Skip to main content

Full text of "Wilhelm von Christs Geschichte der griechischen Litteratur"

See other formats


This  is  a  digital  copy  of  a  book  that  was  preserved  for  generations  on  library  shelves  before  it  was  carefully  scanned  by  Google  as  part  of  a  project 
to  make  the  world's  books  discoverable  online. 

It  has  survived  long  enough  for  the  Copyright  to  expire  and  the  book  to  enter  the  public  domain.  A  public  domain  book  is  one  that  was  never  subject 
to  Copyright  or  whose  legal  Copyright  term  has  expired.  Whether  a  book  is  in  the  public  domain  may  vary  country  to  country.  Public  domain  books 
are  our  gateways  to  the  past,  representing  a  wealth  of  history,  culture  and  knowledge  that 's  often  difficult  to  discover. 

Marks,  notations  and  other  marginalia  present  in  the  original  volume  will  appear  in  this  file  -  a  reminder  of  this  book's  long  journey  from  the 
publisher  to  a  library  and  finally  to  you. 

Usage  guidelines 

Google  is  proud  to  partner  with  libraries  to  digitize  public  domain  materials  and  make  them  widely  accessible.  Public  domain  books  belong  to  the 
public  and  we  are  merely  their  custodians.  Nevertheless,  this  work  is  expensive,  so  in  order  to  keep  providing  this  resource,  we  have  taken  Steps  to 
prevent  abuse  by  commercial  parties,  including  placing  technical  restrictions  on  automated  querying. 

We  also  ask  that  you: 

+  Make  non-commercial  use  of  the  file s  We  designed  Google  Book  Search  for  use  by  individuals,  and  we  request  that  you  use  these  files  for 
personal,  non-commercial  purposes. 

+  Refrain  from  automated  querying  Do  not  send  automated  queries  of  any  sort  to  Google's  System:  If  you  are  conducting  research  on  machine 
translation,  optical  character  recognition  or  other  areas  where  access  to  a  large  amount  of  text  is  helpful,  please  contact  us.  We  encourage  the 
use  of  public  domain  materials  for  these  purposes  and  may  be  able  to  help. 

+  Maintain  attribution  The  Google  "watermark"  you  see  on  each  file  is  essential  for  informing  people  about  this  project  and  helping  them  find 
additional  materials  through  Google  Book  Search.  Please  do  not  remove  it. 

+  Keep  it  legal  Whatever  your  use,  remember  that  you  are  responsible  for  ensuring  that  what  you  are  doing  is  legal.  Do  not  assume  that  just 
because  we  believe  a  book  is  in  the  public  domain  for  users  in  the  United  States,  that  the  work  is  also  in  the  public  domain  for  users  in  other 
countries.  Whether  a  book  is  still  in  Copyright  varies  from  country  to  country,  and  we  can't  off  er  guidance  on  whether  any  specific  use  of 
any  specific  book  is  allowed.  Please  do  not  assume  that  a  book's  appearance  in  Google  Book  Search  means  it  can  be  used  in  any  manner 
any  where  in  the  world.  Copyright  infringement  liability  can  be  quite  severe. 

About  Google  Book  Search 

Google's  mission  is  to  organize  the  world's  Information  and  to  make  it  universally  accessible  and  useful.  Google  Book  Search  helps  readers 
discover  the  world's  books  white  helping  authors  and  publishers  reach  new  audiences.  You  can  search  through  the  füll  text  of  this  book  on  the  web 


at|http  :  //books  .  google  .  com/ 


über  dieses  Buch 

Dies  ist  ein  digitales  Exemplar  eines  Buches,  das  seit  Generationen  in  den  Regalen  der  Bibliotheken  aufbewahrt  wurde,  bevor  es  von  Google  im 
Rahmen  eines  Projekts,  mit  dem  die  Bücher  dieser  Welt  online  verfügbar  gemacht  werden  sollen,  sorgfältig  gescannt  wurde. 

Das  Buch  hat  das  Urheberrecht  überdauert  und  kann  nun  öffentlich  zugänglich  gemacht  werden.  Ein  öffentlich  zugängliches  Buch  ist  ein  Buch, 
das  niemals  Urheberrechten  unterlag  oder  bei  dem  die  Schutzfrist  des  Urheberrechts  abgelaufen  ist.  Ob  ein  Buch  öffentlich  zugänglich  ist,  kann 
von  Land  zu  Land  unterschiedlich  sein.  Öffentlich  zugängliche  Bücher  sind  unser  Tor  zur  Vergangenheit  und  stellen  ein  geschichtliches,  kulturelles 
und  wissenschaftliches  Vermögen  dar,  das  häufig  nur  schwierig  zu  entdecken  ist. 

Gebrauchsspuren,  Anmerkungen  und  andere  Randbemerkungen,  die  im  Originalband  enthalten  sind,  finden  sich  auch  in  dieser  Datei  -  eine  Erin- 
nerung an  die  lange  Reise,  die  das  Buch  vom  Verleger  zu  einer  Bibliothek  und  weiter  zu  Ihnen  hinter  sich  gebracht  hat. 

Nutzungsrichtlinien 

Google  ist  stolz,  mit  Bibliotheken  in  partnerschaftlicher  Zusammenarbeit  öffentlich  zugängliches  Material  zu  digitalisieren  und  einer  breiten  Masse 
zugänglich  zu  machen.  Öffentlich  zugängliche  Bücher  gehören  der  Öffentlichkeit,  und  wir  sind  nur  ihre  Hüter.  Nichtsdestotrotz  ist  diese 
Arbeit  kostspielig.  Um  diese  Ressource  weiterhin  zur  Verfügung  stellen  zu  können,  haben  wir  Schritte  unternommen,  um  den  Missbrauch  durch 
kommerzielle  Parteien  zu  verhindern.  Dazu  gehören  technische  Einschränkungen  für  automatisierte  Abfragen. 

Wir  bitten  Sie  um  Einhaltung  folgender  Richtlinien: 

+  Nutzung  der  Dateien  zu  nichtkommerziellen  Zwecken  Wir  haben  Google  Buchsuche  für  Endanwender  konzipiert  und  möchten,  dass  Sie  diese 
Dateien  nur  für  persönliche,  nichtkommerzielle  Zwecke  verwenden. 

+  Keine  automatisierten  Abfragen  Senden  Sie  keine  automatisierten  Abfragen  irgendwelcher  Art  an  das  Google-System.  Wenn  Sie  Recherchen 
über  maschinelle  Übersetzung,  optische  Zeichenerkennung  oder  andere  Bereiche  durchführen,  in  denen  der  Zugang  zu  Text  in  großen  Mengen 
nützlich  ist,  wenden  Sie  sich  bitte  an  uns.  Wir  fördern  die  Nutzung  des  öffentlich  zugänglichen  Materials  für  diese  Zwecke  und  können  Ihnen 
unter  Umständen  helfen. 

+  Beibehaltung  von  Google -Markenelementen  Das  "Wasserzeichen"  von  Google,  das  Sie  in  jeder  Datei  finden,  ist  wichtig  zur  Information  über 
dieses  Projekt  und  hilft  den  Anwendern  weiteres  Material  über  Google  Buchsuche  zu  finden.  Bitte  entfernen  Sie  das  Wasserzeichen  nicht. 

+  Bewegen  Sie  sich  innerhalb  der  Legalität  Unabhängig  von  Ihrem  Verwendungszweck  müssen  Sie  sich  Ihrer  Verantwortung  bewusst  sein, 
sicherzustellen,  dass  Ihre  Nutzung  legal  ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  ein  Buch,  das  nach  unserem  Dafürhalten  für  Nutzer  in  den  USA 
öffentlich  zugänglich  ist,  auch  für  Nutzer  in  anderen  Ländern  öffentlich  zugänglich  ist.  Ob  ein  Buch  noch  dem  Urheberrecht  unterliegt,  ist 
von  Land  zu  Land  verschieden.  Wir  können  keine  Beratung  leisten,  ob  eine  bestimmte  Nutzung  eines  bestimmten  Buches  gesetzlich  zulässig 
ist.  Gehen  Sie  nicht  davon  aus,  dass  das  Erscheinen  eines  Buchs  in  Google  Buchsuche  bedeutet,  dass  es  in  jeder  Form  und  überall  auf  der 
Welt  verwendet  werden  kann.  Eine  Urheberrechtsverletzung  kann  schwerwiegende  Folgen  haben. 

Über  Google  Buchsuche 

Das  Ziel  von  Google  besteht  darin,  die  weltweiten  Informationen  zu  organisieren  und  allgemein  nutzbar  und  zugänglich  zu  machen.  Google 
Buchsuche  hilft  Lesern  dabei,  die  Bücher  dieser  Welt  zu  entdecken,  und  unterstützt  Autoren  und  Verleger  dabei,  neue  Zielgruppen  zu  erreichen. 


Den  gesamten  Buchtext  können  Sie  im  Internet  unter  http  :  //books  .  google  .  com  durchsuchen. 


1 

r 

4-  " 

1 

s'-»^^ 

^^  /   .^ : 

,    <^ 

C    _-:■'     •'^      A 

< 

f 

c      C--- 

-- 

■         .     ^-^                                    > 

..r;^-  - 

^-^;/;...vv; 

V7    c  ^  - 

C 

^^^ 

c         ^^-^^ 

(      A 

r    .'    ■■ 

i 

* 

I                                    ^^ 

c 

C.  H,  Beck^sche  Verlagsbuchhandlung  (Oskar  Beck)  in  München 

Handbuch 

der 

klassischen  Altertums -Wissenschaft 

in  systematischer  Darstellung 

mit  besonderer  Rücksicht  auf  Geschichte  und  Methodik  der  einzelnen 

Disziplinen 

Herausgegeben  GeheJiTirat  Dr.  IwEH  von  Mfiller,  ''\^^'^:  jj'kS!'^^'!'''' 

Inhalt  der  einzelnen  Bände: 

*I.  Band:  .Einleitende  und  Hilfsdisziplinen.  Zweite  sehr  vermehrte,  teilweise  völlig 
neubearbeitete  Auflage,  Mit  alpha b.  Register.  57  Bog.  Lex.-8^  Preis  geh. 
\bJL\  geb.  \7  JL 

A.  Orundlegang  und  Oetcblcbte  der  Philologie,  von  Qeheimrat  Dr.  v.  Urlichs  (Wflrzburg). 

B.  Hermeneutik  und  Kritik,  von  Professor  Dr.  Blass  (Halle). 

C.  Paiaographie  (mit  6  lithographierten  Schrifttafeln),  Buchwesen  und  Handtchriftenkunde,  von 

demselben. 

D.  Griechische  Eplgraphlk  (mit  einer  Schrifttafel),  von  Prof.  Dr.  Larfeld  (Remscheid). 

E.  Römische  Eplgraphlk,  von  Professor  Dr.  E.  Hflbner  (Berlin). 

F.  Chronologie,  von  Professor  Dr.  Unger  (Wflrzburg). 
O.    Metrologie,  von  Professor  Dr.  Nissen  (Bonn). 

*II.  Band,  1.  Abtlg.:  Griechische  Grammatik  (Lautlehre,  Stammbildungs-  und  Flexions- 
lehre und  Syntax)  von  Prof.  Dr.  Karl  Brugmann  (Leipzig).  Dritte  Auflage.  Mit 
einem  Anhang  über  Griechische  Lexikographie  von  Prof.  Dr.  Leopold  Cohn 
(Breslau).    Mit  Wort-  und  Sachregister.    41  Bog.    Lex.-8<>.    Geh.  \2  JL\  geb.  14  UK 

*II.  Band,  2.  Abtlg.:  Lateinische  Grammatik  (Laut-  und  Formenlehre,  Syntax  und 
Stilistik)  von  Prof.  Dr.  Friedrich  Stolz  (Innsbruck)  und  Gymnasialdirektor  J.  H. 
Schmalz  (Rastatt).    Dritte  Auflage.    Mit  einem  Anhang  über  Lateinische  Lexiko- 

gaphie  von  Prof.  Dr.   Ferdinand  Heerdegen  (Erlangen).    37  Bog.    Lex.-8^ 
eh.  nJL\  geb.  13  c^ 
♦IL  Band,  3.  Abtlg.:  Rhetorik  von  Dr.  Richard  Volkmann,  weiL  G3rmn.-Dir.  in  Jauer. 
Neubearbeitet  von  Gymn.-RektorK.  Hammer  (Würzburg)  und  Metrik  nebst  einem 
Anhang  über  die  Musik  der  Griechen  von  Prof.  HugoGleditsch  (Berlin).    Dritte 
Auflage.    22  Bog.    Lex.-8*>.    Geh.  8  e^  80  ^;  geb.  10  e^  60  ^ 

IIL  Band,  1.  Abtlg.,  1.  Hälfte:  Grundrifi  der  Geographie  und  Geschichte  des  alten 

Orients»  von  Prof.  Dr.  Hommel  (München).  1.  Hälfte  Bog.  1 — 25  nebst  provisor. 
Register.  Geh.  JL  7.50.  (Die  2.  Hälfte  kann  nun  bestimmt  für  1909  in  Aussicht 
gestellt  werden.) 

IIL  Band,  2.  Abtlg.,  1.  Teil:  Geographie  von  Griechenland  und  den  griechischen 
Kolonien«  von  Prof.  Dr.  Arnold  Rüge  (Dresden).    [In  Vorbereitung.] 

IIL  Band,  2.  Abtlg.,  2.  Teil:  Topographie  von  Athen,  von  Prof.  Dr.  Walter  Judeich 
(Erlangen).  26V4  Bog.  mit  &  Textabbildungen,  einem  Stadtplan  im  Maßstab  von 
1 :  5000,  einem  Plan  der  Akropolis  im  Maßstab  von  1 :  1000  und  einem  Plan  des  Peiraieus 
im  Maßstab  von  1 :  15000.   Geh.  18  e^   In  Halbfranz  geb.  20  Jf. 

*IIL  Band,  3.  Abtlg.,  1.  Hälfte:  GrundHfi  der  Geographie  von  Italien  und  dem  Orbis 
Romanus,  von  Prof.  Dr.  Jul.  Jung  (Prag).  Zweite  umgearbeitete  u.  vermehrte 
Auflage.    Mit  alphab.  Register.    12  Bog.    Geh.  3  ^^  50  ^. 

*IIL  Band,  3.  Abtlg.,  2.  Hälfte:  Topographie  der  Stadt  Rom,  von  Gymn.-Dir.  Prof.  Dr. 
Otto  Richter  (Berlin).  Zweite  vermehrte  u.  verbesserte  Auflage.  26  Bog.  Lex.-8^ 
Mit  32  Abbildungen,  18  Tafeln  u.  2  Plänen  des  antiken  und  des  modernen  Rom. 
Geh.  15  JL  vr  In  Halbfranz  gebundene  Exemplare  der  vollständigen  III.  Abtei- 
lung des  III.  Bandes  —  Geographie  von  Italien  und  Topographie  der  Stadt  Rom  — 
sind  zum  Preise  von  20 1^  50  ^  zu  beziehen. 

1 


*ni.  Band,  4.  Abtlg.:  OnindrUI  der  griechischen  Geschichte  nebst  Quellenkunde,  von 
Prof.  Dr.  Robert  Pöhlmann  (München).  Dritte  neu  bearbeitete  Auflage,  1906. 
20  Bog.    Geh.  5  UK  50  ^    In  Halbfranz  geb.  7  uK  20  <) 

*III.  Band,  5.  Abtlg.:  Grundriß  der  römischen  Geschichte  nebst  Quellenkunde,  von 
Prof.  Dr.  Benedictus  Niese  (Marburg).  Dritte  umgearbeitete  u.  vermehrte  Auf- 
lage.   1906.   26  Bog.  Geh.  7  JH.  20^  In  Halbfranz  geb.  9  uK 

*IV.  Band,  1.  Abtlg.,  1.  Hälfte:  Die  Griechischen  Staats-  und  Rechtsaltertflmer,  von 
Prof.  Dr.  G.  Busolt  (Kiel).  Zweite  umgearbeitete  Auflage.  Mit  Register.  24  Bog. 
Geh.  6  c^  50  ^    In  Halbfranz  geb.  8  UK 

*IV.  Band,  1.  Abtlg.,  2.  Hälfte:  Die  Griechischen  i>rivataltertfimer  von  Prof.  Dr.  Iwan 
V.  Müller  (München).  Die  Griechischen  Kriegsaltertflmer  von  Prof.  Dr.  Ad. 
Bauer  (Graz).  Mit  11  Tafeln.  Mit  Register.  Zweite  umgearbeitete  Auflage. 
32Vs  Bog.    Geh.  8  Jl  50  ^    In  Halbfranz  geb.  10  .^  30  <^. 

*IV.  Band,  2.  Abtlg.:  Die  Römischen  Staats-,  Rechts-  und  Kriegsaltertflmer  von  Prof. 
Dr.  Schiller  (Leipzig).  Mit  3  Tafeln.  Die  Römischen  Privataltertflmer  und 
römische  Kulturgeschichte  von  Prof.  Dr.  Mor.  Voigt  (Leipzig).  Zweite  umge- 
arbeitete Auflage.  mtRe^siem.  30V«  Bog.  Lex.-8«.  Geh.  SVä  In  Halbfranz  geb.  9.^  80^ 

*V.  Band,  1.  Abtlg.,  1.  Teil:  Geschichte  der  alten  Philosophie,  von  Prof.  Dr.  Win  de  1- 
band  (Straßburg).    Dritte  Auflage.    [In  Vorbereitung!] 

*V.  Band,  1.  Abtlg.,  2.  Teil:  Geschichte  der  Mathematik  und  Naturwissenschaften 
im  Altertum  und  Mittelalter.  Von  Prof.  Dr.  Siegmund  Günther  (München). 
Dritte  erweiterte  Auflage.    [In  Vorbereitung!] 

V.Band,  2.  Abtlg.:  Griechische  Mythologie  und  Religionsgeschichte.  Von  Dr.  O. 
Gruppe,  Prof.  in  Berlin.  Zwei  Bände.  121  Bogen.  Geh.  36  JH  In  zwei  Halb- 
franzbänden 40  tÄ 

*V.  Band,  3.  Abtlg.:  Griechische  Kultusaltertflmer.  Von  Prof.  Dr.  Paul  Stengel 
(Berlin).  Zweite  vermehrte  und  verbesserte  Auflage.  Mit  5  Tafeln.  15  Bog.  Geh. 
5  c^;  geb.  6  c^  50  ^ 

V.Band,  4.  Abtlg.:  Religion  und  Kultus  der  Römer.  Von  Prof.  Dr.  G.  Wissowa 
(Halle).    35  Bog.    Geh.  10  Jk\  geb.  12  uK 

VI.  Band:  Archäologie  der  Kunst  Von  Prof.  Dr.  Sittl  (Würzburg).  [Vergriffen!]  (Der 
zur  Archäologie  der  Kunst  gehörige  Atlas,  über  1000  Abbild,  auf  65  Tafeln  ent- 
haltend, kart  13  e^  50  ^;  in  Halbfranzband  \7  JH  50  ^  ist  noch  zu  beziehen.)  — 
Ueber  die  seit  längerem  geplante  Neugestaltung  des  VI.  Bandes  hoffen  wir  in  Bälde 
nähere  Mitteilung  machen  zu  können. 

•Vn.  Band:  Griechische  Literaturgeschichte,  von  Prof.  Dr.  v.  Christ  (München).  Fünfte 
Auflage  in  Verbindung  mit  Dr.  Otto  Stähl  in,  Prof.  am  Ma^^mn.  in  München,  be- 
arbeitet von  Dr.  Wilhelm  Schmid,  o.  Prof.  an  der  Univ.  Tübingen.  Nebst  An- 
hang von  43  Porirätdarstellungen  aus  der  griechischen  Literatur  nach  Auswahl  von 
A.  Furtwängler  und  J.  Sieveking.  Erster  Teil:  Die  Iclassische  Periode  der 
griechischen  Litteratur.  45»/«  Bog.  Geh.  ISJLbO^;  geb.  15  ^  80  ^  —  Der  zweite 
feil  erscheint  im  Lauf  des  J.  1909. 

*VIII.  Band:  Geschichte  der  römischen  Litteratur,  von  Prof.  Dr.  M.  Schanz  (Würzburg). 
*/.  Teil,  erste  Hälfte:  Von  den  Anianfl^en  der  Litteratur  bit  zum  AuMgmng  des  Bandet|rcnotsen- 
krieires.  Mit  Register.  3.  Auflage.  23  Bog.  Lex.-S«.  Geh.  7  UK;  in  Halbfranz  geb.  8  UK  80  A  — 
/.  Teil,  zweite  Hälfte :  Bit  zum  Ende  der  Republik.  3.  Auflage  erscheint  bestimmt  im  Herbst  1906. 
•2.  Teü,  erste  Hälfte:  Die  augustltche  Zelt.  3.  Auflage  erscheint  im  J.  1909.  —  *2.  Teü.  zweUe  Hälfte: 
Vom  Tode  des  Anguttut  bis  zur  Regierung  Hadrians.  3.  Auflage  erscheint  im  J.  1910.  —  *J.  Teil: 
Die  römische  Litteratur  von  Hadrian  bis  auf  Constantin  (324  n.  Ch.)  2.  Auflage.  33  Bog.  Lex.-S«. 
Geh.  9  uK ;  geb.  10  UK  80  ^  —  ^.  TeU,  erste  Hälfte:  Die  Litteratur  des  4.  Jahrhunderts.  32  Bog. 
Lex..8o.  Mit  Register.  Geh.  %JLffS^\  geb.  10  Jk  pie  zweite  HAlfte  des  4.  Teils  erscheint  bald- 
möglichst.) 

*IX.  Band,  1.  Abtlg.:  Geschichte  der  byzantinischen  Litteratur  von  Justinian  bis  zum 
Ende  des  oströmischen  Reiches  (527  — 1453)  von  Prof.  Dr.  Karl  Krumbacher 
(München).  Zweite  Auflage  bearbeitet  unter  Mitwirkung  von  Prof.  Dr.  A.  Ehr- 
hardt  (WürzburR)  und  Prof.  Dr.  H.  Geiz  er  (Jena).  75V4  Bog.  Lex.-8«.  Geh.  24.^; 
in  Halbfranzband  geb.  26  .>Ä  50  A 

IX.  Band,  2.  Abtlg.:  Geschichte  der  römischen  Litteratur  im  Mittelalter  von  Dr.  M. 
Manitius.    [Erscheint  baldmöglichst] 

In   neuen   Auflagen    erschienen   sind   die    mit   *   bezeichneten  Bande   und  Abteilungen,   namllch: 

Band  L II. Hl,  1,  i.  III,2,s.  III,  3.  III,  4. 111,5.  IV,  1. 1.  IV,  1.  a.  IV,  2.  V,  1.  V,  3.  VII.  VUI,  1.  VIII,  2.  x.%.  VIII,  3. IX,  1. 

Am  Absdiluß  des  Gesamtwerkes  fehlen  nun  nur  noch  Band  VIII,  4.  Teil 
zweite  Hälfte:  Schanz,  Römische  Litteraturgeschidite:  Die  Litte- 
ratur des  fünften  Jahrhunderts  und  Band  IX,  2.  Abtlg.:  Manitius, 
Geschichte  der  röm.  Litteratur  im  Mittelalter.  Diese  beiden  Teile 
werden  in  den  nächsten  Jahren  erscheinen. 


C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  (Oskar  Beck)  in  Mflnchen 

Handbuch 

der 

Erziehungs-  und  Unterrichtslehre 

für  höhere  Schulen 

In  Verbindung  mit  den  Herren  Arendt  (Leipzig),  Bninner  (München), 
Dettweiler  (Leipzig),  Fries  (Halle),  Qlauning  (Nürnberg),  Günther 
(München),  Jaeger  (JBonn),  Kießling  (Hamburg),  Kirchhoff  (Leipzig), 
Kotelmann  (Hamburg),  Loew  (Berlin),  Matthaei  (Kiel),  Matthias  (Berlin), 
Mfinch  (Berlin),  Plew  (Straßburg),  Simon  (Straßburg),  Toischer  (Prag), 
Wendt  (Karlsruhe),   Wickenhagen   (Rendsburg),  Zange  (Erfurt),  Ziegler 

(Straßburg)  u.  a. 

herausgegeben  voa 

Dr.  A.  Baumeister 


Erster  Band,  l.  Abteilung: 

A.  Geschichte  der  Pädagogik  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  höheren 
Unterrichtswesens  von  Dr.  Theobald  Ziegler,  ord.  Professor  an  der 
Universität  Straßburg.  2.  neubearbeitete  und  vermehrte  Auflage. 
1904.  25  Bog.  Geh.  7  Jk  In  Leinen  geb.  8c^  In  Halbfranz  geb.  8  c^  50^ 

Erster  Band,  2.  Abteilung: 

B.  Die  Einrichtung  und  Verwaltung  des  höheren  Schulwesens  in  den 
Kulturländern  von  Europa  und  in  Nordamerika,  in  Verbindung  mit 
zahlreichen  Mitarbeitern  unter  Redaktion  des  Herausgebers.  57  Bog. 
Geh.  16  c^    In  Halbfranz  geb.  18  Jk 

Zweiter  Band,  1.  Abteilung: 

A.  Theoretische  Pädagogik  und  allgemeine  Didaktik  von  Dr.  Wendel  in 
Toischer,  Professor  am  I.  deutschen  Gymnasium  in  Prag. 

B.  Die  Vorbildung  der  Lehrer  für  das  Lehramt  von  Dr.  Wilhelm  Fries, 
Geh.  Reg.-Rat,  Direktor  der  Francke'schen  Stiftungen  in  Halle.  Geheftet 
7  Ji  50^    In  Halbfranz  geb.  9  Jk 

W*  Die  beiden  Unterabteilungen  A  und  B:  Toischer,  Theoretische  Pädagogilc 
und  allgemeine  Didaktik,  und  Fries,  Die  Vorbildung  der  Lehrer  für  das 
Lehramt,  sind  auch  gesondert  zu  haben  ä  4uK  geheftet 

Zweiter  Band,  2.  Abteilung,  1.  Hälfte: 

Praktische  Pädagogik  für  höhere  Lehranstalten.  Von  Dr.  Adolf 
Matthias,  Geh.  Ob.-Reg.-Rat  u.  vortragendem  Rat  im  k.  preuß.  Kultus- 
ministerium. 2.  neubearbeitete  und  vermehrte  Auflage.  1903. 
17  Bog.    Geh.  5  ^;  in  Leinen  geb.  6  Jk 

Zweiter  Band,  2.  Abteilung,  2.  Hälfte: 

Schulgesundheitspflege.  Von  Dr.  phil.  et  med.  Ludwig  Kotelmann 
in  Hamburg.  2.  neubearbeitete  und  vermehrte  Auflage.  1904. 
14  Bog.    Geh.  5  ^;  in  Leinen  geb.  6  Jd 

pr  Bd.  II,  2.  Abteilung  — Dr.  A.  Matthias,  Praktische  Pädagogik.  2.  AufL 
und  Dr.  L.  Kotelmann,  Schulgesundheitspflege.  2.  AufL  —  in  Halbfranz  ge- 
bunden jf:  12.—. 


Dritter  Band 

Didaktik  und  Methodik  der  einzelnen  Lehrfächer.    Erste  Hälfte.*) 

I.  Protestantische  Religionslehre  von  Dr.  Friedrich  Zange,  |    Band  III,  4.  Abtlg. 
Direktor  des  Realgymnasiums  in  "Erfurt.  j  18  Bog.  Geh.5o^^^ 

II.  Katholische  Religionslehre  von  Joh.  Nep.  Brunner,  Reli-  \    Band  III,  5.  Abtlg. 
gionslehrer  an  der  legi.  Luitpold-Kreisrealschule  in  München.  )  4^8 Bog.  Geh.  1^4:20^ 

III.  Latelni8chvonGeh.OberschulratProf.Dr.PeterDettweiler.  )    Band  III,  1.  Abtlg. 
2.  völlig  umgearbeitete  Auflage  1906.  J  I.Hälfte.   Geh.  5*^ 

IV.  OriechischvonGeh.OberschulratProf.Dr.PeterDettweiler.  jg^^J*^  Geh^'l^^A 

V.  Französisch  von  Dr.  Wilhelm  Münch,  Geh.  Regierungsrat  )    «     .  yw,  «   .... 
und  Universitätsprofessor  in  Berlin.    2.  umgearbeitete  und  \  ,   „ii«i   r^uAif 
vermehrte  Auflage  1902.  ^  j  ^'  "^**^-  ^^^'  ^  ^ 

VI.  Englisch   von   Dr.  Friedrich  Glauning,  Professor  und!    o^nH  tu   o  ak«« 
Stadtschulrat  in  Nürnberg.    2.  umgearbeitete  und  vermehrte  \  2  Hälfte  Geh  TJ^SOk 

VII.  Deutsch  von  Dr.  Gustav  Wendt,  Geheimrat  und  Direlctor  i    Band  III,  3.  Abtlg. 
des  Gymnasiums  in  Karlsruhe.    2.  Aufl.  1904.  1.10  Bog.  Geh.3c^^^ 

VIII.  Geschichte  von  Dr.  Oslcar  Jaeger,  (rpnas.-Direktora.D.;  | Band III, l.Abt.,2.Hällte 
o.  Honorarprofessor  an  der  Universität  Bonn.    2.  Aufl.  1904.  /       geh.  2  o^  50  ^ 

Band  III  Icomplett.    Preis  geh.  26  Ji;  in  Halbfranz  geb.  28  c^  50  ^ 

Vierter  Band 
Didaktik  und  Methodik  der  einzelnen  Lehrfächer.    Zweite  Hälfte.*) 

IX.  Rechnen  und  Mathematik   von  Dr.  Max  Simon,   Pro- 1  Band  IV,  l,i.  Abtlg. 

fessor  am  Lyceum  in  Straßburg.    2.  Auflage  1907.  J  13V2Bog.Geh.4ui:50* 

X.  Physilc  von  Dr.  Kießling,   Professor  an  der  Gelehrten-  j  Band  IV,  1.2.  Abtlg. 

schule  des  Johanneums  in  Hamburg.  /      Geh.  1  <4I  50  ^ 

XI.  Erdiciinde  von  Professor  Dr.  Alfred  Kirchhoff.  )    Band  IV,  2.  Abtlg. 

XII.  Mathematische  Geofirraphie  von  Dr.  Siegmund  Günther,  [     2.  Auflage  1906. 
Professor  am  Polytechnikum  in  München.  J  Geh.  3  Jt. 

XIII.  Naturbeschreibung  von  Dr.  E.  Loew,  Professor  am  k.  Real- 1 

^mnasium  in  Berlin.  I    Band  IV,  3.  Abtlg. 

XIV.  Chemie  von  Dr.  Rudolf  Arendt,  Professor  an  der  öffent-  1 11  Bog.  Geh,3o€Sb^ 
liehen  Handelslehranstalt  in  Leipzig.  j 

XV.  Zeichnen  von  Dr.  Adelbert  Matthaei,   Professor  an  der 


Universität  Kiel.  |    Band  IV,  4.  Abtlg. 

XVI.  Gesang  von  Dr.  Johannes  Plew,  Oberlehrer  am  Lyceum  [  9»/«  Bog.    Geh.  SJU 

in  Straßburg.  j 

XVII.  Turnen    und     Jugendspiele    von     Professor    Hermann)    Band  IV,  5.  Abtlg. 

Wickenhagen  in  Rendsburg.  j6Bog.  Geh.  IJUSO^ 

Band  IV  komplett.    Preis  geh.  17  t^  30  (^;  in  Halbfranz  geb.  19  c^  50  ^ 

*)  Wft  Außer  der  Band-  und  Abteilungsauseabeder  .Didaktik  und  Methodik  der  einzelnen 
Lehrfächer'  stehen  von  den  einzelnen  Fächern  auch  folgende  Sonderausgaben  zur  Veifflgung: 
Zange,  Didaktik  und  Methodik  des  evangeUsdien  ReUgionsunterrithU,  Qeh.  5Jk  50  Ji ;  geb.  6JL  50^ 
Brunner,  Didaktik  und  Methodik  der  kathoUsdien  ReligionsUhre,    Geh,  1  Jk  20A:  geb,  2  Jt  20  4, 
Dettweiler,    Didaktik  und  Methodik  des  iateinisthen  Unterridits.     Zweite  völlig  umgearbeitete 

Auflage.    1906.    Geh.  5  Ji:  geb.  6 Ji 
Dettwelier,  Didaktik  und  Methodik  des  QriethUthen  Unterridits.    Geh.  IJidO^.:  geb.  2jia0  4. 
Oskar  Jaeger,  Didaktik  und  Methodik  des  OesthidUManterritHts,  2,  Anfinge  1905,  Geh.  2jk50^'  geb.3Jk  50  4, 
Mündi,  Didaktik  und  Methodik  des  französisdien  Unterrithis.    2.  nmgearbeitete  nnd  vermehrte  Anf' 

läge  1902.    Geh.  4  Ji:  geb.  5  Ji 
Oianning,  Didaktik  und  Methodik  des  engUsdien  Unterridits.    2,  nmgearbeitete  nnd  vermehrte  Auf- 
lage 1903.    Geh.  2  Ji  50  A:  geb.  3ji50A 
Wendt,  Didaktik  und  Methodik  des  deutsdien  Unterridits.  2,  Auflage  1905,  Geh.  3  Ji50  J^:  geb.4  Ji  50^ 
Simon,  Didaktik  und  Methodik  des  Redinens  und  der  Mathematik,   2,  umgearbeitete  und  vermehrte 

Auftage  1907,    Geh. 4  Ji50 4.:  geb.  5ji50 ^ 
KießUng,  Didaktik  und  Methodik  des  Phystk-Unterridits.    Geh.  1  Ji  50  4 
Kirdüioff  u.  Qüniher,  Didaktik  und  Methodik  des  Geographie-Unterridits  (Erdkunde  und  matkematisdie 

Geographie),   2,  Auflage  1906.   Geh.  3Ji:  geb.  4  Ji 
Loew,  Didaktik  und  Methodik  des  Unterridits  in  der  Naturbesehreibung,    Geh.  2  Ji  20  4.:  geb.  3  Ji  20  4, 
Arendt,  Didaktik  und  Methodik  des  Unterridits  in  der  Chemie.    Geh.  1  JiSO^.:  geb.  2  Ji  90  4. 
Matthaei,  Didaktik  und  Methodik  des  Zeidtenanterridits,    Geh.  2Ji:  geb.  3ji 
Ptew,  Didaktik  und  Methodik  des  Qesangunterridits.    Geh.  1  Ji  20  J^:  geb.  2  Ji  20  4 
Widtenhagen,  Didaktik  und  Methodik  des  Tumnnterridita.    Geh.  2Ji:  geb.  3  Ji 


HANDBUCH 

DER 

KLASSISCHEN 


AUERTÜMS-WISSENSCHAFT 

in  systematischer  Darstellung 

mit  besonderer  Rücksicht  auf  Oeschichte  und  Methodik  der  einzelnen 

Disziplinen. 


In  Verbindung  mit  Gymn.-Rektor  Dr.  Autenrieth  f  (Nürnberg),  Prof.  Dr.  Ad. 
Bauer  (Graz),  Prof.  Dr.  Blassf  (Halle),  Prof.  Dr.  Brugmann  (Leipzig),  Prof.  Dr. 
Busolt(Göttingen),Prof.Dr.vonChristt(München),Prof.Dr.Leop.Cohn(Bres- 
lau),  Prof.H.Gleditsch(Berlin),  Prof.  Dr.  0.  Gruppe  (Berlin),  Prof.  Dr. Günther 
(München),  Gymn.-Rektor  C.Hammer  (Würzbmg),  Prof.  Dr.  Heerdegen  (Er- 
langen), Prof.  Dr.  Hommel  (München),  Prof.  Dr.  Hübner  f  (Berlin),  Prof. 
Dr.  Judeich  (Jena),  Prof.  Dr.  Jul.  Jung  (Prag),  Prof.  Dr.  Krumbacher 
(München),  Prof.  Dr.  Larfeld  (Remscheid),  Dr.  LoUingr  f  (Athen),  Dr.  M. 
Manitius  (Radebeul),  Prof.  Dr.  Niese  (Marburg),  Prof.  Dr.  Nissen  (Bonn), 
Priv.-Doz.  Dr.  öhmichen  (München),  Prof.  Dr.  Pöhlmann  (München),  Gymn.- 
Dir.  Dr.  0.  Richter  (Berlin),  Prof.  Dr.  M.  von  Schanz  (Würzburg),  Prof. 
Dr.  Schiller  t  (Leipzig),  Gymn.-Dir.  Schmalz  (Freiburg  i.  Br.),  Prof.  Dr. 
Wilhelm  Schmid  (Tübingen),  Prof.  Dr.  Sittl  t  (Würzburg),  Prof.  Dr.  Otto 
StähUn  (München),  Prof.  Dr.  F.  Stengel  (Berlin),  Prof.  Dr.  Stolz  (Innsbruck), 
Prof.  Dr.  ünger  t  (Würzburg),  Prof.  Dr.  von  Urlichs  f  (Würzburg),  Prof.  Dr. 
Moritz  Voigt  t  (Leipzig),  Gymn.-Dir.  Dr.  Volkmann  f  (Jauer),  Prof.  Dr. 
Windelband  (Straßburg),  Prof.  Dr.  Wissowa  (Halle) 

herausgegeben  von 

Dr.  Iwan  von  Müller, 

ord.  Prof.  der  klassischen  Philologie  in  Manchen. 


Siebenter  Band. 

Geschichte  der  griechischen  Litteratnr  von  W.  v.  Christ. 

Erster  Teil:  Die  klassische  Periode  der  griechischen  Litteratur. 

Fünfte  Auflage,  besorgt  von   W.  Schmid. 


HÜNCHEN  1908 

C.  H.  BECK'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG 

OSKAR  BECK. 


WILHELM  VON  CHRISTS 

GESCHICHTE 


DER 


GRIECHISCHEN  LITTERÄTÜR. 


FÜNFTE  AUFLAGE, 

UNTER  MITWIRKUNG  VON  OTTO  STÄHLIN,  PROFESSOR  AM  K.  MAX- 
GYMNASIU^I  IN  MÜNCHEN,  BEARBEITET 

VON 

WILHELM  SCHMID, 

O.  PROFESSOR  AN  DER  UNIVERSITÄT  TÜBINGEN. 


ERSTER  TEIL: 

KLASSISCHE  PERIODE  DER  GRIECHISCHEN  LITTERÄTÜR. 


HÜNCHEN  1908 

C.  H.  BECK'SCHE  VERLAGSBUCHHANDLUNG 
OSEAR  BECK. 


/^   I-  /  ' 


AUo  Rechte  vorbohalteu. 


C.  H.  BeckVhe  Bnrhdrnrkerei  in  Nördlingen. 


''S   «x. 


Vorrede. 


Weuii  man  mit  Recht  von  dem  Verfasser  eines  Buches  zu  hören  wünscht, 
was  ihn  bestimmt  habe,  den  alten  Dai*stellungen  des  gleichen  Gegenstandes 
eine  neue  zur  Seite  zu  stellen,  so  kann  ich  mich  im  vorliegenden  Falle  einfach 
auf  das  große  Unternehmen,  von  dem  dieses  Buch  nur  einen  Teil  bildet,  be- 
ziehen. Denn  es  ist  ja  selbstverständlich,  daß  in  einem  Handbuch  der  klas- 
sischen Altertumswissenschaft  die  klassische  Literatur  und  diejenige,  welche 
vor  allen  diesen  Ehi-ennamen  verdient,  die  gi-iechische,  nicht  fehlen  darf.  Ich 
selbst  wäre  aus  eigenem  Antrieb  schwerlich  je  dazu  gekommen,  eine  gi'iechische 
Literaturgeschichte  zu  schreiben;  es  bedurfte  der  ehrenvollen  Aufforderung  der 
Leiter  jenes  Unternehmens  und  der  ermunternden  Zurede  lieber  Freunde,  um 
in  mir  den  Entschluß  zu  reifen  und  die  eigenen  Bedenken  zm*ückzudrängen. 
Die  Bedenken  betrafen  nur  meine  Person  und  das  Mißverhältnis  der  Schwierig- 
keit der  Aufgabe  zum  Maße  meiner  Kräfte;  daß  an  und  für  sich  eine  zu- 
sammenfassende Darstellung  der  giiechischen  Literaturgeschichte,  die  den 
heutigen  Anforderungen  der  kritischen  Forschung  entspreche,  äußerst  wünschens- 
wert sei,  darüber  besteht  ja  nirgends  ein  Zweifel,  nachdem  die  gepriesenen 
Werke  von  Bernhardy,  Müller,  Bergk  unvollendet  geblieben  sind  und  auch 
das  neueste  Buch  von  Sittl  nur  bis  Alexander  reicht.  Auch  die  Beschränktheit 
des  Raumes,  der  durch  den  Plan  des  Gesamtunternehmens  gegeben  war, 
schreckte  mich  nicht  ab.  Zwar  würde  ich  ja  lieber  eine  Literaturgeschichte 
in  4  Bänden  geschrieben  haben,  um  auf  die  Begründung  meiner  Ansichten 
tiefer  eingehen  und  die  literarischen  Hilfsmittel  ausführlicher  vorführen  zu 
können.  Aber  ich  habe  fi'ühe  gelernt,  meine  Neigungen  den  gegebenen  Ver- 
hältnissen unterzuordnen,  und  über  einen  umfangi*eichen  Gegenstand  ein  Buch 
von  kleinem  Umfang  zu  schreiben  ist  auch  eine  Kunst,  die  ihi-en  Mann  fordert. 
So  bin  ich  also  nach  einigem  Zögern  auf  das  freundliche  Anerbieten  eingegangen 
und  habe  mich  nach  Kräften  bemüht,  dem  in  mich  gesetzten  Vertrauen  zu 
entsprechen.  Freilich  erst  während  der  Arbeit  lernte  ich  so  recht  die  Schwierig- 
keiten der  Aufgabe  kennen,  und  mehr  wie  einmal  drohten  die  Flügel  mir  zu  er- 
lahmen;   aber   die  Liebe   zur  Sache   und  die  Ermunterung  der  Freunde  hoben 


/f  ^^^0* 


VT  Vorrede. 

mir  immer  wieder  den  Mut,  so  daß  ich  schließlich  doch  mit  Gottes  Hilfe  zur 
festgesetzten  Zeit  zum  Ziele  kam. 

Was  die  Anlage  des  Buches  anbelangt,  so  war  mu*  schon  dui'ch  den 
Plan  des  gesamten  Handbuches  die  Auflage  gemacht,  mich  nicht  nach  Art 
Ottfr.  Müllers  auf  die  Darlegung  des  Entwicklungsganges  der  griechischen 
Literatur  zu  beschränken,  sondern  auch  Nachweise  über  die  gelehrten  Hilfs- 
mittel beizufügen.  Mu*  selbst  ward  so  in  erwünschter  Weise  die  Möglichkeit 
gegeben,  den  Urhebern  derjenigen  Auffassungen,  denen  ich  mich  in  meiner 
eigenen  Darstellung  anschloß,  die  Ehre  der  Erfindung  zu  wahren,  wie  es  den 
Benutzern  des  Buches  erwünscht  sein  wird,  durch  jene  philologischen  Schluß- 
bemerkungen über  die  Handschriften,  Ausgaben  und  den  jetzigen  Stand  der 
Forschung  in  Kürze  orientiert  zu  werden.  Außer  am  Schlüsse  der  einzelnen 
Absätze  habe  ich  aber  auch  gleich  unter  dem  Text  zu  den  einzelnen  Sätzen 
die  literarischen  Belege  und  die  Hauptzeugnisse  aus  dem  Altertum  angemerkt, 
die  letzteren  meist  im  vollen  Wortlaut.  Trotzdem,  fürchte  ich,  werden  viele 
nicht  alles  finden,  was  sie  von  gelehrter  Literatur  suchen  und  wünschen; 
aber  zugleich  hoffe  ich,  daß  die  Knappheit  des  zugemessenen  Baumes  mich 
entschuldigen  wird,  wenn  ich  den  Foi*tschritt  in  der  Textesbearbeitung  nicht 
historisch  verfolgt  und  bezüglich  der  ins  Unendliche  anwachsenden  Programmen- 
und  Aufsätzeliteratur  auf  Engelmann  und  andere  Hilfismittel  im  allgemeinen 
verwiesen  habe.  Bei  der  Ausarbeitung  im  einzelnen  kam  es  mir  zunächst 
dai'auf  an,  einen  gedrängten  Lebensabriß  der  Autoren  und  ein  Verzeichnis 
ihrer  Werke  mit  kurzer  Bezeichnung  des  Inhaltes  und  des  ästhetischen  Wei*tes 
derselben  zu  liefern.  Aber  bei  Entwerfung  dieses  Grundgerüstes  bin  ich  doch 
nicht  stehen  geblieben,  ich  habe  mich  auch  bemüht,  die  Stellung  der  Autoren 
in  ihrer  Zeit  zu  zeichnen,  eine  Charakteristik  der  einzelnen  Perioden  zu  geben 
und  die  äußeren  Bedingungen  des  literarischen  Lebens,  die  musischen  Agone^ 
die  Organisation  der  Bühne,  die  Gimstbezeugungen  der  Könige  und  Musen- 
fi'eunde  zu  schildern.  Ich  gestehe,  daß  ich  diese  durch  die  Sache  gebotene 
Gelegenheit  gerne  ergriff,  um  hie  und  da  auch  über  den  engen  Ki'eis  der  ge- 
lehrten Forschung  hinauszugehen  und  meine  Gedanken  über  die  Weltstellung 
des  Hellenismus  und  das  Geheimnis  seiner  Macht  anzudeuten.  Nahe  hätte 
es  gelegen  im  Anschluß  daran  auch  öftere  Exkurse  in  die  vergleichende 
Literaturgeschichte  zu  machen  und  das  Fortleben  der  griechischen  Literatur 
in  der  modernen  anzudeuten.  Doch  einer  solchen  Aufgabe  fühlte  ich  mich 
nicht  gewachsen;  in  diesen  Fragen  gehe  ich  lieber  selbst  bei  meinen  lieben 
Freunden  Bernays  und  Carriere  in  die  Lehre. 

Auch  bezüglich  der  Ausdehnung  der  Literaturgeschichte  möchte  ich  mich 
gern  in  dieser  Vorrede  über  einige  Punkte  mit  meinen  Lesern  auseinander- 
setzen. Vor  allem  handelte  es  sich  hier,  wie  weit  soll  herabgegangen  werden? 
An  und  für  sich  schien  mii-  der  Vorgang  von  Fabricius,  Scholl,  Nicolai,  die 
auch  die  byzantinische  Zeit  mit  hereingezogen  hatten,  äußerst  nachahmens- 
wert zu  sein.    Aber  da  ich  selbst  auf  diesem  schwierigen,  erst  allmählich  sich 


Vorrede.  VE 

aufhellenden  Gebiete  viel  zu  wenig  bewandert  bin,  so  mußte  auf  anderem 
Wege  Ersatz  gesucht  werden.  Der  fand  sich  in  erwünschter  Weise  dadui'ch, 
da&  mein  junger  Freund  Dr.  Krumbacher  sich  bereit  finden  ließ,  einen  Abi-iß 
der  byzantinischen  Literatur  als  Ergänzung  dieser  Geschichte  der  altgriechischen 
Lite>ratur  auszuarbeiten.  Deraelbe  ist  bereits  so  weit  gediehen,  daß  sein  Er- 
scheinen im  Laufe  des  nächsten  Jahres  in  Aussicht  gestellt  werden  kann.  Ich 
führte  also  mein  Buch  nur  bis  auf  Justinian  oder  bis  auf  die  Aufhebung  der 
Philosophenschule  Athens  herab.  Innerhalb  dieses  Zeitraums  mußten  aber 
alle  literarischen  Größen,  also  auch  die  Philosophen  herangezogen  werden. 
Zwar  ist  in  diesem  Handbuche  ein  eigener  Abschnitt  von  Professor  Windel- 
band der  Geschichte  der  alten  Philosophie  gewidmet  worden,  so  daß  einige 
Wiederholungen  nicht  vermieden  werden  konnten.  Aber  Piaton  und  Aristoteles 
haben  nicht  bloß  für  die  Geschichte  der  Philosophie  Bedeutung;  wollte  man 
ohne  Piaton  eine  griechische  Literaturgeschichte  schreiben,  so  hieße  dieses  die 
Literatur  eines  ihrer  schönsten  Juwele  berauben;  auf  Aristoteles'  Schultern  aber 
ruht  so  sehr  die  gelehi-te  Tätigkeit  der  Alexandriner,  daß  ohne  jenen  diese 
nicht  begriflfen  werden  kann.  Ich  persönlich  habe  mit  Eifer  diese  Seite  des 
gnechischen  Geisteslebens  aufgegriffen,  da  ich  mich  mit  ihr  seit  meinen 
Studentenjahren  mit  Vorliebe  beschäftigt  hatte.  Desgleichen  kann  ich  mich 
nicht  bezüglich  der  Fachwissenschaften  und  der  christlichen  Schriftsteller  rühmen; 
aber  beide  gehören,  wenigstens  in  der  ihnen  von  mir  gegebenen  Begrenzung, 
zur  griechischen  Literatur,  so  daß  ich  mich  entschließen  mußte,  in  einem 
Anhang  auch  diese  Partien  in  den  allgemeinsten  Umrissen  zu  behandeln. 

Einen  den  bisherigen  Handbüchern  fremden  Schmuck  hat  dieses  Buch 
noch  am  Schlüsse  durch  die  Abbildung  von  21  (24)  Köpfen  oder  Statuen 
griechischer  Autoren  erhalten.  In  unserer  Zeit,  wo  sich  die  literarischen  und 
graphischen  Darstellungen  überall  die  Hand  reichen,  lag  die  Beigabe  von 
solchen  Abbildungen  gewissermaßen  in  der  Luft,  zumal  durch  den  Kunstsinn 
der  Griechen  auch  nach  dieser  Seite  ihre  Literatur  vor  der  anderer  Völker 
in  entschiedenem  Vorteile  ist.  Ich  habe  daher  von  vornherein  diese  artistische 
Beilage  in  den  Plan  meines  Werkes  gezogen  und  durfte  deshalb  im  Text  mir 
die  Charakteristik  der  Gestalt  der  griechischen  Geistesheroen  erlassen.  Für 
die  Auswahl  der  Köpfe,  wobei  in  erster  Linie  auf  inschriftlich  bezeugte  Porträte 
Wert  gelegt  >vurde,  und  für  die  sorgfältige  Aufnahme  der  Originale  oder 
Gipse  bin  ich  meinen  verehrten  Kollegen  Prof.  Heinr.  v.  Brunn  und  Dr.  Julius 
zu  besonderem  Danke  verpflichtet. 

So  möge  denn  das  mit  Liebe  gepflegte  Werk  hinausgehen  in  die  Welt, 
sich  und  seinem  Verfasser  Freunde  werben,  vor  allem  aber  dazu  beitragen,  daß 
die  Liebe  und  Begeisterung  für  die  Werke  des  klassischen  Hellenentums,  diese 
uneraetzbare  Grundlage  jeder  echten  Bildung,  lebendig  erhalten  werden. 

München,  im  Oktober  1888. 


VIII  Vorrede. 

Vorrede  zur  zweiten  Auflage. 

Schneller  als  mir  lieb  war  ist  die  Anforderung,  eine  neue  Auflage  vor- 
zubereiten, an  mich  herangetreten.  Denn  ein  längerer  Gebrauch  des  Buches 
hätte  voraussichtlich  in  mehr  Fällen  mich  auf  Mängel  und  Irrtümer  desselben 
aufmerksam  gemacht.  Aber  auch  so  habe  ich  mir  angelegen  sein  lassen,  nach 
Ba'äften  das  Werk  zu  vervollkommnen,  und  habe  dabei  die  Urteile  und  Winke 
meiner  Rezensenten,  mochten  dieselben  in  fieundlichem  Tone  gegeben  oder 
mit  Wermut  gemischt  sein,  gewissenhaft  berücksichtigt.  Zu  einer  tiefer- 
greifenden Änderung  der  ganzen  Anlage,  wie  sie  von  Herrn  Crusius  und 
Dräseke  gewünscht  wurde,  habe  ich  mich  nicht  entschließen  können.  Nament- 
lich mußte  ich,  wollte  ich  nicht  meiner  ganzen  Auffassung  von  der  Stellung 
des  Hellenismus  zu  den  neuen  Ideen  des  Christentums  untreu  werden,  die 
Verweisung  der  chnstlichen  Schriftsteller  in  den  Anhang  aufrecht  erhalten. 
Doch  habe  ich  mich  bemüht,  diesen  am  meisten  verbesserungsbedürftigen  Teil, 
auf  dessen  Boden  ich  mich  am  wenigsten  heimisch  fühle,  so  viel  als  möglich 
zu  verbessern  und  zu  erweitern.  Im  ganzen  ist  auf  solche  Weise  der  Umfang 
der  neuen  Auflage  um  etwas  über  6  Bogen  gewachsen.  Denjenigen  Hen-en, 
welche  mich  auf  einzelne  Versehen  privatim  aufmerksam  gemacht  haben,  fühle 
ich  mich  zu  warmem  Danke  verpflichtet;  namentlich  sei  meinen  jüngeren 
Freunden  Krumbacher,  Römer,  Weyman,  Zollmann  für  die  vielen  wert- 
vollen Beiträge  auch  öffentlich  hiemit  mein  Dank  ausgesprochen. 

München,  im  Juni  1890. 

Vorrede  zur  dritten  Auflage. 

Die  landläufigen  Klagen  der  Bücherkäufer,  da&  gerade  von  den  belieb- 
testen Büchern  die  früheren  Auflagen  infolge  von  weitgi'eifenden  Änderungen 
bei  ihrem  neuen  Erscheinen  so  rasch  veralten,  kenne  ich  und  weiß  ich  wohl 
zu  würdigen.  Aber  was  tun,  wenn  inzwischen,  ohne  eigenes  Zutun,  der  Stoff 
durch  neue  Funde  und  neue  Untersuchungen  sich  vergrößert  hat?  Man  wird 
doch  nicht  im  Jahre  1898  eine  griechische  Literaturgeschichte  hinausgeben  sollen, 
in  der  von  den  Mimiamben  des  Herondas,  der  athenischen  Politeia  des  Aristo- 
teles, den  Oden  des  Bakchylides  und  all  den  anderen  seit  1890  gemachten 
Funden  nichts  zu  lesen  ist.  Ebensowenig  aber  könnte  ein  Literarhistoriker 
auf  Nachsicht  rechnen,  wenn  er,  unbekümmert  um  die  inzwischen  erschienenen 
Werke,  die  alten  und  nun  zum  Teil  wirklich  veralteten  Ausgaben  von  1888 
und  1890  unverändert  stehen  b'eße.  Und  wahrlich,  nicht  klein  ist  der  Ertrag, 
den  so  vortreffliche  Werke  wie  Susemihls  Geschichte  der  griechischen  Literatur 
in  der  Alexandrinerzeit,  Harnacks  Altchristliche  Literaturgeschichte  bis  Eusebius, 
Wachsmuths   Einleitung   in    das  Studium   der   alten   Geschichte,    Reitzensteins 


Vorrede.  IX 

Geschichte  der  griechischen  Etymologika  dem  Verfasser  einer  allgemeinen  Ge- 
schichte der  griechischen  Literatur  geliefert  haben.  Selbstverständlich  waren 
auch  die  neuen  Ausgaben,  deren  in  den  letzten  Jahren  auch  viele  von  der 
allgemeinen  Heerstraße  weiter  abliegende  Autoren  sich  zu  erfreuen  hatten, 
zu  berücksichtigen  und  nachzutragen.  Und  nachdem  nun  einmal  die  alten 
Linien  nicht  mehr  eingehalten  werden  konnten,  habe  ich  mich  nicht  mehr 
gescheut,  auch  überall  sonst  die  bessernde  und  erweiternde  Hand  an  das  alte 
Buch  anzulegen,  so  daß  schlieMich  dasselbe  zu  meinem  eigenen  Erstaunen 
um  mehr  als  zehn  Bogen  größer  wurde.  Nur  an  den  Gioindlinien  des  Werkes 
habe  ich  nichts  geändei*t;  ich  glaubte  dies  schon  den  alten  Freunden  des 
Buches  schuldig  zu  sein,  es  entsprach  dies  aber  auch  meiner  eigenen,  mit  der 
Zeit  immer  mehr  gefestigten  Überzeugung:  ich  wollte  eben  kein  Bepertorium 
aller  möglichen  literanschen  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  griechischen 
Autoren  liefern,  und  ich  wollte  ein  Buch  für  Philologen  und  Freunde  der 
klassischen  Literatur,  nicht  füi*  Theologen  und  wissenschaftliche  Spezialforscher 
schreiben.  Hat  auch  in  diesen  Grenzen  das  Buch  an  Umfang  und  hoffentlich 
auch  an  innerem  Gehalt  nicht  unerheblich  zugenommen,  so  verdanke  ich  dieses 
zum  großen  Teil  den  alten  wie  neuen  Freunden,  die  mich  teils  durch  brief- 
liche Mitteilungen,  teils  durch  Übersendung  ihrer  Abhandlungen  freigebigst 
unterstützt  haben.  Ihnen  allen  sei  auf  diesem  Wege  auch  ohne  Nennung  von 
Namen  der  wäi'mste  Dank  gesagt!  Mit  Namen  sei  nur  meines  leider  über 
der  Arbeit  erkrankten  jungen  Freundes  Jos..Hirmer  gedacht,  der  mit  un- 
verdrossenem Eifer  die  Korrekturbogen  durchzusehen  und  zu  bessern  die  auf- 
opfernde Güte  hatte. 

München,  im  Mai   1898. 


Vorrede  zur  vierten  Auflage. 

Die  vierte  Auflage  habe  ich  eine  revidierte  genannt,  da  das  Buch  in 
der  Anlage  und  den  Hauptlineamenten  wesentlich  das  gleiche  geblieben  ist 
und  auch  an  Umfang  nicht  erheblich  zugenommen  hat.  Und  doch  wird 
man  kaum  eine  Seite  finden,  die  nicht  kleine  Zusätze  und  Verbesserungen 
erfahren  hätte.  Ganz  neu  bearbeitet  ist  der  Anhang  der  Abbildungen.  Unter 
Leitung  von  Herrn  Prof.  A.  Furtwängler  hat  Hen-  Dr.  J.  Sieveking  eine 
veränderte,  zugleich  bedeutend  erweiterte  Auswahl  von  Porträts  nach  neuen 
Vorlagen  zusammengestellt  und  jede  Darstellung  mit  einem  kurzen  erläuternden 
Text  versehen. 

München,  im  September  1904. 


Wilhelm  Christ. 


X  Vorrede. 


Vorrede  zur  fanften  Auflage. 

Ende  Oktober  1906  wendete  sich  die  Verlagsbuchhandlung  an  mich  mit 
der  Aufforderung,  die  fünfte  Auflage  von  Christs  Litteraturgeschichte  zu  be- 
arbeiten. Nach  einigem  Bedenken  entschloß  ich  mich,  die  Aufgabe  zu  über- 
nehmen. Es  galt  zunächst,  ein  Buch,  dessen  Nützlichkeit,  ja  Unentbehrlich- 
keit  in  den  zwanzig  Jahi*en  seit  seinem  ersten  Erscheinen  sich  bewährt  hatte, 
für  den  Gebrauch  der  Studierenden  und  der  Gelehrten  zu  erhalten  und  wo- 
möglich zu  verbessern,  nicht  aber  ein  völlig  neues  Buch  zu  schreiben.  Als 
ich  die  Arbeit  in  Angriff  nahm,  zeigte  sich  ft*eilich,  da&  es  mit  dem  Streichen, 
Berichtigen  und  Nachtragen  nicht  getan  war.  Wenn  auch  Chiist  in  manchen 
Teilen,  in  denen  er  mit  eigener  Forachung  eingesetzt  hatte,  wie  in  den  Ab- 
schnitten über  Homer,  Demosthenes,  Piaton,  Aristoteles,  streckenweise  vor- 
läufig das  Wort  unverkürzt  behalten  konnte,  so  waren  anderwärts  tiefer  grei- 
fende Umstellungen  und  Umai*beitungen  dringend  notwendig.  Im  ersten  Band, 
der  die  klassische  Litteratui*  umfaßt,  ist,  wie  billig,  die  neuattische  Komödie 
ausgeschieden,  die  „Fachwissenschaft",  die  Christ  in  den  Anhang  verwiesen 
hat,  hereingearbeitet,  die  Disposition  besonders  in  den  Kapiteln  über  Euripides, 
Xenophon,  Piaton  verändert,  in  Charakteristik  von  geistigen  Richtungen  und 
einzelnen  Persönlichkeiten  dem  Buch  etwas  mehr  Fülle  gegeben  worden.  Daß 
es  dabei  an  Umfang  zugenommen  hat  und  denn  nun  auch  in  zwei  Bände  zer- 
legt ist,  wird  schwerlich  getadelt  werden.  Von  Christs  Anhang  wird  auch  in 
dieser  Auflage  ein  Teil  bestehen  bleiben,  die  christliche  Litteratur,  die  sich 
ohne  Schaden  für  die  Sache  von  der  Profanlitteratur  absondern  läßt.  Zu 
meiner  lebhaften  BeMedigung  ist  es  dem  Herrn  Verleger  gelungen,  für  diesen 
Teil,  dem  ich  mich  nicht  gewachsen  gefühlt  hätte,  in  Professor  Otto  Stählin 
in  München  einen  berufenen  Bearbeiter  zu  gewinnen. 

Die  Revision  der  bibliographischen  Angaben  hat,  soweit  das  mit  den 
Mitteln  der  hiesigen  Universitätsbibliothek  möglich  war,  unter  meiner  Aufsicht 
Herr  cand.  phil.  Alois  Volz  mit  rühmenswerter  Sorgfalt  und  Hingabe  besorgt. 
Für  wirksame  Mithilfe  bei  den  Korrekturen  bin  ich  den  Freunden  Otto  Stählin 
und  Edwin  Mayser,  in  dem  Schlußabschnitt  über  die  Philosophen  auch 
Constantin  Ritter  zu  herzlichem  Dank  verpflichtet. 

Tübingen,  im  Mai  1908. 

Wilhelm  Schmid. 


Inhaltsverzeiclmis  zmn  ersten  Band. 


Seite 

Einleitung.    Begriff  und  Gliederung  der  Litteraturgeschichte         ....  1 

Erste  Abteilung. 

Klassische  Periode  der  grriechischen  Litteratur. 

I.  Poesie. 

A.  Epos 11 

1.  Vorlitterarische  Anfänge  der  griechischen  Poesie 11 

2.  Homers  llias  und  Odyssee 29 

3.  Der  epische  Kyklos 85 

4.  Die  homerischen  Hymnen  und  Scherze 96 

5.  Hesiodos 103 

6.  Die  späteren  Epiker 123 

B.  Lyrik 135 

Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Gattungen 135 

I.  Monodische  Lyrik 158 

1.  Die  Elegie 158 

2.  Die  iambische  Poesie  und  die  Fabel 174 

3.  Die  lesbische  und  ionische  Eitharodie 184 

IL  Chorlyrik 195 

Pindar 216 

Die  attischen  Lyriker 235 

C.  Drama 243 

1.  Anfänge  und  äußere  Verhältnisse  des  Dramas 243 

2.  Die  Tragödie 265 

a)  Die  Anfänge  der  Tragödie  bis  auf  Aischylos 265 

b)  Aischylos 270 

c)  Sophokles 294 

d)  Euripides 328 

e)  Die  übrigen  Tragiker 367 

3.  Die  Komödie 375 

a)  Die  Anfänge  der  Komödie  in  Griechenland  und  Sizilien  375 

b)  Die  altattische  Komödie 381 

c)  Aristophanes 393 

d)  Mittlere  Komödie 415 

II.  Prosa. 

1.  Anfänge  der  Prosa 421 

2.  Die  Geschichtsschreibung 424 

a)  Die  Logographen  und  ältesten  Memoirenschreiber          ....  424 

b)  Herodotos 434 


XJI  Inhaltsverzeichnis  zum  ersten  Band. 

Seit« 

c)  Anfänge  der  attischen  Prosa.    Thukydides 450 

d)  Xenophon 466 

e)  Die  kleineren   und  verlorenen  Geschichtswerke.    Die  Begründung  der 
rhetorischen  Geschichtsschreibung.     Geographie 492 

3.  Die  Beredsamkeit 510 

a)  Anfänge  kunstmäßiger  Beredsamkeit 510 

b)  Antiphon  und  Andokides 518 

c)  Lysias  und  Isaios            523 

d)  Isokrates  und  die  sophistische  Beredsamkeit 531 

e)  Demosthenes 546 

f)  Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes 571 

4.  Die  Philosophie  und  die  Anfänge  der  fach  wissenschaftlichen  Litteratur  581 

a)  Anfänge  der  Philosophie  außerhalb  Attikas.    Medizin.    Mathematik    .  581 

b)  Die  attische  Periode  der  Philosophie 601 

.  c)  Piaton  und  die  ältere  Akademie 613 

d)  Aristoteles 668 


Einleitung. 


Begriff  und  Gliederung  der  Litteraturgeschichte. 

1.  Das  Wort  Litteratur,  das  jetzt  in  alle  Kultursprachen  übergegangen 
ist,  stammt  aus  dem  Lateinischen,  ist  aber  selbst  einem  griechischen  Aus- 
druck nachgebildet.  Mit  lUteratura  übersetzten  nämlich  die  Lateiner  wort- 
getreu das  griechische  yga/Lijuanx^  *)  und  verstanden  darunter  im  allgemeinen 
Kenntnis  der  litterae  oder  ygd^fxaxa.  Wurde  dabei  litterae  in  dem  ursprüng- 
lichen Sinne  genommen,  so  bezeichnete  litteratura  die  niedere  Stufe  der 
Grammatik  oder  die  Kenntnis  der  Buchstaben  beim  Lesen  und  Schreiben. 
Mit  dieser  niederen  Grammatik,  die  im  Altertum  die  Aufgabe  des  ygafi- 
juarioTi^g  (nicht  yga^ijuarixog)  bildete,  haben  wir  es  hier  nicht  zu  tun.  Wir 
verstehen  Litteratur  im  höheren  Sinn,  wonach  alles  in  einer  Sprache  mit 
bewußter  Kunst  Geformte  und  insbesondere  schriftlich  und  buchmäßig  Auf- 
gezeichnete Gegenstand  der  Betrachtung  ist,  also  hier  die  gesamte  ge- 
schriebene Hinterlassenschaft  des  griechischen  Volkes.  Die  durch  Zufall 
oder  zeitweiligen  Geschmackswechsel  verursachten  Lücken  und  Ungleich- 
heiten des  Litteraturstoflfes,  wie  er  auf  uns  gekommen  ist,  sollen  in  der 
Behandlung  nach  MögUchkeit  gefüllt  und  ausgeglichen  und  die  litterarischen 
Erzeugnisse  in  Zusammenhang  mit  Leben  und  Eigenart  ihrer  Verfasser 
wie  mit  der  gesamten  Kulturentwicklung  des  Volkes  betrachtet  und  auch 
nach  ihrer  technischen  Seite  beleuchtet  werden.  Der  Nachdruck  fällt  aber 
billigerweise  auf  die  Werke,  die  vermöge  ihrer  inneren  Bedeutung  und 
ihrer  künstlerischen  Ausarbeitung  den  größten  Einfluß  auf  die  gesamte  Er- 
ziehung des  altgriechischen  Volkes  und  des  Abendlandes  überhaupt  aus- 
geübt haben.  Aber  auch  die  einzelnen  Autoren  und  Werke  selbst  haben 
wieder  ihre  Geschichte  und  auch  diese  erheischt  Berücksichtigung:  man 
verlangt  zu  wissen,  welche  Aufnahme,  welche  wissenschaftliche  Bearbeitung 
die  großen  Autoren  bei  den  nachfolgenden  Generationen  gefunden  haben 
und  durch  welche  Kanäle  ihre  Schriften  auf  uns  gekommen  sind.  Die 
Scholien  und  Handschriften  verlangen  also  ihren  Platz  in  einer  Litteratur- 
geschichte  des   Altertums,    und   wenn   hier   in   beschränktem   Maße   auch 

*)  Qmnt.  II  1,  4:  grammatice,  quam  in  latinum  transferentes  litteraturam  vocaverunt. 
Handbuch  der  klasa.  AltertiunswUsenschaft.    VII.    5.  Aäfl.  1 


2  Qriechische  Litteratnrgeschichte.    Einleitung. 

bibliographische  Angaben  über  Hauptausgaben  und  wichtige  Erläuterungs- 
schriften beigefügt  werden,  so  dürfte  damit  vielen  des  Guten  eher  zu  wenig 
als  zu  viel  getan  zu  sein  scheinen. 

2.  Die  Darstellung  der  Litteraturgeschichte  kann  sich  entweder  ledig- 
lich an  die  Zeit  halten  (synchronistische  Methode)  oder  von  den  verschie- 
denen Gattungen  der  Litteratur  (eTdrj  ulyv  ovyygajujudr(üv)  ausgehen  und 
nur  innerhalb  dieser  die  zeitiiche  Folge  berücksichtigen  (eidologische  Me- 
thode). 0  Welche  von  diesen  beiden  Methoden  den  Vorzug  verdiene,  läßt 
sich  nicht  im  allgemeinen  festsetzen;  das  richtet  sich  vielmehr  nach  dem 
jeweiligen  Charakter  der  darzustellenden  Litteratur.  Ehe  wir  jedoch  diese 
Frage  bezüglich  der  griechischen  Litteratur  zur  Beantwortung  bringen,  müssen 
wir  zuerst  die  Grundlinien  beider  Methoden  an  und  für  sich  betrachten. 

3.  Die  Gattungen  der  Litteratur.  Die  obersten  Gattungen  der 
Litteratur  sind  Poesie  (jioirjoig)  und  Prosa  (köyog,  bestimmter  jieCog  Äoyog 
oder  T«  xaraXoyddrjv  yeyQaf^ifxhfCL),^)  Äußerlich  sind  sie  so  unterschieden,  daß 
die  Werke  der  Poesie  durch  das  Versmaß  gebunden  sind  {oratio  vincid)^^) 
die  der  Prosa  einer  solchen  Fessel  entbehren  (oratio  soluta),  somit  frei, 
ohne  Rückkehr  zum  gleichen  Gefüge  vorwärts  schreiten  {prosa  i,  e.  proversa 
oratio).^)  Aber  Versmaß  und  Vortragsweise  sind  nur  äußere  Unterscheidungs- 
zeichen; der  Unterschied  geht  tiefer  und  berührt  das  innere  Wesen  der 
beiden  Litteraturgattungen:  die  Poesie  wendet  sich  an  die  Phantasie  oder 
die  sinnliche  Vorstellungskraft,  die  Prosa  an  den  Verstand  und  das  ab- 
strakte Denkvermögen.^)  In  der  Poesie  spielen  daher  die  äußeren,  in  die 
Sinne  fallenden  Elemente  der  Darstellung,  die  Zusammenfügung  der  Worte 
und  der  Rhythmus,  eine  größere  Rolle  als  in  der  Prosa.  Da  nun  die  Lit- 
teraturgeschichte nicht  den  Inhalt  an  sich,  sondern  den  in  kunstvolle  Form 
gegossenen  Inhalt  betrachtet,  so  steht  ihr  die  Poesie  und  die  Kunstprosa  im 
Vordergrund  des  Interesses  und  widmet  sie  denjenigen  Werken  in  Prosa,  die 
ihre  Bedeutung  lediglich  im  Inhalt  haben,  wie  den  Schriften  über  Mathematik, 
Mechanik  und  dergleichen,  nur  eine  untergeordnete  Aufmerksamkeit. 


*)    A.    BöCKH,    Encyklopädie   d.   PhUoL.  '   ßovXe,    ff wreg,    oi    ygvoaft.^vxcov    fg    ditpQCr 

Leipz.  1877,  615  fF..  wo  auch  eine  Gliederung  Moiaäv  eßan'oy  xki^xi}.  q:6of4tyyi  awavröfuvoi, 

der  Litteratur  nach  fT6ri  gegeben  ist  Vgl.  Gregor  Naz.  or.  20  p.  332  a  ed.  Colon. 

*)    KnraÄoydStjr  schon  bei  Plat.  sympos.  I   neCoi  ?jfin'  jiagu  Av^im'  änftn  {^FotifQ. 

p.  177  b   (über  Piatons  Terminologie   s.    G.  ')  G.  Kühlmann,  De  poetae  et  poematis 

FiNSLER,  Piaton  u.  die  aristotel.  Poetik,  Leipz.  |   Graecor.  appcllationibus.  Diss.  Marburg  1906. 

1900,  37,  3)  und  Isokr.  2,  7.  Ueber  .t^C/v  koyog  '    —  fttÄOs,  yvO/wg  und  fteigov  sind  die  Merk- 

==  orri/iojof (/<',s7rf>Strab.p.  18 C.  nach  Poseido-  male  der  poetischen  Darstellung  Plat.  Gorg. 

nios  (G.  Kaibel,  Abb.  der  Gott.  Ges.  d.  Wiss.,  |   p.  502  c. 

N.F.  II  1898  nr.  4,  21  f.):  ?eai  avro  de  t6  jzeCov  *)  Varro  fragm.  gramm.  79  Wilmarns; 

hyOiivm   lov   ävev  lov  fietgov  loyov  euqpaivet  1   Donat.  ad.  Terent.  Eun.  II  3,  15:  prorsum  est 

Tov   (isio  ri/'oi's  Tivog  xaraßmia  xal  oxyfjajoi:  I   porro    versum    .  .  ,    hinc   et  prorsa   oratio, 

fU    Toröaqog     (umgekehrt   Ael.    Aristid.    or.  \   quam  non  inflexil  cantilena. 

XLV  8   Keil    xatä    q:voir  ftdU,6y   ianr   cii'-  '')  Oft  angeführt  wird  dafür  die  Weise, 

dguKto)  Jtei^(f>  xo}'f/>  /gr/odat,  (oojteg  ye  xat  ßadi-  wie  Homer  B  123  ff.  bildlich  die  Größe  des 

Cetr  olfiai  ftrdXnr  tj  oyorfin'oytf^FosoOfu.  Weitere  |   Heeres    bezeichnet.     Siehe    besonders,    was 

Stellen  bei  E.  Nokden,  Jahrbb.  f.  Philol.  Suppl.  Aristot.  po6t.  9  über  den  wesentlich  nicht  in 

18  (1891)  274  f.  und  Antike  Kunstprosa,  Leipz.  der  Form,  sondern   in   dem  Verhältnis  zum 

1898,  32  ff.;    R.  Hirzel.   Der  Dialog,  Leipz.  Gegenstand  bestehenden  unterschied  zwischen 

1895.  II  208  ff.  A.).      Schon   Plat.   sophist.  ,    Prosa  (Geschichte)   und  Poesie  ausführt:  der 

p.  237a:    -Tfc/)    xal  ftfut  nhgior.      Dasselbe  Historiker  stellt  dar  ra  ynoftera,  der  Dichter 

Bild  Pindar  I.  2,  1    oi  fih   naXat,    w  Ogaav-  oia  äv  yhoiio. 


Begriff  und  Oliedemng  der  litteratnrgeBchichte.    (§§  2—4.)  3 

4.  Die  Poesie  pflegt  man  jetzt  nach  den  Darstellungsformen  in  Epos, 
Lyrik,  Drama  einzuteilen,  und  diese  Einteilung  werden  auch  wir  unserer 
Darlegung  zugrunde  legen,  müssen  aber  gleich  hier  bemerken,  daß  diese 
Terminologie  nicht  ganz  auf  die  Arten  der  griechischen  Poesie  paßt  und 
daß  die  griechischen  Gelehrten  abweichende  Einteilungen  aufgestellt  haben, 
sei  es  auf  Grund  der  verschiedenen  Darstellungsformen  oder  der  verschie- 
denen Vortragsweisen  oder  des  verschiedenen  sittlichen  Gehaltes.  Diese 
unterschieden  nämlich,  ausgehend  von  einer  Stelle  Piatons, *)  zunächst 
zwischen  dem  yhog  /liijlujtixov  oder  dga/buxrixav  und  dem  yevog  dirjytj/üianxov 
oder  äjiayyehixov^  und  fügten  diesen  dann  noch  ein  vermittelndes  yivog 
Hoivov  oder  uixröv  hinzu.  2)  Zu  dem  letzten  stellten  sie  Dias  und  Odyssee, 
weil  in  diesen  bald  der  Dichter  erzählt,  bald  Agamemnon,  Achilleus  oder 
ein  anderer  in  direkter  Rede  spricht,  während  ihnen  die  Erga  des  Hesiod 
das  yevog  dirjyrjjuarixov  repräsentierten.  Eine  andere  Teilung  in  ojiovdaTov 
und  (pavlov  ist  ebenfalls  von  Piaton  ausgegangen  und  von  Aristoteles  über- 
nommen. 5)  In  der  jetzt  üblichen  Teilung  hat  das  Epos  seinen  Namen  von 
dem  Gegensatz  der  gesprochenen  (JhtrjY)  und  gesungenen  Gedichte  (^a/^ara)^) 
und  von  dem  für  das  Epos  bei  den  Griechen  typisch  gewordenen  Versmaß, 
dem  daktylischen  Hexameter,  der  bei  den  Metrikern  den  Namen  ^nog  hatte.^) 
Der  Name  Lyrik')  ist  insofern  nicht  ganz  bezeichnend,  als  er  nur  auf 
einen  Teil  der  lyrischen  Poesie,  die  von  Saiteninstrumenten  (insbesondere 
der  Lyra)  begleiteten  Gedichte  paßt,  während  wir  unter  demselben  auch  die 
rezitierte  iambische  und  die  vom  Aulos  begleitete  elegische  und  chorische 
Poesie  begreifen.  Der  Name  Drama  kommt  von  ögäfm  „Handlung"  her 
und  ist  aus  dem  Griechischen  unverändert  in  die  modernen  Sprachen  über- 
gegangen. 

Die  drei  Hauptgattungen  der  Prosa  sind  Geschichtschreibung,  Rhe- 
torik, Philosophie.  Von  diesen  entspricht  in  mehrfacher  Beziehung  die  Ge- 
schichte dem  Epos:   beiden   eignet  die  erzählende  Form   der  Darstellung, 

*)   Fiat.  reip.  DI  p.  394  bc:   t^?  tjoiri-  j  *)  Auch   die  lamben  und  Trochäen   des 

oeatg   tc   xai  fivOoXoyiag  ?)  fihv  öta  juifirioeoig  \  dramatischen  Dialogs  heißen  so  (Ar.  ran.  862: 

oXtf  iauvj  .  .  Tonycpdia  xe  xai  xiofupdia,  fj  de  '  Galen.  T.  XVII  1  p.  897  K.).  insofern  sie  nicht 

dt*  ojfayyeXia»;  aviov  tov  Ttoitjtov '  evgoig  S*  äv  gesungen    worden    sind ;     der    Worttext    im 

avTfjv   fidXiöTd  :iov   h  SiOvQaftßois  '    tj  6*  av  i  Gegensatz  zur  Melodie  Alkman  fr.  25. 


dl*  d/ig^ouQ(ov  fv  ts  tfj  iwv  ejiöjv  jrottjofi, 
:io?.Xaxov  6f  xai  äXXodi.  Dieselben  drei  Haupt- 
arten hat  Aristot.  poöt.  1.  Fr.  Stählin, 
Die  Stellung  der  Poesie  in  der  platonischen 
Philosophie.  Diss.  München  1901,  18  f.  Ein- 
gehend über  die  antiken  Einteilungen  J.  Kay- 
SBB,  De  veterum  arte  po6tica.   Diss.  Leipzig 


')  fwfAa  in  technischem  Sinn  CIA  11  1246 
(=  Dithyrambus) ;  Ch.  Miguel,  Recueil  d'inscr. 
grecques  n.  959.  7  {ao/ia  uerd  xoQor).  Tzetzes 
(Kayser  a.  a.  0.  p.  58,  2)  macht  eine  beson- 
dere, von  Dithyrambikern.  H}'mnographen, 
Epithalamiographen,  Elegikern,  lambikern, 
Epigrammatikern  unterschiedene  Gruppe  lyri- 


1906,  8  fF.  scher  Dichtung,    die  (WfiaToyodffni^   die   aber 

*)  Procl.  ad  Hes.  p.  4G.;   Procl.  Chrest.  nur  auf  die  homerischen  Aöden  gemünzt  zu 

p.  230 W. ;  Proleg.  Schol.  ad  Theoer.  VI ;  Schol.  B  sein  scheint. 

ad  Hom.  A  16,  Z46,  Eur.  Phoen.  1225 ;  Sueton.  I           «)  Plat.  reip.  111  p.  386  c  und  Arist  metaph. 

depoetis3;  ProbusadVerg.Bucol.p.7, 12KEIL.  ^   A- 6  p.  1093a  30.   Mitgewirkt  haben  bei  Fest- 

Vgl.  A.  Rbifferscheid  ,  Suetoni  rell.  p.  4  f.  i   Stellung  der  Terminologie   die   homerischen 

•)  G.  Finsler  a.  a.  0.  191  ff.   Analog  ist  Wendungen  fnea  nrendFVTa  nooofjvdn,  fiet?.tyj' 

die  Antithese  des  Heroischen  und  Biotischen  otm  F.^eooi  u.  ä. 

(Dionys.Thr.ar8§2;  Schol. Dionys.Thr.p. 307,  ^)  Er  ist  erst  hellenistisch  für  die  Ältere 

i  ff.  }iiLQ.)j  des  dteoTaXfih'ov  und  ovvfOTaifiFror  Bezeichnung  fit?.rj  (0.  Jahn   zu  Cic.  de  opt. 

(Cleonid.  isag.  härm.  p.  206,  3  ff.  v.  Jan).  gen.  or.  1). 

1* 


4  Oriechische  Litteratnrgeschichte.    Einleitimg. 

und  beide  sind  von  den  loniem  in  Eleinasien  ausgegangen.  Insbesondere 
schlössen  sich  die  Städtegründungen  (xtioeig)  der  Logographen  aufs  engste 
an  das  genealogische  Epos  an.  Das  Drama  und  die  Redekunst  sind  in 
derselben  Stadt,  in  Athen,  zur  Blüte  gelangt,  und  die  Verteidigungs-  und 
Anklagereden  vor  Gericht  haben  in  dem  Wortstreit  und  den  Gegenreden 
(^rjoeig)  des  Dramas  ihr  Analogen. 

6.  Die  Perioden  der  griechischen  Litteratur.  Die  chrono- 
logische Darstellung  muß  sich  von  selbst,  will  sie  übersichtlich  werden  und 
sich  nicht  mit  einer  kunstlosen  Aneinanderreihung  begnügen,  nach  großen 
Wendepunkten  umsehen.  Einen  solchen  Hauptwendepunkt  bezeichnet  der 
Untergang  der  Freiheit  und  Selbständigkeit  der  griechischen  Staaten  durch 
Philippos  und  Alexandres  d.  Gr.  Dieser  hat  nicht  bloß  politische  Bedeutung, 
er  scheidet  auch  die  Zeit  des  produktiven  und  auf  das  Ganze  gerichteten 
Schaffens  in  Kunst  und  Philosophie  von  der  Periode  des  Sammeins,  Ver- 
arbeitens,  Verifizierens  in  spezialistischer  Vereinzelung  der  Fachwissen- 
schaften. Innerhalb  der  ersten  Periode  bilden  wieder  die  Perserkriege 
einen  Markstein,  weniger  wegen  der  Besieguug  des  Nationalfeindes,  ala 
weil  infolge  des  hervorragenden  Anteils  der  Athener  an  dem  Sieg  nun- 
mehr Athen  in  den  Vordergrund  des  politischen  und  geistigen  Lebena 
der  Nation  tritt.  Denn  während  zuvor  die  einzelnen  Stämme,  jeder  für 
sich  und  in  seiner  Sprache,  an  der  Entwicklung  der  Litteratur  sich  beteiligt 
hatten,  reißt  nun  Athen  die  geistige  Führung,  ja  das  Monopol  der  Bildung 
an  sich.  Das  bedeutete  aber  mehr  als  einen  bloßen  Ortswechsel:  die  Lit- 
teratur gewinnt  eine  universelle  Richtung  i)  und  nimmt  das  Gepräge  dea 
athenischen  Volkes  an,  d.  i.  den  Charakter  geistiger  Aufklärung,  prak- 
tischer Verständigkeit,  schwungvollen  Freiheitssinnes.  In  der  zweiten  Haupt- 
periode bezeichnet  der  völlige  Untergang  der  aus  Alexandres'  Weltmonarchie 
hervorgegangenen  hellenistischen  Reiche  einen  wichtigen  Abschnitt;  er  fällt, 
zusammen  mit  der  Schlacht  von  Aktium  (31  v.  Chr.)  und  dem  Untergang 
des  Ptolemäerreiches.  Denn  von  da  an  bilden  die  Griechen  nur  dienende 
Glieder  der  großen  römischen  Weltherrschaft.  Wir  lassen  diese  letzte 
Periode  bis  auf  den  Regierungsantritt  des  Kaisers  Justinian  (527)  oder  bis 
zur  völligen  Aufhebung  der  altgriechischen,  nunmehr  heidnisch  geschol- 
tenen Philosophenschulen  reichen.  Innerhalb  dieser  vier  Perioden,  nament- 
lich innerhalb  der  letzten,  lassen  sich  noch  leicht  weitere  Unterabteilungen 
gewinnen,  von  denen  aber  vorläufig  nicht  gehandelt  zu  werden  braucht.*) 

6.  Kehren  wir  nun  zu  der  Frage  zurück,  ob  die  Darstellung  nach 
Litteraturgattungen  oder  die  nach  der  zeitlichen  Zusammengehörigkeit  für 
eine  griechische  Litteratnrgeschichte  die  angemessenere  sei,  so  springt  uns 

*)  Über  die  universelle  Natur  Athens,  I  griechischen  Nation  bis  auf  Homer  voraus 
das  die  Kultur  loniens  und  Eorinths  in  sich  '  und  lassen  ihnen  eine  sechste  Periode  «von 
aufnahm,  ü.  v.  Wilamowitz,  Hom.  Unters.  |  Justinian  bis  zur  Einnahme  von  Konstanti- 
256  ff.;  über  die  attische  Sprache  Isokr.  15.  i  nopel"  nachfolgen.  Die  letzte  Periode,  die 
295 ;  über  die  Stämme  der  Griechen  und  ihre  l  byzantinische,  ist  in  diesem  Handbuch  selb- 
st eilung  im  Geistesleben  der  Nation  über-  i  ständig  von  K.  Krumbacheb  behandelt:  die 
haupt  Tu.  Berok,  Kl.  phil.  Sehr.  II  365  ff.  '  erste  erscheint  bei  uns  als  Eingang  zum  ersten 

=*)  F.  A.  Wolf  imd   nach  ihm  G.  Bern-  |  Teil.   Mehr  ünterperioden  stellt  Th.  Bkbok. 

hardy    schicken    diesen    vier   Perioden    eine  \  Gr.  Litt.  I  302  ff.  auf. 

Periode  von    den  politischen  Anfängen   der  i 


Begriff  und  Gliederung  der  Litteratnrgeschichte.    (§§  5—6.)  5 

sofort  ein  großer  Unterschied  der  griechischen  Litteratur  von  der  modernen, 
und  innerhalb  der  griechischen  Litteratur  zwischen  der  Zeit  vor  und  nach 
Alexandres  in  die  Augen.  Schiller  und  Goethe  haben  in  Prosa  und  in  Versen 
geschrieben,  haben  Lieder,  Epen  und  Dramen  gedichtet;  eine  Darstellung 
nach  Litteraturgattungen  würde  daher  dieselbe  Persönlichkeit  nach  den 
verschiedensten  Seiten  auseinanderreißen.  So  etwas  ist  in  der  griechischen 
Litteratur  nicht  zu  besorgen,  wenigstens  nicht  in  der  klassischen  Zeit  vor 
Alexandres.  Hier  zerteilte  sich  in  der  Regel  die  Kraft  eines  Mannes  nicht 
auf  verschiedene  Gattungen,  hier  machte  die  Beschränkung  den  Meister. 
Femer  begegnen  wir  im  Eingang  unserer  deutschen  Litteratur  einem  Werk 
in  Prosa,  und  in  der  römischen  Litteratur  tritt  uns  als  erster  Schriftsteller 
Livius  Andronicus,  ein  Dichter  von  Tragödien  und  Komödien,  entgegen; 
das  ist  eine  Verkehrung  der  natürlichen  Ordnung,  herbeigeführt  durch  die 
Einwirkung  fremder  Kultur.  Bei  den  Griechen  hat  sich  die  Litteratur  fast 
ohne  jeden  fremden  Einfluß  entwickelt;  es  lösten  sich  die  ausgebildeten 
Litteraturgattungen,  deren  keimhafte  Vorstadien  in  dem  mimisch-dichteri- 
schen Treiben  des  illitteraten  Volks  neben-  und  durcheinander  zu  liegen 
pflegen,  in  naturgemäßer  Folge  ab.  Zuerst  im  Jugendalter  der  Nation, 
noch  bevor  es  Schrift  und  Bücher  gab,  erblühte  die  heitere,  leichtgeschürzte 
Poesie,  die  im  Kreise  jugendfroher  Sinnlichkeit  erwuchs  und,  von  der 
lebendigen  Stimme  des  Volkes  getragen,  keiner  schriftlichen  Aufzeichnung 
bedurfte.  Gegen  die  Zeit  der  Perserkriege  entwickelten  sich  die  Anfänge 
der  Prosa,  die,  losgelöst  von  dem  sinnlichen  Reize  des  Metrums  und  der 
Bildersprache,  sich  von  vornherein  an  den  Verstand  wendete  und  zu  ihrer 
Fortpflanzung  die  Fixierung  durch  die  Schrift  erheischte.  Und  von  der 
Poesie  selbst  hinwiederum  entwickelte  sich  zuerst  das  Epos,  wie  auch  der 
Mensch  in  seiner  Kindheit  zuerst  Märchen  und  Erzählungen  liebt.  Es 
folgten  die  verschiedenen  Arten  der  Lyrik,  die  von  der  reizvoll  entfalteten 
Außenwelt  in  die  Tiefe  der  inneren  Empfindungen  und  Betrachtungen  hinab- 
stieg und  zum  Ausdruck  mannigfacher  Gefühle  auch  einer  kunstvoller  ver- 
schlungenen Form  bedurfte.  Erst  als  das  Epos  und  die  Lyrik  ihren  Höhe- 
punkt bereits  überstiegen  hatten,  folgte  das  Drama,  das  jene  beiden  Ele- 
mente in  sich  aufnahm  und  die  alten  Mythen  in  einer  neuen,  dem  attischen 
Geist  mehr  entsprechenden  Form  gleichsam  wiedergebar.  Innerhalb  der 
Prosa  ist  die  Reihenfolge  nicht  eine  gleich  regelmäßige;  doch  bleibt  es 
immerhin  bezeichnend,  daß  die  ersten  Denkmäler  der  Prosa  der  dem  Epos 
entsprechenden  Historie  angehören,  und  daß  die  Rhetorik  später  als  die 
Historie  und  Philosophie  zur  Entfaltung  kam.  So  empfiehlt  sich  also  für 
die  klassische  Periode  der  griechischen  Litteratur  unbedingt  die  Darstellung 
nach  Litteraturgattungen,  die  nach  dem  Gesagten  ungesucht  auch  die 
richtige  zeitliche  Ordnung  im  Gefolge  hat.  —  Anders  stellen  sich  die 
Verhältnisse  für  die  Zeit  nach  Alexandres.  Hier  ist  von  jener  natür- 
lichen Folge  ohnehin  keine  Rede  mehr,  da  ja  in  Alexandria  der  Kreislauf 
der  Litteratur  nicht  wieder  von  neuem  begann.  Aber  auch  die  Arten 
scheiden  sich  nicht  mehr  in  gleich  scharfen  Linien  voneinander.  Apollonios 
und  Kallimachos  schreiben  als  Gelehrte  in  Prosa,  verzichten  aber  dabei 
nicht  auf  den  Ruhm,   als  Dichter  von  Elegien  und  Epen  zu' glänzen;   Plu- 


6  QriechiBche  Litteratnrgeschichte.    Einleitang. 

tarchos  zeigt  zwar  keine  dichterische  Ader,  aber  in  der  Prosa  tritt  er  zugleich 
als  Historiker,  Philosoph  und  Rhetor  auf.  Hier  werden  wir  also  Modifikationen 
anbringen  und  die  Gleichzeitigkeit  mehr  berücksichtigen  müssen.  Wie?  Das 
wird  sich  später  passender  erörtern  lassen.  Ohnehin  werden  wir  nicht  dem 
System  zulieb  uns  dem  Vorwurf  praktischer  Unzweckmäßigkeit  aussetzen. 
Wir  werden  also  z.  B.  den  Xenophon  nur  an  einer  Stelle  behandehi,  wiewohl 
er  historische  und  philosophische  Schriften  geschrieben  hat,  werden  dagegen 
die  Dichter  der  neueren  Komödie  von  denen  der  mittleren  trennen,  wiewohl 
z.  B.  manche  Stücke  des  Diphilos  der  mittleren  zuzurechnen  sind. 

7.  Die  litterarhistorischen  Studien  im  Altertum.  Die  Studien 
zur  griechischen  Litteratnrgeschichte  reichen  bis  in  das  Altertum  selbst 
zurück.^)  Sie  waren  zunächst  teilweise  durch  aktuelle  Kontroversen  der 
Sophistenzeit  veranlaßt,  wie  das  für  die  musikgeschichtliche  Schrift  des 
Glaukos  von  Rhegion,  die  in  den  Streit  über  die  Priorität  der  Kitharis-  oder 
Aulosmusik  in  Griechenland  eingreift,  sicher,  bei  anderen  Versuchen  aus 
dem  5.  Jahrhundert,  wie  Stesimbrotos'  yevog  'Omjgov  oder  Damastes'  Tiegl 
jioirjTwv  Hai  oo(pioT(bv  möglich  ist,  wenn  es  sich  bei  den  letzteren  nicht  um 
Schriften  für  Zwecke  des  sophistischen  Unterrichts  oder  epideiktische  Vor- 
träge handelt.  Mit  der  Teilnahme  für  alles  Individuelle,  Persönliche  er- 
wachte aber  dann  im  4.  Jahrhundert  das  Interesse  für  biographische  Dar- 
stellungen. Auch  hier  gab,  wie  auf  so  vielen  anderen  Gebieten,  Aristoteles 
die  Anregung  und  ihm  zur  Seite  der  geistesverwandte  Schüler  Piatons, 
Herakleides  Pontikos.  Die  Peripatetiker  Demetrios  von  Phaleron,  Aristo- 
xenos,  Phanias,  Praxiphanes,  Chamaileon,  Satyros  traten  in  die  Fußtapfen 
ihres  großen  Meisters.  Aus  den  Philosophenschulen  verpflanzte  sich  dann 
die  Neigung  für  derartige  Studien,  deren  ja  auch  die  Schriftstellerexegese 
bedürftig  war,  auf  die  grammatischen  Schulen  in  Alexandria  und  Pergamon: 
Antigenes  der  Karystier,  die  KaUimacheer  Hermippos  und  Istros  sind  hier 
die  Hauptvertreter  der  biographischen  Forschung  geworden.  Was  von  diesen 
Philosophen  und  Gelehrten  über  das  Leben  der  hervorragenden  Dichter  und 
Philosophen  erforscht  und  erfabelt  worden  war,  ging  mit  Neuem  vermehrt 
teils  in  die  den  Ausgaben  der  Autoren  vorausgeschickten  Abrisse  jieqI  rov 
yevovg  xal  ßlov,  teils  in  die  großen  zusammenfassenden  Werke  eines  Her- 
mippos von  Berytos,  Herennios  Philon,  Aelius  Dionysius,  Rufus,  Hesychios 
Milesios  über.  2)  Am  Ende  der  alexandrinischen  Periode  verfasste  Demetrios 
von  Magnesia  noch  ein  zur  Vermeidung  von  Mißverständnissen  bei  dem 
massenhaft  aufgespeicherten  Namenmaterial  sehr  nützliches  Buch  mgl 
Ttüv  6fio)vi\uo)v  7Ton]TO)v  TB  xoi  ovyyQaq)e(ov,  Auf  uns  gekommen  sind 
außer  den  zerstreuten  biographischen  Notizen  der  Scholien  und  den 
Spezialwerken  des  Diogenes  und  Pseudo-Plutarchos  über  die  Philo- 
sophen  und  Redner    das    große    Lexikon   des   Suidas   (10.  Jahrhundert)^) 


M  E.  KoEPKE,  Quid  et  qua  ratione  iam 
(^iraeci  ad  litterarum  historiam  condendam 
elaboraverint,  Berol.  1845. 


Hesychii  Milesii  Onomatologi  quae  supers..Lips. 
1882.  Über  die  Einrichtung  von  Hesychios* 
'QyoftaToXöych;  G.  Wentzel,    Herrn.  33  (1898) 


2)  F.  Leo,  Die  griechisch-römische  Bio-  275  ff. ;  über  Interpolation  der  Komikerartikel 

graphie.  Leipz.  1901.  beiSuid.aus  AthenaiosR.  J.Tn.WAONER.Sym- 

^)    Die    litterarhistorischen    Artikel    des  bolae  ad  comicor.  Gr.  histor.  crit.  Diss.  Leipz. 

Suidas  ausgezogen  und  bearbeitet  von  H.Flach,  i    1905,  30  ff.;  über  Zusammenziehung  verschie- 


Begriff  und  Oliedemng  der  litteratorgeBchichte.    (§  7.)  ^ 

und  die  Chronika  des  Eusebios.^)  Außerdem  haben  wir  inschriftliche 
Quellen,  wie  sie  schon  im  Altertum  litterarisch  verwertet  und  be- 
arbeitet worden  sind,  insbesondere  für  die  Geschichte  der  Lyrik  (amtliche 
Verzeichnisse  der  Sieger  in  lyrischen  Agonen,  private  Weihungen  der  Sieger 
mit  Aufschriften)  und  Dramatik  (Verzeichnisse  dramatischer  Siege  und 
Sieger  besonders  aus  Athen)  ;*)  dazu  kommen  inschriftliche  Denkmäler 
litterarhistorischen  Inhalts  für  Zwecke  des  Schulunterrichts  wie  die  Marmor- 
chronik von  Faros  aus  dem  Jahr  264  v.  Chr.^)  und  die  Bilderchroniken  auf 
Stein  aus  der  Kaiserzeit,*)  Wir  würden  uns  den  Zugang  zu  unserer  eigent- 
lichen Aufgabe  übermäßig  erschweren,  wollten  wir  gleich  hier  auf  die  ein- 
zelnen Namen  und  Schriften  so  eingehen,  wie  es  eine  kritische  Beleuchtung 
der  biographischen  Studien  des  Altertums  verlangte.  Daher  genüge  hier 
die  allgemeine  Bemerkung,  daß  schon  von  den  Peripatetikern  und  Alexan- 
drinern die  wenigen  sicheren  Notizen  über  das  Leben  großer  Männer,  be- 
sonders infolge  von  willkürlicher  Auslegung  einzelner  Stellen  in  ihren 
Werken  oder  von  unkritischer  Benützung  wissenschaftlich  anfechtbarer 
Quellen  wie  der  Komödie  oder  tendenziöser  Partei-  und  Schuldarstellungen, 
mit  einer  Fülle  haltloser  und  anekdotenhafter  Züge  versetzt  wurden,  und 
daß  die  chronologischen  Angaben  aus  der  älteren  Zeit^)  meist  auf  fingierten 
Stammtafeln  und  ungenauen  synchronistischen  Kombinationen  beruhen,  so 
daß  viele  der  auf  ein  bestimmtes  Jahr  lautenden  Angaben  -sich  bei  ge- 
nauerer Betrachtung  in  eine  vage  Allgemeinheit  verflüchtigen ß.) 

Zu  den  biographischen  Forschungen  gesellten  sich  in  der  alexan- 
drinischen  Periode  bibliographische  Aufzeichnungen  {avayQa(pai)  der 
Litteraturdenkmäler.  Schon  bald  nach  Gründung  der  Bibliothek  in 
Alexandria  verfaßte  Kallimachos  Verzeichnisse  {nivaxeq)  der  Autoren 
und  ihrer  Schriften  mit  genauen  Angaben  des  Titels  und  der  Zeilen- 
zahl der  einzelnen  Bücher  samt  kurzen  Notizen  über  die  Echtheits- 
fragen. Später  wurden  ähnUche  Kataloge  auch  von  der  Bibliothek  in 
Pergamon  angelegt  und  veröffentlicht.  An  die  Pinakes  des  Kallimachos 
schlössen  sich  dann  litterarhistorische,  ästhetische  und  technische  Erläute- 
rungen des  Aristophanes  von  Byzanz  und  anderer  Gelehrten  an,  die  zur 
Aufstellung  von  Verzeichnissen   der  Schriften  in  den  einzelnen  Gattungen 

dener  Artikel  in  eiDen  und  über  Wiederholung  \   Analecta   Graecolatina ,  Cracov.  1893 ,  55  if. 

desselben  Artikels  bei  Suidas  ders.  56  ff.  über  derartige  Litteraturdenkmäler  auf  Stein 

»)  Eusebii  Chronica  ed.  A.  Schöne.  Berol.  1    F.  Jacoby,  Rhein.  Mus.  59  (1904)  94  ff. 

1875.      Dazu  A.  v.  Gütschmid,   Kl.  Sehr.  I  |           ^)  Ausarbeiter   des   chronologischen  Sy- 

416  ff.  stems  ist  Apollodoros  von  Athen.   H.  Diels, 

*)  A.  Wilhelm,  Urkunden  dramatischer  Rhein.  Mus.  31  (1876)  1  ff.;  F.  Jacoby,  Apollo- 
Aufführungen  in  Athen,  in  den  Sonderschriften  dors  Chronik.  Berl.  1902. 
des  österr.  archäol.  Instituts,  Wien  1906;  da-  *)  Die  richtige  Schätzung  der  alten  Nach- 
zu  WiLAMOwiTZ,  Gott.  gel.  Anz.  1906, 611  ff.;  richten  wurde  in  unserer  Zeit  besonders  klar- 
E.  Reisch,  Zeitschr.  f.  die  österr.  Gymnasien  gestellt  und  zur  Berichtigung  der  herkömm- 
58  (1907)  289  ff.  ;    liehen  Nachrichten  verwertet  von  Erw.  Rohde 

')  Chronicon  Parium  (parische  Marmor-  I  in  verschiedenen  Aufsätzen  des  Rhein.  Mus., 
Chronik),  neubearbeitet  von  H.  Flach,  Tüb.  1  jetzt  gesammelt  im  1.  Band  seiner  kleinen 
1884;  nebst  neugefundenen  Bruchstücken  Schriften,  1901;  schon  zuvor  wurden  die  An- 
herausgegeben von  F.  Jacoby,  Das  Marmor  gaben  der  Alten  auf  ihren  richtigen  Wert 
Parium,  Berl.  1904.  zurückgeführt  von  K.  Lehrs,  Wahrheit  und 

*)  0.  Jahn  und  A.  Michaelis,  Griechische  ;   Dichtung    in    der   griechischen    Literaturge- 

Bilderchroniken,  Bonn  1873.  P.  Bienkowski  in  ;   schichte,  in  Pop.  Aufs.  2.  Aufl.  Leipz.  1875. 


8  Oriechiflche  Lüteratnrgeschiohte.    Einleitung. 

und  im  weiteren  Verlauf  zur  Festsetzung  eines  Kanons  mustergültiger 
Autoren  führten.  Die  daher  stammenden  Charakteristiken  der  hauptsäch- 
lichsten Autoren  sind  durch  Quintilian  Inst.  or.  X  auf  uns  gekommen. 
Tiefer  ins  einzelne  gingen  die  Inhaltsangaben  {vno&ioeig)  einzelner  Werke, 
namentlich  der  Tragiker  und  Komiker,  mit  deren  Abfassung  sich  vornehm- 
lich Dikaiarchos  und  Aristophanes  von  Byzanz  beschäftigten,  i)  Sind  sie  uns 
auch  nur  teilweise  und  in  stark  verstümmelter  Form  erhalten,  so  bilden 
sie  doch  mit  ihren  gelehrten  Notizen  über  die  Abfassungszeit  und  die  be- 
nützten Mythen  eine  Hauptquelle  unserer  litterarhistorischen  Kenntnisse. 
Endlich  verdanken  wir  noch  mannigfache  Belehrung  über  Werke  der  grie- 
chischen Litteratur,  die  uns  nicht  vollständig  erhalten  sind,  den  Exzerpten, 
die  gegen  Ende  des  Altertums  und  im  byzantinischen  Mittelalter  ge- 
lehrte Männer  veranstalteten.  Dahin  gehören  die  Chrestomathie  des  Pro- 
klos, die  Anthologie  des  Stobaios,  die  Bibliothek  des  Patriarchen  Photios 
und  die  im  Auftrag  des  Kaisers  Konstantinos  VII.  Porphyrogennetos  her- 
gestellten Auszüge  aus  älterer,  besonders  geschichtlicher  Litteratur.  —  Zu 
litteraturgeschichtlichen  Leistungen  in  unserem  Sinn,  d.  h.  zu  einer  den 
zeitlichen  und  kulturellen  Hintergrund,  Persönlichkeit  und  Leben  des  Ver- 
fassers, ästhetische,  ethische  und  technische  Analyse  der  Werke  in  eine 
organische  Einheit  zusammenfassenden  Darstellung  hat  es  das  gesamte  Alter- 
tum nicht  gebracht.  Nur  die  zerstreuten  oder  notdürftig  nebeneinander- 
gestellten Elemente  liegen  in  Qeschichtswerken,  chronologischen  oder  biblio- 
graphischen Aufzeichnungen,  Biographien,  Kommentaren,  ästhetischen  oder 
echtheitskritischen  Schriften  vor. 

8.  Die  neueren  Werke  über  griechische  Litteratur.  In  der 
neuen  Zeit  nach  dem  Wiederaufleben  des  klassischen  Altertums  hatte  man 
anfangs  so  vollauf  zu  tun  mit  der  Herausgabe,  Verbesserung,  Übersetzung 
der  griechischen  Schriftsteller,  daß  man  zu  einer  systematischen  Darstellung 
der  griechischen  Litteraturgeschichte  wenig  Zeit  fand.  Das  oft  aufgelegte 
Büchlein  von  L.  6.  Gyraldus,  De  historia  poetarum  tam  graecorum  quam 
latinorum  dialogus  (1545)  ging  nicht  viel  über  eine  Zusammenstellung  der 
biographischen  Überlieferungen  des  Altertums  hinaus.  Von  selbständigerer 
Bedeutung  waren  die  Einzeluntersuchungen  von  6.  J.  Voss,  De  historicis 
graecis  (1624)*)  und  von  D.  Ruhnken,  Historia  critica  oratorum  grae- 
corum (1768). 3)  Den  Versuch,  das  weitschichtige  Material  zur  grie- 
chischen Litteraturgeschichte  mit  Einschluß  der  Kirchenväter  und  Byzan- 
tiner zu  einem  großen  Sammelwerk  zu  vereinigen,  machte  im  18.  Jahr- 
hundert J.  A.  Fabricius  in  seiner  Bibliotheca  graeca.  Wertvolle  Beiträge 
lieferten  um  dieselbe  Zeit  die  Zweibrücker  Ausgaben  (Bipontinae) ,  in 
denen  den  Texten  der  Autoren  die  Nachrichten  (testimonia)  über  die 
betreffenden   Werke    und    eingehende    Lebensbeschreibungen   (vitae)    vor- 

*)  F.  W.  ScHNEiDKWiN,  De  hypothesibus  !   Lips.  1838,  wonach  wir  zitieren, 

tragoediarum  graec.  Aristophani  Byzantio  vin-  |           ')  Erschienen  als  Einleitung  zur  Ausgabe 

dicandis,  in  Abhdl.  der  Gott.  Ges.  Vi  (1853)  3  des  lateinischen  Rhetors  Rutilius  Lupus  1768, 

bis37;  A.I'rendelenburo,  Grammaticor.Grae-  aufgenommen  in  J.  Reiskes  Oratores  Graeci 

cor.  de  arte  tragica  iudicior.  reliquiae,  Bonn  j   VIII  121—173    und   in  Ruhnkenii   Opusc.  I 

1N67;  vgl.  WiLAMOwrrz,  Eur.  Herakl.  V  145  f.  |   310—92. 

*)  Neubearbeitet  von   A.  Wbstermann, 


Begriff  und  Gliederung  der  Litteratorgeschichte.    (§  8.)  9 

ausgeschickt  wurden.  Die  methodische  Behandlung  der  Litteraturgeschichte 
datiert  von  Fr.  A.  Wolf,  der  hier  wie  in  anderen  Disziplinen  der  Philo- 
logie, die  bloß  stoffliche  Anhäufung  verschmähend,  auf  systematische  An- 
ordnung und  organische  Entwicklung  drang.  Seine  in  Halle  gehaltenen 
Vorlesungen  über  die  Geschichte  der  griechischen  Litteratur  wurden  erst 
nach  seinem  Tod  von  J.  D.  Gürtler  (1831)  herausgegeben.  Auf  seinen 
Schultern  steht  G.  Bernhardy,  der  in  seinem  unvollendet  gebliebenen 
Grundriß  der  griechischen  Litteratur  mit  reicher  Gelehrsamkeit  und  Streben 
nach  Verbindung  der  Litteratur  mit  dem  gesamten  Geistesleben  die  Fächer 
ausfüllte,  zu  denen  Wolf  die  Grundlinien  gezogen  hatte.  Unvollendet 
blieben  auch  die  Werke  der  beiden  Männer,  die  neben  Bernhardy  sich  das 
meiste  Verdienst  um  unsere  Wissenschaft  erworben  haben  und  jenen  an 
lebensvoller  Frische  der  Auffassung  und  Darstellung  weit  übertreffen, 
K.  Otfr.  Müller  und  Th.  Bergk.  Mehr  aber  noch  zur  Förderung  der 
Sache  trugen  die  Untersuchungen  über  einzelne  Zweige  der  griechischen 
Litteratur  bei.  Allen  voran  leuchten  in  dieser  Richtung  drei  Männer:  Fr. 
Jacobs,  der  im  13.  Bande  seiner  Ausgabe  der  griechischen  Anthologie 
(1813)  und  in  den  Nachträgen  zu  Sulzers  Theorie  der  schönen  Wissen- 
schaften (1792  ff.)  den  Weg  gelehrter  und  geschmackvoller  Behandlung 
litterarhistorischer  Fragen  wies,  Aug.  Meineke,  dessen  unvergleichliche 
Sorgfalt  in  der  Sammlung  und  Ordnung  der  Fragmente,  namentlich  der 
Komiker,  die  Lücken  der  erhaltenen  Litteratur  glücklich  überbrückte,  und 
Friedr.  Gottl.  Welcker,  der  vornehmlich  durch  seine  Werke  über  den 
epischen  Zyklus  und  die  griechischen  Tragödien  unserer  Wissenschaft  neue 
Bahnen  brach  und  das  Band  zwischen  Litteratur  und  Kunst  neu  knüpfte. 
J.  A.  Fabbicii  Bibliotheca  graeca  sive  notitia  veterum  scriptomm  graecorum,  Ham- 
burg 1705—28, 14Bde.  4.,  ed.  IV  von  G.  Ch.Hablbs, Hamburg  1790-1809, 12  Bde.  4.  Index  1838. 
—  G.  Bbbnhabdy,  Grundriss  der  griech.  Lit.,  1.  Teil  Innere  Gesch.,  2.  Teil  in  2  Abteil.  Gesch. 
der  griech.  Litt,  (nur  die  Poesie  enthaltend),  2  Bde.  Halle  1886  {l*  1876,  ^  besorgt  von  R.  Volk- 
MAiiK  1892,  II»,  2.  Abdr.  1880).  —  K.  0.  Müller,  Gesch.  d.  griech.  Lit.  bis  auf  das  Zeitalter  Ale- 
xanders, Breslau  1841,  2  Bde.,  neubearbeitet  von  E.  Hbitz  mit  Fortsetzung,  4.  Aufl.  1882—4; 
in  England  wurde  das  Werk  fortgeführt  bis  auf  die  Einnahme  Konstantinopels  durch  die  Tüi'ken 
von  J.  W.  DoNALDsoN,  London  1858,  2  Bde.  —  M.  S.  Fr.  Scholl,  Histoire  de  la  littörature 
grecque,  Paris  1813,  deutsch  bearbeitet  von  Fr.  Schwarze  und  M.  Finder,  Berlin  1828 — 30, 

3  Bde.  —  Th.  Bbuqk,  Griech.  Literaturgeschichte,  1.  Band  vom  Verf.  selbst  besorgt,  Berlin 
1872,  die  drei  folgenden  Bände  aus  den  Papieren  Bergks  unter  Beiziehung  von  Bergks  Artikel 
«Griechische  Litteratur"  in  Ersch  und  Grubers  Encyklopädie  herausgegeben  von  G.  Hinrichs 
und  R.  Peppmüller  1883—7,  umfaßt  in  den  von  B.  selbst  ausgearbeiteten  Teilen  nur  Epos, 
Lyrik,  Drama  bis  Euripides,  Anfänge  der  Prosa.  Index  von  R.  Peppmüller  u.  W.  Haun  1894.  — 
R.  Nicolai,  Griechische  Literaturgeschichte  in  neuer  Bearbeitung,  Magdeburg  1873  — 78, 3  Bde. 
mit  Einschluß  der  byzantinischen  Lit.,  Auszug  in  1.  Bd.  1883.  —  K.  Sittl,  Geschichte  der 
griech.  Lit.  bis  auf  Alexander  d.  Gr.,  München  1884—87,  3  Bde.  —  W.  Mure,  A  critical 
History  of  the  Lang,  and  Lit.  of  ancient  Greece,  London  1850—1857,  5  vol.;  2.  Aufl.  1859, 

4  vol.,  nur  bis  Alexander  ohne  Drama  und  Redner.  —  J.  P.  Mahaffy,  A  History  of  Clas- 
sical  Greek  Literature,  London  1.  Ausg.  1880;  2.  Ausg.  1883;  3.  Ausg.  1890—95.  2  vol.  in 
je  2  Teilen.  —  Alpb.  et  Maur.  Croiset,  Histoire  de  la  litt,  grecque,  Paris  1887—99,  5  Bde. 
Den  allgemeinen  Bericht  über  griechische  Litteraturgeschichte  in  dem  Jahresbericht  über 
die  Fortschritte  der  klass.  Altertumswissenschaft,  begründet  von  C.  Bürsian,  jetzt  heraus- 
gegeben von  W.  Kroll,  erstattet  C.  Häberlin,  zuletzt  1900,  3.  Abt.,  S.  235  fF.  Daneben  eine 
Reihe  von  Spezialberichten  über  die  einzelnen  Gattungen.  —  Den  neuesten  Stand  der  For- 
schung stellen  dar  die  einzelnen  Artikel  über  die  griechischen  Autoren  in  der  seit  1894  unter 
Leitung  von  G.  Wissowa,  seit  1906  unter  der  von  W.  Kroll  erscheinenden  Neubearbeitung 
von  A.  F.  Paülys  Realencyklopädie  der  klassischen  Altertumswissenschaft.  Für  die  noch 
nicht  erschienenen  Buchstaben  ist  man  noch  auf  das  alte,  Stuttgart  1839—52  in  6  Bänden 
<Y0D  Bd.  I  eine  2.  Aufl.  unter  Leitung  von  W.  S.  Teuffel  1861)  erschienene  Werk  angewiesen. 


10  Griechische  Litteratnrgeschichte.    Einleitung. 

Kompendien :  Fr.  Passow,  Grnhdzüge  d.  griech.  u.  röm.  Literaturgesch.  u.  Eonstgesch., 
2.  Aufl.,  Breslau  1829.  —  E.  Munk,  Gesch.  der  griech.  Lit.  mit  vielen  Auszügen  in  Ueber- 
setzung,  1849—50,  2.  Aufl.  1862—63,  3.  Aufl.  besorgt  von  R.  Volkmann,  Berlin  1880,  2  Bde. 

—  Th.  Bergk,  Griech.  Literatur,  AbriB  in  Ersch  und  Grubers  Encykl.  1863.  —  W.  Kopp, 
Gesch.  der  griech.  Lit.  (für  Gymnasiasten),  4.  Aufl.  besorgt  von  Hubert,  Berlin  1886,  5.  Aufl. 
besorgt  von  G.  J.  Müller.  1893.  —  J.  Mähly,  Gesch.  der  antiken  Litteratur,  Leipzig  1880, 
2  Bde.,  für  weitere  Kreise  der  Gebildeten  bestimmt.  —  F.  Bender,  Gesch.  d.  griech.  Litt, 
bis  auf  die  Zeit  der  Ptolemfter,  1886  in  der  bei  Friedrich  in  Leipzig  erscheinenden  Gesch. 
d.  Weltlitteratur,  ohne  gelehrtes  Beiwerk.  —  J.  Sitzlbr,  Abriß  der  griech.  Litteratnr- 
geschichte, Leipzig  1890,  unvollendet  —  E.  Kroker,  Geschichte  der  griech.  Litteratur,  I., 
Leipzig  1895.  —  A.  Gerokb,  Griech.  Litteraturgeschichte,  1898  in  Sammlung  Göschen.  — 
Unter  den  Darstellungen,  die  sich  an  weitere  Kreise  wenden,  verdient  als  die  zugleich 
knappste  und  an  eingehender  Vertrautheit  mit  den  Quellen  und  dem  Stand  der  Probleme 
wie  an  Anregung  für  die  Forschung  bedeutsamste  trotz  ihrer  starken  Ungleichmäßigkeit 
der  Abriß  von  U.  v.  Wilamowitz  in  dem  Gesamtwerk  Die  Kultur  der  Gegenwart  I.  Abt.  VIII, 
Leipz.  1905  (2.  Aufl.  1907)  zuerst  genannt  zu  werden.  Hervorragend  sind  auch  die  die 
Litteratur  bebeffenden  Abschnitte  in  E.  Meyers  Geschichte  des  Altertums;  anregend  J.  Burck- 
HARDTs  Uebersicht  (nach  seinen  Vorlesungen)  in  seiner  Griechischen  Kulturgeschichte  III 
(herausgegeben  von  J.  Oeri  1900) ;  eine  geschickte  und  im  ganzen  geschmackvolle  Kom- 
pilation gibt  A.  Baumgartner  in  seiner  Geschichte  der  WelÜitteratur  III.  (3.  u.  4.  Aufl., 
Freiburg  i.  B.  1902).  Feine  Charakteristiken  einzelner  Erscheinungen  in  E.  Rohdes  Psyche 
(I.  Freiburg  1891;  II.  1894;  2.  Aufl.  1898;  3.  Aufl.  1903)  und  Th.  Gomperz*  Griechischen 
Denkern  (I  1895;  2.  Aufl.  1902;  II  1902;  III  1906  f.). 

Hilfsmittel:  A.  Westermann,  Bioyadtpot  vitanim  scriptores  graec.  min.,  Brunsv.  1845. 

—  H.  F.  Clinton,  Fasti  hellenici  civiles  et  litterarias  Graecorum  res  ab  ol.  45  ad  ol.  124 
explicantes,  ex  altera  anglici  ezemplaris  edit.  conversi  a  C.  G.  Kruegero,  Lips.  1830.  — 
\V.  Enoblhann.  Bibliotheca  scriptorum  classicorum.  8.  Aufl.  von  E.  Preuss,  Leipzig  1880, 
die  in  Deutschland  seit  1700  erschienenen  Bücher  und  Abhandlungen  umfassend.  Eine 
Bibliotheca  scriptorum  classicor.  von  1878—96  von  R.  Klussmann  ist  im  Druck.  —  S.  F. 
W.  Hoffmann,  Lexicon  bibliographicum,  Lips.  1832—36,  3  vol.,  umfaßt  auch  die  ältere  und 
die  außerhalb  Deutschlands  erschienene  Litteratur.  —  E.  Hübner,  Bibliographie  der  klass. 
Altertumswissensch.  ((irundriß  zu  Vorlesungen  über  die  Gesch.  u.  Encykl.  d.  klass.  Phil.), 
2.  Aufl.,  Berlin  1889.  -  Bibliotheca  philol.  classica  als  Anhang  zu  Bürsian-Müller-Gürlitt- 
Kroll,  Jahresbericht  über  die  Fortschritte  der  klass.  Altertumswissenschaft,  quartalweise  er- 
scheinend. —  J.  Kirchner,  Prosopographia  Attica,  2  Bde.,  Berlin  1901.  —  E.  Klebs- 
H.  Dessaü-P.  V.  RoHDEN,  Prosopographia  imperii  Romani  saec.  I,  II,  III,  2  Bde.,  Berlin  1898. 

—  H.  Schöne,  Repertorium  griech.  Wörterverzeichnisse  u.  Speziallexika,  Leipzig  1907. 

Ein  Quellenbnch  zur  griech.  Litteraturgeschichte,  das  außer  den  in  den  Scholien  er- 
haltenen ßi'oi  und  ktoüeoFis  die  litterarischen  Artikel  des  Suidas,  Eusebios  und  der  parischen 
Chronik,  femer  die  Kanones  der  Alexandriner  und  die  litterarischen  Inschriften  enthielte, 
gehört  noch  zu  den  frommen  Wünschen  der  Philologen  und  Litteraturfreunde. 


Erste  Abteilung. 

Klassische  Periode  der  griechischen  Litteratur. 

I.  Poesie. 

A.  Epos. 
1.  Vorlitterarische  Anfänge  der  griechischen  Poesie.! 

9.  Die  griechische  Sprache. i)  Die  Sprache  in  dem  entwickelten 
Zustand,  in  dem  sie  als  Trägerin  einer  Litteratur  in  Betracht  kommen 
kann,  ist  ein  System  konventioneller  Lautbilder,  deren  jedes  bei  den  Sprach- 
genossen bestimmte  Sachvorstellungen  erweckt.  Sie  hat  aber  abgesehen 
von  dieser  material-symbolischen  Seite  noch  eine  rein  sinnliche,  vermöge 
der  sie  sich  lediglich  an  das  Ohr  wendet  und  eine  freilich  nicht  ganz  eben- 
bürtige Rivalin  des  reinen  musikalischen  Klangs  ist.  Die  Fähigkeit,  die 
Vorstellungen  durch  Lautbilder  kurz  und  treffend  zu  bezeichnen,  beruht 
auf  dem  Vermögen,  alle  vor  Sinne  oder  Geist  tretenden  Erscheinungen 
in  ihrer  wesentlichen  Besonderheit  klar  und  scharf  zu  erfassen,  das  Ahn- 
liche wie  das  Verschiedene  in  den  Erscheinungsbildern  fein  zu  empfinden. 
Wo  so  eine  allgemein  geistige  Begabung  sich  in  der  Sprachschöpfung 
glücklich  betätigt  und  zugleich  das  Gefühl  für  sinnlichen  Wohlklang  die 
Bildung  lautlicher  Monstrositäten  und  Kakophonieen  in  Schranken  hält,  da 
sind  vonseiten  des  sprachlichen  Werkzeugs  die  Bedingungen  für  die  Ent- 
wicklung einer  künstlerisch  hochstehenden  Litteratur  günstig.  Für  die 
griechische  Sprache  triflFt  das  in  hohem  Grad  zu.  Sie  hat  in  der  soge- 
nannten klassischen  Periode  der  Litteratur  noch  den  besonderen  Vorzug, 
daß  die  Bildung  zentripetaler  Gemeinsprachen  neben  einem  reich  differen- 
zierten Leben  dialektischer  Idiome  hergeht,  so  daß  zur  Mitteilung  allgemein 
menschlicher  Inhalte  wie  auch  zur  künstlerischen  Gestaltung  epichorisch 
und  persönlich   intimer  Stimmungen   die  Organe  reichlich  vorhanden  sind. 

Indogermanische  Elemente.  Es  gilt  heutzutage  als  eine  all- 
gemein anerkannte  Wahrheit,  dafä  die  Griechen  mit  Unrecht  sich  Kinder 
ihres  Landes  (avTox&oveg)  nannten,   daß   sie  vielmehr  als  Zweig  des  indo- 


')  J.  Wackbbnaoel  in  dem  Gesamtwerk  Die  Kultur  der  Gegenwart  I.  Abteil.  VIII,  286  iF. 


12  Griechische  Litteratorgeschichte.    I.  ElasBische  Periode. 

germanischen  Stammes  in  grauer  Vorzeit  durch  die  nördliche  Balkanhalb- 
insel in  ihre  späteren  Sitze  eingewandert  waren  und  aus  ihrer  alten  Heimat 
eine  reich  ausgebildete  Sprache  und  einen  gewissen  Vorrat  religiöser  Vor- 
stelhmgen  mitgebracht  hatten,  i)  Und  da  nun  jede  Poesie  in  der  Sprache 
ihr  sinnliches  Organ  und  in  dem  religiösen  Volksglauben  ihre  kräftigste 
Wurzel  hat,  so  werden  wir  auch  die  Anfange  der  griechischen  Poesie  auf 
jenen  indogermanischen  Stamm  zurückzuführen  haben.  Das  soll  aber  nicht 
so  verstanden  werden,  als  ob  die  Griechen  aus  der  Urheimat  vollständige 
Gesänge  oder  auch  nur  ganze  Verse  mitgebracht  hätten;  wenigstens  fehlen 
uns  zu  einer  solchen  Annahme  alle  Belege.*) 

Aus  der  Fremde  hat  die  Sprache  der  Griechen  nur  außerordentlich 
wenig  aufgenommen;  haben  sich  die  Hellenen  schon  in  der  Entwicklung 
ihrer  Kultur  rasch  von  den  Einflüssen  der  älteren  Kulturvölker  Asiens  und 
Ägyptens  emanzipiert,')  so  haben  sie  noch  mehr  darauf  gesehen,  ihre 
schöne  Sprache  von  dem  Mißlaut  fremder,  barbarischer  Wörter  rein  zu  er- 
halten.*) Was  sie  von  den  Karern  und  Lykiern  entlehnten,  läßt  sich  bei 
der  mangelhaften  Kenntnis,  die  wir  von  der  Sprache  jener  Völker  haben, 
nicht  mehr  ganz  sicher  feststellen;  abgesehen  von  den  zahlreichen  geo- 
graphischen Namen,  besonders  auf  -ivdog,  -rjaoog,  "ajuog,  welche  die  Grie- 
chen von  den  vorhellenischen,  mit  der"  kleinasiatischen  Urbevölkerung  sprach- 
verwandten Bewohnern  der  Balkanhalbinsel  übernommen  haben,  wird  die 
Entlehnung  über  einige  Göttemamen,  wie  Atjrco,  Ai^da,  'AnokXcDv,  und  die 
Appellativa  idßgvg  (Doppelbeil),  kaßvgiv^og,  äoyvgog  kaum  viel  hinaus- 
gegangen sein.  Mehr  entnahmen  sie  der  Sprache  jenes  Volkes,  das  ihnen 
vorzugsweise  die  Kultur  Ägyptens  und  Innerasiens  vermittelte,  der  see- 
fahrenden Phöniker.  Nicht  bloß  die  Buchstabennamen  nebst  den  Zeichen 
und  Eigennamen,  wie  MehxeQxr^g,  Zvgogy  Magai^iovt  0eid,  stammen  aus  dem 
Semitischen,  auch  die  Appellativnamen  ÖekTog,  ßvßUov^  xddog,  /Liäxaigdf  x^^^^> 
dggaßcoy,  fiagdyva,  juvä,  ;f^t'ödg,  jtaXXaxig,  ovgty^f  xtvvga,  vielleicht  auch 
olvogf  vExxag^  ike<pag,  Xißavog,  ygvyj  waren  zugleich  mit  der  Sache  durch 
die  Phöniker   den  Griechen   übermittelt  worden.^)     Übrigens  ist  bezeich- 


Titanensage  Sparen  bewahrt  zu  haben  scheint. 

*)  Die   entgegengesetzte  Meinung,   daß 

die  Indogermanen  vor  ihrer  Trennung  einen 


*)  Über  das  Verhältnis  des  Griechischen 
zur  indogermanischen  Grundsprache  und  den 
Sprachen   der  benachbarten  Völker  Europas 

und  Kleinasiens  nach  dem  jetzigen  Stand  der  Vers,  den  Achtsilber,  und  den  aus  zwei  Acht- 
Forschung:  P.  Kbetschmeb,  Einleitung  in  die  |  silbern  bestehenden  Doppel vers  ausgebildet 
Geschichte  der  griech.  Sprache,  Göttingen  hatten,  vertritt  R.  Westphal  Zur  ältesten 
1896.  In  der  Zurückführung  griechischer  Metrik  der  indogermanischen  Völker.  Ztschr.  f. 
Religionsvorstellungen  auf  indische  bezw.  i  vergl.Spr.  9  (1860)  437  ff.,  und  in  seinem  letzten 
indogermanische  ist  man ,  nach  einer  Zeit  ,  Werk.  Allgemeine  Metrik,  Berlin  1893.  In  den- 
wilden  Phantasierens,  mit  Recht  sehr  vor-  selbenBahnengohtH.UsENER,  Altgriechischer 
sichtig  geworden  (Kbetschmer  76  ff.).  Als  ,  Versbau,  Bonn  1887.  Vgl.  0.  Schbadeb,  Sprach- 
indogermanische Bestände  darf  man  z.  B.  die  vergleichung  und  Urgeschichte',  Jena  1890, 
Vorstellung  imd  Verehrung  eines  väterlichen  40  ff. 

Himmelsgottes  {Zeix  jraTt)g,  epirot.  AeuidufocK,  ^)  Sehr  schön    ist  dieser  Grundzug  der 

Juppiter,  Dyaus  pitft),  eines  göttlichen  Zwil-  hellenischen  Kultur  ausgedrückt  von  Ps.  Plat. 

lingspaares  und  einige  andere  mythologische  Epinomis  p.  987  e:  o  n  .teg  äv  "EUt/ve^  ßag- 

Phantasien,  sowie  einen  entwickelten  Toten-  |   ftaofov    .lagakdßcoat,   ydlXiov    tovto   eI^    rekog 

und  Heroenkult  ansprechen,   vielleicht   auch  d.Tcoj'duorra/. 

(G.  Kaibel,  Nachr.  der  Gott.  Ges.  der  Wiss.,  "  *)  Siehe  bes.  J.Wackbbnaobl  a.a.O. 289 f. 

1901,  494  ff.)  einen  Phalloskult,  von  dem  die  !           ^)    A.   Mülleb,   Semitische  Lehnwörter 


A.  Epos.    L  YorlitterariBche  Anfänge  der  griechischen  Poesie.    (§§9—10.)       13 

nend  für  die  Äußerlichkeit  der  Beziehungen  zwischen  Griechen  und  Phö- 
nikem,  daß  die  griechische  Seetechnik  trotz  der  nautischen  Überlegenheit 
der  Phöniker  in  der  älteren  Zeit  doch  keinen  einzigen  phönikischen  Kunst- 
ausdruck aufweist.  Aber  auch  diese  fremden  Sprachelemente  mußten  es 
sich  ebenso  wie  die  aus  der  Fremde  überkommenen  Eunstformen  gefallen 
lassen,  mit  griechischem  Stempel  versehen  und  nach  der  Analogie  vater- 
ländischer Wörter  umgemodelt  zu  werden.  Bedeutsamer  als  die  sprach- 
lichen Bereicherungen  waren  die  neuen  Ideen,  namentlich  die  religiösen, 
welche  die  Griechen  in  den  älteren  Zeiten  von  den  fremden  Völkern  ent- 
lehnten. Nur  ein  Teil  der  Götter  des  griechischen  Olymp  war  altarischen 
Ursprungs,  die  Mehrzahl  war  fremder  Herkunft,^)  Karisch-lykischen 
Ursprungs  ist  vieles  in  den  Kulten  des  Zeus  und  Apollon  (Avxiog)^ 
semitischen  Einfluß  zeigen  die  Kulte  der  Kabiren,  der  Aphrodite,  des  He- 
rakles, aus  der  thrakisch-phrygischen  Religion  stammen  die  Dienste  des 
Ares,  der  Musen,  der  Rhea-Kybele,  des  ekstatischen  Dionysos,  und  aus  der 
Religion  der  vorhellenischen  Bevölkerung  Griechenlands  haben  die  Griechen 
mehrere  Kulte  von  lokal  gebundenen  Höhlendämonen  (Amphiaraos,  Teiresias) 
und  Erdgeistern  (Hyakinthos,  Asklepios)  übernommen. 

10.  Dialekte  des  Griechischen.  Jener  Zweig  des  indogermani- 
schen Yolksstammes,  der  sich  später  den  gemeinsamen  Namen  Hellenen 
gab,*)  setzte  sich,  über  den  Balkan  vor  den  Thrakophrygern  vorrückend, 
etwa  seit  Anfang  des  2.  Jahrtausends  v.  Chr.  allmählich  in  seinen  euro- 
päischen Sitzen  fest.  Stammesunterschiede  traten  zwar  gewiß  im  Lauf 
der  Zeit  infolge  der  lokalen  Trennung  stärker  hervor,  aber  die  hauptsäch- 
lichsten waren  doch  schon  bei  der  ersten  Niederlassung  in  Europa  vor- 
handen. Von  Nordgriechenland  und  Thessalien  aus,  vermutlich  dem  ältesten 
gemeinsamen  Sitz,*)  verbreiteten  sie  sich  in  verschiedenen  Vorstößen  nach 
Süden  und  Westen  über  ganz  Hellas,  von  der  älteren  Bevölkerung  die 
fremden  Bestandteile  aufsaugend,  die  verwandten  sich  angliedernd.  So 
gingen  die  alten  Bewohner  des  Landes,  für  welche  die  griechische  Tradition 

desGriech.,  in  A.BES^BNBEROEBsBeitr.  1(1877)  i   und  das  'EUtp'im'  in  Naukratis  (Herodot.  JI 

273  ff. ;  H.Lbwy,  Die  semitischen  Fremdwörter  178)  zeigen  den  Hellenennamen  als  Gesamt- 

im  Griechischen,  Berlin  1895;  Muss-Abnolt,  I   bezeichnnng  schon  seit  dem  7.  Jahrhundert 

On  semitic   words  in  Greek   and  Latin,  in  '   in    allgemeiner    Anwendung.     Die    Italiker 

Transactions  of  the  American  Philol.  Ajsso-  '   kennen  ihn  nicht,  sondern  haben  die  Griechen 

ciation  23  (1892)  35 — 156.    Ägyptische  Lehn-  mit  dem  Namen  eines  alten  nordgriechischen 

Wörter  sind  sicher  im  älteren  Griechischen  |   Nachbar8tammes(/))a/7s,  ■r(>af;fo/,  über  welchen 

ßvaaog,   oOoyrj   (diese  beiden  durch  Semiten  Namens.  W.  Dittknbkrgeb,  Herm.41  (1906) 

vermittelt),   virgov,  öaoig,   ißa*og,    vielleicht  97ff.)Graeci  benannt,  wie  die  Orientalen  sie 

auch  x(ov€oy}  und  ^iqpog:    W.  Spiegblbbbo,  nach  dem   ihnen  benachbarten  lonierstamm 

Zeitschr.  f.  vergl.  Spr.  41  (1907)  127  ff.  ,   Javan   oder  Javana  (IdfovFg)  nennen.     Vgl. 

^)  Den  Griechen  selbst  klangen  die  Namen  Wilamowitz,   Hellas  vor  der  Völkerwande- 

ihrer  Götter  fremdartig,  Herodot.  11  50  ff.  rung,  in  Euripides  Herakles  P  258  ff.  und  Herm. 

*)  IlavüXfjves  kommt  zuerst  im  Schiffs-  i  21  (1886)  91  ff. 
katalog  B  530  und  bei  Hesiod.  Op.  528  vor.  ')  Entgegen  dieser  Annahme  hat  E.  Cur- 
Über  die  spätere  Ausdehnung  des  Namens  tius,  Die  lonier  vor  der  ionischen  Wanderung, 
Elkrjvtg,  der  anfangs  nur  einem  kleinen  i  Berl.  1855,  die  haltlose  Hypothese  aufgestellt. 
Stamm  Thessaliens  zukam,  ist  die  Haupt-  daß  die  lonier  gesondert  von  den  übrigen  Hei- 
stelle Thuk.  I  3,  wozu  Homerscholien  bei  i  lenen  aus  Kleinasien  über  die  Inseln  nach 
K.  Lbhbs,  Aristarch*  p.  225  kommen.  Die  den  Küstenländern  der  griechischen  Festlande 
Hellanodiken  in  Olympia  (wo  nur  griechische  ■  gekommen  seien.  Darüber  G.  Busolt,  Griech. 
Kämpfer  zugelassen  waren,  Herodot.  V  22)  I   Gesch.  P,  Gotha  1893,  278. 


14  Ghiechische  Litteratnrgesohiohte.    I.  ElaaaiBche  Periode. 

die  Namen  Pelasger  und  Leleger  gebrauehtO  und  von  denen  sich  aufier 
zwei  neuerdings  aufgefundenen  Inschriften  der  Insel  Lemnos  mit  gi*iechi- 
schen  Zeichen  noch  Erinnerungen  in  alten  Berg-  und  Ortsnamen  erhielten, 
fast  spurlos  in  der  neuen  Bevölkerung  der  Hellenen  auf.^)  Diese  erste 
Periode  griechischer  Ansiedelung  auf  der  Balkanhalbinsel,  die  zu  einer  be- 
trächtlichen Beimischung  barbarischer  Elemente  in  Rasse  und  Kultur  ge- 
führt hat,  nennt  man  die  achäische.  Ihr  ist  ein  Ende  gemacht  worden 
durch  den  Vorstoß  griechischer  Stämme,  die  sich  im  Norden  der  Halbinsel 
national  reiner  gehalten,  aber  lange  nicht  die  Kulturhöhe  der  Achäer  er- 
reicht hatten, 8)  der  Derer.  Sie  zwangen,  wo  sie  die  Oberhand  behielten, 
wie  in  einem  großen  Teil  des  Peloponnes  und  auf  Kreta,  die  achäische 
Bevölkerung  zur  Unterwerfung  oder  Auswanderung.  Die  glänzende  Kultur 
der  Achäerzeit  wurde  durch  sie  zerstört  oder  beeinträchtigt  und  durch 
einen,  äußerlich  betrachtet,  kümmerlicheren  Zustand  ersetzt.  Aber  sie 
stärkten  überall  im  Mutterland  und  auf  den  Inseln  das  nationalhellenische 
Element,  sie  sind  die  Schöpfer  der  aristokratisch  sich  regierenden  spezifisch 
griechischen  noiig,  ihre  hervorragend  musikalische  Veranlagung  ist  für  die 
Entwicklung  der  griechischen  Musik  und  Lyrik  bedeutungsvoll  geworden, 
wie  denn  auch  die  dorische  Tonart  im  Gegensatz  zur  phrygischen  immer 
als  die  eigentlich  griechische  Nationaltonart  gegolten  hat.  Unberührt  von 
der  dorischen  Wanderung  blieb  Attika,  Euboia  nebst  dem  gegenüberliegenden 
Qraiergebiet  bei  Oropos,  die  peloponnesische  Kynuria  zwischen  Argos  und 
Lakonien,  lauter  Gebiete,  in  denen  sich  die  lonier  hielten. 

Die  Entwicklung  der  Dialektverhältnisse  im  geschichtlichen  Griechen- 
land ist  durch  die  dorische  Wanderung  bestimmt  worden.  Das  Ionische 
und  Nordachäische  (oder  ÄoUsche)  ist  durch  die  Mundart  der  Derer  fast 
ganz  unberührt  geblieben  (nur  der  böotische  Dialekt  zeigt  stärkere  dorische 
Einflüsse),  dagegen  sind  die  südachäischen  Dialekte  im  Peloponnes  von  ihr 
beinahe  völlig  verdrängt  worden.  Das  Dorische  selbst  teilte  sich  infolge 
der  räumlichen  Absonderung  und  vielleicht  auch  besonderer  Einflüsse  vor- 
dorischer Lokalmundarten*)  wieder  in  zwei  Gruppen,  eine  nördliche  in 
Mittelgriechenland  (Lokrisch,  Phokisch)  und  dem  Nordwestpeloponnes  (Eleisch) 
und  eine  südliche  (Peloponnes   und  dorische  Inseln).     Die   alten  Gramma- 

*)   Strab.   p.  661:    oi  Kägeg  iW   Mivw  Pelasger  galten.  C.  Pauli,  Eine  vorgriechische 

hdziovTOy   TOTs   Aeleyeg   ftaXovfifvoi ,   xai   laf  |    Inschriftvon  Lemnos,  Altitalische  Forschungen 

vi)oovg   iüxovv  sh*   tjjieiQoJzat  yevo/tevoi  jiol-  II  1,  Leipz.  1886;  112,  1894;  W.  Dbecke,  Die 

Xrjv  Tijg  TiaoaXiag  xai  rffg  jueaoyaiag  xareaxov,  tyrrhenischen  Inschriften  von  Lemnos,  Rhein. 

Tovg  :tQoxazF.xovtag   dq)€i6^evoi '  xai   ovtoi  6*  \   Mos.  41  (1886)  460  ff.     Über    die   Pelasger- 

fjoav   oi  jTAFiovg  AeXeyeg  xai  IleXaayoi,   jtdXiv  frage    am  besten  E.  Mbyeb,  Forschungen  z. 

de  TovTovg  d(f  fiXovto  fteoog  oi  "FA).r)%'eg,  "Icorsg  alten  Gesch.,  Halle  1892,  I,  3  ff. 

TF  xai  AatgiFtg.    Vgl.  Strab.  p.  221  u.  321  f.  ')    Daß    die    Dorer    analphabet   in    das 

')  Die   zwei   auf  einem   Steinblock   der  i   achäische  Griechenland  gekommen  sind,  zeigt 

ehedem   von  „Pelasgem**   bewohnten  (Strab.  F.   Hiller  v.  Gäbtringen,   Jahresber.   über 

p.  221)    Insel  Lemnos  i.  J.  1885  gefundenen  '   die  Fortschr.    der  klass.  Altertumswiss.  118 

Inschriften   sind   in   griechischer  Schrift   ge-  i    (1903)  171. 

schrieben    und  gehören,   nach   dem   Schrift-  *)  Über  R.  Meistebs  Versuch  (Abh.  der 

Charakter  zu  schließen,   dem  6.  Jahrhundert  j   sächs.  Ges.  d.Wiss.  24, 1904,  nr.  3),  achäische 

an.   Die  Sprache  der  Inschrift  ist  nicht  grie-  Spuren  im  peloponnesischen  Dorisch  nachzu- 

chisch   und   zeigt   offenbare    (bezweifelt  von  i   weisen,  s.  A.  Thumb,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Altert. 

Kretschmer  408)    Verwandtschaft    mit    der  15  (1905)  385  ff.  und  0.  Hoffmann,  BerLphilol. 

Sprache  der  Etrusker,   die  ja  gleichfalls  för  |   Wochenschr.  26  (1906)  1392  ff. 


A.  Epos.    1.  Yorlitterarisohe  Anfänge  der  griechischen  Poesie.    (§  10.)         15 

tiker  unterschieden,  indem  sie  wesentlich  nur  die  litterarischen  Denkmale 
in  Betracht  zogen,  vier  Dialekte,  den  äolischen,  dorischen,  ionischen,  atti- 
schen. Die  neueren  Forscher  sind,  indem  sie  von  den  Zeugnissen  der  In- 
schriften ausgingen,  zu  einer  wesentlich  anderen  Einteilung  gekommen.  ^) 
Danach  sind  zunächst  zwei  Gruppen  zu  unterscheiden, 2)  das  Ionische  und 
das  Nichtionische. 3)  Von  dem  Ionischen  differenzierte  sich  infolge  lokaler 
Trennung,  vielleicht  unter  Mitwirkung  dorischer  Dialekteinflüsse  (Rück- 
umlaut), das  Attische.*)  In  der  nichtionischen  Gruppe  reichen  die  Unter- 
schiede des  Dorischen  (inLakonien,  Korinth,  Argos,  Kreta  lokal  differenziert) 
und  Äolischen  (in  Thessalien,  Böotien,  Lesbos  und  dem  gegenüberliegenden 
Festland)  in  die  älteste  Zeit  hinauf.^)  Jene  vier  Dialekte,  Ionisch,  Attisch, 
Dorisch,  Äohsch,  haben  zugleich  im  Laufe  der  Zeit  hohe  Bedeutung  für  das 
litterarische  Leben  Griechenlands  gewonnen.  Hingegen  ist  nicht  in  die  Lit- 
teratur  eingetreten,  zum  großen  Teil  schon  vor  Erwachen  des  litterarischen 
Strebens  untergegangen  der  Dialekt  der  Achäer  oder  der  alten  Bewohner 
des  Peloponnes,  von  dem  inschriftliche  Reste  im  Arkadischen  und  Kyprischen 
erhalten  sind.  Ebenso  kennen  wir  fast  nur  aus  Inschriften  und  dem  Lexikon 
des  Hesychios  die  lokalen  Schattierungen  des  Nordwestgriechischen  (in 
Phokis,  Akamanien,  Epirus),  des  Elischen  und  des  PamphyUschen  u.  a. 

Die  Dialekte  spielten  in  der  griechischen  Litteratur  eine  größere 
Rolle  als  in  irgend  einer  andern  der  alten  oder  neuen  Zeit.  Die  scharfe 
räumliche  Sonderung  und  die  dadurch  bedingte  kulturelle  und  politische 
Eigenart  der  hellenischen  Stämme,  die  Eifersucht  der  einzelnen  Staaten 
auf  ihre  Selbständigkeit  brachten  es  mit  sich,  daß  bis  über  die  Zeit  des 
peloponnesischen  Krieges  hinaus  die  Privaten  und  Behörden  sich  in  den 
öffentlichen  Urkunden  und  Inschriften  des  ungeschminkten  einheimischen 
Dialektes  bedienten.  Sprachliche  Kunstwerke  freilich,  die  zur  Wirkung 
auf  weitere  Kreise  bestimmt  waren,  sind  seit  sehr  alter  Zeit  nicht  in  irgend- 
einem Lokaldialekt,   der  einige  Stunden  weiter  ab  nicht  mehr  verstanden 


*)  L.  Ahbens,    De  graecae  linguae  dia-  Aiolis  stellte. 

lectis,    Gott.  1839—43;  vollständig  neubear-  1           ')  Hauptunterschiede  sind,  daß   das  lo- 

beitet  von  R.  Meister,  Die  griech.  Dialekte,  ]   nische  altes  ä  in  >;  verwandelte  (sog.  Vokal- 

noch  unvollendet,  I  1882;  II  1889;  0.  Hoff-  erhöhung),  das  Digamma  frühzeitig,    sicher 

XAiTK,   Die   griech.  Dialekte   in  ihrem  histo-  |   schonim?.  Jahrhundert,  aufgab,  zum  Ausdruck 

rischen  Znsammenhang,  3  Bde.,  Gott.  1891  bis  der  Eventualität  är  statt  xe  verwandte. 

1898,  unvollendet;  H.  W.  Smyth,  The  Sounds  ■           *)  Hauptzeugnis  für  die  auf  die  Götter- 

and  Inflections  of  the   Greek  Dialects,    Ox-  |   feste  ausgedehnte  Stammesverwandtschaft  ist 

ford  1894,  unvollendet;  Gu.  Meyer,  Griech.  Thuc.  HlÖ:  zu  dgxaioTsoa  Aiovvata  zfj  öcode- 

Gramm.'  p.  XI — XU  u.  S.  6  iF.;    H.  Collitz.  xdifj  TioieTiai  h  firjvi  *Av&eaTi]Qicbvi,  aJo.Tcp  xai 

Die  Verwandtschaftsverhältnisse   der  griech.  oi  dsi*  'Jdf)vauov*'Icov€g  hi  xat  vih' vofÄtCovoir. 

Dialekte,  Gott.  1885.  Übersicht  bei  J. Wacker-  ^)    Hauptunterschiede   waren .    daß    das 

KAOBL  a.a.O.  290  ff.  —  Dialektische  Inschriften-  ,   Aeolische   durchweg  den   Hochton   von   der 

Sammlungen  von  H.  Collitz,  Sammlung  der  {   Schlußsilbe  zurückzog,  wie  das  Lateinische, 

griech.  Dialektinschriften.  Göttingen  1884  ff.,  >   und  den  harten  Hauch  aufgab  (ifikayotg),  den 

Hauptwerk;   P.   Cauer,   Delectus  inscriptio-  alten  Lantweit  des  v  =  u   wenigstens  teil- 

nnm   graecarum    propter  dialectum  memora-  i   weise,  namentlich   im  Böotischen,   bewahrte 

bilium,  ed.  II,   Lips.  1883;    F.  Solmsen.   In-  '   und    häufig  ein  o  in  v  (ähnlich  wie  die  La- 

scriptiones  Graecae  ad  inlustrandas  dialectos  teiner)  verwandelte.   Dazu  kamen  später  die 

selectae,  Lips.  1903  (2.  Aufl.  1906).  .   Unterschiede   der  Ersatzdehnung    und  Kon- 

■)  Schon  im  Altertum  hat  Strabo  p.  333  |   traktion,    vermöge    deren    äol.    Moloa^    dor. 

die  vier  Dialekte  auf  zwei  reduziert,   indem  Mwoa,   ion.  Movaa    aus  altem   MorTJa^   äol. 

er  die   Atthis   zur  las.    und   die  Doris   zur  raig,  dor.-ion.  rag  aus  altem  rdvg  entstand. 


lg  Ghriechisehe  Litteratnrgeschichte.    L  ElaaaiBehe  Periode. 

worden  wäre,  sondern  in  einer  allerdings  auf  einem  bestimmten  Lokal- 
dialekt aufgebauten,  gewissermaßen  idealisierten  Gemeinsprache^)  abgefaßt 
worden.  Die  erste  derartige  Gemeinsprache,  auf  altionisch-kleinasiatischer 
Grundlage,  reden  die  homerischen  Gedichte,  die  auf  die  Bildung  aller  spä- 
teren griechischen  Litteratursprachen  einen  ungeheuren  Einfluß  geübt  haben. 
In  ähnlicher  Weise  sind  das  Dorisch  der  Chorlyrik,  das  Neuionisch  Hero- 
dots,  der  Logographen  und  Mediziner,  das  Attisch  des  tragischen  Dialogs 
litterarische  Gemeinsprachen,  die  sich  mit  keinem  lebenden  Dialekt  genau 
decken.  Am  meisten  sprachlichen  Lokalton  und  damit  Intimität  der  Wir- 
kung gestattet  sich  der  Dichter,  wo  er  nur  an  einen  kleinen  Kreis  von 
Sprachgenossen  sich  wendet,  wie  das  bei  der  lesbischen  Monodie  des  Al- 
kaios  und  der  Sappho,  den  Chordichtungen  Alkmans  und  der  Korinna  der 
Fall  ist.  Aus  der  Entstehung  der  poetischen  Gattungen  in  bestimmten 
Gegenden  erklärt  sich  deren  dialektische  Tönung,  die  dann  im  wesentlichen 
das  ganze  Altertum  hindurch  festgehalten  worden  ist.  So  ist  die  Sprache 
des  Epos  immer  im  wesentlichen  die  Homers,  der  lambographie  die  des 
Archilochos  und  Hipponax,  der  Chorlyrik  die  des  Stesichoros  geblieben. 

11.  Vorzüge  der  griechischen  Sprache.  Die  griechische  Sprache 
überhaupt  hatte  von  vornherein  für  die  Entwicklung  der  Litteratur  außer- 
gewöhnliche Vorzüge:  der  Wohllaut  ihrer  Vokale  und  die  Weichheit  ihrer 
Konsonantenverbindungen,  zusammen  mit  der  Freiheit  der  Wortstellung 
machten  sie  zu  einem  vorzüghchen  Instrument  des  musikalischen  Vortrags; 
der  Reichtum  ihrer  Flexionsformen,  von  denen  der  Ursprache  gegenüber 
in  den  Kasusformen  einiges  aufgegeben,  dagegen  infolge  von  Durchführung 
der  Modusformen  durch  die  verschiedenen  Zeiten  und  schärferer  formaler 
Differenzierung  zwischen  Medium  undPassivum^)  sehr  viel  gewonnen  worden 
ist,  führte  von  selbst  zum  klaren,  die  verschiedenen  Beziehungen  scharf 
scheidenden  Gedankenausdruck;  die  Reinheit  des  Sprachschatzes  ließ  den 
nationalen  Charakter  in  voller  Stärke  hervortreten;  die  Mannigfaltigkeit 
der  Mundarten  endlich  ermöglichte  eine  den  Stilarten  sich  anschmiegende 
Modifizierung  der  allgemeinen  Sprachmittel. ^) 

12.  Die  Schrift.  Neben  der  Sprache  und  den  in  der  Sprache  aus- 
geprägten Ideen  bildet  ein  drittes  Element  der  Litteratur  die  Schrift;  sie 
ist  es,  die  zumeist  dazu  beiträgt,  den  Schöpfungen  des  Geistes  Dauer  zu 
verleihen.  Die  Griechen  und  Römer  dachten  sich  sogar  die  Schrift  so  sehr 
mit  der  Litteratur  verwachsen,  daß  sie  beide  mit  dem  gleichen  Wort^ 
yga/ujüiaTa  litterae,  bezeichneten.  Das  ist  freilich  einseitig;  denn  unauf- 
gezeichnete  griechische  Dichtungen  hat  es  ohne  Zweifel  auch  vor  dem 
Gebrauch  der  Schrift  und  nach  ihrer  Einführung  gegeben.  Der  Gebrauch 
der  Schrift  zu  Aufzeichnungen  von  Listen  oder  Weihungen  auf  Stein  oder 
Metall  beginnt  wahrscheinlich  um  den  Anfang  der  Olympiaden:  im  T.Jahr- 
hundert sollen  Gesetzgeber,   wie  der  Lokrer  Zaleukos,   schriftlich  fixierte 

*)  E.  Zarncke,  Die  Entstehung  der  griech.  I  chischen    Sprache  in   dem   Gebrauche    ihrer 

Literatursprachen,  Leipzig  1890.  i  Mundarten.  München  1808,  Vermischte  Schrif- 

'^)  Der  Aoristus  Passivi   ist  griechische  tenIII375ff.  H.L.  Ahbbns,  Kleine  Schriften  I, 

Erfindung.  '  Hannover  1891,  157  ff. 

')  F.  Jacobs,  Über  einen  Vorzug  der  grie-  , 


A.  Epos.    1.  Yorlitterarische  Anfänge  der  griechischen  Poesie.    (§§11—12.)       17 

Gesetze  an  die  Stelle  mündlicher  Spruchweisheit  (^fjrgai)  gesetzt  haben,  i) 
Daß  aber  die  Schrift  schon  früher  für  Aufzeichnungen  auf  flüchtigerem 
Material  (Leder,  Membran,  Papyrus)  gedient  hat,  ergibt  sich  schon  aus  der 
Tatsache,  daß  die  nordsemitischen  Buchstabenzeichen  dem  Handelsvolk  der 
Phöniker  von  den  Griechen  abgenommen  worden  sind,  sowie  aus  dem  offen- 
sichtlich kursiven,  nicht  von  Anfang  an  für  Stein  bestimmten  Charakter 
der  ältesten  inschriftlichen  Buchstabenzeichen  aus  Kreta  und  Thera.  Wie 
weit  freilich  die  Schrift  in  ältester  Zeit  schon  zur  Aufzeichnung  um- 
fangreicher Litteraturwerke  benutzt  worden  ist,  können  wir  nicht  wissen. 
Jedenfalls  aber  darf  man  gegen  solche  Verwendung  nicht  das  Fehlen  eines 
Lesepublikums  anführen,  das  ja  auch  im  5.  Jahrhundert  noch  nicht  vorhanden 
war;  die  Aufzeichnung  kann  auch  für  Zwecke  des  Vortrags,  der  Erhal- 
tung des  richtigen  Wortlauts'*)  in  der  Sängerzunft  gemacht  worden  sein; 
für  die  Zeit  des  Archilochos  ist  die  Anwendung  der  Schrift  in  poetischen 
Episteln  gesichert.^)  —  Die  Schrift  haben  die  Griechen  nicht  selbst 
erfunden,  sondern  von  den  Aramäern  durch  Vermittlung  der  Phöniker 
herübergenommen,  und  dieses  zu  einer  Zeit,  als  sie  bereits  durch  eine  lange 
Entwicklung  aus  einer  ursprünglichen  Bilderschrift  zu  einer  Lautschrift 
sich  umgestaltet  hatte.  Die  Griechen  waren  sich,  wenn  auch  Palamedes 
gelegentlich  als  Erfinder  der  Schrift  genannt  wird,  des  fremden  Ursprungs 
dieses  wichtigen  litterarischen  Hilfsmittels  wohl  bewußt,  indem  sie  die 
Buchstaben,  wie  Herodot  V,  58  bezeugt,  ^oivixi^ia  yga/i/^axa  nannten.*)  Die 
Zeichen  der  Schrift  wurden  wahrscheinlich  bereits  im  10.  Jahrhundert  über- 
nommen.*) Bei  Anfertigung  von  Büchern  gebrauchten  die  Griechen  ehe- 
dem ebenso  wie  die  alten  Perser  das  rohere  Material  von  Ziegen-  und 
Schafhäuten  (diq^>&eQai),^)  Durch  den  alten,  seit  mykenischer  Zeit  bestehen- 

^)  Strab,  ^.2b9:  :tou)Toi  de  rofwtc:  eyygdji'  1  Handbuch   der   griech.    Epigraphik  I,    Leipz. 

Toii  /^»yortoi?a<  jis.^ioTevuh'oi  siolv  (oi  Aoxooi  \  1907.     Eben  diese  Namen  zeigen  durch  den 

Ol  'E.itCetpvQtoi).  Ausgang  auf  a,  daß  sie  und  somit  die  Schrift 

')   Dieser   Gesichtspunkt    ist   besonders  !  selbst  auf  das  Aramäische  zurückgehen, 
bei  kultlichen  Formeln  schon  sehr  früh  maß-  ■           *)  So  Ed.  Meyer,  Geschichte  des  Alter- 
gebend gewesen,   wie  wir  z.B.  wissen,   daß  '  tumsII,Stuttg.  1893.380;  WiLAMOwiTz,Hom. 
die  alte  römische  Arvalbrüderschaft  ihre  For-  |  Unt.,  Berl.  1884,  287.  —  Die  Kyprier  haben 
mein  aus  Büchern  ablesen  mußte.  ihre  von  der  der  übrigen  Griechen  abweichende 

')  Archilochos  fr.  89  erwähnt  bereits  die  '  Syllabar-Schrift  nicht  von  den  Phönikern  ent- 

axvtn/.tj,    den    um   einen    Stab    gewickelten  j  lehnt   (R.    Meister,    Griech.  Dial.  II,    Göt- 

Lederriemen  zum  Behuf  brieflicher  Mitteilung.  I  tingen  1889,  130).  —   Auch  bei  den  „Myke- 

*)  Herodots  Etymologie  ist  wahrschein-  ■  näem"  hat  man  den  Gebrauch  von  Schrift- 
lich falsch.  Der  Name  (fotnxtjia  für  Buch-  '  zeichen  vermutet,  aber  die  Sache  ist  sehr  un- 
staben  war  allgemeiner  ionisch  (Dirae  ThIo-  sicher.  Sicher  hingegen  hatten  die  Kreter 
rum  bei  Ch.  Michel,  Recueil  d'inscriptions  '  schon  im  2.  Jahrtausend  v.  Chr.  eine  Schrift, 
Grecques,  Bruxelles  1900,  nr.  1318,  37),  kommt  :  was  durch  die  im  Königspalast  von  Knossos 
aber  von  der  roten  Farbe  der  Buchstaben  auf  '  gefundenen  Täfelchen  feststeht,  wenn  auch 
Stein,  die  häufig  gefunden  wird  (S.  Keinach,  i  deren  Entziffei-ung  noch  nicht  geglückt  ist. 
Trait^  d'6pigraphie  Grecque,  Paris  1885,  149;  '  Für  die  griechische  Litteraturgeschichte  hat 
Bücheler-Zitelhann,  Das  Recht  von  Gortyn  .  übrigens  die  my kenische  Schrift  schwerlich  Be- 
1885,  2;  A.  Schiff.  Festschrift  f.  0.  Hirsch-  .  deutung,  zumal  es  wahrscheinlich  ist,  daß  die 
feld,  Berlin  1903,  388;  für  altrömische  Ge-  '  Mykenäer  und  Kreter,  deren  Burgen  man  jetzt 
seiztafeln  Juv.  sat.  XIVM92).  Eine  sichere  Be-  aufdeckt,  nicht  echte  Hellenen,  sondern  ein 
stAtigung  der  semitischen  Herkunft  liegt  aber  Mischvolk  mitnichtgriechischer Sprache  waren, 
in  den  Namen  der  Buchstaben,  der  Reihenfolge  i  ^)  F.  Blass,  Paläographie,  im  Handb.  der 
und  der  Form  derselben;  s.  A.  Kirohhoff,  '  klass.AlteiiumswissenschaftI2', 333if.  Auch 
Stadien  zur  Geschichte  des  griechischen  AI-  |  die  Aegypter  gebrauchten  vor  dem  Papyrus 
phabets,  4.  Aufl.  Gütersloh  1887.  W.Larpeld,  .  Leder  zum  Schreiben,  die  Lateiner  Linnen. 
Handbach  der  klass.  Altertomswissonschaft    VIT.  5.  Anfl.                                                       2 


18 


Ghriechische  lätteraturgeschichte.    I.  Elaasische  Periode. 


den  Verkehr  mit  Ägypten  erhielten  die  Griechen  die  aus  dem  Mark  der 
Papyrusstaude  (ßvßkog)  verfertigten  Rollen;  seit  etwa  200  v.  Chr.  machte 
zunächst  in  Pergamon  wieder  das  besser  präparierte  Pergament  dem 
Papyrus  Konkurrenz.  Aus  dem  Abschreiben  von  Büchern  entwickelte  sich 
dann  zur  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges,  zuerst  in  Sizilien  und  Athen, 
ein  lebhaft  betriebener  Buchhandel,  der  zugleich  die  Anlage  von  Biblio- 
theken erleichterte.^) 

13.  Vorhomerische  Poesie.  Daß  die  griechische  Litteratur  in  ihren 
uns  erreichbaren  Anfangen  von  einer  der  älteren  barbarischen  Litteraturen 
beeinflußt  worden  wäre,  ist  bis  jetzt  nicht  erwiesen;  insbesondere  ist,  je 
mehr  der  Einfluß  der  ägyptischen  Kultur  auf  die  mykenische  aus  den 
kretischen  Ausgrabungen  vor  Augen  tritt,  desto  merkwürdiger,  daß  das 
ägyptische  Schrifttum  in  keiner  Weise  auf  das  älteste  griechische  gewirkt 
hat.  Unter  allen  europäischen  Litteraturen  ist  die  altgriechische  die  einzige 
vollkommen  originale.  An  der  Schwelle  der  griechischen  Litteratur  stehen 
die  lUas  und  Odyssee.  Dichter,  die  so  Großes  und  Vollendetes  schufen,  die 
mit  solcher  Leichtigkeit  und  Meisterschaft  die  Sprache  und  den  Vers  hand- 
habten, können  nicht  die  ersten  gewesen  sein;  sie  müssen  eine  Reihe 
von  Vorgängern  gehabt  haben,  durch  die  erst  der  sprachliche  Stoff  ge- 
formt und  der  Boden  geebnet  wurde,  auf  dem  sich  der  stolze  Bau  der 
großen  homerischen  Dichtungen  erheben  konnte.  Zunächt  leuchtet  ein,  daß 
die  Litteratur  nicht  mit  großartig  angelegten,  in  behaglicher  Breite  sich 
ergehenden  Werken  begann,  daß  diesen  vielmehr  eine  Periode  kurzer  Er- 
zählungen und  kleiner  Heldenlieder  vorausging.  Die  homerischen  Gedichte 
tragen  noch  die  deutlichsten  Spuren  jener  älteren  Sangesübung  an  sich, 
ja  sie  haben  zweifellos  viele  jener  älteren  kleinen  Lieder  in  ihren  neuen 
Rahmen  aufgenommen.  Sodann  sind  dem  altionischen  Grundton  des  home- 
rischen Dialektes  viele  ältere  Formen,  wie  Genetive  auf  oio  und  aojv,  In- 
strumentale auf  q)i,  Infinitive  auf  ^levai,  beigemischt,  die  nach  Äolien  und 
zum  Teil  über  das  äolische  Kleinasien  hinaus  weisen  und  in  die  homeri- 
schen Gedichte  nur  aus  älteren,  nichtionischen  Dichtungen  gekommen  sein 
können.  Ebenso  macht  es  die  Form  des  heroischen  Hexameters  wahrschein- 
lich, daß  er  nicht  das  älteste  und  ursprüngliche  Versmaß  der  Griechen 
war,  sondern  aus  anderen  Formen  hervorgegangen  ist.  Die  Zusammen- 
fassung von  sechs  Füßen  zu  einem  Vers  ist  für  einfache  Zeiten  und  volks- 
tümliche Lieder  zu  groß,  und  die  bei  Homer  vorherrschende  Cäsur  nach 
dem  3.  Trochäus  in  Verbindung  mit  Resten  asynartetischer  Zusammen- 
fügung der  beiden  Elemente,  wie  in 

äXX'  dxeovoa  xd&j]oo,  \  i/xo)  d*ijiui€i&eo  fiv^co  {A  565), 

vvv  d'  äye  rija  jueXaivav  \  Feovooou^v  eig  äXa  diav  {A  141) 

läßt  uns  vermuten,   daß  der  Hexameter  erst  aus  der  Vereinigung  zweier 

kleineren,   ehedem   selbständigen  Tripodien   entstanden  ist,    daß   also   der 

epischen  Poesie  mit  ihren  langen  Zeilen  eine  andere  vorausging,  die  kürzere 


*)  Th.  Bibt,  Das  antike  Buchwesen  in 
seinem  Verhältnis  zur  Litteratur,  Berlin  1882; 
ders.,  Die  Buchrolle  in  der  Kunst,  Leipz.  1907; 
E.DziATZKO,  Untersuchungen  über  ausgewählte 


Kapitel  des  antiken  Buchwesens,  Leipzig  1900. 
W.  Schubart,  Das  Buch  bei  den  Griechen 
und  Römern,  Handbb.  der  k.  Museen  zu 
Berlin  1907. 


A.  Epos.    1.  Yorlitterarische  Anfänge  der  griechischen  Poesie.    (§§  ]3— 14.)       19 

Verse  hatte  und  sich  demnach  mehr  dem  Charakter  der  lyrischen  Poesie 
näherte.  Der  Annahme  von  dreihebigen  Verselementen  ist  aber  nebst  dem 
deutschen  Nibelungenvers  insbesondere  die  Analogie  des  lateinischen  National- 
verses günstig,  da  auch  der  Saturnius  sich  in  zwei  dreihebige  Teile  zer- 
legt. Übrigens  braucht  sich  die  vorhomerische  Poesie  keineswegs  auf  den 
dreimal  gehobenen  Kurzvers  beschränkt  zu  haben.  Die  Häufigkeit  der 
bukolischen  Diärese  bei  Homer  läßt  z.  B.  den  Schluß  zu,  daß  es  in  älterer 
Zeit  auch  eine  kleine  daktylische  Strophenbildung  aus  vierhebigem  Lang- 
und  zweihebigem  Kurzvers  gegeben  hat.  Überdies  müßten  auch  die  lyri- 
schen Verse  und  Strophen,  die  nur  durch  die  Zufälligkeit  der  Überlieferung 
erst  aus  einer  jüngeren  Periode  auf  uns  gekommen  sind,  zur  Rekonstruktion 
primitiver  Verse  beigezogen  werden.  LäßUchkeiten  der  prosodischen  Tech- 
nik i)  der  homerischen  Hexameter  sowie  gewisser  äolischer  Liedverse,  die 
sich  in  mangelhafter  Füllung  besonders  des  ersten  {priyoi  &xi(pakoi)  und 
letzten  (jueiovgoi)^  seltener  eines  in  der  Mitte  liegenden  (XayaQoi)  Fußes 
mit  Silbenmaterial  zeigen,  lassen  einen  Blick  in  den  vorhomerischen  Vers- 
bau tun. 

14.  Zu  den  an  die  Form  der  ältesten  Poesie  anknüpfenden  Er- 
wägungen^) kommt  noch  eine  andere  aus  dem  Inhalt  geschöpfte  hinzu. 
Die  homerische  Poesie  entstand  in  Kleinasien,  in  den  vom  europäischen 
Festland  ausgegangenen  Kolonien.  Die  Verhältnisse  des  wohlhabenden,  mit 
der  reichen  Küstenentwicklung  in  den  Weltverkehr  hinausreichenden  Landes 
und  die  befruchtende  Nachbarschaft  der  älteren  Kulturvölker  Phrygiens, 
Lydiens  und  Lykiens  mochten  hier  der  aufstrebenden  Entwicklung  beson- 
ders günstig  gewesen  sein.»)  Aber  soll  das  Mutterland  den  Auswanderern 
nur  den  kräftigen  Arm  und  die  nautische  Geschicklichkeit,  nicht  auch  den 
Samen  höherer  Kultur  und  mit  den  religiösen  Ideen  und  Bräuchen  nicht 
auch  einen  Schatz  heiliger  Gesänge  und  volkstümlicher  Lieder  mitgegeben 
haben?  Das  werden  wir  von  vorneherein  nicht  leicht  bezweifeln  wollen; 
aber  wir  brauchen  uns  nicht  mit  bloßen  Wahrscheinlichkeiten  zu  begnügen ; 
wir  haben  bestimmte  Zeugen  einer  aus  der  europäischen  Heimat  mit- 
genommenen Poesie.  Die  Taten  der  Ilias  spielen  sich  wohl  auf  asiatischem 
Boden  ab;  aber  daneben  klingt  durch  Ilias  und  Odyssee  ein  reicher  Nach- 
hall von  thebanischen,  thessalischen,  argolischen  Sagen,  und  diese  haben 
alle  eine  so  wirkungsvolle  Darstellung,  daß  man  auch  für  sie  eine  uralte 
Verklärung  durch  die  Poesie  voraussetzen  darf.  Und  wo  thronen  die  Götter, 
wo  singen  die  Musen  zur  Phorminx  des  Apollon?  auf  dem  Olympos,*)  dem 

*)    Darüber  s.  bes.  W.  Schulze.   Quae-  *)  Olympos.   der  halbmythische  Flöten- 

stionesepicae,  Gütersloh  1892,  und  F.  SoLMSBN,      spieler.  war  ein  Phryger;  Haupttonarten  der 


Untersuchungen   zur  griechischen  Laut-  und 
Verslehre,  Straßburg  1901. 

')   Th.  Bbrgk,  Über  das  älteste  Versmaß 


Griechen  waren  die  phrygische  und  lydische; 
lykische  Baumeister  bauten  die  alten  Burgen 
der    Achäer   in    Argos    und  Mykenai:    dem 


der  Griechen.  Kl.  phil.  Sehr.  II 392  ff.;  H.UsENER,  Löwentor  von  Mykenai  stehen  ganz  ähnliche 

Altgriechischer  Versbau,  Bonn  1887.  der  über-  j  von  Altphrygien  zur  Seite.  Den  Lydern  haben 

dies  den  Versuch  wagt,  die  Tripodien  auf  ur-  |  die  Griechen  die  Münzprägung  abgelernt 

sprttngliche  Tetrapodien   zurückzuführen;  F.  i  *)  Allerdings  heißen  erst  in  dem  jungen 

D.  Allen,  Über  den  Ursprung  des  hom.  Vers-  Schiffskatalog  die  Musen  Ö/.vf4,-nddt<;  Movom 

maßes,  Ztechr.  f.  vergl  Spr  24  (1879)  556  ff.  C.  (B  491).    aber  auf  dem  Olympos.   im    Haus 

HöBBiTZ,  De  vetustiore  versus  heroüci  forma  in  i  des  Zeus,  singen  sie  schon  A  604.  und  Moroni 

Homeri  carminibus  inventa.  Progr.  Berl.  1901.  i  'OXvuma   öwfiat^   Fj^ovaai   heißen    sie    schon 

2* 


20  Griechische  litteratnrgeschichte.    I.  ElassiBche  Periode. 

hochragenden  Berg  Thessaliens.  Hier  in  Thessalien,  an  den  Abhängen 
des  Olympos,  im  romantischen  Tale  des  Peneios  werden  wir  auch  die 
Wurzeln  der  griechischen  Poesie  suchen  dürfen.  Die  Kultformen  des  bereit» 
indogermanischen  Heroendienstes  mit  den  schon  früh  auch  von  Berufs- 
sängern agonistisch  vorgetragenen  (Hesiod.  op.  654  fif.)  Lobgesängen  auf  die 
verstorbenen  Fürsten  bei  Begräbnis  und  Erinnerungsfeier  boten  eine  feste 
reale  Grundlage  für  die  stoffliche  und  formelle  Ausgestaltung  des  Helden- 
gesanges im  Mutterland.^)  Wir  dürfen  also  nicht  mit  Homer  die  griechische 
Litteraturgeschichte  beginnen,  wir  müssen  weiter  hinaufsteigen  zu  ihren 
Anfängen  im  europäischen  Festland. 

Von  diesen  Anfangen  der  griechischen  Poesie  und  dem  Inhalt  der 
alten  vorhomerischen  Lieder  können  wir  uns  wesentlich  nur  aus  dem,  was 
die  homerischen  Gesänge  uns  lehren,  eine  Vorstellung  machen.*)  Denn  die 
überlieferten  Namen  der  alten  Sänger  und  die  Erzählungen  von  ihrem  Leben 
sind  nur  geeignet,  uns  in  die  Irre  zu  führen,  einmal  weil  mehrere  der 
Personennamen,  wie  Lines,  Musaios,  Eumolpos,  erdichtet  sind,  und  dann 
weil  auch  an  echte  Namen,  wie  Orpheus,  sich  Vorstellungen  aus  Verhält- 
nissen späterer  Zeit  angeschlossen  haben.  Das  aber  läßt  sich  unschwer 
erkennen,  daß  die  ältere  vorhomerische  Poesie  eine  doppelte  war,  einer- 
seits lyrische,  sei  es  hieratisch  (Anrufungen  und  Verherrlichungen  der 
Götter)  oder  profan,  anderseits  epische  Sagendichtung,  die  von  den  Ge- 
schicken der  einzelnen  Stämme  und  ihrer  Königsgeschlechter  handelte. 

15.  Profane  und  hieratische  Lyrik.  Daß  es  schon  in  der  frühesten 
Zeit  volkstümliche  Gesänge,  besonders  auch  Arbeitsgesänge  gegeben  habe, 
müßte  man  annehmen,  selbst  wenn  Homer  solche  nicht  ausdrücklich  er- 
wähnte.*) Die  Anfänge  der  hieratischen  Poesie  hängen  unserer  Überlieferung 
nach  mit  dem  Dienst  der  Musen  und  des  Apollon  zusammen.^)  Die  Musen 
selbst,^)  die  wie  viele  Götter  der  alten  Zeit  in  quellreichen  Hainen  verehrt 
wurden,^)    hatten   ihre    ältesten  Sitze   am  Olympos  in  ThessaHen    und  am 

A  218,  5  508,  77  112.  Daß  aber  "Okvfi.^og  (3.  Aufl.  1902);  C.  Hbntzb,  Philo!.  60(1901) 
im  echten  Homer  nicht  die  verblaßte  Be-  :  374  ff. ;  Wilamowitz,  Sitzber.  der  Berl.  Ak., 
deutung  , Himmel,  Götterwohnimg",  sondern   ;    1902,  892  hebt  eine  mykenische  Darstellung 

die  konkrete  eines  Berges  in  Thessalien  hatte,  von  Bäckerinnen,   denen   ein   Pfeifer    spielt, 

bemerkte  bereits  Aristarchos  (K.  Leiius,  De  hervor. 

Aristarchi  studiis  Hom.',  Leip.  1882,  163  f.);  *)    Die    Ansicht   von  0.  Gruppe  (Grie- 

die  Echtheit  der  Verse  Od.  <r42— 7,  in  denen  chische  Culte  u.  Mythen,  Leipz.  1887,  I  540  ff.) 

eine  verwaschenere  Bedeutung  hervortritt,  ist  über  eine  uralte,  vom  Orient  aus  beeinflußte 

zweifelhaft,  jedenfalls  gehören  sie  der  jüngeren  Hymnenpoesie  der  Griechen  harrt  noch  immer 

Dichtung  an.  urkundlicher  Bestätigung. 

^)  W.  ScHMiD,  Zur  Geschichte  des  griech.  *)  Über  die  Zahl  der  Musen  Haupt- 
Dithyrambus.  Progr.  Tübingen  1901.  FürBe-  stelle  Paus.  IX  29,  2;  nach  ihr  hießen  die 
urteilung  des  geschichtlichen  Gehalts  solcher  drei  alten  Musen  Mekiitj,  Mvyfui,  \4otdtj, 
Enkomien  kann,  was  Cicero  Brut.  62  über  die  was  auf  die  Zeit  hinweist,  wo  bei  dem  Mangel 
römischen    laudationes   funebres   sagt,    auch  schriftlicher    Aufzeichnung    die    Gedächtnis- 


auf griechischem  Gebiet  gelten.  Siehe  auch 
über  altlakonische  Enkomien  Plut.  Lyc.  21. 
^)  Fünf  poetische  Gattungen  fanden  die 


Übungen  eine  Hauptsache  waren;  die  Zahl 
von  neun  Musen  zuerst  Od.  oj  60.  Siehe 
Pbeller-Robert,  Griech.  Mythol.,  Berl.  1894, 


alten  Grammatiker  bei  Homer  bezeugt  (Schol.  484  ff.    über  den  animistischen  Charakter  der 

BT  zu  11.  .1  478):  namvtxöy,  ihjfjrtfTtxdr,  v.too-  Musen  und  ihre  Verwandtschaft  mit  den  Si- 

yt]naiix6r,  owq  oorioTixdr  und  Fyxtoiiuaoitxor.  renen  E.  Pfühl,  Jahrbuch  des  arch.  Inst.  20 

3)   K.    BCcHER,   Arbeit  und   Rhythmus,  (1905)  83.  131. 
Abh.  der  Sachs.  Ges.  der  Wiss.  17  (1896)  nr.  5  «)  Tu.  Berok,  Gr.  Lit.  I  320  will  gerade- 


A.  Epos.    L  Yorlitteransche  Anfänge  der  griechiBchen  Poesie.    (§15.)        21 

Helikon  in  Böotien.^)  Vom  Olympos  und  Pierien,  wo  sie  an  der  Quelle  Pim- 
pleia  und  in  der  Grotte  von  Leibethron  wohnten,  hatten  sie  die  Beinamen 
'OXvfuztddeg  und  Iliegiöeq,  und  daß  dort  ihr  ältester  Sitz  war,  zeigt  sich 
Auch  darin,  daß  Hesiod,  der  böotische  Sänger,  neben  dem  neuen  Beinamen 
^E)ux(oviddeq  noch  jene  alten  beibehielt.  Diener  der  Musen  hießen  auch  die 
thrakischen  Sänger  späterer  Tradition,  die,  in  Pierien,  Böotien  und  Phokis 
heimisch,  vielleicht  auch  zu  einem  Volksstamm  des  historischen  Thrakien 
in  Beziehung  standen.*)  Bei  diesen  handelt  es  sich  um  Fiktionen,  die  ihre 
Entstehung  nicht  litteraturgeschichtlichen  Tatsachen  oder  Erwägungen,^) 
sondern  religiösen  Tendenzen  verdanken  und  im  Zusammenhang  stehen 
mit  der  seit  dem  6.  Jahrhundert  v.  Chr.  in  philosophischen  und  religiösen 
Kreisen  hervortretenden  Opposition  gegen  die  homerische  Theologie. 
Man  fing  nun  in  den  apollinischen  Priesterschaften  von  Delos  und  Delphoi 
sowie  in  den  dionysisch-orphischen  Sekten  an,  Archegeten  neuer, 
priesterlicher  Lebensideale  vor  Homer  hinzusetzen.*)  Damals  ist  auch 
der  ursprünglich  griechische  Sänger  Orpheus,  der  noch  von  Piaton  als 
Grieche  und  Apollonverehrer  angesehen  wird,^)  zum  Weihepriester  und 
Dichter  einer  von  thrakischen  Religionsvorstellungen  beeinflußten  dionysi- 
schen Sekte  gemacht  worden,  ein  Sinnbild  der  Verbindung  zwischen  apol- 
linischer und  dionysischer  Religion,  die  sich  im  6.  Jahrhundert  in  Delphoi 
vollzog. ö)  Als  Heimat  des  Orpheus  galt  Pieria  am  Olympos; '')  dort,  an 
alten  Sitzen  orphischer  Verehrung,  in  Leibethron  und  Dion  zeigte  man  sein 
Grab.®)  Die  Sagen,  daß  er,  ein  Sohn  der  Muse  Kalliope,  mit  seinem  Saiten- 
spiel die  Bäume  und  Felsen  nach  sich  gezogen  habe,  daß  er  in  die  Unter- 
welt hinabgestiegen  sei,  um  seine  Gemahlin  Eurydike  zurückzuholen,  daß 
-er  als  Sänger  an  der  Argonautenfahrt  teilgenommen  habe   und  schließlich 


2a  die  Musen  mit  den  Nymphen  identifizieren   l   Phil.  1877  S.  225  ff.  —  Nach  den  Thrakern  in 
und  ihren  Namen  auf  lydisch  /itot«  *  t6  vöcog   I   Phokis  und  Böotien  läßt  die  stammverwandten 


<Hesych.)  zurückführen.  Eher  ließe  sich  zu 
dem  partizipiaien  fiovaai  das  Nomen  vvfitpai  in 
dem  Sinne  , sinnende  Mädchen*  ergänzen. 
Eine  andere  gewagte  Deutung  (Mdvrja  Berg- 
jungfrau)  schlägt  J.  Wackbrnagel,  Ztschr. 
f.  vergl.  Spr.  33  (1895)  571  ff.  vor. 


nördlichen  Thraker  benannt  sein  P.  Kbetsch- 
MEB,  Einleitung  in  die  Gesch.  der  griech.  Spr  , 
Gott.  1896,  171  u.  242. 

*)  Es  mag  aber  sein,   daß  das  seit  Ari- 
stoteles (poöt.  1448  b  28;  dann  Cic.  Brut.  71) 
auftretende  litterarhistorische  Postulat  einer 
')  Paus.  IX  29;  Strabo  p.  410  u.  471.         |   vorhomerischen  Poesie  durch  dieseFälschungen 
')  Solche  Thr^er  finden  wir  in  Phokis   ;   vorbereitet  worden  ist. 
bei  Thuc.  II  29,  im  böotischen  Anthedon  bei  *)   Plat.  apol.  41  a   erscheinen    Orpheus 

Lykophron  754  und  Steph.  Byz.,  in  Delphoi      und  Musaios  vor  Homer  und  Hesiod. 
bei  Diodor  XVI  24,  bei  dem  Städtchen  Dorion   I  ^)  F.  Weber,   Platonische  Notizen  über 

im  Schiffskatalog  11.  iB  595;  im  übrigen  s.  j  Orpheus,  Diss.  München  1899;  R.H.Woltjeb, 
K  0. Müller,  Orchomenos 379 ff.:  G.H.BoDE,  De  Piatone  praesocraticorum  philosophorum 
Gesch.  d.  hell.  Dichtk.,  Leipz.  1838,  I  99  ff.  existimatore  et  iudice,  Leiden  1904,  S.  129  ff.; 
Unterschieden  werden  sie  von  den  historischen  auch  Plat.  Tim.  40 d  u.  leg.  X  886 cd  beziehen 
Thrakern  bei  Thuc.  II 29.  Die  Späteren  folgten  ,  sich  wohl  auf  Orpheus, 
der  seit  Euripides  verbreiteten  Anschauung  von   |  ®)  E.  Rohde,  Psyche  IP  52  ff.;  ders.,  Kl. 

der  Identität  der  thrakischen  Sänger  und  des   |   Sehr.  II  300  ff. 

barbarischen  Volkes  der  Thraker.   Daher  die   |  •)  Eur.  Bacch.  561  ff.  (vgl.  Ale.  967  ff.; 

Sage,  daß  die  Leier  des  Orpheus  von  der  Rhes.  944):  Apoll.  Arg.  I  23  ff.;  Paus.  IX  30. 
thnücischen  Küste  nach  Antissa  auf  Lesbos.  ")  Paus.  IX  303  ff. ;  nach  Dion  ließ  man 

der  Vaterstadt  des  Terpandros,  geschwommen  die  Gebeine  des  Orpheus  gebracht  sein,  nach- 
sei; 8.  Stob.  Flor.  64, 14;  G.  H.  Bode,  Gesch.  d.  dem  dort  zur  Zeit  des  makedonischen  Königs 
liell.  Dichtk.  I  143  ff.;  A.  Riese,  Jahrbb.  f.  kl.  •     Archelaos  musische  Agone  eingerichtet  waren. 


22 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  ElasBische  Periode. 


von  ekstatischen  Frauen  zerrissen  worden  sei,  haben  seine  Person  so  in 
mythisches  Dunkel  gehüllt,  daß  schon  Aristoteles  seine  Existenz  leugnete  0 
und  in  kritischen  Kreisen  frühzeitig  die  Echtheit  der  unter  seinem  Namen 
umlaufenden  Gedichte  bestritten  wurde.*)  —  Als  Schüler  des  Orpheus  und 
erster  Aufzeichner  von  dessen  Gedichten 3)  galt  Musaios;*)  er  war  von 
Pierien  am  Olympos  mit  den  Thrakern  nach  Böotien  an  den  Helikon  ge- 
wandert (Strab.  471)  und  hatte  in  Athen  sein  Grab  gefunden  (Paus.  I  25,  7); 
er  und  sein  Sohn  Eumolpos  sind  mit  dem  eleusinischen  Geheimdienst  der 
Demeter  eng  verknüpft.  Die  von  Musen  und  Gesang  abgeleiteten  Namen 
der  beiden  Sänger  erwecken  wenig  Vertrauen  auf  die  persönliche  Existenz 
ihrer  Träger.  Pausanias  I  22,  7  verwirft  alle  damals  umlaufenden  Gedichte 
des  Musaios  mit  Ausnahme  eines  einzigen  auf  Demeter  für  die  Lyko- 
miden  gedichteten  Hymnus,  und  auch  dieser  wird  kein  hohes  Alter  gehabt 
haben. ^)  —  Mit  dem  Demeterkultus  in  Attika  stand  auch  der  alte  Hymnen- 
dichter Pamphos«)  in  Verbindung,  der  nach  Pausanias  Vin37, 9  vor  Homer 
gelebt  und  verschiedene  Hymnen,  darunter  auch  solche  an  Eros  (Paus.  IX 
27,  2)  gedichtet  hatte.  —  Der  jüngste  der  thrakischen  Dichter  war  Tha- 
myris  (oder  Thamyras),  dessen  Blendung  durch  die  Musen,  die  er  zum 
Wettgesang  herausgefordert  hatte,  der  Dichter  des  Schififskataloges  (Il./?594) 
erwähnt.')  Er  wird  von  dem  Schohasten  und  Suidas  ein  Sohn  des  Phil- 
ammon   genannt,   der  eine  Erfindung  der  delphischen  Priesterschaft  ist.®) 


^)  Cic.  de  nat.  deor.  I  107.  Vgl.  Suidas: 
'0^7^ i'C  'Odovatji;  Lionoioq  '  dimn'Oiog  df  lov- 
T(n'  ovÖF  yFyorfvai  kryei. 

*)  Platon  als  ältester  Zeuge  führt  i'firoi, 
ifkexnif  j(ot)oitoMii  und  eine  ihoym'ia  auf  ihn 
zurück  (Prot.  31 6 d,  Crat.  4ü2b.  vgl.  Legg.  IV 
715  d  und  dazu  die  8cholien:  ferner  Phileb. 
66  c.  reip.  364  e,  Phaed.  69c,  Ion  536  b)  und  zitiert 
zwei  kosmogonische  Verse  von  ihm;  s.  Chr.  A. 
LoBEOK,  Aglaoph.  Elegim.  1829,  529  ff.;  0. 
Gruppe,  Die  rhapsodische  Theogonie  und  ihre 
Bedeutung  innerhalb  der  orphischen  Litteratur. 
Jahrbb.f.class.Phil.Suppl.  17(1890)687—747. 
Die  unter  Orpheus'  Namen  auf  uns  gekom- 
menen Gedichte  ^Joyoravu^in,  Atfhxa,  rur(n 
sind  Fälschungen  aus  der  Zeit  n.  Chr.  und 
werden  unten  in  dem  Kapitel  von  den  Or- 
phika  zur  Sprache  kommen.  Über  die  ün- 
echtheit  der  übrigen  Orphika  und  über  Or- 
pheus selbst  brachte  zuerst  Licht  Lobeck, 
Aglaophamus  233  ff.  Als  Fälscher  der  or- 
phischen '  Dogmata  wird  bei  Schol.  Aristid. 
p.  545^  1  ff.  DiNi).  der  Athener  Onomakritos 
bezeichnet  (s.  u.  S.  24).  -Von  einer  auf  Orpheus 
zurückgeführten  Aoo;;c  xdi^odoc,  in  der  eine 
starke  Benützung  des  homerischen  Demeter- 
hymnus bemerkbar  ist,  enthält  ein  Berliner 
Papyrus  s  1.  a.  Chr.  Reste,  die  F.  Bücheler, 
Berliner  Klassikertexte  V  1  (1907),  heraus- 
gegeben hat.  —  Im  ganzen  s.  E.Maass,  Orpheus, 
München  1895,  besonders  S.  76  ff.  und  dazu  E. 
RoHDK.  Kl.  Sehr.  II  293  ff.  Diener  des  Apollon 
war  Orpheus  den  Aelteren.  Pindar  P.  4.  176 
und  Aiachvlos  in  den  Bassariden.    Die  Nach- 


richten über  ihn  und  die  ihm  und  seinen  An- 
hängern, den  Orphikem,  untergeschobenen 
Verse  bei  H.  Dibls,  Fragmente  der  Vorsokra- 
Uker»,  Berl.  1901,  489—496. 

»)  Berliner  Klassikertexte  V  IS.  2  col.  1,4. 

*)  Suidas:  Movaaios  fia&rjtiß  X)(jffF.(og, 
ftäXXov  6f  noFoßviFoog '  ijxfia^F  yao  xata  tov 
SevzFoor  KFxoojta.  E.  Rohde,  Kl.  Sehr.  16,2; 
J.  TöPFPEE,  Att.  Genealogie  31.  Die  Reste 
bei  H.  Dibls.  Fragmente  der  Vorsokratiker* 
496  ff. 

'^)  Aristot.  polit.  VIII  5  p.  1339b  22  führt 
aus  Musaios  den  Halbvers  ßooioli;  Pj^iorov 
(iFiÖFtr  an.  Im  3.  Jahrhundert  n.  Chr.  treffen 
wir  auf  einer  eleusinischen  Inschrift  CIG  401 
einen  Hierophanten  o?  tfäftik;  avi(ft}VF  xnl 
onyia  ndvrv/n  /irora/c  EvftoXnov  nooj(^FU)V 
f/4F()dFooftr  nna. 

•)  H.UsENEB,  Göttemamen,  Bonn  1896, 58 
sucht  hinter  ihm    einen    Himmelsgott  Hau- 

^)  Die  Blendung  läßt  Homer  bei  dem 
Städtchen  Dorion  in  Elis  geschehen;  wahr- 
scheinlich aber  nannte  die  alte  Sage  Dotion 
in  Thessalien,  wohin  die  Verbindung  mit 
Oichalia  weist;  s.  Steph.  Byz.  u.  Adirinr,  und 
B.NiESE,  Der  hom.  Schiffskatalog,  Kiel  1873.22. 
Verse  des  Thamvris  erwähnt  Platon  Ion  533  b 
und  leg.  VIII  829  e. 

®)  Eusebios  setzt  den  Philammon  1292 
V.  Chr. ;  nach  Pausanias  X  7,  2  folgte  Philam- 
mon selbst  auf  Chrysothemis  aus  Kreta, 
welche  Insel  bekanntlich  mit  dem  delphischen 
Priesterdienst  in  Verbindung  gesetzt  wurde. 


A.  Epos.    L  Yorlitterarische  Anfänge  der  griechischen  Poesie.    (§  16.)        23 

Ein  Geschöpf  der  delischen  ApoUonpriesterschaft  ist  Ölen  aus  Lykien, 
dem  PausaniasVIII21,3  mehrere  Hymnen,  darunter  einen  an  die  Eileithyia 
zuschreibt,  und  auf  den  Herodot  IV  35  die  alten  in  Delos  gesungenen 
Hymnen  zurückführt,  i)  Pausanias  X  5,  7  macht  in  oberflächlicher  Deutung 
der  Stelle  des  Herodot  den  Ölen  zu  einem  Hyperboreer  und  berichtet,  daß 
nach  den  einen  dieser  Ölen,  nach  andern  Phemonoe,  die  Prophetin  in 
Delphoi,  den  Hexameter  erfunden  habe.  2)  Sehen  wir  von  dem  Ursprung 
aus  dem  Lande  der  .Hyperboreer  ab,  die  von  Hause  aus  der  delphischen 
Priesterlegende  angehören,  aber  schon  früh  (Herodot  IV  33)  von  der  deli- 
schen Priesterschaft  aufgenonmien  worden  sind,  so  scheint  Ölen  Vertreter 
des  aus  Lykien  stammenden  Apollondienstes  zu  sein  und  mit  der  Einführung 
der  Kreter  in  den  delphischen  Apollondienst  zusammenzuhängen.^) 

Lines  war  nachweislich  keine  individuelle  Person,  sondern  nur  Re- 
präsentant einer  alten  Liedweise  (Hom.  II.  2!  570).*)  Zwar  machten 
ihn  der  Historiker  Charax  bei  Suidas  und  der  Verfasser  des  Agon  zu 
einem  Ahnen  des  Orpheus  und  somit  auch  des  Homer;  5)  aber  trotzdem 
uns  auch  noch  Verse  unter  dem  Namen  des  Lines  durch  Stobaios  auf- 
bewahrt sind  und  man  sein  Bild  in  einer  Grotte  am  Helikon  zeigte,  0)  kann 
es  doch  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  es  nie  einen  Dichter  Lines  gegeben 
hat,  und  daß  ihn  nur  die  Mythenbildner  aus  dem  Verse  der  Ilias  2*  570 
IjLUQoev  xi&dQiCe,  ilvov  ö'  vno  xaXöv  äeide  (seil.  Tialg)  herauslasen,  indem  sie 
das  Wort  Xivov  im  Sinn  eines  Eigennamens  faßten.  Angeblicher  Schüler 
dieses  Lines  war  der  oben  schon  genannte  Pamphos. 

16.  Bei  dem  heutigen  Stand  der  kritischen  Forschung  bedarf  es  nicht 
erst  langen  Nachweises,  daß  nicht  bloß  sämtliche  Verse,  die  unter  den 
Namen  jener  hieratischen  Dichter  auf  uns  gekommen  sind,  sondern  auch 
alle  diejenigen,  welche  die  Alten  kannten,  von  jüngeren  Fälschern  her- 
rühren. Das  Richtige  sah  bereits  Herodot,  indem  er  H  53  sagt:  ol  jiqo- 
TEQOV  jioiTjrai  Xeyoßievoi  tovtojv  xibv  ävdo(bv  (^OjuiJQOv  xal  'Iloiodov)  ytv£oi}ai 
vaxEQov  ejuoiye  doxhiv  iyevovxoJ)     Später    hat   dann   ein   sonst  nicht   näher 

Erwähnt  ist   Philammon    zuerst   bei  Hesiod  '   erscheint  schon   bei  Hesiod  fr.  192  Rz.;   vgl. 

fr.  111  Kzach:  rj  (seil,  ^äojvig)  texev  Avto-  Carm.  pop.  2.   Die  Linosmelodie  war  orienta- 

Xvxoy   ze  0udfifiovd    ts   xkvzor  av^rjv.     Vgl.  1    lischen   Ursprungs   und   nach   Herodot.  11  79 

Schol.  ad  Od.  r  432.     Pherekydes  (fr.  63  M.)  I   (vgl.  Paus.  IX  29,  7)  über  Phönikien.  Kypros, 

macht  ihn  an  Orpheus*  Statt  zum  Teilnehmer  Aegypten    (vgl.  Plutarch   de   Isido  17)    ver- 

an  der  Argonautenfahrt.  breitet;  s.  H.  K.  Bbuosch,  Die  Adonisklage 

*)     Nach    Kallimachos    hymn.    IV    304  und  das  Linoslied,  Berlin  1852;   0.  Gbuppb, 

scheint  man    damals    noch    in   Delos   einen  1    Die  griech.  Culte  und  Mythen  1543 ff.;  Wila- 

Nomos  des  Ölen  unter  Tanzbeglcitung  ge-  j   mowitz  zu  Eur.  Herakl.  II  119  ff. 


sungen  zu  haben. 

*)  Nach  andern  galt  Orpheus  als  Erfinder 
des  Hexameters;   s   Lobeck,  Agiaoph.  233. 


^)  Die   Stammtafel   gibt  E.  Rohde,  Kl. 
Sehr.  I  8. 

«)  Paus.  IX  29.  6;   nach  Paus.  II  19,  8 


')  Auch  von  Melanopos  in  Kyme,  den  1   befand  sich  in  Argos  sein  Grab:  bei  Suidas 

die  Logographen   in   das  Ahnenstemma  des  heißt  er  Xa).xtöevg.   Vgl.  H.  Flach,  Gr.  Lyr. 

Homer   und  Hesiod   aufnahmen,    hatte  man  I  o  ff. 

nach  Paus.  V  7.  8  Hymnen.    Hauptstelle  für  ")  Ebenso  Joseph,  c.  Ap.  I  2:  (Uro?  jraoä 

diese  alten  hieratischen  Dichter:  Herakleides  |   loT^  "EkXrjoiv   ovdlv   oftoAoyovjitn'ov   FVQioy.Frai 

Pontikos  bei  Plut.  de  mus.  3    mit  dem  Kom-  '    ygdftftn    rz/i,-   'Ou/joor    .To<>;oewcr   :zoFnßvTeoor, 

mentar  von  R.  Volkmann.  Sext.  Emp.  adv.  math.  I  203:  änj^aiordit)  eoüv 

*)  Der  Vers  steht  in  der  jungen  Schild-  1)  Vutigov  noiijois  '    Jionifia    ydo   ovöev  .-iqfo- 

beschreibung   im    Abschnitt   von    der    Wein-  1   ffriegoy    rjxn'   eig   tj^iäq  Tijg  fxfivov  nouiaF(o;, 

lese.    Lines  als  personifizierter  Klagegesang  !   Schol.  Dionys.  Thrac.  p.  785  Bekk.:    fI  xai 


24  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  EXaesische  Periode. 

bekannter  Epigenes,  der  nach  Harpokration  (unter  "l(ov)  vor  Kallimachos 
gelebt  haben  muß,  in  einer  Schrift  Tiegl  xrjg  elg  ^Ogq^ea  ävatpego/tJLivtjg 
Tioujoecog^)  die  überlieferten  Gedichte  einzeln  geprüft  und  den  größeren 
Teil  derselben  dem  Schwindler  Onomakritos  zugeschrieben,  der  nach  Hero- 
dot  VII  6  von  dem  Musiker  Lasos  aus  Hermione  über  der  Fälschung  von 
Orakelsprüchen  des  Musaios  ertappt  worden  war.  Es  drücken  sich  daher 
auch  die  guten  Autoren,  wo  sie  von  Gedichten  des  Orpheus  und  jener  alten 
Sänger  sprechen,  mit  zweifelnder  Vorsicht  aus,  wenn  sie  nicht  geradezu 
den  Namen  des  Orpheus  durch  den  des  Onomakritos  ersetzen.*)  Aber  wenn 
wir  uns  auch  bezüglich  der  apokryphen  Litteratur  ganz  dem  ablehnenden 
Urteil  der  alten  und  neuen  Kritiker  anschließen,  so  muß  doch  daran  fest- 
gehalten werden,  daß  es  vor  Homer  Kultgesänge  gegeben  hat,  wie  denn 
in  der  Ilias  (.4  473;  X391)  der  Paian  auf  ApoUon  erwähnt  wird.  Unsicher 
sind  aber  alle  Namen  von  Dichtern.  Über  die  oben  Angeführten  schweigen 
Homer  und  Hesiod,  wenn  wir  von  der  Stelle  des  jungen  Schiffskataloges 
i?  595  und  den  zweifelhaften  Versen  des  Hesiod  fr.  192  Rz.  absehen. 

17.  Anfänge  der  Sagenpoesie.')  Neuer  Stoff  und  neue  An- 
regung wurden  den  Dichtern  zugeführt,  als  sich  im  heroischen  Zeitalter 
ein  lebhafter  Tatendrang  der  Nation  bemächtigte  und  die  Wanderungen 
der  Stämme  zu  heftigen  Kämpfen  und  mutigen  Wagnissen  führten.  Die 
Kämpfe  jener  ritterlichen  Helden,  die  Ruhmestaten  der  einzelnen  wie 
die  gemeinsamen  Unternehmungen  zu  Land  und  zur  See  boten  der  Sage 
reiche  Nahrung,  wobei  es  nicht  fehlen  konnte,  daß  die  historischen 
Taten  und  Persönlichkeiten  vielfach  umgeformt,  typisiert,  auch  durch 
Hereinziehung  der  Göttermythologie  erweitert  und  ausgeschmückt  wurden. 
Schon  auf  dem  Festland  hatte  sich  auf  solche  Weise  ein  Schatz  von 
Mythen  gebildet;  er  ward  wesentlich  bereichert,  als  im  12.  und 
11.   Jahrhundert    vor    unserer    Zeitrechnung*)    infolge    des    Vordringens 

löTOQovoi  Tiveg  jtoujtus  Jigoysyerf^odai  'O^yiqov  '.    x^vrai    Movoaim}    xai  X)g(f^t:(og,      Der    Sophist 

Movoalm'  ts  xai  XJofpea  xai  Aivov,  dXX*  oficos  \   Hippias  scheint  nach  Clemens  Alex,  ström. 

oi^dfv  :iQEoßvi€Qov  rifg  *lAidAo<;  xai  ^OSvoaeiai  i    VI  p.  745  P.  die  Echtheit  der  Gedichte  des  Or- 

otoCrrai  .-loifjfia  '  dXX'  eoei  rtg,  nMg :  K:rFi  ygdfi-  |    pheus  und  Musaios  nicht  bezweifelt  zu  haben ; 

fiara   ow^avTai  Jigeoßvrega ;   xai  (pafiev  Sri  rd  <    s.  LoBECK  a.  0.  336  f. 

fih   Tovuor  iyevofih'ovg  exovoi  rovg  ^gdvorg,  ')  G.  W.  NiTZSCH,  Die  Sagenpoesie  der 

td  ds  veo)jego)v  nvojr  Exdrrcoy  6iiwtn\niag  rojv  Griechen,  Braunschweig  1852  ;K.MCllenhoff, 

:TaXaio)v  rag  imygaf/ dg  F^orm.   Das  war  eben  Deutsche  Altertumskunde  1  8 — 73    wo  indes 

die  Meinung  des  Aristarchos  und  der  alexan-  allzusehr  die  phönizische  Sage  als  Grundlage 

drinischen  Kritiker.  der  griechischen  betont  ist;  H.  Usener.  Der 

*)  dem.  Alex.  Strom.  I  p.397u.Vp.675P.;  '   Stoff  des  griechischen  Epos,  Sitzb.  d.  Wiener 

vgl.  Lobeck.  Aglaophamus  p.  340  f.   Siehe  o.  !   Ak.  137  (1897),  betont  das  Mythische  viel  zu 

S.  22,  2.  stark  auf  Kosten  des  Geschichtlichen. 

*)  Aristot.  de  an.  gen.  II 1  p.  734a  19:  h  *)  Eratosthenes  und  ApoUodoros  setzen 

töig  xalovftn'otg  X)n<pe(og  f.ifoiv,    ebenso   de  die    Eroberung    Troias    1184,    die    dorische 

an.  15  p.  410b  28,    und   dazu  Philoponos:  Wanderung  1104,  die  Auswanderung  der  lo- 

ijiFidtj  liij  doxel  'OgtjpFwg  Ftrat  xd  f.^7},  <üs  xai  i   nier  aus  Attika  140  post  Tr.  oder  1044  v.  Chr., 

avTog  Fv   xolg   nFgi    qdoao(f.iag  /JyFi '    ainov  i   was   im    wesentlichen    mit   den  Ergebnissen 

fih  ydg  eioi  rd  ddy/taia,  xama  Af  (frjoiv  'Ovo-  |   der  Forschung  über  die  Chronologie  des  ,my- 

ftdxgiTov  h'  Kt f Ol  xaraiFTrai  SextEm^'iT.Vyrrh.  kenischen*  Zeitalters  (Untergang  der  myke- 

III  30  und  adv.  math.  IX  361  sagt  schlechtweg  nischen  Kultur  ca.  1 100  v.  Chr.)  übereinstimmt. 

Xh'ofidxnixog  h'  xoig  'Ogqixotg.   Weder  Zweifel  ,   Über   den   verschiedenen  Ausatz  der  Troika 

noch    Zustimmung    enthält    der     Ausdruck  |   selbst  s.  F.  Jacoby,   Das   Marmor  Parium, 

Piatons  reip.  II  3G4e:   ßtßkwv   ouaöov  jiagi-  .   Berlin  1904,  146  ff. 


A.  Epos.    1.  Yorlitterarische  Anfänge  der  griechischen  Poesie.    (§§  17 — 18.)       25 

thessalischer  Völkerschaften  nach  Böotien  und  der  Wanderung  der  Derer 
nach  dem  Peloponnes  die  alten  Bewohner  der  bedrängten  Länder  nach 
Eleinasien  auswanderten  und  dort  unter  mannigfachen  Kämpfen  neue  Reiche 
und  Niederlassungen  gründeten.  Bei  der  Übersiedelung  nach  Kleinasien 
vollzog  sich  eine  sehr  wichtige  religiöse  Veränderung,  die  auch  auf  die 
Sagendichtung  einwirkte:  das  kleinasiatische  lonien  der  homerischen  Zeit 
kennt  keinen  Heroenkult  mehr.  Daraus  ergibt  sich,  daß  hier  der  Dichter 
der  Heldensage  mit  viel  weniger  religiöser  Befangenheit  und  viel  mehr 
ästhetischer  Freiheit  gegenübersteht  als  der  mutterländische  Dichter  der- 
selben Zeit.  Die  Auswanderer  brachten  nun  die  alten  mutterländischen 
Sagen  mit  in  ihre  neue  Heimat,  aber  auch  die  Ereignisse  der  Wanderung 
selbst  bildeten  sich  mit  Notwendigkeit  in  dieser  illitteraten  Periode  als- 
bald zu  Sagen  um.  Solche  Sagen  gestalteten  sich  von  selbst  bei  einem 
begabten  Volke,  das  an  Saitenspiel  und  poetische  Sprache  gewöhnt  war, 
zum  Gesang,  und  der  Gesang  selbst  wieder  verklärte  die  Sage  und  gab 
ihr  reichere  Gestalt  und  festere  Dauer.  Das  ganze  Volk  zwar  dichtete 
nicht,  immer  nur  ein  einzelner  gottbegnadeter  Sänger  schuf  den  Helden- 
gesang; aber  indem  der  einzelne  Dichter  nur  die  im  Bewußtsein  seiner 
Hörer  lebende  Sage  wiedergab  und  sich  in  seinem  Singen  und  Dichten 
mit  seinem  Publikum  eins  fühlte,  ward  sein  Gesang  zum  Spiegel  einer 
allgemeinen  Stimmung  und  trat  seine  Person  ganz  hinter  dem  Inhalt 
seiner  Dichtung  zurück.  Übrigens  ist  zu  beachten,  daß  die  alten  Sänger 
in  den  östlichen  Ansiedelungsgebieten  abhängige  Leute  (dTjjuioegyoC)  waren, 
keineswegs  in  der  Lage,  ihrem  Publikum,  der  äolischen  oder  ionischen 
Adelsgesellschaft,  etwa  ihre  eigenen  Anschauungen  von  Welt  und  Leben 
vorzutragen  oder  reformatorisch  zu  wirken,  daß  sie  also  nur  ein  dem  Sinn 
der  Adelsgesellschaft  im  ganzen  konformes  Weltbild  entwerfen  konnten  und 
wollten.  Mit  diesem  beträchtlichen  Vorbehalt  mag  das  homerische  Epos 
und  was  an  epischen  Dichtungen  vor  ihm  liegt,  als  Volksepos  angesprochen 
werden.  Daß  bei  Homer  nur  das  spezifisch  ionische  Leben  geschildert 
werde,  empfanden  die  Derer  deutlich  (Plat.  leg.  IH  680  c). 

18.  Das  heroische  Epos  ging  naturgemäß  von  der  Dichtung  kleinerer, 
balladenartiger  Lieder  aus,  von  denen  die  Serben  in  ihren  epischen  Volks- 
liedern, wir  Deutsche  in  unserem  Hildebrandslied  Beispiele  haben. i)  Der 
Dichter  von  solchen  Liedern,  die  wie  vordem  sich  als  Diener  Apollons  und 
der  Musen  fühlten,*)  gab  es  natürlich  viele  vor  Homer;  ja  es  hat  große 
Wahrscheinlichkeit,  daß  die  Äolier  und  Achäer  aus  ihrer  europäischen 
Heimat    schon    festgeformte  Heldenlieder   mit  nach  Asien   brachten.     Die 


')    Beachtenswert    sind    besonders    die  zum   großen   einheitlichen  Epos   gekommen. 

Volkslieder  der  Serben    aus  der  Zeit  ihrer  Vgl.  E.  Drerüp,    Homer  (Weltgeschichte  in 

Kämpfe  gegen  die  türkischen  Bedrücker;  es  Karakterbildem).  München  1903  S.  17  fF. 

zeigt  sich  nicht  bloß  in  ihrem  Vortrag  durch  i           *)  Od.  0  488.   Daher  riefen  sie  die  Musen 

blinde  Sänger  zu  einem  Saiteninstrument,  der  im  Eingang  an :  der  formelhafte  Vers  fojTFre 

Gusle,    eine  merkwürdige    Aehnlichkeit   mit  vvvi4oi  MnvaaiY)?.rt4madwfiai*ex"voni stammt, 

dem   griechischen  Heldengesang,   sie   lassen  |   wie   das  vorionische   fo.tftf  und  die  Erwäh- 

auch  am  besten  die  Vorstufe  des  homerischen  ,   nung  des  Olympos  zeigt,  aus  alter,  vorhome- 

Epos  erkennen.    Denn   die  Serben  sind  bei  rischer   Zeit.     Ihr    Gesang  gilt  so  als  Ein- 

den  Einzelliedem    stehen    geblieben,    nicht  gebung  der  Gottheit;  vgl.  Od.  q  518,  x  347. 


26  Oriechische  LitteratargeBchichte.    L  ElassiBche  Periode. 

Dichter,  zugleich  Sänger  ihrer  Dichtungen,  bildeten  einen  eigenen  Stand, 
anderen  Handwerksständen  {drj^oegyol)  analog  (Od.  t?  481  qpvkov  äoidcbv; 
Q  383  ff.).  Sie  traten  meist  an  den  Höfen  der  Fürsten  auf,  ihren  Vortrag 
mit  einem  kleinen,  dünnklingenden  Saiteninstrument  (xl&aQig,  (poQjLuyS,  Xvga) 
begleitend,  und  sangen  ihre  Lieder  als  dva^/iata  dairog,  wenn  die  Gäste 
gesättigt  waren  (Od.  a  152;  ^  72  ff.;  i7;  o  270  f.;  9?  430;  x  352;  Hesiod. 
fr.  163  Rz.).  Wie  sonst  bei  primitiven  Völkern^)  waren  die  Sänger  meist 
arme,  alte,  blinde  und  zu  anderen  Verrichtungen  unbrauchbare  Leute. 
Namen  jener  älteren  Dichter  sind  uns  unbekannt;  denn  Phemios  und  De- 
modokos  in  der  Odyssee  sind  gemachte,  redende  Namen.*)  Aber  die 
Sagenkreise  kennen  wir  durch  die  Epen,  die  aus  ihnen  den  Stoff 
nahmen,  und  durch  die  Andeutungen,  die  Homer  über  sie  gibt.^)  Sie 
waren  geteilt  nach  den  Landschaften,  da  fast  jede  Landschaft  ihre 
Stammeshelden  und  ihre  sagenhafte  Geschichte  hatte,  so  daß  man  von 
einem  thessalischen,^)  thebanischen,  argivischen,  elischen,  attischen,  äto- 
lischen,  kephallenischen,  kretischen  Sagenkreis  spricht.  In  den  Vorder- 
grund des  allgemeinen  Interesses  und  der  volkstümlichen  Erzählung  traten 
die  nationalen  Helden  und  die  mächtigen  Stammeskönige  der  Vorzeit,  wie 
die  Atriden  und  Peliden  bei  den  Achäern,  die  Labdakiden  bei  den  The- 
banern,  Theseus  bei  den  Attikern,  Herakles  bei  den  Dorern.  Der  Faden, 
an  dem  die  Helden  und  Könige  verschiedener  Stämme  aufgereiht  werden 
konnten,  war  gegeben  durch  sagenhafte  Gesamtexpeditionen  größeren  Stils. 
So  wurden  Lieblingsgegenstände  der  Sage  und  des  Heldengesangs  die 
Kämpfe  der  Sieben  gegen  Theben  und  die  Einnahme  der  Stadt  durch  die 
Epigonen, '^)  die  Fahrt  der  Argo  vom  Hafen  lolkos  am  pagasäischen  Meer- 
busen   nach  dem  Hellespont   und    dem  fernen   Kolchis,«)   der   zehnjährige 

^)  Vgl.  Jon.  Schmidt,  De  Herodotea  quae  Terpiaden;  er  ist  der  Übermittler  der  neuen 
fertur  vita  Homeri,  Halle  1875,  61  fF.;  Cl.Faü-  |  q^fifiai^  die  den  Hörer  ergötzen  (vgl.  a  351, 
RiEL,  Ohants  populaires  de  la  Grece  moderne,  ^74);  aber  auch  Demodokos  ist  der  vom 
Paris  1824,  p.  XCff.;  B.  Schmidt,  Volksleben  Volk  mit  Ehren  aufgenommene  (vgl.  i9479f.). 
der  Neugriechen,  Leipz.  1871,  187;  für  die  In  der  Ilias  übt  den  Gesang  auch  einer  der 
Aegypter  H.  Erman,  Aegypten  342;  für  die  i  Helden,  Achilleus  IL  1 186  ff. 
Borystheniten  Dio  Chr.  XXXVl  10:  für  die  1  ')  Die  Anschauung  von  B.  Niese  (Die  Ent- 
Serben Globus  86,  91.  Ganz  falsch  ist  die  !  wicklung  der  homerischen  Poesie,  Berl.  1882), 
Auffassung  von  C.  Fries,  Rh.  Mus.  57  (1902)  !  als  wären  alle  bei  Homer  beiläufig  erwähnten 
265  ff.  In  den  homerischen  Gedichten  ist  Sagenzüge  Improvisationen  der  Sänger  ohne 
der  Typus  des  blinden  Sängers,  unter  dem  volkstümlichen  Rückhalt,  widerspricht  allen 
späterhin  Homer  selbst  (nach  Hvm.  Ap.  sonstigen  Analogien  (vgl.  die  Anspielungen 
Del.  172)  vorgestellt  wurde,  durch  Demo-  im  Beowulf  879  ff.,  1071  ff.,  1728  ff.  Heyne 
dokos  (Od.  {>  63  ff.)  vertreten  (eine  ätio-  ,  auf  Sigmund  den  Drachentöter)  und  ist  mit 
logische  Motivierung  für  die  Blindheit,  analog  j  Recht  verworfen  von  E.  Thbamer,  Pergamos, 
deijenigcn,   mit  der  bei  Apoll.  Rhod.  Arg.  II  Leipz.  1888,  100  ff. 

181  ff.  die  Blindheit  des  Phineus  erklärt  wird,  ;            *)  Von   thessalischen  Sagen   wurde  ins- 

ist  II.  B  597  ff.  gegeben).  —  Die  homerischen  besondere  früh  besungen  die  Fahii  der  Argo- 


Gedichte  geben  in  diesem  Stück  ein  in  allem 
Wesentlichen  geschichtlich  zu  nehmendes  Bild 
der  frühesten  Sangesübung;  nur  wenn  Od. 
{y  496,  /.  367  der  Vortrag  des  doibög  mit  xara- 


nauten  und  der  Kampf  der  Lapithen  und 
Kentauren;  auf  die  erstere  geht  Hom.  Od. 
fi  69,  auf  den  letzteren  Hom.  II.  A  263—8, 
Od.  (p  295  ff.  Hesiod  scut.  178  - 190. 


UyEn'  (rezitieren)  bezeichnet  wird,  so  ist  das  !            *)  Erwähnt  II.  J  378  ff.,  405  ff.;  £'801  ff.; 

ein  Anachronismus ;  Od.  7'  406  ff.  ist  die  soli-  Z  222  ff. 

darische   Verbindung   zwischen   Gesang  und  ®)   Od.  /t  70    an    einer    jungen    Stelle: 

Phorminx  lichtig  gegeben.  'ÄQyo)   jiäot    fjilovoa.     Die   Ausdehnung   der 

'')  Klar  ist  das  bei  Phemios  [fpii^tti)  dem  |   Fahrt   bis   nach    Kolchis    stammt   natürlich 


A.  Epos.    1.  Yorlitterarische  Anfänge  der  griechischen  Poesie.    (§  19.)         27 

Kampf  um  Bios,')  die  Feste  des  Königs  Priamos.  Diese  großen  verbinden- 
den Sagenmotive  nahmen  die  einzelnen  Stammsagen  in  ihren  Rahmen 
auf  und  führten  von  selbst  über  den  Horizont  kleiner  Einzellieder  hinaus 
zu  großen  Epen  oder  Liedercyklen. 

19.  Der  troisehe  Sagenkreis.  Von  den  verschiedenen  Sagen- 
kreisen erhielt  im  Verlauf  der  Zeit  der  jüngste,  erst  in  Asien  infolge  der 
Kolonisation  ausgebildete,  der  troisehe,  die  größte  Beliebtheit.*)  Er  war 
nicht  bloß  der  neueste,»)  er  bot  zugleich  das  meiste  Interesse  für  die  Ab- 
kömmlinge der  alten  Geschlechter,  da  er  mit  den  neuen  Ruhmestaten  der 
Aoler  in  Kleinasien  die  Erinnerung  an  die  alten  Geschlechter  der  euro- 
päischen Heimat  verband;  er  trat  überdies  früh  mit  seiner  Verbreitung 
über  die  ionischen  Kolonien  aus  den^  Rahmen  einer  äolischen  Lokalsage 
heraus,  indem  er  auch  die  Helden  der  Achäer  des  Peloponnes,  der  lonier 
Attikas  und  zuletzt  selbst  den  dorischen  Heraklessohn  Tlepolemos  an  dem 
Kampf  gegen  Troia  sich  beteiligen  ließ.  Wie  alle  echten  Heldensagen,  so 
hatte  auch  die  troisehe  einen  historischen  Hintergrund,  nämlich  Ansiedlungs- 
versuche,  die  im  11.  Jahrhundert  v.  Chr.  Äoler  aus  Südthessalien  und 
Böotien  an  der  nordwestlichen  Küste  von  Kleinasien  machten.  Die  Grie- 
chen fanden  hier  eine  ältere  Bevölkerung  vor,  und  die  neuen  Ansiedler 
werden  den  Boden  nicht  ohne  schwere  Kämpfe  den  alten  Einwohnern  ab- 
gerungen haben.*)  Diese  Kämpfe  gaben  der  Sage  und  dem  Lied  Stoff 
und  wurden  nach  der  alten  berühmten  Hauptstadt  der  Landschaft,  der 
Feste  des  Priamos,  verlegt,  wenn  sie  auch  tatsächlich  um  die  von  den 
Äolern  zuerst  eingenommenen  Inseln  Lesbos  und  Tenedos  und  die  kleineren 
Städte  am  adramyttenischen  Meerbusen  stattgefunden  hatten.^)  Von  dem 
wirklichen  Schauplatz  der  Kämpfe  haben  sich  noch  Andeutungen  in  Epi- 
soden der  Ilias  von  den  Unternehmungen  des  Achilleus  gegen  Lesbos 
(/  129)  und  die  Städte  Theben,  Lyrnessos,  Pedasos,  Chryse  (.4  366,  //  153, 
F92)  erhalten.  In  unserer  Zeit  hat  man  durch  die  Ausgrabungen  von 
Mykene  Kenntnis  von  dem  Hauptsitz   einer  älteren,  der  äolischen  Koloni- 

aas  späterer  Zeit.     Auf  die  Argonautensage  vom  teuthrantischen  Krieg.    Vgl.  P.  Cauer, 

geht  auch  die  Stelle  //  467—75  von  Buenos,  N.  Jahrbb.  f.  das  klass.  Altert.  15  (1905)  14; 

dem   Sohn    des    lasen    und    der  Hypsipyle,  derselbe,  Jahresber.  über  die  Fortschr.  der  Alt. 

femerx  137— 9,  /<  61— 72,  /.  14—19,  welche  j   XXX   Bd.  112,  77   erinnert  gut   daran,   daß 

Stellen  jedoch   zum   Teil    der    Interpolation  die  Idee  einer  Eroberung  Troias  gerade  in 

verdächtig  sind.  |   den  älteren  Partien  der  Ilias  zurücktrete. 

*)  Der  Name  Troia  ist  nicht  griechisch;  ')  Die  äolischen  Kolonien  in  der  Land- 
er findet  sich  mehrfach  für  Oertlichkeiten  '  schaft  Troas  gehörten  nicht  zum  alten  äoli- 
etruskischen  Gebietes  in  Italien  (K.  Schmidt,  sehen  Städtebund  und  sind  kaum  vor  dem 
Berl.philol.Woch.  26(1906)1585). —  Analoge  7.  Jahrb.  gegründet  worden;  aber  deshalb 
zentralisierende  Handlungsmotive  sind  im  konnte  doch  die  Sage  schon  vor  Gründung 
irischen  Volksepos  die  Wiedergewinnung  des  jener  Kolonien   die  Kämpfe   der  Achäer  vor 


Stiers  von  Cooley  (Gott.  Gel.  Anz.  1906  524  f.), 
im  serbischen  die  Belagerung  von  Wien  1683. 
»)  Isoer.  4,  158;  9,  6. 


die  alte  Hauptstadt  des  fremden  Landes  ver- 
legen. Für  die  Auffassung  von  der  Art,  wie 
sich  in  der  Sage  Personennamen,  Charakter- 


•)  Was   die  Neuheit  des  Gesanges  aus-  i   typen,  Handlungsmotive,  Geschichtliches  und 

macht,  deutet  Homer  Od.  «  351  an:  ti/v  yäo  Typiach-Novellenhaftes  in- und  durcheinander- 

doidijv    [läilov    enix/.eiovo*   ävi}Q(07ioi,    fj    xig  schieben,  ist  noch  immer  vorbildlich  die  aka- 

axovoyjeöat  vecoTazrj  dfi(ftjTFX?jTai.    Vgl.  i!^  74.  demische  Antrittsrede   von  L.  Uhland   über 

*)   Spuren   von   langen   und   erfolglosen  die   Sage    vom  Herzog  Ernst  (Schriften    zur 

Kämpfen  bewahrt  die  alte  von  E.  Thbämkr  j   Geschichte  der  Dichtung  und  Sage  V  323  ff.). 

(Pergamos  161  ff.)  richtig  verstandene  Sage  ! 


28  Oriechische  litteratargeschichte.    I.  KlassiBche  Periode. 

sation  um  drei  bis  vier  Jahrhunderte  vorausliegenden  Kultur  Griechenlands 
erhalten;  und  da  in  der  Ilias  Agamemnon,  der  Herr  Mykenes,  Oberkönig 
der  Griechen  ist,  und  da  die  Streitwagen  und  Rüstungen  der  troischen 
Helden  zum  Teil  unverkennbare  Ähnlichkeiten  mit  bildlichen  Darstellungen 
aus  Mykene  haben, 0  so  lag  es  nahe,  die  troische  Sage  mit  der  my keni- 
schen Kultur  und  dem  alten  Reich  auf  der  Pelopsinsel  in  Verbindung  zu 
setzen.  Der  Verfasser  der  Geschichte  des  Altertums,  Ed.  Meyer  H  §  133, 
hat  diese  Kombination  gewagt,  indem  er  die  ganze  troische  Sage  aus 
einem  Heereszug  peloponnesischer  Fürsten  oder  des  Königs  von  Mykene 
und  seiner  Mannen  hervorgehen  ließ.  Aber  von  einem  alten  Zug  der  pelo- 
ponnesischen  Herrscher  nach  dem  Nordwesten  B^einasiens  wissen  wir  nichts, 
und  der  Hauptheld  der  Ilias  ist  nicbt  Agamemnon,  sondern  Achilleus,  der 
König  der  südthessalischen  Äoler,  wie  auch  in  Aulis  und  nicht  in  einer 
Hafenstadt  des  Peloponnes  sich  die  Schiffe  der  Achäer  zum  Heereszug 
nach  Kleinasien  sammeln.*)  Wir  werden  also  bei  der  alten  Annahme 
bleiben,  daß  nicht  Unternehmungen  der  Mykenäer  den  Ausgangspunkt  der 
troischen  Sage  bildeten,  sondern  daß  nur  der  Ruhm  des  altberühmten 
Herrscherhauses  von  Mykene  in  die  jüngere  äolische  Sage  eingeflochten 
wurde.  Die  äußere  Größe  der  Macht  geht  aber  nicht  immer  Hand  in  Hand 
mit  der  Entfaltung  der  Sage  und  Poesie;  auch  in  Böotien  redet  die  Sage 
und  Dichtkunst  von  Theben,  schweigt  aber  so  gut  wie  ganz  von  dem 
mykenischen  Orchomenos.  —  Nicht  in  der  Sage,  sondern  im  Märchen 
wurzelt  die  Gestalt  des  Odysseus  (s.  unten  S.  32),  die,  allmählich  von 
Schiffersagen  umsponnen,  erst  verhältnismäßig  spät  an  den  troischen  Kreis 
angeschoben,  von  den  ionischen  Epikern  aber  mit  Geschicklichkeit  zu 
einem  Gegenstück  gegenüber  den  altäolischen  Rittercharakteren  heraus- 
gearbeitet und  immer  mehr  in  den  Mittelpunkt  der  troischen  Aktion  (jttoAi- 
jToodogy)    gestellt  worden  ist.     Die  Spuren   dieses  ümbildungs-  und   Um- 

*)  WoLFo.  Rbiohel,  über  homerische  \  und  sie  durch  äolische  Kolonisten  nach 
Waffen,  Abh.  d.  archäol.-epigraph.  Sem.  in  Kleinasicn  getragen  sein  läßt.  Dieser  Hypo- 
Wien 1894,  2.  Aufl.  1901.  these   ist  namentlich   der   Doppelname  Ale- 

^)  Gegen  Ed.  Meyer,  dem  wenn  auch  in  xandrosParis  günstig:  aber  die  Nachricht  dea 
vorsichtiger  Wendung  Jül.  Schultz,  Das  Lied  unzuverlässigen  Istros  bei  Plutarch.  Thes.  34 
vom  Zorn  Achills.  Berl.  1901, 99  beitritt,  hat  die  von  einem  Kampf  des  Achilleus  und  Patroklos 
alte  Anschauung  von  dem  äolischen  Hinter-  mit  einem  gewissen  Alexandros  bietet  doch 
grund  der  troianischen  Sage  gut  veiteidigt  P.  eine  zu  schwache  Stütze  für  eine  so  kühne 
Cauer.  Grundfragen  der  Homerkritik,  Leipz.  Annahme.  Gegenüber  diesen  und  noch  gewag- 
1895,  S.  133,  wenn  auch  seine  Hypothese,  daß  teren  Kombinationen  Betues  (N.  Jahrbb.18, 
Homer  unter  Argos  nicht  das  peloponnesische.  1904, 1  ff.)  mahnen  mit  Recht  zur  Besonnenheit 
sondern  thessalische  Argos  verstanden  habe,  P.  Cauek  (N.  Jahrbb.  15,  1905,  1  ff.)  und  0. 
zweifelhaft  ist.  —  Daß  der  Dichter  auch  CRUsius(Sitz.ber.derMünch.Ak.  1905, 749ff.). 
einer  späteren  Zeit  noch  Formen  einer  älteren  —  In  ähnlicher  Weise  faßt  E.  Dberüp,  Homer 
Kultur  beibehalten  konnte,  hat  mit  Bezug  auf  S.  116  seine  Meinung  von  dem  Ursprung  der 
die  mykenische  und  homerische  Frage  gut  Ilias  dahin  zusammen,  daß  der  Achilleus- 
ausgeführt  W.  Helbig,  Sur  la  question  my-  mythus  im  äolischen  Thessalien  entstanden 
c6nienne,  M4m.  de  l'acad.  des  inscr.  35  (1896)  sei.  dann  auf  seiner  Wanderung  nach  dem 
291  ff.,  besonders  p.  338.  —  Einen  neuen  Peloponnes  eine  Verbindung  mit  dem  Helena- 
Weg  schlägt  E.  Bethe  ein,  indem  er  in  einem  mythus  erfahren  habe,  und  daß  endlich  die 
geistreichen  Vortrag.  Die  Sage  vom  troischen  Weiterbildung  der  Sage  und  ihre  Zusammen- 
Krieg  (N.  Jahrbb.  f.  Phil.  7,  1901.  658  ff.),  die  fassung  im  Epos  der  ionischen  Periode  des 
Heimat  der  troischen  Sage  in  dem  griechi-  griechischen  Heldengesangs  angehöre, 
sehen  Mutterland,  im  Tal  des  Spercheios  sucht  ')  Siehe  u.  S.  30, 1. 


A.  EpoB.    2.  Homers  Iliafl  und  Odyssee.    (§  20.)  29 

deutuDgsprozesses,  der  dann  in  den  cyklischen  Epen  zu  Ende  geführt  ist, 
treten  sehr  deutlich  in  der  Dias  hervor. 

2.  Homers  Ilias  und  Odyssee. 

20.  Ilias.  Aus  dem  troischen  Sagenkreis  sind  die  zwei  großen,  welt- 
berühmten Dichtungen  Homers  hervorgegangen,  die  Ilias  und  die  Odyssee, 
von  denen  die  eine  kriegerische  Szenen  aus  den  Kämpfen  vor  Ilios,  die 
andere  Bilder  der  Seefahrt  und  des  Lebens  an  den  Fürstenhöfen  im 
Anschluß  an  die  Heimkehr  der  Helden  enthält.  Der  Name  Ilias  der 
ersten  Dichtung  ist  nicht  ganz  passend  und  stammt  gewiß  nicht  von  dem 
Dichter  selbst  her.  Die  kleine  Dias  begann  mit  ''IXiov  äeidco  xai  Aagöavirjv 
ivnwXovj  und  sie  wird  zuerst  von  jenem  Vers  den  Namen  Dias  erhalten 
haben.  Aber  der  Ruhm  der  Helden  vor  Ilios  knüpfte  sich  an  das  ältere, 
größere  und  berühmtere  Werk,  und  so  werden  die  Homeriden  das  kleine 
Gedicht  'IXidg  juixQa,  das  große  des  Homer  hingegen  ^Ridg  schlechthin  ge- 
nannt haben.  In  der  Tat  erzählt  die  Dias  nicht  den  ganzen  zehnjährigen 
Krieg  um  die  Feste  Ilios,  sondern  nur  einen  Teil  aus  dem  letzten  der 
zehn  Jahre,  der  sich  um  die  Entzweiung  des  Oberkönigs  Agamemnon  und 
des  tapfersten  Recken  der  Achäer,  des  Achilleus,  gruppiert.^)  Mit  jtifjviv 
äeide  &eä  Ilrjkrjiddea)  *Axdfjog  hebt  das  Proömium  der  Ilias  an,  und  Mtjvig 
AxdXFjog  oder  *AxiU.rjtq  wäre  wohl  auch  das  Gedicht  überschrieben  worden, 
wenn  es  nicht  in  seinen  Rahmen  Gesänge  aufgenommen  hätte,  die  zwar 
auch  den  Zorn  des  Achilleus  zur  Voraussetzung  haben,  aber  ganz  dem 
Preis  anderer  Helden  gewidmet  sind.  Mit  glänzender  Meisterschaft  aber 
hat  der  Dichter  nicht  den  ganzen  Krieg  zu  besingen  sich  vorgenommen, 
sondern  nur  eine  Handlung  aus  ihm  herausgegriffen,*)  die  sich  in  wenigen 
Tagen  (51)3)  abspinnt  und  dem  Ganzen  einen  einheitlichen  Mittelpunkt 
gibt.  Diese  eine  Handlung  ist  aber  dann  auch,  wie  es  Aristoteles  verlangt, 
vollständig  besungen,  so  daß  das  Ganze  Anfang,  Mitte  und  Ende  hat. 
Ohne  langwierige  Orientierung  über  den  Stand  des  Krieges  und  die  Kämpfe, 
die  vorausgegangen,  werden  wir  mitten  in  die  Sache,*)  in  den  Ausbruch 
des  Streites  zwischen  Achilleus  und  Agamemnon,  hineingeführt.  Mit  der 
Beilegung  des  Zwistes  und  dem,  was  davon  untrennbar  war,  der  Rache, 
die  Achilleus  an  Hektor,  dem  Überwinder  seines  Freundes  Patroklos  nimmt, 
schließt  das  alte  Gedicht.  Die  Mitte  umfaßt  die  Leiden,  die  der  ver- 
derbliche Hader  den  Achäern  gebracht  hat.  Da  aber  der  griechische  Sänger 
vermeiden  wollte,  auch  nur  in  einer  Phase  des  Krieges  die  Barbaren  stets 
siegreich   sein  zu  lassen,   so  werden  der  schweren  Niederlage   der  Achäer 


')  Dasselbe  Motiv  dominiert  in  der  ar- 
menischen Volkssage  von  Chosra  mid  Rostem 
(B.  Chalatianz,  Zeitschr.  f.  Volkskunde  14 
290  ff.). 


he    ev    fi^oa;    cuiokaßcov    i.ieioodioig    yJxQV^^ 
.loV.oTc. 

^)  Zenodotos  rechnete  1  Tag  weniger  als 
Aristarchos,  worauf  mehrere  Scholien  gehen ; 


*)  Aristotpoöt.  23  p.  1459a  31:  j9fa.T/ö/os  darüber  K.  Lachmann,   Betrachtungen   über 

ay  ffaveiti  T)^rjgog  jtaoä  xovg  äkkavg  ko  urjbs  I    Homers  Ilias^  S.  90  ff. ;  Th.  Bebqk,  Kl.  Sehr. 

zav   noXefACV    xalneg   f/oiT«   dgxrjy    xai    ze?.og  II  409  ff. 

ejiiXetQTjoat  nottiv  oXov  kiav  yoQ  av  /leya  xai  ;            *)  Trefflich  erkannt  von  Horaz  a.  p.  148 f.: 

ovx  evoiyvoTixov  r/jieXXer  soeoüai  tj  uo  fieyißsi  in  medias  res  nan  secus  nc  noias  auditoreni 

ftrtgidCov    xarojtejiXeyfih'ov    jfj   notxiXiff    vvv  rap<7  nach  Aristot.  po^t.  1460  a  10. 


30  Griechische  Litteraturgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

und  dem  Sturm  auf  das  Schiifslager  glänzende  Siegestaten  des  Agamemnon, 
Diomedes,  Aias  gegenübergestellt,^)  und  um  die  Handlung  nicht  allzu  ein- 
fach verlaufen  zu  lassen  und  die  Aussöhnung  des  Achilleus  zugleich  auf- 
zuhalten und  zu  motivieren,  kommt  zuerst  Patroklos  mit  den  Myrmidonen 
des  Achilleus  den  bedrängten  Achäern  zu  Hilfe,  und  nun  überwindet  in  der 
Brust  des  edlen  Helden  der  Schmerz  über  den  Fall  des  Freundes  den  Groll 
über  die  schmähliche  Zurücksetzung.  Das  sind  die  Hauptzüge  der  Hand- 
lung, die  dem  Geiste  des  Dichters  von  Anfang  an  vorschwebten;  denn  ge- 
wiß nicht  ohne  Vorbedacht  läßt  er  den  Achilleus  schon  im  ersten  Gesang 
A  240  ff.  drohen: 

7j  Jtox*  *AxMfjog  nodrj  i^erai  vlag  ^Ayaicov 
avjLuiavrag'  rote  d'  ov  ri  dvvrioeai  dx^vv/bievog  neg 
XgaiojLieiv,  evx    äv  JiokXoi  u(p*  ''Extogog  &vdQoq?6voio 
ävfjoxovreg  nijTxcüOi, 
Aber  jene  Hauptzüge    sind    nur  die  Angelpunkte   der  Handlung;    reichere 
Ausschmückung  und  Erweiterung  brachte  die  Ausführung  des  Planes.    Da 
sind  teils  Episoden  eingewoben,  wie  der  Abschied  Hektors  von  Andromache, 
das  nächtliche  Kriegsbild    der  Doloneia,   der  Tod    des  Lykierfürsten   Sar- 
pedon,  die  Betörung  des  Zeus,  der  Flußkampf,  teils  ist  für  einen  weicheren 
Ausklang  des  wilden  Kampfgetümmels  durch  die  Leichenspiele  des  Patro- 
klos und  die  Lösung  Hektors  gesorgt,  teils  endlich  ist  die  Haupthandlung 
selbst  durch  die  Einlage  einer  Gesandtschaft  an  den  hartherzigen  Achilleus 
komplizierter  gestaltet.*) 

Nach  der  heutigen,  von  den  alexandrinischen  Gelehrten  herrührenden 
Einteilung  zerfällt  das  Ganze  in  24  Bücher  oder  Rhapsodien.  Dieser  Ein- 
teilung liegt  ein  ganz  äußerliches,  von  der  Zahl  der  Buchstaben  her- 
genommenes Motiv  zugrund,  wodurch  teils  ganz  Verschiedenartiges,  wie 
die  Volksversammlung  und  der  Schiffskatalog,  in  einen  Gesang  zusammen- 
geworfen, teils  Zusammengehöriges,  wie  die  Betörung  des  Zeus  {Aiog  äjidirf) 
und  ihre  Folgen,  in  zwei  Gesänge  auseinandergezogen  wurde.  "Dem  Plan 
des  Homer  und  der  Vortragsweise  der  Rhapsoden  führen  uns  die  alten 
Namen  näher,  von  denen  mehrere  Älianus  Var.  bist.  13,  14  erhalten  hat: 
xä  '^OjiOjQOu  ¥jir}  JigoxEQOv  ÖijjQtjjnh'a  fjdov  oi  naXaioi  '  olov  ikeyov  Ttjv  ijü 
vavol  jtid/j]v  (iV)  xal  Aok(ovetdv  xtva  {K)  xai  ^Agioxfiav  ^Ayajuejiivovog  {A)  xal 
NfO)v  xaxdXoyov  {B  484 — 760)  xai  üaxgoxXeiav  {HP)  xal  Avxga  (ii)  xal 
'Em  Ilaxgoxhp  ä»Xa  {W  262—897)  xal  'Ogxmv  äq^dvioiv  (A  1—222).») 

21.  Odyssee.  Der  Name  der  Odyssee  ("Odvoaem)  kommt  von  Odys- 
seus,  dem  Träger  der  Handlung  her  und  ist  wahrscheinlich  durch  den 
ersten  Vers  des  Proömiums  'Avdga  ßioi  hwene  Movoa  nokvxgojiov  veranlaßt. 
Aber  eine  Odyssee  im  vollen  Sinne  ist  auch  dieses  Gedicht  nicht.    Manches 

*)  Odysseus  hat  in  der  Ilias  keine  oqlo'  ,  gegeben  wird,  liegt  nicht  im  Geist  der  alten 

Tf/rt  (eine  Art  Surrogat  dafür  gibt  die  späte  i  und  echten  Troiasage. 

Dolonie  Buch  Ä),  ein  Beweis  neben  anderen  1  ^)  Die  Gesandtschaft  des  Buches  /  machte 

dafür,  daß  er  von  Hause  aus  mit  der  troisclyen  |  wiederum  die  Einlage  eines  dritten  Unglück 


Sage  nichts  zu  tun  hat.  Die  Einnahme  Troias 
durch  List,  um  deren  willen  ihm  schon  an 
einigen  späten  Stellen  der  Ilias  [li  278;  A'  363) 
und  in  der  Odyssee  der  Beiname  nToU:iooi>og 


lieh    verlaufenden   Schlachttages,    die    xolos 
jLidxn  des  Buches  H,  notwendig. 

')  Näheres  im  1.  Kapitel  von  W.  Christs 
Prolegomena  zur  Ilias. 


A.  EpoB.    2.  Homers  Ilias  nnd  Odyssee.    (§21.)  31 

ist  zwar  aus  dem  früheren  und  späteren  Leben  des  Helden  vermittelst 
der  Kunst  episodischer  Einlage  herangezogen,  wie  seine  Verwundung  auf 
der  Jagd  bei  seinem  mütterlichen  Großvater  Autolykos  (t  392 — 466),  die 
List  des  hölzernen  Pferdes  (;»  492—520,  d  271—289),  der  Streit  um  die 
Waffen  des  Achilleus  {X  545 — 567),  die  Ausspionierung  Troias  {d  242 — 264), 
der  friedliche  Tod  des  Helden  in  hohem  Alter.  (A  119 — 137),  aber  die  Haupt- 
erzählung dreht  sich  doch  nur  um  eine  Handlung,  die  Heimkehr  des  Odys- 
seus  und  die  Rache,  die  er  heimgekehrt  an  den  übermütigen  Freiern  seiner 
Gattin  Penelope  nimmt.  0  Indes  so  einfach  und  kurz  war  diese  eine  Hand- 
lung nicht,  da  Odysseus  zehn  Jahre  umhergeirrt  war  und  bei  der  Heim- 
kehr erst  mannigfache  Vorbereitungen  zur  Überwindung  der  Freier  treffen 
mußte.  Aber  der  Kunst  des  Dichters  gelang  es,  die  Handlung  trotzdem 
auf  die  kurze  Zeit  von  41  Tagen  zusammenzudrängen,  indem  er  gleich 
im  Eingang,  ähnlich  wie  in  der  Ilias,  in  das  letzte  Jahr  der  Irrfahrten 
versetzt  und  den  Odysseus  seine  früheren  Erlebnisse  im  Haus  des  Alki- 
noos  nacherzählen  läßt.  Er  erlangte  damit  zugleich  den  Vorteil,  länger 
bei  der  Schilderung  des  Königshofes  im  Lande  der  Phäaken  verweilen  zu 
können  und  die  lieblichen  Szenen  von  der  Königstochter  Nausikaa,  den 
Gärten  des  Alkinoos,  dem  blinden  Sänger  Demodokos,  den  ritterlichen 
Spielen  am  Hof  des  Alkinoos  in  sein  Gedicht  einzulegen.  Weniger  wahrte 
er  die  Einheit  des  Ortes.  Denn  nicht  bloß  treffen  wir  Odysseus  anfangs 
bei  der  Kalypso,  dann  bei  den  Phäaken,  dann  bei  dem  Sauhirten  Eumaios 
und  schließlich  in  seinem  eigenen  Hause,  sondern  es  gehen  auch  bis  zur 
Hälfte  des  Epos  zwei  Fahrten  nebeneinander  her,  die  des  Haupthelden 
und  die  seines  Sohnes  Telemachos,  indem  kurz  vor  der  Rückkehr  des 
Odysseus  Telemachos  auf  Kundschaft  nach  seinem  Vater  auszieht^)  und 
beide  auf  ihrer  Rückkehr  bei  dem  Sauhirten  Eumaios  zusammentreffen. 
Dies  hatte  das  Gute,  daß  der  Dichter  gleich  in  den  ersten  Gesängen 
über  die  Zustände  im  Haus  des  Odysseus  orientieren  und  über  die  Ge- 
schicke auch  der  übrigen  Führer,  namentlich  des  Nestor,  Menelaos,  Aga- 
memnon, aufklären  konnte;  aber  dadurch  wurde  zugleich  die  Erzählung 
der  Odyssee  bunter  und  verflochtener,  was  nicht  ganz  ohne  Unzuträg- 
lichkeiten abging,  indem  Telemachos  zwischen  dem  4.  und  15.  Gesang  aus 
den  Augen  verloren  wird  und  weit  länger  als  er  wollte  und  sollte  (s.  Ö 
594 — 599)^)  bei  Menelaos  zu  verweilen  in  die  Lage  kommt.*)    Aber  diese 

^)  Dabei  beachte  man,  daß  alle  die  auf-  in  der  persischen  (Röstern  und  Sohrab)   nnd 

gezählten  Odysseosepisoden  jüngeren  Partien  !   deutschen  Heldensage  (Hiidebrand  und  Hadu- 

der  Odyssee  angehören  und  zum  Teil  sicher  |   brand)  vorliegt.    Siehe  L.  Uhland,  Schriften 

erst  nachträglich  eingelegt  sind.  Die  beherr-  zur  Gesch.  der  Dichtung  und  Sage  1  164  ff. 

sehenden  Motive  der  Odyssee  gehören  zu  den  ,           ')   Auch   im  Schluß   von  v  und  Anfang 

typischen    Motiven   der  Volkssage   und    be-  von  o  stimmt  die  Zeit  nicht  zusammen,  aber 

gegnen    auch   da    in   der  Weltlitteratur,   wo  hier    durch    Nachlässigkeit    des    Redaktors. 


Abhängigkeit  von  der  Odyssee  nicht  (wie 
etwa  in  der  Orendelsage,  über  die  s.K.Möllek- 
HOFF,  Deutsche  Altertumsk.  I.  Berl.  1890, 32  ff.) 
nachweisbar  ist.  Siehe  W.  ^^plettstötteb,  Der 
heimkehrende  Gatte  nnd  sein  Weib  in  der 
Weltlitteratur,  Diss.  Berlin  1898. 

*)  Hier  setzt  ein  Motiv  ein,   das   in  der 
Telegonie  zu  Ende  gesponnen  ist  und   auch 


Siehe  die  Rechnung  von  F.  Blass,  Die  Inter- 
polat.  in  der  Odyssee,  Halle  1904,  15  ff. 

*)  Störender  noch  ist  die  Wiederkehr 
der  Szene  des  Anfangs  der  Odyssee  im  Ein- 
gang des  5.  Gesangs,  aber  die  Partie  e  1 — 27 
ist  Flickwerk,  das  in  dieser  Gestalt  nicht 
von  dem  alten  Dickter  herrührt. 


32 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


Unzukömmlichkeiten  werden  durch  die  größere  Spannung  der  Erzählung 
und  die  Überraschung  der  Erkennungsszenen  wieder  reichlich  aufgewogen,  ^ 
zumal  der  Dichter  gerade  diese  Szenen,  wie  die  von  der  Fußwaschung  des 
verkleideten  Odysseus  durch  die  alte  Amme  Eurykleia  (r  357 — 504),  mit 
unvergleichlicher  Zartheit  zu  behandeln  verstand.*) 

Der  Held,  von  dem  das  ganze  Epos  den  Namen  hat,  Odysseus,  steht 
im  Gegensatz  zu  Achilleus,  dem  Helden  der  Ilias;  in  ihm  war  die  Klug- 
heit und  verschlagene  List  verkörpert  wie  in  jenem  der  Heldenmut,  dem 
das  Leben  der  Güter  höchstes  nicht  ist  (Plat.  apol.  28  c),  und  die  hoch- 
sinnige Kühnheit; 3)  sie  repräsentieren  die  Gegensätze  des  äolischen  und 
des  ionischen  Mannesideals.  Die  Ilias  ist  in  ihren  wesentlichen  Motiven 
weit  reicher  an  geschichtlichem  Gehalt  als  die  Odyssee,  deren  Kern  das 
Novellen-  und  Märchenartige  bildet.  Die  Figur  des  Odysseus,  der  als 
dämonisches  Wesen*)  zu  betrachten  ist,  muß  uralt  sein.  Der  Name  ist 
schwerlich  griechisch.^)  Seine  älteste,  nicht  auf  litterarischem  Weg  früh- 
zeitig nach  Italien  gekommene  Form  ist  OtM^tjg  (Ulixes). 


^)  Treffend  urteilt  über  diesen  Punkt 
Aristot.  poöt.p.  1459  b  14.24:  ^  fjh  7liäg  au^kovr 
xai  jia{ftjTtx6v,  jj  dk'Odvaoeia  siejikEyfiivov  (ava- 
•p'iogiaetg  yäg  Öt*  oAov)  xai  rjdixöv.  In  älterer 
Zeit  war  die  Ilias  das  beliebtere  Gedicht.  Dies 
wird  auch  durch  die  weit  ausgiebigeren  Scho- 
llen zur  Ilias  und  die  größere  Häufigkeit  der 
Jliaspapyri  (der  bis  jetzt  einzige  frOhptole- 
mäische  Odysseepapyrus  ist  Hibeh  Pap.  (1906) 
nr.  23)  dargetan.  Der  Kurs  der  Odyssee 
stieg,  seit  gegen  Ende  des  5.  Jahrhunderts, 
insbesondere  durch  den  Einfluß  des  CvDis- 
mus,  der  .toAi'too.to^-  als  Lebensideal  wieder 
aktuell  und  die  Odyssee  als  xaXov  dvOgo}- 
mvov  ßiov  xaro-Tinov  (so  Alkidamas  bei 
Aristot.  rhet.  1406  b  12)  geschätzt  wurde.  Der 
Niederschlag  dieses  Urteils  liegt  vor  bei 
Eustath.  ad  Od.  1  1,  38,  der  die  Od.  als  das 
gedankentiefere  Gedicht  der  Ilias  vorzieht; 
s.  a.  Schol.  Pind.  N.  4,  63:  ftnXkov  irj^  'Ihddog 
ij  Odvon&ta  (ßayxoÖFTiai.  In  dem  Prozeß  spie- 
gelt sich  die  allmähliche  innere  Ionisierung, 
d.  h.  Rationalisierung  der  griechischen  Kultur. 

^)  Auch  die  Kunst  hat  sich  dieses  herr- 
lichen Motives  bemächtigt,  wie  wir  noch  aus 
einem  Relief  der  Sammlung  Oampana  tab.  71 
sehen.  Über  den  malerischen  Charakter 
dieser  Szene  [Plut.]  vit.Hom.  217.  Zwei  Relief- 
darstellungen derselben  aus  dem  5.  Jahr- 
hundert bespricht  K.  Robert,  Mitt.  des  ath. 
In8t.25(1900)325ff. 

')  (fikoniios,  ajfXovg,  tf'iXah)dt)^,  ßaQv{^v- 
fiOs,  euKoy,  i}vfiixdg,  ftFyiO.oq^oiov  sind  nach 
Schol.  BT  11.  /  309,  622  die  (Charaktereigen- 
schaften des  Achilleus,  während  Odysseus 
orj'fToV,  .Tai'orf>;'Os,  OfoojrevTtxds  heißt.  Vgl. 
Plat.  Hipp.  min.  364 e  ff".  Die  Griechen  gind 
sich  bewußt  geblieben,  daß  die  Verschieden- 
heit der  Stimmung  der  beiden  Gedichte  auf 
die  Untei  schiede  zwischen  dem  äolodorischen 
und  dem  ionischen  Charakter  zurückgehen 
(vgl.  die  Charakteristiken  bei  Heraclid.  Pont. 


im  Ath.  XIV  624  e;  [Hippocr.]  de  hebd.  11; 
[Dionys.  Hai.]  art.  rhet.  VI  3,  XI  5;  Schol. 
Dionys.Thr.  p.  117,  24  if.  Hilo..  in  denen  die 
vorwiegend  intellektualistische  Begabung  der 
lonier  bei  gleichzeitiger  Charakterschwäche 
(über  die  auch  Herodot  I  143)  der  ritterlich- 
temperamentvollen ,  warmherzigen ,  aber 
schwerfälligeren  Art  der  Äoler  gegenüber- 
gestellt wird.  Odysseus  und  die  Odyssee 
waren  dem  äolodorischen  Stamm  unsympa- 
thisch (Pind.  N.  7,  20;  Plat.  leg.  III  680d),  wie 
andererseits  Achilleus  von  rationalistischer 
Seite  getadelt  wird  (Plat.  reip.  III 390 e  ff.;  W. 
A.  MoNTooMEBY  lu  Studies  in  Honour  of  B.  L. 
Gildersleeve,  Baltimore  1902,412).  Einen  Aus- 
gleich bahnt  Sophokles  am  Schluß  des  Aias 
und  im  Philoktetes  an.  Eine  Wiederholung 
des  Achilleustypus  ist  Aias,  der  mit  Ach. 
zusammen  dem  Odysseus  entgegengesetzt 
wird  (Cic.  ad  fam.  X  13,  2). 

*)  Vom  Odysseuskult  auf  Ithaka  macht 
nur  Heliod.  Aeth.  V  22  eine  Andeutung.  Am 
meisten  Beziehungen  zeigt  der  Odysseus- 
mythus  zu  Arkadien:  Ahn  des  Od.  ist  der 
arkadische  Dämon  animalischer  Fruchtbai keit, 
Hermes  (Pherekyd.  fr.  63:  Od.  r  395);  in  Ar- 
kadien soll  Od.  Kulte  und  Heiligtümer  für 
Poseidon  und  Athena  gestiftet  haben  (E. 
RoHDE.  Kl.  Sehr.  II  290),  Penelope  sollte  die 
Mutter  des  arkadischen  Hirtengottes  Pan  sein 
(Preller- Robert,  Griech.  Myth.  I  745). 

*)  Die  Volksetymologie  von  dSvaoofiat 
(Od.  a  62;  t275.  407;  vgl.  f  423)  beweist  natür- 
lich nichts  für  griechischen  Ursprung.  Ueber 
die  alte  Form  Plut.  Marceil.  20:  P.Kretschmbr 
in  Ztschr.  f.  vergl.  Spr.  29  (1888)  433  f.  —  W. 
Meyer,  De  Homeri  patronymicis,  Diss.  Gott. 
1907  S.80  findet  mit  Recht  darin,  daß  Od.  nur 
in  jungen  Partien  der  Ilias  ein  Patronymikon 
hat,  einen  Beweis  dafür,  daß  er  von  Hause 
aus  kein  Heros  ist. 


A.  Epos.    2.  Homers  Ilias  und  Odyssee.    (§  22.)  33 

Die  Einteilung  der  Odyssee  in  24  Bücher,  die  man  jetzt  mit  den 
Buchstaben  des  kleinen  Alphabets  zu  bezeichnen  pflegt,  rührt  gleichfalls 
aus  der  alexandrinischen  Zeit  her.  Auch  hat  der  gleiche  ÄlianV.H.  13, 14 
mehrere  ältere  Namen  einzelner  Teile*  uns  erhalten,  wie  Tä  iv  IIvXco  (y), 
Tä  iv  Aaxedaifwvi  (eJ),  KaXvxpovq  ävxQov  {e  1 — 281),  Tä  Jiegl  rijv  axediav 
(ß  282 — 493),  iv  *Akxivov  änokoyog  (i — ^/i),^)  Kvxkcojieia  (i),  Nixvia  (X),  Td 
xflg  KiQXTjg  (x),  Nutiga  (t),  MvrjortjQcov  cpovog  ix),  Tä  iv  dygo)  xal  rä  iv 
AaiQTov  (co  205 — 548).  Aber  weit  mehr  als  die  kleinen  Gesänge  treten 
in  der  Odyssee  die  größeren  Abschnitte  hervor,  wie  die  Irrfahrten  des 
Odysseus  (e — /j),  die  Reise  dos  Telemachos  (a — <J),  die  Heimkehr  des  Odys- 
seus  {v — jt)  und  der  Freiermord  (g — tp)^  so  daß  innerhalb  dieser  Gruppen 
die  einzelnen  Gesänge  sich  nicht  mehr  gleich  gut  wie  in  der  Ilias  zum 
Einzelvortrag  eigneten  und  die  selbständigen,  breit  ausgeführten  Episoden 
fast  ganz  fehlen.^) 

22.  Was  die  Alten  über  die  Person  des  Homer^)  zu  wissen  be- 
haupten, verflüchtigt  sich  bei  genauer  Betrachtung  meist  ins  Typische  oder 
erweist  sich  als  falsche  Kombination  aus  vermeintUchen  Zeugnissen.  In 
den  Wust  der  Notizen  über  Homers  Zeit  und  Herkunft,  die  von  M.  Senge- 
busch vielfach  falsch  gedeutet  waren,  hat  zuerst  E.  Rohde*)  Klarheit  ge- 
bracht. Ihm  wird  verdankt,  daß  wir  jetzt  die  Prinzipien  verstehen,  aus 
denen  die  einzelnen  antiken  Daten  entstanden  sind,  damit  zugleich  freilich 
auch  deren  vollkommene  Wertlosigkeit  für  die  Geschichte.  Versuche,  den 
Homer  zeithch  festzulegen  und  in  einen  genealogischen  Zusammenhang  zu 
rücken,  sind,  so  viel  wir  sahen,  nicht  vor  dem  5.  Jahrhundert  gemacht 
worden.  Die  Legende  über  seine  Erlebnisse  und  seine  Persönlichkeit  hat 
sich  aber  schon  lange  vorher  in  einem  zuerst  wohl  poetisch  geformten, 
nachher  in  Prosa  umgesetzten  Volksbuch  ^)  (ßiog  '0/i^gov)  konzentriert,  von 

*)   iv  'AXxivov   cbroXoycp  kommt  ebenso  1  der Vittorio-Emmanuelebibl.  (K.  Sittl,  Sitz.ber. 

wie  iv  roTg  Nt'jngotg  schon  bei  Aristoteles  in  |  d.  bayer.  Ak.  18,  1888  11  274  f.).  Von  diesen 

der  Poetik    c.  16  vor.      Nach   W.   Christ,  Vitae  reicht  keine  über  die  Kaiserzeit  hinauf. 

Proleg.  Iliadis  p.  4   ist   der  Ausdruck   ver-  Die  erste  ist  in  dem   ionischen  Dialekt  der 

kürzt  aus  cLioXoyog  ev  'AXxivov  sc.  douo}  „Er-  '  Eaiserzeit.  über  den  H.  Lindemann,  De  dial. 

zählang  im  Hause  Alkinoos'*   im  Gegensatz  |  Ion.  recentiore,  Kiel  1889,  p.91ff.,  geschrieben 

zur  .Erzählung  beim  Sauhirten  **.  i  und  trägt  den  Namen  des  Herodot;ihrVerfasser 

*)  Kleinere  Episoden  innerhalb  eines  Ge-  1  ist  nach  J.  Schmidt,  De  Herodotea  quae  fertur 
sanges  finden  sich  öfter,  wie  das  Liebes-  '  vita  Homeri,  1875,  ein  stoisierender  Gram- 
abenteuer des  Ares  und  der  Aphrodite  (t>  266  i  matiker  des  2.  oder  3.  Jahrh.  n.  Chr.  Die 
bis  366),  die  Handelslist  der  phönikischen  i  Schrift  IlXovidgxo^f  ^^Q*'  ^ov  ßiov  xai  xijg 
Seefahrer  (o  403 — 484),  die  Verwundung  des  jroirjaeoK  'Ofirjoov  ist  aus  zwei  Schriften  zu- 
Odysseus  auf  der  Jagd  (r  399 — 466).  —  In  •  sammengesetzt,  von  denen   keine  von  Plut- 


der  überlieferten  Bucheinteilung  erkennt  man 
den  Grammatikerwitz  darin,  daß  mit  dem  Ende 
der  Irrfahrten  die  erste  Hälfte  des  Werkes 


arch  herrührt,  und  auch  die  zweite  erst  im 
2.  Jahrh.  n.  Chr.,  unter  Benützung  der  uns 
verlorenen  echten  ofjtjgixai  fAfXhat  des  Plut- 


(a — ju)   abschließt  und   daß   die  Telemachie       arch,  von  einem  Gelehrten  stoischer  Schule 


gerade  soviel  Gesänge  (a — 6)  enthält  wie  der 
Nostos  des  Odysseus  (i  -fi). 

•)  Auf  uns  gekommen  sind  7  Vitae,  ab- 


verfaßt ist.  Siehe  H.  Schbader,  Porphyrii 
quaestionum  Homericar.  ad  lliadem  pertinent. 
reliquiae,  Leipz.  1880,  p.  395  ff.;  derselbe.  De 


gedruckt    in    A.   Wkstermanns    Btoygdq?oi,  Flui.  Ch&eron.  ofujgixaTg  fifieratc,  Gotha  1S99. 

Braonschw.  1845,  1—33  und  besprochen  von  Am  wertvollsten  sind  die  aus  Proklos' Chresto- 

M.  Senoebusch,  Homerica  dissei*tatioII  1856;  1   mathie    gezogene  Vita    und    das    Certamen 

für  dieVit.  6  sind  jetzt  vollständigere  Fassungen  !   Hesiodi  et  Homeri,  beide  aus-Hadrians  Zeit, 

gefunden  in  einem  Codex  Mureti  (E.  Piccolo-  *)  Kl.  Sehr.  I  1  ff . 

Km,  Herm.25(1890)451ff.)  und  imCod.gr.  6  ,           *)  O.CRüsiüs,Philol.54(1894)710  ff.  Die 

Handbach  der  klass.  AlterloiiiBwiBsenBchaft.    VII.  5.  Aafl.                                                      3 


34  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  Elassische  Periode. 

dem  einen  wesentlichen  Teil  der  im  Auszug  erhaltene  äycov  'Ojuijgov  xal 
'Hotodov  ausgemacht  zu  haben  scheint.  Zu  der  in  dem  Volksbuch  ent- 
haltenen Überlieferung  treten  seit  dem  5.  Jahrhundert  mehr  und  mehr  Ver- 
suche, durch  gelehrte  Deutungen  und  Kombinationen  das  Wissen  über 
Homers  Person  zu  erweitern:  man  macht  Stammbäume  des  Dichters,  in 
denen  man  ihn  teils  auf  Musaios  (so  Gorgias  und  Damastes),  teils  auf 
Orpheus  (so  Hellanikos  und  Charax)  zurückführt;  man  sucht  seine  Zeit 
genauer  zu  bestimmen  und  weitere  Daten  über  seine  Person  aus  den  ihm 
zugeschriebenen  Gedichten  zu  gewinnen.^) 

In  den  Zeitansätzen 2)   lassen  sich  im  wesentlichen  folgende  Prin- 
zipien erkennen: 

1.  man  orientiert  den  Homer  nach  dem  troischen  Krieg  und  macht  ihn 

a)  zum  Zeitgenossen  des  Kriegs  (Hellanikos,  Schol.  BT  D.  A  470); 

b)  60 — 80  Jahre  jünger  als  die  Tganxd,  weil  er  (II.  B  494  ff.)  schon 
Böoter  in  Böotien  kennt  (Thuc.  I  12,  3;  der  Ansatz  ist  von  Krates 
von  Mallos:  s.  auch  Jacoby,  Marmor  Par.  155); 

c)  140  Jahre  jünger  als  die  Tgcoixd,  zur  Zeit  der  ionischen  Wande- 
rung (Aristoteles,  Eratosthenes,  Aristarchos,  dem  dieser  Ansatz  zu 
seiner  Annahme  paßte,  Homer  sei  ein  Attiker,  mit  den  Aus- 
wanderern nach  lonien  gekommen); 

d)  400  Jahre  jünger  als  die  Tgayind  (Herodot.  II  145;  vgl.  II  53,  und 
so  wohl  auch  Thuc.  I  3,  3); 

2.  man  orientiert  ihn  nach  dem  freilich  (s.  u.  S.  106)  gleichfalls  unsicheren 
Hesiod  und  macht  ihn 

a)  zum  Zeitgenossen  des  Hesiod  (Certamen  Hom.  et  Hes.,  Hellanic, 
Herodot.  n  53); 

b)  älter  als  Hesiod  (Hcrakleides  Pont.,  Eratosthenes  und  die  Alexan- 
driner, auf  Grund  des  erweiterten  geographischen  Gesichtskreises 
bei  Hesiod); 

c)  jünger  als  Hesiod  (Ephoros,  Marmor  Par.  ep.  28  f.,  Accius). 

3.  man  orientiert  ihn  an  Lykurgos,  der  (in  älteren  oder  jüngeren  Jahren) 
mit  Homer  (oder  dessen  Nachkommen)  zusammengekommen  sein  sollte 
(Ephoros,  Sosibios,  Apollodoros  —  letzterer  läßt  den  Homer  983 — 914 
leben:  Rohde,  Kl.  Schriften  I  78);») 

4.  man  identifiziert  die  Kimmerier  von  Od.  X  12 — 19  mit  dem  gleich- 
namigen Volksstamm,  der  in  geschichtlicher  Zeit  in  Kleinasien  ein- 
gefallen war,  und  kam  so  dahin,  den  Homer  ins  7.  Jahrhundert,  in  die 


scbon   von  Tu.  Berok   und   E.  Rohde  (Kl.   ,  ^)  So  schon  Ephoros  bei  [Flut.]  vit.  Hom.  2; 


Sehr.  I  104)  vertretene  Annahme  einer  ur 
sprünglich  poetischen  Fassung  wird  beson- 
ders durch  die  Bezeichnung  Homers  als  Me- 
Xrjor/Fv/j^  (über  die  s.  F.  Marx,  Interpretatio- 
num  hexas  altera.  Rostock  1890. 3  ff.)  gestützt. 


über  solche  Versuche  G.  Wiemer,  Ilias  und 
Odyssee  als  Quellen  der  Biographie  Homers  I. 
Progr.  Marien  bürg  1905. 

*)  Im  ganzen  14  bei  F.  Jacoby,  Marmor 
Par.  154  f. 


Die  frühesten  Zeugen  für  die  Existenz  dieses   !  ')  Wie  aus  Apollodoros'  Angabe  durch 


ßtog'Ofnjoov  sind  für  uns  Archilochos,  Asios 
von  Samos,  Simonides,  Herakleitos,  der  Horo- 
graph  Eugaion  von  Samos  (fr.  2  in  C.  Müllers 
FHG  II  16)  u.  a. 


Mißverständnis  die  etwas  abweichende  des 
Cornelius  Nepos  entstanden  sein  kann,  zeigt 
E.  Rohde,  Kl.  Sehr.  1  68  ff. 


A.  EpoB.     2.  Homers  Dias  nnd  Odyssee.    (§  22.) 


35 


Zeit  des  Archilochos  zu  rücken  (Theopompos  und  die  Gewährsmänner 
des  Eusebios). 

In  den  Angaben  über  Homers  Herkunft  sind  Tradition  und 
Kombination  zu  scheiden.     Traditionen  existieren  folgende: 

1.  Homer  sei  als  Sohn  des  Flußgottes  Meles  und  der  Nymphe  Kri- 
theis  in  Smyrna  geboren,  wo  sich  Spuren  von  Homerkult  erhalten  haben.  ^) 
Dieser  Tradition  folgen  Pindar  und  Stesimbrotos,  und  mit  ihr  darf  wohl 
die  andere  zusammengerückt  werden,  die  Hellanikos  (fr.  6  M.),  Pherekydes 
und  Damastes  vertreten,  die  den  Homer  als  Sohn  des  Lydereponymen 
Maion  darstellt  —  auch  sie  scheint  nach  Smyrna  zu  führen.*) 

2.  Homer  habe  sich  auf  Chios  aufgehalten,  wo  ein  Geschlecht  der 
Homeriden  sich  nach  ihm  nannte  ^)  und  die  ihm  zugeschriebenen  Gedichte 
vortrug.  Ein  yvjuvdatov  'Ojuijoetov  befand  sich  hier  noch  in  der  Kaiserzeit 
(CIG  2221).  Dieser  Tradition,^  der  auch  die  Stelle  Hymn.  Hom.  Ap.  Del.  172 
Tvrpkög  ävrjQf  olxei  de  Xico  ¥vi  jiauiaXoeoai]^)  zur  Stütze  diente  (wenn  sie  nicht 
etwa  eben  aus  dieser  Stelle  erst  entstanden  ist),  folgte  Simonides  von  Keos 
und  erweiterte  sie  dahin,  daß  er  Chios  zum  Geburtsort  des  Homer  machte, 
was  von  Anfang  an  nicht  die  Meinung  war. 

3.  Homer  sei  auf  der  kleinen  Insel  los  in  der  Nähe  von  Thera  ge- 
storben (aus  Ärger  über  das  nichtgelöste  Fischerrätsel  Gert.  Hom.  etHes.  19) 
und  begraben. ß) 

Der  geschichtliche  Wert  aller  dieser  Angaben  ist  jedenfalls  schon 
von  den  alten  Gelehrten  sehr  niedrig  eingeschätzt  worden,  da  diese  ohne 
Rücksicht  auf  sie  allerlei  andere  Kombinationen  gemacht  haben.  ^) 


*)  'Ofiriofiov  in  Smyrna  (Stoa  nebst 
SchnitzbUd  Homers  und  Tempel)  Strab.  646, 
daifiiov  fiovöOTidXoq  nennt  ihn  Hermesianax 
bei  Ath.  XIII  597  v.  28.  —  Plat  Tim.  40d 
wird  sich  auch  auf  Homer  bezichen. 

2)  E.  RoHDE,  KI.  Sehr.  I  9. 

')  Harpocrat.  s.  v.  'O^irjniSat'  yevog  h 
Xiq)f  oTteg  'AxoifoUao^  sv  y,  'EV.dvtxog  h  rfj 
'AtXavxi&i  ojio  Tov  JioirjTov  (ptjoiv  dyvoftda^at, 
SeXevxih;  de  ev  ß  zitql  ßUov  dfiaQxdveiv  q^rfoiv 
KguTtjva  rofu^mta  rovg  sv  rdtg  Uoojrottaig 
'OjUTjQidag  djtoyovovg  etvat  tov  jioirjTov'  ojvo- 
fida&Tjoav  yag  o-to  tcov  SfitjQMv,  ejiei  ai  yvvai- 
xig  710TS  T(bv  Xicov  iv  Atowaioig  jiaoa(fQOVj)- 
oaoai  eig  fiaxt^y  rjl&ov  roig  dvdodai  xal  dövieg 
dXXtjXoig  ofiTjoa  wfiq^iovg  xal  vvf-iqag  Liav- 
aavxo,  MV  tovg  djioyovovg  'OfU)gidag  /.eyovotv, 
vgl.  Strab.  p.  645;  Schol.  Find.  Nem.  2,  1. 

*)  Schon  von  Thuc.  III  104  auf  Homer 
bezogen. 

^)  Strab.  484;  Varr.  imag.  I  bei  Gell.  IJI 
11,6;  Plin.nat.hist.IV69;  Procl.  bei  Wester- 
MANN,  BioyQ.  p.  25,  27  ff. ;  die  Tradition  ist 
durch  fremdartigen  Pragmatismus  getrübt  bei 
Aristot.  fr.  66  Berol.;  daß  Homer  auf  los 
auch  geboren  sei,  soll  Bakchylides  gesagt 
haben  (Westbrmann,  1.  c.  p.  28,  29). 

**)  Ephoros  (fr.  164  M.)  nimmt  oifenbar 
nur  auf  die  Traditionen  von  Smyrna  und 
Chios  Rücksicht,  wenn  er  die  für  seine  Me- 


thode sehr  bezeichnende  Ausgleichung  vor- 
trägt, daß  Homer  in  Kyme  (denn  im  kymäi- 
schen  Dialekt  heißt  ofitjoog  blind,  was  Lycophr. 
Alex.  421  wirklich  annimmt)  empfangen,  in 
Smyrna  aber  geboren  sei  (über  derartige  kon- 
ziliatorische  Manipulationen  in  der  kultlichen 
Praxis  s.  R.  Herzog,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1905, 
988  ff.).  Außerdem  nahm  er  an,  Homer  habe  sich 
in  dem  kleinen  äolischen  Städtchen  Bolissos auf 
Chios  aufgehalten  (Steph.  Byz.  s.  Bohoofk),  Hier 
sind  die  pseudo-biographischen  Grundlagen  für 
den  äolischen  Homertext,  der  schon  im  Alter- 
tum (Dikaiarchos  und  Zopyros  von  Magnesia: 
F.  OsANN.  Anecdot.  Rom.,  Gießen  1851  p.  5)  an- 
genommenwurde. Ohne  allen  Halt  in  derTradi- 
tion  sind  die  Annahmen,  Homer  sei  ein  Argeier 
(Philochor.  fr.  54  c  M.),  ein  Kolophonier  (bei 
den  beiden  Epikern  aus  Kolophon,  Antimachos 
und  Nikandros);  reiner  Schwindel  kommt 
dann  in  hellenistischer  Zeit  aus  semitischer 
(H.  ein  Babylonier,  von  Zenodotos  von  Mallos 
aus  IL  A  591  geschlossen,  vgl.  auch  Luc.  ver. 
bist.  II  20 ;  oder  ein  Aegypter,  worüber  s.  A. 
WiEDEMANN,  Hcrodots  2.  Buch,  Lcipz.  1890, 
S.240  f.;  E.  RoiiDE,  Griech.  Roraan^  487,  1;  M. 
RüBENsoHN,  Berl.philol.Wochenschr.  13  (1893) 
705  ff. ;  Tu.  SiNKO ,  Eos  12  (1906)  12)  oder  römer- 
freundlicher (Aristodemos  von  Nysa  machte 
aus  Liebedienerei  gegen  seine  römischen  Zu- 
hörer den  H.  zum  Römer:  F.  Marx,  Inc.  auct. 

3* 


36  Griechiflche  Litteraturgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

In  den  Legenden  über  Homers  Person  und  Erlebnisse  ist  nichts  In- 
dividuelles; er  ist  der  Typus  eines  armen,  blinden,  nach  Rhapsodenart 
fahrenden  Sängers,  und  nach  diesem  Typus  sind  im  Äufaerlichen  auch  die 
Homerbüsten  des  Altertums  gearbeitet.  0  Die  sicherste  Gewähr  dafür,  daü 
es  einen  Dichter  Homeros  wirklich  einmal  gegeben  hat,  liegt  in  dem  Namen 
selbst,  den  alte*)  und  neue^)  Deutungskünste  nicht  zu  einem  redenden  haben 
machen  können.  Was  dieser  Homeros  aber  gedichtet  hat,  darüber  gibt  es 
keine  zuverlässigen  äußeren  Zeugnisse. 

23.  Homerische  Frage,  ihre  Geschichte.*)  Die  Zweifel  sind 
bei  der  Person  und  dem  Namen  des  Homer  nicht  stehen  geblieben;  die 
Kritik  ist  auf  die  dem  Homer  beigelegten  Werke  selbst  übergegangen. 
Diese  Kritik  begann  bereits  im  Altertum  in  der  Zeit  des  Herodot;^)  sie 
sprach  zunächst  dem  Schöpfer  der  Ilias  und  Odyssee  die  Gedichte  des 
epischen  Kyklos  ab.  Wie  man  dabei  verfuhr,  ersieht  man  aus  Herodot 
II  117,  wo  zum  Beweise  dafür,  daß  die  Kyprien  nicht  von  Homer  her- 
rühren, auf  den  Widerspruch  zwischen  den  Kyprien  und  der  Ilias  hin- 
gewiesen wird,  indem  Paris  in  jenem  Gedicht  in  drei  Tagen  direkt  von 
Sparta  nach  Ilios  heimfuhr,  nach  der  Ilias  Z  291  hingegen  lange  um- 
herirrte und  bis  nach  Sidon  verschlagen  wurde.  Weiter  gingen  in  der 
alexandrinischen  Zeit  die  sogenannten  Chorizonten,  Xenon  und  Hellanikos, 
die  für  Ilias  und  Odyssee  verschiedene  Verfasser  annahmen.  Sie  be- 
folgten dabei  die  gleiche  Methode,  indem  auch  sie  von  den  Widersprüchen 
zwischen  Odyssee  und  Ilias  ausgingen.  So  betonten  sie,  daß  in  der  Ilias 
2*  382  Charis,  in  der  Odyssee  t^  267  Aphrodite  Frau  des  Hephaistos  ist; 
daß  Nestor  in  der  Dias  A  692  elf  Brüder,  in  der  Odyssee  X  286  nur  zwei 
hat;^)  daß  Kreta  in  der  Ilias  H  649  exato/ijTo/Js  heißt,  in  der  Odyssee 
T  174  aber  nur  90  Städte  hat;  daß  die  Dias  den  Aiolos  als  Herrscher  der 
Winde  nicht  kennt  und  ebensowenig  davon  etwas  weiß,  daß  Hebe,  die 
jungfräuliche  Dienerin  der  Götter,  dem  dorischen  Nationalhelden  Herakles 
angetraut  ist.*^)     Aber   die   Ansicht    der  Chorizonten    drang   nicht  durch: 

derat.dicendipraef.,Leipz.  1894,159)  Tendenz  Ursprang   der   hom.  Gedichte,   orspranglich 

hinzu.  Siehe  auch  Anth.  Plan.  297,  wozuAnth.  (1860)  ein  Vortrag,  5.  Aufl.  von  R.  ^eubaubb 

Plan.  295.  296.  298.  299;  Epiplian.  adv.  haer.  1  besorgt,  Wien  1881 ;  B.  Niese.  Die  Entwicklung 

326;  Tzetzes  Cliil.  Xlll  621—646.  Die  Aporio  der  homer.  Poesie.  Berlin  1882;   W.  Christ, 


über  Homers  Geburtsort  ist  schon  in  einem  Epi- 
gramm des  2.  Jahrh.  v.  Chr.  formuliert  (Ber- 
liner Klassikertexte  V  1,  Berlin  1904  S.  78  f.). 
^)   Ueber  antike  Homerbildnisse  s.  jetzt 


Homer  oder  Homeriden,  2.  Aufl..  München  1885. 
Vieles  Einschlägige  bei  H.  Düjitzer,  Hom. 
Abhandlungen,  Leipz.  1872;  Wilamowitz, 
Hom.  Untersuchungen.  Philol.  Unters.  7.  Heft 


J.  Bernoülli,  Jahrb.  des  arch.  Inst.  11  (1896)  1884  ;Jul  Erhardt,  Die  Entstehung  der  home- 

160  if;  S.  Reinach.  Mölanges  Weil  1898:  J.  rischen  Gedichte,   Leipz.  1894;   R.  ,C.  Jebb, 

Six,  Mitteil,  des  röm.  Inst.  13  (1898)  59  ff.  Homer,  Cambridge  1887,  übersetzt . nach  der 

2)  "Oinfo(K  =  Tvq/.o^  Ephor.  fr.  164  M.;  3.  Aufl.  von  Emma  Schlesinger,  Berlin  1893, 

^=  Geisel  Aristot.  fr.  66  Berol.  zur  Einführung  empfehlenswert. 

»)  „DerZusammenfüger*'  deutet  G.  Cur-  »)  Herodot.  II 117;  IV32;  Pind.beiAelian. 

Tiüs,  De  nomine  Homeri,  Kiel  1855;,  der  Gesell**  var.  bist.  IX  15. 

K.  MüLLENHOFF.   Siehe  dagegen  H.  Düntzer,  :           ®)  Auffällig  ist  auch,  daß  die  Ilias  von 

Die   homer.  Fragen,   Leipz.  1874,  13  ff.  und  |   dem  oft  in  der  Odyssee  genannten  Sohne  des 

Wilamowitz.  Homer.  Untersuch.,  1887,  378.  Nestor,  Peisistratos,  nichts  weifs. 

*)  Zusammenfassende  Schriften  von  W.  ^)  E.  Geppert,   Über  den  Ui-sprung  der 


Müller,  Homerische  Vorschule.  Leipzig  1836, 
jetzt  veraltet;  J.  Minckwitz,  Vorschule  zum 
Homer,  Leipzig  1863;  H.  Bonitz,  Ueber  den 


homer  Gedichte,  Leipz.  1840,  I  1  -  62,  und 
W.  Christ,  Homer  oder  Homeriden^  8 — 15, 
besprechen  die  Divergenzen  im  einzelnen. 


A.  Epos.    2.  Homers  Ilias  und  Odyssee.    (§§  23—24.)  37 

Aristarchos,  dem  die  Übereinstimmung  der  beiden  Gedichte  im  großen 
Ganzen,  namentlich  gegenüber  dem  epischen  Kyklos  und  den  Neueren  (ol 
vect)T£Qoi)^  mehr  bedeutete  als  die  paar  nebensächlichen,  obendrein  zum  Teil 
leicht  durch  Annahme  von  Interpolationen  zu  beseitigenden  Unebenheiten,^) 
hielt  an  der  Einheit  fest,  2)  und  seine  Autorität  behielt  im  Altertum  die  Ober- 
hand, so  daß  man,  auch  wenn  man  sich  eines  erheblichen  stiUstischen  Unter- 
schieds zwischen  den  beiden  Gedichten  bewußt  war,^)  an  Homer  als  Dichter 
der  Ilias  und  Odyssee  festhielt  und  sich  höchstens  nur  dazu  verstand,  die  Dias 
dem  jugendlichen,  die  Odyssee  dem  gealterten  Homer  zuzuschreiben.*) 

24.  Einen  stärkeren  Angriff  unternahm  F.  A.  Wolf,  der  in  seinen 
Prolegomena  ad  Homerum  1795,^)  angeregt  durch  die  von  Villoisson  1788 
zuerst  veröffentlichten  Iliasscholien  des  Codex  Venetus  A  das  Problem 
stellte,  aus  den  schon  von  den  alten  Grammatikern  großenteils  bemerkten 
Widersprüchen  und  den  Mängeln  der  Komposition  zu  erweisen,  daß  keines 
der  beiden  großen  Epen  für  sich  allein  das  Werk  eines  einzigen  Dichters, 
sondern  mehrerer  Sänger  sei,  und  daß  die  Zusammenfügung  der  alten  Ge- 
sänge zu  einem  einheitlichen  Ganzen  erst  viele  Jahrhunderte  später  von 
unbedeutenden  Geistern,  im  wesentlichen  von  den  Redaktoren  des  Peisi- 
stratos  vollzogen  worden  sei.  Seine  Beweise  entnimmt  Wolf  weniger  aus 
sorgsamer  Analyse  der  beiden  Dichtungen  als  aus  vermeintlichen  Zeug- 
nissen des  Altertums  von  der  Vereinigung  der  zuvor  zerstreuten  Gesänge 
durch  Peisistratos  und  aus  zwei  äußeren  Momenten.  Denn  einmal  sei  zur 
Zeit  Homers  die  Schrift  noch  nicht  bekannt  gewesen,  ohne  Schrift  sei  aber 
die  Dichtung  so  umfangreicher  Werke  nicht  denkbar,  und  dann  habe  in 
jener  Zeit  zur  Abfassung  so  großer  Epen  kein  Anlaß  bestanden,  da  damals 
die  Sänger  nur  kleine  Gesänge  vorzutragen  pflegten.  Der  von  dem  großen 
Philologen  angeregte  Streit,  der  die  Geister  nicht  bloß  der  zünftigen  Ge- 
lehrten, sondern  aller  Gebildeten  und  nicht  zum  wenigsten  unserer  großen 
Dichterfürsten  Goethe^)  und  Schiller  mächtig  ergriff,  hat  im  Laufe  der 
Zeit  wesentlich  zur  Klärung  der  Sache  und  zum  richtigeren  Verständnis 
des  Volksepos  beigetragen,  hat  aber  seinen  Abschluß  noch  nicht  in  einer 
allseitigen  Verständigung  gefunden.'')     Einesteils   haben  die  Unitarier,  auf 


*)    Ein    Hauptanstoß   l   603    gegenüber  \   remigum  habuisset,  prior  scripta  esset  Ilias 

E  905  ward  durch  Athetese  von  x  565 — 627  an  Odtfssea,  praeterea  an  eiusdem  esset  auc- 

glücklich  behoben.  toris.  Vgl.  Lucian.  ver.  hist.  II  20. 

')  Er  schrieb  Jigog  x6  Eevwvog  :iagddo^or.  *)  Ed.  lll  curavit  R.  Peppmüller,  Halle 

')  Plat.  Hipp.  min.  863  b;   Aristot.  poöt.  1884,  mit  dem  Briefwechsel  zwischen  Heyne 


1459  b  15;  Heraclit.  all.  Hom.  60;   Eustath 
ad  11.14,36;  ad  Od.  II.  38. 

*)  Ps.  Longin.  de  sublim.  9, 18  wohl  nach 
dem  Cert.  Hom.  et  Hes.  16;  auch  die  Alexan- 
driner waren  offenbar  dieser  Ansicht,  nach 
den  Stellen  der  Scholien,  wo  sie  die  Vor- 
bereitung der  Odyssee  in  einzelnen  Partien 
der  Ilias  {jtgooixovofiFi,  jtgoöiaovvioTrjoi  irjv 
'Odvaaeiav)  oder  die  Rückverweisung  auf  die 


und  Wolf.  Uebrigens  hat  Wolf  Vorgänger 
gehabt  (R.  Volkmann,  Geschichte  und  Kritik 
der  Wolfschen  Prolegomena,  Leipz.  1874), 
deren  bedeutendster,  von  W.  mit  Unrecht  in 
Schatten  gestellt,  jetzt  durch  G.  Finsler 
(N.  Jahrbb.  f.  d.  klass.  Altert.  15  (1905)  495  ff.) 
wieder  beleuchtet  ist,  der  Abb6  Fran9ois  H6de- 
lin  d'Aubignac  mit  seinen  1664  geschriebenen, 
aber  erst  1715   gedruckten  Conjectures  aca- 


Odyssee  in  solchen  der  ilias  anmerken  (Schol.  a^miques  ou  dissertation  sur  TUiade. 

A  11.  B  260.  278;  Schol.  Od.  Ö  497;  Schol.  T  «)  Vgl.  M.  Bernays,  Goethes  Briefe  an 

IL  A'  231.  251;  M  16).    Spöttelnd   bemerkt  Fr.  A.Wolf,  1868;   W.  Christ,  Homer  und 

Seneca   de  brev.  vitae  13:    Graecorum    iste  Homeriden  S.  84. 

morbus  fuit  qt*aerere,  quem  numerum  ülixes  ;           ^)  Orientierend  R.  Volkmann  (s.  Anm.  5), 


38  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  ElassiBche  Periode. 

deren  Seite  sich  gleich  anfangs  Schiller  0  und  Voß  stellten  und  deren  Sache 
in  gelehrter  Ausführung  besonders  Nitzsch  verfocht,  die  Hauptvoraussetzung 
der  Wolfschen  Hypothese,  den  Nichtgebrauch  der  Schrift,  bestritten  und 
den  ganzen  Gedanken  von  einem  Flickhomer  als  barbariscli  verworfen. 
Anderseits  haben  sich  die  Wolfianer  nicht  dabei  beruhigt,  nur  im  all- 
gemeinen die  Existenz  des  einen  Homer  zu  leugnen,  sind  aber,  indem  sie 
den  von  Wolf  aufgeworfenen  Gedanken  weiterverfolgten,  auf  verschiedene 
Wege  gekommen,  die  sie  teils  den  Unitariem  näherbrachten,  teils  zu  der 
extremen  Annahme  einer  unbestimmten  Menge  von  Homeriden  führten. 

Nachdem  in  den  nächsten  30  Jahren  nach  Erscheinen  der  Wolfschen 
Prolegomena  die  durch  Wolf  angeregte,  von  ihm  selbst  aber  dann  liegen- 
gelassene analytische  Arbeit,  abgesehen  von  einigen  tüchtigen  Schriften 
über  die  Odyssee,  ins  Stocken  geraten  war,  sind  der  Reihe  nach  ver- 
schiedene Hypothesen  über  die  Entstehungsweise  der  homerischen  Gedichte, 
die,  im  großen  und  ganzen  so  wundervoll  aufgebaut,  im  einzelnen  und 
kleinen  so  viele  Schwächen  der  Komposition  zeigen,  hervorgetreten: 

1.  die  Erweiterungs-  oder  Entwicklungstheorie,  der  zufolge 
ältere  Gedichte  mäßigen  (aber  doch  nicht  mehr  balladen-,  sondern  schon  epo- 
pöenartigen) Umfangs  durch  Anschiebungen  und  Einschaltungen,  die  auf  den 
alten  Kern  berechnet  waren,  nach  und  nach  zu  der  Ausdehnung  der  jetzt 
vorliegenden  Epen  angeschwellt  worden  wären,  wobei  immer  auch  noch 
die  Annahme  kleinerer,  den  Gesamtplan  nicht  wesentlich  modifizierender 
Interpolationen  offen  blieb.  Der  früheste  Vertreter  dieser  Theorie  ist  G.  Her- 
mann,2)  der  schon  1831 3)  gegenüber  der  Wolfschen  Analyse  die  Einheits- 
faktoren im  Homer  betont  hatte.  Ihm  folgte  K.  L.  Kayser  mit  zwei  1835 
bezw.  1843  entstandenen  Abhandlungen,*)  in  denen  die  Analyse  der  Odyssee 
entschieden  glücklicher  ist  als  die  der  Hias.  Die  plausibelste,  noch  jetzt 
in  England  vorherrschende  Anwendung  dieser  Theorie  auf  die  Dias^)  hat 
G.  Grote  in  seiner  History  of  Greece  II  (1846)  vorgetragen;  er  nahm  an, 
das  von  ihm  vorausgesetzte  Kerngedicht  Achilleis  könnte  von  dessen  Ver- 
fasser selbst  zur  Uias  erweitert  worden  sein.  Das  Verdienst,  Grotes  An- 
sicht in  Deutschland  verbreitet  und  sie  gleichzeitig  in  manchen  Punkten 
berichtigt  und  ergänzt  zu  haben,  gebührt  L.  Friedländer. <5)  Die  folge- 
richtigste Durchführung  der  Entwicklungstheorie  wird  B.  Niese  ^)  verdankt. 


der  zugleich  über  die  Vorgeschichte  der  Pro-  '  homerischen  Epos,  beide  jetzt  in  K.  L.  Kay- 
legomena  handelt,  d.  i.  über  die  Männer,  die  sers  Homerischen  Abhandlungen,  herausgeg. 
schon  vor  Wolf  ähnliche  Gedanken  aus-  von  H.  Usener,  1881,  S.  29  flf.  3  ff. 
gesprochen  hatten,  wie  G.  B.  Vico  (1686  bis  ^)  Hinsichtlich  der  Odyssee  war  Grote 
1743)  und  R  Wood,  An  Essay  on  the  Original  der  Meinung,  wenn  nur  dieses  Gedicht  vor- 
Genius of  Homer,  London  1769  (deutsch  von  läge,  würde  niemand  auf  den  Gedanken  einer 
C.  F.  Michaelis)  Frankf.  a.  M.  1773.  auflösenden  Behandlung  gekommen  sein.  In 
^)  Siehe  besonders  Briefwechsel  zwischen  der  Uias  unterscheidet  er  ein  Urgedicht 
Schiller   und  Goethe  nr.  459  (Schiller).   472  ,    Achilleis   A  H  A—X,   durch   die   Zusätze   B 


(Goethe). 

*)  De  interpolationibus  Homeri,  1832  (= 
Opusc.  V  52  fF.)  und  de  iteratis  apud  Home^ 
rum,  1840  (=  Opusc.  VI  11  ff.). 

8)  Opusc.  VI  80  ff. 

*)  De  diversa  Homericorum  carminum 
origine    und  Versuch    einer   Geschichte    des 


bis  Z  und  /  zu  einer  Hias  erweitert,  durch 
spätere  Anschiebungen  (AT  ^  Ü)  zum  jetzigen 
Umfang  vergrößert. 

*)  Die  homerische  Kritik  von  Wolf  bis 
Grote,  Berlin  1853. 

^)  Die  Entwicklung  der  homerischen 
Poesie,  1882. 


A.  Epos.    2.  Homers  Dias  nnd  Odyssee.    (§  24.)  3g 

der  eine  Reihe  wichtiger  Kriterien  zur  Unterscheidung  älterer  und  jüngerer 
Schriften  in  den  homerischen  Epen  aufgestellt,  aber  durch  seine  Abweisung 
aller  vorhomerischen  oder  außerhomerischen  Volkssage  in  alter  Zeit  die 
Betrachtung  der  homerischen  Poesie  aus  allem  Zusammenhang  mit  dem, 
was  sonst  über  Volkssage  und  Volksepos  bekannt  ist,  herausgerissen  und 
die  poetische  Produktion  des  homerischen  Alters  nach  Stoff  und  Form  in 
unerhörter  Weise  auf  eine  kleine  Sängerzunft  von  engstem  Schulzusammen- 
hang eingeschränkt  hat.^)  In  neuester  Zeit  sind  Vertreter  dieser  Theorie 
W.  Leaf  *)  und  H.  C.  Jebb.  ^)  Grundsätzlich  auf  demselben  Boden  stehen 
die  Versuche,  mit  sprachlichen*)  oder  einer  Kombination  von  sprachlichen 
und  sachlichen  Indizien  0)  eine  äolische  Ur-Ilias  oder  gar  Ur-Odyssee  zu 
rekonstruieren,  die  einer  illusionsfreien  und  alle  Möglichkeiten  zum  Wort 
kommen  lassenden  Prüfung  nicht  standhalten. 

2.  Fast  gleichzeitig  mit  den  Anfängen  dieser  Theorie  hat  K.  Lach- 
mann seine  Liedertheorie  (neuerdings  spricht  man  auch  von  Sammel- 
oder Agglutinationstheorie)  aufgestellt,^)  für  die  er  sich  mit  Unrecht"^)  sogar 
auf  die  Autorität  alexandrinischer  Grammatiker  berufen  zu  dürfen  glaubte. 
Von  dem  litterarhistorisch  richtigen  Postulat  ausgehend,  daß  der  Zeit  der 
Epopöe  eine  Periode  vereinzelnder  Aventiuren-,  Balladen-  oder  Lieder- 
dichtung vorangegangen  sein  müsse,  hat  er  nur  darin  geirrt,  daß  er  ver- 
mittelst des  Kriteriums  logischer  Widersprüche  selbständige  ältere  „Lieder" 
ohne  weiteres  aus  der  uns  vorliegenden  Ilias  herausschneiden  zu  können 
glaubte;  er  hat  dabei  die  Vorgeschrittenheit  der  epischen  Technik  in  plan- 
mäßiger Verarbeitung  älterer  Sagenmotive,  wie  sie  unsere  Ilias  zeigt,  ebenso 
unterschätzt,  wie  er  die  Bedeutung  des  logischen  Widerspruchs  an  sich 
als  eines  Kennzeichens  für  Zusammenfügung  ursprünglich  nicht  auf  Zu- 
sammenhang berechneter  dichterischer  Einheiten  überschätzte,  und  die 
nüchterne  Zerspaltung  eines  doch  so  vielfältig  organisch  verbundenen 
Ganzen,  die  dann  durch  unpoetische  Köpfe  weitergeführt  und  sogar  auch 
auf  die  Odyssee®)  angewandt  worden  ist,  führte  zur  Herausstellung  lebens- 
unfähiger Einzelgebilde.  Den  an  sich  durchaus  möglichen  Gedanken,  die 
Inkonvenienzen,  derengleichen  übrigens  auch  in  zweifellos  einheitlichen 
Gedichten  technisch  vorgeschrittener  Kulturperioden  nachweisbar  sind,  aus 
der  unvermeidlichen  UnvoUkommenheit  erster  Versuche  zu  größerer  Epo- 


')  Siehe  gegen  Niese  besonders  E.  Thbä-  i   Buches  findet  man  bei  E.  Kammer,  Die  Ein- 

MKB,  Pergamos,  Leipz.  1888.  Vgl.  o.  S.  26,  3.  heit  der  Odyssee,  Leipz.  1873,  345  f. 

')  W.  Lbaf,  A  Companion  to  the  Iliad  1902.  ')  Die  jtakmoi\  die  Lachmann  (Betr.'^  33) 

»)  Homer  p.  104  flF.  der  oben  S.  36,  4  an-  anruft,  bei  Eustath.  ad  II.  (edit.  Lips.  1827)  I 

geführten  Uebersetzung  p.  309, 6  (=  Schol.  T  zu  Ä'  1 ;  vgl.  Schol.  Dionys. 

*)  A.  FicK  s.  unten  §  33.  Thr.  180,  1  Hilg.),   sind   keinesfalls  die  Ale- 

^)  K.  Robert,  Studien  zur  Ilias  mit  Bei-  xandriner  (vgl.  namentlich  Eustath.  ad  IL  II 

trägen  von  F.  Bechtel,   Berlin  1901.     Siehe  2S9,4^  (/.aniv  01  .icdaioi,  öii'AgiatagxcK  ygd(pei; 

daza  die  Kritik  von  P.  Cauer,  N.  Jahrbb.  f.  über  die  Verschwommenheit  des  Begriffs  .ia- 

klass.  Altert.  9  (1902)  77  ff.  kaioi  s.  K.  Lehrs,  Pindarschol.,  Leipz.  1873, 

*)    K.   Lachmann,   Betrachtungen    über  167;  E.Schwabe,  Ael.  Dionysii  et  Pausaniae 

Homers  Ilias,  zuerst  in  Einzelabschnitten  in  ;   fragm.,  Lips.  1890  p.  13  f.). 

der  Berliner  Akademie  1837  und  1841    vor-  «)   So   P.  D.  Ch.  Hennings,    Ueber  die 

gelegt,   dann  mit  Zusätzen  von  M.  Haupt  !   Telemachic,  N.  Jahrbb.  Suppl.  3  (1858)  133 ff.; 

herausgegeben  1847   (3.  Aufl.  1874).     Inter-  ,   ders.,  Homers  Odyssee,  Berl  1903;  H.Köchly 

essante   Materialien  zur   Vorgeschichte    des  I   zersägte  die  Odyssee,  da  eigentliche  .Lieder'^ 


40  Ghiechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

pöenbildung  zu  erklären,  hat  Lachmann^)  nur  gestreift,  um  ihn  im  weiteren 
dann  zu  ignorieren.  Den  inneren  Einheitsfaktor,  der  für  seine  Theorie 
notwendig  war,  um  die  Möglichkeit  einer  Zusammenordnung  von  Liedern 
überhaupt  glaublich  zu  machen,  findet  Lachmann  in  der  zusammenhängenden 
Volkssage,  den  äußeren  (wie  vor  ihm  Wolf,  nach  ihm  Kirchhoff)  in  der 
Legende  von  der  Redaktion  des  Peisistratos,  deren  Ungeschichtlichkeit  schon 
lange  zuvor  d'Aubignac,  später  Grote,  Lehrs,  Niese  u.  a.  durchschauten. 
Sehr  wichtig  für  die  Klärung  der  Begriffe  ist  A.  Heusler,  Lied  und  Epos 
in  germanischer  Sagendichtung,  Dortmund  1905,  der  nachweist,  daß  der 
Unterschied  zwischen  Lied  und  Epos  nicht  in  der  Quantität  der  eingeführten 
Motive,  sondern  lediglich  im  Stil  (liedhafte  Knappheit  —  epische  Breite) 
zu  suchen  sei,  daß  ein  Epos  nicht  durch  Summierung  von  Einzelliedem 
entstehe  und  daß  die  aus  dem  Epos  herausgeschnittenen  „Lieder"  Lach- 
manns schon  deshalb  keine  wirklichen  Lieder  sein  können,  weil  ihnen  die 
epische  Breite  anhaften  bleibt.  Über  denkbare,  aber  auf  germanischem 
Boden  nicht  nachweisbare  Zwischenstufen  zwischen  Lied  und  Epos  s.  Heusler 
S.  26  flf. 

3.  Die  natürliche  Reaktion  auf  diese  ohne  künstlerischen  Takt  vor- 
genommene Homersektion  war  die  Wiederaufnahme  der  antiken  Inter- 
polationstheorie durch  ö.  W.  Nitzsch  u.  a.^) 

4.  Eine  Umarbeitung  des  Lachmannschen  Prinzips  in  dem  Sinn,  daß 
die  homerischen  Epen  zwar  nicht  in  die  kleinen,  selbständiger  Lebens- 
fähigkeit ermangelnden  „Lieder**,  aber  in  umfangreichere  epische  Dich- 
tungen aufgelöst  werden  sollten,  stellt  sich  in  der  Kompilations- 
theorie ^)  dar,  die  fast  ausschließlich  auf  die  Odyssee  angewendet 
worden  ist>)  Ihr  erster  Vertreter  ist  A.  Kirchhoflf,^)  der  die  Odyssee 
in  drei  ursprünglich  selbständige  Gedichte  (alter  Nostos,  die  nach  Kirch- 
hoflf  dichterisch  minderwertige  Darstellung  von  Odysseus*  Schicksalen  und 
Taten  auf  Ithaka,  die  Telemachie)  zerlegt.  Diese  Hypothese  ist  dann 
unter  Benützung  der  Kritik  B.  Nieses«)  und  Ch.  Heimreichs^)  umgearbeitet 


aus  ihr  nicht  zu  gewinuen  waren,  in  fünf  ^Rhap- 
sodien** (Züricher  Programme  1862—1863). 

*)  Betrachtungen  *  76 ;   ebenso  später  A. 
KiRCHHOFP,  Die  homer.  Odvssee  u.  ihre  Ent- 


mit  Entachiedenheit  für  die  Einheit  im  großen 
Ganzen  ein.  Bei  den  Franzosen  findet  ohnehin 
der  Gedanke  der  Einheit  größeren  Anklang, 
mit  Geschick  vertritt  denselben  A.  Boüoot, 


stehung,  Berl.  1859,  294,  304.  Etüde  sur  Tlliado  d'Homere,  invention,  com- 

*)  G.  W.  Nitzsch,  Meletemata  de  histo-  position,  ex^cution,  Paris  1888. 

ria  Honieri,  Kiel  1834—39:  Die  Sagenpoesio  ')  Der  Name   von  E.  Kohdb,   Kl.  Sehr, 

der  (^riechen,  Braunschw.  1852—53;  Beiträge  II  274. 

zur  Geschichte  der  epischen  Poesie,  Leipzig  *)  Nur  N.  Weckleins  (Studien  zur  Ilias, 

1862.   Einen  ähnlichen  Standpunkt  vertreten  Hallo  1905)  Hypothese,  im  Sachlichen  stark  be- 

W.  Bäum  LEIN,  Comment.de  Homero  in  Tauchn.  einflußt  von  Grote,  Kayser  und  Niese,  kann 

Ausg.  1854 ;  F.  NuTznoRN  (Schüler  N.  Madvigs  als  ernst  zu  nehmender  Versuch,  die  Grotesche 

und  Interpret  von  dessen  Anschauung),  Ent-  Ansicht  nach  der  Richtung  der  Kompilations- 

stehungsweise  der  hom.  Gedichte,  Leipz.  1869;  theorie   zu  schieben  (durch  Annahme  zweier 

E.  Kammek.  Die  Einheit  der  Odyssee,  Leipz.  i   ursprünglich  selbständiger  Gedichte  Ilias  und 

1873;  E.  Buchholz.  Vindiciae  carminum  ho-  1   Achilleis),  genannt  werden, 

mericorum,  Lips.  1885;  F.  Blass,  Die  Inter-  I           ^)  Die  homerische  Odyssee  und  ihre  Ent- 

polationeu  der  Odyssee,  Halle  1904.   Ferner  i   stehung,  Berlin  1859.  2.  Aufl.  1879. 

E.  Kammer.  Ein  ästhetischer  Kommentar  zu  i           ^)    Die    Entwicklung    der    homerischen 

Homers  Ilias.  2.  Aufl.,  Paderborn  1901.    Unter  Poesie,  1883. 

den    Neueren    treten    auch    E.  Roiide    und  ^)  Die  Telemachie  und  der  jüngere  Nostos, 

KirchhoflFs  Schüler  K.  Rothe  (s.  u.  S.  45,  2)  Progr.  Flensburg  1871.  • 


A.  Epos.    2.  Homers  Dias  und  Odyssee.    (§  25.) 


41 


worden  vonU.  v.  Wilamowitz,^)  und  durch  diesen  wiederum  wurde  0.  Seeck*) 
angeregt. 

Unbestreitbar  ist,  daß  durch  alle  diese  Untersuchungen  eine  zwingende 
Lösung  der  Fragen  nicht  gefunden,  aber  der  Einblick  in  die  Technik  und 
Motivzusammenfügung  des  homerischen  Epos  vielfaltig  geklärt  und  vertieft 
worden  ist.  Weitere  Aufklärung  ist  weniger  von  neuen  Hypothesen  zu  er- 
warten als  von  einem  gewissenhaften  induktiven  und  vorläufig  am  besten 
unter  der  Voraussetzung  der  Einheitlichkeit  der  Gedichte  vorzunehmenden 
Studium  der  dichterischen  Technik^),  weiter  von  dem  Versuch  einer  sorg- 
faltigen Klassifikation  der  angenommenen  Interpolationen  und  einer  Erklä- 
rung ihrer  Entstehungsweise  nach  Möglichkeit.*)     . 

Volle  Einigung  der  Ansichten  ist,  abgesehen  von  der  Annahme  einer 
Anzahl  kleinerer  oder  größerer  Interpolationen  und  Zusätze  (wie  der  Schiflfs- 
und  Troerkatalog  in  5,  die  Bücher  A"^)  W  Q  k  a>),^)  nirgends  erzielt.  Eine 
Menge  von  Kriterien  sachlicher,  sprachlicher,  stilistischer  Art  für  mangeln- 
den Zusammenhang  sind  aufgestellt,  aber  über  ihre  Tragweite  für  Ent- 
scheidung der  Kompositionsfrage,  über  die  Ursachen  der  beobachteten 
Störungen  sind  die  Ansichten  geteilt.  So  stehen  sich  noch  jetzt  alle  vier 
Theorien  gegenüber,  und  nur  die  Liedertheorie  ist  stark  zurückgetreten.') 

25.  Stand  der  homerischen  Frage.  Es  wäre  vermessen,  die  all- 
gemach zu  einer  großen  Litteratur  angewachsene  homerische  Frage  in 
diesem  kurzen  Abriß  lösen  oder  nur  vollständig  diskutieren  zu  wollen. 
Gleichwohl  werden  einige  zusammenfassende  Schlußsätze  am  Platze  sein. 
Kein  vernünftiger  Mensch  ist  heutzutage  noch  reiner  Unitarier  oder  reiner 
Wolfianer.     Die  Verfechter  des  einen  Homer  und  unter  ihnen  nicht  bloß 


')  Homerische  Untersuchungen,  1884. 
W.  scheidet  einen  wieder  aus  verschiedenen 
kleineren  Teilen  zusammengestückten  Nostos, 
eine  (aber  nicht  bloß  a  —  d  umfassende)  Tele- 
machie,  deren  jüngster  Bestandtteil  a  sei, 
und  eine  Mnesterophonie,  Einzeldichtungen, 
die  jedenfalls  entschieden  lebensfähiger  sind 
als  die  von  Kirchhoff  angesetzten. 

»)  Die  Quellen  der  Odyssee,  1887. 

•)  Dazu  sind  wichtige  Anfänge  gemacht: 
P.  Cauer.  Über  eine  eigentüml.  Schwäche 
der  homerischen  Denkart,  Rhein.  Mus.  47 
(1892)  74  ff.;  Th.  Zielinski,  Die  Behand- 
long  gleichzeitiger  Ereignisse  im  antiken 
Epos,  Philol.  Suppl.  8  (1901)  407  ff.;  0.  Im- 
misch, Die  innere  Entwicklung  des  griechi- 
schen Epos,  1904;  Hedwig  Jobdan,  Der  Ep- 
z&hlungsstil  in  den  Kampfszenen  der  Ilias. 
Diss.  Zürich  1904.  Insbesondere  beachtens- 
wert sind  die  Arbeiten  von  G.  Finsler  (Das 
3.  u.  4.  Buch  der  Ilias,  Herrn.  41  (1906)  426  ff. ; 
Die  olymp.  Szenen  der  Ilias,  Progr.  Bern 
1906),  der  unter  völliger  Verwerfung  der 
^Ür-Ilias*  auf  Grund  sorgfältiger  Motivschei- 
dnug  kleinere  epische  Zusammenhänge  in  der 
Ilias  nachweist,  die  dann  von  einem  bedeu- 
tenden Dichter  (dem  Verfasser  des  A)  auf 
den  einen  Faden  der  Mijvig  gereiht  und  durch 


Einführung  eines  von  olympischen  Szenen 
getragenen  göttlichen  Hauptplans  verklam- 
mert worden  seien.  Aehnlich,  aber  ohne  Einzel- 
ausführung, hatte  schon  Chr.  G.  Heyne  das 
Verhältnis  aufgefaßt.  In  K.  L.  Kaysers  Sinn 
sucht  F.  die  ursprünglich  selbständigen  Einzel- 
stücke  auch   stilistisch   zu   charakterisieren. 

*)  Auch  dazu  sind  Vorarbeiten  vorhanden : 
A.  Steitz,  Die  Werke  und  Tage  des  Hesiod, 
1869,  16  ff.;  H.  Düntzer,  Die  homer.  Fragen, 
1874,  195  ff.;  E.  Kammer,  Die  Einheit  der 
Odyssee  758  ff.;  J.  Schultz,  Das  Lied  vom 
Zorn  Achills,  Berl.  1901,  Einleitung;  F. Blass, 
Die  Interpolationen  der  Odyssee,  1904. 

*)  Die  Meinung  A.  Römers  (Festschr. 
der  Universität  Erlangen  zum  80.  Geburts- 
tag des  Prinzregenten  Luitpold,  1901),  als 
wäre  die  ursprüngliche  Aufeinanderfolge  von 
/  A  ohne  A"  durch  Schol.  I  709  bezeugt,  be- 
ruht auf  Mißverständnis  (A.  Ludwich,  Berl. 
philol.  Wochenschr.  22,  1902,  37  f.). 

*)  Schon  die  Alexandriner  erklärten  den 
Schluß  der  Odyssee  von  v'  296  an  für  unecht. 

^)  Versuche,  sie  wieder  zu  beleben,  wie 
sie  neuerdings  von  D.  Müloer  unternommen 
werden,  sind  in  wesentlichen  Punkten  schla- 
gend zurückgewiesen  von  0.  Wilder,  Wiener 
Studien  28  (1906)  84  ff. 


42  Griechische  litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

die  Königsberger,*)  sondern  selbst  Nitzsch  haben  nach  und  nach  zugegeben, 
daß  unsere  Ilias  und  Odyssee  viele  jüngere  Bestandteile  enthalten,  und 
zwar  nicht  bloß  kleine,  aus  wenigen  Versen  bestehende  Interpolationen,*) 
sondern  auch  größere  Erweiterungen  (Diaskeuasen)^)  und  selbst  ganze  Ge- 
sänge, wie  den  Schluß  der  Odyssee  {yf  297  bis  co  fin.),  die  Doloneia,  den 
läppischen  aus  Reminiszenzen  zusammengestoppelten  Zweikampf  des  Aineias 
und  Achilleus  (T  75— 852),  den  SchiflFskatalog  (ß  484—779)  und  dessen  Er- 
gänzung (77  168 — 199).  Ebensowenig  wird  es  heute  noch  jemand  Wolf  oder 
Lachmann  nachreden,  daß  Peisistratos  erst  die  Dias  und  Odyssee  als  Ganzes 
geschaffen  habe.  Umgekehrt  hat  G.  Grote^)  allgemeinen  Beifall  mit  der  Be- 
merkung gefunden,  daß  unmöglich  ein  Werk  mit  tatsächlich  bestehender  Ein- 
heit aus  Atomen  von  nicht  aufeinander  berechneten  Liedern  entstanden  sein 
könne.  Noch  handgreiflicher  beweist  die  Sprache,  deren  Entwicklungsstadie 
man  seit  Wolf  viel  schärfer  zu  unterscheiden  gelernt  hat,  daß  alle  Gesänge 
Homers  in  derselben  Sprachperiode  entstanden  sind  und  nicht  um  zwei 
Jahrhunderte  auseinander  liegen  können.  Über  150  Jahre  vor  Peisistratos 
war  Ilias  und  Odyssee  fertig,  die  Redaktoren  Attikas  haben  zu  den  alten 
Gedichten  nicht  100  Verse  hinzugetan  oder  weggenommen.  So  oder  noch 
ungünstiger  für  die  Wolfsche  Theorie  lautet  jetzt  das  allgemeine  Urteil 
der  Sachverständigen.*) 

Ferner  hat  der  Grundgedanke  Lachmanns,  daß  auch  bei  den  Griechen 
der  Zeit  großer  Epen  eine  Periode  kleiner  balladenartiger  Heldenlieder 
vorausgegangen  sei,  und  daß  sich  in  den  ältesten  Bestandteilen  der  Ilias 
noch  viele  Anklänge,  selbst  Reste  jener  alten  Lieder  finden,  bei  Freunden 
und  Gegnern  Lachmanns  immer  mehr  Boden  gewonnen.  Jeder  wird  es 
Lachmann  und  seinen  Anhängern  Dank  wissen,  daß  sie  die  willkürlichen 
Schranken  der  späteren  Einteilung  in  24  Bücher  niederrissen  -und  die  alten 
Lieder,  wie  sie  Homer  und  die  Homeriden  in  dem  Männersaal  und  der 
Festversammlung  sangen,  wiederzugewinnen  und  abzugrenzen  suchten. 
Das  Verständnis  der  kunstvollen  Komposition  der  alten  Gesänge  hat  da- 
durch wesentlich  gewonnen,^')  und  es  ist  ein  weitertreibendes  Prinzip  ein- 
geführt worden,  wenn  man  auch  jetzt  darüber  im  klaren  ist,  daß  das  Aüs- 
einanderschneiden  weit  schwieriger  sei,  als  Lachmann  sich  vorgestellt  hatte, 
und   daß   durch   das  Auseinanderschneiden   nicht    ohne   weiteres  «Lieder* 


*)  Das  Verdienst,  die  Einheit  des  Planes   |   Menelaos    durch    die    ergötzliche    Gardinen- 
energisch   vertreten  zu  haben,   gebührt  dem       szene   zwischen   Paris  und  Helena  verständ- 


Haupte  der  Königsberger,  K.  Lehrs. 

'^)  Verschiedene  Arten  solcher  Inter- 
polationen von  W.  Chbist  nachgewiesen 
Proleg.  §§  12-18. 

8)  Siehe  W.  Christ,  Proleg.  §§  19  u.  20. 


lieber,    ebenso,    daß    der   Gesang   von   den 

Großtaten   des    Agamemnon   (-1  1 — 595)   im 

entscheidenden    Wendepunkt   der   Handlung 

mit  großartiger  Perspektive  abbreche  und  der 

folgende  Gesang  [M]   mit  Uebergehung   der 

*)  Siehe  o.  S.  38.  wenig  anziehenden  Zwischenfälle  gleich  mit 

^)  F.  A.  Palby,   Homeri  quae  nunc  ex-   |   einem    neuen    Knotenpunkt    der   Handlung, 

taut   an  reliquis  cycli  carminibus  antiquiora      dem   Kampf   um   die   Schiffe,  anhebe.     Die 

iure  habita  sint,   London,   Iftßt  freilich  noch      Zwischenverse  und  Zwischenszenen  seien  alle 

im  Jahre  1878  die  Ilias  in  der  Zeit  des  Anti-      erst  später  eingelegt  worden,    als   man   die 


machos  und  Piaton  entstanden  sein. 

«)  So  findet  W.  Christ  bei  der  An- 
nahme von  Einzelliedern  den  heitern  Abschluß 
des  Gesangs  vom  Zweikampf  des  Paris  und 


älteren,  ehedem  selbständigeren  Lieder  zu 
einer  geschlosseneren  Einheit  zusammenzu- 
fassen suchte. 


A.  Epos.    2.  Homers  Uias  und  Odyssee.    (§  26.)  43 

gewonnen  werden  können.  Aber  an  allem,  was  darüber  hinausgeht,  halten 
hentzutage  nur  eingefleischte  Lachmannianer,  und  selbst  diese  nur  mit  ge- 
wissen Einschränkungen  fest.  Wenn  Homer  vom  Sänger  Demodokos  ^  499  flf. 
sagt  (paive  d'  äoidrjv,  evf^ev  ihhv,  (hg  01  /mkv  ivaoek/uojv  im  vrjajv  ßdvzeg  djii- 
TiXeiov,  so  hat  er  damit  selbst  ein  Zeugnis  dafür  abgelegt,  daß  die  Praxis 
des  Vortrags  einzelner  Lieder  nicht  die  Dichtung  mehrerer,  zu  Gliedern 
eines  größeren  Ganzen  bestimmter  Gesänge  ausschließt.  Der  dritte  Gesang 
der  Ilias  vom  Zweikampf  des  Paris  und  Menelaos  ist  zwar  sehr  wohl 
in  sich  abgerundet  0  und  eignete  sich  vortrefflich  zum  Einzel  vertrag,  aber 
er  kündigt  sich  doch  zugleich  als  Vorläufer  einer  Reihe  größerer  Kampfes- 
szenen an,  und  der  vierte  Gesang  bildet  dazu  den  natürlichen  Schluß  (die 
oQxuov  ovyxvaig  zu  den  oQxia)^  nicht  eine  für  sich  bestehende  Dichtung. 
Und  wollten  wir  auch  das  Proömium  der  Ilias  als  nachträglichen  Zusatz 
preisgeben,  so  ist  doch  der  ganze  erste  Gesang,  und  selbst  schon  der  erste 
Teil  des  ersten  Gesangs  {A  1 — 305),  so  breit  angelegt,  daß  man  ihn  nicht 
als  Eingang  einer  kurzgefaßten  Erzählung,  sondern  als  Ankündigung  eines 
großen,  weit  ausgesponnenen  Epos  ansehen  muß.  Wenn  daher  auch  noch 
so  sehr  Einzellieder,  die  für  sich  singbar  waren,  der  Ilias  zugrunde  liegen, 
so  muß  man  doch  daran  festhalten,  daß  jene  Einzellieder  zueinander  vom 
Dichter  selbst  in  Beziehung  gesetzt,  umstilisiert  und  auf  ein  großes  gemein- 
sames Ziel  gerichtet  worden  sind.  Also  auch  über  die  Bedeutung  des 
Liedes  im  alten  Epos  läßt  sich  eine  Verständigung  finden. 

Auf  der  anderen  Seite  hat  die  Ansicht  G.  Hermanns  von  einem  ur- 
sprünglichen kleineren  Kern,  der  sich  allmählich  durch  Einschaltungen  zu 
einem  großen  Epos  entwickelt  habe,  im  Lauf  der  Diskussion  solche  Gestalt 
angenommen,  daß  sie  mit  der  Liedertheorie  allenfalls  in  Einklang  ge- 
bracht werden  kann.  Alle  nämlich,  die  den  Gedanken  Hermanns  weiter 
verfolgt  und  aus  unserer  Ilias  den  ursprünglichen  Kern  wieder  heraus- 
zuschälen versucht  haben,  kamen  auf  eine  Ur-Ilias  nicht  von  einigen  Hun- 
derten, sondern  von  vielen  Tausenden  von  Versen.  Ein  so  umfangreiches 
Gedicht  eignete  sich  aber  nicht  mehr  zum  Vortrage  auf  einmal,  sondern 
mußte  für  den  Vortrag  notwendig  in  mehrere  Teile  oder  Lieder  zerfallen,  so 
daß  wir  also  auch  auf  diesem  Weg  in  den  Anfang  einen  Zyklus  von  mehreren 
zusammenhängenden  Liedern  setzen  müssen,  wie  wenn  wir  den  „Kern"  der 
Bias,  die  Achilleis,  aus  Mfjvig,  'Agioieia  \4yajuejuvovog,  Jlargoxkeia,  "ExxoQog 
ävcugeaig,  und  die  erste  große  Einlage  vom  Kampf  um  Uios  (ohog  ^Jh'ov) 
aus  'Ayogd,  ''Ogxia,  Mevekdov  xal  ^AkE^dvdgov  ßiovojuax^,  Teixooxoma,  ^Oq- 
xiwv  avyxvoig,  ^Emjicokrjaig,  Aiojuijdovg  ägioxeiay  ''Exxogog  xal  ^Avdgojudxrjg 
dfjukia,  AXavTog  xal  'Exxogog  iiovoiiax^-o.  bestehen  lassen. 

26.  Auf  solche  Weise  kann  man  nicht  sagen,  daß  die  homerische 
Frage,  wie  so  manche  andere,  vollständig  im  Sand  verlaufen  sei;  vielmehr 
hat  man  sich  von  verschiedenen  Seiten  die  Hände  gereicht  und  ist  über 
mehrere  Hauptpunkte  zu  einer  gegenseitigen  Verständigung  gekommen. 
Aber  freilich  gehen  innerhalb  dieser  Grenzen,  wenn  es  zur  Entscheidung 
im  einzelnen   kommen   soll,    die  Meinungen  noch  stark  auseinander.     Es 


>)  Siehe  G.  Finslbb,  Herrn.  41  (1906)  426  ff. 


44:  Oriechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

sind  hauptsächlich  drei  Punkte,  in  denen  weniger  infolge  grundsätzlicher 
Meinungsverschiedenheit  als  infolge  verschiedener  Beurteilung  des  einzelnen 
Falles  die  Stimmen  der  Forscher  sich  scheiden.  Es  handelt  sich  erstens 
um  solche  Partien,  von  denen  zugegeben  wird,  daß  sie  nicht  von 
vornherein  in  dem  ursprünglichen  Liederzyklus  standen.  Hier 
fragt  es  sich,  wer  hat  diese  hinzugedichtet,  derselbe  Dichter  oder 
ein  anderer?  Nichts  nämlich  nötigt  uns  zu  der  Annahme,  daß  die  Gesänge 
der  Ilias  und  Odyssee  so  nacheinander  gedichtet  worden  seien,  wie  sie  jetzt 
hintereinander  stehen.  Jeder  moderne  Schriftsteller  erlaubt  sich,  nachdem 
er  den  Plan  seines  Werkes  im  Geist  entworfen  hat,  je  nach  Stimmung 
und  äußerem  Anlaß  bald  eine  frühere,  bald  eine  spätere  Partie  heraus- 
zugreifen und  zur  Ausarbeitung  vorzunehmen.  Weit  mehr  noch  wird  das 
der  Dichter  in  einer  Zeit  getan  haben,  da  ein  größeres  Epos  nie  als  Ganzes 
zum  Vortrag  kam,  sondern  immer  nur  einzelne  Lieder  verlangt  und  ge- 
sungen wurden.  Wenn  nun  z.  B.  in  der  Patrokleia  //  370  nur  von  einem 
Graben  um  die  Schiffe  der  Achäer,  nicht  auch  von  einer  Mauer  die  Rede 
ist,  die  Gesänge  M  N  E  O  aber  sich  um  die  Mauer  als  Mittelpunkt  des 
ganzen  Kampfes  drehen,  so  muß  man  daraus  allerdings  schließen,  daß  die 
letztgenannten  Gesänge,  auch  wenn  sie  vor  der  Patrokleia  stehen,  doch 
erst  nach  ihr  gedichtet  wurden,  i)  Aber  konnte  nicht  derselbe  Dichter  mit 
der  Zeit  sein  Werk  selbst  erweitem  und  nachträglich  auch  eine  Mauer  in 
den  Plan  seiner  Dichtung  aufnehmen?  Dieselbe  Frage  wiederholt  sich  be- 
züglich der  Lykier  am  fernen  Xanthos  neben  den  Lykiern  am  nahen  Ida,*) 
bezüglich  der  Unterweltszene  in  der  Odyssee,  bezüglich  der  Telemachie 
und  vieler  anderen  Partien.  Mit  allgemeinen  Grundsätzen  ist  da  nicht  viel 
anzufangen,  sondern  es  wird  die  Entscheidung  der  Frage,  ob  die  betreifende 
Partie  vom  Originaldichter  selbst  oder  von  einem  fremden  Nachdichter 
herrühre,  immer  von  einer  sorgfältigen  Untersuchung  des  einzelnen  Falles 
abhängen.  So  füllt  z.  B.  die  Episode  vom  Zusammentreffen  des  Diomedes 
und  Glaukos,  ZI  19 — 236,   vortrefflich    die  Zeit  aus   zwischen   dem  Weg- 

^)  Dio  Chronologie  der  homerischen  Gc-  lieh  dadurch   auf  Abwege  gekommen,  daß 

sänge,   wie   W.  Christ   sie   für   die  liias   in  sie  allgemeine  ästhetische  Erwägungen  höher 

seinen  Proleg.  p.  55—78  und  731—733  fest-  als    die  sicheren  Anzeichen  der  Chronologie 

gestellt,   hat  er  als  Grundlage  der  weiteren  '   anschlugen. 

Untersuchungen   über  die  homerische  Frage  ^)  Die  Unterscheidung  der  beiden  Lykier 

in  der  Hauptsache   bis   zuletzt  festgehalten,  |   verwirft  G.  Schmid,  De  Pandaro  venatore  ho- 

doch  im  einzelnen  manches  zurückgenommen.  merico,  inComm.  Ministerii  instr.publ.,  Peters- 

So  verband   er  zuletzt  A  306—611  mit  /?  1  bürg  1901,  indem  er  nachweist,  daß  die  wilden 

bis  52  und  ließ  diese  Fortsetzung  von  A  1  bis  Ziegen    {aJyeg  äyouu) ,     aus    deren    Ilörnem 

805  nicht  unmittelbar  nach  dem  1.  Lied  ge-  Pandaros,    der    vermutete   Held    der    nörd- 

dichtet  sein.   Ferner  gab  er  die  Wahrschein-  liehen  Lykier,   seinen  Bogen  gefertigt  hatte 

lichkeit  zu,  daß  7/8     312  unmittelbar  nach  (J  105  ff.),  wohl  in  den  Bergen  des  südlichen 

Z  5 — //  7  und  daß  M — O  vor  2'  243 — 335,  Lykiens,  nicht  aber  bei  Zeleia  im  Lande  der 

T  1—139,    357—424,     Y  S7b—0  227    ge-  nördlichen  Lykier  vorkommen.     Aber  Zeleia 

dichtet   seien.      Auch   war    ihm   schließlich  ist  nun  doch  einmal,   wenn  auch  irrig,  vom 

zweifelhaft     geworden,     ob    er    mit    Recht  i   Dichter  A  103  als  Heimat  des  Pandaros  be- 

Hektors  Tod  oder  0  526 — A'  394  zum  alten  '   zeichnet,  und  eine  Veränderung  des  Verbrei- 


Bestande   der  ursprünglichen  Achilleis  rech- 
nete.    Siehe   §  29.     Die   neueren    Forscher, 
dio  wie  Kammer  die  Gesandtschaft  und  was 
sich    an    sie    anschließt   wieder   zum   alten      halten  werden. 
Kern  der  Ilias  gehören  ließen,  sind  wesent- 


tungsgebietes  dieser  Tiergattung  im  Lauf  der 
Jahrhunderte  (wie  sie  z.  B.  für  den  Löwen 
erwiesen  ist)  muß  als  möglich  im  Auge  be- 


A.  Epos.    2.  Homers  Dias  und  Odyssee.    (§  26.)  45 

gehen  des  Hektor  (Z  116)  und  seiner  Ankunft  am  skäischen  Tore  (Z  237), 
und  da  sie  von  den  südlichen  Lykiem  abgesehen,  gar  nichts  enthält 
was  gegen  die  Sprache  und  den  Mythus  der  alten  Partien  der  Ilias  ver- 
stieße, so  kann  man  trotz  der  zweifelweckenden  Bemerkung  des  Scholiasten 
A  ßieiaji'&eaoi  riveg  ^äXXax6o£  ramrjv  Trjv  avoraatv^  unbedenklich  annehmen, 
da&  der  erste  Dichter  selbst  diese  Episode  nachträglich  eingelegt  habe, 
um  den  Lykierfürsten  Glaukos,  dem  er  im  zweiten  Teil  seines  Epos  eine 
so  große  Rolle  zuwies,  doch  auch  einmal  in  den  Kämpfen  des  ersten 
Schlachttages  auftreten  zu  lassen.  Die  gleiche  Entschuldigung  kann  aber 
für  die  ähnliche  Episode  vom  Kampf  des  Sarpedon  und  Tlepolemos,  E  628 
bis  698,  nicht  gelten,  und  zwar  aus  drei  Gründen  nicht,  einmal  weil  der 
Gang  der  Erzählung  keine  gleich  passende  Zwischenzeit  läßt,  dann  weil 
die  dorische  Sage  von  dem  Herakliden  Tlepolemos  dem  alten  Sänger  fremd 
war,  und  endlich,  weil  von  der  in  dieser  Episode  geschilderten  schweren 
Verwundung  des  Sarpedon  im  folgenden  (M  101  flf.)  gar  keine  Notiz  ge- 
nommen ist.  Auch  soll  man  zwar  nicht  von  kleinen  sprachlichen  Uneben- 
heiten, die  sich  durch  Erweiterung  der  alten  Gesänge  ergaben,  allzuviel 
Aufhebens  machen;  aber  schwer  glaublich  ist  es  doch,  daß  der  Dichter 
der  Presbeia,  wenn  er  selbst  den  beiden  Abgesandten  der  Achaier,  Odys- 
seus  und  Aias,  nachträglich  als  dritten  den  greisen  Phoinix  beigegeben 
hätte,  die  Duale  ßdrrjv,  evxofievoif  ioxov  (/182.  183.  192.  198)  der  alten 
Erzählung  hätte  stehen  lassen.^) 

Eine  zweite  Streitfrage  betrifft  die  Widersprüche  innerhalb  der 
beiden  großen  Dichtungen.^)  Viele  von  ihnen,  die  schon  die  alten 
Grammatiker  beschäftigten,  sind  unbestreitbar;  aber  wie  groß  ist  ihre  Trag- 
weite? muß  man  immer  zum  Äußersten,  zur  Annahme  verschiedener  Ver- 
fasser schreiten?  W.  Christ  möchte  nicht  leicht  zu  dem  horazischen 
quandoque  bonus  dormitat  Homerus  seine  Zuflucht  nehmen,  glaubt  aber 
doch  z.  B.,  daß,  wenn  Diomedes  im  fünften  Gesang  verwegen  auf  Aphrodite 
eindringt,  im  sechsten  dagegen  in  heiliger  Scheu  sagt  ovd*  äv  iya)  ßiaxd- 
geaai  ^eolg  t&ikoiixi  judxea&ai  (Z  141),  dieses  nicht  zur  Annahme  verschie- 
dener Dichter  nötigt,  sondern  in  der  Verschiedenheit  der  Situation  und 
dem  Vorkommen  in  verschiedenen,  nicht  notwendig  hintereinander  zu  sin- 
genden   Gesängen    seine    ausreichende    Entschuldigung   hat.      Und    selbst 


')  Vgl.  W.  Chbist,  Proleg.  p.  29  und 
Note  zu  /  168.  Oft  kann  man  schwanken, 
ob  eine  Partie  ganz  einer  jüngeren  Periode 
des   epischen   Gesangs  zuzuschreiben,    oder 


gedichtet  worden  ist,  hängt  wesentlich  da- 
von ab,  ob  man  die  Partien,  die  8puren 
jüngeren  Alters  tragen  und  hauptsächlich 
Anstoß  erregen  {A  668-763  und  806—838 


nach  Ausscheidung  der  jüngeren  Bestandteile   |   mit  O  390 — 405),  ausschneiden  will  oder  nicht. 


in  ein  höheres  Alter  hinaufzurücken  ist.  So 
ist  z.  B.  der  zweite  Teil  des  11.  Gesangs  der 
Dias  A  596 — 838  samt  der  einleitenden  Partie 
A  499 — 510  jedenfalls  erst  nach  der  Patro- 
kleia  gedichtet,  da  A  604  und  796  die  Patro- 
kleia  ankündigt,  die  Patrokleia  aber  und  ins- 
besondere deren  Anfang,  den  zweiten  Teil  des 
11.  Gesangs  vollständig  ignoriert.  Aber  ob 
A  noch  von  Homer  oder  von  einem  jüngeren 
Homeriden,  zur  Zeit,  als  bereits  in  Olympia 
der  Wagenkampf  eingeführt  war  (.1 699—702), 


Gute  Gedanken  entwickeln  bezüglich 
der  Widersprüche  K.  Frey,  Zur  Poetik  Homers, 
Bern.  Progr.  1881,  S.  23  fp.;  K.  Rothe,  Die 
Bedeutung  der  Widersprüche  für  die  home- 
rische Frage,  Progr.  des  Berliner  collöge 
fran<?ais  1894;  F.  Jelinek,  Hom.  Unters., 
Widersprüche  im  zweiten  Teil  der  Odyssee, 
Wien  1896.  Einen  neuen  Weg  psychologi- 
scher Deutung  schlägt  ein  Tu.  Zielinski  (s. 
0.  S.  41,  3). 


46  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

wenn  in  dem  ersten  iPeil  des  ersten  Gesangs  der  Dias  Athene  vom  Olympos 
zum  Lager  der  Achäer  herabsteigt  {A  194  f.),  im  zweiten  Teil  hingegen 
(A  424)  mit  allen  Olympiern  tags  zuvor  zu  den  Aithiopen  abgereist  ist, 
so  durfte  nach  Christ  sich  der  Dichter  auch  das  in  der  Voraussetzung 
erlauben,  daß  seine  andachtsvoll  lauschenden  Zuhörer  den  Widerspruch 
nicht  merken,  und  wenn  sie  ihn  merkten,  keinen  Anstoß  an  ihm 
nehmen  würden.  Sogar  ihm  selbst  konnte  der  Widerspruch  entgehen, 
wenn  er  nicht  den  ganzen  ersten  Gesang  auf  einmal,  sondern  dessen 
zweiten  Teil  erst  geraume  Zeit  später  als  den  ersten  dichtete.  Aber 
wenn  Pylaimenes,  nicht  ein  gemeiner  Soldat,  sondern  ein  König  der  Pa- 
phlagonier,  im  5.  Gesang  {E  576  ff,)  im  Kampf  mit  Menelaos  fällt,  im  13. 
hingegen  (A'^GSS)  die  Leiche  seines  Sohnes  begleitet,  so  erregt  dieses 
schon  schwerer  zu  beseitigende  Zweifel  an  der  Einheit  des  Verfassers. *) 
Doch  ist  auch  hier  noch  zuversichtliches  Absprechen  wenig  am  Platz, 
einmal  da  die  sich  widersprechenden  Stellen  in  verschiedenen,  nicht  zum 
Vortrag  nacheinander  bestimmten  Liedern  stehen,  und  dann  da  auch  bei 
anderen  Dichtern  ähnliche  Ungenauigkeiten  vorkommen  und  z.  B.  selbst 
der  sorgsame  Ariosto  im  Orlando  furiose  18,  45  den  Balastro  fallen,  40,  73 
aber  und  41,  6  wieder  unter  den  Lebenden  weilen  läßt.*)  Aber  wenn 
selbst  auch  in  diesem  Punkte  noch  das  operi  longo  fas  est  obrepere  somnum 
seine  Geltung  hat,  so  darf  doch  unter  keinen  Umständen  der  Widerspruch 
leicht  genommen  werden,  wenn  er  auf  einem  Mißverständnis  der  Situation 
oder  des  sprachlichen  Ausdrucks  beruht.  Ein  solcher  liegt  in  dem  Gesang 
von  der  Max^]  TragaTzord/Hog  (0)  vor,  wo  sich  der  ältere  Dichter  den  Achil- 
leus  von  der  rechten,  der  Fortsetzer  von  der  linken  Seite  des  Skamandros 
kommend  (0  247)  dachte.») 

Einen  dritten  Streitpunkt  bildet  die  Frage  nach  dem  Zusammen- 
ordner oder  Diaskeuasten  und  dem  Umfang  seiner  Tätigkeit.  Dieser 
spielt  namentlich  bei  Bergk,  aber  auch  bei  Kirchhoflf,  Fick  und  Wilamo- 
witz-^)  eine  sehr  große  Rolle,  indem  diese  Gelehrten  von  der  Voraussetzung 

*)  Die  Alten  hatten  für  solche  Fälle  das      gängers   mißverstanden   wurde,    gehört   vor 


Auskunftsmittel   der  öftcovvfiia,   Porphyr,  ad 
Iliad.  p.  85  Schrader. 

'^)  Darauf  wurde  W.  Christ  von  M.  Ber- 
nays  aufmerksam  gemacht;  von   Max  Koch 


allem  /  234  gegenüber  Af  107—126  (den  ver- 
schiedenen Gebrauch  der  gleichen  Phrase 
hält  indes  für  möglich  Ed.  Göbel.  Progr. 
Fulda  1891.  13—15).     Ob  das  gleiche    auch 


auf  den  Engländer  Thackeray,  der  sich  bezüglich  0  196  gegenüber  li  190  ov  ar 
in  dem  Ftoman  The  Newcomes  am  Schluß  ^oi?cf  xaxov  (oc:  ÖeihionFodm  anzunehmen 
selbst  entschuldigt,  daß  er  die  Mutter  des  ,  sei,  ist  eine  wichtige,  aber  schwer  zu  ent- 
Bräutigams killed  at  one  page  nnd  brought  scheidende  Frage.  Die  Wiederholung  formel- 
to  life  at  another.  An  der  Homerstelle  hafter  Ausdrücke  führte  zu  Mißverständnissen 
läßt  sich  zur  Not  auch  mit  Ausscheidung  a  424  ^//  x6x£  xaxxsiorjFs  eßav  oixm'dF  fxa- 
der  Verse  K  676 — 89  helfen.  Eine  Ana-  orog  (sc.  fi%'i]nxi}oFQ,  und  ähnlich  a  428).  da 
logic  zu  der  oft  (H.  Bonitz,  Ueber  den  Ur-  die  Freier  aus  Dulichion,  Same.  Zakynthos 
Sprung  der  homerischen  Gedichte '  26  ff.)  be-  doch  nicht  zum  Schlafen  in  ihr  Haus  gehen 
merkten  Inkonsequenz  in  der  Sendung  des  konnten;  s.J.MÄHLY.Bay.Gymn.Bl.  25  (1889) 
Patroklos  J  599  ft.  bietet  sich  in  einem  Bei-  266. 

spiel   aus  Wilhelm   Meisters  Wanderjahren,   '  *)  Tu.  Bergk,  Griech.  Lit  an  zahlreichen 

auf  das  A.  Biklschowsky,  Goethe  II  531  hin-  Stellen;  A.  Kirchhofp  in  Ausg.  der  Odyssee, 

weist.    Vgl.  J.  Endt,  Wiener  Stud.  28  (1906)  und  in  Abhängigkeit  von  diesem  A.  Fick  in 

205  ff.;  R.  Kalter  ebenda  23  (1902)  103.  1.  Ausg.  der  Odyssee  und  Ilias.  wo   die  ganze 

*)  Zu  den  Stellen,  in  denen  vom  Nach-  Auffassung  vom   Ursprung  der  homerischen 

dichter  ein  sprachlicher  Ausdruck  seines  Vor-  Dichtungen    in    jenem    Diaskeuasten    ihren 


A.  Epos.    2.  Homers  Ilias  und  Odyssee.    (§  27.) 


47 


ausgehen,  daß  die  alten  Bestandteile  der  Ilias  und  Odyssee  ursprünglich 
eigene  Epen  für  sich  waren,  und  daß  erst  in  viel  jüngerer  Zeit  ein  Dia- 
skeuast  durch  Schneiden,  Zudichten,  Umdichten,  Versetzen  aus  ihnen 
die  uns  vorliegenden  Werke  Dias  und  Odyssee  zustandbrachte.  Einen 
entgegengesetzten  Standpunkt  vertritt  B.  Niese,  indem  er  die  Erweiterer 
und  Fortsetzer  immer  selbst  die  Verbindung  mit  den  älteren  Gesängen 
herstellen  läßt,  so  daß  für  den  Zusammenordner  wenig  mehr  zu  tun 
übrig  blieb. 0  W.  Christ  neigt  sich  entschieden  auf  die  letztere  Seite,*) 
gibt  aber  zu,  daß  der  Gedanke  Kirchhoflfs,  der  alte  Nostos  sei  ursprüng- 
lich in  der  dritten  Person  geschrieben  gewesen  und  erst  später  von  einem 
Einordner  in  die  erste  umgesetzt  worden,»)  etwas  Bestechendes  habe,  und 
daß  sehr  schwer  zu  entscheiden  sei,  wie  viel  von  den  jüngeren  Partien 
des  15.  und  16.  Gesangs  der  Odyssee  (o  1—300.  454—554.  n  321—451) 
von  dem  Dichter  der  Telemachie  selbst  herrühre,  und  wie  viel  erst  von 
einem  Diaskeuasten,  der  die  Telemachie  mit  der  alten  Odyssee  zu  einem 
Ganzen  verband,  zum  Behuf  des  besseren  Zusammenschlusses  zugefügt 
worden  sei.-*) 

27.  Hiemit  ist  die  Stellung  bezeichnet,  zu  der  W.  Christ  in  der 
homerischen  Frage  allmählich  gelangt  ist.  Viele  Forscher,  wie  z.  B. 
Cobet,  bleiben  bei  solchen  allgemeinen  Sätzen  stehen  und  halten  die  Ver- 
suche, die  ursprünglichen  Bestandteile  der  homerischen  Dichtungen  heraus- 
zufinden, für  eine  Danaidenarbeit,  von  der  sich  ein  besonnener,  der  Grenzen 
seiner  Kunst  bewußter  Kritiker  fernhalten  solle.*)  Andere  dagegen  gehen 
von   der  Überzeugung  aus,   daß  der  Prüfstein  für  die  Richtigkeit  der  all- 


Angelpunkt  hat;  Wilamowitz.  Hom.  Unters., 
besonders  S.  228;  Ed.  Meyer,  Gesch.  d.  Altert- 
tums  II  406  ff.,  der  wesentlich  von  Kirch- 
hoff und  Wilamowitz  abhängig  ist;  Jul. 
Schultz,  Das  Lied  vom  ^om  Achills,  Berlin 
1901. 

')  Zur  Erläuterung  mag  der  Gesang  B 
der  Ilias  dienen.  Ihm  liegen  nach  Christ 
sechs  Stücke  zugrund : .  das  Gedicht  von  dem 
Traum  (ß  1—47,  Mittelstück),  die  Ratsver- 
sammlung {B  53—85,  junges  Stück),  die 
Volksversammlung  oder  Aid::tfiQa  [B  48—52 
n.  86—483,  altes  Stück)  mit  Vorbereitung  zur 
Schlacht  {B  780-815),  der  Schiffskatalog 
{B  484—779,  junges  Stück),  das  Vei-zeichnis 
der  troischeu  Heerscharen  {B  816—877,  ganz 
junges  Stück).  Aber  nicht  ein  Diaskeuast 
erst  hat  diese  verschiedenen  Stücke  zu  einer 
Einheit  verbunden,  vielmehr  hatten  schon 
die  Verfasser  der  jüngeren  Stücke  diese  zur 
Einfügung  in  das  alte  Lied  bestimmt,  und 
zwar  zur  Einfügung  gerade  an  den  Stellen, 
wo  wir  sie  jetzt  lesen:  nur  bezüglich  des 
Schiffskatalogs  kann  das  letztere  bezweifelt 
werden. 

*)  Dabei  nimmt  aber  Christ  doch  auch 
einzelne  Zusätze  von  der  Hand  späterer  Re- 
daktoren an.  Auch  möchten  später  einzelne 
Partien  versetzt  worden  sein;  so  seien  die 
Proömien  S  1—27  und  «  1—87  in  der  Haupt- 


sache altes  Gut,  aber  erst  von  den  jüngeren 
Erweiterem  an  ihre  heutige  Stelle  gesetzt 
worden. 

^)  A.  KiKCHHOFF  im  2.  Exkurs,  haupt- 
sächlich gestützt  auf  die  anstößigen  Verse 
fi  374  -  388;  beistimmend  Wilamowitz,  Hom. 
Unters.  126.  Vgl.  J:  Mähly  in  der  Rezension 
der  ersten  Auflage  dieses  Werkes  Bayer. 
Gymn  Bl.  25  (1889)  267  f.;  P.  Cauer,  Homer- 
kritik S.  295.  Sachlich  schließt  sich  übrigens 
fi  391  ff.  leicht  an  /<  373  an,  so  daß  man 
auch  zu  der  alten  Athetese  von  u  374—390 
seine  Zuflucht  nehmen  kann. 

*)  Sehr  auffallig  ist,  daß  die  Verse 
ö  613 — 9  in  o  113—9  wiederkehren,  was  viel- 
leicht so  zu  erklären  ist,  daß  ehedem  die 
jetzt  S  620  abgebrochene  Erzählung  in  den 
Versen  o  121  ff.  ihre  Fortsetzung  hatte. 

*)  C.  G.  CoBBT,  Miscell.  crit.  p.  402;  quo 
saepitis  carmina  lonicOy  quae  Homeri  nomine 
feruntur,  relego  et  diligenter  omnia  considero, 
eo  magis  magisque  mihi  confirmatur  sen- 
tentia  eorum,  qui  haec  non  unius  dotSor  car- 
mina esse  arbitrantur,  sed  a  compluribus 
cantoribus  neque  aetatis  eiusdem  neque  pa- 
triae f/s  tijv  avTt/r  vnd&eoiv  olim  composifa 
et  cantata  fuisse,  deinde  in  unum  coUecta  et 
ordine  disjwsita,  ut  eig  ev  oioftdriov  coale- 
scerent  . . .  plura  non  addo,  quia  talia  omnia 
sentiri  possunt^  sed  demonstrari  non  possunt, 


48 


GriechiBche  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


gemeinen  Sätze  in  ihrer  Durchführbarkeit  im  einzelnen  zu  suchen  sei,  und 
wagen  daher  eine  Zerlegung  der  Gedichte  in  ihre  Elemente,  eine  Rekon- 
struktion der  alten  Dias  und  Odyssee  und  eine  Scheidung  der  verschiedenen, 
älteren  und  jüngeren  Zusätze.  Ausgeführt  ist  dieses  Wagnis  in  der  Art, 
daß  auch  durch  den  Druck  die  verschiedenen  Bestandteile  bemerkbar  ge- 
macht sind,  von  A.  Kirchhoflf  in  seiner  Homerischen  Odyssee  (2.  Aufl. 
1879)0  und  von  W.  Christ  in  der  Ausgabe  Homeri  Iliadis  carmina,  Lips. 
1884.*)  Auf  das  ähnliche  Unternehmen  Ficks  wird,  da  es  von  einem  be- 
sonderen, erst  später  zu  besprechenden  sprachlichen  Gesichtspunkt  aus- 
geht, weiter  unten  zurückzukommen  sein.  Außerdem  ist  die  Stellung 
einzelner  Gesänge  und  Gesangspartien  in  zahlreichen  Abhandlungen  dis- 
kutiert worden,  deren  Hauptgedanken  durch  die  sorgfaltigen  Referate  in 
den  Anhängen  von  C.  Hentzes  Ausgaben  auch  dem  Femerstehenden  jetzt 
leicht  zugänglich  gemacht  sind.  3) 

Ü8.  Im  folgenden  wird  die  in  einige  Sätze  gefaßte  vermittelnde  Ge- 
samtanschauung W.  Christs  und  seine  Vorstellung  von  der  Entstehungs- 
weise der  beiden  Epen  wiedergegeben: 

1.  Ilias  und  Odyssee  beruhen  auf  nationalen,  bereits  von  älteren 
äolischen  Sängern  poetisch  gestalteten  Sagen,  die  durch  die  Kämpfe   äoli- 


et  nolo  videri  ultra  Lycurgi  aetatem  inda- 
gando  procedere  velle.  Achnlich  ist  der 
Standpunkt,  den  J.Mähly,  Bayer.  Gymn.Bl.  25 
(1889)  263  einnimmt. 

')  Vielfach  weicht  von  KirchhofP  die 
neuere  Rekonstruktion  von  Wilamowitz, 
Homer.  Unters,  ab,  namentlich  in  der  An- 
nahme, daß  von  den  drei  Epen,  die  dem 
Kontaminator  vorgelegen  haben  sollen,  das 
dritte,  vom  Sieg  des  Odysseus  über  die  Freier 
(ftvfjOTtjoofforia),  jünger  als  die  Telemachie 
gewesen  sei.  Den  Boden  verliert  unter  den 
5Mßen  0.  Seeck,  Die  Quellen  der  Odyssee, 
Berlin  1887,  indem  er  die  Quellenfoi-schung 
der  Historiker  auch  auf  die  Dichtung  der 
Odyssee  zu  übertragen  wagt. 

')  Lineamente  zur  Scheidung  zog  schon 
S.  A.  Naber,  Quaestiones  Homericae,  Amstel. 
1877;  ein  neuer  Versuch  ohne  strenge  Be- 
weisführung von  E.  H.  Mbyer,  Indogerm. 
Mythen,  2.  Bd.  Achilleis,  Berlin  1887.  Be- 
achtenswerteres  bietet  K.  Brandt,  Zur  Ge- 
schichte und  Komposition  der  Ilias,  Jahrbb.  f. 
Phil.  1885  89.  Eine  Scheidung  nach  kultur- 
historischen Gesichtspunkten  verlangt,  führt 
aber  nicht  im  einzelnen  durch  P.  Caukr, 
Grundfragen  der  Homerkritik  (1895)  S.  168. 
Den  Vemuch  einer  Scheidung  von  Partien 
mit  älterer  mykenischer  Bewaffiiung  und  von 
jüngeren  ionischen  Partien  mit  Rundschild, 
Panzer  und  Beinschienen  macht,  den  An- 
regungen von  W.  Reichel  (s.  o.  S.  28,  1)  fol- 
gend, K.  Robert  (s.  o.  S.  39, 5).  Nach  Versuchen, 
die  er  selbst  angestellt  hat.  zweifelt  Christ 
an  der  Durchführbarkeit  der  Scheidung,  da 
Homer  Kulturzustände,  wie  er  sie  für  die 
ältere  Lebenszeit  seiner  Helden  voraussetzte, 


I  und  solche,  wie  er  sie  in  der  eigenen  Um- 
I  gebung  fand,  nebeneinander  za  stellen  keinen 
I  Anstand  nehme.  Das  zei^t  sich  namentlich 
I  in  dem  Nebeneinander  von  Waffen  aus  Erz 
;  ixaAxös)  und  solchen  aus  Eisen  [aiÖTjQog); 
s.  Od.  i  391—3.  Auch  in  der  von  König 
Servius  angeordneten  Bewaffnung  des  römi- 
schen Heeres  kommen  Abteilungen  mit  langem 
viereckigen  und  solche  mit  kleinem  runden 
Schild  nebeneinander  vor.  Zudem  sind  jetzt 
Rundschilde  (E. Drkrüp,  Homer  119;  P.Wol- 
ters, Mitt.  des  ath  Inst  XIV  103  ff.),  Bein- 
schienen  (Tu.  Lenschau,  Jahresber.  über  die 
Fortschr.  der  klass.  Alteiiumsw.  122, 126)  und 
Brustpanzer  (Savignoni  in  Monumenti  antichi 
pubbl.  p.  cura  della  r.  acc.  dei  Lincei  XIII  p.  42 
fig.  35,  p.  118:  ibid.  tav.  1)  auch  aus  Monu- 
menten des  mykenischen  Zeitalters  nach- 
gewiesen. Der  bewußte  Archaismus,  mit 
dem  noch  Apollon.  Rhod.  (Schol.  Ap.  Arg.  I 
430)  das  Broncealter  für  seine  Helden  fest- 
hält, ist  sehr  alt  und  drückt  sich  am  be- 
zeichnendsten aus  in  dem  Vers  Hesiod.  op. 
151  x^Äxin  b^FUjydCo^'To,  ftelag  /i*ovx  Eoxe  oi- 
ÖriQog.  Aehnlich  ist  es,  wenn  Pind  Pyth.  2, 
70  noch  von  der  siebensaitigen  Lyra  redet. 
Entgleisungen  von  derartiger  archaistischer 
Observanz  aus  kommen  in  früheren,  naiveren 
Zeiten  vielleicht  eher  als  in  späteren,  bis 
ins  Kleinliche  pünktlichen  vor.  —  Für  die 
Einheitlichkeit  der  in  den  homerischen  Ge- 
dichten geschilderten  mateiiellen  Kultur  tritt 
übrigens  A.  Lano,  Homer  and  his  Age,  London 
1906,  ein. 

^)  Statt  die  Litteratur  im  einzelnen  an- 
zugeben, genügt  es,  auf  Hentze  zu  verweisen. 


A.  Epos.    2,  Homers  Ilias  und  Odyssee.    (§  28.)  49 

scher  und  achäischer  Ansiedler  Asiens  mit  den  ehemaligen  Herren  des 
Landes  und  durch  die  kühnen  Wagnisse  der  Äolier  und  lonier  zur  See 
ihre  Nahrung  empfangen  hatten.^)  Durch  die  Sage  und  die  älteren  Einzel- 
lieder waren  dem  Dichter,  der  zur  Dichtung  großer  Epen  überging,  die 
Gestalten  der  Haupthelden,  des  Agamemnon,  Achilleus,  Aias,  Nestor,  Odys- 
seus,  bereits  vorgezeichnet. 

