantrag stellte^) und
uns von einem Begnadigungsrecht der Heliaia in solchen Fällen nichts be-
kannt ist,*) als formelle Notwendigkeit betrachtet werden.
Die Verurteilung wirkte durch die Perspektive, die sie eröffnete, daß
nämlich eine Gesinnung, die sich gar nicht in straffälligen Handlungen
äußere, doch in schikanöser Weise zur Anklage gebracht und mit den
schwersten Strafen belegt werden könne, auf das geistige Leben Athens
für ein Jahrzehnt lähmend — es ist dieselbe Zeit, in der auch der alt-
attischen Komödie der Maulkorb angelegt wurde. Von der Gründung
einer Sokratikerschule in Athen konnte unter diesen Umständen vorläufig
nicht die Rede sein. Während die Ausläufer der Sophistik in Athen, mit
ihnen vielleicht der Halbsophist Antisthenes, sich auf den harmlosen Unter-
richt in der Rhetorik zurückzogen und durch weitere Diskreditierung der
Philosophie (Polykrates) das Monopol auf die Jugendbildung sich zu er-
halten suchten, flohen die Schüler des Sokrates nach allen Seiten; ein Asyl
für manche, unter denen Piaton, bot Eukleides in Megara. Aber gegen
Ende der neunziger Jahre des 4. Jahrhunderts faßten und sammelten sie
sich wieder, und die Prophezeiung, die Piaton dem Sokrates (ap. 39 d) in
den Mund legt, begann sich zu erfüllen: nkeiovg Eoovxai vfiäg ol iXiyxovreg,
ovg vvv iyio xareXxov (d. h. von schriftstellerischer Betätigung abhielt) xal
Xdi-eTZioreQOi iooviai 8oco vsioxeooi eloi.
') Die originale Fassung der Anklage- , burts- und Geistesaristokraten Piaton übei
Schrift (die gegen die Anzweifelung von M. Ankläger und Richter aus; daß Sokrates so
Schanz sicher gestellt ist durch A. Menzel, gesprochen habe, ist undenkbar. — Die
s. 0. S. 470, 3) ist erhalten von Xenoph. mem. i politische Verdächtigung des Sokrates (und,
11,1 und Favorinus bei Diog. L. II 20, der I wie die Meinung des Verfassers ist, der
sie noch im Archiv zu Athen gesehen hat. ! Sokratiker) tritt erst in der xazfjyogia des
Piaton stellt die Punkte (ap.24b) in tenden- ■ Polykrates als neues Motiv auf. WasAeschin.
ziöser Weise um. or. 1, 173 gibt, ist die auf Polykrates zurück-
^) A. Menzel a. a. 0. Dieser betont gehende Legende,
auch, wie K. Joöl, mit Recht, daß die ') Xen. ap. 23; das verächtliche Markten
glaubwürdigste Darstellung des ProzeB- bei Plat. ap. 38 b entspricht dem Ton dieser
Verlaufs nicht in der Apologie Piatons, ganzen Schrift, aber nicht der geschicht-
wiewohl dieser dabei war, sondern in der liehen Wahrheit.
auf Zeugnissen des Euthydemos beruhen- : *) Meieb-Schömann-Lipsiüs, Att. Prozeß
den des Xenophon vorliegt. Piatons Schrift ' II 991 ff.
schüttet den übermütigen Hohn des Ge- I
Handbuch der klass. AltertaiiiBwiMenschaft. VIT. 5. Anfl. 39
610 Qriechische Litteraturgesohichte. L Klassische Periode.
332. Sokrates hat selbst nichts geschrieben,^) aber doch ist er von
größter Bedeutung für die attische Litteratur nicht nur dadurch, daß von
ihm eine Reihe auf dem Gebiet der Philosophie sich schriftstellerisch be-
tätigender Schulen ausgegangen ist, sondern auch als Begründer einer
neuen schriftstellerischen Form für Darlegung philosophischer Gegenstände,
des Dialogs.^) Seine Überzeugung, daß die Wahrheit besser durch
gesprächsmäßige Erörterung als durch wohlausgearbeiteten zusammen-
hängenden Vortrag {Xöyoi owexeig, h die^ödcp) gefunden und befestigt
werde, teilten seine Schüler, und so kleideten die meisten von ihnen, als
sie nach dem Tod des Sokrates zu Schriftstellern begannen, ihre Aus-
führungen in die durch ihr dramatisches Leben auch schriftstellerisch
wirksamere Form des Dialogs.^) Sie zeigen durch diese halbpoetische
Form auch, daß es ihre Absicht ist, auf weitere Kreise zu wirken und
deren irregeleitetes Urteil über den Sinn der sokratischen Philosophie zu
berichtigen. Als Xenophon die Stellen apol. 1 und mem. I 4, 1 ; IV 3, 2
schrieb, lagen schon üoyxQarixol koyoi vor. Nach Aristoteles (fr. 61 p. 1485 b
41 flf.) hätte Alexamenos von Teos schon vor den Sokratikem Dialoge
geschrieben. Über Xenophons Xöyoi ücüxganxoi s. o. S. 479 flf.
Aischines, Sohn des Lysanias aus Sphettos, verfaßte sokratische
Dialoge, die mit besonderer Treue die Manier des Sokrates wiedergaben.
Unter der größeren Anzahl der auf seinen Namen laufenden Dialoge
wurden nur sieben {Mdjiddtjg^ KaiMag, *A^ioxog, ^Aonaoia, *Aixißiddrjg^ Trjkavyrjg,
'Pivcov) für echt befunden (Diog. L. II 61); sie wurden noch in nachchristlicher
Zeit, von Dion von Prusa*) und Aelius Aristides, gelesen; aber auf uns ist
keiner gekommen.'^) Über die Anklagerede des Lysias gegen Aischines
s. 0. S. 524, 6.
Eu kl ei des aus Megara, einer der ältesten Sokratesschüler, verband die
sokratische Lehre vom Guten mit der eleatischen vom Sein und vom Einen.*)
*) Abzusehen ist von den äsopischen Fabeln,
die er im Kerker in Verse gebracht haben soll
(Plat. Phaed. 60 d; vgl. M. Schanz. Herrn. 29,
1894, 597 ff.). Außer Betracht bleiben ohnehin
die acht unechten Briefe des Sokrates (R.
Hercher, Epistologr. 609 ff.). Auch höchstens
nur auf mündlicher Überlieferung, wenn nicht
geradezu auf Erdichtung oder Verwechselung
beruht es. daß mehrere Sentenzen und Gleich-
nisse, die Stobaios unter dem Lemma fx tov
Iwxodzovg zitiert, auf S. zurückgeführt wer-
den. Auch Fürstenbriefe an S. wurden ge-
fälscht (Liban. t. III 59, 4 R.), und von einem
pseudosokrat. Dialog de anima ist eine syri-
sche Übersetzung (V. Ryssel, Rh. Mus. 48,
Siehe K. JoäL, Der echte und der xen. Sokr. I
368 f.; W. ScHMiD, Philol. 50 (1891) 298;
Xenocr. fr. 13. 14 Heinzb; Cic. or. 62 ff. 113;
de fin. II 17 f.; de off. I 132; Philod. de rhet.
I p. 239 f. SuDH.; Sen. ep. 89, 17; Aristid.
or. 46 p. 477 Dind. — Siehe a. u. S. 621 f.
') Diog. L. II 64 : jrdvutn' ftevToi x(bv Scofcga-
tixüjv öiaJ.6yo}v Ilai'aiTioi dJ.rj&eig elvai dofeet
Tovg nXdxiovog, Sevoqpwvrog , *AvTto^svovgf Ai-
oxivoV diardCet de jregi ^cov 4*alöiovog xal
EvxXfiöov. Tovg 6* äk),o\)<; dvatoft. Daß keiner
vor Sokrates* Tod schrieb, zeigt I. Bbüits,
Litt. Poiir. 226 ff. (für Piaton insbesondere
H. Räder, Piatons philos. Entw. 92).
*) J. Weoehaüpt, De Dione Chr. Xeno-
1893. 175 ff.) vorhanden. 1 phontis sectatore, Gotha 1896, 33 ff.
'^) R. Hirzel, Der Dialog I 68 ff. Eine ' ^) Die R<3st€ K.F.Hbrmann, De Aeschinis
ironische Motivierung der I)ialogform legt 1 Socr.reliquiis, GötL. 1850. Über Aisch.* Vi o-Tacm
Piaton (Prot. 334d) dem S. in den Mund; | P. Natorp, Philol. 51 (1892) 489 ff.
vgl. auch Plat. symp. 199 b. 212 c. Die rhe- ^) Gegen Eukleides scheint gerichtet zu
torische Technik hat für die Form des Dia-
logs nur widerwillige Anerkennung (Isoer.
or. 12, 26; 15,45; ep. 5; Quint. X 5, 15),
aber keine Berücksichtigung in ihrem System.
sein Plat. soph. p. 246 b: ol Ttoog avtwg dfi-
(ptaß7]TovrTfc: fjiiU.a svAa/icög avio{^n> e^ doodrov
jioi^f »' duvroi'iai, vofjrd äria xai dacofiaxa ePitf
ßtaCdfierot rifv dXrf^ivi^v ovoiav eivat. Vgl.
4. Die Philosophie, b) Die attische Periode der Philosophie, (g 832.) 611
Wir haben nichts von ihm; das Altertum hatte sechs Dialoge, über deren
Echtheit Zweifel herrschte (Diog. L. 11 64). Durch seinen Schüler Bryson,
der wieder Pyrrhons Lehrer wurde, verbindet ihn die Tradition mit der
skeptischen Schule. Unter den späteren Häuptern der megarischen Schule
gelangte Stilpon (um 380 — 300), der sich den ethischen Ansichten der
Kyniker zuneigte, seine Stärke aber im Disputieren hatte, zu besonderem
Ansehen; auch von ihm waren neun Dialoge im Umlauf, die bei Diog.
L. II 120 als spitzfindig und frostig {tpvxgol) bezeichnet werden. Auch Ale-
xin os, zum Scherz 'EXey^vog genannt, betätigt sich in negativer Bjntik gegen
Rhetorik und stoischen Dogmatismus. i) Mit ihm verschwindet die Schule;
ihr Kritizismus geht in der skeptischen und akademischen Richtung auf.
Von den Dialogen des Phaidon aus Elis, nach dem das gleichnamige
Gespräch Piatons benannt ist, wurden zwei, ZibnvQog und Ui/icov (Diog.
L. II 105), als echt anerkannt.*) Die von ihm in Elis gegründete Schule
wurde von Menedemos im Anfang des 3. Jahrhunderts nach Eretria ver-
pflanzt. Menedemos ist eine populäre Figur geworden,^) hat aber nichts
geschrieben, und die von ihm gegründete eretrische Schule, von der wir
außer den Stifter nur den Pasiphon kennen, hat es über lokale Bedeu-
tung nicht hinausgebracht.
Antisthenes aus Athen, Hörer des Gorgias, dann des Sokrates, war
Gründer der kynischen Schule, die von dem Ort, wo ihr Stifter lehrte,
dem Gymnasium E3rnosarges, ihren Namen hatte. In der Lehre und in
zahlreichen Schriften trat er, ein Feind der Dialektik wie der realen All-
gemeinbildung, in erkenntnistheoretischer Hinsicht Sensualist und Nominalist,
ein Mann von vorwiegend ethisch-pädagogischen Interessen,*) Anhänger
der prodikeischen Sprachphilosophie*) und der allegorischen Homererklärung
und Vertreter der Bedürfnislosigkeit (avraQxeia)^ vielfach in Gegensatz zu
Piaton, dessen Ideenlehre er ins Lächerliche zog und den er in dem Dialog
üddcov^) auch persönlich verspottete. Auf der anderen Seite ließ es auch
Piaton nicht an Ausfällen gegen ihn fehlen. Die Alten hatten von Antisthenes
E. Zeller, Gesch. d. gr. Phü.* II 1, 252 ff.; «) Vgl. Ath. 220 d und 507a; gegen die
P.Natorp in derRealenz., ll.Halbbd. lOOOff. Lehre des Antisthenes sind gerichtet die
Daß Piaton in Eukl. einen Vorläufer seiner ; Stellen Theaet. 155 e und soph. 251b, viel-
(pluralistischen) Ideenlehre gefunden habe, leicht auch die Ablehnung der avxdoxeia
ist eine jetzt ^gemein aufgegebene Ansicht. reip. 370 c ff. und der Spott auf den Schweine-
^) H. V. Abnim, Herrn. 28 (1893) 65 ff. staat 372 d, gegen seine Person vielleicht
^) Andeutungen über den nach dem Plat. reip. 535 c. Theaet 174a; M. Guogek-
Schuster Simon benannten Dialog 2V/ia)v geben HEitf. Jahrbb. f. kl. Alt 9 (1902) 521 ff. Die
der 12. und 13. Brief der Sokratiker, worüber Idee, daß hinter Piatons Euthydemos Anti-
WiLAMowiTz. Herm. 14 (1879) 187 ff. u. 476 f. sthenes stecke, ist von F. Dümmler angeregt,
') Das zeigt die außerordentlich anek- von A. Jo^l, Der echte und der xen. Sokr.
dotenreiche Biographie bei Diog. L. II 125 ff., I 372 ff. weiter verfolgt. Über den Versuch
die Beiziehung des M. zum Symposion der von M. Gtüooekheim, Philol. 60 (1901) 149 ff.,
72 Dolmetscher im Aristeasbrief 201, viel- I in Piatons Staat polemische Beziehungen auf
leicht auch Lykophrons Satyrdama Mevi- Antisthenes aufzudecken, äußert sich mit
<^7;/io<:. verständiger Skepsis H. Gompebz, Arch. f.
*) L. R. RosTAONo, Le idee pedagogiche Gesch. der Philos. 19 (1906) 419 ff. Über
neUa filos. cinica e specialm. in Antistene, seinen Dialog Kvqoc: rj :Tegl ßnodeiag, mit dem
Torino 1904. er den Anstoß zur Kyrupaideia des Xenophon
^) Über Abhängigkeit des Ant von Pro- gab, s. oben S. 489, 4.
dikos F. Dümmler, Akademika 156 ff. I
39*
612
GriechiBohe Litteratnrgeschichte. I. ElassiBche Periode.
zahlreiche Schriften, geordnet nach sachlichen Gesichtspunkten in zehn
Bänden.*) Es waren teils Dialoge, in denen aher nicht immer Sokrates
auftrat, teils Abhandlungen (z. B. ein ngotgemixög). Auf uns gekommen
sind unter seinem Namen die zwei oben (S. 544) besprochenen Deklamationen
Atag und 'Odvooevg. Von einem seiner Dialoge, vermutlich dem 'Agxe-
Xaog f} jiegl ßaaiXelag gibt den Hauptinhalt, daß nicht Geld und Macht, son-
dern nur sittliche Tüchtigkeit den Menschen wahrhaft glücklich mache,
Dion Chrysostomos in der dreizehnten Rede wieder.*) Die Abmessung
zwischen äußerem Glück und sittlichem Wert war durch die Laufbahn des
399 ermordeten makedonischen Usurpators Archelaos, den auch Piaton im
Gorgias heranzieht, aktuell geworden (s. a. Socraticor. epist. 1). Trotz stilisti-
scher Vorzüge (Fronte p. 146 Naber) sind seine Schriften in Vergessenheit
geraten, wahrscheinlich verdunkelt durch die Diatribenlitteratur der spä-
teren Zeit. — Schüler des Antisthenes war Diogenes von Sinope (ge-
boren 403, gestorben 323, angeblich an demselben Tag wie Alexandros
d. Gr.). Er setzte die Lehre vom naturgemäßen Leben in die Tat um.
Infolge seiner originellen Lebensführung ist er schon früh in einer Flut
von Anekdoten und Witzworten fast untergegangen,») darf aber doch nicht
bloß als Spaßmacher betrachtet werden.*) Die ihm beigelegten Schriften
wurden von Sosikrates und Satyros für unecht erklärt (Diog. L. VI 80).
Aristippos aus Kyrene war Antipode des Antisthenes und Begründer
der kyrenäischen Lehre vom vernunftgemäßen Lebensgenuß. Beide stimmten
darin überein, daß sie die Philosophie auf die Untersuchung über die Tugend
und das beste Leben beschränkten, die Fragen nach dem Wissen als über-
flüssig oder doch gleichgültig ablehnten. 0) Wenn Aristoteles (met. p. 996 a 32)
*) Das Verzeichnis steht bei Diogenes
VI 15; vgl. F. DüMMLEB, Antisthenica, Halle
1882; F. SüSEJOHL, Jahrbb. f. cl. Phil. 135
(1887) S. 207-14.
') Dieses hat H. Usener bei F. Dümmler
p. 10 aus der Vergleich ung des Verzeich-
nisses der Werke des Antisthenes und Dion
p. 424 u. 431 R. geschlossen. Auf den Dia-
log bezieht sich auch Aristoteles polit. 1284 a
15 leyoiev yäg av io(og abiCQ 'Avxtodevrjg F<p?j
ToiV XFOvxag SrjinrjyogovvTcov ttov daovjioÖwv
xai ro Yoov a^ioifvxwv :idvtag ix^iv. — Vieles
andere sucht auf Antisthenes zurückzuführen
E. JoäL in dem S. 611, 6 u. s. zitierten Buch,
worüber die einschränkenden Urteile von 0.
Apelt, Berl. phil. W.schr. 21 (1901) 865 ff. und
H. GoMPERz. Arch. f. Gesch. d. Philos. 19 f 1906)
241 ff. 253 ff. Der Gedankenkreis des Anti-
sthenes wird in Joöls Buch gut umschrieben,
aber die schon von Dümmler ins Phantastische
geführten Versuche, aus Piaton, Xenophon,
Dion Chr\sostomo8 den Antisthenes zu re-
konstruieren, kommen bei Jogi vollends ins
Bodenlose. — Sammlung der Fragmente von
A. W. WiNOKKLMAXN, ZüHch 1842. Versuch,
aus Berührungen zwischen Isokr., Xenoph.
und Aristot. den ^'.t/>oo,toc des Antisth. zu
rekonstruieren, H. Gomperz, Arch. f. Gesch.
der Philos. a. a. 0. 567 f. H. J. Lülops, De
Antisth. studiis rhetoricis, Amsterdam 1900.
') Diog. L. VI 2. Satyros scheint sich
besonders mit der Diogenesbiographie be-
schäftigt zu haben (£. Rohoe, El. Sehr. I
184; F. Leo, Griech.-röm. Biogr. 122 ff.).
Neue Diogenesanekdoten auf Papyrus: C.
Wessely, Fostschr. f. Gomperz 67 ff.; W.
Crönert, Arch. f. Pap. 2, 370 f.; ders., Ko-
lotes und Menedem., Leipz. 1906, 49 ff. 157 f.,
wo auch über Diogenes* tfoXtieia und ihre Ein-
wirkung auf Zenon und andere Stoiker ge-
handelt wird : einige Diogenessprüche in einem
von P. Jouguet und P. Perdrizet in C. Wes-
BELYsStud.z.griech.Paläogr. VI (1906) heraus-
gegebenen ägyptischen Schülerheft. — über
die Tragödien des D., von deren Art viel-
leicht Lucians 'üximovc: und Tgayci}dojioddyoa
eine Vorstellung geben, s. o. S. 374.
*) H. V. Arnim, Dio v. Prusa 39 f.
*) Sext. Emp. adv. math.VII 11: öoxovm
6e xard tivag xai <n dno ti/s Kvgip'ffs fiwov
dojid^fodai i6 ijOixov ftFoog, jtaQCUtefA^fiv de
t6 (pvotxov xai xo loyixov iog firfdev jroog tu
evdaiiLtdv(og ßiovr avreoyovvra. Aristot. met.
996 a 32: rcTtr aoffiorcov ureg olov *AgiOTUt.iog
:tgoe.irj?ytxtCov avrdg (sc. rag jua&tjfiarixdg
ijziOTTJftag) ' ev juev ydg taig äXXaig Tf;f »»aii xai
4. Die Philosophie, c) Platom (§ 833.) 613
den Aristippos einen Sophisten nennt, so hängt das wohl einerseits damit
zusammen, daß er nach Sophistenart um Geld lehrte/) anderseits damit,
daß er durch die Annahme, einzig die Eindrücke {tzöStj) der Dinge auf
uns seien ma&gehend, sich dem Sensualismus des Protagoras anschloß.
Mit Piaton, dessen Philebos ohne Namensnennung hauptsächlich gegen ihn
gerichtet ist,') kam er in Sizilien am Hof des Dionysios zusammen. Seine
teils in attischem, teils in dorischem Dialekt abgefaßten Dialoge, deren
Echtheit schon früh kontrovers war, werden von Diog. L. 11 84 f. aufgezählt.*)
— Die Lustlehre des Aristippos schlug in einem jüngeren Vertreter der
kyrenäischen Schule, in Hegesias mit dem Beinamen ö neiaf^dvaiog^ der
zur Zeit des Ptolemaios Lagu lebte, in vollständigen Pessimismus um,
indem dieser, an der Erreichung der Glückseligkeit {evdaifwvia) verzweifelnd,
in seinem 'Anoxagregcov die durch den Tod am sichersten zu erreichende
Empfindungslosigkeit als das Beste empfahl*) Hegesias wie Theodoros
6 Meog, der die Religion als Störerin der Seelenruhe verwarf, Annikeris
und Aristoteles, die letzten bekannten Vertreter der kyrenäischen Lehre,
sind alle Kyrenäer von Geburt. Der Kern ihrer ethischen Anschauungen
ist durch die Lehre des Epikuros aufgesogen worden.
Der einzige Sokratesschüler, der die Lehre des Meisters nicht in ein-
seitig rationalistischer Richtung weiterbildete, sondern ihr, angezogen von
pythagoreischem Wesen, eine mystisch-religiöse Wendung in die Tiefe gab,
ist Piaton. Darin wie in seiner mächtigen künstlerischen Begabung liegt
der Grund für seine weit überragende philosophische und schriftstellerische
Bedeutung im Kreis der Sokratiker und in der Weltlitteratur.
c) Piaton (427—348/7)») und die ältere Akademie.
333. Abkunft, Jugend. Piaton, Sohn des Ariston und der Peri-
xat^ ßavavaoig, olov ev lexxovixfi xai axvuxfjf | ^) Quellen: Diog. L. III; Acad. philoe.
dioTi ßilxiov rj x^^Qov Xeyea&m vTctiTa, me Sk index p. 6 ff. Meklbb (wo alle JParallelberichte
fiaOrjjuaTixag ov&Sva jtoieta&ai koyov Jiegi aya- beigedruckt sind; s. dazu K. Prächteb, Gott
0idv xai xaxöjv (vgl. 1043b 24). j Gel. Anz. 1902, 953 ff., und W. Cbönbbt,
^) Diog. L. II 65: jtgoiTog xwv ^(oxoatixatv ! Herrn. 38, 1903, 357 ff.); Olympiodoros, Vita
fttadoig eiaejzgd^axo. \ in den Prolegomena zu Alkibiades 1, heraus-
') Gegen Aristippos ist nach F. Schleier- ; gegeben in E. F. HsBicAinrB Piaton VI 190ff!.;
machers Vermutung, der E. Zelleb, Arch. f. ! Apuleius, de dogmate Piatonis I 1 — 4; die
rir^c^i. j^- Di,:i^« t /iQoox iQo«p «;«i, ««. Biographien gehen zurück auf Speusippos'
Gesch. der PhUos. 5 (1892) 182 ff., sich an-
schließt, gerichtet Plat Theaet. 156 ff. Siehe
a. H. Rädeb, Piatons philos. Entw. 282. Die
Deutung der llieaitetosstelle auf die aristip-
pische Erkenntnistlieorie scheint jetzt ziemlich
allgemein (s. a. S. Knospe, Aristipps Erkenntnis-
theorie im plat. Theät., Progr. Großstrelitz
1902) angenommen außer von K. Jo^l, gegen
den H. Gompebz, Arch. f. Gesch. der Philos.
eyxu}(juov TlXdxcovog, Philippos den Opuntier,
der nach Suidas (s. v. (ptÄöaoifjog) :tsQi IHd-
xoDvog schrieb, auf die Platoniker Xenokrates
und Hermodoros, und auf die ßriefe (beson-
ders der siebente, dem Stellen aus Plut Dio
zur Seite treten, ist biographisch wichtig)
unter Piatons Namen. Auch Aristid. or. 76
und Hieronym. ep. 53. 1 enthalten Daten über
19 (1906) 422 f. . Piatons Leben. Über biographische Notizen bei
5) Den Namen des Aristippos trug fälsch- Byzantinern (Kedrenos, Synkellos) K. Pbäch-
lich ein in alexandrinischer Zeit entstandenes ter, Byzant Zeitschr. 12 (1903) 224 ff., 15
Buch \'{oioxin:Tov negi jtaXaiäg xgvq??jgf das (1906) 588 f. — Neuere Darstellungen: F.
auch Diogenes Laertios aufführt; s. Wilamo- Ast, Piatons Leben und Schriften, Leipz.
WITZ, Antigonos von Karystos (Philol. Unters. 1816; K. Fb. Hbbmann, Geschichte und 8y-
4, 1881, 47 — 53). — Über die Statue des Ari- stem der platonischen Philosophie, Heidel-
stipposF. Winter. Festschr. f. Gomperz436ff. I berg 1889; C. Steinhabt, Piatons Leben im
*) Cic. Tusc. I 83; Plut. de amore prolis | neunten Band der Übersetzung von H. Müllbb,
p. 497 d; Diog. L. II 93. i u. gesondert Leipz. 1873; G. Gbote, Plato and
6U
Qriechisohe Litteratorgeschichte. I. Klassische Periode.
ktione aus dem attischen Demos KoUytos,^) ist geboren im Jahr 427
am 7. Thargelion (Mai), welcher Tag in seiner Schule auch später noch
festlich begangen wurde. ^) Seine Familie gehörte zu den altadeligen Ge-
schlechtern des Landes; sein Vater rühmte sich, ein Kodride zu sein;*)
seine Mutter war eine Schwester des Charmides und Base des Kritias, der
als vielseitiger Schriftsteller und als einer der Dreißig eine hervorragende
Rolle in der Geschichte Athens spielte. An Geschwistern hatte er zwei
leibliche Brüder, Adeimantos und Glaukon, deren Andenken er in der
Republik verewigte, und eine Schwester Potone,*) deren Sohn Speusippos
später Piatons Nachfolger in der Akademie wurde. Ein Halbbruder
Antiphon, Sohn des Pyrilampes, kommt*) im Eingang des Parmenides vor.
Er selbst soll anfangs den Namen seines Großvaters Anstokles geführt und
erst von seinem Lehrer in der Gymnastik wegen seines breitschulterigen
Körperbaus den Namen Piaton bekommen haben.*)
Als Sohn einer angesehenen Familie und als Verwandter hochgebil-
deter Männer erfreute er sich in seiner Jugend aller Vorteile edler atti-
scher Erziehung. In der Musik,') Mathematik,®) Gymnastik, Malerei®)
erhielt er Unterricht; in der Gymnastik brachte er es so weit, daß er bei
den isthmischen Spielen im Ringen einen Sieg gewann. ^o) Auch in der
Musik, die zugleich die Poesie umfaßte, ging er über das bloße Lernen
hinaus und dichtete selbst Dithyramben und Tragödien. • •) Epicharmos und
Sophron bildeten auch später noch seine Liebüngslektüre; jenen soll er
the other companions of Socrates, London
1865, 3 vol.; H. v. Stktn, Sieben Bttcher zur
Gesch. d. Piatonismus. 3 Bde., Gott. 1862—75,
unvollendet. Sonstige Litt, bei Übebweo-
Hbinze, Grundriß d. Gesch. d. Phil. 1» § 39.
*) Da der Vater des Piaton ein Ackerlos
in Aigina hatte, so ließen ihn einige nach
Diog. L. III 3 aus Aigina stammen. Zur Sage
von Apollon als Vater Piatons s. E. Fehblb,
Die kultische Keuschheit im Altert., Diss.
Heidelberg 1908, 3 ff.
*) Die Angaben der Alten gingen von
dem feststehenden Todesjahr unter dem Ar-
chen Theophilos Ol. 108, 1 (= 348.47) aus
und kamen von da zu etwas abweichenden
Ansätzen für das Geburtsjahr (Ol. 88, 1
oder 88. 2; s. K. Präühter, Gott. Gel. Anz.
1902. 957 f.), je nachdem sie den Philosophen
80 oder 81 oder 84 [HA = 84 wohl verlesen
ans IIA = 81) Jahre alt gestorben sein lie-
ßen: s. H. DiELS, Rh. Mus. 31 (1876) 41 f.;
E. Zeller, Gesch. d. gr. Phil. II* 1, 390 f.; F.
Jacoby. Apollodors Chronik 304 ff. — Als
sein Glück pries es Piaton (Plut. Mar. 46)
als Hellene und zur Zeit des Sokrates ge-
boren zu sein; vgl. Lactant. inst. div. III 19.
*) Diog. L. III 1; Apul. 1; die Annahme
einer Abkunft (mütterlicherseits) von Solon bei
Olympiodoros scheint sich auf Plat. Tim. p. 20 e
zu stützen, wo Kritias den Solon einen Ver-
wandten und Freund seines jToöjTfu-ijiog Agw-
-Tid//c nennt.
*) Nach einigen bei Diog. L. III 1 hieß
auch die Mutter des Piaton Potone.
^) Ant. erscheint im Parmenides zunächst
als Halbbruder der in demselben Dialog vor-
kommenden Glaukon u. Adeimantos. unter
denen vielleicht die beiden im Staat vor-
kommenden Brüder Piatons verstanden sind.
«) Diog. L. III 4; Ind. acad. philos. p. 21
Z. 38 ff. Mekler. Anders deutete der Sillo-
graph Timon fr. 19 Diels den Namen WAuor,
indem er ihn witzig mit jtkdTuo in Verbin-
dung brachte: o>ff drej^lntre IlXauov 6 jre-
jiXaofjha i^aiffiara etdMg^ auch die 'Axafit^uta-
xibv jiXatt'Qffftoavvrj dvdXtoTog bei Timon fr.
35 D. scheint mit dem Namen zu spielen.
Die Anekdote vom körperlichen Grund des
Namens verwirft F. Bechtel, Griech. Per-
sonennamen als Spitznamen, Berl. 1898, S.4f.
Die ganze Umnennimg stellt 0. Benndorp,
Jahresh. d. östr. arch. Inst. 2 (1899) 250 in Frage.
^) Als seine Musiklehrer nennt Plut. de
mus. 17 den Athener Drakon und den Akra-
gantiner Metallos.
*) C. Blass, De Piatone mathematico,
Diss. Bonn. 1861.
•) M. Sartoriüs. PI. und die Malerei,
Arch. f. Gesch. der Philos. 9 (1896) 123 ff.
*®) Diog. III 4 nach dem Zeugnis des Di-
kaiarchos.
**) Diog. L. III 5; Olympiodor 3 ; Aelian. v.
h.II30. Eine aus Platons im ^Pim. kundgegebe-
ner Bewunderung für Solons Poesie herausge-
sponnene ätiologische Anekdote über seinen
Abfall von der Poesie bei Schol. BHom./'263.
4. Die Philosophie, c) Platon. (§ 388.) 615
stets unter seinem Kopfkissen gehabt haben, i) Hohe poetische und mime-
tische Begabung spricht auch aus der szem'schen Einkleidung seiner Dia«-
loge und aus der Verwendung des Mythus in seiner Philosophie.^) Aber
indem er den natürlichen Hang zum poetischen Spiel mit Gewalt zugunsten
der Philosophie in sich unterdrückte, eiferte er, gleichsam seiner ersten
Liebe zum Trotz, um so heftiger gegen den nachteiligen Einfluß, den die
erdichtete Leidenschaft der Epiker und Tragiker auf die Seelen der
Menschen übe, und verbannte die Dichter mitsamt dem Homer aus seinem
Idealstaat. ^) In der Philosophie hörte er nach dem Zeugnis des Aristoteles
(met. p. 987 a 32) als junger Mensch*) den Herakleiteer Kratylos, zu dessen
Andenken er später den Dialog Kratylos schrieb.^) Herakleitos' Lehre
vom Fluü aller Dinge war insofern bestimmend für Piatons Gedankenwelt,
als sie ihm die Überzeugung verstärkte, daß die in ewigem Wechsel be-
griffene q>voiQ nicht Gegenstand eines auf Wahrheit gerichteten Erkennens
sein könne. Noch tiefer wirkte auf ihn die seinem Wesen kongeniale
Lehre der Eleaten, in der ihn Hermogenes, ein Schüler des Parmenides,
unterwiesen haben soll, die ihm aber auch Eukleides von Megara vermittelt
haben kann. Vom zwanzigsten Lebensjahr an schloß er sich dem Sokrates
an,6) dem er bis zu dessen Lebensende in innigster Verehrung ergeben
T)lieb. Seine eigene Philosophie wollte er nur als Ausfluß der sokratischen
Weisheit betrachtet wissen, weshalb er den Sokrates immer außer in den
Gesetzen zum Träger oder wenigstens Teilnehmer des Gesprächs in seinen
Dialogen machte.'') Erst in späteren Jahren trat er auf seinen sizilischen
Reisen in engere Beziehungen zu den Pythagoreern und erfuhr von diesen
bedeutenden Einfluß auf seine philosophischen Anschauungen.
Platon wird, da sein beginnendes Mannesalter in kriegerische Zeiten
fiel, auch Kriegsdienste geleistet haben. Aber in den Angaben des Aristo-
xenos bei Diogenes Laertios III 8, daß er das erste Mal gegen Tanagra, das
zweite Mal gegen Korinth (394), das dritte Mal bei Delion im Felde ge-
standen sei,®) ist bestenfalls Falsches mit Wahrem gemischt. Daß er als
Reiter gedient habe, macht die genaue Pferdekenntnis im Phaidros p. 253 d,
die weit über das Maß eines Laien hinausgeht, wahrscheinlich. s) Vom politi-
*) Diog.L. III18; 01ymp.8;Valeriu8Max. 1 den Hinweis auf die negi (pvoeayg iorogla
V 7. I ohne den Namen Herakleitos zu nennen.
'^) R. HiRZEL. über das Rhetorische und | ®) Hermodoros bei Diog. L. HI 6 läßt ihn
seine Bedeutung bei PL, Leipz. 1871. achtJahre(407— 399) mit Sokrates verkehren.
") K. Meiser, Zu Piatos Phaedr. Protag. • ^) Unsicher ist die Deutung von epist. 2
und Theätet, München 1868; J. Reber, Platon p. 314c: ovdkv jico.tot* syio ne^l tovtcov yd-
u. die Poesie, München 1864; Fb. Stählin, Die yyafpa ovS' eon ovyygafifia Tlkdrayvog ovöev
Stellung der Poesie in der platonischen Phi- ovS* eorai, lä 6k vvv Xeyo/nera Swxodxovg eoxi
losophie, München 1901. G. Finsler, Platon xaioif xai veov yeyovörog. über die Bezeich-
unddiearistotel.Poetik,Leipz. 1901. Vgl. R.H. nung 2coxganxoi loyoi s. o. S. 607, 4.
Woltjer, De Platone praesocraticorum philo- ^ ^) Aelian. v. h. VIl 14 spricht nur von
sophorum existimatore et iudice, Lugd. Bat. ' Tanagra und Korinth. Die Hereinziehung der
1904. Wie sehr die Liebe zur Poesie und zu ; Schlacht bei Delion, die ja auch in Xeno-
Homer in seinem Innern fortdauerte, zeigt \ phons Biographie sich eindrängt, beruht viel-
sein eigenes Geständnis (reip. 607aff.). j leicht auf Verwechselung des Platon mit So-
*) Diog. L. legt den Verkehr Piatons mit j krates. Von seinem Kriegsdienst spricht
Krat. nach Sokrates' Tod (III 6). I Platon auch bei Diog. L. III 24.
^) Platon selbst bezeugt das im Phaidon ; •) Die Beschreibung, die dort Platon von
p. 96 a, freilich bloß im allgemeinen durch | dem guten und schlechten Pferd gibt, wurde
616
GriechiBche Litteratargeschichte. I. Klassische Periode.
sehen Leben hielt er sich fern. Familientraditionen und eigene Über-
i^eugung hatten ihn zum entschiedenen Gegner der Demokratie gemacht;
gegen deren Mißwirtschaft er, zumal nach der Verurteilung des Sokrates,
am meisten in der Apologie und dem Gorgias, Haß und Verachtung äußert;
aber nachdem die Optimaten, denen er im Herzen zugetan war, zur Zeit
der Dreißig einen so schnöden Mißbrauch mit ihrer Gewalt getrieben hatten,
zerfiel er überhaupt mit dem politischen Leben Athens.^)
334. Reisen. Nach dem Tod des Sokrates verließ Piaton Athen
auf elf Jahre.*) An der Gerichtsverhandlung gegen Sokrates nahm er teil,«)
bei den letzten Stunden seines Lehrers, die er später im Phaidon so er-
greifend geschildert hat, konnte er aber infolge einer Erkrankung nicht
anwesend sein.^) Bald darauf begab er sich mit anderen Freunden aus
Furcht vor weiteren Verfolgungen nach Megara, wo sich um Eukleides
ein Kreis Gleichgesinnter sammelte.^) Ln Eingang des Theaitetos hat er
später der Liebenswürdigkeit, mit der sich jener der Sokratiker annahm,
ein schönes Denkmal gesetzt. Von Megara aus unternahm er weitere
Reisen, deren Ziele verschieden angegeben •werden. Für einen Besuch in
Ägypten und Kyrene fehlt es an glaubwürdigen Zeugnissen.^)
Sicher stehen die Reisen nach Sizilien, wo damals die Dionysioi
ebenso wie ehedem Hieron Philosophen und Dichter an ihren Hof zu
ziehen suchten. Dreimal besuchte er die Insel und ünteritalien, worüber
noch in später Zeit beachtet (E. Odeb, Anecd.
Gantabrig. 21 f.), ist übrigens in Anbetracht
der urjtoTQotpia des Adels bei einem Ange-
hörigen dieser Gesellschaftsklasse nicht ver-
wunderlich.
^) Nach dem siebenten Brief p. 325 c
brach er die Beziehungen zu den Oligarchen
ab, nachdem Sokrates von den Dreißig aufge-
fordert, einen Bürger zum Tod abzuholen,
sich dem ungerechten Befehl widersetzt hatte.
Am bittersten äußert er seine tiefe Verstim-
mung über das öffentliche Leben im llieaet.
173d ff. (vgl. apol.Slef.; reip.514eff.540aff.
und die Kritik der Verfassimgen reip. VIII).
Gorg. 521 c ff. versteht H. Räder, Plat. philos.
Entw. 129, 1, nach dem Vorgang von J. Bake
als Selbstverteidigung des Piaton gegen den
Vorwurf, daß er sich nicht politisch betätige,
und gewiß ist reip. VI 3 ff. in diesem Sinn
zu verstehen.
*) Strab. p. 806 wohl nach Panaitios.
») Plat. apol. 84 a. 38b.
*) Plat. Phaed. p. 59 b. Nur als schrift-
stellerisches Motiv betrachtet diese Angabe
E. Zeller, Phil. d. Gr. II 1* 400 A. 3.
^) Diog. L. II 106 : .iQog Evxlelbrjv qrjoiv 6
'E(>u6()o)gog a(ftxio\}ai TIXdxMva xai rai'i; Xot-
jiovi; ff uoo6q:>ov<; /nerä rtjv ^ioxonxovg TekevTtp'
deioarrac rijv wuortjza rwv xvQavvMV (vgl.
III 6). Über Xenophons angeblich späteres
Verweilen in Megara Epist. Socraticor. 22.
Über Piatons Aufenthalt in Megara vgl. noch
den siebenten Brief p. 329 a.
I f) Was im Phaidros von Anspielungen
\ auf Ägypten steht (274c ff.), beweist keinen
I Aufenthalt in Ägypten, und aus dem gering-
schätzigen Urteil über die Ägypter reip. 435 e
folgt wohl, daß die Bewunderung für die uralte
Kultur Ägyptens, die sich z.B. Tim. 21 d;
Grit. 113a; leg. II 656 d f ausspricht, erst in
Platens Greisenalter gehört (s. a. W. Christ,
Piaton. Stud., Bayr. Ak. Abh. 17, 1886, 507 f.).
Zusammen mit Sinmiias aus Theben läßt ihn
Plutarch de genio Socratis p. 578 f nach Ägypten
kommen, woraus W. Christ, Plutarchs Dialog
vom Daimonion des Sokrates, Bayr. Ak. Sitz.-
ber. 1901 S. 106 weitere Konsequenzen zu
ziehen wagt. Da aber weder in dem Index
acad. philos. Herculan. noch im siebenten
Brief von den Reisen nach Ägypten und
Kyrene (freilich im Index auch nicht von
' dem Aufenthalt in Megara) Erwähnung ge-
schieht, so haben die Neueren sie mit Recht
I angezweifelt (s. K. Prächter, Gott. Gel.
I Anz. 1902, 959 ff.; an den Reisen nach
Ägypten und Kyrene hält Th. Gomperz, Gr.
Denker IP 208'ff. fest). Legenden darüber
mögen schon in frühperipatetischen Dialogen
und Biographien vorgekommen sein. Über-
triebene Vorstellungen von ägyptischen Ein-
flüssen hegten die Späteren, wie Clemens
Alex. Strom. 1 p. 356 P. ; auch Strabon schon
(p. 806) berichtet Fabelhaftes von einem ge-
meinsamen, dreizehn Jahre dauernden Be-
such des Piaton und Eudoxos in Heliopolis.
Lactantius inst. IV 2 läßt den Platen auch
4. Die Philosophie, c) Platon. (§ 834.) 617
wir den besten Aufschluß durch den siebenten Brief erhalten, i) Zum
erstenmal kam er dorthin, als er nahezu vierzig Jahre alt war, also um
388, in den letzten Zeiten des korinthischen Krieges. Dion, der Schwager
des Dionysios L, ein glühender Verehrer Piatons und der sokratischen
Philosophie, bemühte sich, ihn mit dem Tyrannen zusammenzubringen.
Aber zwischen dem illusionslosen Realpolitiker und dem hochsinnigen Idea-
listen war ein engeres Verhältnis unmöglich, und Piatons Freimut fand
wenig Anklang am Hof. Von Dionysios dem spartanischen Gesandten
PoUis übergeben, wurde er in Aigina auf den Sklavenmarkt gebracht, aber
dadurch, daß ihn Annikeris von Eyrene kaufte und freiließ, vor Schlim-
merem bewahrt.*) Die zweite Reise unternahm er, durch denselben Dion
veranlaßt, bald nach dem Tod des älteren Dionysios (367) in der Hoff-
nung, den jungen König für die Philosophie und seine politischen Ideale,
die Aufrichtung eines kommunistischen Staates unter philosophischer Leitung
(ep. 7 p. 337 d), zu gewinnen.*) Aber als sich der König, unter dem Ein-
fluß einer von dem Historiker Philistos geführten konservativen Partei,
mit Dion aus eifersüchtigem Argwohn überwarf und ihn vom Hof ver-
bannte, mußte Platon froh sein, sich der peinlichen Lage durch Rückkehr
nach Athen entziehen zu können. Oleichwohl ließ er sich nochmals ver-
leiten, der wiederholten Einladung des jüngeren Dionysios Folge zu leisten
und zum drittenmal die Fahrt durch die „verderblichen Charybdis" zu wagen
(361/60). Aber dieses Mal richtete er noch weniger aus; eine Aussöhnung
des Königs mit Dion vermochte er nicht zu erwirken und bei dem König
und seinen Generalen verleumdet, kam er selbst in Lebensgefahr, der er
nur durch Vermittelung seiner pythagoreischen Freunde in Tarent entkam.
Dion selbst kehrte drei Jahre später mit bewaffneter Hand nach Syrakus
zurück, aber wiewohl er schließlich den Sieg über Dionysios davontrug,
nahm doch auch seine Herrschaft schon 353 ein Ende. Die politischen
Absichten des Philosophen bei seinen Reisen nach Syrakus scheiterten auf
solche Weise gänzlich, aber von dauernder Bedeutung waren die Ver-
bindungen, die er in ItaUen mit den Pythagoreern, besonders mit Archytas,
anknüpfte.*) Sie steigerten in ihm die Neigung zu mathematischen und
zu den Magiern und Persern reisen, was \ tiae antistiti Dionysius ii/ranntis alias saevi-
zweifellos erdichtet und schon von Diogenes i tiae superbiaeque natus vittatam navem misit
L. III 7 als bloßer Plan bezeichnet ist. | ohviamf ipse quadrigis albis egredientem in
*) Außerdem Diog. L. III 18 fF.; Plut. Dion j litore excepil u. Ael. var. bist. IV 18 scheinen
4 und 10 ff.; Cornelius Nepos Dio 3. sich auf die zweite Reise zu beziehen.
^) Diodor. XV 7, 1 zu 386; Ind. acad. phil. i ') Seine hochfliegenden Hoffnungen, ßlov
p. 12M.; Aristid. or. 46 p. 305 D. ; Ath. p. 507 b ; ■ av evdalfAova xai aXijOivov h ndon xff x^Q^
Diog. L. III 19; Plut. Dio 5 und de tranqu. an. ' xaxaoxevdoai bezeichnet ep. 7 p. 327 d, das
471 f. Der siebente Brief schweigt von jener \ Grauen des Theoretikers vor der Wirklich-
Gefahr; eine Anspielung hat H. Diels, Zur ■ keit 328 c.
Textesgesch. d. arist. Physik (Berl. Ak. Abh. *) Über den Ankauf der Schrift des Py-
1882, 23) zu finden geglaubt in Aristot thagoreers Philolaos berichtet Uermippos bei
phys. 199b 20. Über die Gehässigkeiten zwi- Diog. L. VIII 85 und Gellius III 17. Die Wir-
schen Athen und Aigina, aus denen sich die kung pythagorelischen Einflusses auf Platon
Geschichte von Piatons Verkauf erklärt, K. betont besonders Dikaiarchos (Plut. quaest.
Pkächter, Gott. Gel. Anz. 1902, 964. Die symp. 719b) und Poseidonlos (A. Schmekel.
Stellen über seine anfänglich glänzende Auf- | Philos. d. mittl. Stoa 382).
nähme Plinius n. h. VII 110: Piatoni sapien-
G18
Griechische Litteratorgeschichte. L Elassische Periode.
physikalischen Studien^) und beeinflußten seine philosophischen Anschau-
ungen derart, daß in seinen späteren Schriften die Einfachheit der sokra-
tischen Lehre immer mehr gegen die Subtilität der Eleaten und die
mystische Spekulation der Pythagoreer zurücktrat.^) Auch die Bekannt-
schaft mit der sizilischen Medizin,«) der Komödie des Epicharmos und dem
Mimos des Sophron*) wurde für den Philosophen und den Schriftsteller
Piaton sehr bedeutungsvoll.
336. Anfang der Schriftstellerei und Schulgründung. Schrift-
stellerische Betätigung entsprach nicht den pädagogischen Grundsätzen des
Sokrates und hat auch dem Piaton, seinen Äußerungen im Phaidros nach,*)
immer nur als Notbehelf gegolten. Mit Sicherheit ist anzunehmen, daß er
vor Sokrates' Tod nichts geschrieben hat.^) Nachher hatte er aber
mancherlei Veranlassung, zur Feder zu greifen. Durch sein vieljähriges
freiwilliges Exil war er verhindert, in seiner Vaterstadt eine Schule zu
gründen und in der freien, mündlichen Erörterung, die er für die förder-
lichste Methode, Philosophie zu treiben, hielt, auf die Jugend einzuwirken,
und doch war es seinem leidenschaftlichen Temperament Bedürfnis, gerade
der athenischen Bürgerschaft die wahre Größe seines Lehrers, wie er ihn
verstand, vorzuhalten und sie zu strafen für den unverantwortlichen Leicht-
sinn, mit dem sie den Sokrates verurteilt hatte. Das hat er in der Apo-
logie getan, die vor seiner Rückkehr nach Athen und vor der HcoxgaTovg
xartjyoola des Polykrates') entstanden sein muß; in dieselbe Zeit werden
auch einige von den Dialogen der „sokratischen Periode** fallen. Neue
Veranlassung zum Schreiben gab die fatale Schrift des Polykrates c. 390,
die ernstlich versuchte, die Gründung sokratischcr Schulen in Athen un-
möglich zu machen und damit dem rhetorischen Schulbetrieb dort die Kon-
*) Über die wahrscheinlich erdichtete
Aufschrift seines Hörsaales y,fitjSeig dyeo)-
fihotjTog slolxoy'^ berichten David Schol. in
Aiist. cat. ed. Berol. t. IV 26a 10; Philop. ad
Aristot. de an. in Comm. in Aristot. GraecaXV
p.l 17, 26 : Tzetzes Chil. VIII 972. Die berühmte
Stelle reip. VIII p. 546 über die geometrische
Zahl gibt heutzutage noch den Mathematikern
Rätselauf; 8.M.CuRTZE,Jahresb.tib.d.Fortschr.
d. cl. Altwiss. 40 (1884) 13 ff.; J. Adam, The
number of Plato, Exkurs zur Ausg. der Re-
publik, London 1902; F. Hultsch, Berl. phil.
Woch. 12 (1892) 1256 ff.; 16 (1896) 1478 ff.;
und im Anhang zu W. Krolls Ausg. von
Procl. ad Plat. remp. 400 ff.; J. Dupuis, Rev.
des et. gr. 7 (1894) 146 ff.; 15 (1902) 288 ff.;
P. Tannkry ebenda 16 (1903) 173; G. Albert,
Philol. 66 (1907) 153 ; ders , Die piaton. Zahl als
Präzessionszahl u. ihre Konstruktion, Wien
1907. Über das von Piaton den Mathematikern
zugewiesene Problem einen Würfel zu verdop-
peln s. M. Cantor, Gesch. d. Math. P 213 ff.
2) Die Zahlenlehre der Pythagoreer muß
nach Aristoteles metaph. I 6 und Aristoxenos
harmon. p. 30 Meib. in den Vorträgen des
Piaton in seinen späteren Lebensjahren noch
eine viel größere Rolle gespielt haben als in
seinen späteren Schriften; vgl. F. A. Tren-
DELENBURu, Platouis de ideis et numeris doc-
trina ex Aristotele illustrata, Leipz. 1826.
') Von dem Arzt Philistion übernahm
PI. unter anderem die Anschauung, daß das
Hirn Zentralprgan sei: M. Wellmann, Fragm.
der griech. Ärzte I 30 A. Siehe a. F. Poschek-
RiEDER, Die plat. Dialoge in ihrem Verh. zu
den hippokrat. Schriften. Progr. Landshut 1882.
*) Diog. L. III 18; zu viel folgert H.
Reich. Der Mimus I 260 A., der S. 381 ff.,
405 ff. über Sophrons Einfluß auf PI. handelt.
— Auch Piatons eigentümliche Angabe über
Theognis (oben S. 169, 3. 4) wird aus Sizilien
stammen. Über Beeinflussung seiner Sprache
(Gebrauch von i^ii)v) durch die sizilische Ko-
mödie W.Dittenberoer, Herm. 16 (1881) 321 ff.
'^) Phaedr. 274 e ff.
«) Das liegt in Plat. apol. 39 d (T. Brüns,
Litt. Portr. 226).
^) Das ergibt sich daraus, daß in der
Apologie die politische Diskreditierung des
Sokrates, die Polykrates zuerst ausgesprochen
hatte (s. 0. S. 545), mit keinem Wort erwähnt
wird. Und doch hat es Piaton (in der Any-
tosepisode des Menon 89e ff., die die erste
noch flüchtige Reaktion auf Polykrates* Schrift
zu sein scheint, und noch mehr im Gorgias,
dessen Entstehungsgrund Th. Gomperz, Gr.
4. Die PfailoBophie. c) Piaton. (§ 335.)
619
kurrenz von philosophischer Seite fernzuhalten. Piaton, der jene Schrift
schon im Menon gestreift hatte, gibt die volle Antwort auf sie im Gorgias
mit seinem zornigen Vemichtungsurteil über die Rhetorik und die politi-
schen Zustände, auf denen diese Sumpfpflanze gedeihen könne. Dem Gorgias
folgt wahrscheinUch auf dem Fuß die kühne Tat der Schulgründung, zu der
Piaton übergegangen zu sein scheint, sobald ihm klar geworden war, daß der
Hof von Syrakus seine Philosophie nicht ertragen konnte. Nach Athen zurück-
gekehrt, begann er hier mitten unter den feindseUgen und von ihm ge-
reizten Rhetorenschulen etwa 387 zu lehren, *) zunächst ganz öffentlich auf
dem etwa zwanzig Minuten vor dem Tor Dipylon gelegenen, mit Gym-
nasium und Parkanlagen ausgestatteten Platz, der von dem Heros Aka-
demos den Namen Akademie hatte. Daneben erwarb er einen eigenen
Garten,*) in den er sich später, vermutlich von dem Wirken in voller
Öflfenthchkeit unbefriedigt, zu stilleren Studien und intimerem Verkehr mit
einem engeren Kreis seiner Schüler zurückzog. ») Bald schlössen sich ihm
edle Jünglinge aus allen Teilen Griechenlands an, auch zwei wißbegierige
Frauen, Lastheneia aus Mantineia und Axiothea aus Phleius, diese angeb-
lich in Männergewand. '^) Die Schule hatte äußerlich die Form eines Kult-
vereins zu Ehren der Musen ;^) sie ist der älteste attische Philosophen-
verein*) und vorbildlich geworden für ähnliche Institute, besonders für das
alexandrinische Museum. Piaton hat übrigens neben dialogischen Erörte-
rungen jedenfalls in seiner späteren Zeit auch zusammenhängende Vor-
träge gehalten.'') Sold nahm er nicht. ») An Rivalitäten mit anderen
Schulen und Schulleitern, wie mit dem Sokratiker Antisthenes und nicht
näher bekannten Rhetoren^) fehlte es nicht, zumal Piaton von starkem
Denker IP 278 wohl richtig versteht) sehr fttr
der Mühe wert gehalten, auf diesen Punkt
einzugehen.
») Eusebios zu Ol. 97, 4 = 389/8: Plato
philosophus agnoscitur, wird sich auf die
erste Reise Piatons nach Sizilien beziehen.
Auf das dreizehnte Jahr nach dem Tod des
Sokrates, also 387, führt die freilich materiell
bedenkliche Notiz bei Strab. 806. Schwer
zu deuten Eusebios zu Ol. 101, 3 = 374/3:
Flato et Xenofon necnon et alii Socratici
clari hahentur. Siehe F. Jacoby, Apollod.
Chron. 311 f.
«) Diog. L. III 5. 20; Plut. de exiUo 603 b;
vgl. K. F. Hermann S. 121. ^
^) *Ev evoxioig ögofioiaiv *Axadi^fÄOV ^eov
Eupol. fr. 32 K. In die Akademie stiftete
später Mithridates (D. L. III 25) eine von
Silanion gearbeitete Statue des Piaton, auf
die wohl die sitzende Statue des Philosophen
und seine Büste (s. W. Helbio, Jahrb. d.
arch. Instit. 1, 1886, 71 ff. und Abbildung im
Anhang) zurückgehen. Die von A. v. Gut-
scHMiD (Kl. Sehr. III 520) angenommene Iden-
tifikation des Stifters mit Mithridates I. von
Pontos ist nicht sicher (E. Preuner, Mitt.
des ath. Inst. 28. 1903, 348 ff.). In dem Garten
befand sich seit alters ein Altar der Musen
und die Gruppe der Chariten, worauf sich
die Erzählung bei Plutarch coniug. praec.
141 f. stützt, daß Piaton dem Xenokrates ge-
raten habe, den Chariten zu opfern. Von den
Symposien in der Akademie rühmte man,
daß man sich nach ihnen auch am nächsten
Tag wohl fühle; s. Athen. 419c und Plu-
tarch. sympos. p. 686 b. Darstellung Piatons
und seiner Schüler im Akademiegarten auf
italischen Mosalfken: H. Gräven, N. Jahrbb.
f. kl. Alt. 1 (1898) 336 ff.
*) Diog. L. III 46. IV 2; Themist. or. 22.
Unter den Schülern nennt Plut. adv. Col.
1126d auch den Chabrias und Phokion.
*) Proleg. Plat. phil. 4 extr.
®) H. UsENER, Die Organisat. der wissen-
schaftl. Arbeit (Preuß. Jahrbb. 53, 1884. 1 ff.);
WiLAMowrrz. Antig. v. Karj'st. 283 ff.; E.
ZiEBARTH, Das griech. Vereinswesen 71.
') Aristot. bei Aristox. härm. p. 44, 5 ff.
Marq.
«) Diog. L. IV 2; Plut. Dio 54.
®) Die Feindschaft mit Isokrates ver-
flüchtigt sich bei genauerer Betrachtung (s.
o. S. 533, 1). Über das Verhältnis zu Antisthe-
nes oben S. 611, 6; über das des Xenophon zu
Piaton S. 484,4; möglich, daß Piaton mit dem
Euthvphron auf Xenophons oberflächliche
Eultfröramigkeit zielt, wenn ihm der Mann
nicht überhaupt zu klein war.
620 GriechiBche litteratnrgeschichte. L Elassische Periode.
und nicht zurückgehaltenem Selbstbewußtsein erfüllt war.i) Neben dem
Lehrberuf fuhr er fort, durch dialogische Schriftstellerei auch über den Kreis
seiner Schüler hinaus zu wirken. Seine Dialoge, in denen immer außer in
den Gesetzen Sokrates Gesprächsperson und zwar überall außer in Parmenides,
Sophistes, Politikos, Timaios, Kritias Leiter des Gesprächs ist, geben ein
Bild seiner nie rastenden geistigen Entwicklung: in allen Punkten hat er
seine Anschauungen modifiziert und weitergebildet, auch an der Technik
der Dialoge fortwährend gefeilt. Fest bleibt aber in allem Wandel sein
Idealismus und die gesprächsmäßige Darlegung, für die das Wahre ein an
sich zwar Feststehendes, aber in dem Gewirr der Wahnvorstellungen
immer erst zu Suchendes ist. So kommt er an allen Kernfragen des
geistigen und sittlichen Lebens herum: er untersucht den Begriff der
Tugend in seinen Spezifikationen, des Wissens, der Bildung und Erziehung,
der Liebe, die Mittel der wahren Erkenntnis, die menschliche Seele, ihr
Leben und ihre Zukunft, das Verhältnis von Tugend und Glück, die Natur
der Sprache, der Kunst und faßt auf der Höhe seines geistigen Schaffens
alle gewonnenen Erkenntnisse zusammen in der gewaltigen Staatsutopie,
in der er den von aller Wirklichkeit weit entfernten Idealstaat auf dem
festen Grund der Gerechtigkeit verankert. Nach diesem Hauptwerk setzt
eine neue Entwicklung bei ihm ein; die Enttäuschungen, die er in Sizilien
erlebt hatte, werden dazu beigetragen haben, ihn zu einer Revision seiner
idealistischen Auffassung zu führen, deren letztes Ergebnis sein zweites kon-
struktives Werk, die Gesetze, sind, ein Werk der Resignation und des An-
knüpfens an konkrete, gegebene Zustände. Bezeichnend für diese späte
Periode ist auch eine Neigung zum systemartigen, dogmatischen Abschluß
und der Versuch, auch die außerethische Sphäre der Natur gedankenmäßig
zu durchdringen, nach außen eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der
Darstellungsform. Nach langer Tätigkeit, die ihn trotz seiner stillen Zurück-
gezogenheit nicht bloß mit auswärtigen Herrschern, sondern auch mit hervor-
ragenden Staatsmännern Athens, wie Phokion, Chabrias*) und Timotheos,^)
*) Dionys. epist. ad Pompeium 1, 13 p. 225
11 Us. : jyv yag, i)v h rfj Illdxoivog <pvoEi ttoX-
Mtg aoEToc: ixovof} t6 (pdörifiov. Weitere Vor-
würfe gegen Piatons Charakter Hegesandros
bei Ath. 507 a. Piatons jtgaoTtjg betont Epicrat.
com. bei Ath. 59 f. Die Verkleinerung von
Piatons Charakter und Geist findet ihren
Rückhalt in der pietätlos kalten Art, wie
Aristoteles über ihn urteilt. Der Vorwurf des
Plagiats, den Theopompos in seiner Schrift
xara Tijg IlkaKovog diuTgißf/g (Ath. 508 C ; vgl.
Socratic. epist. 30, 12 H. ; Arr. diss. Epict.
II 17, 5 f.) und Aristoxenos (Diog. L. III 37
vgl. 57) erheben, steckt auch in dem Urteil
des Aristoteles met. I 6; andere hielten sich
für berufen, ihm Unfähigkeit in der Beurtei-
lung der Poesie vorzuwerfen (so Kallimachos,
wegen Piatons Bewimderung für Antimachos,
fr. 74b Sohn.; Duris fr. 67M.; beide erwähnt
von Proklos ad Plat. Tim. p. 90. 25 Diehl.
vgl. Procl. ad Plat. remp. p. 43, 12; 65, 3
Eroll); die nörgelnde Beurteilung von Pia-
tons Stil bei Aristoteles und Dikaiarchos
(Diog. L. III 37. 38) setzt sich fort und ver-
stärkt sich bei Cäcil. Calact. fr. 150 Ofek-
LOCH imd Dionys. Hai. ad Pomp.; de Dem.
5 ff. 23 flf.; Plut. fr. 138 Bern.; Luc. rhet.
pr. 17; s. a. 0. Immisch, Ber. der sächs. Ges.
d. Wiss. 56 (1904) 234 ff. Bei seinen Vorträgen
begegnete ihm dasselbe, was so manchem
akademischen Lehrer unserer Tage, daß ihm
die Mehrzahl der Schüler nicht bis zum
Schluß aushielt (Aristox. härm. II 30, vgl.
Alex. Aphrod. bei Simplic. ad Aristot phys.
p. 334 d 25; 362 a 10 Bbandis).
^) Plut. adv. Col. 1126 c.
') Diog. L. III 23; über Beziehungen zu
den makedonischen Königen Archelaos und
Philippos spricht ungenau Ath. 506 e, womit
der fünfte Brief Piatons an Perdikkas u. Epist.
Socratic. 30, 12 zu verbinden ist.
4. Die Philosophie, c) Platon. (§ 336.) 621
in Beziehung brachte, starb er im einundachtzigsten Lebensjahr Ol. 108, 1
= 348/7. In seinem Testament setzte er zum Erben den jungen {naidlov)
Adeimantos,^) zum Testamentsvollstrecker drei Männer, darunter seinen
Schwestersohn Speusippos, ein.
336. Schriften Piatons. Dialogische Form. Die Schriften Pia-
tons*) bieten der Betrachtung zwei Seiten, von denen die eine den Inhalt
und das philosophische System, die andere die Form und die litterarischen
Beziehungen betrifft. Die erste tritt in einer Litteraturgeschichte natür-
lich zurück, die zweite muß um so sorgsamer besprochen werden, als
Platon zugleich der vollendetste Stilist, ein Dichter in Prosa, gewesen
ist und seine Dialoge die litterarischen Verhältnisse und Strömungen des
4. Jahrhunderts am klarsten widerspiegeln. Das höhere Leben Attikas,
den geselligen und geistig angeregten Verkehr in den Hallen und auf den
Spaziergängen, die zwanglos heitere und geistreiche Unterhaltung bei den
Trinkgelagen, die durch geistiges Band zusammengehaltene Freundschaft
der Jünger und Lehrer, die Blüte attischen und griechischen Lebens lernen
wir durch keinen Schriftsteller so wie durch Platon kennen. — Alle seine
Schriften sind mit einziger Ausnahme der Apologie in dialogische Form
gekleidet. 3) Diese Form ist keine von außen hineingetragene, sondern
entspricht den Grundsätzen des Sokrates und seiner Schule über die rich-
tige Methode die Wahrheit zu finden (s. o. S. 610). Sie ist aber auch
insbesondere in der Auffassung Piatons vom Wesen des Wissens und in
seiner ganzen Lehrmethode tief innerlich begründet. Das Denken war ihm
eine Zwiesprache der Seele mit sich selbst,*) und nur auf ein in Ein-
sprache und Gegenverteidigung, d. i. mit dialektischer Kunst erworbenes
Wissen legte er Wert. Er ist mit dieser Form der echteste Vertreter
hellenischer Philosophie und attischen Geistes geworden; die Abneigung
der Griechen gegen einsame Abgeschlossenheit und der demokratische
Anspruch der Athener auf das sprichwörtliche eksyx ii-eyxo^ verschafften
*) Diog. L. III41. Schwerlich Sohn oder
Enkel des Platon selbst, eher Enkel seines
Bruders Adeimantos.
2 Bde.. Breslau 1881. 84; W. Christ, Fiat.
Studien, Bayr. Ak. Abh. 17 (1886) 451 ff.; H.
SiEBEüK, Untersuchungen zur Philosophie der
'*) F. ScHLEiERMACHEB, Obersetzung (II. Griechen, 2. Aufl., Freib.l 888 ;C.RiTTBR,Unter
2; 11 1—3, Berl. 1804—10; neue Aufl. 1817 i suchungen über Plato, Stuttg. 1888; F. Hörn,
bis 1824; III 1, 1828; 1. U in 3. Aufl. und III ! Piatonstudien, Wien 1893; W. Lütoslawski,
1 in 2. Aufl. 1855 — 62) und K. Steinhart in The origin and growth of Plato's logic, London
den Einleitungen zu H. Müllers Übersetzung, 1897; 0. Immisch, Zum gegenwärtigen Stande
9 Bde., Leipz. 1850—73; J. Socher, Über | der platonischen Frage, N. Jahrbb. f. kl. Alt. 3
Piatons Schriften, München 1820 (hier ist die ! (1899)440ff. H. Räder, Piatons philosoph. Ent-
Sonderstellung von Sophist., Politik, und Parm. wicklung, Leipz. 1905, der S. 2 ff. eine treffliche
zum erstenmal scharf erkannt) ; F. Susexihl, kritische Übersicht über die wichtigsten Epo-
Die genetische Entwicklung der platon. I^hilo-
sophie, Leipz. 1855—60, 2 Bde.; G. F. W.
SuoKow, Die wissenschaftliche und künstle-
rische Form der plat. Schriften, Berl. 1855;
F. Überweg, Untersuchungen über die Echt-
chen der neuen Platonlitteratur seit Schleier-
macher gibt. — Über die Meinung, Piatons Dia-
loge seien Werke des Sokrates, s. R. Hirzel,
Der Dialog II 90, 2 ; auf eine Stufe mit Xenoph.
mem., als Bilder aus dem Leben des Sokr ., stellte
heit imd Zeitfolge plat. Schriften, Wien 1861; . sie E.Mi^k in der S. 625, 8 zitierten Schrift.
K. ScHAARscHMiDT, Die Sammlung der plat. 1 ^) IT Schlottmann, Ars dialogorum com-
Schriften, Bonn 1866; E. Zeller, Platon. ' ponendorum quas vicissitudines apud Grae-
Studien, TUb. 1839: H. Bonitz. Plat. Studien, cos et Romanos subierit, Rostock 1889; R.
3. Aufl. Berlin 1886; G. Teichmüller, Litera- ! Hirzel, Der Dialog I 174—271.
rische Fehden des 4. Jahrhunderts v. Chr., ! *) soph. 263e; Phaedr. 276e.