2.  An  den  neuen  großen  Schöpfungen  der  Ilias  und  Odyssee  haben 
sicher  mehrere  Dichter  gewoben,  aber  der  Gedanke,  den  Streit  zwischen 
Achilleus  und  Agamemnon  in  seinem  ganzen  Verlauf  zum  Mittelpunkt  der 
Dichtung  zu  machen,  ist  sicher  nur  im  Kopf  eines  einzigen  reichbegabten 
Sängers  entstanden,  ebenso  wie  der  Plan,  den  Odysseus  im  Phaiakenland 
seine  früheren  Irrfahrten  erzählen  und  dann  nach  erlangter  Heimkehr  die 
übermütigen  Freier  seiner  treuen  Gattin  erschlagen  zu  lassen,  nur  von 
einem  Manne  ausgegangen  ist. 

3.  Beide  Dichtungen,  Ilias  und  Odyssee,  sind  aus  derselben  Sänger- 
schule hervorgegangen,  und  manche  der  jüngeren  Partien  der  Ilias  und 
Odyssee  mögen  auch  denselben  Dichter  zum  Verfasser  haben.  So  konnte 
die  Überlieferung  von  Homer  als  dem  gemeinsamen  Dichter  von  Ilias  und 
Odyssee  entstehen,  ohne  daß  man  deshalb  genötigt  wäre,  die  Odyssee 
demselben  Dichter  wie  die  Ilias  zuzuweisen. 

4.  In  Sprache  und  Versbau  stimmt  ebenso  wie  im  Mythus  2)  die 
Odyssee  mit  der  Ilias  wesentlich  überein;  namentlich  behauptet  in  beiden 
Dichtungen  das  Digamma,  das  frühzeitig  bei  den  loniern  zu  schwinden 
begann,  noch  seine  Kraft,  und  die  ehedem  durch  s  r  j  getrennten  Vokale, 
wie  in  äi>,  ieooaro,  ii^djiißeov^  stehen  unkontrahiert  nebeneinander.  3)  Doch 
sind  daneben  kleine  Unterschiede  nicht  zu  verkennen;  so  findet  sich  das 
Digamma  von  olvog  in  der  Odyssee  und  in  den  jüngeren  Gesängen  der 
Ilias  öfters  vernachlässigt,*)  die  positio  debilis  ist  in  der  Odyssee 
häufiger  als  in  der  Ilias  ohne  Wirkung,  und  nur  in  den  jüngeren  Partien 
kommen  die  Formen  ixelyog  statt  xeivog,  ^jueag  statt  a////^,  vjbtsag  statt 
vfxjLiE   vor;    ebenso    hat    die    Caesura    hephthemimeres    ohne    einen    Ein- 

8)  Das  Nähere  lehren  0.  V.  Knös,  De 
digammo  Homerico.  Ups.  1872.  73.  79;  J.  Mek- 
BAD,  De  contractiouis  et  synizeseos  usu  Home- 
rico, Monachii  1886.  So  gebraucht  Homer  noch 
nicht  (wohl  aber  der  Dichter  des  Margites  fr. 
2, 2  K.)  das  später  (seit  dem  6.  Jahrh.)  so  häufige 
Wort  aoq)6g,  enthält  sich  (aus  stilistischen 
Gründen,  ebenso  wie  die  attische  Tragödie) 
aller  Deminutiva,  sagt  durchweg  fiagtroogf 
nicht  wie  die  Späteren  /^aoris-,  wendet  .tgo- 
qwyeiv  im  Sinn  von  vnFxqvyelv  an,  gebraucht 
bloß  je  einmal  in  Ilias  (/  42)  und  Odyssee 
(o  21)  das  konsekutive  looxe  und  das  Wort 
loyog  (0  393;  «56). 

*)  Belege  geben  die  Proleg.  zu  W.  Christs 


*)  Es  fehlen  auch  nicht  mythologische 
Niederschläge  in  der  troischen  Sage;  solche 
suchen  im  Übermaß  Osk.  Meyer.  Quaestiones 
Homericae,  Bonn  1868,  E.  H.  Meyer.  Indo- 
germ.  Mythen  Bd.  II  Berl.  1887  und  H.  Usenbb, 
Der  StoflF  des  griechischen  Epos,  Wiener  Ak. 
Sitz.ber.  137  (1897).  Zu  weit  in  der  Annahme 
ethischer  Ideen  in  der  Achilleus-  und  Odysseus- 
sage  geht  M.  Carkiere,  Die  Kunst  im  Zu- 
sammenhang der  Kulturentwicklung  II  49  ff. 

^)  So  ist  Herakles  durchweg  gedacht 
fiuf,  yeveff  imv  Tga>txon'  TrooyFveazeong  (O  638, 
<p  21),  und  nicht  bloß  von  den  Söhnen  des 
Priamos,  sondern  auch  von  denen  des  Laome- 

don  und  Antenor  findet  sich  überall  die  gleiche  ,  ^  ^  ^ 

Anschauung.     Einzelne  Unterschiede  wie  in   1   Iliasausgabe   p.  163.     Über  das  allmähliche 


der  Stellung  von  Hermes   und   Iris   in   den 
beiden  Gedichten  sind  immerhin  bedeutend 
genug,    um   schon    für  sich   allein  den   Ge- 
danken  an  Identität   des  Verfassers  beider  ,   contraction  bei  Homer,  Halle  1908. 
Gedichte  auszuschließen 


Überhandnehmen  der  Kontraktion  in  den  jün- 
geren Partien  der  Odyssee  s.  W.  Christ,  Homer 
und  Homeriden  S.  60.  F.  Bechtel,  Die  Vocal- 


Handbaeh  der  klass.  Altertamflwissenschaft  VII.    5.  Aufl. 


50  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

schnitt  im  3.  Fuß  geringere  Verbreitung  in  der  Odyssee  als  in  der 
Ilias.^)  Nur  in  der  Odyssee  ist  der  Versuch  gemacht,  ^(og  als  Final- 
partikel zu  gebrauchen. 

5.  Dias  und  Odyssee  sind  nicht  erst  nachträglich  dadurch  zustande 
gekommen,  daß  ein  Redaktor  alte,  ursprünglich  selbständige  Lieder  oder 
Epen  zu  einheitlichen  Werken  umschuf;  vielmehr  hat  von  Anfang  an  der 
alte  Dichter  der  Ilias  und  ebenso  der  der  Odyssee  die  einzelnen  Lieder, 
wenn  sie  auch  zunächst  zum  Einzelvortrag  bestimmt  waren,  doch  schon 
als  Teile  eines  gegliederten  Ganzen  gedacht,  und  auch  die  jüngeren  Home- 
riden  haben  die  Einlage  ihrer  Zudichtungen  an  ganz  bestimmten  Stellen 
von  vornherein  im  Auge  gehabt.  Von  kleinen  Störungen  der  ursprüng- 
lichen Ordnung  aus  älterer  Zeit  reden  die  Schollen  zu  Z119  und  Kl. 

29.  Entstehung  der  Ilias.  Den  Kern  der  uns  vorliegenden  Ilias 
bildet  das  Gedicht  vom  Zorn  des  Achilleus  (ju^vig  ^Axdkijog);^)  es  zerfallt 
in  vier  Teile,  von  denen  der  erste  den  Ausbruch  des  Streites  zwischen 
Achilleus  und  Agamemnon  und  im  Anschluß  daran  die  Bitte  der  Thetis 
um  Rache  für  die  Entehrung  ihres  Sohnes  enthält  (Gesang  -4),  der  zweite 
den  Versuch  des  Agamemnon,  ohne  Achilleus  den  Kampf  gegen  Hektor 
und  die  Troer  zu  führen,  und  den  schlimmen  Ausgang  erzählt,  den  dieser 
Versuch  nahm  {A  1 — 595  und  0  592 — 746),  der  dritte,  die  TlaTQoxkeia, 
die  Hilfeleistung  durch  Patroklos,  den  Tod  dieses  Helden  und  den  Kampf 
um  seine  Leiche  umfaßt  (77 — Z  242),  der  vierte  {T — X  393) »)  den  Namen 
'AxMrjtg  im  engeren  Sinn  insofern  verdient,  als  er  sich  um  Achilleus  allein 
gruppiert  und  mit  der  Erlegung  des  Hektor  durch  ihn  abschließt.  Ob  ein 
Dichter  diese  vier  Teile  des  Heldengesanges  vom  Zorn  des  Achilleus  un- 
unterbrochen nacheinander  in  der  angedeuteten  Folge  gedichtet  oder  auch 
nur  alle  vier  von  vornherein  im  Auge  gehabt  hat,  ist  zweifelhaft.  Viel- 
mehr scheint  der  Dichter  die  Aussöhnung  des  Achilleus  und  den  Fall 
Hektors  nicht  von  vornherein  in  den  Plan  seiner  Dichtung  gezogen  zu 
haben  ;^)  auch  sollte  man  denken,  daß  er  nicht  so  rasch  seinem  Ziele  zu- 
gesteuert und  gleich  von  dem  Gesang  A  zu  dem  Gesang  A  übergegangen 
sei.*)  Jedenfalls  beginnt  erst  mit  A  die  Verwirklichung  des  von  Zeus  der 
Thetis  gegebenen  Versprechens,  das  dem  Achilleus  zugefügte  Unrecht  durch 

*)   K.  Lehbs,   Aristarch.'  p.  387 — 413;  1  zusetzenden  ^Ur-Ilias"  nicht  angehören  können, 

Th.  D.  Seymoub,  On  the  homeric  caesura  and  !   zeigt  G.  Finsler.  Die  olymp.  Szenen  der  Ilias, 

the  close  of  the  veree  as  related  to  the  ex-  Progr.  Bern  1906. 

pressiou  of  thought,  Harvard  Studies  in  Class.  ')    Üher    die   Ausscheidung    der    TeUe 

Philol.  3   (1892)   91  fF.      In   D.  B.  Monkos  jener  vier  Gesänge,  die  zur  alten  Achilleis  ge- 

Grammar  of  the  Homeric  Dialect   (2.  AuÜ.,  hörten,  sowie  über  die  ähnliche  Ausscheidung 

Oxford  1891)  sind  sprachliche  Eigentümlich-  ;   der  alten  Patrokleia  aus  den  Gesängen  II  PI* 

keiten.  welche  die  Bücher  /  Ä'  U^  ü  mit  der  1   s.  W.  Christs  Ausgabe.    Daneben  vergleiche 

Odyssee  gemein  haben,  hervorgehoben.  '   man  die  im  einzelnen  abweichende,  aber  im 

')  N.  Wecklein,  Studien  zur  Ilias.  Halle  ganzen  doch  übereinstimmende  Ausscheidung 

1905,   sieht  in  der  ////r/c  nur   ein  struktives  ,   bei  A.  Fick,  Ilias  S.  18 — 75. 


Motiv,  um  das  alte  Achilleusgedicht  mit  der 
alten  Ilias,  in  der  kein  Achilleus  vorkam,  zu 
verbinden,  da  das  Fehlen  des  Achilleus  in  der 
Ilias  habe  begründet  werden  müssen.  Aehn- 
lich  D.  Mülder.  Homer  und  die  altionische 
Elegie,  Hannover  1906,  S.  18  ff.  Daß  die 
olympischen  Götterszenen   der  etwa  voraus- 


*)  Beachtenswert  ist,  daß  sich  davon 
noch  nichts  in  dem  Proömium  findet  und  dort 
nur  von  den  Leiden  der  Achäer  die  Rede  ist. 

^)  Die  Gesänge  A  und  /' — K  haben  viele 
Verse  und  Situationen  miteinander  gemein, 
aber  auch  diese  geben  kein  sicheres  Mittel 
zur  Bestimmung  der  Priorität  an  die  Hand. 


A.  Epos.    2.  Homers  Dias  nnd  Odyssee.    (§  29.)  51 

schwere  Niederlagen  der  Achäer  zu  rächen.  Aber  in  diesem  Gesang 
werden  rasch  hintereinander  Agamemnon,  Diomedes,  Odysseus,  Eurypylos 
verwundet  und  außer  Kampf  gesetzt,  und  nur  Aias  widersteht  mit  Mühe 
dem  Eindringen  der  Troer  in  das  Schiflfslager  der  Achäer.  Damit  war  für 
eine  breitere  Schilderung  der  Heldentaten  der  Achäer,  die  das  National- 
gefühl der  Griechen  verlangte,  kein  Platz  gegeben.  Daher  scheint  der 
Dichter,  wenn  er  wirklich  zunächst  von  A  gleich  auf  Ä  übergegangen  war, 
doch  hintendrein,  noch  ehe  er  zur  Patrokleia  überging,  einen  zweiten 
Schlachttag,  jetzt  den  ersten,  hinzugedichtet  und  die  Erzählung  dieses  Tags 
dem  Gesang  von  Agamemnons  Taten  (Ä)  vorausgeschickt  zu  haben.  Das 
geschieht  in  den  Gesängen  5 — £*  oder  ß-r-/^  312,  in  denen  in  breiter  Aus- 
führung und  trefflicher  Exposition  die  Volksversammlung  vor  der  Wieder- 
aufnahme des  Kampfes,  der  Zweikampf  der  Kriegsstifter  Paris  und  Mene- 
laos,  die  Mauerschau  und  die  Musterung  des  Heeres,  die  Heldentaten  des 
Diomedes,  der  Abschied  des  Hektor  von  Andromache,  der  Abschluß  des 
ersten  Schlachttages  durch  den  Zweikampf  zwischen  Hektor  und  Aias  be- 
sungen sind.  Angeregt  durch  G.  Grotes  Analyse  haben  H.  Düntzer  und 
A.  Fick  diese  sechs  Gesänge  als  ein  eigenes  Epos  vom  Schicksal  Troias 
(phog  ''lUovY)  fassen  wollen,  das  ursprünglich  eine  ganz  selbständige  Stel- 
lung gehabt  habe  und  erst  nachträglich  in  das  Epos  vom  Zorn  des  Achil- 
leus  eingelegt  worden  sei.^)  Aber  der  Umstand,  daß  an  den  Kämpfen 
jenes  ersten  Schlachttages  Achilleus  keinen  Anteil  nimmt,  kann  auch  zum 
Beweis  dafür  benützt  werden,  daß  jene  sechs  Gesänge  mit  Bezug  auf  den 
Streit  des  Achilleus  und  Agamemnon  gedichtet  sind  und  von  vornherein 
zur  Einlage  zwischen  dem  1.  und  11.  Gesang  bestimmt  waren.  Richtig 
ist  allerdings,  daß  in  ihnen  der  Zorn  des  Achilleus  in  den  Hintergrund 
tritt*)  und  Zeus  seines  der  Thetis  gegebenen  Versprechens  ganz  zu  ver- 
gessen scheint.^)  Aber  das  läßt  sich  aus  der  retardierenden  Stellung 
dieser  zwischengeschobenen  Gesänge  begründen  und  ist  auch  bei  dem 
cyklusartigen  Kompositcharakter  des  älteren  Heldenepos  nicht  allzu  auf- 
fallend. 

Die  breite  und  umfangreiche  Schilderung  des  ersten  Schlachttages 
hatte  zur  Folge,  daß  der  Dichter  nun  zur  HersteUung  des  Gleichgewichtes 
auch  den  zweiten  Schlachttag  erweiterte;  er  tat  dies,  indem  er  zwi- 
schen die  Verse  A  547  und  O  592,  die  ehedem  unmittelbar  aufeinander 
folgten,  mehrere  Gesänge  einschob.  Dabei  erweiterte  er  zugleich  den 
Hintergrund  der  Dichtung,  indem  er  einesteils  das  Schiflfslager,  statt  wie 
zuvor  nur  durch  einen  Graben,  nun  auch  noch  durch  eine  Mauer  umgeben 
dachte,  und  andern  teils  den  Kriegsscharen  der  Troer  und  nächsten  Nach- 
barvölker  auch   noch    die  südlichen  Lykier   unter   Sarpedon   und   Glaukos 

^)  Für  den  Namen  war  bestimmend  der  *)    Die  Bezugnahme  auf  Achilleus  am 

Vers   der   Odyssee    0  578  'Agyetcov   Javaöjv  Schluß   der   Rede   des  Thersites  B  239—42 

ffd*  'IXiov  ohov  axovfov.  ist   sicher  interpoliert,   aber   nicht   der   ver- 

')  Die  Gesänge  B — H  werden  auch  nicht  steckte  Hinweis  in  B  376. 
berücksichtigt  von  Thetis    in    der  Rekapitu-  *)  Dieser  Umstand  ist  von  geringem  Be- 

lation  der  Ereignisse  2'  444  fF.     Aber  darauf  lang,  da  der  2.  Teil  des  1.  Gesanges  .1  806 

ist  bei  der  summarischen  Art  jener  Rekapi-  bis  011    nicht  unmittelbar   nach   dem  ersten 

talation  kein  Gewicht  zu  legen.  gedichtet  zu  sein  scheint. 

4* 


52  Oriechische  Litteratorgeschichte.    I.  ElasBische  Periode. 

zugesellte.*)  So  kamen  zu  den  allmählich  einförmig  gewordenen  Schilde- 
rungen von  Kämpfen  in  der  Ebene  neue  Bilder  in  dem  Mauerkampf  (Teixo- 
juayta  in  M)  und  in  dem  Kampf  bei  den  Schiffen  (ij  im  vavoi  jbuixrj  in  N) 
hinzu.  Neu  belebt  aber  wurde  insbesondere  die  Darstellung  durch  die  reiz- 
volle Dichtung  von  der  Überlistung  des  Zeus  durch  seine  Gemahlin  Hera 
{Aiog  ämm]  in  E)  und  die  damit  herbeigeführte  Veränderung  der  Situation 
zugunsten  der  Achäer. 

Die  Patrokleia  und  Achilleis  waren  von  vornherein  breiter  angelegt, 
so  daß  sie  weniger  der  Erweiterung  bedurften;  doch  nahmen  auch  sie 
neue  Kampfepisoden  in  den  ursprünglichen  Rahmen  auf;  insbesondere  er- 
hielt die  Achilleis  einen  versöhnenden,  auch  das  religiöse  Gefühl  befriedi- 
genden Abschluß  durch  die  Zudichtung  von  der  -Bestattung  der  Leiche  des 
Patroklos  {W  \ — 256)  und  von  der  Lösung  des  Hektor  {Amga  in  ß).«) 

Was  wir  bis  jetzt  von  der  Ilias  besprochen  haben,  rührt  wohl  ganz 
oder  doch  zum  allergi'ößten  Teil  von  einem  Dichter  her;*)  dazu  kamen 
aber  später  noch  mannigfache  Zusätze  von  Homeriden,  die  sich  nicht  auf 
die  Einlage  einzelner  Verse  beschränkten,  sondern  auch  ganze  Gesänge 
hinzudichteten.  Die  bedeutsamste  Zudichtung  stammt  von  einem  begabten 
Dichter,  der  den  genialen  Einfall  hatte,  eine  Gesandtschaft  mit  demütigen 
Bitten  an  den  grollenden  Achilleus  abgehen  zu  lassen  (/).*)  Da  aber  zu 
einer  solchen  Demütigung  sich  Agamemnon  nicht  verstehen  konnte,  wenn 
er  nicht  zuvor  in  die  trostloseste  Lage  versetzt  war,  so  legte  der  Dichter 
vor  der  Presbeia  einen  anderen  Schlachttag  {KoXog  /aäxrj  in  ß)  ein,  der 
mit  vollständiger  Niederlage  der  Achäer  endete.  Um  auf  der  anderen 
Seite  das  Selbstgefühl  der  Achäer  wieder  zu  heben  und  einen  passenderen 
Übergang  zu  der  ^Ayajuifivovog  dgioreia  herzustellen,  schob  dann  der  Dichter 
der  Presbeia  oder  ein  anderer  jüngerer  Homeride  zwischen  den  9.  und 
11.  Gesang  die  Doloneia  ein,  die  zugleich  den  Vorteil  der  Neuheit  eines 
nächtlichen  Streifzuges    bot.     Außerdem    sind   von  jüngeren  Dichtern   zur 

^)   Zu   den   später  hereingezogeDen  Völ-   1   ihr  andere  Dichter  abschließende  Supplemente 
kern   gehören   auch   die  Paioner   am  Axios;    ;   zugedichtet  hätten. 

sie  sind,  von  /?  Ä'  abgesehen,  ei-wähnt  in  der  ')   Am    ehesten    kann    man    das    vom 

Achilleis  0  139 — 212,  aber  auch  schon  in  24.  Gesang  bezweifeln,  da  dieser  in  Sprache 
der  Patrokleia  //  287—292.  Bedenken  er-  und  Ton  stark  an  die  jüngeren  Gesänge  der 
regen  auch  die  fernen  Paphlagonier  E  biß  Odyssee  erinnert.  H.  Köchly  ließ  sich  dadurch 
bis  589  und  A'  643—673;  möglicherweise  nicht  bestimmen,  ihn  aus  dem  Kranz  der 
sind  beide  Stellen  spätere  Zudichtungen.  —  alten  Lieder  der  Ilias  auszuschließen,  aber 
Die  Störungen,  welche  durch  die  Einlage  von       mit  guten  Gründen   läßt  ihn  neuerdings  W. 

Helbig,  Rh.  M.  55  (1900)  55—61  von  einem 
jüngeren  ionischen  Dichter  dem  älteren  äoli- 
schcn  Epos  als  milden  Schluß  zugedichtet 
sein.  Auch  F.  Blass  (Interpol,  der  Od.  291  flF.) 
rückt  ^ü  näher  an  die  Odyssee. 

*)  Gerade  die  IlgFaßria  in  /  hielten  K. 
L.  Kayser  (Homer.  Abhandl.  57,  1)  und  F. 
NüTzuoRN  (Entstehungsweise  der  homer.  Ged. 


B—H  und  M—O  in  das  Gedicht  kamen, 
verdienen  Beachtung,  könnten  aber  gegen 
die  Annahme  eines  einheitlichen  Dichters 
nur  dann  verwendet  werden,  wenn  wir  an- 
nehmen müßten,  daß  Homer  die  Gesänge  A 
bis  /'  hintereinander  gedichtet  und  zum  Vor- 
trag in  einem  Zug  bestimmt  hätte.  Beides 
aber  ist  bei  dem  Charakter  des  homerischen 

Epos  keineswegs  anzunehmen.  |    175)  für  den  Wendepunkt   der  ganzen  Ilias. 

^)  Ohne  diesen  Abschluß  wäre  es  wohl  |  Unbekannt  ist/ den  Dichtern  der  Verse  J  609; 
auch  der  Ilias  wie  der  Aeneis  (darüber  H.  //  72  f.,  85  f.;  N  115  (D.  Mülder,  Homer 
Kern,  Supplemente  zur  Aeneis  aus  dem  15.  und  die  altion.  Elegie  3  tf.),  wird  auch  von 
und  17.  Jahrhundert,  Progr.  Nürnberg  N.  G.  dem  Verfasser  des  Schitfskatalogs  (vgl.  B 
1896)  und  dem  Nibelungenlied  begegnet,  daß   ,    569  fP.  mit  7  150  ff.)  ignoriert. 


A.  Epos.    2.  Homers  Ilias  nnd  Odyssee.    (§  30.)  53 

alten  Ilias  noch  hinzugedichtet  die  Schmiedung  der  Waffen  des  Achilleus 
aOnkoTioua  Z  369—617),  die  Aineiasepisode  (F  75—352),  die  Götterschlacht 
(*  383 — 514),  die  Leichenspiele  zu  Ehren  des  Patroklos  (M»?Aa  im  IIa- 
xQoxkcp  W2hl — 817),  mehrere  kleine,  zur  strafferen  Verknüpfung  der  früher 
locker  aneinandergereihten  Lieder  bestimmte  Einschiebsel,  wie  D  239 — 42, 
H  69—72,  H  313—482,  /  345—356,  //  60—63,  endlich  der  Schiffskatalog 
{B  484—759)  mit  dem  Anhang  des  Troerkatalogs  (ß  816—877).  Der  Schiflfs- 
katalog  hängt  mit  Böotien,  wovon  er  selbst  den  Namen  Boioyxia  erhielt,  zu- 
sammen imd  gehört  zur  katalogisierenden  Richtung  der  hesiodischen  Schule.  1) 
30.  Entstehung  der  Odyssee. 2)  Die  Odyssee,  wie  sie  uns  vor- 
liegt (nicht  die  Odysseussage)  ist  eine  jüngere  Schöpfung  als  die  Ilias. 
Das  beweisen  zur  vollen  Evidenz  die  zahlreichen  Nachahmungen  von  Stellen 
der  Ilias;*)  das  zeigt  sich  aber  auch  in  dem  weiter  entwickelten  Kultur- 
leben*) der  Odyssee  und  in  der  ganzen  Anlage  des  Gedichtes.  Denn  in 
der  Odyssee  tritt  das  Einzellied  zurück,  und  wir  haben  statt  eines  grad- 
linigen Fortschrittes  der  Erzählung  eine  kunstvolle  Ineinanderflechtung  der 
einzelnen  Teile.  —  Die  Odysseussage"^)  ist  bei  Homer  an  die  Sage  vom 
troischen  Krieg  angeknüpft,  indem  Odysseus  als  achäischer  Führer  auf- 
tritt, der  nach  der  Einnahme  der  Feste  Ilios  unter  mannigfachen  Aben- 
teuern in  seine  Heimat  zurückkehrt.  Aber  diese  Anknüpfung  ist  offenbar 
eine  ganz  junge;  der  alte  Kern,  eine  zeitlose  märchenartige  Novelle  von 
dem  Schicksal  eines  kühnen  Seefahrers,  der  heimgekehrt  sein  treues  Weib 
von  übermütigen  Freiern  bedrängt  findet  und  diese  in  mutigem  Kampf 
erschlägt,  hatte  mit  dem  troischen  Kriege  ursprünglich  nichts  zu  tun. 
Woher  nun  stammt  jener  alte  Kern  der  Sage?^)  Halten  wir  uns  an  die 
Örtlichkeit,  in  der  die  Odyssee  spielt,  so  werden  wir  in  das  alte  achäische 
Reich  der  seekundigen  Kephallenier  im  Westen  Griechenlands  gewiesen, 
von  denen   nach   Strabo  p.  637  die  Insel   Samos   besiedelt    worden   war.^) 

*)  üeber  den  Schiflfekatalog  im  Zusammen-  ungefähr  gleichzeitig  mit  der  Odyssee  ent- 

hang  mit  altionischer  geographischer  Litte-  '   standen,   so  daß  sogar  in  der  Doloneia  und 

ratur  M.  P.  NiLSSON,  Rh.  M.  60(1905)  161  ff.  Hoplopoiie    einzelne    Stellen    begegnen,    die 

')   Hauptschriften  über  die  Komposition  Verse  der  alten  Odyssee  zum  Vorbild  gehabt 

der  Odyssee  sind :  P.  D.  Ch.  Hennings,  Ueber  zu  haben  scheinen. 

die  Telemachie,  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl.  3(1858)  *)  Daß  indessen  die  Darstellung  des 
133  ff.,  und:  Homers  Odyssee,  ein  kritischer  Königtums  in  Ilias  und  Odyssee  (mit  Aus- 
Kommentar, Berl.  1903 ;  A.  Kibchhoff,  Die  '  nähme  der  sehr  altertümlichen  Stelle  B  102 
Homerische  Odyssee,  2.  Aufl.,  Berl.  1879;  E.  1  bis  108)  ganz  gleichartig  und  verhältnismäßig 
Kammbb,  Die  Einheit  der  Odyssee,  Leipz.  modern  sei,  zeigt  G.  Finsler,  N.  Jahrbb.  f. 
1873;  WiLAMowiTz.  Hom.  Untersuchungen,  das  kl.  Alt.  17  (1906)  313  ff. 
Phil.Unt.  7.  Heft  1884;  F.  Blass,  Die  Inter-  '  ^)  Für  das  Motiv  von  Odysseus*  Aben- 
polationen  der  Odyssee,  1904.  i   teuerfahrten    braucht  man  nicht  nach  orien- 

•)  Schon  K.L.Kayser  arbeitete  mit  diesem  talischen  Vorlagen  zu  suchen,  da  es  ein  ur- 
Kriterium ,  das  freilich  sehr  vorsichtig  ge-  alt-internationales,  man  kann  sagen  allgemein 
handhabt  werden  muß;  s.  u.  S.  59,  1.  K.  menschliches  ist  (P.  Jensen,  Das  Gilgamis- 
81TTL,  Die  Wiederholungen  in  der  Odyssee,  Epos  und  Homer,  Ztschr.  für  Assvriologie  16 
München  1882.    Daß  im  besonderen  Ü,  also  ,   (1902)  125  ff.). 

einer  der  jüngsten  Gesänge  der  Ilias,  Vorbild  ,           ®)  Möglich  ist,   daß  hinter  der  Novelle 

für  die  Odyssee,  wenigstens  die  Telemachie  war,  '   noch  ein  Natunnythus  steckt, 

behauptet,  ohne  zu  überzeugen,  M.  Gboeoeb,  ')    Es   handelt    sich  hier   übrigens  um 


Rh.  M.  59  (1904)  1—33.  Die  Nachahmungen 
zeigen  indessen,  daß  das  oben  Gesagte  nur 
von  den  alten  Partien  der  Ilias  nnd  Odyssee 
gilt    Die  jüngsten  Gesänge   der   Dias   sind 


einen  Versuch,  die  Namen  Same  (=  Kephal- 
leniaStrab.455)  und  Samos  etymologisch  und 
sachlich  in  Verbindung  zu  setzen. 


54  Griechische  Litteratorgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

Man  kann  zugeben,  daß  die  alte  Odysseussage,  noch  ehe  sie  zu  einem 
Epos  sich  kristallisierte,  durch  Erzählungen  der  Kreter  und  anderer  see- 
fahrender Stämme  mannigfache  Erweiterungen  erhalten  hat.  Kreta  war, 
wie  jetzt  durch  die  Ausgrabungen  der  Engländer  und  Italiener  offenkundig 
geworden  ist,  ein  Hauptsitz  „mykenischer"  Kultur,  und  in  unseren  Tagen, 
wo  man  so  sehr  geneigt  ist,  die  homerischen  Gedichte  mit  den  neuent- 
deckten Zeugen  jener  alten  Kultur  in  Verbindung  zu  bringen,  hat  daher 
E.  Drerupi)  die  Hypothese  aufzustellen  gewagt,  daß  Kreta  die  eigentliche 
Heimat  der  Odysseussage  gewesen  sei.  Aber  Ithaka,  die  Heimat  des 
Odysseus,  stand  zu  keiner  Zeit  mit  der  Seeherrschaft  der  Kreter  in  Be- 
ziehung, und  die  Lügenerzählungen  des  Odysseus  von  seiner  Herkunft  aus 
Kreta  (f  250  flf.,  t  172  flf.,  v  256)  wollen  eben  Erdichtung  (ym^dog),*)  nicht 
alte  Überlieferung  sein. 

Zu  einem  Heldengedicht  wurde  die  alte  Novelle  gestaltet  in  unserer 
Odyssee.  Den  ältesten  Bestandteil  dieses  Epos  bildet  das  Gedicht  von  der 
Irrfahrt  des  Odysseus  (yoorog  ^Odi^oorjog,  i  x  jn).  Der  eigentümliche  Charakter 
dieses  alten  Gedichtes,  das  vielleicht  der  Dichter  der  Odyssee  schon  vor- 
fand und  nur  mit  geringen  Veränderungen  in  sein  neues  Gedicht  einlegte, 
besteht  in  der  märchenhaften  Natur  der  Abenteuer  und  in  der  Knappheit 
der  schlichten,  mit  dem  poetischen  Mittel  der  Gleichnisse  und  Götter- 
maschinerie sparsam  schaltenden  Erzählung.  —  Das  neue  Epos  knüpft 
vermittelst  einer  Götterversammlung  an  den  alten  Nostos  an,  indem  es 
zunächst  (e — 9)  den  edlen  Dulder  von  der  Insel  der  Kalypso^)  in  das  Land 
der  Phaiaken  gelangen  und  dann  dort  seine  früheren  Irrfahrten  erzählen 
läßt.  Der  Dichter  erreicht  auf  solche  Weise,  daß  die  Erzählung  sich  nicht 
durch  viele  Jahre  hinzieht,  sondern  ähnlich  wie  in  der  Ilias  sich  auf  kurze 
Zeit  konzentriert  und  mitten  in  die  Handlung  hineinführt.  Mit  den  Ge- 
sängen von  der  Heimkehr  (v — f)  schlägt  er  dann  die  Brücke  zu  dem  zweiten 
Hauptteil  der  Odysseussage,  der  Rache,  die  der  heimgekehrte  Held  unter 
mancherlei  Listen  an  den  übermütigen  Freiern  der  treuen  Penelope  nimmt. 
Die  Ermordung  der  Freier  wird  im  Anschluß  an  das  von  Penelope  ver- 
anstaltete Wettschießen  erst  in  den  Rhapsodien  cf)  x  ei'zählt;  voran  läßt 
der  Dichter  mehrere  vorbereitende  Szenen  gehen,  von  denen  die  erste  auf 
dem  Gehöfte  des  Sauhirten  Eumaios,  die  folgenden  auf  dem  Weg  zur 
Stadt  und  im  Königspalast  spielen  (ji — t»).  So  lernen  wir  die  einzelnen 
Freier  und  ihr  gottloses  Treiben  kennen,  und  Odysseus  bekommt  Ge- 
legenheit, teils  vorbereitende  Schritte  zur  Rache  zu  tun,  teils  sich 
nach  und  nach  seinem  Sohn  Telemachos,  der  alten  Amme  Eurykleia  und 
dem  treuen  Sauhirten  zu  erkennen  zu  geben.  Man  wird  nicht  leugnen 
können,  daß  sich  so  die  Erzählung  etwas  lange  hinzieht,  daß  insbesondere 
die  Wiederholung  des  rohen  Wurfes  (a  394  und  r  299)  Anstoß  erregt,  und 
das  Wegschaffen    der  Waffen    (r  1 — 52)   sehr   unvermittelt   eingelegt   ist. 


M  E.  Drerüp,  Homer  S.  127.     Dagegen 
P.  Caüer,  N.  Jahrbb.  f.  d.  kl.  Alt.  15  (1905)  16. 

^)  Die  Stellen  sind  die  frühesten  Illustra- 
tionen zn  dem  Sprichwort  KofjrFc  dfi  ifFvornt   j   man  noch  aus  i  29 — 33  ersehen  kann. 
(Call.  hymn.  I  8;   Corp.  paroemiogr.  Gr.  I  101 


zu  62). 

')   Die  Gestalt  der  Kalypso   selbst  ist 
eine  Variante  der  alten  Zauberin  Kirke,  wie 


A.  EpoB.    2.  Homers  Dias  nnd  Odyssee.    (§  30.) 


55 


Auch  hat  sich  der  Dichter  in  der  im  übrigen  vortrefflich  erdichteten  Fuü- 
waschung  (vijtTQa)  die  Sache  etwas  leicht  gemacht,  indem  er  durch  die 
Helferin  in  der  Not,  die  Göttin  Athene,  bewirkt,  daß  der  Sinn  der  Pene- 
lope  abgewendet  wird,  damit  sie  die  Wiedererkennung  des  Odysseus  durch 
die  Amme  nicht  gewahre  (t  479).  Aber  man  braucht  deshalb  noch  nicht 
mit  dem  Verfasser  der  homerischen  Untersuchungen^)  zu  der  Annahme  von 
zwei  durch  einen  jungen  Bearbeiter  mit  Schneiden  und  Flicken  zu  einem 
Werk  vereinigten  Odysseen  seine  Zuflucht  zu  nehmen. 

Zu  der  Odyssee  im  engeren  Sinne  ist  später  die  Telemachie  (a  ß  y  d 
und  Teile  von  o  n)  gekommen,  die  den  Irrfahrten  des  Odysseus  die  Er- 
kundigungsreise seines  Sohnes  Telemachos  zur  Seite  stellt.  Diese  ward 
erst  von  jüngerer  Hand  dem  alten  Gedicht  beigefügt;  sie  ist  nicht  bloß 
ärmer  an  Schönheiten  der  Erfindung  und  Darstellung,  sie  verrät  auch  den 
Charakter  einer  fremden  Zudichtung  durch  die  geringe  Geschicklichkeit  in 
der  Einfügung.^)  Aber  von  einem  ganz  selbständigen  Epos  der  Telemachie 
kann  keine  Rede  sein;  diese  ist  vielmehr  von  vornherein  gedichtet,  um 
eine  Ergänzung  und  somit  einen  Teil  der  Odyssee  zu  bilden.  Nur  leitet 
der  erste  Gesang  (a)  nicht  sowohl  die  Telemachie  als  die  ganze  Odyssee 
ein,  indem  er  durch  Absendung  der  Athene  nach  Ithaka  über  die  ganze 
Situation,  den  Aufenthalt  des  Odysseus  bei  Kalypso,  das  Unwesen  der 
Freier  in  Ithaka,  die  Stimmung  der  Penelope,  des  Telemachos  und  selbst 
des  alten  Laertes  orientiert.  Wie  auch  bei  uns  in  der  Regel  die  Einleitung 
und  das  erste  Kapitel  zuletzt  geschrieben  wird,  so  ist  wohl  auch  dieser 
erste  Gesang  der  Odyssee,  wie  man  aus  der  zum  Teil  recht  ungeschickten 
Nachahmung  von  Versen  und  Motiven  der  älteren  Dichtung  erkennt,  erst 
nach  den  anderen  Gesängen  gedichtet.  Aber  der  Gedanke,  das  Epos  mit 
einer  allgemeinen  Exposition  einzuleiten,  war  gut,  und  auch  die  Ausführung 
ist  nicht  so  schlecht  ausgefallen,  daß  man  den  ersten  Gesang  statt  dem 
Dichter  der  Telemachie  notwendig  einem  späteren  Flickpoeten  zuschreiben 
müßte.  5)  —  EndHch  haben  auch  in  der  Odyssee  jüngere  Dichter  durch 
Einlage  neuer  Gesänge   das  alte  Epos   erweitert.     Eine  solche  Einlage  ist 


>)  WiLAMowiTZ,  Hom.  Unt.  55.  56,  228 ; 
ähnlich  E.  Schwartz.  Fünf  Vorträge  über  den 
gr.  Roman,  Berl.  1896  S.  191.  Ausscheidung 
einzelner  Zusätze  nahm  A.  Kirchhoff  in  seiner 
Ausgabe  vor.  Schließlich  erkennt  selbst  P. 
Cauer,  Homerkritik  S.  307  an,  daß  sich  eine 
sichere  Grenze  zwischen  den  beiden  Hauptteilen 
der  Odyssee  nicht  finden  läßt  und  wir  besser 
ton,  das  einzugestehen,  als  mit  einem  ge- 
waltsamen Schnitt  den  Knoten  zu  durch- 
hauen. Jüngere  Zusätze  indessen  hat  auch  die 
Odyssee,  wie  die  Schilderung  von  den  Gärten 
desAlkinoos  (i)  103 — 131),  die  Reminiszenzen 
aus  der  Argonautensage  {ji  3  4.  61—72), 
die  Visionen  des  Sehers  Theoklymenos  (o  256 
bis  286.  508—546.  q  151—166.  v  347—383). 
Die  Verwandlung  des  Odysseus  v  397  ff. 
braucht  aber  nicht  erst  erfunden  zu  sein,  um, 
wie  Kirchhoff  annahm,  die  verschiedene  Er- 
scheinung des  Helden  im  ersten  und  zweiten 
Teil  der  Odyssee,  da  er  im  2.  Teil  ursprüng- 


lich (also  entsprechend  auch  Penelope?)  tat- 
sächlich als  alter  Mann  aufgetreten  sei.  in 
Einklang  zu  bringen. 

^)  Siehe  oben  §21.  Schon  in  dem  alten 
Epos  kamen  Odysseus  und  Telemachos  bei 
dem  Sauhirten  Eumaios  zusammen,  aber  Tele- 
machos war  dort  (.t  27 — 9)  nur  zufällig  von 
der  Stadt  auf  das  Land  gekommen.  Erst 
der  Einfüger  der  Telemachie  brachte  durch 
eine  noch  deutlich  erkennbare  Interpolation 
(j7  24.  26)  einen  Hinweis  auf  die  Telemachie 
in  das  alte  Gedicht. 

')  Die  Schwächen  des  Gesangs  sind 
rücksichtslos  aufgedeckt  von  Wilamowitz, 
Hom.  Unt.  Kap.  1 :  aber  W.  geht  zu  weit, 
wenn  er  sagt  S.  20  ,das  a  ist  von  Anfang 
bis  Ende  ein  Flickpoem  *  und  sich  dann  zu 
der  Annahme  genötigt  sieht,  daß  der  alte  An- 
fang der  Telemachie,  die  natürlich  nicht  mit 
ß  habe  beginnen  können,  , abgeschnitten  sei**. 


56  Griechische  Litteraturgeschichte.    L  KlasBische  Periode. 

die  Nekyia  oder  Hadesfahrt  (x  490  bis//  30),  die  von  vornherein  unnütz  war, 
weil  Odysseus  das,  was  ihm  in  der  Unterwelt  der  Seher  Teiresias  weis- 
sagt, im  alten  Nostos  schon  von  Kirke  erfahren  hatte.  0  Noch  jünger  ist 
der  schon  von  den  alten  Grammatikern  verworfene  Schluß  der  Odyssee 
(v  297 — (ü  fin.),*)  in  dem  eine  jüngere  Nekyia  (to  1 — 204)  jener  älteren 
nachgedichtet  ist.  Auch  diese  Einlagen,  insbesondere  die  Xekyia,  haben 
später  noch  bei  dem  flüssigen  Charakter  der  ganzen  alten  Poesie  aller- 
jüngste  Erweiterungen  erfahren;  solche  sind  z.  B.  der  von  einem  Dichter 
hesiodischer  Schule  herrührende  Frauenkatalog  (X  225—332)  und  die  Schil- 
derung des  inneren,  von  Odysseus  nicht  betretenen  Totenreiches  (k  566 
bis  627). 

31.  Die  dichterische  Kunst  des  Homer. 3)  Die  Kunst  Homers 
steht,  so  sehr  sie  auch  an  sich  betrachtet  zu  werden  verdient,  doch  auch 
mit  der  eben  behandelten  homerischen  Frage  in  Zusammenhang.  Genies 
wie  Homer,  hat  man  gesagt,  sieht  die  Welt  alle  tausend  Jahre  einmal, 
und  das  kleine  lonien  sollte  auf  einmal  ein  Dutzend  solcher  Genies  hervor- 
gebracht haben?  Fragt  man  aber,  worin  das  Genie  und  die  Kunst  Homers 
besteht,  so  wird  man  finden,  daß  die  einen  Vorzüge  nicht  allen  Teilen  der 
homerischen  Dichtung  gemeinsam  sind  und  daß  andere  nicht  dem  Homer 
besonders  eigen  sind,  sondern  im  Volkscharakter  ihre  Wurzel  haben. 
Der  geniale  Gedanke,  mitten  in  die  Sache  zu  versetzen  und  um  eine 
Handlung  voll  spannender  Kraft  alle  Erzählungen  zu  gruppieren,  ist  unserer 
Darlegung  nach  in  der  Ilias  gewissermaßen  von  selbst  aus  der  Erweiterung 
des  Grundepos  herausgewachsen;  schon  die  Komposition  der  Odyssee  verrät 
in  diesem  Punkt  eine  bewußte,  wenn  auch  in  selbständiger  Weise  durch- 
geführte Nachahmung  der  Ilias.  Anders  steht  es  mit  den  nächstbewun- 
derten Schönheiten  Homers,  der  jugendlichen  Kraft  und  erfinderischen  Klug- 
heit der  Helden,  der  heiteren,  menschlich  faßbaren  Vorstellung  vom  Walten 
der  Götter,  dem  Adel  und  der  Tiefe  der  Empfindungten  in  ihrer  ganzen 
Skala  vom  zarten  Liebestraum  der  Königstochter  bis  zum  rührenden  Ab- 
schied der  Gattin,  von  der  zornigen  Aufwallung  über  erlittene  Schmach 
bis  zum  wehmutsvollen  Mitleid  mit  dem  greisen  Vater  des  erschlagenen 
Feindes.  Hier  sind  allerdings  Saiten,  die  an  jedes  fühlende  Herz  anschlagen, 
Schwungfedern,  die  heute  noch  beim  Lesen  Homers  unsere  Seele  über 
die  gemeine  Wirklichkeit  erheben;  aber  diese  Vorzüge  sind  nicht  dem 
Dichter  allein  eigen;  sie  gehören  dem  gesamten  Volkskreis  an,  in  dem  er 
schaffend  stand,  und  er  bewährt  sich  hierin  nur  als  ein  Dichter,  der  in 
seinen  Dichtungen  das  Weltbild  seiner  Zeit  und  die  Art  seines  Publikums 
verklärend  widerspiegelt.  Das  tut  der  Bedeutung  und  dem  Zauber  seiner 
Poesie  keinen  Abbruch,  läßt  uns  aber  einen  ihrer  Hauptvorzüge  auf  Rech- 
nung  nicht  seiner  Person,    sondern  seines  Volkes   und  seiner  Zeit  setzen. 

*)    Es    wiederholen    sich    geradezu   die-  die  Rekapitulation  der  Haupthandlang  v'  302 

selben  Verse  /.  110 — 114.   /i  137     141.     Im  :  bis  848.      Uebrigens   s.  Wilamowitz,   Hom. 

übrigen   siehe   die   meisterhafte   Darstellung  i  Unt.  67  ff.,  wo  gut  gezeigt  ist,  daß  auch  noch 

von    der    Entstehung   und    Erweiterung   der  frühere  Partien  von  v  fallen  müssen. 

Nekyia  bei  E.  Rohde,  Kl.  Sehr.  II  255  ff.  '  »)  Tu.  Berok,  Gr.  Litt.  I  780—873.   Ein- 

-)  Anstößig  (aber  doch  von  Aristot.  rhet.  .  zelne  Schriften   zur  Technik  der  homer.  Ge- 

III  16  p.  1417  a  13  bewundert)  ist  namentlich  \  dichte  s.  o.  S.  41,  8. 


A.  EpOB.    2.  Homers  Ilias  nnd  Odyssee.    (§  31.) 


57 


Auch  der  melodische  Fluß  der  Verse  und  die  biegsame  Schönheit  der 
Sprache  darf  nicht  als  besonderes  Eigentum  eines  einzigen  Dichters  an- 
gesehen werden.  Diese  herrlichen  Mittel  der  Darstellung  waren  durch 
lange  Übung  und  durch  das  Zusammenwirken  vieler  Dichter  gereift;  sie 
anzuwenden  stand  frei,  und  die  Kunst  leichter  Versifikation  wird  unter 
den  griechischen  Dichtern  jener  Zeit,  nachdem  einmal  die  dichterische 
Phraseologie  für  das  Epos  geschaffen  war,  ebenso  verbreitet  gewesen  sein, 
wie  sie  es  z.  B.  bei  den  kirgisischen  Volkssängem  noch  jetzt  sein  soll.*) 
Andere  Vorzüge  möchte  man  mehr  der  Eigenart  eines  bestimmten 
Dichters  zuschreiben,  die  ruhige  Objektivität  der  Erzählung,  die  des  Dichters 
Person  ganz  in  den  Hintergrund  treten  2)  und  nur  die  Sache  reden  läßt,  die  klare 
Anschaulichkeit  (ivdgyeia)  der  Schilderung, 3)  durch  die  wir  alles  mit  eigenen 
Augen  zu  schauen  und  das  Erzählte  mitzuerleben  vermeinen,  der  belebende 
Wechsel  im  Ton  der  Erzählung,  der  uns  nach  aufregenden  Kämpfen  wieder 
in  Szenen  gemütvollen  Stillebens  aufatmen  läßt,  der  dem  beflügelten  Cha- 
rakter der  Sprache  entsprechende  Fluß  der  Erzählung,  der  alles  im  Werden 
und  Fortschreiten  erfaßt  und  auch  die  Bilder  auf  dem  Schiläe  des  Achilleus 
vor  unseren  Augen  entstehen  läßt,  nicht  als  fertige  beschreibt,  endlich  die 
Fülle  und  Schönheit  der  Bilder  und  Gleichnisse,  die  Kunst  der  dem  Cha- 
rakter der  Sprechenden  angepaßten  Rede,  die  vornehme  Ebenmäßigkeit  in 
der  Empfindung  und  ihrem  Ausdruck.  Das  scheinen  mehr  individuelle  Vor- 
züge zu  sein,  die  aus  dem  allgemeinen  Wesen  der  Volkspoesie  nur  zum 
Teil  abgeleitet  werden  können.  Wenigstens  halten  die  Volksepen  anderer 
Völker,  selbst  unsere  Nibelungen  und  der  Mahabharata  der  Inder  darin 
keinen  Vergleich  mit  Homer  aus.*)  Aber  nach  dieser  Seite  zeigt  sich  auch 
ein  erheblicher  Unterschied  zwischen  Ihas  und  Odyssee,  indem  die  Ilias 
wohl  die  größere  Zahl  ausgeführter  Gleichnisse '^)  und  den  Glanz  lebensvoller 
Schlachtenbilder  voraus  hat,   der  Dichter  der  Odyssee   aber  in  Erfindung 


»)  E.  Dkerup,  Hom.  31:  .Dem  Sänger 
steht  je  nach  seiner  Gewandtheit  eine  Menge 
formelhafter  sprachlicher  Wendungen  und 
dichterischer  Motive  zu  Gebote,  und  in  der 
passenden  ZusammenfUgung  dieser  Vortrags- 
teilchen und  ihrer  Verbindung  durch  neu- 
gedichtete Verse  beruht  im  wesentlichen  die 
Kunst  des  epischen  Gesangs."  Bezeichnend 
sind  auch  die  von  Th.  D.  Seymoür,  Harvard 
Studies  III  (1892)  121  f.  bemerkten  sehr  häu- 
figen Fälle  bei  Homer,  in  denen  der  nach  der 
Cäsur  des  dritten  Fußes  folgende  Versteil  dem 
Sinn  nach  nur  eine  umschreibende  Wieder- 
holung des  vorangehenden  Teiles  bildet. 

*)  Siehe  übrigens  0.  S.  25  f. 

•)  Aristot.  poöt.  24  hat  mehrere  dieser 
Vorzüge  verzeichnet:  "OftrjQOi;  äXXa  re  noXXä 
ä^tog  iaaiVEio&ai  xai  dij  xai  oti  fiövog  tcov 
:toti]t(bv  ovx  ay%'0€i  S  ÖeT  jzoieU'  avTor '  avxm' 
yoLQ  dei  Tov  jr(M;;r//v  F-Xd^iara  leyeiv '  ov  ydg 
fall  xard  tavta  fUfitjTtjg  •  oi  fjkv  ovv  äkXoi 
avxoi  fi€v  dl*  olov  dyMviCottai ,  fiifioTn'Tm  Öe 
oXiya  xai  oXiydxig,  6  de  dXiya  q^goifAiaodfievog 
Eir&vg  eiodyei  avöga  rj  yvvaXxa  ij  äXXo  u  xai 
ovötv*  driihi  .  .  .  öeSiöaxs  öe  fiaXiara  "OfitjQog 


xai  xovg  dXXovg  yerStj  Xeyetr  w?  Sei  ,  ,  .  enel 
xai  rd  er  'OSvooeia  äXoya  .  .  .  xoTg  oDJ^oig 
dya{}otg  d  jiotrjxrjg  dcpavi^ei  ^Svvwr  x6  dxojrov. 
In  diesem  wohl  durch  Hesiod  theog.  27  (vgl. 
Hesych.  s.  v.  dfUjQtdöetv)  provozierten  Urteil 
war  dem  Philosophen  der  Dichter  Pindar 
Nem.  7,  20  fF.  vorangegangen. 

*)  Instruktiv  F.  Miklosicu,  Die  Darstel- 
lung im  slawischen  Volksepos,  Wiener  Ak. 
Sitz.ber.  1889. 

*•)  Die  Ilias  hat  182,  die  Odyssee  39  aus- 
geführte Gleichnisse;  meist  begnügt  sich  der 
Dichter  der  Odyssee  mit  einem  einfachen 
Hinweis  auf  den  zur  Vergleichung  heran- 
gezogenen Gegenstand.  Indes  auch  die  ein- 
zelnen Gesänge  der  Ilias  und  selbst  die  in- 
haltlich auf  einer  Stufe  stehenden  weichen 
hieiin  je  nach  der  Situation  stark  voneinander 
ab;  an  Bilderreichtum  zeichnet  sich  vor  allen 
die  Aristeia  Agamemnons  (^1)  aus.  Vgl.  A. 
Passow,  Do  comparationibus  Homericis,  Diss. 
Berl.  1852.  A.  Hirzel,  Gleichnisse  und 
Metaphern  im  Rigveda.  verglichen  mit  den 
Bildern  bei  Homer,  Hesiod,  Leipz.  1890. 


58  Griechische  Litteratargeschichte.    L  Klassische  Periode. 

wunderbarer  Mären  und  in  gemütvoller  Erfassung  des  Menschen-  und  Tier- 
lebens überlegen  ist.  Wohl  rührt  uns  auch  in  der  Ilias  die  herrliche  Szene, 
wo  Hektor  beim  Abschied  von  Andromache  den  kleinen  Astyanax,  der 
sich  vor  dem  Helmbusch  und  der  ehernen  Rüstung  des  Vaters  furchtet, 
den  Helm  abnehmend  herzt  und  küßt  (Z  466 — 496),  aber  einen  noch 
tieferen  Blick  in  das  Seelenleben  selbst  der  Tiere  läßt  uns  der  17.  Ge- 
sang der  Odyssee  an  jener  Stelle  (290 — 327)  tun,  wo  den  Odysseus 
beim  Eintritt  in  das  Heimathaus  sein  Hund  Argos,  der  dem  Verenden 
nahe  auf  dem  Misthaufen  liegt,  allein,  vor  Frau  und  Dienern,  wieder- 
erkennt und  sterbend  mit  dem  Schweif  wedelt,  sein  Herr  aber  sich  die 
Träne  der  Rührung  abwischt.^)  Größere  Unterschiede  noch  zeigen  sich 
zwischen  dem  alten  Kern  der  beiden  Dichtungen  und  ihren  jüngeren  Er- 
weiterungen. Wohl  zeichnen  sich  mehrere  der  Gesänge,  die  wir  für  jün- 
gere Einlagen  halten,  wie  die  Gesandtschaft  und  der  Schild  des  Achilleus, 
durch  große  poetische  Schönheiten  aus,  und  wir  müssen  zugeben,  daß  auch 
noch  manchem  der  Homeriden  ein  glücklicher  Wurf  gelungen  und  daß  das 
Axiom,  unter  dem  noch  Lachmann  und  Kirchhoflf  stehen,  als  wäre  das 
Älteste  immer  das  dichterisch  Vollkommenste,  falsch  ist.*)  Aber  die  meisten 
der  Zudichtungen  erkennt  man  doch  als  solche  eben  auch  aus  dem  ge- 
ringeren Vermögen  des  Dichters  und  der  Ungeschicklichkeit  des  Nach- 
ahmers. Die  Verse  von  Achilleus  und  Aineias,  die  vor  dem  Kampf  lange 
und  langweilige  Reden  halten  {Y7b — 380),  sind  nicht  cannina  Hotneri 
sein  per  ad  eventum  festinantis,  die  unruhige  Hast  der  KoXog  jiidxf]  (6)  ver- 
rät nichts  vom  Dichter  der  alten  Ilias,  der,  wenn  alles  Eile  hat,  ruhig 
seines  Weges  geht,  die  trockene  Aufzählung  der  Schiffe  der  Achäer  und 
der  Namen  ihrer  Führer  hat  nichts  von  dem  belebenden  Wechsel  in  Si- 
tuation und  Ausdruck,  der  in  den  anderen  Gesängen  uns  ununterbrochen 
fesselt. 

Von  besonderer  Bedeutung  sind  in  dieser  Beziehung  die  Nachahmungen 
und  Wiederholungen.  Die  oft  drei-  und  viermalige  Wiederkehr  der  gleichen 
Verse  ist  eine  Eigentümlichkeit  der  homerischen  Poesie;^)  sie  ist  nicht  an 
und  für  sich  ein  Anzeichen  der  Nachahmung,  sie  hängt  vielmehr  mit  der 
Objektivität  der  Erzählung  und  den  stehenden  Epitheta  zusammen.  Wenn 
die  Sonne  von  neuem  in  der  Natur  aufzugehen  beginnt,  so  singt  auch  der 
Dichter  von  neuem  ohne  Variation  ////os  d'yfjr/heia  q?dvi]  Qoöoddxxvkog 
/}(/>s,  wie  er  immer  von  neuem  das  Bild  des  Schiffes  durch  das  Epitheton 
irooeluog  oder  fielaiva  veranschaulicht.  Aber  das  Epitheton  kann  nicht 
bloß  unnötig,  es  kann  auch  unpassend  werden;  der  Vers  oder  die  Verse 
können  in  unpassendem  Zusammenhang  und  in  mißverstandenem  Sinne 
wiederholt  sein;  eine  ganze  Stelle  kann  aus  zusammengestoppelten  Versen 
und  Halbversen    bestehen.     Solche   Centonen   kommen  in  unserem  Homer 

^)  Dargestellt  ist  diese  Szene  auf  einer  ganzen  alten  Poesie  verglichen  werden  könne, 

Gemme    bei  J.  Ovekbeck,   Gal.  her.  Bildw.  I  ;  und   Schiller   sprach  es  aus:    ,Wenn  man 

(Braunschw.  1853)  7,  33,  10.  |  auch   nur  gelebt  hätte,   um   den  23.  Gesang 

■'')  K.  Ö.  MüLLEK,  Gesch.  dergriech.  Litt.  I '  1  der  Ilias  zu  lesen,  so  könnte  man  sich  über 

80  ui-teilt  von  der  Szene  der  Zusammenkunft  sein  Dasein  nicht  beschweren.* 

des  Achilleus  und  Priamos  im  letzten  Gesang  j  ')  Siehe  o.  S.  53,  3. 

der  Ilias,   daß  sie  mit  keiner  andern  in  der  | 


A.  Epos.    2.  Homers  Dias  und  Odyssee.    (§  32.)  59 

vor,  wie  in  dem  Füllstück  zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Schlachttag 
(ff  313— 482)  oder  der  ßovXri  5  76—83,  der  Götterversammlung  J?  7  flf./) 
gehören  aber  gewiß  nicht  der  alten  Dichtung  an.*) 

32.  Zeit  des  homerischen  Epos.  Erst  jetzt  kann  auf  mehrere 
Fragen  zurückgekommen  werden,  die  oben  nur  gestreift  wurden,  zuerst 
auf  die  nach  der  Entstehungszeit  der  homerischen  Dichtungen.  Da  offen- 
bar die  Alten  von  der  Zeit,  in  der  Homer  lebte  und  Ilias  und  Odyssee 
entstanden  sind,  keine  geschichtliche  Überlieferung  hatten,  so  sind  auch 
wir  wesentlich  auf  Kombinationen  angewiesen.  Diese  müssen  von  dem 
zeitlichen  Verhältnis  der  altgriechischen  Epen  zueinander  ausgehen.^)  Nun 
gilt  es  jetzt  als  ausgemachte,  durch  Anzeichen  der  Nachahmung  erwiesene 
Tatsache,  daß  Hesiod  jünger  als  Homer  war  und  nicht  bloß  die  Ilias,  son- 
dern auch  schon  die  Odyssee,  wenigstens  in  ihren  älteren  Bestandteilen, 
vor  Augen  hatte;  mit  Hesiod  dürfen  wir  aber  nicht,  wenigstens  nicht  viel 
unter  700  herabgehen.  Femer  liegt  es  in  der  Natur  der  Sache  und  läßt 
sich  aus  Sprache  und  Mythus  erweisen,  daß  die  Gedichte  des  epischen 
Kyklos  erst  zur  Zeit,  als  die  zwei  großen  homerischen  Epen  bereits  fertig 
waren,  entstanden  sind.*)  Nun  wird  Arktinos,  der  Dichter  der  Aithiopis, 
in  die  1.  oder  9.  Olympiade  gesetzt,  und  wenn  diese  Ansätze  auch  nicht 
ganz  außer  Zweifel  stehen  und  vermutlich  etwas  zu  hoch  gegriffen  sind, 
so  dürfen  wir  doch  mit  Zuversicht  den  Beginn  des  kyklischen  Epos  noch 
in  das  8.  Jahrhundert  setzen.  Einen  dritten  Vergleichungspunkt  bilden  die 
Werke  der  bildenden  Kunst.  Auf  dem  amykläischen  Thron  waren,  wenn 
Pausanias  die  Bilder  richtig  deutet,  bereits  Szenen  der  Ilias  und  Odyssee, 
wie  der  singende  Demodokos,  Menelaos  in  Ägypten,  Proteus,  dargestellt.^) 
Damals  waren  also  schon  die  jüngsten  Gesänge  der  Odyssee  allgemein 
bekannt;   leider  läßt  sich  die  Zeit  jenes  Thrones   selbst  nicht  genau  fest- 


*)  In  der  Chryseisepisode  A  430 — 492  j  vgl.  B.  Niese,  Entwicklung  der  homerischen 
scheint  man  gleichfalls  einen  solchen  Cento  Poesie  27  ff.  u.  225  ff.  F.  Blass,  Intei-pol.  d. 
vor  sich  zu  haben,   doch  ist  zweifelhaft,  ob      Odyssee  283  ff.     Anspielungen  auf  die  ent- 


die  Gemeinverse  aus  der  Odyssee  und  nicht 
vielmehr  aus  älteren  Gedichten  entlehnt  sind. 
Dieses  Kriterium  für  das  Alter,  schon  von 
Köchly  und  Kirchhoff  beachtet,  ist  von  W. 
Ohbist  besprochen  in  dem  Aufsatz  Die 
Wiederholungen  gleicher  und  ähnlicher  Verse 
in  der  Rias,  Sitz.ber.  d.  bayr.  Ak.  1880,  S.  221 


wickelten  Mythen  des  Kyklos  finden  sich 
allerdings  auch  in  der  Ilias,  aber  nur  an 
interpolierten  Stellen  7  326—337,  ß  28— 30, 
e  230—2,  B  699—709.  721-8.  Die  in  der 
Odyssee,  in  der  Telemachie  und  Nekyia  vor- 
ausgesetzten Gesänge  vom  Falle  Ilions  durch 
das  hölzerne  Pferd,  vom  Streit  um  die  Waffen 


bis  272.  des  Achilleus,  von  der  Heranziehung  des  Philo- 

*)  Der  Cento  f  1  ff .  verrät  die  Fuge,  mit  |    ktetes,  Neoptolemos,  Eurypylos,  von  der  Heim- 

der   die    mit   einer    Götterversammlung    be-  !    kehr  der  Könige  und  der  Rache  des  Orestes 

ginnende  Telemachosdichtung  an  den  Nostos-  berühren  sich  mit  den  Dichtungen  des  Ark- 

komplex   anstößt  und  die  mangelhaft  über-  tinos,  Lesches,  Hagias,   brauchen  aber  nicht 

tfincht  ist.  notwendig  aus  denselben  geflossen  zu  sein,  da 

•)  Davon  aus  hat  W.  Christ  die  Frage  \   auch  deren  Epen  Einzellieder  vorausgegangen 

behandelt  in  dem  Aufsatz  Zur  Chronologie  des  ,   waren.  Daß  indessen  Arktinos  vor  dem  Dichter 


altgriechischen  Epos,  in  Sitz.ber.d.  bayr.  Akad. 
1884  S.  1 — 60,  wo  auch  die  auf  ägyptischen 
Kombinationen  beruhende  Datierung  Glad- 
Btones  zurflckgewiesen  ist.  Vgl.  H.  Düntzbr, 
Die  homerischen  Fragen,  Leipzig  1874. 

*)    Im    einzelnen    erwiesen    von    F.   G. 


der  jüngsten  Partien  der  Odyssee  blühte, 
glaubte  W.  Christ  festhalten  zu  sollen  (s.  da- 
gegen F.  BLASS  a.  a.  0.  284  f.). 

^)  Paus.  III  18;  es  fanden  sich  auf  ihm 
auch  schon  Szenen  aus  den  Kyprien  und  der 
Aithiopis,  wie  das  Parisurteil  und  der  Kampf 


WsLCKSB,  Der  epische  Cyklus,  Bonn  1849. 65 ;   |   des  Achilleus  und  Memnon. 


60  Griechische  Litteratorgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

stellen,  und  die  Angabe,  der  Thron  sei  aus  dem  Zehnten  des  messenischen 
Krieges  gestiftet  worden,  kann  nicht  als  zuverlässig  gelten,  i) 

Zu  der  durch  Vergleichung  gewonnenen  Zeitgrenze  kommen  mehrere 
äußere  Zeugnisse  und  historische  Anzeichen  im  Homer  selbst.  Im  SchifiFs- 
katalog,  der  die  Ilias  mit  Einschluß  der  Leichenspiele  zur  Voraussetzung 
hat,  2)  wird  die  Blüte  Megaras,^)  die  mit  der  Befreiung  der  Stadt  (OL  10) 
begann,  völlig  ignoriert;  ja  selbst  der  Name  Megara  ist  noch  unbekannt, 
und  Nisa  erscheint  noch  als  Teil  Böotiens  (B  508),  geradeso  wie  Korinth 
noch  als  Teil  von  Agamemnons  Reich  {B  570).  Das  führt  also  auf  eine  Zeit, 
in  der  entweder  die  neuen  Verhältnisse  noch  gar  nicht  eingetreten  waren 
oder  doch  die  alten  noch  in  der  Erinnerung  der  Leute  fortlebten.  Auf 
der  anderen  Seite  kennt  der  Schiflfskatalog  kein  selbständiges  Messenien 
und  zieht  zur  Landschaft  Lakedaimon  die  Städte  Pharos,  Amyklai,  Helos 
(B  582 — 4),  die  erst  durch  die  Könige  Taleklos  und  Alkamenes  in  der  zweiten 
Hälfte  des  8.  Jahrhunderts  unterworfen  worden  waren. ^)  Nehmen  wir 
dazu,  daß  der  Schiffskatalog  sich  nicht  bloß  im  Fahrwasser  der  hesiodischen 
Dichtungsart  bewegt,  sondern  auch  bereits  auf  Sagen  anspielt,  die  wie  der 
Fall  des  Protesilaos  und  die  Zurücklassung  des  Philoktetes  in  den  Kyprien 
und  der  kleinen  Ilias  erzählt  waren, ^)  so  werden  wir  ihn  allerdings 
kaum  vor  700  v.  Chr.  ansetzen  dürfen,  aber  dann  auch  jedenfalls  an- 
nehmen müssen,  daß  damals  bereits  die  ganze  Ilias  in  allen  ihren 
wesentlichen  Teilen  fertig  war.  —  Ferner  verrät  die  Ilias  und  ins- 
besondere der  Eingang  des  13.  Gesangs  noch  gar  keine  Kenntnis  von  dem 
Schwarzen  Meer  und  der  an  seinen  Gestaden  im  7.  und  8.  Jahrhundert 
durch  die  Milesier  gegründeten  Kolonien;  ihre  Entstehung  muß  also,  wofern 
nicht  der  Dichter  mit  Bewußtsein  archaisiert,  über  die  Zeit  der  Gründung 

*)  H.  Brunn,  Gesch.  der  griech.  Künstler  Städten  an  der  Küste  Besitz  ergriffen  hatten. 

P  (Stuttg.  1889)  39  f.,  setzt  seine  Verfertigung  Dann  liegt  die  Zeit  dieses  Gesangs,  den  wir 

um  Ol.  60;  andere  gehen  höher  hinauf,  580 — 540  |    oben   einem   Homeriden.   nicht   dem   Homer 

v.Chr.;  s.  J.O verbeck, Gesch. d.griech. Plast. I*,  ;   selbst  zugeschrieben  haben,  nicht  weit  ab  von 

Loipz.1893, 68  ;A.FüBTwÄNOLER,  Meisterwerke  i   der  Zeit  des  Schiffskatalogs.  Gegenüber  von 

d.  griech.  Plast..  Leipz.  1893,  689.    Neuestens  B.  Nieses  Versuch    (Der  homerische  Schiffs- 

setzt  W.Reichbl.  Ober  vorhellenischen  Götter-  katalog  als  historische  Quelle  betrachtet,  Kiel 

kulte,  Wien  1897  S.  15  die  Statue  des  Apollon,  1873),  den  Schiffskatalog  nach  den  in  ihm  ge- 

dio  als  Siegeszeichen  aufgestellt  worden  sei,  in  schilderten  geschichtlichen  Zuständen  zn  da- 

das  7.  Jahrhundert,  den  Thron,  den  ßathykles  1   tiorcn,  hat  übrigens  E.  Rohde  (Kl.  Sehr.  1 109  ff.) 

für  jene  Säule  herrichtete,  erheblich  später.  I   an  das   bewußte  Archaisieren    des  Dichters 

Ähnlich  K.Robert, Realencycl. 5. Halbb. 241  ff.  erinnert,   in  Anbetracht  dessen  auch  andere 

")  Daß  der  Schiffskatalog  auch  erst  nach  ;   Schlüsse   aus  Erwähnung  altertümlicher  Zu- 

der  Tolemachie   gedichtet  sei.   möchte   man  '   stände  auf  Unbekanntschaft  des  Dichters  mit 

nach   dem  Stilcharakter  glauben,  kann  aber  jüngeren  Verhältnissen    fraglich   erscheinen, 

nicht  zuversichtlich  behauptet  werden.   Denn  Siehe  a.  o.  S.  53,  1. 

die  Epitheta  xoiXtjv   AcixFdaiftora   xffTojFaoar  '^j  W.  Christ  hat  die  in  seiner  Ausgabe  der 


passen  gut  zum  Land,   wie  in   dem   Schiffs- 
katalog ß  581,   schlecht   zur   Stadt, 
der  Telemachie  d  1. 


Ilias  ausgesprochene  Ansicht,  die  betreffenden 
Stelleu/?699  -  709  und  7^72 1—528  seien  einem 
späteren  Interpolator  zuzuweisen,8päter  zurück- 


')  Schon  zu  Ol.  15  wird  ein  Sieger  X)o-  gezogen;  übrigens  wird  auch  dann  an  derZeit- 

ö/.T.Toc  MFyaoFVs  angeführt.  j   rechnung  wenig  geändert.    Insbesondere  ver- 

*)  Vielleicht  gehen  auch  die  Verse  der  setzt  uns  so  wie  so  der  Heraklid  Tlepolemos, 

Gesandtschaft  /  149 — 153,    die  übrigens  mit  '   der  aber  nicht  bloß  im  Schiffskatalog /V  653 — 70, 

der  Darstellung  von  Agamemnons  Reich  im  sondern  auch  in  der  Ilias  E  628  vorkommt,  in 

B  nicht  stimmen  (s.  o.  S.  52, 4),  auf  Verhältnisse  die  Zeit,  wo  die  Derer  vom  Peloponnes  aus  ihre 

einer  Zeit,   in  der  die  Lakedaimonier  bereits  |   Kolonisation   über   die   Inseln  des  ägäischen 

von  dem  südlichen  Teil  Messeniens  und  den  I   Meeres,  Kreta,  Rhodos,  Kos,  ausdehnten. 


A.  Epos.    2.  Homers  nias  und  Odyssee.    (§  32.)  gl 

von  Trapezunt  und  Sinope  hinaufgerückt  werden. i)  —  Für  die  Abfassung 
des  letzten  Gesangs  der  Odyssee,  also  eines  der  allerjüngsten,  gibt  der 
Vers  ft>  89  ^(owvviai  re  veoi  xal  htevxvvovxai  äe^ka  einen  annähernden  Ter- 
minus ante  quem  an  die  Hand.  Denn  da  in  der  15.  Olympiade  die  Wett- 
kämpfer in  Olympia  den  Gurt  ablegten  und  die  Einführung  der  nackten 
Ringkämpfe  so  ziemlich  gleichzeitig  in  allen  Teilen  Griechenlands  erfolgt 
sein  wird,  so  muß  jener  Vers  vor,  kann  sicher  nicht  lange  nach  720 
gedichtet  sein.*)  In  ähnlicher  Weise  führt  die  Erwähnung  der  sizihschen 
Dienerin  in  den  jüngeren  Partien  der  Odyssee  (v  383.  co211.  366.  389) 
auf  die  Zeit  der  beginnenden  Kolonisation  Siziliens  (Ol.  9),  und  die  Erwäh- 
nung der  Quelle  Artakie  Od.  x  108  scheint  mit  der  Gründung  von  Kyzikos 
(676  V.  Chr.)  zusammenzuhängen.»)  Der  Name  Alybas  ö>  304,  womit  das 
775  gegründete  Metapontion  wirklich  gemeint  sein  wird,*)  ist  wohl  bewußter 
Archaismus.  Nicht  nach  dem  7.  Jahrhundert  kann  die  Schilderung  des 
durch  die  Aristokratie  stark  eingeengten  Königtums  der  Odyssee  wie  der 
nias  angesetzt  werden.^)  Damit  bleibt  man  also  in  der  Zeit  um  700; 
nur  mit  den  kleinen  Interpolationen  der  Uias  und  Odyssee  wird  man 
noch  weiter  herabgehen  müssen.  Zwar  die  Verse  A  699  ff.  brauchen  nicht 
auf  die  in  der  25.  Olympiade  in  Elis  eingeführten  Wettkämpfe  mit  Vier- 
gespannen bezogen  zu  werden,  ß)  aber  die  Stelle  der  Odyssee  cp  15 — 41  setzt 
die  vollständige  Unterwerfung  Messeniens  unter  Lakedaimon  voraus,') 
kann  also  erst  nach  dem  Ausgang  des  ersten  messenischen  Krieges  ge- 
dichtet sein.  In  der  ganzen  Frage  aber  müssen  wir  uns  gegenwärtig 
halten,  daß  einzelne  Gesänge,  wie  die  oben  S.  53  und  56  erwähnten, 
leicht  noch  von  Homeriden  und  Rhapsoden  zugefügt  werden  konnten, 
nachdem  Ihas  und  Odyssee  in  ihrem  Grundgerüste  längst  fertig  waren, 
daß  aber  die  volle  Ausführung  des  Grundplans  der  beiden  Dichtungen 
sich  kaum  durch  mehr  als  3  bis  4  Generationen  hingezogen  haben  wird.®) 

')   Selbst  das   Gegenstück   des   Schiffs-  *)  So  nach  Schol.  a>  304  Wilamowitz, 

kataloges,  das  Verzeichnis  der  troischen  Heer-      Homer.  Unters.  70. 


scharen,  geht  nach  Osten  nur  bis  zum  Land  der 
Paphlagonier,  also  höchstens  nur  in  die  Gegend 
von  Sinope,  noch  nicht  in  die  von  Trapezunt. 
')  Der  Gebrauch  des  Schurzes  beim 
Wettkampf  entgegen  der  jüngeren  Sitte  der 
Nacktheit  ist  schon  hervorgehoben  von  Thuc. 


^)  G.  FiNSLER,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt.  17 
(1906)  393  fif. 

«)  Vgl.  A.  MoMMSEN.  Philol.  8  (1853)  721  ff. ; 
aber  notwendig  ist  es  durchaus  nicht,  an  die 
Pferdewettkämpfe  der  olympischen  Spiele  zu 
denken;  eines  spricht  sogar  dagegen,  daß  die 


I  6,  5;  Schol.  AT  Hom.  ^  683;  Dionys.  Hai.       Stelle  A  700  Dreifüße  als  Preise  erwähnt,  in 
antVJI  72.   Weiter  herunter  geht  a!^  Kirch-      Olympia  aber  schon   mit  der  7.  Olympiade 


HOFP  S.  340,  indem  er  aus  (o  417  schließt, 
daß  Eugammon,  der  Dichter  der  Telegonie 
(um  Ol.  53),  den  Schluß  der  Odyssee  noch 
nicht  gekannt  habe,  und  so  ähnlich  auch 
Wilamowitz,  Hom.  Unt.  185.   Aber  einfacher 


der  Wertpreis   durch   den   Ehrenpreis    eines 
Kranzes  ersetzt  wurde. 

"')  Dafür  sprechen  die  Verse  rp  13 — 15 
Öo*oa  ra  oi  ^fTvog  Aaxedatfwvt  öo)xf.  rvxrjoag 
^IqptTOs  EvgvTtörjg   ejtieixfko;    adavdxoioiv' 


ist  die  Lösung,   daß   entweder  Proklos  oder  i  6^    h    Msoo7}yf}    $vfißXi]aTo    aXh)kouv.     Aber 

der  Exzerptor  bei  ol  fivfjoTooF<:  vm)  xwv  ngog-  !  mit    dem    letzten  Vers    beginnt    eine    Inter- 

tfxdvTiov  ^djiioi'rai  (p.  241,  5  W.)   die  Freier  ,  polation,   so   daß   schwerlich   der  erste  Vers 

mit  den  am  Schluß  (o>  523  ff.)  gefallenen  Itha-  i  von   demselben  Dichter  wie  der   letzte  her- 


kesiem  verwechselt  habe,  oder  daß  die  Worte 
Qüseres  Odysseetextes  d/Wrfs  fffoinoi'  (o)  415) 
bis  u^evreg  (co  419)  einer  jungen  Interpolation 
entstammen. 

«)  K.  RoTHE  in  Jahresb.  d.  Alt.  XIII  (1885) 


rührt.  Die  Interpolation  aber  geht  über  den 
Dichter  der  Presbeia  /  149—156  hinaus,  da 
dort  erst  die  Eroberung  der  Küstenstädte 
Messeniens  durch  die  Lakedaimonier  voraus- 
gesetzt zu  werden  scheint. 


1, 182.  ^)  Weiter   zu   gehen   und  von  Jahrhun- 


62 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


Sollen  wir  zum  Schluß  bestimmte  Zahlen  geben,  so  scheint  uns  aus 
den  angedeuteten  Kombinationen  zu  folgen,  dafi  die  Dias  im  9.  und  der 
ersten  Hälfte  des  8.  Jahrhunderts,  die  Odyssee  im  8.  Jahrhundert  entstan- 
den ist')  und  dais  nach  dieser  Zeit,  vom  Troerkatalog  abgesehen,  keine 
ganzen  Gesänge  mehr,  sondern  nur  noch  kleine  Interpolationen,  zum  Teil 
zur  besseren  Verbindung  der  Teile  und  in  Zusammenhang  mit  der  schrift- 
lichen Fixierung  des  Textes  hinzukamen.  Im  allgemeinen  pflichten  wir  so 
dem  Herodot  bei,  der  den  Homer  400  Jahre  vor  seiner  Zeit,  also  um  840, 
gelebt  haben  läßt.*)  Nur  ist  zu  beachten,  daß  der  Ursprung  der  Sagen, 
die  im  Homer  widerklingen,  und  teilweise  auch  die  Anschauung,  die  Homer 
von  der  außergriechischen  Welt  hatte,  in  weit  frühere  Vergangenheit 
zurückreichen.  Merkwürdig  ist  in  letzterer  Beziehung  namentlich,  daß  der 
Dichter  noch  Sidon,  nicht  schon  Tyros  die  Meere  beherrschen,  und  noch 
nicht  Memphis,  sondern  das  ältere  Theben  Hauptstadt  Ägyptens  sein  läßt.') 

33.  Sprache  und  Heimat  des  homerischen  Epos.  Diese  Frage, 
für  die  Alten  die  persönlich  gefaßte  Frage  nach  der  Heimat  des  Homer 
und  seines  Geschlechtes  hängt  eng  mit  der  Sprache  der  Gtedichte  zusammen. 
Die  Sprache,  in  der  sie  uns  durch  die  Alexandriner  überliefert  sind,  hat 
das  Gepräge  des  altionischen  Dialektes,  geradeso  wie  sich  auch  in  dem 
ganzen  Ton  der  Dichtung  loniens  heitere  und  aufgeklärte  Lebensanschauung 
widerspiegelt.*)     Wenn  jenes  Gepräge  vielfach   von  dem  der  Sprache  des 


derten  zu  reden,  wie  oft  geschieht,  wider- 
rät schon  der  geringe  Unterschied  der  Sprache 
namentlich  im  Gebrauch  des  Digamma  und 
in  der  Abneigung  gegen  Kontraktion.  Die 
historischen  Kimmerier,  die  um  660  in  Lydien 
und  lonien  einbrachen,  beweisen  nichts  für 
die  Zeit  Homers,  da  es  umgekehrt  größere 
Wahrscheinlichkeit  hat.  daß  diese  räube- 
rischen, aus  dem  dunklen  Norden  kom- 
menden Horden  von  den  Zeitgenossen  mit 
den  homerischen  Kimmeriem  (Od.  X  14)  ver- 
glichen und  nach  ihnen  Kififieotoi  benannt 
wurden,  ähnlich  wie  später  die  germanischen 
Völker  des  Nordens  den  Namen  Cimbri, 
das  ist  eben  Ki/ififotoi,  erhielten.  Übrigens 
stammt  der  Name  KtfifiiQioi  aus  Innerasien, 
da  in  assyrischen  Keilinschriften  die  nor- 
dischen Skythen  Gimirai  heißen,  so  daß  so- 
wohl die  Kinfismot  {).  14)  als  die  Ktjreiot 
(X  521),  d.  i.  Hethiter,  der  Odyssee  Beweise 
sind,  wie  die  Griechen  Kleinasiens  allmäh- 
lich mit  den  großen  Heichen  Innerasieus 
Fühlung  bekamen. 

*)  Etwas  höher  noch  hinauf  geht  Jul. 
Schultz.  Das  Lied  vom  Zorn  Achills  79  ff., 
nach  dem  die  Monis  und  die  Ur-Odyssee  eher 
ins  10.  als  ins  9.  Jahrhundert  fielen. 

*)  Herod.  II  53:  'HoioÖor  yäo  x(uX>fuiQov 
yhxitjy  XFTonx<Hitoioi  etfoi  doxeio  fitrv  jrgen- 
ßvTKQov^  yn'FaOm  xai  ov  Trkf/omy. 

^)  IL  /  381 — 4 :  oi*d'  oifj'  Fg  'OoyouFvov  ttotI' 
rtaoFTai,  ortY  iioa  S//ßag  AiyvjtTiac,  o{}i  nkFioxa 
ddjuoti;  Fv  xrijuaia  xFixai,  ai  Ö'  FxaTOfiJiv/.ot 
eiai,  öttjxdnioi  <^'  dr  ixdorag  dvFosg  F^otxvff'oi 


I  aifv  uijioioiv  xai  oxeoqriv.  J.  Krall,  Manetho 
I  und  Diodor,  Sitz.ber.  d.  Wiener  Ak.  96  (1880) 
281  sieht  darin  eine  dunkle,  im  Lied  fort- 
lebende Erinnerung  an  die  Zeit  der  Raines- 
siden,  wo  griechische  Stämme  (eher  Karier) 
mit  Aegypten  und  seiner  damaligen  Hanptr 
Stadt  Theljen  in  Berührung  kamen.  —  Die 
Aegypter  und  ihre  Fabrikate  lernten  die 
Griechen  in  frUhmykenischer  Zeit,  zumal  auf 
Kreta,  vermutlich  durch  unmittelbaren  See- 
verkehr, später  durch  die  Vermittlung  phö- 
nikischer  Kaufleute  kennen.  Der  Versuch, 
den  D.  Müldeb  in  seiner  für  die  Fragestellnng 
vielfach  anregenden  Schrift  Homer  und  die 
altionische  Elegie,  Hannover  1906.  macht,  auf 
Grund  gewisser  paränetischer  Stellen  der 
llias.  die  sich  mit  der  altionischen  Elegie, 
besonders  Tyrtaios,  in  der  .modernen**  An- 
schauung von  Kriegstechnik  und  -disziplin 
berühren,  in  dem  spezifischen  Zusammenhang 
der  llias  aber  übel  angebracht  erscheinen, 
die  llias  als  Ganzes  unter  die  Elegie 
herabzudatieren.  ist  durchaus  problematisch; 
zu  bedenken  ist  namentlich,  daß  ein  großer 
Teil  der  betreffenden  Stellen  dem  Nestor, 
einer  der  jüngsten  Gestalten  der  llias,  in 
den  Mund  gelegt  ist.  M.  setzt  das  quod  erat 
;  demonstrandum,  die  Einheitlichkeit  der  uns 
i  vorliegenden  llias,  voraus. 
'  **)    Die   anderen    Züge  der  homerischen 

j  Poesie,  die  auf  lonien  hinweisen,  hat  gut 
K.  0.  Müller,  Gr.  Litt.  1^  72  ff.  besprochen, 
ohne  von  Neueren  widerlegt  worden  zu  sein. 


A.  Epos.    2.  Homers  Dias  nnd  Odyssee.    (§  33.)  63 

Herodot  abweicht,  so  fand  man  das  ehedem  durch  die  Größe  des  zeit- 
lichen Abstandes  genügend  erklärt.  Aber  so  leicht  darf  man  sich  mit  jenem 
Unterschied  nicht  mehr  abfinden,  seitdem  man  weiß,  daß  in  den  frühsten 
Stadien  der  homerischen  Dichtung  das  von  R.  Bentley^)  zuerst  beobachtete 
Digamma  noch  ein  lebendiger  Laut  gewesen  ist,  der  in  einigen  Wörtern, 
wie  im  Pronomen  der  3.  Person  ov,  of,  i\  oc,  ferner  in  ava|,  e&yog,  etog  regel- 
mäßig stärkere  (Positionsbildung)  oder  schwächere  (Hiatusverhinderung) 
prosodische  Wirkungen  ausübte.*)  Denn  diesen  Laut  hatten  im  7.  Jahr- 
hundert die  ionischen  Landsleute  der  Elegiker  und  lambographen  schon 
vollständig  abgeworfen,  so  daß  sie  ihn  schwerlich  im  9.  und  8.  Jahrhundert 
noch  in  dem  Umfange  gesprochen  haben  werden,  den  wir  für  die  Lands- 
leute und  Zeitgenossen  des  Homer  voraussetzen  müssen.  Auch  mit  der 
Annahme,  daß  Homer  vieles  aus  der  Sprache  seiner  Vorgänger  könne 
herübergenommen  haben,  3)  reichen  wir  zur  Erklärung  jenes  sprachlichen 
Unterschiedes  nicht  aus.  Denn  aus  älteren  Dichtungen  können  wohl 
einzelne  formelhafte  Ausdrücke,  wie  vecpekrjyegha  Zevg,  biJioxa  NeotcoQ, 
Tiozvia  "Hqtj,  jiQoa^ev  ^aidjuoio  '&vgd(ov,  judvrig  äjuvjucDv,  herübergenommen 
sein,  aber  in  dem  durchgängigen  Gebrauch  eines  Lautes,  wie  es  das  Di- 
gamma ist,  in  der  Diärese  der  Vokale,*)  in  den  Formen  der  Pronomina^) 
und  der  Worte  des  Alltagslebens  richtet  sich  jeder  für  größere  Kreise  in 
ursprünghchen  Verhältnissen  schaffende  Dichter  nicht  nach  der  Sprache 
früherer  Jahrhunderte,  sondern  nach  der  seiner  Zeit  und  seiner  Umgebung. 
Die  Sprache  der  Dias  und  Odyssee  verbietet  uns  daher,  die  Landsleute 
Homers  in  dem  Lande  des  Archilochos  oder  Kallinos  zu  suchen,  sie  führt 
uns  ebenso  wie  die  Sage  vom  troischen  Krieg  nach  Aolien  oder  doch 
nach  einem  nördhcheren,  äolisierenden  Teil  loniens.^)  Denn  nicht  alle 
Bewohner  loniens  redeten  die  gleiche  Sprache,  vielmehr  unterscheidet 
Herodot  I  142  ausdrücklich  vier  verschiedene  Dialekte  der  lonier.  Geradezu 
zimi  Aoler  stempelt  den  Homer  in  unserer  Zeit  August  Fick,  indem 
er  die  ganze  ältere  Ilias  und  Odyssee  ursprünglich  in  äolischer  Sprache 
gedichtet  und   erst  später  in   den  Mischdialekt  der  jüngeren  Zusätze  um- 


»)  R.  C.  Jebb,  Homer  p.  189  der  Schle- 
singerschen  Uebersetzung. 

*)  Für  den  altionischen  Dialekt  können 


sehen  können  nicht  ohne  Gewaltsamkeit  ganz 
ausgetrieben  werden. 

*)    Diese   Verschiedenheit    der    Sprache 


wir  Digamma  nur  postulieren,  nicht  empirisch  '   hängt  mit  der  Verschiedenheit  der  Einwan- 

erweisen  (A.  Thumb,  Indogerman.  Forsch.  9,  '   derer  zusammen;   so   hatten  sich  in  Prione 

1898,294ff.).  — Auf  die  durchgängige  Geltung  Thebaner  unter  Philotas  (Strab.  633),  in  Teos 

des  Digamma  gewisser  Wörter  ist  ein  Haupt-  Minyer  unter  Athamas  (Anakr.  fr.  114,  Paus, 

gewicht  zu  legen,   da  damit  die  Erklärung  VHS,  6,  Steph.  Byz.)  angesiedelt;  nach  Kolo- 

des    Gebrauchs   jenes   Lautes   infolge    kon-  phon  waren  außer  Kretern  Manto  und  Mopsos 

ventioneller  Vererbung  bestimmter  Phrasen  (Paus.  VII  3.  1  und  Schol.  Apoll.  Rhod.  III  74) 


wegfällt  Zur  Sache  Esös  (s.  o.  S.49.  3)  und 

W.  Chbist,  Proleg.  Iliadis  carm.  p.  150  sqq. 

•)   Diesen  Standpunkt  vertritt  G.  Hin- 

BiGHS,    De   Homericae   elocutionis   vestigiis 


gewandert,  in  Milet  waren  die  Thaliden  phö- 
nikischen  oder  kadmeischen  Ursprungs  (vgl. 
Herod.  1 170);  s.  0.  Immisch.  Klares,  in  Jahrbb. 
f.  Phil.  Suppl.  17  (1890)  127  ff.     Über  home- 


Aeolicis,  Jena  1875.  1   rische   Äolismen   s.  jetzt  auch  F.  Solmsen, 

*•)  J.  Mekbad,  De  contractionis  et  synize-  Ztschr.  f.  vergl.  Spr.  39  (1906)  211  ff.    Zu  ihnen 

seos  usu  Homerico,  Monachii  1886.  gehört  auch  der  Gebrauch  der  Patronymika. 

**)   In   unseren  Texten   stehen   von   den  den   wir  aus  äolischen  (thessalischen,  böoti- 

Pronomina   äolische   und   ionische   Formen;  sehen)   Inschriften   nachweisen   können   (W. 

die  äolischen  überwiegen   und    lassen    sich  Meyer,  De  Homeri  patronymicis,  Diss.  Gott. 

noch  weiter  ausdehnen;  aber  auch  die  ioni-  1907). 


64 


Griechische  Litteraturgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


gesetzt  sein  läßt.^)  Aber  die  glänzende  Hypothese  hat  nicht  nur  kein 
Analogon  in  der  griechischen  Litteratur,  da  umgekehrt  jüngere  Dichter, 
auch  wenn  sie  einem  anderen  Stamme  angehörten,  den  Dialekt  des  älteren 
Vorbildes  beizubehalten  pflegten,  sie  lälit  sich  auch  nur  mit  großen  Will- 
kürlichkeiten und  gewaltsamen  Änderungen  durchführen,  indem  sich  ebenso- 
wenig die  „festen"  lonismen  auf  die  jüngeren  Gesänge,  wie  die  „festen" 
Äolismen  auf  die  älteren  einschränken  lassen.  2)  Es  wird  deshalb  eher  geraten 
sein,  auch  die  Heimat  der  homerischen  Dichtung  nicht  in  der  reinen  Aolis  zu 
suchen,  sondern  dort,  wohin  auch  die  beste  Tradition  des  Altertums  führt, 5) 
auf  dem  Grenzgebiet  von  lonien  und  Aolis,  wo  leichter  neben  alten  äolischen 
Liedern  eine  wohl  auf  äolischer  Grundlage  (Digamma,  xey  statt  äv,  ä/ujueg, 
äfivfuüv  etc.)  beruhende,  aber  mit  lonismen  der  Nachbarn  (ofv,  lg,  fffielg^  rj 
statt  a)  allmählich  mehr  durchsetzte  Kunstsprache  aufkommen  konnte. 
Dabei  möchte  man  zunächst  an  Smyrna  denken,  das  ehedem  von  Äoliem 
besiedelt  worden  war,  später  aber  dem  ionischen  Städtebund  sich  anschloß. 
Aber  auf  einen  anderen  Punkt  führen  uns  zwei  Stellen  der  Ilias  W  227  und 
Ü  13,  welche  die  Sonne  über  dem  Meere  aufgehen  lassen.^)  Der  Dichter 
dieser  Stellen  lebte  also  vermutlich  nicht  auf  dem  Festlande  Asiens, 
sondern  auf  einer  der  Inseln  im  Westen  der  kleinasiatischen  Küste. 
Als  solche  bietet  sich  im  nördhchen  lonien  einzig  Chios,^)  wo  oben- 
drein nach  dem  Geographen  Stephanos  von  Byzanz  ein  Städtchen 
Bolissos   lag,   das  eine  äolische  Kolonie  war   und   wo  Ephoros  den  Homer 


0  A.FicK,  Die  homerische  Odyssee,  1883 
(Supplementband  von  A.  Bezzenbergeis  Bei- 
trägen zur  Kunde  der  indogerm.  Sprachen),  Die 
homerische  1  lias,  itött.  1886,  Das  Lied  vom  Zorne 
Achills,  A.  Bezzeubergers  Beiträge  21,  1896. 
Neuerdings  (in  Bezzenb.  Beitr.  Bd.  24  u.  26) 
hat  Fiele  drei  Schichten  unterschieden:  1.  die 
ursprüngliche  Monis  in  vier  Hauptgliedern, 
2.  die  Erweiterung  und  3.  die  Erbreiterung, 
deren  dlröße  in  dem  geheimnisvollen  Zahlen- 
verhältnis 4.  8.  12  zueinander  stehen  sollen. 
—  Die  Ur-Ilias  allein  setzt  in  altäolischen 
Dialekt  um  F.  Bechtel  in  K.  Roberts  Stud.  zur 
Ilias,  S.  258 — 349  und  sucht  sein  Verfahren 
zu  rechtfertigen  in  leong,  Abhandlungen  z. 
indogerm.  Sprachgesch.,  1903  S.  17  ff.  Voraus- 
gegangen war  teilweise  schon,  aber  ohne  die 
nötigen  sprachlichen  Kenntnisse  und  ohne 
Klarheit  des  Standpunktes  der  Engländer 
R.  Payne  Knight  in  seiner  Ausgabe  von  1820. 
Schon  im  Altertum  verlangten  einige  Gram- 
matiker, wahrscheinlich  veranlaßt  durch 
Ephoros  (s.  o.  S.  35,6),  einen  äolischen  Homer, 
worüber  Anecd.  Rom.  von  F.  Osann  p.  5 :  riiv 
ök  jioujotv  dvayiv(oox€o&ai  d^toi  ZwjrvQog  6 
Afdyvtfg  Aiolidi  i)ia)Jxi(n^  ro  <^*  avio  Atxai- 
(WX(K.  Bezüglich  des  äolischen  Ursprungs 
der  troischen  Sago  s.  indessen  K.  Sittl.  Die 
Griechen  im  Troerland  und  das  homerische 
Epos.  Philol.  44  (1S85)  201  ff. 

2)  W.  Christs  Einwände  in  der  Be- 
sprechung von  A.  FicKs  Odyssee,  Phil.  Anz.  14 


(1884)  90  ff.,  worauf  FicK  in  der  Einleit.  seiner 
Ilias  p.  III  sqq.  mit  nicht  beweiskräftigen 
Analogien  antwortete.  Aber  in  der  Haupt- 
sache hat  W.  Christ  Fick  doch  recht  gegeben 
und  eingeräumt,  daß  im  Lauf  der  Zeit,  beim 
Vordringen  des  epischen  Gesangs  nach  dem 
mittleren  und  südlichen  lonien,  die  ionischen 
Elemente  wuchsen  und  auch  später  noch  durch 
den  Einfluß  der  alexandrinischen  Grammatiker 
manche  nichtionische  Form  getilgt  worden 
sei  und  von  uns  wieder  zurückgeführt  werden 
dürfe. 

')  Diese  fühii  eben  zumeist  nach  Smyroa 
und  dann  nach  Chios ;  vgl.  H.  Düntzer,  Hom. 
Fragen  33  ff. 

*}  */'  227  y.ooxonejiloc:  v.-ieig  aXa  xlö- 
varai  /}(Us,  U  \Z  i)wc  qntrouh'tj  Xrj^foxev 
{'.iFto  äka  Tjidrag  tf.  Die  Verse  stehen  aller- 
dings  nicht  in  den  allerältesten  Partien  der 
Ilias;  das  tut  aber  ihrer  Bedeutung  wenig 
Eintrag,  da  die  alte  homerische  Schule 
schwerlich  an  einem  anderen  Orte  sich  be- 
fand als  Homer  selbst.  Die  Bedeutung  dieser 
Stellen  für  unsere  Frage  wurde  erkannt  von 
Tu.  Bebgk.  Gr.  Litt.  1  451;  leichthin  wider- 
spricht H.  Düntzer,  Hom.  Fragen  81.  Be- 
merkenswert ist  auch  die  Erwähnung  des 
ikarischen  Meeres  H  145. 

^)  An  Lesbos.  das  keine  der  alten  Über- 
lieferungen für  die  Heimat  Homers  ausgab, 
wollte  A.  Fick,  Ilias  S.  108  denken. 


A.  Epos.    2.  Homers  Ilias  und  Odyssee.     (§  34.) 


65 


verweilen  ließ.^)  Wer  sein  Gefallen  an  phantastischen  Korabinationen  hat, 
mag  es  den  Alten  glauben,  daß  Homer  im  äolischen  Smyrna  geboren,*) 
dann  aber  nach  Chios  ausgewandert  sei,  wo  sich  neben  einer  ionischen 
Hauptbevölkerung  auch  äolische  Siedelungen  befanden.  Früh  aber  sind 
die  homerischen  Gesänge  über  das  äolisch-ionische  Grenzland  hinaus- 
getragen worden  und  haben  an  den  Königshöfen  loniens  eine  zweite 
Heimatstätte  gefunden.  Dort  in  lonien  wird  auch  die  Sage  neue  Nahrung 
gewonnen  haben,  und  könnte  (s.  o.  S.  53,  7)  Samos,  das  früh  weite  Fahrten 
nach  dem  Westen  unternommen  hat,  von  Einfluß  auf  die  Ausbildung  der 
Odysseesage  gewesen  sein.*) 

34.  Die  antike  Tradition  läßt  den  Homer  von  seiner  Heimat  aus  als 
wandernden  Sänger  viel  im  Land  herumkommen  und  gibt  damit  vom 
Typus  des  altionischen  Sängers  ohne  Zweifel  ein  richtiges,  den  Zeitverhält- 
nissen entsprechendes  Bild;  von  Orten,  an  denen  sich  Homer  aufgehalten 
habe,  werden  genannt:  Phokaia,  wo  er  bei  Thestorides  Aufnahme  fand,**) 
Neon  Teiches  bei  Kyme,  wo  er  um  des  lieben  Brotes  willen  seine  Gedichte 
vortrug,^)  Koloiftion,  wo  er  den  Margites  dichtete,^)  Samos,  wo  er  von 
Kreophylos  gastlich  aufgenommen  wurde, '^)  los,  wo  man  sein  Grabmal 
zeigte.®)  Also  über  Äolis  hinaus  nach  den  ionischen  Kolonien  Kleinasiens 
war  frühzeitig  die  homerische  Poesie  gedrungen.  Ähnliches  lehren  uns 
die  Ilias  und  Odyssee  selbst.  Ihr  Dichter  feiert,  indem  er  die  Kämpfe 
besingt,  welche  die  achäischen  Ansiedler  mit  den  alten  Herren  des  Landes 
zu  bestehen  hatten,  zugleich  die  Stammheroen  der  äolischen  Kolonien 
Kleinasiens  ;^)  er  schmeichelt  daneben  mit  dem  Preis  des  Nestor  und  der 
Lykierfürsten  Sarpedon  und  Glaukos  den  ionischen  Königen,  die  von 
jenen  Heroen  ihr  Geschlecht  ableiteten  ;io)  er  flicht  mit  der  Verherrlichung 


')  Steph.  Byz.:  BoXtooo^-  jroXig  AioXixtj 
hi*  axQov  Xiov  jiXtjoiot  ....  xai  tpaotv  oxi 
X)fJifjQ<K  h  xovxfp  lag  öiargißag  estoinio,  mg 
"Eifogog.  Äolische  Beimischung  zeigt  der 
ionische  Dialekt  von  Chios  und  Erythrai  auf 
älteren  Inschriften. 

«)  Vgl.  A.  BöcKH  zu  Find.  fr.  ine.  86  und 
den  Rhetor  Alkidamas  bei  Arist.  rhet.  11  23 
p.  1398b  11. 

*)  Vgl.  EL  D.  Müller,  Historisch-mytho- 
logische Untersuchungen  S.  49  f.  u.  129  ff. 

*)  Ps.  Herod.  vit.  Hom.  15.  H.  üsenbb, 
De  Iliadis  carmine  quodam  Phocaico,  Bonn 
1875.  sucht  nachzuweisen,  daß  IL  A  mit 
der  Beschreibung  der  Waffen  Agamemnons 
(A  15 — 42)  und  dem  Vergleich  des  den 
Hirsch  zerreißenden  Löwen  (.1  474—82)  auf 
die  Stadt  Phokaia  hinweist,  die  lebhafte 
Verbindung  mit  den  Phönikiem  unterhielt 
und  deren  Kolonie  Velia  als  Stadtwappen  auf 
ihren  Münzen  eben  jene  Bewältigung  eines 
Hirsches  durch  einen  Löwen  zeigt. 

*)  Ps.  Herod.  vit.  Hom.  9. 

•)  Cert.  Hes.  et  Hom.  1  extr. 

^)  Strab.  p.  638  nach  Kallimachos:  an- 
gedeutet von  Piaton  reip.  X  600  b.  Ein  Nach- 
komme des  Kreophylos  war  Hermodamas, 
Himdbneh  der  klass.  Altertamswissenschaft.     VII. 


den   nach  Diog.  8, 2  Pythagoras   auf  Samos 
hörte. 

®)  Aristoteles  bei  Gellius  III  11,  6. 

^)  In  Lesbos  herrschten  die  Nachkommen 
des  Penthilos,  des  Enkels  Agamemnons  (Arist. 
pol.  V  1311b  26  ff),  in  Tenedos  neben  Böo- 
tiem  Nachkommen  des  Peisandrosaus  Amyklai 
(Pind.  N.  11,  34);  das  Gros  der  äolischen  Be- 
völkerung war  aus  Böotien  und  Südthessalien 
eingewandert  und  hatte  die  Sage  der  Myr- 
midonen  und  ihres  Königs  Achilleus  mit- 
gebracht. 

»0)  Herod.  1  147.  Auf  den  Pylier  Nestor 
führten  ihr  Geschlecht  zurück  die  alten  Kö- 
nige von  Kolophon  (Mimnermos  fr.  9)  und 
Milet  (Strab.  633) :  vgl.  J.  Töpffer,  Att.  Genea- 
logie, Berl.l889,235ff.  Die  dorischen  Sagen  hin- 
gegen sind  dem  Homer  fremd;  die  Episode  vom 
Zweikampf  des  Sarpedon  und  des  Herakliden 
Tlepolemos  {E  628—98)  sieht  ganz  wie  ein 
aufgepfropftes  Reis  aus  und  kann  glatt  aus- 
geschnitten werden;  die  übrigen  Stellen,  an 
denen  des  dorischen  Nationalheros  Herakles 
Erwähnung  geschieht,  7  95—136,  0  639  44, 
H  363,  X  601  -27,  sind  teils  interpoliert,  teils 
gehören  sie  den  jüngsten  Partien  der  home- 
rischen Gesänge  an. 
5.  Aafl.  5 


66 


Griechische  Litteraturgeschichte.    L  Klassische  Periode. 


der  Heldentaten  des  Idomeneus  die  Sagen  der  alten  kretischen  Ansiedler 
Kleinasiens  in  den  Kranz  der  äolischen  Stammsage.  ^)  Seine  Gleichnisse 
nimmt  er  mit  Vorliebe  von  den  Natur-  und  Kulturverhältnissen  der  mitt- 
leren Küstenlandschaft  Kleinasiens,  von  dem  Geschnatter  der  Gänse  in  der 
asischen  Wiese  am  Kaystros  (B  459  flf.),  von  dem  Wirbelsturm  der  aus 
Thrake  her  wehenden  Winde  Boreas  und  Zephyros  (/5),  von  dem  Stier, 
der  dem  Poseidon  beim  Panionion  geopfert  wird  {Y  404).*)  Er  zeigt  sich 
daneben  wohlbewandert  an  den  Küsten  des  adramyttenischen  Meerbusens 
und  kennt  die  hochragenden  Grabhügel,  die  man  beim  Vorbeifahren  am 
weiten  Gestade  des  Hellespont  gewahrte  (H  86). »)  Seine  Schilderungen 
von  dem  Berg  Ida,  der  Ebene  des  Skamandros  {E  773),  der  hohen  Warte 
Samothrakes  (N  10)  zeigen  so  viel  Naturwahrheit,  daß  man  zuversichtlich 
annehmen  darf,  er  habe  den  Schauplatz  der  Taten  seiner  Helden,  den 
SchUemanns  Ausgrabungen  jetzt  wieder  der  gebildeten  Welt  erschlossen 
haben,  mit  eigenen  Augen  geschaut.*)  Wenn  er  anderseits  entgegen  der 
Wirklichkeit  die  Priamosfeste  auf  einem  ringsumlaufbaren  Hügel  gelegen 
und  vor  ihren  Mauern  zwei  Quellen,  eine  warme  und  eine  kalte,  empor- 
sprudeln läßt  (X 147  flf.),  so  sind  das  Freiheiten,  die  sich  der  Dichter  erlauben 
durfte,  zumal  in  der  Schilderung  einer  Stadt,  die  inzwischen  vom  Erdboden 
verschwunden  war  und  deren  Lage  nur  wenige  seiner  Zuhörer  aus  eigener 
Anschauung  kannten. 

Nach  einer  anderen  Richtung  weisen  die  Irrfahrten  des  Odysseus 
und  die  Lokalitäten  der  Odyssee.  Die  Person  des  Königs  von  Ithaka  und 
die  Kunde  vom  alten  Reich  der  Kephallenier  mögen  dem  Dichter  aus  der 
alten  Sage  der  nach  Kleinasien  ausgewanderten  Pylier  und  Kephallenier 
zugekommen  sein,  aber  Farben  und  Leben  erhielt  das  Bild  erst  durch  die 
Fährlichkeiten,  denen  die  ionischen  Landsleute  des  Dichters  auf  ihren  See- 
fahrten begegneten.  Der  Dichter  selbst  scheint  nicht  weit  nach  Westen 
gekommen   zu   sein:   er  hatte  von  Sizilien  und  dem  Westmeer,  wohin  er 


')  Die  Kreter  als  ältere  Bewohner  der 
Gegend  von  Milyas.  Milet  and  Kolophon  be- 
zeugen Herod.  I  173  und  Paus.  VII  2,  5;  3,  1. 

')  Auf  den  Poseidonkult  der  ionischen 
Achäcr  nimmt  auch  die  Abstammung  des 
Riesen  Briareos-Aigaion  A  404  Bezug,  der,  im 
(regensatz  zu  Hesiods  Theogonie,  als  Sohn 
des  in  Aigai  (6>  203)  verehrten  Poseidon  aus- 
gegeben wird. 

')  Vielleicht  weil  er  noch  Trümmer  von 
Troia,  aber  nichts  mehr  vom  achäischen 
Lager  am  Hellespont  sah.  erdichtete  er  die 
vollständige  Zerstörung  des  Lagers  durch 
Poseidon  //459— 63  und  M  1—84. 

*)  Die  Kenntnis  aus  Autopsie  stellte  mit 
übertriebener  Skepsis  in  Abrede  R.  Hercheb, 
Über  die  homerische  Ebene  von  Troia,  Abhdl. 
der  Berl.  Akad.  1875,  101  ff.  Für  die  ganze 
wurde  erst  ein  sicherer  Grund  geschaffen  Frage 
durch  die  weltberühmten  Ausgrabungen  H. 
SoiiLiEMANNS.  dargelegt  in  dessen  Werken: 
Ilios.  Stadt  und  Land  derTroianer,  Leipz.  1881, 
Troia  1883  (weitergeführt  von  W.  Dörpfeld, 
Troia  und  Ilion,  1902),  Mvkenä  1877,  Tiryns 


1886.  (Kritik  und  lesbare  Zusammenfassung 
der  Schliemannschen  Ergebnisse  bei  G.  Sohuoh- 
HABDT,  SchUemanns  Ausgrabungen  in  Troia, 
Tiryns,  Mykene,  Orchomenos,  Ithaka  im  Licht 
der  heutigen  Wissenschaft  dargestellt,  Leipzig 
1891.)  Schon  vor  Schliemann  hatte  das  Itich- 
tige  getroffen  G.  v.  Eckenbrecher,  Über  die 
Lage  des  hom.  Ilion,  Rhein.  Mus.  2  (1843);  Die 
Lage  des  homer.  Troia,  Düsseid,  1875.  Auf 
die  Wahrheit  der  Naturschilderungen  Homers 
hatte  zuerst  aufmeiksam  gemacht  R.  Wood, 
An  Essay  on  the  Original  Genius  of  Homer, 
Lond.  1769.  Wir  wissen  jetzt,  daß  Homers 
Troia  auf  dem  Hügel  von  Hissarlik  lag,  der 
nördlich  vom  Simoeis,  westlich  vom  Ska- 
mandros umflossen  in  die  troische  Ebene  vor- 
ragt; das  Schi^slager  der  Achäer  befand 
sich  auf  der  linken  Seite  der  Skamandros- 
mtindung  (gegen  Dörpfelds  Annahme,  daß 
der  Skamandrosunterlauf  in  homerischer  Zeit 
weiter  gegen  Osten  als  heutzutage  gewesen 
sei,  A.  Busse,  Der  Schauplatz  der  Kämpfe 
vor  Troia.  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt.  19,  1907, 
457  ff). 


A.  Epos,    2.  Homers  Ilias  nnd  Odyssee.    (§  34.) 


67 


großenteils  die  Irrfahrten  des  Odysseus  in  märchenhafter  Ausschmückung 
verlegt,  nicht  aus  eigener  Anschauung,  sondern  nur  aus  den  fabelhaften 
Erzählungen  von  Landsleuten  und  phönikischen  Seefahrern  Kenntnis,  i) 
Auch  Ithaka  hatte  wahrscheinlich  keiner  der  Odyssee-Dichter,  jedenfalls 
nicht  der  des  alten  Nostos  mit  eigenen  Augen  gesehen.*)  Daraus  erklärt 
sich,  daß  das  Bild,  das  wir  uns  nach  den  Schilderungen  der  Odyssee  von 
der  Heimat  ihres  Helden  machen,  ungleich  weniger  als  das  der  troischen 


')  Der  Sta-eit  über  die  Lokalität  der  Irr- 
falirtea  des  Odysseus  wurde  schon  im  Alter- 
tum mit  Heftigkeit  geführt,  wie  man  beson- 
ders aus  dem  1.  Buch  des  Strabon  sieht.  Die 
einen  suchten  die  In*fahrten  um  Sizilien  und 
Italien  (schon  Thuc.  VI  2,  1,  dann  Polybios), 
andere  fanden  Plfltze  der  homerischen  Schil- 
derung am  Pontes  und  selbst  im  nördlichen 
Ozean  (Krates),  andere  hinwiederum,  wie 
Eratosthenes,  zogen  sich  auf  den  vorsichtigen 
Standpunkt  der  poetischen  Fiktion  zurück 
und  warnten  nur  vor  einem  Hinausgehen  über 
das  Mittelmeer  (i^coxEaviafiog),  In  neuerer  Zeit 
verirrte  sich  wieder  der  große  Naturforscher 
K.  E.  V.  Baeb,  Die  hom.  Lokalitäten  in  der 
Odyssee  (in  dessen  Reden  III,  Petersburg 
1873,  13—61)  nach  dem  Schwarzen  Meer;  K. 
Jabz  in  Ztschr.  f.  wiss.  Geogr.  II  1881,  10  ff. 
und  Fr.  Soltau.  Die  Mythen  und  Sagenkreise 
in  Homer,  Berl.  1887,  nach  Teneriffa.  Den  vor- 
sichtigen Standpunkt  des  Eratosthenes  nimmt 
auf  M.  Hebot,  Quam  vere  de  Ulixis  enoribus 
Eratosthenes  iudicaverit,  Landshut  1887,  und 
Blätter  f.  bayer.  Gymn.  28  (1892)  83  ff. ;  ebenso 
K.  Breusino,  Die  Irrfahrten  des  Odysseus, 
Bremen  1889.  Die  Frage  ist  in  Zusammen- 
hang gebracht  mit  der  Vorstellung  vom  Ur- 
sprung der  Odyssee  aus  mehreren  älteren 
Epen  von  Wilamowitz,  Hom.  Unt.  163  —  198. 
Der  Sturm  bei  Maleia  i  80  f.  bildet  deutlich 
die  Überleitung  in  fabelhafte  Regionen,  in 
denen  einen  festen  Kurs  geographisch  veri- 
fizieren zu  wollen  vergebliches  Bemühen  ist; 
nur  noch  ein  allgemeines  geographisches 
Schema  der  vier  Himmelsrichtungen  schim- 
mert durch  (i  80  weist  nach  Süden,  «  25  nach 
Westen,  x  86  in  den  äußersten  Norden,  fi  3  ff. 
nach  Osten).  Daß  einzelne  Züge,  wie  die 
polaren  Beleuchtungsverhältnisse  bei  den 
Laistrygonen  (die  freilich  dann  in  die  Gegend 
von  Kyzikos  nicht  passen).  Realität  haben, 
ist  freilich  zweifellos.  Schwerlich  werden 
aber  die  neuerdings  in  Frankreich  gemachten 
Versuche,  der  Odyssee  zeitgeschichtliche  Be- 
richte abzunötigen,  zu  wissenschaftlich  halt- 
baren Ergebnissen  führen  (V.  B^rard,  Les 
Ph^niciens  etFOdyssee,  2  voll.,  Paris  1902  ff., 
und  an  ihn  anschließend  Ph.  Champault, 
Phöniciens  et  Grecs  en  Italic  d'apres  l'Odys- 
s^,  Paris  1906). 

^)  Gegen  Autopsie  spricht  deutlich  die 
ungenaue  Ansicht  von  Ithakas  Lage  Od.  t 
25  f.,   wo   id^l^^V   doli  äußersten  Horizont 


(ganz  drunten)  und  Ttawnsgxdxri  (offenbar 
falsch  infolge  mangelnder  Autopsie)  die  letzte 
(für  den  von  Osten  kommenden  Seefahrer) 
bedeuten  soll,  denn  Odysseus,  dessen  Heim- 
fahrt am  meisten  Zeit  und  Mühe  kostet,  muß 
eben  am  fernsten  wohnen.  Der  Dichter  scheint 
nur  von  Ithaka  als  einem  kleinen,  weit  nach 
Nordwesten  liegenden  Eiland  der  kephalleni- 
schen  Inselgruppe  gehört  zu  haben,  ohne 
selbst  in  jene  Gegend  gekommen  zu  sein. 
Der  von  früheren  Gelehrten  zur  detaillierten 
Ausmalung  des  homerischen  Ithaka  miß- 
brauchte Glaube  an  die  Autopsie  Homers 
wurde  mit  nüchternem  urteil  zerstört  von  R. 
Hercher,  Über  Ithaka,  Herm.  1  (1866)  263  ff. 
Entgegen  aller  Tradition  und  der  von  Homer 
n  251  vorausgesetzten  Kleinheit  der  Insel  sucht 
neuestens  zuerst  M^langes  Perrot,  Paris  1903, 
79  ff.,  dann  gegen  den  Widerspruch  von  Wila- 
mowitz (ßerl.  philol.  Wochenschr.  23,  1903, 
380  ff.)  W.  DöRPPELD,  Arch.  Anz.  1904,  65  ff. 
(Dörpfelds  beide  Aufsätze  jetzt  in:  Leukas, 
2  Aufs,  über  das  hom.  Ithaka,  Athen  1905)  und 
nach  ihm  K.  Reissinger,  Bayer.  Gymn.Bl.  39 
(1903)  369  ff.  und  ebenda  42  (1906)497  ff.,  E. 
Drerup,  Homer  122  ff.  (der  aber  Litt.  Central- 
blatt  1906,  864  sich  wieder  zurückzieht),  P. 
GössLER,  Leukas-Ithaka ,  die  Heimat  des 
Odysseus,  Stuttg.  1904,  P.  Cauer,  N.  Jahrbb.  f. 
kl.  Alt.  15  (1905)  14f..W.  v.Marbes,  ebendal7 
(1 906)  233  ff.  das  homerische  Ithaka  in  der  durch 
einen  schmalen  Sund  vom  Festland  getrennten 
Insel  (ursprünglich  Halbinsel)  Leukas.  Da- 
gegen G.  Lang,  Untersuchungen  zur  Geographie 
der  Odvssee,  Karlsruhe  1905,  Übersicht  bei 
H.  Draheim,  Wochenschr.  f.  kl.  Phil.  1906, 
1351  ff.  Eine  beachtenswerte  Instanz  gegen 
Dörpfeld  bringt  auch  E.  Bethe,  Rhein.  Mus. 
62  (1907)  326,  indem  er  aus  Strab.  452  schließt, 
daß  dem  Verf.  der  Alkmeonis  (s.  VI)  Leukas 
Leukas  und  Ithaka  Ithaka  gewesen  ist.  Bei 
der  Annahme  von  W.  Vollgraff  (N.  Jahrb. 
f.  kl.  Alt.  19.  1907,  617  ff.),  daß  die  ältesten 
Dichter  der  Vorlagen  unserer  Epen  nach  Aut- 
opsie berichtet,  die  Späteren  aber,  ohne  Aut- 
opsie, die  ursprüngliche  Deutlichkeit  der  Orts- 
schilderungen allmählich  verwischt  haben,  er- 
klärt sich  das  eigentümliche  Schillern  der 
Bilder  befriedigend.  Die  Sage  von  der  Ver- 
steinenmg  des  heimkehrenden  Schiffes  der 
Phäaken  (r  156  ff.)  scheint  ätiologisch  und 
durch  das  schiffsförmige  Felsriff  Pontikonisi 
südwestlich  der  Stadt  Korfu  veranlaßt  zu  sein. 


68 


Griechische  LitteraturgeBohichte.    I.  Klassische  Periode. 


Ebene  zur  Wirklichkeit  stimmt.  Selbst  das  griechische  Festland  kannten  die 
Dichter  des  alten  homerischen  Epos  schwerlich  aus  Autopsie;  dieses  hatte 
auch  inzwischen  so  gewaltige  Umänderungen  erfahren,  daß  einem  kleinasia- 
tischen Dichter  die  alte  Sage  bessere  Kunde  von  den  Königsburgen  in  My- 
kenai,  Tiryns,  Orchomenos  brachte  als  ein  eigener  Besuch  jener  Gegenden. 

So  führen  uns  also  auch  die  homerischen  Dichtungen  nach  dem 
äolischen  und  ionischen  Kleinasien  und  zeigen  uns  die  Sage  auf  der  Stufe, 
die  sie  auf  ihrer  Wanderung  von  Äolis  nach  den  ionischen  Niederlassungen 
des  mittleren  Küstenlandes  eingenommen  hatte,  bevor  sie  noch  weiter  nach 
Süden  gedrungen  und  auch  von  dort  durch  Einmischung  dorischer  Elemente 
bereichert  worden  war.  All  das  Gesagte  gilt  indes  nur  bezüglich  des  Kerns 
der  homerischen  Dichtungen.  Die  Eindichtungen  und  Zusätze  sind  ver- 
mutlich nicht  bloß  in  späterer  Zeit,  sondern  auch  an  verschiedenen  Orten 
entstanden  ;i)  aber  über  das  ionische  Kleinasien  hinaus  zum  griechischen 
Mutterland  führt  nur  der  Schiflfskatalog,  der  den  Charakter  der  böotischen 
Dichterschule  an  sich  trägt  und  wohl  auch  in  Böotien  entstanden  ist.^) 

•io.  Überlieferung  der  homerischen  Gedichte  in  der  frühsten 
Periode.  Wenn  im  homerischen  Epos  die  Sänger  Demodokos  und  Phemios 
ihre  Lieder  vom  Ruhm  der  Helden  zur  Phorminx  vortragen,  so  müssen 
wir  uns  dagegen  den  Vortrag  der  homerischen  Epen  selbst  ebenso  wie 
den  der  hesiodischen»)  als  bloße  Rezitation  ohne  Lyra  vorstellen.*)  Den 
homerischen  Dichtern  die  Kenntnis  und  den  ausgiebigen  Gebrauch  der 
Schrift  abzusprechen,  wie  Wolf  unter  dem  Beifall  vieler  Homerforscher 
getan  hat,^)  ist  nach  dem  gegenwärtigen  Stand  unseres  Wissens  gar  kein 
Grund.     Auch  die  Alexandriner  nahmen   zwar  an,   Homer  schildere  seine 


^)  A.  FiCK  in  seiner  Ilias  und  in  Hesiods 
Gedichte  S.  124  f.  sucht  zu  erweisen,  daß 
speziell  in  Kreta  die  Telemachie  und  Tisis 
und  von  der  llias  die  Gesänge  N  S  O  ent- 
standen seien.  Das  sind  luftige  Vermutungen, 
aher  genaue  Kenntnis  von  der  Sage  der 
Pylier  und  Epeier  zeigt  die  Episode  II.  A  668 
bis  763,  von  der  attischen  die  interpolierten 
Verse  Od.  /;  80  f.  und  r  518—24.  Jn  neuster 
Zeit  suchten  einzelne  Gesänge  auf  verschie- 
dene Lokalitäten  zurückzuführen  Wilamo- 
wiTZ,  Hora.  Unters.  26  und  81:  K.  Robert, 
Studien  zur  llias,  Berl.  1901, 565;  Jül.  Schultz, 
Das  Lied  vom  Zorn  Achills  88  ff.  Von  böotischen 
und  dorischen  Einschaltungen  spricht  E.  Tiirä- 
MER,  Pergamos,  Leipz.  1888, 111  ff.  122  ff.,  von 
rhodischen  Tu.  Berok.  Gr.  Litt.  I  559  f. 

2)  Der  Schiffskatalog  hatte  den  Titel 
Botonin,  weil  er  von  Böotien  ausgeht,  was 
mit  dem  Sammelplatz  der  Schiffe  in  Aulis, 
wahrscheinlich  aber  auch  mit  der  Heimat  des 
Dichters  zusammenhängt.  —  Mit  dem  Schiffs- 
katalog stimmt  im  Stil  der  Frauenkatalog 
in  der  Nekyia  Od.  /.  225—337,  was  wohl  auf 
die  gleiche  Herkunft  bezogen  werden  darf. 
Ober  den  'Hntodftos  /aoaxrr/o  K.  Leurs,  Ari- 
ötarch.»  337. 

')  Hes.  theog.  30;  Paus.  X  7.  2. 

'*)  So  richtig  Pind.  Isthm.  3,  55;   ebenso 


Archelaos  in  der  Apotheose  Homers  (A.  Bau- 
meister, Denkm.  des  kl.  Altert.  I  112),  wo  H. 
einen  Zweig  in  der  Rechten  hält.    Zwei  ver- 
räterische Stellen  der  Odyssee,  an  denen  der 
Vortrag  mit  xaiaXeyeiy  bezeichnet  wird,  s.  o. 
S.  26,  1.  Die  Griechen  guter  Zeit  haben  sich 
I   fast  ausnahmslos  den  Vortrag  des  homerischen 
I   Epos  als  bloße  Rezitation  gedacht  (Plat.  leg. 
!   II  658  b;   Aristot.  poöt.  1  p.  1447  a  28;    rhet. 
111  1   p.  1403b  23).     Dagegen  kommen   Be- 
hauptungen wie  die  des  Aristoxenos  (?)  bei  Ath. 
;   632  d  oder  des  Chamaileon  ebenda  620  c  und 
I   Sext.  Emp.  adv.  math.  VI  16  nicht  auf.    Wenn 
I   Stücke  aus  Homer  (von  Terpandros  Plut.  de 
mus.  3;  Stesandros  Ath.  638  a;  nichts  anderes 
,   meinen  vielleicht  auch  Chamaileon  und  Sext. 
I   Emp.)   oder  Hesiod    (Plut.  symp.  quaest  IX 
I   p.  736e.  743c)    nachträglich  komponiert  und 
1   lyrisch  vorgetragen  wurden,   so  ist  das  eine 
'   andere  Sache. 

^)  F.  A.  Wolf.  Proleg.  p.  73  sqq.;  M. 
Senoebusch,  Hom.  diss.  post.  27  ff. :  H  Düntzbr, 
Die  hom.  Fragen  S.  175  ff.;  L.  Friedländeb, 
Schicksale  der  homerischen  Poesie  S.  9.  Da- 
gegen G.W.  Nitzsoh,  Historia  Homeri.  Han- 
nover 1830.  1837;  ebenso  Th.  Berok,  Gr. 
Litt.  I  526  —  31.  Auch  Wilamowitz,  Hom. 
Unters.  S.  293  nimmt  für  die  Odyssee  den 
Gebrauch  der  Schrift  in  Anspruch. 


A.  Epos.    2.  Homers  Uias  und  Odyssee.    (§§  35—36.)  69 

Heroen  als  Analphabeten,^)  erkennen  dagegen  ihm  selbst  ohne  Einschränkung 
den  Gebrauch  der  Schrift  zu.*)  Es  wäre  auch  in  der  Tat  widersinnig, 
zwischen  zwei  notorisch  schriftkundige  Zeitalter,  das  mykenische  und  das 
ionische  von  ca.  700  an  (soweit  etwa  reichen  unsere  ältesten  Inschriften 
zurück),  ein  völlig  analphabetes  im  kleinasiatischen  Kolonisationsgebiet,  wo 
man  doch  achäische  Kulturtraditionen  weiterspann,  einzusetzen.  Der  Ein- 
wand von  Qrote  und  Wilamowitz,  aufgeschriebene  Gedichte  würden  in 
jener  alten  Zeit  keine  Leser  gefunden  haben,  trifft  die  Sache  nicht,  insofern 
doch  die  Aufzeichnung  ja  ihren  Sinn  auch  als  Substrat  für  das  Memorieren 
durch  die  Rhapsoden  hat;^)  er  würde  auch  noch  die  Zeit  des  Aischylos 
treffen,  die  ebenfalls  kein  Lesepublikum  hatte.  Die  Schwankungen  in  der 
homerischen  Prosodie  (so  daß  derselbe  Vokal  bald  kurz,  bald  lang  gebraucht 
wird,  daß  einfache  Liquida  oder  Digamma  oder  Muta  cum  liquida  bald 
Position  bilden,  bald  nicht),  die  schon  in  A.  Gieses  tüchtigem  Buch  über 
den  äolischen  Dialekt  (1837)  als  Beweise  für  eine  länger  dauernde  aus- 
schließlich mündliche  Verbreitung  der  homerischen  Gedichte  angeführt 
worden  sind,  haben  mit  der  Schriftfrage  gar  nichts  zu  tun,  sondern  gehen 
zurück  auf  gewisse  altertümliche  Lizenzen  des  Versbaus  und  prosodische 
Vergewaltigung  schlecht  oder  gar  nicht  in  daktylische  Verse  passender 
Silbenfolgen,  Dinge,  die  durch  die  Untersuchungen  von  W.  Schulze  und 
F.  Solmsen  aufgehellt  worden  sind,-*)  teils  auf  die  begreifliche  Vorliebe 
der  Dichter  für  (ältere  und  jüngere)  Doppelformen,  die  sie  nach  Bedarf 
abwechselnd  im  Vers  verwenden  konnten.  Daß  die  gedächtnismäßige 
Überlieferung,  deren  sich  noch  in  attischer  Zeit  eifrige  Homerverehrer 
befleißigten,^)  auch  von  Anfang  an  ihre  Bedeutung  hatte  und  unter  Um- 
ständen zur  Entstellung  des  schriftlichen  Textes  beitragen  konnte,  soll 
nicht  bestritten  werden. ß) 

36.   Die  Rhapsoden.     Verbreiter  der  homerischen  Gesänge  waren 
im  ganzen  Altertum  die  Rhapsoden  {^tpcodol).'^)     Diese  trugen  mit  einem 


*)  K.  Lehbs,  Aristarch.'  95.    Die  Stelle   1   quacst.  ad  IL  p.  94,  3  ff.  Schr.  gibt  sogar  den 
loseph.  c  Ap.  I  12 :  xai  q>aaiv  ovde  Tovioy  (sc.    1    Heroen  die  Schrift. 


Homer)  iv  ygdfifiaat  xijv  avtov  jioirjoiv  xataXi- 
jieiVf  dXXa  dtafirtjinovevofÄEVTjv  ix  täv  qofAdicov 
vciegov  avyiBiHjvai  xal  Öid  xovio  jtoXXdg  iv  avxfj 
o/«v  tag  6ta<f€oviag  darf  nicht  auf  die  alexandri- 
nische  Grammatik  zorückgeführt  werden,  steht 
vielmehr  im  Zusammenhang  der  jüdischen  Ten- 
denz, das  Vorhandensein  geschriebener  Werke 
der    griechischen    Litteratur    möglichst    tief 


3)  So  K.  L.  Kayskr,  Homer.  Abh.  24; 
schriftliches  Substrat  für  den  Rhapsoden  ist 
Xen.  mem.  IV  2,  10  vorausgesetzt. 

*)  W.  Schulze,  Quaestiones  epicae,  Güters- 
loh 1892;  F.  SoLMSBN,  Untersuchungen  zur 
griechischen  Laut-  und  Verslehre,  Straßburg 
1901. 

*)    Nikeratos    (Xen.  symp.  3,  5)    wußte 


hernnterzurücken,  um  der  jüdischen  Littera-   ,   Ilias   und   Odyssee,  Alexandros  d.  Gr.  (Die 


tur  die  PrioritÄt  vor  der  griechischen  zu 
sichern,  hat  also  überhaupt  keinen  wissen- 
schaftlichen Wert.  Auch  wo  im  Altertum 
von  dem  Zustand  der  Zerstreuung  der  home- 


Chr.  IV  39)  wie  G.  Hermann  die  Ilias  aus- 
wendig. Aehnliche  Leistungen  aus  der  Eaiser- 
zeit  an  Prosaikern  erwähnt  Suid.  s.  v.  2!a- 
kovoTiog  oviog.  Siehe  auch  Plat.  leg.  VII811  a. 


rischen  Gedichte  geredet  wird,  sind  dieselben  *)   Erster  Zeuge   für  den   buchhändleri- 

(80  richtig  Th.  Bibt,  Das  antike  Buchwesen  sehen  Vertrieb  der  homerischen  Gedichte  ist 

497,  2)   doch  immer  geschrieben  vorgestellt.  Xen.  mem.  IV  2,  10. 

Auch  Plut.  Lyc.4  will  nicht  besagen,  Lykurgos  ")  F.  G.  Wblcker,  Ep.  Cycl.  I  335  ff.  Die 

habe    die    Gedichte    überhaupt    zuerst    auf-  ältesten  Zeugnisse  für  Wort  und  Sache  geben 

geschrieben,   sondern   er   habe  sie   für  sich  1  Herodot.  V  67  und  der  in  Dodona  gefundene 

abgeschrieben  (iyoaxpaxo),  Dreifuß  mit  der  archaisch-ionischen  Inschrift 

')  Schol.  B   zu  3/  22.  P  719;    Porphyr.  I    TeQifuxkijg   xcji   Ai  Naicoi   Qaxpwiöog   ävi^jxe 


70  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

Stab  {§dßdog,  aioaxogY)  in  der  Hand  und  geschmückt  mit  einem  Kranz 
die  Verse  Homers  und  andere  zur  Rezitation  geeignete  Dichtungen  in 
Festversammlungen  {h  äyiboi)  vor.*)  Für  den  Vortrag  vor  größeren  Ver- 
sammlungen auch  des  niederen  Volkes,  wie  er  in  lonien  üblich  geworden 
sein  muß,  sei  es  im  Freien, «)  sei  es  bei  ungünstiger  Witterung  in  den 
UoxoLi  oder  Werkstätten,*)  eignete  sich  singender  Vortrag  mit  Begleitung 
der  dünnklingenden  Phorminx  nicht  mehr,  und  die  Rezitation  ohne  Instru- 
ment trat  an  seine  Stelle.  Homer  kennt  nicht  das  Wort,  offenbar  aber 
die  Sache.  ^) 

Die  Qabe  eigener  dichterischer  Erfindung  tritt  beim  Rhapsodenstand 
zurück.  Der  Name,  von  den  Alten  verschieden  abgeleitet,^)  ist  wohl  von 
Hause  aus  als  Spottname  gemeint^)  und  nach  Analogie  von  xi^agcpöög, 
avk(üd6g  ironisch  gebildet,  da  die  Rhapsoden  mit  dem  aÖEiv  überhaupt  gar 
nichts  zu  tun  hatten.  Daß  in  Tempeln,  bei  denen  musische  Agonen  statt- 
fanden, wie  in  dem  der  helikonischen  Musen,  früh  Exemplare  der  home- 
rischen Gedichte  zur  Kontrolle  oder  zum  Gebrauch  der  Rhapsoden  auf- 
bewahrt wurden,  ist  wahrscheinlich.®) 

37.  Da  die  Rhapsoden  verschiedener  Dichter  Werke  vortrugen,  so 
hießen  diejenigen,  die  im  besonderen  den  Homer  zum  Vortrag  sich  erkoren, 
'0/biT]Qidai^  so  bei  Pindar  Nem.  2,  1:  Sdev  jteg  xai  ^OjurjQidai  gajircbv  biicov 
ja  TioW  äoidoi  ägxovrai^  wobei  jedoch  die  Möglichkeit,  ja  Wahrscheinlich- 
keit offen  bleibt,  daß  der  Name  ursprünglich  nur  denen  zustand,  die, 
von  Homer  abstammend,  sich  die  Aufgabe  stellten,  die  Gedichte  des 
Ahnherrn  ihres  Geschlechtes  vorzutragen.^)  Durch  diese  Homeriden 
wurden  die  Werke  Homers  fortgepflanzt  und  rasch  über  Hellas  verbreitet. 
In  den  vielgestaltigen  Überlieferungen  von  der  Heimat  des  Homer  hat 
M.  Sengebusch  Anzeichen  von  den  Sitzen  solcher  Rhapsodenschulen  er- 
kennen wollen.  10)  So  wurden  die  Dichtungen  Homers  im  Lauf  des  7.  und 
6.  Jahrhunderts  über  ihre  Heimat  im  äolisch-ionischen  Kleinasien  hinaus 
nach   den  Inseln  und   dem  Mutterland  getragen.     Wenn  seit  Ephoros  die 


(C.CABAPANos,Dodone  et  sesruines,  Paris  1878,  |  ')  [Herodot]  vit.  Hom.  10. 

140  nr.  3;  II  pl.  XXIII  2).   Spätere  Zeugnisse  :  *)  Od.  a  329;  Hesiod.  op.  493.  501;  vgl. 

C.  V.  Jan,  Verh.  der  Züricher  Philologenvers.,  |  [Herodot.]  vit.  Hom.  9.  12.  15. 

1887,  72.  75;  J.  Frei,  De  certaminibus  thy-  ■  *)  Siehe  o.  S.  26.  1. 

melicis,  Basell900,20.  62ff.  Erst  im  4.  Jahrh.  |  «)    Unmöglich    ist    die   Ableitung   xarä 

n.  Chr.  verschwinden    sie    aus  den  dytbveg:  '  gdßdov  qöetv   Pind.  Isthm.  3,  56;   Callimach. 

Diomedes  in   H.  Keils  Gramm,  lat.  III 484.  1  fr.  38  Schn.  ;    richtig   die   von    ^djiretv  ejiij 

1)   Hesiod   erhält  (Theog.  30)    von   den  [Hesiod.]  fr.  265  Rz.;  Pind.  Nem.  2,  2. 

Musen  ein  axfjjtxQov,  6d<pvrjg  igt^kdog  SCov.  \  ')  Vom  Aneinanderflicken  epischer  Stel- 

*)  Über  die  Tracht  der  Rhapsoden  Haupt-  '  len,   wie  es   beim  Vortrag  i$  vjioßokfjg  oder 

stelle   Plat.    Ion  in.      Analog   ist   die    Sitte,  <  e$  vjio/Ltjyeeog  (s.  u.  S.  71,  11)  üblich  war. 

daß    den  Stab   oder  Zweig  der  Myrte   beim  |  ®)  Siehe  A.  Kirchhoff.  Berl.  Ak.  Sitz.- 

S^mposion  in  die  Hand  bekommt,  wer  nicht  her.  1893,  893  und  dazu  W.  Schmid,  Philol. 

singen  kann,   wenn   die  Reihe  des  Vortrags  i  61  (1902)  633  f. 

an   ihn   kommt:  Ar.  vesp.  1239;  nub.  1364.  |  ®)  Unter '0/i»/ß<örat  (Ath.  620b;  H. Reich, 

Theogn.  939  ff.;  Hesych.  s.  v.  jrgog  fiVQgivf/v  ■  Der  Mimus  I  226)  versteht  man  im  späteren 

gdnv.    Der  Sprechende  in  der  Versammlung  j  Altertum    Homerakteurs.     Übrigens  scheint 

erhält  bei  Homer  A  24b,  /'218.  ^'568,  ß  Hl  I  auf  schauspielerischen   Homervortrag   schon 

den  Stab  oder  das  oxfiTirgov.    Welcker,  Ep.  |  Ion  (Plat.  Ion.  535  b  c)  hingearbeitet  zu  haben. 

C^cl.  I  337  erinnert  an  den  Stab,  den  auch  *°)  M.  SENOEBUscH.Hom.diss.  po8t.p.85f. 

die  französischen  Nouvellistes  führten.  |  Dagegen  E.  Rohde,  Kl.  Sehr.  I  1  ff. 


A.  EpoB.    2.  Homers  Ilias  und  Odpisee.    (§37.)  71 

Legende  auftritt,  Lykurgos  habe,  sei  es  von  Samos,  sei  es  von  Chios,  sei 
es  von  Kreta  die  geschriebenen  Qedichte  des  Homer^)  nach  Sparta  ge- 
bracht, 80  kann  dieser  Fabel  die  historische  Tatsache  zugrund  liegen,  daß 
Homerrezitationen,  wozu  man  Rhapsoden  von  den  alten  Sitzen  des  home- 
rischen Gesanges,  zunächst  von  dem  befreundeten  Samos,  kommen  ließ,  in 
Sparta  früh  eingeführt  worden  sind.*)  Genaueres  erfahren  wir  über  die 
Verpflanzung  des  homerischen  Gesanges  nach  Sizilien  durch  ein  altes  Scho- 
lion  zu  Pindar,»)  wonach  der  Rhapsode  Kynaithos  aus  Chios,  dem  man 
auch  den  Hymnus  auf  Apollon  beilegte,  in  der  69.  Olympiade,  504/1  v.  Chr. 
den  homerischen  Gesang  nach  Syrakus  brachte.  An  dieser  Zeitangabe,  die 
wohl  urkundlich  begründet  ist,  braucht  nicht  gezweifelt  zu  werden,  da  es 
sich  nicht  um  private  tudei^eig  von  Rhapsoden  in  Syrakus,  sondern  um 
ihre  offizielle  Aufnahme  in  städtische  Agone  dort  handelt.  Vermutlich  ist 
den  Dorem  Homer  zunächst  nur  in  der  musikalischen  Bearbeitung  des 
Terpandros  bekannt  geworden;  empfanden  sie  doch  noch  in  Piatons  Zeit 
den  bei  Homer  dargestellten  ßiog  'Icovtxog  als  etwas  ihnen  Fremdartiges.^) 
Zuerst  scheinen  die  lakonischen  Dorer  den  Rhapsodenagon  staatlich  zu- 
gelassen zu  haben.  Bestimmte  Nachrichten  über  rhapsodische  Vorträge 
und  Wettkämpfe  haben  wir  überdies  von  Salamis  auf  Kypros,^)  Sikyon,®) 
Epidauros,'')  Brauron  in  Attika,^)  *  Athen.^)  Am  berühmtesten  wurden 
die  Vorträge  in  letztgenannter  Stadt  an  dem  alle  vier  Jahre  wieder- 
kehrenden Fest  der  Panathenaien.  Sie  waren  nach  dem  Zeugnis  des 
Redners  Lykurgos  durch  ein  Gesetz  angeordnet,  ^°)  das  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  auf  Selon  selbst  zurückging.  Zweifelhaft  ist  es,  ob  die  weitere 
Anordnung,  daß  bei  dem  Vortrag  die  einzelnen  Gesänge  in  richtiger  Ord- 
nung aufeinander  folgen  sollten,  gleichfalls  schon  von  Selon  ausging  und 
nicht  vielmehr  erst  unter  Peisistratos  durch  dessen  Sohn  Hipparchos  ge- 
troffen wurde.  ^^) 

*)  Diese  Nachrichten  bei  Heraclid.  Pont  |  Suidas  einen  Parthenios,  Sohn  des  Thestor 

pol.  II  2;  Flut.  Lycurg.  4;  Ephoros  bei  Strab.  und  Abkömmling  des  Homer  aus  Chios. 

482;  Ael.  var.  bist.  XIII  14  und  Dio  Chrys.  I  *)  Plat.  leg.  III  680c. 

11  45   betrachtet  Wilamowitz,  Hom.  Unters,  i  *)  Hom.  hymn.  VI  19  u.  X  4. 

271  mit  Unrecht  als  erdichtete  Dubletten  der  I  ®)  Herodot.   V  67:    Kletodiv^jg    'Agysioig 

Solonlegende.  Tatsächlich  geben  sie  die  ältere  1  ^oksjtii^aag    QmpqySovg    ejiavosv    h    Ztxviovi 

Tradition.  I  dycovi^ea^at  uov  'OfttjQtxMv  smorv, 

^)  Maxim.  Tyr.  diss.  23,  5.  1  ^)  An  den  Asklepien  nach  Fiat  Ion  in. 

•)  Schol.  Find.  N.  II  1 :  Vfirjgiöag   sXeyov  I  *)  Hesychios  s.  Boavgcovtotg  und  Athen. 

to  fiev  dgx^f^    rovg  outo  tov  'OfirJQOv  yevovg,  \  p.  275b. 

o?  xai    ttfv   jToifjotv   avxov  ex  diadoxijg  fjdov  *  ,  ®)  In  den  zusammengesetzten  musischen 

fieia  6i  ravia  xai  oi  oayff{}Soi  ovxhi  x6  ySvog  \  Agonen   seit   dem   4.  Jahrhundert,   über   die 

eig  X>/iTjgov   dvdyoyteg  '   imq)aveig  de  eyhovxo  ,  wir  inschriftliche  Nachrichten  haben,  behielten 

ol  siegi  Kuvatdov,    ovg   qpaai  TtoXXd  zmv  eji(x>v  \  die  rhapsodischen  die  erste  Stelle ;  s.  J.  Frei, 

TtoirioavTag  e/nßcüieTv  eig  xr^v  'OfufQov  jxoitjatv  '  De  certaminib.  thymelicis  62  ff. 

rjv  de  6  Ki'fvatüog  Xiog,  Sg  xai  xwv  imygaq^o-  ^^)    Isoer.   paneg.  159;    Fiat.  Ion  530b; 

/lerior 'Ofitjgov   jxotfffidxcov   xov  eig  *Aji6U,(ova  Lycurg.  in  Leoer.  102:  vofiov  ei^evxo  (sc.vfKov 

yeygaßtfjiivoy  v/nvov  Xeyexai  jte:iottjxevat '   ovxog  \  oi   Jiaxegeg)    xa&^    exdoxrjv   jxevxaerfjgiÖa    xmv 

ovv    6  Kvvai^og    jxgcoxog    ev  Zvgaxovaaig    ig-  ITava^^rjraicov    fim'ov  (sc.  'OjiiTJgov)  xwv  aKkoiV 

gay'foSrjae    xd  'Ofii^gov    ejxrj    xaxd   xrjv    e^rjxo'  \  jioiijxwv  gayffodeiaOai  xde:^i],Yg\.A.Moyiw.3ESf 

öxrjrewdxTjv'OXvfjuxtdöa,  d)g'I:i:i6oxgax6gq:Tjatv.  ^  Heortologie,  Leipz.  1864,  138. 

Die  Olympiadenzahl  wollte  Welcker,  wenig  i  ")  Dem  Solon   wird  die  Anordnung  zu- 

glanblich,  in  ixxrjv  rj  xijv  ewdxqv,  Düntzer  in  i  geschrieben  von  Diog.  I  57  und  Suid.  s.  vjio- 

eixooryv  ewdxrjv  ändern.   Außerdem  erwähnt  |  ßoXrj  auf  Grund  der  Angabe  des  Historikers 


72 


(Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


38.  Angebliche  Redaktion  des  Peisistratos.  Die  Nachricht  von 
einer  Zusammensetzung  der  angeblich  vorher  zerstreut  gewesenen  homeri- 
schen Qedichte  durch  Peisistratos,  für  die  F.  A.  Wolf  irrigerweise  die  vox 
totius  antiquitatis  als  Zeugnis  anrief,  tritt  zuerst  bei  Cicero  auf,^)  der  sie 
selbstverständlich  aus  griechischer  Quelle,  und  zwar  aus  Asklepiades  von 
Myrleia,^)  einem  wenig  älteren  Grammatiker  des  ersten  vorchristlichen  Jahr- 
hunderts, geschöpft  hat;  sie  ist  offenbar  nicht  so  gemeint,  als  wären  die 
homerischen  Gedichte  vor  Peisistratos  überhaupt  nicht  geschrieben  gewesen. 
Von  einer  Beschäftigung  des  Peisistratos  mit  dem  Homertext  weiß  unsere 
Tradition  bis  in  das  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  nichts;  die  von  Ephoros  zuerst 
vorgetragene  Legende  über  Lykurgos^)  schließt  das,  was  von  Peisistratos 
gemeldet  wird,  geradezu  aus.  Dagegen  wollte  man  wohl  schon  im  5.  Jahr- 
hundert wissen,  daß  die  bei  den  Panathenäen  üblichen  rhapsodischen  Homer- 
rezitationen^)  von  Selon  oder  dem  Peisistratiden  Hipparchos  eingeführt 
worden  seien.  Diese  Tradition  wiederum  scheint  einigen  megarischen  Lokal- 
historikern, die  dem  Anspruch  Athens  auf  die  früher  einmal  von  Megara 
besessene  Insel  Salamis  seine  Rechtfertigung  aus  der  Diasstelle  B  557  f.*) 
entziehen  wollten,  nämlich  dem  Hereas«)  und  Dieuchidas,')  Anlaß  gegeben 
zu  haben  zu  der  weitergehenden  Behauptung,  Selon  (so  sagt  Hereas  bei 
Plut.  Sol.  10)  oder  Peisistratos  (so  derselbe  bei  Plut.  Thes.  20  und  Dieu- 
chidas),  die  ja  beide  bei  dem  athenisch-megarischen  Krieg  um  den  Besitz 


Dieuchidas.  der  vor  Strabon  (p.  394)  lebte: 
TCL  Te'OfAt)oov  e$  vjtoßokfjg  yeyoaq?F  oai^*o}detö&ai, 
olov  Sjtov  6  jTQcJTOs  ^hf^et',  ß.?eeWev  äoj^eo&ai 
tov  ixoiiievov,  dem  Hipparchos,  der  über- 
haupt nach  Herodot  VII  6  (vgl.  Aristot.  Ath. 
resp.  18, 1)  seinen  Vater  Peisistratos  in  seinen 
wissenschaftlichen  Unternehmungen  wesent- 
lich unterstützte,  nach  Ps.Plato  Hipp.  p.  228  b 
(daraus  Ael.  var.  bist.  VIII 2):  t«  'O/i^^oi»  fjitj 
jiocöxog  ixofUöFy  eig  rijv  yfjv  Tavtrjrt\  xat  ijyay- 
xaoe  Toi'g  gayrodovg  Ilavadtjvaioig  i^  vjio- 
h'nifeoyg  dnh'at,  toonsQ  r?»'  oiÖe  jioiovoi.  Zwischen 
ik  tKioßol^g  «nach  Anleitung"  und  /^^  r.To- 
X/Hf>Fiog  «nach  der  Reihe**  mag  ursprünglich 
ein  Unterschied  bestanden  haben,  hier  aber 
sind  die  beiden  Ausdrücke  offenbar  gleich- 
bedeutend gebraucht.  Über  die  Bedeutung 
von  s^  vjToßoXfic  (auch  auf  einer  Inschrift  von 
Teos  über  Schüleragone  CIG  3088)  G.  W. 
NiTzscH,  Sagenpoesie  413  ff.,  E.  Rohde,  Kl. 
Sehr.  1 103  und  Wilamowitz,  Hom.  Unt.  264  ff. 
^)  Cic.  de  or.  III  137  (geschrieben  a.  55 
v.  Chr.)  qtti  (PisistratusJ  primus  Homeri  libros 
cofifufios  antea  sie  diaposuisse  dicitur^  utnunc 
habemtis.  Spätere  Stellen  Ael.  var.  bist.  XIII 14 
{ort'ayay(ür  djtfqr'ijve  xifv  Iktdöa  xai  'Oövoaeiav)^ 
Paus.  VH  26,  6  {enri  xd  'OfirjQov  öieonao^iva 
xe  xai  u/Mt  dkXaxo?  fn'Tjfiovsvofuva  rjOootCe); 
lul.  Afric.  Kfotoi  in  Oxyrhynch.  pap.IIIp.39; 
Liban.  or.  XII  56  Förster;  id.T.  III 25  Reiske; 
Epigr.  Anth.  Pal.  XI  442  (=  I.Bekker,  Anecd. 
p.  766).  Die  Meinung  von  Weloker  (Ep. 
Cykl.  I  354)  und  Nützhorn  (Entst.  63),  dieses 
Epigramm   sei   die   Quelle   der  Peisistratos- 


legende,  ist  widerlegt  von  R.  Volkmahh, 
Gesch.  u.  Kritik  355  und  H.  Flach,  Peisistr., 
Tübingen  1885.  5  ff. 

*)  So  hat  G.  Kaibel.  Abh.  der  Gott.  Ges. 
der  Wiss.  N.  F.  II  1897/99  nr.4,26,  aus  Said.  s. 
V.  'Ogifm^g  Kgoxwvtdxtjg  geschlossen  (s.  a.  B.  A. 
Müller,  De  Asclepiade  Myrl.  Diss.  Leipzig 
1903,  43).  Gegen  H.  Düntzbbs  Meinoog 
(Homer.  Abhandlungen  17  f.;  Homer. Fragen 
188),  die  Nachricht  stamme  aus  Dikaiarchos, 
s.  R.  VoLKMANX,  Osterprogramm  von  Janer 
1887.  S.  5  ff.  Der  Name  des  Athenodoros 
Kordylion,  auf  den  H.Flach.  Peisistr.  11  ff.  n. 
WiLAMowiTZ,  Homer.  Unters.  261.  24,  Wert 

I  legten,  verdankt  seine  Nennung  in  diesem  Zn- 
sammenhang  lediglich  einer  paläographischen 
Konjektur,  die  an  den  Rand  des  Tzetzestextes 
im  Cod.  Paris,  s.  XVI  nr.  2677  geschrieben  ist 
(Comicor.  Graecor.  fr.  ed.  Kaibel  I  p.  20,29)  um 
das  unsinnige  Wort  F.ii  xoyxvhß)  zu  verbessern. 
3)  Ephor.  fr.  64  M.;  s.  E.  Rohdb,  Kl. 
Sehr.  I  21  ff. 

I  *)  Siehe  o.  S.  71,  11. 

I  ^)  Vgl.   über  die  Berufung  auf  Homer 

Aristot.  rhet.  II  15  p.  1375b  30. 

j  «)  Plut.  Thes.  20.  Sol.  10. 

I  ^)  Diog.Laert.  157;  die  Stelle  ist  jedenfalls 

dem  Sinn  nach  richtig  ergänzt  von  F.  Ritsohl, 
Die  alexandrin.  Bibliotheken,  Bresl.  1838,  64: 
fiä/J.ov  orv  2l6},(ov  XJutjoov  F<piOTioFv  ij  JJetai' 
axgaxog  K.og.iFg  av/.AF$a;  xd  'Ofif/fjov  FVFjxoiijai 
xiva  Fig  xrjv  'A^jvatojv  ;jfaoa'>  wg  (ptjai  Aisv- 
Xidag  Fv  jiE^uixco  MFyaotxtbv.  t)v  Sf  ftakiara  zä 
FJit)  xavxi  (B  546  ff.).  ' 


A.  Epos.    2.  Homers  Ilias  und  Odpisee.    (§  88.) 


73 


von  Salamis  beteiligt  gewesen  waren,  hätten  zugunsten  Athens  den  Homer- 
text  interpoliert,  insbesondere  die  ganze  Stelle  B  546 — 558  eingeschoben. 
Die  Alexandriner  nahmen  an  den  von  dieser  Seite  beanstandeten  Versen 
zwar  ebenfalls  Anstoß,  begründeten  diesen  aber  auf  andere  Art,^)  haben 
also  von  jenen  megarischen  Behauptungen  entweder  nichts  gewußt  oder 
sie  für  wissenschaftlicher  Beachtung  ganz  unwert  gehalten.*)  Die  mega- 
rischen Historiker  mögen  etwa  im  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  geschrieben 
haben.*)  Die  Benützung  ihrer  lediglich  politisch  gemeinten,  tatsächlich 
ganz  windigen  Verdächtigung  zur  Grundlage  einer  litterarhistorischen 
Hypothese,  die  wohl  zur  Beantwortung  der  seit  dem  Einsetzen  der  ale- 
xandrinischen  Homerkritik  aktuell  gewordenen  Frage  nach  der  Herkunft 
der  Homerinterpolationen  beitragen  sollte,  scheint  das  Werk  des  Askle- 
piades  zu  sein.  Der  Vorwurf  der  Textfalschung  wurde  nun  von  Solons 
geweihtem  Haupt  ab  auf  Peisistratos  allein  geleitet,  an  dessen  Hof  ja 
auch  sonst^)  gefälscht  worden  sein  sollte.  Aus  dem  Fälscher  Peisistratos 
wird  aber  schließlich  der  „Ordner",  der  also  das  eigentlich  Größte  an  den 
homerischen  Epen,  die  von  Aristoteles  und  Quintilian  so  hoch  bewunderte 
dispositio  totius  operis  erst  gemacht  haben  soll.  Weiterhin  wird  dann  dem 
Peisistratos  eine  Redaktionskommission  unterstellt,  in  der  sich  neben  dem 
altberüchtigten  Fälscher  Onomakritos  von  Athen  noch  Zopyros  von  Hera- 
kleia  und  Orpheus  von  Kroton  befinden;^)  zuletzt  wird  gar  eine  Homer- 
septuaginta  daraus.^)  Geschichtlich  ist  an  alledem,  wie  zuerst  K.  Lehrs 
betont,')  aber  schon  d'Aubignac  bemerkt  hat,  rein  gar  nichts,  und  der  Glaube 
an  die  Peisistratosredaktion  wird  heute  kaum  von  einem  ernsthaft  zu  neh- 
menden Forscher  mehr  bekannt,  wie  denn  auch  die  Nachforschung  nach 
weiteren  Indizien  peisistratischer  Interpolation  über  das  von  den  Megarern 
Angeführte  hinaus  weder  im  Altertum*)  noch  in  der  Neuzeit  irgend  nennens- 
werten Ertrag  gebracht  hat.  Dagegen  hat  uns  die  Abräumung  des  Akro- 
polisplateaus  von  Athen  bis  auf  den  natürlichen  Felsen  gezeigt,  daß  hier 
schon   in  mykenischer  Zeit  ein  bedeutender  Herrensitz  gewesen  ist,   über 


')  Schol.  A  zu  r230;  Strab.  394.  Der 
Vers  B  558  fehlte,  offenbar  infolge  der  ari- 
starchischen  Athetese,  schon  in  antiken  Aus- 
gaben nach  Qnint  inst.  or.  V  11,  40  und  fehlt 
auch  im  Cod.  Ven.  A,  einem  Papyrus  des 
5.  Jahrhunderts  n.  Chr.,  ttber  den  s.  A.  Lud- 
wich, KOnigsbcrger  Index  lectionum  1892/93 
p.  12  und  Tebtun.  pap.  IL 

')  F.  RiTSCHLs  Argum.  ex  silentio,  als  setz- 
ten die  Alexandriner  die  Peisistratosredaktion 
stillschweigend  voraus,  ist  unmöglich. 

*)  Die  von  A.  v.  Gutschmid  (bei  H. 
Flach,  Peisistr.  18  A.  59)  und  Wilamowitz 
in  den  homer.  Untersuchungen  für  frühere 
Ansetznng  angeführten  Gründe  sind  nicht 
zwingend;  Megara  ist  auch  im  3.  und  2.  vor- 
christl.  Jahrhundert  nicht  so  politisch  null 
und  andrerseits  Athen  nicht  so  mächtig  ge- 
wesen, daß  die  alte  Rivalität  um  Salamis 
nicht  auch  in  hellenistischer  Zeit  noch  denkbar 
wäre;  vgl.  z.  B.  Ch.  Michel,  Recueil  d'inscr. 
Grecques  nr.  20;  Polyb.  XXXIX  8,  2;  Th. 


MoMMSEN,  Rom.  Gesch.  V  255).  Die  Grenze 
nach  unten  gibt  Strab.  394. 

*)  Herodot.  VII  7. 

^)  Tzetzes  bei  G.  Kaibel,  Com.  gr.  fr.  I  1 
p.  20,  27  ff.;  23,  31  ff.;  30,  170  ff:  eijiov  avv- 
i^slvai  tov  "Ofuigoy  im  TlFiaiöTQdxov  eßdoiitj- 
xovta  ovo  aoffovg,  dtv  ißdojutjxovxa  ovo  eivai 
xai  TOV  Zrjvohoxov  xal  lov  ^AqIotoqxoVj  xaizoi 
xnaadgcov  ovzcov  em  ThiotoiQdrov  ain^OrvTCOv 
xov  "OfiTiQOVf  oixiveg  sioir  oviot '  *Ejiix6yxvXog 
(verderbt  aus  Liixa;  xrxXog,  aus  "Oxfllog 
nach  D.  Comparetti),  Uyo/tdxoirog  'A^rjvaTog, 
Zo)Jivo(K'JfoaxX۟jzTjg  xal  X)gq}evg  KgoTcovtdTTjg. 
Schol.^  Plaut,  bei  G.  Kinkel,  Ep.  gr.  fr.  p.  239  L 

^)  So  Heliodoros  nach  dem  6.  Jahrb. n.Chr. : 
G.  Kaibel.  Abh.  der  Gott.  Ges.  der  Wiss.  N.F. 
II  nr,  4,  47.  Weiteren  byzantinischen  Unsinn 
s.  R.  Volkmann,  Gesch  u.  Kritik  853. 

')  K.  TiEHBS,  Aristarch.«  437  ff.;  s.  a.  A. 
Lud  WICH,  Aristarchs  hom.  Texktkrit.  II  390  ff. 

®)  P.  Cauer,  Grundfragen  der  Homer- 
kritik, Leipz.  1895,  87  f. 


74  GriecblBclie  litteratnrgeschichte.    I.  KlaBsisehe  Periode. 

dessen  Erwähnung  auch  in  den  frühsten  Teilen  der  homerischen  Gedichte 
sich  zu  verwundem  man  demnach  keinerlei  Veranlassung  hat.  Ein  Rudi- 
ment von  der  Peisistratoslegende  lebt  noch  in  dem  Glauben  an  eine  wenn 
nicht  sachliche,  so  doch  sprachliche  „attische  Interpolation"  oder  „Attiki- 
sierung"  des  Homertexts,  für  die  aber  eine  wissenschaftliche  Beweisführung 
bis  jetzt  noch  aussteht.  Mit  der  Legende  von  der  Redaktion  des  Peisi- 
stratos  hängt  wahrscheinlich  die  andere  von  seiner  Bibliothek  und  ihrer 
Entführung  durch  Xerxes  zusammen.  >) 

39.  Einfluß  der  homerischen  Gedichte.  Homer  wurde  früh  der 
Nationaldichter  der  Hellenen;  in  den  Helden  der  Dias  und  Odyssee  fanden 
sie  die  schönsten  Eigenschaften  ihres  Volkes,  heldenhafte  Tapferkeit  und 
erfinderische  Klugheit  verkörpert.  Mit  der  allgemeineren  Verbreitung  der 
Gedichte  durch  die  Schrift,  den  rhapsodischen  Vortrag,  die  Einführung  in 
den  Schulunterricht*)  wuchs  ihr  Einfluß  auf  das  ganze  Geistesleben  der 
Nation.  Homers  Anschauungen  von  den  Göttern  blieben  neben  denen  des 
Hesiod  maßgebend  für  die  griechische  Theologie  und  die  allgemeinen  Vor- 
stellungen der  Gebildeten  vom  Wesen  und  Walten  der  Götter.^)  Aus  seinen 
Mythen  sog  die  chorische  Lyrik,  insbesondere  aber  die  Tragödie  ihre  beste 
Nahrung,  wie  denn  Aischylos  seine  Dichtungen  Brosamen  von  der  reich- 
besetzten Tafel  Homers  nannte.*)  Die  von  ihm  in  Worten  gezeichneten 
Typen  der  Götter  und  Heroen  schwebten  den  Künstlern  bei  ihren  Schöp- 
fungen als  Norm  vor,  wie  Pheidias,  um  die  Majestät  des  olympischen  Zeus 
auszudrücken,  sich  die  Verse  des  ersten  Gesangs  der  Dias  A  528  flf.  vorhielt: 
f]  xal  xvavef}oiv  in  öqygvoi  vevoe  Kgovicov' 
äfißgöoiai  d*  äga  ;farTa£  IjiEQQdyoavro  ävaxrog 
XQaxog  d^r'  d^avdroio,  [xeyav  ö*  Hehler  ^Okvfjmov.^) 
Die  ganze  griechische  Litteratur,  die  Gesprächsformen  der  gebildeten  Grie- 
chen'') waren  durchsetzt  von  Reminiszenzen  an  die  homerischen  Gedichte. 

Es  schwanden  so  vor  dem  Lichtblick  homerischer  Idealgestalten  die 
rohen  und  abergläubischen  Vorstellungen  der  älteren  Zeit,  und  unter  dem 
Einfluß  der  Sonne  Homers  durchdrang  ein  hochstrebender,  idealer,  auf- 
geklärter Sinn  die  ganze  Nation.  Von  besonderer  Wichtigkeit  für  die  Ent- 
wicklung der  griechischen  Religion  war  die  in  den  homerischen  Gedichten 
sanktionierte  Auslese  vorwiegend  reingriechischer  Göttertypen  aus  der  Un- 
zahl großenteils  halb  oder  ganz  barbarischer  und  primitiver  Lokalkulte 
und  der  resolute  Anthropomorphismus  dieser  homerischen  Götter.  Je  fester 
der  Gottesbegriflf   in    menschliche  Form    geschlossen   wurde,   desto    mehr 

*)  Gell.  VII  17,  1    (aus  Varro   de  biblio-      Tragödie  auf  Ilias  und  Odyssee  zurück.     In 
thecis?);  Ath.  8a;  Hieronym.  ep.  34, 1.  der  Apotheose   des  Homer   (A.  Baumeister, 

^)  Xenophan.  fr.  10  Diels.  Denkmäler  I  112)   huldigen  dem  Homer  die 

')  Herodot.  II  53 ;  Simonides  im  Gnomo-       allegorischen   Figuren   der  Iloitjaig,  'loxoQia, 

7oayo)6iaf  Ko)fio}öia. 

^)  Strab.  354;  Dio  Chr.  XII  25;  Procl. 
ad  Plat.  Tim.  I  p.  265.  18  Diehl;  Quelle  fftr 
diese  alle  Poseidouios.  Über  den  Einfloß 
Homers  auf  die  Bildung  der  Götterideale  H. 
Brunn,  Griech.  Götterideale,  München  1893. 
•)  J.  Teufer,  De  Homero  in  apophtheg- 
matis  usurpato,  Leipz.  1890. 


logium  Vaticanum  (L.  Sternbach,  Commentat. 
in  hon.  Ribbeckii,  Leipz.  1888,  358)  2!ifuüvtd7jg 
i6v  'Haioöov  xtjjtovnov  fXeye,  rov  dk  "Ofitjoor 
öTfqrm'r]jT/.6xor,  xov  fikv  w?  q-vrevoavia  rag  jifqi 
t?fö>v  9<ai  ijOiowv  fJi'Ooloyin^,  rov  Sk  w-;  f| 
avTiüv  avfi.iXe^avTa  toi»  *J/udSog  xai  XJdvoanag 
oii(favo%'. 

*)  Ath.  347  e.     Aristot.  poöt.  4  führt  die 


A.  EpoB.    2.  Homers  IliaB  und  Odyssee.    (§§  39-40.)  75 

mu&ten  die  in  aller  primitiven  Religion  stark  vorwiegenden  Beängstigungs- 
gefühle verdrängt  werden,  die  „Götterangst*  (deioidaijLiovla)^  die  von  nicht 
körperlieh  festgelegten  Seelenwesen  ausgeht.  Homers  Religion  stellt  auf 
dem  Weg  vom  Animismus  zur  ethischen  Vernunftreligion  eine  weit  vor- 
geschobene Stufe  dar.  Auch  dem  Unterricht  und  den  Übungen  im  Lesen, 
Memorieren  und  Erklären  wurden  frühzeitig  homerische  Verse  zugrunde 
gelegt,  so  daß  es  nicht  wenige  gab,  welche  die  ganze  Rias  auswendig 
wußten.^)  Kurz  nach  allen  Seiten  drang  Homer,  der  Dichter  xaj  i^oxtjv, 
in  das  Nationalbewußtsein  der  Griechen  ein,  so  daß  selbst  Piaton,  der  sonst 
den  Dichtern  wenig  hold  war,  unumwunden  zugab,  Homer  verdiene  Griechen- 
lands Erzieher  zu  heißen.*) 

40.  Anfänge  der  homerischen  Studien.  Nachdem  der  Text  der 
homerischen  Gedichte  durch  die  Schrift  fixiert  und  sein  Bestand  etwa  seit 
dem  6.  Jahrhundert  v.  Chr.  infolge  der  Einführung  der  Gedichte  in  Schulen 
und  Agone  unter  eine  gewisse  öffentliche  Kontrolle  gestellt  war,  hat  die  dar- 
auffolgende Zeit  bis  zu  den  Alexandrinern  weder  in  der  Gestaltung  des  Textes 
wesentliche  Änderungen  noch  bedeutende  Leistungen  für  das  Verständnis 
und  die  Erklärung  des  Dichters  gebracht.^)  Einige  bis  in  unsere  Texte  fort- 
gepflanzte Irrtümer  in  Wiedergabe  der  alten  Sprachformen  mögen  bei  der 
Umsetzung  des  Textes  aus  dem  altionischen  in  das  neuionische  Alphabet*) 
(durch  die  fieTaxagaxrrjQioavzeg  oder  fiexayQaipdfievoi)  eingedrungen  sein.^) 
Den  Homer  eingehend  und  fortlaufend  zu  kommentieren  fand  man  in  dieser 
Zeit  noch  nicht  notwendig,  wiewohl  schon  mit  Hesiod  die  Spuren  der  Un- 
sicherheit über  die  Bedeutung  homerischer  Glossen  beginnen  und  in  dem 
Athen  des  5.  Jahrhunderts  Homers  Sprache  keineswegs  ohne  weiteres  ver- 
standen worden  ist.^)  Doch  fing  das  Reflektieren  über  Homer  an:  teils 
suchte  man  Näheres  über  die  Person  des  Dichters,  sein  Geschlecht  und  das 
Schicksal  seiner  Werke  zu  ermitteln,')  teils  versuchte  man  seinen  Witz 
an  der  Beanstandung   eines  und  des   andern  Ausdrucks,   teils  endlich  be- 


*)  Siehe  o.  S.  69,  5  und  über  die  wech- 
selnde Beliebtheit  beider  Gedichte  o.  S.32,  1. 
*)  Plat  reip.  X  606  e :  r^v  'EXldöa  Jienai- 


sten  Od.  rj  107,  wo  statt  xatgovaaewv  über- 
liefert ist  xaiQoaecDv.  Siehe  W.  Christ, 
Proleg.  p.  104 — 115.  Jene  Umschreibung  wird 


devxer  oviog  6  jioirfirjg.  Protag.  339  a :  ;ra£«^«a?    i   in  Abrede  gestellt   von  Wilamowitz,   Hom. 
lAiytatov  fiigog  :iegl  ijicüv  dsivov  eivai.   Ein  Lob       Unters.  286  ff.  und  A.  Lüdwich,  Arist.  hom. 


Homers  in  anapästischen  Monometem  aus 
8.  L  p.  Chr.  oder  früher  Berl.  Klassikertexte 
V  2  S.  133  f. 

•)  üeber  die  geringen  Leistuugen  der 
ylioaaoygcupot  s.  K.  Lbhrs,  Aristarch.*  36  ff. ; 
ein  Schulmeister,  der  sich  mit  Homerdiorthose 
abgibt,  erscheint  in  der  Alkibiadesanekdote 
Flut.  Ale.  7. 

^)    Dieses   begegnet   freilich  schon   auf 


Textkr.  II  420  ff.  Siehe  dagegen  P.  Caüer, 
Grundfragen  69  ff.  Wie  geläufig  dem  spä- 
teren Altertum  der  Begriff  des  fisiaxagaxTrj- 
gi'Cftv  war,  zeigt  sich  in  seiner  falschen  An- 
wendung auf  den  Hippokratestext  bei  Galen 
(L.  0.  Bröcker,  Rhein.  Mus.  40,  1885,  420). 
Auch  die  Zerdehnung  suchte  J.  Wackerxaoel 
(Bezzenb.  Beitr.  4, 1878.259  ff.)  aus  graphischen 
Irrtümern,  die  sich  im  Lauf  der  Textgeschichte 


Inschriften  des  7.  Jahrhunderts,  gekennzeich-   I   eingeschlichen  hätten,  zu  erklären,  schwerlich 
net  durch  das  Fehlen  des  /,  die  Wertung  H  ;   richtig   (G.  Cürtiüs   in   seinen    Studien   III 


=  6,  die  Verwendung  der  giiechischen  Zu- 
satzzeichen  *,  X  (=  kh),  y'  (=  ps),  Ü  und 
der  Eonsonantengemination. 

*)     So   r  201     TQOLtprj    für   TQOKfSV,    II  434 

fygero  für  tjygexo,  elog  für  yog,  eiaxai  für 
fjauu  a.  ä.,  fMLxrjoofJUu  neben  fiaxeooofiat, 
^edrtfcjg  neben  te{hei€og.    Am  einleuchtend- 


192). 

«)  Aristoph.  fr.  222  K. ;  M.  Bodenheimer, 
De  Homericae  interpretationis  äntiquissimae 
vestigiis,  Diss.  Straßb.  1890;  J.  Wackernagel, 
Ztschr.  f.  vergl.  Sprachf.  83  (1895)  48  ff. 

')  Siehe  o.  S.  33  f. 


76 


Griechische  Litteratnrgeachichte.    I.  Elassische  Periode. 


kämpfte  man  des  Dichters  Ansichten  über  die  Götter  oder  legte  den  dies- 
bezüglichen Worten  einen  geheimnisvollen  Sinn  {vjiovoia)  unter.  Dahin 
gehörten  im  allgemeinen  die  Arbeiten  der  alten  Homeriker,  von  denen 
Aristoteles^)  sagt,  daß  sie  die  kleinen  Ähnlichkeiten  sahen,  die  großen 
übersahen.  Namen  gibt  Piaton  im  Eingang  des  Ion;*)  zu  den  dort  ge- 
nannten, Metrodoros,*)  Stesimbrotos,  Qlaukon,*)  kommt  noch  Theagenes 
von  Rhegion  aus  der  Zeit  des  Kambyses,  der  zuerst  über  Homer  geschrieben 
haben  soll  und  deshalb  auch  der  erste  Grammatiker  genannt  wird.^)  An- 
derer Art  waren  die  hauptsächlich  auf  Herausstellung  und  Lösung  von 
Schwierigkeiten  und  Widersprüchen  gerichteten  Bemerkungen  der  Philo- 
sophen und  Sophisten  (Cj^r^y/iara,  auch  äTiogi^juara,  xai  Xvoeig).  Von  den 
älteren,  Demokritos,®)  Anaxagoras,  Hippias  von  Thasos,  ist  uns  nichte  er- 
halten, dagegen  liegen  uns  noch  viele  derartige  Streitfragen  vor  bei  Ari- 
stoteles poöt.  25,  einem  Kapitel,  das  wohl  die  Quintessenz  aus  des  Aristo- 
teles Jugendschrift  äjioQijjuata  'OjutjQixd  enthält  und  uns  zeigt,  daß  auch 
die  aberwitzigen  Beinstellereien,  die  der  kynisierende  Sophist  ZoYlos  von 
Amphipolis  in  seinen  9  Büchern  'OjurjQojLidon^'')  an  Homer  übte,  ernsthaft 
genommen  worden  sind.  Eine  ironisch  gemeinte  Probe  orthodoxer  Homer- 
erklärung gibt  Piaton  im  Kratylos  (391  d — 396  c).  In  die  Problemlitte- 
ratur  schlagen  auch  Arbeiten  des  Duris  von  Samos  und  des  Hermo- 
genes  von  Ephesos»*)  ein.  Großen  Respekt  flößt  uns  die  Interpretations- 
kunst der  voralexandrinischen  Homerphilologen  nicht  ein,  wenn  z.  B.  der 
Widerspruch  im  Eingang  der  Doloneia  zwischen  Tiävxeg  fiev  §a  ^eol  xe  xal 
ävEQeg  bijioxoQvorai  tifdov  nawvxi'Oi  {K  1  f.)  und  ^  roi  8t  ig  ttsöIov  tö  Tqcdücöv 
&&Q})oei£v  (nämlich  Zeus),  avlibv  ovgiyycov  ^'Sjüiadov  (K  II.  13)  mit  der  An- 
nahme gelöst  wird,  daß  Tidvxeg  metaphorisch  für  noXkoi  stehe.®)     Die  hef- 


»)  Metaph.  A'  6  p.  1093a  26:  o^aoioi  dr/ 
xal  ovTot  Tolg  doxaioi^  'Oftrjoixoig,  oi  fiixQag 
oitioinTt^Tag  SgAai,  jUEydXag  Sk  Jiaoog(ooiv. 

*)  Vgl.  M.  Senoebusch,  Hom.  diss.  prior 
133  f.;  Xen.  conv.  3,  6;  Aristot.  poet.  25 
p.  1461b  1. 

3)  W.  Nestle.  Philol.  66  (1907)  503  ff. 

*)  Für  Glaukon  ist  im  Schol.  B  zu  A  636 
Glaukos  verschrieben. 

»)  Schol.  B  ad  II.  r  67  p.  231, 27  Dind.: 
ovtck:  fiev  ovv  xoonog  ojioXoyiag  aQ^aiog  wv 
Tidvv  xai  Qjio  ßeayivovg  tov  'PrjytvoVf  og  jigcö- 
zog  tygayie  jieQt  'Ojti/iQov ;  Tatian.  adv.  Graecos 
c.  31:  Jieoi  ydg  xijg  'O/n^gov  Jtottjoeog  yivovg 
TS  avTOV  xal  X9<^^'ov,  xa&*  ov  rjx/iaaer,  :igo- 
TjgF.vrtjoav  jrofoßvTaToi  fih'  Ssayh'Tjg  rs  6 
'P/fyh'og  xaid  Kafißvarjv  yeyovwg  ^xt]oi^ißgo- 
x6g  tf  6  Gdotog  xal  !AvTtfiayog  6  Koloipwviog 
HgoSoTÖg  TK  6  'Aktxagvaooevg  xai  Aiovvoiog  6 
XJXvvOtOQf  //f  rot  fie  ixe/vovg  "Etpogog  6  Kt^jtiatog. 
Vgl.  M.  Sengebüsch  a.  0.  p.  210  ff.  In  weiterem 
Sinn  gehören  hierher  auch  noch  die  Logo- 
graphen Pherekydes  (fr.  118  M.),  Akusilaos 
(fr.  30  M.),  Hellanikos  und  Damastes. 

®)  Unter  den  Werken  des  Demokritos 
erwähnt  Diogenes  IX  48:  Tiegi  'Ojtitjgov  tj 
ogdoe.^eirjg  xai  ykeoooiwv.     Die  Restis  bei  H. 


DiELS,  Vorsokr.*  412  f.  Bemerkenswert  ist 
Demokritos'  günstiges  Urteil  ttber  Homers 
geniale  Anlage  {q^voig  ^fidCovoa  fr.  21  Dibls). 
Vgl.  M.  Senoebusch  a.O.  p.  135.  Anaxagoras 
war  der  Lehrer  des  oben  genannten  Metro- 
doros  und  vertrat  schon  die  allegorische  Er- 
klärung. 

' )  Über  diesen  Zoilos,  einen  Zeitgenossen 
des  Isokrates,  ein  Artikel  bei  Snidas,  wo  er 
gtJTcog  xal  (pdoaoq^og  heißt  und  von  ihm  an- 
geführt wird  xard  Tt^g  'Ofirjgov  noirfotfag  Xoyot 
5'  (daß  der  Titel  dieses  Buches  'Ofitjgofidaxi^ 
war.  beweist  K.  Lehrs,  Aristarch.*  205  A.). 
Bei  Herakleitos  Alleg.  Hom.  c.  14  heißt  er  von 
seiner  Heimat  Amphipolis  ßgtpctxov  dvdgd" 
jiodov.  Näheres  Ulb.  Fbiedlaxder,  De  Zoilo 
aliisque  Homeri  obtrectatoribus.  Diss.,  Königs- 
berg 1895.  Ueber  Homertadler  s.  a.  E.  Weber, 
De  Dione  Chrys.  c^'nicor.  sectatore.  Leipz. 
Stud.  10  (1887)  152. 

^)  Ilgoßkrifiaxa  'Ofitjgixd  des  Duris  Schol. 
Genavens.  II.  0  257.  481.  497;  Ttegi  jigoßXtj- 
fidriov  von  Hermogenes  ibid.  363. 

»)    Arist.  poet.  25  p.  1461a    16.       Die 

Schwierigkeit  ist  in  unseren  Texten  gelöst 

durch  die  Lesart  äXXoi  fih  Jtagd  yrjvalv  dgi- 

I   oTtfeg  üavaxaiiöv.    S.  A.  Römer,  Die  Homer- 


A.  £po8.    2.  Homers  IliaB  und  Odyssee.    (§  41.)  77 

tigen  Angriffe  auf  Homers  Ethik  und  Theologie,  die,  von  Pythagoras  und 
Xenophanes  eröffnet,  von  Herakleitos  fortgesetzt,  in  Piaton  gipfeln,  trieben 
die  Homerorthodoxen  mehr  und  mehr  in  die  Arme  der  allegorischen  Er- 
klärung, die  von  Antisthenes  übernommen,  durch  die  Stoa  recht  eigent- 
lich in  ein  System  gebracht  wurde.  0  Piaton  imd  Aristoteles  verwarfen  sie 
und  Aristoteles  insbesondere  ist  der  Vater  der  ihr  entgegengesetzten  histo- 
rischen (freilich  ästhetisch  auch  nicht  ganz  vorurteilsfreien)  Homerexegese 
geworden,  die  dann  durch  die  alexandrinischen  Kommentatoren  ins  ein- 
zelne durchgeführt  wurde.  Das  25.  Kapitel  der  Poetik  kann  geradezu  als 
das  Arbeitsprogramm  der  großen  alexandrinischen  Homeriker  bezeichnet 
werden.  Ungeachtet  aller  Anfechtungen  fuhr  übrigens  Homer  fort  den 
mächtigsten  Einfluß  auf  die  ganze  Nation,  auf  das  Denken,  Dichten  und 
Handeln  der  Gebildeten  wie  der  Leute  aus  dem  Volk  zu  üben.  Für  sein 
Ansehen  in  hellenistischer  Zeit  war  ohne  Zweifel  die  energische  Partei- 
nahme Alexandres'  des  Großen  und  der  Diadochen  zu  seinen  Gunsten  von 
größter  Bedeutung. 

41.  Homerkritik  und  -exegese  bei  den  Alexandrinern.*)  Das 
sehulmäßige  Studium  Homers  beginnt  mit  dem  alexandrinischen  Zeitalter 
unter  der  die  Allegorie  abweisenden  Devise,  die  Eratosthenes^)  formuliert 
hat:  Jioitjzrjv  ndvra  oioxdC^o&ai  tpvxaycoyiag,  ov  6idaoxakiaq,  und  die  gegen  den 
Mißbrauch  des  Homer  als  eines  Lehrbuchs  für  allerlei  Sittenlehre,  Kunst 
und  Wissenschaft  protestierte.  Auch  hier  hat  sich  die  Bedeutung  Homers 
darin  gezeigt,  daß  von  ihm  die  gelehrten  Studien  Alexandrias  überhaupt 
ausgingen  und  an  ihm  die  philologische  und  kritische  Kunst  gewisser- 
maßen sich  emporrankten.  Die  drei  hervorragendsten  Grammatiker  Ale- 
xandrias, Zenodotos,  Aristophanes  und  Aristarchos,  haben  nach- 
einander kritisch  berichtigte  Texte  {dioQ&woeig)  Homers,  der  letzte  sogar 
zwei  besorgt.  Zu  dem  Zweck  der  Herausgabe  notierten  sie  sich  als 
Grundlage  ihrer  eigenen  kritischen  Tätigkeit  die  Lesarten  alter  Ausgaben 
(hcdooetg).  Wir  hören  von  zwei  Arten  von  Handschriften,  von  solchen, 
die  im  Besitze  von  Städten  gewesen  waren  (xarä  nokeig)^  und  von  solchen, 
die  einzelne  Männer  besessen  und  beim  Gebrauch  verbessert  hatten  (xarä 
ävÖQo).  Zur  ersten  Klasse  gehörte  die  Ausgabe  von  Massalia,  die  am 
häufigsten  zitiert  wird,  dann  die  von  Chios,  Sinope,  Kypros,  Kreta,  Aiolis, 
Argolis,*)  zur  zweiten  die  von  Antimachos,*^)  Euripides  (dem  Jüngeren 
nach  Suidas),  Aristoteles. ß)  Von  hohem  Alter  und  besonderer  Güte  waren 
jene  Handschriften  nicht. '^)    Das  Beste  taten  die  Grammatiker  selbst  durch 


«täte  und  die  hom.  Fragen   des  Aristoteles,  dem  Kommentar  zu  11.  ^  Oxyrhynch.  pap.  11 

Sitz.ber.  d.  bayr.  Ak.  1884  S.  264—314.  p.  62.  17. 

*)  Siehe  u.  S.  80,  6  ^)  Vielleicht  war  sie  identisch  mit  der 

•)  J.  La  Roche,   Die  homerische  Text-  i   berühmten,  von  Aristoteles  revidierten  Ihaq 

kritik  im  Altertum,  Leipzig  1866.  |    »/  ex  i<w  vagi>t}xog,  welche  Alexandres  in  einer 

•)  Strab.  15.  |   kostbaren   Kapsel  (vdoOi]^)   aufbewahrte;   s. 

*)  Nur  von  den  Ausgaben  von  Massalia  1   Plut.  Alex.  8  und  Strab.  p.  594 


and  Argos  ist  ausdrücklich  bezeugt,  daß  sie 
Ilias  und  Odyssee  enthielten. 

^)  Nur  diese  exöoaig  xax*  a  Sga  erwähnen 
auch  die  alexandrinischen  Scholieo.  Die  Aus- 
gabe des  Euripides  ist  vielleicht  zitiert  in 


')  A.Römer.  Homerrezension  des  Zcnodot, 
Abh.  der  bayer.  Akad.  17  (1886)  662  ff.  Über 
Aristarchos'  handschriftlichen  Apparat  handelt 
A.  Lüdwich,  Aristarchs  hom.  Textkr.  Kap.  1. 
Zur  Bezeichnung  des  Wertes  der  Handschriften 


78  Qriechische  Litteratnrgeschiohte.    I.  Elassisohe  Periode. 

Festsetzung  der  Bedeutung  verschollener  Wörter  und  Aussonderung  des 
Unechten  (d^eteiv).  Weit  überragte  hierin  seine  Vorgänger  Aristarchos,i) 
der  mit  unerreichtem  Scharfsinn  und  feinstem  Verständnis  der  poetischen 
Kunst  das  Wahre  vom  Falschen  zu  scheiden  und  die  Eigentümlichkeiten 
des  Homer  im  Gegensatz  zu  den  späteren  Dichtern  herauszufinden  ver- 
stand. Seine  Ausgabe  versah  er  am  Rand  mit  kritischen  Zeichen  (aiy/icui),') 
unter  denen  der  Obelos  und  die  Diple  die  häufigsten  sind.«)  Außerdem 
hinterließ  er  Kommentare  {vTxofjLvrnAaia)  zur  Ilias  und  Odyssee  und  besondere 
Abhandlungen  über  einzelne  Punkte,  wie  über  das  Schiflfslager  {jie^  vav- 
(nd&juov).  Daß  von  ihm  auch  die  Einteilung  der  Dias  und  Odyssee  in  je 
24  Gesänge  herrühre,  ist  eine  unbeweisbare  und  nicht  sehr  wahrscheinliche 
Behauptung.  Beweisen  läßt  sich  nur,  daß  er  sie  kannte;  vermutlich  aber 
war  sie  schon  von  Zenodotos  eingeführt  worden;*)  Aristoteles  hat  sie  noch 
nicht  gekannt.  Die  Meinung  von  A.  Lud  wich, 0)  als  habe  eine  dem  nach- 
alexandrinischen  Vulgattext  völlig  gleiche  Vulgatüberlieferung  des  Homer- 
textes schon  vor  den  Alexandrinern  bestanden  und  die  textkritische  Arbeit 
der  Alexandriner  in  der  spätem  Vulgata  keine  Spuren  hinterlassen,  ist 
durch  den  Textbefund  in  den  frühptolemäischen  Papyri^)  widerlegt.  Die 
Zahl  der  in  unseren  mittelalterlichen  Handschriften  fehlenden,  sachlich  in 
der  Regel  ganz  wertlosen  Plusverse  ist  in  diesen  wenigen  Papyrusresten 
verhältnismäßig  weit  größer  als  in  der  frühestens  seit  200  v.  Chr.  erkenn- 
baren Vulgatüberlieferung,  und  so  wird  schwerlich  bestritten  werden  können, 
daß  die  kritischen  Ausgaben  der  Alexandriner  wenn  nicht  auf  die  Les- 
arten, so  doch  auf  den  Versbestand  der  Vulgata  Einfluß  ausgeübt  haben. 
Vor  den  Alexandrinern  war  der  Homertext  viel  ausführlicher.')  —  Die 
drei  berühmten  Rezensionen  von  Zenodotos,  Aristophanes  und  Aristarchos 
waren  nicht  die  einzigen;  es  gab  noch  weitere  von  Aratos  (nur  Odyssee), 
Rhianos,  Philemon,  Sosigenes,  Kallistratos  dem  Aristophaneer.*)  Haupt- 
werden die  Ausdrücke  ai  lagteoreoai  (aristo-  Vers  als  unecht  bezeichnet  (o/Jc^t'C«»',  d^eT«»») ; 
telischer  terminus  techn.),  rlfcaioreoat,  xotvai,  1  mit  der  Diple  (sc.  yoafiuri^  Doppellinie)  > 
drfiwjÖFtg  gebraucht  (A.  Ludwich  a.  a.  0.  I  wurde  angedeutet,  daß  die  betreffende  Stelle 
12  f.).  I   für  Lösung  einer  kritischen  Frage  oder  zur 

*)  K.  Lehrs,  De  Aristarchi  studiis  home-   |   Erkenntnis  einer  homerischen  Eigentümlich- 
ricis,   2.  Aufl.    1865,   3.   unveränderte   Aufl.       keit  von  Bedeutung  sei. 
1882,    Hauptwerk;    A.  Ludwich,    Aristarchs  *)  So  nach  H.  Düntzeb  (Homer.  Fragen 

hom.  Textkritik  s.  u.  S.  79,  3.  183),  Wilamowitz,  Hom.  Unters.  369.  Ps.Plut. 

*)  Die  Zeichen  stehen  noch  heutzutage  vit.  Hom.  H  4.  11  schreibt  die  Einteilung  den 
im  cod.  Ven.  A,  wovon  zuerst  J.  La  Roche,  ygaftfmrtxoi  jzegi  lAgiarnoxo^'  zu;  Heraclit. 
Text,  Zeichen  und  Scholien  des  berühmten  ,  alleg.  Hom.  23.  28.  30  zitiert  die  Gcs&nge 
Cod.  Venetus  der  Ilias,  Wiesbaden  1862,  Mit-  !  nach  unseren  Nummern.  Siehe  a.  Th.  Bibt, 
teilungen  machte,  ebenso  in  manchen  Homer-  |  Das  antike  Buchwesen  444  ff.  468. 
papyri   (s.  A.  Ludwich,   Über  die   Papyrus-   '■  ^)  A.  Ludwich,   Die  Homervulgata  als 

Kommentare  zu  den  homcr.  Gedichten,  Königs-   1   voral^xandrinisch  erwiesen,  Leipz.  1898. 
berg    1902;    das    Iliasfragment   in  den  Teb-   |  ®)  Siehe  besonders  B.  Grenfell  und  A. 

tunispapyri  I,    1903).      Über    die    kritischen   1   Hunt,  The  Hibeh  papyri,  1906,  p.  67—75 


Zeichen  überhaupt  s.  A.  Reiffekscheid.  Suet. 
rell.  p.  137  ff.;  F.  Osann,  Anecdotum  Roma- 
num  de  notis  veterum  criticis,  inprimis  Arist- 
archi Homericis,  Gissae  1851;  A.  Nauck, 
Lexicon  Vindobonense,  Petrop.  1867,  270  ff.; 
Scholia  in  Hom.  II.  ed.  G.  Dindorf  I  praef. 
XLII  ff. 


')  Siehe  auch  E.  Hefermehl,  PhiloL  66 
(1907)  192  ff. 

®)  Aus  unbestimmter  Zeit  sind  tj  xvxXtxri, 
ri  F.X  Movosiov{=  der  07  *'EXtxöJrog*?  W.Schiud, 
Philol.  61,  1902,  635),  17^  jro/.iWf;roc.  Über 
die  größere  Verszahl  der'  gemeinen  (xoival)^ 
nicht  durchgesehenen  und  nicht  von  unnützen 


^)  Mit  dem  Obelos  (Spieß)  —  wurde  ein   1   Versen  gereinigten  Exemplare,   die  wir   aus 


A.  Epos.    2,  Homers  Uias  und  Od3rs8ee.    (§  42.)  79 

gegner  des  Aristarchos  war  der  Pergamener  Krates,  der  eine  diög^coaig 
'liiddog  xal  ^Odvooeiag  schrieb  und  ihm  nicht  bloß  in  der  Wahl  einzelner 
Lesarten  entgegentrat,  sondern  auch  in  der  Methode  der  Mythenerklärung 
und  der  geographischen  Auslegung  der  Irrfahrten  des  Odysseus  einen  ver- 
schiedenen, von  seinem  Schüler  Panaitios  übrigens  nicht  geteilten  i)  Stand- 
punkt vertrat.  Eingehende  Sachkommentare  zur  Boiiotia  (IL  B  484  flf.) 
schrieben  im  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  Demetrios  von  Skepsis  über  den  TgcDixög 
diäxoojuog,  Apollodoros  von  Athen  über  den  Katalog  der  Griechen.*) 

42.  Was  in  den  nächsten  Jahrhunderten  auf  dem  Gebiet  der  Homer- 
kritik geleistet  wurde,  geht  fast  alles  von  Aristarchos  aus  und  bedeutet 
keinen  nennenswerten  Fortschritt.  Zunächst  gehen  direkt  auf  Aristarchos 
die  Schriften  zweier  Grammatiker  aus  der  Zeit  des  Augustus  zurück,  denen 
wir  zumeist  unsere  Kenntnis  der  aristarchischen  Kritik  verdanken,  nämlich 
des  Didymos  negl  x^g  ^AgiaxaQxeiov  diogi^coaecDg^^)  und  des  Aristonikos 
Tiegl  ai]iu€uov  xfjg  ^IXiddog  xal  ^Odvoaeiag.^)  In  dem  ersten  Buche  war  über 
die  bereits  damals  schon  vielfach  verdunkelten  Lesarten  des  Aristarchos  auf 
Grund  seiner  zwei  Ausgaben  und  seiner  Kommentare  weitläufig  gehandelt, 
in  dem  zweiten  waren  die  Gründe  der  von  Aristarchos  gesetzten  kritischen 
Zeichen  kurz  und  bündig  entwickelt. 0)  Selbständiger,  aber  nicht  bedeu- 
tender waren  die  Arbeiten  derjenigen,  welche  zu  den  Lesarten  und  Er- 
klärungen des  Aristarchos  Stellung  nahmen,  teils  abwehrend,  teils  ver- 
teidigend. Die  Polemik  gegen  Aristarchos  hielten  aufrecht  Kallistratos, 
der  sich  gegen  die  Athetesen  des  Aristarchos  wandte,  Zenodotos  von  Mallos, 
Demetrios  Ixion,  Ptolemaios,  ein  Schüler  des  Chorizonten  Hellanikos,  der 
von  seinen  Angriffen  auf  Aristarchos  den  Beinamen  6  ini^htjg  erhielt,  und 
Seleukos.«)  Für  Aristarchos,  das  gefeierte  Schulhaupt,  traten  besonders 
ein  die  Aristarcheer  Dionysios  Thrax,  Ammonios,  Parmeniskos,  Dionysios 
Sidonios,  Chairis,  Seleukos  und  Apollodoros.  Alle  diese  lebten  und  schrieben 
vor  oder  gleichzeitig  mit  Didymos;  nach  ihnen  spannen  die  alten  Fragen 
bis  zur  Ermüdung^)  fort  Tyrannion  der  Jüngere,  Herakleon  der  Ägypter, 
Alexion,    Philoxenos,    Apion,   Epaphroditos,    Pius.®)     Mehr    eigene   Wege 


frfihptolemäischenPapyri(neuesteosdenHibeh-   |   Didymi,  Programme,  Ratibor  1890.  Gott.  1891 


apyri,  London  1906)  kennen  lernen,  s.  J, 
MxiTRAD,  Sitz.ber.  d.  bayer.  Ak.  1891  S.  551; 
A.  Ludwich,  Homervulgata  71  ff. 

^)  A.  ScHMEKEL,  Die  Philosophie  der 
mittlem  Stoa,  BerL  1892,  207. 

')  Über  die  ästhetische  xgiaig  der  Alexan- 
driner R.6BissiN0£R,Die  ästhet.  Anschauungen 
der  antiken  Homererklärer,  Diss.  Tüb.  1907. 

•)  A.  LuDwicH,  Aristarchs  hom.  Text- 
kritik nach  den  Fragmenten  des  Didymos, 
Leipzig  1884.  85,  2  Bde.,  dazu  die  Einwände 
von  E.  Maass,  Herm.  19  (1884)  565  ff.  Die  so- 
genannten ScholiaDidymi  sind  Vulgatscho- 
lien,  die  mit  Didymos  nichts  zu  tun  haben, 
meist  Worterklärungen,  dergleichen  man  jetzt 
auch  auf  einem  Papyrus  des  3.  nachchrist- 
lichen Jahrhunderts  gefunden  hat  (Wilamo- 
wiTZ,  Gott  Gel.  Anz.  1900, 39).  S.  Schimbero, 


ders.,  Festschr.  z.  lOOjähr.  Jubelfeier  des 
Friedrich- Wilhelmgymn.  Berl.  1897,  63  ff. 

*)  Aristonici  J^egi  orj/neicov  'Ikiddog  rell. 
ed.  L.  Friedländbr,  Götting.  1853,  zur  Odys- 
see von  0.  Carnüth,  Leipz.  1869. 

^)  Daher  hat  man  das  Eigentum  des 
Aristonikos  an  dem  Kennzeichen  on  aus  der 
Masse  der  homerischen  Scholien  heraus- 
gefunden. 

®)  Sei.  lebte  unter  Augustus.  Daß  er 
mindestens  3  Bücher  xara  tcüv  'Jgiatdgxov 
atjfisio}}'  geschrieben  hat,  erfuhren  wir  erst 
aus  dem  Kommentar  zu  II.  0  Oxyrhynch. 
pap.  II  nr.  CCXXI.  Ueber  die  anderen  Gegner 
des  Aristarchos  s.  A.  Lud  wich,  Arist.  hom  er. 
Textkritik  I  48  f. 

")  Lucian.  ver.  bist.  II  20. 

«)  Über  Pius  E.  Hiller,  Philol.  28  (1869) 


Zur   handschriftl.  Überlieferung  der  Scholia   !   86ff.;W.DiTTKNBEROER,Herm.40(1905)467A 


80 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


gingen  Nikanor  unter  Hadrian,  der  die  Fälle  strittiger  Interpunktion  bei 
Homer  besprach/)  und  der  berühmte  Grammatiker  des  2.  nachchristlichen 
Jahrhunderts  Älius  Herodianus,  der  im  Anschluß  an  Aristarchos  über 
die  Prosodie  (Akzent,  Hauch,  Quantität)  bei  Homer  handelte.*) 

43.  Lexikalische  und  erklärende  Arbeiten  zu  Homer.  Erklä- 
rungsbedürftige Wörter  des  Homer  bildeten  schon  bei  Zenodotos  einen 
Gegenstand  der  Untersuchung.  Auf  uns  gekommen  ist  neben  unbedeutenden 
Exzerpten  aus  Apion^)  und  Zenodoros*)  ein  homerisches  Speziallexikon 
von  dem  Aristarcheer  Apollonios  Sophistes  (um  100  n.  Chr.),  in  welchem 
die  Kommentare  des  Aristarchos  und  die  Lesarten  {U^eig)  des  Apion  benützt 
sind.^)  —  In  Gegensatz  zur  historischen  Erklärung  trat  schon  seit  alter 
Zeit  die  allegorische.  Sie  fand  auch  bei  Grammatikern  Eingang,  wie  ins- 
besondere bei  Krates  von  Mallos,  galt  aber  immer  als  eine  spezielle  Do- 
mäne der  Philosophen.  Namentlich  hatten  die  Stoiker  sich  auf  dieses  Ge- 
biet geworfen,  und  in  der  Zeit  des  Augustus  ward  die  allegorische  Deutung 
in  ein  förmliches  System  gebracht.^)  Daraus  ist  das  uns  erhaltene  Buch 
'AUrjyoQiai  'O/urjgixai  von  Herakleitos  hervorgegangen,'')  neben  Cornutus' 
Tiegl  i?cö>v,  Pseudoplutarchos'  Vita  Homeri  und  den  Iliasscholien  der  Hand- 
schriften Venetus  B,  L  und  Townleyanus  unsere  Hauptquelle  für  die  stoische 
Homertheologie.  —  Daneben  wandten  sich  Grammatiker  und  Philosophen 
auch  der  antiquarischen  Seite  der  homerischen  Gedichte  zu.  Besonderes 
Ansehen  erlangte  das  Buch  eines  gewissen  Dioskurides  über  die  Sitten 
der    homerischen    Helden,    das    fleißig   von    Athenaios,®)    daneben    aber 


Eine  Anzahl  neuer  Namen  von  Homerkritikem 
bieten  die  Genfer  Scholien  zu  U.  0:  Aridikes, 
Duiis  (der  bekannte  Historiker),  Hermapias, 
üemiogencs  von  Ephesos,  Parmenion  von 
Byzantion,  Peisistratos  von  Ephesos,  Phano- 
dikos. 

*)  Nicanoris  jregl  ^IXiaxrjg  auyftfjg  rell. 
ed.  L.  Friedländeb,  Regiom.  1850;  :TeQi 
XJdvaoFtaxijg  oziy/ttjg  ed.  0.  Carnüth,  Berlin 
1875. 

^)  Das  Buch  Herodians  hatte  den  Titel 
'Ofirjgixf/  mjooqjdln  und  war  geteilt  nach  llias 
und  Odyssee;  es  verfolgte  die  kontroversen 
Stellen  Buch  für  Buch.  Hauptausgabe  von  A. 
Lbntz,  Herodiani  technici  rell.,  Lips.  1867.  70. 
')  Apions  77ö)aoa/  'Oi^trjQixai  von  F.W.  Stürz 
aus  einer  Damistädter  Hschr.  im  Anhang  des 
Etym.  Gud.  p.  601  publiziert,  sind  ein  elendes 
Exzerpt ;  daß  es  aber  doch  auf  Apion  zurück- 
geht, beweist  A.Kopp,  Herm.20  (1885)  161  ff. ; 
ders.,  Beiträge  zur  griech.  Exzerptenlitteratur, 
Berl.  1887, 106  ff.  Ein  Exzerpt  »  tov  Ujiicovog 
im  Cod.  Vind.  169  veröffentlichte  Kopp,  Rh. 
Mus.  42  (1887)  118—121,  und  eines  ist  noch 
in  einem  Oxforder  Baroccianus  enthalten. 

*)  Von  diesem  Zenodoros,  der  nach  Dio- 
nysios  Halic,  den  er  zitiert,  lebte,  imd  den 
Porphyrios  und  Eustathios  öfters  anführen, 
gibt  E.  Miller,  Mölanges,  Paris  1868,  407 
bis  411,  eine  'EirriTOfirj  zwv  jrsgi  ötn'fj^Fiag  (in 
10  ß.),  worin  die  Abweichungen  Homers  vom 


gewöhnlichen  Sprachgebrauch  behandelt  sind. 

*)  ^A:iokk(ovlo%)  aorpiözov  Xe^txov  (erhalten 
in  einem  cod  Sangermanensis)  rec.  Ihm.  Bek- 
KER,  Berol.  1833.  Daß  das  Lexikon  in  ver- 
dünnter Gestalt  auf  uns  gekommen  ist,  weist 
nach  L.  Leyde,  De  ApoUonii  sophistae  lex. 
Homerico,  Leipz.  1884;  vgl.  A.  Kopp  a.  0. 

«)  H.  DiBLS,  Dox.  gr.  p.  88  ff.;  H.  Schra- 
DBR,  Porphyrii  quaestion.  Homericar.  ad  Iliad. 
pertin.  rel.  395  ff. ;  A.  B.  Hersman,  Studies  in 
Greek  allegorical  Interpretation,  Chicago 
1906.  Ihre  Blüte  erreichte  die  Spielerei 
allegorischer  Deutung  im  Mittelalter,  worüber 
G.  Kaufmann,  Gesch.  d.  deutschen  Universi- 
täten 1  (1888)  25  f. 

'')  Heraciiti  Allegoriae  Homericae  ed.  E. 
Mehler,  LB.  1851;  es  sind  in  dieser  Ausg. 
vollständigere  Handschriften  als  in  den  frü- 
heren benützt;  neue  kritische  Beiträge  gibt 
A.  Ludwich,  Arist.  Textkr.  II  642  ff.  Ver- 
treter der  stoischen  Homerauffassung  ist 
weiterhin  der  Grammatiker  Telephos  von 
Pergamon  im  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  (H. 
ScHRADER,  Herm.  37,  1902,  530  ff.),  ebenso 
Cassius  Longinus  im  3.  (D.  Rühnken, 
Opusc.  341 )  neb.st  den  übrigen  Neupiaton ikem 
wie  Syrianos  und  dessen  Schüler  Proklos 
(s.  bes.  dessen  Kommentar  zu  Piatons  Staat 
T.  I  69  ff.  Kroll). 

8)  Bei  Athenaios  I  8c  läuft  die  Schrift 
Ttegl  TOV  Tcjv  tjQwcov  xa&*  "Ofifjgot' ßtov  anonyvi; 


A.  Epos.    2.  Homers  Dias  und  Odyssee. 


43—44.) 


81 


auch  von  Plutarchos  und  dem  Rhetor  Dion  Chrysostomos  benützt  wurde.  0 
Die  von  Piaton  besonders  in  Bewegung  gebrachten  Fragen  über  die  Be- 
deutung der  homerischen  Ethik  und  Theologie  wurden  in  Philosophen- 
kreisen weitergesponnen:  Philodemos  der  Epikureer  schrieb  über  das  home- 
rische Fürstenideal,*)  Dion  Chrysostomos  vjteg  'Oju^qov  jigog  IlXdxoyva^  ein 
Gegenstand,  den  auch  Älius  Aristides  in  seinen  platonischen  Reden  streift; 
Cassius  Longinus  et  cpdöoocpog  "OjbtrjQog  leitet  über  zu  der  Reihe  der  Neu- 
platoniker,  die  zwischen  Piaton  und  Homer  zu  vermitteln  suchen,  wie 
Syrianos^)  und  Proklos.-*)  Am  Ende  steht  die  Homererklärerin  Demo  im 
5.  Jahrhundert.^)  Das  letzte  Sammelbecken  für  die  im  Lauf  der  Jahr- 
hunderte zusammengeflossenen  Hauptprobleme  sachlicher  Art  bilden  die 
'OfiriQixä  Cv^T^fiaza  des  Neuplatonikers  Porphyrios.*) 

44.  Scholien  zu  Homer.  Die  Arbeiten  der  alten  Grammatiker  sind 
nur  in  Auszügen  auf  uns  gekommen.  Der  wohl  vor  600  n.  Chr.  entstan- 
dene') Auszug  eines  anonymen  Grammatikers  aus  den  Viermännern  Ari- 
stonikos,  Didymos,  Herodianos,  Nikanor  ist  uns  bezeugt  durch  die  Unter- 
schriften des  Cod.  Venetus  A  der  Ilias:  nagoxeixai  xa  ^AqigtovIxov  atj/Lma 
xal  xd  Aidv/uotf  negi  xrjg  ^AgioxaQxelov  diog&cooecog,  xtvd  dk  xal  ix  xijg  ^IXiaxrjg 
jiQoacpdiag  'HgcDÖiavov  xal  ix  xcov  Nixdvogog  negl  axiyfirjg.^)  Dazu  waren 
in  der  nachfolgenden  Zeit  noch  Scholien  aus  anderen  Grammatikern,  be- 
sonders aus  den  Zrjxrjjtiaxa  des  Porphyrios  gekommen.  Auf  diese  Auszüge 
gehen  die  Scholien  unserer  Handschriften  zurück;  sie  sind  uns  am  besten 
in  dem  Venetus  454  (A)  des  11./ 12.  Jahrhunderts  erhalten,  und  zwar  viel- 
fach in  doppelter  Fassung  als  ausführlichere  Rand-  oder  Hauptscholien 
und  als  kürzere  Zwischen-  oder  Textscholien.^)  Zunächst  an  Wert  stehen 
die  Scholien  des  im  12./13.  Jahrhundert^^)  geschriebenen  Townleyanus^*)  und 
die  des  Venetus  453  (B)  aus  dem  11.  Jahrhundert.^*)   Unbedeutender,  zu- 


der  Verfasser  ergibt  sich  aas  Suidas  8.  v. 
X^fifjQoq.  (Siehe  aber  E.  Schwartz  in  der 
Realenc.  9.  Halbb.  1129,  28  ff.) 

*)  R.  Th.  Wkbbb,  De  Dioscuridis  Tiegi  xiov 
xaQ"OiAfiQffi  vofAwv  libello,  Leipz.  Sind.  11, 1889. 
Ehedem  identifizierte  man,  durch  Snidas  s. 
X^firiQog  irregeführt,  den  stoischen  Grammatiker 
mit  dem  Isokrateer  Dioskurides.  In  Wahr- 
heit lebte  er  nach  Aristarchos,  dem  er  folgte, 
imd  vor  Dion  Chrysostomos,  der  ihn  exzer- 
pierte; Weber  setzt  ihn  160—60  v.  Chr.,  was 
modifiziert  Wilamowitz,  Herrn.  35  (1900)  543. 

*)  F.  BüoHELBB,  Rh.  M.  42  (1887)  198  ff. 

*)  Syrianos  las  über  Homer  (Procl.  ad  Plat. 
remp.  I  205,  21  ff.  Kboll)  und  schrieb  Ivoetg 
'Ofiffgixcbv  jiQoßkrjfidjoiv  (id.  I  95,  30). 

*)  Procl.  ad  Plat.  remp.  I  69  ff.  Kboll. 

*)  A.  Lüdwich  in  der  Festschrift  zu 
L.  Friedlftnders  25jähr  Doktorjubiläum,  Leipz. 
1895,  296  ff. ;  ders.,  AUegoriae  Homericae  ex 
codice  Vindobon.  prim.  editae,  Königsberger 
Index  lect.  1895. 

*)  Porphyrii  quaestionum   Homericarum 

ad    üiadem    pertinentium    rell.    ed.    Hbbm. 

Sohradbb,  Lips.  1882,    mit  Nachträgen   im 

Herm.  20  (1885)   380  ff.;    Porphyrii   qoaest 

Handboeb  der  kUss.  AJieiioBSwiaseiiMbsft.    TU. 


Hom.  ad  Odysseam  pertinentium  rell.  ed. 
Hebm.  Schbadeb,  Lips.  1890.  Erhalten  ist  der 
1.  Teil  des  Buches  mit  dem  Widmnngsbrief 
im  Vat.  305,  das  Ganze  exzerpiert  in  den 
Homerscholien,  Eustathios  und  Tzetzes.  Eine 
Probe  seiner  oft  albernen  ethischen  Erklärung 
zu  A  298 :  Öia  ri  6  ^;f axtrc  lijv  fikv  BgiorftÖa 
(fifjoi  öoHjeiv,  xatv  6*  dlk(oy  oi'dev  jrgoteadai  (prjatv 
ävetf  Jtokffjiov;  grjteov  ovv  öti  ojnog  ftit/  dxgarijg 
ehai  Soxfj.  Einen  speziellen  Versuch  allegori- 
scher Deutung  bietet  Porphyrios  in  dem  Büch- 
lein Jieoi  Tov  fv  ^OövaüFi'n  tojv  viffiqHov  ävxoov. 

')  W.  ScHMiD,  Philol.  48  (1889)  553.^ 

®)  Th.  Beocard,  De  scholiis  in  Hom. 
Diadem  Venetis  I,  Beriin  1850. 

•)  A.  Kömbb,  Die  Werke  der  Aristar- 
cheer  in  Cod.  Ven.  A,  in  Sitz.ber.  d.  bajrr.  Ak. 
1875.  241  ff.  und  A.  Lüdwich,  Arist.  I  83  ff. 

>«)  So  T.  W.  Allen,  Joum.  of  Philol. 
19  (1891)  62  ff.  gegen  E.  Maaß. 

**)  Die  Townleyana  wurden  ehedem  Vic- 
toriana  genannt  nach  einer  in  der  Mfinchener 
Staatsbibliothek  befindlichen  Abschrift  des 
P.  Victorius.  A.  ßöMEB,  De  schol.  Victorianis, 
Mflnch.  1874. 

")  Idie  Scholien  zuerst  bekannt  gemacht 
5.  Aufl.  6 


82 


GhdecblBche  Litteratnrgeschichte.    I.  Elassische  Periode. 


meist  nur  die  Worterklärung  berücksichtigend,  sind  die  fälschlich  dem  Di- 
dymos  zugeschriebenen,  schon  von  Aldus  herausgegebenen  Scholia  minora.O 
Düiftiger  sind  im  allgemeinen  die  Scholien,  namentlich  die  kritischen,  zur 
Odyssee,  vornehmlich  erhalten  durch  zwei  Handschriften  des  13.  Jahr- 
hunderts, den  Harleianus  5674  des  Britischen  Museums  (H)  und  den  Yenetus 
613  (M).*)  Außer  den  Auszügen  der  Viermänner  und  den  Abschnitten  aus 
Herakleitos  und  Porphyrios  enthalten  die  Scholien  rhetorisch-ästhetische') 
und  exegetische  Bemerkungen^)   sowie  Notizen  zur  historia  fabularis.ö) 

45.  Homer  im  Mittelalter.  Das  Mittelalter  hat  nichts  Neues  und 
Standhaltendes  in  der  Kritik  und  Exegese  Homers  geleistet;  Eustathios 
und  Johannes  Tzetzes  haben  wesentUch  nur  breitgetreten,  manchmal  auch 
entstellt,  was  ihnen  aus  dem  Altertum  überkommen  war.  Der  früher 
überschätzte  Kommentar  des  Eustathios  (12.  Jahrhundert),**)  IlagexßoXal 
(d.  h.  Auszüge)  elg  rijv  ^O/arJQov  ^Odvooeiav  xal  ^Ikidda^'^)  findet  jetzt,  seit 
Villoison  die  alten  Scholien  bekannt  gemacht  hat,  wenig  Beachtung  mehr. 
Sein  Wert  besteht  wesentlich  nur  in  dem,  was  Eustathios  aus  alten  Quellen,^ 
einem  Auszug  des  Kommentars  der  Viermänner,  den  Lexeis  des  Aristo- 
phanes,  den  attizistischen  Wörterbüchern  des  Dionysios  und  Tansanias  aus 


durch  J.  B.  C.  d'Ansse  de  Villoison,  Ven. 
1788  fol.  —  Neuere  Ausgabe:  Scholia  in 
Homeri  Iliadem  ex  rec.  I.  Bekkeri,  Berol. 
1825.  —  Vollständigste,  aber  nicht  ganz  zu- 
verlässige Ausgabe  nach  Handschriften  ge- 
sondert: Scholia  graeca  in  Homeri  Iliadem  ex 
codicibus  aucta  et  emendata  ed.  Gu.  Dindorf, 
t.  I-IV,  Ox.  1875;  t.  V— VI  die  Scholia 
Townleyana  enthaltend,  besorgt  von  £.  Maass, 
Ox.l888.  Ergänzungen  aus  einer  Genfer  Hs.  Les 
scolies  Genevoises  de  Tlliade,  par  J.  Nicole, 
2  Bde.,  Genf  1891  (mit  den  Genfer  Scholien  wie 
mit  denen  in  B  und  T  stimmen  vielfach  die  in 
Oxyrhynch.  pap.  T.  II 1899  nr.  221  s.  II  p.  Chr. 
enthaltenen,  nachWiLAMOwiTz,  Gott.  Gel.  Anz.  | 
1 900, 38  auf  einen  Kommentar  der  Claudierzeit  ! 
zurückgehenden  Scholien  überein).  Die  Scholia 
codicisLipsiensis,dieL  BACHMANTf.  Lips.  1835 
bis  38  herausgegeben  hat,  haben  keinen  selb-  , 
ständigen  Wert,  da  sie,  wie  E.  Maass,  Herm.  1 9 
(1884)  264  ff.  nachgewiesen  hat,  aus  Ven.  B  u.  I 
Townl.  genommen  sind.  Über  den  Cod.Laur. 
32,  3  s.  XI  s.  H.  ScHRADBB,  Henn.  22  (1887)  : 
282  ff.  Über  die  bis  1902  entdeckten  Pa- 
pyruskommentare zu  Homer  s.  A.  Ludwich, 
Königsberger  Index  lect.  1902. 

')  Siehe  o.  S.  79,  3.  | 

-)  Scholia  antiqua  in  Homeri  Odysseam   ' 
ed.  Ph.  Büttmann,  Berol.  1821 ;  Scholia  graeca 
in  Homeri  Odysseam   ex  codicibus   aucta  et 
emendata  ed.  Gu.  Dindorf,  2  vol.,  Ox.  1855.    | 
Über    die    nmbrosianischen    Odvsseescholien 
H.  SciiRADKR,  Herm.  22(1887)  337  ff.     Neue 
Ausgabe  der  Scholien  zu  Od.  a  von  A.  Lud-   t 
WICH  in  den  Köuigsberger  Indiccs  lectionum 
von  1888  an.     Wörtliche  Benützung  unserer   i 
Odysseescholien  bei  dem  Romanschriftsteller   ■ 
Heliodoros  (s.  III  p.  Chr.)  bemerkt  E.  Rohde, 
Griech.  Rom.^  Leipz.  1900,  490,  2.  | 


')  G.  Lehnert,  De  scholiis  ad  Hom.  rhe- 
toricis,  Diss.  Leipz.  1896.   Siehe  a.  o.  S.  79,2. 

*)  A.  Römer,  Die  exegetischen  Scholien 
der  Ilias,  München  1879.  Diese  stehen  fast 
alle  in  Cod.  B  u.  T. 

^)  Ed.  Schwartz,  De  scholiis  Homerids 
ad  historiam  fabularem  pertinentibus,  in  Jahrbb. 
f.  Philol.  Suppl.  12  (1881)  405-463.  J.Panzeb, 
De  mythographo  Homerico  restituendo,  Dias. 
Greifsw.  1892,  sieht  die  Quelle  der  mytho- 
logischen Scholien  nicht  in  einem  Homer- 
kommentar, sondern  in  einem  mythologischen 
Handbuch  nach  Art  von  Apollodors  Bibliothek. 

®)  Eustathios,  der  anfangs  Diakon  und 
Maistor  rhetoron  zu  Konstantinopel  und  seit 
1175  Erzbischof  von  Thessalonike  war,  hat 
den  Kommentar  zu  Homer  vor  seiner  Er- 
nennung zum  Erzbischof  veröffentlicht;  daß 
er  den  zur  Ilias  vor  dem  zur  Odyssee  be- 
arbeitete, wiewohl  er  sich  wechselweise  in 
dem  einen  auf  den  andern  bezieht,  macht 
wahrscheinlich  Fr.  Kuhn,  Quo  ordine  et 
quibus  temporibus  Eustathius  commentarios 
suos  conscripserit,  in  Common t.  in  hon.  Stude- 
mundi,  Straßb.  1889  p.  249— 57.  Siehe  jetzt 
L.  Coiw,  Realenc.  11.  Halbb.  1458  f. 

')  Die  erste  Ausgabe  Rom  1542 — 50;  die 
neuste  ohne  neue  Hilfsmittel  Lips.  1825—30. 
2  vol.  Wir  haben  diese  Kommentare  noch  in 
eigenhändigen  Niederschriften  ihres  Verfas- 
sers: E.  Martini,  Rhein.  Mus.  62  (1906)  273  ff. 

*)  J.  La  Roche,  Hom.  Textkritik,  Leipz. 
1866  S.  151  ff.:  M.  Neumann,  Eustathios  als 
kritische  Quelle  für  den  Iliastext,  Jahrbb.  f. 
Phil.  Suppl.  20(1894)  145  ff.;  L.  Cohn,  De 
Aristophane  Byzantio  et  Suetonio  Tranquillo 
Eustathii  auctoribus.  in  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl. 
12  (1881)  285  ff.  H.  Schrader,  Porphyr,  quaest. 
ad  II.  382;  ad  Od.  207. 


A.  EpoB.    2.  Homers  Ilias  und  Odyssee. 


45—46.1 


83 


hadrianischer  Zeit,  der  Scholiensammlung  des  Apion  und  Herodoros,^)  den 
Paralipomena  des  Porphyrios,  aufgenommen  hat.  Noch  unbedeutender  ist 
die  von  Johannes  Tzetzes  in  seiner  Jugend  (1143)  verfaßte  'E^tjyrjatg 
^IJUddo^.*)  Neben  den  Kommentaren  spielten  in  den  Studien  der  Byzantiner 
die  Paraphrasen  eine  Rolle,  von  denen  uns  mehrere  in  Handschriften,  teil- 
weise auch  in  Drucken  vorliegen.^)  —  Schon  gegen  Ende  des  Altertums 
kam  die  Spielerei  auf,  Verse  und  Halbverse  des  Homer  zu  neuen  Gedichten 
zu  verbinden;  solche  Centonen  {'OjurjQÖHevTQa)  sind  uns  von  der  Kaiserin 
Eudokia,  dem  Bischof  Patrikios,  dem  Philosophen  Optimus  und  dem  Meloden 
Kosmas  erhalten.^) 

46.  Homer  bei  anderen  Nationen.  Homer,  der  schon  von  Ale- 
xandria aus  zu  fremden  Völkern  bis  nach  Indien^)  gedrungen  war  und  in 
Rom  gleich  beim  ersten  Erwachen  des  litterarischen  Lebens  an  Livius 
Andronicus  (Odyssee)  und  später  an  Cn.  Matius  (Ilias)  Übersetzer  gefunden 
hatte,  <^)  war  im  Mittelalter  den  Völkern  des  Abendlandes  nur  durch  eine 
metrische  Epitome  der  Ilias,  den  sogenannten  Homerus  latinus,'^)  bekannt.  Zu 
neuem  Leben  erblühte  er  in  der  Zeit  der  Wiedergeburt  der  Wissenschaften :») 
im  Jahr  1488  erschien  zu  Florenz  die  erste  Ausgabe  der  Ilias  von  Demetrios 
Chalkokondyles:  zuvor  schon  hatte  für  Boccaccio  der  Calabrese  Pilato  eine 
lateinische  Übersetzung  der  Hias  angefertigt.  Aber  wiewohl  1542  auch  schon 
der  weitläufige  Kommentar  des  Eustathios  gedruckt  wurde,  so  dauerte  es  doch 
noch  Jahrhunderte,  bis  Homer  volles  Verständnis  und  gerechte  Würdigung 
fand.  Es  überwog  eben  infolge  des  romanischen  Einflusses  die  von  Jul.  Cäs. 
Scaliger  (gest.  1558)  in  seiner  Poetik  vertretene  Anschauung,  daß  nur  dem 
Vergil  die  Palme  des  klassischen  Dichters  gebühre,®)  dem  gegenüber  die 
homerische  Poesie  die  Rolle  einer  plebda  ineptaque  muliercula  spiele.     Die 


')  Neben  Herodoros  kommt  auch  die 
Variante  Heliodoros  vor.  Siehe  L.  Cohn, 
Realencycl.  11.  Halbb.  1464  f. 

*)  ZvlA  1 — 102  gedruckt  in  G.  Hermaitns 
Ausgabe  des  Drakon,  Leipz.  1812.  Außerdem 
verfaßte  Joh.  Tzetzes  Allegorien  zur  Ilias  und 
Odyssee,  worüber  K.  Krumbacheb,  Byz.  Litt. 
2.  Aufl.  S.  529  ff. 

')  Eine  Paraphrase  veröffentlichte  I. 
Bekker,  Scholia  in  Homeri  Iliadem«  am  Schluß. 
Nene  Mitteilungen  über  Homerparaphrasen 
gibt  A.  Lud  WICH,  Arist.  hom.  Textkr.  II 486  ff. 
B.  Gehricann,  Demosthenis  Thracis  fieiaßoXwv 
'Odvooeiag  fragmenta.  Diss.  Königsberg  1890. 
Über  eine  Homermetaphrase  des  Prokopios 
von  Gaza  Phot.  bibl.  cod.  160.  Am  belieb- 
testen war  im  Mittelalter  die  unter  dem 
Namen  des  Michael  Psellos  laufende  (heraus- 
gegeben von  J.  F.  BoissoNADB,  Paris  1851). 

*)  Eudociae  Augustae  fragm.  ed.  Lüdwich 
in  Bibl.  Teubn.  1897  p.  79  ff.  Vgl.  Anth.  Pal. 
1X381.382.  Das  Orakelsuchen  aus  den 
homerischen  Gedichten  wird  schon  Ar. 
pac.  1089  ff.  erwähnt.  Ein  Beispiel  liefert  der 
Fi^yrus  Brit.  muscum  papyri  catalogue  p.  82 
bis  89;  vgl.  [Plut]  vit.  Hom.  H  218  extr.;  R. 
Heim,  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl.  19  (1892)  514  ff.: 
Berliner  Papyri  Bd.  IV  nr.  1026  (aus  dem  4. 


bis  5.  Jahrb.  n.  Chr.)  benutzt  Homerverse  als 
Zaubersprüche. 

5)  Bio  Chr.  Lin  6. 

*)  J.  ToLKiEHN,  De  Homeri  auctoritate 
in  cotidiana  Romanorum  vita,  Jahrbb.  f.  kl. 
Phil.  Suppl.  23  (1897);  ders.  Homer  und  die 
römische  Poesie,  Leipz.  1900. 

^)  M.  Schanz,  Gesch.  der  röm.  Litt.  II  2*, 
München  1901  S.  98. 

*)  L.  Friedländer,  Schicksale  der  home- 
rischen Poesie,  in  der  Deutschen  Rundschau 
12  (1886)  5.  Heft.  Reichhaltiger  E.  Stemp- 
LiNGER,  Studien  z.  Fortleben  Homers  in  Stud. 
z.  vergl.  Literaturgesch.  6  (1906)  1—25. 

^)  So  mit  einiger  Verschämtheit  noch 
Gottsched :  Fr.  Braitmaier.  Gesch.  der  poet. 
Theorie  und  Kritik  von  den  Diskursen  der 
Maler  bis  auf  Lessing  I,  Frauenfeld  1888, 
S. Hof.  Interessant  ist  als  Zeugnis  des  auch 
in  weiteren  Kreisen  sich  durchsetzenden  Ge- 
schmacksumschlags die  1780  erschienene 
Schrift  des  Stuttgai-ter  Karlsschulprofessors 
Fr.  Ferd.  Drück  (in  dessen  Kleineren  Schrif- 
ten, Tübingen  1810,  I  1  ff).  De  virtutibus 
vitiisque  Homeri  et  Virgilii,  die  in  dem  Satz 
gipfelt  (p.  128):  in  Homero  ingenii  fidem,  in 
Virgilio  ai'tem  mireris. 


6* 


84  Griechische  Litteratnrgesohiohte.    I.  Klassische  Periode. 

richtige  Auffassung  ging  von  England  aus,  wo  Alexander  Pope  1715  seine 
berühmte  Homerübersetzung  veröflFentlichte  und  der  in  Griechenland  selbst 
vielgewanderte  Robert  Wood  mit  seinem  Buch  An  Essay  on  the  Original 
Genius  of  Homer  (1769)  das  Verständnis  der  Natur-  und  Volkspoesie  erschloß. 
In  Deutschland  fanden  die  Anschauungen  der  Engländer  bei  Lessing,  Goethe, 0 
Heyne  lebhaften  Anklang,  und  Winckelmanns  geniale  Erfassung  und  an- 
dächtige Verehrung  der  griechischen  Kunst  im  Gegensatz  zum  Barock  kam 
auch  dem  richtigen  Verständnis  Homers  zugute.  Mit  der  Übersetzung 
von  J.  H.  Voß*)  ist  dann  bei  uns  Homer  in  den  weitesten  Schichten  des 
Volkes  populär  geworden,  wie  es  sonst  nur  Werke  nationaler  Dichter  zu 
werden  pflegen,  und  mit  den  Prolegomena  von  Fr.  A.  Wolf  (1795)  begann 
für  die  Homerforschung  und  die  ganze  Philologie  eine  neue  Epoche  kri- 
tischer Studien  und  tieferer  Erkenntnis. 

Codices:  Aufzählung  der  wichtigsten  bei  J.  La  Roche,  Homer.  Textkr.  439  ff.;  ins- 
gesamt sind  es,  von  den  Papyri  abgesehen,  über  200.  Versuche  einer  Klassifikation  der 
Iliashandschriften  von  C.  A.  J.  Hoffkank,  Das  21.  u.  22.  Buch  der  Ilias,  Clausthal  1864, 
S.  1—86;  W.  Leaf,  Joum.  of  Philol.  18  (1890)  181  ff.;  20  (1892)  287ff.;  A.  Lüdwich  in  der  Fest- 
Schrift  zu  C.  F.  W.  Müllers  70.  Geburtetag,  1900;  T.W.  Allen,  Class.  Rev.  18  (1899)  110.  834. 
429;  14  (1900)292.  Die  reine  aristarchische  Rezension  bietet  keine  unserer  Handschriften, 
selbst  Ven.  A  hat  nur  etwa  zwei  Drittel  der  als  aristarchisch  bezeugten  Lesarten  (A.  Lüdwioh, 
Aristarchs  hom.  Textkr.  II 188 ff.).  Zu  den  bereits  §  4-i  genannten  Iliashandschriften,  von  denen 
A  (Ven.  454)  im  phototypischen  Druck,  Leiden  1901,  bei  Sijthoff  erschienen  ist,  kommen 
noch:  ein  syrischer  Palimpsest  (ed.  W.  Cureton  1851;  die  obere  Schrift  enthält  eine  Ab- 
handlung des  syrischen  Patriarchen  Severus);  Papyri  (zu  den  schon  von  Bekker  benutzten, 
der  Ilias  Bankesiana  und  der  Harrisiana.  kommen  fortwährend  neue  Bruchstücke.  Die 
ältesten,  von  der  kritischen  Tätigkeit  der  Alexandriner  noch  nicht  berüluten  in  den  Fldtdbbs 
Petbie  pap^i  I  1891  und  den  Hibeh  papyri  1906);  Miniaturen  hat  der  Cod.  Mediolanensis 
(enthält  Teile  aus  fast  allen  Gesängen  der  Ilias,  im  ganzen  etwa  800  Verse  mit  den  ältesten 
uns  erhaltenen  Buchillustrationen:  Iliadis  fragm.  antiquissima  cum  picturis  ed.  Ano.  Mai, 
Mediol.  1819,  Romae  1885,  antiquiert  durch  Iliadis  pictae  fragmenta  Ambrosiana  phototypice 
reddita  cura  A.  M.  Ceriani  et  A.  Ratti,  Mailand  1906).  —  Odysseehandschriften:  außer 
den  oben  §  44  erwähnten  noch  die  Laurentiani  F  u.  G,  beide  s.  X,  und  Palatin.  45  (a.  1201). 
Interessante  Notizen  über  Odysseehandschriften  in  Aolia  Capitolina,  Nysa  und  Rom  bei 
Jul.  Africanus  KfoxoI  XVIII  extr.  (Oxyrh.  pap.  III  nr.  412).  Siehe  auch  T.  C.  Molhutsen, 
De  tribus  Odysseao  codicibus  antiquissimis.  Leiden  1906;  J.  v.  Leeuwen,  Mnemos.  N.  S. 
25  (1897)  145  ff. 

Schollen  s.  oben  §$  42.  44. 

Ausgaben:  ed.  princ.  ex  rec.  Demetrii  Chalcocondylae,  Flor.  1488;  mit  gelehrtem 
Kommentar  von  S.  Clarke  u.  J.  A.  Ernesti,  ed.  2.,  Leipz.  1759 — 64,  5  vol.;  Ilias  cum  vers.  lat. 
et  annot.  cur.  Chr.  G.  Heyne,  Lipa.  1802  ff.,  8  vol.,  Bd.  9  mit  Indices  von  E.  A.  G.  Gräfenhak, 
Leipz.  1822;  berichtigter  Text  von  F.  A.  Wolf,  mit  epochemachenden  Proleg.,  Hai.  1794.  95; 
tumultuarischer  Versuch  der  Herstellung  eines  Ur-Homer  von  R.  Payne-Knight,  Lond.  1820; 
Ilias  rec.  F.  E.  H.  Spitzner,  Gotha  1882—36,  4  vol.  mit  kritischen  Noten  und  Exkursen.  — 
Kritische  Hauptausgabe  mit  Digamma  im  Text  und  dem  Anfang  eines  kritischen,  wesentlich 
auf  den  Scholicn  basierten  Kommentars  von  Ihm.  Bbrker,  2.  Ausg.,  Bonnae  1858  (die  1.  Ausg. 
1843  ohne  Digamma);  dazu  dessen  Homerische  Blätter,  Bonn  1863.  72,  2  Bde.  —  Homeri 
Odyssea  ad  iidem  librorum  optimorum  ed.  J.  La  Roche,  Lips.  1867.  68.  Ilias  1873.  76,  mit 
einem  reichen,  aus  Scholion  und  Handschriften  geschöpften  kritischen  Apparat  —  Odyssee 
und  Ilias  cd.  A.  Nauck,  Berl.  1874.  1877  mit  kritischem  Apparat  und  einschneidender,  die 
von  Bekker  eingeschlagenen  Wege  weiter  verfolgender  Recensio.  (Kritik  der  Nauckschen 
Methode   bei    A.  Lüdwich,   Aristarchs  homer.  Texticr.  II  152  ff.)   —  Ilias  und  Odyssee  cum 

^)  über  Goethes  Homerstudien  E.  Spario,      hardstöttnbr,    Jahrb.  für  Münch.  Gesch.  1 


Ehrengabe  der  Latina.  Halle  1906,  45  ff. 

*)  Die  Odys.see  erschien  1781  in  erster 
Gestalt,  die  llia.s  folgte  1793.  M.  Berxays, 
Einleitung  zu  Voß'  Homers  Odyssee,  Stuttg. 
1881.  Die  erste  deutsche  Uebersetzung  der 
Odyssee  lieferte  im  Jahre  1537  ein  Mün- 
chener Schaidenreisser,  worüber  K.  v.  Rein- 


511  ff.,  die  erste  der  Ilias  der  Augsburger 
Meistersänger  Spreng,  worüber  Keinz,  Sitz.- 
ber.  d.  bayr.  Ak.,  1893, 1 165.  Siehe  A.  Schrö- 
ter, Geschichte  der  deutschen  Homerüber- 
setzung im  18.  Jahrhundert,  Jena  1882;  E. 
Stemplinger  (s.  0.  S.  83,  8)  5  ff. 


A.  £po8.    3.  Der  epische  Eyklos.    (§  47.)  85 

apparata  critico  rec.  J.  van  Lebuwbn,  J.  F.  et  M.  B.  Mendes  da  Costa,  Lugd.  Bat.  ed.  alt. 
1895.  96.  —  Homeri  carmina  rec.  et  selecta  lectionis  varietate  instruxit  Abth.  Ludwich, 
Lips.,  davon  Odyssea  1889,  Rias  I.Teil  1902;  2.  Teil  1907.  —  Textausgaben  der  Bibl.  Teubn. 
von  W.  DiNDOBF  mit  Sengebuschs  Hom.  Dissertationes,  1855.  56;  der  Bibl.  Schenkeliana 
von  A.  RzACH  Dias  1886.  87,  von  P.  Caueb  Odyssee  1888.  87.  —  Ausgaben,  welche  die  home- 
rische Frage  berücksichtigen:  Iliadis  carm.  XVI  ed.  H.  Köchly,  Lipsiae  1861 ;  Die  homerische 
Odyssee  von  A.  Kibchhoff,  2.  ed.  Berlin  1879;  Iliadis  carmina  seiuncta  discreta  emendata 
ed.  W.  Chbist,  Lipsiae  1884;  Die  homerische  Odyssee,  Die  homerische  Ilias,  in  der  ursprüng- 
lichen Sprachform  hergestellt  von  A.  Fick,  Göttingen  1883  u.  1886;  K.  Robebt,  Studien  z. 
Ilias,  Berl.  1901  S.  272—349  (der  Text  der  präsumptiven  Ur-Ilias).  —  Schulausgaben  mit 
erklärenden  Anmerkungen  von  K.  Fb.  Ameis  und  C.  Hentzb  mit  gelehrtem,  unentbehrlichem 
Anhang;  von  J.  U.  Fäsi  und  F.  R.  Fbanke;  von  J.  La  Roche;  von  H.  Düktzeb;  von  V.  H. 
KoGH.  —  Einzelausgaben:  Erklärende  Anmerkungen  zu  Homers  Odyssee  von  G.  W.  Nitzsch, 
Hann.  1826  40,  3  vol.;  Das  21.  u.  22.  Buch  der  Ilias  herausg.  von  C.  A.  J.  Hopfman», 
Clausthal  1864;  Anmerkungen  zu  II.  A  B  F  von  K.  Fb.  Nägelsbach,  3.  Aufl.  von  G.  Auten- 
rieth,  Nürnberg  1864:  R.  Peppmülleb,  Kommentar  des  XXIV.  Buches  der  Ilias  mit  Einleit., 
Berlin  1876 ;,H.  K.  Benicken,  12.  und  13.  Lied  vom  Zorn  des  Achill,  Innsbruck  1883.  84; 

E.  Eammeb,  Ästhetischer  Kommentar  zur  Dias,  2.  Aufl.,  Paderborn  1901. 

Hilfsmittel,  lexikalische:  Index  Homericus  studio  W.  Sebebi,  ed.  Oxon.  1780 
(verdiente  eine  Neubearbeitung);  Index  Homericus  compos.  Aug.  Gehbino,  Lips.  1891 ;  Lexicon 
Homericum  ed.  H.  Ebelino,  Lips.  I  1885,  II  1880,  Haupthilfsmittel;  Parallelhomer  von  C.  Ed. 
Schmidt,  Gott.  1885  (Nachträge  dazu:  Festschrift  zu  L.  Friedländei-s  50 jähr.  Doktorjubil. 
Leipz.  1895,  399  ff.) ;  H.  Duvbab,  A  complete  Concordance  to  the  Odyssey  and  the  Hymns  of 
Homer.  Lond.  1880.  —  Grammatiken:  D.  B.  Monbo,  Grammar  of  the  Hom.  Dialect,  Oxf. 
1882,  2.  Aufl.  1891;  J.  vanLeeuwen,  Enchiridium  dictionis  epicae,  Leiden  1892;  G.  Vogbinz, 
Grammatik  des  homerischen  Dialektes,  Paderborn  1889;  W.Ribbeck,  Homerische  Formenlehre, 
2.  Aufl.,  Berl.  1879,  3.  Aufl.  1895;  W.  Habtel,  Abriß  der  Grammatik  des  homerischen  und  hero- 
dotischen  Dialekts,  Leipz  1888.  —  Realien:  J.  B.  Fbiedbeich  (Mediziner),  Die  Realien  in  der 
Hiade  und  Odyssee,  Erl.  1851—56;  E.  Büchholz,  Die  homerischen  Realien,  Leipzig  1871  bis 
1885,  3  Bde.;  W.  Helbio,  Das  homerische  Epos  aus  den  Denkmälern  erläutert,  2.  Aufl.,  Leipzig 
1887;  W.  Reichbl,  Über  homerische  Waffen,  Wien  1894,  2.  Aufl.  1901;  F.  Stüdbiczka,  Beitr. 
z.  Gesch.  der  altgriech.  Tracht,  Wien  1885;  St.  Fellneb,  Die  homer.  Flora,  Wien  1897;  Bericht 
über  die  Litteratur  zu  den  homer.  Realien  1896  -  1902  von  A.  Gemoll  im  Jahresber.  über  die 
Fortschr.  d.  kl.  Alt.  117  (1903)  Iff.  —  Archäologisches:  J.  Ovebbeck,  Galerie  heroischer 
Bildwerke  der  alten  Kunst,  Braunschw.  1853;  H.  Bbunn,  Troische  Miscellen  in  Sitz.ber.  d, 
bayr.  Akad.,  1868  S.47ff.  217ff.u.  1880  S.  167  ff.;  K.  Wöbmann,  Die  antiken  Odysseelandschaften 
vom  Esquilin,  München  1875;  R.  Engelmann,  Bilderatlas  zum  Homer,  Leipz.  1889.  -  Geo- 
graphie: K.H.W.  VöLCKEB,  Homer.  Geographie,  Hann.  1830  (bedarf  einer  Neubearbeitung); 
KoFBJKiOTiQ, 'Ofii]Qixrj  yE(oyQa(pla,  Athen  1884.  —  Weltanschauung:  K.  Fb.  Nägelsbaoh, 
Homerische  Theologie,  3.  Aufl.  von  G.  Autenbieth,  Nürnberg  1884 ;  E.  Rohde,  Psyche  P,  Tübingen- 
Leipz.  1903,  33  ff.  —  Sprachliches,  Stilistisches  und  Prosodisch-Metrisches:  Ph. 
BüTTMANN,  Lexilogus,  4.  Aufl.,  Bedin  1860.  65,  2  Bde.;  C.  A.  J.  Hofpmann,  Quaest.  Hom., 
Clausthal  1842—48;  O.V.  Knös,  De  digammo  homerico,  Ups.  1872.73.79;  J.Classen,  Beobach- 
tungen über  den  homer.  Sprachgebrauch,  Frankf.  1867;  W.  Habtel,  Homer.  Studien,  aus 
8itz.ber.  d.  Wien.  Ak.,  1871  Bd.  68,  283  ff.;  1874  Bd.  76,  329  ff,  Bd.  78,  7  ff.  (1.  Teil  auch  ge- 
sondert, Berlin  1873);  J.  Menbad,  De  contractionis  et  synizeseos  usu  Homerico,  München  1886; 

F.  Bechtel,  Die  Vocalcontraction  bei  Hom.,  Halle  1*908;  W.  Schulze,  Quaestiones  epicae, 
Gütersloh  1892;  J.  Solmsbn,  Untersuchungen  zur  griech.  Laut-  und  Verslehre,  Straßburg  1901; 
W.  Bebnhabdt,  De  allitterationis  apud  Hom.  usu,  Diss.  Jena  1906. 

Litteratur  über  Homerbiographien  oben  §  22,  über  homerische  Frage  §§  23  u.  24,  über 
die  Lebenszeit  Homers  §  32,  über  Ortskunde  Homers  §  34. 

3.  Der  epische  Kyklos. 

47.  Von  den  Werken  des  sogenannten  epischen  Kyklos  wurden  in 
alter  Zeit  einige  dem  Homer  als  dem  Repräsentanten  des  alten  Helden- 
gesangs zugeschrieben:»)  später,  seit  der  Zeit  der  Perserkriege,  setzte  sie 

*)  Alte  Zeugnisse  dafür,   daß  man  dem  L.  Kjellbebg,  De  cyclo  epico,  Upsala  1890). 

Homer  ohne  weiteres  alle  cyklischen  Epen  Diese   Ansicht  findet  sich  erst  in  nachale- 

zugeschrieben  habe,  gibt  es  nicht  (R.  Volk-  >   xandrinischer  Zeit  und  ist  von   den  alexan- 

MAKK,  Ueber  Homer  als  Dichter  des  epischen  drinischen    Philologen    sicher    nicht    geteilt 

Kyklos,  Jauer  1884,    E.  Hilleb,  Homer  als  worden.     Procl.  ehrest  233  W.:  oi  fievrot  y 

KollektivnameBh.M.  42,  1887,  321—361  und  |    aqyaXoi  xai  t6v  xvxXov  avafpEQOvoiv  eigVfirjgov, 


86  Griechische  Litteratnrgeachichte.    I.  KlaswiBche  Periode. 

eine  verfeinerte  ästhetische  und  sachliche  Kritik  viehnehr  in  Gegensatz  zu 
den  Schöpfungen  Homers,  und  nun  werden  als  Verfasser  der  einzelnen  Ge- 
dichte andere,  vielfach  zweifelhafte  Namen  genannt.  Ilias  und  Odyssee 
waren  eben  die  beiden  mächtigsten  Aste  an  dem  Baum  der  epischen  Poesie, 
der  daneben  noch  viele  kleinere  Zweige  trieb,  die  alle  als  Schößlinge  des- 
selben Stammes  angesehen  wurden.  Der  Name  inixog  xvxXog  für  diese 
Sammlung  alter  epischer  Gedichte  läßt  sich  erst  aus  der  Zeit  nach  Christi 
Geburt  nachweisen.*)  Aber  das  hohe  Alter  des  xvxkog  in  diesem  Sinn 
ergibt  sich  daraus,  daß  das  Adjektivum  xvxhxog  schon  in  den  Philologen- 
kreisen Alexandriens  im  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  in  einer  übertragenen  Be- 
deutung gebräuchlich  war,  die  sich  aus  dem  für  die  Alexandriner  maß- 
gebenden Urteil  des  Aristoteles  (po6t.  23)*)  über  die  ästhetische  Minder- 
wertigkeit des  Kyklos  gegenüber  von  Ilias  und  Odyssee  ergibt.')  Der  Sach- 
begriflf  war  schon  lange  da.  der  Terminus  mag  noch  Ende  des  4.  Jahr- 
hunderts geschaflfen  worden  sein.  KvxXoc:  wird  ursprünglich,  wo  es  auf 
epische  Dichtungen  übertragen  wurde,  die  Darstellung  des  gesamten  Sagen- 
stoflFs  von  der  Weltschöpfung  bis  zum  Ende  des  troischen  Krieges  bezeich- 
net haben,^)  wie  denn  das  Wort  für  prosaische  Mythenenzyklopädien  noch 
später  gebräuchlich  geblieben  ist.  In  alexandrinischer  Zeit  gab  es  mehrere 
solcher  prosaischen  xvxkoi^  aber  schon  ein  Buch  des  Aristoteles  xvxXog  fj 
jiegi  jTott]T(ov^  dann  von  Asklepiades  von  Tragilos  einen  xvxXog  rgayixög. 
Der  berühmteste  unter  den  Verfassern  solcher  mythologischen  Sammlungen 
war  der  vom  xvxXog  beigenannte  Kyklograph  Dionysios,  der  um  100  v.  Chr. 
einen  die  Mythen  oder  alten  Geschichten  in  geordneter  Folge  umfassen- 
den xvxXoq  loxoQixög  in  7  Büchern  herstellte,  in  dem  bei  jedem  ein- 
zelnen Mythus  auf  die   Stellen   und  Verse  der  alten  Dichter  und  Mytho- 

ebenso  Philoponos  ad  Arist.  an.  post.  I  12,  1  steckt  auch  in  dem  seltsamen  ^Emxoyxvloc:, 
soph.  el.  10  und  ähnlich  Suidas  s.  X>fif}goi:  \  den  Joh.  Tzetzes  (s.  o.  S.  73,  5)  in  die  pei- 
mid  Ps.  Herodot  vit.  Hom.  9.  Nach  Aelian  .  sistralische  Redaktionskommission  versetzt, 
y.  h.  IX  15  erzählte  Pindar,  daß  Homer  die  I  —  Analog  ist  das  Bestreben,  die  orphischen 
Kypria  seiner  Tochter  als  Mitgift  gegeben  '  Dichtungen  zu  einem  Cyklus  zusammen- 
habe (die  Stelle  Pind.  Isth.  3,  55  braucht  zufügen,  worüber  s.  E.  Rohde,  Psyche  II* 
nicht  notwendig  auf  die  Aithiopis  oder  kleine  i  102,  1. 

Dias  bezogen   zu  werden).     Außerdem  legte  |            *)  Ucbrigens  schon  Isoer.  12,  263  {nÄior 

Kallinos   nach  Paus.  IX  9,  5  dem  Homer  die  j  ajioXeketfmhoi   rojv   oun'   Fiotr   rj  rry?  'Ofii^gov 

Thebais  bei,  und  bezeugt  Herodot  II  117  und  '  <5fJ^»;s  of  jirgi  rfjv  avrifr  fxeivti)  jrottfotv  yeyo- 

IV  32  (vgl.  V  67),  daß  einige  für  die  Kypria  voreg)  angedeutet, 

und  Epigonoi  Homer  als  Verfasser  ausgaben.  1           •)  Kallimachos  Anth.  Pal.  XU  43: 

Auch  Simonides  fr.  53  beschränkt  den  Namen  '  f.x^^"J^  "^^  noii]\Aa  lo  xvxhxov  ovdk  xelstf^fo 

Homer  nicht  auf  Ilias  und  Odyssee,  wogegen  |          X^"J^'^t  ^''*''  '"^oÄkorg  möf.  xal  möf  q^eget. 

Aischylos'  bekannter  Ausspruch  (s.o.  S. 74,  4),  Vgl.  R.  Merkel,  Apoll.  Argon,  prol.  p.  XXXI  f. 

daß   seine   Dramen   reftd/jj  dFiinoi'  'Oftt/gov  ,  In  der  Schule  des  Aristarchos  bedeutet  xvxXt- 

seien,   nur   im  allgemeinen  als  bescheidener  !  xcog  , trivial"  in  den  Scliolien   zu  IL  Z  325, 

Ausdruck  der  Dankbarkeit  gegen  Homer  ver-  ,  /  222,  Od.  ^  248,  »/  115    (s.  W.  Bachmann, 

standen  zu  werden  braucht.   Bei  Ps.Demosth.  !  Die  ästhetischen  Anschauungen  Aristarchs,  II. 

60,  29  wird  Homers  als  Dichters  der  Kyprien  Progr.  Nürnberg  1904,  81  f.).   Direkt  an  den 

und  der  kleinen  Ilias  gedacht,  und  von  Anti-  |  Vers  des  Kallimachos   schließt  sich  an  Pol- 

gonosCaryst.Parad.25  wird  einVers  des  Homer  I  lianos  (aus  Hadrians  Zeit)  Anth.  Pal.  XI  130: 

zitiert,  der  nicht  in  Ilias  und  Odyssee  steht,  i        rovg  xvxkiovg  xovxovg  xovg  atmtg  F^iena 

')  Philostr.   ep.   73:   o  tojy  imhioidn'  xv-  '                                                              keyovrag 

pfAo^;  Proklos  a.a.O.:  Schol.Hephaestion.p.  126,  i              ^iiaa>,  Iwno^vrag  (uXotqüov  f:tf(ov. 

20  CoNSBR.  <)Fiyim    (nämlich   der  hcxametri-  I  Aehnlich    sagt   Statius    silv.  II  7,  51:    irita 

sehen  l*oesie)  ()f  t)  'Ofitjgov  non^oig  xal  "Hoioöog  ;  vaiibus orbita  sequantur.  Vgl.  Hör.  a.  p.  1 33.1 36. 

xal  6  xvxkog  mlg.     Der  Name  Fmxog  xvxkog  I            *)  So  Procl.  chrestom.  p.  233,  17  flf.  W. 


A.  Epos.    3.  Der  epische  Eyklos.    (§  48.)  87 

logen  verwiesen  war.^)  In  diesem  Mythenkyklos  hatten  auch,  wie  im 
epischen  Kyklos  des  Proklos,  die  Erzählungen  des  Homer  ihre  Stelle,  wie 
denn  Athen,  p.  481  e  aus  dem  6.  Buch  desselben  das  Eyklopenabenteuer 
anführt.*)  Aber  auch  jüngere,  von  den  älteren  ionischen  Epikern  nicht 
behandelte  Mythen,  wie  die  von  den  Argonauten,  von  Herakles,  von 
Dionysos,  hatten  in  ihm  Aufnahme  gefunden.  Derartige  Kykloi  gab  es 
mehrere;  der  des  Dionysios  war  nur  der  gelehrteste  und  umfangreichste. 
Ein  anderer  war  der  des  Lysimachos,^)  ein  dritter  der  des  Theodoros, 
welcher  den  Bildern  der  bei  Bovillae  aufgefundenen,  nachher  in  das 
kapitolinische  Museum  verbrachten  Tabula  Uiaca  zugrunde  lag.^)  Nichts 
anderes  als  ein  solcher  xvxXog  ist  die  uns  vorliegende  sogenannte  apollo- 
dorische Bibliothek,  und  einen  xvxXog  lorogtjuevcov  vjikg  Kgrjrag  trug  im 
2.  Jahrhundert  v.  Chr.  der  teische  Gesandte  Menekles  in  der  kretischen 
Stadt  Priansos  vor.^)  Eine  Verengerung  des  Begriflfs  xvxkog  muß  sich  aus 
dem  von  Aristoteles  besonders^)  formulierten  ästhetischen  Gegensatz  zwi- 
schen Ilias-Odyssee  einerseits  und  den  anderen  Epen  homerischen  Stils 
andererseits  ergeben  haben.  Nun  verstand  man  unter  xvxkog  diejenigen 
Epen,  die  das  in  Ilias  und  Odyssee  betretene  StoflFgebiet  zu  Ende  be- 
arbeiteten.') 

48.  Die  Gedichte  des  epischen  Kyklos  sind  nach  der  beträchtlichen 
Zahl  poetisch  gefaßter  Zitate,  die  in  älteren  Scholiensammlungen  erhalten 
sind,  von  den  alexandrinischen  Philologen  und  wohl  noch  von  Gelehrten 
des  2.  Jahrhunderts  n.  Chr.«)  in  der  ursprünglichen  dichterischen  Gestalt 
gelesen  worden.  Sie  nach  ihrer  technisch-ästhetischen  Bedeutung  zu  wür- 
digen fehlen  uns  die  Mittel;  aber  über  ihren  Inhalt  sind  wir  noch  ziem- 
lich gut  unterrichtet  durch  die  Exzerpte  aus  ihnen  in  der  grammatischen 
Chrestomathie  des  Proklos,^)  die  uns  der  Patriarch  Photios  Bibl.  cod.  239 
erhalten  hat.    Im  Eingang  bemerkt  dieser:    „Am  Anfang  des  sogenannten 

»)   Diodor  11166,6:    Aiowalw  xw  ov^ta-  |   nr.  66,  9  f. 

$afiev€p  tag  jtcdatag  fjivdonouaq '  ovTog  yao  rd  *)    Das   aristotelische    Urteil    ist   indivi- 

re   nFQi    rov  Atowaov   xai    rag  ^AfiaCot'ag,  hi  i    dueller  gefaßt  bei  Procl.  ehrest.  241,  30  flf.  W. 

de  rwg  ^Agyarat^iag   xai  rä  xara  xov  'IXiaxov  xov    ejitxov    xvxkov    xa    jiott/^axa    diaoq)Cexat 

jiölefiov  Ttga^Oevra  xai  7xd?.X*  ^xega  ovrxexaxxai,  xai  ojtoiMCsxai    xoTg  TioXkoTg  ovx    ovxio   dtä 

Jta^xtdeig    xä    JtottjjLiaxa     xtov    dg^auor    xcbv  xyv  dgsxijv  (hg  6id  xrfv  dxoXox^&iav  xdiv 


re  fAV&oldyoyv  xai  xah'  7ioti]xdjr.  Vgl.  Ed. 
ScHWABTz,  De  Dionysio  Scytobrachione,  Bonn 
1880. 

»)  Die  ,kyklische  Odyssee'  (Schol.  Od. 
jt  195  und  g  25)  bleibt  hier  besser  aus  dem 
Spiel.  Daß  es  eine  Ausgabe  des  xvxXog  ein- 
schließlich der  Odyssee   gegeben  habe   (R. 


iv  avxw  :igayiiax(DV. 

')  So  auch  Scholion  zu  Clem.  Alex,  protr. 
II  30  (T.  I  p.  305  f.  Stählin):  xvxhxoi  dk 
xaXovvxat  jtoitjxai  oi  rd  xvxkfp  xfjg  ^Ihdöog  rj 
xd  jxgdjxa  tj  xd  ftfxayn'earega  f^  {i^  tilgt  Kroll, 
e^o)  schlägt  dafür  wohl  richtig  Schwartz  vor) 
avxiüv    x(7>v  Xjfttjgtxwv  ovyygdyavxeg. 


YoLKMANN,  Gesch.  und  Kritik  der  Wolfschen  i           *•)   Ob    auch    von   Proklos,    ist   freilich, 

Proleg.  193) .   darf  aus   dem   (vielleicht  nur  trotz  der  oben  A.  6  zitierten  Aeußerung  des- 

eine  minderwertige  Ausgabe  bezeichnenden)  selben,  fraglich.  Quintus  von  Smyma  scheint 

Namen  xvxkixrj  Oövaasia   nicht  geschlossen  sie  nicht  mehr  gehabt  zu  haben  (F.  Noack, 

werden.  Gott.  Gel.  Anz.  1892,  769  flf.). 

*)  Lysimachos  aus  Alexandria  lebte  unter  ^)  F.  G.  Welcker,  Ep.  Cycl.  I  3  flf.  unter- 

Augustns;  s.  C.  Mülleb,  FHG  III  334  flf.  ;   scheidet  diesen  Grammatiker  Proklos  von  dem 

*)  Die  Tafel   trägt   die  Inschrift  w  (pike  \   Neuplatoniker  Proklos    und   weist   ihn  dem 

:tai    ßeod]wgijov   fid^e    xd^iv  'Ofirjoov,    dfpga  ;    2.  Jahrh.  n.  Chr.  zu.  Ebenso  W.  Schmid,  Rhein. 

diuig  jidoijg  fiixgov  exv^  acxpiag.     Sie  gehört  Mus.  49  (1894)  133  flf.  und  Berl.  phil.  W.schr. 

der  Zeit  um  Christi  Geburt  an.  |   27  (1907)  5  f.  gegen  0.  Immisch.  Festschr.  f. 

^)  CH.MiOHBL,Recueild'inscript.Grecques  |  Th.  Gomperz,  1902,  237  flf. 


88  Griechische  Litteratnrgeschiohte.    L  KlaswiBche  Periode. 

epischen  Kyklos  steht  die  Verbindung  des  üranos  mit  der  6e,  aus  der  die 
Dichter  die  drei  Hunderthänder  und  die  drei  Kyklopen  hervorgehen  lassen; 
alsdann  geht  er  alles  durch,  was  sonst  Fabelhaftes  die  Hellenen  von  ihren 
Göttern  erzählen  und  was  in  alter  Zeit  sich  ereignet  hat,  bis  zur  Landung 
des  Odysseus  in  Ithaka/  Es  ging  danach  in  dem  epischen  Kyklos  eine 
Göttergesehichte  voraus  und  folgten  dann  die  Epen  der  Heroensage,  zu- 
nächst der  thebanischen,  dann  des  troischen  Sagenkreises.  Von  den 
letzteren  sind  Inhaltsangaben  auch  durch  Uiasscholien ')  auf  uns  gekommen; 
illustriert  und  bereichert  werden  diese  außerdem  durch  bildliche  Dar- 
stellungen insbesondere  auf  der  Tabula  Iliaca  und  Borgiana,  sowie  durch  die 
Mythen  der  Lyriker  und  Tragiker,  denen  die  Gedichte  des  epischen  Kyklos 
eine  sehr  erwünschte  und  eifrig  ausgenutzte  Fundgrube  waren.  Leider 
können  wir  aber  trotzdem  kein  ganz  zuverlässiges  Bild  vom  Inhalt  jener 
Gedichte  gewinnen,  da  es  unserem  hauptsächlichsten  Gewährsmann  Proklos 
mehr  darum  zu  tun  war,  seine  Leser  in  die  Mythenwelt  der  Griechen  im 
allgemeinen  einzufahren,  als  ihnen  ein  im  einzelnen  genaues  Exzerpt  jener 
Gedichte  zu  liefern.  Daher  folgte  er  der  gewöhnlichen  Form  des  Mythus  auch 
da,  wo  das  exzerpierte  Gedicht,  wie  wir  aus  anderen  Quellen  wissen,  eine  be- 
deutsame Variante  hatte.  So  läßt  er  im  Exzerpt  der  Kyprien  den  Paris 
mit  der  geraubten  Helena  auf  der  Heimfahrt  nach  Sidon  kommen,  während 
wir  aus  Herodot  II  117  erfahren,  daß  der  Dichter  der  Kyprien  im  Gegen- 
satz zu  Homer  den  Paris  von  Sparta  in  drei  Tagen  bei  günstigem  Fahr- 
wind direkt  nach  Ilios  kommen  ließ.  Ebenso  scheint  er  in  der  Erzählung 
vom  Streit  der  Dioskuren  Kastor  und  Pollux  mit  den  Apharetiden  Lynkeus 
und  Idas  der  jüngeren,  durch  Pindar  aufgebrachten  Sage,  nicht  der  des 
alten  Epos  gefolgt  zu  sein.^)  Neuere  Kritiker  nehmen  daher,  zumal  seit 
nach  Auffindung  neuer  Stücke  eines  vollständigeren  Textes  der  apollo- 
dorischen Bibliothek  in  Rom  und  Jerusalem  wörtliche  Übereinstimmungen 
des  Proklosexzerptes  mit  diesem  Kompendium  3)  zutage  getreten  sind,  mit 
Grund  an,  daß  Proklos  die  alten  Gedichte  gar  nicht  mehr  im  Original  ge- 
lesen, sondern  sich  mit  Exzerpten  beholfen  habe.'^) 

Die  einzelnen  Gedichte  des  epischen  Kyklos,  welche  die  fertige  Dias 
und   Odyssee  voraussetzen,*)   waren   folgende:    Tiravojuaxia^^)   [Oldmodeia], 

M  Im  Ven.  454  (A);  die  Inhaltsangabe  ;  il  ciclo  epico  in  Studi  ital.  di  filol.  cl.  9  (1901) 
der  Kyprien  fehlt  in  diesem  (s.  G.  Wissowa,  35  ff.  Nach  R.  hätte  Pr.  zwar  nicht  die  kykli- 
Herm.  19  (1884)  198  ff.)  und  ist  uns  in  einem  ,  sehen  Epen  selbst,  aber  (ebenso  wie  „Apollo- 
Codex  des  fiskurial  erhalten,  in  den  sie  zur  dor*)  einen  zuverlässigen  Auszug  aus  ihnen 
Zeit,  als  das  fehlende  Blatt  in  A  noch  vor-  |  vor  sich  gehabt,  der  aus  aristotelischer  Schule 
banden  war,  gekommen  ist.  stammen  könne. 

3)  Vgl.  Seh.  Find.  N.  10,  60  und  Christs  '           *)  Einfluß  der  jüngsten  Teile  von  Dias 

Anmerkung  zu  der  Stelle.  1   und  Odyssee  auf  die  kyklischen  Epen  weisen 

')   Durch   den  Druck   hervorgehoben   in  !   z.  B.  nach  E.  Thrämer,  Pergamos  156  und 

R.  Wagners  Apollodorausgabe  (Mythographi  I   F.  Blass,  Die  Interpolationen  in  der  Odyssee 

Graeci  I,  Leipz.  1894,  238  ff.).  283  ff. 

*)    Nach  WiLAMOwiTz   und   K.  Robert,  «j  Ath.  277  d    nennt   als  Verfasser   der 


Bild  und  Lied  222  f.,  hat  besonders  E.  Bethe, 
Herrn.  26  (1891)  593  ff  und  Theb.  Helden- 
lieder 33  ff.   die  Zuverlässigkeit  des  Proklos 

angegriffen.   Dagegen  R.  Waoner,  N.  Jahrbb.   '   6  K.  (vgl.  Schol.  Apoll.  Rhod.  I  554). 
145  (1892)  241  ff.  und  E.  Romaonoli,  Froclo  e   ' 


Titanomachie  zweifelnd  den  Eumelos  oder 
Arktinos.  Eine  ytyarTofiaxia  als  homerischen 
Gegenstand  nennt  Philostr.  vit.  soph.  p.  32, 


A«  Epos.    3.  Der  epische  Eyklos.    (§  49.) 


89 


Orjßatg,  *Enlyovoh  Kvngia,  \^lhäg\  Al&iojügt  'Ihäg  jluxqol,  'IUov  negoig,  Nooioi, 
\^06voaeia\  TrjXeyoveia.  Auch  diesen  Epopöen  war  so  gut  wie  der  Dias 
die  Ausbildung  der  Sage  durch  Einzellieder  vorausgegangen,  da  bereits  die 
homerischen  Epen  Achilleus'  Fall  (X  359),  die  Fahrt  des  Paris  (Z  290),  die 
Versammlung  der  Schiffe  in  Aulis  (B  303),  die  Heimkehr  der  Helden  von 
Troiä  (y  130  ff.,  d  351  ff.,  A,  co  passim),  die  thebanische  Sage  (J  376  ff., 
405  ff.,  £802  ff.,  Z  222  ff.,  Ä' 285  ff.,  £'114,  !F346,  679)  u.  a.  an  Stellen 
erwähnen,  die  den  Verdacht  nachträglicher  Interpolation  ausschließen. 

49.   Die  Darstellung  der  Heroensage   beginnt  mit  dem  thebanischen 

Kreis.  0 

Orjßatg  in  7000  Versen,*)  auch  kyklische  Thebais  im  Gegensatz  zu 
der  Thebais  des  Antimachos  und  Antagoras  genannt,^)  enthielt  anhebend 
mit  dem  Auszug  aus  Argos  den  Zug  der  Sieben  gegen  Theben ;  sie  berührte 
sich  also  im  Inhalt  mit  dem  daneben  genannten  Epos  i^eXaaig  'Ajucpiagdov.^) 
Von  Pausanias  IX  9,  5  wird  die  Thebais  hoch  geschätzt  und  neben  Uias  und 
Odyssee  gestellt.  Nach  demselben  Gewährsmann  hat  der  Elegiker  Kallinos 
das  Gedicht  als  homerisch  anerkannt.*^)  Suidas  und  Ps.Herodot  im  Leben 
Homers  lassen  es  von  Homer  nach  seiner  Vertreibung  aus  Smyrna  in 
Neonteichos  bei  Kyme  gedichtet  sein. 

*E7tiyovoi,  gleichfalls  in  7000  Versen,  behandelten  die  Einnahme  der 
Stadt  Theben  durch  die  Nachkommen  der  beim  ersten  Zug  vor  Thebens 
Mauern  gefallenen  Helden.  Daß  Homer  das  Epos  gedichtet  habe,  be- 
zweifelt bereits  Herodot  IV  32;  der  SchoUast  zu  Aristoph.  Pac.  1270  schreibt 
es  einem  Antimachos  aus  Teos«)  zu. 

OtdiTtödeia  in  6000  Versen  enthielt  die  Geschicke  des  Königs  Oidipus 
übereinstimmend  mit  Od.  X  271 — 280,  aber  in  einer  wesentlich  anderen  Dar- 
stellung als  sie  später  die  Tragödie  gab:*^)  die  4  Oidipuskinder  stammten  nicht 
von  Oidipus'  Mutter  lokaste  bezw.  Epikaste,  sondern  von  seiner  zweiten  Frau 


')  E.  Bethe,  Thebanische  Heldenlieder, 
Leipz.  1891;  N.  Wboklein,  Die  kyklische 
Thebais.  die  Oedipodee,  die  Oedipussage  und 
der  Oedipus  des  Euripides,  Sitz.ber.  d.  b.  Ak. 
1901  S.  661—692;  L.  Legbas.  Les  legendes 
Th^baines  dans  Töpop^e  et  la  tragedie  Grec- 
ques,  Paris  1905.  Gegen  Bethes  Willkürlich- 
keiten 8.  bes.  P.  CoBssEN,  Die  Antigene  des 
Sophokles,  Berl.  1898,  18  ff. 

*)  Cert.  Hes. :  6  de  "0/4rjoog  djiotvxMV 
Tffg  vlxfig  jiEQieQx^fAsvog  Heye  xa  Jtottjfiataf 
ngtbtov  f*kv  TTfv  Srjßatda,  ejitf  ,C  •  •  •  •  ^tia 
'Ejiiyarovg,  ejitj  ,C-  Nach  der  Tab.  Borg,  scheint 
die  Zahl  7000  abgerundet  zu  sein  für  6600. 
Aus  Properz  I  7,  3  ergibt  sich  für  den  Ver- 
fasser nichts ;  die  Darstellung  in  der  Odyssee 
o  244  ff.  stimmt  nicht  mit  der  der  Thebais 
flberein. 

»)  Vgl.  Ath.  465  e,  Asklepiades  in  Schol. 
Pind.  0.  6,  26  Dbaohmann,  Schol.  Soph.  Oed. 
Col.  1375. 

*)  O.  Immisch,  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl.  17 
(1890)  171  f.  sucht  nachzuweisen,  daß  die 
i^eiaats  *Afi<ptaQdov  ein  eigenes  Gedicht  neben 


der  Thebais,  nicht  bloß  ein  Gesang  derselben, 
wie  Welcker  annahm,  gewesen  ist. 

^)  Auch  die  Angabe  des  Herodot  V  67, 
daß  der  Tyrann  Kleisthenes  von  Sikyon  die 
Rhapsodenvorträge  rdjv  'O/urjgeicov  ejiecov  hin- 
derte, weil  in  ihnen  die  Argeier  und  Argos 
gepriesen  seien,  will  G.  Gbote,  History  of 
Greece  IP  129  auf  die  Thebais  beziehen, 
weil  in  dieser  weit  mehr  als  in  der  Ilias  von 
Argos  die  Rede  gewesen  sei. 

•)  Dieser  *Avxlfiaxog  6  TTJiog  ejzojtotog  ist 
genannt  von  Plut.  Rom.  12  und  Clemens 
Alex,  ström.  VI  p.  743  P.  Ein  neues  Fragment 
der  Epigonen  B.  9  des  A.  gewinnt  G.  Kkaack, 
Beri.  phil.  W.schr.  23  (1903)  284  f.  aus  einer 
Hippokratesvita.  Siehe  auch  u.  §  81.  Auf- 
fällig ist  die  Angabe  des  Scholiasten  Por- 
phyrie zu  Horaz  a.  p.  146:  Antimachus  fuit 
cyclicus  poeta.  hie  adgreasus  est  materiam, 
quam  sie  extendit,  ut  viginti  quatuor  Volu- 
mina impUverity  antequam  Septem  duces  ad 
Thehas  duceret, 

'')  Siehe  P.  Cobssen  a.  a.  0. 


90  Orieohische  Litteratnrgeschichte,    I.  Klassische  Periode. 

Euryganeia.  Neu  war  in  der  Erzählung  das  päderastische  Verhältnis  des 
Laios  zu  Chrysippos,  dem  Sohn  des  Pelops,  und  der  daraus  abgeleitete 
Zorn  der  eheschützenden  Göttin  Hera.^)  Das  Gedicht  wird  auf  der  Borgia- 
schen  Tafel  dem  Lakedairaonier  Einaithon  zugeschrieben,  den  Eusebios, 
man  weiß  nicht  aus  welchem  Grund,  in  Ol.  5  setzt. 

50.  Es  folgt  der  troische  Kreis.  Die  Kvjioia  (sc.  ¥,7irj)  in  11  Büchern 
umfaßten  die  der  Ilias  vorausgehenden  Ereignisse.  Sie  begannen  unter  offen- 
barer Anspielung  auf  das  Proömium  der  Ilias')  mit  einer  Beratung  zwischen 
Zeus  und  Themis  und  dem  Entschluss  des  Zeus,  die  übervölkerte  Erde 
durch  Erregung  des  ilischen  Krieges  zu  erleichtern.  Sie  erzählten  dann 
das  Parisurteil,  den  Raub  der  Helena,  die  Versammlung  der  Heerführer 
in  Aulis,  den  ersten  erfolglosen  Feldzug  nach  Teuthrania,  dem  Reich  des 
Telephos,^)  die  Zerstreuung  der  absegelnden  Schiffe  durch  einen  Sturm. 
Hiemit  endete  der  erste  Teil  des  Gedichtes.  Im  folgenden  Teil  war  die 
zweite  Unternehmung  gegen  Bios,  die  Zurücklassung  des  von  einer  Schlange 
gebissenen  Philoktetes  auf  Lemnos,*)  die  Landung  der  Achäer  und  die  ersten 
Kämpfe  vor  Troia  geschildert.  Mit  einem  Katalog  der  Bundesgenossen 
der  Troer  schloß  das  Gedicht  nach  der  Angabe  des  Proklos.*)  Die  Kyprien 
setzten  also  die  Bekanntschaft  mit  der  ganzen  Ilias  einschließlich  des 
Schiffskataloges^)  voraus.  Das  Werk  ward  nach  Herodot  II  117  von  einigen 
dem  Homer  beigelegt,  aber  derselbe  Herodot  erkannte  richtig  aus  sach- 
lichen Gründen  die  Verschiedenheit  der  Verfasser  der  IKas  und  der  Ky- 
pria.^)  Andere  schrieben  das  Gedicht  teils  dem  Stasinos  aus  Kypros, 
teils  dem  Hegesias  (oder  Hegesinos)  aus  (dem  ky prischen?)  Salamis  oder 
Halikarnassos  zu.  Vielleicht  darf  aus  dem  Namen  KvjiQia  und  dem  erotischen 
Charakter  der  Mythen  geschlossen  werden,  daß  das  Gedicht  auf  Kypros 
entstanden  ist  und  dort  an  dem  Fest  der  ky prischen  Göttin  zum  Vortrag 
kam.  Kypros  hatte  seit  alter  Zeit  enge  Beziehungen  zum  achäischen 
Kulturkreis.  Die  Insel  ist  von  Griechen  aus  dem  Peloponnes  kolonisiert 
worden,  bevor  noch  dort  die  nordsemitische  Schrift  übernommen  war,  und 
sie  ist  in  Fühlung  mit  dem  Mutterland  geblieben.  Das  zeigen  die  Verse 
der  Dias  A  21  f.: 


M  Den   Inhalt   des   Gedichtes   findet  E.  .   logischen  Handbuchs,  aus  dem  die  Exzerpte 

Bethe  in  dem  Exzerpt  des  Peisandros,  Schol.  des  Proklos   geflossen  sein   sollen,   gewesen 

Eur.  Phoen.  1760.  sei,  sucht  nachzuweisen  E.  Bethe,  Herrn.  26 

^)  Dabei  ward  von  dem  jüngeren  Dichter  i    (1891)  fill. 

der  Halbvers  .1/r>s  d^FTEÄnfio  fiovÄf/  falsch  ge-  *^)    Aus   den   Kyprien   ist  vielleicht   der 

deutet.    Dieser  Deutung  folgt  Eurip.  Hei.  40;  ,   Anhang  zum  Schiflfskatalog  der  Ilias  ß  816 

Or.  1640  f.  bis  876  ausgezogen,   wofür  auch  das  Fehlen 

')  Diese  Erzählung  leitet  Aristarchos  aus  des  Asteropaios  in  jenem  Verzeichnis  spricht; 

einem  Mißverständnis   des  Verses  A  59  rCfv  \   s.  K.  0.  Müller.  Gr.  Litt.  I*  91.  Leider  lassen 

uftfu  .Tcuir  :imyxi}e%'xag    (statt  ::ia).tfi:iL)  oUo  uns  über  diesen  Punkt  die  Scholien  im  Stich. 

atp  (htovoaiijottv  ab.  |            ')  Die  Kyprien  ließen  nämlich  den  Paris 

"*)  Auffällig   ist  die  Angabe  des  Aristo-  nicht  nach  Sidon  kommen  wie  Homer  Z  291, 

nikos  zu  11.^722:   ön  h  At)ft%'u>  fiterp  xaia-  '   sondern    in    drei   Tagen    nach  Troia    zurück- 

XeAFiuffu'Os    6  4>i}.oxT9ixrjg,   ot   /ie  vfwTfnot    tr  segeln;   vgl.  oben  §  48.  —    Bei  dem  Gram- 

vtjntöuo  ti)tßw\    Ob  hier  bei  vFunFoot  an  den  '   matiker  Glaukos  in  Schol.  Eur.  Hec.  41  und 

sophokleischen  Philoktetes  gedacht  ist?  in  vielen  sonstigen  Zitaten  läuft  das  Oiledicht 

^)    Daß    dieser   Katalog   nicht   ein    Teil  '    anonym  (o  t«  Kvjigia  jioiyoas). 

der    Kyprien    selbst,     sondern    des    mytho-  ' 


A.  Epos.    3.  der  epische  Eyklos.    (§§  50—52.)  91 

nev'&exo  yäo  KvjiqovÖe  jueya  xXiog,  ovvex*  ^Axo.toi 
ig  Tqoitjv  rqeooiv  Avankevaeo^ai  ijuekXov, 
Uralte  Beziehungen    zur  Troas   verrät   auch  die  Ähnlichkeit   der  ältesten 
Töpferware  von  Hissarlik-Troia  mit  der  von  Kypros  und  die  Sage  von  der 
Gründung  der  Stadt  Gergitha  in  der  Troas  durch  den  kyprischen  Stamm 
der  Gerginer  (Klearchos  bei  Athen.  256  b). 

51.  Die  Ai^ionig  in  5  Büchern  von  Arktinos  aus  Miletos  hat  von 
den  Äthiopiern  des  Memnon  seinen  Namen.     Nach  dem  Anfangsvers 

'ßc  oi  y  &iJi(piejiov  rdcpov  ^Exrogog,  fjX'&e  ö'  'AjuaC(ov 
schloß  sie  sich  eng  an  den  letzten  Gesang  der  Ilias  an.  Das  Gedicht  be- 
gann mit  den  Ruhmestaten  der  Amazone  Penthesileia  und  ihrer  Tötung 
durch  Achilleus.  Dieser,  von  Thersites  wegen  der  Liebe  zu  der  gefallenen 
Amazone  beschimpft,  tötet  den  Lästerer  und  segelt  dann  nach  Lesbos,  um 
sich  von  der  Blutschuld  entsühnen  zu  lassen.  Nun  tritt  Memnon,  der  Sohn 
der  Eos,  als  Bundesgenosse  der  Troer  in  einer  von  Hephaistos  geschmie- 
deten Rüstung  auf  den  Schauplatz  und  tötet  bei  erneutem  Zusammenstoß 
der  Heere  Antilochos,  den  jugendlichen  Freund  des  Achilleus.  Achilleus 
erschlägt  den  Memnon,  der  durch  die  Verwendung  seiner  Mutter  Eos  un- 
sterblich gemacht  wird,  und  treibt  die  Troer  zu  Paaren,  wird  nun  aber, 
als  er  schon  in  die  Stadt  eindringt,  vom  Pfeil  des  Paris  getroffen.  Seine 
Leiche  wird  unter  heißem  Kampf  von  Aias  und  Odysseus  ins  Lager  zu- 
rückgebracht. Den  Schluß  des  Ganzen  bildete  die  Bestattung  des  Achilleus 
mit  den  der  Ilias  nachgebildeten  Leichenspielen,  der  Streit  des  Aias  und 
Odysseus  um  die  Waffen  des  Helden  und  der  Selbstmord  des  Aias.  Als 
Verfasser  des  an  spannenden  Motiven,  aber  auch  an  Nachbildungen  von 
Motiven  der  Dias  reichen  Epos  galt  unbestritten  Arktinos,  Sohn  des  Teles, 
aus  Miletos,  der  von  Eusebios  in  die  erste,  von  Suidas  in  die  neunte  Olym- 
piade gesetzt  wird,»)  was  wohl  zu  früh  ist.  Durch  den  hochpoetischen 
Stoff  fühlte  sich  Goethe  angezogen,  um  als  letzter  der  Homeriden  das  un- 
vollendete Epos  Achilleis  zu  dichten. 

62.  'Tklov  Jiigoig  in  2  Büchern  von  demselben  Arktinos,^)  steht  in 
den  Auszügen  des  epischen  Kyklos  wegen  der  zeitlichen  Folge  erst  hinter  der 
Kleinen  Ilias.    Das  Gedicht  begann  mit  den  Vorbereitungen  zur  Eroberung 

*)  Die  zweite  Angabe  des  Eusebios,  die  |   nicht  bis  nach  Kolchis  gekommen.    Die  An- 

ihn  in  die  4.  Ol.  setzt,  scheint  aus  der  Ver-  klänge  der  Aithiopis   an   die  Odyssee,   auch 

wecfasliing   von   A  und  A   herzurühren.    Bei  |   deren  spätere  Partien,  sind  ohne  Zweifel  auf 

Suidas  *A^?crTvog  y«7ova>ff  xara  trjv  i>'  6k.  fterä  i    Abhängigkeit    von    der    Odyssee    zu    deuten 

TeTQoxoaia  hrj  x<bv  Tqoaxwv  ist  wahrschein-  |   (F.  Blass,  Die  Interpol,  der  Od.  284  f.,  der 

lieh  ie(faagd?eovra  hinter  xexQaxoaia  ausgefal-  den  Arktinos  ca.  650  setzen  will).    Beachtens- 

len.  Weiter  herab  würde  uns  der  von  Phanias  wert  ist  das  erstmalige  Vorkommen  der  Mord- 

bei  Clemens  Alex.  Strom.  Ip.  398  P.  überlieferte  sühne   in  der  Aithiopis   (£.  Rohde,   Psyche 

Wettstreit  des  Arktinos  mit  Lesches  führen,  P  271,  3j.     Pindar  Pyth.  6,  28  flf.  geht  auf 

wenn  ihm  Glauben  beizumessen  wäre.    Von  die  Aith.  zurück.    Auf  dem  Kypseloskasten 


Wichtigkeit    für   die    Chronologie    und    das 

hohe  Alter  des  Arktinos  ist  der  Umstand, 

daß   er  den  Achilleus  zwar  nach  der  Insel 

Lenke  im  Schwarzen  Meer  entrückt  werden, 

aber  die  Amazonen  aus  Thrake,  noch  nicht 

aus  Pontes  kommen  läßt.  Die  Milesier  hatten 

also  damals  wohl  schon  ihre  Seefahrten  nach  ;   Störung  Ilions  enthielt;  vgl.  S.  92  Anm.  5 

dem  Pontes   ausgedehnt,    waren  aber  noch  | 


fanden  sich  nach  Paus.  III  18  bereits  Szenen 
aus  der  Aithiopis  (Achilleus  und  Memnon) 
und  den  Kyprien  (Parisurteil). 

2)  Pausanias  X  25,  5  nennt  als  Verfasser 
der  'lUov  :zegoig  den  Lesches,  vielleicht  weil 
auch  die  kleine  Ilias  des  Lesches  eine  Zer- 


92  Oriechiflche  Litteratnrgeschichte.    I.  SlassiBche  Periode. 

Troias,  der  List  von  dem  hölzernen  Pferd  mit  den  aus  Yergil  bekannten 
Geschichten  von  Laokoon  und  Sinon.  Es  folgte  das  düstere  Gemälde  von 
der  Einnahme  der  Stadt  mit  all  ihren  Greueln  und  am  Schluß  stand  die 
drohende  Gestalt  der  zürnenden  Göttin  Athene  J)  Ob  den  von  Proklos  ex- 
zerpierten zwei  Büchern  noch  ein  anderes  Buch,  wenn  nicht  mehrere 
Bücher,  vorausgingen,  worin  die  Zimmerung  des  hölzernen  Pferdes,*)  der 
verstellte  Abzug  der  Achäer,  die  Abholung  des  Neoptolemos  und  die  Ent- 
wendung des  Palladiums  geschildert  war,  ist  fraglich. »)  K.,  Robert  (Phil. 
Unt.  V  223)  nimmt  geradezu  an,  daß  die  Iliupersis  mit  der  Aithiopis  ur- 
sprünglich ein  einziges  zusammenhängendes  Epos  gebildet  habe.^) 

53.  '/Aidg  juixQd  in  4  Büchern  war  die  stofiFreichste  der  troischen 
Dichtungen.  Nach  dem  Auszug  des  Proklos  begann  sie  mit  dem  Streit  um 
die  Waffen  des  Achilleus  und  endete  mit  der  Aümahme  des  hölzernen  Pferdes 
in  die  Stadt.  In  der  Tat  aber  war  sie  umfangreicher  und  enthielt  nicht 
bloß  noch  die  Einnahme  der  Stadt,*)  die  Proklos  lieber  nach  Arktinos  er- 
zählte, sondern  holte  auch  im  Anfang  etwas  weiter  aus,  wie  uns  schon 
der  erhaltene  Eingang  lehrt: 

^Ihov  äeldcD  xai  Aagdavlfjv  ivmoXov, 
fjg  Jiigi  TiokXä  nd^ov  Aavaol  'äegoTiovreg  'Agrjog. 
Auf  den  Streit  des  Aias  und  Odysseus  um  die  Waffen  des  Achilleus  und 
den  Selbstmord  des  Aias  folgte  die  Herbeiholung  neuer  Streitkräfte  von 
Seiten  der  Achäer  und  Troer,  der  Tod  des  Paris  durch  den  Pfeil  des  Phi- 
loktetes  und  der  Fall  des  Eurypylos  durch  Neoptolemos,  den  Führer  im 
neuen  Kriege,  dann  das  Weitere  bis  zur  Verteilung  der  Siegesbeute  nach 
dem  Fall  Troias  wie  in  der  Uegoig.  Als  Verfasser  des  Epos  wurde  so  ziem- 
lich allgemein  Losch  es  (Pausanias  schreibt  Aeaxecog)^^)  der  Sohn  des 
Aischylinos  aus  Pyrrha  in  Lesbos,  angegeben,^)  den  zu  einem  bloßen  Re- 

*)  Wir   folgen   der   von   K.  Lehrs  vor-  j  allen  Einzelheiten.   So  ließ  nach  Paus.  X  27, 2 

geschlagenen    Umstellung    der    Schlußsätze  I  Arktinos   den  Priamos  von  Neoptolemos  anf 

des  Exzerptes.  i  dem  Altar  des  Zeus  ermordet  werden  (so  auch 

^)   Daß   dessen   Erbauer  Epeios   in   der  |  Pindar  in  den  neugefundenen  Paianen  Oxyrh. 


Woaig  oder  YAiots  /i«x(>a  vorkam,  ist  sicher 
(WiLAMowiTz.  Jahrb.  des  arch.  Inst.  14  (1899) 
54  f.). 

')  Die  Entwendung  des  Palladiums  fand 
vielleicht  noch  in  einem  vollständigeren  Exem 


pap.  V),  während  Lesches  solchen  Frevel  von 
dem  griechischen  Helden  fem  hielt 

«)  Diese  Form  ist  (trotz  0.  Ixmisoh^ 
Rhein.  Mus.  48  (1893)  290  ff.  und  obwohl  nach 
Inscr.  Gr.  insul.  maris  Aeg.  nr.  709  jetzt  das 


plar  Dionys.  Hai.  Ant.  1  69,  2.  '   Zeugnis   der   altrhodischen  Inschrift  fttr  die 


*)  Auf  beide  Gedichte  zusammen  geht 
die  Angabe  der  Tab.  Borg.,  daß  das  Gedicht 
des  Arktinos  9500  Verse  gehabt  habe;  auch 
diese   Zahl   weist  auf  mehr   als  7  (5  -f  2) 


Namensform  Aia^ns  wegfällt)  ein  aus  dem  alt- 
ionischen Genitiv  Aeaxfw  unrichtig  erschlos- 
sener Nominativ,  dessen  ünzulässigkeit  schon 
alten  Grammatikern  auffiel  (Schol.  Paosan.  X 


Bücher.     Abhängigkeit   der  lleQaig   von  Od.  i  25,6ed.SpiRO.Herm.29,1894,149).  J.Waokkr- 

(^  500  ff.  nimmt  F.  Blass,  Die  Interpol,  der  naoel,  Beiträge  zur  Lehre  vom  griech.  Accent, 

Od.  287  f.  an.  ,  Basel  1894,  31. 1;  W.  Schmid,  Rhein.  Mus.  48 

'')  Aristot.  po6t.  23  las  in  seiner  kleinen  I  (1893)  626  ff. 

Ilias  noch  die  Zerstörung  der  Stadt,   woraus  !  ')  Nach   Ps.Herodot  vit.  Hom.  16   hätte 

er   die  Erzählung  von   den   gefangenen  Tro-  I  Homer   die  kleine  Ilias  in  Phokaia  gedichtet 


erinnen  anführt.  Das  Gleiche  gilt  von  Pau- 
sanias, wenn  er  X  25  den  Polygnotos  in  seinem 
Gemälde  der  Zerstörung  Troias  dem  Lesches 
folgen  läßt.  Die  Dai-stellung  in  der  Ifegaig 
und   der  'Ihä^  fuxgd    deckte   sich   nicht  in 


und  dem  Schulmeister  Thestorides,  der 
ihm  gastliche  Aufnahme  gewährte,  zum  Ab- 
schreiben überlassen.  Das  Scholion  zu  Eur. 
Troad.  822  nennt  neben  diesem  Thestorides 
den  Lakedaimonier  Kinaithon  oder  den  Ery- 


A.  Epos.    3.  Der  epische  Eyklos.    (§§  58—55.)  93 

Präsentanten  der  Erzählung  in  der  Halle  (ieoxrj)  zu  verflüchtigen  der 
myihenbildenden  Scheinkritik  unserer  Zeit  vorbehalten  war.  ^  Nach  Euse- 
bios  lebte  derselbe  in  der  30.  Olympiade;  der  Peripatetiker  Phanias  bei 
Clemens  Alex,  ström.  I  p.  398  P  setzt  ihn  vor  Terpandros,  den  er  jünger 
als  Archilochos  macht,  läßt  ihn  aber  zugleich  einen  Wettkampf  mit  dem 
Dichter  Arktinos  bestehen.*) 

54.  Nöaroi  in  5  Büchern,  von  Hagias  aus  Troizen,^)  schlössen  sich 
an  den  Ausgang  der  Iliupersis  des  Arktinos  oder  an  den  durch  den  Frevel 
der  Sieger  hervorgerufenen  Zorn  der  Göttin  Athene  an.^)  Sie  enthielten 
die  Geschicke  des  heimkehrenden  Heeres  der  Achäer:  des  Kalchas,  Leon- 
teus  und  Polypoites,  die  über  Kolophon  längs  der  kleinasiatischen  Küste 
zogen,  der  Hauptmacht  der  Achäer,  die  den  Seeweg  einschlug,  aber 
an  den  kaphereischen  Felsen  Euboias  Schiffbruch  litt,  des  Neoptolemos,  der 
zu  Land  quer  durch  Thrake  und  Makedonien  in  das  Gebiet  der  Molosser 
gelangte.  Um  die  Teile  des  Gedichtes  nicht  ganz  auseinanderfallen  zu 
lassen,  kehrte  der  Verfasser  im  letzten  Buch  wieder  zu  Agamemnon  und 
Menelaos  zurück  und  erzählte  die  Rache,  die  Orestes  an  den  Mördern 
seines  Vaters  nahm,*»)  und  die  gleichzeitige  Rückkehr  des  Menelaos. 0)  Das 
Gedicht  sollte  somit  die  Odyssee  ergänzen;  sein  Verfasser  hat  auch  aus- 
drücklich auf  sie  und  den  Aufenthalt  des  Odysseus  bei  dem  Priester  Maron 
im  Land  der  Kikonen  (Od.  i  197)  Bezug  genommen,  aber  gewiß  nicht  eine 
Ilias  post  Homerum  geschrieben  und  nicht  die  Heimkehr  des  Odysseus  von 
neuem  erzählt. "')  Die  in  diesen  Kreis  gehörigen  Sagen  wurden  schon  in 
der  Odyssee,  selbst  gestreift  (y  130  ff.,  d  351  ff.,  o  117  ff.).  Vermutlich«) 
war  das  Gedicht  eine  Fundstätte  für  Kolonisationssagen. 

65.  TrjXeyoveia  in  2  Büchern,  von  Eugamon  (v.  1.  Eugammon)^)  aus 
Kyrene  (nach  Eusebios  Ol.  53),  war  das  jüngste  der  kyklischen  Gedichte, 
das  die  letzten  Geschicke  des  Odysseus  und  seines  Hauses  erzählte;  den 


thraier  Diodoros  als  mutmaßliche  Verfasser 
and  statit  sich,  was  beachtenswert,  für  Kinai- 
thon  anf  das  Zeugnis  des  Hellanikos;   s.  E. 


Buches  zu  dem  von  Ath.  281b  und  395  d  er- 
wähnten Epos  ^AigeiScov  xd&odog  ^  worüber 
WiLAMowiTZ,  Hom.  Unt.  157. 


RoBBBT,  Phil.  Unt.  V  3*26  f.,   der  die   These  ]  *)   A.  Olivibri,   II   mito   di   Oreste  nel 

ao&iellt    daß   der  Kyklograph   Lysimachos  j  poema  di  Agia,  Riv.  difil.  25  (1897)  570  flf. 

den  Lesches   als  Verfasser  nicht   anerkannt  |  ®)  Die  Nostoi  enthielten   auch   eine  Ne- 

habe.  !  kyia,  die  Polygnotos  in  seinem  Gemälde  der 


*)  Die  Deutung  aufgestellt  von  Welckeb, 
Ep.  Cycl.  I  254,  und  von  andern  nachgeredet. 
Bei  Flut.  conv.  sept.  sap.  p.  154  a  wird  auch 
das  Certamen  Hesiodi  et  Homeri  dem  Lesches 
zugeschrieben;  aber  dies  ist  ein  offenbarer 
Irrinm,  wahrscheinlich  aus  einer  interpolie- 
renden Randbemerkung  hervorgegangen  (s. 
F.  NiBTZscHB,  Rh.  M.  25,  1870,  535  f.). 


Unterwelt  berücksichtigte  (Paus.  X  28,  7)  und 
deren  Umrisse  F.  Dümmleb,  Kl.  Sehr.  II  382  ff. 
wieder  herzustellen  sucht.  Siehe  a.  K.  Robert, 
Die  Iliupersis  des  Polygnot,  Hallisches  Win  ckel- 
mannsprogramm  1892. 

')  Das  Umgekehrte  behauptet  A.  Kibch- 
HOFF    im    Exkurs   seines    Buches    über    die 
Odyssee;   ihm  tritt  Wilamowitz,  Hom.  Unt. 
*)  Siehe  o.  8.  91,  1.  j    174  ff.  bei,  der  die  Nostoi  als  ein  Konglomerat 

')  Eustathios  zu  Od.  jt  118   nennt  ihn   |    von  Versen  der  verschiedensten  Dichter  und 
Kolophonier,  was  vielleicht  davon  herkommt,   ;   Zeiten  ansieht. 

daß    in   dem    Gedichte    Kolophon  und   sein   1  **)    R.  Wagner,   Der  Entwicklungsgang 

Orakel    eine    große   Rolle  spielte.      In    den      der  griechischen  Heldensage,   Dresden  1896, 
SchoL  Pind.  0.  13,  13   ist  ein    Noatog    xwv   \   XVII. 


*Elkf\vmv  des  Eumolpos  (korrigiere :  Eumelos) 
erwälmt. 

^)  Unklar  ist  das  Verhältnis  des  letzten 


»)  0.  Crüsiüs,  Philol.  54  (1895)  733  läßt 
den  Namen  EvydjiKov  erdichtet  sein  nach  den 
Hochzeiten,    mit  denen  das  Gedicht  schloß. 


94  Oriechische  Litteratnrgeschichte.    I.  SlassiBche  Periode. 

Namen  hatte  es  von  dem  tragischen  Zusammenstoß  des  Odysseus  mit 
seinem  von  Kirke  geborenen  Sohn  Telegonos,  der  den  Vater  mit  einem 
Bochenstachel  (äxav&a)  erschlägt,  ohne  ihn  zu  erkennen.^)  Das  Oanze 
schloß  romanhaft  mit  der  Heirat  des  Telegonos  und  der  Penelope  einer- 
seits und  des  Telemachos  und  der  Kirke  andrerseits.  Im  ersten  Teil  be- 
nützte der  Erzähler  vornehmlich  die  heimischen  Sagen  des  Thesproter- 
landes,  die  er  nach  Clemens  Alex,  ström.  VI  p.  751  P.  aus  dem  jiegl  Seo- 
jTQcoTöJv  ßißXlov  des  Musaios  schöpfte.^)  Sophokles  hat  der  Telegonie  den 
Stoflf  zu  seinem  ^Odvaoevg  äxav&oTih)^  entnommen. 

56.  Außerhalb  des  Kyklos  stehen  einige  ältere  epische  Bearbeitungen 
der  Herakles-  und  der  argolischen  Sage: 

OlxaXiag  äXcooig.  Das  Gedicht  behandelte  die  Einnahme  von  Oichalia 
durch  Herakles  und  stand  mit  dem  troischen  Sagenkreis  insofern  in  Ver- 
bindung, als  Odysseus  seinen  Bogen  von  Iphitos,  dem  Sohn  des  Königs 
Eurytos  von  Oichalia,  erhalten  hatte  (Od.  (f  37).»)  Nach  einem  Epigranun 
des  Kallimachos*)  galt  es  als  Werk  des  Homeriden  Kreophylos  aus 
Samos.  Da  eine  andere  Überlieferung  es  dem  Homer  zuschrieb,  so  haben 
ausgleichende  Litterarhistoriker  beide  Angaben  in  der  Art  vereinigt,  daß 
sie  den  Homer  das  Gedicht  dem  Kreophylos  als  Lohn  für  die  gastliche 
Aufnahme  schenken  ließen. 

0o)xatg  hatte  nach  Ps.Herodot  im  Leben  Homers  den  Namen  davon, 
daß  Homer  das  Epos  in  Phokaia  gedichtet  hatte.  Nach  Welckers  Kom- 
bination (Ep.  Cycl.  1 237)  war  es  identisch  mit  der  Miwdg,  die  nach 
Pausanias  IV  33,  7  den  Phokaier  Prodikos  zum  Verfasser  hatte.  Diese 
Minyas  behandelte  den  Fall  des  miny sehen  Orchomenos  durch  Herakles; 
in  ihr  kam  auch  eine  Unterweltsszene  mit  Büßertypen  vor,  aus  der  Poly- 
gnotos  die  Figur  des  Fährmanns  Charon  entnahm  (Paus.  X  28,  2), 

Javatg,  in  6500  Versen  nach  der  Borgiaschon  Tafel,  handelte  von 
den  Geschicken  der  Danaostöchter.^) 

57.  Über  den  inneren  Wert  und  den  Kunstcharakter  der  kyklischen 
Epen  läßt  sich  bei  der  Spärlichkeit  der  Fragmente  nicht  sicher  urteilen. 
Einige  von  ihnen  scheinen  an  Anschaulichkeit  der  Schilderung  und  Lebendig- 
keit der  Charakteristik  den  homerischen  Gedichten  nicht  viel  nachgestanden 
zu  sein;    doch   überwog  im  allgemeinen   in  ihnen  die  stoflfliche  Fülle,  der 

*)  Damit   stellte   der  Dichter    den   Od.  •)  Beziehungen   der  Tragödie   anf  diese 

A   134    prophezeiten    Oavarog    f$   dlog    (was  Sagenepisode  sammelt  A.Fahlnbbro,  De  Hei> 

manche  =  f^co  nko^  deuten,   also  dem  Ver-  j   cnletragico,Leipz.l892,p.9;auchBakchylide8 

fasser  der  Telegonie  ein  Mißverständnis  schuld  |    carm.  XV  Blass  schöpft  aus   dieser  Quelle. 

geben)    dar.     Uralt  und    international,   bez.  Vasendarstellungen  s.  A.  BiENKOWsKi^Jahres- 

vielleicht  indogermanisch,  ist  das  Motiv  vom  |   hefte  des  österr.  archäol.  Inst.  III  66. 

Kampf  zwischen   Vater  und  Sohn,   das  aus  *)  Strabon  638,   Hesychios  Milesios  bei 

der    persischen    (Rostem    und    Suhrab)    und  i    Suidas  u.  Äofmr/i/os,  Schol.Plat.  reip.p.600b. 

deutschen  (Hildebrand  und  Hadubrand)  Helden-  I    Dem  Kallimachos  (ep.  6  Wil.)  ist  es  ein  ,ky- 

sago  illustriert  wird  von  L.  ühland,  Schriften  kli8ches'*,minderwertigesCTedicht(K.DiLTHBY, 

zur  Gesch.  der  Dichtung  und  Sage  I  164  ff.  \   De  Callim.  Cydippa.  Lips.  1863,  8  f.). 

Siehe  a.  M.  A.  Potteb,  Sohrab  and  Rustem.  .           *)  Vielleicht  hat  auf  dieses  Epos  Bezug 

The  epic  Theme  on  a  Combat  between  Father  |   der  von  Apollodoros  II 1,  3,  3  angeführte  Ker- 

and  Son.    London  1902.  !   kops.  Nach  N.  Wecklein,  Sitz.b^.  d.  bayr.  Ak. 

2)  Vgl.  WiLAMOwrrz.  Hom.  Unters.  188.  1893.  373  ff.  schöpft  aus  der  Danais  Aischyloe 

H.  DiELS,  Vorsokr.*  497  n.  6.  ^   in  den  Hiketiden. 


A.  Epos.    3.  Der  epische  Eyklos.    (§§  56—57.)  95 

gegenüber  die  künstlerische  Anordnung  und  die  aus  der  Konzentration  der 
Handlung  entspringende  Spannung  zurücktraten.*)  In  der  Vorliebe  für 
erotische  und  romantische  Motive  erkennt  man  den  Geist  eines  neuen,  von 
dem  Ethos  der  Ilias  und  Odyssee  sich  mehr  entfremdenden,  novellistisch 
und  lyrisch  gestimmten  Zeitalters.  Auch  in  den  religiösen  Vorstellungen 
macht  sich  der  wachsende  Einfluß  des  Orakelwesens  und  der  Priesterlehren 
geltend.  Von  den  Namen  und  den  Persönlichkeiten  der  Verfasser  der  ein- 
zelnen Epen  hatte  man  offenbar  schon  zur  Zeit  der  Perserkriege  keine 
genaue  Kenntnis  mehr.^)  Doch  kann  man  immerhin  aus  den  spärlichen 
Fragmenten  und  den  dürftigen  Nachrichten  über  die  Dichter  des  Kyklos 
entnehmen,  daß  zur  Zeit  der  Kykliker  im  7.  Jahrhundert  der  epische  Ge- 
sang sich  über  die  Gegend  von  Smyrna  und  Chios  hinaus  nicht  bloß  nach 
den  übrigen  Städten  des  ionischen  und  äolischen  Kleinasiens,  wie  Kolophon, 
Miletos,  Lesbos,  sondern  auch  weiter  bis  nach  Kypros,  Argos,  Troizen,  Lake- 
daimon,  Kyrene^)  verbreitet,  und  daß  die  homerische  Sängerschule  zeitig 
über  den  troischen  Kreis  hinaus  auf  die  thebanischen,  argolischen  und 
Herakles-StoflFe  übergegriffen  hat.  Aber  das  Interesse  für  epische  Dichtung 
nahm  im  7.  Jahrhundert  bei  dem  raschen  Aufblühen  der  iambischen  und 
lyrischen  Poesie  immer  mehr  ab,  so  daß  kein  Gedicht  des  Kyklos  gleich 
der  Ilias  und  Odyssee  eine  nationale  Bedeutung  erlangte.  Gleichwohl 
wurden  von  den  Künstlern  und  den  späteren  Dichtem  die  kyklischen  Ge- 
dichte wegen  ihres  stofflichen  Reichtums  viel  mehr  als  selbst  die  Ilias  und 
Odyssee  benutzt,  und  in  diesem  Sinn  bemerkt  schon  Aristoteles  Poöt.  23, 
daß  die  Hias  nur  zu  einer  oder  zwei,  die  kleine  Ilias  aber  allein  zu  acht 
Tragödien  den  Stoff  hergegeben  habe. 

Die  Fragmente  sammelt  G.  Kinkel,  Epicor.  Graecor.  fragm.,  vol.  I.  Lip8.1877.  C.W.  Müller, 
De  cyclo  Graecornm  epico,  Lips.  1829.  —  F.  G.  Welcker,  Der  epische  Cyclus,  Altes  Rhein. 
Museum  Supplementbände  1  u.  2,  Bonn  1835.  1849  (1.  Teil«  1865),  Hauptwerk.  —  0.  Jahn, 
Griechische  bilderchroniken,  nach  des  Verf.  Tod  herausgegeben  von  A.  Michaelis,  Bonn 
1873.  —  U.  V.  WiLAMOwiTz,  Der  epische  Cyclus,  in  Hom.  ünt.  7,  328—380.  —  K.  Robert, 
Bild  und  Lied,  in  Phil.  Unt.  5.  —  0.  Luckenbach,  Das  Verhältnis  der  griechischen  Vasen- 
bilder zu  den  Gedichten  des  epischen  Kyklos,  in  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl.  11  (1880)  491—637,  wo 
namentlich  das  freie  Schalten  der  Künstler  mit  den  Ueberlicferungen  der  Dichter  hervor- 
gehoben wird.  Seit  Welcker  und  Jahn  sind  neu  hinzugekommen  Homerische  Becher,  heraus- 
gegeben von  K.  Robert,  Winckelmannsprogramm  Halle  1891.  und  die  Reliefdarstellungen 
des  Heroons  von  Gjölbaschi  in  Lykien  (jetzt  in  Wien)  aus  dem  5.  Jahrh.  v.  Chr.,  die  einen 
ganzen  Cyklus  von  Darstellungen  des  thebanischen  und  troischen  Krieges  und  überdies  von 
Perseus-  und  Theseustaten  enthielten;  s.  0.  Benndorp  und  G.  Nibmann,  Das  Heroon  von 
Gjölbaschi-Trysa,  Wien  1889. 


*)  Siehe  o.  S.  86.  '   Robert,  HalleschesWinckelmannsprogr.  1891; 

^  Die  Namen   kamen  bei  Logographen   |   F.  Winter,  Jahrb.  des  arch.  Inst.  13, 1898,  80). 

Aristoteles  und  die  alexandrinischen  Philo- 
logen verschmähen  sie,  und  auch  späterhin 
begegnen  noch  häufig  unbestimmte  Bezeich- 


wie  Hellanikos  (W.  Schmid,  Rh.  M.  48,  1893, 
626  f.).  dem  Horographen  Artemon  von  Klazo- 
menai  (Ael.  bist.  an.  XII 28 ;  Welcker,  Ep.  Cy  kl. 


1211  versteht  unrichtig  den  Mechaniker  Art.)  '  nungen  der  Verfasser  (o  xä  Kvjrgia  jzott/oag  u.  ä.; 
vor,  ungewiß,  in  welcher  Verbindung  mit  den  s.  Welcker,  Ep.  Cykl.  II  433).  Erst  seit 
einzelnen  Epen.  Daß  die  Namen  wirklich  AugiLstusetwa(Dionys.  Hai.,  Bilderchroniken, 
alte  Epiker  und  deren  Geburtsorte  bezeichnen,       Pausanias,  Athenaios)  werden  die  Zitate  mit 

braucht  nicht  bezweifelt  zu  werden.   Die  peri-  1   bestimmten  Verfassemamen  zuversichtlicher, 

patetischen  Litterarhistoriker  des  4.  Jahrhun-  |   Siehe  Wilamowitz,  Homer.  Unters.  329  flf. 

derts  (Phanias  fr.  18  in  C.  Müllers  FHG.  H  ;  «)  Zu  beachten,  daß  nach  Pindar  P.  5,  88 

299)  flbemehmen  sie ;  dann  begegnen  sie  auf  ;  die  Antenoridon  nach  Kyrene  kamen  (Fr.  Stud- 
Tonbechem  der  frühptolemäischen  Zeit  (K.      niczka,  Kyrene,  Leipz.  1890, 129  ff.). 


96  Oriechiflche  Litteratnrgeschichte.    L  Elaaaische  Periode. 

4.  Die  homerischen  Hymnen  und  Scherze. 

58.  Hymnen.')  Unter  Homers  Namen  ist  außer  Dias  und  Odyssee 
eine  Sammlung*)  von  Hymnen  und  scherzhaften  Kleinigkeiten  (naiyvia)  auf 
uns  gekommen.  Homerische  Hymnen  sind  es  34,  darunter  5  größere. 
Mit  ihrem  eigentlichen,  noch  von  Thukydides  EI  104  und  Pindar  Nem.  2,  2 
gebrauchten  Namen  hießen  sie  nQoolfua^  so  genannt,  weil  sie  bestimmt 
waren,  dem  Vortrage  homerischer  Heldengesänge  {plfiai  Od.  ^  481,  x  347) 
bei  Götterfesten  voranzugehen. »)  Demnach  schließt  der  31.  Hymnus  auf 
Helios  mit  ix  aeo  ö'äQ^d/ievog  xXfjoco  /iuqöjkov  yivog  ävöowv^  und  mehrere 
andere  mit  avrcLQ  iyio  xai  oeTo  xal  äXXrjg  juvrjaoibi'  äoid^g,*')  Die  Rhapsoden 
traten  nämlich,  sei  es  in  förmlichem  äya)v^^)  sei  es  in  frei  epideiktischer 
Weise^)  in  den  Versammlungen  (jiavr^yvgeig)  auf,  die  sich  bei  Götterfesten 
zusammenfanden,  und  pflegten  dabei  der  Festgottheit  durch  solche  der 
Rezitation  vorangeschickten  „Hymnen",  die  mit  Kulthymnen  nicht  das  Ge- 
ringste zu  tun  haben,  die  Reverenz  zu  erweisen.')  So  waren  die  Hymnen 
auf  ApoUon  bestimmt  in  Delos  und  Delphoi,  der  auf  Demeter  an  den  Pan- 
athenaien  in  Athen,  der  9.  bei  dem  Artemistempel  in  Klares  bei  Kolophon, 
der  6.  und  10.  beim  Aphroditefest  im  kyprischen  Salamis,  der  17.  und  33. 
an  dem  Fest  der  Dioskuren  in  Lakedaimon  oder  Sizilien  vorgetragen  zu 
werden.«)  Wie  auf  solche  Weise  die  Hymnen  an  sehr  verschiedenen  Orten, 
wohin  nur  immer  Homeriden  den  homerischen  Gesang  trugen,  gesungen 
wurden,  so  sind  sie  auch  in  sehr  verschiedenen  Zeiten  entstanden.  Wäh- 
rend die  älteren  bis  in  das  7.  Jahrhundert  hinaufreichen  und  an  die  alten 

')  Das  Wort  leitet  schon  Proklos  Chrest.  1   Ansicht,    daß   den    Göttern   Hymnen   lieber 

p.  244,  3  W.  richtig  von  rdco  (tfdea))  ab;   es  1   seien  als  Opfer,   s.  Schol.  AB  zu  IL  A  474. 

scheint  äolischen  Urspiungs  (aus  v6-fto<:  >  I   Kallimachos  hat  die  Form  des  rhapsodischen 

ri'-/ioc)zusein(W.ScHMiD,Rh.M.61.1906,480;  '    Hymnus  wieder  erneuert, 

dagegen  H.  Ehrlich  ebenda  62, 1907,  321  f.).  i           '')  Auf  kitharodische,  nicht  rhapsodische 

Mit  einem  vf^ra;  (auf  den  verstorbenen  Amphi-  |    Vorträge  bezieht  sich,   mag  aber  gleichwohl 

damas    von    Chalkis)    siegte    schon    Hesiod  j   als   Analogie    angeführt    werden,    Plut.  de 

(op.  657).    Den  Namen  vil4voi  gibt  den  home-  |    mus.  6:    rä  yäg  :ig6g   tovq  ^ewg  dq>oai(oad- 

rischcn  Proömien  Ps.Herodot.  vit.  Hom.  9.  fuvoi  i^eßaivoy  etfdvi  ixl  zrfv  'Oftt'igov  xai  rtbv 

*)    Eine    Sammlung    homerischer   vfo'ot,  1   äXlwv  noitjaiv   bijkcv  Si  tovxo  iau   öiä  t6)v 

die  sich  aber  nicht  mit  der  uns  handschrift-  |    Tcgnavögov  jt^ooifiuar.     Vgl.  Find.  0.  3,  wo 

lieh  erhaltenen  deckt,  setzt  Diod.Ul  66  voraus.  ,   von  der  kurzen  Erwllmung  der  Tyndariden, 

^)  Außer  den  daktylischen  Proömien  gab  denen  das  Fest  galt,  mm  Preis  des  Siegers 

es    auch    lyrische    und    kitharodische.     Vgl.  i   übergegangen   ist.     Über  das  Auftreten  der 

Aristot.  rhet.  p.  1415a  10;   Rhet.  anon.  bei  Rhapsoden    bei    Dionysosfesten   älterer  Zeit 

Spengel  I  427,  7   jrgooifua  ^Xryov  oi  jialatoi  |    Clcarch.  Sol.  fr.  62  M.  F^ektJie  6e  avzrj  (näm- 

To  ra)r   xi&agwdiüv.    Vgl.  Pind.  P.  1,4,  O.  6,  lieh   das  Phagesienfest)   xa^oLieg   i}   rcor  ^- 

88,    Plut.  conv.   sept.    sap.  161  d,   Suidas   s.  |   wwöibv,  f^v  t}yov  xata  lyv  tibv  Aiowaiiov  iv 

TifJoÜFOs-  fi  jragim'TFg   exaorot    r<p    ^etf)   olov  ufitfv  ottc- 

*)   Diese   Schlußformel    ist   ähnlich   der  I    tekovv  ttjv  tjayHoöiav. 

allgemeinen  Dedikationsformel,  mit  der  man  ^)    Nach   Pind.  N.  2    in.     o&evjrEg    xai 

den  Göttern  eine  Gabe  reicht;  vgl.  11.  Ä' 462  f.;  |  'Oftrjgiöai     {xxjnwv     Lifmv     xa    noXX^    dotdoi 

G.  Kaibbl,  Inscr.  Sic.  et  It.  652:  Theoer.  id.  i   äg^oiiai  Ai<*?  ex  jTgootftiov  fingen  die  Rhap- 

I  145.  soden  in  der  Regel  mit  dem  Preis  des  Zeus 

^)  An  einen  solchen  scheint  Hymn.  6,  19  i   an.  wie  auch  Arat  pham.  noch  tut.    Da  uns 

gedacht  zu  sein.  I   aber  in  unserer  Sammlung  nur  ein  einziger 

®)  über  das  Verhältnis  der  daktylischen  (nr.  23)   und  dazu  recht  kurzer  Hymnus  auf 

rezitierten    , Hymnen**    zu    den    gesungenen  i   Zeus    erhalten    ist,    so   spricht   hier   Pindar 

melischen  Götterhymnen  s.  0.  Gruppe,  Griech.  j   wahrscheinlich  unter  dem  Einfluß  des  nemei- 

Culte  u.  Mythen  I  518  ff.   Ueber  die  stoische  |   sehen  Zeusfestes  verallgemeinernd. 


A.  Epos,    4.  Die  homerischen  Hymnen  nnd  Scherze.    (§§  58—59.)  97 

Götter  ApoUon,  Zeus,  Hermes,  Aphrodite  gerichtet  sind,  wenden  sich  andere 
an  Halbgötter  wie  Herakles  (15.),  Asklepios  (16.),  die  Dioskuren  (17.  und  33.) 
und  stammen  aus  viel  jüngerer  Zeit.  Der  19.  auf  Pan  und  der  34.  auf 
Dionysos  (aus  Diod.  HI  66)  sind  erst  in  alexandrinischer  Zeit  entstanden,*) 
andere,  wie  insbesondere  der  auf  Ares  (8.),  der  ein  richtiger  v/nvog  xkTjnxog 
aus  lauter  Beinamen  {imxXrjoeig)  ist,  und  der  auf  Herakles  (15.),  weisen 
in  den  Kreis  der  jüngeren  Orphiker.*)  Von  religiöser  Erhebung  ist,  zumal 
in  den  längeren  Hymnen,  nicht  sowohl  die  Rede  als  von  Unterhaltung  durch 
Mythen  und  Novellen.  Besonders  gilt  das  von  den  beiden  volkskundlich 
höchst  interessanten  Stücken  nr.  3  und  5,  deren  Ton  zum  Teil  an  die 
Götternovelle  des  Demodokos  im  d  der  Odyssee  gemahnt. 

59.  Der  älteste  und  schönste  der  Hymnen  ist  der  auf  den  delischen 
Apollon,  der  ehedem  in  den  Handschriften  und  Ausgaben  mit  dem  auf  den 
pythischen  Apollon  zu  einem  Hymnus  vereint  war.  8)  Aber  beide  Hymnen 
sind  für  verschiedene  Kultstätten  bestimmt  und  tragen  ganz  verschiedenen 
Charakter.  Der  zweite  stammt  aus  der  hesiodischen  Schule,*)  der  Dichter 
des  ersten  bezeichnet  sich  selbst  (V.  172)  als  blinden  Sänger  von  Chios, 
der  Heimstätte  des  homerischen  Gesangs.  Den  verschiedenen  Kultorten 
entspricht  auch  der  verschiedene  Inhalt  der  beiden  Hymnen:  der  delische 
erzählt  die  Niederkunft  der  umherirrenden  Leto  und  die  Geburt  des 
Zwillingspaares  Apollon  und  Artemis  auf  der  Insel  Delos;^)  der  pythische 
handelt  von  der  Gründung  des  Heiligtums  in  Delphoi  durch  Apollon  nach 
Erlegung  des  Drachen  und  von  der  Einsetzung  der  kretischen  Fremdlinge 
als  Tempeldiener  des  pythischen  Gottes. «)  Den  Homer  nahmen  ohne 
Bedenken  Thukydides  (III  104)  und  Aristophanes  (Vögel  575)  als  Dichter 
des  älteren  delischen  Hymnus  an.  Dagegen  wurde  nach  dem  Scholion 
zu  Pindar  Nem.  2,  1  bereits  von  einigen  Alexandrinern  der  Homeride 
Kynaithos,  der  die  homerische  Poesie  in  Syrakus  eingeführt  hatte,  als 
Verfasser  ausgegeben.^)  Diese  Meinung  gründete  sich  offenbar  auf  die 
Verse  14 — 18,  in  denen  der  Artemis  in  Ortygia  gedacht  ist;  aber  diese 
sind  unecht,  wie  G.  Hermann  erkannt  hat,  und  der  Rhapsode  Kynai- 
thos kann  daher   nur  als  Interpolator,   nicht  als  Verfasser  des   Hymnus 

')  So  6.  Eaibel  nach  F.  v.  Jak,  De  Calli-  j   B  522.   Anzeichen  des  hesiodischen  Stils,  der 

macho  Homeri  interprete,  Straßb.  1893,  12  A.  1   europäischen  Heimat   des  Dichters   und   der 

')  A.  Baumeisteb  in  der  Ausgabe  schreibt  .   Nachahmung   des  älteren  delischen  Hymnus 

geradezu  den  Vers  15,  8,  der  nach  dem  un-  i   weist  nach  A.  Baumeister  in  Ausg.  115  f.  (s.  a. 

echten  Vers  der  Od.  k  604  gedichtet  ist,  dem  '   0.  Crüsixjs,  Philol.  54,  1895,  718;  E.  Rohde, 

Onomakritos  zu.     Siehe  auch  Wilamowitz,  Psyche  H'  119,  2).     Benützung  der  Boicoua 

Homer.  Unters.  226.  erweist  B.  Niese,  Der  homer.  Schiffskat.  58. 

■)   Die  Scheidung  wurde  vorgenommen  '           *)    Über    das    delische    Apollonfest    A. 

vonD.  RüHNKENin  Ep.  crit.,  Leiden  1749;  Ath.  Mommsen,  Philol.  66  (1907)  433  ff. 

22h  er   Toig  eig  *Ajt6XA(ova  v/avoig  hatte  noch  I            •)    Abweichende    Gründungslegende    in 

in  seinem  Exemplar  zwei  Hymnen.    Vgl.  K.  |    Aesch  Eum.  (s.  0.  Crüsiüs,  Philol.  53,  1894, 

LsHBS,  Pop.  Aufs.*  423  ff.;  0.  Crusius,  Philol.  Ergänzungsheft  13  ff ). 

54(1895)718;  A.EiBOHHOFF,Berl.Akad.  Sitz.-  ^)   Für  die  SteUung  des  Aristarchos  zu 

her.,  1893,  906  ff.   —   Die  Nomosform   sucht  der  Frage  ist  beachtenswert,  worauf  A.  Rö- 

im    1.  Hymnus   nachzuweisen    0.   Gbusiüs,  mer  aufmerksam  machte,  daß  in  den  Scho- 

Verh.  der  39.  Philol.vers.  1887,  266  ff.  .   lien    kein    einziger    Vers    der    sogenannten 

*)  Auch  das  Haften  des  Digamma  weist  homerischen    Hymnen    als    homerisch    an> 

auf  nichtionischen  Ursprung.    Als  hesiodisch  geführt  ist. 

wird    der   Hymnus    atiert    Schol.   A  Hom.  | 

Handbuch  der  klass.  AltertmniwiMeDsefaaft.    vn.  5.  Aufl.                                                    7 


98  Oriechische  Litteratargeschichte.    I.  KUssische  Periode. 

gelten.')  Auf  die  Abfassungszeit  des  pythischen  Hymnus,  der  offenbar 
dem  delischen  nachgebildet  ist,  scheinen  die  Schlußverse  362 — 365, 
die  eine  Veränderung  in  der  Stellung  der  alten  aus  Kreta  stammenden 
Tempelpriester  prophezeien,  eine  Vermutung  zu  gestatten.  Diese  Verse  be- 
ziehen sich  nämlich  auf  den  dominierenden  Einfluß,  den  damals  der  Bund 
der  Amphiktyonen  auf  die  Satzungen  des  delphischen  ApoUonfestes  ge- 
wonnen hatte,  und  weisen  demnach  auf  die  Zeit  unmittelbar  vor  Gründung 
der  Pythien  durch  die  Amphiktyonen  hin  (582).  —  Umfangreich  und  alt 
ist  auch  der  Hymnus  auf  Hermes,  in  dem  die  Geburt  und  die  ergötzlichen 
Schelmereien  des  Gottes,  die  Verfertigung  der  Schildkrotleier  und  der 
Diebstahl  der  Rinder  ApoUons,  anmutig  in  der  Art  der  ionischen  Sänger 
erzählt  sind;  in  dem  jüngeren  Schluß  507 — 580  einigen  sich  dann  die 
Brüder  Hermes  und  Apollon  über  die  Verteilung  ihrer  Rechte.  Dem  Homer 
wird  dieser  Hymnus  von  Antigenes  von  Karystos,  Paradox.  7,  beigelegt. 
Alkaios  in  seinem  Hermeshymnus  setzt  ihn  jedenfalls  voraus.*)  —  Der 
Dichter  des  großen  Hymnus  auf  Aphrodite  hing  ganz  von  Homer  ab,  aus 
dem  er  eine  Menge  von  Versen,  Halbversen  und  Wendungen  genommen 
hat,^)  verstand  es  aber  im  übrigen  gut,  das  Liebesabenteuer  der  Göttin 
mit  Anchises  recht  anmutig  und  mit  lebhaftem  Lokalkolorit  zu  erzählen.*) 
Daneben  steht  an  6.  Stelle  ein  kleiner  Hymnus  auf  Aphrodite,  der  die 
Geburt  der  Göttin  aus  dem  Meerschaum  und  ihre  Einführung  in  den  Olymp 
schildert.  —  Der  lange  Hymnus  auf  Demeter  wurde  erst  im  Jahr  1780 
aus  einer  Moskauer  Handschrift  ans  Licht  gezogen.  Er  gibt  die  Legende 
von  der  Stiftung  der  eleusinischen  Mysterien:  die  Entführung  der  Perse- 
phone  durch  den  Unterweltsgott  Pluton  und  das  lange  Suchen  der  Mutter 
Demeter  nach  ihrer  Tochter,  bis  sie  sich  endlich  in  Eleusis  niederläßt 
und  dort,  für  zwei  Drittel  des  Jahres  mit  ihrer  Tochter  wiedervereint, 
die  heiligen  Weihen  gründet.  Der  Hymnus  ist,  wie  J.  H.  Voß  in  seiner 
trefflichen  Ausgabe  (1826)  auch  aus  sprachlichen  Anzeichen  nachwies,  in 
Attika  zu  Anfang  des  6.  Jahrhunderts  in  der  Zeit  des  Selon  entstanden. «») 
Leider  ist  das  Verständnis  des  Gedichtes  durch  zahlreiche  Lücken  der 
einzigen  Handschrift  arg  gestört.  Auch  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  ein 
älterer  Mythus  vom  Raub  der  Persophone  erst  nachträglich  mit  der  Kult- 
sage von  Eleusis  in  Verbindung  gebracht  wurde;  aber  die  Mehrheit  der 
Mythen  rechtfertigt  nicht  die  Annahme,  daß  der  Hymnus  selbst  aus  Fetzen 

»)  Über  Kynaithos  8.  o.  §  37.    A.  Fick.  *)    A.  Schweoler,    Rom.  Gesch.  I  294 

Hom.  Odyssee  S.  280  widmet  dem  Hymnus  nimmt  an,  der  Hymnus  sei  für  den  Hof  der 

eine  eingehende  Besprechung,   indem  er  die  Aeneaden  in  Troas  gedichtet  worden, 

fraglichen  Verse  aus  einem  doppelten  Schluß  i           *)    Voß    pflichtet  bei  K.  Fbakoke,    De 

des  Hymnus  herleitet.  j   hymni    in    Cererem    Homerici    compositione 

=*)  Versuch,  einen  älteren  Hymnus  heraus-  i   dictione  aetate,   Kiel  1881:   nt  posae  Carmen 

zuschälen  K.  Robert,  Herm.  41  (1906)  389  flf.  compositum  esse  pont  Uesiodum,  itn  non  posae 

—  R.  Böttcher,  De  hymno  in  Morcur.  Home-  ^;oä/  Solonem.    Daß  Solon  den  Hymnus  vor- 

rico,  Halle  1907.  j   aussetze,  sucht  auch  N.  Riedy,  Solonis  elo- 

')  Dieses  Verhältnis  anschaulich  gemacht  '   cutio  quatenus  pendeat  ab  exemplo  Homeri, 

in  der  Ausgabe  von  J.  R.  S.  Sterbett.  Boston  ,   München  1903,    zu    beweisen.      Über  eiDon 

1881.     Vgl.  R.  Thiele,  Proleg.  ad  hymn.  in  I   orphischen   H^-mnus   vom    Raub   der  Perse- 

VeneremHomericum,  Halle  1872;  H.  Trüber,  phone,    in    dem    der    homerische   Demeter- 

De  hymno  in  Venerem  Homerico,  Diss.  philol.  hymnus  stark  benützt  ist,  s.  o.  S.  22,  2. 
Halens.  XV  (1903)  2. 


A.  Epos.    4.  Die  homerischen  Hymnen  und  Scherze.    (§  60.)  99 

mehrerer  älterer  Hymnen  zusammengeflickt  sei.*)  —  Aus  Attika  stammt 
wahrscheinlich  auch  der  7.  Hymnus  auf  Dionysos,*)  in  dem  das  auch  am 
choragischen  Denkmal  des  Lysikrates  dargestellte  Abenteuer  des  von  tyrse- 
nischen  Seeräubern  gefangen  genommenen  Gottes  und  die  Verwandlung 
der  Seeräuber  in  Delphine  graziös  und  anschaulich  erzählt  sind.  8)  —  Der 
Dioskurenhymnus  scheint  (v.  9)  in  dem  ins  6.  Jahrhundert  gehörenden 
Diskus  Tysciewicz*)  vorausgesetzt  zu  werden. 

Wann  und  von  wem  die  Sammlung  unserer  Hymnen  veranstaltet 
wurde,  wissen  wir  nicht.  Der  Redaktor  ging  offenbar  von  den  großen 
Hymnen  aus  und  ließ  diesen  die  kleineren  als  Anhang  nachfolgen;  aber 
auffallig  ist,  daß  Hymnen  auf  dieselbe  Gottheit  auseinander  gerissen  sind, 
ohne  daß  immer  der  später  gesteUte  kleiner  wäre  oder  jüngeren  Ursprung 
verriete,^)  ein  Umstand,  der  zu  der  Vermutung  führt,  daß  unsere  Samm- 
lung erst  allmählich  durch  Vereinigung  mehrerer  älterer  Sammlungen 
entstanden  sei. 

Ueberlieferung:  im  Certamen  Homeri  et  Hesiodi  ist  von  dem  Hymnus  auf  den  de- 
lischen  Apollon  erzählt,  daß  ihn  die  Delier  auf  einer  Tafel  im  Tempel  der  Artemis  aufbewahrten, 
wie  die  Rhodier  das  Siegeslied  Pindars  auf  Diagoras.  —  Unsere  Ueberlieferung  geht  auf  zwei 
Quellen  zurück,  von  denen  die  eine  durch  den  Mosquensis  s.  XIV  repräsentiert  wird  ( ein  Facsimile 
in  F.  BüCHBLERs  Ausgabe  des  Hymn.  Cer.,  Lips.  1869),  die  andere  aus  einem  von  G.  Aurispa 
1423  in  Konstantinopel  gefundenen,  zugleich  die  Hymnen  des  Kallimachos,  Orpheus  und  Proklos 
enthaltenden  Codex  (R.  Vabi,  Jahrbb.  f.  Philol.  145,  1892,  81  flf.)  stammt,  von  dem  selbst  nur 
Abschriften  von  Abschriften  auf  uns  gekommen  sind;  über  diese  H.  Holländer,  Die  hand- 
schriftliche Ueberlieferung  der  homerischen  Hymnen,  Progr.,  Osnabrück  1886,  mit  Nachtrag 
von  A.  Lüdwich.  Jahrbb.  f.  Phil.  145  (1892)  239  f.;  H.  Holländer,  Ueber  die  neu  bekannt  ge- 
wordenen Handschriften  der  homerischen  Hymnen.  Festschr.  zur  300 jähr.  Jubelfeier  des 
Gymnas.  Osnabrück,  1895.  —  Ausgaben:  Homeri  hymn.  rec.  et  animadv.  illustr.  C.  D.  Iloen, 
Halle  1796;  Homeri  hymn.  et  epigr.  ed.  G.  Hermann,  Lips.  1806;  Hymni  Homerici  rec.  A.  Baü- 
MBiSTBB,  Lips.  1860;  Die  homer.  Hymnen,  herausgegeben  von  A.  Gemoll,  Leipz.  1886;  Homeri 
hymn.  epigr.  Batrachom.  ed.  E.  E.  Abel  in  Bibl.  Schenk.  Lips.  1886.  Am  besten  A.  Goodwins 
Ausg.  (The  homeric  Hymns  edited  by  the  late  A.  G.  and  T.  W.  Allen,  Oxford  1893);  neuste 
Ausg.  von  W.  Allen  und  E.  Sikes,  1904.  -  Sonderausgabe  des  Demeterhymnus  (Ed.  princeps 
von  D.  RuHNKBN,  Lugd.  Bat.  1780)  von  F.  Bücheler,  Lips.  1869;  von  V.  Püntoni,  Livomo 
1896,  wo  der  Hymnus  in  verschiedene  Teile  (3  Hymnen  und  Redaktorenerweiterungen)  zer- 
stückelt wird;  der  Hermeshymnus  von  A.  Lüdwich,  Ind.  lect.  Königsberg  1891;  s.  dens., 
Revision  meiner  Ausg.  des  homer.  Hermeshymnus,  Königsberg  1905.  —  Erläuterungs- 
schriften: E.  Eberhard,  Die  Sprache  der  homer.  Hvmnen  verglichen  mit  derjenigen  der 
Dias  und  Odyssee,  Husum,  Progr.  1873  und  1874;  A.  Guttmann,  De  hymn.  Homer,  historia 
critica,  Greifsw.  Diss.  1869. 

60.   Homerische   Epigramme.     In   der  fälschlich  den  Namen  des 

Herodot   tragenden   Vita   des  Homer    sind    uns    noch    ein   paar  poetische 


*)  Diese  Annahme  aufgestellt  von  V. 
PxjHTONi,  L'inno  Homerico  a  Demetra  con 
apparato  critico  scelto,  Livomo  1896.  Gegen 
Atheiesen  im  Schlußteil  E.  Rohde,  Psyche  P 


evoeßeiag  48:     KAiorvoor    de  "OfitiQog    i%'    Toig 
v/ivotg    vjrdy    Atjoitüv    aA<(ora/>    ygd(f'Fi ,    Kai 
n<iv6d^Q0(;  fif.  ^leg/exai  jifoi  tijg  ÄtjoiFtag. 
*)  Die  Erzählung  geben  auch  Ovid.  met. 


281,  2.  Sachliches  zum  Demeterhymnus  J.  III  576  ff. ;  Scneca  Oed.  449  ff.  und  Nonnos 
Töpffbr,  Att  Geneal.  31  ff. ;  E.  Rohde,  Psyche  Dion.  XLV  105  ff.  Eine  bildliche ,  eng  an 
I'  280  f.  unseren  Hymnus  sich  anschließende  Darstel- 
*)  Beziehungen  zu  Attika  und  zu  den  ,  lung  bei  rhilostr.  mai.  imag.  I  19.  Auf  eine 
religiösen  Bräuchen  und  Agonen  von  Brauron  altattische  Amphora  mit  Dionysos  und  Satyr- 
vermutete schon  Wblokbb,  Ep.  Cycl.  I  391.  gefolg  in  einem  Zweiruderer  macht  aufmerk- 
Gegen  A.  Ludwioh  (Eönigsberger  Studien  I  sam  E.  Maass,  Ind.  Gryph.  1889  p.  9. 
1887,  63  ff.),  der  den  Hymnus  in  die  Zeit  der  *)  Fböhneb,  Rev.  archöol.  1891,  46. 
Orphiker  herabrücken  wollte,  wendet  sich  0.  ^)  Jünger  sind  wohl  2  3  10  gegenüber 
Cbusiub,  Philol.  48  (1889)  193  ff.  Ein  Zeugnis  1  18  6,  kaum  aber  29  und  28  gegenüber  24 
Aber  das  Alter  des  Hymnus  enthält  nach  (V.  4  wird  abnormerweise  Hestia  als  mobile 
wahrscheinlicher  Ergänzung  Philodemos  Ttegi  Göttin  vorgestellt)  und  11. 

7* 


100  Oriechiflche  LitteraturgeBohichte.    I.  KlassiBChe  Periode. 

Kleinigkeiten  überliefert,  die  hinter  den  Hymnen  als  '  Ernyadfi/xaTa  'Ojhijqov 
den  älteren  Ausgaben  der  Odyssee  angehängt  sind.  Sie  enthalten  zum  Teil 
außerordentlich  wertvolles  Material,  darunter  ein  Abschiedsgedicht  an  die 
undankbare  Vaterstadt  Smyrna,  eine  Bitte  an  die  Kymäer  um  freundliche 
Aufnahme,')  ein  Gebet  an  Poseidon  um  günstige  Fahrt  von  Chios  zum 
Fuß  des  Waldgebirges  Mimas,  eine  Anrede  an  die  reiche  Stadt  der  Ery- 
thräer,  ein  von  vorn  und  hinten  lesbares  Epigramm  für  die  eherne  Jung- 
frau (Kr]Q  tiixvfxßiog)  auf  dem  Grab  des  phrygischen  Königs  Midas  (gest. 
Ol.  21),*)  ein  anmutiges  Bettlerlied,  elgeaicovi]^^)  für  samische  Singknaben, 
die  am  Fest  des  Apollon  von  Haus  zu  Haus  zogen,  um  Gaben  einzu- 
sammeln, ein  scherzhaftes  Bittgedicht  für  das  Geraten  des  Töpferbrandes, 
das  bekannte  Kätsel  8oa  ikojuev  kuiöjiieo&'f  8oa  d'  ovx  eko^v  (pegojuea&a^ 
welches  heimkehrende  Fischer,  die  keine  Fische  gefangen,  aber  von  Läusen 
sich  möglichst  gereinigt  hatten,  dem  Homer  aufgaben.*)  Diese  Spielereien 
gehören  zur  Homerlegende.  Beachtenswert  ist,  daß  das  Epigramm  auf 
Midas,  das  die  Homerbiographen  dem  Homer  beilegen,  bei  Piaton  noch 
anonym  geht.*) 

61.  Margites.  Auch  Spottgedichte  wurden  dem  Homer^)  beigelegt. 
Das  berühmteste  und  älteste  war  der  Margites,')  so  benannt  nach  dem 
Helden  des  Stückes,  dem  ersten  Stupidus  der  griechischen  Litteratur,  der 
trefflich  durch  den  Vers  gezeichnet  wird  jtoA/'  i]m(naxo  egya,  xaxd>g  d'^TTiorato 
mivra.  Das  Gedicht  spielte  nach  dem  erhaltenen  Eingang  in  Kolophon 
und  gab  Anlaß,  den  Homer  selbst  zu  einem  Kolophonier  zu  machen.  Denn 
dem  Homer  schrieb  es  schon  Archilochos*)  zu,  und  an  dieser  Überheferung 
hielten  ohne  Bedenken  der  Verfasser  des  Alcibiades  n,^)  Aristoteles,  >ö) 
Zenon^O  und  Kallimachos'*)  fest;  Aristoteles,  dessen  Darstellung  in  diesem 
Stück  freilich  nicht  ganz  tendenz-  und  schablonenfrei  ist,^*)  stellt  das 
Gedicht  sogar   neben  Ilias  und  Odyssee,  indem  er  von  ihm  die  Komödie» 

M    R.   Peppmülleb,  Jahrbb.   f.  kl.  Phil.  |    Mid(}  uö  0ovyi  tpaoi  rtveg  L^tyrygdqp&ai,  Diog. 

151   (1895)  433  ff.  I  89  ftthrt  Verse  des  Simonides  dafür  an,  daß 

')  Th.    Pregeb,    De    epigramm.    Graec.  1   das   Epigramm    nicht  von   Homer«   sondern 

meletemata  sei.,  München  1889,  Kap.  6;   0.  |   von  Kleobulos  aas  Lindos  herrühre. 

Cbusius  in  Roschersmytholog.  Lexik.  11 1154 A.  ®)  Zuerst,  wie  es  scheint,  von  Antimachos 

•)    Benannt   von    dem    mit   Wolle    um-  von  Kolophon  (A.  Kibchhoff,  Berl.  Ak.  Sitz.- 

wundcnen  Ölzweig,  den  die  unter  den  Schutz  her.  1895,  767). 

des  Gottes   sich   stellenden   Knaben   trugen.  ^)  Der  Eigenname  Magyog  ist  inschrift- 

R.  Peppmülleb,  Drei  bei  Umgängen  in  Grie-  |   lieh  belegt  (F.  Bechtel,  Abh.  der  Gott.  Ges. 

chenland  gesungene  Bittlieder,  Jahrbb.  f.  kl.  I   d.Wiss.,  N.F.  II,  1898.  nr.  5,  52f.).  dieEndung 

Phil.  149  (1894)  15fif.;  A.  Dietebich,  Archiv  f.  '   wie   in   (r^Fooixfjg.     Siehe  Hesych.  s.  v.  Mao- 

Religionsw.  VIII  Beiheft  62  ff.:  H.  Useneb,  ,   ym;<:,   fidgyo^.     Ähnliche  Tölpeltypen    sind 

Göttemamen,  Bonn  1896, 284  if. ;  M.  P.  Nilsson,  I   Amphietides  (oder  Amphistides),  Koroibos  und 

Griech.  Feste,  Leipz.  1906. 116  f.  Ähnlich  das  Melitides,  über  die  s.  Th.  Kock  zu  Ar.  ran. 

KarridelnsingeninderMark(R.MiELKE.Ztschr.  1    991;  G.  Knaack.  Rh.  Mus.  59  (1904)  314  f. 

des  Vereins  f.  Volkskunde  XII,  1902,  470  ff.).  I            «)  Archil.  fr.  153   (Eustratios   zu   Arist 

A.  Lüdwich,  Do  Iresiona  carmine  Homerico,  Eth.  Nie.  VI  7).     Archil.  fr.  118  stammt  aus 

Königsb.  1906.   vergleicht   die  2  Rezensionen  i   dem  Margites.     Auch  Aristophanes  av.  907 

(Pscudoherodot  und  Suid.),  in  denen  das  Ge-  I  hält  den  Margites  für  eine  Dichtung  Homere, 

dicht  vorliegt.  »)  Ps.Plat.  Alcib.  II  147  c. 


*)  Es  ist  eine  der  zahlreichen  Exempli- 
fikationen für  den  Triumph  des  Mutterwitzes 
über  die  „Studierten"  (\V.  Schwabtz,  Ztschr. 
f.  Volksk.  lll,  1893,  126  A.). 

^)  Plat.  Phaedr.  264 cd:  ejtiyQdfifiaTog,  S 


»0)  po6t.  4  p.  1448  b  30. 
»»)  fr.  274  Abnim. 
")  fr.  74  a  Sohn. 

^')  G.  FrNSLEB,  Piaton  und  die  aristoteL 
Poetik  199  ff. 


A.  EpoB.    4.  Die  homerischen  Hymnen  nnd  Scherze. 


61-62.) 


101 


wie  von  jenen  die  Tragödie  ableitet.^)  Erst  später  kamen  Zweifel;  man 
half  sich  aber  mit  der  Annahme,  der  Margites  sei,  wie  die  Dias,  von 
Homer  in  jungen  Jahren  gedichtet  worden.*)  Nur  der  Gewährsmann  des 
Suidas  macht  den  Karer  Pigres  aus  Halikarnassos,  den  Bruder  der  Arte- 
misia,  zum  Verfasser.*)  Vielleicht  hat  die  Tatsache,  daß  Pigres  den  Ein- 
gang der  nias  durch  eingelegte  Pentameter  zu  einem  elegischen  Gedichte 
umgestaltete: 

Mrjviv  äside  ^ecl  Tlrjkrjiddeoj  ^Axdtjog, 

Movoa'  av  yaQ  Jidotjg  nelgav  ?x^ig  ooq)it}g' 
den  Anlaß  zu  dieser  Behauptung  gegeben,  da   auch  der  Margites  einzelne 
-eingelegte  Verse  (iambische  Trimeter)  zwischen  den  daktylischen  Hexametern 
hatte:*) 

''HXM  Tig  ig  KoXoq)6jva  yegwv  xai  '&€iog  äoidög, 
Movodiov  '^egdTiojv  xal  ixrjßökov  *Ä7i6U.(ovog, 
qjiXfjg  ^x^'^  ^  X^Q^^^  e^qr&oyyov  Xvgrjv. 
An  der  parodischen  Absicht  dieser  Einlagen  kann  nicht  gezweifelt 
werden.*) 

Ein  anderes  durch  die  Metopen  von  Selinunt  berühmt  gewordenes 
Gedicht  waren  die  Kegxojneg^  worin  die  Schelmereien  dieser  bübischen 
Kobolde  und  ihre  Bezwingung  durch  Herakles  im  Anschluß  an  das  dem 
Homer  zugeschriebene  Epos  OixaXiag  äXcoaig  erzählt  waren.*) 

62.  Batrachomyomachia.  Aus  einer  Anzahl  scherzhafter  Epyllien, 
von  denen  wir  sonst  nur  die  Titel  kennen,  hat  sich  ein  Stück  unversehrt 
erhalten,  die  Bargaxojuvojbiaxia  (v.  1.  Bargaxojuaxia),'^)  der  Frosch-  und  Mäuse- 
krieg, wie  in  seiner  Übersetzung  Chr.  v.  Stolberg  das  Gedicht  betitelt.«)  Es 
ist  eine  Parodie,  angelehnt  an  die  Tierfabel,®)  mit  harmlosem  Scherz   ohne 


*)  Aristpoötp.  1448  b  37:  6  yäg  MaQyirrjg 
^vdXoyov  exet  woneo  'Ihag  xal  »}  'Oövoaeia  JiQog 
xag  TQay<^iag,  oifTco  xai  ovrog  jrgog  tag  xw- 
fzfpdiag.  Für  die  Komödie  paßten  allerdings 
viele  Stellen  des  Gedichtes,  wie  wenn  Mar- 
gits heiraten  soll  und  nicht  weiß,  wie  er 
es  anfangen  soll. 

«)  Zenon  s.  o.  S.  100,  11. 

')  Dies  hält  A.  Kischhoff  a.  a.  0.  auf- 
recht, während  es  0.  Cbüsius,  Philol.  54 
(1895)  735  für  Erfindung  des  Ptolemaios 
Ohennos  erklärt.  Der  Name  Pigres  ist  in 
Karlen  häufig  (P.  Ksbtsohmeb,  £inl.  z.  Gesch. 
d.  griech.  Spr.  358). 

*)  F.G.WELOKBB,Kl.Schr.IV27ff.;  gegen 
die  Meinung,  als  wären  die  Trimeter  im 
Magyirtjg  interpoliert,  s.  E.  Hilleb,  Jahrbb.  f. 
Phil.  135  (1887)  13  ff.  und  ähnlich  0.  Cbü- 
sius, Philol.  54  (1895)  71 1  ff.  Diese  Verbindung 
zeigt  auch  Xenophan.  Sill.  fr.  14  Djbls.  Von 
anderen  ähnlichen  Künsteleien  des  Idaios  und 
Timolaos  berichtet  Suidas. 

*)  Ein  neues  Fragment  des  Magyitrig 
gewinnt  aus  Theodoros  Metochites  0.  Immisoh, 
PhüoL  64  (1905)  633  f.  Neue  Belege  und 
Parallelen  f&r  einen  der  Margitesschwänke 

£e  ihn  seine  Frau  zur  f^el^lg   brachte)  G. 
▲AOi:,  Rhein.  Mus.  59  (1904)  313  ff. 


«)  Vgl.  Chb.  A.  Lobeck,  Aglaoph.  1296  ff 
Außerdem  nennen  Suidas,  Proklos  p.  27 
Westebm .  und  die  Vita  des  Ps.Herodot  24  noch 
die  Scherze  'Ejriejtdxitov  (die  verschiedenen 
Formen,  in  denen  dies  Rätselwort  überliefert 
ist,  bei  Westebmann,  Bioyg.  27,  70),  AT^,  'Em- 
xixUöeg  (vgl.  Ath.  65  a.  639  a),  ^Agaxvo^iaxia, 
FFoavouaxla,  Wagofjaxia,  Kegaftig^  von  denen 
die  Ksoa^iig  mit  dem  schon  erwähnten  Töpfer- 
lied, der  xvxXog  bei  Suid.  mit  Epigr.  4  iden- 
tisch zu  sein  scheint. 

^)  über  die  Variante  der  Aufschrift  s. 
A.  Lüdwich  in  Ausg.  p.  1 1 ;  dieser  entscheidet 
sich  für  BargaxofAaxia,  dagegen  J.  Tominsek, 
Wien.  Stud.  23  (1901)  6  ff.  —  Maus  und  Frosch 
als  Typen  von  Land-  und  Wassertier  s.  Herodot. 
IV  132. 

®)  Gesammelte  Schriften  der  Brüder  Chr. 
F.  u.  L.  V.  Stolbebo  XVI  (1827)  167  ff.  Rollen- 
hagen gebraucht  in  seiner  Nachdichtung  den 
Namen  ,Froschmeuseler*  (1595). 

*)  Ein  ähnliches  Motiv  wie  dieser  Frosch- 
mäusekrieg enthält  die  äsopische  Fabel  nr.  298 
Halm  =  Babrius  195;  doch  ist  wohl  die 
Fabel  erst  dem  Tierepos  nachgebildet,  nicht 
umgekehrt  das  Tierepos  aus  der  Fabel  heraus- 
gewachsen. Über  das  verwandte  Gedicht 
Kaiofxvofiaxia    des    Prodromos    s.   K.  Kbüm- 


102  Griechische  litteratnrgeschichte.    I.  Elaseiache  Periode. 

bissige  Seitenhiebe,  wenn  auch  ohne  jenes  gemütvolle  Verständnis  des  Tier- 
lebens, das  uns  in  unserem  Reineke  Fuchs  entzückt.  Die  Maus  Psicharpax 
wird  von  dem  Froschkönig  Physignathos,  dem  Sohn  des  Peleus  (von  7ttj}i6g\ 
eingeladen,  sich  von  ihm  auf  dem  Rücken  zu  seinem  gastlichen  Haus  tragen 
zu  lassen.  Anfangs  geht  die  Fahrt  ganz  gut  vonstatten;  da  läßt  sich  plötz- 
lich eine  Wasserschlange  blicken;  darob  großer  Schrecken  bei  den  beiden; 
der  Frosch  taucht  unter,  die  Maus  ertrinkt.  Infolgedessen  grimmer  Krieg 
zwischen  den  Mäusen  und  Fröschen,  dem  schließlich  der  Kronide  Zeus  ein 
Ende  macht,  indem  er  mit  dem  Blitzstrahl  dreinfahrend  die  Streitenden  von- 
einander trennt,  und  als  auch  das  noch  nicht  fruchten  will,  das  Heer 
der  Krebse  mit  ihren  Scheren  über  die  Mäuse  schickt.  Ergötzlich  sind  die 
Namen  gebildet,  der  Lecker,  der  Brotnager,  der  Käsefresser,  der  Loch- 
schlüpfer unter  den  Mäusen,  der  Lautschreier,  der  Wasserfreund,  der  Kot- 
water  unter  den  Fröschen.  In  witziger  Parodie  ist  auch  die  Rüstung  der 
beiden  Heere  geschildert,  und  wenn  gleich  die  Kämpfe  nach  Art  der 
KoXoc:  /idxr]  der  Ilias  rasch  und  ohne  viele  Episoden  verlaufen,  so  begreift 
man  doch,  daß  das  Gedicht  viele  Leser  und  im  Altertum  wie  im  Mittel- 
alter viele  Nachahmer  fand.  Mit  „Homer*  hat  diese  Parodie  nichts  zu 
tun.i)  A..  Ludwich  in  seiner  Ausgabe  bezeichnet  sie  als  Werk  des  Pigres 
(s.  0.  S.  101),  während  0.  Crusius*)  den  Namen  Pigres  für  eine  Erfindung 
des  Aufschneiders  Ptolemaios  Chennos  hält;  dem  Pigres  schreibt  sie  Suidas- 
zu.  3)  Einen  Terminus  post  quem  ergibt  die  Benützung  eines  Ausdrucks 
des  Alkaios  (fr.  170)  in  der  Batrachomyomachie  (v.  78).  Auf  die  Zeit 
der  Perserkriege  paßt  die  Bezugnahme  auf  den  Schriftgebrauch  (iv 
öekrotq  V.  8)  und  die  Erwähnung  des  Hahns  (V.  193),  der  erst  zur  Zeit 
des  Theognis  von  Persien  nach  Griechenland  kam.*)  Der  Versuch  H.  van 
Herwerdens,*)  aus  sprachlichen  und  metrischen  Gründen  das  Gedicht  in 
das  4.  Jahrhundert  herabzudrücken,  ist  verfehlt;  nachdem  die  Homerparodie 
im  5.  Jahrhundert  durch  Hegemon  von  Thasos  zu  einer  hohen  Blüte  ge- 
bracht war,  ist  ein  so  schwaches  Erzeugnis  der  parodischen  Poesie  schwer- 
lich mehr  denkbar.  Die  Batrachomyomachie  muß  an  den  Anfang  dieser 
Entwicklung  gesetzt  und  als  ein  sprachlich  zur  Vulgärlitteratur  hinneigendes 
Gedieht  betrachtet  werden. 

Codices  sehr  zahlreiche,  darunter  stark  interpolierte;  ein  Steinina  versucht  aufzu- 
stellen A.  Ludwich  in  seiner  Ausg. ;  die  ältesten  sind  Baroccianus  nr.  50  in  Oxford  s.  X/XI 
und  Laurentianus  32.  3  s.  XI;  über  eine  Handschrift  in  Capodistria  Ziliotto  im  Archeografa 
Triestino  3.  serie  vol.  11  1.  —  Scholien,  wertlose  aus  dem  Mittelalter  von  Moschopulos  ed. 
A.  Ludwich,  Königsb.  1890.  —  Ausgaben:  ed.  princ.  besorgt  von  dem  Kreter  Laonikob,  Ven. 
1486;  mit  den  Hymnen  von  C.  D.  Iloen,  mit  Dedikation  an  Goethe,  Halle  1796;  kritische  Ausg. 

BACHER,    Byz.  Litt.',    München  1897  p.  51.   1  A.   Ludwich    veiteidigt    seine   Meinung  im 
Vnlgär^riechische  Bearbeitung  der  ^aro.  nebst   '   Königaberger  Index  lect.  1900/01. 
Kommentar  in  Martin  Crüsius'  Turcograecia,  •)  Die  Stelle  Plut.  de  maUgn.  Herodoti 

Basel  1584,  373  ff.  ]  43    ist    nach   R.  Pbppmüllbr,    BerL  philoL 

')  Auf  dem  bekannten  Marmorrelief  des      W.schr.  21  (1901)  676  f.  interpoliert. 

*)  V.  Hehn,   Kulturpflanzen   und  Haus- 


1.  Jahrh.  v.  Chr.  ,  Apotheose  Homers*  sollen 
der  Frosch  und  die  Maus  am  Fußschemel  des 
Dichters  die  Autorschaft  Homers,  die  dann 
auch   Procl.  vit.  Hom.  extr.  und   Suid.   ver- 


tiere', Berlin  1902.  S.  323  ff. 

^)  Mnemos.  10  (1882)  163:   ähnlich   K^ 
Witte,   Singular  und  Plural,   1907.   168  ff., 


treten, andeuten;  8.  A.  Ludwich  in  Ausg.  S.  15.   1   dessen  Datierung  nach  438  ganz  haltlos  ist. 
•'')  Philol.  54  (1895)  734  ff.,  58  (1899)  577;   | 


A.  EpoB.    6.  HesiodoB.    (§  68.)  103 

von  A.  Baumeistbb,  Gott  1852;  HanptauBgabe  von  A.  Ludwioh,  Die  homerische  Batracho- 
machia  des  Earers  Pigres  nebst  Schollen  und  Paraphrase,  Leipz.  1896.  Das  Gedicht  auch 
aufgenommen  von  P.  Brandt  in  das  Corpusculum  poesis  epicae  graecae  ludibundae,  Bibl. 
Teubn.,  1888. 