622
Griechische Litteratnrgeschichte. I. Klassische Periode.
von vornherein einer Philosophie Eingang, in der die Sätze nicht in zu-
sammenhängender Rede ex cathedra verkündet, sondern in dialektischem
Zwiegespräch entwickelt waren. Ob Piaton der erste war, der philo-
sophische Dialoge schrieb, ist zweifelhaft,^) aber jedenfalls hat er dem
Dialog durch anschauliche Schilderung der Szenerie,') feine Zeichnung der
Charaktere,') scharfsinnige Entwicklung der Begriffe, lebensvolle Frische
im Fortgang des Gespräches jene Vollendung gegeben, die seitdem eben-
sowenig wie die Erzählungskunst des Homer wieder erreicht worden ist>)
Neider haben ihm vorgeworfen, er habe in seinen Dialogen die Mimen des
Sophron kopiert;^) aber dem gegenüber hat E. Zeller auf die Stelle des
Aristoteles (poät. 1) verwiesen, an dei; die vollständige Verschiedenheit
jener beiden Arten von Dialogen ausgesprochen ist. Damit ist aber nicht
gesagt, daß er nicht von Sophron gelernt habe.
Während der fünfzig Jahre seiner philosophischen Lehrtätigkeit blieb
sich Piaton in der dialogischen Technik ebensowenig gleich, wie in den An-
schauungen und der Forschungsmethode. Mit zunehmendem Alter und zu-
nehmender Neigung zum Systematischen und Dogmatischen legte er auf die
dichterische Belebung seiner Gespräche weniger Wert. Im Parmenides, So-
phistes, Politikos, Philebos haben die Mitunterredner nur die Aufgabe, die
Ausführungen des Hauptsprechers zu bejahen und sind nicht näher charakte-
risiert, auch fehlt jede Schilderung des Schauplatzes, und im Timaios und
den Gesetzen überwiegt so sehr der Lehrton zusammenhängender Dar-
stellung, daß die Beibehaltung des Dialoges nur noch als eine lästige
Fessel erscheint. Nach einer anderen Seite ist Piaton in früheren Jahren
von den einfachen, direkt beginnenden „dramatischen** Gesprächen mit
zwei bis drei Sprechenden zur verschlungeneren Gestaltung des Dialoges
durch Heranziehung mehrerer Personen (sechs im Phaidon, neun im Pro-
tagoras)^) und Einschachtelung des Hauptgespräches in ein einleitendes
*) Diog. L. III 48 und Olympiodor. Proleg.
in Plat. 5 extr. nennen als Vorgänger die
Eleaten Zenon und Parmenides, wahrschein-
lich irrtümlich. Derselbe Diogenes II 122
läßt den Sokratiker Simon die ersten sokra-
tischen Dialoge geschrieben haben. Aristo-
teles :ieQi :Toit]T(bv bei Diog. L. III 48 und Ath.
505 c bezeugt, daß die Dialoge des Alexame-
nos von Teos (R. Hirzbl. Der Dialog I 100 f.)
ebenso wie die Mimen des Sophron vor die
sokratischen fallen. Schon in der um 425
geschriebenen Schrift über den Staat der
Athener zeigt sich der Einfluß, den die
Übung der Philosophen und Sophisten, einen
Gegenstand im Gespräch nach zwei Seiten
zu erörtern, gehabt hatte; vergleiche auch
die Methode des Protagoras bei Diog. L. IX 51
und Thukydides V 85—113.
') F. Thiersch, Über die dramatische
Natur der plat. Dialoge, Bayr. Ak. Abh. 2 (1837)
1 ff. Die genaue Zeichnung des Tj'pischen in
Personen und Zeitverhältnissen hinderte ihn
aber nicht, sich über die geschichtliche Ge-
nauigkeit wegzusetzen. So ist im Protagoras,
der zu Perikles' Zeiten spielt, die Aufführung
der Wilden des Pherekrates erwähnt p. 327 d,
wiewohl diese neun Jahre nach Perikles* Tod
zur Aufführung kamen. Über die Zeitver-
stöße im Menexenos s. unten S. 632; vgl. E.
Zeller, Über den Anachronismus in den plat.
Gesprächen, Beri. Ak. Abh. 1873, 79 ff. R.
Hirzbl, Der Dialog I 181 ff.
') Piatons ri^ojioiia war berühmt: Schol.
Aristid. p. 671, 6 Dind.
*) Plut. Cic. 24: :iokXa S* avwv xai ojro-
juvffjuovevovoiVf olov jtf.qI xwv nidrouvog dia-
Xoyeov (og tov ^U6g, et Xoyq) xQi}a{^cu :t6<pvxev,
ovt(o Atcdeyofih'ov,
^) Diog. L. III 18; H. Reich, Der Mimus I
380 ff. Beachtenswert ist, daß Plato selbst
reip. V p. 451 mit dvdgelov Sgäfia . . ro yvvai-
xfTov av jtfoaivEir auf Sophron und seine zwei
Arten von Mimen anspielt.
®) Im Alter kehrte er in dialektischen
Dialogen wieder zu einer kleineren Zahl
von Sprechenden zurück, wie zu drei im
Philebos.
4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ 836.)
623
Gespräch zwischen dem, der das Hauptgespräch erzählt, und einem andern
(diegematische Dialoge) ^ übergegangen. Die letzte Form hatte etwas
Kompliziertes, wurde aber von Piaton gewählt, um durch Einschaltung
anderer Referenten kenntlich zu machen, daß er für den Wortlaut des
Gesprächs die Verantwortung ablehne, und um die unmittelbare juifxtjoig,
die ihm bedenklich erschien, zu vermeiden;*) sie gab außerdem die Mög-
lichkeit, über die das Gespräch begleitenden Umstände, wie so einzig
schön im Phaidon geschieht, zu referieren. Aber in wiedererzählenden
Gesprächen mußten die stets sich wiederholenden i(pr], fj d' 8g Überdruß bei
den Lesern erwecken, weshalb sich Piaton später erlaubte, das Gespräch,
auch wenn er es erst nach einer szenischen Einleitung beginnen ließ,
gleichwohl in direkter Form vorzuführen. Zuerst tat er das im Theaitetos,
in dessen Eingang p. 143 c er sich ausdrücklich dieses Fortschrittes rühmt.
Von weitertragender Bedeutung war der Versuch, nach Art der drama-
tischen Trilogien und Tetralogien drei und vier Dialoge durch den Fort-
gang der Untersuchung zu einem großen Ganzen zu verbinden, wie er es
in Theaitetos Sophistes Politikos,^) Politeia Timaios Kritias getan hat. Piaton
ist auf solchen großangelegten Aufbau erst in seinen späteren Jahren ge-
kommen, hat aber dann die trilogische Verknüpfung auch äußerlich da-
durch, daß er eine Anreihung der Szene des Gespräches in den Einleitungen
herstellte, deutUch zum Ausdruck gebracht. Die alten Erklärer und Heraus-
geber, die das bemerkten, sind aber ins Mechanisieren geraten; sie haben
nun alle Dialoge Piatons zu Trilogien und Tetralogien zu vereinigen gesucht
und selbst, damit die Rechnung glatt aufgehe, die Briefe mit irgend
welchen Dialogen zu Trilogien oder Tetralogien zusammengekoppelt.*)
*) Die Teiloog ÖQaftartxog, ditjYijjitauxog,
fieixrog ist alt (Diog. L. III 50; Plut. symp.
quaest 711c; Proci. ad Fiat. remp. t. I 14,
15 ff. Kroll). Wo in den diegematischen
Dialogen PI. nicht den Sokrates das Gespräch
erzählen läßt, da geschieht das (I. Brüns),
um den Sokr. eingehender charaJcterisieren
zu können (Sympos., Phaed.). Siehe unten
S. 625.
^) Vgl. die merkwürdige Stelle Plat. reip.
392 c ff. mit den Bemerkungen von O.Immisoh,
N. Jahrbb. f. kl. Alt. 3 (1899) 621 ff. und der
Analogie aus lliukydides (W. Schmid, Philol.
60, 1901, 156).
^) Zu diesen drei Dialogen beabsichtigte
Piaton noch einen vierten, ^d6aoq?og, zu fügen,
kam aber nicht zur Ausführung des Planes
(politic.254bd; A. Dyroff, B1. f. bayr. Gymn.
32, 1896, 18 ff.). Ebenso sollte auf den Kritias
noch ein Hermokrates folgen, was übrigens
C. Ritter, Piatos Politicus, Progr. Ellwangen
1896 S. 14 bestreitet. R. Hirzel, Der Dialog
l 240 ff. vermutet, zu der Zusammenreihung
mehrerer Dialoge sei Plat. durch die Größe
der Probleme, die sich in Einzeldialogen seiner
fiüheren Art nicht mehr bewältigen ließen,
veranlaßt worden.
^) Aristophanes von Byzantion stellte nach
Diog. L. III 61 folgende fünf Trilogien auf:
1. IIoÄiTeta, Tifiatog,KQtrlag,2, 2:oq>iai]^g, IIoXi-
uxoQt Kgarvlog, 3. Nojnoi, Mivmg, 'Emrofiii,
4. GsairtjTogf Ev&vq^Qiov, *AjToXoyia, 5. KgUwVt
0aida}v, 'EjriazoXai. Die übrigen Dialoge
führte er nur einzeln auf. Thrasyllos, der
Astrolog des Kaisers Tiberius, oder sein ver-
mutlicher Gewährsmann T3rrannion (so H.
UsENBR, Nachr. d. Gott. Ges. 1892 S. 212 ff.)
brachte alle Schriften in Tetralogien (die
Varro del. l.VII 37 voraussetzt) unter (Diog.
L. III 56 ff.; Olympiod. proleg. 25), nämlich:
1. Evdv<pf)(aVf ^AnoXoyia, Kqizo>v, ^cuÖwv,
2. KgaTvXog, ßeatTtjrog, 2o<piaTt)g, TloXiuxog,
3. JlagfurlSrjg, 4^lXt}ßog, 2!vfÄJt6aioVf ^aldoog,
4. 'AXxtßiddtjg a, 'JXxtßtddrjg ß> , "Innagxogy
'AvrsQaojaif 5. ßedyrjg, XoQfiiSrjg, Adxtjg, Avoig^
6. Evdvörjfiog, TlQCDiaydQag, FoQyiag, Mevoyy,
7. 'iTiuiag f.ui^o)v, 'Izimag eXdxroiVf "hov, Meve-
s^og, 8. KXeixo(p<üv, IloXixeiat Tifiaiog, Kgtziag,
9. Mivoyg, Nöfiot, *Ejztvojnig, EjiMxoXal. In
der von Thr. festgesetzten Reihenfolge soll-
ten die Schriften in der Schule nach seiner
Meinung gelesen werden. Den einzelnen
Dialogen fügte llir. in der Oberschrift kenn-
zeichnende Attribute bei {uat€vxix(>g , :iei'
Qaaxixog^ dvaxQf:xxix6g, h'Seixxtxog, Xoyixdg,
fj&ixog, jtoXtxtxdg, g'votx(>g); besonders geläufig
war die Teilimg in tji^txot, Cv^rjxtxoi und
fisixxoi Procl. ad Plat. remp. t. I 15, 19 ff.
, Kroll, über die tetralogische Anordnung
i des Derkyllides haben wir eine Andeutung
624
Griechische Litteratargeschichte. I. Klaseieche Periode.
337. Zahl und Chronologie der Schriften. Unter Piatons Namen
sind auf uns gekommen außer poetischen Kleinigkeiten >) zweiundvierzig Dia-
loge, zwölf (s. u. S. 659) Briefe und eine Anzahl von Definitionen {8goi). Das
sind alle Werke, die das Altertum von Piaton kannte. Es gab allerdings
aufäerdem schon zu Aristoteles' Zeit Begriffszergliederungen {dicugeaeig)^ aber
das waren Aufzeichnungen von Schulübungen, die Piaton selbst nicht zur
Veröffentlichung bestimmt hatte.*) Auch unter den Dialogen und Briefen
befinden sich nicht wenige Fälschungen auf Piatons Namen. Von den Dia-
logen wurden sieben schon von den Alten als unecht (vo^oi) bezeichnet;*) in
unserer Zeit ist namentlich durch deutsche Kritiker noch von vielen anderen
Dialogen die Echtheit angefochten worden, aber nur zum kleineren Teil mit
durchschlagendem Erfolg.*) Einen festen Grund für die Echtheitskritik hat,
angeregt durch F. Schleiermacher, F. Überweg (S. 621, 2) gelegt durch
genaue Untersuchung und Klassifikation der Piatonzitate bei Aristoteles.
Die Zeitfolge der platonischen Dialoge läßt sich mit unseren Mitteln
nicht bis in alles Einzelne genau bestimmen.^) Aber Anfang und Schluß
seiner Schriftstellerei stehen fest, und im übrigen kommt man wenigstens
über die Gruppierung der Dialoge in sachlichem und zeitlichem Sinn nach
und nach zu übereinstimmenden Ansichten. Was den Anfangspunkt von
bei Varro de ling. lat. VII 37. Näheres W.
Christ, Platonische Studien a. a. 0. 458 ff. Daß
die Teiralogienteilung in der Akademie nach
der Zeit des Arkesilaos entstanden sei und den
Intentionen Piatons im wesentlichen ent-
spreche, meint E. Bickel, Arch. f. Gesch. der
Philos. 17 (1904) 460 ff. Übersicht der antiken
Gruppierungsprinzipien Olympiod. proleg. 24.
^) 32 Epigramme, deren Echtheit von
Fall zu Fall untersucht werden muß, laufen
in der palatinischen Anthologie auf Piatons
Namen und sind von Th. Bekok, Lyr. Gr.
11^ 299 ff. herausgegeben. Siehe G. Knaack,
Berl. phil. W.schr. 15 (1895) 1156, D. Fava,
Gli epigrammi di Piatone, Milano 1901 und
R. Reitzenstein, Realenz. 11. Halbb., 90.
*) Solche dtatQFoeig sind erhalten bei
Diog. L.III 80—109. Die Zergliederungen, auf
die Aristot. de part. an. 642 b 10 anspielt, sind
nach 0. Apelt, Ausg. des Soph. (Leipz. 1897)
Prolog. 34 f. die im Sophistes und Politikos ;
s. W.Christ, Plat. Stud. 484 ff. und E. Zeller
UM, 437 ff.
') Außer den öiaXoyoi vo^svouevoi (*A^i-
o^o^f ^egl dixaiov, ns^ji aQSxfjg, Arj^iofioxog,
^töV(fog, 'Egv^iag, 'Alxvwv, s. Diog. L. III 62)
wurden im Altertum noch angezweifelt die
^AvxEoaoTai von Thrasyllos bei Diog. L. IX 37,
die Epinomis bei Diog. L. III 37, der Hipparchos
bei Aelian V. h.VIII 2, der zweite Alkibiades
bei Ath. 506 c; s. K. F. Hermann, Plat. Phil.
413 ff. Noch weiter scheint in der Athetese
Proklos nach Olympiodoros proleg. 25. 26
gegangen zu sein, worüber J. Frbüdenthal,
Herrn. 16 (1881) 201 ff.
*) Am weitesten gingen in der Manie
der Unechtheitserklärung F. Ast, der 14, K.
Schaarschmidt, der 9 echte Dialoge an-
erkannte; am konservativsten ist G. Grote,
der den Versuch, ein platonisches System
oder einen Entwicklungsgang Piatons zu kon-
struieren, völlig verwirft, die Dialoge einzeln
betrachtet wissen will und so auf ein Ver-
ständnis von Piatons Leistung im ganzen
verzichtet; eine Orientierung über die Echt-
heitsfrage geben K. Schaarschmidt, Die
Samml. der piaton. Schriften S. 15—60; E.
Zeller, Phil, der Gr. UM, 446 ff. C. Ritter,
Unters, über Plato 81 ff. H. Räder, Piatons
philos. Entw. 20 ff. Die neuere Litteratur
bis 1903 vollständig bei Ürerwbo-üeikze,
Grundriß P 160 ff. Die unechten Dialoge
müssen in der nächsten Zeit nach Piaton
von Nachahmern und pythagorelsierenden
Schülern ausgegangen sein. Denn dem Aristo-
phanes Byz. lagen bereits unechte Dialoge,
wie Minos und Epinomis vor. Wichtig ist die
Nachricht von einem Handel des Platonikers
Hermodoros mit Dialogen Piatons bei Zeno-
bios prov. V 6 : Xoyoiotv 'Egfiodtogog efurooet^erai
(das Sprichwort schon Cic. ad Att XUI 21,4)*
6 'Egfiodtogog dxQoatfjg yeywe IlXdicovog xai
Tovg V.1* avTov ovvrtdeifih'ot^g ?,6yoi>g {Aoyio-
fiovg codd.) yofjiC(or elg ZixF.Uav ejt(oXei.
^) Die einzige alte positive Angabe über
das Zeitverhältnis zweier platonischer Dia-
loge findet sich bei Aristot. pol. 1264 b 26
(Gesetze später als Staat). Anspielungen
eines Dialogs auf den anderen (H. Räder
a. a. 0. 78 f.) sind selten zur Evidenz zu
bringen, doch machen solche ziemlich sicher,
daß Gorgias vor Phaidros, Menon vor Phai-
don, Parmenides vor Sophistes veröffent-
licht sei.
4. Die PhüoBophie. c) Platon. (§ 337.) 625
Piatons schriftstellerischer Tätigkeit betrifft, so ist jetzt ziemlich allgemein
die Ansicht von G. Grote angenommen, daß keiner der Dialoge vor dem
Tod des Sokrates (399) abgefaßt sei (s. o. S. 610, 3). Allerdings haben
wir Nachrichten aus dem Altertum über ein früheres Hervortreten Piatons:
so erzählt Diogenes Laertios (in 35), Sokrates habe sich, als ihm Platon den
Lysis vorgelesen, verwundert über die ihm in den Mund gelegten Reden
geäußert;^) das ist aber Anekdote. Wenn neuere Gelehrte den Phaidros
und Protagoras vor 399 gesetzt haben,*) so beruht dies auf völliger Ver-
kennung der allmählichen Entwicklung der Darstellungskunst und Philo-
sophie Piatons. Auf der anderen Seite hat Platon erst sterbend die Feder
aus der Hand gelegt; das sieht man daraus, daß er die Gesetze und den
Kritias unvollendet hinterlassen hat und zur Abfassung der geplanten Dia-
loge Philosophos und Hermokrates nicht mehr gekommen ist (s. übrigens o.
S. 623, 3). Anspielungen auf naheliegende Zeitverhältnisse, aus denen sich
eine genauere Ansetzung ergäbe, sind bei Piatons Ai-t, seine Gesprächsszenen
in weitere Vergangenheit vor Sokrates' Tod zurückzuversetzen, ohne Ana-
chronismus schwer möglich und schon deshalb in den einzelnen Dialogen
sehr selten, 8) Anspielungen auf Zeitgenossen wie Antisthenes, Isokrates aber,
die man finden wollte, oft trügerisch.*) Wenn wir sagen, daß Euthyphron
nach der Anklage gegen Sokrates, Apologie, Kriton, Phaidon und Gorgias nach
dem Tod des Sokrates bezw. Archelaos von Makedonien (399), Menon nach 395,
Symposion bald nach 385, Nomoi und Timaios nach der Politeia, Sophistes
und Politikos nach dem Theaitetos, Theaitetos nach 394 und nach dem
Gorgias,^) Gorgias vor 388,*) Menexenos nach 387 geschrieben sind, so ist
das so ziemlich alles, was man mit voller Sicherheit behaupten kann. Um
so mehr hat man in unserer Zeit andere Anhaltspunkte beachtet, die
Spuren von Wechsel in den philosophischen Anschauungen,') in der Ge-
sprächsform,^) endlich die teils bewußten, teils unbewußten Wandlungen
') Eine ähnliche Geschichte erzählt Ath. ' vorschwehendes , System' allmählich in seinen
505 e von einer Äußerung des Rhetors Gor- ' einzelnen Schriften aufgerollt, so daB alle
gias üher die ihm im gleichnamigen Dialog
zugewiesene Rolle, und ebenso von Phaidon
in gleicher Sache
zusammen eine geschlossene Reihe bildeten,
in welcher der folgende Dialog an das im
vorausgegangenen festgestellte Ergebnis an-
-) Über Protagoras E. F. Hermann, Plat. 1 knüpfe, trägt dem Gelegenheitscharakter man-
Phil. S. 452 und Anm. 328, über Phaidros ! eher Schriften und der allmählichen Geistes-
H. ÜSBNBB. Rh. M. 35 (1880) 131 ff.; dagegen W. entwicklung Piatons zu wenig Rechnung.
Christ, Platon. Stud. 501 ff. . Den Protagoras Ihr gegenüber vertritt K. Fr. Hermann in
und Gorgias läßt vor Sokrates* Tod auch 1 seinem unvollendeten Werk den historisch-
Th. Berok, Gr. Litt. IV 440 geschrieben sein.
3) H. Räder a. a. 0. 61 ff.
*) Nachdem L. Spengel den Anfang ge-
kritischen Standpunkt, indem er Piatons Ent-
wicklung in drei Stufen von den sokratlschen
über die dialektischen, ein Positives vor-
macht hatte, Sticheleien auf Isokrates bei bereitenden zu den konstruktiven Dialogen
PL zu wittern (s. o. S. 533, 1), und G. Teich- \ auf baut, also auf ein ^System** als Abschluß
müller (Litterar. Fehden) in dieser Richtung ; hinführt. Die aus der neueren Diskussion
weitergegangen war, haben besonders F.Dümm-
1er (Antisthenica, Akademika) und ihm nach
K. Jo($l Jagd auf Antisthenes bei Platon ge-
macht, ohne für die Chronologie Sicheres zu
gewinnen.
^) I. Bruns, Das litt. Porträt 302 f.
herausgearbeiteten Resultate gibt P. Natorp,
Piatos Ideenlehre, Leipz. 1903, und besser H.
Räder a. a. 0. 1 ff., der als erster nachW. Lutos-
lawski mit dem Begriff der Entwicklung bei
PL wirklich Ernst gemacht hat, während G.
Schneider, Die platon. Metaphysik, Leipz.
®)H.GoMPERZ,WienerStud. 27(1905) 170. j 1884, von einer solchen nichts wissen will.
') F. Schleiermachers Auffassung. Platon «) Vgl. oben S. 622 f. und E. Munk, Die
habe sein als Ganzes ihm von Anfang an | natürliche Ordnung der plat Schriften, Berlin
Handbuch der klaas. AltertnmswiBMiiaehaft. YII. 5. Aufl. 40
626
Griechische Litteratorgeschichte. I. Klassische Periode.
im Wortgebrauch und Stil.O Die Betrachtung des Inhalts der Dialoge^)
hat eine Reihe für die Chronologie bedeutsamer konvergenter Entwick-
lungslinien ergeben; nur ist immer der Vorbehalt zu machen, daß aus
dem NichtVorkommen einer philosophischen Anschauung in einem Dialog
nicht sofort der Schluß gezogen werden darf, diese Vorstellung könne dem
Piaton zur Zeit, da er den Dialog schrieb, noch nicht bekannt gewesen
sein, und ein Dialog, in dem sie sich findet, sei darum später verfaßt;
bevor man so weit geht, ist immer erst die Frage zu stellen, ob in einem
1857; R. SoHÖNB,Über Platons ProtagoiusXeipz.
1862; G. Teichmüllbb, Über die Reihenfolge
der plat. Dialoge, Leipz. 1879 ; I. Bbuns, Das
litterar. Porträt 245 fif.; H. Rädbb a. a. 0.
44 ff., wo die sorgfältigste Einteilung nach
dem Prinzip der Dialogtechnik gegeben wird.
') Begründer der Methode, aus sprach-
lichen Erscheinungen Schlüsse auf die Zeit-
folge zu ziehen, ist L. Campbell, der (Einl.
z. Ausg. des Soph. und Politic, Oxf. 1867, und
Ausg. des Staats von B. Jowett und L. Camp-
bell n, Oxford 1894, 46 ff.) den Wort-
vorrat auf Grund von Asts Piatonlexikon
zu prüfen begonnen hat; an ihn schließen
sich mit Beobachtungen über den Gebrauch
einzelner Partikeln W. Dittbkbebobb , Die
Chronologie der piaton. Dialoge, Herm. 16
(1881) 821—45; M. Sohanz, Zur Entwicke-
lung des piaton. Stils, Herm. 21 (1886) 439
bis 459. Weiter verfolgten die Frage u. a.
(vollständige Litteraturangabe bei Übebweo-
Heinzb, Grundriß !• 162) C. Ritteb, Unter-
suchungen über Plato, Stuttg. 1888 (Behand-
lung von 37 verschiedenen Frage- und Ant-
wortformeln und 38 weiteren sprachlichen Er-
scheinungen); H. Siebbok, Zur Chronologie der
platonischen Dialoge, in Unters, z. Phil. d. Grie-
chen, Halle 1873, S. 107—151 und 253—274;
Th. GrOMPERZ, Plat. Aufs., Wien. Ak. Sitz.ber.
114 (1887) 751 ff. und Zeitschr. f. Philos. 109
(1896) 161—76; H. v. Abnim, De Piatonis dia-
logis quaestiones chronologicae, Progr. Rostock
1896 7 ; W. Janbll, Quaest. Platonicae, Jahrbb.
f. cl. Phil. Suppl. 26 (1901) 263 ff. (Verhalten
des PI. zum Hiatus); die Arbeit von W. Ka-
lusoha s. u. S. 628,3; die vereinzelten älteren
Versuche faßt zusammen und erweitert zu
einer sehr subtilen, aber mechanischen «Stylo-
metrie* W. Lütoslawski, The origin and
growth of Piatos logic with an account of
Platos style and of the chronology of bis
writings, London 1897. Über die Berechtigung
der von E. Zeller, P. Natorp (Arch. f. Gesch.
d. Philos. 12, 1899. 1 ff. 159 ff.). Ö. Immisch
(N. Jahrbb. f. kl. Altert. 3, 1899, 440 ff.) u. a.
vei-worfencn sprachstatistischen Methode H.
v. A RNiM. Ztschr. f. östr. Gymn. 51 (1900)490 ff. ;
C. Ritter, N. Jahrbb. f. kl. Altert. 11 (1903)
241 ff. Durch plumpe und mechanische Hand-
habung wird diese wie jede Methode entwertet;
wo sie aber mit Vorsicht zumal auf solche
.Sprachformen, deren Gebrauch dem Schrift-
steller am wenigsten zum Bewußtsein kommt,
angewendet wird, da ergibt sie, so unbequenoi
das manchen Philosophen sein mag, Resultate,
die an Sicherheit allen philosophischen Kon-
struktionen weit überlegen sind. Immischs
Hauptargument gegen die Sprachstatistik ist
eine (von E. Pfleiderer und E. Rohde ver-
teidigte, aber nicht zur Evidenz gebrachte)
Vermutung, daß Piatons Staat nicht ein
einheitliches Werk sei ; von dieser Vermutung
aus postuliert er dann Stilverschiedenheiten
im Staat, die tatsächlich nicht vorliegen, aber
für den, der die Vermutung nicht annimmt,
auch nicht vorzuliegen brauchen; beachtens-
! wei-t ist z. B. das spätere Hervortreten von
u fit'fVf ye fifjVf xai iiriv^ und der Gebrauch
I von SvTwg im Philebos, Poliükos, Timaios,
': Nomoi, Sophistes, hingegen von r<p Svzi in
I ApoL, Euthyphron, Gorg., Lach., Lvs., Protag.,
I Symp., Phaidon. Mit dem Gebrauch der
' Partikeln steht im Einklang, was zuerst F.
; BLASS (Att Bereds. 111'* 2, 887) beobachtet
und W. Janrll (s. o.) weiterverfolgt hat, das
, seltene Vorkommen des Hiatus in Nomoi,
Philebos, Timaios, Kritias, Sophistes, Politikos,
während in der ersten Klasse der Dialoge keine
Abneigung gegen den Hiatus erkennbar ist —
Die geistigeren Seiten des Stils bieten weniger
I Ausbeute für die Chronologie der Dialoge;
in Betracht kommen besonders die Mythen
und Gleichnisse. Im allgemeinen liebte Piaton
Mythen vornehmlich in seinen späteren und
dogmatischen Schriften. Der erste noch
kleinere und weniger originelle Mythus findet
sich im Gorgias p.523; der im Menonp.81 be-
besteht nur in der Wiedergabe einer p3rtha-
goreüsch gefärbten Stelle Pindars; auch der
Mythus im Protagoras p. 320 von Prometheus
' und Epimetheus schließt sich noch eng an
den Volksglauben an und wird obendrein,
indem er dem Protagoras in den Mund ge-
legt wird, der Manier dieses Sophisten zu-
gewiesen (E. Zeller, Arch. f. Gesch: d. Philos. 5,
, 1892. 1 76 ff.). Der Mythus im Phaidros p 246 ff.
i ist weit kühner und breiter ausgeführt. Von
den großen Mythen in den anderen späteren
Dialogen (symp. 189 u. 203, reip. 414 u. 614.
polit. 269, Tim. 21, leg. 713, Critias 110 ff.) ist
besonders der im Politikos beachtenswert, da
man einen solchen in einem dialektischen
Dialog nicht erwartet
«) H. Rädbb a. a. 0. 74 ff.
4. Die Philosophie, c) Platon. (§ 837.) 627
Dialog Veranlassung oder Nötigung war, diese oder jene Anschauung zu
äußern. Im Mittelpunkt der platonischen Philosophie steht die Ideen-
lehre;^ ihre ersten Spuren begegnen im öorgias und Menon, voll ent-
wickelt ist sie in Hippias maior, Kratylos, Symposion, Phaidon, Phaidros,
Politeia, kritisiert im Parmenides, umgebildet im Sophistes, rekonstruiert
im Timaios. Daß die Seele unteilbar und unsterblich sei, lehrt der Phaidon;
im Phaidros*) erscheint sie dreiteilig {cpQdvrjaiq, '&viu6g, ini'&viLua) und in
allen drei Teilen unsterblich; in der Politeia wird (435c flf., GlleflF.) er-
wogen, ob sie als ein geteiltes Wesen unsterblich sein könne, und im
Timaios gilt nur noch der oberste Seelenteil (koyuntxov) für unsterblich.
Der Unsterblichkeitsglaube spielt in der Apologie, wo er doch sehr
nahe läge, noch keine Rolle;*) bestimmter tritt er im öorgias auf; Be-
weise für ihn werden im Phaidon gegeben, zu denen im Phaidros ein
neuer (die Seele Aeixlvtjxov 245c flf.) tritt, der in den Gesetzen (893b flf.)
noch allein aufrecht erhalten wird. Kardinaltugenden werden im Gor-
gias und Protagoras fünf, im Euthyphron vier aufgezählt (die öatoTtjg als
Teil der dixaioovvrj) und im Phaidros und der Politeia die vier (ohne öoioxrjg)
beibehalten. Die Scheidung des wahren Wissens {hiunri^ri) vom richtigen,
aber nicht wissenschaftlich begründeten Meinen {ÖQ&i] öö^aY) begegnet
zuerst im Menon, wird vorausgesetzt im Phaidon und der Politeia in dem
Sinn, daß wirklich wertvoll nur die tnaxrifxri sei; mit dem Theaitetos bahnt
sich eine höhere Schätzung der öq^yi öo^a an, die auf das Herabsteigen
zu gegebenen Zuständen in Piatons letzter Periode hindeutet. Das Phä-
nomen der Liebe erklärt Platon im Phaidros aus der Ideenlehre (die
Liebe entzündet sich an dem sinnlichen Abbild der Idee der Schönheit),
im Symposion physiologisch (als Wirkung des Zeugungstriebes; ähnlich im
Timaios 91b ff.), hält aber den sinnlichen Charakter des Eros fest, bis er
sich ihm in den Gesetzen (837 a) zum unsinnlichen Begriff der xenophon-
tischen q)iXia verflüchtigt.^) Die traditionelle Rhetorik verwirft er schroff
schon ap. 34b ff., 38 d und besonders im Gorgias; im Phaidros zieht er die
Grundlinien einer (pdoaoq^og ^rjTOQixrj^ auf die Aristoteles sein Gebäude ge-
setzt hat, und im Politikos (304a) wie in den Gesetzen (711 e) spricht er
von der Möglichkeit einer dem Staatszweck dienenden Rhetorik. Parallel
seinen Anschauungen über die Rhetorik laufen die über die Poesie,«)
gegen deren von der Sophistik und Antisthenes sehr hoch eingeschätzten
') Über die eigenartige Auffassung von
P. Natobp (Piatons Ideeniehre, Leipz. 1903),
der die Ideen nicht als transzendente Wesen-
heiten, sondern als bloße Gesetze und Me-
theory of ideas, London 1904.
*) Auch Antisthenes schrieb über 86^a
und imoxrjfArj (Diog. L. VI 17).
^) I. Bbuhs, Attische Liebestheorien, N.
thoden des Denkens versteht, s. H. Gomperz, Jahrbb. f. kl. Alt 5 (1900) 17 ff. (= Vorträge
Arch. f. Gesch.d.PhUo8. 18(1905)441 ff. — G. und Aufsätze, München 1905, 118 ff.).
Schneider, Berl.phil.W.schr. 27 (1907) 1002 ff. «) G. Finsler, Platon und die aristotel.
findet Ansätze der Ideenlehre auch im Euthy- Poetik, 215 ff.; F. Stählin, Die Stellung der
phron. Poesie in der platonischen Philos., München
^) Siehe Th. Gomperz, Griech. Denker IP i 1901. Interessant ist die Formulierung und
349. Über die Seelenlehre Piatons überhaupt Widerlegung von Piatons Einwänden gegen
E. RoHDE, Psyche IP 263 ff. die Poesie bei Procl. ad Plat. remp. 45, 7 ff.
') apol. 40a wird nur damit gespielt. 49—51 Kroll; s. a. o. S. 620, 1. Über Pla-
Siehe R. K. Gaye, The Piatonic conception tons Stellung zur Musik H. Abert, Die Lehre
of immortality and its connexion with the | vom Ethos in der griech. Musik, 9 ff.
40*
628 GhdechiBche LitteratnrgeBchichte. I. Klaasische Periode.
Bildungswert er schon im Lysis (213e flf. 214ab. 215cd), der Apologie (22c),
im Ion und Menon Bedenken äußert, indem er zwar die Inspiration des
Dichters anerkennt, aber ihm, weil die Inspiration einen maniakalen Zu-
stand hervorrufe, die Fähigkeit abspricht, mit klarem Bewußtsein zu
wahrem Wissen zu erziehen; im Gorgias gilt ihm die Poesie für eine nicht
minder verwerfliche Schmeichelkunst als die Rhetorik; ita Phaidros und
Symposion denkt er an die Möglichkeit einer Poesie im wahren, philo-
sophischen Sinn, der er aber doch in der Politeia zu seinem Idealstaat
keinen Zutritt gewährt; im Philebos wird der ^öovri und damit auch der
Kunst wieder eine gewisse Berechtigung zugegeben, und schließlich in den
Gesetzen eine im Sinn des Staatszwecks wirkende und staaÜich kontrollierte
Dichtung geduldet. — Die Untersuchung der Dialogtechnik ergibt nicht
viel Sicheres für die Chronologie; nur das wird festzustellen sein,^) daß
nach dem Theaitetos keine diegematischen (referierenden) Dialoge mehr
folgen können.*)
Nimmt man mit den sachlichen Kriterien die sprachlichen zusammen,
so scheidet mit aller Sicherheit eine in Piatons spätestes Alter gehörige
Gruppe von Dialogen aus, gebildet durch Parmenides, Sophistes, Politikos
(284 b wird der Sophistes zitiert), Philebos, Timaios, Kritias, Gesetze (in
dieser Reihenfolge).^) Eine Gruppe bilden wieder, auf der Mittagshöhe von
Piatons Schaffen, Staat, Phaidros und Theaitetos, dieser schon zur letzten
Periode überleitend, aber mit dem Staat stimmungsverwandt. Alles übrige
fällt in eine erste Periode.*) Bei dieser Einteilung ergibt sich ein ver-
ständliches Bild von Piatons geistiger Entwicklung:*) vom herakleitischen
Dogma muß er sich schon früh befreit haben; es führte nach seiner Mei-
nung (Theait.) zum Relativismus der Sophistik. In seiner ersten schrift-
stellerischen Periode finden wir ihn ganz im Bann des sokratischen Be-
griffsrationalismus, die geistige Kraft, die er aus Sokrates' Dialektik ge-
schöpft hat, in kritischen Versuchen nach allen Seiten hin erprobend.
M H. Rädeb, Piatons philos. Entw. 51. Timaios). Etwas anders, nach Anregung von
^) Eine Ausnahme macht der Parmenides, j H. Jackson, Gaye (s. o. S. 627 A. 8): 1. sokra-
worüber s. unten. tische Dial., 2. erzieherische, 3. metaphysische
^) Auf Grund von Beobachtungen über | Periode (a) Politeia, Phaidon, Krat., b) Parm.
die Rhythmik des Satzschlusses fordert W. Ka- ' Phileb. Theait. Soph. Politic. Tim.), 4. Greisen-
LU8CHA,Wien.Stud. 26( 1904) 190 ff. die Reihen- alter (Leg.).
folge Tim. Critias Soph. Pol. Phileb. Leges. *) Arist. met. A 6: £x veo%> avvti^rjg ye-
*) Diese wird von Lutoslawski wieder vofie^'og (sc. Uldriov) jtqwtov KgaivXq) xai latg
in zwei geteilt: 1. sokratische Gruppe (Hipp. 'Hgax?^iTeioi<; do^aig, cog dsidvxMV uov aia-
II, Apol. Lach. Charm. Prot. Euthyd. Kriton, drjiibv clel oeot'uor -xai imarrjftijg Jtegi avicbv
Euthyphr. Ion); 2. erste platonische Gruppe ovx ovatjg, ravia fih xai varegov ovTo>i v:ie-
(Kratyl. Symp. Politeia I rhaidon). Er läßt Xaßev ZcoxQarovg de jregi fih td rj&ixd Jigay-
dann vor der letzten Periode noch eine zweite fiarei'of^ierov, jiegi 6e rfjg oXrjg q^vaecog tn^Sir, fv
piaton. Gruppe folgen (Politeia II— X Phaidr. | fievioi rovioig t6 xaOökov Cv^ovvrog xai stfoL
Theait. Pannenid.). Eine ähnliche Gruppen- ogiofwjv ejnaTijoarTog :ig<oxov xijv öidrotav,
teilung setzt Th. (ioMPKitz, Griech. Denker fxfTvov äno^e^duFvog öid zo totovrov v:TF?.afiev
IP 234 f. an (1. Der Begriffsethiker Piaton, 2. o>> ^tfoI hegcor tovto yiyrofu-vov xai or tiov
Übergang zu psychologischer Grundlegung 1 aioOtjTfüy' dörvarm' ydg Ftvat rdv xotror ogov
und metaphys. Ausbau, von der Betrachtung j tiov aioötjTior Tirog, dei ye fisTaßaXXovTfor,
des einzelnen zum Aufbau des »Staats, 3. ' ovT(og fih ovr tu lotavia T<bv 6vt(ov tdeag
Hcihepunkt: Politeia. 4. Revision des ganzen TigomjydoFvoF, xd 6* a/oi?7;ra :iagd ravia xai
geistigen Besitzes, Hinzutritt der Physik im xard xavTa /Jyeo&ai jidvxa.
4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ 388.) 629
Daneben wirken auf ihn immer mächtiger die Eleaten mit ihrem Trans-
szendentalismus und die Pythagoreer. Er rückt von dem ethisch gerich-
teten Dialektizismus des Sokrates nach der Metaphysik hin ab. Die Über-
zeugung von der allseitigen Mangelhaftigkeit der bestehenden Staatsver-
fassungen drängt ihn, die gesamte Staatstheorie auf einen neuen, festen
Grund zu stellen, und er entwirft seine idealistische Staatsutopie, mit der
er im Aphelion aller geschichtlich-relativistischen Betrachtungsweise steht
Endlich aber unterwirft er seine ganze Philosophie von der Erkenntnis-
theorie bis zur Ideenlehre einer Revision, i) deren letzter Ertrag die Ge-
setze sind. Unberührt bleibt von allen Umwälzungen seine Überzeugung,
daß das vernunftgemäße Handeln über das instinktive und traditionidisti-
sche zu stellen, daß aber das letzte axiomatisch feststehende Ziel die Idee
des Guten sei.*)
338. Arten der Dialoge. Nach dem Charakter der Untersuchung
hat man bereits im Altertum die Dialoge in verschiedene Klassen ein-
geteilt.*) Schon Aristoteles (met. 1004 b 25) macht, wahrscheinlich nach
den Traditionen der Akademie, einen Unterschied zwischen dem prüfenden
(TteiQaoTixrj) und erkennenden {yvcogiorixi^) Teil der Philosophie. Zu jenem
gehören die vorbereitenden und dial^tischen Dialoge, in denen eine Begriffs-
bestimmung oder irgend ein anderes philosophisches Problem nach allen
Seiten, meistens ohne positives Ergebnis erörtert wird. In späterer Zeit
hat man (Diog. L. III 49) diese Dialoge C^trjxixoi genannt, und innerhalb der-
selben wieder didXoyoi yvjuvaarixoi und äycovunixoi unterschieden. Der zweite,
erkennende Teil der Philosophie gibt die positiven Ergebnisse philosophi-
schen Denkens und liebt mehr den lehrhaften, zusammenhängenden Vor-
trag. Nach dem Inhalt wurde innerhalb der yvcogioxixr} q)doaoq)ia wieder
eine Teilung in physische, logische, ethische und politische Dialoge vor-
genommen. Da man durch Prüfung zur Erkenntnis kommt, so liegt es
nahe (wie von den Früheren, besonders K. F. Hermann, geschehen ist), im
allgemeinen prüfende Dialoge, wie Lysis, Laches, Menon, der früheren
Periode des Philosophen, konstruktive, wie Politeia, Timaios, Nomoi, der
späteren Zeit gereiften Denkens zuzuschreiben. Aber Piaton hat nie auf-
gehört, seine Sätze zu prüfen, und so ist es nicht verwunderlich, wenn
auch in späteren Werken Piatons, wie im Theaitetos, Sophistes, Politikos,
dialektische Untersuchungen begegnen.*) Auf der anderen Seite kann auch
schon im Stadium der prüfenden Voruntersuchung eine Ahnung von den
Schlußergebnissen durchbrechen; so spricht sich auch bei Piaton schon im
Gorgias, wiewohl er zu den Jugendwerken zählt, der heilige Ernst des
Idealismus aus. Außerdem entzog sich Piaton, ein so selbständiger Denker
er auch war, doch nicht dem Einfluß, den andere Denker zu verschiedenen
Zeiten auf ihn ausübten; infolgedessen treten die Gegensätze sokratischer,
megarischer, pythagoreYscher Anschauung in seinen Schriften fast noch
^) Dem entspricht formell, daß in den i und in den Gesetzen schließlich ganz ver-
letzten Dialogen Sokrates, den Piaton in den schwindet,
früheren Schriften andersartige Anschau- ' ') H. Räder a. a. 0. 420 ff.
ungen hatte vertreten lassen, von der Leitung | *) Siehe o. S. 623, 1. 4.
des Gespräches mehr und mehr zurflcktritt | *) H. Rädbb a. a. 0. 78 ff. 88.
630 ChiedÜBche Litteratnrgeschichte. I. ElassiBche Periode.
schärfer hervor als die Unterschiede prüfender und erkennender Methode.
Endlich war Piaton, der Dichter unter den Philosophen, auch öelegenheits-
schriftsteller, der nicht immerfort in der Weise eines Kathederphilosophen
an einem System arbeitete, sondern auch über Dinge, die ihm gelegentlich
in den Weg traten, seine Gedanken aussprach. Die oben (S. 628) dar-
gelegte Teilung in drei Gruppen, die zugleich eine zeitliche und eine gene-
relle ist, wird der folgenden Einzelbesprechung zu Grund gelegt mit dem
Vorbehalt, daß eine genaue chronologische Einreihung aller Dialoge inner-
halb der Einzelgruppen nicht möglich ist.
339. Kleinere Dialoge der ersten Gruppe (sokratische Periode
bei K. F. Hermann) i^)
*A 7t okoyia, Verteidigungsrede des Sokrates gegen die Anklage des
Anytos, Lykon und Meletos, vielleicht Piatons früheste Schrift.*) Die Rede
zerfällt wie die xenophontische Apologie in drei Teile, nämlich: 1. eigent-
liche Verteidigungsrede vor den Richtern, 2. Rede über das Strafmaß,
3. Ansprache an die Richter nach der Abstimmung. Die Verteidigung ist
ohne künstliches rednerisches Pathos, aber mit unübertroffenem Ethos in jener
schlichten Einfachheit durchgeführt, die der beste Beweis des reinen Ge-
wissens ist. Der sokratische Charakter zeigt sich zumeist in den ein-
geflochtenen Zwiegesprächen, in denen Sokrates den Politikern, Dichtern
und Gewerbsleuten beweist, daß sie sich wohl einbilden etwas zu wissen,
tatsächlich aber nichts wissen. Die Schrift ist weit davon entfernt, die
geschichtliche Anklagerede des Sokrates wiedergeben zu wollen, obgleich
Piaton bei der Verhandlung anwesend gewesen ist. Sie ist so gut wie
alle platonischen Dialoge ein ^(oxQaxtxog Xoyoq.^) Piaton hat, als er sie
schrieb, die Anklagerede des Polykrates noch nicht gekannt.*)
KqItcov, Dialog des Sokrates mit seinem Freund Kriton im Gefängnis
zur Rechtfertigung der leicht als Starrköpfigkeit zu deutenden Weigerung des
Sokrates, durch Flucht sein Leben zu retten; berühmt ist die Personifikation
der Gesetze. Der Apologie wird p. 45 b ausdrücklich gedacht. Aus dem be-
denklichen Zeugen Idomeneus (negl to)v ScoxQanxibv) hat Diogenes Laertios
II 60 und ni 36 die Notiz, nicht Kriton, sondern Aischines habe dem Sokrates
zur Flucht geraten, wozu es auch stimmt, daß Piaton selbst im Phaidon
p. 115d den Kriton Bürgschaft für das Verbleiben des Sokrates leisten
^) Neuerdings ist versucht worden (E. I der xaxtjyoola 2!ü)xg. des Polykrates erörtert
HoRNEFFBB, PI. gegen Sokrates, Leipz. 1904), 1 ist; über das Verhältnis zu Xenophons Apo-
die allmähliche Abwendung Piatons von der logie S. 479; X. will offenbar dem tempera-
Sokratik im Hipp, min.. Lach, und Charm. I mentvollen Überschwang des platonischen
nachzuweisen. Sehr Beachtenswertes bringt 1 Meisterwerks die nüchterne Wirklichkeit ent-
dagegen vor H. Gompbrz, Arch. f. Gesch. der gegensetzen, ähnlich wie er es in seinem
Philos. 19 (1906) 524 ff., der für Hipp. min. und Symposion wieder getan hat.
Lach, überhaupt keine Polemik gegen Sokr., | *) S. 618, 7. M. Schanz in seiner Aus-
für Charm. höchstens eine gegen den anti- ' gäbe S. 100 läßt folgen: Apologie des Piaton,
sthenischen Sokr. zugibt. Apol. des Xenophon, Rede des Polykrates,
2) II. Räder 92. ' Rede des Lysias. — Über eine altarmenische
') Die Ungeschichtlichkeit spricht schon Übersetzung der Ap. F. C. Conybbare, Ame-
Aristid. or. 49 p. 518 Dind. aus. Siehe a. rican joum. ofphilol. 16 (1895) 300 ff.; auch
K. JoiiL, Der echte und der xen. Sokr. 1476 ff. ; ins Arabische ist sie übersetzt worden (M.
Th. Gomperz. Griech. Denker IP 81 ff. Vgl. ' Steinschneider, Centralbl. f. Bibliotlieks-
0. S. 609. 618, wo auch das Verhältnis zu i wesen Beiheft 12, 1893, 22).
4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ 339.) 631
läßt.^) Der Kriton hat offenbar den Zweck, Zweifel an der Loyalität des
Sokrates (und der Sokratik) dem Staat gegenüber zu zerstreuen und könnte
demgemäß nach der KaTrjyogia des Polykrates fallen.
XaQfiidrjg^ der einzige referierende Dialog unter den sokratischen,
in der erotischen Einkleidung nahe mit dem Lysis verwandt, behandelt das
Thema der Besonnenheit (acoq^Qoavvrj) und dient zugleich zur persönlichen
Erinnerung an den liebenswürdigen Charmides und den beredten Kritias,
mütterliche Verwandte des Piaton, die im Kampf gegen den zurück-
kehrenden Demos gefallen waren (403), sowie an den Leiter des Gesprächs,
Sokrates selbst. Denn der Dialog beginnt mit der begeisterten Aufnahme,
welche der vom Feldzuge gegen Potidaia (422) heimkehrende Sokrates bei
seinen Freunden, namentlich dem wie verrückt auf ihn loseilenden Chaire-
phon fand. Im eigentlichen Dialog werden verschiedene Definitionen der
oo)(pQoavvrj aufgestellt und nacheinander zurückgewiesen; die letzte und
oberste, daß das acoq)Qov€iv auf Wissen beruhe und mit dem yvcb&i aavtov
zusammengehe, entspricht der von Xenophon (mem. III 9, 4) aufgestellten
Lehre des Sokrates, aber auch diese kommt nicht zum Abschluß, so daß
schließlich Eritias dem Charmides nur empfiehlt, sich auch femer ganz
der Unterweisung des Sokrates hinzugeben.*)
Aäxrjg^) bezweckt ähnlich wie Charmides die Befreiung des So-
krates von der Anklage des Jugendverderbs und Empfehlung der sokra-
tischen Jugendbildung als einer aller Fachausbildung überlegenen. Das
Gespräch schließt an die Schauaufführung eines Fechtmeisters an, zu
der Lysimachos und Melesias die Feldherm Laches und Nikias eingeladen
hatten, um ihren Rat darüber zu erholen, ob sie ihre Söhne Aristeides
und Thukydides in dieser Kunst sollten unterweisen lassen. In die Be-
ratung zieht Laches den Sokrates herein, dessen tapferer Beteiligung an
der Schlacht von Delion (424) mit Ehren gedacht wird. Wie in allen
Xoyoi neiQaoxixoi werden mehrere Definitionen der ävdgeia versucht; auch
die von Laches aufgestellte, die Tapferkeit sei das rechte Wissen vom
Gefährlichen und Sicheren, führt zu keinem festen Resultat, so daß zum
Schluß Laches nur den Rat erteilt, die Söhne dem Sokrates zur Unter-
weisung zu übergeben. — Die Jünglinge haben ihrem Lehrer keine Ehre
gemacht; insbesondere wird Aristeides später von Piaton selbst (Theaet.
150e; vgl. Theag. 130b) als einer geschildert, an dem die guten Lehren
keine Früchte getragen haben.
'1 71 71 lag iXdzTcov^ einer der einfachsten Dialoge Piatons, jedenfalls
auch einer der ältesten.*) Seine Echtheit wird angezweifelt von F. Ast,
ist aber durch das Zeugnis des Aristoteles (met. 1025 a 6 flf.) geschützt. Das
Gespräch knüpft an einen Vortrag des Sophisten Hippias über Homer an,
indem Sokrates die Frage aufwirft, ob Achilleus oder Odysseus, Ilias oder
^) K. Meiser (Abhandlungen aus dem ' M. Schanz, Jahresber. üb. d. Fortschr. d. kl.
Gebiet des kl. Altert., W. Christ dargebr. ' Alt. wiss. 17 (1879) 236.
5 fF.) schließt daraus die ünechtheit des i ») Über die Rhythmen im Laches E. Tüb-
Kriton; vgl. dagegen R. Hibzbl, Der Dialog \ neb, Dissert. philol. Halens. 16 (1907) 2.
1 1^^^- j *) Nach der Apologie setzt ihn H. Rädeb
') Die Echtheit des Charmides leugnet i a. a. 0. 94 f.
632 Griechische litteratnrgeflchichte. I. Klamsche Periode.
Odyssee den Vorzug verdiene. Sokrates tritt för Odysseus ein, weil er
mit Wissen lüge {tpevdetai). Der Dialog endigt obne Einigung der Sprechen-
den, beleuchtet aber die sokratische Fragemethode im Gegensatz zur epi-
deiktischen Prunkrede der Sophisten. Ein ähnliches Verhältnis zwischen
dem Tun mit Wissen und Tun ohne Wissen stellt Sokrates bei Xenophon
mem. IV 2, 20 auf.
Die Echtheit des 'InTiiag juei^cov ist ohne Grund bezweifelt worden.*)
Die Verspottung des aufgeblasenen Sophisten ist köstlich, wenn auch etwas
derb. Die Versuche aber, das Wesen des Schönen zu definieren, zeigen
den Piaton auf dem Weg zur Ideenlehre und zu der hohen, das Schöne
dem Guten unterordnenden sittlichen Autfassung des Gorgias und der
Politeia.
7a>v, von ähnlicher Art wie der kleine Hippias, und gleich ihm, aber
mit Unrecht, der ünechtheit verdächtigt,*) richtet sich gegen die eitle, durch
Ion repräsentierte Zunft der Rhapsoden, die ihren Homer auswendig wissen
und pathetisch herdeklamieren, aber nichts von seinem tieferen Inhalt ver-
stehen. Indem aber auch von dem Dichter nachgewiesen wird, daß er
ohne eigentliches Wissen, nur von göttlicher Begeisterung ergriffen, seine
Gesänge dichtet, arbeitet der Dialog der in dem Phaidros und der Repu-
blik ausgeführten Anschauung Piatons von der Inferiorität der Dichtkunst
vor.^) Die gleiche Anschauung über die Rhapsoden läßt Xenophon in
seinem Gastmahl (3, 6) den Antisthenes aussprechen: ola^d xi ovv S&vog
flXi'&id)TEQOV §a\p(pd(x)v;
Mev^evoq knüpft an die Beratung der Ratsversammlung über die
Wahl eines Redners zu Ehren der im Krieg Gefallenen an, wobei Sokrates
nach kurzem dialogischem Vorspiel, dem ein ebenso kurzes Nachspiel ent-
spricht, sich dazu hergibt, das Muster einer solchen Grabrede, die er von
Aspasia gehört haben will, zum besten zu geben. Es ist vermutlich eine
Gelegenheitsschrift, voll übermütigen Hohns auf die gefeierten attischen
Musterepideiktiker, deren Leistungen Piaton ebenso nieder einschätzt wie
die modische Begeisterung ihrer Zuhörer, ein Satyrspiel zu der erhabenen
Tragödie des Gorgias. Mit kecken Anachronismen*) werden darin Dinge
berührt, die lange nach Aspasias Tod vorgefallen sind und der unmittel-
baren Gegenwart angehören. Aus diesen Anachronismen erhellt, daß die
Rede nach dem korinthischen Kriegt) geschrieben ist. Aristoteles kennt
sie bereits und bezieht sich zweimal auf sie (rhet. 1367b 8 und 1415b 30),
aber ohne den Verfasser zu nennen. Dionysios der Halikarnassier erkennt
ME. HoKN£FFER. De Hipp. mai. qui fer- 1 34 ff. und 136 läßt den Ion gegen Anüsthe-
tur Piatonis, Gott. 1895. Die Echtheit ver- I nes' Homerstudien gerichtet und 389 heraus-
teidigen K. F. Hermann, Plat. Philos. 487 ff. ' gegeben sein, wogegen H. Rädeb 95 auf die
und IL Räder 102 ff. Übereinstimmungen des Ion mit Antisthenes
") Die Echtheit ist mit guten Gründen hinweist,
verteidigt von F. DCmmler, Antisth. 27 ff.; <) Sie sind schon von Aristid. or. 46
W. .Ianell, N. Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl. 26 p. 370 Dind. bemerkt.
(1901) 324 ff. (gegen C.Ritter, Unters. 95 ff); 6) Men. 245e. Die Zweifel von F. Dümm-
F. Stäulin, Die Stellung der Poesie in der plat..
Philos., 2S) ff. ; 0. Immiscu, N. Jahrbb. f. kl. Alt.
3 a^m 441, 3: H. Räder a. a. 0. 92 ff.
') F. Dümmler, Antisthenica, Kl. Sehr. I
ler, Äkademika 22 an der (auch von Aristid.
a. a. 0. als selbstverständlich angenommenen)
Beziehung dieser Stelle auf den antalkidi-
sehen Frieden sind nicht berechtigt.
4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ 340.)
633
sie als echt^) an und stützt sich in der Schrift über die Redegewalt des
Demosthenes c. 24 — 32 hauptsächlich auf sie, um die Inferiorität des Piaton
gegenüber Demosthenes darzutun. ^) Offenkundig sind die zum Teil polemisch-
ironischen Anspielungen auf den perikle'ischen Epitaphios des Thukydides,')
so daß man daran denken könnte, die Herausgabe des thukydideYschen Ge-
schichtswerkes habe den Menexenos mit veranlaßt. Merkwürdigerweise ist
seit der Einführung der jährlichen Epitaphienfeier in Athen (im 4. Jahrhundert)
dabei regelmäßig die Rede aus dem Menexenos verlesen worden,^) deren
Ironie man also nicht mehr empfand, wie sie denn auch von späteren
Rhetoren völlig ernsthaft genommen wird.^)
340. Größere Dialoge der ersten Gruppe, oder solche, in denen
Piaton über die einfache sokratische Gesprächsform hinausgeht, unter der
Maske des Sokrates eigene Gedanken zu entwickeln beginnt und so tiefere
und kunstvoller durchgeführte Untersuchungen anstellt. Von diesen kenn-
zeichnen .die einen (Protagoras, Gorgias, Euthydemos, Kratylos) die Stellung
des Sokrates und Piaton gegenüber den „Sophisten**, zu denen Sokrates nach
und nach in Gegensatz gestellt wird, die anderen (Menon, Phaidros, Lysis,
Symposion, Phaidon, Theaitetos) enthalten die Keime der neuen, über So-
krates hinausgehenden Spekulation.
Der FlgcDTayogag, eiaes der größten Kunstwerke Piatons, bildet
gewissermaßen den Schlußstein zu den kleinen Gesprächen über die ein-
zelnen Tugenden der Tapferkeit, Freundschaft, Sittsamkeit, Frömmigkeit,
indem er das Wesen der Tugend und die Frage ihrer Lehrbarkeit im all-
gemeinen zum Gegenstand hat. Aber nicht bloß durch den erweiterten
Horizont geht der Protagoras über jene kleineren Gespräche hinaus, er
übertrifft sie auch durch den Glanz der Szenerie und die Feinheit der
Ii'onie, mit der die angesehensten Vertreter der Sophistik, Protagoras,
Prodikos, Hippias charakterisiert werden, ß) Das Gespräch ist in die Zeit
verlegt, da eben Protagoras, sei es nun zum ersten- oder zum zweitenmal,
in Athen angekommen war und im Haus des reichen Kallias, des frei-
gebigen Protektors der Sophisten, sein Absteigequartier genommen hatte. '^)
Im Eingang erzählt Sokrates, wie Hippokrates, der Sohn des ApoUodoros,
^) Für die Echtheit spricht sich aus F.
Blass, Att. Bereds. IP 464 ff., H. Dibls, Das
dritte Buch der arist. Rhetorik, Berl. Ak. Abh.
1886, IV 21 ff. und P. Wbndland, Die Ten-
denz des platonischen Menexenos, Herrn. 25
(lf<90) 171—195. Von einem flüchtig hingewor-
fenen Scherz Piatons spricht Th. Bebok, Griech.
Lit IV 460. Einen Dialog Aspasia schrieb
Aischines.
2) Vergleichung der platonischen und der
thukydidetschen Rede Hermog. :i. fie^. deivov
p. 446, 6 ff. Sp.; Synes. Dio p. 316, 4 ff. (hinter
H. V. Arnims Ausg. des Dion). Die Topik
dieser smxdfpioi bei Th. C. Bürgbss, Epi-
deicUc litterature, Chicago 1902, p. 146 ff.
') Menex. 286 b; vgl. die nicht aus ge-
meinsamer Topik erklärbaren Beziehungen
Thuc. II 37, 1 Menex. 238 c; Th. II 42 extr.
Menex. 246 d; Th. II 35, 1 Menex. 248 a; Th.
II 44, 3 Menex. 248c; Th. II 42, 4 Menex.
248 a.
*) Cic. or. 151. Die Feier fand bei der
Akademie statt (Philostr. vit. soph. p. 122, 32
Kayser und W. Judeich, Topogr. von Athen
364).
*) Diese Auffassung vertritt auch A.
Croisbt, M61anges Perrot, Paris 1903, 59 ff.
(c'est une tentative interessante et f^conde
pour donner le modele d'une forme d'^lo-
quence qui, sans valoir la dialectique aux yeux
du philosophe, püt au moins dtre tol^r^e et
accept^e par lui comme un auxiliaire utile
dans r^ducation de la d^mocratie).
®) Meinardüs, Wie ist Piatos Protago-
ras aufzufassen? Oldenburg 1865.
') Perikles, dessen Söhne Paralos und
634 Griechische Litteratorgeschichte. I. Klassische Periode.
ihn in aller Frühe abholte und wie sie dann, im Haus des Kallias mit
Mühe aufgenommen, den Protagoras mit seinen Verehrern bereits dort
gravitätisch auf- und abgehend fanden. Im folgenden Hauptteil ist es
namentlich darauf abgesehen, den Vorzug der schlichten Art des Sokrates,
durch Frage und Antwort die Menschen zu höheren Stufen des Erkennens
zu führen, vor den pomphaften, langen Reden der Sophisten darzutun.
Das geschieht bei der Besprechung des Satzes von der Lehrbarkeit der
Tugend, den Protagoras und die Tugendlehrer seines Schlages in ihren
prahlerischen Ankündigungen als zugegeben voraussetzten, Sokrates aber
als einen noch kritischer Prüfung bedürftigen hinstellt, wobei er die Me-
thode der Sophisten, philosophische Sätze in das trügerische Gewand von
Mythen zu kleiden oder durch Stellen von Dichtem^) zu stützen, teils als
nichtsbeweisend ablehnt, teils für die gegenteilige Meinung verwertet. Die
mit reicher Abwechselung und spannenden Wendungen geführte Disputation
kommt nicht zum endgültigen Abschluß, so daß schließlich die Beantwor-
tung der aufgeworfenen Frage, ob die Tugend lehrbar sei, von einer neuen,
vertiefteren Untersuchung abhängig gemacht wird. Daß damit auf den
Menon hingewiesen werde, wie die meisten Erklärer annehmen, 2) ist wahr-
scheinlich, wenn auch nicht ganz ausgemacht, da auch dort die Unter-
suchung nicht zum endgültigen Ziel führt und erst im vierten Buch der
Politeia ihre positive Lösung findet. Einen Anhaltspunkt zur Zeitbestim-
mung gewährt vielleicht die Erwähnung der Peltasten, die mit der im
Jahr 392 durchgeführten und erprobten Heeresreform des Iphikrates zu-
sammenhängen kann. 3)
Der Mevcov steht mit dem Gorgias und Protagoras in Zusammen-
hang, indem in ihm einerseits gleich im Eingang auf die einflußreiche
Tätigkeit des Gorgias in Menons Heimatland Thessalien hingewiesen,
anderseits die im Protagoras nicht zum Austrag gekommene Frage über
die Lehrbarkeit der Tugend wieder aufgenommen wird. Die Erwähnung
der „jüngsthin" vorgekommenen Bereicherung des Thebaners Ismenias
durch das Gold der Perser ergibt kein sicheres Datum als den terminus
post quem 395.*) Im Hintergrund spielt noch der Prozeß des Sokrates,
Xanthippos der UnterreduDg beiwohnen, ist
p. 319 e noch als lebend gedacht, weshalb
Chr. Cron in der Einleitung seiner Ausgabe
das Gespräch vor den Ausbruch des Krieges
in das Jahr 432 setzt. Dazu stimmt aber
nicht, wenn p. 327 d die 420 aufgeführten
"Aygioi des Pherekrates im Jahr zuvor gegeben
worden sein sollen, so daß man um einen
Anachronismus oder um eine Unklarheit in
dem Zeitansatz nicht herumkommt, mag man
nun das Gespräch 432 oder 419 setzen. Des
weiteren kommt in Betracht, daß Eupolis in
SusEXiHL, Genet. Entwickl. der plat. Philos.
I 83; H. Räder 130.
«) Vgl. Prot. 350 a und Xen. Hell. IV 4,
16; die Sache ist beleuchtet von J. S. Kro-
scHBL, Ztschr. f. Gymn. 11 (1857) 561 fif. und G.
Teichmüllbr, Litt. Fehd. I 20 ff. W. Christ
(Plat. Stud. 498) will, gestützt auf die kunst-
volle Anlage des Dialoges und die Erwähnung
des Lakonismos in Prot. 342 c, noch unter
das Jahr 387 oder den Frieden des Antal-
kidas herabgehen. Dagegen wendet sich £.
Zeller IP 1, 529 f.
den 421 aufgeführten Kolaxe,; fr. 10 bereits i -*) Meno p. 90a; Xen. Hell. III 5, 1 und
den Protagoras in dem Haus des Kallias ver-
kehren läßt.
M Über das simonidöische Gedicht Wi-
LAMOAviTz, Nachr. der Gott. Ges. d. Wiss.
1898, 204 ff.
dazu Menonausg. von G. Stallbaum u. R.
Fritzsohe. Einl. S. 33 A.5; E. Meyer, Gesch.
d. Alt. V 233 A.; H. RXder 136. Das reoyaxi
des platonischen Textes dürfte aber einen Zwi-
schenraum von mehreren Jahren nicht aus-
*) K. F. Hermann, Plat. Phil. 483; F. | schließen, wenn auch nicht gerade von zehn
4. Die PhUoBophie. c) Piaton. (§ 340.) 635
wobei Anytos, einer der Ankläger und Mitsprechenden, so gezeichnet wird
(p. 91c), dafä seine Schuld mehr nur als Folge seiner geistigen Beschränkt-
heit erscheint. Die Untersuchung wird, dem Gegenstand und der Abfassungs-
zeit entsprechend, in einfacher Form geführt und dreht sich, wie gesagt,
um die bei den Sophisten viel verhandelte Frage, ob die Tugend lehrbar
sei. Das führt zur Frage nach dem Wesen der Tugend, und nachdem
diese nach mehreren unglücklichen Definitionsversuchen in hypothetischer
Form auf Wissen zurückgeführt ist, zu der Zwischenuntersuchung, wie man
denn überhaupt etwas wissen könne. Dabei wird mit einer über Sokrates
hinausgehenden Tiefe der Spekulation das Wissen als ein Wiedererkennen
{&vdfivriaig) von Vorstellungen aus früherer Existenz gefaßt. Die Haupt-
frage kommt wieder nicht zum Austrag, sondern es wird zum Schluß eine
nochmalige Untersuchung über das, was Tugend ist, gefordert.