5.  Hesiodos. 

63.  Der  epische  Gesang,  dessen  Samen  dereinst  die  Ansiedler  aus 
Europa  nach  Asien  mitgenommen  hatten,  wurde,  noch  ehe  er  in  der  neuen 
Heimat  verblühte,  von  dort  infolge  des  fortdauernden  Verkehrs  mit  dem 
Mutterland  wieder  nach  dem  Festland  und  insbesondere  nach  Böotien  zurück- 
gebracht, um  hier  in  neuer  Eigentümlichkeit  sich  zu  entwickeln.  Die  neue 
Richtung  lehrhafter  Poesie  wurde  von  Hesiod  inauguriert,  an  den  sich 
dann  ähnlich  wie  an  Homer  eine  ganze  Schule  von  Dichtern  gleicher  Rich- 
tung anschloß.  Auch  vom  Leben  des  Hesiod  haben  wir  keine  ausführ- 
lichen Nachrichten,  aber  seine  Person  ist  doch  weit  davon  entfernt,  hinter 
seinem  Stoff  zu  verschwinden  oder  nur  die  Stimmung  und  Lebensauffassung 
seines  Publikums  wiederzugeben.  Ein  innerer  Drang,  dem  er  die  Ein- 
kleidung einer  persönlichen  Inspiration  durch  die  Musen  gibt,  treibt  ihn 
zu  dichten,  seinen  Standesgenossen,  den  armen,  unwissenden,  von  einer 
harten  und  egoistischen  Aristokratie  bedrückten  und  ausgesogenen  Bauern 
und  Hirten  in  gebundener  Form  zu  vermitteln,  was  ihm  über  Götter,  Welt 
und  Leben  teils  aus  der  Quelle  der  ionischen  Kultur  oder  volkstümlicher 
Überlieferungen  zugeflossen,  teils  auf  Grund  eigener  Erfahrung  und  eigenen 
Nachsinnens  zur  persönlichen  Gewißheit  geworden  ist.  Er  scheut  sich 
nicht,  dieses  alles  als  sein  redlich  erworbenes  geistiges  Eigentum  darzu- 
bieten und  auch  von  seiner  Person,  seinen  Erlebnissen  zu  reden.  Sicher 
hat  er  aus  dem  homerischen  Epos  sehr  vieles,  in  formaler  Beziehung  fast 
alles  ^)  übernommen,  aber  deis  Beste,  die  ernste,  den  letzten  Fragen  mensch- 
lichen Lebens  nachhängende  Geistesrichtung  ist  sein  eigen  und  ist  ein 
nachdrücklicher  Protest  gegen  die  ästhetisierende  Oberflächlichkeit  des  alt- 
ionischen Lebensprospekts.  Man  vernimmt  bei  ihm  das  erste  noch  dumpfe 
Grollen  jenes  Mißvergnügens  der  Enterbten,  das  dann  bei  Archilochos  in 
grellen  Blitzen  sich  entlädt.  So  weit  er  an  Gewandtheit  der  Form  hinter 
Homer  zurücksteht,  so  weit  übertrifft  er  ihn  an  Tiefe,  Originalität,  Ehr- 
lichkeit und  Gründlichkeit  sittlicher  Fragestellung.  Das  was  er  selbst  sagt^) 
und  die  erhaltenen  Werke  uns  lehren,  ist  so  ziemHch  das  einzige,  was  wir 
von  ihm  wissen.  Denn  nicht  bloß  ist  das  uns  erhaltene  Leben  Hesiods 
(^Hoiodov  yh'og)  von  Job.  Tzetzes  eine  geringwertige  Kompilation  des  Mittel- 
alters,*) sondern  auch  Proklos  und  Plutarch  und  selbst  die  alexandrinischen 
Gelehrten*)  ermangelten  besseren  Wissens.     Die  wertvollste  Überlieferung 

')  J.  A.  Scott.  A  comparative  Study  of  Robinson   und   von   Götthng-Flach   in  ihren 

Heaiod    and    Pindar,    Chicago   1898,     stellt   \  Ausgaben. 

fest,   daß,   von   den  Eigennamen  abgesehen,  ')    Das   levo^,   ehedem  fälschlich    dem 

83** /o   der  hesiodischen   Wörter    aus    Homer  Proklos    zugeschrieben,    trägt    in    mehreren 

entnommen  sind.  !  Handschriften  den  Namen  des  Tzetzes;  s.  H. 


*)  Naiv  Velleius  I  7:  vitavit  (Hesiodus) 
ne  in  id  quod  Uomerus  inciderety  patriam- 
que  et  parentea  testatus  est.  Die  Nachrichten 
zu    einer    Vita    zusammengestellt    von    Th. 


Flach  p.  LVHI. 

*)  Proklos  berührt  manches  aus  dem 
Leben  des  Dichters  in  dem  uns  erhaltenen 
Kommentar;   Plutarch  hatte   einen  uns  ver- 


104 


GhriechiBche  LitteratorgMchiohte.    I.  Klassische  Periode. 


enthält,    von    den  eigenen  Dichtungen  des  Hesiod    abgesehen,    der  ^Ayiyp 
'Hoiodov  xai  'O/ui^gov.^) 

64.  Die  Familie  des  Hesiod  stammte  aus  dem  äolischen  Kyme.')  Der 
Vater  des  Dichters^)  hatte  aus  Not  die  Heimat  verlassen  und  sich  am  öst- 
lichen Fuße  des  Helikon  in  dem  elenden  Dorf  Askra,  nahe  bei  dem  musen- 
freundlichen Städtchen  Thespiai  niedergelassen.*)  Dort  ist  Hesiod  ge- 
boren; er  weidete  als  Knabe  auf  den  waldigen  Triften  des  Helikon  die 
Herde.  ^)  Neben  dem  Vater  und  Heimatsort  ist  es  der  Bruder  des  Dichters, 
Perses,  der  durch  seine  Gedichte  bekannt  geworden  ist.  Dieser  hatte 
nach  dem  Tod  des  Vaters  in  einem  Rechtsstreit  über  das  hinterlassene 
Vermögen  den  Hesiod  durch  Bestechung  der  Richter  um  sein  Erb- 
teil gebracht,«)  war  aber  dann  selbst  durch  Arbeitsscheu  in  Not  ge- 
kommen, so  daß  er  hintendrein  wieder  seinen  Bruder  um  Hilfe  angehen 
mußte.  Hatte  Hesiod  durch  die  Ungerechtigkeit  der  Richter  Haus  und 
Hof  verloren,  so  hatten  ihm  die  Musen  dafür  die  Kunst  des  Gesanges 
verliehen.  Er  erscheint  als  begeisterter  Archeget  eines  sektenartigen 
Kultes  der  helikonischen  Musen,  in  dem  er  ein  Mittel  sieht  (theog.  26), 
das  niedere  Volk  aus  dem  Zustand  geistiger  Dumpfheit  emporzuheben; 
ihm  sind  die  Musen  Trösterinnen  in  dem  Jammer  menschlichen  Lebens,') 
und  ihre  Gaben  preist  er  mit  einer  Wärme®)  ähnlich  wie  etwa  in  Euri- 
pides'  Bakchen  die  Segnungen  der  Dionysosreligion  gepriesen  werden.  Seine 
glänz-  und  farblose  Poesie  war  freilich  weniger  geeignet,  ihn  als  Sänger 
für  Fürstenhöfe  zu  empfehlen;   aber  nicht  bloß   haben  seine  Wirtschafts- 


loren  gegangenen,  von  Pausanias  und  Proklos 
benutzten  Kommentar  in  vier  Büchern  zu  den 
Werken  seines  Landsmannes  geschrieben, 
den  Proklos  und  überdies  Gellius  XX  8  be- 
zeugen und  dessen  InhaltF.  Leo,  Hesiodea,  Gott. 
1894,  p.  6  f.  näher  zu  umschreiben  sucht.  Die 
sicheren  Reste  Plut.  mor.  T.  VII  51  -98  Beb- 
NABDAKis.  Von  älteren  Grammatikern  hatten 
über  Hesiod  geschrieben  Herakleides  Pontikos 
(Diog.  V  92),  Kleomenes(Clem.  Alex,  ström.  I 
p.  351  P.),  Autodoros  ans  Kyme  (J.  A.  Cbameb, 
An.  Ox.  IV  310,  26  f.). 

*)  Über  diesen  s.  u.  §  72. 

»)  Vgl.  Ephoros  in  Ps.Plut.  vit.  Hom.  2 
und  Steph.  Byz.  u.  Kvfuj.  Auf  Lokalsagen 
von  Kyme  geht  es  auch  zurück,  wenn  Me- 
lanopos  aus  Kyme  (Paus.  V  7,  «)  bei  Suidas 
und  Ps.Plutarch  zum  Ahnen  des  Hesiod  und 
Homer  gemacht  wird.  Strab.  622  will  schwer- 
lich sagen,  Hesiod  sei  in  Kymo  geboren. 

')  Der  Name  des  Vaters  (den  das  Coit. 
Hom.  et  Hes.  ebenso  wie  den  der  Mutter  ver- 
schweigt) war  nach  der  Überlieferung  Dies 
(so  schon  Hellanic.  fr.  6  M.;  Strab.  622;  In- 
schrift aus  Thespiai  s.  III  v.  Chr.  Bull,  de  corr. 
hell.  1890,  546  f.),  aber  dieser  ist  wahrschein- 
lich nur  eischlossen  aus  Op.  299  njydi:fv 
IlFoat)  fiior  j'/roc,  wo  D,  Ruhnken  geradezu 
/lior  yerfh;  nach  Analogie  von  Laevinum 
Valeri  genus  bei  Hör.  sat.  I  6,  12  und  Vergil 
Aen.  VI  792  Augtistus  Caesar  Divi  genus  her- 


stellte und  vielleicht  auch  schon  Velleios 
I  7  und  der  Verfasser  des  Agon  lasen.  Ohne 
Zweifel  ist  aber  ^roi»  (nach  dem  Vorbild  von 
Hom.  II.  /  538)  zu  lesen  und,  sei  es  ironisch, 
sei  es  als  ernste  Mahnung  für  Perses  an  das 
noblesse  oblige  zu  verstehen.  Noch  weniger 
Verlaß  ist  auf  den  Namen  der  Mutter  des 
Dichters,  Pykimede,  der  ganz  wie  eine  etymo- 
logische Fiktion  aussieht.  Den  Namen  Hesiod 
hat  F.  G.  Welcher,  Hes.  Theog.,  Elberf.  1865, 5 
im  generellen  Sinn  =  ifis  <oA//v  , Sänger*  ge- 
deutet, und  diese  Deutung  ist  auf  besserer 
etymologischer  Grundlage  neuerdings  wieder- 
holt von  F.  SoLMSEN,  Unters,  z.  griech.  Laut- 
und  Verslehre  208.  Sie  würde  unterstützt, 
wenn  man  mit  E.  Lisco,  Quaest.  Hesiod.  52 
die  Stelle  Op.  208  als  Anspielung  des  Dich- 
ters auf  seinen  Namen  verstehen  dürfte. 
Falls  diese  Erklärung  richtig  wäre,  wüßten 
wir  den  eigentlichen  Namen  des  Dichters 
nicht,  sondern  nur  einen  Beinamen.  —  In 
der  attischen  Zeit  war  der  Name  nicht  mehr 
lebendig:  Lys.  fr.  67  Tiialheim. 

*)  Hes.  op.  633  if.  Den  Namen  "jicfe^rf 
statt  des  tiberlieferten  ''AQvtj  hatte  Zenodot 
in  den  homerischen  Text  B  507  bringen 
wollen. 

*)  Hes.  theog.  22  f. 

«)  Hes.  op.  27-39;  213  ff. ;  248  ff.;  274  ff. 

')  theog.  55.  100  ff.  917. 

8)  theog.  280.  380  ff  772. 


A.  EpoB.    6.  Hesiodos.    (§  64.) 


105 


regeln  bei  den  Bauern  und  Schiffern  offenes  Ohr  gefunden,  i)  auch  religiöse 
Erbauung  und  sittliche  Förderung  mochte  man  in  den  Hymnen  und  mytho- 
logischen Dichtungen*)  finden,  die  jetzt  seinen  größeren  Werken  einver- 
leibt sind,  aber  so,  daß  man  ihre  ehemalige  selbständige  Stellung  noch 
unschwer  erkennen  kann.  Daß  diese  Gedichte  nicht  alle  für  das  armselige 
Dorf  Askra  bestimmt  waren,  versteht  sich  von  selbst;  vielmehr  wird  He- 
siod  ähnlich  wie  Homer  als  fahrender  Sänger  im  Land  umhergezogen 
«ein.  Und  nicht  bloß  in  den  Städten  Böotiens,  wie  Thespiai  und  Orcho- 
menos,')  fand  er  Anklang,  auch  über  die  Grenzen  seiner  engeren  Heimat 
hinaus  drang  der  Ruhm  seiner  Muse.  In  den  Werken  650  ff.  lesen  wir, 
daß  der  Dichter  einst  von  Aulis  nach  Chalkis  auf  Euboia  zu  den  Leichen- 
spielen des  Amphidamas  gefahren  sei,*)  bei  diesen  mit  einem  Hymnus  ge- 
siegt und  den  Dreifuß,  den  er  als  Siegespreis  errungen,  den  Musen  des 
Helikon  geweiht  habe.  Zwar  ist  auf  diese  Nachricht  kein  sicherer  Ver- 
laß, da  die  Echtheit  der  ganzen  Stelle  (op.  648 — 662)  schon  von  den  ale- 
xandrinischen  Grammatikern  beanstandet  wurde.  ^)  Aber  auch  die  Nach- 
richten von  dem  Tode  des  Dichters«)  weisen  darauf  hin,  daß  er  von 
seiner  böotischen  Heimat  nach  Westen  über  Delphoi  hinaus  bis  ins  Land 
der  ozolischen  Lokrer  gekommen  war.  Vom  Orakel  in  Delphoi,  so  er- 
zählten die  Alten,  gewarnt,  den  Hain  des  nemeischen  Zeus  zu  betreten, 
da  ihm  dort  zu  sterben  bestimmt  sei,  hatte  er  sich  nach  Oineon  in  Lokris 
gewandt,   ohne   zu  ahnen,   daß  auch   dort  ein  dem  nemeischen  Zeus  ge- 


*)  So  eignete  sich  für  Schiffer  op.  618 
his  94,  fttr  Bauern  op.  383— 617,  für  Richter 
op.  213 — 69,  als  guter  Rat  beim  Heiraten 
op.  695 — 705.  Von  der  praktischen  Ver- 
wendung derartiger  didaktischer  Verse  im 
Arbeitslied  gibt  Theocrit.  X  42  S.  eine  Vor- 
stellung. Daß  für  das  Inhaltliche  der  didak- 
tischen Partien  ältere  ionische  Vorlagen  vor- 
handen waren,  vermutet  M.  P.  Nilsson,  Rh. 
Mus.  60  (1905)  161  ff. 

')  So  in  der  Erzählung  vom  Titanenkampf 
th.  617—819,  der  Prometheussage  th.  535 
bis  610,  dem  Pandoramythus  op.  42—89,  den 
fanf  Weltaltern  op.  109—201,  den  Hymnen 
auf  die  Musen  und  Hekate  th.  36 — 104  und 
413—49. 

')  In  Orchomenos  zeigte  man  das  Grab 
des  Hesiod  auf  dem  Marktplatz  der  Stadt; 
8.  Cert  Hes.,  Paus.  IX  38,  3,  Vit.  Hes.  Die 
Nachricht  geht  auf  Aristoteles  iv  rfj  X)gxo' 
fievüov  jioliTeiq,  zurQck  (s.  Vit.  Hes.  und  Pro- 
klos zu  op.  631) ;  vgl.  V.  Rosb,  Arist.  pseudep. 
p.  505  ff.  üeber  die  Meinung  von  H.  Schlie- 
mann  und  W.  Dörpfeld,  als  wäre  der  orcho- 
menische  ^^OijoavQog*  Hesiods  Grab,  s.  Chb. 
Bblobb,  Archäol.  Anz.  1891,  186;  Berl.  phil. 
W.8chr.  12  (1892)  98  ff.;  19  (1899)  1212  ff. 

^)  Von  jenem  Amphidamas  sagt  Plu- 
tarch  Conv.  sept  sap.  c.  10,  wahrscheinlich 
nach  Aristoteles:  tjv  Se  ^AfKpiÖd/aag  dvijg 
staXitixog  neu  noXkd  ngayfiara  TtoQaaxwv 
*EQ€XQievöt¥  h  %aXg  Jtegi  ArjXdvTov  fid^atg 
ixtaev,  woran  Th.  Bbbgk,  Gr.  Litt  I  930  die 


von  E.  RoHDE,  Kl.  Sehr.  I  43  ff.   bekämpfte 

Vermutung   knüpfte,   daß    Amph.    nicht  vor 

i    Ol.  29,  1    gestorben  sei.     Nach   Rohdes  Be- 

I    rechnungen   hätten   die  Alten   vielmehr   den 

Amphidamas    160    nach    den    Troika    leben 

I    lassen.     Daß  die  Stelle  Hes.  op.  648  ff.,  die 

I    Plutarch   für  interpoliert  hielt  (s.  A.  5),    den 

j    Keim  der  Sage  vom  dyojv  'Ofii>)oov  xai  'Hoioöov 

enthalte,  hat  lauge  vor  A.  Kirchhoff  (Berl. 

I    Akad.  Sitz.ber.  1892,  865  ff.)  E.  Rohde  (Kl. 

j    Sehr.  a.  a.  0.)  kurz  und  klar  gezeigt. 

'  *)  Proklos  fand  zu  V.  649  ein  kritisches 

'    Zeichen:    arj/Aeiovrai    6    arij^og    ovxo<;'    eLiiov 

I    ydo    eivai    äjteioog    vavziUac:    jicog    vTtoxiOexai 

;    avit)v'y  der  Athetese  war  nach  Proklos  z.  St. 

auch  Plutarch   und    nach  ihm  Pausanias  IX 

\    31,  3  beigetreten.     Vgl.  Procl.  ehrest,  p.  232. 

20  W.  ddXiot  ÖS  ol  ro  aiviyfia  (corr.  ijiiynafifia) 

,    jT?.daavTeg  tovxo 

j  'HoioSog  Movoatg  'EXixcovloi  xovb^  dve&rjxev^ 
I  v/ivw  vtxqoag  iv  XaXxlöi  öXor  "OfirjQov. 
\  dXkd  ycLQ  eTtkavrj&riöav  ex  twv  'HaioÖeicov  rj- 
i  fiegcov '  exsgov  ydg  xi  (corr.  xiva)  otiftaivei. 
I  Neuerdings  schreibt  Kirchhoff  in  seiner  Aus- 
i  gäbe  S.  72  ff.  die  Stelle  wieder  dem  Hesiod 
I  zu.  Siehe  auch  E.  Rohde  a.  a.  0. 
I  *)   Es    gab    zwei   Überlieferungen   über 

den  Tod  des  Dichters,  eine  von  Alkidamas 
und  eine  von  Eratosthenes ;  E.  Hilleb  zu 
Eratosth.  carm.  fr.  21  p.  81  ff . ;  s.  0.  Friedel, 
Die  Sage  vom  Tod  Hesiods,  Jahrbb.  f.  Phil. 
Suppl.  10  (1878.  79)  235  ff. 


106  Oriechisohe  LitteraturgeBohichte.    I.  ElassiBche  Periode. 

heiligter  Ort  war.^  In  Oineon  also  kehrte  er  bei  den  Söhnen  des  Phegeus, 
Amphiphanes  undGanyktor,*)  ein,  geriet  aber  in  den  Verdacht,  die  Schwester 
seiner  Gastfreunde,  Klymene,  verführt  zu  haben.  Die  Brüder,  darüber  er- 
grimmt, erschlugen  ihn  und  warfen  seinen  Leichnam  in  das  Meer.  Del- 
phine brachten  den  Toten  ans  Land,  wo  er  in  einem  Felsengrab  bestattet 
wurde.  Die  Sage  ist  natürlich  poetisch  ausgeschmückt  und  alle  die  Züge, 
die  nur  zur  Illustration  des  Motivs,  daß  der  Sänger  in  göttlichem  Schutze 
stehe,')  bestimmt  sind,  müssen  für  die  geschichtliche  Betrachtung  weg- 
fallen; aber  die  Tatsache,  daß  Hesiod  im  Land  der  Lokrer  gestorben  ist, 
darf  doch  aus  ihr  entnommen  werden.  Wenn  auch  Orchomenos  auf  dem 
Markt  das  Grab  des  Hesiod  zeigte,  so  ward  das  früh  so  gedeutet,  daß 
die  Orchomenier,  einem  Orakelspruch  zufolge,  die  Gebeine  des  Dichters 
aus  dem  Land  der  Lokrer  nach  ihrer  Stadt  übergeführt  hätten.*)  Später 
errichteten  ihm  auch  die  Thespier  auf  dem  Markt  ein  ehernes  Standbild,*) 
und  auf  dem  Helikon  zeigte  man  einen  sitzenden  Hesiod  mit  der  Eithara 
auf  den  Knieen,  welche  Darstellung  Pausanias  tadelt,  da  dem  Hesiod  nach 
seinen  eigenen  Worten  im  Eingang  der  Theogonie  der  Lorbeerstab,  nicht 
die  Kithara  zukomme. ß) 

65.  Lebenszeit  des  Hesiod.  Verwickelt  ist  die  Frage  nach  der 
Lebenszeit  des  Hesiod,  über  die  schon  die  Alten  zwiespältiger  Meinung  waren. 
Es  handelt  sich  hiebei  zunächst  um  das  Verhältnis  des  Hesiod  zu  Homer.') 
Herodot  II  53  nahm,  wahrscheinlich  auf  Grund  der  Legende  vom  dj'oiv,«) 
beide  als  gleichzeitig  an  und  ließ  sie  400  Jahre  vor  seiner  Zeit  gelebt 
haben.  Ephoros  nach  Ps.Plutarch  vit.  Hom.  2  hielt  den  Hesiod  für  etwas 
älter,  indem  er  dessen  Vater  zum  Großoheim  Homers  machte,^)  welches 
Verhältnis  das  Marmor  Parium  (Z.  44  f.)  derart  in  Zahlen  umsetzt,  daß 
es  den  Hesiod  30  Jahre  älter  als  Homer  macht. *ö)  Dem  entgegen  schlössen 
die  alexandrinischen  Kritiker  Eratosthenes  und  Aristarchos,  ebenso  Philo- 
choros  aus  der  Erweiterung  der  geographischen  Kenntnisse'*)  und  Mythen 

»)  Thucyd.  III  96:    «•   uo   rot-  Ato^  lov  j           *)  Paus.  IX  27,  4. 

XfUFiov  tFoipf  Fv  fj)  'Hatodog  6  jroirjxrjg  Aeyexai  \            ^)  Paus.  IX  80,  2. 

{\io    Kißv    T(WTf)    anoOaveiv,    j^otjodh'   arrco  h'  ')  Siehe  O.  S.  34. 

SFuhf  lovio  Tiadeh'.   Damit  stimmen  überein  1            *")  Ebenso  Varro  bei  Gell.  III  11.  3. 

Cert.  Hes.,  Plut.  conv.  sept.  sap.  19,  Paus.  IX  •)  Vgl.  M.  Sengebusch.  Hom.  diss.  I  160; 

31,  5  und  38,  3,  Vit.  Hes.,  Anth.  Pal.  VII  55.  da6  vor  Ephoros  schon  Simonides  von  Keos 

^)  So   nannte   sie  Alkidamas;   Antiphos  die  gleiche  Meinung  geäußert  habe,   erweist 

und  Ktimenos  hingegen  hießen  sie  bei  Era-  ,   L.  Steknba.cii,  Comm.  Ribbeck.  358  ans  der 

tosthenes  (und  Suidas)  nach  dem  Zeugnis  des  !    oben  S.  74,  3  zitierten  Stelle. 

Certamen.  *^)  Ähnlich  Tzetzes  in  Vit.  Hes.,   wenn 

')  Vgl.  die  Legenden  von  Arion,  Ibykos,  er  den  Hesiod  in  den  Anfang  und  den  Homer 

Simonides,  Aisopos.  ,   an  das  Ende  des  35  Jahre  dauernden  Archon- 

^)  Die  Deutung  wäre  sehr  alt,  wenn  auf  tats    des    Archippos    setzt.      Dem    Ephoros 

die   Angabe  Verlaß  wäre,    daß   Pindar   mit  folgten  Accius  bei  Gellius  HI  11, 4  und  Philo- 

Bezug   auf  jenes  Doppelbegräbnis   das   Epi-  stratos  Heroic.  p.  162,  5if.  K.  Nach  Vit.  Hom. 

gramm  gedichtet  habe:  p.  31,  11  Westerm.  hielt  schon   Herakleides 

XaToF.  big  ij/itjoag    xal  &ig  TOKfov  avrißoh'pag,  !    den  Homer  für  älter  als  Hesiod. 

'IIoio6\  dvOgco.TOig  fiexgov  Fyjov  ooqJrjg,  *>)  Strab.  p.  23  u.  29,  wo  richtig  hervor- 

Das  darauf  bezügliche  Sprichwort  IIoioÖfiov  gehoben    ist,    daß   Hesiod    bereits   den   Nil 

yfjQag   erwähnte    nach   den   Parömiographen  ,   (th.  338),    den   Ätna   (th.  860),   die  Tyrsener 

I  456  schon  Aristoteles  fv  0(>;fo/«T<W  jroA<r«Vi.  (th.  1016)  und  Ortygia  kenne,  die  bei  Homer 

lieber  Translation  von  Gebeinen  s.  E.  Rohdb,  I   noch  nicht  vorkommen.     Man   kann  diesen 

Psyche  I'  161.  \  Namen  noch   hinzufügen  den  Latinos,  den 


A.  Epos.    5.  Heoiodos.    (§  65.) 


107 


bei  Hesiod,')  daß  er  nach  Homer  gelebt  haben  müsse.*)  Die  Beweis- 
kraft der  in  diesem  Sinn  verwerteten  Stellen  steht  zwar  nicht  ganz  außer 
Zweifel,  da  dabei  nicht  allein  die  ältesten  und  zweifellos  echten  Werke 
des  Hesiod,  die  Erga  und  Theogonie,  sondern  auch  jüngere  Gedichte 
und  Verse  von  zweifelhafter  Echtheit  in  Betracht  gezogen  wurden.  So 
kann  z.  B.  an  Fortbildung  des  Mythus  gedacht  werden  bei  Vergleichung 
der  Stelle  der  Odyssee  y  464,  wo  die  jüngste  Tochter  des  Nestor,  die 
schöne  Polykaste,  dem  Gast  Telemachos  die  Füße  wäscht,  mit  den 
Versen  des  Hesiod  (fr.  17  Rz.),  die  aus  jenem  harmlosen  Brauch  der  alten 
Gastfreundschaft  eine  geschlechtliche  Verbindung  des  Telemachos  und  der 
Polykaste  ableiten,  deren  Frucht  der  Heros  Persepolis  gewesen  sei.^) 
Aber  die  Verse  stehen  nicht  in  dem  echten  Hesiod,  sondern  gehörten 
zu  dem  aus  der  Schule  des  Hesiod  stammenden  Frauenkatalog.  Ebenso 
finden  sich  die  meisten  der  geographischen  Namen  an  Stellen,  deren 
Echtheit  von  der  modernen  Kritik  in  Zweifel  gezogen  wird.  Indessen 
wenn  so  auch  viele  Belegstellen  wegfallen,  so  bleiben  doch  noch  genug 
zum  Beweis,  daß  zur  Zeit  Hesiods  die  geographische  Kenntnis  des 
Westens  infolge  der  fortgeschrittenen  Seefahrt  und  der  Kolonisationen  der 
euböischen  Chalkidier  weit  ausgebreiteter  war,'*)  und  daß  Hesiod  nicht 
bloß  die  Färbung  des  Dialektes  aus  Homer  entlehnt,  sondern  auch  in  zahl- 
reichen Versen   Stellen   des  Homer  nachgeahmt  hat.*)     Vor  den  Werken 


Sohn  der  Kirke  (th.  1013),  den  Eridanos  und 
Istros  (th.  338  f.),  die  Insel  Erytheia  mit  den 
Hesperiden  (th.  290  u,  518). 

')  Aristarchos  setzte  in  diesem  Sinn  seine 
Zeichen  Schol.  A  IL  K  431  nooq  xa  .Tsgi  f^li- 
xiag  'Hmodov,  I  246  oxi  xrjv  oXrjv  IleXojTOV- 
yrjaoy  ovx  oidev  6  noiv}xrig,  'Hoiodo^  de,  A  750 
ort  evxeir&ev'Hoiod<K''AxxoQog  xax^  s:tixXr)öiv  xai 
MoltovTjg  avxovQ  yeyevealoyrjxev,  ferner  Schol. 
A  IL  M  22,  3  119,  Ü  527,  SchoL  B  fl.  ^^  683. 

*)  An  Aristarchos  schloß  sich  sein  Schüler 
ApoUodoros  an  bei  Strabon  p.  299  und  370, 
ebenso  Velleius  I  7.  Siehe  F.  Jacoby,  Apollo- 
dors  Chronik  118  ff.  Übertrieben  drückt  sich 
Cicero  Cat  mai.  54  ans:  Homer us  qui  multis 
ut  mihi  videtur  ante  Hesiodum  saeculh  fuit. 
Schon  vor  den  Alexandrinern  soll  Xenophanes 
(in  den  Sillen  nach  H.  Diels,  Fr.  der  Vor- 
sokr.»  S.  53  fr.  13)  nach  Gellius  III  11,  2  die 
gleiche  Meinung  vertreten  haben,  lieber  die 
antiken  Zeitansätze  E.  Rohde,  Kl.  Sehr.  I 
39 ff.;  F.  Jacoby,  Marm.Par.,  BerL1904, 157  f. 

•)  A.  KiBCHHOFF,  Diehomer.Odyssee315  ff. 

*)  Auf  die  von  den  Chalkidiem  ge- 
grandete  Kolonie  Cumae  weist  insbesondere 
die  Erwähnung  des  Latinos  in  Theog.  1013 
KiQXij  yeivax*  Odvoaijog  rakaaiq^govog  h  q^i- 
X^TtjTi  Aygiov  ^Sk  AaxXvov.  Auch  die  Ver- 
legung der  Kirke  in  jene  Gegend  hängt  mit 
dem  nach  der  Kirke  benannten  Promontorium 
Circetum  zusammen.  Ob  auch  'Aygiog  aus  ^Af- 
Qiog  entstanden  ist  und  mit  dem  Avemersee, 
dem  Sitz  der  Sibylle,  zusammenhängt? 

*)  Siehe  o.  S.  103,  1.  Über  ein  Fünftel 
der   Verse    und    Halbverse    der    Theogonie 


sind  aus  Ilias  und  Odyssee  übernommen. 
Die  Stellen  Homers,  die  Hesiod  nachahmte, 
sind  jetzt  in  der  Ausgabe  von  A.  Rzach  an- 
gemerkt. Schon  zuvor  E.  Kausch,  Quate- 
nus  Hesiodi  in  theogonia  elocutio  ab  exemplo 
Homeri  pendeat,  Regiom.  1876  und  Elbing 
1878,  St.  iM artin,  Quatenus  Hesiodeae  ra- 
tionis  vestigia  in  carminibus  Homericis  re- 
periantur  I.  de  Odyssea  et  theogonia,  Progr. 
Speier  1889.  Die  Nachahmung  selbst  steht 
außer  Zweifel,  und  es  fragt  sich  nur,  in- 
wieweit auch  Stellen  der  jüngsten  Partien 
homerischer  Gesänge  nachgeahmt  sind.  In 
dieser  Beziehung  ist  von  Wichtigkeit  die 
Vergleichung  von  op.  403  f-iefor  rofiög  und 
r249;'op.721  und  r  250;  op.  299  dror  r^ro^ 
und  /  538 ;  op.  648  fthoa  Üakaaatjg  und  fthoa 
xFlevdov  ö  389,  X  539.  femer  von  op.  318 
und  Ü  45:  th.  129—30  (mit  kontrahiertem 
vvuq:.ibr)  und  ü  615—6:  th.  341— 2  und  M 
20-1;  th.890  und  a  56;  th.  212  und  o>  12. 
Auch  die  häufigere  Vernachlässigung  des 
Digarama  bei  Hesiod  beweist  die  spätere  Zeit 
der  Abfassung,  zumal  außer  Zweifel  steht, 
daß  seine  Landsleute  das  Digamma  noch 
sprachen.  Bedeutungsvoll  ist  weiter,  daß  in 
die  Darstellung  der  Sage  von  den  5  Welt- 
altem mit  offenbarer  Rücksicht  auf  das 
homerische  Epos  (E.  Rohde,  Psyche  P  93  ff.) 
das  Heroengeschlecht  (op.  156—173),  das 
den  Zusammenhang  stört,  eingefügt  ist.  Die 
von  A.  KiBCHHOFF  und  E.  Lisco  (Quaest.  Hes. 
62)  ins  Auge  gefaßte  Streichung  der  Verse 
op.  156 — 173  ist  nicht  anzunehmen. 


108  Oriechisohe  LitteratnrgeBohichte.    I.  KlasoiBche  Periode. 

des  Hesiod  liegt  die  Dichtung  der  ganzen  Ilias  mit  Einschluß  des  letzten 
Gesangs  und  ebenso  die  der  Odyssee,  wenigstens  in  ihren  älteren  Teilen, 
und  zwar  in  der  uns  jetzt  vorliegenden,  von  Hesiod  trotz  seiner  Zugehörig- 
keit zu  der  äolischen  Dialektgruppe  doch  nachgebildeten  Sprachform.  — 
Auf  der  anderen  Seite  steht  ebenso  fest,  daß  Hesiod  den  lambographen 
Semonides  und  Archilochos  bereits  bekannt  war.  Denn  gewiß  waltet  nicht 
der  Zufall  im  Zusammentreffen  von  Hes.  op.  702 

Ol)  fiev  yvLQ  XI  yvvatxdg  ävijQ  XtjtCez'  ä/bieivov 

T^g  äya^g,  xrjg  d'avxe  xaxrjg  ov  §iyiov  äilo 
und  Semonides  fr.  6 

yvvaixdg  ovdev  XQVi^'  ^^Q  X^tCexcu 

ioMfjg  äjiieivov  ovdk  ^yiov  xax^g,^) 
Sappho  fr.  145  erzählt  dem  Hesiod  die  Prometheussage  nach.  Auch  der 
korinthische  Epiker  Eumelos,  der  von  den  Alten  in  die  6.  oder  9.  Olym- 
piade gesetzt  wird,  lebte  sicher  erst  nach  Hesiod;  dagegen  kann  man 
zweifeln,  ob  der  homerische  Schiffskatalog  der  hesiodischen  Theogonie 
nachgefolgt  oder  ihr  vorausgegangen  ist. 

Demnach  läßt  sich  für  die  Zeit  des  Hesiod  sowohl  ein  terminus  post 
quem  als  einer  ante  quem  mit  Sicherheit  feststellen.  Die  Versuche,  dar- 
über hinaus  zu  einer  engeren  Abgrenzung  zu  kommen,  schlugen  in  der 
Mehrzahl  fehl.*)  Auch  die  Beziehung  der  Verse  über  Typhoeus  theog. 
820 — 80  auf  einen  Ausbruch  des  Ätna,')  die  den  Beweis  liefern  würde,  daß 
die  Theogonie  in  der  Zeit  nach  Gründung  der  Kolonien  Siziliens  durch 
Chalkis,  die  Mutterstadt  von  Naxos,  Leontinoi  und  Katane,  gedichtet  wurde, 
beruht  lediglich  auf  einer  zweifelhaften  Textänderung  Schümanns.  Wenn 
A.  Fick,  Hesiods  Gedichte  S.  4,  indem  er  auch  noch  die  Fabel,  daß  Stesi- 


')  Die  Verse  sind  schon  zusammengestellt  '.  mittel   der  alten  Chronologen.     Endlich   die 

bei  Clemens  Alex.  Strom.  VI  p.  744  P.  und  Por-  1  Erwähnung  eines  nackten  Ringkampfes,  der 

ph3rrios  bei  Eus.  pr.  ev.  X  8,  18.   Aehnlich  ist  '  uns  in   die  Zeit  nach  Ol.  15   führen  würde 

gedichtet  Archil.  fr.  88  nach  op.  202  ff.  und  !  (s.  Schol.  AT  IL  !^683  und  Hes.  fr.  22  Rz.; 

Archil.  fr.  85  nach  theog.  120;  Alcaeus  fr.  39  vgl.  J.  H.Voss,  Mythol.  Briefe,  Leipz.  1834, 2), 

nach  op.  584  ff.;  Alkman  fr.  106  nach  th.  961.  ,  findet  sich  nicht  in  den  echten  Werken  des 

Vgl.A.8T£iTZ.  Die  Werke  und  Tage  des  Hesiod,  |  Hesiod.  sondern   stand  in  irgend  einem   der 


1869,  S.  1  ff.  Einfluß  Hesiods  auf  Solons  dak- 
tylische Gedichte :  N.  Ribdy,  Solonis  elocutio 
quatcnus  pendeat  ab  exemplo  Homeri  I 
(München  1903)  2  f.;  II  (1904)  4-13. 


untergeschobenen  Epen. 

•)  Th.  860  (ovgsos  h'  ßTJoojjoiv  'Ainnjg 
jrauTaXofaatjg)  liest  Schümann  'Airvt^g  für  das 
überlieferte   diSrf/g,    Auch  Ilias  i5  783  wird 


^)  Die  astronomischen  Berechnungen  aus  Typhoeus  als  Repräsentant  feuerspeiender 
den  Stemdeklinationen  sind  in  Seifenblasen  Berge  im  Land  der  Arimer  erwähnt;  diese 
aufgegangen;  wichtig  scheint  besonders  zu  Stelle  bezieht  sich  aber  nicht  auf  den  Ätna, 
sein  op.  566  f.  u.  610  über  den  Aufgang  des  sondern  auf  den  Vulkan  Argaios  in  Eappa- 
Arkturus;  s.  Th.  Robinson,  Vit.  Hes.  p.  LIX  ff. ;  dokien  (J.  Partsch,  Geologie  und  Mythologie 
J.  L.  Ideler,  Handb.  d.  Chronologie  I  246;  in  E[leinasien,  Philol.  Abh.  zu  Ehren  von  M. 
J.  Gallenmüller,  Progr.  des  alten  Gymn.  in  i  Hertz.  Berl.  1888  S.  105—122).  Verschwiegen 
Regensburg,  Stadtamhof  1885.  Die  Angabe 
femer,  daß  Stesichorosein  Sohn  des  Hesiod  und 
der  Elymene  sei  (s.  Schol.  ad  op.  271  und  Vit. 
Hesiodi)  sieht  ganz  wie  eine  leere,  aus  der 
Mythenverwandtschaft  abgeleitete  Fiktion  aus. 
Des  weiteren  stützt  sich  der  Ansatz  der  Zeit 
des  Amphidamas  (op.  650  ff.)  in  die  Jahre  1020 
bis  980  V.  Chr.  (s.  E.  Rohdb.  Kl.  Sehr.  I  43  ff.) 
auf  die  schlechten  und  unzuverlässigen  Hilfs- 


BoU  indessen  nicht  werden,  daß  Gruppe  u.  a.  die 
Verse  820—880  für  ein  jüngeres  Einschiebsel 
halten.  Die  Beziehung  der  Theogoniestelle 
auf  den  Ätna  ist  festgehalten  von  W.  Chbisv, 
Der  Ätna  in  der  griech.  Poesie,  Münch.  Ak. 
Sitz.ber.  1888, 1 350  ff.  —  0.  Gruppes  Versuch, 
die  Theogonie  auf  ca.  600  herunterzudatieren 
(Griech.  Culte  und  Mythen  I  611)  ist  nicht 
glücklich. 


A.  EpoB.    6.  Hesiodos.    (§  66.)  109 

choros  ein  Sohn  des  Hesiod  und  der  Klymene  gewesen  sei,  zur  Zeit- 
bestimmung heranzog,  Hesiods  Blüte  auf  675  angesetzt  hat,  so  begnügen 
wir  uns  mit  der  runden  Zahl  700,  eher  nach  als  vor.  Aus  der  Benützung 
hesiodiseher  Motive  in  der  bildenden  Kunst  geht  hervor,  daiä  Anfang  des 
6.  Jahrhunderts  die  Theogonie  in  Euboia,  Attika,  Korinth  und  Kyrene 
bekannt  war.  Werke  und  Tage  und  ^Aonk  wirken  im  5.  Jahrhundert  auf 
die  attischen  Künstler,  i) 

66.  Charakter  der  hesiodischen  Poesie.  Hesiod  ist  Vater  und 
Hauptvertreter  des  didaktischen  Epos,  wie  Homer  des  heroischen.  Diese 
neue  Richtung  der  Poesie  hing  zunächst  mit  der  individuellen  Anlage 
unseres  Dichters  zusammen:  Hesiod  war  eine  ernst  gerichtete,  kritische, 
über  Gott  und  die  Welt,  den  Zusammenhang  zwischen  Leistung  und  Glück, 
die  Ziele  des  menschlichen  Lebens  nachgrübelnde  und  die  Gedanken  des 
Volkes  über  solche  Dinge  aufnehmende  und  weiterbildende  Natur.  Er 
sucht  Wahrheit,  nicht  ergötzliches  Spiel  und  glänzenden  Schein,  wie  er 
denn  seinen  Musen  in  bewußtem  Gegensatz  zu  der  homerischen  Art  und 
an  eine  Stelle  der  Odyssee  (r  203)  anklingend  die  Worte  in  den  Mund 
legt  (theog.  27  f.): 

idjuev  y^fsvöea  JiokXd  kiyeiv  hvfxoioiv  ö/biöia, 
Tdfiev  d\  evr'  i&eXcojuev,  äXrjMa  yrjQvoao&aL 
Und  er  sucht  die  Wahrheit  nicht  auf  den  gleißenden  Höhen  menschlichen 
Daseins,  sondern  in  der  Tiefe,  in  der  Not  und  Arbeit  des  Alltags,  wo  der 
naturgemäße  Zusammenhang  zwischen  Verschulden  und  Erleiden  am  un- 
verhülltesten vor  Augen  liegt  und  die  ewigen  Grundwahrheiten  aller  Sitt- 
lichkeit sich  am  deutlichsten  und  einfachsten  zu  erkennen  geben.  Seine 
Aufgabe  sieht  er  darin,  seinen  Landsleuten  zu  vermitteln,  was  sie  von 
Götterlehre  zu  wissen  brauchten,  und  ihnen  den  nötigen  Vorrat  sittlicher 
Grundsätze  für  ernste  Lebensführung  und  praktischer  Regeln  für  vernünf- 
tigen Haushalt  zu  bieten.  So  ist  er  ein  Dichter  für  Bauern,  wie  Homer 
einer  für  Könige.*)  Die  Verschiedenheit  der  beiden  Dichter  hängt  auch 
mit  den  verschiedenen  Zuständen  ihrer  Heimatländer  zusammen:  dort  in 
Asien  eine  frische,  aufstrebende,  an  die  Blüte  der  mutterländischen  Kultur 
in  der  Achäerzeit  unmittelbar  anschließende  Entwicklung,  ein  leicht  beweg- 
liches, durch  die  See  in  die  Ferne  gewiesenes  Volk,  Hörer  voll  Lust  an 
Mären  und  Abenteuern;  hier  in  Böotien  ärmliche,  durch  den  von  der  dori- 
schen Wanderung  verursachten  Kulturbruch  noch  verstörte  Verhältnisse, 
ein  hochfahrender,  geldsüchtiger,  egoistischer  Adel  (die  dcogotpdyoi  ßaodrjec;)^ 
durch  dessen  parteiisches  Regiment  tief  heruntergedrückt  eine  wesent- 
lich auf  Ackerbau  und  Viehzucht  angewiesene  Bevölkerung  ohne  viel 
geistige  Beweglichkeit,  ohne  Empfänglichkeit  für  die  Reize  künstlerischer 
Formvollendung,  tn  Technischen  knüpft  die  Poesie  des  Hesiod  teils  an 
das  homerische  Epos  an,  dem  sie  in  Versmaß,  Dialekt^)  und  sprachlichem 


')  Hub.  SoHiODT,  Observationes  archaeo-  i  II  8  ff. ;    ähnlich   der   Spartaner  Eleomenes 

logicae   in   carmina  Hesiodea,  Diss.  phüol.  |  bei  Ael.  var.  bist.  XIII  19. 

Halenses,  XII,  1894.  |  ')  Dem  homerischen  Gnindton  der  Sprache 

*)  So  soll  Alexandros  d.  Gr.  den  Unter-  '  sind  nur  einige  lokale  Eigentümlichkeiten  bei- 

Bchied   aasgedrückt  haben  nach  Dio  Ghrys.  |  gemischt,  wie  die  Acc.  plur.  auf  äg  (delphisch 


110  OriechiBche  Litteraturgeschichte.    I,  KUssische  Periode. 

Ausdruck  folgte,  teils  trat  sie  in  Gegensatz  zu  ihm  durch  den  Charakter 
einfacher  Aufzählung  und  lockerer  assoziativer  Aneinanderreihung,  wobei 
zur  Belebung  kürzere  oder  längere  Episoden  erzählender  oder  ekphrasti- 
scher  Art  eingelegt  werden,  i)  Von  den  alten  Kunstkritikern  wurde  diese 
Stilform  llotodeioq  yaQaxxif]Q  genannt  und  daher  z.  B.  das  trockene  Ver- 
zeichnis der  Nereiden  in  der  Hias  Z  39 — 49  verworfen  Aq  'Haiödeiov  1%^ 
xaQaxTTjoa.^)  Damit  verband  sich  die  gleichfalls  von  den  Alten  schon 
erkannte  Neigung  zur  gnomischen  und  allegorischen  Darstellung,')  die 
den  Gegensatz  zu  der  heiteren  Phantasie  und  plastischen  Naturwahrheit 
Homers  bildete.  So  gern  man  aber  den  homerischen  Dichtungen  die  weit 
größere  Fonnsicherheit,  Eleganz  und  Beweglichkeit  zugestehen  mag,  so 
darf  doch  nicht  übersehen  werden,  daß  die  Probleme,  die  den  Hesiod  be- 
wegten und  zur  Aussprache  drängten,  der  dichterischen  Darstellung  weit 
größere  Schwierigkeiten  bereiteten.  Dafür  leitet  Hesiod  mit  seinen  weniger 
gelenken  und  beredten  Versen  viel  mehr  in  die  ernsten  Tiefen  mensch- 
lichen Lebens  und  Denkens  als  der  immer  fröhliche  homerische  Sang.  Dafi 
die  Griechen  trotz  dieser  starken  Verschiedenheiten  doch  im  allgemeinen 
beide  Dichter  ihrer  Kulturbedeutung  nach  gleichgestellt  haben,*)  gereicht 
ihnen  zur  Ehre. 

Mit  den  Werken  des  Hesiod^)  ist  es  ähnlich  gegangen  wie  mit  denen 
Homers;  auch  dem  Hesiod  ist  vieles  zugeschrieben  worden,  was  von  seiner 
Schule  ausging,  und  auch  seine  echten  Werke  haben  viele  Interpolationen 
erfahren,  die  um  so  eher  Eingang  finden  konnten,  je  lockerer  Form  und 
Disposition  waren.   Voranzustellen  ist  die  Theogonie  als  das  ältere  Gedicht. •) 

67.  Die  Seoyovia  in  1022  Versen  ist  ein  ehrwürdiger  Versuch,'')  die 
bunten  Gestalten  der  hellenischen  Götterwelt  in  ein  System  zu  bringen. 
Den  Grundbestand   bilden   die '^  bei  Homer  erwähnten  Götter   und  Mythen. 


und  thessaliach),  die  3.  Pers.  plur.  auf  oi-  statt  1  Vasenmalerei,  weniger  Anregung  bot,  worüber 
ooav  {i^idov  op.  139,  FÖov  th.  30).  ^ixa  (th.  !  H.  Bbunn,  Sitz.ber.  d.  b.  Ak.  1889, 11  73.  Siehe 
326)   statt  l^ffiyya   (böotisch);    das   Einzelne       auch  o.  S.  109,  1. 

bei  Kühnbr-Blass,  Griech.  Gramm.  I*  S.  28  f.;   |  *)  Xenophan.  fr.  10  Dibls;  Herodot.  EI  53; 

A.  FicKS  Versuch  (Hesiods  Gedichte,   1887)   |   Plat  reip.  377d  ff.  u.  s. 
der  Rückübersetzung  von  Hesiods  Gedichten  *)  P.  Waltz,  De  la  poit^e  morale  et  de 

in  ältere  Dialektform  ist  tibereilt.  rauthenticit^desoeuvresattribuöesäHösiodein 

*)  Siehe  u.  S.  112  f.  Mit  demselben  Mittel      Rev.  d6s^tude8anciennes9(1904)205ff.29dff. 
arbeitet  in  langen  Kampfschilderungen  schon  *)  Der  Vers  op.  11   wx   äoa  fwvvov  srjv 

die  llias,  später  z.  B.  die  alexandrinischen  Di-  'KoiScor  yhog  scheint  auf  Theog.  225  zurück- 
daktiker.  auch  Cicero  in  dem  lehrhaften  Dia-  |   zuweisen  (A.  Kibchhoff,  Hesiods  Mahnliedei 

an  Perses,  Berl.  1889,  42;  E.  Lisco.  Quaest 
Hes.  39),  die  Theogonie  also  als  das  ältere  Ge- 
dicht erscheinen  zu  lassen.  Noch  bestimmter 
weist  der  Vers  659   auf  die  Theogonie  als 


log  de  oratore  (VV.  Kboll,  Rh.  Mus.  58, 1903, 

573  f.).   Von  0.  F.  Gruppe,  Über  die  Theog. 

des  Hes.,  Berl.  1841,  G.  Hermann,  DeHesiodi 

theog.  forma  antiquissima,  1844  (Op.  VIII 47  ff.), 

H.  KöcHLY  in  seiner  Ausgabe  (vgl.  dessen  Ak.   i   das  ältere  Gedicht  zurück;  aber  die  Echtheit 

Vortr.  I,  Zürich  1859,  387  ff.)  und  neuerdings   I   der  Versgruppe,  zu   der  er  gehört,  ist  von 

noch  von  A.  Fick   gemachte  Versuche,   eine      Plutarch  bestritten 

Teilung   der  Theogonie   in  drei-   oder  fünf- 

oder  sechszeilige  Strophen  durchzuführen,  sind 

ohne  wissenschaftlichen  Wert. 


^)  Einer  von  vielen  nach  E.  0.  MOllbb, 
Prolegom.  zu  einer  wissensch.  Mythol.,   Gdtt. 
1825,  371  ff.   Spuren  theogonischer  Poesie  bei 
K.  Lehrs,  Aristarch.' 337.  Homer  G.  F.  Schömann,  Comparatio  theogoniae 

')  Schol.  B  zu  II.  0  21  p.  74,  2  Dind.  und  |  Hesiodeae  cum  Homerica,  in  dessen  Oposc. 
Od.  o  74.  Mit  dem  Mangel  an  plastischer  :  acad.  II25ff.  Über  das  Verhältnis  dieser  epi- 
Darstellung hängt  es  auch  zusammen ,  daß  sehen  Theologie  zum  Kult  s.  G.  Eaibbl,  Nachr. 
Hesiod   der  Kunst,   namentlich   der   älteren  :    der  Gott  Ges.  der  Wiss.  1901,  491  f. 


A.  Epos.    6.  HesiodoB.    (§  67.)  m 

Hesiod  gestattet  sich  aber  Abweichungen  und  Ergänzungen  gegenüber  der 
homerischen  Darstellung.  Seine  Ergänzungen  betreffen  einerseits  Götter  und 
Sagen  zum  Teil  animistischen  Charakters  aus  den  Kulten  der  niederen  Be- 
völkerungsschichten (Demeter,  Dionysos,  Hekate,  Hestia,  Ariadne,  Prome- 
theus) und  ethische  Volkslegenden  (die  ätiologischen  Sagen  von  Prometheus 
und  Pandora,  von  den  5  Weltaltem),  anderseits  Begriflfsabstraktionen,  die 
aus  der  primitiven  Metaphysik  des  Dichters  selbst  herausgebildet  sind.^  Das 
Verwandtschaftsschema  für  die  Gruppierung  der  Götter  fand  er  bei  Homer 
schon  vorgebildet  vor.  Neu  ist  bei  ihm  die  auch  den  Olymp  mit  um- 
fassende Idee  des  Werdens  und  Vergehens,  der  Entwicklung.  Das  typisch 
ruhige  Bild  des  Heroen-  und  Götterlebens,  wie  es  die  homerischen  Gedichte 
isolierend  hinstellen,  bekommt  bei  Hesiod  Bewegung  und  zeitliche  Per- 
spektive und  Anschluß  an  die  geschichtliche  Menschheit:  er  dichtet  eine 
Geschichte  der  Weltschöpfung  und  der  Göttergenerationen,  die  in  einer 
Descendenzlinie  zu  den  heroischen  Stammvätern  der  lebenden  Adels- 
geschlechter herabreicht.  In  der  Theogonie  erscheint  das  erste  Aufleuchten 
nicht  nur  ethischer  und  metaphysischer  Spekulation,  sondern  auch  welt- 
geschichtlicher Betrachtungsweise.  Wie  Hesiod  sich  bei  seiner  Ergänzung 
des  homerischen  Göttersystems  durch  die  Rücksicht  auf  lokale  Kulte  be- 
stimmen ließ,  zeigt  sich  in  der  bevorzugten  Stellung,  die  er  in  der  Theo- 
gonie dem  Gott  von  Thespiai  Eros  anweist  (V.  120  flf.),^)  ebenso  in  dem 
unverhältnismäßig  starken  Hervortreten  der  Hekate,  deren  Kult  in  Aigina 
und  Argos  blühte. ») 

Durchgeführt  ist  der  Plan  in  folgender  Weise:  Die  Einleitung 
(1 — 115)  besteht  aus  zwei  lyrischen  Proömien,  einem  ganz  persönlich 
gehaltenen,  das  Hesiods  Dichterweihe  durch  die  helikonischen  Musen 
schildert  (1 — 35),  und  einem  abgeschlossenen,  den  homerischen  Proömien 
ähnlichen*)  Hymnus  an  die  olympischen  Musen  (36 — 104).^)  Dieser  Hymnus 
enthält  die  Ausführung  des  Auftrags,  den  die  Musen  v.  34  dem  Dichter 
bei  seiner  Weihe  erteilt  haben,  in  seiner  ersten  Hälfte  {ocpäg  avräg  jiganov 
.  .  .  deideiv)  und  zeigt,  daß  das  ganze  Gedicht  zum  Vortrag  bei  einem 
Musenfest  bestimmt  war.  Es  folgt  (105 — 115)  die  Ankündigung  des 
Inhalts  der  Theogonie.  Mit  Vers  116  beginnt  die  epische  Ausführung, 
zunächst  die  Beschreibung  der  Urgeneration  (116 — 336).  Im  Anfang  war 
dem  Hesiod  das  Chaos  (die  Leere  oder  der  gähnende  Schlund),  sodann  die 
breitbrüstige  Erde  {räia)^   die   dunklen  Abgründe  {Tdgraoa^   vielleicht   ur- 

')  Hesiod  heißt  deoX6yog  und  6  :iowxm'  |   mit  den  Schlüssen  der  homerischen  Hymnen. 

^eoXoyijaag  bei  Aristot.  met.  p.  983  b  29  und  I           ^)  Daß   das  1.  Proömium  in   seiner  ur- 

1000a  9.  sprünglichen   Gestalt   (1—4.  9  - 12.  22—24. 

')    Fein    bemerkt    Aristoteles  met.  I  4  26 — 34)  nachhesiodisch   sei,  behaupten   mit 

p.  985b  23  ff.,  daß  Hesiod  von  dieser  einzigen  allzugroßer   Zuversicht   neuere  Kritiker;    be 


in  seine  Schöpfungsgeschichte  eingeführten 
geistigen  Potenz  keinen  weiteren  Gebrauch 
mache. 

*)  0.  Gruppe,  Griech.  Mythol.  I,  München 
1906,  129.  Die  Theogonie  enthält  (411—452) 
einen  den  Znsammenhang  zwar  störenden,  aber 
nicht  TO  beseitigenden  Hymnus  auf  Hekate. 

*)  Vgl.  namentlich  die  Schlußformel 
X^Ugete,   tixva  Atog,   doxe  6* IfieQÖeooav  dotdi^v 


kannt  war  es  schon  dem  Interpolator  der 
Erga  V.  659.  Nach  Plutarch  quaest.  conv. 
IX  14  p.  743  cd  wurde  ein  Teil  des  Proömiums, 
V.  36 — 67,  als  besonderer  Hymnus  gesungen. 
Drei  Proömien  und  drei  Theogonien,  deren 
Zusammenstellung  in  Eorinth  unter  dem  Ty- 
rannen Periandros  erfolgt  sein  soll,  will  0. 
Gruppe,  Die  griech.  Culte  I  597  ff.,  heraus- 
finden. 


112 


Oriechische  Litteratnrgescbiohte.    L  Klassische  Periode. 


sprünglich  Westland  bei  Tartessos)  und  der  Allbezwinger  Eros  (Liebes- 
gott); aus  dem  Chaos  entstanden  die  Finsternis  ("Egeßog)  und  die  Nacht 
(AY'f),  aus  der  Erde  der  Himmel  {Ovgavog),  die  Berge  und  das  Meer  (Jldyioq). 
Von  diesen  Urelementen  werden  im  folgenden  als  göttererzeugende  Kräfte 
zunächst  verwendet  Erde  und  Himmel  (126 — 210)  und  der  Pontos  (23S 
bis  336),  so  daß  aus  ihnen  mit  oder  ohne  Liebesvereinigung  neben  ab- 
strakten Wesen  wie  Themis,  Thanatos,  Eris,  Nike,  Nemesis,  auch  Gestalten 
der  lebenden  Volkssage,  wie  Kyklopen,  Erinyen,  Moiren,  Gorgonen,  Eronos, 
Nereus,  Kerberos,  hervorgehen.  Eingekeilt  ist  der  Abschnitt  von  dem 
Geschlecht  der  Nyx  (211 — 232)  zwischen  die  Descendenz  von  Uranos- 
Gaia  und  von  Pontos.  Der  trockene  Ton  dieser  Partien,  der  durch  die 
parallele  Anordnung  der  Sätze  mehr  Durchsichtigkeit  als  Schönheit  hat, 
wird  angenehm  unterbrochen  durch  die  breiter  ausgefQhrten  Erzäh- 
lungen von  der  Entmannung  des  Uranos  (154 — 210),  von  der  Bezwingung 
des  Geryoneus  und  der  lernäischen  Schlange  durch  Herakles  (288 — 318), 
von  der  feuerschnaubenden  Chimaira  und  ihrer  Erlegung  durch  Bellerophon 
mit  dem  Pegasos  (319 — 325).  —  Mit  V.  337  beginnt  die  zweite  Generation, 
die  Descendenz  der  Titanenpaare *)  außer  den  lapetiden  (337 — 458),  unter- 
brochen durch  die  Episode  vom  Geschlecht  der  Okeanide  Styx;  da  der 
vorläufige  Schluß  der  Titanendescendenz  mit  den  Kindern  von  Kronos  und 
Rheia  gemacht  wird  (453 — 458),  so  fügt  hier  der  Dichter  gleich  die  Ge- 
schichte des  Zeus  bis  zur  Lösung  der  Hekatoncheiren  und  Titanen  hinzu 
(459 — 506).  Dann  wird  wieder  an  v.  458  angeschlossen  und  die  lapetiden- 
familie  nachgeholt,  die  oifenbar  in  künstlerischer  Absicht,  weil  sie  ein  er- 
zählerisches Prunkstück  gab  und  auch  aus  sittlichen  Gründen  dem  Dichter  be- 
sonders wichtig  war,  auf  das  Ende  des  Titanenabschnitts  aufgespart  worden 
ist  (507 — 616).  Dann  wird  der  Faden  von  v.  506  wieder  aufgenommen 
und  der  Kampf  der  von  Zeus  erlösten  Hekatoncheiren  gegen  die  götter- 
feindlichen Titanen  geschildert;  die  Bannung  der  Titanen  vno  xOovög  evgvodelrjg 
gibt  Anlaß  zu  einer  Tartarostopographie  (736—819).^)  An  diese  wiederum 
schließt  sich  Gaias  letzte  Geburt,  Typhoeus,  die  Personifikation  der  Vulkane, 
und  dessen  Nachkommenschaft,  das  Geschlecht  der  Sturmwinde  (820 — 880). 
Ein  neuer  Teil  beginnt  v.  881  mit  der  Descendenz  der  Kroniden  Zeus  (aus 
Verbindungen  mit  göttlichen  Frauen  881—923;  ohne  Begattung  924—29) 
und  Poseidon  (930 — 37).  Dann  folgen  die  in  unebenbürtigen  Ehen  von 
Göttern  mit  Nymphen  oder  sterblichen  Frauen  erzeugten  Dei  minorum 
gentium  Hermes,  Dionysos,  Herakles  (938 — 44)  und  die  kinderlosen  Götter- 
paare Hephaistos-Aglaia,  Dionysos-Ariadne,  Herakles-Hebe  (945 — 55).') 
Angehängt  ist  die  Descendenz  des  Titanensohns  (371)  Helios  (956 — 62). 
In  Vers  963  darf  man  wohl  den  Rest  eines  ursprünglich  ausführlicher 
gewesenen  Musenanrufs  sehen,  der  noch  v.  34  am  Schluß  des  Gedichtes  zu 


*)  Über  die  urspillnglich  ithyphallische 
Natur  der  Titanen  G.  Kaibel,  Nachr.  der  Gott. 
Ges.  d.  Wissensch.  1901,  494  ff. 

*)  Daß  weder  die  Titanomachie  in  ihrer 
jetzigen  Fassung  noch  die  Tartarostopographie 
dem  ursprünglichen  Gedicht  angehören  kön- 


nen, sucht  E.  Lisco,  Quaestiones  Hesiodeae 
criticae  et  mythologicae,  Diss.  Göttingen 
1903,  63  ff.  zu  beweisen. 

')  Hier  setzt  Wilamowitz,  Eur.  Herakl. 
ir  328  A.  116  den  Schluß  des  echten  Ge- 
dichtes. 


A.  Epos.    5.  Hesiodos.     (§  67.)  113 

erwarten  war.  Was  folgt,  ist  ein  als  Gegenstück  zu  v.  938 — 44  gedachter 
Katalog  von  Verbindungen  zwischen  göttlichen  Frauen  und  sterblichen 
Männern, 1)  der  den  Übergang  bildet  zu  den  Verbindungen  sterblicher 
Frauen  mit  Göttern  oder  Heroen,  dem  KaxdXoyog  yvvaixöjv  (s.  v.  1021). 

Daß  hier  ein  in  allem  Wesentlichen  durchaus  planmäßig  angelegtes 
Werk  vorliegt,  daß  die  auf  den  ersten  Anblick  befremdlichen  Versetzungen 
und  Einkeilungen  großenteils  wohl  begründet  sind,  ist  ebenso  klar,  als  daß 
es  an  kleineren  Zusätzen  und  Umarbeitungen  aus  einer  späteren  Zeit  nicht 
fehlt.  Die  sinnlosen  Metzeleien,  die  man  noch  im  vorigen  Jahrhundert  im 
Text  der  Theogonie  anzurichten  liebte,  haben  jetzt  glücklicherweise  auf- 
gehört zugunsten  einer  vernünftig  konservativen  Kritik.*)  Wo  es  sich  um 
einen  ersten  Versuch  auf  dem  Gebiet  der  didaktisch-systemhaften  Epik 
handelt,  darf  man  natürlich  nicht  die  logischen  und  ästhetischen  Maßstäbe 
unserer  Tage  anwenden,  um  das  Echte  vom  Unechten  zu  sondern;  nur 
bei  vorsichtig  konservativem  Verfahren  lernt  man  aus  der  Theogonie 
etwas  für  die  Geschichte  der  ältesten  poetischen  Technik  der  Griechen. 

Was  den  Verfasser  der  Theogonie  anbelangt,  so  hat  das  ganze  Altertum, 
mit  Ausnahme  der  Gewährsleute  des  Pausanias  IX  31, 4, 3)  d.  h.  wohl  zunächst 
des  Plutarch,  sie  für  ein  Werk  des  Hesiod  angesehen,  insbesondere  der  Ge- 
schichtschreiber Herodot,  wenn  er  H  53  sagt:  'Hoiodog  xai  'V/xtjgog  eioi  61 
jioifioavxeg  i^eoyovirjv  ''EU.7]oi  xai  xoloi  d^eoToi  läg  ijKovvjbuag  dövreg  xai  rifxdg 
T€  xai  xixvag  diskovreg  xai  eidea  avrwv  orjiur]vavTeg.^)  Schömann  hat  die  Zweifel 
des  Plutarch-Pausanias  wieder  aufgenommen  und  die  Theogonie  für  eine 
Komposition  aus  dem  peisistratischen  Zeitalter  erklärt.^)  Von  einer  so 
späten  Zeit  kann  nun  gar  keine  Rede  sein;  dagegen  spricht  schon  ein  un- 
trügliches Zeugnis,  die  Sprache  und  das  Digamma.  Aber  überhaupt  ist  es 
übertriebener  Skeptizismus,  die  Theogonie  dem  Hesiod  abzusprechen.  Für 
die  Gleichheit  des  Dichters  der  Theogonie   und   der  Werke   sprechen   die 


*)  Da   hier  von   Latinus   und   den  Tyr-  ipso  carmine  Hesiodi  artem  cognoscere  ne- 

rhenem    (1011-6)    die    Rede    ist,    so    kann  cesse  est,  sollte  Leitsatz  für  alle  Hosiodkritik 

dieser  Abschnitt  nicht  vor  der  Gründung  von  ;   werden.     Die    Leidensgeschichte    der    Theo- 

Comä  gedichtet  sein.     Der   fehlerhafte  Vers  i   gonie    im    19.  Jahrh.   entwirft  Lisco  p.  1  tf. 


1014  'lt)).Eycn'6v  te  ftixte  dia  /o»'öf'/;»'  'Aq.oo- 
dUtjv  fehlt  in  dem  maßgebenden  Cod.  Medi- 
ceus,  kann  also  nicht  verwendet  werden, 
um  den  Anbang   unter  die  Telegonie  herab- 


V.PuNTONi,  Studi  iUl.  3  (1«95)  3o  ff.  198  tf. 

^}   An    einer   anderen   Stelle  VllI  18,  1 
unterdrückt  Pausanias  selbst  den  Zweifel. 

"*)  Siehe  o.  S.  110.6.   Das  älteste  Zeugnis 


zudrücken.     Natürlich  ist  mit  Anfügung  des  für  den  gleichen  Verfasser   der  Werke   und 

Anhanges  zugleich  der  alte  Schluß  der  Theo-  der  Theogonie  liegt  in  dem  Vers  op.  659  h-Oa 

gonie  nach  962  oder,  wie  andere  annehmen,  fit    zu  nmoior  Äiyvfjf/g   t.ießtjoav  doihrfc,   der 

nach  955  weggefallen.  offenbar  auf  den  Eingang  der  Theogonie  hin- 

*)  Verständige  Anschauungen  schon  bei  weist,  und.   wenn  auch  unecht,   doch  jeden- 

O.  Gruppe,  Griech.  Culte  u.  Mythen  I  567  tf.  falls  aus  alter  Zeit  stanmit.    Auch  in  op.  48 

Epochemachend    im   Sinn   der  richtigen  Me-  ist  ein  Hinweis  auf  die  ausführliche  Erzählung 

thode  war  A.  Meyer,  De  compositione  theo-  vom    Betrug   des  Prometheus   in   theog.  535 

goniae  Hcsiodeae,   Berlin  1887,   an  den  sich  \    bis  553  enthalten;  ebenso  ist  op.  83 — 89  eine 

F.  Leo   (Hesiodea,    Gott    1894)    und    dessen  I   weitere  Ausführung  von  theog.  511 — 14  (Lisco 
Schüler    E.  Lisco    in    seinen    scharfsinnigen 


Quaestiones    Hesiodeae,     Gott.   1903,    auch 
K.  Robert,  M^langes  Nicole,  Genf  1905,  461  ff. 


a.  a.  0.  47  f.).  Einen  verschiedenen  Verfasser 
hat  für  die  Theogonie  unter  den  Neueren 
F.  G.Welcker,  Hes.  Theog.  57  angenommen. 


anschließen.     Der  Satz,    den  Lisco  S.  6  auf-    |  "*)  F.  G.  Schümann.  De  compositione  theo- 

stellt: nee  ipsi  Hesiodo  quomodo  tale  carmen       goniae.   in  Opusc.  II  475  ff.,    und   in   seiner 
faerit  instituendum   praecipere  licet,   sed  ex       Ausgabe  der  Theogonie  S.  20  ff. 
Handbuch  der  klasa.  AltortnmswUsenBcliaft.    Vll.    5.  Aufl.  8 


in  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

Gleichheit  der  Sprache  und  Technik  sowie  der  ganzen  Lebensauffassung, 
namentlich  inbetreff  des  Ursprungs  des  Übels,  wie  sie  sich  besonders  in  den 
Sagen  von  Prometheus  und  den  5  Weltaltem  kundgibt,  weiter  das  gleich 
innige  Verhältnis  zum  Musenkult  und  der  Hinweis  auf  die  gleiche  Heimat 
am  Helikon  (th.  2,  op.  OiiO)  in  der  Nähe  von  Thespiai  (th.  120  flf.).  Be- 
achtenswert ist  auch  theog.  80,  wo  schon  eine  Spur  der  dann  in  den  Opera 
so  scharf  sich  äußernden  Kritik  der  ßaodfjeg  sich  zeigt.  Die  Abweichung 
in  den  beiden  Darstellungen  des  Mythus  von  der  Erschaffung  des  Weibes 
(theog.  570 — H12,  op.  47 — 104)  erklärt  sich  aus  dem  stark  interpolierten 
Zustand  der  Stelle  in  der  Theogonie.  —  Das  Gedicht  erfreute  sich,  wie- 
wohl es  nach  Quintilians  Bemerkung  (inst.  or.  XI,  52)  großenteils  aus 
Namen  besteht,  doch  im  Altertum  großer  Beliebtheit  wie  die  genealogische 
Poesie  überhaupt.*) 

68.  Die  ""Eoya  w^aren  nach  der  Tradition  der  Böotier  am  Helikon  das 
einzige  echte  Werk  des  Hesiod;^)  jedenfalls  sind  sie  dasjenige,  in  dem 
seine  Persönlichkeit  am  klarsten  uns  entgegentritt.  Es  ist  gerichtet 
an  den  Bruder  des  Dichters,  Perses,  und  hat  den  Doppeltitel  "'Egya  xai 
^jiiFQat  {Opera  et  dies),  weil  es  eine  Anweisung  zur  Verrichtung  der  Arbeiten 
(v.  382  Foyov  ijT*  ^oyco  iQydCfoäat)  und  im  Anhang  dazu  einen  auf  Tag- 
wählerei  (765  ff.)  beruhenden  Arbeitskalender  enthält.  Eine  vollkommene 
Einheit  bilden  die  828  Verse  des  Gedichtes  in  keinem  Fall;  es  bestehen 
nur  hier,  ähnlich  wie  bei  Homer,  zwei  Möglichkeiten,  daß  entweder  der 
Dichter  selbst  ein  Ganzes  überhaupt  nicht  beabsichtigte,  so  daß  nicht 
Hesiod,  sondern  ein  späterer  Ordner  als  eigentlicher  Vater  des  Gesamt- 
gedichtes zu  gelten  hätte,  oder  daß  die  Mängel  der  Ordnung  erst  durch 
Einlage  fremder  Zusätze  und  Zusammenfügung  von  ursprünglich  selbstän- 
diger gedachten  Teilen  entstanden  sind.  Die  auflösende  Kritik  hat  auch 
hier  in  unserer  Zeit  eine  geschäftige  Tätigkeit  entfaltet;*)  aber  so  anregend 

')  Lisco  a.  a.  0.  40  ff.  fixion.  tabellao  Att.  =  CIA.  III  3, 1897  p.  II  f.). 

^)  Plat.  Hipp.  mai.  285  d  (danach  Philostr.  **)  A.  Twesten.  Comment.  crit.  de  Uesiodi 

vit.  soph.  p.  14,  1  K.);  Ephor.  bei  Strab.  465;  carmine  quod  iuscribitur  Opera.  Kiel  1815:  K. 

Polyb.  1X1,4:  Scbol.  B  II.  E  119.  !   Lehrs,  Quacst.  ep.  Regiom.  1887,179-252,  wo 

3)  Paus.  IX  31,4  (nach  Plutarchs  Kom-  i   Anordnung  der  Sprüche  nach  dem  Alphabet  an- 

mentar):  BoKOTon'  ol nFQi  lov'Ehxmra  oixovv-  genommen  wird;  F.  Thiekscii,  De  gnomicis 

Tfs  nanFthjnnha  do^f)  )Jyovon'  io<  allo'Hato-  \    carminibus  Graccorum,  Acta pliilol.  Monac. III, 

(^oc  :Toi/jn(u   orSh  i)  ra  Egya.     Aus  Ar.  ran.  München  1820 — 22, 402  ff.  Dagegen  konserva- 

1033  f.  darf,  da  in  demselben  Zusammenhang  tivC.F.M.RANKE.DeHesiodioperibusetdiebus, 

als  Werk  Homers   auch  nur  die  Ilias  zitiert  |    Gott  1838;  E.Vollbehr,  Hesiodi  Opera  et  dies, 

wird,  nicht  geschlossen  werden,  Aristophanes  Kiel  1844:  D.  J.  vanLennep,  Ausg.  mit  Komm., 

anerkenne  als  hesiodisch  nur  die'Eoj'«.  übri-  Amstolod.  1847:  vermittelnd  A.Steitz,  De  Ope- 

gens  ist  das  Urteil  der  helikonischen  Böotier  ■■   rum  et  dierumHes.compositionc,  forma  pristina 

vermutlich   nicht   unbeeinflußt    von    der   ge-  ^    et  interpolationibus,  Gott.  1856;  J.Hetzbl,  De 

lehrten  Kritik   des  Praxiphanes,  Aristarchos,  carminis  quod  O.  et  D.  iuscribitur  compositione 

Krates  u.  a..   die  op.  1 — 10   vei-warfen,   weil  |   et  interpolationibus,  Weilburg  1860.    Vgl.  F. 

die  hier  genannten  pierischen  Musen  zu  den  1   Susemihl,  ZurLitteraturdes  Hesiod,  in  Jairbb. 

helikonischen    op.  658    nicht     zu    stimmen  f.  cl.  Ph.  89  (1864)  1  ff.  Eine  Zerlegung  in  die 

schienen    (analoge  von  der  Wissenschaft  in-  •   einzelnen  Teile  stellt  A.  Fick  in  seiner  Aus- 

spirierte  „Volkstradition **  Paus.  VI  22,  6).  Das  gäbe   auf.     A.  Kirchhoff  (vgl.  o.  S.  110.  6) 

bleierne  Exemplar  der  ^Enyn  ohne  Proömium,  ,   macht  den  Versuch,   den  alten,   dem  Hesiod 

das   dem  Pausanias  (IX  31,  4)   am   Helikon  '   zuzuschreibenden  Grundbestand  von  den  spä- 

gezeigt  worden  sein  soll,  ist  schon  durch  sein  teren    Zusätzen    durch    verschiedene    Schrifl 

Material  höchst  verdächtig  (R.  Wünsch,  De-  |   zu   scheiden   und  das  alte  Gedicht   in    acht 


A.  Epos.    5.  Hesiodos.     (§  68.) 


115 


und  fruchtbar  auch  die  Nachweisungen  mangelnden  Zusammenhanges  ein- 
zelner Teile  gewesen  sind,  so  überwiegen  doch  auch  hier  die  Anzeichen 
der  Zusammengehörigkeit  der  Hauptteile.  Die  Anrede  an  Perses  rührt 
unzweifelhaft  nicht  von  einem  späten  Diaskeuasten,  sondern  von  Hesiod 
selbst  her.  Da  nun  diese  sich  an  mehreren  weit  auseinanderliegenden 
Stellen  des  Werkes  findet,  so  spricht  von  vornherein  für  alle  diese  die 
Wahrscheinlichkeit,  daß  sie  vom  Dichter  zu  Teilen  eines  Ganzen  bestimmt 
waren.  Eher  dagegen  sind  diejenigen  Partien,  in  denen  der  Name  Perses 
gar  nicht  vorkommt,  dem  Verdacht  nachträglicher  Eindichtung  ausgesetzt. 
Solche  sind  das  Anhängsel  der  Tage  (765 — 828),  die  beiden  Sentenzen- 
nester 317—382  und  695—764,  der  Pandoramythus  (49—104),  die  Schil- 
derung der  fünf  Weltalter  (109 — 201).  Daß  sich  die  in  den  beiden  letzt- 
genannten Mythen  gegebenen  Erklärungen  für  den  Ursprung  des  Übels, 
die  eine  historisch-ethisch,  die  andere  naturgesetzlich-evolutionistisch,  dem 
Grundsatz  nach  eigentlich  ausschließen,  dessen  ist  sich  der  Dichter  ohne 
Zw^eifel  bewußt  gewesen;  sonst  hätte  er  nicht  durch  die  fast  leichtfertige 
Wendung  v.  106: 

ei  d'i&iXeig,  etegöv  toi  iyo)  koyov  ixxoQvq)(6o(o 
dem  Hörer  gewissermaßen  zwischen  beiden  die  Wahl  gelassen.  In  der  Tat 
sind  diese  Partien,  wenn  sie  auch  mit  dem  Grundgedanken  des  Gedichtes, 
daß  in  der  gegenwärtigen  schlimmen  Zeit  vor  allem  Arbeit  und  Tätigkeit 
nottue,  in  idealem  Zusammenhang  stehen,  doch  zum  Teil  nur  locker  mit 
dem  übrigen  Gedicht  verbunden,  so  daß  man  den  Eindruck  erhalten  könnte, 
als  hätten  sie  ursprünglich  für  sich  bestanden  und  seien  erst  später,  viel- 
leicht noch  von  Hesiod  selbst,  den  Erga  einverleibt  worden.*)  Die  im 
Altertum  mehrfach  bezweifelte  Echtheit  des  Proömiums  an  die  Musen 
(1 — 10)  kann  jetzt  nicht  mehr  bestritten  werden.^)  Was  nach  Ausscheidung 
dieser  Einlagen  und  einiger  kleineren  Zusätze  *)  übrig  bleibt,  ist  aber  auch 
noch  kein  geschlossenes  Ganze,   sondern   besteht  aus  zwei  gleichmäßig  an 


einzelne,  sehr  ungleiche  Lieder  zu  zerlegen. 
Gründlich  widerlegt  ist  Kirchhoifs  Hypothese 
durch  Lisco  a.  a.  O.  48  ff. 

')  Am  meisten  noch  hängt  der  Pandora- 
mythus mit  dem  Grundstock  des  Gedichtes 
zusammen  und  ist  im  engen  Anschluß  an 
dessen  Grundgedanken  gedichtet,  da  ja  die 
Sendung  der  Pandora,  wie  die  Sünde  der  Eva 
im  alten  Testament,  Unheil  und  damit  die 
Nötigung  zur  Arbeit  gebracht  hat.  Auch  die 
Dichtung  von  den  fünf  Weltaltern,  V.  109  ff., 
deren  Anklänge  an  altindische  Poesie  R.  Roth, 
Der  M3rthus  von  den  fünf  Menschengeschlech- 
tern bei  Hesiod  und  die  indische  Lehre  von  den 
vier  Weltaltem,  Tüb.  1860.  nachgewiesen  hat 
(über  Umformung  des  Mythus  in  den  Sibyllen- 
büchem  A.  v.  Gütschmid,  Kl.  Sehr.  IV  223  f.. 
Ober  ähnliche  Anschauungen  bei  anderen  Völ- 
kern A.  WnsDEMANN  zu  Hcrodot.  II,  Leipz. 
1890,  S.  25  ff.),  macht  den  Eindruck  echter 
hesiodischer  Poesie,  und  die  Echtheit  dieser 
ganzen  mythologischen  Partie  (50  201)  ist 
▼OD  Lisco a.a.O.  57  ff.  überzeugend  dargetan. 


*)  Die  Echtheit  des  Proömiums,  das  Praxi- 
phanes,  Aristarchos  und  Plutarch  sympos. 
l.X^  1,  2  verwarfen,  ist  von  F.  Leo,  Hesiodea 
14  ff.  außer  Frage  gestellt  (unrichtig  S.  Mar- 
tin. Das  Proöm.  zu  den  Erga  des  Hes.,  Progr. 
Würzburg  1898). 

^)  Solche  Interpolationen  sind  die  Verse 
504  -  536  von  den  Leiden  des  Winters,  in 
denen  der  ionische  Monatsname  AtjvaKov  (504) 
und  der  Name  IlavilXrjveg  auf  späten,  nicht- 
böotischen  Ursprung  hinweisen,  die  Parallel- 
rezensionen zu  60-68  in  v.  69— 82  (Pan- 
dora, die  nur  hier  genannt  wird,  ist  durch- 
sichtige etymologische  Fiktion;  das  erste 
Weib  hatte  wohl  ursprünglich  gar  keinen 
Eigennamen;  auf  einer  attischen  Vase  heißt 
me'AvrimöcoQn'.  P.  Kretschmer,  Griech.  Vasen- 
inschr.,  Gütersloh  1894,  203):  ebenso  v.  90  bis 
105  (Lisco  32.  39  ff.)  und  zahlreiche  lose  an- 
gefügte Spruchverse.  Sehr  weit  geht  in  der 
Annahme  von  Zusätzen  A.Fick  (s.  o.  S.  109. 3) 
S.  43  ff.,  so  daß  ihm  für  die  echten  Werke  nur 
144  Verse  übrig  bleiben. 

8* 


216  Qriechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

Perses  gerichteten  Teilen,  einem  Rügegedicht  (11 — 48,  213 — 316),*)  in  dem 
Hesiod  seinem  Bruder  und  den  bestochenen  llichterkönigen  ihr  Unrecht  vor- 
hält, und  einem  Lehrgedicht,  das  in  leidenschaftslosem  Ton  Anleitung  zum 
Ackerbau  und  zur  Schiffahrt  gibt  (383 — 616  und  618 — 694),  auf  das  aber*) 
schon  V.  320  hingewiesen  wird.  Für  die  Entwicklungsgeschichte  des 
Lehrgedichts  ist  es  interessant  zu  sehen,  daß  nicht  mit  ethischen  Allgemein- 
heiten und  Gemeinplätzen  der  Anfang  gemacht,  sondern  an  einen  ganz 
bestimmten  Fall  von  erlebtem  schreiendem  Unrechte  angeknüpft  wird.*) 
Die  beiden  genannten  Teile  sind  w^ohl  nicht  zu  gleicher  Zeit  entstanden,*) 
aber  sie  sind  doch  zur  Zusammenfügung  in  ein  Ganzes  bestimmt:  es  findet 
sich  nur  ein  abrundender  Schluß  (V.  694  xaiooq  d'im  tzuoiv  ägiorog),  und 
die  Mahnung  zur  Arbeit  zieht  sich  als  roter  Faden  durch  beide  Teile  hin- 
durch. Denn  sie  spricht  gleich  aus  dem  Eingang  von  der  doppelten  Eris, 
der  bösen  (Zank)  und  der  guten  (Wettstreit),  und  sie  schlägt  die  Brücke 
vom  ersten  zum  zweiten  Teil,  indem  Perses  ermahnt  wird,  statt  durch 
ungerechte  Uechtshändel  durch  redliche  Arbeit  sein  Auskommen  zu  suchen 
(286 — 302,  315  f.).  Das  ganze  Gedicht  ist  für  Volkskunde  eine  ergiebige 
Quelle.^)  Angehängt  ist  eine  'OQyiOoßiaiTia^  in  die  op.  826 — 28  überleitet 
und  die  ApoUonios  für  unecht  erklärte.^) 

In  der  Zeit  vor  Theophrastos  müssen  allerlei  landwirtschaftliche  Zu- 
sätze zu  den  "Ao/a  gemacht  worden  sein,  da  Theophrastos  und  Plinius  für 
dergleichen  Dinge,  die  nicht  in  unserem  Text  stehen,  sich  auf  die  'Ti^gya  be- 
ziehen. Vielleicht  waren  das  die  Meydka  ^gya,  die  Proklos  (Schol.  Hes. 
op.  126)  und  Schol.  Aristot.  Eth.  Nie.  (V  8  p.  222,  22  H.)  zitieren. 

6y.  KaxdkoyoQ,  genauer  rvvaixo)^  xazdkoyoq  oder  xaxdkoyoi  hieß 
das  dritte,  nicht  erhaltene  Hauptwerk  des  Hesiod,  das  große  Magazin,  aus 
dem  namentlich  Chorlyrik  ^)  und  Logographie  die  alten  Sagen  entnommen 
haben.  Mit  ihm  scheint  die  Aufzählung  der  berühmten  Frauen  der  Unter- 
welt in  Homers  Nekyia  Od.  /  235 — 327  zusammenzuhängen.  Frauenkatalog 
hieß  das  Werk,  weil  es  ein  zum  Vortrag  ohne  Musik  {xaTakeyrtv)  bestimmtes 
Verzeichnis  der  sterblichen  Frauen  enthielt,  die  aus  Verbindung  mit  Göttern 
Heroen  geboren  hatten;  es  bildete  also  gewissermaßen  eine  Ergänzung 
der  Sehlußpartie  der  Theogonie,  die  von  Heroen  aus  Verbindungen  von 
.Göttinnen  mit  sterblichen  Männern  handelt,  wie  von  Telcgonos,  dem  Sohn 
der  göttlichen  Kirke  und  des  sterblichen  Odysseus,  oder  von  Aineias, 
dem  Sohn  der  Aphrodite  und  des  Anchises.^)  Das  Werk  ist  ohne  Zweifel 
im  Dienst  des  Adels,  der  seine  Stammbäume  auf  Götter  zurückführte,  ver- 
faßt   worden    und    insofern    bezeichnend    für    die   veränderte  Stellung   der 

^)  Cbor  den  Zusaminenhang  von  V.  274  1840,  p.  172  f. 

an  a.  VVilamovvitz,  Nachr.  der  (Jött.  (res.  tl.  ')  Für  Stesichoros    s.  K.  Seeliger,   Die 

AVinsonsch.  iJSl^s,  215  tF.  übcrlieferunj^    »ler    /Lcriecli.    Heldensage    bei 

■•^1  Lisco  p.  56.  ,Steaichoro.s,  J.  Moisseu   \f>X6. 

^!  Analof<dioalUif?yptisoheOcschidito  von  *^i  ViuUeicbt   ist   der  JSchhiß    der   Thoo- 

dem  unirerecht  behandelten  Bauern,  ca.  20UU  gonie  V.  iJ<JJ^     Ur22  vom  Verfasser  des  Kata- 

v.Chr.(Hdb.d.k.MuseenBerLVlIl,L^9ih4<)ff.).  lo^es  selber  gedichtet.    Daraul"  lührt  die  er- 

^1  ViltI.  V.  X.4  ff.  mit  31M).  woiterte  Kenntnis  von  Italien  V.  1010     16  und 

■''1  K.  E.  SiKES.    Folklore   in  tlie  Works  '    die  Henennun;;;  des  Chiron   nach  der  Mutter 

and  Days.  Cla.ss.  Rev.  7  ( l>^l)8,i  BSU  Ö'.  *PiÄrni()ij^  \ .  1002  (onV.^orf:  äjtö  /(>yToöc  o^y- 

®i  \V.  Makckscheffel,  Hes.  iVaj^ni.,  Leipz.  ;   ftar/^ft  "Ofttjtjo^:,  8chol.  A  II.  .1  750). 


A.  Epos.    5.  Hesiodos.     (§  69.)  117 

hesiodischen  Schule,  die  mit  einer  entschieden  demokratischen  Stimmung  an- 
gefangen hatte.  Der  Dichter  der  KatdXoyoi  steht  nun  im  Mutterland  politisch 
und  sozial  ganz  ähnlich  in  Abhängigkeit  vom  Adel  wie  der  homerische 
Dichter  in  lonien.  Schon  daraus  geht  hervor,  daü  der  Verfasser  der  Kata- 
loge mit  dem  der  Theogonie  und  der  Werke  und  Tage  nicht  identisch 
sein  kann.  Wie  die  Theogonie,  so  bestand  auch  der  Katalog  aus  kleinen, 
locker  aneinander  gereihten  Absätzen  in  der  Manier  der  hesiodischen  Schule, 
und  bildete  in  einer  Zeit,  wo  es  noch  keine  Staatengeschichte  gab,  ein 
versifiziertes  Lehrbuch  der  Heroengeschichte.  Das  Ganze  bestand  aus  fünf 
Büchern,  die  alle^)  oder  zum  Teil^)  auch  den  Titel  ^Ildiai  hatten.  Dieser 
Titel  'Hdiai  hatte  seinen  Grund  darin,  daß  die  einzelnen  Absätze  mit  T]  oTrj 
anfingen,»)  wie 

fj  otT]v  'Ygirj  BoKorirj  ho£(ps  xovgrjv. 
Da  die  ^Höiai  und  die  MeydXai  'Holm  nach  dem  Zeugnis  des  gutunterrichteten 
Scholiasten  zu  Apollonios  Rhodios  II 181  und  IV  57  sich  öfter  widersprachen, 
so  müssen  sie  zwei  verschiedene  Gedichte  gewesen  sein.  Der  Plan  des 
Katalogs,  an  dem  Faden  berühmter  Frauen  eine  Heroengeschichte  auf- 
zuziehen, hängt  zusammen  mit  der  besonderen  Verehrung  der  Frauen  in 
dem  Kulturkreis,  für  den  der  Dichter  sein  Werk  schuf.*)  Der  Mythen- 
schatz der  fünf  Bücher  des  Katalogs  reichte  weit  über  den  Horizont  der 
äolischen  und  ionischen  Epiker  Kleinasiens  hinaus,  er  umfaßte  die  Sagen 
aller  Stämme,  wenn  auch  die  Sagen  Thessaliens,  der  Wiege  des  hellenischen 
Volkes,  vornehmlich  berücksichtigt  waren.*)  —  An  der  Echtheit  des  Kata- 
logs haben  selbst  die  besten  Kritiker  Alexandrias  nicht  gezweifelt.  Philo- 
choros  (Strab.  p.  328)  und  ApoUodoros  (Strab.  p.  370)  führen  unbedenklich 
Stellen  daraus  als  hesiodisch  an;^)  demnach  scheint  auch  Aristarchos,  der 
Lehrer  des  ApoUodoros,  keinen  Zweifel  an  der  Echtheit  gehegt  zu  haben.') 
Nur  Pausanias  IX  31,  4  spricht  ihn  auf  Grund  der  Aussagen  seiner  Führer 
am   Helikon  dem   Hesiod   ab.^j     Schwerlich   sind   die   KaTakoyoi   von   An- 


^)  Hesychios^HoTai' 6  fcaidloyog'HatoSov,  \    vofti^eo&ai    rorc  «.to  to)p  Fxatov  oix«ov  Xfyo- 

und  Et,  Gud.  ^HoTai'  Faxt  xaTt'doyoc:'Hoi6^ov.  ''■   jLievovc  xrL    Vgl.  Pind.  0.  9  und  E.  Lübbebt, 

Von   einer  Geliebten   Hesiods   namens  'Hoirj  De  Piudaro  Locrorura  Opiintiorum  amico  et 

fabelt  Hermesianax  bei  Ath.  XIU  597  v.  24.  patrono,  Bonn.  Ind.  Schol.  1882.    (Ihren  be- 

*)  Arg.  Scuti  111:    xfjg  l4omA(h;  t)   dgxy  sonderen    Zweck    hat    die   Anrede    fii]To6{^ev 

Fv  Tto  d*  xazaXoycp   ffegsrai,   der  Anfang  des  1    Aesch.  Prom.  18.) 

Schildes  beginnt  aber  mit  /)  oi'r).   Daher  ver-  ^)  Auch   die   losage   führt  L.  Deübnkb, 

diente  sicher  das  4.  Buch  des  Kataloges  den  i   Philol.  64  (1905)  481  ff.  auf  die  Kar.  zurück. 

Spezialtitel   ^HoTai.     F.  Lbo,    Hesiodea    Ind.  >   Dem  bunten  Reichtum  derMythen  des  Katalogs 

aest.,  Gott  1894,  p.  8  ff.  identifiziert  mit  Recht  ■    und  der  Eöen  steht  der  gleiche  Reichtum  in 

Karaioyog  und  *HoTai  und  unterscheidet  von  ,    den  Reliefdarstellungen  der  um  dieselbe  Zeit 

diesen  MeytUai'Hoiat,  die  im  Altertum  nicht  entstandenen  Kypseloslade   zur   Seite;   auch 

für   hesiodisch    gegolten   hatten;    ihm    folgt  dort   standen    Szenen    aus    den    Sagen    von 

A.  Rzach  in  der  Ausgabe.    Das  Material  zur  Troia   und  Theben.   Herakles   und   Theseus. 

Beurteilung  der  Frage  bei  W.Mabcksoheffel,  Pelias  und  Medea  nebeneinander. 

Hes.  fragm.  p.  106  ff.  *)    Siehe  W.  Marckscheppel   p.  182  f. 

*)  Zu  dieser  Formel  vgl.  Hom.  II.  .4  263.  Asklepiades    in    Anth.  iX  64    schreibt    dem 

J  319.   H  133.  Hesiod  zu  ftaxagcor  yh'o;  (Theog.),  Foyn  (Erga) 

*)    Siehe  o.  S.  116,  8;    über   die   Lokrer  und  yfvo^  agyaiow  ijocowy  (Eatalogos). 

sagt  Polyb.  Xll  5,  6   nach   Aristoteles:    özi  ')  Auch  Lukianos  .tooc 7fm'o<^or  1  erkennt 

^dyra   ra   dta  jrgoyovcov    Mo^a    jiag*   avzotg  |    das  Werk    unter   dem  Titel  yvvaixojv  ugeiai 

ojio    Twv    yvvaixwv,    ovx    olio    zwv    dvSoMv  \    als  echt  an. 

ioTÖQow,    olov    ev^dwg    evyeveXg    szagd    aq>iai  ,            ®)  Zweifelnd  äußert  sich  auch  der  Scho- 


Hg  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

fang  an  streng  einheitlich  gewesen.  Interpolationen  lassen  sich  bei  der 
lockeren  Anlage  des  Werkes  von  vornherein  vermuten 0  und  werden  durch 
sprachliche  Unterschiede  zur  Gewißheit  erhoben.  Während  z.  B.  in  anderen 
Fragmenten  das  Digamma  des  Pronomens  der  dritten  Person  noch  fest 
haftet,  ist  es  fr.  144,  2  Uz.  ganz  vernachlässigt. *)  Stand  Fr.  128,  das 
sich  auf  die  Gründungsgeschichte  von  Kyrene  in  Afrika  bezieht,  im  alten 
Katalog,  so  muß  man  mit  dessen  Abfassungszeit  bis  unter  das  Gründungs- 
jahr von  Kyrene  Ol.  37,  2  (630  v.  Chr.)  herabgehen.^)  Übrigens  führt 
auch  ein  anderes  Anzeichen,  das  Fehlen  des  Gürtels  im  Kingkampf  der 
Atalante  (fr.  22  Rz.),  das  die  Scholien  AT  zu  Hom.  ¥  683  bezeugen, 
auf  die  Zeit  nach  Ol.  15.  Und  da  auch  die  geographischen  Notizen  und 
die  Weiterbildung  der  Mythen*)  auf  verhältnismäßig  späte  Zeit  hinweisen, 
so  werden  wir  trotz  des  altertümlichen  Charakters  der  Sprache^)  nicht  an 
eine  Abfassung  vor  dem  Ende  des  7.  Jahrhunderts  denken  dürfen.  Die 
KardXoyot  sind  poetisch  durch  die  Chorlyrik,  historisch  durch  die  Logo- 
graphie  aufgesogen  worden,  haben  aber  doch,  wie  die  Berliner  Papyri 
(fr.  94  Rz.  und  Beriiner  Klassikertexte  V  1,  1907,  S.  22  ff.)  zeigen,  noch 
im  4.  Jahrhundert  n.  Chr.  existiert.  Die  Eöen-  und  Katalogform  hat  in 
der  attischen  und  alexandrinischen  Zeit  mehrere  Sprossen  getrieben.^) 

70.  \Aonig  '^IlgaxXeovg  in  480  Versen  trägt  den  Namen  des  Hesiod, 
wiewohl  schon  der  Grammatiker  Aristophanes  die  Unechtheit  erkannte.^) 
Das  Proömium  (1 — 50)  ist,  wie  uns  die  alte  Hypothesis  lehrt,  aus  dem 
vierten  Buch  des  Frauenkatalogs  herübergenommen  und  hängt  nur  locker 
mit  dem  Hauptinhalt  des  Gedichtes  zusammen,  so  daß  es  diesem  erst  nach- 
träglich vorgesetzt  zu  sein  scheint.  An  das  Proömium  schließt  sich  in 
ganz  äußerlicher  Weise  die  Erzählung  vom  Kampf  des  Herakles  mit  dem 
Unhold  Kyknos  im  pagasäischen  Hain  des  Apollon  an,  bei  dem  Kyknos 
unterliegt  und  Ares  selbst,  während  er  seinen  Sohn  beschützt,  verwundet 

Hast  zu  Pindar  P.  3,  14   n«  to?^  ei^  IIoUhSov  Digamma   in   der   Heimat   der   hesiodischen 

dra</FoouFroi^  t'nFnir.  i   Schule  noch  weit  länger  als   in  lonien   ge- 

*)  Von  interpolierten  Versen  spricht  Plut.  sprechen    wurde,    was    sich    auch    in    dem 

Thes.  20  und  Paus.  11  20,  6.  2.  Hymnus  auf  Apollon  geltend  macht. 

*)  Fr.  134.  6Rz.,  wo  die  gleiche  Vernach-  «)    Dahin    gehört   schon   die   Lyde   des 

lässigung   begegnet,    ist   vielleicht    koirupt;  '   Antimachoa,   dann  die  ^HoToi  des  Sosikrates, 

hingegen   ist   in   der  Eöe   der  Alkmene  das  der  Kaxaloyos  ymuxun'  des  Nikaiuetos,   die 

Digamma  bewahrt  fs.  8cut.  11.  15.  2U.  22.  34.  *'Eowth:  !}  xalni  des  Phanokles  (F.  Skctsch, 

38.  40.  45).  j   Aus  Vergils  Frühzeit  I,  Leipz.  1901,  52  f.). 

^)  F.  Stüdniczka,  Kyrene  42  zieht  diesen  !            '')  Argum.  lil:  inmrrxEvxF.  dk  ^«larcw/ ar*;? 

Schluß,  er  ist  aber  ganz  unsicher.    A.  Kirou-  6  yoaftttnTixa;   ro?  ovx  ovoav  avryv  'Hoi(hU)v, 

HOFF,  Odyssee  315  tf.  und  B.  Niese.  Entw.  d  |    dlÄ*  htoor  nros    ri/r  'OfirjQixi/v  aomba  fti^ttf- 

homer.  Poesie  223  setzen  den  Katalog  zwischen  i   anoOai  -rntHuoovfiFvnv.    Die  Echtheit  verfocht 

Ol.  40  u.  50,    WiLAMOwiTZ,   Homer.  Unters.  dagegen  mit  IJerufung  anf  den  Katalog  der 

169  ,,  nicht  viel  vor  (JOO".  |    Grammatiker    Apollonios.     Zweifel    an    der 

*)   In   beachtenswerter  Weise    stimmen  Echtheit  hegen  auch  Ps.Longin  de  suhl.  9.  5, 

bezüglich  der  Zwölfzahl  der  Kinder  des  Ne-  der  anonyme  (Grammatiker  in  1.  Bekker,  An. 

leus  die  junge  Homerstelle  A  H92  und  Hes.  gr.  1165  und  J.  A.  Ckamer,  An.  Ox.  IV  315. 

fr.  15  Rz.  überein     Die  Ei-wähnung  der  Pyg-  Siehe   das  Material   bei  W.  Margksciieffel^ 

maien.  Makrokephaloi  und  anderer  Wunder-  Hesiodi   fr.  p.  141  ff.;    Chr.  Küxneth,    Der 

menschen  führt  Alarckscheffel  p.  137  auf  die  |    pseudohesiodische  Heraklesschild,  sprachlich- 

von  Herodot  IV  152  en^'ähnten  Fahrten  des  I   kritisch  untersucht,    Progr.    Belangen   1901. 

Samiers  Korobios  (Ol.  30)  zurück.  1902. 

^)  Dabei  ist  aber  zu  beachten,   daß  das  j 


A.  Epos.    5.  Hesiodos.     (§  70.)  119 

wird.  Den  größten  Teil  des  Gedichtes  aber  nimmt  die  Beschreibung  des 
Schildes  des  Herakles  ein,  wovon  es  auch  seinen  Namen  hat.  Daß  damit 
der  Verfasser  ein  Seitenstück  zum  Schild  des  Achilleus  liefern  wollte,  liegt 
auf  der  Hand,  aber  ebenso  auch,  daß  er  damit  weit  hinter  Homer  zurück- 
geblieben ist.^)  Daß  bei  Homer  die  Teile  des  Schildes  aus  Hephaistos' 
Hand  hervorgehend  (aber  ohne  irgend  anschauliche  Schilderung  seiner 
technischen  Manipulationen)  dargestellt,  bei  Hesiod  einfach  aufgezählt 
werden,  ist  ein  von  Lessing  im  Laokoon  viel  zu  stark  betonter,  tatsäch- 
lich ganz  irrelevanter  Unterschied  der  äußeren  Form.  Ein  wirklich  be- 
zeichnender Unterschied  dem  Homer  gegenüber  liegt  dagegen  in  der  Art 
der  Schildverzierung;  bei  Homer  sind  es  Bilder  des  Lebens,  genremäßige 
Szenen  des  Krieges,  der  Weinlese,  der  Hochzeit,  bei  Hesiod  mythologische 
Gestalten,  Herakles  im  Kampf  mit  den  Schlangen,  Streit  der  Lapithen  und 
Kentauren,  ApoUon  inmitten  der  Musen,  der  beflügelte  Perseus  in  frei- 
schwebender Bildung,  verfolgt  von  den  Gorgonen-)  u.a.  Dieselbe  Art  der  zu- 
sammenreihenden Kunst  treffen  wir  auf  dem  Kypseloskasten  (Paus.  V 17 — 19), 
so  daß  eine  Wechselbeziehung  zwischen  Dichtung  und  Bildnerei  hier  recht 
wahrscheinlich  ist. 3)  Auf  der  anderen  Seite  lebte  der  Dichter  des  Schildes 
vor  Stesichoros  und  Peisandros,  von  denen  der  erste  nach  der  ersten 
Hypothesis  irgendwo  des  hesiodischen  Schildes  gedacht  hat,^)  der  zweite  den 
Herakles  nicht  mehr  wie  der  Dichter  der  'Aomg  homerisch  stilisierend  mit 
Schild  und  Speer,*)  sondern  nach  altdorischer  Weise  mit  Keule  und  Löwen- 
fell darstellte.  Das  Gedicht  mag  daher  noch  vor  600  entstanden  sein. 
Dazu  stimmt,  daß  die  Szene  nach  Pausanias  (HI  18,  10)  auch  auf  dem 
Thron  des  Bathykles  (zweite  Hälfte  des  6.  Jahrh.)  abgebildet  war.  In  der 
Sagengeschichte  nimmt  das  Stück  insofern  eine  bedeutsame  Stellung  ein, 
als  in  ihm  alles  sich  um  den  Ruhm  des  Herakles  dreht.  Diese  Gestalt 
ist  während  der  Blütezeit  des  ionischen  Epos  auf  das  Mutterland  beschränkt 
geblieben  und  erst  durch  dorischen  Einfluß  zu  immer  größerer  Bedeutung 
gelangt  als  Verkörperung  des  dorischen  Mannesideals. ^) 

Die  Verse  Scut.466— 480  sind  auch  auf  einem  Papyrus  (Oxyrh.  pap.IV  1904  nr.  689)  er- 
halten. Zur  Textüherlieferung  A.  Rzach,  Herrn.  33  (1898)  591  flf.;  zur  Kritik  v.  Wilamowitz, 
Herrn.  40  (1905)  116  ff. 

71.  Außerdem  wurden  dem  Hesiod  noch  mehrere  andere,  aus  seiner 


')  F.  W.  Stegbmann,  De  scuti  Herculis 
Hesiodei  poeta  Homeri  carminum  imitatore, 
Diss.  Rostock  1904.  Der  Berliner  Homer- 
papyms  9774  (Berl.  Klassikertexte  V  1,  18  ff.) 
aus  dem  1.  Jahrh.  v.  Chr.  zeigt  einen  aus 
Hesiods  Schild  interpolierten  Text  der  home- 


in  der  homerischen  Beschreibung  einen  älteren, 
noch  mit  der  mykenischcn  Art  zusammen- 
hängenden Kunstcharakter  als  in  der  hesio- 
dischen (von  ihm  ca.  650  gesetzten)  findet. 
*)  Argum.IRz. :  (ooavxiog  de  xai  ^^Ttjoi- 
Xooog  fftjotr  'Hoiddov  ftrat  xo  .TOii]fia.  Nament- 


rischen  Schildbeschreibung.  liehe  und  anonyme  Zitationen  sind  dem  Stil 

*)  Hiemit  sucht  der  Dichter  den  home-  ■   der  Chorlyrik  nicht  fremd  (Simonid.  fr.  5,  8. 

lischen  Schild  offenbar  an  Raffinnement  der  i   53;  Bacchyl.  V  192  Bl.;  Find.  4,  277;  Aesch. 

Metalitechnik  zu  überbieten.  Prom.  887;  Soph.  Ant.  621). 

*)  H.  Bbuit!?,  Die  Kunst  bei  Homer  und  ihr  ^)  Diese  Vorstellung  hält  Soph.  Philoct. 

Verhältnis  zu  den  Anfängen  der  griech.  Kunst-  726  (o  x^tlxaa.iig  avi)^)  fest, 

geschichte,  Abb.  d.  bayr.  Ak.  11  (1868)  17  ff.;  ^)  v.Wilamowitz,  Euripides'  Herakles  I\ 

G.  LöscHCKB,  Arch.  Zeit.  39  (1882)  S.  46  ff.;  K.  Beil.  1889.     W.  äufsert  zu  Eur.  Herc.  v.  110 

SiTTL,  Jahrb.  d.  arch.  Inst.  2  (1887)  S.  182  ff.;  den  Gedanken,   in  dem  Kampf  mit  Kyknos 

F.  Studniczka,  Über  den  Schild  des  Herakles,  sei    Herakles    )  ubstitut   des    ursprünglichen 

in  Serta  Harteliana,  Wien  1896  p.  50—83,  der  Achilleus. 


120  Qriechische  Litter atorgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

Schule  hervorgegangene  Werke  zugeschrieben, i)  von  denen  uns  nur  spär- 
liche Reste  erhalten  sind,  nämlich: 

1.  Epische,  unter  denen  wieder  dorische  Stoffe  bedeutsam  hervor- 
treten : 

Ki]vxog  yduog,  Hochzeit  des  Herrschers  von  Trachis  und  V^etters  des 
Herakles,  der  auch  Herakles  beiwohnte,  mit  Alkyone.^)  Die  Echtheit  wird 
von  Athen.  49b  und  Plut.  sympos.  VHI  8  p.  730  f.  angezweifelt.')  Als 
Episode  aus  dem  Krjvxog  yd/iog  versteht  Marckscheffel  (S.  154)  das  'Etii- 
fhi/.dßuov  f'ig  FlijXea  xal  ßhiv,  das  in  der  alexandrinischen  Vorlage  zu 
CatuUs  64.  Gedicht  nachzuwirken  scheint;*)  wenigstens  muten  Breite  der 
Episoden  und  stagnierende  Komposition  hier  hesiodisch  an. 

AiyijuiOi;  in  mindestens  2  Büchern/')  von  manchen  ebenso  wie  eine 
^9//a^coc  ek  'Aidov  xaxdßaois  dem  Milesier  Kerkops  beigelegt,^')  der  in  der 
Zeit  des  Onomakritos  lebte  und  dem  Fick  auch  die  jetzige  Fassung  der 
Theogonie  und  der  Erga  zuschreibt.  Dieser  scheint  in  einer  legendarischen 
Hesiodbiographie  als  Hesiods  Rivale  aufgetreten  zu  sein.*^)  Das  Gedicht 
behandelte  den  Kampf  des  zur  dorischen  Urgeschichte  gehörigen  Aigimios 
mit  den  Lapithen  und  muß  an  Episoden  reich  gewesen  sein.*») 

Mekafijzodla  in  mehreren  Büchern,  benannt  von  einer  Figur  des  dio- 
nysischen Kreises  (Herodot.  H  49),  dem  pylischen  Seher  Melampus,^)  dessen 
Geschlecht  wie  in  die  Telemachie  und  Thebais  so  auch  in  die  Gründungs- 
sage von  Kolophon  verflochten  wurde.  Unter  anderem  war  in  dem  Epos 
ähnlich  wie  in  dem  \iyd)v  'Ifoiddov  xal  'OuiiQov  ein  Rätselwettsti*eit  der 
Seher  Kalchas  und  Mopsos  vorgeführt,  i^)  wobei  Kalchas  (ähnlich  wie  der 
Homer  der  Legende)  an  einem  ungelösten  Rätsel  starb. 

Ein  hesiodisches  Gedicht  vom  Ehezwist  zwischen  Zeus  und 
Hera,  in  dem  die  Typhonsage  vorgekommen  sein  soll,  haben  neuerdings 
H.  Usener  und  A.  v.  Meü^*)  zu.  rekonstruieren  versucht. 

2.  Didaktische: 

XfiQiovos  vTroüi/xat,  eine  poetische  Erziehungsschrift.  Pindar  P.  6, 
21  ff.  spielt  auf  sie  (fr.  170  Rz.)  an,  indem  er  aus  ihr  den  an  die  Zehngebote 
erinnernden  Spruch  anführt:  „Nebst  dem  Herrseher  Zeus  ehre  zumeist  die 
Eltern";  ebenso  Horaz  (Epod.  13,  11  ff.),  parodierend  Aristophanes  (fr.  227 
Kock).  Nach  Quintil.  11,15  hat  Aristophanes  von  Byzantion  das  Gedicht, 
in  dem  bereits  der  Schroibunterricht  der  Knaben  erwähnt  war,  dem  Hesiod 
abgesprochen. 

')  W.  Marckschkffel.    Hesiodi    fragin.  I  ^)  fr.  185.  186  Rz. 

p.  .^8  ff.     Die    große   Zahl    der   Fälschungen  '  '^)  Ath.  p.  ^OHd;  Apollodor.  II  1,  3. 

auf  Hesiods  Namen   erwähnt  Ael.  var.  hist.  1  ')  Diog.  Laert.  11  46:  Arg.  FV  zu  Ar.  ran. 

XII  m.  \  in  Bkrgks  Aristoph.  II.  Leipz.  1861.  p.  172,  7. 

'^)  Vgl.  sout.  355  f.  472  f.  I  «)  Die  losage  fr.  186.  188.  189  Rz. 

^)    Das    Gedicht    ist    von    Bakchylides  ^'i    Zur    Erklärung    des    Namens    s.  F. 

(fr.  22  Bl.)  und  den  Trfigikern  (A.  FAnLXBEit(j.  1  KnETsmiMER.  Einl.  in  die  (Jesch.  der  griech. 

De  Hercule  tragico  Graec,  Leipz.  18tH.  16  f.)  |  Spr.  87  f.;  s.  a.  E.  Roiide,  Psyche  IP  51  f. 

benützt  worden.  !  »<>)  Vgl.  Strab.  p.  642;  E.  Rohde.  Kl.  Sehr. 

"*)    über   den   Stoff  s.  J.  Heumaxn,   De  i  I  1U3  f.  Aus  der  Me/.au,-Tt><iin  scheint  Eaphor. 

epvllio   Alexandrino.    Leipz.  Diss.    Königsee  .  fr.  46.  50  Meineke  zu  schöpfen. 

1904,  38  ff.  I  '')  Rhein.  Mus.  56  (1901)  167. 


A.  Epos.    5.  Hesiodos.    (§§  71-73.)  121 

Apokryph  sind:  'AargovojLua,^)  ^Idaioi  AdxTvkoi*)  u.  a.  Das  von  Suidas 
angeführte  ^Enixi^deiov  eig  Bdrgaxov  xiva  iQibfievov  avxov  mag  in  einer 
legendenhaften  Hesiodbiographie  vorgekommen  sein.  Über  weiteres  Apo- 
kryphe 8.  W.  Marekscheffel  Hes.  fr.  197  ff. 

72.  Aufgenommen  ist  in  die  neueren  Hesiodausgaben   (am  besten  in 

der  von  A.  Rzach  1902)  auch  der  \Ay(ov  'Hoiodov  xai  ^Oju/jgov^  oder  der 

Wettstreit  des  Hesiod  und  Homer  bei  den  Leichenspielen  des  Königs  Am- 

phidamas  in  Chalkis.   Die  Legende  ist  lediglich  aus  einer  Stelle  der  hesiodi- 

schen  ""Egya  (650  ff.)  herausgesponnen.  3)     Die   uns  vorliegende  Fassung  in 

Prosa  stammt  aus  der  Zeit  des  Kaisers  Hadrian,  dessen  Namen  sogar  in  ihr 

vorkommt,*)   geht  aber  auf  eine  ältere  Erzählung   des  Rhetors  Alkidamas 

zurück.^)     Zum  Wettstreit    werden    alte   und   neugeschmiedete  Verse  der 

beiden   Dichter    vorgeführt;    Sieger    bleibt    nach    dem   Schiedsspruch    des 

königlichen  Preisrichters  Paneides^)  Hesiod.  der  Begründer  der  lehrhaften 

Poesie,  während  die  Zuhörer  sich  mehr  für  Homer  erwärmen.    Angeknüpft 

sind  an  den  Wettkampf  die  weiteren  Schicksale  der  beiden  Dichter  Hesiod 

und  Homer.     Nach  Plutarch  (Conv.  sept.  sap.  10  p.  154  a)  galt  Lesches  als 

Verfasser  des  Wettkampfs, 

Erste  kritische  Ausgabe  des  ^Aycov  von  F.  Nietzsche.  Acta  soc.  philo! .  Lips.  I  (1871) 
1  ff.;  Quellenuntereuchung  von  dems..  Rhein.  Mus.  25  (1870)  528  ff.  Über  die  Textquelleu 
A.  Rzach,  Wien.  Stud.  15  (1893)  139  ff. 

73.  Früh  verbreitete  sich  die  Kenntnis  der  hesiodischen  Gedichte 
auch  über  das  griechische  Festland  hinaus  nach  dem  ionischen  Kleinasien, 
und  es  traten  Kreuzungen  zwischen  homerisch-ionischer  und  hesiodisch- 
mutterländischer  Weise  ein,  wie  die  Interpolation  der  homerischen  Epen 
durch  Zusätze  hesiodischen  Charakters  (s.  o.  S.  68,  2;  119,  1),  die  Berück- 
sichtigung dorischer  Sage  in  späteren  Werken  der  homerischen  Schule  (s.  o. 
S.94),  die  Weiterführung  der  genealogischen  Dichtung  durch  den  lonier  Asios 
von  Samos,  die  Einreihung  des  Milesiers  Kerkops  in  den  Kreis  der  hesio- 
dischen Dichterschule  und  der  Einfluß  der  Erga  auf  die  Entwicklung  der 
iambischen  Poesie  beweisen.  Daß  von  Peisistratos  die  schriftliche  Redaktion 
veranlaßt  und  dabei  auch  Onomakritos  beteiligt  war,  ist  eine  Vermutung 
ohne  jeden  wissenschaftlichen  Wert,  wahrscheinlich  ausgegangen  nur  von 
der  Behauptung  des  megarischen  Historikers  Hercas  (Plut.  Thes.  20), 
Peisistratos  habe  einen  Hesiodvers  getilgt,  und  gestützt  durch  die  analoge 
Legende  über  die  homerischen  Epen.  In  der  Zeit  nach  Peisistratos  wurden 
die  Werke  des  Hesiod,  die  echten  wie  die  unechten,  als  eine  Fundgrube  für 


*)  Die  Astronomie,   vor  500  entstanden,  |    rov    OEioxdiov    avToxodiooog    'Afimavov    FiQtj- 

enthielt  bereits  die  Anfänge  der  Sternbilder-  1   ^thov  r,io  r/ys  nrßia>;  nroi  'Ofitjoov. 

sagen,   worüber  A.  Rehm.  Mytbogr.  Unters.,  ^)   Beacbtenswert   für   die   Entstehungs- 

Progr.,  München  1896.  p.  36ff.  Dagegen  läßt  |   zeit  ist,  daß  die  Verse  101  f.  schon  bei  Ari- 

sie  nach  K.  O.  Müllers  Vorgang  E.  Maass,  stoph.  pac.  1282  f.   vorkommen.     E.  Meyer, 

Aratea,  Phil.  ünt.  XII  268  erst  später,  „viel-  Herrn.  27  (1892)  363  ff.  Ein  Rest  einer  älteren 

leicht  erst  nach  Arat**  entstanden  sein.  Fassung  des  dytor  ist  auf  dem  PapjTus  s.  111 

*)    Der   Gegenstand   ist   auch    Phoronis  v.  Chr.  bei  J.  P.  Mamaffy,  On  the  Flinders 

fr.  2  Kinkel  berührt.     Ueber  die  phallische  Petrie  Papyri,  Dublin  1891,  p.  70  ff.  gefunden 

Natur   der  Daktylen  G.  Kaibel.   Nachr.  der  worden. 

Gott  Ges.  d.  Wissensch.  1901,  488  ff.  ®)  Dieser  scheint  als  Typus  der  Toiheit 

*)  Siehe  o.  S.  105,  4.  i   schon  bei  Simonides  von  Keos  vorgekommen 

*)  p.  358,  19  Göttl.:  ÖJieo  dxrjxoa/aev  lil  \    zu  sein  (\V.  Schmid,  Rhein.  Mus.  59, 1904,320). 


122  Griechische  Litteratorgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

Fabelgescliichten  und  als  ein  Schatz  von  Lebensweisheit*)  in  Schule  und 
Haus  fleiüig  gelesen  und  auswendiggelernt.  Von  einer  kritischen  oder  kom- 
mentierenden Behandlung  des  Dichters  aus  jener  Zeit  hören  wir  aber  nichts; 
nur  data  der  Philosoph  Xenophanes  ihn  neben  Homer  als  Begründer  fal- 
scher Vorstellungen  von  den  Göttern  heftig  befehdete.^)  und  der  Logograph 
Akusilaos  ihn  in  Prosa  umsetzte  und  berichtigte.  *)  Später  erklärte  Zenoo, 
der  Stifter  der  Stoa,  die  Theogonie.^)  In  der  alexandrinischen  Zeit  wurde 
neben  Homer  auch  der  Text  des  Hesiod  von  den  hervorragendsten  Kritikern, 
Zenodotos,  ApoUonios  Rhodios,  Aristophanes,  Aristarchos,  Krates,  Seleukos, 
bearbeitet.  Aristophanes  und  Aristarchos  setzten  auch  bei  ihm  ihre  kriti- 
schen Zeichen,  die  dann  in  ähnlicher  Weise  wie  bei  Homer  den  Ausgangs- 
punkt für  die  Kommentare  des  Didymos  und  Aristonikos  bildeten. 5)  Übri- 
gens ist  die  kritische  Tätigkeit  der  Alexandriner  am  Hesiodtext  weit 
weniger  intensiv  und  erfolgreich  gewesen  als  am  Homertext.  Vermutlich 
wirkte  hier  Aristoteles'  geringschätziges  Urteil  über  die  Lehrdichtung  auf- 
haltend. Die  Götterlehre  des  Hesiod  bot  den  Stoikern  und  Neuplatonikem 
willkommene  Gelegenheit  zu  allegorischen  Erklärungsversuchen.  Plutarch, 
der  Landsmann  und  Verehrer  Hesiods,  schrieb  vier  Bücher  Kommentare 
zu  den  Werken,'')  welche  die  Grundlage  für  den  Kommentar  des  Neu- 
platonikers  Proklos  bildeten.  Auf  den  Kommentar  des  Proklos  und  einen 
Gi'ammatikerkommentAr  (des  Choiroboskos?)  gehen  die  erhaltenen  Scholien 
zurück.  Im  byzantinischen  Mittelalter  fohlte  es  nicht  an  Erklärern  der 
Erga  und  der  Theogonie,  aber  die  Kommentare  des  Tzetzes,  Moschopulos, 
Planudes  und  die  \4Utjyooiai  flg  tI/v  tov  'Hoioöov  (-hoyoriar  des  lo.  Dia- 
konos  Galenos  (11.  Jahrhundert)")  verarbeiteten  nur  den  überkommenen 
Stock  alter  Scholien,  so  daü  es  die  Aufgabe  der  modernen  Philologie  war, 
den  Kern  alter  Gelehrsamkeit  aus  der  Umhüllung  byzantinischer  Geschwätzig- 
keit herauszuschälen. 

Überlieferung.  F]ine  Gesamtuusjjabe  der  drei  uns  noch  vollständig  erhaltenen 
(iediohte  war  schon  im  4.  Jahrhundert  n.  Chr.  vorhanden  (Rest  eines  Pergamentexcmplars  in 
IJcrlin,  8.  W.  Ckönert.  Arch.  f.  Papyrusf.  2.  1903.  847).  Die  Alexandriner  müssen  den  Hesiod- 
text ähnlich  wie  den  der  homerischen  Gedichte  stark  gekürzt  haben.  Denn  Chrysippos  las 
nach  theog.  926  ein  in  unseren  Handschriften  fehlendes  JStück  über  die  Geburt  der  Athena 
(Galen.  T.V  851  K.).  Siehe  G.  F.  Schömann,  Opusc.  II  398  ff.  Auskunft  über  die  Über- 
lieferung gibt  A.  RzACH  in  der  Praefatio  der  Ausgabe.  Leipz.  1902.  Älteste  Zeugnisse  ent- 
halten die  zahlreichen  Papyri,  deren  Varianten  Rzach  mitteilt  und  die  uns  auch  mehrere 
neue  Fragmente,  besonders  gröüere  Stücke  aus  den  Knnuoyoi  (fr.  94  Rz.  Berliner  Klassiker- 
texte V  1,  22  tf.)  geliefert  haben.  Nicht  selten  bieten  Zitate  bei  Schriftstellern  des  4.  Jahr- 
hundert^s  v.  Chr.   einen   besseren  Text   als   unsere   Handschriften   (F.  Leo,   Hesiodea  16  ff.; 

')  Der  Elegiker  llermesianax  bei  Ath.  Schrift  .Tfo/  twv  oijufUov  ron'  er  rß  f^Foyovta 
XJII  '»97,  V.  22  nennt  den  II(?siod  -Tao/yc  Hotöt^or.  Die  Fragmente  zusammengestellt 
tjonror  ('moonj^.  von  H.  Flach.  Glossen  und  Scholien  zur  hesiod. 


I  Xenophan.fr.  11.  12  Dikls  ( Vorsokrat.); 
Athen.  462  f.;  Diog.  Laeit;.  II  46:  Kfoxcoy 
'IIoi<k)(o  C(om  (sc.  f:<f  i/.oyi-i>cft),  jy/Lfvz/joarTi  Öf. 
6  .inoFiofjiin'o^   ZFVorpdrrjs- 

^)  Clem.  Alex,  ström.  VI  p.  752  P.:  ra 
Ifniddov  UFTijU.a^F^'  fU  hf^ov  Äoyoy.  loseph. 
c.  Aji,  I  16:  öoa  dk  öiooOorTui  tov  'lioiodov 
Axovnu.ao^. 

^1  H.  V.Arnim.  Stoicor.  vct.  fragm.  I  (Lips. 
1905)  p.  71. 

^j  Suidas  erwähnt  von  Aristonikos  eine 


Theog.,  Leipz.  1876.  S.  100  ff.  Die  Zeugnisse 
über  die  kritische  Tätigkeit  der  Alexandriner 
an  Hesiod  bei  (}.¥.  Schümann,  Opusc.  111 47  ff,  ; 
s.  a.  DiMiTRiJEVio  unten  S.  123. 

*"')  Die  Reste  in  Plut.  moral.  ed.  G.  N. 
Bkrnardakis  T.  VII  51—98. 

^)  Die  Zeit  steht  nicht  ganz  fest  und 
hängt  mit  der  Frage  über  die  Identität  des 
Pediasimos  und  Galenos  zusammen;  s.  K. 
Krumbacher,  Byz.  Litt.*  557. 


A.  Epos.    6.  Die  spätereren  Epiker.     (§  74.)  123 

M.  R.  üimTRiJEVic  in  der  sogleich  anzuführenden  Schiift).  Die  besten  Codd.  sind  für  die 
Theog.  u.  Scut  Laur.  32,  16  s.  XIII  (D),  außerdem  die  Fragmente  Paris,  suppl.  663  s.  XII  vom 
Berg  Athos  (C);  für  die  Opera  Laur.  31,  39  s.  XII  (D),  Messanius  praeexistens  11  s.  XIII  u. 
Paris.  2771  s.  XI  (C);   für  Opera  und  Scut.  Ambros.  C  222  inf.  s.  XIII  (D). 

Scholien,  über  deren  Bestandteile  bereits  §  73  gehandelt  ist,  herausgegeben  von 
Th.  Gaisford,  Poetae  min.  graec.  vol.  II  des  Leipziger  Druckes  1823.  —  Glossen  und  Scholien 
zur  hesiodischen  Theogonie  von  H.  Flach,  Leipz.  1876.  über  ihre  Quellen  M.  R.  Dimitbi- 
jEVic,  Studia  Hesiodea,  Leipz.  1899. 

Ausgaben:  ed.  princ.  Mediolani  1493;  cum  notis  variomm  cur.  C.  F.  Lösner.  Königsb. 
1778;  rec.  et  commentariis  instruxit  C.  Göttling,  ed.  III.  cur.  J.  Flach,  Lips.  1878;  ed.  K. 
SiTTL,  Athen  1890;  Textausg.  mit  Comment.  crit.  von  G.  F.  Schümann,  Berol.  1869;  rec.  Al. 
RzACH,  Lips.  1902,  Hauptausg.  mit  den  Fragmenten,  wonach  kleinere  Ausg.  in  BT.  (übersehen 
ist  das  Fragm.  bei  Bacchylid.  V  193  ff.  Blass).  —  Zerlegung  der  Gedichte  in  ihre  Teile  und 
Ziu*Uckführung  auf  ihre  ursprüngliche  Form  versucht  von  A.  Fick,  Hesiods  Gedichte,  Bezzenb. 
Beitr.  12.  Gott.  1887.  —  Soparatausgaben :  ""Egya  comment.  instr.  D.  J.  van  Lennep,  Amstel. 
1847;  Die  Werke  und  Tage  des  Hesiod  von  A.  Steitz,  Leipz.  1869;  von  A.  Kirchhoff  s.  o. 
S.  110,  6.  —  Die  hesiodische  Theogonie  von  F.  G.  Welcker,  Elberfeld  1865;  von  G.  F.  Schö- 
MANN,  Berl.  1868.  —  Hesiodi  quod  fertur  Scutum  ed.  C.  F.  Ranke,  Quedlinburg  1840;  H. 
Deiters,  De  Hes.  scuti  Herculis  descriptione,  Bonn  1858;  dazu  K.  Lehrs,  Pop.  Aufs.'*^  427  ff. 
—  Hesiodi  Eumeli  Cinaethonis  Asii  et  canninis  Naupactii  fragm.  coli.  W.  Marckscheffel, 
Lips.  1840.  —  Certamen  s.  o.  S.  121. 

Erläuterungsschriften:  G.  F.  Schömanns  Abhandlungen  zu  Hesiod.  im  2.  Band 
seiner  Opusc.  acad.,  Berl.  1857;  0.  Gruppe,  Die  griech.  Culte  u.  Mythen  1  567 — 612;  Hub. 
Schmidt  s.o.  S.  107,  1.  —  R.  Peppmüller,  Hesiodos  ins  Deutsche  übertragen,  mit  Einleitungen 
und  Anmerkungen,  Halle  1896. 

6.  Die  späteren  Epiker. 0 

74.  Genealogisches  Epos.  Auf  die  Blütezeit  des  homerischen  und 
hesiodischen  Epos  folgt  eine  Zeit  des  Weiterwirkens  der  beiden  Kunststile 
im  Mutterland  und  östiichen  Kolonien.  Im  Mutterland  verbreitet  sich  vor- 
wiegend die  hesiodische  Weise;  sie  dringt  aber  auch  in  das  Stammgebiet 
der  homerischen  Epik  hinüber  und  kreuzt  sich  hier  mit  der  homerischen 
Art,  bis  vom  5.  Jahrhundert  an  die  Parodie  dem  ganzen  Epos  alten  Stils 
den  Lebensfaden  abschneidet  und  sich  immer  mehr  die  Anschauung  be- 
festigt, daß  Homer  und  Hesiod  zwar  als  Erzieher  Griechenlands  in  Ehren 
zu  halten  seien,  ein  Weiterdichten  in  ihrem  Ton  aber  nicht  mehr  angehe. 
Neue  Anläufe  werden  gemacht  schon  im  5.  Jahrhundert  von  Panyassis  und 
Choirilos.  Der  Finder  des  neuen  Stils  aber  und  der  Archeget  des  alexan- 
drinischen  Epos  ist  Antimachos  geworden. 

Im  Mutterland  nimmt  seit  dem  8.  Jahrhundert  Korinth  wie  in  der 
politischen  Stellung  so  auch  auf  geistigem  Gebiete  den  Wettkampf  mit 
den  übrigen  Staaten  Griechenlands  auf.  Es  war  eben  die  Zeit,  in  der  die 
Stadt  unter  der  kräftigen  Führung  des  adeligen  Geschlechtes  der  Bak- 
chiaden  und  der  volkstümlichen  Tyrannen  Kypselos  (657 — 627)  und  Perian- 
dros  (627 — 587)  zu  ungewöhnlicher  Macht  emporstieg.  Die  Blüte  der 
epischen  Poesie  ging  dort  Hand  in  Hand  mit  dem  Aufschwung  der  Toreutik 
und  Vasenmalerei;  kann  man  doch  geradezu  die  berühmten,  mit  metrischen 
Beischriften  versehenen  Darstellungen  der  Kypseloslade*)  die  älteste  Bilder- 
chronik der  Griechen  nennen.  Der  berühmteste  der  korinthischen  Epiker  3)  war 

*)  W.  Mabckscheffel ,   Hesiodi  Eumeli      graeconim  fragmenta,  I,  1877,  in  Bibl.Teubn. 
Cinaethonis  Asii   et  carm.  Naupactii  fragm.,      (p.  185  ff.). 


Lips.  1840  (p. 216 ff.  397 ff.);  H.  Düntzer,  Die 
Fragmente  der  epischen  Poesie  der  Griechen, 
Köhi  1840—42,  2  Teile;  G.  Kinkel,  Epicorum 


-)  Bescluieben  bei  Paus.  V  17 — 19. 
')  Dunkel   ist   der  korinthische  Dichter 
Aison  bei  Simonid.  fr.  215  Bekgk. 


124  Griechische  Litteraturgeschichie.    L  Klassische  Periode. 

Eumelos,»)  Sohn  des  Amphilytos  aus  dem  Geschlecht  der  Bak- 
chiaden.  Seine  Blüte  wird  von  den  Alten  in  die  Zeit  des  Archias,  des 
Gründers  von  Syrakus,  also  um  740  gesetzt. 2)  vermutlich  zu  früh.  Sein 
Hauptwerk  waren  die  KoQirOuixd,  in  denen  die  sagenhafte  Vorgeschichte 
Korinths  behandelt  war,  darunter  auch  die  Verstoßung  der  Medeia  und  die 
Heirat  des  lason  mit  Kreusa,  der  Tochter  des  Königs  Kreon  von  Korinth. 
Dies  Gedicht  scheint  später  in  einen  prosaischen  Auszug  gebracht  worden 
zu  sein  (Paus.  II  1,  1).  Außerdem  dichtete  Eumelos  eine  EvQcoma.  in  der 
die  Fabel  von  der  Europe,  der  Tochter  des  phönikischen  Königs  Agenor, 
vorkam,  und  ein  ländliches  Gedicht  Bovyovin^  als  dessen  Gegenstand  Sal- 
masius  die  Geschichte  von  Aristaios  (Philitas  bei  Antig.  ('aryst.  mirab.  19; 
Vergil.  Georg.  IV  315  ff.)  ansah.  Auch  ein  Prosodion,  d.  h.  Prozessionslied  in 
Hexametern,  das  er  für  die  Messenier  auf  den  Gott  in  Delos  dichtete,  erwähnt 
Pausanias  (s.u.  A.  2),  dessen  Vermutung  (V  19,  10),  Eumelos  habe  auch  die 
Verse  auf  dem  Kypseloskasten  verfaßt,  für  uns  unkontrollierbar  ist.  Be- 
merkenswert ist  das  Fehlen  dorischer  Sagen  in  Eumelos'  epischen  Gedichten. 
Wenn  man  dies  jedoch  auf  eine  dorierfeindliche  Tätigkeit  im  Dienst  der 
korinthischen  Tyrannen  deuten  will,  so  kann  man  dem  Eumelos  das  Pro- 
zessionslied, das  noch  ein  freies  Messenien  voraussetzt  und  den  Zeitansatz 
der  Alten  bestimmt  zu  haben  scheint,  nicht  zuschreiben.  Auch  könnte  er 
dann  schwerlich  Bakchiade  gewesen  sein.  Auf  seine  Bedeutung  als  Dar- 
steller der  Sagengeschichte  wird  seine  Bezeichnung  als  nonpr]^  JoroQucog 
(Schol.  Pind.  0.  13,  74a  p.  373,  8  Drachm.)  zu  beziehen  sein. 

Dem  argolischen  Sagenkreis  gehörte  die  Alkmaionis  an,  deren 
Verfasser  nicht  vor  dem  Schluß  des  7.  Jahrhundeiis  lebte,  da  er  als 
Sohn  der  Penelope  den  Leukadios  anführt  (Strab.  p.  452),  der  von  der 
unter  Kypselos  oder  Periandros  gegründeten  korinthischen  Kolonie  Leukas 
seinen  Namen  hat.^)  Das  Epos  behandelte  im  Anschluß  an  den  Zug  der 
Epigonen  gegen  Theben  die  Schicksale  des  heimkehrenden  Alkmaion  und 
die  Gründung  des  amphilochischen  Argos.  In  diese  Gründungssage  waren 
auch  die  Geschicke  d<?s  Tydeus  und  Diomedes  veitiochten.-*)  Die  Mythen 
des  Epos  boten  später  den  Tragikern  reichen  Stoff  für  ihre  Dramen. 

Die  XavTiaxTKi  pjiij  waren  ein  genealogisches  Epos  auf  berühmte 
Frauen  nach  Art  der  Eöen;  als  ihr  Verfasser  wurde  nach  Paus.  X  38,  11 
von  den  einen  ein  Milesier  (KerkopsV),  von  anderen  (Charon  von  Lamp- 
sakos)  Karkinos  aus  Naupak  tos  genannt.  Es  war  indem  episodenreichen 
Gedicht  namentlich  auch,  im  Anschluß  an  Medeia,  die  Argonautensage 
behandelt,   weshalb   es   öfters   in    den  Scholien   zu  Apollonios  Ilhodios  an- 

*)  E.  WiLiscii,  Über  die  Fraj?inente  dos  erhalteucn  Verse  dieses  (.icdichtes,  das  manche 

Epikeis  Eumelos,  Pro^r.  Zittau  1(S75.  Spuren  allein  für  echt  oumeliscb   hielten   (Paus.  IV 

altkorinthischer  Diclitungen   außer  Eumelos,  88.  8).    daktvlische  Hexameter   in  äolischem 

Jalnbb.  f.  Phil.  123  ilmi)  161  flf.  Dialekt   aufweisen.     Das  Digamma   läßt   E. 

-)  So  Clemens  Alex,  ström.  1  p.  898  P.:  ebensowenijj;   wirken    wie    der   Dichter    der 

Eusebios  setzt  ihn  Ol.  h  u.  9.    Zu  diesen  An-  Verse  des  Kvpseloskastens. 

m'aben    stimmt    im    allgemeinen     die    Über-  ^i  E.  Oherhimmer.  Akarnanien. München 

iieferung    (Paus.  IV  4,  1).    dafj    er    für    den  1887  S.  74:  Wilamowitz.  Homer.  Unters.  78. 

König  von  Messenien  Phiutas  ein  Prosodion  *)    JSiehe    hierüber    O.  Immiscii.    Klaroe, 

;.n   den  Apolhm   von  Delos   gedichtet   habe.  Jahrb.  f.  Phil.  Suppl.  17  (1890)  182—193. 
Höchst  seltsam   ist,   dafs   die   zwei  einzigen 


A.  Epos.    6.  Die  späteren  Epiker.    (§  75.)  125 

geführt  wird.  Das  erste  Fragment  zeigt  einen  schon  an  die  Logographie  er- 
innernden Pragmatismus  im  Zusammenreimen  verschiedenartiger  Traditionen. 

Kinaithon  aus  Lakedaimon,  nicht  zu  verwechseln  mit  dem  chiischen 
Rhapsoden  Kynaithos,»)  wird  von  Pausanias  II  3,  9  als  genealogischer 
Dichter  bezeichnet.  Auf  ein  genealogisches  Gedicht  weisen  auch  die  ihm 
zugeschriebenen  Nachrichten  über  Medeia,  Helena,  Orestes,  Talos.  Nament- 
lich scheint  er  als  Peloponnesier  die  Genealogie  und  Sagengeschichte  der 
Dorer  und  Herakliden  behandelt  zu  haben  (Paus.  II  18,  6);  eines  der  ihm 
beigelegten  Gedichte  hieß  'Hgänleia,  Andere  machten  ihn  auch  zum  Ver- 
fasser einer  Trj^yovia(?),  Olduiodeia  und  der  'IXiäg  fxixod.  Seine  Zeit  steht 
nicht  fest;  denn  der  Ansatz  des  Eusebios  auf  Ol.  4  ist  ohne  Zweifel  zu  hoch 
gegriflfen;  seine  Angaben  über  Medeia  bei  Paus.  II  3,  9  rücken  ihn  unter 
Eumelos  herab. 

Chersias  aus  Orchomenos  lebte  um  Ol.  40  zur  Zeit  des  Periandros.^) 
Seine  ejiri  konnte  schon  Pausanias  (s.  IX  38,  9)  nicht  mehr  auftreiben.  In 
der  Vita  des  Hesiod  wird  ihm  auch  das  Epigramm  auf  dem  Grabdenkmal 
des  Hesiod  in  Orchomenos  zugeschrieben.  Seine  Bezeugung  durch  den 
fragwürdigen  Kallippos,  der  auch  von  einem  Hegesinoos  als  Verfasser 
einer  Atthis  wissen  will  (Paus.  IX  29,  1),  ist  sehr  schwach. 

76.  Schärfer  als  alle  diese  nebelhaften  Gestalten  hebt  sich  Asios, 
der  Sohn  des  Amphiptolemos  aus  Samos  ab.  Auch  er  hat  Genealogien 
gedichtet,  die  Pausanias  häufig  zitiert.  Begreiflicherweise  behandelten  seine 
£711}  zunächst  die  Genealogie  der  Herrscher  seiner  Heimatinsel  Samos  (Paus. 
VII  4,  1),  enthielten  aber  auch  die  Abstammung  anderer  Fürstengeschlech- 
ter, wie  z.  B.  der  Phoker  (Paus.  II  29,  4).  Außerdem  hat  uns  Athenaios 
p.  525 e  mehrere  Hexameter  auf  den  Luxus  der  Samier  erhalten,  wie  sie 
schön  gekämmt  in  langen,  weißen  Leibröcken  und  mit  goldenen  Diademen 
und  Zikaden  im  Haar»)  zum  Tempel  der  Hera  zogen.  Die  Verse  gehören 
aber  schwerlich  dem  genealogischen  Epos  des  Asios  an,  sondern  einem 
anderen  Gedicht  von  satirischem  (yharakter.  Auch  Verse  einer  Spottelegie 
auf  den  bei  der  Hochzeit  des  Meles  ungeladen  erscheinenden  Bratenduft- 
schinder {xviooxoXa^)  Kreophylos-*)  werden  von  Ath.  p.  125  d  angeführt. 
Schon  diese  dienen  zum  Beweis,  daß  man  den  Ausdruck  "Aoiov  tov  Tiakaiov 
Ixelvov  bei  Ath.  125  b  nicht  streng  nehmen  darf,  und  lassen  K.  L.  Urlichs' 
(Rhein.  Mus.  10,  1855,  3)  Ansatz  auf  Ol.  35 — 40'^)    annehmbar    erscheinen. 

Besonderen  Sagenkreisen  galten  folgende  Epen: 

^Ax^ig  des  Hegesinoos  (s.  o.  §  75  Schi.). 

0ooa)vig   benannt   nach  Phoroneus,    dem  Adam   und  Prometheus  der 

*)  Verwechselt  von  Welckeb.  Ep.  Cvcl.       kennt  in  diesen  Versen  0.  Crüsiüs,    Philol. 
I  227.  242  ff.  *^        i   54  (1895)  727. 


^)  Nach  Flut.  conv.  sept.  sap.  p.  156  e 
*)  Einen  ähnlichen  Haarschmuck  trugen 

die  alten  Athener  nach  Thuc.  I  6.  Aristoph. 

Equ.  1328,  Schol.  Arist.  Nub.  980.    Ein  Terra- 


*)  WiLAMOwiTz,  Textgeschichte  der  griech. 
Lyriker,  Berl.  1901.  61.  will  ihn  nicht  vor  550 
setzen.  L.  A.  Michelanoeli.  1  frammenti  di 
Asio.    in  Rivista    di  stör.  ant.  3  (1898)  71  ff. 


kottenköpfchen    mit    ähnlichen    Haan^erzie-  '    macht   auf  die  Übereinstimmung   von    Aus 

rungen   aus  Kleinasien    besitzt  das  Antiqua-  drücken  in  den  Fragmenten  bei  Ath.  lll  125 

rium  in  München  nr.  35.    Zu  vergleichen  ist  mit    solchen    der    Hatrachomyomachie     aul- 

die  Schilderung  der  lonier  Hymn.  Hom.  I  147.  merksam    und    schließt    daraus,    daß    Asios 

*)  Welckeb,  Ep.  Cykl.  1  144  f.     Einen  nach  dem  Verfasser  der  Batrachomyomachie 

R«8t  eines  alten  poetischen  f^io<;  Vfi/jour  er-  um  400  lebte. 


126 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


argolischen  Mythologie,  der  in  Argos  noch  in  geschichtlicher  Zeit  Ver- 
ehrung genoß  (Paus.  II  20,  :^).»)  Das  Epos  benutzten  als  Quelle  die  Logo- 
graphen Hellanikos  und  Akusilaos. 

OiFOTioamsn  angeführt  von  Paus.  VIII  12,  5,  schließt  an  die  Odysseus- 
sage  an  (f  315  ff.);  über  Musaios'  ßr?;  negi  HFonocorayv  vgl.  o.  S.  94. 

'HodxXfiat,^)  von  denen  eine  bald  dem  Kinaithon,'*)  bald  einem  Konon 
zugeschrieben  wird. 

SjjntjiQ,  angeblich  von  Diphilos,  vermutlich  von  einem  ionischen  Dichter 
nach  dem  Muster  der  Heraklcen  gedichtet.*) 

76.  Epische  Gedichte  mit  religiöser  Tendenz.  Sie  treten  auf 
im  Zusammenhang  mit  der  mächtigen  mystisch-religiösen  Bewegung^)  des 
6.  Jahrhundorts  und  verfolgen  den  Zweck,  durch  dichterische  Einkleidung 
in  weiten  Kreisen  Propaganda  zu  machen  teils  für  die  apollinische  Reli- 
gion, die  mehr  und  mehr  in  Delphoi^)  ihren  festen  Mittelpunkt  erhielt,  teils 
für  die  orphischen  Soktenbildungcn,  deren  Schauplatz  in  jener  Zeit  be- 
sonders Athen  und  der  griechische  Westen  war.  Am  meisten  dichterischen 
Glanz  scheinen  unter  diesen  die  phantastischen  ^AQijLidojreia  ijit]  des  ohne 
Zweifel  geschichtlichen  Aristeas  aus  Prokonnesos  in  3  Büchern  entfaltet 
zu  haben.')  Über  den  Verfasser  und  den  Inhalt  dieser  ^jtrj  ist  Haupt- 
quelle Herod.  IV  18— 1()  u.  III  IH).  Danach  stammte  Aristeas  aus  einer 
angesehenen  Familie  von  Prokonnesos,  einer  Kolonie  der  Milesier  an  der 
Propontis,  und  stand  im  Ruf  eines  Wundermannes  {q?(Hß6kaujiTog).  Von 
seiner  Heimat  aus  machte  er  ausgedehnte  Reisen  nach  dem  Norden  bis 
zu    den   Issedonen   und   erzählte   in   seinen  ?n}j  fabelhafte  Dinge  von  den 


^'  Eiläutcriiiig  der  Fragmente  von  G. 
Kaibkl.  (iött.  Naciir.  li^l,  r>02  ff. 

'^)  Aristot.  poel.  8:  <)to  .-rurzes  foixaotr 
nuaijT(i)'Fiy  6o(H  kuv  jionjTior  '^IfnaxÄt/tAa  xai 
Ht/Offt6a  xai  r«  roiavia  :Toit'i/iaTn  nFnon)xnm%" 
oiorrat  '/(to,  f.Tsi  fI^  >))•  o  Y/oa;<A/yc,  fva  xai 
Tm'  (wOin-  Fiviu  nnoo/jXFtr.  Dasselbe  meint 
Iftocr.  5,  109  f.  Diese  Gedichte,  aus  deren 
einem  llerodot  IV  H  ff.  die  merkwürdigen  Ge- 
ftcliicliten  von  Herakles  im  Skvthenland  ge- 
schöpft haben  wird,  sind  vom  '>.  .lahrhundert 
an  aufiiesogcn  worden  Utih  durch  dramatische 
Bearbeitungen  der  Heraklessage,  teils  durch 
j)ro.saische  Darstellungen,  sei  es  in  Foiiu 
eines  mythologischen  Romanes  iHerodoros), 
sei  es  in  Form  sophistischer  Lobreden  (Plat. 
8ymp.  177  b). 

')  Kt'rniihK  heißt  der  Verfasser  in  Schol. 
Apoll.  Rhod.  1  1  857,  Körmr  zu  1  lltJo.  Wila- 
MowiTZ,  Kur.  Herakles  V  800  ff.  nimmt  einen 
dorist'hen,  vor  Hesiod  lebenden  Dicliter  der 
zwölf  Taten    des   Heiakles  {<)o)ötxaO).m')   an. 

^1  Einer  späten  Zeit  gehörte  Zopyros  an, 
der  nach  Stob.  Hör.  ^4.88  (vgl.  Ts.  Plut.  parall. 
84 1  im  8.  Buch  seiner  in  IVosa  geschriebenen 
Thes(?i.s  den  iMedeiamythus  erzählte  (s.  C. 
MCllkk,  FHG.  lVr)81--88).  Die  dem  Diphilos 
vom  Scholiasten  zu  l*ind.  0.  10,  88  b  zugewie- 
senen choliambischen  Trimeter  gehören  viel- 
leicht in  ein  parodisches  Gedicht.    Aus  einer 


Theseis  schöpfte  Hakchylides  in  den  Ge- 
dichten nr.  IG  u.  18  die  Schilderung  der  Taten 
des  Theseus.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  die 
Translation  dei  Thesensgebeine  aus  Skyros 
nach  Attika  durch  Kimcm  im  Jahr  4ß8  der 
Theseusdichtung  Anregungen  gegeben  habe. 
Etwa  derselben  Zeit  gehören  die  llieseua- 
meto|>en  des  Athenerschatzhauses  in  Delphoi 
an  (P.  Pekdrizet,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Altert.  21, 
11)08.  32  f.). 

*)  Vgl.  die  Charakteristiken  bei  Chb.  A. 
Loreck,  Aglaopham.812f.;  £.  Rohde,  Psyche 
F  200  ff.  Diese  Epen  sind  die  frühesten 
giiechischen  Ei  Zeugnisse  des  Geistes,  der  die 
romanhaften  Biographien  des  l\>i;hagora8, 
Apollonios  von  Tyana,  die  pseudoclcmentini- 
sehen  Rekognitionen  und  die  christliche 
Legendenlitteratur  geschaffen  hat. 

*^i  Im  alten  Epos  ist  Delphoi  als  Orakel- 
sitz ganz  selten  erwähnt  (11.  /  404:  Od.  ^ 
7yf. ;  Hes.  theog.  499),  dagegen  zeugen  die 
beiden  ersten  homerischen  Hymnen  für  die 
wachsende  Bedeutung  der  apollinischen  Kulte 
in  Delphoi  und  Delos. 

'  I  »Suidas  führt  von  ihm  auch  eine  Theo- 
gonie  und  Schriften  in  Prosa  an:  die  Echt- 
heit aller  Schriften  bezweifelt  Dionys.  de 
Thuc.  28;  s.  E.  Tournikr.  De  Aristea  Procon- 
nesio  et  Arimaspeo  poemate,  Par.  1863. 


A.  Epos.    6.  Die  späteren  Epiker.    (§  76.)  127 

Völkern  jener  fernen  Länder,  von  den  einäugigen  Arimaspen,*)  den  gold- 
hütenden Greifen,  den  Hyperboreern,  Kimmeriern,  Skythen  u.  a.^)  Das 
Schwanken  in  der  Bestimmung  seiner  Lebenszeit  —  seine  Blüte  setzt 
Suidas  Ol.  50  (58?)  unter  die  Regierung  des  Kyros  und  Kroisos;«)  Herodot 
(IV  15)  läßt  ihn  240  Jahre  vor  seiner  Zeit,  also  über  100  Jahre  früher 
leben*)  —  hängt  mit  der  Tradition  über  seine  Entrückung  und  Wiederkunft 
nach  240  Jahren  zusammen.  Das  Gedicht  muß  den  Interessen  des  Apollon, 
dessen  Kult  Aristeas  in  Metapontion  einführte,  gedient  haben.  Aischylos  im 
Prometheus  (703  ff.)  benützt  es,  ebenso  Pindar  nach  Orig.  adv.  Geis.  Ilf  26, 
und   noch   im  Anfang  der  Kaiserzeit  ist  es   gelesen  worden  {ti.  vii>.  10.  4). 

Von  dem  Hyperboreer  Abaris,  der  nach  Herodot  IV  36  mit  einem 
von  Apollon  ihm  geschenkten  Pfeil  umherzog,*)  erwähnt  Suidas  skythische 
Orakelsprüche,*'')  ein  Gedicht  von  der  Reise  des  Apollon  zu  den  Hyperboreern, 
Reinigungen  und  eine  Theogonie  in  Prosa.  Seine  Legende  ist  namentlich 
durch  Herakleides  Pontikos  fixiert  und  ausgeschmückt  worden. '')  Seine 
Lebenszeit  schwankt  mit  der  des  Phalaris,  zu  dem  er  in  Beziehung  gesetzt 
wurde,  ^)  zwischen  Mitte  des  7.  und  Mitte  des  6.  Jahrhunderts. 

Hier  sind  auch  die  Orakelsprüche  (xQ^ojaoi)  von  Delphoi  zu  er- 
wähnen, die  seit  dem  6.  Jahrhundert  mit  dem  steigenden  politischen  Ein- 
fluß der  delphischen  Priesterschaft  zahlreicher  und  kunstvoller  wurden; 
erhalten  sind  uns  solche  nur  durch  gelegentliche  Anführungen  bei  Histo- 
rikern und  Grammatikern.^)  Die  älteren  halten  sich  durchaus  im  epischen 
Dialekt  und  daktylischen  Hexameter,  den  die  Pythia  sogar  als  ihre  Er- 
findung reklamierte.  1^)  Sammlungen  sind  wohl  schon  für  das  6.  Jahrhun- 
dert anzunehmen  (vgl.  z.  B.  Herod.  V  43.  90). 

Von  einem  eigentümlichen  Versuch  mystischer  Umwertung  des  uralten 
kretischen  Zeuskultes  gibt  die  kathartische  Tätigkeit  des  Kreters  Epime- 
nides  Kunde.  Er  gewann  seine  Inspirationen  durch  Inkubation  in  der  Höhle 
des  idäischen  Zeus.^^)  Als  geschichtlich  ist  sein  Auftreten  in  Athen  nach  dem 
kylonischen  Frevel  Ende  des  7.  Jahrhunderts  zu  betrachten,  als  fabulos  die 
bei  Piaton  (leg.  1642 de)  berichtete  Überlieferung  von  seinem  Wiederauftreten 


')  Das  Wort  ist  iranisch  und  bedeutet 
, wilde  Pferde  habend '^. 

')  Aristeas  beschrieb  Land  und  Leute 
vom  Schwarzen  Meer  bis  zur  Ostsee.  Daß 
in  der  Tat  griechische  Handelswege  so  weit 
hinaufreichten,  bezeugen  die  Funde  von  39 
altgriechischen  Autonomraünzen  an  der  Netze 
und  von  großen  Goldgeräten  bei  Vettersfelde, 
worüber  A.  Fübtwängler  im  43.  Winckel- 
mannsprogr ,  Berl.  1883. 

')  Suidas:  yFyors  öe  xaxa  KooToov  xai 
KvQov  6XvftJnddi  V  (»•>/  em.  Flach  nach  Rohde). 
Vgl.  E.  RoHDB,  Griech.  Roman^  186  f.  Wenn 
A.  auch  als  Lehrer  des  Homer  ausgegeben 
wurde  (Strab.  p.  639),  so  ist  das  wohl  als 
religiöse  Repristination  (s.  o.  §  15)  zu  verstehen. 

*)  Dort  liest  jetzt  H.  Stein  nach  den  besten 
Handschriften  xeooe^ydxovxa  xai  dirjxoaioioi 
statt  TQitjxooloioi. 

*)  Nach  Ps.Plat.  Axioch  p.  371a  haben 
Opis  und  Hekaergos  die  mystischen  Lehren 


von  der  Unterwelt  aus  dem  Hyporboreer- 
land  auf  eherner  Tafel  nach  Delos  gebracht; 
vgl.  E.  RoHDE,  Psycho  IP  90  ff. 

®)  Über  die  zur  Anweisung  der  y.a&do- 
öfis  nötige,  der  poetischen  analoge  Inspiration 
Plat.  Phaedr.  244  d  f. 

')  A.  Dyroff,  Philol.  59  (1900)  610  ff. 
Vgl.  E.  RoHDE,  Psyche  IP  90  ff 

«)  E.  RoHDE.  Kl.  Sehr.  1  105. 

**)  R.  Hexdess.  Oracula  giaeca,  in  Diss. 
philol.  Hai.  IV  (1877).  Die  französischen  Aus- 
grabungen in  Delphoi  haben  keine  Über- 
raschungen gebracht. 

^^)  Procl.  ehrest,  p.  230. 8  Westph.  Andere 
hieratische  Ansprüche  auf  diese  Erfindung 
Lobeck,  Aglaoph.  238  f.  (Orpheus);  Paus.  X 
5,  7  (Ölen).  Die  in  iambischen  Trimetern  ab- 
gefaßten hielt  schon  Apollonios  Molon  (Scbol. 
Ar.  nub.  144)  um  ihrer  Form  willen  für  unecht. 

»0  E.  Rohde,  Kl.  Sehr.  11  201  ff.;  ders., 
Psyche  IP  96  ff. 


128  Oriechische  Litter atnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

ebenda  100  Jahre  später.*)  Zugeschrieben  werden  ihm  eine  Orakelsamm- 
lung,2)  eine  Theogonie.  ein  Epos  vom  Argonautenzuge,  überdies  Schriften 
über  Opfer  und  Reinigungen  in  Prosa;'»)  auch  eine  Geschichte  der  fabel- 
liaften  Teichinen  wurde  von  einigen  auf  seinen  Namen  gesetzt.*)  Diels 
führt  die  poetischen  Fragmente  alle  auf  ein  Gedicht  {Heoyovla  fj  KgtjTixd 
^  XO^I^f^^^O  zurück  und  hält  die  Kaf^aofioi  für  eine  Prosaschrift.  Demoulin 
hält  alles  Überlieferte  für  Fälschung  und  gibt  nur  die  Möglichkeit  zu,  dafi 
in  der  Seoyovin  einige  epimenideischon  Gedanken  seien. 

Am  üppigsten  blühte  die  orphische  Tendenzdichtung  unter  der  Füh- 
rung des  Onomakritos,^)  der  von  Hipparchos  aus  Athen  verjagt  wurde, 
weil  er  von  Lasos  aus  Hermione  der  Fälschung  von  Orakeln  überführt 
worden  war,  der  uns  aber  später  wieder  bei  dem  Perserkonig  als  Freund 
der  Peisistratiden  begegnet;")  er  dichtete  auch  selbst  Pm},  die  nach  den 
Zitaten  des  Pausanias  V'III  31,  3:  37,  5  und  IX  35,  5  in  das  Gebiet  der  Theo- 
gonie einschlugen.  Die  unter  den  Namen  von  Musaios  und  Orpheus  in  die 
Litteratur  gekommenen  Dichtungen  hat  er  nicht  bloü  bearbeitet,  sondern 
im  wesentlichen  selbst  gemacht.") 

Neben  Onomakritos  werden  noch  Zopyros  aus  Herakleia,  Nikias 
von  Elea  und  die  Pythagoreer  Brontinos  und  Kerkops  als  Verfasser 
solcher  mystischen  Dichtungen  genannt,  auf  die  wir  unten  bei  den  Orphika 
zurückkommen  werden.  Wohl  zahlreicher  noch  als  die  auf  einen  be- 
stimmten Namen  zurückgeführten  hieratischen  Gedichte  waren  die  ano- 
nymen, an  dem  verschiedenen  Mysterien-  und  Orakelplätzen  (Eleusis,  An- 
dania,  Samothrake,  Delphoi,  Dodona)  bei  den  Weihen,  Sühnungen  und  son- 
stigen religiösen  Übungen  gesungenen  Verse.  Auch  astrologische  Gedichte 
erwähnt  schon  aus  jener  alten  Zeit  Herodot  II  82. 

77.  Das  jüngere  Heldenepos.  Im  0.  und  5.  Jahrhundert  haben 
mit  bedeutender  Gestaltungskraft^)  zwei  Dichter,  Peisandros  und  Panyassis, 
noch   einmal   einen   alten    Stoff   ergriffen  und  ihn,    wie  es  scheint,    in  der 

\)  Über   di<?   Zeitiinsätzc   vgl.  E.  Roiidk,  \   Diels,  Fragm.  der  Vorsokratik er' S. 499 — 505. 

Kl.  Sehr.   I   ir»<)  f.;  (lors.,  Psyche  a.  a.  0.  —  •            "*)    Ath.  2^2 e:    o    rifV    l'fA^iviaxi^r   iaro- 

l^uelleiianalyse    der    Ei>iinciiidesvita    von    II.  omr  oirlhi^,   Hirt  *Hittifr{dt}^  foxiv  6  Kgr^^  if 

IJemoulin.  Kp.  de  C-rete  iHiblioth.  de  la  fac.  Ttj/.fy.h/t^t/^  tur'  a/./.o^*  t/c. 

de  philos.  et  de  lettres  ä  Liege  fasc  XII.  V.mi  ^'i  A.  Loheck,  Aglaüphamu-s  332  ff.  698; 

J.  Töi»FFEK.  Att.  Uciieal.  140  ff.  F.  Hitsi-hl.  Onomakritos  von  Athen.  Opusc. 

•^1  Arist.  rhet.  111   17  p.  141Sa  23;  Flut  1  2^\f<  ff.:  K.  Hohle,  F.syche  IP  111  ff. 

de  orac.  d(?f.  1.  ,            «i  Herodot  VU  6. 

•♦;  Suida.s:   ryoni^f    ^^r  .To/./.a   y.-jty.oK  y.n't  '             •)  Clemens  Alex,  ström.  I  p.  397  P  :  ov 

y.anü.oydi^ijr.      Diog.  I   111:    i.iottiOF    «W    A'or-  y(.h't>it<iy.nixin)   rn    ^/s    Oix/ tu   ^fFoouera  :tcnit)' 

o/jran'  y.tu   Kftovßävjinr    ytvFoir    y.ni  ih(t/.oyiay  iiaTu  /Jyyrm  fh'<u   .   .   .  yai  Toi's  //«'  dyntf-fgo- 

y.Ttj    .iFrray.io'/O.ia,    'Aoyorc    rar.T //;•/«»•    tf    yju  itn'or^    //c    Muroiuor    //J'i^."^*^'^    Oyoftaxoirov 

lanoroc  fi\:  Kok/ov^  a.-jönhtvr  f.tij  F^ny.toxtktii-  \    fn'cii    /Jyfnnir.       Die    lU'Ste    in     G     KINKELS 

jiFrTny.nnia'    nvvFyiKOj^F    (Vf    y.ai    ynTa/.oydÖtjy  Fragm.  epic.  23>^  ff 

.-TFoi  Ovniüty  xtu  r//s  n'  Kn/jTij  .7o/./rfmc  yai  1  "*)  Ein  Ui teil  können  wir  freilich  mit  den 
.TFoi  Mt'yo)^  y.ai  'PadnudyOrth:  fu  F.Tt/  iftou-  \  erhaltenen  dürftigen  lie^sten  nicht  mehr  be- 
y.ioyÜMi.  Über  die  geringe  Zuverlässigkeit  der  .  gründen,  aber  wir  kennen  das  günstige  Ur- 
Angaben vgl.  E  Hilleh.  Hb  M.  33  il^TJ^.i  020  f.  ,  teil  der  alten  < Grammatiker:  Procl.  ehrest 
Die  Ke.ste  der  Theogonie  besprochen  von  0.  '  p.  2oO\V. :  yFyoyaca  tVt  rur  Fni>r<  nonfrai  xoa- 
Kkux.  C^uaest.  crit.  de  Oq)ii(?i.  Ej>imeniilis.  xmjot  uiy  iJutjot,^,  ']Ioi<t<^(Kf  IfFinttvÖnog,  IIa" 
Pherecydis  thoogoniis.  l»erol  18?«:8  IL  Diels,  I  rrnoi^,\iyriiitty<,^;  Anecdot.  Estense  (Tzetzes) 
über  Epimenides  von  Kreta.  Berl.  Ak.  f>itz.ber.  bei  J.  Kayseh.  De  veterum  arte  pottica,  Diss. 
1><1JI.  3iJ3  ff.  —  Die  Fragmente  jetzt  bei  H.  I    Leipz.  1900.  p.  56. 


A.  Epos.    6.  Die  späteren  Epiker.    (§  77.)  129 

Hauptsache  noch  im  alten  Stil  behandelt.  Nur  stimmen  sie  beide  unter 
dem  Einfluß  der  Chorlyrik  i)  und  der  durch  sie  vermittelten  dorischen  Sagen- 
versionen den  Ton  mehr  ins  Volkstümliche,  gelegentlich  ins  Humoristische*) 
herab.  Ein  dritter,  Choirilos,  greift  kühn  aus  dem  mythischen  in  das  ge- 
schichtliche Gebiet  hinüber,  um  dem  durch  die  Konkurrenz  der  farben- 
reichen Gattungen  von  Drama  und  Dithyrambus  stark  bedrängten  Epos 
neue  Reize  zu  gewinnen.  Antimachos  endlich  verzichtet  auf  Volkstümlich- 
keit und  wendet  sich  mit  einem  neuen,  kapriziösen  Stil  an  die  Kenner. 

Peisandros,  Sohn  des  Peison  und  der  Aristaichme  aus  Kamiros 
in  Rhodos, 3)  verfaßte  eine  Herakleia  in  2  Büchern.  Die  Zwölfzahl  der 
Arbeiten,  das  Löwenfell  und  die  Keule  des  Heros  gingen  von  seiner  Dich- 
tung aus  in  die  Fabelgeschichte  über.*)  Die  Kraft  der  Darstellung  und 
die  Konzentrier ung  der  Erzählung  auf  eine  Person  verschafften  dem  Ge- 
dicht sein  hohes  Ansehen ;5)  erhalten  sind  uns  nur  wenige  Verse;  ver- 
mutlich aber  enthält  die  Schilderung  der  12  Athla  des  Herakles  bei 
dem  Mythographen  Apollodoros  H  5  Exzerpte  aus  Peisandros.  Die  Zeit  des 
Dichters  wird  von  Suidas  Ol.  33  (um  645)  gesetzt;  nach  den  Resten  seines 
Gedichtes  kann  er  kaum  älter  als  das  6.  Jahrhundert  gewesen  sein.^)  Das 
Gedicht  scheint  in  der  frühptolemäischen  Zeit  in  Zusammenhang  mit  der 
Heraklesverehrung  der  Diadochen,  vielleicht  auch  der  Kyniker,  eine  Re- 
naissance erlebt  zu  haben. '^)  Zu  unterscheiden  von  ihm  ist  ein  jüngerer  Pei- 
sandros, der  unter  Alexander  Severus  eine  ^ozogta  noixih]  di  inibv  schrieb.®) 

Panyassis  aus  Halikarnassos,»)  Oheim  des  Historikers  Herodot,  der  in 
den  Freiheitskämpfen  seiner  Vaterstadt  gegen  den  Tyrannen  Lygdamis  den 
Tod  fand,  behandelte  denselben  Stoff  weit  ausführlicher  in  14  Büchern  und 
8000  Versen,  unter  Benützung  von  Kreophylos'  OlxaXiag  äXcooK;.^^)  Außer- 
dem dichtete  er  in  elegischem  Versmaß  ^lovixd,  in  denen  er  die  Gründungs- 
geschichte der  ionischen  Kolonien  Kleinasiens  erzählte.  Einen  fröhlichen 
Sinn  voll  Weineslust  atmen  einige  schöne  Fragmente  (4.  12 — 14  K.),  denen 
ein  neues  aus  einem  Papyruskommentar  zur  Ilias  anzureihen  ist.^^) 

*)  Insbesondere  Stesichoros  wirkt  auf  sie  |  ^)  Quint.  X  1,  56:  Quid?  IlercuUs  acta 

ein:  Stesich.  fr.  7  (Herakles   mit   Keule  und  |  {nthla   coni.   E.  Wölfflin,   Rhein.  Mus.  53, 

Löwenhaut;  also Strab.  688  nicht  ganz  richtig);  |  1898,327)  non  hene  Pisawfrosif 

Paus.  IX  11, 1.  Aus  derselben  Quelle  schöpft  I  ®)   Wilamowitz,    Euripides    Herakles  I 


Pherekydes  populäre  Züge  der  Heraklessage 
(Th.  Bebqk  zu  Stesich.  fr.  5). 

')  Hieher  gehört  der  Herakles  nicht  in 
der  ritterlichen  Rtlstung,  sondern  in  Kostüm 
and  Bewaffnung  des  Urmenschen,  mit  Tiöwen- 
feil  und  Keule,  die  Veracheuchung  der  stym- 
phalischen  Vögel  vermittelst  einer   Klapper 


309.  An  der  Richtigkeit  des  Namens  zweifelt 
nur  Strab.  p.  688  (p.  655  wird  ohne  Bean- 
standung Peisandros  als  Verfasser  der  Hera- 
kleia genannt).  Auch  cyklische  Gedichte 
wurden  auf  diesen  Namen  gesetzt,  worüber 
s.  V.  Wilamowitz.  Textgesch.  der  gi-.  Lyr. 
(Abh  d.  Gott.  Ges.  d.  Wiss.  N.  F.  IV 1901)  66, 1. 


bei  Peisandros,   das   Schießen  nach  Göttbm    ,  ')  Darauf  weisen  Theoer.  epigr.  20  u.  id. 

und  die  Vorliebe  für  den  Wein  bei  Panyassis       24.  25  hin. 

(fr.  6.  20.  21  Kinkel).   Man  meint  schon  den   '  ^)    Auf    den    Mythographen    Peisandros 

dorischen  Mimus  und  den  Herakles  des  Satyr-    l   beziehen  sich  die  Scholien  zu  Eur.  Phoeniss. 
Spiels  anklingen  zu  hören.  I   834.  1760   und  zu  Apoll.  Argon.  I  152.  471. 

*)  Das  Ar  seine  Statue  auf  Rhodos  be-   |  **)  Der  Historiker  Duris  bei  Suidas  nennt 

stimmte  Gedicht  des  Theokritos  steht  in  Anth. 
Pal.  IX  598. 

<)  0.  MüLLBB.  Dorier  II  475  ff.  Schon 
Pindar  Is.  6,  48  u.  0.  3,  19  setzt  die  Ar- 
beiten in  bestimmter  Reihenfolge  voraus. 


ihn  Sohn  des  Diokles  (andere  des  Polyarchos) 
und  Samier,  vielleicht  weil  er,  wie  Herodot,. 
zur  Zeit  seiner  Verbannung  in  Samos  lebte. 

»0)  Clem.  Alex,  ström.  VI  p.  751  P. 

")  Wilamowitz, Gott. gel. Anz.  1900, 42f. 


Handbuch  der  klass.  Altertomswiasenschaft.    VII.    5.  Aufl.  9 


130  Griechische  Litteratorgeschichte.    I.  ELassiBche  Periode. 

78.  Choirilos  aus  Samos,')  jüngerer  Zeitgenosse  und  Liebling  des 
Herodot,  dem  wir  gegen  Ende  des  peloponnesischen  Krieges  zuerst  als 
Begleiter  des  Feldherrn  Lysandros*)  und  dann  neben  dem  Tragiker  Aga- 
then, dem  Komiker  Piaton  u.  a.  am  Hof  des  Königs  Archelaos  von 
Makedonien  begegnen. 3)  Nach  dem  Vorbild  des  Phrj^nichos  und  Aischylos 
wählte  er  zu  seinem  Epos  Ileoofjk  (IleQotxd  bei  Herodian)  den  Stoff  aus 
der  Zeitgeschichte.  Schön  begi'ündet  er  in  dem  erhaltenen  Proömium 
diesen  seinen  Plan  damit,  daß  dem  Diener  der  Musen,  nachdem  alles  ver- 
teilt sei,  nichts  übrig  bleibe,  als  einen  neuen  Weg  zu  suchen.  Die  Perseis 
hatte  ihren  Mittelpunkt  in  dem  Sieg  der  Athener  über  den  Perserkönig 
Xei-xes;  durch  Volksbeschluß  der  Athener  erhielt  sie  die  Ehre  mit  den 
Gedichten  des  Homer  öffentlich,  vermutlich  an  den  Panathenäen,  vorgelesen 
zu  werden  (Suidas).  Ein  zweites  Gedicht  des  Choirilos  2a//iaxa  ist  früh- 
zeitig verschollen.^)  Diesem  will  D.  Mülder  (Klio  7,  1907,  42  f.)  fr.  6  K.  zu- 
weisen. Die  Abhängigkeit  des  (choirilos  von  Herodot  ist  offenbar.^)  Die 
Darstellung  war  sehr  gewandt  und  besonders  reich  an  kühnen  Bildern.«) 
Im  4.  Jahrhundert  war  der  Dichter  noch  wohl  bekannt  und  gelesen.') 

Verschollen  sind  die  epischen  Erzeugnisse  der  gleichzeitigen  Dichter 
Nikeratos  von  Herakleia  (panegyrisches  Epos  auf  Lysandros),  des  So- 
phisten Antiphon  von  Athen,  der  Xoyoßmyeiooc  genannt  wurde,  des  Epi- 
lykos,  Bruders  des  Komikers  Krates,  des  Lyrikers  Melanippides  von 
Molos  und  des  lambographen  Aischrion  {"Kqtatg  bei  Tzetz.  ad  Lycophr.  68). 

Die  Zukunft  gehörte  der  Richtung  des  Anti machos.  Er  ist  Sohn 
des  Hyparchos  aus  Kolophon,**)  Schüler  des  Panyassis  und  Stesimbrotos,*) 
lebte  zur  Zeit  dos  peloponnesischen  Krieges  bis  in  die  Regierungszeit  des 
Artaxerxes  II.  hinein,  »ö)  Piaton  zollte  seinen  Dichtungen  hohe  Anerken- 
nung und  veranlaßte  seinen  Schüler  Herakleides  Pontikos  zu  ihrer  Samm- 
lung und  Herausgabe.  ^0  Vielleicht  erst  nacli  einem  Mißerfolg  auf  dem 
Gebiet  der  historischen  Epik^^)  wendete  er  sich  einem  alten  mythologischen 
Stoff  zu  in  seiner  Thebais,  aus  der  Zitate  bis  zum  5.  Buch  vorliegen.    Das 

*)   Choerili  Saniii  quae   supersunt    coli.   ;    Über    seine    Vergleichung    mit    Homer    A. 
F.  Naekk,  liijjs.  IH\7.  KiEssLiNo  zu  Hör.  ep.  II  8.  357. 

2)  IMut  Lysand.  l-^.  »)  Claiiiis  heißt  er  bei  Ovid.  Trist.  I  6. 1 

^)  Marcellinus  vit.  Thuc.  29.  ';   nach    dem    benachbarten    Klaros.    —    Über 

einen  angeblich  älteren  Epiker  Antimachos 
ans  Teos  s.  0.  Immiscd.  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl. 
17  (18901  129  f. 


•*)  Verschieden  von  dem  Verfasser  der 
Perseis  ist  der  Epiker  ('hoiiilos  aus  lasos  in 
Karien.  der  Herold  der  Ruhmestaten  Alexan- 


dres', der  durch  Horaz  epist,  II  1,  232  ff.  u.  3,  *)  Suid.  s.  'AvrifuixoQ. 

357  f.  eine  traurige  Berühmtheit  erlangt  hat.  *")  Unter  Artaxerxes,  d.  h.  a.  404.  setzt 

^)  Daß   fr.  4,  2   ein  Mißverständnis  von  i   .seine  Blüte  Diodor  X 111 10«  nach  dem  Chrono- 

Hdt.  Vll  70  vorliege,  hat  E.  Petersen  erwiesen  graphen  Apollodoros. 

(P.  Kkktsoiimer,  Einl.  in  die  Gesch.  d.  griech.  '            **)  Cic.  Brut.  191  läßt  ihn  sagen:  Plato 

.S|)r.  393).    Umgekehrt  läßt  D.  MüLDKK,  Klio  7  mihi  unun  instar  est  vvntnm  milium.     Plat. 

(19U7)  29  ff   den  Herodot  von  Ch.  abhängen,  !    Ly.*4and.  IS;    vgl.  Procl.  in  Plat.  Tim.  T.  I 

den  er  deshalb    über  Herodot  hinauf  datiert  !    p.  90,  21   Dieiil.    Herakleides  Pont,  bei  Pro- 

und  von  dem  Hofdichter  des  Lysandrosscheidet.  j   klos   zu    Plat.  Tim.  1.  1.   erzählt    von   einer 

^)  .Vristot.   top.  VIII  1  p.  153a  14    vgl.  I   »Sammlung  der  Uedichte  des  Antimachos,  die 

fr.  9.  11.  12  K.  I    er  auf  Veranlassung  Piatons  gemacht  habe. 

^)  Aristoteleskennt.  Ephoros(Strab.p. 303)  ")  Im  Wettbewerb  um  Ly.sandros'  Gunst 
benützt  ihn.  losephos  kennt  ihn  nicht  mehr  mit  einem  iyxtouiov  ktixuv  stach  ihn  Nike- 
direkt (A.  V.  (lUTscHMiD,  Kl.  »Sehr.  IV  577  f.).  ,   ratos  aus  (Plut.  Lvs.  18). 


A.  Epos.    6.  Die  späteren  Epiker.    (§§  78—79.)  131 

Epos  holte  sehr  weit  aus  von  der  Urgeschichte  Thebens  an  und  war  reich 
an  Episoden,  0  die  dem  römischen  Epiker  Statins  zum  Vorbild  gedient 
haben.*)  Litterarhistorisch  bedeutsamer  ist  das  große,  mindestens  2  Bücher 
umfassende  elegische  Gedicht  Äi)d}],  in  dem  er  sich  über  den  Tod  seiner 
Frau  Lyde  durch  Erzählung  unglücklicher  Liebesverhältnisse  der  mythischen 
Vorzeit  zu  trösten  suchte.  Vorbild  war  der  Kranz  erotischer  Erzählungen, 
den  Mimnermos  seiner  Geliebten  Nanno  geweiht  hatte,  und  die  Lyde  wieder 
ist  nebst  der  Bittis  des  Philitas  Vorbild  der  erzählenden  Liebeselegie  der 
Alexandriner  geworden,  so  sehrauch  Kalhmachos  die  Nase  über  sie  rümpft.^) 
71).  Die  ästhetische  Beurteilung  des  Antimachos  spielt  in  dem  großen 
Kampf  der  Geschmacksrichtungen,  der  im  3.  Jahrhundert  entbrannte,  eine 
Hauptrolle.**)  Für  Antimachos  stehen  Piaton,  dem  sich  später  die  Neu- 
platoniker  hierin  anschlössen.^)  Lykophron,^)  Apollonios  von  Rhodos,'')  Ni- 
kandros,^)  Asklepiades  (Anth.  Pal.  IX  63),  Krates  von  Mallos,»)  gegen  ihn 
Kallimachos  und  sein  Nachbeter  Euphorien.  *o)  Seine  Tadler  setzen  an  ihm 
Breite,  Rauheit, -Mühseligkeit  und  Qezwungenheit  des  Ausdrucks  aus.*^)  Wir 
können  aus  den  spärlichen  Fragmenten  nur  einige  Besonderheiten  der 
äußeren  Technik  entnehmen.  Zunächst  die  Vorliebe  für  glossematischen 
Ausdruck;  Antimachos,  der  ja  auch  eine  Homerausgabe  gemacht  hatte,**) 
suchte  seiner  Sprache  einen  neuen  Reiz  zu  geben,  indem  er  sie  übersäete 
mit  seltenen,  veralteten,  zum  Teil  mißdeuteten  Wörtern,  die  dem  raffinierten 
Geschmack  des  Kenners  wie  Edelsteine  auf  kostbarem  Gewebe  funkeln 
mochten.  Außerdem  fällt  die  Häufigkeit  der  Verse  mit  Spondeus  im  5.  Fuß 
auf. '3)  Diese  beiden  Eigentümlichkeiten  haben  die  Alexandriner,  vor  allen 
auch  Kallimachos,  der  Verächter  des  Antimachos,  übernommen.  Zur  Zeit 
des  Klassizismus  hat  er  einen  Verehrer  in  dem  Freund  alles  Kapriziösen, 
Kaiser  Hadrian,  gefunden. i^) 

Die  Reste  der  ßrjßalg  (von  R.  Reitzenstkin,  Index  lect.  Rostock.  1890/91  p.  9  um 
zwei  neue  vermehrt)  und  des  fast  verschollenen  Gedichtes  AeXzot  bei  (1.  Kinkel,  Fragm.  ep. 
273  I  308;  die  der  Avötj  bei  Tu.  Bergk,  P.  L.  II*  611  ff. 

*)  Der  Vorwurf  der  Breitspurigkeit,  der  ®)  Porphyr,  bei  Euseb.  praep.  ev.  X  3,  20. 

dem  A.  öfter  gemacht  wird   (Cic.  Brut.  191;    j  ")  Eine  Schrift   des   Ap.    über  Ant.   ist 


Schol.  Stat.  Theb.  III  466;  Plut.  de  garrul 
p.  513b)  kann  sich  zwar  immer  auf  die 
Lyde  beziehen,  die  von  Kallimachos  (fr.  74  b 


bezeugt  (Berliner  Klassikeitcxte  III,  1905,  27). 
Nachahmung  des  Ant.  bei  Ap.  ergibt  sich  aus 
den  Apolloniosscholien. 


ScHN.)   jraxi'    ygafifta   xnl   ov   tooov  genannt  j  **)  Schol.  Nie.  Ther.  3. 

wurde,  scheint  aber  auch  auf  die  Thebais  zu  j  ®)  C.  Wachsmuth,  De  Crat.  Mall.,  Leipz. 

passen.  1860,30. 

«)  Schol.  Stat.  Theb.  III  466.  Ein  sicherer  >")  Callim.  fr.  74  b  Sohn.;    A.  Meineke, 

Nachweis  weitergehender  Benützung  durch  Sta-  |   Anal  Alex.,  Berl.  1843.  30  ff. 


tius  ist  übrigens  noch  nicht  geführt  (E.  Eiss- 
FELDT,  Beiträge  zu  den  Quellen  des  Statius, 
Helmstedt  1900).  Über  die  nachhomerischen 
ThebaYden  überhaupt  F.  G.  Welcker,  Kl. 
Sehr.  I  395. 

»)  E.  RoHDE,  Griech.  Roman«  77  ff.  Eine 
Epitome  aus  der  Lyde  erwähnt  Phot  cod.  213. 

*)  Belege  für  Antimachos'  Stellung  im 
Epikerkanon  G.  Wentzel,  Roalenrykl.  I  2435. 

*)  Longinos    (Suid.   s.  v.)    verfaßte    ein 


»»)  Dionys  Halic.  de  imit.  p.  204,15  Us. 
imd  de  comp.  verb.  22 ;  ähnlich  Quint,  inst. 
X  1,  53;  Pluterch  Timol.  36,  der  an  ihm  die 
Kraft  [ioyvv  >cai  toi'ov)  ruhmt,  aber  die  Anmut 
(;if«oo')  veiTnißt. 

^'*)  M.  Senoebusch,  Diss.  Hom.  I  197. 
Sein  Glosscngebrauch  läßt  auf  ein  eigen- 
artiges System  der  Etymologie  schließen,  in 
dem  auch  das  Prinzip  der  Deutung  xm'  dvil- 
ffiHwir  (fr.  92  K.)  vorkam. 


Antimachoslexikon,  Plotinos'  Schüler  Zotikos  ^')   Schon    bemerkt  von  Porphyrios  bei 

befaßte  sich  mit  Antimachoskritik  (Porphyr.    '■   Euseb.  praep.  cv.  X  3,  20. 
Vit.  Plot  7).  I  »*)  Spart.  Hadr.  15;  Dio  Cass.  LXIX  4. 

9* 


132 


Griechische  Litteraturgeschichte.    L  ElassiBche  Periode. 


80.  Die  philosophischen  Lehrgedichte  {cpiXoooq^a  Sjirj)  waren 
Ausläufer  des  didaktischen  Epos  und  auch  stilistisch  von  diesem  beeinflußt/) 
Die  Theogonie  des  Uesiod  galt  und  gilt  auch  jetzt  noch  als  die  Vorhalle 
der  philosophischen  Spekulation.  Die  Sitte  der  frühsten  ionischen  Philo- 
sophen, nur  im  Kreise  ihrer  Schüler  mündlich  zu  lehren,  aber  keine 
Schriften  ^hinauszugehen"  {ixdovvai)^^)  weicht  vom  Ende  des  6.  Jahrhunderts 
an  dem  Bestreben,  auch  weitere  Kreise  für  die  Lehrmeinungen  zu  inter- 
essieren, aufzuklären,  für  sittliche  oder  religiöse  Anschauungen  Propaganda 
zu  machen.  Dazu  eignete  sich  der  Stil  nüchterner  prosaischer  Erörterung 
nicht  —  das  Gebotene  und  Zeitgemäße  war  die  Fassung  in  epischer  Form 
für  den  Vortrag  ganzer  Systeme,  in  lyrischer  für  vereinzelte  Flugschriften; 
Satiren  konnten  sich  auch  an  die  parodierenden  Epen  anschließen. 

Der  Erste,  der  den  Samen  der  Philosophie  als  wandernder  Rhapsode  ') 
kühn  über  die  ganze  Breite  der  griechischen  Welt  von  lonien  bis  nach 
Sizihen  ausgestreut  hat,  ist  Xenophanes  aus  Kolophon,*)  der  Gründer  der 
eleatischen  Schule.^)  Er  blühte  in  der  2.  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts*^)  und 
brachte  aus  seiner  Heimat,  einer  alten  Pflegestätte  homerischen  Gesangs, 
die  er  bei  dem  Persereinfall  c.  540  fünfundzwanzigjährig  verließ,  die  Übung 
des  rhapsodischen  Vortrages  mit.  Er  dichtete  selbst  in  der  Manier  der 
Genealogen  die  Epen  Kokofpclfyvoq  ycriois  und  ^Ajioixiojudg  elg  ^Ekeav  rfjg  ^Iraila^ 
(Diog.  IX  20).  Aber  größere  Berühmtheit  brachten  ihm  das  philosophische 
Lehrgedicht  Jieol  (pvoecog  und  die  gegen  Philosophen  und  Dichter  gerichteten 
Spottverse   (Silloi).^)     Als   Vertreter  des  Monotheismus  eiferte   er  leiden- 


M  Für  Parmenides  s.  H.  Diels,  Parmeni- 
des'  Lehrgedicht  Berl.  1897.  S.  4  ff. 

'j  Der  alten  Philosopliensitte  blieben 
noch  späterhin  Sokrates,  Pyrrhon.  Arkesilaos, 
Kameades  treu. 

*)  Diog.  Laert.  IX  18  «rroc  Fonaifut^Et  xa 
eaviov. 

*)  Die  Re.ste  gedruckt  in  den  älteren 
Sammlungen  der  Fragmente  der  griechi.sc]ien 
Philosophen  von  Ritter- Preller,  Karsten.  Mul- 
lach, jetzt  in  dem  Hauptwerk:  Poet^irum 
philosophonim  fragni.  ed  H.  Diels,  Berl.  1901 
=  Fragm  poet.  Graec.  auctore  Ud.  de  Wila- 
MowiTZ  coli  et  ed.  III 1  (Berl.  1901),  ebenso  bei 
H.  Diels.  Die  Fragmente  der  Vorsokratiker, 
Berl.  19U8  (mit  deutscher  Übersetzung).  —  In 
der  römischen  Zeit  ist  das  Interesse  für  die 
philosophischen  Lehrgedichte  wieder  erwacht: 
Lucrez  ist  von  Empedokles  beeinflußt,  und 
Schriftsteller  des  2.  und  3.  nachchristlichen 
Jahrhunderts  wie  Clemens  AI.,  Origenes, 
Porphyrios  zitieren  diese  Gedichte  häuiUg. 

'")  Plut.  soph.  242  d.  Auf  die  Lehre  vom 
Alleinen  scheint  übrigens  X.  nach  Timon  von 
Phliuö  fr.  59  D.  erst  in  höherem  Alter  ge- 
kommen zu  sein. 

**)  E  Zellek,  Die  Philosophie  der  Grie- 
chen P,  Leipz.  1892. 521 ;  die  Zeit  des  X.  wurde, 
wie  es  scheint,  orientiert  nach  dem  Einfall  des 
Harpagos  (Ol.  60»,  den  er  (fr.  22  D  )  erwähnte, 
mit   dem   also   seine   Blüte   1^40.  Lebensjalu*) 


gleichgesetzt  wurde  (Diog.  Laert.  IX  20).  Dem- 
nach war  seine  Gebuii  in  Ol.  50  zu  setzen, 
wie  auch  Apollodoros  getan  haben  wird  (bei 
Clem.  AI.  Strom.  I  353  P.  wäre  also  statt  i/ 
zu  lesen  >•',  ebenso  S  Emp.  adv.  math.  I  257j. 
Den  Ansatz   des  Eusebios  auf  Ol.  56  (bezw. 
59)  sucht  E.  RoHDE,  Kl.  Sehr.  I  143,  1  aus 
I   anderen    Synchronismen    zu    erklären.     Dai 
I   er  über  91  Jalure  geworden   ist,   bezeugt  er 
selbst  (fr.  S  D  ),  ebenso  (nach  der  ansprechen- 
den Kombination  von  Diels  zu  fr.  8),  daß  er 
>   zur  Zeit   des  Medcreinfalls  25  Jahre  alt  ge- 
wesen (wodurch  Apollodoros'  Ansatz  der  äxfii) 
I   widerlegt  wird).     Sein  Geburtsjahr  ist  somit 
!   etwa  5ß5,  gelebt  hat  er  noch  frühestens  474, 
also  hat  die  Angabe  des  Timaios  (fr.  92  M. 
Plut.  apophth  reg.  p.  175  c).  er  habe  noch  den 
Hieron  (regierte  seit  478 )  erlebt,  ihre  Richtig- 
keit    Dazu  stimmt,  daü  X.  den  Pythagoras 
I   kennt,   den  er  als  Erster  in  der  griech.  Lit- 
teratur  erwähnt  (fr.  7  \}.},  und  daS  ihn  Hera- 
kleitos  (fr.  40  D.j  kennt. 

^    Dali    er    solche   Sillen    geschrieben, 

wenn   der  Titel  oakoi   auch   erst  später  der 

j   Dichtung    gegeben    sein    sollte,     überliefert 

:   Strabon   p.  643   und  erweist  C.  Wacusmüth 

in  Coq)Usc.  po6s.  ep.  Gr.  ludib.  II  (Lips.  1885) 

,    55  ff.     Identisch   mit  den  oüloi  werden  die 

I   bei  Ath.  Il54e  zitierten  .lanuHMai  sein.  Stellen 

über  den  Begriff  der  oikkoi  H.  Diels,  Poet. 

phiL  fr.  p.  181  f. 


A.  Epos.    6.  Die  spftteren  Epiker.    (§  80.)  133 

schaftlich  gegen  Homer  0   und  Hesiod,   die  bei   den  Menschen   unwürdige 
Vorstellungen  von  den  Göttern  verbreitet  hätten;  berühmt  sind  die  Verse: 

Tidvra  '^edig  dv^rjxav  "Ofirjoög  '&'  'Hoiodog  re, 

Sooa  nao*  äv&QWitoiaiv  öveidea  xal  y)6yog  ioriv  .  .  . 

(bg  TtXeiOT    iq?äey^avro  t%(bv  di^ejutoria  sgya, 

xkijtxBiv  /Ltoi^eveiv  re  xal  dXkijXoug  djiareveiv. 
Hohen  Ansehens  erfreuten  sich  auch  seine  uns  zum  Teil  noch  erhaltenen 
Elegien,  in  denen  er  in  edler  Sprache  den  Vorzug  der  Lehren  der  Weis- 
heit vor  den  törichten  Anschauungen  des  großen  Haufens  preist  und  eine 
neue,  gehaltvollere  Art  von  Unterhaltung  beim  Gelage  einzuführen  sucht. 
Parmenides,^)  Sohn  des  Pyres  aus  Elea,  der  angesehenste  unter 
den  eleatischen  Philosophen,  der  außer  Xenophanes  auch  den  Pythagoreer 
Ameinias^)  hörte,  blühte  nach  Diog.  Laert.  IX  23  in  der  69.  Olympiade  ca. 
504.*)  Sokrates  soll  als  ganz  junger  Mann  (Plat.  Theaet.  183e,  soph.  217c) 
den  hochbetagten,  nach  Piaton  Parm.  127  b  65  Jahre  alten  Parmenides,  der 
von  Italien  nach  Athen  gekommen  war,  gehört  haben.  Dichterische  Origina- 
lität und  Bedeutung  seines  Lehrgedichtes  Jiegl  q^vaecog  ist  von  den  Alten  mit 
Recht  ^)  nicht  hoch  angeschlagen  worden.  Auch  die  imponierende  Schil- 
derung im  Eingang,  wie  er,  von  den  Sonnentöchtem  geführt,  zu  dem 
Heiligtum  der  Weisheit  aufgefahren^)  sei  und  dort  aus  dem  Mund  der 
Göttin  die  Lehren  der  ewigen  Wahrheit  und  die  trügerischen  Meinungen 
der  Sterblichen  erfahren  habe,")  ist  aus  der  orphischen  Visionslitteratur 
geborgt.  Sonst  wirkt  namentlich  die  hesiodische  Didaktik  ein.  Bestritten 
ist  die  Frage,  ob  Parmenides,  angeregt  von  den  Pythagoreern,  schon  die 
Lehre  von  den  Erdzonon  (pT€q?drat)  vorgetragen  habe.^) 

Empedokles,  Sohn  des  Meton  von  Akragas,  aus  berühmtem,  vor- 
nehmem Haus^)  (geb.  frühstens  495),  i^)  leistete  im  philosophischen  Lehr- 
gedicht das   Höchste   unter   den  Griechen,   so   daß   der  römische   Dichter 


')  "OjUTjgcuzditjt;  Fjrtxojrrtfg  nennt  ihn  Timon  ®)  Eine   neue   Anschauung ,   wonach   es 

von  Phlius  fr.  60  I).,  einen  neuen  Herakles,  der  1   sich    nicht   um    eine   Himmelfahrt,    sondern 

das  Untier  ,  Homerschwindel  *  niederschlägt.  |   eine  Höllenfahrt  handle,  vertritt  O.  Gilbert, 

«)  llaQßtevtdfjg,  nicht  IlaQfisreidfjg  ist  die  ;    Arch.  f.  Gesch.  der  Philos.  20  (1907)  25  ff. 

richtige  Form  nach  F.  Blass,  Fegag,  Festschr.  j           ")  Die    Fragmente  jetzt   bei    H.  Dikls, 

f.  Fick,  Göttingen  1903,  l  ff.  Vorsokr.^  108—129. 

•)  Diog.  IX  21  und  dazu  H.  Diels,  Herm.  *)  Behauptet  und  gegen  die  Einwendungen 

35  (1900)  196 ff.;  E  Rohde,  Psyche  II»  158,  2.  von  H.  Diels  (Lehrged.  104)   verteidigt  von 

*)   Die  auf  ApoUodoros    zurückgehende  H.  Bergek.  Ber.  der  sächs.  Ges.  d.  Wissensch. 

Zeitbestimmung  steht  in  Widerspruch  mit  der  47(1895)59;  Geograph.  Zeitschr.  11  (1905)492. 

Überlieferung  des  Piaton,    der   aber   keinen  *)  Sein  Großvater  siegte  496  mit  einem 

Anspruch   auf  geschichtliche  Zuverlässigkeit  |   Renner  in  Olympia  (Diog.  VIH  51). 

erhebt,   wie  F.  Jacoby,   Apollodoi-s   Chronik  ^*)  Der  früheste  mögliche  Ansatz  seiner 

232  ff.  richtig  betont.   Für  die  zeitliche  Fixie-  Lebenszeit  ist  495 — 435.   weil   er  jedenfalls 

mng  des  P.  ist  seine  scharfe  Polemik  gegen  i   etwas  jünger  als  Anaxagoras  and  Parmenides 

Herakleitos  von  Bedeutung  (alles  Wesentliche  |   sein  muß  (so  E.  Zeller),   der  späteste   mög- 

darüber  bei  H.  Diels,  Parmenides' Lehrgedicht.  )    liehe,    weil   er  den    sizilischen   Krieg   (doch 

Berl.  1897,  69 ff.;  sehr  breit  ohne  sichere  neue  offenbar  den  von  415)  nicht  mehr  erlebt  hat, 

Ergebnisse  H.  Patin,  Jahrbb.  f.  cl.  Alt.  Suppl.  475—415.     Daß   er   60  Jahre   alt  geworden 

25,  1899,  491  ff.).    Wenn  Herakl.  sein  Buch  sei,  ist  durch  Aristoteles  (bei  Diog.  VIII  52. 

wahrscheinlich  etwa  490  verfaßt  hat.   so  ist  74 1   gut  bezeugt.     Die  Gleichsetzung   seiner 

damit  für  das  Gredicht  des  P.  ein  terminus  post  1    Blüte    mit    der    Gründung   von   Thurioi    bei 

qnem  gegeben.  ApoUodoros  (Diog.  VIII  52)   beruht  lediglich 

*)  H.  Diels,  Parmenides*  Lehrgedicht,  4  f.  |   auf  der  Tatsache,  daß  er  Thurioi  besucht  hat, 


134  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

Lucrez  voll  Bewunderung  zu  ihm  hinaufschaute  und  hauptsächlich  an  ihm 
sich  bildete.*)  Für  das  Wohl  seiner  Vaterstadt  wirkte  er  in  einflußreicher 
Stellung. 2)  Zugleich  ragte  er  durch  reiches  Wissen  in  der  Heilkunde,') 
Rhetorik*)  und  Philosophie  hervor,  endigte  aber  infolge  der  Mißgunst  seiner 
politischen  Gegner  fern  von  seiner  Vaterstadt  im  Peloponnes.*)  Schon  im 
Leben  nicht  frei  von  pathetischer  Überhebung^)  und  geheimnisvoller  Wichtig- 
tuerei, ^)  ward  er  vollends  nach  seinem  Tod  zu  einem  Wundermann  ge- 
stempelt. Ohne  Zweifel  haben  dazu  romanhafte  Ausschmückungen  in  einem 
Dialog  des  Herakleides  Pontikos»)  beigetragen.  Nachdem  er  einst,  so  er- 
zählten die  einen, ^)  ein  totes  Mädchen  zum  Leben  wieder  erweckt  hatte, 
veranstaltete  er  ein  großes  Opfermahl,  und  wurde  dann  in  der  Nacht, 
während  die  anderen  schliefen,  von  einer  geheimnisvollen  Stimme  ins 
Jenseits  abgerufen.  Die  anderen  fabelten,  er  sei  auf  den  Ätna  gestiegen 
und  habe  sich  selbst  in  den  Krater  gestürzt,  um  seine  Gottähnlichkeit  zu 
besiegeln.  1")  Seine  Blüte  wird  Ol.  84,  d.  i.  gleichzeitig  mit  der  Gründung 
der  athenischen  Kolonie  Thurioi  (444)  gesetzt.  Er  hat  zwei  philosophische 
Gedichte  hinterlassen, '0  ©i"  theoretisches  :if(ji  q^voEOK^  an  seinen  Freund, 
den  Arzt  Pausanias  gerichtet,  in  dem  er  seine  Lehre  vom  Streit  (Neixog) 
und  der  Liebe  (^Pddrrjg)  und  die  so  ungemein  weit  wirkende  von  den 
vier  Elementen  1*)  entwickelte,  und  ein  ethisch-religiöses,  Kai^ag^wi  betitelt, 
in  dem  er,  ausgehend  von  der  Lehre  der  Seclenwanderung,  seine  Mitbürger 
zur  sittlichen  Reinigung  aufforderte.  Von  beiden  haben  w^ir  nur  Fragmente, 
aber  ziemlich  zahlreiche  und  solche  von  größerem  Umfang.  Poetisch 
schön  ist  besonders  die  Schilderung  von  dem  goldenen  Zeitalter,  wo 
statt  des  Kriegsgottes  die  mild  herrschende  Kypris  unblutige  Opfer  erhält 

will   aber   nicht  peinlich    jjjenau    genommen  '   Timaioa. 

werden.  i           ^)  Dlog.  VIII  «(J   führt    zum   Beleg   die 

^)  JjUcrA12(yf(. :  QMte(Sicilin)cHm  magna  |    Wolle   an:    A'mWr',   Fy<o  d^  vftfur   &f6g   ä/n- 

modift  ffiuÜis  miranda  videtuVj ....  NU  tarnen  fiooja:,  ovyJn  ßrt/zo^  n<oi.(vfiat. 

hoc    hnhuisAe    riro   prneciarius    in    sfy    Nee  ')  Diog.  VITl  59. 

satictum  mfiffis  et  mir  um  carnmque  ridetur;  **)  Heraclid.  Pont.  fr.  77  Vo88. 

Carmina    quin    etiam    divini   pectoris    eius  *»    Diog.  VII l    <)7  f.    nach    Herakleides 

Vociferantur  et  exponunt  praeclara  rejHfrtny  Pontiko.s. 

Ut  rijT  humann  rideatur  stirpe  creatus.  Vgl.  ^^)  Diog.  VI  11^)9.  Horat.  a.  p.  464.   Schon 

das  Urteil   des  jugendlichen  Aristoteles   bei  Timon  in  seinen  Sillen  hatte  die  Großtuerei 

Diog.  VIII  57.     Weniger    günstig    derselbe  des  Kmpedokles  zur  Zielscheibe  seines  Spottes 

später  meUipli.  985a  5  [ij^Fkki'toihu);  Cic.  Acad.  gemacht.    Siehe  E.  Rohde,  Psyche  II*  173,  3. 

II  74  stellt  ihn  hoch.  "iDaß  es  nur  2  waren,  beweist  H.Diels, 

2)  E. Meyer.  (Jesch.d.  Altert.  III  042  f.  —  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  lsl»S.  403.   Da  er  in  seiner 

Er  selbst  .schildcii  (fr.  112  Diels)  glänzend,  Heimat  wahrscheinlich  die  ersten  philosophi- 

wie  er  als  WundeiTuann  hoch  gefeiert  durch  sehen    Einflüsse    von    pythagoreischer   Seite 

die   Städte    zog.     Daß    er  Sturmzauber  und  empfangen   hat,  so  werden  die  stark  pytha- 

Beschwörung  gebraucht  hat,  ist  sicher  bezeugt.  gorisierenden  KnOaouni  das  frühere  Gedicht 

^)  über  seine  Bedeutung  als  Hau]>t  der   ,   sein,  die  weit  selbständigere  Darstellung  des 

sizilischen    Aerzteschule    s.  M.   W'ellman>%  Systems  in  .Tfoi  7  vofu}^  das  spätere,  wie  das 

Fragmentsammlung  der  griecli.  Arzte  1,  Berl.  von  Bidcz  angenommen  ist. 
1901.  15  tf.  85  ff.     Gegen   diese  spekulative  '*)  Sie  wäre  nach  Schol.Medic.  zu  Aeschyl. 

Medizin  Hippocr.  .7.  nox.  it/rn.  20.  Prom.  S8  schon  von  Aischylos  übernommen; 

*)  Satyros  nach  Diog.VlII58  macht  den   ,   Piaton  im  Timaios  hält  an  ihr  fest  (Th.Gom- 

(rorgias  zu  seinem  Schüler.    Danach  (^uintil.  perz,  Grioch.  Denker  II,  Leipz.  1903,  490);  in 

III  1.  8.     H.  Diels.  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1884.  der  Medizin  ist  an  sie  die  Lelue  von  den  vier 
343  if .  Temperamenten  angeschlossen  worden  (C.  Fre- 

-)  Diog.  VIII  67  nach  den  Angaben  des      brich,  Hippokrat.  L'nters.,  Berl.  1898,  27  ff.)- 


B.  Lyrik.    Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Gattungen.    (§§  81--82.)  135 

(fr.  128  D.).  Das  Gedicht  Tiegi  tpvoecog  sucht  eine  rationale  Erklärung 
der  Vorgänge  in  der  Erscheinungswelt  auf  dualistischer  Grundlage,  unter 
Vervielfältigung  der  entgegengesetzten  Begriffe  von  Stoff  (4  Elemente) 
und  Kraft  (q)d6Tr]g  und  veixog),  während  die  xadagjuoi  eine  spiritualistische 
Mystik  im  ethischen  Gebiet  ausführen.  Ob  sie  zwei  Marksteine  in  der 
Entwicklung  des  Dichters  darstellen,  der  also,  sei  es  von  der  Mystik  zum 
Rationalismus,^)  sei  es  vom  Rationalismus  zur  Mystik*)  übergegangen 
wäre,  oder  ob  Empedokles  immer  zwiespältig  gewesen  sei, 3)  ist  bestritten. 
Offen  bleibt  die  MögUchkeit,  daß  Empedokles  auch  Prosaschriften  ge- 
schrieben habe.**) 

81.  Dem  alten  Epos  blieb  sein  Einfluß  auf  die  griechische  Kultur 
erhalten  dadurch,  daß  es  in  den  Schulen  seit  dem  6.  Jahrhundert  gelesen^) 
und  von  Rhapsoden  vorgetragen  wurde,  teils  in  freier  epideiktischer  Weise 
bei  verschiedenen  Gelegenheiten,  teils  in  agonistischer  Fonn,  fest  ein- 
gegliedert in  staatlich  angeordnete  Götterfeste  (s.  o.  S.  71).  Als  vom 
4.  Jahrhundert  an  den  Theat^raufführungen  die  konzertartigen  dydjveg 
^fiehxoi  zur  Seite  traten,  behielt  hier  in  der  Abfolge  der  Vorträge  die  Re- 
zitation einer  Partie  aus  dem  alten  Epos  durch  einen  Rhapsoden  immer 
die  erste  Stelle;  erst  nach  ihm  folgt  der  Ittcov  noiTjrrjg  mit  einer  neuen 
Dichtung.  <5) 

B.  Lyrik.') 
Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Gattungen. 

82.  Das  Bezeichnende  für  die  Gattung  von  Gedichten,  die  wir  lyrische 
nennen,  bestand  für  die  Alten  in  der  rhythmischen  und  melodischen  Regu- 

*)  So  J.  BiDEZ,   La  biographie  d'Erape-  siod     schließlich    Werke    wie    die    fiovmxrf 

docle,  Gent  1894.  iorooia  des  Aelius  Dionysius  und  die  Chresto- 

*)  So  H.  DiELS  a.  a.  0.  maÜiie   des   Proklos.   —   Neuere  Litteratur: 

»)  So  E.  RoHDE,  Psyche  IP  174  f.  182  f.,  F.  G.  Welcher,  Kleine  Schriften,  Bonn  1844, 

dessen  Ansicht  W.  Nestle,  Philol.  65  (1906)  3  Bände,  von  denen  die  2  ersten  wesentlich 

545  flf.  näher  ausführt  und  modifiziert.  Stark  fällt  den  Lyrikern  gewidmet  sind;  H.  Flach.  Ge- 

för  diese  Ansicht  ins  Gewicht,  daß  fi-.  115  D.  schichte  der  griech.  Lyrik,  Tüb.  1884,  2  Bände, 

offenbar(nachPlut.deexil.l7  ,fKdr>;f/y  rr/s  r/äo-  ohne   Pindar;   E.  Nageotte,   Histoire   de    la 

ö09r/a^*)indasLehrgedicht.Tfoi7iWoKgehört.  poesie   Ivrique  grecque,  Par.  1889.   2  Bände, 

*)H.DiEL8,Berl.  Ak.Sitz.ber.  1898,  397.  bis  Pindar  incl.     Letzter  Bericht   über   die 

»)  Xenophan.  fr.  10  D.  griech.   Lyriker   von  1898—1906    (mit  Aus- 

•)  J.  Frei  ,    De   certaminib.   thymelicis,  nähme  Pindars)  von  J,  Sitzler  in  Jahresber. 

Basel  1900,  20.  25.  57  ff.  "  üb.  d.  Fortschr.  d,  klass.  Altertumswiss.  133 

")  Die  antike  Litteratur   zur  Geschiclite  (1907)  104—322.  —  Poetae  lyrici  graeci.  rec. 

der  Lyrik   beginnt,   wie  es  scheint,   mit  der  Th.  Berok.  4.  Aufl.,  Leipz.  1878.  82,   3  Teile 

wichtigen  Schrift  des  Glaukos  von  Rhegion  (kleiner    Fragnientenzuwachs  aus  Phot.  lex.: 

über   musische   Aufführungen,    die   Plut.  de  R.  Rkitzknstein ,  Der  Anfang   des  Lex.  des 

mos.  benützt;   es   folgen   die  biographischen  Phot.,  Leipz.  1907,  XXVI;  die  neuen  Papyrus- 

nnd  Musik  betreffenden  Arbeiten  des  Aristo-  fragmente    s.   bei   den    einzelnen    Dichtem); 

xenos  von  Tarent  und  anderer  Peripatetiker  Anthologie   aus   den  Lyrikern  der  Griechen, 

(besonders  Dikaiarchos  jifQi  fjovatxcjv  «j'r/^iwr,  erklärt  von  E.  Buchholz.  I.  5.  Aufl.  besorgt 

Biographien  des  Chamaileon  u.  a.),  zusammen-  von   R    Peppmüller,  Leipz.  1900,  II.  4.  Aufl. 

fassende   Darstellungen  jtfoi  fif-Xo.iown'  von  von  J.  Sitzler.  1898;  Anthol.  lyr.  praeter  Pin- 

Istros  (C.  Müller,  FHG  I  425)  und  Euphorien  darum  ed.  E.  Hiller  1890  in  Bibl.  Teubn.,  neu- 

(ibid.  III  73).  JiFQt  XvQixcöv  von  Didymos  (M.  bearbeitet   von  0.  Crusius.  1897.   1903.  07. 

SoHHiDT,  Didymi  fragm.  Lips.  1854  p.  380  f.),  Wilamowitz,  Die  Textgeschichte  der  griech. 

die  Spezialschrift  JieQi  vo^wjzoicüv  eines  Theo-  Lyriker    in    Abh.   der   Gott.   Gesellsch.    der 

doros  (Diog.  Laert.  II  103).     Sammelbecken   ,   Wissensch.  N.  F.  IV  3,  1901. 


136  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

lierung  des  vorgetragenen  Worttextes  und  in  dem  Hinzutritt  eines  be- 
gleitenden Instrumentes,  sei  es  der  Lyra  (Kitharis,  Phorminx)  oder  des 
Aulos.  Die  Vortragsweise  heißt  ffdetv^)  im  Gegensatz  zu  xaxaleyeiv^  und 
es  gibt  nun  xiOaofpdia  und  avXcüöia.  Der  Vortragende  ist  entweder  ein 
einzelner  (jnovcodia)  oder  ein  Chor,  der  aber  im  Altertum  regelmäßig  uni- 
sono sang  (Chorlyrik,  im  Altertum  dii^vgajtißixov  yivos).^)  Die  Leistung  des 
begleitenden  Instrumentes  bestand  wesentlich  in  Vorspiel  {ävaßaXXeo^tu)  und 
Zwischenspiel  (uTioyffU/Lia)^  allenfalls  Zusammengehen  mit  der  Stimme  unisono 
oder  in  Oktaven;  an  eine  polyphone  Wirkung,  wie  sie  die  heutige  Musik 
kennt, 3)  ist  für  das  gesamte  Altertum  nicht  zu  denken.  Der  Oang  der 
Melodie  war  durch  die  Sprachmelodie,  der  Rhythmus  durch  die  Silben- 
quantitäten in  der  Hauptsache  vorgezeichnet.  Als  das  Wesentliche  beim 
Gesang  empfanden  die  Alten  den  Rhythmus,*)  und  die  kunstmäßige  Lyrik 
hat  aus  dem  Schatz  der  volkstümlichen  Tanz-  (lamben,  Trochäen,  Chor- 
iamben, loniker),  Marsch-  (Anapäste)  und  Prozessions-  (Paion)  Rhythmen 
eine  Fülle  neuer  Formen  herangezogen  und  neben  der  Würde  (oe/jtvdrrjg) 
der  alten  daktylischen  Kunstpoesie  nun  auch  der  Anmut,  der  Leidenschaft 
zu  adäquatem  künstlerischem  Ausdruck  die  Mittel  verfügbar  gemacht.  Die 
Überzeugung  von  der  sittlichen  Bedeutung  der  Musik  und  der  mit  ihr 
verbundenen  Dichtung  wurzelt  tief  im  griechischen  Volk  und  ist  erst  in 
der  Sophistenzeit  bestritten  worden;  damals  wurde  auch  ein  Versuch  ge- 
macht, den  Glauben  an  das  Ethos  der  Musik  wissenschaftlich  zu  begründen 
durch  den  Hinweis  darauf,  daß  das  Leben  der  Seele  in  Bewegungen  be- 
stehe, die  durch  die  analogen  Bewegungen  der  Töne  beeinflußt  und  geleitet 
werden  könnten.^)  Unter  den  Tonarten,  die  sich  durch  die  Lage  des  Halb- 
tonschritts voneinander  unterschieden,  galt  die  dorische  nebst  der  hypo- 
dorischen oder  äolischcn  als  Ausdruck  spezifisch  griechischer,  männlich- 
fester Seelenstimmung,  im  Gegensatz  zu  der  phrygischen  nebst  der  hypo- 
phrygischen  oder  ionischen,  in  denen  man  eine  enthusiastisch-passive  Stim- 
mung fand;  jene  wurden  vorwiegend  in  der  national-griechischen  Kitharis- 
lyrik,  diese  in  der  stark  von  Kleinasien  aus  beeinflußten  Auloslyrik  ver- 
wendet.^) Demnach  ist  auch  die  ethische  Haltung  in  der  kitharodischen 
Lyrik  wohl  ursprünglich  eine  weit  gemessenere  gewesen  als  in  der  aulo- 
dischen,  aber  freilich  müssen  sich  in  dieser  Beziehung  die  Gattungen  früh 
gekreuzt  haben. 

Wenn  sich  das  dichterische  Wort  in  die  rhythmischen  und  melo- 
dischen Formen  der  Musik^)  fügen  lassen  muß,  so  sind  künstlichere  Wort- 
stellungen nicht  zu  vermeiden,  und  diese  erwecken  oder  veretärken  ihrer- 

\)  Das  Wort  hat  in  der  späteren  Sprache  |           "*)  Abert  a.  a.  0.  54. 

eine f?anz abgenützte Bedeutunj^ bekommen (W.  ^)  Aristot.  probl.  li>,  27.  29.     Begründer 

StnMii),  Der  Atticism.  III,  Stuttg.  1893.  229  f.).  der  Lehre   scheint  Dämon   zu   sein  (Aristid. 

'')  riat.  reip.  III  894 b:    Aristot.  poet.  1  |    Quint.  de  mus.  II  14  p  58.  13  Jahn),   ohne 

p.  1447a  15.  b  24  (dieser,  der  in  seiner  Poe-  '    Zweifel  angeregt  vom  Pythagoreisnios. 

tik    die  Lyrik    überhaupt   fast   ignoriert,    er-  i            <^)  Plat  leip.  III  399a;  Aristot.  pol.  1290a 

wähnt  die  Chorlyrik,   von  monodischen  Gat-  19:  1342a  32  ff.;  Keinach  und  Weil  zu  Flut 

tuugen  aber  nur  den  Nomo.s).  ,    de  mus    §  103.     Abekt  a.  a.  0.  61.  5. 

*j  Ps.  Aristot.  probl.  19.39  ;  H.Abert,  Die  ')  Der    (»egensatz    von    e.Ttj    und   ftdXog 

Lehre  vom  Ethos  in  der  griech.  Musik.  Lcipz.  schon  bei  Alcman  fr.  17  f,T>/  rdöe  xai  /jeXas 

1899,  58  f.  I    evQF.)'  "AAxfidv, 


B.  Lyrik.    Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Gattungen.    (§  82.)  137 

seits  wieder  den  Eindruck  irrationaler  Inspiration  des  Dichters.  Entsprechend 
den  gesteigerten  Vortragsmitteln  wird  von  selbst  auch  der  sprachliche  Aus- 
druck lebhafter  und  farbenreicher.  Größere  Wortkomplexe  werden  wieder 
zu  rhythmisch-melodischen  Einheiten  zusammengefaßt,  die  entweder  för 
sich  allein  stehen  {äjtoX£A,v/Lieva)  oder  mit  ebenso  gebauten  anderen  (x^ra 
oxioiv^  strophisch)  korrespondieren.  Im  allgemeinen  ist  anzunehmen,  daß 
der  strophische  Bau  der  ältere  sei.^)  In  sehr  früher  Zeit  schon  findet  man 
auch  die  Verbindung  aller  Bewegungskünste  zum  Tanzlied  (vTtogxrj/bid).^) 

Eine  gemeinsame  Benennung  für  die  Dichtungen,  die  wir  als  lyrische 
bezeichnen,  kennen  wir  aus  der  älteren  Zeit  nicht.  Der  Name  Melik  ist  teils 
zu  allgemein,  insofern  er  auch  die  Instrumentalmusik  (dieser  im  besonderen 
gelten  die  Ausdrücke  xQovjua,  xQovaig)  mit  einschließt,  teils  in  späterem 
Gebrauch  wieder  zu  eng. 3)  In  alexandrinischer  Zeit  wurde  die  Gesamt- 
bezeichnung XvQixol  üblich,*)  die  eigentlich  auch  zu  eng  ist,  insofern  sie 
streng  genommen  nur  die  Kitharodik  umschließt.^) 

Über  die  frühsten  Spuren  der  Lyrik  s.  0.  S.  20.  Als  Archeget  der 
Kitharistik  gilt  gewöhnlich  der  Thraker  Orpheus  (Timoth.  Pers.  234  Wil; 
Plut.  de  mus.  51,  s.  aber  Ath.  637  f.),  als  Archeget  der  Kitharodik  Amphion 
(Heraclid.  bei  Plut.  de  mus.  3).  Die  Auletik  sollte  der  Phryger  Olympos 
(Strabo  470),  die  Aulodik  Klonas  erfunden  haben  (Plut.  de  mus.  3.  5;  Poll. 
onom.  IV  79).  Bei  Homer  ist  der  Aulos  ein  barbarisches  Instrument  (K.  Lehrs, 
Aristarch.»  195);  Homers  Sänger,  Demodokos,  Phemios  und  Achilleus  (7186) 
sind  alle  Kitharoden.  Selbst  der  Hirt  Anchises  führt  Hymn.  Hom.  IV  80 
die  Lyra. 

Aus  allem  Gesagten  ergibt  sich,  daß  die  griechische  Lyrik  in  ganz 
anderer  Weise  als  die  heutige  Buchlyrik  mit  der  Geschichte  der  Musik  eng 
verwachsen  ist. 

Über  die  Priorität  von  Flöten-  oder  Kitharismusik  stritten  sich,  wie 
aus  dem  plutarchischen  Dialog  über  die  Musik  zu  ersehen  ist,<^)  die  grie- 
chischen Gelehrten.  Der  Anlaß  war  vermutlich  gegeben  durch  die  Ab- 
neigung der  Pythagoreer  gegen  die  Flötenmusik.  Sehr  alt  ist  der  Agon 
in  der  Kitharodie  bei  den  Kameen  in  Sparta  (seit  676)  und  jedenfalls  auch 


*)  Die   ersten   Spuren   strophischer   An-   ]   den  Tambus  ausschließt.     Plut.  de  mus.  8. 


Ordnung  findet  man  bei  Hom.  IL  ü  723—776 
in  der  Totenklage  um  Hektor.  Auch  die 
Musen  singen  bei  Homer  (A  604.  co  60,  Hymn. 
Hom.  Ap.Pyth.  11)  dfieißöfiEvat  6ni  xa).fi,  d.  h. 
responsorisch.    Siehe  auch  Ps.Aristot.  probl. 


*)  Siehe  o.  S.  3.  Cic.  or.  183.  Tzetz.  Anecd. 
Estense  bei  J.Kayser.  Do  vet.  artepoet,  Leipz. 
1906, 56  §  2 :  Dionya.  Tlir.  §2,  dazu  die  Scholien 
p.21. 15;  173,  28;  308.  13:  476,  29  Hilo.  Von 
den    Römern    rezipiert    Hör.   carm.  I  1,  35; 


19,  15.  ,  Scn.  cp.  49,  5;  27,  6;  Quint.  X  1.  61. 

«)0d.  ^261  ff.  378  f.  y>  145.  II.  2"  569  ff.  I           s)  Der  erweiterte  Gebrauch  des  Wortes 

Hesiod.  scut.  278  ff.  Schol.  BT  zu  II.  A  473.  |  wird   von   den   oben  zitierten  Scholiasten  zu 

Procl.  ehrest.  246,  7  W.     Beispiele  aus  Neu-  :  Dionys.  Thr,  hervorgehoben   und   kann   erst 

griechenland  W.  Vischer,   Erinnerungen  aus  |  aufgekommen    sein,    nachdem    die    Aulodik 

Griechenland,  Basel  1857,  464;  Kannenbero,  |  aufgegeben  war  (über  deren  Rückgang  J.  Frei, 

Globus  66  (1894)  191  ff.    Siehe  Simonid.  bei  |  De  cert.  thymelicis  28.  30.  34).  —  Über  die 

Plut.  symp.  quaest.  748 ab.  Einteilung   des  Piaton  und  Aristoteles   s.  o. 

*)   Cic.  de  opt.  gen.  or.  1   scheidet  von  §4.   Über  eine  von  Philosophen  aufgestellte 


den  tragici,  comici,  epici  die  dithyrambici 
und  melici;  unter  m.  versteht  er  also  die 
MoDodiker.  Ebenso  Procl.  ehrest,  p.  243,  14 
W.,  der  von  der  Melik  auch  die  Elegie  und 


Einteilung  der  ufhj  in  i/Oixd,  :iQaxux<'t    und 
Fr\}ovoiaonxd  s,  Aristot.  pol.  1341b  33. 

«)  Siehe  Abert  a.  a.  0.  60  ff.  Plut.  symp. 
p.  638  bc. 


138  Griechische  Litteratorgeschichte.    I.  Klaamsche  Periode. 

bei  den  Pythien  in  Delphoi,  der  in  der  Auletik  in  Delphoi  jedcnfaUs  seit 
582,  im  Peloponnes  wohl  früher.  Der  Agon  in  der  Kitharistik  igt  m 
Delphoi  erst  558  eingeführt  und  dann  allgemein  geblieben,  während  der 
aulodische  Agon  nach  einem  Versuch  582  in  Delphoi  sogleich  wieder  ab- 
geschafft wurde.*) 

83.  Nomenpoesie.  Alt  ist  ein  musikalischer  Satz,  der  bei  gottea- 
dienstlichen  Anlässen  teils  nur  von  Instrumenten  (Kitharis  oder  Aulos), 
teils  von  singenden  Solisten^)  mit  Instrumentalbegleitung  vorgetragen  wurde, 
besonders  im  Kultus  des  Apollon,  der  Nomos.»)  Es  gibt  also  auletische, 
kitharistische,  aulodische  und  kitharodische  Nomen.  Die  rein  instrumen- 
talen Nomen  waren,  wie  die  gesamte  griechische  Instrumentalmusik  (yfdij 
xiddoiaiqy  yft?Jj  avh]otc:),  tonmalend.  Dem  Melos  nach  wird  der  vojtuxdg  rgoTtog 
von  dem  zoaytxoc:  und  diOvQnußixoq  untoi-schieden  (Aristid.Quint.demus.  112). 

Die  Bezeichnungen  für  die  einzelnen  Nomen  sind  teils  von  ihrer  Art 
(tnnvftßiÖioQy  Jiokvxhtpnkocii  imxijöeioq,  äo/ndreiOst  TQi/ieo/j<;)^  teils  von  ihrem 
Metrum  {rgoxaloq,  Yanßoq,  öof}ios,  ßdxx^iog),  teils  von  den  Menschen  oder 
Göttern  genommen,  zu  denen  der  Nomos  in  Beziehung  steht  (Kgadiag, 
^Aoeiog,  \iß}]yäs*  rivOixos).^) 

84.  Musikinstrumente.^)  Die  antiken  Saiteninstrumente  {xaxaxeivo' 
fiEvn  oder  evrani  sc.  öoyavn)  unterscheiden  sich  von  den  modernen  nament- 
lich dadurch,  daü  sie  keine  Griffbretter,  also  nur  so  viel  Töne  als  Saiten 
haben,  und  daLi  sie  alle  nicht  gestrichen,  sondern  nur  gezupft  oder  geschlagen 
werden.  Das  alte  Saiteninstrument  der  homerischen  Zeit  heißt  <p6<)ßuy$. 
Daneben  kommt  schon  bei  Homer  der  Name  xif}aotg  vor:^)  im  Margites 
und  Hymnus  auf  Hermes  tritt  dazu  das  später  meistverbreitete  Wort  xr^. 
Ein  nachweisbarer  Unterschied  der  Gestalt  des  Instrumentes  war  mit  den 
drei  verschiedenen  Namen  nicht  verbunden.'^)  Als  Resonanzboden  diente 
in  ältester  Zeit  die  Schale  einer  Schildkröte,  wovon  auch  das  ganze  In- 
strument den  Namen  ;r/^/rs  (testudo)  erhielt.  Bespannt  war  es  mit  Darm- 
saiten, anfangs  vier,  seit  Terpandros**)  sieben,  wovon  die  Namen  rergdxogdog 

Vi  J.Frei.  De  eertam.  thyiiiel.  45ff.  27,8.  1  rouioc  hat  jedenfalls  seinen  Beinamen  als 
^)  Dali  die  Noinoi  von  einem  einzelnen,  I  Gott  der  ^Veiden.  Für  Ai>ollon  besonders 
nicht    einem  Chor   vorgetraj;en    wurden,    be-    ,    nimmt  Procl,  ehrest.  244,  2U  ff.  245,  29  W.  den 


zenj;t  Ps.Arist.  probl.  VA,  15.  Was  Clem.  AI. 
stron».  1  p.  8()5  V.  und  Procl.  ehrest,  245,  1  W. 
von  chorisclien  rotutt  wissen  wollen,  verdient 
keinen  Glauben. 

3)   Flut,  de  mus.  (I  richtig:    roi4<n  hikk- 
tj'/omrOfjoay,  f.-jFifii/  avx   F^fjr  .laoafitjrni  >cu{V 


N.  in  Anspruch:  allgemeiner  Schol.  Ar.  eq.  9 

ff/V     Of(U'C). 

*)  .1.  Fkki.  De  cert.  tbym.  30  f.  46. 
'")  Cber  Firfinder   der   Musikinstrumente 
Clem.  AI.  Strom.  I  p.  3<)8P. 

'•)  Kiih'ina,  was  Homer  nicht  kennt,  ist 


hxaoTor  %'FvoinoitFViw  FifitK;  ri}^  TuntaK.   Suid.  s.  ein  anderes  Instrument  als  xiihwi<:,  wiewohl 

roiiOs :  aoftortav  Fyotr  rnxTi/v  xai  ovOiiov  omm-  i  im  Klangcharakter  von  dieser  nicht  viel  ver- 

/inoy.  V^gl.Thucyd.  V70  An>cF^nun'tvtoi  öf  ßoa-  \  schieden  (Aristid,  C2"i»t.  de  mus.  II  IG  p.  62,  3 

i^FO)^  /lofjorvTF^  xni  r.to  tir/.fiTo,r  nft/Moy  rnfun  .Iaiisi.      Arist.   polit.  VI  IT   6    p.    1341a   17   ff, 

Fyxaihnjomoy,    nr   rar    i'ht'ov    //toiy,    «//.'  i'ya  untei scheidet    die   einfachen,    für    die  Übang 

otm/MK    nFTu    orOuor    [iai'yoyTF^    .looF/.OoiFy.  j  der  Freien  allein  geeigneten  Saiteninstrumente 

Alkman  (17:   r»AVt    rV  onyi'/fny  youoi^   .-rr'wrfoy.  I  und     die     kunstreicheren     Instrumente     der 

Von  KotjTixoi  yofini    Archiloch.  fr.  13H.     i)ie  Virtuosen. 

Spielereien  mit  den  ähnlichen  Wörtern  youo^  I  ^i  Im  Hymnus  auf  Hennes  werden  /eoiy 

und    yomk    i schon  llymn.  Ap.  Del.  2U)   und  ,  und  y.iOttoic  ganz  synonym  gebraucht, 

mit    der    zwitjfachen    Bedeutung    von    youo^  '  *)    Die    Nachrichti'n     über    Terpandros* 

sind  ohne  Wert  (K.  F.  Hermann,    Abh.  der  i  Neuenuig  sind  kaum  brauchbar:  Wilamowitz 

Gott.  Ges.  d.  Wissensch.  IV  V.)  ii.).     Apollon  ,  zu  Timoth.  Pers.  p.  68  ff. 


B.  Lyrik.    Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Gattungen. 


83—84.) 


139 


und  httdxoQÖog  seil.  Ivga  herkommen.  Die  Lyra  wird  an  einem  Band  oder 
auch  frei  in  den  Händen  getragen, »)  woher  sieh  am  einfachsten  der  Name 
qwQfuy^  (von  q?€Q(o)  erklärt.  Die  Erfindung  des  Instrumentes  sehrieb  die 
Sage  dem  Gott  Hermes  zu.*)  Doeh  ist  eine  Entlehnung  aus  der  Fremde,  im 
besonderen  aus  Ägypten,  wo  wir  ähnliche  Saiteninstrumente  auf  uralten  Denk- 
mälern finden,  nicht  ausgeschlossen.  Später  kamen  zu  der  alten  Phorminx 
infolge  der  großen  Verbreitung  orientalischer  Künstler  fremde  Saiteninstru- 
mente hinzu;  ihr  Tönereichtum  wurde  unter  dem  Einfluß  des  tönereicheren 
Aulos  (Plat..  reip.  399  d),  der  die  Technik  des  Baus  der  Saiteninstrumente 
zur  Nacheiferung  anreizte,  gesteigert;  so  die  Pektis  oder  Magadis^)  aus 
Lydien,  die  dreiseitige  Harfe  {igiycovogy)  aus  Syrien,  die  Nebel^)  und 
Kinyra^)  aus  Phönikien,  die  Samfoyke*^)  und  der  Barbitos.*)  In  der  alten 
Zeit  waren  bei  den  Griechen  nur  Saiteninstrumente  in  Gebrauch;  Homer 
und  Hesiod  kennen  nur  Kitharisten;  selbst  das  alte  Klagelied,  der  Lines, 
wird  II.  2"  341  zur  Kithara,  nicht  zur  Flöte  gesungen.  Von  dem  hohen 
Alter  der  Lyra  zeugt  auch  der  Umstand,  daß  die  Kreter,  welche  die  alte 
Sitte  der  Derer  am  treuesten  bewahrten,  unter  dem  Klang  der  Lyra  ins 
Feld  zogen.ö) 

Von  Blasinstrumenten  (i/ijivevord)  kommen  für  die  lyrische  Dichtung 
nur  die  Auloi  in  Betracht.  Wir  nennen  sie  gewöhnlich  Flöten,  wiewohl 
sie  unseren  Klarinetten  oder  Oboen  ähnlieh  sind.*^)  Die  Griechen  reden 
gewöhnlich  von  avXoi  im  Plural,  weil  in  der  Regel  ihrer  zwei  zugleich 
geblasen  wurden.  Der  Name  ist  zwar  griechisch,  i^)  aber  das  Instrument 
kam  nicht  bloß  später  als  die  Phorminx  in  Brauch,  sondern  scheint  auch 


*)  A.  Baumeister,  Denkmäler  des  klass. 
Altertums,  München  1885—88,  I  99;  III 
1539  f. 

*)  Hymn.  auf  Hermes  30  ff. 

•)  Phot.  JtTfXTi^'  siavdovotov  rjtoi  Avdtov 
oQyavov  /copiV  :^h}xigov  ytaXXdftFvov.  Herod. 
I  17  von  dem  Lyderkönig  Alyattes:  iaiga- 
xrvaaxo  vnö  avgiyyoiv  re  xai  :tt)xti^(ov  xal 
avkov.  —  Magadis  mit  20  Saiten  bei  Anacr. 
fr.  18,  schon  erwähnt  bei  Alcman  fr.  91. 
Instrument  der  abioXot  nach  Aristid.  Quint. 
de  mus.  II  5  p.  42,  6  J. 

*)  Erwähnt  bei  Sophocl.  fr.  1, 219. 375  u.  a. ; 
die  syrische  Herkunft  bezeugt  durch  Ath.  1 75  d. 
Zu  ihr  singt  das  Mädchen  bei  dem  Komiker 
Piaton  (Ath.  665  d)  ein  /nsXog  iwvixöv.  Viel- 
leicht identisch  mit  der  Aoiag  (I.  Bekker,  An. 
gr.  451  und  Et.  M.  153,  32). 

*)  Nebel,  Hauptinstrument  der  Juden, 
kommt  zuerst  bei  Sophocl.  fr.  764  Nauck^ 
vor:  ov  vdßXa  ho)xvtoioiv,  aif  Xvga  qiXtf. 

•)  Dem  hebräischen  Kinnor  entspricht 
das  griech.  xtvi^ga;  davon  scheint  das  seit 
Aischylos  in  Griechenland  verbreitete  Verbum 
xirvQOfMLi  herzukommen. 

')  Sambyke,  vielleicht  aramäisch,  ward 
von  Ibykos  nach  Ath.  175  e  erwähnt.  Sie 
hat  im  Gegensatz  zur  Lyra  kurze,  hoch- 
kUngende  Saiten. 

•)   Den  ßoQßixos   soll   nach   Ath.  a.  0. 


Anakreon  erfunden,  d.  i.  in  Gebrauch  ge- 
bracht haben;  er  ist  aber  schon  von  Ter- 
pandros,  Sappho  und  Alkaios  gebraucht.  Wort 
und  Sache  sind,  wie  beim  ßagtüfjov  aus- 
ländisch. Über  die  bei  Anakreon  vorkom- 
menden Saiteninstrumente  s.  L.  Weber,  Ana- 
creontea,  Gott.  1895,  72  ff.  Piaton  verwirft 
(reip.  III  369  c  f.)  alle  die  saitenreichen  alten 
Instrumente,  und  tatsächlich  sind  im  4.  Jahr- 
hundert sifjxzis,  ftdya<)ig,  LiTaywror,  igiytorov 
imd  anfjßvxt]  abgekommen  (Aristot.  pol.VIII  6 
p.  1341a).  Über  den  Klangcharakter  der 
Instrumente  Aristid.  Quint.  de  mus.  II  16. 
Über  die  Handhabung  der  Lyra  und  die 
Namen  ihrer  Saiten  M.  C.  P.  Schmidt,  Bcrl. 
phil.  W.schr.  26  (1906)  798  ff. 

«)  Plut.  de  mus.  26;  Ath.  627  d;  Cleni. 
Alex.  paed.  p.  193 P. 

*°)  Die  Querflöte  hXdyifK  avXoc:  Poll.  on. 
IV  74;  Long.  past.  1 43)  ist  im  Altertum  ledig- 
lich Bauern-  und  Hirteninstrument  gewesen 
wie  die  orgiy^ ,  über  die  Plat.  reip.  399  d. 
Im  ganzen  s.  über  die  nvXoi  C.  v.  Jan  in  der 
Realencykl.  4.  Halbb.  2416  ff. 

")  Die  ursprüngliche  Bedeutung  war  ge- 
höhlte Röhre,  in  welchem  Sinn  das  Wort 
noch  bei  Homer  vorkommt.  Auf  die  zur 
Flötenanfertiguug  verwendete  Knochenröhre 
weist  auch  das  lat.  tibia  hin. 


140 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


aus  der  Fremde,  und  zwar  aus  Phrygien,  nach  Griechenland  gekommen 
zu  sein.  Denn  während  die  homerischen  Sänger  und  Helden  zur  Phor^ 
minx  singen,  ebenso  wie  Apollon  (Hymn.  Hom.  Ap.  Pyth.  4  ff.,  336  ß.) 
nur  die  Kitharis  spielt,  hört  man  den  Lärm  der  Flöten  und  Pfeifen 
im  Lager  der  Troer  (II.  K  \S).^)  Auch  die  Sage  von  Marsyas  und  die 
Überlieferungen  von  Olympos  führen  nach  Phrygien  als  ursprünglichem 
Sitz  des  Flötenspicls,  für  das  die  Oegend  von  Kelainai  ein  Kohr  und  das 
berekyntische  Gebirg  das  Holz  des  Buchsbaums  lieferte.*)  Außerdem 
kommen  von  ausländischen  Blasinstrumenten  bei  den  Griechen  vor:  die 
fi6fißrxF<;,  die  beim  Kult  der  thrakischen  Göttin  Kotytto  gespielt  wurden,») 
der  ägyptische  Monaulos,*)  die  karischen  bei  den  Adonisfesten  gebrauchten 
yiyyoot  avloi,^) 

Der  Einfluß  der  Fremde  und  der  fremden  Götterkulte  auf  die  An- 
fange der  griechischen  Musik  und  Lyrik  wird  schon  von  den  Alten  her- 
vorgehoben (Strab.  p.  471;  Clem.  Alex,  ström.  I  p.  363  P.).  Sicher  ist,  dafi 
die  Griechen  auf  keinem  Gebiet  mehr  als  auf  dem  der  Musik  Anregung  von 


')  Siehe  o.  S.  137.  Aristot.  |K)lit.  VIU  7 
{).  1842a  82  ff.;  vgl.  Heiod.  I  17.  In  der 
Jüngeren  Hoplopoiie  2'  495  und  Hes.  «cut.  27H. 
281  freilich  werden  auch  schon  die  Flöten 
neben  der  Phorminx  beim  Hymenaios  er- 
wähnt. Von  einem  qnvyioy  ////.oc  Kuj^ijotor 
zur  Flute  Alcman  fr.  .^2.  Siehe  a.  Lobeck. 
Aglaoph.  298  n:  Eur.  Bacch.  12(i  ff.  Vgl.  Te- 
lestes  fr.  2:  ^Porya  .  .  .  ni'Aor  «Tc  tjouftoe 
.lotojfi^  A<noi(io^  avTi.Ta/.or  norntj^.  Alt,  aber 
bei  Homer  nicht  erwähnt,  ist  der  Gebrauch 
der  Flöten  bei  Opfern,  so  daß  die  ilroiai 
avavhu  besonderer  ätiologischer  Erklärnng 
bedürftig  schienen  (Lohrck.  Aglaoph.  (i8<)). 
Die  Sitte,  mit  Flötennnisik  auszumarschieren 
(Thuc.  V  70  nnt  J.  Classens  Anm.;  Xen.  Lac. 
re.sp.  13.  8:  l'oll.  IV  7^;  etwas  andei-s  Philod. 
de  mns.  III  p.  28  fr.  17  Kk.mkk).  werden  die 
lakonischen  Dorer  aus  dem  Norden  und  von 
ihren  thrakischen  Nachbarn  mitgebracht  haben, 
während  die  kretischen  den  ält4?ren  Brauch 
(s.  o.  S.  139.  9)  festhielten.  Der  Apollon. 
dessen  Musik  Thalctas  aiw  Kreta  bracht«- 
und  dem  dann  ziun  Paian  die  Flöte  geblasen 
wurde  (Archiloch.  fr.  70:  Alcm.  fr.  8;  Soph. 
'IVachin.  210  f.),  ist  schwerlich  ein  rein  grie- 
chischer (lott.  In  Delphoi  wurde  v(»r  582 
keine  Flöte  geholt:  Hynm.  Hom.  Ap.  Pyth. 
822.  88(>  ff  wird  der  l*aian  mit  Lyrabeglei- 
tung gesungen.  Solidarisch  verbunden  ist 
dageg(?n  die  Flöte  mit  der  Musik  im  Dionysos- 
kult iPoU.  IV  81)  wie  im  Kult  der  i»hiTgi- 
schen  Kybele.  Sie  gehört  zmn  lustigen 
xtoiKK  (Hes.  scut.  281;  Theogn.  KMj.Vi  und 
zum  ("lela^^e.  w«?nn  die  Elegie  vorgetragen 
wird  ( E.  Rohde.  (triech.  Rom.'-'  149, 1 :  Hippocr. 
Epid.  VII  80:  noch  die  römischen  Elegiker 
halten  die  Fiktion  fc?st:  M.  Kotil-stein  zu 
Prop.  II  7.  12).  Auch  die  Mu.sen  nahmen  sich 
allmählich  der  Flöten  an  «Soph.  Ant.  965: 
Ar.  nub.  318  —  nicht  Aiwllon  Diod.  V  49.  1; 


[Tibull.]  111  4.  G9  f.\  imd  spätestens  im  5.  Jahi^ 
hundert  ist  das  Zusammenwirken  der  beiden 
feindlichen  Instrumente  Aulos  und  Kitharis 
bezeugt  (s.  die  Vasen bild er  s  VI/V  bei  P.  Wol- 
ters, Jahrb.  des  ath.  Inst.  14  (1899)  108  ff.:  W. 
Chkist.  Proleg.zu Pind.,Leipz.  1896,p  XCVIII; 
Theogn.  h'^\\  f.  701 ;  Xen.  conv.  3. 1 :  es  gibt  iran 
«r/.ot  xiOamoriioioi  (Ath.  176  f.  182c.  634  f.) 
und  rouoi  xiOnotar/fOtin,  o/s  9f(u  :tooafjvXovr 
PolL  IV  84).  Die  Verbindung  der  beiden  Instni- 
mente  geradein  Delphoi  ((1.  Colin.  Bull,  de corr. 
hell.  8U,  190C.  291,  2)  wird  Ausdruck  der  hier 
vollzogenen  Kultverbindung  zwischen  Apollon 
und  Dionvsos  sein.  —  Aristoteles  teilt  zwar 
(pol  1342a  88  fr.)  nicht  Piatons  (reip.  399 cd) 
Abneigung  gegen  den  nr/.fl:,  beschränkt  diesen 
aber  doch  ((m)].  1841a  21)  auf  den  orgiastisch- 
katliartischen  Gebrauch,  während  er  ihn  von 
der  Erziehung  ausschlieOt.  über  die  ethische 
Wirkung  der  Flötenmusik  s.  auch  Plut.  symp. 
quaest.  712 f  ff.;   .\uct.  .-ryoi  r»/'-  39,2. 

=*  I  Über  das  für  die  Flötenzungen  {yX<l>o€fai) 
geeignete  K^>hr  von  Kelainai  s.  Strab.  p.  578; 
dortliin  verlegte  die  Sage  auch  den  Streit  des 
Mai-svas  und  Apollon:  s.  Herod.  VII  26  Über 
den  ihichsbaum  vgl.  V.  Hehn.  Kulturpflanzen 
und  Haustiere^  227  ff.,  und  Ath.  176f:  xovf 
yno  yÄi'utn'c  ar/.or>:,  un'  /n'i^ßwrF.ret  ^oqKtxX^ 
n'  A'/o/^//  TF  xt\r  TvunariaraU ,  ovx  aXlovs 
Ttras   Ftrni  dx(n''oiiF%'  Tj   mvc;   4*ovytovi. 

')  Er>vähnt  von  Aischylos  nach  Strabon 
p.  470. 

*)  Ath.  175  f:  Pollux  IV  75;  nach  der 
ersten  Stelle  kam  er  schon  bei  Sophokles 
vor.  Das  Flötc»nspiel  wiu-de  auch  Ar  eine 
Erfindung  der  Libver  angesehen;  s.  Ath. 618c 
und  Nonnos  Dion.  28.  (i22:  40.227. 

*)  Ath.  174  u  fllSc;  Pollux  IV  102.  Die 
fünf  von  Anstoxeuos  untei-schiedenen  Sorten 
von  nr/,oi  bei  Ath.  176  f.  ö34  f. 


B.  Lyrik.    Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Gattungen.    (§  85.)  141 

aufien  empfangen  haben:  unter  den  hauptsächlichsten  Tonarten  öwqkjxI^ 
ipQvyunh  XvdioTi,  aiohari,  iaoxi  haben  zwei  von  fremden  Ländern,  Phrygien 
und  Lydien,  ihren  Namen;  das  älteste  Lied,  dessen  Namen  uns  überliefert 
ist,  das  Linoslied  stammt  aus  dem  Orient;')  die  Totenklage,  die  von  jeher 
mit  Musik,  Oesang  und  ekstatischen  Gestikulationen  verbunden  war,  trägt 
orientalisches  Gepräge;^)  die  orgiastischen,  mit  Pauken  und  Flöten  ge- 
feierten Kulte  der  Kybele,  des  Dionysos  in  jüngerer  Gestalt  und  der  Bendis 
kamen  von  den  Thrakophrygern  zu  den  Griechen. 

Der  Gegensatz  zwischen  Flöte  und  Lyra^)  spielte  nicht  bloß  in  den 
Götterkulten  und  Landschaften,  sondern  auch  im  ganzen  Verlauf  der 
griechischen  Musik  eine  große  Rolle;  er  fand  seinen  symbolischen  Aus- 
druck in  dem  Mythus  vom  Streit  des  Marsyas  und  Apollon.  In  der  Vor- 
zeit der  thrakischen  Sänger,  aus  der  keine  Melodie  sich  in  die  historische 
Zeit  rettete,  herrschte  einzig  die  Phorminx.  Der  erste  Aufschwung  der 
Musik  ward  der  Flöte  und  dem  Meister  des  Flötenspiels,  dem  phrygischen 
Olympos,  verdankt.^)  Der  Flöte  sicherte  schon  ihr  größerer  Tönereichtum 
(Plat.  reip.ni399cd;  Plut.  de  mus.  29),  ihre  Fähigkeit,  den  Ton  festzuhalten 
und  dynamisch  deutlicher  abzustufen,  einen  Vorzug  vor  den  Saiteninstru- 
menten. Bald  folgte  ihr  die  Vervollkommnung  des  alten  Saiteninstrumentes 
und  die  Dichtung  neuer  Weisen  für  die  Lyra  durch  Terpandros.  Dann 
hielten  sich  eine  Zeit  lang  die  beiden  Musikarten  die  Wage,  so  aber,  daß 
die  Flöte  als  begleitendes  Instrument  bei  Choraufführungen  allmählich,  da 
ihre  größere  Tonstärke  sie  dafür  empfahl,  das  Übergewicht  erhielt,  im 
übrigen  der  saitenlose  Klagegesang  {IdXe^ioq  äkvgoq)  im  Gegensatz  blieb  zu 
den  hehren  Kitharweisen  des  Lichtgottes  Apollon.^)  Im  allgemeinen  ge- 
hörte die  Pflege  und  Kenntnis  der  Musik  bei  den  Hellenen  zum  Wesen 
des  freien  Mannes,  so  daß  auch  in  dem  Unterricht  der  Knaben  die  Musik 
einen  Hauptgegenstand  bildete,  ohne  den  man  sich  eine  liberalls  educatio 
nicht  denken  konnte. 0) 

85.   Reiner  Instrumentalmusiker ^)  ist  Olympos,   der  Begründer  der 


^)  Dazu  die  fjiilfj  Toggrißia  von  der  lydi-  i  *)  öfter  wird  auch  dem  festfrohen  Klang 

sehen  Stadt  Torrebos  bei  Steph.  Byz.  \  der   Kitharia   der  klagende   Ton    des   Aulos 

*)    MoQiavövvog    ^Qtjytjitfy     bei    Aesch.  ;  entgegengesetzt  (Soph.Trach.  641  f.  mit »SchoL; 

Pere.  992:   vgl.  Kagtxfj  fAovojj   bei  Plat.  leg.  1  Flut  de  Ei  ap.  l)elph.  394  b  c ;   Apul.  flor.  17 

VII    p.  800e  und   Kagtxdv    fjisXog    bei    dem  1  p.  177,  11  Vliet).     Im  4.  Jahrhundert  taten 

Komiker  Piaton   in   den   AaxMveg  1,  p.  620  sich  besonders   die  Thebaner  im  Flötenspiel 

V.  12  KocK.  I  hervor;  aus  Theben  stammten  die  berühmten 

•)  An  diesen  Gegensatz  knüpfte  sich  im  ,  Flöteuvirtuosen   Pronomos,   Diodoros,    Anti- 


5.  Jahrhundert  die  Kontroverse  über  die  Prio- 
rität von  Aulos  oder  Lyra,  in  die  (glaukos 
von  Rhegion  mit  seiner  bei  Plut.  de  mus.  be- 
nutzten Schrift  eingriff.  Vgl.  Plat.  reip.I11399ü. 


genidas,  Timotheos,  Theon,  Dorotheos. 

^)  Darüber  belehrt  insbesondere  Aristo- 
teles im  letzten  Buch  der  Politik  und  Piaton 
symp.  187  d,    wo   Kenntnis    der   Musik    mit 


Siehe   a.  o.  S.  137.      Die   Stellen    über   den  Bildung  {jraiöeia)  identifiziert  ist.    Dazu  vgl. 

angriechischen  Charakter  des  arxo^  aus  Schol.  Cic.  Tusc.  I  4,    Plut.  Themist.  2,    Cim.  4. 

Townl.  Hom.  IL  bei  W.  Ditteiibekoer,  Herrn.  ,    Bildlich   ist   dieser   edle  Zweig   der  Jugend- 

40  (1905)  464.  |    bildung  dargestellt  auf  der  Schale  des  Malei-s 

*)  Marsvas  und  Hyagnis,  die  angeblichen  j   Duris   (um  450);   s.  A.  Michaelis,  Attischer 


Eltern  des  Olympos,  sind  die  mythischen  Er- 
finder des  Flötenspiels.  Olympos  ward  als 
jugendlicher  Knabe  neben  Marsyas  dargestellt 
von  Polygnotos;  s.  Paus.  X  30,  9. 


Schulunterricht   auf  einer  Schale  des  Duris, 
Arch.  Zeit.  N.  F.  6  (1874)  1  ff. 

')  Die  griechische  Instrumentalmusik  ist 
durchaus  tonmalerische  Programm usik  (Pratin. 


142  Griechiache  Litteraturgeschichte.    I.  KUsaische  Periode. 

auletischen  Nomenpoesie.  Er  lebte  gegen  Ende  des  8.  Jahrhunderts  unter 
dem  phrygischen  König  Midas  IL  (738— 695).  i)  Plutarch  de  mus.  11.  29 
nennt  ihn  Begründer  («o;r?/;'or)  der  hellenischen  Musik,  was  insofern  richtig 
ist,  als  der  Aufschwung  der  griechischen  Musik  von  seinen  Flötenweisen 
ausging.  Von  Worten,  die  er  zu  seinen  durchaus  für  gottesdienstliche 
Zwecke  bestimmten  Melodien  gedichtet,  erfährt  man  nichts.  Schwerlich 
hat  er  seine  Melodien  niedergeschrieben,  sondern  durch  Vorspielen  auf  seine 
Schüler  verpflanzt.^)  Um  so  leichter  konnte  sich  ein  Streit  über  die  Autor- 
schaft der  ihm  zugeschriebenen  Nomen  erheben.  Zugeschrieben  aber 
wurden  ihm  mit  mehr  oder  weniger  Recht:  der  tonmalende  vojtiog  noXuKi- 
fffUos  auf  Apollon,  nach  Pindar  F.  12,  7  ff.  so  benannt  von  den  vielen  das 
Modusenhaupt  umgebenden  Schlangenköpfen,  deren  schrillen  Klageton  er 
nachahmte,*)  der  ro//o^  aoiuirmK,  eine  klagende  Weise  für  Bestattungs- 
feiern,*) ferner  Nomoi  auf  Athene,^)  Ares  und  die  Qöttermutter.*)  Er  g^t 
ferner  als  Erfinder  des  enharmonischen  Musikgeschlechtes, '^)  dessen  Wesen 
darin  bestand,  dal3  es  bestimmte  Töne  der  diatonischen  Skala  für  die  Me- 
lodie unbenutzt  ließ.  Auch  mehrere  neue  Khythmen,  wie  der  Trgooodiaxog 
(-  —<^  —  ^ — '-),  yoofioq  (-  --X-—  w_)^  ßaxynoQ  (-v>^-  «w^«.).  wer- 
den auf  ihn  zurückgeführt.**)  —  Schüler  des  Olympos  waren  Hicrax  aus 
Argos,  von  dessen  Erfindungen  Pollux  IV  79  und  Plutarch  de  mus.  26  be- 
richten, Krates  (Flut,  de  mus.  7)  und  andere  (FUit.  19).  Das  Herüberfluten 
der  phrygischen  Künstler  nach  den  kleinasiatischen  Griechenstädten  ist 
vermutlich  durch  den  Zusammenbruch  des  phrygischen  Reiches  infolge  des 


fr.  1    bei    Hkk«;k    PL(J.  UM  TmS  f.;    Aristot.  ,-Toi/jiiajn   bei  IMut.   de  mus.  18   bezieht  sich 

poßt.  20  p.  14(>1  b  30  ff. ;:  H.  (Ti!iiK.\ujäR,  Alt-  j   nur  auf  Kompositionen. 

in*iech.  Programmusik.  Wittenberg  1904),  und  ')  Neuere  lassen  ihn  von  den  vielen  Ab- 

deshalb  von  JMatoii  (le.^.  II  f)00e)  und  seinen  ,    sätzen    {y.ft/n/ju)    benannt    Hcin.     Die   Erfin- 

Anhän)L?ern   (IMut.  symp.  quae.st.  718d;   s.  a.  |   dunt;  des  Polykephalo»  wird  der  Athene  lu- 

.TFoi  rif'.  :V.K  2  oMv  oiifiturn)  vei'worfen.  Krst  gesehriebe»    von  JN'ndar  P.  12;   nach   andern 

die  phrygisrhe  Auletik  machte  die  (iriechen  soll  Krates,   ein   Schüler   des  Olympos,    ihn 

mit  der  vom  VVoit  losgelösten  Wirkung  der  erfunden  haben  (Plut.  de  mus.  7».    »Siehe  H. 

Instrumentahnusik  eigentlich  bekannt  (Alex.  '    (iuhkaukh.  Verb,  der  Philo!. vers.  (iörlitz  1889, 

Polyb.   bei    Plut.   de    mus.  ö;     K.    Kitsohl.  4;W  ff.:  anders  0.  Schröder.  Herrn.  89(1904) 

Opusc.  I  2f)0  miOdcutet  diese  Stelle,  als  hätte  \\\h  i.To/.rx.  bedeute  den  Rhythmen  Wechsel). 

Ol.  auch  kitharistische  Weisen  komponiert).  *)  Enr.  Or.  18!^").   Man  hat  etwa  an  den 

')  Seine  zeitliche   Absetzung    i.st   durch  "    Wagensturz  des  Amphiaraos  beim  böotischen 

die  oben  S.  141,4  berührte  Kontrovei-se  vor-  Harma  iStrab.  404)  oder  an  das  bei  Barbaren 

wirit.   Wer  sich  für  Prioritiit  des  Aulos  ent-  (Hdt.  IV  7:^.  IX  2-))   und  (iriechen   (A.  Baü- 

schied.    mochte   ihn    vor    Homer   setzen    (so  mf.tstek.   Denkmäler  III  1948    eine   Dipylon- 

Suid.  s.T>;.r//.7o.' b  und  wohl  alle,  die  ihn  als  |   vase)  übliche  Führen  der  Leichen  Vornehmer 

Schüler    des   Silens   Marsyas   ansehen,    wie  auf   Wagen    zu    denken.      Von    Fmrvußidiot 

Pind.    bei    Schol.  Ar.  ran.  228;    Plat.  symp.  ruimt    des  Ol.  redet  Poll.  IV  78,  von  {Poffvrf- 

215 c).  Wer  an  die  Prioritiit  der  Lyra  glaubte.  '    Tixni  xui  tw}.t,nxoi  rnnoi  Schol.  Ar.  eqn.  9;  ein 

hatte   kein  Interesse,    die  richtige  Oberliefe-  .   f.^ty.iffitor  h.ii  rnt  Jlrüotn   (für  Delphoi?)  Ari- 

rung  zu  ändern,  nach  der  er  unter  den  phrA'-  stox.  bei  Plut.  de  mus.  15. 

gi.schen  Königen  Midas  und  «iordios  gelebt  hat  |            '')  Die  Stellen  bei  II.  Volkmasn  zu  PInt 

(Suid.  s.  "O/.  d).    Die  Annahme  zweier  Olym-  .   de  mus.  p.  70.  12  ff.   Das  .-row«r//or  zu  diesem 

pos   ist   nur   einer  der  den  Alten  geläufigen  ro//oc  muü  Piaton  Cratyl.  417e  meinen. 

Vermittlungsversuche,    der    in    diesem    Fall  ')   Plut.  de  mus. 2*J;  vgl.  Aristoph.  eq  9. 

auf  Pratinas  (Plut.  de  mus.  7)  zurückzugehen  ')  Plut.  de  mus.  11.     IL    Auert,  Lehre 

scheint.  v.  Ethos  los  ff. 

*)  Schol.  Ar.  Equ.  10:   l)).vn.iv^  f'yfKvpFv  **)  Cber  diese  Khythmen    s.  W.  Christ, 

uvf.qiixoh   y.tti   fhjfp-tjTixnrg    ro/ioiv    ist    mit  Metrik  *,  Leij»z.  1879,  2r)8  u.  478. 

Voraicht  zu  deuten.   ^Okvunov  xni  TetKtdt'^onv  ; 


B.  Lyrik.    Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Gattungen.    (§  86.) 


143 


Kimmeriereinfalls  veranlaßt.  Ihre  Sprache  wurde  hier  nicht  verstanden 
und  so  mußten  sie  sich,  selbst  wenn  sie  nebenbei  Dichter  gewesen  wären, 
auf  das  Musizieren  beschränken,  ebenso  wie  die  etruskischen  histriones  in 
Altrom  auf  pantomimische  Vorstellungen.  Die  Nomen  des  Olympos  wurden 
immer  als  etwas  Besonderes  empfunden,  enthusiastisch  im  Charakter  und 
durch  Einfachheit  vor  den  späteren  derartigen  Kompositionen  aus- 
gezeichnet, i) 

Die  Einflüsse  der  Flötenmusik  auf  die  ionische  Litteratur  äußern  sich 
zunächst  im  Aufkommen  der  Elegie,  deren  stehendes  Begleitinstrument 
der  Aulos  ist.  Der  Schauplatz  des  bedeutsamsten  Umschwungs  auf  dem 
Gebiet  der  Musik  und  Lyrik  ist  aber  vom  7.  Jahrhundert  an  der  Pelo- 
ponnes,  wo  die  Derer,  weit  musikalischer  veranlagt  als  die  lonier,  den  von 
außen  kommenden  musikalischen  Anregungen  den  fruchtbarsten  Nährboden 
gewährten.  Zuletzt  wirkt  hier,  durch  Terpandros  eingeführt  (noonr]  xard- 
GxaoiQ  Plut.  de  mus.  9),  die  altäolische  Kitharodik.  Bald  folgen  aber  die 
Auleten'und  Auloden  und  machen  hier  Schule  {devriga  xaTaoraoig), 

86.  Terpandros,  Sohn  desDerdenis  aus  Antissa^)  auf  Lesbos,»)  dessen 
Zeit  sich  dadurch  bestimmt,  daß  er  Ol.  26  =-  676/3  v.  Chr.  an  den  Karneien 
in  Sparta  siegte,*)  gilt  als  Begründer  der  kitharodischen  Nomendichtung 
und  der  lyrischen  Poesie  der  Griechen.^)  Er  soll  den  alten  vier  Saiten  der 
Lyra  drei  neue  hinzugefügt^)  und  neben  dem  alten  daktylischen  mehrere 
neue  Rhythmen  in  die  Poesie  eingeführt  haben.  In  seinen  Nomen  knüpfte 
er  der  Überlieferung  nach  an  die  Weise  älterer  Sänger  und  Kitharisten 
an;  das  will  die  Sage  ausdrücken,  daß  Haupt  und  Leier  des  erschlagenen 
Orpheus  durch  das  Meer  nach  dem  lesbischen  Antissa  geschwommen  seien.') 
Außerdem  verwertete  er  die  musikalischen  Weisen  der  benachbarten  Lyder 


')  Aristot  pol.  VITI  1340a  9  ff.;  Plut.  de 
mnB.  18. 

•)  So  nach  den  äxotßeoTFQoi  Schol.  Aristid. 
p.592,  29ff.  DiND.;   fimoth.   Pers.  239  Wil. 

•)  Alte  Apollon-  und  Dionysoskulte  auf 
Lesbos  (Pbeller-Robert,  Griech.  Mythol.  I 
292, 2.  678  f.)  gaben  Anregung  zur  Übung 
der  Musenkünste.  Einem  dymv  jtdxmos  t<ov 
jifHrjTiov  in  Mitylene  wohnte  Pompeius  bei 
(Plut  Pomp.  42). 

*)  Ath.  635  e:  rä  Kaovela  jrQWTO<;  :idvTO)v 
TeQJiavÖQog  vtxqi,  oyg' Ekldvixog  iorogsT  er  re  toi<; 
^fiftexQoig  KoQveovixatg  xdv  xoig  xaraXoydöjp'  * 
eyevexo  6h  rj  &eotg  kov  Kagveiojv  xaxd  rijv 
fxrtjv  xai  etxooxijv  ^OlvfundÖa.  Nach  dieser 
urkundlich  sicheren  Nachricht  war  Terpan- 
dros um  ein  geringes  älter  als  Archilochos, 
wie  auch  Glaukos  bei  Plut.  de  mus.  4  be- 
zeugt und  R.  Wbstphal,  Verh.  der  17.  Phil.- 
VeiB.,  Breslau  1857,  S.  51— 66  aus  der  Ge- 
schichte der  Musik  nachweist  (später  als  Archi- 
lochos setzen  den  Terpandros  der  Peripatetiker 
Phanias  bei  Clemens  Alex,  ström.  I398P..  das 
Mann.  Parium  ep.  34  zu  Ol.  33, 4  =  645  v.  Chr., 
und  Eusebios  zu  Ol.  36, 2  =  635).  Alle  Stellen 
zur  Chronologie  bei  F.  Jaooby,  Marmor  Par. 
S.  95  f.    Erwähnt  wurde  er  bei  Stcsichoros 


(fr.  71).  Siehe  auch  E.  Rohde,  Kl.  Sehr.. 
I  97. 

*)  Über  fabulose  sonstige  ^Erfinder* 
der  Kitharodik  s.  Plut.  de  mus.  3  u.  Reinach- 
Weil  zu  dieser  Schrift  §  27  ff. 

®)  Strabo  618:  Ttonavdoa;  dvxi  rijs  xf- 
Ton/ogdoi^  Ai'f>«<:  s.^xa/dgdo)  ygrjodfiei'og.  Ge- 
naueres Plut.  de  mus.  28.  Timotheos  Pers.  237 
Wil,  TeojtavbooQ  ö'  rnl  xo)  ( X)QCfF.t)  ÖFxa  lfv^f 
fwvoav  Fv  (odaT^,  was  Wilamowitz  auf  eine 
zehnsaitige  Lyra  bezieht.  Siehe  a.  S.  138.  7. 
Etwas  vei-schieden  Ps. Aristot.  probl.  19,  32. 

")  Phanokles  bei  Stob.  ilor.  64,14;  Antig. 
bist.  mir.  5;  Ovid.  met.  XI  50;  Lucian.  adv. 
ind.  11.  Bei  Timoth.  Pers.  215-248  Wil. 
sind  die  zwei  Epochen  der  ältesten  Kitha- 
rodik durch  Orpheus  und  Terpandros  be- 
zeichnet. Anderwärts  wird  T.  an  Chryso- 
themis  angeknüpft.  (Procl.  ehrest,  p.  245,  2 
W.:  Xgvod(}Fiag  6  Kgi/s  :igo)xog  oxokfj  xQV^d- 
fiFVog  FX.^gF.nF.T  xai  xif^dgav  dvakaßcov  eig  fii- 
ftrjoty  xov  'A.idkXatvog  fiorog  fjoe  .  .  .  SoxsT  Öf 
TF.gnav()gog  fikr  ngwxog  xFÄeuooai  xov  rduov 
fjgwo)  ftFxgoj  xofjodfjevftg.)  Von  Homer  leitet 
ihn  (als  dessen  Ururenkel)  der  Gewährsmann 
des  Suidas  (s.  TFgnardgog)  ab,  wieder  andere 
von  ücsiod  (Suid.  1.  L). 


144 


Griechische  Litteraturgeschichte.    L  Klassische  Periode. 


zur  Vervollkommnung  der  griechischen  Musik. ^)  So  rühmt  Pindar  fr.  125 
von  ihm,  daß  er  den  Barbitos  zuerst  aufgebracht  habe,  als  er  bei  den  Ge- 
lagen der  Lyder  horte,  wie  er  gegen  die  hohe  Pektis  erklang.  Epoche- 
machend für  die  Verbreitung  der  Musik  nach  dem  griechischen  Festland 
war  die  Berufung  des  Terpandros  nach  Sparta,  das  im  7.  Jalirhundert  nach 
der  Bezwingung  Messcniens  eine  Hauptpflegestätte  der  Musik  und  der 
Götterfeste  war.  Spätere  sagenhafte  Ausschmückung  hat  dieser  Berufung 
die  politische  Absicht  einer  Beschwichtigung  der  Parteien  untergelegt.*) 
Sicher  ist,  daß  der  lesbische  Musiker  in  Sparta  mit  großer  Auszeichnung 
aufgenommen  wurde,  wodurch  der  sprichwörtliche  Ausdruck  entstand:  uerä 
Aeoßior  (odov,  d.  i.  zuerst  der  lesbische  Sänger  und  dann  die  andern.»)  Die 
Namen  der  kitharodischen  Nomen  des  Terpandros  waren:  Alohog,  Bouüriog 
(von  Völkern  benannt),  öothoi;,  jooyalo^  (von  Rhythmen),*)  ^fiV,  Tetgaotdiog^ 
Kfjmmr,  TfüJidvögiOs.^)  Außerdem  werden  von  ihm  kitharodische  Prooimia, 
d.  i.  Melodien  zu  Hymnen,  genannt.")  Allen  diesen  Kompositionen  lagen 
Texte  zugrund,^)  und  zwar  teils  Dichtungen  Homers,®)  teils  von  ihm  selbst 
gedichtete  Verse.  V^ou  seinen  langgedehnten  Rhythmen  (ooihog  und  rgo- 
yaioq  orjjiiavtog:  Plut.  de  mus.  28)  will  fr.  1  eine  Vorstellung  geben: 

Zfr  nnjTfoy  (loyd^  tkivtcov 

<iyf)TO)0,    ZlrV^    not    OJTfvdd) 

TarTdv  (^Tuvy  ruvfor  doyär. 

Aber  schwerlich  ist  uns  ein  echtes  Fragment  erhalten,^)  also  auch  die 
Frage,  in  welchem  Dialekt  Terpandros  gedichtet  habe,  wo  er  eigene  Text« 
bot,  nicht  zu  entscheiden.  Die  Nomen  waren,  ähnlich  wie  unsere  Sym- 
phonien und  Kantaten,  sehr  kunstvoll*^)  in  mehrere  Sätze  gegliedert.    Der 


*)  P^infilhruDg  der  patlietisch-tragisrlien 
inixolydischeii  Touait  Plut.  de  mus.  2><. 

*')  DiiKlor.  bei  Schol.  Aristid.  p.  5U2,  20  ff. 
DiND.;  Aristid.  or.  XLIV  825  Dind.;  Pliilod. 
de  muö.  XIX  1«  und  XX  2;  Flut,  de  mus.  42; 
Aelian  v.  h.  XII 50 ;  Zenub.  5. 1).  über  Musik  als 
JSühiiemittel  IL  Diels,  JSibvll.  Blätter,  lierl. 
189U,  UO. 

'j  Aristot.  fr. 497,  wo  von  V.Rose  (Aristot. 
pseudepigr.)  die  ganze  Littei'atur  zusammen- 
getragen ivst.  Auch  Sapphü  fr.  92  spielt  auf 
das  Sprichwort  an.  Die  vier  delphi.s('hen  Siege 
des  T(?rpandros  scheinen  spätere  Erfindung 
zu  sein,  da  wir  aus  so  früher  Zeit  nichts  von 
Wettkämpfen  in  Delphoi  wissen. 

"*)  Hom.  11.  .1  10  f.  nO(t  oräo*  tjvoF  Ofu  inya 
JF.  dnroy  tu  onOi  \  Dio  Chr.  1, 1.  —  Die  Stellen 
üb(;r  die  uoroty.H  o<n'hi  W.  Cukist  zu  Find.  fr.  32. 
Flut,  de  Fvth.gr.O  deutet  die  strenge.  Aristid. 
or.  XLVI  888  Dinü.  die  richtiKe  Musik. 

'M  Die  Stellen  Tu.  Bergk,  FL(t.  III*  7. 
Acht  Nomen  zählt  Pollux  IV^  05  auf.  indem  er 
Innzufügt,  dafj  andere  ihm  noch  zwei  weitere 
Nomen  b(älegten.  Darauf  scheinen  die  zelm 
co^ai  des  Terpandros  bei  Timoth(?os  Fers.  237 
zu  gehen. 

•')  Flut,  de  mus.  4;  Schol.  Arist.  nub.  595. 


")  Clem.  Alex,  ström.  I  3ß4f.  P.:  fieXa; 
iY  «r  .TotTßTfi^  .ifoifOtjxe  roU  :ion)fiaot  xai  xovg 
AaxF^aifiorUov  vvitovs  FiiF/.o;tot9joe  Tigjraf' 
«^mv  o  'ArrtoaauK:. 

•*)  Flut,  de  mus.  3:  toTc  f.^foi  rd;  kivrov 
xai  ToiV  'Outjnor  fuhj  .-TFoinderia  fjiÖeiv  iv  roTf 
i\yt7iai%'\  ibid.  5:  F^tjhoxhai  xov  TeQJtavdooi^ 
'()i//joftr  //n-  Tri  F.itf,  'OoffFfog  Ae  rä  fiiXi^l 
ibid.  G  von  den  Nomensängern:  lä  jigoi  rai^ 
♦Vforc  ihf  ooKoodfitroi  i^tßatror  (vgl.  rxßaats 
Flut.  1.  1.  83)    Frißt'c    f.Ti'  Tf    rjyr    Ofirjoov    xai 

T(i>»'    U.)M0V    JKUtfOlt'. 

9)  Schon  die  Alten  zweifelten  (Strab.  618). 
Siehe  Wilamowitz,  Eurip.  Herakl.  I  *  71  and 
dens.,  Timoth.  Ferser  S.  92. 

>")  Frocl.  ehrest.  245,  18  ff.  W.:  r^oy- 
ftFroK  xai  //^•;'«/o.tof.to>^  xai  roti  ^vdfiotg 
(hfiTtu  {(1.  h.  ruhige  Rhythmen)  xai  dutXa- 
o/rt/>r  rafs  ?.^2F0l  /jjtjTai.  Den  Gegensatz  bil- 
det der  lebhaft  eriegte  Dithyrambus.  O. 
(i KUPPE,  (jr riech.  Culte  und  Mythen  I  549  ff. 
vergleicht  passend  unsere  Kirchenkonzert- 
ötücke.  Die  Strenge  des  Satzes  betont  Suid. 
S.  yöuo^:  aaiinvtar  F/(or  zaxrtfV  xai  ov^fiov 
ioinnuFvny.      Den     rouixo;     tno.ifh;     im    MeloS 

scheidet   Aristid.  Quint.  de   mus.  I  12   vom 
öiOvnaitßixo^  und  Toayixog. 


B.  Lyrik.    Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Qattnngen.    (§  87.) 


145 


Kitharode  trug  sie  in  feierlichem,  lang  wallendem  Talar  vor.^)  Nach  PoUux 
IV  66  hatten  die  terpandrischen  Nomen  7  Teile:  dgxd^  iMxaoxd^  xarargoTid, 
fujaxaxoTQond^  djutjpakog  (dies  der  Hauptteil  mit  der  Mythenerzählung),  oq^ga- 
yk  (persönliche  Äußerungen  des  Dichters),  biiXoyog.^)  Wenn  schließlich 
Plut,  de  mus.  28  den  Terpandros  auch  den  Erfinder  des  Trinkliedes  {oxo- 
JUor)  nennt,  so  mag  das  dahin  verstanden  werden,  daß  er  diesen  Liedern 
bei  den  lakonischen  Syssitien  zuerst  eine  kunstmäßigere  Form  gab.  3) 

87.  Klonas,  Polymnestos,  Sakadas,  Echembrotos  waren  die 
Hauptvertreter  der  erst  nach  Terpandros  aufgekommenen  aulodischen  Nomen- 
poesie. Von  diesen  hat  Klonas,'*)  den  die  einen  zu  einem  Tegeaten,  die 
anderen  zu  einem  Thebaner  machten,  gegen  Mitte  des  7.  Jahrhunderts  die 
aulodische  Nomenpoesie  begründet  und  seinen  Melodien  Elegien  und  dakty- 
lische Hexameter  zugrund  gelegt.^)  Wenn  ihm  auch  Prosodien  beigelegt 
werden,  so  sind  demnach  damals  aulodische  Kompositionen  auch  bei  Pro- 
zessionen gesungen  worden.  —  Sakadas  aus  Argos,  der  hochgefeierte «^j  Ver- 
fasser von  fiiXi]  und  ikeyeJa  /le/ieA.ojtoirjjueva,"')  war  der  Schöpfer  des  berühmten 
auletischen  ro^og  Ilvdixog^  einer  Programmusik,  die  den  Kampf  des 
Apollon  mit  dem  Drachen  Python  darstellte.^)  Seine  Zeit  wird  dadurch 
genau  bestimmt,  daß  er  nach  Paus.  X  7,  4  (vgl.  Plut.  de  mus.  8)  in  den 
Jahren  582,  578  und  574  bei  den  pythischen  Wettkämpfen  siegte.  Von 
ihm  oder  Polymnestos  rührte  auch  der  vo^og  rgtfxeg/jg  (oder  rgijuehjg)  her, 
von  dessen  drei  Strophen  jede  in  einer  anderen  Tonart  (diogiori,  (pgvyiorl^ 
Ivöiaii)  gesetzt  war.  Vielleicht  war  Sakadas  auch  Erfinder  der  Instru- 
mentalnotenschrift, die  älter  war  als  die  der  Vokalnoten,  aber  mit  dieser 
darin  übereinstimmte,  daß  sie  die  Lautzeichen  des  Alphabetes  zur  Bezeich- 


0  Proci.  ehrest,  p.  245,  2  W.;  bei  Herodot. 
I  24  singt  Arion  den  voftog  ogifioc:  ivövg  jiäoav 
trfv  axevijv  xai  Xaßon'  ri/v  xiädQfjr.  über  das 
prunkvolle  Kostüm  der  Kitharoden  in  späterer 
Zeit  J.  Fbei,  De  certaminib.  tlivmel.  47.  49  f. 

«)  Nach  Poll.  IV  84  und^  Strab.  p.  421 
hatte  der  berühmte  TfvOtxog  vo^kk:  des  Sakadas 
fünf  Teile  (E.  Lübbert,  De  Pindari  carminuni 
compositione,  Bonn  1887).  Die  Zahl  der  Sätze 
in  tonmalenden  Instrumentalnomcn  mußte 
natürlich  von  der  sachlichen  Gliederung  des 
Gegenstandes  abhängen.  Ob  Plut.  de  mus. 
33  auf  Nomen  mit  drei  Teilen  (dg/r'f,  fieoov, 
ixßaotg)  gedeutet  werden  darf,  ist  zweifelhaft. 
Vor  dem  komplizierten  siebensätzigeu  Nomos 
lag  aber  wahrscheinlich  (J.  Jüthner,  Wiener 
Sind.  14, 1892, 9  ff.)  ein  einfacherer  dreisätziger 
(1.  Proömium.  2.  erzählender  Teil  mit  Mythus, 
3.  Schluß).  Vom  eigentlichen  rouog  oder 
ftväog  scheidet  Dio  Chr.  V  4  das  :zgootfiim' 
vofiov.  Daß  dem  Nomos  die  Strophenform 
nicht  zukommt,  sagt  Ps.Aristot.  probl.  19,  15. 
—  In  dem  neuaufgefundenen  Nomos  des 
Timotheos  sind  die  letzten  Teile  ^/afpaXtk, 
wpgayig  und  Mkoyog  noch  deutlich  erkenn-  i 
bar,  die  ersten  nicht  mehr,  da  der  Anfang 
des  Nomos  verstümmelt  ist;  s.  Wilamowitz  ' 
in  der  Ausgabe  S.  96  ff.  Das  Nachwirken 
der  Nomosform  im  Apollonhymnus  zeigt  0. 
Handbuch  der  klass.  AltertnmswissenBchaft.    VII. 


Crüsiüs,  Verb,  der  39.  Philol.versamml.  Zürich 
1887  S.  266  ff. 

')  Ein  sehr  individuell  gefärbtes  lakoni- 
sches Trinklied  bewahrt  Theogn.  879  ff. 

*)  Plut.  de  mus.  3.  5.  8;  Poll.  IV  79. 
Sonst  wird  er  nicht  erwähnt.  Sein  Name 
war  aber  in  der  alten  agonistischen  Inschrift 
von  Sikyon  genannt  (Plut.  8).  Cber  das 
Kostüm  der  Auleten  in  älterer  Zeit  (ärmel- 
loser, ungegürteter.  mit  Stickereien  verzierter 
Rock)  J.  Frei  a.  a.  0.  31  f. 

^)  Plut.  de  mus.  3.  Erfinder  eines  voiiog 
Tot^ieh'is,  in  dem  drei  Tonarten  (dorische, 
phrygische,  lydiachc)  vorkommen,  nennt  ilm 
Plut.  8. 

^)  Statuen  von  ihm  in  Argos  und  auf 
dem  Helikon  er^'ähnt  Paus.  II  22,  9:  IX  30,  2. 

")  Plut.  de  mus.  8. 

8)  Strab.  p.  421;  Paus.  II  22.  9;  Poll.  IV 
78.  H.GunRAüER,  Der  pythische  Nomos,  eine 
Studie  zur  griech.  Musikgeschichte,  Jahrbb.  f. 
Phil. Suppl. 8 ( 1875— 76)309ff.  Ath. 610c führt 
von  Sakadas  (besser  mit  Kaibel:  Agias)  auch 
eine  Daov  .linots  an.  Die  ihm  beigelegten 
rdftot  hießen  (hroäeTog  und  o/oivian:  —  Der 
pythische  Nomos.  für  den  eine  besondere  Art 
von  Auloi  verwendet  wurde,  wurde  noch  in 
der  römischen  Kaiserzeit  von  pythaulae  ge- 
blasen (J.  Frei,  De  certam.  thym.  60  ff.). 
5.  Aufl.  10 


146  Ghriechisohe  Litteraturgeschichte.    I.  SlaBsisohe  Periode. 

nung  der  Tonhöhe  in  den  verschiedenen  Tonarten  verwendete.*)  —  Zeit- 
genosse des  Sakadas  ist  der  Arkadier  Eehembrotos,  der  bei  den  ersten 
pythischen  Spielen  (582)  mit  einem  aulodischen  Nomos  siegte,  aber  durch 
den  traurigen  Charakter  seiner  Dichtung  Anlaß  gab,  daß  die  Gattung  der 
aulodischen  Nomen  wieder  aus  der  Liste  der  zulässigen  Dichtungen  ge- 
strichen wurde.*)  —  Nur  ein  lonier  begegnet  unter  den  frühsten  Meistern 
griechischer  Flötenmusik,  Polymnestos  von  Kolophon;*)  er  soll  sich  auf 
die  drei  alten  Tonarten  dorisch,  lydisch,  phrygisch  beschränkt  und  die- 
selben Dichtungen  wie  Klonas  gemacht  haben.*)  Vielleicht  ist  er  für  den 
Peloponnes  der  Vermittler  der  neuen  phrygischen  Weise  geworden.*^) 

88.  Orchestik  und  Anfänge  des  Chorgesangs.  Die  kitharodi- 
schen  und  aulodischen  Nomen  waren  zum  Einzelvortrag  bestimmt.  Die 
Nomenpoesie  bildete  daher  auch  zunächst  nur  für  die  eigentliche  Melik 
oder  die  Liederpoesie  den  Ausgangspunkt.  Der  Chorgesang  begegnet  zu- 
erst in  Verbindung  mit  Reigentänzen.  In  älterer  Zeit  singen  einzelne  vor 
{iSuQyoiTFg),  die  Gesamtheit  stimmt  mit  einem  Ruf  oder  ausgeführten  Re- 
frain {eqvfiviov)  ein:  später  übernimmt  der  Gesamtchor  oder  ein  Teil  von 
ihm  den  ganzen  Vortrag.  Das  Wort  x^Q^^  bedeutete  in  der  älteren  Zeit 
und  so  noch  bei  Homer  den  Tanzplatz  (verwandt  dem  lat.  co-hors,  hortun) 
und  wurde  dann  erst  auf  die  Gesamtheit  der  Tänzer,  die  auf  dem  umfrie- 
deten Platze  ihre  Reigen  aufführten,  schließlich  auch  auf  den  Chorgesang 
übertragen.  Festliche  Tänze  waren  bei  allen  Griechen  üblich;  einer  be- 
sonderen Pflege  erfreuten  sie  sich  aber  auf  der  Insel  Kreta.  Schon  Homer 
schildert  den  Tanzplatz  (xoooc:)  der  Ariadne  im  kretischen  Knossos  (2*5901?.) 
und  nennt  den  Kreter  Meriones  einen  Tänzer  (oo;f/;or//(:  FI  (517).^)  Wie  die 
übrigen  Künste,  so  war  auch  der  Tanz  in  Kreta  in  den  Dienst  der  Gott- 
heit gestellt;  so  galten  die  Paiane  den  Festen  des  Heilgottes  Apollon  und 

^)   Der   Vükalnot(;nsohrift  der    Griechen  '    doßv  uF/.Fn  xaUyov^. 

liegt  das  zur  Zeit  der  IN'rserkriege  ausjüiebil-  '            ^j    KrwÄhnt   von    Alkman    fr.  114,    also 

dete   iüuiscliü   Alphabet  von   24  Buchstaben  spÄtestens  Mitte  des  7.  Jahrhundert«  zu  setzen. 

zugrund.     Die    Instrunientalnott^nsehrift   hin-  i            "•)  Die  Nachrichten  sind  nicht  ganz  wider- 

gegen  enthielt  nicht  bloß  noch  das  Digainina,  I    spruchsfrei  (Plut.  H.  5.  9.  10).     Die  Meinung, 

sondern  auch  das  gebrochene  .Tot«,  das  nach  '    als  hätte  1*.  lascive  Dichtungen  verfaßt  (Schol. 

<h'n    Inschriften     nur     in     altdorisclien    und  Ar.  eq.  12S7  und  danach  Suid.:  0.  C-Rüsnm, 

achüischen    (Jebieten    (Kreta,    Melos.    Thera.  Philol.  47.  1888.  40;  Wilamowitz,  Textgesch. 

Korinth,  Unteritalicn)  Verbreitung  hatte  und  der  griech.  Lyr.  13).    beruht  auf  einer  Miß- 

iusbeson<lere   die   spezifisch  argolische  Form  deutung  von  Ar.  eq.  12S7.  wo  der  Komiker, 

<h's  Lanibda  i  |- ».     Siehe    die    ninsikalischen  .    indem    er   von   Ariphrades   sagt  xai   IlaXvft- 

Traktate  bei  C'.  v.  Jan.  h?criptores  mus.  iW.,  \   r/jorna   .7oiyJ,  nur  den  Heuchler   charakteti- 

Leipz.  189.'>,  298  ff.;  vgl.  D.  B.  Monko.   The  sieren   will,   wie   wenn   wir   sagen   würden: 

Modes  of  auc.  iire«*k  Music  p.  7o.    Auf  diest?n  ^Dieser  Lump  komponiert  auch  noch  (^'horäle.* 


Vorrang  der  Argeier  in  der  älteren  Musik  be- 
zieht W.CmasTlferodot  III  131  \ioytiot  fjy.orov 
nniniy.i/i'  fivhi  'EkkijVtnr  naioiot  (Finde  des 
.Jahrh.i.      Das   Musikinstrument    aaxm^my. 


Daß   seine    ITauptleistung  oftdioi  waren,    be- 
zeugt Plut.  de  mus.  y. 

''')  Daß  er  für  die  Lakonier  dichtete,  sagt 
Paus.  1  14.  4.    Vielleicht  hat  er  in  Lakonien 


dessen  Ilesych.  ged(?nkt.    ist   wohl    eine  Er-  j    noch  mit  Thaletas  zusammengewirkt, 

lindung  des  Suk.  ^'i  Auch  JSappho  fr.  54  besingt  den  Tanz 

'-)  Paus.  X  7.  3    hat   die  Aufschrift  des  der    Kieti'dnnen    um    den    reizenden    Altar. 

ehernen  Dreifußes  erhalten,  den  Echembrotos  t'ber   die  Tiinze   der  Kreter    im  allgemeinen 

für   einen  Sieg  nach  Theben  stiftete:  'A>//i-  Aiistoxenos    bei  Ath.  (»30b   und    Sosibios   in 

(iomiK  'Any.a::n>fiy.t  Tto'IfnaxAFt,  rixt/on^  V/wV  Schul.  Pind.  P.  2,  127.    Von  Kreta  benannt  ist 

uyaku*  Atiff  iXTvonor  ir  «fV//.o/c.  "K/./.fjoir  dei-  1    der  on')no^   Ktjfjny.oy  —    v^    __  , 


B.  Lyrik.    Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Qattnngen.    (§88.)  ^47 

die  WaflFentänze  {nvQQixai)  denen  des  Kriegsgottes  Ares.')  Schwerlich 
indessen  waren  dies  alte  nationale  Tänze  der  Derer;  vielmehr  scheinen  sie 
unter  fremden  Einflüssen  aus  der  vordorischen  Kultur  der  altberühmten 
Insel  entstanden  zu  sein.  Dahin  weist  die  Verwandtschaft  der  kretischen 
Kureten  mit  den  phrygischen  Korybanten  und  die  Verbindung  der  idäischen 
Daktylen  und  Kureten  mit  dem  Kultus  der  großen  Göttermutter.  2)  Von 
Kreta  verbreitete  sich  dann  der  religiöse  Tanz  und  Gesang  nach  dem 
griechischen  Festland,  zunächst  nach  Delphoi  und  Sparta.  Von  der  Ver- 
pflanzung nach  Delphoi  haben  wir  ein  litterarisches  Denkmal  in  dem  home- 
rischen Hymnus  auf  Apollon.^)  Nach  Sparta  brachte  die  neue  Art  der 
Götterfeier  durch  Chorgesang  Thaletas  aus  Gortyn.  Dieser  wurde  zur  Zeit 
einer  Pest  von  den  Lakedaimoniern  berufen,  um  durch  musikalische  Süh- 
nungen aus  der  apollinischen  Religion*)  den  Zorn  der  Götter  zu  beschwich- 
tigen.*) Bei  dieser  Gelegenheit,  wahrscheinlich  bald  nach  dem  Jahr  665, 
in  das  Eusebios  die  Einführung  der  Gymnopaideia  in  Sparta  setzt,  ^)  führte 
er  die  mit  feierlichem  Tanz  vorgetragenen  Heillieder  an  ApoUon,  die  Paiane, 
und  die  in  raschem  Tempo  sich  bewegenden  kiiegerischen  Tänze  der  Pyr- 
riche  {vnoQyjniaTa)  in  Sparta  ein.^)  Deshalb  wird  er  von  Plut.  de  mus.  9 
zusammen  mit  Xenodamos  von  Kythera  und  Xenokritos  aus  dem  unter- 
italischen Lokroi®)  Begründer  der  zweiten  Musikperiode  in  Sparta  {devTsgag 
xaraordaeojg  rcbv  jieol  Tr]v  jiiovoixijv  iy  rj]  Zjidox}])  genannt.  Die  erste  war, 
wie  oben  gesagt,  von  dem  Lesbier  Terpandros  ausgegangen.  Der  Ein- 
führung der  Kameen  und  Gymnopaidien  in  Sparta  folgten  bald  ähnliche 
mit  Musik  und  Tanz  begangene  Feste  bei  den  übrigen  Griechen,  die  Apo- 
deixeis  (&rid€f|£(cem.E. Hiller)  in  Arkadien,'^)  die  Endymatia  (fetes  costumees 
übersetzt  Th.  Reinach)  in  Argos,  ^0)  die  Festspiele  des  ApoUon  in  Delphoi  (seit 
582)  und  Delos,  ^  *)  die  Py  thien  in  Sikyon, '  2)  die  Panathenaien  und  Dionysien '  ^) 


^)  Das  waren    die   Fv6n),iog    ogxrjoi^   bei       fjEkonouT}  drdgi  y.ai  vofto{^FTi>cio  Strabon).    Ob 


Strabon  p.  480   und    die  evojr/ua  jzaiyvta  bei 
Piaton  leg.  VII  p.  796  b. 

*)  Call.  hymn.  I  46.  52;  Strab.  p.  478. 
An  die  Waffentänze  der  Kreter  erinnern  die 
Tänze  und  Lieder  der  römischen  Salier;  ob 
aber  dabei  an  griechischen  Einfluß  zu  denken 
»ei,  ist  problematisch.  —  An  Olympos  knüpfte 
Thaletas  an  nach  Plut.  de  mus.  10. 


die  Gymnopädien  sogleich  von  ihrer  Stif- 
tung an  musisch  waren,  ist  fraglich.  Aber 
jedenfalls  ist  665  für  die  Ansetzung  des 
Thaletas  terminus  post  quem.  Glaukos  von 
Rhegion  glaubte  zu  wissen,  daß  er  den  Archi- 
lochos,  nicht  aber  ihn  Stesichoros  nachahme 
(Plut.  de  mus.  7.  10). 

')  Plut.  de  mus.  9;  Schol.  Pind.  P.  2,  127; 


*)  Das  Verhältnis  kehi-t  um  Wilamowitz,  Strab.  480. 

Eur.  Herakl.  P  265;  Pbeller-Robert,  Griech.  **)  Auf  die  Bedeutung  dieses  Xenokritos 

Mythol.  I  654  flf.  —  Im  allgemeinen   s.  den  in    der  Musik  weist   der  umstand   hin,   daß 

Artikel   Chor  von   E.  Reisch    in    der   Real-   i  es  auch  eine  lokrische  Harmonie  gab.    Wila- 

encyklopädie.                                                        •  mowitz,   Timoth.  Pers.  p.  103  f.  nennt   ihn 

*)  Paiane  (Plut.  de  mus.  9)  in  strengem,   (  Xenokrates.     Xenodamos  ist  nach   Ath.  15  d 

altertümlichem  Stil    {>ccdfK  rgöno^    Plut.   12).  Begründer  des  r:Too/?}unTix6^  toojtck. 

^)  So   sagte    Pratinas    in    irgend    einem  «j  Ath.  626b;  Polyb.  IV  20"",  8. 

Lied  nach  Plut.  de  mus.  42.    Anders  Philod.  '' )  Plut.  de  mus.  9. 

de  mus.  p.  85,  XVIII  39  K.  »>)  Hymn.  Hom.  Ap.  I  150;  Paus.  X  7,  4. 

^)    Andere    machen    den    Thaletas    viel  *-)  Diese     waren     allmählich     erweitert 

älter,  indem  sie  ihn  mit  Lykurgos  zusammen-  aus   gymnischen  Wettkämpfen   zu   rhapsodi- 

führen,  so  Aristoteles  pol.  II  12  p.  1274a  28  sehen,  dann  lynschen,  s.  Tu.  Berok,  Gr.  Litt. 

und   Strabon  p.  482,   vielleicht  infolge  einer  II  149. 

Verwechslung   der  beiden  Bedeutungen  von  *^)  Die  Dionysien  sind  später,  d.  h.  vom 

rofiog  _  »Gesetz*    und    , Gesangsweise'    {ßd).tjn  6.  Jalu-hundert  an,    par  excellonce   das  Fest 

10* 


X48  Griechische  Litteraturgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

in  Athen,*)  die  Hyakinthien  in  Samos,*)  die  Museia  und  Erotidia  in  Thes- 
piai.3)  Diese  Art  von  Festfeier  nahm  eine  mittlere  Stelle  in  der  Entwick- 
lung der  griechischen  Agone  ein.  Vorausgegangen  waren  die  rein  gym- 
ni sehen  Spiele,  die  lediglich  in  körperlichen  Kraftproben  bestanden.*)  Weit 
später,  gegen  Ende  des  6.  Jahrhunderts,  kamen  die  dionysischen  Festspiele 
in  Schwung,  aus  denen  sich  im  Nordpeloponnes  und  in  Attika  die  drama- 
tische Poesie  entwickelte.  In  der  Mitte  stand  die  aus  musikalischen  und 
orchestischen  Vorstellungen  zusammengesetzte  Festfeier,  die  sich,  wie  sie 
von  den  Dorern  Kretas  ausgegangen  war,  so  auch  bei  den  Dorern  des  Fest- 
landes einer  besonderen  Beliebtheit  erfreute,  während  die  lonier  und  seit 
dem  6.  Jahrhundert  auch  die  Attiker  bei  ihren  Festagonen  die  ältere  Weise 
des  rhapsodischen  Vortrags  epischer  Heidengosänge  zu  kultivieren  fort- 
fuhren. 

89.  Blicken  wir  zum  Schluß  nochmals  zurück  auf  jene  älteste,  text- 
arme Periode  der  griechischen  Musik,  so  sehen  wir,  daß  sich  im  Laufe 
des  7.  Jahrhunderts  alle  jene  Elemente  entwickelten,  die  wir  später  in  der 
Glanzperiode  der  griechischen  Lyrik  vereinigt  sehen.  Zu  dem  eintönigen, 
feierlich  ernsten  Rhythmus  des  daktylischen  Taktgeschlechtes  gesellte  sich 
der  rasche  Gang  der  dionysischen  Tanzmusik,  des  spitzigen  lambus  und 
eiligen  Trochäus  nebst  ihren  Wechselformen  sowie  der  energische  Schritt 
des  anapästischen  Marschgesanges  der  Derer  (noooodiaxfk).  Neben  dem 
üreitakter  (Trimetron)  und  dem  aus  dessen  Wiederholung  entstandenen 
Hexametron  kamen  die  ebenmäßigeren,  in  gleiche  Hälften  teilbaren  Verse, 
die  Dimetra  und  Tetrametra  zur  Geltung.^)  Diese  waren  von  Hause  aus 
den  iambischen,  trochäischen  und  anapästischen  Reihen  eigen,  fanden  aber 
mit  der  Zeit  auch  in  die  daktylischen  Verse  Eingang.  Neue  Formen  ent- 
standen dann  dadurch,  daß  die  Katalexis,  die  ursprünglich  auf  den  Vers- 
ausgang beschränkt  war,  auch  auf  die  Vorderglieder  eines  Verses  aus- 
gedehnt wurde  (Prokatalexis).  Auf  diese  Weise  entwickelte  sich  aus  der 
katalektischen  trochäischen  Dipodie  der  Pseudo-Creticus  ( -i  -  l_).6)  Die 
Ausbildung  der  Rhythmengcschlechter  hing  auch  mit  der  Entwicklung  des 
dritten  Hauptfaktors  der  griechischen  Lyrik,  des  Tanzes,  zusammen.    Denn 

musischer  Agone,  so  dnü  Aristot.  pol.  1323  a  2  |  erweisen.  Diesem  Grundgedanken  von  H. 
den  dyotrfy:  yvfiri>coi  die  Aiovvaia  entgegen-  Uskners  Buch  über  den  altgriechischen  Vers- 
setzt, bau  stimmt  Christ  vollständig  bei;  aber  den 


^)  Sicher  seit  Perikles  nach  Plut.  Per.  13. 

")  Athen.  180e. 

*)  Paus.  IX  31,  3;  Athen.  561  e;  von 
diesen  freilich  und  den  Hyakinthien  ist  die 
Zeit  der  Einführung  nicht  bestimmbar.  Vgl. 
E.  Reiscii,  De  musicis  Graecorum  certamini- 


Versuch.  die  Hälften  des  Hexametera  nun 
auch  zu  solchen  Vieitaktern  zu  machen,  hält 
er  für  verlorene  Mühe:  im  Anfang  stehe  eben 
die  Messung  nach  der  Zahl  der  Takte,  nicht 
nach  der  der  Silben. 

yor/jixo^    xara    Tooynlov    nennt    ihn 


bus,  Vind.  18S5,  und  ders.  Artikel  ^Agones**  i   Aristoxenos   und  unterscheidet  ihn  von  dem 

in  der  Roalencykl.  I  839  f.  eigenartigen,   echti?n  Creticus,    der  fünfzeitig 

*)  So  noch    in   den '4iVa«  Lii  Tlainoxkoj  '   ist  und  zum  Geschlecht  der  Päone  (  -  ^  ^  ^ 

r    T^.    Tt  i.  .  x^  ,.  !   oder  w  w  vv   _  "i  gehört.     Dieses  Geschlecht 

")  Die  Zusammenfügung  von  zwei  Füüen  i     i  .        •      t      x-  j 

„.,     /      n-     T  1  •  w     1-  stammt,    wie    die    Manien    sagen,    aus    dem 

zu  einer  Dipodie    und  von  zwei  Dii>odien  zu       ,      ..    ,'  ,         n-  •    i       %-    •       t      j 

einen,  Dinu'ter  ma«  von  N.U..r  einfacher  sein      ^'f^^'^^,  "'"'  «Po'l'n'^f^'e'}  Kre.s     In   der 

und    sich    auch    durch   ihr  Vorkommen    bei  l   *"7™    thorlyr.k    «i,  olt    dieser    Rhythmus 
anderen  Völkern   als   verbreiteter   und   älter      '""=''  ''•''"*'  8'''^'=  «^'"''- 


B.  Lyrik.    Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Gattungen.    (§  89.)  149 

beide,  Rhythmus  und  Tanz,  gingen  bei  den  Griechen  derart  Hand  in  Hand, 
daß  zur  Bezeichnung  der  rhythmischen  Begriffe  Takt,  Doppeltakt,  Auftakt 
sowie  der  Melodie  lauter  von  dem  Schreiten  und  dem  Tanz  hergeholte 
Ausdrücke  (jiovg^  ßdoig^  7iQooodia>c6g,  Tiegiodog,  orgoq)/],  ävxiotQOipi]^  xa/uti^) 
gebraucht  wurden.  Die  Liebe  zum  Tanz,  nicht  dem  einförmigen,  beide 
Geschlechter  vereinigenden  Rasen  unserer  Walzer,  sondern  den  eurhyth- 
mischen  Bewegungen  religiöser  Festfeier,  jeweils  entweder  von  Männern 
oder  von  Frauen  ausgeführt,  war  den  Griechen  schon  zu  Homers  Zeiten 
in  Fleisch  und  Blut  übergegangen;  nicht  bloß  tanzen  bei  ihm  die  Jüng- 
linge bei  der  Hochzeit  und  Weinlese,  auch  zur  Versöhnung  des  Apollon 
führen  die  Söhne  der  Achäer  Reigen  auf,  zum  Tanz  den  Paian  singend 
(A  472).  Glänzendere  Entfaltung  fand  dann  aber  erst  in  nachhomerischer 
Zeit,  namentlich  in  den  dorischen  Staaten,  aber  auch  in  Altattika*)  die  tech- 
nisch verfeinerte  Orchestik,  und  bald  wurde  kein  Götterfest  ohne  Tanz 
begangen. 

Dem  Aufschwung  der  Lyrik  kam  die  außerordentliche  Bereicherung 
und  Vertiefung  des  ganzen  Lebensprospektes  entgegen,  die  das  Zeit- 
alter der  großen  Kolonisationen  im  Norden,  Süden  und  Westen,  der  wilden 
Verfassungskämpfe  in  allen  alten  griechischen  Aristokratien,  der  philo- 
sophischen und  religiös-mystischen  Reaktionen  gegen  den  naiven  Traditio- 
nalismus und  den  verflachenden  Intellektualismus  der  älteren  ionischen 
Kultur  brachte.  Es  war  die  Zeit,  um  Persönlichkeiten  reifen  zu  lassen, 
die  das  Bedürfnis  empfanden,  innerlich  Erlebtes  und  Empfundenes  aus- 
zudrücken, und  die  um  die  künstlerische  Fähigkeit  rangen,  ihre  Konfessionen 
so  zu  formen,  daß  sie  auch  auf  weitere  Kreise  erleuchtend,  erwärmend, 
inneres  Leben  weckend  wirkten.  Wo  die  Lyrik  in  volle  Öffentlichkeit  tritt, 
wie  bei  Götterfesten,  Heroenfesten,  Siegesfeiern,  wo  um  den  Preis  in  der 
Konkurrenz  gestritten  wird,  also  in  Hymnen,  Enkomien,  Siegesliedern,  ins- 
besondere wenn  der  Chor  singt,  da  spricht  sich  Intimstes  natürlich  nicht 
aus  und  wirkt  das  nüchterne  Licht  der  Publizität  für  unser  Gefühl  er- 
kältend, feierlich-hyperbolische  Pose  stellt  sich  leicht  ein.  Wo  aber  ein 
inspirierter  Sänger  im  engen  Kreis  der  Genossen,  beim  Gelage  oder  in 
poetischer  Epistel  sein  Herz  öffnet,  da  entfalten  sich  Blüten,  deren  Frische 
und  Glanz  durch  die  Menge  der  Jahrhunderte  nicht  im  mindesten  verblaßt 
ist,  deren  Echtheit  und  Schönheit  selbst  die  romantische  Lyrik  unserer 
Tage  beschämen  könnten. 

Von  den  verschiedenen  Arten  der  griechischen  Lyrik  ist  der  lambus^^) 
und  das  monodische  Strophengedicht  in  Ton  und  Form  dem  Volkslied  am 
nächsten  geblieben,  auch  die  ältere  Elegie,  wiewohl  formal  stark  vom  Epos 
abhängig,  hält  sich  noch  einfacher;  die  Chorlyrik  dagegen  ist  durch  ihren 

')  In  Attika  existierte  ein  Geschlecht  I  wiTZ,Borl.  Ak.Sitz.ber.  1904. 619 fF.).  Bezeich- 
Ei*veTSaty  das  Hesychios  als  yeyng  oQxrjouTn'  \  neiid  ist  die  älteste,  noch  linksläufige  attische 
xai  xt^aoiaxwv  bezeichnet,  und  das  bei  Staats-  Vaseninschrift  ( H.  Röhl,  Imag.  insc.  Gr.  anti- 
festen (JfQot^Qyiai)  den  Dienst  von  Tänzern,  '  quiss.'-,  Berl.  1894,  p.  81).  eine  Dedikation  an 
Kitharaspielem  und  Sängern  vei*sah.  Ahn-  einen  Tänzer:  o*:  %'vv  oQxtjoTwv  nm^xiov  am- 
lich  ist  die  alte  milesische  Sängergilde   der  ionaia  .kiufic:. 

Onitaden,    deren    Satzungen    neuerdings    in-  *)  Daninter  befaßt  man   auch  Gedichte 

schriftlich  gefunden  worden  sind  (Wilamo-  in  trochäischem  Maß. 


150  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  KlassiBche  Periode. 

agonistischcn  Charakter  mehr  und  mehr  nicht  blolä  ins  Kunstvolle,  sondern 
auch  ins  Künstliche  hineingetrieben  worden. 

JK).  Die  Gattungen  der  griechischen  Lyrik.  Die  vollständigste 
Einteilung  bietet  Proklos,*)  indem  er  drei  Hauptklassen  aufstellt,  Elegie, 
lambus  und  die  an  Unterabteilungen  sehr  reiche  Melik.  Diese  Gegenüber- 
stellung ist  bloß  zu  begreifen  aus  der  Voraussetzung,  daß  für  Proklos 
bezw.  seine  hellenistischen  Quellen  Elegie  und  lambus  keine  gesangs- 
mäßig vorgetragenen  Gedichte  mehr  waren.  Das  trifft  indessen  für 
die  ältere  Zeit  nicht  zu,  in  der  vielmehr  die  Elegie  zur  Begleitung  des 
Aulos,  der  lambus  zu  der  eines  Saiteninstrumentes  {lajußrxfj  bezw.  xkeyn- 
a/ißo^  Ath.  636b)  gesungen  worden  ist;  beide  gehören  also  zur  monodischen 
Lyrik,  jene  zur  Aulodie,  diese  zur  Kitharodie.  Aber  diese  beiden  Arten 
lyrischer  Dichtung  müssen  schon  früh  zum  rein  rezitatorischen  Vortrag 
übergeführt  worden  sein,*)  so  daß  sie  den  übrigen  gegenübergestellt  werden 
konnten.  Alle  anderen  Gattungen  lyrischer  Poesie  zerfallen  ihrem  Stil  und 
Vortrag  nach  in  monodische  und  chorische  Gesänge,  ihren  Anlässen  nach 
in  Kultgesänge,  Preislieder  auf  Menschen,  Kriegslieder  und  Gesellschafts- 
liedcr.  Die  einzelnen  Gattungen  halten  die  Spuren  ihrer  landschaftlichen 
Entstehung  durch  die  ganze  griechische  Littcratur  hin  in  ihrem  Dialekt 
fest:  das  erotisch-sympotische  Strophenlied  behält  den  äolischen,  der  Chor- 
gesang den  dorischen,  Elegie  und  lambus  sowie  das  anakreontische  Lied 
den  ionischen  Dialekt.  Doch  werden  die  schroffsten  dialektischen  Eigen- 
tümlichkeiten bei  solchen  Gedichten,  die  auch  von  einem  panhellenischen 
Publikum  verstanden  werden  sollen,  ausgemerzt,  während  für  intimste 
Kreise  Sappho  und  Alkaios  den  lesbischen,  Alkman  den  lakonischen,  Ko- 
rinna  den  böotischcn  Lokaldialekt  sprechen. ») 

öl.  A.  Kultlieder,  teils  von  einzelnen,  teils  von  (Chören  vorgetragen, 
sind  folgende: 

Hymnos^)  ist  die  allgemeinste  Bezeichnung  für  eine  von  dem  stehen- 
den**) Solisten  oder  Chor  gesungenen  Götteranruf  in  fostfroher  Stimmung. <^) 

*)  Chrestom.  p.  242,  12  ff.  W.  vennutlich  pocsis  mclicae  gcneribus.  Halle  1866.  —  über 
aus  Didyni.  moi  nouiiwr.  Mehrfach  ab-  die  Tonarten  der  chorlyrischen  Gattungen 
weichend  Tzetzes  (Anecdot.  Estense  bei  J.  s.  A.  RossBAcn.  Spezielle  griech.  Metnk'. 
Kayskk.  De  vet  artepoöt. p. 58 f. ).  —  Plat. leg.   '   Leipz.  1889,  8.  448  ff. 

")  Den  Rückgang  des  Flötonblasens  bei 


111  700  b  nennt  als  Teile  der  Melik  Hymnen, 
Klagegesänge  {Ooi]roi),  Paione,  Dithyramben, 
kitharodische   Nomen,   wobei   der  Stimmung 


den  veoi  und  fÄfrOriKu  im  4.  Jahi'hnndert  be- 
zeugt Aristot.  pol.  1841  a  26. 


nach  rfiroi  und  ihijvoi,   ebenso  .laifoi'F^  und  ^)  L.  Ahkes»,  Kl.  Schriften  I,  Hannover 

<5/i!/rt>a////o/ als  Gegensätze  dargestellt  werden.  1891,  157  ff. 

v/ivoi  von  naiiovFs:   geschieden   Plat.  Phaedr.  j            *)  Das  Wort  aus  vS-tto^   {vr^iog,    vßtvOi:) 

177a;  Polyb.  IV  20,  8.  —  Pindar  fr.  139  deutet  von  vS-  (vdoi,  rdno  singen)  entstanden,  wohl 

folgende  Arten  an:  uoifiai  rnuaruSfc,  A/j9ron//-  äolische  Bildung.    Siehe  o.  S.  96, 1.  Nachweis 

ßoi,    Oofjiot,    '/.hol,    vfteyaioi,    uuffiot.     Procl.  des    Gebrauchs    der    Ausdrücke    r/iror    und 

ehrest,  p.  243  W.  unterscheidet:  r«  f/V  Ofov^,  .Ta/ar  bei  E.  Lojla.n,  Poösis  melicae  genenim 

tu  t/V  di'Ofnonovs,  Tii  eh  Veois  xal  dn'>o</>.To»s-,  nominibus  quae  vis  subiecta  sit  a  scriptoiibus 

TU  fh  Tu^  not>nnt:tTovoas  JTFfiioidoei^',  das  Et.  i   classicis,  1.  Progr..  Lauban  1898.    P.  Maas, 

M.  600,  41     nrjooohtn,    rnoQytjfidrn,    oidaiun.  Phil ol.  66  (1907)  596  verbindet  r/n'o;  mit  «»/«t/r. 

Außerdem  zählt  Pollux  IV  53  auf  i(}rff(U./.iy.d,  i    rueynin^. 

iboxoi/ ooixd ,    idfiaxx<n ,    Fnd//via,    hifiartinia,  \            ^)  Procl.  ehrest.  244,  12  o  <5if  pcroi'w^  171- 

:T(ß(ioima  u.  a.     Vgl.  C.  A.  Bapp,  Leipz.  Stud.  ros  .tooc  xiOdouy  f/dero  fotojtmv. 

8  (1885)  134  ff.;  C.  H.  Waltheb,  De  graecae  .           «)  Gegensatz  ist  bei  Piaton  a.  a.  0.  ^gij- 


B.  Lyrik.    Anfänge  dejr  Lyrik.    Ihre  Gattungen.    (§§  90—92.)  151 

Der  Rhetor  Menandros*)  gibt  von  dem  in  der  späteren  Rhetorik  auch  auf 
prosaische  Götteranrufungen  übertragenen  Begriff  eine  ausgeführte  Ein- 
teilung in  xXrjTixoi  (Zusammenreihung  von  Götterbeinamen,  die  eine  zauber- 
artige Wirkung  haben  soll;  vgl.  den  orphischen  Hymn.  Hom.  8),^)  djro- 
nefjmxtxoi  (auf  Reisen  von  Göttern),  (pvoixoi  (auf  Götter  als  personifizierte 
Naturgewalten),  /iv&ixoi^  mit  denen  von  manchen  die  yeveaXoyixoi  identifi- 
ziei-t  wurden,  jiejilaajuevoi  (auf  Phantasiegötter,  die  keinen  Kult  haben), 
djievxTixoi  und  jiQoaevxrixoi  (diese  beiden  Gattungen  können  logischerweise 
mit  den  übrigen  nicht  auf  eine  Stufe  gestellt  werden).  Regel  war,  daß 
nach  Schluß  des  Mahles  ein  Hymnus  auf  den  Gott  gesungen  wurde  (Plat. 
symp.  176a).  In  weiterem  Sinn  umfaßt  ü/ivog  auch  das  Prozessionslied 
{ngooodiov)^  zu  dem  dann  der  v/iyog  jiagaßcojuiog  als  Standlied  während 
der  Opferhandlung  den  Gegensatz  bildet. 3)  Zur  Ausführung  des  chorischen 
Hymnengesangs  bildeten  sich  spätestens  im  6.  Jahrhundert,  wahrscheinlich 
aber  schon  früher,  Zünfte  von  Kultsängern,  die  man  mit  unsern  Stadt- 
kapellen verglichen  hat,  in  den  Städten ;  aus  hellenistischer  und  römischer 
Zeit  lassen  sich  aus  Inschriften  mehrere  Hymnodenvereine  nachweisen.^) 
Die  echten  Kulthymnen  waren  in  melischen  Maßen  gehalten;  die  hexa- 
metrische Form  der  rhapsodischen  Hymnen  ist  von  Dichtern  der  Helle- 
nistenzeit,  besonders  KaUimachos,  für  den  Litteraturhymnus  in  Aufnahme 
gebracht  worden.^) 

Sammlungen  von  Götterhymnen  muß  es  früh  in  Tempelarchiven  ge- 
geben haben,  ß) 

92.  In  primitiven  Vorstellungen  der  griechischen  und  aller  Religion, 
daß  es  für  jeden  Gott  einer  besonderen  Methode  bedürfe,  sich  seine  Gunst 
zu  verschaffen  und  daß  man  ihn  durch  richtige  Handhabung  dieser  Methode 
wie  durch  einen  Zauber  zwingen  könne,  liegt  es  begründet,  daß  der  Ver- 
ehrer des  einzelnen  Gottes  diesem  die  richtigen  Namen  geben  und  ihm 
auch  den  richtigen  Hymnus  singen  muß.  Von  einzelnen  Göttern  wissen 
wir,   daß   sie  ihren  eigenen,   auch   besonders   benannten  Hymnus  hatten.') 

vog.  Inhalt  sind  svyai  :jg6c:  roh  i^eovs  (Plat.  '  hellenistischer  Zeit  besonders  in  Arkadien  ge- 
1.  1.),  ejiaivog  eig  ißeoi'g  (Menand.  331,  20  Sp.),  pflegt  und  bildete  hier  einen  Gegenstand  des 
Darstellung  der  Taten   der  Götter  und  ihrer   ]   Jugendunterrichts. 


evegyeoiat  gegen  die  Menschen  (Diod.  V  46,  S). 

')  L.  Spbngkl,   Rhet.  Graec.  111  333  fl^.; 

andere  Stellen  s.  0.  Gkuppe.  Griech.  Culte  u. 

Myth.  I  548,  30. 


^)  0.  Gruppe,  Griech.  Culte  und  Mythen 
1  551.  Es  ist  bcachtenswei-t,  daß  auch 
römische  Kulthymncn  nach  griechischem 
Muster  von  Dichtem  des  ersten  Jahrh.  v.  Chr. 


«)   Plat.    Cratyl.  400  E.;     Phileb.  12c;   I   die  melische  Fonn  haben  (so  Catull.  24,  Hör. 


CatuU.  34,  21 ;  Hör.  sat.  II  6.  20. 

»)  Procl.  ehrest.  244,  10  W.;  Ch.  Michel, 
Recueil  d'inscr.  Grecques  nr.  499,  8  ff.    rraoa- 


carmen  saoculare). 

*)    Von    Ahlffixd  redet  Choiroboskos  zu 
Hephaest.  p.  249,  2  Coxsbr.;  über  Aijhdxd  s. 


ßfoma  sind  ?..  B.  Aesch.  Ag.  104  ff.;  Ar.  ran.    ,    Wilamowitz.   Textgesch.   der  gr.  Lyr.  38,  4. 


874  ff.  —  Über  jigooodta  s.  a.  Ar.  nub.  307 
pac.  397;  Xen.  an.  VI  1,  11;  Etym.  magn. 
690,  43.  Nach  Plut.  de  mus.  3  wäre  Klonas 
der  .Erfinder**  der  ,^ooo6dta,  die  natürlich 
immor  Chorgesänge  waren. 

*)  Siehe  o.  S.  149.  1 ;  E.  Ziebakth,  Das 


Hervonagende  Hymnen  wurden  auch  auf 
Stein  gesetzt,  wie  es  für  Pind.  Ol.  5,  4  (Schol. 
p.  195, 13  Dr.)  bezeugt  und  auf  Inschriften  von 
Delphoi  (0.  Cruhius,  Philol.  53, 1894,  Ergän- 
zungsheft; H.  Weil.  Bull,  de  corr.  hell.  19, 
1895,  393  ff )  und  Epidauros  noch  zu  sehen  ist. 


griech.  Vereinswesen,  Leipz.  1896,  90  ff. ;  Mit-  '  j    Diog.    Babyl.    bei    Philod.    de    mus 

teil,  des  ath.  Inst.  29(^1904)168.   Nach  Polyb.       p.  89,  20  K.    uhv    üeöjy    hegovg    htga    ^nXr) 
IV  20,  8  wurde  der   Hymnengesang  noch  in   |   jigooisaOai  xai  .^Qejreiv  exdoxotg  i6ta\    vgl.  H. 


152  Griechische  Litteraturgeschichte.    I^  KlassiBche  Periode. 

So  ist  das  Chorlied  für  Dionysos  insbesondere  der  Dithyrambos,  das  für 
Apollon  der  Paian.  Der  Dithyrambos')  ist  ein  Preislied  auf  Dionysos, 
dessen  Ursprung  man  willkürlich  nach  irgend  einer  der  Hauptstätten  des 
Dionysoskultes,  sei  es  nach  Naxos  oder  Theben,  versetzte.*)  Der  älteste 
Dithyrambos  war  nach  Art  eines  Volksliedes  strophisch  angelegt;*)  einer 
stimmte  an,  der  Chor  der  bakchischen  Gemeinde*)  fiel  ein.*)  Begleitinstru- 
ment war  der  Aulos,  Tonart  die  zu  diesem  Kult  gehörende  phrygische.*) 
Künstlerisch  reguliert  wurden  diese  Gesänge  vermutlich  im  Zusammenhang 
mit  einer  von  dem  Tyrannen  Periandros  veranlaüten  religiösen  Reform  in 
Korinth;  als  künstlerischer  Leiter  dabei  galt  der  Kitharode  Arion,  dem  die 
Einführung  des  kyklischen  (Jhores  im  Altertum  zugeschrieben  wird.')  In 
Athen  wurden  dann  im  (>.  Jahrhundert  die  kyklischen  Chöre  von  Männern 
und  Knaben  als  fester  Bestandteil  in  die  Feier  der  städtischen  Dionysien 
(zur  Kr()ffnung  des  musischen  äyoßv,  vor  den  dramatischen  Aufführungen) 
aufgenommen,  offenbar  schon  mit  dem  Stoff  aus  der  Heldensage,^)  und 
aus  diesem  Hcroendithyrambos  ist  dann  die  Tragödie  (nach  Aristoteles) 
hervorgewachsen.  Um  die  Wende  des  (>.  Jahrhunderts  ist  auch,  wahr- 
scheinlich auf  Veranlassung  des  Lasos  von  Hermione,^)  die  strophische  Glie- 
derung des  Dithyrambos  aufgegeben  und  jener  frei  und  scheinbar  regellos 
leidenschaftlich  hinströmende  Gesang  geschaffen  worden,  von  dem  uns 
Pindar  das  erste  sichere  Beispiel  liefert,*^)  während  Bakchylides  noch  die 
alte  strophische  Form  beibehalten  hat.  Die  Kultvereinigung,  die  sich  im 
f).  Jahrhundert  in  Delphoi  zwischen  Dionysos  und  Apollon  vollzogen  hat,") 
führte  auch  zu  einem  Austausch  der  beiderseitigen  Kultgesänge,  die  hier 
zuerst  getrennt  nebeneinander  erklungen  waren,  i-) 

Der  i6ßaxyj)i  genannte  Chorgesang *••)   war  vielleicht  nur  in  Sekten 

Abkrt.  Die  Musikanschaiiuiif?  des  Mittelalters,  gibt  Callim.  hymn.  IV  812  ff. 

Halle  190'),  59  (über  die  Neupythagoreer).  ®)  t)oon>efj  v.-ioißFni^  Pliit.  de  mus.  10.  Wie 

*)  M.  8t  UMiDT.  Diatribe  in  dithyrambuin,  solcbc  ^lOvnaußoi  ausHahen.  wissen  wir  erat 

Heil.  lH4r>.     l)(?r   Name   ist  wobl   pbrvgiscb  seit    der    Entdeckung    der   bakchylideischen 

un<l  hängt  vielleicht  mit  Omafifio^  triumpluis  Gedichte    auf   Papyrus,    deren    Titel    ^bi&v- 

zusammen.     W.  Sohmid.  Zur  Geschiclite  des  oafi/ioi"    mit   Wilamowitz,    Textgesch.   der 

griecli.  Dithyrambus,   Progr.  Tübingen  1901,  gr.  Lyr.  48  f.  für  willkürh'che   Grammatiker- 

S.  r>ff. ;  F.  Äi»AMi,  N.  .Tahrbb.  Suppl.  2f)  (1901)  eriindung  zu  erklären  kein  Grund  ist. 

215  fr.      Zur    Ktvmologie    J.  Wackkknauel,  *)  K.  Volkmann  zu  Phit.  de  mus.  p.  119, 

Rhein.  Mus.  45(1890)482   (1).   hat  mit  Zeus  44  ff. 

nichts  zu  tun).  i           *^)  Pind.  fr.  75  Chkist;  Procl.  245,  14  W.; 

'•'i    Pind.  bei  »Schol.  Pind.  Ol.  XIII  25a  llor.  Od   IV  2.  10:  seit  per  audacea  nova  di- 

Dha(-hm.  tht/rambos  verha    derolrif  numerisque  fertur 

-')  Ps.Ari.stot.  probl.  19,  15.  lege  Holtttis.   F.  Blass,  Henn.  30(1895)314ff. 

•*  1  In   dem  Chorgesang   beim   Dionysos-  sieht  schon  in  Simonides'  Dauae  einen  freien 

kult    sieht   Herodot.   II  48    etwas    spezilisch  '    Dithyrambos. 

Griechi.sches.  ii)  E.  Rohük,  Psyche  IP  52  ff. 

^i  Anhiloch.  fr.  77  (früheste  Erwälmung  *=*)  Bacchyiid.  XVI  ist  ein  Dithyrambos  fQr 

des  Dithyrambos).  das  delische  ApoUonfest.  J.  A.Crameb,  Anecd. 

"'  Poll.  IV  Sl;  Aristot.  pol.  1842b  1  ft'.  Ox.  IV  814  i^iOvnuitfifk  ton  .Tohjfta  .Tßoc  /li- 

•I  llerod.  I  28:  Schol.  Pind.  O.  13,  25.  i    örmov  ft^oimov  ?}  .t/hk  \-i.-T6/./.opra  jiaofurXoxai 

Procl.  ehrest.  244.  26 \V.:  ror  r>f  «oc<i/'^»'or  rz/s  '    ioTonuTn'  oixyiotr  <,.TFntFynry  iso  liest  A.  HiL- 

<i')A//c  Mo/nror/z./yc  Mo/o)rx  fftjntv  Ftiai,  o^  .inot-  <jAin>,  Scliol.  Dionys.  Thr.  451,  22i.  Das  Gegcn- 

roc  Tor  xrxhny  ri-/(r'F  xf'ooy.  Vgl.  8chol.  Pind.  stück   ist    der   von  H.   Weil  iBulI.  de   corr. 

O.  1.  1.  25.      Cher    die    Stellung    des    Kory-  bell.  19.  1H95.  398  f.,'   pu)>lizierte    Ilaiay  €k 

phaios  Ath.  125b.     Ein  Bild   von  einem  sol-  J^drroor. 

chcn  im  Kreis  um  den  Altar  tanzenden  Chor  ,          *')  Procl.  ehrest.  246,  5  W. 


B.  Lyrik.    Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Gattungen.    (§  92.)  153 

dieses  Namens,  wie  wir  eine  aus  Athen  insehriftlich  kennen  gelernt 
haben,  >)  gebräuchlich. 

Zum  athenischen  Dionysoskult  gehören  die  (haxo(poQixä  jueXrj^  die 
ein  Chor  von  Jünglingen  vortrug.^) 

Apollinische  Chorgesänge  sind  Paian  und  Hyporchema,  ihrer  Stimmung 
nach  dadurch  charakterisiert,  daß  sie  alles  Klagende  völlig  ausschließen.^) 
Der  Paian^)  hatte  seinen  Namen  von  dem  Ausruf  trj  naidv^  mit  dem  der 
Chor  in  den  Gesang  des  Vorsängers  einfiel.^)  Es  gab  zwei  Arten  von 
Paianen,  ein  choralartiges  Tischgebet,  das  ohne  Tanz  bei  der  Spende  von 
den  Tischgenossen  zur  Flöte  L^esungen  wurde  (s.  u.  S.  156),  und  ein  Tanz- 
lied auf  den  Heilgott  Apollon,  das  man  bei  besonderen  Anlässen,  besonders 
zur  Abwendung  von  Seuche  und  Krankheit  sang.  6)  Diese  zweite  Art 
von  Paian,  die  vornehmlich  Pflege  und  Ausbildung  in  der  griechischen 
Litteratur  fand,  findet  sich  schon  bei  Homer  IL  A  473  und  im  Hymnus 
auf  den  pythischen  Apollon  V.  326.  Weitergebildet  wurde  dieser  Paian 
in  Kreta,  von  wo  er  sich  nach  Delphoi,  Sparta  und  dem  übrigen  Festland 
verbreitete."^)  Einen  Paian  im  ersteren  Sinne  hat  Tynnichos  aus  Chalkis 
gebildet,  von  dem  Piaton  Ion  p.  534  d  sagt,  er  sei  das  einzige  erwähnens- 
werte Gedicht  des  Mannes,  dieses  aber  lebe  in  aller  Mund,  ein  wahres 
evQtj/na  Moioäv,^)  Ursprünglich  gab  es  nach  Proklos  nur  Paiane  an  Apollon 
und  Artemis,  nachher  kamen  auch  solche  an  andere  Götter  auf,  die  mit 
jenen  nur  den  feierlichen  Gesang  und  den  Vortrag  durch  einen  in  ge- 
messenem Takt  (ijujueXeid)  sich  bewegenden  Chor  teilten.^)  Chthonische 
Gottheiten,  zu  denen  auch  die  Nymphen*^)  gehören,  haben  keinen  Paian. 
Später  wurden  auch  zu  Ehren  von  Menschen,  zuerst  des  Lysandros,  dann 
auf  Diadochenfürsten  wie  Krateros,  Ptolemaios  Lagu,  Antigenes,  Demetrios 
Poliorketes,  Paiane,  d.  h.  Preislicder  mit  dem  Refrain  nj  naidv  gesungen.  ^^ 
Übrigens  gebraucht  schon  Homer  II.  X  391  das  Wort  auch  von  dem  Sieges- 
gesang,  den   die   Söhne   der  Achäer   beim  Fall  Hektors  anstimmten,   wie 

»)  Siehe  S.Widb,  Mitt.  des  ath.  Tnst.  19  durch    Pindars   Paian    Oxyrh.  pap.  V,  1907, 

(1894)  248  ff.;  Archiloch.  fr.  120.  121.  p.  43,  62 ff.)  adoufva;.  xaiaxtifjoiixcog  dk  xai  ra 

*)  Procl.  ehrest.  249.  17  ff.  W.:  Ath.  631h.  ;    :iQoa6öid  nves  :Tniävag.  Uyovaiv.    Der  Vortrag 

*)  Aesch.  Ag.  1079  f.  Dind.  ;  CaUim.  hymn.  i   durch  einen  kyklischen  Chor  ist  gesichert  bei 

II  20  ff.     Die    apollinische   Musik    ist    eben  dem  athenischen  ApoUonfest  Thargelia;  s.  A. 

ßwvaixa  6g{>d   8.  o.  S.  144  A.     Über    die    Zu-  |    Mommsen,  Feste  der  Stadt  Athen,  Leipz.  1898, 

sammengehörigkeit   von   .laidv   u.   {^jrogxfifia  '    S.  4<S1. 

8-  u.  S.  154,  2.   Einen  jtaidy  auf  Poseidon  er-  ')  Doch    gab    es   auch    einen  lesbischen 


wähnt  Xenoph.  Hell.  IV  7.  4. 

*)  A.  Fairbanks,  A  Study  on  the  Greek 
Paean    (Comell    Studies   XII    1900).     Siehe 


Paian:  Arcliilochos  fr.  78  ariix;  e^d^xiov  ,iq6c: 
avkov  ÄFoßtov  jian'iora. 

^)  Vgl.  Porphyrius  de  abstin.  II  18:  t6v 


a.  O.  Gruppe,  Griech.  Mythol.  II  1239  u.  o.  yovv  Aio^rkor   fpaoi,   kov  ^If/.yror  d^toivKov 

S.  150,  1.  [  fl>;  Toy  i}e6v  ygdtffai  jraiära,  FiJieTv  oti  ßelrtoxa 

*)  Vgl.  Suidas    u.  e^dgyovieg,    und    Ath.  |  Tviiuxu*    ^f^^oujTm'    :Taoaßa)16uevov    öe    rov 

696  f.  über  das  Jiaiavixov  Lii(f{^eyfia.    Callim.  1  avTov  notK  tov  f.xfivov    raviov  jTFtoeo&at    rolg 

Hymn.  II  103;    vgl.  den   inschriftlich  erhal-  '  dyd),^amv  toXq  xaivoTg  noiK  tol  dn/aia. 

tenen  Paian  des  Aristonoos  bei  0.  Crusiüs,  ;  ^)  Ath.  628a  stellt  deshalb  den  gemes- 

Philol.  53  (1894)  Ergänzungsheft  4  f.  senen  Paian  dem  Dithyrambus  entgegen. 

*)   Proclus  chrestom.   p.  244  W.:    6  <)t  I  »»)  Inscr  Gr.  ant.  379  Rokhl. 

:raidv   iauv   etöog    riJÖF/s    ek   .^dvia-;   vvi»   yga-  '  *M  Plut.  Lys.  18;  Ath.  XV  p.  696;  Zosini. 

g'Ofifvay  üeovg.  x6  de  jtaXatov  töicos  djiFrFiiSTo  II  5;  s.  a.  Liban.  or.  XVIII  306  F.  Im  4.  .lahr- 

r(o  ^AjzoXjudvi  xal  tfj  'Agrefjidi  im  xatanavaei  j  hundert  empfand  man  Paiane  auf  Sterbliche 

ioiftöjv  xai  v6o(av  (dies  wird  jetzt  illustriert  |  noch  als  BlavSphemie  (Ath.  696  b.  697  a). 


154  Griechische  Litteraturgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

älmlich  in  den  neugefundenen  Persern  des  Timotheos  V.  211  die  Hellenen 
nach  dem  Sieg  bei  Salamis  tanzend  einen  Paian  anstimmen.  Diese  Art 
von  Paian  scheint  sich  aus  Dankliedern  an  ApoUon  nach  glücklicher  Be- 
endigung der  Not,  wie  uns  ein  solches  bei  Aristoph.  vesp.  869 — 874  er- 
halten ist,  entwickelt  zu  haben.  Das  eigenUiche  Versmala  der  Paiane  war 
der  Paion  ^^  ^  ^^,  der  von  dem  Paian  den  Namen  hat.  Der  auf  einer 
delphischen  Inschrift  des  2.  Jahrhundeits  v.  Chr.  erhaltene  Paian  des 
Korinthiers  Aristonoos  ist  in  glykoneischen  Strophen  mit  pherekrateischem 
Kcfrainvers  gehalten  (s.  o.  S.  153,  5),  ebenso  das  mit  Instrumentalnoten 
versehene  Bruchstück  eines  zweiten  delphischen  Paians,  während  der  dritte 
hier  gefundene  mit  Vokalnoten  kretischen  Rhythmus  durchgeführt  zeigt 
Der  Chor  der  Paiane  bestand  aus  Männern;  einen  gemischten  Chor  von 
Mädchen  und  Jünglingen  finden  wir  erst  in  den  römischen  Paianen  auf 
ApoUon  und  Artemis  bei  CatuU.  34  und  Horaz  od.  121,  IV  6,  31  flf.,  carm. 
saec.,*)  aber  ein  Zusammenwirken  beider  Geschlechter  zum  Preis  des  gött- 
lichen Gesehwistcrpaares  kommt  schon,  bei  Sophokles  (Trach.  205  flf.)  vor. 
Das  Hyporchema  war  ein  Tanzlied,  bei  dem  der  Tanz,  und  zwar 
ein  in  lebhafteren  Rhythmen  sich  bewegender  Tanz  die  Hauptsache  war.*) 
Auch  er  galt  wie  der  Paian  dem  Gott  Apollon  und  fand  wie  jener  seine 
Ausbildung  in  Kreta,»)  so  daü  man  oft  schwer  beide  auseinander  kennen 
konnte.^)  Wie  andere  lyrische  Gesänge,  so  hat  auch  das  Hyporchema  seine 
Fortbildung  im  Drama,  und  zwar  zunächst  in  den  kretischen  Gesängen  der 
Komödie  gefunden.  Aber  auch  das  in  lebhaftesten  Rhythmen  gedichtete 
Chorlied  an  Apollon  in  Soph.  Trach.  205 — 224  dürfen  wir  für  die  Nach- 
bildung eines  solchen  kretischen  Tanzliedes  halten.  Daneben  gab  es  eine 
andere  Art  von  Hyporchema,  bei  dem,  während  der  Chor  sang  oder  singend 
nur  einfache  Tanzbewegungen  ausführte,  einige  ausgewählte  Tänzer  sich 
mit  kunstvolleren  Tanzfiguren  produzierten.  Die  frühste  Schilderung  eines 
von  Mädchen  und  Jünglingen  ausgeführten  Hyporchema  nach  kretischer 
Art  gibt  Homer  II.  2'  590  flf.;  wir  finden  es  dann  ausgebildet  in  der 
Exodos  der  Wespen  des  Aristophanes,  und  genauer  beschrieben  von  Lucian 
in  dem  Buch  vom  Tanz  c.  1<):  müdmv  xogo)  ovreXädriFs  M  avko)  xai  xt§dQq 
o?  jiih   iyoQEvov,    imuujyovvro   dl:   ol  notoroi  nooxgti^h^TEs   f's    clvtwv.   rd   yovv 

*)  In  ähnlicher  Weise    läßt   Philon    den  .-roitjux/j    xoivotria   näoa   xai  ftcOE^tg  dlXfjiuir 

Miises   einen    Chor   von  Männern    nntl    einen  tori,  xai  fiä/jora  fiiftorurrai  nfoi  t6  vjtogxi' 

von  Weibern  zur  »Sieges-  und  l)ankfeier  auf-  ^innov   yh'oc   hffjyor  dftifmegai    trfv  Siä  jwv 
stellen  nach  Philon  vit.  Mos.  I  l8Up.  119M.    i    o/ffudrwv    xai  Tior   orotjurwi'   fiififfotv   cbrore- 

'}  Procl.  240:  rnonyijiia  to  ithr*  6o//jnfoj^  Aovoiv.     Siehe  a.  o.  S.  137. 
adotiFvot'  fieko^.      Ath.  031  c:    i/   r.i(ujj(^tjiiaxixii  "i  Ath.  l^^lb:    xntjztxd  xakovai  xa  v.toq- 

yoTir  er  //  n(i(or  6  /lujo^  oo^firat.    Mcnandros  /tjuara'   A'o//ra  //m'  xaÄiorni   roojroyf  t6  d*oQ' 

de  encom.  p.  i^31,  21  8p.:    roh  [liv  ;'ao   f/V  yaror  M()Änoadr.   Sinionides  (?  8.  Tii.  Reikach 

'A.ToÄktora  natära^  xai  vnooyt'ffiaTa  orofitunnfr,  in  Melanj^es  Weil1<!>X,  412  f.)  fr.  11  oioaai  vi'P 

Torc  <V:  ^v's   .iidyroov  ^iÖr(tdf4fior^   xai    iofidx-  t/.affooi'    *\>yj}a'    (unf)ä    .Ttidior   /tiyrvfirr.      In 

//>r^.     Näheres    über   diese  Tänze  j^ibt  Plut.  Delos  wurden    solclic    Tanzlieder   auch   von 

quaest.  conv.  IX  15.    ().  Citusius.   Pliiiol.  .')3  weiblichen    (hören    gesungen    (Hymn.  Hom. 

Ergänzungslieft  60  versteht  unter  r.i.  (iesang  Ap.  Del.  löf)— 104;  Cailiin.  Hymn.  IV  304 fP.). 
mit  Tanz  während  des  Opfers.    Simonides  (bei  •*)  Nacli  Plut.  de  mus.  i>  war  es  möglich 

IMut.  quaest.  conv.  1.  1.  p.  lAi<  A.)  nannte    den  zu  unterscheiden,   o))    ein  (iedicht  ein  Paian 

Tanz  schweigende  Poesie,  die  Poesie  reden-  oder  ein  Hyporchcm  sei. 
den  Tanz;  Plutarch  fügt  liinzu:  do'/fjonxfj  xai   ^ 


B.  Lyiik.    Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Gattungen.    (§  92.)  155 

Tofe  x^Q^  yQaq)6jiUva  rovroig  ao/iara  vnoQyri/JiaTa  IxaXeixo  xai  i/LtJiejiXrjaxo  xcbv 
zaiovTCüv  f)  Xvga.^) 

Ein  besonderer  Chorgesang  im  thebanischen  ApoUonkult  waren  die 
da<pvti<poQixd^  bei  deren  Vortrag  ein  Jüngling,  dem  noch  beide  Eltern 
lebten  {nalg  ä^tpi^akrjg),  voranzog  und  ein  Jungfrauenehor  mit  Lorbeer- 
zweigen Schutzflehender  in  den  Händen  singend  nachfolgte.^)  Kultgesänge 
auf  Adonis  heißen  !^d cor /d«a. 5)  —  Für  ein  lokalböotisches  Sühnefest  diente 
das  TQi7iodi]q)OQix6v  jueXogA) 

Zum  Totenkult  stehen  die  Threnoi  in  Beziehung.  Sie  waren  Klage- 
gesänge auf  Verstorbene,  die  bei  verschiedenen  zu  Ehren  derselben  ver- 
anstalteten Feierlichkeiten  vorgetragen  wurden.  Daß  die  Reste  von  Pindars 
Klagegesängen  allerlei  orphische  Lehren  von  dem  Fortleben  der  Seele  und 
der  Wiedervergeltung  nach  dem  Tod  enthalten,  hat  seine  individuellen 
Gründe,  und  es  darf  daraus  nicht  einmal  mit  Sicherheit  auf  orphische 
Neigungen  des  Pindar,  wohl  aber  auf  solche  der  Besteller  dieser  Gesänge 
geschlossen  werden.^)  Seit  Ausbildung  der  sophistischen  Kunstprosa  tritt 
an  die  Stelle  der  ^qtjvoi  der  prosaische  Xoyog  i7iixdq)iog.  —  Im  Gegensatz 
zu  den  tröstlich  gehaltenen  Threnoi  standen  die  leidenschaftlichen  Klagen 
idleßwi,  die  sich  in  den  xojujuol  der  Tragödie  fortsetzten. «) 

An  die  religiöse  Feier  der  Vermählung  schließen  sich  die  EpithaJamien 
und  Hymenaien  an. 

Epithalamion^)  hieß  das  Ständchen,  das  am  Abend  den  Neuver- 
mählten vor  dem  Brautgemach  (MXajuog)  von  Mädchen  und  Bui^schen 
dargebracht  wurde.®)  Diese  Gattung  ist  besonders  von  Sappho^)  gepflegt 
worden.  Im  weiteren  Sinn  verstand  man  darunter  ein  Hochzeitslied  über- 
haupt, auch  dasjenige,  unter  dessen  Gesang  die  Braut  aus  dem  Elternhaus 
zu  der  neuen  Wohnung  geleitet  wurde.  Von  jener  Art  gibt  das  18.  Idyll 
des  Theokritos  ^EXivrjg  ijii&aXdjüLiog  einen  Begriff,  von  dieser  die  der  Sappho 

»)  Zum   Vergleich    bietet   sich    die   Er-  *)  Procl.  ehrest.  248.  29  flf.  W. 

zfihlong   von  dem  Verfahren   des  römischen  ^)  E.  Rohde,  Psyche  IP  215. 

Dichters  Livius  Andronicus  bei  Livius  VJI  2:  *)  Schol.  Eur.  Rhes.  892:  qaoi  d'  ld/.8fiov 

fuarum  carminum  actor  diciturj  cum  saepius  TiaQwvofidox^ai  fjii  rififf  'Icdeiwv  tov  'AnöXkcovog 

rerocatus    vocem    obtudisset    et    venia   petita  \   xai  Ka^Mojirjg,   wg  gTjoi  IlivdaQog'    ä  b'  (sc. 


puerum  ad  canendum  ante  tihicinem  cum 
statuisset,  eanticum  egittse  aliquanto  magia 
vigtnte  motUf  quia  nihil  vocis  usus  impediebat. 
inde  ad  manum  cantari  histrioftibus  coeptum 


doiba  vfjvFi)  *Ia/.efiov  ioftoßoQC^  vovö(iy  Jieda- 
dtvra  odivog,  viov  Oidygov;  s.  a.  Aristoph. 
Byz.  bei  Ath.  619  b.  —  Von  den  Onffvoi  im 
allgemeinen  unterscheidet  Procl.  ehrest  247, 


diverbiaque    tanium     ipsorum    voci    relicta.  <    16  W.  die  bei  der  Bestattung  selbst  (>cj)öog) 

Übrigens    war    diese   Teilung    der    Aufgabe  gesungenen  ejiixrjösia, 

des  Tanzens  und   Singens   gewiß   nicht   auf  |           ')  W.  Körber,   De  Graecor.  hymenaeis 

das  Hyporchem  beschränkt.     Auch  die  Par-  et  epithalamiis,  Bresl.  1877. 

thenien    des  Alkman   scheinen  ganz  ähnlich  ®)  Pind.  P.  3.  17    ähxeg    ota    jiaodh'ot 

vorgetragen  worden  zu  sein.  1    (pdtoiotv     haignt    |     Fanfgiatg    vnoxovgiCBO^^ 

*)  Procl.  247,  21  ff.  W.   Reste  eines  pin-  '   doidalg.    Procl.  ehrest.  246,  31  W. 

darischen  datpvrjq.  Oxyrhynch.  pap.  IV  1904  ®)  Demetr.  de  eloc.  167  läßt  für  die  Epi- 

iir.659;  s.  dazu  O.  Schröder,    Berl.   philol.  thalamien  die  Annahme  des  Vortrags  durch 

W.scbr.  24  (1904)  1476  f. ;  Wilamowitz,  Gott.  die    Dichterin    oder   durch    einzelne,    gegen- 

Gel.  Anz.  1904,670.  Auch  die  Anapäste  Alcm.  einander  sprechende  Choreuten  (zogog  ÖiakEx- 

fir.  17  gehören  zu  einem  da<frti<fogixm'.  uxog)   frei.     Einwendungen    von   H.  Flach, 

•)  Procl.  ehrest.  246,  3  if.  W. ;  Anacreont.  Gr.  Lyr.  509  f.     Auf  Chorgesang  weist  auch 

57,  8.    Bions  *Enixdq,'tog   'Aöomöog   ist  kein  Sappho  fr  54  und   bezüglich   des  Anakreon 

Kultgesang.    Siehe  a.  0.  Immisch,  Verh.  der  '   Kritias  bei  Ath.  600  e. 
Görlitzer  Philol.vers.  1889,  380  ff. 


156  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klaasische  Periode. 

nachgebildeten  Hymenaien  des  Catull  (61.  62).  Die  Schölten  zu  Theokritos  18 
erwähnen  außerdem  ogil^gia  fj  iyeoTixd,  die  scherzende  Mädchen  vor  dem 
Haus  der  Neuvermählten  am  Morgen  nach  der  Brautnacht  sangen.  >) 

Der  Hymenaios  (mit  Refrain  'Yjtujvaov  bei  Sappho  fr.  91,  o  Hymen, 
Hymenaee  bei  Catull.  61, 62)  wurde  während  des  Hochzeitsmahles  gesungen.') 

Kultgcsänge  für  den  Kheadienst  hießen  iv^govioßioi,^) 

B.  Preislieder  auf  Menschen. 

IKl  Bei  verschiedenen  Gelegenheiten  konnten  fyxdjjuia  (beim  xd>/ioc< 
d.  h.  dem  Festzug)^)  auf  Lobende  von  einzelnen  oder  Chören  vorgetragen 
werden. 

Die  Festgesänge  auf  Sieger  in  gymnischen  Wettkämpfen,  deren  wir 
eine  größere  Zahl  von  Pindaros  und  Bakchylides  ganz  erhalten  haben, 
heißen  f.nivixoi  (sc.  vßivoi)\^)  sie  wurden  entweder  sogleich  nach  dem  Sieg 
noch  am  Ort  des  Agon  oder  nachher  bei  der  Siegesfeier  in  der  Heimat 
der  Preisgekrönten  von  (-hören  gesungen. 

C.  Kriegsliedor. 

1)4.  Sie  sind  besonders  in  Lakonien  von  der  Jugend  gesungen  worden 
in  anapästischem  Rhythmus  und  heißen,  insofern  sie  die  Marsch bewegung 
begleiten,  ißißaTijoia  oder  ivoiiXia  jtifhj,^)  Sammlungen  solcher  Lieder 
mag  es  schon  im  6.  Jahrhundert  gegeben  haben;  bestimmte  Verfasser 
waren  aber  nicht  bekannt.") 

D.  Gesellschaftslieder. 

J)5.  Zum  Vortrag  beim  Gelage  durch  einzelne  oder  die  Gesamtheit 
der  Gäste ^)  bestimmt  waren  die  Skolien.^)  Es  gab  nach  den  Zeugnissen 
der  Alten ^ö)  mehrere  Arten  von  Trinkliedern:  zuerst  wurde  zur  Spende  von 
Vorsängern  mit  rcspondierendem  ("hör  unter  Flötenbegleitung  ein  Paian 
als  Tischgebet  gesungen;^*)  dann  sangen  beim  Gelage  die  einzelnen  kurze 

M  Über  die  mxVof«  u.  i^yrrnixa  al«  Träger  ,           ®)  Ath.  H80  f.   R.  Volkmann  zu  Flut,  de 

gnomischer   PooHio   A.   Brücknek.  62.  Berl.  I    mus.  p  114,  41  ff. 

Winckehnannsprogr.  1907.  13  f.  \           ')  Wilamowitz.  Textgesch.  der  gr.  Lyr. 

«)  «iiid.  8.  V.;   Procl.  ehrest.  247.  3  ff.;  I    06  f. 

Plut.  «vinp.  qiiaost.  667  a:  Aristoph.  Byz.  bei  ®)  Dicaoareh.  bei  Phot.  lex.  s.  v.  axo/Uar, 

Ath.  6ii)b.     Früheste    Ei-wähniing   Hom.  II.  »)  C.  D.  Iujkx,  »Scolia,  Jenae  1798:   A. 

2'  41)3.     Über  die   axohwia   der   Hymeuäen  ;    G.  Engklbrecht.  De  Hcoliorum  poesi,  Vind. 

schilt  loh.  Chrysost.  T.  ITI  210  ff.  Miüne.  Der  ,    1882;  K.  Keitzkxstelv,  Epigramm  u.  Skolion, 

Name   bezeichnet  nach   A.  Bkücknek,    Ath.  Gießen  18U3,  Kap  1. 

Mitt.  32  (1907)  90.  den  im  jungfräulichen  Hy-  ,            ^^)  Dikaiarchos  u.  Aristoxenos  in  Schol. 

nien  wohnenden  Gott,  der  in  der  Brautnacht  j   Plat.  (iorg.  4f>le  uSuidas.  Photios,  Schol.  Ali- 

stirbt;  s.  aber  P.  Maas.  Philol.66(1907):)90ff.  stoph.  nub.  1364i.     Artemon  bei  Athen.  694» 

^)  Solche  gab  es  von  Pindar:  zur  Sache  .   aus   Dikaiarchos:    Plut  svmpos.  I  1,  5   und 

s.  Plat.  Euthyd  277 d  ;   Dio  Chr.  XII  33;  A.  Proklos  in  Phot.bibl.  p.  32la  nach  Didymoß; 

LoBEOK.    Aglaoph.  115  f.  368  f.;   E.  Rohde,  i    Eustathios  ed.  Rom.  1574, 14;  Schol.  Aristoph. 

Kl.  Sehr.  II  298.  vesp.  1222. 

*•>  über  den  Begriff' pfo^/iocs.E.G.WELCKER  *M  Siehe  o.  S.  153.    Darauf  bezieht  sich 

zu  Philostr.  niai.  im.  1  2;    Wilamowitz.  Gott.  \    Alcman   fr.  22:    ffomus   t^K  >cai  er   ^idaotatP 

(iel.  Anz.  190(),  625  f.    Pind.  Ol.  10.  75:  aFiSsTo  nrdoior  nnoa  dniri'unreoni  .tqs.tfi  natära  xatoQ' 

^e  nur  TFiifro<:  TFiKTraTot  daXiaig  lov  tyx(!)ino%'  .   x^*''   Dieses  waren  die  nicht  getanzten  Paiano 

afiq'tjijo.ior;  i\iiv*i.^ii\\\.^,h():  e.iiyuiiuo^  vuro^.  \   des  Athenaios  p.  631  d.     Plat.  symp.  176ae; 

Von  einoni  ithoor  iypcot/tioloytyör  Hephaestion  Ar.  v(^sp.  1219 :  Ath  694a:  Plut.  quaest  symp.I 

p.50, 19  CoNSBR.    Auch  das  Lob  Verstorbener  ,   p.  615  b,    woraus    wohl    Clem.    Alex.    paed. 

heißt  iy^fo/tun'  Diod.  1  72,  2;  92.  5.  I    p.  194  P. :  rraou  tus  ovfijiojtxn^  evc^xta^  .... 

^1    Procl.   ehrest    246,  14    \V. ;    enivUiot  |    rja//a    \to    xn).oruFvo%'   oxukior]    f/Seio    hoiv^ 

doi^ai  Pind.  Nem.  4,  78.  ;    dszarTtov  fita  q:iov[j  :TntariCoruoy.  —  Auch  am 


B.  Lyrik.    Anfänge  der  Lyrik.    Ihre  Gattnngen.    (§§  93—95.)  157 

Trinklieder,  indem  ein  Myrtenzweig  (ataaxog  Plut.  quaest.  symp.  615  b)  in 
die  Runde  ging,  den  der  Vortragende,  wie  vordem  der  Rhapsode  den  Stab, 
beim  Gesang  in  die  Hand  nahm,  wofern  er  bloß  rezitierend  (wie  z.  B.  bei 
Theogn.  939  ff.;  Ar.  vesp.  1259),  nicht  zur  Lyrabegloitung  vortrug;  drittens 
gab  es  auch  kunstvollere  Gedichte,  wie  die  Tischoden  des  Pindaros*)  oder 
Simonides,*)  die  geübte  Sänger  beim  Mahl  zur  Lyra  vortrugen.  Die  mitt- 
lere Art  hatte  den  besonderen  Namen  oxoha  jLieXrj,  Ursprung  und  Be- 
deutung des  Namens  (schon  bei  Aristoph.  fr.  222  K.)  sind  unsicher.  Die 
Alten  gehen  alle  von  der  Etymologie  axoXiog  „krumm"  aus  und  beziehen 
den  Namen  meistens  auf  die  Sitte,  daß  der  Zweig  nicht  in  gerader  Linie 
herumging,  sondern  in  die  Quere  von  einem  dem  andern  gereicht  wurde.  ^) 
Eustathios  gibt  eine  musikalische  Deutung,'*)  wonach  sich  das  axokov  jbiikog 
dem  doxfuog  gv^juög  zur  Seite  stellte.  Der  Skoliengesang  blühte  in  den 
aristokratischen  Klubs,^)  in  denen  auch  der  Tyrannenhaß,  der  sich  z.  B. 
in  dem  Skolion  auf  die  Tyrannoktonen  ausspricht,  eigentlich  zu  Hause  war. 
Die  gewöhnliche  Begleitung  für  melisch  geformte  Gesänge  war  die  Kitharis,^) 
für  elegische  der  Aulos,  welcher  von  der  zum  ständigen  Inventar  der  Sym- 
posien gehörigen  Flötenspielerin  jederzeit  geblasen  werden  konnte  (Theogn. 
943  f.).  Zur  Belebung  wurde  wohl  auch  dieser  musischen  Tischunterhaltung 
gelegentlich  etwas  von  der  Form  rhapsodischer  Agone  gegeben.  0  Die  be- 
liebteste Form  der  Skolien  scheint  eine  vierzeilige  Strophe  aus  zwei  pha- 
läcischen  Trimetem,  einem  choriambischen  Dimetron  mit  anapästischem 
Anfang  (->w-w_|— ww_)  und  einem  versus  Asclepiadeus  minor  gewesen 
zu  sein;  es  finden  sich  aber  auch  stichische  Bildungen  (elegisch  eines  der 
ältesten  Stücke  bei  Aristot.  Ath.  resp.  20,  5;  sonst  anaklastische  ionische 
Trimeter  und  Dimeter).  Zu  einer  Art  von  Kommersbuch«)  sind  diese 
Lieder  wohl  schon  früh  gesammelt  worden,  und  einen  Auszug  dieser  Samm- 

Schluß   der  Mahlzeit  singen   die  Gästo    den  1   Gleichwohl  hat  sich  die  alte  Sitte  außerhalb 

Paian  (Xen.  symp.  2,  1).  I   der   philosophischen    Kreise    noch   lang   ge- 

»)   Find.  fr.  122—8;   besonders    fr.  124  halten  (Aristeas  ep.  247;  Liban.  T.  IV,  1112, 

Tovjo   TOI  jiefAJtfo  fieradoomor'    iv  ^wto   xev  22  R.).  Gegenstand  des  Skolienvortrags  waren 

Eiri  I  avfutotaialv   re    yXvxeoov   xai   Aicovvaoio  entweder   eigens    für  solche  Zwecke  gedich- 

xoQjiip  I  xai  xvXixeaaiv  'Jdaraiataiv  xsvxQoVy  tete    Lieder    oder  Stellen    aus    den    Epikern 

deixvov  Sf  IriyovTOc:  yXvxv  xoioydXiov,  {Hesych.s.Tp/a2'ri;oi/opoij;Plut.  symp.  quaest. 

•)   Simonid.  fr.  5   wird   von   Blass   und  736 e),  Lyrikern  (Aristoph.  fr  223  K.;  Grit.  lyr. 

WiLAMOwiTZ  (Nachr.  der  Gott.  Ges.  der  Wiss.  |   fr.  7.  5  ff*.  Bbrok;  F.  G.  Welcker,  KI.  Sehr.  I 

1898,  204  ff.)  als  Skolion  betrachtet.  I    166;  R.  Reitzenstein.  Epigr  und  Skol.  30  ff.), 

*)  Beleuchtet  wird  die  Sitte   durch  Ari-  l   Tragikern  (Reitzenstein  34),  Komikern  (Ar. 

stoph.  vesp.  1217  ff.,   nub.  1354  ff.    Die  Sitte  |   eq.  529). 

war  besonders  im  5.  Jahrh.  im  Schwung;  zur  ,           ■•)  So  auch  Engelbbecht  p.  40,   der  auf 

ZIeit   der  neuen  Komödie   kam   sie   ab,   wie  i   Maximus  Tyr.  23.  5  verweist. 

Antiphanes  fr.  85  K.  zeigt.  Schon  Plat.  symp.  |           ^)  avvoöoi  bei  Selon  fr.  4.  22;  Plat.  Theaet 

176e  und   Prot.  347 cd    kritisiert    sie,    und  173d;  sonst  hießen  sie  später  hatoiai.    Der 

das  Skolion   ist   beim  Philosophensymposion  Haß  des  Themistoklcs  gegen  die  sympotische 

durch  den  Xoyog  ersetzt  worden,  wie  die  Sym-  Lyrik  (Cic.  Tusc.  1  4;  Plut.  Them.  2:  Cim.  4) 

posien    des   Piaton    und    Xenophon    zeigen.  ist  gewiß  vorwiegend  politisch,   nicht  ästhe- 

Aristoteles  ist  der  letzte,  von  dem  wir  wissen,  tisch  zu  verstehen 


daß  er  ein  Skolion  (für  den  Tyrannen  Her- 
maios  von  Atameus)  gedichtet  hat  (Th.  Bbbok, 
Lyr.  Gr.  II  p.  360  f.).  Aber  schon  der  blasierten 


«)  Ar.  nub.  1355  ff.    ^ 
•)  Herod.  VI  129   (ro  h  x6  fiioov);    Ar. 
vesp.  1223.  1225  {dexfoika). 


Jagend   im  Zeitalter  der  Sophistik   erschien  ^)  Reitzenstein  13.   Wilamowitz.  Ari- 

Geaang  zur  Lyra  beim  Symposion  etwas  Ver-       stot.  u.  Athen,   Berl.  1893,  II  316  ff. ;   Text- 
alteies (Ar.  nub.   1355;   Antiphan.  fr.  1  K.).   ,   gesch.  der  gr.  Lyr.  37. 


158  Ghdechisühe  Litteratnrgeschichte.    I.  SlaBsiBche  Periode* 

lung  hat  Ath.  694c  flf.  erhalten.     Über  die  Metra  der  SkoHen   schrieb  Ty- 
raiinion  ein  Buch  an  Julius  Cäsar  (Suid.  s.  axoktovh). 