Im Pogylag hat Piaton für alle Zeiten das Grundwerk der Bekämp-
fung der Redekunst im gewöhnlichen Sinn geschaffen. Er geht mit un-
erbittlicher Konsequenz der scheinbar harmlosen Blüte gorgianischer Rhe-
torik bis in ihre tiefsten Wurzeln nach und stellt die wissenschaftliche
und sittliche Nichtigkeit dieser Schein- und Schmeichelkunst in helle Be-
leuchtung. Das Gespräch zeigt noch die alte Einfachheit sokratischer
Dialoge und bewegt sich auch noch wesentlich im sokratischen Gedanken-
kreis: der Dialog ist dramatisch, und es beteiligt sich an ihm außer den
beiden Hauptsprechem, Sokrates und GorglWs, und deren Sekundanten,
Chairephon und Polos, nur noch der vornehme Kallikles, bei dem der ge-
feierte Rhetor abgestiegen war. Auch im Inhalt entfernt sich der Dialog
insofern nicht von der Anschauung des Sokrates, als auch dieser der
Scheinweisheit der Rhetorik gram war und die Beschäftigung mit der
Philosophie als eine würdigere Lebensaufgabe ansah. Aber auf der anderen
Seite ist der Gorgias nicht bloß ungleich größer angelegt als die Dialoge
der ersten Periode, sondern zeigt auch in der dialektischen Entwicklung
der Hauptsätze eine weit größere Kunst. ^) In der Definition der Rhetorik
als einer xexvri dtjfuovQyog Jiei&ovg Ttiorevuxfjg, äXi! ov didaaxakix^g, negi
dixaiov te xai ädixov, und in der Gegenüberstellung der wahren Künste
latQixtjf yvjuvaoTixij, vojno&enxrj, dixaioorm]y und der falschen, den Schein der
Weisheit erheuchelnden Künste {xoXaxevxixai) öxpoTiouxrj, xo/li/ucotixi], oocpio-
TixYjy §t]xoQixri tritt schon mit voller Deutlichkeit Piatons eigene Lehre
von den Gegensätzen des Meinens und Wissens, des Scheins und des
wahrhaften Seins hervor, und die tiefsten Fragen des Rechts, der Sitt-
Jahren. Ob Menon nach Gorgias oder um-
gekehrt geschrieben sei, ist eine alte Streit-
frage; Th. Gomperz, Gr. Denker II* 303, neigt
zu der ersteren Annahme, weil das mildere Ur-
teil nicht bloß über Anytos, sondern auch über
die alten Lenker des athenischen Staats (Menon
93 a gegenüber Gorgias 517 a) einer Palinodie
gleichkomme; ebenso, aber aus anderen Grün-
den, H. Räder 131 ff. Aber die desul torische
Hereinziehung des Anytos, des Sprechers der
polykratischen Kaxtjyogia, p. 89 e ff., macht
den Eindruck einer ersten gelegentlichen Er-
widerung auf die Schrift des Polykrates (R.
HiRZEL, Rh. Mus. 42, 1887, 239 ff.), die dann im
Gorgias völlig, wenngleich ohne Nennung,
vernichtet wird. Inwiefern der Menon in der
Politeia vorausgesetzt wird, zeigt H. Räder
211. 233 f. Der Versuch von A. R. v. Kleb-
mann, Arch. f. Gesch. der Philos. 21 (1908)
50 ff., den Menon unter das Symp. zu setzen,
ist nicht überzeugend.
^) Über den Gedankengang s. H. Bonitz,
Plat. Stud. (3. Aufl. Berl. 1886) 1—46. H. Glo-
6AÜ, Arch. f. Gesch. d. PhUos. 8 (1895) 153 ff.
636 Oriechisohe Litteratnrgeachichte. I. Elaasische Periode.
lichkeit, des Verhältnisses zwischen dem Guten und dem Schönen, zwischen
Natur und Menschensatzung (q)voig und vofjiog) werden mit jener eigenartig
platonischen Verbindung von wissenschaftlichem Ernst und lebendiger
Gefühlswärme erörtert. Zum Schluß steigt die Darstellung nach düsteren
Vorausdeutungen auf Sokrates' tragisches Ende (512 d — 522 c) aus der nüch-
ternen Sphäre der Dialektik empor zu der freien Höhe dichterischer Ver-
anschaulichung in einem eschatolo^schen Mythus. Die Charaktere sind mit
größter Feinheit gezeichnet: der Ästhet Gorgias, der nicht die dialektische
Schärfe und Gründlichkeit hat, seine eigenen Anschauungen in ihre ethi-
schen Konsequenzen zu verfolgen, wird von Piaton als alter Herr ein-
geführt und mit ritterlicher Schonung aus äußerem Grund von der Aktion
beurlaubt, sobald der Prinzipienkampf heftiger wird. Seine Schüler Polos
und Kallikles,^) von denen der zweite ein unübertrefflicher Typus der
Übermenschenmoral ist, lösen ihn ab und veranschaulichen, wie die Saat,
die Gorgias ausgestreut hat, in der jüngeren Generation aufgegangen ist.
Kein anderer Dialog Piatons erscheint geeigneter, die Jugend auf die
höchste Stufe sittlicher Betrachtung zu führen, die im heidnischen Alter-
tum überhaupt erreicht ist und sie über Grundfragen des Lebens aufeu-
klären, die heute und immer aktuell sind. Er sollte in allen humanisti-
schen Schulen gelesen werden. In den Dialog ist die der traditionellen
Legende kühn ins Gesicht S9hlagende heftige Verurteilung der gefeierten
athenischen Staatsmänner Themistokles, Kimon, Miltiades, Perikles ein-
geflochten (c. 58); auch sie, die KaUikles als Vertreter einer heilsamen
Wirkung der Redekunst zitiert, werden als Schmeichler und Verführer des
Volkes hingestellt; in der schroffen Verwerfung der ganzen attischen
Demokratie zittert noch mächtig die zornige Entrüstung über die un-
gerechte Verurteilung des Sokrates und die Verteidiger des Justizmordes
nach.*) Das hat zu der Vermutung geführt, daß der Dialog nicht allzu-
lang nach Sokrates' Tod geschrieben sei.^) Hindeutungen auf die Abfas-
sungszeit nach 394 kann man in p. 469 e, wo die Wiederherstellung der
athenischen Seemacht vorausgesetzt zu werden scheint, und in den an-
preisenden Worten finden, mit denen Isokrates in seiner um 390 geschriebenen
Rede gegen die Sophisten § 17 ^xavxa dk jioUfjg IrnjueXelag dela^ai xal tpvxrjg
Avdgixfjg xal do^aorixfjg egyov ehai' auf den Satz des Piaton im Gorgias
p. 463 a ^'doxei xoivvv juoi, w Pogyla, elvai u ijiirrjdevfJLa xexvocbv juiv ov,
^w'/fig de oxoxaoxixfjg xal ävdgeiag xal cpvoei deivijg TigooojudeTv xoig äv&gcojtoig'
Bezug nimmt.*) Die nächste Veranlassung wird die Zatxgdxovg xaxrjyogia
des Polykrates oder eine an diese anschließende antisokratische Bewegung
*) I. Brüns, Das litt. Porträt 68 f. | Menon nach dem Gorgias. Ohne den Menon
*) Siehe besonders .521 c ff. | hereinzuziehen, erweist S. Sabbadini, Epoca
'»)Vgl.WiLAMOwiTZ,Philol.Unter8.I(1880) ' del Gorgia di Piatone, Trieste 1903, daß Gor-
213 ff. P. Natorp, Arch. f. Gesch. d. Phil. 2 gias nach dem Protagoras und vor der ersten
( 1 889) 394 ff. sucht zu erweisen, daß der Gorgias
zwischen Protagoras, Laches, Charmides,
Menon auf der einen und Phaidros, Theaite-
tos auf der anderen Seite zu setzen ist. Um-
gekehit setzt Th. Gomperz, Plat. Aufs, in
Wiener Ak. Sitz.ber. 114 (1887) 741 ff. den
Reise nach Sizilien, wahrscheinlich noch vor
390 falle. Siehe a. H. Räder a. a. 0. 123.
*) Diese Anspielung wurde bereits er-
kannt von J. Bake, Scholica hypomnemata
(Leiden 1837—1862) II 38; weiter veifolgt
von S. Sudhaus, Zur Zeitbestimmung des
4. Die PhUoBophie. c) Piaton. (§ 340.) 637
in den athenischen Rhetorenkreisen gegeben haben. i) In der Polemik
über die Bedeutung der Redekunst bildet der Dialog einen Eckstein.^)
Diese Polemik ist schon in hellenistischer Zeit auf die Formel Piaton
contra Demosthenes gebracht worden. Ihr größtes Monument von rhetori-
scher Seite bilden die zwei langen Reden des Rhetors Aristides in der Zeit
der Antonine gegen Piaton (45. 46); die zweite von diesen ist eine Wider-
legung des Gorgias,^) in der es ausdrücklich heißt, daß viele diesen Dialog
allen anderen vorzogen.
Ev&v(pQ(ov fallt, was die Abfassungszeit anbelangt, nach Apologie
und Kriton, der Einkleidung nach vor sie.*) Die Szene spielt sich nämlich
ab vor der Halle des Archen Basileus, wo Sokrates, im Begriff sich vor dem
Archen zu verteidigen, mit dem Wahrsager Euthyphron zusammentrifft,
der dort eine Klage gegen seinen eigenen Vater wegen Tötung eines Tag-
löhners anbringen will Das führt zur Erörterung des Begriffes der Fröm-
migkeit {evoeßeia)^ wobei Euthyphron der unklaren Vorstellung von dem,
was fromm und gottgefällig {Soiov xal evoeßeg) ist, überführt wird. Der
Dialog endet ohne positives Ergebnis. Er ist von den Grammatikern an
die Spitze der Tetralogie Euthyphron, Apologie, Kriton, Phaidon gestellt
worden, weil er das tragische Drama vom Tod des Sokrates eröffnet und
weil der Erörterung des Göttlichen die erste Stelle zu gebühren schien.^)
Der Ev&vdrjjuog ist eine ergötzliche Satire auf die dialektische
Klopffechterei zweier uns unbekannten, aber wohl geschichtlichen „Eri-
stiker*", Euthydemos und Dionysodoros; in ihnen gibt Piaton eine burleske
Karikatur der Übertreibung sokratischer Methode. Daß damit eigentlich
Antisthenes getroffen werde, ist jetzt allgemein angenommen. ß) Trefflich
ist die Unwahrhaftigkeit jener Eristiker gezeichnet, denen nichts an der
Ermittelung der Wahrheit gelegen ist, die vielmehr nur mit ihren Sophismen
die Zuhörer verblüffen und zum Beifall für ihre Taschenspielerkünste hin-
reißen wollen, im Grund genommen aber nicht besser sind als die sophi-
stischen Epideiktiker mit ihren langen Reden. Die Einkleidung des Dia-
loges ist ähnlich wie die von Protagoras und Symposion; Sokrates erzählt
Euihyd., des Gorg. u. derRepubl., Rh. Mus. 44 Progr. Regensburg N. G. 1901 sucht, im An-
(1889) 52 ff., der des weiteren nachzuweisen Schluß an F. Schleiermacher und E. Zeller,
sucht, daß Isokrates im Nikokles (3, 2) auf
die Vorwürfe Piatons antworte, weshalb er
den Gorgias bis 376 herabrücken will, wo-
gegen überzeugend opponiert F. Dühxleb,
Kl. Sehr. 1 79 ff. Siehe a. H. RXdbr 124, der
Gorg. 463 a als Anspielung auf die ältere
Sophistenrede des Isokrates versteht.
*) Umgekehrt, aber schwerlich richtig,
faßt WiLAMOwiTZ, Berl. Ak. Sitz.ber. 1899,
781 die Schrift des Polykrates als Antwort
auf den Gorgias. — Die Politeia klingt mehr-
fach an den Gorg. an (H. Räder 204 f.).
») W. Kroll, Rh. Mus. 58 (1903j 579.
») W. SoHMiD. Atticism. II 3 ff. und in
der Realenz. II 888, 49 ff.; 0. Immisch, Philol.
65 (1906) 8 f.; vgl. auch Liban. T. in 347, 19R.
und Procl. ad Plat. Tim. I 121, 7 Diehl
(gegen Aristid. or. 48).
*) K. Meiser, Über Piatons Euthyphron,
nachzuweisen, daß der Dialog noch vor der
Verurteilung des Sokrates geschrieben sei.
In jenen Zeitpunkt ist aber nur die Szene
verlegt.
*) Vgl. Xen. mem. IV 6, 2 : jtocörov dk
jtKoi evoeßeiag wdi jrw? eoxonn. Die Frage,
ob man auch einen Verwandten, wenn er Un-
recht tue, anklagen müsse, wird berührt in
Gorgias 480 c und 507 d wie im Euthyphron,
was auf etwa gleiche Abfassungszeit beider
Dialoge zurückgeführt werden könnte. Die
Einreihung nach dem Gorgias und Protagoras
ist von Th. Gomperz, Griech. Denker IP 289 ff.,
und H. Räder 127 ff. sehr einleuchtend ge-
macht.
®) Siehe besonders K. JofiL, Der echte
und der xenoph. Sokr. I 372 ff. Nach H. Rä-
der a. a. 0. 141 f. mischt Piaton in das Bild
des Antisthenes auch Züge des Protagoras.
638 Griechische Litteratnrgeschichte. I. Elaasische Periode.
dem Kriton die gestrige Disputation der Eristiker und des jungen Kleinias,
den jene, mochte er das eine oder das andere sagen, in die Enge trieben,
wieder. Der Schluß enthält einen Hieb auf einen nicht mit Namen ge-
nannten Sophisten, der sich verächtlich nicht bloß über die Eristik, son-
dern über alle Dialektik geäußert hatte, in der Tat aber hinter beiden,
dem rechten Staatsmann und dem rechten Philosophen, zurücksteht. ') Auf
solche Weise wird von Piaton in diesem Dialog der Beruf der Philosophie,
die wahre Bildnerin des Menschen zu sein, nach zwei Seiten hin ver-
teidigt, auf der einen Seite gegen die Eristiker, die sich durch dialektische
Haarspaltereien lächerlich machten, auf der anderen Seite gegen die Rhe-
toren, die sich den Namen von Philosophen anmaßten, aber über philo-
sophische Allgemeinheiten nicht hinauskamen.')
Der KgaTvkog, benannt nach dem Hauptsprecher, einem Schüler des
Herakleitos, ist in Anlage und Tendenz dem Euthydemos auf das nächste
verwandt. 8) Er bekämpft den Nominalismus des Antisthenes ebenso wie
den Relativismus des Protagoras und zeigt auf die Ideenlehre hin. Er
behandelt eine schon den älteren Sophisten geläufige Frage : ob die Sprache
ein Produkt der Natur oder der Satzung (q)vaig oder &eaig) sei. Kratylos
vertritt die Ansicht, sie sei Naturprodukt*) und sucht in der Voraus-
setzung, daß die Worte der naturgemäße und notwendige Ausdruck der
Sachen, also die Etymologie der Weg zum Sachwissen sei, die Lehre
seines Meisters an der Hand sprachlicher Etymologien zu begründen.
Das letzte wird entschieden zurückgewiesen und zugleich angedeutet, wie
die Lehre vom ewigen Fluß der Dinge die Möglichkeit des Erkennens
{yvd>aig), das auf das Ständige und Bleibende gerichtet sei, ausschließe.
Im übrigen hat der Dialog für uns eine besondere Bedeutung als der erste
erhaltene Versuch einer Sprachphilosophie. Etymologien, wie ^edg djio xov
'ßeiv,^) tjXiog, dorisch ähog, djid rov äXlCeiv sind auch in der Worterklärung des
späteren Altertums keineswegs überwunden worden. 0) — Für die Bestim-
mung der Abfassungszeit ist es nicht von entscheidender Bedeutung, daß
Piaton im Phaidon p. 80 d "Aidrjg nach der gewöhnlichen Etymologie mit
äeidijg Tojiog ,unsichtbarer Raum* erklärt, im Kratylos hingegen p. 404 b
"Aid7]g djTÖ rov ndvxa xä xaXä eldevai {''Aidrjg = ä-ecdi^g) ableitet, unter aus-
drücklicher Ablehnung der Etymologie djid rou decdovg.'^) Sicher ist die
*) Gegen die seit L. Spengel übliche An-
nahme, daS Isokrates gemeint sei, s. o. S. 532 f.
*) Wegen einiger vermeintlichen Schwä-
chen des Dialoges sind Chr. Cron (Zu Pia-
tons Euthydemos, Bavr. Ak. Sitz.ber. 1891,
556 ff.) und K. Lüddbcke (Zur Frage d. Echt-
heit u. Abfassungszeit d. Euthyd., Progr. Celle
1897) geneigt, dieses geistreiche philosophi-
sche Satyrdrama dem Piaton abzusprechen u.
einem nachahmenden Schüler, etwa dem Speu-
sippos zuzuschreiben. Analyse von H. Bonitz,
Piaton. Stud.» 93 ff. Über die relative Zeit-
bestimmung des Euthyd. (nach Euthyphr.
Gorg. Men.) H. Räder a. a. 0. 146.
3) H. Räder a. a. 0. 146 ff.
klos im Kommentar zum Kratylos p. 6 ed.
Boiss. anführt. Näheres über den Streit gibt
Th. Gomperz, Griech. Denker I« 318 ff.
*) Über diese Etymologie, die schon Em-
pedocl. fr. 134, 6 Diels vorschwebt, s. A.Wikdk-
MANN zu Herodot. 11 p. 237.
*) J. Deüsohle. Die platonische Sprach-
philosophie, Marburg 1852; H. Stehtthal,
Gesch. der Sprachwissenschaft I* (Berl. 1890j
S. 41 ff. 79 ff; Th. Benfey, Über die Aufgabe
des plat. Dial. Kratylos, Gott. Ges. d. Wiss.
AbhdI. 12 (1866) 189 ff. ; P. Rosenstook, Piatos
Kratylos und die Sprachphilosophie der Neu-
zeit, Progr. Straßburg in Westpr. 1893.
') H. ÜSENER, Nachr. d. Gott. Ges. 1892
*) Als Urheber der Gegentheorie wird ' S. 46, setzt mittelst dieses Indiciums den
Demokritos genannt, dessen Argumente Pro- , Krat. nach Phaidon. Daß der Kratylos erst
4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ 840.) 639
Abfassung vor dem Theaitetos, wahrscheinlich die nach dem Euthy-
demos.
Avaig ist nach einer wertlosen Überlieferung bei Diog. L. in 35 noch
zu Sokrates' Lebzeiten geschrieben, gehört aber seinem Inhalt nach auf
die Grenze zu der zweiten Gruppe, in die Nähe des Symposion.») Der
Dialog, voll jugendlicher Schönheit und mit reichem mimischem Beiwerk,
spielt in einer Palästra und handelt, an die Liebe des Hippothales zu dem
schönen Lysis anknüpfend, von der Freundschaft {negl (pdiag), oder ge-
nauer von der Art, wie man mit seinem Liebling (jiaidixd) umgehen soll,
um seine Liebe zu gewinnen und ihn zugleich sittlich zu veredeln. In
echt sokratischer Weise endet das Gespräch so, daß Lysis und Menexenos
von ihren Pädagogen abgerufen werden, noch ehe der Begriff der (fuXia
festgestellt ist. Die Liebe war bei Sokrates und Piaton, die mit ihren
Schülern durch das Band inniger Freundschaft und Liebe sich verbunden
fühlten, ein Lieblingsthema, auf das Piaton nochmals im Phaidros und im
Symposion zurückkam und das Sokrates auch bei Xenophon mem. 11 6 mit
Kritobulos bespricht.*)
Das Zvfinooiov ist unter Piatons Werken die blühendste und farben-
reichste Dichtung, schon bei den Alten von denen, die Piaton mehr seiner
Kunst als seiner philosophischen Lehre wegen lasen, vor allen anderen
Werken bevorzugt.^) Das Gastmahl, über das ApoUodoros, der selbst
wieder von Aristodemos Kunde erhalten hatte, seinen Freunden berichtet,
hatte der Tragiker Agathen zu Ehren seines dramatischen Sieges im
Jahr 416 gegeben. Eingeladen war dazu eine bunte Gesellschaft; außer
Sokrates, der noch den Aristodemos mitgebracht hatte, Phaidros, Pausanias,
der Arzt Eryximachos,*) der Dichter Aristophanes. Als Thema der Tisch-
reden wird auf Phaidros' Vorschlag der Eros gewählt.*) Piatons Kunst
zeigt sich in der Art, wie er das Thema von den einzelnen Tischgenossen
entsprechend ihrem verschiedenen Charakter anfassen und nach und nach
zu immer höheren Zielen führen läßt. Durch diese Formgebung mit einer
Reihe zusammenhängender Reden, die Piaton sonst nirgends hat, wird der
Gegenstand auf das anregendste von allen Seiten beleuchtet und in wunder-
voller Ökonomie und reicher Abwechslung von Stufe zu Stufe die Betrach-
tung vertieft. Schon in der zweiten Rede (Pausanias) ist der Standpunkt
erreicht, in dem das xenophontische Symposion (mit der Rede des So-
krates) gipfelt. Am genialsten ist die Rede des Aristophanes, der in einem
geistreich erfundenen Mythus die Liebe als das Suchen der einen Hälfte
nach dem Frieden des Antalkidas geschrieben | *) Zeugnisse in der Ausgabe von 0. Jahn ;
sei, ist ein ganz unsicherer Schluß von F. I s. besonders die überströmende Bewunderung
DüMMLER, Kl. Sehr. I 138, wud aber an sich Plutarchs quaest conv. VII 7 p. 710 c.
richtig sein. *) Nach 0. Apelt, N. Jahrb. f. kl. Alt.
») H. Räder a. a. 0. 158 ff. | 19(1907)252, 1 ein komischer redender Name
«) In Vol.Hercul. coli, alt VI 112 u. 96 bis
105 finden sich Reste von den Schriften des
Epikureers Kolotes -t^oc tov IlXdtcovog Avatv
und .Toos Toy JlkaTcovog Ev&vdfjfioVj die von
„SchluGksenbekämpfer "^ .
^) Das Thema war offenbar damals be-
liebt; auch im Phaidros hat es Piaton be-
rührt, ähnlich Isokrates in seiner Helena mit
W. Crönert, Kolotes u. Menedemos (Stud. z. dem Lob der Schönheit, fgcotixoi Xoyoi gab
Palaeogr. u. Papyrusk. VI, Leipz. 1906, 4 ff. es von Antisthenes. Aischines dem Sokratiker,
163 ff.) neu herausgegeben sind. Pausanias, Simmias, Eukleides.
640 Orieohiflche Litteratargeschichte. I. ElassiBche Periode.
des ehemals vereinten, aber von Gott auseinandergeschnittenen Urmenschen
nach seiner anderen Hälfte hinstellt. Die letzte Steigerung wird mit gutem
Bedacht gegensätzlich vorbereitet durch die inhaltlich weit unbedeutendere,
von gorgianischem Figurenwerk klingelnde Rede des Agathen, die der des
Aristophanes folgt. Den Schluß bildet die Auseinandersetzung des Sokrates,
der, von einer Kritik der Ansicht Agathons ausgehend, seiner Rede die
Form einer Unterredung mit der weisen Mantineerin Diotima gibt und in
ihr die Liebe als den Trieb nach Unsterblichkeit faßt, der den Leib der
Frauen mit Kindersamen und die Seele edler Jünglinge mit Weisheit und
Tugend befruchte. Mehr und mehr wird der Begriff der Schönheit von
seinen individuellen Schranken befreit und dem egoistischen Genußverlangen
entrückt. So ist in mächtigem Gedankenschwung das Sinnlichste mit dem
Geistigsten zusammengebunden, der Aufgabe des Erziehers die Richtung
auf das Höchste gegeben und zugleich alle banausische Enge wie alle
verstandesmäßige Kälte genommen: Lehrer und Schüler sollen sich in
gemeinsamem Streben nach Vervollkommnung liebend fördern. Das drama-
tische Leben, von dem der ganze Dialog sprüht, erreicht, nachdem der
Höhepunkt der philosophischen Erörterung schon überschritten ist, nach
der äußeren Seite die höchste Steigerung in der Szene gegen das Ende
hin, die A. Feuerbach zum Gegenstand seines berühmten Gemäldes ge-
macht hat: eben ist Sokrates mit seiner Rede zu Ende, da kommt Alki-
biades halbberauscht herein und hält, von den Tischgenossen aufgefordert,
eine Lobrede auf Sokrates, die von leidenschaftlicher Begeisterung für den
geliebten Meister überströmt und die Person des Sokrates selbst in eine
Sphäre übersinnlicher Reinheit und übermenschlicher Selbstbeherrschung
hinaufhebt. Auch der Schluß dient noch dazu, den Sokrates in seiner
sittlichen und damit auch physischen Überlegenheit halb humoristisch zu
beleuchten: eine neue Schar von Nachtschwärmern war eingedrungen;
über dem wüsten Zechen schlichen die einen davon, die andern nickten
ein, unter ihnen der Erzähler des Dialoges, Aristodemos; als der beim
Krähen der Hähne in der Frühe erwacht, sieht er den Sokrates noch
ganz geistesfrisch mit den beiden Dichtern Agathen und Aristophanes aus
einem großen Humpen zechen und über das Thema, daß der rechte Dichter
sich zugleich auf die Tragödie und die Komödie verstehen müsse, eifrig
disputieren. — Für die Abfassungszeit des Dialogs liegt ein Anzeichen in
der Anspielung auf die Zerteilung der Stadtgemeinde von Mantineia in
vier Landgemeinden p. 193a; danach ist er im Jahre 385 oder bald nach-
her abgefaßt.*) Aus der Stelle am Ende des Symposion rov avrov dv-
dgog elvai xcojbuodiav xal rgaycodiav imazaa&ai ttoieXv läßt sich kein sicherer
Schluß in dem Sinn ziehen, daß der Phaidon vor dem Symposion ge-
schrieben sei. 2) — Den charakteristischen Gedankenfortschritt des Sym-
M Vgl. Xenoph. Hell. V 2. Der Ana-
chronismus ist von Ael. Aristides or. 46
p. 371 DiND.. 47 p. 435 notiert. Ohne Grand
will WiLAMOwiTz die Bezugnahme auf den
418 beziehen. Über das Verhältnis zum
xenophontischen Symposion S. 484.
2) 0. Immisch/N. Jahrb. f. kl. Alt. 3 (1899)
623, 1 bezieht nach anderen (H. Räder 169)
fiioixioiuk a. 385 (Herrn. 32, 1897, 102 und die Stelle auf den Phaidon; s. a. F. Stählin,
Textgesch. der griech. Lyr. 103, 1) in Abrede | Die Stellung der Poesie in der piaton. Philos.
stellen (s. H. Räder 167) und die Stelle auf | 66 ff. und U. Fiksler, Piaton und die aristot^
4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ 341.) 641
posion findet H. Räder (S. 166 flf.) darin, daß hier zuerst die volle Trans-
szendenz der Ideen angenommen und das Verhältnis der Erscheinungswelt
zu ihnen als ein jueiexeiv (p. 211b) aufgefaßt werde. Darum sei das Sym-
posion nach Kratylos und Lysis zu setzen.
0aidcov wurde von Thrasyllos mit Euthyphron, Apologie, Kriton
zu einer Tetralogie verbunden, weil er die Erzählung von den letzten
Stunden des Sokrates enthält; der Dialog ist aber offenbar, wie die
kunstvolle Einkleidung, die voll ausgebildete Ideen- und ünsterblich-
keitslehre und der Einfluß pythagoreischer Philosophie zeigt, geraume Zeit
nach jenen Erstlingsarbeiten verfaßt.^) Der Dialog, in dem zum ersten-
mal der Dualismus von Piatons Anschauung in der starken Antithese von
Körper und Seele scharf hervortritt, ist das Ergreifendste, was Piaton
geschrieben hat, und der Schluß sollte auch von denen gelesen werden,
die der philosophischen Spekulation abgeneigt sind und die Unzulänglich-
keit der vorgebrachten ünsterblichkeitsbeweise kennen.*) Das würdige
Thema des Gesprächs von Sokrates' letzten Stunden bildet nämlich die
Unsterblichkeit der Seele, deren Annahme mit der Ideenlehre Piatons und
mit der bereits im Menon ausgesprochenen Auffassung, daß das Erkennen
ein Rückerinnern an früheres Wissen oder Schauen {ävdjLivrjoig) in einer
Präexistenz der Seele sei, aufs engste zusammenhängt; außerdem nimmt
der Philosoph in der Beweisführung auf die pythagoreische Lehre von der
Seele als Harmonie, die er auf seiner sizilischen Reise kennen zu lernen
Gelegenheit gehabt hatte und in dem Dialog durch Simmias vertreten läßt,
ausdrücklich Bezug, wenn er ihr auch keine Beweiskraft beilegt.*) In einen
weihevollen eschatologischen Mythus*) klingen die Reden des Sokrates aus.
Trotz der Abstraktheit der Beweise drang der herrliche Dialog so sehr in
weite Kreise, daß der Komiker Theopompos auf der Bühne in seinem
'Hdvx<igf]g eine Anspielung auf ihn machen konnte. ß) Nach dem Epigramm
des KaUimachos Anth. Pal. VE 471 (vgl. Cic. Tusc. I 83 f.) weihte sich Kleom-
brotos aus Ambrakia mit dem Ausruf ''HXie x^'^Q^ ^^^ Tod, nachdem er
den Dialog gelesen hatte. 0)
341. Die Dialoge, welche die Entwicklung der ersten Periode
Piatons abschließen (Politeia) und zur letzten überleiten (Phaidros,
Theaitetos). Die Abneigung Piatons, mit den herkömmlichen Einrichtungen
Poetik 204 ff. H. Rädeb S. 167 versteht die möchten, haben vergessen oder nie gewußt,
Stelle dahin. Piaton spreche hier, da kein
Grieche Tragödien und Komödien habe schrei-
ben können, den Dichtem künstlerische Ein-
weiche anregende Kraft in diesem Schau-
spiel des Hingens um den rationalen Be-
weis für ein ethisches Postulat gerade auch
sieht überhaupt ab. — A. v. Eleemann, Das 1 für die Jugend liegt, und sollten sich wenig-
Problem d. plat. Symposion, Progr.Wien 1906. stens bemühen, den Phaidon als eine wichtige
^) Eine Rückbeziehung auf den Phaidon 1 Durchgangsstufe in Piatons geistiger Ent-
enthält die Republik p. 608 f., 611b und 612 a, I wicklune ihren Schülern nahe zu bringen,
worüber H. Siebeck, Jahrbb. f. cl. Phil. 131 «) über die Seelenlehre im Ph. E. Prüm,
(1885) 227; umgekehrt geht Phaed. 72 e auf Arch. f. Gesch. d. Philos. 21 (1908) 30 ff.
den Menon zurück. Über das Verhältnis zum ^) Über die Korrektur des Phaidonmythus
Kratylos s. S. 638. in reip. X H. Räder 242.
'^) Die Pedanten, die, von anderen be- | *) Die Verse, erhalten bei Diog. L. III 26,
lehrt (siehe übrigens Piaton selbst Phaed. | beziehen sich auf Phaed. p. 96 e.
107 ab), über diese Beweise die Nase rümpfen I *) Die Stellung des Phaidon nach Symp.
und den Phaidon aus der Schule verweisen ist von U. Räder 178 wahrscheinlich gemacht.
Handbuch der klass. AltertmuBwissenschaft. VII. 5. Aufl. 41
642 Orieohische Litteraturgeschichte. I. Ela4SMriBche Periode.
und Anschauungen Kompromisse zu schließen, hat hier ihren Höhepunkt
erreicht und drängt ihn zu dem großartigen Entwurf eines Idealstaates,
der eine Verkörperung der Gerechtigkeit darstellen soU.
Die TIoXiTEia^) umfaßt zehn Bücher, eine Bucheinteilung, die viel-
fach verkehrt und geradezu sinnwidrig ist,*) also nicht vom Verfasser
selbst herrühren kann. Das Werk hat die Form eines Gesprächs, das im
Haus des greisen Kephalos gelegentlich eines im Peiraieus zu Ehren der Göttin
Bendis veranstalteten Festes gehalten wird.') Anwesend sind außer Kephalos
und dessen Söhnen Sokrates, die Brüder des Piaton, Glaukon und Adeiman-
tos, der Rhetor Thrasymachos, Kleitophon und mehrere stumme Personen.
Die große Ausdehnung des Werkes paßt freilich schlecht in den Rahmen
des Gesprächs an einem Tag, aber es bleibt doch sehr fraglich, ob etwa
ursprünglich ein kleinerer Umfang beabsichtigt war und das Ganze erst
allmählich durch Erweiterung auf zehn Bücher angewachsen ist. Dafür
könnte eine freilich fragwürdige Anekdote bei Gellius angeführt werden,*) der
zufolge von der Republik zuerst nur ungefähr zwei Bücher in die Öffent-
lichkeit kamen. Von einem sicheren Zeugnis für Veröffentlichung irgend
eines Teils der Politeia vor dem Ganzen ist aber keine Spur da, und im
übrigen versteht sich von selbst, daß Piaton das Werk nicht in einem
Jahr und in einem Zug von Anfang bis Ende geschrieben hat. Es finden
*) Über den Titel UoktreTai in Arist. polit. ! Greifsw. 1884 p. XII und oben S. 528.
p. 1293b 1 und Themist. or. 2 p. 38, 21 Dind. *) Gellius XIV 3, 3: Xenophon inelito
s. K. E. Ch. Sguneideb im Eingang seiner Uli operi Piatonis ^ quod de optima statu rei-^
Ausgabe (Leipz. 1830 — 33). Über die Staats- publicae civitatisqxu administrandae scriptum
lehre Piatons im größeren Zusammenhang i est^ lectis ex eo duobus fere libris qtU primi
H. Henkel, Studien z. Gesch. der griech. Lehre ! in volgus exierant, opposuit contra conserip'
von Staat, Leipz. 1872, 48 flf. ' sitque diversum regiae administrationis ye-
*) Vgl. W. Christ, Plat. Stud. 473 f. Von nus, quod jtaiöeiag Kvoov inscriptum est,
einer älteren Einteilung in sechs Bücher hat ' Diese erste Auflage könnte die jetzigen Bücher
Spuren in einem antiattikistischen Lexikon I— IV oder 2'/* der alten Bucheinteilung um-
nachgewiesen J. HiRMEB, Jahrbb. f. cl. Phil. faßt haben. Daß in der alten Republik auch
Suppl. 23 (1897) 588—92. 676 ff. schon die Weibergemeinschaft gepredigt war,
*) Das über dieses Fest und den Fackel- möchte man aus Aristoph. Eccl. (aufgeführt
lauf im Eingang Bemerkte zeigt, daß sich , 389) schließen im Zusammenhalt mit p. 452 b :
Piaton das Gespräch bei einer bestimmten ' ov (foßrjxeov ra nov y^aoiEvxMv axwfifjiam.
Gelegenheit gehalten dachte. Auch ist die
Schilderung des Festes und der Person des
greisen Kephalos so lebensvoll, daß man
glauben möchte, Piaton habe diesen noch
Aber von dieser handelt tatsächlich Piaton
erst im fünften Buch, und keine Spur führt
auf die Abfassung irgend eines Buches der
Politeia vor 389 (s. o. S. 407, 4). Auf die alte
selbst in seiner Häuslichkeit gesehen. Aber : Überlieferung, daß Piaton jahrelang an der
die Zeit ist schwer festzustellen; am meisten I Politeia gearbeitet und sie wieder und wieder
Zustimmung verdient A. Böckh, Kl. Sehr. IV umgearbeitet habe, führt die Anekdote bei
437 ff., der für 409 eintritt. Für eine so späte Dion. Hai. de comp. verb. 25 p. 133 üs.
Zeit spricht insbesondere, daß Sophokles (xTm-:fO' x«« /^oorot^/cT«/»') und Diog.L. I1I37,
p. 329 b als Greis gedacht ist, und daß die , daß nach dem Tode des Philosophen ein Blatt
Brüder Piatons, Glaukon und Adeimantos, i gefunden worden sei, auf dem der Anfang
sich nach p. 368a bereits im Krieg ausge- ' der Republik wiederholt umredigiert (:To<x/ilftKr
zeichnet hatten. K. Fr. Hermann, Plat. Phil. ' fieraxFifth'?)) gestanden habe. H. v. Arnim,
695 erklärt sich für 430, weil für den An- De reipublicae Piatonis compositione ex Ti-
fang des peloponnesischen Krieges am meisten , maeo illustranda, Ind. lect. Rostock 1898
die Lebensverhältnisse des Lysias sprechen, und sucht nach dem Vorgang E. Rohdes (Psyche
versteht daher unter Glaukon und Adeimantos IV 266 A.) aus der Rekapitulation, die Piaton
die Oheime des Piaton. Vgl.F.SusEMiHL.Gcnet. im Timaio.s (p. 17 c— 19 a) von seiner Republik
Entw. IT 76 ff. und De canninis Lucret. pro- gibt und die von unserer Republik abweicht,
oemio et de vitis Tisiae Lysiae Isoer. Plat. An- den Gedankengang der ersten Republik wie-
tisth. Aleid. (rorg. quaest. epicrit, Ind. lect. derzugew innen. Siehe u. S. 644, 2.
4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ B41.) 643
sich auch Spuren der aUmählichen Entstehung, indem z. B. das Haupt-
thema des dritten und vierten Buches nochmtds im zehnten Buch behan-
delt und dabei p. 607 b auf die inzwischen aufgetauchte Polemik Rücksicht
genommen ist.») Die Hauptteile, in die das umfangreiche Werk zerfallt,
sind folgende: Buch I und die neun ersten Kapitel von H enthalten die
Einleitung und die Untersuchung über das, was das Gerechte (ro dixaiov)
ist, in ähnlicher Weise wie in den kleinen Dialogen (Laches, Charmides,
Lysis, Euthyphron) das Wesen der ävögeiay ococpgoovvrj, tpdiay öoiÖTrjg unter-
sucht wird. Als Gegner des Sokrates tritt hier Thrasymachos auf, der
doktrinäre Übermensch und Vertreter des Rechtes des Stärkeren, ähnlich
dem Kallikles im Gorgias. Nach verschiedenen Versuchen, den Begriff
der Gerechtigkeit festzustellen, schlägt Sokrates vor, ihn, da er für das
Individuum schwer zu umgrenzen sei, zuerst in den größeren Formen des
Staates zu suchen, und so ist der Übergang zur Konstruktion des Ideal-
staats gemacht. Die Analogie zwischen Individuum und Staat beherrscht
das ganze Werk. Sie ist nicht nur formal oder pädagogisch, sondern
als Ausdruck der Überzeugung zu verstehen, daß Individual- und Sozial-
ethik auf denselben Voraussetzungen beruhen. Der Abschnitt II 10 — IV 5
umfaßt die Gründung und Organisation desjenigen Staates, in dem die
Idee der Gerechtigkeit sich verkörpert. Den Hauptgegenstand dieses
Teils bildet die Erziehung der Schützer des Staates (qyvXaxeg)^ die
geistige (juovoixi]) und körperliche {y^v/uvaariHrj); sie wird nach einer ver-
werfenden Kritik der im gewöhnlichen attischen Jugendunterricht ein-
geführten Dichterlektüre im einzelnen geschildert und die grundlegende
Wichtigkeit der Erziehung für die Existenz des Staates nachdrücklich
hervorgehoben. IV 5 ist die Skizze des Idealstaates, soweit er die (pvkaxeg
angeht, beendigt, und es wird wieder auf die Anfangsfrage von der dixaio-
avvrj zurückgekommen, die nebst den drei anderen Kardinaltugenden {(fgo-
vrjoig oder oo(pia^ oa)q)Qoovvrj, dvögeia) sich im Staat findet und vor allem
in der richtigen, der Begabung entsprechenden und das verderbliche noXv-
TiQayfxoveiv ausschließenden Berufsteilung sich betätigt. Für das Individuum
bedeutet dixaioavvrj die Herbeiführung eines richtigen Verhältnisses zwischen
den drei Teilen der Seele, so daß das koyiorixov mit Hilfe des ^vfioeideg
über das im^vjurjnxoy herrscht. Damit ist eigentlich das Ziel des Dialogs
erreicht, der Begriff der Gerechtigkeit und seine Anwendung auf Staat
und Individuum gefunden. Es erhebt sich die neue Frage, ob Gerechtig-
keit oder Ungerechtigkeit nützlicher sei; zu ihrer Beantwortung sollen
*) Übertrieben hat diese Gedanken A. I Münster 1887, R. Hibzel, Der Dialog I
Krohn, Der platonische Staat (Halle 1876), Die ! 230^ ff.; C. Ritter, Unters^ über PL 124 f.;
platonische Frage (Halle 1878), der die Republik
als ein allmählich entstandenes Aggregat be-
trachtet; ähnlich E. Pfleidbrer, Zur Lösung
I. Bruns. Litt Portr. 319 ff.; Th. Gompbbz,
Griech. Denker II« 359 f.; E. Zeller (II 1*
556 ff.)t L. Campbell (Ausg. der Rep.), J.
der platonischen Frage, Freiburg 1888, der Hirmer, Entstehung und Komposition der
drei gesonderte Teile annimmt I — V 471c j platonischen Politeia, in Jahrbb. f. cl. Phil,
und VIII-IX; X; V-VU. Dagegen ist die | Suppl. 23 (1897) 583-678, H. Rades 181 bis
Einheit gut erwiesen von B. Grimmelt. De 243, 0. Apelt, Berl. Phil. W.schr. 15 (1895)
reip. Plat. conipositione et unitate, Diss. Berl. 971 ff.
1887, C. Westerwick, De rep. Plat, Diss. ;
41*
644 Oriechische Litteraturgeschichte. L Klassische Periode,
zunächst dem richtigen Staat, der geschildert ist, die schlechten Verfas-
sungen gegenübergestellt werden. Die Bücher V — VII bilden den dritten
Teil. Im Eingang des fünften Buches schickt sich Sokrates an, im An-
schluß an das vorausgegangene Buch die verfehlten Staatsformen zu be-
sprechen; aber diese Diskussion wird verschoben infolge der Einrede des
Polemarchos, der, an eine frühere Äußerung des Sokrates (423 e) an-
knüpfend, nun das Bild des Staates, in dem es kein Privateigentum gibt»
näher ausgeführt wissen will; so wird zunächst von der Kinder- und Weiber-
gemeinschaft, dann von der Erziehung der zukünftigen Herrscher des
Staates, d. h. der Philosophen, gehandelt. In diesem dritten Teil sind
tiefste Gedanken der Philosophie niedergelegt; Leonhard Spengel wollte in
ihm den im Eingang des Sophistes in Aussicht gestellten Dialog Philo-
sophos erkennen. *) Aber das ist schon aus chronologischen Gründen un-
möglich, da der Sophistes erst nach der Politeia abgefaßt ist. Jedenfalls
gehört der dritte Teil wesentlich zur Lehre vom Staat, indem er die Er-
ziehung der Herrscher (durch Mathematik und Dialektik), die im zweiten
Teil nicht behandelt worden war, zum Gegenstand eingehender Erörterung
macht. Denn daß Piaton in keinem Stadium seiner geistigen Entwicklung
sich einen bloß aus (pidaxeq bestehenden Staat ohne philosophische Spitze
gedacht haben kann, ist ohne weiteres klar. Ohne den Inhalt von Buch V,
der nur nähere Ausführung eines freilich sehr wesentlichen Stückes ist»
könnte das Werk allenfalls gedacht werden; aber völlig unentbehrlich ist
für das Ganze, was über das Verhältnis der Philosophen zum Staat und
die Ausbildung der philosophischen Staatsleiter in VI und VII vorgetragen
wird; ein Abschnitt dieses Inhalts muß von allem Anfang an in den Plan
des Werkes aufgenommen gewesen sein. Ob freilich der dritte Teil in
seiner jetzigen Form von Piaton erst später bearbeitet und in die früher
geschriebenen Bücher nachträglich eingeschoben wurde, oder ob wir in
der Einschiebung (VI) nur ein stilistisches Motiv des Schriftstellers zu
sehen haben, darüber wird gestritten.*) Die Bücher VIII und IX kehren
M L. Spengel Id Münchener Gel. Anz. j bis VII extr. ; der Name K. aus reip.VII 527 c)
23 (1846) 653 und Philol. 19 (1863) 595, s. da- [ als gegeben annimmt, kann jenes Verhältnis
gegen W. Christ, Plat Stud. S. 488 f.
*) Die erste Meinung vertreten nament-
lich E. Pfleiderer, E. Rohde (Psyche IP
zur Bekämpfung der statistischen Methode
überhaupt benützen. Der einzige äußere
Grund für Zerreißung des Staates liegt schein-
266 f. A.) und 0. Immisch (N. Jahrbb. f. kl. I bar im Tim. 17 b ff., wo nur das , Staats-
Alt. 3, 1899, 440 ff. 549 ff. 612 ff.), die zweite \ paradigma" erwähnt wird. I. Bbuns (Das
J. HiRMER. Jedenfalls ist die vervollständigte litt. Portr. 275 ff.) will dieser von H. Usener,
und vertiefte Darstellung des Idealstaates, P. Brandt (Zur Entwickl. der piaton. Lehre von
wie sie in den Büchern V — VlI gegeben ist, 1 denSeelenteilen,Leipz.l890, 3ff.)undE.Rohde
passend der Besprechung der verfehlten ' betonten Tatsache gar keinen Wert beilegen ;
Staaten vorausgeschickt. Die Sprachstatistik ' Tn. Gomperz, Griech. Denker II* 478 findet
ergibt keinerlei Indicien für die schichten- I durch die eigenartige Einkleidung des Tim.
weise Entstehung des Staates, sondern weist I eine Bezugnahme auf die „Kallipolis* aus-
ihn als Ganzes, von dem höchstens Buch I ] geschlossen. Sehr ansprechend ist die Ver-
abgelöst werden könnte (s. aber H. Räder , mutung von C.Ritter, Philol. 62 (1903) 410 ff.»
201), in Piatons mittlere Periode; nur wer, durch Nichterwähnung der „Kallipolis* gebe
wie Immisch, die Voraussetzung von der Un-
zusammengehörigkeit von „Staatsparadigma*
(reip. II 11— V 16) und „Kallipolis" (V 18
PL zu verstehen, daß er gerade diesen Teil
(imHermokratesV) umgestalten wolle. Orien-
tierend H. Räder 187 ff., der zu der Episode
4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ 941.) 645
zum Anfang des fünften Buches zurück und besprechen im Gegensatz zur
Staatsform des Philosophenkönigtums die schlechten Verfassungen der
Timokratie (auch tijuagxla oder (pdonjuog Tiohreia genannt, d. h. nicht wie
sonst Vermögensherrschaft, sondern eine auf Bevorzugung, rtyu*), begrün-
dete Herrschaft, wie sie sich in der kretischen und lakonii^chen Verfassung
darstellt), Oligarchie, Demokratie, Tyrannis. Piaton denkt sich diese
Formen in einem Kreislauf der Entwicklung bezw. Entartung begi-ilfen,
so daß in der angegebenen Reihenfolge eine aus der anderen hervorgeht.
Im neunten Buch wird, nachdem das achte mit Besprechung der Tyrannis
geschlossen hat, das Bild des xvQawixog &v7)q^ zu dem der erste Dionysios
Modell gestanden haben dürfte, vorgeführt und auf seinen sittlichen Wert
und seinen Glücksgehalt geprüft. Die wahre Lust, das wahre Glück
kennt nur der Philosoph oder philosophische König; der Tyrann, der von
den Menschen beneidet zu werden pflegt, ist der allerunglücklichste Mensch.
Damit ist Piaton wieder auf den Inhalt des ersten Buches, den Gegen-
stand der Erörterung mit Thrasymachos, zurückgekommen. Im zehnten
Buch redet er zuerst nochmals von der Poesie, indem er an seinem
früheren Urteil (Buch II — III) über die rechte Erziehung festhält und
wider eigene Neigung jede nachahmende Poesie, die Tragödie und den
Erzvater der Tragödie (p. 598 d), den Homer, aus dem Idealstaat verbannt,
weil sie nur den Schein, nicht die Wahrheit wiedergeben, i) Mit einem Aus-
blick ins Jenseits, noch viel großartiger und ergreifender als der im Gorgias,
schließt das gewaltige Werk: der von den Toten wiedererstandene Pam-
phylier Er, der Sohn des Armenios, erzählt in einem Mythus (auf den
schon I 330 d ff. vorausverwiesen war), was er im Hades von dem Leben
der Seligen und Verbannten, dem Schicksal der Seelen und ihren Wande-
rungen gesehen und gehört hatte. In den Ruf nach Gerechtigkeit und
Einsicht klingt das Ganze aus und kehrt so zum Ausgangspunkt zurück.
Der planmäßige und kunstvolle Aufbau ist, wenn man auch einzelne Un-
regelmäßigkeiten zugeben mag,*) die sich in jedem Werk von solcher
Ausdehnung nachweisen lassen werden, im Ganzen unverkennbar. Daß
nicht jeder Gedanke, nicht jede Problemstellung, jedes Bild in diesen zehn
Büchern ganz Piatons Eigentum ist, versteht sich bei einem Schriftsteller
von seiner Belesenheit von selbst Aber der Vorwurf des Plagiats an
Protagoras, den ihm Aristoxenos macht, ^) gehört zu dem oben (S. 620, 1)
berührten unsauberen Klatsch. Ansprechend ist der Gedanke,*) daß der
Staat eine polemische Spitze gegen Antisthenes kehre. — Die Abfassungs-
zeit kann natürlich nicht auf das Jahr festgesetzt werden, da Piaton an
diesem seinem großartigsten Werk viele Jahre, wenn auch nicht gerade
V— VII eine Analogie in sophist. 287 b— 264b müssen. Ähnlich H. Rädeb 235 f.
findet und (194 ff.) Schlüsse aus dem Anfang «) H. Räder 191. 238 f.
des Tim. ablehnt. | '} Diog.L. III 87. Das immer wieder nach-
*) Die Wiederholung dieser Betrachtungen , gesprochene Urteil des nüchternen Praktikers
findet G. Finsleb, PL und die aristot. Poet. ' über Piatons Staat hat Polyb. VI 47, 7 f. zu-
227 ff. bezeichnend für den persönlichen erst ausgegeben; vgl. los. contr. Ap. II 223.
Schmerz, den es dem PL bereitet, einer *) M. Guggenheim, N. Jahrb. f. kl. Alt.
eigenen natürlichen Neigung zur Kunst aus 9 (1902) 521 ff.
wissenschaftlicher Überzeugung entsagen zu
646
Orieohische Litteratnrgeschichte. I. Klaagische Periode.
zwanzig, gearbeitet hat, 0 und der erste Entwurf vielleicht, der referieren-
den Gesprächsart nach, noch in die zweite Periode seiner Schriftstellerei
fällt. ^) Anspielungen auf Zeitereignisse sind, wenn überhaupt vorhanden ,
jedenfalls sehr unsicher. 3) In weite Kreise war das Werk wohl schon vor
der zweiten Reise des Piaton nach Sizilien gedrungen; denn man wird
schwerlich fehl gehen, wenn man den Dion und seine Freunde ihre Hoff-
nungen an die in der Republik niedergelegten Ideen knüpfen lä&t.^) Dem-
nach hat F. Susemihl (Genetische Entwicklung der Platonischen Philosophie
II 296) den Staat in die Jahre 380—370 gesetzt: jedenfalls fällt die Schluß-
redaktion vor den Regierungsantritt des jüngeren Dionysios (367).*)
Am meisten umstritten ist die chronologische Einreihung des ^aiögogy
der seinen Titel von dem begeisterungsfähigen und -bedürftigen jungen
Phaidros, einem der Lobredner auf den Eros im platonischen Symposion,
erhalten hat.«) Der poetische Anhauch des Dialogs hat schon auf alte
Beurteiler den Eindruck gemacht, der Phaidros sei eine Jugendschrift
Piatons. ^) Bei dieser Auffassung läßt sich aber weder die Sprache, die nach
allen Kriterien auf Platona spätere Entwicklung hinweist, noch der Ge-
dankeninhalt, der die Politeia, den Gorgias und das Symposion voraus-
setzt,**) verstehen. Die idyllischen Reize der Einkleidung, die unter die
berühmte Platane am Ilissos^) zur Mittagszeit beim Gezirpe der Grillen
führt und den Vorwand bietet, den Sokrates gelegentlich selbst als
einen vom Zauber der Natur in Ekstase Versetzten darzustellen, umgeben
eine im wesentlichen aus drei zusammenhängenden Reden mit einem dia-
*) Nach A. Kbohn, Der piaton. Staat,
Die piaton. Frage (8. oben S. 643, 1 ), wären
sämtliche Dialoge späteren Ursprungs als der
Staat. Dagegen J. Nusseb, Piatons Politeia
nach Inhalt und Form betrachtet, Amberg
1882 ; H. Siebeck, Unters. 148. Zu Krohn kehrt
teilweise wieder zurück E. Pplbidebbb a. 0.
■*) Der erste Entwurf müßte, wenn auf
ihn wirklich Aristophanes in den Ekklesia-
zusen anspielte, um 390 gesetzt werden.
') p. 577 a auf des Verfassers Aufent-
halt am Hof des älteren Dionysios, p. 471 ab
auf die Grausamkeit der Thebaner gegen
Plataia im Jahr 374, p. 498 d auf den Eua-
goras des Isokrates (verfaßt bald nach 374).
F. Reiniiabdt. De Isocratis aemulis p. 39 hat
die Stelle p. 498 d auf den Areopagitikos (a.
354) bezogen, was ganz unmöglich ist. H.
Kädeb nimmt reip. IV 426 eine Anspielung
auf Isokr. Paneg. an und setzt die Veröffent-
lichung des Staates mit guten Gi-ünden c. 377.
*) Nach p. 499 b weckte der jüngere
Dionysios gute Erwartungen, noch ehe er
zur Regierung gekommen.
^) Die Politeia gehört zu den bis zum
Ende des Altertums besonders viel i^clesenen
Dialogen: J. Malchin, De Chorioii Gaz. vete-
rum (iraec. scriptor. studiis 59. Nach Epictet.
fr. 15 p. 414ScnENKL war die IIoa. eine Lieb-
lingslektüre emanzipierter Damen in Rom.
c) Die Anekdote (Diog. L. 111 31) macht
den Ph. zum Geliebten Piatons. Nach Lys.
or. 19, 15 ist er ohne Verschulden verarmt.
Über die Zeit seines Lebens O. Iuxisoh, Ber.
der Sachs. Ges. d. W. 56 (1904) 226, 3.
^) Diog. L. III 36 : Xoyoc Ae jxqwiov yoa.y*ai
avTov xov <Patd()ov (ebenso Olympiod. vit.
Plat. 3; Proleg. 24 offenbar auf Grund von
Phaedr. 238 d) * xai yao Px^iv fieigaxidideg ti t6
jiQoßkrj^a, Atxaiagxo*; de xat tov tqotiov ri}^
ygaq^yg okov FJiifidfKfeTat (og (fooiixov. Über
(pooTiy.ov (peripatetischer term. techn. seit
Aristoteles) s. Theophrastos bei Dionys. Hai.
de Lys. 14, de Isoer. 13. Jener Tradition steht
aber die andere von Cicero or. 42 nicht auf-
gebrachte, sondern natürlich aus griechischer
Quelle übernommene gegenüber, der zufolge
der Ph. zu Piatons späteren Schriften gehört.
Der künstliche Versuch von 0. Immisch a. a. O.
213—251, diese letztere Tradition auf eine
tendenziöse Geschichtsfälschung der neuen
Akademie (Philon und Antiochos), die andere
aber auf altperipatetische Quellen (Dikaiarchos)
zurückzuführen, steht auf ganz schwachen
Füßen.
^) Dies ist sehr einleuchtend erwiesen
von H. Rädek 252 ff. 259.
0) Cic. de or. I 28; Philostr. vit. Ap. VII
11p. 260, 32 K. Anspielungen auf den Ph.
sind in späterer Litteratur besonders häufig,
so Lucian, bis accus. 33, pisc. 22, rhet. praec.
26 auf 246 e.
4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ 341.) 647
logischen Anhang gebildete Darlegung zwiefachen Inhalts. Zunächst trägt
Phaidros eine Schulrede des Lysias vor über das frostige Thema, daß
man die Liebesgunst eher dem Nichtliebenden als dem Liebenden erweisen
soll; Sokrates übt an dem dürftigen rhetorischen Machwerk eine ver-
nichtende Kritik und stellt ihm dann zwei eigene Reden entgegen. Von
diesen steht die erste noch auf dem Standpunkt eines moralisierenden
rhetorischen Aufsatzes, die zweite aber enthüllt die ganze Tiefe philo-
sophischer Spekulation, indem sie den Eros aus der Sphäre gewöhnlicher
Sinnlichkeit heraushebt und als das Streben nach dem Urschönen und der
Welt der Ideen faßt. Damit ist die unmeßbare Überlegenheit der philo-
sophischen Anschauung über die leere Wortkünstelei der Rhetorik aus-
gesprochen imd Anlaß gegeben, eine den Durchschnittsrednern völlig fremde
neue Betrachtung der Redekunst im Licht des Ideenwissens vorzuführen.
Im Gegensatz zu der schroffen Verwerfung aller Rhetorik im Qorgias wird
hier zu einer q)d6oo(pog ^rjrogixrj der Weg gewiesen, und auf diesem Weg
ist dann Aristoteles in seiner Rhetorik weitergegangen. Die Kritik aller
Schriftstellerei im Gegensatz zum lebendigen Wort, die in der Erzählung
von Theuth (274c flf.) ausgesprochen ist, muß wohl zugleich als Verteidigung
der dialektischen Darstellungsmethode verstanden werden. Das Kompliment
an Isokrates (278 e ff.)*) bedeutet ein gewisses Entgegenkommen diesem
Rhetor gegenüber, der in seinem Panegyrikos doch bis zu einem vorher
nicht dagewesenen Grad ein Specimen eines Rede-Organismus gegeben
hatte, wenn auch von einer unbedingten Anerkennung der isokratischen
„(fiXooocfia'' durch Piaton nicht die Rede sein kann. Dazu stimmt auch
die zunehmende Annäherung Piatons an die isokratischen Stilregeln in
seinen späteren Schriften. Struktiv betrachtet ist der Dialog keiner von
Piatons glücklichsten; die Abfolge der drei Reden, wenn sie auch eine
Hebung von Stufe zu Stufe mit sich bringt, belastet das Gespräch über
Gebühr, und diese Anlage ist weit weniger dramatisch belebt als die ana-
loge im Symposion; auch die Zusammenkoppelung der zwei heterogenen
Gegenstände (der Erotik und Rhetorik) hat, wenn auch die materielle und
formelle Kritik an dem Produkt des Lysias äußerlich Anlaß zu der Ver-
bindung gab, etwas Gewaltsames. — Bezüglich der Abfassungszeit gehen,
wie gesagt, die Meinungen stark auseinander; F. Schleiermacher stellte
den Phaidros als Programm in den Anfang aller Schriften, K. Fr. Hermann
wenigstens an den Anfang der konstruktiven Dialoge, H. Usener (Rh. Mus.
35, 1880, 131 flf.) wollte ihn gar zu Lebzeiten des Sokrates im Jahre 402 ge-
schrieben sein lassen.«) Dem gegenüber hat schon Hermann (Plat Phil. 374)
hervorgehoben, daß, wenn man auch in dem erhabenen Schwung einzelner
Stellen und in dem reichen Schmuck des Ausdrucks mit Recht Spuren der
dichterischen Versuche des jugendlichen Philosophen finde, doch in dem
philosophischen Inhalt vieles übrig bleibe, was einer ganz anderen als der
sokratischen Begriflfssphäre angehört und uns, wenn nicht auf die Pytha-
goreer Italiens, so doch auf den Megariker Eukleides, den Erfinder des
*) Siehe o. S. 533. 1 genommen von 0. Immisch, N. Jahrbb. 3 (1899)
*) Useners Hypothese ist wieder auf- 1 549 flf.
648 Oriechiflche Litteraturgesohichte. I. Ela4SMii8che Periode.
fMoiT-Begrilfes, hinweist.*) Der polemische Charakter des Dialogs legt
den Gedanken an eine bestimmte Veranlassung nahe; aber wir kennen
eine solche nicht. Die Einreihung an Öer Stelle, die dem Dialog hier ge-
geben ist, hat H. Räder ausreichend begründet. Das Einlenken zum Be-
stehenden, bei aller Festhaltung der idealistischen Betrachtungsweise, das
für Piatons spätere Schriften bezeichnend ist, beginnt im Phaidros, zunächst
der Rhetorik gegenüber.
Der Seaixr]xog^) ist wie die Dialoge der Frühzeit, aber viel tiefer
als diese eindringend, ein „dialektisches" Gespräch ohne positives Ergebnis
zwischen Sokrates, Theaitetos und Theodoros über das Wissen (&riaT>;/ii;),
wiedergegeben in direkter Redeform ^) von Eukleides, dem megarischen
Sokratiker, gelegentlich des Rücktransportes des im korinthischen Krieg
(394) erkrankten Theaitetos.*) Seltsam ist, daß der Theaitetos einen Ein-
leitungsrahmen hat, das nachfolgende Gespräch des Sokrates aber doch
nicht referierend, sondern dramatisch gehalten ist. Die Einleitung kann
demnach nur den Sinn haben, dem hier eingeführten Eukleides eine persön-
liche Aufmerksamkeit zu erweisen, indem er als Verfasser des von ihm an-
geblich aufgezeichneten Sokratesgesprächs erscheint. Der Dialog, der letzte,
in dem die Personen noch lebensvoll charakterisiert sind und Sokrates
in den Mittelpunkt der Erörterung gestellt wird, gibt eine Revision der
platonischen Erkenntnistheorie; er führt unter scharfsinniger Bekämpfung
entgegenstehender Meinungen, namentlich des Protagoras und Uerakleitos
und wohl auch Antisthenes, der die Möglichkeit falscher Vorstellungen
geleugnet hatte,*) die Frage nach dem Wesen des Wissens zwar nicht
zum letzten Abschluß, aber doch so weit, daß wir über die erste Stufe
der sinnlichen Wahrnehmung {aio&rioigY) und bloßen Meinung {dö^a) zur
richtigen Meinung (äXrj&i]g do^a) und weiter zur richtigen Meinung mit
Rechenschaftsabgabe (äXtj&ijg dö^a fierä koyovY) emporsteigen. Aber auch
diese letzte Definition wird wieder umgestoßen und dadurch die Bedeutung
der äkr)ü))g do^a an sich gehoben, insofern als hier nicht mehr bloß den
Ideen, sondern auch anderen Gegenständen der Vorstellung die Fähigkeit
zugestanden wird, wahrheitsgemäß erkannt zu werden. Völlig klar ist in
*) Kritische Übersicht über die neuere *) An den Kampf um Korinth im J. 369
Litteratur bei H. Räder 245 ff. Der Versuch I dachte Th. Berok, Fünf Abb. zur Gesch. der
von P. Orain (De ratione, quae inter Piatonis griech. Phil. u. Astron. S. 3. Dagegen Ein-
Phaedrum symposiumque intercedat, Comra. Wendungen von W. Christ, Plat. Stud. 494 f.
philol.Jenens. 7, 1906, 21 ff.), den Phaidros vor und E. Zeller, Über die zeitgeschichtlichen
das Symposion ^u setzen, überzeugt nicht. | Beziehungen des plat. Theätet, Berl. Ak. Sitz.-
»UnhaltsdaretellungbeiC. Ritter, Unters. her. 1886 S. 631 ff. und 1887 S. 214, wo die
143—187. ; Stelle über die Peltasten p. 165 d für die Zeit
«) Vgl. S. 623; die Änderung der Form | 392— 390 geltend gemacht wird. DazuE.ZsL-
weist daraufhin, daß der Theaitetos nach i ler, Archiv f. Gesch. d.Philos. 5 (1892) 289 ff.
Protagoras, Euthydemos und Symposion ge- *) Diese Erörterungen werden in der
schrieben ist. Die Eigenart der Einkleidung großen Digression des Sophistes weiter-
hat Anlaß gegeben zu der Legende, die in gesponnen, wo p. 251b Antisthenes unter den
dem Berliner Theaitetoskommentar (Berliner otfiftaOng nor yFonruov zu verstehen sein wird.
Klassikertexte U. 1905, col. 3, 28 ff.) auftritt, | «) Auf diese Stufe stellt Piaton, künst-
Pl. habe den Th. zuerst als dramatischen ' lieh verkoppelnd, den Protagoras und Hera-
Dialog veröffentlicht, dann umgearbeitet {(ff- kleitos (H. Räder 281 f.).
(tfrai (Vt xni ak/j) .-roooi'uioy r.-TÖy'r/oov o/edor ') Über die allmähliche Entstehung dieses
Tojy t'oior ort'/on\ or aoyi) ' ,u.na ye, w .lat, 7 s- Begriffs bei Platon H. Kädbr 290.
of/iT Tor ü^Eoi ßeaiTt'jTov ^.oyov;*).
' 4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ 342.) 649
dem Dialog die Verwerfung der alle Erkenntnis unmöglich machenden
Physik des Herakleitos und der Hinweis auf die entgegengesetzte An-
schauung der Eleaten — eine Vorausdeutung auf den Parmenides (183e).
Aber die Möglichkeit, durch die Ideenlehre den Begriff des Wissens auf
festen Grund zu stellen, wird gar nicht in Betracht gezogen. Die Be-
handlung des ganz abstrakten Themas ist durch herrliche Bilder und
Gleichnisse belebt, wie die von der Hebammenkunst (jjuuevtixt]) des Sokrates
(p. 149 — 151)0 und von der Seele als dem Taubenschlag der Ideen (p. 197),
Der Dialog erhält seine Fortsetzung in dem Sophistes und Politikos, deren
Abfassung aber geraume Zeit später zu fallen scheint. Über die Ab-
fassungszeit gingen früher die Meinungen weit auseinander; manche, wie
E. Zeller, setzten ihn bald nach der Zeit der Eingangsszene um 392, andere
nach dem Euagoras des Isokrates oder nach 374, und zwar Th. Bergk
nach dem Tod des Königs Agesilaos 357, E. Roh de nach dem Regierungs-
antritt des Agesipolis II. 371.*) Jedenfalls gehört er zu den späteren Dia-
logen und bezeichnet den ersten bedeutsamen Schritt zu der letzten Periode
von Piatons Philosophie hin.
342. Die Dialoge der letzten Periode.*) Die Ideenlehre wird
festgehalten und revidiert, tritt aber in den konstruktiven Dialogen
der spätesten Zeit in der Diskussion fast bis zur Unkenntlichkeit in
den Hintergrund. Bezeichnend dafür ist auch die Neigung (Timaios,
Kritias, Nomoi), vorbildliche Zustände nicht sowohl im Reich der Ideen,
als in einer fernen Vergangenheit zu suchen, also ein Übergehen von der
absolutistisch-begrifflichen in relativistisch-geschichtliche Betrachtung mit
pessimistischer Stimmung der Gegenwart gegenüber. Gegenstand der Be-
trachtung werden immer mehr die Mischzustände der Wirklichkeit, deren
Gesetzmäßigkeit durch eingehende Begriflfsteilung und Gruppierung er-
schlossen und für die dann schließlich in den Gesetzen und im Timaios
nach der ethisch-poUtischen und der physikalischen Seite hin eine Norm
festgestellt wird. Die Sorgfalt der künstlerischen Ausarbeitung läßt nach;
die prächtigen Szenerien und feinen Charakterzeichnungen verschwinden
vor trocken sachlicher Dialektik; Züge lehrhafter Systematik machen sich
^) Auf die Hebammenkunst des Sokrates
ist, wie A. Römeb, Bayr. Ak. Sitz.ber. 1896
8. 228 nachweist, schon angespielt von Ari-
stophanes nub. 137.
2) E. RoHDE, Kl. Sehr. I 256 flf. hielt, wie
zu gleicher Zeit Th. Bergk, die Stelle p. 175 a
über die Lobreden auf Könige zusammen mit
Isoer. Euag. c. 8, wo sich der Rhetor rühmt,
die erste Lobrede auf einen berühmten Mann
der Gegenwart geschrieben zu haben. Da-
gegen meint E. Zeller, Piaton rede nicht von
geschriebenen Lobreden wie Isokrates, und
bezieht die 25 Ahnen der piaton. Stelle nicht
auf den König Agesilaos, sondern auf dessen
Kollegen Agesipolis (394—380), auf den die
Zahl 25 besser passe, an dessen Stelle aber
nach Rohdes Nachweis Agesipolis IL. der
einigen plat. Dialogen aus den Reden des Isokr.,
Basel 1890. S.22ff. (= Kl. Sehr. 1 103 ff.), den
Th. nach 364. Für spätere Ansetzung spricht
auch das Mathematische, worüber C. Ritter,
Komm, zu den Gesetzen 227. F. Süsbuihl,
Neue piaton. Forschungen, Ind. lect., Greifs-
wald 1898, kommt zu dem Schluß .nicht später
als etwa 387*. Über die völlige Unsicherheit
aller äußeren Kriterien H. Rädeb 295 f.