96.  Von  Arbeitsgesängen,  die  aber  nicht  zur  Kunstlyrik  gehören, 
ist  schon  oben  (S.  20)  geredet  worden.  Genannt  werden  Gesänge  mahlender') 
und  backender*)  Sklavinnen,  der  Wasserschöpfer, »)  der  Lastträger,  Ruderer, 
Winzer,  Hirten,*)  zum  Teil  auch  bloüe  Instrumentalweisen.  Nur  eine  Art 
der  volkstümlichen  Berufsliedor,  das  Hirtenlied,  ist  später  von  der  Eunst- 
pocsie,  als  der  Sinn  für  die  Idyllik  des  Landlebens  geweckt  war,  in  Be- 
handlung genommen  und  freilich  stark  verfeinert  worden.  —  Ohne  weiteres 
klar  ist,  data  auch  die  kunstmäiaige  Erotik  ihre  altvolkstümlichen  Substrate 
hat,^)  ebenso  das  Trink-  und  Spottlied  in  den  Augenblickserzeugnissen,  die 
in  den  volkstitmlichen  Kultgebräuchen  des  Dionysos-  und  Demeterdienstes 
wild  wuchsen.'*)  Auch  davon,  daß  die  Poesie  der  Kinderstube  sich  in 
lyrischen  Erzeugnissen  niederschlug,  fehlt  es  nicht  an  Beweisen.') 

97.  Von  den  alexandrinischen  Grammatikern  ist  eine  Auslese  {xav(6r) 
von  9  Lyrikern  zusammengestellt  worden,^)  bestehend  aus  den  6  Chor- 
lyrikern Alkman,  Stesichoros,  Ibykos,  Simonides,  Bakchylides,  Pindaros 
und  den  3  Monodikern  Alkaios,  Sappho  und  Anakreon. 

L  Monodische  Lyrik. 

I.  Die  Elegie,^) 

98.  Begriff  und  Anfänge.     Im  7.  Jahrhundert  zuerst  begegnet  in 

V)  Ar.  nub.  1358;   erh«ilten  ist  ein  lesbi-  ganz  unwahrHcheinlich.     Sie  setzt   schon  fÄr 

sches  StUck.   ans   dum  Anfang   des   <).  .Jahr-  das  3.  Jahrhundeii  v.  Chr.  eine  nnglaubliche 

hunderts,  Beu«k,  VlA\.  \U*  p.  073;  der  Name  Zerstörung  der  antiken  Littcratur  voraus  und 

ist  nach  Aristot.Byz.  (Ath.  619  b)  und  Tn'phon  wird  auch  durch  die  neugefundenen  latercnli 

(id.  ßl.sd)  ffifutK.  I    Alexandrini   aus   dorn   2.  Jahrb.  v.  Chr.  (H. 

^)  mv/.oi  Erat<>sth.  Hemi.  fr.  12  Hiller;  Diels,  Ijerl.  .^k.  Sitz.ber.  1904,  1233)  ihrem 

denselben  Namen   gibt  Tryphon  (Ath.  618 d)  Prinzip  nach  in  Frage  gestallt.  —  O.  KbOh- 

dem  (iesang  der  Spinnerinnen.  nkrt,    Canonesne   poetarum  scriptonim   arti- 

*)    iuortooinofpov    uthj    Ar.   ran.   1297;  ficum  per  antiquitatem  fuenmt?  Diss.  Königs- 

Callimach.  Hecale  col.  IV  Oompekz.  berg  1897,  30  fF.    Die  frühesten  Zeugen  sind 

*)  S.Emp.adv.math.V124:  I»oll.  lV:.3ff.;  Anth.  Pal.  IX  1S4:    Quint.  inst.  or.  X  1.61; 

Ath.  (JlSd  tf.;  im  allgemeinen  H.  Ahert,  Die  S«5n.  ep.  27,  6.      Erst   Byzantiner   fügen   als 

Musikanschauung  des  Mittelalters,  Halle  1905,  lU.  Koriniia   hinzu   iKröhnert  32;    Anecdot 

8.99;  A.  Nä«ele,  Sitz. bor  der  sUchs.  Ges.  d.  Est*?nse  g2  extr.  bei  J.  Kayseb,   De  veter. 

Wissensch.  57  (1905)  lOl  ff.  ,   art«  poet.,  Leipz.  1906,  p.  56). 

^)  Vgl.  das  Tagelied  bei  Tu.  Berok.  Carm.  '•')  J.  A.  Hartux«,  Die  griech.  Elegilcer, 

pop.  fr.  27;    das  chalkidische  .-raifity.ür  fr.  44.  giiech.    mit   motr.    Übersetz.,    Leipzig   18^8. 

'■)   Proben   dionysischer  Volkslieder   bei  j   2  Bde.  —  J.  V.  Frangke.  Callinus  sive  quae- 

Bkrok  fr.  6.  X.  stiones  de  origine   carminis  elegiaci,   Altona 

')    Ber(;k    fr.  19—21.  26.  41    (dazu    F.  1816.  —   N.  Baoh.    De    lugubri    Graecornm 

Mkndelssohx-Bartiioldy,    (»esch.  Griechen-  elegia,  I.  II.  Bresl.  15^35.  36;  De  symposiaca 

lands  I,  Leipz.  1870  S  41).     Künstlerisch  ge-  Graeconim  elegia.  Fulda  1837:  Quaestionum 

adelte  Wiegenlieder  (fiavxfdt/uaia  epist.  8ocr.  elegiacar.  spec.  I,  Fulda  1839;  Historia  critica 

27,2)  findet  man  .Soph.  Philoct.  827  ff. ;  Eur.  ^   poesis  Graecorum  elegiacae,  Fulda  1840.  — 

Or.  174    mit  seinen    erregten    dochmi.schen  .1.  Caesar,   De  carminis  (^raecorum  elegiaci 

Rhythmen  geliöit  dagegen  nicht  hierher.  origine  et  notioue.  Marb.  1>:37.  —  O.  Immisgh, 

*")    Die   These   von  Wilamowitz   (Text-  über  den  Ursprung  der  griech.  Elegie,  Vorh. 

gesch.    der  gr.  Lyr.),   da(3    die    Alexandriner  |   der  Philologoiivers!  in  (liirlitz,  1889,  S.  372  ff. 

tatsächlich  nur  noch  diese  neun  Lyriker  ge-  '      -  K.  Keitzkn stein.  Epigramm  und  Skolion, 

habt  hätten,  eine  auf  ä.sthetischer  Beurteilung  Gieüen  1^93  »S.  iut  ff.,  und  dazu  0.  Cbusiüs, 

beruhende  Auswahl    also  nicht   vorliege,   ist  Litt.  Centralbl.  1894,  725.   -  F.  Dümhlbb,  Der 


B.  Lyrik.    I.  Monodische.    1.  Die  Elegie. 


96—98.) 


159 


der  uns  erhaltenen  griechischen  Litteratur  eine  kleine  Strophenbildung»)  aus 
akatalektischem  und  dikatalektischem  daktylischem  Hexameter.  Der  kata- 
lektische  Vers  wird  entweder  jievrd/neTQov^)  oder  iXeyeiov^)  genannt  und  kommt 
in  der  Litteratur  vor  dem  Ende  des  5.  Jahrhunderts  nie  isoliert  oder  stichisch 
wiederholt,  sondern  immer  als  Abgesang  zu  dem  Hexameter  vor. ')  Die  Namen 
iieyeTov  oder  iXeyog,  deren  Etymologie  dunkel  ist,^)  werden  dann  auch  für  das 
Distichon«)  gebraucht,  das  sonst  auch  pluralisch  iXeyela'^)  heißt.  Seit  dem 
4.  Jahrhundert  ist  der  Name  ^  iXeyela  für  ein  aus  Distichen  bestehendes  Ge- 
dicht nachweisbar.^)  Das  lateinische  elogium  ist  dasselbe  Wort  wie  ikeyeiov^ 
aber  nicht  durch  gelehrte  Vermittlung  nach  Italien  gekommen.  Da  die 
älteste  Elegie  nach  den  unumstößlichen  Zeugnissen  der  Alten^)  mit  der 
Flötenbegleitung  solidarisch  verbunden,  also  eine  Spezies  der  Aulodie  ist, 
so  kann  der  Ursprung  der  elegischen  Dichtung  nicht  über  das  7.  Jahr- 
hundert zurückgerückt  werden,  dazu  stimmt,  daß  die  Elegie  von  Anfang 
an  in  Stil  und  Dialekt^^)  die  stärkste  Abhängigkeit  von  dem  ionischen  Epos 
zeigt.  Schon  vom  7.  Jahrhundert  an  nimmt  diese  Form  die  allerverschie- 
densten  Inhalte  auf  —  kriegerische  Paränese,  sinnende  Betrachtung,  Lehren 
der  Lebensweisheit,  Gedenksprüche  auf  Verstorbene,  Widmungssprüche  auf 
Weihgeschenken  an  die  Götter;  dann  werden  seit  dem  6.  Jahrhundert  ero- 
tische Stimmungen,  lyrische  Erzählungen  in  Distichen  gefaßt,  wobei  Satz- 
und  Strophenschluß  keineswegs  zusammenzufallen  brauchten.  *i) 


Ursprung  der  Elegie,  Phüol.  53  (1894)  201  if. 
K.  Zacher,  PhUol.  57  (1898)  8  ff.  —  0.  Crusius 
in  der  Realencykl.  V  2260  ff. 

M  Carmen  epodicum  Atil.  Fortunat. 
295,  7  K. 

')  So  zuerst  Hermesianax  bei  Ath.  598  a; 
der  Sinn  ist  2V2  -h  2>/2  =  5  Daktylen  (Th. 
D.  GooDELL,  Chapters  on  Greek  Metrie,  New- 
york  1902,  30— 42j. 

*)  Hephaestio  p.  51,  21  Consbr  ,  und  so 
schon  Eritias  fr.  3,  3  Bach. 

*)  A.  Rossbach,  Griech.  Metrik,  Leipz. 
1889,  84  f. 

*)  Die  Alten  dachten  an  e  keyeiv  (Suid.  s. 
eleyog)  oder  eXfeiv  oder  ev  UyEiv  (Schol.  Dionvs. 
Thr.  p.  20,  25  ff.  H.;  Mar.  Vict.  110,  18  K.). 
Manche  Neuere  sahen  in  dem  Wort  ein  sei  es 
armenisches  (P.  de  Lagarde,  Armen.  Stud.  8) 
«:der  phrygisches  (Zacher  a.  a.  0.  22)  Fremd- 
wort. Zacher  erinnert  an  die  altgermanische 
Inteijektion  welago. 

«)  Thuc.  I  132,  2. 

»)  Pherecrat.  com.  fr.  153  K.  (Plat.  Men. 
95 d  geht  auf  eine  Reihe  von  Distichen); 
P8.Dem.  LIX  98. 

*)  Aristot.  Ath.  resp.  5,  2;  Theophr.  hist. 
plant  IX  15,  1. 

•)  Eur.  Troad.  119:  sm  rovs  atEt  öaxomor 
iXiyotfg.  Iph.  Taur.  1091:  E^.Eyor  otxioor. 
Hei.  85  und  Iph.  Taur.  146:  n),voov  Ehyor. 
Didymos  hei  Schol.  Arist.  Av.  217:  flEyai  ot 
XQog  av/.6r  qöofievoi  {^gtp'ot.  Procl.  242,  15  W.: 
to  yag  ^Qrjvog  eleyov  ixcuoifv  oi  JiaXaiot.  Et.  M. 
826,  49:  ileyog.  ÜQfivog  6  xoXg  zsOvewaiv  L^t- 


XF.ydfiFrog.  Ps.Ovid.  epist.  XV  7  elegeia  fiebile 
Carmen;  Synes.  encom.  calv.  2:  iksyEia  jioiu) 
{}Qt}v(7)v  ETii  ifj  xouij.  Wenn  Properz  (M.  Roth- 
stein  zu  Prep.  I  7,  19)  den  duri  versus  des 
Epos  das  molle  Carmen  der  Elegie  gegenüber- 
stellt, so  verrät  er  hier  dieselbe  Anschauung, 
die  Hermesianax  bei  Ath.  598  a  mit  tialaxov 
jzrevfi*  djio  nFvrafAhoov  ausdiltckt.  Zuerst 
kommt  das  Wort  in  der  Inschrift  des  Echem- 
brotos  Paus.  X  7  vor.  flEyEia  dichten  die 
alten  Auloden  Plut.  de  mus.  4.  8.  15.  Suid.  s. 
"ÜArfUTog;  die  Elegie  wird  rvi'  avki]xfjoog  ge- 
sungen Archil.  fr.  122;  Theogn.  533;  ehyfln 
jiQ0öq.^6itEva  ToT<;  aidoi<;  Paus.  X  7,  5. 

'^)  Kleine  Abweichungen  von  Homer  im 
Anschluß  an  den  jüngeren  Dialekt  seiner 
Heimat,  wie  xcög  statt  .to>s,  erlaubte  sich 
schon  Kallinos;  außerdem  gaben  die  Elegiker 
die  altertümlichen  oder  äoli sehen  Formen 
Homers,  wie  die  Instrumentale  —  (fi  und 
die  Infinitive  —  uEvai  auf;  vgl.  J.  G.  Renner, 
Quaestiones  de  dialecto  antiquioris  Graeco- 
rum  poesis  elegiacae  et  iambicae,  in  G.  Cür- 
Tius,  Stud.  1 1 1808)  134  ff.  Mit  0.  Hoffmann 
und  A.  FicK  (N.  Jahrbb.  1. 1898,  507  If.)  unter 
Berufung  auf  epichorische  Inschriften  aus 
altionischen  Gebieten  den  Elegikern  einen 
konsequenten  Lokaldialekt  zu  oktroyieren,  ist 
in  Anbetracht  ihrer  lexikalischen  und  phraseo- 
logischen Anlehnung  an  das  Epos  stilwidiig. 

")  Erst  die  römischen  Elegiker  nacli 
Catull  haben  diese  Fessel  eingeführt  (M.  Rotu- 
STEiN,  Properz  I  p.  XXXIX). 


lOO  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  ElassiBche  Periode. 

Diese  Buntheit  des  Inhalts  hat  schon  den  alten  Grammatikern,  die 
sich  übrigens  mit  der  Elegie  als  Kritiker  in  Ausgaben  kaum  befaüten,^) 
die  Aufdeckung  des  littorarhistorischen  Ursprungs  dieser  Gattung  erschwert.*) 
Die  alexandrinische  Philologie  (Didymos)  schlieüt  damit  ab,  den  klagenden 
(thrcnetischen)  Charakter  der  Elegie  als  den  ursprünglichen  zu  betrachten, 
und  tatsächlich  erklärt  diese  Auffassung  die  vorliegenden  Tatsachen  weit 
besser  als  moderne  Hypothesen.*)  In  den  musischen  Teilen  des  Toten- 
und  Heroenkultes  finden  sich  ja  nebeneinander  die  Elemente  der  Klage 
um  den  Verstorbenen,  des  Lobpreises  auf  seine  Taten,  deren  Darstellung 
nach  ihrer  vorbildlichen  Seite  hin  wieder  Anlaß  zur  sittlichen  Betrachtung 
und  zur  Paränese  geben  kann.  Die  laudes  clarorum  virorum  werden  dann 
von  ihrem  nächsten  Anlali  losgelöst  und  bilden  einen  Bestandteil  der  Sym- 
posienunterhaltung, wie  das  für  Altrom  ausdrücklich  bezeugt^)  und  hier  ver- 
mutlich als  Nachbildung  griechischen  Brauches  zu  betrachten  ist.  Daß  die 
elegische  Form,  die  in  wunderbarer  Weise  lebensvolle  Beseeltheit  mit 
edlem  Ebenmaü  verbindet  und  durch  ihre  gedrungene  Kürze  zu  knapp 
epigrammatisch-geistreicher,  antithetischer  Fassung  der  Gedanken  anlockt, 
für  allerlei  Gegenstände  ratsch  sehr  beliebt  geworden  ist,  versteht  man 
leicht;  haben  sich  ja  in  einer  widerstrebenden  Sprache  sogar  unsere  Klas- 
siker für  ihre  ausgereiftesten  Erzeugnisse  ihrer  besonders  gern  bedient.  Die 
betrachtende  Elegie  wird  schon  früh  von  dem  musikalischen  zum  rhapso- 
dischen Vortrag  übergegangen  sein,^)  und  in  hellenistischer  Zeit  gab  es 
ohne  Zweifel  keine  gesungenen  Elegien  mehr.  FreiKch  hat  auch  die  An- 
sicht des  Didymos  vom  ursprünglich  thrcnetischen  Charakter  der  Elegie 
nur  den  Wert  einer  Hypothese,  die  aus  der  antiken  Etymologie  des  Namens 
Elegie  (s.  o.  S.  159,5)  hervorgegangen  zu  sein  scheint.  Tatsächlich  kann  die 
aus  dem  alten  feierliehen  Maü  des  ionischen  Heldengesanges  entwickelte 
Strophe  auch  einfach  als  die  den  Taftßm  und  ihren  Wechselformen  gegen- 
über vornehmere,  gemessenere  Form  lyrischen  Ausdrucks  verstanden  werden, 
die  von  Anfang  an  an  keinen  bestimmten  Inhalt  gebunden  war,  aber  jeden 
Inhalt  mit  einer  gewissen  Mäßigung  und  ohne  die  springende  Lebhaftigkeit 

' )  V.  WiLAMOwiTZ.  Text^escli.  der  grioch.  stehondo  Entblößung  bezogen  werden  kann) 

Lyrik«'!-  57  ft'.  nnd  auf  Solons  Sahunirtelegie  in  patriotischer 

-}  Honiz  u.  p.  77:   qtiis   tarnen    exigiioa  Ekstuse.     Woit^TO  Mciuunf<en  A.  Dietebioh, 

elegoH   etnisen't    auctor,    yrammatici   certnnt  Pliilol.  52  (l^O^i  1  if.  577;  F.  Jacoby.RH.  Mns. 

ei   ndhur  suh   ittdice  Us  est.     Vgl.  Didymos  <)0  (1905)  44. 

p.  3S7  «CUM.                                               '  ^)    Cato   mai.  bei  (-ic.  Tusc.  I  3;  IV  8. 

')   Huraz  a.  p.  75:    rersihuft    im pa riter  ^    Für  griechische  »Sitte  vgl.  Aristot.  Ath.  resp. 

iunctis  querimottia  primum,   poat   etiam  in-  20,  5  das  iSkolieniUstichon   f^yxfi  xni  Ktjdtort, 

cluHa    est    roti    sententia    compox.     Ilesych.  iWixovF,   fitfh'  Fnth)i)ov,    ti  xifh    ^"'V   dyaöofc 

tÄF'/Ft^n'   Ta  F.Tirdffm  noiiiuara.  Siehe  o.  S.  159  ,    ardoa(n%'  otvoyoFlr. 

A.  9.    Inimisch  findet  in  den  zwisclien  Jubel  |           ^)  Von  den  ElegitMi  des  »Selon  gebrancht 

und  Schmerz   wecliselnden  Stimmungen    des  Platou  Tim.  21b   bald    den  Ausdruck  ndetv^ 

(für  die  illtesto  griechische  Kultur  gewiß  sehr  bald  den  niuf^toi^FTv \   die  Elegien  des  Phoky- 

wenig  beiangleichen I  Adoniskultes  den  Nähr-  |   lidus  wunlen  nach  C.'hamaileon  bei  Ath.  62Üc 

boden  der  Elegie;  Keitzenstein  will  sie  ganz  gesungen,    nach    einem    anonymen   Metriker 

auf   symjKisiastischt?    Anlässe    zurückführen;  ,   bei  Ath.  (»32 d  aber   gehr»rte  Phokylides   mit 

Dünmiler   sucht    ihren    Ursprung   unter  Hin-  |   Xenojihanes,  Solon,  'Iheognis,   Periandros  zu 

weis     auf    die     Hesychiosglosse     hlFyairFn"  \    denjenigen,    die    zu    ihren    (iedichton    keine 

am'f.yai'rFiy    (di«.»    aber    aucli    auf   die    durch  Melodie  mehr  fügt^^n.    Siehe  a.  Wilamowitz 

Kleiderzerreiljeii    bei    der    Totenklage    ent-  zu  Timoth.  l*ei"s.  p.  80. 


B.  Lyrik.    I.  Monodische.    1.  Die  Elegie. 


99-100.) 


161 


und  elastische  Weichheit  der  volkstümlichen  Tanzrhythmen  vortrug.  Aus- 
gangspunkt für  die  Verbreitung  dieser  lyrischen  Form  mögen  die  Sym- 
posien der  ionischen  Aristokratie  gewesen  sein,  bei  denen  sich  auch  nach 
dem  Zusammenbruch  des  Phrygerreichs  zuerst  die  phrygische  Flöte  als 
Begleitinstrument  eingefunden  haben  wird.  Auch  bei  den  ovvodoi  des 
attischen  Adels  scheinen  zunächst  Elegien,^)  dann  erst  die  volkstümlichen 
Weisen  der  melischen  Skolien  erklungen  zu  sein. 

Mutterland  der  Elegie  als  Dichtung  ist  das  asiatische  lonien.  Die 
Fragestellung  der  Alten  nach  dem  „Erfinder"  der  Elegie,  ob  Archilochos 
oder  Kallinos  oder  Mimnermos,^)  hat  für  uns  keine  Bedeutung,  sondern 
gehört  dem  naiven  Schematismus  der  beginnenden  antiken  Kulturgeschichts- 
forschung an.  Tatsächlich  treten  die  ersten  Elegiendichter  für  uns  im 
7.  Jahrhundert  hervor;  die  Form  wird  aber  älter  sein. 

99.  Kallinos  aus  Ephesos,  älterer  Zeitgenosse  des  Archilochos,») 
lebte  in  der  1.  Hälfte  des  7.  Jahrhunderts,  als  die  Kimmerier  von  Norden 
her  in  das  Land  der  Phryger,  Lyder  und  der  griechischen  Kolonien  ein- 
brachen. Auf  diesen  Einfall  und  den  Krieg  seiner  Vaterstadt  mit  Mag- 
nesia am  Mäander  beziehen  sieh  die  wenigen  Fragmente  unseres  Dichters, 
in  denen  er  mit  kraftvollen,  vom  Geist  der  Ilias  inspirierten  Versen  seine 
Mitbürger  zum  ruhmvollen  Kampf  für  das  Vaterland  anfeuert. 

100.  Tyrtaios,  Sohn  des  Archembrotos,  zeigt  ganz  den  Ton  des  Kal- 
linos. Er  blühte  im  7.  Jahrhundert  zur  Zeit  des  zweiten  messenischen 
Krieges,  wie  er  selbst  in  einem  schon  von  den  Alten  zur  Zeitbestimmung 
herangezogenen  Vers  (fr.  5)  ausspricht.*)  Über  seine  Heimat  und  Herkunft 
gehen  die  Meinungen  weit  auseinander.  Nach  der  offenbar  tendenziösen 
Erzählung  der  Athener  hatten  die  Lakedaimonier,  als  sie  durch  den  lang 
sich   hinziehenden    ersten   messenischen   Krieg   in  Bedrängnis   gekommen 


^)  Vielleicht  das  älteste  unter  den  atti- 
schen Skolien  (Aristot.  Ath.  resp.  20,  5)  hat 
die  elegische  Form. 

*)    Orion    p.  58,  7  ff.  aus  Didym.  .Tfoi 

JlOlfJTÖJV. 

')  Sein  Name  wird  von  Kallisthenes  bei 
Strab.  627  zuerst  erwähnt.  Callinous  nennt 
ihn  Terent.  Maur.  1722.  Nach  Strabon  p.  647 
sah  Kallinos  Magnesia  noch  in  Blüte  und 
sprach  Archilochos  schon  von  dessen  Fall; 
ähnlich  Clem.  Alex,  ström.  I  p.398P.  Die  Er- 
oberung von  Sardes  durch  die  Eimmerier  ge- 
schah unter  Ardjs  (nach  den  Chronographen 
663—626)  etwa  657  oder  einige  Jahre  später 
(Herod.  I  15);  über  den  Anfang  des  Einfalls 
unter  Gyges  untenichten  uns  die  Keil- 
inschriften, worüberW.  Geiger,  De  Callini  eleg. 
Script  aetate,  Erlangen  1877,  der  die  Blüte 
des  Kallinos  auf  652  setzet;  vgl.  J.  Caesar,  De 
Callini  aetate,  Marburg  1837,  mit  einem 
Nachtrag  1876;  G.  Busolt,  Griech.  Gesch.  IP, 
Gotha  1895,  461  ff. 

*)  Die  alte  Überlieferung  und  die  bis- 
herigen Annahmen  bekämpft,  nachdem  schon 
A.  W.  Vebball,  Class.  Rev.  10  (1896)  269  ff. 
Handbuch  der  kltss.  Altertmnnriuenscbaft.    VII. 


versucht  hatte,  die  Tyrtaiosfragmente  auf 
den  dritten  messenischen  Krieg  zu  beziehen, 
E.  ScHWARTZ.  Herrn.  34  (1899)  427—468,  in- 
dem er  die  betreffenden  Worte  naieoa)v  ifite- 
TFO(ov  nmeoa^  im  uneigentlichen  Sinn  von 
„unsere  Vorfahren*  faßt  und  den  zweiten 
messenischen  Krieg  auf  einen  von  Plato  leg. 
III  p.  692  d  und  698  c  bezeugten  Aufstand 
der  Messenier  bezieht,  der  im  Anfang  des 
5.  Jahrh.  vor  der  Marathonschlacht  stattfand. 
Die  haltlosen  Kombinationen  von  Seh.  sind 
durch  E.  Meyer,  Forschungen  zur  alten  Gesch. 
II,  Halle  1899,  544  ff.  und  namentlich  Wila- 
MOWiTZ  (Textgeschichte  der  griech.  Lyr.  97  ff.), 
der  wohl  selbst  (Eur.  Herakl.  P  69)  zu  den 
Zweifeln  von  Seh.  und  Reitzensteiij  (Epigr. 
und  Skolion  46)  den  Anstoß  gegeben  hatte,  er- 
ledigt. Siehe  a.  H.  Weil,  ^ßtudes  sur  l'antiquit^ 
Grecque,  Paris  1900,  193  ff.  und  H.  Pistblli, 
Stud.  ital.  di  filol.  class.  9  (1901)  435  ff.,  wo 
die  Litteratur  über  die  Frage  sorgfältig  ver- 
zeichnet ist.  P.  hält  an  einem  Dichter  T. 
für  das  7.  Jahrh.  fest,  meint  aber,  die  auf 
seinen  Namen  überlieferten  Fragmente  seien 
alle  später  interpoliert. 
5.  Anfl.  11 


162 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  ElassiBche  Periode, 


waren,  sich  auf  Rat  des  Orakels  Hilfe  von  den  Athenern  erbeten,  und 
hatten  diese  ihnen  den  Dichter  Tyrtaios  geschickt,  der  sie  mit  seinen 
Kriegsliedern  so  begeisterte,  dalB  sie  über  ihre  Feinde  HeiT  wurden,^)  Wenn 
Suidas^)  ihn  einen  Lakonier  nennt,  so  folgt  er  hier  vielleicht  einer  jung- 
lakonischen Tradition,  deren  EIxistenz  aber  bereits  Piaton  mit  seiner  kon- 
ziliatorischon  Darstellung  (leg.  I  629  a)  vorauszusetzen  scheint.  Ein  lakoni- 
scher Dichter  ist  im  Anfang  des  7.  Jahrhunderts  nach  allem,  was  wir 
wissen,  ebenso  undenkbar  wie  ein  attischer.  Dagegen  steht  außer  Frage 
die  Tatsache,  daß  in  jener  Zeit  eine  Reihe  auswärtiger  Dichter  und  Musiker 
nach  Sparta  gezogen  und  dort  sehr  ausgezeichnet  worden  sind,  so  dafi 
Alkman  singen  durfte  fV>.Tf/  yng  nvxa  no  otduo<o  rö  xahlK  xiüanioöriv  (fr.  35). 
Stellt  man  neben  die  Ausländer  Terpandros,  Thaletas,  Alkman.  Polymnestos 
den  Tyrtaios,*)  so  gewinnt  die  ganz  versteckte  Notiz  des  Suidas  {Afbccor 
J)  Mikfioio^),  daß  T.  ein  Milesier  gewesen  sei,  sehr  an  Glaubwürdigkeit.*) 
Warum  sollten  sich  die  Lakonier  nicht  aus  lonien,  wo  eben  Eallinos  die 
Elegie  künstlerisch  zu  adeln  und  sie  zum  Werkzeug  kriegerischer  Be- 
geisterung zu  härten  lehrte,  einen  wirksamen  moralischen  Bundesgenossen 
verschreiben  in  der  schweren  Zeit  der  Kämpfe  um  die  Hegemonie  im  Pelo- 


')  Die  ältesten  Schriftsteller,  die  den  T. 
erwfthnoD,  sind  Piaton  leg.  1  p.  029 n  (hier 
heiüt  er  </  rnn  \ithfyai<h:)  und  Lykiirgos  in 
Leoer.  106  (t/c  yiii»  ovs<  tHÜF  T<oy  'JikÄZ/ron', 
ort  TvoraTor  ojoanjyov  ^i.aßi)v  naoh  tTj^  .to/.Ko^, 
finT  or  >cfu  Tiov  nokeftion'  txijuTtjoav,  xui  rifV 
jinji  Torc  r/orc  h.tint).FUir  orrytaiai'Tn,  ov 
fuWor  f/V  r/rt'  nanovin  xirArror,  d/./.*  fU  «.Tarrft 
Tor  (utorn  (iur),FvoduF%'tH  xn/.ot-.  xnrthnFV  yao 
arrou  F/.F'/hin  .Tonjoac,  n>r  dxorovTF>:  .Tcc/Afror- 
Tfu  -7oö,-  arfWmr),  denen  er  beiden  ein  ge- 
borener Athener  ist,  nach  L.  den  Spartanern 
al«  Strateg  zu  Hilfe  geschickt,  zugleich 
Dichter,  nach  IM.  zum  lakonischen  Bürger 
gemacht.  IMaton  zitiert  von  ihm  (auch  leg. 
II  (>60c;  Phaedr.  2r)9a)  fr.  12,  Lykurgos  fr.  lO, 
Aristoteles  (pol.  ISOOb  39  f.)  ein  auf  innere 
mit  dem  messenischen  Krieg  zusammen- 
hängende Unruhen  bezügliches  Gedicht  Frm- 
lun,  zu  dem  nach  Strab.  8()2  das  fr.  2  gehört-. 
Als  Athener  sprach  ihn  auch  KaHisthenes 
an,  aus  Aphidna  in  Attika  leitete  ihn  Philo- 
choros  I  Strab.  1.  1.);  jener  ,und  andere*  er- 
zählton von  dem  Orakels]»ruch,  der  die  La- 
konier veranlaljte.  .sich  einen  fi^Finnv  aus 
Athen  zu  holen.  Dementsprechend  erscheint 
T.  als  Stratege  und  Poet  auch  Diod.  VIII 
27,  2:  XV  66,  3;  Themist.  or.  XV  p.  242.  13 
DiND.;  lustin.  III  5.  5  (hier  lahm);  der  lahme 
Schulmeister  taucht  erst  Paus.  IV  lö.  6 
und  Schol.  Plat.  leg.  629 a  auf,  der  Wahn- 
sinn bei  Heraclid.  Lemb.  fr.  13:  FUG.  111  170; 
Paus.  IV  15,  6.  Daß  T.  Stratege  und  spar- 
tanischer Bürger  gewesen  sei.  glaubte  man 
(Strab.  362)  aus  fr.  2  schließen  zu  sollen,  wo 
von  den  Dorem  in  1.  i'ei-son  Plur.  geredet 
wird.  Aber  dieser  Schluß  ist  nicht  bündig, 
selbst  wenn  man  die  Echtheit  der  fraglichen 


Verse  zugibt  i  Zweifel  an  ihr  Strab.  L  1.),  da 
ja  doch  'Y.  im  Namen  und  Sinn  der  Spartaner 
reden  kann,  ohne  einer  der  Ihrigen  zn  sein. 
Diodor.  Pausanias  und  lustinus  setzen  schon 
eine  T.-Legende  voraus,  deren  Urheber  wir 
nicht  kennen.  Die  Reklamiening  des  T.  als 
Athener  mag  zur  Zeit  des  dritten  messeni- 
schen  Kriegs  aufgekommen  sein,  ans  Ärger 
über  die  Beschimpfung  Athens;  ob  dabei  die 
Homonymie  des  attischen  und  des  lakoni- 
schen Aphidna  (Steph.  Byz.  s.  v.)  eine  Rolle  ge- 
.spielt  hatte,  steht  dahin.  Anders  Wilamowitz 
a.  a.  0. 116;  Kritik  der  Oberliefemng  schon  bei 
Fr.  Tiherscii.  Acta  phil.  Mon.  III 587  ff.  Eine 
ähnliche  Anekdote  bei  Valer.  Max.  15  p.  24 
Halm:  Samii  PrieneHnibits  auxiUum  adrersw 
('(trespetentibuif  in  deri»um  Sibyllam  miserunt, 
haue  2)1-0  exerritu  ac  claMse  offerentes;  qua 
(iure  usi  Prienenaen  bellum  conftummaverunt. 
Widerspruch  von  Tu.  Bergk.  Gr.  Litt  II  244. 

■')  Ebenso  Tzetzes  Chil.  1  692. 

^)  Neuerdings  hat  E.  Sohwabtz,  Herrn. 
34  WSm  4<;r>  die  Sache  so  gedeutet,  daß  er 
den  Tyrtai(»s  zu  einem  athenischen  Dichter 
dcK  5.  Jahrli.  aus  der  Zeit  des  peloponnesi- 
sehen  Krieges  matrhte,  der  seine  Gedichte 
einem  Spartiaten.  dessen  politische  nnd  mili- 
tärische iStellimg  er  im  Unbestimmten  ließ, 
in  den  Mimd  gelegt  habe.  Eine  vermittelnde 
Stellung  nimmt  Wilamowitz,  Die  Text- 
geschiciite  der  gr.  Lyr.  114  ff.  ein,  indem  er 
den  Kern  der  Dichtungen  einem  lakonischen 
Dichter  des  7.  Jahrb.,  die  angebliche  Über- 
arbeitung aber  einem  jüngeren  athenischen 
Dichter  zuschreibt. 

•*)  0.  Crl'sii  s  in  der  Kealenc.  2.  Halbb. 
1565;  anders  Wilamowitz,  Eurip.  Herakl.  P 
79  A. 


B.  Lyrik.    I.  Monodische.    1.  Die  Elegie.    (§  101.)  163 

ponDes  und  um  Sicherheit  im  eigenen  Hause?  Die  erste  Tradition  kann 
dadurch,  daß  T.  als  Typus  in  den  athenisch-spartanischen  Eifersüchteleien 
hin-  und  hergezogen  wurde,  zurückgedrängt  worden  sein,  unter  dieser 
Voraussetzung  erklärt  sich  auch  die  starke  Stilverwandtschaft  zwischen  T. 
und  Kallinos.  —  Von  seinen  Gedichten,  deren  Inhalt  Suid.  mit  Tiohxeia  für 
die  Lakedaimonier  (=  der  von  Aristot.  und  Strab.  zitierten  evvojula),  vno{^xai 
dl  iXeyelag  und  ßiiXrj  jiokeßucnrJQia  bezeichnet,  existierte  in  alexandrinischer 
Zeit  eine  Sammlung  in  5  Büchern,  die  ohne  Zweifel  vieles  unechte  ent- 
hielt.    Unter  den  erhaltenen   Resten    müssen   die  von  Schriftstellern  des 

4.  Jahrhunderts  zitierten  größeren  Fragmente  10,  12,  von  einzelnen  Inter- 
polationen abgesehen,*)  für  echt  galten,  ebenso  fr.  11,*)  die  drei  vollständigen 
Elegien,  die  ganz  im  Geiste  des  Kallinos  zur  Tapferkeit  mahnen  und  vor 
der  Schande  der  Feigheit  warnen, 3)  und,  ihrer  geschichtlichen  Details  wegen, 

5,  6,  7.  Ein  vaticinium  ex  eventu  dagegen,  nicht  älter  als  das  5.  Jahr- 
hundert ist  fr.  3  d  (pdoxQrjjuatla  ZmiQxav  ökeX^  &U,o  de  ovdev.^)  Von  i/ißa- 
TTJoia^  Marschliedern^)  in  anapästischem  Rhythmus  und  dorischem  Dialekt 
voll  kriegerischen  Feuers,  sind  uns  einige  Verse  erhalten,  deren  Zurück- 
führung  auf  Tyrtaios  aber  keine  Gewähr  hat.  Auch  nach  des  Dichters 
Tod  blieben  seine  Werke  bei  den  kriegerischen  Dorern  in  hoher  Ehre:  sie 
wurden  nicht  bloß  nach  Kreta  gebracht,  0)  sondern  auch  von  den  Lakedai- 
moniern  regelmäßig  im  Lager  nach  dem  Tischgebet  oder  Paian  gesungen, 
wobei  der  Polemarch  nach  alter  Sitte  dem,  der  am  besten  gesungen,  ein 
Stück  Fleisch  als  Preis  gab.  7) 

101.  Mimnermos,  ein  Aulet®)  und  Dichter  aus  Kolophon,^)  blühte  in 
der  ersten  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts, ^0)  als  die  ionischen  Städte  Klein- 
asiens, insbesondere  auch  Smyrna  und  Kolophon,  den  Angriffen  der  Lyder- 
könige  unterlegen  waren.  In  einer  Elegie,  fr.  13,  14,  stimmt  er  noch  die 
kraftvollen  Töne  des  Kallinos  an,  indem  er  den  Heldenmut  der  Smyrnäer 
in  der  Schlacht  gegen  den  König  Gyges  besingt,  vermutlich  in  der  Ab- 
sicht, seine  Landsleute  zu  gleich  mutiger  Ausdauer  gegen  den  erneuerten 


*)  WiLAMOwiTz,  Textgesch.  111  ff .  Das 
Eriterium  von  der  älteren  und  jüngeren  Be- 
waffiiang  verfängt  übrigens,  wie  Pistelli 
p.  443  ff.  richtig  betont,  nicht 


*)  Der  Vers  wird  auch  dem  delphischen 
Orakel  zugeschrieben  Diod.  VII  14,  5. 

6)  Cic.  Tusc.  disp.  II  37;  Dio  Chrys.  I  59; 
WiLAMOWiTZ,  Textgesch.  d.  griech.  Lyr.  96  f. 


*)  Gerade  in  diesen  Stücken  fehlt  auch  '  bestreitet  die  allerdings  schlecht,  aber  nicht 

nicht,   was  von  Wilamowitz  vermißt  wurde,  |  erst  von  Tzetzes,   sondern  schon  von  Paus, 

das  individuell  lakonische  Kolorit:  die  ästhe-  '  IV  15,  6;  Ath.  630 f  bezeugte  Autorschaft  des 

tische  Motivierung  der  Tapferkeit  fr.  10,  20  Tyrtaios. 

und  11,  19;  die  rgeooayze^  11,  14;  die  Heroi-  *)  Plat.  leg.  I  p.  629  b. 

sierung  des  tapferen  Mannes  12,  27  flf.;   der  '■  ^)  Philochorosbei  Ath.  630f;  vgl.Lycurg. 

Herakleskult  11,  1;  s.  a.  Wilamowitz  a.a.O.  adv.  Leoer.  107. 

110,  2.   Gegen  fr.  2  bringt  J.  Wackebnagel,  ,  ^)  Plut.  de  mus.8;  Hermesianax  bei  Ath. 

Studien  z.  griech.  Perf.,  Gott  1904,  4    einen  XIII  598  V.  37. 

nicht  ausreichenden  sprachlichen  Grund  vor.  |  *)  Suidas:  Miuvsoko^  Atyvgzmdov,  Kolo- 

•)  Daher  Horaz  a.  p.  402  f. :   Tyrtaeiisque  \  q-(ovio<;    ij    ^fivoruia;    Pf    ^AoTVjraXaisrg.      Mit 

mores  animos  in  Martia  hella  rersibus  exa-  dem   Namen   AtyvaaTuör}^   einem   patronymi- 

euU.  Übereinstimmung  des  T.  mit  Stellen  der  sehen  Scherznamen  (H.  Dikls,  Herm.37, 1902, 

Ilias,    in    denen    die    „moderne"    Disziplin  j  480  f.),  redet  ihn  Solon  fr.  20  an.    Er  selbst 

(Massenkampf,    Gemeinsamkeit    der    Beute,  I  besingt  fr.  9  die  Einnahme  von  Smyrna  durch 

Eintreten  der  jüngeren  Kämpfer  für  die  Äl-  :  die  Kolophonier. 

teren)  proklamiert  wird,  beweist  D.  Müldeb,  |  *®)  Suidas  setzt  ihn  Ol.  37,  was  E.  Rohde, 

Homer  und  die  altion.  Elegie,  Hannover  1906.  I  Kl.  Sehr.  I  158  aufklärt. 

11* 


164  Griechische  Litteratiirgeschichte.    I.  Klassische  Periode, 

Ansturm  des  Königs  Sadyattes  anzufeuern.  Aber  in  seinen  anderen  Ele- 
gien herrscht  durchweg  eine  erotisch-weiche  Stimmung. .  Sie  waren  seiner 
Oeliebten  mit  dem  kleinasiatischen  Lallnamen  Nanno^)  gewidmet  und  er- 
zählten allerlei  Liebesgeschichten  in  einem  resigniert-sentimentalen  Ton, 
der  zeigt,  daß  er  nicht  mehr  jung  war,  als  er  sich  ihrer  Gunst  erfreute. 
An  diese  erotischen  Elegien  erzählenden  Inhalts  knüpfen  Antimachos  in 
seiner  Lyde,  die  alexandrinischen  und  römischen  Elegiker  an.*)  Von  seinen 
auletischen  ro/io/  war  der  Koadiag  berühmt.') 

1()2.  Selon  (um  639 — 559),*)  der  Sohn  des  Exekestides,  der  weise 
Gesetzgeber  und  groüe  Patriot  Athens,  ist  zugleich  der  erste  athenische 
Dichter.  Er  hat  mit  Bewußtsein  den  Strom  ionischer  Kultur  in  seine  Vater- 
stadt, die  zuvor  wesentlich  unter  dorischen  Einflüssen^)  gestanden  hatte, 
hereingeleitct,  persönliche  Beziehungen  zu  Mimnermos  gepflegt,  den  rhapso- 
dischen Vortrag  der  homerischen  Gedichte  bei  den  Panathenäen  (wahr- 
scheinlich) eingeführt,  selbst  in  den  Formen  der  ionischen  Elegiendichtung 
und  lambographie  zu  seinen  Landsleuten  Worte  unvergleichlicher  Weisheit 
gesprochen  und  darf  wohl  als  der  Begründer  der  attischen  Aufklärung  be- 
zeichnet werden,  deren  Auseinandersetzung  mit  den  Mächten  der  Tradition 
die  folgenden  zwei  Jahrhundeite  der  attischen  Geistesgeschichte  füllt.  Athen 
wird  nun  für  die  ionische  Kultur  ein  Asyl  wie  Florenz  für  die  byzanti- 
nische, je  mehr  die  politische  Macht  der  lonierstädte  vor  Lydem  und  Per- 
sern zusammensinkt.  Die  Stadt  begann  damals  sich  als  See-  und  Handels- 
macht in  kriegerischen  Verwicklungen  mit  Megara  und  Lesbos  zu  heben 
und  hatte  das  Glück,  aus  der  Krisis  innerer  Parteiungen  mit  gesteigerter 
Kraft  hervorzugehen.  Selon,  der  selbst  von  dem  Geschlecht  der  Kodriden 
abstammte,  aber  nicht  zu  den  Reichsten  gehörte^)  und  einen  besseren 
Adelsbrief  sich  durch  edle  Gesinnung  und  reiche,  auf  Reisen  in  Ägypten 
und  Asien")  vermehrte  Erfahrungen  erworben  hatte,  war  berufen,  in  jenem 
politischen  Gärungsprozeß  seiner  Vaterstadt  eine  hervorragende  Rolle  zu 
spielen.     In  dem  Streit  der  Megarer  und  Athener  um  den  Besitz  von  Sa- 

^)  V.  Kketsciixer,    Einl.  iii   die  Gesch.  '   der   sogenannte    RQckumlaut   des   attischen 

der  griech.  Spr.  341  f.  Dialektes    (K.  Brugmann.   Griech.  Gramm.', 

^)  Hör.  ep.  II  2,  100  f.;  Propert.  I  9,  11:  München  1900.  $j  10). 

plus  in  amore  rnlel  Mimner mi  verauH  Hotnero.  ®)  Aristot.  pol.  1296a  19. 

E.  RoHüK,  Griech.  Rom.'  77.    Charakteristisch  ')  Die  Reisen  des  Öolon  sind  besonders 

für  ihn  ist  der  Vers  r/c  ^f  /iio^,   xi  Ar  tfo.t-  in    Fabeln   gehüllt   worden.     Die    Angaben 

»'Ol'  uvFr  xnvohjQ  'Äff  oodirfjg ;  über   ihre  Veranlassung  durch  die  Tyrannis 

')    Plut.    de   mus.  8 :    ^ai    vlüjk:    A'^arir  des  Peisistratos  und  über  die  Gründang  von 

no/nTih:    fötio^  xaXoruFvog  Koa6ing,   dr  (ftjotr  Soloi    in    Kilikien    (bei   Hesych.)    sind    ganz 

'I.izjon-a^    MtftrFojiiov   av/.ijoar    h    nn/i]    yao  unhaltbar;  die  Unterredung  mit  Kroisos,  von 

FAFyFTa  /tFiiFÄo.tonjfin'n  ni  ur/.(it(ioi  [jonv.    Vgl.  der   Herodot   I  29    berichtet,   erregt   chrono- 

Strab.  p.  043.    Das  Wort  bedeutet  Feigenast-  i    logische  Bedenkon   und   gehört  zu  dem  seit 

weise,  worüber  K.  0.  Müllkr,  Gr.  Litt.  I*  175.  dem  i).  Jahrhundert  in  der  Bildung  begriffenen 

*)    Plutarch,    Leben   Solons;    seine    mit  Roman  von  den  sieben  Weisen.  Gut  bezeugt 

Diog.  Laert.    gemeinsame   Hauptquelle    war  ist  die  Reise   nach  Ägypten   durch  Herodot 

Hermippos.  der  aber  schon  eine  halb  roman-  129,  Plat.  Crit.  10><d.   Plut.  Sol.  2  und  Selon 

hafte  Darstellung  gegeben  hatte,  daneben  die  selbst  fr.  2^.   ebenso   durch  Selon  fr.  19  die 

Schrift  des  Didymos  (p.  399  Schmidt  i  über  die  ;   Reise  nach  Kvpeni.    Nach  Herodot  I  29  und 

solonischen    azovF^,    Andere   Berichte   geben  i    Aristoteles    Athen,  jwl.  11    machte    er    die 

Aristot.  Athen. resp. 5 — 12,  Diog.  I45ff.,Suidas.  zehnjährige  Reise  nach  seiner  Gesetzgebung: 

vervollstjlndigt  durch  Schol.  Plat.  reip.X  590 e.  von  Handelsreisen  des  jungen  Selon  spricht 

^)  Aus   diesen   erklärt   sich    wohl   auch  Plut.  Sol.  2. 


B.  Lyrik«    h  Monodische.    L  Die  Elegie.    (§  102.)  165 

lamis  rief  er  seine  Mitbürger  zu  einer  letzten  Kraftanstrengung  und  zur 
Wiedereroberung  der  schönen  Insel  auf  (610).  ^  Den  äußeren  Schwierig- 
keiten folgten  die  inneren  auf  dem  Fuß:  die  sozialen  Mißstände  in  Attika 
schienen  zum  Bürgerkrieg  zu  drängen.  Schon  in  dieser  schwülen  Zeit 
hatte  Selon  in  Elegien  (fr.  4  und  die  bei  Aristot.  Ath.  resp.  5  überlieferten 
Stücke)  —  in  diese  Form  kleidete  sich  damals  die  Publizistik  — ,  Versen 
voll  weitblickender  Umsicht  und  warmherziger  Vaterlands-  und  Gerechtig- 
keitsliebe, den  Ausweg  der  evvojuia  empfohlen  und  gezeigt,  daß  er  sich  zu- 
trauen durfte,  wieder  gesunde  Zustände  zu  schaffen.  Im  Jahr  594/3*) 
wurde  er  zimi  Archen  gewählt  und  führte  nun  die  kühne,  wie  ihm  selbst 
klar  war,  revolutionäre  und  nicht  des  allgemeinen  Beifalls  sichere  Maß- 
regel der  oeiodx&eia,  d.  h.  Aufhebung  der  hypothekarischen  Schulden  und 
zugleich  der  Schuldknechtschaft,  durch  öj^iov  ßitjv  re  xai  Sixijv  owag^aoag^ 
wie  er  fr.  36,  14  sagt.  Sein  großes  Gesetzgebungswerk  fand  in  der  Sank- 
tionierung und  Aufstellung  der  hölzernen  Gesetzestafeln  (xvgßeig  oder  ä^oveg) 
auf  der  AkropoUs  seinen  Abschluß,  s)  Eine  dauernde  Beilegung  des  Partei- 
haders gelang  ihm  freilich  nicht;  er  selbst  verließ,  des  Streites  müde, 
Athen  und  suchte  durch  eine  Abwesenheit  von  zehn  Jahren  dem  Drängen 
der  Parteien  zu  entgehen.  Selbst  die  Herrschaft  im  Staat  an  sich  zu 
nehmen,  konnte  er  sich  nicht  entschließen,  so  sehr  ihm  das  teils  als 
schmählich  teils  als  töricht  verübelt  wurde;  aber  schließlich  mußte  er  es 
noch  erleben,  daß  Peisistratos,  gestützt  auf  die  demokratische  Gebirgs- 
bevölkerung,  die  Macht  der  Optimaten  brach  und  die  Tyrannis  an 
sich  riß  (561);  den  Beginn  der  Tyrannis  überlebte  er  nur  zwei  Jahre; 
achtzig  Jahre  alt  starb  er  auf  Kypros,^)  wo  er  schon  in  früheren  Jahren 
Freundschaft  mit  dem  Herrscher  Philokypros  von  Soloi  geschlossen  hatte. 
—  Auch  während  und  nach  seiner  gesetzgeberischen  Tätigkeit  wandte  er 
sich  mit  Elegien  und  lamben  aufklärend  über  seine  wahren  Absichten, 
verteidigend,  kritisierend,  zum  Guten  mahnend  teils  an  seine  Freunde  und 
adeligen  Standesgenossen,  teils  an  das  Volk  im  großen.  Seine  von  un- 
erschütterlichem Idealismus  gefestigte  Persönlichkeit  gibt  den  nüchtern^) 
betrachtenden  Versen  immer  Haltung  und  Würde,  manchmal  aber  auch 
Schwung  und  wahrhaft  dichterische  Stimmung  (vgl.  besonders  fr.  4,  14  ff.; 
13);  auch  an  treffenden  Bildern  aus  Natur  und  Tierleben  (fr.  9.  12.  13, 
18  ff.;  37,  5)  und  anschaulichen  Schilderungen  (13,  14  ff.;  36;  38—40)  fehlt 
es  nicht,   so  daß  man  Piatons  Bewunderung  für  Solons  Poesie 0)  wohl  ver- 


*)  Zur  Chronologie  s.  G.  Busolt,  Griech.  etwas  vollständiger  als  von  Suidas   wieder- 

Oesch.  11*  218  fF.  247  ff.  gegeben  ist.     Das  Todesjahr  f</ '  'IlyFOToäjov 

*)    Oder    592/1     (die    Entscheidung    ist  «o/oiros  gibt  Phanias  bei  Plut.  Sol.  32.    Nach 

schwierig:  Th.  Lenschau  im  Jahresber.  tiber  Eferakleides  bei  Plut.  Sol.  31  blieb  Solon  noch 

die  Fortschr.  der  klass.Altertumsw.  122, 1904,  längere    Zeit   in    gutem    Einvernehmen    mit 

156  f.).  Peisistratos.    In  diesem  Sinn  ist  der  unechte 

•)  Über   die   Gesetze   Plut.  Sol.  19—24  Brief  des  Peisistratos  an  Solon  geschiieben 

and  besonders  Aristot  Athen,  resp.  5 — 12,  wo  Diog.  I  53. 

zum    Beleg    auch    Stellen    aus    seinen    Ge-  .           ^)    Zur    Illustration    seines    praktischen 

dichten  angeführt  sind.  Wilamowitz,  Aristot.  I   Realismus  ist  die  Anekdote  von  seinem  Ge- 

u.  Athen.  II  304  ff.  ;   sprach  mit  Thespis  (Plut.  Sol.  29)   erfunden 

*)  Diog.  I  62;    ebenso  Schol.  Plat.  reip.  '   worden. 

X  p.  599e,  wo  der  Artikel  des  Hesychios  Mil.  |           »)  Plat.  Tim.  21c  (s.  u.  S.  166,  5);   dem 


166  Griechische  Litteraturgeschichte.    I.  Klassische  Periode, 

steht.  Die  erhaltenen  Reste,  die  durch  Aristoteles'  Schrift  vom  Staat  der 
Athener  beträchtliche  Vermehrung  und  Ergänzung  erfahren  haben,  ver- 
teilen sich  folgendermaßen  auf  seine  Lebensperioden  :^) 

1.  vor  dem  Archen  tat  das  erotische  fr.  25  (Plut.  amator.  5),  die  Sa- 
lamiselegie, die  elegischen  Stücke  bei  Aristot.  Ath.  resp.  5  und  fr.  4; 

2.  Gedichte  zur  Rechtfertigung  nach  dem  Gesetzgebungswerk,  fr.  5—8, 
32—33; 

3.  Gedichte  aus  der  Zeit  der  Reisen,  fr.  19  (Kypros),   28  (Ägypten); 

4.  Gedichte  aus  dem  hohen  Alter,  das  erotische  fr.  26  und  fr.  18. 
Sicher  unecht  sind  nur  die  melischen  Verse  fr.  42,-)  die  Diog.  Laert. 

I  61  überliefert.  Nach  Diog.  169  hatte  man  von  ihm  in  5000  Versen  Elegien, 
lamben  und  Epoden.  In  der  Form  lehnte  er  sich  au  seine  ionischen  Muster 
an,  doch  gCvStattete  er  sich  in  der  Sprache  auch  einzelne  Eigentümlich- 
keiten des  Attischen  einzuführen. ')  Er  hat  das  ionische  Gesellschaftslied 
in  seiner  vornehmeren  {^Xfyeta)  und  seiner  volkstümlicheren  (Tajtißot)  Ge- 
stalt auf  den  attischen  Boden  verpflanzt  und  auch  in  Sachen  der  pro- 
sodischen  Technik  noch  die  ionischen  Regeln  beobachtet.'*)  Die  Athener 
haben  die  Gedichte  des  Selon,  wie  die  Spartaner  die  des  Tyrtaios,  in  Ehren 
gehalten.  Am  Fest  der  Apaturien  sangen  sie  die  Kinder  im  Wettgesang, 
indem  die  Eltern  dazu  Preise  gaben, ^)  und  nicht  bloß  Piaton  lobt  den  durch 
Kritias  ihm  verwandten  Dichter  in  überschwenglichen  Worten,  sondern 
auch  Demosthenes  konnte  auf  die  Aufmerksamkeit  der  Richter  rechnen, 
als  er  ihnen  in  der  Rede  über  die  falsche  Gesandtschaft  §  255  eine  ganze 
Elegie  des  groEien  Volksfreundcs  vorlas. 

103.  Selon  ist  als  Vertreter  Athens  schon  früh  von  der  Legende  in 
das  Kollegium  der  Sieben  Weisen  {ooqtoTui  bei  Isoer.  15,  235)^)  gestellt 
worden.  In  ein  Kollegium  zusamraengefalat  treten  uns  die  Sieben  mit 
Namensnennung  zuerst  entgegen  bei  Piaton  Protag.  p.  343a,  zwei  lonier 
(Thaies  aus  Milet  und  Bias  aus  Priene),  zwei  Derer  aus  Lakonien  (Cheilon 

PI.  ist    sein  Uitoil    wahrscheinlich   von   den  '    Accedit  index   .Soloneus.   I.     München  1908. 

aller  Didaktik  a))^enoigten  Peripatetikern  ver-  II.  1904.  Die  Honiernachahmung  Solons  wurde 

übolt  worden :   Procl.   ad.  Plat.  remp.  T.  I  48,  ,   schon    im  Altertum  festgestellt   und  in  eine 

P2  ff.  Üo.  1  tf  Kkoll.  :    Anekdote  gefaßt,   die  Schol.  ABT  zu  Hom. 

')  »Siehe  besondtMs  Wilamowitz,  Aristot.  II.  I*2i')r>  wiedergeben, 

u.  Ath.  II  304  if.  -*)  Siehe  über  die  Behandlung  der  positio 

-)  Das  Metrum  gemahnt  stark   an   den  debilis  A.  v.  Mess.  Rh.  Mus.  58  (1903)  273  ff. 

Lieblingsvers  der  Lyrik  der  späteren  Kaiser-  ^)  Plat  Tim.  j).  21b.  wo  Piatons  eigenes 

zeit,    den    anapästisch -iambi.schen     Vicrfuü,  Uiteil:    rn   Tf   a/./.n    oo(fonaT<n'  yfyovevni  2o- 

den    z.  B.  Philostr.  Heroic,  Luc.  Tragodop.,  /jnvn    xai  xara  ri/r  .Tonjotr   av    uov   sioiyrwv 

das  Papyrusfragment  bei  W.  CRiiNERT,  Arch.  .-TuvTojr   f/tri7fn(f/>7«ror  .  .  .  .  fT  yf   firj   :ia^ 

f.  Pajjyrusf.  2  (1903)  357  f.  aufweisen.  ^W*'*  ^'7  ^f**f'i"''i  xarF/o/jonTo  .  .  .  xard  )'V/i/;p 

*j  Vielleicht  sind  in  unseren  Texten  die  docur  ovif  'Ilotn(in^   orjF  "Ofiffnog   mrre   alka; 

Attikismen  teilweise  wieder  durch  die  bekann-  orÖFh   .-rf»//;T/)c   FtWnximnTFoa;  Fyh'Fxo  ar  .tot*^ 

teren  lonismen  verdrängt  worden,  worüber  A.  nrror.     An  ihn   denkt  wohl    auch  Plat.  leg. 

FiCK   in  Hezzenbcrgers  Beitr.  zur  Kunde  der  i    V^IT811de. 

indogerm.  8pr.  14  (IbX^S)  252  ff.  Übrigens  weist  '           *)  Das  Wort  oof/  n^-  findet  sich  bei  Homer 

die  Sprache  Solons  homerische  Reminiszenzen  noch  nicht  (nur  oor/  /;/  II.  0412;  vgl.  o.  S.  49, 3), 

in  Fülle  auf.  am  meisten  in  den  Hexametern,  bezeichnend  aber  ist  die  intellektualistische 

weniger   in   Pentametern,   am   wenigsten   in  Umwertung  des  Wortes  (^aufofor,  das  in  der 

den  lamben,  worüber  N.  Riedy,  Solonis  elo-  llias  ^tapfer*,  in  der  Odyssee  und  späterhin 

cutio  quatenus  pendeat  ab  exemplo  Homeri.  ,klug*  bedeutet. 


B.  Lyrik.    L  Monodische.    1  Die  Elegie.    (§  103.) 


167 


und  Myson),  je  ein  Äoler  (Pittakos  aus  Mytilene),  Athener  (Selon)  und 
Khodier  (Kleobulos  aus  Lindes) J)  Die  Sieben  sind  nicht  Männer  der 
theoretischen  Philosophie,  sondern  der  praktischen  Klugheit,  die  mit  über- 
legener Einsicht  und  Selbständigkeit  des  Urteils  den  Fragen  des  ethisch- 
politischen Lebens  gegenüberstehen  und  in  schwierigen  Lagen  Rat  wissen. 
Ihre  Epoche  ist  bei  den  alten  Chronologen  die  48.  Olympiade  (588).  Die 
Aufstellung  dieses  Menschheitsideals  in  der  Zeit  der  großen  Parteiwirren 
und  Verfassungsumwälzungen  ist  bezeichnend.  Es  liegt  darin  die  Verherr- 
lichung der  Unparteilichkeit  und  des  gesunden  Menschenverstandes  in  einer 
Periode,  die  sonst  ängstlich  nach  religiösen  Hilfen  Umschau  hielt  (s.  o. 
S.  126  ff.)-*)  D^r  Bestand  des  Kollegiums  wechselt, 3)  bis  seit  Ende  des 
4.  Jahrhunderts  durch  den  Einfluß  des  Demetrios  von  Phaleron,*)  der  eine 
Sammlung  der  Aussprüche  der  Sieben  verfaßte,  die  Namen  Bias,  Thaies, 
Selon,  Cheilon,  Pittakos,  Periandros,  Kleobulos  ziemlich  allgemein  ange- 
nommen werden.  Seit  alters  kursierten  kurze  Kernsprüche,  wie  yva)&i 
aeavtov,  /nrjder  äyav^  /xergov  ägioravt  iyyva  Jiagä  ö*äxa^  als  deren  Verfasser 
teils  alle  die  Sieben  zusammen,  teils  einzelne  von  ihnen,  teils  der  delphische 
ApoUon  bezeichnet  wurden.  Einige  dieser  Sprüche  waren  auch  in  Delphoi 
im  Apollonheiligtum  angeschrieben.    Darin  wie  in  der  Siebenzahl  der  Weisen 


^)  Diesem  Kleobulos  wurde  auch  das 
Epigramm  auf  der  Grabsäule  des  Midas  zu- 
geschrieben (Simonides  bei  Diog.  I  89),  und 
eine  Rätselsammlung  lief  auf  seinen  Namen 
(WiLAMOwiTZ,  Textgesch.  der  gr.  Lyr.  40,  3) ; 
ebenso  auf  den  seiner  Tochter  Kleobulina 
Rätsel,  die  nach  0.  Crüsius,  Philol.  55  (1896) 
1  ff.  aus  dem  Äsoproman  stammen.  Kleo- 
bulina scheint  nach  dem  Titel  einer  Komödie 
des  Kratinos  KXeoßovlTvai  typische  Figur  ge- 
worden zu  sein. 

*)  Der  Kultus  des  dvtjo  oo<p6<;  in  diesem 
Sinn  hat  vielleicht  bei  den  Pythagoreern  zu- 
erst Wurzel  gefaßt,   Porphyr,  quaest.  Hom. 

ad    n.    p.  12.  18  ff.  SCHRADEB. 

>)  Einzelne  von  den  späteren  Sieben  nennt 
zuerst  Hipponax  (fr.  45  Myson;  fr.  79  Bias). 
Allezeit  fest  sind  nur  5  (Bias,  Thaies,  Solon, 
Pittakos,  Chi  Ion).  Die  Siebenzahl  ist  unter 
Einflüssen  der  apollinischen  Religion,  in  der 
sie  besonders  für  heilig  galt  (H.  Dibls  in  der 
Festschr.  f.  Th.  Gomperz,  Wien  1902,  9  ff.) 
abgerundet  worden.  Sammlung  der  Stellen 
über  den  Wechsel  des  Bestandes  bei  0.  Kböh- 
FKBT,  Canonesne  po^tarum  scriptorum  arti- 
ficum  per  antiq.  fuerunt,  Königsb.  1897,  64. 
Im  6.  Jahrhundert,  in  das  die  Anfänge  der 
Legendenbildung  zurückreichen  (J.  Miko- 
LAJCZAK,  Bresl.  nhilol.  Abb.  9,  1902,  1),  gab 
es  wahrscheinlich  noch  allerlei  Kandidaten; 
so  könnte  an  den  Siriten  Amyris  gedacht 
werden  (Herod.  VI  127).  Bei  Feststellung 
der  Mitglieder  wird  zunächst  die  Rivalität  der 
Stämme  und  Städte  mitgespielt  haben:  den 
kleinasiatischen  loniem  scheinen  von  Anfang 
an  zwei,  den  Athenern,  Spartanern  und  les- 
bischen Äolem  je  ein  Platz  zugestanden  ge- 


wesen zu  sein.  Um  stärkere  Vertretung 
(Myson.  nach  Schol.  Pind.  Isthm.  2,  17  Aristo- 
demos)  bemühten  sich  die  Lakonier,  um  Auf- 
nahme eines  Mitbürgers  die  Rhodier  und 
Korinthier.  Besonders  merkwürdig  ist,  daß 
Anfang  des  4.  Jahrhunderts  auch  das  neue 
durch  die  Kyniker  vertretene  Lebensideal  des 
kulturfreien  Naturmenschentums  durch  den 
skythischen  Barbaren  Anacharsis,  den  Ephoros 
zuerst  in  diesem  Zusammenhang  erwähnt,  in 
das  Kollegium  eingeführt  ist  (R.  Heinze, 
Philol.  50,  1891,  458  ff.). 

*)  Übrigens  war  Demetr.  schwerlich  der 
erste  Sammler  (P.  Wendland,  Anaximenes  v. 
Lamps.,  Berl.  1905,  90  ff.).  Aus  den  a.TO(ft'}Fy- 
ftarn  des  Demetrios  schöpfen  Stobaios  floril. 
3,  79,  Anth.  Pal.  IX  366  und  spätere  griechi- 
sche und  lateinische  Spruchsammluugen.  W. 
Bbünco,  De  dictis  septem  sapientium  a  De- 
metrio  Phal.  collectis.  Acta  sem.  Erlangensis 
3  (1884)  299—398,  mit  einer  Ergänzung 
aus  dem  Wiener  Apophthegmen-Corpus  von 
C.  Wachsmuth,  Die  Wiener  Apophthegmen- 
sammlung,  Freiburg  1882.  Eine  griechische 
Sammlung  in  lamben  publizierte  E.  Wölfflin 
in  Sitz.ber.  der  bayr.  Ak.  1886  S.  287  ff., 
zwei  lateinische  W.  Bbünco,  Bayreuther  Progr. 
1885.  Von  Sosiades  tiov  Liza  onqajy  vno- 
Orixm  (Stob.  T.  III  125  f.  Hensb)  ist  neuer- 
dings ein  großer  Teil  auf  einer  Inschrift  von 
Kyzikos  ca.  300  v.  Chr.  (F.  W.  Haslück, 
Joum.  of  Hell.  Stud.  27, 1907,  62  f.)  gefunden 
worden.  Siehe  0.  Hense,  Berl.  phil.  W.schr. 
27  (1907)  765  ff.  Über  die  Unechtheit  der  den 
sieben  Weisen  zugeschriebenen,  durch  Dio- 
genes zum  Teil  noch  erhaltenen  Skolien 
vgl.  K.  0.  MüLLEB,  Gr.  Litt.  P  318. 


IQQ  Griechische  Litieratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

und  in  der  Sage  von  dem  goldenen  Dreifuß,  den  die  Milesier  nach  ApoUons 
Spruch  dem  Weisesten  geben  sollten  und  der  nun  bei  allen  Sieben  herum- 
ging und  schließlich  dem  ApoUon  geweiht  wurde,0  zeigen  sich  Beziehungen 
der  delphischen  Priesterschaft  zu  den  Sieben.^)  Die  frühste  uns  bekannte 
Zusammenfassung  der  die  Sieben  betreffenden  Sagen  ist  von  Andron  von 
Ephcsos  ca.  400  v.  Chr.  in  dem  Roman  Tgmovg  gemacht  worden.  Uns 
liegt  in  Plutarchs  Dialog  2!vii7i6oiov  nov  fjnd  ooqojv  ein  später  Nieder- 
schlag dieser  Dichtungen  vor.  Litterarische  Werke  hat  außer  Selon  keiner 
der  Sieben  hinterlassen. 3) 

104.  Die  Blüte  des  Phokylides  aus  Milet  wird  von  Suidas  auf  544 
V.  Chr.  gesetzt,  wozu  die  Bezugnahme  auf  den  Fall  von  Niniveh  606  in 
fr.  5  Bgk.  stimmt;  er  hatte  Sittenregeln  in  Hexametern  und  Distichen  ge- 
schrieben, die  durch  den  einförmig  wiederholten  Anfang  xai  rode  4>a>xi»- 
Xidto)  in  Absätze  von  wenigen  Versen  zerfielen.*)  Von  ihnen  sind  nur 
wenige,  zumeist  aus  der  Bhmienleso  des  Stobaios,  auf  uns  gekommen. 
Dagegen  sind  vollständig  erhalten  die  Fvionni  ^Pdixvkiöov^  ein  ehemals,  be- 
sonders zur  Zeit  der  Renaissance,  vielgelesenes,  den  zehn  Geboten  gleich- 
gestelltes Lehrgedicht  in  230  Hexametern^)  ohne  feste  Disposition,®)  das 
gleich  im  Anfang  durch  den  Vers  jroona  äfov  rijua,  jLt^TfjfetTa  di  oeio  yovtjog 
an  die  Gesetze  der  Juden  erinnert.  Zweifel  an  der  Echtheit  des  Gedichtes 
dämmerten  zuerst  dem  Heidelberger  Friedrich  Sylburg  auf;')  Jos.  Scaliger 
wies  dann  bestimmter  auf  die  Übereinstimmung  einzelner  Sätze,  wie  von 
der  Auferstehung  des  Fleisches  (V.  103)  und  der  Aushebung  der  Vogel- 
nester (V.  84  f.  =  Deut.  22,  6),  mit  der  Lehre  der  Bibel  hin  und  ließ  die 
Wahl  zwischen  einem  jüdischen  oder  christlichen  Fälscher.  Zum  Abschluß 
brachte  die  Frage  Jak.  Bemays  in  einer  für  die  Kenntnis  der  sittlichen 
Unterscheidungslehren  zwischen  Judentum,  Christentum  und  Heidentum 
sehr  ertragreichen  Abhandlung  (Über  das  phokylideische  Gedicht  in  Ges.  Abh. 
Berhn  1885  I  192 — 2G1),  indem  er  nachwies,  dali  der  Fälscher  zu  den  ale- 
xandrinischen  Juden  gehörte  und  in  der  Zeit  zwischen  dem  2.  Jahrhundert 
V.  Chr.  und  dem  Kaiser  Nero    lebte,    noch    ehe  der  jüdische   Hellenismus 


^)  Auf   ein   ähnliches  orientalisches  No-  legt  von   H.  (jompkbz.    Arch.   f.  Gesch.  der 

vellenmotiv  weist  E.  Rohde,   (iriech.  Rom.*,  1   Philos.  19  (1906)  246  f.    In  hellenistischer  Zeit 

Leipzig  1900,  882.  1  hin.  werden  die  Siehen  als  Beispiele  bei  Erörterung 

^)    Sieben    delphische    Sjirüche    nachzu-  der  Frage  ff  jtohievtrjat  o  ooqxl:  beigezogen: 

weisen   und  auf  die  sieben  WeiHcn   zu  ver-  Cic.  de  rep.  1  7,  12.     Bildliche   Darstellung 

teilen,   ist  nicht  gelungen  (W.  H.  Röscher,  der  Sieben  in  hellenistischer  Zeit:   A.  Fübt- 

Philol.  59,  1900,  21  If.).  wängler,  Berl.  philol.  W.schr.  20  (1900)  274. 

')  Fieigebig  in  Erdichtung  von  Werken  •*)  Dio  Chiys.  or.  36,  12. 

war  besonders  der  von  Diogenes  Lacrtios  be-  ;            ■''*)  Von  Suidas  genannt  .Taitaivfofig,  yrw- 

nützte  Grammatiker  Lobon;  s.  E.  Hiller,  Die  ftm,  xFifuhua,   in  der  ed.  princ.  nohjfAa  voi»- 

litt.Tätigkeit(lor8iebenWeisen.Rh.M.33(187S)  Otuxur.     Text  bei  Berok.  PLG.  II*  p.  81  ff. 

518  ff.  (jinndlegende  Schrift  von  F.  E.  Bohren,  *)  A.  Lüüwich.  über  das  Spruchbuch  des 

De   VII    sapientibus.    Bonn    1867.     Weitere  falschen  Phokylides,  Königsberg  1904. 

Litteratur  s.  in  der  oben  S.  167.3  angeführton  ')  Nach  einer  Mitteilung  von  J.  NicoLl 

Abhandlung  von  Mikolajczak.    Was  K.  Joel  I   in  Album  gratul.  in  hon.  llorwerdeni  p.  164 

in   seinem  Buch  „Der  echte   und   der  xeno-  sind  in  einem  Genfer  (Jod.  21  Verse  des  Ge- 

phontische  Sokrates*  II,  Berl.  1901,  759 ff.  über  dichtes  teils  dem  Phokylides,  teils  demDichter 

ein  kynisches  Gastmahl  der  sieben  Weisen  in  Proklos  Megaieus,  teils  dem  Rhetor  Herodianos 

Antisthenes'  IlnnroF.-nixi'h;  veraiutet,  ist  wider-  beigelegt. 


B.  Lyrik.    L  Monodische.    1  Die  Elegie.    (§§  104—105.)  169 

christliche  Färbung  angenommen  hatte.  >)  Mit  dem  echten  Phokylides  be- 
rührt er  sich  kaum  (nur  V.  229  klingt  an  Phoc.  fr.  17  an).  Zitiert  wird 
das  Gedicht  erst  von  Stobaios,  aber  schon  der  Verfasser  des  zweiten  Buches 
der  Sibyllinischen  Orakel  (II  56 — 148)  hat  Verse  aus  ihm  (5 — 77)  in  sein 
Gedicht  eingeschmuggelt,*)  welches  Verhältnis  freilich  Suidas  in  dem 
Artikel  über  PhokyUdes  umkehrt.  Dion  von  Prusa  (36,  10)  kennt  es  offenbar 
noch  nicht. 

Nach  Bias  von  Priene,  auf  den  er  (bei  Diog.  Laert.  I  84)  Bezug  nimmt, 
und  vor  Aristoteles,  der  ihn  (Eth.  Nicom.  1151a  8)  zitiert,  vermutlich  in 
das  6.  Jahrhundert  v.  Chr.  ist  der  Gnomiker  Demodokos  von  Leros  zu 
setzen,  von  dem  nur  zwei  zweifelfreie  Fragmente,  ein  elegisches  Distichon 
und  ein  trochäischer  Tetrameter,  erhalten  sind. 

105.  Theognis  ist  der  einzige  Spruchdichter,  dessen  Elegien  in  einiger 
Vollständigkeit  auf  uns  gekommen  sind.  Seine  Abkunft  und  seine  Lebens- 
zeit war  bestritten:  der  älteste  Zeuge,  Piaton  in  den  Gesetzen  I  p.  630a 
nennt  ihn  einen  Bürger  des  hybläischen  Megara  in  Sizilien.'*)  Das  muß 
aber  ein  Irrtum  sein;  Theognis  mag  nach  Sizilien  gekommen  sein  und  in 
einem  Gedicht  der  rühmlichen  Taten  der  hybläischen  Megarer  gedacht 
haben;*)  aber  er  bezeugt  selbst  V.  11  fif.  (vgl.  Pausan.  I  43,  1),  773  und 
782  flf.,  daß  seine  Wiege  nicht  in  Sizilien,  sondern  in  dem  nisäischen  Me- 
gara, der  Stadt  des  Alkathoos,  stand.  Nicht  minder  waren  bezüglich  seiner 
Lebenszeit  schon  im  Altertum  falsche  Meinungen  verbreitet.  Eusebios  und 
Suidas  setzen  ihn  Ol.  58,  3  (546);  nun  spricht  aber  Theognis  selbst  an  zwei 
Stellen  V.  764  und  775  von  der  Gefahr,  die  seiner  Heimatstadt  von  den 
Modem  drohe.  Das  kann  man  mit  jener  Überlieferung  nur  vereinigen, 
wenn  man  den  Mederkrieg  auf  die  Unternehmungen  des  persischen  Heer- 
führers Harpagos  gegen  die  ionischen  Städte  Kleinasiens  deutet.^)  Aber 
die  Gefahr  für  Megara  lag  damals  noch  in  sehr  weiter  Ferne;  sie  ward 
erst  greifbar  mit  dem  Zug  des  Mardonios  gegen  das  griechische  Mutter- 
land (492).   Auf  diesen  also  sind  jene  Verse  zu  deuten,  und  das  um  so  un- 


*)  Nur  der   eine  Vers  129   lij?  de  ^eo-  \   Zuflucht    zu    der   unmöglichen,    weil    durch 

jivevazov  atxpiijg  koyog   iaiiv  ä^ioxog   scheint  Theogn.  782  ausgeschlossenen  Annahme,  daß 

die    christliche    Logoslehre    vorauszusetzen.  Theognis  in  dem  sizilischen  Megara  geboren 

Bemays    hat   diesen    als    Interpolation   ge-  und    von   doit   um   490   vertrieben,   in   dem 

strichen.    Näheres  über  die  Kontroverse  bei  nisäischen  Megara  Aufnahme  gefunden  habe. 

F.  SusBHiHL,  AI.  Litt.  II  642  Anm.  63.  Nach  R.  Reitzenstbin  ,   Epigr.  277   will  sich   mit 

Ä-  DiETBBiOH,  Nekyia,  Leipzig  1893,  178  iff.,  j   der  Annahme  von  zwei  Dichtem  des  Namens 

hAtte  das  Gedicht  seine  gegenwärtige  Gestalt  |   Theognis  helfen. 

zwischen  80  u.  130  n.  Chr.  erhalten.  *)    Piaton    könnte    die    Tradition    von 

*)  Die  Wertlosigkeit   der   sibyllinischen  Theognis'  Abstammung  aus  Megara  Hyblaia 


ParallelQberliefening  zeigt  A.  Lüdwich, 
Pseudophocjlidearum  quaestionum  pars  II, 
Königsberg  1904.  Über  die  Handschriften 
W.  Kboll,  Rhein.  Mus.  47  (1892)  457  ff.;  N. 
ö.  D088108,  Philol.  56  (1897)  616  ff. 

')  Nach  Piaton  auch  Suidas;   dem   ent- 


von  Sizilien  mitgebracht  haben  (Reitzbnstein 
a.  a.  0.  270  ff.». 

*)  So  nach  Th.  Bergks  Vorgang  E.  Rohoe 
(Kl.  Sehr.  I  123  f.,  6),  der  jene  Verse  um  540 
gedichtet  sein  läßt;  ebenso  T.  H.  Williams. 
Th.  and  his  Poems,  Journ.  of  Hell.  Stud.  23 
trat,    offenbar   auf   Grund    der    Aus-   '   (1903)  1  ff.,   der  sich   auch   mit   der   wenig 
legung  der  Verse  773— 787,  Didymos  in  den      glücklichen    Theognisbehandlung     von    Fr. 
Scholien   za   Piaton  1.  1.   ftlr   das   nisäische   '   Cauer  (Parteien  und  Politiker  in  Megara  und 


Megara  ein,  ebenso  Harpokration  u.  Oeoyvig. 
J.  Bblooh,  Jahrbb.  f.  Phil.  137  (1888)  S.  729 
und  Rhein.  Mos.  50  (1895)  255  nimmt  seine 


Athen,  Stuttg.  1890,  und  Studien  zuTh.,  Philol. 
48—50,  1889—91)  auseinandersetzt 


170  Griechische  Litteratorgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

bedenklicher,  als  auch  eine  andere  Stelle,  V.  891 — 4,  von  der  Verheerung 
der  lelantischen  Ebene  durch  die  Kypseliden,  d.  i.  die  Athener  unter 
dem  Kypseliden  Miltiades  (?),  bis  auf  506  herabführt.*)  Danach  blOhte 
Theognis  in  der  zweiten  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts  und  erlebte  noch  die 
Gefahr  eines  nahenden  Kriegszugs  der  Perser.  Sein  Leben  war  ein  aufier* 
ordentlich  bewegtes  und  fiel  in  die  Zeit  heftigster  innerer  Parteikämpfe. 
Es  befehdeten  sich  nämlich  im  6.  Jahrhundert  in  Megara  wie  in  anderen 
Staaten  Griechenlands  aufs  leidenschaftlichste  der  alte  Adel  und  der  mit 
Hilfe  von  Tyrannen  oder  demagogischen  Parteihäuptem  zur  Macht  strebende 
Demos.  Theognis  selbst  war  ein  fanatischer  Anhänger  der  Adelspartei  und 
schaute  mit  dem  ganzen  Hochmut  eines  eingefleischten  Junkers  auf  die 
Gemeinen  {xaxoi,  dfdoi)  herab.*)  Aber  er  hatte,  als  die  Yolkspartei  zur 
Herrschaft  gelangt  war,  seinen  Hochmut  schwer  büßen  müssen.  Seiner 
Güter  beraubt,  mußte  er  lange  das  Brot  der  Verbannung  essen  und  kam 
bei  dieser  Gelegenheit  nach  Sizilien,  Euboia,  Sparta.  3)  Später  scheint  er 
wieder  in  seine  Vaterstadt  zurückgekehrt  zu  sein  und  sich  in  die  ver- 
änderte Staatsordnung  geschickt  zu  haben,^)  doch  ohne  den  Verlust  seiner 
Güter  zu  verschmerzen  und  ohne  seiner  aristokratischen  Gesinnung  untreu 
zu  werden. 

Geschrieben  hat  Theognis  nach  Suidas  eine  Elegie  auf  die  bei  einer 
Belagerung  geretteten  Syrakusier.*)  ein  Spruchgedicht  in  Elegien  an 
seinen  Geliebten  Kyrnos,  Unterweisungen  an  andere  Genossen. «)  Auf  uns 
gekommen  ist  eine  Sentenzensammlung  von  694  Distichen  in  zwei  Büchern, 
von  denen  das  erste  (1 — 1230)  politisch-moralische  Sprüche,  das  zweite, 
das  nur  in  dem  Cod.  Mutinensis  und  in  diesem  nicht  vollständig  erhalten 
ist,  erotische  Verse  auf  die  Liebe  zu  schönen  Knaben  (natdtxn)  enthält. '') 
Den  Grundstock  der  Sammlung  bildet  das  Spruchgedicht  an  Kyrnos,  den 
Sohn  des  Polypais,  einen  edlen  Jüngling,  den  der  Dichter  mit  väterlicher, 
aber  doch  der  Sinnlichkeit  nicht  entbehrender  Zuneigung*)  in  die  Lebena- 

*)  ü.  BusOLT,  (Ti-ioch.  Gesch.  11*  443.  hiofu  fnm')i'fxn<:  .^nnnn'FTixu<;,  la Trdvra  i:tix(Of. 

'*)  Siehe  besonders  V.  847 — oO.  Man  ver-  Daß  er  außer  Elegien  auch  Gedichte  in  an- 
gleiche dennoch  im  4.  Jahrhundert  üblichen  deren    Versmaßen    dichtete,    schließen    Th. 
Oli^archeneid  (Aristot.  pol.  V  p.  1310a  9)  y.ai  ,   UEB(iK,  (ir.  Litt.  II  309  und  R.  Reitzehstuh, 
rin  ()/fiiof  y.nxorot\;    looftni    xni   por),¥vr,o>    t'iit  Epigr.  54  aus  Plat.  Meno  95  d. 
ily  y/ot  xnxov.  \           ')  Die  Echtheit  des  2.  Buches  bestreiten 

')  V.  783  ff..  891.   Die  Nachrichten  über  |   E.  Hiller.  Jahrbb.  f.  Phil.  123(1881)  p.  471 1, 

i:fmyrna,    Kolophou.   Magnesia   (608.  1103  f.  A.  Codat.  Le  second  livre  d'elegies  attribo^ 

u.  1024)  können  aus  Kallinos  genommen  sein.  a   Theognis.    Bordeaux   1883,    A.    CoBSEinr, 

*)  V.  945  f.  u.  831  f.   Zuverlässige  Schlüsse  QaaestionesTheognideao.GeestemfinderProgr. 


auf  das  Leben  des  Dichters  lassen  sich 
freilich  aus  jenen  Versen  nicht  ziehen,  da  es 
nicht   ausgemacht  ist.   ob   sie   wirklich   von 


1887.  U.  KöHLKR.  Mitt.  des  ath.  Inst.  9 
(1884)  1  ff.  hat  die  Entdeckung  gemacht,  dai 
ein  Vers   aus   dem  2.  Teil  (1865)   auf  einer 


Theognis  herrühren.     So  werden  945  ff.  von  tanagräischen     Vase    ca.  500  v.   Chr.    steht. 

Bergk  und  Fcsta  dem  Selon  zugewiesen.  Neuerdings    tritt    mit   Recht    Reitzensteut, 

<^)  Der  geschichtliche  Anlaß  kann  in  den  Epigr.  81  ff.  für  die  relative  Echtheit  und  daa 

neunziger  Jahren  des  5.  Jahrhunderte  gesucht  ;  gleiche  Alter  des  2.  Buches  ein.   Da  in  dem 

werden  (A.noLir,  Geschichte  Siziliens],  Leipz.  |  2.  wie  im  1.  Anreden  an  KjTnos  sich  finden, 

1870,  170).  I  so  hat  offenbar  erst  der  Anordner  aus  AnstandB- 

*)  Suidas:  foya^j^pv  ihynav  tt^  roiv  aio-  '  rücksichten  die  erotischen  und  päderastischen 

On'Tuc  Totv  l'rnaxoauor  h  tj")  :roÄionxin,  yrw/tui  1  Verse  in  eine  eigene  Abteilung  verwiesen. 

<^/'  t?.yyFin<;  ti^  fhij  fß<o  ,  \>c<u}  :iijiK;  Kvoror  xm'  \  •*)  V.  1049:  ooi  6*  eyo)  old  rs  :taiöi  Jtat^Q 

uvTor  yn<ifft€ror  yvMfioAoyiny  hC  f-hytUur,  xai  I  v:ioO /jao/nui  avrog.     Das  sinnliche  VerhftltlUS 


B.  Lyrik.    I.  Monodische.    1.  Die  Elegie.    (§  105.)  171 

Weisheit  und  die  Grundsätze  des  aristokratischen  Regimentes  einführen  und 
mit  glühendem  Haß  gegen  den  Demos  erfüllen  will.  In  diesen  ältesten 
Bestand  eingelegt  sind  Stücke  aus  den  übrigen  imoöfjxai  des  Theognis, 
namentlich  aus  Elegien  an  seine  Freunde  und  Zechgenossen  Simonides, 
Klearistos,  Onomakritos,  Damokles,  Akademos,  Timagoras,  Damonax,  die 
alle,  ebenso  wie  Kymos,  wiederholt  in  den  Elegien  angeredet  sind.  Weiter 
aber  wurden  auch  Verse  von  anderen  Dichtem  (von  Selon  153 — 4;  227 
bis  32;  1253—4;  Mimnermos  793  f.;  1017—22;  Tyrtaios  935—8;  Buenos 
472;  Phokylides  147)  eingeschaltet.^)  Es  begegnen  aber  auch  an  ver- 
schiedenen Stellen  zwei  Fassungen  derselben  Sentenz,  eine  vollere,  ge- 
wähltere, und  eine  gekürzte,  der  gangbaren  Sprache  näher  gerückte  (vgl. 
besonders  V.  213 — 8  mit  1071 — 4),  oder  auch  eine  individuellere  und  eine 
allgemeiner  gehaltene.*)  Wir  haben  also  offenbar  eine  allmählich,  auch 
wohl  unter  Verdrängung  älterer  Bestandteile,  angewachsene  Blütenlese  vor 
uns,  die,  da  sie  den  Namen  des  Theognis  an  der  Stirne  trägt  und  zahl- 
reiche scharfe,  unter  sich  übereinstimmende  Charakterzüge  einer  ganz  be- 
stimmten Dichterpersönlichkeit  aufweist,  offenbar  auch  Elegien  des  Theo- 
gnis, und  in  erster  Linie  dessen  Spruchgedicht  an  Kymos  zur  Grundlage 
hat,  die  aber  dann  nicht  bloß  durch  Kernsprüche  anderer  alter  Elegiker 
und  Scherze  zur  Unterhaltung  bei  Symposien, 3)  sondern  auch  durch  Um- 
dichtungen  jüngerer  Nachahmer  erweitert  wurde.  Die  Aussonderung  der 
verschiedenen  Bestandteile  bildet  eine  Sisyphusarbeit  für  den  Philologen, 
zumal  an  diese  Aufgabe  sich  noch  andere  Fragen  anknüpfen,  insbesondere 
wann  und  zu  welchem  Zwecke  die  Sammlung  angelegt  und  stufenweise 
umgebaut  wurde.*)  Eine  gewisse  stoffliche  Disposition  schimmert  nur  im 
Anfang  des  Gedichts  durch ;ö)  im  übrigen  ist  die  Aneinanderreihung  der 
Stücke  teils  durch  Stichwörter  (wenn  auch  nicht  in  dem  von  F.  Nietzsche 
angenommenen  Umfang),  teils  durch  das  Bestreben  der  Ergänzung  oder 
Berichtigung^)  geleitet,  teils  zufälhg.    Das  „Siegel",  das  der  Dichter  durch 


erkennbar  aas  V.  253  f.     Über  die  Knaben-       181  ff.  läßt  die  Sammlung  zwischen  Piaton 


liebe  der  Megarer  vgl.  Theokrit  XII  27  ff.; 
seit  den  Ausgrabungen  von  lliera  ist  jeder 
Zweifel  an  der  Realität  der  sinnlichen  Knaben- 
liebe,  zumal  im  altdorischen  Gebiet,  aus- 
geschlossen; vgl.  Carm.  pop.  47  Bok.  F.  G. 
Wklckers  Versuch  (Theogn.  p.  XXXIII), 
KjmoB  als  Appellativum  zu  deuten,  hat  mit 
Recht  keinen  Anklang  gefunden. 

*)  Analog  finden  sich  in  der  attischen 
SkoHensammlung  Stücke  von  Kallistratos , 
Hybreas,  Praxilla. 


und  Ptolemaios  Philadelphos  entstanden,  aber 
später  erweitert  und  zwischen  dem  4.  und 
6.  Jahrhundert  n.  Chr.  in  die  jetzige  Form 
gebracht  sein.  Einen  mißlungenen  Versuch, 
die  Zusammensetzung  der  Sammlung  aus 
einem  äußerlich-mechanischen  Prinzip  zu  er- 
klären, machte  W.  Studemund,  De  Theogni- 
deorum  memoria  libris  manuscr.  servata,  Bresl. 
1890.  Vermittelst  subtiler  metrischer  und 
prosodischer  Beobachtungen  sucht  die  spä- 
teren   Bestandteile    aus    der    attischen    und 


')  M.  SchIfeb,   De  iteratis  apud  Theo-  alexandrinischen    Zeit    von    den    alten    des 

gnidemdistichis,  Diss.  Halle  1891;  R.Rkitzen-  Theognis  zu  sondern  J.  Sitzler  im  Tauber- 

8TEnv,£pigr.60.  J.HEiNEiiANH,Herm.34(1899)  bischofsheimer  Progr.  1885.  (Ders.  im  Jahres- 

590  ff.    Ähnliche  Varianten  gab  es  von  den  her.   über   die   Fortschr.  133,  1907.  133  über 

Hannodiosskolien  (F.  Köpf,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  ,   Entstehung  unseres  lli.  aus  Kontamination 

Altert  9,  1902,  614  f.).  |   zweier  Sammlungen.)     E.  v.  Geyso,  Studia 

»)  Ein  Rätsel  1229  f.,  zu  dem  K.  Ohlebt,  |   Theognidea.     Diss.    Straßburg   1892     unter- 

Hiilol.  57  (1898)  598  eine  lettische  Parallele  .  scheidet  drei  Anthologien  von  versus  morales, 

liefert  j   convivales,  erotici. 

*)    F.    Nietzsche  ,    Zur   Geschichte   der  i           *)  Heinemann  a.  a.  0.  595,  1 . 

theogn.  Spmchsammlang,  Rh.  M.  22  (1867)  |           *)  Reitzenstein  76  f.    Kritik  von  Nietz- 


172  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode, 

Nennung  des  Kyrnos  (V.  19  fF.)  aufprägen  wollte,  war  zu  leicht  nach- 
zumachen, als  daß  es  ein  sicheres  Kennzeichen  des  echten  Bestandes  bilden 
könnte,  und  so  ist  eine  vollkommene  Scheidung  des  Echten  vom  Unechten 
kaum  möglich.  1)  R.  Reitzenstein  (Epigramm  und  Skoh'on  52 — 86)  läfit 
die  beiden  Bücher  um  400  v.  Chr.  entstanden  sein  und  gibt  ihnen,  indem 
er  von  jedem  Unterrichtszweck  absieht,*)  die  Bestimmung,  als  Kommers* 
buch  für  attische  Trinkgelage  zu  dienen.  Das  „Kommersbuch*  ist  aber 
nicht  die  frühste  Stufe  in  der  Entwicklung  des  Buches,  auch  nicht  die 
späteste,  denn  es  ist  zum  Gebrauch  für  Schulzwecke  umgearbeitet,  er- 
weitert und  aus  dem  Individuellen  ins  Allgemeine  umgesetzt  worden. 
Dieser  Prozeü  ist  schon  im  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  im  Gang  (Isoer.  2,  43); 
aber  der  damalige  Theognis  sah  noch  sehr  verschieden  von  dem  unsrigen 
aus.^)  Wann  unser  Theognistext  seine  abschließende  Form  erhalten  hat, 
läl3t  sich  nicht  genau  bestimmen.*)  Der  Grundbestand  dieser  Elegien 
war  (V.  241  f.)  zum  V'ortrag  beim  Gelage  mit  Flötenbegleitung  bestimmt, 
aber  mit  der  Verstärkung  der  allgemein  gnomischen  Bestandteile  trat  das 
musikalische  Element  zurück  und  verschwand  schließlich  ganz.^) 

Haupthandschriffc  Cod.  Mutineusis  (vielmehr  Veronensis)  s.  X  (A).  jetzt  in  Paris  (C. 

0.  ZuKETTi,  Riv.  di  filol.  19,  1891.  161  if.);  ihr  zunÄchöt  Vatic.  915  s.  XIII  (neue  Mitteilungen 
von  H.  Jordan.  Quacst.  Theognideae.  Regiom.  1880).   —  AuHgaben  mit  krit.  Apparat  von 

1.  Bkkker.  Leipzig  I8l5.  Berlin  1827.  —  Chk.  Zieulkr  ed.  II  Tab.  1880.  —  J.  Srrzun. 
Ueidclb.  1880.  —  Daneben  die  einschneidende  Bearbeitung  von  Th.  Bbbgk  in  PLü.  —  Der 
Erklärung  und  Anordnung  gewidmet  ist  die  Ausgabe  von  F.  G.  Wblckeb,  Francof.  1826. 
—  Zur  Kritik  N.  Festa,  Studi  ital.  1  (1893)  1  if .  —  Lateinische  Übersetzung  der  Distlcben 
von  Hugo  Gbotiits. 

lOß.     Elegien     haben    aiiüerdem    in     der    älteren    Periode     die     an 
anderer   Stelle   behandelten    Dichter  Arehilochos,  Asios,   Xenophanes,  Par- 

scuES  Stichwörtei-theorie  bei  Williams  1.  1.  \   Men.  95  d.     Welche  Rolle   das  Buch  in  den 

12  if.  I   sophistischen     und    philosophischen    Eiörte- 

')  Die  Tatsache,  dali  ältere  Autoren  bis  rungen  über  den  Wert  des  Adels  (vT^(>i  frjT- 

auf  Aristoteles  nur  aus  der  Paitie  V.  1 — 438  rn'iu)   um   die    Wende   des   5.  Jahrhunderts 

zitieren  (8.  die  Stelleusammlung  bei  Welckek,  zum  4.  gespielt  und  wie  es  in  einer  Kontro- 

Theogn.  73  ff.;  ob  auch  Demokritos  den  Th.  verse   zwischen   Xenophon   und   Antisthenee 

benutzt,  ist  trotz  P.  Natorp.  Die  Ethika  des  als  (Grundlage  gedient  hat,  ist  von  0.  Immibch. 

Demokiit,  Marburg  1803,  63  ff.  fraglich),  hilft  Commentat.  in  hon.  0.  Ribbeckii,  Leipz.  1888, 

auch  nicht  viel,  da  ja  doch  aucli  in  dieser  Partie  71  ff.  beleuchtet.  Benützung  in  Ps.Isocr.  praec. 

sicher  Nichttheognideisches  ebenso  wie  in  der  ad  Dem.  P.  Wesulanü,  Anaximenes  87  f. 

nach  folgenden  sicher  Echtes  enthalten  ist.  Siehe  *)  Die  von  HKiTZEXSTErN  a.  a.  0. 69  f.  81 

auch  WiLAMowiTZ.  Textgesch.  d.  gr.  Lyr.  58.  aufgeführten  vermeintlichen  Anklänge  helle- 

L.   JoiiANNssEN.   Studia   Theognidea,    Berlin  nistischer   Dichter    au   Theognis    sind    ganz 

1893.    Äußerst  konservativ  sind  T.W.  .-^LLEN.  belanglos  und  somit  auch  der  Schluß  daraus, 

Cla.ss.  Rev.  19,  1905,  386  ff.  u.  E.  Haukison.  daß  das  Buch  vor  dem  3  Jahrhundeii  fertig 

iStudies  in   J'heognis,  Cambridge  1902.  '   geworden  sei,  hinfällig.   Tief  in  hellenistische 

*•')    Rücksichten    auf    Erziehungszwecke  i   Zeit  weist  z.  B.  der  Gebrauch  von  vjitiyto  = 

liegen   aber   schon  in  der  Aussonderung  der  weggehen  V.  921:   der  des  Inf.  fut  in  aori- 

päderastischen    Verse   des  2.  Buches    zutag.  stischeni  Sinn  1101. 

Die  Fordeiung  ethisch-pädagogisch  normieiler  ^)    Die    Angabe    dc^    Ath.  632  d,     dafi 

Dichteranthologien  ist  von  Isokrates  (Nicocl.  44  Theognis    keine  Melodien   für  seine  Elegien 

m  (Y  n  r/,-  yy./J^tif  uhr  nuoyyöyron'  .Toir/To)r  gedichtet  habe.   i.*<t  der  Übung  der  späteren 

z(u  xtdoritn'ac  yvotfia^)  und  von  Piaton  leg.  Zeit  entnommen,  und  ebenso  ist  die  Bemer^ 

800  äff.    811dff.     ausgesprochen     (vgl.    die  kung   tu  .nirrti  Kiixof.:   bei    Suid.  s.  ßeoyrtf 

Prinzipien    des    Aristoteles    pol.  1336b  6  ff .  ;   zu  verstehen;  auch  Xenoph.  bei  Stob.  flor. 88, 

1340 a  35  ff.).   Siehe  a.  G.  Einsler.  Piaton  u.  14  redet  inmier  von  /'.ti/  des  Th.,  meint  aber 

die  aristotelische  Poetik  170  f.  ,   die  Elegien.     Th.  V.  23   spricht  selbst   von 

•)  Xenoph.   bei   Stob.  lior.  88,  14;    Plat.  seinen  /T.t/;. 


B.  Lyrik.    L  Monodische.    1.  Die  Elegie.    (§§  106—107.)  173 

menides  gedichtet,  neben  denen  auch  die  epigrammatischen  Spnichverse 
des  Peisistratiden  Hipparchos  auf  den  von  ihm  an  den  Landstraßen  ge- 
setzten Hermen  (Ps.Plat.  Hipparch.228c)  zu  erwähnen  sind.  In  der  attischen 
Periode,  nach  den  Perserkriegen  fand  das  Epigramm  und  die  Elegie, 
namentlich  die  sympotische,  eifrige  Pflege, 0  so  daß  fast  alle  großen 
Dichter,  wie  Simonides,  Aischylos,  Ion,  Antimachos,  überdies  Piaton  und 
Aristoteles  nebenbei  auch  Elegien  dichteten.  Im  besonderen  als  Elegiker 
machten  sich  einen  Namen:  Dionysios,  der  von  dem  Vorschlag,  kupferne 
Münzen  statt  silberner  zu  schlagen,  den  Beinamen  Chalkus  erhalten  hatte 
und  in  einigen  seiner  Elegien  die  Abgeschmacktheit  beging,  den  Penta- 
meter dem  Hexameter  vorauszuschicken;*)  Buenos  aus  Paros,*)  ein  Zeit- 
genosse des  Sokrates,  den  Piaton  und  Aristoteles  öfter  nennen  und  von 
dem  einige  Sprüche  in  die  Theognissammlung  und  die  späteren  Anthologien 
aufgenommen  worden  sind;  der  entartete  Schüler  des  Sokrates,  Kritias, 
bei  dem  Verfassungsumsturz  des  Jahres  403  Führer  der  dreißig  Tyrannen, 
einer  der  bezeichnendsten  Vertreter  der  sophistischen  Übermenschenmoral, 
der  außer  sophistischen  Reden,  politischen  Schriften  und  Tragödien  auch 
Elegien  schrieb,  darunter  eine  über  das  sophistische  Thema  von  den  Er- 
findungen und  eine  andere  {jiohrelai  eju/^iergoi)  über  die  Sitten  und  Einrich- 
tungen verschiedener  Völkerschaften.-*)  Aus  einer  delphischen  Inschrift^) 
kennen  wir  .den  Samier  Ion,  der  nach  dem  Sieg  von  404  das  unbedeutende 
ileyelov  auf  die  Lysanderstatue  in  Delphoi  machte.  Einer  jüngeren  Periode 
gehören  die  Scherze  (jiaiyvia)  des  Philosophen  Krates  aus  Theben  an, 
der  ein  Schüler  des  Kynikers  Diogenes  war  und  teils  in  elegisch  geformten 
Hymnen,  teils  in  parodischen  Dichtungen  das  zynische  Lebensideal  ver- 
herrlichte.*) 

107.  Die  kürzeste  Zuspitzung  der  gnomischen  Elegie,  das  distichische 
Epigramm  sehen  wir  in  der  Litteratur  (Archilochos,  Sappho,  Anakreon) 
wie  auf  den  Steinen  seit  dem  7.  Jahrhundert  gepflegt.    Die  Steinepigramme 


')  Auf  elegische  Erotika  bezieht  sich  1  Homer  und  Archilochos  handelte  er  in  pro- 
wahrscheinlich  Plat.  Lys.  204d.  Eimon  b'eß  \  saischen  Schriften,  ebenso  über  Staatsverfas- 
sich mit  Elegien  ansingen  von  Melanthios  ;  sungen  {jtohjFtai),  weiter  gab  es  von  ihm 
und  dem  Philosophen  Archelaos  Flut.  Cim.  4.  prosaische  atfOQio/toi,  ofu'/Jai  (popularphilo- 
')  Plut.  Nie.  5;  Ath.  699 d.  ,  sophische  Erörterungen)  und  jr^tooiuia  d/;/o;- 
•)  Der  armenische  Hieronym.  merkt  die  yoQixdf  diese  interessant  als  frühestes  Bei- 
dxfiii  des  Enenos  ad  ann.  Abr.  1560  {^=  460)  '  spiel  einer  Schablonensammlung  für  die  Gat- 
an;  damit  ist  aber  wohl  das  Geburtsjahr  ge-  tung  der  beratenden  Rede.  Zur  Zeit  der  Neu- 
meint.  Über  die  Frage,  ob  zwei  Dichter  I  sophistik  erlebte  seine  Prosa  eine  Renaissance 
dieses  Namens  zu  unterscheiden  seien,  wie  (Aristid.  rhet.  p.  517,  20;  530.  13Sp.;  Heimog. 
unseres  Wissens  zuerst  Eratosthenes  (Har-  de  id.  p.  415  f.  Sp.  Philostrat.  vit  soph.  p.  18. 
pocT.  8.  ▼.  Evtjrog)  tut,  während  Piaton  und  27.  72,  7  ff.  K.).  Die  Reste  bei  C.  Müller, 
Aristoteles  immer  nur  von  einem  reden,  s.  FHG.  11  68—71;  H.  Diels.  Fragm.  der  Vor- 


Bbbok.  PLG.  II*  271  ff;  Reitzenstein,  Epigr. 
und  Skol.  57  f.  A.  2.  Mit  Recht  identifiziert 
man  (G.  Kkaaok,  Berl.  phil.  W.schr.  15, 1895, 
1126)  den  Sophisten  mit  dem  Erotik  er;  über 
seine    von    Plat.  Phaedr.   267  a    erwähnten 


sokr.^  562—577.     W.  Nestle,  N   Jahrbb.  f. 
klass.  Altert.  11  (1903)  81  flf.,  178  ff. 

'^j  Berl.  philol.  W.schr.  22  (1902)  734  ff 
H.  PoMTOW,  Ath.  Mitt.  31  (1906)507  möchte 
ihm   auch   das   inschriftliche  Epigramm   auf 


rfaetorischen    Leistungen    s.    F.  Blass,   Att.  Arakos  und  das  Diod.  XI  14  namenlos    er- 

Bereds.  P,  Leipzig  1887.  262.  haltene  zuschreiben. 

*)   In    einem    hexametrischen    Gedicht  >           ^)  H.  Diels.  Poetar.  philosophor.  fragm. 

(fr.  7)  preist  er  den  Anakreon ;   auch  über  |   207  ff. 


174  Griechische  Litteraturgeechichte.    I.  EUsBisehe  Periode. 

(Grab-  und  Weihinschriften)  sind  zum  Teil  von  Lokaldichtem  (Schul- 
meistern?) und  technisch  minderwertig;  neben  der  elegischen  Form  zeigen 
sie  auch  die  in  stichischen  daktylischen  Hexametern,  seltener  in  iambischen 
Trimetem  (das  frühste  Grabepigramm  in  einem  iambischen  Trimeter  aus 
dem  6.  Jahrhundert  CIA  I  475).  >)  Geistreiche  Pointen  findet  man  in  den 
älteren  Epigrammen  nicht;  der  Ehrgeiz  des  Dichters  ist  lediglich  darauf 
gerichtet,  das  Sachliche  möglichst  knapp  und  dabei  klar  und  vollständig 
auszudrücken. 

2.  Die  iambische  Poesie  und  die  Fabel. 

108.  Die  iambische  Poesie  (i;  tmv  lnfißonou7)v  jioitjöi^)  hat  ihren  Namen 
von  dem  iambischen  Rhythmus.  Dieser  Tanzrhythmus,  den  wir  bereits  in 
den  Melodien  des  Terpandros  vertreten  fanden,  hat  etwas  Erregtes,  Un- 
ruhiges, das  schon  in  der  rascheren  Aufeinanderfolge  der  Hebungen  in  den 
paarweise  zu  Sechsachteltakten  zusammengenommenen  Dreiachtelrhythmen*) 
( ^  -  oder  -  ^ )  gelegen  war,  noch  mehr  aber  durch  den  Beginn  iam- 
bischer  Reihen  mit  der  Senkung  zum  Ausdruck  kam.  Dadurch  entfernte 
sich  die  iambische  Poesie  von  der  Feierlichkeit  daktylischer  Hymnen  und 
näherte  sich  dem  raschen  Ton  der  Umgangssprache.')  Wie  aber  überall 
in  der  griechischen  Litteratur,  so  hatte  auch  hier  die  Eigenartigkeit  der 
metrischen  Form  einen  ähnlichen  Inhalt  hinter  sich:  aus  derf  iambischen 
Versen  tönte  nicht  der  erhabene  Ernst  der  heroischen  Vorzeit,  sondern 
der  Streit  des  gegenwärtigen  Alltagslebens  und  der  Lärm  des  Marktes,  in 
ihnen  kommt  die  erregte  Persönlichkeit  mit  ihren  Wünschen  und  Sorgen, 
ihrem  Hau  und  ihrer  Liebe,  ihrer  Lust  und  ihrem  Leid  zum  Wort.  Wohl 
kam  dieser  Rhythmus  auch  bei  gottesdienstlichen  Festen  vor,  aber  nicht 
in  Hymnen  auf  Zeus  und  ApoUon,  sondern  in  der  ausgelassenen  Festfeier 
der  Bauerngottheiton,  des  Bakclios  und  der  Demeter.*)  Der  Kult  dieser 
Götter  war  bei  den  loniern  in  Naxos,  Paros  und  Attika  zu  Haus; 
dorn  ionischen  Stamm  gehörte  auch  recht  eigentlich  die  iambische  Poesie 
an.     Im  ionischen  Kleinasien   ist  sie  zuerst  litterarisch  kultiviert  worden, 


M  Die  bei  »Schriftstellern  erhaltenen  in-  ,    (  w   _   ^^   »    oder   —  ^  —  ^  )•      I^*^^   diese 

schrifüichcn  Epigramme  sammelt  Tu.  rKKGER,  ;    Rhythmen  immer  dii^disch.  also  sechszeitig 

Inacriptiones  <  Jraecae  metricae  ex  scriptonb.  |   gcniessen  wurden,   zeigt   sich  in  der  techni- 

praeter   anthologiam   collcctae,   Leipz.  1801;  »sehen  Behandlung,  wonach  immer  die  Äußere 

die  auf  8tein  erhaltenen  (;.  Kaibel,  Kpigram-  1    Senkung   der   Dipodie   kurz   oder  lang,    die 

mata  Graeca   ex  lapidibua  collecta  «in  toiK)-  I   j^^^,^  ^^er  nur  kurz  sein  kann  (  ^  -  v.   « 

graphischer  Ordnung),  nerlm  1878,  mit  Nach-  j                      \ 

trag   Rh.  Muh.  34(18710  181  ff.    Die  ältesten  ^^    -  ^  _   -  j. 

metrischen    Epigramme   aus   Inschriften   bis  ,            *)  Der  lambus  ist  das  uhgov  lexuxu»- 

Mitte  des  3.  Jahrh.  V.  Chr.  stellt  praktisch  zu-  |    ]nTov   Aristot.   poöt.   1449a  23;   rhet  1408b 

saminon  E.  Hoffmann,  Sylloge  epigrammatum  33  ff. :  C^uint.  inst.  or.  IX  4,  88.    Cic.  er.  189 

Graecor.  quae   ante   medium   saocul.  a.  Chr.  ■   (senarios   et  Hipponacteos   eflfugere   vix  pos- 

n.  III.    incisa    ad    nos    pervenerunt,    Halle  i   sumus). 

1898.  *)   Vgl.   Aristoph.  ran.  384—444.     Die 

*)  Der  Dreiachtelrhythmus  für  sich  allein  Fabel  machte   die  Dienerin   lambe,   die   mit 

gehört   zum   yhiK   Mn?Mntoy    (Senkung  :  He-  ihren  Spässen  die  um  ihre  Tochter  trauernde 

bung  =  1:2);  sind  aber,  was  durchaus  die  i   Demeter  zum  Lachen  brachte,  zur  Erfinderin 

Regel,   die   Dreiachtelrhythmen  gepaart,    so  l   des   lambus;   s.  ProcI.  ehrest,  p.  242,  28  W. 

entsteht   ein   durch   2   ohne  Bruch   teilbarer  Siehe  auch  Wilamowitz,  Commentarioi.  metr. 

Takt,  ein  d(b<trXng  xaia  i'aftßoy  von  6  Zeiten  .   II,  Göttingen  1895,  31  f. 


B.  Lyrik.  L  Monodische.  2.  Die  iambisohe  Poesie  and  die  Fabel.  (§§  108—109.)     175 


natürlich  auf  Grund  volkstümlicher  Versifikation,  und  in  dem  stammver- 
wandten Attika  hat  sich  aus  ihr  die  reichste  Blüte  der  Poesie,  die  Komödie 
und  Tragödie,  entwickelt.  Ihre  litterarischen  Anfänge  fallen  fast  gleich- 
zeitig mit  dem  ersten  Auftauchen  der  Elegie,  die  vermöge  ihrer  würde- 
volleren Haltung  und  schwierigeren  Technik  immer  die  vornehmere  Gattung 
geblieben  ist;  die  Volkstümlichkeit  der  iambischen  Dichtung  ist  durch  sie 
aber  in  keiner  Weise  beeinträchtigt  worden;  sieht  man  doch  an  den  byzan- 
tinischen Versus  politici,  die  noch  heute  in  der  Volksdichtung  der  Balkan- 
völker vorherrschen,*)  wie  viel  größer  die  Lebenskraft  des  lambus  war  als 
die  des  künstlicheren  Daktylus.  In  den  Kanon  der  Alexandriner  erhielten 
nur  drei  lambographen  Aufnahme:  Archilochos,  Semonides,  Hipponax.^) 

109,  Die  lambendichtung  mit  ihrem  verstandesmäßig-kritischen,  zu- 
gleich zornmütig  erregbaren  Geist  ist  ganz  Schöpfung  des  iom'schen  Stammes 
und  seiner  Anlage  entsprechend.^)  Ihr  Gründer  ist  Archilochos  aus 
Faros,*)  jüngerer  Zeitgenosse  des  Kallinos;  er  blühte  um  650,*)  jedenfalls 
nicht  vor  dem  Lyderkönig  Gyges  (687 — 652),  dessen  Reichtum  er  in  dem 
mimischen  Vers  (fr.  25)  ov  juoi  rd  Fvyeo)  roü  noXvxQvoov  /LtiXei  den  redend 
eingeführten  Zimmermann  Charon  verachten  läßt.  Sein  Vorfahr  Telesikles 
(Steph.  Byz.  s.  v.  Odoog),  mit  Kosenamen  Tellis  genannt,  hatte  von  Faros 
eine  Kolonie  nach  der  Insel  Thasos  geführt;  diesen  Tellis  brachte  der  Maler 
Polygnotos,  der  selbst  aus  Thasos  stammte,  in  der  Unterweltszene  neben 
Kleoboia,  der  Stifterin  des  Demeterkultus  von  Thasos,«)  an  (Faus.  X  28,  3, 
nach  dem  T.  der  Urgroßvater  des  Archilochos  gewesen  wäre).  Dem  Archi- 
lochos selbst  war  ein  wechselvolles,  an  Kämpfen  und  Drangsalen  reiches 
Leben  beschieden.  In  einem  Distichon  (fr.  1)  drückt  er  schön  seine  doppelte 
Stellung  mit  Leyer  und  Schwert  aus: 

eijul  d'  iyü)  ^egoTicoy  juev  ^EvvaUoio  ävaxrog 
xal  Movaeov  igarov  dcbgov  ijtiordjueyog. 
Aus  Not  verließ  er  seine  Heimat  Faros  und  brachte  seine  Jugendjahre  auf 


')  K.  DiBTERioH,  Zeitschr.  des  Vereins 
f.  Volkskimde  12  (1902)  409. 

*)  O.  Kböhnebt,  Canonesne  po6taram 
1897  p.  21. 

»)  Heraclid.  Pont.  fr.  84  Voss  (=  Ath. 
625b)  to  xci>v  MiXrjoio)v  fj&og,  o  diaqpaivovaiv 
ol  'Icavgg,  ijii  zätg  zcov  ooy^idxoyv  eve^iaig  ßgev- 
&v6fi€voi  xai  &VIXOV  jrh'iQsig,  dvoxaToXkaxxoi , 
qjiXoretxoi,  oifSkv  (piXdvßQwnov  oi'd'  iXagm'  er- 
Siddytss,  dazogyiav  de  xal  oxXrjooirjTa  iv  roTg 
ijdetHv  ifttpavtCovTf-g. 

*)  Ü.  Bahittjb,  Qoaestiones  Archilocheae, 
Dis8.  Gott.  1900. 

»)  Die  SteUe  bei  Herodot  I  12  (7^;^) 
rot?  xcu  'AgxtXoxog  6  Jldgiog  xaid  rov  avxov 
XQOVor  yev6fi£vog  iv  tdiußfo  toiftiroio  EJZFfjvrja&fj 
iBt  der  Unechtheit  verdächtig.  Th.  y.  Oppolzeb, 
Sitz.ber.  der  Wien.  Akad.  1882  math.-naturw. 
Klasse  790  ff.  S.  1  hat  die  von  Archilochos  fr.  76 
geechilderte  Sonnenfinsternis  auf  648  v.  Chr. 
berechnet  and  damit  den  einzigen  völlig  sicheren 
Punkt  fixiert  Die  Alten  halten  sich  an  zwei 
achwankende  Sjnchronismen,  den  mit  Gyges 


(s.  o.  S.  161,  3)  und  mit  der  Kolonisation  von 
Thasos  (Ol.  16  oder  18),  und  kommen  dadurch 
mit  A.  zu  weit  hinauf  (Mai-m.Par.  33  setzt  die 
Blüte  681);  nur  Eusebios  (665)  und  Apollodo- 
ros  (dem  Cornelius  Nepos  bei  Gell.  XVII 21,  8 
zu  folgen  scheint:  unter  Tullus  Hostilius  670 
bis  638)  gehen,  unsicher  aus  welchen  Gründen, 
weiter  herunter.  Auch  die  alt«n  Orientierungs- 
versuche nach  Terpandros  oder  Kallinos  be- 
ruhen auf  unsicheren  Vermutungen.  Vgl. 
H.  Gelzer,  Zeitalter  des  Gyges,  Rh.  M.  35 
(1880)  514  ff.;  E.  Rohde,  Kl.  Sehr.  I  94;  G. 
BüsoLT,  Griech.  Gesch.  P  459;  II «  459  f., 
F.  Jacoby,  Apollodors  Chronik,  p.  142  ff. 
Bei  Suidas  ist  der  aus  Hesychios  Milesios 
stammende  Artikel  Archilochos  ausgefallen. 
Neue  Nachrichten  über  Archilochos  bietet 
eine  Inschrift  aus  Paros,  in  die  Verse  des 
Archilochos  eingelegt  sind,  worüber  F.  Hillbr 
VON  Gäbtrinoan,  Ath.  Mitt.  25  (1900)  1  ff. 

^)  Die  Zusammenrückung  beruht  wohl 
auf  dem  lafißiC^tv,  dessen  Nährboden  der 
Demeterkultus  war. 


176 


GriechiBche  Litteratnrgeschiohte.    L  ElassiBohe  Periode« 


der  rauhen  und  unwirtlichen  Insel  Thasos  zu,i)  auf  der  ihm  aUer  Jammer 
Griechenlands  zusammengeflossen  zu  sein  schien  (fr.  52).  In  den  Kämpfen 
gegen  die  thrakischen  Saier  verlor  er  seinen  Schild,  über  welchen  Verlust 
er  sich  leichten  Sinnes  hinwegsetzte,  da  er  das  Leben  gerettet  habe  und 
einen  anderen  Schild  leicht  erwerben  könne.')  Zu  Hause  in  Thasos  und 
Faros  erlebte  er  manche  Kränkung  und  Zurücksetzung:  ein  parischer 
Bürger  Lykambes  hatte  ihm  seine  jüngere  Tochter  Neobule  verlobt,  dann 
aber  ihre  Hand  einem  anderen  gegeben,  wofür  sich  der  Dichter  in  beißen- 
den lamben  an  seinem  vordem  erhofften  Schwiegervater  und  dessen  ganzer 
Sippe  rächte.^)  Dann  führte  er  als  Kriegsknecht  ein  abenteuerliches  Leben^) 
und  fand  schließlich  in  einem  Krieg  mit  Naxos  den  Tod.*) 

Als  Dichter  wiesen  die  Alten  dem  Archilochos  die  nächste  Stelle  nach 
Homer  als  einem  Antipoden  des  Epikers  an:  wie  jener  das  Epos  geschaffen 
und  gleich  auch  zur  Vollendung  gebracht,  so  er  die  Poesie  der  subjektiven 
Empfindung  und  des  beißenden  Spottes.  0)  Als  ein  Hauptverdienst  rechneten 
sie  ihm  die  Erfindung  neuer  metrischer  Formen  an:^)  außer  Elegien  dichtete 
er  iambische  Trimeter  und  trochäische  Tetrametcr;**)  aber  auch  die  Ver^ 
bindung  von  Versen  verschiedener  Länge,  eines  iambischen  Trimeters  und 
iambisehen  Dimetors  und  von  Versen  verschiedener  Art,  des  gleichen  und 
ungleichen  Uhythmengeschleehtes.  zu  einer  Periode  brachte  er  in  seinen 
Epoden  und  Asynarteten  auf  und  wurde  so  Begründer  der  volkstümlich 
lyrischen  Formen  der  griechischen  Litteratur.^)    Auch  eine  neue  melodram- 


*)  Älian  V.  h.  X  13  referiert  aus  dem 
Elegiker  Kritias,  daß  Archilochos  selbst  be- 
zeuge, ÖTt  xtirn'fA.-twy  Ilaijor  diu  nyriar  xai 
fjt.TooiVir  ij/Jhr  /c  Hdnof.  Auf  Reine  aunyiiria 
geht  Pindar  V.  2,  54.  der  ihn  als  Aristokrat 
ebenso  haßt  wie  Kritias  (fr.  148  Bgk.)  und 
Herakleitos  (fr.  42  Dikls). 

*)  Fr.  6,  nachgeahmt  von  Alkaios  nach 
Hcrod.  V  95.  Anakreon  fr.  28  und  Horaz  od. 
II  7,  10. 

»)  Fr.  27  u.  34.  worauf  Horaz  epist.  1  19, 
25;  epod.  G.  13  anspielt. 

■*)  Fr.  23:  xai  r^/)  ^.TixovofK  otOTf  Katj 
y.t'xh'ionuat.  Seine  Teilnahme  an  den  Kämpfen 
um  das  lelantische  Feld  i.st  aus  fr.  4  nicht 
ersichtlich. 

^)  Heracl.  Pont,  in  C.  Müllers  FH(4.  II 
210.  Den  Naxier  Kalondas  wies  die  del- 
phische Pytliia  mit  den  Worten  ab:  Muroninr 
ihim.im'Tfi  y.njhxrarFg'  i^iOi  rfjor.  So  »Suidas  U. 
Uif/iA.  nach  Älian;  nach  l)emeas  auf  der 
Inschrift  Mitt.  des  ath.  Inst.  25  (1900:  19  be- 
richtete A.  selbst  von  einem  Sieg  der  Parier 
über  die  Naxier;  die  Verehrung,  die  er  trotz 
seiner  /l/.noff  t/uai  in  Paros  genoß,  bezeugt 
Arist.  rhet.  1398b  10,  vielleicht  nach  dem 
Museion  des  Alkidama.s. 

**)  Cic.  or.  4  nennt  ihn  neben  Homer, 
{>ophokles  und  Pindar;  Velleius  I  5:  ficque 
tjuenujuam  aliiim.  rulus  operi» primuH  fuerit 
aucfory  hl  eo  perfecthsimum  praeter  llome- 
rum  et  ArchUochum  rejieriemus.  Schon  Hcra- 


k leides  Pont,  hatte  nach  Diog.  V  87  rrfoi 
\UjXt/,ö/nr  xiu  'Ou/jnor  geschrieben.  Beide 
sind  zusammengestellt  von  Antipatros  Anth. 
XI  20  und  Dio  Chrys.  33,  11.  53,  1;  vereint 
stellte  sie  die  Kunst  dar.  wie  diu  Doppel- 
heime  des  Vatikan;  der  gestrenge,  bärtige 
Kopf  mit  einem  bitteren  Zug  in  den  Mand- 
winkeln  bei  E.  Cj.  Vi.scokti.  Icon.  gr..  Mailand 
1824—26,  pl.  2, 6  und  A.  Bauxeisteb,  Denkm. 
d.  klass.  Altei-t.  p.  116. 

^)  Den  alten  Metrik  ern  ist  A.  im  Ge- 
biet der  Versmaße  der  eigentlich  erfinde- 
rische Kopf:  s.  Mar.  Victorin.  p.  140,  10  ff. 
148.  17  ff.  Keil,  in  dessen  Quelle  ein  beson- 
deres Kapitel  (iber  die  Variationskunst  des 
A.  gestanden  hat  (W.  Christ,  Sitz.ber.  der 
Münch.  Ak.  186«.  I.  29). 

*•)  Interessant  ist  ein  uraltes  Exemplar 
eines  trochäischen  Tetrameters  auf  emer 
parischen  Bustrophedoninschrift,  hergestellt 
von  F.  Htllku  v.  Gärtrinoek,  Jahresh.  des 
östeiT.  arch.  Inst.  5  (1902)  9  f. 

")  Theocrit.  epigi-.  21  WiL. 
;)    nu    itty   ui  MoToni  xai  6  Adhcu;  »y;'djr«i' 

'A.tdkÄoyv 
w^  ttiuh'/.rjc   r*  yyn'FTO  xij,ttAf.^iOs 
y.Tfd   Th  .TfurTy  .Toöc  /.rnnv  t*  dfiöeir. 
Die    metrische    Analyse    von    Archilochos' 
Asynarteten    der  Foim   ^Koaofjoridff  Xagilfu, 
yoi]fm  Tot   yh/MTor    stand    im  Altertum  nicht 
ganz   fest:   Hephaestion  p.  49.  10  ff.  Coxsbb. 


B,  Lyrik.    I.  Monodische.    2.  Die  iambiBche  Poesde  und  die  Fabel.    (§  109.)     177 


artige  Vortragsweise,  die  Parakataloge,  die  zwischen  dem  vollen  Gesang 
und  der  einfachen  Rezitation  die  Mitte  hielt,  soll  er  erfunden  haben,  indem 
er  halb  singend  und  halb  sprechend  sich  nur  an  den  Hauptstellen  durch  ein 
begleitendes  Instrument,  den  Klepsiambos,  im  Vortrag  unterstützte.*)  Aber 
der  Reichtum  und  die  Vollendung  der  metrischen  Form  war  es  nicht  allein, 
was  dem  Archilochos  eine  so  hervorragende  Stelle  in  der  griechischen 
Litteratur  verschaffte;  er  war  auch  ein  echter  Dichter,  voll  Glut  der  Leiden- 
schaft und  Klarheit  des  Blickes,  der  mit  den  Spottiamben  sich  energisch 
gegen  die  Unbill  und  Gemeinheit  seiner  Feinde  zur  Wehr  setzte,*)  daneben 
aber  auch  in  lieblichen  Bildern  seine  Geliebte  und  in  Hymnen  das  Lob  der 
Götter  und  den  Preis  gymnischer  Siege^)  sang  (fr.  7.  13).  Für  den  Stil 
des  Spott-  und  Rügeliedes  fand  Archilochos  Vorarbeit  in  Hesiods  ^Eoya^ 
und  es  ist  bezeichnend,  daß  er  ebenso  wie  Hesiod  die  Fabel^)  zu  satirisch- 
paränetischen  Zwecken  öfter  (fr.  86 — 91)  verwendet.  Aber  sein  Ton  wie 
sein  Rhythmus  drückt  nicht  die  Resignation  der  duldenden  Unschuld,  son- 
dern das  heiße  und  rachsüchtige  Bestreben  aus,  den  verhaßten  Gegner  zu 
vernichten.  So  sehr  er  in  Dialekt,  metrischer  Technik*^)  und  Phraseologie 
unter  dem  Einfluß  des  homerischen  Stils  steht,  so  zeigt  sich  doch  der 
kühne  Neuerer  auch  in  diesen  Stücken  durch  die  Zulassung  einer  Menge 
derber  Provinzialismen  und  Vulgarismen,  von  denen  sich  der  heroische  Stil 
ängstlich  fernhielt.  Leider  sind  von  einem  im  Altertum  so  hochgefeierten 
Dichter,  der  schon  auf  die  lesbische  Monodie  anregend  wirkte  (Hör.  ep.  I 
19,  28),  von  Aischylos  gelesen  war,«)  der  altattischen  Komödie')  und  später 
in  Rom  dem  Horaz  zum  Vorbild  diente,  nur  spärliche  Bruchstücke  auf  uns 
gekommen,  die  übrigens  neuerdings  durch  Papyri®)  und  Inschriften^)  wert- 


*)  Plut  de  mu8. 28 ;  Ps. Aristot.  probl.  19, 6 ; 
Ath.  636  b.  Über  den  Vortrag  der  Verse  des 
Archüocbos  durch  Rhapsoden  s.  Heraclit. 
fr,  42  DiKLs;  Plat.  Ion  p.  531a;  Clearch.  bei 
Ath.  620  c.  Daß  er  daneben  auch  Gedichte 
zur  Flöte  dichtete,  sagt  er  selbst  fr.  76.  123;  1 
selbstverständlich  ist  diese  Begleitung  für  | 
seine  Gedichte  in  elegischer  Form. 

')  Quintil.  X  I  60  rühmt  an  Archilochos: 
cum  validae  tum  breves  vihrantesque  senten- 
tiae,  plurimum  sanguinis  atque  nervorum^ 
€uieo  ut  videatur  guihusdamf  quod  quoguam 
minor  est,  materiae  esse,  non  ingenii  Vitium, 

')  In  dem  iambischen  Gedicht  auf  die 
Siege  des  Herakles  und  seines  Wagenlenkers 
lolaos,  das  noch  in  Pindars  Zeit  den  Siegern 
zu  Ehren  in  Olympia  gesungen  wurde,  s.  Find. 
0. 9, 1,  Schol.  Find.  Nem.  l^,  1 ;  Schol.  Ar.  av. 
1764  und  L.  ▼.  Sybhl,  Herrn.  5  (1871)  192  ff.   ! 

*)  fr.86u.88;  vgl.  Julian  or.VIIp.207.   : 

•)    Starken    Einfluß    von     Archilochos'   i 
metrischer  Technik   auf  die  alexandrinische 
Poesie   sucht  H.  Dettiier,    De  arte  metrica   1 
Archilochi    quaestiones,   Marb.   1900,    nach-   | 
zuweisen.  Die  Positio  debilis  wird  fast  immer 
bei  A.  beobachtet.  i 

•)  A.  V.  Mbss,  Rh.  Mus.  58  (1903)  285  f. 

')    Kratinoe    schrieb   'Agz^'^oxot,    Alexis   ! 


HAndbneh  der  Umb.  AltertnmswiMenBchaft    YII.    5.  Anfl, 


einen  ^Agx^Xoxog,  Aristophanes  entlehnte  ihm 
die  schönsten  Versmaße ;  Aristokraten  freilich 
wie  Findar  oder  Herakleitos  (s.  o.  S.  176) 
hassen  die  in  ihm  verkörperte  schmählende 
Armut,  und  in  Sparta  waren  seine  Gedichte  ver- 
pönt (Plut.  inst.  Lac.  34;  Val.  Max.VI  3  ext.  1). 

®)  Zwei  neue  Epodenfragmente,  worunter 
das  Vorbild  zu  Hör.  epod.  10,  aus  Straßburger 
Papyri  des  2.  Jahrb.  n.  Chr.  herausgegeben 
von  R.  Reitzenstbin,  Sitz.ber.  der  Berl.  Ak. 
1899,  857  flf.  Sie  sind  gegen  die  Zweifel  von 
F.  BLASS  (Rh.  Mus.  55,  1900,  342)  dem  Arch. 
mit  Recht  vindiziert  von  F.  Leo,  De  Horatio  et 
Archilocho,  Gott.  1900  und  A.Hauvettb,  Rev. 
des  6t.  Grecques  14  (1901)  71  ff.  Siehe  auch  W. 
Crönert,  Arch.  f.  Papyrusforsch.  1(1901)  509. 

®)  Von  einer  Schrift  des  parischen  Gram- 
matikers Demeas  über  Arch.  hat  F.  Hiller 
V.  Gärtrikobn  (Mitt.  d.  ath.  Inst.  25,  1900, 1  ff.) 
auf  einer  parischen  Inschrift  des  3.  Jahrb. 
n.  Chr.  einen  Auszug  gefunden,  der  auch 
Stücke  archilochischer  Gedichte  enthält.  In 
manchen  Kreisen  mag  dem  Arch.  die  Ab- 
neigung des  Aristoteles  und  Kallimachos  gegen 
die  persönlich-aggressive  Art  der  archilochi- 
schen  Satire  (H.  Reich,  Der  Mimus  I,  Berlin 
1903,  324  ff.)  geschadet  haben.  Ein  großer 
Verehrer  des  Archilochos  war  übrigens  Aristo- 

12 


178  Griechische  Litteraturgesohiohte.    L  KlamriBoha  Periode. 

volle  Vermehrung  erhalten  haben.  Gelesen  ¥rurde  er  noch  in  den  Schulen 
des  6.  Jahrhunderts  n.  Chr.  (Ghoric.  apol.  mim.  VI  10).  SchoL  Aristid. 
p.  429,  18  Dind.  hat  ihn  nicht  mehr. 

110.  SemonidesO  stammt  aus  Samos,  wird  aber  der  Amorginer  ge- 
nannt von  der  kleinen  Insel  Amorgos,  nach  der  er  selbst  von  Samos  aus 
eine  Kolonie  führte  und  auf  der  er  sich  (in  Minoa  nach  Steph.  Byz.  u. 
'Auooyog)  niederlieia.  Seine  Zeit  ist  nicht  näher  bestimmbar.*)  Nach  Suidas 
hatten  die  Alten  von  ihm  Elegien,  eine  „Geschichte  von  Samos'  (doxato- 
koyin  T(bv  2!a/aa)v)  und  zwei  Bücher  lamben.  Nur  von  letzteren  sind  noch 
Reste  vorhanden,  nämlich  außer  losgerissenen  Kleinigkeiten  bei  Stobaios 
ein  pessimistisches  Gedicht  in  der  Stimmung  der  hesiodischen  'TJgya  auf 
das  schlimme  Los  der  Menschen  und  ein  großes  Spottgedicht  auf  die 
Weiber.  3)  In  diesem  führt  er  den  auch  bei  Hesiod  (an  Op.  702  schließt 
sich  Semon.  fr.  6:  ywaixdc:  ovdh  XQ^IJ^'  drrjg  XrjtCetcu  \  io&irjg  äfietvov  oidk 
Qiyiov  xaxi]s)  behandelten  Gemeinplatz*)  von  der  Schlechtigkeit  der  Weiber 
näher  aus,  indem  er  die  Weiber,  analog  einem  in  der  späteren  Physiognomik 
durchgeführten  Prinzip,  nach  Tiertypen  einteilt  in  solche,  die  vom  Schwein, 
Fuchs,  Hund,  der  Erde,  dem  Meer,  dem  Esel,  Wiesel,  Pferd,  Affen  stammen 
und  nur  die  von  der  Biene  herkommenden  in  Ehren  bestehen  läßt.^)  Im 
ganzen  sind  die  größeren  erhaltenen  Stücke  der  lamben  weit  zahmer, 
beschaulicher  und  unpersönlicher  als  die  des  Archilochos.^)  Doch  hatten 
die  Alten  auch  giftigere  Verse  von  ihm,  in  denen  er  einen  gewissen  Oro- 
doikides  angriff.  7)  In  der  prosodischen  Technik  folgt  Semonides  noch 
mehr  als  Archilochos  dem  alten  Epos,  im  Dialekt  ist  er  modemer,  bezw. 
realistisch-volkstümhcher  als  Archilochos.®) 

111.  Noch  viel  tiefer  in  die  niederen  Schichten  des  Volkslebens  f&hrt 
Hipponax  von  Ephesos,  der  Sohn  dos  Pythos,  der  zur  Zeit  des  Vor^ 
dringons  der  Perser  nach  der  griechischen  Küste  lebte®)  und  um  542  vor 
dem  unter  persischem  Schutz  in  seiner  Vaterstadt  eingesetzten  Tyrannen 
Athenagoras  nach  Klazomenai  floh,   wo  er  sein  übriges  Leben  in  Dürftig- 

phanes  von  Byzanz  (Cic.  ad  Att.  XVI  11,  2),  i           ')   Die   Fragmente   neu   bearbeitet   von 

und    yoUcs  Verständnis    für   die   Bedeutung  I   0.  Hoffmann,  Griech.  Dial.  II,   GMt  1898, 

solcher  Konfessionenlyrik  zeigt  Synes.  de  in-  I    125 — 135. 

somn.  13.  j           *)  Vgl.  J.  Boltb.   Zeitscbr.  des  Vereiiis 

»)  So   ist  der  Name  zu  sclu-eiben  nach  '   f.  Volkskunde  11  (1901)  252  ff. 

Choerobosc.  im  Etym.  m.  713.  17.  '')  Man  erwartet  in  dem  großen  Gredicbt 

-)  Suidas  setzt  ihn  gleichzeitig  mit  Archi-  von  118  Versen  Gleichheit  der  einzelnen  Ab- 

lochos  490  post  Troica.    Wenn  die  Gründung  schnitte ;  diese  suchten  durch  kühne  Eoinek- 

von  Thasos  Ol.  15  oder  18,  die  von  Amorgos  turen  herzustellen  A.  EiESBLnro  und  0.  niB- 

01.22    angesetzt   wurde,    so    spiegelt   sich  beük.  Rh.  M.  19(1864)  136 ff.  u.  20(1865)74«: 

darin    der   Zeitunterschied    zwischen    Archi-  ^)  o  l^fwnidor  /ta?<o(k  loyoe  bei  AristoL 

lochos  und  Semonides  wieder.  Proklos  ehrest.  met.  p.  1091  a  7   (nach  Alexander  Aphrod.  z. 

p.  243,  10  W.    setzt   den    Archilochos   unter  St.    =   Entschuldigungsreden   von   Sklaven) 

(.Tyges,    den  Semonides   unter  die  Regienmg  wird  einen  Ausdruck  des  Semonides  {jiaxQos 

des  makedonischen  Königs  \iyay/oi\  was  aus  hiyog  —■  Ausrede)  meinen. 

'Aoyaiov    korrumpiert    scheint   und    auf   640  ^)  Luc.  Pseudol.  2. 

bis  010  führt.    Tatsächlich  wußten  die  Alten  »)  A.  FicK,   N.  Jalirbb.  f.  klass.  Altert 

über  seine  Zeit  nichts,   sondern   rückten  ihn  1  (h'S 98)  503  ff.  fordert  für  ihn  den  amorginisch- 

nur  in  die  Nähe  des  Archilochos,  sei  es  vor  naxischen  LokaUlialekt. 

diesen    oder   nach  ihm  (E.  Rohde,  Kl.  Sehr.  ®)  Seine  Zeit  wurde,  wie  es  scheint  (K. 

I  154  A).  Robert  in  der  Realencykl.  II  2042  f.),  Yon 


B.  Lyrik.  I.  Monodische.  2.  Die  iambisohe  Poeeie  und  die  Fabel.  (§§  110—111.)     179 


keit  als  Bettelpoet  (fr.  16 — 19)  verbrachte.  In  seinen  Dichtungen  zeigt 
er  den  Lästerton  des  Archilochos,  nur  daß  er  diesen  durch  das  Pöbelhafte 
seiner  von  der  Gasse  geholten,  auch  mit  phrygischem  und  lydischem  Jargon 
versetzten  Sprache  und  seines  den  iambischen  Trimeter  vulgarisierenden 
und  parodierenden  Hinkverses  noch  übertrumpfte.  Mit  grimmigem  Spott 
verfolgte  er  namentlich  die  Bildhauer  Bupalos  und  Athenis,  die  seine  häß- 
liche Gestalt  karikiert  hatten.  Er  wird  Erfinder  der  Parodie  und  des  Chol- 
iambos  genannt.^)  In  hinkenden  lamben  ist  kein  ganzes  Gedicht  auf  uns 
gekommen,  wohl  aber  haben  wir  einzelne  hinkende  Trimeter  und  Tetra- 
meter, wie  die  famosen  (fr.  29) 

dv'  fifiigai  yvvaixög  eloiv  fjdiorai, 
oxav  yanfj  rig  xäxq?80f]  te&vrjxvXav. 
Man  fühlt  die  Geschicklichkeit  des  Griffes,  mit  der  Brechung  des  Rhythmus 
das  Lahme  und  Häßliche  nachzuahmen.  <)  Übrigens  heißt  auch  hier  Er- 
finden so  viel  als  aus  der  volkstümlichen  Sphäre  in  die  der  Eimstlitteratur 
erheben.  Die  Volkstümlichkeit  der  Skazonten  erkennt  man  noch  in  ihrer 
außerordentlichen  Beliebtheit  bei  den  Byzantinern.  Hipponax*  Satire  fand 
in  alexandrinischer  Zeit  als  zu  direkt  und  plebejisch  (Callimach.  fr.  37  a. 
223  Sehn.;  0.  Schneider,  Callimachea H, Leipz.  1873,  231)  keine  Nachahmung 
mehr,  um  so  mehr  lehnte  sich  der  realistische  Mimus  an  ihn  als  Vorbild  an, 
so  daß  Herondas  seinen  höchsten  Ruhm  darin  findet  (mim.  VIII  77  Crusius) 

devrigf]  'yvibo^ai 
fied^  ^InTKbvaxxa  rdv  ndXai  <xk€ivdv> 
rd  xvXX'  äeideiv  EovMdaig  inatovoiv. 
Erst  in  der  Zeit  nach  Tzetzes,  der  noch  viel  aus  ihm  zitiert,  sind  die  Ge- 
dichte, welche  die  Alexandriner   in   zwei  Bücher  ijafxßoi)  geteilt  hatten, 
verloren  gegangen. 

Aus  der  älteren  lambographie  besitzen  wir  sonst  nur  noch  einige  Verse  von 
Ananios,  dessen  Fischküchenkalender  (in  hinkenden  trochäischen  Trimetern 
fr.  5)  Epicharmos  (fr.  58  Kaibel)  erwähnt  und  der  selbst  des  Pythermos  ge- 
denkt, womit  seine  Zeit  [ß.  Jahrhundert)  bestimmt  ist.  3)  Den  späteren  Jahr- 
hunderten gehören  an:  Hermippos,  ein  Zeitgenosse  des  Perikles,  der  Ko- 
mödien und  lamben  schrieb.  Skythinos  aus  Teos,  der  nach  dem  Philosophen 
Herakleitos  lebte,  der  Kyniker  Kerkidas  aus  Megalopolis,  der  zur  Zeit  des 


den  Alten  richtig  orientiert  nach  den  in 
seinen  Gedichten  angegriffenen  Künstlern 
Bnpalos  und  Athenis,  den  Söhnen  des  Archer- 
mo8  von  Chios,  auf  Ol.  60  (540),  womit  Mann. 
Par.  ep.  42  ühereinstimmt;  s.  Plin.  nat.  hist 
XXXVI 11. 

^)  Die  hinkenden  lamben  haben  nach 
ihm  den  Namen  versus  Hipponactei  erhalten ; 
Erfinder  der  Parodie  nennt  ihn  Polemon  bei 
Athen.  698  b,  indem  er  zugleich  vier  parodi- 
sehe  Hexameter  von  ihm  anführt.  Danach 
ist  die  Angabe  des  Aristot  po6t.  1448  a  12 
zu  berichtigen  (unrichtig  P.  Bbandt,  Corpuscul. 
poös.  ep.  Gr.  ludib.  I,  Leipzig  1888, 31  ff.).  Über 
einen  äytov  mit  Parodien  in  Eretria  berichtet 


eine  Inschrift  'Afhjvä  14  (^1902)  362. 

•)  Die  Wirkung  des  Skazon  schildert 
Demetr.  de  eloc.  §301;  koidogrjam  yag  ßov- 
Xofievo^  Tovg  ix^QOvg  t&Qavoev  t6  fihgov, 
xai  enolrjoev  xwXov  avit  fv^eog,  xal  ägvO^fioVy 
tovxFori  SsiroTtjTt  jiqbjtov  xai  loidogiq.'  x6 
yoLQ  Fogv^uov  xai  evi)xoov  syxMftioig  av  jTgK:^oi 
ftä).?.ov  tj  ydyoig.  —  Über  die  Frage,  ob  die 
neuen  Bruchstücke  dem  Archilochos  oder 
dem  Hipponax  zuzuweisen  seien,  s.  o.  S.  177,3. 

*)  Die  Meinung  von  0.  Kröhnbrt, 
Canonesne  poötarum  fuerunt,  1897,  p.  22  ff., 
als  wäre  der  Dichter  Ananios  aus  einem 
(unbekannten)  Makedonierkönig  dieses  Na- 
mens konstruiert,  ist  unmöglich. 

12* 


180  GriechiBche  litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Psriods. 

Philippos  die  Gattung  des  lyrischen  Spottgedichtes  (Meliamboi,  Diog.  Laert 
VI  76)  erfand,^)  Aischrion  von  Samos,  ein  Zeitgenosse  des  Aristoteles,  von 
dem  uns  durch  Ath.  335  c  eine  Ehrenrettung  der  Hetäre  Philainis  in  Form 
einer  choliambischen  Grabinschrift  erhalten  ist,')  Hermeias  aus  Eurion  in 
Kypros,  von  dem  Hephaistion  p.  66,  3  Consbr.  auch  einen  Vers  aus  einem 
monostrophischen  Gedicht  in  kretischen  Tetrametem  aufgezeichnet  hat, 
Phoinix  aus  Kolophon,  der  zwischen  292  und  289«)  ein  Gedicht  auf  die 
Einnahme  seiner  Vaterstadt  machte,^)  und  von  dem  Athenaios  ein  Bettel- 
liedchen  KoQ(ovioTai  in  iambischen  Skazonten  erhalten  hat.^)  Die  neuen 
Phoinixfunde  auf  Papyrus  zeigen  das  bisher  unbekannte  Genre  versifizierter 
Diatriben  gegen  Gewinnsucht,  Reichtum  u.  a.  im  kynischen  Ton.  Demnach 
wäre  Phoinix  unter  die  Vorgänger  der  lucilianischen  und  horazisehen 
Satire  zu  rechnen. 

112.  Die  Fabel  (aiVoc,  firf^og,  Xoyog,  &;i6/,oyogy)  ist  ihrem  ältesten 
Namen  {alvog)  nach  eine  Erzählung  von  lehrhaftem  Charakter;  insbesondere 
verstanden  schon  Hesiodos  und  Archilochos  darunter  eine  Erzählung  ans 
der  Tierwelt.  7)  Sie  läßt  sich  nicht  trennen  von  allen  den  anderen  kurzen 
auf  Unterhaltung  und  nebenbei  auch  Belehrung  berechneten  Scherzen  und 
Geschichtchen,  den  Schwänken,  Anekdoten,  Märchen,®)  Novellen,  Rätseln, 
die  immer  und  überall  dem  müßigen  Volk  von  berufsmäßigen  Erzählern 
vorgetragen  werden.  So  ist  es  im  Orient  seit  Urzeiten  gewesen*),  und 
sicherlich  sind  solche  Erzähler  auch  im  alten  lonien  schon  aufgetreten,  im 
Winter  wohl  in  erwärmten  Räumen, ^o)  im  Sommer  auf  Marktplätzen.**)  Die 
Form  des  Vortrags  wird  in  der  Regel  prosaisch  gewesen   sein,   und  hier 

»)  W.  Crönert.  Rhein.  Mus.  62  (1907)  i           ')  Hes.op.  198—208;  Arch  fr. 86;  A.Lüd- 

31 1  f.  schreibt   dem    K.   auch  die  Verse  bei  wich  in  der  Einleitung  zur  Ausg.  der  home> 

Ath.  164o  zu.  rischen  ßatrachoinyomachie. 

')    Aischrion   schrieb   auch    ein    groües  *)   über  die  Ümbiegung  alter  tendenz- 

episches    Gedicht    'E<fFoi<;    (Tzetzes     Schol.  i   loser  Märchen  in  lehrhafte  Fabeln  s.  A.  Mabx, 

Lycophr.  68.)  Griech.  Märchen  von  dankbaren  Tieren,  Stnttg. 

>)  E.  Roiide,  Griech.  Roman*  80  ff.  1889.  181  ff.;   Beispiele  fOr  das  Ineinander- 

*)  Von  Phoinix  wurden  neuerdings  größere  spielen  von  Fabel  und  Märchen,  Itlr  die  Vcr- 

Restc    choliambischer    Gedichte    aus    einem  '   Schiebung  der  Motive  und  für  die  FortwiikoDg 

Heidelberger   Papyrus  s.  II  a    Chr.  bekannt,  der  äsopischen  Fabel  0.  Dahnhardt,  Ztschr. 

herausgeg.  von  G.  A.  Gerhard,  Phoinix  von  |   des  Vereins  f.  Volksk.  17  (1907)  1  ff. 

Kol..  Leipzig  1907,  der  auch  noch  Londoner  I           ^)    Instruktiv   ist   die  Vergleichung  der 

und  Oxforder  Papyrusreste  herangezogen  hat.  heute  noch  in  türkischen  Kaffeehäusern  sich 

^)  Herausgegeben  hinter  dem  Hcrondas  produzierenden  Meddahs.  deren  Erzählungen 

von  0.  Cbusiüs\  Leipzig  1905.  S.  92  f.  erst  jetzt  von  H.  Jacob  (Vorträge  türkischer 

«)  riorv   =    Erzählung  bei  Hom.  Od.  ^  Meddahs,    1904)    litterarisch   fixiert   worden 

508,  =  Ticrfabel  bei  Hes.  op.  202.  Archil.  fr.  sind;  bemerkenswert  ist  auch  die  bei  diesen 

^^\  uvDnc,  wovon  fubula  die  lat.  Übersetzung  Vorträgen  übliche  Mischung  der Darstellnng»- 

ist.  findet  sich  zuerst  bei  Aeschyl.  fr.  135  und  formen  (dramatisch-dialogisch  und  erzählend, 

Plat.  Phaod.  61b,  reip.  I  350e;  Ao;'oc  (d.  h.  poetisch    und    prosaisch:    s.  Jacob.   Vorrede 

Prosaerzählung)  bei  Herod.  I  141  und  II  134;  I   S.  3). 

apnloffHH   in   der  Bedeutung  einer  Erzählung  ^^)  Der  yalyMoi:  0(7txtK  und  die  ijioXtf^ 

aus  der  Tierwelt  steht  bei  Quintil.  VI  3.  44  ^^ropj    bei    Hes.  op.  493    darf  unbedenklich 

und  Gellius  II  29,  1;  t^.TttivOm   und  KiiÄoyoi  i   darauf  bezogen  werden, 

hieik'n  die  Nutzanwendungen  am  Schluß,  die  '           ")  E.  Koiide  a.  a.  O.  591,  2;  die  ytr-dÄiw 

schwerlich    alle    erst    in    den    Schulen    der  dyont'i  (auf  ThasosV)  Hippocr.  Epid.  III  8.  12 

Grammatiker    und    Pädagogen    hinzukamen  wird  auch  so  zu  deuten  sein.     Siehe  a.  Die 

(vgl.  Hom.  Od.  0  329  mit  theogn.  329 :  Achae  Chr.  20,  1 :  27.  6. 
trag.  fr.  34  N.«}. 


B.  Lyrik.    I.  Monodisohe.    2.  Die  iambische  Poesie  und  die  FabeL    (§  112.)     181 


liegen  die  Anfänge  der  historischen  Prosa  der  lonier  und  des  Stils,  der  in 
den  Werken  der  Logographen  und  des  Herodotos  noch  mit  Händen  zu 
greifen  ist.  Doch  mag  auch  frühe  schon  die  Formulierung  in  iambischen 
Trimetern  oder  Hinkiamben,  wie  wir  sie  aus  den  späten  Bearbeitungen 
des  Phädrus  und  Babrios  kennen,  aufgekommen  sein. 

Auch  in  den  Kreis  der  öötter-  und  Heldensage  sind  Märchen-  und 
Schwankmotive  früh  eingeführt  worden,  wie  denn  z.  B.  Demodokos  in  der 
Odyssee  (d  266 — 332)  eine  vollständige  Novelle  mit  moralischer  Nutz- 
anwendung zum  besten  gibt.^) 

Märchen,  Novellen,  Tierfabeln  und  dergl.  pflegen  wie  keine  andere 
Oattung  der  Litteratur  von  Volk  zu  Volk  zu  wandern,  und  so  haben  nicht 
bloß  die  griechischen  Fabeln  zu  den  Römern,  Deutschen,  Indern  ihren 
Weg  gefunden,  sondern  sind  umgekehrt  auch  nach  Griechenland  aus 
fremden  Ländern  viele  derartige  Geschichtchen  gekommen.^)  Ist  es  auch 
sehr  fraghch,  ob  schon  die  Indogermanen,  wie  Jak.  Grimm  in  der  Einleitung 
zum  Reinhart  Fuchs  annahm,  einen  Schatz  von  Tierfabeln  in  ihre  späteren 
Wohnsitze  einführten,  so  stammen  doch  unzweifelhaft  viele  Fabeln  der 
Oriechen  aus  der  Fremde,  aus  Ägypten,  Indien,  Phrygien,  Karlen.  Es 
waren  wohl  zumeist  die  fremdländischen  Sklaven,  daneben  aber  vielleicht 
auch  reisende  Erzähler  von  Beruf,  die  solche  Erzählungen  aus  ihrer  Heimat 
mitbrachten.  Mit  der  Zeit  wurden  auch  Sammlungen  von  Freunden  dieser 
volkstümlichen  Poesie  veranstaltet.  Neben  den  äsopischen  Fabeln  kennt 
schon  Aischylos  fr.  139  N.«  und  Aristoteles  rhet.  II  20  p.  1393  a  30  die 
libyschen  Erzählungen :»)  dazu  kommen  die  sy baritischen  Witzfabelij  aus 
dem  Kreis  der  menschlichen  Gesellschaft*)  und  die  Aufzeichnungen  von 
phrygischen,*^)  karischen,  kilikischen,  ägyptischen, «)  kyprischen  Tier-  und 
Pfianzenfabeln  und  Schwanken.^)     Dabei  darf  man    sich  nicht  wundern, 


»)  Vgl.  die  Andeutungen  von  Wilamo- 
wiTZ,  Eurip.  Hippolyt,  Berl.  1891,  35  ff. 

')  Näheres  darüber  0.  Keller,  Geschichte 
der  griechischen  Fabel  (Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl. 
rV,  1861—67, 309—418),  worauf  bezüglich  der 
-vielen  hier  in  Frage  kommenden  Kontroversen 
verwiesen  wird.  Die  Wanderung  der  Fabeln 
lehrt  im  einzelnen  Th.  Benfet  in  der  berühm- 
ten Bearbeitung  des  indischen  Fabelbuches 
Pantschatantra,  Leipz.  1859,  2  Bde.  Vgl. 
G.  E.  Lessing,  Über  die  äsopischen  Fabeln, 
Gresamtausg.  von  K.  Lachmann  V  395  ff. ;  K. 
Praittl,  Über  das  Tierepos  bei  den  Schrift- 
steilem des  späteren  Altertums,  in  Philol.7 
<1852)  61—76.  E.  Rohde,  Griech.  Roman» 
578  ff.  (über  gnechische  Novellendichtung 
xmd  ihren  Zusammenhang  mit  dem  Orient). 

•)  Einen  Aißvxog  /nv&os  erzählt  Dio 
Chrys.  or.  7. 

*)  Arist.  vesp.  1259:  Alocomxov  yiXoiov 
fj  ZvßcLQiTixov,  Einen  Svß.  erzählt  Ar.  vesp. 
1427  ff.  (sonstige  Schwanke  bei  Ar.  vesp. 
1401  ff.  1435.  1446;  pac.  129;  Lys.  781  ff. 
^05  ff.;  Thesm.  477  ff.;  Antiphon soph.  fr.  128 
Blass).  SchoL  Arist.  av.  471 :  xwv  de  fivdcov 
4)i  fisv  aXoytav  C<p(ov  eiaiv  Ahamov,  ol  de  jicgi 


dväowmor  ZvßoQixixol.  Gegen  diese  Sonde- 
rung polemisiert  Theon  in  Rhet.  gr.  111  73,  9 
Sp.  Über  die  ^vßaoitixoi  C.  Cbssi,  Studi 
ital.  9  (1901)  1  ff. 

*)  ffovytov  ioxoQTjaov  Epicharm.  fr.  86 
Kaibel. 

®)  AiyvjiTiot  koyoi  xai  ojioScuioi  Plat. 
Phaedr.  275  b. 

')  In  den  Rhetorenschulen  war  die  Formu- 
lierung von  solchen  fiv&oi  Gegenstand  des 
Elementarunterrichts,  weshalb  die  verschie- 
denen Gattungen  in  den  Progymnasmen  in  L. 
Spenoels  Rhetores  Graeci  aufgezählt  werden 
bei  Hermog.  p.3 ;  Aphthen,  p.  21 ;  Nicol.  p.  452 
und  besonders  Theon  progymn.  c.  3 :  oi  Xöyoi 
xaXovyzai  Aiocojieiot  xni  Aißvortxoi  ;y  2vßa- 
giTixoi  re  xai  ^gvyiot  xai  KiXixioi  xai  Kaoixoi 
xai  Kv.TQioi;  weiter  unten  werden  als  Verfasser 
von  Fabeln  genannt  Aiocotto^,  Kowtg  6  KiXi^, 
Oovgos  6  ^vßaQtrrjg,  Kvßiooog  ex  Atßvrjg.  Übri- 
gens beweist  schon  Aristoph.  av.  471  die  päda- 
gogische Verwendung  der  Fabel,  über  die 
Hermog.  prog.  p.  3,  1  ff.  zor  fivi^ov  jtocütov 
d^tovoi  jiooodyeiv  roTg  vioig,  ou  zag  i^wj^dg 
avzojy  Jigog  z6  ßeXztov  gv&ftiC^iv  öm'azat ;  Herm. 
denkt  sich  (p.  3,  8  f.)  den  Äsop  offenbar  als 


182  GriechiBche  Litteratnrgeschichte.    L  gla«»i»che  Period«, 

wenn  teils  die  Tiernamen  je  nach  dem  Ort  wechselten,^  teils  dieselbe 
Fabel  früher  im  politischen,  später  im  ethischen  Sinn  gedeutet  wurde.«) 
Die  erste  Zusammenfassung  von  Fabeln  und  Schwänken  mufi  Anfang  des 
5.  Jahrhunderts  vorgelegen  haben;  sie  knüpft  sich  an  den  Namen  des 
Aisopos.3)  Auch  das  Zeitalter  der  Sophistik  hat  diese  Formen  zur  Ein- 
kleidung philosophischer  Ideen  nicht  verschmäht,  sie  aber  zu  veredeln  und 
zu  verbreitem  gesucht^)  Auf  die  harmlosen,  originellen  Scherze  der  alten 
Zeit  freilich  fing  man  damals  an  hochmütig  herunterzusehen.») 

113.  Aisopos  {Atoomo^)  war  nach  der  einzigen  glaubwürdigen  Nach- 
richt des  Herodotos  II  134  Sklave  des  ladmon  in  Samos  zur  Zeit  des  Königs 
Amasis,  also  um  die  Mitte  des  6.  Jahrhunderts.  Herodotos  erzählt  auch, 
daü  der  Enkel  jenes  ladmon  von  den  Delphiern  ein  Sühngeld  für  den  er- 
schlagenen Aisopos  empfangen  hatte.  Die  Veranlassung  des  Todes  gibt 
er  nicht  an;  die  Späteren  wissen  bald  von  der  bösen  Zunge  des  Aisopos 
zu  erzählen,  bald  von  der  Unterschlagung  der  Geschenke  des  Könjgs  E^roisos, 
bald  von  dem  Diebstahl  einer  silbernen  Schale.^)  Quelle  der  Äsoplegende 
ist  ein  vor  Herodotos  anzusetzendes  Volksbuch  ßiog  Aioümavj  das  neben 
der  Biographie  eine  Sammlung  der  Schwanke  enthielt.  Einhellige  Tra- 
ditionen über  die  Einzelheiten  von  Aisopos'  Leben  hatte  das  4.  Jahrhundert 
nicht.  So  schwanken  die  Angaben  über  seine  Herkunft.'')  Herakleides  Pon- 
tikos  machte  ihn  zum  Thraker,^)  vielleicht  weil  seine  Mitsklavin,  die  be- 
rüchtigte Hetäre  Rhodopis,  nach  Herodots  Zeugnis  eine  Thrakerin  war; 
andere  ließen  ihn  aus  Phrygicn  stammen.^)     Zusammenkommen  ließ  man 

Schulmeister.    Daü  diese  Schwanke  auch  zur  |  Prot.  320  d  ff.)   und   Prodikos   (Xen.  mem.  11 

Unterhaltung  heim  Gelage  dienten,  sagt  Ar.  ]   1,  21  ff.);    eine   Gattung   für   sich   sind   die 

vesp.  1260.  —  Eine  Pflanzenfahel  ist  die  vom  '   Mythen  Piatons. 

Streit  des  Ölbaums  und  Lorbeers  bei  Callim.  j           ')  Ar.  vesp.  1179  ff.    sagt    Bdelykleon. 

fr.  93  SciiN.     AüO.  WCnsciib,    Die  Pflanzen-  i   fj// fwi  yf  fivOovg,  aika  rtbv  äv&g(OJi{ratv,  Oiovc 

fabel  in   der  orientalischen  und  klassischen  kt-youer  fudiara  tovc  xai*  oixiav,  woranf  Phflo- 

Litteratur,  Heil.  d.  Allg.  Zeit.  1897  Nr.59— Hl.  kleon  die  Fabel  von  //rc  und  yaX^  anbietet; 

')  Den  Schakal  als  Berater  des  Löwen  !   aber  Bd.  fragt  nun  entrüstet  fws  xai  yaläe 

bei  den  Indern  ersetzte  bei  den  Griechen  der  ftfXXeic  Uynv  h  drSodmv;  vgl.  anch  Ariatot. 

Fuchs :  s.  O.  Keller  a.  0. 337  f.,  ders.,  Tiere  des  1   eth.  Nie.  1 1 1 7  b  33  f. 

klasH.  Altert..  Innsbr.  1887,  S.  193.     Wahr-  '           «)  Arist  Vesp.  1446  bringt  die  Beschul- 

schcinlich  kommt  auch  der  Name  dhn.ttß  von  digimg  des  Diebstahls   mit  einer  Fabel  dea 

I6pd<(t,  was  im  Sanskrit  Schakal  bedeutet.  —  '   Äsop  vom  Käfer  und  Adler  in  Verbindung; 

In  den  ältesten  Fabeln  ist  Hauptfigur  der  Fuchs,  der  Ausdruck  Ahionum'  aJfia   wurde  aprich- 

neben  dem  Löwe  ( auch  ein  Tier  der  Balkanhalb-  i   wörtlich,  s.  Zenob.  1  47,  Ps.Diog.  1 47,  ^mer. 

insel  nach  Herodot  VII 120),  Adler,  Hund,  Esel,  '   or.  13.  5.     Aristoteles  gedachte  der  Sage  in 

Wolf  stehen,   also   lauter  europäische  Tiere.  der  Politie  der  Samier,  fr.  445  Rosa. 

^)  So  erzählte  Stesichoros  die  Fabel  vom  ^)  Erhalten  ist  ein  vollst&ndiger  Roman 
Pferd,  das,  um  sich  au  dem  Hirech  zu  rächen,  über  das  Leben  des  Äsop  aus  dem  Mittei- 
den Zaum  von  dem  Menschen  annahm,  den  alter,  der  fälschlich  —  wir  haben  ältere  Hand- 
Himcräei-n,  damit  sie  sich  vor  dem  Tyrannen  ,  Schriften  —  unter  dem  Najnen  des  Planudea 
Phalaris  hüteten  (Arist.  rhet.  p.  1393a  8  ff.).  geht;  vgl.  K.  Krumbachbr.  By«.  Litt.«  897» 
Eben.so  warnte  Äsop  selbst  die  Samier  vor  Erste  kritische  Behandlung  der  Legende  bei 
den  Demagogen,  indem  er  ihnen  die  Fabel  '  K.  Bentley.  De  fabulis  Aesopi,  im  Anhang 
vom  Fuchs,  Blutegel  und  Igel  erzählte ;  ahn-  zu  der  Dis.sertation  upon  the  episÜea  of  Pha- 
lieh  ist  die  Erzählung  von  Menenius  Agrippa.  laris,  1699.  Vgl.  W,  H.  Graubrt,  De  Aesopo 
Vgl.  L.  Spen(jel  im  Kommentar  zu  Aristot.  '  et  fabulis  Aesopeis,  Bonn  1825;  F.  G.Wblcxkb, 
rhet.  (Leipz.  1^67)  II  20,  8.  |   Kl.  Sehr.  U  22^  ff. 

')  Der  Begriff  Aiofo.iFiog  Aoyo^   steht  in  ®)  fr.  3;   danach   Schol.  Arist.  Av.  471. 

seiner    Eigenart    fest    Aristoph.    vesp.   566  ,   Suidas  u.  Aho.-iog  •  Erysmor  Sk  Meofjftßotarwf 

{AlcKojiav   n  ye/.oior);  av.  651.  !    Ft:in\ 

*)  Vgl.  die  M^iJien  des  Protagoras  (Plat.  '           »)  Dio  Chrys.  or.  32,  63;   Gelliua  II  29; 


B.  Lyrik.    L  MonodiBche.    2.  Die  iambische  Poesie  und  die  Fabel.    (§  113.)     183 

ihn  mit  dem  König  Eroisos  und  mit  den  sieben  Weisen  Griechenlands.^) 
In  Athen  sollte  er  wie  Homer  auch  gewesen  sein.^)  Eine  Sage  ließ  ihn 
vom  Tod  auferstehen.  3)  Von  Gestalt  dachte  man  ihn  sich  bucklig  und 
verwachsen;*)  so  ist  er  ein  Wahrzeichen  für  die  neue,  demokratische  An- 
schauung, daß  Schönheit  und  Tugend,  xaiöv  und  äya^öv,  nicht  zusammen- 
fallen müssen,  die  von  den  der  Aristokratie  dienenden  Sängern  der  Dias 
{B  260  flf.)  so  hämisch  verworfen,  von  Archilochos  dagegen  zuerst  keck 
hingestellt  (fr.  58)  und  durch  Sokrates'  klassische  Häßlichkeit  sanktioniert 
worden  ist.  Eine  Menge  von  Abenteuern  wurde  ihm  angedichtet,  bis 
er  schließlich  selbst  für  eine  bloße  Fiktion  ausgegeben  wurde.  Seine 
Fabeln  erzählte  Aisopos  in  Prosa,  was  auch  in  den  Namen  Xoyoi  und  koyo- 
noiog  ausgedrückt  ist.^)  Dies  ergibt  sich  auch  daraus,  daß  Sokrates  im 
Gefängnis  äsopische  Fabeln  in  Verse  gebracht  haben  soll.®)  Die  lambo- 
graphen,  die  Komiker,  unter  den  Melikern  besonders  Timokreon  von  Rhodos 
(fr.  4.  5  Bergk),  in  späterer  Zeit  Lucian,  Alkiphron  und  Aristainetos  schöpfen 
gern  aus  diesen  volkstümlichen  Schätzen,  von  denen  dagegen  die  bildende 
Kunst  wenig  Notiz  genommen  zu  haben  scheint.*^)  Ende  des  4.  Jahrhun- 
derts veranstaltete  Demetrios  von  Phaleron  eine  Sammlung  äsopischer 
Fabeln  in  Prosa  {X6y<ov  AloiojieUov  ovvayojyai);  als  Verfasser  von  Samm- 
lungen libyscher  Fabeln  wird  Kybissos,  kilikischer  Konnis,  sybaritischer 
Thuros  genannt.®)  Die  Sammlung  des  Demetrios  ist  so  wenig  wie  eine  der 
andern  auf  uns  gekommen;  erhalten  sind  uns  aus  dem  Altertum  nur  die 
poetischen  Bearbeitungen  des  Phädrus,  Babrios,  Avianus.  Aus  dem  Mittel- 
alter stammen  prosaische  Metaphrasen  äsopischer  Fabeln,  die  Fabeln  des 
Syntipas,  und  eine  in  choliambischen  Tetrametern  verfaßte  Sammlung  des 
Ignatius  Diakonos  aus  dem  9.  Jahrhundert.^)  Die  Masse  der  prosaischen 
Fabeln  ist  im  11.  Jahrhundert  gesammelt  worden;  uns  liegen  davon  drei 
Rezensionen  vor,  die  frühste  in  einem  Parisin.  des  11.  Jahrhunderts.  Um 
1300  machte  der  Mönch  Maximus  Planudes  daraus  eine  Schulausgabe  unter 
Voranstellung  des  ßiog  Aiocojiov.^^) 

Fabelsammlangen :  Die  zuerst  (1479)  gedruckte  Sammlung  (über  die  s.  G.  C.  Eeidel, 
Americ.  Joum.  of  Philol.  24,  1903,  804)  war  die  des  byzantinischen  Mönches  Planudes  von 
144  Fabeln.    Dazu  kamen  neue  Fabeln  von  Nivoletti,   Ex  bibl.  Palatina,  Frankfurt  1610, 


Aelian  v.  h.  X  5 ;  Himer.  or.  13,  5.  —  Neuere  1  Namen  überlieferten  beigelegt  worden  sein. 

Vermatnngen  s.  F.  G.  Welokbb,  Kl.  Sehr.  II  |           •)  Als  eine  Fiktion  des  Piaton  betrachtet 

254f.;  J.ZOWDBL,  Rh.  M.  5(1847)447ff.  und  '   die    Angabe    in    Plat.  Phaed.  60 d.  61b  M. 

Rev.  archM.  n.  s.  3  (1861)  354  ff.;    dagegen  Schanz,  Herm.  29  (1894)  597;  die  erhaltenen 

0.  Kbllbb  a.  0.  375.  Verse  in  Distichen  sind  allerdings  Fälschungen. 


>)  Plut  Sol.  28;  conv.  sept.  sap.  150  a. 

*)  Phaedr.  12  u.  II  epil.  Alexis  dichtete 
eine  Komödie  Atocojtogf  in  der  ein  Zwiegespräch 
des  Äsop  und  Selon  vorkam. 


Aristodemos,  ein  Schüler  des  Lysippos,  nach 
Tatian  adv.  Graec.  55,  hatte  ihn  neben  den 
sieben  Weisen  in  Athen  gebildet. 

*)  Theon  progymn.  p.  73,  27  Sp.  O.  Cbü- 
sros,  Philol.  52  ( 1893)  202  ff.  meint,  schon  in  dem 
Alteren  Äsopbios  konnten  dem  Äsop  auch  Verse, 
wie  z.  B.  aie  Anthoi.  Pal.  X  123  auf  seinen 


')    0.  Benndorp,   Jahresh.    des    österr. 
archäol.  Inst.  5  (1902)  3  ff. 

8)  Siehe  o.  S.  181,  7. 

•)    Letztere    herausgegeben    hinter   dem 
•)  ^laton  com.  bei  Schol  Arist.  Av.  471.    '   Babrios  von  0.  Crusiüs,  Leipz.  1897. 
*)    Lysippos    nach   Agathias   epigr.  35,   I  *<>)  Diesen  kennt  auch  der  Armenier  Moses 

von  Chomi  (A.  v.  Gütschmid,  Kl.  Sehr.  III 
297).  Die  zunehmende  Kürzung  des  fiio<; 
Aio.  lehrt  ein  Papyrusfragment  aus  dem 
6./7.  Jahrh.  n.  Chr.  kennen,  über  das  s.  F. 
BLASS,  Arch.  f.  Panymsf.  3  (1906)  487.  über 
die  Ausgabe  des  Planudes  s.  A.  Hausrath, 
Byz.  Ztschr.  10  (1901)  91  ff. 


184  GriechiBche  Litteraturgesohichte.    L  Kl>üiri«oha  Periode« 

von  F.  DEL  FcntiA  aus  einer  Florentiner  Handschrift,  Flor.  1809,  von  J.  G.  SommDiB,  Breelea 
1812  aus  dem  cod.  Augustanus  -^  Monac.  564,  von  P.  Ehöll,  Wien  1877  ans  dem  ood.  Bod- 
leianus  2906,  von  L.  Stbrnbach,  Krakan  1894  aus  cod.  Paris,  gr.  690.  —  Sammelaosgpaben: 
MrO<or  Ainw.ieion'  owayoty//  von  A.  EoBABS,  Par.  1810;  Fabulae  Aesopieae  coUectae  tob 
K.  Halm  in  Bibl.  Teubn.  1874.  —  A.  Hausräte,  Untersochungen  zur  Überlieferang  der 
äsopischen  Fabeln  in  Jahrbb.  f.  kl.  Phil.  Suppl.  21  (1894)  247  ff.;  ders.,  Das  Problem  der  laop. 
Fabel.  N.  Jahrbb.  f.  d.  klass.  Altert  1  (1898)  805  ff. 

3.  Die  lesbische  und  ionische  Kitharodie. 

114.  Dem  Aufschwung  der  religiösen  Lyrik  auf  Lesbos,  der  sich  an 
den  Namen  Terpandros  knüpft,  folgt  Ende  des  7.  Jahrhunderts  auf  derselben 
Insel  die  höchste  Blüte  der  Profanlyrik,  die  in  Griechenland,  ja  vielleicht 
in  aller  Litteratur  je  erlebt  worden  ist.  In  den  Gedichten  von  Alkaios 
und  Sappho  liegen  uns  Konfessionen,  Gcfühlsergüsse  von  einer  solchen  Un- 
mittelbarkeit und  Wärme  vor,  wie  sie  nur  in  ganz  intimen  Kreisen  ge- 
äußert worden  sein  können;  wir  vermöchten  sie  nur  dann  vollkommen 
zu  verstehen,  wenn  uns  die  gesellschaftlichen  Verhältnisse  und  Organi- 
sationen der  beiden  Geschlechter  auf  Lesbos  näher  bekannt  wären.  ^) 
Die  Charakteristik  äolischen  Lebens  und  äolischer  Art,  die  wir  aus  dem 
Altertum  haben,  betrifft  aber  nur  die  Männer  und  scheint  wesentlich  aus 
thessalischen  Verhältnissen  abgezogen  zu  sein.*)  Über  den  Gedichten  der 
Sappho  liegt  so  für  uns  noch  ein  Schleier.  Sie  und  Alkaios  schöpfen  mit 
glücklicher  Kongenialität  aus  dem  Schatz  volkstümlicher  Liedformen,*)  wie 
sie  auch  den  Dialekt  ihrer  Heimat  gebrauchen.  Von  Einflüssen  des  home- 
rischen Stils  sind  sie  fast  ganz  unberührt,  also  ganz  modern.  Dagegen 
mag  Archilochos,  so  anders  er  in  der  ganzen  Gemütslage  geartet  ist,  doch 
dazu  beigetragen  haben,  ihnen  zu  ihrem  unendlich  seelenvolleren  Gesang 
die  Zunge  zu  lösen.  Daß  uns  von  dieser  Lyrik  so  wenig  erhalten  ist,  gibt 
einen  traurigen  Beweis  von  der  rhetorisch-philosophischen  Verdummung 
des  spätesten  Altertums.*) 

115.  Alkaios*)  bildet  zusammen  mit  Sappho  das  ruhmgekrönte  les- 
bische Dichterpaar,  das  am  Schluss  des  7.  und  in  der  ersten  Hälfte  des 
6.  Jahrhunderts^)  das  Volkslied  künstlerisch  veredelt  hat    Das  Geschlecht 

M    Des  youfo^   gedenkt   zuerst  Hesiod.  '    Subjekt! vitAt  mehr  Wert  beilegt  als  den  rhe> 

op.  722  f.  torisohenSchnlexerzitien.  DieGeringschätzuiig 

*)  Heraclid.  Pont,  bei  Ath.  624  e  hebt  die  der  Lyrik  fängt  in  Philosophenkreisen,  im 
Charaktereigenschaften  des  ynrnoy,  6yx<7}dF^,  Zusammenhang  mit  der  Lehre  von  der  «Lto- 
v.-iöyarror  hervor,  die  zu  Pferdesport  und  j  i>Fia,  seit  Aristoteles  an  und  findet  einen  be- 
Gastereien paßten;  ferner  (ftkonttoin  (dazu  >  sonders  törichten  Ausdruck  bei  Cicero  (Sen. 
stimmt  das  Gesetz  des  Pittakos.  daü  Tnmken-  ep.  49, 5).  Sympathisch  urteilt  noch  Aristoxen. 
hei  t  ein  Straf  Verschärfungsgrund  sein  solle,  i  fr.  58  M.,  enthusiastisch  über  Sappho  Strab.  617. 
Aristot.  pul.  1274b  19;  rhet.  1402b  11),  foto-  \  •»)  Der  Artikel  WXxaXfK  ist  bei  Soidas 
Tiy.d,  ndoa   ij  .inu   rijr  A/mnir  arfo/c.  ausgefallen.  F.  G.  WelcKEB,  AlkftOS,    in  Kl. 

»)  Clearch.  Sol.  fr.  40  M.  Sehr.  I  126  tf. 

*)  Auf  Catull  und  Horaz  haben  die  beiden  «)    Euseb.  setzt   ihre   Blüte  600/599   (F. 

Losbicr  gewirkt.    Saj)pho  wird  zwar  bei  Stat.  '   Jacoby,   Marm.  Par.  p.  165,   Mann.  Pariom 

silv.  V  8. 155,  nicht  aber  bei  Quintil.  X  1,  68  ep.  80),  Sapphos  Flucht  nach  Sizilien  zwischen 

unter  den  Gegenstanden  der  SchullektUre  er-  604  u.  590.     Suidas  setzt  die  Sappho  Ol.  42 

wähnt.    Die  Hpate!Ht<;n  griechischen  Rhetoren,  =  612.     Nach   Herod.  II  135   muß   Sappho 

besonders  Himerios,  holen  sich  noch  Floskeln  noch   bis   in   die  Regierungszeit  des  Amasis 

aus  der  lesbischen  Lyrik,  und  dem  Synesios  (570—526)   hinein   gelebt  haben.     Über  die 

ist  es  zu  besonderer  Ehre   zu   rechnen,   daß  i   Stelle    des   Herodot  V  95,   die   den    Alkaios 

er  (de  iusomn.  9)  solchen  Erzeugnissen  freier  |   in   die   Zeit   des  Peisistratos  herabnirflcken 


B  Lyrik.  L  Honodisohe,  8«  Die  lesbisohe  und  ionische  Kitharodie.  (§§  114 — 115.)     185 


des  Alkaios  gehörte  zu  den  altadeligen  Familien  von  Mytilene;  er  selbst,  ein 
nicht  weniger  leidenschaftlicher  Junker  als  Theognis^  und  befangen  in  der 
für  die  griechische  Aristokratie  bezeichnenden  maMosen  Überschätzung  des 
Reichtums,^)  nahm  mit  seinem  Bruder  Antimenidas  lebhaften  Anteil  an 
den  Kämpfen  des  Adels  gegen  den  von  der  Demokratie  auf  den  Schild  ge- 
hobenen Tyrannen  Melanchros  und  dessen  Nachfolger  Myrsilos.^)  Der 
erste  von  dem  Dichter  geleitete  Anschlag  auf  Myrsilos  mißlang,  und  Al- 
kaios entging  der  Bestrafung  durch  Flucht  nach  Pyrrha.*)  Über  den  Tod 
des  Tyrannen  jubelt  er  in  wildem  Parteihafi  (fr.  20) 

viry  XQV  fie^a^v  xal  tiva  Jigdg  ßiav 

ncovrjv,  hceidri  xdx'&ave  MvQoiXog.^) 
Auch  in  dem  Krieg,  den  seine  Vaterstadt  um  die  Kolonie  Sigeion  im 
Troerland  gegen  Athen  führte,  kämpfte  er  mit,  wobei  er  seinen  Schild 
verlor,  den  dann  die  Athener  im  Athenetempel  in  Sigeion  aufhängten.«) 
Als  die  Mytilenaeer  zur  Schlichtung  der  inneren  Zerwürfnisse  den  von 
Alkaios  und  seiner  Partei  glühend  gehaßten  und  tief  verachteten  Volks- 
mann Pittakos  zum  Aisymneten  aufstellten,  verließ  Alkaios  mit  seinen  Ge- 
nossen die  Heimat'')  und  trat  in  fremde  Kriegsdienste,  die  ihn  bis  nach 
Ägypten  und  wohl  auch  nach  Thrake  führten.®)  Den  Abend  des  Lebens 
brachte  er  wieder  in  der  Heimat  zu,  wohin  ihm  Pittakos  die  Rückkehr 
gestattete  mit  dem  berühmten  Ausspruch  ovyyvojjut]  TijuLoyQiag  xgeiaacov.^) 
Diesem  Leben  entsprechend  durchweht  die  Lieder  des  Alkaios  ein  kriege- 
rischer Geist,  mit  dem  sich  die  äolische  Neigung  zu  rauschenden  Weingelagen 
und  leidenschaftlicher  Liebe  verband.  *o)  Auch  die  veilchenlockige,  süß- 
lächelnde Sappho    sang   er   in  seinen  Liedern  an,   ohne   bei    der    schönen 


scheint,  s.  S.  185, 6.  Das  angebliche  Gedicht 
der  Sappho  an  Anakreon  bei  Athen.  599  d 
mnß  ganz  außer  Betracht  bleiben,  da  es 
Aihenaios  selbst  als  untergeschoben  anführt. 
Das  chronologisch  unmögliche  Liebesverhält- 
nis zwischen  Sappho  und  Anakreon  ist  eine 
Erfindung  des  Chamaileon  und  Hermesianax 
aus  Mißdeutung  von  Sapph.  fr.  75  und  Anacr. 
fr.  14. 

^)  Richtig  stellt  ihn  Julian.  Misopog.  init. 
um  seiner  Leidenschaftlichkeit  willen  mit 
ArchUochos  zusammen  und  dem  Anakreon 
gegenüber. 

■)  fr.  38.  49.  92  stimmen  zu  dem  xQ^h 
fiota,  XQV/*^^*  avrjQ  und  ovdkv  tjv  äga  läXka 
xkrfv  6  xQvoög  des  Pythermos;  eine  Persiflage 
dieser  Lebensweisheit  gibt  Herodot.  VI  125, 
der  von  der  Unzertrennlichkeit  von  Jievirj  und 
iXev^Qlfl  (VII  102;  VIII  137)  ebenso  wie 
Demokrit  (fr.  251  D.)  überzeugt  ist.  Die 
weichliche  Eleganz  von  Alkaios'  Auftreten 
nodert  Ar.  Thesm.  162. 

')  Auf  diesen  beziehen  sich  fr.  18—21. 

^  Schol.  zu  fr.  23  auf  einem  Berliner 
Pajmrus  ed.  W.  Sohübabt,  Berl.  Ak.  Sitz.ber. 
1902,  206  ff.  (=  Berl.  Elassikertexte  V  2 
p.  6). 

*)  Nachgeahmt  von  Hör.  od.  I  37;  vgl. 


Strab.  p.  617. 

»)  Herod.  V  95.  Der  Historiker  bringt 
den  Fall  des  Alkaios  in  Verbindung  mit  dem 
Kampf,  den  Peisistratos  um  Sigeion  führte 
(550—40).  Aber  Herodot  hat  offenbar,  wie 
die  Erwähnung  des  Periandros  zeigt,  an  die 
Erzählung  von  den  jüngeren  Kämpfen  um 
Sigeion  episodenartig  den  Fall  des  Alkaios 
in  den  älteren  Kämpfen  der  Athener  und 
Mytilenäer  um  jene  Küste  angeknüpft;  das 
weist  entgegen  J.  Belooh  (Rh.  M.  50, 1895, 255 
bi8'267)  nach  0.  Crüsius.  Litteraturgeschicht- 
liche  Parerga,  Phüol.  55  (1896)  1 1  ff.  Alles  Ma- 
terial zur  Beurteilung  der  chronologischen 
Fragen  bei  G.  Büsolt,  Griech.  Gesch.  II*  249  ff. 

^)  Arist.  polit.  111  9  p.  1285  a  35.  Für 
Alkaios  (fr.  37  a)  ist  Pittakos  ivgm'vos  und 
xax6naTQiq\  die  Schimpfnamen,  die  Alk.  ihm 
gibt,  8.  Diog.  Laert.  I  81. 

«)  Strab.  p.  37;  Ale.  fr.  109.  Sein  Bruder 
nahm  Kriegsdienste  vermutlich  unter  Nebu- 
kadnezar  in  Babylon,  von  wo  er  den  elfen- 
beinernen Schwei-tgriff  zurückbi  achte  (Ale. 
fr.  33). 

»)  Diog.  I  76. 

»0)  Hör.  od.  I  32  u.  II  13.  Ath.  429a  sagt, 
Alkaios  und  Aristophaues  hätten  trunken 
{fAe:&vovxeg)  ihre  Gedichte  geschrieben. 


186  GrieohiBche  Litteratnrgeschiohte.    L  Klasrisdie  Periode. 

Dichterin  geneigtes  Ohr  zu  finden.  >)  Seine  Gedichte  waren  nach  dem 
Inhalt  geordnet;  sie  umfaßten  Hymnen  auf  die  Götter,*)  Streitlieder 
{üxaoiwTixd  Strab.  617)  voll  kriegerischen  Feuers,  darunter  die  glänzende 
Beschreibung  eines  Waifensaales  (fr.  15),  Trinklieder,  von  denen  mehrere 
der  glückliche  Nachahmer  unseres  Dichters,  Horaz,  nachgebildet  hat 
(od.  I  9.  18.  37),  endlich  Liebeslieder  {iganixd),  von  denen  uns  die  Nach- 
ahmung des  Horaz  od.  III  12  einen  Begriff  gibt.  Dem  feurigen,  aus  der 
Frische  des  Lebens  genommenen  Inhalt  entsprach  eine  wundervolle  Voll- 
endung der  Form.  Die  Gedichte  des  Alkaios  und  der  Sappho  sind  die 
melodischsten  Schöpfungen  der  Griechen.  Volkstümliche  Weisen  auf- 
nehmend und  regulierend  reihen  sie  die  elastisch  wechselnden  Formen 
sechszeitiger  Takte,  lamben,  Trochäen,  Choriamben,  loniker,  Antispaste 
zu  Langversen  wie  dem  auch  von  der  Skolienpoesie  übernommenen 
Asclepiadeus  maior')  zusammen,  oder  sie  binden  kürzere  Verse  dieses 
Rhythmus  mit  Auf-  und  Abgesang  zu  jenen  auch  unser  Ohr  noch  unmittel- 
bar anmutenden  vierzeiligen  Strophen,  welche  die  Namen  der  sapphischen 
und  alkäischen  noch  heute  führen. 

Ol'  XQ^I  ^(i>ioiai  ^v/ior  imxQhii^v,  w_w-|C7«ww|— wi^ 

nooxoif'Oinev  ydg  ovdh  äodjuevotf  —  _w  -|c7_w<^|-.wii 

o)  Bvxxh  q)dQiiiaxov  d'ägiorov  —  «.  w_j—  --^—   cj 

olvov  heixafAevoig  /Ließvo&r]y.  _v^w|_v^vy|_w_ii 

Als  Beispiel  der  von  Alkaios  ebenfalls  (z.  B.  fr.  5)  verwendeten^)  sapphi- 
schen Strophe  Sappho  fr.  1 

noixikoi^QOv    d&dyaT   'Aq^oodira,  -  ^  -  -|-v^— j^  -  ^ 

jial  AioQ,  doXoTiXoxF,  kioaojuni  of,  „  w  _  c?]  _v-^- 

//i;  fi'  äontoi  fujx*  öylaioi  ddjitraf  -  ^>  -  ^  | 

jTOTyta,  dvfioy. 

Der  Technik  des  äolischen  Liedes  ist  die  Festhaltung  einer  bestimmten 
Silbenzahl  innerhalb  jedes  Verses,  also  die  Ausschließung  von  Zusammen- 
ziehungen zweier  Kürzen  und  Auflösungen  einer  Länge,  zugleich  eine  weit- 
gehende Freiheit  in  der  prosodischen  Gestaltung  des  ersten  Versfußes  eigen. 

Der  Form  nach  sind  die  Lieder  des  Alkaios  nicht  nur  freie  Eonfes- 
sionen des  Dichters  ins  Allgemeine,  sondern  auch  poetische  Episteln  (Hero- 
dot.  V  95)  oder  mimische  Projektionen  der  Empfindung  in  andere  Personen 
(so  das  „verlassene  Mägdlein"  fr.  59,  das  Hör.  od.  III  12  nachbildet).    Seine 

^)  Arist.  rhet.  I  9  p.  1367a  8  ff.;  Herme-  !   licher  Harmonie:  der  Zug  des  Gottes  in  das 

sianax  V.  47  (bei  Ath.  598  b).   Daraufhin  sind  Land  der  Hyperboreer  auf  einem  von  SchwAnen 

beide  vereinigt  auf  einer  Vase  der  Münchener  :   gezogenen  Wagen  und  seine  R&ckkehr  nmch 

Sammlung;  vgl.  0.  Jahn,  Darstellungen  grie-  |   Delphoi   unter  dem  Gesang  der  VOgel  und 

chischer  Dichter  auf  Vasenbildcrn,  Abhandl.  dem  melodischen  Rauschen  des  kastalischen 

der  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  3  (1861)  697 ff.;   A.  Quelb  wird  geschildert;  Himerios  or.  14  gibt 

FuRTWÄNGLBR   Und    K.  Reichhold  ,  Griechi-  :  diesen  Hymnus  in  Prosa  wieder,  und  Synea. 

sehe  Vasenmalerei  2.  Serie,   München  1905/6  i   hymn.  9  schildert  mit  seinen  Farben  Christi 

Tafel  64.     Der  Kopf  des  Alkaios  auf  einer  '   iferabkunft  auf  Erden ;  den  auf  Hermes  Ober- 

Münze   des  Pariser   Kabinetts,    worüber   A.  setzte  Hör.  od.  I  10. 

Baumeistek,  Denkm.  unt.  Alkaios.  |            ')  fn^fihv  äkXo  (f^vzeifOfjg  7iq6xfqov  divögeoit 

^)  Der  Hymnus  auf  ApoUon    zeigt   eine  dit^iüo)  Ale.  fr.  44. 

herrliche  Zusammenstimmung   zwischen   der  ■           *)  Ebenso  verwendet  auch  Sapj^o  i.  B. 

Natur  und  einem  göttlichen  Wunder  zu  fest-  |   fr.  28  die  alkäische  Strophe. 


-    v/  —  ii 


B.  Lyrik,    h  Honodisöhe.    8.  Die  lesbische  und  ionische  Kitharodie.    (§  116.)     187 


Skolien,  von  denen  Aristoteles  (pol.  1285  a  38)  redet,  waren  vermutlich  von 
Einfluß  auf  die  attische  Skolienpoesie  des  6.  Jahrhunderts,  und  im  Attika 
des  5.  Jahrhunderts  ist  er  ein  so  bekannter  Dichter,  daß  die  großen  Dra- 
matiker mit  Anspielungen  auf  Stellen  aus  ihm  verstanden  zu  werden  er- 
warten können  (fr.  23 — 25).  Die  Alexandriner  teilten  seine  Gedichte  in 
10  sachlich  angeordnete  und  mit  den  Götterhymnen  beginnende  Bücher. 
Ausgaben  machten  Aristophanes  von  Byzantion  und  Aristarchos;  die  ari- 
starchische  war  in  der  Kaiserzeit  die  herrschende.*)  Ein  Exemplar  des 
Alkaios  in  einem  dreieckigen  Behälter  befand  sich  auch  im  Schatz  des 
delischen  Apollon.*)  Schriften  zur  sachlichen  Erklärung  gab  es  von  Di- 
kaiarchos  {negl  ^AXxaiov  Müller  FH6  II  246  f.)  und  von  Kallias  von  Myti- 
lene  {negl  rrjg  jtag'  *AhcaUp  Xenddog)^^)  der  nach  Aristophanes  Kommentare 
zu  Sappho  und  Alkaios  schrieb.-*)  Kommentatoren  des  4.  Jahrhunderts 
n.  Chr.  sind  Drakon  und  Horapollon.  Die  Fragmente  haben  in  der  neusten 
Zeit  eine  kleine  Vermehrung  erfahren.*) 

116.  Sappho^)  aus  Eresos  (nach  andern  aus  Mytilene)^)  auf  Lesbos 
war  Zeitgenossin  des  Alkaios.  Von  ihren  Lebensverhältnissen  weiß  man 
nur  wenig  Sicheres,  da  sie  früh  durch  die  Sage  und  die  Komödie  entstellt 
wurden.®)  Ihr  Vater  hieß  Skamandronymos,  von  ihrer  Verheiratung  mit 
Kerkylas  aus  Andres  redet  nur  Suidas;^)  von  ihren  drei  Brüdern  lebte  der 
eine,  Charaxos,  längere  Zeit  als  Handelsmann  in  Naukratis  mit  der  ver- 
führerischen Hetäre  Doriche,  genannt  Rhodopis,  zusammen. *<^)   Vermutlich 


^)  Hephaest.  p.  74,  13  Gonsbr. 

')  Th.  Homolle  in  Monuments  grecs, 
7  (1878)  p.  49. 

•)  WiLAMo  WITZ,  Textgesch.  d.  gr.  Lyr.  74  flf. 

*)  Strab.  618;  Ath.  85  f. 

^)  Ans  den  Genfer  Schollen  zu  II.  <^  319 
(H.  DiELS,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1891,  576),  aus 
Oxyrh.  pap.  II 1899  (v.  Welamowitz,  Gott.  Gel. 
Anz.  1900,  41),  einem  Papyrus  Aberdeen 
(Th. Rkinaoh,  Rev. des  6t. Gr.  18, 1905. 295 ff), 
zwei  Berliner  Pap.  (Berliner  Klassikertexte 
V  2  p.  3—8). 

•)  ^a:i<p(o  nennt  sie  sich  selbst  fr.  1, 20. 
59;  fr.  Berolin.  1,  6;  die  Form  l'd^rfoi  macht 
das  Fragm.  55  des  Alkaios  verdächtig.  Der 
Name  ist  ohne  Zweifel  Kurzname  mit  innerer 
Konsonantenyerdopplung,  worüber  F.  Solmsen, 
Unters,  z.  griech.  Laut-  und  Verslehre,  1901, 
70.  Snidas  nimmt  zwei  Sappho  an,  was  auf 
eine  moralistische  Hypothese  des  Nymphis 
(Ath.  596  e)  zurflckgeht.  Manches  über  die 
Dichterin  bei  Ps.Ovid.  Heroid.  15.  Ein  Buch 
des  Chamaileon  über  Sappho  erwähnt  Ath. 
599  c.  Über  den  Kommentar  des  Kallias  s.  o. 
Etym.  magn.  77,  1  ff.  Vgl.  F.  G.  Wblcker, 
Sapi^o  von  einem  herrschenden  Vorurteil  be- 
freit, in  Kl.  Sehr.  II  80—144;  K.  Lbhbs,  Pop. 
Aufs.'  899  f. ;  A.  Schöne,  Untersuchungen  über 
das  Leben  der  Sappho,  in  Symb.  phil.  Bonn.  II. 
Leipz.  1867,371—762.  Ausgabe  der  Fragmente 
Ton  C.  F.  Neue,  Berol.  1827.  Eine  Erzstatue 
hatte  Silanion  gefertigt  (Cic.  Verr.  IV  57, 126) ; 
Kopien  derselben  hat  man  in  Marmor  und 


Ton  wiederzufinden  geglaubt;  s.  F. Gamübbini, 
Testa  di  Saffo,  Ann.  deir  Inst.  51  (1879) 
S.  246  ff. 

^)  Gelebt  hat  sie  wahrscheinlich  meist 
in  Mytilene,  wo  ihr  Bruder  Larichos  Pagen- 
dienst tat  (fr.  189):  auch  ihren  anderen  Bruder 
Charaxos  nennt  Herodot.  II  185  Mytilenäer, 
und  die  Mytilenäer  machten  nach  Aristot. 
rhet.  1898  b  12  Anspruch  auf  sie  als  Mit- 
bürgerin. 

^)  Diphilos  ließ  in  seiner  Sappho,  gegen 
die  Zeitrechnung,  Archilochos  und  Hipponax 
als  ihre  Liebhaber  auftreten;  s.  Ath.  599 d. 
O.RiBBBCK,  Gesch.  d.  röm.  Dichtung  P,  Stuttg. 
1894,  165.     Siehe  a.  o.  S.  184,  6. 

®)  Suidas  u.  ^üajrqoj;  auch  hierin,  beson- 
ders in  dem  Namen  Aridros  (Männerstadt),  hat 
man  einen  Witz  der  Komödie  gefunden. 
Unter  den  Fragmenten  redet  von  Männerliebe 
nur  75,  und  zwar  in  ablehnendem  Sinn. 
Fr.  186  mit  Maximos  Tyrios  auf  eine  Tochter 
der  S.  zu  beziehen,  ist  kein  Grund.  Das- 
selbe gilt  von  fr.  85. 

>oy  Herod.  II  185;  von  dem  Gedicht,  in 
dem  sie  dem  Ch.  seine  Entfremdung  von  der 
Familie  vorwirft,  scheint  auf  dem  Papyrus 
Oxyrh.  pap.  I  (1898)  10  ff.  ein  Rest  erhalten  zu 
sein;  zur  Rekonstruktion  dient  auch  Ps.Ovid. 
epist.  15, 68.  Des  zweiten  Bruders  Larichos,  der 
Mundschenk  in  Mytilene  war,  gedenkt  Sappho 
bei  Ath.  424  f.;  von  einem  dritten  kennen 
wir  nur  den  Namen  Eurygios. 


188  Griechische  Litteraturgeschichte.    L  Klaasische  Periode. 

infolge  der  politischen  Wirren  verließ  auch  sie  ihre  Heimat  und  floh  nach 
Sizilien.^)  Romantisch  ausgeschmückt  wurde  in  alter  und  neuer  Zeit  das 
Verhältnis  der  Dichterin  zu  dem  schönen  Jüngling  Phaon,  der  ihr  untreu 
wurde  und  dem  in  heißer  Liebe  in  der  Richtung  nach  Sizilien  nacheileody 
sie  sich  vom  leukadischen  Felsen  in  das  Meer  hinabstürzte.  Wahrschein- 
lich diente  der  romantischen  Erzählung  die  politische  Flucht  der  Sappho 
nach  Sizilien  zum  Ausgangspunkt,  und  die  Erwähnung  des  leukadischen 
Felsens  in  einem  ihrer  Lieder')  bot  Anlaß  zur  weiteren  Ausschmückung  der 
Sage.  Verzerrt  und  ins  Gemeine  herabgezogen  wurde  die  Beziehung  der 
enthusiastischen  Dichterin  zu  dem  Kreise  ihrer  Freundinnen.  In  Lesbos 
und  bei  den  Äoliern  überhaupt  hatte  das  Weib  eine  freiere  Stellung,  die 
den  engeren  Zusammenschluß  gleichgesinnter  Mädchen  und  Frauen  zu 
musischen  und  geselligen  Vereinen  (haigiai)  ermöglichte.  Auch  Sappho 
versammelte  in  ihrem  Hause,  das  sie  selbst  Musenheim  {jnoiaonokov  otxiav) 
nannte,^)  schöne  junge  Freundinnen,  mit  denen  sie  dichtete  und  sang  und 
an  denen  sie  mit  der  überschwenglichen  Liebe  einer  heißblütigen  Süd- 
länderin hing.^)  Sie  wirkte  hier  nicht  bloß  als  Chormeisterin  wie  die 
XooooTdrig^)  Hagesichora  in  Alkmans  Mädchenlied,  sondern  sie  dichtete 
auch  selbst  die  Lieder  für  ihren  Chor.  Eine  religiöse  Verbindung  des 
ganzen  Kreises  etwa  um  den  Kult  der  von  Sappho  so  oft  angerufenen 
Aphrodite  anzunehmen  liegt  nahe.^)  Maximus  von  Tyrus  denkt  sich  das 
Verhältnis  ähnlich  wie  das  des  Sokrates  zu  seinen  Schülern. '')  Hier  wie 
dort  spielte  neben  der  geistigen  Begabung  die  Schönheit  der  Qestalt  eine 
Rolle;  aber  erst  die  Ausgelassenheit  der  Komiker  und-  die  schmutzige 
Phantasie  der  Römer  haben  aus  den  schwärmerischen  Versen,  mit  denen 
Sappho  ihre  Freundinnen,  die  Atthis,  Telesippa,  Megara  u.  a.  feierte,  ein 


*)  Marm.  Par.  ep.  36  zwischen  604  und  Plin.  n.  h.  IV  89    endeten  die  Hyperboreer 

591:    ^a.iqo)    ry     MiTvh)ytii    fIs    Sixfkiat'  i   im  Greisenalter  ihr  Leben  durch  Sprung  von 

Fn?.FroFr  ffvynroa.   Ihre  Rückkunft  und  ihren  !   einem    Felsen:    hoc  genus   »epuUurae   frfo- 

Tod  in  der  Heimat  setzen  die  Grabschriflen  ,   tissimum. 

Anth.  Pal.  VII  14  u.  17  voraus.  »)  fr.  136.     Herod.  H  135    nennt   dem- 

*)  Siehe  F.  G.  Wklcker,  Kl.  Sehr.  II  105.  !    gemäß  die  Sappho  selbst  fAovoojtotoi, 

In  Leukas,   der  vom  Festland  losgetrennten  |           *)  Davon  zeugen  insbesondere  auch  die 

Insel  Akarnaniens,  bestand  ein  alter  religiöser  zwei  neuaufgefundenen  Gedichte  der  Sappho, 

Brauch,  einen  Menschen  zur  Sühne  der  Gott-  .   publiziert   von   W.  Schubert,   Neue    Bracb- 

heit  vom  Felsen   ins   Meer   hinabzustürzen;  stücke  der  Sappho  und  des  Alkaios,  Sitz.ber. 

ihn   erwähnten  Stcsichoros   fr.  43   und   Ana-  d.  pr.  Ak.  1902  S.  195  ff.;  F.  Solxsbn.  Rhein. 

kreon  fr.  19:  über  die  Lokalität  J.  Faktsch,  Mus.  57  (1902)  329;  F.  Blass,  Herrn.  37  (1902) 

Die  Insel  Leukas,  Petermanns  Mitteil.  Erg.-  456  ff. 

Heft  95,  1889,  p.  17  iQf.   Sappho   und    Phaon  ^)  Nach  dorischen  Begriffen  bestand  ein 

brachte  damit  in  Verbindung  Menandros  bei  wesentlicher  Teil  der  Erziehung  in  der  An- 

Strabon  p.  452;  s.  K.  0.  Müller,  Dorier  1 233  '   leitung  zum  Reigentanz:  Epicharm.  fr.  13  E.; 

und  E.  Oberhummer,  Akarnanien  S.  226.  Den  Ar.  ran.  729. 

Sprung  vom  leukadischen  Felsen  kennt  schon  |           ^)  Die  Beschränkung  auf  weibliche  Enlt- 

der  Logograph  Charon  von  Lanipsakos  fr.  6  M.  genossinncn  hätte  ihr  Analogon  in  der  Tai- 

und   noch   die   echte  neugriechische   Volks-  !   sache,   daß  in  Eresos  auch  ein  die  Fraoen 

sage  (K.  Dieterich,   N.  Jahrbb.  f.  kl.  Altert  ausdrücklich   ausschließender  Kult  für  hel- 

17, 1906,87).  Über  den  Todessprung  vom  leu-  lenistische  Zeit  inschrifblich  (P.  Erbtschmbr. 

kadischen  Felsen  vgl.  H.  Cseuer,  Göttemamen  Jahresh.  desösterr.archäol.Inst  5, 1902, 139ff.) 

328  f.,    über  seine  Verwendung  in  Novellen  bezeugt  ist.   Auch  an  den  parischen  Frauen* 

J.  TöPFFER,    Att.   Geneal.  266  f.;  über  den  thiasos  um  'JffnodiTtj  OhrQU)  (Mitt  des  ath. 

mythischen  Ursprung  des  Motivs  S.  Wide,  i   Inst.  18,  1893,  16  ff.)  darf  erinnert  werden. 

Festöchr.  f.  O.Benndorf,  Wien  1898, 13  ff.  Nach  !           ')  Max.  Tyr.  24,  8. 


B.  Lyrik.    L  Xonodisohe.    8.  Die  lesbiBche  und  ionische  Eitharodie.    (§  116.)     189 

gemein  sinnliches  Verhältnis  herausgelesen,  von  welchem  Vorwurf  die  Dich- 
terin in  unserer  Zeit  F.  G.  Welcker,  Kl.  Sehr.  11  80  flf.,  gereinigt  hat.^ 
Anlai  zu  dichterischer  Betätigung  fand  Sappho  namentlich  beim  Abschied 
(fr.  Berol.  2)  oder  der  Verheiratung  (im^aMjuia)  ihrer  Schülerinnen;  auch 
Grabepigramme  hat  sie  den  Gestorbenen  gemacht.  Die  Rhetoren  der 
Eaiserzeit  wie  Dion  von  Prusa,  Alius  Aristides  und  besonders  Chorikios 
ahmen  das  in  Prosawerken  nach.  Die  Gedichte  der  Sappho  haben  die 
Alexandriner  in  9  Bücher  eingeteilt;  maßgebend  war  bei  der  Anordnung 
im  Prinzip  das  Versmaß,  so  daß  z.  B.  das  1.  Buch  Gedichte  in  sapphischen 
Strophen,  das  zweite  PentÄmetra,  das  dritte  Versus  Asclepiadei  maiores, 
das  vierte  sapphische  Hexakaidekasy Ilaben  enthielt.^)  Wir  sind  so  glück- 
lich, außer  zahlreichen  Fragmenten  noch  zwei  vollständige  Gedichte  zu 
haben,  eine  Anrufung  an  Aphrodite  um  Beistand  in  Liebesnot  und  ein  Be- 
kenntnis eifersüchtiger  Liebe  zu  der  süßredenden,  wonniglachenden  Freun- 
din;') dazu  sind  in  unserer  Zeit  noch  einige  seelenvolle,  tiefes  Naturgefühl 
atmende  dreizeilige  Strophen  aus  ägyptischen  Pergamentstücken  in  Berlin*) 
gekommen.  Der  Grundton,  der  alle  ihre  Gedichte,  die  Liebeslieder,  Epi- 
thalamien,  Epigramme  durchklingt,  ist  der  verzehrender  Liebesglut,  die  sie 
mit  einer  bei  einer  Frau  uns  doppelt  auffallenden  Offenheit  ausspricht,  wie 
wenn  sie  singt  (fr.  52): 

dedvxe  jLikv  ä  oeXdwa  \  xal  TlXrjiadeg,  jueoai  de 
rvTcreg,  naga  d'  sq^st'  wga,  \  iya>  dk  juöva  xa^evöco,^) 
Der  sinnliche  Reiz  gehört  zur  Erotik,  namentlich  bei  den  Alten,  die 
geneigt  sind,  Schönheit  und  Tugend  sich  festverbunden  vorzustellen,  ß)  aber 
es  ist  nicht  die  schöne  Gestalt  allein,  die  Sappho  begeistert,  sie  verschmäht 
den  Reichtum  ohne  Tugend  (fr.  81)  und  verweist  in  das  Dunkel  des  Hades 
das  Mädchen,  das  nicht  teilhat  an  den  pierischen  Rosen  (fr.  68).  Alle  ihre 
Gedanken  aber  kleidet  sie  in  die  anmutigste  Sprache,  die  harte  Lautver- 
bindungen sorgfaltig  meidet^)  und  liebliche  Bilder,  wie  vom  sonnengeröteten 
einsamen  Apfel  am  hohen  Ast,  der  bei  der  Ernte  vergessen  worden  ist 
(fr.  93),  uns  vorzaubert.  An  Reichtum  und  Zartheit  des  Rhythmus  über- 
triflft    sie   noch   den  Alkaios.     Außer  der  nach  ihr  benannten  vierzeiligen 


*)  Der  Sinn  von  Horaz  epist.  I  19,  28 
temperat  Archilochi  musam  pede  masctäa 
Sappho  erkl&rt  sich  aus  Eorinna  fr.  21  und 
Stet  sUv.  V  3,  154  f.  Pedantische  Gram- 
matiker wie  Didymos  untersuchten  schon  im 
Altertum  allen  Ernstes,  an  Sappho  publica 
fuerit,  8.  Seneca  ep  88,  87. 

•)  WiLAMOwrrz,  Textgesch.  der  griech. 
Lyr.  71  ff. 

')  Übersetzt  von  Gatull  51,  der  uns  auch 
in  dem  Epithalamion  62  einen  Begriff  von 
den  gleichnamigen  Liedern  der  Sappho  gibt. 

*)  Berliner  Klassikertexte  V  2  p.  9—18; 
ein  schon  von  J.  Rkiske  bemerktes  Fragment 
im  Anfang  von  Julian,  epist.  60  ist  jetzt  von 
WiLAMOWiTZ  (Textgesch.  der  griech.  Bukol., 
Berl.  1906,  179)  hergestellt. 

*)  Diese  wundervollen  Verse  fllr  unecht 


erklären  (Wilamowitz,  IsylJos,  Berl.  1886 
S.  129,  7;  ders..  Textgesch.  d.  gr.  Lyr.  33,  1) 
ist  übel  angebrachte  Prüderie,  zumal  wir  ja 
gar  nicht  wissen,  ob  hier  die  Dichterin  von 
sich  redet.  Auch  fr.  90.  96.  102.  169  sind 
mimisch  zu  verstehen. 

*)  Sapph.  fr.  101  drückt  das  etwas  vor- 
sichtig aus:  6  /nev  yäg  xdkog,  öooov  idfjv, 
jzelFTai  äya&oq,  6  Se  xäyaOog  avrtxa  xai  xaJ.og 
faoFiai. 

^)  Dionys.  de  comp  verb.  28,  wo  sie  als 
Muster  der  ykaqvga  xni  dv&rjQa  ovvüfoig  ge- 
priesen wird;  Demetr.  de  eloc.  166 f.,  wo  auch 
das  Anpassen  der  Worte  an  die  verschiedenen 
Personen  in  den  Epithalamien  hervorgehoben 
wird.  Die  Anmut  der  von  ihr  erweckten 
Sach Vorstellungen  lobt  Demetrios. 


190  (hieoMsche  LüteratnrgMchiohte.    L  EUunisohe  Ptriod«. 

Strophenform  und  der  dreizeiligen  Strophe,  die  uns  die  Berliner  Fragmente 
kennen  lehren,  dichtete  sie  in  einfachen  Systemen  aus  gleichen  Oliedem 
(pvozrjjuara  i(  ö/nomv),  mehrgliedrige  zu  je  zwei  verbundene  Verse  ans 
wechseiförmigen  Takten  der  sechszeitigen  Gattung,  daktylische  Reihen  mit 
freierer  Bildung  des  ersten  Fußes,  ähnlich  den  homerischen  arixoi  dxhpaloi 
{AloXiHCL  /nhga);  auch  die  „Erfindung"  einer  neuen  Tonart,  der  mixolydir 
sehen,  und  eines  voller  klingenden  Saiteninstruments,  der  nrixjk  oder  /id- 
yadtc:^  wird  ihr  beigelegt.  ^  Sappho  hat  früh  hohe  Anerkennung  gefunden. 
Schon  Mimnermos  (fr.  5)  klingt  an  sie  (fr.  2,  13)  an.  Zur  Nachahmung 
bekennt  sich  der  ungenannt«  Dichter  bei  Bergk  PLG  III^  p.  706,  62.  Ana- 
kreon  ist  ohne  ihren  Vorgang  gar  nicht  denkbar.  Als  eine  Erscheinung 
ohnegleichen  gilt  sie  dem  Strabon.^)  Sie  hat  als  erste  die  liebende  Seele 
sprechen  gelehrt,  und  von  dem  Bilder-  und  Vorstellungsschatz,  den  sie  mit 
der  feinfühligen  Treffsicherheit  echter  Empfindung  geschaffen  hat,  zehrt 
die  erotische  Lyrik  der  folgenden  Jahrtausende.  Insbesondere  lieben  es 
die  Khetoren  und  Poeten  des  spätesten  Altertums  im  4.  und  5.  Jahrhundert, 
ihre  Exerzitien  mit  Sapphos  Rosendüften  zu  parfümieren.  CatuU  und 
Horaz  haben  mit  der  Nachahmung  ihrer  Lieder  die  römische  Lyrik  über 
die  seelenlose  Künstelei  der  Alexandriner  erhoben.^)  Die  meisten  der 
Lieder  waren  zu  monodischem  Vortrag  mit  Lyrabegleitung  bestimmt,  zum 
Chorvortrag  nur  die  Hochzeitslieder  oder  Epithalamien.*)  In  einem  von 
diesen,  das  Catull  62  übersetzt  oder  nachgebildet  hat,  kamen  zwei  Chöre, 
einer  von  Mädchen  und  einer  von  Knaben  vor,  und  war  obendrein  dadurch, 
daß  am  Schluß  der  einzelnen  Strophen  der  Gesamtchor  mit  jubelndem 
Ephymnion  einfiel,  ein  schöner  Wechsel  in  den  Vortrag  gebracht.  Das 
Bildnis  der  Sappho  erscheint  auf  mytilenäischen  Münzen,  und  ihre  Statue 
von  Silanion  wird  von  Cicero  in  Verr.  IV  126  als  unübertroffenes  Meister- 
werk gerühmt.^) 

117.  Von  dem  glühenden  Farbenreichtum  der  lesbischen  Monodik  ist 
der  ionische  Liederfrühling,  der  für  uns  allein  durch  Anakreon  vertreten 
wird  —  denn  Pythermos  von  Teos  ist  uns  nur  ein  Name^)  — ,  ein  matter 
Abglanz.  In  der  ionischen  Erotik  und  Sympotik  herrscht  ein  stark  reflek- 
tierender, kalmiert-quietistischer,  sinnlicher  Zug,  eine  innere  Kälte,  ein 
egoistisches  Genußverlangcn,  das  mit  der  Befriedigung  des  Begehrens  ver- 
schwindet, ein  tändelndes  Spielen  mit  dem  Gegenstand,  das  bis  an  die 
Grenze   ironischen  Verhaltens  geht,   nirgends  die  innere  Ergriffenheit  tief 


')  Flut,  demiis.  16  (s.  aber  auch  dcns.  c.  28). 
Ath.  635  b  nach  MeDaichmos  ^fq}  xF.yviT&v, 
*)  Strabon   p.  617   nennt  sie   i}avfta<jzöy 


*)  Aber  dazu  nach  Demetr.  de  eloc.  167 
nicht  passend. 

^)  Auch  auf  Vasen  wird  S.  dargestellt 


r/  xorifia.    Die  zehnte  Muse  heißt  sie  Anth.  (P.  Kketsghmer,  Die  griech.  Vaseninschriften 

Pal.  IX  506.  93.  182  f.). 

*)  Philostr.  Vit  Apoll.  I  30  erwähnt  eine  ;           «)  P.  di'^.htete  Skolien,  von  denen  AtL 

Pamphylierin   Damophyle,   die    damals  Sap-  \   625  c  einen  Vers  erhalten  hat  Ananiosfr.  2 

phos  Lebensweise  und  Dichtung  nachahmte.  zitiert  ihn.   Möglicherweise  ist  er  etwas  ftlter 


Schon  Balbilla,  die  Hofdame  der  Kaiserin 
Sabina,  die  sich  mit  einem  äolischen  Epi 
gramm     auf    der    Memnonsäule     verewigte 


als  Anakreon.  Seine  Kompositionen  sollen  in 
der  ionischen  Tonart  gehalten  gewesen  sein, 
die  Piaton  (reip.  398  e)  nebst  der  lydischen 


(G.  Kaibkl,  Epigr.  Gr.  990^   kam   sich  ohne      als   erschlaffend,   zur  fifOrj^  fmkaxia^   &QykL 
Zweifel  als  neue  Sappho  vor.  I   stimmend  charakterisiert 


B.  Lyrik.    L  Ifonodische.    3.  Die  lesbiBche  und  ionische  Eitharodie.    (§117.)     191 


and  stark  empfindender  Seelen.  Anakreon^)  aus  der  ionischen  Stadt  Teos 
schloß  sich  im  erotischen  Ton  seiner  Dichtungen  ganz  an  die  lesbische 
Melik  an,  bediente  sich  aber  des  ionischen  Dialektes  seiner  Heimat.  In 
bewuitem  Gegensatz  gegen  die  Aulodik  hat  er  bloß  kitharodische  Lieder 
gedichtet.*)  Infolge  des  Angriffs  des  persischen  Satrapen  Harpagos  auf 
lonien  (545)  wanderte  Anakreon  nach  Abdera,  einer  teischen  Kolonie  in 
Thrake,  aus.*)  In  diese  Zeit  werden  die  hübschen  Verse  auf  das  „thra- 
kische  Füllen*  (ifr.  75.  96),  vielleicht  auch  die  auf  den  Thraker  Smerdies 
(fr.  48;  Anth.  Pal.  VII  25,  8;  27,  6)  zu  setzen  sein;  ebenso  seine  wenig 
rühmlichen  Kriegstaten,  deren  er  selbst  scherzend  gedenkt  (fr.  28.  29). 
Später  treffen  wir  ihn  neben  Ibykos  am  Hofe  des  Polykrates,  des  mächtigen 
und  kunstsinnigen  Tyrannen  von  Samos  (533 — 522),  bei  dem  er  als  Herold 
der  Liebe  und  des  Lebensgenusses  in  besonderer  Gunst  stand.*)  Nach 
dessen  Fall*)  zog  ihn  Hipparchos  nach  Athen, 0)  wo  er  mit  den  vornehmen 
Kreisen  Athens,  insbesondere  mit  Kritias,  dem  Großvater  des  „Tyrannen" 
Kritias,  und  Xanthippos,  dem  Vater  des  Perikles,  Beziehungen  anknüpfte; 
nachdem  auch  Hipparchos  gefallen  war  (514),  scheint  er  einer  Einladung 
des  Echekrates,  eines  thessalischen  Dynasten  aus  dem  Hause  der  Aleuaden, 
gefolgt  zu  sein.^)  Er  erreichte  das  hohe  Alter  von  85  Jahren,®)  und  als 
lebenslustigen  Greis,  der  trotz  der  gebleichten  Haare  nicht  von  Wein  und 
Liebe  ließ,  pflegte  man  ihn  mit  Vorliebe  sich  vorzustellen. »)  Die  Alexan- 
driner hatten  von  ihm  Elegien,  Epigramme,  lamben  und  juüt]  und  ver- 
teilten sie  in  5  Bücher  ;^o)  auf  uns  sind  davon  außer  zwei  vollständigen 
Liedern  (fr.  43  und  75)  nur  zerstreute  Trümmer  gekommen.  Die  lamben, 
namentlich  das  durch  Athenaios  erhaltene  Spottgedicht  auf  Artemon  (fr.  21), 
beweisen,  daß  Anakreon  auch  archilochische  Töne  anzuschlagen  weiß.^^) 
Aber  die  Mehrzahl  seiner  Lieder  zeigt  den  heiteren  Gesellschafter  und  ge- 


»)  Eine  dttrftige  Vita  bei  Suidas;  F.G. 
Wklokbb,  Kl. Sehr.  I  251  ff.;  L.  Wbbkb,  Ana- 
creoDtea,  Diss.  Gott.  1895. 

*)  avXc^  avxuioXog,  (pdoßdgßiioc,  yjdvg, 
äXvjiog  nennt  ihn  Kritias  fr.  7  (PLG.n<283). 

')  Strab.  p.  644;  Suidas  spricht  irrtam- 
lieh  von  Histiaios. 

*)  Herod.  IH  121,  Strab.  p.  638. 

*)  Den  sprichwörtlich  gewordenen  Vers 
ixfjTi  2vXoo(bvT<s:  evQvxcjgitj^  der  sich  auf 
Syloson,  den  nach  Polykrates'  Fall  mit  per- 
sischer Gewalt  eingesetzten  Bruder  des  Pol. 
bezieht,  schreibt  0.  Cbusiüs  (Realencykl.  I 
2038,  22)   recht  wahrscheinlich  dem  An.  zu. 

•)  Ps.Plat  Hipparch.  228  c;  Charm.  157  e. 

')  Geschlossen  aus  fr.  103  u.  109  von 
A.  Mbekeius.    Siehe  auch  Webeb  a.  a.  0.  33. 

')  Luc.  macrob.  26;  sein  Grab  befand 
sich  in  Teos  nach  dem  Epigramm  in  Anth. 
Pal.  VII  25;  X  699;  s.  indessen  Th.  Bebok, 
Gr.  Litt  II  339. 

*)  80  ist  er  aufgefaßt  auf  teischen  Mün- 
zen, auf  einer  attischen  Vase  mit  Namens- 
beiachrifb  (Jahresh.  des  österr.  arch.  Inst.  3, 
1900, 89)  und  in  einer  Marmorstatue  der  Villa 


Borghese;  s.  A.  Baümbisteb,  Denkm.  79;  als 
Sänger  in  halbtrunkenem  Zustand  dargestellt 
sah  ihn  Pausanias  I  25,  1  auf  der  Akropolis 
in  Athen.  Über  die  beste  Büste,  jetzt  im 
Berliner  Museum,  R.  Kekul^,  Jahrb.  d.  arch. 
Inst  7  (1892)  119  ff.  tab.  3.  —  Über  seine 
unmöglichen  Beziehungen  zu  Sappho  s.  o. 
S.  184,6.  Daß  dem  anakreonteischen  Lebens- 
ideal der  igvift]  (Julian.  Misopog.  init.)  die 
Lebenshaltung  der  ionisierten  reichen  Athener 
vor  den  Perserkriegen  entsprach,  mag  man 
aus  Thucyd.  I  6,  3  und  Heraclid.  Pont.  fr.  1 
Voss  (=  Ath.  512  a)  entnehmen.  Ein  eigen- 
tümliches Licht  wirft,  wenn  sie  wahr  ist,  die 
Bemerkung  bei  Ath.  429  b,  daß  Anakreon  gar 
kein  Trinker  gewesen  sei,  auf  sein  trunkenes 
Gebaren. 

10)  Von  Krinagoras  Anth.  Pal.  IX  239  be- 
zeugt ßvßXojv.-zFrTdg;  zitiert  finden  sich  nur  drei 
Bücher  ftekrj ;  nach  0.  Cbüsius  bei  Wissowa  I 
2041  enthielten  die  zwei  übrigen  Bücher 
ekeyeia  xal  id^ißovg. 

11)  Epodenform  läßt  sich  übrigens  bei 
ihm  nicht  nachweisen,  auch  nicht  fr.  21. 


1 92  GhriechiBche  Litteraturgeschiohte.    I.  KUuMdsche  PeriodA. 

nußfrohen  Lebemann,  der  nicht  Überfluß  und  hohes  Alter,  Bondem  sorgen- 
freies Behagen  wünscht  (fr.  8),  dem  das  Saitenspiel  beim  Weingelage  Aber 
alles  geht,  der  nur  durch  das  Beil  des  Eros  verwundbar  ist  (fr.  48),  und 
auch  beim  Herannahen  des  grauen  Alters  mit  Wein  und  Lied  sich  den 
Gedanken  an  den  dunklen  Abgrund  des  Hades  verscheucht  (fr.  43).  Unter 
seinen  Hymnen  an  die  Götter  trägt  der  auf  Dionysos  (fr.  2)  einen  BbBxk 
subjektiv  erotischen  Charakter.  Objektiver  ist  der  Artemishymnus  (fr.  1) 
für  Magnesia  am  Maiandros,  dessen  Bewohnern  er  ein  Kompliment  macht. 
Dem  spielenden  und  weichen  Inhalt  entspricht  auch  die  Form  seiner  Lieder; 
als  Strophe  verwandte  er  zumeist  die  gefälligen,  aber  leicht  einförmig 
wirkenden  glykoneischen  Systeme,  wie  in  fr.  4 

Yi  TiaT  Tzaodeviov  ßAhrcov,  -.w-w|w-w» 

ovx  eidiog  ort  rrjg  ijufjg  „  —  _  vy  |  v^  -  ^  - 

daneben  mit  besonderer  Virtuosität  die  zum  Ausdruck  artigen  Liebesspiels 
vorzüglich  geeigneten  loniker^)  a  minore,  deren  anaklastische  Form  mit 
verwischten  Taktgrenzen  für  seinen  bewußt  taumelnden  Gang  besonders 
bezeichnend  und  auch  seiner  leichten  Handhabung  wegen  bis  in  das  späteste 
Altertum  von  Dichterlingen,  die  Trunkenheit  simulierten,  besonders  gern 
nachgebildet  worden  ist.     Ein  Beispiel  gibt  fr.  43: 

Tiohoi  /idy  tjutv  ijÖj]  xodrnqroi  xaQrj  re  Xetfxöv, 
yaoieooa  d'  ovxh'  fjßj]  ndoa,  yrjgakeot  6'  ddövreg.^) 
Von  Tonarten   soll  Anakreon   nur   die   dorische,    lydische  und  phrygische 
angewendet  haben.')     Zu   dem   subjektiven  Ton   seiner  Lieder  pafite  nur 
der  Vortrag  durch  einen  einzelnen.    Wenn  dagegen  Kritias  fr.  7  in  einem 
Preislied  auf  Anakreon  von  nächtlichen  Mädchenchören  spricht 
ovnoxF  nor  (ftX()xr]g  y}]odoeT(u  ovde  t^avdrnt, 
tOT    är  vöcoo  ou'O)  ovjuuetyvvjuevov  xvUxeooiv 
Jiaig  Öinnof.inF,vj]f  TTOOJiooeig  ijtide^ia  v(t)/n(bi*, 
Tian'vxtdag  i^'  ffofis  dtjkeig  ;|^ooo{  d/nq-ifSTwaiVf 
so    kann    sich   das   nur   auf  den   Vortrag   einzelner   Lieder,   insbesondere 
Hymnen,   beziehen.     Wie  Anakreon   im  Leben   als   höfischer   Dichter  und 
heiterer  Gesellschafter  überall  beliebt  war,  so  hörte  man  auch  nach  seinem 
Tod    noch  gern,   besonders  in  Attika,*)  wo  er  gewirkt  und  wohl  auch  die 
dort  einheimische  Skolienpoesie   befruchtet  hatte,   bei  Gelagen  und  nächt- 
lichen Festfeieni  seine  liebestrunkenen  Lieder.     Was  die  neunzehn  in  der 
palatinischen  Anthologie  auf  Anakreons  Namen  laufenden  distichischen  Epi- 

*)  Die  gebrochene  Form  des  lonicus.  die  verhältnismftfaig  früh  (Tractat.  metr.  Ozyrh. 

Anakreon  neben  der  regelrechten  verwendete.  pap.  II 1899  nr.  120  col.  10;  Hephaest.  p.  16, 18 

erschien  .Späteren  als  Nachlässigkeit,  welche  '    Consbb.)  in  metrische  Handbücher  aafgenom- 

Anschanung  sich  in  Horaz  epod.  14,  12  tton  !   men  nur  fr.  92. 

elaborntum     ad    pedem     ausspricht.       Ohne  ')  Posidon.  bei  Ath.  635c. 

Zweifel    fand   A.   diese  Formen    im   Volks-  *)  Siehe  o.  S.  191,  9;    vom    Anakreon- 

gesang  Toniens  vor  (Wilamowiz,  Isyllos  159).  kultus  in  Athen  meldet  uns  das  zitierte  ijpi- 

*)  Von  Hemiamben  (o  utv  {>Fko)v  ^nxeo-  gramm  des  Kritias.     Einfluß  auf  Aischyfoa 

Oai,  I  nnrnoii  yuo,  fiayjoihn),  wie  sie  von  den  behauptet  Schol.  Aesch.  Prom.  130.    Ansto- 

späteren  Anakreontikem  in  Menge  produziert  phanes  Ach.  848   kann  auf  ein    Lied  Ad»- 

w  Orden  sind,   findet  sich    als   anakreon  tisch  |   Kreons  anspielen. 


B.  Lyrik.  L  Xonodisohe.  8.  Die  lesbische  nnd  ionische  Kitharodie.  (§§  118—119.)      193 

gramme  betriflffc,  so  ist  die  Echtheitsfrage  von  Fall  zu  Fall  zu  prüfen  und 
fQr  fünf  unter  ihnen  (fr.  102.  106.  108.  115.  116)  jedenfalls  zu  verneinen.^) 
In  hellenistischer  Zeit  schrieb  Chamaileon  über  ihn,  die  großen  Philologen 
Zenodotos  und  Aristophanes  von  Byzantion  beschäftigten  sich  mit  der  Kritik 
seiner  Gedichte,  Aristarchos  besorgte  eine  Ausgabe  und  schrieb  vielleicht 
einen  Kommentar.*)  In  der  Kaiserzeit  lag  auch  eine  nacharistarchische 
Ausgabe  vor.*)  Allmählich  traten  seine  echten  Gedichte  hinter  den  tän- 
delnden Spielereien  seiner  Nachahmer  zurück.*) 

118.  Die  Anakreontea  sind  eine  Sammlung  von  62  Gedichten  in 
der  Art  des  Anakreon  {\4vaxQeovrog  rov  Trjtov  ovujiooiaxa  fjjutdjußia),  die 
der  Anthologie  des  Konstantinos  Kephalas  angehängt  sind.  Sie  galten 
früher  allgemein  als  echt  und  fanden  noch  im  vorigen  Jahrhundert  bei 
unseren  Anakreontikern,  Uz,  Götz  u.  a.,  überschwengliche  Bewunderung. 
Davon  ist  man  jetzt  abgekommen,  nachdem  man  diese  Lieder  mit  den 
echten  Fragmenten  des  Anakreon  achtsamer  verglichen  und  ihre  große 
Verschiedenheit  in  Versbau,  Dialekt  und  Ton  erkannt  hat.  Daß  die  Samm- 
lung Nachahmungen  enthalte,  ist  indes  früh  bemerkt  worden;  trägt  doch 
das  zweite  die  Überschrift  rov  avxov  Baouiou,  und  spricht  das  sechzigste 
geradezu  von  Nachahmung  des  Anakreon.  Aber  R.  Bentley,  F.  Mehlhorn, 
C.  B.  Stark,  F.  G.  Welcker^)  begnügten  sich  mit  der  Annahme  einer  Ver- 
mischung von  Echtem  mit  Unechtem,  während  heutzutag  allgemein  die 
ganze  Sammlung  als  spielende  Nachahmung  aus  verschiedenen  Zeiten  an- 
gesehen wird.  Der  erste  Teil,  der  die  zwanzig  ersten  Gedicht«  umfaßt 
und  mit  einem  Lied  in  Glykoneen  und  Pherekrateen  abschließt, ^0  scheint 
schon  dem  Gellius  XIX  9  vorgelegen  zu  haben,  der  daraus  das  dritte  unter 
dem  Namen  des  Anakreon  anführt.  Der  zweite  Teil  (21 — 34)  enthält  eine 
Doppelgruppe  von  sieben  Gedichten  in  Hemiamben  und  sieben  in  ge- 
brochenen ionischen  Dimetern,  darunter  das  artige,  von  Goethe  nachgebil- 
dete Gedichtchen  auf  die  Zikade  (32).  Der  Rest  umfaßt  Gedichte  jüngeren 
Datums,  zum  Teil  schon  mit  starken  metrischen  und  prosodischen  Fehlem, 
wie  52,  8  und  58,  9.  In  diesen  jüngeren  Gedichten  tritt  auch  entsprechend 
den  Sittlichkeitsbegriffen  der  Zeit  die  Knabenliebe  ganz  zurück.^)  —  Dem 
aus  dem  Altertum  stammenden  Corpus  Anacreonteorum  läßt  Th.  Bergk 
PLG  III*  p.  339 — 375  noch  aus  den  Anekdota  von  P.  Matranga  eine  Appendix 
ähnlicher  Nachbildungen  aus  dem  beginnenden  Mittelalter  folgen,  die  mit 
den  christlichen  Anakreonteen  des  Sophronios  verwandt  sind. 

119.    Neben    den    großen   Meistern  Alkaios,    Sappho,  Anakreon    hat 
Griechenland  noch  eine  Reihe  von  Liederdichtern   und  auch  Liederdichte- 

*)  WiBEB  a.  a.  0.  31  ff.;  Wilamowitz,  |  ^)  F.  Haussen,  Über  die  Gliederung  der 

Textgeschichte  d.  gr.  Lyr.  36  f.     Das  Stück  .  Anakreontea  in  Vhdl.  der  36.  Vers.  d.  Phil,  in 

fr.  104  findet  sich  auf  einer  attischen  Herme  I  Karlsruhe  1 882, 284  ff.;  Anacreonteorum  sylloge 

vom  Ende  des  6.  Jahrh.  (CIA  I  381).  ,  Palatina,  Lips.  1884.   Jn  den  Gedichten  21  bis 


»)  Orion  3,  11. 

>)  Wkbbb  a.  a.  0.  6—9. 

*)  Horaz  hat  noch  Anklänge  an  den 
echten  Anakreon;  so  od.  I  23  u.  III  11.  9  an 
fr.  52  u.  75;  vgl.  od.  I  27  u.  fr.  63. 

*)  F.  6.  Wblcker,  Die  Anakreonteen, 
Kl.  Sehr.  II  356  ff. 


31  weist  0.  Cbüsiüs,  Philol.  47  (1888)  236  ff. 
Anklänge  an  Wendungen  der  Sophisten  der 
Kaiserzeit  nach.  Nr.  5  trägt  in  Anth.  Pla- 
nudea  388  die  Aufschrift  dio  *Iov?,tarov  d.-io 
vjidnyuiv  AlyvTixlov. 

')  Anth.  Pal.  VII 25  versteht  Anakreons 
Erotik  als  Tiaibixo^  FQiog. 


Handbuch  der  klaas.  AlteriamswiBseiiachaft.    VII.    5.  Aafl.  13 


194  Griechiaehe  LüteratnrgeBchiehte.    L  KlaasiBohe  Periode. 

rinnen^)  in  äolischen  und  dorischen  Landschaften  hervorgebracht.  Yen 
diesen  sind  die  namhaftesten:  Myrtis  aus  Anthedon  in  Böotien,*)  Korinna 
aus  Tanagra,  die  beide  zur  Zeit  Pindars  lebten,  jene  sogar  in  einen  Wett- 
streit mit  dem  großen  Chormeister  sich  einliefi.  Korinna  will  im  Gegen- 
satz zu  Pindars  weithin  schallendem  Ton  reine  Volks-  und  Landschaft»- 
dichterin  sein:  sie  trägt  einheimisch  boötische  Sagen  (Orionsage,  Sieben 
gegen  Theben,  Minvaden,  Sängerstreit  zwischen  den  Berggöttem  Helikon 
und  Kithairon,  ein  Motiv  bukolischen  Charakters,  aber  in  den  Olymp  ver- 
setzt, die  Töchter  des  Asopos)  in  böotischem  Lokaldialekt  und  einfach 
populären  Versmaßen  (ionischen  und  choriambischen  Dimetra,  Pherekrateen, 
zu  kurzen  Strophen  monostrophischen  Baus  zusammengefaßt)  vor,  wie  wir 
jetzt  aus  den  beträchtlichen  Berliner  Papyrusfragmenten*)  sehen.  Pra- 
xilla  aus  Sikyon,  die  nach  Euscbios  um  455  blühte,  erwarb  sich  besonders 
durch  ihre  Trinklieder  (nagoma)  Ruhm  und  ist  demnach  als  Hetäre*)  zu 
verstehen;  nach  ihr  ist  auch  ein  logaödisches  Metrum  IlgaSiUetoy  genannt, 
von  dem  die  Metriker  als  Muster  den  logaödischen  Tetrameter  in  äolischem 

Dialekt  anführen: 

,  I 

v-zw        \y     \J       ^       WW.    W_W 

ü)  did  TÖyy  &vQida)v  xakoy  ijußkeTioioa. 
Unter  ihren  /nüt]  oder  v/nvoi  wird  um  eines  drolligen  Zuges  willen  ein 
Adonislied  erwähnt.*)  Sonst  hat  sie  auch  Dithyramben  heroischen  Inhalts, 
z.  B.  einen  Achilleus  gedichtet.  Telesilla  aus  Argos  dichtete  Lieder  in 
ionischen  Dimetem  a  maiore  mit  trochäischem  Schluß,  Hephaistion  gibt  als 
Beispiel 

'Ad'  ''Agrefug,  d)  xooai,  —    -   ' — '     -    ^    - 

(fEvyoioa  Tov  ^AhpEov.  -     -   v^^  |  —    ^    i^ 

Gefeiert  war  sie  durch  ihren  Heldenmut,  indem  sie,  als  Kleomenes  die 
Argeier  besiegt  und  die  waffenfähigen  Männer  getötet  hatte  (im  Jahr  510), 
die  Frauen  zur  Verteidigung  der  Stadt  aufgerufen  haben  solL^)  Auffällig 
ist  nur,  daß  Herodot,  sonst  ein  Bewunderer  weiblicher  Größe,  der  VI  76  flf. 
jene  Kämpfe  erzählt,  nichts  von  Telesilla  meldet;  auch  Eusebios  setzt 
sie  weit  später,  Ol.  82,  2,  an.  Noch  weniger  kann  Erinna,  wahrschein- 
lich von  Telos,  die  angebliche  Freundin  der  Sappho,'')  von  der  es  ein 
berühmtes  Gedicht  in  Hexametern,  die  Spindel  (ijXaxdTtj)  gab,®)  unserer 
Periode  zugewiesen  werden;   vielmehr   lebte  sie  im  Anfang  der  alexandri- 

*)  Antipatros  Anth.  Pal.  IX  56  zählt  neun  i   griech.  Lyr.  S.  76—80  sucht  die  Überliefenuig 

Dichterinnen,  so  viel  wie  Musen,  auf.  ,   zu  veiieidigen  und  auch  aus  den  ersten  Versen 

^}  Corinna  fr.  21 ;  Plut.  aet.  Gr.  40.  -   des  Orakelspruches  bei  Herod.  VI  77  heiaos- 

^)  Berliner  Klassikertexte  V  2   p.  19  flf.  i    zulesen. 

(dazu  0.  Schröder,  Berl.phil.W.sclii".  27. 1907,  ^)  So   Suidas,   der   sie  haioav  Sasripfn^g 

1441  flf.);  der  Pap.  stammt  aus  dem  2.  Jahrh.  '   xai  ouöyom'ov   nennt,   womit   aber   Eosebios 

n.  Chr.  und  enthält  einige  kurze  Randscholien.  :    nicht  stimmt,  der  sie  auf  352/1  v.  Chr.  setzt, 

*)  WiLAMOWiTZ,  Eurip.  Herakl.  P  69.  ,    ebensowenig  Plinius  (N.  H.  34,  57),  nach  dem 

^)  Zenob.  prov.  1V21.  Der  hexametrische  '   sie  Werke   des  Myron   erwähnt  haben  soll. 

Wortlaut,    den    der    Cod.  Coislin.    darbietet  1   Siehe  Wilamowitz.  Textgesch.  58,  4. 

(fr.  2  Bgk.).  ist  für  ein  //f/oc  unmöglich.  ®)  Die   Echtlieit   war   im    Altertum   be- 

*)  Paus.  II  20,  8;   Plut.  de  virt.  mul.  5;  '    zweifelt  (Ath.  283d). 

Polyän.  Vlll  23.   Wilamowitz,  Textgesch.  d.  | 


B.  Lyrik.    IL  Chorlyrik.    (§§  120—121.)  195 

nischen  ZeitO  und  ist  nur  dadurch,  daß  sie  mit  Glück  Sappho  nachahmte, 
zum  Ruhm  einer  Freundin  der  lesbischen  Dichterin  gekommen.*) 

120.  Daß  ims  griechische  Volkslieder ä)  nur  wenige  erhalten  sind, 
ist  in  der  durch  das  homerische  Epos  vorgezeichneten  einseitig  aristokra- 
tischen Haltung  der  griechischen  Litteratur,  besonders  der  von  ionischem 
Qeist  inspirierten  begründet,  vermöge  der  nur  das  mit  voll  bewußter 
Technik  bis  ins  Detail  Durchgearbeitete  der  Erhaltung  wert  gefunden 
wurde.  Daß  es  aber  in  Griechenland,  und  zwar  in  allen  seinen  Teilen, 
eine  Fülle  von  Volksliedern  ebenso  wie  sonst  überall  gegeben  hat,  ist 
selbstverständlich.  Wir  haben  zu  bedauern,  daß  auch  die  Wissenschaft, 
selbst  die  empirisch  gerichtete,  wie  die  peripatetische  Geschichtsforschung 
und  die  alexandrinische  Grammatik,  von  dieser  wichtigen  Unterströmung 
griechischen  Dichtens  und  Sinnens,  sofern  nicht  für  ethische  Betrachtung, 
Realien  oder  Sprachlehre  etwas  aus  ihr  zu  holen  war,  kaum  Notiz  ge- 
nommen hat.  Die  einfachste  Form  des  rhythmischen  Volkswitzes  ist  das 
Sprichwort  (Tiagoi/Ma),  das  bei  den  Griechen  auch  in  der  Form  des  davon 
benannten  Versus  paroemiacus  auftritt,  wie  (piXel  dk  vorog  fiexä  ndxvrjv  oder 
äXXoi  xdjuov  äUot  dvavroA)  Dahin  gehören  auch  die  später  den  Sieben 
Weisen  zugeteilten  prosaischen  Kemsprüche,  wie  yvöj^i  oeavrov,  juhgov 
ägtoTovy  und  die  in  landläufige  Verse  gekleideten  volkstümlichen  Rätsel 
(yQlq^oi).'^)  Kunstvoller  sind  die  aus  mehreren,  meist  lyrischen  Versen  be- 
stehenden Volkslieder,  wie  das  Mahllied  {cddi]  hzifxvXioq)  der  Lesbier,  das 
Spinnerlied,  das  Kelterlied,  das  Lied  auf  den  Gott  Dionysos,  das  die  Frauen 
in  Elis  sangen,  das  Schwalbenlied  der  Rhodier^)  u.  a.  Das  Schönste  aber, 
was  wir  aus  der  griechischen  Litteratur  in  dieser  Gattung  besitzen,  ist  in 
den  attischen  Trinkliedern  enthalten,  in  denen  sich  kerniger  Freiheits- 
sinn mit  fi'ohem  Lebensmut  verbindet.  Einen  Kranz  solcher  Skolien,  eine 
Art  von  Kommersbuch  aus  dem  5.  Jahrhundert,  verdanken  wir  der  Auf- 
zeichnung durch  Athenaios  p.  694.') 

n.  Chorlyrik. 

121.  Über  den  Chorgesang  im  Gegensatz  zur  Monodie  und  seine  ein- 
zelnen Formen  ist  bereits   oben  §  93   gehandelt.     Auch  er  ist  aus  volks- 


»)  Die  in  Anth.  Pal.  IX  190;  X!  322  sich 
zeigende  Verherrlichmig  der  Erinna  im  Gegen- 
satz zn  Homer  weist  in  die  Zeit  der  von 
Eallimachos  formulierten  Geschmacksgegen- 
sfttze. 

*)  R.  Rbitzenstein.  Epigr.  142.  Einige 
in  Oxyrhynchos  gefundene  Hexameter  in  do- 
rischem Dialekt  möchte  F.  Blass,  N.  Jahrbb. 
3  (1899)  30  der  Erinna  zuweisen. 

»)  Brbok,  PLGm<654— 688;  F.Ritschl, 
Oposc.  I249ff.;   L.  E.  Bbnoist,   Des  chants 


genannter  Schrift  ist  zugleich  der  Nachweis 
geliefert,  daß  viele  hexametrische  Sentenzen 
der  Eunstdichter  aus  solchen  volkstümlichen 
Sprichwörtern  erweitert  sind. 

»)  Siehe  o.S.  167,1.  Ein  Rätsel  ist  auch  in 
dieTheognissammlung  aufgenommen  V.  1229  f. 
(vgl.  Ath.  457  b). 

«)  H.  UsEXER  a.  a.  0.  80  flf.  Über  den 
Brauch  der  mit  einer  Schwalbe  oder  Krähe 
in  der  Hand  herumziehenden  Bettelknaben 
s.  Ath.  359.     Anklänge   im   Neugriechischen 


popnlaires  dans  la  Gröce  antique,  Nancy  1857 ;   j   bei  F.  Passow,  Neugr.  Volkslieder  Nr.  305  —8. 
8.  a.  o.  S.  158.  Ein  Schnitterlied  [htveQm^q)  steht  bei  Theo- 

*)  Zusammenstellungen  von  A.  Meineke  i   crit.  id.  10,  42—55. 
zu  Theokrit  524  ff. ;  M.  Haupt,  Opusc.  III 520;  ^)  R.  Reitzenstein,  Epigramm  u.  Skolion 

H.  UsEHSB,  Altgriech.  Versbau  43  ff.  In  letzt-  I   p.  13-24.    Siehe  o.  S.  156. 

13* 


196  Griechische  Litteraturgeschichte.    I.  ElasslBche  Periode. 

tümlichen  Anfängen  hervorgegangen.  Anlässe  zu  gemeinschaftlichem  Ge- 
sang gab  gemeinschafth'che  Arbeit,  gemeinschaftliche  Freude,  gemeinschaft- 
liche Trauer,  gemeinschaftliche  Anrufung  von  Göttern  im  Kultus.  So 
bestehen  seit  frühster  Zeit  im  Chor  gesungene  Arbeitsgesänge,  Hochzeits- 
gesänge, Kriegslieder,  Zechgesänge,  Siegesgesänge,  Bestattungs-  und  Trauer- 
gesänge, Götterhyninen ,  daneben  auch  heitere  Scherz-  und  Spottchöre 
namentlich  im  Dienst  der  alten  Bauerngötter  Demeter  und  Dionysos ;*) 
aber  auch  der  Apollonkult  hat  seine  ("horhymnen.  Nach  Geschlecht  und 
Alter  der  Singenden  zerfallen  diese  Gesänge  in  Männer-  und  Knaben-,*) 
Frauen-  und  Jungfrauenchöre.  Begleitendes  Instiiiment  ist  Lyra  oder 
Aulos.3)  Die  Zalü  der  Chormitglieder  wechselt  von  7  bis  50.  Der  Vor- 
trag geschieht  entweder  durchweg  durch  den  ganzen  Chor  oder  durch  ab- 
wechselnde Gruppen  des  Chors  (amöbäisch),  oder  einzelne  singen  vor,  der 
Chor  fällt  dann  ein. 

Bei  lyrischen  Chören  scheint  die  Sängerschar  im  Kreis  um  den  In- 
strumcntalisten  gestanden  zu  haben,  daher  sie  xrxkioi  xoQoi  im  Unterschied 
von  den  dramatischen  (xoyjtuxoi,  roayixoi)  heiüen.  Im  6.  Jahrhundert  ist 
die  Existenz  fester  Singchöre  in  allen  größeren  Orten  anzunehmen,  so  daß 
der  Dichter  oder  ein  ihn  veiiretender  Künstler  als  yooodiMaxako(;  die  Ein- 
studierung auch  schwierigerer  Stücke  mit  geschultem  Material  unternehmen 
konnte.  Die  im  öffentlichen  Kultus  mitwirkenden  Chöre  dürfen  bloß  aus 
Bürgern  oder  Bürgerinnen  bestehen.*)  Besonders  viel  zur  künstlerischen 
Hebung  der  Chorlyrik  bei  Götterfesten  leisteten  in  älterer  Zeit  die  dorischen 
Gemeinden,  namentlich  Sparta,'^)  daher  dorisch-abrupte,  ungeglättete  Dar- 
stellung des  Sachlichen,  dorischer  Dialekt»'»)  und  dorische  Tonart  der  Chor- 
lyrik von  ihrem  Ursprünge  an  eigen  bleiben  und  auch  von  ionischen 
Dichtern  wie  Simonides  und  Bakchylides  nicht  wesentlich  modifiziert 
werden.  Je  mehr  die  Musik  in  der  Chorlyrik  über  das  Wort  die  Herr- 
schaft gewinnt,  je  künstlicher  die  Rhythmen  werden,  desto  mehr  entfernt 
sich  auch  der  Ausdruck  von  dem  einfachen  und  natürlichen  Charakter  des 

')  Spottchöre  bei  Demeter-(Damia-)fe.sten  ■  die  musikalische  Begabung  der  Lakonier 
in  Aigina  und  Epidauros  Herodot.  V  83;  I  Aristot.  pol.  133yb  2:  nv  fiavOavovTFQ  ouuk 
dionysische  Chöre  Herodot.  II  48:  Chöre  im  drmrTat  y.nivttv  ooOot^,  w^  *fam,  rä  /o/;oTa  xai 
Heroenkult  dei-s.  V  67;  Soph.  EI.  280:  ein  tu  iit/  xijfjorn  rotv  fn/.otr.  über  das  lieder- 
alter Dionvsoschor  der  eleischen  Weiber  bei  reiche  Sparta  der  älteren  Zeit  Plut.  Lyc.  21 
Tu.  Bekgk,  PLG  HI*  p.  er^H.  «.  und  Ath.()32f.  Namen  älterer  Dichter  Spartas 

'^)    Männerchöre    mit    Flötenbegleitung  waren    Gitiades    (Paus.  III  17,  2),    Spendon 

heißen  arktjrnl  (0'(Ws,  Knabenchöre  mit  der-  (Plut.  Lyc.  28).    Dionysodotos    (Ath.  678c). 

selben  <u/.i/Tai  .larAfv ;  in  den  Agon  der  athe-  Plutarch  a.  0.  hat  uns  über  das  alte  Sparta 

nischen  Dionysien   wurden  Männerchöre  509  den  berühmten  Lobpreis  des  Pindar  erhsüten: 

(Marm.  l*ar.  ep.  46),    Knabenchöre    erheblich  |    ni^a  fi<n'kai    yfoöijior  xai    rerov  ar^oihr  uoi- 

früher    eingeführt   (H.  Soiienkl,  Berl.  philol.  oTerototr    (uynai    xai   yonoi    xai    MoTaa    xai 

W.schr.  27;  1907,  445  ff.).  'Ay/iata,     Cf.  Pind.  fr.  199. 

')  Procl.  ehrest.  245,  1  \V.  *)  L.  Ahrkxs,    Über  die   Mischung   der 

'')  Pind.  Nem.  2,24;  Dem.  21,56:  Plut.  ;   Dialekte  in  der  griechischen  Lyrik,  Vhdl.  d. 

Phoc.  30.  Philol.  in  (iöttingen  1852,  55ff.  (^  KL  Sehr.  I 

^)  TU  ouor  yoooi  inkovit  Ar.  Lys.  1806;  157  ff.).     Auf  die  lokalen  Dialekte  will  die 

vgl.   Pratinas   fr.  2  Bgk.    (PLG  HP  p.  559).  Sprache   der  einzelnen  Lyriker  zurückführen 

Eur.   Ale.  440  N.:    xa/M/ono::    heißt    Sparta  I   A.  Führer,  Die  Sprache  und  Entwicklung  der 

auf   dem    Lvsanderepigramm    des    Ion    von  griechischen  Lvrik.  Progr.  von  Münster  1885, 

Samos  (Mitt.\les  ath.  Inst.  31, 1906, 505).  Über  und  Philol.  44*^(1885)  49  ff. 


B.  Lyrik.    IL  Chorlyrik.    (§  122.)  197 

Volksgesangs,  und  die  größte  Kühnheit  in  Wahl  und  Vermischung  der 
Bilder,  in  Wortwahl  und  -Stellung,  in  syntaktischer  Fügung  wird  geradezu 
Stil  dieser  poetischen  Gattung.  Eine  Entfernung  vom  Volksmäßigen  liegt 
auch  darin,  daß  die  Dichter  mehr  und  mehr  die  in  der  Natur  der  Sache 
liegende  absolute  oder  relative  Objektivität  des  Gefühls-  und  Gesinnungs- 
ausdrucks im  Sinn  einer  Mehrheit  von  Vortragenden  außer  acht  lassen  und 
den  Chor  lediglich  als  ein  vollerklingendes  Instrument  zum  Ausdruck  ihrer 
eigenen  Gedanken  und  Stimmungen  benützen.  Am  weitesten  ist  hierin  nach 
der  Seite  der  Gefühlsinnigkeit  Ibykos  gegangen,  der  an  manchen  Stellen  der 
äolischen  Monodik  nahekommt,  nach  der  Seite  des  Gesinnungsausdrucks 
Pindar,  während  Stesichoros,  wie  er  auch  von  den  Alten  als  „homerischer" 
Lyriker  bezeichnet  wird,^)  der  objektivste  gewesen  zu  sein  scheint.  Das 
Strophenlied  scheint  von  Hause  aus  monostrophisch  gebaut  gewesen  zu  sein : 
so  in  Alkmans  Parthenion,  dessen  Einzelstrophen  aber  doch  schon  die  später 
am  meisten  verbreitete  Form  der  rgidg  incodixi^  (Strophe,  Antistrophe, 
Epodos)  keimhaft  enthalten.^)  Die  responsionsfreie  Form  des  Chorgesangs 
{ojiolekviueva)  scheint  erst  um  die  Wende  des  6.  Jahrhunderts  durch  den 
neuen  attischen  Dithyrambus  aufgekommen  zu  sein.  Mit  der  melodischen 
Gruppierung  gingen  immer  Tanzbewegungen  Hand  in  Hand. 

122.  Alkman^)  blühte  in  der  zweiten  Hälfte  des  7.  Jahrhunderts, 
nach  Archilochos  und  Thaletas  und  vor  Alkaios.^)  Seine  Heimat  war,  wie 
er  selbst  fr.  24  bekennt,  das  lydische  Sardes.*)  Der  Abstammung  nach 
ist  er  ohne  Zweifel  lonier,  denn  nur  so  erklärt  sich  seine  Beherrschung 
der  im  Osten  ausgebildeten  Formen  der  Lyrik.  Er  ist  nicht  der  erste 
lonier,  der  in  Lakonien  wirkte.  Schon  vor  ihm  waren  Polymnestos  von 
Kolophon^)  und  Tyrtaios  von  Milet  hier  tätig  gewesen.  Er  mag  zunächst 
als  Unfreier  dahin  gekommen  sein,  hat  aber  dann  eine  liberale  Erziehung 
genossen.')    Seine  Tätigkeit  entfaltete  er  in  Sparta,  wo  bereits  Terpandros 

*)  F.  G.  Wblckeb,  Kl.  Sehr.  I  162  ff.  :    Dichtere,  Spaila  als  dessen  eigene  bezeichnet. 

*)  0.  Cbüsiüs,  Commentat.  Ribbeck.  3 ff.,       Für  die   lydische  Heimat   spricht   auch   die 
der  die  alte  Meinung,   als  hätte  Stesichoros    '   lydische  Version   der   Niobesage   fr.  109  (E. 


die  Toiag  €:ti{)öii<T)  erfanden,  widerlegt. 

')  \4lxfmiMv  nennt  ihn  Eimer,  or.  5,  3 
undHieronym.  chron.  ann.  Abr.  1359;  er  selbst 
nennt  sich  \4?.y.fmr  fr.  25.  33. 

♦)  Suidas  setzt  ihn  Ol.  27,   Eusebios  Ol. 


Thrämer,  Pergamos22),  die  Erwähnung  der  Ir- 
dischen Pferderasse  fr.  23, 59  (H.  Diels,  Henn. 
31,  1896.  358).  Die  Aneignung  des  lako- 
nischen Lokaldialekts  durch  einen  geborenen 
lonier  ist  durchaus  möglich.     Der  Gedanke, 


30,  4  und  42,  2;  entscheidend  ist,  daß  er  nach  den  A.  für  Sparta  zu  reklamieren,  dürfte 
Suidas  unter  dem  lydischen  König  Ardys  kaum  vor  der  alexandrinischen  Zeit  auf- 
lebte, was  wohl  aus  einer  Stelle  seiner  Ge-  gekommen  sein,  und  vielleicht  ist  es  der 
dichte  hervorgegangen  sein  wird.  E.  Rohde,  Lakone  Sosibios,  der  damit  einen  Versuch 
Kl.  Sehr.  I  156.  G.  Busolt,  Griech.  Gesch.  !  machte,  seiner  Heimat  eine  Beisteuer  zu 
I*  601.     Im  Kanon  stand  er  vor  Alkaios.  •   den    produktiven    Genies    der     griechischen 

*)  Offenbar  redet  hier  der  Chor  wie  auch  Litteratur  zu  sichern. 

fr.  66  von  seinem  Chormeister  Alkman.   Die  ^)  Diesen   erwähnte   Alkman:    Flut,    de 

Alexandriner    schlössen    (Suid.  s.  v.)     nach  mus.  5. 

ihrer  Art  aus  dem  Dialekt,   vielleicht  auch  ^)  Was    darüber    Herakleides   Pontikos 

aus  dem  Inhalt  so  gedeuteter  Stellen,  die  wir  (pol.  2)  berichtet  (s.  a.  Suidas  s.  v.:  ujtö  oixf- 

nicht  mehr  haben,  A.  sei  Lakone.   Richtiger  lojy  di],  ist  keineswegs  unglaubwürdig.   Ana- 

Krates,    der   vielleicht  von   fr.  24   ausging,  j   logien   sind   Livius  Andronicus  und  Tereuz. 

Eine  kompromissarische  Ansicht  äußert  der  '   So  erklärt  sich  auch  seine  spätere  angesehene 

Verfasser  des  Epigramms  Anth.  Pal.  Vll  709,  Stellung  (Teles  p.  20,  10  ff.  Hense).    —  Die 

der  Sardes  nur   als  Heimat  der  Väter  des  j   Meinung  von  H.  Diels  (Herm.  31,  1896,  339), 


198  GriechiBche  litteratnrgeBchichte.    L  Klassuche  Periode. 

und  Thaletas  den  Grund  zur  Pflege  musischer  Künste  gelegt  hatten/)  als 
Chormeister  insbesondere  für  Mädchenchöre,  und  er  hat  ohne  Zweifel  in 
der  Geschichte  der  musischen  Erziehung  des  weiblichen  Geschlechts  in 
Sparta  Epoche  gemacht.  Den  Tod  fand  er  hochbejahrt,  da  er  fr.  26  über 
das  Alter  klagt,  das  ihm  die  Kniee  lähme,  und  sich  das  Los  des  Eisvogels 
wünscht,  den  im  Alter  die  Weibchen  über  das  Meer  hintragen.  Die 
Pietät  Spartas  setzte  dem  Dichter  der  Jungfemlieder  bei  den  Turnplätzen 
der  spartanischen  Jugend  ein  Denkmal,  das  noch  Pausanias  sah.^  Seine 
Gedichte  (in  6  B.)  waren  in  altlakonischer,  mit  epischen  und  äolischen 
Elementen  versetzter  Mundart  geschrieben.*)  Den  Hauptruhm  verdankte 
er  seinen  Parthenien,  die  mindestens  2  B.  füUten')  und  von  deren  einem 
Mariette  1855  ein  großes  Bruchstück  mit  alten  Ra.ndbemeikungen  aus 
einem  ägyptischen  Grab  an  das  Licht  gezogen  hat.  An  gottesdienstliche 
Anlässe  anschließend  bieten  diese  Chorlieder  dem  Dichter  das  Organ,  unter 
der  Maske  der  singenden  Mädchen  eigene  Angelegenheiten  vorzutragen, 
wenn  er  z.  B.  dem  Chor  Äußerungen  über  des  Dichters  Abstammung  (fr.  24) 
oder  neckische  Schönheitsurteile  über  Chorteilnehmerinnen  (fr.  23,  39  ff.) 
in  den  Mund  legt.^)  In  dem  erhaltenen  Parthenion  ist  die  erste  Hälfte 
ernsthaft,  von  einem  Mythus  gefüllt,  erst  die  zweite  nimmt  eine  Wendung 
zu  schelmischem  Scherz.*)  Wahrscheinlich  hat  bei  der  Aufführung  dieser 
Gesänge  Alkman  selbst  als  Kitharist  begleitet  (fr.  66).  Die  Parthenien 
waren  bestimmt  zum  Vortrag  durch  Chöre  oder  Riegen  (äyiXai)  von  Jung- 
frauen, wie  sie  in  Sparta  für  die  turnerischen  Übungen  der  Mädchen  in 
der  Laufbahn  (doojnos)  gebildet,  dann  aber  auch  zu  Gesängen  und  gottes- 
dienstlichen Handlungen  verwendet  wurden.«)     Außer  Parthenien  dichtete 


A.   sei,    wie    Teqiandros  und  Thaletas,   als  '   der    lakonischen    Stellen    in    Aristophanes* 

Sühnepoet  nach  Sparta  gekommen,  läßt  sich  Lysistrate  die  Dialektform,  in  der  Alkman  im 

weder  mit  der   tendenziösen  Notiz   bei  Ael.  |   Athen  des  5.  Jahrh.  gelesen  wurde,  wieder- 

var.   hist.  XII  50    (dagegen   s.    Aristot.   pol.  I   Zugewinnen,  verzichtet  aber  auf  Herstellung 

VIII  5)  noch  mit  richtiger  Exegese  von  fr.  23  der  von  Alkman  selbst  geschriebenen  Form. 

begründen.    Alkmans  Poesie  klingt  wahrlich  Siehe  a.  F.  Solmsbn,  Unters,  z.  gr.  Laut-  und 

nicht  nach  Bußpsalmen.  Verslehre  152. 

*)  Paus,  lll  15.2.  Poetische  Grabschriften,  j           «)  Steph.  Byz.  u.  ^Korai^rj.  Als  «Erfinder* 

natürlich  jüngere,  in  Antli.  Pal.  VII 18  und  19.  I   der   Parthenien  galt  Philammon  (Pherecyd. 

Schwer  erklärlich  ist  die  schon  bei  Aristot.  fr.  63  M.). 

hist.  an.  V  p.  557  a  2,  dann  bei  Piin.  nat.  hist.  *)  Auf  derailige  Stellen  stützt  sich  zum 

XI  112  und  Plut.  Süll.  36  auftretende  Notiz,  Teil  das  Urteil   des  Athenaios  (600  f.).   der 

A.  sei  an  der  typischen  Krankheit  der  Gottes-  in  A.  den  t)yriion'  iwy  fotouxwv  sucht.    Übri- 

verächter,   der  ff  i)t:iniaoi^   (J.  Kbabincek  zu  '   gens   brauchen   nicht  alle  erotischen  Stellen 

Synes.  encom.  calv.  21  n.  17Migne)  gestorben.  in  den  Parthenien  gestanden  zu  haben,   flag- 

Vielleicht  ist  ihm  dieser  Tod  in  Kreisen,  die  Ohfor   Liairht}^    nennt    ihn    Aristid.  er.  45 

seine  Kult-  und  Musiklyrik  zu  weltlich  und  p.  40  Dind. 

frivol  fanden,  angedichtet  worden.  *)  Die   Angabc  des   Uephaistion  p.  74, 

2)  n.SpiE8sinCurt.Stud.X(187«)331ff.;  !    17  fif.  Consbr.  von   dem   Zerfallen  mancher 

F.  Schubert,  Sitz.ber.  d.  Wien.  Ak.  92,  1879,  alkmanischer  Gedichte   in   zwei  verschieden 

S.  517  ff.;  R.  Meister,  G riech.  Dial.  I  20;  H.  gebaute  Strophengruppen   von  gleicher  Aus- 

JuRENKA.   Zur  Aufhellung  der  Alkmanscheu  dehnung  legt  es  nahe  anzunehmen,  dafi  diese 


Poesie.  Wiener  Stud.  18  (1896)  235  ff.  Leider 
ist  der  Boden  zur  Erkenntnis  der  sprach- 
lichen  Form    sehr    unsicher,    wie    bei   allen 


Gedichte  auch  dem  Sinn  und  der  Stimmung 
nach  ähnlich  zweigeteilt  gewesen  seien. 

*)  Unterrichtet  werden  wir  über  die  Ver- 


Dichtern,  die  wir  wesentlich  nur  aus  Zitaten  einigung  von  240  Altersgenossinnen  (ofia- 
kenneu.  Wilamowitz  (Textgesch.  der  griech.  lixe^:)  unter  12  Vorsteherinnen  hauptsächlich 
Lyriker  53  ff.  93  ff.)  sucht  unter  Benützung  i   durch    Theokrit    XVIII.    wozu    G.    Eaibbl, 


B.  Lyrik.    H.  Chorlyrik.    (§  122.)  199 

Alkman  auch  Hymnen,  Paiane,  Skolien.  Von  Rhythmen  verwendet  er  zum 
Teil  noch  in  altertümlicher  Weise  die  Daktylen,  daneben  aber  auch  die 
spielenden  Wechselformen  der  sechszeitigen  Füße  samt  den  Logaöden. 
Anapäste  begegnen  nur  in  dem  da(pvt](poQix6v  fr.  17,  Kretiker  nur  fr.  38 
in  Langversen.  Über  seine  Kunst  in  der  Strophenbildung  läßt  sich  schwer 
urteilen,  da  die  Fragmente  zu  dürftig  sind  und  keine  seiner  Strophen 
Nachahmer  gefunden  hat  oder  populär  geworden  ist.  In  dem  erhaltenen 
monostrophischen  Parthenion  hat  der  Scharfsinn  von  F.  Blaß  und  L.  Ahrens 
Strophen  von  vierzehn  kurzen  Versen  nachgewiesen,  die  sich  in  zwei 
gleiche,  epodisch  gebaute  Vordersätze  aus  rein  trochäischen  und  ionisch- 
trochäischen  Zweitakten  (V.  1 — 4  =  5 — 8)  und  in  einen  größeren,  aus 
trochäischen  und  logaödischen  Elementen  gebildeten  Zugesang  gliedern.  0  In 
anderen  Gedichten  wandte  er  einfachere  Strophenformen  an,  wie  in  dem 
Hymnus  auf  Zeus  (fr.  1)  dreigliedrige  Strophen,  bestehend  aus  einer 
akatalektischen  Tetrapodie,  einem  daktylischen  Enoplios  und  einem  iam- 
bischen  Epodos: 

M(bo'  äy€t  Mcboa  Xiyeia  Tzokvju/Lielkg         —    ^^!-    ^^|-    v^    —    ^^ 

äevdoide,  jueXog  -    ^-^    -  |  ^ — '    '-' 

veoxjLiov  ägxe  nagaSvoig  äeidev.  ^     ^     ^     -|^     -     ^     -|^     -^ 

In  der  ionischen  Atmosphäre  seiner  Heimat  wäre  Alkman  vielleicht  zum 
tändelnden  Anakreon  geworden  und  über  die  schäkernde  Stimmung,  die 
sich  fr.  23  und  26  äußert,  nicht  hinaus  gekommen;  der  dorischen  Um- 
gebung wird  er  die  tieferen  und  wärmeren,  herzlicheren  Töne  verdanken, 
die  in  der'  ruhevollen  Gefühlsintensität  mancher  Naturschilderungen,  be- 
sonders in  den  herrlich  plastischen  Versen  fr.  60^)  erklingen  und  mit  denen 
er  den  größten  Lyrikern  aller  Zeiten  sich  ebenbürtig  zeigt. 

Monographien  über  ihn  schrieben  in  hellenistischer  Zeit  Philochoros 
und  Sosibios  negi  ^Ahcfiavog  und  Alexandres  Polyhistor  negl  tmv  nag'  ^AXxfmvi 
Tomxcog  eigrjjuevcov.^)  Daß  sich  die  großen  Grammatiker  der  Alexandriner- 
zeit mit  seiner  Kritik  und  Exegese  befaßten,  ist  aus  den  Scholien  des 
Pariser  Parthenion  zu  ersehen. 

J.  Sitzler,  Die  Lyriker  Eumelos  Terpander  und  Alkman  in  ihrem  Yerhttltnis  zu  Homer. 
Festschr.  d.  bad.  Gymnasien,  Karlsruhe  1886,  37  ff.  —  H.  Dibls,  Das  ägyptische  Parthenion 
nach  neuer  Vergleichung,  Herm.  31  (1896)  339  ff.,  ist  durch  die  Interpretation  von  Wilamowitz. 
Herrn.  32  (1897)  251  ff.  überholt.  Neue  Erklärung  von  R.  C.  Küküla,  Philol.  66  (1907)  202  ff. 
—  H.  JuRENKA,  Der  ägyptische  Papyrus  des  Alkman,  Sitz.ber.  d.  Wiener  Ak.  135,  1896,  1  ff., 
Wiener  Studien  29  (1907)  2,  Philol.  56  (1897)  399  ff.  Ob  das  Stück  Oxyrhynchus  papyri  I 
nr.  8  in  daktylischen  Hexametern  als  Zuwachs  zu  den  Parthenienfragmenten  des  Alkman 
zu  betrachten  sei,  ist  eine  Frage,  die  Wilamowitz  (Textgesch.  der  griech.  Lyr.  53,  4)  gegen 
F.  Blass  und  F.  Solmsen  (Unters,  z.  griech.  Laut-  und  Verslehre,  1901,  S.  152  f.)  verneint.  — 
Im  ganzen  s.  0.  Crusius,  Realenc.  u.  d.  W.  Alkman. 


Herm.  27  (1892)  255.  Wie  dann  diese  Mädchen- 
riegen mit  Reigengesängen  auftraten  und  die 
jungfräuliche  Jagdgöttin  Artemis  feierten, 
davon  gibt  Aristophanes  am  Schluß  der 
Lysistrate  ein  anschauliches  Bild.  Vgl.  Plut. 
Lyc.  14. 

')  0.  Crusius  (Comm.  in  hon.  Ribbeoki 


6  ff.)  findet  hierin  die  Keime  der  T(>ia<:  Fmo- 
Öixt), 

')  Auch  fr.  25  u.  67  zeugen  für  sein  in- 
times Zusammenleben  mit  der  Natur. 

•)  Auf  diesen  spielt  Aristid.  or.  49  p.  508 
DrND.  an. 


200 


GriechiBche  Litteratorgeschichte.    L  EUunisohe  Periode. 


123.  Stesichoros^  (um  640 — 555)*)  stammte  aus  dem  sizili- 
sehen  ^)  Matauros,  einer  Gründung  der  Lokrer,  heißt  aber  immer  Himeraier,^) 
da  er  in  Himera  (gegründet  von  Zankle  aus  650)  den  größeren  Teil  seines 
Lebens  zubrachte.  Die  Himeraier  warnte  er  auch  vor  den  ehrgeizigen 
Plänen  des  Phalaris  (regiert  570 — 554),  indem  er  ihnen  die  Fabel  von 
dem  Pferd  erzählte,  das,  um  sich  an  dem  Hirsch  zu  rächen,  von  dem 
Menschen  den  Zaum  annahm. 0)  Sonst  geht  nur  noch  die  Geschichte  von 
seiner  Blendung  durch  Helena  und  der  Palinodie,  die  ihm  das  Augenlicht 
wieder  verschaffte,  auf  ältere  Überlieferung^*)  zurück.  Gestorben  sein  soll 
er  in  Katane,  wo  man  vor  dem  Tor  sein  Grabdenkmal  zeigte.')  —  In  der 
Entwicklung  der  griechischen  Poesie  nimmt  Stesichoros  eine  hervor- 
ragende Stellung  ein;  er  war  nicht  bloß  ein  ungewöhnlich  fruchtbarer 
Dichter  (seine  Werke  umfaßten  nach  Suidas  26  Bücher),  er  hat  auch, 
offenbar  anschließend  an  die  musischen  Traditionen  des  dorischen  Heroen- 
kults s)  im  Westen,  den  Stil  der  älteren  Heroenballade  mit  Lyrabegleitung^) 
geschaffen  und  auch  das  epische  Volkslied  künstlerisch  geadelt.  Vor- 
gearbeitet war  ihm  in  diesen  westlichen  Landen  durch  den  alten  sizilischen 


*)  Artikel  ]>ei  Suidas;  F.  G.  Welckek, 
Stesichoros  in  Kl.  Sehr.  I  148  ff.;  (x.  E. 
Rizzo,  l^uestioni  Stesicoree  (Vita  e  scuola 
poetica)  Riv.  tli  storia  ant.  1  (1895),  1  p.  25 IF.; 
E.  RoHDE,  Kl.  Sehr.  I  155  ff.  Die  parische 
Marmorchronik  erwähnt  (A  Z.  65.  85)  zu  485 
und  370  V.  Chr.  zwei  jüngere  Dichter  des 
Namens  Stesichoros.  Ober  die  richtige  An- 
sicht, daß  der  erste  von  diesen  mit  dem 
Chorlyriker  identisch  und  ein  Ansatz  des 
ChorJyrikers  in  die  Zeit  Gelons  anzunehmen 
sei,  s.  F.  Jacoby.  Marm.  Par.  p.  176 — 180. 
Den  Dithyram])iker  St.  des  4.  Jahrhunderts 
erwähnt  auch  Didym.  ad  Demostli.  Philipp. 
(Berl.  Klassikeiiexte  I)  col.  12,  61.  ApoUo- 
doros  scheint  das  Todesjahr  des  St.  mit  dem 
Geburtsjahr  des  Simonides  zusammengelegt 
zu  haben  auf  ca.  556  (F.  Jacoby,  Apollod. 
Chron.,  Berlin  1902,  196  tf.).  Der  Name  St. 
ist  eigentlich  Standesbezeichnung  (Welukeb 
a.  a.  0.  168;  l'TtfOiyoon  heißt  eine  Muse  auf 
der  Franc^oisvasel.  aber  Individualname  ge- 
worden. Eigentlich  solJ  der  Dichter  Teisias 
geheissen  haben.  Zuerst  nennt  ihn,  mit  dem 
Namen  St.,  Simonid.  fr.  53.  219  A. 

^)  Die  Zahlen  sind  danach  berechnet, 
daß  er  nadi  Luc.  Macrob.  (der  aber  dieses 
Datum  schwerlich  aus  Apollodoros  hat:  F. 
Jacoby.  Apollod.  Chron.  198)  85  Jahre  alt 
wurde  und  nach  Apollodoros  (Suidas  und  Euse- 
bios)  Ol.  56,  2  starb.  Einen  tenninus  post 
quem  bildet  jedenfalls  die  Rhadinadichtung, 
welche  die  Gründung  der  'IVrannis  in  Korinth 
(657  )voraussetzt.  Die  fr.  73  erwähnte  Sonnen- 
finsternis mag  die  des  Jalires  585  sein. 

^)  So  Steph.  Byz.  s.  Afdraino^;  Suid.  s. 
^Tf/o.  nennt  ein  italisches  Matauros. 

*)  Suidas:  yi<  .Toha^' Ifinmi:  n"}^  ^ixF).ing, 
xa/.ehai   yorr    lueoaTf);;,    nf   Af  d.io  Marnvoia^ 


Tfj;  t:r  *lTa/.i</i,  ot  dt'  djto  IJfikavtiov  ri}g  'Ao- 
xadia^:.  Vgl.  Steph.  Bvz.  u.  Mdravoo^.  Lokroi 
wird  als  GeburtsstaJt  des  Stesichoros  aach 
von  dem  Rhetor  Himerios  bezeichnet  or.  29 
^A).X(UO^  Aynftov  xai  At^XQor^  {idyovs  cod.,  em. 
Wilamowitz)  x(>ni4f7  ^rtjof^oofK:.  Von  einem 
den  Lokrem  gegebenen  Rat  berichtet  Aristot 
rhet.  1393b  11  ff.  Nach  der  von  Alkidamas 
verbreiteten  Sage  war  er  Sohn  des  Hesiod 
und  der  Klymone.  worüber  oben  §  65  und  F. 
NiETZscHK/Rh.  M.  28  (1873)  222  ff. ;  E.  Rohdb. 
Kl.  Sehr.  1  104  ff.  Suidas  zählt  fünf  ver- 
schiedene Namen  seines  Vaters  auf;  Eakleides 
heißt  er  auf  einer  Herme  IGSl  1213,  Eophe- 
mos  Plat.  I'haedr.  244  a. 

^)  Arist.  rhet.  11  20.  In  Himera  sah 
Cicero  in  Verr.  11  87  seine  Statue:  sein  Bild 
als  Greis  mit  einer  Rolle  auf  einer  Münze 
von  Himera  bei  E.  Q.  Visconti,  Xeon.  gr. 
(Paris  1808}  III  7  und  A.  Baumeister,  Denkm. 
S.  1710. 

«)  Plat.  Phaedr.243a.  Isoer.  Hei.  65;  die 
,  weiteren  Stellen  Tu.  Bercjk,  PLG  IH*  p.  218. 
'  ')  Suidas  in  der  Vita;    Anth.  Pal.  VI  75; 

nach  Poll.  IX 100  war  das  Grab  in  Himera;  das 
Denkmal  hatte  acht  Ecken  und  acht  Säulen ; 
ähnlich  ist  das  etruskische  sogenannte  Grab- 
mal der  H(>ratier  bei  Albano.  Die  Fälscher 
!  des  uns  erhaltenen  Briefwechsels  zwischen 
Stesichoros  und  Pbalaris  setzen  ein  freond- 
schaftliclu'8  Verhältnis  der  beiden  Männer 
voraus  (Wklckkk  a.  a.  0.  215  ff.). 

*)  Die  Heroenkulte  waren  besonders  in 
den  Kolonien  verbreitet  und  beruhten  auf  den 
Sagen  von  deren  Gründung;  verehrt  wurden 
z.  B.  die  Atriden  in  Tarent,  Philoktetes  in 
Sybaris,  Diomedes  in  Thurioi,  Odysseus  in 
Kvme. 

9)  Quint.  inst.  X  1,  62;    Suid.  s.  ::i:T>jaiX' 


B.  Lyrik.    H.  Chorlyrik.    (§  123.) 


201 


Meliker  Xanthos,  den  er  selbst  in  der  Orestie  nachgeahmt  haben  soll,^) 
und  durch  Xenokritos  aus  Lokroi,  der  unter  den  Mitbegründern  der 
zweiten  Musikperiode  in  Sparta  genannt  wird.*)  In  den  musikalischen  und 
rhythmischen  Formen  soll  er  sich  weniger  an  die  lesbischen  Meliker  als 
an  den  alten  Nomenstil  des  Auleten  Olympos*)  angeschlossen  haben,  von 
dem  er  das  xarä  ddxivkov  eldog  (die  enoplischen  Rhythmen,  vgl.  fr.  18)  ent- 
nommen habe.  Der  inneren  Kunstform  nach  bezeichnet  den  Charakter 
seiner  Dichtungen  Quintilian  X  1,  62  mit  den  Worten:  epici  carminis  onera 
lyra  stistinuit.^)  Der  Mythus  mit  seinem  reichen  und  stets  von  neuem  be- 
reicherten Inhalt  bildete  wie  bei  Homer  und  Hesiod  das  Hauptelement 
seiner  Muse.  Dem  epischen,  insbesondere  homerischen  Vortrag  der  Helden- 
sagen gegenüber  bedeutet  die  chorlyrische  Fassung^)  eine  Belebung,  die 
auf  das  Ziel  der  dramatischen  Darstellung^)  hinweist.  Bedeutsam  ist  zu- 
gleich, daß  Stesichoros  neben  den  im  ionischen  Epos  behandelten  Sagen 
auch  nordgriechische  und  dorische  (besonders  die  in  Unteritalien  und 
Sizilien  volkstümliche  Heraklessage)  heranzieht  oder  von  den  epischen 
Sagen  dorisch  gefärbte,  ohne  Zweifel  zum  Teil  altertümlichere,  oft  mit 
Hesiod  übereinstimmende  Versionen  mitteilt.^)  Den  Helenastoflf  hat  er 
zuerst  in  der  'Ekeva  auf  Grund  der  rein  ästhetischen,  religiös  indifferenten 
homerischen  Vorlage,  dann  in  der  Ilnhvcpöia  mit  Rücksicht  auf  die  Über- 
lieferung und  den  Glauben  der  Derer  dargestellt,  denen  Helena  eine  Kult- 
göttin war.  Das  Auskunftsmittel,  widersprechende  Mythologerae  durch 
Zerlegung  einer  Sagenfigur  in  zwei  Teile,  die  echte  Person  und  ihr  fYdaykoy^ 
zu  versöhnen,  wie  es  Stesichoros  durch  Einführung  der  Schein-Helena  in 
Troia  angewandt  hat,  stammt  wohl  aus  Homer  (Od.  /  601  ff.).*)  Wenn  die 
Alten  oft  vom  homerischen  Charakter  der  stesichoreischen  Gedichte  reden, ^) 
so  muß  sich  das  nicht  sowohl  auf  den  Sagenstoff  als  auf  stilistische  Ähn- 


>)  Atii.513a;  Ael.  var.  bist.  IV  26.  Für 
Piktion  h&lt  den  Xanthos  K.  Robert,  Bild  und 
Lied,  Berl.  1881, 173  ff.  Dagegen  K.  Seelioeb, 
Die  Überlief,  der  griecb.  Heldensage,  Meißen 
1886,  17  ff. 

«)  Oben  §  91;  Plut.  de  mus.  10. 

*)  Plut.  de  mus.  7  (freilich  kann  die 
Notiz  auf  die  Tendenz  des  Glaukos  von 
Rhegion,  die  Kitharmusik  jünger  als  die 
Flötenmosik  zu  machen,  zurückgeführt 
werden). 

**)  Ähnlich  von  ihm  Antipatros  Anth.  Pal. 
VIl  75 :  ov  xaia  IJv&ayögov  (pvoixav  (pattv  d  jrgiv 
'^O/^rjgov  I  yfvxa  evi  oriovotg  devregov  wxionxo' 
ebenso  Anth.  Pal.  IX 184;  Plut.  de  mus.  3  über 
St.  und  ähnliche  Dichter  jioiwvtes  ejirj  xovxotg 
f^ifj  nsgisri&soav. 

*)  Ob  Stesichoros  alle  seine  Gedichte, 
auch  die  rein  erzählenden,  durch  Chöre  vor- 
tragen lieB,  bleibt  freilich  sehr  zweifel- 
haft. Auch  das  lange  Gedicht  des  Pindar 
P.  4  von  der  Argonautensage  kann  man  sich 
trotz  seiner  Abfassung  in  Strophen,  Anti- 
strophen  und  Epoden  nicht  leicht  durch  einen 
vielatimmigen   Chor  oder  wechselnde  Halb- 


chöre vorgetragen  denken.  Der  Wechsel  des 
Metrums  gegenüber  der  eintönigen  Wieder- 
holung desselben  Verses  belebte  den  Vortrag, 
auch  wenn  er  von  einzelnen  erfolgte.  Aber 
jedenfalls  kann  das  halbepische  Gedicht  des 
Pindar  P.  4,  das  gleichfalls  in  sog.  Daktylo- 
Epitriten  gedichtet  ist,  am  besten  eine  Vor- 
stellung von  den  verloren  gegangenen  Ge- 
dichten des  Stesichoros  geben. 

®)  Welcker  spricht  von  .lyrischen  Dra- 
men** des  St. 

^)  K.  Seelioer  s.  o.  A.  1.  K.  Robert, 
Bild  und  Lied  149  ff.  189.  Es  fehlt  auch 
nicht  an  Spuren  dorischen  Humors ;  die  kuli- 
narische Schilderung  fr.  2  gemahnt  an  Epi- 
charmos;  ebenso  fr.  7, 

*)  R.  HiRZEL,  Ber.  der  sächs.  Ges.  d. 
Wissensch.  48  (1896)  290 ;  zur  stesichoreKschen 
Version  s.  A.  v.  Premerstein,  Philol.  55  (1896) 
634  ff. 

»)  Welcker  a.  a.  0. 1  162  ff.  Nach  der 
Andeutung  bei  Quintil.  X  1,  62  (redundat 
afque  effunditur)  kann  man  an  epische  Breite 
der  Ausführung  denken,  auch  an  das  Zurück- 
treten der  Dichterpersönlichkeit. 


202  GrieoMsche  Litteratnrgesohichte.    I.  KlaasiBohe  Periode. 

lichkeit  beziehen,  die  wir  aber  bei  der  Dürftigkeit  der  wörtlich  erhaltenen 
Bruchstücke  nicht  mehr  nachweisen  können  (vgl.  o.  S.  197).  Dem  Inhalt 
nach  verteilen  sich  seine  episch-lyrischen  Gedichte  auf  folgende  Sagenkreise; 
Argonautenkreis  lAMa  im  Ihlia;^)  Herakleskreis  rrjQvovrjtg,  Kigßegog, 
Kuxvog;  thebanische  Sage  fJvgo)7ieia,  ^EgKpvia;  kalydonische  Sage  ^vo^gcu; 
troische  Sage  'Ikiov  Tregaig,  Noaxoiy  ZxvXXa  (derselbe  Gegenstand,  den  später 
Timotheos  in  einem  Dithyrambos  behandelte),  ^Ogeoreia,^)  'EXeva  nebst  /7aJU- 
vcpdia.  Einen  {^ofjvog  auf  die  Syrakusierin  Klearista  erwähnen  nur  die  Phalaris- 
briefe,  Paiane  des  Stesichoros  nur  Athenaios  (250  b).  Epochemachend  für  die 
italische  Sagenentwicklung  war  seine  Iliupersis,  weil  darin  die  Sage  von 
Äneas'  Wanderung  nach  Italien  vorkam,')  erfolgreich  für  die  Entwicklung 
der  tragischen  Poesie  seine  Oresteia  und  Helena.^)  Neben  den  heroischen 
Mythen  berücksichtigte  er  aber  auch  erotische  Volksmärchen  der  Heimat 
und  wurde  damit  Vorgänger  der  idyllischen  Poesie  der  Alexandriner.*)  So 
führte  er  zuerst  die  später  vielgefeierte  Gestalt  des  Hirten  Daphnis  in  die 
Poesie  ein,  den  eine  Nymphe  liebte,  dann  aber,  als  er  die  Treue  in  den 
Armen  einer  Königstochter  brach,  elend  zugrunde  gehen  ließ.<^)  In  einem 
andern  Lied  besang  er  das  traurige  Ende  der  von  dem  schönen  Euathlos 
verschmähten  und  so  in  den  Tod  getriebenen  Kalyke,')  in  einem  dritten 
im  Skolienmaß®)  des  größeren  asklepiadeischen  Verses  das  blutige  G^chick 
der  treuen  Rhadina,   die  dem  Tyrannen  von  Korinth^)  angetraut,  von  der 

0  Diese  Sage  ist  nach  der  Dichtung  des  I   Homer  and  Acnsil.  fr.  26  M.    bleibt  Äneas 

Stesichoros   dargestellt  auf  einer  Vase  von  '   in  seiner  Heimat. 

Cäre,  publiziert  in  Monum.  ined.  pubbl.  dall'  ^)  Den  Einfluß  der  stesichoretechenMytho- 

Inst.  X  (Rom  1874)  tab.  4.  5;    ebenso  nach  poie,   insbesondere  der  Tligaig,  XJgeareüi  ond 

Paus.  V  17,  10    auf    dem    Kypseloskasten.  '  'KAh'a-IIa/urcpdia   auf  Euripides  weist   nach 

Die  Dichtung  wurde  im  Altertum  auch  dem  M.  Mayer,   De  Euripidis  mythopoeia,  Berlin 

Ibykos    zugeschrieben    (Wilamowitz,    Text-  :    1883.      Inhaltsrekonstruktionen    dieser    G^ 

gesch.  d.  gr.  Lyn  83.    Eine  Verschiebung  der  dichte  versucht  Sssuoer  a.  a.  0.    Den  Ein- 

Grenzen    zwischen   Ibykos    und    Stesichoros  fluB  des  Stesichoros  auf  die  bildende  Kunst 

scheint  auch  Ath.  601a  vorzuliegen,   wenn  zeigt  K.  Robert,  Bild  u.  Lied  26  f.,  desaen 

St.  als  Begründer   der   päderastischen  Lyrik  Ansicht,  als  ob  die  Abweichungen  des  St.  von 

bezeichnet  wird).     Hier  kam  wohl  auch  die  Homer  auf  poetischer  WillkOr  beruhten,  von 

Kyrenesage  vor   (Callimach.  hymn.  111  206;  Seeliger  widerlegt  ist. 

8.  J.  V AHLEN,  Berliner  Akad.  Sitz.ber.  1896,  *)  Aelian.  v.  h.  X  18  tx  de  tovzov  {bc.  Ja- 

821  f.).  7  j7<^oc)  T«  fiovxohxa  jhfäi]  jrocoroi'  f/o^  .  .  9eai 

*)  Nach  fr.  34    hfttte   die^^  Orestie    zwei  l'xtjot'xooor  yf  lov  'IfiFoaiov  rfjc  jotavztfg  lifio- 

Bücher  umfaßt.  Wilamowitz  (Äschyl. Choeph.  .To^ac  v:tdo^no{)ai.  Ath. 601  a :  ZxrjoiioQog  d' o^ 

Berl.1896  p.  249)  denkt  nicht  an  ein  größeres  ;   fiFigiog  FooTty.o^  yEvöufrog  arreaTtjar  xal  rov^ 

Gedicht,  sondern  eine  Mehrheit  von  Gedichten  '   rov  tov  Tgiiim'  twv  fto/mroyv.    E.  Rohde,  Qt. 

mit  dem  Titel  , Orestes*.  Rom.*  30. 

3)  Auf  der  Tabula  Iliaca,   der  die  lliu-  ®)  Vgl.  Parthenios  c.  29  nach  Timaios  und 

pcrsis  des  Stesichoros,  nicht  des  Arktinos  zu-  Aelian.  v.  h.  X  18;  n.  a.  XI  13.     Beachtens- 

grunde  gelegt  war,  steht  geschrieben  Ahftac:  wert  ist  die  Verlegung  des  Schauplatzes  von 

dnaujMv    tU   'Ea^iegiav;    merkwürdigerweise  Daphnis'  Leiden   an   den  Fluß  Uimera  (bei 

aber  weiß  Dionys.  Hai.  ant.  1 45  davon  nichts.  Theocrit.  id.  7.  75),  die  Heimat  des  Himeräefs 

Vgl.  L.  G.  Chadzi  Konstas,  Die  iliupersis  nach  Stesichoros. 

Stesichoros,  Leipzig  1877;   die  Glaubwürdig-  ^)    Eine    ähnliche    Sage  von  Harpalyke 

keit  der  Angaben  auf  der  tabula  Iliaca  stützt  war    nach   Aristoxen.  bei  Ath.  619  e   Cregen- 

M.  Paulcke,    De   tabula    Iliaca  quaestiones  stand   von   Mädchenliedem,    die  agonistisch 

Stesichoreae ,   Diss.  Königsberg  1897.   gegen  vorgetragen  wurden. 

die  Skepsis  von  Seeliger  p.  32  ff.     Die  An-  ^)   Demnach   durfte   Welcker   S.  211  f. 

knüpfung  westgriechischer  Stämme  an  Troia  dem  St.  Skolien  nicht  absprechen, 

wird  St.  schon  in  der  Tradition  seiner  Heimat  *)  Die  Tyrannis  in  Korinth  fängt  an  657. 

vorgefunden    haben    (Thucyd.  VI  2,  3).    Bei  ,   Rhadina  als   Kosename   eines  schmächtigen 


B.  Lyrik,    ü.  Chorlyrik.    (§  124.) 


203 


alten  Neigung  zu  ihrem  geliebten  Vetter  nicht  lassen  wollte.  Auch  fr.  66 
behandelt  einen  volkstümlichen  Märchenstoff.  ^)  Dieses  Hineingreifen  in  die 
Sphäre  -des  Volkslebens  darf  wohl  mit  dem  politischen  Erwachen  des 
Volkes  bei  Gelegenheit  des  Sturzes  der  alten  Aristokratien  in  Sizilien  im 
6.  Jahrhundert  in  Zusammenhang  gebracht  werden.  —  In  der  Form  wurde 
Stesiehoros  der  eigentliche  Begründer  der  chorischen  Lyrik.  Daß  er  auch 
die  Dreiteilung  in  Strophe,  Antistrophe  und  Epode  erfunden  habe,  hat  man 
früher  auf  Grund  des  sprichwörtlichen  Ausdrucks  ovde  rgia  tcov  2:t7]oix6qov 
ytvioaxeig  angenommen,  aber  diese  Elemente  der  triadischen  Komposition 
finden  sich,  wie  oben  gesagt,  schon  bei  Alkman.*)  In  den  erhaltenen 
Resten  tritt  am  meisten  der  daktylische  Rhythmus  hervor,  der  mit  seiner 
gemessenen  Gravität  zu  der  ernsten  dorischen  Tonart  stimmt.  3)  Daneben 
hat  er  aber  auch  die  Wechselformen  der  sechszeitigen  Takte  in  der 
äolischen  Weise.  In  der  Sprache  mischte  Stesiehoros  dem  dorischen  Grund- 
ton ionische  Elemente  bei,  die  in  der  Hauptsache  auf  das  alte  Epos,  teil- 
weise aber  wohl  auch  auf  die  ionischen  Gründer  von  Himera  und  Rhegion 
zurückzuführen  sind.*)  Möglich  ist,  daß  die  Sprache  in  den  Heroenballaden 
und  den  mehr  volkstümlichen  Märchendichtungen  dialektisch  verschieden 
getönt  war.  Über  seinen  Stil  lassen  die  dürftigen  Reste  kein  Urteil  zu. 
Die  Alten  schrieben  ihm  wie  dem  Homer  den  „mittleren"  Stil  zu.*)  Seine 
Weisen  waren  im  Athen  der  perikleischen  Zeit  geläufig  und  wurden  bei 
Symposien  gesungen. 0)  Sein  Einfluß  erstreckt  sich  über  Aischylos  und 
Euripides  (besonders  Helena,  Orestes,  Troades)  hinaus  auf  die  Alexandriner 
Alexandres  Aitolos,  Euphorien,  Lykophron.') 

124.  Eine  weit  erregbarere  Subjektivität  zeigt  Ibykos*)  aus  Rhegion, 
Zeitgenosse  des  Anakreon.  Der  angesehenen  Stellung,  die  ihm  in  seiner 
Heimat  winkte,  zog  er  das  unstete  Leben  eines  Wandersängers  vor.^) 
Er  durchzog  die  Städte  Unteritaliens  und  Siziliens,  lebte  eine  Zeitlang  am 
Hof  des  Tyrannen  von  Samos^^)  und  kam  schließlich  auf  einer  Reise  nahe 


Liebchens  hat  noch  Lucret.  IV 1167 ;  Mädchen- 
namen  von  ähnlicher  Bedeutung  bei  C.  Th. 
SoNDAo,  De  nominib.  apud  AIciphron.  pro- 
priis.  Diss.  Bonn  1905,  51.  Da  das  Grabmal 
des  Paares,  ähnlich  wie  das  von  Romeo  und 
Julia  in  Verona,  in  Korinth  gezeigt  wurde 
(Paus.  VII  5,  13),  so  liegt  wohl  eine  ätio- 
logische Sage  vor. 

')  A.  Marx,  Griech.  Märchen  von  dank- 
baren Tieren,  Stuttg.  1889,  29  ff. 

')  0.  Crusius,  Stesiehoros  und  die  epo- 
dische  Komposition  in  der  griechischen  Lyrik, 
in  Comment.  Ribbeckianae  p.  3 — 22  gibt  jenem 
sprichwörtlichen  Ausdruck  den  einfacheren 
Sinn  ,Du  kennst  nicht  einmal  drei  Verse  des 
Stesiehoros''.  —  In  Sparta  führte  zur  Drei- 
gliederung die  xQtxogia  oder  der  Gebrauch 
von  drei  verschiedenen  Chören,  worüber  Plut. 
Lyc.  21  und  PoUux  IV  107. 

•)  Stesichori  graves  camenae  Hör.  od.  IV 
9,  8.  Übrigens  gebrauchte  Stesiehoros  auch 
die  phxygische  Tonart  (fr.  34)  und  den  agfid- 
retog  vö/nog  des  Olympos  (Plut.  de  mus.  7). 


*)  Den  einheimischen  lonismus  betont 
R.  HoLSTBN,  De  Stesichori  et  Ibyci  dialecto 
et  copia  verborum,  Greifswald  1884;  dazu 
die  Einwände  von  E.  Hilleb,  Jahresber.  über 
die  Fortschr.  der  Altert.wiss.  46  (1886)  1,  68  ff. 

^)  Dionys.  Hai.  de  comp.  v.  24;  de  imit. 
II  2.  Ein  Stesichoroszitat  in  dem  Kommentar 
zu  Hom.  11.  ^  Oxyrh.  pap.  II  zeigt,  daß  St. 
die  Personen  auch  direkte  Reden  halten  ließ 
(WiLAMOwiTZ,  Gott.  gel.  Anz.  1900,  42). 

«)  Eupol.  fr.  139.  361  K. 

')  Seelioer  a.  a.  0.  12. 

®)  Ein  Artikel  desSuidas;  F.W.Schneide- 
wiN,  Ibyci  rell.,  Gott.  1833  mit  umständlichen 
Proleg.;  F.  G.  Welokbr,  Kl.  Sehr.  1220  ff.  — 
Eine  geschichtliche  Anspielung  (auf  Kyros?) 
enthält  fr.  20. 

*)  Davon  das  Sprichwort  bei  Diogenian. 
II  71:  dg/aiozeyog  'Ißvxov  ovrog  yao  ivoav- 
vsXv  ÖvrdiLiEvog  dji£Ö/jftr)an';  vgl.  ibid.  V  12. 

^^)  Himer.  or.  22,  5;  in  Samos  war  er  wahr- 
scheinlich vor  Anakreon,  da  ihn  Suidas  Ol.  54 
setzt  und  zur  Zeit,   als  der  Vater  des  Poly- 


204  Qriechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassisohe  Periode. 

bei  Korinth  ums  Leben.  Sein  Tod  ward  später,  ähnlich  wie  der  des  Arion 
und  Hesiod,  durch  die  schöne,  von  Schiller  verherrlichte  Sage  von  den 
Kranichen,  die  den  versammelten  Festgenossen  die  Mörder  verrieten,  poetisch 
verklärt.^)  Seine  Gedichte  wurden  in  7  Bücher  geteilt  und  zeigten  zwar 
in  Dialekt  und  Versbau  den  Einfluß  der  dorischen  Chorlyrik,  näherten  sich 
aber  in  Ton  und  Inhalt  mehr  der  äolisch-ionischen  Melik.  Denn  die  Liebe 
zu  schönen  Knaben  bildete  das  Hauptthema  seiner  Gedichte.  Es  sind  die 
Tiaidfloi  liiFliydoveq  vfivoi,  auf  die  Pindar  Isth.  2,  3  anspielt,*)  und  die 
vielleicht,  nach  Welckers  geistreicher  Vermutung,  bei  den  griechischen 
Schönheitswettkämpfen,  wie  sie  in  Elis  und  Arkadien»)  üblich  waren,  von 
Knabenchören  gesungen  wurden.  Kein  anderer  Chorlyriker  hat  so  un- 
mittelbar wie  Ibykos  den  Chor  zum  Organ  des  intimsten  und  subjektivsten 
Gefühlsausdrucks  gemacht:  den  Stimmungsgehalt  der  äolischen  Monodie 
lälit  er  von  einer  Mehrheit  ausdrücken.  Es  fallt  uns  schwer,  darin  keine 
Stilwidrigkeit  zu  finden.*)  Sieht  man  aber  von  diesem  Mißverhältnis  zwi- 
schen Inhalt  und  Vortragsweise  ab,  so  steht  Ibykos  an  Macht  und  Glut 
der  Empfindung  und  der  Phantasie  wie  an  Treffsicherheit  des  Ausdrucks 
auf  gleicher  Höhe  mit  Sappho,  von  der  er  übrigens  ohne  Zweifel  auch  be- 
einflußt ist.  Sonst  hat  er  mancherlei  Verwandtschaft  mit  Stesichoros:  wie 
bei  diesem  findet  sich  bei  ihm  das  Nebeneinander  von  Heroensage  (fr.  12  flf., 
21,  30)  und  Volksmärchen  (fr.  25),  die  Abhängigkeit  von  Hesiod  (fr.  31), 
das  Hinneigen  zu  dorischer  Sage  (fr.  9,  16,  37),  das  Vorwiegen  der  dak- 
tylischen Rhythmen  neben  sechszeitigen  Wechselformen  und  Logaöden; 
auch  in  Einzelzügen  stimmen  sie  überein. ^)  Westgriechischer  Lokalton 
wird  in  einigen  sachlichen  und  sprachlichen  Besonderheiten  erkennbar.*) 
125.   Bei  allen  Vx*rschiedenheiten  im  einzelnen  bilden  die  genannten 

krates  herrschte,  nach  Samos  kommen  laut.  7/^.,  der  päderastische  insbesondere  A.  P.  VII 

Auf  seine  Lebensweise   an   diesem   üp]>igen  714,3.   Letztere  Art  des  foo»^  beruht  bei  Iby- 

Hof  wird  sich  wohl   der  ihm  und  dem  Ana-  kos  auf  altchalkidischen,  nach  Rhegion  über- 

kreon   gemeinsam   (aber  auch   dem  Alkaios)  gegangenem  Brauch  (Carm.pop.  bei  Th.Berok, 

bei   Aristoph.  Thesm.  161  ff.  gemachte  Vor-  PLG  111*673  nr. 44  aus  Plut  Erot  17;  Hesych. 

wurf  weichlicher  £leganz  beziehen.  \   s.  v.  ya).y.i(MZny).     Die   hellenistische   Philo- 

')    Die   Sage   zuerst   bei   dem  Epigram-  ■   sophie  betont  die  sitt<;n verderbliche  Wirkong 

matiker  des  1.  Jahrh.  v.  Chr.  Antij)atroa  Anth.  von  Ibvkos'  (Tcdichten  (Philod.  de  mos.  p.  79, 

Pal.  Vll  745,   dann   bei   Stat.  silv.  V  3,  152,  XIV   10  K.).      Von    Namen    der    gefeierten 

Plutarch.degarr.  14undSuidas:  vgl.WELCKER,  Knaben  ist  nur  (lorgias  (fr.  30)  bekannt. 

Kl  Sehr.  I  lüO  ff.    Das  Motiv  ist  international  ^)  E.  Reisch.  Realenc.  1  837,  8. 

und  tritt  noch  in  neuester  Zeit  auf  (F.Reuters  ^)  Weloker  a.  a.  0.  234  f.  hat  das  Ver- 

Hanue  Nute;  ein  neues  Exemplar  des  Typus  dien.st.  dieses  Problem   formuliert  zu  haben. 

s.  Tägliche  Rundschau  PJ05  Nr.  545).   Siehe  '-*)  Vgl.  fr.  34  A  mit  Stesich.  fr.  69;  fr.  35 

a.  E.  RoHDE.  Kl.  Sclir.  II  147.    Ob  der  Name  mit  Stesich.  fr.  25. 

eines    (unbekannten)    Vogels    'tY>rz    (Hesych.  **)  Bei  der  frühen  Verbreitung  der  Orphik 

8.  V.)  Anlaß  zu  der  Übertragung  des  Motivs  im  Westen   wird   es   nicht  Zufall   sein,   daß 

auf  Ibykos   gegeben  hat,    ist   recht   zweifei-  1.  als  Erster  (fr.  10)  den  M'oiwxlvtfK  XhKft)¥ 

haft.    Das  Grab  des  Dichters  in  der  Heimat  erwähnt.     Dem  Odysseus  gibt  er  fr.  11  den 

setzt  das  Epigramm  der  Anth.  Pal.  VII  714  westlichen    Namen    T>/.ic//>    (Ulixes) ;    west- 

voraus.  griechische  Mythen  fr.  22.  23.  38.   Den  lokal- 

■*)  Schol.Arist.lliesm.  161  stellt  gerade  so  dialektischen    Eigentümlichkeiten  fr.  51.  54. 

wie  der  Pindai-scholiast  Alkaios,  Ibykos  und  55.  56  i.st  vielleicht  auch  das  von  den  Gram- 

Anakreon    als   Dichter   von   mu^ixa    neben-  '   matikern    notierte  (Lesbonax    de   fig.  ed.  R. 

einander.    Der  erotische  Charakter  von  Iby-  Müller,    Loipz.  1900   p.  34.  76.  90)    oxiit*o. 

kos'  (Jesängen   wird   sehr   stark   betont  von  \  ^IßvxFtor  anzureihen. 
Cic.  Tusc.  IV  33,  Ath.  601b  und  Suid.  s.  v. 


B.  Lyrik.    IL  Ghorlyrik.    (§  125.)  205 

drei  Chorlyriker  in  rhythmischer  Beziehung  durch  das  Vorwiegen  des  alter- 
tümlich-feierlichen Daktylus  eine  zusammengehörige  Gruppe,  die  noch  unter 
stärkerem  Einfluß  des  Epos  und  der  Nomenpoesie  steht.  Die  drei  jüngeren 
Chorlyriker,  die  zwei  lonier,  Simonides  und  Bakchylides,  und  der  Äoler 
Pindar  gehen  im  Rhythmus  weit  mehr  auf  die  beweglicheren  und  leb- 
hafteren Formen  der  dionysischen  Tanztakte  ein,  denen  sie  aber  durch 
Binnenkatalexen  ernstere  Haltung  zu  verleihen  suchen.  Es  ist  zu  ver- 
muten, daß  ein  wesentlicher  Faktor  beim  Zustandekommen  dieses  Stil- 
wechsels die  künstlerische  Regulierung  des  Bakchoschors,  des  Dithy- 
rambos,  1)  gewesen  sei,  auf  dessen  nunmehr  teils  strophisch  gebundene 
teils  ohne  Korresponsion  ganz  frei  rhythmisierte  Gestaltungen  sich  die 
Chorlyrik  im  ganzen  einließ.  Die  künstlerische  Reform  des  Dithyrambos 
wird  von  den  Alten  an  den  Namen  Arion  angeschlossen.  Dieser  apolli- 
nische Kitharode  aus  dem  lesbischen  Methymna  soll  unter  der  Tyrannis 
des  Periandros  in  Korinth  (625 — 585)  „zuerst  einen  Dithyrambos  gedichtet, 
benannt  und  dem  Chor  einstudiert  haben". 2)  Was  von  seinem  Leben  und 
seiner  Person  berichtet  wird,  läßt  sich  fast  restlos  in  typische  Züge  auf- 
lösen,») nach  deren  Abzug  nur  der  Name  Arion  und  die  geschichtliche  Tat- 
sache übrig  bleibt,  daß  unter  dem  Einfluß  der  apollinischen  Kunst  in  Ko- 
rinth, das  schon  Pindar*)  als  Ausgangspunkt  des  Dithyrambos  (allerdings 
neben  Naxos  und  Theben)  bezeichnet,  eine  Erhebung  des  Dithyrambos  zu 
einer  vornehmeren  Kunstform  vollzogen  worden  sei.  Daß  Periandros,  ver- 
mutlich unter  Mitwirkung  des  delphischen  Orakels,  zu  dieser  Reform  des 
dionysischen  Volkskultus  und  seiner  Eingliederung  in  den  staatlichen  Gottes- 
dienst Veranlassung  gegeben  habe,  wird  im  Zusammenhang  deutlicher 
religionspolitischer  Strömungen  des  6.  Jahrhunderts  überaus  wahrschein- 
lich.^) Genaueres  läßt  sich  bei  der  legendenhaften  Verschleierung  der 
Nachrichten  über  Arion  nicht  ermitteln.  Der  Dankhymnüs  an  Poseidon, 
den  ihm  Älian  (N.  A.  XII  45)  zuschreibt,  muß  aus  Gründen  des  Stils  und 
des  Rhythmus  in  viel  jüngere  Zeit  gehören, 0)  ebenso  das  Epigramm  über 
Arions  wunderbare  Rettung  auf  dem  Bronzedelphinreiter  bei  Tainaron,  das 
auf  einer  allerdings  alten  (Herod.  I  24  extr.)  ätiologischen  Legende  beruht.^) 


*)  Siehe  o.  S.  152  f.  l   Schmid.  Z.  Gesch.  d.  griech.  Dithyr.,  Tübingen 

')  Herodot.  I  23  f.;  Hellanic.  fr.  85  M.;  1901,  21.    Wertlos  ist  die  Notiz  bei  Suidas, 

Ael.  n.  a.  XII  45;   ein  Artikel   bei    Suidas;  A.  sei  Schüler  des  Alkman  gewesen;  ebenso 

der    dort   angegebene    Name    seines   Vaters  die   andere   xai  oaTrooii:  fisfrFyxfiy  Fiiiteroa 

Kvxkevg  (von  xvxkuK  x^Q^^)  Js^  offenbar  fin-  //-orras,    die  aus  späterer  Theorie  über  den 

giert    und    findet    in    der   Böckhschen    Her-  Ursprung   der  Tragödie   hervorgegangen   ist. 

Stellung  einer  alten  (ca.  Ol.  40)  Inschrift  von  Übei  Arions  Leistung  s.  a.  E.  Reisch  in  der 

Thera  (bei  G.Kaibel,  Ep.  gr.  1086  Kcy.XFidrjg  Festschr.  f.  Th.  Gomperz  (1902)  451  ff. 

K]vxkffog  ddeJiq:>€iat /igicavi,  \  xov  bF.XqAg  [owoe,  *)    Find.    0.   13,    18    von    Korinth:     rai 

fivrjfioöifvov    reXeoer)     keinen     Rückhalt,     da  Aio)yroov  ndi^FV  i^FCfarev  ovv  ßoiildxn  yoQiJFg 

diese  auf  falscher  Lesung   beruht  (Mitt.  des  >   dtOroäftßo); 

ath.  Inst.  21, 1896, 253).  Vgl.  Anth.  Pal.  IX  88.  ^^)  W.  Schmid  a.  a.  0.  20  ff. 

Eine    apokryphe    Nachricht,    die    aus    Job.  1           ^)  Th.  Bergk,  PLG.  III*  79  ff.  K.  Lehrs, 

Diacon.   ad  Hermog.  H.  Rabe.   Rh.  Mus.  63  Popul.  Aufs.*  385  ff.  Die  bei  Suid.  angeführten 

(1908)150,  7  f.  mitteilt,  führt  den  Bericht  über  1    zwei  Bücher  noooi/ua  sind  erschwindelt  (von 

die  Begründung  des   igaycpdiag  doäua  durch  I   Lobon,    meint    0.  Ckusiüs,  Realenc.  II  840, 

Arion  auf  Solons  Elegien  zurück.  25  ff.). 

»)  0.  Cbüsiüs,  Realenc.  I  839,  19  ff.;  W.  ')  F.  Stüdniczka,  Kyrene  175  ff.  184  f. 


206  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassisohe  PeriodA. 

Was  damals  in  Korinth  geneuert  worden  ist,  sehen  wir  in  den  Wirkungen 
bei  den  jüngeren  Chorlyrikern  vor  uns.  Die  drei  jüngeren  Chorlyriker 
sind  gewerbsmäßige  Festpoeten,  die  gar  kein  Hehl  daraus  machen,  daß  sie 
durch  ihre  Muse  Geld  verdienen  wollen,  i)  Das  bestellte*)  Lied  studieren 
sie  entweder  persönlich  als  xoQodiddaxaXoi  ein  (Pind.  Nem.  1,  19)  oder  sie 
schicken  es  dem  Besteller,  der  das  Einstudieren  durch  einen  anderen  be- 
sorgen läßt.')  Sind  sie  schon  durch  die  Bezahlung  dem  Besteller  gegen- 
über in  abhängiger  Lage,  so  wird  diese  noch  bedenklicher  durch  die  seit 
Ende  des  6.  Jahrhunderts  aufkommende  Sitte,  Lobgesänge  auch  auf  lebende 
Menschen  zu  dichten  und  aufzuführen.  Der  Gefahr,  auch  Unwürdige  in 
schmeichlerisch  übertreibender  Weise  zu  verherrlichen,  ist  wohl  keiner  von 
diesen  Dichtern  ganz  entgangen.  Sie  bemühen  sich  aber  wenigstens,  wo 
es  sich  um  persönliche  Enkomien  handelt,  ihren  Gegenstand  aus  der  Sphäre 
individueller  Beschränkung  heraus  auf  die  Höhe  allgemeiner  Betrachtung 
zu  heben  und  nicht  bloß  den  Besteller  zu  loben,  sondern  alle  Hörer  zu- 
gleich zu  erbauen.  Die  beiden  lonier  sind  ihrer  nationalen  und  persön- 
lichen Eigenart  nach  mehr  ruhig  und  nüchtern  in  der  Empfindung,  glatt, 
schlicht  und  durchsichtig  in  Sprache  und  Rhythmen,  während  Pindar,  der 
letzte  große  Vertreter  des  äolischen  Genius  in  der  griechischen  Litteratur, 
zugleich  Erbe  von  Alkaios'  ritterlichem  Temperament  und  von  Hesiods 
grübelnder  Art,  sich  von  dem  kühnen  Flug  seiner  Phantasie  emportragen 
läßt  und  zugleich  in  die  Tiefen  sittlich-religiöser  Betrachtung  hinabdringt, 
ohne  vor  dem  Harten,  Kühnen,  Sprunghaften  in  der  Formgebung  zurück- 
zuschrecken. 

126.  Simonides  (556 — 468),*)  Sohn  des  Leoprepes  und  Enkel  des 
Hyllichos,  war  auf  der  ionischen  Insel  Keos,  die  auch  die  Heimat  des  So- 
phisten Prodikos  war,  geboren.  Auch  auf  der  Heimatinsel,  wo  er  schon  als 
Knabe  an  der  Bedienung  des  Dionysoskultes  sich  beteiligte,  war  er  ge- 
legentlich in  dem  Städtchen  Karthaia  mit  der  Dichtung  und  Einübung  von 
Chorgesängen  beschäftigt.*^)  Aber  einen  großen  Teil  seines  Lebens  scheint 
er  auf  Reisen  zugebracht   zu  haben,   an  lyrischen  Agonen  beteiligt^)  oder 


sieht  in  dem  Delphinreiter  den  Poseidon  hatte  ein  Buch  über  Simonides  geschrieben. 
selbst.  Albr.  Dürers  Zeichnung  des  reitenden  F.  W.  Schneidbwin  ,  Simouidis  Cei  rell., 
A.  bei  0.  Jahk,  Aus  der  Altertumswiss.,  Bonn   1   Brunsv.  1835.   Das  Geburtsjahr  ist  von  dem 


1868,  351.  Karikatur  auf  einer  aloxandri- 
nischen  Terrakotta,  Berl.  phil.  W.schr.9(1899) 
1437. 

*)  über  Simonides,  den  Xenophancs  fr.  21 


Dichter  selbst  angedeutet  fr.  147 ;  das  Todes- 
jahr Marm.  Par.  ep.  57.  Die  Lebensdaaer 
gibt  Suidas  auf  89,  Marm.  Par.  auf  90  Jahre  an. 
*)  Ath.  456  d— f.     Auch  Pindar  dichtete 


DiELS   Knauser   (xiftßi^)    nennt,    und    seine  |   nach  Is-  1,  8  eine  Ode  für  Keos.  In  dem  In- 

ioydnc  fwvoa  s.  Callim.  fr.  77  Sohn.;  Aristot.  |   ventar  des  Apoll ontempels  von  Karthaia  bei 

eth.Nic.ll21b;  Ps.Plat.Hipparch.228c.  Siehe  ;  Ch.  Michel.  Recueil  d*inscr.  Gr.  nr.  834  sind 

a.  Pindar.  Isthm.  2,6;  1,  9U;   Pyth.  11.  43;  '   mehrere  Weihegaben  kelscher  Ghoregen  s.  IV 

Scliol.  Pind.  Isthm.  5,  2;   Nem.  7,  24.     Nach  a.  Chr.  verzeichnet. 

Schol.  Nem.  5,  1  erhielt  Pindar  für  ein  Sieges-  •)  Von   56  Stieren   und   Dreifüßen,  die 

lied  3000  Drachmen.  Im  4.  Jahrh.  scheinen  die  '   er  gewonnen,  redet  das  Weihepigramm  fr.  145. 

Preise  gesunken  zu  sein  (L.  GuBLiTT,  Philol.  65,  Einmal  unterlag  er  dem  Pindar  (Schol.  Pind. 

1906.  382  ff.).    Siehe  a.  u.  S.  207,  11.  208,2.  i   Ol.  9,  74,   wo  zu  lesen:   xnra   toi)   xoivavtoc 

*)  Als  Besteller  wird  bei   Bacchyl.  9,  9  |   [<iuafh7»^]  FlniFiduor)^  einmal  besiegte  er  mit 

ein  Schwager  des  Gefeierten  genannt.  einer  Elegie  den  Aischylos  (Vita  Aesch.  p.  119, 

»)  Pind.  Ol.  6.  88;  Isthm.  2,  47.  4')  W.).  Epideiktisches  Auftreten  in  Olympia 

*)  Ein  Artikel  des  Suidas;   Chamaileon  ,   bezeugen  fr.  19.  20. 


B.  Lyrik.    IL  Chorlyrik.    (§  126.)  207 

im  Genuß   forstlicher  Gunst   als  Hofdichter.     Von  Keos  kam   er  zunächst 
nach  Athen  an  den  Hof  des  kunstverständigen  Hipparchos,^)    wo   Lasos 
von  Hermione  (Herod.  VH  6)  sein  Konkurrent  war  (Ar.  vesp.  1410).    Nach 
der  Ermordung  des  Hipparchos  (514)  ging  er  nach  üjrannon  und  Larissa 
in  Thessalien,   wohin  ihn  die  mit  den  Peisistratiden  verbündeten  (Herod. 
V  63.  94)  Machthaber   jener  Städte    riefen.     Für  Skopas    dichtete   er   ein 
berühmtes,  von  Piaton  im  Protagoras  zergliedertes  Chorlied;  dem  Andenken 
des  Antiochos  von  Larissa  weihte   er  einen  gepriesenen  Trauergesang;*) 
bekannt  ist  seine  später  poetisch  ausgeschmückte  wunderbare  Bettung  bei 
dem  Einsturz  des  Saales,  durch  den  Skopas  und  alle  übrigen  Tischgenossen 
verschüttet  wurden.^)     Nach  der  Schlacht  von  Marathon  treflfen  wir  ihn 
wieder   in  Athen,    wo   er  mit  einer  Elegie  auf  die  gefallenen  Vaterlands- 
verteidiger den  Sieg  über  Aischylos  davontrug.     Zu  Themistokles  scheint 
er  in  freundlichen  Beziehungen  gestanden  zu  haben.*)     In  Athen  gewann 
er  auch  im  März  476  mit  einem  Dithyrambos  den  Preis,  wie  er  selbst  in 
einer  poetischen  Didaskalie  meldet.*^)     Bald  danach  ging  er  nach  Sizilien, 
wo  er  die  Aussöhnung  des  Theron   und  Hieron  vermittelte  (476/5) ö)   und 
sich  an  den  Höfen  der  glanzliebenden  Fürsten  dieser  gesegneten  Insel  be- 
sonderer Gunst   erfreute,'')   vielleicht   auch   seinen  NeflFen  Bakchylides  bei 
Hieron  einführte.     Auch  ein  Aufenthalt  in  Tarent  ist  wahrscheinlich.®)    In 
Sizilien   fand   er    seinen  Tod   (468);   vor   den  Toren  von   Syrakus  befand 
sich    sein   Grabdenkmal,    das    später    ein   roher   Soldatenhauptmann    zer- 
störte.»)  Ob  er  längere  Zeit  (476 — 468)  in  Sizilien  verweilte,  ist  nicht  aus- 
gemacht;'**) sicher  hatte  er  dort  nach''476  die  Anfeindungen  seines  großen 
Rivalen  Pindar  zu  bestehen,   den  gleichfalls  die  Könige  Siziliens  an  ihren 
Hof  berufen  hatten.     Im  übrigen  ließ   er  sich   durch  die  vielen  Aufträge, 
die  ihm  für  Siegeslieder,  Choraufführungen  und  Aufschriften  zuteil  wurden, 
bald  hierhin  bald  dorthin  ziehen.    Sein  poetisches  Talent  und  seinen  feinen 
Witz  stellte  er  eben  in  den  Dienst  aller,  die  ihn  verlangten  und  bezahlen 
konnten.     Denn  für  seine  Gedichte  sich  honorieren  zu  lassen,   betrachtete 
er  als  eine  selbstverständliche  Sache,  i^)   Dadurch  freilich,  sowie  durch  die 

*)  Die  Freundschaft  des  Hipparchos  be-  '  ^)   Xenophon    läßt  ihn   in    dem   Dialog 

zeugt   Ps.Platon  Hipp.  228  c;    Aristot.  Ath.      'Ugwv  mit  dem  Tyrannen  ein  Gespräch  über 
resp.  18 ;  Ael.  v.  h.  VIH  2.  .   das    Los   des    Herrschers    führen.     Ein    an 


*)  Auf  die  Verherrlichung  des  Antiochos 
und  der  Skopaden  durch  ihn  weist  Theokrit 
16,  U  hin. 

«)  Callimach.  fr.  71  Schn.  ;  Cic.  de  or.  II 86 ; 
Phaedrus  IV  25 ;  Valer.  Maximus  1 8,  7 :  Aelian. 
fr.  63  u.  78;  Quint.  XI  2,  11;  vgl.  K.  Lehbs, 
Popul.  Aufs.*  S.  393  f.  Eine  zweite  wunder- 
bare Rettung  des  S.  erwähnt  Liban.  T.  FV 
1101  R. 

*)  Simonid.  fr.  222,  wozu  seine  Ver- 
ungUmpfang  von  Themistokles'  Gegner  Timo- 
kreon  (fr.  169)  und  wiederum  Timokreons 
Schelten  auf  die  Krjla  (plvagia  (Timocr.  fr.  10 
Bebok)  stimmen  würde. 

*)  Der  Schluß  des  Epigramms  fr.  147 
lautet:  afji(pi  didaoxaXiij  de  ^i^icovidji  eojteio 
xvdog  X)ydo}XOvtaexEi  Jtatdi  Aetojigejisoc. 

•)  Schol.  Find.  0.  2,  29. 


Hierons  Frau  gerichtetes  Wort  des  S.  ver- 
zeichnet die  frühptoiemäische  Anthologie 
Hibeh  papyri  1906  nr.  18.   Siehe  a.  u.  S.  208, 2. 

8)  WiLiMOwiTz,  Gott.  Ind.  lect.  1893/94 
p.8. 

9)  Callim.  fr.  71  Schn.;  Aelian.  fr.  63. 
*°)  Daß  er  noch  nach  468  Athen  zu  Ehren 

ein  Epigramm  auf  die  Sieger  am  Eurymedon 
verfaßte,  ist  man  nicht  berechtigt  anzunehmen, 
da  das  betreffende  Epigramm  untergeschoben 
und  sicher  nach  423  geschrieben  ist,  wie  Bb. 
Keil.  Herrn.  20  (1885)  341  ff.  nachgewiesen  hat. 
^^)  Suidas:  ovkk  :io<7)iog  öoxei  ftixQoXoyiav 
r.ion'FyxEtr  ei^  x6  aofia  xal  yoaxpai  q.oua  fun- 
i7ov.  Vgl.  Schol.'  Find.  Isth.  2,  9;  Chamai- 
leon  bei  Ath.  656d.  Siehe  a.  o.  S.  206.  1. 
Schlimmer  sind  die  Folgen,  die  aus  dieser 
Feilheit  für  den  Charakter  des  Dichters  er- 


208  Ghriechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

Skrupellosigkeit  in  Annahme  von  Bestellungen  verweltlichte  er  die  Poesie^ 
indem  er  unter  den  Dichtem  eine  ähnliche  Stellung  einnahm  wie  die 
Sophisten  unter  den  Philosophen  i^)  den  griechischen  Voltaire  hat  ihn  Lessing 
im  Laokoon  genannt.  Zu  der  Frau  des  Hieron  sagte  er  einst  mit  witziger 
Unverfrorenheit:  Reichtum  geht  vor  Weisheit;  denn  die  Weisen  kommen 
zu  den  Türen  der  Reichen.*)  Mit  seiner  verstandesmäßigen  Nüchternheit*) 
und  enipiristischen  Illusionslosigkeit,  mit  seiner  Neigung,  die  sittlichen  An- 
sprüche herabzustimmen,  die  auf  einer  pessimistisch-resignierten  Stimmung 
beruht,  ist  er  Vorläufer  der  einseitigen  Verstandeskultur  der  Sophistik  ge- 
worden und  hat  mit  seiner  vorsichtig  egoistisch  abgewogenen,  dabei  das 
Uecorum  wahrenden  Lebensklugheit  ein  außerordentliches  Ansehen  ge- 
wonnen.*) Seine  Verse  sind  nicht  nur  sehr  gewandt  und  klar,  sondern  an 
manchen  Stellen  von  wunderbarer  Zartheit  und  Wärme  der  Stimmung, 
wofür  besonders  der  Uanaedithyrambos^)  (fr.  37)  ein  glänzendes  Beispiel 
bietet.  Auch  die  malerische  Wirkung,  die  er  betonte,^)  kommt  hier  be- 
sonders schön  heraus;  im  übrigen  hält  er  das  eigentlich  Bildliche,  das  dem 
Ausdruck  leicht  etwas  Gedunsenes  und  Prätentiöses  gibt,  geflissentlich  fem. 
Besonders  gerühmt  wird  von  den  Alten  seine  Kunst  in  der  ergreifenden 
Schilderung  und  in  Erregung  des  Mitleids. '')  Diese  Eigenschaften  führten 
ihn  von  Erfolg  zu  Erfolg  bis  in  sein  höchstes  Alter**)  und  machten  ihn  zu 
einem  der  beliebtesten  Dichter  des  5.  Jahrhunderts,  dessen  Gedichte  bei 
attischen  Symposien  gern  gesungen  wurden. ») 

Die  Dichtungen    des  Simonides    waren    sehr  mannigfaltig    und   zahl- 
reich;  die   chorischen   Gesänge   wiegen    vor,   religiöse   und   weltliche.     In 

wuchsen:   er   pries   in   einem  Grabepigranini  kung  übertriebener  Bestattungsgebräache  in 

fr.  111    die  Tochter  des  Hippias,  Archedike,  lulis  (Cn.  Michel,  Recueil  nr.  398 ;  £.  Rohdb, 

verfaule  aber  auch  ein  Epigramm  fr  181  auf  Psyche  P  221  ff.).    Siehe   a.  B.  Schmidt,  N. 

die   Statue   der   Tyrannenmörder   Harinodios  ;   Jahrbb.  f.  kl.  Alt.  11  (1903)  617  f. 

und   AristDgciton :    freilich   ist   die   Echtheit  **)  «07  öc  ;?«<  /Mr^  «r/Jo  nennt  ihn  Fiat. 

dieser  Epigramme  fraglich.  reip.  I  331  e;   wäre  er  ein  Jahrhundert  früher 

^)  Bezeichnend  für  das  sophistische  Wesen  geboren,  so   hätte   man   ihn  wohl  unter  die 

des  Dichters   ist   der  Vers  fr.  70 :   ro  doxtir  sieben  Weisen  gesetzt,  neben  denen  ihn  Plat. 

xni  rav  u/.nOFiar  ptäxai.   Aus  dieser  Weisheit  reip.  I  335 e  nennt. 

ist  wohl   auch   die  Lebensrogel   in  dem  Sei-  '           *)   F.    Blass.   Herm.  30  (1895)  314  flf.; 

kilosliedchen    (0.  Crusius,   Philol.  52,  1S1»3,  Wilamowitz.  Isyllos  145  ff. 

l()ü)  iioov  Ct'fig  (fuhor  geflossen.  *)  Horazens  (a.  p.  361)  ut  pictura  poesU 

')  Arist.  rhet.  1391a  8;   vgl.  Plat.  Prot.  ist  ein  simonideischer  Gedanke  (Plut.  eymp. 

346  b.     Die   andere  Anekdote   von  den  zwei  quaest.  748  a).  der  in  die  hellenistische  Poetik 

Kästchen   bei  Stob.  flor.  10,  39   (vgl.   (^allim.  übergegangen  ist  (Auct.  ad.  Here;in.  IV  28,39; 

fr.  77)    läßt   sich    nur   griechisch    erzählen:  ,   Oic.Tusc.  V  114;  Schol.  THom.i:.'664.  Z467. 

^'///Cf>i7<^//C  .KumxahtrrTn^  itnt^  i'/xfonior  .loit'j-  I*  136.   //  107.  il  163  U.  S.). 

aat    y.ai  y/ujti'  t'^nr   '/.hyorro-,    nnyrnnty  fif  fii)  ')  Q}xmi,W,i^A:  prnecipua  etiis  in  cotH' 

()nVn'T(K,    ()ro,    FL^Fr,    f/o)  xifionov;:,    rip'   /ih  j    ffiovetida    wiaeratione    rirtuSf    ut    quidatn  in 

ynoiKor,  Ttjy  dr  vLQyvoiov,  y.tti  ttooc  tu^  /oFim:  hac  eiwi  jmrte  omnibu»  eixis  operis  auctoribun 

lijv    /ah    T(hv    yuiu'rwt'    xFi'f/v    froioyo)    niav  praeferani ,     Dionys.  de  imit.  II  2,  6:    J^ifito- 

ni'<n'::(i),    lijV    <)f    ZQtjot'/ii/r  ttnvfjp.     Gegen  die  vu^ot    mumit'njFt    rtp'    ix'/.oyiji'    rihr  (Wofidreov, 

(Geldgier    dos    Simonides   ist   auch    gerichtet  r/}c    nwOhotcK    Tt^r    dxotßkiav,    .loog   tovxok 

Thuc.  11  44,  4  (vgl.  Simonid.  bei  Plut.  an  seni  xmV   o   ßF/.ittni'   FvotoxFiai  xai  Hii'bdoov,   x6 

786b;    Aristot.  rhet.   1390a  15  f.;   Ter.    Ad.  oixTUFoOw  fit/  /tFynAo.ToF.iv)^,  cb?  exfirog,  dkka 

884)  und  Arist  rhet.  1405  b  24.  naiitiuxö,^.  Vit.  Aeschylip.  119,46  W.;  CatuU. 

^)    oox/ooorr/y    nennt    das    Aristid.    or.  38.8:  Hör.  od.  11  1.38. 

49  p.  510  D'ind.     Die  Nüchternheit  liegt  im  «)  fr.  145  und  147. 

Charakter    des   kelfschen  (Gemeinwesens  und  ^)  Ar.  nub.  1356. 

zeigt  sich  z.  B.  in  der  gesetzlichen  Einschrän-  ■ 


B.  Lyrik.    IL  Ghorlyrik.    (§  126.) 


209 


diesen  behielt  er  den  für  diese  Gattung  typisch  gewordenen  dorischen 
Dialekt  bei,  wiewohl  er  von  Geburt  ein  lonier  war  und  der  Geist 
seiner  Dichtung  mehr  die  weltmännische  Feinheit  eines  Attikers  als 
die  derbe  Charaktertüchtigkeit  und  die  Gemütstiefe  eines  Dorers  aus- 
spricht. Wir  haben  Fragmente  von  Hymnen, i)  Paianen  (die  Echtheit 
von  fr.  26 B  ist  unverbürgt),  Skolien,^)  Epinikien,^)  Enkomien,  Dithy- 
ramben,*) Hyporchemen,*)  Thronen.«)  In  der  letztgenannten  Gattung 
erfreute  er  sich  im  Altertum  eines  besonderen  Rufes;  in  den  Klageliedern 
entfaltete  er  in  glänzender  Weise  die  Kunst,  Mitleid  zu  erregen  (s.  o. 
S.  208).  Vereinzelt  in  der  griechischen  Lyrik  steht  sein  melisches  Ge- 
dicht auf  die  Seeschlacht  bei  Artemision.  Es  wird  als  Dithyrambus  mit 
geschichtlichem  StoflF  zu  betrachten  sein,  analog  den  geschichtlichen  Tra- 
gödien, die  das  Zeitalter  der  Perserkriege  gezeitigt  hat.  Das  herrliche 
Fragment  auf  die  bei  Thermopylai  Gefallenen  (fr.  4)  gehört  zu  einem  lyri- 
schen Enkomion,  einer  Gattung,  die  später  durch  die  prosaischen  koyoi 
i7iixd(pioi  ersetzt  worden  ist.  Außerdem  glänzte  er  als  Dichter  von  Elegien, 
wie  auf  die  Siege  von  Marathon,  Salamis,  Plataia  (fr.  81 — 84).  Dem  spä- 
teren Altertum  ist  Simonides  insbesondere  der  Epigrammatiker^),  und  die 
Alexandriner  haben  ein  Buch  Epigramme  von  ihm  gehabt,®)  das  aber  sicher 


*)  Unter  ihnen  eine  Sturmbeschwörung, 
xnxivxai  (fr.  24) ;  über  dergleichen  s.  H.  Stein 
zu  Herod.  VII  191,  7;  Fs.Hippocr.  T.  VI,  360 
LiTTR^;  Philostr.  Vit.  Ap.  VIII  7  p.  313, 
20flf.K. 

")  Zu  dieser  Gattung  rechnen  Blass  und 
WiLAMowiTz  (Gott.  Nachr.  1898,  204  if.)  das 
in  Piatons  Protagoras  besprochene  Gedicht 
fr.  5,  das  Berok  und  H.  Jurenka.  Z.  f.  ö.  G. 
57  (1906)  885  ff.  unter  die  Epinikien  stellen. 

*)  Geordnet  waren  diese  nach  Kampfes- 
arten.  Vor  Simonides  scheint  es  keine  kunst- 
mäßigen Epinikien  gegeben  zu  haben  (Find. 
N.  8,  85  ff.  ist  fabulos).  Er  wird  also  den 
Stil  dieser  Gattung  geschaffen  haben  (F.  Blass, 
Bacchyl.*  praef.  XXII). 

*•)  Sicner  unterscheiden  lassen  sich  Mhi- 
vojv  (fr.  27),  EvQwmj  (fr.  28 :  daraus  vielleicht 
Hör.  od.  III  27,  25  ff.) ;  mit  Wahrscheinlich- 
keit Danae  (s.  S.  208),  Orpheus  (40),  Argo- 
nauten (48.  52.  202  A.  204.  205.  212),  Ly- 
kurgos  (51),  Theseus  oder  Aigeus  (54—56), 
Herakles  (58),  Sieben  gegen  Theben  (52), 
Ikiov  TiFQotg  (209).  Idas  (206.  216;  vgl.  Bac- 
chylid.l9);  Ätna  (200  B). 

*)  Daß  die  Hyporchemfragmente  bei 
BsBGK  29—31  dem  Sim.  gehören,  ist  nicht 
erweislich. 

*)  Nach  Suidas  schrieb  er  auch  eine  Tra- 
gödie, worunter  A.  Böckh  den  Meranon.  den 
Strabon  p.  828  einen  Dithyrambus  nennt, 
verstehen  wollte;  vgl.  E.  Lübbert,  Ind.  Bonn. 
1884  p.  16.  Dagegen  nahm  G.  Hermann, 
Opusc.  VU214  eine  wirkliche  Tragödie  an. 
H.  Flach  hat  jenes  xai  rgayf/jöiai  bei  Suidas  als 
Interpolation  eingeklammert:  s.  0.  Immisch, 
Handbaeb  der  klaas.  Altertumswissenschaft.    VII. 


Rh.  M.  44  (1889)  556. 

')  Vgl.  Tn.  Preger,  De  epigrammatis 
graecis,  Monachii  1889,  p.  3sqq.;  A.Hauvette, 
De  l'authenticit^  des  öpigrammes  de  Simonide, 
in  Biblioth^que  de  la  facultö  des  lettres  de 
Paris,  1896  (dazu  Preger  in  Neue  phil.  Kund- 
schau 1897  n.  9) ,  dessen  Urteil  unter  dem 
Einfluß  von  G.  Kaibels  Untersuchungen 
(Rhein.  Mus.  38,  1883,  436  ff.)  steht,  wenn  er 
in  der  beaut6  simple  et  naturelle  und  der 
Pointenlosigkeit  ein  Kennzeichen  der  Echt- 
heit sucht.  Diese  Eigenschaften  fallen  zum 
Teil  auch  zusammen  mit  der  altmodischen 
Trockenheit  der  Küsterpoesie,  die  zu  dem 
Schatz  der  griechischen  Stein  epigram  me  viel 
beigetragen  hat.  In  dem  einzig  sicher  echten 
Epigramm  des  S.  (fr.  94)  tritt  eine  antithe- 
tische Pointe  zutage,  und  man  möchte  wohl 
gerade  die  Begründung  des  Pointenepigramms, 
wie  wir  es  jetzt  verstehen,  dem  geistreich 
spielenden  lonier  zuschreiben.  Mit  der  Le- 
gende von  dem  Epigrammatiker  Simonides 
gründlich,  vielleicht  etwas  zu  gründlich  auf- 
geräumt zu  haben,  ist  das  Verdienst  von 
Wilamowitz,  Gott.  Nachr.  1897,  306  ff.  (vor- 
sichtiger ders.,  Textgesch.  der  gr.  Lyr.  37). 
Während  Hauvette  noch  41  Epigramme  füi- 
echt  hielt,  ist  M.  Boas,  De  epigrammatis 
Simonideis  l,  Diss.  Groningen  1905,  der  An- 
sicht, um  Echtheit  könne  es  sich  höchstens 
für  elf  Stücke  handeln.  —  über  die  Sprache 
der  melischen  Gedichte  W.  Schröter,  De 
Simonidis  Cei  melici  sermone  quaestioncs, 
Diss.  Leipz.  1906. 

")  Hephaestio  p.  60,  5  Consbr.  ;  Herodian. 
,T.  //or?/£>.  /f^.  p.  950,  17  L.;  Suid.  s.  2'///.; 
5.  Anfl.  14 


210  Ghriecliisolie  LitteraturgetMhiclite,    L  EUMisclie  Periode. 

unechtes  enthielt,  i)  Die  Sammlung  umfaßte,  wie  neuere  Funde  gezeigt 
haben,  auch  alte  Inschriften,  die  von  den  Steinen  gesammelt,  aber  im  Lauf 
der  Überlieferungsgeschichte  auch  interpoliert  wurden^)  und  fflr  deren  cdmo- 
nideischen  Ursprung  keinerlei  Gewähr  geleistet  werden  kann  und  konnte. 
Nun  ist  ja  bekannt,  daß  in  der  großen  Zeit  des  nationalen  Aufschwungs 
Gemeinden  und  Private  in  der  Errichtung  von  Siegestrophäen  und  in  der 
Ehrung  des  Andenkens  tapferer  Vaterlandsverteidiger  wetteiferten.  Auf 
den  Statuen,  Grabsteinen,  Dreifüßen,  Tempeln  wollte  man  in  Worten 
die  Erinnerung  an  die  großen  Ruhmestaten  festgehalten  wissen,  und  das 
nicht  nur  in  Prosa,  sondern  auch  in  Versen.  Es  wäre  wunderbar,  wenn 
in  so  gelegener  Zeit  der  gewandte  und  spekulative,  als  Gelegenheitsdichter 
vielbewährte  Simonides  nicht  auch  sein  Talent  angeboten  und  verwertet 
hätte.  Aber  die  Frage  der  Echtheit  des  Erhaltenen  muß  von  Fall  zu  Fall 
geprüft  werden,  und  sichere  Kriterien  allgemeiner  Natur  sind  trotz  allen 
Bemühens  bis  jetzt  nicht  gefunden.  Ganz  feststehend  ist  nur,  daß  er  dem 
Seher  Megistias  480  ein  Grabepigramm  gewidmet  hat  (Herod.  VH  228), 
und  da  er  dies  „aus  Gastfreundschaft''  getan,  so  kann  auf  Grund  dieses 
Einzelfalls  mit  wissenschaftlicher  Sicherheit  nicht  einmal  von  Epigramm- 
bestellungen bei  ihm  geredet  werden.  —  Dunkel  ist  der  Sinn  der  ätcüctoi 
Xoyoi^  aus  denen  fr.  189  stammt;  nach  den  Worten  des  Alexandres  von  • 
Aphrodisias  könnte  man  an  prosaische  Mimen  denken,  zu  denen  Simonides 
in  Sizilien  angeregt  worden  sein  kann.  Mit  Welckers  Vorschlag,  dieses 
Werk  dem  Semonides  zuzuschreiben,  ist  nichts  geholfen. 

An  den  Namen  des  Simonides  knüpfte  sich  auch  der  Ruhm  erfinde- 
rischen Geistes:  er,  der  bis  in  sein  90.  Lebensjahr  sich  ein  wunderbar 
frisches  Gedächtnis  erhielt,  galt  zugleich  als  Erfinder  der  Mnemotechnik.') 
Daß  er  auch  die  Buchstabenzeichen  HÜZWI  erfunden  habe,*)  die  schon 
Jahrhunderte  vorher  auf  kleinasiatisch-ionischen  Inschriften  in  ihrem  spä- 
teren Lautwert  erscheinen,  ist  reine  Fabel. 

127.  Bakchylides  (um  505  bis  450  oder  später),*^)  der  jüngste  der 
drei  großen  Dichter  der  chorischen  Lyrik,  stammte  gleichfalls  aus  Keos.«) 
Er  war  Schwestersohn   des  Dichters  Simonides;   sein  gleichnamiger  Gro&- 

Eustath.  ad  Hom.  ^  350  p.  1761,  25;  Schol.  j   fttr  ein  mit  der  Beischrift  ^2:ifji€ovi6rjg  ^o/ec* 

Find.  N.  7,  1.  versehenes  spätes  megarisches  Epigramm  Be- 

^)  Hoph.  1.  1.  zitiert  als  simonideisch  ein  nützung  der   litterarischen  Simonideasamm- 

Epigramm  auf  einen  Olymjjioniken  vom  Jahr  lungannimmt.  ^ Simonides "imitation  auf  Stein- 

388:   in  der  langen  Reihe  von  Epigrammen,  inschriften  illustriert  0.  Benitdobf,  Jahreah. 


die  in  der  palatinischen  Anthologie  als  simo- 
nideiwch  bezeichnet  werden,  sind  viele  (z.  B. 
VI  145;  VII  20  auf  den  Tod  des  Sophokles), 


des  österr.  Inst.  3  ^1900)  115;   E.  Zisbabth, 
Philol.  54  (1895)  296. 

')  Die  Legende  vielleicht  zuerst  in  dem 


die  sicher  mit  S.  nichts  zu  tun  haben.  Epigramm  fr.  146,  vorausgesetzt  Mann,  par, 

-)  Vgl.   die  von   St.  N.  Dkagümis  f Ath.  ep.  54  u.  s. 

Mitt.22.  1897.  52  ff.  nebst  Tafel  IX)  gefundene  *)  Die  Stellen  bei  H.  Flach,  Gesch.  der 

salaminische  Inschrift  in  korinthischem  Alpha-  gr.  Lyriker,  Tübingen  1884,  619,  3. 

bet  und  Dialekt  mit  der  zuerst  bei  Plutarch  *)  Ein   dürftiger  Artikel   des  Soidas  L. 

und  Favorinus   belegten  Fassung  fr.  96,   wo  A.  Michelangkli.   Della    vita  di  Baccbilide, 

der  dorische  Dialekt  getilgt  und  ein  zweites  !   Riv.  di  storia  ant.  2  (1897)  3,  73  ff. 

Distichon  beigefügt  ist;  eine  ähnliche  Inter-  \           ®)  Seiner  Heimatinsel  Keos  gedenkt   er 

polation    von  fr.  150   bespricht  A.  Wilhelm,  ;   3,  98;  5,  10;   16,  130;  18,  11:  epigr.  1,4  Bl. 

Jahresh.  d.  österr.  arch.  Inst.  2  (1899)  231  ff.,  der  , 


B.  Lyrik.    H.  Chorlyrik.    (§  127.) 


211 


vater  war  Athlet;  so  wies  ihn  Abstammung  und  Verwandtschaft  auf  die 
chorische  Lyrik  und  den  Preis  der  Sieger  an  den  Nationalspielen.  Seine 
Blüte  setzt  Eusebios  Ol.  78  =  468  v.  Chr.,i)  in  welchem  Jahr  er  das  Preis- 
lied auf  den  olympischen  Wagensieg  seines  Gönners  Hieron  dichtete.  Bald 
nach  der  Schlacht  von  Salamis  war  er  als  Dichter  von  Epinikien  auf- 
getreten; 479  oder  477  feierte  er  zugleich  mit  Pindar  den  nemeischen  Sieg 
des  Aigineten  Pytheas.*)  Wann  er  geboren  und  wann  er  gestorben  ist, 
darüber  mangeln  uns  zuverlässige  Angaben.  Von  seinen  Lebensverhältnissen 
sind  uns  nur  zwei  Punkte  überliefert,  sein  Aufenthalt  am  Hof  des  Königs 
Hieron  von  Syrakus*)  und  sein  Exil  im  Peloponnes.*)  Zuerst  trat  er  mit 
Hieron  in  nachweisbare  Beziehung,  als  er  ihm  476  von  Eeos  aus  ein  Epi- 
nikion  auf  seinen  Sieg  in  Olympia  mit  dem  Rennpferd  schickte  (5),  den- 
selben, den  Pindar  in  der  ersten  olympischen  Ode  verherrlicht.  Der  devote 
Ton  dieses  breit  angelegten  Gedichtes  läßt  vermuten,  daß  er  dem  Tyrannen 
damals  noch  nicht  näher  stand.  Das  zweite  Lied  an  Hieron  (4)  auf 
dessen  pythischen  Wagensieg  470  ist  schwerlich  auf  Bestellung  gemacht, 
sondern  ein  kurzes  Gratulationsbriefchen  in  chorlyrischer  Form,  da  der 
Dichter  wohl  eine  zweite  Konkurrenz  mit  Pindar,  der  auch  diesen  Sieg  in 
der  gewaltigen  ersten  pythischen  Ode  besungen  hat,  scheuen  mochte. 
Zwischen  5  und  4  scheint  ein  Aufenthalt  bei  Hieron  in  Syrakus  zu  fallen 
—  die  (pdo^evia  des  Tyrannen,  auf  die  er  5,  49  bedeutungsvoll  anspielt, 
wird  er  damals  erprobt  haben  und  scheint  dafür  auch  3,  10  flf.  zu  quittieren. 
Pindar  empfand  die  Rivalität  der  beiden  lonier  schon  476  lästig,  wenn  er 
sie  in  der  Ode  auf  Therons  olympischen  Wagensieg  (0.  2,  95)  als  krei- 
schende Raben  bezeichnet,  die  sich  nicht  messen  dürfen  mit  dem  göttlichen 
Vogel  des  Zeus.*)  Über  seine  Verbannung  geben  uns  weder  die  Reste 
seiner  Dichtkunst  noch  andere  Zeugnisse  des  Altertums  näheren  Aufschluß. 
Wir  können  nur  allenfalls  aus  dem  Zusammenhang,  in  den  Plutarch  ihn 
mit  Thukydides  und  Xenophon  bringt,  vermuten,  daß  seine  Verbannung 
längere  Zeit  dauerte  und  in  seine  spätere  Lebenszeit  fiel.  Sicher  war  er 
im  Jahre  468  in  Keos,  wie  wir  jetzt  aus  seinem  in  diesem  Jahr  aus  Keos 
nach  Syrakus  gesandten  Siegeslied  auf  Hieron  (3,  98)  nachweisen  können.^) 


^)  unmöglich  ist  der  andere  Ansatz  bei 
Euseb.  zu  Ol.  87. 

«)  P.  BLASS,  Ausg.«  praef.  LXI  f. 

■)  Aelian  v.  h.  IV  15 :  'ligcov  otnt'jv  2'<^w- 
r/(3j7  rq)  Ksicp  xai  IIivddQfp  xio  ßrjßaifo  xai 
BaxxvUdn  Ttfi  'lovXirJTff.  Vgl.  Schol.  Find.  0. 
2,  154. 

*)  Plutarch  de  ezilio  605  c,  wo  unter  den 
großen  Männern,  die  aus  ihrem  Vaterland 
verbannt  in  der  Feme  große  Werke  schrieben, 
auch  Baxxvltdrjg  6  jToitjtifg  h  IhXonm'vrjori) 
genannt  wird. 

')  Schon  von  den  alten  Scholiasten  wurde 
in  den  Worten  Pindars  0.  2,  94  oo(f6g  6 
nakXa  eidiog  q/vq'  fm^ovreg  Xcißgoi  jtayyhoooiq. 
xoQoxeg  &g  axQavra  yaovFxov  der  Dual  yogve- 
Tor  auf  die  rivalisierenden  Dichter  Simonides 
und  Bakchylides  gedeutet,  worauf  B.  fr.  5 
mit  dem  nflchtemen  Satz  ezegog  i^  hegov 


aoq^og  (d.  h.  die  ooqia  ist  lernbar)  t6  tf  naXai 
t6  re  vvv  antwortet.  5,  16  ff.  tritt  B.  noch 
hochfahrend  unter  dem  von  Alkaios  fr.  7  in- 
spirierten pindarischen  Bild  des  Adlers  auf, 
während  er  sich  in  dem  späteren  Gedicht 
3,  97  mit  der  bescheideneren  Nachtigall  rich- 
tiger vergleicht.  Mit  unrecht  wird  die  Rivali- 
tät der  Dichter  bestritten  von  Michel angeli, 
F.  BLASS  (Ausg.  praef.'  XV),  H.  Jurbnka 
(Bacch.  p.V)  u.  a. 

^)  Zu  einer  Verbannung  des  Bakchylides 
in  höherem  Alter  stimmt  es  auch,  daß  sich 
die  Keier  i.  J.  458  ein  Chorlied  bei  Pindar 
bestellten  (s.  W.  Christs  Einleitung  zu  Pind. 
Is.  1).  Denn  das  war  begreiflich,  wenn  damals 
nicht  bloß  Simonides  bereits  tot,  sondern 
auch  Bakchylides  aus  seiner  Heimat  Keos 
verbannt  war. 


14* 


212  Qriechische  Litteraturgeschichte.    L  Klasaische  Periode. 

Auch  die  beiden  Gedichte  (1.  2)  auf  seinen  gefeierten  Landsmann,  den 
Athleten  Argeios  hat  er  noch  in  seiner  Heimat  gemacht,  das  zweite  im- 
provisiert (2,  11);  er  gedenkt  hier  der  siebzig  Kränze,  die  Keos  schon  bei 
den  Isthmien  gewonnen  habe.O 

Die  Dichtungen  des  Bakchylides  bewegten  sich  in  allen  Formen  der 
chorischen  Lyrik;  erwähnt  werden  von  ihm  Epinikien,  Hymnen,  unter  denen 
der  Rhetor  Menandros^)  die  Klasse  der  äjiOTreßijmxot  (Abschiedschöre  an 
Götter,  die  auf  Reisen  gehen)  als  ihm  eigentümlich  hervorhebt,  Paiane, 
Dithyramben,  Prosodien,  Parthenien,  die  Plutarch  de  mus.  17  neben  denen 
des  Alkman,  Pindar  und  Simonides  nennt,  ferner  Tanz-,  Wein-  und  Liebes- 
lieder und  Epigramme.  Bisher  hatte  man  von  allen  Dichtungsarten  des 
BakchyUdes  nur  späriiche  Fragmente;  seit  Ende  des  Jahres  1896  sind  wir 
so  glücklich,  neben  Bruchstücken  auch  mehrere  ganze  Gedichte,  darunter 
solche  von  größerem  Umfang  zu  besitzen.  Sie  stammen  aus  den  Resten 
zweier  ägyptischen,  jetzt  im  britischen  Museum  befindlichen  Papyrusrollen 
aus  dem  1.  oder  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  (so  Grenfell-Hunt).  Durch  müh- 
selige Zusammensetzung  der  geretteten  Stücke  haben  sich  außer  ein  paar 
Dutzend  Bruchstücken  zwanzig  zusammenhängende  Gedichte  in  teilweise 
vorzüglicher  Erhaltung  gewinnen  lassen.  Die  erste  Rolle  enthält  vierzehn 
Epinikien,^)  vier  an  Landsleute  des  Dichters,  Argeios  (1.  2)  und  Laches 
((i.  7),*)  drei  an  König  Hieron  (3 — 5),  die  übrigen  an  verschiedene 
Sieger  aus  Phlius,  Athen,  Metapontion,  Aigina  und  Thessalien,  und  zwar 
auf  Olympioniken  vier  (3.  5.  6.  7),  auf  Pythioniken  2  (4.  10),  je  drei 
auf  Isthmioniken  (1.  2.  \))  und  Nemeoniken  (8.  11.  12),  eines  auf  einen 
Wagensieg  beim  Fest  des  Poseidon  Petraios  in  Thessalien  (13).  Ein  be- 
stimmtos Prinzip  der  Anordnung  läfst  sich  nicht  erkennen.  Sicher  war 
nicht  wie  bei  Pindar  die  Rangordnung  der  vier  groL^en  oder  heiligen  Spiele 
maL^gebeud,  nur  daü  ganz  an  den  Schlula  dasjenige  Epinikion  gesetzt  ist, 
das  zu  keinem  der  vier  grolaen  Nationalspiele  in  Beziehung  steht.  Im 
übrigen  sind  die  Epinikien  auf  den  gleichen  Sieger  zusammengestellt  und 
stehen  unter  diesen  wie  in  der  pindarischen  Snmnilung  die  auf  den  glän- 
zendsten Sieg,  den  Wagensieg  {ltjtok),  voran. ^)  Interessant  ist,  daß  sich 
unter  den  neuen  Epinikien  drei  befinden,  die  Siege  feiern,  deren  Verherr- 
lichung uns  schon  aus  Pindar  bekannt  war.  Es  feiern  nämlich  Pind. 
().  1  und  ßakch.  5  den  Sieg  des  Hieron  mit  dem  Renner  Pherenikos  zu 
Olympia,  IMnd.  I\  1  und  Bakch.  4  den  Wagensieg  des  Hieron  in  Delphoi, 
und  Pind.  N.  5  und  Bakcli.  13  den  nemeischen  Siei  des  Aigineten  Pytheas 
im  l^mkratiou;  beachtenswert  ist  dabei,  daß  in  dem  letzten  Fall  beide 
Dichter  in  gleicher  Weise,   wohl   infolge  (iincs  Winkes  des  Bestellers,  mit 

')  Eine  keische  luschrift  (A.  Pridik.  De  ei  neu  Siej:  beziehen,  s.  F.  Blass,  Herrn.  36 

Cei  in.snlae  rebus,  Dorpat  1892,  p.  161  nr.  39)  (19Ul)  274  tf.:  H.  Juuenka.  Festschr.  f.  Gom- 

zoii;t,  diili  diese  Sie^e  «lort  gebucht  wurden.  perz  22(1  ff. 

-)    Menand.  bei   Spenoel,   Khet.  gi*.  III  •')   Zu    den    Epinikien   des   Bakchylides. 

383.  10.  33(),  12  .Sr.  die.  wie  die  des  Pindar.  bei  den  Gramniatikern 

3)  Melir  als  ein  Buch  E[>inikien  des  B.  mehr  Interesse  als  die  religiösen  Lieder  fan- 
hat auch  das  Altertum  nirht  gehabt  (F.  Blass,  den,  schrieb  Didymos  einen  Kommentar,  wie 
Ausg.-  Praef.  Vll  I.  wir  aus  einer  Bemerkung  des  Ammonios  de 

^)  Über  die  Frage,  ob  sicli  6  und  7  auf  ditfercntiis  p.  97  Valck.  ersehen. 


B.  Lyrik.    II.  Chorlyrik.    (§  127.)  213 

dem  Preis  des  Siegers  Pytheas  den  seines  Turnlehrers  Menandros  ver- 
binden.^) Die  Art  des  Siegesliedes  ist  im  wesentlichen  die  gleiche  wie  bei 
Pindar:  kräftig  wird  die  Tugend  gepriesen,  die  mehr  wert  ist  als  Geld  und 
Macht;  es  wird  mit  der  Verherrlichung  des  gegenwärtigen  Sieges  auch  die 
rühmende  Erwähnung  früherer  Ruhmestaten  verbunden;  es  wird  endlich 
in  das  Preislied  meist  ein  Mythus  eingelegt  (er  fehlt  nur  in  den  kurzen 
monostrophischen  Liedchen  2.  3.  6);  einmal,  in  dem  Epinikion  auf  den 
olympischen  Wagensieg  des  Hieron  (3,  23 — 62),  wird  eine  geschichtliche 
Sage,  die  aus  Herodot  I  87  bekannte  wunderbare  Errettung  des  Königs 
Kroisos  durch  den  auf  den  Scheiterhaufen  herabströmenden  Regen,  in  einer 
eigenartigen,  mit  Vasenbildern  übereinstimmenden  Version  verwendet,  die 
durch  das  tertium  comparationis  der  „Milde"  (vgl.  auch  Pind.  P.  1,  94)  an 
Hieron  angeschlossen  ist.  Der  sachliche  Zusammenhang  zwischen  dem 
Anlaß  und  dem  Mythus  ist  in  einigen  Fällen  noch  deutlich.*)  Bestimmt 
sind  von  den  Epinikien  die  einen  zum  Vortrag  am  Ort  des  Sieges  selbst, 
die  anderen  zur  Verherrlichung  des  Siegers  nach  seiner  Rückkehr  in  die 
Heimat.  Zu  letzterem  Zweck  wurde  zumeist  ein  Feiertag  ausersehen,  so 
daß  das  ganze  Volk  an  dem  Fest  teilnehmen  und  der  eingelegte  Mythus 
zugleich  zur  Verherrlichung  der  Gottheit  dienen  konnte;  oder  es  wurde  in 
mehr  privater  Weise  dem  heimgekehrten  Sieger  ein  Ständchen  gebracht 
(6,  14). 

Die  zweite  Rolle  umfaßt  sechs  für  Götter-  und  Heroenfeste  gedichtete 
Choroden.  Sie  haben  eigene  auf  den  Inhalt  bezügliche  Titel,  wie  die  atti- 
schen Tragödien  {^Avrfjvogidai,  "Hgaxh'jg,  ^Hi\%oiy  ßrjoevg,  7a»,  T^Sac)  und  bil- 
den, wie  man  aus  der  alphabetischen  Anordnung')  ersieht,  ein  Ganzes,  von 
dem  nur  die  erste  Hälfte  erhalten  ist.  Zwei  von  ihnen  (16  und  17)  tragen 
im  Metrum  und  Inhalt  den  Charakter  von  Paianen,  andere  sind  Dithy- 
ramben (19)  oder  Hymnen.  Dem  Ganzen  gab  F.  Blaß  in  seiner  Ausgabe 
den  Titel  AWYPAMBOI^  da  der  Grammatiker  Ser\'ius  zu  Vergil.  Aen.  VI  21 
auch  das  16.  Gedicht  unter  dem  Lemma  Bakchylides  in  dithyrambis  zitiert. 
Das  15.  Gedicht  war  für  ein  Fest  des  delphischen,  das  16.  für  eines  des 
delischen  ApoUon,  das  19.  für  ein  spartanisches  Heroenfest  bestimmt. 
16  und  17  sind  schwerlich  vor  der  Translation  der  Theseusgebeine  nach 
Athen  476  verfaßt.  Der  Dichter  setzt  im  allgemeinen  Bekanntschaft  des 
Hörers  mit  dem  Sagenstoflf  voraus,  aus  dem  er  dann  hie  und  da  eine  Epi- 
sode herausgreift  und  lebhaft  koloriert,  um  dann  rasch  und  hart  abzu- 
brechen.*) Den  vollsten  Eindruck  von  Bakchylides'  Kunst  gibt  das  lange 
und  gut  erhaltene  17.  Gedicht  "Hitftoi,  das  die  schöne,  bisher  nur  aus  Mytho- 
graphen  und  Vasenbildern  bekannte  Sage  erzählt,^)   wie  Theseus,  um  den 

*)   Ähnlich   ist  der  Renner   Pherenikos  '  kies  im  Hades  trifft,   dem  leidenden  Hieron 

hervorgehohen  von  Pind.  0.  1  und  Bakch.  5.  ein  tröstliches  Gegenbild  hinstellen  zu  wollen 

*)    Siehe    darüber   besonders    F.  Blass,  (anders  Blass  XVI). 

Ausg.*  pi*^^^'  XX  f"  auch  H.  Jurenka,  Ausg.  i  ^)   Dieselbe   Ordnung  herrscht   auch   in 

XV  f.    Lose  ist  der  Zusammenhang,  wo  eine  den    erhaltenen    Listen    von   Tragödien    der 

beliebige  Sage   aus  der  Heimat  des  Siegers  i  attischen  Tragiker. 

eingef&gt  wird,  wie  in  1  u.  10  und  wohl  auch  !  ^)  So  in  14;  5,  176;  9,  51.   Das  15.  Ge- 

12;   über  3  s.  oben;    5   scheint   in   der  ge-  1  dicht  ist  nach  Wilamowitz  (Textgesch.  der 

flissentlich    idealisierten    Gestalt    des    vom  |  griech.  Lyr.  41)  in  der  Erhaltung  verstümmelt. 

Schicksal  heimgesuchten  Meleagros,  den  Hera-  i  ^)  K.  Robert,  Theseus  und  Meleagros  bei 


214  QrieohiBche  Litteratargeschichte.    L  KUuNdaehe  Periode. 

Spott  des  Minos  zurückzuweisen  und  sich  als  Sohn  des  Poseidon  zu 
zeigen,  ins  Meer  springt  und  den  von  Minos  hinabgeworfenen  Ring  au» 
dem  Haus  der  Amphitrite  im  tiefen  Meeresgrund  zurückbringt  —  das  erste 
Auftreten  des  Tauchermotivs  in  der  Litteratur.  Durch  seine  dramatische 
Form  beansprucht  besondere  Aufmerksamkeit  das  18.  Gedicht  0i]O€vg.  Es 
ist  ein  Zwiegespräch  in  vier  Strophen,  so  angeordnet,  dag  auf  Frage  und 
Antwort  immer  je  eine  Strophe  kommt.  Der  eine  der  Sprechenden  ist  der 
König  Aigeus,  der  von  dem  Nahen  des  siegreichen  Theseus  bereits  Nach- 
richt erhalten  hatte,  der  andere  ein  Bürger  Athens  (nach  F.  G.  Kenyons 
Vermutung  Medeia),  der  bestürzt  fragt,  was  das  Signal  der  ehernen  Trom- 
pete bedeute  und  was  man  von  dem  nahenden  Fremdling  zu  erwarten 
habe.  Jedermann  sieht,  daß  wir  hier  das  lange  vermißte  Zwischenglied 
zwischen  Chorlyrik  und  Drama  vor  uns  haben,  und  daß  die  Beden  der 
beiden  Sprechenden,  mögen  wir  den  zweiten  nun  als  Führer  eines  Chors 
oder  als  einzelstehende  Person  denken,  uns  den  Übergang  des  Dithyrambus 
zur  Tragödie  vor  Augen  führen.  Von  weiteren  Dithyramben  lassen  sich 
mit  Sicherheit  ein  Aaoxowv  (fr.  9  Bl.)  und  eine  EvQumri  (fr.  10),^)  mit 
Wahrscheinlichkeit  Kaaadvdga  (Blaß*  p.  147  und  fr.  8),  Krjvxog  ydfiog  (fr.  22) 
und  (Pdoxi/jxrjg  (fr.  7)  erkennen. 

Bakchylides  reicht  weder  an  Originalität  noch  an  Großartigkeit  der 
Diktion  oder  Tiefe  der  Gedanken  an  Pindar  heran.  Manchmal  hat  es  so- 
gar den  Anschein,  als  habe  der  jüngere  Dichter  den  älteren  kopiert,  und 
zwar  nicht  bloß  im  Gebrauch  von  Epitheta,  sondern  auch  in  der  Wieder- 
holung ganzer  Sätze,  wie  z.  B.  die  Worte  tcoc  vvv  xai  ijuoi  /ivgia  Tiavt^ 
xeXev&og  ujueregav  ägerdv  vjuveiv  xvavoTtXoxdfiov  ixan  Nlxag  (Bakch.  5,  31, 
gedichtet  476)  auffallig  anklingen  an  Pindar  Isthm.  4,  1  (gedichtet  478) 
FOTi  juoi  &8(üv  Exaxi  ßWQia  Jiavia  xiXeväog,  o)  Mihaa',  evjJLajiaviav  ydg  itpavag 
'loä/Liioig  ufjrregag  ägerdg  v/uvco  dtcüxeiv.  Auffallig  ist  die  Naivetät,  mit  der 
Bakchylides  auch  nach  der  derben  Abfertigung  von  seiten  Pindars  0.  2,  9ß 
fortfährt  die  Pfade  seines  Rivalen  zu  wandeln.  Die  ganze  Art  seiner 
Mythenerzählung  hat  in  der  dekorativen  Ausstattung  etwas  Konventionelles, 
in  der  ethischen  Ausdeutung  etwas  stark  Gemeinplätziges.  Damit  hängt 
ein  Vorzug  vor  Pindar  zusammen,  den  Bakchylides  mit  seinem  Oheim 
teilt,  die  Leichtverständlichkeit.  Die  Einfachheit  der  Metra  und  die  triviale 
Weisheit  der  Sentenzen  erinnern  vielfach  an  Euripides  und  sind  ebenso 
frei  von  dem  Bombast  des  Aischylos,  wie  von  der  Dunkelheit  pindarischer 
Wendungen,  haben  freilich  aber  auch  nichts  von  dem  Gedankenflug  und 
dem  Bilderreichtum  der  Meister  des  erhabenen  Stils.  Im  sprachlichen 
Ausdruck  hängt  er  stark  vom  Epos  ab.^)  In  richtiger  Erkenntnis  seiner 
Eigenart  hat  er  sich  in  den  Siegesliedern  3,  97  und  9,  10  nicht  mehr  mit 
dem  hochfliegenden  Adler  wie  in  5,  16,  sondern  mit  der  lieblich  singenden 

Bakchylides,  Herni.  33  (1898)  130  ff.,  der  aus  der  I  '^)  V.Tommasini,  ImitÄzioni  e  reminiscenze 

häufigen  Ubereinstiminung   zwischen  B.  und  .  omeriche  in  Bacchilide,   Studi   ital.  7  (1899)- 

den  rotfigurigen  Vasen  schließt,  daß  die  bei  1  415  fif.     Über  sein  stilistisches  Verhältnia  m 

B.  vertretenen  Sagenversionen  meist  die  land-  I  Pindar  K.  Prenticb,  De  B.  Pindari  artis  socio- 

läufigen  seien.  et  imitatore,  Diss.  Halle  1900. 

0  Siehe  o.  S.  209,  4.  \ 


B.  Lyrik.    IL  CJhorlyrik,    (§  128.)  215 

Nachtigall  von  Keos  oder  der  schwirrenden  Biene  verglichen.  Gefeiert 
ist  mit  Recht  die  behaglich  breite,  farbige  Schilderung  des  Friedens,  der 
den  Sterblichen  Reichtum  und  Sangeslust  bringt  uud  die  Spinnen  in  den 
eisernen  Schildhaltem  ihre  Gewebe  ziehen  läßt  (fr.  4) ;  aber  auch  den  Ver- 
gleich des  Dichters  mit  dem  Vogel  des  Zeus  hat  Bakchylides  in  dem 
Siegeslied  auf  Hieron  (5,  16  flf.)  mit  größerer  Kunst  als  selbst  Pindar 
durchgeführt.^)  Die  mit  Worten  nicht  sparende«)  Klarheit,  Sauberkeit 
und  Anschaulichkeit  seiner  Darstellung,  vielleicht  auch  der  Reichtum  an 
einfachen  Sentenzen  machten  den  Dichter  auch  bei  den  Römern  beliebt. 
So  hat  Horaz  (Porphyrie  zu  od.  I,  15)  mit  der  Mahnrede  des  Meergreises 
Nereus  an  den  flatterhaften  Paris  ein  Gedicht  des  Bakchylides  nachgebildet*) 
und  gibt  auch  in  dem  berühmten  Ausspruch  epist.  I  4,  13  omnem  crede 
diem  tibi  diluxisse  supremum  einen  Gedanken  des  Bakchylides  3,  80  wieder. 
Noch  von  Kaiser  Julianus  berichtet  Ammianus  Marcellinus  XXV  4,  3 :  reco- 
lebat  saepe  dictum  lyrici  Bacchylidis,  quem  legebat  iucunde  id  adserentem 
quod  ut  egregius  pictor  vultum  speciosum  effingit,  ita  pudicitia  celsius  consur- 
gentem  vitam  exomat.  Ein  Römer  ist  es  auch,  der  seinem  Haupt  die  Ehre 
erwiesen  hat,  es  mit  dem  Pindars  zusammen  zu  einer  Doppelbüste  vereinigen 
zu  lassen.*)  Richtig  taxiert  seine  korrekte  Mediokrität  der  Verfasser  der 
Schrift  negi  vtpovg  33,  4 :  ädidjiKorog  xal  iv  tco  yXaipvgq)  jzdvrrj  x€xaXhygag?t)' 
juivog, 

C.  F.  Nbuk,  Bacchylidis  Cei  fragmenta,  Berlin  1822.  —  F.  G.  Kbnyon,  The  poems  of 
Bacchylides  from  a  papyrus  in  the  British  Museum,  London  1897;  ed.  F.  Blass  in  Bibl. 
Tepbn.,  1.  Aufl.  1898;  2.  1899;  3.  1904;  mit  Übersetzung  und  Kommentar  von  H.  Jübbnka, 
Wien  1898;  B.,  testo  greco,  traduzione  e  note  von  N.  Festa,  Firenze  1898;  B.  The  poems  and 
fragments,  ed.  with  introduction,  notes  and  prose  translation  by  R.  C.  Jebb,  Cambridge  1905. 
Popularisierender  Essai  von  Wilamowilz,  Bakchylides.  Berlin  1898.  —  J.  Schöne,  De  dia- 
lecto  Bacchylidea,  Leipz.  Stud.  19  (1899)  181  ff.;  H.  Mrose,  De  syntaxi  Bacchylidea,  Diss. 
Leipz.  1903;  0.  Meisbb,  Mythographische  Untersuchungen  zu  B.,  Diss.  München  1904. 

128.  Timokreon  aus  laiysos  in  Rhodos  ist  durch  seine  Beziehungen 
zu  Simonides  bekannt  geworden.  Dieser  war  mit  Themistokles ,  dem 
großen  Feldherm  und  Staatsmann  Athens,  befreundet;  jener  erging  sich 
in  bitteren  Schmähungen  über  ihn,  weil  er  ihn,  der  wegen  des  Verdachtes 
medischer  Gesinnung  aus  seinem  Vaterland  verjagt  worden  war,  nicht 
wieder  in  seine  Heimat  zurückgeführt  hatte.  ^)  Dafür  strafte  ihn  Simo- 
nides mit  dem  sarkastischen  Epigramm :«) 

UoXkä  Tiitbv  xal  nokkä  q?ay(hv  xal  jiokXd  xdx'  ebiiov 

äv&QCOJiovg  xeijuai  Tijuoxg^wv  'Poöiog. 

Die  erhaltenen  Reste  stammen  aus  melischen  Skolien   mit  ausgesprochen 

sarkastischem  Charakter  und  aus  Epigrammen  (Suidas  nennt  ihn  geradezu 


^)  Besser  auch  ist  dem  Bakchylides  9, 
41  ff.  die  Heranziehung  des  Nil  und  Ther- 
modon  zur  Bezeichnung  der  weiten  Verbrei- 


bis  63  dem  Menelaos  in  den  Mund  gelegt 
K.  Brandt,  De  Horatii  studiis  Bacchylideis, 
in  Festschrift  für  Vahlen,  Berl.  1900,  297  ff. 


tung   des    Ruhmes   des    Herakles   gelungen  i  *)  R.  Lanciani,  I  busti  di  B.  e  Pindaro 

als  dem  Pindar  an  der  verzwickten   Stelle  !  nelle  ville  antiche,  Rendiconti  della  r.  accad. 

Is.  2,  41  f.  I  dei  Lincei,  1897,  6  ff. 

«)  laXg  aeiQtiv  wird  er  Anth.  Pal.  IX  184  j  »)  Plut.  Them.  21.  Siehe  a.  Schol.  Aristid. 

angeredet  I  p.  720,  11  Dind. 

')  Eine  ähnliche  Moralrede  wird  in  einem  ^)  Anth.  Pal.  VII  348;  Ath.  416  a.    Auch 

uns  erhaltenen  Gedicht  des  Bakchjl.  15,  50  I  Simon,  fr.  57  ist  gegen  Timokreon  gerichtet 


216  Ghriecliische  Litteraturgeschichte.    L  Klasaische  Periode. 

einen  Dichter  der  alten  Komödie).  Die  alten  attischen  Komiker  (Cratin. 
fr.  156  K.,  Ar.  nub.  985)  erwähnen  einen  zu  ihrer  Zeit  für  ganz  veraltet 
geltenden  Dithyrambendichter  Kedeides,^)  der  spätestens  der  ersten  Hälfte 
des  5.  Jahrhunderts  angehören  kann. 

Einzehie  Fragmente  sind  uns  noch  erhalten  aus  Epinikien  des  Dia- 
goras  von  Melos,  Erotika  des  Kydias  und  von  den  unten  zu  besprechen- 
den attischen  Dithyrambikem. 

Pindar  (518  bis  c.  442). 

129.  Leben.  Von  dem  größten  und  höchstgefeierten  Lyriker  der 
Griechen  sind  wir  so  glücklich  noch  44  Oden  zu  besitzen,  so  daß  auch 
aus  seinen  Werken  selbst  ein  Bild  von  seiner  Kunst  und  seinem  Schaffen 
gewonnen  werden  kann.  Auch  an  direkten  Nachrichten  über  seine  Ab- 
stammung und  sein  Leben  fehlt  es  nicht.  Aber  zwischen  die  Wahrheit 
drängt  sich  hier  die  Dichtung.  So  erzählte  man,  um  seine  Inspiration  zu 
beleuchten,  daß  eine  Biene  dem  gottbeschirmten  Knaben,  als  er  vor  Müdig- 
keit auf  dorn  Helikon  eingeschlafen  war,  Honig  auf  die  Lippen  geträufelt 
liabe,^)  daß  dem  göttlichen  Sänger  auf  den  Triften  der  Waldflur  der  ge- 
hörnte Pan  und  die  Mutter  Demeter  erschienen  seien,  um  ihn  zum  Ver- 
künder ihres  Lobes  zu  weihen. 3)  Solche  Sagen,  vermischt  mit  bestimmten 
Angaben  über  seine  Abkunft  und  sein  Leben,  erzählten  bereits  die  ältesten 
Biographen  des  Dichters,  Chamaileon  und  Istros.*)  Aber  deren  Biographien 
sind  ebenso,  wie  die  seines  Landsmannes  Plutarch*^)  verloren  gegangen: 
auf  uns  gekommen  sind  nur  außer  einem  Artikel  des  Suidas  ein  alter  in 
seinem  Grundstock  wahrscrheinlich  auf  den  Grammatiker  Didymos  zurück- 
gehender Lebensabrißö)  und  eine  zweite  Biographie  aus  dem  Kommentar 
des  Eustatliios  (lIirdaoiyMi  TJdmxfiohil),  in  die  ein  älteres,  aus  dem  5.  Jahr- 
hundert n.  ("hr.  stammendes  Gedicht  von  Pindars  Geschlecht  eingelegt  ist."; 
Aus  den  dürftigen  Nachrichten  der  Alten  und  den  Werken  des  Dichters 
selbst  haben  in  neuerer  Zeit  nuihrere  Gelehrte  zusammenhängende  Dar- 
stellungen vom  Leben  Pindars  zu  geben  versucht,  am  ausführlichsten  Leop. 
Schmidt,    Pindars   Leben    und    Dichtung,    Bonn  18G2.®)     In   diesem   Buch 

M  ^>o.  nicht  Ktjy.n'<)t,\'  odor  A'rA/A//c.   ist  Dichters,  von  Photios  bibl.  p.  104  b,  3  Bbkk. 

der  Name  zu  schreiben.    Ein  Sohn  oder  Enkel  und  im  LampriaHk atalog  nr.  36. 

von  ihm  scheint  der  auf  einer  choregischen  ^)    Ehedem    Vita    Vratislaviensis    (jetzt 

Inschrift  ca.  420   aus    Athen   genannte   A'//-  Ambrosiana)   genannt  nach  dem  Codex,  ans 

A^/A//j  zu  sein.   Siehe  U.  Köhlek,  Ath.  Mitteil.  dem   sie   zuerst   ans   Licht   gezogen   wurde. 

8  ■!  1883)  38 ff.:  A.  Ijrin'ck.  Diss.  |diilol.  Halens.  Sämtliche  Vitae  vereinigt  in  W.  Christs  Aus- 

7  (1886)  lo:',  f.  gäbe  Prol.  C  ss. 

-)  Eine  ähnliche  Vorstelhuig  bei  IMaton  ')  Der  Kommcntiir  selbst  ist  bis  auf  die 

Ion  p.  534a.    Theokrit  7.  X''2,  Horaz  od.  3.  4.  V'ita  verloren  gegangen;  das  eingelegte /Vro^ 

13  fl".    Vgl.  au(jh  H.  üsENER,  Khein.  Mus.  57  Iln-fVinor  in  31  Hexametern  zeigt  den  Vera- 

(1002 1  177  ff.  bau   des  Xonnos   und   seiner   Schule;   s.  A. 

^)    Etwas    Ähnliches    erzählt    Tansanias  LuDWicn,    Rh.  M.  34  (1879)  357  flf.  —  Eine 

IX  23.  3  von  (?iner  dem  P.  gewordenen  Traum-  Vit^i   des  Thomas  Magister   aus  dem  byzan- 

eischeinung  dt;r  Persephone.  Man  denke  aucrh  tiuischen  Mittelalter  enthält  gleichfalls  einige 

an  Ilesiod  theog.  22  ff.  uns  sonst   nicht  überkommene  Nachrichten. 

^)  E.  V.  Lkitscii.    Die  Quellen    für  die  ")  Außerdem  behandelten  neuerdings  Pin- 

Hiograpliien  des  Pindar,  Philol.  11  (1856)  1  tf.  dar»  Leben:  T.Mo mmsen',  Piudaros,  Kiel  1845; 

^)  Bezeugt  von  Eustathios  im  Leben  des  Alfr.  Ckoiset.  La  po^sio  de  PindarOf  Paris 


B.  Lyrik.    DL  CJhorlyrik.    Pindar.    (§§  129—130.)  217 

sucht  der  feinsinnige  Verfasser,  indem  er  der  zeitlichen  Folge  der  er- 
haltenen Gedichte  nachgeht,  ein  Bild  der  geistigen  Entwicklung  des 
Dichters  zu  entwerfen.  Sehr  farbenreich  ist  es  nicht  ausgefallen;  von 
einem  Vergleich  mit  ähnlichen  Darstellungen  des  Geistesganges  der  großen 
Dichter  unserer  Nation  kann  ohnehin  nicht  die  Rede  sein;  dafür  war  einem 
antiken  Dichter  der  Typus  seiner  Kunst  zu  fest  von  vornherein  vor- 
gezeichnet und  der  Freiheit  individueller  Empfindung  ein  zu  kleiner  Spiel- 
raum gestattet.  1)  Auch  stilistisch  und  sprachlich  ergibt  die  Vergleichung 
der  Jugendgedichte  mit  denen  des  Alters  keine  scharfen  Unterscheidungs- 
merkmale.*) 

130.  Pindar  ist  in  Theben  aufgewachsen,  wie  er  selbst  (fr.  198:  omoi 
fie  ^evov  ovo*  ädaijjuova  Moioäv  inaiöevoav  xkvxai  ß^ßai)  bezeugt.  Seine 
eigentliche  Heimat  aber  war  das  Dorf  Kynoskephalai  bei  Theben,  in  dem 
sein  Geschlecht  seit  alters  begütert  war.  Aus  der  Stelle  P.  5,  76  Alyädai 
iuol  Tiaregeg  schließt  man,  daß  seine  Familie  zum  Geschlecht  der  Aigiden 
gehörte,  von  dem  ein  Teil  zur  Zeit  der  dorischen  Wanderung  nach  Lake- 
daimon  und  später  nach  Thera  und  Kyrene  ausgewandert  war.  3)  Von 
der  Musenquelle  Dirke  in  der  Nähe  Thebens,  die  er  wiederholt  in  seinen 
Liedern  feiert,*)  erhielt  er  den  Namen  des  dirkäischen  Schwans.  Sein 
Vater  hieß  nach  den  einen  Daiphantos,  nach  den  andern  Pagondas  oder 
Skopelinos,*^)  seine  Mutter  Kleodike.  Ein  Bruder  des  Dichters  war  Eritimos 
(Erotion  bei  Suidas),  der  als  guter  Jäger  und  Faustkämpfer  bekannt  war. 
Der  Geburtstag  Pindars  fiel  auf  das  Fest  des  Gottes  in  Delphoi,*')  woraus 
wir  entnehmen,  daß  er  im  dritten  Jahr  einer  Olympiade  geboren  war. 
Nach  Suidas  war  dieses  die  65.  Ol.  (=  518);  das  ist  aber  nicht  unbestritten 
geblieben,  da  er  schon  Ol.  70,  3  (a.  498)  als  Dichter  des  10.  pythischen 
Siegesgesanges  auftrat.^)    Deshalb  ließ  ihn  A.  Boeckh,  dem  hierin  C.  Gaspar 

1880  (2.  ed.  1886);  £.  Lübbert,  Pindars  Leben  kann  allerdings  auch  auf  die  Thebaner  tiber- 

und  Dichtungen,  Bonn  1882 ;  C.  Gaspar.  Essai  haupt  gedeutet  werden.  Entgegen  dem  Sprach- 

de  Chronologie  Pindarique,    Bruxelles   1900  |   gebrauchPindars  deutet  F.  Stüdniczka.  Kyrene 

(hier  am  Anfang   eine   vollständige   Pindar-  S.  73  flf.  und  Gott.  gel.  Anz.  1901.  142    das 

bibliographie).     Die  Chronologie   der  Sieges-  Fuoi  .-laTsge^  auf  die  Vorfahren  der  Kyrcnaier. 

gesänge  steht  auf  viel  festerem  Grund,  seit  |           *)  Isth.  6,  74:   nioio   ocft    .Moxa^   ayvov 

auf  einem  Papynis  des  3.  Jahrh.  n.  Chr.  Reste  ■    vÖcoo,  lo  ßaO^r^on'oi  x6mu  x^^'oojif.^Xov  Mvu- 

eines     Olympionikenverzeichnisses     für     die  1   fjoavvag    dvheikar    .tuo'     erretx^oiv     Kddfwv 

Olympiaden   75 — 78   und   81—83    gefunden  .TiUaic. 


sind.  Das  Dokument  ist  veröffentlicht  Oxyrh. 
pap.  II  p.  85  ff. ,  für  die  Pindarchronologie 
verwertet  von  K.  Robert,  Herm.  35  (1900) 
181  ff.  und  J.  H.  Lipsius,  Ber.  der  sächs.  Ges. 
d.  Wifls.  52  (1900)  1  ff. 

*)  Siehe  Fr.  Mezger,  Disput.  Pindaricae 
1  Hof  1866;  11  Augsb.  Progr.  1873. 

*}  Für  Pindars  Verhältnis  zur  epischen 


^)  Daiphantos  hieß  der  Sohn  Pindars 
von  Megakleia  oder  Timoxena,  woraus  viel- 
leicht Daiphantos  als  Großvater  bloß  ver- 
mutet ist.  Skopelinos  wird  auch  sein  Musik- 
lehrer genannt. 

0)  Vit.  A  zitiert  dafür  eine  Stelle  Pindars 
fr.  193:  jiei'Taeitjols  tooTa,  ßovTiounos^  fy  « 
jioiozor  EvvdoOfjy  dya^Taroc;  vjto  o.iaQydroi^, 


Diktion  ist  das  von  H.  Schultz,  De  elocutionis  ')  Übrigens  darf  nicht  verschwiegen  wer- 

Pindaricae  colore  epico,   Gott.  1905,   25—31  den,  daß  der  Ansatz  von  P.  10  auf  Ol.  70,  3 

nachgewiesen.  Bedenken   unterliegt,   da  einerseits   in  jener 

•)    In  Anaphe,    einer  Insel    östlich    von  Pythiade  der  gefeierte  Knabe  auch  im  Stadion 

Thera,  findet  sich  öfters  inschriftlich  der  Name  siegte,  dessen  Pindar  in  jener  Ode  nicht  ge- 

Pindaros;  s.  E.  Lübbert,  Diatriba  in  Pindari  denkt,  und  anderseits  die  nächsten  pythischen 

locom  de  Aegidis  et  sacris  Cameis,  Bonn  1883.  Siegesoden  Pindars  P.  6  u.  12  erst  acht  Jahre 

Dagegen  Einwände  von  L.  BoRNEMANN,  Philol.  danach   fallen.   .(Siehe  übrigens  C.  Gaspar, 
43  (1884)  79  ff.    Das  Alyetbai  ifioi  :jaT€g€g   |   Essai  35,  der  zwei  andere  (5den  zeitlich  vor 


218  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  KUuNoaehe  Periode, 

folgt,  schon  Ol.  64,  3  =  522  geboren  sein.  J.  EL  Lipsius  will  bis  526  zurQck- 
gehen,  während  0.  Schröder  mit  Wilamowitz  das  Datum  des  Suidas  518 
festhält. 

Als  Pindars  Lehrer  im  Flötenspiel  wird  sein  Oheim  Skopelinos,  von 
sonstigen  Lehrern  der  athenische  Chormeister  Ägathokles  oder  Apollodoros, 
auch  Lasos  von  Hermione  genannt.  0    In  der  Dichtkunst  hatte  er  an  der 
älteren  Dichterin  seiner  böotischen  Heimat  Myrtis  ein  Vorbild.    Zu  Eoriima 
stand  er  mehr  auf  dem  gespannten  Fuß  eines  Rivalen,  wenn  man  bei  der 
ganz  verschiedenartigen  Richtung  der  beiden  in  Oeist  und  Technik  so  sagen 
darf;   Pausanias  IX  22,  3  sah   im  Gymnasium   von   Tanagra  ein  Bild  der 
mit  der  Siegesbinde  geschmückten  Dichterin  und  deutete  dieses  auf  einen 
Sieg,  den  sie  im  Wettkampf  über  Pindar  davongetragen  habe.*)    Und  als 
Pindar  einst  einen  Hymnus  auf  Theben  mit  den  Versen  begann 
^lajurjvöv  P]  ;^()i;aaAdxaTov  MeUav, 
f)  KadjLiov,  fj  onaQTcbv  legöv  yevog  ävögcav, 
fj  TGLV  xvavdfjmvxa   ßtjßav, 
fj  tö  TidvToXjLiov  ai^ivog  'HganXeog, 
fj  rdv  Jia)vvaov  noXvya&ea  u/udv, 
rj  ydjbiov  Xeifxco^ov  'AgjLionag  vfiv^aoiJ£v;^) 
soll  ihn  Korinna  witzig  mit  der  Bemerkung  zurechtgewiesen  haben  tfj  x^tgi 
aneigeiv  jurjö'  Sixo  tco  ßvXdxco.^) 

Als  angehender  Zwanziger  begann  Pindar  Siegeslieder  zu  dichten, 
zunächst  für  die  kleineren  Wettspiele.  Das  älteste  sicher  datierbare,  P.  10 
auf  einen  siegreichen  Knaben  aus  dem  Geschlecht  der  Aleuaden  fällt  nach 
der  Angabe  der  SchoHen  in  Ol.  70,  3  (498)  oder  in  das  20.  Lebensjahr  des 
Dichters.  Schon  im  frühen  Lebensalter  ist  er  auch,  wie  das  die  fünfte 
nemeische  und  sechste  isthmische  Ode  bezeugen,  mit  der  Insel  Aigina,  zu 
der  ihn  die  Stammverwandtschaft,*^)  die  alte  gegen  Athen  gerichtete  poli- 
tische Freundschaft  seiner  Vaterstadt  mit  der  Insel«)  und  die  Vorliebe  für 
das    aristokratische   Regiment   hinzog,    in   Verbindung    getreten.^)     Sein 

P.  X  setzt.)     Wilamowitz,  Aristot.  a.  Athen  '  ')   Dieselbe  ÜberschweDglichkeit  findet 

II  302   bleibt  bei  518   als   Geburtsjahr  des      sich  Isth.  7  in.  und  N.  10  in. 
Dichters  stehen.    Übrigens  scheint  der  Streit,  *)  Plut.  de  glor.  Athen,  c.  4  p.  847  f. 

ob  Ol.  65  oder  64,   mit  dem   verschiedenen  I  ^)  Das  ist  Is.  8,  16  dadurch  ansgedrOckt, 


Ansatz  des  Beginns  der  Pythiaden  zusammen- 
zuhängen, von  dem  wir  jetzt  (Gaspar  3  ff.) 
sicher  wissen,  daß  er  Ol.  49,  3  (wie  nach 
Schol.  Pyth.  3  init.  Th.  Bergk  angenommen 
hatte)  =  582  fällt. 

*)  Nur  von  Eustathios.  aber  weder  in 
dem  metrischen  Ihth;  noch  in  der  Vit.  A. 

'^)  Die  Deutung  wird  dadurch  zweifel- 
haft, daß  Korinna  fr.  21  die  Myrtis  tadelt, 
weil  sie,  ein  Weib,  mit  Pindar  in  einen 
Wettkampf  sich  eingelassen  habe.  Auch  der 
Grund,  daß  die  Preisrichter  sich  durch  den 
heimischen  Dialekt  der  Lieder  der  Korinna 
bestimmen  ließen,  schmeckt  nach  Gramma- 
tikerwitz. Fünfmal  läßt  Pindar  von  Korinna 
besiegt  werden  Aelian  v.  h.  XIII 25  und  Suidas 
u.  Aop/iTa. 


daß  Theba  und  Aigina  als  die  zeusgeliebten 
Töchter  des  Asopos  bezeichnet  werden.  Auch 
in  dem  Preis  des  Waffenbündnisses  zwischen 
Telamon  aus  Aigina  und  Herakles  aus  Theben 
(N.  4,  25,  Is.  6.  31)  gibt  sich  das  gleiche  Be- 
streben kund.  Äginetischen  Siegern  galten 
0.8;  P.8;  I.  5.  6.  8;  N.3— 8;  fr.  1.4..  Mit  der 
Steigerung  des  Wohlstandes  der  Ägineten 
durch  die  Perserkriege  (Herodot  IX  80)  hftngt 
vielleicht  der  Aufschwung  des  Sports  dort 
zusammen. 

«)  Gaspak  1.  1.  18. 

')  Zu  den  ältesten  Epinikien  Pindars 
gehören  außerdem  P.  6  auf  l^enokrates  ans 
Akragas  (490),  P.  12  auf  Midas  aus  Akragas 
(ebenso).  Die  7.  isthraische  für  Strepaiades 
von  Theben  setzt  Gaspar  502,  die   10.  ne- 


B.  Lyrik.    H.  Chorlyrik.    Pindar.    (§  181.) 


21^ 


Mannesalter  fiel  in  die  große  Zeit,  in  der  Hellas  unter  schwerem  Elingen 
die  nationale  Läuterungsprobe  bestand  und  die  Überlegenheit  des  freien 
Geistes  über  barbarische  Despotie  für  immer  begründete.  Auf  Pindars 
Geist  wirkten  die  Heldentaten  der  Perserkriege  \iicht  so  gewaltig  wie  auf 
Aischylos  und  Simonides.  Das  hängt  mit  der  Politik  seiner  Vaterstadt 
zusammen,  die  mit  kurzsichtiger  Engherzigkeit  in  einem  Kampf,  in  dem 
es  9ich  um  die  Ehre  und  den  Bestand  der  Nation  handelte,  neutral  bleiben 
wollte,  dafür  aber  auch  nach  der  Schlacht  von  Plataia  schwer  die  Sünden 
treulosen  Vaterlandsverrates  büßen  mußte.  Polybios  IV  31,  der  unpar- 
teiische Historiker,  der  sonst  so  schlecht  auf  die  Anmaßungen  athenischer 
Hegemonie  zu  sprechen  ist,  macht  es  doch  dem  Pindar  zum  bitteren  Vor- 
wurf, daß  er  jener  Politik  der  Neutralität  und  Ruhe  das  Wort  geredet 
habe  mit  den  Versen: 

rd  xoivov  rig  äorcov  h  evdiq  xi&eig 
igewaoaioD  /leyaXdvoQog  'Hovxtci?  ^o  (paidodv  <pdog. 
In  der  Stunde  der  Gefahr  vermochte   eben  Pindar  ebensowenig  wie  seine 
Landsleute   die   kleinen  Rücksichten   des  Partikularismus   zu   überwinden. 
Später,  nach  den  glänzenden  Siegen  der  Athener  über  die  Perser  hat  auch 
er,  ausgesöhnt  mit  der  Vergangenheit,  die  hohen  Verdienste  Athens  um 
die  Freiheit  von  HeUas  voll  anerkannt,^)  so  daß  er  in  einem  Dithyrambus 
der  Stadt  den  unverwelklichen  Ruhmeskranz  flocht: 
(b  ral  XiTiagal  xal  looT€q>avoi  xal  äoldi/Lioi, 
'EUAdog  igeiojua,  xXeival  'A^ävai,  daij^Lonov  Jirolie&Qov. 
Die  Athener  ehrten  ihn  dafür  mit  der  Proxenie  und  einer  Ehrengabe  von 
10000  Drachmen,*)  die  Spätere  als  eine  Entschädigung  für  eine  angeblich 
von  Theben  über  ihn  verhängte  Strafe  ansahen.^)     Tiefe  Bewegung  über 
das  Mißgeschick  seiner  Vaterstadt  nach  der  Schlacht  von  Plataia  spricht 
sich  in  der  achten  isthmischen  Ode  (478)  aus;*)  doch  hofft  er,  die  erhaltene 
Freiheit  werde  alle  Wunden  heilen.     Wie  er  sich   in   der  schweren  Zeit 
der  Erniedrigung  Thebens  und  Aiginas  unter  die  athenische  Suprematie  457 
bis  447  verhalten  hat,  ist  nicht  ersichtlich,  da  die  Beziehung  der  siebenten 
isthmischen  Ode  auf  die  Schlacht  von  Oinophyta,  die  Böckh  angenommen 
hatte,  unsicher  ist.^)     Es  wird  aber  nicht  Zufall  sein,   daß  wir  aus  dieser 
Periode  nur  ein  Gedicht  (0. 4  a.  452)  besitzen. 

131.  Inzwischen   war  auch   der  Ruhm   des  Dichters   weit   über  die 
Grenzen  der  Heimat  und  der  benachbarten  Gebiete  gedrungen,   so  daß  er 


meische  an  Theaios  von  Argos  501.  Unter 
den  olympischen  Oden  ist  die  frühste  und 
zugleich  anmutigste  die  14.  an  Asopichos 
von  Orchomenos  a.  488. 

')  Außer  in  dem  gleich  zu  erwähnenden 
Dithyrambus  fr.  76,  besonders  noch  in  P.  1, 75 
u.  N.  4, 19.  Das  Lob  der  fieycdojtolieg  'A{}ävai 
in  der  7.  pythischen  Ode  (486)  gilt  mehr  den 
Alkmaioniden.  Sonst  verherrlicht  P.  nur 
noch  einen  Attiker,  den  Achamer  Timodemos 
N.  2  (487  nach  Gaspar). 

*)  Isoer.  de  permut.  166:  IlivSaQov  fikv  x6v 


noirjirjv  Ol  :ig6  fjfuov  ysyovoteg  if :iko  ivog 
ftdvov  grjf^arog,  oxi  tijv  :i6ki%'  ?oeiOfia  xfjg  'EX^ 
Xddog  (hvofiaoF.v,  ovieog  irifirjoav,  ujotb  xai 
jTQo^evov  jtotrjoao^at  xai  dfogeäv  fivgiag  avt(ß 
dovvat  ögaxjiidg. 

')  Aeschines  ep.  4,  2  f.  Nach  Paus.  I  8,  4 
haben  ihn  die  Athener  auch  mit  einem  Stand- 
bild geehrt;  vgl.  Böckh  zu  fr.  46. 

*)  Gaspab  1.  1.  p.  66  ff. 

^)  Gaspa»  22—28  will  I.  7  in  das  Jahr 
502,  an  den  Anfang  aller  Epinikien,  hinauf- 
rücken. 


220  Griechische  LitieratnrgeBohichte,    L  ELasoBche  Periode. 

in  gleicher  Weise  wie  Simonides  das  Ansehen  eines  hellenischen  National- 
dichters  erlangte.  Viel  trugen  dazu  die  Verbindungen  bei,  die  ihm  die 
großen  Nationalspiele  der  Hellenen  verschafften.  Durch  sie  trat  er  in  Be- 
ziehung zu  den  vornehmen  Geschlechtem  von  Rhodos,  Tenedos,  Eorinth, 
zu  Arkesilas  von  Kyrene,^  zu  König  Alexandres  von  Makedonien,*)  und 
vor  allem  zu  den  fürstlichen  Höfen  des  Theron  von  Akragas  und  Hieron 
von  Syrakus.3)  Pindar  wird  regelmäßig  den  Spielen  in  Olympia,  Delphoi 
und  anderen  Orten  beigewohnt  haben,  und  er  ging  wohl  auch  mit  den 
heimkehrenden  Siegern,  wie  mit  Diagoras  aus  Rhodos,  in  ihre  Heimat,  um 
selbst  die  Aufführung  des  Festchors  zu  leiten.*)  Sizilien  und  die  Könige 
Theron  und  Hieron  besuchte  er  vielleicht  476,^)  um  dieselbe  Zeit  wie 
Aischylos,  mit  dem  er  in  der  Beschreibung  des  Ausbruchs  des  Ätna  wett- 
eiferte.^) Während  aber  andere,  wie  Simonides  und  Bakchylides,  sieh 
längere  Zeit  an  den  Fürstenhöfen  aufhielten,  kehrte  Pindar  bald  wieder 
nach  Hellas  und  Theben  zurück;  er  wollte  eben,  wie  er  sagte,  lieber  sich 
als  andern  leben.  ^) 

In  andere  Beziehungen  brachte  den  Pindar  seine  Stellung  als  Dichter 
religiöser  Festgesänge.  In  jener  Zeit  des  allgemeinen  Aufschwungs  wurden 
auch  die  Feste  der  Götter  überall  mit  erhöhtem  Glanz  gefeiert,  und  Pindar 
war  der  verehrte  Dichter,  den  die  Priesterschaften  von  nah  und  fern  um 
poetische  Spenden  für  die  Götter  angingen,  s)  So  dichtete  er  nicht  bloß  für 
Chöre  der  Götterfeste  Thebens  und  der  nächsten  Umgegend  heilige  Lieder, 
sondern  sandte  selbst  den  Priestern  des  Zeus  Ammon  einen  Hymnus,  den 
auch  noch  die  späteren  Generationen  so  in  Ehren  hielten,  daß  ihn  Ptole- 
maios  Lagu  auf  eine  dreieckige  Säule  neben  dem  Altar  des  Gottes  ein- 
graben ließ.^)  Besonders  nahe  aber  stand  er  den  Priestern  in  Delphoi, 
deren  Weisheit  er  in  den  Kernsprüchen  seiner  Gedichte  verkündigte,  wie 
P.  2,  72,  und  die  ihm  mannigfache  Aufmerksamkeiten  erwiesen.     Noch  in 

*)    Den   Sieg   des   Arkesilas   im   J.  462  war   er    nicht    in    Sizilien,    wie    die    Worte 

feiert  P.  4  u.  5.  .PI,  27    (470)    iVar/w    de    xal    jiOQ     iöomov 

*)  fr.  120   stammt  aus  einem  Enkomion  {.lantorTor  vel.  jinofdyKor  codd.,   cm.  Cobet) 

auf  Alexandros.  !   bezeugen.     Der  Ausbruch   ist  besangen  von 

')  WiLAMowiTz.   Hieion    und   Pindaros,  I   Pindar    P.   1,  21  fF.    und    Aischylos    Prom. 

Berl.  Ak^  Sitz.ber.  1901  8.  1278—1318.  ,    379  tf.     Die  Palme   trägt  dabei   entschieden 

*)   Stelleu  wie  0.  1,  17.  7,  13:  J'.  5,  80;  j    Pindar  davon,  wiewohl  in  einem  Punkte,  in 

N.  1,  19  können  freilich  immer  auch  im  Sinn  I    dem  Bild    von    den    Feuerströmen    (.toto/mh 

des  singenden  Chores  verstanden  worden.  .77ooV)  Aischylos  glücklicher  als  Pindar  war. 

'")    Ilieron    hatte   mit   einem   Rennpferd  ,    Genaueres  darüber  W.  Christ,  Der  Ätna  in 

476  und  472   gesiegt;   ob  in  der  1.  olympi-  der  griechischen  Poesie.  Sitz.ber.  d.  bayr.  Ak. 

sehen  Ode  der  erste  oder  zweite  Sieg  gemeint  1888,  1  S.  359  ff. 

ist,  fragt  sich;    für   den  zweiten   spricht  der  ')  Apophth.  Pind.  p.  CI  21  Christ   un4 


Hinweis  (1, 112 — 4)  auf  den  erwarteten  Wagen- 
sieg  (errungen  erst  468),  für  den  ersten  das 
Alter  des  Rennpferdes,  Pherenikos,  das  schon 
478  und  482  in  Delphoi  gesiegt  hatte  und 
daher  kaum  mehr  472  einen  neuen  Sieg  in 
Olympia  erringen  konnte.  Deutet  man  0. 
1, 17.  106  auf  persönliche  Anwesenheit  des  P. 
in  Syrakus,  so  wäre  diese  demnach  entweder 
nach  476  oder  erst  nach  472  zu  setzen. 
(taspar  p.  98  ff.  setzt  die  Anwesenheit  des 
P.  in  Sizilien  476 — 475. 

«)  Zur  Zeit  des  Ausbruclis  (478  oder  475) 


Eust.  vit.  Pind.  p.  CIV  8:  IJtvdaoog  egayr^äe/i, 
diii  Tt  2!tfio)yid//<;  /ner  nnog  uwg  iVQciyvovi 
a:tefiiiftt)OFv  fU  2!txFÄiar,  avTo^  de  ovx  i^eXsi, 
f</;;,  ()idTi  fior/.ount  ^ftnvrut  ^fjv,  oi'X  aJJiq}. 

8)  Oxyrhynch.  pap.  V  p.  41  Nr.  VI,  8  ff. 

*)  Paus.  JX  16,  1.  Ähnlich  wurde  nach 
den  Schollen  die  7.  olymp.  Ode  auf  Diagoras 
mit  goldenen  Buchstaben  in  dem  Tempel  der 
lindischen  Athene  aufgeschrieben.  Analogien 
bieten  jetzt  die  inschriftlichen  Hymnen  von 
Delphoi. 


B.  Lyrik,    ü.  Chorlyrik.    Pindar.    (§  132.)  221 

später  Zeit  war  es  Brauch,  daß  bei  den  Theoxenien  in  Delphoi  der  Herold 
in  dankbarer  Erinnerung  an  die  ehemalige  Beteiligung  des  Dichters  beim 
Fest  ausrief:  IHv&agog  hü  x6  dehtvov  rqJ  ^eco.^) 

Den  Tod  fand  Pindar  in  hohem  Alter,  nach  dem  Jahr  442, 2)  in  das 
sein  letztes  datierbares  Gedicht  P.  8  fällt  ;^)  aus  diesem  klingt  wohl  eine 
schwermütige  Stimmung  heraus,*)  aber  es  verrät  nichts  von  geistiger  Ab- 
nahme. Er  verschied  fern  von  der  Heimat  in  Argos,  wie  die  Sage  erzählt 
im  Theater,  im  Schoß  seines  Lieblings  Theoxenos.  In  Theben,  wohin  seine 
Töchter  Protomache  und  Eumetis  die  Aschenurne  brachten,  stand  noch 
zur  Zeit  des  Pausanias  (IX  23,  2)  sein  Grabdenkmal.  Der  Perieget  (IX  25,  3) 
sah  auch  noch  jenseits  des  Baches  Dirke  die  Trümmer  seines  Hauses  und 
daneben  ein  Heiligtum  der  Göttermutter  Dindymene,  in  das  der  fromme 
Dichter  ein  Götterbild  gestiftet  hatte.*^)  Von  dem  Haus  erzählt  man  sich, 
daß  es  Alexandres  allein  von  allen  Häusern  der  Stadt  Theben  verschont 
habe,  indem  er  darauf  schreiben  ließ:  TTivddgov  rov  aovaojioiov  rijv  0Tfyi]v 
jÄtj  xaiere.^)  Er  hinterließ  neben  den  zwei  genannten  Töchtern  einen  Sohn 
Daiphantos,  den  er  selbst  noch  als  Reigenführer  eines  apollinischen  Mädchen- 
chors in  die  musische  Kunst  eingeführt  hatte. 

132.  Die  Werke  Pindars  hat  wahrscheinlich  Aristophanes  von  Byzan- 
tion  in  seiner  Ausgabe  in  siebzehn  Bücher  geteilt.^)  Nach  der  Vita  waren 
in  ihr  enthalten:  vjuvoif  jiaiäves,  iyxd)juia,  dQijvoi  je  ein  Buch,  öidvoafißoL 
zwei  Bücher,  TTQooodia  zwei  Bücher,  Tiagüeria  drei  Bücher,  vjioQxii]i^ara  zwei 
Bücher,  biivixoi  vier  Bücher.  Das  dritte  Buch  der  Parthenien  hatte  den 
besonderen  Titel  ra  xFXMQiofuva  rcov  Tiao&e^'icov,  woraus  man  schließen 
kann,  daß  die  Parthenien  ursprünglich  den  Schluß  der  Sammlung  bildeten, 
und  daß  in  das  letzte  Buch  außer  dem  Rest  der  Parthenien  allerlei  Ge- 
dichte, die  unter  den  andern  Titeln  nicht  wohl  untergebracht  werden 
konnten,  zusammengefaßt  waren. ^)    Suidas  fügt  zu  den  erwähnten  Gedicht- 


*)  Eustath.  vit.  p.  CIV  14  Chr.   Vgl.  den  1  ®)  Von  Alexandros  erzählen  das  Plinius 

Heroldsrnf  fiera  Aeaßiov  oßöm'  zu  Ehren  des  n.  h.  VII  29,  109   und   Aman.  anab.  I  9    und 

Terpandi'08  S.  144.   Nach  Paus.  X  24,  5  stand  '  daraus  Suidas,  von  Pausanias,  dem  König  der 

zu   Delphoi    nahe    bei    dem    Opferherd    der  ,  Lakedairaonier,  die  Vita  A  p.  C  23  Chr.  und 

eiserne  {^govog  Utvöagov^   auf  den  fr.  90  an-  '  Eust.  p.  CVI  6  Chr.,  von  beiden  die  Vita  des 

zuspielen   scheint.     Siehe  a.  Paus.  IX  23,  3.  1  Thomas  Magister  p.  CVIII  21  ff.  Chr. 

*)  Das  Todesjahr  steht  nicht  ganz  fest.  ^)  Vit.  Ambr.  p.  CI  8  Chr.;  Suid.,  Dionys. 

Nach  dem  Ffvog  starb  er  80  Jahre  alt,  was  i  Hal.decomp.22p.  102,2  Us.  Siehe  a.O.ScHuö- 

aber  vielleicht    eine   abgerandete   Zahl    ist;  der,  Pindarausg.,  Leipz.  1900,  p.387  f.  Außer- 


Eustathios  p.  CHI  17  f.  (E.  Rohde,  Kl.  Sehr. 
I  144  A.  schreibt  Tedrrjxf  dr,  ojf  (j^ara)  xa 
MfQotxa  rjxfiaCe,  xarä  trjv  ng'  o/j'ft,itdÖa,  d.h. 
436/32)  laßt  ihn  80  oder  66  Jahre  alt  werden 


dem  berichtetThomasMag.inderVit.  Pind.von 
der  Ode  0.  1:  noorhaxim  rno  Jotannf  urovQ 
rov  orvTa^ayrog  ra  Jlivdufjixd.  Timaios  scheint 
diese  Ausgabe  noch  nicht  gekannt  zu  haben. 


und   setzt  seine   Geburt   unter   den   Archen   ;   da  er  sonst  schwerlich  ein  nemeisches  Sieges- 
Bto}v   (korrupt).     Die    Lebensdauer   von    vf       lied    mit    einem    olympischen    vei-wechselt 


Jahren  bei  Suidas  ist  offenbar  verderbt. 

•)  So  nach  der  Überlieferung,  für  die 
W.  Christ  gegen  die  Zweifel  neuerer  Gelehrter 
eintritt  Sitz.ber.  d.  bayr.  Ak.  1889,  1  S.  1  ff. 

*)  P.  VIII  95:  fjrd/ieooi'  ri  de  Tic,  ti  d^ 
ov  itg;  oxiäg  wao  fo't^owjroc. 

5)  Schol.  zu  P.  3, 137  erzählt,  daß  Pindar 
ein  äytUfia  /Arjioog  &fü)v  xai  llaros  neben 
seinem  Hans  gegründet  hatte. 


hätte,  wie  das  von  den  Schol ien  zu  Nem.  1 
inscr.  bezeugt  ist;  vgl.  auch  Schol.  zu  P.  2 
inscr. 

^)  So  stehen  auch  in  unseren  Hand- 
schriften am  Schlüsse  der  Nemeonikai  Oden 
auf  ganz  verschiedenartige  Sieger,  wozu  der 
Scholiast  p.  491  Böckh  gleichfalls  bemerkt: 
du)  XF/(ooionn'fu  cfF.Qorrai. 


222  OrieohiBohe  Litteratnrgesohichte.    L  KUssiaehe  Periode. 

arten  noch  hinzu  :^)  iv&goviojnoi,  ßaxxixd,  da(pvtjq)OQixd,  tncSha,  dgäßMOta  rga- 
ytxd,  imygdjujuara,  jiagaivioeig.  Aber  diese  Titel  stammen  wahrscheinlich 
nicht  aus  einer  anderen  älteren  Ausgabe,  wie  A.  Böckh  und  Th.  Bergk 
vermutet  hatten  (dagegen  spricht  schon  die  gleiche  Zahl  von  siebzehn 
Büchern  bei  beiden  Gewährsmännern),  sondern,  wie  W.  Christ  meint,  aus 
der  Aufzeichnung  (ävaygacpi^)  der  Werke  Pindars  durch  einen  Litterar- 
historiker  des  4.  oder  5.  Jahrhunderts  n.  Chr.,  der  neben  die  alten  Namen 
der  einzelnen  Dichtungsarten  auch  die  neuen,  in  seiner  Zeit  gebräuch- 
licheren, wie  dgdßara  rgayind  neben  di&vga/xßoi,*)  iv^govioßwi^)  neben  ngo' 
odöia  setzte,  und  in  seiner  Vorlage  bereits  Unechtes  (wie  buygdfifwxa  und 
prosaische  nagaiveoeig  oder  djicxp^eyiiaTa)  dem  Echten  beigemischt  fand.*) 
Jedenfalls  hat  sich  Pindars  dichterische  Tätigkeit  auf  die  Gattung  der 
chorischen  Lyrik  beschränkt,  innerhalb  dieser  hat  er  aber  die  verschie- 
densten Arten  kultiviert:  er  weihte  seinen  Sang  dem  Preis  der  Götter 
(Hymnen,  Paiane,  Dithyramben,  Prosodien,  Parthenien)  wie  dem  Lob  der 
Heroen  und  Menschen  (Epinikien,  Enkomien,  Threnen);  er  dichtete  Lieder 
zum  Einzug  in  die  Tempelhallen  (Prosodien,  Enthronismen)  wie  zum  Chor- 
gesang mit  Tänzen  (Hyporcheme);*»)  er  verherrlichte  den  Herrscher  des 
Alls,  Vater  Zeus,  wie  den  Heilbringer  Apollon  und  den  Spender  des 
Weins  Dionysos;  er  gab  der  Freude  Ausdruck  bei  dem  Siegeseinzug 
(Epinikien)  und  dem  Festmahl  (Skolien)  wie  der  wehmütigen  Trauer  bei 
der  Totenfeier  (Threnoi).  Erhalten  sind  uns  von  seinen  Werken,  mit  Aus- 
nahme der  Siegeslieder,  nur  Bruchstücke,  darunter  aber  doch  einige  größere, 
80  namentlich  von  einem  schwärmerischen,  für  das  dionysische  Frühlings- 
fest  in  Athen  gedichteten  Dithyrambus  (fr.  75,  im  Frühling  474  oder  etwas 
später),  von  einem  Tanzlied  oder  Paian  auf  die  Sonnenfinsternis  des  Jahres 
463,^)   von   zwei  lieblichen  Trinkliedern  (pxoha)   auf  die   Hierodulen   von 

*)  Eustathios  p.  CVII  16  fF.  Chr.  folgt  in  j   Beinamen  eidoyQaqrog  hatte:  ß.  Et  M.  295,  51 

der  Aufzählung  der  Vit.  Vrat.,  fügt  aber  noch  ;   und  Schol.  zu  P.  2  inscr.    (Ober  die  Bezeidi« 

in  betreff  der  £pinikien  die   stichometrische  nung  siTirj  ,weil  jedes  ein  Ton  f&r  sich  ist*  s. 

Angabe  hinzu:  y,aTä  ri^v  auxoftfTQiav  (so  Th.  ,  Wilamo wirz,  Textgesch.  der griech. Bukoliker 

Birt  statt:  ioTogiuv)  woei  TFrgctxiaxilioi.  Unsere  |   Berl.  1906, 129).  Außer  den  in  den  aufgeftihrteii 

Handschriften    schreiben   über  5800  Zeilen,  Titeln    vorkommenden   Arten   werden   noch 

woraus    folgt,    daß   die    Zeilen    {xdua)    der  erwähnt  .-ranoivta  (d.  i.  oxo/ita)  von  Didymos 

antiken  Ausgabe  länger  waren.  zu  N.  1  inscr.,   und  {^t'oiaitjota   von  Timaios 

*)  Daß  die  dimfiara  rgayixd,  die  so  viel  zu  P.  2    inscr.  Horaz   (od.  IV  2,  9  ff.)    onter- 

Staub   aufgewirbelt  haben,   nur  ein  anderer  scheidet,    das    Bekannteste    herausgreifend, 

Name  für  dtOvoa/tfim  sind,   folgt  zwar  nicht  |   Dithyramben,  Hymnen  auf  Götter  und  Heroen, 

aus   Himerios   or.  11,  4    ijr  /.iiorvoia    xni    ro  Epinikien,  Threnoi. 

Omrgov  FixF  fierä  t//^  Arnas  IltrSagos,   oder  ')  Der  Name  bezieht  sich  auf  die  in  dem 

Chorikios   i\ieg  fiificov  §  16  töo.^eg  JJirdagfK  Rheamysterien  übliche  Ogoytoatg,  worüber  Fiat. 

ndo)y  (iv  noiFi  öuyqgovFir  lor  dxo/.aozov^  ovkos  \    Euthyd.  277  d;    Dio  Chr.  12,  33;   A.  LoBBOK, 

u^ofTF^    fuiwi    TOI«    iyxgaTt')    xal    OFiivm'   ng<y<;  \    Aglaoph.  115f.  368  f. ;  E.RonDE,Kl.Schr.ir298. 

*)  So  nach  E.  Hilleb,  Die  antiken  Ver- 
zeichnisse der  pindarischen  Gedichte,  Herrn. 


aio/gd  ov  ftFraifFgot^oir^  wird  aber  durch  die 
analoge  Benennung;  der  ögdfiara  dn'>rgnfißixd 
des  Diagoras   bei  Schol.  Ar.  ran.  323   wahr- 


21  (1886)  357  ff.;  dazu  0.  Immisch,  Rh.M.44 


scheinlich.     So  auch  0.  Crüsiüs,  Realcnc.  V    i   (1889)  553  ff. 

1215,  38  ff.    Nichts  zu  geben  ist  auf  die  sub-  ^)  Da  Clemens  Alex,  ström.  I  p.  365  F. 

tilo  Unterscheidung  E.  Lübberts,  De  Pindari       den  Pindar  als  Erfinder  der  v.^dgxrjoig  preist, 


carminibuR  dramaticis  tragicisquc.  Bonn  1884. 
Über  die  Dichtungsarten  {fldt])  mit  besonderer 
Bei-ücksichtigung  der  Tonarten  hatte  der  Gram- 


so  muß  er  in  dieser  Gattung  der  Lyrik  eine 
besondere  Berühmtheit  erlangt  haben. 

®)  Neue  Stücke  von  diesem  Lied  Oxyrh. 


matiker  Apollon ios  gehandelt,  der  davon  den    |   pap.  V  (1908)  nr.  841  p.  73  f. 


B.  Lyrik.    H.  Ghorlyrik.    Pindar.    (§  188.)  223 

Eorinth  und  den  schönen  Knaben  Theoxenos,  von  einigen  tiefernsten  Klage- 
liedern (ß^voi)^  in  denen  die  pythagoreische  und  orphische  Lehre  von  der 
Unsterblichkeit  und  dem  Leben  nach  dem  Tod^)  in  erhabener  Sprache  vor- 
getragen ist.  Neuerdings  hinzugekommen  sind  Reste  eines  daq)vtjq>0Qix6v 
für  einen  Mädchenchor,')  das  nicht  vor  454  fallen  kann,  und  größere  Stücke 
von  neun  Paianen  oder  vjioQxtjß^ara  auf  einem  Papyrus  ca.  200  n.Chr.») 

133.  Die  Siegeslieder.  Vollständig  sind  nur  die  vier  Bücher  Sieges- 
lieder auf  uns  gekommen,  und  selbst  von  diesen  ist  das  letzte  am  Schluß 
verstümmelt.^)  Geordnet  sind  die  vier  Bücher  nach  dem  Rang,  den  die 
verschiedenen  Nationalspiele  bei  den  Hellenen  einnahmen:  voran  stehen 
die  Epinikien  auf  Siege  in  den  olympischen  Spielen,  es  folgen  die  pythi- 
schen,  nemeischen,  isthmischen.  5)  Auch  innerhalb  der  einzelnen  Bücher 
war,  ähnlich  wie  bei  Simonides  und  Bakchylides,  eine  Rangordnung  nach 
dem  Ansehen  der  Wettkämpfe  durchgeführt;  voran  stehen  die  Lieder  auf  / 
Sieger  mit  dem  Viergespann  (ägfiari  oder  i7i7toig\  dem  Gespann  von  Maul- 
tieren (djnjyi/),  dem  Renner  {xiXrixi)^  es  folgen  Pankration,  Lauf,  Flöten- 
spiel (dies  der  einzige  von  P.  verherrlichte  musische  äycbv  P.  12).  Doch 
ist  diese  Ordnung  nicht  genau  eingehalten,  und  die  Ode  auf  den  Sieg  des 
Hieron  mit  dem  Renner  Pherenikos  steht  z.  B.  der  ganzen  Sammlung 
voran,  weil  in  ihr  der  Ursprung  der  olympischen  Spiele  besungen  ist. 
Auffallender  sind  andere  Unregelmäßigkeiten,  wie  daß  unter  den  Pythio- 
niken  an  zweiter  SteUe  ein  Lied  steht,  das  sich  gar  nicht  auf  einen  Sieg 
an  den  Pythien  bezieht,^)  und  daß  den  Schluß  der  Nemeoniken  drei  Lieder 
bilden,  die  mit  nemeischen  Siegen  nichts  zu  tun  haben,  eines  (9)  zur 
Feier  eines  Wagensieges  des  Chromios  beim  Adrastosagon  in  Sikyon,  eines 
(10)  für  den  Ringer  Theaios  zu  einem  Sieg  beim  Heraagon  in  Argos  und 
eines  (11)   zum  Amtsantritt    eines  Ratsherrn  in  Tenedos,    der   allerdings 


*)  Über  die  Übereinstiinmang  von  Pindars  1  imvixioi  (pdai  hat  Pindar  selbst  N.  4,  78. 
Eschatologie  mit  der  Orphik  s.  A.  Dietebioh,   {  ^)  Da  den  nemeischen  Oden  am  Schlüsse 


Nekyia,  Leipz.  1893, 1 19  ff.  Pindar  kommt  nur 
in  den  Threnen  (fr.  129—139;  fr.  132  unecht: 
E.  RoHDE,  Psyche  n»  214  A.)  und  0.  2.  57  ff. 
auf  diese  Dinge,  gibt  aber  darüber  wohl  seine 
eigenen  Ansichten,  nicht  die  der  Besteller 
(E.  RoHDB,  Psyche  n>  214  ff.).  Sonst  akkom- 
modiert  er  sich  der  homerischen  Vulgat- 
yorstellong  und  kennt  auch  in  dem  neu- 
gefundenen  Parthenienfragment  (Oxyrhynch. 
pap.  IV  nr.  659,  14  ff.)  Unsterblichkeit  nur  im 
Fcntleben  des  Geschlechts. 

*)  Oxyrhynch.  pap.  IV  nr.659  s.I.  p.  Chr., 


mehrere  fremdartige  Oden  auf  nichtnemeische 
Siege  angehängt  sind,  so  vermutete  E.O.Mül- 
ler, Gr.  Litt.  P  370,  16,  daß  ehedem  in  der 
attischen  Ausgabe  die  Nemeen  zuletzt  standen. 
Auch  Piaton,  Lys.  p.  205  c  setzt  Nffidn  nach 
*Io&fioT;  dagegen  Bakchyl.  8,  2  NefAfav  vor 
^loOfjiov.  Die  Familie  des  Psaumis  in  Sizilien 
hatte  den  Ordnern  neben  dem  echten  Sieges- 
lied, 0.  4,  auch  eines  von  einem  Lokaldichter, 
0.  5,  übergeben,  das  sich  aber  —  ein  Be- 
weis für  die  Konstanz  des  chorlyrischen 
Stils  —  stilistisch  von  den  echten  Oden  nicht 


behandelt  von  Wilamowitz,  Gott.  Gel.  Anz.  unterscheidet  (H.  Schultz,  De  eloc.  Pind.  col. 

1904,  607;  0.  Schbödbb,  Berl.  phil.  W.schr.  ,   ep.  1905,  30).    Einen  nemeischen  Sieg  preist 

24  (1904)  1476  f.  die  3.  isthmische  Ode.   die   seit  Heyne   und 

•)  Oxyrhynch.pap.  V(1908)  p.  11  ff.  Siehe  Böckh  mit  der  4.  isthmischen,  mit  der  sie  das- 

dazuO.ScHBÖDERjBerL  phil.  W.schr.  28  (1908)  selbe  Strophenmaß  hat,  zusammengenommen 


170  ff. 

^)  Auf  Grund  sehr  unzuverlässiger  junger 
Zengnisse  nimmt  Bebok,  PLG  V  p.  21  f.  an, 


und  als  nachträgliche  Ergänzung  der  vierten 
aufgefaßt  wird  (Gaspar  p.  80  ff.  107). 

^)  Dieser  Fehler  scheint  auf  ApoUonios 


daß  auch  im  Anfang  der  Isthmien  eine  Ode  den   Eidographen   zurückzugehen,   da  dieser 

und    ebenso   eine    unter   den   Nemeen    aus-  i   nach  den  Scholien  die  Ode  zu  den  pythischen 

gefallen  sei.    Fragmente  sind  nur  von  isth-  stellte,  während  sie  Eallimachos   mit  nicht 

mischen  Oden  vorhanden;   die  Bezeichnung  |   viel  mehr  Recht  den  nemeischen  zugesellte. 


224  GriechiBche  Litteratnrgeschichte.    L  ElaMdsohe  Periode. 

auch  manche  Siege  in  den  Wettkämpfen  davongetragen  hatte.  Diese 
Mängel  der  Redaktion  zeigen  zur  Oenüge,  daß  die  Ausgabe  nicht  auf  den 
Dichter  selbst,  sondern  auf  einen  späteren,  sei  es  attischen,  sei  es  alexan- 
drinischen  Herausgeber  zurückzuführen  ist. 

134.  Die  Epinikien  waren  wie  alle  Gedichte  Pindars  bestimmt  zum  Vor- 
trag durch  Chorea  iyoQoi  oder  xd^toi);^)  diese  waren  aus  Altersgenossen  und 
Freunden  des  Siegers  zusammengesetzt,  3)  und  wurden  durch  den  Dichter 
selbst  oder  einen  eigenen  Chormeister  eingeübt.*)  Die  Gedanken  und  Ge- 
fühle sind  aber,  wie  schon  bei  Alkman  und  Ibykos  und  dann  in  den  Chören 
der  attischen  Tragödie,*)  oft  ganz  aus  der  Person  des  Dichters  gesprochen, 
der  sich  durch  den  Mund  dos  Chors  auch  an  Fürsten  mit  Mahnreden  und 
Zurechtweisungen  wendet.  Daraus  sieht  man,  daß  der  Chor  früh  seine 
ursprüngliche  Bedeutung  als  Stimme  der  Gemeinde  verloren  hatte  und 
lediglich  ein  vollerklingendes  Organ  des  Dichters  geworden  war.«)  Auch 
die  volkstümliche  Zerteilung  des  Chors  zum  Wechselgesang  in  Halbchöre 
erscheint  aufgegeben,  wenn  Strophe  und  Antistrophe  sich  bei  Pindar  durch 
den  Sinn  weit  weniger  voneinander  abheben  als  bei  den  attischen  Drama- 
tikern, vielmehr  oft  der  Satz  über  die  Strophengrenze  hinüber  sich  fort- 
setzt. —  Das  Siegeslied  wurde  bestellt,  von  dem  Sieger  oder  dessen 
Freunden  oder  Verwandten.')  Der  Dichter  erhielt  dafür  ein  Honorar  und 
erlaubte  sich  ohne  Ziererei  bezüglich  der  Höhe  desselben  an  die  Freigebig- 
keit des  Bestellers  zu  appellieren.*)  Man  scheint  darin  nichts  gefunden  zu 
haben,  was  gegen  die  Dichtorwürde  verstoße:  Pindar  vergleicht  sein  Pi'eis- 
lied  der  Ehrenstatuc  (X.  5.  1)  und  findet  es  daher  selbstverständlich,  daß  er 
auch  in  der  Entlohnung  seiner  Kunst  hinter  dem  Bildhauer  nicht  zurückstehe. 

')  In  den  auf  die  Vita  A  folgenden 'Ato-  p((/>//ri)r  r^ar/Vz/, Nem. 2,24  mit.Toxf rai angeredet 
V  *7/;7/ara ///r<Vioorj).CI 2(3  Chr.  wird  ein  arr/or  ■*)  Als  Chormeister  ist  0.6,88   ein  ge- 

dafür  erzählt,  daß  I*.  nur  Chorlyrik  dichtete:  wiKser  Aineas  genannt. 
'KntoTiji'hi::  .TH/.tr   rnö   Ttvfh:,    «Va    ti  fttktj    yon-  ^)   Schol.  Eur.  Or.  1691. 

ifiDv  n()Fty   <,ry.   tninrarni,  thtv   xai  yan  tu  *)  Ausdrücklich  Spricht  das  der  Dichter 

vdr.Ttjyni    jnjfid/jn    xnTaoxFvaZat'TFc:    xv{ittndr  P.  10.  55  aus,  WO  cr  vom  Chor  sagt:  fhiofiat 

ovy.  hitornriai,  WOZU  die  Scholien  zuO.  6,  14Sa  «^'  'E(fVoaiwr  nn'  diif/ (   Ihjyf'un'  yXvxeXav  jrpo- 

stimmen:     Aiyni>:    o/roc    j^ooodidaoxfuo^ ,    ot  yFÖrrtov    F/idr    roy  "7.7.7 o;///«r   fre    xai    fiä/JLov 

t'/n/jO(uo  ö  ///ivVioOs   (^tu    rö  nvToy  toyyi'nf  (nyny  ovy  rJo/rVaV   .  .   {hufjoy  fv  tUi^t   {}tjaeiui:     Aus 

Fiyni  y.al  iiij  firynoUni  /r  un  (Stjuooifo  rS/'  Fnirar  dem    Schluß    VOn    N.  2    ae^r/zfA«    A*  i^dox^re 

xdnüJyny  ToT,;  ytujolc.    Ähnliches  wurde  von  (fonui  könnt«  man  vennuten,  daß  dasTorans- 

Sophokles  und  Isokrates  erzählt.   1  atsächlicli  gegangene  Lied  nur  die  Einleitung  (.Tooo//i#oi') 

ist  die  chorische  Form  für  I'indais  natürliches  bildete,   dem   das  eigentliche,  vom  Chor  ge- 

Hedürfnis  nach  starkem  und  nachdrücklichem  sungene  Festlied  erst  nachfolgte.  Aber  gegen 

Vortrag  (liFyTdfjFioy  finay  nennt  das  Aristid.  diese    Annahme    sprechen     die    zahlreichen 

or.  45  p.  J>4  DiND.)  die  angemessene.  Stellen    anderer    Epinikien,    die    nur    vom 

-)  //>oö^  bedeutete  ursprünglich  den  Chor,  Hauptlied  gelten  können.  Eher  ist  glaub- 
insofern  er  tanzt,  xotim^  eigentlich  den  diony-  lieh,  daß  einzelne,  besonders  persönlich  ge- 
sischen  Festzug  (Wilamowitz.  (iött.  gel.  Anz.  haltene  Strophen,  wie  P.  1.^1—100  und  Ja. 
1906.  f)25  f.;  E.  Retscii.  Zeitschr.  f.  die  östr.  2,  4o— 48,  nur  dem  Sieger  vom  Dichter  Ober- 
( Jymn.  5S.  1907.  294  if.  will  in  den  xuinoi  der  reicht,  nicht  auch  vom  Chor  gesungen  wurden. 
attischen  Siegesliste  die  vorlitterarischen  ago-  Einige  Oden  haben  sogar  die  Form  von 
nistischen  Anfänge  der  Komödie,  dieva//./;^«  Briefen,  wie  P.  2,  Is.  2,  sind  aber  gleichwohl 
iinden.  was  kaum  richtig  sein  kann).  Der  nach  des  Dichters  eigener  Angabe  zum  Vor- 
letztere Aufdruck  und  dtis  davon  abgeleitete  trag  durch  Chorgesang  bestimmt, 
Verbuni  xomd::ny  ist  dem  Pindar  am  ge-  ')  Bacchyl.  9.  9  durch  den  Schwager 
läutigsten.  Auch  durch  noh'qantc  i'uy<K  ist  des  (lefeierten.  War  ein  musisch  begabtes 
O.  1,  s.  N.T.  81  das  von  einem  Chor  ge-  (ilied  der  Familie  des  Siegers  da  (Pind.  N.  4, 
sungene  Lied  bezeichnet.  13.  89).  so  sorgte  dieses  für  den  Hymnus. 

'j  In  Nem.  8,  4  werden  sie  mit  jF.xToye^    \  **)  Siehe  o.  S.  206. 


B.  Lyrik.    IL  Ghorlyrik.    Pindar.    (§  184.)  225 

Gelegenheit  zum  Festgesang  bot  zunächst  der  Jubel,  mit  dem  auf 
dem  Festplatz  selbst  die  Freunde  den  Sieg  ihres  Genossen  aufnahmen. 
Aber  so  rasch  war  das  Lied  nicht  zur  Hand;  daher  beschränkte  man  sich 
bei  der  ersten  Begrüßung  in  der  Regel  auf  den  alten  archilochischen  Zuruf 
ri^veUa  xaklivixe,  •)  unter  dem  man  den  Sieger  im  festlichen  Zug  zum  Altar 
des  Oottes  geleitete.  Daran  schloß  sich  ein  Gelage  entweder  auf  Kosten 
des  Siegers*)  oder,  was  die  Regel  war,  auf  Kosten  der  Eleer  in  ihrem 
Gasthaus.^)  Das  eigentliche,  besonders  für  den  einzelnen  Sieg  gedichtete 
Preislied  wurde  erst  bei  dem  feierlichen  Einzug  in  die  Heimatstadt  ge- 
sungen.*) Denn  der  Sieg  eines  Mitbürgers,  namentlich  bei  den  großen,  so- 
genannten heiligen  Spielen,*)  galt  als  eine  Ehre  für  die  ganze  Stadt,  an 
deren  Feier  sich  daher  auch  die  ganze  Bürgerschaft  beteiligte®)  und  bei 
der  es  auch  der  Sieger  nicht  an  gastlicher  Bewirtung  und  freigebigen 
Spenden  fehlen  ließ.'')  Man  holte  teils  den  Sieger,  der  sich  schon  unter- 
wegs auf  der  Heimreise  hatte}  feiern  lassen,^)  im  festHchen  Zug  ab  und 
geleitete  ihn  wie  im  Triumph  zur  heiligen  Stätte,  wo  er  den  Siegeskranz 
am  Altar  der  Gottheit  niederlegte,  teils  zog  man  am  Abend  zum  Haus 
des  Siegers  und  brachte  ihm  ein  Ständchen,^)  teils  endlich  feierte  man  ihn 
beim  Festmahl.  Bei  einer  dieser  Gelegenheiten  also  ward  das  Siegeslied 
gesungen,  unter  Begleitung  musikalischer  Instrumente,  bald  der  Lyra  oder 
des  Aulos  allein,  bald  der  Lyra  und  des  Aulos  zusammen.^o)  Auch  der 
Tanz  oder  Aufzug  fehlte  nicht.  Ihn  nennt  Pindar  P.  1,  2  den  Anfang  der 
Festfeier  (ßdoig  äylätag  ägxd)j  weil  der  Chor  in  der  Regel  zuerst  schwei- 
gend in  gemessenem  Schritt  in  den  Saal  einzog  und  erst  angesichts  des 
gefeierten  Siegers  zu  den  Klängen  der  Phorminx  den  Gesang  anhob.  Der 
Tanz  und  Schritt  fiel  selbstverständlich  weg,  wenn  kein  Aufzug  stattfand 

>)  Vgl.  0.  9,  1  und  die  Erklftrer  z.  St.  j  Athen,  die  Herakleia  oder  lolaia  in  Theben, 
*)  So  Alkibiades  nach  Ath.  3bc.  {  die  Aiakeia  in  Aigina  etc.  Eine  Zusammen- 
')  Paus.  V  15,  12.  I  Stellung  sämtlicher  Spiele  in  den  Proleg.  zu 
*)  Eine  Ansnahme  macht  0.  8,  die  für  :  W.  Chbists  Ausgabe  p.  LXXXVI  ss. 
einem  Aufzug  in  Olympia  bestimmt  war,  da  *)  Bezeichnend  ist,  daß  der  Spartaner- 
damais die  kriegerischen  Zustände  von  Aigina  1  könig  Demaratos  nach  einem  Wagensieg  nicht 
einen  festlichen  Einzug  in  der  Heimat  nicht  <  seinen,  sondern  den  Namen  Spartas  ausrufen 


gestatteten.     Das  gleiche  gilt  für  P.  6  u.  7;   ' 
auch  fOr  0.  4  hat  es  Böckh  angenommen. 

*)  Heilige  Spiele  waren:  1.  in  Olympia 
zu  Ehren  des  Zeus  seit  Ol.  1  alle  vier  Jahre 
Ende  Juni  oder  Anfang  Juli  im  1.  Olympiaden- 
jahr, 2.  in  Delphi  zu  Ehren  des  Apollon 
im  August  alle  vier  Jahre  seit  Ol.  49,  3 
(=  582  V.  Chr.)  im  3.  Olympiadenjahr,  3.  in 
Nemea  zu  Ehren  des  nemeischen  Zeus  seit 

01.  51,  2  (578)    alle  zwei  Jahre  im  Juli  des 

2.  und  4.  Olympiadenjahres  (s  6.  F.  Unoeb, 

Phil.  34, 1876,  50 ff.  und  37,  1877,  524  ff.;  da-      Feldherm  Chromios.     N.  1,  22  u.  9,  51. 
gegen  J.  G.  Dbotsew,  Herrn.  14,  1879,  1  ff.) ;   1  ®)  Phot.  lex.  s.  v.  nFQtayRtoofievoi. 

4.  auf  dem  Isthmus   zu  Ehren  des  Poseidon   '  ®)  VinA.\s.%,Z:TFlEödnxov,iaoa:io6dvQov 

alle  zwei  Jahre  im  April  des  2.  und  4.  Olym-  iwv  dveyeiohcj  xiof.wv.  Vgl.  Bacchyl.  6,  14. 
piÄdeiijahres(s.G.F.ÜNGKB,  Phil.  37, 1877,1  ff.   |  »«)  Lyra  erwähnt  P.  1,  1,  Flöte  0.  5,  19, 

und  W.  Chbist,  Sitz.ber.  d.  bayr.  Ak.  1889,  |  Lyra  und  Flöte  0.  3,  8;  11,  93;  N.  3,  12  u. 
124  ff.).  Außerdem  gab  es  zahkeiche  Lokal-  79;  9,  8;  vgl.  A.  Böckh,  Pindar  I  2,  258  und 
spiele,  andenen  sich  aber  auch  Nichteingebome  j  E.Graf,  De  Graecorum  veterum  re  musica, 
beteiligen  durften,  wie   die  Panathenäen  in   |  Marb.  1889. 

Handbneh  der  klass.  AltertnouwiBsenscliaft.    VII.    5.  Anfl.  15 


ließ  (Herodot.  VI  70).  Vgl.  Xenophanes,  der 
fr.  2  D.  gegen  diese  Auszeichnung  der  körper- 
lichen Überlegenheit  eifert,  und  Isoer.  4,  1. 
Ehrung  des  Siegers  von  Staats  wegen  erwähnt 
der  chiotische  Volksbeschluß  vom  Jahr  276 
V.  Chr.  bei  Ch.  Michel,  Recueil  365,  18.  Über 
das  inschriftliche  Siegerverzeichnis  auf  Keos 
s.  o.  S.  212.  1. 

')  Der  gastlichen  Bewirtung  der  Sänger 
mit  Speise  und  Trank  ist  gedacht  in  den 
Siegesliedem    zu    Ehren    des    syrakusischen 


226  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  KUssuMshe  Periode. 

und  der  Chor  nur  ein  einfaches  Ständchen  darbrachte  oder  beim  (Belage 
den  Gesang  anstimmte.^) 

135.  Metrische  Form.  Für  jedes  Lied  dichtete  Pindar,  offenbar 
nach  stehendem  Brauch,  eine  neue  Melodie  und  somit  auch  neue  metrische 
Formen.  Davon  gibt  es  nur  eine  Ausnahme,  indem  die  dritte  und  vierte 
isthmische  Ode  das  gleiche  Versmafs  gemein  haben;  aber  das  hat  seinen 
Grund  in  den  besonderen  Verhältnissen  jener  beiden  Gedichte,  deren  erstes 
Pindar,  wenn  es  überhaupt  von  ihm  herrührt,  als  Ergänzung  nachträglich 
hinzufügte,  nachdem  der  Gefeierte  inzwischen  zu  dem  isthmischen  Sieg 
auch  noch  einen  nemeischen  errungen  hatte.  Im  übrigen  sind  die  Unter- 
schiede in  Versmaß  und  Ton  zwischen  den  einzelnen  Epinikien  sehr  groß. 
Ganz  zweifelhaft  ist,  ob  dies  mit  der  Verschiedenheit  der  Tonart  zusammen- 
hängt, in  der  die  Melodien  der  einzelnen  Oden  gesetzt  waren.  Leider 
können  wir  über  diese  musikalische  Seite  der  pindarischen  Muse,  die  von 
den  Alten  besonders  hoch  geschätzt  wurde,^)  nicht  mehr  klar  urteilen,  da 
uns  mit  den  bloßen  Andeutungen  des  dorischen  Fußes  (0. 3,  5),  der  äolischen 
Saiten  (0.  1,  102,  P.  2,69),  der  lydischen  Weise  (0.5,19.  14,17,  N.  4,  45. 
8,  15)  nicht  viel  gedient  ist,  und  die  wenigen  Melodienreste  zu  P.  1,  die 
im  17.  Jahrhundert  der  Jesuit  A.  Kircher  aus  einem  angeblichen  Codex 
der  St.  Salvatorbibliothek  Messinas  publiziert  hat,  unecht  sind.**)  —  Wich- 
tiger und  sicherer  erkennbar  sind  die  in  der  metrischen  Form  ausgeprägten 
Anzeichen  des  Charakters  der  einzelnen  Oden.  Pindar  hat  im  Unterschied 
von  der  Rhythmik  der  älteren  Gruppe  der  Chorlyriker  nur  ganz  selten  rein 
daktylische  Glieder.  Am  meisten  herrschen  bei  ihm  die  früher  willkürlich 
so  genannten  Daktyloepitriten  vor,  die  tatsächlich  weder  Daktylen  noch 
Epitriten,  sondern  Verbindungen  wechseiförmiger  sechszeitiger  Takte  sind, 
wie   TvvöaQidaK;  je  (fiXo^eiroig  äöeTv  xakMJikoxdfup  &*  'EXevft 

Trotz  der  erhaben-ernsten  Stimmung,  die  ihn  beherrscht,  hat  er  also  doch 
im  Rhythmus  die  heiteren  Töne  angeschlagen  und  wohl  anschlagen  müssen, 
die  dem  Zeitgeschmack  entsprachen,  wie  etwa  Beethoven  zunächst  auf  die 
musikalisch-rhythmischen  Formen  Haydns  und  Mozarts,  nicht  Bachs  ein- 
gegangen ist.  Nur  vermeidet  Pindar  die  Versformen  des  Volkslieds,  wie 
Glykoneen,  Pherekrateen,  Asklepiadcen  u.  ä.,  geflissentlich  und  zieht  es  vor, 
originale  Kombinationen  aus  diesen  Tanzrhythmen  zu  gestalten.  Ernsthaftere 
Stimmung  bringt  er,  ähnlich  wie  Aischylos,  durch  katalektische  Bildungen 
herein.  Neben  jenen  Rhythmen  gebraucht  er  den  apollinischen  Prozessions- 
rhythmus des  Paion  (Ol.  2.  10;  P.  5).     So  ist  seine  Rhythmik  von  Trivia- 

')  J)as  Stellen   ist   ausdrücklich  hervor-  E.  Graf,  De  Graecor.  vet.  re  musica,  BCarb. 

gehohen  P.  4,   1 :    oanyoor  //n-    /o;/    of   .lao  \    1889,  cap.  II. 

dri)o}  7//.0*  orauFv,  80  daß  man  hier  an  Vor-  ^)  Uher  die  Frage  der  Echtheit  B.We8T- 

tra^  ohne  Tanz   denken  möchte,   zumal   das  phal,  Mctr.  d.  Gr.  II-,  Leipz.  1868,  622  ff.  W. 

Gedicht  schier  den  Umfang  einer  homerischen  Christs  Uncchterkläiiing  stützt  sich  aaf  die 

Rhapsodie  hat.    W.  Christ  hat  in  seiner  Aus-  Wahrnehmung    seines    ehemaligen    Schülers 

gahe  im  einzelnennachzuweisen  gesucht,  ob  ein  Höckl,   daß    die    Melodienschlüsse    mit    der 

Lied  beim  Marsch  oder  im  Stehen  gesungen  falschen  Versteilung  der  Überlieferung,  nicht 

worden  sei.  mitden  echten,  von  Böckh  wiederhergestellten 

'-)  Pindars  Melodien  lobt  Aristoxenos  bei  \   Versen  in  Einklang  stehen. 
Plut.  de  mus.  2Ü  u.  81.    Über  Pindars  Musik 


B.  Lyrik.    IL  Chorlyrik.    Pindar.    (§§  135—186.)  227 

lität  weit  entfernt.  Die  meisten  Siegeslieder  zeigen  den  kunstvollen  epo- 
dischen  Bau;  den  einfacheren  monostrophischen  nur  0.  14;  P.  6.  12;  N.  2. 
4.  9;  I.  8.  Seine  Verse  und  Strophen  sind  viel  mannigfaltiger  als  die  der 
szenischen  Dichter  Attikas,  bei  denen  frühzeitig  einige  besonders  gefallige 
Formen,  wie  die  Glykoneen,  eine  herrschende  Stellung  gewannen.  Erst 
in  den  späteren  Gedichten,  wie  P.  8  und  N.  2,  macht  sich  in  dieser  Be- 
ziehung attischer  Einfluß  auch  auf  den  böotischen  Dichter  bemerkbar.^) 
In  den  epodischen  Gesängen,  namentlich  in  denen  seiner  späteren  Lebens- 
zeit, hat  sich  Pindar  bemüht,  Strophe,  Antistrophe  und  Epode  zu  einer 
abgeschlossenen  Einheit  des  Inhalts  zusammenzufassen.^)  Ein  volleres 
Verständnis  des  pindarischen  Versbaus  ist  durch  die  Pindarausgabe  von 
A.  Böckh  angebahnt  worden,  der  zuerst  die  Zusammenfassung  der  kleinen 
rhythmischen  Glieder  (xü>ka)^  die  unsere  Handschriften  bieten,  zu  größeren 
Komplexen  (Perioden)  gefordert  und  auf  Grund  der  von  ihm  gefundenen 
Kennzeichen  für  die  Periodengrenzen  durchgeführt  hat. 

136.  Anlage  des  Siegesliedes.  Bezüglich  der  Anlage  der  Sieges- 
lieder hat  in  neuerer  Zeit  R.  Westphal,  Proleg.  zu  Aeschylos  Tragödien, 
Leipz.  1869  S.  49  die  These  aufgestellt,  daß  Pindar  genau  der  Gliederung  des 
terpandrischen  Nomos  gefolgt  sei,  und  hat  mit  diesem  Gedanken  bei  vielen 
Erklärern  Anklang  gefunden.  3)  Tatsächlich  beschränkt  sich  die  Ähnlichkeit 
auf  die  natürliche  Abfolge  der  drei  Hauptstücke  Einleitung,  Mittelstück  und 
Schluß,  die  Pindar  nicht  aus  dem  Nomos  zu  borgen  brauchte,  der  für  den 
Nomos  bezeichnendste  Teil,  die  ocpgayig  spielt  bei  Pindar  gar  keine  Rolle. 
Das  Mittelstück  ist  bei  Pindar  wie  im  Nomos  regelmäßig  durch  einen 
Mythus  gebildet,  der  nur  0.  12,  14;  P.  1,  7;  N.  6  und  in  der  unechten  0.  5 
fehlt  und  I.  1,  18 — 31  durch  einen  kleinen  allgemein  mythologischen  Exkurs 
ersetzt  ist.  Ausnahmen  bilden  N.  1  und  10,  wo  der  Mythus  am  Schluß 
steht.  Der  Dichter  entnahm  diesen  in  den  meisten  Fällen  der  Heroen- 
geschichte des  Landes,  so  daß  von  den  zahlreichen  Oden  auf  aiginetische 
Sieger  keine  des  Preises  der  Aiakiden  entbehrt.  Er  schmeichelte  damit 
dem  Lokalpatriotismus  der  Griechen  und  ihrem  Stolz  auf  die  Ruhmestaten 
der  Vergangenheit,  der  um  so  größer  war,  je  unerfreulicher  und  ruhmloser 


*)  Das  hat  W.  Christ  in  Ausführung  der  '  Siegeslieder,  Leipzig  1880;  E.  Lübbert,  Com- 
CrTondgedanken  Grafs  nachgewiesen  in  Grund-  mentatio  de  priscae  cuiusdam  epiniciorum 
fragen  der  melischen  Metrik  der  Griechen,  >  formae  apud  Pindarum  vestigiis  (Bonn  1885), 
Ahh.  d.  bayr.Ak.  Bd.  22  (1905)8.296  f.  Dort  ist  1  de  poesis  Pindaricae  in  archa  et  sphragide 
auch  S.  261  f.  nachgewiesen,  daß  Pindar  dem  componendis  arte  (1885/6),  Meletemata  de 
grayitfttischen  Charakter  seiner  Poesie  ent-  '  Pindari  studiis  Terpandreis  (1886),  De  Pin- 
sprechend öfter  zwei  dreizeitige  Längen  auf-  dari  carminum  compositione  et  nomorum 
einander  folgen  ließ,  indem  er  wie  P.  1,  3  j  historia  illastranda  (1887).  Dagegen  sprachen 
den  brachvkatalektischen  Ausgang  auf  zwei  I  sich  aus  C.  Bulle  in  der  gehaltvollen  Re- 
gedehnte Längen  auch  auf  den  Versanfang  zension  von  Mezgers  Buch  in  Phil.  Rundschau 
übertrug.  1  (1881)  1  ff.,   E.  Hiller  im  Henu.  21  (1886) 

»)  So  besonders  in  0.  7.  8.  13,  N.  10. 11.  1   357  ff.  Weitere  Litteratur  in  Jahresber.d.  Alt. 

E^e    Entwicklung    von    Pindars   Verskunst  I  42  (1885)  59  ff.    0.  Crusids,  Über  die  Nomos- 

sachen  £.  Gbaf,  Pindars  logaödische  Strophen  frage,  Verh.  der  39.  Vers.  d.  Phil.  Zürich  1887, 

(Marburg  1892)  und  0.  Schröder,  N.Jahrbb.  |   258-276.  W.  Christ  (Ausg.  p.  XCIX  97)  gibt 

f.  klass.  Altert  15  (1905)  102  nachzuweisen.  |   nur  für  0. 13  die  Möglichkeit  der  Nomosform 

')  M.  Schmidt,   Pindars  olymp.  Sieges-  |   zu,  weil  hier  die  Grenzen  der  Sätze  mit  denen 

gesftnge,    Jena   1869;    F.  Mezobr,    Pindars  der  Strophen  zusammenfallen. 

15* 


228  OrieohiBche  Litteratnrgeechichte.    L  Klassisohe  Periode. 

sich  bei  den  meisten  von  ihnen  die  Oegenwart  gestaltet  hatte;  er  knüpfte 
damit  aber  auch  an  die  Festgelegenheit  an,  da  die  Epinikien  gewöhnlich 
an  einem  Feiertag,  sei  es  der  Schutzgottheit  der  Stadt,  sei  es  des  Stamm- 
heros, aufgeführt  wurden.  In  anderen  Liedern  ging  der  Dichter  auf  den 
Ursprung  der  Spiele  oder  die  Art  des  Wettkampfes  zurück,  wie  er  in 
0.  1.  3.  10  die  Gründung  der  olympischen  Spiele  durch  Herakles  und  ihr 
Vorspiel  unter  Pelops  besingt  und  in  P.  12  auf  den  Auleten  Midas  die  Er- 
findung des  Flötenspiels  durch  Athene  verherrlicht.  Wieder  in  anderen 
Oden  wird  der  Mythus  den  persönlichen  Beziehungen  des  Siegers  ent- 
nommen oder  ersetzt  durch  den  Preis  geschichtlicher  Ruhmestaten.  Das 
letzte  ist  besonders  da  der  Fall,  wo,  wie  bei  Hieron,  Theron,  Chromios, 
das  Land  oder  das  Geschlecht  des  Siegers  des  mythologischen  Hinter- 
grundes entbehrte  und  die  Persönlichkeit  des  Siegers  selbst  Stoff  genug 
zu  würdiger  Siegesfeier  bot.  Dabei  zeigt  Pindar  überall  eine  außerordent- 
liche Vertrautheit  mit  den  alten  Überlieferungen  des  Landes,  0  zugleich 
aber  auch  eine  bewundernswerte,  gelegentlich  auch  überkünstelnde  Ge- 
schicklichkeit in  der  Verknüpfung  des  Mythus  mit  der  Person  des  Siegers; 
diese  Zusammenhänge  aufzudecken  betrachten  die  Erklärer  mit  Recht  als 
eine  ihrer  Hauptaufgaben.*)  Der  Mythus  und  der  erzählende  Teil  bilden  in 
der  Regel  auch  ästhetisch  den  Glanzpunkt  der  pindarischen  Siegeslieder;  doch 
gelingt  es  dem  Dichter  nur  da  den  Leser  durch  anziehende  Schilderung 
zu  fesseln,  wo  er  sich  in  der  breiten  Vorführung  eines  Mythus  ruhig  gehen 
läßt,  wie  in  der  liebeswarmen  Erzählung  von  dem  schweren  Geschick  der 
schönen  Koronis  (P.  3)  oder  der  Liebe  Apollons  zu  der  kühnen  Jägerin 
Kyrene  (P.  9),  oder  in  der  breit  und  farbenreich  erzählten  Sage  vom  Argo- 
nautenzug (P.  4).  Vielfach  aber  bleibt  er  bei  einem  Mythus  nicht  stehen, 
sondern  geht,  um  den  ganzen  Glanz  der  mythischen  Vergangenheit  einer 
Stadt  zu  entfalten,  ohne  viel  Aufenthalt  von  einem  Mythus  auf  den  andern 
über.  Um  diese  desultorische  Behandlung  zu  verstehen,  muß  man  sich 
gegenwärtig  halten,  daß  der  Dichter  einem  mit  dem  Sagenmaterial  ver- 
trauten Publikum  gegenüberstand  und  sich  mit  Andeutungen  begnügen 
konnte.     Wo   er   ausführlich  wird,    da    reißen    ihn    die    ästhetischen   oder 


^)  Aristides  or.48  p.484DiND. :  IJirSantK:  terischer  Persönlichkeit  völlig  verkennt  und 
ftaXtai'  (Ut/ihin<:  dyjFXf^of^at  hoy.Fi  rotr  nniijuTtv  ungebührlich  hcrabBetzt.  Dr.  macht  anch 
nf^ji  TfW  iarootac.  Die  Kenntnis  der  Mythen  ohne  weiteres  den  Dichter  persönlich  fÄr  an- 
schöpfte er  hauptsächlich  aus  Hesiod  und  gebliche  Schwächen  verantwortlich,  die  in 
dcnKykUkern(E.LüBBKKT,  De  Pindari  studiis  dem  nicht  von  P.  geschaffenen  Stil  der  £pi- 
Hesiodeis  et  Homericis,  Bonn  1H81).  nikien   (s.  F.  Blass,   BacchyL*  praef.  XXII) 

*)    Schon    die    Alten     empfanden    hier  liegen.    Es  darf  nicht  vergessen  werden,  dai 

Schwierigkeiten  (Schol.  N.  1,49);  wo  sie  nicht  der  Mythus,  den  A.  Böckh  und  L.  Dissen  im 

zu  einer  rationellen  Erklärung  kommen,  reden  ganzen    richtig    als    ideales   Spiegelbild    ftkr 

sie  von  a/ovo,:  .laQ^xfinoi^:  (Schol.  P,  10,  47).  Sieger  und  Publikum  ansahen,  dem  Dichter 

A.  Böckh  und  seine  Anhänger  haben  in  der  i   einen    wesentlichen    Teil    der    weniger    er- 

AufspUrung  eines  Zusammenhangs  manchmal  |   wünschten  Pflicht  des  Lobes  auf  den  Sieger 

des  Guten  zu  viel  getan;  dagegen  A.B.  Drach-  .   und    seine   Familie    abnimmt    und    daß    die 

MANN ,    Moderne    Pindarfortolkning .    Kopen-  Heranziehung  der  nooyorot  im  weitesten  Sinn 

hagen  1891    (im  Anliang  p.  318—326    latei-  bei    jeder    gegenwärtigen    Gelegenheit    zum 

nischc  Inhaltsangabe   der   dänisch   geschrie-  Preis  menschlicher  Tüchtigkeit  griechischem 

benen  Schrift),  der  aber  die  bewußt  schroffe  Empfinden  durchaus  entsprach  (Thuc.  II36, 1. 

und  abspringende  Eigenart  von  Pindars  dich-  43,  2). 


B.  Lyrik.    IL  Chorlyrik,    Pindar.    (§  187.)  229 

ethischen  Vorzüge  des  ergriflFenen  Sagenstoflfes  mit  fort,  und  er  entwirft 
mit  breitem  Pinsel  Bilder  von  gewaltiger  Leuchtkraft  und  Oroßzügigkeit. 
Das  dichterische  Verdienst  Pindars  und  der  gesamten  Chorlyrik  besteht 
nicht  in  der  vorsichtig  abgewogenen  Klarheit  des  Aufbaus,  ^)  sondern  in 
dem  die  Ordnung  beiseitesetzenden  mächtigen  Schwung  der  Phantasie  und 
der  stimmungsvollen  Ausgestaltung  der  Einzelsituation.  Horaz  (od.  IV,  2) 
und  der  Verfasser  der  Schrift  Tiegl  vipovg  bringen  ihm  kongeniales  Ver- 
ständnis entgegen.  In  Liedern  der  Art,  wie  z.  B.  in  dem  Siegeslied  auf 
den  Eorinthier  Xenophon  0.  13,  das  aus  lauter  Lobeserhebungen  auf  den 
Sieger,  seine  Vaterstadt  Korinth  und  seine  Familie  besteht,  oder  0.  8,  wo 
er  die  achtzehn  Siege  des  Rhodiers  Diagoras  (v.  80 — 90)  herzählt,  oder 
dem  ähnlichen  N.  6  hat  er  freilich  nach  unserem  Gefühl  der  Eitelkeit  der 
Heimatstadt  des  Siegers  und  der  Ruhmsucht  des  Siegers  selbst  zuliebe 
den  Forderungen  der  dichterischen  Kunst  etwas  vergeben. 

137.  Gedankeninhalt.*)  Mehr  als  durch  die  Kunst  der  Anordnung 
und  die  Wahl  des  Stoffes  verdient  Pindar  unsere  Bewunderung  durch  die 
Tiefe  der  Gedanken,  die  Hoheit  der  Sprache  und  die  Majestät  der  Rhyth- 
men. Alles  ist  bei  ihm  groß  und  erhaben;  selbst  wo  er,  wie  in  der  vier- 
zehnten olympischen  Ode,  die  Huld  der  Chariten  preist,  verschmäht  er 
kleine,  tändelnde  Weisen.  Von  stolzem  Selbstgefühl  auf  sein  angeborenes 
Genie  durchdrungen,  vergleicht  er  sich  dem  hochfliegenden  Aar,  der  gering- 
schätzig von  seiner  Höhe  auf  die  mühsam  erlernte  Kunst  kreischender 
Raben  herabschaut.  3)  Den  Garten  der  Musen  pflegte  er  nicht  bloß  mit 
ausnehmender  Kunst,  er  weiß  auch  ihre  Gaben,  die  allein  der  Tugend  Un- 
sterblichkeit verleihen,  in  allen  Tonarten  zu  preisen;*)  wie  Hesiod  betrachtet 
er  sich  als  den  Diener  der  Musen  und  nennt  sich  daher  fr.  90  ITieoldcov 
7iQ(Hpäxav.  Geradeaus  in  seinen  Anschauungen,  wagt  er  auch  den  Hohen 
der  Erde  gegenüber  ein  freies,  mahnendes  Wort,^)  und  weit  entfernt  von 
kraftloser  Gutmütigkeit  tritt  er  mit  energischem  Zorn  seinen  Feinden  ent- 
gegen.«) Ein  heiliger  Sänger  voll  tiefer  Religiosität  hat  er  herrlich  wie 
kein  zweiter  die  Hoheit  des  Zeus  und  die  Macht  der  lichten  Gottheiten 
gegenüber  den  Dämonen  der  Finsternis  besungen.^)  Mit  frommem  Sinn 
hielt  er  fest  an  dem  Glauben  der  Väter, »)   erlaubte  sich  aber  doch  auch 


*)  Pindar  will  sich  in  diesem  Stück  nicht  j  p.  509  f.  Dind. 

schulmeistern  lassen:  P.  10,  53  <?j'>fo>//«W  yog  ;           •*)  0.  9,27:   e^aiQFTov   Xaotzcov   veuoftai 

ätotog    vfivo}v   in*    äXXor*    ä?^Aoy    lore    fiiXiaoa  xcLim'.    P.  3,  114:  «  A*  doeiä  x/.eivaTc  doidatg 

&{frei  loyoy;  vgl.  P.  11,  38;   unten   S.  232,  2.  zQori^  teXeOei.  Vgl.  0. 10,'"95;  N.  4, 6;  I.  3,  58. 

')  A.  Cboisbt,  La  poösie  de  Pindare  et  ^)  Einen  F.vOvyXconaog  dri/o  nennt  er  sich 

les  lois  du  lyrisme  Grec,  Paris  1880.  selbst  P.  2,  86;  sein  Freimut  zeigt  sich  be- 

•)  0.  2,  96;  N.  3,  80;  5,  21;  vgl.  beson-  sonders  gegen  Hieron  in  P.  2  und  gegen  Ar- 
ders den  Schloß   von  0.  1 :   «>;   fie  loaöuSe  kesilaos  in  P.  4,  263  ff. 

vixaipOQOtg  SfiiXsTv  jigoq^avTOv  oo<fi(f  xad^  "EX-  \             ®)  P.  2, 84:  :ioii  <^'  ix&Qoy  ut*  fx^Qo^  icov 

Xavac  Bovxa  navtq,.    Die  Scholiasten  deuteten  ',   Xvxoto  öiy.av  vnodtroofiai.    Vgl.  I.  3,  66. 

die  Raben   anf  Simonides  und  Bakchylides,  ,           ^)  Einzig  schön  im  Eingang  von  P.  1, 

die  Hanptrivalen  Pindars.    Mit  Bescheiden-  i   wo  L.  Schmidts  Vergleich   mit  Rembrandt- 

heit  rflhmt  sich  dagegen  Bakchylides  fr.  5  Bl.  sehen  Gegonsatzwirkungen  am  Platz  ist,  und 

nur  der  von  andern  gelernten  Kunst.    Pin-  in  P.  2,  49  fF.  u.  89  ff. 

dars  Überhebung  fand  selbst  bei  seinem  Be-  ^)  N.  8,  20   jioXXd   yog   jioXXq.   XiXexTiu  * 

wunderer    Plutarch   de    se   ips.    citra   invid.  veagd   d'  s^sv^övia  dofisr  ßaadvq)   ig  FXeyxov 

land.  1,  539  c  Tadel.    Anders  Aristid.  or,  49  i  änag  xivöwog. 


230  Oriechische  latteraturgesohichte.    I.  Elassiflche  Periode. 

Mythen,  die  gegen  seine  Anschauung  von  der  Hoheit  und  Reinheit  der 
Götter  verstießen,  in  seiner  Weise  umzudeuten  und  umzugestalten.  Wenn 
z.  B.  die  Überlieferung  bei  Hesiod  erzählte,  ein  Rabe  habe  dem  Apollon 
Kunde  von  der  Untreue  seiner  geliebten  Koronis  gebracht,  so  sträubte 
sich  gegen  die  Niedrigkeit  dieses  Zwischenträgers  sein  reineres  Oottes- 
bewußtsein,  und  er  ließ  deshalb  den  Apollon  selbst  mit  seinem  allsehenden 
Geist  die  treulose  Tat  erspähen.^)  Für  die  ionische  Göttemovelle  und 
Götterburleske  hat  Pindar  keinen  Sinn.  Sittlicher  Ernst,  sittliche  StraflF- 
heit  durchdringt  seine  ganze  Religionsanschauung,  die  in  der  starken 
Hervorhebung  des  Zeus  einen  ähnlich  entschiedenen  monotheistischen  Zug 
hat  wie  die  des  Aischylos.  Der  Monotheismus  dieser  Männer  ist  aber  auf  ganz 
anderem  Boden  als  der  des  Xenophanes  gewachsen.^)  Wenn  Pindar  philo- 
sophische Einflüsse  erfahren  hat,  so  sind  diese  vom  Pythagoreismus  und 
der  Orphik  ausgegangen.  Die  mystischen  Lehren  dieser  Sekten  trafen  in 
Pindars  Wesen  eine  mitklingende  Saite  und  stehen  nun  bei  ihm  kaum 
vermittelt  neben  den  altepischen  Sagen.  So  preist  er  fr.  137  den  glücklieh, 
der  in  die  Mysterien  eingeweiht  unter  die  Erde  geht,  denn  der  kennt  des 
Lebens  Ende  und  den  von  Gott  gesetzten  Anfang,  und  anderwärts  vertritt 
er  die  dem  altionischen  Kationalismus  fremde  Lehre  von  der  Unsterblich- 
keit der  Seele  und  der  Belohnung  der  Guten  nach  dem  Tod.»)  Es  könnte 
scheinen,  als  würde  unser  Urteil  über  Pindars  dichterische  und  sittlich- 
religiöse Eigenart  getrübt  durch  den  zufälligen  Umstand,  daß  wir  nur 
seine  Siegeslieder,  also  bestellte  Arbeiten,  vollständig  kennen.  Indessen 
ist  doch  hier  sein  Vortrag  so  voll  von  eigenartigen  sittlichen  Akzenten, 
daß  wir  nicht  zu  befürchten  brauchen,  auf  Grund  dieses  Materials  in 
unserer  Einschätzung  fehlzugreifen.  Nur  der  Vorbehalt  ist  zu  machen,  dafi 
seine  mystische  Seite  in  den  />o;/i'o/,  seine  Fähigkeit  zu  anmutig-humori- 
stischer Darstellung  in  den  naniHnn  erst  zu  vollem  Ausdruck  gelangt  sein 
muß.  Die  Frage,  ob  die  Verherrlichung  von  Athleten  und  Sportsleuten 
einem  Dichter  von  so  großen  ethischen  Prätensionen  anstehe,  ist  erlaubt. 
Vergegenwärtigt  man  sich  aber  die  dem  Pindar  eigentümliche  Auffassung 
von  diesen  Dingen,  so  wird  man  sie  unbedenklich  bejahen.  Der  Mensch 
an  sich  ist  ihm  ein  Nichts,  axiaq  orao  (P.  8,  95,  vgl.  I.  7,  42;  5,  14),  aber 
die  Götter  können,  indem  sie  ihm  Kraft,  Weisheit,  Reichtum,  Erfolg  zu- 
wenden, ein  helles  Licht  auf  ihn  werfen  (P.  8,  77.  97).  Wer  diese  Güter 
hat,  ist  Liebling  der  Götter,  also  auch  den  Menschen  verehrungswürdig 
ohne  weiteres.*)     In   den   körperlichen  Glanzleistungen   aber  sieht  er  Be- 

^)  P.  3.  27;    ähnlich    ist    der    TautaloH-  satz  ist:  fon  6' uyi\H  ffduey  ioixoi  dfufi   ^ni 

inythus  iinigestaltet  0.  1,31  fF..  und  die  Sage  lu'mor  y.n/.n  0.  1,  36. 

von    der    Erhaaung    des    Mauerkranzes    von  *)  Pindars  Urteil  über  die  ionische  Physik 

Troia  in  0.  H,  31.     Mit  Entrüstung   weist  er  i    liegt  vor  fr.  209:  dTfAi]  aotf/a^  xag.-rw  Sgejini: 

die  Sago  vom  Kampf  zwischen  Apollon  und  ")  0.  2,  62  fF.  und  die  Fragmente  aus  den 

Herakles  um  den  Dreifuß  zurück  0.  9,  35  fF.  '   Threnoi;  merkwürdig  ist  der  Satz  fr.  131  von 

Den  ij'friSt/  der  ionischen  Epik  gegenüber  ist  der  Seele:    ^foor  hi   hiiFTat  nicövog  eJdo>ior. 

ihm   eben    diese   sittlichere  Auffassung   von  1           *•)    Dieselbe    naive    Anschauung    haben 

den  Göttern  die  dkäihni,   die  er  0.  4,  4  und  auch   Hom.  Od.  a,  19    u.   Herodot  VIII  88; 

fr.  205  preist,  und  er  verwirft  die  dichterische  Bacchvl.5,193;  vgl.  L.Sohmidt,  Pindars  Leben 

/ao/s ,    die    den   Menschen   Unglaubwürdiges  und  Dichtung.  Bonn  1862, 35  ff.  In  der  Schftt- 

annehmlich  macht.  0.  1,  32  ff.     Sein  Grund-  !  zung  des  Reichtums  schimmert  noch  etwas 


B.  Lyrik.    IL  Ghorlyrik,    Pindar.    (§  138.)  231 

tätigungen  einer  ritterlich-wehrhaften  Lebenshaltung,  die  allerdings  sein 
Ideal  ist.O  Daneben  weiß  er  auch  die  oocpia  zu  schätzen;  aber  sie  läßt 
sich  nicht  erraffen  und  erlernen,  sondern  muß  Gottesgabe  sein.*)  Dem 
entspricht,  daß  ihm  Aias  und  Achilleus  sympathisch,  Odysseus  antipathisch 
ist.^)  Was  diese  ganze  Eukomiendichtung  adelt  und  vor  dem  Vorwurf 
niedriger  Gelegenheits-  und  Schmeichelpoesie  schützt,  das  ist  die  auf- 
richtige Freudigkeit  des  Dichters,  zu  verherrlichen,  was  irgend  von  Gottes 
Gnaden  ist.  Denn  darin  besteht  nach  Pindars  Auffassung  der  Beruf  des 
Dichters:  er  hat  Recht  und  Pflicht,  der  edlen  Leistung  {xaXov  egyov)  durch 
sein  Wort  Ewigkeit  zu  verleihen,  im  Wettkampf  des  Lebens  die  Palmen 
auszuteilen,  und  vermöge  dieser  Mission  und  Befähigung  steht  er  auch  über 
dem  Fürsten.*)  Bei  dieser  Betrachtung  schwingt  sich  der  Dichter  mit  einem 
Mai  auf  eine  Höhe,  von  der  sich  die  alten  Bettolsänger  nichts  träumen 
lassen  konnten.  Für  die  soziale  Hebung  des  Dichterstandes  in  Griechen- 
land hat  Pindar  Ähnliches  geleistet  wie  Ennius  in  Rom.  Mit  vollem  Einsatz 
seiner  Persönlichkeit  und  mit  priesterlicher  Weihe  hat  er  noch  einmal 
vor  dem  Zusammenbruch  der  alten  Aristokratien  die  Ideale  ritterlicher 
Lebenshaltung  in  seinen  Siegesliedern  verherrlicht.  Die  glanzvollsten 
freilich  unter  den  letzten  Rittern,  denen  sein  Sang  gilt,  die  sizilischen 
Tyrannen,  waren  in  den  Augen  der  mutterländischen  Aristokratie  homines 
novi.  Nach  Pindar  stirbt  die  Gattung  des  üurog  imrUiog  aus.  Der  letzte 
aus  der  klassischen  Periode,  von  dem  wir  wissen,  ist  der  des  Euripides 
auf  einen  olympischen  Wagensieg  des  Alkibiades  (PLG  II*  p.  266).  Dann 
wird  nur  noch  ein  elegisches  Imvixiov  des  Kallimachos  (fr.  69  Sehn.)  auf 
Sosibios  genannt,  das  mit  der  Chorlyrik  nichts  mehr  zu  tun  hat. 

138.  Sprache  Pindars.  Mit  dem  Ernst  und  der  Tiefe  der  Gedanken 
harmoniert  bei  Pindar  der  sprachliche  Ausdruck.  Im  Reichtum  und  in 
der  Großartigkeit  der  Bilder  sucht  er  seinesgleichen,  aber  er  deutet  den 
Vergleich  nur  an,  verweilt  nicht  wie  der  ionische  Epiker  behaglich  in  der 
Ausmalung  des  Bildes.  Nicht  geneigt,  ausgetretene  Wege  zu  gehen,  be- 
reichert er  die  Sprache  mit  neuen,  kühnen  Metaphern  und  Bildern.  Die 
Vergleichung  der  Schöpfimgen  der  Poesie  mit  den  Werken  der  bildenden 
Kunst  hat  er  in  die  Litteratur  eingeführt,*^)  und  wahrhaft  großartig  ist 
die  Zusammenstellung  des  Proömiums  mit  dem  Säulenportal  des  Saales 
(0.  6,  1)  oder  die  Entgegensetzung  der  auf  derselben  Basis  beharrenden 
Statue    und   des   gleich   einem  Schiff   in    die   weite  Welt  hinausfahrenden 

durch  von  der  Verblendung  des  altaristokra-  |  ^)  0.  2,  86  vgl.  P.  8.  44. 

tischen  xQW^^^if  ;r«W^«T*  «>'')l>»  dasHerodot  so  |  ^j  n.  7,  21;  8,  25.     Das  achilleische  Le- 

bitter  ironisiert  (s.  o.  S.  185,  2),   Doch  dämpft  bensideal  0.  1,  83  OureJr  <5'  oloiv  avdyxa,  zi  xi 

Pindar  ab:  N.  8,  27  orv  i?f<I)  (5f'  toi  (fvievi^eig  ;  n*  dyoWriwr  yijoac  h'  oxdzco  xa\%)fiBV(K  etpot 


Skßog  dv^QOiJiotoi  jiciQfiovojTeoog.  Bezeichnend 
auch  0. 11,4  c«  de  ovv  jim-ft}  xig  ev  Jigdoof^,  fitjXi- 
ydot'eg  vfivoi  vaieQMv  doxa  Xdycov  TiXXejiu^  s. 
auch  0.  1  Anfang. 

*)  Vgl.  mit  Hom.  {>  147  f.  ov  ^tev  ydo 


ftdiav,  ujrdrTMr  xnAdn'  «/<//ooOs.  Vgl.  0.  S.  32, 2. 
*)  Hauptstellen  N.  4,  6  ff. ;  7, 13;  1. 3. 59 ; 
7,18;  5,26;  P.  1,90  ff.;  3,114;  8,  39;  0. 
4,  11;  10,  91  f.;  fr.  121;  ähnliche  Anschau- 
ungen  Sapph.   fr.  68:   Theogn.  237  ff.;   Hör. 


fietCoy  xUog    dvegog,    ö<pQa   xev   fjoiv,    t)   on  \  od.  IV  8.  9;  ep.  II 1,  229  f.;  Epicur.  bei  Sen.  ep. 

noaalv  te  Qe^U  xai  xF.Qoiv  kfjoiv,   Pind.N.5,19f.  ,  21,3;    Synes.  ep.  49. 

ei  6*  oXßcv  fj  xeigaw  ßiav  rj  oidagirav  FJTaivrj-  I  *)  Über  die  Beziehungen  Pindars  zu  den 

acu  Jidiefwv  dedoxtjtai,  fiaxgd  fiot  avxodev  äX-  1  Kunstwerken  seiner  Zeit  handelt  R.  C.  Jebb, 

vjioaxdjiToi  ug.  \  Journal  of  Hellenic  Studios  3  (1882)  174  ff. 


232  Griechische  LitteratorgeBchichte,    L  ElaMOBohe  Periode. 

Liedes  (N.  5,  1).  Wie  in  dem  Strome  Welle  auf  Welle  sich  drängt,  so 
erzeugt  in  seinem  reichen  Geist  ein  Gedanke  den  andern,*)  ohne  daß  er 
sich  immer  die  Mühe  nimmt,  den  einen  sorgfältig  zum  anderen  hinQber- 
zuleiten.^)  Dadurch  entstanden  die  unvermittelten  Übergänge')  und  die 
rauhen  Fugen,  die  das  Verständnis  des  oft  rätselhaften  Ausdrucks  er- 
schweren*) und  dem  späteren,  an  Glätte  und  Weichheit  gewöhnten  Publi- 
kum die  Lektüre  des  Dichters  verleideten.^)  Auch  im  Metrum  strebte 
Pindar  das  Erhabene  und  Großartige  an;  das  tritt  besonders  in  dem  die 
trivialen  Formen  meidenden  Bau  seiner  Verse  und  Strophen  hervor.  Ele- 
ganz und  Ebenmaß  der  Verse  und  Kola  erstrebt  Pindar  nicht  um  ihrer 
selbst  willen,  vielmehr  das  Originale,  Kraft-  und  Charaktervolle,  auch  auf 
Kosten  symmetrischer  Schönheit,  wie  ihm  auch  die  Alten  die  avaxTjQa  äg- 
fwria  zuschreiben,  ö)  —  Im  Ausdruck  schließt  er  sich  vielfach,  oft  leise 
umbildend,  an  die  Sprache  des  homerisch-hesiodischen  Epos  an,  zumal  in 
den  mythologischen  Partien,  und  zwar  so,  daß  er  nicht  nur  epische  Rede- 
wendungen direkt  übernimmt,  sondern  auch  ii^  eigenen  Neubildungen  den 
Einfluß  der  epischen  Diktion  nachwirkend  zeigt.')  Fremd  ist  freilich  dem 
klaren  Fluß  der  epischen  Sprache  die  Verschränkung  von  Bild  und  Sache 

*)  Daher  der  schöne  Vergleich  mit  dem  !   xcW   ixetvo   xai  xo  avarrjoav^   u:fayzes    äv  M* 

Strom   bei  Horaz  od.  I V  2,  5 :    monte   decur-  ou  ftaorvntjasiav.     Ähnlich   bedeutet  Ilivdd- 

rens  velut  amniSf   imhres  quem  super  notaa  \   osto^  a^tuorla  im  Ind.  acad.  philos.  col.  XIV 10 

aluer e  ripas,   fervet  itnmensuffque  ruit  pro-  p.  52  Mkkler  eine  rauhe  Art     Horaz  kennt 

fundo  Pindarus  ore.    Vortrefflich  sind  auch  den  Pindar  und  hat  ihn,  wie  man  aus  Qoint 

die  wenigen  Striche  bei  Quintilian  XI, 61:  XI, 61  vermuten  könnte,  vielleicht  in  Born 

Pindarus   princeps     Spiritus    magnificeniiaf  eingeführt   (Cicero  weiß  herzlich   wenig  von 

HeHteniiis,  fiyuris,  beatissima   rerum   rerbo-  ihm);   in  der  triadischen  Anlage   des  Preis- 

rumque  copia    et   telut   quodam  eloquentiae  licdesaufAugustus  od.  1 12  scheint  er  sich  an 

fluni  ine.  0.  2  und   in  dem  Vergleich  der  politischen 

^)  An  welch  schwachem  Faden   oft  der  Gegner  des  Kaisers  mit  den  unholden  Titanen 

Dichter  einen  Gedanken  zum  andern  hinüber-  od.  III  4  an  P.  8  angelehnt  zu  haben, 

leitet,   dafür  liefert  ein  belehrendes  Beispiel  *)  Versuche,  eine  größere  Harmonie  und 

die  Stelle  P.  4,  262,  wo  der  Preis  der  Klug-  Symmetrie  in  unseren  Strophenschemen  her- 

heit  der  Battiaden    ooOo/iovk(A'  fttlTiv  etfev-  zustellen,  machten  besonders  J.  H.  H.  Schmidt, 

oofin'ojv  genügt,    um  ihnen  ein  Rätsel  auf-  ,   Die  Kunstformen  der  griech.  Poesie,   Bd.  I, 

zugeben:  yrtoOi  rrr  rar  Oidtjrdda  007  mr.  Siehe  '   Leipz.  1868,  und  M.  Soumidt  in  seiner  Ausgabe 

a.  o.  S.  229, 1.  der  olympischen  Siegesgesänge  (Jenal869),  and 

')  Mancher  dieser  Sprünge  verdient  frei-  Über  den  Bau  der  pindarischen  Strophen,  Leipx. 

lieh  kein  Lob,  indem  eine  Sentenz  oder  eine  |    1882.    Dionys.  Hai.  (s.  a.  A.  5)  de  imit.  II 2 

mythologische    Bemerkung   an    den   Haaren  p.  205,  1  ff.  Us.  empfiehlt  den  P.  wegen  fol- 

herbeigezogen  ist   P.  4,  45;    N.  1.  53;   3,75;  gender    Eigenschaften  dem  Redner:   /ieyaXo- 

10,  78;  I.  1,  63.  .Tof.7f/ac  xai  tovov  xai  .tfutova/ag  xaxaaxstiifs 

*)  Pindar     selbst     deutet    diese    dunkle  ;   xai    tivrauKo^,    xai  mxgia^   fis&*  rjAor^'  xai 

Weisheit  an  0.2,93:   /V^v.//    fVi^oi-  erti  f/am-  '    .TvxroTf/Tth;    xai  aFfit'dnjrO'; '    xai  yvoifiokoyiaf 

Hjag  <f<in'dFria  ovvFjfpiaif,  f\;  f)F  rd  ndr  f^ofttf-  <    xai  FvaoyFia^    xai  ax*)ftaxiafiihv  xai  r/^oxodof 

VHoy  yaruFi.  xai  ar^t}oF(o>;  xai  dFifiooecog'  ftaXiara  6k  itbr  sie 

^)  Ath.  p.  3a:    rd  Ilirddoor    d  xfoitnu^to-  ao)ff  ooorvtjr  xai  FvaFßFtav  xai  fieyaXojiQSJi€UKr 

jToidc   Erno),U  (ftjoiv  tjdti  xaraoFoiyaofiFva  j'.to  ,    ijOon';  vgl.  a.  Quiut.  X  1,  61.   Daß  der  Ton  in 


Tf/s  T<oy  no)l(7)r  uff  doxa)Ja^.  Dionys.  de  comp.  den  Pai-thenien  nicht  so  streng  wie  sonst ' 

22  p.  100.  10  ff.  Us.   von  einem  pindarischen  bemerkt  Dionys.  Hai.  und  wird  bestätigt  durch 

Ditliy rambus :   xari^'  du  uiv  fohv  inyriid  xai  H.  Schultz  a.  a.  0.  (s.  o.  S.  217,  2)  56   sowie 

oTißtiod  xai  diuouartxd  xai  .To/.r  ro  arorijodt'  durcli  das  neugefundene  Parthenienfiragmeni. 

F/fi  T(ja/rrFi  tf  d/.v.TOK,  xai  .iixtjaivFi  utTtmog  j           ')  H.  SCHULTZ  a.  a.  0.,  wo  auch  ältere 

xd^  dxodi:,  .-rarrFg  dv  fThoifv   dvaßFßbjTai  tf  \  Litteratur  verzeichnet  ist.    Eine  sprachliche 

rors    ;ifooVoN    xai    dtaßFßtixFv    F.m   ,tokv   xai^  Entwicklung  Pindars  im  Lauf  seiner  dichte- 

dofioitai^   xai   ovtf    fhaxQixdr    6ij    xovio   xai  1   rischen  Tätigkeit  ist  nicht  erkennbar. 

ylaffvodv  FjTtÖFtxyvxai   xiD.lo^^  dXXd  xd  ao/ai-  > 


B.  Lyrik.    II.  Ghorlyrik.    Pindar.    (§  188.) 


233 


oder  die  Vermischung  verschiedener  Bilder,  i)  die  bei  Pindar,  aber  viel- 
leicht nicht  bei  ihm  zuerst,  und  jedenfalls  nicht  bei  ihm  allein,  sondern 
auch  in  den  tragischen  Ghorpartien  auftritt. 

Auch  der  Dialekt  Pindars  steht  mit  dem  großartigen  Charakter  seiner 
Poesie  in  Einklang.  Im  Gegensatz  zu  seiner  Rivalin  Eorinna  hat  er  es 
verschmäht,  die  lokale  Mundart  Böotiens  zu  reden;  er  will  nicht  bloß  für 
seinen  Kanton,  sondern  für  ganz  Oriechenland  singen,  gebraucht  also  den 
dorisierenden  Eunstdialekt  der  chorischen  Lyrik:  Alolevg  ^ßaive  Acogiav 
xeXev^ov  vfxvoyv  (fr.  191).*)  Die  dem  dorischen  und  äolischen  Dialekt  ge- 
meinsamen Formen,  namentlich  das  lange  a  gegenüber  ionisch-attischem  ?/, 
und  die  Pronominalformen  tv,  v^i/xe,  ü/x/luv,  äju/uv  führte  er  streng  durch; 
bei  Diskrepanzen  beider  Dialekte  in  metrisch  gleichwertigen  Formen  und 
in  Fällen,  wo  sich  die  äolische  Form  besser  in  den  Vers  fügte,  gab  er 
dem  äolischen  den  Vorzug,  wie  namentlich  bei  den  durch  Ersatzdehnung 
und  Mouillierung  entstandenen  Formen  Moioa,  q^evyoioa,  xaUoioi,  scheute 
sich  aber  auch  nicht,  jenem  äolisch-dorischen  Grundton  epische  und  selbst 
attische  Formen,  wie  Genetive  auf  oiOy  Acc.  pl.  auf  ovg,  beizumischen»)  und 
die  Partikeln  xev  und  äv  nebeneinander  zu  gebrauchen.  In  den  Texten 
unserer  Handschriften  wechseln  dorische  und  äolische  Formen,  und  man 
hat  daher  die  Vermutung  aufgestellt,  daß  Pindar  selbst  je  nach  Tonart 
und  Heimat  des  Bestellers  kleine  Variationen  im  Dialekt  angebracht  habe.*) 
Aber  vielleicht  rührt  dieser  Wechsel  nur  von  der  Unbeständigkeit  der 
attischen  Herausgeber,  nicht  von  dem  Dichter  selbst  her,  da  sich  z.  B.  in 
demselben  Gedicht  ägdovri  und  vaioioi  (I.  6,  64  u.  66)^),  juerä  und  Tiedä  (P.  5, 
47  u.  94),  Sjieoeg  und  efjmexeq  (P.  8,  21  u.  81)  nebeneinander  finden.  Überall 
aber  klingt  der  Laut  seiner  Rede  voll  und  tief  wie  feierlicher  Choral- 
gesang. 


')  Schultz  p.  57  ü. 

')  Gregor.  Cor.  p.  1,  12  Schaf,  nennt 
PindarB  Sprache  xon^ti. 

*)  So  müssen  wir  wenigstens  nach  der 
handschriftlichen  Üherlieferung  urteilen,  wo- 
bei aber  nicht  zn  übersehen  ist,  daß,  wenn 
Pindar  noch  nicht  das  ionisch-neuattische  Al- 
phabet gebrauchte  und  im  acc.  pl.  sec.  decl. 
02  scluieb,  dies  ebensogut  in  ovg  wie  oyg 
angeltet  werden  konnte;  übrigens  endet  der 
acc.  plur.  auf  ovg  auch  in  den  Versen  des 
Böotieis  in  Aristoph.  Ach.  874,  875,  876,  880. 
Die  Annahme,  dao  Pindar  auch  acc.  pl.  auf 
<M^  nach  böotischer  Art  gebrauchte  (I.  1,  24; 
8,  17;  N.  7,  51),  steht  nicht  ganz  fest,  wohl 
aber  scheint  er  dem  Vers  zulieb,  wie  Hesiod 
▼eieinzelt,  solche  auf  og  (0.  2,  78;  N.  3,  29; 
10,  62)  sich  gestattet  zu  haben.  Im  allge- 
meinen richtig  urteilten  die  alten  Gramma- 
tiker, deren  Meinung  Eustathios  in  der  Vita 
Pind.  wiedergibt:  aloXi^ei  de  tä  jiokkd,  et  xal 
fifj  dxQtß^  dieioiv  AloUda,  xal  xaxa  Amoisig 
de  fpgdCti,  ti  xal  tijg  axXtjgordgag  AcootÖog 
dxixerai.  Vgl.  B.  MsiSTaB,  Griech.  Dial.^I  22 
und  W.  A.  Pbtbb,  De  dialecto  Pindari,  Halle 


Diss.  1866.  —  A.  Fühbeb,  Der  böotische  Dia- 
lekt Pindars,  Philol  44  (1885)  49  ff.  sucht  in  der 
Weise  seines  Lehrers  A.  Fick  nachzuweisen, 
daß  Pindar  den  epichorischen  Dialekt  seiner 
Heimat  sprach  und  daß  die  angeblichen  Do- 
rismen  Pindars  vielmehr  Eigentümlichkeiten 
des  Böotischen  seien. 

*)  G.  Hebmakn.  De  dialecto  Pind.,  Opusc. 
I  245  ff.  —  In  der  Syntax,  besonders  im  Ge- 
brauch der  Modi  folgt  Pindar  öfter  noch  den 
Epikern  im  Gegensatz  zu  den  Attikem;  s. 
B.  Bbeyeb,  Analecta  Pindanca,  Bresl.  Diss. 
1880;  B.  L.  Gildebsleeve,  Studios  on  Pin- 
daric  Syntax,  in  American  Journal  of  philol. 
3  (1882)  434  ff.  u.  4  (1883)  158  ff. ;  W.  Chbist, 
Beiträge  z.  Dialekt  Pindars,  Sitz.ber.  d.  bayr. 
Ak.  1891  S.  25—86.  0.  Sohbödeb,  Pindarausg. 
praef.  p.  1 1 — 46,  wo  Einzellitteratur  über  Pin- 
dars Sprache  reichlich  verzeichnet  ist. 

^)  Wahrscheinlich  gebrauchte  Pindar  in 
der  3.  pers.  pl.  nur  vor  Vokalen  die  Endung 
-oioiv  der  lesbischen  Dichter,  sonst  immer 
'ovn  nach  der  Sprechweise  der  Derer,  Lo- 
krer  und  Böoter,  nur  daß  diese  -ovri  in  ovdi 
verändern. 


234  Oriechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klaanache  Periode. 

Einen  Rückgang  der  Hochschätzung  Pindars  im  Attika  des  aus- 
gehenden 5.  Jahrhunderts  deutet  Eupolis  (fr.  366  K.)  an,  und  man  versteht, 
daß  er  der  ausgebildeten  Demokratie  unsympathisch  war.  Ein  Yerkleinerer 
von  ihm  soll  Amphimenes  von  Kos  (Aristot.  fr.  65  Berol.)  gewesen  sein. 
Aristoteles,  der  Vemachlässiger  aller  Lyrik,  beachtet  ihn  nicht.  Aber  in 
der  hellenistischen  Zeit  wird  er  im  Kanon  der  Lyriker  obenan  gestellt, 
neu  herausgegeben  und  kommentiert  und  in  den  Schulen  gelesen.  Diese 
Beurteilung  und  Tradition  übernehmen  die  Römer,  denen  er  als  lyricorum 
longe  princeps  (Cic.  or.  1,  4;  Hör.  od.  IV  2;  Quint.  VH!  6,  71;  X  1,  61)  gilt; 
auch  hier  ist  er  Schulschriftsteller  (Stat.  Silv.  V  3,  151),  und  diese  Aukto- 
rität  bleibt  ihm  in  der  Byzantinerzeit.  Seine  Wirkung  ist  der  Schillers 
zu  vergleichen:  wie  dieser  ist  er  eine  in  höchstem  Grad  energische,  sitt- 
lich Farbe  bekennende  Persönlichkeit,  stolz  und  hoch  aufgerichtet,  zu  seinen 
Idealen  emporblickend  und  emporweisend,  Feind  aller  kleinlichen  und 
niedrigen  Gesinnung,  mit  weithin  schallendem,  prachtvollem  Vortrag  Be- 
geisterung für  seine  Lebensanschauung  weckend.  Diesem  starken  sitt- 
lichen Gehalt  vor  allem  verdankt  er  es,  daß  er  trotz  der  außerordentlichen 
Schwierigkeiten,  die  er  in  alter  und  neuer  Zeit  dem  Verständnis  entgegen- 
setzte, doch  durch  die  Jahrhunderte  hin  Schulautor  geblieben  ist.  Der 
dithyrambische  Stil,  dessen  glänzendster  Vertreter  er  ist,  wurde  aber  bis  ins 
18.  Jahrhundert  den  modernen  Dichtern  durch  Horazens  Oden  vermittelt; 
unmittelbare  Nachbildung  Pindars  hat  erst  A.  v.  Platen  in  seinen  Fest- 
gesängen versucht.^) 

TextQberlieferung  und  Schollen:  Vcrniutungen  über  die  frühste  Verbreitnng  des  Pindar- 
textes von  Attika  aus  s.  W.  Christ.  Phil.  25  (1867)  607  ff.,  dessen  Ansicht  über  die  erate 
Niederschrift  des  Pindar  in  dem  unvollkommeneren  alten  Alphabet  mit  Recht  von  Wila- 
MowiTZ  (Textgesch.  der  gi-.  Lyr.)  verworfen  ist.  In  Alexandria  beschäftigte  sich  zuerst 
Zenodotos  mit  Pindarkritik  (Öxyrhynch.  pap.  V  15),  dann  veranstaltete  Aristophanes  eine 
(lesamtausgabe  in  17  Büchern  (s.  oben  S.  221),  in  der  die  Verse  oder  Kola,  nicht  ohne  Fehler, 
abgeteilt  waren  (W.  Christ,  Die  metrische  Überlieferung  Pindars,  Abhdl.  d.  bayr.  Ak.  11,  1868, 
120  ff.).  A  ristarchos  konstituierte  den  Text,  nicht  immer  mit  Verständnis  und  Geschick,  und 
versah  ihn  mit  kritischen  Zeichen  (P.  Feine,  De  Aristarcho  Pindari  interprete,  Commentat. 
philül.  Jen.  2,  Loipz.  1883;  E.  Hobn,  De  Aristarchi  stud.  Pind.,  Greifsw.  1883);  aus  der  Tat- 
sache, daß  unsere  Scholien  nirgends  abweichende  Lesarten  verzeichnen,  schließt  Wilamowitz 
(Eurip.  Herakl.  P 144).  daß  die  Ausgabe  des  Aristarchos  alle  anderen  Texte  verdrängte.  Außerdem 
liabon  die  Grammatiker  Kai listra tos,  Ammonios,  Aristodemos,  Asklepiades,  Ari- 
stonikos  und  Chrysippoa  (nicht  der  Stoiker,  wie  A.  Körte,  Rh.  M.  55, 1900, 131  ff.  erweist) 
sich  mit  dem  Dichter  beschäftigt  (s.  A.  Böcku,  Pindar  II 1  praef.  IX  sqq.).  Unsere  alten  Scholien, 
die  eine  fortlaufende  Paraphrase,  durchzogen  von  dazugehörigen  Erklärungen,  enthalten  (K. 
Lkhbs,  Die  Pindarscholien.  Leipzig  1873),  gehen  auf  Didymos  zurück,  der  öfters  namentlich 
angeführt  ist  (vgl.  Ammonios  de  diff.  p.  70  und  M.  Schmidt,  Didymi  fr..  Leipz.  1854p.  214  ff.); 
ihre  Redaktion  setjX  Wilamowitz,  Eur.  Herakl.  P  185  in  das  2.  Jahrhundert  n.  Cnr.,  indem 
er  den  zu  0.  3,  52  erwähnten  Amyntianos  mit  dem  zur  Zeit  des  Antoninus  Pius  lebenden  Histo- 
likcr  Amyntianos  identifiziert  und  unter  o  'Alixamaoon''::  sc.  .l/oiro/oc  zu  N.  9,  2  nicht  den 
Khctor,  sondern  den  Verfasser  der  Musikgeschichte  versteht;  vielleicht  ist  der  Redaktor  jener 
Grammatiker  Palamedes,  der  unter  den  Tischgenossen  des  Athenaios  vorkommt  und  von  dem 
Suidas  ein  v.idftvfjitu  fig  Iliydngov  tov  non)Tt)r  anführt.  —  Über  die  Metra,  die  den  Byzantinem 
ih'n  ycai  dyroorfjeya  waren  (0.  Kröhnkrt,  Canonesne  poctar.  fuerunt  p.  7 — 10),  hatte  Drakon 
von  Stratonikeia  gehandelt;  unsere  metrischen  Scholien,  die  in  Prosa  und  die  in  Versen  (von 
Tzetzes  in  J.  A.  Ckamer  An.  Par.  1. 1),  sind  von  geringem  Wert  und  beruhen  auf  falscher  Vera- 
teilung. —  Aus  dem  Mittelalter  stammen  die  Scholien  von  Thomas  Magister,  Moscho- 
pulos  (bloß  zu  den  Olympien)  und  Triklinios;  zur  letzten  Klasse  gehören  auch  diejQngst 

*)  Charakt^jristik  Pindars  von  W.  v.  Hum-  ;  1896)  34  ff.  —  Über  eine  Pindarstatue  F. 
BOLDT  in  Sauers  Deutschen  Litteraturdenk-  i  Wüßter,  Jahresh.  des  Osten*,  arch.  Inst  3 
mälem  des  18.  und  19.  Jahrh.  58/62  (Stuttg.   |   (1900j  91. 


B.  Lyrik.    II.  Chorlyrik.    Die  attischen  Lyriker.    (§  139.)  235 

pablizierten  ^xoXia  UaTfAtaxd  (ed.  D.  Ch.  Semitelos,  Athen  1874).  Der  Kommentar  des 
Eustathios  ist  bis  anf  die  Vita  verloren  gegangen.  Die  Scholien  sind  den  größeren  Aus- 
gaben, wie  der  von  Böckh,  beigefügt.  Neue  Ausgabe  von  E.  Abel,  wovon  Schol.  vet.  zu  Nem. 
u.  IsÜun.  erschienen,  Berol.  1884;  Scbol.  rec.  zu  Ol.  u.  Pyth.  1891,  durch  den  Tod  des  Her- 
ausgebers unterbrochen;  im  Erscheinen  die  neue  musternafte  Bearbeitung  von  A.  B.  Dbaoh- 
MANH  in  BT.  (I  1903). 

EUindschriften :  Pindar  ist  durch  eine  einzige  Handschrift  auf  das  Mittelalter  gekommen, 
da  alle  erhaltenen  in  gleicher  Weise  am  Schluß  verstümmelt  sind  und  mehrere  Fehler  mit- 
einander gemeinsam  haben  (s.  Proleg.  zu  W.  Christs  Ausg.  p.  Vff.).  Dieser  (verlorene)  Arche- 
t3rpus  unterschied  sich  von  der  alexandrinischen  Ausgabe  durch  Umstellung  der  nemeischen 
und  isthmischen  Oden,  welche  letzteren  in  unseren  Codd.  den  Schluß  bilden.  Die  erhaltenen 
Codd.  zerfallen  in  alte  und  interpolierte;  von  den  alten  sind  die  besten  (die  T.  Mommsen 
zuerst  herangezogen  hat),  zugleich  jeder  Vertreter  einer  eigenen  Rezension:  A  =  Ambros. 
s.  Xn  (davon  ist  der  Vratislav.  eine  Abschrift),  der  nur  die  Olympien  enthält,  mit  den  ScÜol. 
Ambros.;  B  =  Vatic.  sive  liber  Ursini  s.  XII,  alle  Epinikien  mit  den  Schol.  Vatic.  ent- 
haltend. Das  Verhältnis  der  Codd.  ist  klargelegt  von  T.  Mommsen  in  der  großen  kritischen 
Ausg..  Berol.  1864;  Nachträge  von  E.  Abel,  Zur  Handschriftenkunde  Pindars,  Wiener  Stud. 
4  (1882)  224—62;  0.  Schböder,  Ziu-  Genealogie  der  Handschriften  Pindars,  Philol.  56  (1897) 
78  ff.  und  Ausgabe  (=  5.  Aufl.  von  Th.  Beroks  Poetae  lyr.  Gr.  II,  Leipz.  1900).  Neue 
Fragmente  in  Oxyrhynch.  pap.  IE  nr.  408  u.  426,  IV  nr.  659  u.  V  p.  11  ff. 

Ausgaben  und  Hilfsmittel :  ed.  princ.ap.  Aldum  Venetiisl513,  editio  Romana  des  Calliergis 
mit  den  Scholien  1515.  —  ed.  Er.  Schmid,  Wittenberg  1616,  mit  vielen  guten  Emendationen. 
—  ed.  Chr.  G.  Heyne  mit  lat.  Übersetzung  und  Kommentar,  Gott.  1778.  74,  neu  bearbeitet  von 
G.  Hermann,  Lips.  1817.  —  Hauptausg.  von  A.  Böokh,  Berol.  1811—21,  3  tomi  in  4^  mit  Scholien, 
metrischer  Erläuterung  und  erklärendem  Kommentar  (letzterer  teilweise  von  L.  Dissen).  — 
Kleinere  Ausg.  mit  lat.  Kommentar  von  L.  Dissen,  Gotha  (1830).  bearb.  von  F.  W.  Schneidewin, 
Gotha  1843—50,2 Bde.  —  Pindari carmina prolegomenis  et  commentariis instructa ed.  W.Christ, 
Lips.  1896.  —  Die  Konjekturalkritik  glänzend  gefördert,  nicht  ohne  übertriebene  Kühnheit 
von  Th.  Berok  in  PLG I,  namentlich  ed.  IV  (Lips.  1878) ;  eine  5.  Aufl.  ganz  neu  bearbeitet  von 

0.  Schröder  1900.  -  Textausg.  von  W.  Christ  in  Bibl.  Teubn.  2.  Aufl.  1896.  —  Pindars 
Siegeslieder  erklärt  von  F.  Mezoer,  Leipz.  1880.  —  Pindars  ol3rmp.  Siegesgesänge,  griech.  und 
deutsch  von  M.  Schmidt,  Jena  1869.  —  Pindar  olymp.  and  pyth.  Od.  by  B.  L.  Gildersleeve, 
Newyork  1885  (2.  ed.  London  1892).  —  Pindars  sizilische  Oden  von  Ed.  Böhmer,  Bonn  1891.  — 
J.  Rukpel,  Lexicon  Pindaricum,  Lips.  1883.  —  Übersetzung  mit  guten  Einleitungen  von 
Fr.  Thiersch,  Leipz.  1820,  2  Bde;  Le  odi  di  Pindaro,  dichiarate  e  tradotte  da  G.  Fra^gcaroli, 
Verona  1894.  Weitere  Litteratur  in  den  Ausgaben  von  W.  Christ  praef.  XII  f.  und  0. 
Schröder  p.  78.  Letzter  Jahresbericht  von  L.  Bornemann  im  Jahresber.  über  die  Fortschr. 
der  klass.  Altert. wiss.  1903,  2  p.  110  ff. 

Die  attischen  Lyriker. 

139.  Vom  5.  Jahrhundert  an  tritt  die  lyrische  Dichtung  mehr  und 
mehr  zurück.  Zwar  bleiben  die  äußeren  Anlässe  zum  Vortrag  von  Ge- 
sängen, die  Götterfeste,  die  Symposien,  die  Wechselfälle  des  Lebens,  be- 
sonders des  erotischen,^)  die  poetischen  Widerhall  locken;  und  wenn  die 
Siegesgesänge  verstummen,  so  weckt  der  Ehrgeiz  politisch  hervortretender 
Männer  eine  jenen  geistig  verwandte  Art  von  Lobgesängen  zur  Verherr- 
lichung Lebender,  wie  denn  Kimon  und  besonders  Lysandros  sich  um  die 
Wette  ansingen  ließen.*)  Aber  bei  den  Symposien  zehrt  man  nur  vom 
Erbe  der  älteren  Zeit,^)  deren  Erzeugnisse  in  Kommersbüchern  gesammelt 
werden  (Skolienbuch,  Theognis),  und  die  sophistisch  gebildete  Jugend  des 
perikleisehen  Alters  fing  an  das  Singen  beim  Gelage  überhaupt  altmodisch 
zu  finden;  in  philosophischen  Kreisen  ist  es  tatsächlich  durch  den  Agon 
in   prosaischer  Rede,   den   uns   die   Symposien  des   Piaton   und  Xenophon 

^)  Siehe  z.  6.  Plat.  Lys.  204  d;  Aeschin.   1   stides  fand  einen  Lobsänger  in  dem  Rhodier 

1,  41.  185.  !  Timokreon  (Plut.  Them.  21). 
')  EimoD  durch  Melanthios  u.  den  Philo-  ')  Ar.  nub.  1355  ff.;  Antiphan.  fr.  85 K.; 


sophen  Archelaos  Plut.  Cim.  4;  über  Lysan- 
dros Plut  Lys.  18.    Auch  der  gerechte  Ari- 


Eupol.  fr.  139  K. 


236  Ghriechische  Litteratorgeschiohte.    I.  KlaMuche  PeriodA. 

schildern,  verdrängt  worden.  Die  reich  entwickelten  rhythmischen  Formen 
der  äolodorischen  Lyrik  schrumpfen  allmählich  zusanmien,  wie  anch  im 
Drama  der  Chorgesang  immer  mehr  Nebensache  wird;  die  Oberhand  ge- 
winnt die  bequeme  ionische  Form  des  daktylischen  Distichons,  in  der  nun 
jeder  Gebildete  Elegien  und  Epigramme  mit  mehr  oder  weniger  Gtoist  zu 
dichten  versteht;  vulgärere  Formen  ionischer  Poesie  treten  erst  mit  der 
lonikologie  und  Kinaidologie  der  hellenistischen  Zeit  in  die  Litteratur  ein. 
Das  Vorwalten  dieser  ionischen  Form  ist  aber  nur  Symptom  für  den  Sieg 
des  durch  die  Sophistik  vertretenen  ionischen  Oeistes  der  rationalistischen 
Aufklärung.  Der  Geist  der  Sophistik  und  der  Aufschwung  des  attischen 
Dramas  sind  für  die  Gestaltung  der  attischen  Lyrik  des  5.  und  4.  Jahr- 
hunderts die  ausschlaggebenden  Faktoren.  Die  Fülle  neuer  Aufgaben  der 
inneren  und  äußeren  Politik,  die  der  Ausbau  der  attischen  Demokratie 
und  des  Seebundreiches  mit  sich  bringt,  rufen  zu  praktischer  Betätigung, 
für  welche  die  Sophistik  die  zu  sicherem  Erfolg  führende  Methode  zu  lehren 
verspricht.  Damit  wird  dem  beschaulich-ästhetischen  Verhalten  zur  Welt,  der 
für  lyrische  Ergießung  eine  Voraussetzung  bildet,  der  Boden  entzogen,  und 
auch  der  Ausdruck  spontaner  Leidenschaft  ist  wider  den  Geist  der  Sophistik, 
die  in  der  Form  das  Gewaltsame  und  Ungezügelte  auszuschalten  sich  bemüht, 
das  Instinktive  verdächtigt.  Es  ist  bezeichnend,  daß  Themistokles,  wenn 
auch  kein  Schüler,  so  doch  ein  Geistesverwandter  der  Sophistik,  der  Lyrik 
und  Musik  völlig  abgeneigt  war.^)  In  dieser  Zeit  wurde  die  Frage  er- 
hoben, ob  die  ethische  Wirkung  der  Musik,  an  welche  das  alte  Griechen- 
land fest  geglaubt  hatte,  nicht  reine  Illusion  sei.*)  Das  Werk  der  Sophistik 
ist  die  Kunstprosa:  sie  sucht  sich  der  erfahrungsgemäß  vorhandenen  Über- 
redungskraft, die  der  poetischen  Darstellung  durch  ihren  sinnlichen  Glanz 
beiwohnt,  für  ihre  egoistisch-praktischen  Zwecke  zu  bemächtigen  und 
arbeitet  im  übrigen  mit  Bewußtsein  auf  Verdrängung  der  Poesie  hin.*) 

Wirkte  die  Konkurrenz  von  sophistischer  Seite  schädigend  auf  den 
Sinn  für  lyrische  Poesie  und  damit,  da  die  lyrische  Erregung  Wurzel  aller 
wahren  Dichtung  ist,  überhaupt  auf  den  Sinn  für  Poesie,  so  drängte  das 
attische  Drama  die  zeitgenössische  Lyrik  auf  neue,  bedenkliche  Bahnen. 
Die  Tragödie  war  aus  dem  Dithyrambus  hervorgewachsen,  die  Komödie 
hatte  den  Spottgeist  der  lambographie  in  sich  aufgenommen.  Damit  waren 
die  älteren  Gattungen  in  den  Schatten  gestellt,  zumal  dem  Drama  unendlich 
reichere  Darstellungsmittel  als  ihnen  zur  Verfügung  standen.  Nun  blieb 
aber  der  Ditliyrambenagon  ein  fester  Bestandteil  der  städtischen  Dionysien 
in  Athen, ^)  wo  er,  in  unmittelbarer  Nachbarschaft  neben  der  tatsächlich  über 
ihn  hinausgewachsenen  Tragödie,  künstlerisch  einen  schwierigen  Stand  hatte, 

^)  Philodem,   de  mus.  p.  76  XI  38  mit  1   Verteidigangsschrift  zugonsten  der  ethischea 

Kemken  Note.  Bedeutung  der  Musik,  deren  TatsächlicIlkeR 

*)  Unsere  Hauptquelle   für  diese  in  die  Piaton  und  Aristoteles  voraussetzen. 

Sophistenzeit  zurückreichende  Kontroverse  ist  ■           *)  Aristot.  rhet.  III  p.  1404a  24  ff.;  Isoer. 


Philodems  Schrift  über  die  Musik  (H.  Abbrt, 

Lehre  v.  Ethos  38  ff.,  48),  der  neuerdings  das 

interessante  alte  Fragment  Hibeh  papyri  n.  13 

(geschrieben  zwischen  280  und  240  v.  Chr.)    I   Micqel,  Recueil  nr.  915 — 935. 

zur  Seite  tritt.    Dämon  schrieb  damals  seine   ; 


9,  8  ff.;     für    spätere    Zeit    vgl.   E.   Rohdb, 
Griech.  Rom.'  357.  2;  Julian,  or.  I  p.  2ab. 
)  Vgl.  die  Inschriften  s.  VI— I V  bei  Ch. 


B.  Lyrik.    IL  Chorlyrik.    Die  attischen  Lyriker.    (§  140.) 


237 


ähnlich  wie  das  Oratorium  neben  der  Oper.  Der  neue  Dithyrambus,  dessen 
Begründer  Lasos  von  Hermione  gewesen  zu  sein  scheint,  legt  nun,  um 
sich  durch  Eigenartigkeit  seine  künstlerische  Existenzberechtigung  als 
Gattung  zu  erhalten,  überwiegenden  Nachdruck  auf  das  Musikalische,  trotz 
aller  Proteste  der  künstlerisch  Konservativen. ')  Die  alte  strophische  Bin- 
dung wurde  aufgegeben,*)  der  Sprach text  in  der  musikalischen  Kom- 
position mit  früher  unerhörter  Willkürlichkeit  rhythmisiert,  der  vokale  Teil 
dem  instrumentalen  gegenüber  derart  zurückgedrängt,  daß  man  von  einem 
Auletenkonzert  mit  Chorbegleitung  sprechen  kann,  wobei  nach  der  Weise 
der  griechischen  Instrumentalmusik  die  Tonmalerei  auf  das  äußerste  ge- 
steigert wurde;*)  gewaltsame,  unerhörte  modulatorische  Effekte  wurden 
gesucht,  Sologesänge  in  den  Chor  eingelegt,*)  die  Sprache  durch  kühne  Zu- 
sammensetzungen ins  Auffallende  gesteigert;^)  das  Gewagteste  aber  war, 
daß  nun  auch  im  Vortrag  eine  Art  symbolisch  nachmalender  Mimik  ein- 
geführt wurde,  in  die  sich  Aulet  und  Chorführer  geteilt  zu  haben  scheinen.«) 
Diese  Neuerungen  einer  dekadenten  und  nervös  überreizten  Richtung  wirkten 
auch  auf  die  Nomenpoesie')  und  auf  die  jüngere  Tragödie*)  hinüber. 

140.  Der  neue  Dithyrambus  blühte  in  Athen,^)  wo  am  Ostabhang  der 
Akropolis  gegen  440  Perikles  für  lyrisch-musikalische  Produktionen  einen 


*)  Gegen  diese  Verkehrung  der  natür- 
lichen Verhältnisse  eifert  Pratinas  in  dem 
dorch  Ath.  617  h  erhaltenen  Hyporchem  aus 
einem  Satyrspiel :  zav  dotSav  xaieoiaae  Thrgig 
ßaoiksiav  xrk.  Damit  verbinde  man  die  Angabe 
des  Flut,  de  mus.  30,  daß  bis  auf  Melanip- 
pides  die  Flötenspieler  vom  Dichter  den  Lohn 
empfingen,  nachher  umgekehrt,  weshalb  auch 
in  didaskalischen  Urkunden  der  Flötist  vor 
dem  Chorodidaskalos  genannt  ist  (E.  Rbisoh, 
De  mnsicis  Graecor.  certaminibus,  Wien  1885, 
28  t).  Lucian.  de  salt.  2  erwähnt  die  Auffilh- 
nmg  von  Dithyramben  geradezu  unter  dem 
Namen  xvxXixwv  avlrjtwv.  Die  Stellen,  in  denen 
Angriffe  auf  den  neuen  Dithyrambus  enthalten 
sind,  sammelt  M.  Schmidt,  Diatribe  in  dithy- 
rambum,  ßerl.  1845, 252  ff.  (Hauptstelle  Phere- 
crat.  fr.  145  K.) ;  auch  Piaton  Gorg.  502  a  ff.  ver- 
wirft ihn  schroff.  Das  einzelne  s.  0.  Cbusiüs. 
Realenc.  V  1222  f. 

*)  Ps.Aristot  probl.  19,  15  p.  918b  18  ff., 
wo  diese  Neuerung  mit  dem  mimetischen 
Charakter  des  jüngeren  Dithyrambus  in  Zu- 
sammenhang gebracht  wird. 

»)  Plat.  reip.  III  394  c.  396  b  {lijioi  xQf- 
/leriCovreg,  tavgoi  /ivxw/nevoi,  jtoiafioi  rpoqovv- 
reg,  ^aXaaoa  xtimovoa).  397  a;  auf  das  die 
Einheit  der  Melodie  zersplitternde  kleinliche 
Nachmalen  des  Textes  durch  die  Musik  be- 
zieht sich  auch  das  xaiaxegfiaTtuEiv  trjv  /nov- 
oixify  Aristox.  bei  Flut,  de  mus.  30  extr.  Als 
Urheber  derartiger  Mimetik  werden  der  ka- 
tanäische  Aulet  Andren  (Theophr.  bei  Ath. 
I  22c)  und  der  böotische  Pronomos  (Fausan. 
IK  22,  5)  genannt;  über  diesen  s.  a.  Ath.  XIV 
631  e  f.,  wo  auch  die  Klage  des  Aristoxenos 
Ober  die  Musikverderbnis  des  4.  Jahrhunderts 


erhalten  ist. 

*)  Plut.  de  mus.  30. 

«)  Aristot.  rhet.  1406b  1;  poöt.  1459a  9. 

«)  Aristot.  po6t.  1461b  32  ff.  Ps.Aristot. 
probl.  19, 15.  Dio  Chr.  78, 32.  Hör.  a.  p.  214  f. 
Im  ganzen  s.  Th.  Gompbrz,  Jahrbb.  f.  cl. 
Fhüol.  133  (1886)  771  ff.  und  MitteU.  aus  der 
Sammlung  der  Papyrus  Erzh.  Rainer  I,  Wien 
1887,  86  ff.  W.  ScHMiD,  Zur  Gesch.  des  griech. 
Dithyr.  7  f. 

^)  Timotheos  zog  auch  zum  Vortrag  des 
Nomos  einen  Chor  heran  (Clem.  AI.  Strom. 
I  p.  865  F.).  Nach  Flut,  de  mus.  4  behielt  Ti- 
motheos in  seinen  ersten  röftoi  den  alten 
daktylischen  Rhythmus  bei  zu  dithyrambi- 
scher Sprache,  änderte  aber  später  auch  den 
Rhythmus,  wie  wir  jetzt  an  seinen  Persem 
sehen.  Von  xatvoirjg  rib  fji/.tog  dye^'vffs  redet 
das  gefälschte  lakonische  Dekret  bei  Boetius, 
das  WiLAMOWiTZ  (Timoth.  Fers.  70)  in  das 
2.  Jahrh.  v.  Chr.  setzen  will.  In  den  musi- 
kalischen Neuerungen  handelt  es  sich  um 
starken  Wechsel  der  Tonarten  und  ausgiebi- 
gen Gebrauch  der  Chromatik  anstatt  der  alten 
Diatonik  und  Enharmonik.  also  analoge  Dinge, 
wie  die  sind,  um  derenwillen  die  Wagnersche 
Musik  viel  getadelt  worden  ist  (H.  Abebt, 
Lehre  vom  Ethos  105  ff..  113  ff.). 

^)  J.  EsTEVE,  Les  innovations  musicales 
dans  la  trag^die  grecque  ä  l'öpoque  d*Euri- 
pide.     Paris  1902. 

9)  F.W.L.E.LüTCKE,  De  Graecor.  dithy- 
rambis  et  poetis  dithyrambicis,  Berlin  1829: 
M.  Schmidt,  Diatribe  in  dithyrambum,  Berlin 
1845;  E.  ScHEiBEL,  De  dithyramborum  graec. 
argumentis,  Liegnitz  1862. 


238  Griechische  Litteraturgeechichte.    I.  Klaflsische  Periode. 

eigenen  überwölbten  Rundbau,  das  cAdeiov,  gebaut  hatte.  Hier  erfreuten 
sich^  die  chorischen  Aufführungen,  insbesondere  die  Dithyramben,  grofier 
Beliebtheit.  Kyklische  Chöre  sangen  nicht  bloß  an  den  großen  Dionysien, 
an  denen  der  lyrische  Agon  seit  508  (erster  Sieger  Hypodikos  von  Chalkis)*) 
eingerichtet  ist,  sondern  auch  an  den  Thargelien,  Prometheen,  Hephaistien 
und  Panathenaien;*)  bei  den  großen  Dionysien  wurde  der  Sieger  im  Dithy- 
rambus sogar  mit  einem  höheren  Preis  als  der  Sieger  im  Drama  geehrt, 
indem  ihm  ein  mit  großem  Prunk  aufzustellender  Dreifuß  (TQmavgY)  ge- 
geben wurde.  Im  übrigen  können  wir  uns  von  keinem  Teil  der  alten 
Poesie  weniger  eine  klare  Vorstellung  machen  als  von  dem  attischen  Dithy- 
rambus. Es  sind  uns  eben  aus  dem  Altertum  überhaupt  so  gut  wie  gar 
keine  Melodienreste  erhalten;  unrichtig  aber  ist  die  Meinung,  als  wäre 
dem  Text  dieser  Kompositionen  gegenüber  der  Musik  eine  untergeordnete 
Bedeutung  beigelegt  worden.  Der  älteste  auf  uns  gekommene  litterarische 
Papyrus  (aus  dem  4.  Jahrhundert  v.  Chr.),  der  die  Perser  des  Timotheos 
ohne  Musiknoten  und  ohne  rhythmische  Gliederung  enthält,  zeigt,  wie  früh 
schon  diese  Dichtungen  auch  bloß  gelesen  wurden. 

141.  Lasos  von  Hermione  in  Argolis,  der  am  Hof  des  Hipparchos 
lebte  (Herod.  VII  6),  wird  als  Lehrer  Pindars  bezeichnet.  Nach  Suidas 
hat  er  zuerst  ein  theoretisches  Buch  über  Musik  geschrieben  und  den 
Dithyrambus  in  die  athenischen  Wettkämpfe  eingeführt,  wobei  unklar 
bleibt,  ob  er  zu  dem  Sieg  dos  Hypodikos  a.  508  in  Beziehung  stand.  Auf 
einen  Wettstreit  des  Lasos  mit  Simonides  und  die  Niederlage  des  ersteren 
spielt  Aristophanes  vesp.  1410  an.  In  der  Musik  begründete  er  die  neue 
dithyrambische  Weise,  indem  er  in  Rhythmus  und  Melodie  die  altertüm- 
liche Einfachheit  und  Strenge  der  terpandrischen  Hymnenpoesie  verließ 
und  im  Einklang  mit  dem  größeren  Tönereichtum  des  Aulos  mannigfaltigere 
und  in  weiter  auseinanderliegenden  Tönen  sich  bewegende  Weisen  ein- 
führte.^) Von  einigen  ward  er  (Schol.  Arist.  av.  1403)  Erfinder  des  Dithy- 
rambus genannt.  In  Erinnerung  blieb  eine  Spielerei  von  ihm,  ein  Lied 
ohne  o  {äoiyf.ioq  (o^i^iY)  mit  dem  Titel  Khxavooi^  also  wohl  ein  Dithyrambus. 
Von  Titeln  seiner  Gedichte  wird   sonst   genannt  ein  Hymnus  auf  die  De- 

*)  Den  Einfluß  des  Dithyrambus  auf  die  |    uTtr  dk  rrotfjT(7)v  ko  ukr  ztQioioy   ßovg  istadkov 

bildende  Kunst   sucht   besonders   in   Fällen.  ^)r,    no   lif   ()FrTFno}   diKfOQevg,    up   dr^  rgm/ß 

wo    man    sonst    Beeinflussung    seitens    der  ToaytK,  nv  jovyi  >cFyntafih'or  ihifjym'.   Ähnlich 

Tragödie    angenommen   hatte,    G.  E.  Rizzo.  Schol.  Find.  0.  13,  25. 

Riv.  di  filol.  30  (1902)  447  ff.  nachzuweisen.  *)  Plut.  de  mus.  29:  eig  t;;v  di^vgaftßixrfv 

")  Mann.  Par.  ep.  46.  dyojyijr  nFmorf/oa^  torg  ^vOfiovg   xai  rfj  T(by 

*)   W.  DiTTENBERGER.  SvH.*,  Leipz.  1900.  ar/Aor  nokvqiorln    y.aTaxoXovOijoag   JtXeioai  re 

Ol.  nr.  712.  <f-06yyoi^    xal    (iiFooiftfisrotc:    (d.  h.  woU:    in 

■*)  Die  Tripodenstraßo  östlich  der  Akro-  keine  der  sanktionierten  Tonleitern  sich  ein- 
polis  hatte  ihren  Namen  von  den  auf  präch-  fügend)  yotindftFvog  fU  fteidOsaiv  rrfv  ;rßof»- 
tigen  Postamenten  hier  aufgestellten  Drei-  .läoyovoav  tjyaye  /tovotx/jr.  Siehe  Wml- 
füiscn.  deren  einem  das  Lysikratesdenkmal  REiNAcn  z.  d.  St.,  die  sich  aber  nicht  daran 
als  Basis  diente.  Von  Dithyrarabenwett-  stoßen  durften,  daß  Bakchylides  diese  Neue- 
kämpfen und  dabei  gewonnenen  Siegen  geben  :  rung  nicht  mitgemacht  hat. 
Inschiiften  Kenntnis;  s.  CIA  I  nr.'336.  837.  '  «)  Pind.  fr.  79a;  Clearch.  bei  Ath.  X 
11  nr.  1284—1299,  Dittenbeboer,  Syll.^  701  455 c;  Dionys.  Hai.  de  comp.  verb.  14  p.  55, 1 
bis728;  vgl.E.REiscH,  De  musicis  Graecorum  üs.  Es  handelt  sich  um  eine  Leistung  in 
certaminibus  p.  82  ff.  Über  den  Preis  der  einem  Scherzagon  (j'oivos),  an  deren  Histo- 
alten  Zeit  berichtet  Schol.  Plat.  reip.  111394  c:  rizität  man  nicht  zu  zweifeln  braucht 


B.  Lyrik.    II.  Ghorlyrik.    Die  attischen  Lyriker.    (§  141.)  239 

meter  von  Hermione,  den  Herakleides  Pontikos  noch  kannte.  Chamaileon 
schrieb  eine  Monographie  über  Lasos. 

Von  dem  Dithyrambiker  Lamprokles  aus  Athen  rühmt  Aristophanes 
in  den  Wolken  967  ein  Loblied  auf  Pallas  in  enoplischem  Rhythmus,  das 
schon  bei  dem  Tragiker  (?)  Phrynichos  angezogen  war. 

Auch  von  einigen  der  großen  Tragiker  des  5.  Jahrhunderts  gab  es 
chorlyrische  Kompositionen,  zwar  nicht  von  Aischylos,  der  an  Lyrischem 
nur  Elegien  gedichtet  zu  haben  scheint  (s.  o.  S.  206,  6),  aber  von  Sophokles 
einen  Paian  (PL6  II*  245  f.)  auf  Asklepios,  von  Ion  von  Chios  Dithyramben, 
Hymnen,  ein  Enkomion  auf  Skythines  (ibid.  255  flf.),  von  Phrynichos 
einen  Hymnus  auf  Pallas  (ibid.  IIP  561),  von  Euripides  ein  Siegeslied 
auf  Alkibiades  (ibid.  H  266). 

Diagoras*)  6  ä&eog  aus  Melos,  der  nach  421  als  Gesetzgeber  in 
Mantineia,  etwa  seit  418  in  Athen  wirkte,  ist  in  weiteren  Kreisen  durch 
den  Volksbeschluß  der  Athener  (414),  der  ihn  als  Gottesleugner  aus  der 
Stadt  verjagte,  bekannt  geworden.  Der  von  Philodemos  uns  erhaltene 
Vers  deög  ^eög  Jigö  naviog  egyov  ßgoxelov  vojjua  cpQev  vTiegidiay  w^ill  zu 
dieser  Anklage  nicht  stimmen. 

Melanippides  aus  Melos^)  hat  die  neue  Richtung  des  Dithyrambus 
mit  den  langen  Introduktionen  (ävaßoXai)  und  fremdartigen  Stoffen  inau- 
guriert (Pherekrates  bei  Plut.  de  mus.  30).  Gegen  Ende  des  4.  Jahrhunderts 
galt  er  nach  Xenophon  Mem.  I  4,  3  als  der  berühmteste  Meister  seines 
Faches.  Er  ward  an  den  Hof  des  Königs  Perdikkas  II  von  Makedonien 
berufen,  wo  er  vor  413  starb.  Von  nur  wenigen  seiner  Dithyramben,  wie 
Javatdsg,  UeQoeqpovrj,  Magovag  haben  sich  Titel  und  Bruchstücke  erhalten. 
In  einem  Fragment  des  Marsyas  wirft  die  Göttin  Athene  die  Flöte  weg, 
weil  sie  die  Schönheit  des  Körpers  entstelle; 3)  in  der  Persephone  ver- 
abscheuen die  Menschen  das  Wasser,  nachdem  sie  die  Gottesgabe  des 
Weins  kennen  gelernt. 

Kinesias,  Sohn  des  Kitharoden  Meles  von  Athen,  gehörte  schon 
ganz  der  neuen  Richtung  der  Musik  an;  er  war  die  Zielscheibe  des  Spottes 
der  Komiker  wegen  seiner  dürren  Gestalt  und  seiner  neumodischen  Ka- 
denzen,*) konnte  sich  aber  als  xuxhodiddoxaXog  cpvkaig  jiegijudxrjiog  rühmen 
(Ar.  av.  1372).  Der  Grund,  aus  dem  die  attischen  Komiker  so  sehr  gerade 
über  ihn  herfallen,  ist  vielleicht,  daß  er  unter  diesen  Kunstverderbern  der 
einzige  geborene  Attiker  ist.  Zwei  Dithyramben  von  ihm  {^Aoxh]m6g  und 
AxdXevg)  sind  noch  erkennbar,  und  inschriftlich  erhalten  ist  der  Anfang 
eines  von  ihm  beantragten  Volksbeschlusses  zugunsten  des  Tyrannen 
Dionysios  a.  393,  zu  dem  er  also  wohl  Beziehungen  gehabt  hat.^) 

*)  Siudasu./imyoßas;Ps.Lysias6,7;  Arist.  I  Marsyas  schlägt,  bei  Paus.  I  24,  1. 

ran.  320;  av.  1071  und  die  alten  Scholien  zur  *)  Aristoph.  av.  1372;  pac.  832:  Pherecr. 

letzten  Stelle;  vgl.  Wilamowitz,  Textgescli.  !  fr.  145,  8K.     Hart   ui-teilen  über  ihn  Piaton 

d.  grieeh.  Lyr.  80  ff.  1  Gorg.  p.  501e    und  Lysias  fr.  143  Thalh.  in 

•)  Ein  Irrtum  liegt  vor  bei  Suidas,   der  '  einer  gegen  ihn  gerichteten  Paronomenrede, 

zwei  Melanippides,   einen  älteren   und  einen  über  die  s.  F.  Blass,  Att.  Bereds.  ^^  Leipz. 

jflDgeren,    unterscheidet:    es    gab    nur    den  1  1887,  621.   Das  Material  über  ihn  s.  A.  Mbi- 

Jüngeren*,  E.  Rohdb,  Kl.  Sehr.  1  170  ff.  '  neke,  Bist.  crit.  com.,  Berl.  1839,  227  ff.  und 

')  Die  gleiche  Anschauung  in  dem  Weih-  1  Th.  Eock  zu  Ar.  ran.  153. 

geschenk    der    AkropoUs,    wo    Athene    den  |  ^)  CIA  II  8. 


240  Oriechische  Litteratorgeschichte.    L  KlaMÜohe  Periode« 

Antigenes  ist  uns  als  Dithyrambendichter  bekannt  durch  das  Epi- 
gramm Anth.  Pal.  Xm  28,  das  er  zum  Andenken  eines  von  ihm  errungenen 
Sieges  auf  den  der  Gottheit  geweihten  Dreifuß  setzte. i)  Da  in  der  versi- 
fizierten  Didaskalie  neben  dem  Dichter-Didaskalos  auch  noch  der  Flöten- 
spieler Ariston  aus  Argos  genannt  ist,  so  kann  er  kaum  vor  Mitte  des 
5.  Jahrhunderts  gelebt  haben. 

Philoxenos  aus  Kythera,  Sohn  des  Eulytidas  (435 — 380  nach  Marm. 
Par.  ep.  69),  kam  nach  Einnahme  seiner  Heimatinsel  424  als  Kriegsgefan- 
gener nach  Athen,  wo  er  zunächst  Sklave  eines  gewissen  Agesylos  wurde, 
der  ihn  erziehen  ließ  und  Mvofirj^  nannte.*)  Dann  ging  er  in  den  Besitz 
des  Melanippides  über.  Da  ihn  Aristophanes  (Plut.  296  ff.)  parodiert,  muß 
er  wohl  auch  in  Athen  aufgeführt  haben.  Weiterhin  lebte  er  längere  Zeit 
am  Hof  des  älteren  Dionysios  in  Syrakus,  den  er  durch  sein  freimütiges 
Urteil  über  dessen  schlechte  Gedichte  reizte  (Diodor  XV  6).  Noch  heute 
erinnert  an  ihn  die  Latomia  del  filosofo  bei  Syrakus.  Er  soll  sich  darauf 
nach  Tarent^)  oder  Kreta*)  zurückgezogen  haben  und  in  Ephesos*)  gestorben 
sein.  Von  seinen  vierund zwanzig  Dithyramben,  die  bei  gleichen  Toojtot 
sich  im  Charakter  von  den  pindarischen  stark  unterschieden,«)  war  am 
berühmtesten  der  Kvxkmii^  in  dem  der  Kyklop  ein  schmachtendes  Liebes- 
lied auf  die  schöne  Galateia  sang.  In  Konkurrenz  mit  den  gleichnamigen 
Dithyramben  des  jüngeren  Stesichoros  und  des  Oiniades  ist  der  Kyklop 
des  Philoxenos  vor  König  Philippos  von  Makedonien  aufgeführt  worden.*^ 
Auch  Timotheos  hat  diesen  Gegenstand  behandelt.  Es  ist  der  erste  buko- 
lische Dithyrambus,  der  der  späteren  bukolischen  Poesie  wichtige  Anregung 
gegeben  zu  haben  scheint.®)  Die  umfänglichen  Fragmente  von  der  Be- 
schreibung eines  schlemmerischen  Mahles  {AeTttvov)  können  aus  keinem 
Dithyrambus  stammen,  sondern  sind  wohl  schon  im  Altertum  mit  Recht 
(Ath.  146  f.)  dem  Philoxenos  aus  Leukas  zugeschrieben  worden.®)  Die 
Dithyramben  dos  Philoxenos  standen  in  hohen  Ehren'®)  und  wurden  noch 
zur  Zeit  des  Polybios  (IV  20,  8)  zusammen  mit  denen  des  Timotheos  all- 
jährlich von  den  Arkadern  im  Theater  aufgeführt.  —  Auch  der  böotische 
Aulode  Antigenidas,  dessen  sich  Philoxenos  bediente,  wird  bei  Suidas 
s.  V.  als  Verfasser  von  lÄtXr]  genannt. 


»)  Vgl.WiLAMowiTZ,Herin.20(1885)62ff.  '   aus  Ph.    Verg.  ecl.  2,  17  ff.  geht  uomittelbar 

^)  Vgl.  Pherecrat.  com.  fr.  14t>,22K.  (mit  '   auf  Theoer.  11    zurück,    ebenso,   aber   ver- 

KocKS  Note),   wo   dem  Timotheos  seine  fx-  breiternd.  Ov.  met.  XIII  778  ff.  In  der  Kaiser- 

ToanFKOi  ftvoNijxiai  vorgeworfen  werden.  !   zeit  ist  der  Stoff  zu  Couplets  und  Balleiten 

')  So  Suid.  8.  ^Pdo^n'ov  yQafiftdjoyv.  benützt  worden  (Hör.  sat  I  5,  63). 

*)  So  Schol.  Aristid.  p.  688,  23  Dind.  *)  Wilamowitz,  Teztgesch.  der  gr.  Lyr. 

^)  Suid. ;  auf  den  Aufenthalt  in  Ephesos  >   85  ff.  verweist  sie  in  ein  opsartjtisches  Oe- 

bezieht  sich  die  Anekdote  Ath.  I  6  a.  dicht. 

«)  Philod.  de  mus.  fr.  18  K.  »o)  Antiphanes  fr.  209  K.   Aber  verspottet 

")  Didym.  ad  Demosth.  Philipp,  col.  12.  61  wird  Philoxenos  von  dem  Feind  der  neuen 

(Berliner  Klassikertexte  I).  Musik,  von  Aristoph.  Plut.  290;  über  die  Frei- 

*)  E.  RoiiDE,  Gr.  Rom.*  588  f.  Callimach.  heit   des   Tonarten-   und   Rhythroenwechsels 

ep.  46  WiL.  kennt  den  Kyklops.  Theociit.  id.  vgl.  Dionys.   de  comp.  verb.  19  p.  85, 18  ff. 

11  ahmt  ihn  nach  (Schol.  Ar.  Plut.  290  und  Us.   Von  dem  naturwidrigen  Versuch  des  Ph., 

Theoer.  11,  1    behaupten  satirische  Tendenz  einen  Dithyrambus   in   dorischer  statt  phry- 

von   Philoxenos'  K.   gegen   Dionysios).    Th.  gischer  Tonart  zu  setzen,  spricht  Aristot.  pol. 

Bkrgk  vermutet,  auch  Synes.  ep.  121  schöpfe  1842  b  9. 


B.  Lyrik.    II.  Chorlyrik.    Die  attischen  Lyriker.    (§  141.)  241 

Timotfaeos,  Sohn  des  Thersandros  ausMilet,*)  der  gefeiertste  Musiker 
und  Nomendichter  seiner  Zeit,  war  ein  Schüler  des  Phrynis  von  Mytilene, 
der  vermutlich  der  eigentliche  Neuerer  in  der  Nomenkomposition  ist,  in- 
sofern er  die  epischen  Texte  durch  eigene  ersetzt  hat.^)  Aristoteles 
metaph,  p.  993b  15  berührt  das  Verhältnis  zwischen  beiden:  et  jxev  yaQ 
Tt/xadeog  jui]  iyeveTO,  7ioXki]v  äv  jueXojiouav  ovx  eixouev'  et  dk  jui]  0gvvig, 
Tijuöi^eog  ovx  äv  iyevero.  Er  lebte  frühstens  453 — 363,  spätestens  448  bis 
358.*)  Der  Schauplatz  seiner  Tätigkeit  war  vor  allem  Athen,  aber  auch 
am  Hof  des  makedonischen  Königs  Archelaos,  in  Ephesos,  Sparta  und  in 
seiner  Vaterstadt  trat  er  mit  seinen  Produktionen  auf.  In  Sparta  wollte 
man  von  seinen  Neuerungen  nichts  wissen,  so  daß  ihm  die  Ephoren  die 
vier  neuen  Saiten  seiner  elfsaitigen  Lyra  abgeschnitten  haben  sollen.**)  Für 
Ephesos  verfaßte  er  c.  395  einen  Artemishymnus. ^)  Von  einem  Sieg  über 
seinen  Lehrer  Phrynis  redet  er  selbst  (fr.  27  Wil.);  aber  auch  er  ist  ein- 
mal von  seinem  Schüler  Philotas  besiegt  worden  (Ath.  352  b).  Hochbetagt 
starb  er  in  Makedonien.  Ein  erschöpfendes  Urteil  über  seine  Leistungen 
ist  uns  heute  nicht  mehr  möglich;  denn  seine  Stärke  lag  in  den  Melodien, 
die  verloren  gegangen  sind.^j  Das  Altertum  hatte  von  ihm  achtzehn 
Bücher  vo/iot,  jigoot/ua,  18  didyga/ußoi,"*)  vjiivoi  (erhalten  zwei  Fragmente  des 
Artemishymnus  für  Ephesos),  iyxivjuia.  Von  diesen  Dichtungen  ist  ein 
Stück,  ein  kitharodischer  Nomos,  Persai  betitelt,  1902  aus  einem  Grab 
Ägyptens  bei  Abusir  (Busiris)  ans  Tageslicht  gebracht  worden.^)  Er  be- 
zieht sich  auf  den  Sieg  der  Hellenen  bei  Salamis.  Der  Anfang  ist  ver- 
loren gegangen,  der  erhaltene  Teil  {dficpakog,  n(pQayig  und  imXoyog)  beginnt 
mit  einer  allgemeinen  Schilderung  des  Kampfgewühls  (1 — 35),  dem  einzelne 
typisierte  Bilder  aus  dem  Verlauf  der  Niederlage  von  persischer  Seite,  aber 
ohne  jede  Namensnennung,  folgen:  der  Wutausbruch  eines  ertrinkenden 
Barbaren,  Klagen  auf  den  Strand  geworfener  Asiaten,  Bitten  eines  gefan- 
genen Phrygers  in  geradebrechtem  Griechisch.  Es  folgt  die  Flucht,  der 
Befehl  des  Perserkönigs  zum  Rückzug  unter  Klagen  über  sein  Geschick, 
kurze  Andeutung  der  hellenischen  Siegesfeier  (36 — 214).  Diese  Schilde- 
rung der  Schlacht  und   der  Flucht,   die   keinerlei   geschichtlich   wertvolle 


*)  Suid.  u.  Tifwdeog;  Steph.  Byz.  u.  Ml-  \  ®)  über  die  Neuerangen   des  Timotheos 

AfjTog,  I  8.  S.  237,  7. 

')  Plut.  de  mus.  6 ;  nach  Schol.  zu  Arist.  I  ')  Die  Wiederaufführang  seines  Dithy- 

nnb.  971   siegte  er  an  den  Panathenäen  446  '■  rambus  Elpenor  a.  819  bezeugt  die  Inschrift 

unter    dem   Archon    Kallias.      Poll.  IV  66;  |  CIA  II  1246. 

WiLAMOWiTZ,  Timoth.  Pers.  66,  1;  Ar.  nub.  ®)  Wilamowftz,   Timotheos,   die  Perser, 

971  und  Pherekrates  fr.  145,  14K.  rügen  ihn  1  Leipzig  1903  (im  Anhang  106  ff.  die  übrigen 

scharf.  '  Fragmente  des  T.  neu  herausgegeben).    Der 

•)  Mann.  Par.  ep.  76;  Diod.  XIV  46,  6.  Papyras,   von   dem    die  Kolumnen  3 — 6  gut 

^)  Paus,  in  12,  10;  Boetius  de  mus.  I  1  |  erhalten,    der    Anfang   teils    verloren,    teils 

p.  182  Fbusdl.    in   einem    fingierten    sparta-  ;  schwer  lesbar  ist,  befindet  sich  jetzt  im  Ber- 

nischen  Volkfibeschluß;  Cicero  de  leg.  II  39;  ,  liner  Museum.     Er  ist  im  4.  Jahrh.  v.  Chr. 

jetzt  Timotheos   selbst  Pers.  215 — 48,   und  '  geschrieben   und    unser   ältestes   Litteratur- 

Ober   die   Ausschmückung  der  überlieferten  denkmal  auf  Papyrus.     Der  seltsame  Vogel, 

Tatsache  Wilamowitz  z.  St.  p.  68  ff.   In  Meso-  |  der  im  Papyras  vor  die  otpgayig  gemalt  ist, 

potamien  sind  elfsaitige  Instramente  uralt  :C.F.  wird   das  Wappen   des  Dichters,   nicht,   wie 

LsHiLuni,  Beitr.  z.  alten  Gesch.  3  (1903)  171.  |  J.  Stbzygowskt  (Denkschr.  der  Wiener  Ak. 

*)  Alexander  Aetol.  bei  Macrob.  sat.  V  I  51 II,  1906, 172)  meint,  ein  ägyptischer  Phönix 

22,4.  Siehe  L.GuBLiTT,Pliüol.65  (1906)  382  ff.  i  sein  soUen. 

Handboeli  der  klass.  AltertuxnswiBsenschaft    VU.  5.  Aufl.  16 


242  Ghriechische  Litteratnrgeschichte.    L  Daaeische  Periode. 

Einzeldaten  enthält,  bildet  den  djxfpaloq  des  Oedichtes.  Der  Schlafi  besteht 
aus  der  persönlichen  Verteidigung  des  Dichters  {afpgayig)  gegen  den  Vor- 
wuif  der  Neuerungssucht  (zu  der  er  sich  übrigens  fr.  12  Bergk  offen  bekennt) 
und  dem  Gebet  an  den  pythischen  Gott  um  Frieden  und  Wohlfahrt  {jbitXoyoQ). 
Der  Nomos,  wohl  für  eine  Festversammlung  der  lonier  Eleinasiens  ge- 
dichtet,^) war  im  Altertum  hoch  berühmt  und  wurde  noch  bei  dem  kitha- 
rodischen  Agon  der  Nemeen  des  Jahres  206  von  dem  Kitharoden  Pylades 
gesungen.^)  Daß  der  Nomos  mit  einem  enoplisch  gebauten  Hexameter 
begann,  wissen  wir  aus  Plutarch  (s.  Anm.  2).  Der  auf  dem  Papyrus  er- 
haltene Teil  besteht  vorwiegend  aus  iambischen  oder  ähnlichen  sechs- 
zeitigen Maßen.  Von  dem  großen  Zug,  der  in  Aischylos'  und  Herodots 
Darstellungen  lebte,  ist  hier  nichts  zu  spüren;  alles  ist  ins  Kleine,  Per- 
sönliche, Genrehafte  herabgestimmt,  wobei  dem  Dichter  manches  Charak- 
teristische wie  die  Karikatur  des  Phrygers,  die  an  den  phrygischen  Sklaven 
in  Euripides'  Orestes  erinnert,  wohl  gelungen  ist.  An  dem  wüsten  Bom- 
bast und  der  fettigen  Gedunsenheit  der  Sprache  kann  sich  nur  erbauen, 
wer  eine  Caprice  für  den  Asianismus  hat.  Im  übrigen  zeigt  diese  Leistung, 
zusammengehalten  mit  der  Geschichtschreibung  des  Ktesias,  daß  Klein- 
asien um  das  Jahr  400  geistig  zum  Orient  gehörte.  —  Von  den  anderen 
Dichtungen  des  Timotheos  haben  wir  nur  spärliche  Reste  und  dürftige 
Nachrichten.  Berühmt  war  seine  Schilderung  der  Geburtswehen  der  kreis- 
senden Semele  {(hök  2:F/iü}]g)  und  seine  Skylla  (Aristot.  poöt.  26),  ein  Dithy- 
rambus, in  dem  in  halb  burlesker  Weise  der  Aulet  den  Koryphaios  zupfte, 
um  das  Wegschnappen  der  Gefährten  durch  die  Skylla  zu  veranschau- 
lichen. 3)  Nebst  Philoxenos  ist  Timotheos  bei  den  dycoreg  ^v/aelixai  der 
späteren  Zeit  am  meisten  aufgeführt  worden*);  sie  waren  die  Lieblinge 
des  Publikums  wie  unter  den  Tragikern  Euripides,  unter  den  Komikern 
Menandros.ö)     Neben  diesen  beiden  wird®)  noch  Krexos  genannt. 

Von  sonstigen  Dithyrambikern  des  4.  Jahrhunderts  kennen  wir:  Telestes 
aus  Selinus,  der  noch  gegen  Melanippides  auftrat  (Ath.  616  f.)  und  sich 
nach  Dionysios  (de  comp.  verb.  19  p.  86,  6  Us.)  im  Wechsel  der  Rhythmen 
und  Tonarten  gefiel,  was  die  erhaltenen  Fragmente  bestätigen,  Ariphron 
aus  Sikyon,  der  in  einer  didaskalischen  Urkunde  des  4.  Jahrhunderts  CIA  II 
n.  1280  erwähnt  ist"^)  und  von  dem  uns  Athenaios  p.  702  einen  berühmten 


^)  Darauf  deutet  der  Hinweis  auf  die 
zwölf  Städte  des  aus  Achäerblut  stammenden 
Volkes  am  Schluß  des  Nomos  V.  24i>  ff. 
Näher  begründet  Wilamowitz  S.  63  die  Ver- 


r;/s,  *EXnririOQ,  NavjiAtOs,  Ntoßrf,  ^tveUku. 

*)   J.  Frei,  De  certaminibos  thymelicis 
68,  5. 

*)  Aus  Inschriften  des  2.  Jahrh.  v.  Chr. 


mutung,   daß   Timotheos   etwa  398—96   die  (Ch.  Michel,  Recueil  nr.  65.  66)  wissen  wir, 

Perser  beim  Poseidonfest  des  Panionion  an  i   daß  die  kretischen  Städte  Enosos  und  PriuiBoe 

der  Mykale  vorgetragen  habe.  !   den   teischen  Gesandten  Menekles  fftr  den 

*)  Flut.  Fhilopoem.  11.  Vortrag  von  rdfiot  des  T.  und  Folyeidoe  nnd 

')  Ein   zu  der  Skylla  gehöriger  Onf/roi  kretischer  Dichter  belobten. 

Tov  YJdvamo)^  (vgl.  Arist.  poöt.  15)  des  Timo-  «)  Flut,  de  mus.  12.  28;  FhUod.  de  mos. 

theos   wird  angeführt   in    dem    ästhetischen  p.  74,  X  2  K. 

Fapyi-us    der   Sammlung   Erzherzog   Rainer,  !           ^)  In    der  Urkunde  steht  übrigens  bloß 

publiziert  und   erläutert   von   Th.  Gompebz,  I  *AoiqQ(o%'  ohne  den  Zusatz  2'ixt>e6rf<v.    Audi 

Mitteilungen  aus  d.  Samml.  der  Fapyrus  Erzh.  I   der   Paian   ist   uns  inschriftlich   auf    einem 

Rainer  1 1887.84— 8.  Andere  Titel  von  Nomen  \  jetzt  in  Kassel   befindlichen  Stein  eriialten 

oder  Dithyramben  waren  ATag^  l'e/iekfj,  Aaig-  :   (CIA  III  p.  66). 


G.  Drama.    1.  Anf&nge  und  äußere  Yerhälinisae.    (§  142.)  243 

Paian  auf  Hygieia  erhalten  hat,  Polyeidos  der  Sophist,  etwas  jünger  als 
Timotheos,  ein  Mann  von  vielseitigem  Talent,  der  sich  auch  in  der  Tragödie 
und  Malerei  versuchte, i)  Likymnios  aus  Chios,  der  nach  Aristot.  rhet. 
in  12  p.  1413b  14  Dithyramben  dichtete,  die  mehr  beim  Lesen  als  bei 
der  Aufführung  wirkten,*^)  Lykophronides,  von  dem  uns  ein  paar  Frag- 
mente in  bukolisch-erotischem  Ton^)  erhalten  sind,  Nikokles  aus  Tarent,*) 
Argas.*)  Nur  aus  attischen  Siegesinschriften  (Dionysien  und  Thargelien) 
kennen  wir  folgende  Namen  von  Chorlyrikern:  aus  dem  5.  Jahrhundert 
Pantakles  (CIA  I  337),  Nikostratos  (ib.  336),  Kedeides  (s.  o.  S.216, 1); 
aus  dem  4.  Archestratos  (CIA  11  1257),  Dikaiogenes  (ib.  1280),  Poly- 
chares  (ib.  1280),  Nikomachos  (ib.  1249),  Eukles  (ib.  1236  a.364),  Epi- 
kuros  von  Sikyon  (ib.  1240  a.  333),  Lysiades  von  Athen  (ib.  1242  a.  334), 
Charilaos  der  Lokrer  (ib.  1244  a.  327),  Karkidamos  (ib.  1249  a.  319); 
aus  dem  2.  Eraton  aus  Arkadien  (ib.  1295),  Lysippos  ebendaher  (ib. 
1293  a.  270),  Pronomos  von  Theben  (ib.  1292  a.  270).  Auf  einer  sala- 
minischen  Lischrift  (ib.  1248)  wird  Paidias  genannt.  Der  letzte  Dithy- 
rambiker,  von  dem  wir  Reste  haben,  ist  Kastorion  von  Soloi,  Zeitgenosse 
des  Demetrios  von  Phaleron.  Der  Aristonoos  von  Korinth,  von  dem  ein 
Hymnus  in  Delphoi  inschriftlich  gefunden  worden  ist,  gehört  nicht,  wie 
0.  Crusius  (Philol.  53,  1894,  Ergänzuugsheft  26  ff.)  gemeint  hatte,  in  das 
4.  Jahrhundert,  sondern  zwischen  235  imd  210  (H.  Pomtow,  Rhein.  Mus.  49, 
1894,  577  flf.).  Ende  des  4.  Jahrhunderts  hören  die  Gesangaufführungen 
von  Dilettanten-Bürgerchören  mehr  und  mehr  auf,  und  bei  den  thyme- 
lischen  Agonen  werden  kleinere  Chöre  von  geschulten  Berufssängern  (zwi- 
schen 5  und  15),  die  der  dionysische  Künstlerverein  stellt,  verwendet.^) 

C.  Drama. 7) 

1.  Anfang  und  äussere  Verhältnisse  des  Dramas. 

142.  Das  Drama  ist  eine  originale  Schöpfung  des  griechischen  Geistes : 
kein  Volk  des  Altertums  hat  etwas  Ähnliches  hervorgebracht,  und  was  in 
späterer  Zeit  in  Rom   und  anderwärts  auf  dem  Gebiete  der  dramatischen 


>)  Diodor.  XIV  46,  6;    Aih.  352b;   Ch.   I   V^ilamowitz,  Gott.  gel.  Anz.  1906,  614. 
MiOHBL,  Becüeil  d'inscr.  gr.  nr.  65,  9;  66,  8.  ^)  Quellen  aus  dem  Altertum:  Aristo- 


')  Er  klingt  auffällig  an  Melanippides 
und  Ariphron  an  (Lic.  fr.  2  =  Mel.  fr.  3;  Lic. 
fr.  4,  4—6  =  Ar.  3.  4.  9).  Seine  Poesie  und 


teles  Jiegi  TToifjTixfjg^  wozu  die  Reste  seiner 
AtAaaxaXiai  bei  V.  Rose,  Aristot.  pseud.  LVl  u. 
552  ff.;  Horatius  ars  poSt  nach  dem  grie- 


Prosa  gingen  stilistisch  fast  ineinander  über  1  chischen  Werk  des  Neoptolemos  von  Parion; 

(8.  O.  Immisch,  Rhein.  Mus.  48, 1893,  522  und  I  Tzetzes  (12.  Jahrh.)  jzFgi  iQayiafjg  noii^aewg 

Cic  de  or.  in  185).  i  und  Jiegi  xoyfupbiag  (bei  G.  Kaibel,  Com.  gr. 

')  E.  RoHDS,  Griech.  Rom.*  121  A.  fragm.  I  43  ff.).    Spurlos  verschwunden  sind 


^)  Ein  Verzeichnis  seiner  Siege  gegen 
Ende  des  4.  Jahrh.  erläutert  von  U.  Köhler, 
Rh.  Mus.  39  (1884)  298. 

^)   Argas   wird    als   schlechter   Nomen- 


des Grammatikers  Teleph OS  (unter  Hadrian) 
Bloi  TQayixcJv  xai  xMfÄioöwv  (Suid.  S.  Ttfie- 
<pog),  —  Neuere  Werke:  A.  W.  v.  Schlegel, 
Vorlesungen    über   dramatische   Kunst    und 


dichter  verspottet  bei  Ath.  131b  und  638  c;   '   Litteratur,  Leipz.  1809—11,  2  Bde.  =  Sämtl. 

'     "  '  Werke  Bd. 5 u.  6,  Leipz.  1846.47;  J.L.KLBp, 

Gesch.  des  Dramas,  Leipzig  1865  ff.  (hier 
einschlägig  die  zwei  ersten  Bde.);  M.  Rapp, 
Gesch.  des  griech.  Schauspiels,  Tüb.  1862; 

16* 


Name   steckt   wahrscheinlich   auch   in 
Aristot  po6t  2  p.  1448a  15. 

')  Das  einzelne  bei  J.  Fbei,  De  certami- 
nibos  thymelicis,  Diss.  Basel  1900.   Siehe  a. 


244  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  KlaBsuiche  Periode. 

Kunst  geleistet  wurde,  geht  auf  die  Anregung  der  Griechen  zurück.*)  Das 
griechische  Drama  wird  gespeist  aus  den  beiden  älteren  Gattungen  der 
Poesie;  es  ist  erst  zur  Ausbildung  gekommen,  nachdem  die  erzählende 
Dichtung  fast  ganz  verklungen  war  und  die  Poesie  der  subjektiven  Cte- 
danken  und  Empfindungen  ihren  Zenith  bereits  überschritten  hatte.  Die 
beiden  Elemente,  aus  denen  das  Drama  entsprungen  ist,  geben  sich  formell 
in  dem  Gegensatz  der  gesprochenen  und  gesungenen  Partien  zu  erkennen. 
Die  Chorgesänge,  Duette  und  Monodien  bezeugen  ihren  Zusammenhang 
mit  der  Lyrik,  insbesondere  der  chorischen,  nicht  bloß  im  Inhalt  und 
gesangmäßigen  Vortrag,  sondern  auch  in  Versbau  und  Sprache.  Fast  alle 
Metra  der  gesungenen  Partien  lassen  sich  bei  den  älteren  Lyrikern  nach- 
weisen, die  daktylischen  und  logaödischen  Glieder  sowie  die  Fülle  der 
wechselnden  sechszeitigen  Formen  (lamben,  Trochäen,  loniker,  Choriamben), 
und  auch  die  anapästisehen  Systeme  schließen  sich  an  alte  dorische  Marsch- 
lieder  an;  nur  die  Dochmien  seheinen  erst  in  der  Tragödie  eigentlich  zur 
Entfaltung  gekommen  zu  sein.  Auch  die  Sprache  der  Chorgesänge  weist 
deutlich  auf  die  dorische  Chorlyrik  zurück  und  hat  aus  ihr  die  Tönung 
des  dorischen  Dialektes,  namentlich  im  Vokalismus  (a  statt  des  ionischen  ?) 
übernommen.  Weniger  tritt  im  Dialog  der  Zusammenhang  mit  dem  Epos 
hervor,  da  für  diesen  die  Dichter  ein  anderes  Metrum  wählten,  nicht  den 
gravitätischen  Hexameter,  sondern  den  beweglichen,  der  Sprache  des 
Lebens  sich  nähernden  und  bei  den  stammverwandten  loniern  zuerst  aus 
der  Sphäre  der  dionysischen  Scherze,  wo  er  heimisch  war,  in  die  Litte- 
ratur  eingeführten  Trochäus  und  lambus.^)  Aber  wenn  auch  die  Form 
von  der  epischen  abweicht,  so  bleibt  doch  die  Übereinstimmung  des  In- 
haltes: der  Dialog  ist  der  Träger  der  Handlung  und  des  Mythus,  Fund- 
grube des  Mythus  aber  waren  die  epischen  Gedichte,  nach  dem  Wort  des 
Aischylos,  seine  Dramen  seien  Brosamen  vom  Tisch  Homers  (s.  o.  S.  74,  4). 
Der  große  Fortschritt  bestand  darin,  daß  jetzt  nicht  mehr  die  Handlung 
in  ihrem  Verlauf  vom  Standpunkt  des  Dichters  aus  erzählt,  sondern 
leibhaft  von  redenden  und  handelnden  Personen  den  Augen  und  Ohren 
der  Zuschauer  vorgeführt  wurde,  so  daß  diese  das  Geschehene  selbst 
miterlebten.    Im  Drama  ist  die  nicht  mehr  zu  überbietende  Höhe  in  Leb- 

St.  Victor.   Les  deiix  masques,   Paris  1881,  ;  Sanskrit  und  Prakrit,  angewendet  sind. 

ins  Deutsche  übertragen  von  Carmen  Sylva,  |           ^)  Arist.  rhet.  III  8  p.  1408b  32  sagt  vom 

Berlin    1900.    mit    überschwenglicher    Aus-  Hexameter:  aFftvn<:  xni  kfxtix^g  agfiorüiH  S€6' 

malung  der  mythologischen  Hintergründe.  —  1  iteroc,   po6t.  4  p.  1449  a  24  (ähnlich  rhet.  III 

Sammelausg.:  Poetae  scenici  Graecorum,  rec.  |  p.  1404a  31)  vom  Jambus:    /luXiora  iexrtxov 

F.  H.  BoTHE.  Lips.  1825 — 58,  10  Bde.,  dazu  twv  fihtuov  to  laftßF.Tov  iauv.  Auf  die  ionieehe 


von  denis.,  Poetar.  scenicor.  Graecor.  quorum 
integra  opera  supersunt  fragmenta,  4  voll., 
Lips.  1844.  46;  Poetar.  scen.  gr.  fabulae  super- 
stites  et  perditar.  fragmenta   ed.  Guil.  Din- 


Stamm  Verwandtschaft  führt  Wilamowitz, 
Comment.  metr.  II  (Gott.  1895)  29  es  auch  zu- 
rück, daß  in  den  Chorgesängen  der  älteren  Tra- 
gödien des  Aischylos  die  lamben  vorherrschen, 


DORF,  11^46,  ed.  V.    Lips.  1869.  nur  nicht  die  eintönigen  Trimeter,  sondern  die 

M  Nicht  der  Rede  wert  sind  die  drama-       freier  gebauten  und  reicher  gestalteten  lam- 
tischen  Ansätze  der  Chinesen.    Für  die  Inder      ben  der  ionischen  Lyrik.    Älteres  Dialogmaß 


weist  den  Einfluß  der  Griechen  nach  E.Wijt- 
Discii,  Der  griecliische  Einfluß  im  indischen 
Drama.  Berlin  1882.  Bezeichnend  ist,  daß 
auch  in  dem  indischen  Drama  zwei  Dialekte, 


(auf  das  nach  Aischylos  archaisierend  Euri- 
pides  wieder  mehr  zurückkam)  ist  der  tro- 
chäische Tetrameter,  der  dann  durch  den 
iambischen  Trimeter  ersetzt  wird:  Aiistot  1.1. 


G.  Drama,    l  Anfänge  und  äußere  Verhältnisse,    (§  143.)  245 

haftigkeit  des  Mythenvortrags  erreicht,  eine  Tatsache,  die  nicht  bloß 
ästhetisch,  sondern  auch  religionsgeschichtlich  von  größter  Bedeutung  ist. 
Denn  das  griechische  Drama  ist  von  Hause  aus  ein  Stück  Gottesdienst, 
keine  künstliche  Veranstaltung  zur  Unterhaltung  oder  Belehrung  erholungs- 
oder  bildungsbedürftiger  Leute.  Gerade  in  der  Zeit,  da  auf  die  epische 
Sagenüberlieferung  nach  ihrer  religiös-sittlichen  Seite  hin  die  heftigsten 
Angriffe  eröffnet  werden,  findet  der  alte  Glaube  in  der  Tragödie  seine 
mächtigste  und  eindrucksvollste  Darstellungsform.  —  Deutlich  tritt  der 
Zusammenhang  des  Dialogs  mit  der  ionischen  Poesie  in  der  Sprache  her- 
vor: übrigens  sind  schon  Solons  lamben  im  wesentlichen  attisch  dem  Dia- 
lekt nach,  und  ebenso  der  Dialog  des  Aischylos  und  seiner  Nachfolger, 
wiewohl  (nicht  sowohl  in  der  lautiichen  und  flexivischen  Form  als  in  der 
Wortwahl  und  Phraseologie)  nicht  wenige  ionische  Ingredienzien  namenÜich 
bei  Sophokles  sich  geltend  machen.  Daß  wir  aber  aus  dem  Stand  unserer 
Klassikerüberlieferung  in  diesem  Stück  nicht  zu  weitgehende  Schlüsse 
ziehen  dürfen,  haben  wir  zu  unserer  Überraschung  aus  zwei  völlig  ionischen 
Dialogversen  aus  Phrynichos*  Phönissen  gelernt,  die  durch  einen  Papyrus 
von  Oxyrhynchos  aus  dem  Homerkommentar  des  Ammonios  auf  uns  ge- 
kommen sind.  *)  Wir  wissen  jetzt,  daß  vor  Aischylos  in  Attika  auch  Tra- 
gödien mit  ionischem  Dialog  vorkamen.*) 

143.  Haben  so  die  Sprach-  und  Stilformen  des  Epos  so  gut  wie  die 
der  Lyrik  Bausteine  für  die  neue  Gattung  der  dramatischen  Poesie  ge- 
liefert, so  ist  sie  doch  unmittelbar  aus  der  Lyrik  und  der  religiösen  Fest- 
feier des  Dionysos  hervorgegangen.  Darauf  weist  schon  der  Name.  Agäua, 
d.  h.  Handlung,  hieß  das  neue  Festspiel, 3)  dgcojuera  hießen  auch  die  Zere- 
monien, mit  denen  man  an  den  Götterfesten,  namentlich  bei  den  Mysterien 
den  Mythus  des  Gottes,  seine  Geburt,  seine  Wanderungen  und  Leiden  den 
andachtsvollen  Gläubigen  vor  Augen  führte.*)  Zu  solchen  mimischen  Dar- 
stellungen boten  wohl  auch  die  Mythen  anderer  Götter  Stoff,  wie  die  vom 
Kampf  ApoUons  mit   dem    Drachen    Python,^)   von   der    Bewachung    des 


')  H.  DiELS,  Rhein.  Mus.  56  (1901)  29  ff.  i   zelnen)     und     die     ergebnisreichen     Unter- 

•)  Das  Ionisieren  der  tragischen  Dialog-  suchungen  über  den  Wortvorrat  von  H.  Witte- 

sprache   wird   teils   sprachgcschichtlich   aus  .   kind,  Sermo  Sophocleus  quatenus  cum  scrip- 

der  näheren  Verwandtschaft  des  älteren  atti-  |   toribus  lonicis  congruat,  at  differat  ab  Atticis, 

sehen  mit  dem  ionischen  Dialekt  (so  W.  G.  Büdingen  1895  und  W.  Aly,  De  Aeschyli  copia 

RuTHERFOBD,  Zur  Geschichte  des  Atticismus,  verborum,  Berlin  1906. 

übersetzt  von   A.  Fünck  in  Jahrbb.  f.  Phil.  »)  Nach   Arist.  poöt.  3   p.  1448  a  29  ff. 

Snppl.  13. 1884,  355 — 399),  teils  ästhetisch  (so  suchte  man  aus  diesem  Namen  den  dorischen 

Eühnsb-Blass  8.  u.)  erklärt;  tatsächlich  legt  Ursprung  des  Dramas  zu  beweisen,  weil  die 

es  Zeugnis  ab  von  dem  Pnnzipat  des  ionischen  |   Dorier  doar,  die  Athener --rf>«Tr«i' sagten.    Die 

Dialektes  in  der  vorattischen  Litteratur.     In  I    Benennung  Soäna  für  Tragödie  und  Komödie 

dem  Dialog  der  Tragiker,  selten  der  Komiker,  zusammen  ist  schon  im  5.  Jahrh.  üblich :  H. 

finden   sich   z.  B.  Dative   pl.   auf  oioi,   mm,  Weil,  Etudes  sur  le  drame  ant.,  Paris  1897,6. 

foot^  die  ablativen  Genetive  ifieOn',  ori/fy,  die  i            *)  Daher  der  Gegensatz  bei  Paus.  II  37,  3 

lonismen    yoin'aTog,    dovgi,    ^e(%'(K,    Exovrfihv  (vgl.  III  22,  2) :  tu  AFyöfifra  fjti  lotg  dowfiei'oig. 

(Eur.  ffipp.  1247),  eamv  (Eur.  Phoen.'"l246),  Vgl.  Tu.  Bergk.  Gr.  Litt.  III  4;  Chr.  A.  Lo- 

die  nichtattischen  Wörter  närga  statt  Tiargl^,  beck.  Agiaoph.  688  ff.   über  die  Öocofieva  bei 

deigw   statt  aio<o,  dotdog,  argex/jg,   ägOntog,  den    Dionysos-Mysterien    berichtet    Clemens 

d/i<pijioXoSf   dXvco,  evtpgovrj,  egöco,  ^so.ig/Ktoi; ,  |    Alex,  protrept.  II  12  p.  IIP. 

xaaiyvrjxog^   xtxXr'iaxMj  y.otgavo^,  ogysiov,  oxv-  ^)  Daß  dieser   auch  wirklich   mit 

fifo,  <pägog.    Siehe  Eühner-Blass  .   Griech.  ahmender  Kunst  dargestellt 

Onunm.  I  31  ff.  (Litteratnrangaben  im   ein-  s.  oben  S.  145. 


246  Oriechiflche  LitteratnrgeBchichte.    L  KlassiBche  Periode. 

jungen  Zeus  durch  die  Daktylen  und  Eorybanten;  insbesondere  ist  der 
Demeterkult  der  Eleusinien  und  der  ThesmophorienO  reich  an  dramatischen 
Elementen.  Zu  voller  Reife  in  einem  kunstmäßigen  Btthnenspiel  sind  aber 
nur  die  dramatischen  Keime  des  Dionysoskultes  ausgewachsen.  Das  erklärt 
sich  aus  der  nachdrücklichen  Förderung,  die  im  6.  Jahrhundert  von  Seiten 
der  delphischen  Priesterschaft  und  der  Tyrannen  gerade  der  dionysischen 
Religion  zugewandt  wurde.*) 

Von  Delphoi  aus  ist  man  zu  dieser  Zeit  bemüht,  die  mystischen,  auf 
das  Gemüt  wirkenden  Faktoren  der  Yolksreligion  im  Kampf  gegen  die 
Aufklärung  zu  verstärken;  die  Tyrannen  aber,  die  sich  auf  den  Schultern 
des  niederen  Volkes  zu  ihrer  Alleinherrschaft  erhoben  hatten,  suchten 
durch  Veredlung  der  Kulte  eben  dieser  Volkskreise  und  Aufiiahme  der- 
selben unter  die  Staatskulte  die  neue  Staatsreligion  auf  eine  breitere  und 
für  ihre  eigenen  politischen  Zwecke  günstigere  und  sicherere  Grundlage  zu 
stellen.  Der  Dionysoskult,  dem  griechischen  Landvolk  seit  uralter  Zeit 
vertraut  und  zeitenweise  durch  Einströmungen  von  Seiten  der  verwandten 
thrakischen  Sabaziosmystik  in  eigenartiger  Weise  modifiziert,  bietet,  wie  der 
Demeterkult,  eine  ernste  und  eine  heitere  Seite.  Dionysos  ist  ein  Gott,  der 
stirbt  und  wiederauflebt  mit  der  Pflanzenwelt,  deren  Repräsentant  er  ist. 
Als  Vegetationsdämon  hängt  er  mit  allem  Seelen wesen  zusammen:  er  wird 
selbst  als  abgeschiedener  Geist,  tjooK,  angerufen,')  und  den  Schlufi  des 
Anthesterienfestes,  das  ihm  jedes  Frühjahr  die  Athener  feierten,  bildet  die 
Austreibung  der  mit  ihm  gekommenen  Seelengeister  (xfjgeg),*')  Auf  der 
anderen  Seite  steht  die  ausgelassene  Lustigkeit  bei  allen  den  Anlässen, 
wo  man  sich  dem  Genuß  der  von  ihm  gespendeten  wertvollsten  Gabe,  des 
Weines,  hingab.^)  Solche  Anlässe  stellten  sich  ein  gegen  Winters  Ende, 
wenn  der  Wein  vergoren  war,  und  beim  Erwachen  des  Frühlings.  Der 
heidnische  Mummenschanz  mit  allen  seinen  Neckereien,  wie  er  sich  dabei 
entfaltete,  lebt  noch  heute,  zu  derselben  Jahreszeit,  in  den  Fastnachts- 
gebräuchen katholischer  Gegenden  weiter.  Was  hier  in  lustigen  Aufzügen 
Maskierter,  in  Darstellung  einzelner  komischer  Szenen  aus  dem  Leben 
oder  aus  Sphären  kecker  Phantastik,  in  derben  Obszönitäten,  in  Spott- 
und  Schimpfreden  gegen  einzelne  oder  ganze  Klassen  verstreuterweise 
durcheinanderwirbelte,  das  konnte  einem  poetischen  Talent  die  Elemente 
zu  einem  einheitlicheren,  kunstvollen  Aufbau  liefern.  Der  Staat  überliefi- 
diese  wildwachsende  Komik  anfangs  der  privaten  Initiative;  ihm  war 
es  zunächst  mehr  darum  zu  tun,  für  seine  Feier  die  ernsthaft-mystischen 
Züge  des  Dionysosdienstes  wirksam  zu  verwerten.  Ein  Schritt  zur  künst- 
lerischen Veredlung  des  dionysischen  Gemeindegesangs  war  schon  im  Anfang 
des  G.  Jahrhunderts  gemacht  worden  durch  Regulierung  des  Dithyrambus 

M  E.  RoHDE,  Kl.  Sehr.  II  301  ff.  »)   Auch   der  Dcmeterkult  kennt  diese 

^)  W.  »ScHMiD.  Zur  Geschichte  des  griech.  Erntefestscherze,  das  aioxookoynr,   iafißi^tiv, 

DitliyranibuH,  IVogr.  Tübingen  1901,  22  flf.  xForouFir:  Schömann-Lipsius,  Griech.  Altert. 

^)   f/./hh'   fjoo)     iiorroF   bginnt  der   alte  II,  Berl.  1902,396;  Pkkllkr-Robbrt,  Griech. 

Gesang  der  eleischen  Weiber,   Bergk,    PLG  i   Mythol.  I  778.    789).     Von   Spottchören   der 

II I^  p.  656  nr.  6.  I   Weiber  Herodot.  V83;  vgl.  für  den  sizilischen 

*)  E  RoHDE,  Psvche  P  239—40  A.  2.  ,   Demeterdienst  Diod.  V  4,  5. 


G.  Drama.    1.  Anfänge  und  änfiere  Yerhältnisae.    (§  144.) 


247 


(s.  o.  S.  205  f.).  Der  zweite  führte  zur  Schöpfung  der  Tragödie  in  Attika 
unter  der  Herrschaft  des  Peisistratos.  Wenn  die  Stoffe,  die  in  dem  re- 
formierten Dithyrambus  wie  in  der  Tragödie  zur  dichterischen  Darstellung 
kommen,  nicht  bloß,  ja  nicht  einmal  vorwiegend  aus  dem  Kreis  der 
Dionysossage,  sondern  vielmehr  aus  allen  Teilen  der  Heroensage  ent- 
nommen sind,  so  wird  diese  Erweiterung  des  Stoffgebiets  in  einer  für  uns 
freilich  nicht  mehr  recht  faßbaren  Zusammenrückung  von  Dionysos-  und 
Heroenkult  ihren  Ursprung  haben.  Die  Grundlage  für  das  Drama  war 
da,  sobald  dem  Chor  ein  „Respondent*  {imoxQixrjg)  gegenübergestellt  wurde. 
Dieser  Schritt  muß  in  ionischem  oder  ionisch  beeinflußtem  Sprachgebiet, 
also  wohl  eben  in  Attika  gemacht  worden  sein,  denn  vjioxQivojuLai  im  Sinn 
von  Antworten  ist  ionisch.  Freilich  können  wir  vjioxgiri^g  im  Sinn  von 
Schauspieler  nicht  vor  Aristophanes  nachweisen  und  bleibt  demnach  die 
Mögb'chkeit,  daß  diese  Gesamtbezeichnung  erst  in  der  Zeit  der  Sophistik 
etwa  für  die  älteren  Spezialnamen  zgaycodog^  Hcüjuupdög  aufgekommen  dei 
(s.  u.  S.  267,  6).  Von  dem  Übergangsstadium  zwischen  Dithyrambus  und 
Drama  gibt  der  Theseus  des  Bakchylides  (17)  eine  Vorstellung  (s.  o.  S.  214). 

144.  Arten  des  Dramas.^)  Allen  Dramen  war  gemeinsam,  daß  sie 
ihren  Gegenstand  durch  Handelnde  zur  Darstellung  brachten.  Der  Gegen- 
stand selbst  mußte  demnach  eine  Handlung  {jigä^ig)  sein  und  zwar,  ent- 
sprechend dem  gottesdienstlichen  Charakter  des  Dramas,  ein  Stück  „heiliger 
Geschichte*  (juv&og^  fabula),  von  den  Taten  und  Leiden  jener  götternahen 
vorzeitlichen  Übermenschen,*)  zu  denen  der  gläubige  Grieche  mit  andäch- 
tiger Verehrung  und  romantischer  Sehnsucht  zurückzublicken  nicht  satt 
werden  konnte.  Eine  ästhetische  Notwendigkeit  war  es,  daß  die  zu  dra- 
matischer Belebung  ausgewählte  Episode  eine  gewisse  sachliche  Ab- 
geschlossenheit haben  mußte.  Nach  Gegenständen  und  Darstellungsformen 
sind  drei  Arten  dionysischer  Dramen  zu  unterscheiden:  die  Tragödie,  die 
Komödie  und  das  Satyrspiel.  Die  Tragödie  {rgaycodla),  die  aus  dem 
Dithyrambus  hervorgegangen  ist,^)  muß  sprachhch  als  xgdyoyv  <hdri  ge- 
deutet werden,  hat  also  den  Namen  nicht  von  dem  Bock,  der  als  Preis 
dem  Sieger   zugefallen   sein   soU,*)   sondern    bedeutet:   Gesang  der  Böcke. 


')  Diomed.  p.  487—492  K. ;  J.  Kaysbr, 
De  veterum  arte  poöt  1906  p.  10  ff.  71  ff. 

•)  vjikg  Tifidtg  doetrj,  ^gojixy  rtg  xai  Osia 
Aristot  eth.  Nie.  VIII  p.  1145  a  19. 

•)  Arist.  po€t.  4  p.  1449  a  10:  ij  /ifv  rga- 
yqßSia  djio  twv  i^oQyovTCJV  xov  dMgafAßov 
xma  fiixQov  rjv^rj&rj.  Dieser  Anschauung,  die 
wir  kaum  bestreiten  können,  widerspricht  — 
80  sehr  das  z.  B.  E.  Reisoh,  Festschr.  f.  Gom- 
perz  472  und  H.  Reich,  Der  Mimns  I  253  zu 
verschleiern  suchen  —  die  andere  Behaup- 
tung bei  demselben  Aristot  p.  1449a  19  (s.a. 
Aoth.  Pal.  VII  37),  daß  die  Tragödie  aus  dem 
Satjrspiel  erwachsen  sei,  die  auch  bei  Suid. 
8.  ovdev  JtQog  xov  Atmnjoov  (vermittelnd  Suid. 
8.  ^Agltüv)  vorliegt  Die  Angaben  des  Aristo- 
teles beruhen  zum  größten  Teil  auf  Kon- 
struktion, besonders  in  zwei  Punkten:  1.  alle 


Poesie  geht  aus  von  avioaxeSido/mia  ein- 
zelner p.  1448  b  23  (daher  die  i^doxovreg); 
2.  die  Entwicklung  der  Kunstgattungen  steht 
unter  einem  teleologischen  Gesetz  (poöt  1449  a 
14  vgl.  Aristot.  phys.  II  8). 

*)  Hör.  a.  p.  220:  carmine  qui  tragico 
viletn  certavit  ob  hircum;  ein  rgdyog  als  Preis 
angeführt  Marm.  Par.  ep.  43,  ebenso  von  Dio- 
scurid.  Anth.  Pal. VII 410;  Eusebios  zu  01.48, 1. 
R.  Bentley  nahm  diese  Deutung  an;  ihre 
Unmöglichkeit  erwies  F.  G.  Wblcker,  Satyr- 
spiel, Frankf.a.M.  1826.  240  A.  178.  Daneben 
tritt  bei  lateinischen  Grammatikern  (P.Wbss- 
NER,  Unterauchungen  zur  latein.  Scholien- 
litt,  Bremerhaven  1899  p.  3j  die  ebenso  un- 
mögliche Deutung  ,  Gesang  um  den  Preis 
eines  Bocksschlauches  voll  Wein*  auf.  Die 
richtige  Etymologie  im  Et  M.  764,  6:  tQa- 


248 


Griechische  Litteratorgeschichte.    L  Klaamsche  PeriodA. 


Unter  diesen  Böcken  verstand  Welcker,  dem  hierin  die  meisten 
Neueren  folgen,  bocksgestaltige  Satyrn.  Da  solche  in  der  Tragödie  selbst 
nicht  auftreten,  so  drängt  diese  Auffassung  zu  der  Konsequenz,  der  Name 
Toaycodia  sei  vom  Satyrspiel  auf  die  ernsthafte  Tragödie  übertragen,  oder 
die  Tragödie  sei  aus  dem  Satyrspiel  hervorgegangen,  was  ja  auch  Aristo- 
teles im  Widerspruch  mit  sich  selbst  (s.  S.  247,  3)  behauptet.  Indessen 
selbst  zugegeben,  was  bis  jetzt  auch  nicht  von  ferne  bewiesen  werden 
kann,  das  Gefolge  des  Dionysos  sei  schon  im  6.  Jahrhundert  als  ein  Chor 
bocksfüßigcr  und  -schwänziger  Dämonen  dargestellt  worden, i)  so  läßt  sich 
eine  Übertragung  des  Namens  für  das  Satyrspiel  auf  die  ernsthafte  Tra- 
gödie —  die  doch  in  Attika  vor  sich  gegangen  sein  müßte  —  mit  den 
Tatsachen ^  nicht  vereinigen;  denn  das  Satyrspiel  ist  nach  Attika  durch 
Pratinas  importiert,  nachdem  sich  hier  die  ernsthafte  Tragödie  schon  ge- 
bildet hatte.  Zur  Lösung  dieser  Schwierigkeiten  ist  neuerdings*)  vor- 
geschlagen worden,  den  Namen  Touyoc:  als  spöttische,  vom  Adel  auf- 
gebrachte Bezeichnung  für  die  Bauern  zu  verstehen,  die  in  ihrer  Tracht 
aus  Tiorfellen  an  lleroenfesten  (,'horgesänge  aufführten;  diese  Gesänge 
mögen  dann  zufolge  der  oben  angedeuteten  Verbindung  von  Dionysos-  und 
lleroendienst  mit  dem  Dithyrambus  zusammengerückt  worden  sein.  Das 
Wesen  der  frühsten  Tragödie  drückt  die  theophrastische  Definition  bei 
Dioraed.  p.  487,  12  K.  {xoaycoöia  tonv  /yoro/x//»:  tv/i]^  Treoiaraatc;)^)  viel  richtiger 


ytoAin,    ort    r«    .toxA«    oi    //iooi    tx    2Lmrmoy    I 
oryiararro,    orc    ty.aXorr    radyorc.      Zu    ihrer    ; 
Bestätigung   zog  Welcker   den  Vers   in   <les 
Aiscliylos  lIijofnfihi'Q  nvnxayr-:  fr.207  Nal'CK* 
herbei,    wo    Prometheus    den    Satyrchor   an- 
redet:   Toayo^,    ytfFiin'    uoa    .-rui/f'/nn^    or   -/t ; 
K.  O.  Müller,  Kl.  Sehr  I  489  ff.  denkt  nach 
J.  M.  Voss  an  den  desang  um  diLS  brennende 
Opfer    eines    Bockes,    und    auch    E.  Kkisch,    ; 
Festschr.  f.  Gomperz  46^^  neigt  noch  zu  difst-r 
Ansicht.  Unsinnige  Etymologien  Schol.  Dionvs. 
Thr.  p.  IS.  8  ir.  li  ILO  ARD. 

*)  Mit  Nachdruck  ist  gegenüber  künst- 
lichen Vermittlungsversuchen  (G.  Kr>RTK  bei 
E.  Bktiik.  Proleg.  z.  Gesch.  des  Tlieateis  im 
AlttM't..  Leipz.  lx\H\  :>:jy  ll". )  daraufhinzuweisen, 
dali  auf  Kunstwerken  der  älteren  Zeit  das  «be- 
folge des  Dionysos  lediglich  aus  pferdes<:hwän- 
zigen  Silenen  besteht,  (laß  die  frühste  Darstel- 
lung bocksgestaltiger  Satyrn  sich  auf  dem  rot- 
ligurigcn  Krater  c.  4">U  (Journ.  of  Hell.  Stud.  11, 
WMK  plates  1 1 .  12 ;  < ;.  Lösoiicke.  Mitt.  des  ath. 
Inst.  19.  is9i,  ->22)  findet,  daß  rna-'i»^  in  dem 
Satyrspielfragment  aus  Alschylos'  llimittjOtrs 
nrny.iur^  sehr  wohl  (so  |jösch<'ke)  meta- 
phoris<-h  veixtanden  werden  kann  und  nicht 
einmal  für  Eurip.  Cycl.  ><<)  notwendig  ein 
bocksg(?sta]tig("r  Ghor  anzuneliuu.'U  ist,  daß 
wir  wt'der  für  das  nordwestp«doponnesische 
Satyrspiel  noch  für  das  aus  diestim  hervor- 
gegangene attische  des  .">.  Jahrb.  Anlaß  haben 
anzunehmen,  der  Chor  sei  aus  Böcken  und 
nicht  aus  I*fenlemensehen  (Silenen)  gebildet 
gewesen    (dies   alles   klar    und    richtig    ent- 


wickelt bei  E.  Rkisoh.  FeHtschr.  f.  Th.  Gom- 
IMJi-z,  1902.  451  if.,  auch  M.  P.NiL88oy,  Com- 
ment.  philol.  in  hon.  J.  Paalson,  Gotenborg 
1900.  7  ff.). 

*)  W.  ScuMiD,  Zur  Gesch.  des  griech. 
Dithvramb.  12,  wo  an  Belegstellen  ffir  die 
ländliche  Tracht  aus  Tier-,  besonders  Bocks- 
fellen noch  anzuführen  ist  Hom.  r  436;  f  530; 
Theocrit.  id.  7,  14;  Menand.  'A'.Tiro.  p.  35,12 
Lefkrvre;  Eratosth.  fr.  83  Hilleb;  Varro  r. 
r.  ir  11,  11;  Lucret.  V  1418;  Prop.  IV  1,  12 
(pelliti  patres) ;  Caes.  bell.  gall. IV 1. 10;  V 14, 2. 
Die  neue  Deutung  njny(o!)m  =  Speltgesang,  die 
.Iane  Ellkn*  Harrisox  in  ihrem  Buch  Prolego- 
mena  to  the  Study  of  (Ireok  Religion.  Cam- 
bridge P.»ü3,  vorschlägt,  geht  unmethodischer- 
weise  von  einer  erst  ganz  spät  belegten  Bedeu- 
tung des  Wortes  ro'i-/«v  aus.  Die  Möglich- 
keit, daß  Toa;'f;>«V»s:  r=  6  xov  roaj'o»*  (d.  h. 
das  Lie<l  auf  den  ror«;'o.%  ähnlich  wie  //«lof 
Name  des  Liedes  geworden  ist)  r/dfor  wäre. 
verdient  auch   Erwägung. 

^)  Ähnlich  Diomed.  p.487,  12  BL;  Etym. 
magn.  7^)4,  1  ro.  tnil  (iion'  xni  loyiov  tjguHXWP 
uiiifjrnc.  Wichtig  ist  auch  die  Art,  wie  Ps.Isocr. 
1.  4^  <lie  Tragiker  von  Homer  unterscheidet: 

Homer  aytofd^  y.ni  nn)Jnov^  jwy  f/fit&eiov  fiv^o^ 
)jtyn,  Ol  iVf  Titrc:  itrhav^  f-U  dyun'ag  xai  ^gd^fis 
X(tT^nn]nar  inotf  fiij  iinvor  axororovs  »}/*"'i  dXka 
xai  thnt(u\'  yn-toihu.  Vom  christlichen  Stand- 
punkt aus  deüniert  Isidor.  orig.  XVIII  46  tra- 
tjoeiii  aunt  qiti  nntinua  gesta  atqiie  facinora 
srelerutorum  reyum  lurtuoso  carmine  »pec^ 
tante  populo  conchiehant. 


G.  Drama,    1.  Anfänge  und  ändere  Yerhältnisse.    (§  144.)  249 

aus  als  die  berühmte  und  viel  umstrittene  des  Aristoteles  (poät.  6),  die 
den  religiösen  Faktor  völlig  aus  dem  Spiel  läßt  und  den  Begriff  der  Tra- 
gödie einseitig  unter  eine  nicht  aus  der  Sache  selbst  geholte  ethisch-poli- 
tische Betrachtung  stellt.^)  Daß  die  Tragödie  gleich  von  Anfang  an  ihren 
Stil  gefunden  habe,  ist  nicht  anzunehmen;  gewiß  wogen  in  den  ersten 
Versuchen  die  lyrischen  und  epischen  Elemente  über  das  eigentlich  Drama- 
tische vor  und  waren  unter  sich  nicht  in  die  richtigen  Proportionen  ge- 
setzt. Aber  in  weniger  als  einem  Jahrhundert  sind  die  Unsicherheiten 
des  Anfangsstadiums  überwunden,  und  beim  Beginn  des  perikleischen  Zeit- 
alters ist  die  fertige  Tragödie  aus  der  dramatisierten  Historie  entwickelt, 
der  Stil  des  Heroencharakters  mit  seiner  jueyakoi^fv/J^  ^^  Stimmung  und 
Ausdruckformen,  ebenso  das  Bild  des  Heroenlebens  —  im  ganzen  nach 
Maßgabe  der  homerischen  Darstellung,  freilich  mit  einzelnen  Anachronismen,  2) 
die  sich  zumal  seit  Euripides  immer  ungescheuter  hervortun  —  so  fest- 
gestellt,  daß  nun  große  Künstler  mit  Hilfe  einer  gesicherten  Technik  sich 
der  Entfaltung  ihrer  künstlerischen  Eigenart  hingeben  können.  Künst- 
lerisch betrachtet  war  der  griechische  Tragiker  in  demselben  großen 
Vorteil  vor  den  Komikern»)  und  vor  den  modernen  Tragikern,  wie  jetzt 
der  Bearbeiter  biblischer  Stoffe  vor  einer  christlichen  Zuhörerschaft  gegen- 
über dem  Bearbeiter  profaner  Stoffe  ist:  daß  er  den  Gegenstand  als  be- 
kannt voraussetzen  und  nun  alles  Interesse  auf  die  Kunst  seiner  Dar- 
stellung lenken  konnte. 

Die  Komödie  {xcojucodia)  ist  nach  Aristoteles  hervorgegangen  aus 
den  Gesängen  der  phallischen  Prozessionen,-*)  die  sich  auch  später  noch 
neben  den  Dithyramben  und  der  ausgebildeten  Komödie  erhalten  haben. 
Nach  Aristoteles  poöt.  3  haben  einige  in  bewußter  Anlehnung  an  den  länd- 
lichen Charakter  des  alten  Dionysoskultes  und  mit  der  Absicht,  den  Dorern 
die  Erfindung  dieser  Kunstgattung  zu  vindizieren,  das  Wort  von  xcojut], 
Dorf,  abgeleitet,  womit  die  Derer  dasselbe  was  die  Attiker  mit  öfjjuog  be- 
zeichneten. Aber  der  Name  kommt  vielmehr  von  xwjuog,  d.  h.  bakchischer 
Aufzug,   wovon  auch  xcojtidCeiv  und  das  lateinische  comissari  gebildet  ist.^) 

*)  G.  Fii^SLEB,  Piaton  und  die  aristotel.  die  verschiedenen  Anschauungen   F.  Enoke, 

Poetik    135  ff.  212.     Über  die   Theorie   des  Begriff  der  Tragödie  nach  Aristoteles,  Berlin 

Aristoteles  verdienen  unter  den  zahlreichen  1906,  25  ff. 

Erläuterungsschriften    besondere    Beachtung  ^)  J.  A.  Stricker,   De   tragicorum  ana- 

außer   Lbssinos    Dramaturgie:    J.  Bbrnays,  i   chronismis,  Amsterdam  1880.   Die  Abhängig- 

Grundzüge   der  verlorenen  Abhandlung   des  '   keit  vom   homerischen  Stil   zeigt   sich   auch 

Aristoteles  über  Wirkung  der  Tragödie  in  Ab-  1   in  der  Vonneidung   aller  Deminutiva  in  der 

handl.  der  histor.-philol.  Ges.  in  Breslau  1857,  Tragödie,  in  Nachwirkungen  der  homerischen 

Zwei  Abhandl.  über  die  aristot.  Theorie  des  1   Verstechnik,    die    sich   öfter  in  unattischer 

Drama,   Berlin  1880;    L.  Spenoel,  Über  die  Behandlung  der  positiodebilis  zeigt  (A.v.Mess, 

xd&aoatg  xiov  7fadr)fmxcov,   Abhandl.  d.  bayr.  '   Rhein.  Mus.  58.  1903,  290  ff.). 

Akad.  9  (1863)  1  ff.;  K.  Meisbb,  Beitrag  zur  »)  Antiphanes  fr.  191  Kock. 

Lösung  der  Katharsisfrage,  Blätter  für  bayr.  |           *)  Arist.  poöt.  4 :  /y  Ök  xiofKoöta  d.To  uov 

Ojrmn.  23  (1887)  211  ff.;  N.  Festa.  Sülle  piii  '    xä  (pakXixa  F^agxovuoy,  ä  fti  xai  vvv  iv  .10).- 

recenti  interpretazioni  della  teoria  Aristotelica  i  XaTg  io)v  tioXeuw  diauhei  vout^ojtm'a. 

della  catarsi  nel  dramma,  Firenze  1901.   Die  |           ^)  Diomedes  p.  488,  5  K :  comoedia  dicta 

Kontroverse  dreht  sich  hauptsächlich  darum,  djio  ribv  xo)ft(7)v  .  .  .  vel  dji6  zov  xcofiov,   id 

ob  wir  bei  der  Katharsis  an   eine  sittliche  1   est   comessatione.    Über  xajfwg  s.  o.  S.  224. 

Reinigong   (Lessing)   oder   an   einen   patho-  |   Völlig   vergessen  ist  die  richtige  Ableitung 

logischen,    Vergnügen    erzeugenden    Prozeß  Etym.  magn.  p.  764. 

(Bemays)  za  denken  haben.    Übersicht  über  | 


250  GriechiBche  LitteratnrgeBchichte.    L  XlaMdsohe  Periode. 

Neben  dem  Namen  Komödie  findet  sich  bei  Aristophanes  der  scherzhaft  nach 
dem  Muster  von  Tgayciydia  gebildete  Name  xQt^yqMa,  der  entweder  von 
TQvyrj  „Weinlese"  oder  tqv^  „Hefe''  herkommt.^)  Mit  den  PhaUosUedem 
war  der  Komödie  von  vornherein  Scherz  und  Lustbarkeit  als  Grund- 
stimmung gegeben,  aber  erst  nach  und  nach  erhob  sie  sich  zu  planmäßigerer 
Darstellung  einer  lächerlichen  Handlung.')  Den  Stoff  nahm  sie  aus  dem 
Leben  der  Gegenwart  (ßiog,  ßianixdg  im  Gegensatz  zu  fiQioixog  und  t^- 
yixog),^)  ihre  Personen  gehörten  der  Wirklichkeit  an,  sei  es  als  Typen  oder 
als  Individuen.  Wo  die  Komödie  Typen  menschlicher  Schwäche  vorführt^ 
hat  sie  humoristischen,  wo  sie  bestimmte  geschichtliche  Personen  oder  Zu- 
stände vorführt,  satirischen  Charakter. 

Das  Satyr  spiel  {61  adtvgoi;  bei  Plat.  symp.  222d  oarvgtxov  i)  oedtjvuear 
dgä^m)  hat  seinen  Namen  davon,  daß  in  ihm  der  Chor  aus  Satyrn^)  ge- 
bildet wurde.  Zugrunde  liegen  Tänze  in  Tiervermummungen,  wie  sie  den 
meisten  primitiven  Kulturen  noch  heutzutage  eigen  sind.  Der  Zusammen- 
setzung und  dem  Charakter  des  Chors  entsprechend  wählte  der  Satyr- 
dichter aus  der  Heldensage  solche  Charaktere  (besonders  Odysseus  und 
Herakles)  oder  Situationen,  die  eine  humoristische  Behandlung  ertrugen. 
Die  heitere  Wirkung  ergab  sich  aber  auch  schon  aus  dem  bloßen  Neben- 
einander ernster  und  großangelegter  Heroengestalten  und  der  in  allen 
Schwächen  der  Sinnlichkeit  befangenen  tanz-  und  springlustigen  Satyrn. 
Das  Satyrdrama  hat  treuer  als  die  Tragödie  den  ursprünglichen  Charakter 
des  Dionysosspieles  festgehalten.^)  Es  ist  ein  heiteres  mythologisches 
Märchenspiel  geblieben,  in  dem  das  Phantastische  den  Hauptreiz  bildet. 
Die  Szene  ist  regelmäßig  in  ländlicher  Umgebung.«)  Entstanden  ist  es  im 
nordöstlichen  Peloponnes,  in  Phlius  aus  volkstümlichen  Mummereien.  Der 
Dichter  Pratinas  von  Phlius,  hat  es  Anfang  des  5.  Jahrhunderts  in  Athen 
eingeführt.  Es  wurde  in  die  städtische  Dionysosfeier  aufgenommen  und 
in  der  Regel  als  Nachspiel  zu  der  tragischen  Vorführung  gegeben.^) 

»)  Schol.  Arist.  Ach.  498;  Ath.  40  b;  Et   ;   Woch.  25  (1905)  164. 


m.  764,  12;  Anon.  de  com.  in  G.  Kaibel.  Com. 
Gr.  fr.  I  p.  7,  3;  davon  Horat.  a.  p.  277:  qui 
canerent  agerentque  peruncti  faecibus  ora, 
*)  Arist.  poöt.  5  p.  1449  a  30:  tj  xto^uo- 
dta    Eoii    filf-ujai^    tfavloTFooyv   hfv,    ov   fth'Tot 


')  Chamaileon  bei  Said.  s.  ovdh  stgo^ 
TOI'  A/ovvaor. 

«)  Vitr.  de  arch.  V  6.  8. 

^)  M.  Casaubonüs,  De  satyrica  Graeco- 
ruin  poesi  et  Homanonim  satura,  der  Ausgabe 


>caTa  .-zäoar  xuxiav,  dX?.ä  tov  aioxt>ov,  ov  iau  des  Pereius  angehängt  (Paris  1605).    Dort  ist 

To  yfXoior  fiootor.    Die  Definition  im  Traktat  ■   zuerst  der  Unterschied  des  griechischen  Satyr- 

HFoi  xoy(io)btaQ  des  Cod.  Coislin.  bei  G.  Kai-  dramas  und  der  römischen  Satire  (alt  Satora) 

BEL.  Com.  gr.  fr.  I  p.  50  §  3   ist  eine  Nach-  festgestellt.  —  Einziger  Repräsentant  ist  f&r 

bildung  der  aristotelischen  Definition  der  Tra-  1   uns  der  Kyklops  des  Euripides.    Vieles  läßt 

gödio.     Durch  den  Charakter  der  neuen  Ko-  >  sich  aus  Darstellungen  auf  Vasenbildem  hin- 

mödie  beeinflußt  ist  die  Definition  des  Theo-  Zugewinnen,  worüber  F.  Wieselbb,  Das  Satyr- 

phrastos  bei  Diomedes  p.  488,  4  K.:  xwfiojöia  spiel,  Gott.  Stud.  1847  S.  565—770.  Die  wich- 

eoTir  IfiKoiixiTiv  noay^MKov  dxirövrog  uFoioy/f.  tigste   bildliche  Quelle   für   imsere  Kenntnis 

')  Schol.  Dionys.  Thr.  p.  172,  25ff.  HiLG.  der  Inszenierung  des  Satyrspiels,  die  apoli- 

*)  über  den  Sinn   des  Namens  odrroot,  sehe  Vase  von  Ruvo,  ist  neu  behandelt  von 

der  gewöhnlich  ohne  weiteres  auf  Grund  von  ,   H.  v.  Prott  in  den  Schedae  philologae  H. 

Angaben  des  Hesych.  s.  mrooc  und  des  Ety-  |    Usenero  oblatae,  Bonn  1891,  p.  47  ff.,  der  das 

mol.  magn.  764, 6  mit  riivnog  (und  dieses  mit  Bild   auf  den  Weihepinax   eines  siegreichen 

T^a;'oc)  identifiziert  wird,  tragen  neue  Ansichten  i   Schauspielers  zurückfilhrt.  0.  Jahn,  Perseus, 

vor  G.  LöscHCKE,  Ath.  Mitt.  19  (1894)  510  ff.  i   Herakles,  Satyrn   auf  Vasenbildem  und  das 

und  F.  Hiller  v.  Gärtringen,   Berl.  philol.  !   Satyrdrama,  jfhilol.  27  (1868)  1—27.    Wenig 


G.  Drama.    1.  Anfänge  und  ändere  YerhältniBse.    (§  145.)  251 

Die  Unterschiede  der  drei  Arten  von  Dramen  waren  auch  äußerlich 
in  der  Eostümierung  des  Chors  und  der  Schauspieler  ausgeprägt;  ins- 
besondere war  für  die  Tragödie  bezeichnend  die  stelzenartige  Fußbekleidung 
{ijLLßdrtjg,  x&&oQvog),  die  Verbreiterung  der  Gestalt  durch  Auspolstern  (ocüjud- 
Tiov)  und  der  hohe  Haaraufsatz  (ßyxog)^  welche  die  Heroen  über  das  Maß  der 
gewöhnlichen  Menschen  erhöhten,  entsprechend  der  Vorstellung  von  der  über- 
ragenden Körpergröße  der  Heroen J)  Umgekehrt  trugen  die  Personen  der 
Komödie  einen  niederen  Schuh  {i/ußäg^  lat.  soccus)  und  banden  sich  als 
Diener  des  befruchtenden  Gottes  der  Zeugung  einen  großen  roten  ledernen 
Phallos  um.  Die  Choreuten  des  Satyrdramas  trugen  jedenfalls  Ende  des 
5.  Jahrhunderts  einen  Schurz  aus  Ziegenfell,  hatten  vom  einen  Phallos, 
hinten  ein  Bocksschwänzchen;  früher  haben  sie  wohl  die  Verkleidung  in 
pferdeschwänzige  Silene*)  gehabt.  Masken  wurden  in  allen  Arten  des 
Dramas  von  den  Schauspielern  getragen.  Dadurch  war  aus  den  theatra- 
lischen Wirkungen  das  Mienenspiel  ausgeschaltet  und  der  Schauspieler  an 
einen  gewissen  Typus  von  Haltung  gebunden,  der  auch  für  seine  Körper- 
bewegungen maßgebend  sein  mußte.  Wechsel  der  Maske  innerhalb  einer 
und  derselben  Rolle  kommt  im  griechischen  Drama  nur  sehr  selten  vor.^) 

145.  Athens  Bedeutung  für  das  Drama.  Nach  Aristoteles  poöt.  3 
erhoben  die  Derer  den  Anspruch,  das  Drama  erfunden  zu  haben,  die  Me- 
garer  die  Komödie,  andere  Peloponnesier  die  Tragödie.  Das  war  gewiß 
nicht  ganz  unbegründet,  da  tatsächlich  durch  Pratinas  das  Satyrspiel  von 
Phlius  nach  Athen  verpflanzt  wurde  und  die  in  dorischem  Dialekt  ge- 
schriebenen und  zur  Aufführung  in  einer  dorischen  Stadt  bestimmten  Stücke 
des  Komikers  Epicharmos  sicher  nicht  von  Athen  aus  ihre  Anregung  em- 
pfangen haben.  Aber  zur  Entwicklung  und  glänzenden  Entfaltung  kam 
das  dramatische  Spiel  erst  in  Attika.  Hier  hatte  schon  früh  auf  dem 
Land,  namentlich  in  dem  rebenreichen  Dorf  Ikaria,  der  fröhliche  Dionysos- 


förderlich ist,  was  G.  Thiele,  N.  Jahrbb.  f. 
kl.  Alt  9  (1902)  422  ff.  über  den  UrspruDg  des 
Satyrspiels  matmaßt. 


des  5.  Jahrb.,  eher  ernsthaft  ertragen  als  das 
Zeitalter  des  zunehmenden  Realismus;  auch 
K.  K.  SiHTH,  Harvard  Studies  16  (1905)  leugnet 


')  Siehe  W.  Schmid,  Zur  Gesch.  des  gr.  ,  den  Kothurn   fOr  das  5.  Jahrb.;   vorsichtiger 

Dithyr.  25A.;  Aristot.  pol.  1254b  85;  1332  b  M.  Bieber,  Das  Dresdener  Schauspielerrelief, 

18  f.;  P8.Plut  Vit.  Hom.  113;  Schol.  Dionys.  Bonn  1907. 

Thr.  p.  17,  28  ff.;  Schol.  Hom.  ft  103;  es  ist  1           *)  Daß   die  Trennung  von  adivgog  und 

die  fiberall  volkstümliche  Vorstellung  von  den  '  aedijv6<;  anfangs  nicht  streng  war,  zeigt  Eupol. 

Riesen,  Heunen,Joten,Thur8en  der  Vorzeit  (aus  l  fr.  443E.  und  Xen.  an.  1  2,  13.  Mythologische 

annenischer  Sage  vgl.  z.B.CHALATiANZ.Ztschr.  |  Systematiker  freilich  wie  Hesiod.  bei  Strab. 

f.  Volkskunde  14,  1904,296;  die  Neugriechen  471  hielten  sie  auseinander.    Siehe  A.  Furt- 

stellen  sich  die  ^EXkrjvsg*  auch  als  Kiesen  1  wängleb,  Der  Satyr  aus  Pergamon,  Berl.  1880, 

vor:  K.  Dietbbioh,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt.  17,  '  24  f.    Neben  den  Pferdemenschen  (Silenen) 

1906,  95).    Der  Kothurn  läßt  sich  nicht  unter  i  und  den  Bocksmenschen  (Satyrn,  deren  Ge- 

Aonahme  von  Mißverständnissen    des   Cha-  stalt  wohl  durch  den  Typus  des  arkadischen 

maileon  so  leichten  Kaufs,  wie  A.  Koste  in  Pan  beeinflußt  ist),  tritt  noch  eine  dritte  Gat- 

der  Festschr.  zur  49.  Philologenvers,  zu  Basel  I  tung  von  dionysischen  Dämonen  tanzend,  mit 

1907  S.  198  ff.  will,    aus   der   Tragödie    des  1  dicken   Bäuchen   und   Hinterteilen,    auf  alt- 

5.  Jahrb.  wegdemonstrieren.     Er  hängt  mit  korintliischen  Vasen  auf;  in  diesen  letzten  will 

der  ganzen  Vergrößerung  der  Gestalt  der  Tra-  !  G.  Löschcke  die  eigentlichen  ndivgoi  (=  saturi 

gOden  solidarisch  zusammen.     Den   für  uns  i  die  Vollen  oder  Sättigung  Spendenden)  sehen. 

ans  Komische   grenzenden  Eindruck   dieser  I           ')  0.  Hense,  Die  Modincirung  der  Maske 

nachgemachten   Riesen   der   Vorzeit  konnte  i  in  der  griechischen  Tragödie,   Freiburg  i.  B. 

jedeDÜELlls  ein  gläubiges  Publikum,  wie  das  |  1902,  2.  A.  1905. 


252  Griechiache  Litteraturgeachichte.    L  KUssische  Periode. 

dienst  Boden  gefaßt.  Aber  auch  in  Athen  waren  spätestens  seit  dem 
Anfang  des  6.  Jahrhunderts  am  westlichen  und  südlichen  Abhang  der 
Burg  Kultbezirke  des  Dionysos.  Die  Feste  des  Gottes  hat  Peisistratos  im' 
Zusammenhang  seiner  religionspolitischen  Bestrebungen  mit  besonderem 
Glanz  ausgestattet.^)  Im  Jahr  534*)  trat  zum  erstenmal  Thespis  als 
Schauspieler  dem  dionysischen  Chor  gegenüber  vermutlich  bei  den  städti- 
schen Dionysien,  in  deren  Agon  hiemit  neben  dem  lyrischen  Dithyrambus 
das  Drama  aufgenommen  war.  Damit  war  der  Anfang  gemacht  zu  einer 
religiösen  und  künstlerischen  Entwicklung  von  größter  Tragweite:  die  wirk- 
samste Form  für  die  Darstellung  der  alten  religiösen  Ideen,*)  zugleich  für 
eine  mögliche  Umbildung  derselben  war  gefunden,  und  Athen  hatte  sich 
derjenigen  Gattung  der  Poesie  bemächtigt,  durch  die  gerade  ihm  bestimmt 
war,  den  nachhaltigsten  Einfluß  auf  die  gesamte  griechische  Kultur  aus- 
zuüben. Schon  nach  sechzig  Jahren  trug  Aischylos  die  attische  Tragödie 
nach  dem  gi*iechischen  Weston,  und  nach  der  Gründung  des  attischen  See- 
bundes wirkte  von  der  dionysischen  Orchestra  Athens  aus  attischer  Geist  jedes 
Frühjahr  mächtig  auf  die  herbeiströmenden  Massen  der  östlichen  Bundes- 
glieder. Die  Pracht  der  Feste  stellte  an  die  Freigebigkeit  und  das  Ver- 
mögen der  reicheren  attischen  Bürger,  die  dafür  in  Anspruch  genommen 
wurden,  ungewöhnlich  hohe  Anforderungen,  und  die  Freiheit  der  Rede  im 
Theater  hatte  die  Freiheit  des  Wortes  im  öffentlichen  Leben  zur  Voraus^ 
Setzung.  Wie  das  Epos  im  ruhigen  Sonnenglanz  der  kleinasiatischen 
Fürstenhöfe  erblüht  war,  die  Lyrik  im  Drang  der  Kämpfe,  die  dem  Unter- 
gang des  patriarchalischen  Königtums  folgten,  geboren  wurde,  so  war  das 
Drama  ein  Kind  der  Volksherrschaft  und  desjenigen  Staates,  der  als  das 
Bollwerk  der  Demokratie  in  ganz  Uellas  angesehen  wurde.*)  Auch  der 
Charakter  des  athenischen  Volkes  war  der  Entwicklung  des  Dramas 
günstig:  das  Interesse  für  sittlich-religiöse  Gegenstände  war  hier  besonders 
lebendig,  die  Neigung  des  Atheners  zu  dialektischer  Auseinandersetzung 
fand   in  dem  Wortstreit  des  dramatischen  Dialogs  willkommene  Nahrung. 

')  Über  das  Temcnos  Aiovroor  'AV.fnVc-  |   der  Olympiade   das  Marmor  Parium   ep.  4S, 

ni'o)^  8.  jetzt  W.  DöRPFELD,  Das  gricch.  Theat.  i   nur  daß  hier  von  der  Jahresnnmmer  bloß  die 

tab.  I  und  S.  16  f.  W.JcDEicn.Topogr.  V.Athen,  |   Zeichen    HHP   ~    250   erhalten    sind;    daß 

München  1905,  282  f.;  es  standen  hier  zwei  i    dazu  noch  AA  ergänzt  werden  muß.  folgt  ans 

Uionysostenipcl.  der  ältere  mit  dem  Schnitz-  |   der  Olympiadenangabe  bei  Suid.,  welche  die 

bild  des  (iottes,  Spätestensaus  peisistratischer  Wahl  des  Jahres  im  Rahmen  von  536 — 532 

Zeit,    wenig  südlich   davon   der  jüngere  mit  läßt.  Da  aber  nach  Seldens  Angabe  hinter  der 

dem  (Joldelfenbeinbild  von  Alkamenes.     Ein  1    erhaltenen   Zahl   im  Marm.  Par.  noch   fttr  3 

noch  älteres  Heiligtum  des  Dionysos,  in  dem  '   Zeichen  Platz  ist,   so  kann   außer   534  noch 

das  älteste  ionisch-attische  Dionysosfest,  die  535  in  Betracht  kommen. 

A nth es terion,  gefeiert  wurden,  lag  /r /./'/n«/c ;  ,            ')  Ps.Plat.  Min.  321  A  fou  de   n/^  jtoii}- 

aucli  dieses    nebst  «lem  dionysischen  Kelter-  ;   ofros  fit)ttoTFonF.oiaTov  je  xai  yn^xfiytoytHanazor 

bezirk  (Lenaion)  glaubt  Dörpfeld  wieder  ge-  t)  ro«;'o>Am. 

funden  zu  haben  in  der  Einsenk ung  am  West-  *)  Wie  die  Macht  Athens  wesentlich  auf 

abhang  der  Akropolis  südlich  vom  Areshügel.  dem  geistigen  Vorrang  beruhte,  drückte,  nach- 

Vgl.  Jl'deich  2r)l  f.     Callimach.    Hecale  bei  dem  auch   noch   die  Öophistik   ihren  Sitz   in 

Scliol.  Ar.  ran.  216  verlegt  die  Fonral  yooo-  Athen   genommen   hatte,   Perikles   (Thuc.  II 

miuSf^  im  athenischen  Limnebezirk  schon  in  41)  mit  den  berühmten  Worten  aus:  ^wbX^v 

die  mythische  Zeit  zurück.  )Jy(n    rt/v  .to'//»»   r/yc:  'Ekkaöo^   jraiÖFvaiv   eiVou. 

'^)  Ol.  61  r^  536/32  V.  Chr.  führte  nach  ;   Über  die  Vorzüge  des   attischen   Dialektes, 

Suidas  Thespis  ein  Drama  auf  (tMa^F) ;  das  seine  xom'mj^  xal  fteroiortfi  Isokrates  15, 295. 
Datum  gibt  genauer  mit  Angabe  des  Jahres 


G.  Drama.    1.  Anfänge  und  Andere  YerhältniBse.    (§  146.) 


253 


Rasch  war  es  allgemein  anerkannt,  daß  der  oberste  Gerichtshof  des  Ge- 
schmacks in  Beurteilung  der  Tragödie  das  Publikum  von  Athen  sei.>) 

146.  Bühnenaltertümer.  Ehe  wir  uns  zu  den  Dichtem  und  zur 
geschichtlichen  Entwicklung  der  dramatischen  Poesie  wenden,  sollen  die 
Hauptpunkte  der  szenischen  Altertümer,^)  das  Theater,  die  Spieltage,  die 
Aufführungen,  sowie  die  Ökonomie  des  Dramas  kurz  berührt  werden. 

Das  Theater, 3)  Matgov^  bedeutet  der  Etymologie  nach  Platz  zum 
Schauen;  gibt  es  aber  etwas  zum  Schauen,  so  stellen  sich  die  Zuschauer 
im  Kreis  (corona)  um  den  Künstler;  kreisrund  war  auch  in  der  älteren  Zeit 
der  Markt  (nyogä)^^)  der  das  natürliche  Lokal  für  solche  Produktionen  ab- 
gab, und  im  Kreise  stellte  sich  der  dithyrambische  Chor  (xvxXiog  x^Q^^) 
auf,  der  inmitten  der  Zuschauer  um  einen  Altar  {üvjueh])  seine  Reigen 
und  Gesänge  aufführte.  Um  das  Zuschauen  für  eine  größere  Masse  mögUch 
zu  machen,  schritt  man  zum  Aufschlagen  von  Gerüsten  {ixQia),  so  daß 
sich  die  Zuschauerbänke  terrassenförmig,  die  einen  über  den  andern,  er- 
hoben. Bei  großem  Zudrang  konnte  leicht  ein  solches  Gerüste  zusammen- 
brechen, wie  von  einem  derartigen  Unfall  in  Athen  zur  Zeit  der  70.  Olym- 
piade (500/497)  eine  Notiz  bei  Suidas  erhalten  ist.^)  Trotzdem  hat  man 
sich  das  ganze  5.  Jahrhundert  hindurch  mit  diesen  Holzgerüsten  beholfen. 
Erst  im  4.  Jahrhundert  wurde  mit  dem  Bau  steinerner  Stufen  für  die  Zu- 
schauer gegenüber  dem  Bühnenhaus  im  Bezirk  des  Dionysos  Eleuthereus 
begonnen  und  dieser  Bau  unter  der  Finanzverwaltung  des  Redners  Lykurgos 
(338 — 26)  ausgeführt.  Auch  ein  massives  Bühnenhaus  ist  erst  damals  er- 
richtet worden.  6)  Das  Theatergebäude  von  Epidauros  ist  wahrscheinlich 
älter  als  das  von  Athen.  Dieses  ist  1862,  jenes  1881  ausgegraben 
worden.') 


^)  So  führt  den  athenischen  Demos  in 
Gestalt  des  Gottes  Dionysos  Aristophanes  in 
den  FrOschen  als  Ästhetiker  vor,  und  Piaton 
l&ßt  im  Laches  183 ab  den  Laches  sagen:  os 
ar  otTjTou  TQaycpSiav  pecdtbg  jiotsTv,  ovx  e^w^sv 
xvxXfp  jieQi  xrjv  *Aixixi]v  xatä  zag  äXXag  jzoketg 
ijiideixvvfityog  nsgiegysTai,  all*  ev&vg  devoo 
<piQ€xcu  xai  zoigö*  embsixvvoiv  flxörcog. 

')  A.  MüLLEB,  Lehrbuch  der  griechischen 
Bflhneoaltertttmer,  Freiburg  1886;  Ders.,  Das 
attische  Bühnenwesen,  kurz  dargestellt,  Güters- 
loh 1902,  mit  Besprechung  der  neueren  Kon- 
troversen, iiltere  Werke :  W.  Schiveider,  Das 
attische  Theaterwesen,  Weimar  1835,  K.  £. 
GxppBBT,  Die  altgriechische  Bühne,  Leipz.  1843, 
J.  SoiuauiBBODT,  Scaenica,  Berl.  1876.  —  In 
dem  Handbuch  der  klass.  Altertumswissen- 
schaft gibt  von  den  szenischen  Altertümern 
V,  3  (1890)  eine  spezielle  Darstellung  G. 
Oehkiohkn.  Ein  gutes  englisches  Handbuch 
ist  A.  E.  Haioh,  The  Attic  Theatre,  Oxford 
1898.    Anderes  in  folgender  Note. 

')  W.  DöBPFiLD  u.  E.  Rbisch,  Das  grie- 
chische Theater,  Athen  1896,  grundlegendes 
Hauptwerk.  Daneben  aber  noch  zu  gebrau- 
chen Fs.  WnsBLKB,  Theatergebäude  u.  Denk- 
mäler des  Bühnenwesens  bei   den  Griechen 


!  und  Römern,  Göttingen  1851,  mit  Nachträgen. 
I  Den  Aufstellungen  Dörpfelds  tritt  vielfach 
i  entgegen  E.  Bethe,  Prolegomena  zui-  Ge- 
schichte des  Theaters  im  Altertum,  Leipz. 
1896;  0.  PucHSTEiN,  Die  griechische  Bühne, 
Berlin  1901. 

*)  11. 1  304,  wo  die  Richter  auf  Steinen 
sitzen  iFOfo  eri  xvxho.  Rund  war  auch  der 
durch  Schliemann  bloßgelegte  Markt  von 
Mykene.  —  Die  alte,  am  Markt  gelegene 
Orchestra  zu  Athen  diente  vielleicht  bis  An- 
fang des  5.  Jahrhunderts  als  Spielplatz  für 
die  tragischen  Agone  (W.  Judeich,  Topogr. 
v.  Athen  304). 

^)  Xen.  Cyrop.  VI  1,  54  erwähnt  eine 
Toayixi]  oxtfvrj  aus  Holzbalken. 

*)  Suidas  u.  Tlgarivag  und  Aioyvlog.  Da 
Pratinas  nur  einmal,  Aischylos  erst  484  den 
ersten  Sieg  erlangte,  so  ist  bei  Suidas  viel- 
leicht die  Zahl  o  (70)  verderbt  bezw.  der 
Unfall  falschlich  mit  einem  Ereignis  aus  Ai- 
schylos' Leben  verknüpft  (W.  Schmid,  Philol. 
47,  1888,  573  f.). 

^)  Die  heutigen  Reste  des  athenischen 
Theaters  zeigen  neben  einer  älteren,  etwas 
weiter  südlich  gelegenen  Orchestra  noch  die 
Anzeichen     zweier    Umbauten,    welche    die 


254  Griechische  LitteratnrgeBchichte.    I.  KUssische  Periode, 

147.  Teile  des  Theaters.  In  einem  griechischen  Theater  sind  drei 
Hauptteile  zu  unterscheiden:  1.  der  Zuschauerraum  {^iatgov  oder  xöiior, 
cavea),  der  aus  allmählich  ansteigenden,  über  den  Halbkreis  hinausgezogenen 
Sitzreihen  für  die  Zuschauer  (rotg  decopiivoig)  bestand,  2.  der  kreisrunde 
Tanzplatz  (ÖQXfjorga)  mit  dem  Altar  (;&vßiiXrjy)  in  der  Mitte,  auf  der  ebenen 
Erde  für  den  Chor,  3.  das  Spielhaus  (pxtjvtj,  scaena),*)  das  zunächst  das 
Zelt,  in  dem  sich  die  Schauspieler  an-  und  umkleideten,  dann  im  weiteren 
Sinn  den  Platz,  auf  dem  die  Schauspieler  spielten  {Itü  axtjv^g)^  bedeutete. 
Zu  diesen  drei  Hauptteilen  kommen  noch  die  seitlichen  Zugänge  {Ttägodoi)^ 
die  zwischen  den  vorderen  Stützmauern  der  Gavea  und  den  Seitenwänden 
der  Bühne  lagen  und  durch  die  nicht  bloß  der  Chor,  sondern  in  der  klas- 
sischen Zeit  auch  die  von  außen  kommenden  Schauspieler  eintraten  (rechts, 
vom  Zuschauer  aus  gesehen,  vom  Hafen,  links  vom  Land).  Der  Zuschauer- 
platz war  durch  Umgänge  {diaCojfiaxa,  praecinctiones)  und  radienförmig  ange- 
legte Treppen  in  mehrere  Abteilungen  (xeQxideg,  cMwei)  gegliedert  (in  Athen  13, 
in  Epidauros  12,  in  Thorikos  nur  3,  im  Peiraieus  13  im  unteren,  26  im 
oberen  Teil).  In  der  Orchestra  hat  anfangs  wie  der  Kitharöde,  so  auch  der 
Schauspieler  seinen  Platz  gehabt. »)  Noch  die  ältesten  Stücke  des  Aischylos, 
die  Schutzflehenden  und  die  Perser,  scheinen  in  der  Orchestra  gespielt  zu 
haben.*)  Die  Skene  bestand,  wie  angedeutet,  ursprünglich  aus  einer  rück- 
wärts von  der  Peripherie  des  Orchestrakreises  aufgeschlagenen,  für  die 
Theaterrequisiten  bestimmten  Bretterbude;  der  Name  ging  dann  auf  den 
vor  jener  Bude  sich  ausbreitenden  Spielplatz  über,  auf  dem  die  Dramen 
(nicht  die  Dithyramben)  aufgeführt  wurden.  Dieser  war  gedielt  und  außer 
durch  die  Rückwand  {oxi]V}]  im  engeren  Sinn)  auch  noch  durch  beiderseits 
vorspringende  Seitenflügel  {naoaoxrjvia)  begrenzt.  Die  dem  Zuschauer 
zugekehrte  vordere  Dekorationswand  der  oxrjyn)  heißt  Jigooxifjviöv,  Zutritt 
zum  Spielplatz  hatten  die  Schauspieler  entweder  durch  eine  der  Türen  der 
Rückwand,  oder,  wenn  sie  aus  der  Fremde  kamen,  durch  einen  der  großen 
unteren  Seiteneingänge  {nt  xuto)  Jidoodoi).  Später  brachte  man  auch  an 
den  Paraskenien  Türen  an,  so  daß  durch  diese  die  Schauspieler,  die  vom 
Hafen  oder  dem  Marktplatz  oder  dem  Lande  kommende  Personen  vor- 
stellten, auftreten  konnten.     Bei  dem  regen  Verkehr,  der  zwischen  den 

Buhne  in  hellenistischer  und  in  römischer  *)  Was  Pollux  IV  123  über  den  Opfer- 
Zeit   (durch    Nero   und    durch   Phaidros   im  tisch  (f/lf<>s)   berichtet,   von  dem   henib   der 

3.  Jahrhundort  n.  Chr.)  erfahren  hat.  Am  ,  Schauspieler  vor  Thespis  dem  Chor  respon- 
reinsten  zeigt  die  echt  griechische  Ursprung-  !  diert  haben  soll,  führt  auf  MißverstänaniB 
liehe  Anlage  das  epidaurische  Theater  mit  '  einer  Komikerstelle  zurück  E.  Hillsb,  Rhein. 
seiner  kreisrunden  Orchestra.  Mus.  39  (1884)  329.  Auch  für  das  große  Theater 

^)  über  das  Verhältnis  von  6(iyj)ojna  zu  in  Pompeii  hat  jetzt  A.  Mau  (Mitt  des  röm. 

{>vnfh]   A.    MüLLEB    S.  129  ff.;    Dörpfeld-  Inst.  21.  1906,  1  ff.)  Spielplatz  zu  ebener  £Me 

Reiscu,  Das  griech.  Theater  277  ff.    Seit  dem  nachgewiesen. 

4.  Jahrhundert  werden  von  den  oxtjvixoi  *)  Wilamowitz,  Die  Bühne  des  Aischylos, 
dyiovE^  (Schauspiele)  die  übrigen,  in  der  Or-  Herm.  21  (1886)  597  ff.  Nach  ihm  fand  der  Ban 


chestra  vorgetragenen  Solistenlcistungen  als 
{h^fif)Axoi  ayMVF.^  unterschieden,  worüber  J. 
Frei,  De  certaminibus  thymelicis,  Diss.  Basel 
1900. 


einer  Rückwand  erst  um  460  vor  AuMhmng 
der  aischy lischen  Orestie  statt  Einwendungen 
von  B.ToDT,  Phil.  48  (1889)  505  ff.  Diegenannten 
zwei  Stücke  sowie  die  Sieben  des  Aiach.  be- 


^)  0.  ScHERLiNG,  De  vocis  oxtjvt)  quatenus   •   dürfen  auch  keiner  gemalten  Hinterwand  (H. 
ad  theatrum  Graecum  pertinet  significatione.   \   Weil,  ^tudes  sur  le  drame  ant.  16  ff.). 
Diss.  Marburg  1906.  | 


G.  Drama.    1.  Anf&nge  und  ftußere  Verhältnisse.    (§  147.)  255 

SchauBpielem  und  dem  Chor  im  klassischen  Drama  stattfand,  ist  es  nicht 
zu  bezweifeln,  daß  zur  Zeit  des  Aischylos,  Sophokles  und  Euripides  Chor 
und  Schauspieler  auf  demselben  Platz  sich  befanden  und  auf  demselben 
Niveau  sich  bewegten,  wenn  auch  in  der  Regel  die  Schauspieler  näher  bei 
der  Skenenwand,  der  Chor  näher  der  Orchestra  sich  bewegen  mochten. 
Aber  eine  in  der  letzten  Zeit  lebhaft  erörterte  Streitfrage  ist  es,  ob  dieser 
Spielplatz  erhöht  war  und  eine  eigentliche  Bühne  bildete  oder  nicht.  ^ 
Zur  Entscheidung  der  Frage  beweisen  die  erhaltenen  Theaterreste  nichts, 
da  keiner  von  ihnen  in  die  Zeit  der  drei  großen  Tragiker  hinaufreicht; 
nichts  auch  die  Bauvorschriften  des  Vitruvius  de  archit.  V  6,  da  sich  diese 
auf  das  hellenistische  Theater  beziehen.  Beweiskräftig  sind  allein  neben 
den  allgemeinen  Oesetzen  der  Optik  die  in  den  Dramen  der  Klassiker  uns 
erhaltenen  Anzeichen.*)  Diese  aber,  namentlich  der  Gebrauch  von  ävaßaiveiv 
und  xaxaßaiveiv  in  Aristoph.  eq.  149,  vesp.  1342,  1514,  Ach.  732,  Eccl. 
1152,  av.  175,  die  Erwähnung  des  buckeligen  Anstieges  (oifiöv)  in  Aristoph. 
Lys.  288  und  zwei  andern  in  den  Scholien  zu  jener  Stelle  angeführten 
Komödien,  die  Klagen  der  Greise  über  die  Mühen  des  ansteigenden  Weges 
in  Eur.  El.  489,  Ion  727  u.  738  fif.,  Herc.  120,  Aristoph.  av.  20  «.  u.  49  flf. 
legen  die  Annahme  nahe,  daß  der  Spielplatz  erhöht  war.^)  Wie  hoch, 
läßt  sich  nicht  leicht  ausmachen,  da  hiefür  bestimmte  Anzeichen  mangeln 
und  die  Höhe  der  hellenistischen  Bühne  (3 — 4  m)  für  die  klassische  Zeit 
nicht  maßgebend  war.  Allgemeine  optische  Erwägungen  lassen  eine  Höhe 
von  ca.  5  Fuß  und  einen  Aufstieg  entweder  durch  Stufen  oder  auf  einer 
schiefen  Bretterebene  vermuten.*)  —  Zu  diesen  Hauptteilen  des  griechi- 
schen Theaters  kamen  nun  noch  allerlei  Ausrüstungsstücke,  wie  die  dreh- 
baren Prismen  an  den  Seitenwänden  {neglnyaoi^  machinae  Versailles  trigonoe 
bei  Vitruv),  die  mit  je  drei  Tafelbildern  bedeckt  waren  und  durch  deren 
Drehung  eine  Veränderung  der  Szene  angedeutet  werden  konnte;*)  zahl- 
reiche Maschinen,  unter  denen  besonders  nennenswert  die  Rollmaschine 
{ixxvxXrjfjia),  durch  die  Personen  aus  dem  Innern  des  Bühnenhauses  auf 
die  offene   Bühne   herausgerollt   wurden,    die   Schwebemaschine,   eine  Art 


^)   Daß   der  Spielplatz   erhöht  war,   ist  1  ciat.  22,  B^rl.  1893,  E.Bodbnsteinbb,  Szenische 

die  hergebrachte  Meinung,  für  die  E.  Weiss-  |  Fragen  über  den  Ort  des  Auftretens  und  Ab- 

XAKH,  Die  szenische   Aufführung  der   grie-  {  gehens  von  Schauspielern  und  Chor  im  griech. 

chischen   Dramen,   München  1893,   mehrere  i  Drama,    gekrönte    Mttnchener    Preisschrift, 

beachtenswerte  Beweise  beibrachte,  darunter  '  publiziert  in  Jahrbb.  f.  kl.  Philol.  Suppl.  19 

die    Stelle   aus    der   Parodos    des   Herakles  (1893)  637  ff.   und  E.  Reisch  in    Dörpfeld- 

120  ff.,  auf  die  Christ  zuerst  hinwies,  um  zu  1  Reisch,  Das  griechische  Theater  IV.  Abschn. 

beweisen,  daß  auch  der  Chor  beim  Einzug  in  <  ')  Dagegen  Dörpfeld-Reisch  188  ff. 

die  Höhe  sieigen  mußte.    Für  die  Zeit  nach  ,  ^)  Den  Aufstieg  von  der  Seite   benennt 

427  nimmt  auch  E.  Bethe,  Prolegomena  zur  '  Plat.  symp.  194b  dxoißa?  (s.  aber  E.  Roude, 


Gteftchichte  des  Theaters  im  Altertum,  Leipz 
1896,  eine  erhöhte  Bühne  an.  Die  entgegen- 
gesetzte Meinung,  daß  das  ganze  Drama  zu 
ebener  Erde  auf  dem  Boden  der  Orchestra  ge 


Kl.  Sehr.  II  386  ff.).  Dazu  dienten  Stiegen,  wo- 
von der  Name  sca<larum>  via,  Fragm.  Bob. 
in  Gramm,  lat.  VI  p.  620,  2  ed.  Keil.  Siehe 
aber  Dörpfeld-Reisch  303  f. 


spielt  habe,  vertritt  im  Gegensatz  zur  Überliefe-   j  *)  Nachweisen   läßt  sich   der  Gebrauch 

nmg  des  Altertums  (Vitruv.  V  6)  W.  Dörpfeld.   |  der  Periakten  in  keinem  der  uns  erhaltenen 

•)    Über    sie    handeln    mit    Bezug    auf  '  Stücke.     Ober  den   nur  in  der  Orestie   und 

unsere  Frage  £.  Capps,   The   stage   in  the  dem  Aias  vorkommenden  Szenenwechsel,  bei 

greek  theatre  according  to  the  extant  dramas,  dem  Periakten  nicht  anzunehmen,  Dörpfeld- 

in  Transactions  of  the  American  philol.  asso-  Reisoh  211  ff. 


256  Griechische  LitteraturgeBchichte.    L  Elassiflche  Periode. 

Krahnen,  an  dem  Personen  schwebend  (cbro  piijxctvfjs)  vorgeführt  werden 
konnten,  die  Göiterbühne  (Oeo/ioyeiov,  im  Gegensatz  zum  gewöhnlichen 
loynov),  die  Götter  auf  einem  höheren,  durch  das  Dach  der  Spielbude  ge- 
bildeten Standplatz  erscheinen  ließ.^) 

148.  Spieltage  und  Agone.  Der  Ursprung  des  Dramas  aus  dem 
Kult  des  Dionysos  gab  sich  bei  den  Athenern  bis  in  die  spätesten  Zeiten 
darin  kund,  daß  Dramen  nicht  alltäglich  und  nicht  zu  beliebigen  Zeiten, 
sondern  nur  an  den  Festen  des  Gottes  Dionysos  zur  Aufführung  kamen. 
Den  Ehrenplatz  hatte  deshalb  im  steinernen  Dionysostheater  zu  Athen  in 
der  Mitte  der  ersten  Reihe  der  Priester  des  Dionysos  Eleuthereus.*)  Das 
Drama  trat  so  in  den  Kreis  der  musischen  Wettkämpfe  {dytbveg  juovotxoi) 
ein,  indem  zur  Feier  der  Götterfeste  durch  poetische  und  musikalisch- 
orchestische  Produktionen  vom  Staat  eine  Preisbewerbung  eingerichtet 
wurde.  3)  Die  Hauptfeste,  an  denen  Dramen  zur  Aufführung  kamen,*) 
waren  die  groüen  oder  städtischen  Dionysien,*)  gefeiert  im  Frühlingsmonat 
Elaphebolion  (März/ April),  und  die  Lenäen  oder  das  Kelterfest,  begangen 
im  Monat  Gamelion  (Januar/Februar).«)  Die  Dionysien  überstrahlten  seit 
den  Perserkriegen  an  Glanz  und  Dauer  alle  anderen  Feste.*')  Athen  zeigte 
sich  dabei  im  Festgewand  gegenüber  ganz  Hellas,  insbesondere  auch  gegen- 
über den  Bundesgenossen,  deren  Abgesandte  um  jene  Zeit  die  Tribute 
nach  Athen  brachten  und  dem  Festspiel  im  Theater  beiwohnten.  Die 
Leitung  der  Festfeier  hatte  der  erste  Beamte  des  Staates,  nach  dem  das 
Jahr  benannt  wurde,  der  äQ^cov  iTKovvjiioi;.  Aus  der  geringen  Zahl  der 
Dichternamon,  welche  die  inschriftlichen  attischen  Listen  vor  Aischylos  auf- 
weisen, scheint  zu  folgen,  daß  in  der  frühsten  Periode  (534 — 484)  der 
Tragödienagon  anders  eingerichtet  war:  entweder  er  fand  nicht  alljährlich 
statt  oder  die  Zahl  der  Konkurrenten  war  kleiner,  s)  Seit  Aischylos  kamen 
an  drei   aufeinanderfolgenden  Tagen   je    drei  Tragödien,    und    zwar   neue, 

*)    Aischylos    und   Sophokles'   Aias    er-  ;   ihnen  nur  ein  Bürger,   an   den  Lenäen  auch 

fordern   kein    iho).oynov   nach  Wilamowitz,  ;   ein  Metöke  (Schol.  Arist.  Flut  953)  die  Cho- 

Euripid.  llerakl.  I'  854,  26.  j   repie  leisten  durfte. 

*)  Sein  Sessel   mit  der  hezttglichen  In-  j           •)  Das  Fest  genannt  nach  dem  Kelter- 

Schrift  wurde  aus  den  Ruinen  hervorgezogen;  !   platz,  daher  der  Ausdruck  o  em  Ativaitp  dytor 

die  Abbildung  bei  A.  Müller  a.  O.  94.    An-  bei  Arist.  Ach.  508;  vgl.  Hesych.  em  Afjvait{} 

gespielt  ist  auf  den  Platz  bei  Arist.  eq.  536,  i   und  1.  Bekkek,  An.  gr.  278.  *£.  Maass,  Ind. 

wenn  man  liest  naoa  Ttp    itovroor.  \   lect.  Grj'ph.  1891    leitet  Atiiwov   nicht  von 

^)  Das  ältere  musische  Fest  Athens,  die  Ai/roc  dor.  Xardi:  »Kelter*,   sondern  von  l//rfj 

Panathenücn,    blieb    auch    nach    Einführung  .Bakchantin'  ab. 

der  neuen  Dionysosfeste  noch  bestehen,  diente  ')  Durch  die  Theaterstücke  wurden  die 

aber  nach  wie   vor  den   älteren  Agoncn  der  !   Dionysien  scaenici  ludi;   rnnsisch    waren  sie 

Rhapsoden,  Auleten,  Kitharisten.  i   schon   zuvor,   aber  der  musische  Teil  wird 

*)  Interpoliert  ist  die  ganze  Stelle  Diog.  ehedem    (Fi  ov  .^oo^toi-   pcw/not  ijtfctr)   nur  in 

Laert.  111  56:  i)onuaon'  i/yonu^orro  Aimvotoiy,  Dithyramben  bestanden  haben;  daß  in  noch 

Atjraioi^,  I lavafhpaioQ  {Hfotrioic:  coni.  Böckh),  •   älterer  Zeit  das  Fest  apollinisch  war,  schließt 

AVroo/c    (Xvjijoi    hieß   der   dritte    Tag   des  A.Momusen,  Heortologie  59  schwerlich  richtig 

ältesten  Dionysosfestes,  der  Anthesterien,  ge-  daraus,  daß  später  noch  der  Preis  fÄr  lyrische 

feiert    am    18.    des    Monates    Anthesterion,  Siege  in  einem  Dreifuß  bestand. 

Febmar März);    richtiger    Schol.  Arist.  Ach.  ®)  A.  Wilhelm,  Urkunden  dramatischer 

Aufführungen  in  Athen.  Wien  1906.  S.  184. 


508;  vgl.  A.  Müller  S.  309  f. 

^)  (ienannt  t«  Fr  uotfi  ,1/orrom,  im 
Gegensatz  zu  den  Dionysien  auf  dem  Land 
(pcfir'  dynor^).    Die   Superiorität   der   großen 


E.  Reisch,  Zeitschr.  f.  östr.  Gymn.  58  (1907) 
307  nimmt  an,  fOr  die  Zeit  vor  500  habe  man 
keine  vollständigen  Verzeichnisse  der  Anf- 


Dionysien   zeigte  sich  auch   darin,    daß  an   ;   führungen  und  Siege  mehr  gehabt 


G.  Drama.    1.  Anfänge  und  äußere  Verhältnisse.    (§  148.) 


257 


nebst  je  einem  Satyrspiel  nach  einer  tragischen  Trilogie  zur  Aufführung,  i) 
Neben  Tragödien  waren  schon  zu  Aischylos'  Lebzeiten,*)  seit  488,  auch 
Komödien  in  den  Agon  der  großen  Dionysien  aufgenommen,  im  5.  Jahr- 
hundert in  der  Regel  drei  im  Ganzen,  im  4.  auch  fünf  (s.  u.  S.  258,  5).  Über 
die  Stelle,  welche  diese  einnahmen,  widersprechen  sich  die  Zeugnisse. 
Aus  den  Versen  der  Vögel  des  Aristophanes  789  flF.,  wo  den  Zuschauern 
Flügel  gewünscht  werden,  um  während  der  langweiligen  Tragödie  hinaus- 
zufliegen und  nach  gutem  Frühstück  zur  lustigen  Komödie  wieder  zurück- 
zukommen, möchte  man  schließen,  daß  damals  auch  an  den  Dionysien  die 
Komödie  an  demselben  Tage  wie  die  Tragödien,  und  zwar  an  letzter  Stelle 
nach  den  Tragödien  gegeben  wurde.  ^)  Nach  dem  Gesetz  des  Euegoros 
hingegen^)  und  nach  den  Didaskalien  im  CIA  II  971  folgten  lyrische  (zuerst 
Knaben-,  dann  Männerchor),  komische,  tragische  Aufführungen  aufeinander, '^) 
wahrscheinlich  so,  daß  am  6.  und  7.  Elaphebolion  die  lyrischen  Wettkämpfe 
der  Knaben  und  Männer  stattfanden,  am  10.  die  Komödien  in  einer  durch 
das  Los  bestimmten  Reihenfolge  (Ar.  Eccl.  1158)  und  am  11. — 13.  die  Tra- 
gödien zur  Aufführung  kamen.  An  dem  älteren,  vom  äQX(jiyv  ßaodevg  ge- 
leiteten Feste  der  Lenäen^)  war  umgekehrt  die  Komödie  das  Hauptfest- 
spiel. Die  Athener  waren  da,  wie  Aristophanes  Ach.  504  sagt,  unter  sich 
allein  und  konnten  sich  so  ungescheuter  über  ihre  politischen  Verkehrt- 
heiten lustig  machen.  Übrigens  wurden,  jedenfalls  schon  geraume  Zeit 
vor  420,  vielleicht  schon  seit  etwa  440,^)  auch  Tragödien  an  den  Lenäen 
gegeben.®)  —  Neben  diesen  zwei  städtischen  Festen  hatten  auch  die  länd- 
lichen Dionysien  theatralische  Vorstellungen;  an  ihnen  kamen  aber  in  der 
Regel  nur  Stücke  zur  Aufführung,  die  in  der  Stadt  bereits  die  Probe  be- 


')  Vier  Tage  zur  Zeit  des  Schauspielers 
Polos  bei  Plut.  an  seni  3  p.  785  b:  vier  Kon- 
kurrenten hatte  Aristophanes  im  Plutos  (i.  J. 
888;  s.  arg.  IV).  Siehe  A.  Mölleb,  Bühnen- 
alt 321  f.  Der  Name  Trilogie  ist  erst  von 
den  alexandrinischen  Bibliothekaren  erfunden, 
die  den  Begriff  der  tragischen  Tetralogie 
nicht  kennen  (H.  Usensr,  Gott.  Nachr.  1892 
218;  Schol.  Ar.  ran.  1124).  Wie  es  kommt, 
daß  jeder  Tragiker  gerade  drei  Stücke  liefern 
mußte  (wiewohl  dies,  wenigstens  für  die 
Lenften,  nicht  immer  zutri£Pt,  s.  für  a.  467 
Arg.  Aesch.  sept. ;  weiteres  Wilhelm,  Urk.  53), 
wissen  wir  nicht;  Vermutungen  bei  H.  Wbll, 
£t.  sur  le  drame  ant  13  ff. 

«)  Wilhelm  a.  a.  0.  108  f. 

•)  Davon  geht  aus  H.  Saüppb,  Ber.  d. 
sachs.  Ges.  d.  W.  7  (1855)  19  ff. 

^)  Das  Gesetz  des  Euegoros,  erhalten  in 
Demosthenes  Midiana  10,   lautet:   Evr'iyogog 
elxeVf  Sxav  t)  nofutrj  /y  ifp  Aiovvocij  fv  IleiQaifX   j 
xai  oi  xwfiofdoi   xal   oi   xQayq>öoif   xai   t)  Em 
Arfnäfp  stofuiif  xai  oi  toayioöoi  xal  oi  xcofuodoi, 
xcd  Töig   ir  äaxet  Aiovvaioig    tj   siofijirj    xai  oi 
JtaiSeg   xai  6  xtofiog   xai    oi  xu)fj(f)doi    xai   oi 
rgaytifdoit    xai    SaQyrj/uayv   xfj    Jtofi^ff    xai  up 
dyutvi   fAf)   i^eivat   fit'fxe  hfX^iQaaai    fitjxe  Aafi-    i 
ßAftiy  iregov  iregov  xxL     Übrigens  brauchte   I 
Handbuch  der  Ums.  AltertiunawiBsensebaft.    YII. 


weder  hier  noch  auf  der  Inschrift  die  Reihen- 
folge chronologisch  gemeint  zu  sein. 

^)  J.  Caesab,  Quaestiones  duae  ad  Arist. 
aves  spectantes,  Marb.  Ind.  lect.  1881  hilft 
sich  mit  der  Annahme  einer  Änderung  nach 
der  Zeit  der  Vögel  (414).  Arist.  ran.  376 
{t)f)ioist'Tai  d'  i^aQxoin'TO)^)  ist  die  Lesung 
unsicher,  jedenfalls  aber  zu  beachten,  daß 
die  Frösche  an  den  Lenäen  aufgeführt  wurden. 

®)  Die  Lenäen  sind  ein  Fest  bei  der 
Kelter  (A?/ros),  und  zwar  ein  ionisches,  über 
dessen  Einzeltage  vgl.  H.  v.  Prott,  Ath.  Mitt 
23  (1898)  222  ff.;  oben  S.  256,  6. 

")  Wilhelm,  Urk.  37;  Wilamowitz.  Gott. 
Gel.  Anz.  1906,  627.  E.  Reisoh,  Zeitschr.  f. 
östr.  Gymn.  58  (1907)  308  setzt  den  Anfang 
des  Tragödienagons  bei  den  Lenäen,  mit  dem 
sogleich  auch  ein  Agon  der  tragischen  Schau- 
spieler verbunden  war,  ca.  432. 

®)  Der  Sieg  des  Agathon  an  den  Lenäen 
ist  bezeugt  durch  Ath.  217a;  daß  Sophokles 
an  den  Lenäen  wie  an  den  Dionysien  Siege 
errang,  steht  aus  den  didaskalischen  Angaben 
(Wilhelm,  ürk»  102)  fest.  Die  Divergenzen 
in  den  didaskalischen  Notizen  bezüglich  der 
Zahl  der  Siege  sind  darauf  zurückzuführen, 
daß  die  lenäischen  Siege  teils  eingerechnet 
wurden,  teils  nicht. 


5.  Aufl. 


17 


258 


Ghriechische  Litteratorgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


standen  hatten.  ^  Besucht  waren  besonders  die  Dionysien  im  Peiraiens; 
Theater  gab  es  überdies  in  Thorikos,  Munichia,  Eleusis,  Aiione,  Salamis.*) 
Beim  Anthesterienfest  findet  sich  nur  eine  Spur  von  Beziehung  zu  drama- 
tischen Aufführungen  in  dem  dyojv  komischer  Schauspieler  am  dritten  Tag 
des  Festes,  den  ;^(;Toof.  Diese  Vorprobe,  die  eine  Zeitlang  in  Vergessenheit 
geraten  sein  muß,  hat  der  Redner  Lykurgos,  der  eifrige  Förderer  der 
dionysischen  Aufführungen,  durch  Gesetz  aufs  neue  verbindlich  gemacht.*) 
Möglicherweise  ist  der  Chytrenagon  Rudiment  älterer  vollständiger  Dramen- 
aufführungen. 

149.  Aufführung  und  Preise.  Wollte  ein  Dichter  ein  Stück  an 
den  großen  Dionysien  zur  Aufführung  bringen,  so  mußte  er  es  bei  dem 
Leiter  des  Festes,  dem  Archen  eponymos,  zur  Prüfung  {doxißjtaoia)  ein- 
reichen*) und  um  einen  Chor  nachsuchen  {xoqov  aheiv).  Entsprechend  wird 
es  für  die  vom  Archen  Basileus  geleiteten  Lenäen  gehalten  worden 
sein.  Gab  der  Archen  einen  Chor,  so  ward  dem  Dichter  ein  Chorleiter 
{xoQ^]y6';)  zugewiesen,*)  der  aus  Sängern,  zunächst  seiner  Phyle,  einen 
Chor  zusammenzusetzen  und  für  dessen  Einübung  {didaoxalUa)  durch 
einen  Chormeister  (diddaxakog)  zu  sorgen  hatte.  Die  Bestellung  und 
Ausstattung  der  Schauspieler  {vjzoxgirai)  ging  diesen  nichts  an,  da 
diese  eigens  vom  Archen  den  Dichtem  zugelost*)  und  vom  Staat 
honoriert  wurden.  Schauspieler  gab  es  anfangs  nur  einen,  durch  Aischylos 
wurde   die   Zahl   auf  zwei,    durch  Sophokles   auf  drei   erhöht.')     Bis  auf 


')  E.  Roiide,  Kl.  Sehr.  II  420  ff.  | 

')  Über  die  Spiele  in  Salamis  s.  jetzt 
Aristot.  Ath.  pol.  64,  8.  Das  kleine  Theater 
von  Thorikos  ist  jetzt  ausgegraben ;  sein  Plan 
bei  W.  DöBPFKLD  S.  110. 

»)  A.  Müller.  (Ir.  Bühnenalt.  309,  3. 

*)  E.  RoiiDE.  Kl.  Sehr.  II  393;  an  diesen 
Brauch  «chlieüt  Plat.  leg.  VII  817  d  an. 

*)  über  Verweigerung  des  Chors,  wie 
sie  Sophokles  und  Kratinos  erfuhr,  s.  Cratin. 
fr.  15  mit  Kocks  Anm.  Die  liturgische 
Leistung  der  Choregie,  die  für  einen  dramati- 
schen Chor  viel  kostspieliger  war  als  für 
einen  lyrischen,  datiert  nach  Marm.  Par.  ep. 
46  von  509/8 ;  seit  dem  Archontat  des  Kallias 
406/5  traten  zwei  zur  Leistung  derselben  zu- 
sammen (Schol.  ad  Arist.  ran.  406;  CIA  II 
1280),  was  für  lyrische  Chöre,  offenbar  weil 
diese  billiger  waren,  nicht  vorkommt;  an  die 
Stelle  der  Choregen  traten  in  der  Zeit  nach 
Alexandros,  wahrscheinlich  309/8,  die  Agono- 
theten ;  s.  ü.  Köhler,  Ath.  Mitt.  3  (1878)  229  ff. ; 
A.  Müller,  Bühnenalt.  339  f.  Die  Kosten 
einer  tragischen  Choregie  betrugen  nach 
Lysias  19, 14  an  3000,  die  einer  komischen  an 
1600  Drachmen.  Die  Auswahl  der  drei  tragi- 
schen Chorogen  für  das  laufende  Jahr  war 
eine  der  oi-ston  Amtshandlungen  des  f\tyji)v 
F.Ton-vfto^:  Aristot.  Ath.resp.  56, 3.  Im  4.  Jahrb. 
wurden  die  fünf  komischen  Clioregen,  deren 
Auswahl  früher  ebenfalls  Sache  des  Epo- 
nymos gewesen  war.  von  den  Phylen  prä- 
sentiert, wie  es  bei  den  lyrischen  Choregen   | 


immer  gehalten  worden  war  (Aristot.  1.  ].)•  — 
A.  Brinck.  Inscr.  gr.  ad  choregiam  pertineiiteB 
(Diss.  phil.  Hai.  7,  1886,  71  ff.);  E.  BoDSir- 
STEINER,  Über  choregiscfae  Weihinschriften, 
in  Comment.  philoL  Monac.  1891,  88  ff.;  J. 
IL  Lipsius,  Leipz.  Stud.  19  (1899)  310  ff. 

*)  Phot.  Hesych.  Suid.  u.  ve/Af/ofic  r;ro- 
xoiTUiv'  oi  .^otffTai  fXdftßai'or  igels  twoxpifoff 
x/.tjnm  ryfifj^Fvzni  v:inxQivovfAfrm^  ja  dpa- 
iiarn,  iu%'  6  vixtjoas  fh  tovTttov  axQtros  sragf-' 
hmßdvFTo.  Urkundliches  über  die  Znteilaog 
der  Schauspieler  an  die  Phylen  Wilhbuc 
Urk.  46  f.  Trotz  der  Regel  des  Loses  waßten 
die  großen  Dichter,  wahrscheinlich  durch 
Verständigung  mit  ihren  Mitbewerbern,  be- 
stimmte Schauspieler  sich  ständig  zu  sichem 
(A.  Müller  a.  a.  0.  184  f.). 

'')  Über  die  Zeit  der  Vermehrung  unten 
bei  Aischylos  und  Sonhokles.  Der  durch  die 
Vermehrung  der  Schauspieler  entstellende 
Mehraufwand  wird  schwerlich  ,im  Verwal- 
tungsweg*^ vom  spielleitenden  Archen  be- 
schafft, sondern  auf  Grund  bestimmter  An- 
träge der  großen  Tragiker  vom  Volk  be- 
willigt worden  sein.  Ebenso  bedurfte  es 
wohl  für  die  Erhöhung  der  Choreuiensthl, 
die  den  Choregen  anging,  eines  Volks- 
beschlusses. Ober  die  Verteilung  der  Rollen 
J.  Richter,  Die  Verteilung  der  Rollen  unter 
die  Schauspieler  der  griech.  Trag.,  BerL  1842. 
In  der  Regel  fiel  die  Titelrolle  dem  Prota- 
gonisten zu;  doch  war  das  nicht  immer  der 
Fall:  Aischines  spielte  als  Tritagonist  die  BoUe 


C.  Drama.    1.  Anfänge  und  ändere  Verhältnisse.    (§  149.) 


259 


Sophokles  war  der  Dichter  in  der  Regel  selbst  Chormeister  (diddoxakog) 
und  Schauspieler  in  seinen  eigenen  Tragödien,  i)  In  der  Regel  fielen  einem 
Schauspieler  mehrere  Rollen  zu;  aber  auch  so  waren  dem  griechischen 
Dichter  durch  die  geringe  Zahl  der  Schauspieler  starke  Beschränkungen 
auferlegt.  —  Der  Chor  bestand  in  der  Tragödie  aus  zwölf,  seit  Sophokles 
aus  fünfzehn  Mann;')  der  Chor  der  Komödie  aus  vierundzwanzig  Mitgliedern 
ist  als  Doppelchor  (zwei  sich  neckende  Streitchöre)  zu  verstehen;  ein 
Flötenspieler  diente  zur  Begleitung  des  Chors,  ein  Kitharist  zur  Begleitung 
der  Monodien.*)  Diesen  wurde  im  musikalischen  Ethos  sowohl  durch  das 
Begleitungsinstrument  als  durch  die  Tonarten  (äolisch  oder  hypodorisch 
und  hypophrygisch)  eine  der  heroischen  Großsinnigkeit  angemessene  ruhigere 
und  ernstere  Haltung  gegeben,  so  daß  sie  vom  Ethos  der  Gesänge  des 
passiven  Chors  sich  abhoben.*)  Das  ganze  Personal  war  aus  Männern 
zusammengesetzt;  die  strenge  Sitte  verbot  den  Frauen  Anteilnahme  am 
öffentlichen  Spiel.  Aufgestellt  war  beim  Einzug  der  Chor  im  Viereck 
{rsTQdycovog  x^Q^^)i  nicht  im  Kreis  (xvxXiog  x^Q^^)  ^®  beim  Dithyrambus. 
Mit  der  viereckigen  Aufstellung  war  die  Gliederung  des  Chors  in  mehrere 
Lang-  und  Querreihen  {aiolxoi,  Cvyd)  verbunden.  Während  des  Spiels  trat 
er,  um  den  Blick  auf  die  Schauspieler  nicht  zu  hindern,  in  zwei  sich  gegen- 
überstehende (ävTiTZQooayTioi)  Abteilungen  auseinander,  welche  Stellung  auch 
die  Regel  bei  den  in  Strophen  und  Antistrophen  gegliederten  Standliedern 
{ardaifia)  bildete.*) 

War  alles  für  das  Festspiel  vorbereitet  und  bei  der  Probe  (ngodycov) 
im  Odeion   als  richtig  befunden   worden,«)   so   fand  an  dem  Dionysosfest 


des  enripideischeii  Oinomaos  nach  Dem.  18, 
180;  auch  in  Aischylos*  Agamemnon  fiel 
schwerlich  die  unbedeutende  Rolle  des  Aga- 
memnon dem  ersten  Schauspieler  zu;  ebenso 
ist  es  zweifelhaft,  ob  in  der  enripideischen 
Alkestis  die  Alkestis,  die  fast  nichts  zu  sagen 
hat,  vom  Protagonisten  gespielt  wurde. 

')  Aristot  rhet.  m  p.  1403  b  23;  A.Wil- 
HBLM  a.  a.  0.  62  n.  s. ;  auch  in  hellenistischer 
Zeit  sind  Schauspieler  und  Dichter  nicht 
selten  identisch  (Wilhelm  154.  183). 

*)  Wahrscheinlich  ist  man  dabei  von 
den  50  Mann  des  älteren  dithyrambischen 
Chors  ausgegangen,  und  hat  die  48  Mann, 
die  man  ftlr  eine  viereckige  Aufstellung 
allein  brauchen  konnte,  in  vier  Partien  ge- 
teilt; je  eine  Portion  wurde  der  Einzel tragödie 
bezw.  dem  Satyrspiel,  eine  Doppelportion  der 
EiDzelkomödie  zugewiesen.  Eine  andere  Erklä- 
nmg  wird  aufgestellt  von  Th.  Ziblinski,  Gliede- 
rong  der  altatt.  EomOdie,  Leipz.  1885, 273  f. 

»)  Ps.Aristot.  probl.  19, 48 ;  Hör.  a.  p.  202  ff. ; 
Arist.  ran.  1304.  Bloß  Auleten  erwähnt  De- 
mosth.  21, 13;  s.  E.  Graf,  Philol.  46  (1887)  68. 
P.  GnuLBD,  M^langes  Weil  133  weist  darauf 
hin,  dafi  auf  Vasenbildem  Satyrn  mit  Saiten- 
instrumenten vorkommen. 

*)  Über  die  Tonarten  in  der  Tragödie  Ps. 
Alistot.  DTobL  19, 48;  Plut  de  mus.  16. 17. 20. 

*)  Über  die  Gliederung  des  Chors  handelte 


zuerst  E.  0.  Müllbr  im  Anhang  (Gott.  1834) 
seiner  für  die  szenischen  Altertümer  epoche- 
machenden Ausg.  von  Aesch.s'  Eumeniden. 
Neueres  bei  W.  Chbist,  Teilung  des  Chors,  in 
Abhdl.  d.  bayr.  Ak.  14,  2  (1877)  198  ff.  und  A. 
Müllbr,  Btthnenalt  202  f.  Für  die  Aufstellung 
beim  Vortrag  gibt  das  Hauptzeugnis  in  der 
Definition  der  komischeu  Parabase  Hephaest. 
p.  72,  13  ff.  CoNSBB.:  xaXetrai  ds  jiagdßaaig^ 
ijreidrj  elösk&ovxeg  eig  lo  ^eargov  ?eai  dvTi- 
jtooacojtot  dXXrj?,oig  otdvisg  oi  x^ogevral 
TiaQEßaivov  xal  Ftg  t6  MaxQOv  djroßXejTOvreg 
sXeyov  rtra,  wonach  die  Choreuten  bei  den 
Stasima  sich  gegenüber  standen. 

')  Dieser  Proagon  fand  am  8.  Elaphe- 
bolion  statt  (Schol.  Aesch.  in  Ctes.  67).  Den 
Proagon  faßt  als  Ankündigung  des  Stückes 
E.  RoHDE,  Kl.  Sehr.  11  381  ff.  und  P.  Mazon, 
Rev.  de  philol.  27  (1903)  263  ff.  Für  eine 
vollständige  Generalprobe  war  jedenfalls  die 
Zeit  zu  kurz.  Eine  Analogie  bietet  die  von 
Wilhelm,  Urk.  255  aus  einer  Inschrift  von 
Eretria  s.  IV  beigebrachte  Verfügung,  daß 
alle  aktiven  Teilnehmer  an  den  musischen 
Agonen  in  der  Tracht,  die  sie  beim  dya>v 
haben  werden,  in  der  aidi^  Aufmarschprobe 
abzulegen  haben  (jigoaodtov  dyo)viCe<y&ai).  Mit 
der  Annahme  von  drei  Arten  von  Proagonen 
sucht  sich  zu  helfen  G.  Oehmiohbn,  Sitz.ber. 
d.  bayr.  Ak.  1889,  II  103  ff.;  auf  eine  zweite 

17* 


260 


Qriechische  LitteratorgeBchichte.    I.  Elasmche  Periode. 


selbst  im  Theater,  zu  dem  jeder  Bürger  zuerst  vieDeicht  unbedingt,  seit 
Anfang  des  5.  Jahrhunderts  aber  jedenfalls  gegen  Eintrittsgeld, 0  Zutritt 
hatte,  die  Aufführung  statt.  Mit  ihr  war  eine  Preisbewerbung  (dycov)  ver- 
bunden; die  Entscheidung  hing  ab  von  dem  Urteil  besonderer  Preisrichter, 
fünf  an  der  Zahl.»)  Preise  wurden  in  der  Tragödienkonkurrenz  an  die 
beteiligten  Dichter  und  Choregen  •^)  drei  verteilt,  so  daß,  da  in  der  Regel 
auch  nur  drei  Dichter  und  drei  Choregen  konkurrierten,  jeder  derselben 
einen  Preis  erhielt  und  nur  ein  Unterschied  im  Grad  des  Preises  statt- 
fand, jedoch  so,  daß  nur  der  erste  Preis  als  Sieg  galt.  Höher  standen  im 
Ansehen  die  Siege  bei  den  großen  Dionysien  {dorixal  vixai)  als  die  bei  den 
Lenäen  {A7]vaixai  vTxai);  von  Siegen  und  Preisen  bei  den  ländlichen  Festen 
hören  wir  nichts.  Der  Preis  galt  nominell  dem  Choregen,  der  die  Kosten 
getragen  hatt^;  daß  er  in  einem  Dreifuß  {rgtJTovg)  wie  bei  den  lyrischen 
Siegen  bestanden  habe,  ist  unerwiesen.*)  Der  Dichter  erhielt  eis  Chor- 
meister einen  Ehrenlohn  (juaO<k),^)  dessen  Höhe  in  den  verschiedenen 
Lagen  des  Staates  verschieden  war;  auch  den  Schauspielern  oder  richtiger 
den  Protagonisten  wurden,  aber  nicht  von  Anfang  an,  sondern  den  tra- 
gischen an  den  großen  Dionysien  seit  449,^)  an  den  Lenäen  spätestens 
seit  420,  den  komischen  an  beiden  Festen  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des 
4.  Jahrhunderts,')  Preise  zuerkannt.*)  Über  die  Preisverteilung  wurde 
eine   Urkunde    {diöaoxaUa)    aufgenommen;    von    solchen    sind    uns    noch 


Ankündigung  unmittelbar  vor  der  Aufführung 
führt  allerdings  Aristoph.  Ach.  9  f.  u.  Schol. 
zu  Arist.  vesp.  Ilü9. 

M  Das  Eintrittsgeld  {0F(om>c6v),  das  seit 
Perikles  die  Bürger  aus  der  Staatskasse  er- 
hielten, betrug  für  einen  Spieltag  zwei  Obolen, 
daher  Dem.  or.  18,  28:  h  toTv  ^voh'  ofioAoTr 
Ffh(ünory.  Ehrengäste  des  Staates  erhielten 
kostenfrei  bevorzugte  Plätze.  Die  ätiologi- 
schen Notizen  über  freien  Eintritt  in  ältester 
Zeit  (A.  MüLLEB  347,  2)  sind  verdächtig. 

*)  Sprichwörtlich  fv  .lyrif  xoiiwr  yovvaoi 
xflrai.  Die  sieben  Richter  bei  Luc.  Harm.  2 
und  Vitniv.  VII  prooeni.  4  scheinen  auf  spä- 
tere Zeiten,  wo  die  Zahl  der  Phylen  vermehii 
war,  zu  gehen.  Die  Reduzierung  von  zehn 
urteilenden  Richtern,  die  aus  einer  größeren 
von  den  Phylen  gewählten  Zahl  gezogen 
wurden,  auf  fünf  aus  diesen  zehn  nach  Sclüuß 
der  Aufführung  erlöste,  stimmende  hat  H. 
Sauppe.  Über  die  Wahl  der  Richter  in  den 
mus.  Wettkämpfen  an  den  Dionvsien.  in  Ber. 
d.  Sachs.  Ges.  d.  W.  7  (I8r)5)  1  ff.  aufgeklärt; 
vgl.  Müller  a.  0.  369  ff. 

')  Im  lyrischen  ChoT-uydjr  siegt  nicht 
der  Dichter  oder  Chorege.  sondern  die  Phyle, 
in  deren  Namen  der  siegreiche  Chorege  den 
gewonnenen  Dreifuß  mit  Weihinschrift  auf- 
stellt. 

'')  Bei  Plutarch  Them.  5  heißt  es  nur 
arnhjy.F  .-Ji'vnxa  iTj^  v(xt)Q.  über  diese  Weihe- 
nivnxfc  der  tragischen  Choregen  und  die  uns 
erhaltenen  Gemälde  und  Reliefs,  die  nach 
H.  V.  Protts.  K.  Roberts  und  E.  Reischs  Ver- 


mutungen auf  sie  zurückzuffihren  sind,  8.  G. 
E.  Rizzo,  Riv.  di  filol.  30  (1902)  447  ff.  Das 
berühmte  choregische  Denkmal  desLyaikraies, 
bekannt  unter  dem  Namen  Demostheneslaterne, 
verherrlicht  einen  Dithyrambensieg.  Der 
Dreifuß  als  Preis  speziell  für  einen  dithyram- 
bischen Männerchor,  bezeugt  von  Lys.  21,  2, 
wird  für  die  dramatischen  Agone  in  Abrede 
gestellt  von  Bergk  und  Lipaios  bei  Müller 
S.  418.  Über  Vasenbilder  und  Relieüs,  die 
diese  Weihung  des  Dreifußes  darstellen, 
Rizzo  a.  a.  0.  471  ff. 

*)  Arist.  ran.  367;  Schol.  Ar.  pac.  697; 
wie  groß  der  Lohn  war,  können  wir  nach 
den  bei  den  Panathenäen  ausgeteilten  be- 
messen ;  bei  diesen  erhielt  nach  Gl A  11  965 
der  erste  Kitharode  einen  goldenen  Oliven- 
kranz von  1000  Drachmen  und  500  Dr.  Silb«-, 
der  zweite  1200  Dr.,  der  dritte  600,  der  vierte 
400.  der  fünfte  300.  Agvrrhios  soll  den  fua- 
{f(k  für  die  Komiker  (durch  Antrag  beim 
Volk)  geschmälert  haben,  Schol.  Ar.  ran.  867; 
Eccles.  102. 

6)  Bezw.  447 :  E.  Reisch,  Z.  f.  östr.  Gymn. 
58  (1907)  294.  1. 

^)  Für  die  Lenäen  nimmt  Rbisgh  a.  a.  0. 
309  an,  daß  der  Agon  der  komischen  Schau- 
spieler bei  diesem  Fest  von  Anfang  an  mit 
dem  Agon  der  komischen  Dichter  verbanden 
gewesen  sei.  während  die  erste  Preisvertei- 
lung an  komische  Schauspieler  bei  den  stftdti- 
schen  Dionysien  nach  329  und  spätestens  812 
stattfand. 

8)  A.  WiLUKLM  a.  a.  0.  187  f.  210. 


C.  Drama.    1,  Anfänge  und  äußere  Verhältnisse.    (§  150.) 


261 


mehrere  inschriftlich,  andere  aus  der  Schrift  des  Aristoteles  negl  didaaxa- 
Xubv  in  Notizen  der  Grammatiker  erhalten.») 

150.  Chorgesänge.  Die  Anlage  und  Gliederung  des  Dramas*)  har- 
monierte mit  den  Teilen  des  Theaters  und  der  Zusammensetzung  des 
Theaterpersonals.  Schon  im  Dithyrambus  konnte  der  Vorsänger  (i^dgxcov) 
selbständig  dem  Chor  gegenübertreten;  deutlicher  ausgeprägt  wurde  dieser 
Unterschied  im  Drama,  wo  sich  bestimmter  die  Gesänge  des  Chors  (ja  xogixd), 
die  Reden  der  Schauspieler  (didkoyog,  diverbium  oder  deverbium)  und  die 
Wechselreden  zwischen  Chor  und  Schauspieler  schieden.  Die  eigentliche 
Handlung  ruhte  in  den  Reden  und  Aktionen  der  Schauspieler;  der  Chor 
nahm  zwar,  seltener  in  der  Tragödie,  öfter  in  der  Komödie,  am  Fortgang 
der  Handlung  teil,  repräsentierte  aber  mehr  den  zuschauenden,  beobach- 
tenden Teil,  in  der  Tragödie  besonders  das  die  verschiedenen  Phasen  der 
Handlung  mit  seinen  Sympathien  begleitende  Volk.  3)  In  der  älteren  Zeit 
hatte  der  Chor,  entsprechend  dem  Ursprung  des  Dramas,  den  Vorrang. 
Damals  also  eröffnete*)  und  schloß  der  Chor  das  Spiel;  aus  seiner  Stel- 
lung in  jener  Zeit  erklärt  es  sich,  daß  auch  später  noch  beim  Beginn  des 
Spiels  der  Herold  den  Dichter  oder  Choregen  aufforderte,  den  Chor  herein- 
zuführen.*) Der  Gesang,  mit  dem  der  Chor  von  dem  Seitenzugang  (jiaQodog) 
einzog,  hieß  Parodos,*')  der,  mit  dem  er  die  Bühne  am  Schlüsse  verließ, 


*)  Über  diese  Didaskalien  die  erste  Haupt- 
erläutening  von  A.  Böokh  CIG  I  p.  350  ff.; 
seit  der  Zeit  hat  sidh  das  Material  durch 
neue  Funde  in  der  Nähe  des  Dionysostheaters 
bedeutend  vermehrt.  Alles  ist  jetzt  behandelt 
bei  Ad.  Wilhelm,  Urkunden  dramatischer 
Auffühi-ungen  in  Athen,  Wien  1906.  Siehe 
oben  S.  7, 2.  Aristoteles'  Didaskalien  waren 
auch  Grundlage  der  attischen  didaskalischen 
Inschriften,  worüber  s.  Wilhblm  34  ff.,  Reisoh 
310  ff.  Übrigens  möchte  Wilhelm  S.  257  die 
Benutzung  der  aristotelischen  Nixai  auf  die 
Siegerlisten  CIA  II  977  einschränken.  Die 
▼on  Wilhelm  behandelten  Urkunden  gehen 
auf  drei  groBe  Inschriften  zurück:  1.  Liste 
der  Sieger  an  den  städtischen  Dionysien,  auf- 
gestellt ca.  330  nach  Vollendung  des  steiner- 
nen Theaters,  angeordnet  nach  dem  Schema : 
a)  Archen,  b)  Phyle,  die  mit  Enabenchor 
siegt,  nebst  Choregen,  c)  Phyle,  die  mit  Män- 
nerchor siegt,  nebst  Choregen,  d)  siegreicher 
Chorege  und  dtdaaxaXog  in  der  Komödie,  e) 
desgl.  in  der  Tragödie,  wozu  später  auch  der 
siegreiche  Protagonist  kommt.  2.  Didaskalien, 
aufgestellt  Anfang  s.  III,  nach  dem  Schema:  a) 
Archon,  b)  siegreiche  Dichter  und  Protagonisten 
in  der  Reihenfolge  des  ersten,  zweiten  und 
dritten  Preises,  wobei  auch  die  Stücke,  mit 
denen  gesiegt  wurde,  genannt  sind.  Die  Di- 
daskalien sind  nach  städtischen  und  lenä- 
ischen  Aufführungen  getrennt  und  betreffen 
Tragödien  und  Komödien.  3.  Verzeichnisse 
dramatischer  Dichter  und  Schauspieler,  an- 
geordnet nach  der  Reihenfolge  ihrer  ersten 
Siege  unter  Beifügung  der  Zahl  der  Siege, 
die  jeder  gewonnen,   gesondert  nach  städti- 


schen Dionysien  und  Lenäen,  vom  Votivbau 
eines  Agonotheten  aus  dem  Jahr  278  (E. 
Reisoh,  Ztschr.  f.  die  östr.  Gymn.  58,  1907, 
302  f.),  der  wahrscheinlich  auch  die  Inschrift 
nr.  2  trug. 

»)  Arist  poöt.  12;  PolluxIV53;Eukleides 
bei  Tzetzes  jreoi  igaycpdiag  (G.  Kaibel,  Com. 
gr.  fragm.  I  43  ff.),  dazu  R.  Westphal,  Prol. 
z.  Aesch.  Tragödien,  Leipz.  1869;  F.  Asciieb- 
soN,  Umrisse  der  Gliederung  des  gr.  Drama  in 
Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl.  4  (1861—67)  419 ff.;  G. 
Oehmiohsn,  De  compositione  episodiorum  trag, 
graecae  externa.  Erlang.  1881 ;  Th.  Zielinski, 
Gliederung  der  altattischen  Komödie,  Leipz. 
1885;  D.  Detschepf,  De  tragoediarum  grae- 
carum  conformatione  scaenica  ac  dramatica, 
Gott.  Diss.  1904.  Über  die  lyrischen  Formen 
der  Tragödie  zusammenhängend  P.  Masqüeray 
in  dem  unten  S.  264  A.  4)  angeführten  Buch. 

*)  Über  die  Funktion  des  Chors  s.  bes. 
Ps.Aristot.  probl.  19,  48  (xtjdEVTt/g  ajigaxTog, 
errotav  fidrov  :iaQ8/FTai  ois  jidofOTir) ;  entspre- 
chend Hör.  a.  p.  193  ff.  (v.  193  nach  Aristot. 
poöt.  1456  a  26).  F.  Helmbeicu,  Der  Chor  bei 
Sophokles  u.  Euripides  nach  seinem  i)0(k  be- 
trachtet, Erlangen  1905. 

*)  So  noch  in  Aesch.  Suppl.  Pers.;  in  den 
Bukoloi  des  Kratinos,  die  mit  einem  Dithy- 
rambus anfingen,  liegt  der  Fall  besonders. 

**)  Arist.  Ach.  10:  o  Ö'  dveijtev  etaay*,  (L 
ßeoyri,  loy  ;ifoooi',  was  sich  aber  auf  eine 
Vorstellung  vor  der  Aufführung  bezieht  (s. 
o.  S.  259,  6).  Freier  gebraucht  ist  Jigosian- 
yeiv  vom  Schauspieler  bei  Aristot.  poUt.  VII 
17  p.  1336  b  29. 

®)  Aristoteles  definiert:  x^Q^^^^  Jidoodog 


262  Griechische  litteratnrgeschichte.    L  EUssiache  Periode. 

Ex 0 dos;  zog  er  während  des  Stückes  nach  zeitweiliger  Entfemaog  zum 
zweitenmal  ein,  wie  im  Aias,  so  hieß  dieser  zweite  Einzug  sowie  das  be- 
gleitende Lied  Epiparodos.  Die  Marschbewegung  forderte  ein  ent- 
sprechendes Metrum;  dazu  eignete  sich  in  der  feierlichen  Tragödie  zumeist 
der  Anapäst,  in  der  lustigen  Komödie  der  Trochäus.  Diese  Rhythmen 
pa&ten  mehr  zum  rezitierenden  Vortrag  als  zum  Gesang,  weshalb  auch 
die  Parodos  von  Aristoteles  als  ^'fcc,  nicht  als  ijikog  bezeichnet  wird» 
Im  weiteren  Verlauf  des  Dramas  folgen  andere  Gesänge,  die  der  Chor, 
nachdem  er  bereits  seinen  Standplatz  eingenommen  hatte,  vortrug.  Die 
Sitte,  das  Stück  mit  dem  anapästischen  Aufzug  des  Chors  beginnen  zu 
lassen,  scheint  früh  abgekommen  zu  sein;  unter  den  erhaltenen  Stücken 
beginnen  so  nur  des  Aischylos  Perser  und  Schutzflehende.  Von  Sophokles' 
Stücken  hat  nur  der  Aias  rein  anapästische  Parodos,  aber  erst  nach  einem 
dialogischen  Prolog;  in  epirrhematischer  Komposition,  iiikr}  mit  Anapästext 
gekreuzt,  ist  die  Parodos  der  Antigene  gehalten.  In  allen  übrigen  Stücken 
ist  die  Parodos  melisch.  Später  kam  auch  vor,  daß  der  Chor  stumm  wäh- 
rend der  Reden  der  Schauspieler  in  die  Orchestra  einzog  oder  dafi  der 
Gesang  sich  sogleich  zu  einem  Wechselgesang  zwischen  dem  Chor  und  den 
Personen  der  Bühne  gestaltete.  Aber  immer  verblieb  dem  ganzen  ersten^ 
beziehungsweise  dem  ganzen  letzten  Gesang  der  Name  Parodos  oder 
Exodos.i)  Bei  der  Exodos  nahmen  sogar  mit  der  Zeit  die  Schauspieler- 
partien einen  solchen  Umfang  an,  daß  Aristoteles  die  Exodos  unter  den 
szenischen,  nicht  den  chorischen  Partien  aufführt.  —  Die  mittleren  Chor- 
lieder, welche  die  Dialogpartien  unterbrachen  und  in  der  Regel  bei  leerer 
Bühne  vorgetragen  wurden,  hießen  in  der  Tragödie  Stasima,  d.  i.  Stand- 
lieder, im  Gegensatz  zu  den  Marschanapästen.*)  Solche  Standlieder  zwischen 
dem  Abtreten  und  Wiederauftreten  der  Schauspieler  sind  auch  der  Komödie 
nicht  fremd,  doch  haben  sie  hier  keine  gleich  ausgebildete,  regelmäßige 
Stellung  gehabt.*)  Eine  besondere  Klasse  dieser  Zwischengesänge  bilden 
die  Hyporchemata,^)   bei   denen   der  Chor  in  jubelnder  Stimmung   den 

fiev  t)  HQMxrj  AF^ig  ohf  (ökov  cod.)  x^fj^^^'-  Aus  die  Parodos  drei  Teile:  aDapästisches  Elin- 
der  falschen  Lesart  oXov  entwickelte  sich  die  zugslied  (40—103),  daktylische  Perikope  an» 
falsche  schon  hei  Plutarch  an  seni  p.  785  a  Strophe,  Antistrophe,  Epode  (104 — 169),  tro- 
vertretene  Meinung,  daß  in  Soph.  Ocd.  Col.  chäische  Slrophenpaaro  (170—269). 
das  Lohlied  auf  AÜen  (668— 719i,  das  erste,  ^)  Daher  Arist.  a.  0. :  ordotfjiov  de  fiiloe 
das  der  (tesamtchor  singt,  als  die  Parodos  ;i;oßor  to  arfv  m-a.inioxov  xai  TQoxaiov.  SchoL 
angesehen  werden  müsse.  Im  übrigen  stimmt  Ar.  ran.  1281  erklärt:  o  qL^ovatv  lordfievtH  ol 
Christ  ganz  L.  Schmidt,  Rh.  M.  18  (1863)  286  /oo^rra/.  U.  Hermann,  Epitdoctr.metr.^Leips. 
bis  91  und  Quaestiones  de  parodi  et  stasimi  !  1818,  §  665  deutet  das  Wort  orcioi/zorcf«  cAora 
nominibus  Ind.  Marb.  1889  bei.  der  den  vor-  1  tenente  sfotiones  sua«,  weil  nach  früherer  An- 
witzigen  Fragen  neuerer  Gelehrten,  welche  I  nähme  der  Chor  bei  allen  GesAngen  Tanz- 
Verse   in   den  einzelnen   Dramen   nach    des  bewegungen  machte. 

Aristoteles  Definition  sei  es  der  Parodos,  ')  Th.  Zielin ski  a.  0.  nimmt,  zumal  An- 
sei es  den  Stasima  zuzuweisen  seien,  den  '  stoteles  jene  Teile  speziell  bei  der  Tragödie 
Satz  entgegenhält,  daß  die  Fragen  der  tragi-  ,  aufzählt,  eine  schärfere  Scheidung  von  Tra- 
schen Technik  das  klassische,  die  der  Ter-  '  gödic  und  Komödie  an,  indem  er  jener  die 
minologie  das  nachklassischc  Zeitalter  an-  episodische,  dieser  die  epirrhematische  Kom- 
gehen,  und    daß   leicht  Aristoteles  mit  dem  1   position  zuweist. 

ersten  Versuch  einer  Feststellung  der  Termine-  '           *)  Eukleides  bei  Tzetzes  de  trag.  114  f. 

logie  nicht  alle  Fälle  der  Praxis  getroffen  habe.  (hier   die   Form    {,T6oxrjoi<;   nur   des   Versea 

^)  Daher  Arist.  poöt.  c.  12:  .Tdoo^o<;  fur  1   wegen).    Aristoteles  hat  das  i';Tc^;|fj;/<a  offen- 

ij  no(üTfj  Ät^is  fikrj.    So  hat  in  Aesch.  Agam.  !  bar   wegen    seines    selteneren   Vorkommens' 


G.  Drama.    1.  Anf&nge  und  ändere  Verhältnisse.    (§  150.) 


263 


Fufi  zum  Tanz  erhob,  wie  in  Soph.  Aias  693  ff.  und  Arist.  Lysistr.  1247  ff. 
Welche  Ausdehnung  dieser  Tanz  hatte  und  inwieweit  auch  mit  dem  Vor- 
trag der  übrigen  Chorgesänge  eine  Bewegung  verbunden  war,  ist  schwer 
zu  sagen.  0  unterschieden  wurden  drei  Arten  dramatischen  Tanzes,  die 
feierliche  Emmeleia  der  Tragödie,  der  laszive  Kordax  der  Komödie  und 
die  hüpfende  Sikinnis  des  Satyrdramas.*)  —  Außer  den  genannten  Chor- 
liedern, die  allen  Arten  des  Dramas  gemeinsam  sind,  hat  die  Tragödie 
und  Komödie  noch  einige  besondere.  In  der  Komödie,  in  welcher  der 
Chor  auch  durch  Zwischenlieder  weit  öfter  in  den  Gang  der  Handlung 
eingriff,  war  ein  Hauptchorgesang  die  Par abäse.  In  der  vollentwickelten 
altattischen  Komödie  bildet  sie,  den  Gang  der  Handlung  unterbrechend, 
ein  ganzes  Zwischenspiel,  das  der  Chor  den  Zuschauem  zugekehrt  auf- 
führte und  das,  wenn  die  Parabase  vollständig  war,  sich  in  sieben,  teils 
gesungene,  teils  gesprochene  Teile  (xojujüidTiov,  jiagdßaoig  fj  ävänaiaroi,  fxaxQov 
fj  Tiviyog,  qidi^,  iTuggrijua,  ävrcodijf  ävzemQQtjfia)  gliederte.*)  Tatsächlich  bildet 
dieses  Stück  wahrscheinlich  den  Kern,  an  den  sich  heitere  dramatische 
Szenen  anschlössen.^)  —  Der  Tragödie  besonders  eigen  waren  die  Klage- 
gesänge, xojLifioi  genannt  von  der  bei  Totenklagen  üblichen  Sitte,  sich 
die  Brust  zu  zerschlagen;*)  sie  wurden  nicht  vom  Gesamtchor,  sondern 
von  einzelnen  Choreuten  oder  einzelnen  Abteilungen  des  Chors  und  einer 
oder  der  anderen  Person  der  Bühne  duettartig  abwechselnd  gesungen 
(jiiitj  äfioißäia).^)  Überhaupt  aber  war  der  Chor  durchaus  nicht  immer 
als  geschlossenes  Ganze  tätig;  vielmehr  entwickelte  er  ein  wechselreiches 
Leben  dadurch,  daß  er  bald  in  seiner  Gesamtheit  (Ao;^oc)  auftrat,  bald  sich, 
wie  in  Aischylos'  Agamemnon,  in  Einzelchoreuten  auflöste  (oTioQddrjv),  bald 
in  zwei  Reihen  sich  gegenüberstellte  (ävTuiQoacoJioi)^  bald  reihenweise  sang, 
bald  durch  seinen  Führer  {xoQvtpäiog  oder  ^ysfioveg  xibv  ^jbuxoglcov)  sich 
vertreten  ließ.^) 

ganz  fibergangen.  Die  getanzten  Chorgesänge 
gingen  aus  der  älteren  Form  der  Tragödie 
hervor,  in  der  nach  Arist.  po3t.  c.  4  p.  1449  a  22 
nnd  Ath.  p.  22a  der  Tanz  eine  größere  Rolle 
spielte.    Siehe  o.  S.  153  f. 

*)  Das  Verbum  ;i;oop(Viv  gebraucht  auch 
vom  Stasimon  Soph.  OR.  896.  1095. 

«I  I.  Bbkkbb,  An.  gr.  p.  101 ;  PoU.  IV  99. 
Vgl.  H.  BüOHHOLTZ,  Die  Tanzkunst  des  Euri- 
pides.  Leipzig  1871;  Chb  Eibchhoff,  Die  or- 
chestische  Eurythmie  der  Griechen,  Altona 
1873 ;  Ders.,  Dramatische  Orchestik  der  Hel- 
lenen. Leipzig  1899. 

')  Hauptstelle  Hephaistion  p.72,1 1  Consbb.  ; 
75»  19  ff. ;  Tzetzes  bei  G.  Kaibel,  Com.  gr.  fr.  I 
p.  28, 130  trennt  die  jrao.  ganz  von  der  xco- 
fupdia.  —  W.  H.  EoLSTEB,  De  parabasi  veteris 
eomoediae  Att.  parte  antiquiss.,  Altona  1829; 
C.  Agthb,  Die  Parabase,  Altona  1866;  W. 
Christ,  Metrik'  §§  734  ff.  Den  Kern  der 
Parabase  bildeten  ursprünglich  die  melischen 
Partien,  die  dann  durch  die  Epirrhemata  ge- 
krenzt  werden.  Die  drei  ersten,  unter  sich 
nieht  respondierenden  Teile  sind  in  Anapästen 
gebaat,  der  zweite  wohl  auch  in  sticluschen 


Liederversen,  die  dann  gleichwohl  auch  dvd- 
jtcuoToi  heißen ;  die  vier  letzten  Teile  respon- 
dieren  sich  übers  Kreuz,  die  roelische  Ode 
der  Antode,  das  aus  einer  regelmäßig  durch 
vier  teilbaren  Reihe  trochäischer  Tetrameter 
bestehende  Epirrhema  dem  Antepirrhema. 

*)  W.  ScHMiD,  Zur  Gesch.  des  griech. 
Dithyramb.  13  ff. 

*)  Aesch.  ChoSph.  422  exoif>a  ftofi/uov 
"Agtov. 

•)  Arist.  poöt.  12 :  xo^^os  de  Ogijvog  xoi- 
vog  x^9^^'  ^"'  ^^  axrjvrjg.  Indessen  gibt  es 
auch  Klagegesänge,  die  bloß  von  Choreuten 
oder  bloß  von  Buhnenpersonen  gesungen  wur- 
den: aber  der  Wechselgesang  war  die  Regel, 
weshalb  bei  Tzetzes  Jiegi  igay.  jioti^o.  118  f. 
bei  Aufzählung  der  Teile  der  Tragödie  tj  i| 
dfioißfjc:  (iiSri  an  die  Stelle  der  xofifwi  getreten 
ist.     Poll.  IV  53  sagt  xofifiauxd  für  xofifioi. 

^)  Leider  sind  diese  Unterabteilungen  des 
Chors  in  unseren  Handschriften  und  Scholien 
selten  angemerkt  und  sind  wir  fast  lediglich 
auf  Vermutungen  angewiesen,  in  denen  sich 
besonders  G.  Hebmann  in  seinen  Ausgaben 
versuchte. 


264  Chriechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klansigohe  Periode. 

151.  Schauspielerpartien.  Die  Schauspieler  betätigen  sich  sprechend 
im  Prolog  und  den  Epeisodia.  Der  Prolog,  oder  diejenige  Partie^  die 
dem  ersten  Auftreten  des  Chors  voranging,  fehlte,  wie  bereits  bemei^t, 
in  den  ältesten  Stücken  ganz,  später  hat  er  bei  den  verschiedenen  Dichtem 
verschiedene  teils  dialogische,  teils  (seit  Euripides)  monologische  Gestalt 
angenommen.  Der  Name  Epeisodion  bezeichnete  zur  Zeit,  als  es  noch 
keinen  Prolog  gab,  das  erste  Zwiegespräch  der  Schauspieler,  indem  dabei 
zu  dem  Chor,  der  zuvor  schon  eingezogen  war,  nun  auch  die  Schauspieler 
in  das  Theater  eintraten  {^jreiafjFoav);^)  des  weiteren  hießen  so  dann  auch 
die  übrigen  Dialogpartien  zwischen  den  einzelnen  Standliedem,  in  denen 
die  Schauspieler,  die  in  der  Regel  während  des  Chorgesangs  abwesend 
waren,  von  neuem  auf  die  Bühne  traten.  Man  ersieht  leicht,  wie  sich 
daraus  die  später  bei  den  Römern  und  bei  uns  übliche  Einteilung  in  Akte 
(actus)  entwickeln  konnte;*)  diese  verdrängte  die  alte  Gliederung  des 
Dramas  in  Prolog,  Parodos,  Epeisodia,  Stasima,  Exodos,  nachdem  der  Chor 
und  damit  auch  die  alten  Chorlieder  in  Wegfall  gekommen  waren.  Prolog 
und  Epeisodien,  in  älterer  Zeit  mehr  in  trochäischen  Tetrametem,  dann 
vorwiegend  in  iambischen  Trimetern  gehalten,  wurden  einfach  gesprochen;*) 
gesungen  Monodien  und  Kommoi,  auch  Duette  der  Schauspieler  (rd  d;io 
axtjvrjg)  vorwiegend  in  äolischer  (liypodorischer)  oder  hypophrygischer  Ton- 
art (s.  o.  S.  259).*)  Symmetrischer  Bau  dialogischer  Partien  in  strophen- 
artiger Itesponsion  {ovorrjuam  i-^  6/wia)y)  findet  sich  in  altertümlicheren 
Stücken,  namentlich  in  der  Schilderung  der  sieben  Kämpferpaare  in  Ai- 
schylos'  'AVfTfi,  ist  aber  nur  da  anzunehmen,  wo  er  im  Sinn  begründet  ist.*) 
(Charakteristisch  für  den  älteren  Stil  der  Tragödie  ist  auch  die  Neigung, 
im  Dialog  von  Vers  zu  Vers  Personenwechsel  eintreten  zu  lassen  (Sticho- 
mythie),'^)  auch  ohne  psychologischen  Grund.  Die  Entwicklung  der  Tra- 
gödie geht  im  ganzen  dahin,  daü  der  (>hor  aus  seiner  ursprünglich  be- 
lierrscliendcn  Stellung  von  den  Schauspielern  Schritt  für  Schritt  verdrängt 
wird,  was  in  dem  unten  A.  4  zitierten  Werke  von  Masqueray  nachgewiesen 
ist.     Ganz   ausgefallen,   wie   in  der  neuattischeu  Komödie,   ist  er  übrigens 

*)  Vgl.  JSoph.  OC.  730  Tij^  yuij::  f.-jfiou^ov.    !   legom.  103).  Ihre  Zunahme  ist  bezeichnend  fllr 

'^)  K.  VVestpual,  Prolegomenazu  Aischv-  die  Zurttckdräiigung  des  Chors,  dem  non  der 

1<>«  8.  18<^  ff.    Der  griechische  Name  für  Akt  Solist  auch  die  lyrischen  Leistungen  abnimmt. 

ist  seit  Aristophanes  von  Byzantion  unjo::  (F.  P.  Masqueray,  Theorie  des  formes  lyriques  de 

Leo,  i*lautin.  Forschungen,  Berl.  1895,  207,5);  la  tragedie  grecque,  Paris  1895. 
davon  kann  das  seit  Varro  belegte  rihnischc  ^)    Sehr   weit   gehen    in   der    Annahme 

actus  keine  (Übersetzung  sein.  symnietrisclien  Baues  der  Dialogpartien,  anch 

')  Siehe  Arist.  poet.  4   p.  1449  a  21:   to  der  iambischen  Trimeter  C.  Pbien  und  J.  Öbi, 

fihoay  Fx  TFinauFTunv  iaußFhtv  Fyh'FTo'  jn  fih'  denen  gegenüber  Christ  seine  beschrftnken- 

yaij  niKofitr  TFitniuhoto  F/oiTtvnt  <Sta  tu  öutv-  den   Thesen   in   der  Philologenversammlnng 

nixii»'   xai    nn/t/oTifcunFOfty   Ftrai    tp/v  noiijcur.  zu  Wiesbaden   1877    (Verhdl.  S.  148  f.)    auf- 

Ein    rezitation.sai-tiger.  halb    gesangsmäßiger  stellte.    Seine  Ansichten  führt  J.  Öbi  weiter 

Vortrag  des  tragischen  Dialogs  kauii  aus  Plut.  in   den    Schriften    Die     euripid.   Verszahlen- 

de  mus.  28  nicht  geschlossen  werden.  Systeme,    Berl.  1898,  und    Die   sophokl.    Re- 

**)  Die    Monodien    haben    sich    aus    den  sponsion,  Progr.  Basel  1903.    Verständig  dar- 

Klagegcsäng<'n  entwickelt;   daher  Phot.  lex.  über  W  Mas^ukkay,  De  la  Symmetrie  dans 

uotto^Hy-    ihjiivFir,    und    Philostr.   vit.  soph.  les  parties  episodiques  de  la  tragMie  greeque 
109.23  iioroMu  xui  Ooiji-ot.     In  den  Tragö-   I   in  Alelanges  Weil,  1898,  p.  283  flf. 
dien  filteren  Stils   vor  dem  peloponnesischen  **)  A.  Gaoss,    Die   Stichomythie  in  der 

Krieg   sind   sie   sehr  selten  (E.  Bethe,  Pro-  griechischen  Trag,  und  Kom.,  Berlin  1905. 


C.  Drama,    2.  Die  Tragödie,    a)  Anfänge. 


151—152.) 


265 


in  der  Tragödie  nie,0  i^^r  verloren  die  Chorlieder  mehr  und  mehr  die 
organische  Verbindung  mit  der  Handlung  und  wurden  zu  lyrischen  Inter- 
mezzi {ijLißohfia  Aristot.  poöt.  18  extr.).  Dichterisch  gereichte  die  Ein- 
schränkung des  Lyrischen  der  Tragödie  nicht  zum  Vorteil.  Denn  ohne 
lyrischen  Anhauch  ist  sie  immer  in  Gefahr,  ein  kaltes,  virtuosenhaftes 
Spiel  mit  Rechensteinen  zu  werden. 

2.  Die  Tragödie.«) 

a)  Die  Anfänge  der  Tragödie  bis  auf  Aischylos.') 
162.  Nach  Aristoteles  (poöt.  p.  1449a  10.  1448a  29)  ist  die  Tragödie 
von  den  Vorsängern  des  Dithyrambus  {äjio  rcov  i^aQxovrcov  röv  öMQafißov) 


1)  A.  KöBTB,  N.  Jahrbb.f.  kl.  Alt.  5  (1900) 
81flf. 

*)  Im  Altertum  schrieben:  Asklepiades 
von  Tragilos,  ein  Schüler  des  Isokrates, 
ToaycpSovfievaf  eine  zusammenhängende  Erzäh- 
lung aller  irischen  Mythen  in  mindestens 
11  Büchern  (fragm.  coli.  F.  X.  Webfbs  in  Acta 
phü.  Mon.  n  4.  1818, 491  ff. ;  C.  Müller,  FHG 
III 301  ff.  Zuwachs  bei  B.  A.  Möller,  De  Ascle- 
piade  Myrleano,  Leipz.1903, 46f.);  Duris  der 
Historiker  und  Istros  aus  Eallatis  .tegi  rga- 
ycoStag  (s.  Ad.Tbendblbitbijbo,  Granmiaticorum 
graec.  de  arte  trag,  iudicia,  Bonn  1867) ;  Hera- 
kleides  Pont,  i^egi  tcov  tqiwv  Tgayqydojtoicöv 
(Diog.V88;  nach  dem  Titel  jreoi  xcov  jiao'  Evoi- 
mdjj  xai  2oq>oxXeX  bei  Diog.  V  87  muß  ein  Sub- 
stantiv ausgefallen  sein).  Der  letztere  und  der 
Peripatetiker  Dikaiarchos  handelten  auch 
von  dem  Inhalt  {xsqdXma)  und  den  mytho- 
logischen Voraussetzungen  der  Tragödien,  be- 
sonders des  Sophokles  und  Euripides  (Sext. 
Emp.  adv.  math.  III 3;  ob  Antiphanes  fr.  1 13  K. 
mit  A.  Trendelenburg  auf  Herakleides  zu  be- 
ziehen, ist  fraglich);  darauf  beruhten  die  vno- 
ßeoeig  (argumenta)  des  Aristophanes  von  By- 
zantion,  von  denen  uns  Reste  in  den  Scholien 
erhalten  sind  (s.  F.  W.  Schnbidewin,  De  hypo- 
thesibus  trag.  gr.  Aristophani  Byzantio  vindi- 
candis,  Abhandl.  d.  Gott.  Ges.  6, 1855,  3—37). 
Die  Bealkritik  behandelte  Aristarchos'  Schüler 
Dionysodoros  Ttegl  xwv  jcaga  toTg  zgayt- 
xoig  rjfiagrij/jievojv  (Schol.  Eur.  Rhes.  508).  — 
Neuere  Werke:  F.  G.  Welcker,  Die  griech. 
Tragödien  mit  Rücksicht  auf  den  epischen 
Gyklus  geordnet,  Bonn  1839—41,  3  Bde., 
Hauptwerk;  A.Böckh,  De  tragoediae  graecae 
principibus,  Heidelb.  1808;  W.  K.  Kaysbr, 
Historia  critica  tragicorum  graecorum,  Gott. 
1845;  H.  J.G.Patin,  ^tudes  sur  les  tragiques 
grecs,  6.  ed.  Paris  1884,  ästhetische  Analysen 
mit  geistreichen  Seitenblicken  auf  das  moderne 
Drama.  —  Fragmentsammlungen:  Poetae 
tragici  gr.  von  F.  W.  Waonbb,  Bresl.  1844 
bis  1852,  3  Bde.;  Poetar.  tragicor.  graecor. 
fragUL  (TGF)  von  A.  Naück,  Lips.  (1856)  1889, 
Hauptwerk;  dazu  Tragicae  dictionis  index 
(niir  zu  den  Fragmenten),  Petrop.  1892,  von 
Nauck  uid  seinen  rassischen  Schülern.   Die 


Fragmente  haben  durch  neue  Funde  in  Papyn 
und  Handschriften  (so  den  von  R.  Reitzen- 
STEiN,  Der  Anf.  des  Lex.  des  Phot.,  Leipz.  u. 
Beri.  1907,  veröffentlichten  Anfang  von  Photios' 
Lexikon  XIU  ff.  u.  den  von  H.  Rabe,  Rhein. 
Mus.  63.  1908,  127  ff.,  ans  Licht  gezogenen 
Eonunentar  des  Johannes  Diakonos  zu  Her- 
mogenes)  bedeutenden  Zuwachs  erhalten.  Was 
bis  1899  aus  Papyri  hinzukam,  verzeichnet 
F.  G.  Kbwyon,  The  Palaeography  of  greek 
papyri,  Oxford  1899,  130  ff.  Weiteres  in  den 
Übersichten  von  W.  Cbönert  in  U.  Wilckens 
Archiv  f.  Papyrusforschung  (seit  1901).  — 
Für  die  Textkonstitution  der  drei  großen 
Tragiker  ergebnisreich  F.  W.  Schmidt,  Krit. 
Studien  zu  den  griech.  Dramatikern,  3  Bde., 
Beriin  1886—87.  Über  die  Flexionsformen  0. 
Lautensach,  Grammat.  Studien  zu  den  griech. 
Tragikern  und  Komikern,  I  Gotha  1896.  II  Han- 
nover 1 899.  Über  die  Dialektmischung  B.Gebth, 
Curtius'  Studien  1 2  (1868)  191  ff.;  A.  v.  Mess, 
Quaest.  de  epigrammate  Att.  et  trag,  antiquiore 
dialecticae,  Bonn  1898 ;  P.  Menge,  De  poetar. 
scaenicor.  Graecor.  sermone  observat.  selectae, 
Gott.  Diss.  1905.  —  Zur  Technik:  Chr.  Riedel, 
Die  Alliteration  bei  den  drei  großen  griech. 
Tragikern,  Diss.  Erlangen  1900;  N.  Terzaohi, 
Appunti  sui  paragoni  nei  tragici  greci,  Studi 
ital.  di  filol.  14  (1906)  415  ff.;  Trautner,  Die 
Amphibolien  bei  den  drei  großen  Tragikern 
und  ihre  Beurteilung  durch  die  antike  Ästhetik, 
Erlangen  1907;  W.  Felsch,  Quibus  artificiis 
adhibitis  poetae  tragici  Graeci  unitates  illas 
et  temporis  et  loci  observaverint,  Bresl.  philol. 
Abh.  IX,  4  (1907).  Siehe  a.  oben  S.  249,  2; 
264,  6.  —  J.  H.  HüDDiLSTON,  Greek  tragedy 
in  the  light  of  vase  painting,  London  1898. 
R.  Ekqelmann,  Archäologische  Studien  zu  den 
griech.  Tragikern,  Berl.  1900.  A.  Römer,  Zur 
Würdigung  und  Kritik  der  Tragikerscholien, 
Philol.  65  (1906)  24  ff. 

')  R.  Bentlby,  De  origine  tragoediae,  in 
Opusc,  Leipz.  1781,  276  ff.;  E.Hillbb,  Rh.  M. 
39  (1884)  321  ff.;  F.  Nietzsche,  Die  Geburt 
der  Tragödie  aus  dem  Geiste  der  Musik, 
Leipzig  1872.  (Dazu  Wilamowitz,  Zukunfts- 
philologie, Berl.  1872,  und  E.  Rohde,  After- 
philologie, Leipz.  1872). 


266  Grieohische  litteratiirgeschichte.    I.  KUflsiflohe  Periode. 

ausgegangen  0  und  behaupteten  manche  peloponnesisehen  Dorer,  sie  sei  bei 
ihnen  entstanden.  Daß  in  Korinth  und  Sikjon  Umgestaltungen  des  Dithy- 
rambus in  religiöser  und  künstlerischer  Beziehung  im  Anfang  des  6.  Jahr- 
hunderts auf  Veranlassung  der  Tyrannen  vorgenommen  worden  sind,  kann 
als  feststehend  gelten;  ob  sie  sich  aber  auch  auf  eine  Entwicklung  zum 
Dramatischen  hin  bezogen,  ob  wir  den  Theseus  des  Bakchylides  (18.  Gre- 
dicht)  als  Dokument  der  Übergangsform  im  vollen  Sinn  ansprechen  dOrfen, 
laut  sich  mit  Bestimmtheit  nicht  sagen.  Alte  und  moderne  Vermutungen 
über  die  Entstehung  der  Tragödie  aus  dem  Satyrspiel  werden,  obwohl  der 
Name  der  Tragödie  sie  scheinbar  empfiehlt,  besser  beiseite  gelassen  (s. 
o.  S.  205,  3.  248).  Aus  der  herodotischen  Nachricht  über  die  tragischen 
Chöre  in  Sikyon  und  ihre  Reform  durch  Kleisthenes*)  und  aus  dem  Be- 
streben der  Derer,  sich  die  „Erfindung^  der  Tragödie  zu  vindizieren,*) 
scheint  spät  die  Fiktion  des  tragischen  Dichters  Epigenes  entstanden  zu 
sein,  dessen  Name  bedenklich  an  Epicharmos,  den  Archegeten  der  dorischen 
Komödie  anklingt.^)  Er  sollte  Sikyonier  und  erster  tragischer  Dichter  ge- 
wesen sein.  Durchaus  glaubwürdig  ist,  daß  in  Phlius  dionysische  Mumme- 
reien von  Bockschören  üblich  gewesen,  von  dem  Phliasier  Pratinas  veredelt 
und  in  Attika  eingeführt  worden  sind.  Sie  wurden  als  Nachspiele  zu 
den  Tragödien  beim  dionysischen  Agon  in  Athen  zugelassen,  haben  aber 
auf  das  Wesen  der  attischen  Tragödie  so  wenig  Einfluß  geübt,  als  die 
Mimen  und  Atellanen  auf  das  Wesen  der  römischen. 

153.  Daß  alte  dorische  Volksdramatik  nach  Attika  schon  in  vor- 
peisistratischer  Zeit  übergetragen  worden  sei,  ist  in  Anbetracht  des  dorischen 
Einflusses,  unter  dem  diese  Landschaft  vor  Selon  stand,  nicht  unwahr- 
scheinlich, wiewohl  es  Zeugnisse  dafür  nicht  gibt,  sondern  nur  tendenziöse 
Legenden,  denen  andere,  Athens  Originalität  verteidigende,  von  dem  Oau 
Ikaria  und  seiner  alten  Bedeutung  für  die  Entwicklung  des  Dramas  gegen- 
überstehen.^)    Aus  Ikaria  stammte  Thespis,   der  schon   in  voralexandri- 

*)  Xooofnbaaxnkng  war  der  gemeinsame  ■  S.  201,  6.  209,  6.  214. 

Name    fQr   den    choreinttbenden  Dichter   im  1  ')  Her.  V  67:    w    J^ixvtovtoi  iri/toar  t^ 

Ditliyraiiibus  und  in  der  Tragödie.    An  meh-  I  "ASnrjarov  xni  Sif  .toos  tä  na^sa  avto^  rgo- 

rercn  Stellen   wird   die   angehende  Tragödie  '  yixotai    ;jfO(>oro<   FyeQaigav.    Richtig    bemerkt 

mit  dem  lyriHchcn  Chor  ganz  nahe  zusammen-  E.  Reiscii  (Fcstschr.  f.  Gomperz  452  f.)»  daß 

gerückt,  so  Tzetzes  Proleg.  in  Lycophr. ;  vgl.  j  Her.  hier  nicht  an  BockschOre  gedacht,  Bondera 

Diog.  Laert.  III  56:  t6  nakaim'  h  rfi  Tnay<oö(n  rotr/ixil;   in  dem  Sinn  gebraucht  habe,  wie 

rrgdjFooy  fifv  fjovo^  6  /o(><*s  dted()afidTt^Fv,  vaTf-  es  ZU  seiner  Zeit  in  Attika  verstanden  wurde. 

gov  6f  H8o.^ls  Fyav.-ioxotTt/v  i^ertjer;  Ath.ßSOci  '  *)  Dies  besonders  deutlich  bei  Sold. 8. ▼. 

«)    Zenob.  V  40;   Suidas  s.  v.  BetKiif  n. 


ovi'FOTPjxs  ^F  xai  oarvmxij  nana  .Toi'?;ms*  to 
nakaiov  fx  yooun'  fo^  xai  i)  totf  ntaytofiia. 
A.  BöcKn,  Süatsh.  d.  Athener  IP  (Beil.  1817) 


OMv  HQOs  xov  Ai6%'vow\  Photioslex.  p. 857,5. 


361  ff.,  hat  daraus  die  vielberufcne  lyrische  Das  Sprichwort  ovöh'  jroog  jov  Atmt^aor^  das 

Tragödie  gemacht,  welche  Anschauung  G.Her-  nach  den  Lexikographen  das  Befremden  Ober 

MANN,  De  tragoedia  comoediaque  lyrica,  Leipz.  die    von    E.    eingeführte,    mit    dionysischer 

1S36(— Opusc.  VII  Öl  1—240)  als  leeres Phan-  '   Lustigkeit    nicht   zusammenstimmende   Tra- 

tom  bekämpfte.  Den  Gedanken  Böckhs  nahm  ,   gödie   ausdrücken   soll ,    wird  indessen    von 

wieder  auf  £.  LüBBEKT,  Commentat.  de  Pindari  Plut.  symp.  I  615  a  nicht  auf  Epigenes  ge- 

carminibus  dramalicis,  Bonn.  Ind.  1884,5,  wo  i   deutet,    sondern    auf   die    Neuerungen    des 

mit  freier  Phantasie  definiert  wird:  doä/tara  '   Phrynichos   und    Aischylos.     Die   Sikyonier 

Toayixa  rnrmhin  »unt  argumenti  heroiriy   in  nennt   Erfinder   der  Tragödie  Themistios  or. 

quibus  Uitcrhi  Joco  heroen  prodihanty  qui  pro  27  p.  406  Dind. 

gtnere    humano  propugnnntes   fortunae   tela  1            ^)  kih.AQhx  d:io  pedrigxal^xfjg  xtofiiiMais 

et  iduif  inirepido  pectore  exciperent;  s.  oben  xai /jtfj^TonyfoötagFVQeaigh'^IxaQÜfxifg'AtTix^, 


0.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    a)  Anfänge.    (§  153.) 


267 


nischer  ZeitO  &ls  der  eigentliche  Erfinder  der  Ti*agödie  bezeichnet  wurde,*) 
wiewohl  auch  die  Ansicht  begegnet,  die  Tragödie  sei  eine  uralte,  lange 
vor  Thespis  und  Phrynichos  zu  setzende  „Erfindung*  Athens,  Unter  dem 
kunstsinnigen  Regiment  der  Peisistratiden  wurde  das  dramatische  Spiel 
nach  der  Stadt  verpflanzt,  und  im  Jahr  534  führte  hier  Thespis  die  erste 
Tragödie  auf;  für  das  Jahr  508,  nach  Yerjagung  der  Tyrannen,  ist  uns 
die  Übernahme  der  Ghorleistung  für  lyrische  Chöre  durch  Bürger  bezeugt.  3) 
Wie  die  Tragödie  in  jener  ältesten  Zeit  beschaffen  war  und  worin  sich 
die  altattische  von  der  peloponnesischen  unterschied,  darüber  läßt  sich 
nichts  Bestimmtes  aufstellen,  und  darüber  hatte  auch  Aristoteles  keine 
sicheren  Nachrichten  mehr.  Es  werden  zwar  von  Suidas  mehrere  Titel 
von  Tragödien  des  Thespis  überliefert:  UMa  IleXiov  ij  ^ogßag,  'legelg, 
*Hi^€oi,  üev&evg,  aber  jene  Stücke  waren  junge  Fälschungen,  die  Herakleides 
Pontikos  gemacht  hatte.^)  Eher  darf  man  aus  den  Angaben  des  Diogenes^) 
abnehmen,  dals  bei  Thespis  zuerst  der  Schauspieler  aus  der  Rolle  eines 
bloßen  Chorführers  zu  der  selbständigen  Stellung  einer  dem  Chor  gegen- 
überstehenden Person  herausgetreten  sei  und  davon,  daß  er  auf  die 
Fragen  des  Chorführers  antwortete  (vnexQiveto)^  den  Namen  InoxQixtjg  er- 
halten habe.«)  Aber  was  Horaz  a.  p.  276  von  dem  Wagen  fabelt,  auf 
dem  Thespis  seine  Tragödien  herumgefahren  habe,  beruht  vielleicht  auf 
Verwechselung  der  Tragödie  mit  den  Spottreden  der  vom  Wagen  herab 
die  Leute  neckenden  Festschwärme  {aHdju/LuiTa  i^  ä/id^rjg)  und  wird  wohl 
auf  Chamaileons  Schrift  jiegi  Oeamdog  zurückgehen,  oder  ist  es  aus  dem 
dionysischen  Schiffskarren  (car  naval)*^)  herausgesponnen;   was  der  späte 


*)  Zuerst  erwähnt  ihn  Ar.  vesp.  1479, 
wo  der  Schoiiast  unnötigerweise  einen  von 
dem  Tragiker  verschiedenen  Lyriker  Th.  ver- 
stehen will;  dann  Ps.Plat.  Min.  321a.  Eine 
Hennenaufschrift  Seojtig  SefÄcovoc:  ist  in  Aquae 
Alhulae  gefunden  worden:  A.  Wilhelm,  Ur- 
kunden 181  A. 

«)  Dioscorides  Anth.  Pal.  VU  410  u.  411 ; 
Horat.  a.  p.  275,  deren  Ansicht  R  Bbktley  a.  0. 
verfocht.  Dagegen  nennt  Suidas  nach  ver- 
schiedenartig angelegten  Tragikerlisten  den 
Thespis  den  16.  oder  2.  Tragiker  nach  Epi- 
genes.  Die  Neuerungen  des  Thespis  sucnt 
P.  GiRABD,  Revue  des  6t.  gr.  4  (1891)  159  ff. 
näher  zu  bezeichnen. 