^) Sehr förderlich für das Vei-ständnis
der Altersdialoge sind die Inhaltsdarstellungen
von C. Ritter (zuerst erschien eine solche
für die Gesetze, nebst Kommentar, Leipzig
1896; dann von Parm. Soph. Politic. Phileb.
Tim. Critias, Stuttg. 1903). Rückständig ist
F. HoBN, Piatonstudien, N. F. (Cratyl. Theaet.
Parm. Soph. Politic), Wien 1904, der die fünf
erst 371 zur Regierung kam, treten müßte. ! genannten Dialoge zwischen Gorg. u. Symp.
Ahnlich setzt F. Dümmler, Chronol. Beitr. zu , setzen will.
650 Orieohiflche Litteratnrgeschichte. L ElassiBche Periode.
bemerklich ; die Anlage wird durch große Digressionen (besonders im Sophistes,
Politikos, Timaios-Kritias) schwerfällig; an Stelle lebendigen Gedankenaus-
tausches tritt teils katechismusartiges Abfragen, teils fortlaufender Vortrag.
Auf den IlaQfxevldrjg^ ein Gespräch i) des jugendlichen Sokrates mit
dem greisen Parmenides, wird bereits im Sophistes p.217c als Xöyog ndyxcdog
hingewiesen.*) Das Gespräch wird von Antiphon, dem Halbbruder Piatons
(? s. 0. S. 614, 5), wiedergegeben, der es seinerseits wieder von Pythodoros
gehört und auswendig gelernt haben will. 3) Im ersten Teil bekämpft der
eleatische Philosoph die Ideenlehre, und Sokrates weicht vor den Einwürfen
des Gegners, die zum Teil bei Aristoteles (met. I 9) wiederkehren, derart
zurück, daß er selbst an der Möglichkeit einer dialektischen Begründung
jener Grundlehre der früheren platonischen Philosophie zu verzweifeln
scheint.^) Der zweite größere Teil enthält eine äußerst spinöse Erörterung
über das Eine und Viele, eine Probe der eleatischen und megarischen, mit
Antinomien operierenden Dialektik, mit dem Ergebnis, daß die eleatische
Einslehre in ihren Grundpfeilern erschüttert wird. Wie aber dieser zweite
Teil mit dem ersten zusammenhängt, ob er etwa dazu dienen soll, die im
ersten halb fallen gelassene Ideenlehre wieder zu stützen, ist von Piaton
nicht klar gelegt.*^) Aber deshalb darf man nicht an der Echtheit dieses
hervorragenden Werkes der Disputierkunst z weif ein ;<^) W. Christ fand es
wahrscheinlich, daß Piaton im Sinne hatte, dem Parmenides noch einen
andern Dialog nachfolgen zu lassen, der die Lösung bringen sollte, ganz
in der Art des Aristoteles, welcher der Lösung der Fragen eine Aus-
einandersetzung der Aporien vorauszuschicken pflegte; aber Piaton habe
die Lösung nicht gegeben und uns werde es schwer fallen, einen Versuch
der Lösung im Geist Piatons auch nur in Umrissen aufzustellen.') Sehr
ansprechend ist die Auffassung H. Räders,®) Piaton führe im ersten Teil
eine vernichtende Kritik seiner eigenen Ideenlehre im Namen der eleatisch
^) über die Zeit des Gespräches s. o. ®) Für die Unechthcit K. Schaarschiodt,
S. 133. ! Plat. Sehr. 164; F. Übbrweo, Unters. 176 ff. ; .
«) E. Zeller (Phil, der Gr. II 1* 546) und H. v. Arnim, Gott. Gel. Anz. 1892. 305 ff.
andere (auch H. Räder 335 f.) nehmen an,
daß Piaton an jener Stelle des Sophistes sich
auf Parmenides zurückbeziehe. Schon F.
') Gegen diesen Ausweg der Verzweif-
lung erklärt sich 0. Apelt, der schon in
seinen grundlegenden Untersuchungen über
Schleiermacher setzte den Parm. vor den i den Parmenides des Plato (Weimar 1879) den
Soph. ' Parm. der früheren Zeit platonischer Schrift-
') Daß trotz dieser ganz besonders um- stellerei zugeschrieben hatte, Phil. Anz. 17
ständlichen dreifachen Verpackung als re- (1887) 27. H. Jackson, Joum. of Philol. 11
feriercnder Dialog der Parm. nach dem Theai- ; (1882) 287 ff. und 10 (1882) 253 ff. findet in
tetos verfaßt sei, hält wohl mit Recht H. i Parmenides und Philebos die spätere, dem
Räder 52. 300 ff. 316 f. fest. Aristoteles vorschwebende Form der plato-
*) Piaton läßt allerdings in den Nomoi | nischen Ideenlehre,
die Ideen beiseite; aber daraus ist nicht zu ®) H.Räder S. 315 formuliert die Meinung
schließen, daß er in seiner letzten Entwick- Platous so: ^Ihr (Megariker) behauptet von
lungsperiodo überhaupt die Ideenlehre auf- ' mir, daß ich zwischen den Ideen und den
gegeben habe. ; Einzeldingen einen Dualismus statuiere und
^) Zur älteren Litteratur bei F. Susemihl gebt euch selbst für die einzigen konsequen-
II 353 kommt noch P. Shorey, De Piatonis ten Monisten aus. Seht ihr denn nicht ein,
idearum doctrina atque mentis Iiumanae i daß ihr in demselben Moment, wo ihr den
rationibu« commentat., Monachii 1884. Un- i Monismus festhaltet und den Dualismus
genügend ist der Ausweg des Plotinos X 8 verwerft, selbst einen Dualismus aufstellt
Kirchhoff, daß das n- in dreifachem Sinne > zwischen dem, was ihr festhaltet und dem,
genommen werden könne. \ was ihr verwerft?"
4. Die Philosophie, c) Platon. (§ 842.) 651
gerichteten Megariker vor, um dann im zweiten Teil zu zeigen, daß durch
die gegen die Ideenlehre geltend gemachten Einwendungen ebenso auch
die eleatische Einheitslehre umgestoßen werde. Jedenfalls zeigt die schroff
negativ-kritische Richtung des Dialogs eine neue Wendung in Piatons
Gedankenwelt an. Die Abfassungszeit kann von der des Sophistes nicht
weit abliegen.^)
ZotpiGxrig und Uokirixog^ zwei unter sich eng zusammenhängende
Dialoge, in denen es dem Piaton weniger auf die Ergebnisse als auf die
Methode ankommt, sollten nach dem Eingang des ersteren den Theaitetos
fortsetzen*) und in einem nicht mehr geschriebenen vierten Dialog, 0d6o(Hpog^
ihren Abschluß finden. 8) Sprachlich und stilistisch tragen sie unverkennbar
das Gepräge von Piatons letzter schriftstellerischer Periode. Ausgesprochener,
aber keineswegs einziger Zweck der drei Dialoge ist, die Begriffe des ao-
(piaTi]g, jiokmxög und q.HX6ooq?og festzustellen. Die angewandte Methode ist die
spezifisch dialektische, d. h. die Spaltung der Art in ihre Spezies {dialgeoig,
divisio)^ durch die schließlich die richtige Definition des Sophisten und Poli-
tikers gewonnen wird; der Sophistes handelt aber in breiter Digression (237b
bis 264 b), deren Inhalt dem Piaton offenbar (s. politic. 284b) die Hauptsache
war, auch über das Seiende und Nichtseiende. Die ganze Darstellungsweise*)
ist weit entfernt von der ethischen Wärme der früheren Gespräche und wird
von Piaton selbst als eine fremde dadurch bezeichnet, daß im Sophistes der
eleatische Fremdling {^evog), den Theodoros mitbringt, im Politikos der junge
Sokrates,^) ein Namensvetter des ebenfalls anwesenden, aber meist pas-
siven Philosophen Sokrates, Hauptträger des Gesprächs sind. F. Schleier-
macher nahm an, daß Piaton im Sophistes p. 246 b auf die megarische
Schule hingewiesen habe und wir also in unseren Dialogen die von Aischines
weitergebildete Kunst der eleatischen Dialektik vor uns haben. Dagegen
weist F. Dümmler (Antisthenica p. 51 ff.) nach, daß die Spitze des Sophistes
mehr gegen Antisthenes gerichtet ist.^) Die beiden Dialoge scheinen in
dem dreizehnten platonischen Brief (360 b) unter dem Titel diaigioeig er-
wähnt zu sein, wonach W. Christ (Platonische Studien 488) unter Beistim-
mung von H. Räder (S. 351) ihre , Abfassungszeit um 364 setzt; dazu stimmen
* ) J. Ebebz, Arch. f. Gesch. der Philos. 20 1 örtenmg des Sophistes hereingezogenen Frage
(1907) 81 ff. sieht mit viel Phantasie im Farm. | über das Wesen des Seins hatte dieser Dia-
ein Protokoll einer Akademiesitzung von 366 1 log auch die Aufschrift uegi toi» dvio^. Vgl.
mit travestierten Personen (der junge Sokr. ! 0. Apblt, Piatons Sophistes in geschicht-
= Speusippos. Parm. = Piaton, Zenon = j licher Beleuchtung, Rh. M. 50 (1895) 394 bis
Dion, Aristoteles = dem Schttler Piatons). — . 452. Zur Erklärung des Soph. C. Ritter,
0. Apelt und Th. Gomperz stellen den Parm. Arch. f. Gesch. der Philos. 10 (1897) 478 ff.;
vor Theaitetos. I 1 1 (1898) 18 ff. ; zum Polit. ders., Plat. Politicus^
'^) Daß die Anknüpfung an den Theai-
tetos, ebenso wie die des Timaios an die
Politeia nur eine äußerliche ist, führt gut
aus I. Bbuns, Das litterarische Porträt 274 f. ;
H. Räder 818.
3) L. Spengels Vermutung über den 0dd-
ooff o^ s. o. S. 644 ; H. Räder 352 ff. meint,
Beitr. zu seiner Erkl., Progr. Ellwangen 1896.
^) Über diesen jungen Sokrates vgl.
Theaet. 174d, Plat. ep. 11 und Aristoteles
metaph. p. 1036 b 25.
^) Darüber 0. Apelt in der Note zu der
Stelle p. 246 b. — Für die Echtheit der Dia-
loge, trotzdem sie so sehr von dem Charakter
das Gedankenmaterial, das für den 0/A. be- I der 2üioy.oanxoi koyoi abweichen, spricht, ab-
stimmt war, sei in die 'Riivouig aufgenommen ' gesehen von dem reichen philosophischen Ge-
worden, halt, namentlich, daß Aristoteles polit. VI 2
^) Über diese Scheidekunst vgl. Aristo- p. 1289b 5 sich auf eine Stelle des Politikos
teles metaph. VI 12. -— Von der in die Er- ! p. 303a bezieht.
652 Griechische Litteratorgeschichte, L Klassische Periode.
auch die von W. Dittenberger, M. Schanz, L. Campbell u. a. aufgedeckten
sprachlichen Indizien. Diesen gegenüber kann die frühere, namentlich von
E. Zeller und F. Susemihl geteilte Meinung, daß die beiden Dialoge wegen
ihres prüfenden Charakters den Jugendschriften Piatons zuzuzählen seien,
nicht bestehen.^) Die Umwälzung in Piatons Anschauungen, die sich im
Parmenides ankündigte, ist im Sophistes vollzogen: nebst der eleatischen
Einheitslehre wird auch Piatons eigene frühere Ideenlehre (unter den
„Ideenfreunden" vorsteht er sich selbst in seinem früheren Stadium) ver-
worfen; ein unbewegliches Sein gilt dem Piaton jetzt als unerkennbar;
auch der Bewegung kommt ein Sein zu; das Sein ist ein Gemisch von
Gegensätzen, und die Aufgabe ist, das Verhältnis der Ideen zu der Viel-
heit der Erscheinungen, das zuvor in wenig klarer Weise als eine Teil-
nahme bezeichnet war, deutlicher zu formulieren. — Der Politikos, in dem
(284 b. 286 b) der Sophistes zitiert wird, sucht den Begriff des richtigen
Staatsmanns, von dem die Fähigkeit gefordert wird, die rechte Mischung
im Staat herzustellen; im Vergleich mit der Politeia wird hier die Mon-
archie stärker hervorgehoben, die Demokratie milder beurteilt und über
die Aristokratie gestellt, von Timokratie nicht mehr gesprochen. Der
Idealzustand rückt femer, die Neigung, sich mit dem Gegebenen abzu-
finden, ihm einen gewissen Wert zuzuerkennen, sich analysierend und
teilend darauf einzulassen, wächst. Die Kritik an der kynischen, auch bei
Xenophon (Cyrop. VIII 2, 14) begegnenden Vergleichung des Staatsleiters
mit einem Hirten wird (269 c ff.) in Form eines Mythus gegeben.
Der <PiXrißog teilt mit den dialektischen Dialogen der dritten Periode
den Mangel szenischer Einkleidung, so daß es selbst zweifelhaft bleibt, ob
unter Philebos eine wirkliche Persönlichkeit vorzustellen sei. Auch in
Eigenheiten des Stils, wie in dem kunstlosen Bestreben, den ins Stocken
kommenden Dialog durch Wendungen wie code, ovrojg und ähnliche wieder
in Gang zu bringen, zeigt sich die Verwandtschaft mit den Schriften der
spätesten Entwicklungsperiode Piatons.*) Den älteren Dialogen ist der
Philebos nur darin ähnlich, daß Sokrates wieder das Gespräch leitet, aber
nur der Name Sokrates ohne alle persönliche Farbe, also doch anders als
früher. Gegenstand des Dialoges ist die schon in der Politeia (505 a flf.)
berührte ethische Frage nach dem Guten, das weder mit der Lust, noch
mit der Einsicht 3) gleichzusetzen, sondern in der Vereinigung beider zu
suchen ist. Zur Scheidung der Begriffe zieht Piaton hier in weitem Um-
fang die pythagoreischen Kategorien des Begrenzten und Unbegrenzten
herein und betont den Wert der Mathematik stark, während die Ideen-
*) Dem alternden Piaton werden die Dia- j tonische Aufsätze III (Wiener Ak, Sitz.ber.
löge auch von 0. Apelt in den Prolegomena ' 145, 1902. nr. 11) 32 und Griech. Denker IP
seiner Ausgabe des Sophistes (Leipz. 1897 p. 37) 601 f. im Zusammenhang mit der Frage der
zugewiesen. Daß der Politikos. der mehr von Abfassungszeit.
praktischen Gesichtspunkten ausgeht, nach der | ^) Daß der Phil, gegen bestimmte zeit-
Politeia zu setzen ist, nicht umgekehrt, wie genössische Philosophen, etwa Aristippos oder
man früher annahm, beweist J. Nüssek, über I die Megariker oder gar (H. Siebeck, Zeitschr.
das Verhältnis der platonischen Politeia zum f. Philos. 107, 1895, 1 ff.) gegen Aristoteles
Politikos. Philol. 53 (1894) 13—37. polemisiere, ist nicht nötig anzunehmen (H.
^) Nachgewiesen von Tn. Gomperz, Pia- ■ Räder 357 f.).
4. IHe Philosophie, c) Flaton. (§ 342.) 653
lehre zurücktritt. Seiner späteren Gedankenentwicklung gehört auch die
Aufstellung von Mischformen an.^)
Das Gespräch im Tljuaiog hat nach der Fiktion des Proömiums am
Tag nach der Politeia stattgefunden*) und knüpft insofern an die Politeia
an, als Sokrates, nicht zufrieden mit der Utopie des Idealstaats, diesen
nun auch in die Wirklichkeit eingeführt zu sehen wünscht (Tim. 19b) und
diesen Wunsch in einer Art von Roman sich erfüllen läßt; die Verwirk-
lichung des Staates wird in ein TJrathen, wie es vor neuntausend Jahren
war, zurückversetzt. Dieser Plan wird aber erst im Kritias ausgeführt,
so daß der ganze Timaios von Kapitel 5 an als eine große Digression^)
empfunden wird. Mit der von dem Pythagoreer Timaios^) aus dem itali-
schen Lokroi (Tim. 20a) zusammenhängend vorgetragenen Lehre von der
Hervorbringung der Welt durch den göttlichen Schöpfer {drjjuiovgyog), von
der dem All innewohnenden Weltseele und dem zur Aufnahme (vTrodoxrj)
der Formen oder Ideen geeigneten unendlichen Raum, von der Bildung
der Elemente und der Schöpfung der diesseitigen Welt, von der Gestaltung
des menschlichen Organismus und der Harmonie von Seele und Leib greift
Piaton, früher ein Verächter der ^vatg als des jui] öv^ über die Menschen-
geschichte zurück auf die Geschichte der Natur und stellt damit seine
Ethik und Politik auf einen kosmischen Hintergrund, ein Aufbau, den
Demokritos angebahnt und Aristoteles weiter ausgeführt hat. Mit dieser
Auffassung ist die volle Konsequenz gezogen aus den Bemühungen der
nächst vorangegangenen Dialoge, auch der Erscheinungswelt wissenschaft-
lich gerecht zu werden. Wahrheitsgemäße Erkenntnis hält Piaton freilich im
Gebiet der werdenden und veränderlichen cpvoig für unmöglich und trägt
denn seine Physik als eine nur wahrscheinliche in mythologischer Form
vor, will also hier nicht beim Wort genommen werden. Ideenwelt und
Sinnenwelt stehen sich im Timaios unvermittelt gegenüber, einen Paralle-
lismus bildend. Die Sinnenwelt schafft der drjjLuovQyog mit Hilfe der Einzel-
götter nach dem Vorbild der Ideenwelt aus dem hinter den vier Elementen
stehenden qualitätslosen ürstoflf (Anaximandros) ; sie ist ein Ccpov mit eigener
Seele. Die beiden Welten sind von der Zahl beherrscht und weisen Ein-
heit sowie Vielheit auf. Die alte Scheidung von biioTruirj und öoi^}] dö^a
und ihren beiden Gebieten, der Ideen- und der Sinnenwelt, wird im Timaios
streng aufrecht gehalten. Ist der Dialog hier richtig eingeordnet, so muß er
als eine Rehabilitation der in den vorhergehenden Dialogen erschütterten
Ideenlehre gelten. Nachdem Timaios die Kosmologie vorgetragen hat,
fügt er am Schluß noch einen kurzen, aber sehr interessanten Abriß der
Medizin und Zoologie bei. Die durch den Kommentator Proklos uns er-
haltene und im Anhang des platonischen Dialogs abgedruckte Schrift des
>) Die Stellung des Philebos nach dem I Gesch. derPhilo8.9(1896)l ff. Zur inhaltlichen
Tolitikos ist innerlich begründet von H. Räder j Erklärung C.RiTTEB,Philol.62 (1903) 489— 540.
873 f. Die geschichtlichen Anspielungen, die
J. Eberz, Über den Philebos des Piaton (Diss.
Würzb. 1902) im Phil, such! (Protarchos =
^) Daraus folgt natürlich nicht, daß der
Tim. sofort nach der Pol. verfaßt sein müsse.
') Siehe darüber C. Ritter, Philol. 62
Dionysios IL, Philebos = Philistos) und auf (1903) 410 ff.
die er die Datierung 367 stützt, sind sehr i *) Im 13. Brief scheint die Lehre des
unsicher. — Die von F. Hörn bestrittene ' Timaios unter dem Namen Ilvdayfigeta ver-
Echtheit des Phil, stützt 0. Apelt, Arch. f. , steckt zu sein; S.W.Christ, Plat. Stud.482f.
654 Griechische Litteratorgeschichte. I. KlaAsische Periode.
sogenannten Timaios Ttegl x^wxäg x6oju(o xal <pvoiog ist ein auf den Namen
jenes Pythagoreers gefälschter Auszug der platonischen Schrift, verfaßt
wohl in römischer Zeit, als der Neupythagoreismus aufkam.*) Das tief-
sinnige und großartige Weltbild, das Piaton im Timaios entwirft, hat auf
die spätere Zeit trotz seiner vielfachen Dunkelheit mächtige Anziehungs-
kraft ausgeübt. Cicero hat den Timaios ins Lateinische übersetzt, Krantor, ^)
Eratosthenes,*) Poseidonios,*) Plutarchos^) und viele andere^) haben sich
mit der Deutung des Werkes beschäftigt; die von einem Kommentar be-
gleitete lateinische Übersetzung des Chalcidius (4. Jahrhundert n. Chr.) hat
im ganzen Mittelalter eifrige Leser gefunden',) bei den Arabern war der
Timaios das am meisten beachtete Werk Piatons,®) und der Timaios ist es,
den Raflfael auf dem Fresko der Schule von Athen den Philosophen in
der Hand halten läßt.»)
Der Kgiriag sollte nach dem Eingang des Timaios p. 20a die dritte,
der Hermokrates^o) dje vierte Stelle in der mit Politeia und Timaios be-
ginnenden Tetralogie einnehmen, ^i) Zur Abfassung des Hermokrates kam
Piaton gar nicht; der Kritias blieb Fragment, wie Plutarch (Selon 32) be-
zeugt. Er enthält die Schilderung eines gewaltigen Reiches in der Atlantis,
dessen Macht später an einem kleinen, nach platonischem Muster ein-
gerichteten Staate scheitern sollte. Die Kunde von jenem Reich in der
Atlantis will Kritias von seinem Ahnen Selon erhalten haben, dem sie
ägyptische Priester in Sais vermittelt hatten. i*) Für Piatons erdgeschicht-
liche Anschauungen bietet der Dialog interessante Anhaltspunkte.
Die Nojuoi in zwölf Büchern sind das letzte Werk Piatons und fallen
in die Zeit des jüngeren Dionysios.^^) Der Standpunkt des Philosophen in
diesem Werk bedeutet eiii Aufgeben des Idealstaats und ein Anbequemen
an die Wirklichkeit {Av&oo'moK; ydg diakeya/neßa, dXk' ov i^oig 732 e): aus
einem Philosophenkönigtum wird eine auf Grundbesitz gestellte Misch-
verfassung aus Elementen der Monarchie und der Demokratie, in der auf
die Staatsordnung des Minos Rücksicht genommen wird. Die Gütergemein-
*) Verfaßt ist der falsche Timaios vor ') Vom Standpunkt des heutigen Natur-
dem 2. Jahrh. n. Chr., da er bereits von Niko-
machos (härm. 11, 6 extr.) zitiert wird. J.
R. W. Akton, De origine libclli Jifoi v''7«s
forschers hat die ganze Naturlehre Piatons
einer für den Philologen und Philosophen
sehr lesenswerten Betrachtung unterzogen
xoofuo y,nt t/voio:;, Naumburg 1891. ' B. Rothlaüp, Die Physik Piatos, Progr. der
«) Procl. ad Plat. Tim. I 76, 1. 277, 8 = Realsch. München 1887 u. 1888.
DiEiiL. , »0) H. Rädbr 379 sucht nach E.Pfleiderers
') Über Erat. IJ/Muoyixd^ G. Knaaok in j Vorgang den Inhalt des ungeschriebenen
der Realenz., 11. Halbb. 361. ' Hermokrates in den Gesetzen.
*) A. ScHMBKEL, Philos.d.mittl.Stoa 317. »») Vgl. Grit. p. 108a.
*) Plut. mor. VI 154 ff. Bernardakis. »«) W. Christ, Piaton. Stud. 507 f. versucht
*) Verzeichnis der Timaioskommentatoren eine geschichtliche Verifikation dieser Phan-
bei H. Krause, Studia neoplat., Leipz. 1904, i tasie.
46 ff.; wirwis8euvon41Timaioskommentaren. . *') Vgl.p.709e, 710d u.638b mit Clearch.
') B.W. SwiTALSKi, Des Chalcidius Kom- bei Ath. 541 d; die sympathische Beurteilung
mentar zu Piatos Timäus , eine historisch- , des Tyrannen an den beiden zuerst angeführ-
kritische Untersuchung. Diss. München 1899 , ten Stellen steht in schroffem Widerspruch
= Beitr. zur Gesch. d. Philos. d. Mittelalters, zu Politeia IX und kann wohl nur aus ac-
herausg. von C. Bäumker und G. v. Hkrtling cidentiellen Gründen erklärt werden. Daß
III (Münster 1902) 6; vgl. M. Schanz. Rom. | die Nomoi nach der Republik geschrieben
Litt. IV 126 f. ; sind, bezeugt auch Arist. polit. 1264b 26.
^) M. STErNsciiNEiDER, Ccntralbl. f. Bibl. Die Gesetze sind wahrscheinlich in Isoer.
Beiheft 12 (1893) 21. , Pliil. 12 gemeint.
4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ 342.)
655
Schaft wird als unausführbar aufgegeben (p. 739 c ff.), ebenso die kasten-
artige Berufsteilung; an die Stelle treten Vorschriften über Ackerverteilung
und Beschränkung der Besitzfreiheit; die Poesie wird nicht ganz aus dem
Staat verbannt, aber ethisch-politischen Grundsätzen unterworfen und
staatlich beaufsichtigt; die Ehe wird ebensowenig wie das Privateigentum
aufgehoben, aber sie wie alle anderen Grundlagen des Gemeinwesens, Er-
ziehung, Verteilung der öffentlichen Gewalten, Beamtenwahl, Recht-
sprechung, Staatsreligion, militärische Disziplin, werden durch eine all-
seitige, bis ins einzelne gehende, zum Teil, wie in der Beschränkung der
religiösen Freiheit, sehr polizeimäßige Gesetzgebung (B. X Kap. 15 u. 16)
geregelt, wobei vielfach an Stelle der freien philosophischen Konstruktion
ein Anschluß an reale Verhältnisse griechischer Staaten, insbesondere
Athens, 1) tritt. Von der Erziehung und Sonderstellung der staatsleitenden
Philosophen in der Politeia VI. VII lassen die Nomoi nur noch die ^nächt-
liche Versammlung** (X 15; XII 6 ff., 11 ff.)^) übrig. Der wissenschaftliche
Wert der Mathematik und Astronomie wird noch höher veranschlagt als
in der Politeia. Bemerkenswert ist dagegen die Herabsetzung des Tugend-
wertes der ävdgeia wegen ihres irrationalen, triebartigen Charakters.^) Zu
metaphysischen Spekulationen ist wenig Veranlassung genommen; aber
eine bedeutsame, freilich auch schon im Parmenides verbreitete Weiter-
bildung auf diesem Gebiet ist die Vollendung des Dualismus durch An-
nahme einer bösen Weltseele neben der guten (896 d f.).*) In zwei Forde-
rungen faßt Piaton das Glaubensbekenntnis seines Alters zusammen: fürs
erste verlangt er die Überzeugung, daß die Seele dem Körper an Alter
und Wert voranstehe, fürs zweite die Überzeugung von der kosmisch be-
gründeten Gesetzmäßigkeit aller Lebensformen, die durch Studium der
Mathematik, insbesondere der Astronomie, wissenschaftlich befestigt werden
müsse. — Anlaß zu dem Gespräch bietet nach der Fiktion des Philosophen
die Neugründung einer kretischen Kolonie, zu deren Einrichtung einer
der Mitunterredner, Kleinias, berufen ist. Cicero hat das Verhältnis der
beiden Werke nachgeahmt, indem er auf den Dialog de republica in
späteren Jahren die Leges folgen ließ. Piatons Gesetze spielen in Kreta,
nicht mehr in Athen; in ihnen allein auch fehlt die Person des Sokrates
ganz. Das Gespräch wird von einem bejahrten Fremdling aus Athen,
hinter dem Piaton sich selbst verbirgt, und einem spartanischen und
kretischen Greis, MegiUos und Kleinias mit Namen, geführt. Auf die
späte Abfassung weist auch der Verfall der dialogischen Kunstform hin,
indem im ganzen fünften Buch und zum großen Teil auch im elften und
zwölften der Dialog dem fortlaufenden Lehrvortrag Platz macht. Daß das
Werk unvollendet von Piaton hinterlassen wurde und sein Schüler
Philippos aus Opus die Herausgabe besorgte, ist alte Überlieferung (Diog.
L. III 37; Suid. s. (pd6oo<po<;; Olympiod. Proleg. 24). Der unvollendete Zu-
stand tritt in dem Text vielfach entgegen, namentlich in den nicht seltenen
*) Über Piatons staatsrechtliche Studiea
zu den Gesetzen Wilamowitz, Aristot. und
Athen I 330 ff.; B. Kbil, Gott. Nachr.
1899, 143, 1.
*) Über deren Verhältnis zu der tpvXaxe^
der UoliiEta C. Ritter, Komm, zu d. Ges. 350 ff.
») H. Räder 399 f.
*) Dagegen C. Ritter a. a. 0. 307 ff.
656
Oriechische Litteratnrgeschichte. I. Klasaische Periode.
Wiederholungen und Widersprüchen, denen freilich auf der anderen Seite
ein dichtes Netz von Vor- und Rückbeziehungen gegenübersteht.*) — Nach
einer Stelle im fünften Buch p. 739e*) trug sich Piaton mit dem Gedanken,
den beiden in der Politeia und den Nomoi dargestellten Staatsverfassungen
noch eine dritte nachfolgen zu lassen; aber aus der vorsichtigen Fassung
TgiTjjv jueid ravxa, idr ^edg t'^eXyjt diaTiegavoifjuer^a ersieht man, daß er selbst
nicht mehr an die Möglichkeit einer Ausführung des Planes glaubte.*) —
Für das richtige Verständnis der ausgedehnten theoretischen Beschäftigung
Piatons mit der Staats- und Gesetzeslehre verdient die Überlieferung Be-
achtung, daß er nicht bloia selbst von mehieren Staaten, wie Kyrene,
Theben, Arkadien, um Entwerfung von Gesetzen angegangen wurde,*) son-
dern daß auch einige seiner Schüler, wie Aristonymos, Phormion, Mene-
demos, tatsächlich als Gesetzgeber tätig waren.^)
343. Unechte und zweifelhafte Schriften.®) Schon im Altertum
wurden als unecht erkannt (s. o. S. 624, 3) die Dialoge lA^ioxog, negl di-
xaioVf"') Tteol ägsrrjgf Arjjnödoxog, 2!iovq}og,^) 'Egv^iag (/} *EgaoioTgatog Diog. L.
in 62), ''AXxvcov.^) Die meisten von ihnen sind eristische Disputationen über
landläufige Fragen der Popularphilosophie, wie über das Gerechte, die Lehr-
barkeit der Tugend, den Wert des Ileichtums, etwa in der Art der Memora-
bilien Xenophons. Von größerem Umfang ist der Axiochos, ein philosophi-
scher Trostzuspruch an einen Sterbenden, ^o) und der Eryxias, der an das
*) Seine 1839 ausgesprochene Unecht-
erklärung der Nomoi hat E. Zeller später
selbst aufgegeben. I. Bruns, Piatos Gesetze
vor und nach ihrer Herausgabe durch Philip-
g)8 von Opus, Weimar 1880, stellte die kühne
ypothese auf, daß der Redaktor zwei Vor-
lagen des Autors (1. I nebst Stücken von V
und XII; 2. III — XII) vorgefunden und un-
geschickt miteinander verbunden habe. Eine
ähnliche Ansicht Th. Bergks wird von E.
RoHDE, Kl. Sehr. I 320 ff. kritisiert. Siehe a.
M. Krie«, Die Überarbeitung der piaton. Ges.
durch Philipp von Opus, Frei bürg 1896. Da-
gegen erhebt Tn. Gohperz, Platonische Auf-
sätze III, besonnene Einwände; ebenso C.
Ritter im Kommentar zu Plat. leg. p. 54 ff.
61 ff. und Berl. phil. W.schr. 23 (1903) 551;
daß die Gesetze erst nach Piatons Tod ver-
öffentlicht worden seien, ist nur schlecht be-
zeugt (so F. Blass im Apophoreton. Berl. 1903,
62: H. Räder 396, der die Abfassung zwischen
357 und 354 legen möchte. Siehe aber auch
H.GoMPERZ, Arch. f. Gesch. d. Philos.19, 1906,
539 f.). — G. HoFMANN, Krit. Analyse der bei-
den ersten Bücher der platonischen Gesetze.
Diss. München 1905; F. Döring. De legum
Plat. compositione, Diss. Leipz. 1907. — über
die soziale Seite der Lehre Piatons in der Re-
publik und den Nomoi s. R. Pöhlmann, Ge-
schichte des antiken Kommunismus und Sozia-
li.smus, Bd. I, München 1893 S. 269-581.
2) Über diese Stelle E. Rohde. Kl. Sehr.
I 321 f.
3) Andere Erklärung C. Ritter a. a. O.
140 ff.
*) Aelian. v. h. II 42 und XII 30; Diog.
L. III 28; Flut. Luculi. 2, ad princ. inert 1
p. 779 d.
») Flut. adv. Col. 32 p. 1126 c f.
^) Über sprachliche EchtheitBkriterien
diesen Schiiften gegenüber C. Rittbb, Unters.
80-110.
^) Der Inhalt ist verwandt mit Xen. mem. :
K. JofiL. Der echte und der xen. Sokr. 1 402 ff.
®) Der Sis. ist von Dio Chrys. benützt:
J. Wegehaupt, De Dione Chr. Xenophontis
sectatore, Gotha 65 ff.
•) 'A/.xv(or, der von Myrto als zweiter Frau
des Sokrates redet (vgl. Epist. Socratic. 29, 11)
steht auch unter Lukians Werken ; nach Athen.
506 c schrieben ihn andere dem Akademiker
Leon zu. Daß er aus mittelstoischen Kreisen
im 2. Jahrb. v.Chr. hervorgegangen ist, beweist
A. Brinkmann, Quaestion. de dialogis Piatoni
falso addictis specim., Diss. Bonn 1891.
*<>) Eine Analyse des Axiochos gibt 0. Im-
Miscu, Phil. Stud. zu Plato, 1. Heft, Leipz. 1896.
Versuche, aus dem Ax. Lehren des Prodi-
kos wiederzugewinnen, sind zurückgewiesen
von H.Feddersen, Ober den pseudoplat. Dial.
Ax., Cuxhaven 1895, und E. Rohde, Psyche
IP 247, 1. Die ünsterblichkeitsbeweise des
Axiochos zeigen Einfluß der epikureischen
Lehre, worüber A. Brinkmann, Beiträge zur
Kritik und Erklärung des Dialogs Axiochos,
Rh. M. 51 (1896) 441—55. den auch (Rh. M.
52. 1897, 682 f.) ein byzantinisches Axiochos-
zitat nachweist. Der Ax. gehört zu den in
Cic. Tusc. und Plut. consol. ad Apoll, benützten
Quellen (P. Corssen. Rh. M. 36, 1881, 516 ff.).
4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ 343.) 657
Erscheinen eines steinreichen Gesandten aus Syrakus Betrachtungen über
den wahren Reichtum anknüpft, eine Nachbildung des Chamiides.^) Beide
Dialoge haben das Gemeinsame, daß sie Erinnerungen an Vorträge des Pro-
dikos in das Gespräch einflechten (Axioch. p. 366 c u. 369 b und Eryx. p. 397 d).
— Zu den schon im Altertum als unecht verworfenen Dialogen kommen
noch andere, deren Echtheit erst die neuere Kritik angefochten hat:
Der Oedyrjg ist eine mit Benützung des Alkibiades I und anderer
platonischer Dialoge*) gemachte Nachbildung des Laches, indem auch hier
ein angesehener Athener, Demodokos. dem Sokrates seinen Sohn Theages
in die Lehre geben will. Anstößig ist die ungeschichtliche, namentlich
unplatonische Auffassung des Sokrates als eines Wundermanns, der seine
Schüler durch seine bloße Nähe gewissermaßen magnetisiert, und des Dai-
monion, das nicht mehr als die innere Stimme erscheint, sondern wie ein
Privatorakel des Sokrates zum Raterteilen in allen Verlegenheiten herhalten
muß,^) endlich auch die Sprache.*) So gewiß das Gespräch unecht ist, so
interessant ist es als Dokument einer an Spiritismus grenzenden Phase in
der Entwicklung der Sokratik.
^Akxißiddrjg a knüpft an den Protagoras und die Liebe des Sokrates
zu Alkibiades an. Der Dialog stand als Fürstenspiegel in großem Ansehen
bei den Späteren, so daß er oft kommentiert wurde. Gut und echt sokra-
tisch ist die Weise, wie Sokrates dem jungen Alkibiades zu Gemüt führt,
daß er, bevor er als Berater des Volkes auftreten dürfe, zuerst über das,
was gerecht (dixaiov) und nützlich {ovju<p€Qov) ist, mit sich ins reine kommen
müsse. '^) Inhaltlich verwandt ist Xenoph. mem. III 6. Auch mit Xen. anab.
und echten platonischen Dialogen finden sich Berührungen, ohne daß mit
Bestimmtheit gesagt werden könnte, wer der Entlehner oder allenfalls die
gemeinsame Quelle sei. Aber die Personalcharakteristik, ^) der Ton und
die Sprache lassen doch die Feinheit Piatons vermissen.^) Da der Dialog
Anspielungen auf den Frieden des Antalkidas (p. 105c. 120a) und das
Bündnis von Athen und Sparta gegen Theben (p. 121a) um 374 enthält,
so muß er nach dieser Zeit verfaßt sein,®) in die auch sprachliche An-
zeichen weisen.®)
*) I.Bbüns, Litt. Portr. 342. Der Ervxias « (wuig- N. Madvio, Advers. crit. 402 Anm.
wurde von manchen dem Sokratiker Aiscnines verwirft den Dialog, zugleich aber auch den
zugeschrieben. O.ScHROHL,DeEryxiaquifertur | Charmides, Lysis und Laches.
Piatonis, Göttingen 1901 urteilt bezüglich der ^) Ein Aiizeichen für die Zeit vor 371
Abfassungszeit p. 42 : non dubitamus quin dia- \ findet E. Meter, Gesch. d. Alt. V 29 in p. 122 e.
hgtii*non ante tertiumsaeculumconscriptua Sit. \ R. Hibzel, Rh. M. 45 (1890) 419 flf. sieht im
^) R. Adam, Arch. f. Gesch. der Philos. ' Ale. 1. die Antwort eines Akademikers auf
14 (1901) 62 ff. Siehe a. H. Gompebz ebenda i einen Dialog des Aristoxenos. R. Aoak, Arch.
19 (1906) 540 ff., der den Theag. durch Fiat. f. Gesch. d. Philos. 14 (190 1)40 ff. hält den Dia-
reip.496bc angeregt sein läßt. I log für echt, wie ihn Cicero schon als echt
') Ähnlich schon Xenophon mem. 1, 1, 4 benützt habe, sieht in ihm ein Parergon zur
undPlutarch. degenioSocraUsc. 10 p. 580cff.; I Politeia und findet Reminiscenzen an ihn bei
L Bruks, Litt. Portr. 345 ff. Vgl. W. Janell, i Xenophon; jedenfalls sei er 369 entstanden.
Die Echtheit und Abfassungszeit des Theages, Gegen die Echtheit J. Paulu, Alcib. prior
Herm. 36 (1901) 427 ff., der ihn 369/66 setzt, i quo iure vulgo tribuatur Piatoni, Diss. philol.
*) C. Ritter, Unters. 94 ff. Vindob. 8 (1905) 1 ff., der den Dialog nach
'-") Vgl. Plat. symp. 216a. \ Isoer. Paneg. setzen will; ebenso H. Abbs, De
«) I. Bbüns, Litt. Portr. 339 ff. Ale. I qui fertur Plat., Diss. Kiel 1906.
') Hiate z. B. p. 105 b xai ei av ooi filTo« •) C. Ritter, Unters. 89.
Handbuch der klau. Alt^rtnmswissenschaft. vn. 5. Aufl. 42
658 Ghriechische Litteratargescliiohte. I. Elaadsche Periode.
Fest steht die ünechtheit des 'Alxißiddrjg /S', in dem ^Ak>cißidAri<; a
benützt ist; er empfiehlt den Brauch der Lakedaimonier, Gott einfach um
das Gute zu bitten, in Übereinstimmung mit Xenophon mem. I 3, 2; eben
diesem haben nach dem Zeugnis des Athen, p. 506 c einige geradezu den
Dialog zugeschrieben.*)
"InnaQxog interessiert zumeist durch die Nachrichten über die litte-
rarische Tätigkeit des Peisistratiden Hipparchos. Hipparchos wird hier von
Sokrates mit einer von der feinen Ironie des platonischen Sokrates stark
abweichenden Pedanterie über das Wesen des (pdoxegdi^g examiniert.*)
Die 'Egaoraiy in der Situationsschilderung an Charmides und Lysis
angeschlossen, haben den Namen von den Geliebten zweier Knaben, mit
denen Sokrates in der Schreibschule des Dionysios das Thema, daß Philo-
sophie und Vielwissen zwei ganz verschiedene Dinge seien, mit entlehnten
Phrasen bespricht.*)
KieiToqxüVy eine von Chrysippos an vielbenützte*) Schrift, schließt
sich an die Politeia an, paßt aber eher in den Mund eines Gegners der
platonischen Staatslehre als des Piaton selbst*^) und wird wohl richtig
als eine Streitschrift gegen die antisthenische Sokratik verstanden,«) der
Sokrates als bloßer jigorgejirixög, Tugendredner, erschien, der doch das Werk
{^Qyov) der Tugend nicht zustandebringe.
'EjTivojulg {'Emvöfuor bei Olympiod. proleg. 25) soll als Schlußstein
der Gesetze die Erziehung zur Weisheit enthalten, und ihre Anschauungen,
auch die hier neu oder zuerst in festerer Formulierung auftretenden, wie
die Lehre von den fünf Elementen und den dämonischen Zwischenweaen,
liegen ganz in der Richtung des spätplatonischen Philosophierens. Die
Entscheidung über die Echtheit hängt davon ab, wieviel pythagoreische
Zahlenverehrung und wieviel Nachlässigkeit der Form man dem greisen
Piaton zutrauen will. Einige (Diog. L. III 37) schrieben den Dialog, der
jedenfalls nach Umfang und Gedankentiefe über die sonstigen Pseudoplatonica
weit hervorragt, dem Philippos, dem Herausgeber der Gesetze, zu.')
*) Abweichungen vom Sprachgebrauch *) J.Weoehaüpt, De Dione Clirys. Xeno-
des echten Piaton verzeichnet G. Stallbaum phontis sect. 59 ff.
V V Proleg. 340—42 u. C. Rittbr, Unters. 88, ; *) R. Kunert, Quae inter Clitophontem
vom attischen Dialekt H. Usener. Nachr. d. | dialogum et Plat. rempublicam intercedat ne-
Gött. Ges. 1892 S. 48 f. E. Bickel, Arch. f. cessitudo, Gr^-ph. 1881.
Gesch. d. Philos. 17 (1904) 460 ff. will den Alk. «) So R. Hirzel, Dialog I 119; K. JofiL,
II der Akademie des Arkesilaos zuweisen Der echte und der xenoph. Sokr. 1 483. Zum
wegen der Polemik gegen den Kynismos. Inhalt und der Problemstellung vgl. Xen.
*) Die Echtheit bezweifelt schon Ael. mem. I 4, 1; Aristot. eth. Nie. II 3; X 10
var. bist. V^III 2 extr.; über die Abfassungs- p. 1179b 2 ff.; M. Aurel. eig hivxov I 7 (Ver-
zeit F. Kopp, N. Jahrbb. f. kl. Alt. 9 (1902) achtung der noo.^Qe.inxa loydnia des Rusti-
630 f. und J. Beloch, Griech. Gesch. II, 353 cus). Piaton selbst hatte ap. 29 d den So-
A. 2; einen V^ersuch, die Echtheit zu retten, krates noch wesentlich als Protreptiker ver-
macht W. Eckert, Dialektischer Scherz in den standen.
frühereu Dialogen Platona. Progr. von Schwa- ') E. Zellkr. Phil. d. Griech. II 1*. 1040 ff. ;
bach, Nürnberg 1907. für unecht hält die Ep. Proklos bei Olympiod.
^) W. Christ, Plat. Stud. o08f. nimmt an. proleg. 25 und Comm. ad Plat. remp. 11 134,
daß nach einer Stelle der Erastai(p. 135 e) Era- 5 ff. Kroll. Für die Echtheit der Ep. tritt
stothenes den Beinamen nnidObK erhielt. H. Räder 413 ff. ein, und ihm schließt sich
Aelius Aristides (or. 40 p. 178 Dixd.) hält die j H. Reuther, De Epinomide Plat., Diss. Leipz.
7t;.. für echt. ' 1907 an.
4. Die FhiloBoplue. c) Platon. (§ 343.) 659
Mlvcog, ein geschmackloser, eher eines Grammatikers als eines Philo-
sophen würdiger Dialog, wurde von dem Grammatiker Aristophanes mit
Nomoi und Epinomis zu einer Trilogie zusammengefaßt. Den Namen hat
er von Minos, der als Gesetzgeber in die oberflächliche Untersuchung über
das Wesen des Gesetzes hereingezogen und gegen die Verunglimpfungen
durch das attische Drama in Schutz genommen wird. Entstanden ist der
Dialog erst nach dem Tod Piatons, aber jedenfalls noch im 4. Jahr-
hundert.^)
Briefe sind uns unter Piatons Namen dreizehn erhalten, oder viel-
mehr zwölf, da der erste nicht von Platon, sondern von seinem Freund
Dion an den König Dionysios geschrieben sein will. Diese sind von Cicero,
Plutarch im Dion, Aelius Aristides als echt benützt und schon von Aristo-
phanes von Byzantion in die Trilogieausgabe aufgenommen worden. Die
Sammlung ist aus verschiedenen Bestandteilen zusammengeflossen, wie
man schon daraus sieht, daß der dreizehnte Brief, wiewohl an Dionysios
gerichtet, nicht bei den übrigen auf sizilische Verhältnisse bezüglichen
Briefen (1 — 8) steht. Die meisten und längsten der Briefe betreffen die
Beziehungen Piatons zu den Machthabern Siziliens und dienen den Partei-
interessen der Anhänger Dions; aber gerade diese sind trotz der vielen
Detailangaben entschieden unecht. Die im zweiten und siebenten Brief
(p. 312 d und 341 f) ausgesprochene Anschauung, daß Platon seine Lehren
über die letzten Dinge nicht durch die Schrift veröffentlicht, sondern für
enge Kreise von Eingeweihten zur bloß mündlichen Darlegung vorbehalten
habe, ist aus jener Geheimniskrämerei hervorgegangen, die erst nach
Piatons Tod mit dessen Lehre getrieben wurde. Die Stelle im achten
Brief p. 353 e von dem drohenden Untergang der hellenischen Zunge durch
die Herrschaft der Punier und Opiker klingt wie ein vaticinium ex eventu
aus der Zeit nach dem Pyrrhoskriege (280). Aber deshalb brauchen noch
nicht alle Briefe unecht zu sein.*) Zweifellos unecht sind die Piatonbriefe
14 — 18, die K. F. Hermann aus der Sammlung der Sokratikerbriefe ent-
nommen und an die ersten dreizehn angeschlossen hat.
344. Gesamtcharakteristik.») Eine Würdigung von Piatons Philo-
0 A. BöcKH, Comm. in Platonis qui viilgo VII in Diss. philol. Halens. 17 (1907) 115 ff.,
ferturMinoem.Halisl806;H. UsENEB. Organi- wo auch eine kritische Übersicht über die^
satiou der wiss. Arbeit, Preuß. Jahrbb. 53 . neuere Litteratur betr. die £chtheit8frage
(1884) 20. gegeben wird; für die des siebenten und
*) Gegen W. Christs (Platon. Stud. 477) i achten Briefes C. Ritter, Komm, zu den Ge-
Annahme der Echtheit von ep. XIII erhoben ' setzen 367 ff. (mit Ausscheidung von VII 341b
Einsprache E. Zeller, Gesch. d. gr. Phil. II bis 345 c); ihm schließt sich an M. Odau.
1^ 483 und F. Süsbmihl, AI. Litt. II 582, vgl. ! Quaest. de VII. et VIII. Plat. epistula capita
Th. Gompbrz, Gr. Denker IP 564 f. Von der duo, Königsb. 1906, der p. 89 f. die antiken
Echtheit aller Briefe gebt aus F. Blass, Att. testimonia für die Briefe zusammenstellt.
Bereds. III 2^ 286 und ders.. Über die Zeit- '' ^) Über die Lehre Piatons handeln (abge-
folge von Piatons letzten Schriften, in Apo- sehen von E. Zeller) W. G. Tennemann, System
phoreton, dargebracht von der Graeca Haien- derplaton. Philosophie. Lei pz. 1792 — 95, 4 Teile
sis der Philologenversammlung. Berlin 1903. in 2 Bde.; F. Susemihl. Genet. Entwicklung
Weiter tritt für die Echtheit aller Briefe, an der plat. Philos. I— IV (S. o. S. 621, 2); Tu.W.
die auch Ed. Meyer glaubt. H. Räder, Rh. ' v. Heusdb, Initia philosophiae Platonicae, üt-
M. 61 (1906) 427 ff. 511 ff. ein, für die des recht 1827— 31, 2 Bde.; 8. Ribbing, Genetische
siebenten Briefes J. Bertheau, De Plat. ep. Darlegung der plat Ideenlehre, Leipz. 1863 bis
42*
660 Oriechische litteratorgeschichte. L KUsnsche Periode.
Sophie nach ihrem Inhalt ist nicht Aufgabe dieser Darstellung. Nur was
von ihr zum Verständnis des Piaton als Schriftstellers unerläßlich ist^ muß
berührt werden. Bezeichnend für Piatons Geistesart ist, daß sein Philo-
sophieren nicht in irgend einem Zeitpunkt seines langen Lebens zu einem
System unbeweglicher Lehrsätze erstarrt ist, sondern sich fortwährend
und ohne jeden Stillstand betätigt als ein unermüdliches und immer neu
ansetzendes Durchdenken und Durchprüfen der Probleme des Lebens und
der eigenen Überzeugungen. Er ist nicht Eroberer und Organisator, son-
dern Sucher, freilich einer, dem eine innere Stimme sagt, was er finden
soll und muß, d. h. Persönlichkeit im höchsten Sinn, die wohl etwa durch
Einflüsse äußerer Art, auch Verstandeserwägungen sich zu Umwegen ge-
nötigt sieht, aber keinen Augenblick ihr Ziel aus den Augen verliert.
Was er gedacht und geschrieben hat, ist alles mit seiner Persönlichkeit
und ihren Wandlungen innig verwachsen und immer notwendige Äußerung
seines jeweiligen inneren Erlebens. Daher ist zwar in allen Schriften eine
konvergente Gedankenrichtung vorhanden, aber doch ist in Stimmung und
philosophischem Gehalt keine der anderen völlig gleich. Diese Konfessionen
gibt er nun aber nicht in direkter Form, sondern in objektiv-dramatischer
Verkleidung: was dem Tragiker der Heros und seine Sage, das ist dem
Piaton Sokrates und der ZayxQaxixog loyog. Wenn er auch durch die
Sokratestradition im Vortrag eigener Meinung weniger behindert ist und
sich behindert fühlt als der Tragiker durch seinen Mythos, so sehen wir
doch bei dieser Formgebung Piatons eigene Person nur durch einen Schleier
und müßten die so entstandene Erschwerung des Verständnisses bedauern,
wenn sie nicht zugleich Anlaß zur Entfaltung der wunderbarsten Kunst
und zur Entwerfung unschätzbarer Kulturbilder gäbe.
Eine mikroskopische Analyse von Piatons Gedanken würde wie bei den
meisten großen Männern das Ergebnis liefern, daß sehr viele von ihnen schon
vorher in Vereinzelung aufgetreten und so auch auf ihn übertragen worden sind
oder wenigstens sein konnten, i) Seine Größe liegt in der energischen Zu-
sammenfassung dieser Elemente durch eine machtvolle, autonome und gestal-
tungskräftige Persönlichkeit. In seinen Lehrjahren (s. o. S. 614 f.) hat er
sich nur angeeignet und in sich zur Wirkung kommen lassen, was ihm
gemäß war. Die herakleitischen Einflüsse konnten seine tiefinnerliche
Abneigung gegen allen Relativismus, seine Skepsis gegen die wandelbare
Sinnenwelt nur befestigen. Dann trieb ihn sein eigenes sittliches Pathos
und sein leidenschaftliches Verlangen nach festen Ausgangspunkten der
Welterkenntnis und zugleich Zielen und Normen des sittlichen Lebens zu
1864, 2 Bde.; D. Peipers, Ontologia Plato- , führung in den Idealismus, Leipz. 1903; G.
nica, Leipz. 1883 ; E. Ppleiderer, Sokrates und | Schneider, Die piaton. Metaphysik, Leipz.
Plato, Tübingen 1896: Tn. (lOMPERz, Griech. 1884; ders.. Die Weltanschauung Piatons,
Denker II, 1902 (2. Aufl. 1903) : W. Lutos- dargest. im Anschl. an den Dialog Phaedon,
LAWSKi, The Origin and growthofPlato's Logic Berl. 1898; sehr dogmatisch die kurze Dar-
18. o.S. 621.2); VV. Pater Plato und der Plato- Stellung von \V. Windelband, Piaton, Stuttg.
nismus. übersetzt von H. Hecht, Jena 1904 , 1900 (8. A. 1901). Siehe auch oben S. 621, 2.
(vielfach subjektiv und einseitig ästhetisierend, ' *) Schon im Altertum gab es Leute,
aber von feiner Anempfindung); H. Räder, denen PI. ein Eklektiker oder gar Plagiator
Piatons Philosoph. Entwicklung, Leipz. 1905; war. Siehe o. S. 620, 1.
P. Natorf, Piatos Ideenlehre, eine Ein- I
4. Die Philosophie, c) Piaton. (§ 344.) 661
Sokrates hin; an ihm mußte ihn der unbeirrbare sittliche Instinkt, die
Reinheit der Lebensführung, die Abwendung von der Naturbetrachtung,
die nie zuvor dagewesene Kunst, durch Dialektik fremde Wahnvorstel-
lungen umzustürzen und die eigene Überzeugung gegen Zweifel und An-
fechtungen zu sichern, in hohem Maß anziehen. Daß weiterhin der ge-
borene Gegner des Herakleitismus in das eleatische Lager getrieben wurde,
bedarf keiner besonderen Begründung; er hat aber den starren Begriff der
eleatischen Seinseinheit belebt und bereichert, freilich auch eben dadurch
wieder anfechtbar gemacht. Zur Klarheit über die richtige Staatsverfas-
sung wird ihn schon die Forderung des Sokrates geleitet haben, daß im
Staat nicht irgendwelche äußere, sei es ererbte oder erschlichene Autorität,
sondern lediglich Einsicht und Sachkunde regieren sollten. Durch die Be-
kanntschaft mit den Pythagoreervereinen hat bei ihm dann das Ideal des
von Philosophen beherrschten Staats bestimmtere Formen angenommen
und ist gleichzeitig seine Hochschätzung für die Mathematik als die Formen-
lehre des Universums begründet und der mystisch-religiöse Zug in ihm
verstärkt worden. Alle diese Einflüsse haben ihn nicht etwa aus seiner
Bahn getrieben, sondern nur zur Reife gebracht, was in ihm angelegt war.
Aus der Schule des Sokrates, dessen einseitiger Begriffsrationalismus
Piatons mystischer Künstlernatur auf die Dauer nicht völlig genügen
konnte, ging ein scharfsinniger, unerbittlicher Kritiker hervor, der im
Gorgias zeigte, daß er vor keiner Konsequenz zurückschrecke; er übt aber
nicht die ätzende Kritik des gesinnungslosen Spötters, der kein Verant-
wortungsgefühl kennt, sondern hinter seinen Angriffen steht eine felsen-
feste sittliche Überzeugung und ein klares Bewußtsein dessen, was sein soll.
Die Welt, die sich den Sinnen darbietet, befriedigt weder seine intel-
lektuellen noch seine sittlichen Forderungen: als ein ewig Werdendes und
Wachsendes ist sie für das Streben nach Erkenntnis unverrückbarer Wahr-
heit kein geeignetes Objekt, und in den menschlichen Einrichtungen, die
auf sie gebaut sind, verwirklicht sich nicht das Gebot der Gerechtig-
keit. Dieser Welt stellt er, zunächst unvermittelt, ein transzendentes
Reich der unwandelbaren Begriffe und Werte, der Ideen gegenüber; an
ihnen, die allein wahres Wissen {imoxtj/Lifj) gewähren, soll sich der mensch-
liche Geist, ebenfalls aus diesen Lichtregionen stammend, aber durch die
Fesseln der Körperlichkeit gehemmt, für sein Erkenntnisstreben und für
die Leitung des sittlichen Lebens orientieren; auf anderem Weg ist wahres
Glück nicht zu erlangen. So ist der Satz des Sokrates, daß Tugend auf
Wissen beruhe, aus seiner rationalistischen und empiristischen Enge her-
ausgehoben und unendlich vertieft. Denn Piatons Ideen sind nicht nur
Gegenstände vernunftmäßigen Erkennens, sondern auch liebenden Ver-
langens: die Seele sehnt sich nach ihnen wie nach ihrer wahren Heimat
und sucht ihre Spuren in dem verschlechterten Abbild der Sinnenwelt. In
die nüchterne Philosophie des Sokrates hat Piaton ein Element des Enthu-
siasmus eingeführt und so eine Religion aus ihr gemacht.
Die Arbeit daran, diesem Glauben an die Ideen ein wissenschaft-
liches Fundament zu schaffen, hat den Piaton bis ans Ende seines Lebens
beschäftigt. Zunächst streckt er mit Blitzen der Kritik, die nach allen
662 OriecluBche Litteraturgescluchte. I. Klassische Periode.
Seiten fahren, die Scheinweisen verschiedenster Art {doS6o(Hpoi) nieder und
macht sich so den Plan frei. Seine Leidenschaft reißt ihn zur moralischen
Vernichtung der ganzen attischen Demokratie nebst allen ihren gefeierten
^rjTOQeg und ngoordrai hin. Dann wendet er sich zum Neubau im Lichte
der Ideen mit Politeia und Phaidros. Aber kaum steht der Bau fertig
da, so beginnt eine neue Phase seines Geisteslebens, in der er seine Kritik
nicht mehr gegen auisen, sondern gegen sich selbst wendet und nun wie
im Selbstgespräch die Haltbarkeit seiner Ideenlehre, den Wahrheitsgehalt
der Sinnenwelt, das Verhältnis der Ideen zu ihr einer letzten tiefdringen-
den Prüfung unterwirft, um schließlich in den Gesetzen ein der Wirklich-
keit mehr angenähertes Bild der richtigen Verfassung zu entwerfen und
im Timaios auch noch eine merkwürdige Expedition in das zuvor ver-
achtete Gebiet der Physik zu machen.
Diese weltfernen Gedankengänge trägt nun Piaton nicht in abstrakter
Lehrhaftigkeit vor, sondern läßt sie auf lebensvollem Hintergrund in der
Wechselwirkung zwischen greifbaren Persönlichkeiten, sei es Vertretern
entgegengesetzter Anschauungen, sei es Lehrer und Schüler, wie von selbst
wachsen. Hat er ja doch von Sokrates die Überzeugung übernommen,
daß die Wahrheit nicht durch Lehrvorträge, sondern nur durch dialektische
Erörterung gefunden werde. Seine Ausführungen gewinnen dadurch an
Gemeinverständlichkeit und Überzeugungskraft, wiewohl dem aufmerk-
sameren Beobachter nicht entgehen kann, daß Piaton bewußt oder un-
bewußt hie und da Gedankensprünge macht, Möglichkeiten der vollständi-
geren Problemstellung übergeht, Paralogismen und Sophismen auch von
seinem Sokrates anwenden läßt, der Diskussion nicht immer eine ganz
unparteiische Wendung gibt.*)
Als Schriftsteller ist Piaton — das gestehen selbst die von ihm ge-
ärgerten Khetoren zu*) — von keinem anderen griechischen Philosophen,
ja von keinem griechischen Prosaiker erreicht worden. Zu solcher Voll-
endung hat er es gebracht, obgleich — vielleicht weil — er keinen rheto-
rischen Unterricht gehabt hat. Seine stilistischen Erzieher sind neben den
vornehmen Kreisen der attischen Gesellschaft, aus denen er stammte, So-
krates und die Dichter gewesen. Von Sokrates hat er als Zuhörer und
'J'eilnehmor bei seinen ungeschriebenen Gesprächen die Kunst geistig be-
lebter und zugleich sinnlich anschaulicher Gedankenentw4cklung, Bilder-
gebrauch, Humor, Ironie gelernt, von den Dichtern Blick für das Typische
und Charakteristische in der Erscheinungswelt, Adel, Schwung, Freiheit')
^) W. Eckert in der oben (S. 658, 2) i Rhetoren als Muster hin.
zitierten Schrift. Eine feine Charakteristik ') Piatons tlevOeoia .-rnn itjv q}Qnatv
von Piatons Kunst in der Dialogführung gibt rühmen Dio Chr. 36, 57 ; Max. Tyr. diss. 27»
0. Apelt, N. Jahrbb. f. klass. Alt. 19 (1907) ' 4 p. 40 R. J. Wackernagel. Die griech.
247 ff. {über Piatons Humor) ; s. im allgemeinen Sprache (Kultur der Gegenwart I, VIII) 295:
R. HiRZEL. Der Dialog I. , vielleicht darf auch die nüchterne Sprach-
-) Insbt'sondere Aelius Aristides (\V. forschung die Frage aufwerfen, ob nicht
ScnMii>. Atticism. II 3 ff.; Cic. or. 62); Liban. Piaton ein Höchstes menschlichen Sprach-
(»r. IS. 2SF.: s. a. los. c. Ap. II 223. Die könneus darstelle. Wohlklang und Deutlich-
Vorwürfo antiker Kunstrichter gegen Piatons keit. begriffliche Schärfe und poetische An-
Stil (s.o. S. 620. 1) betreffen meist das poeti- mut und Erhabenheit sind bei ihm in un-
sche Kolorit. Für den Rhvthmus stellt der beschreiblicher Harmonie vereinigt.*
l»hilo.soph Taurus (Gell. XVII 20, 4 ff.) PI. den :
4. Die PhUoBophie. c) Flaton. (§ 344.) 663
der Sprache. Die Scheuklappen der Rhetorschule kennt er nicht; ihre
Schablonen, ihre papiernen Blumen ironisiert er höchstens. Seine Meister-
schaft erklärt sich übrigens natürlich nicht aus Einflüssen der Erziehung
allein; das Wesentliche ist vielmehr eine einzigartige Begabung oder viel-
mehr eine Verbindung von Begabungen, wie sie sonst nur sehr selten vor-
kommt: auf der einen Seite ein sublimer Scharfsinn im Erfassen des Ab-
straktesten, auf der anderen ein Tiefblick in die Welt der sinnlichen Wirk-
lichkeit, dem keine Linie, keine Farbe entgeht, der den Zauber der Natur,
die Intimitäten des örtlichen und geistigen Milieus, die eigenartigen Be-
schaffenheiten menschlicher Charaktere und ihre Ausprägung in B;eden,
Bewegungen, Handlungen mit unfehlbarer Sicherheit erspäht. Das sind
allgemein künstlerische Fähigkeiten höchsten Grades, mit denen Piaton,
wenn ihn nicht Gründe vermutlich sachlicher^ und ethischer Natur zur
Schriftstellerei und im besonderen zur Prosadarstellung getrieben hätten,
ebensowohl ein großer Dichter, Maler, Musiker hätte werden können. Der
Reichtum von Stimmungen, die er, jede in ihren eigensten Farben, vor-
zuführen versteht, würde uns wahrscheinlich auch dann noch in Erstaunen
setzen, wenn wir von den zwei ältesten Tragikern die Satyrspiele besäßen
und ermessen könnten, ob sie Piatons Forderung, daß derselbe Mann eine
Komödie und eine Tragödie zu schreiben verstehen müsse (symp. 223 d),
so wie er erfüllt haben. Neben den heiteren Neckereien, mit denen er in
überlegener Ironie den von Eitelkeit und Wissensgefräßigkeit gedunsenen
Hippias, den schöngeistigen Einfaltspinsel Ion, die pädagogischen Tausend-
künstler Euthydemos und Dionysodoros umwirft, stehen die tief ernsten
und leidenschaftlichen Angriffe im Gorgias, neben dem Meer geistvoll
schäumender Lebenslust im Symposion, dem heiteren Sommertag im Phai-
dros, dem geistreichen Salon des Kallias im Protagoras die düsteren Bilder
von Gericht, Kerker und Tod in Apologie, Kriton und Phaidon und die
ahnungsvollen Ausbhcke nach den Schauern der Ewigkeit in den Mythen des
Gorgias, des Phaidon und der Politeia. In diese Stimmungen hinein setzt
er Szenerien*) und Charakterköpfe*) von unauslöschlicher Leuchtkraft. Ist
er hier durchaus realistischer Künstler, so betätigt er seine freischaffende
Phantasie in den berühmten Mythen. 3) Diese treten bei ihm ein, wo sie
vor der begrifflichen Darlegung Vorzüge bieten oder wo eine solche über-
haupt nicht mehr zureicht; im Gorgias, Phaidon und Staat bilden sie einen
mächtig ergreifenden Nachhall zu streng philosophischen Ausführungen.
Je mehr Bewunderung Piatons künstlerische Fähigkeiten verdienen,
desto mehr Befremden müssen auf den ersten Anblick seine Urteile über
Kunst erregen. Wer aber aus eigener Erfahrung die Kunst ihrer Natur und
ihren ethischen Wirkungen nach so bis ins Innerste kennt wie Piaton, der
*) I. Bruns, Litt. Portr. 234 ff.; die neu- ! ') R. Hibzbl, Über das Rhetorische u.
platonischen Kommentatoren waren im Zweifel, seine Bedeutung bei PI., Leipz. 1871; wenig
ob sie in ihre Erklärungen auch die jigootuia Bedeutung hat J. A. Stewart, The myths of
mit den szenischen Hintergründen aufnehmen PL, London 1905. Die Meinung von A. Diete-
sollten (K. Prächter, Gott. Gel. Anz. 1905, rieh u. A. Döring, daß die eschatologischen
525). Mythen Piatons zerrissene Stücke eines
2) I. Bruns a. a. 0. 245 ff. ; Procl. ad Plat. einheitlichen älteren (orphischen) Zusammen-
remp. t. I 15, 1 flf. Kroll; Schol. Aristid. 671, hangs seien, ist zurückgewiesen von H. Räder
6 DiND. 256 ff.
664 Griechische litteratorgeschichte. L Klassische Periode.
darf über sie sagen, was er an ergreifenden Stellen im dritten und zehnten
Buch des Staates (s. bes. 606 e ff.) mit schwerem Herzen gesagt hat: er
verwirft die auf den Mythus gebaute griechische Nationalkunst, ^ ins-
besondere das alte Epos und die Tragödie und fordert eine neue, auf der
idealistischen Ethik beruhende ernste und zielbewußte Kunst. So zerreißt
er um einer höheren Liebe willen (ov ydg tiqö rrjg dirj^elag n/LitjTeog dvijg
reip. X 595 c) den Faden, der ihn mit der Sinnenfreudigkeit seines Volkes
noch verbindet, ähnlich wie der greise Michelangelo, und streift seinen
späten Dialogen tatsächlich den poetischen Schimmer ab; doch kommt
er im höchsten Alter noch einmal auf eine poetische Einkleidungsform, die
des Romans in der unvollendeten Trilogie Timaios-Kritias-Hermokrates.