•)  Mann.  Par.  ep.  43  (nach  sicherer  Ver- 
besserung) und  46.  Nach  E.  Capps'  (The  in- 
troduction  of  comedy  into  the  city  Dionysia 
at  Athens,  Chicago  1903)  Berechnung  begann 
die  Liste  der  choregischen  Sieger  an  den  städ- 
tischen Dionysien  CIA  11 971  mit  dem  Jahr  502 
und  hing  die  Einsetzung  des  lyrischen  Chor- 
agons  mit  der  Neuordnung  des  athenischen 
Staatswesens  durch  KleisÜienes  zusammen. 
Siehe  dazu  F.  Jacobt,  Mann.  Par.  110  und 
A.  WiLHJBLM,  Urkunden  240  ff. 

*)  Diog.V92:  q^tjol  6'  *AQioT6^evog  6  fiov- 
Cixos  xcd  tqaytpduK  'HgaxXeldrjv  IIcvzixov 
MOi^  xcu  Bionihog  IniyQdfpeiv.     R.  Bentlet 


a.  0.  287  bezieht  darauf  die  zitierten  Titel 
und  erhaltenen  Fragmente.  A.  Daub,  De 
Suidae  biographicor.  orig.  et  fide,  Jahrbb.  f. 
Phil.  Suppl.  11  (1880)412  zeigt,  daß  jene  unter- 
geschobenen Stücke  nicht  in  den  Katalogen 
der  Alexandriner  standen.  Aber  Hör.  ep.  II  1, 
163  beweist,  daß  man  im  augusteischen  Rom 
Echtes  von  ihm  zu  besitzen  glaubte. 

*)  Diog.  Laert.  III 56 :  hrfj  tgaycijSiff,  jiqo- 
regov  juev  fiovog  6  X^Q^  ötedoafÄdziCrt',  vareoov 
de  ßiajiig  iva  vnoxQiTijv  s^evgev.  Vgl.  PoUux 
IV123. 

•)  So  deutet  Pollux  IV  123  das  Wort 
vTioxQizrig^  und  so  gebraucht  das  Verbum 
vjioxQirofiat,  synonym  mit  djioxQt'vofiai,  Homer 
i/407,  3/228,  ß  111,  o  170;  ebenso  Herodot. 
Vgl.  Apoll,  soph.  lex.  Hom.  p.  160  B.,  Hesych. 
u.  vjioxQivoiTo  und  G.  CuBTius,  Ber.  d.  sächs. 
Ges.  d.  W.  18  (1866)  144  ff.  und  Rh.  Mus.  23 
(1868)  255  ff.  Ob  diese  Deutung  des  Wortes 
richtig  sei  und  ob  nicht  vjioxoitrig  vielmehr 
denjenigen,  der  die  Worte  eines  anderen,  des 
Dichters,  wiedergab,  bedeutete,  darüber  J. 
SoMMBBBRODT,  Rh.  M.  22  (1867)  513  ff.  u.  30 
(1875)  456  ff.  Die  Frage  kann  jetzt  für  ent- 
schieden gelten :  vjroxQivofiat  ist  der  ionische 
Ausdruck  für  djroxgivofini.    Siehe  o.  S.  247. 

7)  F.  DüMMLEB,  Kl.  Sehr.,  Leipz.  1901, 
in  26  ff. 


268  GriechiBche  Litteratorgeschichte.    I.  ElaBsische  Periode. 

Rhetor  Themistios  or.  26  p.  382  Dind.  von  der  Erfindung  des  ngöSLoyog 
und  der  ^fjoic;  durch  Thespis  berichtet,  ist  mit  freier  Phantasie  aus  den 
Andeutungen  des  Aristoteles  po6t.  4  herausgelesen. 

154.  Außer  Thespis  werden  noch  als  älteste  Tragödiendichter  und 
Vorgänger  des  Aischylos  genannt  Choirilos,  Pratinas,  Phrynichos.  Von 
diesen  hat  Pratinas  aus  Phlius^)  das  Satyrspiel  in  Athen  eingebürgert.') 
Suidas  legt  ihm  fünfzig  Dramen,  darunter  zweiunddreißig  Satyrspiele  bei. 
Es  hat  sich  von  ihm  ein  hübsches  Hyporchem,  vielleicht  Teil  eines  Satyr- 
spieles,^)  erhalten,  dessen  rasche  und  wechselnde  Bhythmen  die  lustigen 
Sprünge  seiner  Satyrn  erraten  lassen.  Sonst  werden  uns  nur  zwei  Titel, 
Ava/mirai  i)  Knovarideg  und  FlakaiaTal  adrvQoi  genannt.  Er  gewann  nur 
einmal  den  Sieg  und  muß  467,  in  welchem  Jahr  sein  Sohn  Aristias  ein 
Satyrspiel  von  ihm,  die  Ilakaiaxai,  aufführte,*)  schon  tot  gewesen  sein. 
In  der  70.  Olympiade  (499 — 496)  hat  er  mit  Aischylos  und  Choirilos  kon- 
kurriert. Mehrere  Fragmente  von  ihm  (1.  6 — 8  Bergk)  zeigen  lebhaftes 
Eingreifen  in  die  musikalischen  Zeitfragen,  und  zwar  in  konservativem 
Sinn.  —  In  des  Vaters  Fuütapfen  trat  sein  Sohn  Aristias.  Sämtliche 
erhaltene  Titel  außer  den  beiden  Tragödientiteln  Perseus  und  Tantalos 
scheinen  zu  Satyrspielen  zu  gehören;  besonders  interessant  sind  die  Titel 
KvxMoy^)  und  ÜQqet^g.  Sein  Name  (nicht  der  seines  Vaters)  ist  auf  einer 
athenischen  Siegerliste  erhalten.^)  Pausanias  sah  noch  sein  Denkmal  in 
Phlius.^)  Zeitgenossen  von  ihm  sind  nach  der  angeführten  Liste  die  sonst 
unbekannten  Tragiker  Euetes  und  Nothippos  (die  Komiker  verdrehen 
den  Namen  scherzhaft  in  Gnesippos),  Sohn  des  Kleomachos,  wahrschein- 
lich Sieger  470.^) 

Der  bedeutendste**)  unter  den  Tragikern  vor  Aischylos  scheint  Phry- 
nichos, der  Sohn  des  Polyphrasmon,  gewesen  zu  sein;  er  hat  nach  Suidas 
zuerst  weibliche  Personen  auf  die  Bühne  gebracht  und  trochäische  Tetra- 
moter  in  seinen  Tragödien  gebraucht,  ^^)  womit  wohl  die  vielen  Tanzfiguren 
zusammenhängen,  die  er  nach  Aristophanes  (av.  749)  aufgebracht  haben 
soll.  Die  ionisch-weichliche  Eleganz  seines  Auftretens  berührt  Aristo- 
phanes (Thesm.  164),  und  ionisch-äolische  Formen  zeigen  auch  die  me- 
lischen  Stellen  der  Fragmente.  Sein  erster  Sieg  fällt  in  die  67.  Olym- 
piade (511 — 508).  Teils  durch  Suidas,  bei  dem  merkwürdigerweise  die 
Titel  der  zwei  berühmtesten  Stücke  fehlen,  teils  durch  andere  kennen  wir 
noch  zehn  oder  elf  Tragödientitel,  Alyvjinoi,  \Axrakov,  14>lx?;onc,^0  ^Avxalog  ^ 

*)  Pr.  ist  das  erste  Beispiel  dafür,   daß  tereu  Namens  [Myhi\TOs. 

auch  Ausländer  zum   dionysischen   ayiov  in  ^)  Paus.  II  13,  5. 

Attika  zugelassen  wuiden  (A.  Wiuielm,  Ur-  ^)  Wilhelm  a.a.O.  101  f.;  Wilamowetz, 

künden  57).  Gott.  (iel.  Anz.  1906,  632. 

«)  Antli.  Pal.  VII  37.  ;           »)  Ar.  ran.  1299. 

•'•)  Vgl.  P.  GiRARD,  Mdlanges  Weil  131  f.  *<*)  Die  Angabe   des  Suidas  evgexijg  rov 

*)  Arg.  Aesch.  sept.  |   TFToau/ioov  tyh'Fro  ist  insofern  schief,  als 

^)  Kuripidcs  hat  das  Stück  gekannt;  eine  '   nach  Arist.  po^t.  4  der  Tetrameter  das  alte 

Rekonstruktion   des  Inhalts  aus  dem  einen  j   Metrum  des  tragischen  Spieles  überhaupt  war. 

erhaltenen  Vers  versuclit  G.  Kaibel,  Herrn.  Die  erhaltenen  Fragmente   zeigen,    von   den 

30  (1895)  71.  1.  melischen    abgesehen,    durchaus    iambische 

«)  CIA  m  977;  s.  A.Wilhelm,  Urkunden  Trinieter. 

103.    Unsicher  ist  die  Ergänzung  eines  wei-  |          ^')  Dieses  Stück   scheint,  wie  die  Alk. 


0.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    a)  Anfänge.    (§  154.) 


269 


Aißveg,  Aixaioi  [^  IJegoai  fj  2!vr9(üxoi],^)  Aavaideg,  Mdijrov  äXcoaig,  ükev- 
Qwvuxi,^)  TdvtaXog,  ^oivioaai.^)  Am  berühmtesten  waren  die  ^olviooai,  für 
die  Themistokles  im  Jahre  476  den  Chor  ausrüstete^)  und  die  bald  nachher 
Aischylos  in  seinen  Persern  überbot.  Bei  beiden  Dichtem  ist  die  Szene 
in  ideale  Feme,  an  den  Hof  des  Großkönigs  verlegt.  Das  Kolorit  bei 
Phrynichos  scheint  realistischer  und  ionischer  gewesen  zu  sein  als  bei 
Aischylos.  Der  Chor  bestand  bei  ihm  aus  phönikischen  Weibem  vermut- 
lich des  königlichen  Harems.*)  Auch  eine  Schildemng  der  Schlacht  bei 
Salamis  kam  bei  ihm  vor;  von  ihr  sind  neustens«)  zwei  durch  ihren  rein 
ionischen  Dialekt-  interessante  Trimeter  gefunden  worden.  Zeitgeschicht- 
lichen Inhalts  war  auch  das  Stück  Mdi^rov  äkayoig,  berühmt  geworden  durch  die 
Nachricht  des  Herodot,  daß  die  Athener,  die  durch  das  Drama  an  eine 
dunkle  Partie  ihrer  Politik  erinnert  wurden,  den  Dichter  mit  einer  Geld- 
buße bestraften  und  eine  Wiederaufführung  des  Stückes  (in  den  Demen- 
theatem)  verboten. '')  Sehr  bedeutsam  sind  diese  ersten,  vielleicht  von 
dem  großen  Realisten  Themistokles  angeregten  Versuche,  geschichtliche 
Gegenstände  beim  Dionysosfest  vorzuführen.  Sie  haben  wenig  Nachfolge 
geftinden,**)  weil  sie  der  religiös-romantischen  Auffassung  des  Publikums 
von  der  Tragödie  nicht  entsprachen.  Nur  der  Perserstoflf  macht  eine  Aus- 
nahme; ihn  durfte  auch  Aischylos  noch  einmal  behandeln,  weil  —  so  ist 
auch  Herodots  Auffassung  —  in  dieser  Zeit    wie    in    der   heroischen   die 


des  Euripides,  burlesken  Charakter  gehabt  zu 
haben  (A.  Dibtbbich,  Polcinella,  Leipz.  1898, 
69).  Scharfsinnig,  aber  nicht  glücklich  be- 
handelt A.  Schöne  (Über  Eurip.  Alk.,  Kiel 
1895)  das  Verhältnis  der  beiden  Stücke. 

')  Aixatoi  scheint  aus  AaSixat,  dem 
Namen  eines  persischen  Volksstammes,  ver- 
derbt zu  sein ;  femer  scheinen  Zvv&caxoi  oder 
Ileoaat  und  ZvvÖwxoi  Doppeltitel  der  4^irio- 
acu  gewesen  zu  sein. 

*)  Das  Stück  ging  auf  die  Meleagros- 
sage,  die  Phrynichos  ähnlich  behandelt  wie 
Bi&chylides  3,  127  ff.,  worüber  K.  Robert, 
Herrn.  33  (1898)  154  f. 

*)  Suidas  erwähnt  noch  einen  zweiten 
Tragiker  Phrynichos,  den  Sohn  des  Melan- 
thas,  dem  er  eine  Andromeda  und  Erigone 
beilegt;  beide  identifiziert  F.  G.  Welokeb,  Gr. 
Tr.  1 19  unter  Mißbrauch  des  interpolierten 
Scholion  zu  Aristvesp.  1481. 

*)  Plut.  Them.  5:  hixrjae  de  xai  x,oQrj- 
ywv  rgayfpdoTg,  fiBydXrjv  rjörj  TÖze  ojiovStfv  xal 
tpüUniftiav  xov  dyeavog  exorrog,  xai  mvaxa  trjg 
vixijg  dvS^xe  toiavxrjv  ejiiyQaq}ijv  F^ovia '  ße- 
fUOZOxXijg  4^edgQiog  Bj^ootjyei,  4*otn'ixog  eöi- 
daaxev,  'Adeifiaviog  tjqxsv.  Der  Name  des 
Stückes  ist  nicht  genannt;  daß  es  die  Phoi- 
nissai  waren,  ist  eine  wahrscheinliche  Ver- 
mutung von  R.  Bbntlbt,  Abhandl.  über  die 
Briefe  des  Phalaris,  deutsch  von  W.  Ribbeck, 
Leipz.  1857,  286  f. 

*)  Wie  die  Witwen  der  phönikischen 
Seesoldaten  (so  Wilaxowitz,  Herm.  32,  1897, 
892)  an  den  Hof  gekommen  sein  sollen,  ist 


nicht  abzusehen. 

*)  Aus  Ammonios*  Kommentar  zu  Hom.  0 
(Oxyrh.  pap.  II)  hergestellt  von  H,  Diels, 
Rhein.  Mus.  56  (1901)  29  ff. 

")  Herod.  6,  21:  *AOfjvaToi  öijXov  ejioijjaav 
vneQax^eoOevTsg  xfj  Mdrjxov  d).cooi  xfj  X€ 
äXXfj  Jiokkaxijf  xai  öij  xai  :ioi7jöavxi  ^gwi^to 
Sgäfia  AliXyxov  äXcoatv  xai  Sidd^avxi  eg  ddxgvd 
xe  F.iFoe  x6  der)XQOv  xai  F.CtiftUoodv  fitv  cog 
dvafivTJaavxa  otxfjia  (als  Gegensatz  ist  wohl 
TJQMixd  gedacht)  xaxd  ;r<x//;a<  Ögoxfifjot  xai 
ijzeza^av  jtit/xht  fujdeva  ^gdaßat  xovxq>  x(o  ögd- 
/itaxi.  E.  Meyer,  Gesch.  des  Altert.  III  313 
vermutet,  in  der  Voraussetzung,  daß  auch  die 
M,  ä.  von  Themistokles  inspiriert  sei,  dieses 
Stück  sei  unmittelbar  vor  1  hemistokles* 
Archontat,  494  aufgeführt  worden,  um  nach 
dem  Mißlingen  des  ionischen  Aufstandes 
Stimmung  für  einen  Perserkrieg  zu  machen. 
Die  Strafe  ist  wohl  als  eine  in  der  Volks- 
versammlung ir  Aiovvaov  nach  den  großen 
Dionysien  verhängte  Polizeistrafe  wegen  Un- 
fugs zu  betrachten.  Das  Unziemliche  wird 
man  in  der  Verwendung  eines  Stoffes  aus 
der  nächsten  Vergangenheit  (vgl.  Dio  Chr.  or. 
21,  11  aioxQov  Fv  j^  xgaytüöif^  xoi^g  vi}v  m'xag 
ovo^idCEtr),  zumal  eines  so  trostlosen,  ge- 
funden haben. 

•*)  Aischylos*  Perser,  Moschions  ße/iioxo- 
xkfjg  u.  <Pegaloty  Theodektes'  Maussolos,  Lyko- 
phrons  KaoaarÖgFig.  Auch  die  ältere  Vasen- 
malerei hat  fast  gar  keine  geschichtlichen 
Gegenstände. 


270  Grieohiflche  Litteratorgescliiohte,    I.  KlaMosohe  Period«. 

Qötter  und  Heroen  sichtlich  in  die  Menschengeschicke  eingegriffen  zu  haben 
schienen.  Besonders  geschätzt  waren  die  lyrischen  Partien  des  Phrynichos.^ 
Phrynichos  hinterließ  seinen  Sohn  Polyphrasmon  (so  die  Namensform 
CIA  II  977,  3)  als  Erben  seiner  Eunst;>)  er  siegte  471>)  und  trat  467 
mit  einer  Trilogie  Lykurgeia  gegen  die  Sieben  des  Aischylos  in  Wettstreit, 
wobei  er  der  Dritte  wurde  (Argum.  Aesch.  Sept.). 

Choirilos  hat,  wenn  man  daraus,  daß  Sophokles  gegen  ihn  und 
Thespis  seine  Streitschrift  über  den  Chor  richtete,  diesen  Schluß  ziehen 
darf  (Suid.  s.  HocpoxXfjg),  auf  die  Aufstellung  und  die  Bewegungen  des  Chors 
der  älteren  Zeit  Einfluß  geübt.  Auch  die  Erfindung  der  Masken  und 
prachtvollen  Gewänder  legten  nach  Suidas  einige  ihm  bei.  Sein  erster 
Sieg  fällt  zwischen  523  und  520.  Bedenken  erregen  in  den  Angaben  des 
Lexikographen  mehr  die  160  Dramen  als  die  dreizehn  Siege.^) 

b)  Aischylos  (524--456).ft) 

155.  Leben.  Aischylos,  Sohn  des  Euphorien,  stammte  aus  einem 
edlen  Geschlecht  des  Gaues  Eleusis,  worauf  Aristophanes  in  den  FrOschen 
886  den  Dichter  selbst  mit  den  Worten  anspielen  läßt  JijjurixeQ  ^  ^qixpaaa 
rfjv  i/ir]v  (fgha.  Geboren  wurde  er  nach  der  parischen  Chronik  Ol.  63,  4 
=  525/4.*)  Die  Jahre  seines  heranreifenden  Mannesalters  fielen  in  die 
große  Zeit  der  Perserkriege,  die  ihm  nicht  bloß  Geist  und  Gemüt  erhoben, 
sondern  an  denen  er  auch  selbst  mit  seinen  Brüdern  in  den  Schlachten 
von  Marathon,  Salamis  und  Plataia  als  Mitkämpfer  beteiligt  war.  Rühmend 
ist  seiner  Tapferkeit  bei  Marathon,  als  wäre  dies  seine  einzige  Leistung, 
in  der  Aufschrift  seines  Grabdenkmals  gedacht:') 

AlaivXov  EvcpoQicovog  'A&tjvaloi'  rode  xev&ei 
juvTJjua  xaraq^^ijüterov  JiifQoqpOQOio  leXag, 

äXxtjv  d'evdoxijiioy  MaQa&ioviov  äXaog  äv  ehzoi 
xal  ßa^vxciiT/jeig  Mijdog  hnaiäjbtevog. 
Sein   Bruder  Kynegeiros  war  jener  von   den   späteren  Deklamatoren  un- 
ermüdlich gepriesene  Held,  der  bei  Marathon  mit  der  Hand  ein  persisches 

»)  Ar.  av.  750.  ran.  1299;  Ath.  XIII 564  f. ;  I  der  Ausg.  der  Sieben  von  F.  Ritschi,   Leipz. 

r9.Ari8tot.  probl.  p.  920a  11.  1  1875.  Neuere  Bearbeitungen  der  Vita  Aesdiyli 

*)  Diese  Vererbung  der  Kunst  hing  zum  '  von  Th.  Stanley  in  der  Ausgabe  des  Dichten 

Teil  damit  zusammen,  daß  der  Sohn  rechtlich  (Lond.  1663  f.);   Ohk.  Pbtbbsen,   De   Aesch. 

Erbe  der  Stücke  des  Vaters  wurde.  1  vita  et  fabulis,  Kopenh.  1814;  R.  V.  Dahkb, 

»)  Wilhelm,  Urk.  17.  'De  Aesch.  vita,  Berl.  1860;  A.  Dibtbrigh  in 

*)  Auf  seine  Berühmtheit  im  Satyrspiel  der  Realenc.   Die  der  Vita  angeschlossenen 

geht  der  Vers  (Mar.  Plot.  in  Keils  Gramm.  |  ästhetischen  Urteile  stammen  aas  aIIhs  Dio- 

Lat.  VI  508)  'Hvixa  fiiv  ßaod^ig  tjv  Xoinllog  njsius'   oder  Rufus'  fiovoixrj  loxogia   (p.  122, 


fv  2«ri''oo(c.  Über  einen  Wettstreit  des  Choi- 
rilos mit  Pratinas  und  Aischylos  und  den 
dabei  erfolgten  Zusammensturz  des  Brctter- 
gertistes  in  der  70.  Olympiade  s.  o.  S.  253 
und  Wilhelm,  Urk.  183  f. 


94  W.). 

')  Mit  der  Chronik  stimmt  nach  leichter 
Verbesserung  Suidas:  yytoviCeto  avtos  h  rjf 
O  (H  cod.)  oXvfijfMi  hiov  &v  xe;  die  ab- 
weichenden Angaben  der  Vita  sind  unznver- 


^)  Erhalten  ist  uns  aus  dem  Altertum  l  lässig  und  nicht  untereinander  in  Einklang. 

ein   mittelbar  auf  Chamaileons  Schrift  ^pqi  I  ')  Ath.  627  c;  Paus.  I  14,  4;  Vit  Aes(£. 

AiayvXov   zurückgehender   Bio^  AioxrXov   in  !  Nach  Eustratios  zu  Arist.  eth.  Nie.  III  2  ward 

den  Aischyloshandschriften  und  ein  Artikel  er   verwundet   von   dem   Schlachtfeld   weg- 

des  Suidas,  zusammengestellt  mit  den  anderen  getragen. 

Zeugnissen  des  Altertums  von  Fb.  Scholl  in  ! 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    b)  Aisohylos.    (§  155.) 


271 


Schi£F  zurückhielt  und  dabei  seinen  Mut  mit  dem  Tod  besiegelte  (Herod. 
VI  114).  Auch  den  Ameinias,  der  sich  in  der  Schlacht  von  Salamis  hervor- 
tat, geben  mehrere  für  einen  Bruder  des  Dichters  aus;^)  da  aber  dieser 
nach  Herodot  VIII  84  aus  dem  Demos  Pallene  stammte,  so  können  wir 
darin  nur  eine  unhistorische  Ausschmückung  der  Dichterlegende  sehen.  ^) 
Über  die  Erziehung  des  Dichters  und  seine  Lehrer  fehlen  uns  Nachrichten. 
Daß  er  Pythagoreerschüler  gewesen  sei,  ist  Legende,  die  vielleicht  auf 
Herakleides  Pontikos  Ttegl  rcov  rgicov  rgaycodonoubv  zurückgeht.*)  Die  Sage 
ließ  den  Qott  Dionysos  selbst  dem  jungen  Aischylos,  als  er  die  Trauben 
hütete,  erscheinen  und  ihn  zum  Dichten  von  Tragödien  anfeuern.*)  Noch 
nicht  dreißig  Jahre  alt  trat  er  Ol.  70  =  499/496  als  Mitbewerber  um  den 
tragischen  Kranz  mit  Pratinas  und  Choirilos  in  die  Schranken.^)  Den 
ersten  Sieg  errang  er  aber  erst  im  Jahr  484,  als  er  bereits  über  vierzig 
Jahre  alt  war. 

Die  ersten  fünfzig  Jahre  seines  Lebens  scheint  der  Dichter  in  seiner 
Vaterstadt  zugebracht  zu  haben.  Dann  führte  ihn  und  mit  ihm  die  attische 
Tragödie  der  Ruf  des  Tyrannen  Hieron  auf  einen  neuen  Schauplatz.  Zum 
erstenmal  ging  er  nach  Sizilien  in  den  siebziger  Jahren,  vermutHch  nach 
einem  Ausbruch  des  Ätna,^)  an  den  Hof  Hierons  in  Syrakus,  wohin  in 
jenen  Jahren  auch  die  drei  jüngeren  Chorlyriker  gezogen  worden  waren. 
Den  Simonides  soll  er  dort  getroffen  haben.  Damals  blühte  bereits  in 
Sizilien  die  dramatische  Kunst  des  Epicharmos,  und  auch  Aischylos  dichtete 
für  die  syrakusische  Bühne  ein  Lokalstück,  die  Ahvälai,'^)  das  ähnlich  wie 
die  erste  pythische  Ode  Pindars  (aufgeführt  470)  der  Verherrlichung  der 
von  Hieron  476  neugegründeten  Stadt  Aitne  diente.  Auch  seine  zweite 
Reise  nach  Sizilien  geschah  auf  Hierons  Aufforderung,  der  ihn  veranlaßte, 
seine  Perser  in  Sizilien  noch  einmal  aufzuführen.®)  Da  die  Perser  zum 
erstenmal  472  in  Athen  gegeben  wurden  und  der  Dichter  468  und  467 
wieder  in  Athen  aufführte,  so  ist  der  Zeitrahmen  472 — 468  für  die  zweite 
Reise  gegeben.  Die  peripatetische  Biographie  hat  seine  sizilischen  Reisen 
unnötigerweise  mit  Verstimmung  motiviert  und  nun  verschiedene  schon  aus 
chronologischen  Gründen  ganz  unmögliche  Anlässe  erfunden.^)  Eine  rich- 
tigere Vorstellung  von  Aischylos'  edlem  Künstlerstolz,  der  sich  von  äußeren 
Erfolgen  unabhängig  wußte,  hegt  der  von  Athenaios  überlieferten  Anekdote 
zugrunde,  wonach  er,  als  ihm  einmal  die  Theaterrichter  den  Preis  ab- 
erkannten, ruhig  sagte,  er  weihe  seine  Tragödien  der  Zeit,  die  werde  ihm 


»)  Biodor.  XI  27.  2;  Aelian.  v.  h.  V  19; 
AristodenLpoliorc.  I  3;  Soidas  und  die  Vita. 

';  G.  ÜBBHAirK,  Op.  ü  166  hat  zuerst  den 
Irrtum  ani^g^eckt. 

»)  Cic.  Tuflc.  n  23. 

*)  Paus.  I  21,  3. 

*)  Soidas  n.  Jlgativag. 

*)  Diesen,  schildert  er  Prom.  364  ff.  Ein 
Ausbrach  des  Ätna  fand  478  nach  Mann.  Par. 
«p.  52, 475  nach  Thuc.  m  1 16  statt.  Vit  Aesch. : 
iJL^djir  slg  JSixeXlav  'ligiovog  t6t8  tv^v  Ahvtjv 
MtiCorvos  ing&ei^axo  rac  Alrvaiag,  oicoviCofAevog 
ßlonf  äyct^or  tdig  awoixiCovoi  tifv  noXiv.  Pau- 


sanias  I  2,  3  läßt  den  Aischylos  mit  Simo- 
nides hei  Hieron  verweilen. 

^)  Ahvai  schreibt  Wilamowitz  mit  dem 
Cod.  Mediceus  Herm.  32  (1897)  395. 

^)  Ohne  Grund  wird  diese  zweite  Reise 
bestritten  von  Wilamowitz  a.  a.  0. 

•)  Vit.  cod.  Medic.  in  Kibchhoffs  Aischy- 
losausg.  Berl.  1880  p.  380;  Anth.  Pal.  VII  40 
bezieht  sich  ebenso  wie  die  Motivierung  mit 
dem  Fiasko  des  Dichters  bei  Aufführung  der 
Eumeniden  nur  auf  die  letzte  sizilische  Reise. 
Siehe  J.  v.  Lbbuwbn,  Mnemos.  N.  S.  18 
(1890)  68  ff. 


272  Griechische  Litteratorgeschichte.    L  EUuMÖsche  Periode. 

die  gebührende  Ehre  bringen. ^  Im  Jahr  472  gewann  er  mit  seiner  Perser- 
trilogie  in  Athen  den  ersten  Preis,  und  nachdem  er  468  dem  jungen 
Sophokles  unterlegen  war,*)  wurde  ihm  467  im  Wettkampf  mit  Pratinas 
und  Polyphrasmon  für  seine  thebanische  Trilogie  noch  einmal  derselbe 
Erfolg  zuteil.  Der  Sieg  des  kaum  dreißigjährigen  Sophokles  über  den 
sechsundfünfzigjährigen  Aischylos,  der  im  ganzen  achtundzwanzig  erste 
Preise  gewonnen  hat,  wird  den  älteren  Dichter  veranlaßt  haben,  nun  auch 
seinerseits  von  dem  jüngeren,  der  ihm  so  viel  verdankte,  zu  lernen:  in 
dem  Work,  mit  dem  er  458  seinen  letzten  Sieg  in  Athen  gewann,  hat  er 
Neuerungen  der  sophokleischen  Technik,  den  dritten  Schauspieler,  den  auf 
fünfzehn  Mitglieder  verstärkten  Chor,  die  straffere  Haltung  des  dramatischen 
Aufbaus  angenommen,  ohne  doch  dabei  seine  Eigenart,  die  Vorliebe  für 
das  Lyrische,  für  starke  äußere  Bühneneffekte  und  seinen  teleologischen 
Optimismus  aufzugeben.  Wenn  er  nach  diesem  Erfolg  seine  Vaterstadt 
verläßt,  wieder  nach  Sizilien  wandert,  ohne  daß  ihn  Fürstengunst  dahin 
ruft,  wenn  er  sich  in  die  fremde  Republik  Gela  begibt,  um  hier  in  frei- 
willigem Exil  die  letzte  Ruhe  zu  finden,  so  ist  man  berechtigt,  nach 
Gründen  zu  fragen.  Das  haben  schon  die  Alten  getan.  Sie  reden  aber 
nur  von  dem,  was  dem  Aischylos  weiteren  Aufenthalt  in  Athen  verleidet 
haben  soll.  Aristoteles^)  deutet  ein  unabsichtliches  Vergehen  des  Dichters 
gegen  die  Heiligkeit  der  Mysterien  an,  sein  Kommentator  Eustratios  be- 
richtet aus  Herakloides  Pontikos  des  weiteren,  der  Dichter  habe  sich  bei 
einem  aus  jenem  Grund  im  Theater  entstandenen  Tumult  zum  Altar  des 
Dionysos  flüchten  müssen,  und  Clemens  Alexandrinus  fügt  —  sehr  unwahr- 
scheinlich^) —  hinzu,  er  sei,  vor  Gericht  gestellt,  nur  dadurch,  daß  er  nach- 
wies, nicht  in  die  Mysterien  eingeweiht  zu  sein,  freigesprochen  worden.*) 
Aber  wenn  es  auch  mit  jenem  Prozeß  wegen  Entweihung  der  Mysterien 
seine  Richtigkeit  haben  mag,  so  ist  doch  noch  sehr  zweifelhaft,  ob  gerade 
dieser  ihn  zum  Weggang  nach  Sizilien  bestimmte.  Neuere  haben  andere 
Gründe  vermutet,  so  V^erstimmung  über  die  Verbannung  Eimons^^)  oder 
über  die  zunehmende  Demokratisierung  des  athenischen  Staatswesens  zumal 
seit  Einschränkung  der  Befugnisse  des  Areopags,  dessen  Lob  Aischylos  in 
den  Eunieniden  gesungen  habe.^)  Zu  berücksichtigen  ist  aber  auch  das 
Positive,  was  ihn  gerade  nach  Sizilien  ziehen  konnte,  wenn  es  ihm  je  in  Athen 
nicht  mehr  gefallen  haben  sollte:  wenn  er  in  der  ihm  zuvor  fremden  Stadt 

')  Ath.  347e:    ?}7r;;iVWc   dii/y.oK  .^orr,  ot^  Herakleides  Pontikos  gestützt,  unter  anderen 

HyoffonnTn^-   i)  Xnnni/J(or  h'  rto  hfqI  /'/t^otf'jc:  die  Toxotides  und  Hiereiai.    Spätere,  derVer- 

notjxfv,  tt/ 1)  xij'H'O)  ras*  rntruinMn,:  uynnOf'rat,  '    fasser    der  Vita    und    Apsines    in  Rhet.  gr.  I 

ridot^  ort  Homnrfu  Tfjr  nonoi'ixovoav  Tiut)v.  340,  11  Sp.,  fabeln  von  den  Eumeniden,  die, 

'^)  Vit.  cod.  Med.p.3su,  4K.;  Plut.Cim.8.  wie  wir  uns   selbst  überzengen,  nichts  von 

^)  Außer  Aristoteles  eth.  Nie. III  p.  Ulla  Mysterienentweihung  enthalten;  vgl.  G.  HxR- 

10  8.  Aelian.  v.  h.  5. 19;  Clem.  Alex,  ström.  II  ,   mann.  Opnsc.  II  163  flf.,  und  Chb.  A.  Lobbok, 

p.  461  und  Eustratios  zu  Aristoteles.     Schon  Aglaophum.  76  ff. 

Aristoplianes   ran.  807   sagt   orry   yao  \Uhj-  «)  J.  v.  Lekuwen  a.  a.  Ö.  73. 

vniotoi  arvffifur   Atayv).o^.  '')  H.  Weil,   Etudes  sur  le  drame  ant. 

*)  Ar.  ran.  ^S^  f.  54  f.  Übrigens  wird,  genau  genommen,  in  den 

^)  Über   das  Stück  oder   die  Tetralogie.  ,   Eumeniden  686  ff.  der  Areopag  doch  nur  als 

die    einen    solchen    Tumult    enegte.    waren  i   unbestechlicherBlutgerichtshof  gepriesen,  und 

schon   die  Alten  auf  das  Raten  angewiesen.  diese  Funktion  blieb  ihm  ja  auch  nach  dem 

Eustratios   nennt,   auf  seinen  (.iewähi-sroann  Gresetz  des  Ephialtos. 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    b)  Aischylos.    (§  156.)  273 

Gela  dauernden  Aufenthalt  nehmen  konnte,  so  darf  daraus  wohl  auf  die 
über  einen  großen  Teil  Siziliens  verbreitete  Beliebtheit  seiner  Poesie,  zu 
der  er  bei  seinen  früheren  Besuchen  in  Syrakus  den  Grund  gelegt  hatte, 
geschlossen  werden.  Wie  er  schon  früher  in  Sizilien  eingelebt  war,  das 
ersieht  man  aus  Anspielungen  auf  seine  Sprache,  die,  mit  der  Aussicht, 
verstanden  zu  werden,  der  Komiker  Epicharmos  wagen  konnte,*)  und  aus 
einzelnen  Ausdrücken  des  sizilischen  Dialektes,  die  er,  ähnlich  wie  später 
Piaton,  sich  angewöhnt  hatte.*) 

Bei  dem  dritten  Aufenthalt  in  Sizilien  fand  er  den  Tod  in  der  Nähe 
der  Stadt  Gela  Ol.  81,  1  =  456/5.»)  Darüber  wird  eine  Sage  berichtet: 
ein  Adler,  der  eine  Schildkröte  in  den  Krallen  trug,  habe  diese  auf  das 
kahle  Haupt  des  Dichters  fallen  lassen  und  so  seinen  Schädel  zerschmet- 
tert.*) Man  hat  sie  auf  ein  Grabrelief  zurückzuführen  versucht,  auf  dem 
ein  Adler  mit  einer  Schildkröte  als  Symbol  der  Dichtkunst  über  dem  Haupt 
des  vergötterten  Dichters  schwebte;^)  wahrscheinlich  aber  ist  damit  nur 
eine  alte,  schon  dem  Demokritos  bekannte,«)  zur  Illustration  der  Zufalls- 
wirkungen bestimmte  Fabel  auf  unseren  Dichter  übertragen  worden,  wozu 
den  Komikern  dessen  Kahlköpfigkeit  die  Handhabe  bieten  mochte.^)  Hinter- 
lassen hat  er  zwei  Söhne,  Euphorien  und  Bion  (v.  1.  Euaion),  und  einen 
Schwestersohn  Philokles,  die  zugleich  Erben  und  Fortpflanzer  seiner  Kunst 
wurden.  Seine  Stücke  durften  nämlich  auch  noch  nach  seinem  Tode  in  der 
Art,  daß  für  sie  Dichterhonorar  bezahlt  wurde,  wieder  aufgeführt  werden, 
und  sollen  nach  Quintilian  X  1,  66  noch  viele  Siege  gewonnen  haben.  ^) 
Auch  sonst  wurde  in  Athen  das  Andenken  des  großen  Dichters  in  Ehren 
gehalten:  zur  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  galt  er  dem  Aristophanes 
und  den  Leuten  seiner  Richtung  als  unübertroffenes  Ideal,  später  wurde 
auf  Antrag  des  Redners  Lykurgos  sein  Standbild  neben  denen  des  Sophokles 
und  Euripides  im  Dionysostheater  aufgestellt.^) 

156.  Dichtungen.  Aischylos  hat  wie  alle  großen  Dichter  des  klas- 
sischen Altertums  seine  Tätigkeit  um  eine  Dichtungsgattung  konzentriert: 
abgesehen  von  Elegien,  die  noch  in  der  Kaiserzeit  erhalten  gewesen  sein 
müssen,  1®)   hat  er,   so  viel  wir  wissen,  nur  Tragödien  und  Satyrspiele  ge- 


>)  Schol.  Aesch.  Eum.  616  K. 
«)  Ath.  402  b;  W.  Alt,  De  Aeschyli  co- 
pia  verbor.,  Berlin  1906,  p.  99  ff. 


bringt  die  Erfindung  mit  dem  Adlerflug  des 
Aischylos  in  recht  zweifelhafte  Verbindung. 
V.  Leeuwen  a.  a.  0.  72  f.  meint,   Aesch.  fr. 

•)  Schol.  Ar.  Ach.  lÖ;'Marm.  Par.  ep.59.   '  275 N.*  habe  Anlaß  zu  der  Übertragung  des 

^)  Sotades  bei  Stobaios  flor.  98,  9;  Val.    !  Geschichtchens  auf  den  Dichter  gegeben. 

Max.9,12;Plin.n.h.lO,3;  Aelian  n.  a.7,16;  »*)  Vgl.  Vit.  p.  380 K;  Schol.  Arist.  Ach. 

Vita  und  Suidas.                                                  !  10.    ran.  868;     Philostr.    vit.    Apoll.  VI  11 

*)  K.  W.  GöTTLiNo.  Opusc.  acad.,  Leipz.   j  p.  220,  9K.;  s.  E.  Rohde,  Kl.  Sehr.  II  423  ff. 

1869,  230  ff.;  F.  G.Welckek,  AlteDenkm.il,  Schön  sagt  Aisch.  bei  Arist.  ran.  868:  6u  tj 

G<(tt.  1850,  337  ff.     Danach  wird  der  kapito-  jToirjois  or^l  owiF.&^'tjxF.  fwt. 

linische  Kopf,  den  früher  die  Tafel  4  wieder-   i  ®j  Ps.Plut.   vit.  X   orat  p.  841  f.:  «my- 

gab,  auf  Aischylos  gedeutet,  wofiir  sich  auch    !  reyxs  rofiovg  .  .  ,  toc  ;K(t/Ä«s  dxovag  dva&eivai 

E.  Eboksb,  Berl.  Phil.  Wochenschr.  5  (1885)    j  twv  jTotr/Tcljr  Aioxv?,ov  2!oq.ox)Jovg  EvQiJiidov 

S.  897  ff.  ausspricht,  aber  dagegen  neuerdings   j  xai  mg  rottycMag   avtwv  h  xoivib  yQayafte- 

P.  J.  MöBIUS    und  F.  Studniczka,  N.  Jahrbb.  rovg  qvldjTF.iv  xai  rov  tijg  .^oXecog  yQafifiatFa 

f.  kl.  Alt.  5  (1900)  161  ff.                                            i  jiaoarayivwoxFiv  ToTs  r.Toxoivoiin'otg.  Vgl.  Diog. 

•)  Eudem.  fr.  22  Sp.                                    ,  Laert.  II  43;  Paus.  I  21,  2;  Äth.  19e;  s.  F.  G. 

')  E.  RoHDB,  Kl.  Sehr.  II  209  ff.;  0.  Cru-  Weloker,  Alte  Denkm.  II  465  ff. 

«US,  Rh.  M.  87  (1882)  308  ff.;   0.  Keller,   |  »oj  piu^,  g^j^p.  quaest.  1 628 e.  Th.  Bergk, 

Tiere  des  klass.  Altertums,  Innsbr.  1887,  258   ,  PLGIM240ff.  Siehe  oben  S.  206, 6.  Jedenfalls 

Handbiieli  der  klaas.  AliertamawiBsensehAft.    YII.  5.  Aufl.                                                   18 


274  Griechische  Litteraturgeachichte.    I.  KlaBsischa  Period«. 

dichtet.  Suidas  gibt  die  runde  Zahl  von  neunzig  Tragödien  (richtiger 
Dramen)  an,  dazu  stimmte  wahrscheinlich  ehedem  auch  das  alte  Verzeichnis 
der  Dramen  im  codex  Laurentianus,  das  jetzt  in  vier  Kolumnen  zu  je  achtzehn 
Titeln  (nur  die  zweite  Kolumne  enthält  19;  die  fünfte  fehlt)  dreiundsiebzig 
Titel  enthält;^)  eines  der  verzeichneten  Stücke,  die  Ahvaiai  (sie),  wird  als 
unecht  bezeichnet;  die  Vita  spricht  von  siebzig  Tragödien  und  ,» beiläufig'' 
(s.  aber  u.  A.  1)  fünf  Satyrspielen;  bekannt  sind  die  Titel  von  neunundsiebzig 
Stücken.  Siege  errang  er  nach  der  Vita  dreizehn,  nach  Suidas  achtand- 
zwanzig;  in  der  größeren  Zahl  scheinen  eben  auch  diejenigen  inbegriffen 
zu  sein,  die  mit  Stücken  des  Dichters  nach  dessen  Tod  gewonnen  wurden.*) 
Jedenfalls  hat  Aischylos  mit  mehr  als  der  Hälfte  seiner  Tragödien  und 
Satyrspiele  erste  Preise  errungen,  wiewohl  ihm  erst  im  Jahr  484,  etwa 
fünfzehn  Jahre  nach  seinem  ersten  Auftreten  im  tragischen  Agon,  ein  Sieg 
zuteil  wurde. ^)  Auf  uns  gekommen  sind  nur  sieben  Tragödien  in  folgender 
Ordnung  oder  Unordnung:*)  lUoaat,  *Ayntu\uvo)v,  Xoi]rf6ooit  flgofJiri&eiKt 
Er/uvidfi:,  'Etttu  ßm  ("J/jßas,  'IxhidFg.  Von  diesen  sieben  sind  wiederum  nur 
drei,  Prometheus,  Septem,  Persae,  häufig  in  der  byzantinischen  Zeit  ge- 
lesen und  kommentiert,  worden.  Die  Erhaltung  gerade  dieser  sieben  Stücke 
scheint  nicht  auf  Zufall  zu  beruhen,  sondern  dem  ästhetischen  Urteil  eines 
Grammatikers  aus  der  letzten  Zeit  des  Altertums  verdankt  zu  werden. 
Wir  sind  für  die  Auswahl  um  so  mehr  dankbar,  als  sie  uns  nicht  bloß  eine 
vollständige  Trilogie  erhalten  hat,  sondern  uns  auch  den  Entwicklungsgang 
des  Dichters,  mehr  als  man  bei  einer  so  geringen  Anzahl  von  Stücken 
erwarten  sollte,  erkennen  laut.  Denn  bei  Aischylos  treten  deutlicher  als 
bei  Pindar  und  Sophokles  die  Stufen  der  allmählichen  Ausbildung  seiner 
Kunst  hervor;  er  half  eben  selbst  an  der  Schaffung  der  Tragödie  mit  und 
verschmähte  es  zugleich  nicht,  ans  den  Fortschritten,  die  jüngere  Genossen 
einführten,  Nutzen  zu  ziehen.  In  der  Besprechung  der  einzelnen  Stücke 
verlassen  wir  die  verwirrte  Folge  der  Handschriften  und  halten  uns  an 
die  zeitliche  Ordnung,  die  sich  aus  didaskalischen  Angaben  und  inneren 
Anzeichen^)   mit  ziemlicher  Sicherheit  fest-steilen   lälAt.     Da  aber  von  den 

liut  Tlieoplirnsto8  (hist.plant.  IX  15.  1)  die  Ele-  zu  AiscIiyloH*  Zeit  noch  nicht  bestand  (s.  o. 

gien  gehabt.     Porphyrios  de  abstin.  II  1  be-  :  8.257,  7.  Wilhelm  158).  Zu  beachten  ist,  daß 

richtet,  Aischylos  sei  von  den  delphischen  Prie-  zu  einem  Sieg   immer  vier  Stücke   gehören, 

Stern  zur  Abfiissung  eines  Paian  aufgefordeii  die   Zahl   2H   also,   da   Wiederholungen   von 

worden,  habe  aber  abgelehnt.  :  Tragödien  an   den  städtischen  Dionysien  zu 

M  A.  DiETKKicn,  Rh.  M.  48(1«98)  141—6  ,  Lebzeiten  des  Dichters  ausgeschlossen  waren. 
nacli  dem  Vorgang  Bergks  macht  durch  >Strei-  für  städtisclie  Siege  des  lebenden  Dichters 
chung  72  aus  den  78.  W.  Bannier.  Rh.  Mus.  jedenfalls  zu  groß  ist. 
55  (lliOü)  479  f.  kommt  unter  Annahme  von  ^)  Bezeugt  durch  Marm.  Par.  ep.  50. 
ursprünglich  filuf  Kolumnen  a  19  Titel  und  *)  Die  Ordnung  ist  die  des  Cod.  Medi- 
unter Heranziehung  der  Zahlen  des  Bios  auf  ceus;  jüngere  Hdschr.  beginnen  mit  Prome- 
95  Stücke,  10  Tragödien.  20  Satyrspiele  und  theus. 

5  zweifelhafte.    In  der  Vita  p.  38üK.  ist  zu  ^)  Kriterien  höheren  Alters  sind:  Beginn 

lesen  (^nfifuud  (im  Sinn  von  Tragödien)  o'  xni  mit  der  Chorparodos  (Suppl.  Pers.),  Verwen- 

^'.7/  rojTf»/c  oarroixa  (x'^,  dfiif  if)(ß/jt  (AÄ)  f'.  '  dung  von    zwei  Schauspielern  (Suppl.  Pers., 

*)  So  A.  Wilhelm.  Urkunden  188.  Die  vielleicht  Prom.),  Fehlen  der  Hinteignmd- 
Diiferenz  kann  nicht  daher  kommen,  daß  ein-  ,  dekoration  (Suppl.  Pers.  Sept.),  stärkeres  Her- 
mal bloü  die  dionysischen,  das  andere  Mal  die  i  vortreten  der  lyrischen  und  epischen  Partien, 
dionysis(;hen  und'  lenäischen  Siege  gerechnet  |  verhältnismäßige  Seltenheit  der  Dochmien  (am 
waren,  weil  der  Tragödienagon  an  den  Lenäen  seltensten  in  den  Persem,  am  häufigsten  in 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    b)  Aischyloe.    (§  157.)  275 

Tragödien  des  Aischylos  keine  ein  abgeschlossenes  Ganze  für  sich  bildete, 
sondern  jede  mit  zwei  andern  zu  einem  größeren,  in  Inhalt  und  Anlage  zu- 
sammenhängenden^Ganzen  (Trilogie)  verknüpft  war,  so  wird  es  auch  unsere 
Aufgabe  sein,  mit  der  Besprechung  der  nur  vereinzelt  erhaltenen  Tragödien 
(Suppl.,  Pers.,  Sept.,  Prom.)  zugleich  die  der  mit  diesen  zusammenhängenden 
Stücke  zu  verbinden. 

157.  Die  ^Ixexideg  haben  ihren  Namen  von  dem  Chor  der  Töchter 
des  Danaos,  die  vor  den  Verfolgungen  der  Söhne  des  Aigyptos  in  Argos 
Schutz  suchen  und  finden.  Den  Stoff  hatte  auch  Phrynichos  schon  be- 
handelt. Die  Tragödie,  die  bei  dem  Überwiegen  des  lyrischen  Elementes 
mehr  einer  Kantate  als  einem  Drama  gleicht,  zeigt  in  der  schlichten  Ein- 
fachheit ihrer  Anlage  sichere  Spuren  hohen  Alters:  sie  teilt  mit  den 
Persern  die  Eigentümlichkeit,  daß  sie  eines  Prologs  entbehrt  und  gleich 
mit  dem  Einzug  des  Chors  beginnt;  sie  hat  die  geringste  Anzahl  von 
Personen,  nämlich  nur  drei  (Danaos,  König  von  Argos,  Herold  der  Ägypter), 
die  so  nacheinander  auftreten,  daß  sie  mit  Leichtigkeit  von  zwei  Schau- 
spielern gespielt  werden  konnten ;  sie  verlangt  endlich  noch  keinen  beson- 
deren szenischen  Hintergrund,  sondern  spielt  in  der  Orchestra  um  den 
großen  gemeinsamen  Götteraltar  {}iotvoßo)jLiin),  der  vielleicht  an  die  Stelle 
des  Dionysosaltars  in  der  Mitte  der  Orchestra  gesetzt  war.^)  Leider  ist 
ihr  Text  ganz  besonders  schlecht  erhalten.  —  Den  Nachdruck  legt  der 
Dichter  auf  die  eindringlich  warme  Hervorhebung  der  ethisch-religiösen 
Grundmotive  —  das  rührende  Schutzbedürfnis ^)  der  verfolgten  Mädchen, 
die  vornehme  Gastfreundschaft  des  edlen  argivischen  Königs,  der  das  Vor- 
bild des  sophokleischen  Theseus  ist,  und  seines  Volkes  sind  in  großen 
Zügen  hingestellt.  Dramatisches  Leben  kommt  nur  herein,  wo  der  ägyp- 
tische Herold,  mit  derbem  Realismus  in  Sitten  und  Sprache  als  Barbar 
{xQQßdv)  charakterisiert,  auftritt,  um  die  Mädchen  fortzuschleppen,  auch 
er  Prototyp  für  den  Kreon  des  sophokleischen  Ödipus  Col.  und  den  Kopreus 
der  euripideischen  Herakliden.  Seine  scharf  kontrastierende  Figur  erhöht 
zugleich  die  Sympathie  für  die  Verfolgten  und  zeigt  neben  der  Gestalt  des 
Königs  bedeutsame  Ansätze  zu  individueller  Charakteristik.  In  der  Hervor- 
kehrung des  konstitutionellen  Sinnes  des  Königs  tut  sich  eine  politisch- 
didaktische Tendenz  kund.  Dieses  hohe  Lied  aus  voller  Brust  auf  die 
Erhabenheit  des  griechischen  Gastrechts,  des  Zehq  ^hnog,  ist  das  lyrische 
Vorspiel  zu  den  zwei  folgenden  Tragödien,  den  ßaXajuojioiol  oder  Aiyvjinot,^) 


der  Orestie),  stärkerer  Gebrauch  des  trochä-  <   auf  Kolonos,  Euripides  in  den  Schutzflehenden 


ischen  Tetrameters  im  Dialog,  mehr  Spuren 
von  ionischem  Dialekt  und  ionischer  Prosodie 
(A.  V.  Mbss,  Rhein.  Mus.  58,  1903,  290  ff.). 
Siehe  a.  A.  Bossbaoh,  Griech.  Metrik  *  (Leipz. 
1889)  779  f. 

*)  E.  Rbisoh  (Dörpfeld),  Das  griech.  Theat. 
195  hfllt  es  für  wahrscheinlicher,  daß  der  Altar 


und  den  Herakliden  wieder  aufgenommen. 
Verfehlt  ist  der  Versuch  von  F.  Dummlbr, 
Delphika  (Basel  1894)  21  f.,  in  dem  Stück  eine 
Exemplifikation  zum  attischen  Eherechte  (das 
übrigens  die  Heirat  von  Vetter  und  Base  gar 
nicht  verbot:  Isae.  3,  72  f.)  zu  finden. 

»)  Die  von  Pollux  VII  122  zitierten,  aber 


der  Schntzgötter  an   der  Tangente  des   Or-      in  dem  Verzeichnis   des  Laur.  nicht   aufge- 
chestrakreises  angebracht  war.  |   führten  Oa/M/no.-zotoi  hat  G.  Hebmann,  Opusc. 

«)  Das  Motiv  der  IxBxeia  verfolgt  durch  I  VIH  (1877)  179  und  Ausg.  Berl.  1859  1  329 
die  dramatische  Litteratnr  F.  Leo,  Plautin.  mit  den  Aiyvjixioi  identifiziert.  F.  G.  Welckeb 
Forschungen  177.  Sophokles  hat  es  im  Oidipus  |   zog  anfangs  die  SaJ.afwnoioi  zur  Iphigeneia- 

18* 


276  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  KlasuBche  Periode. 

welche  die  Hochzeit  der  Söhne  des  Aigyptos  und  der  TOchter  des  Danaos 
zum  Gegenstand  hatten,  und  den  Aavatdet;,^)  in  denen  Hypermestra,  die 
allein  vor  dem  Frevel,  ihren  neuvermählten  Gatten  Lynkeus  in  der  Braat- 
nacht  zu  ermorden,  zurückgeschreckt  war,  vor  Gericht  gestellt,  aber  durch 
Vermittlung  der  Aphrodite  freigesprochen  wurde.  Wenn  in  der  Trilogie 
Argos  als  Vertreterin  hellenischer  Gastlichkeit  dargestellt  wird,  so  ist 
dieser  Zug  von  der  Sage  gegeben  gewesen;  besondere  Zuneigung  des 
Dichters  zu  dem  geschichtlichen  Argos  spricht  sich  nirgends  aus,  und 
Schlüsse  auf  die  Abfassungszeit,  die  sich  auf  diese  Auffassung  stützen, 
sind  nicht  anzunehmen.^)  Den  Stoff  zu  den  drei  Tragödien  scheint 
Aischylos,  wie  auch  Bakchylides  in  der  neunzehnten  Ode,  dem  alten  Epos 
Danaides  entlehnt  zu  haben.  3) 

158.  Die  rifQoai  bildeten  nach  der  erhaltenen  Didaskalie  das  Mittel* 
stück  einer  Trilogie  und  wurden  im  Jahre  472  aufgeführt.  Chorege  war 
Perikles.*)  Sie  haben  die  Wirkungen  des  Sieges  der  Hellenen  bei  Sa- 
lamis auf  die  Perser  zum  Gegenstand;  der  Dichter  hat  die  Szene  nach 
der  persischen  Hauptstadt  Susa  verlegt,  wohin  der  König  Xerxes  nach 
seiner  schmählichen,  durch  eigene  Überhebung  verschuldeten  Niederlage 
in  zerlumptem  Gewand  zurückkehrt.  Der  Stoff  dieser  Tragödie  ist  also 
nicht  dem  Mythus,  sondern  der  Geschichte  entnommen;  darin  ist  Aischylos 
dem  Phrynichos  gefolgt,  dessen  vier  Jahre  zuvor  aufgeführte  0oivioaai 
nach  dem  Zeugnis  des  Glaukos  dem  Aischylos  zum  Vorbild  oder  auch  zur 
Folie  für  eine  verbesserte  Inszenierung  desselben  Gegenstandes  dienten.*) 
Auch  die  Perser  erfordern  wie  die  Schutzflehenden  nur  zwei  Schauspieler 
und  entbehren  wie  diese  des  iambischen  Prologs  und  des  szenischen  Hinter- 
grundes; aber  die  Darstelhmg  zeigt  weit  melir  künstlerische  Steigerung, 
indem  uns  zuerst  die  Unheil  ahnende  Stimmung  des  Chors  und  die  schweren 
Träume  der  Königin  Atossa  in  die  dumpfe  Atmosphäre  vor  dem  Heran* 
nahen  des  Gewitters  versetzen,  bis  dann  mit  der  Unglücksnachricht  des 
Boten  und  der  Kückkehr  des  niedergeschmetterten  Königs  das  Gewitter 
sich   mit  allen  seinen  Schrecken  entlädt.*)     Kunstvoll  ist  auch  die  Weise, 

trilogie,  stimmte  aber  später  Rh.  M.  13  (18r»8)  Technik   setzt  er  das  Stück  vor  480.     Daß 

189  ff.    Hermann  bei.  R.  Wkstphal,  Proleg.  4  das  Stück  vor  dem  Prometheus  gedichtet  war, 

stellt  die  Aiyi\-niot  als  ein  von  den  Hnka/tontnoi  darüber  s.  u.  8.  283.  G.  Müller,  De  Aeschvli 

vei'schiedenes  Stück  zu  ;l///n'r'j)'u. '/'^r^ooraom.  supplicum  tempore  atque  indole.   Dias.  Halle 

»)  (j.   Hermann,    De  Aeschyli   Danaidi-  190H. 

bns,  Opusc.  II  319  ff.                    "  ')  N.  Wecklein,  MOnch.  Akad.  SitK.ber. 

*)  K.  0.  Müller  in  Ansg.  der  Kumeniden  h^93.  11  393  ff. 

((iött.  1833)  p.  123  u.  (ir.  Litt.  IP  88  hat  im  -*.)  CIA  11971a.    Wilhelm.  Urkunden  16. 

AiiHchluü   an  A.  Böckh   die  Schiitzflehenden  Schlüsse  auf  ein  persönliches  Verhältnis  des 

an  den  Schluß  von  Ol.  79  (461)  als  in  die  Zeit,  Dichters  zu  dem  Staatsmann  weist  mit  Recht 

, in  welcher  der  Bund  von  Athen  und  Argos  Wilamowitz,  (iött.  Gel.  Anz.  1906,681  «urück. 

im  Werk  war*,  setzen  wollen.    Auf  das  Jahr  *)  Argum.    Pers.:    I^urxfK   ev    tth  negi 

400  59    will   F.   Bücuelee,    Rh.  M.  40  (1X85)  Am/rAor  iirfhov  r>t  T(oy  fPotviao€Üv  q^rjat  ^r- 

627  ff.  auch  den  Vers  152  (Anspielung  auf  den  !   ri/or    roi.:  Jlynaa^  nnoa.iF.7oirfa&ai,    e?eu&ffai 

Parthenonbau)    deut^in.      Richtig   urteilt    da-  iM'  yni  rifr  no/J/r  rov  Aori/mro»  ravzrfr' 

gegen  WiLAMowiTZ,  Herrn.  21 1 1886)  608  Anm.  rmV  iort  UFomTty  to>v  jidXat  ßfßrixoxfor. 

Viel  weiter  hinauf  geht  mit  Recht  A.  Körte,  .T/i)r   yxtJ  rivor/ds;   forty   ayyiiXtov  h   oqxH 

Mclanges  Nicole.    Genf  1905,  289  ff'.      Unter  |    ri/v  ror  Zhj^oi-  JiTTnr  aroQyrg  ts  ^qovwk:  ura^ 

Hinwei.s  auf  V.  135  f..  wo  er  die  ino.-nn  auf  ro/V    r/yc    (io/i)^   .^fw^^ool^,   gyravÖa   de   :tqo-' 

die  voi'pei-sischen  Propyläen  deutet,  und  auf  .    koyt^ei  /<>i'"^'  nnFoßvuln*, 

die  groüe  Alteiiümlichkeit  der  dramatischen  |           ®)  Lückenhaftigkeit    des    Schlusses  der 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    b)  Aischylos.    (§  158.) 


277 


wie  durch  Beschwörung  des  Geistes  des  Königs  Dareios  ein  Gegensatz 
von  heute  und  ehedem  geschaffen  und  der  Blick  der  Zuschauer  über  die 
Seeschlacht  bei  Salamis  hinaus  auf  die  Zukunft  und  die  Niederlage  bei 
Plataia  gelenkt  wird.  Aber  sicherlich  noch  weit  mehr  wirkte  im  Theater 
zu  Athen  der  nationale  Hintergrund,  den  der  Dichter  durch  die  von  der 
Königin  provozierten  Mitteilungen  des  Chors  über  die  Zustände  Athens 
zu  steigern  verstand;  lauter  Beifall  lohnte  den  Dichter  gewiß  bei  den 
Versen  241  f.: 

AT.  rig  dk  JioijbidvcoQ  ejteori  xäjtideojiöCsi  argarco; 

XO.  ovTivog  dovkoi  xixlrjvtai  (pcoxbg  ovo*  vjit^xool 
Im  übrigen  steht  das  ganze  Stück  unter  einer  religiösen,  nicht  einer 
nationalen  Betrachtung.  Xerxes  und  sein  Volk  sind  kaum^  als  Barbaren 
charakterisiert,  geschweige  denn  in  gehässiges  Licht  gerückt;  im  Gegenteil 
wirbt  die  ehrwürdige  Patriarchengestalt  des  Dareios  Sympathie  für  die  Perser. 
Ohne  allen  nationalistischen  Chauvinismus  sieht  Aischylos  wie  Herodot  in 
der  Niederlage  der  Perser  das  göttliche  Strafgericht  für  die  Überhebung 
des  Perserkönigs,  die  wie  bei  Herodot  (VIII  143)  und  Isokrates  (4,  155  f.), 
zumal  durch  den  Gegensatz  gegen  Dareios,  als  seine  persönliche  Schuld 
gekennzeichnet  wird.  Eine  wiederholte  Aufführung  der  Perser  in  Sizilien 
ist  durch  das  Zeugnis  des  Eratosthenes^)  verbürgt. 

Die  vollständige  Tetralogie  bestand  aus  den  Tragödien  ^ivevg,  Ilegoai, 
rXavxog  IIoTvievg^)  und  dem  Satyrdrama  ngojurj^evg  Jivgxaevg.^)  Im  ersten 
Stück,  das  von  dem  alten  Thrakerkönig  der  Argonautensage  den  Namen 
hatte,  war  wahrscheinlich  der  Durchzug  des  Perserheers  durch  Thrake, 
im  Glaukos,   der  von   dem  Dorf  Potniai  auf  dem  Weg  von  Plataia  nach 


Perser  nahm  an  und  ergänzte  ihn  durch 
eigene  Nachdichtung  H.  Köchly,  Vhdl.  d.  Phil, 
in  Innsbruck  1874,  65  ff.;  doch  erhob  sich 
dagegen  allseitiger  Widerspruch.  Der  Vor- 
wiu^,  es  fehle  Jede  Einheit  der  Handlung'^ 
(WiLAMOvnrz,  Herrn.  32, 1897, 390),  ist  maßlos 
übertrieben  und  beruht  auf  einer  ganz  äußer- 
lichen Auffassung  von  Einheit.  Über  die 
dramatische  Notwendigkeit  der  Dareiosszene 
8.  gegen  Richters  Einwendungen  H.  Weil, 
iSltudes  sur  le  drame  ant.  35  ff. 

^)  Atossas  auffällige  Sorge  um  die  Klei- 
dung ihres  Sohnes  könnte  so  gedeutet  wer- 
den, wenn  hier  nicht  in  erster  Linie  szenische 
Rflcksicht  maßgebend  wäre  (es  mußte  moti- 
viert werden,  weshalb  Xerxes  im  Stück  nicht 
in  zerrissenen  Kleidern  erschien,  wie  eigent- 
lich angekündigt  war  V.  199.  466.  825  f. 
838  E. ;  Aischylos  brachte  eben  keine  Helden 
in  Lumpen  wie  Euripides  auf  die  Bühne;  die 
Aufforderung  des  Xerxes  V.  1031 K.  braucht 
nicht  sofort  befolgt  worden  zu  sein;  1001 
konstatiert,  was  früher,  sogleich  nach  der 
Schlacht,  geschehen  war) ;  wirklich  orientalisch 
ist  das  fassungslose,  langgezogene  sogen.  Heul- 
duett 889  ff.  (vgl.  Herodot  IX  24);  E.  Rohde 
(Psyche  II*  233  A.)  fühlte  sich  auch  durch 
V.  831  E.  an  orientalische  Motive  erinnert. 


*)  Schol.  Ar.  ran.  1028;  gewiß  hat  aber 
Eratosthenes  seine  Kenntnis  von  dieser  Tat- 
sache nicht  aus  der  witzigen  Karikatur  des 
Aristophanes  an  der  angeführten  Stelle  ge- 
zogen, aus  der  freilich  schon  im  Altertum 
und  in  neuer  Zeit  (Bergk)  fälschlich  auf  eine 
doppelte  Redaktion  der  Pei*ser  geschlossen 
worden  ist.  Siehe  H.  Weil,  Rev.  des  6t. 
grecques  1  (1888)  24ff.;  J.  Schönemann,  Rhein. 
Mus.  42  (1887)  467  ff. 

')  Der  Zusatz  FIoTrtfVs  fehlt  im  Argum. 
Pers.    der   alten   Mediceerhandschrift ,   rührt 
'   aber  trotzdem  sicher  aus  der  alten  Tradition 
I   her;  er  sollte  unseren  Glaukos  von  dem  Satyr- 
I   drama  Glaukos,    über  das  Servius   ad  Verg. 
I   Aen.  V  823,  unterscheiden.     F.  G.  Welcker, 
Aeschyl.  Tril.  47  u.  Rh.  Mus.  5  (1837)  236 
dachte  an  den  Meergott  Glaukos  Pontios  und 
nach  fr.  37  N.^»  und  Pind.  P.  I  75  an  eine  Ver- 
herrlichung des  mit  der  Schlacht  von  Salamis 
gleichzeitigen  Sieges  über  die  Karthager  bei 
I   Himera.  —  Einen  JJuyuog  I^arxog  in  Tetra- 
I   metern  dichtete   nach  Plut.  Cic.  2  der  junge 
I   Cicero,   sicher  nicht  nach  Aischylos  (s.  Ath. 
I   297ab). 

*)  Der  Zusatz  jzvQxaevg  steht  nicht  in 
der  Didaskalie;  der  Tlo.  :ivgxa£vg  war  jeden- 
falls ein  Satyrspiel  (fi,  205  N.«). 


278  Ghriechische  litteratnrgescliichte.    I.  Elassische  Periode. 

Theben  den  Beinamen  Potnieus  liatte,  die  Schlacht  von  Plataia  und  der 
gleichzeitige  Seesieg  der  Griechen  Siziliens  über  die  Karthager  bei  Himera 
berührt.  Es  haben  also  auch  hier  die  Stücke  der  Trilogie  in  einem  inneren 
Zusammenhang  gestanden,  wenn  sie  auch  nicht  Teile  einer  und  derselben 
Handlung  bildeten. 

151>.  Die  'Enra  tTrl  (-^/ffias  —  ein  abgesehen  von  den  alten  theba- 
nischen  Epen  auch  in  einem  Dithyrambus  der  Korinna  behandelter  Stoff») 
—  wurden  als  drittes  Stück  zusammen  mit  Laios,  Oidipus  und  dem  Satyr- 
spiel Sphinx  im  Jahr  467  aufgeführt-.  Aischylos  siegte  mit  dieser  Tetra- 
logie über  Aristeas  und  Polyphrasmon,  die  Söhne  seiner  alten  Nebenbuhler 
Pratinas  und  Phrynichos.  Wir  begreifen  leicht  aus  dem  einen  uns  erhal- 
tenen Drama  das  Urteil  der  athenischen  Richter.  Es  ist  nicht  bloß  ein 
donua  l-lofri)?  jutoToy,  wie  es  Aristophanes  in  den  Fröschen  1021  nennt, 
sondern  läfit  auch  weit  mehr  als  die  beiden  ersten  Stücke  den  Dialog  zur 
Geltung  kommen,  ohne  daß  deshalb  die  melischen  Partien  des  von  banger 
Furcht  erschütterten  Frauenchors  an  wirkungsvoller  Schönheit  etwas  ein- 
gebüßt hätten.  Einen  Glanzpunkt  der  Tragödie  bildet  die  Schilderung  der 
sieben  feindlichen  Heerführer  und  der  sieben  Thebaner,*)  die  an  jedem  der 
sieben  Tore  der  Stadt  einander  gegenüberstanden;  mit  fein  berechnender 
Kunst  sind  hier  der  besonders  liebevoll  nach  dem  Muster  des  gerechten 
Aristeides^)  gezeichnete  Ampliiaraos  und  das  unselige  Brüderpaar  Poly- 
neikes  und  Eteokles,  deren  Zweikampf  den  Höhepunkt  des  Dramas  bildet, 
an  den  Scliluß  gestellt.  Indessen  die  volle  Herrechaft  über  den  Dialog 
hat  doch  auch  hier  der  Dichter  noch  nicht  gefunden:  in  jener  langen  Partie 
rückt  die  Handlung  nicht  weiter,  und  man  meint  mehr  nur  einen  Zyklus 
von  Bildern  zu  schauen.  Das  Stück  bedarf  noch  nicht  eines  dritten  Schau- 
spielers, sondern  nur  eines  weiteren  Sängers M  füi*  das  Klageduett  der  Anti- 
gene und  Ismene,  und  steht  dadurch  technisch  der  älteren  Gruppe  näher. 
L)ie  großartig  düstere  (iestalt  des  Et4>okles,  der  freiwillig  den  alten  Fluch 
zur  Vollendung  führt  (()38  K.),  zeigt  den  Dichter  auf  dem  Weg  von  der 
Schicksals-  zur  Charaktertragcidio.  Auffällig  ist,  daß  der  Schluß  (989  bis 
lOG^  K.)  einen  durch  den  Verlauf  der  Handlung  nicht  begründeten  Hinweis 
auf  das  Verbot  der  Bestattung  des  Polyneikes  und  die  heroische  Weige- 
rung der  Antigene,  dem  Verbot  Folge  zu  leisten,  enthält.  Dieser  Schluß 
hat  die  Gelehrten,  bevor  J.  Franz  im  Jahre  1848  die  Didaskalie  im  Cod. 
Laurentianus  entdeckte,  zu  allerlei  jetzt  abgetanen  Vermutungen  über  ein 

*)  Das  Motiv  von  don  /^omelnscliaftlich  ffinf  Kanipfpaare  sind  nicht  individuell  be- 
reu; ierondo  ii.  sicli  bekftmpfondon  und  schliofj-  lebt  (.1.  Bruns,  Das  litterar.  Porträt  der  Grie- 
lirh  tötenden  Hrttdein  lebt  nocli  in  nennrie-  oben  im  5.  u.  4.  Jabrh.,  Berl.  1896,  56  ff.)  — 
chisrbor  Volkssage  (K.  Dietkiuch.  N.  Jalirbb.  Kuripides  gibt  in  den  'lyJuüfQ  eine  Ver- 
f.  kbiss.  Alt.  17,  1900,    lUf.).  bessening    dieser    Stelle    — ,   erst    mit   dem 

■)  Über  die  (in  «ler  Tberliefening  freilich  sechsten  Angreifer  setzt  eine  schöne  Steige- 

zunächst  nicht  erkennbare)  symmetrische  An-  '    rnng  ein. 

läge    dieser    Partie    s.    ¥.  KrTSOHL.    Opnsc.  I  ')  Den  V^ers  575    or    yao  SoxfTv  aotnroct 

ÜOO  tf.    r.  MAsgiTKKAV.  Melanges  Weil  2s8tf.:  ä/./.'  ftvta  ,'ff/.n  })ezog  das  Theater  unter  lautem 

gegen  die  Symmetrie  R.  Schild.  De  respon-  Beifall  auf  Aristcides  nach  Piut.  Ariat.  8. 

sione  quae  in  Acschyli  fabula  Thebana  iriter  i           *)    H.  Weil,    Rev.  dea    6t  Grecques  1 

binivs    nuntii    et    regis   orationes    intercedere  (188^<)  20. 

creditur.    Trogr.  Nordhausen  1900.   Die  ei-sten  , 


C.  DranuL    2.  Die  Tragödie,    b)  Aischylos.    (§§  159—160.)  279 

den  Sieben  nachfolgendes  Stück  verleitet.  0  Durch  die  Didaskalie  wissen 
wir  jetzt,  daß  die  Sieben  das  letzte  Stück  der  Trilogie  waren,  und  seither 
wird  fast  allgemein  der  Schluß  für  unecht  gehalten,  eine  Auffassung,  gegen 
die  sich  neustens  eine  berechtigte  Reaktion  geltend  macht.*)  Ist  der 
Schluß  echt,  so  enthält  er  den  Keim  zu  Sophokles'  Antigone. 

Von  den  mit  den  Sieben  verbundenen  Stücken  Laios,  Oidipus,  Sphinx 
sind  nur  ganz  dürftige  Reste  erhalten. 3)  Aber  so  viel  lernen  wir  auch 
aus  der  erhaltenen  Tragödie  kennen,  daß  der  Dichter  mit  großer  Kunst 
die  tragischen  Momente  des  alten  Mythus  teils  beibehalten,  teils  durch 
wirksamste  Um-  und  Zudichtung  verstärkt  hat:  die  Selbstblendung  des 
Oidipus,  von  der  die  alte  Sage  bei  Homer  in  der  Nekyia  (Od.  X  271)  ganz 
schweigt,*)  ließ  Aischylos  auf  die  Erkenntnis  der  blutschänderischen  Ver- 
bindung mit  der  eigenen  Mutter  folgen  (Sept.  761  fif.);  die  vier  Kinder 
Eteokles,  Polyneikes,  Antigone,  Ismene,  die  nach  dem  alten  Epos  Oidipus 
mit  seiner  zweiten  Gemahlin  Euryganeia  erzeugt  hatte, ^)  machte  er  durch 
schaudererregende  Modifikation  der  Überlieferung  zu  unseligen  Sprossen 
der  gottlosen  Ehe  des  Sohnes  mit  der  Mutter,  ß)  Im  übrigen  paßte  der 
grause  Fluch,  den  nach  dem  alten  Epos  der  Vater  über  seine  lieblosen 
Söhne  ausstieß,  dem  Tragiker  trefflich  in  seinen  Plan,  und  der  trilogischen 
Verknüpfung  diente  vorzüglich  die  zwiefache  Schicksalsfügung,  daß  der  Sohn 
den  Vater,  der  die  Mahnung  des  Orakels  in  den  Wind  geschlagen  hatte, 
ohne  Vorwissen  tötet,  und  daß  an  den  Söhnen  wiederum  der  Fluch,  den 
der  gereizte  Vater  im  Zorn  ausgestoßen  hatte,  in  schrecklicher  Weise 
sich  erfüllt. 

160.  Der  nQojüit]{^fv<;  deojüLiOTijg^  benannt  von  dem  Hauptträger 
der  Handlung,  ist  der  einzige  erhaltene  Repräsentant  einer  Göttertragödie.  ^) 
An  ihn  schloß  sich  jedenfalls  der  IlQOjUfjOebg  Xuojuevog^  mit  dem  der  inhalt- 
liche Zusammenhang  schloß.®)    Der  nQOßitjffsvg  jivQxaevg  scheint  zur  Perser- 


*)  Vgl.  K.O.  Müller,  Gr.  Litt.  II' 84;  A.  '  wahrscheinlich    aber    dachte    sich    so    auch 

F.  Nake,  Rh.  M.  27  (1872)  193  ff.  ,  Homer  a.  0.   das  Sachverhältnis.   Nach  Pau- 

')  J.Obebdick,  De  exitu  fabulae  Aeschy-  '  sanias  hat  auch  noch  der  Maler  Onasias,  ein 

leae  qnae  Septem  ad  versus  Thebas  inscribitur,  !  Zeitgenosse  desPolygnotos,  auf  einem  Gemälde 

Arnsberg  1877.     Den  ursprünglichen  Schluß  ,  dargestellt   xatTjf^fl    lijv   Kvnvydvfiav  f.Tt    ifj 

und  die  jüngere  Zutat  zu  scheiden,  vorsucht  '  ftd/ji  '"''>»'  -^aifiiov.    K.  Robert,  Apophoreton, 

WiLAMOWiTZ.  Drei  Schlußszenen  giiechischer  |  dargebracht   der   Philologen  Versammlung   in 

Dramen,  Berl.Ak.Sitz.ber.  1903,  436  ff.  Nach-  Halle,  1903,  115,  erblickt  in  der  Euryganeia 

dem  auch  H.Well  (a.a.O.  17  ff.)  sich  neuer-  nur  eine  Namensvariante  für  lokaste. 
dings  der  Verwerfung  angeschlossen  hat,  ist  ^)  Sept.  736.  910  K. 

für  die  Echtheit  mit  überzeugenden  Gründen  I  ')  Zum  ynoc  TFoarwdf^  rechnet  Aristot. 

eingetretenM.WüNDT,  Philol.  65  (1906)  357ff.  poöt.  1456  a  2  den  I/o.  und  die  (pooxiöec. 

•)  Zum  thebanischen  Sagenkieis  gehörten  I  ®)  So    richtig   H.  Weil,   Etudes   sur  le 

anch    die    drei    Stücke  'AoyeToi ,    'EXevoivioi^  i  drarae  ant.  86  ff.  gegen  R.  Westphal,  Proleg. 

*E3iiyav<H,  zu  Äschyl.  207  ff.,  der  den  I/o.  nvoqoooi;  als 

*)  Das  thebanische  Epos  Oidipodeia  |  Schlußstück  verstand.  Für  die  dabei  voraus- 
kannte die  Blendung,  wenn  anders  das  Scho-  j  gesetzte  Bedeutung  von  nvQqoQog  spricht 
lion  zu  Eur.  Phon.  1760  ein  Exzerpt  der  !  PoUux  VUI  116:  jivoqooos'  jialg  jtvq  ejri  tov^ 
Oidipodeia  enthält  (so  E.  Bethe,  Thebanische  ,  ßiouoh  imnOFii;,  was  indessen  auch  auf  die 
Heldenlieder),  aber  unklar  bleibt,  ob  es  sie  I  Komödie  //vtxfdgog  des  Diphilos  bezogen 
an  derselben  Stelle  wie  die  Tragödie  er-  werden  kann.  Möglich  ist  auch,  daß  der 
folgen  ließ.  |  Scholiast  zu  Prom.  94  sich  in  seinem  Zitat  irr- 

*)  So  sicher  der  Dichter  der  Oidipodeia  tümlich  auf  den  Ilgof^i.  .^vgtfdgog  statt  auf  den 

nach   dem  Zeugnis   des  Pausanias  1X5,  11;  |  Hgofi.  kvo^tevog  bezogen  hat;  wenigstens  er- 


280 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klaasisohe  Periode. 


trilogie  als  Satyrspiel  zu  gehören.  Den  TTQOfiTjdevg  7TVQ<p6gog^  der  ebenCEÜls 
zitiert  wird,  kann  man  sich  als  Anfangsstück  einer  Prometheustrilogie 
denken.  0  Will  man  das  nicht,  so  besteht  auch  die  Möglichkeit,  daß  der 
Prometheusstoff  nur  in  zwei  Tragödien  abgewandelt  war,')  denen  ein  (uns 
unbekanntes)  Satyrspiel  folgte.  Der  auf  den  deofiwTrig  folgende  (Schol.  Prom. 
513  K.)  IIoomidFvg  Xvofievog  enthielt  nach  einem  alten,  bereits  beiHesiod  theog. 
525  ff.  vorkommenden  Mythus  die  Erlösung  des  gefesselten  Prometheus  durch 
Herakles,  der  den  Adler,  welcher  dem  Halbgott  die  Leber  abfraß,  offenbar 
im  Einverständnis  mit  Zeus  (Hos.  theog.  529;  Matris  bei  Diod.  IV  15,  2), 
mit  seinem  Bogen  wegschoü.^)  Das  Stück  war  in  strenger  Symmetrie 
zum  Ilgojujjßevg  deo/uornjc;  gebaut  und  schloß  mit  der  Stiftung  des  athenischen 
Prometheusfestes.*)  Die  hohe  Bedeutung  des  uns  erhaltenen  Stückes, 
dessen  Szene  am  Ende  der  Erde  in  der  skythischen  Einöde  (nicht  am 
Kaukasos)  ist,  liegt  nicht  in  dem  Aufbau  der  Handlung,  die  durch  die 
Unboweglichkeit  des  angeschmiedeten  Helden  fast  völlig  ausgeschaltet  wird 
—  das  Ganze  ist  eigentlich  von  V.  88 — 943  eine  durch  Episoden  in  ziem- 
lich äußerlicher  Weise*)  unterbrochene  lyrische  Szene  — ,  sondern  in  der 


zählte  nach  dem  Zitat  des  Philodcmos  de  pietate 
p.  39  ed.  GüMPKRZ  Aio/vko^  ry  rot  krofin'ot 
IIooiujOfT  .  .  .  r.To  .I/<«?  fitiXiobmy  (vgl. 
Naück,  T(iF*  p.  69)  Prometheus  auch  in  dem 
gelüsten  Prometheus  von  seiner  Fesselung 
durch  Zeus.  Sicher  ist  es  weder  Westphal 
noch  einem  seiner  Anhänger»  auch  nicht 
dem  neuesten,  N.  Teuzaghi,  Prometeo,  Con- 
tributo  allo  studio  di  un  mito  religioso  llel- 
lenico,  Firenze  1904,  p.  77  gelungen,  für  das 
von  ihnen  angenommene  dritte  Stück  der  Tri- 
logie einen  ausreichenden  Stoff  zu  gewinnen. 

*)  F.  G.  Welckkk,  Die  äschyl.  Trilogie 
Prometheus  und  die  Kabirenweihe  zu  Lemnos, 
nebst  Winken  über  die  Trilogie  des  Asch. 
überhauj>t,  Darmstadt  1^24,  mit  Nachtrag, 
Frankfurt  1826.  Die  Meinung,  daß  der 
Ilnou.  .iroffdoiK  das  criite  Stück  der  Trilogie 
gebildet  habe,  wird  verteidigt  von  E.  Buss- 
LER,  Jahrbb.  f.  kl.  Phil.  147  (1898)  276  ff. 
Schwierigkeit  macht  aber  immer  der  Um- 
stand, daß  in  dem  erhaltenen  Prometheus 
selbst  der  Feiierdiebstahl  und  was  mit  ihm 
zusammenhängt,  ausführlicher  erzählt  ist,  als 
man,  wenn  ein  Stück  .Feuerholer  Prometheus* 
vorausgegangen  wäre,  erwarten  sollte. 

^)  Siehe  o.  S.  257.  1.  Die  Auskunft  von 
Bemhardy.  Dindorf  und  Bergk.  das  dritte 
Stück  der  mit  f/o,  i^foft.  uu(l  h'ou.  begon- 
nenen Trilogie  habe  einen  ganz  anderen 
Stoff  behandelt,  ist  für  Aischylos  schwerlich 
annehmbar. 

^)  Nach  den  zahlreichen  Fragmenten  des 
griechischen  Originals  und  der  lateinischen  Be- 
arbeitung des  Acciiishat  ("ü.F.  Sciiömann,  Opusc. 
ac.  III  (1858)  81  ff.  eine  poetische  Rekonstruk- 
tion des  gelüsten  Prometheus  versucht,  wobei 
er  freilich  gleich  im  Anfang  bedenklich  von 
dem  Original  abwich,  da  dieses  nach  Prokop 
bell.  Goth.  IV  6,  15    (aus  Arrian.  peripl.  19) 


i  mit  dem  Chor  der  Titanen  anhab.  —  Die 
schöne  Sago  wurde  auch  durch  die  bildende 
Kunst  verherrlicht,  auf  alten  Vasen  wie  aaf 
dem  kapitolinischen  Promethenssarkophag, 
einem  pompeianischen  Wandgemälde  (W.Hn- 
Biu  nr.  1128),  einem  Gemälde  der  Villa  Pam- 
lili  (0.  Jahn,  Abh.  d.  bayr.  Ak.  VIII.  1858, 
237  ff.  u.  Taf.  I),  einer  neuerdings  anfgefon- 
denen,  von  A.  MilcuhGfeb,  Befreiung  des 
Prometheus,  42.  Berl.  Winckelmannsprogramm 

'  (lb(82).  richtig  gedeuteten  Marmorgrappe  von 
Pergamon. 

**)  Siehe  H.  Weil,  £tudes  sur  le  drame 
ant.  70  ff.  Dem  Chor  der  Okeaniden,  die 
sich  im  <Vo//o>rr/^-  dem  verlassenen  Prome- 
theus nähern,  entspricht  im  /.röurvtK:  der 
Chor  der  Titanen;  der  vielumgetriebenen  lo 
des  d.  der  woltdurchwandemde  Herakles 
des  /..,  der  die  von  lo  gegebene  Periegese 
des  Ostens  und  Südens  durch  eine  solche 
des  Westens  und  Nordens  ergänzte.  Wird 
Prometheus  im  d.  von  llitze  versengt  (v.  22. 
148  K.),   so  quält  ihn  im  /..  grimmige  Kälte 

;  (Luc.  Prom.  1  geht  auf  die  im  x.  geschilderte 
Fesselung  an  den  Kaukasus).    FOr  die  (frei- 

,  lieh  sehr  phantastischen)  geographischen  Ex- 
kui-se  darf  bei  dem  Publikum  des  Aischylos 
wie  bei  dem  Shakespeares  (M.  Koch,  Shake- 

I  speare,  Stuttg.  1885,  67.  91)  lebhaftes  Inter- 
esse  vorausgesetzt  werden. 

I  *)  Okeanos  wird  in  einer  Szene,  die  übri- 

gens Aischylos  unmöglich    gedichtet  haben 
kann,  als  besorgter  Vater,  der  seine  entflohenen 

'  Töchter  sucht.  lo  als  Leidensgefährtin  des 
Prometheus   und  Stammutter  seines  Retters 

I  Herakles  eingefühlt.  Auch  die  Okeaniden 
sind  nicht  bloü,  da  man  am  Rand  der  Erde 

,  ist,  Nachbarinnen,  sondern  auch  Verwandte 
des  Prometheus  (v.  550  ff.  K.;  Hesione,  die 
Frau  des  Prometheus,  ist  ihre  Halbschwester). 


C.  DranuL    3.  Die  Tragödie,    b)  Aischylos.    (§  160.) 


281 


Charakteristik  des  Titanensohnes.  Auf  seinen  Charakter  ist  die  ganze 
Tragödie  gestellt  —  gäbe  er  nach,  so  wäre  sie  unmöglich  — ,  und  von 
der  Beurteilung  dieses  Charakters,  beziehungsweise  der  Erkenntnis  des 
Urteils,  das  der  Dichter  selbst  über  ihn  gehabt,  hängt  alles  ab.  Vor 
Modernisierung,  sei  es  im  Sinn  des  Goetheschen  Prometheus  von  Sturm 
und  Drang,  sei  es  im  Sinn  eines  Mystizismus,  der  sich  vor  dem  gefesselten 
Prometheus  an  den  gekreuzigten  Christus  erinnert  fühlt,  ^)  muß  man  sich 
hüten.  Indem  Aischylos  den  attischen  Handwerkerdämon  aus  dem  Töpfer- 
viertel zum  tragischen  Helden  erhob,  ist  er  in  Hesiods  Spuren  weiter- 
gegangen.') Spielt  schon  bei  Hesiod  Prometheus  eine  zwar  bedenkliche, 
aber  jedenfalls  bedeutungsvolle  Rolle  in  der  Geschichte  der  Menschheit 
und  ihres  Verhältnisses  zu  den  Göttern,  indem  er  diese  überlistet  und 
nun,  als  wäre  er  Repräsentant  aller  menschlichen  Wünsche  und  Bestre- 
bungen, durch  seinen  persönlichen  Frevel  den  Fluch  der  Götter  dem  ge- 
samten Menschengeschlecht  zuzieht,  so  hat  Aischylos  diesem  alten,  Sisyphos- 
oder  Odysseus-ähnlichen  Typus  die  naheliegenden  dramatisch  wirk- 
sameren ethischen  Züge  maßlosen  Stolzes  und  Trotzes  gegen  die  Götter 
und  hilfsbereiten  Erbarmens  gegen  die  Menschen  beigefügt.  Von  Aischylos 
ist  seiner  ganzen  Weltanschauung  nach  zu  erwarten,  daß  er  nicht  die  Partei 
des  Zeusfeindes  ergreift.  Der  Prolog  stimmt  zwar,  besonders  durch  das 
brutale  Auftreten  des  Kratos  und  die  mitleidige  Haltung  des  Hephaistos, 
zur  Sympathie  für  den  Helden,  dem  Zeus  seine  Hilfe  so  schlecht  gelohnt 
hat,  und  die  Götterfeinde  ergehen  sich  frei  in  schweren  Vorwürfen  gegen 
Zeus'  rohe  Willkürherrschaft.*)  Aber  nur  ungeschichtliche  Voreingenonmien- 
heit  kann  meinen,  der  Dichter  stimme  in  diese  Vorwürfe  mit  ein,  oder 
sich  verschließen  gegen  die  vielen  Züge  im  weiteren  Verlauf  des  Dramas, 
durch  die  er  dem  Helden  die  Sympathien  nach  und  nach  wieder  entzieht. 
Die  Neigung  des  Prometheus,  sich  bemitleiden  zu  lassen  (271  fif.,  636  K.), 
mit  seinen  Leiden  und  seinen  Verdiensten  zu  prahlen  (103  fif.,  202  fif., 
441  fif.,  507,  610  f.  K.),  die  virtuosenhafte  Art,  wie  er  in  der  Prophezeiung 
an  lo  sein  geographisches  Wissen  ausbreitet,*)  wie  er  den  Hörern  die 
Wahl  läßt,  was  er  ihnen  eröfifnen  soll  (778  f.  —  man  erinnert  sich  an  das 
sophistische  „jiooßdU.eze''),  wie  er  sich  einer  Probe  auf  die  Richtigkeit 
seiner  Verkündigungen  aussetzt  (822  fif.),^)  sein  mechanisch  rationalistischer 
Qerechtigkeitsbegrifif,  der  ohne  weiteres  Ausgleichung  der  Rechte  zwischen 
Göttern  und  Menschen  fordert,  des  Abstandes  uneingedenk,  —  alles  dieses 
sind  Züge  eines  vorwitzigen  Weltverbesserers,  der  den  Namen  oo<piGTijg 
im  tadelnden  Sinn  (461,  472,  943,  1010)  verdient.  Daß  hier  der  Dichter 
aktuelle  Fragen  seiner  Zeit  im   Sinn   gehabt  und   zu   ihnen  Stellung  ge- 


*)  E.  V.  Lasaulx,  Über  den  Prometheus- 
mythus,  die  Sage  und  ihr  Sinn,  Würzb.  1843. 

*)  Über  die  ümbUdong  der  überlieferten 
Sage  bei  Aischylos  H.  Wbil,  Stades  sur  le 
drame  ant.  61—85. 

')  Von  einer  Charakterentwicklong  des 
Zena,  von  der  jetzt  wieder  W.  Nestle  (N. 
Jahrbb.  19,  1907,  235  ff.)  spricht,  kann  keine 
Rede  sein.  Dai  ein  Grott  seine  Übermacht  gegen 


die  Verächter  braucht,  verstand  sich  für  das 
Publikum  des  Aisch.  von  selbst,  und  daß  er 
sie  zum  Segen  gebraucht  habe,  muß  im 
zweiten  Stück  bei  Prometheus'  Unterwerfung 
zutage  gekommen  sein. 

*)  Von  einer  ooq^ionxif  axgoaoig  redet 
Luc.  Prom.  4. 

^)  Ähnlich  übrigens  Kassandra  Ag. 
1138  ff.  K. 


282  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

nommen,  dal^  er  an  die  Auflehnung  der  neuen  Wissenschaft  und  Technik 
gegen  die  überlieferte  Autoritätsreligion  gedacht  und  eine  Versöhnung  in 
der  Art.  daß  diese  neuen  Strebungen,  die  ihm  so  wenig  als  dem  Sophokles 
sympathisch  waren,  sich  in  die  göttliche  Weltoi-dnung  demütig  einfügen 
müssen,  habe  andeuten  wollen,  daran  ist  nicht  zu  zweifeln:  die  Menschen- 
freundlichkeit darf  nach  seiner  Ansicht  nicht  auf  Kosten  der  Gottesfurcht 
gehen.  —  In  der  Form  freilich,  wie  uns  das  Stück  vorliegt,  kann  es  nicht 
von  Aischylos  gedichtet  sein.  Zwar  der  Aufl)au  des  Ganzen  ist  durch  die 
genaue  Korresponsion  mit  dem  Iloouijthrs  Ärniifroi::  geschützt  und  der 
lyrische  Charakter  folgt  mit  Notwendigkeit  aus  der  ganzen  Situation; 
aber  nach  dem  Prolog,  dessen  Kchtheit  sich  aus  der  altertümlichen  Sym- 
metrie des  Dialogs  zwischen  Kratos  und  Ilephaistos*)  ergibt,  müssen  starke 
Umarbeitungen  vorgenommen  worden  sein,  l'nmöglich  kann  der  ungeschickte 
Dialog  zwischen  Prometheus  und  Okeanos  echt  sein;  daß  die  Partie  V.  88 
bis  437  ursprünglich  anders  ausgesehen  haben  muli,  geht  aus  V.  438  f. 
hervor,  die  zum  Vorangehenden  nicht  pjissen.  Auch  die  Sprache,  die 
metrische  Tc^chnik,  die  Wahl  der  Versmaüe,  der  lyrischen  Formen,  ins- 
besondere der  starke  Gebrauch  der  Monodien,  der  groüe  Maschinenapparat 
für  die  Inszenierung  erregen  berechtigte  Zweif(4  an  der  Echtheit  und  Ein- 
heitlichkeit der  Form.  Das  Stück  stellt  sich  als  ein  Zwitterding  zwischen 
altem  und  modernem  Stil  dar,  und  wir  müssen  die  Frage  offen  lassen,  ob 
die  Modernisierung  sieh  auf  die  Form  beschränkt  oder  auch  den  Iiüialt 
ergriffen  habe.^)  —  Über  die  Zeit  der  Aufführung  fehlen  didaskalische 
Zeugnisse.»)  Der  Hinweis  auf  die  Siziliens  Fluren  verwüstenden  Feuer- 
ströme  des  Typhon  (V. '^71  ff.  K.)  zeigt,  daU  das  Stück  nach  dem  Ausbrach 
des  Ätna*)  und  dem  Aufenthalt  des  Dichters  am  Hof  des  Uieron,  ako 
nach  475  gedichtet  wurde.  Die  Chorparodos  zur  Eröffnung  des  Stückes 
hatte  schon  Phrynichos  47G  aufgegeben,    während  sie  Aischylos  noch  472 

*)  Kratos  lint  je  zwoi  (v.  oS  ist  mit  Kielil  wie  <!io  Vasen  derartige  Mcennfldchen 

zu  streirheni,  Ifepliaisto»  je  iMfien  Vors.  tlarsteilen  (S.  Heinagh,  Repertoire  des 

-)  Ältere  Litteratur   über  die  Kehtheits-  peintji  I.  Paris  iJSHy,  89  und  sonst),  jede  da- 

iiii'j^e  verzeiehnet  .J.  Okkki>u:k.  Wocheusehr.  zelne  auf  betttigeltem  Seepferd  hereingekom- 

f.  kla^s.  l*liilol.r>  (188S;  I3u51f.;  liervcirzuhehen  iiieii  und  von  diesem  ti/o^  (vgl.  o/»/i*a  Ar.pW. 

istdievcrständigc  Arbeit vonF.KrssMAiiLY.lJe-  SGÖ:  F^iir.  Tro.  .s84;  Diog.  Apoll,  in  H.  Duu* 

obachtiiniren  zum  Prom.  des  Asch.,  HerJ.  l^SH.  Vorsokr.^  p.  ^54.  28:  Aol.  de  nat.  an.  XII 45) 

I>en  niclit  ^anz  unbefangenen  Kinwendun^en,  dann  abgestiegen.  »Solche  hölzernen  rfoara, die 

die    K.  Westphal   (IVole^'.  z.  Äsrli.,    18^)9.  auch  bei  Festzügen  im  Gebrauch  waren,  hiefiei 

S.  19ff.)  Riegen  «iie  lyrischen  Teile  des  Pr.  er-  yüraiinn   (Xen.  Ages.  8.  7;    Polemo  IL  fr.  ÖS 

hob.  suchte?  IL  Weil,  Kev.  des  et.  ur  1  (1><88)  M.;   Plut.  Ages.  19;    Hesych.  s.  fcdntidoar). 

21  f.  den  Hoden    zu    entziehen.     Die  (legen-  Klü^'elwa^en  kennt  die  griechische  Kunst  nir 

instanzen    faljt    unter    selbständiger  Weiter-  für  'J'riptolemos. 

behanillung  der  szenischen  Fragen  zusammen  ^,i  Die  Ansetzung  der  PromeÜue  zwisdMB 

E.  Hkthk.  Proleg.  z.  ( Jesch.  des  Theaters  im  472  u.  4*)7.  die  auch  A.  Körte  annimmt,  vA 

Alteit.  l.'»9  If.    Nach  Hethes  Meinung  könnte  durch  die  Erwägungen  von  H.  Wbil.  £t  SU 

der  i'r.  die  jetzige  Form    frühestens   in  den  le  drame  ant.  17  nicht  genügend  gesttttxL 
zwanziger    Jahren    des    5.  Jahrhunderts    er-  "*i    Die    glänzende    Schilderung    Pindaii 

halten  haben.     Sehr  wenig  glücklich  btduin-  P.  1.  1")     28  (470)    ist   offenbar  Vorbild  flr 

delt  K.  KouKicr.  Herrn.  JU  1 18901  i}V)\  tf.  die  J*rom.  :V).')—87()  K.  gewesen.    Daß  gerade  ■ 

Hühnenfia.^e  im  Pr.     Aufzugeben    ist  jeden-  diesem  Stück    Pindars  Einfluß   wirksam  ili» 

falls  die  von  V.  135  K.  ausgegangene  lächer-  zeigt   bescmders   die  Vergleichung  von  Rai 

liehe     Verstellung     von     einem     beflügelten  Is.  8,  32  mit  Prom.  762  AT.  K. 
Okeaniden-Omnibus.      Die    Okeanidcu    sind, 


C.  DranuL    2.  Die  Tragödie,    b)  Aischylos.    (§  161.)  283 

in  den  Persem  beibehält.  Da  nach  6.  Hermanns  zweifellos  richtiger  An- 
sicht*) Prometheus'  ungeheure  und  offenbar  im  wesentlichen  unbekleidete 
Gestalt  durch  eine  Puppe  dargestellt  werden  mufite,  so  genügten  für  die 
Aufführung  zwei  Schauspieler  (I.  Hephaistos,  Prometheus  IL  Kratos, 
Okeanos,  lo,  Hermes).  Die  Vergleichung  von  Prom.  853  K.  und  855  mit 
Suppl.  8  und  58,  insbesondere  der  phantastischeren  Ausschmückung  von 
los  Fahrt  Prom.  705  fif.,  788  flf.  mit  der  einfacheren  Darstellung 2)  Suppl. 
521  flf.  lehrt,  daß  der  Prometheus  nach  den  Schutzflehenden  anzusetzen 
ist.  Wenn  —  was  aber  sehr  unsicher  —  Pindar  P.  4,  291  mit  kvoe  dk 
Zevg  ätp^trog  Tixävag,  iv  de  XQ^^^P  iieraßokal  Xrj^avroq  ovqov  iarlcov  auf  die 
Promethie  anspielte,  so  wäre  ein  Terminus  ante  quem  gegeben,  da  jene 
Ode  auf  einen  pythischen  Sieg  im  August  des  Jahres  462  geht.  3) 

161.  'Aya^ifxvoyv,  XorjtpoQoi  und  Evuevideg  bilden  zusammen  die 
sogenannte  Orestie,*)  die  458  zur  Aufführung  kam  und  den  ersten  Preis 
erhielt.^)  Das  Satyrspiel  dazu  war  der  Proteus,  auf  den  schon  im  Aga- 
memnon V.  595  fif.,  652  fif.,  805  f.  K.  hingewiesen  ist®)  und  der  mit  den  drei 
Tragödien  insofern  zusammenhing,  als  der  Meergott  Proteus  bei  Homer 
Od.  d  511  fif.  dem  Menelaos  das  schauerliche  Geschick  des  Agamemnon 
weissagt.  Die  erhaltenen  drei  Tragödien  waren  wahrscheinlich  die  letz- 
ten, die  Aischylos  in  Athen  zur  Aufführung  brachte,  da  er  bald  darauf 
nach  Sizilien  auswanderte  und  dort  den  Tod  fand.  Jedenfalls  sind  sie  die 
vollendetsten  unter  den  uns  erhaltenen,  und  namentlich  steht  der  Aga- 
memnon an  Stimmungsmalerei,  Personencharakteristik,  dramatischer  Be- 
lebung^) und  Bühnenwirksamkeit  unter  den  großartigsten  Werken  aller 
tragischen  Dichtung,  unmittelbar  an  Shakespeares  Seite.  Den  Stoff  zu  der 
Trilogie,  deren  drei  Teile,  Ermordung  des  heimkehrenden  Königs,  Rache 
des  Orestes  an  der  frevelhaften  Mutter  und  ihrem  Buhlen  Aigisthos,  Süh- 
nung des  von  den  Furien  verfolgten  Muttermörders,  ein  großes  in  sich 
geschlossenes  Ganze  ausmachen,  entnahm  der  Dichter  in  der  Hauptsache 
dem  Homer.  Dieser  kannte  bereits  die  Ermordung  des  heimkehrenden 
Agamemnon  und  die  Rache  des  Orestes   an   den  Mördern  seines  Vaters.^) 

*)   So   auch   0.  Navabbe.   Rev.  des   6t,  ,  von  K.  Robert  (Herrn.  38,  1903,  634  fif.)  ohne 

anciennes  3  (1901)  105  ff.  zureichende  Gründe  behauptet  worden. 

*)  Siehe  A.  Eöbte,  M^langes  Nicole  289  f.  ,  ®)  Dieses  ist  fein  bemerkt  von  A.  Böckh. 

•)  Vgl.  R.  Wbstphal,  Proleg.  zu  Aesch.  '  De    trag.   gr.  princ.  p.  268.     Mutmaßungen 

14  ff.  I  über  den  Inhalt  des  Proteus  bei  Wilamowitz, 

^)  Aristoph.  ran.  1127  versteht  vielleicht  Übersetzung    von    Aisch.   Euraeniden    (Berl. 

unter  Oresteia  nur  das  Mittelstück,  die  Choe-  I  1899)  95  f.;   ders.,    Choephoren,   Berl.  1896, 

phcnren  (Qbrigens  bedeutet  bei  Ar.  Thesm.  135  p.  252,  3. 

Avxm^oyf.ia   die  Trilogie);   von    den  Neueren  '  ')  In   keiner   anderen  griechischen  Tra- 

wurde  der  Name  auf  die  ganze  Trilogie  über-  1  gödie  greift  der  Chor  so  wie  hier   tätig  in 

tragen.  die  Handlung  ein. 

»)  Arg.  Agam.:  FÖtdaxfrj   t6  doä^a  ejii  |  '')  Hom.  Od.  a  30— 43,  -  262— 314,  <^  517 

aozot^og    0doxXeovg   6X.   n    etfi   ß'.     jtoätos  i  bis  537,  A  405—435.     Bei  Homer  ist  Mörder 

AiaxvXog    'AyafAfftvovt     Xotjfpogotg     KvftFviai  i  Agamemnons    Aigisthos    allein,    wenn    auch 

noioxfi  onrvQixM,  fjoot)yFi  En'oxkijs^'^fftfivFrg.  unter    Beihilfe    der    Klytairaestra ,    und    von 

Vollstibidig   erhalten  ist  nur  das  erste  und  Orestes  wird  nur  gesagt,  daß  er  den  Aigisthos 

dritte  Stack;  dem  zweiten  fehlt  der  Anfang,  i  ermordet    habe;    wie   Klytaimestra    umkam 

VerstOmmelung  des  Schlusses  ist  für  Aga-  :  {y  309  f.),  wird  nicht  angegeben.  Pindar  Pyth. 

memnon  von  A.  Kirchhoff  (Berl.  Ak.  Sitz.-  1  11,  38  (a.  474)  ist  der  erste,  der  den  Orestes 

ber.  1894,    1039  ff.;    dagegen  Wilamowitz,  i  deutlich  als  Muttermörder  bezeichnet.    Über 

Henn.  84, 1899, 67  f.)  und  für  die  Eumeniden  |  die  Entwicklung  der  Orestessage,  die  offenbar 


284  Griechische  Litteratargeschichte.    I.  KUsBische  Periode. 

Anderes,  wie  die  treue  alte  Amme,  die  den  kleinen  Orestes  vom  Verderben 
rettet,  hatte  der  Lyriker  Stesichoros  in  seiner  Oresteia  hinzugef&gt.^ 
Pindar,  der  in  dem  Siegesgesang  Fytii.  1 1  nach  den  Spuren  des  Stesichoros 
die  Rückkehr  des  Orestes  und  die  Ermordung  der  Elytaimestra  und  des 
Aigisthos  erzählt,  hatte  auch  bereits  den  Versuch  gemacht,  die  grausame 
Tat  der  Klytaimestra  aus  der  berechtigten  Eifersucht  der  Königin  gegen 
die  neue  Nebenbuhlerin  Kassandra  und  aus  dem  alten  Groll  der  Mutter 
über  die  Schlachtung  ihrer  Tochter  Iphigeneia  zu  erklären.')  Aischylos' 
wiclitigste  Neuerung  ist,  daü  er  die  Ermordung  des  Agamemnon  durch 
Klytaimestra  allein  vollbringen  laut;  im  übrigen  fand  er  einen  bis  in  die 
Einzelheiten  gut  vorbereiteten  Stoff  vor;  aber  bewundernswert  bleibt  doch 
die  Kunst,  mit  der  er  teils  überlieferte  Züge  der  Sage  für  seine  Zwecke 
verwertete,  teils  neue  Motive  hinzu  erfand,  damit  der  Mythus  einerseits 
zu  drei  Stücken  ausreichte,  anderseits  zu  Athen  und  den  Athenern  in 
nähere  Beziehung  trat.  Im  Homer  (Od.  d  524)  las  Aischylos  bereits,  dafi 
Aigisthos  einen  Späher  aufgestellt  hatte,  damit  ihn  nicht  Agamenmon 
durch  i)lötzliche  Ankunft  überrasche;  diesen  Späher  griff  er  auf,  um  die 
Trilogie  mit  dem  wirkungsvollen  Prolog  des  auf  dem  Dach  sitzenden, 
mit  Humor  und  derbem  llealismus  als  Mann  aus  dem  Volk  charakteri- 
sierten Wächters  einzuleiten  (1 — 39)  und  daran  im  weiteren  Verlauf  die 
merkwürdige  Schilderung  von  dem  Telegraphen  mit  Feuersignalen*)  zu  reihen 
(245 — 303  K.).  In  der  Odyssee  k  422  war  auch  schon  angegeben,  dafi 
Kassandra  als  Kriegsgefangene  dem  Oberführer  der  Griechen  zugefallen, 
dann  aber  von  Klytaimestra  ermordet  in  das  Schattenreich  hinabgegangen 
war.  Aischylos  griff  auch  diese  Überlieferung  auf,  damit  Kassandra  einer- 
seits die  Eifersucht  der  Klytaimestra  errege  und  somit  deren  Schuld  min- 
dere, anderseits  mit  ihrem  Seherblick  die  grauenhaften  Vorbereitungen 
zur  entsetzlichen  Mordtat  schaue  und  in  ergreifenden  Versen  den  Zu- 
schauern voraus  verkünde  (Agara.  1025 — 1280  K.).*)  Die  Szene  hat  Aischylos 

von  der  Alkinaionsage  beeinflußt  worden  ist,  nLs  von  Beziehungen  des  Orestes  za  Athen. 
büi  den  ^riirliischen  Dichtern  L.Hadkrmachek,  *)  Über  die  Lyriker  Xanthos  and  Stflsi- 

N.  Jahrbb.  f.  khtss.  Altert.  12  (liH)3j  .'>GS  ff.  choros.   die  schon  den  gleichen  Mythus  be- 

WiLAMüwiTz.    C'hoeph.  24  f  :  24^5  ff.  bemüht  handelt  hatten,  vgl.  D.  Raoul  Rochkttb,  Ore- 

sich,  die  Existenz  eine^  delphischen  Orestes-  steide.  in  Monum.  inöd..  Paris  1833.  115  ff. 
epos,   das  Aisch.  benutzt   habe,   wahrschein-  ^)  Die  Ode  ist  gedichtet  auf  einen  pjtlii- 

lieh   zu    machen,   ohne   diese  These   zu   be-   .   hchen    Sieg    des   Jahrs   474,    also    vor   der 

weisen.  Von  Auflehnung  des  Aischylos  gegen  Orestie  des  ^Vischylos.    Um  die  Priorität  des 

die  delphische  Religion  kann  vollends  keine  Tragikers  zu  retten,  hatte  W.  Chbibt  frtther, 

Kode  sein.    Lokalpatrioti.^che  Motive  erklären  Sitz.ber.  d.  bayr.  Ak.  1889  S.  13  ff.,  eine  andere 

genügend    den   Abschluß   mit   der  Arcojtag-  Datierung    des    pindarischen    SiegesgesangB 

szene.     (r.  Fenslkk    freilich    in    seiner   aus-  versucht,   die  er  aber  in  seiner  Pindaraoflg. 

gezeichneten  Analyse  di*r  Oiestie  (Die  Orestie  p.  223  aufgab. 

des  Äschylus,  Hern  18}K))  hält  die  Sagenform  ^)    Die    Erfindung    scheint   persisch    zn 

bei  Aischyh)s  laufCxrund  rechtsgeschichtlicher   .   sein.  Hcrodot.  IX  3  (s.  aber  H.  Fisohl,  Feni- 

Erwäguiigen)   für  altertümlicher  als  die   bei  Sprech-  un<l  Meldowcsen  im  Altertum.   Progr. 

Homer,  ja  für  älter  als  die  dorische  \Van<lerung.  Schweinfurt  1904.  5  ff.). 
Es  sei  die  hellenische  Sage  vom  Muttermord  \\  Erst  Aischylos  hat  der  schattenhafte! 

und  seiner  Suhnung,  exemplifiziert  an  Orestes.  Gestalt  Ka.ssandras  Leben  eingeblasen.    Ihre 

Homer  habe  sie  gekannt,  aber  aus  ethisch-  von  P.  Richter  (s.  u.  Ö.  287,  2)  völlig  mißTor- 
äbthetischen    Gründen,    um    das   Pelopiden-   <   st^ndene   Stellung  im  Agamemnon   wQrdigt 

geschlecht     nicht     zu     beschimpfen,     ver-  H.  Wkil,   Etudes  sur  le   drame    ant.  87  f. 

schwiegen;  doch  vorrate  er  (Od. ;'  307)  Kennt-  richtig. 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    b)  Aischylos.    (§  161.)  285 

(worin  ihm  Euripides  im  Orestes  folgte)  nach  Argos  verlegt,  nicht  wie 
Sophokles  und  Euripides  in  ihren  Elektren  nach  Mykenai  oder  wie  Stesi- 
choros  und  Pindar  nach  Sparta  bezw.  Amyklai.^  Ganz  neu  von  Aischylos 
hinzugedichtet  ist  der  wesentliche  Inhalt  des  dritten  Stückes,  die  Frei- 
sprechung des  Orestes  auf  dem  Areopag  durch  den  Stichentscheid  der 
Gtöttin  Athene  (calculus  Minervae)*)  und  die  Versöhnung  der  Erinyen,  die 
aus  blutgierigen  Furien  in  segenspendende  Huldgöttinnen  (Evjuevidsg)  sich 
wandeln.  Der  Dichter  hat  diesen  Teil  besonders  für  Athen  und  zur  Ver- 
herrlichung des  gerade  damals  von  der  demokratischen  Partei  hart  an- 
gegriffenen Gerichtshofes  auf  dem  Areopag  gedichtet.  5)  In  dem  Mittel- 
stück, das  von  den  die  Totenspende  zum  Grabhügel  Agamemnons 
tragenden  Chorjungfrauen  den  Namen  XorjcpoQoi  erhielt,  rührt  die  Art  der 
Wiedererkennung  des  Geschwisterpaares  von  der  Erfindung  des  Dichters 
her.  Diese  Partie,  wo  Elektra  den  Bruder  an  der  dem  Toten  geweihten 
Haarlocke  und  an  der  Größe  der  Fußtapfen  erkennt,  hat  freilich  Aischylos 
mit  Bewußtsein  als  nebensächlich  behandelt  und  sich  dadurch  die  Kritik 
der  Komödie  und  der  beiden  jüngeren  Tragiker  zugezogen.*)  Aber  über- 
haupt den  Bruder  vor  der  Rachetat  mit  der  gleichgesinnten  Schwester 
zusammenzuführen  und  in  die  Freude  des  Wiedersehens  den  Aufschrei 
des  gemeinsamen  Schmerzes  um  den  heißgeliebten,  schmählich  hingemor- 
deten Vater  zu  mischen,  war  ein  sehr  glücklicher  Gedanke  des  Aischylos. 
Von  ihm  findet  sich  noch  keine  Andeutung  weder  bei  Homer  noch  bei 
Pindar.  Zugleich  hat  Aischylos  mit  feinem  Gefühl  die  Elektra  vor  der 
Mordszene  (V.  552)  abtreten  lassen.  Das  war  allerdings  durch  szenische 
Rücksichten  bedingt,  da  der  Schauspieler,   der  im  ersten  Teil  des  Stückes 

^)  Vermutungen  über  die  Gründe  dieser  ;  dem  will,  nickt  brauchen.  Eurip.  Iph.  T.  77  ff. 

Dislokation  bei  Wilamowitz,  Choeph.  S.  255.  |  erwähnt  das   Areopagitcngericht  nicht  (nur 

*)  -Diese    Abstimmung   der  Athena   ist  |  El.  1258  ff.  und  Or.  1648).    An  der  attischen 

dargestellt  auf  dem  berühmten  corsinischen  Vulgatsage  (Finsleb  a.  a.  0.  2.  4)  hat  Aisch. 

Süberbecher,  A.  Baümeisteb,  Denkm.  d.  kl.  j  die  Änderung  vorgenommen,  daß  er  das  Ge- 

Altert  II  nr.  1816.  j  rieht  über  Orestes  nicht  aus  Göttern,  sondern 

')  Die  Einsetztmg  des  Areopags  wird  I  aus  Menschen  unter  göttlichem  Vorsitz  be- 
feierlich von  Athene  verkündet  Eum.  671  bis  ;  stehen  ließ,  weil  er  die  Stiftung  des  areo- 
700  K.;  diese  Rede  will  jedoch  N.  Wecklein,  |  pagitischen  Blutgerichtshofs  hereinbringen 
Sitz.ber.  d.  bayr.  Ak.  1887  I  S.  64,  hauptsäch-  wollte.  F.  weist  auch  (S.  5)  darauf  hin,  daß 
lieh  wegen  der  lokalen  Schwierigkeit,  die  I  Orestes  durch  die  religiöse  Sühnung  nur  den 
das  Pronomen  oöe  in  Jidyov  "Aofiov  tovÖe  .  Göttern,  nicht  der  Familie  (und  den  Erinyen) 
(675.  678  E.)  bietet,  für  eine  junge  Inter-  gegenüber  gereinigt  sei. 
Delation  ausgeben ;  dagegen  mit  Recht  H.  Weil,  l  ^)  Die  Wiedererkennungsszene  beruht  auf 
Bev.  des  6t  gr.  1  (1888)  13  ff.  und  G.  Fins-  klügelnder  Schlußfolgerung,  was  Aristpoöt.  16 
LEB,  Orestie  2,  6.  —  Über  die  Verbindung  i  tadelnd  bemerkt;  über  sie  witzelt  selbst  Ari- 
des Areopags  mit  dem  Kult  der  2>/n'a<',  die  i  stophanes  nub.  536,  und  Soph.  El.  907  f.  (vgl. 
an  der  Erdschlucht  des  Areshügels  einen  Schol.  zu  der  Stelle)  verbessert  offenbar  Aesch. 
altehrwürdigen  Gottesdienst  genossen,  s.  J.  I  Cho.  160  ff.  K.  Über  die  Unbilligkeit  dieser 
TöPFFEB,  Attische  Genealogie  170  ff.  Übri-  i  Kritik  s.  Finsler  a.  a.  0.  31.  Über  das  Ver- 
gens  hat  Aischylos  mit  seinen  Eumeniden  •  hältnis  der  Choöphoren  und  der  Elektra  ist 
wahrscheinlich  angeknüpft  an  eine  alte  von  I  unendlich  viel  geschrieben;  es  genügt  zu 
Hellanikos  fr.  69  und  82  erwähnte  Sage  von  i  verweisen  auf  A.  W.  Schlegel,  Vorles.  über 
einem  Gerichtsstreit,  den  auf  dem  Areshügel  '  drara.  Kunst  I  220—245;  J.  K.  Fleischmann, 
Poseidon  gegen  Ares  wegen  Ermordung  seines  \  Kritische  Studien  über  die  Kunst  der  Charak- 
Sohnes  iGilirrhothios  erhoben  hatte.  Diese  teristik  bei  Aesch.  u.  Soph.,  Nürnberg  1875 
Sajge  kennt  er  vielleicht,  kann  sie  aber  für  !  und  Jahrbb.  f.  Phil.  115  (1877)  513  ff.  —  H. 
seinen  Zweck,  wo  er  die  Einsetzung  des  '  Jobdan,  Aisch.  Choeph.  in  ihrem  dramat.  Auf- 
Areopags  ans  Anlaß  von  Orestes'  Tat  schil-  |  bau,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Altert.  19  (1907)  176  ff. 


286  Griechische  Litteratargeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

die  Elektra  gab,  im  zweiten  Teil  die  Rolle  der  Elytaimestra  übernehmen 
mußte:  aber  immerhin  hat  der  Dichter  aus  dieser  äußeren  Notlage  eine 
ästhetische  Tugend  gemacht,  und  es  verdient  anerkannt  zu  werden,  dafi 
er  damit  die  Seele  einer  Jungfrau  menschlich  sympathischer  dargestellt 
hat  als  Sophokles,  der  seine  Elektra,  indem  er  rücksichtslos  die  Eon- 
sequenzen aus  den  gegebenen  Umständen  zieht,  in  eine  peinliche  Lage 
versetzt,  um  sie  dann  durch  einen  Zufall  von  der  Pflicht  des  Muttermordes, 
auf  die  sie  innerUch  völlig  vorbereitet  ist,  zu  entheben;  die  dramatische 
Spannung  freilich  ist  auf  solche  Art  bei  Sophokles  aufs  äußerste,  fast  zum 
Unerträglichen  gesteigert.  Auch  Orestes  hat  bei  Aischylos  mehr  persön- 
liches Leben  als  bei  Sophokles;  er  vollbringt  die  Tat  der  Rache  nicht  blofi 
auf  Befehl  Apollons,  sondern  mit  aus  eigenem  Antrieb.*)  Sehr  wirkungs- 
voll sind  in  unserer  Tragödie  auch  die  aus  Stesichoros  herübergenommenen 
und  für  die  Bühne  weiter  entwickelten  Motive  der  Amme  (s.  o.  S.  284)  und 
des  unglückverheißenden  Traums  der  Königin. 

Aber  neben  allen  Vorzügen  der  Erfindung  verdient  der  große  Fort- 
schritt Beachtung,  den  die  Kunst  des  Dichters  in  der  ganzen  Anlage  dieser 
seiner  letzten  Trilogie  zeigt.  Er  hat  nicht  blola  von  dem  dritten  Schau- 
spieler vollen  Gebrauch  gemacht,  er  hat  ihn  auch  meisterhaft  verwertet,  um 
spannende  Entwicklung  in  die  Handlung  zu  bringen  und  die  Charaktere 
durch  gegenseitige  Beleuchtung  schärfer  hervortreten  zu  lassen.  Er- 
greifende Bilder  stellt  er  hin  in  der  rachebrütenden,  nach  dem  Blut  des 
gebauten  (jemahls  lechzenden  Klytaimestra,^)  in  der  grausigen  Szene  des 
die  Muttor  zur  Mordstätte  zerrenden  Orestes  (Choeph.  885 — 923  K.),  in  der 
wirkungsvollen  Gegenüberstellung  der  alten  und  neuen  Weltordnung  in  den 
Eumcuidcn.  In  den  Chorliedern  aber  hat  er  anfangs  durch  Bückblicke  in 
die  Vergangenheit,  auf  den  Auszug  der  Achäer,  die  Opferung  der  Iphigeneia, 
den  Baub  der  Helena,  die  Züchtigung  der  Troer,  die  Gewitterwolken  sich 
allmählich  auftürmen  lassen,  dann  aber  nach  vollbrachter  Bluttat  das 
Walten  der  höheren  Mächte  und  die  hehre  Notwendigkeit  unerbittlicher 
Bestrafung  begangenen  Frevels  in  erhabenster  Sprache  verkündet.  Wenn 
irgendwo,  so  sieht  man  aus  den  Eumeniden,  daü  Aischylos  nicht  bloß  den 
Zuhörern  einen  Genuü  durch  Entfaltung  seiner  dichterischen  Kunst  be- 
reiten, sondern  auch  Lehrer  seines  Volkes  und  Verkünder  der  höchsten 
Sittengesetze  sein  w^ollte.  P]inen  gewaltigen  Eindruck  hat  namentlich  zu 
allen  Zeiten  auf  jeden  em})tindenden  Hörer  die  grandiose,  tiefsittliche  Auf- 
fassung der  Rachegeister  gemacht;  aus  dieser  Quelle  hat  Schiller  in  den 
Kranichen  des  Ibykus  geschöpft. 

Unbillig  ist  es,  von  dem  Dichter  zu  fordern,  er  hätte  alle  ihm  im 
Mythus  gegebenen  Motive  in  die  Sittlichkeitsbegriffe  seiner  Zeit   oder  gar 

\)  (t.  Finsler.   Die  Orestio  des   Äsch..  '    1844  f.  K.  den  Bliitstrahl   des  hingeschlach- 

Progr.  Beiu  i><9i)  (nach  der  ctliisch-religiösen  teton  Königs  mit  dem  segenbringendeu  Regen 

und  ästhetischen  Seite  die  beste  Erläuterung  vergleichen    läfit.     Den   Anstoß,    den    unser 

der  'iVilogie).  handelt  über  die  psychidogische  I   (lefühl   an   der   Untat  der   Gattin    und    des 

Motivierung  von  Oiestes'  'lat   S.  32  f.  39  f.  Sohnes  nimmt,  hat  G.  Sisgebt  in  seiner  Tr»- 

'^)  Bis   zur   äufierstcn   Grenze    geht  im  I   gödie  Klytämnestra  durch  vollständige  Um- 
Streben   nach    scharfer    Charakteristik    der  !   dichtung  zu  beseitigen  gewagt 
Klytaimestra  Aischylos,  wenn  er  sie  Agam.  i 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    b)  Aischylos.    (§  161.)  287 

in  die  unserer  Zeit  auflösen  sollen.  *)  Sein  Werk  will  nicht  in  erster  Linie 
als  Exemplifikation  sittlich-religiöser  Ideen  oder  Illustration  von  Entwick- 
lungsvorgängen aus  der  griechischen  Kulturgeschichte  verstanden  werden 
—  welchen  Reiz  sollte  es  für  das  athenische  Publikum  des  5.  Jahrhunderts 
haben,  sich  den  längst  abgewickelten  Vorgang  der  Ablösung  eines 
älteren,  mechanischen  Rechts  durch  ein  jüngeres,  lebensvolleres  und  ge- 
rechteres vorführen  zu  lassen  ?  Es  forderte  vom  Dichter  mit  Recht  lebens- 
volle Persönlichkeiten  und  Situationen,  zusammengehalten  durch  den  Gang 
einer  einheitlichen  mythologischen  Handlung.  Und  er  bietet  ihm  die 
Riesengestalt  der  Verbrecherin  Klytaimestra,  die  mit  frevlerischem  Willen 
frei  handelnd  außerhalb  der  den  Orestes  zwingenden  Schicksalsnotwendig- 
keit steht,  den  verwickelten  Charakter  des  ritterlich-oberflächlichen  Aga- 
memnon, der  für  schwere,  aber  halbvergessene  und  nie  mit  voller  Ehr- 
lichkeit von  ihm  erkannte  Schuld  büßen  muß,  die  köstlichen  realistischen 
Nebenfiguren  des  Wächters,  des  Herolds,  der  kilikischen  Sklavin;  er  bietet 
die  unerreichte  Stimmungsmalerei  namentlich  im  ersten  Stück,  jene  er- 
stickende Dumpfheit,  in  der  kein  Strahl  aufrichtiger  Freude  auflcommen 
kann,  bis  endlich  die  Mordtat  wie  ein  Gewitter  die  Luft  reinigt,  er  bietet 
in  den  Eumeniden  den  überwältigenden  Gegensatz  zwischen  den  Höllen- 
geistern, die  mit  naturgesetzartiger  Unbedingtheit  ihrer  häßlichen  Bestim- 
mung nachjagen,  und  der  überragenden  Lichtgestalt  des  Apollon,  die 
wirklich  wie  eine  Sonne  über  einem  Bild  voll  Nacht  und  Grauen  aufgeht; 
und  dies  alles  in  einer  Sprache  voll  Erhabenheit,  kräftiger  Gedrungenheit 
und  bildlicher  Farbenpracht,  die  zusammen  mit  dem  sicher,  in  kunstvoller 
Bindung  und  doch  abwechslungsreich,  vorschreitenden  Gang  der  Handlung 
Verstand,  Gemüt  und  Phantasie  des  Hörers  von  Anfang  bis  Ende  auf  das 
lebhafteste  anregt  und  beschäftigt.  Der  Agamemnon  hat  in  der  Welt- 
litteratur  nicht  seinesgleichen.  Die  Choöphoren  glaubten  Sophokles  und 
Euripides  in  ihren  Elektren  verbessern  zu  können.  Die  Eumeniden  sind, 
rein  struktiv  betrachtet,  ein  Notbau;  die  Lösung  befriedigt  nicht, ^)  und  aus 
diesem  Irrsal  von  Schuld  und  Verblendung  ist  ein  Ausweg  auf  dem  Boden 
hellenischer  Ethik  überhaupt  nicht  zu  finden.  Uns  befremdet,  jedenfalls 
viel  mehr  als  dies  bei  dem  athenischen  Publikum  der  Fall  war,  die  über- 
laute lokalpatriotische  Färbung  des  Schlusses,  aber  auch  die  juristisch- 
medizinische Zuspitzung  des  Konfliktes  auf  die  Fragen:  ist  Gattenmord 
schwereres  unrecht  als  Muttermord?  und:  ist  die  Mutter  ihrem  Kinde  in 
der  Weise  wie  der  Vater  blutsverwandt?^)     Die  Art,  wie  die  erste  dieser 


')  Th.  Plüss,  Die  Tragödie  Agamemnon 
imd das  Tragische,  Progr.Basel  1896.  P.Mazon, 
L'Oresde  d'Eschyle,  Paris  1908  p.  XLIU  sqq. 
findet  die  reinere  Idee  der  Sittlichkeit  in 
den  von  Aischylos  eingeftihrten  Erinyen  aus- 
gedrflckt,  die  auch  dem  Gott  Apollon  gegen- 
flber  das  nnauslOschhare  Unrecht  des  Mutter- 
mofdes  aofirecht  erhalten. 


aus  zu  dem  seltsamen  Ergebnis  kommt,  die 
Sieben  und  den  Prometheus  künstlerisch  über 
die  Orestie  zu  stellen. 

*)  Zu  der  physischen  Frage,  die  zwischen 
den  alten  Medizinern  kontrovers  war,  vgl.  M. 
Wbllmann,  Fragmentsanmilung  der  griech. 
Ärzte  I,  Berl.  1901,  36.  Dieselbe  Anschauung 
wie  bei  Aisch.  findet  sich  nach  Diod.  1 80, 4  bei 


*)  Das  ist  sachlich  richtig,  nur  zu  pedan-  j  den  Ägyptern;  Euripides  (Or.  552  S.)  hat  sie  von 

tisch  nnd  nnehrerbietig^betont  von  P.  Rigutbr,  Aisch.  übernommen.  Dem  griechischen  Volks- 

Zur  Dramatni^e  des  Äschylns,  Leipz.  1892,  |  bewußtsein  kann  sie   nicht  fremd  gewesen 

248  ff.,  der  von  seiner  einseitigen  Abschätzung  |  sein,  wenn  auch  nach  attischem  Recht  Ehen 


288  Griechische  Litteratnrgeschichie.    I.  Klawisohe  Periode. 

Fragen  zugunsten  des  Orestes  bejaht  wird,  ist  höchst  subjektiv  (v.  615  flf., 
727  fr.  E.);  was  die  zweite  betrifft,  so  scheint  uns  schon  ihre  Stellung 
sophistisch.  Übrigens  ist  nicht  zu  vergessen,  daß  die  Athener  sich  mit 
Stolz  als  Erfinder  des  Rochtsverfahrens  betrachteten,  i)  den  Gerichtsver- 
handlungen ein  außerordentliches  Interesse  entgegenbrachten  (vgl.  Aristo- 
phanes'  Wespen)  und  somit  den  Schluß  der  Trilogie  mit  einem  Prozeß*) 
vor  ihrem  berühmten  Blutgericht,  auf  das,  nach  Aischylos'  Darstellung, 
der  delphische  Gott  selbst  als  auf  die  oberste  Instanz  hingewiesen  hatte, 
gcwiü  sehr  schön  fanden.  Welch  gewaltige  Gedankenarbeit  in  der  Trilogie 
steckt,  wie  der  Dichter  besonders  in  den  machtvollen,  tiefen  Chorgesängen 
des  Agamemnon  auch  dem  zu  fatalistischer  Auffassung  fast  nötigenden 
Stoff  eine  optimistische  Deutung  im  Sinn  seines  Vorsehungsglaubens  ab- 
gerungen hat,  das  ist  von  G.  Finsler  (s.  o.  S.  286,  1)  in  feinsinniger  Weise 
nachgewiesen  worden. 

162.  Verlorene  Dramen.  Aischylos  hat  seine  Dramen  tefxdxti  tw 
'Ou/joov  fjiF.ydhov  öeim'mv  genannt. 3)  Das  darf  nur  von  der  vorbildlichen 
Stellung  Homers  im  allgemeinen,  nicht  von  einem  Vorwiegen  der  home- 
rischen oder  troischen  Stoffe  in  den  Tragödien  des  Aischylos  verstanden 
werden.  Aus  dem  troischen  Sagenkreis  entlehnte  er  den  Stoff  zu  der  Tri- 
logie von  Hektors  Tod  und  Lösung,  oder  zu  den  Tragödien  Mvojiudore^, 
X}ioEtdF<;,  <Poryfs  Pj  "Kxtoqos  Ivrnn  (nach  Dias  / — il),^)  femer  zu  Käoe^  (von 
Sarpedons  Tod),  Mfjuytor  und  Vvyooraoin  (Wägung  der  Todeslose,  nämlich 
des  Memnon  und  Achillous,  nach  der  Aithiopis  unter  Anschluß  an  IL  ^ 
209  flf.),*^)  zu  ''Onkfor  xnfaig,  Hofjaaat  (von  Aias'  Tod)  und  laka^ivim  (nach 
der  kleinen  Ilias),  zu  <I>tXoxTi)rii::^^)  und  A/juvtoi  (ebenfalls  nach  der  kleinen 
Ilias),  zu  '/f/  lyhem,  Ti])x(f(K  und  nakfifu)ö}]q  (nach  den  Kyprien),  zu  !Pi;;pi- 
ytoyoij  IlrivtAomi,  Kmx)j  omvnixt]  (nach  Telegonie).  Dem  Dionysosmythus 
war  entnommen  die  Tetralogie  ArxoroyFia,  zu  der  die  ^Ildwvoi,  Baaadgat, 
Ntarinxoi,  Avxornyo»;  oarviuxtK  gehörten,'')  ferner  die  Stücke  Ilevüe.vg,  Sa»- 
Toiat,  ^ftuh]  /J  vöoocfonoiy  Atovrnov  Toofpol,  die  gleichfalls  zusammen  eine 
Tetralogi(>  gebildet  zu  haben  seheinen.  Der  Argonautensage  gehörten  an 
\iOd/iag,  "YiiujrrXtj,  \4gy(t't,  Kdßtinoi,^)   vielleicht    auch    dEogoi  i}  ^la^jutaarai, 

zwisclien    niioui]foioi     nicht    erlaubt    waren  man  daraus  (Phaidros  bei  Plat.  aymp.  180a) 

(L.  Mitteis,  Reichsredit  und  Volksrcclit.  Leipz.  schloß,  daß  Aischylos  entgegen  dem  Homer 

l>^91,326f.;  A.  Kketschmar,  DüMcnandrirel..  den  Patioklos  zu  einem  Geliebten  des  Achfl- 

Leipz.  190().  10).   Der  Rochtsfall  des  Orestes  leus  gemacht  habe. 

wurde  noch  in  den  römischen  Deklamatoren-  ^)  A.  Baumstark,  Die  zweite  Achilleiis- 

schulen   eifrig  behandelt  (Cic.  de  inv.  J  18  f.  trilogie  de«  Aischylos.  Philol.55  (1896) 277 if. 

81.  92;  Auct.  ad  Herenn.  I  17.  2r>.  27).  stellt  zusammen  P-sychostasia,  Memnon,  <LeIti- 

')  Acl.  var.  bist.  III  38.  des>. 

-)    Kommentar    zu    der    (TerichKsszenc  *^)  Über  die  Abweichung  des  ischyleischeD 

WiLAMowiTz.  Aristot.  u.  Athen  II  329  if.  Philoktctes  vom  sophokleischen  s.  Dio  GhiyB. 

')  Ath.  347  c;  vgl.  Procl.  ad  Plat.  remp.  or.  r»2.    Der  Chor  bestand  aus  Lemniem. 
I  171,  18  Kk.;  beachtenswert  ist,  dalj  keiner  ')  Eine  Lykurgeia  batte  auch  Polyphns- 

der  Titel  des  Phrjnichos  auf  Homer  hinweist.  mon  im  Wettetreit  mit  Aischylos'  Sie1>en  anf- 

■*)  N.  Wecklein.  Über  eine  Trilogie  des  geführt.    Über  die  Anlage  der  ftschvlelschen 

Äschvlos  u.  über  die  Tril.  fibcihaupt.  Sitz.ber.  Lykurgie   mit   Benutzung  der  Denkmale  0. 

d.  bayr.  Ak.  1891  S. 327  ff.  An  zwei  Vei-se  der  Haupt,  Diss.  Hai.  13  (1897)  137  ff. 
Myrmidonen  fr.  135  otfUu  <V  ittnxhr  üyWtv  ovx  **)  Aufgeführt  wurden  sie  nach  den  Feld- 

A7//A/oo>,  (o  tSrnytiotaTF  Ti7)r  .-Tvyyfnv  (f  ihfßidrwv  ,   Zügen  am  Strj'mon  um  466,   nach  Wiijlho- 

knüpfte  sich  eine  berühmte  Streitfrage,  indem  witz,  Herm.  21  (1886)  597  ff. 


G.  Drama.    3.  Die  Tragödie,    b)  Aisohylos.    (§§  162->163.) 


289 


Nifiea,  Auf  verschiedene  andere  Sagenkreise  bezogen  sich  die  ^Agyeloi, 
^Elsvoivioi,  'Enlyovoi  (Adrastossage),!)  ^ogxldeg,  nolvdixrrjg  (Perseussage), 
^AXxfAYjvr},  ^HganXeldai  (Heraklessage),*)  'Hliädeg  (Tod  des  Phaethon),  To^oxtdeg 
(Untergang  des  Aktaion),  Nioßrj,^)  'AraXdvTr),  ^KImv,  neggaißideg,  Ziovcpog, 
Nimmt  man  noch  hinzu,  daß  Aischylos  auch  die  Göttersage  auf  die  Bühne 
gebracht,  das  Wagnis  einer  historischen  Tragödie  versucht,  in  den  Ahvai 
die  Lokalsage  dramatisiert,  gelegentlich  auch  Elegien  und  Epigramme  ge- 
dichtet hat,  so  bekonmit  man  eine  Ahnung  von  der  Vielseitigkeit  und 
Originalität  des  Begründers  der  Tragödie.  Von  seinen  Satyrspielen,  die 
im  Altertum^)  besonders  hoch  gewertet  wurden,  haben  wir  nicht  mehr 
genügend  Reste,  um  uns  eine  deutlichere  Vorstellung  bilden  zu  können.  — 
Aischylos  ist  seiner  Schwierigkeit  wegen  im  späteren  Altertum  nicht  mehr 
viel  gelesen  worden  ;'^)  das  zeigt  auch  die  verhältnismäßig  kleine  Zahl  der 
Fragmente,  die  neuerdings  nur  wenig  durch  Papyrustexte,  0)  mehr  durch 
Funde  bei  Lexikographen  und  Grammatikern^)  vermehrt  worden  ist. 
Bezeichnend  ist  auch  die  von  R.  Westphal  (AUg.  Theorie  der  griech, 
Metr.5,  Leipz.  1887,  313)  bemerkte  Tatsache,  daß  die  Grammatiker  eine 
von  Aischylos  häufig  verwendete  Versart  juergov  Eöguilöeiov,  nicht  Alqxv- 
leiov  nennen. 

163.  Die  Kunst  des  Aischylos.  Die  künstlerischen  Verdienste  des 
Aischylos  liegen  weniger  in  dem  Reichtum  des  Stoffes,  als  in  der  Gestal- 
tung des  Mythus  und  in  der  Ausbildung  der  dramatischen  Darstellungs- 
mittel. Die  letzteren  faßt  Aristoteles  poet.  4  in  die  Worte  zusammen: 
t6  TB  j(bv  vTioxgiTCOv  Jikij^og  i^  evog  elg  8vo  nocüiog  Alo^v^og  ijyaye  xal  rä 
Tov  x^Q^^  fjXdxxcDoe  xal  rov  Xoyov  TigcoraycovioTrjv  nageoxevaoe.^)  In  diesen 
Punkten  hat  sich,  wie  oben  gesagt,  der  Dichter  allmählich  vervollkommnet: 
in  seinen  älteren  Tragödien,  besonders  in  den  Schutzflehenden,  nehmen  die 
Chorlie'der  noch  einen  übermäßig  breiten  Raum  ein;  erst  nach  und  nach 
erweiterte   er  die  Dialogpartien,   fügte  den  Prolog  hinzu ^)   und  nahm  von 


0  Über  die  Aufführung  i.  J.  476  A.  Hau- 
VBTTB,  Les  äleusiens,  in  M^langes  Weil 
160  ff.  Ein  neues  Fragment  gibt  Didymos 
Berl.  Elaasikertexte  1  col.  U,  14. 

*)  Von  den  Herakliden  wurde  ein  neues 
Fragment  aus  Schol.  Aristides  des  Cod.  Marc. 
428  hervorgezogen  von  Wilamowitz,  De 
Rhesi  acholiis,  Ind.  lect.  Greifew.  1877. 

*)  In  der  Niobe  saß  nach  der  Vita  die 
Heldin  stumm  in  den  Mantel  gehüllt  auf 
dem  Grabe  der  Kinder;  ähnlich  verhüllt  saß 
Achilleus  da  in  Hektors  Lösung,  was  den 
Spott  der  Komiker,  wie  des  Aristoph.  ran.  912 
herausforderte.  Auch  das  lange  Schweigen 
des  Prometheus  gehört  hierher.  Siehe  F.W. 
DiOHAir,  The  idle  actor  in  Aeschylus,  Chicago 
1905. 

^  Menedem.  bei  Diog.  L.  II  133  u.  Suid. 
8.  MevHirjfiog;  Paus.  II  13,  5.  Vom  Inhalt  der 
Amymone  läßt  sich  aus  Apollod.  bibl.  II  1,  4 
ein  !Begriff  machen;  zehn  litel  gehören  sicher 
za  Satyrspielen:  'AfivfÄcovrj,  Ksoxvcov,  Ktjgvxeg, 
KIqxi},  AvxovQYog,  Aecov,  ßgofnjdevg  jn^g- 
Hmndbneb  dar  Uam.  AltertumBwtBMnBchftft.    VII. 


xasr'fg,  TIocoTtvg,  Ziovqpog  SQOTiETtjg,  ^gu'y^. 

')  Von  erleichternden  Bearbeitungen 
spricht  Quint.  inst.  X  1,  66;  H.  Weil,  Rev. 
des  6i.  gr.  1  (1888)  7  ff.  Zeugnisse  für  sein 
Fortleben  A.  Müller,  Griech.  Bühnenalt. 
325,  3. 

^)  Papyrus  Didot  aus  dem  2.  Jahrh. 
V.  Chr.  (fr.  99  N.«). 

')  R.  Rbitzbnstein  ,  Inedita  poötar.  Gr. 
fragm.,  Rostock  1890;  ders.,  Der  Anfang  des 
Lexikons  vonPhotios,  Leipz.  1907;  E.  Reisch, 
Festschr.  f.  Gomperz  457,  1 ;  oben  A.  1. 

8)  Vgl.  Diog.  III  56;  auch  die  Erfindung 
des  dritten  Schauspielers  wird  ihm  irrtümlich 
zugeschrieben  von  Themist.  or.  26  p.  382  D. 
(das  Zeugnis  wegeraendiert  von  H.  üskneb, 
Rh.  M.  25,  1870,  579  f.).  und  von  einigen  in 
der  Vita.  Sogar  noch  einen  vierten  Schau- 
spieler (.lagaxoQty/fjfia)  führte  er  im  Memnon 
ein  nach  Pollux  IV  110. 

*)  Ein  Prolog  fehlt  in  Suppl.  u.  Pers. ;  mit 
der  Zufügung  desselben  war  Phrynichos  in 
den  Phönissen  vorangegangen.  Auch  ein 
5.  Aufl.  19 


290 


Oriechische  Litteratnrgeschichie.    I.  KUsBische  Periode. 


Sophokles  auch  den  dritten  Schauspieler  an.  Sehr  richtig  antwortete  des- 
halb der  Verteidiger  des  Aischylos  den  Bewunderem  des  Sophokles,  weit 
schwieriger  sei  es  nach  Thespis  und  Phrynichos  die  Tragödie  auf  solche 
Höhe  zu  bringen,  als  sie  nach  Aischylos  zur  Vollendung  des  Sophokles  zu 
erheben.  1)  Auch  auf  die  Erhöhung  des  Glanzes  der  äußeren  Darstellungs- 
mittel  verwandte  er  große  Sorgfalt:  er  heißt  bei  Horaz  a.  p.  278  personae 
pallaeque  repertor  honestae.^)  Endlich  wird  ihm  die  Erfindung  mannigfacher 
Maschinen  und  Dekorationen  beigelegt.  Dabei  war  Aischylos  auch  Chor- 
moistcr  und  ersann  außer  dem  Text  auch  noch  die  Melodien  und  Tänze.') 
An  der  Darstellung  der  Rollen  nahm  er  noch  selbst  als  Schauspieler  teil; 
zu  Genossen  hatte  er  dabei  die  berühmten  Schauspieler  Kleandros  und 
Mynniskos.^) 

164.  Das  am  meisten  hervorstechende  Merkmal  der  äschyleischen 
Poesie,  das  Großartige  und  Titanenhafte,  zeigt  sich  in  den  Gedanken,  dem 
Versbau  und  der  Sprache.  Den  sprachlichen  Ausdruck  zeichnet  Kühnheit 
der  Metaphern,  Pracht  der  Bilder  und  Redefiguren,^)  Großartigkeit  des 
Periodenbaues  aus;  doch  fehlt  auch  nicht  die  Härte  im  Satzgefüge,  der 
Bombast,^)    die  Eintönigkeit    des   Pathos,    der  Hang  zum  Grotesken  und 


Epilog  findet  sich  im  Agamemnon,  der  aber 
keine  weitere  Aufnahme  fand. 

»)  Vita  §  14. 

«)  Vgl.  Vito  13  und  F.  Scholl  vor  F. 
RiTscHLs  Septem  (2.  A.  Leipz.  1875)  p.  29  ff. 
—  über  den  Gebrauch  der  Masken  P.  Gibard, 
De  l'expression  des  masques  dans  les  drames 
d'Eschyle,  Revue  des  etudes  grecques  7 
(1894)  1  ff.  und  8(1895)  88  ff.;  0.  Hense, 
Die  Modificinmg  der  Maske  in  der  griech. 
Tragödie  s.  o.  S.  251,  3. 

>j  J.  A.  Cbameu,  An.  Tar.,  Oxf.  1839-41, 
1  19:  ti  fiFV  <)tf  .T«rra  r/s  Aio^vh^}  ßovkfrai  rot 

ftaia  xai  nF^itdy.rovs  >cai  //;/;|rrtmc,  i^iooioav  tf 
xat  sTQoaxtjyin,  xni  ÖiOTtyia^  xai  xFoavvoox(KiFia 
xai  ßijovTFTa  xai  {hoXoyFia  xai  yFod%'ovg  xai  .tov 
xai  ^voTii^ai:  xai  ßan>ayiöas  xai  .^ooocnjia  xai 
xoOoot'ovi;  xai  rarri  ra  :TOixtXa,  ov(i/taTd  tf 
xai  xalvjiTtmv  xai  xd/^u)fia  xai  rraQd.'itjxv  xai 
doytjnW  xai  r.-roxoiilp'  F.fi  rot  Öfvtfoo)  rar 
ToiTor.  Vitniv.  praef.  1.  VII  11:  namque  pH- 
mum  Agatha rchus  Athenis  Aeschylo  docente 
iragoediae  scenam  fecit  et  de  ea  commen- 
inrium  reliquit.  Dazu  J.  Sommekbkodt,  Scae- 
nica,  Bcrl.  1876.  über  die  l^tthnc  Wilamowitz, 
Henn.  21  (1886)  597  ff.  Den  Gebrauch  des 
Ekkvklemabei  Aischylos  bestreiten  0.  Neckbl, 
Das'^Ekkyklema,  Progr.  Friedland  1889,  P. 
Richter,  Zur  Dramaturgie  des  Asch.  273,  und 
Dr^RPFELD-Rsiscn,  Griech.  Theater  240.  243. 
Die  vielen  Maschinerien  des  uns  vorliegenden 
Prometheus  können  der  Überarbeitung  an- 
gehören (E.  Betiie,  IVoleg.  z.  Gesch.  d.  Thea- 
ters 159  ff.).  Im  Agamemnon  kommt  der 
Titelheld  zu  Wagen  hereingefahren.  Die 
Nachrichten    über    Aisch.'   szenische    Neue- 


nmgen  gehen  auf  Chamaileon  zarQck,  der 
sie  nach  F.  Leos  (Die  griechisch-römische 
Biographie,  Leipzig  1901. 105f .)  und  A.  Köbtm 
Meiimng  (Festschr.  z.  49.  Philol.vere.  1907, 
198  ff.)  durch  (schiefe)  Deutung  von  Eomiker- 
stellen  (s.  z.  B.  Aristophanes  in  Th.  Kocbb 
Com.  att.  fr.  I  588)  ersciilossen  hätte. 

*)  Aus  späterer  Zeit  erwähnt  Ariatoph. 
vesp.  579  den  Oiagros. 

^)  Zu  den  Figuren  gehOrt  auch  die  von 
Aischylos  öfter  als  von  den  anderen  Drama- 
tikern angewandte  Allitteration,  namentlich 
von  Wörtern,   die  mit  den  kräftigen  Laoten 
.T  und  X  anfangen,  worQber  C.  Riedel  in  der 
oben  S.  265,  2  zitierten  Schrift.   Siehe  a.  W. 
:   Küux,   De  vocum  sonorumque  in  stro^cis 
!   Aeschyli   canticis   aequabilitate,   Diss.  Halle 
I    1905.   Darin  zeigt  sich  Aischylos'  Hinneigmig 
I   zu  volkstümlicheren  Formen  aes  dichterisclien 
'■   Ausdrucks,   unter  die  auch  der  bei  ihm  be- 
sonders   häuhge.    von   Sophokles    ganz    ge- 
miedene Refrain  {Eqvftviov)  gehört    Über  die 
I   Metaphern  des  Aisch.  J.  T.  Lees,  Stadiea  in 
I   honour  of  B.  L.  Gildersleeve,  Baltimore  1902, 
i   483  ff.    Besonders  bemerkenswert  sind  auch 
die  prachtvollen,  kahngebildeten,  eine  Ffllle 
von    Anschauung  und  Empfindung  in    sich 
<   zusammenpressenden,  völlig  unQbersetzbaren 
j   Epitheta  composita. 

*^)  Den  Zweck  der  Charakteristik  hat  die 
Überladung,  wenn  Ag.  859  ff.  K.  die  hench- 
lerisch  devote  Klytaimestra  ihre  Scheinfrende 
über  Agnmemnons  Ankunft  in  sechs  anf- 
einnndcrgehäuften  Bildern  ausspricht;  auch 
sonst  wird  überall,  bevor  man  verurteilt,  die 
Absicht  des  Dichters  sorgfältig  zu  prQlen 
sein. 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    b)  Aischylos.    (§  164.)  291 

Wunderbaren.  1)  Lieblingsausdrücke,  wie  oiaxa  vco/ncov,  ov  diyoogoTKog  u.  a. 
kehren  zu  oft  wieder.  Die  Späteren,  die  durch  Sophokles  und  Euripides 
an  einfache  Schönheit  und  ruhiges  Ebenmaß  gewöhnt  waren,  nahmen  an 
dieser  Seite  der  äschyleischen  Dramen  Anstoß;*)  die  mächtige  Inspiration 
des  Dichters,  für  die  in  der  aristotelischen  Poetik  mit  ihrer  einseitig  tech- 
nischen Auffassung  kein  Platz  mehr  war,  erschien  einer  ernüchterten  Gene- 
ration als  Wirkung  tatsächlicher  Trunkenheit. »)  Übrigens  darf  die  über- 
mäßige Gehobenheit  von  Aischylos'  Phantasie  und  Sprache  nicht  allein  als 
Ausdruck  seiner  persönlichen  Stimmung  (juyakofpvia  Schol.  Aesch.  Prom.  179) 
verstanden  werden;  sie  hat  ihren  Grund  auch  in  dem  künstlerisch-bewußten 
Bestreben,  den  Abstand  zwischen  der  Welt  und  den  Charakteren  der  tra- 
gischen Bühne,  dem  ßiog  ^gcDlxog,  und  der  gewöhnlichen  Gegenwart,  den 
Euripides  aufzuheben  sucht,  nach  Möglichkeit  zu  erweitern.*)  Dieser  er- 
habenen Stimmung  entsprachen  die  Rhythmen  des  Aischylos:  zu  gewaltigen 
Perioden  bauen  sich  bei  ihm  die  Verse  auf.*^)  Besonders  liebt  er  in  den 
lyrischen  Partien  die  Trochäen,  die  er  ebenso  wie  die  Jamben  im  Melos 
durch  katalektische  Bildung  ihres  leichten  und  raschen  Charakters  ent- 
kleidet; so  gewinnt  er  ein  Maß,  das  Würde  mit  Lebhaftigkeit  verbindet.^) 
Auch  der  Dialog  ist  streng  gebaut,  so  daß  Verteilung  eines  Verses  unter 
mehrere  Personen  noch  nicht  vorkommt;  ein  Streben  nach  symmetrischer 
Anlage  ist  unverkennbar,  wenn  auch  neuere  Forscher,  wie  F.  Ritschi,'') 
mit  der  gewaltsamen  Herstellung  gleicher  Reden  in  den  Sieben,   über  das 


*)  Das  Wonderbare  txitt  namentlich  auch  j  ')  Ath.  22  a  und  428  c.    Weitere  Stellen 

in  der  phantastischen  Schilderung  von  fernen  |  bei  F.  Scholl  vor  Ritschls  Septem  p.  14  f. 

Ländern   hervor,    was   schon   der   Scholiast  '.  Quelle  ist  Chamaileon.    Die  Anschauung  ist 

tadelt  (zn  Prom.  371  u.  733)  und  die  Komiker  |  in  der  hellenistischen  Zeit  zum  Gemeinplatz 

parodierten.  —  Die  kritischen  Stimmen  des  geworden:  s.  Hör.  ep.  1  19.   Vgl.  6.  Fd^sleb, 

5.  Jahrhnnderts  läßt,  bei  aller  Bewunderung  '  Piaton  und  die  aristotel.  Poetik  172  ff.   Eine 

f&r  Aischylos,  Aristophanes  doch  auch  durch-  i  Kritik  von  Aischylos*  Inspiration  enthält  schon 

klingen  in  jenem  wichtigsten  Zeugnis  ftir  den  i  die  Äußerung  des  Sophokles  (Ath.  22  a):  et 

litterarischen    Geschmack    des    klassischen  xai  rä  öeovxa  Tzotet,  oXk*  ovx  slöok  ys^  die 

Athen,  dem   d^c6v  zwischen  Aischylos  und  i  aber  sicherlich  stark  übertreibt. 

Euripides  ran.  830  ff.    Vgl.  nub.  1370:   eyoy  *)  Ar.  ran.  1014  stellt  die  yn'vaXoi  xal 

yoQ    AioxvXov    vofÄi^ü}    jiQtbrov    h    TiotTjtaig,  I  teroajri^x^^^  ^^  Aischylos  den  degenerierten 

yfSqnw  Jtliwv,  d^vararoy,  aiofiffoxa,  Hotjfiro-  Gestalten  des  Euripides  entgegen. 

3toi6r,    Dazu  Schol.  nub.  1376;  Longin.  bei  ^)    Diese    langen   Verse    und    Perioden 

loh.  Sicel.  VI  225,  9  ff.  Walz;  .t.  vy.  15,  5:  |  treten   freilich  in  der  von  Aristophanes  von 

tparraaüug  InixoXfjiq,  ^gauxiazarmg.     Dio  Chr.  Byzantion  eingeführten  zerkleinernden  Vers- 

52,  4  lobt  an  Aischylos  fieyaXoq^Qoovvtj   xal  i  teilung  {xa>XofieTgla)  der  Handschriften  nicht 

x6  oQX^^^r  ^<  ^^  T^  av^6eg  ifjg  Öiavoiag  xal  ,  unmittelbar  zutage. 

ipgaoefüg  .  .  .  ngenorta  tfj  tgavtpdu}  xal  ToTg  '  *)  Das  Urteil  der  Alten  drückt  Aristoph. 

jtalcudSg  tj^ai  tatv  ^qmwv'  <n?6ev  emßeßovlsv-  |  ran.  1254  aus:  ärdgl  uj)  noXv  jiXFJara  Örj  xal 

ftiror  ovdk  arwfivXov  oifde  TOJtfivov ;  ygl,  J)ionjS,  j  xdXXtOTa    fteXr]    jioujoavxi    rcSr   hi    vvvi.      Die 

HaL  de  imit  11  10  p.  206,  2  ff.  Us.  I  Technik  der  äschyleischen  lamben  behandelt 

')  Das  ürteü  der  Späteren  gibt  wieder  '  Wilamowitz,  Commentariolum  metricumll, 

Qnintü.  X  1,  66:  Äeschylus  sMimis  et  gravis  \  GOttingen  1895,  die  der  Trochäen  ders.,  Äsch.' 

et  grandiioqutis  saepe  usque  ad  Vitium  ^  sed  '  Orestie  II,  Berl.  1896  p.  256  ff. 

rudis    in   pUris^    et    incompositus.    Vita  |  ^)  F.  Ritschl,  Parallelismus  der  sieben 

Aesch.  5:  C^XoT  to  ßagag  jieQiu&hat,  xoXg  ztgo-  ,  Redepaare  in  den  Sieben  gegen  Theben  des 

cdimaig,  iiQxoXw  elvat  xqivcov  xovto   x6  fiegog  Äschylus,  Opusc.  I  300  ff.;   H.  Wbil,    De   la 

fuyaXojiQsxig  re  xal  ffgwixöv,  x6  de  :xavovgyov  ,  composition  symm^trique   du   dialogue   dans 

xoftyfOJiQejidg   xe  xal   yvcoftoXoyixov   dXXöxotm'  les   tragödies   d'Eschyle,   Paris  1860.     Siehe 

tffg  xQayqtdias   ^yovfuvog;   vgl.  M.  Leohner,  o.  S.  278,  2. 
Dearte  Aeschyli  rhetorica,  Progr.  von  Hof  1867. 

19* 


292  Griechische  litteratnrgeschichie.    I.  Klaasisohe  Periode. 

Ziel  geschossen  haben.  —  Die  Gravität  der  Gedanken  wurzelt  bei  Aischylos 
in  seiner  gesamten  sittlich-religiösen  Weltanschauung.  Sein  Glaube  an 
die  unbedingte  Gewalt  der  Götter  und  die  Schwäche  und  Abhängig- 
keit aller  Erdenkinder  hat,  wie  bei  Pindar,  sehr  starke  sittliche  Akzente 
und  neigt  zu  einem  in  Zeus  gipfelnden  Monotheismus.^)  Die  göttliche 
Herrschaft  betätigt  sich  bei  ihm  als  weise  Lenkung,  als  erziehende  Vor* 
sehung  im  Strafen  wie  im  Helfen.  Für  die  Götter-  und  Heroenwelt 
fordert  er,  wiewohl  er  sich  nicht  immer  streng  an  die  überlieferte  Sagen- 
form hält,^)  in  allen  Stücken  Ehrfurcht,  und  Altathen,  in  dessen  Namen 
Aristophanes  in  den  Fröschen  spricht,  hat  gerade  ihn  mit  Recht  im  Gegen- 
satz zu  der  sittlich  indifferenten  Realistik  der  späteren  Poesie  und  ihrer 
Einschränkung  auf  den  Zweck  des  Aufregens  und  Spannens  als  einen  Er^ 
zieher  im  größten  Stil  verehrt,  obwohl  er  nach  dem  Beifall  der  Menge 
nichts  fragte  (Ar.  ran.  807  ff.). 

Die  Überzeugung  von  der  Allmacht  der  Götter  schlägt  aber  bei 
Aischylos  nirgends  in  FataUsmus  um.  Er  liebt  es  nicht,  wie  Sophokles^ 
durch  Ausschaltung  der  Momente  persönlicher  Schuld  die  tragische  Wir- 
kung zu  verstärken.*)  Seine  Götter  lassen  den  Menschen  nicht  schuldig 
werden,  sondern  sie  weisen  ihm,  auch  durch  Leiden,  den  richtigen  Weg^ 
und  wenn  er  ihn  nicht  geht,  so  ist  das  seine  Schuld,  für  die  er  nach 
unverbrüchlichem  Gesetz  büüen  muü.  Seine  TragiWie  ist  im  vollen  Sinn 
Charakter-,  nicht  Schicksalstragödie.  Seinem  ethisch-religiösen  Pragma- 
tismus hat  er  die  Form  der  Trilogic  dienstbar  gemacht,  über  deren  Ge- 
schichte vor  Aischylos  wir  nichts  wissen.  Die  Analogie  des  altdeutschen 
Theaters  macht  es  aber  wahrscheinlich,  daß  auch  das  attische  mit  weit- 
läutigen,  über  mehrere  Stücke  sich  verbreitenden  Darlegungen  einer 
Sagengeschichte  begonnen  habe.  Das  Verdienst  des  Aischylos  besteht 
vielleicht  in  der  höheren  Kunst  der  Konzentration  und  des  dramatischen 
Aufbaus;  übrigens  können  wir  nicht  wissen,  ob  es  ihm  überall  so  herrlich 
wie  in  der  Orestie  gelungen  ist.  Die  jüngeren  Tragiker  fühlten  sich 
durch  das  technisch  schwierigere  Problem  des  .»Einakters*  mehr  an- 
gezogen,^)   wobei    es    freilich    seit   Euripides    nicht   ohne   StoffQberladung 

0  F.  F.  C.  FisciiEK,  De  dco  Acschyleo.  Chor  abgefeiiigt  wird   Ag.  1467  ff.  K.,   und 

Amsterdiim    1892.     Im    ganzen    E.  Rohdk,  wie  andererseits  Klytaimestra  die  Verschul- 

Psyohe  W  227  ff.;  W.  Nestle,  N.  Jalirbb.  f.  düng Agameninons  betont  (Ag.  1369 ff.  1484ff.; 

kl.  Altert.  19  (1907)  225  ff.  305  ff.  Cho.  911).    In  den  Pereern  und  dem  Prome- 

^)  »Sagenkorrektur  im  ethischen  Sinn  wie  theus  ist  Zeus  Rächer  der  vßgi^,  in  den 
bei  Pindar  lindet  sich  bei  Aisehylo«  nicht.  ,  Schutzflehenden  Rettor  der  Bedrängten.  Nicht 
Wo  er  von  der  epischen  Tradition  abweicht,  einmal  die  Sieben  können  als  reine  Schick- 
geschieht es  aus  lokal -attischen  oder  all-  ,  salstragödie  betrachtet  werden,  noch  weniger 
gemein  ilsthetischen  Gründen.  Wie  die  '  die  Orestie.  wie  G.  Finsleb  (Die  Orestie, 
Notiz  Heiodüt.  11  150  zu  verstehen,  ist  nicht  1890)  erwiesen  hat.  —  Das  Hervortreten 
klar,  bemerkenswert  ist.  mit  welcher  Schärfe  altertümlichster  Kulte,  besonders  des  Erd- 
Aiach.  durch  Apollon  Eum.  H80  ff.  einen  Ver-  kults  (.A.  Dietericji,  Archiv  f.  Religionswiss. 
such  ethischer  Kritik  der  Sagenüberlieferung  8,  1905,  1  ff.)  bei  Aischylos  bat  nicht  nur 
(Fesselung  des  Kronos  durch  Zeus)  zurück-  ■■  religiöse,  sondern,  wie  aller  doxatofioi^  auch 
weisen  läik.  ästhetische  Gründe.     Sophokles  ist  in  allen 

')  Man  beachte,  wie  scharf  Klytaimestra  i    diesen  Dingen  o///;o/xojmioc. 

mit  ihrem  bequemen  Appell  an  das  „Schick-  '           "*)  G.  Kaibel  zu  Soph.  El.  (Leipz.  1896) 

srV  (Ag.  1487  ff.  K.  1459  ff. ;  Choüph.  903)  vom  p.  45  A. 


8.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    b)  Aisohylos.    (§  164.)  293 

(Phoinissen)  und  ohne  Notbehelfe  (Prolog  und  Deus  ex  machina  zu  stoff- 
licher Entlastung)  abging. 

Handschriftliche  Überlieferung:  Die  Tragödien  des  Aisch.,  Soph.,  Eur.  wurden  auf 
Lykurgos'  Antrag  (s.  A.  Mülleb,  BOhnenalt.  359  An.  1 ;  0.  Korn,  De  publice  Aesch.  Sopk.  Eur. 
fabulamm  exemplari  Lycurgo  auctore  confccto,  Bonn  1863)  in  einem  Staatsexemplar  auf- 
geschrieben, das  später  nach  Alexandria  gebracht  wurde  (Galen.  T.  XVII  607  E.).  Der  Haupt- 
kodex der  sieben  erhaltenen  Stücke  des  Aisch. ,  den  6.  Burges,  Gebet,  Dindorf  (Phil.  18, 1862, 55  ff.), 
Kirchhoff,  Wecklein  für  den  Archetypus  aller  Codd.  halten,  ist  ein  Mediceus  sive  Laurentianus 
XXXH  9  s.  XI  (von  Aurispa  i.  J.  1423  aus  Griechenland  gebracht  und  von  Cosmo  de'  Medici  der 
Bibliothek  einverleibt),  der  zugleich  den  Sophokles  und  die  Argonautika  des  Apollonios  enthält; 
«in  faksimilierter  Abdruck  dieses  Cod.  von  R.  Mebkel,  Aeschyli  quae  supersunt  in  cod.  Laur. 
yeterrimo,  Oxon.  1871  fol.,  besser  in  Lichtdruck  L'Eschilo  Laurenziano,  Firenze  1896;  die 
zuverlässigste  Vergleichung  mit  Unterscheidung  der  verschiedenen  Hände  von  G.  Vitelu  in 
N.  Weckleins  Ausg.,  Berlin  1885 — 93.  Nur  diese  Handschrift  enthält  unter  den  älteren  die 
*Ixhidig  und  die  Xofjq^oQoi,  die  letzteren  ohne  Anfang.  Von  den  jetzt  fehlenden  Blättern  aus 
Agam.  bietet  die  beste  Abschrift  der  Florent.  XXXI  8  s.  XIV.  Für  die  drei  in  Byzanz  zumeist 
^lesenen  Stücke  Prom.  Fers.  Sept.  müssen  jedenfalls  außer  dem  Laur.  (nach  Sept.  177  K. 
fehlt  in  Laur.  ein  Vers)  Handschriften  der  zweiten  E[lasse  herangezogen  werden.  Über  den  von 
HeimsOth  zuerst  hervorgehobenen  Wert  der  jüngeren  Handschriften  0.  Dahnhabdt,  N.  Jahrbb. 
149  (1894)  433  ff.  Für  den  Text  der  Eum.  erweist  F.  Blass  in  seiner  Ausg.  dieses  Stückes 
(Berl.  1907,  17  ff.)  eine  durch  drei  junge  Codd.  vertretene  von  M  unabhängige  Überlieferung. 

Der  Grundstock  der  Scholien,  der  ebenso  viele  feine  Bemerkungen  über  die  Kunst 
des  Dichters  enthält  als  für  die  Wortkritik  wichtig  ist  (s.  F.  Heim söth.  Die  indirekte  Über- 
lieferung des  äschylischen  Textes,  Bonn  1862),  aber  früh  durch  die  Albernheit  jüngerer  Er- 
klärer zurückgedrängt  wurde  (s.  A.  Römer,  Stud.  zur  handschr.  Überl.  des  Äschylus  und  zu 
den  alten  Erklärem  desselben,  in  Sitz.ber.  d.  bayr.  Ak.  1888  II  231  ff.),  geht  auf  den  Gram- 
matiker Did3rmos  zurück  und  stimmt  vielfach  mit  Glossen  des  Hesychios  überein  (s.  J.  J. 
Fbst,  De  Aesch.  scholiis  Mediceis,  Bonn  1857).  Diese  alten  Scholien  sind  samt  ßiog,  t''To- 
^ö€ti,  Interlinearglossen  und  kritischen  Zeichen  aus  dem  Laur.  am  besten  herausgegeben  von 
G.ViTELLiundN.WBOKLBiN.  Davou  sind  zu  scheiden  jüngere  Scholien  (besonders  ausführlich  zu 
Prom.  Sept.  Fers.)  von  Tzetzes,  Thomas  Magister  und  Triklinios  in  codd.  Paris.  2785.  2787  und 
Leidenses  Is.  Vossii  (s.  C.  M.  Franoken  van  Muiden,  Disputatio  crit.  de  ant.  Aesch.  interpreta- 
tionam  ad  genuinam  lectionem  restituendam  usu  et  auctoritate,  Utrecht  1845),  herausgegeben 
von  W.  DiKDOBF  im  3.  Bd.  der  Oxford  er  Aischylosausgabe  1851;  die  jüngeren  Scholien  zu  den 
Persem  von  0.  Dähkhabdt,  Leipz.  1894  mit  einer  für  die  Abschätzung  der  älteren  und  jüngeren 
Überlieferung  des  Aischylostextes  belangreichen  Einleitung.  D.  führt,  nach  dem  Vorgang 
von  Wecklein  und  Wilamowitz,  die  kürzeren  Scholien  des  Mediceus  mit  den  Scholia  recentiora 
aof  gemeinsame  Quelle  zurück,  während  Heimsöth  glaubte,  die  Mediceerscholicn  seien  aus  den 
recentiora  abgekürzt,  Dindorf  umgekehrt,  die  recentiora  seien  aus  den  mediceischen  erbreitert. 

Ausgaben:  ed  princ.  Aldina  1518,  in  der  Agamemnon  und  Cho^phoren  (am  Anfang  ver- 
stümmelt) noch  nicht  getrennt  sind.  —  Ausgezeichnete  Emendationen  des  stark  korrupten  Textes 
lieferten  A.Tubnebus  (Paris  1552)  und  J.  Auratus  (Prometh.  Paris  1549),  der  letztere  wird  von 
G.Hebmakn,  Ad  Agam.  1396  omnium  qui  Aeschylum  attigerunt  princeps  genannt.  —  Ausgaben 
mit  gelehrtem  Kommentar  von  Th.  Stanley,  London  1663.  64;  ed.  K.  G.  Schütz,  3.  Aufl.,  Halle 
1809 — 1821  in  5  vol.  —  Die  lang  ersehnte  Ausgabe  von  G.  Hermann  wurde  nach  dessen  Tod 
besorgt  von  M.  Haupt,  Lips.  1852„2  vol.  (2.  A.,  Berl.  1859).  —  Neuste  kritische  Gesamtausg. 
von  N.  Wecklbin  und  G.  Vitelli,  Berol.  1885 — 93;  mit  griech.  Kommentar  von  N.  Wecklein  u. 
E.ZoMABiDis,3voll.  Athen  1891— 97.  —  Textausg.  von  A.  Kirchhoff,  Berl.  1880,  mit  den  Varianten 
des  Medio. ;  H.  Weil  bei  Teubner,  1884,  2.  Aufl.  1907;  von  Weil  auch  eine  größere  kritische 
Ausgabe,  Gissae  1858—67, 2  vol.  —  Spezialausgaben :  der  Sieben  von  F.  Ritschl  ed.  IL  Lips.  1875 ; 
des  Prometheus  von  G.  F.  Sohömann,  griech.  u.  deutsch,  Groifsw.  1844;  der  Orestie  von  J.Franz, 
griech.  u.  deutsch,  Leipz.  1846,  von  0.  Mabbach  mit  deutscher  Nachdichtung,  Leipz.  1874, 
von  Th.  Hbysb,  Halle  1884,  von  N.  Wecklein,  Leipz.  1888;  von  Wilamowitz,  Text.  Über- 
setznng.  Erläuterung:  Agam.,  Berl.  1885,  Choöphoren  1896,  Orestie  5.  A.  1906;  des  Agamemnon 
von  R.  Enobb  und  W.  Gilbbbt,  Leipz.  1874,  3.  A.  von  Th.  Plüss,  Leipz.  1895 ;  F.  W.  Schneidewin 
nnd  0.  EEsNSB,  Berl.  1883,  K.  H.  Keck,  griech.  u.  deutsch  mit  Einl.  u.  Komment.,  Leipz.  1863 ;  der 
ChoSphoren  von  F.  Blass,  Halle  1906;  der  Eumeniden  von  0.  Müller  (wichtig  für  Bühnenaltert.), 
Ctott  1833;  vonF. Blass,  Berlin  1907.  —  Schulausgaben  mit  erklärenden  Anmerkungen:  Perser 
von  W.  S.  Tbuffbl,  Leipz.  1866,  4.  A.  von  N.  Wecklein  1901;  Prometheus  von  N.  Wecklein, 
Leipz.  1878;  Sieben  von  dems.,  1903;  Schutzfl.  von  dems.,  Leipz.  1903.  unter  den  frejpden 
Ausgaben  mit  Kommentar  verdient  die  von  F.  A.  Paley,  London,  4.  Aufl.  1879,  Erwähnung. 

Erlänterungsschriften:  Glossarium  von  Cn.  J.  Blomfield  in  dessen  Ausg.  des  Agam., 
•Cambr.  1818,  Lips.  1823;  Lex.  Aeschyleum  comp.  A.  Wellaubb,  2  vol.,  Lips.  1830.  31;  Lex. 


294  Griechische  Litteratorgeschichte.    I.  ElaMiaohe  Periode. 

Aesch.  ed.  W.  Dikdobf,  Lips.  1873.  mit  Supplement  von  L.  Schkidt,  Greiffenbeig  1875.  — 
R.  Westphal.  Prolegomena  zu  Aeschvlus'  Tragödien.  Leipzig  1869,  Über  Metrik  und  Kom- 
position. —  K.  Aknoldt,  Der  Chor  im  Agamemnon  des  Aesch.  szenisch  erläutert,  Halle  1881; 
Chr.  Muff,  Der  Chor  in  den  Sieben  des  Aisch..  Halle  1882.  —  P.  Richtkb,  Zur  Dramaturgie 
des  Aeschylus,  Leipzig  1892  (dazu  die  Besprechung  von  H.  Weil  in  dessen  Etades  aar  le 
dramc  antiquo.  Paris  1H97).  —  G.  Haupt,  Commentationes  archaeologicae  in  Aeschylmn» 
Diss.  phil.  Hai.  13  (1897)  105  ff.  —  Metiische  Analysen  der  lyrischen  Teile  bei  0.  ScbbOdkb» 
Aeschyli  cantica,  Leipz.  1907. 

c)  Sophokles  (406—406).') 

105.  Leben.  Sophokles  muß  in  der  Bühnentechnik  den  Aischylos, 
an  dem  er  sich  ohne  Zweifel  heranbildete,  schon  als  angehender  Dreißiger 
erreicht,  ja  überboten  haben.  Mit  den  Werken  seiner  höchsten  dichte- 
rischen Kiaft  aber  fällt  er  in  ein  anders  geaitetes  Zeitalter,  dem  die  Theo- 
dicee  im  Sinn  des  Aischylos  nicht  mehr  kongenial  war,  und  dieses  Zeit- 
alter wirkt  mächtig  auch  auf  seine  eigene  Weltanschauung.  Seine  Re- 
ligiosität hat  einen  starken  Zusatz  pessimistischer  Resignation.  Aber  seine 
Haltung  ist  gegenüber  der  sophistischen  Aufklärung  noch  immer  positiv, 
und  dem  Venmnftradikalismus,  der  ihm  in  tiefster  Seele  zuwider  war,  hat 
er  nicht  die  geringste  Konzession  gemacht.  Auch  ihm  ist  die  Sagen- 
geschichte noch  das  heilige  und  unantastbare  Gebiet  verehrungswürdiger 
göttlicher  Offenbarungen.  Aber  die  Götter,  die  er  hier  wirksam  findet, 
sind  nicht  milde,  auch  im  Strafen  väterliche  und  verständliche  Lenker  der 
Menschheit,  sondern  sie  sind  die  unnahbaren  Herrscher  der  Welt,  von  un- 
ermeßlicher Macht,  von  unerforschlichem,  unbegreiflichem  Rat;  vor  ihnen 
sinkt  der  Mensch  tief  in  den  Staub.  Das  perikleische  Athen,  soweit  es 
noch  nicht  von  dem  die  Persönlichkeit  zersetzenden  Geist  der  Sophistik 
angegriifen  war,  hat  diese  fester  auf  den  Boden  der  Tatsachen  gestellte 
Auffassung*)  mit  bewunderndem  Verständnis  angenommen  und  dem  Dichter, 
der  an  seinem  Land  mit  ganzer  Seele  hing,  seine  Liebe')  reichlich  ver- 
golten. 

Sophokles  stammte  aus  dem  nahe  bei  Athen  anmutig  gelegenen, 
zur  Phyle  Aigeis  gehörigen  Demos  Kolonos  Hippies.  Sein  Vater  hiefi 
Sophillos  und  hatte  eine  Waifenfabrik  oder  sonst  einen  größeren  in- 
dustriellen Betrieb,  welcher  der  Familie  reiche  Einkünfte  und  dadurch 
eine  angesehene  St<>llung  verscnaifte.^)  Geboren  war  er  nach  der  alten 
Vita  495/4,    nach    der  parischen    Marmorchronik  497/().^)     In  der  Jugend 

*)  Aus  dem  Altertum   ist  uns  erhalten  Wirken,  Frankfurt  1842,  hypothesenreich;  W. 

ein   aus  Anjitaben   des  Aristoxenos,  Satyros,  T)rxi»uBF  im  8.  Hand  seiner  3.  Oxforder  Ausg. 

Istros   zusammengesetzter   lo<i  ox)Joi'<:   fiioc,  1860,  und  Tn.  Bekgk  in  Aosg.  Leipz.  1858. 

mit  ^uidas  und  den  anderweitigen  Zeugnissen  '-)  E.  Kohde,  Psyche  !!•  288  £f. 

zusammengestellt    in    0.  Jahns    Ausg.    der  ')  Vit. Soph.p.  128. 40 W.  Von  den  beiden 

Elektra.   B.  A.  bes.  v.  A.  Michaelis,   Bonn  Fragmenten,  in  denen  man  Sophokles' Heimfti- 

1882.    Einige  sehr  intime  Züge  aus  den  'AVri-  liebe  bezeugt  linden  möchte  (789  u.  848  N.*), 

dijftifa   des  Zeitgenossen   Ion   bat   Athenaios  wird  das  zweite  auch  dem  Aischylos  (317  N.") 

erhalten.   Nach  Suidas  hatte  Pliilochoros  ein  zugeschrieben. 

Werk  in  fünf  Büchern  .tfoi  nhr  l\tff  <ty./Joi'^  ■*)    Der    Vater    war    ftaxaiQOjroto;:    oder 

fivDtoy  geschrieben.  —  Aus  neuerer  Zeit  0.  E.  rh.nov  oder  ya}.xtvg\  bei  Plinius  n.  h.  87,  40 

Lessino,  Leben  des  Sojihoklcs.  Teil  eines  ge-  heißt  Sophokles  principe  loco  genitU9  Atheni», 

planten   grölioren    Werkes    über   Sophokles;  ^)  Die  Vita  geht  wie  Diodor  XIII  108  d»- 

F.  ScHCLTz.   Commentat.  de  vita  Sophoclis.  von   aus.   daß  Soph.  rund   90  Jahre  alt  ge- 

Berl.  188G;  A.  iScHüLL.  Sophokles  Leben  und  worden   sei;   das  Mann.  Par.  ep.  56.  64   gibt 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    c)  Sophokles.    (§  165.) 


295 


erhielt  er  Unterricht  in  der  Gymnastik  und  Musik;  in  beiden  Künsten 
wurde  er  wiederholt  bekränzt  und  erhielt  bei  der  Siegesfeier  der  Schlacht 
von  Salamis  die  ehrenvolle  Aufgabe,  dem  Chor  der  Knaben,  der  tanzend 
und  singend  den  Paian  vortrug,  mit  der  Lyra  voranzuziehen. i)  Die  har- 
monische Vereinigung  körperlicher  und  geistiger  Kräfte  zeigt  sich  auch 
sonst  bei  ihm,  wenn  er  bei  der  Aufführung  seiner  Nausikaa  durch  die 
Grazie  im  Ballspiel  entzückte,*)  und  von  dem  Maler  Polygnotos  als 
Kitharis  spielender  Thamyris  in  der  bunten  Halle  dargestellt  wurde.  Zum 
Lehrer  in  der  Musik  hatte  er  den  von  Aristoxenos  hochgepriesenen 
Lampros;  die  Melodien  zu  den  Chorgesängen  komponierte  er  selbst, 
während  sich  Euripides  dabei  fremder  Beihilfe  bediente.  In  der  Tra- 
gödie, heißt  es  in  der  Lebensbeschreibung,  ging  er  bei  Aischylos  in 
die  Schule,  was  natürlich  nicht  wörtlich  zu  verstehen  ist.  Zum  erstenmal 
siegte  er  im  Jahr  468  mit  dem  Triptolemos.^)  Der  Mythus  von  dem  ein- 
heimischen Heros,  den  die  Demeter  von  ihrem  Heiligtum  in  Eleusis  auf 
schlangenbeflügeltem  Wagen  hatte  ausziehen  lassen,  um  die  Pflege  des 
Ackerbaues  und  die  damit  verbundene  mildere  Gesittung  in  die  Ferne  zu 
tragen,  war  so  glücklich  gewählt  und  so  fesselnd  durchgeführt,  daß  im 
Theater  eine  ungewöhnliche  Aufregung  unter  den  Anhängern  des  alten 
Meisters  Aischylos  und  den  Bewunderem  des  neu  aufgehenden  Sterns 
entstand  und  der  Archen,  der  die  Spiele  leitete,  in  außerordentlicher 
Weise  dem  siegreich  heimkehrenden  Kimon  und  seinen  Mitstrategen  die 
Entscheidung  überließ.  Sie  fiel  gegen  Aischylos  zugunsten  des  Sophokles 
aus,  der  also  schon  im  28.  Lebensjahr  der  Ehre  des  ersten  Preises  teil- 
haftig wurde.*)  In  den  folgenden  zehn  Jahren  beherrschten  die  beiden 
großen  Tragiker  mit  abwechselndem  Erfolg  die  attische  Bühne,  indem 
Aischylos  nicht  verschmähte,  auch  von  dem  jüngeren  Genossen  zu 
lernen,*)  Sophokles  aber  bei  aller  Verehrung  gegen  den  älteren  Dichter 
sich   doch  vor  dessen  Fehlern  hütete,  ß)     Von  einem  Wettstreit  mit  Euri- 


Sun  91  Jahre,  ebenso  Ps.Lucian  macrob.  c.  24 
nach  der  Emendation  von  Schultz.  Vgl.  L. 
Mmndslssohn,  Act.8oc.phil.Lips.2  (1872)  171  f. 
F.  Jaooby,  ApoUod.  Chron.  250— 260  zieht  das 
Gebnrtegahr  496,  weil  es  auf  s3nachroiiisti- 
Bchen Manipulationen  beruhen  kann,  in  Zweifel 
und  stellt  die  fünf  verschiedenen  Ansätze 
des  Gebnrtsjahrs,  die  zwischen  500  und  488 
mch  bewegen,  aus  den  Alten  zusammen. 
Fest  stand  und  steht  nur  das  Todesjahr. 

')  Vita:  //«a  xijv  h  SaXafiivi  vavfiaxtav 
*A^fjvai€ov  Jtegl  jQOJtaiov  ovtmv  (cf.  Timoth. 
Pars.  210)  /nerä  Xvgag  yvfivog  dXtjkifijuh'og  roTg 
jfcucori^ovoi  rcov  ijttvtxicov  i^ijQxtt'.  Freunde 
der  Synchronismen  heben  hervor,  daß  zu- 
gleich Aischylos  bei  Salamis  mitkämpft«, 
Sophokles  den  Siegesreigen  fOhrte,  Euripides 
in  Salamis  das  Licht  der  Welt  erblickte; 
u.  S.  329  f. 

•)  Vita  und  Ath.  20  f. :  xai  t6v  ßdfivQiy 
Maaxwv  avxog  ixiddgtaev,  äxQCog  öe  eotpai- 
Qiaey,  Stt  rr^v  Navaixdav  xa&ijxe. 

»)  Mann.  Par.  ep.  56;  Plut.  Cim.  8.    Auf- 


getreten ist  Soph.  nach  Euseb.  schon  Ol.  77, 
2  =  470.  Daß  es  der  Triptolemos  war,  mit 
dem  Soph.  siegte,  schloß  Lessing  aus  Pliuius 
n.  h.  18,  65:  ante  mortem  eius  (Alexandri) 
annia  fere  CXL  V  Sophocles  poeta  in  fabula 
Triptolemo  frumentum  Italicum  ante  cuncta 
laudavif.   Vgl.  F.  G.  Welckeb,  Gr.  Tr.  1310. 

*)  Plut.  Cim.  8.  Ebenda  und  in  Vit.  Aesch. 
ist  die  falsche  Kombination,  daß  infolge  der 
Niederlage  Aischylos  Athen  verlassen  habe 
und  nach  Sizilien  gegangen  sei;  s.  S.  271. 

*)  Schon  467  siegte  wieder  Aisch.  mit 
den  Sieben,  458  mit  der  Orestie;  beidemal 
macht  Aisch.  vom  dritten  Schauspieler  Ge- 
brauch. 

*)  Von  der  Verehrung  des  Soph.  gegen- 
über dem  älteren  Meister,  den  er,  als  er 
selbst  zum  Hades  hinabkam,  küßte  und 
dmch  Handschlag  begrüßte,  s.  Aristoph.  ran. 
788  ff.  und  1516  ff.  Auf  der  anderen  Seite 
lesen  wir  bei  Ath.  22  a :  fu^H^wv  öe  ejrotei  r«s 
Toay(odtag  Aioxv'^og,  «>!»'  q^rjoi  Xa/iadeojv'  ^o- 
(foxkfjg    yovv   MveiÖtCev   ai'rcp,    ort   el   xal    ra 


296 


QriechiBche  Litteratorgeschichte.    I.  Elassisohe  Periode. 


pides  hören  wir  zum  erstenmal  im  Jahr  438,  wo  Sophokles  den  ersten 
Preis,  Euripides  mit  der  Trilogie,  deren  Nachspiel  Alkestis  uns  erhalten 
ist,  den  zweiten  bekam.  Auch  im  Jahre  431,  als  Euripides  seine  Medeia 
aufführte,  beliauptete  Sophokles  mit  dem  zweiten  Preis  vor  ihm  den  Vor^ 
rang.  Im  übrigen  ließ  er  sich  in  späteren  Jahren  auch  von  dem  jüngeren 
Rivalen  beeinflussen.  Das  zeigt  besonders  der  Dens  ex  machina  im  Phi- 
loktctcs  (aus  dem  Jahr  409)  und  schon  der  Prolog  und  die  ganze  Be- 
handlungsweiso  in  den  Trachinierinnen.  *)  Außerdem  trat  er  auch  mit 
Choirilos,  Aristias,  Euphorien,  Philokles  und  mit  seinem  eigenen  Sohn 
lophon  in  die  Schranken  ;*)  Euphorien,  der  Sohn  des  Aischylos,  gewann 
ihm  im  Jahre  431  den  ei^sten  Preis  ab. 3) 

166.  Daß  er  nach  Aischylos'  Tod  der  Liebling  des  athenischen 
Publikums  wurde,  zeigt  sich  nicht  allein  in  der  Zahl  seiner  Siege,*)  son- 
dern auch  in  den  hervorragenden  St:ellungen  im  öffentlichen  Leben,  zu 
denen  ihn  d«s  Volk  wählte,  obwohl  er  gewiß  weder  hervorragender  Feld- 
herr noch  hervorragender  Finanzmann  war.*)  Im  samischen  Krieg  (441 
bis  439).  nach  der  Aufführung  der  Antigene,  war  er  Mitglied  des  Stra- 
togenkollegiums, ß)  Bei  dieser  Gelegenheit  kam  er  in  Chios  mit  dem 
Tragiker  Ion  zusammen,  der  bei  Athenaios  p.  603 e  die  anmutige  Anek- 
dote erzählt,  wie  der  lebensfrohe  Dichterfeldherr  beim  Wein  einem 
schönen  Knaben  einen  Kuß  abgewinnt  und  dieses  dann  als  dasjenige 
Strategem  erklärt,  auf  das  er  sich  verstehe.  0    Um  diese  Zeit  ist  er  auch 


S^'ofTH  .toifT,  a/./.*  orx  Fititi't^  yr.  Auch  den 
oyxtK  Atn/r/.or  tadelto  er  nach  IMiit.  de  prof. 
virt.  7  p.  79  b. 

*)  Auch  ließ  Sophokles  nach  Euripides' 
Vorgang  im  nipj)onu8  den  Chor  seine  per- 
fiftnliche  Sache  führen;  s.  Pollux  IV  111.  Zu 
beachten  ist  freilich,  daß  der  Deus  ex  machina 
im  riiiloktet  weit  besser,  als  dies  bei  Euri- 
pides der  Fall  zu  sein  ptlej;t,  motiviert  ist, 
und  daß  die  weitgehende  Euripidesnachbil- 
dung  der  Trachi nierinnen  vielleicht  anders 
zu  versftehen  ist. 

'')  Vita  Soph. 

')  Argum.  Eur.  Med. 

*)  Suid.  gibt  24  an,  von  denen  (nach 
CIA  Tl  977  A;  Diod.  XTII  108,4)  is  sUldtischc 
waren. 

^)  Von  den  hochbedeutenden  staatsmänni- 
schen Eigenschaften,  die  E.  Mkvjbii,  Forsch,  z. 
alten  Gesch.  II,  Halle  1«09.  87.  und  A.  Bauku, 
N.Jahrbb.f.kl.Altei-t.9(19U2)  2;U  in  ünn  ent- 
decken, weiß  jedenfalls  die  antike  Üherliefe- 
nmg  gar  nichts.  Dagegen  sagt  Ion,  der  ihn 
im  Kleis  des  Ferikles  kennen  lernte,  er  sei 
in  diesen  J)irigen  <n^  av  t/c  th  nhy  ym^nn7n' 
\Mhjviii'<ny  gewesen  (Ath.  004 d).  In  einem 
Zehnerkollegium  neben  tüchtigen  Fachleuten 
konnte  er  ja  nichts  verderben.  Er  erzählte 
von  sich  die  Außenmg  des  IVrikies  i-nufir 
fny  HF  t'f  f/,  oTtmrtfyFiv  <Vy  ovy.  ym'nraoOai. 
Demnach  fühlte  er  selbst  sich  hier  deplaziert. 
Die   anekdotische  Entaiiung   der  Geschichte 


von  der  samischen  Strategie  zeigt  lastin.  III 
!  ß,  12.  der  meint,  nur  Pcrikles  und  Sophokles 
wären  damals  Feldherren  gewesen.  Plnt 
Pericl.  20  er\i'ähnt  beim  samischen  Krieg  den 
Soph.  nicht. 

®)  Arguni.  Antig.:  qmai  de  rov  SofpoxUa 
i)hu)aOai  Tfls  fv  ^Vtftto  oroarfiytoi  eiföoxtfi^' 
aar  Kl  tr  r/y  ÖtÖaoxtUut  ryg  Avrtyot'ffg^  Vlts 
Soph.:  yni  'AOtjraToi  Ä'  avror  ve  ($&*  codd., 
;  VF  stimmt  zu  der  Elegie  an  Herodot)  ho^v 
•  ovTft  ojnanjyar  FT?.orto  :iq6  röv  IleXtKrorr^- 
oiaxo)}'  FTFotv  C'  (corrige  (y)  ev  np  :tq6s 
\irui(fr^  no/Jiiro.  Suidas  u.  Mekiaoosx  vsuq 
2!(Uiiv)v  nTonrrfytjon^  h'nvfmxrjae  JTQog  JSb^ro- 
y/.rji'  itiv  rnnyixuv  oA.  .TfV  (,Tir'  coni.  Bemhardy). 
Wahrscheinlich  war  Sophokles  im  Jahr  440 
Stratege,  wurde  aber  die  Antigone  nicht  un- 
mittelbar zuvor  441,  sondern  442  anfgefOhtt; 
so  auch  WiL  AHO  WITZ.  Aristot.  und  Athen  11 
I  208.  Vgl.  noch  Strab.  p.  638;  Plutl.I.;  lustin. 
1.  1.  Dtis  Verzeichnis  sämtlicher  zehn  Stra- 
togen aus  /Vndrotions  Atthis  in  Schol.Aristid. 
111  p.  4x.j  D.  mit  Ergänzung  von  Wilamowitx, 
De  Rhe.si  scholiis,  Greifsw.  1877. 

^)  ^Veiter  ausgeschmückt  ist  der  Vorfall 
von  Cicero  de  off.  I  144:  bene  Pericies,  cum 
habeni  voUeijam  In  praetura  Sophoelem  poe^ 
tarn  llque  de  commnni  officio  convenisnent  et 
,  cai^ii  forniosus  puer  praeteriret  ducisaetque 
Sophocles  „0  puerum  pulchrum,  PericU^',  ^/ü 
enim  prnetomnf  Sophocle,  decet  non  solum 
tnanus,  sed  etiam  oiUilo8  abstinentes  haber^. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    c)  Sophokles.    (§§  166—167.)  297 

zu  Herodotos  in  nähere  Beziehung  getreten;  nach  Plutarch.  an  seni  3  hat 
«r  55  Jahre  alt  eine  Elegie  an  Herodotos  gerichtet,  deren  Anfang  lautete: 
<ß&i]v  'HgodÖTCp  revSsv  Zocpoytlfjg  hicov  cöv  nevr'  im  nevxrjxovra.^)  Außer 
dem  Strategenamt  im  samischen  Krieg  bekleidete  er  in  der  wichtigen  Zeit 
der  Neuordnung  der  Steuerbezirke  Ol.  84,  2  =  443/2  die  Würde  eines 
Hellenotamias  oder  Schatzmeisters  der  Bundeskasse. ^)  Eine  zweite  Strategie 
des  Dichters  erwähnt  Plutarch.  Nie.  15,  wobei  er,  von  Nikias  aufgefordert 
als  ältester  seine  Meinung  zuerst  zu  sagen,  in  liebenswürdiger  Bescheiden- 
heit erwiderte:  iyio  nakaioxaxdg  elfu,  ob  dk  ngeoßvraxog,^)  Im  hohen  Alter 
wurde  er  nochmals  in  die  Politik  hineingezogen,  indem  er,  wenn  anders  die 
Nachricht  bei  Aristoteles  rhet.  1419a  26  auf  den  Tragiker  bezogen  werden 
darf,^)  im  Jahr  411  in  das  oligarchische  Kollegium  der  zehn  Probulen  ge- 
wählt wurde.  Deshalb  nach  dem  Sturz  der  Oligarchen  vor  Gericht  gestellt 
und  der  Mitschuld  der  Einsetzung  des  Rats  der  Vierhundert  beschuldigt, 
verteidigt  er  sich  nach  Aristoteles  mit  der  Verlegenheitsausrede,  daß  er 
keine  bessere  Wahl  gehabt  habe. 

167.  In  besonders  vertrauten  Beziehungen  steht  er  zu  Heilgöttem 
und  -heroen,  in  deren  Kult  vielleicht  schon  damals^)  das  sittliche  Element 
stärker  betont  war.  Als  Priester  des  Heilheros  Amynos,^)  der  vor  Askle- 
pios  am  Westabhang  der  athenischen  Burg  eine  Kapelle  hatte,  nahm  er 
durch  Gründung  eines  Altars  für  Asklepios  im  Amynosbezirk  den  neuen 
Gott,  den  Telemachos  von  Acharnai  420  zuerst  nach  Athen  gebracht  hatte, 
auf.  Dafür  erhielt  er  selbst  nach  seinem  Tod  mit  den  beiden  Heildämonen 
zusammen  als  fJQoyg  Ae^icav  heroische  Verehrung.'')  Von  einem  Paian  des 
Sophokles  auf  Asklepios  sind  im  Asklepieion  am  Südabhang  der  Burg  in- 
schriftliche Reste  gefunden  worden.®)    Auch  dem  Herakles  jui^vimjg  scheint 


*)  l^dxtg  hnaszei  ergänzt  geschickt,  aber  1  (s.  o.  S.  245,  2)  53  f. 

unsicher  Th.  Gompbbz.  M61.  WeU  145.    Vgl.  '  «)  Bezeugt  durch  CIA  I  237  p.  120. 

H.  ZuRBOBG,  Herrn.  10(1875)206  ff.,  J.Classbn  j  ')  Aristoph.  pac.  697  wirft  dem  alternden 

inVerh.  d.  Kieler  Philol.vers.  1869, 114  ff.  Von  ;  Sophokles  Gewinnsucht  vor,  wozu  Schol.  ver- 

dem  Stadium,  das  Sophokles  dem  Herodot  zu-  i  mutungsweise  bemerkt :  Xsyezai  de  ön  ex  zf^g 

wandte,  zeugt  die  Anlehnung  von  Oed.  Col.  |  aigatriytag  ifjg  iv  ^dfw}  riQyvolaaxo. 
837 — 41  an  Herod.  II  35,  von  Electr.  417  bis  *)  Bestritten  wird   dieses  von  W.  Din- 


423  an  Herod.  I  108.  Oed.  R.  267  f.  kann 
ebensogut  dem  Herod.  V  59  nachgeschrieben 
sein  als  umgekehrt.  Verzeichnis  der  Anklänge 


DORF,  Vit.  Soph.  p.  XX  sq.  Gegen  die  Herr- 
schaft der  großen  Menge  spricht  sich  unser 
Dichter  aus  OC.  1534. 


H.  STiiN,Einl.  zu  Herod.  I«,Berl.  1901p.  XXVI  *)  J.  Bernays,  Theophrastos  Sehr,  über 

A.2.  Bezüglich  des  auffälligeren  Anklaugs  der  i  Frömmigk.,  Berl.  1866,68;  die  Inschrift  auf 

unechten  Stelle  Ant.  905 — 12  an  Herodot  lll  1 19  ,  dem  Mosaikfußboden  des  Äskulaptempels  von 

weist R.P18OHBL,  Herm.28  (1893)  465  ff.  nach,  '  Lambaesis  CIL  VIII  2584. 

daß  bierin  Herodot  und  nach  ihm  Sophokles  ^)  So  korrigiert  A.  Köbte,   Ath.  Mitteil, 

einer  alten  in  Iran  und  Indien  verbreiteten  An-  I  21  (1896)  311  ff.;  Gott.  Gel.  Anz.  1903,  843 

sieht  von  dem  Vorzug  des  Bruders  vor  Gatten  !  nach  den  Inschriftenfunden  den  überlieferten 

und  Sohn  gefolgt  ist.  Siehea.  S.Reiter,  Ztschr.  f.  Namen  14  Awro?  der  Vita  (A.  Meineke14x;«o»'o^). 

«Btr.Gynm.49(1898)962ff.;W.ScHMiD,Philol.  |  ^)  A.  Körte  a.a.O.  309  ff.;  Etym.  magn. 

62  (1903)  25  ff.    Die  Entlehnung  aus  Herodot  256.  9;  Philostr.  iuu.  im.  13;  0.  Jahn  zur  Vita 

bestreitet  J.  Möllbb,  Ehrengabe  der  Latina,  1  Z.  88.  —  Über  die  Form  der  Aufnahme  des 

Halle  1906,  88.  Weitere  Ähnlichkeiten  findet  '  Amynos  {^h'ia)  s.  Fr.  Deneken,  De  theoxeniis, 

man  zwischen  den  Stellen  El.  62  ff.  u.  Herod.  ;  Beri.  1881,  33  ff. 

IV  95;  El.  421  ff.  u.  H.  I  108;  OR.  981  f.  u.  !  '»)  St.  Kumanudis,  'A^valov  5  (1876)  340 

H.VI  107;  Soph.  fr.  432  N.«  u.  H.  IV  64.  Ahn-  i  und  F.  Böcheler,  Rh.  Mus.  32  (1877)318;  G. 

lichkeiten   des   sprachlichen  Ausdrucks   be-  Eaibel  34  (1879)  207. 

merkt    H.  Wittbkind,    Sermo     Sophocleus  | 


298 


Qriechisohe  Litteratorgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


er  eine  Kapelle  gestiftet  zu  haben,  ^  und  von  einem  privaten  Musenverein 
tx  T(7jv  nFTraidev/iifycoy,  dem  er  vorstand,  berichtet  Istros  in  der  Vita*)  — 
lauter  Beweise  von  innerlichem  Interesse  an  Religion  und  Kultus.') 

Im  Privatleben  muß  Sophokles  ein  Charakter  von  seltener  Harmonie 
und  Liebenswürdigkeit  gewesen  sein,*)  fröhlich  mit  den  Fröhlichen  und 
harmlos  wie  ein  Kind.  So  gab  er  sich  auch  mit  der  lebhaften  Sinnlich- 
keit des  Künstlers  den  Freuden  der  Liebe  hin  in  den  damals  üblichen 
Formen,  auch  der  Knabenliebe, ^)  einer  Frucht  des  dorischen  Gymnasiums 
und  Kriegslebens.  Verheiratet  war  er  mit  Nikostrate;  Sprosse  dieser  Ehe 
war  lophon,  der,  wie  sein  Vater,  die  Laufbahn  eines  tragischen  Dichters 
einschlug.  Die  Erzählung  von  der  Liebe  des  greisen  Dichters  zu  der 
Sikyonierin  Theoris  und  ihrem  Kind  Ariston  verdient  keinen  Glauben.^ 
Enkel  des  Dichters  war  Sophokles  d.  J.,  der  nach  dem  Tod  des  Großvaters 
401  den  Oidipus  auf  Kolonos  zur  Aufführung  brachte. "')  Der  Liebling  des 
Dichters  soll  sein  Enkel  von  Ariston,  Sophokles,  gewesen  sein,  während 
sich  sein  Sohn  lophon  schlecht  mit  ihm  vertrug.  Anlaß  zu  Mißhelligkeiten 
scheinen  Geldangelegenheiten  gegeben  zu  haben.*)  Nach  einer  vielfach 
bezeugten  Überlieferung  klagte  lophon  seinen  greisen  Vater  bei  den  (Je- 
schlechtsverwandten   (rfwiTooei;)    wegen    Geisteszerrüttung    {jTaQaroiag)   an, 


')  Cic.  de  div.  1,  54:  Sophocles,  cum  ex 
aede  Uerculh  patera  aurea  gravis  snrrepta 
esnetj  in  soninitt  vidit  ipsum  deutn  dicentetu 
qui  id  fecisset,  quod  aemel  ille  iterumque 
neglexit.  uhi  idem  saepius,  aacendit  in  Ario- 
pagum,  dettdit  rem.  Ariopagifae  comprehendi 
iuhent  eiim,  qui  a  Sophocle  erat  nominatus; 
is  qttaestione  adhihita  confessus  est  jmteram- 
que  rtfttulity  quo  facto  fanum  illud  Jndicis 
Herculis  nowinatum  est.  Die  Viüi  fügt  hinzu, 
daß  Soj>h.  für  die  Anzeige  eine  l^rilmie  von 
einem  Talent  erhalkm  habe.  (-.  WATZiNciER. 
Atli.  Mitteil.  29  (1904)  241  ff.  deutet  die  Er- 
zfthlung  auf  Erneuerung  eines  alten  Herakle«- 
kults  am  Akropolisabhang. 

-)  H.  Sauppe,  De  collegio  artific.  scaen. 
Att.,  Jnd.  Oütt.  1870.  p.  4  f.:  U.  Köhler,  Kh. 
Mus.  89  (1.S84)  29r,. 

^)  Oft  betonen  die  Sdiolien  seine  Frömmig- 
keit und  .seine  Unfähigkeit  zum  ßkantfiiunr, 
z.  B.  E1.H31. 

**)  nvijtt  nntfiidth}';  n(uj  oTrro  xai  rV^/Os 
Ion  bei  Ath.  003 e;  aucli  T*hrj'nich.  com.  fr. 
31  K.  nennt  ihn  ^f^iö::,  vielleicht  mit  An- 
spielung auf  den  Beinamen  Dexion;  tvxolo^ 
fth'  rvt}(uy,  n-xfthh:  <Yf:yt7  nennt  ihn  Ar.  ran. 
82.  Auch  in  .<*einen  Versen  fanden  die  Alten 
seit  Aristoph.  fr.  581  K.  besondere  Sttliigkoit. 
Dio  ChrvH.  or.  .V2. 17;  J.  A.  Cramkk,  An.  Par. 
1  10;  Siiidas:  Schol.  zu  Soph.  Ai.  1190.  Oed. 
Col.  17:  Anth.  Tal.  VII  22  u.  8<).  Ath.  20e: 
;to('»c  Tio  yjuJtc  '/F'/FVilnitai  Ttjv  onmv  i)r  xai 
ooytjoTiy.tjv  {^FtSi^aytih'Oy  yni  intvoiy.t)i\     Vita: 

xal  .Tnoc  nmirrmr  firror  aTFoyFoOat. 

^)  Bei  Ath.  C03e  hei fit^  Sophokles  ffdo- 


ftFioat,  wie  Euripides  qdoyvrtfi.    AnBer  dem 
schönen  Knaben  von  Chios^  von  dem  nns  Ion 

;  bei  Ath.  603  e  erzfthlt.  nennt  Ath.  592  b  noch 
einen  Knaben  Smikrines.  Eine  gewiaae 
Schwäche  des  jugendlichen  Sophokles  in 
erotischen  Dingen  ist  wohl  Plat  reip.  1 829  b 

,  angedeutet,  für  den  alten  Dichter  aber  mit 
majestätischem  Nachdruck  zurückgewieseiL 
Suid.  s.  2o7  nxki}^. 

^)  TIermesianax  bei  Ath.  598  c.  F.  G. 
Welckkk.  (iriech.  Trag.  1 304  sacht  geistreich 
den  Ursfirimg  der  Legende  in  dem  mißverstan- 

!  denen  Halbvers  7//^  yag  ?}  ikemQtg.  Snidas  er- 
wähnt noch  als  weitere  Kinder  des  Sophokles 
den  Leosthenes.  Stephanos,  Menekleides.  Von 
Ath.  502  winl  nach  der  trüben  Qndle  des 
Anekdotenschreibers  Ilegesandros  noch  eine 
zweite   <.ieliebte   des  Dichters  genannt,  die 

,  Hetäre  Archippe,  die  er  zur  Erbin  eingesetzt 
habe.  A.  »Souöll.  Leben  d.  Soph.  365  ff.  ver- 
wirft alles  die.ses  als  Mißverständnis»   ent* 

I  standen  aus  den  b(>sen  Nachreden  der  Ko- 
miker, indem  er  sich  auf  die  Darstellung  des 
Piaton  1. 1.  (Ainmianus  Marceil.  XXV  42)  be- 
nift.  wo  Sophokles  sich  riihnit,  im  Alter  den 

.  bösen  Tyrannen  der  Liebesloidenschaft  los- 
geworden zu  sein. 

^)  Arg.  OC.  Es  gab  einen  Sophokles  des 
Ariston  \  Vita  57)  und  einen  des  lophon,  wor- 
über die  Inschrift  CIA  II  672,  37.  Siehe  A. 
Wilhelm.  T'rkunden  177,  1. 

®)  Nach  Ar.  pac.  696  wäre  der  alternde 
Sophokles  allzu  haushälterisch  geworden. 
Apologeti.sche  Versuche  bei  F.  G.  Welckxb, 
( {riech.  Trag.  1  26^  und  Tir.  Bebok,  Vit  Soph. 
XVlIl. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    c)  Sophokles.    (§  167.) 


299 


worauf  dieser,  zum  Beweis  für  seine  Geisteskraft,  das  herrliche  Preislied  auf 
Attika  im  Oidipus  Kol.  vortrug  und  damit  die  Richter  zu  solchem  Enthu- 
siasmus fortriß,  daß  sie  mit  Entrüstung  die  Klage  des  Sohnes  abwiesen.^) 
Die  Geschichte  in  dieser  ausgeschmückten  Form  stammt  aus  irgend  einer 
Komödie,  die  den  Handel  des  lophon  auf  die  Bühne  gebracht  hatte.  2) 
Sophokles  hat  seinen  Rivalen  Euripides  überlebt  und  ihm  neidlos  eine 
Totenfeier  beim  Proagon  der  Dionysien  im  Frühjahr  406  veranstaltet,  in- 
dem er,  selbst  in  schwarzem  Gewand,  den  Chor  ohne  Kränze  hereinführte.  8) 
Bald  darauf  ist  auch  er  als  hochbetagter  Greis  von  91  Jahren  unter  dem 
Archen  Kallias,  im  Herbste  406  gestorben.*)  Sein  Tod  war  ruhig  und 
sanft.  Spatere  dichteten,  er  sei  beim  Verschlucken  einer  unreifen  Trauben- 
beere von  einem  Geschenk  des  Schauspielers  Kallippides  erstickt.*)  An 
den  Lenäen  des  folgenden  Jahres  (405)  beklagten  die  beiden  großen 
Komödiendichter  Aristophanes  in  den  Fröschen  und  Phrynichos  in  den 
Musen  den  Hingang  der  zwei  Meister  des  tragischen  Kothurns.  Phrynichos 
widmet  ihm  den  warmempfundenen  Nachruf  (fr.  31  K.): 

/üidxag  üocpoxXhjg,  Sg  7zoli/v  xQ^vov  ßiovg 

äjii^avev,  evdaifxcov  ävrjg  xai  de^iog, 

TioXXdg  noirioag  xal  xakäg  rgaycodiag' 

xal(bg  6'  ireievTfjo'  ovdev  tmo/neivag  xaxöv. 
Das  Grabdenkmal  in  seinem  Heimatort  an  der  Straße  nach  Dekeleia  war 
mit  einer  Sirene,    dem   Symbol   des  Todes,   geziert.®)     Wie   einem   Heros 
wurden  ihm  dort  alljährlich  nach  einem  Volksbeschluß  Opfer  dargebrachte) 


')  Satyros  in  Vita  13;  Cic.  de  sen.  22; 
Plut.  an  sen.  3  p.  785a;  Apul.  apol.  37;  Ps.- 
Lncian  macrob.  24.  Die  Behandlung  des  Falls 
Tor  dem  Phratorenkonseil  hat  ihre  Analogie 
im  altrOmischen  Branch  (Leges  XII  tab.  V  7 

L23  Bbuns«;  Varro  r.  r.  I  2,  8)  und  wird 
itorisch  sein,  wenn  auch  über  die  in  ver- 
schiedenen Versionen  überlieferten  Einzel- 
heiien  Zweifel  möglich  sind.  —  Auch  Aristot. 
rhet.  1416  a  15  weiß  von  einem  Prozeß  des 
achtzigjfthrigen  Sophokles,  bei  dem  der  Dichter 
sein  Zittern  mit  seinem  hohen  Alter  ent- 
schuldigte. Auffällig  ist,  daß  Aristophanes 
in  den  FrOschen  V.  73  nichts  von  einem  Streit 
des  lophon  mit  seinem  Vater  weiß,  sondern 
nur  abwarten  will,  ob  der  Sohn  auch  nun, 
wo  er  nicht  mehr  des  Vaters  Beihilfe  habe, 
etwas  zu  leisten  imstande  sei. 

*)  Vita  13:  xai  Jiore  h  dgaftari  elarjyayev 
*Ioq>wvja,  Vermutet  wird  Aristophanes,  der 
eine  Komödie  dga/iaia  schrieb,  oder  Leukon, 
Ton  dem  ein  Stück  ^^gdreoeg  betitelt  war. 

»)  Vita  Eur.  p.  135,  42  W.:  Xeyovot  ök 
xcu  2o<poxXia  axovoavxa  Sri  helevxriaev,  avxov 
fuv  IfiaxUp  <pai^  JtgoeJii^eTv,  rov  6e  ^ogov  xai 
tovs  v^oxQixäs  doretpaveoTOvg  eloayayetv  ev 
t<p  jrQodyayri. 

*)  Marm.  Par.  ep.  64  äQxovxog  \4dtjytjai 
KaXXiov,  ebenso  Diodor  XIII  103, 4.  Die  Zeit- 
angabe der  Vita  sregl  xovg  Xöag  ist  weder  mit 
der  Erzählung  von  der  Traube  noch  mit  der 


Aufführung  von  Aristophanes'  Fröschen  an 
Lenäen  (Jan./Febr.)  vereinbar,  außer  man 
denkt  an  die  ländlichen  Dionysien,  die  aller- 
dings einmal  zur  Zeit  des  Demosthenes  (or. 
18,  160  und  262)  in  KoUytos  zur  Zeit  der 
Weinlese  gefeiert  wurden.  Tod  durch  eine 
Traubenbeere  wurde  auch  dem  Anakreon  zu- 
geschrieben, Plin.  n.  h.  VII  44.  Siehe  a.  F. 
Jacoby,  Apollod.  Chron.  254,  10. 

»)  Vit.  Soph.;  Anth  Pal.  VII  20;  Sotades 
bei  Stob.flor.  98.  9;  Ps.Lucian  macr.  24.  Die 
Angabe  des  Satyros  in  der  Vita,  daß  er  beim 
Vorlesen  der  Antigene  erstickt  sei,  war  viel- 
leicht ursprünglich  ein  Spott  auf  die  lange, 
pausenlose  Monodie  der  Antigene  in  Ocd. 
Col.  243 — 53.  Von  diesen  Todesursachen 
weiß  Phrynichos  1.  I.  nichts.  Eine  ähnliche 
Fabel  vom  Tod  des  Anakreon  berichtet 
Plinius  n.  h.  VII  44.  Das  Todesjahr  und  die 
Fabeln  über  den  Tod  des  Dichters  sind  be- 
sprochen von  L.  Mendelssohn,  Acta  soc.  phil. 
Lips.  2  (1872)  161  ff. 

«)  Die  Grabschrift  soll  nach  dem  wenig 
zuverlässigen  Lobon  (anders  bei  Val.  Max.  8, 7 
ext.  12)  gelautet  haben: 
xgvjrriü  Twde  rd<po}  ^oqoxXij  TiQCOtela  Xaßm'ta 

rfl  rgaytxfj  xs/vf}  ox^jf^a  x6  asfivoxaxor. 
Andere  sicher  fingierte  Grabepigramme  Anth. 
Pal.  VII  20  21.  22.  36.  37. 

^)  Vita  und  Et.  magn.  256,  6. 


300 


Qrieohische  Litteraturgesohiehte.    I.  ElasBiBchtt  Periode. 


Die  Sage,  daß  der  spartanische  Feldherr  LysaDdros  erst  nachdem  er  ge- 
hört, daü  Sophokles  gestorben  sei,  den  Trauerzug  aus  der  Stadt  heraus- 
gelassen habe,  ^)  läßt  sich  mit  der  Geschichte  nicht  vereinigen,  da  die  Ein- 
schlieiäung  Athens  erst  im  folgenden  Jahr  begann.  Das  Bild  von  der 
Gestalt  und  dem  Gesichtsausdinick  des  großen  Dichters  können  wir  uns 
noch  durch  die  Marmorstatue  des  lateranischen  Museums  vergegenwärtigen,') 
vermutlich  eine  Kopie  des  Standbildes,  das  ihm  auf  Antrag  des  Redners 
Lykurgos  im  Theater  errichtet  wurde:  eine  hohe,  gesunde  Gestalt  von 
kräftigen  Formen  mit  vollem  Bart-  und  Haarwuchs,  den  Kopf  nur  wenig 
nach  oben  gerichtet,  voll  Klarheit  und  milden  Ernstes. 

liiH.  Dichtungen  des  Sophokles.  Sophokles  hat  nach  der  Angabe 
des  Grammatikers  Aristoplianes  außer  Elegien  und  Paianen  123  Dramen 
gedichtet.*)  Demnach  ist  er  der  fruchtbarste  unter  den  drei  großen  Tra- 
gikern. Erfolge  wurden  ihm  im  dramatischen  VVettkampf  mehr  zuteil  ab 
dem  Aischylos  und  Euripides,  indem  er  vierundzwanzig  Siege  errang,*)  mehr- 
mals den  zweiten  Preis  davontrug,  niemals  auf  die  dritte  Stelle  herabgesetzt 
wurde.  Erhalten  haben  sich  von  ihm  nur  sieben  Tragödien  in  folgender 
Ordnung:  Aiag,  'HkexiQa,  Oidi:iov<;  ivQavvog,  \4rny6rf],  Tga^iviai,  ^iXoxrfjrriit 
(Mhovs  t^'i  Kohnviü.'^)  Wahrscheinlich  waren  diese  die  besten  Stücke  nach 
dem  Urteil  des  Grammatikei-s,  der  gegen  Ende  des  Altertums  die  Auswahl 
traf.*^)     Der  Ordnung  lag  vielleicht,   wie  F.  W.  Schneidewin   vermutete,^ 


>)  Vita;  Plinius  n.  h.  VU  109;  Piius.  l 
21,  1.  Th.  Bergk  deutet  die  Überliefening 
auf  das  0])fer.  das  die  Angeliöngcn  im 
nächsten  Jahr  am  Ster)>etag  dem  Toten  dar- 
brachten. 

'')  über  die  Statue  F.  G.  VVklckkk,  xMte 
Denkm.  I  4o7  ff.  Weiteres  zur  Ikonographie 
des  Soph.  J.  J.  Beunoulli,  Jahrb.  des  arcli. 
Inst.  11  (1N%)  170  ff. 

^\  Diese  Zahl  gibt  Suidas  an,  und  damit 
stimmt  auch  die  Zahl  der  echten  Stücke  der 
Vita,  wenn  wir  mit  Bergk  lesen:  yyji  t^f 
doduura,  u>,"  t/ tjotr  Woioroffiiytj^  o/.',  tovrotv 
dt  rfvdOFVTut  ^  (/^'  codd.).  Die  Zahl  ist  nicht 
restlos  in  Tetralogien  zerlegbar.  Siehe  o. 
S.  2:>7, 1. 

**)  20  Siege  gab  Antigonos  Karystios 
nach  der  Vita  an,  24  Suidas.  18  Siege  au 
den  großen  Dionysien  geben  Diod.  XIII  103,4 
und  die  didaskalische  Urkunde  CIA  11  977  A; 
er  hat  also  sechsmal  an  den  Lenäen  gesiegt. 
Die  Zahl  20  wird  abgenmdet  sein. 

^)  Es  sind  also  ebenso  viele  Stücke 
von  Sojjhokles  wie  von  Aischylos  eihalten: 
ebenso  wurden  von  Sophokles  in  der  byzan- 
tinischen Zeit,  wie  mar.  aus  den  Scholien 
sieht,  nur  drei  Stücke  (Aias.  El.,  Oed.  K.) 
häutiger  gelesen;  vgl.  S.  274. 

®)  Von  Antigene  und  Elektra  heiht  es 
bei  Dioskorides  Anth.  Pal. VII  87  nu*f  diFoni  yno 
nx(un\  von  Oed.  R.  in  der  2.  Hypothesis  y^t.y/i 
nantic  rij^  2inrf  oy/.niv^  .lonjOFo)^  und  ähnlich 
bei  Ps.Longin  83.  o  u.  Statilius  Anth.  Pal.  IX  98 ; 


von  Oed.  Col.  (HyiK)th.  I)  ro  Afmua  t&v  Öot»- 
ftaon7)r;  Philoktetcs  erhielt  den  erstoD  Preis 
und  wird  von  Dio  Chr^'S.  or.  52  bewundert 
Nur  von  den  Trachinierinnen  fehlt  ein  ana- 
drücklichcs  anerkennendes  Zeagnis. 

^)  F.  \V.  ScHNEiDKwiir.  Abhdl.d.  Gött.G«e. 
G  (18o3— r.5)  264.  Vgl.  das  Referat  von  N. 
Wecklein.  Jahresber.  d.  Alt  46  (1885)  1,242  f. 
Einwendungen  erhebt  Th.  Bergk,  Vit.  SodL 
]).  XL  hauptsächlich  deshalb,  weil  in  der 
Ordnung  der  StUcke  der  übrigen  Tragiker 
auf  die  Chronologie  keine  Racksicht  genom- 
men sei.  Aber  da&  es  eine  Ordnung  nach 
der  Zeit  gab,  macht  die  Angabe  der  aristo- 
phanischen Hypothesis  der  Antigone,  daß 
diese  an  82.  Stelle  stand,  wahrscheinlich.  (Ähn- 
liche Angaben  finden  sich  in  Argum.  Eur.  Ale. 
und  Aristoph.  aves  und  in  1.  Bekker  an.  gr. 
430.  U\  zu  Aristoph.  njoac;  s.  A.  Böckh  Ausg. 
der  Antig.,  Berlin  1843  S.  120  A.)  Der  An- 
nahme einer  chronologischen  Ordnung  Algt 
sich  gut  die  zweite  Reihe  Ant.,  Trach.,  Phil., 
Oed.  Col. :  mit  dieser  steht  außer  chrono- 
logischem Zusammenhang  die  erste  Reihe  Ai., 
EI..  Oed.  K.,  die  aus  den  in  Byzanz  am 
meisten  gelesenen  Stücken  gebildet  ist.  Ob 
innerhalb  dieser  ersten  Reihe  das  Alphabet 
oder  die  Zeit  maßgebend  war,  ist  UDgewÜj, 
doch  ist  das  erstere  wahrscheinlicher.  Für 
die  Erkenntnis  der  chronologischen  Folge  er- 
gibt der  Versbau  nicht«  Sicheres.  Auflösungen 
im  Trimeter  hat  El.  3.  16,  Ant  4.  05,  Oed. 
Col.  5.06,  Trach.  5,9,  Oed.  R.  5,98,  Ai.6,89, 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    c)  Sophokles.    (§§  168—169.)  301 

ein  chronologisches  Prinzip  zugrunde,  das  nur  ein  wenig  durch  die  Vor- 
anstellung der  dr^i  im  Mittelalter  am  meisten  gelesenen  Stücke  (Aias, 
Elektra,  Oed.  R.)i)  gestört  wurde. 

169.  Neuerungen  in  der  dramatischen  Kunst.  Unter  den 
Neuerungen,  die  Sophokles  in  der  äußeren  Gestalt  des  dramatischen  Bühnen- 
spiels vornahm,  war  die  augenfälligste  die  Vermehrung  der  Schauspieler 
von  zwei  auf  drei.*)  Sie  muß  von  ihm  gleich  bei  seinem  ersten  Auftreten 
(468)  oder  doch  bald  nachher  durchgesetzt  worden  sein,  da  alle  seine  erhal- 
tenen Tragödien  mindestens  drei  Schaupieler  zur  Aufführung  erfordern  und 
auch  Aischylos  schon  in  der  Orestie  (458),  aber  noch  nicht  in  den  anderen 
erhaltenen  Stücken,  von  drei  Schauspielern  Gebrauch  machte.  Denn  es  ist 
selbstverständlich,  daß  die  Gewährung  von  drei  Schauspielern  zu  gleicher 
Zeit  allen  Dichtern  zustatten  kam.  Übrigens  scheint  von  der  nun  vor- 
handenen Möglichkeit,  eine  Unterhaltung  wirklich  zwischen  drei  Personen 
zu  führen,  den  erhaltenen  Stücken  nach  zunächst  recht  wenig  Gebrauch 
gemacht  worden  zu  sein,^)  vielleicht  mit  künstlerischem  Bewußtsein,  um 
die  strenge  Linienführung,  welche  die  oejuvoTTjg  forderte,  nicht  zu  ver- 
kräuseln. Wegen  seiner  schwachen  Stimme  gab  es  Sophokles  auf,  selbst 
als  Schauspieler  in  seinen  Dramen  aufzutreten,*)  was  vorher  allgemein  bei 
den  Dichtem  üblich  gewesen  war,  vermutlich  in  der  Art,  daß  der  Dichter 
vom  Staat  nur  insofern,  als  er  zugleich  Schauspieler  war,  bezahlt  wurde. 
Wirkung  dieses  Auseinanderfallens  von  Dichter  und  Schauspieler  werden  die 
Einführung  des  besonderen  Schauspieleragons  seit  449^)  und  des  Dichter- 
soldes sein.  Das  Einstudieren  der  Aufführung  (diddoxeiv)  verblieb  natürlich 
dem  Dichter.  An  die  Einführung  des  dritten  Schauspielers  wird  mit  Recht 
bei  Diogenes  Laertios  (III  56)  die  Vollendung  der  griechischen  Tragödie 
geknüpft;  denn  über  sie  gingen  die  Alten  nicht  hinaus,^)  und  sie  erst  hat 
dem  Dichter  die  kunstvolle  Durchführung  einer  verschlungenen  Handlung 
und  den  Schauspielern  eine  gründlichere  Vertiefung  in  ihre  nunmehr  innerhalb 
eines  Stückes  weniger  oft  wechselnden  Rollen   möglich  gemacht.  —  Auch 


FhU.  11,  00  auf  100  Verse,  Versteilung  durch  "  ror  de  xqixov  ZocpoxXrjg,  xai  ovvejzXrjocooe  rtjv 
Personenwechsel  Ant  0,  AI.  4,  Trach.  4,  Oed.  I  xQay(i)öiav.  Vgl.  Dikaiarchos  in  Vit.  Aesch.  13, 
B.  12,  El.  27,  Phil.  32,  Oed.  C.  48,  mehr  als      Suidas  und  Vita  Soph.    Siehe  o.  S.  258,  7. 


einmaligen  Personenwechsel  in  einem  Vers 
El.  1,  Oed.  C.  1,  Oed.  R.  2,  Phil.  4  (so  nach 
Notizen  von  W.  Christs  Schüler  Probst).  Über 
Eigentümlichkeiten  der  lyrischen  Versmaße 
8.  unten  bei  den  einzelnen  Stücken. 

*)  Drei  Stücke  von  Sophokles  wie  drei 
von  Aischylos  analysiert  um  500  Eugenios 
(b.  §  628  der  4.  Aufl.).  Triklinios  gegen  Ende 
des  Mittelalters  erweiterte  den  Kreis  auf  vier, 
indem  er  zu  den  drei  ersten  Stücken  auch 
noch  die  Antigene  kommentierte.  Etwas  Ähn- 
liches findet  sich  bei  Aristophaucä. 

«)  Arist  poöt  1449a  17 ;  Diog.  Laert.  III 56 : 
WOJUQ  x6  sioXaiov  ev  rfj  xQay<pöiq.  :to6x€qov 
fiiy  fiopog  6  x^^  öisÖQa/ndxiCeVf  voxeqov  ök 
Siojiig   iva  vnoxQixriv   i^svgev  vjikg  xou  dva- 


jtaveadai   xov  x^Q^>   ^"*    öevxeQov   AtaxvAog,   ,    (1097.  1253.  1542). 


^)  WiLAMowiTZ,  Griech.  Tragödien  übers. 
Vm  (Eur.  Kyklop)  Berl.  1906,  19  ff. 

*)  Vita:  xal  JtokXd  exatvovQyrjaev  iv  xoTg 
dycbai,  JiQCJXov  juev  xaxcdvoag  xi}v  vJtoxQiaiy 
xov  jioiTjxov  Öid  xi}v  iöiav  fnixQoq?coviav'  :iaXai 
ycLQ  xai  6  jroitjxtjg  vjzexgtrexo  avx(>g. 

»)  Siehe  o.  S.  260.  Nach  dem  oben  Ge- 
sagten müßten  die  beiden  Stücke,  in  denen 
Soph.  noch  selbst  auftrat,  Nausikaa  und  Tha- 
myris,  vor  449  gesetzt  werden ;  bei  der  Nau- 
sikaa können  dafür  auch  szenische  Gründe 
sprechen  (K.  Robert,  Gott.  Gel.  Anz.  1897, 29) ; 
übrigens  steht  auch  aus  anderen  Gründen 
fest,  daß  sie  Jugendstücke  sind. 

*)  Im  Oed.  Col.  kommt  zu  den  drei  Schau- 
spielern   noch    ein   Statist   für   die   Ismene 


302  Qriechische  Litteratorgeschiehte.    I.  Elaasisohe  Periode. 

die  Zahl  der  Choreuten  vermehrte  Sophokles  von  zwölf  auf  f&nfzehn.^)  Diese 
Neuerung  ist  im  Agamemnon  dos  Aischylos  schon  angenommen  (1298  ff.  K). 
Wiewohl  von  minder  hoher  Bedeutung,  hat  sie  doch  eine  ebenmäßigere 
Aufstellung  des  Chors  (6  ^-  6  nebst  je  einem  Halbchorführer,  dazu  der  Kory- 
phaios  des  Gesamtchors)  möglich  gemacht  und  außerdem  dem  Koryphaios 
eine  selbständigere  Stelle  verschafft,  zumal  wenn  der  Chor  in  zwei  gegen- 
überstehende Reihen  (arn.Tooao>.Toi)  auseinandertrat.  Darin  beruht  auch 
der  Zusammenhang  der  beiden  Neuerungen,  indem  nunmehr  der  ChorfQhrer 
in  den  Wechselgesprächen  gleichsam  als  vierter  Schauspieler  den  drei 
Schauspielern  der  Bühne  gegenübertrat.*)  —  Sophokles'  wichtigste  Neuerung 
aber  bestand  in  der  Loslösung  der  einzelnen  Dramen  vom  tetralogischen 
oder  trilogischen  Zusammenhang,  was  Suidas  mit  den  unklaren  Worten 
ausdrückt:  fjQ^e  tov  doujiia  7io6(;  doäfxa  dyomCeodai,  cdXä  /ni]  TergaioyeTadtu 
(v.  1.  TfToaXoyiav).  Die  Erklärung  der  Worte  geben  die  Tragödien  des 
Sophokles  selbst  an  die  Hand,  wenn  es  auch  bedauerlich  ist,  dafi  uns 
gerade  für  ihn  keine  einzige  vollständige  Didaskalie  und  keine  An- 
gabe über  die  mit  den  einzelnen  sieben  Tragödien  zugleich  gegebenen 
Stücke  vorliegt.  Vor  wie  nach  aber  traten  die  Tragiker  an  den  großen 
Dionysien  mit  vier  Dramen,  nicht  etwa  mit  einem  in  den  Wettkampf;  vor 
wie  nach  auch  erhielten  die  einzelnen  Choregen  und  Dichter  nur  einen 
Preis  auf  Grund  ihrer  Gesamtleistung  in  den  vier  Stücken.')  Ob  seit 
Sophokles'  Neuerung  die  drei  Stücke  einer  Trilogie  auf  drei  Tage  verteilt 
und  das  Gesamturteil  aus  dem  Urteil  über  die  einzelnen  Stücke  gewisser^ 
maläen  zusammengerechnet  wurde,  darüber  lassen  sieh  nur  Vermutungen 
aufstellen.^)  Aber  was  wir  aus  den  erhaltenen  Tragödien  sehen,  ist,  dafi 
Sophokles  jede   einzelne  Tragödie   in   sich  abrundete,   so  daß  sie  auch  an 

^)  Vitii:    Tovs    bt-   /oofi.'T«>-  :iou)na<:  uvri  tov  /*//  Aodiia  .  .    dem  Artikel  0gvvtxoi   Hl- 

iß'  if,  ebenso  Suidas.     A.  Müller,  Biihnen-  weisen.     A.  Scholl,   Gründlicher   Unterricht 

altert.  202  f.  über  die  Tetralogie  des  alten  Theaters,  Leizp. 

^)  0.  Uense.   Der  Chor  des  So))hokle8,  1851K   polemisiert  ohne  Glftck  gegen  die  im 

Berl.  1877;    vgl.   auch  W.  Chuist.  Metrik*,  j  Text  gegebene,  wesentlich  anfWelcker  zmflck- 

670.   Beachtenswert  ist  auch,  daß  gegenüber  gehende  Deutung  und  erklftrt  S.  37  den  Sati 

den  vielen  nach  dem  Chor  benannten  Stücken  ;   des  Suidas   für  eine  falsche  Vorstellung  der 

des  Aischylos  fast  alle  Stücke  des  Sophokles  Späteren.   Schölls  Anschauung  von  einem  in- 

nach  der  Hauptperson  den  Namen  haben.  Seine  neren  Zusammenhang  derOidipusstOcke  suchte 

Neuerung    rechtfei tigte   Sophokles    in    einer  |   geistreich,  aber  ohne  Erfolg  F.  Th.  Vibchbb, 

Prosaschrift  .-jt^ol   ror  /onor   gegen  Tliespis  AUg.  Ztg.  Heil.lJ^Öl  Nr.  186 — 9  zu  verteidigen. 

und  Choirilos  (Suid.  s.  2o</ .).  Die  Sache  ist  endgültig  zum  Austrag  gebriicht 

')  Die  zahlreichen  Belege  für  die  beiden  von  L.  Schmidt,  Bilden  die  drei  thebanischen 

Sätze  sind  zusammengestellt  von  Th.  Bekuk,  Tragödien  eine  Trilogie?  in  Symb.  phil.Bonn. 

Gr.  Litt.  III  231.     Über  eine  Tetralogie  des  j  in  honorem  Ritschelii  I  (1864)  219—259.    Die 

Sophokles,  bestehend  aus  AiyFv;:  (?)  Y/dmnFvi;  \   Annahme  einer  Veiieilung  der  drei  StQcke 

^Ißfjoe^    Tt}/.et/(K,    die   nach   dem   4.  Jahrh.  auf  drei  Tage  begünstigt  allerdings  der  Wort- 

V.  Chr.   in  Rhodos  aufgefühi-t   wurde,   s.  G.  .   laut  der  Suidasstelle  und  verteidigt  H.  Fbb- 

Kaibel,  Herm.23(18J^s)  273.  Es  ist  aber  ganz  I   ricks.    Eine   Neuerung    des   Sophokles,    in 

zweifelhaft,   ob   die   nur   in   einer  Kopie  des  .    Comm.   Ribbeck ianae  1888   S.  205 — 15.     N. 

Buonaroti     erhaltene    Inschrift    den    großen  VVkcklein,  über  eine  Trilogie  des  Aeschylos 

Tragiker  Sophokles  meint.  Siehe  A.  Wilhelm,  |   und  über  die  Trilogie  überhaupt,  Sitz.ber.  d. 

Urkunden  205  ff.  bayr.  Ak.  1891    S.  3ß8  flF.   verlangt,   daß   die 

*)  Cber  diese  Vennutungen  s.  Tii.Berok,  |   Worte   des   Suidas  dahin  gedeutet  worden, 

Vita  Sojih.  p.  XXIX.   W.  Dixjjorf,  Vita  Soph.  daß  Sophokles  die  Zulassung  auch  eines  ein- 

p.  XXXV   bezweifelt  die  Echtheit  der  Über-  i   zelnen  Stückes  statt  einer  Tnlogie  zum  Agon 

lieferung  und  will  den  Absatz  in  der  Fassung  .   durchgesetzt  habe. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    c)  Sophokles.    (§  170.)  303 

und  für  sich  verstanden  und  gewürdigt  werden  konnte.  Damit  geht  Hand 
in  Hand  eine  Erhöhung  der  Straffheit  im  dramatischen  Aufbau,  eine  Aus- 
merzung des  epischen  und  Ijrrischen  Überschusses,  eine  stärkere  Betonung 
des  Persönlichen,  des  Charakters  gegenüber  dem  Sachvorgang  (s.  o.  S.  292). 
Die  drei  Tragödien  Oidipus  Tyrannos,  Oidipus  Koloneios,  Antigene,  die  dem 
Inhalt  nach  zur  trilogischen  Zusammenfassung  wie  geschaffen  scheinen  und 
früher  z.  B.  von  A.  Scholl  noch  gewaltsam  in  einen  solchen  Zusanmienhang 
gepreßt  wurden,  sind  jede  für  sich  gedichtet  und  jede  zu  einer  andern  Zeit 
aufgeführt  worden.  Leider  wissen  wir  nichts  darüber,  wie  sich  die  atheni- 
schen Preisrichter  in  der  Einzelbeurteilung  und  der  Zuerkennung  des  Ge- 
samtspreises mit  diesen  Neuerungen  abgefunden  haben.  Daß  ein  so  ge- 
waltiges, schon  im  Altertum  (S.  300,  6)  hochbewundertes  Stück  wie  der 
Oidipus  Tyrannos  unterliegen  konnte,  möchte  man  sich  aus  seiner  Zusammen- 
koppelung mit  zwei  anderen,  vielleicht  minder  bedeutenden  Tragödien  er- 
klären; es  kann  aber  auch  sein,  daß  das  Stück  den  Preisrichtern  doch  zu 
fatalistisch  war,  da  sie  ohne  Zweifel  nicht  bloß  nach  ästhetischen  Gesichts- 
punkten geurteilt  haben.  —  Bezüglich  anderer  unbedeutender  und  be- 
strittener Neuerungen  des  Sophokles  hören  wir,  daß  er  den  Krummstab 
der  Greise  und  die  weißen  Schuhe  der  Schauspieler  und  Choreuten  „  er- 
funden*,i)  den  Schauspielern*)  ihre  Rollen  auf  den  Leib  zugeschnitten,  die 
Szenenmalerei  vervollkommnet,^)  die  phrygische  Tonart  und  dithyrambische 
Weise  in  die  Theatermusik^)  eingeführt  habe. 

170.  Kunstcharakter.*)  Sophokles  hat,  auf  dem  Weg  des  Aischylos 
weiterschreitend,  die  Charaktertragödie  zur  Vollendung  gebracht,  d.  h.  sie 
auf  eine  flöhe  geführt,  über  die  sie  in  der  Weltlitteratur  vor  Shakespeare 
nicht  hinausgekommen  ist.  Wenn  bei  Aischylos  meist  noch  die  Sagen- 
historie oder  das  sittlich-religiöse  Problem  an  sich  im  Vordergrund  des 
Interesses  steht  und  die  Personen,  so  geschlossen  und  lebensvoll  sie  sich 
darstellen,  für  die  Handlung  doch  nur  die  notwendigen  Stützpunkte  ab- 
geben, so  leitet  Sophokles  möglichst  alles  Geschehen  aus  der  Eigenart  der 
Personen  ab.  Der  Gang  der  Handlung  im  großen  ist  zwar  natürlich  auch 
ihm  durch  den  Mythus  unverrückbar  vorgezeichnet;  aber  er  bemüht  sich 
nun  doch  viel  mehr  als  Aischylos,  den  Einzelverlauf  aus  den  Charakteren 
der  handelnden  Personen  hervorgehen  zu  lassen.  Wie  sich  ein  bestimmt 
geformter  Charakter  in  einer  gegebenen  Situation  betätigt,  das  vor  Augen 
zu  stellen,  reizt  diesen  Tragiker  am  meisten.  Nicht  die  göttliche  Vor- 
sehung wie  Aischylos,  sondern  die  Handlungsweise  der  Heroen  will  er 
verständlich  machen   und  rechtfertigen.     Aus  dem  ins  Schrankenlose  aus- 

*)  Vita:  ZdivQog  de  (prjaiv  ou  xai  xtjv  1  oxevaaev.  Aber  schon  für  Aischylos  hat 
X€t/i3tvlrfv  ßaxjtiQlav  avxog  ijin'orjoev '  q)fjoi  de  j  Agatharchos  nach  Vitruv.  VII  praef.  1 1  De- 
xa« "loTQog  xag  Xevxag  xorjmdag   avxov  i^ev-  j   korationen  gemalt. 

Qffieivaif  &s  vnodovvxai  ot  xe  vjioxgixai  xai  ol  *)YitSL:(ftjoide*Aoiox6^e^'ogü>gjtQ<bxogxo)v 

XOQevToU,    xai  jtgog    xäg  (pvoeig  avxibv  yodxpat  \   ^A&rjyrj&ev  :ioir]xd)v  xrjv  ^Qvyiav  fielojtoitav  eig 

tä  dgäfiaxa.  xä  lÖia  (fOfiaxa  ,iaoFkaße  xai  xov  Si&VQafißtxov 

*)  Genannt  werden  Tlepolemos  und  Klei-  xqojtov  (tw  —  xQo.tq)  Westermann)  xaxefiigev, 

demides  Scbol.  Ar.  nah.  1266,  ran.  791;  Vit.  ^)  0.  Ribbeck,  Sophokles  und  seine  Tra- 

Soph.  p.  128,  32  W.  I   gödion,  in  Sammlung  gemeinverst.  wiss.  Vor- 

»)  Arist  poöt.  1449  a  17:    xgeTg  de  v.io-  \   träge,   4.  Serie  Berl.  1869,   83.  Heft,  383  ff. 

KQixas    xcd    oxtjvoYQaqpiav    ZoqpoxXrjg     siaoe-  I    E.  RoHDE,  Psyche  II' 233  ff. 


304  Oriechische  Litteratnrgeschichte.    I,  Elassisclie  Periode. 

gedehnten  Begriff  göttlicher  Allmacht  aber  schaltet  er  alle  menseUichnsitt- 
lichcn  Faktoren  aus  —  es  fällt  ihm  nicht  ein  nachzurechnen,  wie  sich  die 
Götter  hätten  verhalten  sollen,  oder  mit  menschlichem  Raisonnement  Gründe 
und  Zwecke  ihrer  Fügungen  begreiflich  machen  zu  wollen.  Dergleichen  wftre 
ihm  unfromm  erschienen.  Mit  tiefster  Ergebung,  ohne  irgendwelche  Illusion^ 
aber  auch  mit  männlicher  Fassung  schaut  er  in  die  dunkelsten  Tiefen  dea 
Menschenwesens  und  betrachtet  andachtsvoll  das  schauerlich-schöne  Schau- 
spiel des  Waltens  der  xoehjovF^.  Wenn  nun  unter  solchem  ungeheuren  Sturm 
göttlicher  Schickung  edelste  Kräfte  schuldlos*)  im  Bemühen,  sich  ihre  Selb- 
ständigkeit zu  bewahren,  physisch  niedergemäht  werden  und  doch  sittlich 
triumphieren,  so  liegt  die  Versuchung  nahe,  Götterpersonen,  die  so  schalten,. 
das  sittliche  Recht  zur  Weltregierung  zu  bestreiten.  Ihr  ist  Euripides,  nicht 
aber  Sophokles  verfallen.  Sophokles  zeigt  hier  nicht  Mangel  an  Einsicht 
oder  Hartherzigkeit,  sondern  eine  fast  übermenschliche  Kraft  der  Beschei- 
dung, eine  Freiheit  von  vorlauter  Nervosität,  für  die  wir  kaum  mehr  Ver- 
stündnis  haben,  die  aber  Friedrich  Hölderlin  gefühlt  hat,  wenn  er  über  die 
sophokleischen  Tragödien  schrieb: 

Viele  versuchten  umsonst  das  Freudigste  freudig  zu  sagen. 
Hier  spricht  endlich  es  mir,  hier  in  der  Trauer  sich  aus. 
In  der  Charakteristik  seiner  Helden  steigt  Sophokles  nicht  zur  Gewöhn- 
lichkeit des  Alltags  herab,  wie  der  Verist  Euripides,*)  sondern  schafft  mit 
genialer  Natürlichkeit  aus  dem  romantischen  Geist  der  Heldensage  heraus 
jene  über  die  ^Virkliclikeit  emporragenden  und  doch*  in  sich  ewig  wahren  und 
echten  Gestalten,  die  würdig  erscheinen,  den  Kampf  gegen  das  Schicksal  zu 
kämpfen,  ja  in  ihm  moralisch  Sieger  zu  bleiben:  so  ergreifend  ist  der  Adel 
und  die  Keinheit  ihrer  Seelen.  Bezeichnend  für  ihn  ist,  daß  er  die  Schranken 
zwischen  männlicher  und  weiblicher  Tugend,  die  dem  Griechen  sonst 
meistens  als  selbstverständlich  gelten,  aufhebt^)  und  als  erster  auch  der 
weiblichen  Natur  Leistungen  von  heldenhafter  Größe  im  guten  Sinn  über- 
trägt: er  ist  aus  Überzeugung  der  Schöpfer  des  Typus  der  Heldenjungfran 
geworden,  den  sich  dann  Euripides  zu  theatralischen  Effekten  angeeignet 
hat.  Gern  stellt  er,  wie  um  den  Maßstab  zu  geben,  einer  solchen  die 
Grenzen  der  Regel  überschreitenden  Jungfrau  einen  Typus  gewöhnlicher 
Durchschnittsweiblichkeit  zur  Seite,  ohne  doch  diese  in  ihrer  Anmut  irgend- 
wie tendenziös  zu  beeinträchtigen:  so  neben  Antigene  und  Elektra  Ismene 
und  (Jhrysotliemis.  Auch  sonst  benützt  er  die  Differenzierung  der  Charaktere 
zu  schönen  Kontrastwirkungen,  wie  im  Aias  neben  dem  trotzigen  Titel- 
helden der  sanftere,  doch  noch  immer  temperamentvolle  Teukros  und  die 
weiblich  hingebende  Tekniessa,  und  diesen  markigen,  innerlichen  (Je- 
stalton  gegenüber  die  beiden  Atriden  mit  ihrer  hohlen  Amtsauktorität  und 
der  schlaue  Odysseus  gestellt  sind;  am  ergreifendsten  ist  die  Gegensatz- 
wirkung im  Philoktetes:   dem  wunden  Heidon,   dem  doch  seine  Krankheit 

')   Völlig   verfolilt    sind   die   iiiimer   er-  Fimr.     Wie  Sopli.   einen   veristischon  Schul* 

neuten  (zuletzt  P.Knoke.  Begriff  der  Tragödie  meister    ad    absurdum   führte,    berichtet  in 

nach  Aristüt,  Berl.  19U^),  74 tf.)  Versuche,  dem  einer  hübschen  Erzählung  Ion  bei  Ath.  604ab. 

.Soph.  „Schuld  und  Sühne*  zu  oktroyieren.  ^)  Auch  in  dieser  Weitung  des  Weibes. 

'^)  Arist.  poet.  14Güb  35:  Ini/ox/Sf^  npj  ist  Sophokles  dem  Herodot  verwandt 

arros  /«»'  oi'ov^  dsl  hoifTv,    Evot.it6t}v   öt  oioi  ; 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    c)  Sophokles.    (§  170.)  305 

nichts  von  seiner  Seelengröße  geraubt  hat,  steht  das  edle  Blut  des  Achilleus- 
sohnes  zur  Seite  gegen  den  geriebenen  Fuchs  Odysseus,  dem  der  Zweck 
die  Mittel  heiligt.  Zur  Gegensatzwirkung  gehört  auch,  daß  der  Dichter 
in  Nebenfiguren  wie  djdtn  Wächter  in  der  Antigene,  dem  Boten  im  König 
Oidipus  mit  glücklichem  Humor  dem  Realismus  sich  nähert,  worin  ihm 
Aischylos  vorangegangen  war.  Ein  weiterer  Schritt  zum  Realismus  ist  es, 
wenn  er  als  erster  in  seiner  Phaidra  das  nach  ihm  bis  auf  den  heutigen 
Tag  zu  Tod  gehetzte  erotische  Motiv  auf  die  Bühne  brachte,  i)  Dem  Stil- 
gefühl der  älteren  Poesie  widerstrebte  es,  Heroen  in  so  gemein  mensch- 
liche Schwächezustände  {jid^rj)  versetzt  vorzuführen.  —  Auf  den  Aufbau 
des  Dramas  verwendet  Sophokles  weit  mehr  bewußte  Kunst  als  Aischylos: 
wenn  dieser  einen  geradlinigen  Verlauf  liebt,  so  führt  Sophokles  Spannungen, 
Irrungen,  Verwicklungen  ein,  die  seinem  Publikum  die  bekannten  Stoffe 
fast  wie  neue  erscheinen  lassen  mochten;  dabei  hält  er  immer  den  Blick 
fest  auf  die  eine  Handlung  und  die  in  ihr  verkörperte  Idee  gerichtet;  alles 
Beiwerk,  das  die  struktive  Einheit  der  Stücke  stören  könnte,  wird  sorgsam 
vermieden.  Mit  bewußter  Geistesklarheit,  nicht  nach  den  Eingebungen 
eines  dunklen  Gefühles  hat  er  den  Plan  seiner  Stücke  bis  ins  einzelne 
entworfen  und  ihn  in  strenger  Gesetzmäßigkeit  so  durchgeführt,  daß  kein 
Glied  aus  der  Reihe  fallt.  Insbesondere  zeigt  sich  das  in  den  Chorgesängen, 
die  stets  bei  der  Sache  bleiben  und  den  Gefühlen,  welche  die  Handlung 
auf  der  Bühne  in  jeder  fühlenden  Brust  erregen  mußte,  entsprechenden 
Ausdruck  leihen.*)  Nur  selten,  wie  im  ersten  Stasimon  der  Antigene,  macht 
er  den  Chor  in  vernehmlicher  Weise  zum  Dolmetscher  seiner  persönlichen 
Stimmung.  Der  mythischen  Überlieferung  gegenüber  ist  er  ein  treuer 
Interpret,  der  keine  dem  ganzen  Sinn  der  Sage  fremden  Lichter  aufsetzt, 
wie  er  denn  in  allem  Wesentlichen  tatsächlich  auf  dem  Boden  der  home- 
rischen Religion  steht. 3)  Wo  er  den  Mythus  modifiziert,*)  geschieht  es 
aus  künsÜerischen,  nicht  aus  sittlichen  Rücksichten,  namentlich  im  Inter- 
esse der  Spannung,  die  er  durch  Hemmungen  und  Zwischenfalle  bei  aller 
Prägnanz  der  Darstellung  meisterhaft  anzulegen  weiß.  Einfache  Hand- 
lungen (äTtXai  TQaycpdiai),  wie  sie  Aischylos  liebte,  paßten  ihm  nicht;  selbst 
im  Aias  und  Oidipus  Kol.  wußte  er  die  gegebene  geradlinige  Entwicklung 
zu  unterbrechen  und  zu  beleben.  Verwickelte  Mythen  {nenXeyfxhai  xga- 
yq>diai)  mit  großartiger  Peripetie  suchte  er  aus  oder  bereitete  sie  sich  zu 
durch  zweckvolle  Zudichtungen;  so  ist  in  der  Antigene  eine  meisterhafte 
Erweiterung  der  Sage  die  Einfügung  des  Haimon,  durch  den  auch  Kreon 
mit  in  den  Untergang  der  Heldin  gerissen  wird;  in  der  Elektra  bewirkt 
die  breite  Erzählung  von  dem  Mißgeschick  des  Orestes  bei  den  pythischen 
Spielen  eine  ungeheure  Spannung.  Und  doch  verläßt  Sophokles  nie  so 
ganz,  wie  Euripides,  die  Überlieferung  oder  verliert  sich  ins  Romanhafte. 

*)  E.  RoHDE.  Griech.  Rom.'  32.    In  der  |  EvQUTtdfj  dW  ojojieg  Zofpoxkst. 

Antigone  ist  die  erotische  Verwicklung  ledig-  ')  E.  Rohde,  Psyche  II*  233  ff. 

lieh  strnktives  Nebenmotiv  und  im  Sinn  der  *)  Jon.  Klein.  Die  Mythopöie  des  Soph. 

Heldin  ohne  jede  Bedeutung.  in    seinen    thebanischen    Tragödien,    Progr. 

«)  Aristot.po6t  1456  a  26:  xai  xov  xooov  Eberswalde  I   1890;    II  1893.    Zur   Drama- 

di  Sya  öeT  vnokaßetv  xCäv  vjioxgirioy  xai  fiogtov  ,   turgie  des  Soph.  Th.  Plüss,  Jahrbb.  f.  Philol. 

elyat  Tov  Skov  xai  ovvaywvi^eaihu,  fii)  a>o:ieo  ,    155  (1897)  721  ff. 

Huidlnieli  der  Uftss.  Altertnmswissenflchaft    YII.  5.  Aufl.                                                 20 


306  Griechische  LitteraturgoBchichte.    L  Elassisohe  Periode. 

Auch  kleinere  Hilfsmittel  der  Spannung  und  Gemütserregung  wendet  er 
mit  vollendeter  Kunst  an.  Die  Wiedererkennungsszene  in  der  Elektra 
steht  an  ergreifender  Wirkung  keiner  euripideischen  nach.  Besonders  liebt 
er  die  tragische  Ironie  in  einzelnen  Ausdrücken  wie  in  ganzen  Szenen.  ^ 
Der  Zuschauer,  der  schon  den  Verlauf  und  Ausgang  der  Verwicklung  voraus 
wußte,  ist  gewiß  tief  erschüttert  worden,  wenn  er  den  Oidipus  die  Worte 
sprechen  hörte  äU.'  oJl^tiot  elßu  Toig  qvTEvoaalv  y  6^ov  (V.  1007),  während 
dieser  tatsächlich  schon  längst  in  unseliger  Nähe  mit  seiner  eigenen  Mutter 
zusammenlebte,  oder  wenn  er  den  Jubelgesang  des  ahnungslosen  Chors  vor 
der  Katastrophe  in  demselben  Stück  (1088  flf.)  oder  im  Aias  (693  flf.)  ver- 
nahm. Überall  gibt  er  die  Lösungen  der  dramatischen  Probleme  in  orga- 
nischer Weise  aus  Situationen  und  Charakteren  heraus.  Nur  einmal,  im 
Philoktetes,  bringt  er  den  euripideischen  Dens  ex  machina  auf  die  Bühne. 
Aber  auch  dies  nicht  etwa  in  der  rohen  Weise  wie  Euripides,  sei  es  ans 
künstlerischer  Verlegenheit  oder  zur  stofflichen  Entlastung  des  eigentlichen 
Dramas,  sondern  weil  er  den  Charakter  des  Philoktetes  so  stark  und  kon- 
sequent herausgearbeitet  hat,  daß  diesen  zu  der  mit  Bücksicht  auf  den 
Mythus  nötigen  Nachgiebigkeit  nur  mehr  eine  übermenschliche  Gewalt 
bewegen  kann,  und  eben  der  Träger  dieser  Gewalt,  Herakles,  erweckt  für 
seinen  besonderen  Einfluß  auf  Philoktetes,  psychologisch  betrachtet,  ohne 
weiteres  Vertrauen  infolge  der  engen  Beziehung,  in  die  beide  Heroen  durch 
den  Mythus  zueinander  gesetzt  sind.  Das  andere  euripideische  Mittel  der 
Stoffentlastung,  den  Prolog,  hat  Sophokles  nur  in  den  Trachinierinnen,  und 
hier  wohl  aus  eigenartigen  Gründen,  an  Stelle  der  ihm  sonst  gebräuch- 
lichen meisterhaften  dialogischen  Expositionen  gesetzt.  An  Bewußtheit 
und  Takt  künstlerischen  Arbeitens  stoht  Sophokles  unter  den  drei  Tra- 
gikern am  höchsten.  Nur  in  der  Elektra  ist  er  vielleicht  im  Streben  nach 
stärkster  Spannung  auf  Kosten  des  psychologisch  Möglichen  zu  weit  ge- 
gangen. Daß  ihm  die  Grundbegabung  jedes  echten  Dichters,  die  lyrische, 
reichlich  beschieden  war,  zeigt  sich  in  seinen  herrlichen  Chorliedern,  die 
Aristophanes  (pac.  531)  mit  Recht  unter  die  erlesensten  Genüsse  Athens 
zählen  konnte.  —  Überblickt  man  die  gesarate  künstlerische  Tätigkeit  des 
Sophokles,  voi^  der  uns  Proben  aus  einer  Zeitstrecke  von  etwa  vierzig 
Jahren  erhalten  sind,  so  muß  man  bewundern,  wie  der  Dichter  nie  stille 
gestanden,  bei  seiner  ungeheuren  Fruchtbarkeit  doch  nie  in  Manier  und 
Routine  verfallen  ist,  sondern  immer  gelernt,  das  tragische  Problem  un- 
ermüdlich immer  von  neuen  Seiten  angefaßt,  jedem  Stoff  ohne  Gewaltsam- 
keit und  falsche  Beleuchtung  immer  wieder  neue  dramatisch  wirksame 
Züge  abgewonnen  hat. 

171.  Sprache  und  Metrik.  Von  edler  Stilisierung  wie  die  Cha- 
rakterzeichnung ist  auch  die  Sprache  des  Sophokles,  die  sich  in  Wortwahl 
und  Phraseologie  dem  lonismus  ziemlich  stark  nähert.*)  Auch  hier  hielt 
er.   seinem   großen   Zeitgenossen  Pheidias  vergleichbar,   das  schöne   Maß, 

*)  C.  TuiRLWALL,  On  the  ironv  of  Sopho-  ^)  Wilamowitz,  Eurip.  Herakl.  P  21  f.; 

des.  Phil.  Mus.  IJ  483  ff.  =  Philol.  6  (1851)  II  93  f  ;  H.  Wittekikd  in  der  oben  S.245,2 

81  ff.,  254  ff.;  J.  H.  Schlegel,  Die  tragische  citiert^n  Ahhnndlung. 
Ironie  bei  Soph.,  Progr.  Tauberbischofsh.  1874. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    c)  Sophokles.    (§  171.)  307 

die  rechte  Mitte  zwischen  den  Extremen;  den  Schwulst  des  Aischylos  hat 
er  abgestreift,  von  dem  Marktgezänke  des  Euripides  hielt  er  sich  fern.*) 
In  der  Anmut  der  Sprache,  nicht  bloß  in  dem  Anschluß  an  die  Mythen 
des  epischen  Kyklos  und  dem  Festhalten  der  altepischen  Weltanschauung 
erkannten  die  Alten  den  homerischen  Zug  der  sophokleischen  Poesie.*) 
Von  dem  Honigseim,  den  Aristophanes  in  seiner  Rede  fand,  war  bereits 
oben  (S.  298,  4)  die  Rede;  doch  vom  Süßlichen  ist  seine  Sprech-  und  Denk- 
weise weit  entifemt,  ja  auf  unser  Gefühl  wirken  die  Gedanken  und  Worte 
der  Antigene  und  Elektra  oft  zu  herb  und  verstandesmäßig.  3)  Hie  und 
da  will  unserem  Naturalismus  auch  in  Eonzinnität  und  epigrammatischer 
Zuspitzung,  wenn  z.  B.  die  Personen  Schlag  auf  Schlag  nicht  nur  in  ganzen 
(Stichomythie),  sondern  auch  in  halben  (ävrdaßai)^  gewöhnlich  in  der 
Caesura  penthemimeres  abgesetzten  Versen  sich  antworten,  die  Politur  des 
Dialogs  fast  zu  glatt  erscheinen.^)  Das  Überwallen  der  Phantasie,  das 
bei  Aischylos  oft  unförmliche  Bilder  und  Sprachformen  hervortreibt  und 
überhaupt  zu  einem  *  starken  Heraustreten  des  Bildlichen  im  Ausdruck 
führt,  hält  Sophokles  mit  überlegenem  Kunstverstand  zurück.  In  Versbau 
und  Rhythmen  ist  er  weicher,  flüssiger,  modemer  als  Aischylos.  Im  Tri- 
meter  des  Dialoges  hat  er  häufiger  Auflösung  der  Längen  und  Zerschnei- 
dung des  Verses  durch  Personenwechsel,  ja  selbst  einigemal  Apokope  am 
Versschluß.*)  Die  lyrischen  Maße  seiner  Chorgesänge  und  Monodien  haben 
weder  die  Mannigfaltigkeit  noch  den  einfach  durchsichtigen  Bau  des 
Aischylos;  das  daktylische  Element  ebenso  wie  das  rein  iambische  und 
rein  trochäische  tritt  hier  zurück,  dagegen  wiegen  die  sechszeitigen  Wechsel- 
takte stark  vor,  besonders  in  den  volkstümlichen  Formen  der  Pherekrateen 
und  Glykoneen,  was  jedenfalls  die  Beliebtheit  seiner  Lieder  steigerte. 
Seine  lyrischen  Formen  sind  aber  immer  noch  reicher  und  großzügiger 
als  die  des  Euripides.  Man  fühlt  auch  seinen  Liedern  an,  mit  welcher 
Liebe  sie  ausgearbeitet  sind;  immer  hat  er  Einfaches  und  doch  Großes 
zu  sagen  und  kleidet  es  in  Formen,  aus  denen  uns  der  satte,  weiche  Glanz 
einer  voll  ausgereiften  Kultur  entgegenleuchtet.  ^)     Fassen  wir   alles  zu- 


*)  Plut.  de  profectu  in  virt.  7  p.  79  a ;  die   '   für  und  wider  anzuführenden   Gründe  ver- 


Mittelstelliing  des  S.  zwischen  Aischylos  und 
Euripides  wird  auch  von  Dionys.  Hai.  de 
iinlt  II  2,  10  f.  (p.  206  Us.)  und  Dio  Chr.  52, 
15  gekennzeichnet 

»)  Polemon   bei  Diog.  L.  IV  20:   sXsytt' 

de  VfifjQor  igayixov.  Vgl.  Vita  131,  96  W., 
Dionys.  de  comp.  24  p.  121, 16  Us.;  Dio  Chn^s. 
or.  52,  14  f. 


anlaßt  habe.  ^Gorgianische**  Figuren  (Anti- 
thesen, Parechesen)  weist  aus  S.  nach  0. 
Navabre,  Essai  sur  la  rhötorique  Grecque 
avant  Aristote,  Paris  1900,  102  flf. 

*)  W.  Chbist,  Metrik'  304;  man  nannte 
diese  Nachlässigkeit  nach  Choerob.  zu  Heph. 
p.  226,  17  CoNSBB.  oxtjfia  üoqmxksiov. 

*)  Schol.  Oed.  C.  668:  rov  ZoqoxXiovg  im 
t6  löiov  ajiavTiütTog  x^oaxvrjQiöxixov,  ro  yXaqpv- 
')  Diog.  1. 1.  von  Polemon:  ijv  Sk  xai  j  gov  xai  opdtxov  fiüog.  Dazu  Dio  Chrys.  or.  52 
^lAoootpoxXfjg  xai  ftaXiara  iv  ixeivoig  .  .  ty&a  \  fin. :  ra  de  fishj  ovx  e^si  jtoXv  t6  yvfofjixov 
ifv  xata  tov  ^qvvixov  ov  ylv^ic  ovo*  vjtoxvxog,  \  ovdk  xi^v  jxQog  aoFxijv  jiagdxhjöiv,  6joj(€q  xa 
aXXä  Jlgdfivtog.  Hier  ist  wohl  auch  an  den  i  EvQisridov,  rjdovijv  de  {^avfiaoxijv  xai  fisyaXo- 
ehrlichen,  vor  keiner  Eonsequenz  zurück-  :jg€jrFiar,  wnxe  fttj  eixf]  xotavxa  negi  avxov 
schreckenden  Pessimismus  des  S.  gedacht.  |   x6v  'Agioxoqpdvri  FigT^xhai' 

*)  Goethe  spricht  in  seiner  berühmten  ,   6  6*  av   ^offoxlforg   xov  /jeXixi  xsxgiafievov 
Anßerong  über  die  Stelle  Antig.  905  ff.  an   '    a>o:teg   xaöioxov  .legieksixe   x6   axofia.     Siehe 
Eckermann  28.  März  1827   von  rhetorischer  |   a.  o.  S.  306. 
Bfldong  des  S.,  die  ihn  zur  Erschöpfung  aller  i 

20* 


308  Qriechisohe  Litteraturgeschiohte.    I.  ElaMische  Periode. 

sammen,  so  begreifen  wir  die  Huldigungen,  die  auch  die  Komiker^)  dem 
Sophokles  darbringen,  und  die  Künstler  durch  eine  Tänie,  die  sie  ihm  ins 
Haar  flochten,  ausdrückten.*)  Das  Urteil  der  Zeitgenossen  gibt  Xenophon 
wieder,  wenn  er  (Mem.  I  4,  3)  im  Epos  dem  Homer,  im  Dithyrambus  dem 
Melanippides,  in  der  Tragödie  dem  Sophokles  die  Palme  reicht.*) 

172.  ATag  juacriyotpögog  ist  so  benannt  im  Gegensatz  zu  dem  ver- 
lorenen Aiag  ÄoxQog  von  der  Geißel,  die  Aias  über  dem  Widder,  dem 
vermeinten  Odysseus,  schwingt  (V  110).*)  Der  Stoflf,  schon  von  Aischylos 
in  den  Ogfjooai  behandelt,  war  der  kleinen  Hias  entnonmien,*)  hatte  für 
Athen  ein^besonderes  lokales  Interesse,  da  der  Salaminier  Aias  zu  den 
Stammheroen  Attikas  gehörte.^)  Das  Stück  beginnt  mit  einer  dialogischen 
Exposition  zwischen  Athena  und  ihrem  Schützling  Odysseus,  der  vor  Aias' 
Zelt  spähend  beobachtet,  ob  wirklich  Aias  die  Verheerung  unter  den  Vieh- 
herden der  Achäer  angerichtet  habe.  Athene  bestätigt  seine  Vermutung 
und  erklärt  ihm,  wie  Aias  rasend  über  die  Tiere  hergefallen  sei  in  dem 
von  ihr  selbst  über  ihn  verhängten  7)  Wahn,  seine  Feinde,  die  Atriden  und 
Odysseus,  zu  töten.  Sie  tritt  dann  selbst  zu  Aias  hin  und  ermuntert  ihn, 
indem  sie  auf  seine  Wahnideen  eingeht,  in  seinem  Beginnen  fortzufahren. 
An  keiner  anderen  Stelle  einer  giiechischen  Tragödie  tritt  die  tragische 
Ironie  und  der  ethisch-religiöse  Sinn  der  Tragödienvorführung  so  grell  und 
fast  verletzend  entgegen  wie  hier,  besonders  in  den  Versen  121  flf.:  in  der 
geistigen  Vernichtung  des  Aias,  der  an  Klugheit  und  zweckvoller  Energie 
sonst  alle  übertraf,  sich  nun  aber  gegen  Athenas  Entscheidung  in  der 
Sjrkdjv  xgioig  auflehnen  will,  triumphiert  die  göttliche  Übermacht,  der 
gegenüber  sogar  der  gewaltige  Heros  —  wie  viel  mehr  der  gewöhnliche 
Mensch  —  ein  Nichts  ist.  Bühnentechnisch  betrachtet  erspart  sich  der 
Dichter  durch  diese  Exposition  die  unmittelbare  Vorführung  von  Aias' 
Rasen.  In  der  altertümlich  gebauten,  durch  anapästische  Systeme  ein- 
geleiteten Parodos  beklagt  dann  der  Chor  der  salaminischen  Schiflfs- 
mannen  die  durch  der  Götter  furchtbaren  Zorn  herbeigeführte  Sinnesver- 
blendung des  geliebten  Führers.  Bald  darauf,  nachdem  das  Zelttor  geöffnet 
ist,  sieht  man  den  Helden   selbst  in  dumpfer  Verzweiflung  dasitzen.     Er- 

^)  Mit  ausgesuchtem  Zartgefühl   behan-  |    Ttjv  re  kei'av  rcov  jixatoJr  Xv/iatverai  xai  iavTor 

delt  den   soeben  Verstorbenen  Aristoph.  ran.  dvatgei.    Daß   auch  die  Grestalt  der  Athene 

785  ff.    8.  0.  S.  298. 4,  299.  |   dem  Epos   entlehnt  war,   macht  aus   einem 

*)  F.  G.  Welükkr,  Alte  Denkm.  I  470  ff.  alten  Vasenbild,   wo  Athene  zuschaut,   wie 

')   Ähnlich   der  Grammatiker   der  Vita  ^   Aias    den  Widder   fortzerrt,   wahrscheinlich 

Aesch.  p.  122,  90  W.,   der,   vermutlich  nach  K.  Robert   im   50.  Berl.  Winckelmannspro- 

dem  Urteil  des  Aristophanes  von  Byzantion,  gramm  (1890)  S.  31. 


die  Tragödie  unter  Sophokles  ihren  Höhe- 
punkt (TtÄnfhtji:)  erreichen  läßt.  Die  Urteile 
der  Komiker  sind  schon  o.  A.  1  u.  S.  807,  6 
angeführt. 

**)  Nach  der  Hypothesis  betitelte  Dikai- 


^)  Den  Chor  hat  Sophokles  aus  salamini- 
schen Seeleuten  des  Aias,  nicht  wie  Aischylos 
aus  gefangenen  Thrakerinnen  bestehen  lassen. 

^)  Für  Pindars  Theodicee  ist  bezeichnend, 
daß  er  den  Wahnsinn  des  Aias  überall  (Nem. 


archos  dieses  Stück  .-iTairo^  »!^ai'aros  und  hatte  7,  25;    8,  23  ff.;    Isthm.  3,53)  verschweigt, 

es  in  der  Didaskalic   einfach  die  Aufschrift  |   wiewohl  ihn  die  kleine  Ilias  kennt.   Möglich 

Ami:.    —    Über    Sinn    und    Bedeutung    des  ist,   daß  Sophokles   mit   der  übematürliclien 

Stücks  F.  G.  Welcker,  Kl.  Sehr.  11  264  ff.  I   Ätiologie  von  Aias'  Wahnsinn  medizinischen 

*)  Proklos  ehrest,  p.  238  W.:  ?;  ^wr  o.T/cor  i   Theorien,   wie   sie   in  der  Schrift  .tfoi  legijg 

xoiois    yirertu    xai   'OdvooFvg    xaxa   ßov/.tjotv  rovoov    ausgesprochen    sind,    entgegentreten 

ji^jräg  hi^tßdvei,    Aiag  ök  ifi/iavtjg  yerofisrog  ;    will. 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    c)  Sophokles.    (§  172.)  309 

weicht  durch  das  rührende  Zureden  der  Tekmessa  und  den  Anblick  seines 
einzigen  Kindes  Eurysakes,  scheint  er  nochmals  von  Todesgedanken  ab- 
zustehen und  sich  der  Notwendigkeit  zu  unterwerfen,  so  daß  der 
Chor  in  einem  Tanzlied  an  Pan  (693 — 718)  seiner  Freude  über  die  üm- 
stimmung  des  Führers  Ausdruck  gibt.  Aber  die  Umstimmung  war  Täu- 
schung; schon  am  Schluß  des  nächsten  Epeisodion  sieht  der  Zuschauer, 
durch  die  vom  Boten  berichteten  Warnungen  des  Kalchas  auf  das  nahende 
Geschick  vorbereitet,  den  Aias  in  einsamer  Waldgegend  vor  dem  scharf- 
geschliffenen Schwert,  in  das  er  sich  nach  dem  berühmten  Monolog  an 
den  bitteren  Todesbringer  (815 — 865)  stürzt.  Mit  dem  Tod  des  Helden 
endigt  aber  die  Tragödie  nicht;  der  zweite,  über  fünfhundert  Verse  füllende 
Teil  dreht  sich  um  die  Bestattung  des  Leichnams:  die  Atriden  wollen 
ihn  den  Hunden  vorwerfen,  aber  nach  langem  Streit  übergibt  ihn  doch 
der  treue  Halbbruder  Teukros  dem  Mutterschoß  der  Erde.  Dieser  zweite 
Teil  fällt  uns  auf,  da  wir  nach  der  Katastrophe  nicht  noch  ein  so  langes 
Nachspiel  erwarten,  und  er  wurde  daher  von  verschiedenen  Seiten  auf 
eine  spätere  Überarbeitung  des  Stückes  zurückgeführt.  0  Aber  der  Dichter 
hat  ihn  deutlich  in  dem  Monolog  des  Aias  V.  827  f.  angekündigt,  und  die 
alten  Zuschauer  werden  ihn  bei  dem  Gewicht,  das  ihr  religiöses  Gefühl 
auf  die  Totenbestattung  legte,  ^)  anders  beurteilt  haben.  Eine  Analogie 
bildet  der  Schluß  von  Aischylos'  Sieben,  der  dem  Sophokles  wohl  hier 
schon  vorschwebte.  Der  lange  Streit,  zumal  des  Teukros  mit  dem  über- 
mütigen Agamemnon  und  mit  Menelaos,  dem  Repräsentanten  des  rohen 
Spartanertums,  mochte  überdies  den  Athenern  angenehm  zu  hören  sein, 
und  sie  nahmen  gewiß  den  Vers  1102  ÜJidgxrjg  ävdaacov  fjX&eg,  oux  fiiMov 
xgarcbv  mit  lautem  Beifall  auf.  Versöhnend  ist  die  Wendung,  daß  schließlich 
Odysseus  selbst,  der  Todfeind  des  Aias,  von  Mitleid  mit  dem  toten  Helden 
ergriffen,  die  Bestattung  des  Leichnams  herbeiführt.  Sophokles  gewinnt 
so,  wiewohl  er  den  Streit  um  die  Rüstung  des  Achilleus  schon  voraus- 
setzt und  die  bei  dieser  Gelegenheit  übliche*)  Abwägung  der  entgegen- 
gesetzten Charaktere  Aias  und  Odysseus  nicht  vornehmen  kann,  doch  noch 
eine  Möglichkeit,  sein  Werturteil  über  den  Charakter  des  Odysseus  zum 
Ausdruck  zu  bringen.  So  wenig  sympathisch  im  Anfang  dieser  Vertreter 
der  ionischen  oo(pia  gezeichnet  ist,  so  läßt  ihm  der  Dichter  doch  zum 
Schluß  den  Triumph,  aus  einer  schwierigen  Situation  einen  auch  sittlich 
befriedigenden  Ausweg  zu  finden.  Daß  der  Aias  mit  dem  Teukros  und 
Eurysakes-*)  zu  einer  Trilogie  verbunden  gewesen  sei,  hat  nicht  die  ge- 
ringste Wahrscheinlichkeit.     Im  Gegenteil   erklärt   sich  die  struktive  Dis- 


»)  Th.  Berok,  Griech.  Litt.  HI  378  ff.;  zu  V.  1123  u.  1127. 

0.  Ribbeck,  Sophokles  19;  J.  van  Leeuwen,  i           *)  K.  Fries,  Rhein.  Mus.  59  (1904)  205  ff. 

Oommentatio  de  authentia  et  integritate  Aiacis  ;           ')   Vgl.   die    Deklamationen    des    Anti- 

Sophoclei,  Utrecht  1881;  A.  Oliyieri,  Studi  sthenes.    Zu  dem  CharaktergegensatS  Aias — 

itol.  di  filol.  class.  7  (1899)  181  ff.    Die  hau-  '   Odysseus  Find.  Nem.  7,  21  ff.  (nach  C.  Gaspab 

figen  Auflösungen  im  Trimeter  können  für  die  a.  493).     Vgl.  o.  S.  32,  3;  231,  3. 

Annahme  eines  späteren  Ursprungs  oder  einer  *)  Über  den  Inhalt  des  Eurysakes,   den 

späteren  Umarbeitung  angeführt  werden.  —  Accius  übersetzte,  s.  F.  G.  Welckbr,  Griech. 

Daß  schon  die  Alten  Anstoß  an  dem  zweiten  i   Trag.  II  197  ff.   und   0.  Ribbeck,   Die  Rom. 

Teil   des  Aias  nahmen,   lehren   die  Scholien  i   Trag.,  Leipz.  1875,  419  ff. 


310 


QriechiBche  LitieratnrgeBchichte.    I.  ElassiBohe  Periode. 


Proportionalität  des  Stückes  am  besten  aus  der  Voraussetzung,  dai  es  als 
Einzeldrama  von  Anfang  an  komponiert  war  und  der  Dichter  mit  den 
StofFmotiven,  die  er  unterbringen  wollte,  nicht  ganz  befiiedigend  zurecht- 
kam. Schon  dieser  Mangel  des  im  übrigen  an  Vorzügen  überreichen 
Stückes  macht  wahrscheinlich,  daß  es  der  früheren  Periode  des  Dichters 
angehöre.  Dafür  spricht  weiter  die  stärkere  Abhängigkeit  von  Homer  in 
der  Charakterzeichnung  und  Situationsmalerei, ')  und  von  Aischylos  in  Ein- 
führung eines  Schuldmotivs  und  versöhnender  Gestaltung  des  Abschlusses; 
endlich  einige  technischen  Details,  die  anapästische  Parodos,  die  Beglei- 
tung des  Schauspielerauftretens  durch  Choranapäste,*)  die  verhältnis- 
mäßige Häufigkeit  der  Dochmien,')  der  zwölf gliedrige*)  Chor,  das  Fehlen 
des  ^eoXoyeiov^)  u.  a.  Das  Stück  ist  ohne  Zweifel  unter  den  erhaltenen 
des  Sophokles  das  älteste.^) 

173.  'AvTiyövi],  das  gefeiertste  Drama  der  griechischen  Litteratur, 
das  dem  Dichter  die  Ernennung  zum  Strategen  im  samischen  Krieg  ein- 
getragen haben  soll,  wurde  nach  der  wahrscheinlichsten  Berechnung  442 
aufgeführt.^)  Der  Mythus  ist  zu  einem  Teil  der  alten  Thebais  entnommen, 
in  welcher  der  Kampf  und  Tod  der  feindlichen  Brüder  Eteokles  und 
Polyneikes  erzählt  war.  Ob  das  alte  Epos  auch  schon  das  Verbot 
der  Beerdigung  des  Vaterlandsverräters  Polyneikes  und  dessen  heim- 
liche Bestattung  durch  seine  heldenmütige  Schwester  Antigone  kannte^ 
bleibt  ungewiß;  Pindar  spricht  0.  6,  15  und  Nem.  9,  24  von  sieben, 
nicht    sechs    Scheiterhaufen    der    bei    jenem   Kampfe  Gefallenen,  ^j     Das 


*)  Eine  Dublette  des  Achilleus  ist  der 
Aiascharakter,  eine  Dublette  der  Briseis,  wie 
sie  in  jüngeren  Partien  der  Ilias  gezeichnet 
wird,  Tekmessa  (P.  Girard,  Rev.  des  ^t.  gr. 
15,  1902,  275),  eine  Nachbildung  von  Hektors 
Abschied  II.  Z  die  Szene  Ai.  485  ff.  Bezeich- 
nend ist  auch,  daß  Soph.  dem  Aias  (V.  575  f.) 
den  mykenischen  Lederschild  (nach  Hom. 
II.  //  2G6)  läßt,  während  seine  Heroen  sonst 
immer  Metallschilde  haben. 

«)  A.  Rossbach,  Metrik»  148. 

')  A.  RossBACH  a.  a.  0.  785  f. 

*)  So  auf  Grund  von  V.  866  ff.  G.Wolff 
in  der  Ausgabe  (Leipz.  1874),  dem  Chr.  Müpp, 
Die  Chorische  Technik  des  Sophokles,  Halle 
1877,  beistimmt.  G.  Wendt  in  seiner  Über- 
setzung (Berl.  1866)  S.  12  macht  mit  Recht 
für  die  frühe  Abfassung  auch  den  Charakter 
der  Versmaße  und  den  Umstand  geltend, 
daß  nur  an  zwei  Stellen,  im  Prolog  und 
kurz  vor  dem  Schluß,  drei  Schauspieler  gleich- 
zeitig an  der  Handlung  teilnehmen,  was  auf 
eine  Zeit  hinweist,  in  der  man  den  Vorteil  des 
dritten  Schauspielers  erst  allmählich  aus- 
zunützen begann.  Auch  der  Chor  spielt  in 
dem  Stück  noch  eine  übergroße  Rolle.  — 
Die  politischen  Anspielungen  auf  die  Feind- 
schaft mit  Sparta  (1102),  die  Gründung  von 
Salamis  (1019),  die  Bedeutung  von  Delos 
(704)  passen  auf  die  Zeit  von  460—450,  freilich 
mindestens  ebensogut  auf  den  Anfang  des 
peloponnesischen  Krieges. 


*)  Athena  tritt  zu  ebener  Erde  auf,  wie 
WiLAMOwiTz,  Euripides  Herakl.  I»  354, 26  be- 
merkt hat. 

®)  Die  Übereinstimmung  der  Verse  Soph. 
Ai.  665  ix(^Q(ov  äScjoa  öojQa  xovx  ortjöifia 
und  Eur.  Med.  618  xaxov  yag  drögog  Amq* 
dyrjatv  ovh  ex^i  will  nicht  viel  besagen,  eben- 
sowenig die  antike  Deutung  derselben  (Clem. 
Alex.  Strom.  VI  2  p.  740  P.),  die  den  Vers  des 
Aias  als  Nachahmung  der  Medeia  versteht  Die 
Notiz  des  Scholiasten,  nach  der  Ai.  1295  bis 
1297  auf  die  i.  J.  438  aufgeführten  Kc>i}noat  des 
Euripides  Bezug  nähmen,  ist  ohne  Bedeutung. 

0  Vgl.  oben  S.296,6;  das  Jahr  sucht  fest- 
zustellen A.  BöcKH  im  ersten  Exkurs  seiner 
Ausg.,  Berl.  1843.  Es  dreht  sich  zumeist  um 
442  oder  441 ;  da  aber  441  der  erste  Sieg  des 
Euripides  fällt,  so  wollte  Th.  Bergk,  Griech. 
Litt.  III 415,  um  die  Antigone  doch  441  setzen 
zu  können,  in  der  H^-pothesis  des  Stückes 
schreiben:  öe^löaxxai  fie  x6  ögäfia  rovto 
TQtaxooTov.  öei'TfQOC  Tjv  statt  rotaxooTov  Afv- 
TEoor,  ein  haltloser  Einfall.  —  Aus  den  Zeit- 
verhältnissen, der  Gründung  von  Thurioi,  er- 
klärt man  den  Hinweis  auf  Italien  V.  1118. 
Eine  sichere  Feststellung  des  Jahres  ist  nicht 
möglich ;  daß  aber  seine  Stellung  als  Helleno- 
tamias  443  42  den  Dichter  an  der  Abfassung 
der  Tragödie  gehindert  habe  (Wilamowitz, 
Aristot.  u.  Athen  II  298,  14),  ist  nicht  nötig 
anzunehmen. 

®)  Vielleicht  gehören  die  ejiia  m^Qai  der 


G.  Drama.    2.  IMe  Tragödie,    o)  Sophokles.    (§  173.) 


311 


Motiv  von  Antigones  Auflehnung  gegen  Kreons  Bestattungsverbot  war 
im  Schluß  von  Aischylos'  Sieben  gegeben,*)  nur  daß  hier  das  Verbot  noch 
nicht  von  Kreon,  sondern  von  den  thebanischen  nqdßovkoi  ausgeht.  Was 
in  der  Chorlyrik  (Ion  iv  roTg  di^vgdfxßoigY)  und  Elegie  (Mimnermos  vermut- 
lich in  der  Nanno;  mit  ihm  übereinstimmend  eine  korinthische  Vase  bei 
S.  Reinach,  Repertoire  I  p.  147)  von  den  beiden  Schwestern  berichtet  war, 
wissen  wir  nur  aus  der  Hypothesis  des  Sallustius  zur  Antigene.  Demnach 
scheint  hier  von  ihrer  Konspiration  mit  dem  Landesfeind  und  ihrer  Be- 
strafung die  Rede  gewesen  zu  sein,  Züge,  die  Sophokles  völlig  beseitigt 
hat.  Jedenfalls  ist  ganz  neu  von  Sophokles  hinzugedichtet  die  Bestrafung 
der  Antigene  durch  Einsperrung  in  ein  unterirdisches  Grabverlies,  wozu 
dem  Dichter  die  Danaesage  und  die  alten  unterirdischen  Grabkammem  im 
Lande  der  Argeier  und  Minyer  die  Handhabe  boten,»)  ferner  das  Liebes- 
verhältnis der  Antigene  und  des  Haimon,*)  durch  das  Kreon  mit  in 
das  Verderben  der  Antigene  gerissen  wird,  endlich  das  Eingreifen  des 
Teiresias  zur  Verstärkung  von  Antigones  Position.  Alle  diese  Änderungen 
sind  vorwiegend  durch  künstlerische  Gründe  veranlaßt.  Gegeben  ist  dem 
Dichter  in  der  Hauptsache  der  völlige  Untergang  des  Labdakidengeschlechts, 
die  Wirkung  von  Oidipus'  Fluch.  Der  erste  Teil  des  Fluchs  ist  erfüllt 
durch  den  Wechselmord  der  Brüder.  Nun  reißt  er  auch  die  Schwestern 
ins  Verderben.  Um  die  Handlung  möglichst  zu  konzentrieren,  macht 
Sophokles  Antigene  allein  zu  ihrer  Trägerin  und  stellt  hinter  sie  als  Folie, 
auf  der  sich  ihr  Heroismus  riesenhaft  abhebt,  die  anmutige,  aber  einer 
Tat  heldenmütiger  Aufopferung  unfähige,  in  den  Grenzen  gewöhnlicher 
Frauennatur  sich  haltende  Ismene.  Antigene  weiß  von  Anfang  an,  daß 
sie  ihrem  Schicksal  nicht  entgehen  kann  und  will  nun  ihr  Leben  mit  einer 
ruhmvollen  Tat  schwesterlicher  Pietät  an  dem  toten  Polyneikes  beschließen. 
Auch  die  Schwester  Ismene  sucht  sie  auf  den  Weg  der  Pflicht  und  Ehre 
mitzuführen;  als  diese  aber  versagt,  zögert  sie  keinen  Augenblick,  allein 
zu  gehen.     Das  verlassene  Mädchen  wirft  sich   der  Staatsauktorität,  die 


Lokalsage  an  (s.  A.  Böckh  zu  Pindar  0.  6, 24) 
und  beziehen  sich  auf  die  Kämpfe  an  den 
sieben  Toren,  so  daß  aus  ihnen  über  Poly- 
neikes* Bestattung  nichts  Sicheres  geschlossen 
werden  könnte.  Von  Verbrennung  der  Leichen 
des  Eteokles  und  Polyneikes  auf  gemein- 
samem Scheiterhaufen  redet  die  ätiologische 
Sage  bei  Ovid.  trist.  V  5,  31  ff.;  Stat.  llieb. 
XII  429  ff.  Indessen  ist  sehr  wahrscheinlich, 
daß  Sophokles  sonst  der  thebanischen  Lokal- 
sage Anregungen  für  die  Antigene  verdankt; 
es  gab  bei  Theben  eine  örtlichkeit  'Avn- 
ym'Tjg  orQfia  (llygin.  fab.  72;  Paus.  IX  25,  2; 
vgl.  Soph.  Ant.  43).  Der  Name  Ismene  ge- 
hört zum  thebanischen  Ismenos.  Der  Name 
Antigene  ist  in  Nordgriechenland  verbreitet 
und  bedarf  nicht  (E.  BRuror,  Einl.  z.  Antigene, 
Berl.  1904,  S.  6)  besonderer  Deutung.  Über 
die  Mythopoie  der  Ant.  s.  P.  Cobssen,  Die 
Ant.  des  Sophokles,  ihre  theatralische  und  sitt- 
liche Wirkung,  Berlin  1898.  Man  scheint  eine 
attische  Sagenversion  (vertreten  in  Aischylos' 


Sieben  und  Eleusiniem)  von  einer  thebani- 
schen (bei  Pindar)  scheiden  zu  müssen  — 
jene  enthält  das  Bestattungsverbot,  ein  Motiv, 
das  dann  in  seinen  weiteren  Eonsequenzen 
zu  der  attischen  Intervention  und  der  Be- 
stattung der  Gefallenen  in  attischer  Erde 
(Herod.  IX  27  mit  H.  Steins  Anm. ;  Plut.  Thes. 
29 ;  Eurip.  Suppl.)  führt,  diese  weiß  von  dem 
Verbot  nichts,  womit  freilich  die  Lokalsage 
vom  Antigone-öi''o/ua  schwer  zu  vereinigen  ist. 

»)  Vgl.  S.  278  f. 

*)  Vgl.  S.  Rbinach.  Rupert,  des  vases 
peints  I  p.  160;  G.  E.  Rizzo,  Riv.  di  filol. 
30  (1902)  502. 

•)  Vermutlich  wurden  diese  damals  (vgl. 
Pind.  N.  10,  56)  noch  für  Grabkammem  und 
noch  nicht,  wie  bei  Pausanias,  für  Schatz- 
häuser gehalten. 

*)  hn  alten  thebanischen  Epos  ist  Haimon 
als  Opfer  der  Sphinx  erwähnt,  Schol.  zu  Eur. 
Phoen.  1760. 


312  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  Elassische  Periode. 

dem  Polyneikes  als  einem  Landesverräter  die  Bestattung  versagt,  entgegen 
—  sie  wagt  zuerst  in  der  Morgendämmerung  noch  schüchtern  einen  unvoll- 
kommenen Bestattungsversuch;  kühner  geworden,  gießt  sie  dann  am  hellen 
Mittag  die  volle  Totenspende  auf  das  Grab  des  Bruders;  dabei  wird  sie 
gefangen,  und  die  sich  unfehlbar  wähnende  Staatsraison  des  aufgeklärten 
Despotismus,  die  in  Kreons  unsympathischer  Figur  mit  greifbarer  Ironie 
verkörpert  ist,  bereitet  ihr  mit  barbarischer  Strafverschärfung  ein  äußerlich 
schmachvolles  Ende.  Daß  der  Dichter  sie  sittlich  triumphieren  läßt,  ist 
ganz  klar.  Er  hat  das  Problem  in  einer  Weise  vertieft,  daß  er  den  Kern- 
punkt der  ganzen  sophistischen  Aufklärung,  die  Antithese  zwischen  Natur 
und  Satzung  trifiFt.  Das  Naturrecht  fällt  ihm  aber  zusammen  mit  dem 
uralten  heiligen  Brauch  der  Familienpietät  (450  flf.)  und  den  vdfAOi  x^ovog 
(368),  die  der  rationalistische  Gewaltmensch  Kreon  ^)  mißachtet,  wo  sie 
ihm  nicht  „vernünftig**  und  „gerecht"  zu  wirken  scheinen.  Aus  dieser 
Anschauung  heraus  macht  Sophokles  im  ersten  Stasimon  die  großartig 
ehrliche  und  weise  Konfession  über  den  Geist  der  Sophistik,  der  wohl 
allerlei  das  äußere  Leben  Förderndes  geschaffen  hat,  aber  durch  Über- 
greifen auf  die  sittlich-religiöse  Sphäre  schweres  Unheil  anrichten  kann.^) 
Antigene  ist  von  sittlicher  Verschuldung  völlig  frei;  denn  der  Tadel, 
den  der  Chor  andeutet,  betrifft  lediglich  einen  formalen  Punkt:  ihr  Hinaus- 
gehen über  die  Grenzen  weiblicher  Natur,  nicht  den  Inhalt  ihrer  Tat.  —  In 
ergreifender  Weise  hat  der  Dichter  in  diesem  Stück  zum  erstenmal  die 
Form  der  verspäteten  Peripetie  angewandt,  indem  Kreon,  erschreckt  durch 
die  furchtbaren  Weissagungen  des  Sehers  Teiresias,  das  Verbot  der  Be- 
stattung des  Polyneikes  rückgängig  macht,  während  mittlerweile  das  auch 
ihn  mit  vernichtende  Geschick  über  seinen  Sohn  Haimon  und  Antigene 
schon  hereingebrochen  ist.  Die  Chorlieder  sind  aufs  engste  mit  der  Hand- 
lung verknüpft 3)  und  begleiten  mit  der  Tiefe  der  Gedanken  und  der  Wärme 
der  Empfindung  den  Wechsel  der  Szenen  von  dem  ersten  Sonnenstrahl  des 
Sieges  nach  langer  Kampfesnot  bis  zur  ernsten  Schlußmahnung  des  ab- 
ziehenden Chors.  Zugleich  ist  durch  symmetrische  Anlage  der  Chorlieder 
und  Epeisodien  durchsichtige  Klarheit  in  den  Gang  des  Stückes  gebracht,  wie 
man  sie  in  gleicher  Vollendung  weder  im  Aias  noch  in  einem  der  späteren 
Stücke  wiederfindet.*)  —  Nach  einer  Notiz  bei  J.  A.  Cramer,  An.  Ox. 
IV  315,  erklärten  einige  die  Antigene  für  ein  Werk  des  lophon,  was  sich 
auf  eine  nochmalige  Aufführung  und  Umarbeitung  durch  lophon   beziehen 


^)  Ph.  Mayer,   Studien   zu  Homer,   So-  a.  a.  0.  12  ff.  Anders  Th.  Zielinski,  Der  Ge- 

phokles,  Eurip.,  Racine  u.  Goethe,  Gera  1874.  1   dankenfortschritt  in  den  Ohorliedern  der  Ant., 

hat  in  dem  Aufsatz,  Über  den  Charakter  des  I   Festschr.  f.  Gomperz  143  flf. 

Kreon,   die   gleiche  Charakterzeichnung   des  ;           •*)  Die  fünf  Chorgesänge  und  Epeisodien 

Kreon  in  den  drei  Stücken.  Ant,  Oed.  R.  und  1   sind   von   fast  gleichem  Umfang;    sechsmal 

Oed.  Col.  durchzuführen  sich  bemüht.    Es  ist  wird  in  gleicher  Weise  das  Auftreten  neuer 

aber  keine  Einheitlichkeit  vorhanden.   Die  epi-  Personen  (/.TFtaoAos)  durch  ein  anapästisches 

sehe  Tradition  scheint  den  Charakter  des  Kreon  |   System  des  Chorführers  eingeleitet  (155 — 164 ; 

in  keiner  Weise    präformiert    zu    haben,    so  376— 83:  526— 30;  801— 05;  1250— 60);  zwei- 

daß  ihn  Soph.  nach  Bedarf  bilden  konnte.  '   mal    tritt    in    der   Schicksalsnot  zuerst   der 

«)  W.  SciiMiD.  Philol.  62  (1903)  1  flf.  Antigene  (806),   dann   des   Kreon  (1261)   an 

^)  Über  den  mißkannten  Zusammenhang  1   die   Stelle   der   gesprochenen  Verse   der   er- 

des  ersten  Stasimon  (334  flf.)  s.  W.  Schmid  ;   greifende  Gesang  des  Klagelieds. 


G.  Drama.    2.  IMe  Tragödie,    o)  Sophokles.    (§  174.) 


313 


könnte.  0  Euripides  hat  den  gleichen  Stoff  bearbeitet;  er  führt  Haimon 
und  Antigone  zusammen  und  läßt  aus  ihrer  Verbindung  den  Maion  hervor- 
gehen,^) offenbar  in  derselben  Absicht,  in  der  er  der  sophokleischen  Elektra 
die  seinige  gegenübergestellt  hat:  die  Überstiegenheit  von  Sophokles' 
Heldenjungfrau  zu  kritisieren  und  das  ganze  Problem  veristisch  zu  lösen. 
Eine  weitere  griechische  Bearbeitung  des  Gegenstandes  hat  Hygin.  fab.  72 
exzerpiert.  Accius  hat  das  sophokleische  Stück  für  die  römische  Bühne 
bearbeitet.*) 

174.  Das  Problem,  eine  Jungfrau  durch  das  an  sich  der  weiblichen 
Natur  tief  eingewurzelte  Gefühl  der  Pietät  bis  an  die  äußerste  Grenze  der 
einem  Mädchen*)  psychologisch  zuzutrauenden  Energie  und  Unerschrocken- 
heit  zu  treiben,  hat  Sophokles  noch  einmal,  in  der  ^Hkextga^  behandelt, 
und  zwar  mit  entschieden  größerer  technischer  Objektivität  und  größerer 
Kunst  der  Spannung,  aber  auch  ohne  die  natürliche  Wärme  des  Gefühls, 
die  sich  in  Antigones  mystischen  Stimmungen  und  Erwartungen,*)  den 
rührenden  Äußerungen  ihrer  Liebe  zu  dem  mißachteten  Bruder,  in  ihrem 
Zusammenbruch  in  dem  schönen  Kommos  (Ant.  806  ff.)  kundtut  und  diese 
Gestalt  so  menschlich-sympathisch  macht.  Der  Elektra  ist  eine  viel 
schwerere  Last  aufgelegt  als  der  Antigone:  sie  schickt  sich  an,  in  der 
Annahme,  der  nächst  Verpflichtete,  ihr  Bruder  Orestes,  lebe  nicht  mehr, 
eigenhändig  die  Ermordung  ihres  Vaters  an  ihrer  Mutter  Klytaimestra 
und  deren  Buhlen  Aigisthos  zu  rächen.  Um  diese  namentlich  für  ionische 
Begriffe  von  Frauenart  unerhörte  Kühnheit  der  Elektra  psychologisch  zu 
rechtfertigen,  betont  der  Dichter  sehr  stark  die  Leidenschaft  ihrer  Pietät 
für  ihren  heroischen  Vater  und  ihres  Hasses  gegen  Klytaimestra  und 
Aigisthos,  die  sie  in  unerträglicher  Knechtschaft  halten.  Hiemit  ist  Elektra, 
die  bei  Aischylos  nur  lyrisch  gefaßt  ist  und  vom  Schauplatz  verschwindet, 
sobald  Orestes  in  Aktion  tritt,  in  den  Mittelpunkt  gestellt  und  auf  ihren 
Charakter  alles  Licht  geworfen,  während  Orestes  in  den  Hintergrund  tritt. 
Da  nun  aber  der  Zuschauer  vom  Prolog  an  weiß,  daß  Elektras  Voraus- 
setzung irrig  ist,  daß  Orestes  lebt  und  schon  da  ist,  die  Blutrache  ins 
Werk   zu   setzen,   daß   also  Elektra   ihren  Entschluß  gar  nicht  ausführen 


^)  Vgl.  die  Angabe  des  Satyros  in  der 
Vita  p.  130,  65  W.  von  einer  Vorlesung  der 
Antigone  durch  den  sterbenden  Dichter.  Daß 
aus  dieser  Bearbeitung  die  vermutlich  nach 
Herod.  III  119  und  jedenfalls  vor  Aristot. 
rhet.  1417a  28  ff.  interpolierten,  in  Gedanken 
und  Ausdruck  gleich  stümperhaften  Verse 
905 — 928  stammen,  ist  nicht  nachweisbar. 
G.  Kaibels  Versuch,  diese  gef&lschte  Stelle 
zum  Ausgangspunkt  der  gesamten  Auffassung 
^er  Antigone  zu  machen  (De  Sophoclis  Anti- 
gona,  Güttingen  1897),  ist  alsbald  mit  Recht  von 
E.  Brühn  (N.  Jahrbb.  f.  klass.  Altert.  1, 1898, 
248  ff. ;  s.  a.  W.  Schmid  a.  a.  0.  25  ff.)  zurück- 
gewiesen worden.  Die  Geschichte  dieser 
Echtlieitsfrage,  die  schon  Goethe  mit  rich- 
tigem Takt  angefaßt  hatte,  gibt  S.  Reiter, 
Zeitschr.  f.  östr.  Gymn.  49  (1898)  966  ff.    Un- 


glücklich ist  der  neueste  Rettungsversuch  von 
J.  Möller,  Ehrengabe  der  Latina,  Halle  1906. 
78  ff.,  der  an  der  wichtigsten  Instanz  gegen 
die  Echtheit,  der  mit  dem  ganzen  Sinn  des 
Stückes  unvereinbaren  Hervorkehnmg  des 
erotischen  Nebenmotivs,  vorbeigeht. 

*)  Vgl.  Argum.  Soph.  Ant. ;  N.  Weckleik, 
Sitz.ber.  d.  bayr.  Ak.  1878  II  186—98;  über 
eine  Antigone  des  Astydamas  s.  A.  Naück, 
TGF=»  777;  F.  Heydemann,  über  eine  nach- 
euripideische  Antigone.  Berl.  1868. 

»)  0.  Ribbeck,  Rom.  Trag.  S.  483,  wo 
ungeschickte  Abweichungen  von  dem  Ori- 
ginal nachgewiesen  sind. 

*)  Elektra  ist  bei  Soph.  höchstens  25  Jahre 
alt:  L.  Parmentier,  M^langes  Weil  348  f. 

*)  E.  RoHDE.  Psyche  IP  239  f. 


314  GrieohiBche  Litteratnrgeschichte.    L  KlassiBohe  Periode. 

wird,  so  ist  alles  Interesse  von  dem  tatsächlichen  Verlauf  abgelenkt  auf 
die  Kunst  des  Dichters,  den  unweiblichen  Entschluß  der  Elektra  mit  psycho- 
logischer Wahrscheinlichkeit  bis  zur  Grenze  der  Tat  hinzufahren.  Darin 
ist  etwas  Raffiniertes,  fast  Virtuosenhaftes,  zumal  der  Dichter,  je  näher 
die  Ausführung  der  Tat  durch  Orestes  kommt,  desto  mehr  den  Glauben 
Elektras  wie  Klytaimestras^  an  seine  Existenz  abschwächt,  zuletzt  durch 
die  nach  homerischem  Vorbild  außerordentlich  breit  und  anschaulich  aus- 
geführte Lügenerzählung*)  des  Pädagogen  von  Orestes'  Todessturz  bei  den 
pythischen  Spielen  (681  flf.).  Die  Wahrscheinlichkeit  forderte  nun,  daß 
Elektra,  nachdem  sie  innerlich  so  vollkommen  zur  Tat  herangereift  war, 
den  Orestes  nach  der  Erkennungsszene  wenigstens  bei  der  Ausführung 
nachdrücklich  in  eigener  Person  unterstützte  (1398  flf.).  Den  Stoflf  und  die 
Anregung  zu  der  Figur  der  Heldin  fand  Sophokles  in  den  Choäphoren  des 
Aischylos.  Die  Schwester  gab  ihm  der  Vers  des  Homer  / 145*)  an  die  Hand. 
Da  aber  bei  Aischylos  die  Choäphoren  das  Mittelstück  einer  Trilogie  gewesen 
waren,  so  mußte  er,  um  seinem  Einzeldrama  die  Selbständigkeit  zu  wahren, 
die  letzte  Partie  der  Choäphoren,  die  das  Herannahen  der  Rachegeister  an- 
kündigt, beiseite  lassen.*)  Unter  dem,  was  er  sonst  gegenüber  Aischylos 
neuert,  ist  besonders  wichtig,  daß  er  unt^r  Benützung  der  epischen  Über- 
lieferung*^) das  Motiv  einer  Verschuldung  Agamemnons  tilgt  (560  flf.)  und 
dadurch  der  Klytaimestra  alle  Sympathie  entzieht.  Großartig  wirkungsvoll 
ist  die  Wiedererkennungsszene.ß)  In  solchen  Dingen  hatte  man  seit 
Aischylos  viel  gelernt,  aber  etwas  Ergreifenderes  als  die  Szene,  wo  Elektra 
zuerst  die  Urne  mit  der  vermeintlichen  Asche  des  Bruders  aus  Orestes' 
Händen  nimmt  und  dann  in  dem  Überreicher  der  Urne  ihren  leibhaftigen 
Bruder  erkennt,  hat  das  athenische  Theater  nicht  gesehen.  7)  —  Über  die 
Abfassungszeit  der  Elektra  gehen  die  Meinungen  stark  auseinander,  so 
daß  sie  z.  B.  Ribbeck  für  die  älteste,  Gruppe  und  früher  auch  Wilamowitz 
für  eine  der  jüngsten  Tragödien   des  Dichters  erklärten.®)     Terminus  post 


*)  In  diesem  Sinn  deutet  richtig  G.  Kaibel  |   Orestes  die  Elektra  volle  hundert  Verse  lang 

zu  El.  (Loipz.  1896)  417  auch  die  Abänderung  über  seine  Person  im  Unklaren  läßt,  rügt  Eur. 

des  bei  Aischylos  poetisch  viel  wiiksameren  ,    El.  230 ;  s.  L.  Parmentier,  Melanges  Weil  336. 

Traumes  der  Klytaimestra  durch  Sophokles.  ^)  Dabei  verschmähte  es  aber  Sophokles, 

2)  Hom.  Od.  T  172  ff.;  vgl.  Soph.  Philoct.  |   an  seinem  Vorgänger,  wie  Eur.  El.  530,  Kritik 

343  ff.  zu  üben;   vielmehr  läßt  er   im  Anschluß  an 

^)  Auf  ihn   ist  angespielt   El.  157:   oia  ,    Aischylos  den  Orestes  eine  Locke  am  Grabe 

XgvooOFfii^  C(jj£t  xai  *I(f  idvaoaa.     Ein  Unter-  |    des  Agamemnon  niederlegen  (900)  und  Chryso- 

schied   besteht  darin,   daß   die  Tragiker   die  themis  daraus  auf  die  Rückkehr  des  Bruders 

Aaodtxtj  Homers  'HXtxjQa,  wie  die  'E:itxdoxfj  schließen,   woran  aber  Elektra  nicht  glaubt. 

Homers  *loxdoz7]y   entweder  nach  einer  alten  ^)  F.  Flessa,  Die  Prioritätsfrage  der  soph. 

Textvariante  oder  nach  einer  anderen  Sagen-  und    eur.  Elektra,    Bamb.  Progr.  1882;    Fr. 


quelle  nannten.  Bei  Aischylos  fehlt  die  zweite 
Schwester  ganz. 

*)  Eine   leise   Andeutung  liegt  in   dem 


Kraus,  Utrum  Sophoclis  an  Euripidis  Electra 
aetate  prior  sit,  Progr.  Passau  1890:  vgl.  0. 
Ribbeck  a.  0.13;  Wilamowitz,  Herm.  18  (1883) 


Vers  1425.  214  ff.;    G.  Kaibel  in  der  Einleitung  seiner 

^)  G.  Kinkel,  Epicor.  fr.  p.  19;  Aischylos      Ausgabe,    1896.     übrigens   hat   Wilamowitz 


Ag.  127  f.  187  f.  hat  dieses  Motiv  fast  ganz 
verwischt. 

®)  Vergleichung  der  Erkennungsszenen 
bei  Aisch.  u.  Soph.  R.  Wagner,  Der  Entwick- 
lungsgang der  griech.  Heldensage,  Dresden 
1896,  XVI  f.    Die  Unwahrscheinlichkeit,  daß 


sein  Paradoxon  von  der  Priorität  der  euri- 
pideischen  El.,  nachdem  H.  Steiger  (PhiloL56, 
1897,  561  ff.)  und  L.  Parmentier  1.  1.  333  ff. 
dieser  Ansicht  den  Boden  entzogen  hatten, 
selbst  (Herm.  34, 1899, 58  A.)  zmück  genommen. 


C,  Dranuu    2.  Die  Tragödie,    o)  Bophokles.    (§  174.) 


315 


quem  ist  jedenfalls  der  Abschluß  von  Herodots  Geschichtswerk  (frühestens 
429);')  tenninus  ante  quem  die  Elektra  des  Euripides  (c.  413).  Anhalts- 
punkte bietet  auch  der  Eunstcharakter  des  Stückes,  namentlich  seine 
metrische  Form  und  sein  Verhältnis  zu  verwandten  Stücken.*)  Die  kom- 
matische Form  der  Parodos,  die  kurze,  aus  nur  einem  System  bestehende 
Exodos,  die  häufige  Verteilung  eines  Verses  auf  mehrere  Personen,  endlich 
das  Zurücktreten  der  Chorgesänge  gegenüber  den  Wechselgesängen  führen 
ups  in  die  jüngere  Entwicklungsstufe  unseres  Dichters,*)  in  der  er,  dem 
Anstoß  des  Euripides  folgend,  die  Heftigkeit  der  Affekte  und  die  Spannung 
der  Peripetie  und  Wiedererkennung  in  den  Vordergrund  rückte  und  diesen 
Zielen  selbst  die  Chorpartien  dienstbar  machte.  Daß  dem  Dichter  seine 
eigene  Schöpfung,  das  kontrastierende  Schwesternpaar  in  der  Antigene,  bis 
ins  einzelne  für  die  Ausgestaltung  des  Paares  Elektra-Chrysothemis  vor- 
bildlich war,  liegt  auf  der  Hand.*)  Die  Elektra  des  Euripides  ist  zwar 
auch  gegen  Aischylos  gerichtet*)  (der  Vorwurf  des  leichtgläubigen  Ver- 
trauens auf  eine  bloße  Haarlocke  Eur.  El.  530®)  mit  auf  Sophokles),  aber  die 
latente  Kritik  gilt  doch  in  erster  Linie  dem  Sophokles:  so  im  einzelnen 
der  Hinweis  auf  die  Fiktion  der  pythischen  Spiele  (V.  883), 7)  besonders 
aber  im  Ganzen  die  seltsame  Versetzung  der  Elektra  in  bäuerliche  Um- 
gebung, die  Herabstimmung  ihres  heroischen  Charakters  ins  Gewöhnliche, 
ihre  Verheiratung  am  Schluß  mit  Pylades  —  alles  das  will  zeigen,  wie 
ein  solcher  Vorgang  sich  in  den  Verhältnissen  des  wirklichen  Lebens  voll- 
ziehe, und  es  ist  bezeichnend,  daß  alle  neueren  französischen  Bearbeiter 
des  Stoffs  in  den  Bahnen  des  Euripides  weitergegangen  sind.®)  In  der 
römischen  Litteratur  haben  Atilius  und  Q.  Cicero  den  Gegenstand  wieder 
behandelt.  Daraus,  daß  in  den  Handschriften  die  Elektra  vor  dem  König 
Oidipus  steht,  folgt  nicht,  daß  jene  vor  diesem  gedichtet  sei,  denn  die 
Handschriften  beginnen  mit  den  drei  Lieblingsstücken  der  Byzantinerzeit 
in  alphabetischer  Folge;  ob  Euripides  im  Hippolytos  (428)  mit  der  glän- 
zenden Schilderung  von  den  scheu  gewordenen  Pferden  des  unglücklichen 
Jünglings  (Hipp.  1230 — 48)  die  Erzählung  des  Sophokles  vom  Wagenunfall 
des  Orestes  (El.  743 — 56)  überbieten  wollte  oder  für  Sophokles  das  nicht 
völlig  erreichte  Vorbild  war,^)  ist  ganz  unsicher. 


M  S.  o.  S.  297,  1. 

*)  Mit  dem  Gebrauch  des  Zweigespanns 
702  und  721  f.)  ist  für  die  Zeitbestimmung 
nichts  anzufangen,  da  dieses  tatsächlich 
erst  nach  dem  Tode  des  Sophokles  in  Delphoi 
eingeführt  wurde,  der  homerliebende  Dichter 
aber  hier  einfach  den  homerischen  Leichen- 
spielen des  Patroklos  gefolgt  zu  sein  scheint. 

')  Dieselben  Erscheinungen  treffen  wir 
namentlich  in  den  zwei  jüngsten  Dramen  des 
Sophokles,  Phil,  und  OC,  weniger  in  den 
Trachinierinnen.  Sprachlich  hat  man  be- 
obachtet, daß  dasVerbum  rijxäo&ai  sich  nur 
Elektra  V.  265.  1326,  Phil.  383  und  OC.  1200. 
1618  findet;  auf  Einwirkung  rhetorischen  Ein- 
flusses in  der  Szene  516  ff.  weist  0.  Navabrb, 
Essai  sur  la  rh^torique  gr.  74  f.  hin. 

*)  Die  Parallelen  zwischen  Ant.  und  El. 


stellt  L.  Parmentieb  1.  1.  334,  2  zusammen. 

*)  In  Bezug  auf  die  Art  der  Wiedererken- 
nung; im  übrigen  s.  H.  Steiger,  Warum  schrieb 
Euripides  seine  Elektra?  Philol.  56  (1897) 
561  ff. 

«)  L.  Radermacher,  Rhein.  Mus.  58  (1903) 
546  ff.  hält  die  Verse  Eur.  El.  538—544  für 
interpoliert. 

')  Erkannt  vbn  0.  Ribbeck,  Leipz.  Stud. 
8  (1885)  382—6;  J.  Vahlbn,  Zu  Sophokles' 
und  Euripides'  Elektra,  Herm.26  (1891)  351  ff. 
Siehe  a.  die  Vergleichung  der  beiden  Elektren 
bei  L.  Pabkbntieb  1. 1.  351  ff. 

«)  L.  Pabmentibb  1. 1.  354. 

•)  Eine  Beziehung  zwischen  Tfirjjojy  ifidv- 
TMV  Hipp.  1245  und  rfirjioTg  ifiäoi  El.  747 
anzunehmen  ist  naheliegend,  ebenso  wie 
zwischen  xa&oQirig  x^^^  Ar.  vesp.  1043  und 


316 


GriechiBche  Litteraturgeschichte.    I.  Elassiache  Periode. 


175.  Der  Oldlnovg  rvQavvog,^)  eine  erschütternde  Schicksalstragödie, 
wurde  vermutlich  nicht  lange  vor  425  gedichtet.*)  Der  alte  thebanische 
Mythus  von  Oidipus,  der  ohne  Wissen  seinen  Vater  erschlug,  seine  Mutter 
heiratete  und,  als  er  nach  langen  Jahren  von  seinen  Verimingen  Kenntnis 
erhielt,  sich  in  Verzweiflung  die  Augen  ausstach,  war  zur  tragischen  Dar- 
stellung wie  geschaffen.*)  Die  drei  großen  Tragiker  haben  ihn  wetteifernd 
bearbeitet;*)  Sophokles  hat  die  zwei  äschyleischen  Stücke  Laios  und  Oidipus 
in  der  Art  in  eines  zusammengezogen,  daß  er  die  früheren  Geschicke  des 
Oidipus  in  der  Form  episodischer  Erzählungen  den  Zuhörern  vorführte.*) 
Die  im  Epos  (Arg.  Eurip.  Phoen.)  gegebene  alte  Erbschuld,  die  Laios  durch 
Vergewaltigung  des  Chrysippos  auf  sich  und  sein  Geschlecht  geladen  hatte, 
ist  von  Sophokles  beiseite  gelassen,  während  sie  Aischylos  in  der  theba- 
nischen  Trilogie  wahrscheinlich,  Euripides  in  seinem  Chrysippos®)  jedenfalls 
benutzt  hat.  Die  unerreichte  Kunst  des  Sophokles  besteht  darin,  daß  er 
erst  nach  und  nach  den  Schleier  von  der  unseligen  Vergangenheit  des 
Königs  wegzieht  und  mit  glücklichster  Anwendung  der  tragischen  Ironie 
den  König  selbst  das  Geheimnis  enthüllen  läßt:  Oidipus  sendet  seinen 
Schwager  Kreon  zum  delphischen  Orakel  ab,  um  von  Apollon  ein  Mittel  zur 
Abwendung  der  Pest  in  Theben  zu  erfahren;  das  Orakel  befiehlt  die  Mörder 
des  Laios  aufzusuchen  und  zu  bestrafen.  Oidipus  läßt  den  Seher  Teiresias 
kommen,  um  von  ihm  eine  Spur  des  unbekannten  Mörders  zu  erfahren; 
der  Seher  bezeichnet  in  dunklen,  den  Zuschauern  aber  wohl  verständlichen 
Worten  ihn  selbst  als  den  Mörder.  Durch  den  lauten  Streit  zwischen 
Oidipus  und  Kreon  herbeigerufen,    kommt  lokaste  aus  dem  Palast  und 


pcnOagrifg  ö<o/iiaroc:  El.  70.  Außerdem  kann 
die  Bemerkung  des  Aristoph.  cq.  558  (a.  424) 
von  den  Unfällen  bei  den  Wagenrennen,  und 
nub.  534  (a.  423)  von  der  Locke  des  Bruders 
sich  auf  Soph.  El.  beziehen. 

*)  Das  Beiwort  ist  erst  später  zugesetzt 
worden;  von  andern  wurde  das  Stück  nach 
der  Hypothesis  II.  Oid.  i^Q^regos  genannt. 
Später  deutete  man  nach  der  Hypothesis  das 
Beiwort  auf  den  Vorzug  des  Stückes:  x^Q^- 
h'Tcos  öe.  TVQa%'i'ov  obravieg  avzov  Litygdtfoi'otv 
f^^  i^s^oyia  :i(wijg  TTjg  2!o(fOxkEOvg  Jiotr)ae(ag, 
xainsQ  ijTTtj&nTa  v:i6  ^iXoxXeovg,  wg  rftjoi 
AtxaiuQxog,  Aristides  or.  46  p.  334  Dind. 
meint  mit  Otdijiovg  ohne  Beiwort  den  zv- 
gm'vog. 

*)  Ob  die  Schilderung  der  Pest  im  Ein- 
gang der  Tragödie  durch  die  Pest  in  Athen 
bei  Beginn  des  peloponncsischen  Kriegs  in- 
spiriert sei,  ist  ganz  zweifelhaft.  Den  ein- 
zigen sicheren  Anhaltspunkt  für  die  Datie- 
rung bilden  die  Parodien  OR.  629  o)  no?,ig 
.lo/.ic  durch  die  Komiker  Eupol.  fr.  205,  2  K. 
und  Aristoph.  Ach.  27  (a.  425).  Unsicher  ist, 
ob  man  aus  der  Verwandtschaft  zwischen 
OR.  981  f.  und  Herod.  VI  107  auf  Priorität 
des  herodotischen  Werkes  schließen  darf. 
Klearchos  bei  Ath.276a  überliefert,  daß  Euri-  j 
pides  in  der  Medeia  (431)  und  Sophokles  im 
Oedipus  R.  die  (zeitlich  nicht  genau  bestimm-   , 


bare)  yga^fiarixi]  xoaycpöia^  eine  Komödie  des 
Kallias,  hinsichtlich  der  Disposition  des  Chors 
nachgeahmt  haben,  eine  Kombination,  deren 
Richtigkeit  wir  nicht  kontrollieren  können. 
Unsicher  sind  die  Versuche  von  Tii.Zielinski, 
Phil.  55  (1896)  523,7,  den  OR.  vor  Eur.  Hippel, 
und  von  F.  Marx,  Festschr.  f.  Th.  Gomperz, 
1902,  129  ff.,  ihn  zwischen  Eur.  Med.  und 
Andromache  zu  rücken. 

«)  Arist.  poöt.  1453b  3  ff:  dsT  yäg  xal 
ävF.v  Tov  ooäv  ovTw  ovvfaidrat  tov  fivdov, 
wäre  tov  dxovovTa  xd  nodyfiaxa  yiyro/neva  xai 
(fgixTetv  xai  elseir  f.x  x(üv  avfißairorxwy,  Sbteg 
dv  :rrdi}oi  xig  dxovoyv  xm'  xov  OiötjroSog  ftvdov. 

*)  Aischylos  schrieb  einen  Laios  und 
Oidipus,  Euripides  einen  Oidipus,  in  dem  er 
wie  in  Antigene,  Elektra,  Philoktetes  die  Sage 
stark  umgestaltete,  so  daß  Oidipus  sich  nicht 
selbst  blendet,  sondern  von  den  Dienern  des 
Laios  geblendet  wird,  nach  Schol.  Eur.  Phoen. 
61,  womit  die  Darstellung  auf  einer  etruski- 
schen  Aschenkiste  bei  G.  Körte,  Ril.  d.  Urne 
Etnische  II  p.  21  ff.  übereinstimmt. 

*)  Im  Gegensatz  zur  Manier  des  Euri- 
pides läßt  Sophokles  den  Helden  nicht  in 
einem  Prolog,  sondern  erst  im  zweiten  Epei- 
sodion  V.  771 — 833  seine  früheren  Gescliicke 
erzählen. 

«)  F.  G.  Welcker,  Griech.  Trag.  533  ff. 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    c)  SophokleB.    (§  175.)  317 

erzählt,  um  den  aufgeregten  Gatten  zu  beruhigen,  die  Aussetzung  des 
jungen  Oidipus  und  die  Ermordung  des  Königs  Laios  am  Dreiweg  in 
Phokis;  die  Erzählung  läßt  im  Oeist  des  Oidipus  die  schreckliche  Ahnung, 
daß  er  selbst  der  Mörder  des  Laios  sei,  aufdämmern.  Die  Hoffnung,  daß 
ihm  doch  wenigstens  das  vom  Orakel  angedrohte  Los,  seinen  eigenen 
Vater  zu  erschlagen,  erspart  bleibe,  scheint  durch  die  Meldung  vom  Tod 
des  Polybos,  des  angeblichen  Vaters  des  Oidipus,  zur  Gewißheit  zu  werden; 
da  verkündet  der  Bote,  daß  Polybos  und  Merope  nur  die  Nähreltem  des 
Oidipus  waren.  Vor  lokastes  Auge  zerfließen  bereits  die  Nebel,  Oidipus 
klammert  sich  noch  an  eine  schwache  Hoffnung  und  verlangt  stürmisch 
den  Diener  zu  sehen,  der  den  kleinen  Knaben  dem  Hirten  des  Königs 
Polybos  übergeben  habe;  der  kommt  und  löst,  von  Oidipus  selbst  befragt, 
die  letzten  Zweifel,  so  daß  nun  die  ganze  schauerliche  Wahrheit  enthüllt 
vor  den  Augen  des  unglücklichen  Königs  liegt.»)  Durch  diese  Darstellung 
ist  Spannung  und  Erschütterung  in  unübertrefflicher  Weise  erreicht.  Aber 
in  einer  bei  Sophokles  sonst  nicht  üblichen  Art  wird  alle  Aufmerksamkeit 
abgelenkt  auf  den  äußeren  Entwicklungsgang  der  Handlung,  auf  die  Frage, 
ob  und  wie  das  schreckliche,  allen  außer  dem  Oidipus  selbst  offenbare 
Geheimnis  herauskommen  werde.  Man  hört  zu  wie  in  einem  Kriminal- 
prozeß. Auf  Charakterzeichnung  ist  auffallend  wenig  Wert  gelegt:  Oidipus 
selbst,  der  übrigens  vollkommen  schuldlos  ist,*)  stellt  sich  als  ein  wohl- 
gesinnter, korrekter,  pflichteifriger  Fürst  (Schol.  OR.  1)  von  starkem  Sicher- 
heits-  und  Selbstgefühl  dar,  ähnlich  dem  Kreon  der  Antigene;  Kreon  ist 
ein  einfacher  Biedermann,*)  Teiresias  der  Sehertypus;  in  dem  Boten  von 
Korinth  klingen  die  humoristischen  Züge  des  Wächters  aus  der  Antigene 
an;  nur  lokaste,  die  ahnungsvolle  Seele,  dem  Sohn-Gatten  mit  inniger 
Liebe  und  Fürsorge  auch  in  der  tiefsten  Schmach  und  Verschuldung  hin- 
gegeben, verrät  den  feinen  Psychologen  Sophokles.  Im  übrigen  ist  es, 
als  hätte  hier  der  Dichter  ein  Experiment  machen  wollen,  wie  weit  tiefste 
tragische  Wirkung  lediglich  durch  spannende  Gestaltung  des  Handlungs- 
verlaufs hervorzubringen  sei.  So  hat  er  das  Vorbild  der  Schicksalstragö- 
dien geschaffen,  das  aber  alle  seine  Nachahmungen  in  Schatten  stellt. 
Wie  es  schon  auf  die  Griechen  des  4.  Jahrhunderts  wirkte,  zeigen  die 
zahlreichen  Exemplifikationen  und  bewundernden  Urteile  in  der  Poetik  des 


*)  Noch  mehr  Bewunderung  verdient  die  ')  Die  Tötung  eines  unbekannten  Mannes 

Kunst  des  Dichtere  in  Anbetracht  der  Tat-  auf  der  Reise  in  Notwehr  ist  vor  dem  Forum 

Sache,  daß  die  ganze  Art  der  Wiedererkennung  heroischer  £thik  keine  sittliche  Verechuldung; 

von  Sophokles  selbst  erfunden  ist.   Nach  der  ebensowenig  sollte  man   dem  Oid.  aus  den 

Sage   in   den   Schollen    zu   Eur.  Phon.  1760  im    Affekt    getanen    blasphemischen    Äuße- 

wurde  nämlich  Oidipus  als  Mörder  des  Laios  rungen  über  Apollon  und  die  Orakelweisheit, 

von  lokaste  an  dem  Gürtel  erkannt,  den  er  an  die  allerdings  Sophokles  selbst  fest  ge- 

dem      erschlagenen      König      abgenommen  glaubt  hat,  einen  Strick  drehen  wollen.  Wie 

hatte,  und   nach  einer  andern  durch  Hygin.  Sophokles  selbst  über  diese  Frage  dachte, 

fab.  ß6    (vgl.  schol.   Eur.  Phoen.  26)    über-  gibt  er  OC.  960  ff.  (s.  a.  Schol.  zu  OC.  960 

lieferten  Version  wurde  der  kleine  Oidipus  in  rtp  yao  dm  6  OidtJiovg,  et  ug  dxotßihg  i^eidi^oi, 

einem  Kasten  in  das  Meer  geworfen  und  an  ädixog  fier  ovx  ioiiv,  dxvxijs  ^e  xai  Jtegtjtai^i^g) 

den  Strand   von   Sikyon  getrieben,  wo  ihn  zu  verstehen. 

beim  Waschen   die  Königin  Periboia  findet  ')  Viel  zu  viel  will  Wilamowitz,  Herrn. 

Vgl.E.BETHE,  Thebamsche  Heldenlieder  67  ff.   ,   34  (1899)  61  f.  in  diesen  Charakter  legen. 


318  OriechiBche  Litteratnrgeschichte.    L  Klasidsche  Periode. 

Aristoteles.  Piaton  freilich,  im  Zusammenhang  seiner  Staatspädagogik, 
verwirft  derartige  Schicksalstragödien  (reip.  II  380a).  Ob  die  athenischen 
Richter,  die  den  Sophokles  mit  diesem  Stück  unter  Philokles  herabgesetrt 
haben,  0  ebenso  empfanden  wie  Piaton  oder  ob  das  Unterliegen  des 
Dichters  in  diesem  Fall  andere  Gründe  gehabt  hat,*)  wissen  wir  nicht. 

176.  Am  schwersten  zu  verstehen  sind  unter  allen  sophokleischen 
Tragödien  die  Tgaxiviai.  Sie  haben  ihren  Namen  von  dem  Chor,  der  aus 
Jungfrauen  von  Trachis  gebildet  ist.  Der  Titel  erscheint  aber,  da  der 
Chor  selbst  nur  eine  sehr  untergeordnete  Rolle  spielt,  so  wenig  passend 
als  bei  den  Phoinissen  des  Euripides.  Der  Stoff  ist  aus  dem  Epos  Olxaliag 
älooig  genommen  und  wird  auch  von  Archilochos-  (Dio  Chr.  or.  60,  1), 
Bakchylides  (5,  173  und  im  'Hgaxl^g)  und  Aischylos  (fr.  30  N.*)  berührt. 
Die  tragischen  Motive  hat  übrigens  Sophokles  erst  in  die  Sage  hinein- 
getragen: die  gewöhnliche  Sage  läßt  den  Herakles  die  lole  für  Hyllos  er- 
obern und  das  Nessoshemd  durch  Lichas  bei  Deianeira  holen.  Bei 
Sophokles  will  er  lole  für  sich  selbst,  und  das  Hemd  schickt  ihm  Deia- 
neira.') Das  Drama,  dessen  Authentizität  oder  Vollständigkeit  anzu- 
zweifeln*) kein  Grund  ist,  zeigt  einen  von  allen  anderen  Stücken  des 
Sophokles  stark  abweichenden  Kunstcharakter:  Sophokles  in  Geist  und 
Form  ein  Nachahmer  des  Euripides.  Den  Herakles,  der  im  6.  Jahrhundert 
in  der  attischen  Religion  eine  Rolle  gespielt  hatte,  dann  aber  durch 
Theseus  zurückgedrängt  worden  war,*)  kennt  die  ältere  griechische 
Bühne  zunächst  nur  als  komische  Figur,  den  starken  Hans,  den  gewaltigen 
Esser  und  Trinker  —  so  das  Satyrspiel,  die  sizilische  und  attische  Ko- 
mödie und  noch  Euripides  in  dem  Nachspiel  Alkestis  a.  438.  Ernsthaft 
hat  ihn  zuerst,  aber  nur  episodisch,  Aischylos  im  befreiten  Prometheus 
auf  die  Bühne  gebracht.  0)  Im  Mittelpunkt  einer  ernsthaften  Handlung 
steht  er  zuerst  in  dem  'Hgaxifjg  /Liaivojüievog  des  Euripides  und  in  den 
Trachinierinnen  des  Sophokles.^)    Die  starken  und  zahlreichen  Ähnlichkeiten 


*)  Aristid.  or.  46  p.  334  Dind.  '  jene  Hypothese  wendet  sich  in  übertriebener 

*)  Siehe  0.  S.  303.  Daß  die  von  Neueren  1  Bewunderung  des  Stückes  R.  Schbeiner,  Zur 
(E.  Zamcke)  vermißte  ,  poetische  Gerechtig-  I  Würdigung  der  Trachiniai  des  Soph.,  Progr. 
keit"  den  Preisrichtern  Sorge  gemacht  habe,  v.Znaim,  Wien  1886;  auch  N.  Wecklbin,  Bayr. 
ist  nicht  anzunehmen ;  ebensowenig  die  schon  |  Gymn.Bl.  22  (1886)  399  stellt  die  Trach.  höher 
im  Altertum  (Ar.  poöt.  1454  b  7.  1460  a  30;  als  selbst  die  Elektra.  Auffällig  sind  die  zahl- 
von  Neueren  s.  J.  Nusser.  Soph.  König  ödi-  reichen  obra^  Fiotj/nfva  unseres  Stückes, 
pus,  Progr.  Würzb.  1904  u.  M.  Adler,  Ehren-  I  *)  Die  Porosskulpturen  der  athenischen 
gäbe  der  Latina,  Halle  1906,  61  ff.)  bemerkten  Akropolis  aus  dem  6.  Jahrh.  zeigen  Herakles- 
Äußerlichen  ünwalirscheinlichkeiten.  motive  (E.  Petersen,  N.  Jahrbb.  f.  klass.  Alt. 

')    A.  Fahlnberg,    De   Hercule    tragico  ,    13,  1904,  322  f.);  über  die  Verdrängung  aus 

Graecor.,  Leipz.  1892,  13  f.  den  Bildwerken  der  Akropolis  durch  ITieseus 

*)  Die  Schlußpartie  1216—1278  erklärt  C.Watzinoer,  Athen.  Mitteil.  29  (1904)  241  ff. 

für  unecht  Th.  Berok,  Gr.  Litt.  III  394  f. ;  «)   A.  Fahlnbero  a.  a.  0.     Bedeutsam 

G.  Wendt  in  Übers.  (Stuttg.  1884)  S.  7  möchte  ist  die  Begeisterung   von  Kimons  Partei  für 

eher  vermuten,  daß  der  Schluß  der  Tragödie  das  dorische  Heraklesideal  Plut.  Cim.  4. 

verloren  gegangen  sei,  zumal  diese  weniger  ,           ')  Übrigens  hat  auch  der  sophokleische 

Verse  als  alle  anderen  zähle.   In  dem  ganzen  Herakles  einen  starken  Zug  zur  Brutalität,  so 

Stück  wollte  A.  W.  Schlegel  eine  Bearbeitung  daß   sogar   der   Diener  Lichas  ihn  an  Takt 

durch  lophon  finden;  mit  der  Annahme  dop-  überbietet  —  wohl  ein  Rudiment  des  Hercules 

pelter  Rezension   fand   sich  G.  Hermann   in  comicus. 
seiner  Ausgabe  (3.  A.  Berl.  1851)  ab.    Gegen 


G.  Drama.    2.  IMe  Tragödie,    c)  Sophokles.    (§  176.)  319 

zwischen  diesen  beiden  Stücken 0  lassen  sich  nur  aus  bewußter  Bezug- 
nahme des  einen  auf  das  andere  erklären,  und  zwar  muß,  da  in  den 
Trachinierinnen  eine  künstlerische  Entgleisung  des  Sophokles  vorliegt,  der 
euripideische  Herakles  dagegen  dem  Eunstcharakter  dieses  Dichters  völlig 
treu  bleibt,  das  Stück  des  Euripides  das  ältere  sein.^)  Euripideisch  ist  in 
den  Trachinierinnen  die  Vorführung  eines  leidenden  Helden  und  einer 
ganz  veristischen,  bei  aller  Anmut  doch  in  ihrer  Kopflosigkeit  nahezu 
karikierten  Frauenfigur,  der  Deianeira:  eine  kleine  Frau,  die  ihrem  meist 
auf  Abenteuerreisen  abwesenden  Mann  innig  zugetan  ist,  gewöhnt,  sich 
keine  großen  Sorgen  um  ihn  zu  machen;  als  er  nun  aber  im  fünfzehnten 
Monat  noch  nicht  zurück  ist  und  sie  sich  nachträglich  darauf  besinnt,  wie 
er  eben  diesmal  unter  ganz  besonderen  Umständen  auf  die  Reise  gegangen, 
wird  sie  doch  ängstlich;  auf  den  glanzvollen  Gedanken,  nach  dem  Ab- 
wesenden forschen  zu  lassen,  muß  sie  erst  durch  eine  Magd  gebracht 
werden,  die  nun  um  ihres  Scharfsinns  wegen  hoch  gepriesen  wird.»)  Den 
Hyllos,  der  ganz  wohl  weiß,  wo  sich  Herakles  befindet,  zu  befragen,  ist 
der  Deianeira  nicht  eingefallen.  Als  dann  die  kriegsgefangenen  Frauen 
von  Lichas  gebracht  werden,  unter  ihnen  lole,  um  derenwillen  Herakles 
den  ganzen  Zug  ausgeführt  hat,  da  nimmt  sich  arglos  Deianeira  ihrer  an, 
entschuldigt  sogar  die  Untreue  ihres  Mannes  —  die  Liebe  gilt  ihr  (445  flf.) 
als  eine  Krankheit,  der  sich  niemand  entziehen  könne.*)  Doch  hält  sie 
für  angezeigt,  sich  der  Liebe  des  Herakles  zu  versichern  und  schickt  ihm 
in  bester  Absicht  {xQrjoxd  jncofiivr]  V.  1136)  das  fatale  <piXxoov  des  Nessos- 
hemdes.  Wiederum  nachträglich  fällt  ihr  aber  (710  f.)  ein,  es  sei  doch 
wahrscheinlich,  daß  das  Geschenk  des  Kentauren  Verderben  stiften  werde. 
Als  ihr  endlich  der  ausgesandte  Hyllos  meldet,  was  sie  für  Unheil  durch  ihre 
Sendung  angerichtet  habe,  geht  sie  freiwillig  in  den  Tod.  Nirgends  sonst 
hat  Sophokles  das  Weib  so  von  der  Seite  ihrer  Schwäche  dargestellt.^) 
Auch  in  der  Technik  verrät  sich  der  Einfluß  des  Euripides:  nirgends  als 
in  den  Trachinierinnen  hat  Sophokles  den  monologisch  berichtenden  Prolog, 
nirgends  den  banalen  Abschluß  mit  einer  „Versorgung",  wie  sie  hier  der 
lole  durch  Verheiratung  mit  Hyllos  zuteil  wird.  Euripideisch  ist  auch  die 
weitläufige  Auseinandersetzung  von  Herakles'  Leidenszustand  (983  flf.)  und 
die  Gotteslästerung  des  Hyllos  (1266  flf.).  Sophokleische  Kunst  bemerkt 
man  nur,  bei  Vergleichung  mit  der  Zerfahrenheit  des  'HqaxXfjg  juaivöjLievog^ 
in  der  Konzentration  und  Straffheit  des  Aufbaus,  insbesondere  der  Ein- 
fügung der  Gestalt  des  Boten,  die  eine  Kontrolle  des  der  spannenden  Ver- 
zögerung wegen  eingeführten  Lichas    und  seiner  schonungsvollen   Lügen 

M  WiLAMOwrrz,   Eurip.   Herakl.  P  344.  |   stehung. 

382  ft.    Fahlnbbro  a.  a.  0.  18  ff.  I           >)  V.  61  ff.  Der  Gedanke  ist  euripideisch 

2)  Ein  starker  Mißgriff  ist  es,  wenn  Th.  (Eur.  Andr.  639  f.;    El.   362  f.  487  ff.;    Hei. 

ZiELiNSKi,  Philol.  55  (1896)  621  ff.  unter  Korn-  728  ff.  1641 ;  Ion  854  ff.), 

bination  der  Tr.  mit  der  Anekdote  vom '//^axA^s  *)  Ebenfalls  ein  euripideischer  Gedanke: 

(jirjv^nt)::  und  mit  der  Funktion  des  Soph.  als  W.  Nestle,  Euripides,  der  Dichter  der  griech. 

Hellenotamias  die  Tr.  443/2   ansetzen  will;  Aufklär.,  Stuttg.  1901,  225  f. 

auch  Fahlnbero  p.  18  ff.  greift  mit  der  An-  ^)  Man  denkt  an  die  Sentenz  Eur.  Hipp. 

Setzung  des  Stückes  vor  den  Hippolytos  des  966  ro  fiojgov  dvögaotv   /*«•   ovx  m,   yii'a/|t 

Euripides  (428)  fehl.    Übrigens  dachte  auch  ö'  ifijreqrvxe.  Anders  freilich  über  Deianeiras 

Th.  Bergk,  Gr.  Litt.  III  398  an  frühere  Ent-  Charakter  E.  Rohde,  Psyche  IP  237. 


320  QriechiBche  Litteraturgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

möglich  macht.  Der  verwirrenden  Menge  der  Personen  und  dem  Aus- 
einanderfallen in  zwei  schlecht  verbundene  Hälften  bei  Euripides  steht  in 
dem  sophokleischen  Stück  das  dominierende  Personenpaar  Deianeira-Herakles 
und  das  dominierende  Motiv  der  Liebe  (V.  497  flf.,  892  —  auch  dieses  nicht 
eigentlich  sophokleisch,  vgl.  Eur.  Hipp.  545  flf.)  gegenüber.  Also  euripi- 
deischer  Verismus,  Einzelheiten  euripideischer  Oedanken  und  Formen  bei 
sophokleischer  Struktur  —  wer  für  dieses  Oxymoron  den  Erklärungsgrund 
findet,  hat  das  merkwürdige  Stück  verstanden.  Es  sieht  aus,  als  hätte 
Sophokles,  indem  er  den  Stoflf  des  älteren  'HgaxX^g  fjuzivöjtuvog  ergriflf,  zeigen 
wollen,  daß  er  auf  die  euripideische  Art  eingehen  und  es  künstlerisch  doch 
weit  besser  machen  könne  als  Euripides.  Daß  in  diesen  Formen  auf  der 
attischen  Bühne  litterarische  Politik  getrieben  wurde,  zeigen  die  beiden 
Elektron  und  Philoktete.  Die  Alten  kannten  auch  in  den  Chorpartien 
der  beiden  Dichter  parabasenartig  polemische  Stellen  (Poll.  IV  1 1 1).  Auch 
mit  der  stilwidrigen  Verwendung  daktylischer  Hexameter  in  der  Elageszene 
1009  flf.,  1018  flf.,  1031  flf.»)  könnte  eine  Persiflage  der  von  Euripides  seit 
etwa  424  in  die  Monodie  eingeführten  Daktylen  beabsichtigt  sein.  Von 
späteren  Tragikern  haben  den  Gegenstand  noch  Spintharos  {'Hgaxkfjg  negt^ 
xaiofievog)  und  die  Römer  Accius  (Trachiniae)  und  Seneca  (Hercules  Oetaeus) 
behandelt.  2) 

177.  Der  ^ikoxrrjrtjg,  nach  der  didaskalischen  Überlieferung  409 
aufgeführt  und  mit  dem  ersten  Preis  ausgezeichnet,*)  behandelt  denselben 
Stoflf  wie  die  gleichartigen  Stücke  des  Aischylos  und  Euripides,  die  beide 
vor  das  sophokleische  fallen.  Der  Stoflf  ist  aus  der  kleinen  Dias  genommen 
und  auch  von  Bakchylides  in  einem  Dithyrambus*)  behandelt  gewesen. 
Der  Rhetor  Dion  Chrysostomos,  dem  noch  die  drei  Philoktete  vorlagen, 
vergleicht  sie  und  gibt  dem  Sophokles  den  Vorzug.^)  Euripides,  dessen 
Philoktetes  431  zusammen  mit  der  Medeia  auf  die  Bühne  kam,®)  hatte  sich 
enger  an  Aischylos  angeschlossen  und  wie  jener  den  Chor  aus  einheimi- 
schen Lemniern  bestehen  lassen;  seine  Tragödie  scheint  an  einzelnen  Rühr- 
eflfekten  vielleicht  reich,  im  ganzen  aber  ein  schales  Intriguenstück  ohne 
psychologische  Tiefe  gewesen  zu  sein.  Sophokles,  der  auch  noch  einen 
zweiten,  früh,  wie  es  scheint,  verloren  gegangenen  Philoktetes  in  Troia 
schrieb,^)  nahm  stärkere  Veränderungen  vor,  um  einesteils  dadurch,  da& 
er  die  Insel  unbewohnt  sein  ließ,   das  Elend  des  Philoktetes  zu  erhöhen^ 

')  A.  Rossbach,  Metrik M7  ff.  116  ff.       I  »)   Dio   Chrys.  or.  52,  15:   6  SwfoxXrig 

')  Über   Benützung   der   sophokleischen    I   fieaoc:  foixfv   dfi(f)oh'   eivai,    ovre    ro    av^aöeg 
Trachinierinnen  bei Ovid. met. IX  s.  H.  KiENZLE,       xai    djrkovv   to    tov   Aioyvlov    fy/ov  ovie   z6 


Ovidius  ad  metamorph,  componendas  qua  ra- 
tione  compendium  mythologic.  adhibuerit, 
Basel  1903,  54  f. 

^)  Argum.:  sdtSdxlhj  e:ti  Fkax^xhnov , 
jigojzo^  t)v  2LO(]^oxXrjg, 

*)  Bacchyl.  p.  163  fr.  7  Bl.^.  Über  die 
Philoktctessage,  deren  Held  eine  Variante  des 
lemnischen  Hephaistos  zu  sein  scheint  und 
deren   Ausgestaltung    auf   dem    Zusammen- 


äxQißh  xal  ögtfÄV  xai  jto/atixov  tov  EvQiTtibov, 
oefivffv  de  xiva  xal  fieya/.ojzQc^i]  sioitjotr  roayi- 
xwtaxa  xai  Fve^eoraia  eyox'oav, 

®)  Auf  ihn  ist  Bezug  genommen  von 
Aristoph.  Ach.  424. 

')  Dieser  zweite  ^PO.oxirirrjg  spielte  nach 
der  Überführung  des  Helden  in  das  achäische 
Lager  in  Troia,  wie  der  erhaltene  in  Lemnos ; 
eine  klare  Idee  über  ihn  sich  zu  bilden,   ist 


Schluß   mit   der  Heraklessage  beruht,   s.  F.   ,   bei  der  Spärlichkeit  der  Fragmente  schwer; 
Marx,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt.  13  (1904)  679.       ,   s.  F.  G.  Welcher,  Griech.  Trag.  I  138  f. 


G.  Drama.    2.  I>ie  Tragödie,    c)  Sophokles.    (§  177.)  321 

andernteils  durch  den  Kontrast  der  handelnden  Personen  ein  verflochtenes 
Drama  {zgaycpdla  nenleyfjiivri)  mit  glücklichem  Ausgang  zu  schaffen.  Die 
epischen  Quellen  der  Fabel  erzählten  die  Zurücklassung  des  von  einer 
Schlange  gebissenen  Philoktetes  auf  der  öden  Insel  0  Lemnos  und  seine 
Abholung  nach  Troia  im  letzten  Jahr  des  Krieges.*)  Nach  dem  Auszug 
der  Prokloschrestomathie  und  dem  Gemälde  des  Polygnotos  in  der  athenischen 
Pinakothek')  war  es  Diomedes,  der  den  Helden,  von  dessen  Bogen  die 
Einnahme  der  Priamosfeste  abhing,  aus  Lemnos  zurückholte.  Aischylos 
setzte  an  dessen  Stelle  nach  einer  anderen  Version  der  Sage^)  oder  nach 
eigener  Erfindung  den  schlauen  Odysseus,  der  sich  für  die  Ausführung 
eines  auf  Täuschung  berechneten  Unternehmens  besser  eignete.  Euripides 
vereinigte,  da  er  über  drei,  nicht  wie  Aischylos  über  nur  zwei  Schauspieler 
verfügte,  die  epische  Darstellung  mit  der  des  Aischylos,  indem  er  dem 
Diomedes  den  Odysseus  beigesellte.^)  Sophokles  ließ  den  im  Epos  wenig 
individuell  und  sympathisch  charakterisierten  Diomedes  ganz  weg  und 
stellte  dem  Odysseus  den  jungen  Sohn  des  Achilleus,  den  Neoptolemos,  an 
die  Seite,  offenbar  nach  eigener  Erfindung.  In  dieser  Veränderung,  mit 
der  auch  die  Zusammensetzung  des  Chors  aus  Schiffsleuten  des  Neoptolemos 
zusammenhängt,  wurzelt  die  Stärke  der  neuen  Tragödie  des  fast  neunzig- 
jährigen Greises;  in  ihrer  lebensvollen  Frische  nimmt  man  nichts  von  der 
schwächenden  Einwirkung  des  Alters  wahr.  Die  Einführung  des  Neopto- 
lemos bot  auch  den  technischen  Vorteil,  gegen  Philoktetes  einen  Helden 
vorschieben  zu  können,  den  dieser  noch  nicht  kennt,  gegen  den  er  also 
auch  nicht  voreingenommen  ist  (Euripides  muiste,  um  dieser  Schwierigkeit 
Herr  zu  werden,  seinen  Odysseus  von  Athene  verwandeln  lassen).  Der 
Dichter  hat  nun  in  dem  herrlichen  Gegensatz  der  Charaktere,  den  er 
ähnlich  schon  im  Aias  vorgeführt  hatte,  ohne  ihm  aber  eine  so  beherrschende 
Stellung  anzuweisen  und  ohne  ihn  psychologisch  so  fein  auszuführen,  die 
Pole  gewonnen,  zwischen  denen  die  Handlung  sich  bewegt.  Auf  der 
einen  Seite  steht  der  kluge  Odysseus,  der  Typus  des  ionischen  ao^pogy^) 
der  in  seiner  Schlauheit  ohne  jeden  Gewissensskrupel  Lüge  und  Hinterlist 
anwendet,  wenn  es  sich  um  die  Durchführung  eines  im  Interesse  des  Ge- 
meinwohls geplanten  Unternehmens   handelt,   auf  der   anderen  der  offen- 


*)  Die  unzutreffende  Schilderung  von 
Lemnos  als  einer  wüsten  Insel  bei  Soph.  erklärt 
P.  CoRssEN,  Philol.  66  (1907)  346  ff.  daraus, 
daß  Soph  die  Beschaffenheit  der  Insel  Chryse, 
auf  der  nach  älterer  Sage  Phil,  litt,  auf 
Lemnos  übertragen  habe,  wohin  Homer  den 
Phil,  versetzt  hatte. 

')  Die  Szene  des  Stücks  stellte  dem- 
nach einen  öden  Platz  der  Insel  dar,  die 
Mitteltür  war  zu  einer  höher  gelegenen  Höhle 
mit  doppeltem  Ausgang  nach  vom  und  rück- 


^)  Auf  den  Diomedes  ist  noch  hin- 
gewiesen in  Soph.  Phil.  570. 

*)  Bemerkenswert  ist,  daß  Sophokles  im 
Phil,  dem  Odysseus  die  Sympathie,  die  er 
ihm  im  Aias  doch  schließlich  erwirbt,  ent- 
zogen hat.  Hierin  kann  eine  Veränderung 
seines  Menschenideals  (auch  im  Evovodog  u. 
'Odvoaeifg  dxav&ojikrj^  war  Odysseus  ganz  un- 
sympathisch dargestellt),  aber  auch  das  bloß 
künstlerische  Motiv  einer  ganz  klaren  Heraus- 
arbeitung der  Gegensätze  gefunden  werden. 


wärts   {(^lüTOjnos   Tifxoa  V.  16)  umgewandelt.   \  Manches  klingt  doch  (z.  B.  82. 96  ff.)  wie  eine 
^)  Paus.  I  22,  6.  i   Konfession    des   Dichters    über   altattischen 

^)  Pind.  Pyth.  1, 53  (gedichtet 470)  spricht 


vielleicht  nach  Stesichoros,  von  mehreren 
Abgesandten.  Möglicherweise  wichen  in  diesem 
Punkt  die  epischen  Quellen  voneinander  ab. 

Handbach  der  klass.  AltertomswiBseiiseliAft    YIL    5.  Aufl.  21 


Adel  der  Gesinnung  und  ihre  Ruinierung 
durch  sophistische  Rhetorik  und  sophistischen 
Egoismus. 


322  Qrieohiflche  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

herzige,    edle,   gemütswarme  Neoptolemos,   der   Ritter    ohne   Furcht  und 
Tadel,  eine  prachtvolle  Verjüngung  des  Achilleustypus,  der  sich  von  vorn- 
herein nur  widerstrebend  dazu  hergibt,  sich  „\xm  der  Sache  willen"  durch 
falsche  Vorspiegelung  in  das  Vertrauen  des  Philoktetes   zu   stehlen,   und 
der  dann,  als  der  unglückliche,  von  einem  neuen  Krankheitsfall  erfaßte 
Einsiedler  ihm  treuherzig  den  Bogen  übergibt,  Treue  mit  Treue  erwidert 
und  das  künstliche  Gewebe  der  Täuschung  dadurch  zerreißt,  daß  er  offen 
die  Wahrheit  eingesteht  und  zuerst  durch  bittendes  Zureden  den  tief  ge- 
kränkten Helden  mit  den  Achäern   zu  versöhnen   sucht,   als  aber  dieses 
nicht  gelingt,  den  Bogen  trotz  der  entschiedenen  Einrede  des  OdysseuB 
zurückzugeben  sich  entschließt.  0    Damit  geriet  jedoch  der  ganze  Anschlag, 
dessen  Fäden  Odysseus  aus  der  Ferne  gelenkt  hatte,  so  in  Verwirrung, 
daß   menschliche   Kunst  den  Knoten  zu   lösen  nicht  mehr  imstande  war 
und  nach  euripideischer  Art  ein  deus  ex  machina,  Herakles,  dazwischen 
treten  mußte.*)     In  diesem  Ausgang  erkennt  man  ebenso  wie  in  der  Vor- 
führung  eines  körperlich   leidenden  Helden  und  der  realistischen,   selbst 
vor  Erregung  des  physischen  Ekels  nicht  zurückschreckenden  Schilderung 
des   Leidens    den    Einfluß    euripideischer    Kunst.*)      Auch    sonst,  in    der 
metrischen  Form  und  in  der  Behandlung  des  Chors,  zeigt  sich  die  Wand- 
lung, welche  die  Tragödie  in  der  letzten  Lebenszeit  des  Dichters  erfahren 
hatte.     In  keinem  anderen  Stück  des  Sophokles  ist  so  häufig  die  Länge 
des  lambus  in  zwei  Kürzen  aufgelöst  und  so  unbedenklich  ein  Trimeter 
unter  mehrere  Personen  verteilt.*)    In  den  lyrischen  Partien  herrscht  wie 
in  den  jüngeren  Stücken  des  Euripides  fast  ausschließlich  der  vielgestaltige 
Glykoneus;  auch  die  von  Euripides  eingeführten  lyrischen  Daktylen  kommen 
vor.    Die  Wechselgesänge  haben  den  Chorgesang  so  sehr  zurückgedrängt, 
daß  nicht  bloß  die  Parodos  kommatisch  ist,  sondern  auch  das  ganze  Stück 
nur  ein  einziges  eigentliches  Chorlied  (676 — 729)  enthält.    Der  Chor  selbst 
hat  seine   ideale  Stellung  ganz  verloren   und   spielt   nur   die   Rolle  eines 
dienenden  Begleiters  des  Neoptolemos.     Auch  die  Epeisodien  haben  ihre 
ursprüngliche,   im  Namen  ausgedrückte  Bedeutung  insofern  verloren,  als 
ihr  Anfang  nur  selten  mehr  durch  das  Auftreten  einer  neuen  Person  be- 
zeichnet wird.*)    Übrigens  ist  in  diesem  Stück  das  Verhältnis  zu  Euripides 
doch    wesentlich   anders   als   in   den   Trachinierinnen.     Der  Geist  ist   im 
Philoktetes  ganz  echt  sophokleisch,  die  euripideischen  Einflüsse  beschränken 
sich  auf  technische  Einzelheiten,  in  denen  sich  aber  doch  auch  wieder  die 
Selbständigkeit  der  Handhabung  bei  Sophokles  zeigt.  In  V.  11  f.  möchte  man 


*)  Vgl.  die  Beurteilung  von  Neoptolemos' 
Charakter  bei  Aristot.  eth.  Nie.  1151b  18: 
er  gebe  der  edlen  ^Öovtj  an  der  Wahrheit 
nach. 

*)  Daß  die  Göttererscheinung  bei  Sopho- 
kles weit  tiefer  als  bei  Euripides  motiviert 
ist,  8.  o.  S.  306. 

')  Übrigens  ist  Philoktetes  selbst  keiner 


nete  Figur:  so  realistisch  sein  körperliches 
Leiden  und  der  in  diesem  begründete  patho- 
logische Eigensinn  geschildert  wird,  so  ist 
er  doch,  insbesondere  in  seinem  Bedttrfais 
nach  Ruhm  (v.  254  ff.),  ein  voller  Helden- 
charakter homerischer  Art. 

*)  Vgl.  oben  S.  300,  7. 

^}  Keine  neue  Person  tritt  mit  dem  An- 


von  den  banalen  Jammerhelden  des  Euri-  fang  eines  neuen  Epeisodion  auf  V.  219,  519, 
pides,  über  die  sich  die  Komödie  lustig  macht,  780,  865 ;  umgekehrt  tritt  542  u.  974  mitten 
sondern    eine   mit  großer  Feinheit  gezeich-      im  Epeisodion  eine  neue  Person  auf. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    c)  Sophokles.    (§  178.)  323 

80gar  eine  Kritik  der  langatmigen  Prologe  des  EuripidesO  angedeutet 
finden.  —  Der  Gegenstand  ist  nicht  nur  von  den  drei  großen  Tragikern, 
sondern  auch  von  Philokles,  Kleophon,  Antiphon,  Theodektes,  in  römischer 
Sprache  von  Accius^)  behandelt  worden. 

178.  Der  Oldinovg  inl  KoXcovcp  ist  in  alten  Erzählungen,  wie  wir 
oben  (S.  299)  sahen,  mit  dem  höchsten  Greisenalter  des  Dichters  in  Ver- 
bindung gesetzt  und  einer  didaskalischen  Notiz^)  zufolge  erst  nach  seinem 
Tod  im  Jahr  401  von  seinem  gleichnamigen  Enkel  auf  die  Bühne  gebracht 
worden.  Aber  strittig  ist  es,  ob  das  die  erste  Aufführung  war,  ob  nicht 
vielmehr  schon  früher  einmal,  in  den  ersten  Jahren  des  peloponnesischen 
Krieges*)  und  vor  den  Phoinissai  des  Euripides,  deren  Schluß  (1707)  auf 
die  Bestattung  des  Oidipus  im  Gau  Kolonos  hinweist,  das  Stück  zur  Auf- 
führung gelangt  war.  übrigens  gehört  das  Grab  des  Oidipus  in  Kolonos 
offenbar^)  älterem  attischem  Heroenkult  an  und  ist  keineswegs  etwa  Er- 
dichtung des  Sophokles.  Euripides  hat  vor  Sophokles  die  Kultlegende  in 
Erinnerung  gebracht,  Sophokles  aber  sie  zu  einem  patriotischen  Tendenz- 
stück^)  ausgearbeitet.  Die  äußere  Form,  die  häufige  Verteilung  eines 
Verses  auf  zwei  Personen,  das  Vorherrschen  des  glykoneischen  Versmaßes 
in  den  Chorgesängen,  der  kommatische  Bau  der  Parodos,  auch  der  weh- 
mütige Ton  des  Liedes  auf  die  Leiden  des  Greisenalters  (1211 — 48)  können 
für  die  erstere  Meinung  angeführt  werden.  Freilich  zeitgeschichtliche  An- 
deutungen in  der  Tragödie  scheinen  mehr  in  die  erste  Zeit  des  pelo- 
ponnesischen Krieges  zu  weisen,  als  eben  erst  aus  kleinem  Anlaß  der 
Krieg  begonnen  hatte  (V.  702 — 6).  Aber  das  ist  doch  nur  Schein;  tat- 
sächlich passen 7)  die  politischen  Seitenblicke  und  insbesondere  die  Verse 
92  f.,  411,  604 — 6,  621  f.,  die  einen  Sieg  der  Athener  beim  Grab  des 
Oidipus  prophezeien,  einzig  gut  auf  das  Jahr  407,  in  dem  nach  Diodoros 
XIII  72  die  athenische  Reiterei  einen  ruhmvollen  Erfolg  über  die  theba- 
nische,  vielleicht  gerade  im  Gau  Kolonos,  in  den  die  Straße  von  Acharnai 
und  Dekeleia  her  einmündete,®)  erfochten  hatte.    Der  Oidipus  auf  Kolonos 

')  Besonders  breitspurig  und  gemein-  |  und  der  Athene  L'tma  Heroenkapellen  ftU: 
plätzig  muß,  der  Paraphrase  bei  Dio  Chr.  :  Theseus,  Peirithoos,  Oidipus  und  Adrastos. 
or.  59  nach,  der  Prolog  zu  Euripides*  Phüo-  |  Daß  eine  thebanische  Legende  (Schol. OC. 91 : 
ktetes  gewesen  sein.  I   Grab  des  Oid.  im  boiotischen  Eteonos)  dem 

*)  0.  RiBBBCK,  Rom.  Trag.  376  ff.  .   widersprach,  ist  nicht  verwunderlich. 