Die Synthese von Kunst und Philosophie, die Piatons persönlichstes
Werk ist, hat eine so zwingende Macht, dafi keine bloß mit rationalen
Mitteln arbeitende Kritik mit ihr fertig werden kann. Denn wenn man
auch alle begrifflichen Stützen zerstören würde, so bliebe immer noch die
unbesiegbare Kraft einer persönlichen Überzeugung, deren Reinheit und
Hoheit überhaupt keiner Kritik zugänglich ist, d. h. es bliebe der mystisch-
religiöse Kern von Piatons Weltanschauung; sie ist seit jeher der Sammel-
platz für tiefangelegte und feingestimmte Seelen, die den Zwiespalt in der
Welt und im eigenen Ich schmerzlich empfinden und sehnsuchtsvoll aus-
spähen nach dem ruhenden Pol in der Flucht der Erscheinungen.
Mag Piatons Gedankenwelt noch so viele wirkliche oder vermeint-
liche Schwächen für den beobachtenden und nachrechnenden Verstand bieten,
so muß doch allen Fanatikern des Systems zum Trotz gesagt werden, daß
durch ihn und seine Schule mehr wahre Philosophie, d. h. geistige Kraft,
sowohl kritische als auch konstruktive, in die Welt gekommen ist, als
durch viele ausbündigen Systematiker, die sich und ihre Anhänger vor und
nach Piaton mit der Illusion lückenlosen Weltverständnisses getäuscht
haben. In diesem Sinn ist der Philosoph Piaton nicht überholt und kann
schwerlich überholt werden. Sollte aber auch dieses kaum Denkbare ein-
treten, so würden seine Schriften doch einen unvergänglichen Wert be-
halten als Denkmäler höchster Kunst und Kultur.
345. Die Akademie. *) Für die Fortpflanzung der Lehre und die
Erhaltung der Werke Piatons sorgte vor allem die von ihm gestiftete
Akademie, die sich unter verschiedenen Wandlungen bis zum Ende des
Altertums (529 n. Chr.) erhielt. 3) In Piatons Philosophie liegen zwei Mög-
lichkeiten der Weiterentwicklung, wobei immer die Ideenlehre die unver-
rückbare Grundlage bleibt: einerseits die Ausbildung eines Lehrsystems,
auf die Piaton selbst in seiner letzten Periode hingearbeitet hatte; anderer-
seits die Fortsetzung des Kampfes gegen die Prätension einer Wissenschaft
\) Daß hier Piaton mit sich selbst in , Tabelle gegeben ist.
Widerspruch trete.bemerkt Procl. ad Plat.remp. *) Man unterschied die altere, mittlere
t. I 159 flf. Kroll (vgl. auch Olympiod. vit 6). und neuere Akademie und die theologische
2) F. DüMMLER, Akademika, Beiträge zur Richtung der Neuplatoniker. Zur Zeit des
Litteraturgeschichte der sokratischen »Schulen, Wiederauflebens der platonischen Studien in
Gießen 18S9. — Academicorum philosopho- | der Renaissance ist eine neue Akademie zu
rum index Herculanensis ed. S.MEKLER,BeroI. Florenz unter der Leitung des berühmten
1902(dazuW.CRöNKRT,Herm.38,1908,357ff.), Übersetzers Piatons, Marsiglio Ficino, ge-
wo im Anhang S. 117 ff. eine chronologische gründet worden.
4. Die Philosophie, c) PUton. Ältere Akademie. (§ 845.) 665
im Gebiet der Sinnenwelt. Nachdem Aristoteles und die sogenannte alte
Akademie die erste dieser Richtungen eingeschlagen hatte, die im Dogma-
tismus endigte,^) hat Arkesilaos, der als Begründer der ^mittleren" Aka-
demie gilt, der Schule eine negativ-kritische Richtung gegeben und sie
zum wissenschaftlichen Rückgrat der antiken Skepsis gemacht. Als solches
hat sie sich in den heißen Schulkämpfen gegen den stoischen Dogmatismus
im hellenistischen Zeitalter trefflich bewährt, hat aber dann im 1. Jahrh»
V. Chr. wieder eine Wendung zum Dogmatischen genommen.
Nächster Nachfolger Piatons war sein Schwestersohn Speusippos (347
bis 339), der die Ideenlehre seines Lehrers mit der Zahlenlehre der Pytha-
goreer verquickte, indem er einerseits das Eins und die Zweiheit als die
Anfange (dQxai) der Zahlen und damit alles Seienden hinstellte, anderseits das
Gute zum Ziel und Schlußstein (riXog) des Ganzen machte.*) Indem er das
äya&ov von den materiellen äoxai loslöste und erst nachträglich in die Er-
scheinungswelt eingreifen und diese gleich der Hand des Künstlers ge-
stalten ließ, kam er zu einem ähnlichen Dualismus wie Aristoteles. Für
Piatons Biographie war sein iyxiojuiov IlXdxoivog wichtig.^) — In ähnlicher
Richtung bewegt sich sein Nachfolger Xenokrates aus Chalkedon (339
bis 314), kein bedeutender Kopf, aber ein ernsthafter und würdiger Cha-
rakter; er hat zuerst die drei Teile der Philosophie, Dialektik, Physik,
Ethik, unterschieden und drei Stufen des Seins, die Welt der Sinne (a/o-
^TjTri ovala)^ die des Geistes {vorjti^) und die gemischte des Himmels oder
der Gestirne {fj do^aarr] xai avv&eroc:, 7J avrov roü ovgavov) aufgestellt.*) —
Die Reihe der alten Akademiker beschließen Polemon von Athen (314 bis
270), ö) K rat es aus dem Demos Thria, der sich seiner Vaterstadt auch als
Gesandter an Demetrios Poliorketes nützlich gemacht und TZQeoßexmxol koyoi
hinterlassen hat, und Krantor von Soloi. Diese wandten sich wieder mehr
der praktischen Tugendlehre zu; Krantor wurde besonders berühmt durch
sein Erbauungsbuch über die Trauer {tzeqI nev&ovg), gerichtet an Hippokles
zum Trost über den Tod seiner Kinder ;«) er ist zugleich der frühste Piaton-
kommentator (zum Timaios).^) Von seiner lebhaften, diatribenartigen
Schreibart gibt das längere Fragment bei Sext. Emp. adv. dogm. V 51 flf.
einen Eindruck.
In der Akademie wurde auch das Studium und die Erklärung der
Werke Piatons sorgfaltig gepflegt. Während aber die ältere Zeit sich meist
^) Über die von der alten Akademie
aufgerichtete , Begriffshierarchie* und ihren
Einfluß auch auf Aristoteles E. Hambbuch,
Log. Regeln der piaton. Schule in der aristot.
Topik, Progr. Berl. 1904.
^) Erhalten sind auf Speusippos' Namen
*) Sext. Empir. adv. math. VII 16 u. 147.
Die einzelnen Schriften sind aufgezählt bei
Diog. L. IV 11—14. — über die Lehre und
ihr Fortleben bei den Späteren, namentlich
bei Plutarch in dessen Dämonenlehre R.
Heinze, Xenokrates, Leipz. 1892.
gefälschte Briefe, darunter einer an König | *) Auf seine Bekehrung von lüderlichem
Philippos (epist. Socraticorum p. 30), der wert- | Leben zur Philosophie spielt an Horat. sat. II
volle geschichtliche Materialien enthält, aber | 254. Siehe Acad. philos. ind. p. 47 ff. Mekler.
unmöglich echt sein kann ; s. F. Süsehihl, ^) Das Buch wurde später von Cicero im
AI. Lit. II 586. I ersten Buch der Tusculanae und in der Con-
') Über Speusippos* Lobrede auf Pia- I solatio und von Plutarch in seiner Trostrede
ton, über Hermodoros* Nachrichten vom Leben an Apollonios benutzt; vgl. F. Susemihl, AI.
und den Schriften Piatons, über die Trilo- , Litt. 1 120 Anm. 567.
gienausgabe des Aristophanes von Byzantion ') Procl. ad Plat. Tim. I 76, 1 Diehl;
s. 0. S. 613, 5 und F. Überweg P 213 ff. , 277, 8.
666 OriecluBche Litteratiirg6«cluchte. I. Klassische Periode.
auf Schriften über sein Leben und seine Schriftstellerei beschränkte, be-
gann mit der römischen Kaiserzeit die bücherreiche Periode der Kommen-
tare. Zunächst beschäftigte man sich mit der Erklärung einzelner dunkler
Stellen (li^eK;), deren es ja in Piatons Schriften, namentlich im Timaios,
genug gab; dann folgten Zusammenstellungen schwerverständlicher, später
aus dem Sprachgebrauch verschwundener Wörter {yiwooai)^ zusammen-
hängende Erläuterungen {vnofxvrifiaxa) und Einleitungen (eiaayoyai), die sich
namentlich gegen Ende des Altertums in den Schulen der Neuplatoniker häuften.
Spezial Wörterbücher verfaBten Cäsars Zeitgenosse, HarpokratioD von Argos, der
nach Saidas Ae^ng Ukaxiovog in zwei Büchern schrieb; Didymos unter Kaiser Augustus,
aus dessen Schrift Jifol rcor miga IlXarcovi d.ioQovfih'o)v U^ewr E. MiLLBB, M^langes de litt,
grecque p. 399 — 406 dürftige Exzerpte mitgeteilt hat; Boethos, dessen Styvaywyij ki^Ftov
IIXai€oytxoj%' Photios cod. 154 (cod. 155 eine zweite Schrift des B. :teol rcof :taga Ukarfori
djioQoi'fievfor /J^fwv) erwähnt und in seinem Lexikon fleißig benützt hat; Theon von
Sray rna (Büste bei J. J. Bernoulli, Griech. Ikon., München 1901, II tab.XXIX) aus der gleichen
Zeit, dessen Schrift -Tfpi tcov ?cazd tö fia&vjfiatixov X9V^0^^*^^ ^^^ '^*' Ukduovo^ dvdyyfoatv E.
HiLLEB in Bibl. Tenbn. 1878 herausgegeben hat;^) endlich Timaios (4. Jahrh.),^) von dem
uns ein kompendiarisches Glossar Jtegi tmv .toom IlhiKovi Xe^eoyy y.ard aToi^eTov erhalten ist.
Kommentare, die uns nicht mehr oder nur stückweise erhalten sind, verfaßten der genannte
Harpokration in vierzehn Büchern (Suid.), Potamon (vor und unter Augustus, nach Suidas)
zur Politeia, CalvisiusTaurus (2. Jahrh.) zum Gorgias (s. Gellius VII 14, 5), Atticus zum
Phaidros (Porphyr, vit. Plot. 8; id. in Plat. Tim. t. III 247, 15 Diehl), Severus, Atticus
(s. F. W. Mullach. FPhG III 175— 205), Plutarchos (lüaKovixd ^rjjijfiara \m^ hfoi tfjg ev
Tt/iaü}) v'»';i:o;'or/a? mor. p. 999c--1032f) und Galenos zum Timaios, Longinus(8. III.) zu
Phaidon und Timaios (D. Ruhnken, Opusc. 317). Die älteste uns erhaltene Probe von Platon-
erklärung für die Schule ist das in den Berliner Klassikertexten II (1905) veröffentlichte
Bruchstück eines Kommentars zum Theaitetos, etwa gleichzeitig und auch der Art nach ver-
wandt mit den platonischen Schriften von Galenos' Lehrer Albinos (irrig Alkinoos), aus
denen zwei Exzerpte {F.igay(üyfi und aus einem größeren Werk Jifoi täv JUdron'i dgeoxih-
TO)v der loyog ÖtdaoxaXixog xatv IIXaKovog SoyftdToyv) auf uns gekommen sind.') — Im 4.
und 5. Jahrh waren die Hauptkommentatoren: Hermeias, Schüler des Syrianos, dessen weit-
schweifigen Kommentar «um Phaidros aus einer Münchener Handschr. F. Ast. Lips. 1810,
dann auf besserer krit. Grundlage P. Coüvreür, Paris 1901, herausgegeben haben; Proklos,
von dem Kommentare erhalten sind zu Alkibiades I. (ed. F. Crbüzer, Frankf. 1820), Kra-
tylos (neue Ausg. von G. Pasquali bei Teubner angekündigt), Parmenides (die älteren
Ausg. bei F. Überweg P 392), Politeia (Comment. in remp., kein zusammenhängender
Komm., sondern eine Reihe einzelner Abhandlungen, ed. W. Kroll in BT.. 2 voll. 1899.
1900), Timaios (ed. E. Diehl in BT. 3 voll. 1903—1906); Olympiodoros, der außer einer
Lebensbeschreibung Piatons Kommentare zu Alkibiades I, Gorgias, Phaidon, Philebos (ältere
Ausgaben bei F. Überweg I* 392 f.) verfaßte, welche die Ansichten von Ol.' Lehrer Am-
monios wiedergebend uns zum Teil, aber in der rohen Gestalt von Kollegiennachschriften,
vorliegen; Damaskios, dessen Kommentar zum Parmenides großenteils erhalten ist (ed.
C. E. Rüelle. Paris 1889). Außerdem hören wir von Kommentaren des Longinos zu
Phaidon, des Porphyrios zum Sophistes, des Syrianos zu Phaidon, Politeia, Nomoi, des
Damaskios zu Alkibiades I., Phaidon und Timaios. über Reste eines neuplatonischen
Parmenideskomm. aus einem Turiner Palimpsest W. Kroll, Rhein. Mus. 47 (1892) 598 ff.
Unsere Scholien (herausgegeben im sechsten Band der Ausg. von K. F. Hermann),
die aus den Riindbemerkungen der Piatonhandschriften allmählich von J. Ph. Siebenkees,
D. Ruhnken. Th. Gaisford zusammengetragen wurden und zu Gorgias und Timaios am
umfangreichsten sind, enthalten Exzerpte aus philosophischen Kommentaren, grammatische
(ilossen aus Lexika, darunter auch aus Diogenianus, Erläuterungen aus Sprich wörtersamm-
lungen und geographischen Verzeichnissen; die Sammlung ist bald nach 529 gemacht; vgl.
Th. Mettauer, De Plat. scholionim fontibus, Zürich 1880; S. A. Naber, Proleg. in Phot. lex..
') (ber diese von den Arabern vicihe- 387, 2; l^hotios cod. 154 stellt das Lexikon
nützte, auf Tlirasyllos beruhende Einloitungs- des Boi^thos über das des Tim.
Schrift J. LippKKT. Studien auf dem Gebiete ^) Albinos geht mit Apuleius de Plat. auf
der gricchisoh-arab. Übersetzungslittcratur 1 eine Quelle, den gemeinsamen Lehrer Gaius
(Braunschw. 1894) 4o i\\ zurück nach Th. Sinko, De Apuleii et Albini
-! Über die Zeit des T. (frühestens An- doctrinac Plat. adumbratione in den Diss.
fang des 4. Jahrli.) E. Rohde, Kl. Sehr. II philol. class. acad. Cracov. 41, 1905.
4. Die Philosophie, c) PUton. (§ 345.) 667
Leiden 1864, I 54 ff. u. 113 ff.; L. Cony, Unters, über die Qaellen der Platoscholien, in Jahrbb.
f. cl. Phil. Suppl. 13 (1884) 771—864. — Im Mittelalter ist zwar Piaton von einzelnen (z. B.
dem Bischof Arethas von Kaisareia, wie deseoi Randnoten im Codex Clarkianus des Plato
zeigen) gelesen worden, aber doch im ganzen in Byzanz das Studium seiner Werke bis
auf Psellos (K. Kumbachbr, Byz. Litt* 436 u. 442) brach gelegen; in der Zeit der PalÄo-
logen war ein Hauptverehrer des Piaton Demetrios Kydones, dessen ehedem viel ge-
lesene Rede über die Verachtung des Todes H. Deckblmann in der Bibl. Teubn. 1901 heraus-
gegeben hat. Im Abendland studierte man fleißig den Timaios, aber nach der unvoll-
ständigen ÜbeiBetzung imd Erkl&rung des Chalcidius aus dem 4. Jahrh. (ed. J. Wbobel,
Leipz. 1876). Bei den Arabern blühten im Mittelalter die Piatonstudien neben denen des
Ariateteles; aus ihnen sind zahlreiche Übersetzungen und Kommentare zu den Haupt-
dialogen hervorgegangen, wie die erhaltene Paraphrase zur Republik von Averroes, die
wieder a. 1320 ins Hebräische und von da 1539 durch Jacob Mantinus ins Lateinische über-
setzt worden ist (vgl. M. Steinschneider, Centralbl. f. Bibliothekswesen, Beih. 12, 1893,
16 ff.). Über armenische Piatonübersetzungen F. C. Conybeabe, Americ. joum. of philol.
12 (1891) 193 ff. (s. a. o. S. 630, 4); über platonische Einflüsse in Indien im 2. Jahrh. v. Chr.
A. Webeb, Berl. Ak. Sitz.ber. 1890, 901 ff.
Die Codices (147, aufgezählt von M. Wohlrab, Jahrbb. f. cl. Philol. Suppl. 15, 1887.
641 ff.) gehen auf eine Ausgabe der römischen Kaiserzeit zurück, in der die Ordnung der
Dialoge nach Thrasyllos befolgt war; die besten sind: Clarkianus (ß), geschrieben 895,
ehedem auf der Insel Patmos, jetzt in Bibl. Bodleiana, phototypisch wiedergegeben in den
Codices Gr. et Lat. photographice depicti t. HI. IV, von Th. W. Allen, bei Si^off in Leiden
1898. 99 : er ist für den damaligen Diakon, späteren Bischof von Kaisareia Arethas abgeschrieben
und enthält nur die sechs ersten Tetralogien (s. M. Schanz, Novae comment. Piaton., Würzburg
1871, 105 ff.); Parisinus 1807 (A) s.X, enthält die zwei letzten Tetralogien ; Venetus s. XII,
Hauptvertreter der zweiten Familie in den sechs ersten Tetralogien. Die Beschränkung des
kritischen Apparates auf diese drei Codd. führte M. Schanz auf Grund neuer Vergleichungen
durch, während J. Bekker noch eine zehnfach größere Anzahl von Codd. herangezogen hatte,
und auch jetzt noch andere Gelehrte, wie A. Jordan, M. Wohlrab, J. Kral, O. Immisch (der
besonders auf Parisin. suppl. Gr. 668 s. XI Wert legt) die Heranziehung von mehr Codd.
zur Feststellung der Textüberlieferung für nötig halten ; daß die Lesarten der zweiten Familie
vielfach mit Zitaten bei Alexandres von Aphrodisias, Proklos, Olympiodoros u. a. über-
einstimmen und daher nicht in Überschätzung der ersten Familie vernachlässigt werden
dürfen, betont A. Schäfper, Quaest. Piaton., Diss. Argentorati 1898, in dessen Richtung
weiter geht E. Bickel, De lo. Stobaei excerptis Platonicis, Jahrbb. f. cl. Philol. Suppl 28 )1903)
405 ff.; ähnlich 0. Immisch, Philol. Studien zu Plato, 2. Heft, Leipz. 1903; ders., N. Jahrbb.
f. kl. Alt. 17 (1906) 148 ff. hebt eine Wiener Hs. W wegen ihrer Übereinstimmung mit dem
Piatontext in dem Berliner Theaitetoskomm. hervor (s. über WR.Hevsel, Vindiciae Plat., Diss.
Berl. 1906). Großzügig, aber im einzelnen unsicher ist die von H.Usener, Nachr. der Gott. Ges.
1892 S. 207 ff., versuchte Rekonstruktion der Textgeschichte Piatons, zu der die merkwürdige
Tatsache Anlaß gab, daß die älteste Piatonhandschrift, das von J. P. Mahaffy veröffentlichte
frühptolemäische Fragment des Phaidon, einen weniger guten Text bietet als unsere mittel-
alterlichen Handschriften. Nach 0. Immisch hätte es im Altertum einen einheitlichen Platon-
text nicht gegeben; unsere mittelalterlichen Handschriften gingen auf einen Archetypus
zurück, in dem aber Immisch im Gegensatz zu Schanz (der ihn in christliche Zeit setzt)
eine spätantike Ausgabe mit kritischer Zusammenfassung der varia lectio sieht. Siehe a.
F. Blass, Zur ältesten Gesch. des platou. Textes, Ber. der sächs. Ges. d. Wiss. 50 (1898)
197 ff.; 51 (1899) 161 ff. über neu gefundene Platonpapyri, unter denen ein Lachesfragment
aus ptolemäischer Zeit sich nächst dem erwähnten Phaidonfragment durch Alter auszeichnet,
8. W. Crönert, Arch. f. Papyrusf. 1, 115. 521 f.; 3, 294. 496. Ein großes Stück aus dem
Sympos. Oxyrhynch. pap. V (1908) 244 ff., geschrieben c. 200 n.Chr.: der Text ist eklektisch
und geht von 200 b— 223 d. — Über den textkritischen Wert der Lemmata in den Proklos-
kommentaren K. Prächter, Gott. gel. Anz. 1905, 518 ff. Textkritisch wertvolle Platon-
exzerpte einer Brüsseler Handschrift s.XV: L. Parmentier, Anecd. Bruxellensia II. Gent 1894.
Ausgaben; ed. princ. ap. Aldum Venet. 1513: ed. H. Stephanüs Paris 1578 fol. mit
Seitenabteilungen, nach denen gewöhnlich zitiert wird; mit kritischem Apparat von I. Bekker,
BerL1816— 23. 10 tom.; von F. Ast, 11 voll., Lips. 1819—32; von G. Stallbaüm, 12 voll.,
Lips. 1821—25: von J. G. Baiter, J. C. Orelli, A. G. Winckelmann, Turici 1839—42. 2 part.
in 4*'; von M. Schanz. Lips. ed. maior et min., nicht vollendet, mit grundlegendem krit. Ap-
parat (erschienen sind I. Euthyphr. Ap. Crito Phaed. 1875; II. Crat. 1877. Theaet. 1880; III, 1
Sopb. 1887: V. Symp. 1881. Phaedr. 1882: VI. Alcib. I. II. Hipparch. Am. Theag. 1882. Charm.
Lach. Lys. 1883; VII. Euthyd. Prot. 1880; VIIL Gorg. Men. 1881; IX. beide Hipp. Ion Menex.
Clit. 1885: XII. Leg. I— VI. Epinom. 1879); Ausgabe mit latein. Kommentar in Bibl. Goth.
von G. Stallbaüm, 10 voll.. 1827—60, in neuer Bearbeitung von M. Wohlrab, 0. Apelt,
66g Griechische Litteratnrgeschichte. I. Elassische Periode.
J. S. Kboschel, R. Fbitzsohe. Leipz. 1833—69 (vol. I. Ap. Grit. Phaed. Symp. ; If. Gorg. Prot. ;
m. Politeift; IV. Phaedr. Menex. Lys. Hipp. I. II. Ion; V. Lach. Charm. Alcib. I. II. Crat.;
VI. Euthyd. Menon Euthyphr. Theag. Am. Hipparch. ; VII. Tim. Critias; VIII. Theaet. Soph.;
IX. Politic. Min. Phileb.; X. Leg. Epin.); Textausg. mit Scholien, Albin., Olympiod. und
Timaios Lexik, in Bibl. Teubn. von C. Fb. Hebkaitk und M. Wohlbab; Opera ed. J. Bübkbt
5 voll. Oxford 1900—1907. — Dialogi sei. ed. L. F. Hbindobf und Ph. BüTTMAim, 4 voll Berl.
1802—29. Ausgewählte Dialoge mit deutschem Komm, von J. Dbusohle, Chb. Cbon, M.
Wohlbab, A. Hüo bei Teubner; von H. Sauppb und A. Gbboke (Grorgias und Protagoras) bei
Weidmann; von M. Schahz (Euthyphron, Kriton, Apologie) bei Tauchnitz. — Einzelausgaben:
Apol. von J. RiDDBL, Oxf. 1867. — Gorg. von W. H. Thompson, Lond. 1871. — Euthyd.
von E. H. GiFFOBD, Oxford 1905. — Sympos. in usum schol. ed. 0. Jahn, ed. II cur. H.
UsENEB. Bonn 1875 mit kritischem Apparat imd Scholien; von A. Huo (s.o.) mit erklärenden
Anmerkungen, 2. Aufl., Leipz. 1884; von G. F. Rettig, Halis 1875. — Phaedo explan. D. Wyt-
TENBAGH, Lips. 1825. — Phaedr. von dems , Lond. 1868. — De civitate rec. et annot. Chb.
SoHNEiDEB, Lips. 1833, 3 vol.; von B. Jowbtt und L. Campbell Oxford 1894, 3 vol.; von
J. Adam Cambridge 1902, 2 vol. (auf Grund des Parisin. A). — Sophista und Politicns von
L. Campbell, Oxford 1867. — Th. Mabtin, fitudes sur le Timöe de Piaton, Par. 1841, 2 Bde;
R. D. Aboheb-Hino, The Timaeus of Plato, London 1887. — Piatos Gesetze, Inhaltsabersicht
mit Kommentar von Const. Rittes, Leipz. 1896.
Hilfsmittel außer den oben besonders § 830. 333. 334. 342. 344 angeführten: Lat Ober-
setzung von Mabsilius Fionrus, Flor. 1483—84. — Nicht unübertrefflich, aber bis jetzt als
Ganzes nicht übertroffen ist die Obers, mit epochemachenden Einleitungen von F. Schlsibb-
macheb (ohne Tim., Critias, Leg.) s. o. 8. 621, 2; Obers, von Hieb. Mülleb, mit guten Ein-
leitungen und mit dem Leben Piatons von C. Steinhabt, Leipz. 1859. Gut sind von den bei
Mbtzleb, Stuttg. 1853 — 76 in 40 Bändchen erschienenen Ohersetzungen besonders die von
J. Deuschlb, W. S. Teuffel und L. Geobgu. — Obers, des Staats von A. Hobkeffeb, Leipz.
1906; Phaedr. u. Symp. von K. Lehbs, Leipz. 1870; Symp. von E. Zelleb, Marb. 1857: der
Apol. von A. WiLBBANDT iu dessen Gesprächen und Monologen, Stuttg. 1889, 131 ff. — Lex.
Platonicum von F. Ast, Lips. 1835-38, 3 vol. (anastat. Neudruck Berlin 1907); eine Neu-
bearbeitung vorbereitet von der Hellenic Society. — W. S. Teuffel, Übersicht der plat. Litt..
Progr. Tübingen 1874. W. Gboek van Pbibstebeb, Prosopographia Platonica, Leiden 1828.
d) Aristoteles (384—322).')
346. Leben. Aristoteles ist 384 zu Stagiros,*) einem Städtchen der
thrakischen Chalkidike, geboren. Sein Vater Nikomachos, aus einer alten
Ärztefamilie, war Leibarzt des makedonischen Königs Amyntas III.; von
ihm hat der Sohn die Liebe zur Naturforschung geerbt,*) durch ihn ist
er auch in Beziehungen zum makedonischen Königshaus gebracht worden.
Seine Ausbildung erhielt Aristoteles in Athen; er kam dahin 367 während
Piatons zweiter sizilischer Reise und ist dann als Schüler Piatons zwanzig
Jahre bis zu dessen Tod dort geblieben. Er hörte also den Piaton in der
')Diog.L.Vl — 35, der hez. dessen Quelle i platonikern, die Vita des Marcianus und ihr
aus den Peripatetikern Hermippos und Ari- ' Verhältnis zu Pseudo-Ammonios A. Busse,
ston, aus Demetrios Magnes Ttegl ofwyvvftMv Herrn. 28 (1893) 252 ff. Was die Araber von
und Apol lodoros' Chronik (F. Jacobt, Apollod. Arist. wissen, geht meist auf den Schwindler
Chron. 316 ff.) schöpfte; Vita Menagiana (mit Ptolemaios Chennos zurück: J. Lippert, Stad.
deren erstem Teil der Artikel des Suidas : auf d. Gebiet der griech.-arab. Übersetzungs-
stimmt), die zuerst von G. Manage zu Diog. litteratur I (s o. S.666, 1). — Neuere Barstel-
L. V 35 veröffentlicht ist (aus Hesychios Illustr. lungen: J. G. Buhle, Vita Arist. per annos
stammend: G.Wentzel, Herm. 33, 1898, 276) digesta, im ersten Band der Bipontiner Ausg.
und Vita Marciana. beide kritisch berichtigt bei ' 1791; A. Stahr, Aristotelia. Halle 1830 — 2,
H.FLACH.Hesych.Mil..Leipz.l880p.245-255; 2 Bde; G.H.Lbwes. Aristotle. London 1864,
mit der letzteren, die auf neuplatonische Quelle I ins Deutsche übersetzt von J.V. Carus. Leipz.
(Ptolemaios), aber nicht bloß auf Olympiodoros l^ßh; G. Grotk. Aristotle (posthumes und
zurückgeht, stimmt wesentlich überein die unvollendetes Werk), London 1872 (1879);
Vita Aristot, von Ps.Ammonios ; Dionys. Halic. Wilamowitz. Aristoteles und Athen. 1311 ff. ;
ep. ad Amm. I 5; Weiteres V. Rose, Aristot. A. Gekcke in der Realenzykl.; zuletzt Th.
fiagm.. Leipz. 1886 p. 426 ff. Syrisch-arabische Gomperz, Griech. Denker III (1906) 13 ff.
Biographien des Aristoteles publiziert von A. =*) Spätere Form des Namens ist Stageira.
Baumstark. Aristoteles bei den Syrern, Leipz. ^) \V. Oncken, Die Staatslehre des Arist.
1900 ff. L'ber die Aristotelesvita bei den Neu- in histor.-polit.ümrissen, Leipz. 1870 — 73, 1 3ff.
4. Die Philosophie, d) Aristoteles, (g 346.) 669
letzten Phase seiner philosophischen Entwicklung, in der dieser den Timaios
und die Nomoi schrieb und zu der mystischen Zahlenlehre der Pythagoreer
hinneigte. Das ist nicht unwesentlich zum Verständnis der uns vielfach
befremdenden, von den erhaltenen Schriften Piatons abweichenden Dar-
stellung der platonischen Lehre bei Aristoteles, macht auch die geringe
Anziehungskraft begreiflich, die der alternde Piaton auf den jungen Ari-
stoteles übte. Der Gegensatz der beiden Naturen, des schwärmerischen
Idealismus auf der einen, des nüchternen Realismus auf der anderen Seite,
trat später unverhüllter hervor. Die Art von Aristoteles' Polemik gegen
den Meister z. B. eth. Nie. p. 1096 a 16 mit den berühmten, ironisch auf
einen Ausspruch Piatons (reip. 595c; cf. 607c) Bezug nehmenden Worten:
äfxipdiv (i. e. äkri&elag xal UkaTcovog) ovroiv (pii.oiv öoiov Jigonjuav rijv äXt]-
^eiav^) ist, wenn man in Anbetracht zieht, in welchem Umfang Aristoteles
mit Piatons Gedanken Wucher getrieben hat, und wenn man Piatons Ver-
hältnis zu Sokrates oder den Eleaten vergleicht, höchst pietätlos. Die
Schwächen von Piatons Ideenlehre, auf die dieser im Alter selbst hin-
gewiesen hatte, sind in auffallend unfreundlicher Weise von Aristoteles
hervorgehoben (metaph. I 6; eth. Nie. I 4), mit Worten, aus denen man
schließen könnte, Piaton sei ein ganz unselbständiger Kopf gewesen. In
ähnlichem Ton kritisiert er Piatons Staat (pol. II 1 — 6 und 1266 b 29;
1291a 10; 1274b 9 flf.; 1316a 1 flf.; 1327b 28 ff.; 1329a 9 ff.; eth. Nie.
1155a 22 ff.), dessen Lehre von der fjöüvri (eth. Nie. 1172a 28 ff.; 1173a
29 ff.), von der Musik (pol. 1342a 32) und erzählte seinen Schülern hämisch
von Piatons Vorlesung über das Gute (Aristoxen. härm. II init.).*) Bei
dieser Stimmung ist es nicht denkbar, daß Aristoteles in der Elegie an
den Rhodier (so 0. Immisch) Eudemos auf den Mann, den selbst zu loben
den Schlechten nicht zukomme {ävögog 3v ovo* atveiv röioi xaxoXoi Mfuq\
den Plato gemeint habe.^) Übrigens war er nicht zwanzig Jahre hindurch
*) über den metaphysischen Gegensatz | den Stellen wie Timae. fr. 70. 74; Theocrit
zwischen PL und Arist. M. Altenbubg, Die | Chi. in Müllebs FHG. II 86 atmen, ist jeden-
Methode der Hypothesis bei Piaton, Aristot. > falls psychologisch verständlich; er wirkt
und Proklos. Marbnrgl 905. Bezeichnend für den auch bei Aristokles s. II p. Chr. nach, dessen
Gegensatz der Naturen ist die spöttische Ver- > Urteile s. bei 0. Immisch, Philol. 65 (1905) 18 f.
achtung des Eleatismus bei Aristoteles (de gen.
et corr. 325a 16 fi). Spätere stellten in er-
dichteten Anekdoten das Verhältnis schlimmer
Die eth. Nie. IV 8 extr. als Typus der /ue-
yaloipvxia photographierte Persönlichkeit ist
gewiß nicht Piaton, und auch die rttcksichts-
dar, wie daß Piaton den Aristoteles mit einem volle Bemerkung eth. Nie. 1096 a 12 bezieht sich
Fallen verglichen habe, das gegen seine Mutter vielleicht mehr auf Xenokrates als auf jenen,
ausschlage (Diog. L. V 2). Noch in der orien- *) Die Elegie wird angeführt von Olym-
talischen Litteratur sind leise Spuren von dem piodoros zu Plat. Gorg. 895 Jahn, und von
Zerwürfnis zwischen Piaton u. Aristoteles: W. 1 ihm ebenso wie vom Verfasser der Vita Mar-
Hebtz, Gesamm.Abh.(Stuttg.l905) 310. An- ciana auf Piaton bezogen, der freilich nicht
stoteles selbst bezeichnet sich noch häufig in i genannt ist. J. Bebnats Ges. Abh. I 141 ff.
der Metaphysik durch den Plural Xeyofiev als
Glied der platonischen Familie. Übrigens kann
man den Aristoteles nicht von demVorwurf frei-
und ihm nach Th. Gompbbz, Gr. Denker 11*
57. 539, denken richtig an Sokrates. 0. Immisch,
Philol. 65(1906) 1 flf., bezieht im Anschluß
sprechen, über Stellen Piatons ungenau berich- an Wilamowitz die zitierten Worte des Epi-
tet zu haben ; so hat er polit.IV2p. 1289 b 5 die , gramms wieder auf Piaton. An seiner Echt-
Worte Piatons politic. p.303 a oflfenbar verdreht.
^) Stark, aber nicht unrichtig sagt Isidor.
Peius, ep. IV 91 p. 1153a Mione über Ar.:
TU Ilkaioivoq üoy^iaxa xcoficodwv, srmTtovfterog
heit darf wohl, obgleich es in der bedenk-
lichen Verbindung mit einem ganz apokry-
phen eyxcüfitov WAtmvoq des Aristot. auftritt,
nicht gezweifelt werden; als Verdienst Pla-
llXdzwvt. Der Haß gegen Aristoteles* Person, tons wird ja aber oflfenbar nur gepriesen die
570 Griechische LüteraturgeBchichte. L KlassiBche Periode.
nur Schüler und Hörer des Piaton; in der Akademie arbeiteten die jün-
geren Genossen neben dem Meister an freigewählten Problemen und hielten
neben dem Schulhaupt auch selbst in engeren Kreisen von Schülern Vor-
lesungen. So scheint Aristoteles schon in jener Zeit, vermutlich im Ein-
verständnis mit Piaton, zur Begründung der im Phaidros geforderten (pdö-
aocpog ^rjTogixij im wahren Sinn, Vorträge*) über Rhetorik gehalten zu haben.
Zum Schüler hatte er hier unter andern den jüngeren Theodektes, der
vermutlich nach Aristoteles' Abgang aus Athen dessen Vorlesungsheft zu
eigenen Vorträgen benützt und mit Aristoteles' Einwilligung veröffentlicht
hat.*) Bei Einrichtung des Kurses über Rhetorik wird er wohl in Gegensatz
zu Isokrates getreten sein; ob er dabei auch den nach Euripides' Philoktetes
parodierten Vers aloxQov oKOJzäv, ^looxQdTt] d*iäv kiyeiv gesprochen habe,^)
mag dahingestellt bleiben. Schlecht stimmt dazu die Anerkennung, die er
dem Isokrates in seiner Rhetorik erweist, indem er mit ausgesprochener
Vorliebe aus dessen Reden Beispiele wählt.*) Daß er selbst auch wirk-
samer Redner gewesen sei, kann schwerlich aus der Äußerung des Anti-
patros bei Plutarch. Alcib. et Cöriol. comp. 3 geschlossen werden.
347. Nach dem Tod Piatons (347) verlebte Aristoteles zuerst einige
Jahre bei seinem Freund Hermeias, Herrscher von Atarneus und Assos
in Mysien, den er bei Piaton kennen gelernt hatte,*) und dem er bis zu
dessen gewaltsamem Tod (Winter 342/41)«) in warmer Liebe anhing. Seinem
Andenken widmete er eine Statue in Delphoi^) und ein bewunderndes Skolion,
das uns zum Teil noch erhalten ist. Auch nahm er dessen Nichte und
Adoptivtochter Pythias zur Frau. Im Jahr 342 folgte er, nachdem er in-
zwischen (344 — 2) noch in Mytilene gewesen war,^) einer Einladung des
Königs Philippos nach Pella^) zur Übernahme der Erziehung seines Sohnes
Alexandros, die er drei Jahre lang in ländlicher Zurückgezogenheit bei
Mieza leitete; gewiß hat er seinem königlichen Zögling Verehrung für die
Stiftung der neuen Sokratikerschule (ßfofioK Quint. III 1, 14.
symbolisch, im Anschluß an das Sokrates- I *) Gegen Isoer. 15, 88 ist gerichtet Arist.
bild Acad. philos. ind. p. 19 col. II 13M.V), eth. Nie. X 10 p. 1181a 15, wie L. Spengel
d.h. der Akademie nach seiner Rückkehr von gefunden hat; umgekehrt scheint Isoer. Pan-
-der ersten sizil. Reise. Das Distichon des Ari- ath. 17 gegen Aristoteles zu polemisieren (was
stot. auf einen angeblichen Altar für Piaton freilich z.B. von H. Gompbrz. Wiener Stud. 28,
ist aus der Elegie konstruiert und beruht \ 1906, 19, bestritten wird); S.F.Reinhardt, De
schon auf falscher Interpretation derselben, ' Isoeratis aemulis p. 40 fiP. Th. Bergk und F.
trotz 0. Immisch a. a. 0. S. 11 f. Susemihl setzen die rhetorischen Vorträge des
M Von Vorträgen des Aristoteles wäh- i Aristoteles in die Zeit seines zweiten Auf-
rend der Abwesenheit Piatons in Sizilien I enthaltes in Athen in den Jahren 344 — 2.
spricht Aristokles bei Euseb. praep. ev. XV 2. ! *) An Hermeias ist der sechste platoni-
^) Arist. rhet. III 9 p. 1410b 2: ai ö' dg- sehe Brief gerichtet. Aus einer Biographie
yai Trr>i' .-tFntddo)r o/Mv h' Tof<r HfodexTeion; des H. (von Hermippos) ist ein Stück erhalten
)^tjotOmiyTai. Siehe u. S. 707. Von rhetorischen durch Didymos ad Demosth. Philipp, col. 4 ff.
Lehrkursen des jungen Arist. weiß übrigens Bezeichnend ist die genaue Kenntnis der Ge-
Dionys. Hai. (und seine Quelle) nichts, sonst schichte von Atarneus bei Ar. pol. 1267a 31 ff.
müßte er .sie ad Amm. I erwähnen, und daß ^) Zur Datierung s. P. Wendland, Gott,
aus ihet. 1891b 13 kein Scliluß auf Abhal- gel. Anz. 1906. 362.
tung solcher Kurse gezogen werden kann, ') Die Inschrift der Statue bei Diog.L.V 6.
zeigt F. Makx. Ber. der sächs. Ges. d. Wiss., **) Ein zweiter Aufenthalt in Athen, der
52 (lUOO) 290, 1. nicht bezeugt ist, wird angenommen von Th.
3) Diog.L.V3;Philod.derhet.II50SuDH.; Bkrgk, Rh. Mus. 37 (1882) 359 ff.
darin 'looxoärtj gebessert statt des überliefer- ^) Der unechte Einladungsbrief bei Gel-
ten Eeroxguiij nach Cic. de or. lll 141 und lius IX 3, 6 und Plut. Alex. 7.
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 347.) 671
griechische Kultur, besonders für Homer beigebracht; in der Politik ist
dieser freilich später ganz andere Wege als sein Lehrer gegangen, i) Auch
für seine Heimat verwandte er seinen Einfluß bei Alexandres, indem er
den Wiederaufbau der von Philippos zerstörten Stadt Stagiros erwirkte.
Nach dem Regierungsantritt des Alexandros siedelte er mit seinem
Freund Theophrastos 335/34 wieder nach Athen über, wo er durch Vor-
träge in den schattigen Umgängen {neghtaioi) des Gymnasiums Lykeion,
das von einem Heiligtum des ''AnoU.ov Auxeiog benannt war, am Süd-
abhang des Lykabettos eine eigene Schule, die der Peripatetiker oder der
wandelnden Philosophen gründete. Nach Gellius XX 5*) hielt er zwei
Arten von Vorträgen, morgens für den engeren Zirkel der vorgerückteren
Schüler (axQoajuanxd)^ abends in populärer Form für einen größeren Kreis
von Wißbegierigen (i^coregixd).^) In den letzteren scheint er auch wieder
die Rhetorik aufgenommen zu haben. Seiner neuen Heimat verschaffte er
durch Vermittlung bei Philippos Vorteile, um deren willen ihm die Athener
die Proxenie verliehen.**) Auch die Delphier ehrten ihn und seinen Neffen
Kallisthenes in den Jahren 340 und 334 durch Kränze für die Anfertigung
der Pythionikenliste.^) Wie weit die Vorwürfe des Epikuros berechtigt
sind, wonach sich Aristoteles in seinen letzten Jahren mehr als eines
Philosophen würdig mit praktischen Fragen befaßt habe, läßt sich nicht
mehr beurteilen, ß) Nach dem Tod des Alexandros, den ihm während des
asiatischen Feldzugs die Mißhandlung des Kallisthenes zeitweilig entfremdet
hatte,') wurde er durch die antimakedonische Partei in einen Prozeß wegen
Gottlosigkeit verwickelt,®) dem er sich durch die Flucht nach Chalkis ent-
zog, um, wie er sagte, den Athenern die Möglichkeit zu nehmen, sich zum
zweitenmal an der Philosophie zu versündigen. Dort in Chalkis starb er
bald nachher, im Spätsommer 322, an einem Magenleiden.^) Sein Testa-
ment, zu dessen Vollstrecker er den Antipatros bestimmte, steht bei
Diog. L. V 11; er hinterließ eine Tochter, die er dem Nikanor, dem Sohn
seines ehemaligen Vormundes Proxenos, bestimmte, und einen Sohn Niko-
*) An Alexandros denkt Ar. wohl eth. xandros' Tod und der Asebieklage gegen Ar.
Nie. 1159a 5 ff., pol. 1284a 3 ff.; 1288a 14 ff.; in Zusammenhang bringt.
1313a 3 ff.; daß er wußte, Prinzenerziehung •) S. Sudhaus, Rh. Mus. 48 (1898) 564.
sei eine Sache für sich, geht aus pol. 1277a ') Spätere (Plut. Alex. 77, Arrian. an. VII
16 ff. hervor. 27, Plin.n.h.XXX 149) maßen dem Arist. die
*) Vgl. Philod. de rhet. II 50 Südh. Schuld einer Vergiftung des Alexandros bei.
^) Eine Andeutung dieses Unterschiedes weshalb Caracalla nach Cassius DioLX XVII 7
gibt Aristoteles selbst polit. p. 1278 b 31 xai die Werke des Arist. verbrannte. Von großen
yao ftV ToTs F^onFotxotc /.oyoig StoniCofie^a ' Unterstützungen, die Alexandros dem Arist.
.-zun avtwv no'üAxn; (H. BoNiTz, Ind. Ar., für seine naturwissenschaftlichen Bestrebun-
Berl. 1870 p. 104 b 43 ff.). gen zugehen ließ, wissen Plinius n. h. VIII
**) Das Dekret ist aus der arabischen Ari- 44, XI 85; Athen. 398 e, Aelian v. h. IV 19
stotelesbiogr. des Ibn Ab! Usaibia von E. Dre- (dieser redet von Unterstützung durch Philip-
RUP, Mitt. des ath. Inst. 23 (1898) 369 ff. re- pos) zu erzählen,
konstruiert. ^) Zum Vorwand diente der Paian auf
*) Siehe die von Th. Homollb, Bull, de Hermeias,s. Ath.696ab; 697 ab; Diog. L. V5;
corr.hell.22(1898)260veröffentlichteln8chrift. Aelian. v. h. III 36.
Nach Ael. var. bist. XIV 1 hätten die Del- •) Censorius de die nat. 14,16. Apokryph
phier a. 323 die Ehrung kassiert; s. a. H. ist die Nachricht des Eumelos bei Diog. L.
PoMTow.Berl.phil.Woch. 19(1899)251ff., der V6 und vit. Menag. p. 402, 17 Wbst., er
die Kassierung mit dem makedonierfeindlichen habe sich mit Akonit vergiftet (F. Jacoby
Wechsel der phokischen Politik nach Ale- a. a. 0. 321 f.). .
672 Griechische Litteratnrgeschichte. L KlassiBche Periode.
machos, den er von einer Konkubine Herpyllis hatte. Ein Porträt von
ihm hat man ehedem irrtümlich in einer lebensgroßen Statue des Palazzo
Spada in Rom erkennen wollen, i)
348. Schriften des Aristoteles. Der staunenswerten Vielseitig-
keit und unermüdlichen Arbeitskraft des Aristoteles entspricht die Zahl
und der Umfang seiner Schriften. Vieles, von den systematischen Werken
nahezu alles, ist auf uns gekommen. Aber die populären und vorbereitenden
Schriften sind fast sämtlich verloren gegangen. Die Folge davon ist, daß
uns Aristoteles in den erhaltenen Schriften als ein Fertiger entgegentritt
und seine geistige Entwicklung sich unseren Blicken fast ganz entzieht.
Nur so viel ist erkennbar, daß er sich zuerst in der schriftstellerischen
Form an Piaton angeschlossen und Dialoge über ästhetisch-litterarhisto-
rische und popularphilosophische Gegenstände geschrieben hat. Über die
Gesamt werke geben uns zunächst die Kataloge Aufschluß;*)* aber diese
weichen voneinander ab, und ihr Bestand hängt mit den Schicksalen der
aristotelischen Schriften zusammen. Diogenes Laertios V 22—27 gibt ein Ver-
zeichnis von 146 Werken in 445270 Zeilen^) und ungefähr 400 Büchern.*)
Dieses Verzeichnis, dessen Titel erheblich von denen der Handschriften
abweichen,*) enthält vermutlich den Bestand der alexandrinischen Biblio-
thek an aristotelischen Schriften auf Grund der Angaben des Hermippos.«)
Ihm steht ein zweites Verzeichnis gegenüber, das weit mehr Bücher (1000
statt 400) umfaßt und auf den Peripatetiker Andronikos, der zur Zeit
Ciceros auf Grund eines Handschriftenfundes eine vollständigere Ausgabe
der Werke des Aristoteles besorgte,') zurückzugehen scheint. Von diesem
*) Die Reste der Inschrift führen eher auf Abweichungen beruhen zum Teil auf Nach-
APISTIjiJtog. Den echten Aristoteles sucht lässigkeiten der Abschreiber, wie wenn bei
F. Studniczka (Boll. dcll' inst. arch. german. \ Diogenes die Metaphysika ganz ausgefallen
5 (1890) 12 ff.) in einem Wiener Kopf; s. J. sind.
Bernoulli, Griech. Ikonographie II 85 Taf. II. *) Der Katalog hat IloXmxtj dxgoaaig.
Über das Äußere seiner Gestalt ein Vers der I wir IJoXiuxd, wir 0vatxrf dxgoaaig, der Kata-
vit. Menag. p. 405, 98 West. : afuxgog q)am- ' log <Pvoixd. Von der Schrift Jirgi i^wxtjg
xooc rpai'Aos o ^^Tayeigm/i:, Xdyvoc jtQoydoTWQ kennt der Katalog nur ein Buch, von der
jta?J,axnU ovitj^iftevog (letzteres geht nament- ^fX^V grjTogtxfj nur zwei; das vierte Buch
lieh auf seinen Verkehr mit Herpyllis). Vgl. der Metaphysik führt er gesondert unter dem
A. Stahb, Aristotelia I, Halle 1830, 160 flP. Titel .legi twv jiooaxwg Aeyofisvwv an.
Atticus hatte ein Aristotelesporträt in seiner ®) Diese Annahme stützt sich darauf,
Bibliothek (Cic. ad Att. IV 10, 1). daß Hermippos über Aristoteles geschrieben
^) Abgedruckt in der akad. Ausgabe des hatte, und daß er in einem Scholion am
Arist. V p. 1463 ff. Schluß der Metaphysik des Theophrastos
3) Die Zeilenzahl gibt Diogenes oder gab neben Andronikos als Verfasser von Katalogen
Herraippos auf Grund stichometrischer An- der Schriften des llieophrastos genannt wird,
gaben, wie sie seit der alexandrinischen Zeit ^) Von Andronikos wird ein tractatus
auf Grund einer Normalzeilenbreite von ca. ' quintus libri de indice librorum Aristotelis
35 Buchstaben üblich waren und zur Fest- angeführt in dem arabischen Katalog unter
Setzung des Honorars der Abschreiber be- Nr. 90. Porphyr, vit. Plotini 24: ^Avögwucog 6
nützt wurden. I IleotjraTtjTixog ja 'AoiororiXovg xai HfotfQuoxov
"*) In der Vita Meuagiana. die sonst mit f/c jigayuaiFtag dttÜFv. Daß Andr. tausend
Diogenes übereinstimmt, ist ein Nachtrag an- Bücher des Arist. unterschied, sagt David in
gehängt, dcrauseinem anderen Katalog stammt Aristot. categ. 24a 19 ed. Berol. — Fälschlich
und ungeschickterweise mit dem ersten Ver- • dem Andronikos zugeschrieben ist die Angabe
zeichnis verschmolzen ist, so daß nun viele Urdgorixor .-regt rd^ewg .^cM»;T<ur, worüber
Werke doppelt, zum Teil mit verschiedener i L. Cohn, Phil. Abh. dargebr. M. Hertz, Berl.
Bucheinteilung, verzeichnet sind. Die übrigen 1888, S. 130 ff.
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§§ 848—349.) 673
zweiten Verzeichnis kennen wir aus griechischen Quellen^) nur die Ge-
samtzahl der Bücher; die einzebaen Titel gibt die arabische Übersetzung
der Schrift eines gewissen Ptolemaios über Aristoteles und seine Schriften.*)
Mit dem flandschriftenfiind aber hat es folgende Bewandtnis.^) Nach dem
Tod des Theophrastos war dessen Bibliothek, die auch die Werke des
Aristoteles enthielt, in den Besitz eines gewissen Neleus in Skepsis über-
gegangen. Dessen Erben verbargen die Handschriften aus Furcht vor der
Bibliomanie der Attaliden in einem Gewölbe, wo sie den Motten und dem
Moder preisgegeben blieben. Um 100 v. Chr. entdeckte sie dort ein reicher
Bücherliebhaber, Apellikon von Teos, und brachte sie nach Athen. Bei
der Einnahme der Stadt durch die Soldaten des Sulla kamen auch die
Bücher in die Gewalt des Siegers, der sie nach Rom verbringen ließ (86
V. Chr.). Dort erkannte der Grammatiker Tyrannion den Wert der Bibho-
thek und veranlaßte den Peripatetiker Andronikos sie zu katalogisieren.
Mit diesem Handschriftenfund nahm das Studium des Aristoteles, dessen
Schriften nun vollständig und in besserer Ordnung publiziert wurden,*)
einen neuen Aufschwung ;ö) auf die neue Ausgabe geht im wesentlichen die
Rezension unserer Handschriften zurück, ß)
Die Schriften des Aristoteles zerfallen, von den poetischen Kleinig-
keiten und den Briefen abgesehen, in drei Kategorien: in Dialoge, vor-
bereitende Sammlungen, systematische Werke. Von den beiden ersten
Klassen sind nur dürftige Bruchstücke, von vollständigen Werken aber im
ganzen 47 erhalten.
349. Die populären Schriften und die Dialoge.') Die uns er-
haltenen Schriften gehören alle der Kategorie der systematischen Werke
des gereiften Alters an. Diesen waren populäre Schriften, die sich in sorg-
^) Vita Marciana 9 ; David in Arist. ca- in unseren Handschriften und Ausgaben be-
teg. 24 a 18. ginnen. — Die Veröffentlichung des neuen
'-') Inder akademischen Ausgabe p. 1469 ff. Aristoteles geschah vielleicht durch den
steht die von M. Stein schnbideb angefertigte Grammatiker Tyrannion um 46 v. CHr. (so H.
Rückübersetzung. Jener Ptolemaios war nach Usensr, Ein altes Lehrgebäude der Philo-
dem arabischen Bericht Philosoph in Rom, logie, Bayr. Ak.Sitz.ber. 1892S. 582ff. u. ders.,
vielleicht eine Person mit Ptolemaios Chen- Gott. Nachr. 1892, 204; dagegen F. Süsemihl,
nos. Genauere Mitteilungen gibt F. Littio, N. Jahrbb. 151, 1895, 225 ff.). Unhaltbar ist
Andronikos von Rhodos, Progr. München 1890; übrigens die Meinung, als wären die „Schul-
A. Baümstabk, Syrisch-arabische Biographien Schriften* des Aristoteles vor der Verwertung
des Aristoteles, Leipz. 1898. Über den rtole- der Bibliothek von Skepsis überhaupt un-
maioskat. ders. in Philolog.-hist. Beiträge, C. bekannt gewesen.
Wachsmuth überreicht, 145 ff. ^) Daher heißt es von den alexandrini-
^) Strab. p. 608 f.; Plut. Sulla 26; Luc. ; sehen Katalogen bei Philoponos in categ.
adv. ind. 4. Konfundiert sind die^ Dinge bei 39 a 20: h xaTs JiaXaiaTg ßißkio&7)xaig.
Athenaios, der p. 8 den Ptolemaios Phila- ®) Die Rezension unserer Handschriften
delphos, p. 214d den Apellikon die aristo- wurde aber erst gegen Ende des Altertums
telische Bibliothek des Neleus erwerben läßt. angefertigt und enthält einiges erst später
**) So kennt das neue Verzeichnis, wie Hinzugekommene. Dahin gehören jieqi xöa-
unsere Handschriften, drei (nicht zwei) Bücher ; fwr, jifoI xQwfidTfov, jiegi äavfiaaiojv dxovo-
der Rhetorik, drei Bücher (nichteines) de anima, juaTMv.
dreizehn (nicht zehn) Bücher der Metaphysik, ^) Aristot. fragmenta ed. Val. Rose im
zwei Bücher (nicht eines) der Poetik. Die Ein- Aristoteles pseudepigraphus (weil die Schriften
teilung der Werke in Bücher scheint nicht unecht sein sollen), Lips. 1863, im 5. Band
von Aristoteles herzurühren: der Philosoph der akad. Ausg., Berlin 1870; derselbe in
selbst würde nicht de an. 1. III und polit. der Bibl. Teubn. 1886; E. Heitz, Die ver-
1. VIII an der Stelle begonnen haben, wo sie lorenen Schriften des Arist., Leipz. 1865.
Handbuch der klass. AltertnmswiMeoschaft. YII. 5. Aufl. 43
674 Griechische Litter atnrgeschichte. I. Elawusche Periode.
fältig ausgearbeiteter Form an einen weiteren Kreis von Gebildeten wandten,
und Sammelschriften, die das Material für die Theorie und das System be-
schafften, vorausgegangen. Die populären Bücher waren mit den exote-
rischen {i^aneQixoi koyoi) verwandt, da der Verfasser die für einen größeren
Kreis bestimmten Bücher eher als die systematischen durch Abschriften
zu vervielfältigen und hinauszugeben Anlais hatte; Aristoteles verweist
selbst einigemal auf solche') und spricht in der Poetik p. 1454b 18 von
den ixdedo/uivoi koyoi. Da in diesen eine leichtverständliche Beweisform
angewendet war, so sprach man auch im weiteren Sinn von einer exote-
rischen Untersuchungsweise {oxhpig), und daraus entwickelte sich die be-
sonders von Andronikos in Umlauf gebrachte Unterscheidung von einer
exoterischen, an das allgemeine Verständnis gerichteten Lehre und einer
streng wissenschaftlichen, nur für enge Kreise von Eingeweihten bestimmten
Theorie. 2) Jene populären Schriften hatten größtenteils») dialogische Ein-
kleidung und waren gefällig stilisiert,*) so daß im Blick auf sie Cicero
(Acad. II 119) von einem aureum flumen der aristoteUschen Sprache reden
kann, was unter den erhaltenen Schriften nur auf die *A^vauov jiolneia
zutrifft. Doch fehlte ihnen das mimetisch-dramatische Element, und an
die Stelle kurzer Fragen und Antworten traten lange Vorträge, in denen
die Sache von entgegengesetzten Standpunkten, ähnlich wie später bei Cicero,
besprochen war.*) Aristoteles führte sich auch selbst als Unterredner
ein, und den Dialogen waren Proömien vorangestellt, die zum Bewußtsein
brachten, daß der Dialog nur pädagogische Maske sei. Sachlich schließen
sie teils an Piaton an, teils kritisieren sie ihn. Von fünfzehn dieser Schriften
besitzen wir erheblichere Fragmente. Zu ihnen gehörten der Eudemos
über die Unsterblichkeit der Seele,^) die drei Bücher jzeoi g)dooo(piag^ in denen
die Hauptsätze der jiqojt7] q)dooo(pia entwickelt und zugleich ein Überblick
über die Geschichte der Philosophie gegeben warj) drei Bücher Jiegl Täya-
^ov, die sich mit dem vorgenannten Dialog berührten und besonders die
pythagoreisch gefärbte Lehre Piatons von der Idee des Guten behandelten,
drei Bücher neol jioujtwv, die neben den djioQrjfmTa 'O^urjgixd als Vorarbeiten
*) Die Stellen bei H. Bonitz, Index Arist. rgejruxo^ (nach dem Vorgang des Anti-
p. 104f.; wichtig besonders metaph. p. 1076a sthenes?).
28: TFÜQvXi^zat yag lä jio/./.a xai imo xmv *) Cic. de fin. V 12.
E^unFQixcüv Xoycüv, polit. p. 1323a 22: rofu'- \ ») E. Heitz (s.o. S. 673, 7), H. Schlott-
oayTFg ovv ixavax; mdla keyeo^ai xai h toU < MANN, Ars dialogorum componendoroin quas
FitüifoixoTg Xoyoig :ieQl irjs niHorrji; Cw/c Vgl. , vicissitudines apud Graecos et Romanos su-
A. Stahr II 237 ff.; J. Bernays, Die Dialoge bierit, Rostochii 1889, p. 19—25; R. HmzBL,
des Aristoteles im Verhältnis zu seinen übri- Der Dialog I 272 — 300. Testimonia über
gen Werken, Berl. 1863; H. Diels, Über die Aristoteles' Dialogbehandlung V. Rosb, Ari-
exoterischcn Reden des Arist., Berl. Ak. Sitz.- stot. fragm. 1886, 23 f.
ber. 1883 S. 477 if ; F. Susemihl, Jahrbb. f. cl. ®) l)em Andenken des Genossen gewid-
Ph. 129 (1884) 265 ff. met, der 353/2 im i'eldzug des Dion gegen
^) Gellius XX 5, 10: durch Andronikos Dionysios fiel; Beiträge zur Erklärung von
ist beeinflußt Cicero de fin. III 10; V 12; ad i J. Bernays. Ges. Abb. I 130—140.
Att. IV 16, 2: Strab. p. 609; Galen, de subst. •) Über ihre dialogische Form J. Ber-
facult. IV^ 758; Alex. Aphrod. in Arist. top. nays. Ges. Abh. I 148 ff.; neue Beiträge von
261a 25; Siniplicius 386 b 25. Jene Unter- J. Bywater, Joum. of Philol. 7 (1877) 64 ff.
Scheidung tritt schon in den Briefen Pia- Eine Stelle daraus, die uns Aristoteles auch als
tons auf. Mann der phantasievollen Darstellung kennen
') Schwerlich dialogisch war der //oo- lehrt, teilt Cicero de nat. deor. II 95 mit.
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 350.)
675
für die Poetik*) gelten können, femer rgvlXog fj negi grjrogixfjg,*) Meve-
^Evog,^) NriQiv&og,*-) vier Bücher negl dtxatoovvrjg^^) Schriften negl evyevelag^^)
jiegl Tiaideiag, negl cpiXiag, ovjiitiööiov fj negl /bit&rjg mit viel kulturgeschicht-
lichem Detail über Symposiongebräuche und die Alkoholfrage ^) u. a. In
die gleiche Klasse popidär-philosophischer Bücher gehörten auch die beiden
Sendschreiben an Alexandros jiegl ßaoiXeiag^) und negl änoixiibv^ sowie der
an Themison, König von Kypros, gerichtete Protreptikos, der eine Mah-
nung zum Philosophieren enthielt.®) Diese populären Schriften und Dialoge
waren es zumeist, die noch zur Zeit Ciceros Leser fanden.
360. Sammelschriften. Aristoteles hat seine Theorie in Philo-
sophie, Poetik, Politik auf Grund ausgedehnter Voruntersuchungen über
die geschichtlichen und tatsächlichen Verhältnisse aufgebaut; seinen syste-
matischen VSTerken {ngayuaxelai) gingen daher historische und philologische
Vorstudien (pvvaycoyai) voraus. *<>) Schon in den Dialogen liebte er, seine
Sätze durch Beispiele und historische Rückblicke zu beleuchten, wie das
namentlich von den Schriften über die Dichter und die Philosophie bezeugt
ist. Dazu kamen nun aber noch viele andere Bücher, die mehr Exzerpten**)
und Kollektaneen glichen, als daß sie zu stilistisch abgerundeten Werken
verarbeitet waren.**) Diese scheinen namentlich in den philologischen Kreisen
Alexandriens Verbreitung gefunden zu haben, während viele von ihnen,
nach dem Katalog des Ptolemaios zu urteilen, in der theophrastischen
Bibliothek des Neleus fehlten, sei es nun, weil sie zur Philosophie im
A. Dyboff, Blätter für bayr. Gymn. 32
(1896) 18 ff. sucht nachzuweisen, daß die
Stellen, welche Chalcidius c. 128 u. 254 ans
dem angeblichen Philosophos des Piaton an-
führt, tatsächlich aus diesem Buch des Aristo-
teles geflossen sind.
») Vgl. fr. 74 Rose» mit Ar. po6t. 1460 b
31 ff.
') Gryllos war der gefeierte Sohn des
Xenophon; die auf seinen Heldentod (362)
geschriebenen Lobreden werden den Aus-
gangspunkt des Dialoges, der sachlich an
Plat. Phaedr. anzuknüpfen und die Prätensio-
nen der isokratischen Rhetorik zu bekämpfen
scheint, gebildet haben.
') Der Titel erinnert ebenso wie der
lW/töTi]g, UoltTixog an Dialoge des Piaton
und Antisthenes. Auf den IIoX. bezieht sich
vielleicht Ar. pol. 1323 a 22.
*) Nerinthos war ein Bauer aus Eorinth,
der, durch die Lektüre von Piatons Gorgias
veranlaßt, das Feld verließ, um Piaton zu
hören.
*) Auf diese Schrift will F. Susemihl,
Jahresber. üb. d. Fortschr. d. kl. Altwiss. 30
(1882) 3. Plat. leg. p. 860 d beziehen.
®) Die Echtheit bestritten bei Plut. Ari-
stid. 27, verteidigt von 0. Immisgh, Comm.
Ribbeck. 78.
') Auch Antisthenes hatte :iegl otyov
Xgf/OFWi: geschrieben, und Piaton berührt den
Gegenstand (C. Ritter, Komm, zu Piatons
Gesetzen 53 f.).
^) Eine arabische Schrift über Königtum
hält für Übersetzung eines Aristotelesbriefs H.
Nissen, Rh. M. 47 (1892) 179 f.; dagegen E.
Zelleb, Arch. f. Gesch. d. Phil. 6 (1893) 408 f.
•) Über die stilistische Verwandtschaft
mit den Sendschreiben des Isokrates Wila-
MowiTZ, Aristo t. u. Athen I 326 f. Der Pro-
treptikos ist namentlich von Cicero im Hor-
tensius und von lamblichos in seinem Protr.,
nach P. Wekdland, Anaxim. 92 ff. auch in
Ps.Isocr. ad Demonic. benützt worden. Ein
neues Fragment Oxyrh. pap. IV nr. 666 (s. IL
p. Chr.). Die Sitte, den Fürsten geistige
Studien zu empfehlen, hat wohl Isokrates
(NicocL, ad Nicocl.) aufgebracht.
*®) Seine Auffassung über den wissen-
schaftlichen Wert solcher Sammelschriften
drückt Aristot eth. Nie. 1181a 15 ff . b 6 ff .
aus. Verunglimpfung dieser Schriften Philod.
de rhet. 11 57 Sudh.
**) Im Katalog des Ptolemaios nr. 15
heißt es geradezu: in quo ahbreviavit ser-
monem Piatonis de regimine civitatum =■ ta
Fx tfjg jioXiieiag IlXdioyvog. Exzerpte werden
femer gewesen sein la ix to)v vofdcov nkd-
Tfovo<:, ix T(üv TifÄaiov xai 'Jqxvtov. Kritische
Polemik enthielten die Bücher .-rgog rd rog-
yiovy Jioos zu Meliaaov, Jigog rot 'Alxfiaioyvog,
jiegi xü)v Uv^ayogeicov , Jiegi rrfg 'Agxvrelov
(pdoooffiag, jtegi Afjfioxgirov.
**) Übrigens waren nach Cic. de inv. II 6
manche dieser ovvaytoyai auch sehr genieß-
bar geschrieben.
43*
()76 Griechische Litteraturgeschichte. L Klassische Periode.
engeren Sinne nicht gehörten, sei es, weil sie in den Kreisen der Ein-
geweihten nicht für aristotelisch galten.^) Einige dieser Materialiensamm-
lungen werden im Zusammenhang mit den erhaltenen systematischen Schriften
ihre Besprechung finden. Hier seien die grammatischen und litterarhisto-
rischen Schriften namhaft gemacht: ^Ajiogtj/xara 'OjLiTjQixd, von denen die
Quintessenz in der Poetik Kap. 25 steht, AidaoxaUai^ die Quelle der er-
haltenen didaskalischen Inschriften aus Athen,*) Uv&iovTxai^ zwischen 340
und 334 verfaßt,^) 'Yno^vrifAaxa lorogixd^) und die großen Sammlungen zur
Geschichte der Wissenschaften, zu denen Aristoteles zum Teil auch seine
Schüler anregte, die owaycoyi} xexvwv^^) eine Geschichte der Rhetorik, aus
der die Späteren ihre Kenntnisse geschöpft haben, die Mevcoveta laTQixd
(s. o. S. 593 A.), Eudemos* von Rhodos (kQi&jLirjTixil], yeoD/nergixrj, äoxQokoyixt}
ioTogia (vielleicht auch rcbv jiegl xo ^elov lotogia^ d. h. Geschichte der Theo-
logie), Theophrastos* do^ai q^voixojv, lauter Werke, in denen nicht das Bio-
graphische, sondern das Doxographische vorwiegt. Aus der Klasse solcher
historischer Schriften ist auf uns gekommen das Buch über Melissos Xeno-
phanes Gorgias,«) das durch einen Corrector des cod. Vat. R dem Theo-
phrastos beigelegt ist"^) und so vielfach von den Angaben in den echten
Schriften unseres Philosophen abweicht, daß es nicht von Aristoteles her-
rühren kann.®) Seinem Charakter nach gehörte hierher auch das oft zi-
tierte, verloren gegangene Buch Ilejikog^ das von dem bunten Inhalt
seinen Namen hatte (s. unten S. 707 f.).
351. Die systematischen Werke. Die wichtigste Stellung nahmen
unter den Schriften des Philosophen diejenigen ein, in denen er seine Lehre
im Zusammenhang und in streng wissenschaftlicher Weise vortrug; sie
hießen äxgodoEK;^ weil sie von Aristoteles seinen Vorträgen zugrund gelegt
wurden,'^) oder jTgayjuardai^ weil sie die sachliche Darlegung der einzelnen
Wissensgebiete enthielten; in der Schule des Meisters wurden sie am meisten
in Ehren gehalten, und dieser Hochachtung verdanken wir ihre fast voll-
ständige Erhaltung. Um ein richtiges Verständnis und einen Einteilungs-
grund für die Besprechung dieser Schriften zu gewinnen, *<>) müssen wir
^) Alle die KoUektaneen erklärt samt den | teils de rhet. libros, Stuttg. 1828.
populären Schriften Val. Rose, Arist. pseud- i *) In Cod. Vatic. R steht der falsche Titel
epigraphus (s. 0. S. 673, 7). für unecht. Viele | Jtfgi Efvoqdrovi:, .-leoi Zf}vcoyoc:, :^fgi Fonyiov.
mochten bloß unter der Leitung des Schul- '') Vgl. E. Zeller I' 500, wo auch die
hauptes von seinen Schülern angefertigt sein. umfangreiche Litteratur angegeben ist
Selbst in der 14 »V//i'a/ft»'--To/.rTf/a macht sich ein , ®) E. Zeller a. a. 0.; F. Susemihl, AI.
auffälliger Unterschied von der Sprache der Lit. I 157. H. Diels. Doxographi gr. S. 108 ff. ,
übrigen erhaltenen echten Schriften des Ari- setzt die Schrift in die nächste Zeit nach Theo-
stoteles bemerkbar. Siehe auch u. S. 678, 1. phrastos. In das 1. Jahrh. n. Chr. geht herab
*) WiLAMOwiTZ, Gott. Gel. Anz. 1906, 617; H. Diels, Aristotelis qui fertur de Melissa
E. Reisch. Zeitschr. f. östr. Gymn. 58 (1907) ' Xenophane Gorgia libellus, ßerl. Ak. Abb.
310 ff. Über die Anlage des Buches (Katalog 1900, 1 ff.
der musischen und gymnischen Sieger und der ®) Daher 7 voixif axQoaaic: und axoonaEig
Agonotheten) s. H.Pomtow, Berl. phil.W.schr. met. p. 994b 32. Aus derVortragsform stammt
19 (1899) 251 ff. die Anrede v^iun' rj nor dyQooyfin'cov in soph.
^) Siehe o. S. 672. und Pomtow a. a. 0. el. p. 184 b 2 — 6, aus dem Konzeptstil des
*) Von andern wurden die historischen Kollegmanuskript« die Übergangsformel tierä
Erinnerungsblätter dem Theophrastos zu- Tarru on met. p. 1069b 35; 1070a 4; vgl.
gesclmeben. anal. pr. init.
'^j L. Spenoel, nv%'ayioyij TF/ton' s. artium *") Die Einteilung der Alten gibt Am-
scriptores ab initiis usque ad editos Aristo- monios ad Porphyrii isagogen p. 11 ss. ed.
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 351.) 677
uns zuvor im allgemeinen über den Charakter der aristotelischen Schrift-
stellerei klar werden. Aristoteles steht hier in scharfem Gegensatz zu Piaton
dadurch, daß er sein Augenmerk lediglich auf die Sache gerichtet hält und
daneben der sprachlichen Form nur geringe Sorgfalt zuwendet. 0 Während
Piaton stilistische Kunstwerke schuf und mit der Form des Dialoges ein
poetisches Element in die Philosophie einführte, behielt Aristoteles nur in
seinen Jugendschriften und in den populär gehaltenen Werken die sokra-
tische Form des Dialoges bei, wandte aber in den Schriften des gereiften
Alters und in allen uns erhaltenen die lehrende Darstellung an. Mit diesem
lehrhaften und systematischen Charakter der Schriften hängt es zusammen,
daß sie von Zeiteinflüssen wenig oder gar keine Spuren an sich tragen,
was ihre chronologische Festsetzung erschwert. Da sie außerdem alle aus
den Vorträgen des gereiften Alters hervorgegangen sind, so ist in ihnen
auch so gut wie nichts von einer allmählichen Entwicklung wahrzunehmen,*)
so daß z. B. die philosophischen Kunstausdrücke xb xl fjv elvai^ ovoia^ dv-
va/Liig^ hxeUxeia, die Aristoteles wahrscheinlich erst geschaffen hat, gleich-
wohl in allen Schriften gleichmäßig und in vollständig ausgeprägter Be-
deutung vorkommen. Dazu kommt, daß die nicht seltenen Verweisungen
sich vielfach kreuzen, indem z. B. in der Rhetorik sechsmal auf die Poetik,
aber auch einmal in der Poetik auf die Rhetorik verwiesen ist, 8) und daß
die Anspielungen auf geschichtliche Ereignisse weit auseinander liegende
Zeiten berühren, wie in der Meteorologie 372a 28 der Verfasser von
Beobachtungen redet, die er im Lauf von mehr als fünfzig Jahren ge-
macht habe, aber doch 371a 31 den um mehr als zwanzig Jahre zurück-
liegenden Brand des Tempels der ephesischen Diana als einen Vorfall der
Gegenwart bezeichnet {yvv t^ecoQovfxev), Dieses alles hängt damit zu-
sammen, daß Aristoteles selbst von den systematischen Werken wenig
oder nichts in die Öffentlichkeit hinausgegeben hat, daß aber Eudemos,
Nikomachos, Theophrastos, die nach seinem Tod die Veröffentlichung des
litterarischen Nachlasses besorgten, Manuskripte vorfanden, denen die
Spuren wiederholter Revision und nachträglicher Erweiterung aufgedrückt
waren, und die vor der Herausgabe noch einer genaueren Zusammenord-
nung und nachhelfenden Redaktion bedurften.*) Auch Schülemachschriften
Busse. Vgl. A. Stahr, Aristotelia II 254 fif.; nau zu prüfen, ob sie leicht entbehrt werden
F. N. TiTZB. De Aristotelis openun serie et j können oder mit der Umgebung eng ver-
■distinctione liber singularis, Lips. 1826. I wachsen sind, mit anderen Worten, ob sie
^) Seine Ansicht, daß die Sprache nur > von Aristoteles selbst oder von den spä-
zum Ausdruck der Gedanken da sei, ist aus- , teren Herausgebern und Kommentatoren her-
gesprochen JifQi FQiirjVEiag 1. Von ifsWCeiv
des Aristoteles redet PbJIodem. de rhet. II
p. 51, 36. 11 SuDH.
rühren.
^) W. Christ hat in seinen Ausgaben
aristotelischer Schriften die nachträglichen
^) Über die Reihenfolge s. außer Titze Zusätze mit typographischen Mitteln von dem
besonders Chr. A. Bbandis, Handb. d. Gesch. ursprünglichen Entwurf zu scheiden versucht,
d. griech.-röm. Phil. IIb 111 ff. Die Unter- Zweckmäßig ist dieses namentlich deshalb,
suchungen stehen hier noch im Anfang. , weil die Redaktoren oft die von Arist. am
^) rhet. 1372 a 1, 1404 a 38, 1404 b 7 und Rand angemerkten Zusätze und Besserungen
28. 1405a 5. 1419b 5, po6t. 1456a 35. Ganz I an falscher Stelle einschoben. Eine völlige
wertlos sind darum die Zitate zur Bestim- Verwerfung der Blätter und Hefte des Ori-
mung des Verhältnisses der Schriften zu ein- ; ginals sucht in überkühner Skepsis zu er-
ander nicht ; es kommt eben darauf an, ge- ' weisen E. Essen, Der Keller zu Skepsis, Star-
678 Griechische Litteraturgeschichte. L Elasaische Periode.
von Aristoteles' Vorlesungen mögen zum Teil benutzt worden sein. Da
wir so unter den erhaltenen Schriften kaum eine haben, die in allen Teilen
vom Verfasser zur Herausgabe abgeschlossen war,») so vermissen wir in
ihnen auch den „goldenen Fluß der Rede", den Cicero und andere, die
noch die vollständigen Werke des Aristoteles hatten und die populären
Schriften lieber als die systematischen lasen, an ihnen rühmten.*) Je
schwieriger das Verständnis dieser Schriften und je kunstloser ihre Form
ist, desto mehr ist die Heranziehung guter Übersetzungen zu ihrem Studium
zu empfehlen (hervorzuheben sind die Metaphysik von H. Bonitz, heraus-
gegeben von E. Wellmann, Berlin 1890, und von A. Lassen, Jena 1907, die
Ethiken von J. Rieckher in der Metzlerschen Sammlung, Stuttg. 1856 — 59).
Dem Inhalt nach zerfallen die erhaltenen Werke in fünf Klassen:
1. erkenntnistheoretische und logische Schriften, 2. naturwissenschaftliche
Schriften, 3. Schriften von dem übernatürlichen (transcendentalen) Sein^
4. Schriften, die sich auf das Gebiet des menschlichen Handelns {jzgdjTeiv)
beziehen, 5. Schriften, die es mit dem menschlichen Kunstschaffen {jtoulv)
zu tun haben. — Anmerkungsweise werden bei jeder Schrift die Kommentare
und Paraphrasen aus dem Altertum angegeben, die bis jetzt in der auf
35 Bände angelegten, von der Berliner Akademie veranstalteten Samm-
lung der Commentaria in Aristotelem graeca gedruckt sind (die Zahl be-
zeichnet die Nummer des Bandes dieser Ausgabe).
352. Die logischen Schriften,®) in denen Aristoteles eine von
metaphysischen wie psychologischen Voraussetzungen befreite, eben da-
durch aber der Gefahr des Mechanismus ausgesetzte syllogistische Denk-
technik entwickelt, verdienen unter den systematischen Werken die erste
Stelle, weil sie das Werkzeug der Dialektik und wissenschaftlichen For-
schung bilden*) und deshalb auch von den späteren Peripatetikem*) unter
dem Namen Organen, d. i. Werkzeug, der ganzen Sammlung vorangestellt
gard 1866 und Ein Beitrag zur Lösung der bei Übebweg-Heinze P 240 f.
ariatot. Frage. Berl. 1884.
*) Freilich besteht in Bezug auf den
Grad der Ausarbeitung ein großer Unter-
*) Arist. met. p. 1005 b 4 sagt selbst, daH
die Analytik der Physik und Metaphysik
vorangehen müsse. Die Analytik ist vor der
schied zwischen den einzelnen Schriften und Physik verfaßt nach p. 95 b 11, ebenso vor
sogar zwischen den einzelnen Bttchern der- der Ethik nach p. 1 139 b 27 u. 32.
selben Schrift, wie denn z.B. Teile der Poli- *) David in categ. p. 26a 11: oi di- af'-
tik. der Metaphysik (bes. Buch I), die Schrift ycnteg, ort Sei djio tf^s loyiySj;; aQXfodnif
netji ovoavov sorgfältiger stilisiert sind. F. j expaoxov, du doyarov y koytxt'f. Vgl. Diog. L.
BLASS, Att. Bereds. IP 330. 427 erklärt das ' V 28. Ähnlich spricht schon Arist. selbst
mit der Annahme, einzelne Stücke seien aus top. p. 163 b 11 von einem ogyarov jroos
den Jugendschriften herübergenommen. yvdjoiv. Den Ausdruck Organon fand bereits
*) Siehe o.S.674; vgl. Cic. top. 13; de in- Alexandres Aphrod. als allgemein verbreitet
vent. 112,6; Quint.X 1,83. Bestimmter urteilt vor; s. K. Phantl, Gesch. der Log. I 532.
Dionysios de imit. B p. 211, 1 ff. Us.: .tana- Tatsächlich war die Logik für Aristoteles
hjnTeor rU xal 'AQiorortbjr ftV uintjoir rjyc ts nicht wie für die Stoiker ein selbständiger
:i€i>i Tfjy Eofijp'eiav ÖFiröxrjTog xai ifj^ oarft}- Zweig der Philosophie, sondern ein ,Werk-
vfia^ y.ai jov ij^eck y.al jto/.vftm'hvc. Die zeug** (H. UsENEK, Bayr. Ak. Sitz.ber. 1892,
Schönheit der exoterischeu Schriften hebt 589). Die Orientalen zogen auch Poetik und
hervor Themist. or. 26 p. 385D.; Philoponos Rhetorik zum Organon (0. Immisoh, Philol.
in cat. 86 b 28; David in cat.26b 35. F. Blass, I 65. 1906, 20). — Eine ausführliche Darlegung
Rh. M. 30 ( 1«75) 481 ff. weist in den gc- ' und Kritik der aristotelischen Lelire gibt H.
feilteren Schriften auch eine größere Sorg- Maier. Die Syllogistik des Aristoteles, 2 Teile,
falt in der Vermeidung des Hiatus nach. Tübingen 1896—1900.
») Vollständige Bibliographie bis 1902
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 852.) 679
wurden. Sie sind wohl auch die zuerst verfaßten. Die aristotelische
Logik, die aus den Diskussionen der früheren Sophisten und Philosophen
über äki^^eia und tiiari^inrj die Quintessenz darstellt, ist in der antiken
Philosophie die allein herrschende geworden; der Versuch des Plotinos,
eine neue Kategorienlehre aufzustellen, blieb vereinzelt. Die Neuplatoniker
seit Porphyrios haben die aristotelische Lehre in diesem Stück angenommen
und Kommentare zum Organen geschrieben. Von einer tieferen Wirkung
der logischen Technik des Aristoteles auf den praktischen Betrieb der
Wissenschaften ist übrigens weder bei ihm selbst noch bei anderen viel
zu spüren. Das ganze logische Gebäude des Aristoteles strebt zu der
Krönung durch die Lehre vom Schluß (Syllogistik) hin. Das Allgemeine
aber, aus dem durch Schlußverfahren das Einzelne abzuleiten ist, gewinnt
er auf dem umgekehrten Weg der Induktion (ijiaycoyi^), die vom Einzelnen
ausgeht. Erhalten haben sich die wichtigeren logischen Schriften alle,
und zwar in dieser Reihenfolge i^)
Karrjyoglai^) oder die (zehn) Grundformen der Aussage vom Seienden
{ovoiGy nooovy TtQog ii, noiovy tiov, tzoxe, xetai^ai, ^x^tVy noieiv, ndox^iv),^)
Ob die Schrift, in der sich die eigenartig aristotelische Verbindung
zwischen Dialektik und Empirie besonders deutlich ausprägt, und die
nicht sowohl der Metaphysik als der Dialektik des Aristoteles vor-
arbeitet, in der vorUegenden Form von Aristoteles selbst herrühre, oder
erst nach Aristoteles unter dem Einfluß der herrschenden Schulmethode
im Anschluß an die Stelle der Topik p. 103b 20 entstanden sei, ist be-
stritten.*) Der Unechtheit verdächtig ist namentlich der Schluß mit den
sogenannten Postpraedicamenta (c. 10 — 15). Keime der Kategorienlehre
finden sich schon bei Pia ton (Theaet. 185cf; soph. 254 e), aber Aristoteles
ist hier besonders selbständig weitergegangen. Den Bedürfnissen der
heutigen Wissenschaft genügt freilich die aristotelische Kategorientafel
nicht mehr, weder was Vollständigkeit noch was scharfe Abgrenzung der
Einzelkategorien betrifft.
Tlegl iQ/iirjyeiag,^) de interpretationey oder vom Satz, den Teilen und
Formen desselben (ßyo/ia, §fjjua, köyog, xaxdqpaoig, &7i6(paoig). Auch die
Echtheit dieser Schrift wurde schon im Altertum von Andronikos bestritten.«)
^) Der AbfassuDgszeit nach folgen sich in categ. 39 a 20 gab es unter dem Namen
Kai. TojT. Viva/. 77. eg/i. des Aristoteles noch ein anderes Buch Kate-
-) Porphyr, isag.et in categ. comm. ed. A. gorien (fpegerai xai (Ulo tojv xatTjyogiiov
Busse IV 1 (1887); Ammon. in Porphyr, isag. ßißUov wg 'AoiatoteXovg). Den Schluß unserer
sive V voces od. A. Busse IV 3 (1891); Elias ; Kategorien c. 10—15, die sog. postpraedica-
in Porph. isag. et Aristot. categ. ed. A. Busse ! menta (afia und -TooTeoor, xiveTv und f/fiv etc.),
XVIII 1 (1900); Ammon. ed. A. Busse IV 4 ! hielt schon Andronikos für unecht, s. F. A.
(1895); Dexipp. ed. A. Busse IV 2 (1888); | Trendelbnburo, De Arist. categoriis, Berlin
Philoponus (olim Ammonius) ed. A. Busse ' 1833; ders., Geschichte der Eategorienlehre,
XIII 1 (1898); Anonym, paraphr. ed. M.Hay- Berl. 1846; H. Maibb, SyUogist. II 2, 292 A.
duck XXIIl 2 (1883); Simplic. ed. C. Kalb- Für Echtheit der ganzen Schrift spricht sich
FLEISCH VIII (1907); David proleg. et in Por- • R. Witten, Arch. f. Gesch. der Philos. 17
phyrii isagogen ed. A. Busse XVIII 2 (1904). 1 (1904) 52 ff. aus.
*) Der Sachtitel lautete sifoI tmv yevo>v I ^) Ammon. comm. ed. A. Busse IV 5 (1897);
Tov ovTog; s. Th. Waitz in der Ausgabe des i Stephanus ed. M. Hayduck XVIII 3 (1885).
Organon, Leipz. 1844—1846, I 265. \ ®) Die von Andronikos gegen die Echt-
**) K. Pbantl, Gesch. d. Log. I 207 flf. [ heit der Schrift erhobenen Zweifel sind ab-
Nach Simplicius in categ. fol. 8 und Philop. gelehnt von Alexandros Aphrod. in Anal. I
680 Griechische Litteratnrgesohichte. I. KlasedBche Periode.
Der Kommentar des Ammonios zeigt einen von unseren Handschriften be-
sonders stark abweichenden Text.^)
^AvaXvTixd ngorega^) und vorega^) in je zwei Büchern,^) benannt nach
der Terminologie der Mathematiker, weil sie die Zergliederung oder Bück-
führung der Wahrheiten auf die Elemente, aus denen sie gewonnen werden,
bezwecken. Die erste Analytik enthält die Lehre vom Schluß als einem
Mittel des wissenschaftlichen Beweises {äjiodei^ig i} inion^jurj duiodeixtix/j)^
der vermittelst Satz, Definition, Konklusion (jigöiaoig, Sgogt oviloyiofiog)
zustandekommt; die zweite handelt vom Erkennen oder Wissen überhaupt
{juudijoig diayorjnxrj)^ vom Wesen des Wissens, das in der Erkenntnis des
Grundes wurzelt, von der Möglichkeit des Wissens unter der Voraussetzung
gewisser unmittelbarer Wahrheiten, von den Wegen des wissenschaftlichen
Erkennens durch Beweis (oviXoyiouog), Induktion (iTiaycoyi^)^^) Definition
(pgiojuog), Zergliederung (diaigeotg). Es ist insbesondere die Lehre vom
deduktiven Schluß und seinen drei Figuren, die Aristoteles abschließend
dargestellt hat,^) wiewohl er selbst die Bedeutung der Induktion (tiaycoyrj)
höher einschätzte.
Tojiixd'^) in acht Büchern, hervorgegangen aus der Dialektik oder
der von den Sophisten gepflegten Disputierkunst und auch von platonischen
Begriffen abhängig;^) sie enthalten die allgemeinen Sätze (totzoi).^) mit
deren Hilfe es möglich ist, über einen aufgestellten Satz so zu disputieren,
daß man, ohne einen streng wissenschaftlichen Beweis zu erbringen, doch
für seine Thesis die Wahrscheinlichkeit erbringen kann.^^) Da sie so den
Weg oder die Methode des Disputierens angeben, so werden sie auch in
den alten Katalogen und von Aristoteles selbst (rhet. p. 1356 b 19) jue&odixd
p. 160 ed. M. Wallies. H. Maieb, Arch. f. 1 gangem, die noch keine eigentliche rfx*^
Gesch. d.Philos. 13 (1900) 23 fif. hält die Schrift | dieser Dinge hatten, s.soph.el. 183b Ifif. Siehe
für aristotelisch, aber einen unfertigen Ent- a. W. Fbeytao, Die Entwicklung der griech.
wurf. — Übersetzung mit Kommentar von I Erkenntnistheorie bis Aristoteles, Halle 1907.
J. Laminne, Bruxelles 1901. , ^) Alexander Aphrod. comm. ed. M.Wal-
') A. Busse in der Festschr. zu J. Vah- lies II 2 (1891). Kest eines Kommentars
lens 70. Geburtstag, Berlin 1900, 71 ff. s. I. p. Chr. auf einem Papyrus aus Fayum
') Alexander Aphrod. comm. ed. M.Wal- j s. W. Cbönebt. Arch. f. Papyrusf. 2, 367. —
LIES II 1 (1883) ; Ammonius ed. Walliks IV Siehe im allg. M. Wallies. Die griech. Aus-
6 (1899): Philoponus ed. Wallies XIII 2 leger der aristot. Topik, Beri. 1891.
(1905) ; Themistius paraphr. libri I ed. Wal- **) E. Hambbuch, Log. Regeln der piaton.
lies XXIII 3 (1884). Schule in der aristotel. Topik, Berlin 1904;
') Themistius comm. ed. M. Wallies V 1 H. Mütschmann, Divisiones quae vulgo die.
(1900); Eustratiusin Analyt. post. libr. secund. , Aristoteleae, Leipz. 1906 praef. VII ff.
ed. M. Hayduck XXI 1 (1907). •) Diese io.to« sind als loci communts
*) Nach Philop. in cat. 39 a 20 gab es in i bekannter geworden in der Rhetorik, die ja
den alten Bibliotheken eine Ausgabe in /i | mit der Dialektik nahe verwandt ist. Die
(corrig. //) ßtß)Jn. In den Katalogen hat die rhetorische Topik bildet den Gegenstand der
erste Analytik neun Bücher. Die ersten Ana- ! zwei ersten Bücher :tF{}i gtjrogixff^. Auf einer
lytika werden von Arist. selbst p. 96 a 1 mit Bearbeitung der aristotelischen Topika durch
Fv ToTc ngunoiQ zitiert. Zur Exegese der Anal. Antiochos von Askalon beruhen Ciceros Topica
priora H. Maier, Syllogist. des Arist. II 1. nach M. Wallies, De fontib. topicor. Uic,
^) M. CoNSBRUCH, Fnay(oyi) und Theorie
der Induktion bei Aristot, Arch. f. Gesch. d.
Philos. 5 (1892) 302 ff.: ders., Die Jlrkenntnis
der Prinzipien bei Ar., in der Festschr. des
Halle 1878. während P. Thielscher, Ciceros
Topik u. Aristot. (Philol. 67. 1908, 52 ff.) sie im
wesentlichen aus Aristot. Rhetorik herleitet
*®) Top. I 1: ?5 iitv .Toodeaig xfjg Jigay-
Stadtgymu. Halle zur 47. Phiiologenvers., ' fiaiFiag uFi^odor FvgetVf atp ?/<: di'vtjoofie&a
Halle 1903. l ovV.oyi^eoOai Jtsgi jraviog tov nQOTr&evr<K
') über sein Verhältnis zu den Vor- :jgoßh'jfiazos i^ erdo^ior
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 353.) Qgl
genannt. Die Topik, in der sich der Verfasser in breiter Ausführung gehen
läßt,^ steht hinter der Präzision der Analytik weit zurück und gehört der
älteren, noch der rhetorischen Schuldialektik näher stehenden Periode der
aristotelischen Philosophie an.^) Für die Wissenschaft haben die hier ge-
gebenen Anweisungen zu rabulistischer Beinstellerei nichts zu bedeuten;
ein gewisser praktischer Wert zur Ausbildung einer freilich keineswegs
vornehmen Wehrhaftigkeit im Disputieren kann ihnen aber nicht bestritten
werden, und dieser ist gewiß im Altertum höher als heute angeschlagen
worden.
Zo(pioTiHol ekeyxoi^) oder die Trugschlüsse der Sophisten; sie ge-
hören zur Topik und bilden in der Ausgabe des Organon von Th. Waitz
geradezu das neunte Buch der Topik;*) ihre Sonderstellung hängt mit
der Scheidung von Dialektik und Eristik (rabulistische Disputierkunst)
zusammen.
Von den verloren gegangenen Schriften gehörten in das Gebiet der
Logik die diaigeaeig (Zergliederungen),*) negl evavricov (von den Gegensätzen),
jzegl eidwv xai yevd)v (von den Arten und Gattungen), inixeigi^juaxa koyixd
(logische Schlüsse). Aber alles Bedeutende ist erhalten und damit das
Dauerhafteste, was der zergliedernde Verstand des Aristoteles, anknüpfend
an die Scheidekünste des alternden Piaton, im Gebiet der Philosophie
hervorgebracht hat. Denn legen wir auch heutzutage auf die formale
Logik nicht mehr den Nachdruck wie frühere Zeiten, so gebührt doch
dem Aristoteles das Verdienst, die äußeren Formen der menschlichen Denk-
operationen, die Wege des Erkennens und die Arten der Schlüsse zuerst
und für Jahrhunderte klargelegt zu haben.
353. Die naturwissenschaftlichen Schriften beschäftigen sich
teils mit der philosophischen Begründung der Naturerscheinungen, teils
mit Naturbeschreibung. Bemerkenswert ist, daß Aristoteles der Formen-
lehre der Naturwissenschaft, der Mathematik, weit weniger Interesse und
Verständnis entgegenbringt (s. o. S. 600, 5) als Piaton, obwohl er in seinen
logischen Schriften mathematische Analogien und Kunstausdrücke heran-
zieht. 6) Zur ersten Gattung zählen:
(Pvoixfj äHgoamg"^) in acht Büchern handelt von den Prinzipien (agxai)
des in Bewegung befindlichen Seins und ist vor der Metaphysik, in der sie
wiederholt vorausgesetzt wird, abgefaßt.®) Die Grundprinzipien der dua-
^) Die Breite der Topika hängt, wie am
Schluss p. 184 a 8 angedeutet ist, damit zu-
sammen, daß sie aus einem rhetorisch an-
gelegten Lehrkurs hervorgegangen sind.
') Die Topik ist zitiert in Analytika
priora p. 24 b 12.
ö) Siehe H. Mutschmann a. a. 0. XVIII.
M. hat die bei Diog. L. und in einem Codex
Marcianus erhaltenen angeblich aristoteli-
schen ÖtatQtoetc herausgegeben, die auf pla-
tonische und altperipatetische Zergliederungen
zurückgehen, und in der Einleitung über die
^) Michael Ephesius comm. ed. M.Wal- Geschichte der Zergliedeningskunst gehandelt.
LIES II 3 (1898); Anonym, paraphr. ed. M. *) Th. Gomperz. Griech. Denker 111,84.
Hayduck XXIII 4 (1884). ') Themistius paraphr. ed. H. Schenkl V 2
*) Vgl. Th. Waitz U o28; entscheidend (1900); Simplicius ed. H. Dibls IX. X (1882.
ist, daß am Schluß der soph. el. eine Re- 95); Philoponus ed. G. Vitelli XVI. XVII
kapitulation der ganzen Topik steht. Die (1887. 88).
Handschriften indessen sondern die beiden **) Ebenso vor der Ethik nach dem Zitat
Werke; der cod. Laur. 89 teilt obendrein die p. 1174b 3.
soph. el. in zwei Bücher.
6g2 Qriechische LitteratnrgeBchichte. I. KlasoiBche Periode.
listischen aristotelischen Lehre, vkrj, vjioxeljuevov, dvva/nu: auf der einen, eldog^
^oQtpYj, hreXeyeia auf der andern Seite, femer x6 ovvokov, ro riXog oder t6
ov evexa, ovoia und ov^ßeßrjxoraf rö xivovv oder d'&ev ^ xivtjoig sind hier
zum klarsten Ausdruck gebracht. Die Physik des Aristoteles, die unter
einem teleologischen Gesichtspunkt steht (6 de '&e6g xau ^ qwoig avdkv judrrjv
jtoiovaiv de cael. p. 271a 33), hat also mit dem, was wir heutzutage Physik
nennen, wenig zu tun; sie erläutert nur die Begriffe, unter denen wir die
Erscheinungen der Natur anschauen, enthält nicht auch die Gesetze, nach
denen die Dinge werden und zueinander in Beziehung treten; sehr be-
zeichnend nannte sie Hegel eine Metaphysik der Physik. Der zweite Teil
(V — VIII) handelt von der Bewegung und den verschiedenen Arten der
Bewegung, der des Raumes (9^0^), der Beschaffenheit ijietaßoh) oder
äkXoicooK;), der Größe {aij^rjoig und (p&uji<;); er hatte davon auch den
besonderen Titel Jiegl xivijoefog^) Das zweite und dritte Kapitel des siebenten
Buchs liegen in doppelter Redaktion vor.*) Eine Bearbeitung der aristo-
telischen Physik, aus der Simplicius eine Anzahl von Stücken erhalten hat,
verfaßte Eudemos von Rhodos. 3)
IIeqI ovgavov^) in vier Büchern*) und Tiegi yeveoecog xal cp&ogäg^)
in zwei Büchern schließen sich eng an die Physik an und enthalten aprio-
rische Spekulationen über den Himmel und das Entstehen, und zwar
handelt die erste Schrift von der ünvergänglichkeit des Weltalls {jtgwTog
ovQavoq)^ eine Lehre, die seit hellenistischer Zeit ein Zankapfel besonders
zwischen Stoa und Peripatos gewesen ist, und von der Gestalt und Be-
wegung der Gestirne mit Bezug auf die Elemente des Leichten und
Schweren,') die zweite von dem schlechthinigen Entstehen und Vergehen
und dem Entstehen und Vergehen durch Mischung und Änderung. Nament-
lich diese Schrift ist auch stilistisch sorgfältig durchgearbeitet und von
großer Bedeutung für die Erkenntnis der aristotelischen Lehre.
METEcoQokoyixd,^) eine Pathologie der Elemente unter Ausschluß der
siderischen Erscheinungen in vier Büchern, schließen sich an die beiden
letzten Schriften an und suchen die Dinge in der Höhe unterhalb der Ge-
stirne oder die atmosphärischen Erscheinungen mit Einschluß der Kometen,
*) Andronikos hat, nach Simplicius in *) met. p. 1078 b 5 h' äXXoic Foovfjev wird
phys. p. 923 f. Diels, gestützt auf alte Zeug- von A. Schwegler auf die Schrift :^eoi ovgavov
nisse, den drei letzten Büchern den Titel .^egi I bezogen, was schwerlich richtig ist, da um-
xtviioeoK gegeben. | gekehrt die Metaphysik später abgefaßt ist,
^) Nachgewiesen von L. Spengkl, Über | wofür auch das Zitat p. 1073 a 32 spricht.
das siebente Buch der Physik des Arist., Bayr.
Ak. Abb. 3 (1840) 305—49, durchgeführt in
der Ausg. der Bibl. Teubn. von K. Prantl
(Leipz. 1879). Der Versuch von P. Tannery,
Arch. f. Gesch. d. Philos. 7 (1894) 224 ff.: 9
(1896) 115 ff., Buch V u. VI aus der Physik
auszuscheiden, ist zurückgewiesen von (j.
RoDiEU ebenda 8 (1895) 454 ff. 9 (1896) 185 ff.
^) E.Martini in der Kealenz.. ll.Halbbd.
Philoponus coram. ed. G. Vitelli XIV
2 (1897). Philopon. (Michael Ephes.) ed. M.
Hayduck XIV 3 (1903). Zum Titel vgl. Fiat
Phaed. 95o;Tarmen. 136b; Dio Chr. or. 33, 4.
') Aristoteles schließt sich hier an die
Sphärentheorie des Astronomen Kallippos aus
Kyzikos, eines Schülers des Eudoxos, an,
wonach Tu. Bergk, Gr. Litt. IV 486 das Werk
Ol. 112 (382) .setzt.
899, 49 ff. ^) Alcxand. Aphr. comm. ed. M.Hayduok
^) Simplic. comm. ed. J. L. Heiberü Vll \ III 2 (1899); Olympiodor. ed. G, Stüve XII 2
(1894); Theinistius ed. S.Landauer V 4 (1902). ' (1900); Philoponus ed. G. Stüve XIV 1 (1901).
Zur Sache 0. Gilbert, Die meteorolog. Theo-
rien des griech. Altertums, Preisschr. von Mün-
chen. Leipz. 1907, besonders S. 7 ff. 10 ff.
Die Geschichte der termini usTEfoga und /4€-
idnoia behandelt E. Martini, Leipz. Stud.
17" (1896) 339 ff.
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 354.)
683
daneben aber auch im Zusammenhang damit die Erscheinungen des Meeres
und die Erdbeben zu erklären. Als Ursachen für die nd^rj der Elemente
betrachtet Aristoteles wie seine Vorgänger die zwei Kräfte der Wärme
und der Kälte. Das vierte Buch hat eine selbständige Stellung für sich
und handelt von den Gegensätzen des Warmen und Kalten, Trockenen und
Feuchten, als den Elementen der Körperwelt. ') Schwierige und interessante,
uns zum Teil noch heute beschäftigende Probleme sind in diesem Werk
meisterhaft mit strenger Schlußfolgerung und sicherer Beherrschung des
damaligen Materials behandelt. Dadurch gehören die Meteorologika zu den
bedeutendsten, aber auch schwierigsten Schriften des Philosophen.*)
354. Dem Gebiet der Naturbeschreibung, in dem Aristoteles auf den
Leistungen der älteren Ärzte, Physiker, auch Herodots fußt,*) gehören an:
AI Tieoi rä ^cöa lorogiai in zehn Büchern.*) Mit diesen in Zu-
sammenhang stehen die Schriften: negl C(p(x}v /hoqIcdv in vier Büchern, jieqI
C(p(ov yeveoeojg in fünf Büchern,*) negl nogeiag Coicov in einem Buch.®)
Zwei Behandlungsarten der Zoologie gehen hier nebeneinander her, was
deutlich hervortritt, wenn man die zehn Bücher der Tiergeschichte in
ihre Teile zerlegt. Diese handelt nämlich nach einem allgemeinen Über-
blick (I 1—6)7) von den Teilen der Tiere (I 7— IV 7), von dem Entstehen
') Der Kommentator AlexaDdros Aphrod.
(t. III 2 p. 179, 3flf. Berol.) sprach zuerst aus,
daß das vierte Buch nicht zu dieser Ttoayftareia
gehöre, sondern eher zu den Büchern Jiein yevi-
oewQ xai ffMoQäc^ s. J. L. Idblbb, Meteor., Berl.
1832, II 347—49; L. Spenoel, Über die Reihen-
folge der naturwissenschaftl. Schriften des
Arist., Bayr. Ak. Abh. 5 (1849) 141 flf.
^) Auf die Met. geht wahrscheinlich der
im Mittelalter dem Aristot. fälschlich bei-
gelegte Lapidarius zurück (F. de M^ly, Rev.
des et. gr. 7, 1894, 181).
*) F. PoscHENBiEDEB , Die uaturwisson-
schaftl. Schriften des Ar. in ihrem Verh. zu
den Büchern der hippokrat. Sammlung, Progr.
Bamberg 1887; K. Hammekscumidt, Ar. als
Zoologe, Bl. f. bayr. Gymn. 35 (1899) 561 ; H.
Diels, Herrn. 22 (1887) 430 ff.
*) In den guten Handschriften und in
den Katalogen sind es nur neun Bücher.
Das zehnte Buch, das auf die Begattung der
Menschen und speziell auf die Gründe der
Unfruchtbarkeit zurückkommt und im Kata-
log des Diogenes unter dem Titel v:ifo toi)
//// yhvvav angeführt wird, hält L. Spenoel,
De Aristotelis libro decimo bist. anim.
et incerto auctore libri .ifgl xoofiov, Heidel-
berg 1842, für eine im 14. oder 15. Jahr-
hundert gemachte Rückübersetzung der lat.
Übersetzung von Wilh. v. Mörbecke. Daß
auch das neunte Buch, das nochmals die
Gewohnheiten der Tiere (tu i(7tv ^unov rjOrj)
behandelt, nicht von Aristoteles herrührt, hat
aus Sprache und Inhalt L. Dittmeyeb, Blät-
ter f. bayr. Gymn. 23 (1887) 16—162 über-
zeugend nachgewiesen. H. Joaciiix, De Theo-
phrasti libris ne^i C^owv, Bonn 1892, S. llff.
beobachtete, daß in dasselbe Exzerpte aus
: Theophrastos* Buch .tfoi ^rixo^' tjOwv l) .^eol
j Cfi'wfv q-gov/jOFojg gekommen sind. Auch das
I siebente Buch, das in den Handschr. nach
dem neunten steht und erst von Theodoros
Gazes an seine jetzige Stelle gesetzt wurde,
ist schwerlich echt. — Exzerpte aus der
von Aristophanes von Byzantion gemachten
Epitome des Werkes, die für Konstantinos Por-
phyrogennetos hergestellt wurden, publiziert
Spybidion Lambbos, Suppl. Aristot., Berol.
t. I 1885. Mit der von Älian und Suidas
benützten Epitome des Aristophanes Byz. (L.
CoHN in der Realenz. II 1, 1004. 44 ff.) setzt
E.L. deStepani (Stud. ital. 12, 1904, 428 ff.) die
pseudoaristotelischen CoHxd gleich. — Wert-
los ist die lateinische Übersetzung desGeorgios
Trapezuntios (15. Jahrb.), von der Proben mit-
teilt L. DiTTMEYER, Untersuchungen über
einige Hss. und lat. Übersetzungen der Ari-
stotelischen Tiergeschichte, Progr. Würzburg
N. G. 1902. — Kommentare sind veröffent-
licht: des Philoponos zu neol Ctofoy yfveo.
von M.HAYDUCK XIV 3 (1903); des Michael
Ephes. zu ,1. \i<nu)v fwotojy, si. Cv>f'»' xiv//of(o;,
n. Cifxov jiooEin^ von dcms. XXII 2 (1904).
*) Eigentlich sind es nur vier Bücher,
denen ziemlich lose ein Buch hfol .^nOtjfm-
Tcov C^iHov angehängt ist.
*) K. Prantl, De Aristot librorum ad
bist, animal. pertinentium ordine atque dis-
positione, Monachii 1843 p. 35 beweist, daß
das Buch .iFoi .loitFiag seinen Platz zwischen
dem neunten und zehnten Kapitel des vierten
Buches de partibus anim. hatte.
^) bist. anim. I p. 491a 7: etotjuu ir
TVJifo yevfjiaxo^ /Aq^^'
gg4 Griechische Litieraturgeschichie. L KLaasische Periode.
der Tiere (V — VII), von der Lebensweise und Nahrung der Tiere (VIII).
Es sind also in den einzelnen Teilen der Tiergeschichte dieselben Gegen-
stände behandelt wie in den bezeichneten Spezialschriften. Aber die Be-
trachtungsweise ist verschieden: die Naturgeschichte hat es mit dem 5t«
oder den tatsächlichen Erscheinungen der Tierwelt zu tun, die Spezial-
schriften, welche die Physiologie oder die Philosophie der Tierlehre bilden,*)
sind auf das dion oder auf den Grund der Erscheinungen gerichtet, als
welcher in letzter Linie die Zweckmäßigkeit oder das Gute in der Welt-
ordnung gefaßt wird. Auch der Zeit nach liegen die beiden Arten von
Schriften weit auseinander. Die Tiergeschichte wird nicht bloß de part.
animal. II 1 p. 646 a 9 als abgeschlossen vorausgesetzt, sie verrät auch an
sich eine frühere Entwicklungsstufe im Geistesleben des Aristoteles, so
daß sie nicht bloß vor dem Buch über die Teile der Tiere, sondern auch
vor der Physik*) abgefaßt zu sein scheint. Die ganze Methode der natur-
wissenschaftlichen Forschung, woraus zugleich Plan und Ordnung der auf
diesen Gegenstand bezüglichen Schriften hervorgeht, ist im ersten Buch der
Schrift von den Teilen der Tiere dargestellt, weshalb F. N. Titze und
L. Spengel^) jenes Buch als gesonderte Schrift allen zoologischen Schriften
vorausgeschickt wissen wollten; aber es genügt, wenn es gemäß der Über-
lieferung den Eingang der physiologischen Schriften bildet. — Die Schriften
des Aristoteles stellen die höchste Leistung auf dem Gebiet der antiken
Zoologie dar, die später immer mehr in Kuriositätenkrämerei und para-
doxographischen Schwindel verfallen ist.
366. Naturgeschichtliche Werke von zweifelhafter Echtheit sind:
ÜFoi qvT(ov (p. 814 — 830) in zwei Büchern. Das auf uns gekommene Werk ist
nach dem phrasenreichen Vorwort eine Rückübersetzung aus dem Lateinischen und des
weiteren aus dem Arabischen. Aristoteles hatte ein Buch über die Pflanzen geplant^) und
scheint nach p. 539a 20; 731a 29 den Plan auch ausgeführt zu haben.^) Aber das Pflanzen-
buch des Aristoteles war schon zur Zeit des Alexandres von Aphrodisias verloren gegangen.*)
Die uns erhaltene Schrift wird von ihrem Herausgeber E. H. F. Meyer (Leipzig 1841) dem
Nikolaos Damaskenos, der unter Augustus eine Art Compendium der aristotelischen Philo-
sophie verfaßte, zugewiesen.^)
ITfQi xoa/tor (p. 391 — 401), oder über das wohlgeordnete Ganze des Weltalls in
einem stellenweise enthusiastisch-teleologischen Sinn geschrieben, der an die Stimmung des
Gesangs der Erzengel in Goethes Faust gemahnt. Das Buch, das nicht fach wissenschaftlich
im engeren Sinn sein will (p. 397 b 11), sondern zur Popularphilosophie gehört, ist mitsamt
dem einleitenden Bnef an Alexandros^) fälschlich dem Aristoteles beigelegt worden. Schon
die Erwähnung der britannischen Inseln p. 393 b 17 führt über die Zeit des Aristoteles und
^) de longaev. p. 464b 33: ooov rntßfuiet 20 eiorjim h xf) dfrogif/L tfj nfQi tmv (fVT(ov
ifl (fvoixfi q'doooqia, de part. anim. p. 641a i mit seinem bedenklichen eiotfiai von einem
29: ro> ^xFQi (fvoFOK i>FO}Q7)xixu). Vgl. p. 653a 8. I Interpolator her: L. Spengel wollte FTgi/rai in
Das Buch über die Teile der Tiere ist nach ' Ftg/jOFTai Andern,
dem Zitat p. 645 a 5 nach dem Buch über ^) Alexandres zu p. 442b 28.
den Himmel geschrieben. 1 •) Vgl. F. Susemihl, AI. Litt. II 317.
^) Mit Einschluß des Werkes .Tfoi ov- ") Unter diesem Alex, versteht derjenige,
Qaror, das p. 645 a 5 zitiert wird. der die Schrift dem Aristoteles unterschob.
^) L. Spengel, Reihenfolge der natur- 1 Alex., d. Gr., ebenso wie der Verfasser des
wissensch. Schriften 19 ff. ; K. Prantl a. 0. Widmungsbriefa zu der Rhetorik des Anaxi-
*) Stellen bei H. Bonitz. Index. Aristot. menes Alle weiteren Hariolationen über
p. 104 b 38 ff. die Person dieses AI. sind überflüssig (F.
'-») Wahrscheinlich rührt das Zitat p.539a Susemihl, Alex. Litt. II 326 f.).
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 355.) 685
Pytheas hinaus.*) Neuere Gelehrte haben es teils dem Stoiker Chrysippos,') teils dem Peri-
patetiker Nikolaos') zuschreiben wollen; jedenfalls ist es erst nach Poseidonios, dem das
meiste entlehnt und von dessen mystischer Wärme es berührt ist, entstanden, wofür auch
der Umstand spricht, daß es in den Katalogen der aristotelischen Schriften noch nicht vor-
kommt^) Lateinisch bearbeitet wurde die Schrift von Apuleius de mundo, ins Syrische
übersetzt von Sergius Resainensis (6. Jahrb.).
FleQi xivt)of.(t}g war der Spezialtitel des zweiten Teils der Physik. Das unter dem
Titel Jiegi ^axov xivfjaso)g (p. 698 — 704) auf uns gekommene unechte Buch sollte nach den
Schlußworten desselben der Schrift De generatione animalium vorausgehen, während tat-
sächlich diese Schrift sich unmittelbar an das Werk Jiegi. Coxov /jogicav oder .legl :joQei(K
Ciotov anreiht.')
n^Qi jzvevfiazog {p. 481—486), ein kleiner Schulaufsatz, inhaltlich verwandt mit dem
Buch .^egi avcmvofjg (s. u. S. 688), rührt von einem Schulmeister her, der sich im Aufwerfen
von Fragen zu ergehen liebte.
He gl /giof4ato)v (p. 791 — 799), oder über den Grund der Farben bei Pflanzen und
Tieren. Das unechte, von einigen dem Theophrastos zugeschriebene Buch*) steht nicht in
den alten Katalogen; ebensowenig das Buch Jisgi dxovoxibv (p. 800—804), das durch die
Partikel de eng mit dem vorausgegangenen verknüpft ist und wahrscheinlich ebenso wie
das vorausgehende auf den Peripatetiker Straton zurückgeht.^)
Die *Pvoioyv<ofiovixd (p. 805—814) sind, wie schon das einleitende 6u lehrt, ein
Auszug, der indessen viele interessante, auch für die Kunstanalyse wichtige Beobachtungen
über Eigenschaften von Menschen und Tieren enthält. Dem Auszug liegen zwei in den
Katalogen der aristotelischen Werke aufgezählte Originalschriften zugrund, die aus der
Schule der Peripatetiker hervorgegangen waren und den von Aristoteles selbst in der Ana-
lytik ausgesprochenen Gedanken*) weiter ausführten. Über die Zeit der Abfassung scheint
die Erwähnung des Sophisten Dionysios (c. 3 p. 808 a 16), der in der Zeit Hadrians lebte,
einen Fingerzeig zu enthalten.^)
*) L. Spengel in der oben S. 683, 4 an- | *) Die Echtheit der Schrift, die große
geführten Schrift. In diesem Buch kommt die | mechanische Kenntnisse voraussetzt, sucht
schon Ps.Plat. Epinom. 981 c berührte Tiefijrirj \ ihr Herausgeber in der Bibl. Teubn., F. Littig,
ovota oder quinta essentia vor. Zu obei*st im zu verteidigen.
reinen Äther, der aus der fünften Substanz be- 1 ®) K. Pbantl in der Ausgabe der Schrift
steht, wohnt die Gottheit; erst unterhalb des 1 (München 1849) S. 80 ff. weist ihre Unechtheit
Mondes in der sublunaren Welt beginnt die Re- ; nach, will aber nicht gerade den Theophrastos
gion des Wechsels, des Entstehens und Ver- als Verfasser anerkennen ; auch der Peri-
gehens. patetiker Straton hatte über die Farben ge-
*) F. OsANN, Beiträge zur griech. u. röm. schrieben.
Litteratargesch., Darmstadt 1835, I 141 ff. ') So vermutet Chb. A. Brandts Üb
») Th. Bergk, Rh. Mus. 37 (1882) 50 ff. u. ' 1201 ; dagegen E. Zellbb II» 915 A.
294. Derselbe weist daraufhin, daß Nikolaos \ *) An. pr. II 27 p. 70b 7: to ds (pvoio-
aus Damaskos nach Simplicius zu Arist. de yvM/novstv öifvarov iauv, st ng diöcooiv äfia
caelo p. 3, 28 ed. Heiberg eine Schrift Jtrgi tov ' fiETaßdXXstv t6 atöfia xai lijv ^pv^tp', ooa q>V'
rrartog geschrieben hat; dagegen H. Usener ' aixd ean jiadt/fiata.
in J. Bernays Ges Abh. II 281. E. Zeller ') R. Förster, De Aristotelis quae fe-
il I' 1. 631 ff. begnügt sich, die Schiift der runtur physiognomonicorum indole ac condi-
eklektischen Richtung des 1. Jahrh. und der , cione, in Philol. Abh. zu Ehren von M. Hertz
Zeit nach Poseidonios zuzuweisen. Vgl. F. i S. 283 ff.; Corpus scriptorum physiognomi-
SusEMiHL, Jahresber. üb. d. Fortschr. d. kl. corum ed. R. Förster I, Bibl. Teubn. 1893,
Altwiss. 30 (1882) 33 ff. und AI. Litt. \ wo in der praef. I— XVII über die voraristo-
II 326 ff. W. Capelle, N. Jahrbb. f. kl. Alt. ' telischen und aristotelischen Studien auf dem
15 (1905) 529 ff., der eine gehaltvolle Ana-
lyse und Quellenuntersuchung der Schrift
bietet, möchte sie einem stoisch-peripateti-
Hchen Eklektiker aus dem Anfang des 2. Jahrb.
n. Chr. zuschreiben. Ders., Die Schrift von der
Gebiet der Physiognomik, dann p. XVHI bis
LXIX über die historia critica des pseudo-
aristotel. Werkes gehandelt und p. 4—91 der
griechische Text nebst der latein. Über-
setzung des Bartholomäus v. Messina (s. XIII.)
Welt, eingeleitet und verdeutscht, Jena 1907. gegeben wird. Unter die Werke des Aristo-
*) Im jüngeren Nachtrag des Ind. Menag. ' teles ist die Schrift dadurch gekommen, daß
steht der auf unser Buch schlecht passende der erste Satz aus der Tiergeschichte des
Titel .legi xoo/nov yerioecog (Z. 184). , Aristoteles genommen ist.
ggg Oriechische Litteraturgeschichie. I. Klassische Periode.
TIf.qi &avftaoi(ov axovofAdxoyv (p. 830— 847) ist die älteste paradoxographische
Schrift, rührt aher nicht von Aristoteles her, da sie aus mehreren heterogenen Bestand-
teilen zusammengesetzt ist und vieles enthält, was erst nach des Aristoteles Tod sich er-
eignet hat. wie üher Agathokles c. 110 und Eleomenes c. 78. Die Znsammenstellnng, bei
der aristotelische Schriften mit ausgezogen sein mögen, ist sicher erst nach Poseidonioe
gemacht worden, da dessen Schriften c. 87 und 91 henützt sind,') vielleicht erst nach Hadrian,
da c. 51 das von diesem Kaiser erbaute Pantheon in Athen erwähnt ist.')
Die IlgoßXTJfÄata (p. 859 — 967) in achtunddreißig sehr stoffreichen und interessanten
Kapiteln beziehen sich zum größten Teil auf naturwissenschaftliche Dinge, behandeln aber
auch Fragen der Musik und Poesie. Die Methode, Fragen aufzuwerfen und Lösungen der-
selben zu versuchen, war dem Aristoteles eigen, und er gebraucht nicht bloß häufig den
Ausdruck jiooßhjfia, sondern scheint auch einigemal') auf Schriften zu verweisen, in denen
solche Probleme besprochen und gelöst waren. Aber unsere Problemata sind ein Konglo-
merat verschiedener Sammlungen und enthalten neben Aristotelischem auch manches Fremde
aus Hippokrates, Theophrastos und Späteren.^)
Die Mrjxavixd (p. 847 — 858) bilden eine besondere Art von Problemen; das Bnch
wird in den beiden Verzeichnissen der Schriften des Aristoteles aufgeführt
'Are/io)v Oiofig xai jiQoatjYooiai (p. 973), über die Windrose und die landschaft-
lich verschiedenen Namen der Winde, ein Auszug aus der Schrift Jteoi arj^ieicov, welche die
einen dem Aristoteles, die andern dem Theophrastos zuschrieben.
Von der Schrift -t^^* rfjg zov Neilov avaßdaeoyg (ed. Val. Rose Aristot. psend-
epigr. p. 633 — 639) ist nur eine lateinische Übersetzung (s. XIII) aus dem Arabischen be-
kannt; die Abhandlung hat die Form eines Problems, zu dessen Lösung Aristoteles die
Beihilfe Alexandres' des Großen in Anspruch genommen haben soll; sie rührt aber nicht
von Aristoteles her, auch nicht von Theophrastos,^) sondern von einem erst nach Eratos-
thenes lebenden Verfasser.
Von naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles werden außerdem genannt:
Tieoi vyieiag xai v6aot\ bereits zur Zeit des Alexandres von Aphrodisias verloren,*) 7ie,gi rojy
dvuTOficov,') welches Werk den Alexandrinern noch in sieben Büchern und in einem Auszug
von einem Buch vorlag,*) ferner szegi TQoqptjg, *Ojixixd und ^AaxQoloyixd.
356, Die naturwissenschaftlichen Werke machen den größeren Teil
der aristotelischen Schriften aus, und es zeigt sich in ihnen, von der Logik
abgesehen, Aristoteles' wissenschaftliche Tätigkeit von ihrer fruchtbarsten
und erfolgreichsten Seite. In den Disziplinen des ethischen Gebietes,
Poetik, Rhetorik, Politik, wandelte Aristoteles alte Wege, wenn auch mit
*) J.Beckmann in Ausg. (GötUngen 1786) Abh. 1896, III, daß sie viele Parallelprobleme
p. XVII sqq.; A. Wbstebmann, Paradoxogr.
(Braunschweig 1839) XXV sqq. ; H. Sohbader,
Jahrbb. f. cl. Phil. 97 (1868) 217 ff , gegen
dessen atomistische Zerstückelung der Schrift
sich K. MüLLENHOFF, Deutsche Altertumsk.
I 426 ff. u. A. V. GuTscHMiD, Kl. Sehr. I 132 ff.
wenden.
^) Noch weiter geht mit dem Nachtrag
c. 152-178 herab A.Gerckb im Artikel Ari-
stoteles der Realenz.
^) H. BoNiTZ. Index Arist. u. nooßh'ifiaja.
^) K. Prantl. über die Probl. des Arist.,
Bayr. Ak. Abh. 6 (1H.52) 841—77. E. Richter,
De Arist. probl., Diss. Bonn 1885 sucht die
enthalten und deshalb aus zwei Teilen zn>
sammengesetzt sind. Wenn er dann aber
ihren Ursprung in die Zeit des Plutarchos, in
das 1. oder 2. Jahrh. n. Chr. verlegt, so macht
dagegen bedenklich, daß damals das Corpus
der aristotelischen Werke bereits abgeschlossen
war. G. Tischer, Die aristotel. Musikpro-
bleme, Diss. Berl. 1902. Ausgabe der musikal.
Probleme von F. A. Gevaert und J. C.Voll-
GBAFF mit franz. Übersetzung und Kommentar
(Les problemes musicaux d' Aristot., Gand 1899
bis 1901).
^) H. Diels. Doxogr. 226 f.
®) Alex, ad Arist. de sensu p. 436 a 17.
einzelnen Bestandteile auseinanderzuscheiden. i Arist. selbst stellt sie in Aussicht p.464b 32;
Vgl. E. Heitz, Die verlorenen Schriften des vgl. 436a 17; 480b 23; 6.53a 8; s. u. S. 689.
Arist. 103 ff.; F. Süsemihl. AI. Litt. I 160 ff. I •) Öfter von Arist. selbst zitiert; s. H.
Von den musikalischen Problemen der neun- ■ Bonitz, Ind. Arist. p. 104a 4 ff.
zehnten Sektion erweist K. Stumpf. Die pseudo- \ ®) Ind. Diog. Z. 104 ; Ind. Menag. Z. 93. 94.
aristotelischen Probleme über Musik, Berl. Ak. 1
4. Die Phüasophie. d) Aristoteles. (§§ 856—357.) 687
selbständigem Geist, aber in der Naturgeschichte und einer auf Induktion
im großen Sinn aufgebauten Naturphilosophie hatte er nur unbedeutende
Vorgänger,!) so daß er in ihnen der Wissenschaft wesentlich neue Bahnen
erschloß. Mit einem bei einem Philosophen doppelt anerkennenswerten
Sinn für Einzelforschung hatte er auch fiir das Kleinste in der Natur ein
offenes Auge*) und umfaßte mit seinem Wissen eine geradezu staunens-
werte Fülle von Tatsachen. Er ist Schöpfer der Naturlehre geworden
und hat damit die in spitzfindige Verstandesoperationen sich verlierende
Spekulation auf das fruchtbare Gebiet des Tatsächlichen verwiesen. Er
verzichtete freilich nicht auf den Versuch eines philosophischen Begreifens
der Natur und ist damit zu Prinzipien gekommen, die heutzutage zum
größten Teil als veraltet angesehen werden müssen. Aber wenn wir auch
über die vier Elemente und ihre begriffliche Deduktion hinausgekommen
sind und auch gegen die teleologische Auffassung der Naturerscheinungen
Zweifel und Einwendungen erheben, so wird doch die aristotelische Unter-
scheidung der Prinzipien der Form, der Materie, des Bewegenden und des
Zweckes für immer eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Erkenntnis
der Natur und des Kosmos bilden.
367. Schriften über Psychologie und Metaphysik. Die psycho-
logischen Schriften stehen nach der Auffassung ihres Urhebers in engem
Zusammenhang mit den naturwissenschaftlichen, zunächst mit der Tier-
lehre, indem darin die Seele als Entelechie des Leibes und somit als Sitz
nicht bloß des Denkvermögens, sondern auch der Wahrnehmung, der Orts-
bewegung, der Ernährung, des Lebens überhaupt gefaßt ist. 3) Tatsächlich
aber schlagen die hier zu betrachtenden Schriften weit mehr in das Gebiet
der Metaphysik ein, indem sie den denkenden Geist {vovg) des Menschen
zum Hauptgegenstand haben, dieser aber im Mikrokosmos des menschlichen
Seins eine ähnliche Stellung einnimmt, wie der göttliche Geist im Makro-
kosmos der Welt. So sind denn auch in den psychologischen Schriften
die tiefsinnigsten Spekulationen enthalten,*) und sie gehören zu denjenigen
Werken des Aristoteles, die am schwersten verständlich sind und am
meisten die volle Klarheit abschließender Erkenntnis vermissen lassen.
Das Hauptwerk dieses Gebietes ist
Tiegi ^'vxtj'; in drei Büchern.^) Das erste Buch enthält nach ein-
leitenden Bemerkungen über die Bedeutung und Schwierigkeit des öegen-
') Daß er immerhin den Schriften des j Pflanzen zu, dazu tritt bei den Tieren das
Hippokrates und der Ärzte viel verdankt, ! 6oexhx6v und aioOrjxixcn' nebst der Fähigkeit,
lehrt F. Poschenrieder. s. o. S. 683, 3. Die i sich vom Ort zu bewegen, beim Menschen
Schriften der hauptsächlichsten Vorgänger, ' das ötavorjttxov.
Dcmokritos und Diogenes, sind nicht mehr i *) Arist. de anim. I 1 p. 402a 3: rijv :teQi
vorhanden, so daß uns nach dieser Seite ein t»/c yvx^s iorogiav evkoytoc av h :tf)(t)Toig
Vergleich nicht mehr möglich ist. udFirjfm'.
'-*) Arist. de part. animal. I 5, p. 645 a 15. ') Simplicius comm. ed. M. Hayduok
'j Der Standpunkt ist klargelegt de part. XI (1882); Sophonias paraphr. ed. id. XXIII
an. I 1 p. 641a 28: rotovrov ((hg y xiroraa 1 (1883); Themistius ed. R.HeiiczbV3 (1899).
uQ/jj xal (bg t6 xekog) tov lo)ov tjxot mwa t) Philoponus ed. M. Hayduok XV (1897). Die
i/'vxfj rj fifoog u avrijg' (ootf xai ovrcog av Einteilung in Bücher ist ungeschickt durch-
Iexihov eh) rio jTFoi qvaFU)? ^Fo)gi]zixto jreQt ] geführt; die Ordner hätten das zweite Buch
'l'^-XV'^- Die niederste Stufe der Seele, to i bis zu III 3 sich erstrecken lassen sollen,
OoFjntxor, kommt nach Aiistoteles auch den wie W. Christ, Plat. Stud. p. 475 gezeigt hat.
()gg Griechische Litteraturgesohichie. I. Klassische Periode.
Standes Untersuchungen über das Wesen der Seele in der dem Aristoteles so
sehr geläufigen, auch die Ermittelung der Wahrheit tatsächlich fördernden
Form von Einwänden (dnogiai) gegen die herrschenden Annahmen; ein-
gelegt ist ein geschichtlicher Rückblick auf die Lehre der Früheren. Das
zweite Buch, das die Untersuchung wieder von vorn aufnimmt, gibt zuerst
eine Definition der Seele, nämlich die, daß sie die Form (elöog) und das
Lebensprinzip {ägxt]) eines zum Leben bestimmten d. i. organischen Körpers
ist, und handelt dann von den fünf Kräften (dvvdjLLeig) der Seele oder von
der Kraft des Ernährens (&Q€mix6v), des Begehrens {dgextixov)^ des Wahr-
nehmens {alo^tixöv), der örtlichen Bewegung {xivtjtixöv xarä tojtov), des
Denkens {diavotjxtxöv). Eingehender wird von dieseh fünf Funktionen die
auf Wahrnehmung gerichtete Seelentätigkeit behandelt, wobei für jede der
fünf Wahrnehmungen (ala&ijaetg) ein entsprechendes Organ {alo^zrjQiov)
aufgestellt und auch den Tieren oder den niederen froa eine, aber nur mit
Organen für die niederen Funktionen ausgerüstete, Seele beigelegt wird.
Im dritten Buch wird die Lehre von den Sinneswahrnehmungen abge-
schlossen und zu der Bewegungs- und der Denkseele übergegangen. Dieser
letzte Teil berührt die obersten Probleme der Philosophie und ist daher
von größter Wichtigkeit; leider enthält er viele dunkle und abgerissene
Sätze, so daß schon unter den alten Kommentatoren über den Unterschied
des vovc; jToiTjTixog und vovc: na&rjrixog, und über das, was an der Seele
trennbar (;fö>^«aTor) vom Leib und demnach unsterblich sei, lebhafte Diffe-
renzen entstanden. Die Lehre vom vovg x^9^^^^ ^^^ dessen Unsterblich-
keit ist offenbar bei Aristoteles ein unorganisches Überlebsei platonischer
Anschauung.^) Auf den unfertigen Zustand des aristotelischen Manuskripts
weisen auch die Spuren einer doppelten Textredaktion hin, welche die
neueren Herausgeber klar gelegt haben.*)
Gewissermaßen einen Anhang zu den drei Büchern über die Seele
bilden die sogenannten Parva naturalia«) (p. 436 — 480), jedoch so, daß
sie mehr die niederen Seiten des animalischen Seelenlebens behandeln und
eine Mittelstellung zwischen Psychologie und Zoologie einnehmen. Der
Name Parva naturalia, mit dem die acht kleineren Abhandlungen negl
ataih]OFO)g xal aloärjTwv, jreol juvrjfitjg xal dvajuvtjoecogf Tregi vttvov xai iygt]'
yogoecüg, Jiegl ivvTTvlcoy xal rfjg xad* v7i7'ov juavTixi]g^ negl juaxgoßiOTTjtog xal
ßoaxvßiorrjTogf negl veoTrjzog xal yt]gcogy negl l^cofjg xal ßavdxov, negl dvanvoijg
zusammengefaßt werden, stammt aus dem lateinischen Mittelalter und wird
zuerst von Schülern des Thomas von Aquino gebraucht.*) Aristoteles selbst
stellt gleich im Eingang des kleinen Corpus psychologisch-physiologischer
^) E. RoHDE, Psyche II' 301-809. eben die vatik. entstanden ist. Siehe A.
2) Siehe darüber außer der Ausgabe von , Busse, Berl.phil.W.schr. 12(1892)549 ff. Einen
A.Torstrik (Berl. 1862) H.Rabe, Arist. de an. Versuch, das erste Buch inderürgestaltvorzu-
lib. II, Berlin 1«91. der die aus den zwei Bear- legen, machte E. Essen, Das erste Buch der
beitungen des verlorenen Originals zusammen- aristot. Sehr. üb. d. Seele übertragen u. in seiner
geschweißte vatikanische Rezension des zwei- ursprüngl. Gestalt wiederhergestellt, Jena 1892.
ten Buches herausgibt: neben dieser stehen ^) Michael Ephes. comm. ed. P. Wbnd-
zwei andere Rezensionen, die der Vulgata, land XXII 1 (1903): Themistius ed. id. V 6
die schon den Kommentatoren des Altertums (1903): Alex. Aphrodis. zu .legi ala&t^ofoK ed.
vorlag, und die der von Torstrik entdeckten id. 111 1 (1901).
Pariser Fragmente s. X., aus denen beiden *) J. Freüdenthal, Rh. Mus. 24(1869)81.
4. Die Philosophie, d) AristoieleB. (§ 358.) 689
Abhandlungen fünf Paare gemeinsamer Tätigkeiten des Körpers und der
Seele auf: Wachen und Schlaf, Jugend und Alter, Einatmen und Ausatmen,
Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit. Aber im nachfolgenden hat
er sich nicht genau an diese Disposition gehalten: es sind andere Abhand-
lungen eingeschoben, und von dem Abschnitt über Gesundheit und Krank-
heitO ist nur im Proömium die Rede, die Ausführung fehlt, sei es daß sie
im Lauf der Zeiten, jedenfalls vor Alexandres von Aphrodisias, verloren
gegangen ist, sei es daß der Philosoph zu ihr nicht gekommen ist. Das
ganze Corpus, wie es uns erhalten ist, zerfällt in zwei Teile: der erste
betrifft das Empfindungsvermögen der Seele, wobei an die Besprechung
von Wachen und Schlaf ein sehr interessanter Abschnitt über das Seelen-
leben im Schlaf und die Möglichkeit einer Erkenntnis aus Träumen an-
geschlossen ist. Der zweite Teil, der schon in dem auf Ptolemaios zurück-
gehenden Verzeichnis der Werke des Aristoteles*) vom ersten durch andere
zoologische Schriften getrennt war, behandelt die Seele als Lebensprinzip
und steht in engerer Verbindung mit den Büchern über das Werden und
die Teile der Lebewesen (fwa). Auffällig erscheint uns die dort und in
den latrika Menoneia vorgetragene Lehre vom Atmen, indem die durch
dasselbe zugeführte Luft nicht den Verbrennungsprozeß erzeugen, sondern
umgekehrt die innere Wärme abkühlen und so das Leben erhalten soll
(ähnlich Plat. Tim. 70 c), eine Vorstufe zu Chrysippos' Lehre von der neQi-
xpv^ig. Erhöhtes Interesse erhalten die Schriften des kleinen Corpus noch
dadurch, daß Aristoteles die abweichenden Lehren der Früheren, des Piaton,
Empedokles, Demokritos, Anaxagoras, Diogenes eingehender Berücksichti-
gung würdigt, wodurch unter anderem zwei längere Fragmente des Empe-
dokles erhalten worden sind.