')  Arg.  II:   2!o<foxifjg  6  viidovg  idida^er  |  •)  Das  Grab  des  Oidipus  galt,  wie  das 

viog  lüv  'AgioKovog  ijtl  ägxovTog  Mix€ovog,  og  '  bei  Heroengräbem  die  Regel,  als  Schutz  für 
iou  rixaQtog.  cuto  KaXXiov,  iqp'  ov  fpaaiv  ol  das  Land,  in  dem  es  lag,  gegen  Feinde 
jikFiovg  rov  2!o<foxXia  reXevTfjaai.  Auf  diese 
Aufführung  bezieht  nach  P.  Foucart  J.  H. 
Lipsius  (Leipz.  Stud.  19,  1899, 812  A.)  die  di- 
daskalische  Notiz  CIA  IV  8  nr.  1280  b.  Siehe 
A.  Wilhelm,  Urkunden  177  A.  1. 

"*)  Das  letztere  nehmen  an  K.  Lachmanit, 
.  Rh.  M  1  (1827)  313  ff.  und  An.  Scholl,  Phüol, 


(Chr.  A.  Lobeck,  Aglaopham.  280  f. ;  E.  Rohde, 
Psyche  P  159  ff.;  H.  Usbkeb,  Wiener  Ak. 
Sitz.ber.  137,  1897,  III  14  fL). 

')  A.  Mayb,  Über   Tendenz    und    Ab- 
fassungszeit des  sophokleischen  ödipus  auf 
Kolonos,  in  Comment.  philol.  Monacenses  1891 
S.  160  ff.    Auch  Ar.  ran.  1023  f.  spielt  viel- 
26  (1867)  385  ff.  Auf  die  nächste  Zeit  nach  dem      leicht  auf  den  Konflikt  an.    Schol.  Aristid. 


Frieden  des  Nikias  geht  herab  A.  Böokh,  Kl. 
Sehr.  4,  Leipz.  1874,  228  ff.  Andere  wollen 
mit  Ausscheidung  von  919 — 923  als  jüngerer 
Interpolation  helfen. 

*)  Paus.  I  30,  4  (vgl.  auch  dens.  I  28,  7) 
bezeugt  beim   Tempel  des  Poseidon  tjtmog 


p.  560,  18  ff.  DiND. 

^)  Lager  schlug  der  Feind  damals,  nach 
der  Niederlage,  bei  der  Akademie,  wird  also 
nach  Südwesten  hin  ausgewichen  sein,  um 
den  Weg  nach  Eleusis  hin  und  zum  Pelo> 
ponnes  sicher  zu  haben. 

21* 


824  GriechiBohe  Lüteratnrgeschichte.    L  ElaasiBohe  Periode, 

fällt  also  lange  nach  dem  König  OidipusO  und  der  Dichter  hat  mit  dem 
Abendglanz  seiner  Kunst  Athens  Vergangenheit  und  seinen  Heimatort 
Kolonos  verklärt,*)  indem  er  den  geblendeten  König  im  Hain  der  Eume- 
niden  bei  Kolonos  Ruhe  und  Erlösung  von  seiner  Mühsal  finden  läßt.  Die 
aktuellen  Beziehungen  des  Stückes,  aus  denen  sich  auch  erklärt,  daß  ea 
nicht  nachgebildet  worden  ist,  sind  mit  Händen  zu  greifen:  der  Sieg  der 
Athener  über  die  hartnäckig  andringenden  böotischen  Reiter  erschien  dem 
Dichter  und  vielleicht  auch  dem  Volk  als  Folge  des  Beistandes  des  Oidipus,. 
von  dem  ein  Heroon  nahe  beim  Schlachtfeld  lag.  In  weiterer  Begründung 
ließ  er  den  Oidipus  durch  seinen  Schutz  dem  gastlichen  Athenervolk,  daa 
den  von  seinen  Landsleuten  verstoßenen  Greis  aufgenommen  hatte,  seine 
Dankbarkeit  erweisen.«)  Da  nun  aber  zwischen  Böotem  und  Athenern 
ein  Streit  über  das  richtige  Oidipusgrab  war  (s.  S.  323,  5),  der  nach  grie- 
chischer sehr  konkreter  Auffassung  sich  um  das  Vorhandensein  der  Gebeine 
drehte,  so  ließ  der  Dichter  —  und  das  ist  ohne  Zweifel  seine  eigene  Er- 
findung —  den  Oidipus  in  Kolonos  überhaupt  nicht  sterben,  sondern  ent- 
rückt werden,^)  so  daß  die  Streitfrage  ganz  ausgeschaltet  war  und  der 
Kolonos  doch  als  ein  im  Zusammenhang  mit  Oidipus'  Abscheiden  geheiligter 
Ort  gelten  konnte.  Mit  dem  Vorführen  ätiologisch-patriotischer  Motive  war 
Aischylos  in  der  Promethie  und  Orestie,  Euripides  in  der  taurischen  Iphi- 
geneia,  den  Herakliden,  dem  rasenden  Herakles,  mit  der  Verherrlichung 
athenischer  Menschenfreundlichkeit  gegenüber  boiotischer  Roheit  Aischylos 
in  den  Eleusiniem,  Euripides  in  den  Herakliden  und  Hiketiden  voran- 
gegangen; beide  Dichter  hatten  auch  den  Theseus  als  Typi^  attischer 
Ritterlichkeit  (jigoaxarixög  xäl  ßor]i^Tix6g  Plut.  Thes.  36)  schon  ausgebildet. 
Indessen  werden  durch  die  hier  besonders  starken  außerpoetischen  Reiz- 
mittel die  dichterischen  Vorzüge  des  Stückes  nicht  verdunkelt.*)  Der 
Dichter  bemüht  sich  erfolgreich,  mehr  Verwicklung  in  die  an  und  für  sich 
übereinfache  Handlung  zu  bringen,  indem  er  zuerst  Ismene  dem  blinden 
König  Kunde  von  dem  neuen  Zwist  in  Theben  bringen  läßt  und  dann 
nacheinander  Kreon  und  Polyneikes  in  die  Handlung  hineinzieht,  von  denen 
der  erste  mit  Gewalt,  aber  ohne  Erfolg  dem  unglücklichen  Vater  seine 
beiden  Führerinnen  zu  entreißen  sucht,  der  andere  aber,  nachdem  er  in 
der  Hoffnung,  Beistand  für  sein  Unternehmen  zu  finden,  gekommen  war, 
mit  dem  schrecklichen  Fluch  des  Vaters  beladen  von  dannen  ziehen  muß. 
Die  Kunst  der  Charakterzeichnung  konzentriert  sich  ganz  auf  die  an  der 
Schwelle  des  Todes  stehende  Gestalt  des  Oidipus.  Er  ist  keineswegs,  wie 
man  früher  in  christlich-erbaulicher  Mißdeutung^)  meinte,  ein  frommer 
Dulder,  sondern  unheimlich  wie  ein  grollendes  Gespenst  ist  dieser  verbitterte, 
zornmütige,  Ruhe  suchende  Greis  auf  den  Hintergrund  der  anmutig  blühen- 

*)  Arg.  OR.:  slai  ök  xai  oi  jigoiegov,  ov  *)   E.  Rohde,    Psyche  IP  243,  2;    über  . 

tvQavvor  avTor  imyQag^m'Teg  Öta  Toi^g  XQo^'ovg  I    solche    EntrttckuDgen    ders.,    Psyche   passim 

Tc5i'  SidaoxdXtcov  xai  Sia  lä  .todyfAara.  (s.  Register  u.  d.  W.). 

^)  Arg.  OC.  F.noirjoE  xciQt^ofievog  ov  /aovov  ^)  Wie  günstig  die  Alten  urteilten,  sagt 

T/7  najotötf  a),),a  xai  Tqj  iaviov  öt/fjo),  uns  das  Argumentum:  ro  de  dgä/na  nui'  i)ai'- 

')  Vgl.   dasselbe   Motiv   in    betreff   des  /naaicor. 

Eurystheusgiabes   in   Pallene   Eurip.  Heracl.  ,           •)  Siehe  dagegen  E.  Rohde,  Psyche  II* 

1026  ff.  I   244,2. 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    c)  Sophokles.    (§  179.)  325 

den  Landschaft  (668  ff.)  hingesetzt.  Beglückt,  endhch  geborgen  zu  sein, 
erschöpft  er  den  Rest  seiner  Kraft  mit  Flüchen  auf  seine  Söhne  und  sein 
Land  und  findet  die  letzte  Genugtuung  darin,  seiner  Heimat  noch  Schaden 
zufügen  zu  können,  bis  er  in  geheimnisvoller  Weise  abgerufen  wird.  Über 
welche  Gestaltungskraft  der  neunzigjährige  Dichter  noch  verfügt,  zeigen 
am  deutlichsten  die  ergreifenden  Chorgesänge  und  vor  allem  der  herrliche 
Hymnus  auf  Attika  (668 — 719),0  der  das  euripideische  Seitenstück  in  der 
Medeia  V.  824—845  weit  hinter  sich  läßt.  —  Die  drei  Stücke,  König  Oidipus, 
Antigene  und  Oidipus  auf  Eolonos,  bilden  die  drei  Phasen  einer  Handlung, 
könnten  also  dem  Inhalt  nach  recht  wohl  eine  Trilogie  ausmachen.  Sie 
waren  aber  keine  Trilogie,  da  sie  zu  ganz  verschiedenen  Zeiten  gedichtet 
und  nie  zusammen  auf  die  Bühne  gebracht  wurden.^) 

179.  Fragmente.  Von  den  nicht  erhaltenen  Dramen  des  Sophokles 
sind  nur  sehr  spärliche  Reste  auf  uns  gekommen,  die  uns  in  vielen  Fällen 
nicht  einmal  eine  sichere  Vermutung  über  ihren  Lihalt  erlauben.*)  Zu 
einem  großen  Teil  derselben  hatte  er  den  Stoff  aus  Homer  und  dem 
epischen  Kyklos  entnommen;*)  so  bezogen  sich  einunddreißig  seiner  Tra- 
gödien auf  den  troischen  Sagenkreis  ^Aki^avbqoqy  'EXivrjg  yd/iog  (Satyr- 
drama),  2xvqioi,  'Oövaaevg  fiaivofievog,  'Icpiyeveia  (Opferung  in  Aulis),  'Axaicav 
cvXXoyog,  2vv6euivoi  (burleskes  Drama,  aber  ohne  Satyrchor),^)  Mvooi  f) 
T^Xecpog,^)  Uoifiiveg  (Protesilaos'  Tod),  ^EXhrqg  äjiaixrjaig,  TgaytXog,  IlaXa/bii^drjg, 
^Qvyeg  (Lösung  Hektors  nach  II.  ß),  AWioneg  f)  Me/bivcov,  0om^,  ^doxxrjrrjg 
iv  Tgoiq,  Adxaivat  (Raub  des  Palladiums),  Aaox6(ov,  2iv(ov,  ngia/biog,  Aixfia-- 
IcoTidsg,  IloXv^ivrj,  Atag  Aoxgog,  Avrrjvogldai  (Abzug  der  Söhne  des  Antenor 
nach  der  venetischen  Hadria),  Naimhog  jivgxaevg  (Schiffbruch  an  den  kaphe- 
reischen  Felsen),  Tevxgog,  Eifgvadxrjg,  Xgvarjg,  Navoixda  fj  IlXvvxgiai  (neu  ent- 
worfen von  Goethe),  0aiaxeg,  'Odvooevg  äxav&ojiXr}^  f)  Nimga  (Tod  des  Odys- 
seus  durch  den  Rochenstachel  seines  Sohnes  Telegenes;  danach  Pacuvius' 
Niptra),  Evgvakog  (Sohn  des  Odysseus  und  der  epeirotischen  Königstochter 
Euippe,  vom  Vater  ohne  Wissen  getötet).'')    Demnächst  benützte  Sophokles 

*)  Fälschlich  wird  dieses  herrliche  Chor-  !  *)  Ath.  277  e:  eyrnge   d'  6  2o<poxXijg  rtp 

lied  von  Plutarch  an  seni  p.  785  a  als  Parodos  ■■  snixc^   xvxXcp,   wg   xai   oXa  dgafiara   jrotfjaai 

bezeichnet    Der  Chor  war  schon  V.  117  ver-  !  dxolovd&v    tfj    ev    Tovrcf)    ftv&ojioitrt.     Neun 

einzelt  {o.-zoQadrjv)  eingezogen.  —  Merkwürdig  j  Stücke  schöpfen  aus  den  Kyprien,   acht  aus 


ist  das  starke  Hervortreten  des  Chors  im 
OC  da  der  Philoktetes  nur  ein  einziges  wirk- 
liches Chorlied  aufweist.  Die  Erklärung  da- 
für darf  aber  schwerlich  in  äußeren  Ursachen 


der  'JXiov  jitgaigf  zwei  aus  der  Telegonie 
{Üdvöoevg  axavOonltj^  u.  EvQvodog) ;  nur  drei 
aus  der  Odyssee  {Navatxda,  4>ai(vcsg,  NutxQo) 
und  eins  aus  der  Ilias  (i^gvyeg). 


(so  0.  Hense,  Chor  des  Soph.  26  ff.)  gesucht  *)  Die  ^uvdeijtvoi  bearbeitete  Q.  Cicero, 

werden,  eher  in  einer  archaisierenden  Nei-  der  Bruder  des  Redners  M.  Cicero,  nach  Cic. 
gung.  wie  sie  in  dieser  Hinsicht  auch  Euri-  '  ep.  ad  Quint.  fr.  II  15,  3  (statt  actam  liest 
pides'  Bakchen  erkennen  lassen.  '   F.  Bücheleb  factam).  Daß  sie  von  dem  emst- 

*)  Ein  Hinweis  auf  OC.  scheint  zu  liegen   '   haften  M/atwr  övaX.  verschieden  sind,  zeigt 
in  OR.  1455 — 8,  wenn  anders  diese  auf  den   •   aus   den   neuen   Fragmenten   des  ^Ay,  avÜ.. 
OC.  vorbereitenden  Verse   echt  sind.     Siehe      Wilamowitz,  Berl.  Klassikert.  V,  2,  68  ff. 
o.  S.  303.     Verschiedenheiten,   die   aber  mit  •)  Die  Ansicht  von  G.  Kaibel,  Herm.  23 

seiner  verschiedenen  äußeren  Stellung  moti- 
viert werden  können,  zeigt  der  Charakter  des 
Kreon  in  OR.  einerseits,  OC.  u.  Ant.  andrer- 
seits. 

8)  F.  G.Welckeb.  Griech.  Trag,  im  1.  Band 
und  im  Nachtrag  des  dritten. 


(1888)  273,  daß  dieses  Stück  als  Satyrdrama 
mit  einer  Trilogie  von  Tragödien  in  Rhodos 
aufgeführt  worden  sei,  ist  stark  erschüttert; 
s.  o.  S.  302,  3. 

')  Den  Inhalt  des  Euryalos  referiert  Par- 
thenios  c.  3. 


326  Grieohische  Litteratargeschichte.    I.  ElaasiBche  Periode. 

am  liebsten  einheimische  attische  Sagen;  außer  dem  Triptolemos  und  Oidipus 
Kol.  waren  aus  solchen  genommen  Trjgevg,  'Qgeii^ia,  Koiovaa  (im  Stoff  ver- 
wandt mit  Eur.  Ion),  ÜQoxgtg  (motiwerwandt  Shakespeares  Cymbeline  und 
der  Text  zu  Mozarts  Cosi  fan  tutte),  Alyevg,  ßrjoevg,  ^Idga  (denselben 
Stoff  wie  Eur.  Hippolytos  behandelnd).*)  Endlich  finden  wir  in  den  Frag- 
menten des  Sophokles  neben  den  altberühmten  Sagen  des  Hauses  der 
Tantaliden  (sieben  Stücke)  und  Labdakiden«)  auch  die  Argonautenfahrt 
('AMfiag,  KoXxldeg,  Zxv&ai,  'PiCoto/lioi)^  den  Heraklesmythus  und  die  Sagen  des 
Thamyris,  Minos  und  Daidalos,  Meleagros,  Bellerophon  (^loßarfjg),  der  Danae, 
Tyro,  Andromeda  vertreten.  Die  mystischen  Kreise  des  Bakchos  {'Ydgtxpogoi) 
und  Herakles  (Trach.,  'AXeddat,  'A/üupirgvcor)  betritt  er  selten,  ebenso  das 
Gebiet  der  Göttersage  (Ntoßt)).^)  Gänzlich  verschmäht  hat  er  Stoffe  aus 
der  Zeitgeschichte.  Außer  Tragödien  hinterließ  Sophokles  nach  Suidas 
noch  Elegien,  Paiane  (s.  o.  S.  297  f.)  und  eine  Prosaschrift  über  den  Chor» 
in  der  er  seine  Neuerung  gegenüber  den  alten  Chormeistem  Thespis  und 
Choirilos  rechtfertigte.  Von  der  Prosaschrift  ist  uns  nichts  erhalten,  von 
den  Elegien  (eine  an  Herodot)  und  Paianen  kümmerliche  Reste  (PLG  H* 
243 — 250).  —  Vom  4.  Jahrhundert  an  ist  Sophokles  von  der  lebendem 
Bühne  verdrängt  worden  durch  Euripides,  der  der  Lieblingsdichter  der 
hellenistischen  Zeit  wurde  und  blieb,  wenn  auch  die  durch  Aristoteles  be- 
stimmte ästhetische  Kritik  der  Alexandriner,  insbesondere  Aristophanes 
von  Byzantion,  dem  Sophokles  den  Vorzug  gab.  Erst  mit  dem  Einsetzen 
des  römischen  Klassizismus  Mitte  des  1.  Jahrhunderts  v.  Chr.  sieht  man  in 
Sophokles  wieder  den  tragici  cothumi  princeps  (Cic.  or.  4;  Verg.  ecl.  8, 10; 
Plin.  n.  h.  VH  109);  aber  der  Streit  um  den  Prinzipat  zwischen  den  beiden 
Dichtern  dauerte  fort,  und  die  utilitas  sicherte  dem  ästhetisch  tiefer 
stehenden  Euripides  immer  wieder  Anhänger  (Quint.  X  1,  68  f.;  Dio  Chrys. 
or.  52).  Auch  die  Vasenmalereien  (J.  H.  Huddilston,  Greek  tragedy  in  the 
light  of  vase  paintings,  London  1898;  R.  Engelmann,  Archäolog.  Studien 
zu  den  Tragikern,  Berlin  1900)  und  die  ägyptischen  Papyrusfunde  zeigen 
die  Bevorzugung  des  Euripides.  Über  die  vermeintlichen  Sophoklesauffüh- 
rungen auf  Rhodos  in  hellenistischer  Zeit  s.  o.  S.  302,  3. 

Codices:  Das  Verhältnis  ist  das  gleiche  wie  hei  Aischylos:  Hauutcod.  ist  Laurentianus. 
XXXII  9  s.  XI  (L),  nachträglich  mit  Scholien  versehen  und  von  versctiiedenen  Händen  kor- 
rigiert und  ergänzt,  so  daß  z.  ß.  OR.  800  von  später  Hand  s.  XIII  (ahcr  nach  Thompson  noch 
vor  Verfertigung  der  ührigen  Sophokleshandschriften,  so  daß  die  Möglichkeit  bleiht,  diese 
als  Kopien  aus  L  anzusehen)  zugefügt  ist;  in  phototypischem  Druck  ist  die  ganze  Hand- 
schrift herausgegeben  von  E.  M.  Thompson  u.  R.  C.  Jebb,  Facsimile  of  the  Laur.  man.,  London 
1885.  Der  L  ist  zu  der  zweiten  Junta-Ausgabe  1547  von  P.  Victorius  benützt,  aber  dann 
vergessen  worden,  bis  1824  P.  Elmsley  in  seiner  Ausg.  des  OC.  auf  seine  Vorzüglichkeit 
hinwies;  für  alle  Stücke  hat  ihn  dann  auf  Grund  einer  Vergleichung  Dübners  W.  Dindobp 
in  der  Ausg.  Oxf.  1860  benützt,  und  noch  S.  Mekleb  gründet  den  Text  auf  ihn.  Nahe  ver- 
wandt dem  L  war  die  Handschrift,  aus  der  die  Sophokleszitate  des  Suidas  stammen.  Zu- 
nächst steht  Paris.  2712  s.  XIII  (P,  bei  früheren  A,  mit  kurzen  Scholien),  der  nicht  aus  dem 


^)  WiLAMOwiTZ,Euripid. Hippolytos,  Berl.  '   daran  anschließenden  ll/xw fror  alle  erhalten. 

1891,  57  f.  setzt   den  Hipp,  vor   die  Phaidra  ^)  Ob  das  Fragment  Oxyrhynch.  pap.  II 

des  Soph.  nr.  123  zu  der  aischyleischen  oder  der  sopho- 

'-')  Die  theban.  Tragödien  sind  uns  außer  '   kleischen  Niobe  gehört,  ist  zweifelhaft.  Siehe 

den  ^Eniyoroi  (oder  Eriphyle),  die  der  römische  darüber  auch  G.  E.  lüzzo,   Riv.  di   filol.  30 

Tragiker  Accius  nachbildete,   und  dem  sich  (1902)  462  ff. 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    o)  Sophokles.    (§  179.)  327 

Laurent  abgeschrieben  ist,  sondern  von  einem  gemeinsamen  Archetypus  abstammt,  da  er 
die  Verse  OR.  800,  OC.  1105,  El.  1485,  die  in  L  von  erster  Hand  fehlen,  sowie  das  dort 
felüende  yhog  So<poxUovg  enthält  Vgl.  A.  Sbypfert,  Quaest.  crit.  de  codicib.  Soph.  recte 
aestimandis,  Halis  1863;  J.  H.  Lipsius,  Be  Sophoclis  emendandi  praesidiis,  Leipz.  1860;  C. 
Meifebt,  De  Soph.  codicibus,  Diss.  Hai.  1891  (tritt  fttr  die  von  C.  G.  Cobrt  1847  aufgestellte 
Ansicht  ein,  daß  alle  unsere  Sophokleshandschnften  aus  L  stammen).  Beachtenswert  noch 
wegen  einiger  guten  Lesarten  ist  Laurent.  125  (F),  Unbrauchbar  sind  die  jüngeren,  aus  der 
Rezension  des  Triklinios  stammenden  Codd. 

Scholien:  die  alten,  aber  stark  gekürzten  gehen  aufDidymos  zurück,  derzuAnt45, 
OC.  237  u.  s.  mit  Namen  angeführt  ist  (Bidymos  wiederum  faßt  zusammen,  was  Aristarchos, 
Eallistratos  u.  a.  in  ihren  Kommentaren  beigebracht  hatten);  dazu  eine  Vita  (fehlt  in  L)  und 
vjzo&ioetg  in  prosaischer  und  metrischer  Form,  die  auf  Aristophanes  (genannt  zu  Ant.  u.  OR.) 
und  Sallustius  (genannt  zu  Ant.  u.  OC.)  oder  Salutios  (?  L.  Radermacheb,  Berl.  phil.  W.schr.  27, 
1907,  800;  s.  auch  über  diesen  S.  Wilamowitz,  Eurip.  Herakl.  P  197  f.)  zurückzuleiten  sind; 
auch  von  einem  Sophokleskommentator  des  2.  Jahrb.  n.  Chr.,  Pius,  haben  wir  (Schol.  Ai.  408) 
Kenntnis  (s.  R.  Reitzenstein,  Inedita  po^tar.  6r.  fragm.,  Rostock  1890/91,  17  f.).  Jüngere 
wertlose  Scholien  von  Thomas  Magister  und  Moschopulos  zu  den  im  Mittelalter  zumeist  ge- 
lesenen drei  Stücken  Aias,  El.,  OR.,  von  Bemetrios  Triklinios  zu  Aias,  EL,  OR.,  Ant.  —  Aus- 
gabe der  Scholien  von  P.  Elmslbt  und  W.  Bindobf,  Oxon.  1825.  52,  2  Bde.;  neue  Ausg. 
der  alten  Scholien  von  P.  N.  Papageobgios  in  Bibl.  Teubn.  1888.  Über  die  Quellen  der 
Scholien  und  ihre  Bedeutung  für  die  Kritik  G.  Wolff,  Be  Soph.  scholior.  Laurentianor. 
variis  lectionib.,  Lips.  1843;  über  ihr  Verhältnis  zu  Suidas  P.  Jahit,  Quaestionum  de  scholiis 
Laurentianis  in  Soph.  pars  I,  Berl.  1884. 

Ausgaben:  ed.  princ.  bei  Aldus,  Ven.  1502.  Mit  den  Scholien  von  H.  Stephanus, 
Paris  1568,  welche  Ausg.  mit  ihrem  triklinianischen  Text  bis  in  das  19.  Jahrh.  die  Vulgata 
blieb.  Fortschritt  in  der  Versteilung  der  Cantica  von  W.  Canteb,  Antw.  1579.  —  Ein- 
dringende Studien  wurden  dem  Soph.  später  als  dem  Eur.  zuteil;  grundlegend  die  kritisch- 
exegetische Bearbeitung  von  F.  R.  Ph.  Brunck  (benützte  Par.  2712),  Argent.  1786;  frucht- 
bringend die  wiederholten  Neuauflagen  der  Ausgaben  von  C.  G.  A.  Ebfubdt  durch  G.  Her- 
MANN,  Lips.  1811 — 25;  bedeutend  für  die  Kritik  durch  Zmückgehen  auf  den  Cod.  Laur.  mit 
genauem  Apparat  die  Ausg.  von  W.  Biitdobf,  3.  A.  Oxon.  1860.  In  der  von  Jacobs  und  Rost 
geleiteten  Biblioth.  graec.  mit  lat.  Anmerk.  gab  den  Sophokles  E.  Wunder  (Leipz.  1825;  Gotha 
1831 — 50)  heraus;  die  fünfte  Neubearbeitung  besorgte  N.  Wecklein  1875—80.  —  Ausgaben 
mit  erklärenden  Anmerkungen  von  F.  W.  Schneidewin  und  A.  Nauck  bei  Weidmann  (in 
10.  Aufl.  OR.  1897  u.  Ant.  1904  von  E.  Brühn,  Philokt.  1907  von  L.  Radebmacher)  ;  von 
G.  Wolff  und  L.  Bellebmann  bei  Teubner;  von  N.  Wecklein  bei  Lindauer  in  München;  von 
Chb.  Muff  bei  Velhagen-Klasing;  von  B.  Ch.  Sbmitelos,  Athen  1887;  von  R.  C.  Jebb  I,  8.  Aufl., 
London  1903.  —  Kritisch-berichtigte  Textausgaben:  von  A.  Nauck  1867  bei  Weidmann;  von 
W.  Bindobf  und  S.  Mekleb,  zuletzt  6.  Aufl.  1901,  in  Bibl.  Teubn.;  von  F.  Schubert  in  Bibl. 
Schenkl.  —  Einzelausgaben:  Aiax  Graece  cum  scholiis  et  commentario  perpetuo  ed.  Chr.  A. 
Lobeck,  Leipz.  1809,  ed.  III  1866.  —  Antigene  griech.  deutsch  mit  Exkursen  von  A.  Böckh, 
Berl.  1843;  cum  scholiis  et  virorum  doctorum  curis  ed.  C.  F.  Wex,  Lips.  1829—33,  2  vol.  — 
Electra  in  usum  scholarum  cd.  0.  Jahn,  mit  Vita  und  kritischem  Apparat,  ed.  TII  cur.  A. 
Michaelis,  Bonnae  1882  (dazu  A.  Michaelis,  Arch.  Ztg.  38,  1880,  75  ff.);  Ausgabe  der  El. 
mit  Kommentar  von  G.  Kaibel,  Leipz.  1896.  —  Oedipus  Rex  cum  annot.'ed.  tertium  P.  Elmslby, 
Oxf.  1825;  adnot.  H.  van  Herwerden,  Trai.  1866.  —  Oedipus  Col.  cum  schol.  vet.  et  suis 
comment.  ed.  C.  Reisig,  Jenae,  3  voll,  1820 — 23;  e.  rec.  P.  Elmsley-Ph.  Brunck,  Lips.  1824. 

Lexicon  Sophocleum  von  F.  Ellendt,  ed.  II  cur.  H.  Genthb,  Berl.  1872.  Für  die 
Kenntnis  von  Sophokles'  Sprachgebrauch  wichtig  der  Anhang,  den  E.  Bruhn  als  achtes 
Bändchen  zu  Schneidewin-Naucks  Ausg.,  Berl.  1899,  herausgegeben  hat.  —  W.  Brambach, 
Metr.  Studien  zu  Sophokles,  Leipz.  1869;  ders.,  Die  sophokleischen  Gesängo,  1870.  —  H.  Gle- 
ditsch.  Die  Cantica  der  sophokl.  Tragödien,  2.  Aufl.  Wien  1883.  —  0.  Schröder,  Sophoclis 
cantica,  Leipz.  1907.  —  Chb.  Mupp,  Die  chorische  Technik  des  Soph.,  Halle  1877.  —  0.  Hense, 
Der  Chor  des  Soph.,  Berl.  1877  und  Rh.  Mus.  32  (1877)  489  if.  —  H.  Genthe,  Index  com- 
mentationum  Sophoclearum  ab  a.  1836  editar.  triplex,  Berl.  1874.  —  H.  Wittekind,  Sermo 
Sophocleus  quütenus  cum  scriptoribus  lonicis  congruat,  at  differat  ab  Atticis,  Büdingen  1895. 
—  Ad.  Müller,  Ästhetischer  Kommentar  zu  den  Tragödien  des  Soph.,  Paderborn  1904;  die 
neuere  Litteratur  besprochen  von  N.  Wecklein,  nach  ihm  von  S.  Mekler,  zuletzt  Bd.  129 
(1906)  1  ff.  in  Bursian-Müllers  Jahresber.  d.  Alt.  —  Lat.  Übersetzung  des  Aiax  lorarius  von 
J.  Scaliger,  Straßb.  1574.  Erste  deutsche  Übersetzung  der  Antigene  von  M.  Opitz,  Danzig 
1636.  —  A.  Wilbrandt,  Sophokles'  ausgewählte  Tragödien  (König  Oed.,  Oed.  in  Kol.,  Antigene, 
Elektra)  mit  Rücksicht  auf  die  Bühne  übertragen,  2.  Aufl.,  München  1903;  M.  Lechner, 
Sophokles  auf  der  modernen  Bühne,  in  Verh.  d.  Philol.vers.  München  1891.  —  Wilamowitz 
hat  eine  Übersetzung  des  Oed.  rex  (3.  Aufl.  Berl.  1902)  geliefert. 


328  Grieohiflohe  LitteratiirgeBchiohte.    I.  Klassische  Periode. 

d)  Euripides  (etwa  481— 406).  0 
180.  Bei  aller  Verschiedenheit  der  Weltanschauungen  stehen  doch 
Aischylos  und  Sophokles  zusammen  auf  einer  Stufe.  Sie  sind  beide  Ro- 
mantiker der  Heldensage  gegenüber  und  finden  ihre  Aufgabe  darin,  deren 
Geist  und  Gehalt,  jeder  auf  seine  Weise,  der  Gegenwart  zu  vermitteln,  ja 
zu  einer  Lebensmacht  für  die  Gegenwart  zu  machen.  Durchaus  ablehnend 
verhalten  sie  sich  zu  den  mit  dem  Anwachsen  der  sophistischen  Bewegung 
immer  rücksichtsloser  auftretenden  Versuchen,  die  Geschichtlichkeit  der 
Heldensagen  und  noch  mehr  die  sittliche  Vorbildlichkeit  der  überlieferten 
Götter  und  Heroen  im  ganzen  zu  bemängeln  und  mit  Hilfe  der  absoluten 
Vernunft  neue  ethische  Ideale  und  Normen  aufzustellen.  Aischylos  hatte 
kaum  mehr  Veranlassung,  sich  mit  der  neuen  Geistesrichtung  auseinander- 
zusetzen; Sophokles  stand,  als  si^  tiefer  auch  in  Athen  zu  wirken  begann, 
im  reifen  Maimesalter;  er  ließ  sich  in  seinem  Glauben,  der  aufs  innigste 
mit  seiner  ganzen  sittlichen  und  künstlerischen  Persönlichkeit  verwachsen 
war,  nicht  irre  machen  und  sprach  der  SopMstik,  bei  aller  Anerkennung 
für  ihre  Verdienste  auf  dem  Gebiet  der  Technik  im  weitesten  Sinn,  doch 
das  Recht  und  die  Fähigkeit  ab,  auf  sittlich-religiösem  Gebiet  förderlich 
mitzuwirken.  Der  Heros-Übermensch  ist  ihm  nicht  eine  Willkürschöpfung 
der  Phantasie,  sondern  eine  geschichtliche  und  intuitive  Gewißheit,  und 
durch  seine  unvergleichliche  Kunst  psychologischer  Motivierung  weiß  er 
auch  dem  Zeitalter  der  Skepsis  und  des  Verismus  diesen  für  die  Erziehung 
der  griechischen  Nation  so  ungemein  bedeutsamen  Idealtypus  anziehend, 
verständlich,  verehrungswürdig  zu  machen.  Dagegen  zeigt  sich  Euripides 
auf  der  ganzen  Strecke  geistiger  Entwicklung,  die  uns  die  erhaltenen 
Stücke  zu  überschauen  gestatten,  tief  durchsetzt  von  dem  neuen  Geist: 
er  legt  an  die  Götter  und  Riesen  der  Vorzeit  die  sittlichen  Maßstäbe  der 
Aufklärung,  vor  denen  sie  nicht  bestehen.  Er  glaubt  nicht  mehr  an  die 
Möglichkeit  eines  Übermenschentums  von  innerer  Überlegenheit,  und  doch 
ist  er  in  Anbetracht  der  unabänderlichen  religiösen  Traditionen  der  atti- 
schen Bühne  genötigt,  solche  Gestalten  vorzuführen  und  sie  einem  ähnlich 
wie  er  selbst  gestimmteh  Publikum  menschlich  nahe  zu  bringen.  Damit 
ist  der  tiefe  Riß  bezeichnet,  der  durch  sein  ganzes  Schaffen  /geht  und 
dieser  Dichtergestalt  etwas  Tragisches  und  Sympathie  Ford#ndes  gibt. 
Euripides  kann  seine  Heroen  nur  als  Menschen  der  gegenwärtigen  Wirk- 
lichkeit verstehen;  der  Mythus  aber,  dem  er  in  der  Regel  folgen  muß, 
belastet  sie  mit  übermenschlichen  Leistungen  und  Leiden,   deren  der  ge- 

*)   Aus  dem   Altertum   ein   Fhog  Evqi-  '   seinen  Werken  dargestellt   von   J.  A.  Hab- 

jriöov  xal  ßiog  (bei  E.  ScHWAKTz.  Scholia  in  tüng,  Euripides  restitutus  sive  scriptor.  Enri- 

Eurip.  1  p.  1 — 6).  Dazu  ein  Artikel  des  Suidas  pidis  ingeniique  censura,  Hamburg  1848.  44, 

und  ein  Kapitel  bei  Gellius  XV  20.    Die  fünf  i   2  Bde.  —  0.  Ribbeck.  Euripides  und  seine  Zeit, 

Briefe  des  Eur.  (R.  Heroheb,  Epistologr.  Gr.  Progr.  Bern  1860.  —  Wilamowitz,  Das  Leben 

p.  275  ff.)    sind    ifrüliestens   unter   Augustus,  des  Euripides,  in  Eur.  Herakles  P  1 — 42.    Die 

vielleicht  aber  erst  im  1.  Jahrh.  n.  Chr.  ent-  I   Notiz  des  Suidas,  es  habe  einen  älteren  Tra- 

standen   und  enthalten   kein  neues   sicheres  giker  Euripides  gegeben,   der  zwölf  Dramen 

Datum.    —    Sämtliche    Quellen    zusammen-  dichtete   und    zweimal    siegte,   kann   richtig 

gestellt  und  verwertet  von  A. Nauck,  De  Eur.  sein    (Wilamowitz.    Gott.   Gel.   Anz.    1906, 

vita  poesi  ingcnio,  in  seiner  Ausg.,  Leipz.  1871  i   621.  l.i. 
(3.  Autl.  1895).    Das  Leben  des  Dichters  mit 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides.    (§  180.)  329 

wohnliche  Mensch  bei  normalem  Eräftezustand  nicht  fähig  ist.  So  muß 
der  Dichter,  um  psychologische  WahrscheinUchkeit  zu  gewinnen,  seine 
Helden  in  heftige  Aufregungszustände  versetzen,  wie  sie  Menschen  er- 
leiden, denen  mehr  aufgeladen  ist,  als  sie  tragen  können.  Er  schafiFt  die 
bürgerliche  und  zugleich  pathologische  Tragödie  mit  einem  Personal 
depossedierter  Heroen,  die  nur  noch  die  Namen  der  alten  Heroen  tragen, 
tatsächlich  aber  Alltagsmenschen  mit  alltäglicher  Gesinnung  und  Rede- 
weise sind  und  nur  durch  starkes  Pathos  zu  einer  Scheingröße  aufgeblasen 
werden.  Die  Kritik  an  der  Sagenüberlieferung  ihrem  sittlichen  Gehalt 
nach  drückt  er  oft  genug  ohne  Scheu  aus,  fast  wie  wenn  ihm  die  Sagen- 
geschichte eine  Sammlung  abschreckender  Beispiele  wäre.  Besonders  un- 
glücklich ist  sein  Verhältnis  zu  den  Göttern,  die  er  bald  heftig  tadelt  — 
am  rücksichtslosesten  im  Ion  — ,  bald  nützlich  verwendet  als  die  großen 
Zauberkünstler,  die  ihm  mit  einem  Schlag  aus  dramatischen  Verlegenheiten 
heraushelfen  müssen.  Solcher  inneren  Disharmonie  mußte  jeder  Dichter 
verfallen,  der  mit  der  Weltanschauung  und  den  Problemstellungen  der 
Sophistik  im  Herzen  die  alten  Sagen  dramatisieren  wollte:  an  Stelle  der 
ruhevollen  Hoheit  der  älteren  Tragödie  mußte  jenes  fatale  Gemisch  von 
schrillem  Pathos  und  hausbackener  Vernünftigkeit  treten,  an  Stelle  religiöser 
Erhebung  der  Nervenreiz  des  Rühr-  oder  Schauerstücks,  das  nicht  stärkend 
und  reinigend,  sondern  spannend,  aufregend,  ja  verstimmend  wirkt.  Die 
Tragödie  des  Euripides  ist  ihrem  ethischen  Gehalt,  ihrer  Stimmung,  ihrer 
Stellung  zur  Sage  nach  das  notwendige  Produkt  ihrer  Zeit.  Dem  Dichter 
bleibt  aber  der  Ruhm  tiefer  Kenntnis  des  Menschenherzens  und  seiner 
Widersprüche,  von  denen  er  selbst  zerrissen  ist,  innerlicher  Empfindung 
und  bewunderungswürdiger  Kraft  und  Sicherheit  bühnenwirksamer  Dar- 
stellung. 

Die  Biographie  des  Euripides,  von  unkritischen  Schriftstellern  wie 
Hieronymos  von  Rhodos  und  Hermippos  von  Smyma  festgestellt,  hat  stark 
notgeUtten  durch  Aufnahme  von  allerlei  bösartigen  Klatschgeschichten,  mit 
denen  die  konservative  Komödie  den  modern  gerichteten  Dichter  über- 
schüttet hat.  Unter  diese  gehört  die  Behauptung  von  der  niedrigen  Ab- 
stammung des  Dichters,  gegen  die  schon  Philochoros  (Suid.  s.  Evqui.)  pro- 
testiert hat.  Sein  Vater  Mnesarchos  oder  Mnesarchides  war  vornehmer 
Grundbesitzer,  der  die  Erträgnisse  seiner  Gutswirtschaft  auf  dem  Markt 
von  Athen  verwertete  —  daher  die  Witze  über  ihn  als  Krämer  {xdjirjkog) 
und  über  seine  Frau  Kleito  als  Geraüsehändlerin  {XaxavoJKokig),  daher  auch  der 
Spottname  TraTg  rfjg  ägovgaiag  ^eov,  den  Aristophanes  (ran.  840)  dem  Dichter 
gibt.\)  Seine  Eltern,  die  dem  Demos  Phlya*)  der  Phyle  Kekropis  an- 
gehörten, hatten  eine  Zeitlang  in  Böotien  als  Verbannte  gelebt.  Auf  einem 
elterlichen  Gut  auf  Salamis  ist  Euripides  geboren. «)  Die  Beziehung  zu 
Salamis  kann  Veranlassung  geworden  sein,  das  Geburtsjahr*)  mit  der  See- 

^)  Ar.  Ach.  457. 478  (eq.  19);  The8m.456;  bei  Gell.  XV  20,  5  weiß  von  einer  Grotte  auf 

ran.  840.    Schon  Theopomp.  fr.  104  M.  redet  |  Salamis,  wo  Eurip.  gern  dichtete.     Vorliebe 

das  nach;  ebenso  Vit.  Eur.  §  1.  !  für  Salamis  bekundet  sich  Eur.  Tro.  799  ff. 

*)  Harpocrat.  u.  Suid.  s.  v.  ^Ivsia.  I  *)  Vita  1 ;  Diog.  Laert.  II 45;  Plut.  svmp. 

3)  Vit.  1 ;  CIG  6052;  Philochor.  fr.  166  M.  [  VIII p.  717c.  Die  Angabe  des Eratosthenes  in 


330 


Griechische  LitteratnrgeBchichte.    I.  Klassische  Periode. 


Schlacht  von  Salamis  zusammenzulegen;  der  Dichter  sollte  an  dem  Tag 
der  Schlacht  geboren  sein;  nach  anderen  war  er  ein  oder  ein  paar  Jahre 
früher  geboren.  In  der  Jugend  erhielt  er  eine  sorgfaltige  Erziehung,  so 
da&  er  an  den  Götterfesten  der  Heimat  als  Tänzer  und  Fackelträger  des 
ApoUon  mitwirkte  1)  und  im  Ring-  und  Faustkampf  sich  auszeichnete.  Der 
Tumkunst  sagte  er  bald  wieder  Valet.*)  Auch  der  Malerei,  der  er  sich 
in  seiner  Jugend  widmete,  scheint  er  nicht  lange  obgelegen  zu  haben,  ob- 
wohl er  stets  für  das  Malerische  in  der  Poesie  ein  großes  Talent  an  den 
Tag  legte.  ^)  Es  war  die  Tragödie,  auf  die  ihn  seine  eigentliche  Begabung 
hinwies.  Im  Jahr  455*)  erhielt  er  zum  erstenmal  für  seine  Peliades 
einen  Chor,  gewann  aber  bei  diesem  ersten  Auftreten  nur  den  dritten 
Preis.  Der  Bühne  blieb  er  bis  zu  seinem  Ende  treu,  wiewohl  er  erst  spät 
mit  der  Richtung  seiner  Poesie  durchdrangt)  und  auch  dann  noch  manchen 
Wandel  in  der  Gunst  des  Publikums  zu  erfahren  hatte. 

181.  Seine  Tragödien  sind  voll  vom  Geist  der  Sophistik,  deren 
Problemstellungen,  Theorien  und  Terminologie  auf  Schritt  und  Tritt  an- 
klingen. Er  vertritt  zwar  keineswegs  irgend  ein  bestimmtes  „System*, 
verrät  aber  Kenntnis  verschiedener  philosophischer  Lehrmeinungen.  Die 
Alten  machen  daraus  in  ihrer  Art  Schülerverhältnisse  zu  Anaxagoras, 
Prodikos,  Protagoras,  Archelaos.*)    Wenn  es  dafür  auch  schwerlich  Zeug- 


der  Vita  p.  3, 4  Schw.,  der  den  Dichter  75  Jahre 
alt  werden  läßt,  führt  auf  481/80.  Dieparische 
Chronik  ep.  50  setzt  die  Geburt  Ol.  83, 4  =  485/4, 
gibt  ihm  also  79  Lebensjahre,  was  L.  Mendels- 
sohn, Acta  soc.  phil.  Lips.  2  (1872)  161  ff.  ver- 
teidigt. Im  Gamelion  406/5  (d.  h.  etwa  Februar 
405),  als  an  den  Lenäen  die  Frösche  des  Aristo- 
phanes  aufgeführt  wurden,  war  Sophokles  tot 
(Ar.  ran.  76) ;  also  muß  die  Trauerfeier,  die 
er  beim  Proagon  (Vit.  Eur.  p.  3,  11  Schw.) 
während  des  Chytrenfestes  für  Euripides  hielt, 
im  Frühjahr  406  stattgefunden  haben.  Nach 
Mann.  Par.  ep.  63  fällt  sein  Tod  unter  den 
Archen  Antigenes  (Juli  407 — 406),  genauer 
also  zwischen  Juli  407  und  Februar  406.  Die 
Unsicherheit  des  Geburtsjahrs  schon  im 
Altertum  ist  von  F.  Jacoby,  Apollod.  Chion. 
257  ff.  erwiesen. 

')  Gell.  XV  20,  3;  Theophr.  und  Hieron. 
Rhod.  bei  Ath.  424 ef  und  Vita  §  2. 

^)  Hart  ist  sein  späteres  Urteil  über  die 
Athleten  fr.  282, 2  N.^ :  ovdh  xdxiov  foxiv  ddXtj- 
Tcov  yevovc.  Über  die  Eleganz  des  jungen 
Eur.  Ar.  Thesm.  173. 

')  Nach  der  Vita  zeigte  man  von  ihm 
Bilder  (jzivdxta)  in  Mcgara,  die  aber  nach 
WiLAMowiTZ,  Eur.  Herakl.  V  20  einem  anderen 
Eur.  gehört  hätten.  Die  Kunst  in  der  Be- 
schreibung von  Bildern  tritt  im  Ion  190  bis 
218  glänzend  hervor;  vgl.  Hec.  807  wg  yga- 
qevg  t' (iiooraäEtg  Idov  fie  xdvdl^gr/oor,  Andrem, 
fr.  125,  Hypsipyle  fr.  764.  Über  die  An- 
regung seiner  Phantasie  durch  Malerei  und 
Plastik  8. J.A.Stricker,  De  tragicor.  Graecor. 
anachronismis,  Amsterd.  1880,  30  ff.  und  J. 
H.  HuDDiLSTON,  The  attitude  of  the   Greek 


tragedians  toward  art,  London  1898. 

*)  Vit.  p.  2,  14  ff.  Schw.  Gellius  läßt 
XV  20,  4  den  Dichter  schon  im  18.  Lebens- 
jahr Tragödien  schreiben. 

*)  Erst  441  siegte  er  nach  Mann.  Par. 
ep.  60  zum  erstenmal. 

•)  Vita  p.  1,  10  Schw.:  dxovazrjg  yevo- 
fievog  'Ava^ayooov  xai  IToodUoi}  xal  UocoTa" 
yogov  xal  2!coxQdtovg  izaioog;  3,  17.  Cicero 
Tusc.  III  14:  fuerat  auditor  Protagorae.  In 
Versen  des  Alexandres  Aitolos  bei  Gellius 
XV  20  heißt  er  'At'a^ayoQOv  rgoipiftog,  auf 
Anaxagoras  scheint  (nach  Wilamowitz,  Eur. 
Herakl.  I  ^  25 ;  anders  A.  Schöne,  Über  die 
Alkestis  des  Eur.,  Kiel  1895, 23)  zu  gehen  Eur. 
Ale.  903—910;  s.  Diog.  Laert.  11  45;  genaue 
Übereinstimmung  zwischen  der  Physik  des 
Anax.  und  der  des  Eur.  findet  allerdings  nicht 
statt  (E.  Rohde,  Psyche  IF  255  f.);  über  Be- 
einflussung durch  Diogenes  von  Apollonia  F. 
DüMMLER,  Akademika,  Gießen  1889, 140 ff.;  E. 
Rohde  a.  a.  0. 11*256,  1;  durch  Epicharmos 
Wilamowitz,  Eur.  Herakl.  P  29  A.  An  Prota- 
goras (H.DiELS,  Vorsokr.»  S.  516  nr.  20)  klingt 
fr.  189  an ;  ganz  unsicher  ist  die  von  Th.Gomperz 
vermutete  Beziehung  von  fr.  588  auf  ihn.  Son- 
stige Anklänge  verzeichnet  W.  Nestle.  Man 
sieht,  Eurip.  hat  wirklich  sehr  viel  gelesen 
(s.  u.  S.  331, 1).  Auch  die  sophistische  Rhetorik 
wirkt  stark  auf  ihn:  Th.  Miller,  Euripides 
rhetoricus,  Gott.  1887;  0.  Navakre,  Essai 
de  rhetorique  Grecque  avant  Aristote  76  f. 
Über  seine  Kenntnis  der  Orphik  A.  Diete- 
bich,  Nekyia  101  ff.  Auch  mit  Herakleitos' 
Lehre  wurde  Eur.  bekannt:  s.  Diog.  Laert.  II 
22  und  Eur.  fr.  638.  833  (vgl.  Heraclit.  fr.  62 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides. 


181—182.) 


331 


nisse  gab,  so  hat  Euripides  doch  jedenfalls  die  Schriften  dieser  Männer  ge- 
kannt. Soll  er  doch,  was  wohl  möglich  ist,  eine  Bibliothek^)  besessen  haben. 
Dem  Sokrates  war  er  befreundet  und  hatte  seinen  Beifall;  Aelian  v.  h.  II  13 
erzählt,  Sokrates  habe  selten  das  Theater  besucht  und  nur,  wenn  neue  Stücke 
des  Euripides  zur  Aufführung  kamen.*)  Selbst  ein  eifriger  Anhänger  des 
Rationalismus  und  Verächter  des  alten  Götterglaubens  trug  er  durch  seine 
Tragödien  mehr  als  jene  Philosophen  selbst  zur  Verbreitung  der  philo- 
sophischen Aufklärung  bei.*)  Nicht  unverdient  war  der  Ehrentitel  eines 
Philosophen  der  Bühne.*)  Dagegen  hielt  er  sich  von  politischer  Betäti- 
gung fern;^)  er  verriet  auch  darin  im  Gegensatz  zu  Aischylos  und  Sophokles 
den  Dichter  der  Neuzeit.  Nur  in  seinen  Dichtungen  nahm  er  lebhaft  an 
den  politischen  Tagesfragen  teil,  indem  er  namentlich  in  den  Tendenz- 
tragödien aus  der  ersten  Hälfte  des  peloponnesischen  Krieges  jede  Gelegen- 
heit ergriff,  um  seine  Vaterstadt  zu  Ehren  iu  bringen  und  gegen  ihre 
Feinde  Stimmung  zu  machen.«) 

182.  Mehr  als  im  Interesse  der  geschichtlichen  Wahrheit  wünschens- 
wert, beschäftigte  sich  die  Komödie  mit  den  häuslichen  Verhältnissen  des 
Euripides.     Verheiratet  war  er  zweimal;   die  erste  Frau  hieß  Melito,  die 


D.),  auch  Phoen.  535  if.  (Heraclit.  fr.  94  D.); 
Arist.  ran.  1082.  W.  Nestle,  Euripides  der 
Dichter  der  griechischen  Aufklärung,  Stutt- 
gart 1901;  ders.,  Untersuchungen  über  die 
philosophischen  Quellen  des  Euripides,  Philol. 
Suppl.  8  (1901)  557-655. 

')  Ath.  8a:  Suidas  setzt  dafür  den 
jüngeren  Euripides,  über  den  unten.  Über 
Euripides'  Bücherstudien  spottet  Ar.  ran.  943, 
1409. 

*)  Sokrates*  Lehre,  daß  Tugend  auf 
Wissen  beruhe,  ist  wiedergegeben  Herc.  347. 
Anekdotische  Ausschmückung  des  Verhält- 
nisses zu  Sokrates  zeigt  Cic.  Tusc.  IV  63; 
die  alten  Komiker  behaupteten  starke  sokra- 
tische  Einflüsse  auf  Eur.  (Teleclid.  fr.  39.  40 
K.;  Ar.  ran.  1491).  Bei  den  Sokratikem  war 
Eur.  besonders  geschätzt  (Plat.  Phaedr.268c; 
reip.  VIII  568  a;  Wilamowitz,  Eur.  Herakl.  P 
24,  44).  Daß  der  nüchterne  Ethiker  Sokrates 
gerade  an  dem  Verismus  des  Dichters  und 
seiner  Neigung  zum  Moralisieren  Gefallen 
gefunden  habe,  ist  durchaus  glaublich. 

*)  Von  Beweisen,  sind  die  Stücke  des 
Eur.  voll ;  besonders  sprechend  sind  Hec.  799, 
Ion  436—51,  Iph.  Taur.  385—91,  Troad.  884 
bis  888  (nach  Diogenes  von  Apollonia),  Belle- 
rophon fr.  286  u.  292,  Chrysippos  fr.  839,  Peir. 
fr.  593,  fr.  ine.  912.  964.  Daß  Eur.  die  Lehren 
des  Anaxagoras  auf  die  Bühne  gebracht, 
deutet  Piaton  Apol.  26  d  an.  Vgl.  Lucian 
lup.  trag.  c.  41.  Bei  einem  Prozeß  bezichtigte 
ihn  nach  Arist.  rhet.  III  15  p.  1416  a  29  sein 
Gegner  der  Asebie  wegen  des  Verses  Hippol. 
612.  Die  Litteratur  bei  F.  Ubebweo,  Grund- 
riß der  Gesch.  d.  Phil.  I  (9.  Aufl.  Berl.  1903)  94. 

*)  2£xtivix6^  qrdoöoqpog  heißt  er  bei  Ath. 
158  e  und  561a,  Vitruv.  VIII  praef.  1,   Sext. 


Empir.  adv.  math.  I  288,  Clem.  Alex.  strom.V 
P.688P.,  Orig.  contr.  Gels.  IV  77.  Vgl.  Plat. 
reip.  VIII  p.  568  a:  ^  re  Tgayc(>dia  SXcog  ao<p6v 
öoxeX  slvat  xai  6  Evguiidrfg  diaq>eQü)v  ev  avifj. 

*)  Von  Aristoteles  rhet.  II  6  p.  1384  b  16 
wird  eine  EvQtmdov  djtoxoioig  jrgog  ^t^ga- 
xoolovg  erwähnt,  was  der  Scholiast  auf  eine 
sonst  nicht  bekannte  Gesandtschaft  bezieht. 
Die  Stelle  ist  von  Wilamowitz,  Herm.  34(1899) 
617  auf  den  Politiker  Heurippides  (CIA  II  73) 
bezogen.  Von  einer  Klage,  die  dem  Dichter 
ein  gewisser  Hygiainon  durch  das  Anerbieten 
des  Vermögenstausches  anläßlich  einer  zu 
leistenden  Liturgie  anhängte,  meldet  Arist. 
rhet.  III  15  p.  1416  a  29.  MTer  in  den  antiken 
jioXfic:  ein  eingezogenes  Leben  führte,  brauchte 
für  Verunglimpfung  nicht  zu  sorgen:  daher 
wohl  die  Verdächtigung  des  Euripides  als 
eines  Misanthropen.  Über  seine  politischen 
Ansichten  K.  Schenkl,  Z.  f.  östr.  Gymn.  13 
(1862)  357  ff.  485  ff. 

•)  So  pries  er  Athen,  indem  er  zum  Teil 
die  alten  Mythen  ummodelte,  als  Schützerin 
der  Verfolgten  in  Med.  Heracl.  Herc.  Suppl. 
Phoen.  Im  Menelaos  der  Andromache  (s. 
Schol.  z.  Andr.  445)  und  des  Orestes  brand- 
markte er  die  treulose  Härte  und  Geldgier 
der  Lakedaimonier.  Durch  die  Herakliden 
wird  das  Bündnis  mit  Argos  empfohlen. 
Gegen  die  Demagogen  und  Volksschmeichler 
sind  gerichtet  Hec.  254  ff.,  Suppl.  232  ff. 
Wegen  der  im  Kresphontes  repräsentierten 
Vaterlandsliebe  preist  den  Dichter  Lycurg. 
adv.  Leoer.  100.  Die  Stellen  der  Schollen, 
in  denen  Beziehungen  des  Eur.  auf  Zeit- 
geschichte notiert  werden,  in  der  Scholien- 
ausg.  von  E.  Schwabtz  II  410. 


332  Ghriechische  LitteratnrgeBchichte.    I.  ElasBiaohe  Periode, 

zweite  Choirine  (v.  1.  Choirile);^  aber  mit  beiden  scheint  er  schlechte  Er- 
fahrungen gemacht  zu  haben.  Die  Skandalsucht  wußte  namentlich  von 
einem  Famulus  des  Dichters,  Kephisophon  mit  Namen,  zu  erzählen,  mit 
dem  die  Frau  in  ehebrecherischem  Umgang  gelebt  habe.*)  *  Die  Alten 
führten  auf  diese  ehelichen  Mißhelligkeiten  seinen  angeblichen  Weiberhaß 
zurück,  der  die  Frauen  in  den  Thesmophoriazusen  zur  Verschwörung  gegen 
den  Dichter  bewegt.  Von  diesem  Weiberhaß  hielt  jedenfalls  Sophokles 
nicht  viel,  wenn  er  einem,  der  ihm  von  dem  Weiberhasser  Euripides 
sprach,  witzig  entgegnete:  ^  ye  raig  Tgaycpdiaig,  biei  Iv  ye  xfj  xklvf)  (piko- 
yvvr]g.  Wie  Euripides  in  den  Ruf  des  Weiberhasses  gekommen  ist,  ver- 
steht man  nicht  recht;  er  hat  ja  manches  Schlimme,  aber  auch  viel  Gutes 
über  die  Weiber  gesagt,  und  insbesondere  in  seiner  Andromache  und 
Klytaimestra  (s.  bes.  Tro.  647  ff.,  Iph.  Aul.  1158  ff.)  Ideale  veredelter  Weib- 
lichkeit nicht  des  emanzipierten,  sondern  des  guten  alten  ionischen  Typus 
verherrlicht. 3)  Söhne  hatte  er  drei:  Mnesarchides,  Mnesilochos,  Euripides; 
der  erste  von  ihnen  wurde  Kaufmann,  der  zweite  Schauspieler,  der  dritte 
brachte  hinterlassene  Stücke  des  Vaters  nach  dessen  Tod  zur  Aufführung. 
Die  letzte  Zeit  seines  Lebens  seit  Sommer  408  brachte  er  am  Hof  des 
musenliebenden  Königs  Archelaos  von  Makedonien  (413 — 399)  zu,*)  der 
damals  die  erwähltesten  Geister  Griechenlands  an  seine  neue  Residenz  in 
Pella  zu  ziehen  suchte  und  außer  Euripides  auch  den  Tragiker  Agathen 
und  den  Dithyrambiker  Timotheos  zur  Übersiedelung  von  Athen  nach 
Makedonien   veranlaßt  hatte.*)     Vielleicht  auf  dem  Weg  dahin  wurde  er 

^)  Vita:  yvvatxa  ös  yrifiai  jrgwrfjv  MektTO),  |  spielen  Frauen  Hauptrollen  (E.Rohde,  Griech. 
öeinegar  ^k  Xotgiyrjv.  Das  Verhältnis  um-  .  Rom.'  33  ff.)-  Siö  sind  alle,  zum  Teil  in 
gekehrt  bei  Suidas,  zu  einer  Bigamie  ge-  |  starkem  Gegensatz  zu  der  mythischen  Über- 
staltet bei  Gellius  XV  20.  Die  Heirat  mit  |  lieferung  und  in  bewußter  Kritik  aischylei- 
Choirine  erklärt  Wilamowitz,  Anal.  Eur.,  Berl.  scher  und  sophokleischer  Vorgänge  (besonders 
1875. 149  u.  Eur.  Herakl.  P  7  für  Fabel.  An  i  Klytaimestra  und  Elektra  als  gute  Haus- 
Bigamie  ist  bei  einem  Dichter,  der  die  Mono-  frauen),  innerhalb  der  Grenzen  der  yvvatxeta 
gamic  so  nachdrücklich  preist  wie  Eur.  (Andr.  !  aoext)  nach  antikem  Begriff  gehalten.  Den 
177.  215  ff.  469.  909;  El.  1033  ff.),  schwerlich  ,  sophokleischen  Typus  der  Heldenjungfrau 
zu  denken.  |  bildet  er  oberfläclüich  in  der  aulischen  Iphi- 

^)  Dieser  Kephisophon  gehört  mit  zum  i  geneia  und  der  Makaria  (Heraclid.)  nach.  Am 

Haushalt    des    Euripides    nach    Arist.   Ach.  besten   gelingt   ihm    das    durch   Verletzung 

395  ff.  ran.  1408.  1452.     Vers  944  derselben  |  seiner  Instinkte   in  Verzweiflung  gebrachte 

Komödie  wird   in  den  Scholien   so  gedeutet,  i  und   zu  unweiblichen  Taten  gesteigerte  aus- 

als  ob  Kephisophon   dem  Euripides  geholfen  '  gereifte  Weib  (Med.,  Hec). 
habe,  namentlich  in  den  Liedern.   Von  dessen  *)  Vita  p.  4,  1  Schw.;  3,  20  f.;  Philodem. 

Umgang  mit  der  Frau   des  Dichters  erzählt  |  de   vitiis  10   p.  20  Sauppe;   Solimis   IX   15; 

die  Vita ,   wohl  auch   nach  Witzen   der  Ko-  i  Lucian.  de  paras.  35 ;  Paus.  I  2,  2 ;  Syucellus 

mödie   (Ar.  fr.  580  K. ;    Ps.Eur.  ep.  5    weiß  |  p  500,  7.     Von  einem  goldenen  Becher,  den 

nichts   davon).     Ebendaher   wird   die   Anek-  der  König  beim  Mahl  dem  verehrten  Dichter 

dote   von   dem  Verhältnis   des  Dichters   zur  1  schenkte,  erzählt  Plut.  de  vit.  pud.  531  d.    P. 

Schaffnerin  im   Haus   des  Königs  Archelaos  |  Giraro,  Rev.  des  6t.  gr.  17  (1904)  154  ff. 

stammen ;  s.  Hermesianax  bei  Ath.  598  d.  I  ^)  Von   einer  Liebkosung   des  jüngeren 

3}  über  Euripides'  Stellung  zu  den  Frauen  liebenswürdigen  Dichters  Agathon  durch  Euri- 

im  ganzen  I.  Bruns,  Vorträge u.  Aufs.,  München  pides  erzählen  Plut.  amator.  770c  und  Aeliwi. 

1905, 154 ff.;  C.  Lanzani  in  Ateno  e  Roma,  4  v.  h.  XIII  4,  wahrscheinlich  nach  einer  Schrift 

(1901)  148  ff.  208  ff.;  W.  Nestle,  Eur.  254  ff.  des  Peripatetikers  Praxiphanes.     Von  einem 

Verfehlt  macht  L.  Bloch,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt.  ,  Zerwürfnis  des  Dichters  mit  einem  Höfling, 

7  (1901)  89  ff.  den  Eur.  zum  Vorkämpfer  der  ,  der   den  Dichter  wegen   des   übelriechenden 

Frauencnianzipation ;  auchP.  Masqueray.  Rev.  1  Atems  verspottet  hatte,  erzählen  Aristot.  polit. 

des  t^t.  anc.  5  (1903)  101  ff.  234  ff.  urteilt  wohl  V  10  p.  1311b  33  und  Stobäus  floril.  41,  6. 

nicht  ganz  richtig.     In  allen  seinen  Stücken  | 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Euripides.    (§  183.) 


333 


in  Magnesia  eine  Zeitlang  festgehalten  und  durch  öffentliche  Auszeich- 
nungen gefeiert.  0  Wie  Aischylos  für  Sizilien  ein  Lokalstück,  die  Aitnaiai, 
gedichtet  hatte,  so  dichtete  auch  er  zu  Ehren  seines  königlichen  Gönners 
den  Archelaos,  in  dem  er  den  regierenden  König  unter  der  Gestalt  des 
Ahnherrn  der  makedonischen  Dynastie  verherrlichte.^)  In  den  Jahren  415, 
412  und  408,  in  denen  Stücke  von  ihm  aufgeführt  wurden  (Tro.,  Hei.,  Or.), 
muß  er  jedenfalls  in  Athen  gewesen  sein.  In  Arethusa  bei  Amphipolis 
starb  er  im  Frühjahr  406,  noch  vor  dem  Fest  der  großen  Dionysien; 
die  Sage  erzählte,  Hunde  des  Königs  hätten  den  Dichter  zerrissen. 3) 
Bei  Amphipolis,  am  Zusammenfluß  zweier  Bäche,  befand  sich  auch  sein 
Grab,  das  noch  in  später  Zeit  ein  Wanderziel  seiner  Verehrer  war.*) 
In  Athen  riß  sein  Tod  eine  große  Lücke,^)  die  auch  sein  erbitterter  Feind 
Aristophanes  bereitwillig  anerkannte.  Seine  Mitbürger  ehrten  ihn  durch 
ein  Kenotaph,  für  das  angeblich  Thukydides  oder  Timotheos  die  Aufschrift 
dichtete.^)  Später  fügten  sie  auf  Antrag  des  Lykurgos  die  Ehre  eines 
ehernen  Standbildes  im  Dionysostheater  hinzu.  Die  erhaltenen  Porträts 
des  Dichters'')  zeigen  den  Tragiker  in  älteren  Jahren  mit  spärlichem  Haar 
über  der  Stirn  und  mageren  Wangen;  die  sympathische  Physiognomie  ver- 
rät den  herben  Ernst  eines  grübelnden  Deiters. 

183.  Werke  des  Euripides.  Euripides  hat  außer  einem  Epyiikion 
auf  einen  Wagensieg  des  Alkibiades  (Plut.  Ale.  11)  und  einer  Elegie  auf 
die  bei  Syrakus  gefallenen  Bürger  (Plut.  Nie.  17)®)  zweiundneunzig  Dramen 


*)  VitÄ  p.  2,  7  ScHW.;  fAsriorij  de  h 
Mayvrjaiq.  (d.  h.  eig  Mayvrjaiav)  xat  ngo^Bvlq, 
htfiff^fj  xai  diFXsia;  welches  Magnesia  ge- 
meint sei,  ist  nicht  angegeben.  Auch  an 
dem  Tyrannen  Bionysios  von  Syrakus  hatte 
er  einen  enthusiastischen  Bewunderer,  der 
aus  seinem  Nachlaß  um  hohes  Geld  Leier, 
Griffel  und  Schreibtafel  erstand  (Hermippos 
in  der  Vita  p.  5,  14  Schw.).  Bamit  vergleiche 
Plut.  Nie.  29:  mo<  >cai  dt*  EvguiiSrjv  söco^rjoav 
fKxhoza  yao  tog  ioixs  töjv  exzog  *EXXrjvo)v  esto- 
ihföav  avTOv  xtjv  fiovaav  ol  :tf.Qi  ZtxsUav. 

')  Bamit  steht  nicht  in  absolutem  Wider- 
spruch Biomedes  p.  488,  20  K.:  Euripides 
petenle  Archeiao  rege,  %U  de  se  tragoediam 
scriberetf  abnuit  ac  precatus  est,  ne  accideret 
Archeiao  aliquid  tragoediae  proprium,  osten- 
dens  nihil  aliud  esse  tragoediam  quam  mi- 
seriarum  comprehensionem.  Über  den  histo- 
rischen Hintergrund  der  Sage,  durch  die  das 
makedonische  Königsgeschlecht  auf  den  dori- 
schen Ahnherrn  Temenos  zurückgeführt  wurde, 
s.  A.  V.  GüTscHMiD,  Kl.  Schriften  IV  54  ff. 

')  Älteste  Zeugen  dafür  sind  Sotades 
bei  Stob.  flor.  98.  9  und  Biodor.  XIII  103; 
gegen  ihre  Richtigkeit  spricht,  daß  Aristo- 
phanes von  ihr  nichts  weiß.  Nach  einer  an- 
deren bei  Suidas  und  AnÜi.  Pal.  VII  51  er- 
wähnten Fassung  waren  es  Weiber,  nicht 
Hunde,  die  den  Bichter  zerrissen.  Bie  Todes- 
art will  eine  Strafe  für  den  daeßrjg  mit  An- 
klängen an  die  Sagen  von  Aktaion,  Orpheus, 
Penti^eus   ausdrücken.    Benseiben  Sinn  hat 


die  Notiz  Vit  p.  3,  11  Schw.,  die  Grabmäler 
der  E.  seien  beide  vom  Blitz  getroffen  worden. 
Bie  Traditionen  stellt  W.  Nestle,  Philol.  57 
(1898)  184  ff.  zusammen.  F.  Jacoby,  Apollod. 
Ghron.  259  führt  die  Nachricht  von  dem  Tod 
durch  Hunde  auf  Philochoros  zurück.  Siehe 
a.  W.  Hektz,  Ges.  Abb.,  Stuttg.  1901,  328  ff. 

*)  Ammianus  Marcell.  XXVII  4,  8:  pro- 
xima  Arethusa  convalUs  et  statio,  in  qua 
visitur  Euripidis  sepulcrum,  Vgl.Vitmv.VIIl 
8, 16;  Plinius  n.  h.  XXXI  19,  28;  Paus.  1  2,  2. 

^)  Nach  Athen  kam  nach  der  Vita  die 
Nachricht  vor   dem  Proagon  der  Bionysien. 

«)  Vit.  Eur.  p.  3,  5  Sohw.  und  Ath.  187  d. 
Anth.  Pal.  VH  45.  Auf  Thukydides  als  Ver- 
fasser führte  wohl  lediglich  der  Anklang  an 
Thuc.  n  43,  3. 

')  Siehe  die  angefügte  Tafel.  Erhalten 
sind  uns  von  dem  meistgefeierten  und  meist- 
gelesenen Bichter  mehrere  Hermen  und  Sta- 
tuen, in  Rom  und  Neapel  allein  ein  Butzend ; 
s.  E  Q.  Visconti,  Iconogr.  gr.  1 5, 8 ;  G.  Kbüger, 
Arch.Ztg.  28  (1870)  Taf.  26  und  1871  Taf.  1. 
Als  Ergänzung  diene  die  Charakterisierung 
der  Vita:  axir&ocojtog  Öe  xal  avwovg  xai 
avortjQog  itpaivero  xai  fjnö6ye.Xo>g  xal  fiiao- 
yvvTjg  .  .  .  eXiyezo  de  xai  ßa^v  7Z(oycova  ^gs- 
tpai  xai  im  xfjg  dtpecog  qpaxoi'g  eax^xsvai.  Ar. 
Thesm.  190  (a.  411)  läßt  den  Eur.  sagen 
TtoXiog  elfii  xai  jicjyoyv*  ¥xm.  Von  seinem 
übelriechenden  Atem  spricht  die  Vita  und 
Aristot.  polit.  V  p.  1311b  33. 

8)  AUeRe8tebeiTH.BEBGK,PLGn*265f. 


834 


OriechÜMhe  Litteratiirgeschichte.    L  ElasBiBclie  Periode. 


oder  dreiundzwanzig  Tetralogien  verfaßt,  i)  Davon  hatten  sich  in  die 
hellenistische  Zeit  achtundsiebzig  Stücke  gerettet,*)  darunter  acht  Satyr- 
spiele;')  für  unecht  galten  unter  diesen  ein  Satyrdrama  und  die  drei  Tra- 
gödien Tiwrjg,  'Padd/biay^g,  üetgl^oog.  Auf  uns  gekommen  sind  neunzehn 
Dramen,  darunter  ein  Satyrspiel,  Kvxhotp,  und  eine  Tragödie  von  zweifel- 
hafter Echtheit,  'Pfjoog.  Von  diesen  neunzehn  Stücken  wurden  im  byzan- 
tinischen Mittelalter  am  meisten  gelesen  'Exdßrj,  ^Ogeatrig,  0olviaacu^)  Unter 
den  erhaltenen  Dramen  befinden  sich  mehrere,  wie  MrjdHa,  ^olvioacu,  'iTmö- 
XvTog,  Bdxxaif  die  sich  schon  im  Altertum  eines  hohen  Ansehens  erfreuten; 
aber  viele  andere  sind  weniger  bedeutend  und  wurden  von  den  Gramma- 
tikern in  zweite  Linie  gestellt.^)  Damit  scheint  zusammenzuhängen,  daß 
die  neunzehn  Dramen,  ähnlich  wie  die  Reden  des  Lysias,  aus  zwei  Samm- 
lungen stammen,  von  denen  die  eine,  vermutlich  im  2.  Jahrhundert  v.  Chr. 
entstAnden,  eine  Auswahl  von  neun  Stücken  enthielt  (Hec,  Orest.,  Phoen., 
Hipp.,  Med.,  Ale,  Andrem.,  Rhes.,  Troad.),®)  die  andere  ehedem,  als  sie 
noch  vollständig  war,  sämtliche  Stücke  in  alphabetischer  Ordnung  um- 
faßte.''j  Anklang  fand  Euripides  mit  seinen  Tragödien  bei  dem  athenischen 
Publikum  weniger  als  Aischylos  und  Sophokles:  nach  der  parischen  Marmor- 
chronik (ep.  60)  errang  er  erst  im  neununddreißigsten  Lebensjahre  unter 
dem  Archon  Diphilos  (441)  den  ersten  Sieg,  und  im  ganzen  genommen 
erhielt  er  nur  fünfmal  den  ersten  Preis.  ^)  In  das  rechte  Fahrwasser  scheint 
er  erst  im  Beginn  des  peloponnesischen  Kriegs  gekommen  zu  sein,  als 
der  alternde  Sophokles  allmählich  in  den  Hintergrund  trat  und  er  selbst 
durch  Anspielungen  auf  politische  Zeitverhältnisse  und  durch  Einflechtung 


')  Die  Zahl  schwankt  in  der  Vita  und 
bei  Suidas  zwischen  92  und  98  infolge  der 
Verwechselung  der  Zahlzeichen  ß  und  f/. 

*)  Varro  bei  Gellius  XVII  4,  3  spricht 
von  75  Stücken;  die  Abweichung  kommt 
wahrscheinlich  daher,  daß  die  einen  die  drei 
unechten  Tragödien  einrechneten,  die  anderen 
diese  ganz  außer  Betracht  ließen.  Auf  der 
Rückseite  der  sitzenden  Statue  des  Euripides 
im  Louvre  ist  ein  alphabetisches  Verzeichnis 
von  37  Stücken  bis  'ÜQeoxrjg  geschrieben; 
8.  F.  G.  Wblckkr,  Griech.  Trag.  444  f.  Ein 
anderes  gleichfalls  verstümmeltes  Verzeich- 
nis in  teilweise  alphabetischer  Ordnung  findet 
sich  auf  einem  Stein  des  Peiraieus,  bei 
WiLAMOwiTz.  Anal.  Eur.  p.  139  =  CIA  II  992. 
Wir  kennen,  abgesehen  von  den  19  erhal- 
tenen Stücken,  Titel  und  Fragmente  von 
62  Stücken. 

*)  Wenn  Euripides  23  Tetralogien  und 
doch  nur  8  Satyrdramen  dichtete,  so  erklärt 
sich  das  daraus,  daß,  wie  das  Beispiel  der 
Alkestis  zeigt,  für  ein  Satyrspiel  auch  eine 
Tragödie  mit  glücklichem  Ausgang  eintreten 
konnte.  Unter  den  uns  bekannten  Titeln 
gehören,  vom  Kyklops  abgesehen,  sicher  zu 
Satyrspielen  Autolykos,  Busiris,  Eurystheus, 
Theristai.  Sisyphos,  Skiron  (Reste  einer  Hypo- 
thesis  dazu  Ämherst  pap.  II,  Lond.  1901,  17), 
Syleus.   Diese  sind  (Vit.  p.  4,  10  Schw.)  alle. 


die  er  geschrieben  hat. 

^)  Man  sieht  aus  dieser  Auswahl  und 
der  ähnlichen  bei  Aischylos,  daß  die  Byzan- 
tiner ein  besonderes  Gefallen  am  Pathetischen 
und  Schauervollen  hatten  und  in  engher- 
ziger Prüderie  Stücke  mit  Liebesszenen  ver- 
schmähten. 

*)  Von  der  Andromache  lesen  wir  in 
der  Hypothesis  x6  ÖQOfxa  x(öv  öevtegcov,  da- 
gegen von  dem  Hippolytos  t6  dgäfia  tcov 
ngwTcov. 

^)  Es  sind  die  Stücke,  die  uns  in  einer 
Handschriftenklasse  mit  Scholien  erhalten 
sind.  Auffällig  ist,  daß  in  diese  Auswahl 
ein  unechtes  Stück,  der  Rhesos,  und  ein 
sonst  wenig  geschätztes,  die  Andromache, 
Aufnahme  fanden. 

')  Alphabetische  Ordnung  gewahrt  man 
in  der  Reihenfolge  des  Laur.  32,  2:  'Ekenj, 
*HXextQa,  'HgixxXfjg,  'HoaxXelSai,''Icüv,  'Ixrttdeg, 
*I<fiyevsia ;  darüber  Wilajiowttz,  Anal.  Eurip. 
136  ff.,  der  die  ähnliche  Ordnung  auf  dem 
Stein  des  Peiraieus  vergleicht. 

®)  Gellius  XVII  4:  Euripidem  quogue 
M,  Varro  ait,  cum  quinque  et  septuciginta 
tragoedias  scripserit,  in  quinque  solis  vicisse, 
cum  eum  saepe  vincerent  aliquot  poetae  ignct- 
vissimi.  Unter  den  fünf  Siegen  ist  nach 
Suid.  einer,  der  erst  nach  seinem  Tod  mit 
einem  seiner  Stücke  gewonnen  wurde. 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripidea.    (§  183.) 


335 


sophistischer  Weisheit  der  bewunderte  Liebling  der  jüngeren  Generation 
wurde.  ^)  Um  so  heftiger  befehdeten  ihn  freilich  jetzt  als  den  StimmfÜhrer 
des  neuen  Zeitgeistes  die  Dichter  der  Komödie,  von  denen  namentlich 
Aristophanes  ihn  erbarmungslos  bei  jeder  Gelegenheit,  insbesondere  in  den 
Acharnem,  den  Thesmophoriazusen,  den  Fröschen  verspottet  hat.*)  Aber 
der  Geschmack  an  Rhetorik,  am  Überraschenden,  Pathetischen,  Rührenden, 
an  Moralistik  und  philosophischer  Aufklärung  gewann  in  dem  Geistesleben 
der  Griechen  immer  mehr  die  Oberhand,  und  so  fand  auch  Euripides  nach 
seinem  Tod  bei  Aristoteles  Anerkennung, ä)  bei  den  Dichtem  der  neuen 
Komödie,  wie  Menandros  und  Philemon,  aber  begeisterte  Bewunderung.*) 
Von  den  Griechen  der  späteren  Zeit  ging  dann  die  Vorliebe  für  ihn  auf 
die  Römer  über,  so  daß  Ennius,  Pacuvius,  Accius,  Seneca  sich  hauptsäch- 
lich ihn  zum  Vorbild  nahmen.*)  Auch  bei  den  Philosophen,  namentlich 
dem  Stoiker  Chrysippos«)  und  dem  Akademiker  Krantor')  stand  er  in 
hohen  Ehren,  und  auf  die  bildende  Kunst  hat  er  wie  kein  zweiter  Dichter 
des  Altertums  befruchtend  eingewirkt.®)  Sein  Ansehen  erhielt  sich  im 
Mittelalter;^)  auch  in  der  neueren  Zeit  ward  die  Aufmerksamkeit  der  Ge- 
lehrten und  Schöngeister,  die  erst  durch  Vermittlung  des  römischen  Tra- 
gikers Seneca  die  griechischen  Meister  kennen  lernten,  zuerst  auf  Euripides 
.gelenkt,  so  daß  er  vor  Aischylos  und  Sophokles  Eingang  in  die  moderne 
Litteratur  fand.i<>) 


*)  aoqxoxaxov  nennt  den  Euripides  der 
Vertreter  der  Jagend  Pheidippides  in  Aristoph. 
nub.  1377  (vgl.  1369);  Lys.  368;  ran.  776. 
1413;  Aeschin.  I  löl.  In  allen  diesen  Stellen 
hat  das  von  Euripides  selbst  (Schol.  Med.  665) 
so  gern  gebrauchte  Wort  awpog  einen  ironi- 
schen Beigeschmack,  und  so  hat  es  vielleicht 
auch  der  delphische  Grott  in  dem  bekannten 
Orakelspruch  (falls  die  Fassung  bei  den  Scho- 
liasten  zu  Plat.  Ap.  21  a  und  Ar.  nub.  144 
echt  sein  sollte)  gemeint 

')  Heimgezahlt  hat  Euripides  den  Ko- 
mikern ihren  Spott  durch  die  bitteren  Verse 
in  der  zweiten  Melanippe  fr.  495: 

avÖQWV  de  jtoXXoi  tov  yikcoTog  ovvexa 
äoxovoi  x^Qixag  xegTÖfwvs,  iya)  de  Ttcog 
fiiacj  ysXoiovg,  oixivfg  ocKpiav  negi 
dxdXiv*  fxovoi  OTOfiaxa  xrl. 
Die  Gründe  der  Abneigung  gegen  Eur.  lehren 
am  besten  die  Verse  des  Ar.  ran.  830  ff.  und 
die  bei  E.  Scitwabtz,   Schol.  Eur.  II  404  f. 
gesammelten   ästhetisch-kritischen   Gramma- 
tikemotizen  kennen.     Alle  Stellen  des  Ari- 
stoph.  gegen   Eur.  gibt  A.  Nauck,  Eurip.  I ' 
praef.  XL  n.  86.  87. 

»)  Arist.poet.p.  1453  a  29:  6  EvguriSrjg 
ei  xai  rä  äkka  fxrj  ev  oixovojueJ,  dXXa  rgayi- 
xwratog  ye  nor  jiotrjKov  rpaivexai. 

*)  Philemon  (fr.  40a  K.)  ließ  in  einem 
Lustspiel  einen  Freund  des  Eur.  sagen:  el 
xalg  cdT^&eiaiotv  oi  xeOvrjxoxeg  ato&rjotv  eT^ov, 
ävdgeg  oyg  qpaoiv  xiveg,  djrtjy^dfjtr^v  äv,  ojax* 
iSeiy  EvQuitSrjv;  s.  a.  Diphil.  bei  Ath.  422  b. 
QuintiL  X  1,  69:   Euripidem  admiratus  tna- 


xime  estf  ut  saepe  testatur,  et  secutus  Menander, 

^)  Siehe  auch  die  Zeugnisse  bei  A.  Müllbb, 
Griech.  BOhnenaltertümer  390,  5;  wenn  in 
hellenistischer  Zeit  eine  naXaid  wiederauf- 
geführt wird,  so  ist  es  in  der  Regel  ein  Stück 
des  Euripides  (U.  Eöhlbr,  Mitt  des  ath.  Inst 
3, 1878, 116,  A.Wilhelm, Urkunden 40).  Euri- 
pidespapyri  sind  besonders  häufig  (s.u.S.366). 
Über  den  Geschmackswechsel  seit  dem  ersten 
Jahrh.  v.  Chr.  s.  o.  S.  326  und  Auct.  -t.  vy». 
15,  3.  40,  2.  Den  Umschwung  bereitet  schon 
Accius  vor,  der  als  erster  sich  auch  an  äschy- 
lelsche  und  sophokleüsche  Stoffe  wagte,  viel- 
leicht weil  die  euripidelschen  ausgeschöpft 
waren. 

•)  E.  Weber,  Leipz.  Stud.  10  (1888)  210; 
in  den  Florilegien  ist  Eur.  besonders  aus- 
gebeutet worden. 

')  Diog.  L.  IV  26. 

®)  K.  J.  Vogel,  Szenen  euripideischer  Tra- 
gödien in  griechischen  Vasengemälden  I,  Leipz. 
1885;  J.  H.  HüDDiLSTON  s.  o.  S.  330, 3.  Wila- 
MOwiTz,  Eurip.  Herakl.  P  170;  F.  Wintbb, 
Jahrb.  des  arch.  Inst  6  (1891)  271  ff. 

*)  Ein  Cento  euripideischer  Verse  ist 
das  mittelalterliche  Drama  Xgtoiog  jtdaxcovt 
was  am  ausführlichsten  von  J.  G.  Brajcbs  in 
der  neuen  Ausgabe  des  Stückes,  Lips.  1885, 
nachgewiesen  ist.  —  Eine  Schöpfung  des 
M.  Musuros  ist  das  im  Cod.  Pal.  287  ent- 
haltene Stück  einer  Danaö  (R.  Wünsch, 
Rhein.  Mus.  51,  1896,  138  ff.). 

'0)  Viele  Leser  fanden  insbesondere  die 
lateinischen  Übersetzungen  der  Hecuba  und 


336  Oriechische  Litteratnrgeschiohte.    L  ElassiBche  Periode. 

184.  Chronologie  der  Dramen.  Bestimmte,  aus  den  Didaskalien 
geschöpfte  Angaben  über  die  Zeit  der  Auffährung  haben  wir  nur  von 
wenigen  euripideischen  Tragödien;  nach  ihnen  wurden  aufgeführt  die 
Peliades  bei  dem  ersten  Auftreten  des  Dichters  im  Jahr  455/)  Alkestis^) 
zusammen  mit  Kressai,  Alkmeon  in  Psophis  und  Telephos  438,  Medeia 
mit  Philoktetes,  Diktys  und  Theristai  431,  Hippolytos  stephanephoros 
428,  Troades  mit  Alexandres,  Palamedes  und  Sisyphos  415,  Helena  und 
Andromeda  412,«)  Orestes  408,*)  Iphigeneia  in  Aulis,  Bakchen  und 
Alkmeon  in  Korinth  nach  des  Dichters  Tod.*)  Im  übrigen  sind  wir  zur 
Bestimmung  der  Abfassungszeit  auf  Kombinationen,  hauptsächlich  aus  der 
metrischen  Form,  den  politischen  Anspielungen  und  den  Parodien  bei  Aristo- 
phanes^)  angewiesen.  In  erster  Beziehung  ist  wichtig  die  Beobachtung 
G.  Hermanns,^)  daß  Euripides  in  seiner  letzten  Periode  von  Ol.  90  an  (um 
418)  archaisierend  den  trochäischen  Tetrameter  neben  dem  iambischen 
Trimeter  in  die  Dialogpartien  wieder  einführte  und  in  der  Auflösung  der 
Längen,®)  sowie  im  Gebrauch  des  vielgestaltigen  (poly schematischen)  Gly- 
koneus  eine  größere  Freiheit  walten  ließ.  Auch  in  der  Wahl  der  Stoffe 
zeigen  sich  bemerkenswerte  Unterschiede  in  den  verschiedenen  Lebens- 
perioden des  Dichters.  Während  er  anfangs  (etwa  455 — 431)  vorzugsweise 
durch  neue  Stoffe  (Rhesos?,  Alkestis,  Alkmeon,  Medeia)  Interesse  zu  gewinnen 
trachtete,  versuchte  er  in  der  ersten  Hälfte  des  peloponnesischen  Krieges 
sein  Glück  mit  Tragödien,  die  zu  Anspielungen  auf  die  politischen  Zeit- 
verhältnisse  in  attisch-patriotischem  Sinn  Gelegenheit  boten  (Herakleidai» 
Andromache,  Herakles,  Hiketides,  Ion)  und  kehrte  in  der  dritten  Periode 
seines  Schaffens  wieder  zu  den  alten  Mythen  zurück,  aber  in  der  Art,  daß 
er  in  ihrer  Behandlung  teils  in  Einzelheiten  von  seinen  Vorgängern,  nicht 
ohne  polemische  Seitenhiebe,^)  abwich  (Elektra,  Phoinissai,  Orestes),  teils 
eine  ganz  neue,  in  fremde  Länder  schweifende  Romantik  hereinbrachte 
(Helena,  Andromeda,  Iphigenia  Taurica).  Nach  diesen  und  ähnlichen  Ge- 
sichtspunkten ^ö)  hat  man  die  Chronologie  der  euripideischen  Stücke  zu 
fixieren  gesucht  ;*0  wiewohl  die  gewonnenen  Ergebnisse  nicht  in  allem  ein- 

der  aulischen  Iphigeneia  von  D.Erasmus  (1507)  1    751,    gegen    Aischylos    und    Sophokles  El. 
und  die  Excerpta  e   tragicis  et  comicis   von  |   530  u.  872»  Anüg.  fr.  165. 
Hugo  Gbotius  (1626).  ^®)    Ein    wichtiges    Anzeichen   sind    die 
*)  Nach  der  VitÄ  p.  2,  14  ff.  Schw.;  die  Wiederholungen,  worüber  F.  Schröder,  Deite- 
folgenden  Zeugnisse    stehen    in   den   Hypo-  '   ratisapudtragicosgraec,  Straßb.l882(=Di8S. 
theseis  der  betreffenden  Stücke.  phil.  Argent.  6, 1882,  129  ff.).   Anzeichen  von 
*)  Alkestis  war  das  17.  Stück,  was  sich  Entwicklung  in  der  Prologtechnik  bemerkt  H. 
wahrscheinlich  auf  eine  chronologische,  schwer-  v.  Arnim,  De  prologorum  Euripideor.  arte  et 
lieh   auf  eine   alphabetische  Anordnung  der  Interpol atione,  Greifsw.  1882.  Sprachliche  Be- 
stücke bezieht;  vgl.  o.  S.  334,  2.  |   obachtungen,  die  ohne  Zweifel  weiter  fördern 
3)  Schol.  Aristoph.  Thesm.  1012  u.  1060.  würden,   sind  noch   lange   nicht  genug  ge- 
*)  Schol.  Orest.  371.  macht,  freilich  in  Eiinanglung  eines  Spezial- 
^)  Schol.  Aristoph.  ran.  67.  lexikons  zu  Eur.  auch  sehr  erschwert;  einiges 
®)  Vor  425  fallen  den  Anspielungen  in  bei  H.  Tietzel,  De  coniunctionum  temporal. 
Ar.  Ach.  nach  ülvns  u.  4>oX%i^.  usu  Euripidoo,  Bonn  1885.     Im   ganzen  vgl. 

^)  G.  Hermann,  Elem.  doctr.metr.,  Leipz.  Wilamowitz,  Eurip.  Herakl.  P  348  ff. 

1816  p.  88  f.  **)  H.  ZiRNDORFER,  De  chj;onologia  fabu- 

^j  C.  F.  W.  Müller,  De  pedibus  solutis,  larum  Eur.,   Marburg  1839;   Th.  Fix,  Chron. 

Berl.  1866  p.  42  ff.  fab.  Eur.,  vor  der  Didotschen  Ausg.,  Paris  1843, 

*)   Seitenhiebe   gegen   Aischylos  Phoen.  und  besonders  Wilamowitz,   Analecta  Eur. 


G.  Drama»    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides.     (§  185.)  337 

zelnen  sicher  sind,  wird  hier  doch  die  wahrscheinliche  Zeitfolge  der  An- 
ordnung der  einzelnen  Dramen  zugrunde  gelegt.^) 

185.  ^AXxrioxig  wurde  438  an  vierter  Stelle,  also  anstatt  eines  Satyr- 
dramas aufgeführt.  Zu  dieser  Stellung  stimmt  die  burleske  Erzählung  des 
Dieners  von  der  Ungeniertheit  und  Gefräßigkeit  des  Herakles  (747  flf.),  der 
eine  besonders  beliebte  Figur  des  Satyrspiels  war,  und  der  glückliche  Aus- 
gang der  Handlung,  indem  Alkestis,  die  junge  Gattin  des  Admetos,  die  allein 
für  ihren  Mann  zu  sterben  bereit  war,  von  Herakles  den  Armen  des  Tha- 
natos  wieder  abgerungen  wird.*)  Die  Sage  war  schon  bei  Hesiod  (fr.  126. 
127  Rz.)  behandelt,  aber  in  ernsthaftem  Sinn,  ohne  Einmischung  des 
Herakles,  den  —  und  mit  ihm  den  burlesken  Ton  —  bereits  Phrynichos 
hereingebracht  hatte  (auf  ihn  muß  wohl  Phryn.  fr.  2  bezogen  werden). 
Der  Gegensatz  zu  dem  starken  Hans  führte  nun  vermutlich  dahin,  den 
Admetos  zu  einer  fast  komischen  Janmierfigur  umzubilden,  dessen  thessa- 
lische  Gastfreiheit  bis  zu  tölpelhafter  Übergefälligkeit  gesteigert  wird;  die 
Auffassung  des  Admetos  als  eines  Schwächlings  lag  nahe,  sobald  die  Frage 
gestellt  wurde,  wie  denn  ein  Mann  das  Opfer  des  stellvertretenden  Todes 
von  seiner  Frau  annehmen  könne;  der  Stoflf  ist  auch  später  noch  komisch 
behandelt  worden  von  Aristomenes,  der  388  einen  Admetos  aufführte,^) 
und  von  Antiphanes  in  einer  Alkestis.  Vielleicht  stellt  das  euripideische 
Stück  einen  Versuch  dar,  an  Stelle  des  Satyrspiel-Exodiums  ein  solches 
mit  einer  Märchenkomödie  (denn  Märchenzüge  sind  die  Opferung  der  Frau 
für  den  Mann  und  der  Kampf  mit  dem  personifizierten  Tod)  zu  setzen,  und 
gibt  somit  einen  Beweis  für  die  Einwirkung  der  sizilischen  Märchenkomödie, 
die  sich  um  dieselbe  Zeit  auch  auf  der  komischen  Bühne  Attikas  geltend 
macht.  Ein  künstlerischer  Mangel  des  euripideischen  Stückes  ist  nur,  daß 
es  in  zwei  unvermittelte  Teile,  einen  ganz  ernsthaften  Anfang  und  einen 
burlesken  Schluß  auseinanderfallt.  Die  ernsthaft  sentimentale  Darstellung 
des  Stoffs  im  Text  zu  Glucks  Oper  und  in  der  von  Goethe  so  übel  mit- 
genommenen*) Wielandschen  Alceste  ist  durchaus  modern.  Von  den  Dramen 
des  Euripides  war  die  Alkestis  nach   der  Didaskalie  das  sechzehnte  (oder 


p.  172  ff.      Die  wahrscheinliche  Folge    ist:  :   Pulcinella,  Leipz.  1897,  69  f.  der  richtig  den 

Alkestis  (438),  Medeia  (431),  Hippolytos  (428),  burlesken  Charakter   auch   des   Phrynichos- 

Hekabe,  Andromache,  Herakleidai,  Herakles,  Stückes  betont.    Gekünstelt  ist  der  Versuch 

Hiketides,  Troades  (415),  Kyklops,  Iph.  Taur..  von  L.  Bloch,  Ajkestisstudien  (N.  Jahrbb.  f. 


Ion,  Elektra,  Helena  (412),  Phoinissai  (zu 
diesen  nennt  die  Hypothesis  p.  244, 14  Sohw. 
den  Archontennamen  Nausikrates,  den  es  aber 


klass.  Altertum  7,  1901,  39  ff.  113  ff.),  die 
Alkestis  als  wirkliche  Tragödie,  eine  Art 
griechischen  Fidelio,  zu  verstehen,  und  sehr 


nicht  gegeben   hat;    vgl.  A.  Wilhelm,  Urk.  bedenklich    dessen    weitere    Kombinationen 

dramat.    Aufführungen  62),    Orestes  (408),  i  (S.   120    ff.)    über    die    Abfassungszeit    des 

Bakchai  und  Iph.  Aul.  j  Stückes. 

*)    Gruppierung    der   Stücke   nach    den  !  ^)  Arg.  Ar.  Plut.  Einen  anderen  burlesken 

poetischen  Motiven  H.  Weil,  Et  sur  le  drame  '  Zug    aus    der   Admetossage    berührt    schon 

ant.  115  ff.  Aesch.  Eum.  717  f.  K. 

«)  Arg.  Ale.   p.  214,  Uff.  Sohw.   to  dh  \  *)  .Götter,   Helden   und  Wieland*    (ge- 

ÖQdfja    x(ofttxo)TEgav    Fj^et    zr/v   xazaaTQo<ptjv.  schrieben  1774  bei  einer  Flasche  guten  Bur- 

A.  Schöne,  Über  die  Alkestis  des  Euripides,  gunders  in  einer  Sitzung;    vgl.  A.  Stein- 

Eiel    1895,     hält    unser    Stück    schwerlich  i  berger,  Goethe  und  die  Alkestisfirage,  Bayr. 

richtig    für  eine  Parodie    der  Alkestis    des  |  Gym.Bl.  25  (1889)  24  ff. 

Phrynichos.     Gegen  Schöne  s.  A.  Dibtbbioh,  | 

Handbaeh  der  klass.  AlUrtumswissenschaft.    VII.  5.  Aufl.  22 


338  Grieohisohe  LitteratnrgeBchichte.    L  Klassische  Periode. 

siebzehnte)  Stück J)    Bei  der  Einfachheit  der  Handlung  hatte  in  ihr  der 
dritte  Schauspieler  noch  eine  sehr  untergeordnete  Rolle.*) 

186.  Die  Mi^deiGj  mit  der  Euripides  seinen  dankbarsten  und  in  der 
Weltlitteratur  wirksamsten^)  Stoff  ergriffen  hat,  wurde  nach  der  Hypothesis 
431  als  erstes  Stück  der  Trilogie  zusammen  mit  Philoktetes,  Diktys  und 
dem  Satyrspiel  Theristai*)  aufgeführt.  Die  Tragödie  ist  benannt  nach  der 
Hauptheldin,  der  düsteren  Zauberin  aus  dem  Kolcherland.  Aus  ihrem 
Mythus  hatte  Euripides  schon  zu  seiner  ersten  Tragödie,  den  Peliaden, 
den  Stoff  genommen.  Aber  während  er  dort  ebenso  wie  Sophokles  in  den 
^PiCoTÖjuoi  einfach  der  Sage  folgen  konnte,  mußte  er  hier  erst  die  alte 
Überlieferung  umformen,  um  den  Boden  für  eine  Tragödie  zu  gewinnen. 
Schon  in  der  alten  Sagengeschichte  Korinths  spielte  der  Medeiamythus  eine 
Rolle,  insofern  als  Aietes,  der  Vater  der  Medeia,  von  Korinth  aus  nach 
Kolchis  gewandert  sein  sollte  (Schol.  Pind.  0.  13,  74);  dann  hatte  bereits 
der  korinthische  Epiker  Eumelos  nach  Paus.  H  3,  8  von  der  Herrschaft 
lasons  in  Korinth  und  seiner  Entzweiung  mit  Medeia,  der  er  die  Herr- 
schaft verdankte,  erzählt;  dem  hatte  Kreophylos*)  die  Sage  von  der  Er- 
mordung des  Königs  Kreon  durch  Gift  und  von  der  Flucht  der  Medeia 
beigefügt  (Schol.  ad  Med.  264).  Von  den  Kindern  war  erzählt,  Medeia  habe 
sie  immer  sogleich  nach  der  Geburt  im  Heraheiligtum  verborgen,  in  der 
trügerischen  Hoffnung,  sie  dadurch  unsterblich  zu  machen;  als  lasen  dies 
entdeckte,  sei  er  grollend  nach  lolkos  zurückgekehrt,  und  auch  Medeia 
habe,  die  Herrschaft  an  Sisyphos  abtretend,  Korinth  verlassen.  Erst  in 
der  Tragödie  ermordet  die  Mutter  ihre  eigenen  Kinder,  um  sich  an  dem 
treulosen  Gemahl,  welcher  der  reichen  Königstochter  zuliebe  die  unglück- 
liche Gattin  verstoßen  hatte,  in  furchtbarer  Weise  zu  rächen.  Diese  ent- 
setzliche, von  Eifersucht  und  Rachedurst  eingegebene  Tat,  die  mit  den 
Kindern  zugleich  die  von  den  Geschenken  der  Nebenbuhlerin«)  betörte 
junge  Frau  des  lasen  mit  ins  Verderben  riß,  hat  Euripides  zum  Mittel- 
punkt der  Tragödie  gemacht.  Die  Sage  bot  ihm  eine  ausgezeichnete 
Gelegenheit,  Übermenschentum  durch  psychologisch  motivierte  Leidenschaft 
zu  ersetzen,  und  so  darf  Medeia  als  seine  lebensvollste  Heroine  bezeichnet 


»)  Vgl.  S.  336,  2.  menti  figurati,    Neapeler  Dies.    1906,    Berl. 


*)  A.  Müller,  Scenische  Fragen  zur  AI 
cestis  des  Euripides,  Progr.  Hannover  1860. 
Derselbe,  Bühnenalt.  173,  A.  3  sucht  den 
Schauspielerbedarf  für  die  Alk.  auf  zwei 
nebst  einem  Nebensänger  zu  beschränken. 

«)  Über  M.  in  der  Weltlitteratur  L.  Mal- 
LiNOER,  Medöe,  ^tude  de  litt^rature  compar^e, 
Louvain  1897.  In  der  römischen  Litteratur 
gab  es  Medeatragödien  von  Ennius,  Pompeius 
Macer,  Ovidius,  Seneca  und  Osidius  Geta. 
Eine  von  der  euripideischen  verschiedene 
Medeia  parodiert  Ar.  pac.  1012  ff.;  eine  andere 
sucht  A.  Körte,  Berl.  pliilol.  W.schr.  18  (1898) 
1462  aus  einer  Münchener  Vase  zu  rekon- 
stniieren.  —  Über  die  Einwirkung  der  Medeia- 
sage  auf  die  Malerei  imd  Plastik  F.  Wbege, 


philol.  W.schr.  27  (1907)  513  ff. 

*)  Euripides  erhielt  den  dritten  Preis: 
erster  war  Euphorion,  zweiter  Sophokles.  Der 
Philoktetes  war  ein  bewundertes  Stück,  über 
dessen  Anlage  wir  durch  den  Rhetor  üion 
Chrysost.  or.  52  u.  59  Aufschluß  erhalten; 
vgl.  S.  320  f.  Daß  auch  der  Diktys,  der  in 
die  Perseussage  eingriff,  viel  gelesen  wurde, 
zeigen  die  zahlreichen  Fragmente.  Die  ße- 
giorat  waren  nach  der  Didaskalie  schon  zur 
Zeit  des  Grammatikers  Anstophancs  verloren. 

^)  Vermutlich  der  von  Ath.  361  c  er- 
wähnte Verfasser  von  ^E<feoiwv  wooi,  s.  Wila- 
MowiTZ,  Herm.  15  (1880)  485ff.;"M.  Gröoer, 
De  Argonauticarum  fabularum  historia,  Diss. 
Vratisl.  1889,  p.  22  ff. 


in   einer  Besprechimg  von  F.  Gaxli,   Medea   i  •)  Über  das  Motiv  vom  vergifteten  Ge- 

corinzia  nella   tragedia  classica  e  nei  monu-   |   wand  s.  J.  Lunak,  Philol.  51  (1892)  739  f. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides.    (§  186.)  339 

werden.  In  Begründung  der  inneren  Antipathie  zwischen  lason  und  Medeia 
ist  F.  Qrillparzer  tiefer  gegangen  und  hat  einen  von  Euripides  hingewor- 
fenen Zug  (V.  1339)  zum  Angelpunkt  seiner  Tragödie  gemacht.  Den 
Ausgang  der  erschütternden  Handlung,  die  Flucht  der  Medeia,  nahm  Euri- 
pides wieder  aus  dem  alten  Mythus;  er  erfand  nur  die  besondere  Richtung 
der  Flucht  nach  Athen  und  ließ  zu  ihrer  Vorbereitung  schon  in  der  Mitte 
des  Stückes  (663 — 758)  den  König  Aigeus  auf  dem  Heimweg  von  Delphoi 
mit  Medeia  zusammenkommen.^)  Ob  er  damit  zugleich  das  ehrliche  und 
bundesfreundliche  Verfahren  der  alten  Athener  gegen  Korinth  hervorheben 
(723 — 730)  und  in  stillschweigenden  Gegensatz  zur  Feindseligkeit  der 
Korinthier  beim  Ausbruch  des  peloponnesi sehen  Krieges  setzen  wollte,  ist 
fraglich;  jedenfalls  aber  spielt  bei  diesem  Motiv  ein  patriotischer  Neben- 
zweck mit,  der  sich  auch  in  dem  Lob  Attikas  (824  flf.)  verrät.*)  Stofflich 
bildet  die  Fortsetzung  der  Tragödie  der  Aiyevg,  in  dem  Medeia  in  Athen 
als  ünheilstifterin  und  Qiftmischerin  auftrat.  —  Eine  Wiederaufführung 
bei  den  Heräen  in  Argos  in  hellenistischer  Zeit  ist  inschriftlich  bezeugt.*) 
—  Die  uns  erhaltene  Medeia  hält  nach  früheren  Vorgängern  N.  Wecklein*) 
für  die  Umarbeitung  einer  älteren,  von  der  mehrere,  ehemals  als  Parallelen 
an  den  Rand  geschriebene  Verse  in  den  Text  unseres  Stückes  gekommen 
seien.*)  In  frühperipatetischer  Litteratur  (bei  Dikaiarchos  und  dem  Ver- 
fasser der  dem  Aristoteles  zugeschriebenen  Hypomnemata)  tritt  die  Be- 
hauptung auf,  Euripides  habe  sich  die  Medeia  des  Neophron  von  Sikyon 
angeeignet  und  diese  umgearbeitet.  Aristoteles  hat  davon  nichts  gewußt, 
wohl  aber  an  der  euripideischen  Medeia  einige  Ausstellungen  gemacht 
(s.  u.  A.  1),  die  dann  von  dem  Kommentator  Timachidas  (Argum.  Eur.  Med. 
extr.)  vermehrt  wurden  und  gegen  die  Didymos  (Arg.  1. 1.;  Schol.  Med.  167) 
den  Dichter  zu  verteidigen  suchte.  Die  Ausstellungen  des  Aristoteles  ver- 
anlagten wohl  einen  dem  peripatetischen  Kreis  nahestehenden  Dichter  aus 
der  zweiten  Hälfte  des  4.  Jahrhunderts,  Neophron,  zu  einer  verbessernden 
Neubearbeitung^)  des  Medeiastoflfs;  zu  dieser  gehören  die  drei  uns  in  den 
Medeiascholien  und  bei  Stobaios  erhaltenen  Fragmente  von  Neophrons  Medeia; 
das  erste  verbessert  augenscheinlich  einen  von  Aristoteles  gerügten  Fehler 


Dittographien  unseres  Textes  (V.  723.  724. 

729.  730  =  735-8;  798—810  =  819—23; 

1231  f.  =  1233—5)  können  aber  (Wilamo- 

wiTZ,  Herrn.  15, 1880, 488  flf.)  auf  den  Zwiespalt 

der  Textüberlieferung  zurückgeführt  werden. 

®)  Suidasu.  Neöqpgcov;  Diog.  Laert.ll  134. 

Argum.  p.  138,  8  Schw.:  to  dgäf^a  öoxeX  vjzo- 

ßaXeo^at  jzaga  Nsocpoovog  {jtavat6(pQOVog  cod. 

Pal.  287)  diaoxevdoag,  cog  Aixaiagxog  .^egi  xov  rfjg 

*)  Philol.  60  (1901)  441.  i   'EUdÖog  ßiov  xai  "AQiatoxürjg  iv  vjto^tvrjfmotv. 

*)  Ausgew.  Tragödien  des  Eur.  I  (Leipz.   j   Neuerdings  haben  sich  in  dem  Londoner  Pa- 

1874)  p.  25  f.    Die   Hypothese   ist,   im   Zu-  \   pyrus  Nr.  186  Reste  des  Anfangs  einer  nach- 

sammenhang  mit  anderen  Inkredibilien,  wieder  |   euripideischen  Medeia  gefunden,  die  W.  Cbö- 

aufgenommen  von  L.  Bloch,  N.  Jahrbb.  f.  kl.      nert,  Archiv  f.  Pap.  3  (1906)  1—5,  publiziert 

Alt.  7  (1901)  20  flf.  ^  und  ohne  alle  Wahrscheinlichkeit  (C.  Fbies, 


0  Der  Tadel  des  Aristoteles  poöt.  1461b 
22 :  oo&rj  de  ijziTifAtjoig  xai  aXoyUf,  xai  /iox&tjqÜ}, 
oxav  ^li]  dvdyxrjg  ovorjg  /irjöev  ;uß»Jöi/ra<  tö) 
dXoyo),  moTiSQ  EvQuzidtjg  rc^  AlyeX  bezieht  sich 
ohne  Zweifel  ebenso  wie  der  ibid.  1454  b  1 
auf  die  Medeia. 

^)  Moralische  Deutungen  der  Medeiafabel 
Epist.  Pythag.  5, 7  Hsbcher  und  Liban.  or.  64, 
HOF. 


^)  Der  ersten  Medeia  könnte  man  die 
Verse  in  Schol.  Arist.  Ach.  119  und  Ennius 
Med.  bei  Cic.  ep.  ad  fam.  7,  6  zuweisen.    Die 


N.  Jahrbb.  f.  klass.  Altert.  13, 1904,  171)  dem 
Neophron  zugeschrieben  hat. 

22* 


340  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

des  Euripides,  indem  es  die  Ankunft  des  Aigeus  besser  motiviert;  das 
zweite  stellt  sieh  als  eine  Kürzung  und  Vereinfachung  des  großen  Medeia- 
monologs  bei  Euripides  1021  flf.  dar.  Möglieherweise  ist  der  voreuripi- 
deische  Neophron  nur  eine  Mystifikation,  zu  der  die  Peripatetiker  durch 
den  Neophron  des  4.  Jahrhunderts  und  seine  verbesserte  Medeia  angeregt 
wurden.  Sehr  fragwürdig  ist  jedenfalls  die  Notiz  bei  Suidas  über  diesen 
Neophron,  er  habe  zuerst  Pädagogen  und  Folterung  von  Sklaven  auf  die 
Bühne  gebracht;  das  paßt  eher  auf  einen  Komiker,  und  daß  hier  eine  Ver- 
mischung von  ünzusammengehörigem  stattgefunden  habe,  wird  auch  durch 
die  enorme  Zahl  von  hundertzwanzig  Stücken,  die  Suidas  dem  Neophron 
zuschreibt,  wahrscheinlich  gemacht.*) 

187.  Der  'InjiöXvrog^  im  besonderen 'LmoXvtog  arefpavtjq^ÖQog*)  genannt, 
hat  als  erotisch-pathologische  Tragödie  große  Verwandtschaft  mit  der 
Medeia  und  wurde  bald  nach  ihr  im  Jahr  428  mit  durchschlagendem  Er- 
folg aufgeführt.*)  Wie  dort  die  wilde  Rachsucht  eines  gekränkten  Weibes, 
so  bildet  hier  die  verzehrende  Glut  unerlaubter  Liebe  den  Angelpunkt  der 
Tragödie.  Der  Stoff  ist  der  attischen  Sage  entnommen  unter  Anknüpfung 
an  den  lokalen  Kult  des  Heros  Hippolytos  in  Troizen  und  das  Heiligtum 
der  Aphrodite  iq^'  'IjutoXikcp  am  Südabhang  der  athenischen  Burg.*)  Der 
Mythus  von  der  verbrecherischen  Liebe  der  Phaidra,  der  Gemahlin  des 
Theseus,  zu  ihrem  Stiefsohn  Hippolytos  und  von  dem  tragischen  Ende  des 
von  seinem  Vater  verfluchten  Sohnes  hatte  auch  Sophokles  angezogen,*) 
und  es  war  von  Euripides  selbst  schon  einmal  vor  428  behandelt  worden,  ö) 
Zugrunde  liegen  drei  volkstümliche  Motive:  das  Potipharmotiv,  das  Motiv 
vom  spröden  Jäger')  und  das  von  der  Liebe  zwischen  Stiefsohn  und  Stief- 
mutter, das  z.  B.  auch  Schiller  im  Don  Carlos  verwendet  hat.®)     Der  Titel 

*)  Die  Fragmente   des  Neophron   haben  ■  /ovrog  6Xv/n^iddt  jiC  hei  6'.  jiQoJrog  EvQinidrjs, 

ganz  den  Versbau  der  Dittographien  des  äl-  i  öevregog  'Ioq^(ov,  tgirog  "Iwv. 
teren  Euripides.  Vgl.  0.  Ribbeck,  Leipz.  Stud.  *)  Nähere  Nachweisungen  bei  N.  Weck- 

8  (1885)  386  ff.    Ganz  verfehlt  ist  der  Versuch  i  lein  in  der  Einleitung  seiner  Ausgabe  und 

von  N.  Wecklein,  die  Neophronfabel  mit  seiner  |  Wilamowitz,  Ausg.,  Berl.  1891,  23  ff. 

Umarbeitungshypothese  zu  verquicken,  indem  i  *)  Ob   die  Phaidra  des  Sophokles  Älter 


er  Ncophrons  Medeia  zwischen  die  erste  und  sei  als  der  Hipp.,  darüberhaben  wir  keine  Zeug- 

die  zweite  Ausgabe  der  euripideischen  hinein-  '  nisse;  Wilamowitz,  Herrn.  18  (1883)  239  und 

stellt.     An  der  Ansicht,   daß  unsere  Medeia  |  Hippol.  57   hält  sie  wohl   richtig  für  jünger, 

eine  Bearbeitung  der  Neophronschen  sei,  hält  ,           *)    Der   erste   Hippolytos    {xa).vjzt6f4n'og 

H.  Weil  in  seiner  Ausgabe  (Paris  1899)  fest.  genannt,   weil  sich  H.  vor  den  Zudringlich- 

—  Eine  Szene  der  Medeia  auf  einem  Wand-  I  keiten  der  Phaidra  verhüllt,  wie  umgekehrt 

gemälde  von  Pompeji  s.  A.  Baumeister,  Denk-  in  dem  erhaltenen  Stück  244  f.  Phaidra  tut; 

mäler  III  nr.  1948.    Weitere  Nachweisungen  j   der  Titel  PoU.  IX  50  und  Schol.  Theoer.  id. 

über  M.  in  der  bildenden  Kunst  in  der  Einl.  zu  2,  10)  wurde  zugleich  mit  Aigeus  und  The- 

N. Weckleins  erkl.  Ausg.  Von  anderen  Medeia-  seus  gegeben ;  s.  Wilamowitz,  Herm.  15  (1880) 

Vorstellungen  haben  wir  Spuren  auf  Vasen,  1   483  und  Ausgabe  42  ff.  Zur  Rekonstruktion 

worüber  E.  Bethe,  Proleg.  z.  Gesch.  d.  griech.  des  Inhalts  sind  Sen.  Phaedr.  u.  Ps.Ovid.  He- 

Theat.  147  ff.  —  Über  Wiederaufführung  der  roid.  4  zu  verwenden   (E.  Hilleb,   De  Soph. 

M.  in  hellenistischer  Zeit  R.  Hebzoo,  Philol.  '   Phaedra   et   de  Eur.  Hippol.  priore  in  Liber 

60  (1901)  441.  miscell.  edit.   a   soc.  philol.   Bonnensi  1864, 

*)  oiFfpai'iac;   oder   SevreQog   heißt   er   in  |   84 ff.;  A.  Kalkmann,  De  Hippolytis  Euripidis 

der  Hypothesis;   den  Grund  des  Titels  lehrt  ;   quaest.  novae,  Bonn  1881). 


V.  73  ff.  „Der  von  Rossen  Zerrissene*  deutet 
den  Namen  S.  Reinaoh,  Arch.  f.  Religions- 
wissensch.  10  (1907)  47  ff. 

')  Argum.  idtödxOtj  i:ii  'Ejtaf^eivovog  äg- 


^)  Vgl.  über  das  zweite  Ar.  Lys.  781  ff. 
und  über  seine  Verwendung  in  der  Elegie  F. 
Skutsch,  Aus  Vergils  Frühzeit  I,  Leipz.  1901, 15. 

^)  Auch  der  Gegenstand  von  Eurip.  4*ohH$ 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides.    (§  1B7.) 


341 


Phaidra,  den  Sophokles  seiner  Tragödie  gab  und  den  wieder  aus  Seneca 
Racine  aufgriff,  zeigt,  daß  diesem  Dichter  der  weibliche  Charakter  die 
Hauptsache  war.  Man  darf  wohl  vermuten,  daß  zuerst  Euripides  im  'Injid- 
XvTog  xaXvTttojuevog  die  Phaidra  zum  Typus  weiblicher  ävaiaxvvria  aus- 
gearbeitet hatte,  daß  dann  Sophokles  in  seiner  Art  darzustellen  versuchte, 
wie  die  Heldin  auch  in  der  qualvollen  Kollision  zwischen  Naturtrieb  und 
ehelicher  Pflicht  ihre  heroische  Haltung  nicht  preisgebe,  und  daß,  an- 
geregt durch  die  Leistimg  des  Sophokles,  nun  auch  Euripides  im  iTuioXvxog 
oT€(pavrj(p6Qog  den  Charakter  der  Phaidra  modifizierte.  Auf  der  einen  Seite 
malt  er  hier  in  meisterhafter  Weise  die  seelischen  Leiden  des  unglücklichen 
Weibes:  die  unerwiderte  Leidenschaft  reibt  sie  körperlich  und  sittlich  auf; 
sie  wird  zur  lügnerischen  Verleumderin,  die  durch  ihren  Brief  mit  den 
falschen  Anschuldigimgen  gegen  ihren  Stiefsohn  Hippolytos  diesem  den 
Fluch  des  Vaters  Theseus  und  die  Vollstreckung  des  Fluches  durch  den 
göttlichen  Ahnherrn  Poseidon  zuzieht.  Im  Bewußtsein  ihrer  Schuld  er- 
hängt sie  sich,  aber  es  ist  klar,  daß  der  Dichter  ihre  Schuld  durch  ein- 
gehende Darlegung  ihrer  seelischen  Notlage  auf  ein  Minimum  herab- 
gesetzt, ja  ihr  vermöge  ihres  heldenhaften  Ankämpfens  gegen  die  über- 
wältigende Leidenschaft  Sympathie  (s.  bes.  1299  ff.)  geworben  hat.  Ihr 
gegenüber  ist  Hippolytos,  der  spröde,  keusche  Diener  der  Artemis  Aidcog^  *) 
den  Euripides,  der  Wahl  des  Titels  nach,  als  Hauptfigur  angesehen  wissen 
will,  nicht  durchaus  mit  sympathischen  Zügen  ausgestattet:  die  mystische 
Färbung  seiner  privaten,  sich  geflissentlich  absondernden  Religion  ist  in 
den  Augen  des  Dichters  offenbar  (V.  952  ff.)  kein  Lob;  außerdem  ist  die 
pharisäische  Selbstgefälligkeit  des  Jünglings  stark  betont  (991  ff.).  Gleich- 
wohl kann  auch  von  einer  Verschuldung  des  Hippolytos  nicht  die  Rede 
sein  —  er  muß  seiner  festbestimmten  Naturanlage  nach  handeln,  wie  er 
tut.  Wir  sehen  mit  dieser  Zurückdrängung  der  Schuldmotive*)  den  Dichter 
in  sophoklei'schen  Bahnen  wandeln,  und  es  ist  bezeichnend  für  den  Geschmack 
des  attischen  Publikums  anfangs  der  zwanziger  Jahre,  daß  der  Dichter  mit 
diesem  sophokleischsten  unter  seinen  Stücken  einen  ersten  Preis,  und  für  die 
Sophoklesliebe  des  Aristophanes  von  Byzantion,  daß  er  auch  den  Beifall  der 
alexandrinischen  Kritik »)  gewonnen  hat.  Daß  dem  ganzen  Drama  ein 
göttlicher  Hintergrund  gegeben  ist,  vermöge  dessen  nun  alles  als  Exempli- 
fikation für  den  ewigen  Streit  zwischen  Artemis  und  Aphrodite  erscheint 
und  die  beiden  Hauptfiguren  etwas  Marionettenhaftes  erhalten,  wirkt  auf 
unser  Gefühl  allegorisch-erkältend,  scheint  aber  das  antike  Publikum  nicht 
gestört  zu  haben.  Im  einzelnen  zeigt  das  Stück  große  Vorzüge:  mit  feinster 
psychologischer  Kunst  ist  die  verzehrende  Glut  der  im  Liebesgram  hin- 
siechenden Fürstin  dargestellt,  und  tiefergreifend  ist  die  Schilderung  von 


ist  ähnlich  (Liebe  des  Sohnes  znr  Kebse  seines 
Vaters). 

*)  So  heißt  sie  auf  einer  attischen  Vase: 
P.  Kretschmer,  Die  griech.  Vaseninschr.  197. 

*)  Auch  Theseus  ist,  wiewohl  ihm  1321  ff. 
eine  gewisse  Übereilung  vorgeworfen  wird, 
unschuldig:  fioTga  und  äirj  führen  die  Kata- 
strophe herbei  (1289.1325  flf.  1433  ff.).— Schwer- 


lich richtig  meint  Th.  Gompeez,  Griech.  Denker 
II  12,  Eur.  verurteile  im  Einverständnis  mit 
der  griechischen  Volksethik  die  SprGdigkeit 
des  Hipp.  —  hat  er  doch  mit  offenbarer  Liebe 
die  in  diesem  Punkt  ähnliche  Gestalt  des 
Ion  geschaffen! 

•)  Argum.  p.  2,  12  Sohw.  :   zo   de   Ögäfia 

TCOV    TIQWTCOV. 


342  Griechische  Litteraturgeschichte.    I.  Klamieohe  Periode. 

dem  schrecklichen  Geschick  des  unglücklichen  Jünglings,  den  die  durch 
ein  Meerungeheuer  scheu  gemachten  Rosse  über  die  Felsen  schleifen» 
Beifall  fanden  gewiß  bei  den  alten  Athenern,  die  das  Unglück  des  Eriegea 
und  der  Pest  gewitzigt  hatte,  auch  die  Deklamationen  gegen  die  Rechts- 
verdrehungen und  Prahlereien  der  Rhetoren  und  Tugendlehrer J)  Selbst 
die  Chorlieder  unseres  Stückes,*)  wie  namentlich  die  auf  die  Allgewalt  dea 
Eros  (525 — 42)  und  die  Sehnsucht  nach  fernen  Ländern  (732 — 75),  sind 
von  hervorragender  Stimmungswärme.  Auch  Lykophron  hat  einen  'Ituiö^ 
XvTog  geschrieben  (Suid.  s.  Avx.).  Nachgebildet  wurde  die  Tragödie  von 
Seneca  und  Racine;*)  sie  hat  auch  besonders  stark  auf  die  bildende  Eunst^ 
namentlich  in  Sarkophagreliefs,  gewirkt.^) 

188.  'Exäßrj  heißt  nach  der  Hauptperson  die  von  Ennius,  Accius  und 
Seneca  den  Römern  nahegebrachte  und  auch  in  Byzanz  neben  den  Phönissen 
mit  Vorliebe  gelesene  Tragödie,  sachlich  eine  Fortsetzung  zu  den  Tgcoddeg,^} 
die  jedoch  etwa  ein  Jahrzehnt  später  gedichtet  sind.  Sie  zerfallt  zwar 
in  zwei  scheinbar  lose  verbundene  Teile,  in  deren  erstem  der  Tod  der  un- 
glücklichen, den  Manen  des  Achilleus  geopferten  Königstochter  Polyxena^ 
im  zweiten  die  furchtbare  Rache,  die  Hekabe  an  dem  Thrakerkönig  Poly- 
mestor,  dem  Verräter  und  Mörder  ihres  Sohnes  Polydoros,  nimmt,  den 
Mittelpunkt  des  Interesses  bildet.  Aber  durch  die  Person  der  Hekabe^ 
der  erst  ihre  Tochter,  dann  ihr  Sohn  entrissen  wird,  ist  alles  zusammen- 
gehalten. Je  weniger  sie  gegen  die  Opferung  Polyxenas  auf  Achilleus*^ 
Grab  als  Gefangene  im  Griechenlager  ausrichten  kann,  um  so  mehr  steigert 
sich  ihr  Durst  nach  Rache  an  dem  Mörder  ihres  Sohnes,  zu  dessen  Bei- 
bringung ihr  Agamemnon  selbst  als  Hebel  dienen  muß.  Wie  die  durch 
Alter  und  Unglück  fast  vernichtete  Greisin,  in  ihren  mütterlichen  Instinkten 
auf  das  empörendste  verletzt,  gewissermaßen  galvanisiert  und  in  eine 
blutgierige  Megäre  verwandelt  wird,  das  ist  zwar  ein  grauenvolles,  ja  häß- 
liches Schauspiel;  aber  seine  psychologische  Motivierung  und  bühnenwirk- 
same Vorführung  ist  dem  Dichter  trefflich  gelungen.  —  Die  Abfassungs- 
zeit fällt  in  die  erste  Hälfte  des  archidamischen  Krieges.^)  —  In  der  philo- 


*)  Besonders  V.  436  ff.   (dazu   steht  Id  Paris  1807;   neuere   Litteratur  bei   H.  J.  G. 

Gegensatz  die  ungeschminkte  Wahrheitsliebe  |   Patin,  Euripide  1 42  ff.  (in  der  1.  Aufl.  11 335  ff.) 

des  Hippolytos  984  ff.)  921  f.     Manche  der  und  N.  Wecklein  in  seiner  Ausg.  S.  21. 

Sprüche   sind  heutzutage  noch  geläufig,  wie  1           *)  Nachweisungen   in  der  Einleitung  zö 

V.  436    ai    devregai    Ticog    qgovxidsg    aogw-  N.  Weckleins  Ausg.  Vgl.  A.  Balsam o,  Riv.  dl 

Tfoai.     Berüchtigt  war  freilich   die   Sentenz  ;   filol.  27  (1899)  422  ff.    Ein  Hippolytosgemälde 

V.  612  ?;  y?.o)oo*  6iid)/jox\  rj  de  rfoip»  dvfofwroi;  in  Gaza  im  6.  Jahrh.  n.  Chr.  erwähnt  Choric. 


8.  0.  S.  331,  3. 

*)  Bemerkenswert  ist  übrigens  die  voll- 
ständige Passivität  des  Chors,  der  ja  die  Vor- 
gänge zwischen  Phaidra  und  Hippolytos  mit 
angesehen  hat  und  nur  zu  reden  brauchte,  um 
die  Katastrophe  zu  verhindern,  der  auch  von 
Hippolytos  in  seiner  Not  1074  ff.  nicht  zum 
Zeugen  angerufen  wird.  —  Technisch  inter- 
essant ist  der  Nebenchor  von  Hippolytos' 
Jagdgefolge,  der  (61  ff.)  vor  der  rarodos 
auftritt. 

')  A.  W.  Schlegel,   Comparaison    entre 


p.  156  ff.  Boiss.  Über  K.  Roberts  (22.  Halli- 
sches Winckelmannsprogr.  1898)  Deutungeines 
Marmorgemäldes  von  Herculaneum  auf  eine 
Szene  aus  Eur.  Hipp.  s.  G.  E.  Rizzo,  Riv.  di 
filol.  30  (1902)  460  ff. 

^)  Über  die  Mythopoie  beider  Stücke 
V.  Zanchi,  L'Ecuba  e  le  Troiano  di  Eur., 
Wien  1893.  Quelle  ist  Stesichoros'  7/.tov 
:z€ooi<;. 

e)  Die  Parodien  in  den  Wolken  (1165 
=  Hec.  172;  718  =  Hec.  161)  weisen  auf 
die  Zeit  vor  423  hin,   so  daß  die  durch  das 


la  Phedre    de  Racine    et   celle   d'  Euripide,   i   Pathos  entfesselter  Weiberleidenschaft  aus- 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Euripides.    (§§  188—190.)  343 

logischen  Litteratur  spielt  das  Drama  eine  Bolle  durch  die  für  das  Ver- 
ständnis der  Metrik  der  Tragiker  epochemachenden  Ausgaben  von  R.  Person 
und  G.  Hermann. 

189.  'Avdgojudxrj  ist  ein  Intrigenstück  mit  scharfen  politischen  Neben- 
tönen: in  den  Hauptpersonen,  Menelaos  und  Hermione,  wird  die  Treulosigkeit 
und  Ränkesucht  der  Spartaner  bloßgestellt,  was  auf  die  erste  Zeit  des  pelo- 
ponnesischen  Krieges  hinweist.  Andromache,  die  dem  Sohne  des  Achilleus 
als  Beuteanteil  zugefallen  war,  hatte  die  Eifersucht  der  Hemuone,  der 
rechtmäßigen  Gattin  des  Neoptolemos,  erregt,  weshalb  diese  in  Verbindung 
mit  ihrem  Vater  Menelaos  während  der  Abwesenheit  des  Gatten  die  Fremde 
zu  ermorden  beschUeßt,  an  der  Ausführung  des  scheußlichen  Planes  schließ- 
lich aber  doch  durch  die  Dazwischenkunft  des  alten  Peleus  gehindert  wird. 
Eingewoben  ist  die  Ermordung  des  Neoptolemos  im  Tempel  zu  Delphoi 
durch  die  Leute  des  Orestes,  wobei  Euripides  die  alte  Sage  zu  seinen 
Zwecken  umgestaltete.  *)  Schon  von  den  Alten  (Arg.  p.  246,  2  Schw.)  wurde 
die  Andromache  zu  den  Dramen  zweiten  Ranges  gestellt;  in  keinem  anderen 
Stück  ist  die  Faktur  so  roh;  der  Hauptfehler  besteht  in  dem  Mangel  an 
Einheit  zwischen  den  zwei  Teilen.  Dichterischen  Wert*)  hat  nur  die 
Charakterantithese  zwischen  den  beiden  Frauen  Hermione  und  Andromache. 
Bei  der  stark  hervortretenden  Verherrlichung  des  molossischen  Königs- 
hauses möchte  man  denken,  das  Stück  sei  vielleicht  gar  nicht  zur  Auf- 
führung in  Athen,  sondern  etwa  zu  einem  Festspiel  an  diesem  halbbarba- 
rischen Hof  bestimmt  und  eine  Improvisation  gewesen.») 

190.  'HgaxXeidai,  ein  einfaches,  mattes  Drama  ohne  spannende  Ver- 
wicklung, das  nur  durch  die  erhabene,  struktiv  freilich  ganz  überflüssige 
Szene  von  dem  heldenmütigen  Entschluß  der  Heraklestochter  Makaria,  sich 
dem  freiwilligen*)  Opfertod  für  der  Brüder  Rettung  zu  weihen,  einigermaßen 
gehoben  wird.  Die  politischen  Nebenabsichten  treten  zwar  nicht  so  grell 
wie  in  der  Andromache  hervor,  sind  aber  unverkennbar.  Der  Dichter 
will  vor  allem  Athen  verherrlichen,  dessen  König  Demophon  den  nach 
Attika  geflüchteten  Kindern  des  Herakles,  ähnlich  wie  im  'HgaxXijg  sein  Vater 
Theseus  dem  Herakles  tut,  Schutz  bietet  und  um  ihretwillen  den  Kampf  mit 
ihren  Bedrängern   auf  sich   nimmt:*)   er  will  aber  zugleich   den  Undank 


gezeichneten  Tragödien  Medeia.  Hippolytos, 
Hekabe  auch  zeitlich  nahe  bei  einander  liegen. 
Für  426  spricht  sich  J.  Öri,  Philol.  66  (1907) 
287  flf.  aus. 

^)  Die  alte  Sage,   die  von  einer  Beteili- 


(Demokrates,  wofllr  Th.  Bergk  unnötig  Mene- 
krates  vermutet;  vgl.  A.  Wilhelm,  Urkunden 
dramat.  Auff.  21.  113).  Die  politischen  An- 
spielungen, namentlich  V.  733,  bestimmten 
A.  BöCKH,  De  trag.  gr.  princ.  189  f.,  das  Stück 


gung  des  Orestes  an  der  Ermordung  des  in  das  Jahr  418  zu  setzen;  Wilamowitz,  Gott. 
Neoptolemos  noch  nichts  weiß ,  steht  bei  |  Gel.  Anz.  1906,  628  verwirft  aber  die  Be- 
Pindar  N.  7,  34  ff. ;  die  euripideische  Fassung  i  ziehung  der  Stelle  auf  Argos.  H.  Zirndorfbb 
liegt  dem  Vasenbild  Ann.  dell*  Instit.  40  (1868)  und  Th.  Bergk,  Herm.  18  (1883)  490  treten 
Tav.  d'agg.  E  zugrund.  Besser  motiviert  er-  für  Ol.  89,  2  —  423  ein ;  das  zu  V.  445  an- 
scheint die  Ermordung  des  Neoptolemos  in  i  geführte  Scholion  verlegt  mit  Recht  das  Stück 
dem  Tgayojöovfin'ov  bei  Hygin.  fab.  123.  '   in  den  Anfang  des  Krieges,   wozu  auch  die 

')  Merkwürdig   sind   die  apologetischen  Einfachheit  der  Gesangspartien  besser  paßt. 

Versuche  im  Arg.  p.  246,  3  ff.  Sohw.  I           *)  Die  Sage  ließ  sie,  wie  es  scheint  (H. 

*)  Nach  den  Schollen   zu  V.  445  wurde  |   Weil,  Ötudes  sur  le  drame  ant.  123),  durch 

das  Stück  nicht  in  Athen,  sondern  auswärts  das  Los  zum  Tod  bestimmt  werden, 

aufgeführt,  und  zwar  unter  fremdem  Namen  |           *)  Damit  rühmten  sich  die  Athener  be- 


344  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

von  Argos  und  Sparta  (V.  742)  brandmarken,  die  in  der  Gegenwart  die 
den  Herakliden  ehedem  erwiesenen  Wohltaten  mit  feindlichem  Einfall  ver- 
galten. Die  fast  komische  Wirkung,  die  der  uralte  lolaos  auf  uns  ausflbt, 
hat  der  Dichter  jedenfalls  nicht  beabsichtigt.  ^  Der  argolische  Herold 
Kopreus')  mit  seiner  Brutalität  ist  eine  Kopie  des  ägyptischen  Herolds  in 
den  Hiketiden  des  Aischylos.  In  der  ätiologischen  Schlußwendung  von  dem 
Eurystheusgrab  in  Attika,  das  Pausanias  (I  44,  10)  erwähnt,  ist  ein  Motiv 
des  sophokleischen  Oidipus  in  Eolonos  vorgebildet.  A.  Böckh  (De  trag, 
princ.  190)  hat  die  Tragödie  auf  417  ansetzen  wollen,  als  die  Argeier  nach 
dem  Bruch  des  Bündnisses  mit  den  Lakedaimoniern  Frieden  machten. 
Aber  die  Einfachheit  der  Handlung  und  das  Fehlen  musikalischer  Bravour- 
stücke, sowie  die  Voraussagung  des  Einfalls  der  Spartaner  (V.  1027)  weisen 
auf  die  ersten  Jahre  des  peloponnesischen  Krieges*)  und  auf  die  Zeit  vor 
dem  motivverwandten,  aber  bei  allen  Fehlern  doch  kunstvolleren  Herakles. 
191.  'HgaxXfjg^)  erinnert  durch  das  erschütternde  Pathos  und  den 
Mangel  der  Einheit  an  die  Hekabe.  Bedeutsam  ist  das  Stück  besonders  da- 
durch, daß  mit  ihm  Euripides  die  Gestalt  des  Herakles,  die  zuvor  meist  im 
Satyrspiel  und  der  dorischen  Posse  von  ihrer  komischen  Seite  her  behandelt 
und  nur  von  Aischylos  im  befreiten  Prometheus  episodisch  ernsthaft  ein- 
geführt worden  war,  für  die  tragische  Bühne  erobert  hat.  Damit  ist  in 
Attika  der  Weg  zur  Ausgestaltung  des  Heraklesideals  beschritten,  auf  dem 
dann  die  Rhetorik'^)  und  der  Kynismos  weitergeschritten  sind.  Der  erste  Teil 
endet  glücklich,  indem  die  dem  Herakles  angetraute  thebanische  Königs^ 
tochter  Megara  mit  ihren  Kindern,  bedrängt  durch  den  Usurpator  Lykos, 
im  Augenblick  der  Todesgefahr  durch  die  unerwartete  Rückkunft  des 
Herakles  gerettet  wird.  Unter  dem  Eindruck  der  erlösenden  Macht  jugend- 
licher Helden  stärke  singt  der  Chor  ein  schönes  Lied  auf  die  Plagen  des 
Alters  und  die  frohe  Blüte  der  Jugend.  Im  zweiten  Teil  erwartet  man 
die  Ausführung  der  von  Herakles  geplanten  Rache  an  den  Kadmeiem. 
Nun  scheint  aber  den  Dichter  das  Oxymoron  „der  Retter  seiner  Familie 
zugleich  ihr  Verderber "  gereizt  zu  haben,  und  um  die  rührende  Wirkung 
dieses  Gegensatzes  darzustellen,  hat  er  in  überaus  roh  mechanischer  Weise 
die  Situation  im  zweiten  Teil  umschlagen  lassen:  Herakles  verfallt  nach 
Vollendung  seiner  letzten  Arbeit  wieder  dem  Groll  der  Hera,  die  ihn  durch 
Lyssa  in  Wahnsinn  versetzen  läßt,  und  nun  tötet  er  Megara  und  ihre 
Kinder.^)  Aus  dem  Wahnsinn  erwacht  sinnt  er  auf  Selbstmord,  wird  aber 
durch   Theseus'   edle  Freundschaft  erhalten:   dieser  nimmt  ihn  mit  nach 


reits  beiHerodotIX27;    vgl.  Aristid.  or.  13  11, 1876,302)  ist  ganz  zweifoUiaft.  —  Exkurse 

p.  175  f.  DiND.;  von  malerischer  Darstellung  '  zu  den  H.  von  Wilamowitz,  Herrn.  17  (1882) 

der  Herakliden  redet  Ar.  Plut.  385  (vgl. Schol.  337  ff.;  ders..  De  Eurip.  Heraclidis,  Greifsw. 

dazu).  1  Index  scholar.,  1882. 

»)  H.  Weil  1.  l.  129.  *)  Ursprünglich  einfach  IfgaxXr'ji  betitelt, 

^)  Der  Name  gehört  zu  y-ciigog,  schwer-  '  welchen  Titel  noch  Seneca  vorfand ;  der  Zu- 

lich  zu  y.d-TQo;;    er  findet   sich  auch  Oxyrh.  1  satz   /tiurduera;,    dem    lat.   Hercules    furens 

pap.  111  p.  272,  27.  j  nachgebildet,  stammt  aus  der  Aldina. 

^)  Ob  die  Stelle  Ammianus  Marcellinus  .  *)  Isoer.  5,  109;  Matris  'Eyjnofuor  'Hga- 

XXVIII  4,  27  auf  eine  aus  Herakleidai,  Kres-  '  xkeovg  (F.  Susemihl,  AI.  Lit.  II  496  ff.), 

phontes    und    Temenos    bestehende    Trilogie  I  *)  Die  Tötung  der  Kinder  im  Wahnsinn 

gedeutet  werden  darf  (Wilamowitz,   Herm.  ,  kennen     schon    Stesichoros    und    Panyassis 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides.    (§§  191—192.)  345 

Attika  und  stellt  ihm  hier  Heiligtümer  und  Opfer  in  Aussicht  —  ein  ätio- 
logischer Schluß,  der  die  Gründung  alter  Herakleskulte  in  Attika^)  moti- 
viert. Der  medizinische  Realismus  in  der  Darstellung  des  Wahnsinns  ist 
schon  den  Alten  aufgefallen.*)  Für  die  Geschichte  des  attischen  Bühnen- 
wesens läßt  sich  aus  der  Parodos  des  Stückes,  in  der  die  Greise  des  Chors 
über  den  beschwerlichen  Anstieg  klagen,  auf  das  Vorhandensein  einer  er- 
höhten Bühne,  zu  der  etwa  Stufen  oder  eine  schiefe  Bretterebene  führten, 
kein  sicherer  Schluß  ziehen.^)  Die  politischen  Anspielungen  führen  auf 
die  Zeit  nach  der  Schlacht  von  Delion  (424);  der  Hinweis  auf  das  Alter, 
das  den  Chor  (und  also  den  Dichter?)  nicht  hindere,  den  Musen  zu  singen 
(678),  weist  in  die  späteren  Lebensjahre  des  Dichters.*)  Das  griechische 
Original,  das  sich,  vermutlich  weil  es  zu  schauspielerischen  und  athletischen 
Kraft-  und  Virtuosenleistungen  Gelegenheit  bot,  in  hellenistischer  Zeit 
großer  Beliebtheit  erfreute,'^)  hat  Seneca  in  seinem  Hercules  frei  be- 
arbeitet. 

192.  Die  'Ixitideg^  in  der  Anlage  ebenso  wie  die  Herakliden  an  Aischy- 
los'  Hiketiden  anklingend,  werden  in  der  Hypothesis  passend  ein  iyxcojutov 
^A^vöv  genannt;  sie  sind  von  dem  gleichen  Gefühl  des  Hasses  gegen 
Theben  wie  der  Herakles  beseelt  und  scheinen  auch  um  dieselbe  Zeit,  nur 
etwas  später,  421  oder  420,  gedichtet  zu  sein.*)  Euripides  greift  hier  die 
bereits  von  Aischylos  in  den  Eleusinioi  behandelte  (Plut.  Thes.  29)  und  von 
Herodot  IX  27  berührte  Sage  auf,  nach  der  Theseus  die  Bestattung  der 
vor  Theben  gefallenen  argolischen  Heerführer  den  hartherzigen  Thebanem 
zum  Trotz  durchsetzte.  Seinen  Namen  hat  das  Stück  von  dem  Chor  der 
schutzflehenden  Mütter  der  Gefallenen,  die  sich  hilfesuchend  an  Theseus' 
Mutter  Aithra  wenden.^)  Die  rührenden,  eng  an  die  Handlung  sich  an- 
schließenden Chorlieder   und  die  freilich   ohne  innere   Notwendigkeit  an- 


(Pau8.  IX  11, 2),  die  der  Megara  ist  Erfindung  1    1898,  165  f.).    Über  das  Verhältnis  zu  Soph. 

des  Euripides.     Find.  Isthm.  3,  81   gedenkt  |   Trach.  s.  §  176. 

des  Mordes  nicht.  '^)  Von   Wiederaufführung    bei   den   So- 

*)  Eupol.  fr.  135  K. ;   Ar.  AaixaXfjg  (Th.  terien  in  Delphoi  berichtet  die  Inschr.  Bull,  de 


KocK,  Com.  Att.  fr.  I  p.  438);  Isoer.  5,  33; 
Aristid.  or.  5  p.  58;  13  p.  174  Dind. 

2)  Ps.Aristot.  probl.  30  p.  953  a  13  (Hera- 
kles fiFXayxoXtxog), 

')    Dörpfeld-Reisch,    Griech.  Theater 


corr.  hell.  17  (1893)  15  (dazu  R.  Herzog,  Philol. 
60,  1901, 440  flf.);  eine  vermutlich  von  einem 
Schauspieler  geweihte  Maske  des  rasenden 
Herakles  aus  Rhodos  bespricht  F.  Hiller 
Y.  Gärtrinoen,    Strena  Helbigiana,    Leipz. 


188  f.  343.  1900,  137. 

*)  WiLAMowiTZ,  Eur.  Herakl.  P  344  u.  ^)    Anspielung    auf    das    Bündnis    mit 

380  setzt  demnach  den  Herakles  in  das  vor-  Argos  nach  dem  Nikiasfrieden  in  V.  1190  flf.; 

letzte  Jahrzehnt  des  5.  Jahrb.,  zwischen  die  '   auf  die  Weigerung  der  Thebaner,   nach  der 

Hiketides  (421)  und  die  Troades  (415).    Ganz  Schlacht  von  Delion  die  Toten  herauszugeben 

unsicher   ist   die   Beziehung  des  Lobes   der  j   (Thuc.  IV  97  ff ),  bezieht  sich  die  ganze  Fabel 

Bogenschützen  V.  160  ff.  auf  die  Ereignisse  I   der  Tragödie;  Find.  0.6, 15;  N.  9,  23  berührt 

von   Sphakteria.     Es  handelt  sich  hier  um  '   sie   nicht.     Indizien   zur  Zeitbestimmung  L. 

die  alte  Kontroverse  über  die  vergleichende  Radermacher. Rh. Mus. 53 (1898) 505 ff.; Wila- 

Schätzung   von  Bogen  und  Speer,   die,  viel-  mowitz  in  seiner  Übersetzung  („der  Mütter 

leicht  schon  Od.  x  zugrunde  liegend,   durch  -   Bittgang*  2.  A.  Berl.  1906)  setzt  sie  422. 

die  Perserkriege  aktuell  geworden  (E.Meter,  <           ^)   Über  die  Zusammensetzimg  des  Chors 

Gesch.  des   Altert.  III  77),   in   sophistischer  aus  fünf  Müttern   und   zehn  Dienerinnen   s. 

Zeit    mehrfach    erörtert   worden    sein    muß  |   R.  Arnoldt,  Die  chorische  Technik  des  Eur., 

(Soph.  Ai.  1120  ff.;  Dio  Chr.  or.  9,  17;  52,  10;  |   Halle  1878,  72  ff.    Zur  Metrik  der  lyrischen 

58,  1;  Schol.  B  Hom.  J  386;  schief  H.  v.  Ar-  ;   Partien  Wilamowitz,  Commentariol.  metr.  I, 

NIM,  Leben  u.  Werke  des  Dio  v.Prusa,  Beri.  .   Gott  1895,  11  ff. 


346  Grieohisohe  Litteratargesohiohte.    I.  ElaBsiflohe  Periode. 

geheftete  effektvolle  Szene  der  in  den  Seheiterhaufen  ihres  Gemahls  Kapa- 
neus  sich  stürzenden  Euadne  (990  ff.)  werden  dem  Werk  bei  der  Auf- 
führung Erfolg  verschafft  haben.  Auch  der  zwar  unsachliche,  aber  inter- 
essante politische  Exkurs  403 — 464  und  die  latente  Kritik  von  Aischylos' 
Sieben  in  den  Versen  838 — 954  ^  fanden  gewiß  beim  attischen  Publikum 
teikiehmendes  Verständnis. 

193.  Die  Tgcoddeg  wurden  nach  der  erhaltenen  Didaskalie  (Ael.  var. 
bist.  II  8)  415  zusammen  mit  Alexandros,  Palamedes  und  dem  Satyrdrama 
Sisyphos  aufgeführt  und  mit  dem  zweiten  Preis  bedacht.  Die  drei  Tra- 
gödien waren  durch  den  zusammenhängenden  Inhalt  zu  einer  sogenannten 
Thementrilogie  verbunden.  Dem  erhaltenen  Stück  —  und  bei  den  beiden 
andern  wird  es  nicht  viel  anders  gewesen  sein  —  ist  der  Charakter  der 
epischen  Darstellung  trotz  der  Dramatisierung  des  Stoffs  geblieben:  es 
sind  mehr  einzelne,  locker  aneinandergereihte  Episoden  aus  der  Einnahme 
der  Stadt  als  Teile  einer  einzigen,  streng  zusammengefaßten  Handlung. 
Äußerlich  bildet  fast  nur  die  Person  der  Hekabe  das  Band,  das  die  ver- 
schiedenen Jammerszenen,  die  ünglücksbotschaft  des  Talthybios,  die  Opfe- 
rung der  Polyxena,  die  Auslieferung  der  Kassandra  und  der  Andromache, 
die  Tötung  des  kleinen  Astyanax,  die  Wegführung  der  Hekabe  selbst^ 
zusammenhält.  Das  Stück  will  aber  nicht  sowohl  als  Drama,  sondern  als 
eine  durch  Stimmungseinheit  zusammengehaltene  dramatische  Bilderreihe 
verstanden  werden,  und  welche  Gewalt  es  bei  dieser  Auffassung  ausübt, 
davon  gibt  Schillers  Siegesfest  einen  lebendigen  Eindruck:  das  unendliche 
Elend  des  Krieges  wird  in  seinen  trostlosen  Folgen  vorgeführt.  Daß  hier 
Erfahrungen  aus  dem  peloponnesischen  Krieg  mitsprechen,  ist  zweifellos, 
fraglich  dagegen,  ob  Euripides  dabei  auch  paränetische  Absichten  gehabt 
habe.  2)  Der  Dichter  nimmt  völlig  die  Partei  der  Troer  und  brandmarkt 
auf  das  rücksichtsloseste  die  Anstifterin  alles  des  Unheils,  Helena  und  das 
Spartanertum  (V.  210  ff.).  Auch  die  Götter,  die  bei  Homer  den  Achaiem 
günstig  sind,  läßt  Euripides  gleich  im  Anfang  des  Stückes  von  ihnen  sich 
abwenden. 

194.  Die  'Icpiyiveta  iv  Tavgotg^  so  benannt  im  Gegensatz  zu  der  in 
Aulis,  ein  Intrigenstück,  in  dem  griechische  List  über  Barbarenplumpheit 
triumphiert,^)  gehört  dem  Versbau  nach  (die  trochäischen  Tetrameter  und  die 
häufigen  Auflösungen)  in  die  Zeit  nach  Ol.  90.*)    Der  Dichter,  unermüdlich 

*)  Die  Kritik  betrifft  zwei  Punkte:   die      herrscht,  wird  noch  im  Troiaroman  (Dict.  V 
allzu  einförmige  Symmetrie    im  Aufbau  der       10)  hervorgehoben. 
Wechselrede  zwischen  Eteokles  und  dem  Boten 
bei    Aischylos,    und    die   Äußerlichkeit   der 
Schilderung  der  Kämpfer.  Siehe  a.  o.  S.  278, 2. 

*)  So  H.  Steiger,  Warum  schrieb  Euri- 
pides seine  Troerinnen?  Phil.  59  (1900)  362  ff. 
Der  Dichter  soll  beabsichtigt  haben,  durch 
die  Schilderung  der  Greuel  des  Krieges  seine 
Mitbürger  von  dem  Plan  eines  Angriffskrieges 
gegen  Syrakus  zurückzuhalten.  Dazu  scheint 
aber  V.  207—229,  besonders  220  ff.  nicht  zu 
stimmen. 

^)  Dieses  Motiv,   das  auch  die  Hei.  be- 


^)  Eine  bestimmte  didaskalische  Angabe 
fehlt.  Der  Verfolgung  des  Orestes  durch 
die  Furien  bis  nach  dem  Taurerland  wird 
weder  in  der  Elektra  noch  im  Orestes  gedacht 
(s.  0.  S.  283,  8).  Gleichwohl  führt  der  um- 
stand,  daß  die  Helena  starke  Motivverwandt- 
schaft mit  der  Iphigeneia  bei  größerem  Raf- 
finement der  Ausführung  zeigt,  auf  die 
nächste  Zeit  vor  der  Aufführung  der  Helena 
oder  vor  412.  Über  die  Berührungen  zwischen 
I.  T.  u.  Hei.  s.  E.  Bruhn  in  seiner  Ausg.  der 
LT.,  Berl.  1894  und  W.N.Bates,  Proceedings 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides. 


193—194.) 


347 


in  der  Aufspürung  und  Verwendung  lokaler  Sagen  und  religiöser  Gebräuche, 
ging  auch  in  diesem  Stück  von  attischen  Tempelsagen  aus.  An  der 
Ostktiste  Attikas  war  der  Kultus  der  Artemis-Hekate  seit  alter  Zeit  hei- 
misch.^) In  Halai  Araphenides  befand  sich  ein  Tempel  der  Artemis  Tauro- 
polos;*)  in  Brauron  (jetzt  Wraona)  zeigte  man  das  Grab  der  Tempel- 
wärterin Iphigeneia»)  und  ward  die  Göttin  selbst  unter  dem  Zunamen  'fyi- 
yiveia  verehrt;*)  hier  auch  wurden  an  dem  Fest  BgavQcovia  junge  Mädchen 
der  Göttin  als  Bärinnen  (&qxxoi)  geweiht,  was  darauf  hindeutet,  daß  hier  wie 
anderwärts  der  ursprünglich  theriomorphen  Göttin  ehedem  Menschen  geopfert 
wurden.*)  Nun  bekamen  die  Athener,  wahrscheinlich  seit  EröflEhung  ihrer 
Handelsbeziehungen  mit  dem  Pontes  im  7.  Jahrhundert,  Kunde,  daß  im 
taurischen  Chersones  von  den  Barbaren  einer  jungfräulichen  Göttin,  die  sie 
ihrer  Artemis  verglichen,  SchiflTbrüchige  sowie  alle  in  ihre  Hände  fallenden 
Griechen  geopfert  wurden.®)  Daraus  wob  Euripides  die  Sage,  daß  die  in 
Aulis  der  Artemis  dargebrachte,  von  der  Göttin  selbst  aber  nach  Tauroi 
versetzte  Königstochter  Iphigeneia')  später  mit  Hilfe  ihres  in  jenes  Barbaren- 
land verschlagenen  Bruders  Orestes,  der  schon  durch  Aischylos  in  Beziehung 
zu  Athen  gesetzt  worden  war,  das  heilige  Götterbild  nach  Attika  gebracht 
habe.  So  dichtete  er  die  Darstellung  des  Aischylos  teilweise  um:  ein  Teil 
der  Erinyen  steht  nach  dem  freisprechenden  Urteil  der  Pallas  Athene  von 
weiterer  Verfolgung  des  Muttermörders  ab,  ein  anderer  aber  setzt  sie  bis 
zur  vollständigen  Entsühnung  des  Orestes  fort.  Um  aber  dem  Zusammen- 
hang der  Iphigeneiasage  mit  dem  attischen  Kult  der  Artemis  die  göttliche 
Weihe  zu  geben,  läßt  der  Dichter  gegen  Schluß  die  Göttin  Athene  selbst 
auf  der  Göttermaschine  erscheinen  und  feierlich  die  Verehrung  der  Artemis 
bei  Halai  einsetzen.  Für  die  Handlung  ist,  nachdem  die  Flucht  gelungen 
ist,  der  Deus  ex  machina  unnötig  —  die  Griechen  müssen,  damit  er  seine 
Rede  halten  kann,  durch  eine  Welle  erst  wieder  ans  Land  zurückgetrieben 
werden.  —  Der  glücklich  erfundene  Mythus  ist  auch  dramatisch  wirksam 
durchgeführt.  Eine  Schöpfung  des  Euripides  ist  die  schöne  Gestalt  des 
getreuen  Pylades,  die  bei  Aischylos  nur  einen  Moment,  allerdings  hier  mit 
entscheidender  Wucht  als  apollinischer  Mahner  (Cho.  893  K.),  eingreift,  bei 
Sophokles  ganz  stumm  ist;  Euripides  hat  ihn  im  Orestes  noch  einmal  auf- 
treten lassen.  Muster  anschaulicher  fesselnder  Erzählung  sind  die  beiden 
langen  Botenreden  von  der  Gefangennahme  des  Orestes  und  Pylades  (260 


of  the  Americ.  philol.  associat.  32  (1903) 
p.  CXXII.  Über  die  Zeitansetzung  auch  Wila- 
MowiTZ,  Anal.  Eurip.,  Berl.  1875, 177  f. ;  J.  Öri, 
Eur.  unter  dem  Druck  des  sizil.  und  deke- 
leischen  Kriegs,  Progr.  Basel  1905. 

»)  Paus.  123,  7;  33,1;  UI  16,  7. 

«)  Strab.  p.  399  C;  Eur.  Iph.  Taur.^1457; 
Hesychios:    TavQo:i6Xiaf  ä  elg  ioQTTjv  äyovoiv 

»)  Iph.  T.  1464;  Euphorien  in  Schol. 
Arist.  Lys.  645. 

^)  Stesichoros  identifiziert  nach  Hesiods 
Vorgang  Iph.  und  Hekate  (Hes.  fr.  100  Rz.). 
Paus.  II  35,  1 ;  I  43,  1;  VII  26,  3.  Vgl.  Wila- 
jfowiTZ,  Herrn.  18  (1883)  249  ff.;  K  Robbrt, 


Archäologische  Märchen  (Philol.  Unters.  10, 
1886)  144  ff. 

^)  Iph.  T.  1458  ff.,  Arist.  Lys.  646  und 
dazu  die  Scholien;  Harpocr.  unt.  dexazeveir. 
Vgl.  F.  G.  Schöne  in  der  Ausgabe  3.  A.  von 
H.  KöCHLY,  Berl.  1872,  Einl.  17  ff. 

«)  Herodot.  IV  103. 

^)  Cypr.  (G.  Kinkel  fr.  ep.  I  p.  19) :  'Agrefiig 
6h  avTTjv  }^ao:tdoaoa  elg  TavQOX^g  fjisraxo^ii^ei 
xai  äOavarov  jioteT,  Danach  scheint  schon  der 
Dichter  der  Kyprien  die  Iphigeneia  nach  Taui'oi 
versetzt  zu  haben,  woraus  folgt,  daß  schon  die 
Milesier  bei  ihren  pontischen  Kolonisations- 
fahrten die  taurische  Göttin  kennen  gelernt 
und  mit  Iphigeneia  identifiziert  haben  müssen. 


348  Ghrieohische  LitteratargeBchiohte.    L  Klassische  Periode. 

bis  339)  und  von  den  Wechselfällen  ihrer  Flucht  (1327—1419);  voll  von 
Leben  und  Geist  sind  die  wiederholten  Stichomythien,  in  deren  Anwen- 
dung sich  Euripides  in  dieser  Tragödie  besonders  gefällt;  vortreflElich  die 
beiden  Wiedererkennungsszenen,  von  denen  namentlich  die  erste,  in  der 
Iphigeneia  dem  Pylades  den  für  den  Bruder  bestimmten  Brief  vorliest  und 
so  unwillkürlich  das  Geheimnis  ihrer  Herkunft  enthüllt  (755—797),  das 
volle  Lob  des  Aristoteles  (po6t.  1454  a  7)  fand.  Selbst  die  Lieder  des 
Chors,  der  hier  mehr  als  sonst  bei  Euripides  üblich  in  die  Handlung  herein- 
gezogen wird,  erheben  sich  über  das  gewöhnliche  Niveau  euripideischer 
Melik;  namentlich  im  zweiten  Stasimon  (1089 — 1152)  ist  mit  rührender 
Zartheit  die  Sehnsucht  der  ins  Barbarenland  verkauften  Jungfrauen  nach 
dem  Boden  und  den  Götterfesten  der  geliebten  Heimat  ausgedrückt.*)  Für 
den  Deutschen  hat  die  Tragödie  noch  einen  besonderen  Wert,  weil  sie 
Goethe  zu  einer  seiner  schönsten  Dichtungen  angeregt  hat.  Goethe  hat 
bekanntlich  an  der  Lüge,  mit  der  Iphigeneia  den  König  Thoas  hinter- 
geht, Anstoß  genommen  und  deshalb  eine  andere  truglose  Lösung  des 
Konfliktes  ersonnen.  Den  Griechen,  die  den  Barbaren  gegenüber  auch 
List  und  Betrug  für  erlaubt  hielten,  lag  jener  Anstoß  fern;  vielmehr  wird 
bei  ihnen  die  erfinderische  Klugheit,  mit  der  Iphigeneia  den  Argwohn  des 
Thoas  einzuschläfern  versteht  (1153 — 1233),  großen  Beifall  geerntet  haben.*) 
Auch  wir  empfinden  bei  aller  Bewunderung  für  die  Innerlichkeit  und  ideale 
Hoheit  des  Goetheschen  Stücks  doch  die  größere  Bühnenwirksamkeit  des 
euripideischen.  —  Im  Altertum  selbst  hat  an  die  euripideische  Form  der 
Iphigeneiafabel  Sophokles  in  seinem  Chryses  angeknüpft,  indem  er  Orestes 
mit  Iphigeneia  von  König  Thoas  verfolgt  nach  Sminthe  in  der  troischen 
Landschaft  zu  ihrem  Halbbruder,  dem  Priester  Chryses,  gelangen  ließ.  — 
Größere  Partien  des  Stückes  enthält  der  frühptolemäische  Hibeh-papyrus 
Nr.  24  (1906).  Das  Motiv  der  taurischen  Iphigeneia  ist  parodiert  in  dem 
oxyrhynchischen  Mimos  von  der  Befreiung  der  Charition,  dessen  Text  jetzt 
auch  0.  Crusius  Herondas*  (Leipz.  1905)  p.  101  flf.  bietet. 

195.  ^Io)v^  eine  verschlungene  Tragödie  mit  glücklichem  Ausgang, 
durch  spannende  Anlage,  feine  Charakteristik  und  zarte  Empfindung  aus- 
gezeichnet. Die  Fabel  ist  von  Euripides  unter  Verwertung  lokalattischer  Über- 
lieferungen zur  Verherrlichung  des  reinen  Geblütes  des  attischen  Stamms  er- 
funden. Das  Drama  spielt  in  Delphoi;  hier  steht  der  priesterliche  Knabe 
Ion,  den  einst  ApoUon  mit  Kreusa,  der  Tochter  des  Erechtheus,  gezeugt 
hatte,  eine  vom  Dichter  mit  offenbarer,  tiefer  Sympathie  entworfene  welt- 
fremde  Gestalt,   im   Tempeldienst  des  Apollon;^)   hieher   kommen  Kreusa 


')  In  der  nächsten  Zeit  nach  Euripides  '  Wandgemälde,  Sarkophage  zeugen, 
haben  der  Sophist  Polyeidos  (Arist.  poöt  1  *)  Geistreiche  Parallele  von  Ph.  Mayer. 
1455a  6.  b  10)  und  der  Tragiker  Timesitneos  ,  Die  Iphigenien  des  Euripides,  Racine  und 
<s.  Suidas)  den  gleichen  Stoff  bearbeitet.  Daß  >  Goethe,  in  dessen  Studien.  Gera  1874,  213  ff.; 
unter  den  Römern  Pacuvius  in  seinem  Du-  0.  JAHJf,  Aus  der  Altertumswiss.,  Bonn  1868, 
lorestes  die  Handlung  der  Iph.  Taur.  behandelt  353  ff. ;  F.  Thümen.  Die  Iphigeniensage  in  an- 
habe, bezweifelt  0.  Ribbeck,  Die  Römische Tra-  tikem  u.  modernem  Gewände,  2.  A.,  Berl.  1895. 
gödie  S.  239  ff.  Auch  die  Kunst  hat  sich  der  ^)  Der  Realismus  in  der  Darstellung  von 
dankbaren  Motive  unserer  Tragödie  mit  Vor-  \  Ions  Tätigkeit  als  vemxoqos  läßt  sich  aus  del- 
liebe   bemächtigt,    wovon   zahlreiche  Vasen,  .   phischen  Inschriften  belegen:  A.W.  Nikitsky, 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides.    (§§  195—196.)  349 

und  ihr  Gemahl  Xuthos,  um  wegen  ihrer  Kinderlosigkeit  das  Orakel  zu 
befragen.  Die  Enthüllung  der  dunklen  Abkunft  des  Ion  und  die  Wieder- 
erkennung von  Mutter  und  Sohn  spielen  sich  auf  überaus  verschlungenen 
Wegen  ab,  und  die  aus  bloßen  Mißverständnissen  entsprungene  bis  zu 
Wahnwitz  und  Giftmordplänen  gesteigerte  Erregung  der  Ereusa  wirkt 
auf  einen  von  allem  schon  unterrichteten  Zuschauer  fast  komisch;^)  ebenso 
die  Art,  wie  Apollon,  der  Verführer,  abgekanzelt  wird;  überhaupt  bereitet 
das  Stück  bei  aller  seiner  leidenschaftlichen  Überhitzung  die  Verwechs- 
lungs-  und  Wiedererkennungskomödien*)  vor.  Für  die  Abfassungszeit 
fehlen  zuverlässige  Anzeichen;  doch  ist  das  Stück  jedenfalls  nach  dem 
Erechtheus  (421)  geschrieben  worden.')  Eine  freie  Nachbildung  hat  in 
unserer  Zeit  A.  W.  Schlegel  gedichtet.^) 

196.  ^HXexxQa  zeigt  am  besten  die  Manier  des  Euripides,  alte  Stoffe 
neu  zu  gestalten,  dabei  die  Erhabenheit  der  Heroenwelt  zur  Niedrigkeit  des 
Alltagslebens  herabzustimmen  und  eben  dadurch  an  den  beiden  älteren 
Tragikern  Kritik  zu  üben:*^)  Elektra,  König  Agamemnons  Tochter,  ist  auf 
Veranlassung  der  Klytaimestra,  damit  sie  keinen  Rächer  gebäre,  an  einen 
gemeinen  Bauern  verheiratet  und  hat  sich  trefflich  in  diese  Verhältnisse 
gefunden,  wie  sie  denn  gleich  zu  Anfang  des  Stücks  in  der  Frühdämme- 
rung mit  dem  Eimer  auf  dem  Weg  zum  Wasserholen  vorgeführt  wird;«) 
Klytaimestra,  durch  List  auf  das  Land  gelockt,  muß  sich,  bevor  sie  den 
Todesstreich  empfängt,  noch  ihr  ganzes  Sündenregister  von  ihrer  Tochter 
vorhalten  lassen  (1004 — 1146),  und  das  mit  einer  leidenschaftlichen  Schärfe, 
die  man  der  braven  Bauersfrau  nicht  zutraut.  Aber  schön  ist  die  Boten- 
erzählung (774 — 858)  von  der  Tötung  des  Buhlen,  wobei  der  Dichter  mit 
raffinierter  Erfindungsgabe  den  Aigisthos  selbst  dem  Orestes  das  Messer 
in  die  Hand  geben  läßt,  gelungen  auch  die  mit  offenbarer  Freude  am 
Bukolischen  entworfene  Figur  des  uralten  Hirten,  der  als  ehemaliger  Päda- 
goge der  Agamemnonskinder  die  Bekanntschaft  zwischen  Elektra  und 
Orestes  vermittelt.  Zum  Schluß,  nachdem  die  Rachetat  geschehen  ist, 
erscheinen  die  Dioskuren  und  verkünden  die  standesgemäße  Verheiratung 


Delphisch-epigraphische    Studien    I    1894/95  j   1880,   setzt  das  Stück  412,   auf  Grund  der 

S.  163  ff.  (nach  Berliner  phil.  W.schr.  16, 1896,  |  häufigen  Auflösungen  im  Trimeter  und  der 

305).  Bezugnahme    auf    die    Grotte    des    Pan    in 

*)  Solche  Mißgriffe  tadelt  Aristoph.  Ach.  Arist.  Lys.  911;  ähnlich  £.  Ermatinoer,  Die 


442  f.,  natürlich  nicht  im  Hinblick  auf  Ion, 
aber  auf  Euripides'  überkühne  Änderungen 
der  Sage. 

*)  Der  avayvwQtai^ioc:  ähnlich  in  der  Anti- 


attische Autochthonensage  bis  auf  Eurip., 
Berlin  1897,  S.  139,  auf  416—412;  vor  die 
Vögel  des  Aristophanes  A.  Pisohingeb, 
Vogelgesang  bei  den  griechischen  Dichtem, 


gone:  H.  Weil,   Etudes   sur  le   drame  ant   '  Progr.  Eichstätt  1901,  75.     Auch  die  starke 
230  ff.  Neigung  für  Schilderung  von  Kunstwerken 


')  A.  BöcKH,  De  gr.  trag,  princ.  191  machte 
die  feine  Kombination,  daB  die  V.  190  ff.  be- 
schriebenen Gemälde  der  Tempelhalle  die- 
selben seien,  die  Athen  infolge  des  Seesieges 


hat   der  Ion   mit   der   um   412  gedichteten 
Elektra  gemein. 

*)   Der  Ion  war  auch   eine  Quelle  für 
Wielands  Agathon. 


bei  Rhion  (429)  gelobt  hatte  (Paus.  XI  1,5  und  ;  *)  über  die  Tendenz  gegen  Soph.  El.  s. 

Eur.  Ion  1592);   aber  neuere  Ausgrabungen  H.  Steiger,  Philol.  56  (1897)  561  ff. 
haben  gezeigt,  daß  jene  Halle  spätestens  in  •)  Eur.  Or.  1658  wird   der  Verheiratung 

der  ersten  Hälfte  des  5.  Jahrh.  gebaut  worden  i  mit  dem  Bauern  nicht  gedacht,   ein  Beweis 

ist;  S.U.Köhler,  Rh. Mus.  46  (1891)  1  ff.   L.  \  dafür,  daß   es  sich  hier  um  ein  ad  hoc  ge- 

Enthovei?,  De  lone  fabula  Euripidea,  Bonn  !  machtes  Autoschediasma  handelt 


350  Ghieohische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

der  Elektra  mit  Pylades,  sowie  die  Freisprechung  des  Orestes  vor  dem 
Areopag.  Verfaßt  ist  das  Drama  413  kurz  vor  der  Helena,  die  V.  1280 
angekündigt  ist;  diese  Zeit  empfiehlt  auch  der  Hinweis  auf  die  sizilische 
Expedition  und  den  Verrat  des  Alkibiades  am  Schluß  der  Tragödie.*) 

197.  'EXevYf  ist  neben  Ion  das  Muster  eines  romantischen  Intrigen- 
stücks; sie  wurde  zugleich  mit  der  verwandten  Andromeda  412  aufgeführt 
und  war  gleich  im  folgenden  Jahr  Stichblatt  für  den  Witz  des  Aristophanes 
(Thesm.  850  flf.).*)  In  der  Fabel  lehnte  sich  Euripides  an  Stesichoros' 
Helena  an/)  erlaubte  sich  aber  eine  ganz  freie  Umdichtung  der  Über- 
lieferung/) Helena,  von  der  Paris  nur  ein  Schattenbild  nach  Troia  ent- 
führt hatte,  wird  in  Ägypten  von  dem  Königssohn  Theoklymenos,  der  um 
die  Hand  der  schönen  Griechin  wirbt,  bedrängt  und  sucht  am  Grab  des 
Proteus  Schutz.  Von  der  Bedrängnis  wird  sie  durch  die  Ankunft  des 
heimkehrenden  Menelaos  befreit,  mit  dem  sie  gemeinsam  Flucht  und  Täu- 
schung des  Barbarenkönigs  plant  und  ausführt.  Nur  Menelaos  und  Helena 
sind  alte  Namen  des  Mythus,  Theoklymenos  und  seine  prophetische 
Schwester  Theonoe,  die  Kinder  des  Proteus,  sind  von  Euripides  fingiert, 
so  daß  von  dem  Stück  die  Bemerkung  des  Aristoteles  poöt.  9  gilt,  daß  in 
einigen  Tragödien  nur  einige  Namen  altüberliefert,  die  andern  neuerdichtet 
sind.  Den  Helenacharakter  in  den  Penelopecharakter  umzuformen  war 
ein  kühnes  Wagnis  und  fast  zu  teuer  erkauft  mit  der  Hereinziehung  des 
eidcoXov^  das  sich  zu  dem  realistischen  Kolorit  des  ganzen  Stückes  schlecht 
fügt.  Die  Chorlieder,  Gesänge  gefangener  Griechenmädchen,  sind  großen- 
teils zwar  ohne  engere  Verbindung  mit  dem  Gegenstand  (so  besonders 
1301 — 68),  aber  frisch,  plastisch,  von  warmem  Naturgefühl.  Im  übrigen 
ist**)  mit  Recht  darauf  hingewiesen  worden,  daß  die  Helena  mit  ihrer  ver- 
wickelten, intrigenreichen  Handlung  und  derVulgarität  ihrer  Charaktere  eine 
Vorstufe  der  neuattischen  Komödie  darstelle.  Das  Drama,  das  in  seinem 
Schluß  eine  Dublette  der  taurischen  Iphigeneia  ist,  nur  daß  die  Lage  durch 
die  Notwendigkeit,  die  vorauswissende  Theonoe  auf  die  Seite  des  flüch- 
tigen Ehepaars  zu  ziehen,  noch  etwas  verwickelter  wird,  fand  im  Altertum 
viele  Leser  und  hat  daher  viele  Interpolationen  erfahren;  Horaz  (od.  III 
3,  17  ff.)  scheint  die  Verse  878  ff.  vor  Augen  gehabt  zu  haben. 

198.  Die  ^oivioaai^  benannt  nach  dem  aus  Phönikiorinnen  zusammen- 
gesetzten Chor,   gehören    gleichfalls    der   letzten  Periode  des  Dichters   an 

^)  L.  Radermacheb,  Rh.  Mus.  53  (1898)  willkürlicher  ist  die  Begründung,  die  J.  Obi, 

508;   E.  Brühn,  N.  Jahrbb.  Suppl.  15  (1887)  |   Eur.  unter  dem  Druck  des  sizil.  und  dekel. 

314  fF.    Als  erwiesen  kann  gelten  die  Parodie  Kriegs,  Progr.  Basel  1905  für  den  Ansatz  414 

in  Arist.  ran.  1317  f.,  nicht  die  in  av.  414  oder  vorbringt.     Dagegen  sieht  L.  Radermacheb, 

nub.  423.  Über  das  Verhältnis  zur  Elektra  des  Rh.  Mus.  53  (1898)  497  ff.  in  V.  744  ff.  eine  An- 

8oph.   s.  S.  315.     Wiederaufführungen   nach  spielung  auf  die  sizilische  Katastrophe  a.  413 

a.  300  bei  den  argivischen  Heräen  und  den  (Thuc.VlI  1). 

delphischen  Soterien  sind  inschriftlich  bezeugt  •)  Dazu  Schol.  Od.  <>  227  und  Herod.  11 

Bull,  de  corr.  hell.  17  (1893)  15  (=  Philol.60,  112.  A.v.PREMER8TEiN,Pliilol.55(1896)634ff. 

1901,  441).  Der  Anschluß   an  Stes.  hat  gewiß   lediglich 

^)  Nach   Schol.  Arist.  Thesm.  1012  und  '   ästhetisch-dramaturgische  Gründe. 

1060.  Th.Zielinski,  DieGliedenmgderaltatt.  *)  Aristoph.  Thesm.  850  nennt  sie  xatrifv 

Kom.  Leipz.  1885, 97  ff.  findet  in  Arist.  eq.  80 ff.  'EUvtir,  was  freilich  nach  Schol.  1.  1.  so  viel 

eine  Parodie  von  Eur.  Hei.  835  ff.  und  setzt  dem-  als  neulich  aufgeführt  bedeutet, 

nach  Helena  und  Elektra  ins  Jahr  425.   Noch  i           ^)  F.  Leo,  Plautin.  Forschungen  149. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Euripidee.    (§§  197—198.)  351 

und  wurden  zusammen  mit  dem  Oinomaos  und  Chrysippos  aufgeführt.*) 
Euripides  erhielt  mit  diesen  Stücken  den  zweiten  Preis,  aber  die  Gram- 
matiker erkannten  die  Phönissen  als  eine  der  vollendetsten  Schöpfungen 
des  Dichters  an.*)  In  sieben  Dramen  behandelte  Euripides  die  Labda- 
kidensage:  in  den  beiden  ^Akxjuicoveg^  im  XQvauinog  und  in  den  'Ixhideg 
gewann  er  dem  alten  Mythus  neue  Dramenstoffe  ab;  in  dem  Oidipus,  der 
Antigone^)  und  in  den  Phönissen  suchte  er  durch  Neugestaltungen  alter 
Stoffe  Interesse  zu  wecken.  Die  Phönissen  haben  im  allgemeinen  den- 
selben Inhalt,  wie  die  Sieben  des  Aischylos,  aber  wie  Euripides  im  Oidipus 
die  Mythen  des  Oidipus  und  der  Sphinx  in  eins  zusammenzog,  so  hat  er 
auch  in  den  Phönissen  nach  allen  Seiten  über  den  engen  Rahmen  des 
äschyleischen  Stückes  hinausgegriffen  und  damit  dem  neuen  Drama  eine 
außerordentliche  Mannigfaltigkeit  und  Ausdehnung  (von  1766  Versen)  ge- 
geben. Mehr  aber  noch  hat  er  in  der  Ökonomie  des  Dramas  geneuert: 
in  den  Sieben  bestand  der  Chor  aus  thebanischen  Jungfrauen,  di6  angst- 
voll zu  den  Altären  der  Götter  flüchteten;  Euripides  setzte  an  ihre  Stelle 
phönikische  Mädchen,  die,  vom  König  Agenor  als  Beuteteil  nach  Delphoi 
geschickt,  auf  ihrem  Weg  Theben  berührten.  Das  war  keine  gute  Neue- 
rung, insofern  der  Seeweg,  den  sie  kamen  (V.  210),  nicht  über  Theben 
nach  Delphoi  führte,  hatte  aber  für  Euripides  den  Vorteil,  daß  nun  die 
Chorlieder  über  Kadmos  (638—689)  und  die  Sphinx  (1019—1066),  die  er 
nach  seiner  Art  einlegte,  wenn  nicht  zur  Handlung,  so  doch  zur  Person 
des  Chors  einige  Beziehungen  gewannen.  Aischylos  hatte  ferner  in  ein- 
töniger und  breitgesponnener  Weise  die  zweimal  sieben  Führer  in  einem 
Gespräch  zwischen  Eteokles  und  dem  Boten  nacheinander  bildartig  schil- 
dern lassen;  das  mißfiel  dem  Euripides,  und  mit  Recht;*)  er  erreichte  das 
Gleiche  wirkungsvoller  teils  durch  die  Teichoskopie,  in  welcher  der  Päda- 
goge der  Antigone  ähnUch  wie  in  der  Ilias  die  Helena  dem  Priamos  die 
einzelnen  Helden  zeigt  (88 — 201),**)  teils  durch  die  wirkungsvollen  Schlachten- 
berichte des  Boten  (1090—1199.  1217—1269).  Bei  Aischylos  sodann  blieben 
lokaste  und  Oidipus  ganz  außer  dem  Spiel;  Euripides  läßt  sie  entgegen 
der  Darstellung  des  Sophokles  beide  noch  in  Theben  am  Leben  sein  und 
versteht  es  nun,  ihre  Anwesenheit  zu  ergreifenden  Szenen  zu  verwerten. 
Denn  die  ganze  Tiefe  der  Mutterliebe  tut  sich  in  dem  genial  erfundenen 
Versuch  der  Aussöhnung  der  feindlichen  Brüder  auf  (355 — 637),  und 
rührend  ist  der  Schluß,  wo  der  blinde  Greis  durch  die  Weherufe  der  Anti- 
gone aus  dem  Haus  gezogen  (1539  flf.)  und  von  dem  herzlosen  Kreon  aus 
dem  Land  gestoßen  wird  (1589  flf.).  Ganz  neu  hinzugekommen  ist  ein 
allerdings   sachlich  überflüssiges,  aber  für  Euripides'   praktisch-politischen 


^)  Über  die  unbrauchbare  didaskalische  JtoXXij  Xeystv,  ix^QcHv  vji'  ainoTg  reixeaiv  xa^- 

Notiz  8.  o.  S.  336, 11.   Schol.  Arist.  ran.  53  läßt  |  nsvoiv. 

das  Stück   kurz   vor  den  Fröschen  gegeben  !           *)   Diese  Teichoskopie   wird   meist   als 

sein;  vgl.  Arist.  av.  348.  störendes  Element  im  Aufbau    des  Stücks 

*)  Argum.  und  Schol.  Arist.  ran.  53.  verurteilt,  zuletzt  von  Wilamowitz,  Berl.  Ak. 

•)  Auf  die  Antigone  und  ihren  Ausgang,  |   Sitz.ber.  1903,  588.     Scharfsinnige,  aber  ge- 

die  Vermählung  des  Haimon  und  der  Anti-  |   wagte    Analyse    ihres    rhythmischen    Baus 

gone,  bezieht  sich  Phoen.  1637  f.  u.  1672  ff.  0.  Schböder,  De  tichoscopia  Eurip.  Phoenissis 

*)  Phoen.  751:  ovo^ia  d*  kxdaxov  dtaxQißrj  inserta,  Progr.  Berl.  1906. 


352  Grieohisohe  litieratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

Sinn  bezeichnendes  Emblem  —  denn  die  Rettung  der  Stadt  Theben  ist 
in  diesem  Sagenzusammenhang  ganz  nebensächlich  — ,  der  heldenmütige 
Opfertod  des  Menoikeus,  des  Sohnes  des  Kreon,  von  dem  Euripides  nach 
der  Weissagung  des  Teiresias  den  Sieg  abhängen  läßt  (834 — 1018).*) 
Euripides  hat  auch  nicht  versäumt,  Stellen  zur  VerherrUchung  Athens 
einzulegen  (852 — 857  und  1705 — 7),  wenn  auch  dazu,  wie  namentlich  an 
der  ersten  Stelle,  die  Gelegenheit  an  den  Haaren  herbeigezogen  werden 
mußte.  Abgesehen  aber  von  dieser  Reihe  bühnenwirksamer  Szenen  und 
Anspielungen  hat  Euripides  den  ganzen  Gegenstand  auf  eine  neue  Grund- 
lage gestellt  durch  Einführung  von  Schuldmotiven :  die  beiden  Söhne  haben 
den  geblendeten  Vater  eingesperrt,  der  sie  nun  verflucht  und  so  den  Unter- 
gang seines  Hauses  herbeiführt  (59  ff.).  Darin  mag  man  ein  Zurückgehen 
über  Sophokles  auf  äschyleYsche  Art  erkennen.  Wie  viel  Euripides  aber  von 
Sophokles  gelernt  hat,  zeigt  sich  in  dem  herrlichen  Charakterensemble 
lokaste-Eteokles-Polyneikes:  die  hingebende  Mutter  als  erfolglose  Ver- 
söhnerin hineingestellt  zwischen  den  pietätvoll  weichen  Polyneikes  und 
den  kalten,  herzensrohen,  verstandesmäßigen  Doktrinär  Eteokles,  zu 
dessen  Figur  dem  Euripides  wie  zu  der  des  Kyklopen  ohne  Zweifel  die 
Ultras  der  sophistischen  Aufklärung  Modell  gestanden  haben.  Man  wird 
zugeben,  daß  der  Dichter  mit  diesen  Neuerungen  und  zugleich  durch  die 
Kunst  der  sprachlichen  Darstellung*)  das  Stück  reicher,  erschütternder  und 
zugleich  modernem  Geschmack  entsprechender  gestaltet  hat  als  seine  Vor- 
gänger, und  man  begreift,  daß  es  den  feinsinnigen  Kenner  des  Euripides, 
L.  C.  Valckenaer,  zur  gelehrten  Bearbeitung  (Franeker  1755)  und  Hugo  Grotius 
(Paris  1630)  und  Schiller  zur  Übersetzung  reizte.  Freilich  ist  das  Stück  von 
einer  gewissen  Breite  und  zerstreuenden  Überfülle  nicht  freizusprechen  ;s) 
besonders  leidet  der  Schluß  unter  dem  Streben,  noch  alles  Mögliche  herein- 
zuziehen, die  Heirat  des  Haimon  und  der  Antigene,  die  Bestattung  des 
Polyneikes  durch  Antigene,  die  Begleitung  des  verbannten  Oidipus  nach 
Attika  durch  Antigene.*) 

199.  '0Q€0T7]g,  im  Jahr  408  aufgeführt  (Scholien  zu  V.  371),  zeigt  den 
Verfall  der  euripideYschen  Kunst.     Die  Fabel,   die   zur  Zeit  der  Rückkehr 


^)  Die  Gestalt  des  freiwillig  den  lodern-  9  (1901)  241  ff.  sucht  Kontamination  zweier 

den  Altar  besteigenden  Menoikeus  findet  sich  Entwürfe  nachzuweisen,   über  Erweiterungen 

auf  Glaspasten,  s.  J.  OvERBECK,  Galerie  heroi-  durch   Interpolation   W.  Zipperer,   De  Eur. 

scher  Bildwerke  S.  133.    Vom  Schluß  der  Tra-  Phoen.    versibus    suspectis    et    interpolatis , 
gödie  eine  Danstellung  auf  einem  Becher  des 


britischenMuseums  bei  K.  Robert,  50.  Berl. 
Winckelmannsprogramm  (1890)  59 ;  R.  Engel- 


Wirceb.  1875. 

*)  Man  hat  deshalb  in  der  Exodos  starke 
Interpolationen  angenommen.    A.  Böckh,  De 


MANN,  Jahrb.  des  arch.  Inst.  20  (1905)  179  flf.       trag,  gr.princ.c.  21,  und  ihm  folgend  G.Kinkel 
^)  Besonderes  Lob  verdienen  die  Monodie      in  seiner  Ausg.  (Berl.  1871)  haben  den  ganzen 

der  im  Schmerz  rasenden  Antigone  (1485  fF.)  j  Schluß  von  1746  an  verurteilt;  aber  damit 
und  der  Chorgesang  auf  den  Kriegsgott  Ares,      wird  die  andere  Schwierigkeit,  wie  Antigone 

den  Stifter  des  Elends  (784  ff.).  |   zugleich  den  Vater  nach  Attika  begleiten  und 
')  Über  die   auch   von  den  Alten  (Arg.       den  Bruder  in  Theben  beerdigen  soll,   nicht 
p.  243,  6  ScHW.)    bemerkte    ambitiöse   Stoff-      gehoben.     Wilamowitz    (Drei   Schlußszenen 

anhäufung  in  den  Phoen.  V.  Brugnola,  Riv.  di  ,  griech.  Dramen,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1903  S.  592), 
filol.  31  (1903)  401  ff.  Wilamowitz,  Herrn.  32  der  die  Bedenken  gegen  V.  1705  ff.  nicht  teilt, 
(1897)  390  findet  in  der  Episodenhaftigkeit  ein  leitet  die  Bestattung  des  Oidipus  in  Kolonos 
Zurückgreifen  auf  die  archaische  Tragödien-  aus  der  Lokalsage  her,  und  erklärt  nur  den 
technik.   A.  Balsamo,  Stud.  ital.  di  fil.  class.      Schluß  von  V.  1787  an  für  eine  Dublette. 


G.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides.    (§§  199—200.)  353 

des  Menelaos  in  Argos  spielt  und  sich  um  die  Hache  dreht,  welche  der 
zum  Tod  verurteilte  Muttermörder  Orestes  mit  Elektra  und  Pylades  an 
Menelaos  und  seinem  Haus  nehmen,  ist  ganz  willkürlich  vom  Dichter  zu 
einem  blutrünstigen  Schauerstück  mit  manchen  Anklängen  an  Sophokles' 
Elektra  zusammengebraut.  Vom  Geist  der  alten  Sage  ist  nichts,  von  ihrer 
Form  wenig  übrig  geblieben.  Alle  Personen  sind  ins  Gemeine  herab- 
gezogen: Menelaos  ist  ein  herzloser,  feiger  Egoist,  Elektra  ein  ränkesüch- 
tiges Weib,  Helena  eine  eitle  Kokette,  Orestes,  dessen  Verfolgung  durch 
die  Erinyen  rationalistisch  in  einen  psychopathischen  Zustand  umgedeutet 
wird,  gleicht  dem  nächtlichen  Raufbold  und  Dieb  ^Ogeazrjg  uaivöjusvog  der 
Komödie.  0  Schon  Aristoteles  poöt.  1454  a  28  verurteilt  den  Menelaos  dieses 
Dramas  als  naqdöeiyfia  novtjgiag  ij^ovg  jui]  ävayxaiag^  gleichwohl  machte 
es  großen  Effekt  wegen  seiner  blendenden  Szenerie  und  des  musika- 
lischen Bravourstücks  V.  1369 — 1502,^)  wo  die  Ermordung  der  Helena 
und  die  wilde  Flucht  ihrer  Diener  durch  den  vor  Angst  schlotternden 
Phryger  in  entsprechend  zappelnden  Rhythmen  dem  Auge  und  dem  Ohr 
zugleich  vergegenwärtigt  wird.^)  Wirkungsvoll  wird  außerdem  namentlich 
der  Schluß  gewesen  sein,  wo  die  Flammen  zum  Gebälke  der  Burg  empor- 
züngeln und  die  Mauern  mit  schrecklichem  Geprassel  zusammenstürzen, 
während  die  Frauen  und  der  Chor  voll  Angst  aus  dem  Theater  zu  den 
Schiffen  fliehen.  Wenn  dann  freilich  dem  Banditentrio  Orestes-Elektra- 
Pylades,  das  im  Schlußtableau  mit  Schwertern  und  Brandfackeln  auf  dem 
Söller  des  Palastes  erscheint,  der  Dens  ex  machina  ApoUon  die  Waffen 
wie  Kindern  aus  der  Hand  schlägt  und  alles  mit  einem  Mal  hübsch 
friedlich  arrangiert,  so  verstehen  wir  das  Urteil  des  Grammatikers  in  der 
Hypothesis:  xo/Ltixcoregav  e^^ei  xaxaoTQoq?riv,^) 

200.  ^(piyEveia  fj  ev  Avkidi  geht  dem  Mythus  nach  der  taurischen 
Iphigeneia  voraus,  fällt  aber  der  Abfassungszeit  nach  in  die  letzte  Lebenszeit 
des  Dichters.^)  Euripides  hinterheß  die  Tragödie  unvollendet;  davon  zeugen 
die  unverkennbaren  Spuren  späterer  Zusätze  in  unserem  Text,  namenthch 
am  Schluß  und  in  der  Parodos.  Aufgeführt  ist  die  aulische  Iphigeneia  erst 
nach  dem  Tod  des  Dichters  durch  seinen  gleichnamigen  Sohn.^)  Einzelne 
Verse  stammen  aus  noch  späterer  Zeit,  aber  diese  können  die  Annahme 
einer  vollständigen  Überarbeitung  in  römischer  oder  gar  byzantinischer 
Zeit  nicht  beweisen.^)    Den  gleichen  Mythus  von  der  Opferung  der  Königs- 


*)  Vgl.  ^ÖQEOTTjg  fiaivofievos  in  Arist  Ach.  i    Wie  entstand   der  Orestes  des  Eur.  ?   Progr. 

1166  und  av.  1491.  ;   Augsb.  1898,   die  Eigenart  des  Stückes  aus 

*)  Argum.:  to  Öoäfia  twv  eni  oxtjvijg  ;  der  Absicht  der  Kritik  an  Aischylos  und 
evdopcifiovvTOJv.  Das  Stück  ist  nach  inschrift-  Sophokles  zu  erklären.  Es  ist  nur  der  voll- 
lichem  Zeugnis  in  hellenistischer  Zeit  bei  den  gültige  Beleg  dafür,  daß  Eur.  mit  der  Heroen- 
städtischen Dionysien  in  Athen  wiederauf-  ;  tragödie  gänzlich  abgewirtschaftet  hatte, 
geführt  worden  (Philol.  60,  1901,  441)  und  ;  *)  Mißglückt  ist  der  Versuch  von  J. 
war  ein  Lieblingsstück  der  Byzantiner.  i    Obi  in  der  oben  S.  846,  4  zitierten  Abband- 

3)  Auch  hier  ist  die  Grenze   des  Komi-  lung,   das  Stück   in   die  Zeit  415/14  zurück- 
sehen erreicht:  s.  A.  Ouviebi,  Riv.  di  filol.  zudatieren. 
28  (1900)  228;  L.  Radermachbr.  Rh.  Mus.  57  '           «)  Schol.  Ar.  ran.  67. 
(1902)  278  ff.  Zur  Metrik  der  Szene  F.Leo,  Abb.  ^            ')   H.  Hennio.   De   Iph.  Aul.  forma   ac 
der  Gott.  Ges.  d.  Wiss.  N.  F.  1  7  (1897)  p.  79  ff. ;  condicione.  Berol.  1870.  unterscheidet  Inter- 
0.  Schröder,  Philol.  64  (1905)  473  f.  polationen  aus  drei  verschiedenen  Zeiten.  Aus 

*)  Unglücklich  ist  die  Idee  von  H.  Steiger,  einem  Schluß  mit  deus  ex  machina  stammen 

Handbuch  der  klasa.  AltertimiBwiMenBcbaft.    VIL  5.  AolL                                                     23 


354  GrieoluBche  Lüteratargeschichte.    L  Klassische  Periode. 

tochter,  um  den  Zorn  der  beleidigten  Göttin  Artemis  abzuwenden,  hatten 
vor  Euripides  bereits  Aischylos  und  Sophokles  behandelt;  zugrunde  lag 
bei  Euripides  neben  der  Erzählung  der  Kyprien  Stesichoros.^  Euripides 
hat  die  ganze  Fabel  ins  Alltägliche  umgesetzt.  Iphigeneia,  deren  Opferung 
Kalchas  fordert,  wird  durch  die  fiktive  Aussicht  auf  Verlobung  mit  Achil- 
leus  nebst  Kl3rtaimestra  von  ihrem  Vater  nach  Aulis  gelockt.  Angekommen, 
erfahrt  Kly taimestra  die  ganze  Wahrheit  und  sucht '  nun  das  Opfer  zu 
hintertreiben;  auf  der  anderen  Seite  schürt  Odysseus  die  Ungeduld  der 
Griechen.  Agamemnon  ist  ratlos,  Achilleus  erbietet  sich,  zunächst  noch 
ohne  daß  er  Liebe  empfände,  Iphigeneias  Ritter  gegen  die  drohenden  Achäer 
zu  werden.  Da  reißt  mit  einem  Mal  Iphigeneia  selbst,  das  zarte  Mädchen, 
die  verwirrten  Männer  durch  ihren  Entschluß,  sich  freiwillig  pro  patria 
zu  opfern,  aus  allen  Schwierigkeiten,  ein  psychologischer  Salto  mortale, 
den  schon  Aristoteles  (po^t.  1454a  30)  tadelt;  man  darf  zur  Entschuldigung 
des  Dichters  allerdings  nicht  vergessen,  daß  er  das  Motiv  vom  Opfertod 
einer  Jungfrau  selbst  schon  in  den  Herakliden  verwendet  hatte  und  daß 
es  der  böotischen  (Corinna  fr.  7)  und  attischen  Sage  (Agraulos,  die  Töchter 
des  Leos,  des  Erechtheus)  geläufig  war.  Der  Jammermann  Agamemnon 
und  die  brave  Hausfrau  und  Mutter  Klytaimestra  sind  recht  wenig  heroische 
Gestalten;  aber  das  junge  Paar,  und  wie  Achilleus  vom  Schützer  zum  Lieb- 
haber wird,  ist  fein  gezeichnet,  die  Chöre,  wiewohl  mit  der  Sache  wenig 
zusammenhängend,  doch  farbenreich.  Bezeichnend  aber  ist  für  die  mehr 
und  mehr  überhandnehmende  Richtung  des  Euripides  auf  das  äußerlich 
Bühnenwirksame,  daß  er  die  in  dem  StoflF  dieser  seiner  letzten  Tragödie 
gebotene  Gelegenheit,  ein  Charakterstück  zu  schaffen,  kaum  benützt, 
sondern  alles  auf  äußerliche  Intrigen  und  Spannungen  angelegt  hat.  Der 
dialogische  Prolog  in  Anapästen  (in  den  aber  noch  ein  monologischer 
Prolog  in  iambischen  Trimetern  V.  49 — 119  eingekeilt  ist)  hat  ein  Analogen 
nur  in  dem  nacheuripidel'schen  Rhesos,  der  übrigens  eben  den  uns  vor- 
liegenden und  jedenfalls  schon  dem  Chrysippos^)  und  Ennius  bekannten 
Prolog  der  Iphigeneia  zum  Vorbild  gehabt  haben  kann.  Dem  Euripides 
selbst  ist  der  erhaltene  Prolog  nicht  zuzuti'auen,  vielleicht  aber  seinem 
Sohn,  der  wohl  das  am  Anfang  und  Schluß  unvollendete  Stück  ergänzte. 
Das  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  hat  einen  anderen,  aber  wohl  ebenfalls  un- 
echten Schluß  gehabt;  der  uns  vorliegende  ist  jedenfalls  nachalexandri- 
nisch.3)  —  Das  Stück  ist  von  Schiller  übersetzt  worden. 

die  Verse  bei  Aelian.  v.  h.  VII  39,  die  (A.  !  Interpolation  1532,  Wilamowitz  1510,  A.Nauck 
SwoBODA,  Beiträge  zur  Beurteilung  des  un-  1540,  H.  Weil  1577.  Siebe  die  Einleitung 
echten  Schlusses  von  Eurip.  Ipb.  Aul.,  Progr.       zu  der  erkl.  Ausg.  von  E.  B.  England,  Lond. 


Karlsbad  1893)  schon  Aristophanes  von  Byzan- 
tion  gekannt  hat.  Vielleicht  setzt  sogar  schon 
Aristot.  po(5t.  1460b  32  die  fxaf/^os  xegovooa 
des  Schlusses  voraus,  von  der  in  dem  erhaltenen 


1891,  der  dem  Älian  einen  Irrtum  zutraut 
und  Benützung  der  Hekabe  im  Schluß  nach- 
weist. —  Alte  Darstellungen  von  Szenen  des 
Stückes  auf  einem   Becher    bei    K.  Robert, 


Stück  nichts  steht.    Den  Schluß  von  V.  1578       50.  Berl.  Winckelmannsprogr.  (1890)  51  ff. 


an  läßt  auch  N.  Wecklein,  Sitz.ber.  d.  bayr. 
Ak.  1899  II  312  von  einem  Byzantiner  (re- 
centissimo  poeta.  in  a.  Ausgabe)  zugefügt  sein. 
Wo  der  interpolierte  Schluß  beginne,  ist  kontro- 
vers ;  R.  PoRSON  und  P.  Girard  (Rev.  des  ^t. 
gr.  17,  1904,  173  ff.)   setzen  den  Anfang  der 


^)  M.  Mayer,  De  Euripidis  mythopoeia, 
Berlin  1883. 

»)  Chrysipp.  fr.  log.  180  p.  53,  26  Arnim; 
die  Trimeterpartie  des  Prologs  kennt  Aristot. 
poet.  1411b  29  (=Iph.  A.  80). 

')   Die   herrschende   und   wohl    richtige 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Eoripides.    (§  201.)  355 

201.  Ebenso  wie  die  aulische  Iphigeneia  sind  auch  die  Bdxxai  erst 
nach  dem  Tod  des  Dichters  auf  die  athenische  Bühne  gekommen,  i)  Es  ist 
aber  möglich,  daß  Euripides  das  Stück  in  Makedonien  gedichtet  und  zuerst 
außerhalb  Attikas  aufgeführt  hat.*)  Nur  mit  den  Bakchen  und  dem 
Phaethon  hat  Euripides  auf  das  Gebiet  der  Göttersage  hinübergegriffen 
und  in  den  Bakchen  eine  der  zahlreichen  tendenziös  erbaulichen  Sagen 
dramatisiert,  die  in  eindrucksvollen  Bildern  vor  Augen  führen  wollen,  wie 
der  mystische  Gott  mit  Wunderkraft  alle  niederwirft,  die  sich  seinem 
Dienst  entziehen  oder  widersetzen  wollen.  Euripides  läßt  den  Dionysos 
auf  einer  Station  seines  großen  Welteroberungszuges  in  Theben,  seinem 
Geburtsort,  auftreten,  als  den  unerkannten  Führer  des  Thiasos  seiner  Ver- 
ehrerinnen, aus  denen  der  Chor  gebildet  ist.  Den  in  Rhythmus  und  Geist 
höchst  charakteristischen  fanatischen  Missionsliedern  des  Chors  haben  die 
Mutter  des  Königs  Pentheus,  Agaue  und  ihre  Schwestern,  schon  Gehör 
geschenkt  und  sind  zu  bakchischen  Orgien  ins  Gebirge  geeilt;  das  Greisen- 
paar Kadmos  und  Teiresias  schickt  sich  voll  frommer  Ergebung  an,  ein 
gleiches  zu  tun.  Mit  allem  Nachdruck  aber  widersetzt  sich,  ein  neuer 
Lykurgos  mit  starken  Anklängen  an  den  Kreon  der  sophokleischen  Anti- 
gene, der  Vertreter  des  aufgeklärten  Staats,  Pentheus,  dem  mystisch- 
wilden Treiben,  in  dem  er  eine  Gefährdung  der  Nationalreligion  (V.  482. 
779),  der  öffentlichen  Ordnung  und  der  weiblichen  Zucht^)  sieht.  An  der 
Spitze  bewaffneter  Macht  will  er  dem  Unfug  ein  Ende  machen;  aber 
Dionysos  betört  seinen  Sinn,  und  wie  er  als  Späher  im  Wald  von  einer 
Fichte  aus  den  Bakchantinnen  zuschaut,  zerfleischt  ihn  in  bakchischer 
Raserei  seine  eigene  Mutter;  sie  trägt  am  Schluß  des  Stückes  triumphie- 
rend seinen  Kopf  herein.  Den  Dens  ex  machina,  der  mit  einem  Ausblick 
in  die  vom  Schicksal  beschiedene  Zukunft  alles  wieder  ins  Geleise  bringt, 
gibt  Dionysos  selbst  ab.  Derselbe  Stoff  war  schon  von  Aischylos  in  ^e/uih] 
fj  ^Ydgo(f6üoi,  Bdxyai,  IlevOevq,  SdvxQiai  auf  die  Bühne  gebracht  worden. 
Das  Stück  steht  an  Konzentration  der  technischen  Behandlung,  die  sich 
besonders  auch  in  dem  völligen  Fehlen  politischer  Zeitanspieluugen  zeigt, 
an  Sicherheit,  Klarheit  und  edlem  Stil  der  Charakterzeichnung  unter  allen 
euripideischen  am  höchsten  und  an  Bühnenwirkung  keinem  seiner  anderen 
nach.     Keine    der    blasphemischen  Äußerungen,*)   die   bei  Euripides  sonst 


Ansicht  ist  die  oben  geäußerte  (Matthiä,  G. 
Hermann.  Härtung,  Monk,  W.  Dindorf,  Kirch- 
hoff, Nauck.  Paley,  Klotz,  Hennig,  Vitelli); 
vereinzelt  (Firnhaber,  VV^eil)  wird  die  Echt- 
heit, abgesehen  von  vereinzelten  Interpola- 
tionen, aufrecht  erhalten.  Als  aufgegeben 
können  gelten  die  Meinungen,  aus  den  zwei 


phanes  auf  Stellen  der  Bakchen  sicher  wäre. 
Siehe  H.  Weil,  fitudes  sur  le  drame  ant.  110. 

')  Die  Aktualität  dieses  Zuges  zeigt  Ar. 
Lys.  387  ff,;  vgl.  Plat.  leg.  VII  815c. 

*)  Was  Agaue  1348  im  Werben  um 
Strafmilderung  vorübergehend  sagt,  darf  nicht 
mit  P.  Deohabme,  H.  Weil  (Etudes  sur  le  dr. 


Iphigenien  des  älteren  und  des  jüngeren  Euri-  ant.  108),   Cl.  Lindskoo  (Studien  zum   ant 

pides   habe   ein   Grammatiker  die   erhaltene  Drama,  Lund  1897)  zum  Ausgangspunkt  für 

zusammengesetzt  (Eichstädt,   Böckh,   Bremi,  1   eine  Umdeutung  des  ganzen  Stückes  genommen 

Zimdorfer)  oder  unsere  Iph.  sei  von  Chairemon.  |   werden,   als   sagte  Eur.  nur   in   diesem  ein- 

*)   Schol.  Ar.  ran.  67.     Anspielung   auf  zigen  Vers  seine   wahre  Meinung.     In    dem 

Bacch.  1.  27.  84  f.  366.  416.  467.  725.  859  mystischen  Galimathias,   den  Eur.  V.  286  ff. 


könnte  Ar.  ran.  631  sein. 

*)  Dieser  Schluß  wäre  nötig,  wenn  die 
in   A.  1    angeführte    Anspielung  bei    Aristo- 


den  Teiresias  über  den  Sinn  der  Dionysos- 
sage vortragen  läßt,  darf  man  gewiß  nicht 
boshafte  Ironie,   sondern  nur  einfachen  Be- 

23* 


356  Griechische  Litteratiirgeschichte.    L  ElaaBische  Periode. 

80  gewöhnlich  sind  (H.  Weil,  Etudes  99  flf.),  verrät  eine  Kritik  des 
Dichters  an  Dionysos  und  seinem  Kult,  dessen  ausgleichende,  eriösende 
Macht  vielmehr  in  den  Chorgesängen  mit  ungewöhnlicher  Wärme  gepriesen 
wird.  Wer  das  Stück  in  unbefangener  Vergleichung  mit  den  übrigen  des 
Euripides  auf  sich  wirken  läßt,  wird  weder  glauben  mögen,  der  Dichter 
gebe  in  ganz  unparteiischer  Darstellung  das  Bild  eines  bühnenwirksamen 
Vorgangs,  1)  noch  auch,  es  habe  sich  in  seinem  Verhältnis  zur  Religion  hier 
nichts  Wesentliches  verändert.*)  Vielmehr  ist  klar,  daß  der  gealterte 
Dichter  hier  mit  jugendlichem  Feuer  das  Evangelium  eines  weltumspannen- 
den, internationalen,  von  den  alten  Olympiern  grundverschiedenen  Gottes 
der  Zukunft  verkündigt,  dessen  Wesen  und  Bedeutung  ihm  vielleicht  erst  im 
Norden,  der  Heimat  der  Dionysosmystik,  ganz  verständlich  geworden  war. 
Von  einem  reumütigen  Zurücksinken  in  die  altepische  Orthodoxie'*)  oder 
einer  Bezeugung  der  Buße  des  Dichters  für  seinen  „Abfall  vom  Genius 
seines  Volkes"^)  sollte  man  nicht  reden,  ebensowenig  aber  bestreiten,  daß 
der  Dichter,  müde  gehetzt  in  Skrupeln  und  Zweifeln,  sich  endlich  dem 
Mystizismus  in  einer  damals  aktuellen  Form  zugewandt  habe.  An  Vor- 
zeichen für  eine  solche  Wendung  fehlt  es  nicht  —  der  Vernunftradikalis- 
mus wird  schon  in  dem  Eteokles  der  Phönissen  und  im  Kyklopen  bloß- 
gestellt,*^) die  mystische  Weltflüchtigkeit  im  Ion  verherrlicht.^)  Daß  aber 
Euripides  mit  diesem  Gegenstand  und  seiner  Behandlung  eine  Saite  berührt 
hatte,  die  in  seiner  eigenen  und  in  hellenistischer  Zeit  mächtig  weiter- 
klang, das  zeigt  die  große  Beliebtheit  des  Stücks^)  und  die  Behandlung 
desselben  StoflFs  durch  lophon,  Kleophon,  Xenokles,  Chairemon,  Hera- 
kleides, Lykophron  und  den  Römer  Accius.  Einen  Teil  des  (übrigens 
durch  Verstümmelung  und  Interpolation  beschädigten)^)  Schlusses  hat 
Goethe  übersetzt.^) 

202.  Das  einzige  uns  erhaltene  Satyrspiel  der  griechischen  Litteratur 
ist  der  Kvxko)ti>^  eine  Dramatisierung  der  Geschichte  von  der  Blendung 
des  Polyphemos  im  neunten  Gesang  der  Odyssee.  Um  eine  sagengeschicht- 
liche Wahrscheinlichkeit  für  den  erforderlichen  Satyrchor  zu  gewinnen, 
fingiert  der  Dichter  ein  Dienstverhältnis  des  alten  Silen  mit  seinen  Satyr- 
jungen, die  auf  einer  Seefahrt  mit  ihrem  Herrn  Dionysos  an  das  sizilische 
Gestade    beim  Ätna    verschlagen  worden    sind,^^)    zu   dem  Kyklopen.     Im 


rieht   über   die   Theologie   der   Sekte  sehen  Theologie,   Nüiuberg  1857,   463  ff.    nach   6. 

(H.  Weil,   Et.  113   f.;   R.  Hirzkl,   Ber.  der  .    Bernhardys  Vorgang. 

Sachs.  Ges.  der  Wiss.  48,  1896,  294).  —  Man  *)  Th.  Gomperz,  Griech.  Denker  II  12. 

vergleiche  dagegen  die  Kritik  gegen  ApoUon  !            *)  Vgl.  auch  fr.  913  N.* 

im  Ion.  —  Ganz  anders  urteilt  F.  Girard.  Rev.  •)  Man  darf  hier  wohl   auch   an  Piaton 

des  öt.  gr.  17  (1904)  175  ff.,  im  Zusammenhang  und  die   im  einzelnen   freilich  andersartigen 

eines  phantastischen  Versuches,  in  Iph.  Aul.,  ;    mystischen  Strömungen   bei  den  Frühperipa- 

Alkmeon    und   Bakch.    eine   „txilogie    libre*  |   tetikem  (Aristoxenos,  Herakleides  Pont.,  Di- 

nachzuweisen.  kaiarchos)  erinnern. 

')  So  H.  V.  Arnim  in  der  Einleitung  zu  ')  Delphische  Inschr.  s.  II.  a.  Chr.  Bull, 

seiner  Übersetzung  der  B.,  Wien  1903.  decorr.hell.  18  (1897)  84  (=  Ch.  Michel,  Reo. 

^)  So.  nach  dem  Vorgang  von  Decharme,  959);  Plut.  Grass.  33.   Die  B.  sind  auch  Scbul- 


Tyrrell,  Weil  (Et.  106),  W.  Nestle.  Philol. 
58  (1899)  362  ff.,  am  radikalsten  Cl.  Lindskog 
a.  a.  0. 

*)  K.  F.  Nägelsbach,    Die  nachhomer. 


lektüre  geworden  nach  Callim.  epigr.  48  Wil. 
®)  A.  BücKH.  Trag.  gr.  princ.  c.  24. 
»)  Ges.  Werke  41, 2  (Weimar  1903)  237  flf. 
***)  Eine  Münze   der  von  Hieron  gegrtin- 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Earipides.    (§§  202—208.)  357 

übrigen  verläuft,  abgesehen  von  einigen  Modifikationen,  die  der  Dichter 
mit  Rücksicht  auf  die  Inszenierung  vornehmen  mußte, ^)  die  Handlung  wie 
bei  Homer.  Nur  läßt  der  Dichter  das  auch  in  der  Helena  und  taurischen 
Iphigeneia  angeschlagene  Motiv  vom  Triumph  griechischen  Witzes  über 
barbarischen  Stumpfsinn^)  deutlicher  vorklingen  und  gibt  dem  Stück 
aktuellen  Iteiz  dadurch,  daß  er  dem  Kyklopen  Züge  des  karikierten  sophi- 
stischen Übermenschentums  beilegt.  Schon  das  weist  das  Satyrspiel  in 
die  spätere  Zeit  des  Dichters,  3)  nicht  vor  420.  Der  Humor,  der  wohl 
überhaupt  nicht  Euripides'  Sache  war,  ist  nicht  gerade  überwältigend,  aber 
doch  sind  die  Menschlichkeiten  des  Silens  und  der  Satyrn  drastisch  charak- 
terisiert, und  das  Stück  hat  sogar  in  der  Vasenmalerei  Spuren  hinterlassen.*) 
Vor  Euripides  hatten  den  Stoff  schon  in  Komödien  Epicharmos  (KvxXmip) 
und  Kratinos  {'Odvoofjg),  in  einem  Satyrspiel  Aristias  (Kvxko^))  behandelt. 
203.  'Pijaog  ist  nichts  anderes  als  ein  Iliadis  Carmen  (die  Dolonie) 
diductum  in  actus,  nachgebildet  von  dem  römischen  Tragiker  Accius  in  der 
Nyctegersia.  Die  Echtheit  der  Tragödie  war  nach  der  Hypothesis  schon 
im  Altertum  angezweifelt;^)  die  alexandrinischen  Kunstrichter  fanden  in 
ihr  mehr  den  sophokleischen  Charakter.^)  Das  kann  sich  nun  kaum  auf 
etwas  anderes  als  den  Mangel  an  euripideischem  Pathos  beziehen;  denn 
von  der  eigentlichen  Kunst  des  Sophokles  läßt  sich  noch  weniger  etwas 
in  der  Tragödie  finden.  Aber  sie  weicht  so  sehr  von  der  Art  aller  er- 
haltenen Tragödien  des  Euripides  ab,  daß  sie  entweder  aus  einer  ganz 
anderen  Kunstperiode  unseres  Dichters  stammt  oder  ihm  überhaupt  fälsch- 
lich zugeschrieben  wurde.  Für  die  Unechtheit  sprachen  sich  L.  C.  Valckeuaer, 
Diatribe  in  Eurip.  p.  88  ff.,  und  6.  Hermann,  Opusc.  III  262  flf.  aus;  aber 
daß  Chorlieder  von  so  kunstvollem  und  reichem  Versbau,  wiö  die  des 
ßhesos  sind,  in  der  Zeit  der  alexandrinischen  Pleias,  an  die  Hermann 
dachte,  noch  gedichtet  worden  seien,  hat  keine  Wahrscheinlichkeit.  Wenig 
glaubwürdig  ist  auch  die  Ansicht  der  alten  Grammatiker  Krates,  Dionyso- 
doros  und  Parmeniskos,  denen  sich  in  unserer  Zeit  F.  Vater  in  seiner 
Ausgabe  (Berl.  1837)  und  J.  A.  Härtung,  Eurip.  restit.  I  38  angeschlossen 
haben,  daß  der  Rhesos  ein  Jugendstück  des  Euripides  soi.*^)  Gegen  Euri- 
pides   spricht    schon    das   Sympathisieren    mit   der  Orphik.^)     In   der  Tat 

deten  Stadt  Aitne  zeigt  den  Silenkopf  (B.  Head  (1891)  271  ff. 

Hist.  numor.,  Oxf.  1887.  114).  P.Masqüeray,  *)  Arg.  Rbes.  p.  324  Schw.     Dazu    ein 

Rev.  des  et.  anc.  4  (1902)  165  ff.  I    Scholion  zu  V.  41:  ro  /»  ^^*  ovx  eaxiv  Evoi- 

»)  G.  Kaibel,  Herrn.  30  (1895)71ff.;  W.  .-ridor  6  ou/o^. 

ScHMiü.  Philol.  55  (1S96)  57  ff.  «)  So  auch  Wilamowitz,  Eur.  Herakl.  P 

2)  Dasselbe  Motiv  in  dem  hellenistischen  21  f.  41;  s.  dens.,  De  Rhesi  scholüs.  1877,  12. 

Mimus  Oxyrh.  pap.  III  p.  45  ff.    übrigens  ist  |            ')  Astronomische    Irrtümer    des    Stücks 

auch   Polyphemos    beliebte    Mimenfigur   (H.  !    erklärte   daraus   Krates    nach    den   Scholien 

Reich,  Der  Mimus  I  304).  zu  V.  528  (vgl.  zu  V.  5.  541).  —  Wilamowitz, 

*)  Parodien  tragischer  Stellen  sind  Cycl.  De  Rhesi  scholiis.  Anal.  Eur.  147  f.  u.  Euripid. 

218  (Aesch.  Prom.  116:  s. F. Hahne,  Philol. 66,  Herakl.  V  41  läßt  den  Rhesos  im  4.  Jahrb., 

1907,47).  6S7  (Soph.  Aut.  838).  Gegen  Kaibels  in  der  Zeit  des  zweiten  Seebundes  gedichtet 

Ansetzung   vor   der   Alkestis   s.  W.  Schmid  sein.    Die  ganze  Geschichte  der  Rhesosfrage 


a.  a.  0.;  Hahne  a.  a.  0.  46;  0.  Hense,  Die 
Modificirung  der  Maske'  16;  Wilamowitz 
in  seiner  Übersetzung  1906  p.20  (Grtlnde  für 
spätere  Ansetzung  aus  der  Technik). 

*)  F.  Winter,  Jahrb.  des  arch.  Inst.  6 


diskutiert  von  J.  C.  Rolfe  in  Harvard  stud. 
4  (1893) 61  ff. 

8)  Rbes.  943  ff.  966;  vgl.  dagegen  Eur.  Ale. 
967  ff.;  Hipp.  952  ff.;  Cycl.  646  ff. 


358  GriechiBche  LitteraturgeBchichte.    I.  Klassische  Periode. 

hatte  Euripides  nach  den  Didaskalien,  wie  in  der  Hypothesis  des  Stückes 
bezeugt  ist,  einen  Rhesos  geschrieben/)  der  vielleicht  mit  der  Gründung 
von  Amphipolis  am  Strymon  (um  435)  zusammenhing;  aber  in  dem  uns 
erhaltenen  Drama  weisen  die  häufige  Verteilung  eines  Verses  auf  mehrere 
Personen,  der  Gebrauch  des  Dens  ex  machina  am  Schluß  des  Stückes,  die 
Verwendung  von  vier  Schauspielern,  der  gelehrte  Beigeschmack  durch 
eine  Menge  von  Glossen,*)  für  die  der  Geschmack  durch  Antimachos  von 
Kolophon  geweckt  wurde,  entschieden  auf  spätere  Zeit  hin.  Lob  verdient 
in  dem  Stück  der  melodische  Charakter  der  Gesänge,  die  frisch  und  stim- 
mungswarm sind,  auch  leicht  und  gefallig,  wie  kaum  in  einer  anderen 
Tragödie  des  Altertums,  an  das  Ohr  klingen;  gelungen  ist  insbesondere 
das  Morgenlied  527 — 564,  das  freilich  von  dem  neuen  Phaethonfragment 
(Berl.  Klassikert.  V  2,  81)  abhängt.  Der  Dichter  des  Stücks  hat  sich  aber 
auch  bemüht,  den  spröden  epischen  Stoff  dramatisch  zu  beleben  durch 
Motivierung  der  Einzelvorgänge,  insbesondere  Einführung  eines  Schuld- 
motivs, indem  Rhesos  für  seine  vßgig  —  er  hatte  sich  gerühmt,  ohne  Bei- 
hilfe der  Troer  in  einem  Tag  die  Achaier  zu  bezwingen  —  bestraft  wird. 
Nicht  glücklich  ist  er  in  der  Charakterzeichnung  —  sowohl  Rhesos  als 
Hektor^)  sind  barbarische  Renommisten,  Dubletten,  die  eintönig  wirken. 
Die  lyrische  Begabung  ist  die  stärkste  bei  diesem  Dichter.  Sein  Stück 
ist  uns,  als  die  einzige  griechische  Tragödie  aus  vorchristlicher  Zeit,  die 
nicht  einen  der  drei  großen  Tragiker  zum  Verfasser  hat,  von  größtem 
Interesse,  da  sie  uns  für  die  Leistung  der  drei  einen  Maßstab  gibt. 

204.  Verlorene  Stücke.  Außer  den  neunzehn  vollständigen  Dramen 
sind  viele  Fragmente  des  vielgelesenen  und  wegen  seiner  schönen  Sentenzen 
vielzitierten  Dichters  auf  uns  gekommen.  Zahlreich  sind  namentlich  die  Bruch- 
stücke der  beliebten  Tragödien  Antiope,*)  Alkmeon,  Andromeda,*^)  Bellero- 
phontes,^)  Stheneboia,  Erechtheus,  Kresphontes,  Melaqippe  (fj  oofpij  und  ?/  Öeo- 
fioni^),  Oidipus,'')  Palamedes,  Philoktetes,  Protesilaos,®)  Telephos.   Für  den 


*)  Wenn  nicht  von  zwei  Tragödien  1  ')  Interessant  ist  die  in  dem  Stück  zu- 
Rhesos,  so  doch  von  zwei  oder  vielmehr  drei  |  tage  tretende  philhellenische  Homerinter- 
Prologen  eines  Rhesos,  dem  erhaltenen  in  ;  pretation,  zu  der  auch  die  Degradierung  von 
Anapästen  und  zweien  in  iambischen  Tri-  ,'  Hektors  Charakter  (die  in  den  Schol.  Townl. 
metem,  haben  wir  durch  das  Argumentum  |  zur  11.  systematisch  betrieben  wird:  W. 
Kenntnis.  Ahnlich  haben  wir  in  der  Iphig.  Dittenberoer,  Herrn.  40,  1905,461, 1)  gehört. 
Aul.  Spuren  von  zwei  Prologen,  einem  ana-  '  *)  Aus  dem  Schluß  größere  Fragmente 
pästischen  und  einem  iambischen;  ebenso  I  gefunden  in  Flinders  Petrie  papyri,  heraus- 
gab es  zwei  Ausgänge  derselben  Iphigeneia  gegeben  von  J.  P.  Mahaffy  in  Cunningham 
und  des  Archelaos;  s.  F.  G.  Welcker,  Gr.  Memoirs  nr.  8,  Dublin  1891. 
Trag.  700  f.  ^)  Von  der  großartigen  Wirkung,  welche 

*)  über  die  Sprache  L.  Eysert,  Rh.  im  die  Andromeda  noch  zu  Neros  Zeit  übte,  er- 

Lichte  des  euripidelschen  Sprachgebrauches,  \   zählt    uns    Eunapios   p.  54  D.  und    Lukian, 

Progr.  Leipa  I  1891.  II  1893.  —  Sehr  merk-  Quomodo  bist,  conscr.  2;  vgl.  Aristoph.  ran. 

würdig  sind  auch  die  von  Wilamowitz  a.  a.  0.  53.    Die  Rekonstniktion  versucht  E.  Müller, 

behandelten  Scholien:  ihren  ältesten  Bestand  Philol.  66  (1907)  48  ff. 

bildet  ein  Kommentar,   der  den  Zweck  ver-  ,           ®)  Bellerophon   aufgeführt   vor  42'),    da 

folgte,    durch    fortlaufende    ästhetische    Be-  i   auf  ihn   angespielt  ist  in  Aristoph.  Acharn. 

anstandungen   zu   beweisen,   daß   das  Stück  !   426  ff. 

nicht  von  Euripides  sein  könne;  gegen  diesen  ')  Rekonstruktion  versucht  N.  Wecklein, 

Kommentar   ist   aber   dann  ein  zweiter,   der  Münch.  Ak.  Sitz.ber.  1901,  661  ff. 

die  Echtheit  zu  erweisen  sucht,  geschrieben  ^)  M.  Mayer,  Herm.  20  (1885)  101  ff. 
worden,  die  direkte  Quelle  der  Scholien. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides.    (§§  204—205.)  359 

Erfolg  des  Archelaos  spricht  seine  inschrifÜich  (Philol.  60,  1901,  441)  be- 
zeugte Wiederaufführung  in  hellenistischer  Zeit  bei  den  Naia  in  Dodona. 
Über  die  gefälschte  Danaä  s.  o.  S.  335,  9.  Die  umfangreichsten  Reste  haben 
wir  auf  den  zwei  Schlußblättem  des  Codex  Claromontanus  der  Paulusbriefe 
vom  Phaethon;!)  sie  haben  Goethe  zur  Wiederherstellung  der  Umrisse  der 
ganzen  Fabel  gereizt.*)  Von  der  Hypsipyle  hat  B.  Grenfell  1907  be- 
deutende Reste  auf  einem  Papyrus  entdeckt.  Das  beliebteste  Stück  war 
im  Altertum  die  Antiope;^)  sie  schlägt  zum  erstenmal  in  der  Welt- 
litteratur  das  mächtige  Motiv  vom  Gegensatz  zwischen  dem  ßiog  jigaxnxog 
(Zethos)  und  ^eajgrinxog  (Amphion)  an,*)  wenn  auch  formell  nur  beiläufig, 
da  das  ganze  Stück,  eines  der  spätesten  des  Dichters,^)  auf  Verwicklungen 
und  Spannungen  angelegt  war.  Auch  die  MeXavijtnrj  fi  ootpif)  behandelte 
in  mythologischem  Gewand  ganz  moderne  Zeitfragen,  wie  die  Frage  von 
der  Möglichkeit  des  Wunders,  mit  dem  größten  rhetorischen  Raffinement. 
Die  sachliche  Fortsetzung  dazu  bildete  die  MeXavhzjirj  f}  deojuänig^  in  der  An- 
lage der  Antiope  verwandt.  Am  meisten  Spott  der  Komödie  zog  dem 
Euripides  seine  Neigung  zu,  die  Wirkungen  des  Unglücks  an  seinen  Helden 
in  Wesen  und  Aufzug  möglichst  realistisch  vor  Augen  zu  stellen,  in  welcher 
Beziehung  er  im  Telephos  das  Höchste  geleistet  zu  haben  scheint.  Be- 
merkenswert ist  die  Vorliebe,  mit  der  er,  auch  in  den  verlorenen  Tragödien, 
erotische  Probleme  behandelt,  und  zwar  meist  so,  daß  das  Weib  Trägerin 
der  verderblichen  Leidenschaft  ist  (Medeia,  Hippolytos,  Protesilaos,  Stheneboia, 
Peleus,  Phoinix);  im  Aiolos  wagt  er  sogar  ein  blutschänderisches  Verhältnis 
auf  die  Bühne  zu  bringen.     Die  Komödie  schilt  über  Pornographie.') 

205.   Kunstcharakter  des  Euripides.     In    Benützung  der  StoflF- 
quellen  ist  mehrfach  eine  Bevorzugung  des  Stesichoros  bemerkbar.^)    Was 

0   F.  Blass,    De   Fhaeth.  Eur.  fragm.  :  viel  Zawachs   durch  Papyrusfunde  wie  Eur. 

Claromontanis,  Kiel  1885.  Restitutionsversuche  j  (F.  G.  Kenyon,  The  Palaeogr.  of  Greek  papyri 

von   WiLAMOwiTZ,   Herrn.  18  (1883)  396  ff.  '  137;  Arch.f.Papyrusf.  1,510;  2,  354;  3,276  f. 

Neues  Fragment  Berl.  Klassikert.  V  2,  79  ff.  i  485;   Berl.  Klassikertexte   V  2,  1907,  72  ff. 

*)  Goethe.  Werke  41,  2,  32  ff.   (Wei-  bieten  Stücke  aus  Kgfjteg,  (pa^&wv  u.a.). 
mar  1903).  —  Die  zerstreuten  Fragmente  zu  »)  Rekonstruktionsversuche  von  H.Wbil, 

sammeln  und  zur  Rekonstruktion  der  Dramen  I  ]6t.  sur  le  drame  ant.  243  ff.;   A.  Tacconb, 

zu    verwerten,    bildete   überhaupt    eine    die  :  Riv.  di  filol.  33  (1905)  32  ff. 

Gelehrtenwelt   viel  beschäftigende  Aufgabe,  i           *)  Vgl.  Ps.Plat.  Anterast.  132b  ff.;  durch 

Hauptleistungen  von  L.  C.  Valckenaer,  Dia-  i  die   Lebensanschauung   des   Aristoteles   und 

tribe  in  Euripidis  perditorum  dramatum  rell.  der  anderen  Nachsokratiker  ist  dieses  Thema 

LB.  1767;  J.A.  Härtung,  Emipidesrestitutus,  |  in  den   Mittelpunkt  des  Interesses  gerückt 

Hamb.   1843.  44;    F.   G.  Welcker,   Griech.  worden  und  hat  besonders  im  18.  Jahrh.  durch 

Trag.,  2.  Bd.;  N.  Wecklein,  über  drei  verlo-  die  Behandlung  in  Goethes  Tasso  und  F.  M. 

rene  Tragödien  des  Euripides  (Antiope,  Anti-  i  Klingers   „Weltmann   und    Dichter"    (Sämtl. 

gone,    Telephos),    Bayr.  Ak.    Sitz.ber.    1878  '  Werke  9  Stuttg.  1862)   neuen  Anklang  ge- 

11  170  ff.;  über  den  Kresphontes  des  Eur.  in  '  gefunden. 

Festschrift  für  Urlichs,  Würzb.  1880;  Über  '           »)  Schol.  Ar.  ran.  53 ;  Verwandtschaft  mit 

fragmentarisch  erhaltene  Tragödien  des  Eur.  dem  Ion  bemerkt  Weil  1. 1.  236  ff. 

(Andromeda,    Bellerophon   etc.),    Bayr.   Ak.  |           *)  Abgefaßt  vor  411:  Ar.  Lys.  1124  ff. 

Sitz.ber.  1888  I  87  ff.  Neue  Bruchstücke  aus  Fragmentzuwachs  aus  Job.  Diac.  ad  Hermog. 

den  Temeniden  (nach  Wecklein  aus  Diktys)  |  gibt  H.  Rabe,  Rh.  Mus.  63  (1908)  145  f.    Zur 

aus  Pariser  Papyri   publiziert  von  H.  Weil,  i  Rekonstruktion  des  Inhalts  der  beiden  Mela- 

ün  papyrus  in^dit  de  la  bibliothöque  de  M.  nippen  R.  Wünsch.  Rh.  Mus.  49  (1894)  91  ff. 

A.  Firmin  Didot.  Par.  1879 ;  F.  Blass,  Rh.  M.  i           ')  Ar.  ran.  1043 ;  vgl.  ran.  850 ;  nub.  1371  f. 

35(1880)  74  ff  ;  N.  Weoklein,  Philol.  39  (1880)  i           »)  Über  die  beiden  Iphigenien,  Hei.,  Or., 

406  ff.   —  Kein   anderer  Tragiker  erhält  so  i  EL,  Troad.  M.  Maybb  (s.  o.  S.  354,  1). 


360  Orieohische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

die  Form  angeht,  so  fand  Euripides  bei  seinem  Auftreten  die  Tragödie 
bereits  vollständig  ausgebildet  vor.  Formell  verdankt  sie  daher  seinem 
Eingreifen  keine  wesentlichen  Fortschritte.  Was  hier  von  ihm  neu  ein- 
geführt und  weiter  entwickelt  wurde,  der  Prolog  und  der  Deus  ex 
machina,  war  nicht  wesentlich  und  sicher  kein  Fortschritt.  Der  Prolog 
stellt  den  Zusammenhang  mit  der  Vergangenheit  her,  der  Deus  ex  machina 
eröffnet,  abgesehen  von  seiner  Verwertung  zur  Beseitigung  unlösbarer  oder 
schwer  lösbarer  Konflikte,  einen  Ausblick  in  die  Zukunft.  Beide  sind 
also  bequeme  Mittel,  das  Drama  im  engeren  Sinn  stofflich  zu  entlasten, 
bezw.  ihm  durch  epische  Zusätze  in  leichtester  szenischer  Einkleidung  zeit- 
lich und  ätiologisch  eine  weitere  Perspektive  zu  geben.  Das  Bedürfnis 
nach  solchen  Mitteln  mußte  sich  einstellen,  sobald  die  Sitte,  eine  Hand- 
lung über  eine  Trilogie  hin  zu  verbreiten,  aufgegeben  und  der  Dichter 
genötigt  war,  den  ganzen  Zusammenhang  in  einem  Drama  darzulegen; 
es  mußte  aber  besonders  von  einem  Dichter  empfunden  werden,  der  sich 
wie  Euripides  kühne  Änderungen  der  überlieferten  Sagenform  erlaubte.') 
In  fast  allen  Stücken  orientiert^)  Euripides  im  Eingang  durch  den  von 
einer  handelnden  Person  oder  einem  Gott  gesprochenen  Prolog  über  den 
Mythus  und  die  auftretenden  Personen,  wobei  sich  in  den  Stücken  vor 
dem  Jahr  415  regelmäßig  der  Sprecher  des  Prologs  sogleich  mit  dem 
ersten  Vers  vorstellt.  Daß  diese  Vorrede,  die  öfters  auch  schon  den  ganzen 
Gang  der  Tragödie  vorausverkündet,  die  Spannung  der  Zuhörer  schwächte, 
war  dem  athenischen  Publikum,  das  die  Mythen  ja  im  wesentlichen  immer 
schon  vorher  kannte,  gewiß  Nebensache,  aber  die  undramatische  Breite 
und  Geschwätzigkeit  der  Prologe  wurde'  lästig  empfunden.  3)  —  Ein  Gegen- 
stück zum  Prolog  bildete  der  Deus  ex  machina,  mit  dem  Euripides  die 
Mehrzahl  seiner  Stücke  schließen  läßt,*)  den  er  aber  auch  nicht  selten 
mitten  im  Stück  zur  Anwendung  bringt.  Götter  hatte  schon  Aischylos 
mittels  der  Maschine  erscheinen  und  Verfügungen  für  die  Zukunft  treffen 
lassen,  aber  Euripides  benützte  dieses  Mittel  in  allzu  bequemer  und  ein- 
förmiger Weise.  Manchmal  wird  so  ein  Kultusbrauch,  wie  in  Iph.  Taur. 
1450  ff.,  Med.  1381  ff.,  Rhes.  962  ff.,  oder  eine  politische  Einrichtung,  wie 
in  Ion  1571  ff.  und  Andrem.  1244,  vorausverkündet  und  gewissermaßen 
sanktionieii;.    In  solchen  Fällen  wird  der  Deus  ex  machina  seine  Wirkung 

*)   Über  Motiv versetzuDgen   bei   Eur.  s.  \  interpolatione,  Bonn  1880;  H.  v.  Arnim,  De 

Weil  1.  1.  125  fF.  |  prologorum  Euripideor.  aite  et  interpolatione, 

•')  Dies  ist  nach  Aristot.  rhet.  1415  a  18  i  Greifsw.  1882. 

der  Zweck  des  Prologs.  I  *)    Wilamowitz,    Anal.  Eur.  180.     Die 

')  Ar.  ran.  946  und  1198  flf.;    vielleicht  stniktive  Bedeutung   des  i^foc  d.  fi.  erörtert 

geht  auch  Ar.  Ach.  442  flf.  auf  die  umstand-  ,  H.  Weil,    Etudes    131.     Als  Verlegenheits- 

lichen  Prologe.    Vgl.  Vit  Eur.  p.  4.  7  Schw.  :  auskunft  der  Tragiker   bezeichnet  ihn  Plat. 

xai  n'   ToTi:  .7oo/.o;'0(s   ^f"  o/Xijgos.    Anon.  in  L.  Crat.  425 d:    L-retdav   xi  djionatair,  fjzI  tuc;  [at}- 

Spenokls  Rhet.  Gr.  I4B6,  19.  Auf  den  großen  ]  /«ras  xaraffsryovni  i}Foh  nwovTFc.    Über  die 

Abstand   von  der  homerischen  Technik,   der  ,  Einrichtung   der   Schwebemaschine    für   den 


sich  im  euripidoYschen  Prolog  zeige,  macht 
Schol.  Townl.  Hom.  O  64.  wo  auch  die  Breite 
der  Prologe  gerügt  wird,  aufmerksam.  Übri- 
gens   haben    namentlich    die   Prologe    viele 


Deus  ex  machina  s.  Reisch  in  Dörpfeld- 
Reisch.  Das  griech.  Theater  230  flf. ;  über  die 
Einführung  derselben  in  den  zwanziger  Jahren 
des  5.  Jahrh.  W.  Christ,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil. 


InteiT)olationen  erfahren,  worüber  J.  Klinken-   ;    149  (1894)  157  ff.;  E.  Bethe,  Proleg.  z.  Gesch. 
BERG,   De  Euripideorum   prologorum   arte  et  1   d.  Theat.  130  ff. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides.    (§  205.)  361 

geübt  haben  und  namentlich  bei  seinem  ersten  Gebrauch  der  gespannten 
Aufmerksamkeit  sicher  gewesen  sein;  aber  meistens  verhüllt  er  nur  schlecht 
die  Eilfertigkeit  des  Dichters  und  die  Mängel  der  Anlage,  weshalb  mit 
gutem  Takt  Seneca  die  Qöttermaschinerie  in  der  Nachahmung  der  Medeia 
und  des  Hippolytos  wieder  weggelassen  hat,  und  gerade  in  Anbetracht 
von  Euripides'  veristischer,  das  Wunder  eigentlich  ausschließender  Gesamt- 
haltung wirkt  dieses  Kunstmittel  besonders  stilfremd  und  erkältend. 

Wesentlicher  und  bedeutsamer  ist,  was  Euripides  in  der  tragischen 
Kunst  innerhalb  ihrer  alten  Formen  geneuert  und  teils  gebessert,  teils  ver- 
schlechtert hat.  Beginnen  wir  mit  dem  Stoff,  so  war  es,  zumal  seitdem  man 
der  Tragödie  anstatt  des  religiösen  mehr  nur  ästhetisches  Interesse  ent- 
gegenbrachte, natürlich,  daß  die  nun  in  Epos,  Dithyrambus  und  Drama 
so  oft  vorgeführten  Heroen  und  Sagen  sich  nach  und  nach  abnützten. 
Euripides  trug  dem  Rechnung,  und  da  er  den  von  Phrynichos  und  Aischylos 
unter  ganz  besonderen  Umständen  betretenen  Weg  des  historischen  Dramas 
nicht  weitergehen  wollte,  völlig  freie  Erfindung  der  Fabel  aber  zu  seiner 
Zeit  jedenfalls  durch  den  gottesdienstlichen  Charakter  des  Tragödienagons 
ausgeschlossen  war,  so  suchte  er  mit  erfinderischem  Sinn  teils  neue  und 
entlegene  Lokalsagen  auf,0  teils  gestaltete  er,  namentlich  in  seinem 
späteren  Leben,  alte  Mythen  um,  teils  endlich  flocht  er,  in  dieser  Be- 
ziehung nahe  an  die  neue  Komödie  streifend,  aus  kleinen  Anhaltspunkten 
ganz  neue  romanhafte  Erzählungen  zusammen.  Man  muß  anerkennen, 
daß  er  auf  diese  Weise  neue  tragische  Figuren,  wie  die  Medeia  und 
Iphigeneia,  für  die  Ewigkeit  geschaffen  und  einer  neuen  Gattung  des 
Dramas  mit  frei  erfundenem  Gegenstand  durch  seine  Helena  und  Andro- 
meda  die  Wege  gebahnt  hat.  —  Aber  der  Stoff  an  und  für  sich  be- 
deutet noch  wenig;  er  erhält  erst  Bedeutung  durch  den  dramatischen 
Funken,  der  ihm  entlockt  wird.  Die  Kraft  des  Idealismus,  mit  der  Sophokles 
für  seine  übermenschlichen  Gestalten  Überzeugung  zu  wecken  verstanden 
hatte,  fehlt  dem  Euripides;  er  sucht  Überzeugungskraft  für  seine  Helden 
durch  treue  Nachbildung  der  empirischen  Menschentypen,  die  er  weniger 
durch  Großsinnigkeit  als  durch  Leidenschaften 2)  über  das  Gewöhnliche 
hinauf  steigert.  Auf  die  Leidenschaften  {miäi])  allerdings,  die  auch  die  Zu- 
schauer mit  fortreißen,  verstand  sich  Euripides  wie  kein  zweiter.  Ps.- 
Longin  rühmt  ihm  nach,  daß  er  die  Liebe  und  Raserei  auf  die  Bühne  ge- 
bracht habe.^)   Als  Kenner  der  menschlichen  Natur  läßt  er  die  dämonische 


^)  Das  ist  wohl  der  Nebengedanke  von  1  die   zur  //^yaAoi/T/m    den   Gegensatz   bildet 

Aristoph.  Ach.398:  6  vors  fiev  (sc.  EvQUTtdov)  (Aristot.  eth.  Nie.  1123b  4  ff.):   Suppl.  555  ff. 

€^(0  ^vlleyiov  LivXXia.    Vgl.  F.  NoAOK,  Iliu-  |  723  ff.;  Med.  122 ff.  635  ff.;  Ion.  119;  Iph.  A. 

persis,  Gießen  1890.  i  543  ff.  920  ff.;  ebenso  jeder /i^oor^/c,  auch  in 


*)  r/xiora  fisYaXofpvrjg  nennt  ihn  Auct 
Jt.  t?»/'.  15,  3;  r//s  orrOfOfo)^  Jioitjrijg  ftäXXov  ij 
Tov  vov  id.  40,  2.  Vorzüglich  ist  die  Be- 
merkung des  Schol.  Soph.  OR.  264  ai  xoiavTai 
ewoiai  ovx  f/orra«  fiev  xov  öEftvou,  xivtjTtxai 
de  elot  lov  t^edroov'  ah  xai  Jilem'd^ei  EvQi- 
Tfidtfs,  6  de  ^oqoxkfj';  :to6g  ßwi^v  fiovor  avxmv 
cbitfiai  jTQog  ro  xivi)oai  ro  deaxQov.  Um  80 
mehr  ist  Eur.  ein  Lobredner  der  owffQoodvri, 


der  Politik  (Phoen.  499  ff.;  Suppl.  244 ff.).  Im 
Menschen  schätzt  er  nicht  das  rassenhaft 
Instinktive,  sondern  was  ihn  vom  Tier  unter- 
scheidet, Vernunft  und  Kultur  (Suppl.  195  ff. ; 
fr.  910  N.«;  vgl.  Iph.  A.  558  ff.  1085  ff.). 

')  Ps.Longin  de  suhl.  15,  3:  eon  fikv  orv 
(fikojiovdiiaxog  6  Evouiiötjg  ovo  xaini  Jia&rj, 
fiavia»;  xe  xal  eofoxag,  Fxxoayioöijaai  xdr  xov- 
xots  wg  wx  otÖ*  et  xig  excQog  estixvxeoxaxog. 


362  Griechische  LitieratorgeBchichie.    L  Elascdsohe  Periode. 

Gewalt  dieser  Leidenschaften  zumeist  in  Frauen,  am  stärksten  in  der 
Medeia  und  Hekabe,  zur  Erscheinung  kommen.  Aber  auch  die  zarten 
Saiten  des  Herzens  weiß  er  anzuschlagen,  und  Rührung  überkommt  den 
Leser  in  mehr  als  einem  Stück.  Diese  Wirkung  zu  erreichen  dienen 
dem  Dichter  hauptsächlich  die  geschickt  angelegten  Wiedererkennungs- 
Szenen,  die  dann  ein  bis  zur  Ermüdung  gebrauchtes  Liventarstück  der 
neuattischen  Komödie  geworden  sind.^  In  ergreifender  Weise  hat  er 
diese  in  mehreren  Stücken  mit  dem  Höhepunkt  der  Peripetie  in  Verbin- 
dung gebracht.  Außer  dem  Ion,  der  Elektra  und  der  Iphigenia  Taur.  war 
in  dieser  Beziehung  besonders  berühmt  der  Eresphontes,  wo  Merope  in 
falschem  Wahn  bereits  das  Beil  über  dem  schlafend  daliegenden  Jüngling 
schwang,  als  der  Alte  in  ihm  den  Sohn  der  Merope  erkannte  und  die 
Mutter  von  der  unseligen  Tat  zurückhielt.  Durch  solche  Vorzüge  ist 
Euripides  der  tragischste  {rQaytxihxarog)  Dichter*)  und  der  Meister  der 
verschlungenen  Tragödie  (rgay.  Tienley/nevt])  geworden.  Daneben  war  es 
die  Kunst  anschaulicher  Schilderung  in  den  Botenerzählungen*)  und  Chor- 
gesängen, auf  die  sich  Euripides  vortrefflich  verstand  und  in  der  er  mit  den 
großen  Künstlern  seines  Jahrhunderts,  Polygnotos  und  Pheidias,  glücklich 
wetteiferte.  Schilderungen  wie  die  von  dem  entsetzlichen  Tod  des  ge- 
schleiften Hippolytos  werden  nie  ihre  ergreifende  Wirkung  verfehlen;  aber 
auch  anmutige  Beschreibungen,  wie  von  den  Metopen  des  ApoUontempels 
in  Delphoi  (Ion  184  flf.)  werden  dem  kunstsinnigen  Athener  angenehme 
Erinnerungen  an  das,  was  er  in  Delphoi  und  in  seiner  eigenen  Stadt  sah, 
hervorgerufen  haben.*)  —  Den  Vorzügen  stehen  indessen  auch  Schatten- 
seiten gegenüber.  Euripides  ist,  wie  oben  (S.  328)  ausgeführt,  durch 
seinen  Verismus**)  in  einen  unlösbaren  Widerspruch  mit  seinen  mytho- 
logischen Stoffen  geraten.  Die  Konservativen  in  Geschmack  und  Glauben, 
wie  Aristophanes,  waren  entrüstet  über  den  Telephos  in  Lumpen  und 
über  den  Dichter  von  Prozeßreden,®)  und  auch  wir  empfinden  die  Stil- 
widrigkeit in  dem  Bauernweib  Elektra  und  dem  Banditen  Orestes. 
Der  Versuch,  die  Masse  der  sophistischen  Problemstellungen  und  Tages- 
fragen,   zumal  im   Gewand   der  modernen  Terminologie  und  Rhetorik,   in 


')  Vit.  Eurip.  p.  1,  9  ScHW.  nennt  die  dva- 
yrwgiofioi  unter  den  Erfindungen  des  Eur., 
und  eine  Wirkung  euripideischer  Technik  ist 
die  große  Rolle,  die  in  der  aristotelischen 
Poetik  die  avnyrdtQioiQ  als  sanktioniertes 
Mittel  der  tragischen  Kunst  spielt. 

«)  Arist.  poöt.  1453  a  28;  vgl.  Quintilian. 
X  1,  67:  Euripides  in  iis  quae  in  miseratione 
confttant  facile  praecipuus.   Ähnlich  urteilt  G. 


Eur.    als  Erfinder  der  Erzählungen  uov  vtiq 
rijv  oxfjrtjr. 

*)  In  solchen  Beschreibungen  von  Kunst- 
werken, die  bei  Sophokles  ganz  fehlen  und 
bei  Aischylos  nur  spärlich  vorkommen,  ge- 
fiel er  sich  besonders  zur  Zeit,  als  er  den 
Ion(V.  190— 218;  268—71;  1141-66;  1418 
bis  1424).  die  Elektra  (V. 455-^78;  1254-7), 
die  Phönissen  (V.  1107—38)  dichtete. 


Fbbytag, Technik desDramas,Leipz.l863.239:  :           ')  Arist.  po6t.  1460b  34:  ^oqwxAijg  eqtf 

, Keiner  seiner  großen  Vorgänger  versteht  wie  aiVoc  ^th  omr,;  öeT  .louXvy   Evoi^ridtjv  Ö£  oloi 

er  die  epischen  Bilder  mit  flammender,  mark-  eioiv. 

zerfressender  Leidenschaft  zu  füllen;   keiner  ®)  Ari8toph.Ach.432:  Ti))Jqov  Qay.mfiaxa) 

hat    soviel  wahre,    schön    empfundene,    in-  pac.  534  nonjTyr  (jtjfmTio)v   Sixari?<€T)v;    ran. 

dividuelle  Züge  in  sie  hineingetragen,  keiner  \   842   o>  nKoxo.-iott   xai  (Htxtoavooanrä^t].   943 

so  reiches  Detail,  in  welchem  die  Zuschauer  p'?.or  /iidm>^  arw/ndfuhMvcbto  ßtßkton'n.-Tr}{ft7jv. 

das  gebildete  Empfinden   ihrer  Tage  wieder-  Vgl.  W.  Ribbeck,  Die  dramatischen  Parodien 

fanden."  i   bei  den  attischen  Komikern,  im  Anhang  seiner 

')  Schol.  Aesch.  Eum.  47  bezeichnet  den  |  Au8gabederAchamer(Leipz.l864)S.277— 316. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides.    (§  205.)  363 

die  Tragödie  zu  ziehen,  war  eine  Geschmacksverirrung,  weil  auf  solche 
Art  in  den  Mjrthus  Ideen  getragen  wurden,  die  nicht  aus  seinem  Geist 
gewachsen  waren  oder  hätten  wachsen  können.  Daß  Euripides  weit  weniger 
als  die  älteren  Tragiker  Anstand  nahm,  von  dem  traditionellen  Kostüm 
der  Heroenzeit  abzuweichen,  daß  er  an  kühnen  Anachronismen  am  reichsten 
ist,  kann  bei  seinem  ganzen  Verhältnis  zur  Sage  nicht  auffallen  und  ist 
auch  von  der  alexandrinischen  Kritik  öfter  bemerkt  (Schol.  Med.  232.  233; 
Hipp.  231.  953;  Hec.  254  u.  s.).  Diese  Umgestaltung  der  Tragödie  hing 
aber  mit  dem  Streben  des  Euripides  zusammen,  sich  nicht  einzig  dem 
Dienst  der  Musen  zu  weihen,  sondern  durch  die  Muse  auch  für  politische 
und  philosophische  Ideen  Propaganda  zu  machen  oder  solche  wenigstens 
als  Zündstoff  unter  die  Menge  zu  werfen  —  in  diesem  Stück  ist  Euripides 
hochmodern.  Vergessen  darf  man  übrigens  nicht,  daß  der  spekulativen 
Richtung  des  Dichters  auch  die  vielen  schönen  Sentenzen  (yvoj/Liai)  ver- 
dankt werden,  die  durch  alle  Jahrhunderte  bis  auf  den  heutigen  Tag 
weiterklingen.  1)  —  Die  hervorgehobenen  Schwächen  hängen  mit  der  ganzen 
Weltanschauung  des  Euripides,  insbesondere  mit  seiner  Stellung  zur  Reli- 
gion^) zusammen.  Was  Klarheit  und  Sorgfalt  der  künstlerischen  Aus- 
arbeitung betrifft,  so  bedeutet  seine  Kunst  gegenüber  den  beiden  älteren 
Tragikern  einen  erheblichen  Rückschritt.  Seine  Charaktere  sind  fast  alle 
in  die  gleiche  pathetisch-sentimentale  Farbe  getaucht  (dies  deutet  Ar.  ran. 
948  flf.  an)  und  nehmen  sich  auch  da,  wo  er  sie  zu  Gegensätzen  gruppiert, 
wie  im  Hippolytos,  den  Bakchen,  wie  Exemplifikationen  zu  Schulbegriffen 
der  Ethik  aus.  Am  eigenartigsten  ist  sein  Ion.  Schon  Aristoteles  tadelt 
seine  Ökonomie  (poöt.  1453  a  28):  es  fehlt  überall  an  Straffheit  und  Sicher- 
heit der  Linienfiihrung,  an  Sichtung  der  Kunstmittel  —  struktiv  über- 
flüssige Szenen  (Makaria  in  den  Herakliden,  Euadne  in  den  Hiketiden) 
werden  angeflickt  um  eines  Rühreffekts  willen,  Chorlieder  ohne  Zusammen- 
hang mit  der  Handlung  eingelegt  (Ar.  poöt.  1456a  27);^)  das  Ganze  wird 
mit  Sentenzen,  mit  Diatriben  über  allerlei  Gemeinplätze  durchwoben,  die 
Handlung  hie  und  da  in  zwei  Teile  zerlegt,  die  nur  durch  einen  Zufall 
äußerlich  zueinander  in  Beziehung  gesetzt  werden.*)  Überall  wirkt  der 
Dichter  nicht  sowohl  durch  die  Linien  als  durch  die  Farben,  durch  das 
Bunte  und  Grelle  im  Vielerlei  der  auftretenden  Personen,  der  ineinander 
verwickelten  Motive,  in  der  Schrillheit  leidenschaftlicher  Äußerung.  So  wird 
erzwar  sehr  bühnenwirksam^)  für  den  Durchschnittsgeschmack  des  Theater- 

»)  Euripides   selbst  rühmt  sich   bei  Ar.  '   Theol.  488^f.;  E.  Rohdb,  Psyche  II>  252,  4; 

ran.  958.  971  ff.   1056  ff.  des  oixfia  jigayfiai*  \   H.Weil,  Et.  96  f,  und  besonders  G.  Fenslbr, 

eiodyFtr.     Aber  Theon   p.  60,  29  Sp.  tadelt.  Die  Orestie  12).    Nicht  vorsichtig  genug  W. 

ort  jtnga  xaioor  ahto  'Kxdßfj  (fi?.ooo(peT;  ahn-  i   Nestle,    Euripides    der  Dichter    der   griech. 

lieh  Schol.  Eur.  Hipp.  953;  Ale.  779.  i   Aufklärung,  Stuttg.1901.  Über  seine  religiöse 

*)    Die    Aufgabe,    aus   den    kreuz    und  Stellung  am   besten   E.  Rohde,   Psyche  II' 

quer  laufenden  Maximen  der  Helden  des  Eur.  247  ff.;  vgl.  auch  Weil,  £t.  93  ff. 

seine   eigene   Meinung,    die   ja   gewiß    auch  *)  A.  Rahm,   Über  den   Zusammenhang 

nicht  überall  ganz  in  sich  gefestigt  und  jeden-  zwischen  Chorliedem  und  Handlung   in   den 

falls   manchem  Wechsel   im   Lauf  der   Zeit  '   erhaltenen  Dramen  des  Soph.  u.  Eur.,  Progr. 

unterworfen  war,  sicher  herauszustellen,  kann  Sondershausen  1907. 

nur  annähernd  gelöst  werden  und  ist  mit  der  *)   F.  Leo,  Plautin.  Forschungen  144  f. 

größten  Vorsicht  anzufassen  (über  die  nötigen  ')  Gute  Bemerkungen  darüber  Schol.  Eur. 

Kautelen  8.  K.  F.  Nägelsbach,  Die  nachhomer.  .   Andr.  1284;  Or.  128;  Schol  Soph.  OR.  264; 


364  GriechiBche  Litieratnrgesohichte.    L  Klassische  Periode. 

Publikums;  aber  er  hat  das  Jagen  nach  starken  Gefühlserschütterungen, 
jene  nervöse  Hast  in  die  Tragödie  gebracht,  die  den  zwei  älteren  Tra- 
gikern in  ihrer  ruhevollen  Sachlichkeit,  inneren  Sammlung  und  Andacht 
fremd  war  und  überall  Zeichen  künstlerischer  Dekadenz  ist. 

206.  Die  sprachliche  Kunst  des  Euripides  zwang  selbst  seinem 
Feind  Aristophanes  Anerkennung  ab.^)  Indem  Euripides  den  Schwulst 
des  Aischylos  wegwarf  und  die  veredelte  Sprache  des  Lebens  redete,') 
schuf  er  eine  mittlere  Diktion,  die  allen  leicht  verständlich  war  und  sich 
doch  über  die  Plattheiten  des  Marktes  erhob. ')  Zur  Geltung  kam  selbst- 
verständlich dieser  Charakter  der  euripideischen  Sprache  zumeist  in  den 
Dialogpartien,  in  den  pointierten  Stichomythien  und  in  den  sorgfältig  nach 
den  Regeln  der  Symmetrie  ausgearbeiteten  Monologen  und  Botenreden 
{^t]oeig)^)  In  ihnen  zeigte  sich  auch  die  rhetorische  Stärke  des  Dichters, 
die  seine  Dramen  zum  Studium  für  angehende  Redner  empfahl.**)  Die 
melischen  Partien,  die  in  ihrer  rhythmischen  Anlage  weit  kurzatmiger 
sind  als  die  der  älteren  Tragiker,  halten  sich  in  der  Diktion  an  die  Über- 
lieferungen der  Chorlyrik,  wobei  oft  ein  ans  Komische  streifender  Wider- 
spruch zwischen  Inhalt  und  Form  zutage  tritt,  wenn  z.  B.  in  der  Helena 
(179  ff.)  und  im  Hippolytos  die  Frauen  des  Chors  in  jenem  prätentiösen 
Stil  ausführen,  daß  sie  —  vom  Wäschetrockenplatz  herkommen.  Die  Chor- 
lieder erscheinen  oft  fast  wie  ein  unbequemes  Vermächtnis  aus  älterer 
Zeit.  Das  Band  zwischen  ihnen  und  der  Handlung  wird  lockerer;  selbst 
in  einer  so  vorzüglichen  Tragödie,  wie  die  Phönissen,  gleichen  die  meisten 
Chorgesänge  der  Zwischenaktmusik  (ijtißoktjLia),^)  die  das  Umkleiden  der 
Schauspieler  verdeckt,  im  übrigen  aber,  unbeschadet  des  Fortgangs  der 
Handlung,  ebensogut  wegbleiben  kann.  In  den  Vordergrund  treten  die 
Monodien  und  Wechselgesänge,  was  in  der  ganzen  Richtung  der  Musik, 
die  sich  von  der  Pflege  des  Chorgesangs  den  Kraftproben  der  Solosänger 
in  den  Arien  (Monodien)  zuwandte,  seinen  Grund  hatte.  Die  Strenge  der 
metrischen  Form  und  die  Gesetzmäßigkeit  des  Rhythmus  löst  sich  bei 
Euripides.  Im  Trimeter  häufen  sich  namentlich  seit  Ol.  90  die  Auflösungen 
der  Längen  und  die  Verteilung  eines  Verses  unter  mehrere  Personen.    In 

Ar.  fr.  130  K.  stellt  die  allerlei  Gewürze  des  *)  H.  Hirzel,  De  Euripidis  in  com- 
Eur.  in  Gegensatz  zu  einem  tüchtigen  Stück    j   ponendis  diverbiis  arte,  Bonn  1862.   Zu  weit 

Fleisch.  geht   in    der   Annahme    des    symmetrischen 

^)  Aristoph.  fr.  471  K.:  /(>ö>/ia<  yao  avior  Baues  J.Öri,  mit  dem  W.  Christ  über  diesen 

Tor  oTÖuaTog  rot  oTooyyvAq),  roi's  vov^  A^  nyo-  Punkt  disputierte    in  Verhandl.  d.  Phil.vers. 

Qaiors  tjTxnv  y  'xm-tK  .toiw.  Vgl.  Schol.  Plat.  in  Wiesbaden  1877,  S.  142  -161;  Th.  Millbr, 

ep.  19c  VI  p.  227  Herm.  :  'Agiaroffdvtjg  exw-  Eur.  rhetoricus,  Gott.  1887. 

fitoönio   F.-Ti  T(n  oxcü.tTeiv  fth  EvQLtibrjv,   //<-  ^)  Quint.  X  1,  68:  illud  quidem  nenw  non 

(leTaOiu  «5'  avrnr.  fateatur   necesse  est  iiSf    qui  se  ad  agendum 

*)  Arist.  rhet.  1404  b  24:  xkejtzezai  d*  ev,  comparont,    utiHorem  longe  fore  Euripidem. 

F.av    xig    Fx    Ttjg    euüOvt'ag    diaXtxTov   FxAeywv  namque  is  et  sermone  .  .  .  magis  accedit  ora- 

ovvTtOfjf    o.Tfo   EvoiTiibrjs    .Toiei    xai    v.isÖfi^f  torio  generi  et  sententiis  densus  etc.  Vgl.  Dio 

nofTnoi;.     Einzelnachweise   über   sein  Herab-  Chrys.  or.  18,  7:   .lobxtxio   ar(\n  ndw  (oq^i- 

steigen  zur  Umgangssprache  C.  Amati,  Studi  kifiog'   fti  öf  tjOtj  xai   .tdOtj  ÖFirfK  jt/.tjowoai 


ital.  9  (1901)  125  ff.  —  0.  Lautensach,  Gram- 
mat.  8tud.  II  161,  6. 

^)  Dion.  Hai.  de  imit.  p.  206  Us.;  Diog. 
Laert.  IV  26;  Alexandres  Aitolos  bei  Gellius 
XV  20.  8. 


xai    yrcoua^;    jroog    (UTaria    onfFAiuor^    xaia- 
fiiyvvoi   mU  jTotfjunotr. 

«)  Tadel  bei  Arist.  poöt.  1456  a  27  und 
Schol.  Eur.  Phoen.  1019.  Besonders  anstößig 
ist  Hei.  1301  ff. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    d)  Enripides.    (§§  206—207.)  365 

den  lyrischen  Partien  überwiegen  in  den  Tragödien  der  letzten  Periode 
bis  zum  Überdruß  die  frei  gebauten  Glykoneen.^  In  den  Melodien  glaubten 
die  Theaterbesucher  die  Weisen  gemeiner  Kneip-  und  Hurenlieder  wieder 
zu  hören. ^)  Übrigens  sollen  die  Kompositionen  zu  Euripides'  melischen 
Partien  nicht  von  ihm  selbst,  sondern  von  Kephisophon  und  Timokrates 
stammen, 3)  und  diese  standen  unter  dem  Einfluß  der  modernen  Konzert- 
musik, die  durch  den  jungattischen  Dithyrambus  in  Aufnahme  gekommen 
war.*)  Im  übrigen  dürfen  wir  bei  der  Beurteilung  des  Euripides  nicht 
vergessen,  daß  wir  durch  das  bloße  Lesen  seiner  Tragödien  nur  eine 
mangelhafte  Vorstellung  von  ihrer  Wirkung  im  Theater  bekommen.  Denn 
Euripides  lebte  und  schrieb  für  die  Bühne:  til  oxrjv^g  evdoxijuti,  okoq  rov 
^edroov  ioriv  urteilten  die  Alten*)  von  ihm,  halb  lobend  und  halb  tadelnd. 
Für  den  Effekt  auf  der  Bühne  waren  die  Botenreden  mit  ihrer  unüber- 
troffenen Anschaulichkeit,  die  Abschieds-  und  Erkennungsszenen,  auch  die 
bei  Euripides  besonders  häufig  verwendeten  Kinderrollen  ß)  mit  ihren  Rüh- 
rungen, das  erschütternde  Pathos  des  rasenden  Herakles  und  des  geblen- 
deten Polymestor,  die  Schlagwörter  und  geistreichen  Sentenzen,  kurz  das 
Schönste  und  Beste  in  der  Kunst  des  Euripides  berechnet.^) 

207.  Das  Leben  der  Gegenwart  und  seine  Fragen  auf  die  tragische 
Bühne  zu  bringen,  dieses  Leben,  wenngleich  in  mythologischer  Vermummung, 
einmal  ernsthaft  zu  nehmen,  während  es  sonst  im  5.  Jahrhundert  nur  in 
der  Karikatur  der  Komödie  dramatisiert  oder  im  Mimos  ideenlos  abphoto- 
graphiert  wurde,  das  war  in  der  Tat  eine  Leistung,  eine  Entdeckung. 
Mit  ihr  bildet  Euripides  eine  vollkommene  Analogie  zu  Sokrates.  Wie 
dieser  die  Philosophie  vom  Himmel  auf  die  Erde  und  in  die  menschlichen 
Wohnungen  herabgeführt  hat,  so  jener  die  Tragödie  aus  dem  Phantasie- 
reich mythologischer  Romantik  in  die  Wirklichkeit.  Aber  der  neue  Wein 
ließ  sich  nicht  auf  die  Dauer  in  die  alten  Schläuche  füllen.  Der  Weg 
war  gebahnt,  den  Mythus  ganz  abzustreifen,  die  bürgerliche  Tragödie  zu 
schaffen.»)     Dazu   ist  es   aber   im  Altertum   nicht  gekommen.     Die  enist- 

*)   Das   ist   das  ÖMfiFxaiÄrjxoLvov  bei  Ari-  |   daDS  la  trag^die  Grecque  ä  Töpoque  d'Euri- 

stoph.  ran.  1327,   wozu  noch  das  Anhalten  j   pide,  Paris  1902.    Die  Partituren  zu  den  Ge- 

einer  Silbe  durch  mehrere  Zeiten,  das  famose  ,   sangspartien  des  Eur.  hatten  sich,   wie  das 

eieieietXiaoETE  (Aristoph.  ran.  1314)  kommt,  das  i   Wiener  Orestesfragment  und  Dionys.  Hai.  (s.  u. 

jetzt  durch  den  delphischen  Hymnus  (0.  Cbu-  S.  367)  zeigen,  bis  in  die  Kaiserzeit  erhalten. 

8iu8,PhUol.52,  1893, 187;  53,  Ergänzungsheft  *)  Schol.  Tro.  1;  Or.  128;  Schol.  Soph. 

93  f.)  illustriert  wird.  Oed.  R.  264. 

*)  Aristoph.  ran.  1301:  ovtog  6*  dsio  :zdv-  *)  K.  Haym,   De  pueror.  in   re  scaenica 

T€ov  fiFv   (f^fuft   jToortduoy,  oy.okUov  Meh'jTov,  Graecor.  partib.,  Diss.  phil.  Halens.  13  (1897) 

Kagixwv  nvlrjfidron'f  öq//vo)v,  xoof.icöv.  Wila-  ;    217  flf. 

MOwiTZ,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1902,  865  ff.  be-  |           ')  Unter  den  Schauspielern  des  Euripides 

zieht  den  Tadel  auf  die  Aufnahme  Ijrrischer  ist  durch  die  Witze  der  Komiker  (Arist.  ran. 

Formen  des  Volksgesangs  jener  Zeit  in  die  303,  Strattis  fr.  1  K.)  Hegel oc hos  berüchtigt 

Tragödie.  geworden,  der  den  Vers  des  Orestes  279  fh 

*)  Vit.  Eur.  p.  2,  2  Schw.:  t«  fiFXtj  avxM  xv/nduor    ydg    avdig    av    yaXtjv*  ogoj    so    aus- 

(paot  Krjqiaoffun'xa   noiFlv   rj   TifwxQaxrjv  'Aq-  sprach,  daß  man  ya)S)v  (Wiesel)  statt  yahjvd 

ypiov,     Dunkel    bleibt    die    Entlehnung    der  (Windstille)    verstand.    Vgl.   E.  Schweizer, 

öid&Eoic:  ufXu,v  der  Medeia  aus  der  grammati-  i   Indog.  Forschungen  10  (1899)  207  f.;  H.  Ehr- 

schen  Tragödie  des  Kallias,  die  Ath.p.453e  |   lich.  Ztschr.  f.  vergl.  Spr.  39(1906)583;  J. 

bezeugt    (A.  Müller,    Griech.  Bühnenaltert.  ;   Vendryes,    Traitö    d'accentuation    Grecque, 

218,  2).  Paris  1904,  48. 

*)  J.  EsTEYE,  Les  innovations  musicales  ^)  Die  Frage  berührt  AristotpoSt.  1451b 


366  Qriechische  Litieraturgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

hafte  griechische  Poesie  stand  so  im  Bann  der  Heroenromantik,  daß  sie 
sich  nicht  entschließen  konnte,  den  reinen  ßioq  völlig  ernsthaft  zu  nehmen. 
Fortsetzerin  des  euripideischen  Trauerspiels  ist  so  die  neuattische  Komödie  0 
geworden,  und  sie  hat  ihr  tragisches  Vorbild  an  Sauberkeit  in  Charakte- 
ristik und  Ökonomie  weit  übertroffen,  infolge  ihrer  spielenden  Behandlung 
der  ethischen  Probleme  aber  lediglich  Unterhaltungslitteratur  geliefert. 

208.  Euripides  hat  es  sehr  schwer  gehabt,  sich  in  Athen  durchzusetzen. 
Nur  vier  erste  Preise  wurden  ihm  bei  Lebzeiten  gewährt.  Aber  die  alt- 
attische Komödie  beschäftigt  sich  so  unausgesetzt  mit  ihm,^)  daß  man 
deutlich  sieht,  er  war  der  Führer  der  stärksten  ethisch-ästhetischen  Unter- 
strömung im  damaligen  Athen.  Aristophanes  war  sich  wohl  selbst  bewußt, 
daß  er  eine  Unwahrheit  sagte,  wenn  er  (ran.  869)  dem  Aischylos  die  Worte 
in  den  Mund  legte,  mit  Euripides  sei  auch  dessen  Poesie  zu  Grabe  getragen 
worden.  Jedenfalls  hat  ihn  die  folgende  Zeit  Lügen  gestraft.  Mit  dem 
Sieg  der  Aufklärung,  die  er  in  weite  Kreise  hinausgetragen  hatte,  ist  er 
trotz  seiner  künstlerischen  Schwächen  der  Liebhng  des  hellenistischen 
Publikums'  geworden  und  geblieben  (s.  o.  S.  326.  335).  Durch  seine  Vor- 
liebe für  erotische  Gegenstände,  für  genrehaftes  Detail  in  der  Charakte- 
ristik, für  ätiologische  Sagenmotive  ist  er  künstlerisch  ein  Vorläufer  des 
alexandrinischen  Geschmacks. 

Codices:  £in  kritisch  gesicherter  Text  war  bei  einem  so  viel  aufgeführten  und  den 
Schauspielerinterpolationen  (über  die  F.  G.  Welokkb,  Gr.  Trag.  906  ff.)  besonders  ausgesetzten 
Dichter  sehr  nötig.  Der  erste,  der  unseres  Wissens  einen  solchen  lieferte,  war  Aristophanes 
(Schol.  Or.  1038),  dann  sein  Schüler  Eallistratos.  Uns  sind  die  Dramen  des  Eur.  in  zwei 
Handschriftenfamilien  überliefert;  die  erste,  neun  Stücke  (Ale.  Andrem.  Hec.  Hipp.  Med. 
Orest.  Rhes.  Troad.  Phoen.  und  wahrscheinlich  noch  Bacch.)  umfassende  liegt  uns  meist 
in  Handschriften  des  12.  Jahrhunderts  vor,  am  besten  Marc.  471,  dann  Vatic.  909,  Paris. 
2712,  ferner  in  Marc.  468,  Paris.  2713  (die  älteste  Handschrift  dieser  Klasse,  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  10.  Jahrhunderts,  aber  ohne  besondere  Vorzüge:  G.  Vitblli,  Stud.  ital.  9, 1901,  298), 
Havn.  417;  die  zweite,  sämtliche  19  Stücke  umfassende  Sammlung  findet  sich  nur  in  jungen 
Handschriften  vom  14.  Jahrhundert  an,  nämlich  in  Laur.  32,  2  und  in  den  aus  Laur.  82,  2 
abgeschriebenen  Codd.  (s.  N.  Wbcklein,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  1899,  II  297  ff.)  Palat.  287  und 
Laurent,  abb.  Flor.  172,  welche  beide,  wie  K.  Robert  entdeckt  hat,  zusammengehören  und 
ursprünglich  eine  Handschrift  bildeten.  Euripidespapyri  sind  jetzt  in  Menge  vorhanden  (s. 
o.  Ö.  359,  2),  die  ältesten  aus  dem  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  (das  Antiopefragment  bei  J.  P.  Ma- 
HAFFY,  The  Flinders  Petrie  Papyri  I,  Dublin  1891;  Hibeh  pap.,  1906,  nr.  7  zeigt,  daß  schon 
Anfang  des  3.  Jahrhunderts  v.  Chr.  Stücke  aus  Euripides  in  Anthologien  aufgenommen  wurden, 
s.  a.  Berl.  Klass.  V  2,  80).  Auch  auf  ägyptischen  Ostraka  hat  man  Stellen  aus  Kur.  gefunden 
(Wochenschr.  f.  klass.  Philol.  6  1889,  701;  H.  R.  Hall,  Class.  rev.  18,  1904,  2  ff).  Aus  dem 
Kommentar  des  Johannes  Diakonos  zu  Hermogenes  hat  H.  Rabe,  Rhein.  Mus.  63  (1908)  144 
bis  148  eine  Hypothesis  zum  Peirithus  und  größere  Stücke  der  Prologe  zu  MF).mi:tnti  oogf) 
und  Stheneboia  gezogen. 

Melodie  zur  Parodos  des  Orestes  gibt  in  Wortumschreibung  Dionys.  Halic.  de  comp. 

15  ff.,    und    einen   vereinzelten   Versuch    in  Verismus   auf  Kosten  der  Sittlichkeit  (80  ff. 

dieser  Richtung  scheint  Agathen  mit  seinem  i   850.  1053.  1079  ff.;  vgl.  nub.  1371  f.),  Herab- 

"ArOo^  gemacht  zu  haben.  '■   steigen  zum  Alltäglichen  (959  ff.),  Schwäch- 

')   Jon.  Schmidt,    Euripides'  Verhältnis  lichkeit  (941  ff.),   Verstandesmäßigkeit  (910. 

zu  Komik    und   Komödie  I,   Progr.   Grimma  917),  Künstlichkeit  im  Gegensatz  zum  Kraft- 


1905,  sucht  zu  viel  komische  Absicht  bei 
Euripides,  wo  oft  nur  unbeabsichtigte  komi- 
sche Wirkung  auf  unser  Empfinden  vor- 
liegt.    Siehe  a.  o.  S.  335,  4. 

«)   Das   größte   Strafgericht   hält  Ar.  in 


voll-Instinktiven  (810.  820.  822).  Huchgelehr- 
samkeit  (1409).  Kleinigkeitskrämerei  (798  ff. 
819  f.  841.  881.  901  ff.  956  ff.),  Geschwätzig- 
keit (91.  911  ff.  948  ff.  1069),'  rhetorisch-dia- 
lektische Spitzfindelei  (775.  1169.  1445),  Ver- 


den Fröschen  über  ihn.  Hier  wird  ihm  vor-  |  fühmng  von  Jammergestalten,  die  vor  ein 
geworfen  Untergrabung  der  Religion  (892  ff.),  '  Publikum  von  Lumpen  gehören  (771  ff.  842  ff. 
der  Männlichkeit  und  fÄsyaXoiftvx^a  (1013  ff.),   .    1063 ff.),  neben  einer  Reihe  technischer  Fehler. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    e)  Die  übrigen  Tragiker.    (§§  208—209.)      367 

verb.  11;  Rest  einer  Melodie  zu  Or.  888  ff.  auf  einem  Wiener  Papyrus:  G.  Wbssblt,  Mitteil,  aus 
der  Samml.  der  Papyrus  Erzherzog  Rainer  5  (1889)  65  ff.,  wozu  0.  CTrüsius,  Philol.  52  (1893)  174  ff. 

Scholien  haben  wir  nur  zu  den  neun  Tragödien  der  ersten  Familie,  die  reichhaltig- 
sten zu  Hec.  Phoen.  Orestes.  Die  exegetische  Arbeit  an  Eur.  beginnt  mit  Aristoteles'  dio- 
QTifAaxa  EvQuiiöov  und  seiner  Po6tik.  Die  erhaltenen  vno^ioBig  (zu  denen  neuerdings  noch 
eine  zu  dem  Satyrspiel  Skiron  gekommen  ist:  s.  o.  S.  884,  8)  gehen  auf  Aristophanes  und 
Dikaiarchos  zurück.  In  den  Scholien  sind  uns  Reste  der  kritischen  Studien  des  Aristarchos, 
Kallistratos,  Erates,  Didymos  erhalten.  Sonstige  Euripideserklärer  sind  Anollodoros  von 
Eyrene  (Schol.  Eur.  Or.  1885)  und  Apollodoros  von  Tarsos  (Schol.  Ar.  ran.  320;  Schol.  Eur. 
Med.  148.  169;  Hesych.  s.  Aiayogag),  Timachidas  (zur  Medeia:  Arg.  Med.  p.  138,  14  Sohw.; 
Schol.  Med.  1.  167),  aus  dem  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  Pius,  Eirenaios  und  Alexandres  von 
Eotyaeion.  Über  die  letzte  Quelle  der  Scholien  unterrichtet  die  Subscriptio  zu  Orestes:  Tta^a- 
ysygcuiTat  sx  xov  /itovvotov  (Vermutungen  über  diesen  Dionysios  Wilamowitz,  Eurip.  Herakl. 
P  199  f.)  vjiofivrjfiaiog  oXoaxfQwg  xal  tcov  fuxzöjv,  und  zu  Med.:  Jtgog  Ötdqpoga  arriygafpa  Aio- 
woiov  Skoax^gh  xai  ztva  uov  Jidt'/^o?»;  s.  Th.  Barthold,  De  scholiorum  in  Eur.  veterum 
fontibus,  Bonn  1864.  Im  Mittelalter  kamen  zu  den  drei  gelesensten  Stücken  Hec.  Or. 
Phoen.  die  breitgetretenen  Scholien  des  Thomas  Magister,  Moschopulos  und  Triklinios  hinzu. 
Die  alten  Scholien  des  Vat  B  sind  herausgegeben  von  C.  G.  Cobbt  hinter  den  Phoenissen 
von  J.  Gbel  LB.  1846.  Gesamtausgabe  der  Scholien  von  Gu.  Dindobp,  Ox.  1863,  4  Bde, 
neue  sorgfältige  Ausg.  von  E.  Scuwabtz,  2  Bde,  Berol.  1887.  1891.  W.  Elsperqer,  Reste 
und  Spuren  antiker  Kritik  gegen  Eurip.,  Philol.  Suppl.  11  (1908)  1. 

Ausgaben  wurden  erst  nach  und  nach  vervollständigt:  zuerst  bloß  vier  Stücke  (Med. 
Hipp.  Ale.  Andr.,  unter  Benützung  des  Marcian.  471)  in  ed.  princ.  Flor.  1496,  besorgt  von 
J.  Laskaris;  alle  Stücke  außer  El.  in  der  Aldina  1503,  besorgt  von  dem  Kreter  M.  Musubos; 
die  Elektra  kam  zuletzt  hinzu  durch  P.  Yictoriüs  1545.  —  Gesamtausgabe  mit  Scholien 
und  Kommentar  von  J.  Barnes,  Cant.  1694;  von  S.  Musoravb,  Ox.  1778.  —  Epochemachend 
L.  C.  Valckbnaebs  Ausgabe  der  Phoenissae  Franeker  1755,  Hippohrtus  Lugd.  Bat  1768,  Dia- 
tribe  in  Eur.  perd.  dram.  rell.  ebenda  1767.  —  Einschneidende  ^tik  geübt  von  den  Eng- 
ländern J.  Mabkland  (Suppl.,  Iph.  Aul.,  Iph.Taur.,  Lond.  1763),  R.  Porson  (Hec,  Orest.,  Phoen., 
Med.  Lond.  1797  ff.),  P.  Elmslby  (Med.  Oxf.  1818,  ed.  II  Lips.  1822),  J.  H.  Monk  (Hipp. 
Cantabr.  1811,  Ale.  1816  mit  reichen  Noten),  Ch.  Badham  (Iph.  Taur.,  Hei.  Lond.  1851).  — 
Gesamtausgabe  von  A.  H.  Matthiä,  Lips.  1818—1837,  10  vol.;  fhichtbarer  die  Separat- 
ausgaben der  meisten  Stücke  von  G.  Hebmann,  Berl.  1881 — 41;  für  Kritik  bahnbrechend 
durch  den  ersten  kritischen  Gesamtapparat  die  große  Ausgabe  von  A.  Kirchhoff,  Berol.  1855, 
2  Bde,  dazu  ed.  minor  1867  68;  Hauptausgabe  von  R.  Pbinz  (Med.,  Ale.  Hec),  abgeschlossen 
von  N.  Wbcklein  1902,  3  Bde.,  Leipz.  1878—1902;  von  G.  Mübbay  I  Oxford  1902,  II  1905. 

—  Textausgabe  von  A.  Nauck  in  Bibl.  Teubn.  (3.  Aufl.  1892—95);  Ausgabe  mit  lateinischen 
Noten  in  Bibl.  Goth.  (11  Stücke)  von  A.  J.  E.  Pfluok  und  R.  Klotz  1829—67,  neubesorgt 
von  N.  Wecklein  1877.  —  Spezialausgabeu  mit  erklärenden  Anm.  von  N.  Wbcklein,  Leipz. 
(Bacch.,  Hipp.,  Iph.  Taur.,  Med.),  von  H.  Weil,  Paris  {Hipp.,  Hec,  Iph.  Taur.  et  Aul.,  Med., 
Ale );  Phoen.  von  J.  Gbel  LB.  1846,  von  G.  Kinkel,  Berl.  1871;  die  Berliner  Ausgabe  der 
ausgewählten  Tragödien  von  G.  F.  Schöne  u.  H.  Köchly  (von  Schöne  Bacch.,  2.  Aufl.  1858,  von 
Köchly  Iph.  Taur.,  3.  Aufl.  1872)  ist  fortgesetzt  von  Th.  Barthold  (Hipp.  1880),  H.  v.  Arnim 
(Medea  2.  A.  1886)  und  E.  Brühn  (Bacch.,  3.  A.  1891,  Iph.  T.,  4.  A.  1894) ;  Ion  von  Ch.  Badham, 
2.  Aufl.  London  1867,  von  H.  van  Herwerden,  Utr.  1875;  Iphig.  Aul.  von  G.  Vitelli,  Flor. 
1879,  E.  B.  England,  Lond.  1891;  Herakles  von  Wilamowitz,  2  Bde,  Beri.  1889,  2.  Ausg. 
1895,  Hauptwerk  mit  umfassender,  die  ganze  Litteraturgeschichte  berülirender  Einleitung; 
von  demselben  Hippolytos  griech.-deutsch,  Berl.  1891,  auch  Obersetzungen  ohne  griech.  Text 
(in  der  Sammlung  Griech.  Tragödien.  Übers,  von  U.  v.  Wilamowitz),  von  Hipp.,  Suppl.  («der 
Mütter  Bittgang"),  Herc.  1899,  Med.,  Cycl.,  Ale,  Troad.  1906,  bei  Weidmann  Berlin. 

Erläuterungsschriften:  P  Dkcharme,  Euripide et Tesprit  de  son th^ätre,  Paris  1893. 

—  R.  Arnoldt,  Die  chorische  Technik  des  Eur.,  Halle  1878.  H.  Büchholtz,  Die  Tanzkunst 
des  Eur.,  Leipz.  1871;  Chr.  Kirchhoff,  Dramatische  Orchestik  der  Hellenen,  Leipz.  1899.  — 
Lexicon  Euripideum  conf.  C.  et  B.  Matthiä  I  (.1—/'),  Leipz.  1841.  Ein  Index  verborum  for- 
mularumque  von  Chr.  D.  Beck  im  9.  Bde  der  Glasgower  Ausg.  1821.  —  J.  Vooel,  Szenen 
euripideischer  Tragödien  in  griech.  Vasengemälden,  Leipz.  1886;  J.  H.  Hüddilston,  Greek 
art  in  Euripides  Aischylos  and  Sophokles,  Diss.  München  1898. 

e)  Die  übrigen  Tragiker. 
209.   Die  Familien  der  drei  großen  Tragiker.     Aischylos,   So- 
phokles,  Euripides   waren  die  Meister  der  griechischen  Tragödie   und  als 
solche  alsbald  im  4.  Jahrhundert   anerkannt  durch  die  zusammenfassende 
Behandlung  in  der  Schrift  des  Herakleides  Pontikos  negl  xwv  xqiwv  rgaya}- 


368  Griechische  LitteratnrgeBchichte.    I.  Klassische  Periode. 

dtojToicbv  und  das  Staatsexemplar  des  Textes  ihrer  Tragödien,  das  der 
Redner  Lykurgos  anfertigen  ließ,  aber  sie  waren  nicht  die  einzigen  Tragiker 
ihrer  Zeit:  um  sie  gruppierte  sich  eine  Schar  verwandter  Dichter.^)  Neben 
ihnen  haben  zunächst  Achaios  und  Ion  im  Kanon  der  alexandrinischen  Kunst- 
richter Platz  gefunden;  aber  enger  schließen  sich  an  sie  ihre  Verwandten 
und  Anhänger  an,  die  gleichsam  ihre  Schulen  bildeten. 

Zu  der  Schule  des  Aischylos  gehörte  vor  allem  sein  Sohn  Euphorion, 
der  viermal  mit  Stücken  seines  Vaters  gesiegt,  aber  auch  Eigenes  gedichtet 
hat.  Im  Jahr  432  besiegte  er  den  Sophokles  und  Euripides.*)  Ein  zweiter 
Sohn  des  Aischylos,  der  ebenfalls  Tragödien  dichtete,  Bion  oder  Euaion, 
ist  uns  nur  dem  Namen  nach  bekannt.  Der  Schwestersohn  des  Aischylos, 
Philokles,  erscheint  in  Aristophanes'  Thesmophoriazusen  (411)  noch  als 
lebend;  nach  Suidas  hat  er  hundert  Tragödien  gedichtet,  darunter  eine 
inhaltlich  zusammenhängende  Tetralogie  Pandionis.  Daß  er  nicht  ohne 
Talent  war,  zeigt  sein  Sieg  über  den  König  Oidipus  des  Sophokles.  Aus 
den  häufigen  Ausfallen  der  Komiker»)  gegen  ihn  darf  man  wohl  schließen, 
daß  er  von  der  modernen,  euripideischen  Richtung  war.  Söhne  des  Philo- 
kles waren  Morsimos,  Tragödiendichter  {jronjrrjg  ifwxQ^^  nennt  ihn  Suid.) 
und  Augenarzt,  und  Melanthios,  die  beide  den  bitteren  Spott  des  Aristo- 
phanes  erfuhren.'*)  Die  tragische  Ader  floß  noch  bei  Philokles'  Enkel 
Astydamas  und  seinen  Urenkeln  Astydamas  und  Philokles.*) 

Sohn  des  Sophokles  war  der  Tragiker  lophon,^)  dem  Suidas  fünfzig 
Dramen  beilegt.  Schon  428  erlangte  er  neben  dem  Hippolytos  des  Euri- 
pides  den  zweiten  Preis,  aber  man  kannte  sich,  wie  Aristophanes  in  den 
Fröschen  V.  79  boshaft  bemerkt,  nicht  recht  aus,  inwieweit  er  auf  eigenen 
Füßen  stand  oder  durch  die  Beihilfe  seines  Vaters  in  die  Höhe  kam.  Ob 
auch  der  uneheliche  Sohn  des  Sophokles,  Ariston,  Tragödien  gedichtet 
hat,  steht  nicht  fest,  da  Diogenes  Laertios  7,  164  nur  einen  'Aqiotwv  jToitjrijg 
TQayMÖias  ohne  Angabe  des  Vaters  erwähnt.  Der  Enkel  des  großen  Tra- 
gikers, Sophokles  der  Jüngere,  Sohn  des  Ariston,  trat  wieder  als  Dichter 
von  Tragödien  und  Elegien  auf.^)  Bereits  oben  wurde  erwähnt,  daß  er 
den  Oidipus  auf  Kolonos  nach  dem  Tod  des  Großvaters  auf  die  Bühne 
brachte;  einen  Sieg,  den  er  im  Jahre  396  gewann,  erwähnt  Diodor  XIV  53. 
Im  ganzen  soll  er  nach  Diodor  zwölf-,  nach  Suidas,  der  vermutlich  nur 
die  städtischen  Siege  rechnet,  siebenmal  gesiegt  haben.  Noch  in  helleni- 
stischer Zeit   (jiexa  Tr]v  lüeidöa  Suid.)    hat    sich   ein   gleichnamiger   Nach- 


*)  F.  (t.  Welckeb,  Griech.  Trag.  931  ff.  ^)  Osw.  Wolff,  De  lophonte  poeta  tra- 

~)  Arg.  Eur.  Med.,  Suid.  s.  AiaxrXog  und      gico,   Leipz.  Diss.  1884,  Die  sechs  Titel  bei 

Suidas,  !.*I//A^fj's,  TTjXeqro^,  \\xTaioyv^  *IXiov 
jtfoois,  AF^a/in'd^f  Bux^m  tj  flrt'OFv?  kommen 
bei  demselben  Suidas  neben  weiteren  alle 
auch    unter  KkFoqwv  ^AdrjvaXo::  rgayixög  vor. 


Evqooifor. 

^]  Ar.  vesp.  462;  av.  281  f.  (mit  Schol.); 
Cratin.  fr.  292  K.  Dazu  stimmt  auch  der  Spott- 
name z^^-^h  den  ihm  wohl  auch  die  Komödie 


gab  (Suid.  s.  0//.).     Über  die  Sippe  des  Phi-  woran  F    Susemihl,  Jahresbericht  d.  Alt.  34 

lokles  F.  G.  Welcker,  Griech.  Trag.  1052  ff.  (1883)1, 18  die  unmögliche  Vermutung  knüpft, 

*')  Ar.  eq.  401.  pac.  803,  ran.  151.    Ein  i  daß  jener  Tragiker  Kleophon   auf  eine  Ver- 
jüngerer Tragiker  Melanthios,  der  zugleich  ;  Schreibung  von  lophon  hinauslaufe. 
Philosopli  war,   ist   erwähnt   im  Index  acad.  j  ')  Nach  Suid.   hat   er  40    (nach   andern 
philos.  col.  XXXI  4.  I  11)  Stücke  geschrieben. 

'")  A.  Wilhelm,  Urk.  29.  | 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    e)  Die  übrigen  Tragiker.    (§§  209—210.)       369 

komme  des  Sophokles  als  lyrischer  und  tragischer  Dichter  betätigt  und 
fünfzehn  Stücke  geschrieben. 

Die  Sippe  des  Euripides^)  lebt  weiter  in  seinem  gleichnamigen  Sohn, 
der  nach  des  Vaters  Tod  die  Trilogie  Iphigeneia  Aul.,  Alkmeon  und  Bakchai 
auf  die  athenische  Bühne  brachte,  und  seinem  gleichnamigen  Neffen,  von 
dem  Suidas  drei  Stücke,  Orestes,  Medeia,  Polyxene,  anführt. 

210.  Die  übrigen  Tragiker  des  5.  Jahrhunderts.  Zeitgenosse 
des  Euripides  war  Aristarchos  aus  Tegea,*)  der  unter  anderem  zum 
Dank  für  seine  Genesung  einen  Asklepios  schrieb  (Aelian.  fr.  101)  und  nach 
Suidas  die  Tragödie  „auf  ihren  jetzigen  Umfang"  {ek  rd  vvv  avrwv  ßitjxoc:) 
brachte.  3)  Er  soll  über  hundert  Jahre  alt  geworden  sein.  Außer  den 
drei  großen  Tragikern  ist  er  der  einzige,  von  dem  wir  wissen,  daß  Stücke 
von  ihm  noch  in  hellenistischer  Zeit  gegeben  worden  sind.  Sein  Achilleus 
wurde  von  Ennius  ins  Lateinische  übertragen. 

Ion  aus  Chios,*)  der  Sohn  des  Orthomenes,  Zeitgenosse  der  drei 
großen  Tragiker,  kam  in  frühen  Jahren  nach  Athen,  wo  er  in  den  Kreisen 
des  Kimon  verkehrte  und  den  Aischylos  kennen  lernte.^)  Seine  ersten  Stücke 
führte  er  in  Athen  OL  82  (452—49)  auf.  Zwischen  445  und  440  war  er 
in  Sparta.«)  Während  des  samischen  Krieges  traf  er  in  seiner  Heimat 
mit  Sophokles  zusammen  und  hat  Erinnerungen  an  ihn  in  seinen  'Emdtjfuai 
niedergelegt.  Im  Jahr  428  unterlag  er  beim  Tragikeragon  dem  Euripides 
und  lophon  (Arg.  Eur.  Hipp.).  Der  Tod  traf  ihn  vor  dem  Frieden  des  Ari- 
stophanes  (421).^)  Mit  einer  für  jene  Zeit  merkwürdigen  Vielseitigkeit 
dichtete  er  außer  Tragödien  noch  Elegien,  Hymnen,  Dithyramben  und 
schrieb  in  Prosa  Reisememoiren  {^EmdrjjüUai  oder  'YjToßivrjßjiaTa)  und  ein  Ge- 
schichtswerk über  die  Gründung  von  Chios.^)  Dem  Volk  der  Athener 
drückte  er  seinen  Dank  für  einen  Siegespreis  dadurch  aus,  daß  er  nach 
dem  Sieg  für  jeden  Bürger  einen  Krug  Chierwein  schickte.^)  Fragmente 
haben  wir  aus  "'Aya/iejuvcoVf  Ahcjui^vrj,  'AgyeJoi,  EvQvudaif  Kaivevg  T]  0oiviS, 
AaeQxtjgf  Meya  dgä/ua  (?),  TevxQog,  die  meisten  aus  dem  Satyrspiel  'Ojnq^dXrj, 
in  dem  er  mit  Behagen  den  Sieg  des  orientalischen  Harems  über  das  ab- 
gehärtete peloponnesische  Naturburschentum  schilderte.  An  nüchterner 
Korrektheit  soll  er  den  Sophokles  übertroifen  haben,  an  hinreißender  Kraft 
aber  weit  hinter  ihm  zurückgeblieben  sein.^^) 

Achaios.i^  Sohn  des  Pythodoros,  geboren  Ol.  74  (484—81)  in  Eret- 

^)  Von  dem  Sohn  Eurip.  Schol.  ad  Ari-      et  fragmentis,   Berl.  1836.     Fr,  Scholl,  Rh. 
stoph.    ran.  67    und  Vita  Eurip. ,    von    dem       Mus.  32  (1877)  145  ff. 
Neffen  Suidas  s.  v.  Evi}.  c.  ^)  Plut.  Cim.  9  u.  16;  de  prof.  in  virt.  8. 


')  Euseb.   zu   Ol.  81,  4  =  453  v.  Chr. 
Arisfarchus     tragoediographus    agnoscitur; 
vgl.  F.  G.  Welcker.  Gr.  Tr.  931  f. 

')  J.  URL  Die  Symmetrie  der  Verszahlen 
im  griech.  Drama.  Vortrag  Aarau  1896.  Der 
Sinn  der  Suidasnotiz  ist  unklar  (Vermutungen 

s.  A,  Dieterich  in  der  Realenzykl.,  3.  Halbb.       Tgiay/wi,  H.  Diels,  Vorsokr.*  229  ff. 
861.  60  ff.).    Vgl.  unten.  ;  »)  Ath.  3  f. 

*)  Eine  alte  Monographie  von  Baton 
angeführt  von  Ath.  436  f.;  aus  neuerer  Zeit 
R.  Bentley,  Op.  (Leipz.  1781)  494-510;  E.  S. 
KöPKE,  Dissertatio  de  Tonis  Chii  poetae  vita 


)  U.  Köhler.  Herm.  29  (1894)  156  ff. 

')  Ar.  pac.  835  mit  Schol. 

^)  Schol.  Arist.  pac.  835;  die  prosaischen 
Fragmente  gesammelt  von  C.  Müller  FHG 
II  44 — 51.  Außerdem  schrieb  er  ein  Buch 
philosophischen      (pytliagorcYschen)     Inhalts 


»")  Auct.  -T.  vir.  33,  5. 

^M  Artikel  des  Suidas;  K.  L.  Ubuchs, 
Achaei  Eretiiensis  quae  supersont  coflecta  et 
illustrata,  Bonn  1834. 


Handbuch  der  klass.  AltertnniBwiMenschaft    VII.    5.  Aufl.  24 


370  Ghrieohische  Litteraturgeschiohte.    L  Klaasisohe  Periode. 

ria,0  also  jüngerer  Zeitgenosse  des  Sophokles,  den  er  aber,  wie  man  aus 
den  Fröschen  des  Aristophanes  schließen  muß,  nicht  überlebte,  trat  seit 
c.  450,  in  mehrfacher  Konkurrenz  mit  Euripides,  auf;  er  brachte  44,  nach 
andern  nur  30  oder  24  Stücke  zur  Aufführung  und  erlangte  elf  Siege, 
worunter  wahrscheinlich  nur  ein  städtischer;*)  einen  Namen  hatte  er  im 
Satyrdrama.») 

Über  Neophron  aus  Sikyon  s.  o.  S.  339  f. 

Begründer  einer  Tragikerfamilie,  die  Aristophanes  übel  mitnimmt,^) 
war  Karkinos  aus  Akragas,  der  im  Jahr  431  Stratege  war  und  zugleich 
als  Tragödiendichter  und  Tänzer  auftrat.*)  Namhafter  war  sein  Sohn 
Xenokles,  der  im  Jahr  415  mit  der  Tetralogie  Oidurovg^  Avxdwv^  Bdxxai, 
'AMjuac;  den  Sieg  über  Euripides  davontrug,  worüber  die  Freunde  des  Euri- 
pides empört  waren,  wohl  mit  Recht,  wenn  Aristophanes,  gewiß  kein  Freund 
des  Euripides,  den  Xenokles  so  geringschätzig  beurteilt.  Sein  Sohn,  Kar- 
kinos der  Jüngere,  gleichfalls  Tragödiendichter,  stand  am  Hof  des  jüngeren 
Dionysios  in  Ehren.  Er  soll  160  Stücke  geschrieben  haben,  wobei  vielleicht 
die  Leistung  des  Großvaters  mit  der  des  gleichnamigen  Enkels  zusammen- 
genommen ist;  gesiegt' hat  er  elfmal. ö)  Von  ihm  stammt  noch  ein  weiterer 
Xenokles.  Man  wird  vermuten  dürfen,  daß  in  dieser  sizilischen  Tragiker- 
sippe der  Same  aufgegangen  ist,  den  Aischylos  auf  der  Insel  ausgestreut  hatte. 

Agathen,'')  Sohn  des  Teisamenos®)  aus  Athen,  bekannt  durch  die 
witzige,  Porträtzüge  tragende®)  Charakteristik,  die  Aristophanes  in  den 
Thesmophoriazusen  (411)  von  ihm  entwirft,  und  die  Rolle,  die  er  in  Pia- 
tons Gastmahl  spielt,  blühte  in  den  letzten  Dezennien  des  5.  Jahrhunderts; 
416  gewann  er  als  junger  Mann  mit  seinem  ersten  Stück  an  den  Lenäen^^^) 
den  Sieg,  dessen  Feier  Piaton  in  dem  erhaltenen  Symposion  als  Hinter- 
grund benützt.  Sein  Geburtsjahr  wird  also  spätestens  436,  aber  auch  nicht 
viel  früher  fallen.  Durch  seinen  feinen  Geist,  der  ihm  auch  die  Freund- 
schaft des  Euripides  und  des  sokratischen  Kreises  erschloß,  und  seine 
eleganten  Manieren  mehr  als  jeder  andere  zum  Hofmann  geeignet,  folgte 
er  um  407  mit  seinem  Freund  Pausanias  einer  Einladung  des  Königs 
Archelaos  nach  Makedonien,  wo  er  wieder  mit  seinem  älteren  Genossen 
Euripides  zusammentraf,  i^)     Zur  Zeit,  als  Archelaos  starb  (399),   lebte  er 


*)  Eretria  hatte  berühmte  Dionysosfeste 
(K,  BuRsiAN,  Geogr.  Gr.,  Leipz.  1868,  II 420); 


Berlin  1897,  S.  83  ff. 

«)  A.  Wilhelm,  Urkunden  103. 

^)  F.  RiTSOHL,  De  Agathonis  tragici  ae- 

tate,  1829,  jetzt  in  dessen  Opusc.  1411  ff.;  F. 

G.  Welckek,  Gr.  Tratr.  981  ff. 

«)  A.  Wilhelm,  Urkunden  158.  \  »)  Suid.';  Scliol.  Arist.  ran.  83;  J.  A.  Cra- 

«)  CIA  II  977  b,  Diog.  Laert.  II 133.  Von      mbb,  Anecd.  Oxon.  IV  269.    Tisamenos  wird 


über  das  von  der  amerikanischen  Schule  aus- 
gegrabene Theater  von  Eretria  W.  Dörpfeld, 
Gr.  Theater  112  ff. 


den  19  Titeln,  die  wir  kennen,  gehören  sicher  6,    '   auch  als  Vater  des  Tragikers  Alkestor  genannt ; 


wahrscheinlich  aber  10  zu  Satyrspielen.  Über 
das  Satyrspiel  Aldcor  s.  J.  0.  Schmidt,  Comm. 
Ribbeck.  112  ff. 

*)  Arist.   pac.  781  ff.,   Thesm.    169  und 
441,  ran.  86;  vgl.  vesp.  1501,  nub.  1261.   F. 


das  veranlagte  H.  Müller-Stkübino,  Aristoph. 
und  die  bist.  Kritik,  Leipz.  1873,  562  f.  zu 
kühnen  Hypothesen. 

»)  I.  Brüns,  Das  litterar.  Porträt  156  ff. 
^^)  Ath.  271a:  dazu  stimmen  die  langen 


G.  Welcher,  Gr.  Trag.  1018  ff.,  1068  ff.  Nächte  in  Plat.  symp.  223c. 

^)  J.  Kirchner,  Beiträge  zur  Geschichte  *')  Nette  Anekdote  von  Euripides,  der  den 

attischer  Familien,  Festschr.  z.  lOOjähr.  Jubel-  ;   schönen,  aber  schon  40jährigcn  Agathen  beim 

feier  des  k.  Friedrich- Wilhelm-Gymnasiums,  |   G«lage  küssen  will,  bei  Aelian  v.  h.  XIII  4. 


C.  Drama.    2.  Die  Tragödie,    e)  Die  übrigen  Tragiker.    (§§  210—211.)       371 

entweder  noch  in  Pella,  oder  war  dort  schon  gestorben:  beides  kann  Arist. 
ran.  85  mit  den  Worten  or;|rCTa«  ig  fxaxdQ(ov  eucoxicLv  andeuten  (vgl.  den 
Scholiasten  zu  jener  Stelle).  Die  Kunstrichtung  des  Agathon  entsprach 
seinem  stutzerhaften  Äußeren;  in  der  Sprache  ahmte  er  die  gesuchten  Anti- 
thesen des  Gorgias  nach;i)  in  der  Musik  schloß  er  sich  dem  Raffinement 
des  neuattischen  Dithyrambus  an,  so  daß  die  'Ayd&ayvog  avXr}oig  sprichwört- 
lich wurde;*)  seine  Chorgesänge  waren  bloßer  Ohrenschmaus  und  hatten 
nur  noch  die  Bedeutung  von  musikalischen  Zwischenspielen  dixßoh^d).^) 
Im  Inhalt  wagte  er  die  große,  von  niemanden  nachgeahmte  Neuerung,  zu 
seiner  Tragödie  "Av&og  die  Fabel  ganz  frei  zu  erfinden.*)  Übrigens  fand 
er  mit  seiner  feinen,  geistreichen  Art  viel  Anklang;  insbesondere  hat  Ari- 
stoteles für  ihn  fast  nur  Worte  der  Anerkennung.  Mit  Recht  stellt  Welcker 
den  Agathon  an  die  Spitze  einer  neuen  Entwicklung,  die  freilich  in  ihren 
Anfängen  stecken  geblieben  ist:  er  hat  versucht,  den  von  Euripides  be- 
schrittenen  Weg  fortzusetzen  und  die  Tragödie  aus  der  mythologischen 
Hülle  zu  befreien,  und  er  hat  die  moderne  Sprachkunst  und  Musik  in  vollem 
Umfang  der  Tragödie  dienstbar  gemacht,  damit  freilich  ihren  gottesdienst- 
lichen Charakter  zerstört. 

Nur  inschriftlich  bekannt  ist  ein  Tragiker  Archestratos,  mit  dessen 
Aristaios  ein  Schauspieler  der  hellenistischen  Zeit  bei  den  delphischen  So- 
terien  einen  Sieg  gewann.  Da  er  neben  Euripides  genannt  wird,  mag  er 
noch  in  das  5.  Jahrhundert  gehören.*) 

211.  Die  Tragiker  des  4.  Jahrhunderts.  Mit  dem  Tod  des  Euri- 
pides und  Sophokles  verödete  die  tragische  Bühne.  Es  lebten  zwar  noch  im 
4.  Jahrhundert  Dichter  genug,  die  für  die  Bühne  schrieben  und  die  Aristo- 
teles der  Beachtung  wert  hielt;  aber  die  dankbaren  Sagenstoflfe  waren  er- 
schöpft, und  da  das  Hinübergreifen  auf  geschichtliche  und  rein  fingierte  Stoffe 
mit  der  religiösen  Bestimmung  der  Tragödie  nicht  vereinbar  war,  so  bewegten 
sich  die  Tragödiendichter  wesentlich  im  Geleise  der  alten  Fabeln  und  hatten 
ihre  Not,  den  vergriffenen  Gegenständen  durch  Änderung  in  Kleinigkeiten, 
wie  des  Ortes  oder  der  Erkennungsweise,  neue  Seiten  abzugewinnen;^)  nur 
selten  glückte  es  einem  Dichter,  mit  einer  ganz  neuen  Tragödie  zu  debütieren; 
er  fand  dann  aber  auch  außergewöhnlichen  Beifall,  wie  Astydamas  mit  seinem 
Parthenopaios.  Leichte  und  elegante  Handhabung  der  Sprache  war  damals 
eine  sehr  verbreitete  Kunst,  und  die  Tragiker  verstanden  sich  auf  sie  um 
so  mehr,  als  sie  meist  aus  der  Schule  von  Rhetoren  hervorgegangen  waren; 
aber  die  geschickte  Mache  und  die  geistreichen  Metaphern  vermochten 
nicht  den  Mangel  an  Wahrheit  und  warmer  Empfindung  zu  ersetzen.    Drei 

M  Schol.   ad  Luc.    rhet.  praec.  11.    Bei   1  *)  Arist.    po6t.    1451b   21.^     Außerdem 

Aelian.  v.  h.  XIV 13  sagt  er  witzig  zu  einem,  |  kennen  wir  von  ihm  die  Titel  *Aeo6.it],  'AXx- 
der  die  Antithesen  aus  seiner  Rede  entfernen   |   fteojv,  ßveoijjq,  Mifaoi\  Tt/lefpog. 


wollte:  /JltjOnc:  oavtov  xov  Ayd&wva  ex  tov 
'Ayd{>wvoc:  dfpariC(ov.  Ganz  im  gorgianischen 
Stil  läßt  ihn  Plat  symp.  194  e  ff.  reden. 

^)  Suidas  und  Hesychios  unter  ^Ayd^a}- 
vos  avkt]oiq.  Nach  Plut.  symp.  III  1  p.  645 e 
brachte    er   die  chromatische   Musik   in  die 


Tragödie.  I   vgl.  1454a  8  ff. 


»)  Philol.  60  (1901)  441. 

*)  Arist.  poöt.  1453  a  18.  jrooJToy  oi  jtoi- 
Tjxal  Tovg  TvxdvTag  jnv{}ovg  djrrfoi&fAOvv,  vifv 
de  Jiegi  oXiyag  olxiag  ai  Toayqyöiai  ovvri&evxai, 
olov  jieQt  AXxfiaimra  xai  Oiöljiovv  xai  'Oodo- 
zrjv  xai  MsXiaygov  xai  Sveöxt)v  xai  Ttßeqfoy; 


»)  Arist.  po6t.  1456  a  30. 


24* 


372  Oriechische  Litteraturgeschiohte.    I.  Klaasisohe  Periode, 

Dinge  sind  es  insbesondere,  welche  diese  Periode  der  Nachblüte  tra- 
gischer Kunst  bezeichnen.  Erstens  wurde  es  üblich,  auch  an  den  gro&en 
Dionysien  neben  neuen  Tragödien  alte  zuzulassen;  die  neu  aufgefundenen 
Didaskalien  CIA  II  973*)  zeigen,  daß  in  den  Jahren  341 — 339  regel- 
mäßig eine  alte  Tragödie  den  neuen  vorausging.  Zweitens  begann  das 
Publikum  Aufmerksamkeit  und  Beifall  fast  in  höherem  Grade  der  Schau- 
spielerkunst als  den  Dichtern  und  den  Texten  zuzuwenden,*)  so  daß  der 
Schauspieler  in  den  Didaskalien  genannt  und  für  die  tragischen  Schau- 
spieler, übrigens  schon  seit  449,  ein  besonderer  Wettkampf  eingerichtet 
wurde. ^)  Drittens  konnte  der  Dramatiker  jetzt  für  seine  Stücke  auch  auf 
ein  Lesepublikum  rechnen,^)  und  es  gab  Dichter,  deren  Stücke  so  fein  ins 
Detail  ausgearbeitet  waren,  daß  sie  ihre  volle  Wirkung  eher  beim  Lesen 
als  auf  der  Bühne  erreichten,  Arayvcoorixot»  nicht  äycoviorixoi  noif]TaL  Unter 
diese  rechnet  Aristoteles  (rhet.  1413b  12),  dem  diese  mehr  geistige  Wir- 
kung offenbar  sympathischer  ist,  den  Tragiker  Chairemon,  den  er  äxgißrjg 
&qn€Q  Xoyoygdifog  nennt,  und  den  Dithyrambiker  Likymnios.  In  Chai- 
remons  Fragmenten  tritt  eine  starke  Neigung  zum  Blumigen,  zur  personi- 
fizierenden Metapher  hervor;  übrigens  hielten  sich  Stücke  von  ihm  noch  im 
3.  Jahrhundert  v.  Chr.  auf  dem  Repertoire. 0)  Ein  Experiment  von  ihm, 
aus  dem  man  sieht,  wie  damals  zur  Erzielung  unerhörter  Überraschungs- 
eflfekte  Raubbau  an  den  Kunstformen  getrieben  wurde,  war  das  dga/ia  noXv- 
jueTQov  Kevravoog^  in  dem  er  alle  Versarten  verwendete.  <*)  Weniger  be- 
rührte die  Kunst  und  das  Wesen  des  Dramas  der  äußerliche  Umstand,  daß 
seit  dem  4.  Jahrhundert  Athen  aufhörte,  einzige  Pflegestätte  der  drama- 
tischen Kunst  zu  sein  und  daß  auch  in  Syrakus,  Korinth,  Argos,  Pherai, 
Megalopolis,  Eretria  und  anderen  Städten  Tragödien  aufgeführt  wurden. '') 
Von  Tragikern  werden  aus  der  Wende  des  5.  Jahrhunderts®)  genannt 
Kritias  und  Theognis,  die  beide  zu  den  dreißig  Tyrannen  gehört  hatten, 
jener  auch  als  Dramatiker,  wie  das  Fragment  seiner  Tragödie  Sisyphos 
zeigt,   ein  Verkünder    des   radikalsten  Rationalismus  (s.  0.  S.  173),   dieser 

*)  A.  Wilhelm,  Urkunden  40.    Das  erste  Gr.  Bahn.  329.   Berühmte  Schauspieler  waren 

Beispiel    von  Wiederaufführung   einer   alten  damals  Polos,  Theodoros,   Tliettalos,  Aristo- 

Tragödie  (muaioy  dgäfta  .ttigföiSa^ar  oi  rga-  demos,   Neoptolemos,   Satyros,    Athenodoros. 

y(odoi)    haben   wir   aus  einer  didaskalischen  '   Vgl.  F.  G.  Welcker,  Gr.  Tr.  911  ff.    A.  Wil- 

Inschrift  für  das  Jahr  386  (Wilhelm  a.  a.  0.  ,   helm,  Urk.  138  und  G.  Kaibel  bei  Wilhelm  188; 

23),   das  erste   für  die  einer  alten  Komödie  1   A.  Müller  a.  a.  0.  358  ff. 

für  das  Jahr  341/40  (ders.  28. 170  u.  Jahresh.  |           *)  Schon  in  Aristophanes'  Fröschen  V.53 

des  östr.  arch.  Inst.  10, 1907,39).  Hier  scheint  j   liest  Dionysos  während  des  Feldzugs  auf  dem 

es  sich  aber  noch  nicht  um  eine  regelmäßige  Kriegsschiff  für  sich  die  Andromeda  des  Eu- 

Einrichtung.   sondern  um  eine  Extraleistung  |   ripides. 

der  Schauspieler  zu  handeln.  !           ^)  Philol.  60(1901)441:  über  die  ttm;'y€i>- 

*)  Arist.  rhet.  1403  a  33:  ftei^m'  dvvai^ai  j   anpcot  s.E.Szanto,  Festschr.  f.  Gomperz  275 ff. 

vvi'   Tojv   noti]TüJv   oi  vjioHQirai.     Aristoteles*  und  0.  Crusius  ebenda  381  ff. 

Verstimmung  darüber  beleuchtet  E.  Szanto.  *)  Aristot.  po6t.  1447  b  20;  Ath.  608  c. 

Ausgew.  Abb.  (Tübingen  1906)  343  ff.  ")  A.  Müller,  Gr.  Bühn.  376  ff.    In  Sy- 

^)  Siehe  oben  S.  260.  Alciphr.  ep.  III 12  ]   rakus,   wo  Epicharmos   lebte   und  Aischylos 

Schepers.   Etwas  anderes  ist  der  von  Lykur-  j    seine  Perser   aufführen   ließ,   gab   es  gewiß 

gos   (Ps.Plut.    vit.  X  or.  841  f)   eingerichtete  ;   schon  früher  ein  Theater. 

Schauspieleragon  am  Chytrenfest,  durch  den  '           ®)  E.  Capps,    Chronological    Studios   in 

die  zur  Festaufführung  zuzulassenden  Schau-  ■   the  Greek  tragic   and  comic  poets,   Americ. 

Spieler  ausgelesen  wurden.    Vgl.  A.  Müller,  !  Journal  of  philol.  21  (1900)  38  ff. 


C.  Ihrama.    2.  Die  Tragödie,    e)  Die  übrigen  Tragiker.    (§  211.; 


373 


auch  ein  Modemer,0  der  einmal  mit  Euripides  und  Nikomachos  in  die 
Schranken  trat;*)  ferner  Meletos,  der  als  Ankläger  des  Sokrates  eine 
traurige  Berühmtheit  erlangt  hat, 5)  Kleophon.*)  Nur  zum  Gespött  diente 
Dionysios  der  Ältere,  Tyrann  von  Syrakus,  der  auch  als  Dichter  glänzen 
wollte^)  und  sogar  in  Athen  kurz  vor  seinem  Tod  (367)  mit  einer  Tragödie 
*'ExTooos  Xvrga  den  ersten  Preis  gewann. ß)  Dem  4.  Jahrhundert  gehörten 
ferner  an:  Astydamas,  Sohn  des  Tragikers  Morsimos,  der  anfangs  den 
Rhetor  Isokrates  hörte,  sich  aber  dann  zur  Tragödie  wandte;  ein  außer- 
ordentlich fruchtbarer  Dichter  (Suidas  legt  ihm  240  Tragödien  bei),  erfreute 
er  sich  zugleich  einer  großen  öunst  des  Publikums;  er  trug  fünfzehn  Siege 
davon,')  von  denen  uns  zwei  (341  mit  der  Trilogie  Achilleus,  Athamas,  Anti- 
gone;  340  mit  zwei  Stücken,  Parthenopaios  und  Lykaon)  inschriftlich  be- 
zeugt sind,  und  erhielt  für  seinen  Parthenopaios  die  Ehre  einer  Statue.^) 
Die  Kunst  des  Vaters  vererbte  sich  auf  seinen  Sohn,  den  jüngeren  Asty- 
damas. Theodektes  aus  Phaseiis  in  Lykien,  Schüler  des  Piaton  und 
Isokrates,  war  gleich  angesehen  als  Redner  und  Tragiker;  ein  schöner  und 
gewandter  Mann,  war  er  in  den  Kreisen  der  Platoniker,  namentlich  von 
Aristoteles,  gern  gesehen;  als  Tragiker  trat  er  zuerst  365  auf;®)  auch  am 
Hof  der  Artemisia  stand  er  in  Ehren  und  feierte  in  einer  Tragödie  das  An- 
denken des  kunstfreundlichen  Königs  Maussolos  (352);*^)  seine  übrigen  Tra- 
gödion, deren  er  fünfzig  geschrieben  haben  soll,  scheinen  lauter  ältere  Sagen- 
stoife  behandelt  zu  haben.  Gestorben  ist  er  in  Athen  im  Alter  von  41 
Jahren;  11)  an  der  heiligen  Straße  nach  Eleusis  stand  sein  großartiges  Grab- 
denkmal, auf  dem  er  sich  rühmte,  bei  dreizehn  Wettkämpfen  acht  Sieges- 


^)  Das  geht  aus  dem  Spott  des  Aristo- 
phanes  Ach.  11,  140;  Thesm.  170  hervor. 

*)  Dabei  siegte  der  sonst  unbekannte 
Nikomachos  (Suid.  s.  Ntxofi.  a). 

*)  Meletos  war  Verfasser  einer  Oidi^o- 
deia.  Bei  dem  Scholiasten  zu  Plat.  apol.  18  b 
heißt  er  xoayojöCa';  (faTO.o^  noitji/jg,  ßoft^  yj^ro^  ; 
vgl.  F.  G".  Welcker.  Gr.  Trag.  970'ff. 

*)  Aristot.  soph.  el.  174  b  27;  weitere 
Stellen  aus  Aristot.,  der  ihn  wegen  der  Klar- 
heit und  nüchternen  Realistik  seiner  Sprache 
öfter  anführt,  A.  Nauck.  TGF^  p.962,b.  Frag- 
lich ist.  ob  sein  Mandiobulos  (Schneidewin- 
Leutsch  zu  Zenob.  prov.  in  Paroemiogr.  Gr. 
III  82)  eine  Tragödie  war. 

*)  Nach  Suidas  hat  er  Tragödien  und 
Komödien  gedichtet  und  demnach  die  For- 
derung des  Sokrates  in  Platos  Symp.  extr. 
erfüllt ;  aber  die  Komödien  werden  bezweifelt, 
8.  Welcker  1229. 

«)  Tzetzes  Chil.  V  180:  nach  demselben 
Chil.  V  185  spottete  er  in  einem  Drama  über 
Piaton.  Eine  Darstellung  aus  der  Tragödie 
von  Hektors  Lösung  findet  sich  auf  einem 
Wandgemälde  von  Pompeji;  s.  A.  Baumeister, 
Denkm.  III  n.  1949.  —  Über  seine  geschmack- 
losen neuen  Wortbildungen,  die  auch  Epist. 
Socraticor.85.  36  Hercher  berührt  werden,  s. 
J.  Wackernag  EL,  Ztschr.  f.  vergl.  Sprachf.  33 


(1895).  48 ;  über  seine  ganze  litterarische  Tätig- 
keit C.  0.  ZüBETTi,  Riv.  di  filol.  25  (1897)  529  ff. 

^)  Einen  Sieg,  und  zwar  den  ersten,  er- 
wähnt die  pansche  Chronik  ep.  71  zu  372; 
vgl.  Welokeb  1052  ff.;  den  Sieg  mit  dem 
Parthenopaios  im  Jahr  340  bezeugt  CIA  II 
973.  Wie  sich  dieser  Ast,  zu  dem  verhält, 
der  nach  Diod.  XIV  43  im  Jahr  398  zuerst 
auftrat  und  60  Jahre  alt  wurde,  ist  noch 
nicht  aufgeklärt  (Wilhelm,  Urk.  103  f.).  Ein 
Fragment  aus  Ast.  "Exxmo  findet  sich  Am- 
herst  pap.  II  10  (s.  L.  Radermacheb.  Rhein. 
Mus.  57,  1902,  137  f.).  Da  die  didaskalische 
Inschrift  CIA  II  977  nur  sieben  Siege  von  ihm 
angibt  (Wilhelm  104),  die  jedenfalls  städti- 
sche sind,  so  muß  er  achtmal  an  den  Le- 
näen  gesiegt  haben.  In  den  240  Stücken  sind 
ohne  Zweifel  die  der  beiden  (vielleicht  sogar 
drei)  Astydamas  inbegriffen. 

®)  Diog.  Laert.  II  43.  Die  Basis  der 
Statue  mit  Inschrift  wurde  am  Dionysosthea- 
ter aufgefunden;  s.  U.  Köhler,  Amen.  Mit- 
teil. 3  (1878)  116;  Dörpfeld-Rbisch,  Das 
griech.  Theat.  S.  38. 

•)  Wilhelm,  Urk.  104. 

»0)  Gellius  X  18,  7. 

")  Sein  Geburtsjahr  berechnet  F.  Suse- 
MiHL,  Rhein.  Mus.  54  (1899)  631  auf  382/1; 
richtiger  E.  Capps  a.  0.:  far  from  390. 


374  Ghriechisohe  Litteratnrgeschichte.    L  ElassiBche  Periode, 

kränze  davongetragen  zu  haben.  0  Wenn  er  in  dem  Aristeasbrief  (§  316 
Wendl.)  als  Repräsentant  der  Tragödie  erwähnt  wird,  muß  er  in  der  Ptolemäer- 
zeit  noch  sehr  beliebt  gewesen  sein.  Außer  Tragödien  hatte  er  Reden  und 
eine  berühmte  rexvrj  ^rjioQixi^  geschrieben.*)  Moschion,  ein  oft  verspotteter 
Feinschmecker,  griff  auf  die  politische  Tragödie  zurück  in  seinem  Themi- 
stokles  und  seinen  Pheräern,»)  von  welchen  Dramen  das  erste  den  Tod 
des  Themistokles  behandelte,  das  zweite  sich  auf  den  Untergang  des  Ale- 
xandres von  Pherai  bezogen  zu  haben  scheint.  Sonstige  Tragiker  unserer 
Periode  waren,  abgesehen  von  dem  Verfasser  des  oben  (S.  357  f.)  bespro- 
chenen Rhesos,  Polyeidos,  der  nach  Arist.  poöt.  1455b  10  eine  neue 
Lösung  in  der  Wiedererkennung  der  Iphigeneia  ersann,  Euaretos,*)  Di- 
kaiogenes,^)  Aphareus,^)  der  Stiefsohn  des  Isokrates,  dessen  Bühnen- 
laufbahn zwischen  die  Jahre  368  und  341  fällt,  und  der  zwei  städtische 
und  zwei  lenäische  Siege  gewonnen  hat,  341  aber  mit  der  Trilogie  Ilehd^ 
deg,  ^OgeoTtjg,  Avyrj  der  dritte  wurde,  Timokles,  interessant  dadurch,  daß 
er  sowohl  Tragödien  und  Satyrspiele  als  auch  Komödien  dichtete,  Verfasser 
eines  340  aufgeführten  Satyrspiels  Lykurgos,'')  Antiphon,  der  am  Hof 
des  älteren  Dionysios  von  Syrakus  lebte  und  diesem  bei  der  Abfassung 
seiner  Dramen  assistiert  haben  soll; 8)  Kleainetos.  —  Den  Zerfall  der 
Formen  zeigen  einige  merkwürdige  Zwitterbildungen  des  4.  Jahrhunderts: 
iyihon  von  Katane  oder  Byzantion  schreibt  ein  Satyrspiel  ^Aytjv  mit  An- 
spielungen auf  den  harpalischen  Prozeß  ;ö)  die  Kyniker  Diogenes  von 
Sinope  und  Krates  von  Theben  schreiben  humoristisch-parodistische  rga- 
yqydiai,  in  denen  sie  für  die  (pvaig  (z.  B.  für  Kannibalismus  im  Thyestes, 
für  Inzest  im  Oidipus)  plädieren;*^)  wieder  andere  machen  unter  MißbiUi- 
gung   des  Aristoteles    (poöt.  1453a  29)  Tragödien   mit  heiterem  Ausgang. 

Insgesamt  kennen  wir  (nach  Naucks  Sammlung)  141  Namen  griechi- 
scher Tragiker  und  386  Titel  von  Tragödien;  von  diesen  sind  56  von  je  zwei, 
16  von  je  drei,  12  von  je  vier,  5  von  je  fünf,  3  von  je  sechs,  2  von  je 
sieben,  einer  {OidiJTovg)  von  zwölf  verschiedenen  Dichtern  behandelt  worden. 

Vom  4.  Jahrhundert  an  versehen  sich  immer  mehr  auch  mittlere 
und  kleinere  Städte  mit  festen  Theaterbauten,  von  denen  aus  nun  der  Geist 
attischer  Kultur  und  Poesie  über  das  gesamte  griechische  Sprachgebiet 
verbreitet  wird.     Seit  Erbauung  der  steinernen  Theater  werden  die  Schau- 


*)  Steph.  fpaati/Jg ;  Ps.Plut.  vit.  X  or.  837d ; 
Paus.  I  37,  3.  Da  wir  aus  CIA  II  977  wissen, 
daß  er  sieben  städtische  Siege  gewonnen 
hat,  so  muß  er  einmal  bei  den  Lenäen  oder 
außerhalb  Athens   gesiegt   haben    (Wilhelm 


Alkmeon,  mit  dem  er  340  der  dritte  wurde 
(A.  Wilhelm,  ürk.  40). 

'^)  Schol.  Ar.  Eccl.  1.  Eur.  Med.  167;  Ar. 
poöt  i455a  1. 

«)  Ps.Plut.  Vit.  X  or.  839  c.     Über  Siege 


104;  G.  Kaibel  bei  Wilhelm  185).  '   des  Aphareus  CIA  II  973   vgl.   F.  Susbmihl, 

=*)  Daher   von   Cicero  or.  61  arfifex  ge-       Rh.  Mus.  49  (1894)  474.     A.  Wilhelm,   ürk. 
nannt;  auf  dieses  Handbuch  scheinen  auch  die       40.  101.  103. 


HtiH)FXTein  des  Aristoteles  Bezug  zu  haben; 
vgl.  L.  Spenoel,  IWaywytj  re/yiov,  Stuttg. 
1828,  p.  168.  C.  F.  T.  Märcker,  Do  Theodectis 
Phas.  vita  et  scriptis,  comm.  I,  Breslau  183-"). 


A.  W^ilhelm,  ürk.  40  f.  129. 
®)  A.  Dietebich,  Realenz.  I  2526.  40  ff. 
»)  A.  Nauck.  T(.4F-^  810  ff. 
*")  E.RouDE.  Kl.  Sehr.  I  182  f.;  E.Weber, 


3)  0.  Ribbeck.  Rh.  Mus.  30  (1875)  147  flf.       Leipz.  Stud.  10  (1887)  141  ff.     Die  roay.  des 


*)  Nur  inschriftlich  bekannt  als  Dichter 
eines  Teukros  und  Achilleus,  mit  denen  er 
341    den  zweiten  Preis   gewann,   und   eines 


Diogenes  schreibt  übrigens  Jul.  or.  6  p.  186  c 
dem  Aigineten  Philiskos  zu. 


C.  Drama.    3.  Die  Komödie,    a)  Di»  Anfänge  der  Komödie. 


211-212.)        375 


Spieler  bei  den  Aufführungen  über  den  Chor,  der  auch  der  späteren  Tra- 
gödie noch  erhalten  bleibt/)  erhöht,  wodurch  sich  das  Vorwiegen  der  soli- 
stischen Virtuosenleistungen  auch  äußerlich  ausdrückt.  Da  nun  auch  musi- 
kalische und  rednerische  Vorführungen,  soweit  nicht  wie  in  Athen  be- 
sondere Odeen  vorhanden  sind,  in  das  Theater  verlegt  werden,  so  findet 
sich  seit  dem  4.  Jahrhundert  die  Teilung  der  musischen  äyoyveg  in  oxtjvixoi 
(dramatische)  und  ^vjuehxol  (in  der  Orchestra  stattfindende  nichtdrama- 
tische). ^)  Übrigens  lassen  uns  die  Inschriften  erkennen,  daß  die  Komödien- 
aufführungen in  hellenistischer  Zeit  weit  beliebter  waren  als  die  der  Tra- 
gödien, und  es  ist  auch  bezeichnend,  daß  jetzt  in  der  Anordnung  die  Satyr- 
spiele den  Tragödien  vorangestellt  werden.  3)  Im  4.  Jahrhundert  war  die 
Tragödie  noch  die  beliebteste  Gattung  gewesen;*)  es  gibt  aber  schon  zu 
denken,  daß  Lykurgos,  der  gestrenge  Wächter  alter  Sitte,  zu  ihrem  Schutz 
mit  gesetzgeberischen  Maßregeln  vorgehen  mußte.*)  Gegen  Ende  des 
3.  Jahrhunderts  scheint  der  Tragödienagon  der  Lenäen  in  Athen,  auch  die 
Wiederaufführung  alter  Tragödien,  ganz  aufgehört  zu  haben. ^) 


3.  Die  Komödie.') 

a)  Die  Anfänge  der  Komödie  in  Griechenland  und  Sizilien. 

212.  Die  Komödie  läßt  Aristoteles  (s.  oben  S.  249,  4)  von  den 
Vorsängern  der  Phalloslieder  {ihid  rcov  i^aoxoyrojv  m  (paXXixd)  aus- 
gehen.    Solche  Aufzüge  von  Phallosträgern   {(paXXoq?6ooi),   die    mit  einem 


')  A.  Körte,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Altert.  5 
(1900)  81  flf. 

*)  J.  Frei,  De  certaminibus  tliymelicis, 
Basel  1900  Kap.  I. 

3)  Frei  a.  a.  0.  21. 

*)  Plat.  leg.  11  658  d. 

^)  Ps.Plut.  Vit.  X  or.  841  f. 

•)  E.  Reisch,  Zeitschr.  f.  österr.  Gymn. 
58  (1907)  301.  309. 

^)  Im  Altertum  handelte  Aristoteles  im 
2.  Buch  der  Poetik  von  der  Komödie,  woraus 
verzettelte  Reste  auf  uns  gekommen  sind,  die 
J.  Bernays,  Zwei  Abhandlungen  über  die  arist. 
Theorie  des  Drama,  Berl.  1880,  133  ff.  ine 
rechte  Licht  gestellt  hat.  Außerdem  schrieb 
derPeripatetiker  Chamaileon  .t£^<  x(ofuodiag  in 
mindestens  sechs  Büchern,  und  in  Alexandreia 
beschäftigten  sich  Lykophron,  Eratosthenes, 
Euphronios,  Aristophanes  Byz.,  Aristarchos 
mit  der  Komödie.  Der  Krateteer  Herodikos 
schrieb  Koyuofdovftfrn,  die  den  Toay(obovfiF.va 
des  Asklepiades  entsprochen  zu  haben  scheinen. 
Erhalten  sind  uns  mehrere,  den  Aristophanes- 
scholien  vorangeschickte  Traktate,  nämlich 
Platonios  .lein  öuufooä';  xwfifpduhv  (Ii)  und 
.Tfo<  dia(fo(tä;:  yaony.Tt)oo)v  (I2) .  ferner  ein 
Anonymus  nftn  xw/ioMi^  (II)  mit  wertvoller 
Charakteristik  der  einzelnen  Dichter.  Aus 
dem  Mittelalter  stammen  die  Verse  des  die 
Scholien  zu  Dionysios  Thrax  benützenden 
Tzetzes  .tfoi  xiofiwöiag  und  dessen  Prolego- 
mena  in   Aristophanem   (ed.  H.  Keil   in  F. 


Ritschi  Opusc.  I  197  ff.),  womit  das  Scholium 
Plautinum,  neubearbeitet  von  W.  Stüdemünd, 
Phil.  46  (1887)  1—26,  zusammenhängt.  Alle 
diese  einleitenden  Stücke,  noch  um  andere  ver- 
mehrt, im  1.  Band  von  G.  Kaibel,  Comic,  gr. 
fragra.  1899;  litterarhistorisch  behandelt  von 
demselben,  Abb.  der  Gott.  Ges.  der  Wissensch. 
N.  F.  2,  4  (1898).  —  A.  Meineke,  Historia 
critica  comicorum  graec,  Bd.  I  von  dessen 
Fragm.  com.  Graec.  Berol.  1839—57,  5  voll., 
Hauptwerk ;  ed.  minor  Berol.  1847,  2 voll.;  Th. 
Kock,  Comicorum  atticorum  fragm.,  Lips.  1880 
bis  1888,  3  Bde,  wozu  wichtige  Ergänzungen 
von  A.  Nauck,  M61.  gr.-rom.  VI,  Petersburg 
1891,  53 ff.;  G. Kaibel,  Comicorum  graecorum 
fragra.,  davon  erschienen  vol.  I  fasc.  prior: 
Doriensium  comoedia  mimi  phlyaces,  Berolini 
1899.  Eine  Anzahl  Fragmente  sind  aus  Pho- 
tios  hinzugewonnen:  R.  Reitzenstein,  Der  An- 
fang des  Lexik,  des  Phot,  Leipz.  1907,  XVI  ff. 
Über  den  Zuwachs  aus  Papyri  s.  die  einzelnen 
Dichter.  —  Edelestand  du  Mi^ril,  Histoire 
de  la  com^die  ancienne,  2  voll.  Par.  1864.  69; 

F.  H.  M.  Blaydes,  Adversaria  in  Comic,  graec. 
fragmenta,  2  Teile,  Halis  1890  und  1896;  A. 
Körte,  Archäologische  Studien  zur  alten  Ko- 
mödie, Jahrb.  d.  arch.  Inst.  8  (1893)  61  ff; 

G.  Thiele,  Die  Anfänge  der  griech.  Komödie, 
N.  Jahrbb.  f.  Philol.  9  (1902)  405  ff.  —  Jahres- 
bericht über  die  Komiker  im  Jahresber.  über 
die  Fortschr.  der  kl.  Alt.  von  C.  v.  Holzinoer, 
zuletzt  Bd.  116  (1903)  159—328. 


376  Qriechische  Litteratorgeflohichte^    I.  KlaasiBche  Periode. 

Phallos,  dem  Symbol  der  Zeugungskraft  des  Vegetationsdämons,  umher- 
zogen, fanden  an  vielen  Orten  statt.  Von  dem  Brauch  an  den  ländlichen 
Dionysien  gibt  Aristophanes  in  den  Acharnem  259  ff.  ein  anschauliches 
kleines  Bild.  Genauer  beschreibt  Semos  von  Delos  bei  Athen,  p.  622  c  aus 
späterer  ZeitO  solche  Aufzüge:  die  Phallophoren  ziehen  zuerst  unmaskiert, 
aber  die  Köpfe  mit  Blattwerk  umhüllt,  in  Wieselpelzen  im  raschen,  iam- 
bischen  Takt  in  die  Orchestra  ein;  dann  laufen  sie  auf  die  einzelnen  zu 
und  überschütten  sie  mit  Spottversen.  Ähnlich  war  die  von  Herodot  V  83 
geschilderte,  in  Aigina  heimische  Feier  der  Fruchtgöttinnen  Damia  und 
Auxesia,  von  der  die  Spottverse  in  Aristophanes'  Fröschen  416  ff.  ein  Ab- 
bild geben.*)  Verwandter  Natur  waren  auch  die  Spässe  der  Dikelisten') 
in  Sparta,  die  mit  Geberden  und  Worten  den  fremden  Quacksalber  oder 
den  Krautdieb  nachahmten,*)  die  Scherze  der  vermummten  Bauern  und 
Hirten  in  Sparta  und  Sizilien,^)  die  komischen  Gesänge  der  Lysioden  und 
Magoden  in  Unteritalien.  0)  DeutUch  lassen  sich  zwei  Arten  scherzhafter 
Darbietungen  unterscheiden:  auf  ionischem  Boden  die  satirischen,  mit  per- 
sönlicher Invektive,  wie  sie  Archilochos  und  Hipponax  litterarisch  gefaßt 
haben,  auf  dorischem  die  humoristischen,  die  zu  der  dorischen  Typen- 
komödie und  dem  Mimos  hinführen.  Die  attische  Komödie  hat  beide  Ele- 
mente in  sich  aufgenommen. 

213.  Aus  solchen  volkstümlicheil  Schwänken  und  Neckereien  sind  die 
verschiedenen  Arten  der  komischen  Muse  hervorgegangen.  Die  Komödie 
knüpfte  insbesondere  an  die  Phallika  an;  denn  sie  war  und  blieb  mit  dem 
Kultus  des  Dionysos  und  seinen  Festen  aufs  engste  verknüpft.  Gelegen- 
heit zum  Vortrag  der  Scherze  bot  der  xw/tiog,  der  lustige  Aufzug  zu  Ehren 
des  Bakchos,  und  von  ihm  hat  die  Komödie  den  Namen.  ^)  Die  Anfänge 
der  Komödie  sucht  Aristoteles  poet.  3  bei  den  dorischen  Megarern,  den 
nisäischen  im  griechischen  Festland  und  den  hybläischen  in  Sizilien.*)  Im 
festländischen  Megara  mag  die  Ochlokratie  nach  dem  Sturz  des  Tyrannen 

M  In  spätere  Zeit  gehört  jedenfalls  auch  lautliche   Prägung    in   dorischem  Gebiet   er- 

was  Ath.  445b  über  Antheas  von  Lindos  und  :   halten:   A.  Thumb,   Die  griech.  Sprache   im 

seine    bakchischen     Ausgelassenheiten     be-  '   Zeitalter  des  Hellenism.,  Straßb.  1901,  60. 

richtet.  *)  Ath.  62 Id. 

■'')  Von  Phallophoren   in    Sikyon  spricht  ,            '^)  Vgl.   den  Traktat  Jt^gi   xijc:  Fvoeaeio^ 

Ath.  621  d.     Über   Neckereien   und   Obszöni-  nov  ftovxohx(7n'  vor  den  Theokritscholien. 

täten  beim  Demeterkult  s.  a.  Diod.  V  4,  5  und  «)  Ath.  621 ;  vgl.  C.  J.  Grysar,  De  Do- 

dazu  Wesscling;    Weiteres  Chb.  A.  Lobeck,  riensium  comoedia.   Colon.  1827.     H.  Reich, 

Aglaoph.  689.   Spottreden  zwischen  Männern  Der  Mimus  I  275  ff. 

und  Weibern  beim  Fest  des  Apollon  Aigletes  ')  Der  Ableitung  von  xu)iu]  Dorf  (Aristot. 

in  Anaphe  Apoll.  Rhod.  Arg.  IV  1717  ff.  poöt.  1448a  35)    liegt   die  Tendenz   zugrund, 

^)  dixf/Äor  =  Fidouov,  fuftjjfiu  Hesych.  die  Komödie  ganz  aus  dem  dorischen  Gebiet 
s.v.;  Hdt.  II  171.  Wenn  das  Wort,  wie  es  herzuleiten.  Über  die  Kontroverse  in  betreff 
scheint,  ionischen  Ursprungs  ist,  so  würde  1  des  dorischen  oder  nichtdorischen  Ursprungs 
folgen,  daß  diese  komischen  Produktionen  |  der  Komödie  s.  J.  Poppelrküter,  De  com. 
in  Sparta  aus  dem  Osten  importiert  und  von  ;  Att  primordiis,  Berl.  1893.  14. 
ionischen  Künstlern  ausgeführt  worden  sind.  *)  Aspasios  zu  Arist.  eth.  Nie.  TV  6  nennt 
Dem  entspricht,  daß  Plat.  leg.  VllI  816 de,  i  die  Megarer  Erfinder  der  Komödie:  vgl.  Anth. 
wahrscheinlich  im  Anschluß  an  dorische  Sitte,  Pal.  XI  32.  Wilamowitz.  Die  megarische  Ko- 
komisclie  Rollen  nur  durch  Sklaven  oder  mödie,  Henn.  9  (1875)  319  ff.  will  die  mega- 
Ausländer übernehmen  läßt.  Übrigens  haben  1  fische  Komödie  auf  Witze  attischer  Komödien- 
doch  auch  manche  Wörter  aus  der  Komödien-  !  dichter  reduzieren,  mit  Unrecht. 
Sphäre  wie  y.oßa).o<;^  aoexaJ.oyogy  (fkvaoog  ihre 


C.  Drama.    3.  Die  Komödie,    a)  Die  Anfänge  der  Komödie.    (§§  213—214.)     377 

Theagenes  (um  600)  dem  Spott  der  Phallophoren  freien  Lauf  gegeben 
haben  ;0  zur  kunstvollen  Entwicklung  ist  aber  der  megarische  Scherz 
(MeyaQixöv  axco/ijua)  nicht  gekommen;  man  sprach  in  Athen  von  ihm  nur 
im  Sinne  von  grober  Zote  und  Bedienten witz.*)  Eine  Hauptfigur  der  mega- 
rischen  Posse  war  der  Maison,  die  stehende  Maske  eines  gefräßigen 
Koches.*)  —  Nach  Attika,  und  zwar  nach  dem  Demos  Ikaria,  wohin  auch 
die  Entstehung  der  Tragödie  verlegt  wird,  verpflanzte  die  Komödie  angeb- 
lich Susarion  aus  Tripodiskos.*)  Es  sind  uns  unter  seinem  Namen  noch 
fünf  sicher  gefälschte  Verse  erhalten,  in  denen  er  sich  als  Sohn  des  Phi- 
linos  aus  Megara  einführt  und  die  große  Weisheit  verkündet  xai  yäo  rö 
yfj/xai  xai  tö  /nij  yij/Liai  xaxov.  Die  pansche  Chronik  (ep.  39)  läßt  ihn  zwi- 
schen 581  und  562  in  Ikaria  auftreten  und  als  Sieger  einen  Korb  voll 
Feigen  und  eine  Amphora  Wein  davontragen.  Aber  die  Stegreifwitze 
(avToox^itdo^ra)  dieses  alten  Lustspiels  paßten  nicht  zu  dem  ernsthaft- 
mystischen  Charakter,  den  die  Religionspolitik  der  Tyrannen  im  6.  Jahr- 
hundert den  städtischen  Dionysien  gegeben  hatte  und  der  ihnen  auch  nach 
Einrichtung  der  Demokratie  zunächst  noch  ausschließlich  verblieb,  bis  man 
zuerst  mit  Zulassung  des  Satyrspiels  der  bäuerlichen  Lustigkeit  des  alten 
Dionysoskultes  eine  Konzession  machte.  So  blieb,  wie  Aristoteles  sagt,*) 
die  Komödie  unbemerkt,  und  es  dauerte  an  hundert  Jahre,  bis  in  Athen 
von  Staats  wegen  Wettspiele  für  Komödiendichter  eingerichtet  wurden. 

214.  Sizilische  Komödie.  Inzwischen  waren  schon  in  Sizilien  die 
Keime  der  dorischen  Komödie  aufgegangen  und  hatte  bereits  Syrakus  nächst 
Aristoxenos  vonSelinus  und  Phormis^)  den  großen  Dichter  Epicharmos'^) 


»)  Plut.  quapst.  gr.  p.  295  d;  Anth.  Pal.  XI 
440. 

*)  Aristoph.  vesp.  57;  nub.  539;  pac. 
739  ff.;  Eupolisfr.  244 K.;  EkphanUdes  fr.  2K. 

')  Aristophanes  Byz.  bei  Ath.  659  a;  A. 


'')  Über  Epicharmos  Anon.  de  com.  4  p.  7, 
16  K.,  ein  Artikel  des  Suidas  und  Diog.  Laert 
VIII  78.  A.  0.  Fb.  Lorenz,  Leben  und  Schrif- 
ten des  Koers  Epicharmos,  Berl.  1864;  Leop. 
Schmidt,  Quaestiones  Epicharmeae,  Bonn  1846. 


Meineke  I  55  f.  I   Die  Fragmente  gesammelt  von  H.  L.  Ahrens, 

*)  Die  Zeugnisse   ttber  diese  Figur,   die  {    De  gr.  ling.  dial.  t.  II,  Gott.  1843,  im  Anhang; 
ihre  Existenz  nur  der  Rivalität  der  attischen   ;   vollständiger  von  G.  Kaibel,  C.  Gr.  Fr.  1  91  bis 


und   dorischen   Ansprüche  auf  die  Komödie 
verdankt,  bei  G.  Kaibel,  C.  Gr.  Fr.  I  77. 

*)  Arist.  poöt.  1449b  1  ff.:  i)  de  xtoftfpöia 
6ia  x6  fiij  ojiovSdü^EoOat  f^  ^QX^^  ??.(i{^ev  '  9<ai 
yao  xooov  fcojfKodioy  oi/'e  jroie  6  aQywv  föiüxfv, 


147.  Daß  Ep.  aus  Kos  stamme,  wird  zuerst  von 
Diog.  L.  1.  1.  behauptet  und  geht  wohl  auf  die 
törichte  Ableitung  von  xoyuuydia  aus  Kio^  (Dio- 
med.  bei  Kaibel,  C.  Gr.  Fr.  I  p.  58,  171  ff.)  zu- 
rück. Überall  sonst  heißt  er  Sikeliote  (Ar.  poöt. 


akk'  £&f?.oi'Tni  fjoay  ijdtj  de  oxfiftaid  rtra  avit^g    [    1448  a  32)   oder  Syrakusier  (in  den  S  378,  2 

zitierten   Epigrammen;   Columella  VII  3,  6; 
Anon.  de  com.  p.  7  Kaibel;  Suid.).    Für  seine 


Bxovorfs  Ol  Aeyoiieyoi  arrti';  Jioifirai  firij/toveroy- 
rat.  Suidas  s.  ^EjTi'/aQua:  nennt  aus  jener 
älteren  Zeit  die  Namen  Euetes,  Euxeni- 
des,  Myllos:  der  letzte  steht  auch  bei  Dio- 


Zeit   sind   zwei   unvereinbare  Ansätze   über- 
liefert (F.  Jacob Y,  Marm.  Par.  p.  181;  Wila- 


medes  p.  488,  24 K.      Der    erste  bezeichnet  ,    mowitz,  Gott.  Gel.  Anz.  1906,  621  f.):  1.  zur 

einen   inschriftlich   bekannten    Tragiker  (A.  j    Zeit  der  Perserkriege  und  des  Hieron  (Timaios, 

Wilhelm,  Urk.  100).  Marm.  Par.,  Suid.  u.a.);  2.  lange  vor  Magnes 

®)  Aristot.  poöt.  5;  Suid.  s.  v.  G.  Kaibel,  i   und  Chionides,   d.  h.  im  6.  Jahrh.  (A.  Wil- 

C.  Gr.  Fr.  1 148.  Den  von  Epicharmos  fr.  88  K.  helm,    Urk.  108).     Er   muß   aber   bis   unter 

erwähnten    Dichter    Aristoxenos    zu    be-  Hierons  Tyrannis  gelebt  haben,    bis  ca.  470 

zweifeln,  ist  kein  Grund.    Der  Spott  auf  die  ,    (fr.  98  K.  bezieht  sich  auf  ein  Ereignis  a.  477/6; 

ftdvTFis,  den  der  einzige  unter  seinem  Namen  Schol.  Aesch.  Eum.  616  K.),  wie  er  denn  90 

erhaltene  Tetrameter  ausspricht,   gehört  seit  (Diog.  L.  VIII  78)   oder  97    (Luc.  macr.  25) 

alter  Zeit  zu  den  Gemeinplätzen  des  Mimos  Jahre  alt  geworden   sein  soll.     Es   ist  kein 

(H.  Reich,  Der  Mimus  I  306  f.).  i   Grund  zu  zweifeln,  daß  Neanthes  von  Kyzi- 


378  Oriechisohe  Litteratnrgeschichte.    I.  ElaaoisGhe  Periode. 

(c.  550—460)  hervorgebracht.  Ihr  Element  ist  nicht  die  Satire,  sondern  der 
Humor,  was  der  Begabung  des  dorischen  Stamms,  aber  wohl  auch  den  politi- 
schen (oligarchischen  oder  monarchischen)  Verhältnissen  der  dorischen  „n/io- 
xQaxia"  (im  Sinn  von  Piatons  Politeia)  entspricht.  Persönliche  Angriffe 
und  die  kühne  Phantastik  *)  der  altattischen  Komödie  fehlen  hier,  dagegen 
werden  drollige  Charaktertypen  in  drolligen  Situationen  mit  harmloser 
Lustigkeit  vorgeführt.  Märchen  und  Mythenparodie  bieten  gewöhnlich  die 
Einkleidung.  Von  kunstvollem  Aufbau  der  Handlung  oder  der  Versmaße 
ist  keine  Rede.  Der  Dialekt  ist  der  epichorische.  Alles  dieses  und  der 
stark  sentenziöse  Einschlag  geben  der  dorischen  Komöde  erheblich  mehr 
volkstümliche  Farbe,  als  sie  die  attische  hat.  Da&  sie  durch  den  Sieg  des 
Attizismus  fast  ganz  verdunkelt  worden  ist,  bedeutet  für  unsere  Kenntnis 
der  antiken  Kultur  eine  der  schmerzlichsten  Einbußen.  —  Das  Andenken 
des  Epicharmos  ehrten  die  Syrakusier  später  durch  ein  ehernes  Standbild, 
zu  dem  Theokritos  ein  Epigramm  dichtete.*)  Seine  Komödien,  deren  Zahl 
zwischen  35,  40  (darunter  vier  strittige)  und  52  schwankt, 5)  und  von  deren 
keiner  sich  der  Aufbau  und  die  szenische  Darstellung  im  einzelnen  mehr 
erkennen  läßt,  waren  zum  größeren  Teil  (19  von  den  erhaltenen  Titeln) 
mythologische  Travestien,*)  die,  wie  schon  die  Titel  Kvxkmti^y  "Apivxog^ 
BovoEiQis  zeigen,  dem  attischen  Satyrspiel  ähnliche  Gegenstände  behandelten. 
Öfter  war  eine  Hauptperson  der  Nimmersatt  und  Kraftmensch  Herakles, 
eine  Lieblingsfigur  des  dorischen  Volksmärchens;  so  im  Buseiris,  wo  er  sich 
in  den  Vorratskammern  des  erschlagenen  Unholdes  gütlich  tat;  im  "'Hßag 
ydjuog  bildete  den  Mittelpunkt  sein  Hochzeitsschmaus  mit  den  leckeren 
Speisen  von  Fischen,  Austern,  Vögeln,  Kuchen,  wie  denn  überhaupt  im 
Lande  der  dapes  Siculae  der  Humor  sich  mit  Vorliebe  in  der  Küchensphäre 
bewegt.  Auch  die  Figur  des  Parasiten  hat  Epicharmos  schon  *(Ath.  235  ef). 
In  den  Kojuacrral  f}  "Acpaiorog  war  die  Fesselung  der  Hera  auf  dem  Thron, 
weil  sie  aus  Eifersucht  dem  Herakles  Nachstellungen  bereitet  hatte,  dar- 
gestellt. 0)  Andere  Stücke  (17  von  den  erhaltenen  Titeln)  mögen  den  Mimen 
verwandt  gewesen  sein  und  boten  Bilder  aus  dem  gewöhnlichen  Leben,  wie 
der  Bauer  QAygojonvog),  die  Festbesucher  (Oeaooi),  oder  witzige  Wettkämpfe 
nach  volkstümlichen  Motiven^)  und  philosophischen  Wortstreit  wie  Fä  xal 
&(üaoaa,  Aoyog  xal  Aoyiva  und  Av^avo/Lievog  Xoyog,'^)  Aus  den  meist  singu- 
larischen Titeln  ergibt  sich,  daß  der  Chor  in  Epicharmos'  Stücken  nicht  die 


kos  fr.  8  M.  richtig  das  auch  Oxyrh.  pap.  IV 
nr.  665,  13.  15  erwähnte  Krastos  (das  F.  G. 
Welcker,  Kl.  Sehr.  I  3,  279  wegzudeuten 
sucht)  als  seinen  Geburtsort  angebe. 

^)  0.  Cbüsius,  Mttnch.  Ak.  Sitz.ber.  1907, 


Epicharmos  W.  Schulze,  Quaest.  ep.  392. 

^)  Darauf  wurde  ehedem  das  Vasenbild 
bei  F.  WiBSELER,  Theatergebäude  Taf.  9,  14 
bezogen,   während  Wieseler  selbst  die  Dar- 
stellung auf  ein  anderes  Stück  bezieht. 
1  ff.,  wo  besonders  das  Fehlen  theriomorpher  •)  Neugriechische  Analoga  K.  Dieterich, 

Vermummungen  erwiesen  wird.  •   Zeitschr.  des  Vereins  für  Volkskunde  12  (1902) 

*)    Theoer.  epigr.  17;    ein    anderes   Epi-       276  f. 
gramm  bei  Diog.  Laert.  VIII  78.  ')  J.Bebnays,  Epicharmos  und  der  ^T»^«- 

*)  Suid.,  Anon.  de  com.  40.  •'©/««rx: /.o;os%  Ges.  Abb. I,Berl.  1895. 109—117. 

*)  Die  Mythenparodie  setzt  sich  in  dem  Rekonstruktionen  epicharmischer  Stücke  ver- 
unteritAlischen  qXra^  fort:  A.  v.  Salis,  De  |  sucht  0.  Crüsiüs,  Philol.  Suppl.  6  (1891 — 93) 
Doriensium  ludor.  in  com.  Att.  vestigiis,  |  293  besonders  glücklich  für  die  Märchen- 
Baseler  Diss.  1905,  10  f.    Homerparodien  bei   ;   komödie  XvTQat. 