368. Die Metaphysik a') in 13 (14) Büchern nehmen dem Inhalte
nach die oberste Stelle unter den philosophischen Schriften ein. Denn sie
bilden die höchste Stufe der Philosophie, die Ttgcorrj <pdooo(pla^ und handeln
von den obersten Gründen alles Seienden, des beweglichen wie unbewegten.*)
Sie decken sich zugleich mit Theologie, da der Volksglaube mit dem Namen
Gott die Vorstellung des obersten Grundes verbindet. Das Wort itfera-
(fvnixd findet sich bei Aristoteles selbst nicht und scheint diesem Komplex
von Büchern erst von den Peripatetikern gegeben worden zu sein, weil
Andronikos ihnen ihre Stelle nach den Physika angewiesen hatte. 0) Ari-
stoteles nahm mit ihnen im gereiften Alter den Gegenstand, den er bereits
*) Siehe o. S. 686, 6. | Dinge (ra h dtpatgeoei) an; s. de caelo III 1
«) Ed. acad. Berol. t. V p. 1471 nr. 39 ff.; ' p. 299a 16 und H. Bonitz zu met. A 2
vgl. Praefatio zur Ausg. der Parva naturalia ' p. 982 a 27.
in Bibl. Teubn. von W. Biehl p. V. *) Im Verzeichnis des Diogenes fehlen
^) Alexandr. Aphrodis. comm. ed. M. Hay- die Metaphysika ganz, vielleicht bloß infolge
DUCK I (1891); Asclepius ed. id. VI 2 (1888);
Syrian. ed. W. Kboll VI 1 (1902); Themistius
zu Buch A ed. S. Landaubr V 5 (1903).
*) Neben dem Beweglichen und Un-
bewegten (xivovfifva u. dxivtjra), dem Ver-
gänglichen und Ewigen {<fdaoxd u. dtdta)
nimmt Arist. noch die durch Absonderung
von der Materie gewonnenen mathematischen
eines Ausfalls; der Ind. Menag. hat /i^za-
(fvaixd X (Z. 111) und fi€Taq.'Voixd i (Z. 154),
das arabische Verzeichnis nr. 49 kennt unsere
dreizehn Bücher. Bei den Alexandrinern ist
das vierte Buch unter einem eigenen Titel
jieoi Tcov jioanxwi ?.eyofiiv(ov aufgeführt; wahr-
scheinlich hatten bei ihnen auch noch die
zwei letzten Bücher eine getrennte Stellung.
Handbuch der Ums. AltertamawlMenschaft. VII. 5. Aafl. 44
690 GriechiBche Litteratnrgeschichie. I. Klassische Periode.
früher in dem populären Werk Tiegt cpdoowpiag behandelt hatte, wieder auf,
um ihn nach den strengen Grundsätzen wissenschaftlicher Beweisführung
und gestützt auf die inzwischen in der Physik und in den Büchern vom
Himmel entwickelten Sätze durchzuführen. Zur vollen Klarstellung seiner
Gedanken und zur endgültigen Überwindung der dem menschlichen Geist
sich gerade hier entgegentürmenden Schwierigkeiten hat er es indes nicht
gebracht: weder sachlich noch in der Form befriedigt seine Metaphysik.
Das erstere darzutun ist Aufgabe der Geschichte der Philosophie; es genüge,
darauf hinzuweisen, daß die Definition der Ttgcort] (pdooocpia als Wissen vom
Seienden als Seienden (rov övxog j) Sv) Definition geblieben, nicht Aus-
gangspunkt für die nachfolgenden Untersuchungen geworden ist,^) daß der
vovg oder die Gottheit als die den Sternenhimmel bewegende Kraft höch-
stens die Bewegung der Sterne, aber nicht die Gebilde des Weltalls und
das Werden der Dinge erklärt, endlich daß die aus der Physik herüber-
genommenen vier Grundprinzipien, vXrj (Stoff oder Substrat), eidog (Form
oder Wesen), tö xivovv (bewegende Ursache), rd ov evexa (Zweck), mit dem
vovg in keine rechte Verbindung gebracht, noch in ihrer Genesis und
wechselseitigen Einwirkung beleuchtet sind. Wo es so an der Klärung
und Beherrschung der Sache fehlte, konnte auch die formale Durchführung
und die Zusammenwebung der Teile zu einem Ganzen nicht gelingen.*)
Gut hängen zusammen und sorgfältig durchgearbeitet sind nur die drei
ersten Bücher A B F^ die den Weg zur Lösung durch Kritik der Vorgänger
und Besprechung der Aporien ebnen sollen und von denen namentlich das
erste als kritische Rundschau über die früheren Philosopheme mit Recht
hochgeschätzt ist. Die eigentliche Ausführung enthalten die Bücher E Z
H 0 I A^ aber so, daß wir hier überall die feilende Hand, ja mehr, das
Ineinandergreifen und den Abschluß der einzelnen Untersuchungen ver-
missen. Namentlich zeigen sich diese Mängel in dem Buche yl, das die
Krone des Ganzen, die Lehre von dem vovg und den Göttern, enthalten
soll. Das Buch J behandelt die Vieldeutigkeit der in der Philosophie vor-
kommenden Ausdrücke {Tiegl rov Jiooaxojg) und bildet ein Buch für sich,
das nicht unpassend zwischen F und E eingelegt, aber mit diesen nicht
organisch verbunden ist. Das Buch K enthält im ersten Teil eine gute
Zusammenfassung der Bücher B F E, im zweiten einen weniger genügenden
Abriß der Kapitel der Physik, die für die Metaphysik von Wert sind; es
stellt in Verbindung mit A und A einen kürzeren Kurs über Metaphysik
dar, und scheint von einem Schüler aus den Werken des Meisters aus-
gezogen und nur mit einigen eigenen Zusätzen versetzt zu sein. 3) Die
beiden letzten Bücher M N enthalten eine für sich bestehende Kritik der
\) P. Natorp, Thema und Disposition der | Essai sur la Mötaphysique d'Aristote, 2 voll,
aristotel. Metaphysik, in Philos. Monatshefte I 1888. 1846. W. Christs Ansichten s. teils
24 (1888) 37 — 65 sucht die Schwierigkeit zu in seinen Studia crit. in Arist. libros metaph.
mindern durch Streichung der Sätze E 1 j collata. Berlin 1853, teils in seiner Ausg.,
p. 1026a 18 lönre — Oeo/.oyiy.f} und xai Tijv Leipzig 1886 (1896).
TinKornTtp' — yh'o^ nvat. \ ^) Auch sprachliche Gründe sprechen
^) Das Beste darüber gibt H. Bonitz, gegen die Urheberschaft des Arist; vgl. W.
Arist. met. II 3—35. Von vorausgehenden , Christs Ausg. p. 218 Note. Der Veranstalter
Arbeiten ist hervorzuheben F. Ravaisson, des Auszugs fand noch nicht Buch J eingelegt.
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 359.)
691
platonischen Ideenlehre, gehören also zum Gedankenkreis der Metaphysik,
waren aber um so weniger bestimmt, mit den anderen Büchern zu einem
Werk vereinigt zu werden, als sie ganze Kapitel mit dem Buche ^ (^ 6. 9
= 3/4. 5) bis aufs Wort gemein haben. *) Eine glaubwürdige Überliefe-
rung') besagt, daß Aristoteles dem Eudemos von Rhodos die Metaphysik
vorgelegt und sie, da dieser sie zur Herausgabe nicht geeignet fand, nicht
herausgegeben habe.
Nicht in die Metaphysik aufgenommen, aber zu ihr gehörig ist die
von Neueren dem Theophrastos zugeschriebene Abhandlung negi äro/xcov
yoajujucbv (p. 968 — 972), die mit der Kritik der platonischen Ideenlehre
zusammenhängt und eigentlich im Anhang der Metaphysik gedruckt werden
sollte. Mehr Gunst hat bei den alten Aristotelikern das Büchlein Meta-
physik a gefunden, das nach Vorlesungen des Aristoteles von einem Neffen
des Eudemos, Pasikles, der übrigens auch als Verfasser von A bezeichnet wird,
herausgegeben,^) aber sehr unpassend zwischen A und B eingelegt wurde.
369. Schriften über Ethik und Politik. Der objektiven Betrach-
tung {&Ea>Q€iv) der Welt stellt Aristoteles das subjektive Handeln gegen-
über, indem er hier selbst wieder zwischen dem vernunftgemäßen Handeln
im engeren Sinn {TTodrcEiv) imd dem künstlerischen Schaffen {ttoiciv), zwi-
schen Ethik und Ästhetik, unterscheidet.*) Der praktischen Philosophie
{^ 7i€oi xd &%*^Q(D7iiva (fdooo(pia eth. Nie. 1181a 15) gehört zunächst die
Sittenlehre {})&ix7] (pdooofpla) an; wie das vernünftige und sittliche Handeln
im Zusammenleben der Menschen zu organisieren sei, lehrt die Politik, die
demnach einen Anhang der Ethik bildet, so daß die Ethik das Ziel, die
Politik die Mittel und Veranstaltungen zu dessen Erreichung zeigt.
^H&ixd Nixofxdxeia^) in zehn Büchern, ^H&txd Evöi^jueia in sieben
Büchern und *H&ixd jueydka in zwei Büchern enthalten alle in gleicher
Weise die Grundsätze der aristotelischen Sittenlehre; aber sicher hat Ari-
stoteles nur in einem Werk seine Lehre darlegen wollen, und dieses ist
die nach seinem Sohn Nikomachos, vermutlich dem Herausgeber, benannte
Ethik. Die Evöif]fxeia sind eine an die Vorträge des Meisters und an die
nikomachische Ethik sich anschließende Bearbeitung des gleichen Gegen-
standes durch seinen Schüler Eudemos von Rhodos, 0) die einige Abschnitte
*) Die Echtheit und Einheit der Meta-
physik verteidigt, unter dem Gesichtspunkt,
daß Polemik gegen Piaton die Hauptsache
sei. J. Zahlfleisch, Philol. 55 (1896) 123 ff.,
der Arch. f. Gesch. d. Phüos. 12 (1899) 434 ff.
13 (1900) 81 ff. auch über die handschriftliche
Überlieferung, das Verhältnis zu Piaton, die
Disposition der Met. handelt. Unechtes (A
n. A' 8 — 12) sucht auszuscheiden und dadurch
ein geschlossenes Werk in zwei Bearbeitungen
zu gewinnen A. Gödeckbmeyer, Gedanken-
gang und Anordnung der aristotel. Metaph.,
Arch. f. Gesch. d. Philos. 20 (1907) 521 ff.
(erste Bearb. A 7— Schluß. K 1 — 8. A ; zweite
Bearb. A 1—7. o. B, F. E bis /. M. N; von
der ersten Bearb. soll der Anfang, von der
zweiten der Schluß fehlen).
') Asclep. ad Arist. metaph. 4, 9 ff. Hayd.
») Vgl. Note des Cod. E in W. Christs
Ausg. p. 35. Die Einfügung geschah wohl
in der Zeit nach Andronikos, da keine Neu-
zählnng der dreizehn Bücher des Kataloges
vorgenommen, sondern das neuhinzugetretene
Buch mit a ^kaxiov bezeichnet wurde.
<) met. 1025b 25 f.
^) Eustratius, Michael u. Anonym, comm.
ed. G. Hbylbüt XX (1892); Aspasius comm.,
Heliodorus (der Name ist ohne Gewähr: L.
CoHN, Berl. phü. W.schr. 9, 1889, 1419 f.)
paraphr.ed.id.XIX 1. 2 (1889); Michael Ephes.
ed. M. Haydück XXU 3 (1901). Siehe unten
S. 712, 3.
®) Dieser Schüler des Arist., der den
Meister überlebte, ist verschieden von dem
älteren Mitschüler Eudemos, dem der Dialog
Eudemos gewidmet war. Das Altertum hatte
44*
692 Oriechische Litieratnrgeschichie. I. KlascoBche Periode.
mit der nikomachischen Ethik wörtlich gemein hat,^) in den meisten da-
gegen eigene Zusätze und Änderungen enthält. Die 'H&ixä jueydXa^ die in
sonderbarem Widerspruch zum Titel den kleinsten Umfang haben,*) sind
ein jüngeres, stoYsierendes Werk der peripatetischen Schule, in dem die
beiden älteren Ethiken zu einem kleineren Auszug zusammengearbeitet
sind; 3) die Worte p. 1201b 25 ajoTteg Ifpa/uev h rofc ävaXvxixötg müssen
nicht auf die Analytika des Aristoteles, sondern können auch auf andere
bezogen werden. — Die Ethika sind im allgemeinen von Aristoteles weit
mehr zur Abrundung gebracht als die Metaphysika; gleichwohl erregt ihre
Komposition mehrfach Anstoß: ob die der nikomachischen und endemischen
Ethik gemeinsamen Bücher dem ersten oder zweiten Werk ursprünglich
angehörten, ist eine schwer zu entscheidende Frage;*) der erste Teil der
nikomachischen Ethik I — VI zerfällt in einen allgemeinen Teil (Einleitung
I 1. 2; Begriff der Glückseligkeit als einer der Tugend entsprechenden Be-
tätigung der Seele in einem vollkommenen Leben I 2 — 13, der Tugend, die
in ethische und dianoötische geteilt wird, II, und der Zurechnung in 1 — 8)
und einen besonderen, in dem die einzelnen ethischen (III 9 — V 15: dvdgeia,
ooycpooovvrj, ikevi^egioxtjg, fisyaXojiQiTzeta, fxeyaXoipvxia, tpdorijLua, TZQaoTt]^, die
Tugenden des geselligen Lebens und ihre Gegensätze, die Gerechtigkeit)
und dianoötischen (VI) Tugenden behandelt werden. Daran schließen sich
eine Reihe von Anhängen, die sich zum Teil mit dem Inhalt von I — VI
berühren (vgl. X 6 — 9 mit I 2 — 13), am ausführlichsten der über die Freund-
schaft in Buch VIII und IX. Diese beiden Bücher bildeten wohl ehedem
eine eigene Schrift Tiegi (pdiag^ wie eine derartige noch in den alexandri-
nischen Katalogen aufgeführt ist; das gleiche scheint mit dem zehnten
Buch, das von der Lust und Glückseligkeit (evdai/um'la) handelt, der Fall
zu sein, da auch hier die alexandrinischen Kataloge ein eigenes Buch Tiegi
^dovijg registrieren. In dem Inhalt der Lehre zeigt sich insofern ein Ab-
fall von Piaton, als die Untersuchung über die eine Wurzel der Sittlichkeit
sich in dem Detail der Einzeltugenden verliert.^) Aber in der Schärfe der
außer den oben S. 676 genannten Schriften 1 stotelische Studien I, Bayr. Ak. Abb. 10 (1864)
zur Geschichte einzelner Wissenschaften und I 169 ff. Vgl. F. Überweg, Grundriß P 221.
der Bearbeitung der aristotelischen Physik 232ff.; E.ZellebIP lOlf. Über die Abschnitte
(s. 0. S. 682) auch Evdtjfiov dvakvTtxd in zwei
Büchern, eine an Aristot. :ieoi eofirjveiag an-
schließende Schrift jzegi ks^ecog und eine
mathematische Untersuchung ^legi ycjvia?.
Fälschlich zugeschrieben wurde ihm ein von
Aelianus benutztes populär zoologisches Werk.
Eudemi fragm. ed. L. Spenoel, Berol. 1866 — 68,
wo aber die Ethika ganz außer Betracht ge-
lassen sind; Eudemi fragm. in F. W. Mul-
lach, FPhG III 222—292; E.Martini in der
Realenz., 11. Halbbd. 895 fF.
') Nicom. V-VII = Eud. IV— VI.
^) quia de pluribus tractat nach Albertus
Magnus.
^) Dieses Verhältnis ist klargestellt von
L. Spengel. Über die unter dem Namen des
Arist. erhaltenen ethischen Schriften, Bavr.
Ak. Abh. 8 (1841) 437; dazu L. Spenoel, An-
der Moralia magna, die in den beiden andern
Ethiken nicht stehen, s. F. Susemihl in den
Proleg. seiner Ausgabe der ersten Schrift
(Leipzig 1880). Th. Bergk, Gr. Litt. IV 494
will die große Ethik dem Peripatetiker Pha-
nias beilegen. Einfluß der Stoa weist nach
E. Zeller II» 942, 3.
*) F. Susemihl, über die nikomachische
Ethik des Arist, in Verb. d. 35. Philologen-
versammlung. Stettin 1880, 22 ff., läßt sie
in der Hauptmasse von Aristoteles stammen^
aber aus der cudemischen Ethik ergänzt sein.
*) Das ist Absicht des Aristoteles, wie
Politik 1260a 27 zeigt: :To/iv ydg d,ueirov
liyovoiv Ol i^agiO/JOvvxeg Tag dgerdg, wa^rs^
Fooyiac, tcöv ovxcog ogiCouevcor; vgl. eth. Nie.
1107a28ff.
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 859.) 698
Begriflfsbestimmung, der Klarheit der Auffassung hat Aristoteles auch hier
seine Meisterschaft bewährt. Er geht aus von dem Begriff des reinen
Guten oder der Glückseligkeit (evdaijuovia); diese findet er nicht in der
Lust, auch nicht im Reichtum und in äußeren Gütern des Lebens, sondern
in derjenigen denkenden und handelnden Tätigkeit, durch die der Mensch
die ihm als Menschen zukommenden Aufgaben erfüllt.^) Die Tugend ist
ihm eine dauernde, auf Einsicht und Übung beruhende Haltung der Seele
(e?t^), welche die rechte Mitte zwischen dem Zuviel {vneQßoXrj) und dem
Zuwenig {ßU-eixpiq) trifft und auf solche Weise die Leidenschaften und
Affekte im Menschen beherrscht und regelt.*) In Übereinstimmung mit
der Begriffsbestimmung der Eudämonie und ganz im Geist des Piaton und
des Altertums überhaupt unterscheidet er des weiteren zwei Arten von
Tugenden, die dianoätischen oder geistigen und die praktischen oder ethi-
schen im engeren Sinn. Die Ausführung und Charakterisierung der ein-
zelnen Betätigungen der Tugend des Geistes und des praktischen Handelns
nimmt sodann den größeren Raum seines Werkes ein. Den Satz des
Sokrates, daß Tugend Wissen sei, erkennt Aristoteles nicht schlechthin
an; 3) er ist aber der Meinung, daß durch Beeinflussung des Charakters,
der i'&ri^ durch staatliche und private Erziehung, wenn die Anlage {cpvoig)
dazu vorhanden sei, jenes mittlere Verhalten zwischen zwei fehlerhaften
Extremen beigebracht werden könne, das er als Tugend bezeichnet; frei-
lich töricht (}ßi§iog und ävotjrog) kann der Tugendhafte nicht sein,^) und
andererseits ist Klugheit ohne Tugend, da sie so das richtige Ziel des
Handelns nicht zu erkennen vermag, unmöglich. 5) Betätigung der Tugend
(ivigyeta) ist das Naturgemäße, weil dadurch das naturgemäße Verhältnis
der Herrschaft des Geistigen über das Sinnliche zustandekommt. Die
Tugend aber, die unerläßliche Bedingung für ein glückliches Leben, kann
der Förderung iypQrjyia) durch äußere Güter nicht völlig entraten — nur
die Gottheit kann ohne x^QVy^^ glücklich sein; ein Tugendhafter im Zu-
stand der Folterung ist nach Aristoteles nicht glücklich zu nennen. <5) Li
diesen von der alten Stoa heftig bekämpften Sätzen liegt der Ausgangs-
punkt für die Veräußerlichung und Herabstimmung des Glücks- und Tugend-
begriffs, die in der peripatetischen Schule seit dem 3. Jahrh. v. Chr. ein-
getreten und Gegenstand des Hohns 7) geworden ist. Das Ziel der Glück-
seligkeit ist nach Aristoteles erreichbar in diesem Leben und wird erreicht
von dem oo(p6g, dessen Vollkommenheit schon Aristoteles in ähnlich über-
triebener und zur Satire herausfordernder Weise schildert wie später die
Stoa: der Weise genügt sich vollkommen selbst {avTagxTJg), ist stets heiter,
*) eth. Nie. I 6; vgl. IX 9 p. 1169 b 29: ' Horaz ep. I 18, 9: virtus est medium ritiorum
Tj svdaifÄOvia evsgyetd zig iauv. et uirimque reductum.
*) eth. Nie. 1106a 22 ff.: 7) rov dr&gconov ' *) eth. Nie. 1105b 2 Jigog ök Tag dgeräg
dQeTtjsXfj dvs^igjd(p* i)gdya&6gäv&QOinogy{vexai I to eldevai fuxQov tj ovdkv layvei; vgl. ib. 112;
xai dq}^ rjg xo kavxov egym' d:iod(oaei; 1106 b I X 10.
27: fisaöirjg ttg uoa iariv ^ dnertj, aroxaoxixi) *) eth. N. 1123 b 3.
ye ovoa rov fudaov. Die Definition, deren *) ib. 1144a 36.
Keime bei Piaton politie. 307b; Critias 112b; 1 «) ib. 1153b 19 ff.
leges 728 d ff. liegen, hat großen Naehklang I ^) Siehe z. B. Luc. vit. auct. 26.
in der alten Litteratur gefunden, so auch bei
694 GhriechiBohe LitteratnrgeBchichie. L KlasaiBche Periode.
mit sich selbst zufrieden, über das Gefühl der Reue so gut wie ganz er-
haben,^) göttergleich. Bei so starker Betonung der avrdgxeia des Weisen*)
kann es für die Freundschaft, die Aristoteles sehr umständlich behandelt,
nur eine im Grund egoistische Motivierung geben: wiewohl der oo(p6g sich
selbst genügt, werde doch seine '9€coQr]Tix7] ivegyeia durch Verbindung mit
avvegyoi gefördert.^) Alle Schranken altgriechischer Humanität sind in
dieser Ethik aufrecht erhalten, vor allem wird der Gegensatz zwischen
Griechen und Barbaren wie zwischen Freien und Sklaven mit voller Schärfe
betont; der Sklave ist zwar als Mensch mit vovg begabt,*) aber das ßov-
Xevea^ai wird ihm abgesprochen 0) und menschliche Behandlung versagt;
er ist (pvoei dovXog^ zur evdaifiovia unfähig, 0) und der Freie kann mit ihm,
sofern er Sklave ist, keine Freundschaft haben. Hier sind Befangenheiten,
zu deren Überwindung man schon im perikleischen Athen auf dem besten
Weg gewesen war. Auch die hochmütige Geringschätzung der Arbeit,
zumal der physischen, gehört zu den altgriechischen und überhaupt heid-
nischen') Vorurteilen, die Aristoteles sanktioniert, wenn er das Ideal des
ßiog ^€(OQf]nx6g und des oxoXd^eiv xaXcog aufstellt. Aristoteles' Ethik trägt
wie seine Politik und Poetik einen retrospektiven Charakter: er erscheint
auf allen diesen Gebieten nicht als ein selbständig urteilender Kopf mit
idealen Zielen, sondern in wesentlichen Punkten als ein Apologet der
nationalgriechischen Kultur, dessen Leistungen für uns von bedeutendem
geschichtlichem, nicht aber von praktisch normativem Wert sind. Der
schwächste Punkt in der Ethik und der Seelenlehre des Aristoteles ist die
Unklarheit über die Kraft des Willens und das Verhältnis des Willens zum
natürlichen Begehren und zur geistigen Einsicht, das Schwanken zwischen
Determinismus und Indeterminismus.®)
Die unechte Schrift mgi ägexcov xal xaxuov (p. 1249 — 1251) enthält
Definitionen der einzelnen Tugenden und Laster,») die aus der aristoteli-
schen Ethik abgezogen, auf das platonische Schema von der dreigeteilten
Seele gespannt und zugleich stark verflacht sind.
360. Die IloXixixd^^) in acht Büchern haben die Ethik zur Voraus-
setzung; am Schluß der nikomachischen Ethik ist auf den Staat hingewiesen,
durch den die Menschen zur Sittlichkeit erzogen werden sollen; damit ist
der Zusammenhang der Ethik mit der Gesetzgebung und Politik klar aus-
M eth. N. 1166a 23 ff.; ib. X 7. 8. An- | der aristotelischen Ethik R. Löning, Gesch.
Sätze zu diesen Verstiegenheiten finden sich der strafrechtl. Zurechnungslehre I, Jena 1903
bei Piaton Phaed. 82 bc; 114 bf; Theaet. | und dazu H. Gompbrz, Arch. f. Gesch. der
176b f., doch ohne den Beisatz von hoch- Philos. 19 (1906) 560 ff.
mutigem Egoismus. • ®) Den Aufsatz hat Ps.Andronikos in den
=*) eth. N. 1177a 24 ff. Der Widerspruch I zweiten Teil seines kompilierten Buches nfol
zwischen avzaQxsia und <f^tUa ist Plat. Lys. , jia&cov aufgenommen, den C. Sohüchhabdt,
215 a f aufgedeckt. Andronici Rhodii qui fertur libelli negi :tadiov
') eth. N. 1174a 34. pars altera de viitutibus et vitiis, Darmstadt
*) pol. 1260 b 5 ff. 1883, auf Grund eines guten kritischen Ap-
*) pol. 1460 a 12. parates neu ediert hat.
^) eth. N. 1177 a 8. »<>) üi,er Aristoteles' Staatslehre in grös-
") P. Allard, lulien Tapostat I (Paris serem Zusammenhang H. Henkel, Studien
1900) 213 ff. z. Gesch. d. griech. Lehre vom Staat, 74 ff.
'') über die psychologischen Grundlagen
4. Bie Philosophie, d) Aristoteles. (§ 360.)
695
gesprochen. 1) Ein eigenes Kapitel (polit. III 4) ist der Frage gewidmet,
ob der sittlich gute Mensch (ävijg äya&og) mit dem politisch tüchtigen
Bürger (jioXlrtjg ojiovdmog) sich decke. Die Politika selbst handeln ein-
leitungsweise im ersten Buch von der Grundlage des Staates, dem Haus
oder der Familie, und im Anschluß daran von der Hausverwaltung und
dem Erwerb (xgrjinaTiotixt]). Als Teil des Haushaltes erscheinen auch die
Sklaven, da diesen die körperlichen Arbeiten des Hauses, die der freie
Grieche als seiner unwürdig betrachtete,*) zuzufallen pflegten. — Im zweiten
Buch unterzieht dann Aristoteles nach der ihm beliebten Methode die An-
sichten der Früheren, der Theoretiker (Phaleas von Chalkedon, Hippo-
damos von Milet») und besonders Piaton) wie der Gesetzgeber (lakonische,
kretische und karthagische Verfassung nebst den Gesetzen des Selon, Za-
leukos. Charondas, Philolaos, Drakon, Pittakos, Androdamas), einer kriti-
schen Betrachtung. — Die eigentliche Aufgabe löst er in den sechs näch-
sten Büchern, und zwar so, daß er den Unterschied der drei guten Staats-
formen, bei denen die Herrschenden das Wohl der Gesamtheit im Auge
haben (ßaodela, äoiaroxgaTia, noXireia)^ und der drei Ausartungen, bei denen
die Herrschenden von ihren eigenen Interessen sich leiten lassen {rygawig,
dkyagxta, drjfxoxgarla),^) zum Ausgangspunkt nimmt. Die Staatsform ist
dem Aristoteles der Ausdruck der größeren oder geringeren Veranlagung
der Staatsgenossen zur Tugend (Pol. 1328a 37 flf.). Es kann und muß also
verschiedene Staatsformen geben; eine aber ist die beste, nämlich, da nicht
einfaches av^fjv^ sondern ev f^v, d. h. eudaijudvcog, xaXcbg, avTagxcog C^v (pol.
III 9) Zweck der staatlichen Gemeinschaft ist,^) diejenige, in der die Besten
oder die durch Tugend, nicht bloß durch Geburt und Reichtum Hervor-
ragenden, herrschen, die allerbeste aber die, in der ein einziger, der jedoch
zugleich allen andern an Tugend und Einsicht überlegen sein soll, die Herr-
schaft führt.®) Da es aber ein Glücksfall besonderer Art ist, daß ein von
Natur so überragender Mann sich finde, ein „dldiog ßaodevg"^ dem die
^) Die Echtheit jenes Schlusses der Ethik
ist freilich von J. Amsdorf (s. u. S. 696, 1) an-
gefochten worden, pol. 1261a 81 weist auf
eth. N. V 8 zurück; s. a. pol. 1295a 36.
») Arist. pol. VIII 2 p. 1337 b 6: (pavegov
on T(bv TotovTcov Set juerexetv oaa rcbv XQ^^^'
ficov jroitfoei zov /jezexorra fitj ßdvavoov, ßd-
vavoov d* egyov elvai dei zovxo vo^ä^siv xai
xixv*]v ravTtjv xai ^d^tjotv, ooat Jigog tag
XgTjaeig xai rag Jigd^stg Tag rr)? dgetifg äxQfj-
aiov djiegydCovrat t6 a(öfia twv iXev&egcov fj
rrjv yvxv^ ^^^- Vgl.p. 1277a 35.
•) Von Hippodamos, der Baumeister war
und um die Mitte des 5. Jahrhunderts blühte,
hat uns Stobaios einige pythagorel[sierende
Bruchstücke Jisgi nokixsiag und Jitgi evöai-
iioviag erhalten ; s. C. F. Hebmann, De Hippo-
damo Milesio, Marburg 1841; H. Diels,
Fragm. d. Vorsokr.» 236 f.; H. Hekkel, Stud.
z. Gesch. d. griech. Lehre vom Staat 162 fi.
Pol. 1298 a 13 wird auch noch eine IIoliTeia
des Milesiers Tel ekles genannt
*) Unseren Ausdruck Ochlokratie kennt
Aristoteles noch nicht; er läßt sich erst bei
Polybios nachweisen. Platonische Einflüsse
in der Lehre von den Staatsformen, beson-
ders von der Tyrannis, weist nach J. Ekdt,
Wiener Stud. 24 (1902) 17 ff.
*) pol. 1328 a 35 Jiokig xoivcovia xig iou
Tctjv ö/joion', ^exsv de i^corjg xijg ivdexofjevtfg
dgioxtjg; vgl. ib. VII 13.
*) Die Idee ist wohl durch Piaton (politic.
293c ff.) angeregt. Ein unbedingter Loh
redner der Monarchie ist Aristoteles keines
wegs, am wenigsten einer der erblichen Mon-
archie, bei der für das Eintreffen seiner Vor-
aussetzungen geringe Wahrscheinlichkeit ist
s. insbesondere p. 1288a 1; 1286b 23 ff.;
1313 a 10 ff. Die Doktrin hat sich auch in
die hellenistische Zeit hinein gehalten (Epist.
Aristeae 288 ff. Wendland). Die Monarcnien
seiner Zeit beruhen nach Ar. nicht auf persön-
licher vjtegoxtf ihrer Träger, sondern auf amt-
licher Bestellung (jiovagxiai) oder auf Usur-
pation (xvgat'^'iöeg). Am aristotelischen Eönigs-
ideal mißt sich lulian. ep. p. 328 ff. Hestl.
696 Oriechische Litteratnrgeschichte. I. Klasaische Periode,
Herrschaft von selbst zufallen muß, so gilt dem Aristoteles für gewöhn-
liche Verhältnisse eine Mehrherrschaft für die beste um so mehr, je besser
dafür gesorgt ist, daß die sittlich und intellektuell Überlegenen (oTiovdaJoi,
ijimxeig, ;fa^&yr€c) tatsächlich regieren. Vom besten Staat ist in den Schluß-
kapiteln des dritten Buches (III 14—18) und in den Büchern Vü und VIII
gehandelt. 1) Aber die Behandlung des Gegenstandes ist nicht zum Ab-
schluß gekommen; besprochen sind nur die äußeren Grundbedingungen des
besten Staates und besonders (VIII) im Hinblick auf Piaton die Erziehung
und Bildung der Staatsbürger. Aristoteles betont hier die grundlegende
Bedeutung richtiger Erziehung und Ausbildung für das Bestehen und das
Wohl des Staates, erörtert die Frage, ob die Bildung realistisch (rd XQ^-
aijua TiQog xbv ßlov) oder humanistisch (rd xelvovxa Ttgog äQeztjv) gerichtet
sein soll und weist alles, was der Erreichung der ägerij hinderlich sei, ab,
insbesondere erniedrigende Arbeit des Körpers und jede Art von sei es
körperlichem oder geistigem Spezialisten- und Virtuosentum. Dieser Teil
ist unvollendet geblieben oder doch unvollendet auf uns gekommen; be-
handelt sind nur die vier Gegenstände des gewöhnlichen Unterrichts, Gram-
matik, Gymnastik, Musik und Zeichnen;*) zu den höheren Unterrichts-
gegenständen, Philosophie und Ästhetik, ist Aristoteles nicht gekommen.
— Die mittleren drei Bücher IV — ^VI bilden eine Untersuchung für sich;
sie handeln unter dem Gesichtspunkt des Realpolitikers*) von den übrigen
Staatsformen, von den Teilen des Staates (Rat, Beamten, Gerichte) und
deren Aufgaben, von dem was den Staat erhält und ihn zugrunde richtet.
Auch hier ist die Reihenfolge der Bücher nicht in Ordnung. Nach der
von Aristoteles selbst IV 2 gegebenen Disposition und nach dem Eingang
des fünften Buches sollte man erwarten, daß das fünfte Buch den Schluß
bilde und ihm das in den Handschriften an sechster Stelle stehende
Buch vorangehe.*) Aber da im sechsten Buch wiederholt (s. u. A. 1)
^) Daß in den Handschriften die Bücher | III — V zurück. Gegen die ümstellungs-
VII u. VIII an falscher Stelle stehen und in versuche von L. Spengel (I— HI. VII. VIII.
der angedeuteten Weise umgestellt werden | IV — VI) und J. Barth^lemy de St. Hilaire
müssen, hat schon im 15. Jahrh. Nicolas I (I—III. VII. VIII. IV . VI. V) sind mit Recht
d'Oresme, im 16. der Italiener Segni be- \ H. Dibls, Arch. für Gesch. der Phil. 4 (1891)
hauptet und ist von H. Conring in der Ein- ' 483 und Wilamowitz, Aristot. und Athen I
leitung der Übereetzung des Giphanius 1637, 355 ff. aufgetreten. So gut der Schluß von
und L. Spenoel, Über die Politik des Aristo-
teles, Bayr. Ak. Abh. 5 (1847), näher begründet
worden . Die jetzige Ordnung ist vorausgesetzt
in dem Zitat VII 4 p. 1325b 34 jreoi läg äXXag
TToltTfing fjfiir TedfowtjTai jto^tfqov und in
dem Schluß der Nikomachischen Ethik. Vgl.
F. SusEMiHL, Über die Komposition der arist.
Politik, in Verh. d. 30.Ver8. d. Phil.. Rostock
1875, S. 17—29; J. Amsdorf, Symbolae ad
Vni fehlt, kann auch am Schluß von III
eine Lücke angenommen werden, in der die
Begründung dafür stand, daß sich Aristot.
nicht sofort zur Darstellung des besten Staates
wendete.
*) W. BiEHL. Die Erziehungslehre des
Aristoteles, Innsbruck 1877. Das Zeichnen
war nach Plinius n. h. XXXV 77 um diese
Zeit durch den Makedonier Pamphilos. den
Arist. politicorum crisin spectantes, Lands- Lehrer dos Apelles, unter die Ünterrichts-
hut Progr. 1894. Indessen kann die Stelle : gegenstände aufgenommen worden.
1289a 26 ff. (wenn auch der Ausdruck aofr»; | ») Hauptstelle darüber p. 1288b 35: ol
;<^;!foo//j'/;/<n'?; 1289a 33 wiederkehrt 1323b 41 f.) jikeTorot tibv djioq-aivojiih'cov Tiegi nokiTeiag xai
schwerlich anders verstanden werden als so, , et Tä).kn )Jyovoi y.aX(bg, xcov ye xQ^oifuov Sia-
daß hier nur die Bücher I — III, nicht auch ftngTdvovair ' ov yäg fiovov rtjv olqmt^v öeT
VII. VIII als vorausgehend gedacht sind ; die | ^fcdokTv, dV.a xai ri^v dxn'aiijv.
Stellen des sechsten Buches 1316b 34; i *) Diese Bemerkung ist gemacht von
1317 a 10. 24. 37 f., 1319b 37 weisen auf | J. Babthblemy de St. Hilaibe in seiner Über-
4. Bie Philosophie, d) Aristoteles. (§ 860.) 697
auf das fünfte Bezug genommen ist,*) so hat doch offenbar Aristoteles
das sechste Buch, in dem nochmals von der Demokratie und Oligarchie
und den Mischungen aus jenen beiden Staatsformen gehandelt ist, erst
nachträglich verfaßt und den bereits vollendeten Büchern IV — V als Er-
gänzung angehängt.*)
Die beste Einrichtung des Staates galt dem Aristoteles als eine der
würdigsten Aufgaben der Philosophie, wie auch seine Schule, mehr als
selbst die Stoa, sich mit politischen Fragen abgegeben hat.^) Aber zum
befriedigenden Abschluß hat Aristoteles seine Politik nicht gebracht; es
fehlt nicht bloß die planmäßige Ordnung in der Reihenfolge der Bücher,*)
es fehlt auch die Krönung des Gebäudes, indem das Werk ohne Epilog zu
Ende geht, mag man nun die überlieferte Ordnung der Bücher beibehalten
oder ein anderes Buch, das fünfte oder sechste, an den Schluß stellen.
Auch sonst reißt oft der Faden der Untersuchung, so daß die Herausgeber
Not haben, mit allen möglichen Hausmitteln der Kritik einen strengere
Ansprüche der Logik befriedigenden Text herzustellen. Auch stilistisch
ist das Werk nicht gleichmäßig durchgearbeitet; größere Sorgfalt in Ver-
meidung des Hiatus ist in Buch VH und VHI beobachtet. Aber gleich-
wohl ist das Werk eines der bedeutendsten und interessantesten, die uns
das Altertum erhalten hat: namentlich machen die auf den Materialien-
sammlungen der IIohTeiai beruhenden zahlreichen Angaben über die Ein-
richtungen der buntgestalteten Staatswesen des Altertums das Buch zu
einer Hauptquelle für den Historiker und Altertumsforscher. Der Gegen-
satz zu Piaton tritt eben besonders hier im guten Sinn entgegen, indem
der Verfasser ideologische Utopien grundsätzlich ablehnt und dafür auf
das Tatsächliche und Mögliche den Blick gerichtet hält.^) Freilich hin-
derte dieser Realismus ihn auch, über die Beschränktheiten und Vorurteile
des Altertums hinauszukommen: er verteidigt nicht bloß die Sklaverei, er
sucht sie auch physiologisch durch Annahme einer sklavenmäßigen Natur-
anlage gewisser Menschen und Völker zu begründen ;ö) Handwerk und Arbeit
Setzung, Paris 1837 (4. Ausg. 1874) und fest- ' ;^offfe5v Tiohxstibv (Buch IV — V mit dem Nach-
gehalten von L. Spengel a. a. 0. und Arist. trag von Buch VI), und die Anfänge einer
Stud. II (München 1865); H. Oncken, Staats- ; zusammenfassenden Darstellung (I 1; II; III;
lehre des Arist. I, Leipzig 1870. 98 ff. Vgl. i VII 1 — 3) hinterlassen habe. Die Zusammen-
fassung der Teile scheine Theophrastos be-
sorgt zu haben, da einige ihn für den Ver-
fasser des Werkes ausgaben; s. Diog. L. V 24:
J. Bendtxen in den Jahresberichten des Philol.
13 (1858) 264 ff., 14 (1859) 332 ff., 16 (1860)
465 ff. und F. Süsemihl in der griech. deutsch.
Ausg. (2 Bde., Leipz. 1879) Einl. 4 f. u. 58 f. j jToXinxtjg dxoodoeeog [o>s] 5 Stofpgdatov.
^) Man beachte auch, daß die Definition l ^) pol. 1295 a 25 ff.
der doppelten Ait des laov im fünften Buch | •) pol. I 2 ; damit hängt die Ansicht von
p. 1301b 30 gegeben und im sechsten Buch , der Naturgemäßheit des Krieges gegen Bar-
p. 1317 b 4 als gegeben vorausgesetzt wird. baren zusammen, worüber I 8 p. 1256 b 27:
^) Andernfalls müßten jene drei Stellen ' tfj :io?,F./nixff Sei xQfjoi^i .todg rs la &tjoia xal
als nachträgliche Interpolationen angesehen zöjv av&o(o7i(ov oooi jieqtvxoTsg äoxeo&ai fiif
werden, wofür allerdings einige sprachliche j ^iXovoiv, wg <pvoei dixaiov m'ia tovtov tov
Indizien angeführt werden können. j jzole^oy. Sein nationalhellenischer Chauvi-
') H. Henkel. Stud. z. Gesch. d. griech. - nismus unterscheidet sich nicht von dem des
Lehre vom Staat, 19 ff.
*) W. Christ vermutet, daß Arist. nur
mehrere, ursprünglich für sich bestehende
Traktate, wie neni oixovouiag (Buch I), :ieoI
äoioToxqatiag (VII 4 — VIII), :T€.Qi tcjv vJiaQ-
Euripides: die Hellenen sind ihm unbedingt
und überall ein adeliges Geschlecht (pol.
1255 a 33 ff.). Dieser Auffassung, über die
schon Piaton (polit. 262 de) spöttelt, sind im
Sinn des Alexanderreichs die Kyniker, Stoi-
698
Ghiechisohe Litieratorgeschichte. I. Klassische Periode.
überhaupt schätzt er, nicht ohne Widerspruch mit seiner eigenen Defi-
nition der Tugend als einer iveoyeia, gering, weil sie ihm den Körper
und die Seele des Freien zu beeinträchtigen scheint;^) um dem Übel der
Übervölkerung vorzubeugen, hat er, ein Sohn seiner Zeit, Worte der Ent-
schuldigung für die Aussetzung der Kinder,^) Abtreibung der Leibesfrucht
und die Unnatur der kretischen Knabenliebe. ^) Auf der anderen Seite ver-
sagt er darin, daß er nach Piatons Vorgang dem Guten {äya&og) eine un-
umschränkte Gewalt zuweist, dem naturgemäßen Recht der einzelnen Bürger,
an der Ordnung des Gemeinwesens teilzunehmen, die Anerkennung/) Sein
ganzer Staat dient schließlich trotz aller Kautelen dem Zweck, der Mino-
rität der »Tüchtigen** die Möglichkeit zum 'ßecogeiv, xcdcög oxokdCeiv, zur
Betätigung ihrer äoexi^ zu bieten. Hier wirkt Piatons Gedanke von der
Philosophenhierarchie nach; im übrigen bekämpft Aristoteles den platoni-
schen Staat, und zwar nicht bloß in Einzelheiten, wie der Kommunismus,
die Gleichstellung der Geschlechter, die kastenartige Berufsteilung sind,
sondern auch die Grundlage, auf die Piaton seinen Staat gebaut hat und
die in den Monarchien der Hellenistenzeit prinzipiell anerkannt worden ist,^)
die dixaioovvrj wird von ihm bemängelt.®) Übrigens erkennt Aristoteles
gelegentlich doch auch der Volksmenge eine gewisse Bedeutung für den
Staat zu.^) — Für die Abfassungszeit des Werkes gibt der Umstand einen
Wink, daß die Ermordung des Königs Philippos (336) erwähnt ist (p. 1311b 1),
die Einnahme Babylons aber durch Alexandres und die Invasion Kretas
durch Agis H (332) nicht in Betracht gezogen sind (p. 1276a 28 und 1272a
22).®) — Das ganze Werk trägt einen retrospektiven Charakter und hat
ker und Eratosthenes (Strab. p. 66) eDtgegen-
getreten.
*) Vgl. die oben schon angeführte Stelle
p. 1337 b 6 und p. 1255 b 35 oooig e^ovala fiij
avTOvg y.axona&EiVy ijtiigojiog lafißdvet xrjv
XgrjaTixrjv ri^rjv, avxol 6s jioXnevmtat rj quo-
(jocpovai.
^) pol. 1335 b 19; s. J. Bernays. Ges.
Abh. I 248, 1.
3) Vgl. p. 1335b 28 f.; 1265a 38 ff. und
1272 a 24; leider fehlt die an letzter Stelle
versprochene Ausführung. Besser wahrt dieser
Unsitte gegenüber die Forderung höherer
Moral Piaton leg. VII [ p. 840 d ff.
*) polit. 1288 a 29: keinsiai /növov t6 jtsi-
&eo&ai Zip ToiovTco xai xvoiov etrui /urf ;<ara
fteoog, (Ux* djiXwg. Nach dieser Stelle wäre
die absolute Monarchie Louis XIV. die beste
Staatsverfassung gewesen; denn auch dieser
hatte gesagt: nous devons consid^rer le hien
de nos aujets plus que le notre propre und
c'est la volonte de Dien, que quicongue est
ne sujet obMsse sans discernement. £inmal
jedoch, polit. III 10, erkennt Aristoteles das
Unwürdige an, das in dem Ausschluß der
Bürger von der Staatsverwaltung liegt. —
Das ganze System des Aristoteles unterzieht
einer herben Kritik J. Sciivarcz, Kritik der
Staatsfonnen des Aristoteles, mit einem An-
hange enthaltend die Anfänge einer politi-
schen Litteratur bei den Griechen, 2. Aufl.,
Leipz. 1901.
*) epist. Aristeae 267 Wendl.
«) Einer Idee Piatons (leg. 628 c f.) fol-
gend erklärt er (eth. N. 1155 a 22 ff.) die
(fiUa und ofiovoia im Staat für wichtiger als
die öixaioovvi]; anderwärts (pol. 1282 b 16)
biegt er sie ins Relativistische um (ßixatoy
=■ 10 xoivfj ovfKfioov).
^) Mehrfach tritt die eigentümliche Mei-
nung hervor, daß infolge einer Summiening
der Ansichten und Intelligenzen auch die
Masse in politischen oder ästhetischen Fragen
das Richtige treffen könne (pol. 1281a 4 ff.
b34; 1282a 16; 1286b 28; 1287b 26 ff.). Ana-
log ist die Bewertung der in denVolkssprich-
wörtem verborgenen Weisheit bei Aristot.
fr. 2 p. 1474b 5.
^) Der Kranzprozeß des Demosthenes und
Aischines hatte ebenfalls noch nicht statt-
gefunden, da es nach ihm nicht heißen konnte
p. 1299 a 29: ov yoQ jtco xgiotg yeyovev dfifpto-
ßrjzoviTon' negi tov ovofiaTog sc. olqx^Q xai
ejTtuFÄFiag. Auffällig bleibt, daß die Spezial-
schrift vom Staat der Athener auf spätere
Zeit hinweist, wiewohl man glauben möchte,
daß die Sammlung der Staatsverfassungen
der theoretischen Verarbeitung vorausge-
gangen dci.
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 361.) 699
eben darum, als letzte Frucht der auf dem Boden der altgriechischen jiöXtg
gewachsenen Staatslehre für uns großes geschichtliches Interesse; durch-
weg schweben dem Verfasser, namentlich in dem Kapitel von der Größe
des besten Staates (YII 4 u. 5), die Verhältnisse der kleinen Stadtgemeinden
vor Augen. 1) Den Begriff des Reiches oder des nationalen Bundesstaates
hat er überhaupt nicht erfaßt, und es ist ein merkwürdiges Schauspiel,
den Lehrer Alexanders des Großen in dem Moment, als dieser sein inter-
nationales Weltreich gründete, mit einem Werk hervortreten zu sehen, in
dem alle Befangenheiten der altgriechischen jiokig ihre philosophische Recht-
fertigung erhalten. Der makedonisch gesinnte Philosoph steht hier zu-
sammen mit dem Makedonierfeind Demosthenes und hat ein Buch ge-
schaffen, das, von der praktischen Seite her beurteilt, bei seinem Erscheinen
schon veraltet war.
361. Von Staatslehre*) hatte Aristoteles schon früher in dem popu-
lären Dialog Ilokmxög gehandelt, auf den sich Cicero de fin. V 11 und ad
Quint. fratr. III 5, 1 bezieht. Er hatte aber außerdem in großartigen Sammel-
werken, den Ndfxifxa ßagßagixd,^) den Acxatcüjuara^^) besonders den IIoXiTeTai^
welche die Beschreibung von 158 Staatsverfassungen^) enthielten, sich das
sachliche Substrat für seine theoretischen Spekulationen verschafft. Die
nohxeiai^ die eine reichhaltige Fundgrube für die Grammatiker und Histo-
riker waren, 6) sind leider für uns größtenteils verloren. Aristoteles hat
sie selbst in den IloXmxä^ am ausgiebigsten wohl im fünften Buch TieQi
ßjLexaßokwv^ aus dem sich manches den /ToA^TeFat-Fragmenten hinzufügen läßt,
benützt. Ein Auszug liegt uns in den nohtelat des sogenannten Herakleides
Pontikos vor.^)
In neuerer Zeit ist aus einem ägyptischen Papyrus ein wichtiger
Teil, fast die ganze ^A&y^valcov noXiTeia, die der Zahl der Zitationen
nach im Altertum am meisten gelesen worden sein muß, ans Tageslicht
gekommen;®) es fehlt nur außer dem Anfang und einzelnen Kapiteln der
») Vgl. p. 1327 b 29 ff., wo das griechische
Volk geradezu als das ,Volk der Mitte* er-
scheint: i6 'EXkrjvoyv yt-vog MOJieo /Mosvei aaxa
ToiV Tojioi'g, ovicos djnqroTv fteiexei' 9<ai yoQ
Staaten ; 98 Politien weist H. Nissbn, Rh. Mus.
47 (1892) 189 ff. nach, 9 weitere C. v. Hol-
ziNOBB, Philol. 52 (1893) 115.
*) Plutarch. non posse suav. 10 p. 1093 c
evOvfiov xai dtavotjrtxov eoxiv' dtojisg eist)- I bezeichnet die Politeiai des Aristoteles neben
{^Boov ze dtaieXet xai ßfXxioxa :ftoXix€v6iiitt'ov
xai dvvdfievov uqxsiv ndvxwv, fjiäg xvyxdvov
noXiTfiag. Es ist die einzige Stelle, an der
der Gedanke eines hellenischen Universal-
reiches wenigstens gestreift wird.
') Zusammenhängend über Aristoteles'
Staatslehre E. Szanto, Ausgew. Abb., Tübingen
1906, S. 302 ff.
') Ein Papyrusfragment aus den Nofi.
s. H. DiELS, Berl. Ak. Sitz.ber. 1891, 837; be-
nützt sind sie wohl polit. VII 2.
*) Von den hier gesammelten völker-
rechtlichen Entscheidungen soll König Phi-
lippos Gebrauch gemacht haben (Aristot. fr.
p. 1571b 23 ff.).
') Nach dem Katalog des Andronikos
oder dem arabischen des Ptolemaios von 171
den Geschichtswerken des Herodot und Xeno-
phon und der Erdbeschreibung des Eudoxos
als die anziehendste Lektüre.
') Nachgewiesen von C. v. Holzinoeb,
Philol. 50 (1891) 436 ff.; 52 (1893) 58 ff.
*) Zuerst kamen zwei Papyrusblätter,
die sich jetzt in Berlin befinden, zum Vor-
schein; s. H. DiELS, Über die Berliner Frag-
mente der *A{h)vaUov :!roXixfiaf Abb. d. Berl.
Ak. 1885 nr. 2; den aristotelischen Ursprung
des Papyrusfragments erkannte zuerst Th.
Berok, Rhein. Mus. 36 (1881) 87 ff.; vgl.
U. WiLCKEN, Herm. 23 (1888) 464 ff. Später
kamen vier neue Rollen hinzu, die auf der
Kehrseite Rechnungen aus der Zeit Ves-
pasians vom J. 78.79 enthalten, deren Ari-
stotelestext auf dem Recto also vor 79, und
700 Griechische Litteratorgeschichte. I. KUssische Periode.
Staatsverwaltung die Verfassungsgeschichte seit dem Ende des peloponne-
sischen Krieges. In klarer und glatter, durch eingelegte Dichterzitate be-
lebter Darstellung 1) gibt das Buch einen vollen Einblick in die innere
Geschichte Athens. Nicht bloß die Staatsformen sind aufs genaueste in
historischer Entwicklung behandelt, auch was mit der Staatsverwaltung
zusammenhängt, Maße, Gewicht, Gerichtshöfe, Armenpflege, ist in Betracht
gezogen. Das Ganze zerfallt in zwei Teile, einen historischen und einen
systematischen. Der erste (c. 1 — 41) enthält eine chronologische Dar-
stellung der elf Staatsverfassungen Athens von der ältesten mythischen
des Ion bis zur gegenwärtigen, und schließt mit einem zusammenfassenden
Überblick. Der zweite Teil (c. 42 — 63) bespricht die Staatsorgane der
bestehenden Verfassung {iyygcLcprj nohxwvt ßovki^, ägxat, dixaaxriQia) und
setzt ihren Wirkungskreis auseinander. Als Quelle benützte der Verfasser
außer den erhaltenen Historikern Herodotos, den er einmal, und Thuky-
dides, den er nicht nennt, vorzüglich Atthiden; daneben benützte er un-
mittelbar Urkunden verfassungsgeschichtlichen Inhalts. Auch einschlägige
Dichtungen zog er heran, und wir verdanken so dem neuentdeckten Buch
eine Reihe schöner Verse des Selon. Vielfach hat die neue Schrift unsere
Kenntnis der attischen Verhältnisse bereichert und berichtigt;*) aber auch
Irrtümer und Widersprüche mit Angaben der Politika,*) wie namentlich
bezüglich der Regierungszeit der Peisistratiden,*) sind dem Verfasser unter-
gelaufen, so daß einige Kritiker sogar den aristotelischen Ursprung der
Schrift angezweifelt haben.*) Die richtige Ansicht ist sogleich von B. Niese
ausgesprochen worden r^) die Schrift ist von Aristoteles, sie zeigt aber
Aristoteles den Historiker in keinem günstigen Licht. So glatt sich alles
liest, so wenig solid sind oft die wissenschaftlichen Grundlagen. Wo wir
die Möglichkeit der Vergleichung mit Herodotos und Thukydides haben,
wie in den Partien über die Peisistratosherrschaft, über die Chronologie
des Themistokles, über die Umwälzung des Jahres 411,"^) da läßt die Dar-
zwar (wie das Opisthograph und der Schrift- i E.Szanto, Ausgew. Abh. 331 ff., wo die Gleich-
charakter zeigen) für Privatgebrauch, nicht zu , heiten der politischen Anschauung in beiden
buchhftndlerischem Vertrieb geschrieben sein Schriften herausgestellt werden,
muß. Diese befinden sich in London und sind ^) Auch in dem Bericht über die solo-
zuerst herausgegeben worden von F. G. Kenyon ; nische Münz- und Gewichtsreform c. 10 kommt
London 1891; manches besser gelesen von F. j man ohne die Annahme bedenklicher Miß-
Blass in der 2. — 4. Textausg. BT; nochmals | Verständnisse des Aristoteles nicht aus (W.
revidiert von F. G. Kenyon in Aristot. suppl. Christ in Heptas antiquarisch-philologischer
III2, Beri. 1903. WiLAMo WITZ, Aristoteles und ; Miszellen, Bayr. Ak. Sitz.ber. 1900 S. 118
Athen, Beriin 1893, 2 Bde. Quellenunter- ; bis 132).
suchung von B. Bubsy, De Aristotelis :ioXi-
Tflag 'Aßrjvaiojv partis alterius fönte et aucto-
ritate, Diss. Jurjew 1897. Eine Übersetzung
ins Deutsche lieferten G. Kaibel und A. Kiess-
LiNG, Straßb. 1891.
^) G. Kaibel, Stil und Text der aristo-
*) Bedenken gegen die Echtheit erhoben
F. Cauer, Hat Aristoteles die Schrift vom
Staat der Athener geschrieben?, Stuttgart
1891 (dazu Verhdl. d.41. Philol.vers. München
1891 S. 221—7); F. Rühl, Über die von Mr.
Kenyon veröffentlichte Schrift vom Staat der
telischen:-l.7..To;.., Berl. 1893, ist allzu subtil Athener, Rh. Mus. 46 (1891) 426 ff.; ders.,
und überschwenglich (s. dagegen V. v.Schöf- : Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl. 18 (1892) 475 ff. Da-
PER, Berl. phil. W.schr. 15. 1895, 100 f.). ' gegen E. Szanto, Ausgew. Abh. 323 ff.
*) Ad. Bauer, Litterarische und histori- ^) Sybels Histor.Zeitschr., N. F. 33(1892)
sehe Forschimgen zu Aristoteles 'Ad?p'aio>v 38 ff.
jtoÄtTsia, München 1891. j ') Chr. A. Volquardsen, Verb, der 48.
«) Über das Verhältnis zu den IloXtuxd \ Philol.vers., Hamburg 1905, 123 ff.
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 362.)
701
Stellung des Aristoteles, auch wenn er (wie für die Vorgänge von 411)
gute urkundliche Quellen hat, an Zuverlässigkeit zu wünschen übrig, und
in der Hervorhebung von Drakons gesetzgeberischen Verdiensten auf Kosten
des Solon ist er ohne genügende Kritik einem parteiischen Gewährsmann i)
gefolgt. Auch die Sauberkeit, mit der die attische Verfassungsgeschichte
im ersten Teil dargelegt ist, beruht keineswegs auf wahrhaft historischer
Forschung. Was man in steigendem Maß bei der späteren peripatetischen
Geschichtsschreibung findet, daß mit dem Fleiß der Stoffsammlung die
Kritik gegenüber dem Ersammelten, und mit der Geschicklichkeit und
Genießbarkeit der Darstellung die Sorgfalt der wissenschaftlichen Durch-
arbeitung nicht gleichen Schritt hält, davon erscheinen Anzeichen schon
in dieser Schrift des Schulhauptes selbst. Das ungünstige Urteil über die
attische Demokratie in der Schrift entspricht ganz der Abneigung gegen
die radikale und industrielle Demokratie, die in den Politika (VI 4) zutage
tritt. Abgefaßt ist das Buch nach 328, da es c. 46 die erst damals ein-
geführten Tetreren voraussetzt und c. 54, 7 das Archontat des Kephisophon
(329/8) erwähnt, anderseits vor 322, da es die durch die makedonische
Okkupation herbeigeführte Verfassungsänderung nicht kennt. ^)
362. Die Olxovoßxtxd in zwei Büchern (p. 1343 — 1353) sind unecht.
Aristoteles hatte ein Werk ähnlichen Inhalts {jiegi xzrjoecüg polit. 1326 b 33 f.)
wohl geplant, aber schwerlich ausgeführt. Das erste Buch handelt von
Begriff und Wesen der Hauswirtschaft und gibt einzelne Regeln. Ein
Stück davon (p. 1344b 26 ff.) wird von Philodemos tieqI olxovojuiag (p. 3 ff.,
27 ff. Jensen) zitiert. Das zweite und wichtigere Buch enthält eine Reihe
yon Beispielen, wie sich Staaten und Private aus Geldverlegenheiten halfen,
und rührt sicher nicht von Aristoteles selbst, sondern von einem jüngeren
Glied der peripatetischen Schule her, da unter den Beispielen sich mehrere
aus späterer Zeit finden.») Aber auch das erste Buch, von dem im grie-
chischen Original nur Bruchstücke existieren, wird von Philodemos negl
xaxicüv xal Agerayv col. 7 als Werk des Theophrastos zitiert; es zeigt stoische
Färbung und ist nach F. Susemihl, dem neuesten (1887) Herausgeber der
Ökonomik, um 250 — 200 v. Chr. entstanden. Ein drittes Buch, das den
Spezialtitel vdfiot ävdgog xal yafietr\g hatte, ist nur in lateinischen Über-
setzungen erhalten.*) Die echte Lehre des Aristoteles über das Hauswesen
enthält das erste Buch der Politik.
*) WiLAMOwiTZ, der Aristot. u. Athen I
die Arbeitsweise des Ar. und seine Quellen
genau prüft, denkt an eine Parteischrift des
Theramenes. Als Quelle für den zweiten,
systematischen Teil, nimmt er neben der
Atthis eine für den Gebrauch von Beamten
und Advokaten bestimmte Sammlung von
Gesetzen und Verordnungen an. Einiges die
Zustände zu seiner Zeit Betreffende hat Ar.
selbst hinzugefügt Siehe übrigens die Ein-
wendungen gegen Wilamowitz von A. Bauer,
Die Forschungen über griech. Gesch. 1888
bis 1898 S. 278 ff.
*) F. Caüer a. 0. 5 ff. u. Nachtrag S. 76 f. ;
Wilamowitz, Aristot. und Athen I 211. Da-
gegen P. FoüCAKT, Revue de philol. 19 (1895)
27—31, der, weil c. 54, 7 die seit 332 ein-
geführten Amphiaraia außer Betracht gelassen
oder erst nachträglich berücksichtigt sind,
für 334—2 plädiert (s. aber A. Wilhelm,
Wiener Ak. Anz. 1895 nr. 9).
•) Der Grundstock der Beispielsammlung
schließt allerdings schon mit den Satrapen
des Alexandros ab und kann also von einem
Zeitgenossen Alexanders stammen (ü. Wil-
CKEN, Herm. 36. 1901, 187 ff.). Siehe a. P.
Schneider, Das zweite Buch der aristotel.
ökonomika, Diss. Würzburg 1908.
^) L. Spenoel, Arist. Stud. Ill (München
1868) 65 ff. Auch K. W. Göttlino in seiner
702 GhriechiBche LitteratorgeBchichte. I. Klassische Periode.
363. Die Schriften über Poetik und Rhetorik sind wahrschein-
lich nebeneinander geschrieben worden. 0 Rhetorik und Poetik spielten seit
Piaton eine große Rolle in den Untersuchungen der Philosophen; die
Rhetorik, weil sie an die Philosophie angrenzte und mit ihr um das Recht
auf Erziehung der Jugend kämpfte, die Poetik, weil die Poesie als ein längst
anerkannter Faktor der nationalen Erziehung ebenso wie die Musik die Auf-
merksamkeit des Gesetzgebers und Staatsmanns in Anspruch nahm. 2) Die
Stellung des Piaton und Aristoteles zu den Grundsätzen und Leistungen dieser
Künste, wie sie im damaligen Griechenland allgemein anerkannt waren, ist
eine grundverschiedene: jener ist ein unerbittlicher Kritiker der griechi-
schen Nationalkunst vom höchsten sittlich politischen Standpunkt aus,
dieser ihr, aber stark von des Gedankens Blässe angekränkelter, Apologet.
Von den zwei Büchern der Poetik ist nur das erste erhalten..
Dieses handelt von der Tragödie und dem Epos, zwei Gattungen, die als
nur stilistisch verschiedenartige Formen^) der ernsthaften Darstellung der
Heldensage für Aristoteles (wie für Piaton) eng zusammengehören und den
Gegensatz zu dichterischen Darstellungen des Alltagslebens (ßiog) bilden;
das zweite Buch war der Komödie gewidmet.*) Die Lyrik, die „Mutter
aller Poesie",*) bleibt, abgesehen von dem halbepibchen Dithyrambus, bei
Aristoteles bezeichnenderweise völlig unberücksichtigt. Das kleine Büch-
lein, das nur durch Zufall als Anhang einer Sammlung rhetorischer Schriften
im Cod. Paris. 1741«) erhalten ist, hat in der neueren Litteratur mehr
Beachtung gefunden als irgend eine der philosophischen Schriften des
Aristoteles. Es verdiente eine solche Wertschätzung, da Aristoteles hier
mit bewunderungswürdigem Scharfsinn und gestützt auf ausgedehnt?
Kenntnis der poetischen Litteratur Grundsätze der poetischen Technik
hingestellt hat, welche die dichterische Produktion des Abendlandes bis in
Ausg. (Jena 1830) verwirft die Echtheit des ' G. Kaibels Com. gr. fragm. I p. 50—53) nacL
Baches. — Mit Erklärung der OUw. befaßt 1 Vgl. dazu J. Kaybbr, De vetenim arte po6t.,
sich K. RiEZLER, Über Finanzen und Monopole | Diss. Leipzig 1906 p. 31 ff. Zur Herstellung
im alten Griechenland, Münchener gekr. Preis- j ist der arabische Kommentar des Averroes
Schrift, Berlin 1907. I von geringer Bedeutung (F. Heidenhain, N.
0 G. FiNSLBR, Piaton und die aristotel. ' Jahrbb. f. cl. Phil. Suppl. 17, 1890, 353 ff. ver-
Poetik 9. I öffentlicht die lat. Übersetzung der Averroes-
*) Nach polit. VIII 7 p. 1341b 39 scheint I paraphrase zm* Poetik von dem spanischen
geradezu die Poetik zu dem von der Er- , Juden Jakob Mantinus nach dem Juntina-
ziehung der künftigen Bürger handelnden ' druck, Venedig 1562; 0. Immisch, Philol. 65,
Teil der Politik gehört zu haben; vgl. 1906, 20 ff.). J.Tkaö, Wiener Stud. 24 (1902)
p. 1336 b 25 und G. Finsler a. a. 0. 8.
') Wie geringe klassifikatorische Bedeu-
tung Ar. den Darstellungsformen als sol-
70 ff. Die Exegese der Schrift ist am meisten
gefördeit worden durch die Abhandlungen
von J.V AHLEN, Beiträge zu Aristot. Poetik in
eben beimißt, ist aus poöt. 1447 b 10 ff. er- ' den Sitz.ber. der Wiener Ak. Bd. 50. 52. 56
sichtlich, wo die Bindung des Begriffs Poesie j (1865 — 67); außerdem s. G. Teichmülleb,
an die Versform abgelehnt wird. , Aristot. Forschungen I. II (aristot. Philos. der
*) Auf diesen Teil {jifqi yF/.oio)r) wird 1 Kunst), Halle 1867. 69; A.Döring. Die Kunst-
in Aristot. Rhetorik 1372a 1. 1419b 5 hin- | lehre des Aristot, Jena 1796; S. H. Butchbb,
gewiesen. J. Behnays, Zwei Abhandlungen . Aristotle's Poötic translated with Essays, Lond.
über die arist. Theorie des Drama, Bcrl. 1880. | 1896; Ar. Poöt. übersetzt und eingeleitet von
Im Katalog des Hesychios finden sich noch I Th.Gomperz. Leipz.1897. Siehe a.o.S. 249, 1.
zwei Bücher aufgeführt: tf/v?}^ nou]Tty.rjc; fi\ ^) L. Uhland bei G. Schmidt, Uhlands
ebenso in der einen Fassung des Ptolemaios- 1 Poetik, Diss. Tübingen 1906, 66.
katalogs. Reste des zweiten Buches über die *') Ein photolithographisches Faksimile
Komödie weist Bemays aus dem Anonymus der Handschrift ist von H. Omont, Paris
de comoedia (sog. Tractatus Coislinianus in I 1891, herausgegeben.
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 363.) 703
das vorige Jahrhundert herein beherrscht haben und einem Lessing geradezu
als unfehlbar erschienen sind. Man denke nur an die berühmte Definition
der Tragödie im sechsten Kapitel,*) an das nicht minder wichtige zwölfte
Kapitel über die Teile der Tragödie, an die Lehre von der Einheit der
Handlung und von der weisen Stoffbeschränkung in den homerischen Epen
(c. 23), an die Unterscheidung des Wesens der tragischen und der epischen
Poesie (c. 26). Das Buch ist trotz der Fülle gelegentlicher Bemerkungen
streng systematisch angelegt. Der Verfasser bespricht zuerst im Eingang
die charakteristischen Merkmale der drei Arten der Poesie, der Epopoiie,
des Dramas (Tragödie und Komödie) und des Dithyrambos, und knüpft
daran eine kurze Darstellung des Ursprungs und der allmählichen Ent-
wicklung der Poesie, insbesondere des Dramas und seiner Arten. Im ersten
Hauptteil (c. 6 — 22) behandelt er die Tragödie, und zwar nach ihren sechs
Teilen: Handlung (juv&og 6 — 14), Charakter der Handelnden {jj^ärj 15 — 19),
Gedankeninhalt {dtdvoia 19), sprachlichem Ausdruck {Xi^ig 19 — 22), Gesang
{jxeXojioua\ szenischer Darstellung (pipig). Von diesen sechs Teilen tut er
die szenische Darstellung mit ein paar Worten ab, weil diese Sache des
Regisseurs sei, ebenso das MusikaUsche (1450 b 16); die didvoia verweist
er (1456a 34) in die Rhetorik; am längsten verweilt er bei der Handlung
und ihren Angelpunkten, der Peripetie und der Wiedererkennung (drayvco-
gmg). Der zweite, kürzere Abschnitt (c. 23 — 26) handelt vom Epos; der
Philosoph legt hier nicht bloß das Verhältnis des Epos zum Drama scharf
und einsichtig dar, sondern wirft auch die schon von Piaton in den
Gesetzen (658 b ff.) berührte Frage auf, welche von diesen beiden Dich-
tungsarten die höhere sei. Dabei äußert er auch die merkwürdige, un-
griechische Ansicht, für die sich bei Goethe Analogien finden, daß ein
Drama ohne Aufführung, beim bloßen Lesen, zu reinerer künstlerischer
Wirkung komme.*) Trotz der guten Anlage enthält das Buch einige nicht
streng in den gezeichneten Rahmen passende Kapitel und viele nicht an
passender Stelle eingelegte Zusätze, so daß F. Ritter in seiner Ausgabe
sogar die Echtheit zu verdächtigen suchte und viele Gelehrte in die Ver-
werfung ganzer Kapitel, wie auch des eben gerühmten zwölften, ein-
stimmten.*) Abgefaßt ist die Poetik nach der Politik, da in dieser
p. 1341b 40 der Philosoph von der Katharsis später in der Poetik genauer
zu handeln verspricht, und zwischen Rhetorik L H. einerseits, UL anderer-
seits.*) Das Gedankenmaterial, mit dem Aristoteles in der Poetik arbeitet,
ist bis ins einzelne aus Piaton übernommen, aber zur Bekämpfung und
Modifikation platonischer Lehren verwendet.*) Platonisch ist die Einteilung
der Poesie in ernsthafte und leichte (s. o. S. 3), platonisch die Auffassung
der Kunst als einer Nachahmung, die Zusammennähme von Tragödie und
*) Siehe oben S. 247, 8. 1 wenn mangelnder Zusammenhang zur Athe-
*) Siehe darüber E. Szanto, Ausgew. Abb. j tese berechtigte.
343 flf.; G. FiNSLER a. a. 0. 210 ff. l *) G. Ammon, B1. f. bayr. Gymn. 36
') Zu dieser Hyperkritik ließen sich viele (1900) 20 ff.
hinreißen, weil ihre Aristotelesstudien nicht , *) Chr. Bbloer, De Aristotele etiam in
über dieses einzige Büchlein hinausgingen; arte poßtica Piatonis discipulo, Berl. 1872 ; am
wer in Aristoteles besser bewandert ist, weiß, besten G. Finsler. Piaton und die aristotel.
wie wenig von seinen Werken übrig bliebe, Poetik, Leipz. 1900.
704 Griechische Litteratorgeschichte. L KUssische Periode.
Epos, die Abneigung gegen die persönliche Satire und die Zote in lambo-
graphie und altattischer Komödie J) Wenn nun aber Piaton in aller
jui/utjoig etwas Minderwertiges, ja sittlich Bedenkliches findet, so erklärt
Aristoteles die /ui/urjotg für naturgemäß (1448b 5 f.), also berechtigt, ja not-
wendig. Wenn Piaton die Inspiration mit dem Wesen aller Poesie für
untrennbar verbunden hält, aber eben darum, weil sie dieses irrationale
Element in sich trägt, der Poesie den Einfluß auf die Erziehung verwehrt,
so bricht Aristoteles diesem Angriff die Spitze ab, indem er die Inspiration
einfach aus dem Begriff der Poesie wegnimmt,^) d. h. diese entseelt und
zu einer bloßen Technik herabsetzt. Die moralisch-religiösen Vorwürfe
gegen Homer weist er zurück (1460 b 37) mit dem Satz, der eine histo-
rische Auffassung in diesem Stück anbahnt, daß Homer nur die Vorstel-
lungen seiner Zeit über die Götter wiedergebe. Homer hört bei dieser
Auffassung zwar auf, der Kanon der Religion und Sittlichkeit zu sein, für
den die Allegoriker ihn erklärten, wird aber um so mehr von Aristoteles
ästhetisch in eine übermenschliche Höhe hinaufgehoben und damit als
wichtigster Faktor der griechischen Jugenderziehung erhalten. Neben ihn
tritt die Tragödie, die, je augenfälliger sie Zustände sittlicher Schwäche,
jiddtj^ vorführt, desto bedenklicher vom sittlichen Standpunkt aus erscheinen
mußte. In der Verurteilung der jid^ sind alle philosophischen Richtungen
einig, und so war die Apologie der Tragödie für Aristoteles besonders
schwierig. Sie ist auch verwickelt genug ausgefallen. Von allen Affekten,
die durch die Tragödie erregt werden, läßt Aristoteles ziemlich will-
kürlich nur zwei, Furcht und Mitleid,*) übrig; durch sie soll der Zuschauer
erschüttert und durch solche Erschütterung (hier greift Aristoteles wieder
einen platonischen^) Gedanken zur Stütze für seine Meinung auf) eine
Heilung (xdi^agoig) seelischer Affektionen^) überhaupt (töjv toiovtwv Tiadj]-
jüLdrcov) herbeigeführt werden. So ist auch die Tragödie für den staats-
pädagogischen Zweck gerettet. Die Beweisführung macht der Dialektik
des Aristoteles und seiner apologetischen Findigkeit alle Ehre, aber davon,
daß ein Grieche des 5. Jahrhunderts in diesem Sinn die klassischen Tra-
gödien hätte auf sich wirken lassen, kann ernstlich nicht die Rede sein:
ist doch in den aristotelischen Darlegungen von dem religiösen Charakter
und Zweck der Tragödie kaum mehr eine Spur übrig geblieben. Aber
ein Verdienst bleibt es, daß Aristoteles mit seiner Advokatenkunst einem
rationalistisch ernüchterten und entgötterten Zeitalter den unvergänglichen
M Plat. leg. 829cd; 93obd flf. ; vgl. Arist. 1 Aristot, Osnabrück 1906, gibt eine brauchbare
eth. Nie. 1128a 20 fF. | Übersicht über die die xd^gatg betreffenden
*) Die Alternative svtpvtjg und fiavixog
ist poöt. 1455 a 32 gestellt (vermutlich nach
Plat. ap. 22 c) ; in der Definition der Kunst
aber fehlt die Inspiration (rex^'V ist f^/c fteTo,
Theorien, bezeichnet aber sonst gegenüber
von Finsler einen Rückschritt.
*) Diese Kurwirkung schreibt Aristot.
unter allen Dichtungsarten nur der Tragödie
löyov, ah)Oovg jzoit^Ttxi/) eth. Nie. 1140 a 1 flf. , zu, während ihm sonst als Wirkung und
^) Auct. .T. vt/fovg 8, 2 rechnet ohne alle | Zweck der Kunst entweder Öiayoyyt} für die
Einschränkung oIütoi, /.r.-rai und qroßoi zu , oxold^ovTe-; oder uvfoiq für die daxo^om'teg
den erniedrigenden nddt]. (vgl. epist. Aristeae 284 Wendl.) gilt, über
"•) Plat. Tim. 89a; leg. 789 c. Über das Heilwirkung von Furcht und Schrecken bei
Ganzes. G. Finsler a.a.O., dem die richtige I Geisteskranken s. Cels. de medic. p. 100, 6;
Erkenntnis verdankt wird : die Abhandlung | 102, 8 ff.
von F. Knoke. Der Begriff der Tragödie nach
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 364.) 705
Wert der schwer bedrohten Schätze altgriechischer Nationalpoesie plausibel
2u machen verstanden hat, und hoch anzurechnen ist dem lotoQixmxaxog
unter den griechischen Philosophen das Zugeständnis, daß der ideale und
philosophische Wert der Poesie größer sei als der der Geschichte (poöt.
1451 b 6). Aber er hat sich genötigt gesehen, zu seinem Zweck neue
und, vom Standpunkt der älteren griechischen Dichterbeurteilung aus be-
zeichnet, schiefe Maßstäbe einzuführen. Die Poetik .ist also nicht in dem
Sinn ein „Gesetzbuch der Dichtkunst", daß es die alte nationalgriechische
Bewertung dieser Kunst kodifiziert hätte, noch weniger in dem, daß es
absolute Geltung für alle Zeiten und Verhältnisse beanspruchen könnte.^)
Ähnlich wie die Politik hat dieses Buch retrospektiven Charakter und
stellt durch Sanktionierung des theokritischen Wortes „rfc öi xev äXkov
dxovot; äitg TiävTeooiv '"Ojuijgog'' die ganze weitere Entwicklung der grie-
chischen Poesie unter den Bann des Epigonentums. Das Versiegen der
poetischen Originalität im 4. Jahrhundert rechtfertigt diesen Standpunkt,
und die Auffassung des Aristoteles, daß Poesie ohne Inspiration mit bloßer
Technik gechalfen werden könne, wird im allgemeinen durch die dichterische
Tätigkeit der Alexandriner, die aber freilich auch keine Nationalpoesie
mehr gemacht haben, bestätigt. Von großem und segensreichem Einfluß
war die Poetik als Grundlage einer historischen Dichterexegese und ästhe-
tischen Homerapologie. Die alexandrinischen Exegeten haben hier einfach
das Programm des Aristoteles, wie es besonders im 25. Kapitel der Poetik*)
aufgestellt ist, ausgeführt. Die charakteristischen Erscheinungen der helle-
nistischen Poesie, das Schwinden der Melik und der persönlichen Satire in
der höheren Litteratur, die Ausdehnung der mimischen Dichtung im engeren
Sinn, die Entwicklung der Tragödie zum Schauerstück, in dem die Erregung
von Furcht die Hauptsache ist, liegen zwar ganz im Sinn der aristoteli-
schen Poetik, sind aber nicht sowohl durch ihre Wirkung, als durch den
Zeitgeist zustande gekommen. — Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die
Poetik weder eine theoretische Reflexion über Abgeschlossenes (W. Dilthey )
noch ein Lehrbuch für Dichter mit dem Zweck, den Kunstzerfall auf-
zuhalten, 3) sondern eine Apologie für die griechischen Nationaldichter und
eine Anweisung zu ihrem richtigen Verständnis sein will.
Die historische Grundlage für die Theorie der Poetik hatte sich Ari-
stoteles durch eingehende litterarhistorische Studien erworben; von diesen
war eine Frucht neben dem Jugenddialog über die Dichter das im Alter-
tum vielbenutzte Buch über die Didaskalien.*)
364. Die Rhetorik {re/v}] {>r)Tooiy,i]y) umfaßt drei Bücher. Der Plan
des Aristoteles bezog sich ursprünglich nur auf die beiden der Dialektik^)
^) G.FiNSLER, Gott. Gel. Anz. 1906, 998. *) Anonym. (Neobarii) et Stephan uscomin.
*-) Mitchell Cabroll, Aristot. poöt. c. 25 ed. H. Rabe XXI 2 (1896).
in the light of the Homeric scholia, Balti- ^) Gleich im Eingang der Rhetorik heißt
more 1895. es: /} ot/Togixt} fohv dvn'oTooq^os Tfj dta/,sx-
') G. Teichmülleu, Aristotel. Forsch. II rixfi. Daher wird sie J 2 mit seltsamer Be-
404 fF. 422. schränkung auf die Theorie definiert als
*) Cber Anlage und Geschicke der Didas- dvyaui^ .Tsni txaoxov {homijoni t6 hde/dftFvor
kalien s. J. Richter, Prol. ad. Arist. vesp. ' .-nOavör.
(s. 0. S. 415) p. 13—29 und oben S. 676, 2.
Handbuch der klass. Altertomswissenscbaft VII. 5. Aufl. 45
706 Griechische Litteratorgeschichie. I. Klassische Periode.
stofflich nächststehenden ersten Bücher. Diese behandeln das Wesen de»
rednerischen Beweises (iv^jüLrjjLia) und seiner Hauptsätze {rojioi: Spezial-
topik für die einzelnen drei Gattungen der Rede I 4 — 15; allgemeine Topik
II 18 — 26; zwischen beide Teile schiebt sich die Pathologie II 1 — 11 und
Ethologie II 12 — 17); das dritte, das ursprünglich ein Buch für sich bil-
dete,^) ist erst nachträglich, 2) wohl als Konzession an die rednerische
Praxis und die isokratische Richtung, hinzugefügt; es handelt von dem
sprachlichen Ausdruck {U^ig III 1 — 12) und der Disposition (rdltc), bezw.
den vier /uqtj koyov und berührt sich infolgedessen vielfach mit den Schluß-
kapiteln der Poetik. Dieses dritte Buch hat für die Geschichte der Gram-
matik ein besonderes Interesse dadurch, daß man aus ihm (und aus Arist.
poöt. 20) die Anfänge der Grammatik und ihrer ersten Kunstausdrücke,^
wie &Q&QOV, ovvdeofiog, neglodog, xo/njLia kennen lernt. Über die
Abfassungszeit der Rhetorik herrschte schon im Altertum Streit, wahr-
scheinlich weil man wußte, daß Aristoteles schon bei seinem ersten oder
zweiten Aufenthalt in Athen über Rhetorik Vorträge gehalten hatte.
Gegner des Demosthenes behaupteten, der Redner habe das Beste aus
Aristoteles gelernt; diesen gegenüber weist der Rhetor Dionysios im ersten
Brief an Ammaios nach, daß Aristoteles seine Rhetorik erst nach den
großen Reden des Demosthenes geschrieben habe. Die Sache hat ihre
Richtigkeit;*) übrigens ist es auffallig, daß Aristoteles den Demosthenes so
wenig berücksichtigt, was wohl daher kommt, daß die Grundlinien seiner
Lehre aus früherer Zeit stammen, da Isokrates noch ganz das Feld der
Beredsamkeit beherrschte.*) Aristoteles ist mit diesem Buch der eigent-
liche Begründer einer wissenschaftlichen Rhetorik geworden und hat Ver-
anlassung zur Aufnahme auch dieser Disziplin in den philosophischen Lehr-
kurs gegeben.^) Er führt damit den Plan einer q?d6ooq)og ^jjTogixi] aus,
den Piaton im Phaidros entworfen hatte. Auch in diesem Buch fehlen
nicht die unvermittelten Übergänge und Störungen der Disposition, die in
allen Werken des Aristoteles vorkommen. 0) Nachdem durch die älteren
*) Im Ind. bei Diog. L.V 24 wird aufge-
führt ze/vfjg gtjTOQix^g a /T, negi Ad$F(oc n /T,
im Verzeichnis des Ptolemaioa ist bereits die
OK o Atjudötjg xtjv .itfftoo&frovi Jtohxeiav .7«r-
z(ov tü)v xaxtüv ahiav.
Ansprechend ist P. Wendlands (Anaxi-
Rhetorik mit drei Büchern aufgezählt; ebenso menes 35 ff.) Ansicht, die Nichtberücksich-
bei Dionys. Hai. de comp. verb. 25 p. 126, tigung des Demosthenes (und des isokrati-
6 Us., und ep. ad Amm. 8 p. 266, 20 Us. Der sehen Panathenaikos) in den Beispielen der
Eingang des dritten Buches p. 1403 b 6 — 15 Rhetorik habe darin ihren Grund, daß Ar.,
rührt von der Vereinigung der beiden Teile als er an die Ausarbeitung der Rhet. ging,
her. Die von H. Sauppe u. a. angezweifelte ' die Beispiele, die er in seinem alten, 347
Echtheit des dritten Buches verteidigt H. , dem Theodoktes aberlassenen Manuskript
DiELS, Über das dritte Buch der arist. Rhe- gehabt hatte, unverändert übernommen habe,
torik, Berl. Ak. Abb. 1886, IV. Das dritte Siehe auch H. Diels, Berl. Ak. Abb. 1886,
Buch scheint nach der Poetik, auf die es , IV 11 ff.
wiederholt Rücksicht nimmt, geschrieben zu ^) H. v. Arnim, Dio von Prusa 44.
sein, umgekehrt poöt. 19 p. 1456a 35 nach ®) A.Römer nimmt in der 2. Aufl. (Leipz.
den zwei ersten Büchern der Rhetorik; dann 1898) seiner Ausg., gestützt auf ein ungenaues
aber ist dan Zitat 1372 a 1 als Interpolation Referat des Quintilian V 10, 17 an, daß dem
zu streichen. Siehe aber o. S. 702. 1. Quintilian noch ein vollständigeres Exemplar
-) Nach F. Marx (s. u. A. 6) erst zwischen unserer Rhetorik vorgelegen habe. Diese Mei-
Hermagoras und Dionysios von Hai. nung ist widerlegt nach dem Vorgang von
^) Hauptbew^eisstelle II 24 p. 1401b 33: F. Marx durch 0. Angermann, De Aristotele
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 365.)
707
Peripatetiker und Hermagoras die Hauptsätze der aristotelischen Rhetorik
zum Gemeingut geworden waren, ist das Werk selbst nur noch von wenigen,
wie Cäcilius von Kaie Akte, gelesen worden, i) Die Keime der herma-
goreischen Statuslehre liegen in einigen Stellen der aristotelischen Rhetorik
(1358b 31 flf.; 1417b 21 flf.); die Lehre von den Stilarten hat erst Theo-
phrastos im Anschluß an Isokrates' Ideenlehre ausgebildet.*)
Te/jyv^ Tt)c ßeodexTov ovvaycjyri^ als Seoöexreia rhet. III9p. 1410b2
zitiert, enthielt nach Valerius Maximus (VIII 14 ext. 3) Vorträge des
Aristoteles aus früherer Zeit, die er dem Theodektes aus Phaseiis, einem
Isokrateer, zur Herausgabe überlassen hatte. ^) Die erhaltenen Reste dieser
Oeodexreia stimmen sachlich nur zum Teil mit der aristotelischen Rhetorik
über ein.*)
Über die Rhetorik an Alexandres s. o. S. 504.
365. Briefe und Gedichte. Von Aristoteles gab es außer den
philosophischen Werken auch eine Anzahl von Briefen und Gedichten.
Beide sind uns nur in Resten erhalten (fr. 594 — 629 ed. acad. Berol.).
Briefe zirkulierten von Aristoteles an Philippos, Alexandres, Antipatros
u. a. Die erhaltenen Reste des Briefwechsels tragen viel mehr den Stempel
der Echtheit als die ähnlichen Sammlungen von Piaton und den attischen
Rednern.^) — Von den Gedichten haben wii- eine Elegie an Eudemos mit
der berühmten Verherrlichung des Sokrates als drögog 8v ovd' alveiv xolai
xaxoioi def-uq (s. o. S. 669, 3), ein Epigramm auf die in Delphoi aufgestellte
Statue seines Freundes, des Tyrannen Hermeias, einen schwungvollen
Hymnus^) zum Andenken an Hermeias auf die \iQEtd in sogenannten
daktylo-epitritischen Versen.')
Außerdem trägt den Namen des Aristoteles eine Sammlung, Peplos,
rhetorum auctore, Diss. Leipzig 1904. Aus der
schlechten Zusammenarbeitung von Schüler-
nachschriften nach drei verschiedenen Vor-
lesungen des Meisters erklärt die Mängel
F. Mabx, Aristoteles' Rhetorik, Ber. d. sächs.
Ges. 52 (1900) 241—328.
*) Daß insbesondere Cicero (s. a. H. üse-
NER, Manch. Ak. Sitz.ber. 1892, 636 f.) und
Quintilian das Buch nicht mehr gelesen haben,
zeigt 0. Angermann a. a. 0.
*) G. L. Hendrickson, American joum.
of philol. 25 (1904) 125 ff. sucht die Lehre
von den drei Stilarten aus der aristotelischen
Lehre von der agext) = fieaorrjg herzuleiten.
*) Quintil. 11 15, 10: a quo non dissentit
Theodectes, sive ipsius id opus est, quod de
rhetorice nomine eins inscrihitury sive uf
creditum est Aristotelis; Anon. in L. Spengels
Rhet. Gr. I 454, 5; vgl. V. Rose, Arist. pseud.
135 ff. Der Epikureer Philodemos erwähnt
und benutzte ra^ re/vag tos 'Joiototsaovs (mit
diesem Titel zitiert auch Dionys. Hai. ad
Amm. I die Rhetorik), s. H. üsener, Epicurea
(Leipz. 1887) p. 401.
*) Abweichend fr. 125. 126. 133—135 in
V. Roses Aristot. fragm. 1886 p. 114 ff.: vgl.
auch Anon. bei L. Spengel, Rhet. Gr. I 454, 5
mit Aristot. rhet. III 19 und H. Diels a. a. O.
12 A. 3. Nach Aelian. nat. an. VI 10 hätte
Theod. auch Vorschriften über fÄvijfxt) ge-
geben. In dem Fragment einer dori-
schen Rhetorik Oxyrh. pap. III nr. 410
möchte P.Wendland (Anaximenes 39, 3) ein
Vorlesungsmanuskript von einem dorischen
Schüler des Theodektes sehen.
') A. Stahr, Aristotelia II 167 (über die
angeblichen Briefe des Aristoteles) geht in
der Verdächtigung der Echtheit zu weit. Die
Echtheit des von Ael. var. bist. XIV 1 er-
wähnten Briefes an Antipatros aus dem Jahr
223 kann jetzt als gesichert gelten (H.Pom-
Tow, Beri. phil. W.schr. 19. 1899, 254). Über
einen ins Arabische übersetzten Brief des
Ar. an Alexandres nach Babylon s. J. Lip-
pert, De epistula pseudoaristotelica negi
ßaodeiag, Beri. 1891, und H. Nissen, Rh. M.
47 (1892) 177 ff. Vgl. o. S. 675, 8.
®) Paian nennt es Didymos ad Demosth.
Philipp. (Beri. Klassikertexte 1) col. 6, 19, wo-
gegen Ath. 696 a protestiert und das Gedicht
als Skolion angesprochen wird.
') WiLAMOwiTz , Aristot. und Athen II
403 ff. Die Fragmente 624 und 625 Berol.
zitiert auch Didym. 1. 1. col. 6, 22 ff.
45*
708 Griechische Litteratnrgeschichte. L Klassische Periode.
von 48 Epitaphien^) auf die Helden vor Troia. Daß Aristoteles selbst jene
Grabepigramme gedichtet habe, daran ist nicht zu denken, zumal sich unter
ihnen eines, nr. 7, auf Aias den Telamonier befindet, das in dorischem Dialekt
geschrieben ist und in der palatinischen Anthologie VII 145 dem Asklepiades
beigelegt wird. Auch der älteste Zeuge der Sammlung, Diodor V 79, führt
zwar das Epitaphion auf den Kreter Idomeneus, das auch Anth. Pal. Yll 322
(ohne Verfassemamen) steht, wörtlich an, aber ohne den Aristoteles als den
Dichter zu bezeichnen. Wahrscheinlich wurde der Name des Aristoteles
deshalb über diese Epigramme gesetzt, weil der wirkliche Verfasser sich
in seiner Dichtung an die historische Grundlage hielt, die eine prosaische
Schrift des echten oder gefälschten Aristoteles unter dem Titel Peplos bot.*)
Von dieser Schrift heißt es in dem Bücherverzeichnis bei Hesychios Z. 16&
(vgl. 105) avfijuixKov Cv^tjjbidrcDV o/T, c3g <pt]oiv Evxaigog 6 dxovarijg amov,
jtmXoV Tiegiex^t de ov/bt/bUKtov laiogiav. Da konnte wohl auch von den
Helden vor Troia und den Orten die Rede sein, an welche diese nach der
Einnahme der Stadt verschlagen worden waren. Das historische Miszellen-
buch enthielt aber auch noch anderes, wie z. B. von der Gründung der
hellenischen Festspiele {äycoveg^ fr. 594) und von den Beinamen der Götter. »)
366. Gesamtcharakter und Lehre des Aristoteles. Fassen wir
die Gesamtheit der Schriften des Aristoteles ins Auge, so erregt vor allem
seine an Universalität grenzende Vielseitigkeit Staunen; in dem Reich der
Natur war er ebenso zu Hause, wie in dem des Geistes, und in den
mannigfachsten DiszipKnen, wie Dialektik, Rhetorik, Poetik, Zoologie,.
Botanik, überrascht nicht nur sein Überblick über das Ganze, sondern
auch die Fülle von Einzelkenntnissen, über die er verfügt. Piaton nannte
ihn den großen Leser,*) und er muß wirklich unendlich viele Reden,
Dichtungen, Geschichtswerke, philosophische Schriften gelesen haben; aber
daneben hatte er auch ein offenes und geübtes Auge für die Schöpfungen
der Natur, auch die kleinsten und scheinbar unbedeutendsten. Während
aber sonst durch solches Vielwissen das Licht des ordnenden und kombi-
nierenden Verstandes verdunkelt zu werden pflegt, verband Aristoteles mit
der Fülle des Wissens eine seltene Schärfe des Urteils und eine überaus
glückliche Anlage zu konstruktiver Spekulation. Ja es überwog bei ihm,
wenn wir seine Leistungen mit dem heutigen Maßstab der Wissenschaft
M Die Sammlung des cod. Laur. 56, 1 i dichtet sein u. sieht in dem Rest EoUektaneen
8. XIII. umfaßt 48 Epigramme unter der Auf- | des Aristoteles, die nach dessen Tod Theophras-
schrift IJov txaoTog rojy 'EXh'jvior xtOcuzxai \ tos herausgegeben und dabei erweitert habe.
xal li f:ir/tyoa:iTai rm Tto laqot. Diese Bei Diogenes Laert. und in dem arabischen Ver-
sammlung ist aber nicht vollständig: 15 ! zeichnis fehlt das Buch. Der Titel kommt von
weitere bietet Joh. Tzetzes, darunter auch | dem bunten Inhalt her mit Anspielung auf die
auf nichthellenische Heroen, wie Hektor. bunten Stickereien des Mantels (.TfjrAo?) der Göt-
Aineias, Sarpedon u.a.: eine größere Samm- tin Athene. Von -tf.t Ao;'()ayia Varronis spricht
lung hatte auch Ausonius vor sich, der unter 1 Cic. ad Att. XVI 11, 3; vgl. Gell, praef. 6.
dem Titel Epitaphia heroum eine Auswahl *) (rnindlegende Abhandlung über den
von 26 lateinisch bearbeitete. Peplos von F. G.Schneidewiu, Philol. 1 (1846)
■^) Tif. Prkoer, Zum aristotelischen Pe- 1 ff. Vgl. W. Michaelis, De origino indicis
plos. in Abhandl. W. Christ dargebr., 1891, , deorum cognominum. Diss. Berl. 1898.
S. 58 — 62; E. Wendling. Depeplo Aristotelico ' **) A.Westermaxn, /^iov^. p. 399, 24 ro-
quaest. sei., Straßb. 1891. S. 58 läßt die Epi- j oavT7]vi'ioxi}OFvk^ifiü.siav,a)aT£T6vnkdTa)vaT6v
taphia zwischen 250 und 150 v. Chr. ge- I oJxov Tov\'\(noTOTElovg olxov avayvoiiOTov xaXnv,
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 366.) 709
beui^teilen, die von der Schule Piatons und der Sophisten auf ihn über-
gegangene Neigung zur spekulativen Betrachtung so, daß er, der Begründer
der Naturwissenschaften, gleichwohl im Mittelalter als Vorbild unfrucht-
barsten Wortkrams und leerer Begriffsspalterei dienen konnte. Was er
aber nicht oder nur in geringem Grad hatte, war das Vermögen der Ab-
rundung und künstlerischen Gestaltung. Das trat zunächst in Sprache und
Ziel hervor: Aristoteles hatte zwar, wie das namentlich die Poetik und
Rhetorik zeigen, ein feines Verständnis für poetische Schönheit und redne-
rischen Schmuck, er dichtete auch Elegien und Oden und war ein ge-
wandter Briefschreiber, aber wo es sich um sachliche Darlegungen han-
delte, hielt er die Form für Nebensache (s. o. S. 677, 1 ; rhet. III 1) und
bemühte sich weder um Anmut noch um Schwung; derartige Darlegungen
von ihm entbehren auch des fesselnden Aufbaus und des krönenden Ab-
schlusses, i) Der letzte Mangel ist aber nicht bloß in Fehlern des Stils zu
suchen, er liegt tiefer, nämlich darin, daß Aristoteles in seinem Denken
bezüglich der obersten Begriffe nicht zur vollen Klarheit mit sich selbst
gekommen war. Es ist gewiß die Unzulänglichkeit unserer Interpretations-
kunst nicht allein schuld, wenn wir über den vovg noirjxixog und vovg na^-
Tixog^ die xd^agaig Tia^rj/tidrcov^ die zwei Arten des Zweckes nicht völlig
ins reine kommen. Aber wenn nun auch Aristoteles keinen befriedigenden
Abschluß in der philosophischen Spekulation erreicht hat, der Weg, den
er einschlug, die ixe^oöog, war vortrefflich: er geht erst zur Entwicklung
eigener Gedanken, nachdem er die Versuche der Früheren einer Kritik
unterzogen hat; wir verdanken diesem Verfahren viele Aufschlüsse über
die älteren Philosopheme. Er sucht sich überall den Weg zu ebnen durch
Wegräumung der entgegenstehenden Hindernisse, beginnt daher ganz ge-
wöhnlich seine Untersuchung mit Aufstellung von Aporien und ihrer
Lösung. 2) Dann steigt er in ^llem, vermutlich unter dem Einfluß der medi-
zinisch-naturwissenschaftlichen Traditionen seiner Familie, vom Einzelnen
und Tatsächlichen zum Allgemeinen und zum Begriff auf, und verschmäht
dabei, wie er de partibus anim. I 5 mit Liebe auseinandersetzt, auch das
Unscheinbarste nicht, weil die Erkenntnis des Grundes auch beim Kleinsten
dem wahren Forscher die reinste Freude bereite.
Bei dieser Richtung seines Forschens ist es erklärlich, daß seine Er-
folge meist auf dem Gebiet der Einzelwissenschaften liegen. Die Philo-
sophie, die zuvor als Inbegriff aller spekulativen Tätigkeit galt und die
Keime der Naturkunde, Mathematik, Astronomie, Sprachlehre in sich trug,
verlor durch ihn jenen allgemeinen Charakter und trat in verschiedene
Disziplinen auseinander. Er schrieb nicht bloß eigene Bücher über Logik,
*) Manche Nachläßsigkeiten des Stils ^) Freilich haben wir in diesen Partien
mögen daher rühren, daß Aristoteles die er- seiner Werke, wie in metaph. II u. III viel
haltenen Werke nicht selbst zur Herausgabe sophistische Wortklauberei . die Aristoteles
vorbereitet hat, da in einzelnen gefeilteren aus der unfruchtbaren Sphäre der Eristik
Partien, wie metaph. I, der Hiatus und die übernommen hatte. Auf der andern Seite
rasche Wiederkehr desselben Wortes mehr nimmt Aristoteles Fragwürdiges und schon
gemieden sind : vgl. S. 676 f. Die Stelle Longin. von älteren Forschem Bezweifeltes unbedenk-
Rhet. gr. I 325, 6 Sp., über die s. A. Brlnk- lieh als feststehend an, wie die Ewigkeit
MANN. Rhein. Mus. 62 (1907) 625 ff., ist nicht der Sonne, der Sterne und des Himmels
auf den Stil des Aristoteles zu beziehen. p. 1050b 22.
710 Oriechische Litteraturgeschichte. L KUasische Periode.
Psychologie, Ethik, er hat auch durch seine Rhetorik und Tiergeschichte
den Ausbau der von der gemeinsamen Mutter sich loslösenden Spezial-
Wissenschaften angebahnt, aber nur angebahnt; insbesondere in den Natur-
wissenschaften operiert er zu sehr mit Worten und allgemeinen Begriffen
wie dvva^i^y hreUxeia^ ewig, vergänglich, so daß seine Sätze zum großen
Teil der entw^ickelten Wissenschaft unserer Zeit nicht bloß für antiquiert,
sondern geradezu für unbrauchbar gelten, ja für irreleitend, insofern sie
durch allgemeine Schlüsse den Schein eines Wissens erwecken, wo noch
nicht einmal die richtigen Wege zum Wissen gefunden sind. In seinen
naturwissenschaftlichen Schriften ist ein unausgeglichener Widerstreit zwi-
schen dem Dialektiker und dem Empiriker. In der eigentlichen Philo-
sophie bekämpfte er mit Erfolg die transzendentale Lehre Piatons, indem
er, anknüpfend an Piatons Selbstkritik in dessen spätesten Schriften, nach-
wies, daß die Ideen nicht ein gesondertes Leben für sich führen, sondern
nur in den Dingen selbst als deren wesenhafter Inhalt Existenz haben.
Indem er dann die von ihm neuerdachten Begriffe övra^iig (Anlage etwas
sein zu können) und hxeUxeta (Verwirklichung der Anlage)^) zu Hilfe
nahm, ließ er die Materie durch die Form zur Verwirklichung des ihr vor-
gesetzten Seins (t6 li fjy ehai) kommen. Damit traten bei ihm Stoff und
Form, Materie und Geist in ein natürliches, sich gegenseitig bedingendes
Verhältnis. Damit war auch zugleich dem Guten seine passende Stellung
in dem Ganzen der Welt gegeben. Das Gute steht nämlich dem Aristoteles
nicht wie den pythagoreisierenden Akademikern als oberste Stufe des Seins
außerhalb der Dinge; es ist ihm vielmehr der Zweck (t6 ov evexa)^ der
sich dadurch verwirklicht, daß die Anlage sich zu dem, was sie zu werden
geschaffen ist, entwickelt. Das Streben der (pvoig^ die in ihr liegende Ten-
denz nach bestimmter Gestaltung zu reinem Ausdruck zu bringen, kann
und soll nach Aristoteles durch die Kunst gefördert werden, eine Betrach-
tung, die er auch auf menschliche Schöpfungen wie die Tragödie anwendet
(poet. 1449a 15). Durch die Stellung, die er dem Guten anwies, erwuchs
dem Aristoteles aber auch die schwierige Aufgabe, das Gute oder Zweck-
mäßige in der Welt nachzuweisen (Teleologie) ; er versuchte das in ein-
zelnen Fällen, setzte aber im allgemeinen mehr das Gute voraus, als daß
er die These selbst und die damit zusammenhängende Frage nach dem
Zufall einer unbefangenen Prüfung unterzogen hätte. *)
Die Unzulänglichkeit der platonischen Ideenlehre zur Erklärung der
empirischen Welt erkannte Aristoteles zumeist in dem Fehlen einer be-
wegenden Kraft, da den Ideen selbst, namentlich wenn sie für sich be-
stünden, eine solche Kraft nicht innewohnen könne. Den Mangel hat er
richtig erkannt, auch im Einzelleben, wie in der Zeugung, die Bedeutung
jenes dritten Faktors gut nachgewiesen; aber sein oberster Beweger (j6
*) Wörtlich bedeutet hielex^ia ,Ziel- Spruch parv. nat. p. 476 a 12 ^axrjv ovbev
erlangung' von ivTfkfyh = t6 evTeXes f/or. öoo)iiev noioroar lijv qroiv; ebenso de cael.
^) liaßGott alles' zum Guten erschaffen 271a 33. Vgl. Plat. Tim. 33c. 92b; leg. X
habe, war ein von Sokrates (Xen. mem. I 4 903b ff. mit Ritters Komm.; W. Capelle, Zur
und IV 3) überkommener Satz, der allen So- ' antiken Thcodicee. Arch. f. Gesch. d. Philos.
kratikern wie ein Vernunftaxiom feststand. 20 (1907) 173 ff.
Aristoteles selbst tat den berühmten Aus- i
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 366.) 711
TiQdnov xivovv, primus motor)^ der die Bewegung der Stemenwelt bewir-
kende göttliche Nus, hat weder die Eigenschaften eines schaffenden Gottes
noch eines denkenden Geistes. Wenn daher ein neuerer Philosoph den
Kernpunkt der aristotelischen Philosophie in dem Bestreben gefunden hat,
die sokratisch-platonische Begriffsphilosophie zu einer die Erscheinungen
erklärenden Theorie umzubilden, so ist das richtig, nur darf man in dem
Streben nicht auch schon ein Erreichen des Zieles sehen. Groß war Ari-
stoteles — und hierin ist er Schüler des alten Piaton, des Verfassers von
Parmenides, Sophistes, Politikos — in der Aufstellung und Scheidung von
Begriffen, und viele von diesen, wie Potenz und Aktualität, Materie und
Form, Akzidenz und Substanz leben noch in unserer Zeit als Handwerks-
zeug philosophischer Betrachtung fort; freilich sind mit der Scheidung von
Begriffen noch nicht die Grundelemente der Dinge und die Gesetze desWerdens
gefunden. Begründet ist auch die Polemik des Aristoteles gegen die tran-
szendente Ideenlehre Piatons, vorausgesetzt, daß er den Piaton in diesem
Punkt richtig verstanden hat. Aber indem er so eine Seite der platonischen
Philosophie erfolgreich bekämpfte und wesentlich zur Ernüchterung der
wissenschaftlichen Forschung beitrug, vergab er in der Ethik und Staats-
lehre den Ideen ihr unveräußerliches Hoheitsrecht; befangen in der Hoch-
achtung für die gegebenen Zustände und Erscheinungen der Wirklichkeit
(Realismus), überzeugt von dem Zusammenfallen von Sein {ovoia) und Wesen
(to n Jjv ehai), indem dieses sich im Bereich der ovola verwirkliche, hat er
selbst unnatürliche Verhältnisse, wie die Sklaverei, nicht bloß als tatsächlich
hingenommen, sondern sogar als natumotwendig zu begründen gesucht.
Fassen wir schließlich unser Urteil über das Verhältnis der beiden
größten Philosophen des Altertums zusammen, so hat Aristoteles mit seinem
Sinn für das Reale und Mögliche im einzelnen vieles richtig erfaßt, aber
seine Philosophie als Ganzes gewährt uns bei dem ungenügenden Ausbau
seiner obersten Prinzipien weniger Befriedigung als der harmonisch aus-
geführte, wenn auch mit der Wirklichkeit schwer vereinbare Kunstbau des
platonischen Idealismus.^) Aristoteles hat durchaus den Eindruck, am Ab-
schluß der griechischen, d. h. für ihn der menschlichen Kultur zu stehen,*)
als wäre die Zeit der Produktion vorbei, alles vorhanden, was man braucht,
und die Aufgabe nur, das Gegebene zu ordnen und einzuteilen. So hat er
die Illusion erzeugt, als gebe es eine Lehre, die man sich nur anzueignen
brauche, um richtig zu verstehen und richtig zu handeln. Er fühlt sich
als Organisator in dem eroberten Reich des Geistes und bemüht sich, unter
möglichst weitgehender Schonung des Bestehenden, hier einen modus
^) Das hat Goethe in seiner Farbenlehre I gewiesen worden; schon in seiner Jugend-
S. 84 so ausgedrückt: „Aristoteles umzieht j schrift, dem 77ooTßf.T«>c(K (fr. 53 Rose*) meint
einen ungeheueren Grundkreis für sein Ge- i er, unter dem Eindruck der großen in kurzer
bände, schafft Materialien von allen Seiten Zeit gemachten Fortschritte, der Abschloß
her. ordnet sie, schichtet sie auf und steigt der Philosophie stehe nahe bevor; in der
so in regelmäßiger Form pyramidenartig in | Politik (1286 b 20) fühlt er sich am Abschloß
die Höhe, wenn Plato einem Obelisken, ja des naturgemäßen Entwicklungsrings der Ver-
einer spitzen Flamme gleich den Himmel fassungen. und pol. 1264 a 3 steht die be-
sucht.* zeichnende Äußerung .^dvia oxedov evgrfrai,
*) Auf die retrospektive Haltung seiner ' d/dä rd ftiv ov avt'tfxiait loXg d* ov xQ^'^'^o.i
Politik und Poetik ist oben (S. 698 f. 705) hin- | ytyvo^axovTeg,
712 Griechische Litteraturgeschichte. L Klassische Periode.
vivendi herzustellen. Daher der vielfach widerspruchsvolle und kompro-
missarische Charakter seiner Lehre. Aber sein Verdienst bleibt es, daß
er die Welt der Veränderung und des Wechsels, in der Piaton bei seinem
außerweltlichen Standpunkt nie heimisch werden konnte, genauer betrachten,
ihre Erscheinungen sammeln, ordnen und erklären gelehrt hat.
367. Fortleben des Aristoteles. Aristoteles sammelte einen großen
Kreis von Schülern um sich und wurde Begründer einer Schule, die sich
von den Spaziergängen (mQuiaroi) des Lykeion, in denen wandelnd der
Meister seine Lehre vortrug, die peripatetische nannte. Sein nächster Nach-
folger war Theophrastos aus Lesbos, den er sterbend vor Eudemos aus
Rhodos zur Nachfolge dadurch empfohlen haben soll, daß er von denWeinen,
die man ihm zur Stärkung reichte, den rhodischen für stark, den lesbischen
aber für süßer erklärte (Gellius XIII 5). Dieser ebenso wie Eudemos^) und
Aristoteles' Sohn Nikomachos besorgten nicht bloß die Herausgabe seiner
Werke, sondern schlössen sich auch in der Lehre und Methode eng an
ihren Meister an. Nur einer unter den älteren Peripatetikern, Straten von
Lampsakos, hat einen tiefen Eingriff in das aristotelische System gewagt,
die platonischen Elemente aus ihm ausgeschieden und den in ihm liegenden
Naturalismus zum materialistischen Monismus zu führen versucht.*) Auf
die Römer hat die aristotelische Philosophie, die seit dem Scholarchat des
Lykon sittlich und wissenschaftlich zu verflachen begann, wenig eingewirkt,
jedenfalls weit weniger als Akademie, Stoa und Epikurelsmus. Ihre schönste
und reifste Frucht ist die empirische Wissenschaft in Alexandreia, ins-
besondere die dortige Philologie und Naturwissenschaft. Zwar hat in die
Schulkämpfe der hellenistischen Zeit auch der Peripatos, besonders in der
Person des Kritolaos, eingegriffen, aber die Rehabilitation des Aristotelis-
mus als Philosophie begann erst im ersten Jahrhundert v. Chr. unter dem
Zeichen des Klassizismus und war gefördert durch den äußeren Umstand
der Entdeckung der Bibliothek von Skepsis.
Das gelehrte Studium und die Erklärung der aristotelischen Werke
eröffnet der Peripatetiker Andronikos') in der Zeit des Sulla. Die Bei-
träge zur Erklärung erreichten dann seit dem 3. Jahrhundert nach und
nach einen solchen Umfang, daß Aristoteles selbst von ihnen geradezu
verschüttet wurde und ein richtigeres Verständnis des Philosophen erst dann
wieder eintrat, als man die weitläufigen Kommentare und Paraphrasen zur
Seite zu werfen und zum Text des Schulgründers selbst zurückzukehren be-
M Über Eudemos s. o. S. 691, 6. Arist. 1 131 ff. II 262 : sie ist von L. Cohn. Berl.
«) Cl. Piat, Arch. f. Gesch. d. Philos. phil. W.schr. 9 (1889) 1419 als Fälschung des
16 (1903) 530 ff. 16. Jahrh. erwiesen. Ebenso ist unecht die
') Siehe o. S. 672 f. Andronikos verfaßte auf Andronikos* Namen laufende Schrift negl
nebst einem verlorenen Buch über die Ord- Tradojv (erster Teil herausgeg. von X. Krbutt-
nung der Schriften des Aristoteles und einer ner. Heidelberg 1885, zweiter Teil von K.
in der Überarbeitung des Boethios uns er- Schüchhakdt. i)armst. 1883). F. Littig, An-
haltonen Schrift ,iFin diaigfanov (Patrol. dronikos von Rhodos. 3 Progr. München 1890.
LXIVMigne) Kommentare zur Ethik, Physik 1894. Erlangen 1895. — Eine Skizze der
und zu den Kategorien. Über eine Paraphrase Aristotelesexegese seit Tyrannion gibt H.
der nikomachischen Ethik unter dem falschen Usener, Gott. Gel. Anz. 1892, 1014 ff.; weiter
Namen des Andronikos (gednickt bei F.W. s. P. Tanner y. Rev. philos. 21 (1886) 266 ff.
Mullach, FPhG III 303-569j s. A. Staub.
4. Die Philosophie, d) Aristoteles. (§ 867.) 713
gann. Die Erläuterung nahmen zunächst die griechischen Peripatetiker in
die Hand. Vom 3. Jahrhundert an beteiligen sich auch die Neuplatoniker
an der Arbeit, zunächst Porphyrios, dann im 5. Jahrhundert in drei auf-
einanderfolgenden Generationen zuerst , Ammonios, der Schüler des Proklos,
dann die Schüler des Ammonios, Olympiodoros, Philoponos und Simplikios,
endlich Olympiodoros* Schüler Elias und David. Ihre unter sich sehr ähn-
lichen Kommentare zu den Kategorien beruhen in letzter Linie auf den
Vorlesungen des Ammonios und zeigen das Bestreben, zwischen Platonis-
mus und Aristotelismus zu vermitteln, wie es schon von Porphyrios an-
gebahnt war.O Vom Anfang des 6. Jahrhunderts an tritt der Aristotelis-
mus in die folgenschwere Verbindung mit dem Christentum. Den ersten
Schritt in dieser Richtung scheint Johannes ygajujuanxog von Alexandreia
{cpdoTiovog genannt) getan zu haben, der 529 im Sinn der biblischen Lehre
und unter Benützung des aristotelischen Systems gegen Proklos neQi äfp^ag-
oiag xöoßwv schrieb. Im 6. Jahrhundert n. Chr. verpflanzte Boethios die
gelehrte Bearbeitung nach Italien und dem Abendland.*) Vom Anfang des
7. Jahrhunderts an gewinnt sich der Aristotelismus mehr und mehr die An-
erkennung als offiziell christliche Philosophie und damit einen unabsehbaren
Einfluß auf die christliche Theologie und das geistige Leben der Christenheit,*)
der in der Lehre des Thomas von Aquino seinen Höhepunkt erreicht. Im Mittel-
alter beteiligten sich byzantinische Griechen, Syrer,*) Araber^) und lateinisch
schreibende Scholastiker an der Arbeit der Aristoteleserklärung. — Schon im
Altertum war durch die Lebensgeschichte des Alexandres von Ps.Kallisthenes
der Philosoph Aristoteles mit seinem königlichen Zögling Alexandres in das
Gewebe romanhafter Wundererzählungen verwickelt worden. Im Mittelalter
wurden diese Beziehungen immer mehr ins Märchenhafte und Abenteuer-
liche ausgebaut.®) In dieser Atmosphäre entstanden mehrere dem Aristo-
teles untergeschobene, zum Teil aus dem Arabischen übersetzte lateinische
Werke, darunter die ehedem oft gedruckten Secreta secretorum,') in
denen Aristoteles als Erfinder aller möglichen Geheimnisse der Heilkunst
und Lebensweisheit erscheint. Schon früher hatte man ihm den Physio-
logus angedichtet, und es zirkulierten von ihm mystische Theologumena.®)
') Porphyrios schrieb .Teot tov ^iav eivai Übersetzungen und Erklärungen (M. Stbin-
ti/y UloLTcovog xal ^AotororeXovg aToeaiv, Siehe SCHNEIDER, Centralbl. f. Bibliotheksw. Beih. 5,
a. K. Prachter, Gott. Gel. Anz. 1904, 374 ff. 1889. S. 54; A. Baumstabk a. a. 0.)- Über
*) Schon vor Boethios. im 4. Jahrb., be- . ihre Aristotelesstudien M. Steinschneider
schftftigte sich unter den Lateinern im An- ' a. a. 0. Beih. 12 (1893) S. 29—91.
Schluß an Themistios, der als Aristoteles- ®) W. Hertz, Aristoteles in den Ale-
exeget in Konstantinopel von den christlichen xanderdichtungen des Mittelalters, in seinen
Kaisem bestellt worden war, mit Aristoteles i Ges. Abb., Stuttg. u. Berlin 1905, S. 1—154;
Vettius Agorius Praetextatus: s. M. Aristot. bei den Persem, ebenda 278—298;
Schanz, ^Röm. Litt. IV 128. die Sage vom Tod des Aristot., ebenda 31B
^) über die Rezeption des Aristotelismus | bis 412.
im Mittelalter M. Windelband, Lehrb. der ' •) M. Steinschneider, Centralbl. f. Bibl.
Gesch. d. Philos.* S. 262 ff. Beih. 12 (1893) 79 f.; G. Kriesten, Über eine
**) A. Baumstark. Aristot. bei den Syrern deutsche übers, der pseudoaristot. Secr. secr.
vom 5. bis 8. Jahrb. I, Leipz. 1900. über die ' aus dem 13. Jahrb.. Diss. Berlin 1907.
Art der syrischen Übersetzungen H. Pognon, ^) Macrobius satura. I 18, 1 : nam Art-
Hippocr.. aphorismes version syr., texte et stoteles qui theologumena scripsit, wo andere
traduction. Leipz. 1903. Aristocles statt Aristoteles lesen.
^) Die Araber fußen auf den syrischen ,
714 OriechiBche Litteratorgeachichte. I. Elassiache Periode.
Beim Wiedererwachen der Wissenschaften wurde der echte Aristoteles zur
Bekämpfung des falschen der Scholastik eifrig hervorgeholt,^) so daß im
16. Jahrhundei-t seine Werke und ihre alten Kommentare öfter und in
rascher Folge hintereinander ediert wurden. Dann erkaltete das Studium
des Philosophen, bis es im 19. Jahrhundert durch F. A. Trendelenburg,
L. Spengel, H. Bonitz u. a. von neuem belebt wurde.
Erläuternde Schriften: Sie zerfallen in Verzeichnisse der Schriften {dvaygaq)cU, indices),
Kommentare {vitouvrifiaxa, commentarii), Sinnumschreibongen {jiaQaq.QaoFig), eine schon von
Sophonias (s. S. 715) zu de caelo t. XSIII p. 1 besprochene Einteilung. Von den ersten,
den Katalogen des Hermippos. Andronikos, Ptolemaios, ist oben S. 672 f. gehandelt.
Mit Inhaltsangaben verbunden war des Peripatetikers Nikolaos vonDamaskos i>sa)Qia
ta)v *AotoToz£kovg, von der ein Scholion zu Theophrastos metaph. p. 323 ed. Brakdis Kenntnis
gibt (8. a. G Müller, FHG III 344b).
Der bedeutendste Kommentator war Alexandros von Aphrodisias, 6 f^i]yrjTf}g (s,
Philoponos ad anal. pr. in Comm. ad. Aristot. Gr. XIII 2 p. 126, 20), der unter Septimius Severus
Professor in Athen war und nicht bloß treffliche Kommentare zu Aristoteles, von denen uns die
zu Analytika pr. I, Topika (s. o. S. 680, 2. 7 ; unecht, ein Werk des Michael Ephesios, sind die
zu Sophist, el.), Meteorologika, de sensu et sensibili (s. o. S. 682,8. 688,3), Metaphysik (s. o.
S. 689, 3) erhalten sind, sondern auch nach Weise der älteren Peripatetiker selbständige Schriften
negi v^^>f'}*» ^^P* eifiagfAdvtjg, (fvoixcjv axokixdtv cbtogiuh' xni kvoewv ßißX. y\ jtooßXrjfiaxa rjdixd
{Alexandri Aphrod. scripta minora ed. I. Bruns in Suppl. Aristot. II 1887 und 1892) ver-
faßte. — Vorgänger des Alexandres von Aphrodisias waren Alexandres von Aigai, Lehrer
des Nero, der die Kategorien kommentierte: Hoethos von Sidon, Schüler des Andronikos.
der Kommentare zu den Kategorien u. a. schrieb; Adrastos von Aphrodisias (Adrantos
verschrieben bei Ath. 673 e), der jisqI jfjg wi^fojc lojv 'Agiaioxelovg avyyga/tftdTwv (s. Simpl. ad
categ. t. VIII p. 16. 1. 18. 16) schrieb; Aspasios (um 110 n. Chr.), der die Ethik kommentierte
(s. o. S. 691, 5); Herminos, Lehrer des Alexander Aphrod. und Kommentator der logischen
Schriften (H Schmidt, De Hermino peripatetico, Diss. Marburg 1908). — Auch im 4. Jahr-
hundert blühten in Athen die Aristotelesstudien (Liban. t. III 438 R.). — Einen neuen Auf-
schwung nahm die Exegese bei den Neuplatonikem des ausgehenden Altertums. Den Reigen
eröffnete unter diesen Porphyrios (3. Jahrhundert) mit der unendlich oft abgeschriebenen,
von Boethios auch ins Lateinische übersetzten Isagoge und dem Kommentar zu den Kate-
gorien (s. o. 8. 679, 2). Ein neuer Strom kam mit Ammonios, dem Sohn des Hermeias aus
Alexandreia (5. Jahrhundert), Schüler des Proklos, der eine Einleitung zur Isagoge des Por-
phyrios und Kommentare zu Categ., De ioterpret, Anal. pr.. schrieb (s. o. S. 679, 2. 5; 680, 2)
und die besten Kommentatoren des 6. Jahrhunderts, Simplicius, Philoponos, David und den
unselbständigen Asklepios, zu Schülern hatte. — Aus dieser letzten Zeit sind uns umfang-
reiche Kommentare erhalten. Der hervorragendste Exeget war Simplicius, Schüler des
Ammonios im 6. Jahrhundert; seine durch Sachkenntnis und gelehrte Berücksichtigung der
älteren, nun meistenteils verloren gegangenen Litteratur ausgezeichneten Kommentare zu
Physik (s. o. S. 681, 7), de caelo (s. o. S. 682, 4), de anima (s. o. S. 687, 5), categ. (S.679, 2)
sind erhalten. Sie sind alle nach 529 entstanden, und zwar in der Reihenfolge: 1. zur
Metaph. (verloren), 2. de caelo. 3. phys., 4. categ. (5. zu Epiktetos' Encheiridion). — Der
gleichen Zeit gehört an loannes Philoponos, gleichfalls Schüler des Ammonios, von dem
wir Kommentare zu den Kategorien (s.o.S. 679, 2), der Analytik. Physik (s. o. S. 680, 2 ; 681, 7),
Meteorologie, de gen. anim. (s.o. S. 682. 8; 683, 4). de gen. et corrupt. (S. 682, 6), de anima
(s 0. S. 687, 5), Metaphysik besitzen. — Andere Kommentatoren des untergehenden Alter-
turas sind: Dexippos (4. Jahrhundert), von dem uns 'Anogiat xal kvoKig ng tag 'AgioTotilovg
xairjyogiag erhalten sind (s. o. S. 679, 2) ; Syrianos, Lehrer des Proklos (kommentierte
logische Schriften und von der Metaphysik L II. XIL XIII (s. o. S. 689. 3) ; Asklepios
aus Tralles (6. Jahrhundert), der umschreibende Kommentare zu Metaphysik A — Z schrieb
(s. 0. S. 689, 3); Olympiodoros, Zeitgenosse des Simplicius (zur MeteoroL, S. 682, 8);
David der Armenier (um 500 n.Chr.; zu Porph. isag., S.679, 2); Stephanos von Ale-
xandreia (um 610), Kommentator von .ifoi rojitfireiag (S. 679, 5), der auch ein astronomisches
Lehrbuch verfaßte (s. H. üsener. De Stephano Alexandrino, Bonn 1879. 80) und Kommentare
zur Rhetorik schrieb (s. o. S. 705. 5; verlorener n/oktn zur Ethik gedenkt er Comm. Gr. in
Aristot. XXI 2 p. 227. 27), während die andern sich wesentlich mit den logischen Schriften
abgaben; endlich Elias, Kommentator der Kategorien (S. 679, 2).*)
^) Luther wollte gründlicher aufräumen, indem er mit der Scholastik auch ihren LTr-
heber über Bord warf.
-) David und Elias t^ehören zum Krei.s des Olympiodoros; sie sind beide Christen;
was wir von ihnen haben, sind Vorlesungshefte: K. Präghter, Gott. Gel. Anz. 1908, 209 ff.
4. Die PhiloBophie. d) Aristoteles. (§ 866.) 715
Die Litteratur der Paraphrasen wird eröffnet durch Themistios (im 4. Jahrhundert),
der Paraphrasen zu Anal. (s. o. S. 680, 2), Physik (S. 681, 7), de anima (S. 687, 5), de caelo
(S. 682, 4), Parva Naturalia (S. 688, 3), Metaph. A (S. 689, 3) verfaßte (die griechisch erhaltenen
zu Anal, post., Phys., de an., parv. nat. herausgegeben von L. Spengel, Themistii para-
phrases, Lips. 1866, 2 vol.). In seine Fußtapfen trat im Mittelalter Sophonias (Schluß des
13. und Anfang des 14. Jahrhimderts), der im Eingang seiner Paraphrase zu de anima den
Themistios und Psellos als seine Vorgänger bezeichnet. Eustratios, Metropolit von Nikaia
(ca. 1050 bis ca. 1120) kommentierte unter Benützung alter Kommentare die Nikomachische
Ethik (s. o. S. 691, 5) und Anal. post. II (S. 680, 3); um dieselbe Zeit schrieb Michael
Ephesios, Schaler des Psellos, Kommentare zu den ao(fiaT, fX. (S. 681,3), der Nikomachi-
sehen Ethik (s. o. S. 691. 5), zoolog. Schriften (S. 683, 4) und den Parva Naturalia (s. o.
S. 688, 3). Unter dem falschen Namen des Andronikos oder Heliodoros von Prusa
(über die Fälschung s. L. Cohtj. Berl. phil. W.schr. 9, 1889. 1419) geht eine Paraphrase der
nikomachischen EtUk (s. o. S. 691, 5). Siehe im allgemeinen K. Pbantl, Gesch. d. Log. I
617 ff.; K. Kbümbaohbb, Byz. Litt.' 430 ss.
Ausgabe der Scholia in Aristotelem (meist im Auszug) in dem vierten Band der
Berliner akad. Ausgabe von Chb. Aug. Bbandis. — Eine neue vollständige Ausgabe (nach
den alten im vierten Band der Berl. akad. Ausgabe p. 39 A. verzeichneten Einzelausgaben
bei Aldus) der Commentaria in Aristotelem graeca, in 35 vol. von der preuß. Akad. unter der
Leitung von A. Tobstbik und nach dessen Tod von H. Diels herausgegeben, ist unter Mit-
wirkung von Busse, Haydück. Heylbut, Hbibebo, Hbinzb, Kalbfleisch, Kboll, Landaueb,
Rabe, Schenkl, Stüve, Vitelli, Wallies, Wbndland im Erscheinen. (Über Geschichte und
Inhalt des Unternehmens H. Useneb, Gott. Gel. Anz. 1892, 1001 ff.). Von den lateinischen
Kommentaren des , ersten Scholastikers" Boethios ist erschienen: Comment. in librum
Aristotelis Jtsgi egfAtjveiag (geschrieben 510) rec. K. Mbiseb, in Bibl. Teubn. 2 voll. 1877. 80;
in isagogen Porphyrii commenta ed. S. Bbaitot im Corp. scriptor. ecclesiasticor. Lat. vol.
XLVIII, Wien 1906.
Der Wert der Obersetzungen ins Syrische, Arabische, Lateinische besteht wesentlich
darin, daß einige Schriften nur durch sie uns überkommen sind, wie die Bücher nsgl (pvr(bv
durch eine arabische, die Kommentare des Themistios zu Metaph. A und de caelo durch
hebräische Übersetzungen. Über die Tätigkeit der Araber im Übersetzen und Kommentieren
des Aristoteles s. K. Pbantl, Gesch. d. Logik II 307 ff., M. Klamboth, Zeitschr. d. deutsch,
morgenl. Gesellsch. 41 (1887) 439. Anal, orientalia ad poeticam Aristoteliam ed. D. Maboo-
liouth, London 1887; vgl. o. S. 713, 5. Armenische Übersetzungen des David von categ. de
interpr. de mundo de virtut. und Porphyr, introd. sind für die Textgestaltung wertlos: F. C.
Conybbabe, Anecdota Oxoniensia. Classical series I part VI (Oxford 1892). — Die lateinischen
Übersetzungen beginnen mit dem 13. Jahrhundert; einige von ihnen, wie die zur Rhetorik
und Politik, haben die Bedeutung von Handschriften, namentlich wegen der wortgetreuen
Wiedergabe des griech. Originals. Der bedeutendste Übersetzer war der Dominikanermönch
Wilhelm von Moerbecke (um 1260), der durch Thomas von Aquino die Anregung erhielt.
Die Problemata sind übersetzt von Bartholomaeus Messanius, Rat des Königs Manfred
von Sizilien (1258—66). Näheres geben A. Joubdain, Recherches critiques sur Tage et
l'origine des traductions latines d'Aristot., Paris 1819 (ed. II 1843), übersetzt von A. Stahb,
Halle 1831; K. Pbantl, Gesch. d. Log. II 99 ff. und IIl 3 ff.; G. v. Hebtling, Zur Gesch. der
aristot. Politik im Mittelalter, Rh. M. 39 (1884) 446—457.
Codices: ein kritischer Apparat wurde beschafft durch Imm. Bekkeb in der von der
preuß. Akad. ins Leben gerufenen Gesamtausgabe des Aristoteles, Berol. 1831 — 70. Dieser
wurde ergänzt, namentlich durch Ausbeutung der alten Kommentare, teilweise auch be-
richtigt in mehreren, unten anzuführenden Spezialausgaben und in der Gesamtausgabe der
Bibl. Teubn. Die maßgebenden Codd. sind in den einzelnen Schriften verschieden; die
besten: Paris. 1741 s. XI (^^), einzige Textesquelle für die Poetik (s. o. S. 702, 6), haupt-
sächlichste für die Rhetorik; Paris. 1853 s. XII (£"), Hauptquelle für Physik, de caelo, de
gen., de an., parv. nat, Metaphysik; Laurent. 87, 12 s. XU (A^), neben E Hauptquelle für die
Metaphysik, mit Resten stichometrischer Angaben (s. W. Chbist, Bayr. Ak. Sitz.ber. 1885
S. 406 ff.); Marc. 201 s. X (B) und ürbin. 35 (A), wichtigste Codd. zu dem Organen. Über
zwölf Paiimpsestblätter des Vatic. 1298 s. X zur Politik s. G. Heylbut, Rh. Mus. 42 (1887)
102 ff., über die Papyrusblätter der 'Aütp'aitov nokixeia o. S. 699, 8.
Ausgaben: ed. princ. ap. Aldum Venet. 1495—8, 6 voll.; ed. Bipont. besorgt von J.
Th. Buhle, 1—4 Zweibrücken 1791—1793, 5 Straßb. 1799 (blieb unvollendet); ed. acad. reg.
boruss., Berol. 1831—70, 5 voll. 4® (nach ihr wird zitiert); die ersten zwei Bände, besorgt
von 1mm. Bekkeb, enthalten den griechischen Text, der dritte Band die lateinischen Über-
setzimgen von Pacius, Argyropylus, Bessarion, Theod. Gaza, Budaeus, Lambinus,
Ricobonus. Filelfus etc., der vierte die Schoben, besorgt von Che. A. Bbandis, der
fünfte die Fragmente nach der Rezension von Val. Rose und den Index Aristotelicus von
716 Oriechische LitteratnrgeBchichte. L Klassische Periode.
H. BoNiTz; dazu Supplementum Aristoteliciun, wovon bis jetzt t. I — III erschienen. — Edit.
Didotiana, besorgt von J. F. Dübner, U. C. Bussbmakeb, E. Hbitz, Paris 1848 — 1874, 5 voll.
— Textausg. der Bibl. Teubn. mit krit. Apparat, besorgt von 0. Apelt, W. Bieul, F. Blass,
W. Christ, L. Dittmbyeb, B. Langkavel, K. Prantl, A. Römer, V. Rose, F. Susbmibl, im
Erscheinen.
Wichtigste Sonderausgaben: Organen rec. comm. Th. Waitz, Lips. 1844—6, 2 voll.;
dazu Kommentar in freier Form von H. Maier, Die Syllogistik des Aristoteles, Tübingen
1896 — 1900. — Physica, griech. n. deutsch mit Anmerk. von E. PBAinrL. Leipz. 1854. —
Meteorologica rec. et comm. J. L. Ideleb, Leipz. 1884 — 6, 2 vol. — Aristot. über die Farben
erläutert von K. Prantl, München 1849; — de anim. histor. rec. comm. J. G. Schi^bidbr,
Lips. 1811, 4 voll.; Tiergeschichte (Text mit deutscher Übersetzung, Erklärung und Index)
von H. AüBERT und F. Wimmer. Leipzig 1868; — de anima rec. comm. illustr. F. A. Tren-
delenbüro, Jena 1833, ed. II cur. Chr. Belueb, Berlin 1877; rec. A. Tobstbik, Berol. 1862;
— de an. with translation, introduct. and notes by R. D. Hicks, Cambridge 1908; — de
sensu and de memoria (Text mit englischer Übersetzung, Einleitung und Anmerk.) von
G. R. T. Ross, Cambridge 1906. — Metaphysik mit Cbersetzung und Kommentar von
A. SoBWEOLER, Tübingen 1847/48, 4 Bände; rec. et cnarr. H. Bonitz, Bonn 1848/49. 2 voll.,
Hauptausgabe. — Ethica Nicomachea rec. comm. G. Ramsaübr. Lips. 1878: ed. I. Bywater.
Oxford 1890, mit Contributions to the textual critic, Oxford 1892. — Politica cum vetusta
translatione Goil. de Moerbeka ed. F. Susemihl, Lips. 1872; mit sacherklärenden Anmer-
kungen von F. Susemihl in Bibl. Engelm.. Leipz. 1879. — 'A&jjvaitoy :foXixeia von G. Kaibel u.
U. V. W^ilamowitz. Berl. 1891 (s. dens., Aristoteles und Athen, Berl. 1893, 2 Bände) und von
F. BLASS, Leipz. 1892, 4. Aufl. 1903; Oeconomica ed. C. Göttlino, Jena 1824—30; — de arte
poöt. ed. annot. Th Tyrwhitt. Oxon. 1794; ed. comm. G.Hermann, Lips. 1802; rec. J. Vahlen.
Berl. 1867; ed. II 1874; ed. III 1885; mit sacherklärenden Anmerkungen von F. Susemihl.
ed. II Leipz. 1874 in Bibl. Engelm. — Rhetorica comm. P. Victobius, Flor. 1548 und 1579 :
ann. L. Spengel, Lips. 1867, 2 voll. ; ed. E. M. Cope u. J. E. Sandys. Cambridge 1877. in
3 Bänden. — Übersetzungen s. o. S. 678. 685, 3. 699, 8 und Übebweo-Heinze I» 220.
Index Aristotelicus von H. Bonitz im fünften Bande der Berliner Akademie- Ausgabe.
— R. EucKEN, De Aristotelis dicendi ratione, Gotting. 1866. — M. Schwab, Bibliographie
d'Aristote, Paris 1896. Übersichtliche Darstellung von Aristoteles' Philosophie: H. Siebeck,
Aristoteles. 2. Aufl., Stuttg. 1902.
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck München
Griechische Grammatik
(Lautlehre, Stammbildungs- und Flexionslehre, Syntax)
von Dr. KARL BRUGMANN, Professor an der Universität Leipzig
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2. Teil, erste Hälfte: Die augustische Zeit, 3. Auflage in Vorbereitung
2. Teil, zweite Hälfte: Vom Tode des Augustus bis zur Regierung Hadrians,
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4. Teil, erste Hälfte: Die Literatur des 4. Jahrhunderts. 32 Bogen Lex.8^ Mit
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abschließende Hälfte des 4. Teils erscheint baldmöglichst)
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Topographie der Stadt Rom
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Lucians Bilder — Marc Aurel — Der Uebeszauber bei den augusteischen Dichtem — Montaigne und
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