C.  Drama,    8.  Die  Komödie,    a)  Die  Anfänge  der  Komödie.    (§  214.)        379 

Bolle  gespielt  haben  kann  wie  in  der  altattischen  Komödie.  Die  Lustspiele 
waren  im  dorischen  Dialekt  der  Syrakusier  geschrieben  mit  manchen  inter- 
essanten Einsprengungen  aus  altitalischem  Dialekt; 0  von  Versen  gebrauchte 
er  außer  dem  iambischen  Trimeter  insbesondere  den  trochäischen  und  ana- 
pästischen Tetrameter,  diesen  in  zwei  Komödien,  den  XoQevovxeg  und  dem 
^EniviKog^  durchweg;*)  seine  trochäischen  Tetrameter  hatten  durch  die  häu- 
figen Auflösungen  der  Längen  einen  ungleich  bewegteren  Charakter  als  die 
entsprechenden  Verse  des  attischen  Dramas.  Mit  der  Raschheit  des  tro- 
chäischen und  anapästischen  Rhythmus  paarte  sich  die  Lebhaftigkeit  der 
Aktion,  so  daß  seine  Komödien  zu  den  fabulae  motoriae  gerechnet  wurden, 
worauf  sich  der  bekannte  Vers  des  Horaz  epist.  II,  1,  58  bezieht:  Plautus 
ad  exemplar  Siculi  properare  Epicharmi.^)  Daß  die  epicharmische  Typen- 
komödie auf  die  altattische  in  den  dreißiger  Jahren  des  5.  Jahrhunderts, 
zur  Zeit  des  Verbotes  /t/;  drofiaorl  xco/Liciydelv,  besonders  auf  Krates,  und 
dann  wieder  auf  die  mittlere  und  neue  Komödie  eingewirkt  hat,  kann  zu- 
versichtlich angenommen  werden,*)  und  dasselbe  ist  auch  hinsichtlich  der 
Atellane  wahrscheinhch.  Einen  Hauptanziehungspunkt  in  den  Komödien  des 
Epicharmos  bildete  die  Fülle  treffender  Sentenzen,*)  die  schon  früh  aus  ihnen 
ähnlich  wie  aus  denen  des  Menandros  und  bei  den  Römern  aus  denen  des 
Publilius  Syrus  ausgezogen  und,  zum  Teil  wohl  mit  Unechtem  unter- 
mischt, in  Anthologienform  gebracht  worden  sind.  Ob  er  nur  infolge  dieser 
starken  philosophischen  Beimischung  in  seinen  Komödien  zu  dem  Ruf  eines 
Philosophen  gekommen  ist  oder  ob  er  wirklich  (wie  Kaibel  u.  a.  annehmen) 
ein  Lehrgedicht  neol  (pvoeojg  geschrieben  habe,  das  Ennius  in  seinem  Epi- 
charmos in  lateinische  versus  quadrati  übersetzte,  ist  fraglich.  Jedenfalls 
lag  dem  Ennius  ein  solches  Lehrgedicht  unter  Epicharmos*  Namen  vor, 
dessen  Fälschung  Wilamowitz/)  da  es  schon  von  Euripides  benützt  zu  sein 
scheint,  in  das  5.  Jahrhundert  hinaufrücken  will.  Was  der  Lokrer  oder 
Sikyonier  Axiopistos  nach  dem  Zeugnis  des  Philochoros  als  Fvib^m  und 
KavcDv  des  Epicharmos  ausgab  (Ath.  648 d),  braucht  nicht  alles  gefälscht 
gewesen  zu' sein.  Daß  schon  Ende  des  5.  Jahrhunderts  der  Flötenspieler 
Chrysogonos  dem  Epicharmos  eine  Ilohreia  unterschob,  bezeugt  Aristoxenos 
(Ath.  535  d);  was  freilich  Clemens  Alexandrinus'^)  als  aus  der  epicharmischen 
IIokiTeia  stammend  zitiert  (fr.  255 — 57  K.),  mag  man  selbst  einem  schlechten 
Dichter  des  5.  Jahrhunderts  nicht  zutrauen.  Piaton,  der  die  Werke  des 
Dichters  wohl  in  Sizilien  kennen  lernte  und  sie  teils  wegen  ihres  philo- 
sophischen   Gehaltes    teils    wegen   ihrer   Freiheit    von   persönlicher  Satire 


^)  über  die  Wirkungen  des  Digamma  qgevior.  Reste  einer  ca.  280 — 40  v.  Chr.  ge- 
bei  Ep.  F.  Solmsen,  Unters,  z.  griech.  Laut-  schriebenen  Sammlung  epicharraischer  mono- 
und  Verslehre,   Straßb.   1901,  154  ff.  —  Die       stichischer   Sprüche    in    trochäischen   Tetra- 


italischen Wörter  s.  in  dem  Glossarium  Ita 
liotic.  bei  Kaibel,  C.  Gr.  Fr.  I  198  ff. 

^)  Hephaestion  c.  8  p.  25,  1 1  Consbr. 


metem  Hibeh  papyri  1  (1906)  nr.  1.  2. 

•)  Euripides  Herakl.  P  29 f.;  W.  Nestle, 

,       , ^.  _., Philol.  Suppl.  8  (1899-1901)  601  ff.   Die  Be- 

')  Vgl.  Lorenz  a.  a.  0.  215.  merkung,  daß  Euripides  den  Ep.  benutzt  habe. 

*)  LoREKz  a.  a.  0.  207  ff.;    A.  v.  Saus   ,   ist  schon  im  Altertum  gemacht  worden  und 
a.  a.  0.  (s.  o.  S.  878,  4).  hat  zu  Fälschungen  auf  Ep.'  Namen  geführt 

»)   Viel  zitiert   ist  der  Vers  fr.  250  K.:   !   (G.  Kaibel,  C.  Gr.  Fr.  I  p.  146). 
väcfe  y.ni  fiifivao'   dmoTetv   äg^ga   xavxa   räv    ■.  ^)  ström.  V  p.  719  f.  P. 


380   ,  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

(leg.  IX  935  b.  d  ff.)  besonders  geschätzt  haben  wird,  hält  ihn  (Theaet.  152e) 
für  den  ersten  aller  Komiker.  Die  zahlreichen  Fälschungen  ^  auf  Epicharmos' 
Namen  beweisen  seine  große  Berühmtheit.  Aber  im  hellenistischen  Zeit- 
alter verdrängt  der  Gnomiker  Epicharmos^)  den  Komiker.  Diesen  scheint*) 
der  Grammatiker  ApoUodoros  durch  seinen  gelehrten  Kommentar  in  zehn 
Büchern*)  wieder  mehr  ins  Licht  gestellt  zu  haben.  —  Schüler  oder  Sohn 
und  Rivale  des  Epicharmos  war  Deinolochos  (Ael.  nat.  an.  VI  51;  Suid.). 
Im  übrigen  geben  uns  nur  die  wenigen  Reste  der  pseudoepicharmischen 
^Aiakdvjai  eine  Ahnung  von  dem  sonstigen  Leben  der  westgriechischen 
Komödie.  Vielleicht  hat  die  Tyrannis  der  Dionyse  dem  Spiel  ein  Ende 
gemacht  und  die  weitere  Entwicklung  nach  ünteritalien  gedrängt,  wo  dann 
Phlyax  und  Atellane  aufblühten. 

215.  Auch  die  primitive  Form  der  westgriechischen  Komik,  die  veri- 
stische  Einzelszene,  wurde  im  5.  Jahrhundert  künstlerisch  fixiert,  der 
Mimos.^)  Das  Wesen  des  Mimos  besteht  in  photographisch  getreuer 
Wiedergabe  typischer  Vorkommnisse  des  Alltagslebens  in  Form  kurzer 
Monologe  oder  Dialoge,  die  als  Intermezzi  sei  es  bei  Symposien  wie  dem 
von  Xenophon  geschilderten,  sei  es  bei  Agonen  in  der  Orchestra  oder  im 
Hippodrom^)  ohne  Szenerie,  aber  im  Kostüm  rezitierend  vorgetragen  wurden. 
Schöpfer  des  Mimos  als  litterarischer  Gattung  ist  Sophron,  von  dem  Suidas 
folgendes  überliefert:  „Sophron  aus  Syrakus,  Sohn  des  Agathokles  und  der 
Damnasyllis,  lebte  zur  Zeit  des  Xerxes  und  Euripides  und  schrieb  fiifxovg 
ÖLvÖQeiovg  (wie  äyyEkog^  &vvvoi^t]Qag)  und  /nißiovg  yvvaixeiovc;  (wie  äxeoxQiai^ 
vif/iitf'OJiovog,  JTev&€Q(i,  rai  yvrdixegj  a?  mv  ^eov  (pavri  i^eläv,  rat  &djU€vai  rd 
^la&juia);  sie  sind  in  Prosa,  in  dorischem  Dialekt  geschrieben;  man  sagt, 
daß  der  Philosoph  Piaton  sie  immer  las,  so  daß  er  sogar  zuweilen  auf 
ihnen  schlief."  Auch  Mythenparodien  hat  Sophron  geschrieben,  vielleicht 
(H.  Reich,  Der  Mimus  I  239  f.,  387)  eine  eigene  Sammlung  riQojuMia, 
Auch    seine   Sprache    war    stark   mit   italischen    Elementen    versetzt    und 

*)   Zu    diesen   gehören    noch    ein   Lehr-   |   scheinlich  umfaßte  jedes  Buch;  oder  richtiger 
gedieht   XiQior,   das  Kaibel  mit  einer  'Otpo-      jeder  Tomos  eine  Tetralogie. 


jiou'a  identifiziert,  ein  Xoyoc:  jtoos  'Arrrjrooa 
(Plut.  Num.  8),  ein  landwirtschaftliches  Lehr 
gedieht,  auf  das  Columella  I  1  und  Stat.  silv 


*)  J.  A.  Führ,  De  mimis  Graecorum,  Berl. 
1860.  E.  Haüleb,  Der  Mimus  von  Epicharm 
bis  Sophron,  in  Xenia  Austriaca  I,  Wien  1893, 


V  3,  155  dunkle  Anspielungen  machen.    Man-  \   81 — 135;    ders.,  Über  Sophron,  Theokr.  und 

ches  epicharmische  Wort  ist  in  den  Sprich-  i   Herondas.  Verh.  der  Wiener  Philol.vers.  1893, 

Wörterschatz   des  griechischen  Volkes   über-  !   256  ff.     Eine    lebensvolle    Darstellung    der 

gegangen  (0.  Crüsiüs,  Philol.  Suppl.  a.  a.  0.  j   antiken  Mimen  und  ihrer  Verwandtschaft  mit 

281  flf.).  !   den  Gauklern  und  Jongleurs  gibt  Herm.  Reich, 

*)  Das  ist  er  dem  Theokritos  ep.  17  und  '   Die   ältesten    berufsmäßigen    Darsteller   des 

den  Römern,  unter  denen  besonders  Lucretius  griechisch-italischen    Mimus,    Progr.  Königs- 

ihn  begeistert   verehrt  (C.  Pascal,   Atene  e  berg   1897,   jetzt   in    dem   Hauptwerk:    Der 

Roma  3,  1900.  275  ff).  Mimus,  I,  Berlin  1903.   Im  Altertum  schrieb 

')  WiLAMOwiTZ,   Textgesch.  der  griech.  ApoUodoros  einen  Kommentar  in  mindestens 

Lyr.  24  ff.     Von  einer  Schrift  des  jüngeren  drei  Büchern  zu  Sophron.    Athenaios  (281ef) 

Tyrannen  Dionysios  .ifgi  tojv  .^oit^fiduov  'K.ii-  \   hat  davon   ein    großes  Stück  erhalten.     Die 

//tijfioi^   kennen  wir  nur  den  Titel  aus  Suid.  !   Fragmente  gesammelt  von  G.  Kaibel,  Com. 

8.  V.  Aiorrmo^.   Von  Apollodoros' Kommentar  I   Gr.  Fr.  1   152—182,  ein  neues  W^ilamowitz, 

ist  ein  Splitter   durch   das  Wiener  Papyrus-  ;   Herm.  34  (1899)  208. 

fragment  aus  dem  Y>dr'oafi's-afTo//oAoc  (Kaibel,  *)  K.  Hertlino,   Quaest.  mim.,    Straßb. 

C.  Gr.  Fr.  I  p.  108  f.)  auf  uns  gekommen.  1899;  Choric.  apol.  mim.  13,  6;  0.  Crusius, 

*)  Porphyrios  in  Vit.  Plotin.  24;   wahr-  Herondas  übers.,  Gott.  1893  p.  XXXIX  f. 


C.  Drama.    3.  Die  Komödie,    b)  Die  altattische  Komödie.    (§§  215—216.)     381 

in  einer  uns  nicht  mehr  fa&baren  Weise  rhythmisiert.  Der  Einfluß  seiner 
ethopoetischen  Kunst  auf  die  spätere  Litteratur  ist  sehr  bedeutend  gewesen. 
In  den  Idyllen  des  Theokritos  (II  und  XV)  sind  zwei  stark  umstilisiereude 
Nachahmungen  erhalten,  die  uns  für  den  Verlust  der  Originale  entschädigen 
müssen.')  Ob  er  dem  Theokritos  auch  für  seine  bukolischen  Mimen  Vor- 
bilder gab,  ist  fraglich.  Da  Sophrons  Werke  noch  im  6.  Jahrhundert 
n.  Chr.  gelesen  worden  sind  (Ch.  Graux,  Rev.  de  phil.  1,  1877,  209  f.),  so 
ist  die  Hoffnung,  dafs  noch  etwas  von  ihm  aus  ägyptischen  Papyri  zutage 
kommen  werde,  nicht  unberechtigt.  Neben  Sophron  wird  als  Mimendichter 
sein  Sohn  Xenarchos  aus  der  Zeit  des  Tyrannen  Dionysios  genannt.*) 

Neben  dem  Mimos  hat  sich  auch  bereits  im  4.  Jahrhundert  der  Panto- 
mimos  entwickelt,  wie  wir  aus  dem  Gastmahl  des  Xenophon  c.  9  ersehen. 
Dort  nämlich  führt  zum  Schluß  des  Mahls  ein  syrakusanischer  Tanzmeister 
mit  seinem  Personal  den  Pantomimos  Ariadne  und  Dionysios  zum  großen 
Ergötzen  der  Zuschauer  auf.  Es  ist  bezeichnend,  daß  auch  noch  ein  an- 
deres dvd^rjjua  dairog,  das  Kottabosspiel,  aus  dem  tafelfrohen  Sizilien  nach 
Griechenland  importiert  worden  ist.  Von  dem  gleichfalls  aus  dem  Mimos 
entstandenen  Mimiambos  wird  später  unter  Herondas  zu  handeln  sein. 

b)  Die  altattische  Komödie.») 

216.  Festen  Boden  und  dauernde  Heimstätte  fand  das  heitere  Spiel 
in  dem  demokratischen  Attika.  Reichlich  flössen  die  Quellen  für  die  kunst- 
mäßige Komödie  in  den  vielerlei  Scherzen  und  Neckereien,  die  mit  den 
volkstümlichen  Kulten  des  Dionysos  und  der  Demeter  auch  in  Attika  ver- 
bunden waren.  Ebenso  wie  in  dem  ionischen  Kulturbereich,  aus  dem  Archi- 
lochos  und  Hipponax  hervorgegangen  sind,  wog  auch  hier  die  Lust  an 
der  Satire  auf  Personen  und  Zustände  des  aktuellen  Lebens  vor;  daneben 
werden  aber  auch  humoristische  Produktionen  ohne  persönliche  Spitze  nach 
Art  des  dorischen  Mimos  hergegangen  sein.  Einzelne  und  ganze  Gruppen 
traten  da  in  phantastischen  Vermummungen  auf  —  Frösche,  Vögel,  Ritter 
können  wir  schon  lange  vor  Aristophanes  nicht  nur  bei  Magnes,  sondern 
auch  auf  schwarzfigurigen  Vasen  aus  der  Zeit  c.  520 — 480  nachweisen.^) 


*)  Theoer.  II  ist  nach  Sophr.  rai  yvvatxeg,  \   rückgeführt  (H.  Reich,  Mim.  I  137, 1).  —  Üher 

at   xäv  &f.6v   ff  am   i^ekäv    (über  den  Inhalt  die  Rhythmisierung  s.  Ar.  poöt  1447  a  28  flf. ; 

R.  Wünsch,  N.Jahrbb.f  Philol.Suppl.27, 1902,  Schol.  Greg,  Naz.  bei  G.  Kaibel,  C.  Gr.  Fr.  I 

111  ff.),  llieocr.  XV  nach  Sophr.  rat  {>d/4£vai  p.  153, 9  (hier  ist  jtottjTojv  zu  ^vdfioi?  zu  ziehen 

rot  "laOnia  gemacht.    Piaton  (Duris  fr.  45  M.),  und   der  Nachdruck   auf  den  Partizipialsatz 

Herondas,  Moschos  id.  5,   Lucian,  Alkiphron,  jionjxixili:  dvaXoyiag  xaratfornn^ong  zu  legen), 

nach  Joh.  Lyd.  de  mag.  I  41    auch  Persius  Siehe  E.  Norden,  Die  ant.  Kunstprosa,  Loipz. 

sind   mehr  oder  weniger  direkt  von  S.  be-  1898,  47  f. 

einflußt.      Die     Einteilung     der    Mimen     in  *)  Suidas  u.  'Priylvovg,  Arist.  poöt.  1. 

dvöoeioi  und  yvraiy.noi  wird,  da  Piaton  (reip.  V  *)  Außer  den  allgemeinen  oben  S.  375,  7 

451c;  leg.  11669  c;  vgl.  Procl.  ad  Plat  remp.  angezeigten   Werken    über   griech.  Komödie 

T.  I  63,  24  Kr.)  auf  sie  anspielt,  von  Sophron  seien  hier  noch   erwähnt  Th.  Bebok,   Com- 

selbst  sein.   Ein  ca.  100  n.  Chr.  geschriebener  mentationum   de  reliquiis  comoediae  Atticae 

oiiTvßoi:  ^l\u(fom'o<:  /nftoi   yvvmxEioi*  ist   in  antiquae  libri  II,   Lips.  1838;    P.  F.  Kanne- 

Oxyrhynchos  (Oxyrh.  pap.  II  p.  303)  gefunden  oiesser.  Die  alte  komische  Bühne  in  Athen, 

worden.  Der  rhythmische  Abendhymnns  Gre-  Breslau  1817,  geistvoll,  aber  antiquiert, 

gors  von  Nazianz  (W.  Christ,  Anthol.  graeca  l           ^)  J.  Poppelrbuter,  De  comoediae  Atticae 

carm.  christ.,  Berl.  1871  p.  29)  wird  von  alten  primordiis,  Berl.  Diss.  1893;  Ar.  eq.  522  ff. 

Grammatikern  auf  das  Vorbild  Sophrons  zu-  , 


382  Grieohische  LitteratnrgeBohichte.    L  ElaBOBche  Periode. 

Die  Kostüme  waren  von  Anfang  an  mehr  drollig  als  kostbar.^)  Wie  die 
zotigen  Scherze  {aloxQoloyia),  so  ist  auch  die  niedrigkomische  Tracht  mit 
dem  umgehängten  Lederphallos,  den  ausgepolsterten  Bäuchen  und  Gesäßen 
solidarisch  mit  den  Lustbarkeiten  des  volkstümlichen  Dionysosdienstes  ver- 
bunden und  von  hier  in  den  westgriechischen  Phlyax  wie  in  die  altattische 
Komödie  übergegangen.*)  Gelegenheit  zu  dergleichen  Scherzen  bot  sich 
außer  bei  den  phallischen  Aufzügen  der  Dionysien  {evxekddiov  x^Q^  ^Q^' 
^la/tiaxa  Ar.  nub.  312)  auch  bei  den  sogenannten  Gephyrismen  (yeqwgiajioi). 
Es  war  nämlich  bei  den  jährlichen  Prozessionen  zur  Mysterienfeier  in 
Eleusis  Sitte,  daß  an  der  Brücke  (yeqyvga)^  die  über  den  Kephissos  führte, 
Witzbolde  sich  zu  beiden  Seiten  aufpflanzten  und  in  bald  scherzenden, 
bald  beißenden  Versen  die  Vorübergehenden  neckten.*)  Auch  die  Freiheit, 
mit  der  die  Maskierten  vom  Wagen  herab*)  bei  bakchischen  Aufzügen  auf 
die  Leute  rechts  und  links  ihren  Spott  ausgössen,  gab  der  attischen  Ko- 
mödie Nahrung. 

Die  attische  Komödie  ist,  technisch  betrachtet,  ein  Potpourri  aus  den 
Elementen  des  attischen  Faschings,  zusammengehalten  durch  das  lockere 
Band  einer  toll-phantastischen  Idee*)  und  durchdrungen  von  dem  Bestreben, 
im  Sinn  eines  bestimmten  Ideals  von  öffentlicher  Wohlfahrt  politische, 
sittliche,  ästhetische®)  Kritik  in  größtem  Maßstab  zu  üben,  Schädlinge  am 
Gemeinwesen  rücksichtslos  zu  brandmarken,  dabei  die  Zuschauer  tüchtig 
lachen  zu  machen.  So  ist  sie  nach  und  nach  unter  dem  Schutz  der  tio^- 
Q7]oia  ein  Faktor  des  öffentlichen  Lebens  geworden,  dessen  Nutzen  für  den 
Staat  sogar  der  greise  Piaton  (leg.  VII  81 6 d)  anerkennt.')  Nachdem  schon 
um  500  in  dem  Satyrspiel  ein  heiteres  Element  zu  den  städtischen  Dio- 
nysien zugelassen  war,  eröffnete  488/87  der  Archon  Eponymus  bei  diesem 
Fest  auch  für  die  Komödie  einen  Ayiov^  in  dem  als  erster  Chionides  siegte.®) 


*)  Pherecr.  fr.  185  K.  6  xoqo^  6'  avrot^ 
eIx^v  dcbridag  (jvnaoag  xui  oTgwfiaTodfnftac:; 
ähnlich  Aristoph.  fr.  253  K.  Noch  später  galt 
es  als  Beweis  ungebildeten  Protzentums, 
einen  komischen  Chor  mit  der  Pracht  eines 
tragischen  auszustatten,  Aristot.  eth.  Nie. 
1123  a  23.     Siehe  a.  o.  S.  258,  5. 

*)  Das  ist  gegenüber  Th.  Zielinski,  dem 


iudicibus,  Harvard  studies  15  (1904)  121  ff. 
^)  Vgl.  Luc.  pisc.  14  oMa  y^Q  <^^  ovx  &v 
xt  v:z6  axiofif^iaxcK:  /f-ioov  yevotro,  dXXa  roti- 
vavTiov  Sjteg  äv  jj  xaXoVf  ojajrfo  t6  /^vo/ov 
cuioafKOjnfym'  rol^  xofiftaoi  Xa/ijrgoTegov  cbro- 
oTilßFi  xni  qavFQWTFoov  yirFTni,  Ps.Dionys.  Hai. 
rhet.  8,  11  t)  öf  yF  xtofiotdia  oii  :iokixeverai 
F.v  xoig  dodfiaai  xai  q?tAoao(fFT  tj  jtfqi  xov  Kga- 


auch  G.  Thiele,  N.  Jahrbb.  f.  klass.  Altert.  xTrov  xai  'Joiorofidrtp'  xai  Evjiohv^  xi  deT  xai 

9  (1902)  420  beistimmt,  von  A.  Körte,  Jahrb.  i   XF.yFiv;    »)  ydo   toi   xcofio^dta   avxfj   x6  yeXoiov 

des  arch.  Inst.  8  (1893)  61  flf.  erwiesen.   Siehe  ■  ^roooxrjaafjeytj  rfdoooqFt. 

a.  H.  Reich,  Der  Mimus  I  258.  626  f.  *     ^)  E.  Capps.  The  introduction  of  comedv 

')  F.  V.  Fritzsche  in  Ausg.  von  Arist.  into  the  City  Dionysiaat  Athens,  Chicago  1903. 

ran.,  Zürich  1845,  p.  197.  A.  Wilhelm,  Urkunden  108  (bei  Suid.  s.  Xuo- 

*)  Dem.  de  cor.  122;  Harpocrat.  lex.  s.  v.  '   vlöijs  liest  Wilamowitz,  Gott.  Gel.  Anz.  1906, 

TtounFiaQ.  ,  626    statt    :t(jo)Tay(ovioTtjv    offenbar    richtig 

*)  Antiphan.  fr.  191  K.  betont  die  freie  ;  jt/kutov  «j-toivarx/r,  s.  a.  H.  Schenkl,  Herm.  42, 

Erfindung  der  Komödienstoffe  im  Gegensatz  zu  ;    1907,  333  ff.).  Demnach  ist  Th.  Bergks  (Rh. 

den  Tragödien  (s.  a. Tzetz.  bei K aibel,  C.  Gr.  Fr.  Mus. 34, 1879, 305)  Meinung,  der  Komödienagon 

I  17,  4  ff.).  Besonderer  Wert  wurde  darauf  i  sei  zuerst  an  den  Lenäen  und  erst  dann  an 
gelegt,  daß  die  komische  Idee  immer  neu 
sei  (s.  schon  Semos  bei  Ath.  622  d;  Ar.  nub. 
547.  553  mit  Schol.;  vesp.  1044.  1053;  Eupol. 
fr.  78  K.;  Plat.  leg.  VII  816e);  so  wollte  es 
auch  das  Publikum  (Ar.  Eccl.  580). 


6)  G.  W.  Baker,  De  comicis  Gr.  litterar.    \   IV  92). 


den  städtischen  Dionysien  eingeführt  worden, 
aufzugeben.  An  Einfluß  des  Realisten  The- 
mistokles  bei  jener  Neuerung  zu  denken, 
liegt  aus  zeitlichen  und  sachlichen  Gründen 
nahe  (E.  Meyer,  Gesch.  des  Altert.  III  342; 


C.  Drama.    3.  Die  Komödie,    b)  Die  altatÜBohe  Komödie.    (§  216.)  383 

Vielleicht  hat  man  in  dieser  Einrichtung  nicht  nur  ein  Zugeständnis  an 
das  Belustigungshedürfhis  des  Publikums,  sondern  auch  einen  Ausdruck 
der  Überzeugung  von  der  Gemeinnützigkeit  der  Komödie, i)  vielleicht  auch 
von  der  apotropäischen  Wirkung  des  Spottes *)  zu  sehen.  Im  5.  Jahr- 
hundert kamen  bei  den  großen  Dionysien  je  drei,  im  4.  Jahrhundert  an 
den  Lenäen  je  fünf  Komödien  zur  Aufführung,  im  2.  Jahrhundert  steigt 
die  Zahl  sogar  auf  sechs,')  ein  Beweis  für  den  zunehmenden  Geschmack 
des  Publikums  an  der  Komödie.*)  Seit  dem  Jahr  440  finden  sich  in  der 
attischen  Gesetzgebung  Anzeichen  dafür,  daß  man  die  Freiheit  der  Ko- 
mödienkritik lästig  empfand  und  einzuschränken  suchte.*)  Auch  was  Piaton 
in  den  Gesetzen  über  die  Komödie  sagt,  zeigt,  daß  er  zwar  ein  Organ  der 
öffentlichen  Kritik  erhalten,  es  aber  ganz  unter  staatliche  Aufsicht  stellen 
und  ihm  den  Stachel  der  persönlichen  Invektive  nehmen  möchte;®)  Aristo- 
teles schließt  aus  seiner  Ästhetik  die  lajußixrj  Idea^  die  offene  persönliche 
Satire,  völlig  aus,  und  seine  Ansicht  ist  zum  Dogma  geworden,  das  seine 
praktische  Wirkung  von  der  hellenistischen  Zeit  bis  in  das  byzantinische 
Mittelalter  in  der  Litteratur  äußert.  Diese  Entwicklung  drängte  die  Ko- 
mödie seit  Ende  des  5.  Jahrhunderts  nach  der  Richtung  des  harmlos  humo- 
ristisch Typischen  und  Parodischen  hin,  das  in  der  mittleren  und  neuen 
attischen  Komödie '')  sowie  in  der  kynischen  Humoristik  zum  Ausdruck 
kommt.  Für  uns  sind  so  die  Stücke  der  alten  Komödie  ein  Spiegelbild 
der  Zeit,  freilich  im  Hohlspiegel;  insbesondere  lernen  wir  aus  ihnen  die 
sozialen  Zustände,  Fragen,  Ideale  des  damaligen  Athen,  über  die  uns  Thu- 
kydides  so  kärglich  unterrichtet,  vorzüglich  kennen.  Schon  Piaton  soll  dem 
Tyrannen  Dionysios,  um  sich  vom  athenischen  Staat  ein  Bild  zu  machen, 
die  Lektüre  der  Komödien  des  Aristophanes  empfohlen  haben.®) 

In  ihrem  Aufbau  und  der  Verwendung  der  Kunstmittel  behält  auch 
die  Kunstkomödie  des  5.  Jahrhunderts,  vergUchen  mit  der  Tragödie,  von 
ihren  volkstümlichen  Ursprüngen  her  etwas  äußerst  Luxuriantes  und  läßt 


*)  Diese  wird  von  den  altattischen  Ko- 
mikern wiederholt  betont:  Ar.  vesp.  651  (id- 
oao&ai  vöoov  dgxoLiav  ev  t//  :x6X€i  svTEXOHvTav) ; 
ran.  389  f.  (xai  Jiokkd  fih  yelotd  ft  slneXVf  jroXXd 
6k  a:iovdaia).    686  (roi»  ifgov  ;fo(>ov  öixaidv  iaxt 


höhnung  der  Beamten  untersagt  wurde  (s. 
Phrynichos  im  Monotropos;  vgl.  Schol.  Arist. 
nub.  31.  ran.  501;  Xen.  de  rop.  Ath.  2,  18). 
Vgl.  A.  Mbinbkb  I  40  ff.;  Th.  Bebgk,  Über 
die  Beschränkungen  der  Freiheit  der  älteren 


XQt}oza   rfi   jioXst  ^vu.tagaivfTv  xai  Siödoxetv).  \   Komödie  zu  Athen,  Kl.  Sehr.  II  (Halle  1886) 

2)  K.  SiTTL,  Die  Gebärden  der  Griechen  |   444  ff. ;  H.  Lübke,  Observat.  crit.  in  bist.  vet. 

und  Römer,  Leipz.  1890,  117.  com.,  Berl.  1883. 

»)  A.Müller,  Griech.  Bühnenaltert.  321;  i           ß)  Fb.  Stahlin,  Die  Stellung  der  Poesie 

A.  WiLHBLM,  Urk.  53.  69.  72.  74.  I   in   der  piaton.   Philos.,  München  1901,  58. 

*)  Vgl.  R.  Herzoo,  Koische  Forschungen  \   Siehe  bes.  Plat.  leg.  XI  934  c  ff. 

und  Funde,  Leipz.  1899,  54  f.  ^)  Über  die  ältere  Zweiteilung  und   die 

*)  Das  erste  Verbot  des  ovofiaori  xMftqy-  jüngere    (erst    seit    hadrianischer   Zeit    auf- 


6flv  wurde  unter  dem  Archon  Morychides 
Ol.  85,  1  =  440/39  erlassen  und  drei  Jahre 
später  unter  dem  Archon  Euthymenes  (s. 
Schol.  Arist  Ach.  67)  wieder  aufgehoben; 
neue  Beschränkungen  scheinen  428  7  durch 


tretende)  Dreiteilung  der  attischen  Komödie 
in  :iaXatd  (jieotj),  und  rm  s.  Tu.  Kock,  Com. 
Att.  fr.  n  11. 

*)  W.VisoHEB,  Über  die  Benutzung  der 
alten  Komödie  als  geschichtliche  Quelle.  Basel 


Antimachos  ergangen  zu  sein  (s. Schol.  Arist.  1840,  in  Kl.  Sehr.  I  (Leipz.  1877)459  ff.;  H. 

Ach.  1150)  und  wurden  durch  ein  Psephisma  '   Mülleb-Strübino,  Aristophanes  und  diehisto- 

des  Syrakosios  417/6  (s.  Eupolis  in  den  Poleis  j   rische  Kritik,  Leipz.  1873;   J.  Muhl,  Zur  Ge- 

und  Schol.  Arist.  av.  1297)  erneut  eingeschärft,  |   schichte  der  alten  attischen  Komödie,  Augsb. 

durch  das  insbesondere  die  namentliche  Ver-  Progr.  1881. 


384  Chrieohische  Litteratnrgeachichte.    I.  Klassische  Periode. 

sich  nicht  auf  eine  feste  Formel  bringen.*)  Der  Chor  wird  in  weitest- 
gehender Weise  in  die  Handlung  hereingezogen,  auch  in  zwei  Gegenchöre 
zerlegt,')  in  seine  Elemente  aufgelöst,  die  Zahl  der  Rollen  und  der  Schau- 
spieler, die  offenbar  für  die  Komödie  weit  billiger  als  für  die  Tragödie  zu 
haben  waren,  ist,  soweit  wir  sehen,  viel  größer  als  in  der  Tragödie,  der 
Aufbau  überaus  locker  und  jeder  erheiternden  Episode  zugänglich,  mag  sie 
auch  noch  so  wenig  zur  Sache  gehören.  Die  Satire  äußert  sich  in  der 
ganzen  Einkleidung,  dem  Gesamtplan,  zahlreichen  Einzelexkursen  im  Stück, 
hat  aber  ihren  eigentlichen  Sitz  in  dem  merkwürdigen  Gebilde,  das  ent- 
wicklungsgeschichtlich ohne  Zweifel  die  Keimzelle  der  Kunstkomödie  und 
im  übrigen  das  unterscheidende  Merkmal  der  jiaXaid  darstellt,  der  Papibase. 
Sie  hat  ihren  Namen  daher,  daß  der  Chor,  ursprünglich  in  anapästischen 
Rhythmen,  am  Publikum  mit  abgenommener  Maske^)  vorbeimarschiert  und 
im  Namen  des  Dichters  dessen  persönliche  Sache  gegen  Anfechtungen  führt. 
Die  Bezeichnung  paßt  indessen  eigentlich  nur  auf  den  ersten  Teil  der 
Parabase,*)  der  in  reinen  Anapästen  gehalten,  also  wohl  dorischen  Ur- 
sprungs ist  und  in  drei  Gruppen  zerfallt,  eine  kleine  Reihe  anapästischer 
Kurzverse  (z.  B.  Ar.  eq.  498 — 506),  mit  denen  der  Chor  sich  von  den 
Schauspielern  verabschiedet  und  der  eigentlichen  Parabasis  zuwendet,  xo/i- 
jLidnov  genannt,  dann  eine  lange  Partie  aus  anapästischen  Langversen  (Ar. 
eq.  507 — 546)  jiagdßaoig  oder  ävoTiaioToi  im  engeren  Sinn  genannt,  auch 
wenn  sie  nicht  aus  wirklichen  Anapästen  bestanden,*)  endlich  wieder  einige 
ohne  Atemholen  rasch  zusammengesprochene  anapästische  Kurzverse,  das 
/tiaxgov  oder  jivTyog  (Ar.  eq.  547 — 50).  Nach  diesem  „Aufmarsch*  folgt 
ein  Standlied  des  Chors  aus  zwei  korrespondierenden  Strophen  (cödtj  und 
(iVTfodt])  in  lyrischem  Maß  (Ar.  eq.  551  —  64,  581 — 94),  das  einen  ursprüng- 
lichen v/ivog  7iaQaß(x)inio<;  darstellt;^)  nach  jeder  Strophe  wird  nun  aber,  in 
epirrhematischer  Komposition,  eine  Reihe  von  gewöhnlich  16  trochäischen 
Tetrametern,  imoQtjjna  und  ävremQQTjjua  (Ar.  eq.  565 — 80,  595 — 610),  ein- 
geschaltet. Den  Inhalt  der  Trochäen  bildet  regelmäßig  politische  oder 
soziale  Satire   im  öffentlichen   Interesse.     In  diesem  Teil   der  altattischen 


^)  Die  Arbeiten  von  Th.  Ziblinski,  Die  1   basen  liegen  uns  noch  in  Ar.  Ach.  eq.  vesp. 

Märchenkomödie  in  Athen,  Petersb.  1885,  und  |   av.  vor. 

die  Gliederung  der  altattiachen  Komödie,  Leipz.  ^)  In  der  Blütezeit  der  Komödie  scheinen 

1885  sind  anregend  und  scharfsinnig,  aber  viel  die  Dichter   ihren  Ehrgeiz  darein  gesetzt  zu 

zu   sehr   ordine  gcometrico  angelegt  und  in  I   haben,    gerade    in    den   sog.  drdjraioToi    im 

ihren  Ergebnissen  nicht  haltbar.  ,   engeren    Sinn    neue   Versmaße    (und    ihnen 

*)    Wahrscheinlich    ist    nur    die   e^odog  I   entsprechend   ohne  Zweifel  auch  neue  Tanz- 

immer  vom  Gesamtchor  vorgetragen  worden.  weisen)   zu   produzieren :   so   Pherekrates   in 

A.  CoüAT,  M^Ianges  Weil  39  ff.  seiner  Korianno  die  ^avftnxvxxoi  dvdjzataToi'^ , 

3)  dn<>dryt€s  Vgl.  Ar.  pac.  729;  Lys.  615.  i   die  tatsächlich  Dimeter  aus  lonici  a  minore 


637.662.686;  Thesm.  656. 

**)  über  die  Gliederung  Hephaest.  p.  72  f. 
CoNSBR.,  wo  die  Definition  gegeben  ist:  xn- 
Iniat   tSk  zTavd(innic,    LiFibij  FtoEAÜdriFs   sis   t6 


mit  Molossus  an  erster  Stelle  sind  (versus 
Pherecrateus) ;  versus  Cratinei  bei  Kratinos 
und  Aristophanes ;  ionische  Tetrameter  bei 
Phrynich.  fr.  70  K.;   daktylische  Hexameter 


OftiToor  y.ni  arrino6o(i)not   dAh'jkot?  ordvxes  oi  Pherecrat.  fr.  152.  153. 

yooFrrni   mmißanov  xai  Ftg  t6    ßFargov  djTo-  |            ^)  Besonders  deutlich    ist   der  Hymnen- 

ßAF.ioriFs    F/.Fyoy  ura:    von   naoaßaivFir   ,io6g  Charakter     noch     in    Aristophanes'    Rittern, 

To  {)mToor  Ar.  pac.  735. :  eq.  507.    Vgl.  auch  I   Wolken    und    Vögeln ,    melir    verwischt    in 

Platonius  de  com.  8;  Schol.  Ar.  ran.  686.    In  Achamern.  Frieden  und  Fröschen,  ganz  un- 

allcn    Teilen    vollständig    ausgebaute    Para-  ,   kenntlich  in  den  Wespen. 


C.  Drama.    8.  Die  Komödie,    b)  Die  altattische  Komödie.    (§  216.)  385 

Komödie  schimmern  noch  deutlich  kultliche  Vorgänge  aus  dem  alten  Dio- 
nysosfest hervor.*)  An  diesen  Mittelpunkt  schlössen  sich  wohl,  vorher- 
gehend oder  nachfolgend,  schon  beim  alten  Volksfest  selbst  verbindungs- 
los die  allerlei  komischen  Szenen,  die  dann  durch  die  Kunstkomödie  leid- 
lich auf  einen  Faden  gezogen  worden  sind  und  die  J.  Poppelreuter  passend 
mit  den  Entremeses  bei  den  Kirchenfesten  in  Spanien  verglichen  hat.  Die 
Charaktere,  welche  die  altattische  Komödie  vorführt,  sind  zum  Teil,  zumal 
in  den  Nebenfiguren,  von  der  dorischen  Typenkomödie  beeinflußt,*)  meist 
aber  unmittelbar  aus  dem  attischen  Leben  der  Gegenwart  abgezogen,  selbst 
mit  Porträtzügen  —  so  Sokrates  und  Kleon  bei  Aristophanes  —  aus- 
gestattet.«) Das  Hauptinteresse  wenden  die  Dichter  auf  die  Schürzung  des 
phantastischen  Knotens;  die  Lösung  wird  sehr  leicht  genommen  und  nicht 
selten  mit  einem  lustigen  Hussah  der  Schluß  eiligst  abgemacht  (so  Ar. 
Ach.  pax  av.  Eccl.  Plut.).**)  Manche  Stücke  des  Aristophanes  zerfallen  in 
zwei  schlecht  verbundene  Teile  (vesp.  nub.  Lys.  Thesm.  ran.),  die  sich 
als  konstruktiver  und  exemplifizierender  unterscheiden  lassen; 5)  der  erste 
schließt  mit  der  Durchführung  des  phantastischen  Planes,  der  zweite  schil- 
dert in  Einzelbildern  den  erreichten  Zustand,  auch  in  der  Form,  die  das 
heutige  Kasperletheater  noch  kennt,  daß  allerlei  zweifelhafte  Persönlich- 
keiten auftreten,  die  aus  der  neuen  Ordnung  der  Dinge  für  sich  Vorteil 
ziehen  oder  sie  stören  möchten,  nun  aber  derb  abgewiesen  werden.  Be- 
liebt sind  Szenen  aus  der  Sphäre  des  niedersten  Volkes  und  der  Sklaven 
mit  allen  hier  üblichen  Kalauern  und  Obszönitäten,  Wortkämpfe,")  märchen- 
hafte Einkleidungen  wie  der  Auszug  in  ein  Schlaraffenland  (Ar.  av.),  die 
glückselige  Urzeit  (Ath.  267  e  flf.),  die  verkehrte  Welt  (Eccles.),  Natur- 
zustände (Pherecr.  ""Aygioi),  Himmelfahrt  (Ar.  pax),  Höllenfahrt  (Ar.  ran., 
Pherecr.  Kgajtdmkoi,  MeraXX^g),  Zitation  Verstorbener  aus  dem  Hades  (Pla- 
tonios  de  com.  15)  u.  ä.  Von  besonderen  Mitteln  komischer  Wirkung  sind 
bemerkenswert  die  Zerstörung  der  Illusion  durch  Herausfallen  aus  dem 
Zusammenhang,  Apostrophierung  des  Publikums,  lokale  Anspielungen,  der 
Wechsel  zwischen  Pathos  und  Niedrigkeit,  poetischer  und  prosaischer  Form 
(Schol.  Ar.  eq.  941);  ferner  die  Parodie  ernster  Dichtung  in  Sachen  und  Aus- 
drücken,^) die  Verwendung  von  Lokaldialekten  (Böotisch  und  Megarisch  Ar. 

*)  W.  ScHMiD,   Zur   Geschichte    des  gr.  |  linskis  Versuch,   die   ganze   altatt.  Komödie 

Dithyrambus,  Progr.  Tübingen  1901,  13  ff.  I  aus   dem   dywv   zu    entwickeln,   ist  verfehlt 

')  I.  Brxtns,  Das  litterar.  Porträt  176  ff.  I  (s.  J.  Poppelreüter  a.  a.  0.;   H.  Weil,   fit. 

*)  I.  Bbtins  a.  a.  0.  171  ff.     Den  Typus  '  sur  le  drame  ant.  283  ff.).     Wenig  Sicheres 


des  athenischen  Philisters  hat  Aristophanes 
besonders  reichlich  variiert  (Dikaiopolis,  De- 
mos, Trygaios,  Pisthetairos,  Euelpides,  Dio- 
nysos, Chremes). 

*)  Über  die  dm^ia  der  alten  Komödie, 
insbesondere  die  saloppen  Schlüsse  s.  J. 
Tzetzes  bei  Kaibel,  C.Gr  Fr.  I  p.  18. 28;  Plato- 
nios  ibid.  6,  79;  vgl.  auch  Aristoph.  fr.  254  K. 


bringt  H.  E.  Sieokmann,  De  comoed.  att.  pri- 
mordiis,  Gott.  1906.  Den  Anregungen  von 
Zielinski  und  Poppelreuter  geht  W.  Süss  (Z. 
Komposit.  der  altatt.  Korn.,  Rh.  Mus.  63, 1908, 
12  ff.)  weiter  nach,  handelt  besonders  über 
die  lustige  Person  {ßioi^okoxos).  Auch  die 
Götter  werden  ins  Possenhafte  gezogen,  nur 
Zeus  ist  (vom  Amphitryonstoff  abgesehen)  in 


über  die  Älteren  Komiker:  wroK  ai'Tor?  ara^ai-   '   der  Regel    verschont   worden;   die  kynische 


^  *)  Th.  Kock,  Rhein.  Mus.  39  (1884)  118  ff. 

®)    Die    Altercatio    begegnet   schon   bei 

Epicharmos    (s.  o.  S.  378)   und   in   sonstiger 

Volkskomik  (M.  Haupt,  Opusc.  III  20).    Zie- 

Handbnch  der  klass.  AltertnmrwiBBenschaft.    VII.    5.  Anfl.  25 


Humoristik   (Luc.  lupp.  trag.  u.  lupp.  conf.) 
zieht  auch  ihn  herein. 

')  W.  G.RuTHBRPORD,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil. 
Suppl.  13  (1884)  386  ff. 


386  Griechische  Litteratorgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

Ach.,  Lakonisch  Ar.  Lys.)  oder  barbarischem  Kauderwelsch,»)  drollige  Wort- 
bildungen, besonders  neue  Komposita  und  Deminutiva.  Alles  dies  zusammen 
gibt  der  alten  Komödie  die  Buntheit  des  Harlekingewandes,  wie  sie  das 
Publikum  ohne  Zweifel  verlangte.^)  Erst  der  Einfluß  der  Tragödie  hat 
strengeren  Bau  in  der  mittleren  und  neuen  attischen  Komödie  bewirkt. 
Die  Fruchtbarkeit  der  altattischen  Komödiendichter  ist  weniger  grofi  als 
die  der  Tragiker,  vielleicht  weil  es  schwieriger  ist,  eine  gute  Komödie  zu 
schreiben  als  eine  gute  Tragödie,  vielleicht  auch  mit  aus  dem  äußerlichen 
Grund,  weil  die  Zahl  der  zur  Festkonkurrenz  zugelassenen  Komödien  kleiner 
war  als  die  der  Tragödien;  sie  wächst  aber  enorm  im  Zeitalter  der  mitt- 
leren und  neuen  Komödie.  Kock  weist  1483  Titel  attischer  Komödien  und 
c.  170  Namen  komischer  Dichter  nach.«) 

Die  Sprache  der  Komödie  schloß  sich  selbstverständlich  eng  an  die 
Umgangssprache  des  Volkes  an,  so  daß  epische  Formen  aus  dem  Dialog 
mehr  als  in  der  Tragödie  ausgeschlossen  waren  und  die  herv^orragendsten 
altattischen  Komiker,  wie  Pherekrates  und  Aristophanes,  zugleich  als  die 
reinsten  Vertreter  des  Attikismos  galten.*)  Daneben  aber  verstanden  es 
die  Dichter,  durch  kühne  Wortbildungen,  eingelegte  Fabeln,  Parodien 
lyrischer  und  tragischer  Verse  der  Diktion  Reiz  und  poetischen  Anstrich 
zu  geben.  Poesie  für  das  niederste  Volk  bieten  sie  nicht,  sondern  setzen 
zu  ihrem  vollen  Verständnis  eine  beträchtliche  litterarische  Bildung  voraus 
und  konnten  sie  bei  ihrem  attischen  Publikum  offenbar  voraussetzen.  Die 
Rhythmen,  namentlich  der  gesungenen  Stellen  tragen  entsprechend  der  aus- 
gelassenen Art  des  Spiels  und  Tanzes  einen  munteren  und  bewegten  Typus; 
neben  den  anapästischen  Tetrametern  spielen  die  Trochäen  und  die  sonst 
in  der  Lyrik  des  Dramas  ziemlich  selten  vorkommenden  Paionen  eine 
Rolle.  Auch  der  Hauptvers  des  Dialoges,  der  iambische  Trimeter,  wird 
durch  die  häufigen  Auflösungen  und  die  Einmischung  von  Anapästen  be- 
wegter zugleich  und  lässiger.  Im  übrigen  enthält  die  Komödie,  soweit  sie 
nicht  auch  im  Rhythmus  ernste  Dichtung  parodiert,  vorwiegend  populäre, 
leicht  ins  Gehör  fallende  Weisen.^) 

217.  Die  ältesten  Komödiendichter  Athens  nach  den  Perserkriegen 
waren  Chionides,  Magnes,®)  Alkimenes,  Euphronios,  Ekphantides. 
Hauptstelle  über  die  Urgeschichte  der  attischen  Komödie  ist  Aristophanes 

*)  Vgl.  Aesch.  SuppL,  Timoth.  Pers.;  P.   '   tes;   s.  W.  G.  Rütherford,   Zur  Geschichte 


Kretschmer,  Griech.  Vaseninschr.  80  f. 

*)  Das  Publikum  wollte  hier  kein  Stocken, 
keine  Langeweile  (Ar.  Eccl.  582),  keine  ver- 
brauchten Effekte  (id.  ib.  580).  Neuheit  der 
iÖEm  wird  hervorgehoben,  Plagiat  gerügt,  s. 


des  Atticismus.  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl.  18 
(1884)  355—399,  und  o.  S.  245,  2. 

*)  Sehr  viele  Metra  sind  nach  Dichtem 
der  alten  Komödie  benannt,  wie  Cratineum, 
Eupolideum,  Pherecrateum,   Aristophaneum, 


o.  S.  382,  5.  I   Phrynicheum.      Siehe  0.  Leichsenrino,   De 

')  Die   entsprechenden   Zahlen   ftir  Tra-  ,   metris    Graecis    quaestiones    onomatologae, 

gödien  und  Tragiker  s.  o.  S.  374.  Diss.  Greifsw.  1888. 

*)  W.  ScHMiD,  Der  Atticism.  I,  Stuttg.  «)  Nach  Aristot.  poöt.  3  p.  1448a  33  leb- 
1887,  207  ff.  Der  strengere  Attikismos  der  ten  Chionides  und  Magnes  lange  nach  Epi- 
Komödie zeigt  sich  besonders  in  dem  Ge-  charmos.  Das  ,lange'  erhält  seine  nähere  Be- 
brauch von  TT  statt  on,  in  den  Pluralen  iJTJiijc,  Stimmung  durch  das  Jahr  von  Chionides* 
'Axntn'fis  statt  der  neuattischen  iiJietg,  'Axng-  erstem  Sieg  487.  Der  Sieg  des  Magnes 
rffs,  und  in  der  Seltenheit  von  Formen  und  a.  472  (CIA  II  971  a)  wird  nicht  sein  erster 
Wörtern  des  epischen  und  ionischen  Dialek-  gewesen  sein  (A.  Wilhelm,  ürk.  108). 


C.  Drama.    8.  Die  Komödie,    b)  Die  altattiBche  Komödie. 


217-218.)     387 


Ritter  520  flf.  Der  erste  Sieger  bei  den  städtischen  Dionysien  war  Chio- 
nides  a.  487.*)  Alkimenes  und  Euphronios  haben  je  einen  städtischen  Sieg 
gewonnen,*)  der  letztere  im  Jahr  458.*)  Nach  Anonymus  de  com.  II  5 
(p.  7,  20  Kaibel)  und  CIA  II  977  hat  Magnes  elf  städtische  Siege  davon- 
getragen,*) eine  bemerkenswert  hohe  Zahl;  es  hat  sich  aber  von  ihm  nichts 
erhalten.^)  Titel  seiner  Stücke  waren  Aiovt^oog,  Avdoi,  TIodaTQiai,  vielleicht 
auch  Bagßmoral,  Bdroaxot,  ""Ogvi&sg,  W^veg,  woraus  man  ersieht,  daß  er 
phantastische  Ausstattungen  des  Chors  schon  vor  Aristophanes  aus  dem 
Volksbrauch  entnommen  hatte. 

218.  Kratinos  (gestorben  zwischen  423  und  421), ß)  der  neben  Eupolis 
und  Aristophanes  in  den  Kanon  aufgenommen  wurde,'')  soll  der  Begründer 
der  Komödie  mit  politischer  Satire  und  kunstmäßigerer  Haltung  geworden 
sein.  8)  In  seinen  Sympathien  (konservative  Richtung,  Lob  der  alten  Zeit) 
und  Antipathien  (gegen  die  Sophisten,  Kallias,  Perikles,  die  Obskuranten- 
partei, die  Verweichlichung,  die  neumodische  Musik,  die  fremdländischen, 
besonders  orientalischen  Kulte)  stimmt  er  mit  Aristophanes  überein,  wie- 
wohl er  sich  gelegentlich  (fr.  200.  307  K.)  auch  an  ihm  reibt.  Ein  An- 
hänger des  Kimon*)  und  der  konservativen  Partei,  verfolgte  er  heftig  den 
Perikles,  den  er  in  den  Sgarrai  den  zwiebelköpfigen  Zeus  schalt  und  in 
den  XeiQcoveg  von  der  Zwietracht  und  dem  Kronos  geboren  sein  ließ.^^) 
Im  Privatleben  war  er  ein  Freund  lustiger  Gelage  und  der  Weinflasche; 
von  ihm  rührt  der  Vers  her: 

vdojg  de  mvcov  .^grjordi'  ovdev  äv  rexotg.^^) 
Als  Komödiendichter  trat  er  nach  Eusebios   erst  im  Jahr  453  auf;   Siege 


»)  A.  Wilhelm,  ürk.  107  f.  Siehe  a.  o. 
S  382  8 

«/Wilhelm  107. 110.  Von  Alk.  u.  Euphr. 
kennen  wir  nur  die  Namen.  Noch  weitere 
fünf  jetzt  verloren  gegangene  Namen  standen 
auf  der  Liste  CIA  II  977.  Ekphantides,  der 
vier  städtische  Siege  gewann,  muß  noch  in 
der  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  ge- 
dichtet hahen ,  wenn  er  wirklich  (fr.  4  K.) 
den  Demagogen  Androkles  verspottet  hat. 

»)  Wilhelm  18. 

*)  Suidas  gibt  neun  Komödien  und  zwei 
Siege.  Über  die  Zahlendivergenzen  überhaupt 
S.  Mekleb,  Zu  den  Nachrichten  über  die 
griech.  Komödie  in  Festschrift  für  Vahlen, 
Berl.  1900,  31  if. 

*)  Eine  Anspielung  fig  Mayy^jra  notiert 
das  Scholion  zu  dem  Komikerfragment  Am- 
herst  pap.  II  (Lond.  1901)  5.  Ob  Aristophanes 
etwas  von  M.  gelesen  habe,  bezweifelt  J. 
Poppelbeütek  a.  a.  0.  41.  Übrigens  mußten 
jedenfalls  seit  der  Aufnahme  der  Komödien 
in  den  staatlichen  Agon  die  Stücke  voll- 
ständig aufgezeichnet  werden,  um  dem  Archen 
zur  Prüfung  vorgelegt  werden  zu  können. 
Nach  einer  Notiz  des  cod.  Salomonis  (publi- 
ziert von  H.  Usenbr,  Rh.  Mus.  28,  1873,  418) 
hatten  die  Stücke  der  älteren  Komiker  nicht 


mehr  als  300  Verse. 

^)  Tot  war  er  zur  Zeit  der  Aufführung 
von  Arist.  pac.  701,  was  Th.  Zielinski,  Rh. 
M.  39  (1884)  301  ff.  wegzuklügeln  sucht;  sein 
letztes  Stück,  die  //i'nViy,  ist  423  aufgeführt 
worden.  Nach  Luc.  macr.  25  ist  er  selir  alt 
geworden,  also  schwerlich  nach  500  geboren. 

')  Horat.sat.14,1;  VelleiusI16,3;  Quint. 
X  1,  66;  Platonios  hfoI  StatfOQäg  ;ifaoa;tfry/oon', 
p.  6  Kaibel,  wonach  Kratinos  der  bitterere 
{.iixg(}T€gog)y  Eupolis  der  feinere  {e:iix(tgteoxe' 
Qog)  war,  Aristophanes  sich  in  der  Mitte 
hielt;  vgl.  Persius  I  123.  Vom  Anonym,  de 
com.  p.  7,  26  K.  wird  Kratinos  mit  Aischylos 
verglichen;  s.  a.  Ps.Dionys.  art.  rhet.  8,  11. 

8)  Joh.  Tzetz;  bei  G.  Kaibel.  C.Gr.Fr.  l 
p.  18,  23  ff.  Was  dieser  über  die  Festsetzung 
von  drei  Schauspielern  sagt,  ist  jedenfalls  im 
Sinn  der  Einschränkung  einer  früher  größeren 
i  Zahl  von  ihm  verstanden,  übrigens  recht  frag- 
lich.    Siehe  A.  Köbte,  Herrn.  39  (1904)  489. 

•)  Plut.  Cim.  10;  laudator  temporis  acti 
ist  er  fr.  228.  274  K. 

»»)  Plut.  PericI.  3  u.  24;  s.  fr.  71.  111. 
293.  300K. 

*^)  Nach  dem  Epigramm  des  Nikainetos 
bei  Ath.  39  c  -  Anth.  Pal.  XIII  29;  vgl.  Ho- 
rat.  epist.  I  19, 1 ;  A.  Mbinbkb,  Hist.  com.  I  47. 

25* 


388  Oriechische  Litteratorgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

errang  er  neun  (sechs  an  den  städtischen  Dionysien,  drei  an  den  Lenäen).^) 
Er  hinterließ  einundzwanzig*)  Komödien,  die  von  den  alexandrinischen 
Grammatikern  fleißig  gelesen  und  von  Kallistratos  kommentiert  wurden.*) 
Berühmt  waren  die  ^Agyßoxot,  die  Spötter,  in  denen  ein  Wettstreit  von 
Dichtern  vorkam,  die  Ogarzai  und  Xeigojveg,  die  gegen  Perikles  gerichtet 
waren,  die  EvvFiÖai,  die  man  bei  dem  Tod  Alexandres'  d.  Gr.  unter  dem 
Kopfkissen  des  Königs  fand  (Phot.  bibl.  p.  151a  11),  die  ^Odvaarjg,  mit 
denen  er  die  Reihe  mythologischer  Travestien  eröffnete  und  dem  Kvxhotp 
des  Euripides  ein  Vorbild  gab,^)  die  Bovxökoi,  die  mit  einem  Dithyrambus 
der  Begleiter  (JiovxoXot)  des  Gottes  Dionysos  begannen,  insbesondere  aber 
die  Ilvtivrj^  deren  Hauptmotiv  Lucian  im  Jk  xartjyogovjLifvog  benützt  hat. 
Nachdem  nämlich  Aristophanes  in  den  Rittern  V.  524  über  ihn  als  alten 
Schwachkopf  zu  spotten  gewagt  hatte,  trat  er  im  nächsten  Jahr  (423)  mit 
jener  Pytine  (Flasche)  auf,  in  der  Frau  Komödia  sich  beklagt,  daß  der 
Dichter,  einst  ihr  getreuer  Ehemann,  nun  in  wilder  Ehe  mit  der  Mhh] 
lebe.  Er  gewann  mit  dem  Stück  den  ersten  Preis,  Aristophanes  selbst 
aber,  der  ihm  mit  den  Wolken  unterlag,  gedachte  noch  in  den  Fröschen 
V.  357  ehrend  der  „Zunge  des  stierverschlingenden  Kratinos**,  womit  er 
die  Gewalt  seiner  dionysischen  Inspiration  bezeichnet.  —  Zwischen  Kratinos 
und  Krates  nennt  die  inschriftliche  Liste  CIA  II  977  mit  zwei  städtischen 
Siegen  den  sonst  unbekannten  Komiker  Diopeithes.  Schon  lange  vor 
Kratinos  hatte  Xenophilos  als  erster  einen  Lenäensieg  gewonnen. 

Krates  diente  anfangs  dem  Kratinos  als  Schauspieler,  trat  dann  aber 
auch  als  selbständiger  Dichter  auf;  zum  erstenmal  siegte  er  449.  Die 
Ansetzung  seiner  Blüte  gegen  Ende  der  fünfziger  Jahre  bei  Eusebios  wird 
richtig  sein.ö)  Nach  Aristoteles  war  er  der  erste,  der,  von  persönlichem 
Spott  abstehend,  eine  allgemeine  Fabel  seinen  Stücken  zugrunde  legte. ^) 
In  der  Weise  des  Epicharmos  und  ohne  Zweifel  unter  dessen  Einfluß  liebte 
er  den  harmlos  heiteren  Ton  der  dorischen  Typenkomödie;  er  soll  zuerst 
Trunkene  auf  die  Bühne  gebracht  haben.  ^)  Suidas  gibt  zwei  Komödien- 
dichter Krates  an**)   und   schreibt  dem   unseren  sieben  Komödien  zu;   wir 


*)  Wilhelm,  Uik.  108.  geführt  sein.   Dionysos,  der  sich  dem  Paris- 

^)  Unter   den   uns  bekannten  26  Titeln  Alexandres    unterschoben   hatte,    wird    hier 

scheinen  also  fünf  unechte  zu  sein  (A.Meineke  durch    den  Ausbruch    des    troischen   Kriegs 

1  55).     Die    alexandrin.    Ausg.    ordnete    die  in  große  Verlegenheit  versetzt  und  verwan- 

Stücke   alphabetisch    (A.  Körte,   Herrn.   39,  delt  sich  in  einen  Widder.     Siehe  über  den 

1904,  484  f.).  I   Ator.,  seine  Rekonstruktion  und  sein  Datum 

*)  Der   Kratinoskommentar    des   Askle-  '   M.  Croiset,  Rev.  des  6t.  Gr.  17  (1904)  297  flf.; 

piades  von  Myrleia  beruht  auf  Irrtum:  B.  A.  P. Perdrizet,  Rev.  des  et.  anc.  7  (1904)  109  flf.; 

Müller,  De  Asclepiade  Myrl.  49.  |   W.  G.  Rutherford,  Class.  rev.  18  (1904)  440; 

■*)  Vermutlich     fallen    die   tendenzlosen  A.  Körte,  Herm.  39  (1904)  481  ff. 

Mythenparodien  (außer  ^Odroorj^  die  ^Foiqiot  ^)  Wilhelm,  Urk.  110. 

und  BoroFtmc)   in  den  Anfang  der  dreißiger  •)  Arist.  poöt.  5  p.  1449b  8:  Aoari^s  :rpcu- 

Jahre,    in  die  Zeit,   als    das  Komödienverbot  roc  rm^fv  dqfftfvos  tTj^  laußixtjs:   iSeag  xaOo- 

wirkte.    Sicher  datierbar  sind  außer  der  Ilv-  ,   kov  nouh'  koyon;  xai  //j'iVofv- 

Ti'vtj  nur  AWauo/zfio/ (425)  undÄrroo/  (424).  '            ^)  Anon.  de  com.  p.  7.  28  Kaib.;  Arist. 

Der  .Uoiroa/J^ardnoi:,   von   dem   eine  Hypo-  eq.  537  ff.  mit  SchoL;  Ath.  429a. 

thesis  neuestens  (Oxyrh.  pap.  IV  1904  nr.663  j           *)  Auch  der  zweite  Krates  wird  von  Sui- 

s.  II  p.  Chr.)  gefunden  ist,  enthielt  Vorwürfe  '   das  der  doyata  xioino^ia  zugewiesen,  aber  die 

gegen  Perikles  als  den  Anstifter  des  pelopon-  Titel  seiner  Stücke  (^jonvitoc,  {T)oiti}Fs),  ^d- 

nesischen  Krieges  und  muß  demnach  430  auf-  |   dgyvQog  weisen  mehr  auf  die  neue  Komödie ; 


C.  Drama.    8.  Die  Komödie,    b)  Die  altattische  Komödie.    (§  218.)  389 

haben  im  ganzen  noch  fünfzehn  Titel,  unter  denen  Meineke,  um  Überein- 
stimmung mit  der  Angabe  des  Suidas  zu  erzielen,  ziemlich  willkürlich  sieben 
als  echt  ausscheidet.  Gesiegt  hat  der  ältere  Krates  bei  den  städtischen  Dio- 
nysien  dreimal.^)  Nur  von  einem  seiner  Stücke,  den  Srjgia^  läßt  sich  ein 
Teil  des  Inhalts  deutlicher  erkennen:  im  Wechselgespräch  stellten  hier 
einander  überbietend  zwei  Unterredner  Wunschzustände  dar,  Tischlein 
deck*  dich,  Fische,  die  sich  selbst  braten,  Badeeinrichtungen,  die  selbst 
funktionieren,  Gegenstände,  die  von  selbst  kommen,  wenn  man  sie  ruft, 
also  Freiheit  von  der  Dienstbotenplage;  der  Chor  bestand  aus  Tieren,  die 
redeten  und  nicht  gegessen  werden  durften.  Zwischen  den  Spott  über 
die  Weltverbesserungsaussichten  der  neumodischen  Technik  spielen  hier 
Beziehungen  auf  soziale  und  hygieinische  (Vegetarianismus)  Zeitfragen 
herein. 

Pherekrates  war  ein  erfinderischer  Kopf,  der,  mit  Krates  als  Schau- 
spieler wie  als  Dichter  konkurrierend, 2)  an  die  Stelle  regellosen  Spottes 
feiner  angelegte  Fabeln  setzte.  Seine  Wilden  {"Aygtoi),^)  eine  Persiflage  auf 
die  damals  beliebte  Verhimmelung  der  Naturzustände,  wurden  420  an  den 
Lenäen  aufgeführt;  den  ersten  Sieg  scheint  er  437  errungen  zu  haben.*) 
Von  seinen  siebzehn  Komödien,  von  denen  drei  als  unecht  galten,*)  be- 
handelte der  JovXodiddoxaXog  die  Zuchtlosigkeit  der  Sklaven,  die  Kogimn^o) 
die  Trunksucht  der  Hetären,  die  MvQjtnjxdvßocoTioi  die  Fabel  von  der  Ent- 
stehung der  Menschen  aus  Ameisen,  der  Xelgcov  die  Mißhandlungen  der 
Frau  Musica  durch  die  Regellosigkeit  der  Kitharoden.  Aus  den  MfraUfig 
(Bergleuten),  in  denen,  wie  es  scheint,  die  Jenseitsgläubigkeit  von  Weiber- 
sekten orphischer  Art  verhöhnt  war,  hat  Athenaios  ein  langes  Fragment 
erhalten,  in  dem  das  Schlaraffenleben  des  goldenen  Zeitalters  launig  ge- 
schildert ist.  Übrigens  verzichtete  auch  Pherekrates  nicht  ganz  auf  die 
poHtische  Satire;  in  einem  Stück  (bei  Ath.  535b  =  fr.  155  K.)  verspottete 
er  mit  bitterem  Hohn  den  Weiberhelden  Alkibiades.  Zwei  Lenäensiege 
verzeichnet  die  Liste  ("lA  II  977  gleich  nach  Kratinos. 

Zur  Zeit  des  Kratinos  blühten  noch  mehrere  andere  Komödiendichter 
gleicher  Richtung,  aber  niederen  Ranges,  so  Telekleides,  dessen  politische 
Satire  und  Parteistellung^)  an  Kratinos  anschließt,  wie  er  in  Schilderung 
von  Wunschzuständen  (fr.  1  K.)  an  Krates  erinnert,  der  in  seinen  'HoMoi'^) 
auch  litterarische  Kritik  treibt,  fünfmal  Sieger  an  den  Lenäen,  und  zwar 
hier  schon  vor  Kratinos,  dreimal  an  den  Dionysien;**)  Hermippos  der 
Einäugige,  der  gleichfalls  als  Gegner  des  Perikles  auftrat  und  gegen 
Aspasia  eine  Klage  wegen  Gottlosigkeit  einbrachte,  viermal  Sieger  an  den 

vgl.  A.  Meineke  164.  ;   machos  oder  Piaton  gedichtet  haben ;  s.  Ath. 

M  Wilhelm,  Urk.  107,  110.  364a;  A.  Meineke  I  75;  Th.  Bergk  290  ff. 

2)  Anon.  de  com.  p.  8,  32  ff  K.  «)  Er  ist  Feind  des  Perikles  (fr.  42—44. 

')  Über    den    Begriff  äyouK   s.  Aristot.       17),  dem  zu  Leid  er  das  ancien  regime  unter 

eth.  Nie.  IV  14  p.  1128b  2.  Tliemistokles   lobt   (Tl^vtavEig),   und  Freund 


*)  Das  erste  überliefert  Ath.  218  d,  vgl. 
Plat.  Protag.  327  d;  das  zweite  beruht  auf 
der  Emendation  des  Anon.  de  com.  vixa  Lii 
ßetiToor  [fjii  (r)tof)u)oov  em.  Dobree). 

*)  Den  XFimov  soll  nach  anderen  Niko- 


des  Nikias. 

^)  Mit  ihnen  siegte  er  an  den  Lenäen 
431  (Wilhelm.  Urk.  203  f.). 

8)  CIA  II  977.  Siehe  A.  Wilhelm,  Urk. 
107.  110. 


390  Griechische  Litteraturgeschichte.    I.  Klasaische  Periode. 

Lenäen;!)  eines  seiner  Stücke,  die  ^oQ/uotpogoi^  Lastträger,  aus  der  Zeit 
des  Bundes  zwischen  Athen  und  Sitalkes  (431 — 424),  enthielt  in  Gestalt 
einer  Parodie  interessante  Angaben  über  die  Einfuhrartikel  des  griechischen 
Seehandels.  Andere  Komiker  dieser  Zeit  waren  Myrtilos,  der  Bruder 
des  Hermippos,  einmal  an  den  Lenäen  siegreich,  und  Philonides.*) 

219.  Eupolis,  Sohn  des  Sosipolis,  ausgezeichnet  durch  feinen  Witz 
und  anmutige  Darstellung,  erhielt  sich  neben  dem  wenig  jüngeren  Aristo- 
phanes  am  längsten  in  der  Gunst  der  Leser.»)  Er  ist  geboren  446,  und 
brachte  schon  als  junger  Mensch  von  siebzehn  Jahren  eine  Komödie  auf 
die  Bühne.*)  Den  Tod  erlitt  er  im  Hellespont,  wahrscheinlich  411,  im 
Kampf  für  das  Vaterland,  worauf  die  Athener  den  Dichtem  Befreiung  vom 
Kriegsdienst  gewährt  haben  sollen.^)  Man  kannte  von  ihm  vierzehn  oder 
siebzehn  Stücke,^)  von  denen  sieben  mit  dem  ersten  Preis  gekrönt  wai-en. 
Drei  Lenäensiege  sind  inschriftlich  bezeugt;'')  also  hat  er  außerdem  vier 
städtische  gewonnen.  Alle  seine  datierbaren  Stücke  fallen  in  den  Zeit- 
rahmen des  peloponnesischen  Krieges.*)  Mit  Aristophanes  war  er  anfangs 
infolge  der  gleichen  Abneigung  gegen  die  zügellose  Demokratie  und  die 
neumodische  Bildung  gut  befreundet;  später  entwickelte  sich  zwischen 
beiden  ein  gespanntes  Verhältnis,  das  in  dem  gegenseitigen  Vorwurf  des 
Plagiates  gipfelte.®)  Perikles  ist  bei  ihm  durch  den  Tod  geadelt  und  wird 
sogar  mit  den  alten  Heiligen  der  konservativen  Partei  Miltiades,  Aristeides, 
Kimon^o)  aus  dem  Hades  zitiert  in  den  Jrjjuot,  um  für  die  Mißwirtschaft 
seiner  Epigonen  Folie  zu  bilden.  Zielscheiben  von  Eupolis'  Angriffen  sind 
besonders  der  harmlosere  Hyperbolos  {MuQixäo)  und  Alkibiades  {Bdmai) 
nebst  dem  Nährvater  der  Sophistik  Kallias;  dieser  wurde  mit  seinem  Para- 


*)  Plut.  Pcricl.  32.    Über   seinen  8i)ott  denkmal  bei  Sikyon,  nach  Ael.  nat.  an.  X  41 

auf  Hyperbolos  s.  Aristoph.  nub.  557 ;  andere  auf  Aigina. 

Stücke  von  ihm  waren  die  'Agrojiduidec  (Ver-  *)  Die  erste  Zahl  bei  dem  Anon.  de  com. 

höhnung  des  Hyperbolos,  zwischen  422  und  p.  8,  40K.,  die  zweite  beiJSuidas;  wir  haben 

418),  Moigai  (Vorwürfe  gegen  Perikles' lässige  von  rhm  19  Titel;  von  diesen  sind  drei  sicher 

Kriegführung,  also  wohl  430),  l'ToaTiwrai.  unecht   (Ainiron',  /lm>,  Klomii),   die  Eüwtf^ 

*)  Philonides  ist  bekannt  durch  sein  Ver-  :   im  Altertum  bezweifelt  (Ath.  400 e  V.  638  f.: 

hältnis  zu  Aristophanes;  da  er  in  seinen  Ao'-  Herodian.  II  917,  3;  933,  1  Lentz),   und   die 

Oooroi   den  Theramenes   angriff,   so  muß   er  '   Adxoveg  scheinen  dem  Eubulos  zu  gehören; 

frühestens  411  noch  gedichtet  haben.  Weitere  j   so  kommen  die  14  echten  Stücke  des  Anon. 

Namen,    unter   denen  Eallistratos    (in  Bezie-  heraus. 


hungen  zu  Aristophanes,  vielleicht  auch  tra- 
gischer Dichter:  Wilhelm,  Urk.  112  f.),  mit 
Angabe  der  Siege  in  den  Listen  der  Komiker 
CIA  II  977.     Siehe  Wilhelm,  Urk.  107.  123. 


M  CIA  H  977b  11. 

**j  425  Xovfuiriat,  mit  denen  er  dem  Ari- 
stophanes und  Kraünos  unterlag,  424  0/ao/, 
421  an  den  Lenäen  Magixd^,  an  den  städti- 
^)  Vgl.  Juvenal.  1192;  Lucian  adv.  ind.  27.       sehen  Dionysien  Kö/,axf\',  420  Avro/.vHoc,  415 
*)  Anon.  de  com.  p.  8,  37 K.    Seine  früh-       Bd-rrat;  zwischen  429  und  413  Af/fwi. 
sten  Stücke  übergab  er  wohl  ebenso  wie  Ari-  ®)  Den  Vorwurf  erhebt  Arist.  nub.  553, 

stophiines  anderen  zur  Auffülirung;  für  den  dagegen  Schol.  Anst.  eq.  531  u.  1291.  Siehe 
a.  420  gegebenen  Autolykos  ist  Demostratos  1  Eupol.  fr.  54.  78  K.  Ar.  veap.  1025  ff.  mit 
als  Didaskalos  bezeugt '(Ath.  216d).  '   Schol. 

^)  Suidas  u.   Evnnhc.    Das    erinneit   an  ^^)    Schol.    Aristid.   T.    III  072.  6  Dind. 

die  racatio  militiae  bei  Poi-phyrio  zu  Hör.  ist  statt  des  überlief ei-ten  rnov  nicht  mit 
epod.  1.  7.  Die  Fabel,  daß  Alkibiades  den  ;  Valckenaer  Zohov,  sondern  h'iito>r  zu  achrei- 
böscn  Komiker  ertränken  ließ,  widerlegte  !  ben:  bei  Eupolis  treten  also  zuerst  die  von 
schon  Eratosthenesnach  Cic.  ad  Att.  VI  1, 18.  Piaton  im  Gorgias  angegriffenen,  von  Ari- 
Nach   Paus.  II  7.  3   befand   sich   sein   Grab-      stides  verteidigten  xhiage^  auf. 


C.  Drama.    8.  Die  Komödie,    b)  Die  altatüache  Komödie.    (§  219.)  391 

sitengefolge,  darunter  Protagoras  und  Sokrates'  Freund  0  Chairephon, 
heruntergerissen  im  Autolykos  und  in  den  KoXaxeg,  deren  Gegenstück 
Piatons  Protagoras  ist.  Den  Hauptstoß,  und  den  gefährlichsten,  auf  Kleon 
überließ  Eupolis  dem  Aristophanes  in  den  Rittern,  der  sich  auf  seine 
Kühnheit  (nub.  549  flf.,  vesp.  1031  flf.,  pac.  754  flf.)  auch  etwas  zugute  tut. 
An  Athens  äußerer  Politik  im  Seebundsreich  übte  er  in  den  Ilöieig^  an 
seiner  inneren  in  den  Afj/uoi  Kritik.  Das  Märchenmotiv  vom  glückseligen 
Urzustand  war  im  Xqvoovv  yivog^)  ironisiert;  den  Chor  bildete  hier  eine 
ganz  defekte  Gesellschaft,  ähnlich  den  Rekruten  Falstaffs.  In  seinem  Ab- 
scheu gegen  fremde  Geheimdienste  (BaTtrai)^)  und  musikalische  Neuerungen 
(fr.  303  K.)  stimmt  er  mit  den  älteren  Komikern  überein.  In  den  Alyeg 
muß  litterarische  Kritik  geübt  worden  sein.  Das  Einkleidungsmotiv  der 
Ta^tQQxoi  (Dionysos  geht  einen  guten  Feldherm  suchen)  hat  Aristophanes 
in  den  Fröschen  wieder  benützt;  ob  Eupolis  wirklich  der  „Erfinder"  des 
schon  von  Aristophanes  in  den  Wolken  verwendeten  Parabasenmaßes,  des 
sogenannten  Verses  Eupolideus,  ist,  wissen  wir  nicht.*) 

Phrynichos,  Eunomides'  Sohn,  der  429  zuerst  auftrat  und  in  Sizi- 
lien umkam,  wird  zwar  von  Aristophanes  in  den  Fröschen  V.  13  übel 
mitgenommen,  hatte  aber  guten  Witz  und  schneidigen  Charakter.  Von 
seinen  zehn  Komödien  waren  besonders  angesehen  die  Schmauser,  der  Ein- 
siedler {MovoTQOTiog),  mit  dem  er  bei  den  städtischen  Dionysien  414  dem 
Ameipsias  und  Aristophanes  unterlag,  aber  einen  litterarisch  sehr  wirksamen 
Charaktertypus  der  Komödie  schuf, ^)  die  Mysten,  Ephialtes,  die  Musen;  in 
diesen  nahm  er  den  Tod  des  Sophokles  und  Euripides  zum  Ausgangspunkt 
für  eine  kritische  Behandlung  der  attischen  Tragödie  in  ähnlichem  Sinn 
wie  gleichzeitig  Aristophanes  in  den  Fröschen.  Unfreundliche  Stimmung 
gegen  ihn  zeigt  sich  bei  Aristophanes  (nub.  556)  wie  bei  Eupolis. 0)  An 
den  Lenäen  siegte  er  zweimal. 

Piaton')  spielte  von  der  Mitte  des  peloponnesischen  Krieges  an  bis 
über  390  hinaus  eine  hervorragende  Rolle  auf  der  komischen  Bühne  Athens. 
Sein  erstes  Auftreten  fällt  zwischen  428  und  425;®)  die  letzte  Anspielung 
(fr.  185  K.)  weist  auf  390.  Aus  Armut  verkaufte  er  Stücke  an  andere 
Xogodiddoxakoi.^)  405  unterlag  er  mit  seinem  Kleophon  dem  Aristophanes 
und  Phrynichos.  ^ö)  Von  seinen  dreißig  Stücken  ^0  richtete  sich  nur  ein 
Teil,   und   zwar  in  der  Regel  unter  Beschränkung  auf  Leute  zweiten  und 


*)  Den  Sokrates  selbst  hat  er  nach  Schol.   |  ^)  Eupol.  fr.  357  K.  wird  auf  Phr.  zu  be- 

Ar.  nub.  96  kürzer,  aber  schärfer  als  Aristo-   |.  ziehen  sein,  dem  ja  (Schol.  Ar.  ran.  13)  ieri'a 


phanes  angepackt.     Siehe  fr.  352.  353  E. 

*)  Ein  Fragment  des  X,  y.  aus  Moses 
von  Chorene:  A.  BAUMOARTifER,  Zeitschr.  der 
d.  morgenl.  Gesellsch.  40  (1886)  468  f. 

«)  K.  Lehbs,  Popul.  Aufs.«  396  f.  Auf 
das  Stück  spielt  auch  Juvenal  2,  92  an. 

^)  Über  seine  sprachlichen  Kühnheiten 
«nd  Neuerungen  A.  Meinbke  I,  112  f. 

^)  0.  Ribbeck,  Abh.  der  sächs.  Ges.  der 
Wissensch.  10  (1885)  1  ff.  Das  Stück  fiel  (fr. 
26  K.)  unter  die  Wirkung  von  Syrakosios* 
Eomödiengesetz. 


vorgeworfen  wurde. 

^)  CG. CoBET,  Observationes  crit.  in  Pia- 
tonis comici  rell.,  Amsterd.  1840.  Wilhelm, 
Urk.  115. 

8)  Cyrill.  adv.  lul.  I  p.  13  b  (Mionb  t.  76 
p.  521c).  .  ^        ^ 

®)  Suid.  s.  */4gxdSag  fit^ovfievoi. 

»0)  Arg.  Ar.  av.  I. 

")  Verzeichnis,  in  dem  der  *Afiq^ia{)Fcog 
fehlt,  I.  Bekkeb,  Anecd.  1461;  abweichend 
Suid.    8.   mdxiov;    G.   Kaibbl,    C.  Gr.  Fr.  I 

p.  10,  m. 


392  Qriechische  Litteratnrgeschiohte,    I.  EUadsche  Periode. 

dritten  Rangs,  gegen  politische  Mißstände,  wie  der '}  jtc^/JoAoc,  der  Khfxpojv 
(405),  die  Zvfifxaxia,  welches  letztere  Stück  sich  auf  die  Verbindung  des 
Nikias,  Alkibiades  und  Phaiax  zum  Zweck  der  Verbannung  des  Hyperbolos 
durch  das  Scherbengericht  bezog;  die  meisten,  namentlich  die  aus  der  späteren 
Lebenszeit  des  Dichters,  griffen  nach  Art  der  mittleren  Komödie  in  das 
Gebiet  der  Parodie  über,  so  die  Iloirjrai,  2<xpi(naif  "Adoyvig,  Evgamri,  Aäiog. 
Berühmt  war  besonders  der  0ac/>r,  in  dem  der  Titelheld  mit  seiner  von 
Aphrodite  ihm  verliehenen  Salbe  allen  Weibern  den  Kopf  verrückte.^) 

Andere  von  Aristophanes  und  Eupolis  verdunkelte  Komödiendichter 
dieser  Zeit  waren  Kallias,  der  Verfasser  der  Buchstabentragödie,*) 
Ameipsias,  an  dem  sich  Aristophanes  gelegentlich  reibt,')  und  der  wie 
dieser  den  Sokrates  in  dem  Kovvoq  (Musiklehrer  des  Philosophen)  ver- 
höhnte (der  Konnos  ist  zugleich  mit  Aristophanes'  Wolken  423  aufgeführt 
und  erhielt  den  zweiten  Preis,  die  414  aufgeführten  Kojfiaaial  des  Amei- 
psias den  ersten),  Aristomenes,  den  die  Grammatiker  zu  den  Komikern 
zweiten  Ranges  (imöevregoi)  rechneten,*)  Archippos,  dessen  Stärke  im 
Kalauer  gelegen  haben  soll,*)  ferner  Aristonymos,  Leukon,  Lykis  (diese 
beiden  siegten  bei  den  städtischen  Dionysien,  unbekannt  wie  oft),  Lysip- 
pos,ö)  Metagenes  (zweimal  Sieger  an  den  Lenäen).^) 

220.  Parodie.  Ehe  wir  uns  zum  Hauptvertreter  der  attischen  Ko- 
mödie, zu  Aristophanes,  wenden,  sei  noch  des  Thasiers  Hegemon,  mit  dem 
von  seinem  Leibgericht,  der  Armenkost  der  Bohne,  genommenen  Beinamen 
0axfj,  gedacht;  er  dichtete  eine  Komödie  Philine,  war  aber  mehr  als  „Er- 
finder"'*) der  parodischen  Dichtung  berühmt.  Wie  schon  diese  Doppel- 
stellung des  Hegemon  zeigt,  stand  in  Attika  die  Parodie  eng  mit  dem 
Theater  und  besonders  mit  der  Komödie  in  Zusammenhang.  Die  Stücke 
des  Aristophanes  zeigen,  wie  gern  und  geschickt  die  Komödie  die  Gelegen- 
heit ergriff,  Verse  und  Situationen  des  Epos   oder  der  Tragödie   zu  paro- 

*)  Servius  ad  Verg.  Aen.  III  279.  gleichen  Namens)  und  E.  Capps  a.  0.  (ändert 

*)  Ath.  453;  vgl.  0.  Hbnse,  Rh.  Mus.  31  \AiHajo^hn)g  in  'Agianorrfioc)  sind  unnötig. 
(1876)  582  ff.    Die  24  Choreuten  trugen  hier  ^           *)  Schol.  Ar.  vesp.  481;  einen  lenäischen 
die  Namen  der  24  Buchstaben  des  neuionischen  ;   Sieg  gewann  er  zwischen  415  und  412  (Suid.). 
Alphabets:  vgl.  Ähnliches  Philostr.  vit.  soph.  *)  Über  eine   didaskalischc  Angabe  der 
U  1.  10  p.  66,  lOK.;   Pallad.   bist.   Laus.  32  Stücke  des  Lysippos  E.  Petersen,  Wien.  Stud. 
p.  90  Butler.     Übrigens   wollen   Kaibel  und  7(1885)  181.  Wilhelm,  Urk.  116.  197.  L.  hat 
WiLAMOWiTz  (Gott.  gel.  Anz.  1906,  632)  den  '   410  oder  409  (wahrscheinlich  auch  408)  und 
Komiker  Kallias,    von  dem   wir   fWiLHELM,  wieder  394  und  390  gesiegt. 
Urk.   18  f.  107)   zwei   städtische    Siege,   den  ')  Wilhelm,  Urk.  123.  Seine  Avi^ai  be- 
einen vom  Jahr  446,  inschriftlich  kennen,  von  ,   arbeitete  Aristagoras  (Ath.  571b). 
dem    Verfasser     der     yoniiitarixt/     Toayfodia  !            *)  So  nennt  ihn  Aristot.  po€t.  1448  a  12, 
trennen.  während  Polemon  bei  Ath.  698  dem  Hipponax 

*)  Aristoph.  nub.  524;  ran.  15;  Vit.  Ari-  ,   die  Erfindung  zuschreibt.    Aristoteles  scheint 

stoph.  2.  '   von  dida.skalischen  Notizen   über  parodische 

*)  Suidas  u.  \4oioTOftFrffs.     Aristomenes  Agone  abzuhängen,  die  in  Athen  an  den  Pan- 

muß   schon   in   den  vierziger  Jahren   des  5.  athenäcn  seit  ponkleischer  Zeit  (J.  Frei,  De 

Jahrhunderts    einen    Lenäensieg    gewonnen  ,   certamin.  thyniel.  11)   und  zu  derselben  Zeit 

haben  (Wilhelm,  Urk.  114.  123);  er  unterlag  auch  in  Eretria   (Inschr.  ed.  I.  D.  Phokitis 

424    gegen    Aristophanes   und  Kratinos   und  \AOtiva   14,  1902,    362;   hier  sind  zwei  sehr 

fühlte  388  gleichzeitig   mit  Ar.  Plut.  seinen  niedere  Preise.  50  und  30  Drachmen  für  die 

"AfifitiTiK  auf.    Zwei  Lenäensiege  von  ihm  sind  Sieger  im  Parodenagon  festgesetzt)  eingerich- 

inschriftlich  bezeugt;  die  Zahl  seiner  dionysi-  tet  waren.    Litterarhistorisch  ist  die  Parodie 

sehen  kennen  wir  nicht.  Die  Vermutungen  von  j   viel  älter  und  setzt  mit  dem  Niedergang  des 

Th.Berük,  Rh.  Mus.  34  (1879)  307  (zwei Dichter  ionischen  Epos  ein. 


C.  Drama.    8.  Die  Komödie,    c)  Aristophanes. 


220—221.) 


398 


dieren,^)  was  von  dem  Grad  der  litterarischen  Bildung  des  athenischen 
Theaterpublikums  einen  hohen  Begriff  gibt.^)  Hegemon  blühte  während 
des  peloponnesischen  Krieges  und  soll  durch  seine  Gigantoraachie  die 
Athener  so  zum  Lachen  gebracht  haben,  daß  sie  darüber  die  Niederlage 
in  Sizilien  vergaßen.  Besonders  war  es  Alkibiades,  der  ihm  seinen  mäch- 
tigen Schutz  lieh  und  einmal  eine  gegen  den  beliebten  Dichter  gerichtete 
Klage  einfach  mit  dem  nassen  Schwamm  ausgelöscht  haben  soll.  5)  Er- 
halten ist  uns  von  ihm  durch  Athenaios  p.  698  d  ein  Gedicht  in  parodi- 
schen  Hexametern,  in  dem  er  den  Spott  böswilliger  Landsleute,  daß  er 
aus  dem  armen  Thasos  in  die  Fremde  nach  Athen  gegangen,  aber  von 
dort  nicht,  wie  andere  Rhapsoden,  Haufen  von  Geld  nach  Hause  gebracht 
habe,  witzig  abwehrt. 

Ausgabe  des  Hegemonfragments  mit  biographischer  Einleitung  und  Kommentar  F. 
Brandt,  Corpusc.  poäseos  ep.  Graecae  ludibundae  I  (Leipz.  1888)  37  If. 

c)  Aristophanes  (um  446  bis  um  385).^) 

221.  Leben.  Von  den  äußeren  Lebensverhältnissen  des  Aristo- 
phanes wissen  wir  und  wußten  bereits  die  Alten  nur  wenig.  Er  war 
nach  der  Vita  Sohn  des  Philippos  aus  Kydathenai;^)  wenn  er  (Ach.  653) 
sich  als  Aigineten  bezeichnet,  so  ist  dies  entweder  auf  den  Kallistratos, 
der  statt  des  Aristophanes  die  Acharner  aufführte,  zu  deuten,^)  oder  hatte 
er  oder  sein  Vater  zu  seinem  Besitz  in  Kydathenai  noch  ein  Ackerlos  auf 
der  Insel  erhalten.')  Die  Zweifel  an  seiner  attischen  VoUbürtigkeit  sind 
schwerlich  berechtigt,  die  Klage  des  Kleon  gegen  ihn  Verlag  wahrschein- 
lich Fabel.  ^)  Daher  die  verschiedenen  Vermutungen  der  Grammatiker,  die 
ihn  bald  für  einen  Rhodier  aus  Lindos  oder  Kameiros,  bald  gar  für  einen 
Ägypter  aus  Naukratis  ausgaben.^)    Sein  Geburtsjahr  wird  nicht  angegeben; 


^)  W.  H.  VAN  DB  Sandb  Bakhüyzen,  De 
parodia  in  comoed.  Aristoph.,  Utrecht  1877. 
E.  W.  HoPE,  The  language  of  parody.  A  study 
in  the  diction  of  Aristophanes,  Baltimore 
1906. 

*)  A.  Römer,  Üher  den  litterarisch-ästhe- 
tischen Bilduugsstand  des  attischen  Theater- 
publikums, Abh.  d.  bavr.  Ak.22  (1902)  1—96. 

»)  Chamaileon  bei  Ath.  406. 

*)  Außer  einem  Artikel  des  Suidas,  mit 
dem  das  gute  Scholion  zu  Fiat.  apol.  19  c 
gleiche  Quelle  hat,  ist  erhalten  ein  'Aotaro- 
ff'drov^  fitfK  (A.  Westermann,  Bioyo.  p.  155  f.) 
und  ein  Absatz  im  Anon.  de  com.  p.  8,  41  ff. 
Kaibel.  Von  Neueren:  C.  F.  Ranke,  De  vita 
Aristoph.  in  der  Ausg.  von  B.  Thiersch  (Leipz. 
1830)  und  abgekürzt  in  der  von  A.  Mbinekb 
(Leipz.  1860);  H.  Th.  Rötschbr  (mehr  Hege- 
lianer als  Philolog),  Aristophanes  und  sein 
Zeitalter,  Beri.  1827;  Th  Berok  zu  den  Frag- 
menten im  2.  Bd.  von  A.  Meinekes  Fr.  com. 
gr.;  H.  Müller-Strübing,  Aristophanes  und 
die  historische  Kritik,  Leipz.  1873;  A.  Coüat, 
Aristophane  et  Tancienne  com^die  attique. 
Paris  1889 ;  G.  Kaibel  in  der  Realenz.  M.  Croi- 
SET,  Aristophane  et  les  partis  ä  Äthanes,  Paris 


I    1906.     Auf   falsche   biographische    Deutung 

I   von  Stellen  inAristophanes*  Stücken  als  Quelle 

!   von  Fehlern  im  ßt'a;  des  Dichters  weist  hin 
F.  Lbo.  Plautin.  Forsch.  61  ff. 

I  *)    Ein    Ratsherr    'AgioToqmtj^    Kv^aOt)- 

vatEVs  CIA  II  865. 

«)  So  nach  Schol.  Venet.  Ach.  653  A. 
Römer,  Studien  zu  Aristoph.,  Leipz.  1902, 
I  121  ff. 

^)  Theogenes  bei  Schol.  Plat.  apol.  1.  1. 
•)  Vita  §  4  ^erinc  xar^  aviov  ynaq^ijv 
fOfto  K/Jon;  und  Schollen  zu  Acharn.  378  und 
vesp.  1284.  Aber  wahrscheinlich  liegt  hier 
nur  ein  Mißverständnis  der  Grammatiker  vor 
(unrichtige  Beziehung  von  Eupol.  fr.  357  K. 
auf  Ar.  statt  auf  Phrynichos?  s.  o.  S.  391,6) 
und  hatte  die  Klage  des  Kleon  einen  andern 
Titel.  A.  Römer  a.  a.  0.  I  130  ff.  Daß  Ar. 
als  Fremder  seine  Stücke  nicht  im  eigenen 
Namen   habe  aufführen  dürfen,  ist  ein  halt- 

,   loser  Einfall  von  J.  van  Leeuwen  (Mnemos. 

!  N.  S.  16.  1888,  251). 

*)  Suidas:  \4oioTorfd}'7jQ  'Pci^io^  ijrot  Ah'- 
dioQ,  Ol  ^F  AiyrjTTior  F(paonv  (vgl.  Schol.  nub. 
272  und  Heliodoros  bei  Ath.  229  e),  oi  6f  A«- 

I    f^ioeUj  dioei  Sk  'AihjvaTo^. 


394  Qriechische  Litteratnrgeschichte.    L  Haasische  Periode. 

da  ihm  aber  sein  Alter  erst  in  den  Rittern  (aufgeführt  424)  einen  Chor 
für  sich  zu  verlangen  erlaubte,^)  so  muß  er  damals  mindestens  schon  voll- 
jährig gewesen  sein;  aus  seinem  eigenen  Geständnis,')  daß  er  421,  als  er 
den  Frieden  aufführte,  eine  Glatze  gehabt  habe,  läßt  sich  für  sein  Alter 
kein  sicherer  Schluß  ziehen.  Das  Geburtsjahr  wird  446  gewesen  sein.*) 
Über  seine  Erziehung  und  Bildung  sind  uns  keine  besonderen  Zeugni^e 
erhalten;  aus  seinen  Werken  sehen  wir,  daß  er  nicht  bloß  die  ihm  nächst- 
stehenden Dichter,  die  Komiker  und  lambographen,  gut  kannte,  sondern 
auch  in  den  Tragödien  des  Aischylos  und  den  Gesängen  des  Stesichoros 
und  Pindar  und  in  der  ganzen  älteren  wie  zeitgenössischen  Poesie  zuhause 
war.  Besonderen  Einfluß  auf  den  jungen  Dichter  übte  das  politische 
Parteileben  in  den  Klubs  oder  Hetärien  aus.  Mit  der  ganzen  Leidenschaft- 
lichkeit seines  Wesens  schloß  er  sich  den  Friedensfreunden  und  der  ari- 
stokratischen Partei  an,  denen  die  Herrschaft  der  bürgerlichen  Empor- 
kömmlinge, wie  Kleon  und  Hyperbolos,  und  die  neue  Richtung  der  rheto- 
risch-sophistischen Bildung  ein  Dom  im  Auge  war.*)  So  gelang  es  ihm, 
indem  er  Witz  und  Humor  mit  politischer  Heißblütigkeit  und  sittlichem 
Ernst  verband,  die  Komödie  zu  einem  Erziehungsmittel  des  Volkes  und  zu 
einer  politischen  Macht  ersten  Ranges  zu  erheben.  Über  vierzig  Jahre 
lang  (von  427  bis  nach  388)  beherrschte  er  die  komische  Bühne  Athens 
und  machte  auch  die  Wandlungen  mit  durch,  die  das  Lustspiel  infolge 
der  geänderten  Zeitverhältnisse  und  des  geänderten  Geschmacks  erlebte. 
Die  aristokratische  Partei  des  Dichters  war  gegen  Ende  des  peloponnesi- 
schen  Krieges  ans  Ruder  gekommen,  ohne  es  wesentlich  besser  zu  machen; 
der  Bühnenfreiheit  waren  durch  Gesetz  und  mehr  noch  durch  die  Furcht 
vor  den  Machthabem  beengende  Schranken  gezogen  worden;*)  der  Staat 
war  durch  den  unglücklichen  Ausgang  des  langjährigen  Krieges  verarmt 
und  hatte  für  Festspiele  und  Chorausstattung  wenig  Geld  übrig;  der 
Dichter  selbst  wurde  allgemach  alt  und  verlor  die  Schneidigkeit  rücksichts- 
losen AngriflFs.  So  trat  seit  dem  Frieden  des  Nikias  die  politische  Partei- 
leidenschaft in  seinen  Komödien  zurück,  und  schließlich  wurde  er  mit  seinem 


»)  Ar.  eq.  513;  nub.  530:  xdyfo  .^agdevo^  »)  So  O.NA2ARi.Riv.difil.22(1894)  50flf.; 

yan  fr'  »y   xorx  e^f/r  .lu)  fjoi  tfxfXv,   F^e^xa.  1    WiLAMOWiTZ,  Gott  gel.  Anz.  1906,630.  Siehe 

Daß  Mcnandros  sein  erstes  Stück  als  Fqprjßos  |   auch  F.  Jacoby,  Apollod.  Chronik  299  ff. 

aufführte,  wird  besonders  bemerkt,  muß  also  ■           *)  Daß  Aristophanes  nicht  als  objektive 

wider   die   Regel   gewesen   sein.      Von   der  Geschichtsquelle   benützt    werden   dsuf,    ist 

Altersgrenze,  die  zm-  Forderung  eines  Chors  klar.     Während   A.  Couat   seine  aristokrati- 

berechtigte,  wußten  schon  die  alten  Erklärer  sehe  Richtung   aus  einer    für  die  ganze  alt- 

nichts  Sicheres;  das  junge  Scholion  zu  nub.  attische  Komödie   gleichermaßen   wirkenden 

510  spricht  von  30  Jahren.     Unerheblich  ist  Zwangslage  (der  spielleitende  Archen  wie  die 


die  Angabe  Schol.  ran.  504  oxf^ov  fuionxioxog 
tjdt)   tj.iTFTo  uor  nydjfor. 

^)  pac.  767  ff.:    xni    roTi:  (fakax^olai  jia- 


xoirai  hätten  den  konservativen  Kreisen  an- 
gehört) zu  erklären  sucht,  möchte  M.  Croiset 
für  Ar.   keinerlei   gebundene   politische   An- 


QnivnvfiFv  jfrö.Tor^aCF/i'  jifch  r?]c  rixtf^.    Eupol.  schauung,  sondern  nur  die  Haltung  eines  ord- 

fr.  78  K.    Vgl.  Th.  Bergk,  Comment.  de  reli-  nungsliebenden  Bürgers   und  freien  Verkehr 

quiis  comoediae  Att..  Lips.  1838,  p.  203.    Daß  ,   mit  adeligen  Kreisen   anerkennen,   eine  An- 

er  der  Flasche  fleißig  zugesprochen,  bezeugt  1   nähme,  bei  der  die  Gleichheit  der  politischen 

Ath.  429a:  \\kxah>s  ^f  6  jhf/.o:toi6^  xai  \4oi-  \   Farbe    in    allen    altattischen    Komikern   un- 

oio(fävi]Q    6  x(oit(t)dio7ioi6^    uedvot'TFg  Fyoagor  erklärt  bleibt. 

TU  .lonifinni.     Vgl.  vesp.  80.                  ""  »)  Vgl.  pac.  739  ff.,  vesp.  1023;  vgl.  §  216. 


C.  Drama.    8.  Die  Komödie,    c)  Aristophanes.    (§§  221—222.) 


395 


Plutos,  Aiolosikon  und  Kokalos  Begründer  der  mittleren  Komödie.*)  Die 
letzten  zwei  Stücke  überließ  er  seinem  Sohn  Araros  zur  Aufführung,  um 
diesen  beim  Publikum  einzuführen.*)  Den  uns  erhaltenen  Plutos  dich- 
tete er  noch  für  die  Dionysien  von  388;  bald  nachher  aber  muß  er  ge- 
storben sein;  sicher  war  er  Ol.  101  (376 — 73),  wo  nach  Suidas  sein  Sohn 
Araros  mit  eigenen  Stücken  auftrat,  schon  tot;  wahrscheinlich  enthält  das 
etwa  384  geschriebene  Gastmahl  des  Piaton  ein  Gedenkblatt  für  den  kurz 
zuvor  verstorbenen  Dichter.  Söhne  hinterließ  er  drei  oder  vier,  von  denen 
sich  Philippos  und  Araros  gleichfalls  der  komischen  Bühne  widmeten.^) 

222.  Werke.  Von  Aristophanes  kannte  das  Altertum  vierundvierzig 
Komödien,  von  denen  vier  als  unecht  galten.*)  Auf  uns  gekommen  sind 
elf  Stücke,  die  anderen  kennen  wir  nur  nach  Titeln  und  Bruchstücken.^) 
Die  drei  ersten  Komödien,  Jairakijg  (427),  BaßvXojvioi  (426)  und  'Axagvijg 
(425)  brachte  er  unter  fremdem  Namen  durch  Kallistratos  auf  die  Bühne. ^) 
Kallistratos  und  Philonides  waren  komische  Dichter  und  Schauspieler  und 
haben  auch  später  noch  Stücke  von  ihm  an  seiner  Statt  aufgeführt  (Phi- 
lonides vielleicht  Wolken,  jedenfalls  Wespen,  Amphiaraos  und  Frösche, 
Kallistratos  Vögel  und  Lysistrate).'')     Im  Frieden  ließ  er  nach  der  Hypo- 


^)  Vita  Aristoph.  10:  i/ftiq^tofiaro^  ytt'o- 
fAfvov  ;|fop»;y<xaf»  woxe  fiy  m'Ofiaari  xayfiwSeTv 
Ttva  xai  TO)v  x^QVy^^^  ^^'^  «rTf;fmT(ov  .too^ 
t6  xogtjystv  .  .  .  k'yoaye  KihxoJ.ov,  ev  cu  eladyei 
q?&oguv  xal  dvayvawtouoi'  xai  i&X),a  Trdvra,  ä 
s^Yl'Aiooe  Mfvavdooi:.  Vgl.  Platonios  :isqI  Sta- 
q:'Ooäg  x(Oft,  p.  4,  31  K.;  zoiovxog  ovv  ioxiv  6 
T^?  fiearjg  xcojufodias  rifnog,  oltig  eouv  6  AloXo- 
otxoiv  \4oioio(furovg. 

«)  Vgl.  Arg.  IV.  Plat.:  vielleicht  auch, 
weil  Aristophanes  zu  alt  war,  um  selbst  noch 
als  Schauspieler  die  erste  Rolle   zu  spielen. 

^)  Nach  Dikaiarchos  hatte  er  noch  einen 
Sohn  Philetairos;  Apollodoros  nennt  statt  des- 
sen Nikostratos.  Siehe  über  die  Söhne  F.  Ja- 
COBY,  ApolJodors  Chronik  300  flf. 

*)  Die  vier  zweifelhaften  Stücke  Uoirjaisf 
Jim'voog  ravayoi:,  iS'jyoo/,  AVo/^Os  wurden  von 
anderen  dem  Archippos  zugeschrieben;  über 
die  Gründe  dieses  Urteils  gibt  Vermutungen 
G.  Kaibel,  Herrn.  24  (1889)  S.  42  ff. 

')    Ein    alphabetisches  Verzeichnis   von 
44  Stücken  im  Cod.  Ambros.  L  39  (entdeckt 
von  F.  NovATi,  Herm.  14,  1879,  461  flf.:  dazu 
Nachträge   von  Wilamowitz   ebenda  464  f.) 
und   in   einem   Vaticanus   (entdeckt   von   C. 
0.  ZuRETTi,  Anal.  Arist,  Torino  1892,  104). 
Daß  in  der  Liste  der  Sieger   an  den  großen   ' 
Dionysien  Aristophanes   fehlt   (A.  Wilhelm,   i 
Urkunden  110  f.),   erklärt  sich   daraus,   daß 
er  so  oft  seine  Stücke  durch  andere  aufführen 
ließ,  deren  Namen  dann  in  die  Akten  kamen ;   i 
er  errang    unter   eigenem   Namen    zunächst 
nur  an  den  Lenäen  Preise;  s.  G.  Oehmichbn,   | 
Sitz.ber.  d.  bayr.  Ak.  1889,  II  156.     Auf  der   ' 
Basis    eines    privaten    Choregenmonuments,   ; 
das  D.  Philios.  Ath.  Mitt.  19  (1894)  174  ver-   i 
öffentlicht,  ist  ein  Sieg  des  Ar.  (in  Elensis?)   | 


verzeichnet. 

*)  Den  Kallistratos  nennt  auch  für  die 
AauaATjg  der  Anon.  de  com.  p.  8,  43  f.  K.; 
vgl.  Schol.  nub.  531.  Übrigens  versteht  Ar., 
wenn  er,  wie  Ach.  644,  vom  Dichter  jener 
Stücke  spricht,  wohl  sich  selbst,  nicht  ^ene 
Strohmänner.  Vita  §  2 :  eoxoinxov  avxov  Aoi- 
axcovvfiog  xe  xal  'Afisiyuag,  rexgddi  Xeyoi'xeg 
avxov  yeym'Fvai  xaxd  xi)v  jxagoifiiav  (Zenob. 
prov.  Cent.  VI  7)  ok  ukkoig  jrwovvxa. 

')  Vita  §  15  unklar  (G.  Kaibel,  Realenz. 
II  974,  30):  did  fiev  4>ucovtSov  xd  dfjftoitxd, 
did  6k  Ka/J.ioxgdxor  xd  iöuoxixd.  Dazu  Schol. 
nub.  531;  Th.  Berok  bei  A.  Meineke  II 
916  ff.;  K.  Zacher,  Philol.  49  (1890)  313  ff.; 
A.Wilhelm,  Urk.  111  ff.  Aus  welchen  Grün- 
den Ar.  so  auffällig  oft  seine  Stücke  andeien 
zur  Aufführung  überließ,  hat  er  zum  Teil 
selbst  bezeichnet  (jugendliche  Schüchternheit 
nub.  528  ff.,  Scheu  vor  einem  möglichen  Fiasko 
eq.  515;  Neigung  andere  insgeheim  zu  unter- 
stützen vesp.  1018,  was  sich  auf  Zuwendung 
des  Dichternonorars  oder  auf  Hilfe  zu  dich- 
terischem Ruhm  beziehen  kann,  letzteres 
allerdings  nur  unter  der  unwahrscheinlichen 
Voraussetzung,  daß  der  Archen  und  das 
Publikum  den  wahren  Verfasser  nicht  kann- 
ten). Für  die  frühesten  Stücke  mag  eine 
gesetzliche  Bestimmung  über  das  Minimal- 
alter des  Siödoxidog  hinderlich  gewesen  sein ; 
für  spätere  kann  man  jedenfalls  nicht  daran 
denken,  daß  sich  Ar.,  ein  Mann  in  guten 
Verhältnissen,  von  anderen,  denen  er  Komö- 
dien lieferte,  habe  bezahlen  lassen,  wie  es 
für  Piaton  feststeht  (A.  Meineke  I  162),  eher 
daran,  daß  er  anderen  den  fjiaOög  zuwenden 
wollte  (Kaibel)  oder  daß  er  zu  bequem  war» 
das  Einstudieren  zn  übernehmen  (Wilamo- 


896  Griechische  litteratiirgeschichte.    I.  Klasflische  Periode. 

thesis  die  Hauptrolle  durch  den  Schauspieler  Apollodoros  spielen.  Übrigens 
verschmähte  er  auch  selbst  nicht  die  Aufgabe  eines  Schauspielers;  ins- 
besondere wissen  wir,  daß  er  in  den  Rittern  den  Kleon  gab,  angeblich 
weil  keiner  der  Schauspieler  die  gefahrliche  Rolle  zu  übernehmen  wagte.*) 
Nach  dem  Tod  des  Dichters  konnten  sich  natürlich  seine  Dramen  nicht 
wie  diejenigen  der  Tragiker  auf  der  Bühne  erhalten.  Das  verhinderte  der 
Ton  und  Inhalt  der  speziell  für  die  jedesmaligen  Zeitverhältnisse  gedich- 
teten Werke  der  alten  Komödie.  Um  so  eifriger  wurden  sie  von  den 
alexandrinischen  Grammatikern  gelesen  und  kommentiert.  Wiewohl  daher 
Aristophanes  bei  den  zahmeren  Geistern  der  Kaiserzeit,  wie  Dion  Chryso- 
stomos  und  Plutarchos,*)  wegen  seiner  derben  und  unflätigen  Spässe  in 
Verruf  kam  und  dem  feinen,  wohlgezogenen  Menandros  nachstehen  mußte, 
so  haben  sich  doch  von  ihm  nicht  weniger  als  elf  Stücke,  offenbar  die 
berühmtesten  und  charakteristischsten,  erhalten^)  und  dazu  gelehrte  Scho- 
llen, ohne  deren  Beihilfe  wir  vielfach  bei  der  Erklärung  und  Zeitbestim- 
mung im  Stich  gelassen  würden.  Diese  elf  Stücke  sollen  in  chronologi- 
scher Ordnung  besprochen  werden.*)  Seine  drei  ersten  Stücke  AairaXtjg, 
Baßvhovioi  und  ^AxaQvfjq  Heß  Aristophanes,  wie  bemerkt,  durch  Kallistratos 
aufführen.  In  seiner  frühsten  Komödie,  den  Aairakilg,  rollte  er  schon  das 
Erziehungsproblem  auf;  im  Anschluß  an  den  Brauch,  daß  in  jedem  Drama 
zwölf  vom  Archen  ßaotlevg  erkorene  „jiagdonot"  sich  von  Zeit  zu  Zeit  in 
einem  Heraklesheiligtum  zu  einem  religiösen  Zweckessen  vereinigten,  er- 
findet er  hier  einen  Gau  der  „Schmausd orfer **  (Kaibel);  einer  der  Gau- 
genossen hat  zwei  verschiedenartige  Söhne,  einen  a(üq?Q(ov  und  einen  xata- 
nvyoiv,  und  die  Durchführung  ihres  Gegensatzes  machte  den  Inhalt  des 
Stückes  aus.  Das  Motiv  ist  in  den  Wolken  und  in  Menandros'  AöeXcpoi  a 
variiert.  In  den  Baßvkcovioi^)  führte  Ar.  die  Sache  der  unterdrückten 
Bundesgenossen  Athens^)  ebenso  wie  Eupolis  in  den  IloXeig. 


WITZ.  Gott.  Gel.  Anz.  1906,  629  f.).    Merk-  I   Gaz.  vet.  scriptor.  Graecor.  stud.,  Kiel  1884. 

würdig  ist,   daß  an  den  Lenäen  422  Philo-  I   63).    Er  erzählt  or.  I  9  F.  von  einem  Diktat 

nides  ein  eigenes  Stück,  den  fJoodyfor,  und  aus  den  Achamem. 

die  Wespen  des  Ar.  aufführte  und  damit  den  |           *)  In  der  Haupthandschrift,  dem  Raven- 

ersten  und  zweiten  Preis  gewann  nas,    stehen   die   Stücke    in    folgender  Ord- 

*)    Vita    §  3:    ovdet'o^    uov    oxfvo.ioicüv  \   nung:  Plut.  nuh.  ran.  eq.  Ach.  vesp.  pax  av. 

Tolfu'jftavTog  t6  jTpoofo.iov  avTov  (sc.  Kkeiorog)  Thesm.  Eccl.  Lys.    Maßgebend  war  für  diese 


oxFvdoai,  ^i*  mvTov  \'igioTO(fW't}<;  {mexQirara, 
avTOv  To  :Tg6o(onov  fiikroi  yoioai;^  was  aus 
Arist.  eq.  230  ff.  geschlossen  zu  sein  scheint. 


Folge  nicht  durchweg  die  Abfassungszeit  der 
Stücke,  vielmehr  stehen  voran  die  drei  Stücke, 
die  den   späteren  Grammatikern   die  lesens- 


1.  Bruns,  Das  litterar.  Porträt  169.  i  wertesten   schienen,   der  Plutos   als  Vorbild 

*)  Dio  Chr.  or.  16,  6;  l^hit.  ovyxoimg  'Ätna-  '  der  neuen  Komödie,  die  Wolken  und  Frösche 

TOf/diovg  x(u  Mn'drAgor;  ders.  symp.  quaest.  '  wegen  ihrer  Beziehung  zu  Sokrates  und  den 

711  f.     Ähnlich    urteilt   Cicero    (R.  Hibzel,  Tragikern;   ihnen  scheinen  andere   noch  als 

Untersuch,  zu  Ciceros  philos.  Sehr.  II,  Leipz.  |  viertes  Stück  die  Ritter  angereiht  zu  haben, 

1882,  371)  und  Alkiphron.    Die  attizistischen  I  da   bei   der   folgenden  Reihe,    Ach.  bis   av., 

Puristen  strengster  Observanz  verwerfen  Me-  die  chronologische  Folge  bewahrt  ist  (s.  oben 

nanders  Griechisch  gegenüber  dem  der  alten  I  bei  Sophokles  S.  300  f.).     Den  Schluß  bilden 

Komödie  (W.  Sohmid,  Atticism.  I  206  f.).  Der  ,  die  drei  Weiberkomödien. 

Arzt   Galenos   schrieb  ein  Buch  Ki  /gi/aifim'  *)    Der   Titel    vom   Chor,    der    entweder 

drdyrtooua  loTg  .-raiöfrofth'oig   {}  jiaj.aid   xo)-  |  aus    orientalischen    Sklaven    (so    Th.  Bergk 

f<o)()in.  I  und  W.  Dindorf)  oder   aus   Gesandten   vom 

')   Libanios  kannte   noch  mehr  Stücke  I  Perserhof  (F.  V.  Fritzsche)  bestand, 

des  Ar.   als  wir   (J.  Malchin,   De   Choricii  i  «)  Daß  das  Thema  zum  Repertoire  der 


C.  Drama.    8.  Die  Komödie,    c)  Ariatophanea.     (§  228.)  397 

223.  ^Axagvfjg,  das  älteste  der  erhaltenen  Stücke,  ist  aufgeführt  425 
an  den  Lenäen  und  mit  dem  ersten  Preis  gekrönt.*)  Auf  die  Festzeit  und 
die  an  die  Babylonier  anknüpfende  Anklage  Kleons  spielt  der  Dichter  selbst 
V.  502  an:  ov  yaQ  jue  vvv  ye  diaßaXei  KXi(ov  Sn  ^evcov  Tiagövrcov  rijv  Tiöhv 
xaxcog  Xeycot  avxol  ydg  iajuev  ovm  Arjvaico  x  äycov,  xovjio)  ^evoi  Ttdgeioiv. 
Der  Dichter  macht  hier  zum  erstenmal  im  Sinn  der  Agrarier  (vgl.  Eccl. 
197  f.)  und  der  Nikiaspartei  Propaganda  für  den  Frieden,  ein  Thema,  das 
er  dann  noch  oft  behandelt  hat  {'Ijimjg,  ^Ohcädeg,  Elg/ivt],  ^Ogvt^eg,  Avoi- 
argdrt]).  Den  Namen  hat  das  Stück  von  dem  Chor,  der  aus  Kohlenträgern 
des  großen  und  wehrhaften')  Dorfes  Achamai,  handfesten,  vierschrötigen 
Kerlen,  zusammengesetzt  war,  zu  deren  sehniger  Kraft  der  rasche  und 
kräftige  Rhythmus  der  Kretiker  und  Trochäen  trefflich  stimmt.  Ausgangs- 
punkt für  den  Dichter  bildete  der  Gegensatz  zwischen  dem  Friedensbedürfnis 
der  Landleute,  die  der  Plackereien  des  Krieges  überdrüssig  waren,  und 
den  Umtrieben  der  Demagogen  und  Eisenfresser  nach  dem  Schlag  des 
Kleon  und  Lamachos,  deren  Weizen  in  den  Unruhen  des  Krieges  am 
üppigsten  blühte.  Repräsentant  der  ersten  Partei  ist  der  Biedermann 
Dikaiopolis,  der  durch  Amphitheos^)  einen  Separatfrieden  von  den  Lake- 
dämoniem  erhandeln  ließ  und  nun  mit  heiterer  Lust,  wie  ehedem  im 
Frieden,  seine  ländlichen  Dionysien  begeht.*)  Verwicklung  bekommt  die 
Handlung  durch  den  Chor  der  Acharner,  die  den  Verräter,  weil  er  einen 
Privatfrieden  mit  den  Feinden  der  Stadt  zu  schließen  gewagt,  mit  Steinen 
verfolgen  und  zur  Verteidigung  auf  dem  Hackblock  nötigen,  wobei  sich 
Dikaiopolis  für  seine  Verteidigungsrede  die  mitleiderregende  Gewandung 
und  Phraseologie  von  Euripides'  Bettelhelden  erborgt,^)  mehr  noch  durch 
den  effektvollen  Kontrast  des  schlichten  Landmanns  und  des  Pascha  mit 
drei  Roßschweifen,  des  kriegswütigen  Lamachos,  der  zum  Krieg  gegen 
den  Einfall  der  Böotier  auszieht,  während  jener  zum  Mahl  sich  laden  läßt, 
und  schwerverwundet  auf  die  Bühne  zurückgetragen  wird,  während  jener 
nach  fröhlichem  Mahl  jubelt  und  tanzt.  Dieses  alles  ist  belebt  durch 
sprudelnden  Witz  und  ergötzlichste  Szenen,  wie  von  den  Gesandten  der 
Perserkönige,  dem  Studierzimmer  des  Euripides,  dem  Ferkel  verkauf  des 
Megarers  auf  dem  von  Dikaiopolis  proklamierten  Freimarkt.  Über  dem 
Ernst  des  politischen  Hintergrundes,  der  immer  wieder  und  wieder  durch- 
bricht, verleugnet  sich  eben  doch  nicht  die  Ausgelassenheit  des  Dionysos- 
festes,  das  die  gröbsten  Zoten   hervorrief  und  entschuldigte.^)     Die  Ver- 


aristokratischen Opposition  gehört,  sieht  man 
aus  Ps.Xen.  Ath.  resp.  1,  14—18;  3,  2.  Nach 
der  Aufführung  der  Baß.  scheint  Eleon  einen 
Prozeß  gegen  Kallistratos  angestrengt  zu 
haben:  Ar.  Ach.  502;  Schol.  Ach.  503;  vesp. 


*)  Mit  einer  aller  Illusion  spottenden 
Freiheit  versetzt  Arist.  von  V.  240  an  die 
Szene  aus  der  Stadt  aufs  Land,  worüber 
M.  Haupt,  Opusc.  II  458  ff. 

^)  Über  die  (keine  Porträtzüge  tragende) 


1285;  A.  Römer,  Stud.  zu  Ar.  I  126  ff.  Figur  des  Eur.  1.  Brüns,  Litt.  Portr.  154  f. 
*)  Nach   dem  Argumentum   erhielt  den  •)  H.  Müller-Stbübino  S.  498  ff.  nahm 
zweiten  Preis  Kratinos  mit  den  XetfiaCö^ievotf  ■   eine    Überarbeitung  des  Stückes  an,  da  La- 
den dritten  Eupolis  mit  den  Novfitjviai.  [   machos  bald  als  Stratege,  bald  als  Lochage 


«)  Thuc.  II  20,  4. 

')  Hinter  diesem  sucht  H.  Weber,  Philol. 
63  (1904)  224  ff.  den  Bruder  des  reichen  Kal- 
lias,  Hermogenes. 


(1074)  erscheint.  Die  Hypothese  unterstützt 
Th.  Ziblinski,  Gliederung  54  ff.  durch  die 
Behauptung,  daß  an  Stelle  der  schalen  Polter- 
szene 593  ff.  in  der  ersten  Bearbeitung  ein 


398  Qriechische  Litteraturgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

teidigung  des  Dichters  und  namentlich  seiner  politischen  Stellungnahme 
führt  kräftig  der  Chor  in  der  Parabase  V.  626—718. 

224.  Die  Ritter  {Ijinrjg)  sind  das  erste  Stück,  das  (im  Jahr  424  an 
den  Lenäen)  vom  Dichter  selbst  auf  die  Bühne  gebracht  wurde;*)  es  war 
bereits  in  den  Acharnern  V.  300  in  Aussicht  gestellt.  Anlage  und  Tendenz 
des  Stückes  sind  schon  im  Titel  angedeutet:  die  Elite  der  athenischen 
Bürgerschaft,  die  Ritter  und  Söhne  der  edlen  Geschlechter  hatten  dem 
Aristophanes  die  Ehre  angetan,  selbst  den  Chor  zu  bilden.*)  Das  hob  das 
politische  Selbstgefühl  des  jetzt  vor  aller  Welt  von  den  Besten  unterstützten 
Dichters,  der  mit  einer  unserem  Polizeiregiment  schwer  begreiflichen  Rede- 
freiheit nicht  bloß  dem  Mächtigsten  im  Staat,  dem  Kleon,  rücksichtslos 
sein  Sündenregister  vorhält,  sondern  auch  dem  souveränen  Demos  un- 
verblümt die  bittersten  Wahrheiten  sagt.  Auch  durch  die  Sorgfalt  der 
Disposition  und  der  streng  durchgeführten  Fabel  erheben  sich  die  Ritter 
über  die  geniale  Ungebundenheit  der  Achamer:  der  Demos,  ein  alter,  jäh- 
zorniger, dem  Aberglauben  nicht  minder  als  der  Schmeichelei  zugängUcher 
Herr,  wird  ganz  beherrscht  von  seinem  neuen  Diener  Kleon,  der  auf  jede 
Weise  den  Alten  zu  ködern  weiß  und  erst  allerjüngst  den  Feldherrn  Nikias 
und  Demosthenes  bei  Sphakteria  den  besten  Bissen  abgejagt  hat.  In 
dem  Prolog  treten  zwei  andere  Sklaven  des  Demos,  welche  die  Gram- 
matiker Demosthenes  und  Nikias  getauft  haben,*)  auf,  um  sich  über  ihren 
neuen  Genossen,  den  Paphlagonier  zu  beklagen,  der  sie  durch  seine 
Schmeicheleien  ganz  um  die  Gunst  ihres  Herrn  bringe.  Ein  Orakelspruch, 
wie  sie  damals  zu  Dutzenden  in  kritischen  Momenten  des  öffentlichen 
Lebens  kolportiert  wurden,  zeigt  ihnen  den  Weg,  den  durchtriebenen  Ge- 
sellen zu  stürzen;  sie  treiben  den  Wursthändler  Agorakritos*)  auf,  der  an 
Unverschämtheit  den  Gerber  Kleon  noch  zu  übertrumpfen  versteht.  •  Die 
Gliederung  des  Stückes  in  Akte  ist  vermittelst  Parabasen  und  Szenen- 
wechsel angedeutet:  nach  dem  Prolog  wird  zuerst  Kleon  von  dem  Wurst- 
händler auf  oflFener  Straße  unter  lautem  Schreien  und  Toben,  aber  mit 
dem  Beistand  der  Ritter,  der  geschworenen  Feinde  des  Demagogen,  ver- 
haftet; dann  berichtet  nach  einer  Parabase  der  Wursthändler  in  einer 
langen  parodischen  Rede  die  Verhandlung  vor  dem  Senat;  darauf  folgt  die 
weitläufige  Hauptverhandlung  vor  dem  Demos  selbst,  wobei  zuletzt  die 
beiden  Nebenbuhler  ihren  Herrn  in  ergötzlichster  Weise  regalieren.   Nach 

vollständiger  Agon  gestanden  habe;  dagegen       1023  die  hohe  Ehre  an. 


richtig  H.  Weil,  it.  sur  le  drame  ant.,  Paris 
1897,  291  ff. 

*)  Ar.  erhielt  den  ersten  Preis;  zweiter 
war  nach  der  Hypothesis  Eratinos  mit  den 
luTvgot,  dritter  Aristomeues  mit  den  'Yao- 
ff'ÖQoi,   Von  den  Rittern  sagt  dieselbe:  ro  ök 


')  Die  Namen  stehen  jetzt  in  den  Aus- 
gaben und  Handschriften,  sind  aber,  wie  die 
Hypothesis  lehrt,  erst  von  den  alexandrini- 
schen  Grammatikern  eingesetzt  worden. 

*)  Name  und  Person  dieses  Rivalen  sind 
aus    der    Phantasie    des    Dichters    hervor- 


d(}äua  rcor  äyar  naliög  .^FjioirjftFVMr.  Der  j  gegangen;  aber  manche  Striche  zur  Zeich- 
Dichter  ist  auf  den  in  diesem  Stück  be-  nung  mochte  dem  Dichter  die  Figur  des 
wiesenen  Freimut  sehr  stolz  (s.  o.  S.  391)  und   I   gleichzeitigen     Demagogen    Hyperbolos    ge- 


hat  wohl  wirklich  die  Einstudierung  der 
Komödie  und  die  Rolle  des  Kleon  in  ihr 
selbst  übernommen,  weil  er  dafür  keinen 
anderen  fand. 

^)  Dankbar  erkennt  der  Dichter  vesp. 


liefert  haben.  H.  Mülleb-Strübino  S.  556  A. 
will  den  Namen  aus  'Ayooaroi:  -f-  SsoxotTog 
herleiten.  Der  Wursthändler  ist  symbolische 
Figur,  bloße  Steigerung  von  ELleons  Gemein- 
heit (I.  Bbüns,  Litt.  Portr.  170). 


C.  Drama.    3.  Die  Komödie,    o)  Aristophanes. 


224—225.) 


399 


einer  zweiten  Parabase  hält  der  Sieger  Agorakritos,  nachdem  ihm  das 
Staatssiegel  {daxTvXiov,  V.  974)  eingehändigt  ist,  als  Repräsentant  des  neuen 
Regiments  mit  dem  umgekoehten  Demos  seinen  festlichen  Einzug.  —  Die 
Handlung  ist  durchwoben  mit  tausend  pikanten  Einfallen  und  Witzen,  zu 
denen  das  Demagogentum  der  Zeit  StoflF  in  Fülle  bot.  Prachtstücke  sind 
außerdem  im  Rhythmus  und  Inhalt  die  lustigen  Reiterlieder  und  die  histo- 
rischen Rückblicke  auf  die  Vorgänger  des  Dichters  in  der  ersten  Parabase 
(505—610).  Für  seine  großen  Kühnheiten  in  diesem  Stück  gewann  sich 
der  Dichter  wohl  Indemnität  durch  die  sehr  feine,  an  Plat.  apol.  30 e  er- 
innernde Art,  wie  er  bei  allen  Ausfallen  dem  Demos  doch  zu  schmeicheln 
weiß  (V.  1111  flf.).  Der  Zwitterhaftigkeit  seiner  Hauptfiguren,  des  Demos,  des 
Paphlagoniers,  des  Wursthändlers,  war  sich  der  Dichter  bewußt  und  treibt 
eben  mit  ihr  ein  geniales  Spiel.  ^)  Das  Wunschziel  ist  auch  in  diesem  Stück  der 
Frieden,  aber  es  unterscheidet  sich  von  den  Achamern  dadurch,  daß  nicht  bloß 
ein  phantastisches  Bild  des  Friedens  vorgegaukelt,  sondern  ein  praktischer 
Weg  zu  seiner  Erreichung  gewiesen  wird:  Beseitigung  des  Kleon.  Aristo- 
phanes  rühmt  sich  in  den  Wolken  V.  549  eines  durchschlagenden  Erfolges, 
aber  der  kühne  Angriff  auf  den  mächtigen  Lederhändler  und  seine  Tra- 
banten trug  ihm  Verfolgung  und  eine  Klage  ein,  wie  er  in  den  Wespen 
1285  ff.  andeutet.*)  Sein  Beispiel  regte  aber  andere,  besonders  den  Eu- 
polis  und  Hermippos,  zu  ähnlichen  Angriffen  auf  den  Lampenfabrikanten 
Hyperbolos  an.  3) 

226.  Die  Wolken  (veipe/iat)  wurden  zuerst  für  die  Dionysien  von  423 
gedichtet  und  dann,  da  sie  hier  eine  kühle  Aufnahme  gefunden  hatten,*) 
umgearbeitet.  Diese  zweite  Bearbeitung,  die  aber  nicht  zum  Abschluß 
und  noch  weniger  zur  Aufführung  kam,*)  liegt  uns  allein  vor.  Die  alten 
Grammatiker  waren  in  der  Lage,  auch  noch  die  erste  Bearbeitung  zum 
Vergleich  heranzuziehen, «)  und  bezeichnen  insbesondere  die  Parabase,  in 
der   sich    der   Dichter  über  die  Unbill  des  Publikums   beklagt  (518  ff.),') 


')  I.  Brüns  a.  a.  0.  170  ff.  Das  um- 
kippen des  Agorakritos  ins  Ernsthafte  wurde 
nicht  schwer  genommen. 

'^)  Auf  die  Klage  des  Eleon  bezieht  Th. 
Berok,  Kl.  Sehr.  II  467  die  Stelle  in  Ps.- 
Xenophon  de  rep.  Athen.  2,  18.  Schwerlich 
richtig  A.  Römer,  Stud.  zu  Ar.  I  129  ff.  — 
Außer  in  den  Rittern  hatte  Aristophanes  in 
den  'O'Axdöes  an  den  Lenäen  d.  J.  423  die 
Partei  des  Kleon  angegriffen. 

3)  Aristoph.  nub.  553  ff.  Schol.  nub.  554 
führt  aus  den  Bapten  des  Eupolis  an:  xa- 
xsivov^  Toi'g  'L^jzeag  ^vvejioirjaa  xil)  qpcdaxgtp 
TovKp  xddcogrfodurjv^  was  die  Alten  auf  die 
zweite  Parabase  1288—1315  bezogen.  Eine 
Erklärung,  wie  dieses  zu  verstehen  sei,  stellt 
A.  Kirchhofe,  Herm.  13  (1878)  287  ff.  auf. 

*)  Aristophanes  erhielt  den  dritten  Preis, 
den  ersten  Kratinos  mit  der  nvtn'rj^  den 
zweiten  Ameipsias  mit  dem  Konnos. 

*)  Irrtümlich  ist  die  Angabe  Hypoth.  IV 
ni  de  devTFoat  NfffeXai  F,m  'Afietvtotf  äQ^ovrog. 
Dagegen  Eratosthenes  zu  V.  552;   s.  J.  N. 


Gröbl,  Die  ältesten  Hypoth eseis  zu  Aristo- 
phanes, Progr.  Dillingen  1890. 

*)  Darüber  die  sechste  Hypothesis.  Schol. 
nub.  520. 543  und  Eratosthenes  in  den  Scholien 
zu  V.  552.  Vgl.  W.  S.  Tkuffel  in  der  Ausg. 
der  Wolken,  Leipz.  1856;  W.  Dindorf,  De 
Arist.  fragm.  I,  Lips.  1829,  15—23;  Th.  Zik- 
LiNSKi  S.  34  ff.  B.  Heidhues,  über  die  Wol- 
ken des  Aristophanes,  Progr.  Köln  1897,  be- 
streitet eine  weitgehende  Umarbeitung,  nur 
die  alte  Parabase  sei  teilweise  durch  eine  neue 
ersetzt  worden;  dagegen  K.  Zacher,  Berl. 
phil.  W.schr.  20  (1900)  33  ff.  G.  Sohwandke, 
De  Ar.  nubib.  priorib.,  Diss.  phil.  Hai.  14,  2 
(1898)  nimmt  die  Daten  der  sechsten  Hypo- 
thesis an  und  sucht  ohne  viel  Erfolg  nach 
weiteren  Spuren  der  zweiten  Bearbeitung.  Be- 
achtenswert ist,  daß  die  uns  vorliegenden 
Wolken  den  sonst  in  den  Stücken  vor  411  so 
beliebten  päonischen  Rhythmus  fast  gar  nicht 
haben  (P.  Giesbmann,  De  metro  paeonico  sive 
cretico  apud  poätas  Graecos,  Trebnitz  1892, 50). 

0  Ebenso  vesp.  1044  ff. 


400  Griechische  Litteratargeschichte.    L  Klaamsche  Periode. 

den  Streit  zwischen  dem  dixaiog  und  ädixog  Xoyog  (889 — 1104),  und  den 
Schluß,  wo  das  Haus  des  Sokrates  in  Brand  gesteckt  wird,  als  neue  Zu- 
taten. Der  Mißerfolg  mit  diesem  Stück,  das  die  Nachwelt  hauptsächlich 
der  Figur  des  Sokrates  wegen  vorzugsweise  interessiert  hat,  ist  dem 
Dichter,  der  es  für  sein  feinstes  hielt,  besonders  schmerzlich  gewesen  (s. 
nub.  518  ff.,  vesp.  1023.  1043).  Die  Gründe,  die  er  selbst  dafür  anführt 
(nub.  537  ff.,  vesp.  1044  ff.),  als  wäre  es  für  das  Publikum  zu  hoch  ge- 
wesen, sind  jedenfalls  nicht  ausreichend  zur  Erklärung;  ebensowenig  die 
Wiederholung  älterer  Motive  in  Gedanken  und  Einkleidung  (das  Erziehungs- 
problem war  schon  in  den  AairaXfjc;  da;^)  die  Einkleidung  scheint  durch 
Kratinos'  llavÖTirai  beeinflußt  zu  sein)  oder  der  Mangel  an  Zusammenhang, 
den  man  in  einer  Komödie  nie  streng  beurteilte,  wenn  nur  die  vis  comica 
vorhanden  war.  Wenn  die  Gestalt  des  Sokrates,  wie  tatsächlich  der  Fall, 
im  Äußerlichen  gut  porträtiert  war,*)  so  wird  man  es  dem  Dichter  nicht 
verübelt  haben,  wenn  er  ihn  geistig  in  allerdings  sehr  weitgehender  Weise 
zum  Sündenbock  des  gesamten  Modernismus  machte,  in  ihn  Züge  des  Pro- 
tagoras,  Hippias,  Anaxagoras,  Demokritos,  Diogenes  von  Apollonia,  Dia- 
goras  von  Melos,  der  pythagoreYsch-orphischen  Mystik  und  Askese  zu- 
sammenpfropfte und  ihn  eine  Schule  mit  stabilitas  loci  halten  Ueß.^)  Die 
unheilvolle  Wirkung  dieses  Sokratesbildes  konstatiert  Piaton  (ap.  19c; 
Phaed.  70  c)  gewiß  mit  Recht,  aber  die  Zuhörer  von  423  konnten  sie  nicht 
ahnen,  und  ob  sie  für  Sokrates  voreingenommen  waren,*)  wissen  wir  nicht. 
So  bleibt  uns  die  Haltung  der  Preisrichter  den  Wolken  gegenüber  vor- 
läufig unverständlich.  Die  Wolken  also  sind  gegen  den  Geist  der  Neuzeit 
und  die  neue  sophistisch-rhetorische  Erziehung  gerichtet.^)  Als  Repräsen- 
tanten dieser  Richtung  stellt  Aristophanes  den  Sokrates  hin,  dessen  Lehr- 
tätigkeit den  Athenern  besonders  mißfallen  mußte:  mochten  die  Lehrer 
der  neuen  Wissenschaft  aus  Westen  und  Osten  ihr  Wesen  in  Athen 
treiben  —  sie  waren  Metöken,  mit  denen  die  Polizei  gegebenenfalls  kurzen 
Prozeß  machen  konnte  und  gemacht  hat.  Daß  aber  auch  ein  athenischer 
Bürger  eine  Art  von  Sophistenberuf  trieb  und  attische  Bürgersöhne  zu 
ähnlicher  Tätigkeit  oder,  wie  das  perikleische  Zeitalter  sagen  mochte, 
djToayjuoovvi]  anregte,  das  nahm  man  schwer  übel.  Sokrates  erscheint, 
ganz  entgegen  den  Lehren,  die  er  auf  der  Höhe  seiner  geistigen  Entwick- 

^)  A.  RöHEB,   Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  1896,  1  nicht  ertrageD.   Der  Unfug,  den  K.  Joel,  der 

221  ff.  will  in  dieser  Selbstwiederholung  den  |  echte    und   der   xenoph.  Sokrates    II   (Berl. 

Grund  des  Fiasko  sehen.  Aber  wie  oft  durfte  |  1901)   809—895,   mit  dem   aristophanischen 

Aristophanes  das  Friedensmotiv  wiederholen!  I  Sokr.  treibt,  indem  er  auch  hinter  ihm  seinen 

')  A.  Römer,   Zur  Kritik   und   Exegese  |  Antisthenes  sucht,  ist  gut  zurechtgewiesen  von 

der  Wolken  des  Aristoph.,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  H.  Gompebz,  Arch.  f.  Gesch.  der  Philos.  19 

1896.     Siehe  a.  I.  Bruns.  Litt.  Portr.  181  ff.  '  (1906)  264  ff.  (dagegen  wieder  K.  Joel  ebenda 

R.  PöHLMANN,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  1906,  I  70ff.  20,  1907,  145  ff).  —  Daß  bei  Piaton  über  die 

')  Übrigens  scheint  nub.  488  doch  auch  schwere  Anklage  gegen  Ar.  schließlich  doch 

einen    echten   Zug   zu   enthalten    (vgl.  Xen.  |  die  persönliche  Sympathie  für  den  Dichter  die 

mem.  IV  1.2;  Plat.  Theaet.  c.  33  ff.).  Oberhand    gewann,    zeigt  seine  Behandlung 

*)  Die  Verzeichnung  des  Sokratesbildes  '  im  Symposion  (Olvmpiodor.  vit.  Plat.  3). 

betrachtet ^G.  Kaibel,   Realenz.    II  977   als  I  ^)  J.  W.  Süverk,  Über  die  Wolken  des 

Grund,     überfein    ist   die    Bemerkung    von  |  Aristophanes,   Berl.  1826;   F.  V.  Fritzsche, 

Bruns  a.  a.  0.  199,  das  Stilgefühl  der  Athener  |  De  Socrate   veterum   comicorum.  in  Quaest. 

hätte    den    Realismus    des   Sokratesporträts  ;  Aristoph.  I  (Leipz.  1835)  p.  97 — 295. 


C.  Drama.    3.  Die  Komödie,    c)  AristophaneB.    (§  226.)  401 

lung*)  vertrat,  als  ein  grübelnder  Naturphilosoph,  auf  einer  Schwebe- 
maschine nach  den  Sternen  lugend  und  die  luftigen  Gestalten  der  Wolken 
als  die  Götter  seines  Himmels  anrufend.  Bei  ihm  sucht  ein  ungebildeter 
Landmann,  Strepsiades,  den  die  Vornehmheit  seiner  adeligen  Frau  und 
die  noblen  Passionen  seines  Sohnes  Pheidippides  in  Schulden  gestürzt 
haben,  Hilfe  in  der  Hoffnung,  mittelst  der  Kunstgriffe  der  neuen  Weisheit 
von  den  Plackereien  seiner  Gläubiger  loszukommen.  Zuerst  tritt  er  selbst 
in  das  Studierzimmer  ein;  als  er  aber  von  Sokrates  wegen  seiner  Un- 
gelehrigkeit  und  Vergeßlichkeit  davongeschickt  wird,  bewegt  er  seinen 
Sohn  Pheidippides,  sich  dem  Sokrates  in  die  Lehre  zu  geben.  Dieser  zeigt 
sich  denn  auch  so  gelehrig,  daß  der  Alte  schon  über  die  langen  Nasen 
seiner  Gläubiger  jubelt;  aber  bald  muß  er  zu  seinem  Schaden  erfahren, 
daß  die  Schlauheit  der  neuen  Lehre  an  ihm  ausgeht,  indem  der  Junge 
ihn  durchprügelt  und  ihm  dann  rite  vordemonstriert,  daß  es  ganz  in  der 
Ordnung  sei,  wenn  die  Alten  von  den  Kindern  die  Prügel  der  Jugendzeit 
zurückgezahlt  bekommen.  Mit  einem  Feuerwerk,  der  Verbrennung  des 
Hauses  der  Gottesleugner  Sokrates  und  Chairephon,  schließt  das  Stück.  — 
Der  &y(hv  zwischen  loyoq  dixaioc;  und  ädixog  (V.  889 — 1104),  der  zur  zweiten 
Bearbeitung  gehört  und  motivisch  vielleicht  durch  Epicharmos'  Aoyog  xai 
Aoyiva  beeinflußt  ist,  hat  einen  Chor  und  ein  Stück  Dialog,  wahrscheinlich 
eine  weitere  Schulszene  mit  Belehrung  über  die  zwei  köyoi  ävrixeijuevoi 
ä}.^Xoig  (s.  V.  99.  112  flf.  1336  f.)  verdrängt. 

226.  Mit  den  Wespen  {ptpfjxeg)^  aufgeführt  an  den  Lenäen  422, 2) 
kehrte  Aristophanes  wieder  zur  politischen  Komödie  zurück,  doch  folgte 
er  im  Aufbau  des  Stücks  ganz  der  Anlage  der  Wolken,  indem  er  nur 
die  Rollen  umkehrte.  Während  dort  der  alte  Strepsiades  den  jungen 
Pheidippides  in  die  neue  Schule  einführt,  bemüht  sich  hier  umgekehrt  der 
junge  Hassekleon,  Bdelykleon,  den  alten  Kleonfreund,  Philokieon,  von  seiner 
Prozeßwut  zu  heilen.  Er  sperrt  ihn  also  zuerst  peinlich  ab  und  weist  die 
Richterkollegen,  die  ihn  früh  morgens  zum  Gerichtshof  abholen  wollen,  mit 
Gewalt  zurück.  Dann  läßt  er  ihm  infolge  eines  Kompromisses  zuhause 
ein  Privatgericht  einrichten,  in  dem  der  Prozeß  der  zwei  Hunde  ver- 
handelt wird,  eine  witzige  Parodie  auf  den  Streit  des  Kleon  und  Laches.^) 
Li  diesem  Hauptteil  des  Stückes  herrscht  der  Ernst  der  sittlichen  Ent- 
rüstung vor,  der  sich  zunächst  gegen  ein  Erb-  und  Erzübel  des  athe- 
nischen Volkes  (vöoov  ägxcLiCLv  iv  rfj  nokei  ivreroHtnav  V.  651),  die  durch 
Erhöhung  des  Richtersoldes  von  ein  oder  zwei  auf  drei  Obolen  maßlos 
gesteigerte  Prozeßsucht,  wendet,*)  daneben  aber  auch  die  spitzigsten  Pfeile 

*)  Daß  er  in  jüngeren  Jahren  auch  natur-  |  'Afieiviov  dtä  ^dcoviSov  eig  Aijvata  h  rfj  jf&' 
wissenschaftliche  Studien  trieb,  sagt  Plat.  '  dlvfimddi  •  öevi€Q<K  i}v,  xai  evlxa  jrocozog  {xai 
Phaed.  96  a;  vgl.  Xen.  mem.  IV  7,  3.  5.  Übri-   I   h(xa   nowiog-   Ssviegog  tjv   corr.  Leo)  ^iXa)- 


gens  ist  die  Möglichkeit,  daß  auch  Sokrates 
einmal  eine  richtige  Schule  gehalten  hat, 
keineswegs  so  leichterhand,  wie  gewöhnlich 
geschieht,  abzuweisen.  Piatons  und  Xeno- 
phons  Schilderungen  stammen  ans  einer  Zeit, 
die  gegen  20  Jahre  nach  der  Aufführung  der 
Wolken  liegt. 

*)  Arg.    Vesp.:    eöiÖdx(h]     ejii    ägxovxog 


vidrjg  Iloodyoyvi,  Af.vxwv  IlQF.aßeoi  igiiog. 
Gegen  die  Prozeßsucht  waren  auch  die  Pros- 
paltier des  Eupolis  gerichtet. 

')  Daß  Adxf]?  unter  dem  Hundsnamen 
Adßr/g  steckt,  vermutet  schon  Schol.  vesp. 
836. 

*)  Stimmungsverwandt  Ps.Xen.Ath.  resp. 
3,  2  ff.;  vgl.  auch  Ar.  nub.  207. 


Handbuch  der  Uaos.  AltertnmswiaseiiBehftft.    YII.    5.  Aufl. 


26 


402  Oriechische  litteratnrgeschiolite.    L  Klassiflche  Periode. 

gegen  Eleon  und  die  anderen  Volksschmeiehler  richtet,  welche  die  Mara- 
thonkämpfer mit  dem  armseligen  Lohn  des  Richtersoldes  abspeisten,  um 
desto  schamloser  den  weit  größeren  Teil  der  öffentlichen  Einkünfte  in  ihre 
eigenen  Taschen  zu  stecken.  Der  Schluß  des  Stückes  ist  dann  wieder 
für  die  Freunde  der  Posse  und  der  lustigen  Kneipszenen  zugerichtet:  der 
alte  Philokieon  wird  von  seinem  Sohn,  um  gründlich  kuriert  zu  werden, 
in  ein  fröhliches  Gelage  eingeführt,  wo  er  bald  seinen  mürrischen  Gries- 
gram so  völlig  auszieht,  daß  er  die  schöne  Flötenspielerin  zerrt,  die  Tisch- 
genossen schlägt  und  zuletzt  tanzend  und  jubelnd  mit  dem  Chor  zur  Bühne 
hinauszieht.  Den  Namen  hat  die  Komödie  von  dem  Chor  der  Richter,  die 
wegen  ihrer  grimmen  Härte  als  Wespen  mit  spitzem  Stachel  dargestellt 
waren.  *)  Begleitet  waren  diese,  da  sie  schon  vor  Tagesgrauen  zum  Richt- 
platz aufbrachen,  von  drei  lampen tragenden  Knaben,*)  die  am  Schluß  als 
die  tanzenden  Söhne  des  Tragödiendichters  Karkinos  wiederkehren.  Das 
Stück  gehört  zu  den  vorzüghchsten  des  Dichters;  es  vereinigt  den  sitt- 
lichen Ernst  des  unbestechlichen  Politikers  mit  dem  unverwüstlichen  Humor 
des  erfindungsreichen  Dichters.  Unverkennbar  ist  freilich,  daß  Aristo- 
phanes  zwei  Ideen  verquickt,  die  Kritik  der  Gerichtsmanie  von  Altathen 
und  der  neuathenischen  sophistischen  Ttaiöeia  (diese  letztere  tritt  von  1121 
an  in  den  Vordergrund),  und  dadurch  eine  schillernde  Unklarheit  in  die 
beiden  Hauptcharaktere  gebracht  hat;  aber  mit  dergleichen  nahm  man  es 
in  der  attischen  Komödie  nicht  genau.  Nachgebildet  wurde  das  Stück 
von  Racine  in  seinem  einzigen  Lustpiel  Les  plaideurs.  —  Wahrscheinlich 
an  den  Dionysien  desselben  Jahres  wurden  die  recogyot  des  Aristophanes 
aufgeführt,  in  denen  die  Friedenssehnsucht  der  Grundbesitzer  zu  erneutem 
Ausdruck  kam.») 

227.  Es  folgt  der  Friede  (eigi'jvr]),  an  den  Dionysien  421  kurz  vor 
Abschluß  des  Friedens  des  Nikias  aufgeführt  und  mit  dem  zweiten  Preis 
bedacht.*)  Nach  der  dritten  Hypothesis  hatten  die  alten  Grammatiker 
noch  Kenntnis  von  einer  zweiten  EtQ/jvr]^  die  in  dem  Jahre  zuvor,  noch 
zu  Lebzeiten  des  Kleon,  gedichtet  war.*)  Auf  diese  hat  man  die  Verse 
45  ff.  und  479  f.,  in  denen  Kleon  noch  als  lebend  gedacht  ist,  zurück- 
führen wollen,  ö)    Die  Komödie  ist  gewissermaßen  eine  Vorfeier  des  sicher 

')  Die  o<ft}x(odeig  erscheinen  als  das  zähe      Aufführung  der  Eintjvrj  und  war  im  Zweifel, 
Produkt  der  alten  demokratischen  nevia  Ar. 
Plut.  561. 

■)  Über  die  Anordnung  des  Chors  und 
der  begleitenden  Knaben  s.  R.  Arnoldt,  Die 
Chorpartien  bei  Arist.,  Leipz.  1873,  Kap.  1. 

»)  Vgl.  besonders  fr.  109  K.  Das  Inter- 
esse gerade  der  Landwirte  am  Frieden  spricht 
sich  auch  Ar.  pac.  505.  511.  551  ff.  583  ff. 
Ps.Xen.  Ath.  resp.  2,  14—16  aus. 

*)  Den  ersten  Preis  erhielt  Eupolis  mit 
den  Kokay.F^,  den  dritten  Leukon  mit  den 
fPgaTFQFq,     Um  dieselbe  Zeit  dichtete   Euri- 


ob  es  sich  um  dasselbe  oder  um  zwei  ver- 
schiedene Stücke  handle;  Krates  von  Mallos 
aber  wußte  von  dem  Text  einer  zweiten  Elo. : 
Arg.  pac.  ni.  Die  vier  Fragmente,  die  aus 
der  Eiotjrtj  zitiert  werden,  in  unserem  Text 
aber  nicht  stehen  (Th.  Kook,  CAF  I  p.  468  f.), 
erklärt  A.  Ruppebsbbro,  Über  die  Eir.  des 
Ar.,  Saarbrücken  1888,  für  unecht. 

®)  J.  Stanobr,  Über  Umarbeitung  einiger 

aristophanischen  Komödien,  Leipz.  1870;  Th. 

ZiBLU^SKi,   Gliederung  S.  63  ff. ;   dagegen  H. 

Müller-Strübino    169  f.     F.  V.  Fritzsohb, 

pides  den  Kresphontes,  in  dem  das  Chorlied   j   Quaest.  Arist  112,  und  Stanger  glauben,  daß 

fr.  453  von  ähnlicher  Sohnsucht  nach  Frieden   ,   die  zweite  Kiofjrtj   nur   dem  Titel  nach  von 

durchweht  ist.  <Jen  recoftyoi  verschieden  gewesen  sei. 

*)  Eratosthenes  redete  von  einer  zweiten   | 


C.  Drama.    3.  Die  Komödie,    c)  AriBtophanes.    (§§  227—228.)  403 

erwarteten  und  bald  nachher  abgeschlossenen  Friedens.  Im  Eingang  läM 
der  Dichter  in  spaihafter  Verkehrung  des  euripidel'schen,  auf  dem  Pegasus 
durch  die  Luft  reitenden  Bellerophon  den  Trygaios  als  Repräsentanten  der 
friedliebenden  Landleute  auf  dem  Mistkäfer  gen  Himmel  fahren,  um  von 
dort  die  Opora  und  Theoria  zum  langersehnten  Friedensfest  abzuholen. 
Ln  Himmel  also  oder  auf  der  oberen  Bühne,  dem  deokoyEiov,  spielt  der 
erste  Teil  des  Stückes  und  das  Gespräch  des  Trygaios  mit  dem  Gott 
Hermes.  Im  zweiten  Teil,  der  auf  der  Erde  vor  sich  geht,  werden  dann 
die  Vorbereitungen  zum  Festopfer  getroffen  und  wird  zum  Schluß  Trygaios 
mit  seiner  Schönen  vom  Chor  unter  Hochzeitsgesang  aufs  Land  geleitet. 
Das  Stück  entbehrt  der  kunstvoll  verschlungenen  Handlung  sowohl  als  des 
lebhaften  Streites;  im  übrigen  sind  die  Freuden  des  friedlichen  Landlebens 
reizend  geschildert  (1127 — 1190),  und  gewiß  hat  die  große  Parabase  (729 
bis  818)  durch  die  gelungene  Verteidigung  des  Dichters  und  die  hübsche 
Aufforderung  an  die  Musen  zum  fröhlichen  Tanzlied  ihre  Wirkung  nicht 
verfehlt. 

228.  Durch  den  Tod  Kleons  und  den  Friedensschluß  vom  Jahr  421 
waren  dem  Aristophanes  seine  Lieblingsthemen  entzogen,  und  es  scheint 
nun  in  seiner  Produktion  eine  Pause  eingetreten  zu  sein.  Bei  den  Lenäen 
des  Jahres  414  trat  er  wieder  mit  dem  vielleicht  durch  Kratinos*  Tropho- 
nios  inspirierten  Amphiaraos  hervor,  in  dem  ein  verjüngungsbedürftiges 
Ehepaar  nach  Oropos  zum  Heilgott  wandert  und  dabei  der  Schwindel  an 
dieser  religiösen  Heilstätte,  ähnlich  wie  später  im  Plutos,  verhöhnt  wird. 
Bei  den  Dionysien  desselben  Jahres  brachte  er  die  Vögel  (ogvidsg),  die 
geistreichste  und  poetischste  Schöpfung  seiner  Phantasie,  ^  mit  der  er  auf- 
falligerweise  nur  den  zweiten  Preis  erhielt.*)  Sobald  wieder  Wolken  an 
Athens  politischem  Horizont  aufsteigen,  stimmt  Aristophanes  wieder  idyl- 
lische Friedensmotive  an.  Die  Einkleidung  ist  ganz  märchenhaft.  Zwei 
Athener,  Euelpides,  Hans  Hoffegut.*)  und  Pisthetairos,  Beschwatzefreund, 
des  Lebens  in  der  händelsüchtigen  Vaterstadt  müde,  kommen  auf  Kreuz- 
und  Querwegen  zum  Wiedehopf,  dem  aus  der  Vorgeschichte  Attikas  be- 
rühmt gewordenen  Vogel,  um  sich  von  ihm  einen  schikanenfreien  Ort,  ein 
Wunschland,  anweisen  zu  lassen.  Aber  mit  den  vorgeschlagenen  Orten 
wenig  einverstanden,  entschließen  sie  sich,  bei  den  Vögeln  selbst  zu  bleiben 
und  diesen  die  Gründung  eines  neuen  Staates  anzuraten.  Die  Vögel  gehen 
auf  den  phantastischen  Vorschlag  ein  und  gründen  Wolkenkuckucksheim 
{N£(f£?Mxoxxvyia)  in  der  Luft  zwischen  Himmel  und  Erde.  Die  Gründung 
der  Stadt  und  die  bei  solcher  Gelegenheit  herkömmlichen  Zudringlichkeiten 
von  Poeten,  Wahrsageni,  Aufsehern,  Sykophanten  werden  in  ergötzlichster 
Weise  geschildert,  ebenso  die  Verwirrung  der  Götter,    die  durch  die  neue 

^)  K.  Leubs,  Populäre  Aufs.'  408  fi.  :  yoaq^fj),    aus   dem   diese    Zahlen    stammen, 

^)  Nach  derHypothesis  erhielt  den  ersten  scheint  die  Stücke  in  alphabetischer  Ordnung 

Preis  Ameipsias  mit  den  KcDfiaoiai,  den  drit-  I  enthalten  zu  haben. 

ten  Phrynichos  mit  dem  Movötqo.to;,    Nach  ')  So   übersetzt  Goethe   in  der  Nachbil- 

dem  zweiten  Argumentum  waren  die  Vögel  das  1  düng  des  Eingangs  der  Vögel,  Werke  Bd.  17 

35.  (A.  KöRTB,  Herm.  39,  1904,  485  schreibt  I  (Weimar  1894)  75  ff.     Zu  der  Namensform 

Xa    statt  Xf')  Stück,    wie  P^gag  das  9.  nach  1  Uio^eiaioo^  K.  Meistbruans,  Gramm,  deratt 

I.BEKKER,An.gr.430,16.  Da8Verzeichm8(ova-  !  Inschr.' §  15,  30  S.  54. 

26* 


404  Griechische  Lüteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

Yogelstadt  sich  der  Ehren  und  Opfer  der  Menschen  beraubt  sehen,  so  dag 
Zeus  genötigt  wird,  eine  Gesandtschaft  an  den  Vogelstaat  abzuordnen,  um 
einen  Modus  vivendi  herzustellen.  Der  Pakt  kommt  unter  der  Bedingung 
zustande,  dag  Zeus  dem  Pisthetairos  die  Basileia,  die  Personifikation  der 
Weltherrschaft,  1)  abtrete.  Das  leitet  zum  Schluß  des  Stückes,  das  in  der 
Art  der  meisten  Lustspiele  des  Aristophanes  mit  einem  Triumph-  und 
Hochzeitszug  der  Hauptpersonen,  des  Pisthetairos  und  der  Basileia,  endet. 
Daß  wir  hier  ein  Meisterwerk  des  Witzes  und  der  Phantasie  voll  duftiger 
Natur-  und  Waldpoesie  vor  uns  haben,  ist  zu  aller  Zeit  anerkannt  worden,  *) 
nicht  minder,  daß  in  der  utopischen  Zauberumhüllung  eine  Reihe  kräftiger 
Seitenhiebe  auf  stadtbekannte  Persönlichkeiten,  wie  den  Fresser  und  Feig- 
ling Kleonymos  (V.  289  f.),  den  von  Schmeichlern  und  Weibern  ausgebeu- 
teten Kallias  (285  flf.),  den  Geometer  und  Kalenderverbesserer  Meton  (992  flf.), 
den  Dithyrambendichter  Kinesias  (1373  ff.)  u.  a.  abfallen.  Aber  über  die 
Tendenz  der  Gesamtkomödie  hat  man  viel  gestritten.  J.  W.  Süvern»)  wollte 
in  ihr  eine  bis  ins  einzelne  durchgeführte  Allegorie  auf  die  Begebenheiten 
der  Zeitgeschichte  finden;  umgekehrt  leugnete  J.  G.  Droysen  in  seiner  Über- 
setzung des  Aristophanes  jede  tiefere  Tendenz  und  sah  in  dem  Stück  nur 
ein  harmloses  Spiel  der  Phantasie  nach  Art  des  Sommemachtstraums.  Die 
Wahrheit  liegt  in  der  Mitte  und  ist  trefflich  entwickelt  von  K.  Bursian,*) 
der  dem  poetischen  Spiel  sein  volles  Recht  läßt  und  in  den  Hauptträgern 
der  Handlung  keine  Verspottung  bestimmter  Individuen  annimmt,  aber  doch 
dem  Dichter  die  für  die  verhängnisvolle  Zeit  der  sizilischen  Expedition 
wohlberechnete  Absicht  zuschreibt,  dem  athenischen  Volk  in  der  tollen 
Projektenmacherei  des  Pisthetairos  und  der  raschen  Erwärmung  der  Vögel- 
schar für  abenteuerliche  Pläne  einen  Spiegel  der  eigenen  Leichtgläubigkeit 
und  gaffenden  Gedankenlosigkeit  vorzuhalten. 

229.  In  sehr  witziger  Weise  kombiniert  Aristophanes  seine  Friedens- 
tendenz mit  einem  alten  und  viel  verbreiteten  Schwankmotiv  in  der  Ävoi- 
oTQaxt]  (redender  Name,  öxi  kvei  röv  argarov)^  aufgeführt  an  den  Lenäen 
411.Ö)  Sie  ist  die  älteste  und  originellste  der  erhaltenen  drei  Weiber- 
komödien des  Dichters.  Benannt  ist  sie  nach  der  Hauptperson,  die  in 
einer  Versammlung  von  Frauen  aus  allen  Teilen  Griechenlands  den  Vor- 
schlag macht,  die  Männer  dadurch  zum  Frieden  zu  zwingen,  daß  sie  ihnen 
den  Beischlaf  kündigen,^)  infolgedessen  es  dann  auch  wirkHch  nach  allerlei 
obscönen  Zwischenfallen   zur  Versöhnung  der  Lakedaimonier  und  Athener 


^)   H.  Müller-Strübino  ,   Jahrbb.  f.  cl.  Muster  der  Vögel   Archippos   ein   ähnliches 

Phil.  121  (1880)  104.  schließt  aus  V.  1738  im  Stück  'IxOveg. 

Zusammenhang  mit  Aesch.  Eum.  813 K.,  daß  i           *)  J.   W.   Süvern,    Über   Aristophanes* 

mit  BanÜFta  die  Stadtgöttin  Athene  gemeint  '   Vögel,  Berl.  1827. 

sei.     Dagegen   J.  Cäsar  ,   Quaest.  II  ad  Av.  *)  K.  Bursian,  Über  die  Tendenz  der  Vögel 

ar.  spect.  Ind.  lect.  Marb.1881.   G.Löschcke  des  Arist.,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  1875  II  375  ff. 

versteht  unter  ihr  die  Meter,  Schutzherrin  des  *)  Arg.  Lys. ;   eine  Angabe   des  Preises 

athenischen  Buleuterion   (0.  Kern,   Realenz.  ,   und  der  Mitbewerber  fehlt. 

III  45).  ®)  Ähnliche  Situation  von  isoliei-tenFrauen 

'^)  Arg.  I :    ro  Sgäfia  rovxo  nov  äyav  öv-  '   aus  altfranzösischen  und  mittelhochdeutschen 

vax(o^  .tfjionjuh'iov.   Eine  ähnliche  Idee  hatte  Stoffen  weist  nach   J.   Grimm,  Kl.   Sehr.  V 

übrigens  schon  Pherekrates  in  seinen ''/4ymo«  (Berl.  1871)  408  ff. 

durchgeführt.      Später    dichtete    nach    dem  | 


C.  Drama.    3.  Die  Komödie,    c)  Aristophanes.    (§§  229—280.)  405 

kommt.  Eine  Parabase  fehlt;  der  Chor  ist  in  zwei  feindliche  Parteien 
geteilt,  die  der  Frauen  und  die  der  Greise,  die  sieh  beide  um  den  Besitz 
der  Burg  streiten,  indem  die  Greise  durch  Anlegung  von  Feuer  die  Frauen, 
die  bereits  von  der  Burg  Besitz  ergriffen  hatten,  aus  ihr  wieder  zu  ver- 
treiben suchen,  eine  Schar  von  Frauen  aber  mit  Wassereimem  ihren  Kol- 
leginnen zu  Hilfe  kommt.  Die  lüsternen  Einfalle  und  unflätigen  Witze  des 
Stückes  waren  nur  im  Theater  zu  Athen  denkbar,  wo  die  Männer  unter 
sich  waren  und  auch  die  Frauenrollen  von  Männern  gespielt  wurden.  Unter 
diesen  Voraussetzungen  ist  aber  auch  unerreicht  die  Szene  des  stanzen- 
geplagten Kinesias  und  der  den  Mann  mit  ergötzlichsten  Ausflüchten  hin- 
haltenden Myrrhine  (845 — 979).  Sehr  anmutig  sind  auch  die  Tanzlieder 
des  Chors  der  Lakonierinnen  und  der  Athenerinnen,  mit  denen  glanzvoll 
und  heiter  zugleich  das  geniale  Stück  abschließt.  Die  komische  Wirkung 
des  Sprechens  im  Lokaldialekt  ist  stark  ausgenützt.^)  Der  Aufbau  der 
Handlung  ist  in  diesem  Stück  außergewöhnlich  straff.  Der  Schluß  ist  ver- 
stümmelt. Im  Hintergrund  des  Musenspiels  steht  die  kurz  zuvor  erfolgte 
Verfassungsänderung  Athens  (387  ff.  wird  die  neueingesetzte  Behörde  der 
Probulen  verspottet)  und  die  damit  genährte  Hoffnung  auf  endlichen 
Friedensschluß. 

230.  Die  ßeojuocpogidCovoai,  aufgeführt  an  den  Dionysien  desselben 
Jahres,  2)  sind  gegen  Euripides  gerichtet,  dessen  neumodische  Manier  schon 
in  den  Acharnern  und  im  Proagon  (422)  die  Zielscheibe  des  beißenden 
Spottes  unseres  Dichters  gebildet  hatte.  Das  viertägige  Fest  der  Thesmo- 
phorien  zu  Ehren  der  Demeter  war  ausschließlich  für  Frauen  bestimmt: 
zum  Thesmophorion,  dem  Ort  der  städtischen  Feier  am  südöstlichen  Ab- 
hang der  Pnyx,  hatte  kein  männliches  Wesen  Zutritt.  Gelegentlich  dieses 
Festes  läßt  Aristophanes  die  Frauen  den  Plan  fassen,  den  Euripides,  den 
großen  Verleumder  ihres  Geschlechtes,  in  die  Acht  zu  tun.  Euripides, 
der  von  der  Sache  Wind  bekommen,  sucht  zuerst  den  eleganten  Liebling 
der  Frauen,  den  Dichter  Agathen,  den  Aristophanes  auch  im  Gerytades 
noch  einmal  aufgezogen  hat,  und  als  dieser  sich  nicht  dazu  hergeben  will, 
seinen  Schwager  Mnesilochos')  zu  bewegen,  sich  rasiert,  gerupft  und  in 
Agathons  weibischer  Garderobe  als  Frau  in  die  Weiberversammlung  ein- 
zuschleichen und  seine  Verteidigung  zu  führen.*)  Der  Aufgabe  entledigt 
sich  Mnesilochos  mit  Witz  und  Geschick,  vornehmlich  durch  den  Nachweis, 
daß  die  Frauen  tatsächlich  noch  viel  wollüstiger  und  schlechter  seien,  als 
Euripides  sie  dargestellt  hatte.  Aber  während  so  der  Anschlag  trefflich 
abzulaufen  beginnt,  kommt  plötzlich  die  Verlegenheit  durch  die  Anzeige 
des  Kleisthenes,   daß  sicherem  Vernehmen  nach  ein  als  Frau  verkleideter 


')  Über  das  Lakonisch  der  Lys.  s.  A. 
Thcmb,  Die  griech.  Sprache  im  Zeitalter  des 
Hellenismus,  Straßb.  1901,  30;  Wilamowitz, 
Textgesch.   der   griech.  Lyr.  88  ff.    (zu   der 


Didaskalie  zu  dem,  wie  sich  auch  aus  der 
Knappheit  der  Scholien  ergibt,  weniger  ge- 
lesenen Stück  fehlt.  Verwandten  Titel  hatten 
die  ^JAcoridCoraai  des  Philetairos. 


Szene  1216  ff.).  *)  Der  Name   ist  nicht  genannt,   indem 

^^  Nach   Schol.  Thesm.    190,   804,  841.  die  Person  nur  als  xtjdeoTtfs  Evgimbov  einge- 

Neuere,  worunter  G.  R.  Hanow.  Exerc.  crit.  in  führt  wird;  s.  E.  HiLLBR,Herm.  8  (1874)  449  f. 

com.  gr.,  Halle  1830,  82  ff.,  F.  Ritschl,  Opusc.  !           *)  Über  die  Frage  der  Porträtähnlichkeit 

I  429,    plädieren    für  410;    dagegen  für  411  I   des  Euripides  und  Agathon  I.  Brüns,  Litt. 

Wilamowitz,  Arist.  u.  Athen  II  343  ff.    Eine  i   Portr.  159  ff. 


406  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  KUcudflche  Periode. 

Mann  sich  eingeschlichen  habe.  Die  Anwesenden  werden  unter  allerlei 
zotigen  Witzen  untersucht,  und  Mnesilochos  nach  vergeblichem  Sträuben 
als  Mann  erkannt.  Der  Bösewicht  soll  durch  einen  skythischen  Polizisten 
(To^orrjg)  verhaftet  und  vor  die  Prytanen  geführt  werden;  da  gelingt  es 
noch  den  erfinderischen  Listen  des  Euripides,  sich  mit  den  Frauen  zu 
vertragen  und  den  Mnesilochos  seinem  Wächter  zu  entreißen.  Der  Ausgang 
des  Stücks  ist  mager,  indem  zum  notdürftigen  Abschluß  der  Chor,  ähnlich 
wie  in  der  jüngeren  euripideischen  Tragödie,  nur  ein  kurzes  anapästisches 
Exodion  singt.  Die  Stärke  der  Komödie  liegt  in  der  Parodie  des  Euripides 
und  Agathen,  wobei  der  geschniegelte  und  gebügelte  Weiberpoet  Agathen  mit 
seinen  gedrechselten  und  verschnörkelten  Versen  noch  schlechter  wegkommt 
als  der  erfindungsreiche  Weiberfeind  Euripides.  Die  Chorlieder  sind,  wie 
bei  der  Situation  des  Stückes  erklärlich,  ganz  anderer  Art  als  in  den  son- 
stigen Komödien;  sie  enthalten  herrliche  Tanzlieder  zu  Ehren  der  Götter, 
in  denen  aber  gewiß  auch  die  Parodie  eine  große,  uns  nur  infolge  der 
Dürftigkeit  der  Schollen  wenig  mehr  erkennbare  Rolle  spielt.  Die  Para- 
base  (785  ff.)  ist  sehr  zahm.  Aristophanes  dichtete  später  noch  ein  zweites 
Stück  gleichen  Namens.  Dieses  war  keine  Überarbeitung  unserer  Komödie, 
sondern  ein  ganz  neues  Stück,  das,  wie  man  aus  der  Sprecherin  des  Pro- 
logs, Kalligeneia,  erkannt  hat,  am  vierten  oder  letzten  Festtag  spielte, 
während  die  ersten  Thesmophoriazusen  auf  den  dritten  Festtag  fallen.  Mit 
Bezug  darauf  hat  der  Grammatiker  Demetrios  aus  Troizen  nach  Athen, 
p.  29a  die  zweiten  Thesmophoriazusen  ßeojno(poQidoaaai  getauft.  *) 

231.  Die  'Exx/it]oidCovoai^  das  dritte  Weiberstück,  nach  dem  pelo- 
ponnesischen  Krieg  im  Jahr  389  (nach  anderen  392)  aufgeführt,*)  sind  ein 
loser  Schwank,  der  allerdings  auch  aus  den  politischen  Zeitverhältnissen 
erwachsen  ist,  aber  ganz  der  ätzenden  Schärfe  persönlicher  Persiflage  ent- 
behrt. Denn  die  Angriffe  auf  die  neuerungssüchtige  Gesetzgebung  (V.  813  ff.), 
den  korrumpierenden  Einfluß  des  Ekklesiastensoldes  (308  flf.),  das  Dema- 
gogentum  des  Agyrrhios  (102.  184)  sind  alle  so  zahm,  daß  sie  selbst  unsere 
Theaterzensur  passieren  könnten.  Der  Schwank  zerfällt  in  zwei  locker 
verbundene  Abschnitte.  In  dem  ersten  ziehen  Frauen  als  Männer  ver- 
kleidet mit  Stiefeln  und  Schnurrbärten  in  aller  Frühe  in  die  Volksver- 
sammlung {ixxkrjGia),  um  durch  ihre  Wortführerin  Praxagora  den  Beschluß 
durchzusetzen,  daß  die  Angelegenheiten  der  Stadt,  nachdem  die  Männer 
alles  schlecht  gemacht,  nunmehr  den  Frauen  überlassen  werden.  Im 
zweiten  Teil   treten   dann    die  Frauen   mit   ihren  weltverbessernden  Ideen 

')  Das  Verhältnis  ist  klargelegt  von  F.  poribus  Eccles.   Aristoph.  in  Act.   soc.  phil. 

V.  Fritzsche  in   seiner  Ausg.  (Leipz.  1838);  Lips.  II  (1872)  335ff.  verwertet  die  geschicht- 

vgl.  A.  MoMMSEN,  Heortologie  S.  301  ff.    Da-  i   liehen  Verhältnisse  für  das  Jahr  389  und  er- 

gegen  Th.  Zielinski  79  ff.,  der  von  H.  Weil,  \   klärt  den  Intum  des  Philochoros  daraus,  daß 


Et.  sur  le  drame  ant.  295  widerlegt  wird. 
Siehe  a.  W.  Lange,  Quaest.  in  Ar.  Thesm. 
Gott.   1891.     Ein   kleines,   schlecht  lesbares 


Demostratos,  unter  dem  nach  der  verlorenen 
Didaskalie  das  Stück  gegeben  worden  sei,  Ol. 
97, 3  und  96.4  Archon  war.    Vgl.  0.  Kahler, 


Fragment  der  zweiten  Thesmophoriazusen  in  ,   De  Aristoph.  Ecclesiaz.  tempore  et  choio.  Diss. 

Pap.  Oxyrh.  11  212  (W.   Crönert,  Arch.  f.  Jena  1889.  Für  389  tritt  ein W.  Judeich.  Klein- 

Papyrusf.  1,  1901,  512  f.).  asiat.  Stud.  (Marb.  1892)  87,  1.   91  ff.      Die 

^)  Auf  das  Jahr  392   führt   die  Angabe  Winterzeit,  in  welche  die  Lenäen  fallen,  er- 

des  Philochoros  zu  V.  193.    G.  Götz,  De  tem-  |   gibt  sich  aus  V.  288. 


C.  Drama.    8.  Die  Komödie,    c)  Aristophanes.    (§§  281—282.)  407 

der  Güter-  und  Weibergemeinschaft  hervor,  machen  aber  gleich  beim 
ersten  Versuch  der  Durchführung  ihrer  Prinzipien  glänzend  Fiasko,  teils 
infolge  der  Schlauheit  einzelner  Bürger,  die  mit  der  Auslieferung  ihres 
Vermögens  an  den  Gesamtstaat  zurückhalten,  teils  und  mehr  noch  infolge 
der  Geilheit  der  alten  Weiber,  die  von  der  Bestimmung  der  Männer- 
gemeinschaft zunächst  für  sich  Vorteil  zu  ziehen  suchen.  Neu  ist  in  dem 
Stück,  dem  die  Parabase  fehlt,  die  Apostrophierung  der  ngirai  llbb  ff .,  die 
an  das  plaudite  der  neuattischen  Komödie  erinnert,  und  die  jiagemygaq?!] 
y.XOQov"^)  V.  730.  877.  1110  an  Stelle  ausgeführter  Gesänge.  —  Die  sozia- 
listischen und  konrniunistischen  Ideen  des  aristophanischen  Weiberstaates 
haben  vieles  mit  Piatons  Republik  Buch  V  gemein;  aber  davon,  daß  Ari- 
stophanes  sie  aus  Piaton  entnommen  und  mit  seiner  Komödie  eine  Satire 
auf  den  Staat  des  Piaton  habe  schreiben  wollen,  kann  doch  keine  Rede 
sein.^)  Nicht  nur  fehlt  jede  Anzüglichkeit  auf  Philosophen,  wiewohl  der 
Dichter,  wenn  derartige  Lehren  von  einem  Philosophen  bereits  aufgestellt 
worden  wären,  sich  schwerlich  die  Gelegenheit  der  Philosophenverspottung 
hätte  entgehen  lassen;^)  auch  die  Chronologie  stimmt  nicht:  die  uns  er- 
haltene Politeia  des  Piaton  in  zehn  Büchern  ist  ohne  Zweifel  weit  später 
herausgegeben  worden,  und  ob  die  angebliche  ältere  Ausgabe  in  zwei 
Büchern  in  so  frühe  Zeit  hinaufgerückt  werden  dürfe,  ob  diese  über- 
haupt etwas  von  der  Weibergemeinschaft  enthalten  habe,  ist  in  jeder 
Beziehung  zweifelhaft.*)  Aber  auch  Piaton  hat  nicht  etwa  diesen  Teil 
seiner  Staatskonstruktionen  aus  den  Ekklesiazusen  entnommen.  Das  Wahre 
ist  vielmehr,  daß  infolge  der  allgemeinen  Verarmung  der  Bürger  nach  dem 
peloponnesischen  Krieg  kommunistische  Ideen,  sicherlich  von  der  Sophistik 
längst  theoretisch  erörtert,  mit  neuer  Kraft  sich  geltend  machten*»)  und 
daß  diese  zuerst  von  dem  Komiker  zu  einem  drolligen  Schwank  benutzt 
und  dann  von  dem  Philosophen  in  eine  ernstgemeinte  Staatsutopie  ver- 
arbeitet und  politisch-ethisch  begründet  worden  sind. 

232.  In  die  Zeit  zwischen  Thesmophoriazusen  und  Frösche  fallen  der  ver- 
lorene erste  ükovrog  (408),  der  Tgiq)dXT]g  (Gegenstand  des  Spottes  die  Un- 

^)  Ebenso  auf  Papyri  von  Stücken  der      NordiskTidskrift  forfilologi  3.R.  11  (1902-3) 

vEft  8.  unten  S.  416,  2.  ;   49  ff.  und  E.  Mbyer,  GeBch.  des  Altert.  IV  429 

'^)  Th.  Bergk,  Comment.  p.  81 ;  locuple-  j   vermitteln,    indem   sie  denken,  Ar.  habe  an 

tissimus  aiictor  AHstophanes^   qui  in  Eccle-  j   mündliche  Äußerungen  Piatons  über  Eommu- 

siazusis  ipsam  hanc  doctrinam,  quam  Plato  |  nismus  und  Weiberemanzipation  angeknüpft. 
in  Ulis  lihris  proposuit^  scite  exagitat  ipsum-  Aber  diese  Ideen  lagen  im  Zeitalter  der  So- 
que  eiiam  PlcUonem  ohscurato  quidem  nomine  phistik  in  der  Luft.  Auch  H.  Radek,  Piatons 
(AoiaivlXfx;  für  ID.duov  6  lAotatwvo^)  obiur-  philos.  Entw.,  Leipz.  1905,  197  f.,  weist  eine 
(/at.  Ebenso  A.  Meineke,  Eist.  crit.  com.  I  Bezugnahme  des  Aristoph.  auf  Piaton  ab. 
288.    P.  Brandt,  Beitr.  z.  piaton.  Lehre  von  ')  Der  Ausdruck  qnhiooffog  ^^^wns  V.  571 

den  Seelenteilen,  München-Gladbach  1890, 3  ff.       beweist  nichts  dagegen. 
Dagegen  F.  SusBMiHL,  Die  genet.  Entwickl. der  *)  Vgl.   J.  Hirmer,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil. 

Plat.  Phil.  II  1,  296  ff.;  H  Dietzel,  Über  die  ,  Phil.  Suppl.  23  (1897)  655—660. 
Ekklesiazusen  des  Aristophanes  und  die  pla-  *)  Von  der  Weibergemeinschaft  der  Aga- 

tonische  Politeia,  Ztschr.  f.  Litt.  u.  Gesch.  d.  '  thyrsen  erzählt  bereits  Herodot  IV  104.  Daß 
Staatsw.  1893  S.  373  ff.;  E.  Zeller,  Arch.  f.  auch  bei  den  Spartanern  Umgang  einer  Frao 
Gesch.  d.  Philos.  6  (1893)  146;  1).  Comp ARETTi,       mit  mehreren  Männern   sehr  verbreitet  war, 

Ateno  e  Roma  3  (1900)  73 ff.;  0. Immisch,  N.  j  berichtet  Xenophon  de  rep.  Lac.  I  7.  Schon 
Jahrbb.  f.  klass.  Alt.  3  (1899)  452 ff.;  R.  Pohl-      Euripides   sagte   im  Protesilaos   xotvöv    yao 

MANN  ebenda  1  (1898)  31  ff.  —  G.R.  Nielsen,  I   eivai  XQW  ywatxetov  Xexog. 


408  Oriechische  Litteratnrgeschichte.    L  Elasaische  Periode. 

Sittlichkeit  des  nach  Athen  zurückgekehrten  Alkibiades),  die  Arjjuviai^  in  denen 
der  c.  410  nach  Attika  importierte  Kult  der  thrakischen  Bendis  vorkam, 
die  ^olriaaai  und  ein  Stück  mit  litterarästhetischer  Kritik,  ähnlich  den 
Fröschen,  der  rrjgvrddrjg^)  Die  Frösche  (ßdtgaxoi),  an  den  Lenäen 
405  aufgeführt,  wurden  nicht  bloß  mit  dem  ersten  Preis  gekrönt,  sondern 
auch  mit  einem  so  außerordentlichen  Beifall  aufgenommen,  daß  sie  zu 
einer  zweiten  Aufführung  kamen*)  und  der  Dichter  ihretwegen  mit  einem 
Zweig  des  heiligen  Ölbaums  bekränzt  wurde.  3)  Den  Stoff  bot  dem  Aristo- 
phanes  und  in  merkwürdiger  Übereinstimmung  zugleich  seinem  Rivalen 
Phrynichos  der  kurz  zuvor  eingetretene  Tod  der  beiden  großen  Tragiker 
Sophokles  und  Euripides.  Die  großen  Dionysien  standen  bevor,  und  jeder 
Theater fireund  fragte  sich  besorgt,  was  jetzt  aus  dem  dramatischen  Agon 
werden  solle,  da  die  großen  Meister  zu  den  Seligen  gegangen  seien  und 
nirgends  ein  Ersatz  sich  zeige.  Da  macht  sich  denn  der  Gott  Dionysos 
mit  seinem  Diener  Xanthias  auf  den  Weg,  um  den  Euripides  wieder  aus 
der  Unterwelt  heraufzuholen.*)  Bei  Herakles,  der  einst  den  Kerberos  aus 
dem  Hades  heraufgebracht  hatte,  holen  sie  sich  Rat  und  steigen  dann  bei 
dem  melitischen  Tor,  wo  Herakles  einen  Tempel  hatte  und  sich  auch  ein 
Begräbnisplatz  befand,  in  die  Unterwelt  hinab.  Nach  der  Fahrt  über  die 
Styx  tritt  plötzlich  eine  Änderung  der  Szene  ein;  der  Dichter  versetzt 
nun  die  Handlung  in  die  Unterwelt.*)  Nach  allerlei  Fährlichkeiten  kommen 
die  beiden  in  der  Behausung  des  Hades  gerade  zu  der  Zeit  an,  da  zwischen 
Aischylos,  der  bisher  den  tragischen  Thron  innegehabt  hatte,  und  dem 
neuangekommenen  Euripides,  der  jetzt  auf  diesen  Anspruch  erhob,  sich 
ein  Streit  entsponnen  hat.  Sofort  wird  das  Schiedsrichteramt  dem  Dio- 
nysos zugewiesen,  der  zugleich  den  Sieger  mit  in  die  Oberwelt  hinauf- 
zunehmen verspricht.  Der  berühmte  Streit,  von  Aristophanes  nach  sorg- 
faltiger Disposition  und  mit  feiner  Komik  durchgeführt,«)  bildet  für  uns 
die  wichtigste  Quelle  des  ästhetischen  Urteils  der  Zeitgenossen  über  das 
Verhältnis  der  großen  Tragiker  zueinander.  Aristophanes  steht  natürlich 
auf  Seiten  des  Aischylos,  des  Vertreters  der  alten,   ehrbaren  Zeit;   aber 

^)  Ein    Papyrusfragment   aus   Oxyrhyn-  j   von  den  Toten    hat   auferstehen  und  in  den 

chos   ist   dem  G.   vielleicht   zuzuweisen:   0.  |    Ta^iaoxoi  den  Dionysos  auf  die  Suche  nach 

Crüsius,  M^langes  Weil  81  ff.  \   einem  guten  Feldherrn  ausgehen  lassen,  wor- 

*)  Arg.  1 :  to  df  ögäfid  t(ov  ev  .-rav?»  >cai  ]    über  A.  Meinekk,  Hist.  crit.  com.   126  f. 

<fydoldyo)g  :ienoirjfih<ov  *  Fdihdyßr)  f.m  KnlUm^  ,            *)  Mit  Vers  270   steigen    Dionysos   und 

rov  ftFia  \irTtyFvtf  diä  *Pd(oridor  ei^  Ar/vaia-  Xanthias  angeblich  aus  dem  Kahn,  der  schwer- 

3TQ(7noc:  t)r,  derregos   ^orvi^fK  Movoaig,  IlXd-  lieh  sichtbar  war.  und  treten  durch  eine  Seiten- 

TMv  TOixiK  KkeofpfovTi.  ovT(o  de  i{>avftdoO*j  t6  |   tüF   der  Parodos   aus   dem  Paraskenienraum 

Aoäfta  öin  rifv  h  avuo  nagdßaoiv  {Öid  xi^v  ftg  ,   in  die  Parodos  ein,  um  sich  dann  nicht  nach 

Zitdov  xardßaoiv  coni.  Weil),  cootf.  xal  dvFdt-  links  zum  Logeion,    sondern   nach  rechts  in 

Sdxf>f},  dk  f/tjot  Atxaiaoxog.  die  Orchestra   und    zum  Sitz   des   Dionysos- 

*)  Vit.  Arist.  8,  wo  die  Auszeichnung  im  be-  |    priesters  (297)  zu  wenden, 

sonderen  auf  die  Partie  rdv  hodr  yogov  dixaior  '            ®)  In  jenem  Streit  enthält  das  berühmte 

,Tok/M    xgrioxn    xfj    ndlfi     ovfiminaivFTv     xx),.  sinnlose  Füllstück   von    der  Hauptcäsur   des 

(V.  ^Hii)    zurückgeführt   wird.     Spuren   einer  Trimeters  an,   hjxrOtor  n.-T(olFOF\\  womit  die 

Dioi  those  versuchen  nachzuweisen  J.  Stanokb  Eintönigkeit   der   euripideischen   Verse    ver- 

a.  0.  6  ff.,  Th.  ZiELiNSKi  a.  0. 150  ff.,  E.  Graf,  spottet  wird,  einen  Anklang  an  den  Paroden 

Philol.  55  (1896)  312  ff.  :   Hegemon,  von  dem  es  in  Paroem.  gr.  I  406 

■*)  In  dieser  Erfindung  war  dem  Aristo-  heißt:    'Hyyuoyr    6    Hdoios,    d.idxF    nagto^wv 

phancs  teilweise  Eupolis  vorausgegangen,  der  !  djiogtjofie,  jigoaenOFi  •  xai  xo  jxFgdtxog  oxekog. 
in  den  .l/y/foi  die  großen  Staatsmänner  wieder 


C.  Drama.    8.  Die  Komödie,    c)  Aristophanes.    (§  283.)  409 

SO  schonungslos  er  auch  die  Erniedrigung  der  tragischen  Kunst  durch 
Euripides  geißelt,  so  läßt  er  doch  auch  dem  Sophisten  unter  den  Dichtem 
Gerechtigkeit  widerfahren,  indem  er  schließlich  sein  Urteil  über  die  Ver- 
dienste beider  in  den  schönen  Vers  (1413)  zusammenfaßt:  tov  fjih  yäo 
^Yov/iiai  aotpov,  t(i>  d'  ijdo/uai,  ein  gesundes,  subjektiv-ästhetisches  Urteil 
wie  1468  algi^oojuai  ydg  ^)V71£q  t)  y^vx^i  '^ekei.  Der  Charakter  des  Dionysos, 
der  als  Euripidesschwärmer  in  die  Unterwelt  gestiegen  ist,  kippt  damit 
freilich  in  bedenklicher  Weise  um.  Noch  größere  Ehre  erweist  er  aber 
dem  edlen,  milden  Charakter  des  Sophokles,^)  der  in  seiner  Bescheidenheit 
gar  keinen  Anspruch  auf  den  Thron  erhoben  hatte,  von  Aischylos  aber 
beim  Weggehen  zu  seinem  Stellvertreter  eingesetzt  wird.  Jener  Wett- 
streit der  Tragiker  bildet  den  Mittelpunkt  und  für  uns  den  hauptsäch- 
lichsten Anziehungspunkt  des  Dramas;  aber  dem  Umfang  nach  nimmt  er 
kaum  die  Hälfte  der  Dichtung  ein.  Aristophanes  trug  eben  auch  in  dieser 
Komödie  dem  Geschmack  des  gewöhnlichen  Publikums  Rechnung,  wie 
gleich  in  der  Eingangsszene;  hier  erscheinen  zwei  köstliche  Figuren,  der 
als  Herakles  mit  Keule  und  Löwenfell  bekleidete  Weibergott  Dionysos, 
auf  den  zweifellos  das  Vorbild  des  kratineischen  Dionysalexandros  wirkte, 
und  sein  auf  dem  Esel  reitender  und  das  Gepäck  gleichwohl  auf  dem 
Rücken  tragender  Diener  Xanthias;^)  ferner  beim  Eingang  in  die  Unter- 
welt, wo  die  Köchinnen  ein  Zetergeschrei  über  den  vermeintlichen  Viel- 
fraß Herakles  erheben  und  der  finstere  Unter welts Wächter  Aiakos  den 
Dionysos  und  seinen  Begleiter  Spießruten  laufen  läßt;  endlich  am  Schluß, 
wo,  um  den  Ernst  des  Streites  zu  verwischen,  Pluton  den  Theatergott 
und  Theaterdichter  zum  Abschied  bewirtet.  Aber  auch  der  politische  Cha- 
rakter der  alten  Komödie  ist  nicht  ganz  außer  acht  gelassen;  er  drückt 
sich  in  zahbeichen  derben  Anspielungen  aus,  besonders  aber  in  der  auf 
die  Aussöhnung  der  Parteien  bezüglichen  Parabase  (675 — 737),  die  beim 
athenischen  Theaterpublikum  ganz  besonders  Gefallen  fand  und  in  bedeut- 
samer Weise  Stimmung  machte  für  die  im  zweitfolgenden  Jahr  vom  Volk 
beschlossene  Amnestie.  Den  Namen  hat  unsere  Komödie  nicht  von  dem 
Chor  der  Eingeweihten  (jivaxai)^  der  diese  Parabase  vorträgt,  sondern  von 
dem  lustigeren  Nebenchor  der  Frösche,  die  mit  ihrem  ßgexe^exki  xoä^  xod^ 
die  Überfahrt  des  Gottes  über  den  See  der  Unterwelt  begleiten. 

233.  Der  Ilkovxog  ist  in  der  uns  erhaltenen  zweiten  Fassung  388 
aufgeführt  worden,  nachdem  der  erste  Plutos  bereits  408  über  die  Bühne 
gegangen  war.  8)  Im  Geist  der  mittleren  Komödie  ist  hier  an  die  Stelle 
der  persönlichen  Persiflage  eine  allegorische  Fabel  vom  Gott  des  Reichtums 
getreten.     Der  Chor  ist  so  gut  wie  ganz  verschwunden;   einen  schwachen 


^)  In  diesem  findet  I.  Bhuns  (Litterar. 
Porträt  163  ff.)  Porträtzüge,  die  dem  Aisch. 
und  Eurip.  fehlen. 

*)  Den  Xanthias  mit  dem  geteilten  Ge- 
päcksack stellt  eine  realistische  Terrakotta 
des  Münchener  Antiquariums  nr.  113  vor. 

^)  Der  erste  Plutos  wurde  aufgeführt 
Ol.  92,  4  nach  Schol.  Plut.  173;  über  die 
Zeit  des  zweiten   belehrt  Arg.  IV,  wonach 


]  Mitbewerber  waren  Nixoxaotjg  Atixcoaiv, 
'AgiOTOfiFvrf^  M/iijTfp,  Nixoffwv  \4do)vi6i,  Al- 
xaXos  IJaoKfdjj.  Der  erste  Plutos  war  wahr- 
scheinlich ganz  verschieden ;  s.  Th.  Kook  zu 
den  Fragmenten  desselben.  L.  Ludwig,  Pluti 
Aristoph.  utram  recensionem  veteres  gram- 
matici  dixerint  priorem.  Gommentationesphilol. 
Jenens.  4  (1890)  61  ff. 


410  Griechische  litteratargeachichte.    L  EUsBische  Periode. 

Nachklang  bildet  die  nach  Motiven  des  Dithyrambus  eingelegte  Neckszene 
zwischen  der  herbeigerufenen  Schar  der  Armen  und  dem  Sklaven  Karion 
(V.  288 — 321)^')  aber  auch  diese  bewegt  sich  in  dem  Geleise  der  gewöhn- 
lichen Metra,  des  iambischen  Trimeters  und  Tetrameters.  Von  der  Politik 
hält  sich  der  Dichter  ganz  fern  und  führt  nur  einmal  (V.  176)  ganz  neben- 
bei einen  Seitenhieb  auf  den  Demagogen  Ag3rrrliios,  der  damals  das  große 
Wort  in  den  Volksversammlungen  führte.  Dagegen  gaben  auch  im  Plutos, 
wie  in  den  kurz  zuvor  aufgeführten  Ekklesiazusen,  die  sozialen  Zustände 
dem  Dichter  den  StoflF  an  die  Hand.  Ein  verarmter,  biederer  Bauer,  Chre- 
mylos,  der  sich  auf  Rat  des  Orakels  dem  Gefolge  des  blinden  Plutos*)  an- 
geschlossen hatte,  heilt  mit  seinem  verschmitzten  Sklaven  Karion  den  Gott 
von  der  Blindheit,  indem  er  ihn  im  Asklepiostempel  durch  den  köstlich 
verspotteten  Humbug  der  Inkubation  kurieren  läßt.  Nun,  nachdem  der 
Gott  sieht,  an  wen  er  seine  Gaben  verteilt,  kehrt  sich  die  ganze  Welt 
um:  die  Gerechten  schwimmen  in  Überfluß,  die  Sykophanten  und  alten 
Huren  kommen  in  Not,  die  Götter  und  ihre  Priester  sind  um  die  fetten 
Opfergaben  gebracht.  Zum  Schluß  wird  der  vergötterte  Plutos  auf  der 
Burg  in  dem  Opisthodom  der  Göttin  Athene  aufgestellt,  zum  guten  Zeichen 
für  die  Stadt,  damit  es  dem  dort  aufbewahrten  Staatsschatz  nie  an  Gold 
und  Geld  fehle.  Das  alles  ist  recht  lustig  und  mit  feinem  Verständnis 
der  sozialen  Verhältnisse 3)  dargestellt,  aber  ohne  die  jugendliche  Keckheit 
ausgelassenen  Witzes.  Wegen  seines  zahmen  Charakters  und  der  geschickt 
durchgeführten  Allegorie  wurde  das  Stück  im  byzantinischen  Mittelalter 
besonders  fleißig  gelesen,  so  daß  uns  zu  ihm  die  umfangreichsten  Scholien^) 
erhalten  sind. 

234.  Nach  dem  zweiten  Plutos  hat  Aristophanes  nur  noch  zwei  Ko- 
mödien mit  Mythenparodie,  den  Kojxakog  und  den  Aloioaixcov  durch  seinen 
Sohn  Araros  388  aufführen  lassen;*)  jener  behandelte  denselben  Stoflf  wie 
Sophokles  in  den  KajtäxLoi  scherzend  und  verwendete  Motive,  die  dann  in 
der  neuattischen  Komödie  stehend  geworden  sind  {ävayvcoQiojuog  und  qrdoQd). 
Vom  Aiolosikon  ist  bezeugt,*)  daß  er  keinen  Chor  hatte.')  So  leitet  Ari- 
stophanes mit  seinen  letzten  Stücken  selbst  zur  ueai]  und  vea  hinüber. 
Von  anderen  verlorenen  Komödien,  die  nicht  schon  früher  genannt  worden 
sind,  seien  hier  noch  erwähnt:  die  Nfjooi,  in  denen  das  Glück  des  Friedens 
gepriesen  war  und  von  denen  eine  Stelle  (fir.  1)  Horaz  in  der  zweiten 
Epode   auf  die  Freuden  des  Landlebens  nachgeahmt  hat;   die  'Okxddegy   in 

')  PauseDausfüIleDde  Musikstücke  müssen      tretene  Auffassung,  daß  .inurj  und  fkevdEou) 


eingelegt    gewesen    sein    vor   V.    322,    627 
und  958. 

'')    Das   Motiv    von    der   Blindheit    des 


untrennbar  sind. 

^)  Ein  Kommentar  des  Euphronios  zum 
Plutos  ist  erwähnt  in   dem  Lexicon  Messa- 


Plutos  ist  alt  (Hipponax  fr.  90  Bok.;  Timo-      nense  ed.  H.  Rabe,  Rhein.  Mus.  47   (1892) 


creon  fr.  8    in   Th.  Beroks   PLG   III*  540; 
s.  a.  F.  H.  M.  Blaydbs  zu  Plut.  90). 

3)  Sehr  treffend  setzt  die  Penia  V.  507 
bis  609  auseinander,  wie  nicht  der  Reichtum, 
sondern  sie,  die  Armut,  die  treibende  Macht 
im  Staat  sei,  ohne  die  alles  in  träges 
Schlaraffenleben  verfallen  würde.  Hier  lebt 
die   alte ,   von  Herodot  (s.  o.  S.  185,  2)  ver- 


411  fol.  283  r.,  10. 

*)  A.  Wilhelm,  Jahresh.  des  östr.  arch. 
Inst.  10(1907)88. 

«)  Platonius  p.  4,  24  K. 

')  Komische  Chöre  sind  übrigens  noch 
für  das  3.  Jahrh.  v.  Chr.  inschriftlich  nach- 
gewiesen (A.  EöBTE,  N.  Jahrbb.  f.  klass.  Altert 
5,  1900,  81  ff.). 


C.  Drama.    3.  Die  Komödie,    c)  AriBtophanes. 


234—285.) 


411 


denen  Aristophanes  gegen  die  Trabanten  des  Eleon  zu  Feld  zog:  die  Agd- 
juara  fj  Khnavgog  und  Agd/LKna  fj  Nioßog^  in  denen  der  Handel  des  lophon 
mit  seinem  Vater  Sophokles  vorgekommen  sein  soll;0  die  Tayrjviorai  und 
der  Tgiq)dXT]g,  in  denen  Alkibiades  und  seine  lustige  Gesellschaft  die  Kosten 
des  Spieles  tragen  mußten;  das  Alter  (rfjgag)^  worin  die  Greise  nach  Art 
der  Schlangen  die  alte  Haut  abgeworfen  hatten  und  sich  wie  mutwillige 
Jungen  gebärdeten;  die  Hören,  die  Störche,  die  Danaiden,  der  Daidalos  u.  a. 
236.  Kunstcharakter.  Die  Kunst,  die  ein  Komödiendichter  in 
erster  Linie  haben  muß,  die  Kunst,  seine  Zuhörer  und  Leser  zum  Lachen 
zu  bringen,  besaß  Aristophanes  in  höchstem  Maße.  Über  das  ganze 
Repertoire  von  Scherzen,  Bummelwitzen  (ßcojnoXoxia)^  Zoten,  Verhöhnungen, 
unerwarteten  Ausgängen  (jiagd  ngoadoxiav\  Parodien,  Anspielungen  ver- 
fügte er  mit  souveräner  Herrschaft.  Die  Schwächen  der  menschlichen 
Natur,  insbesondere  die  Nacktheiten  des  Geschlechtstriebes  bei  Männern 
und  Frauen,  hat  er  nicht  minder  wie  die  lächerlichen  Auswüchse  des 
gesellschaftlichen  und  staatlichen  Lebens,  die  Aufgeblasenheit  der  Empor- 
kömmlinge, die  noblen  Passionen  der  adeligen  Jünglinge,  die  Durchtrieben- 
heit der  Sklaven,  den  Humbug  und  Eigennutz  der  Wahrsager  für  seine 
Stücke  verwertet.  In  Erfindung  lustiger  und  burlesker  Szenen  zeigt  er 
eine  geradezu  unerschöpfliche  Originalität;*)  auch  da,  wo  der  Ernst  der 
Situation  und  die  Subtilität  des  Themas  fröhliche  Szenen  auszuschließen 
schien,  hat  er  wenigstens  zum  Schluß  durch  irgend  einen  Aufzug  oder 
einen  lustigen  Schmaus  dafür  gesorgt,  daß  die  Zuschauer  nicht  mit  sauer- 
töpfischer Miene  nach  Hause  gingen.  Aber  so  hoch  auch  seine  witzige 
Ader  und  derbe  Natürlichkeit  anzuschlagen  sind,  die  Hauptsache  waren 
sie  ihm  nicht.  Wie  er  selbst  seinen  Dichterberuf  auffaßte,  spricht  er  in 
den  apologetischen  Parabasen  seiner  fünf  ersten  erhaltenen  Stücke  aus; 
zusammenfassend  beurteilt  er  sich  selbst  pac.  749  f.: 

iTTOiTjoe  zexy^iy  /ueydXrjv  rjjLUv  xäjivgyfoa  oixodo/u/joag 
fjieaiv  fieydXoig  xai  diavoiaig  xal  oxa>jujiiaoiv  ovx  äyogaioig.*) 
Eine  höhere  sittliche  Tendenz  zieht  sich  durch  alle  seine  Komödien:  er 
will  das  Gemeine  und  Verkehrte  dadurch  austreiben,  daß  er  es  lächerlich 
macht;  das  horazische  ridentem  dicere  verum  steht  ihm  überall  obenan;*) 
ja  er  geht  selbst  hie  und  da  über  die  Grenze  des  poetischen  Spiels  hinaus 
und  stellt  mit  sittlicher  Entrüstung  direkt  ohne  die  Beihilfe  des  Lächer- 
lichen die  Gemeinheit  von  Sykophanten  und  politischen  Gaunern  an  den 
Pranger.  Die  Grundsätze,  die  er  auf  solche  Weise  durch  seine  Komödien 
zur  Geltung  zu  bringen  sucht,  betreffen  teils  die  Politik,  teils  die  Poesie 
und  die  Erziehung,  die  damals  vor  allem  durch  die  Poesie  vermittelt  wurde; 


»)  Siehe  oben  S.  298  f.  Wilamowitz,  Ob- 
seTv.  crit.  in  com.  graec,  Berl.  1870  S.  11  ff. 
bezieht  hierauf  das  Scholion  zu  vesp.  60:  fv 
Totg  jrgo  loriov  öfdiSayfisvoii:  dodfiaoiv  eh  irjy 
'Hoaxlmvc:  dnXijoiim'  noXXd  jiQoeiotjxaij  wo- 
nach die  Aodfiaxa  vor  den  Wespen  oder  vor 
422  aufgeführt  worden  seien. 

=*)  Th.  Kock,  Aristophanes  als  Dichter 
und  Politiker,  Rh.  Mus.  39  (1884)  118-140. 


Siehe  o.  S.  382,  5. 

')  Seine  Erhabenheit  über  die  Bedienten- 
sphäre der  Meyaoixd  oxdtfijuain  ist  freilich, 
wenn  man  das  Einzelne  betrachtet,  nicht  so 
unbedingt  zuzugestehen,  wie  er  es  (auch  nub. 
537  ff.)  verlangt. 

*)  Ach.  500:  to  yftg  dlxaiov  olde  xai  rgv- 
yo)Öia.    Siehe  o.  S.  383,  1. 


412  Griechische  Lüteratorgeschichte.    L  ElasBische  Periode. 

die  bildende  Kunst  und  ihre  Künstler  läßt  er  unberührt,  wie  sie  auch  die 
öffentliche  Meinung  damals  tief  unter  das  Niveau  der  Poesie  gestellt  hat. 
In  der  Politik  neigt  er,  wie  Kratinos  und  die  meisten  Dichter  der  attischen 
Komödie,  zur  Friedens-  und  Ordnungspartei  und  vertritt  den  Standpunkt 
der  ehrenfesten  dorisierenden  Aristokratie.  Nikias,  Theramenes,  Kritias 
bleiben  so  gut  wie  ganz  verschont,^)  die  Ochlokratie  aber  und  das  damit 
verbundene  Demagogentum  des  Kleon,  Hyperbolos,  Agyrrhios  haben  an  ihm 
den  schneidigsten  Gegner  gefunden.*)  In  der  Poesie  zeigt  er  sich  gleich- 
falls als  Freund  der  alten  Zeit:  Aischylos  ist  sein  überschwenglich  gepriesenes 
Ideal,»)  die  ganze  Lauge  seines  Spottes  ergießt  er  über  die  neumodische 
Richtung  des  Euripides;*)  von  ihm,  dem  Lieblingsdichter  der  Jugend, 
fürchtet  er  zumeist  schlimmen  Einfluß  auf  das  Volk,  ihn  verfolgt  er  daher 
über  das  Grab  hinaus  mit  erbarmungslosem  Spott.  Mehr  nur  nebenbei 
werden  die  Schnörkel  des  weichlichen  Agathen  und  die  ätherischen  Tiraden 
des  Dithyrambendichters  Kinesias  verhöhnt.  Seine  Feindseligkeit  gegen 
Euripides  hängt  mit  seiner  Abneigung  gegen  die  ganze  Richtung  der  mo- 
dernen Erziehung  zusammen:  das  ethische  Ideal  des  heroischen  Über- 
menschentums und  seine  erzieherischen  Wirkungen,  die  alte  Tatkraft, 
Schlichtheit,  Frömmigkeit  will  er  unverkürzt  erhalten,  wenn  er  auch  selbst 
als  Spaßmacher  gelegentlich  über  die  Göttermythen  witzelt;  von  den  Wort- 
verdrehungen der  Rhetorik,  den  Spekulationen  und  den  Trugsätzen  der 
Sophistik  befürchtet  er  den  Ruin  seines  Vaterlandes.  In  seinem  eigenen 
Feld,  der  komischen  Poesie,  ist  er,  im  Bewußtsein  seiner  Überlegenheit, 
gegen  seine  Rivalen  nichts  weniger  als  rücksichtsvoll  aufgetreten;  dafür 
hat  Kratinos  ihm  den  Spott  über  die  ausfallenden  Saiten  seiner  Leier 
(eq.  531 — 6)  im  nächsten  Jahr  mit  seiner  „Flasche"  gut  heimgezahlt, 
und  Eupolis  ihm  den  Vorwurf  des  litterarischen  Diebstahls  (nub.  554)  in 
seinen  ßdjnai  mit  Bitterkeit  zurückgegeben.*)  Trefflich  verstand  es  Ari- 
stophanes  mit  seinem  attischen  Publikum:  sowenig  er  sich  scheut,  ihm  in 
eigener  Angelegenheit  derbe  Wahrheiten  zu  sagen,  wenn  er  sich  über 
seinen  Wankelmut*)  und  Mangel  an  feinerem  Verständnis^)  beschwert,  so 
weiß  er  es  sich  doch  immer  wieder  durch  Elogen^)  warm  zu  halten.  Ein 
Meisterstück  ist  seine  Charakteristik  des  Demos  in  den  Rittern,  der,  im 
ganzen  auf  den  Typus  des  Bucco  gearbeitet,  sich  doch  schließlich  klüger 
zeigt   als   alle   seine  vermeintlichen  Regenten  (ähnlich  ist  Plat.  apol.  30  e). 


^)  Nicht  ebenso  Alkibiades.  Zwar  wandte  |  1864;  W.  H.  van  db  Sande  Bakhuyzbn  s.  o. 

Arist.  anf  ihn  in  den  Fröschen  1431  (vgl.  Plat  i  S.  393,  1.     Über  nichtattische  Ausdrücke  in 

Gorg.  483e;    Plut.  Ale.  16)    den  berühmten  1  den  Parodien  s.  W.  G.  Rutherford,  Zur  Gesch. 

Ausspruch  des  Aischylos  an:  ov  ymj  )Jovi(k  '  d.  Atticismus  in  Jahrb.  f.  Phil.  Suppl.  13(1884) 

oxvuror    n'  nolei   rgetfEiv,    P/r  d*  KxxfjFqjj   Tis,  1  384 — 99. 

To/V  Tod.Tois  i\it]Q€TFh\  aber  herhalten  mußte  I  *)  Clemens  Alex,  ström.  VI 752 F.: //Arirwv 

er  in  dem  Triphaies  und  den  Tagenistai.  6   xtouixo^   xai  \4oiOToqdyfjs    fv   ko  Aaif^uXut 


'^)  vesp.  1043  lobt  er  sich  selbst  als 
iÜF.^ixaxov  Tf/s  yiooas  lijode  xa{^aoTt)r^  einen 
neuen  Herakles   (vgl.  vesp.  1030;  pac.  752). 

^)  P.  Hennig,  Aristophanis  de  Aeschyli 
poesi  iudicia,  Lips.  1878.     Siehe  o.  S.  382,  6. 

*)  W.  RiBBEOK,  Die  dramatischen  Paro- 
dien,  in  der  Ausgabe  der  Acharner,  Leipz. 


T«  dXli'ikoyy   rq  (uoorvTfu. 

«)  eq.  518  ff^ 

')  nub.  520  ff.  vesp.  1043  ff.,  wo  er  sich 
mit  dem  Beifall  der  0070t  tröstet,  ähnlich 
wie  später  Horaz  und  Lucian. 

®)  ds^iol,  ofxpoi  nennt  er  die  OEaxai  eq. 
228.  233;  nub.  521  f.  526.  575;  ran.  676.  70a. 


C.  Drama.    8.  Die  Komödie,    c)  Aristophanes.    (§  236.)  413 

Diese  Grazie   der  Satirik  hat  die  Alten   wohl  zu  dem  Urteil  0   bestimmt, 
Aristophanes  sei  weniger  TiixQÖg  als  Kratinos. 

236.  Die  Originalität  des  Aristophanes  in  der  Erfindung  komischer 
Motive  können  wir,  da  wir  seine  Vorgänger  nicht  genügend  kennen,  nicht 
recht  beurteilen.  Daß  er  aber  sehr  vieles  schon  vorgefunden  hat  und  nur 
zu  modifizieren  und  einzupassen  brauchte,  ist  offenbar.  In  dem  Aufbau 
und  der  Ökonomie  seiner  Komödien  will  er  sich  (Frieden  V.  748  flf.)  hoch 
über  die  desultorischen  Possenreißereien  älteren  Stils  erhoben  haben,  aber 
die  Kunst  spannender  Anlage  und  geschickter  Verschlingung  im  vollen 
Sinn  haben  doch  erst,  nach  Ausscheidung  des  phantastischen  Elements, 
die  Dichter  der  neuen  Komödie  ausgebildet.  Am  strengsten  gebaut 
ist  von  Aristophanes  die  Lysistrate.  Die  Anforderungen  des  Publikums 
in  Hinsicht  der  dramatischen  Tektonik  wurden  durch  die  Leistungen 
der  Tragödie  in  dieser  Beziehung  gesteigert.  Im  5.  Jahrhundert  legte  man 
aber  den  Hauptnachdruck  noch  auf  die  vis  comica,  mit  welchen  Mitteln 
immer  sie  erreicht  werden  mochte.  An  einzelnen  Stellen  glaubt  man 
übrigens  auch  bei  Aristophanes  Einflüsse  euripideischer  Technik  zu  be- 
merken, die  nicht  immer  parodisch  zu  verstehen  sind.*)  Wo  musikalische 
Rücksichten  mit  in  Frage  kommen,  finden  wir  bei  ihm  eine  bemerkens- 
werte Strenge  des  symmetrischen  Baues,  und  zwar  nicht  bloß  in  lyrischen 
Gesängen,  sondern  auch  in  parakatalogisch  vorgetragenen,  aus  anapästi- 
schen, trochäischen,  iambischen  Tetrametern  bestehenden  Partien. 3)  Von 
den  beiden  Bestandteilen  des  antiken  Dramas  weiß  man  nicht,  welchen 
man  bei  Aristophanes  höher  stellen  soll,  ob  den  leichtfließenden,  spannen- 
den Dialog  oder  die  melodischen,  wechselreichen,  tiefste  Empfindung,  be- 
sonders auch  tiefes  Naturgefühl  ebenso  wie  schwungvollste  Kraft  atmenden 
Chorgesänge.  In  der  R^gel  preist  man  die  letzteren  mehr,  weil  man  so 
etwas  wie  die  aristophanische  Parabase  in  anderen  Litteraturen  nicht 
hat.*)  Aber  auch  abgesehen  von  den  Parabasen  entwickelt  Aristophanes 
in  den  Chorpartien  eine  außerordentliche  Kunst:  weit  inniger  als  bei  den 
Tragikern  bleibt  der  Chor  mit  der  Handlung  und  dem  Spiel  auf  der  Bühne 
in  Kontakt,  weit  mehr  Leben  entfaltet  er  in  sich  selbst  dadurch,  daß 
er  sich  bald  in  Halbchöre  und  Reihen  auflöst,  bald  alle  einzelnen  Choreuten 
hintereinander  zu  Wort  kommen  läßt.*)  Dem  Dialog  wie  den  Chorpartien 
aber  gibt  einen  besonderen  Reiz  die  korrekte  Schönheit  des  sprachlichen 
Ausdrucks  und  der  leichte  Fluß  der  Verse.  Die  Sprache  des  aristophani- 
schen Dialogs  ist,  soweit  nicht  in  Paratragodien,  Vulgarismen  und  Dialek- 
tizismen  besondere  komische  Wirkungen  gesucht  werden,  die  gebildete 
attische  Umgangssprache  damaliger  Zeit.  Bei  den  Grammatikern  galt  er 
als  Muster  des  reinen  Attikismos,  den  er,  frei  von  den  Fesseln  eines  tra- 

^)  Stellen  bei  G.  Kaibel,  Realenz.  II  984.  !   Gabel  und  dem  Romantischen  Oedipus  und  im 

*)  Prolog   eq.  40  fF.;    nub.  42  ff.;  vesp.  engeren  Anschluß  an  Aristophanes  J.Richter 

54  ff.;  pac.  50  ff.;  Eccl.  1  ff.;  Erzählung  hypo-  in  den7:rc<7,  Koxxvysg,  Xe/.id6ves.  Siehe  auch 

skenischer  Vorgänge  eq.  624  ff.;   Plut.  653  ff.  E.  Stemplinger,  B1.  f.  bayr.  Gymn.  42  (1906) 

')   Vieles   der  Art   ist  erst   in  unserer  369  ff.  über  Aristophanesnachahmungen,   be- 


Zeit  erkannt   worden,    worüber  W.  Chbist, 
Metrik^  Leipz.  1879,  602  ff. 

*)  Nachahmungen  versuchten  in  neuerer 
Zeit  A.  V.  Platen  in   der  Verhängnisvollen 


sonders  die  von  Prutz. 

*)  R.  Abnoldt,  Die  Chorpartien  bei  Ari- 
stophanes scenisch  erläutert,  Leipz.  1873. 


414  GhieohiBche  Litteraturgesohiohte.    L  KlassiBche  Periode. 

ditionellen  Stils  in  allen  gesellschaftliehen  Schichten  .des  attischen  ßioq  sich 
bewegend,  vollständiger  als  die  Tragiker  zum  Ausdruck  bringen  konnte. 
In  der  Verstechnik  bildet  er  einerseits  durch  den  freien  Bau  des  Trimeters 
die  Lässigkeit  der  Umgangssprache  nach  und  erhebt  sich  anderseits  durch 
die  befiederten  Anapäste  und  energischen  Päonen  zu  kühnem  Flug.^  Die 
Kola  der  lyrischen  Gesänge  gehen  alle  leicht  ins  Gehör,  so  da&  wir  auch 
nach  dem  Verlust  der  Melodien  doch  wenigstens  ihre  rhythmische  Schön- 
heit fühlen.  Die  Natur  der  altattischen  Komödie  bringt  es  mit  sich,  dafi 
die  Jugend  an  unseren  humanistischen  Gymnasien  nicht  vollständig  mit 
der  aristophanischen  Muse  vertraut  gemacht  werden  kann;  aber  Griechen- 
land und  Athen  kennt  nicht,  wer  nicht  diesen  ungezogenen  Liebling  der 
Grazien  gelesen  hat.^) 

Die  Schollen  zu  Flut  nab.  ran.  pac.  av.  reichhaltig,  zu  Lys.  Thesm.  Eccl.  ganz  spftr- 
lich,  bestehen  in  vjto&foeig,  vjiofivtjfmxa  und  metrischen  Analysen.  Die  ersten,  in  verschie- 
denen Fassungen  auf  uns  gekommen,  gehen  auf  AristophanesByz.,  der  die  erste  kritische 
Ausgabe  des  Ar.  mit  Einteilung  der  W^rischen  Partien  m  Kola  gemacht  (Schol.  Ar.  av.  1342; 
Thesm.  162.  917;  ran.  153.  1204)  und  Dikaiarchos  jifqI  ^ovoixwv  nytovwv  benützt  hat,  zurtkck. 
J.  N.  Gböbl,  Die  ältesten  Hypotheseis  zu  Aristophanes,  Progr.  Dillingen  1890.  Die  metrischen 
Analysen  rtthren  von  dem  Metriker  Heliodoros  her.  C.  Thibmann,  Heliodori  colometriae 
Aristophaneae  quantum  superest,  Halle  1869.  —  An  der  Exegese  und  Kritik  beteiligten  sich 
indirekt  Er a tost hen es  (jiroi  dgxaia<:  x(ofi<i}d{ag)  und  Lykophron  (.t.  xcuf«rjt>dmg),  direkt  be- 
sonders Euphronios  (auch  Kommentator  des  Kratinos, Phrynichos  und  Metagenes ;  s. o. S. 41 0, 4). 
Aristophanes  Byz.  und  dessen  Schüler  Kallistratos,  femer  Aristarchos  (L.  Cohn, 
Realenz.  11  873),  Timachidas,  Didymos  und  die  Pergamener  Herodikos  und  Askle- 
piades.')  Die  Redaktion  der  alten  Scholien  erfolgte  durch  Phaeinos  (diesen  rückt  Wila- 
MowiTZ,  Eurip.  Herakl.  P  181  schwerlich  richtig  in  byzantinische  Zeit)  und  Symmachos  nach 
der  Subscriptio  zu  nub.  u.  pac.  Symmachos,  auf  den  die  erhaltenen  älteren  vjia&iong  und 
Scholien  zu  Aristophanes  zurückzugehen  scheinen  (A.  Köbte,  Herrn.  39,  1904,  494  ff.),  lebt  um 
100  n.  Chr.,  s.  Wilamowitz,  Eur.  Herakl.  I*  179  f.  Auf  einen  zusammenhängenden  Kom- 
mentar weist  z.  B.  Schol.  ran.  1159.  Vgl.  0.  Sghkeideb,  Commentat  de  veterum  in  Aristoph. 
scholiorum  fontibus,  Stralsund  1838;  K.  Zacheb,  Die  Hss.  und  Klassen  der  Aristophanesscholien, 
Jahrb.  f.  Phil.  Suppl.  16  (1888)  503  ff.  u.  PhUol.  41  (1882)  11  ff.;  C.  Stbeokeb,  De  Lycophrone 
Euphronio  Eratosthene  comicorum  interpretibus,  Greifsw.  1884;  G.  Stein,  Schol.  in  Anstoph. 
Lysistr.,  Gott.  1891,  mit  Quellenuntersuchung  in  Prol.  I— XXH;  W.  Meinbbs.  Quaest.  ad 
scholia  Aristoph.  historica  pert.,  Diss.  Hall.  11  (1890)  219 ff.;  C.  B.  Gttlick.  De  schol.  Aristoph. 
quaest.  mythicae,  Harvard  Stud.  5  (1894)  83  ff.  —  Manche  der  alten  Scholien  sind  besser  bei 
Suidas  erhalten,  worüber  G.  Büngeb,  De  Arist.  apud  Suidam  rell.,  in  Diss.  Argent.  1  (1879)  149  ff. 

—  Aus  dem  Mittelalter  besitzen  wir  Prolegomena  zu  Aristoph.  von  Tzetzes,  welcher  Plut. 
nub.  ran.  av.  kommentierte,  publiziert  aus  Cod.  Ambros.  222  von  H.  Keil,  Rh.  Mus.  6  (1848) 
108  ff.  243  ff.;  F.  Ritschl.  Op.  1  praef.  p.  XI  u.  197  ff.;  A.  Naück,  Lex.  Vind.,  Petersb.  1867, 
233  ff.    Außerdem  haben  wir  verwässerte  Scholien  von  Thomas  Magister  und  Triklinios. 

—  Gesamtausgabe  der  Scholien  von  W.  Dindobf,  Ox.  1819;  3  vol.;  F.  Dübneb,  Par.  1843; 
Ausgabe  der  Scholien  des  Ravennas  von  W.  G.  Ruthebfobd,  London  1896,  gegen  den  A. 
RöMEB  (Studien  zu  Aristophanes.  Leipz.  1902)  den  größeren  Wert  der  Scholien  des  Venetus, 
zunächst  für  vesp.,  erweist,  was  übrigens  schon  K.  Zacheb,  Philol.  Suppl.  7  (1899)  498  ff. 
getan  hatte;  A.  Mabtin,  Les  scolies  du  manuscrit  d'Aristophane  ä  Ravenne,  Paris  1882,  wozu 
ergänzende  Berichtigungen  von  R.  Scholl,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  1889  II  39—46.  —  Übersicht 
der  Textgeschichte  Wilamowitz,  Eurip.  Herakl.  P  179  ff. 

Codices  (annähernd  vollständiges  Verzeichnis  von  J.  W.  White,  The  manuscripts  of 
Ar.  I.  Chicago  1906  =  Classical  philology  1 1):  Ravennas  137  s.  XI  mit  minderwertigen  Scholien 
(photographiert  in  Codices  Gr.  et  Lat.  photogr.  depicti  duce  Scatone  de  Vries  t.  IX,  Leiden 
1904);  Venetus  474  s.  XII  ohne  Ach.  Eccl.  Thesm.  Lys..  mit  vollständigeren  Scholien.   Zur  ge- 

')  Nach  Aristophanes  ist  von  den  Metri-  \   rjhjov  *Aoioio(fdroV';.    Th.  Bergk  nennt,  unter 

kern   der   anapästische  Tetrameter   benannt.  dem     Einfluß     romantischen     Geschmacks, 

')  So  nennt  Goethe  den  Aristophanes  im  I   die   ältere  attische  Komödie  den  Höhepunkt 

Epilog  der  Vögel.  Werke  17  (Weimar  1894)  114,  der  griechischen  Poesie, 

nach  dem  Distichon  des  Philosophen  Piaton  *)  Nicht  der  Myrleaner:   B.  A.  Mülleb, 

( 01}Tnpiodor.  vit.  Plat.  3):  ai  Kdoireg  tefis^'d;  i   De  Asclep.  Myrl.  47. 

ti  Xaßelv,    ojTso  ov^i  JieoFirai,  ^rjzovoai  V'^'ZV*'  i 


C,  Drama.    8.  Die  Komödie,    d)  Mittlere  Komödie.    (§  237.)  415 

ringeren  Klasse  gehören  Paris.  2712  s.  XIII  (A);  Laor.  31,  15  8.Xiy  (F),  wozu  die  Ergänzung 
der  Leidensis  9  bildet;  Vaücano-Urbinas  141  s.  XIV  {U)  mit  beachtenswerten  Scholien  des 
Tzetzes;  Ambros.  L  39  s.  XIV  (A/).  Ein  paar  Papymsblätter  aus  dem  Altertum.  Verse  der 
Vögel  enthaltend,  sind  publiziert  von  H.  Weil,  Rey.  de  phil.  6  (1882)  179.  Weitere  Aristo- 
phanespapyriW.CBÖKKBT,  Archiv  f.Papyrusf.  1  (1901)511  ff.;  2(1903)356;  Berliner  Klassiker- 
texte V  2,  99  ff.  —  Überladener  kritischer  Apparat  in  den  Sonderausgaben  von  F.  H.  M. 
Blaydbs  und  Ad.  vonVelsbk's.  unten.  Über  die  Klassifikation  der  Scholienhandschriften 
K.  Zachsb,  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl.  16  (1888)  503  ff.  und  Jahresb.  über  d.  Fortschr.  d.  Alt.  71 
(1892)  1-128. 

Ausgaben:  ed.  princ.  Aid.  Venet.  1498  ohne  Lys.  Thesm.,  besorgt  von  M.  Musübos; 
die  elf  Stücke  vereint  Bas.  1532.  —  Ausgabe  mit  Kommentar  von  L.  Küstbb.  Amstel.  1710  f. 
(mit  Emendationen  R.  Bbntlbys)  ;  St.  Bebolbbs  Ausg.  mit  vorzüglichem  Kommentar,  besorgt 
von  P.  BüBMANN  d.  J.,  2  voll,  Leiden  1760;  von  R.  F.  Ph.  Bbükok,  Argent.  1781—83;  von 
Ph.  Invebkizzi,  fortgesetzt  von  Bd.  El  an  durch  Chb.  D.  Bbok,  von  VII  an  durch  W.  Dnr- 
DOBF,  Lips.  1794— 1834,  13  vol.;  von  F.  H.  M.  Blaydbs,  Hai.  1880-1893  mit  Conspectus 
codicum  et  praecipuarum  editionum;  die  einzelnen  fabulae  annotatione  criüca  et  exegetica 
instructae,  cum  prolegomenis  et  conmientarüs  ed.  J.  van  Leeuwbn,  Leiden,  seit  1893  einzeln 
erscheinend,  19(>6  mit  der  Ausg.  der  Eigfjvrj  abgeschlossen.  —  Ausgabe  mit  kritischem 
Apparat  begonnen  von  A.  v.  Velsen,  Leipz.  1869—83  (eq.  ran.  Plut.  Eccl.  Thesm.),  deren  Fort- 
setzung von  dem  1907  verstorbenen  K.  Zaghbb  erwartet  wurde  (editio  altera  der  Ritter  von 
Zacheb  erschienen  1897;  angekündigt  seit  1907  von  dems.  eine  Ausg.  des  Friedens).  — 
Ausgewählte  Komödien  (Wolken,  Ritter,  Frösche,  Vögel)  mit  erklärendem  Kommentar  von 
Th.  Kook,  bei  Weidmann  seit  1852,  wiederholt  aufgelegt  (zuletzt  Frösche,  4.  Aufl.,  Berl.  1898). 
—  Acham.  ed.  P.  Elmsley,  Oxf.  1809.  2.  Aufl.,  Lips.  1830;  von  Alb.  Mülleb,  Hann.  1863; 
von  F.  M.  H.  Blatdes,  Halle  1887;  von  W.  Ribbeok,  griech.  u.  deutsch,  Leipz.  1864.  —  Ritter 
von  W.  Ribbeok,  griech.  u.  deutsch.  Berlin  1867.  —  Wolken  von  F.  A.  Wolf  mit  metrischer 
Übersetzung,  Berlin  1812;  von  G.  Hebmann,  Lips.  1830;  von  W.  S.  Teuffel-0.  Kähleb.  Leipz. 
(1867)  1887.  —  Frieden  recogn.  et  adnot.  H.  van  Hebwebden,  2  partes,  Lugd.  Bat.  1897.  — 
Ran.  emend.  et  interpr.  V.  Fbitzsche,  Turici  1845.  —  Wespen  und  Frieden  von  J.  Richteb, 
Berl.  1858. 1860;  Wespen  von  Blaydbs,  Halle  1892—3.  Kommentar  zu  den  Wespen  an  der 
Hand  der  Scholia  Veneta  A.  Römeb,  Studien  zu  Aristoph.  I,  Leipz.  1902,  62  ff. 

Erläuterungsschriften:  C.  Beeb,  Über  die  Zahl  der  Schauspieler  bei  Aristoph., 
Leipz.  1844;  E.  Dboysen,  Quaestiones  de  Aristoph.  re  scaenica,  Bonn  1868;  J.  H.  M.  Niejahb, 
Quaest  Aristophaneae  scaenicae,  Greifswald  1877;  Chb.  Muff,  Über  den  Vortrag  der  chorischen 
Partien  bei  Arist.,  Halle  1872;  besser  R.  Abnoldt,  Die  Chorpartien  bei  Arist.,  scenisch  er- 
läutert, Leipz.  1873 ;  P.  Mazon,  Essai  sur  la  composition  des  com^dies  d* Aristophane,  Thdse, 
Paris  1904  (gegen  Th.  Ziblinskis  starren  Schematismus).  —  J.  van  Leeuwen,  Prolegomena 
ad  Aristophanem,  Leiden  1908.  —  Übersetzung  mit  Erläuterungen  von  J.  G.  Dboysen,  Berlin 
1835  ff.  (1869),  wohlfeilere  Ausgabe  Leipz.  1871 ;  besser  von  Ludw.  Sebgeb,  3  Bde.,  Frankf. 
1845 — 48.  —  Ein  Lexikon  wird  vorbereitet  von  E.  Wüst  in  München;  bis  jetzt  gibt  es 
nur  ein  Wortindex  von  J.  Cabavblla,  Index  Aristophanicus ,  Oxf.  1822;  dazu  H.  Jagobi, 
Comicae  dictionis  index  in  A.  Meinekes  Fr.  com.  Gr.V  129  ff.  (1857)  und  H.  Dunbab,  A  com- 
plete  concordance  to  the  comedies  and  fragments  of  Ar.,  Oxford  1883.  —  C.  Hille,  Die 
deutsche  Komödie  unter  der  Einwirkung  des  Ar.,  Leipzig  1907. 

d)  Mittlere  Komödie.  0 
237.  Der  alten  Komödie  wurde  seit  Eintritt  der  politischen  und  reli- 
giösen Reaktion  nach  dem  peloponnesischen  Krieg  in  doppelter  Weise  der 
Boden  entzogen.  Der  empfindlich  gewordene  Staat  ertrug  die  freche  und 
zügellose  Kritik  seiner  Einrichtungen  nicht  mehr,  wie  Horaz  (Ars  poet.  284) 
von   dem   Chor   der  Komödie   sagt:   turpiter  obticuit  sublato  iure  nocendL^) 


*)  W.  H.  Graubbt,  De  mediae  Grae- 
corum  comoediae  natura  et  forma,  Rh.  Mus. 
2  (1828)  50  ff.  499  ff.;  0.  Ribbeck,  Über 
die  mittlere  und  neuere  attische  Komödie, 
Leipzig  1857.     In   den  Kanon  aufgenommen 


NEBT,  Canonesne  po^tar.  scriptor.  artific.  per 
antiquitatem  fuerunt,  Diss.  Königsberg  1897 
p.  6.  12. 

')  Den  Unwillen  über  die  Ausschreitungen 
der  politischen  Redefreiheit  der  Komiker  spricht 


waren  von  den  Dichtem  der  mittleren  Ko-  i    Isokrates  de  pace  14  (vgl.  ad  Nicocl.  44)  aus, 


mödie  Anüphanes  und  Stephanos  (nach  Cod. 
Bodl.:  Antiphanes  und  Alexis),  von  denen 
der  neuen  Phileraon,  Menandros,  Diphilos, 
Philippides,  Foseidippos,  Apollodoros.  O.Kböh- 


den  über  die  persönlichen  Verunglimpfungen 
Flaton  in  der  Apologie.  Vgl.  besonders  Plat 
leg.  XI  985  e,  wo  sich  die  Anschauung  von 
der  komischen  jtoQQijaia  ausspricht,  die  dann 


416 


Griechische  Litteraturgeflchichte.    L  Elassische  Periode. 


Das  Recht  des  Spottes  ließ  sich  zwar  die  Komödie  so  rasch  nicht  nehmen; 
sie  rieb  sich  an  Dichtem,  Musikern  und  anderen  Privatpersonen,  seit  sie 
die  Beamten  aus  dem  Spiel  lassen  mußte;  aber  ihr  Einfluß  war  damit 
stark  eingeschränkt;  sie  war  nun  kein  Faktor  des  politischen  Lebens  mehr, 
sondern  nur  noch  ein  Mittel  erheiternder  Unterhaltung.  In  derselben 
Richtung  wurde  die  Entwicklung  der  Komödie  beeinflußt  durch  die  Ver- 
armung der  attischen  Bürgerschaft  seit  der  Niederlage  Athens,  i)  Eine 
Erleichterung  in  den  liturgischen  Leistungen  schien  geboten,  und  an  der 
Komödie  fing  man  zu  sparen  an,  indem  man  die  komische  Choregie  ab- 
schaffte,^) um  so  lieber  als  damit  die  lästige  Parabase  zugleich  beseitigt 
wurde.  Das  Ausfallen  des  groteskesten  und  phantastischsten  Elements  aus 
der  Komödie  mußte  eine  Zügelung  ihrer  gesamten  technischen  Anlage  zur 
Folge  haben  und  sie  formell  in  die  Bahn  der  Tragödientechnik  treiben, 
materiell  dem  Geist  der  humoristisch-parodistischen  dorischen  Komödie  nahe 
bringen.  Mit  der  Reduktion  bezw.  Abschaffung  des  Chors  hängt,  wie  oben 
S.  375  bemerkt  wurde,  eine  Veränderung  in  der  baulichen  Anlage  des 
Theaters  zusammen:  die  Einrichtung  einer  erhöhten  Bühne  für  die  dycoveg 
oxrivixoi^  während  die  &yo)veq  &vjbi€kixoi  der  Rezitatoren,  Musiker  u.  a.  in 
die  Orchestra  {&v/uXr])  verlegt  wurden.*) 

238.  Die  neue  Richtung  der  Komödie,  die  durch  das  Fehlen  der 
persönlichen  Satire  und  durch  kunstvolle  Ausbildung  einer  zusammen- 
hängenden Fabel  gekennzeichnet  wird,  hat  sich  allmählich  Bahn  gebrochen; 
ein  scharfer  Schnitt  zwischen  den  Entwicklungsgruppen  läßt  sich  nicht 
machen;  Motive  der  ägxaia  hören  nicht  auf  in  der  /ueorj  und  via  weiter- 
zu wirken.*)    Die  älteren  griechischen  Grammatiker  unterscheiden  nur  alte 


im  römischen  Staat  die  herrschende  geworden 
ist  (Cic.  de  rep.  IV  11  f.  veteribus  displicuisse 
Romanis  vel  laudari  quem  quam  in  scaena 
vivum  hominem  vel  vituperari), 

*)  Die  beiden  Ursachen,  die  zum  Unter- 
gang der  altattischen  Komödie  geführt  haben, 
hebt  Vit.  Aristoph.  §  10  hervor. 

')  Schol.  Arist.  ran.  404:  XQ^^H^  ^*  ^»*^ 
-ToX^o)  voxEoov  xai  xa^ojia^  ttfoifiXe  Ktvrjoiac: 
(den  darum  der  Komiker  Strattis  fr.  15  K. 
XOQoxtovos  nennt)  ras  x^Q'D'^^^'i  Traktat  de 
com.  p.  18  zu  Z.  30  KaiBEL  x^Q^*^'  eoTegr^tai, 
ojieQ  xfjq  VFeoTf'gag  vnijQXf  xo)fio)6Uig\  ebenso 
Platonios  de  com.  p.  5.  60  Kaibel;  Horat.  a. 
p.  284.  Nach  Vita  Aristoph.  §  11  fand  sich 
auch  in  den  Stücken  der  neuen  Komödie  die 
Überschrift  Xoqov^  wofür  jetzt  der  Papyrus  aus 
Ghorfln  s.  III./II.  v.  Chr.  ed.  P.  Joüoüet,  Bull, 
de  corr.  hell.  30  (1906)  149  und  der  Menander- 
codex  aus  Köm  Ishkaou  (Fragments  d'un 
manuscr.  de  Menandre  ed.  G.  Lefebybe,  Kairo 
1907  p.  47.  163.  169)  die  Bestätigung  bringt 
zur  Bezeichnung  der  Stelle,  wo  entweder  ein 
beliebiges  Gesangstück  oder  ein  Zwischen- 
spiel des  Flötenbläsers  (Plaut.  Pseud.  573) 
einzulegen  war.  Einen  Chor  bei  den  länd- 
lichen Dionysien  erwähnt  noch  Aischines  in 
Tim.  157. 

*)  Nach  Vitruv.  V  7,  2  war  die  , griechi- 


sche Bühne",  d.  i.  die  spätere,  damals  allein 
bekannte  hellenistische  Bühne  10 — 12  Fuß 
hoch  und  bildete  ein  langgestrecktes  Rechteck, 
dessen  Tiefe  und  Länge  im  Verhältnis  von 
1  :  12  standen.  Diesen  Konstruktionsangaben 
entsprechen  nach  Christ  genau  dieVerhältm'sse 
des  neuerdings  ausgegrabenen  Theaters  des 
Polykletos  in  Epidauros,  das  die  Musterform 
für  die  Bühnen  der  hellenistischen  Zeit  gebildet 
hat  und  in  seinem  uns  vorliegenden  Ausbau 
(Dörpfeld-Reisch,  Griech.  Theater  132  f.)  für 
das  chorlose  Drama  nach  Alexandros,  ins- 
besondere für  die  neue  Komödie  bestimmt 
war:  W.  Christ,  Das  Theater  des  Polyklet 
in  Epidauros  in  seiner  litterar-  und  kunst- 
historischen Bedeutung,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber. 
1894,  I  1  if.,  dem  E.  Bethe,  Prolegomena 
zur  Gesch.  des  Theaters  (1896)  Kap.  XII,  Das 
hellenistische  Theater,  beistimmt.  Dagegen 
halten  E.  Capps,  The  chorus  in  the  later 
greek  drama.  Amer.  joum.  of  arch.  10  (1895) 
p.  287  ff.  und  A.  Körte.  N.  Jahrb.  5  (1900)  81  ff. 
an  der  Ansicht  W.  Dörpfelds  fest,  daß  das 
Drama  nicht  auf,  sondern  vor  dem  Proskenion 
auf  ebener  Erde  gespielt  worden  sei.  Über 
die  Beibehaltung  des  rhalloskostüms  für  den 
Chor  bis  Mitte  des  4.  Jahrh.  A.  Körte,  Jahrb. 
des  arch.  Inst.  8  (1893)  71. 

*)  F.  Leo,   Plautin.  Forschungen  123  ff. 


C.  Drama.    3.  Die  Komödie,    d)  Mittlere  Komödie,    (§§  288—289.) 


417 


(dgx<^^)  und  neue  (via  oder  xain^)  Komödie,  i)  spätere  schieben  eine  Über- 
gangsstufe, die  mittlere  (juearj)  Komödie,  ein  und  bemerken  von  mehreren 
Stücken  der  alten  Komiker,  wie  von  dem  Plutos  des  Aristophanes  und 
den  Odysses  des  Kratinos,  daß  sie  im  Stil  der  mittleren  oder  neuen  Ko- 
mödie gedichtet  seien.  ^)  Als  Eigentümlichkeit  der  mittleren  Komödie  be- 
zeichnen sie  die  versteckte  Anspielung  und  die  Vorliebe  für  Parodie  und 
Verspottung  der  Philosophen,*)  Dichter  und  Mythen,  Dinge,  die  freilich 
auch  in  Komödien  des  5.  Jahrhunderts  sich  schon  finden,  während  die  neue 
auf  feine  Zeichnung  der  Charaktere  und  Erfindung  kunstvoll  verschlungener 
Handlungen  den  Nachdruck  gelegt  habe.^)  Beiden  gemeinsam  war  das 
Fehlen  von  Chorgesängen  und  die  Einfachheit  der  metrischen  Form.  Der 
fast  zur  ausschließlichen  Herrschaft  gelangte  Vers  war  der  iambische 
Trimeter;  daneben  trat  an  erregteren  Stellen  der  trochäische  Tetrameter 
ein;  außerdem  fanden  anapästische  Dimeter  oder  Systeme  in  den  Gesangs- 
partien, namentlich  der  mittleren  Komödie,  ihre  SteDe.*)  In  der  Prosodie 
und  dem  Sprachgebrauch  merken  die  Grammatiker  manche  Abweichungen 
von  den  strengeren  Regeln  der  alten  Komödie  an.**)  Der  Zeit  nach  setzte 
man  die  mittlere  Komödie  zwischen  den  peloponnesischen  Krieg  und  den 
Regierungsantritt  des  Alexandres  (406 — 336),  die  neue  unter  Alexandres 
und  die  Diadochen  (von  336  an). 

239.  Zur  alten  Komödie  zählten  die  Grammatiker  noch  mehrere 
Dichter,  die  nach  ihrer  Lebenszeit  und  der  Richtung  ihrer  Poesie  der 
mittleren  näher  standen,  Strattis,  Theopompos,  Alkaios,  Nikochares.  Von 
Strattis  zählt  Suidas  sechzehn  Stücke  auf;  mehrere  von  ihnen,  wie  Mrideia^ 
TgcolXog,  ^oivioaai^  Xgvaumog^  waren  offenbar  parodischer  Natur;  sein  Ki- 
vrjoiag  war  gegen  die  bekannte  Klappergestalt  des  Dithyrambendichters 
Kinesias  gerichtet;   die  Maxedöveg  f)  Ilavoaviag  berührten  den   Aufenthalt 


^)  W.  FiBLiTz,  De  Atticoram  comoe-  ! 
dia  bipartita,  Bonn  1866.  Die  Unterscheidung 
von  dg/aia  und  xaivt/  xcofifpdia  findet  sich 
schon  bei  Aristoteles  eth.  Nie.  p.  1128a  22. 
Der  Name  fiioij  läßt  sich  erst  bei  Schrift- 
stellern nach  Hadrian  nachweisen,  geht  aber 
doch  wohl  in  frühere  Zeit  zurück:  die  Zwei- 
teilung weist  den  Pergamenem,  die  Drei- 
teilung, die  schon  Hör.  sat.  I  3,  11  f.  anzu- 
deuten scheint,  den  Alexandrinern  zu  G.  Kai- 
BEL,  Zur  att.  Korn.,  Herrn.  24  (1889)  56  ff. 
WiLAMowiTz,  Eurip.  Herakl.  P  134  meint, 
(.äorj  bezeichne  zunächst  einen  Art-,  nicht 
einen  chronologischen  Unterschied.  Siehe  a. 
F.  SusEMiHL,  Alex.  Litt.  I  426,  88. 

'*)  Platonios  de  com.  p.  4,  31  ff.  K. :  to<- 
ovxog  BOJLV  6  rfjg  (tiorjg  xcofifpdiag  rvjroff,  oTog 
ioTiy  6  Aio/.ooixcov  'AQiaToq:dvovg  xai  ol  tWva- 
ö^^  Koaiivov  xai  jriETora  x&v  ztisXaitbv  bqa- 
/iidtcoy,  OVIS  yooixa  ovxe  jragaßdasig'  i^^*^^' 

^)  Insbesondere  die  durch  ihr  Auftreten 
auffälligen  Pythagoreer  und  Kyniker  (Wila- 
MowiTz,  De  tribus  carminib.  tat.  Ind.  lect., 
Gott.  1893/94  p.  16)  müssen  herhalten. 

*)  Die  Erfindung  einer  solchen  Handlung 
Uandbach  der  klass.  Altertumswisaeiischait    VII. 


gehört  zum  nXdo^ia^  daher  Anon.  de  com.  p.  18 
zu  Z.  30  K. :  6  IJXovzog  vscoTeglCet  xatd  x6 
jtXdofia'  Ttjv  TS  ydg  xmd&eoiv  ovx  dXf}{Hj  leyei. 
Die  Lateiner  nannten  eine  solche  erfundene 
Handlung  argumentum  im  Gegensatz  zu 
fabula. 

*)  Die  gesungenen  Teile  sind  Monodien 
und  Duette;  außer  Trochäen  und  Anapästen 
kommen  vor  Kretiker  bei  Eubul.  fr.  112  K., 
Anaxil.  fr.  12  K.;  Eupolidei  versus,  die  dem 
Diphilos  und  Menandros  der  lateinische  Me- 
triker Marius  Yictorinus  p.  104,  5  und  110, 
21  E.  zuschreibt,  sind  nachgewiesen  von 
A.  Mehybke  I  300  und  442  f.  Ithyphallici 
gebrauchte  Menandros  im  0dofjia  nach  Cae- 
sius  Bassus  p.  255,  10.  Noch  mannigfaltiger 
müssen  die  Metra,  nach  der  lateinischen  Be- 
arbeitung des  Plautus  im  Stichus  zu  schließen, 
in  den  AdeXfpoi  a  des  Menandros  gewesen 
sein.  Übrigens  stammt  die  Polymetrie  der 
plautinischen  Komödie  nicht  sowohl  aus  der 
vjfa,  als  aus  der  hellenistischen  Gesangsposse 
(F.  Leo,  Abb.  der  Gott.  Ges.  der  Wiss.  N.  F. 
1,  1897,  nr.  7). 

«)  A.  Mkinbke  I  294  ff. 
6.  Anfl.  ZI 


418  Griechische  Litteratargeschichte.    L  ElassiBche  Periode. 

des  Agathon  und  seines  Freundes  Pausanias  am  Hof  des  makedonischen 
Königs  Arehelaos.  —  Theopompos  schrieb  nach  Suidas  vierundzwanzig, 
nach  dem  Anon.  de  com.  (p.  10  Kaibel)  siebzehn  Komödien;  eine  von  ihnen, 
Elgijvrj,  scheint,  nach  dem  gleichnamigen  Stück  des  Aristophanes  zu  ur- 
teilen, politischer  Natur  gewesen  zu  sein,  ebenso  wie  seine  Stratiotides 
an  die  Ekklesiazusen  des  Aristophanes  erinnern.  Aus  dem  'Hdvxdgrjg  ist 
uns  eine  Anspielung  auf  den  Phaidon  des  Piaton  erhalten. 

Die  mittlere  Komödie  zählte  nach  dem  Anon.  de  com.  (p.  9,  53  K.) 
57  Dichter  und  607  Dramen  ;i)  nur  die  namhaftesten  sollen  kurz  be- 
sprochen werden.  Antiphanes  von  fremder  Herkunft*)  soll  auf  Antrag 
des  Demosthenes  das  athenische  Bürgerrecht  erhalten  haben.  Als  Komödien- 
dichter trat  er  (Anon.  de  com.  p.  9,  55  K.)  nach  der  98.  Olympiade 
(388 — 5)  auf.  8)  Der  fruchtbarste  unter  diesen  Dichtern,  schrieb  er  260, 
nach  andern  sogar  365  Komödien,  mit  denen  er  aber  nur  dreizehn  Siege 
(acht  bei  den  Lenäen:  A.  Wilhelm,  Urk.  123)  davontrug.  Wir  haben  Titel 
und  Fragmente  von  140  unbezweifelten  Stücken,  die  sich  besonders  in  der 
Schilderung  von  Gourmandise  und  Gastereien  nach  Art  der  dorischen  Posse 
ergehen,  aber  auch  viele  hübsche  Sentenzen  enthalten.  Die  Kunst  ver- 
erbte sich  auf  seinen  Sohn  Stephanos.  —  Anaxandrides  aus  Kamiros 
auf  Rhodos,  geboren  c.  400,  errang  nach  der  parischen  Chronik  (ep.  70) 
im  Jahr  376  einen  Sieg  in  Athen  und  beteiligte  sich  im  Jahr  348  an  den 
Festspielen,  die  König  Philippos  nach  der  Einnahme  von  Olynthos  ver- 
anstaltete.*) Eine  hübsche  Schilderung  seiner  Persönlichkeit  hat  aus 
dem  Werk  des  Chamaileon  jugi  xcoficodlag  Athenaios  p.  374  aufbewahrt. 
Danach  war  er  ein  schöner,  großer  Mann,  der  die  natürliche  Schönheit 
seiner  Figur  noch  durch  langes  Haar  und  purpurnes  Gewand  mit  goldenem 
Saum  zu  heben  wußte;  dabei  war  er  aber  so  heftigen  und  hochfahrenden 
Sinns,  daß,  wenn  er  mit  einer  Komödie  durchfiel,  er  sie  nicht  umarbeitete. 


»)  Noch  mehr  Stücke  (über  800)  nimmt 
Ath.  336  d  an.  Analogien  aus  neuerer  Zeit 
für  die  Fruchtbarkeit  dieser  Dichter  bieten 
Scribe  mit  über  400  und  Lope  de  Vega  mit 
c.  1500  Stücken.  39  Dichtemamen  sind 
erhalten  und  aufgezählt  von  A.  Meineke  I 
303.  Neue  Namen  von  Dichtem  lehren  uns 
die  neuaufgefundenen  didaskalischen  Ver- 
zeichnisse CIA  II  971—7  kennen.  Im  Alter- 
tum schrieb  Antiochos  aus  Alexandria  Tiegl 
xa>v  ev  xfj  fieof^  x(Ofji(p6iq.  xcDfiqidovfisvcov  ttoitj- 
jwv.     Siehe  Ath.  482  c. 

*)  Nach  Stephanos  Byz.  aus  Berga  in 
Pisidien,  was  aber  vielleicht  auf  Verwechse- 
lung mit  dem  Paradoxographen  Antiphanes 
beruht.     Andere  Notizen  Suid.  s.  v. 

')  Die   Schwierigkeiten  in  den   chrono- 


läßt.  Über  die  Überlieferung  der  Zahl  seiner 
Stücke  S.  Mbkleb,  Festschr.  f.  Vahlen  1900. 
33.  Sehr  wahrscheinlich  ist  A.  Wilhelms 
(Urk.  55  ff.)  Annahme,  mit  dem  älteren  Ant. 
sei,  was  Lebenszeit  und  Zahl  der  Stücke  be- 
trifft, ein  jüngerer  Ant.,  Sohn  des  Panaitios, 
komischer  Dichter  und  Schauspieler  aus  dem 
Anfang  des  3.  Jahrh.  zusammengeworfen 
worden.  Unter  dieser  Voraussetzung  können 
die  biographischen  Angaben  bei  Suid.  und 
Anon.  de  com.  über  den  älteren  Ant.  (geb. 
408—5,  erstes  Auftreten  nach  385,  Tod  334 
bis  331)  bestehen  bleiben.  Neue  Fragmente: 
aus  *Avi>o(o:ioyo%'ia  Oxyrhynch.  pap.  III  nr.  427 
(F.  BLASS,  Arch.  f.  Papyr.  3,  1906,  277);  aus 
nagexbibofAevt)  A.  LuDWiCH,  Berl.  phil.  W.schr. 
23  (1903)  94  ff.  —  Seine  'Aluvo/ahri  setzt  R. 


logischen  Angaben  löst  E.  Capps,  Greek  tra-   '  J.  Th.  Wagner,  Symb.  ad  com.  Gr.  bist,  crit., 
gic  and  comic  poets,  Amer.  joum.  of  phil.  21    I   Leipz.  1905,  24  f.  kurz  nach  345 


(1900)  54  ff.,  80,  daß  er  den  Dichter  Ol.  98  ge- 
boren sein,  Ol.  103  (c.  367,  über  welches  Jahr 
allerdings  keines  der  erhaltenen  Stücke  hin- 


♦)  Mit  seiner  Beliebtheit  am  makedoni- 
schen Hofe  hängt  vielleicht  auch  seine  häu- 
fige Berücksichtigung  bei   Aristoteles   (rhet. 


aufweist)    den  ersten  Sieg  gewinnen  und  74       III  10.  11,  12;    eth.  Nie.  VII  11)  zusammen. 
Jahre  alt  zwischen  314/3  und  311/10  sterben   i   Siehe  auch  F.  Jacoby,  Marm.  Par.  186  f. 


G.  Drama.    8.  Die  Komödie,    d)  Mittlere  Komödie.    (§  239.) 


419 


sondern  als  Makulatur  zum  Einwickeln  verkaufte.  Er  siegte  nur  zehnmal 
(dreimal  bei  den  Lenäen:  A.  Wilhelm,  ürk.  126),  hinterließ  aber  65  Stücke. 
Aufführungen  solcher  Stücke,  mit  denen  er  zwischen  382  und  345  bei 
den  städtischen  Dionysien  und  Lenäen  der  zweite,  dritte,  vierte  und  fünfte 
wurde,  verzeichnet  eine  römische  Inschrift».)  Aus  seinen  IToXeig  haben  wir 
«in  hübsches  Fragment  über  die  Verschiedenheit  der  griechischen  und 
ägyptischen  Sitte,  wobei  auch  das  Schweinefleisch,  das  der  Ägypter  nicht  ißt, 
während  es  dem  Griechen  als  Leckerbissen  gilt,  eine  Rolle  spielt.  In  einer 
lyrischen  Stelle  des  Protesilaos  verspottet  er  mit  feiner  Ironie  die  kolossalen 
Zurüstungen  bei  der  Hochzeitsfeier  des  athenischen  Feldherrn  Iphikrates 
mit  der  Tochter  des  Thrakerkönigs  Kotys.  Neben  Komödien  dichtete  er 
auch  Dithyramben.*)  —  Alexis  (Ol.  97 — 123),  Sohn  des  Alexis,  stammte 
aus  Thurioi  in  Unteritalien;  vermutlich  war  aber  schon  sein  Vater  infolge 
der  Einnahme  der  griechischen  Kolonie  durch  die  Lucaner  (390)  nach 
dem  attischen  Demos  Oe,  den  Stephanos  Byz.  s.  v.  Olov^)  als  Heimat  des 
Dichters  angibt,  übergesiedelt.  Neben  Antiphanes,  den  er  an  Fruchtbar- 
keit beinahe  erreichte,  galt  er  für  den  bedeutendsten  Dichter  der  jueorj. 
Viele  seiner  Komödien,  wie  AiocoTiog,  'Agxüoxog^  'EXevrj,  'Emä  hü  &7]ßag^ 
^Houivr],  ATvog^  ^Odvaoevg^  ^Ogetnrjg^^)  tragen  den  Charakter  der  mittleren 
Komödie  an  der  Stirn  geschrieben;  aber  dem  Lebensalter  nach  ragte  er 
tief  in  die  Zeit  der  neuen  Komödie  hinein.  Bezeugt  ist  von  ihm  urkund- 
lich CIA  II  971  ein  Sieg  im  Jahr  347;  seinen  ersten  dionysischen  Sieg  ver- 
mutet man  in  der  Lücke  der  parischen  Chronik  (ep.  78)  zum  Jahr  356.^) 
An  den  Lenäen  hat  er  mindestens  zweimal,  höchstens  viermal  gesiegt  ;ö) 
im  Hypobolimaios  berührte  er  (fr.  244  K.)  die  Verbindung  des  Ptolemaios 
Philadelphos  mit  seiner  Schwester  Arsinoe  c.  270.')  Diese  Daten  wären 
glaubwürdig,  wenn  wirklich,  wie  überliefert  ist,  Alexis  ein  Alter  von 
hundertsechs  Jahren  erreicht  hätte.  Er  soll  auf  der  Bühne  gestorben 
sein.®)  Komödien  hinterließ  er  nach  Suidas  zweihundertfünfundvierzig, 
von  denen  einige  nach  Gellius  II  23,  1  auch  in  das  Lateinische  übertragen 
wurden.  Wir  kennen  noch  von  hundertdreißig  Titel  und  Bruchstücke. 
Außer  der  Parodie  und  Philosophenverspottung  spielten  Liebesabenteuer 
und  Parasiten witze  eine  Hauptrolle  in  seinen  Dichtungen;  jene  hatte  schon 
Anaxandrides  eingeführt,  die  Parasitenrolle  galt  als  Erfindung  des  Alexis.^) 


')  A.  Wilhelm,  Urk.  200  ff. 

*)  Ath.  374  a.  Nach  Vermutung  von  Mu- 
ret  und  Th.  Ladewig  sind  die  Captivi  des 
Plautus  nach  einem  Stück  des  Anaxandrides 
gedichtet  wegen  der  Ähnlichkeit  von  Capt. 
III  4,  103  f.  mit  Anaxandrides  hei  Ath.  688  b. 
Die  Vermutung  wird  bezweifelt  von  Fb. 
Scholl  in  seiner  Ausg.  der  Capt.  (Leipz.  1887) 
p.  XVI  sq.;  die  Captivi  werden  auf  roseidip- 
pos  zurückgeführt  von  W.  M.  Lindsay  in  s. 
Ausg.,  London  1900;  auf  Philemons  Alrcolög 
vonC.  A.DiBTZK,DePhilemonecom.,Gött.l901. 

s)  G.  Kaibel,  Realenc.  I  1468,  will  die 
Stephanosstelle  nicht  auf  den  Dichter  AI.  be- 
zogen wissen. 


*)  Vielleicht  bezieht  sich  auf  den  Orestes 
Aristoteles  po6t.  13  p.  1453  a  37  (so  A.  Mei- 
neke). 

')  E.  Capps,  Americ.  joum.  of  philol. 
21  (1900)  59. 

•)  A.  Wilhelm,  Urk.  123. 

')  Th.  Bebgk,  Gr.  Lit  IV  151  läßt  die 
betreffenden  Verse  von  zweiter  Hand  zuge- 
fügt sein. 

^)  Plut.  an  seni  p.  785  b:  ^dtffiova  tov 
x(ji)fjuxov  xai  ''AXs^iv  im  xfjg  oxrjvijs  dytoviCo- 
fievovg  xai  Gzsq?avovfievovg  6  Odvaiog  xais- 
kaßev.    Dazu  vgl.  Plut.  de  def.  orac.  p.  420  d. 

•)  Ath.  235  e;  PolL  VI  35.  Daß  dieses 
jedoch  mit  Einschränkung  anzunehmen  ist, 

27» 


420  Grieehiache  litteratiirgeBohichte.    L  KlassJBohe  Periode. 

Kulturhistorisch  interessant  ist  ein  längeres  Fragment  aus  dem  ^loooxdoiov 
von  den  Mitteln  der  Kosmetik  und  Phelloplastik,  mit  denen  die  Hetären 
den  Mängeln  der  Natur  nachzuhelfen  wußten.  Aus  der  westgriechischen 
Heimat  des  Dichters  erklären  sich  Anklänge  an  Epicharmos.^)  —  Andere 
Dichter  der  mittleren  Komödie  waren  Eubulos,  Verfasser  von  hundertvier 
Stücken,  sechsmal  Sieger  an  den  Lenäen,  der  nach  Suidas  Ol.  101  (376/73) 
blühte  und  in  der  Mitte  zwischen  der  alten  und  mittleren  Komödie 
stand,*)  Archippos,  der  schon  Ol.  91  (415 — 12)  einen  Sieg  gewann,^)  der 
mit  seinen  Fischen  und  dem  Plutos  im  Fahrwasser  des  Aristophanes  sich 
bewegte*)  und  dessen  'A/Kpirgvcov  vielleicht  Vorbild  für  den  Amphitruo  des 
Plautus  war,  femer  Araros,  Sohn  des  Aristophanes,  zum  erstenmal  auf- 
getreten Ol.  101  (375 — 72),  Amphis,*)  Anaxilas,  dem  Namen  nach  ein 
Dörfer,«)  Ephippos,'')  Heniochos,  Nikostratos,®)  Sohn  des  Aristophanes^ 
Stephanos,  Timokles,«)  Philetairos,  Nikochares,  Sohn  des  Komikera 
Philonides,iö)  u.  a.^^)  —  Die  beste  VorsteDung  von  der  mittleren  Komödie 
macht  man  sich  aus  Plautus'  Amphitruo,  jenem  köstlichen  Lustspiel  mit 
den  neckischen  Verwechselungen  des  wahren  und  falschen  Gemahls  der 
Alcmena  und  ihrer  beiden  Diener.  Denn  die  mythologische  Travestie  und 
die  ausgelassene  Leichtfertigkeit,  mit  der  hier  die  alten  Götter  behandelt 
werden,  gibt  ganz  den  Charakter  der  mittleren  Komödie  wieder.  Aber 
auch  die  szenischen  Verhältnisse  des  Stückes,  die  der  römische  Uberarbeiter 
nicht  verwischen  wollte  oder  konnte,  führen  ins  4.  Jahrhundert  oder 
in  die  Zeit  vor  der  neuen  Komödie;  denn  der  Amphitruo  hat  noch  am 
Schluß  einen  Deus  ex  machina  nach  euripidel'scher  Manier,  und  läßt,  wie 
die  Phönissen,  den  Mercurius  auf  das  Dach  des  Bühnengebäudes  steigen 
(V.  1008).  Dabei  führt  er,  was  besonders  zu  beachten  ist,  die  Personen 
noch  von  vorn  durch  die  großen  Parodoi  der  Orchestra  ein,  noch  nicht 
durch  die  Seitenzugänge  der  erhöhten  Bühne.  Seit  dem  3.  Jahrhundert 
wurde  das  feinere  Publikum  aller  Phantastik  auf  der  Bühne,  selbst  in  der 


zeigt  A.  Mkineke  I  377.  Ael.  ep.  rust.  7.  8 
wül  C.  Wabnkcke,  Herrn.  41  (1906)  158  f., 
auf  AI.  'Chtojoa  znrückf (Ihren. 

»)  G.  Kaibel,  Realenz.  I  1470,  20  ff. 


N.y  der  Dichter  der  via  war:  Wilhelm  132  f. 

")  Neue  Bruchstücke  von  ihm:  aus  den 

"HoMfs'  (c.  342)  bei  Didym.  ad  Demosth.  Phü. 

col.  9, 70  ff.  (dazu  A.  Körte,  Rh.  Mus.  60,  1905, 


')  Er  ließ  auch  Stücke  durch  den  Ko-  i  410  ff.) ;  aus  den  ^Ixdgioi  bei  dems.  col.  9, 3  ff. 
miker  Philippos,  den  Sohn  des  Aristopha-  '  Er  war  zugleich  Tragödiendichter  und  siegte 
nes   (über  ihn  A.  Wilhelm  126)  aufführen      340  mit  dem  Satyrspiel  Lykurgos:  Wilhelm 

nach   Schol.  Plat.  ap.  19b.      In   den  Bruch-      "^^  ^"^^     *^--  ^^^  "^ ^"™"  ^-'  '^ — ^^-° 

stücken  tritt  die  Euripidesparodie  stark  her- 
vor. 

3)  Wiuielm  116  f. 

*)  Daß  die  Fische  den  Vögeln  des  Ari- 
stophanes nachgebildet  waren,  ist  erwiesen 
von  G.  Kaibel,  Zur  attischen  Komödie,  Herm. 
24  (1889)  S.  49  ff. 

^)  Ein  Ehrendekret  für  ihn  aus  a.  322/21  A. 
Wilhelm,  Mitteil,  des  ath.  Inst.  15  (1890)219  ff. 

®)  Seine  Neottis  setzt  R.  J.  Th.  Waoneb, 
Svmb.  ad  com.  Gr.  bist,  crit.,  22  f.  zwischen 
385  und  330. 

')  Mindestens  ein-,  höchstens  viermal 
Sieger  an  den  Lenäen:  Wilhelm  123.  203. 

^)  Neben  ihm  gibt  es  noch  einen  späteren 


29.  129.  Über  die  Chronologie  des  Timokles 
R.  J.  Th.  Wagner,  Symbolae  ad  com.  Gr. 
bist.  crit.  25  ff.,  60  ff. ,  der  den  Tragiker 
(und  aarvooyQOLtpog)  Tim.  von  dem  Komiker 
scheidet  und  die  dichterische  Tätigkeit  des 
letzteren  zwischen  345  und  315  einschließt. 

10)  Wilhelm  123. 

**)  Weitere  Namen  sind  urkundlich  be- 
zeugt in  den  Siegerlisten  der  komischen  Dich- 
ter CIA  II  971—7,  die  aber  (E.  Capps.  Joum. 
of  the  Archaeol.  inst,  of  Amer.  4,  1900,  74  ff.) 
auch  Schauspieler  enthielten.  Sielie  A.  Wil- 
helm, Urk.,  der  S.  262  ff.  ein  alphabetisches 
Verzeichnis  aller  inschriftlich  belcannten  ko- 
mischen Dichter,  265  ff.  ein  solches  der  ko- 
mischen Schauspieler  gibt. 


1.  Anfänge  der  Prosa.    (§  240.) 


421 


Form  der  Parodie,  müde,  und  wandte  sich  dem  reinen  Realismus  zu,  wäh- 
rend die  derbe  Mythenparodie  in  tieferstehenden  Gattungen  und  Volks- 
schichten, besonders  im  griechischen  Westen,  sich  noch  weiter  hielt. 


n.  Prosa. 

1.  Anfänge  der  Prosa. 

240.  Die  Ansicht  der  stoischen  Grammatiker,  als  wäre  die  Prosa  eine 
Art  von  Degeneration  der  ihr  vorangegangenen  Poesie,  diese  also  die 
eigentliche  Muttersprache  der  Menschheit, i)  ist  offenbar  bestimmt  durch 
die  zufalligen  Uberlieferungsverhältnisse  und  wird  jetzt  von  niemand 
mehr  vertreten  werden.  Buchmäßig  aufgezeichnet  wurden  in  Griechenland 
vor  dem  6.  vorchristlichen  Jahrhundert  nur  solche  Texte,  auf  deren  For- 
mung nach  der  Seite  sinnlicher  Wirkung  hin  besondere  künstlerische  Sorg- 
falt verwendet  worden  war  und  die  vermöge  ihres  Gehalts  wie  ihrer  Form 
ein  über  die  EinzeDandschaft  hinausragendes  Interesse  beanspruchten, 
darum  auch  zu  wiederholtem  Vortrag  vor  Griechen  verschiedener  Kan- 
tone, beziehungsweise  zum  Lesen  geeignet  waren,  d.  h.  Werke  der 
Dichtkunst  meist  in  den  stilisierten  Dialekten  des  Litteratur-Ionischen, 
-Äolischen,  -Dorischen.  Daß  aber  schon  früh  auch  sachliche  Notizen 
ohne  kunstvolle  Form,  wie  Rechtsnormen,  sei  es  zum  Gebrauch  des 
Richters  oder  zur  Kenntnis  des  Publikums,  Akten  über  Verträge,  Festauffüh- 
rungen und  die  Preisträger  bei  Festagonen,  Namenlisten, 2)  chronikartige 


*)  Strab.  p.  18  C;  Varro  fragm.  gramm. 
79  WiLMANNs;  Sueton.  gramm.  p.  4  Reifp.; 
Schol.  Dionys.  Thr.  p.  481,  8  f.  Hilg.  Daß 
in  den  homerischen  Gedichten  das  Wort  Xoyog 
nur  zweimal  (0  393 :  a  56)  vorkommt,  ist 
Sache  des  Stils  und  beweist  nicht  gegen  das 
Alter  der  Prosa  oder  des  sie  bezeichnenden 
Wortes. 

^)  Uralte  Satzungen  an  den  Innenwänden 
<ie8  gortynischen  Pythion  s.  D.  Compabbtti, 
Monumenti  antichi  pubbl.  per  la  reale  accad. 
dei  Lincei  3  (1893)  20.  Das  ßovoTQO(frj66v  ge- 
schriebene sog.  Stadtrecht  von  Gortyn  (die  Aus- 
gaben verzeichnet  F.  Solmsen,  Inscript.  Gr.  ad 
inlustr.  dial.  selectae,  Leipz.  1903,  nr.  30)  c.  450 
V.  Chr.  Ein  Gesetz  der  Eleer  gegen  Beschwö- 
rung aus  dem  Anfang  des  6.  Jahrb.  Solmsbn 
nr.  38;  etwas  jünger  die  Vertragsurkunde 
zwischen  Eleem  und  Heräem  ib.  nr.  39.  Seit 
Ende  des  7.  Jahrb.  die  Gesetzeskodifikationen 
des  Charondas,  Zaleukos,  Drakon,  Solon  (ein 
aus  Drakons  Gesetzgebung  in  die  Solons  über- 
nommenes Kapitel  CIA  161,  10  ff.).  —  Das 
hohe  Alter  der  Olympionikenliste,  zu  der  uns 
der  Oxyrhynch.  Pap.  II  nr.  222  einen  neuen 
wichtigen  Beitrag  geliefert  hat,  ist  von  G. 
BusoLT.  Gr.  Gesch.  I^  584  ff.,  und  A.  Körte, 
Herrn.  39(1904)  224  ff.,  ohne  durchschlagende 
Gründe  bezweifelt  worden.  Alt  sind  auch  die 
Listen  der  Sieger  bei  den  Karneien  in  Sparta, 
den   pythischen  Agonen  und  die  der  Hera- 


I  priesterinnen  von  Argos,  die  zu  Datierungs- 
i  zwecken  von  Thuc.  II  2  und  noch  in  der  die 
I  Gründungsgeschichte  von  Magnesia  am  Mai- 
\  andres  behandelnden  hellenistischen  Inschrift 
(O.  Kern,  Die  Gründungsgesch.  von  Magnesia, 
Berl.  1894)  benützt  ist.  Litterarisch  bearbeitet 
ist  die  Olympionikenliste  von  Hippias  von 
Elis,  die  der  Pythioniken  von  Aristoteles,  die 
der  argolischen  Herapriesterinnen  und  der 
Kameioniken  von  Hellanikos.  Alt  ist  auch  die 
von  Glaukos  von  Rhegion  schon  benützte 
sikyonische  avayQacpii]  (Plut.  de  mus.  3;  Paus. 
II  5,  5—6.  7;  Euseb.  chron.  p.  11—56  Seh.; 
W.  Christ,  Philol.  Stud.  zu  Clemens  Alex., 
München  1900.  63  ff.;  über  die  Entstehungs- 
zeit K.Frick,  Jahrbb.  f. Phil.  107, 1873,  707 ff. ; 
E.  LüBBERT,  Comment.  de  Pindaro  Clisthenis 
Sicyonii  institutor.  censore,  Bonn  1884). 
Ferner  Königslisten,  unter  denen  die  attische 
und  die  lakonische  für  die  griechische  Chro- 
nologie besonders  wichtig  waren  (A.  v.  Gur- 
scHMiD,  Kl.  Sehr.  I  538  ff.,  IV  1  ff.),  Priester- 
listen (bis  in  die  Periode  der  Götter  hinauf 
ergänzt  ist  die  Liste  der  Poseidonpriester  von 
Halikarnassos,  aus  einer  älteren  Stele  um- 
geschrieben im  1.  Jahrb.  v.  Chr.,  bei  Ch. 
Michel,  Recueil  d'inscr.  gr.  nr.  877),  Beamten- 
listen. —  Welch  reichen  Stoff  alte  Inschriften 
in  Tempelbezirken  dem  Historiker  liefern 
konnten,  zeigt  Herodotos,  der  diese  steiner- 
nen Archive  besonders  in  Delphoi  und  Samos 


i 


422 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  KlassiBche  Periode. 


Daten,^  Orakelsprüche  u.  dgl.  aufgezeichnet  worden  sind,  ist  nicht  zu  be- 
zweifeln. Da  solche  Aufzeichnungen  zunächst  nur  für  die  Landschaft  Interesse 
boten,  waren  sie  im  reinen  landschaftlichen  Dialekt  gehalten  und  wurden,  so- 
weit sie  sich  mit^  ihrem  Inhalt  an  ein  größeres  Publikum  innerhalb  der  Land- 
schaft wandten,  auf  dauerhafterem  Material  (Stein,  Bronze)  eingehauen  oder 
eingraviert  und  an  öffentlichen  Gebäuden  ausgestellt;*)  soweit  das  nicht  der 
Fall  war,  blieben  sie  in  den  Archiven.  Die  alten  Beamtentitel  juvi^imov^ 
leQOfivr}fjL(ov  zeigen  übrigens,  daß  ursprünglich  durch  das  Gedächtnis  geeigneter 
Männer  das  schrifthche  Verfahren  nach  Möglichkeit  ersetzt  werden  soDte; 
im  Gegensatz  zu  dem  schreibseligen  Mesopotamien  und  Ägypten  hat  das 
älteste  Griechenland  möglichst  wenig  geschrieben. 

Mit  dem  Erwachen  des  wissenschaftlichen  Sinnes  im  6.  Jahrhundert 
ergab  sich  auch  das  Bedürfnis  nach  einer  festgeordneten,  rein  sachlichen, 
schmucklosen  Form  der  Mitteilung,  wie  sie  in  den  teils  gegenwartsflüchtig 
romantischen,  teils  leidenschaftlich  erregten,  teils  anmutig  spielenden 
Werken  der  Dichtkunst  nicht  vorhanden  war.  Die  inneren  Voraus- 
setzungen zur  Ausbildung  einer  philosophischen  und  historischen  Prosa 
hatte  zuerst  das  in  intellektueller  Richtung  am  meisten  vorgeschrittene 
Gebiet  griechischer  Kultur,  lonien.  Hier  muß  seit  alter  Zeit  in  den  großen- 
teils improvisierten  und  nicht  schriftlich  aufgezeichneten  Darbietungen 
wandernder  Schwankerzähler  eine  Kunst  volkstümlich  pointierender  und 
anmutiger  Prosaerzählung  sich  gebildet  haben,  deren  Einfluß  auf  die 
ältesten  philosophischen  und  historischen  Darstellungen  noch  deutlich  er- 
kennbar ist.  Für  die  frühesten  ionischen  Prosaiker  war,  soweit  sie  über 
ihre  Landschaft  hinaus  wirken  woUten,  der  Anschluß  an  die  Sprache  des 


ausgiebig  benutzt  hat  Darunter  konnten  auch 
gefälschte  Stücke  sein,  wie  der  sog.  Diskos 
des  Iphitos  (Flut.  Lyc.  1 ;  Paus.  V  20,  1 ;  s. 
übrigens  jetzt  auch  B.  Niese,  Herrn.  42,  1907, 
447  if.).  Auch  die  von  Philostrat.  Gymn. 
p.  267, 27  Katseb  erwähnten  vofiot  nvxxixoi^ 
die  der  Sieger  im  Faustkampf  Ol.  23  (a.  688), 
Onomastos  von  Smyrna,  aufgezeichnet  haben 
soll,  sind  gewiß  apokryph. 

^)  Die  Existenz  alter  Stadtchroniken  (io- 
nisch woot  =  annales)  ist  zwar  nicht  aus- 
drücklich bezeugt,  sogar  bestritten  von  Jo- 
seph, c.  Ap.  I  20  f.,  aber  doch  mit  Sicherheit 
anzunehmen  (VVilamowitz,  Aristoteles  und 
Athen  II  1  fif.;  M.  Vogt,  Die  griech.  Lokal- 
historiker, N.  Jahrbb.  f.  Philol,  Suppl.  27, 1902 
699  ff.).  —  Sammlungen  von  Orakelsprüchen 
vorwahrten  die  Peisistratiden  (Herodot.  V  90) 
und  die  spartanischen  Könige  (id.  VI  57) ;  den 
Mißbraucn  derartiger  Sammlungen  karikiert 
Aristophanes  in  den  Rittern. 

*)  Sammlungen  griechischer  Inschriften: 
Corpus  inscriptionum  Graecarum  4  voll,  von 
A.  BöoKH  und  J.  Franz,  Berlin  1828—59 
(Indices  von  H.  Röhl  1877).  Von  der  Neubear- 
beitung (Inscriptiones  Graecae  consilioetaucto- 
ritate  academiae  litterar.  regiae  Borussicae  ed.) 
sind  bis  jetzt  erschienen  das  Corpus  inscr.  At- 
ticar.  (CIA),  3  Bde  nebst  einem  Supplement- 


band (I.  die  voreuklidischen  Inschriften  von 
A.  KiRCHUOFF,  II.  die  nacheuklidischen  bis 
Augustus  von  ü.  Köhleb,  III.  die  aus  der 
Eaiserzeit  vonW.  Dittenbebgeb,  1873 — 1882), 
Bd.  IV  (Peloponnes  von  M.  Fbänkel  1902), 
VII  (Megaris,  Böotien  von  W.  Dittenbebgsb 
1892),  IX,  1  (Teil  der  nordgriech.  Inschriften 
von  dems.  1897),  XII  (Inseln  des  ägäischen 
Meeres  von  F.  Hilleb  v.  Gabtbingen  u.  W. 
Paton  1895-98),  XIV  (Italien  und  Sizilien 
von  G.  Eaibel  u.  A.  Lebegub  1890);  dazu 
Inscriptiones  Graecae  antiquissimae  von  H. 
Röhl,  Berlin  1882.  Auswahl  der  sachlich 
wichtigsten  Inschriften:  W.  Dittei^bebgeb, 
Sylloge  inscr.  2  voll.  Leipzig  1883;  neue 
Aufl.  in  3  voll.  1898—1901;  ders.  Orientis 
Graeci  inscriptiones  selectae  2  voll.  Leipz. 
1903—5.  Ch.  Michel,  Recueil  d'inscriptions 
Grecques,  Bruxelles  1900.  —  Die  inschrift- 
lichen Dokumente  für  die  epichorischen  Dia- 
lekte bei  H.  CoLLiTz  und  F.  Beohtel,  Samm- 
lung griechischer  Dialektinschriften,  4  Bde, 
Göttingen  1884  ff.  Auswahl:  F.  Solmsen,  In- 
scriptiones Chr.  ad  inlustrandas  dialectos 
selectae  Lips.  1903  (2.  Aufl.  1905).  —  W. 
Labfeld,  Griech.  Epigraphik  in  I.  Müllers 
Handb.  der  klass.  Altertum swiss.  2.  Aufl. 
1892;  ders.,  Handbuch  der  griech.  Epigra- 
phik I  Leipz.  1907;  II  1,  2  1898,  1902. 


1  Anfänge  der  Prosa.    (§  241.)  423 

homerischen  Epos,  die  ja  schon  eine  Art  von  dichterischer  Gemeinsprache 
geworden  war,  gegeben,  0  nur  daß  sie  selbstverständlich  ganz  veraltetes 
Wort-  und  Formenmaterial  beiseite  ließen  und  der  gebildeten  Redeweise 
ihrer  Zeit  sich  näher  anschlössen.  So  beherrscht  eine  stihsierte,  mit  keiner 
gleichzeitig  gesprochenen  völlig  identische  ionische  Mundart  die  erste  Pe- 
riode der  griechischen  Prosa;  in  ihr  schrieben  zunächst  auch  Nichtionier, 
wie  Hellanikos  von  Mytilene,  der  Arzt  Alkmaion  von  Kroton.  Eine  Prosa 
in  stilisiertem  Dorisch  tritt  erst  seit  Ende  des  5.  Jahrhunderts  in  be- 
schränktem Umfang  bei  pythagoreischen  Philosophen  (Philolaos,  Archytas), 
vereinzelten  Sophisten  und  Rhetoren^)  und  Fachschriftsteilem  (Archimedes) 
hervor.  Im  Lauf  des  5.  Jahrhunderts,  nachdem  Athen  als  Haupt  des  See- 
bundes, als  Pflegestätte  der  dramatischen  Poesie,  der  Sophistik  und  der 
kunstmäßigen  Prosarede  in  politischem  und  kulturellem  Gebiet  die  führende 
Stadt  geworden  war,  wurde  der  ionische  Dialekt  durch  den  ihm  nächst- 
verwandten attischen  aus  seiner  Stellung  als  griechische  Litteratursprache 
für  die  Prosa  verdrängt  und  verschwindet  seit  dem  4.  Jahrhundert  auch 
auf  den  Inschriften  des  ionischen  Gebietes,  obwohl  er  ebenso  wie  die 
anderen  Lokaldialekte  als  Sprache  für  den  mündlichen  Verkehr  ohne  Zweifel 
seine  Stellung  in  der  alten  Heimat  noch  bis  in  die  römische  Zeit  bewahrt 
hat.  3)  Die  älteste  Phase  des  attischen  Litteraturdialekts  (Dialog  der  Tra- 
giker, Prosa  des  Antiphon,  Thukydides)  zeigt  in  der  Phraseologie  und 
Wortwahl,  ja  in  Einzelheiten  der  Lautgebung  (oa  statt  des  attischen  ir), 
noch  Einflüsse  der  ionischen  Prosa,*)  die  dann  besonders  in  der  attischen 
Komödie,  der  jüngeren  attischen  Beredsamkeit  und  dem  philosophischen 
Dialog  verschwinden. 

241.  Älteste  Prosa-Bücher.  Die  ersten  von  den  Alten  gekannten 
Schriftsteller  in  Prosa  blühten  in  der  Mitte  dos  6.  Jahrhunderts;*)  als 
solche  werden  Kadmos  von  Milet  und  Pherekydes,  der  Sohn  des  Babys, 
von  Syros  genannt. 0)     Beide  stammten  aus  lonien   und  schrieben  in  der 

*)  E.  Zarncke,  Die  Entstehung  der  griech.  j  liehen    Ausdruckes    überhaupt    zu    besitzen 

Litteratursprachen,  Leipz.  1890.  I  (Aristoph.  av.  1700  ff.;  Fiat  symp.  182b). 

*)  Vgl.    die   anonymen  SiaXe^eig   bei  H.  *)  0.  Diener,   De   sermone  Thucydidis 

DiELS,  Vorsokr.  *  580  ff.    Ein  Fragment  über  ,  quatenus  cum  Herodoto  congruens  differat  a 

Rhetorik    in    dorischem  Dialekt,    schwerlich  ,  scriptoribus  Atticis,  Diss.  Leipz.  1889. 

älter  als  s.  IV  Oxyrhynch.  pap.  III  nr.  410  !  ^)  Diog.  I  121  setzt  die  Blüte  des  Phe- 

p.  27  ff.  rekydes  nach  Apollodors  Chronik  Ol.  59,  ähn- 

')  A.  TuüMB,  Die  griech.  Sprache  im  Zeit-  |  lieh  Eusebios  Ol.  60,  Suidas  auf  Grund  eines 

alter  des  Hellenismus,  Straßb.  1901,  S.  28  ff.,  Synchronismus  mit  den  Sieben  Weisen  (Ari- 

233  ff.  St.  Witkowski  im  Jahresbericht  üb.  ,  stot.  fr.  65  Berol.)  Ol.  45.     Man  ging  davon 

die  Fortschr.  der  klass.  Alt.  120  (1904)  165  ff.  I  aus,  daß  Pherekydes  etwas  vor  PyÜiagoras 

—  über  die  ästhetischen  Vorzüge  des  attischen  lebte,  für  dessen  Lehrer  er  galt.    Die  antiken 

Dialektes  s.  Isoer.  15,  296   .^Qog  de  rovroig  1  Zeitangaben  sind  durch  das  Ineinanderspielen 

xal  xrjv  tfjg  (poyvijc:   xoivöxijra   xai  fÄetgtoTrjTa  !  zweier  verschiedenartigen  Ansätze   verwirrt: 


xai  Tr/v  äU.rjV  evzocuTfUav  xal  (piXoXoylav  ov 
fiixndv  Tfyovrzai  ovfjßcüJaüai  fiegog  :106g  xfjv 
xCiV  ?,6ycov  naideiav.  Demetr.  de  eloc.  177: 
»7  'Axxixrj  yXcJooa  oi^veoxoa/jfisvov  xi  €/«  xal 
ötffAoxtxor  xai  raig  xoiavxaig  FvxgojreXtaig  Ttoe- 
jtov.    Aristid.   or.  13,  294  ff.  Dindp.     Schon 


E.  RoHDB,  Kl.  Sehr.  1 159 ff.;  F.  Jacoby,  Apol- 
lodors Chronik  210  ff. 

*)  Strab.  p.  18:  jtQfoxtoxa  y  jioirjxixij  na- 
qaoxevrj  jiaQrjX^ev  slg  x6  {.iioov  xai  evöaxifitj' 
oev,  eixa  ixsivTjv  f^ifwvfisvot  Xvaavxeg  x6  /ii- 
xoov,    xoÄXa    de  (pvXd^avxeg    xa  Tioirjxixa  ovvs' 


im  5.  Jahrh.    äußert   sich   der  Anspruch  der  ygaii'av   oi   jteqI   KdÖuov   xai    ^eQexvStj    xai 

Attiker,    ein    Monopol    auf   die   griechische  1  'ExaiaTov.      Vgl.   Suidas   u.    ^egexvStjg  und 

Sprache  (der  gegenüber  andere  Dialekte  »bar-  '  'ExaxaTog.    Bei  Plin.  n.  h.  V  112  ist  Kadmos 

barisch "  erscheinen)  und  die  Fähigkeit  münd-  ,  , Erfinder''  der  Prosa. 


424 


Griechische  LitteratargeBchichte.    L  KlassiBche  Periode. 


jüngeren  las.  Pherekydes  von  Syros  wird  den  philosophischen  Theologen 
beigezählt;  sein  Ruhm,  der  erste  Prosaiker  gewesen  zu  sein,  gründete  sich 
auf  seine  kosmogonische  Schrift  über  die  Natur  und  Götter.  In  ihr  klei- 
dete er  nach  Art  der  Oi'phiker  naturphilosophische  Spekulation  in  mytho- 
logisches Gewand;  sie  hieß  ITevrejuvxog  von  den  fünf  elementaren  Urprin- 
zipien  Äther,  Feuer,  Luft,  Wasser,  Erde.  *)  Von  dem  anmutigen  Erzähler- 
ton der  Schrift  gibt  das  unlängst  auf  einem  ägyptischen  Papyrus  gefundene 
Fragment,  in  dem  der  legog  yd/xog  des  Zag  und  der  Xt%vir],  vermutlich  im 
Anschluß  an  lokale  Kultsagen  von  Syros,  beschrieben  wird,  einen  Begriff. 
—  Das  Buch,  das  Dionysios  von  Halikamassos  (de  Thuc.  23)  und  Diodoros 
(I  37,  3)  von  Kadmos  erwähnen  (Suid.  nennt  vier  Bücher  xrloig  MdjjTov 
xal  rfjg  öh]g  'Icoviag),  ist  apokryph,  wenn  auch  ein  SchriftsteDer  Kadmos 
gelebt  haben  mag.*) 

Pherecvdis  fragm.  ed.  J.  W.  Sturz,  2.  Aufl.,  Lips.  1824;  C.  Mölleb  FHG  I  70—99;  beide 
vermischten  den  Pherekydes  von  Syros  mit  dem  von  Leros;  H.  Diels  Fragm.  d.  Vorsokr.* 
506 — 9.  —  0.  Kebn,  De  Orphei  Epimenidis  Pherecydis  theogonüs  quaest.  crit..  Berl.  1888.  — 
D.  Spbliotopulos,  ITegi  ^gexvSov,  Erlanger  Diss.  Athen  1891.  —  Das  neue  Fragment  zuerst 
B.  F.  Grbnpell  u.  A.  S.  Hüijt,  Greek  pap.  ser.  II,  Oxf.  1897,  n.  11;  dazu  H.  Diels,  Zur  Pente- 
mychos  des  Pherekydes,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1897  p.  144  ff.  —  Über  die  Eosmogonie  des 
Pherekydes  und  ihre  orientalischen  Elemente  noch  vor  Auffindung  jenes  neuen  Fragmentes 
Th.  Gompebz,  Griech.  Denker  I  70  ff. 


2.  Die  Geschichtsschreibung.') 
a)  Die  Logogrraphen^)  und  ältesten  Memoirenschreiber. 
242.    Die   ältesten  Geschichtsschreiber  hat  man   sich   seit  Friedrich 
Creuzer  gewöhnt  mit  dem  Namen  Logographen  (koyoygdcpoi)  zu  bezeichnen. 


*)  Suidas  u.  ^eoexvdtjg  Bdßvog  Zvqtog' 
eoTi  de  cbiarra  a  om'eygaye  ravia'  k^rdfivxog 
{jte^Tifivxog  corr.  Preller  nach  Eudemos 
p.  170  Sp.)  rjroi  {^soxgaoia,  ?ati  de  ^soloyia 
SV  ßtßUoig  t  (?)  e/oifoa  {^ecbv  yeveaiv  xal  öia- 
öoxdg.  Die  Vorstellung  von  einer  Höhle,  in 
der  die  Schöpfung  vor  sich  gehe,  begegnet 
auch  in  der  orphischen  Theogonie  (Chb.  A. 
Lobeck,  Aglaopham.  501);  vgl.  die  Mithras- 
grotte. 

«)  F.  RüHL.  N.  Jahrbb.  f.  Philol.  137 
(1888),  116  ff.  Ein  Prokonnesier  Bion  zog  nach 
Clem.  AI.  Strom.  VI  p.  752 P.  den  Kadmos 
aus,  für  einen  historischen  , Roman",  wie  E. 
ScHWABTz  (Realenz.  III  483)  meint. 

')  G.  J.  VossiüS,  De  historicis  graecis 
libri  III  (Leiden  1624),  auctiores  etemendatiores 
ed.  A.  Westebmann,  Lips.  1838;  F.  Cbeuzeb, 
Die  historische  Kunst  der  Griechen  (Leipz.  1803), 
2.  Aufl.,  bes.  von  J.  Kayseb  1845 ;  H.  Ulbici, 
Charakteristik  der  antiken  Historiographie, 
Berl.  1833,  mit  philosophischem  Geist  erfaßt. 
A.  Schäfeb,  Abriß  der  Quellenkunde  der  griech. 
und  röm.  Gesch.  (Leipz.  1867),  neu  aufgel.  v. 
H.  Nissen,  4.  Aufl.  der  griech.  Gesch.  1889 ; 
M.  BüDiNOKB.  Die  Universalhistorie  im  Alter- 
tum, Wien  1895.  —  C.  Wachsmuth,  Einlei- 
tung in  das  Studium  der  alten  Gescliichte,  Leipz. 
1895.  —  Ältere  Jahresberichte:  H.  Haupt, 
A.  Holm,   A.  Schäfer,   A.  Bauer,  Rev.  bist. 


3(1877).  7(1878).  16(1881).  23(1883).  26 
(1884) ;  A.  Bauer,  Die  Forschungen  z.  griech. 
Gesch.  1888—98,  München  1899.  Letzter 
Jahresbericht  über  die  griech.  Historiker  außer 
Herod.,  Thukyd.  u.  Xenoph.  von  F.  Reüss  im 
Jahresber.  über  die  Fortschr.  d.  Altert.wiss. 
127  (1905)  1  ff.  --Wir  haben  eine  Liste  von  10 
Historikern,  die  aber  nirgends  im  Altertum 
mit  kanonischer  Bedeutung  auftritt  und  jeden- 
falls als  Ganzes  nachalcxandrinisch  ist  (0. 
Kböhnebt,  Canonesne  poetar.  scriptor.  artific. 
per  antiquitatem  fuerunt,  Königsberg  1897, 
13,  35  f.) :  Thukydides,  Herodotos,  Xenophon, 
Philistos,  Theopompos,  Ephoros.  Anaximenes, 
Kallisthenes,  und  dann  nachträglich  noch 
Hellanikos,  Polybios.  Nur  die  vier  ersten 
dieser  Liste  gelten  allgemein  im  Altertum 
als  die  größten  Historiker.  —  Sammlung 
der  Fragmente :  C.  Müller,  Fragmenta  histor- 
corumgraecorum  (FHG),  Paris  1841—70, 5  voll. 
Den  Zuwachs  an  Historikerfragmenten  aus  dem 
Berliner  Didymoskommentar  zu  Demosthenes 
verzeichnet  F.  Stähelin,  Klio  5  (1905)  55  ff., 
141  ff. ;  er  betrifft  Theopompos,  Kallisthenes, 
Anaximenes,  Androtion,  Dämon,  Philochoros, 
Duris,  Marsyas,  Hermippos.  Wenig  ist  aus 
dem  neugefundenen  Anfang  des  Photioslexi- 
kons  hinzugekommen :  R.  Reitzenstein.  Der 
Anfang  des  Lexik,  des  Phot.,  XXVI. 

*)  J.  H.  Lipsiüs,  Quaest.  logograpliicae, 


2.  Die  GeBohichtsBohreibung.    a)  Die  LogographexL    (§  242.)  425 

Die  Bezeichnung  ist  nicht  ganz  zutreffend:  der  Name  hat  mit  der  Ge- 
schichtsschreibung im  engeren  Sinn  nichts  zu  tun,  sondern  ist  von  Hause 
aus  identisch  mit  Xoyojtoiög^)  und  vieldeutig  —  er  kann  Geschichtsschreiber, 
Redner,  Fabelerzähler,  Prosaist  bedeuten  und  wird  im  Gegensatz  zu  wissen- 
schaftlicher Schriftstellerei  von  Thuc.  I  21,  1  zuerst  gebraucht  mit  Bezie- 
hung auf  die  älteren  ionischen  Erzähler  einschließlich  des  Herodotos.  In 
dem  Attika  des  5.  Jahrhunderts  ist  das  Wort  auf  die  Bedeutung  „Schreiber 
von  Reden"  eingeschränkt. 

'loTOQia  und  iorogico  sind  von  Hause  aus  ionische  Wörter  für  »Er- 
forschung, erforschen"  im  allgemeinen.*)  lonien  ist  tatsächlich  das  Mutter- 
land historischer  und  philosophischer  Forschung,  zunächst  der  Sammlung 
und  Kombination,  dann  auch  einer  gewissen  Kritik  des  Überlieferten. 
Ihren  Stoff  schöpfen  die  frühesten  ionischen  Historiker  nicht  aus  urkund- 
lichen Aufzeichnungen,  auch  nicht  sowohl  aus  mündlich  erkundeter  Volks- 
sage, als  vielmehr  aus  der  litterarischen  Überlieferung  des  Epos,  ins- 
besondere des  hesiodischen.  Sie  sehen  ihre  Aufgabe  darin,  die  verschie- 
denen Nachrichten  aus  der  Vorzeit  zusammenzufassen  und  zusammen- 
zureimen, auch  mit  Hilfe  von  Genealogien,  Königslisten  und  Generationen- 
berechnungen 3)  die  Daten  unter  sich  und  der  Gegenwart  gegenüber  in 
bestimmte  Distanzverhältnisse  zu  setzen.  In  diesem  Verfahren  betätigt 
sich  ein  Trieb  nach  Ordnung  und  System,  der  zur  Wissenschaft  hinführt, 
und  die  methodischen  Grundsätze,  die  von  diesen  Logographen  angewandt 
worden  sind,  haben  trotz  ihrer  ünvollkommenheit  in  der  späteren  grie- 
chischen Historiographie  noch  lange  nachgewirkt.  Die  Ergebnisse  ihres 
primitiven  Pragmatismus  sind  freilich  im  einzelnen  vielfach  nur  scheinbare, 
doch  ist  bemerkenswert,  daß  z.  B.  die  Berechnung  der  dorischen  Wande- 
rung nach  Generationen  zu  einem  Ansatz  geführt  hat,  der  durch  die  Ent- 
deckung der  mykenischen  Kultur  im  wesentlichen  bestätigt  worden  ist. 
Ohne  Zweifel  hat  die  Geschichtsklitterung  der  Logographen  von  Anfang 
an  auch  praktische  Bedeutung  beansprucht,  insofern  als  Rechts-  und  Besitz- 
ansprüche griechischer  Staaten  nicht  selten  auf  Daten  aus  der  Heroenzeit 
begründet  wurden.*)  Meist  begnügen  sich  diese  ersten  Historiker  mit  dem 
Berichten  und  Arrangieren;  wo  sich  Kritik  äußert,  da  geschieht  es  ent- 
weder in  rein  subjektiv  axiomatischer  Weise,  wie  bei  Hekataios,  oder  es 
ist  hilflos  naiver  Rationalismus,   der   durch  Abschneidung  des  Übernatür- 


Ind.  Lips.  1885  6.  —  G.  Cübtiüs,  Über  zwei 
Kunstausdrücke  der  alten  Litteraturgeschichte, 
in  Kl.  Sehr.  II,  Leipz.  1886,  239  ff. 

')  Herodot.  II  143,  V  36.  125  nennt  den 
Hekataios  koyo.toiog;  Pindar  P.  1,  94,  N.  6,  39 
gebraucht  koyioi  und  Xoyoi  im  Gegensatz  zu 
doidoi  und  doidai. 

')  W.  Aly.  De  Aeschyli  copia  verbor., 
Diss.  Berlin  1906,  26  ff.  ^Erzählung*  und 
„Erzählen"  heißen  die  Wörter  erst  seit  dem 
4.  Jahrh.  v.  Chr.  i'oTcog  im  gerichtlichen  Sinn 
=  quaesitor  hat  schon  Hom.  2' 501.  ^^486. 

^)  Genealogien  und  Listen,  wo  sie  nicht 
auszureichen  schienen,  ergänzte  man  skrupel- 


los, wie  namentlich  an  der  attischen  Königs- 
liste studiert  werden  kann.  Das  Gewöhn- 
liche war  wohl,  drei  Generationen  auf  ein 
Jahrhundert  zu  rechnen,  doch  kommen  auch 
kürzere  und  längere  Generationen  vor  (F. 
Jaooby,  Apollodors  Chronik  39  f.).  Auf  die 
Widersprüche  in  den  Genealogien  der  Logo- 
graphen weist  Joseph,  c.  Ap.  I  16  hin. 

*)  Aristot.  rhet.  I  15  p.  1375  b  30;  Schol. 
B  Hom.  B  494  p.  137  Dind.  Berühmt  ist  die 
Rolle,  die  B  558  in  dem  Streit  zwischen 
Athen  und  Megara  um  Salamis  spielte.  Vgl. 
auch  Tac.  ann.  IV  55  f. 


426  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Slassische  Periode. 

liehen  und  allegorische  Nachhilfen  aus  Sage  Geschichte  machen  zu  können 
glaubt.^)  Sofern  die  Diktion  dieser  Männer  überhaupt  stilistische  Ansprüche 
erhebt,  bewegt  sie  sich  im  Ton  der  anmutigen  Novellenerzählung,  mit  der 
stereotypen  Freude  an  kuriosen  Geschichten  oder  Zuständen,  an  ethischen 
Pointen.  Gleichzeitig  mit  dem  historischen  ist  im  Zeitalter  der  Koloni- 
sation auch  das  geographische  Interesse  erwacht,  das  sich  für  uns  zuerst 
in  einer  Schöpfung  mutterländischer  Epik,  dem  homerischen  Schiflfskatalog 
bekundet.*)  Auch  die  geographischen  Prosaschriften  wollen  zunächst  den 
praktischen  Interessen  der  Landreisenden  (Tiegirjyijoeig)  und  Seefahrer 
(jiegiJiXoi)  dienen.  —  Die  Größe  und  die  Zukunft  der  griechischen  Historio- 
graphie liegt  von  Anfang  an  in  dem  ruhig  auf  die  wirkUchen  oder  ver- 
meintlichen Tatsachen  gerichteten,  wenn  auch  nicht  sogleich  in  die  Tiefe 
dringenden  Blick.  Eben  dieser  fehlt  z.  B.  der  ägyptischen  und  indischen 
Geschichtsschreibung.'*)  Im  Kreis  der  alten  Mittelmeerkultur  finden  sich 
nur  bei  den  Babyloniern  und  Hebräern  ähnlich  günstige  Anlagen.  Die 
Bücher  der  Logographen  wurden  früh  durch  die  kunstvolleren  und  kriti- 
scheren Werke  der  attischen  und  hellenistischen  Schriftsteller  in  den 
Hintergrund  gedrängt  (Dionys.  de  Thuc.  23),  so  daß  keines  von  ihnen  voll- 
ständig auf  uns  gekommen  ist. 

243.  Hekataios,  Sohn  des  Hegesandros  von  Milet,  der  bedeutendste 
der  Logographen  und  die  erste  stark  ausgeprägte,  selbstbewußte*)  Persön- 
lichkeit unter  ihnen,  ähnlich  wie  Herakleitos  unter  den  Philosophen,  lebte 
vor  und  gleichzeitig  mit  den  Perserkriegen  und  nahm  eine  hervorragende 
Stellung  in  seiner  Vaterstadt  ein.  Vor  dem  Ausbruch  der  Feindseligkeiten 
mahnte  er  in  der  Bundesversammlung  der  lonier  vom  Krieg  mit  dem  mäch- 
tigen Perserreich  ab;^)  später  (494)  ging  er  als  Abgeordneter  der  lonier 
zu  dem  persischen  Statthalter  Artaphernes  und  erwirkte,  daß  dieser  den 
ionischen  Städten  ihre  Verfassung  zurückgab,  ö)  Von  ihm  existierten  zwei 
Werke,  beide  auch  an  kulturgeschichtlichem  und  ethnographischem  Detail 
reich  :^)  reverjXoyiai  in  mindestens  vier  Büchern  und  ITeglodog  yfjg  in  zwei 
Büchern  (EvQcomj  und  'Aaitj,  letztere  mit  Einschluß  von  Aißvt]^  s.  Herodot. 
II  16).®)  Diese  stoffreichen  Werke  lagen  c.  490,  als  Herakleitos  sein 
Buch  vollendet  hatte  (vgl.  Heracl.  fr.  40  Diels),  abgeschlossen  vor.  Für 
die  Abfassungszeit  des  geographischen  Buches  gibt  fr.  140,  wo  eine  jeden- 


0  S.  Hecataeus  fr.  341.  346.  349  M.;  E.  :  «)  Diod.  X  fr.  25.  2. 

Meyer,  Forschungen  z.  alten  Gesch.  II  239  ff.  !  ')  Vgl.  fr.  123.  189.  290.  355. 

Charakteristik    der    Logographen    oder    der  **)  Fragmente  bei  0.  Müller,  FHG  I  1 

jialaiol    ovyygarpetg    Dionysios     de    Thuc.  5  I  bis  31.  IV  623.  627.     Die   zuletzt   noch   von 

(Quelle    ein    alexandrinisches   Historikerver-  |  H.  Berger   ausgesprochenen   Zweifel   an   der 

zeichnis:  L.  Radermaoher,  Berl.  phil.W.schr.  ;  Echtheit  der  zahlreichen  auf  den  Westen  be- 


27,1907,301)  6.  23;  B.Perrin,  Americ.joum. 
of  philol.  18  (1897)  255  ff. 

■')  M.  P.  NiLssoN,  Rhein.  Mus.  60  (1905) 
161  ff 

»)  A.  Erman,  Berl.  philol.  W.schr.  26  (1906) 


züglichen  Fragmente  sind  nicht  begründet. 
F.  Atenstädt,  De  Hecataei  Milesii  fragnientis 
quae  ad  Hispaniam  et  Galliam  pertinent, 
Leipz.  Stud.  14(1893)  1  ff.;  G.Tropea,  Ecateo 
da  Mileto   ed   i  frammenti   della   periegesis, 


1366  f.;  H.  Oldenberg,  Deutsche  Rundschau  Riv.  di  stör.  ant.  2,  2  (1897)  82  ff.;  H.  Dikls, 

33  (1907)  362  ff.  Herrn.  22  (1887)  41 1  ff.  —  über  die  allmähliche 

'*)  Hecat.  fr.  332;  über  seinen  Ahnenstolz  j   Ausdehnung  des  geographischen  Horizonts  der 

spottet  Herodot.  11  143.  |   Griechen  H.  Berqer,  Geogr.  Zeitschr.  12  (1906) 

*)  Herodot.  V  36.  125.  442  ff. 


2.  Die  Geschichtsschreibang.    a)  Die  Logographen.    (§  243.) 


427 


falls  nicht  vor  Dareios'  Skythenzug  (510)  gegründete  Perserstadt  in  Thrake 
erwähnt  wird,  einen  weiteren  Anhaltspunkt.  In  seiner  geographischen 
Anschauung,  von  der  uns  charakteristische  Züge  durch  Herodots  scharfe 
Kritik  (besonders  IV  36)  bekannt  sind,  steht  er  auf  dem  homerischen 
Grund;  die  Erde  ist  ihm  eine  runde  Scheibe,  umflossen  vom  Okeanos,  aus 
dem  sich  Nil  und  Phasis  ergießen.  Ägypten,  das  er  jedenfalls  bis  Theben 
bereist  hat,  gilt  ihm  als  öwqov  xov  nora/xov  (fr.  279).  Im  einzelnen  läuft 
allerlei  Fabuloses  mit  unter,  im  ganzen  aber  machen  die  Nachrichten  des 
weitgereisten  Mannes^)  einen  soliden  Eindruck.  In  den  Genealogien  legt 
er  eine  Rechnung  nach  Generationen  von  vierzig  Jahren  zugrunde.  2)  He- 
rodot  hat  beide  Werke  ausgiebig  benützt,*)  aber  auch  bekämpft.  Von 
einzelnen  Abschnitten  der  negiodog^  wie  von  dem  über  Ägypten,  wurde  die 
Echtheit  aus  nichtigen  Gründen  bestritten.*)  Der  Beschreibung  in  Worten 
war  eine  Karte  (mva^)  beigegeben,  wie  schon  vor  Hekataios  der  Philosoph 
Anaximandros  eine  solche  entworfen  hatte.*)  Das  Ionisch  des  Hekataios 
stand  der  gesprochenen  Verkehrssprache  näher  als  das  des  Herodot.^)  Sein 
Stil  war  meist  ganz  schlicht,  doch  nicht  ohne  einzelne  von  den  späteren 
Ästhetikern  bemerkte'^)  Kühnheiten.  Seine  Schriften  sind  noch  im  späteren 
Altertum  viel  benützt  worden,  besonders  die  Geographie  von  Pseudoskylax, 
den  Gewährsmännern  des  Plinius,  Mela,  Solinus,  noch  von  Ammianus,  und 
die  meisten  Reste  hat  Stephanos  von  Byzanz  in  seinem  geographischen 
Lexikon  erhalten.  Verwechselungen  mit  dem  hellenistischen  Historiker 
Hekataios  von  Abdera  kommen  vor. 

Zu  den  älteren  Logographen  gehörten  außerdem:  Skylax  von  Kary- 
anda,  der  von  Dareios  I  mit  der  Umsegelung  Arabiens  beauftragt  wurde®) 
und  die  erste  Monographie  über  einen  Fürsten,  den  König  Herakleides 
von  Mylassa,  schrieb;*^)  Akusilaos  von  Argos,^^)  der  FeveaXoyiai  in  min- 
destens  drei  Büchern  im  Anschluß    an  Hesiod  verfaßte,  ^^)    zugleich   aber 


^)  :zo?.vjT?.avyg  dvi]Q  nennt  ihn  Agathe- 
meros  I  1. 

2)  E.  Meyer,  Forsch.  I  169  ff.  (schon 
Porphyr,  bei  Euseb.  praep.  ev.  X  3  p.  166  b). 

')  H.  DiBLS  und  E.  Meyer  a.  a.  0.  Siehe 
11.  S.  436,  7. 

*)  Kallimachos  bei  Ath.  70  b  und  41  Oe, 
und  Arrian.  an.  V  6,  5 ;  vgl.  Eratosthenes  bei 
Strab.  p.  7  tov  fisv  ovv  (sc.  *Ava^^fJ^av6Qov) 
Fxdovvai  71O0JT0V  yewyoa(pix6v  nivaxa,  tov  de 
'EyaraTov  xnra)A:isiv  ygcift/ja  jtiaTot'fisyov  exsivov 
elvai  EX  lij^  aXh]g  avxov  yoatpyg.  Über  die 
Grundlosigkeit  der  Bedenken  A.  v.  Gutschäid, 
Kl.  Sehr.  1  47  ff. 

^)  Eratosthenes  bei  Strab.  p.  7;  Agathe- 
meros  in  C.  Müller,  Geogr.  gr.  min.  (Paris 
1882)  II  471,  und  Schol.  Dionys.  ebenda  II 
428.     Vgl.  Herodot.  V  49. 

*)  äxoaTog  'lag  Hermogen.  ;r.  IS,  p.  423, 
25  Sp. 

')  Auct.  .T.  vy.  27,  2. 

^)  Herodot.  IV  44,  bezweifelt  von  H. 
Berg  ER,  Gesch.  der  wissensch.  Erdkunde  d. 
Gr.  (Leipz.  1887)  I  48  f. 


•)  Suid.  s.  SxvXa^,  verteidigt  von  A.  v.  Gut- 
soHMiD,  Kl.  Sehr.  IV  139  ff.  und  E.  Meyer, 
Gesch.  des  Altert.  III  100  f.,  denen  U.  Wil- 
CKBN,  Herrn.  41  (1906)  125  ff.  sich  anschließt. 
Dieser  Herakleides,  dessen  auch  Sosylos 
gedenkt,  scheint  als  Typus  der  Schlauheit 
früh  von  Legenden  umsponnen  worden  zu 
sein.  —  Über  den  ITegljiXovg  s.  IV.  a.  Chr., 
der  auf  Skylax'  Namen  gesetzt  wurde,  s.  u. 

*®)  Das  »böotische*  Argos,  das  als  sein 
Geburtsort  bezeichnet  wird,  ist  späte  Fäl- 
schung. 

**)  Clemens  Alex,  ström.  VI  p.  752  P.  tä 
'Hoiodov  fieTi]lla$av  eig  Jte^ov  Xöyov  xai  d}g 
idia  e^Yjvsyxav  EvfitjXog  xs  xai  'AxovaiXaog  ol 
ioiooioyQarpoi.  Suidas  u.  'ExaxaXogx  ngöjxog 
loxoQiav  Jie^cog  i^rfveyxe,  ovyyQatprjv  Se  ^ggs" 
xvöijg.  xa  yag  AxovaiXdov  vo^evexai.  Dagegen 
tritt  I.  H.  Lipsiüs  a.  0.  9  ff.  für  die  Echtheit 
ein.  Die  Ansicht  des  Akusilaos  vom  Chaos 
führt  schon  Piaton  sjrmp.  178  b  an  und  be- 
nützt ihn  nach  Clem.  AI.  ström.  I  p.  380  P. 
im  Tim.  22  a;  ebenso  Pindar  nach  Schol. 
Pind.  Ol.  7,  42  a  Drachm.    (e.  a.  W.  Christ 


428 


Grieohisclie  litteraturgesehichte.    I.  ElassiBche  Periode. 


auch  der  althellenischen  Stammtafel  mit  Deukalion  und  Hellen  an  der 
Spitze  eine  neue,  auf  argolische  Lokalsage  Rücksicht  nehmende  mit  Inachos 
und  Phoroneus  an  der  Spitze  zur  Seite  setzte;  Charon  von  Lampsakos, 
dem  von  den  vielen  Werken,  die  ihm  Suidas  beilegt,  mit  Sicherheit  nur 
die  Uegoixd  in  zwei  Büchern  und  die  ^Qgoi  Aajutpaxrjvcbv  in  vier  Büchern 
angehören ;0  Eugeon  von  Samos,  Verfasser  von  ^iigoi  Za/uaxol;^)  Dio- 
nysios  von  Milet,  der  UeQoixd  in  ionischem  Dialekt  verfaßte;*)  DeYochos 
von  Prokonnesos,  der  über  die  von  thessalischen  Pelasgem  besiedelte  und 
in  die  Argonautensage  gezogene  Stadt  Kyzikos  schrieb  und  noch  dem 
Apollonioskommentator  Sophokles  c.  200  n.  Chr.  vorlag,*)  femer  Eudemos 
von  Paros,  Demokies  und  Amelesagoras  von  Chalkedon  (so  die  Hand- 
schriften; Melesagoras  schreibt  Dudith).*)  —  Hier  kann  auch  Theagenes 
von  Rhegion  (s.  o.  S.  76,  5),  der  erste  Grammatiker,  der  zur  Zeit  des  Kam- 
byses  über  Homer  und  seine  Abstammung  schrieb,  erwähnt  werden. 

244.  Als  jüngere  Logographen,  die  nach  den  persischen  Kriegen 
blühten  und  bis  auf  Thukydides  herabreichten,  werden  von  Dionysios  nament- 
lich angeführt:  Hellanikos,  Damastes,  Xenomedes,  Xanthos. 

Xanthos,  Kandaules'  Sohn,  der  Lyder,  der  nach  Suidas  zur  Zeit  der 
Einnahme  von  Sardes  lebte,  sicher  aber  erst  unter  Artaxerxes  I  (465  bis 
425)  schrieb, ö)  war  Verfasser  von  Lydiaka  in  vier  Büchern.  Er  ist  der 
erste  Barbar,  der  in  griechischer  Sprache  die  Geschichte  seines  Landes 
schrieb,  neben  Hipponax  ein  interessanter  Beweis  für  die  rasche  Auf- 
saugung der  lydischen  Sprache  und  Kultur  durch  die  griechische.  Nach 
Ephoros  bei  Ath.  51 5 e  hat  er  dem  Herodot  Anregung  und  StoS  {ä<poQjLiai) 
zu  seinem  Geschichtswerk  gegeben.  Dabei  ist  aber  merkwürdig,  daß  nach 
Dionysios,  ant.  R.  I  28,  2  bei  Xanthos  von  der  durch  Herodot  I  94  berich- 


zu  Find.  Nem.  10,  80).  Einen  Kommentar  zu 
seinem  Werk  verfaßte  in  Hadrians  Zeit 
Sabinus  (Suid.  s.  ^aßtrog).  Fragmente  bei  C. 
Müller,  FHG  I  100-104.  IV  624.  Die  Frag- 
mente sind  neu  gesammelt  und  durch  einige 
Stücke  aus  Philodem,  jregi  exmsß.  vermehrt 
in  der  Dissertation  von  A.  Kordt,  De  Acu- 
silao,  Basel  1903.  Die  in  den  erhaltenen 
Resten  besonders  häufigen  Übereinstimmungen 
des  Ak.  mit  Hesiod  erklärt  K.  (S.  74)  aus 
einer  Schrift,  die  die  Vergleichung  der  beiden 
zum  Gegenstand  hatte.  —  Unter  die  sieben 
Weisen  scheint  erst  Hermippos  (fr.  8  M.)  den 
Ak.  aufgenommen  zu  haben. 

')  C.  Müller,  FHG  I  32  ff.;  F.  J.  Neu- 
mann, De  Charone  Lampsaceno  eiusque  frag- 
mentis  comm.,  Bresl.  1880.  Ch.  schreibt  nach 
464  (fr.  5),  aber  vor  Herodot,  nach  der  rich- 
tigen Ansicht  der  Alten,  wiewohl  ihn  Herodot 
nicht  benützt  zu  haben  scheint. 

•')  C.  Müller,  FHG  H  16  und  IV  653. 

^)  Suidas  konfundiert  denselben  mit  dem 
jüngeren,  um  100  v.  Chr.  lebenden  Dionysios. 
C.Müller,  FHG  II  5 ff.  Die  IhooiyA  müssen 
wohl  ( J.  H.  Lipsius,  Leipz.  Studien  20,  1902. 
201  f  j  mit  den  bei  Suid.  genannten  xa  xaxa 


(so  statt  ^«ra  zu  schreiben)  AaoeXov  zusammen- 
gerückt werden.  Daß  Herodot  dieses  Werk 
benützt  habe,  ist  zwar  recht  wahrscheinlich, 
kann  aber,  da  wir  nur  zwei  Fragmente  des 
D.  besitzen,  nicht  bewiesen  werden  (C.  F. 
Lehmann,  Beitr.  z.  alten  Gesch.  3, 1903, 330ff.). 

<)  G.  Knaaok,  Berl.  philol.  W.schr.  24 
(1904)  581  ff.  sucht  den  D.  ins  4.  Jahrb.  herab- 
zurücken. 

')  Die  Reste  aller  dieser  FHG  II  16—22. 
Auf  den  Namen  des  Amelesagoras,  über  den 
vgl.  E.  ScHWARTz,  Realenz.  I,  1822,  ist  vor 
s.  III.  eine  schon  von  Kallimachos  (Hecale 
p.  11  GoMPERz)  benützte  ^Ai{>ig  gefälscht 
worden. 

®)  Das  geht  aus  fr.  3  M.  hervor;  die  An- 
gabe des  Suidas  yeym'iog  im  zfjg  ahooeog 
2!dgdsoyv  muß  allen  sonstigen  Analogien  nach 
(E.  RoHDE,  Kl.  Sehr.  I  164)  auf  das  Ereignis 
des  Jahres  546  bezogen  werden,  mit  dem 
das  Werk  des  X.  wahrscheinlich  abschloß. 
Da  dieser  Ansatz  mit  fr.  3  (in  dem  wohl  epi- 
sodisch vorausgreifend  ein  Ereignis  aus  X.' 
Lebenszeit  erwähnt  wurde)  unvereinbar  ist, 
80  muß  ein  Irrtum  des  Hesychios  vorliegen. 


2.  Die  Oeschichtsschreibong.    a)  Die  Logographen.    (§  244.)  429 

teten  Gründung  des  Staates  der  Tyrrhener  durch  Lyder  nichts  zu  finden 
war.  Die  Auffindung  der  eskuri^schen  Fragmente  des  Nikolaos  (1848), 
in  denen  das  echte  Lokalkolorit  von  Xanthos'  Darstellung  erscheint,  hat  den 
von  F.  G.  Welcker  stark  angefochtenen  Eredit  der  Xanthosfragmente  wieder 
hergestellt.  Merkwürdig  ist,  daß  Herodot  und  Xanthos  fast  regelmäßig 
(mit  Ausnahme  von  Herod.  I  8  ff.  und  Nicol.  Damasc.  fr.  49),  wo  sie  über 
dieselben  Dinge  berichten,  nicht  übereinstimmen,  und  doch  können  wir 
uns  nicht  vorstellen,  woher  Herodot  die  lydischen  Nachrichten,  insbeson- 
dere die  mit  ausgesprochen  lydischer  Parteifarbe  (wie  die  Geschichte  von 
der  Verbrennung  des  Kroisos  durch  Kyros)  haben  mag,  wenn  nicht  aus  Xan- 
thos. Nach  Diogenes  Laert.  VI  101  brachte  ein  gewisser  Menippos  das  Werk 
des  Xanthos  in  einen  Auszug,  und  nach  Ath.  51 5  d  hielt  der  pergamenische 
Grammatiker  Artemon  den  Kyklographen  Dionysios  für  den  wirklichen 
Verfasser  der  unter  Xanthos'  Namen  umlaufenden  Lydiaka.^)  Benützt 
und  ausgeschrieben  wurde  Xanthos  vielfach  von  dem  Historiker  Nikolaos 
von  Damaskos  in  der  Zeit  des  Augustus. 

Pherekydes  „der  Genealoge",  von  Athen,  der  erste  Prosaiker  aus 
Attika,  ist  verschieden  von  dem  „Theologen"  Pherekydes  von  Syros,  aber 
vielleicht  eine  Person  mit  dem  Pherekydes  aus  Leros,  von  dem  ihn  Suidas 
in  einem  konfusen  Artikel  unterscheidet.^)  Seine  Blüte  wird  von  Eusebios 
auf  Ol.  81,  3  =  454/3  gesetzt;  nach  Ps.  Lucian  macr.  22  erreichte  er  ein 
Alter  Von  fünfundachtzig  Jahren.  Den  einzigen  zeitlichen  Anhaltspunkt 
gibt  fr.  113  M.,  wo  Dareios'  Skythenzug  (510)  erwähnt  wird.  Sein  Haupt- 
werk, das  bald  Toro^/a/,  bald  reveaXoylai  oder  Avrox^oveg  betitelt  wird,  ent- 
hielt in  zehn  Büchern  die  Abstammungen  der  Götter  und  edlen  Geschlechter 
und  war  in  ionischem  Dialekt  geschrieben.  Das  erste  Buch  handelte  von 
der  Theogonie  und  dem  Gigantenkampf,  das  zweite  von  Prometheus,  das 
dritte  von  Herakles,  das  vierte  von  den  argolischen  und  kretischen  Sagen, 
das  sechste,  siebente,  achte  von  den  äolischen  Sagen  und  dem  Argonauten- 
zug, das  neunte  und  zehnte  von  den  arkadischen,  lakonischen,  attischen 
Stammsagen.  Dionysios  ant.  R.  I  13,  1  nennt  ihn  den  vornehmsten  unter 
den  Genealogen.  Die  Methode,  die  Lücken  der  Überlieferung  mit  eigenen 
Erfindungen  auszufüllen,  ist  ihm  ganz  geläufig;  so  nahm  er,  und  Hellanikos 
nach  ihm,  eine  Abstammung  des  Homer  von  Orpheus  an^)  und  ließ  wohl 
schon   beide  durch   einen   Zeitraum  von   zehn   Geschlechtem  voneinander 


')  Ath.  515  e;  Müller,  FHG  I  p.  XXH 
nimmt  eine  Ummodelung  der  Lydiaka  des 
Xanthos  durch  Dionysios  an.  Vgl.  J.  H.  Lbp-' 
sius.  Quaest.  log.  p.  12  ff.  —  Fragmente  des 
Xanthos  bei  C.  Müller,  FHG  I  36—44;  er- 
gänzt und  erläutert  von  A.  v.  Gutschmid, 
Kl.  Sehr.  IV  307  ff.,  der  unter  den  auf  X/ 
Namen  zitierten  Mayixa  einen  Abschnitt  aus 
dem  IV.  Buch   der   Ävdiaxd   versteht.     Vgl, 


der  Stelle  im  Leben  des  Hippokrates  p.449, 
4  W.  fjt^tjfjiovevsi  ÖS  Tfjg  yevecdoyiag  avxov 
'EgarooT&evrfs  xai  ^sgeHvdrjg  xai  *AjioU.6Scogog 
zwischen  Eratosthenes  und  ApoUodoros  gelebt 
habe.  Dagegen  F.  Jacob y,  ApoUod.  Chron. 
213—215,  der  meint,  Eratosthenes  habe  nur 
gegen  die  unwissenschaftliche  Annahme 
zweier  Pherekydes  von  Syros  Verwahrung 
eingelegt  und  neben  dem  Syrier  nur  noch 


0.  Wachsmüth,  Einl.  463  ff.  i   den  Athener  anerkannt.     Den  Lerier  habe 


2)  J.  H.  Lipsius,  Quaest.  logogr.  p.  18 
unterscheidet  wieder  beide  und  nimmt  neben 
dem  älteren  Pherekydes  aps  Athen  einen 
jüngeren  Pherekydes  aus  Leros  an,  der  nach 


er  entweder  mit  dem  Athener  gleichgesetzt 
oder  habe  dieser  erst  nach  Eratosthenes 
gelebt. 

»)  E.  RoHDB,  Kl.  Sehr.  I  7  f. 


430 


GhieohiBche  litteratargeschichte.    L  KlassiBche  Periode. 


geschieden  sein;  dazu  erdichtete  er  zehn  Ahnen  des  Homer  Evxkfjg,  ^do- 
TBQjirjg,  XagidrjßMg  etc.,  deren  Namen  ganz  durchsichtig  sind.  Vielleicht 
hat  ihn  Herodot  gekannt  (s.  u.  S.  436,  7).  Fragmente  bei  C.  Müller  FHG  I 
70—99  und  IV  637— 9. 0 

Wesentlich  unterscheidet  sich  von  allen  bisher  genannten  Logo- 
graphen durch  seine  einzigartige  Universalität  und  seine  an  die  Alexan- 
drinerzeit gemahnende  gelehrt-systematische  Art  und  schriftstellerische 
Fruchtbarkeit  Hellanikos  von  Mytilene.*)  Er  war  Zeitgenosse,  wahr- 
scheinlich älterer,  des  Herodot  und  Thukydides,  muß  aber,  wenn  auf  die 
Angabe  des  Scholiasten  zu  Aristoph.  ran.  694  und  720  Verlaß  ist,  das  Jahr 
406  überlebt  haben.»)  Die  Angaben  des  Suidas  über  seinen  Aufenthalt 
am  Hof  der  Könige  Amyntas  (394—70)  und  Perdikkas  (365—59)  von 
Makedonien  sind  chronologisch  unmöglich  und  gehören  wohl  in  den  Kreis 
tendenziöser  Legendenbildung  über  die  Musenfreundlichkeit  der  älteren 
makedonischen  Könige.  Gestorben  ist  er  in  Perperene  gegenüber  seiner 
Heimatinsel  Lesbos.  Seine  zahlreichen  Schriften  waren  teils  chronologischen 
Inhalts  im  Anschluß  an  die  alten  Tempelchroniken,  wie  al  h  "Agyei  Ugeiai 
rfjg  "Hgag  (diese  führten  ihr  Amt  lebenslänglich)  in  drei  Büchern*)  und  die 
KagveovXxat^^)  teils  behandelten  sie  die  Geschichte  einzelner  Landschaften, 
wie  die  ^Ar^k  in  vier  Büchern, «)  die  erste  der  attischen  Spezialgeschichten, 
von  der  mythischen  Vorzeit  bis  mindestens  zum  Jahr  407  herab  geführt, 
die  <Pogcovlg  (mythische  Geschichte  von  Argos,  =  'AgyoXixd)^  ^Aocomg  oder 
BoKOTixd^   AevHakcovela   (hier  fr.  10.  15   die   Hellenengenealogie  von   Pro- 


>)  Dazu  C.  LüTKB,  Pherecydea,  Gott 
Dies.  1893;  Rekonstruktion  des  Inhalts  A. 
V.  GuTSOHMiD.  Kl.  Sehr.  IV  302  ff. ;  H.  Bbrtsoh, 
Pherekydeische  Studien, Progr.Tauberbischofs- 
heim  1898. 

*)  F.  W.  Sturz,  Hellanici  Lesbii  fragni., 
2.  Aufl..  Lips.  1826;  L.  Pbeller,  De  Hellanico 
Lesbio  historico  (Dorpat  1840)  in  Ausgew.  Aufs., 
Berl.  1864,  23 ff.;  C.  Müller,  FHGI45— 69  u. 
IV  629 :  R.  Köhler,  Analecta  Hellanicea,  Leipz. 
Stud.  18  (1898)  213 ff.;  H.  Kullmer, Die Histo- 
riai  des  Hellanikos  von  Lesbos.  ein  Rekon- 
struktionsversuch, Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl.  27 
(1901)455-698;  A.  v.  Gütschmid,  KL  Sehr. 
IV  316  ff.  Der  Name  ist  wahrscheinlich  (P. 
Kretschmer,  Griech.  Vaseninschr.  184)  durch 
Haplologie  aus  'EXXavmixog  entstanden. 

»)  H.  Diels,  Rh.  M.  31  (1876)  53  setzt  nach 
Paraphila  bei  Gellius  XV  23  und  Ps.Lucian 
macrob.  22,  d.  i.  nach  ApoUodoros,  den  Hell. 
496—411.  WiLAMowiTZ,  Herrn.  11  (1876)292 
läßt  ihn  erst  um  454  geboren  und  (Aristot.  und 
Athen  I  19,  10)  den  Herodot  (wegen  Hell, 
fr.  173)  von  ihm  benützt  sein.  Der  erste  An- 
satz ist  jedenfalls  falsch.  F.  Jacoby,  Apollod. 
Chron.  279—82,  empfiehlt  480—396.  Den 
Ansatz  des  Geburtsjahrs  auf  480  (Vit.  Eurip. 
p.  2,  5  Scnw.)  beseitigt  A.  v.  Gütschmid  (Kl. 
Sehr.  IV  319,  2)  durch  die  Emendation  xad* 
'EUdvixov  statt  xai  'EU.,  F.  RüuL  nach  Wbl- 
CKERS  Vorgang  (Rh.  Mus.  61, 1906, 473  ff.)  durch 


die  Annahme,  die  Worte  xai  'EIL  seien  aus 
einer  Randnotiz  entstanden.  ROhl  sucht 
weiterhin  die  Gründe  für  die  antiken  Ansätze 
der  Lebenszeit  (Synchronismus  mit  Euripides) 
und  Lebensdauer  (85  Jahre  =  der  Summe 
der  Regierungsjahre  von  Alexandres  I  -f  Per- 
dikkas II)  zu  ermitteln  und  meint,  Hellanikos* 
Geburt  sei  480  gesetzt  worden,  weil  man 
seinen  Namen  von  dem  Griechensieg  bei 
Salamis  hergeleitet  habe. 

*)  Die  Neubearbeitung  der  alten  Tafeln 
wird  wesentlich  darin  bestanden  haben,  daß 
der  neue  Herausgeber  die  gleichzeitigen  Er- 
eignisse anmerkte,  worüber  Dionys. Hai. ant. R. 
I  72  o  xag  ieoeiag  rag  ev  "Agyei  xai  rot  xa^' 
kxdaxtjv  jzQax^evra  avvayaycov.  Siehe  oben 
S.  421,  2. 

*)  Nach  Ath.  635  e  gab  es  von  diesem 
auch  für  litterarhistorische  Daten  sehr  wich- 
tigen Verzeichnis  auch  eine  versifizierte  Fas- 
sung, die  schwerlich  älter  ist  als  die  helle- 
nistische Zeit,  in  der  man  derlei  trockenen 
Stoff  in  Verse  zu  kleiden  pflegte  (ApoUo- 
doros' Chronik,  Accius'  Didascalica).  Vgl. 
Suidas  avvsyQd^^aio  de  nksTara  Jt€C(og  re  xai 
noirjxixMg. 

*)  'ArTixtj  ^vyygaqi^  betitelt  sie  Thuc.  I 
97,  2.  Daß  Herodot  die  Atthis  des  Hella- 
nikos noch  nicht  kannte,  zeigt  die  Ver- 
gleichung  von  Hellanic.  fr.  74  mit  Her.  IX  73. 
Gegenseitige  Unabhängigkeit  des  Hellanikos 


2.  Die  Geschichtsschreibung,    a)  Die  Logographen.    (§  244.)  431 

metheus  an),  Aiokixd  oder  Aeoßixd,^)  Uegoixd^^)  teils  endlich  hatten  sie 
denkwürdige  Unternehmungen  zum  Mittelpunkt,  wie  die  TgcotHa,^)  Den 
ionischen  Dialekt,  die  anreihende  Satzform  und  den  Mangel  an  Kritik 
teilte  er  mit  den  anderen  Logographen.  Außer  Thukydides  (s.  o.  S.  430,  6) 
tadelt  üngenauigkeiten  und  Irrtümer,  auch  Parteilichkeit  an  ihm  Ephoros.^) 
Ein  lehrreiches  Beispiel  seiner  Methode  ist  die  Behandlung  der  attischen 
Königsliste,  an  deren  Anfang  er  den  Ogygos  setzte;  um  einen  Synchro- 
nismus zwischen  ihm  und  Phoroneus  zu  gewinnen,  schiebt  er  zwischen 
Ogygos  und  Kekrops  fünf  Könige  ein;  auch  den  Menestheus  hat  er  mit 
Rücksicht  auf  den  homerischen  Schiffskatalog  hinter  Theseus  eingeschaltet. 
Mit  dieser  Quasiwissenschaft  hat  er  eine  Darstellung  der  Sagengeschichte 
geliefert,  die  auf  die  Folgezeit  von  größtem  Einfluß  geworden  ist.^)  Nach- 
dem seine  Schriften  durch  die  alexandrinischen  Kritiker  Eratosthenes  und 
Apollodoros  eine  Zeitlang  in  den  Hintergrund  gedrängt  waren,  wurden  sie 
von  den  unkritischen  Sammlern  und  Antiquaren  der  Kaiserzeit,  namentlich 
wegen  ihrer  Nachrichten  über  die  Pelasger  und  die  ältesten  Ansiedler 
Italiens,  wieder  eifrig  hervorgezogen,  woraus  sich  die  große  Anzahl  der 
erhaltenen  Fragmente  erklärt. 

Schüler  des  Hellanikos  heißt  Damastes^)  aus  dem  troischen  Sigeion, 
der  über  die  Ahnen  der  griechischen  Führer  vor  Troia,  über  Völker  und 
Städte,  über  Dichter  und  Sophisten  schrieb  und  außerdem  einen  wesentlich 
auf  Hekataios  fußenden  Periplus  verfaßte.')  Herodoros  aus  Herakleia 
am  Pontes,  Vater  des  Sophisten  Bryson,  suchte  mit  dem  kecksten  Realis- 
mus die  altepische  Heraklesüberlieferung  in  seinem  Xöyog  xa&*  'Hgaxkea 
dem  Zeitalter  der  Sophistik  genießbar  zu  machen  in  mindestens  siebzehn 
Büchern,  und  schrieb  außerdem  ein  in  den  Scholien  zu  Apollonios  von  Rhodos 
häufig  zitiertes  Werk  über  die  Argonauten  (Müller  FHG  H  27 — 41).  Dem 
Sophisten  Hippias  aus  Elis  wurden  neben  verschiedenen  Deklamationen, 
*Eüvcby  dyojuaoiai^  eine  Hvvaycoyrj  iJQcoldcov  und  auch  eine  'OlvjLutiovixiav 
ävayQacpri  beigelegt  (Müller  FHG  II  59 — 61),^)     Hierher   gehört  wohl  auch 


und  Herodot  nimmt  an  J.  Bass,  Wien.  Stud.  1 
(1879)161ff.  Den  Tadeides  Thukydides  (197,2) 
über  die  mangelhafte  Chronologie  will  E. 
Meyer,   Gesch.  des  Altert.  III  252   auf  die 


^)  Vgl.  Photios  bibl.  p.  43b  29;  Strab. 
p.  366.  426.  451.  602;  auf  Widersprüche  mit 
Akusilaos  verweist  loseph.  c.  Ap.  116. 

*)  A.  V.  GüTSCHMiD,   Kl.  Sehr.  IV  322  f.; 


Datierung  nach  attischen  Archonten  beziehen.       E.  Mbteb,  Forsch.  I  117  f. 


^)  AioAixd  und  Aeoßixd  waren  (A.v.Gur- 
scHMiD  a.  a.  0.  316)  verschiedene  Titel  des- 
selben Werkes. 

^)  Hier  kam  die  leichtfertige  Anknüpfung 
der  Perser  an  Perseus  vor  und  waren  noch 
die  Perserkriege  behandelt.  Das  Werk  war 
vor  Herodot  geschrieben  (Dionys.  Hai.  ad 
Pomp.  3)  und  enthielt  eine  starke  Verschlech- 
terung der  Tradition  (E.  Meyer,  Gesch.  des 
Altert.  lU  247),  auf  die  sich  auch  Dio  Chrys. 
or.  11,  145  bezieht. 

^)  Von   bestrittener  Echtheit  waren  die 


®)  Suidas  setzt  ihn  mit  ysyovotg  noo  tcöv 
UskojtowTjoiax&v  zu  früh;  schon  als  Schüler 
des  Hellanikos  mu6  er  an  das  Ende  des 
5.  Jahrhunderts  gerückt  werden;  er  folgte 
außerdem  dem  Gorgias  in  der  Zurückfuhrung 
des  Geschlechtes  des  Homer  auf  Musaios. 
Seine  Zuverlässigkeit  bestreitet  der  kritische 
Strabon  p.  47.  Dagegen  war  sein  negMovg 
oder  KatdXoyog  i^(ov  xai  jrölecov  einem 
Antiquar  wie  Avienus  eine  erwünschte  Quelle. 
Das  Buch  über  die  Vorfahren  der  Troia- 
kftmpfer  wurde   (Suid.  s.  IlcöXog)   auch   dem 


Baoßagiy.d   vöfiifia   und    die  Älyvjttiaxdy   die  I    Polos  zugeschrieben. 

nach   C.  Müller,   FHG  I,  XXX   einen  Teil  ')  C.  Müller,  FHG  II  64— 67 ;  vgl.  Aga- 

jenes  Werkes  bildeten  und  von  Müller  dem      themeros    in    C.  Müller,    Geogr.   gr.    min. 

jüngeren  Hellanikos  beigelegt  werden   (s.  a.  i   II  471. 

A.  v.  GüTscHMiD,  Kl.  Sehr.  I  57  flf.).  '  »)  Ohne  Grund  wollte  F.  Blass  das  Frag- 


432  Ghiechische  Lüieratargesohichte,    I.  ElassiBche  Periode. 

Phileas,  den  der  archaisierende  Dichter  Avienus  ora  marit.  5  neben  den 
bekannten  Logographen  als  seine  Quelle  aufführt. 

246.  Auch  im  griechischen  Westen  machte  die  Logographie  der 
lonier  Schule:  dasselbe  universelle  Interesse  historischer  und  natur- 
wissenschaftlich-geographischer Richtung  wie  die  lonier  zeigen  die  Reste 
des  Hippys  aus  Rhegion,  der  zur  Zeit  der  Perserkriege  nach  Suidas 
'Agyohxd  in  drei,  eine  Krloig  ^Irailag  und  HixeXixd  (diese  wohl  identisch 
mit  den  Xqovixo)  in  fünf  Büchern,  alles  jedenfalls  in  ionischem  Dialekt, 
schrieb  (Müller  FHG  11  12— 15);0  Phanias  von  Eresos  las  ihn  noch.«)  Plu- 
tarchos  kannte  ihn  nicht  mehr  unmittelbar.  Ein  gewisser  Myes  epitomierte 
seine  Schriften  (Suid.  s.  Ijuivg).  —  Landsleute  des  Hippys  sind  der  oben 
(S.  76,  5.  428)  angeführte  Theagenes  und  Glaukos  von  Rhegion,  dessen 
Schrift  negl  x(bv  ägxaUov  Jtoirjrcbv  xal  juovoixdfv  noch  von  einem  Ge- 
währsmann des  Harpokration*)  und  von  Plutarchos  negi  jnovoixtjg  benutzt 
wurde.*)  —  Antiochos  von  Syrakus,  Xenophanes'  Sohn,  war  Verfasser 
einer  ZixeXubTig  övyygaq)t]  in  ionischem  Dialekt,  die  mit  dem  König 
Kokalos  begann  und  bis  auf  das  Jahr  424  oder  den  Frieden  von  Gela 
herabgeführt  war.  Dieses  Werk,  noch  von  Thukydides  benutzt,^)  wurde 
später  durch  die  berühmteren  Werke  des  Philistos  und  Timaios  in  Schatten 
gestellt,  so  daß  es  schon  zu  Strabons  Zeit  verschollen  war.  Länger  erhielt 
sich  sein  Buch  'IraXlag  oixio/x6g^  von  dem  uns  durch  Dionysios  von  Hali- 
karnassos,  Strabon  und  Stephanos  von  Byzantion  noch  manche  Angaben  er- 
halten sind.  Seine  Schreibart  war  nach  Strab.  254  schlicht  und  altertümhch. 

246.  Ein  Anzeichen  des  für  die  Zeit  der  Sophistik  charakteristischen 
steigenden  Interesses  an  der  Gegenwart  und  des  Zurücktretens  der  roman- 
tischen Geistesrichtung  liegt  in  der  Erscheinung  einer  ionischen  Memoiren- 
litteratur  um  die  Mitte  des  5.  Jahrhunderts.  Ihre  Vertreter  sind  Ion 
von  Chios  (s.  o.  S.  369)  und  Stesimbrotos  von  Thasos,®)  beide  Re- 
negaten des  loniertums  und  seiner  intellektualistischen  Richtung,  dagegen 
Bewunderer  des  Kimon  und  seiner  ^peloponnesischen  Geistesart**  im  Gegen- 
satz zu  Perikles  und  Themistokles.  Ion  schrieb  neben  einer  Xiov  xrloig 
ein  Memoirenwerk  'Emörj/mlai^  dessen  erhaltene  Reste  seiner  Fähigkeit,  das 
Individuelle   scharf  aufzufassen   und  anmutig  darzustellen,   ein  glänzendes 


ment  über  Musik  Hibeh  pap.  I  nr.  13  einem  '   diesen  Begründern  der  Litterarhistorie  auch 

Buch  des  H.  JtF.Qt  fiovoixtjg  zuweisen.  |   Antidoros,   der  nach    dem  Anonymus  bei 

^)  Die  Bedenken  gegen  die  Echtheit  der  j  J.  A.  Cramek,  An.  Ox.  IV  310,  26  itsgl  Vfxrjgov 

Hippysfragmente,  die  Wilamowitz  auf  Grund  xai  'Hoioöov  geschrieben  hatte  und  sich  zu- 

der   Übereinstimmung   von   fr.  8   mit   einem  ;   erst  yga/j/jauxo;;  nannte. 

der  inschriftlichen  Wunderberichte   aus  Epi-  *)  Fragmente  bei  Müller,  FHG  I  181—4. 

dauros    ausgesprochen   hatte,   sind   zerstreut  E.  Wölpflin,    Antiochos   von  Syrakus   und 

von  K.  Zacher,  Herm.  21  (1886)  468  f.  !   Coelius  Antipater,  Winterthur  1872.     Gegen 

2)  Plut.  def.  orac.  23  p.  422e.  H.  Steins  Versuch  (Rh.  Mus.  55, 1900, 531  ff.), 

^)  Harpokration  lex.  rhet.  u.  Movoaiog.  Benützung  des  Ant.  auch  bei  Thuc.  III  u.  IV 

*)  E.  Hiller,  Die  Fragmente  des  Glaukos  1   nachzuweisen,  s.  J.  Steup  ibid.  56, 1901, 443  ff. 

von  Rhegion,  in  Rh.  M.  41  (1886)  398— 436.  Ob  Aus  Ant.  stammt  ohne  Zweifel  auch  Aristot. 

der  Homeriker  Glaukos  und  der  FXavxog  jistji  pol.  1329  b  8  ff. 

AloyHov  fivOcov  in  Argnm.  Aisch.  Pers.  und  ,           ®)  C.  Müller,  FHG  H  46  ff.  53  ff.    Fein- 

Schöl.  Eur.  Hec.  41    eine  Person  ist,   bleibt  sinnige  Charakteristik  der  beiden  bei  LBkl-^s, 

dahingestellt.    Siehe  a.  H.  Abert,  Die  Lehre  Das  litterar.  Porträt  46  ff. 
vom  Ethos  21,  5.  —    Vielleicht   gehört   zu 


2.  Die  Oesohichtssohreibiuig.    a)  Die  Logographen.    (§§  245—246.)  433 

Zeugnis  geben;  es  sind  Reiseeindrücke  von  dem  Verkehr  mit  den  großen 
Athenern  der  perikleYschen  Zeit.  Die  Bruchstücke  eines  philosophischen 
Werkes  Tgiay/i6g^)  zeigen  den  Ion  als  Anhänger  der  pythagoreischen 
Zahlenmystik.  —  Die  Memoiren  des  Stesimbrotos  negl  OejLuoroxXiovg  xal  Oov- 
xvöidov  xal  üegixUovg  (so  zitiert  Ath.  589 de)  waren  tatsächlich  eine  bös- 
artige Parteischrift  gegen  die  athenische  Demokratie.  2)  Sonst  erscheint 
Stesimbrotos  bezeichnenderweise  als  Anhänger  der  allegorischen  Homer- 
erklärung ^)  und  Verfasser  einer  Schrift  über  die  Mysterien  (negl  reXercbv). 
Plutarchos  hat  im  Themistokles,  Kimon,  Perikles  die  Memoiren  dieser 
Männer  noch  benützt. 

Alle  die  bisher  besprochenen  Leistungen  der  ionischen  Geschichts- 
schreibung fallen  unter  das  kurze,  inhaltsschwere  Verwerfungsurteil  des 
Thukydides  (I  22,  1.  4),  der  ohne  Zweifel  auch  den  Herodot  mit  gemeint 
hat:  Unterhaltungslitteratur  ohne  wissenschaftliche  Bedeutung.  Dieses 
Urteil  ist  gesprochen  von  der  hohen  Warte  des  methodischen  Sicherheits- 
gefühls, mit  dem  sich  das  Zeitalter  der  sophistischen  Aufklärung  den  Er- 
scheinungen der  Welt  und  besonders  den  Leistungen  der  Vorzeit  gegen- 
überstellte. Vor  der  Forderung,  nur  vollkommen  Verbürgtes  und  Ge- 
sichertes mitzuteilen,  bestehen  alle  Darsteller  von  Vergangenheitsgeschichte, 
besonders  aber  die  Logographen,  schlecht.  Die  Eonsequenz  aus  dieser 
Forderung  war,  die  Vergangenheit  überhaupt  auf  sich  beruhen  zu  lassen. 
Thukydides  hat  sie  (I  1,  2)  —  freilich  auch  er  nicht  ganz  rein  —  für  den 
Hauptteil  seines  Werkes  gezogen.  Tatsächlich  war  es  in  der  ionischen 
Logographie  ebenso  unfruchtbar  wie  in  der  altrömischen  AnnaUstik,  immer 
wieder  die  Vorgeschichte  zu  behandeln,  ohne  daß  wesentlich  neue  Daten 
gefunden  wurden  und  ohne  daß  man  wissenschaftliche  Methoden  zur  Er- 
mittlung der  Wahrheit  auf  diesem  entlegenen  und  schlüpfrigen  Stoffgebiet 
besaß  —  denn  was  man  von  Methoden  zu  haben  glaubte,  Chronologie  ver- 
mittelst der  Rechnung  nach  Generationen  oder  Regierungen,  konziliatorischer 
Pragmatismus,  Rationalismus  den  Mythen  gegenüber,  das  gab  doch  alles 
mehr  Schein  als  Wahrheit.  Der  älteren  Logographie  gegenüber  bedeutet 
nun  aber  das  Werk  des  Herodot  methodisch  einen  mächtigen  Fortschritt: 
er  hängt  nicht  die  Geschichte  der  Gegenwart  als  nebensächlichen  Bestand- 
teil an  die  Mythengeschichte  an,  sondern  er  stellt  ein  weltgeschichtUches 
Faktum,  das  die  nächste  Generation  vor  ihm  (freilich  nicht  er  selbst, 
worauf  vielleicht  Thuc.  V  26,  5  zielt)  miterlebt  hatte,  in  den  Mittelpunkt 
und  exkurriert  von  da  aus  bei  Gelegenheit  in  die  Vorgeschichte;  weiter 
verzichtet  er  auf  die  Kunst  des  Pragmatismus  und  berichtet  mit  gesundem 
Tatsachensinn,  nicht  ganz  ohne  Kritik,  aber  mit  noch  mehr  Respekt  vor 
dem  Überlieferten,  was  er  zu  ermitteln  imstande  ist,  Geschichte  und  Sage. 
Ein  unschätzbarer  Stoff  für  Geschichte  im  weitesten  Sinn  und  Volkskunde^ 
nicht  beeinträchtigt  durch  vorlaute  Einmischungen  scheinwissenschaftlicher 

')  H.  DiKLS,  Vorsokr.»  230  f.  l  schmid,  Kl.  Sehr.  IV  92  ff. 

*)  über  die  Echtheit  der  Fragmente  W.  *)  Xenoph.  conv.  3,  6;  daß  die  stoische 

A.Schmidt,  Das  perikl.  Zeitalter  (Jena  1877. 79)   |  Homererklämng  aus  ihm  schöpft,   zeigt  die 

1 183  ff. ;  WiLAMowiTZ,  Herrn.  12 (1877)  361  ff.;   |  Übereinstimmung  des  Krates  mit  ihm,  Schol. 

über   den   politischen   Charakter  A.  v.  Gut-   |  A  Hom.  II.  O  193. 

Handbuch  der  klass.  AltertumswissensehafL    VH.  5.  Aufl.  28 


434 


GriechiBche  LitteratiirgeBohichte.    I.  EUuudBche  Periode. 


Besserwisserei,  ist  so  auf  uns  gebracht  worden.  Es  scheint  nicht,  daß 
einer  von  den  anderen  Logographen  Ähnliches  geleistet  hat,  und  so  ver- 
dient Herodot  den  Namen  des  Vaters  der  Geschichte,  den  ihm  Cicero  (de 
leg.  II)  gibt.  Immerhin  steht  er  durch  die  Universalität  seiner  Inter- 
essen, eine  gewisse  Romantik  der  Auffassung  und  den  Ton  und  Stil  der 
altionischen  Prosaerzählung  auf  gemeinsamem  Boden  mit  der  Logo- 
graphie. 

b)  Herodotos  (um  484  bis  um  425.)  0 

247.  Leben.  Über  Herodots  Person  sind  wir  nur  mangelhaft  unter- 
richtet; selbst  einer  Vita,  abgesehen  von  dem  Artikel  des  Suidas,  entbehren 
wir.  Seine  Zeit  bezeichnet  Dionysios  von  Halikarnassos  (de  Thuc.  5)  mit  den 
Worten:  ^Herodotos  aus  Halikarnassos  war  kurz  vor  den  Perserkriegen 
gpboren  und  lebte  bis  in  den  peloponnesischen  Krieg  hinein.**  Bestimmter, 
aber  ohne  sichere  Gewähr,  setzte  Pamphila,  die  Grammatikerin  aus  der  Zeit 
des  Nero,  das  Geburtsjahr  Herodots  auf  484  an.*)  Daß  er  den  Anfang  des 
peloponnesischen  Krieges  und  die  Einfälle  der  Lakedaimonier  in  Attika 
noch  erlebte,  geht  aus  seinem  Werk  selbst,  namentlich  aus  IX  73  her- 
vor;3)  ebenso  aus  VII  170,*)  daß  er  zur  Zeit  der  großen  Expedition  der 
Athener  nach  Sizilien  nicht  mehr  lebte.  Wahrscheinlich  starb  er  kurz 
vor  oder  bald  nach  dem  Tod  des  Perserkönigs  Artaxerxes  I  (425).*)  Seine 
Heimat  war  die  dorische  Kolonie  Halikarnassos  in  Kleinasien,  die  damals 


')  Quellen  sind  ein  Artikel  des  Suidas, 
Plutarch  de  Herodoti  malignitate.  Neuere 
Bearbeitungen:  F.  Chr.  Dahlkann,  Herodot, 
Altona  1824,  in  Forschungen  auf  dem  Ge- 
biete der  griech.  Gesch.  II  1 ;  J.  C.  F.  Bähb, 
De  vita  et  scriptis  Herodoti,  im  4.  Bde.  (2.  Aufl. 
Leipz.  1861)  seiner  Ausg.;  An.  Bauer,  Hero- 
dots Biographie,  Wien.  Ak.  Sitz.ber.  89  (1878) 
391 — 420;  V.  Costanzi,  Ricerche  su  aicuni 
punti  controversi  intomo  alla  vita  e  all'  opera 
di  Erodoto,  Mem.  dell'  Jstituto  Lombardo, 
1891  p.  181  ff. ;  A.  Hauvbtte,  H^rodote  historien 
des  guerres  mödiques,  Paris  1894,  Haupt- 
werk; H.  Stein  im  1.  Händchen  seiner  er- 
klärenden Ausgabe  mit  Einleitung  über  Leben, 
Werk  und  Dialekt  Herodots,  6.  Aufl.,  Berlin 
1901;  E.  Meyer,  Forschungen  zur  alten  Ge- 
schichte II  (Halle  1899)  196—268.  Zur  Chrono- 
logie F.  Jacoby,  Apollodors  Chronik  277  ff. 
282  f.  Die  Einzelbelege  bei  R.  Dietrioh, 
Testimonia  de  Herodoti  vita  praeter  itinera, 
Diss.  Leipz.  1899. 

^)  Gellius  XV  23;  dieser  (apollodorische) 
Ansatz  beruht  auf  der  Verlegung  von  Hero- 
dots äxf-u)  in  das  Jahr  der  Gründung  von 
Thurioi  444  (Jacoby  a.  a.  0. 278).  Ad.  Scholl, 
Über  Herodots  Lebenszeit,  Phil.  9  (1854)  193  ff. 
278  geht,  gestützt  auf  Eusebios  zu  Ol.  78,  1 
mit  dem  Geburtsjahr  auf  489  hinauf.  Die  An- 
sätze der  ax^u)  (40.  Lebensjahr)  bei  den  Alten 
beruhen  auf  drei  Kombinationen:  1.  Gleich- 
setzung   der   ax(.i7]    mit   der   Gründung  von 


Thurioi,  weil  man  wnßte,  daß  H.  nach  Thurioi 
gekommen  war  (Th.  Gompbrz  hat  in  den 
M^langes  Weil  141  ff.  durch  eine  unsichere 
Ergänzung  der  sophokleischen  Elegie  an  H. 
diesen  Ansatz  zu  stützen  gesucht),  2.  mit 
dem  von  H.  beschriebenen  Perserkrieg  (xara 
Seg^rjv  Diod.  II  32,  2).  3.  mit  der  dx/nri  von 
Herodots  Oheim  Panyassis,  die  aus  uns  un- 
bekannten Gillnden  in  das  Jahr  468  gelegt 
wird.  Die  Vita  Saviliana  des  Cl.  Ptolemaios 
bezeichnet  den  H.  als  Zeitgenossen  des  Gor- 
gias  imd  Zenon  von  Elea  (Rh.  Mus.  33,  1878, 
169,  4). 

»)  A.  KiBOHHOFP,  Beri.  Ak.  Abb.  1868, 
24  ff.  und  H.  Stbdt,  Einl.  P  XXIII  2  geben 
die  Stellen. 

*)  Gegen  die  Stelle  richtet  sich  Thuc. 
Vn  85. 

^)  Dareios,  Xerzes,  Artaxerxes  sind  allein 
als  Perserkönige  erwähnt  VI  98  und  an- 
gedeutet VII 106.  Auf  die  Zeit  von  424  weist 
auch  der  Umstand,  daß  H.  VII  235  die  Ok- 
kupation der  Insel  Kythera  durch  Nikias 
nicnt  kennt  (s.  darüber  nach  A.  Kibchhoff 
a.a.O. 27  P.  Knapp,  Württ.  Korrespondenzbl. 
N.  F.  4,  1897, 1  ff.);  zu  bedenken  ist  aber,  daß 
die  Absicht,  eine  Insel  beim  Peloponnes  zu 
okkupieren,  von  Anfang  an  im  Kriegsplan  des 
Perikles  lag  (Thuc.  II  17.  4;  25).  Ohne  Nöti- 
gung wurde  früher  die  Nachricht  I  180  von 
dem  Abfall  der  Meder  auf  die  Ereignisse 
von  408  bezogen. 


2.  Die  Qescbiohtssohreibimg.    b)  Herodotos.    (g  247.) 


435 


zu  dem  Vasallenstaat  der  durch  ihn  berühmt  gewordenen  Königin  Arte- 
misia  gehörte.  Seine  Eltern  hießen  Lyxes^  und  Dryo  (v.  1.  Rhoio),  sein 
Bruder  Theodoros.^)  Ein  Oheim  von  ihm  war  Panyassis,  der  bekannte 
Epiker.  Beide  wurden  in  die  Freiheitskämpfe  ihrer  Vaterstadt  gegen  die 
Gewalthaber  Kariens,  die  Nachfolger  der  Artemisia,  verwickelt.  Panyassis 
kam  bei  diesen  Kämpfen  um;  Herodot,  der  anfangs  zur  Auswanderung 
nach  der  ionischen  Insel  Samos  sich  genötigt  sah,*)  soll  später  nach  seiner 
Rückkehr  zur  Vertreibung  des  Tyrannen  Lygdamis  mitgewirkt  haben.*) 
Aber  bald  nachher  verließ  er,  wie  es  in  der  Grabschrift  (S.  436,  5)  heißt, 
wegen  der  Mißgunst  der  Bürger  seine  Vaterstadt  für  immer.  Im  Jahr 
446  oder  445  soll  er  in  Athen  für  die  Vorlesung  einer  Partie  seiner  Ge- 
schichte, vielleicht  in  dem  neuerbauten  Odeion,  auf  Antrag  des  Anytos 
mit  einer  Staatsbelohnung  von  zehn  Talenten  ausgezeichnet  worden  sein.*) 
Damals  wird  er  die  Freundschaft  mit  Sophokles,  die  auf  tiefer  Verwandt- 
schaft der  geistigen  Anlagen  und  der  Weltanschauung  beruhte,  geschlossen 
haben.6)  Später  siedelte  er  sich  in  der  im  Jahre  444  von  Athen  neu- 
gegründeten Kolonie  Thurioi  in  Unteritalien  an;  er  hat  hier  offenbar  Bürger- 
recht besessen  und  wird  demnach  auch  Thurier  genannt.')    Von  dort  aus  be- 


^)  Der  Name  auch  auf  einer  halikar- 
nassischen  Inschrift  des  5.  Jahrh.  (F.  Bbchtel, 
Inschr.  des  ion.  Dialekts,  Gott.  1887,  nr.  240, 27). 

*)  Daß  Herodots  Familie  zum  Adel  von 
Halikamassos  gehört  habe,  folgt  weder  aus 
Suid.  (*AXixaQvaooevg  xutv  ini(pav<ov  =  einer 
der  berühmten  Halikamassier)  noch  ausHerod. 
II  143  (E.  Meykb,  Forsch.  I  193).  Seine  Sym- 
pathien und  Antipathien  haben  mit  denen 
des  Junkertums  gar  nichts  gemein  (Spott 
über  die  Prfttensionen  adeliger  Abstammung 
II  143;  über  Olympia,  den  Tummelplatz 
adeligen  Sports  II  160;  Aversion  gegen  das 
adelige  Bummelleben  II  177;  Vorliebe  für 
die  , arbeitende  Klasse*  II 167),  weisen  viel- 
mehr in  merkantile  und  industrielle  Kreise. 
Dem  Namen  seines  Vaters  und  Oheims  nach 
muß  karisches  Blut  in  seinen  Adern  ge- 
flossen sein. 

')  Über  die  Verhältnisse  von  Halikar- 
nassos  zur  Zeit  des  Lygdamis  unterrichtet 
die  Inschrift  IGA  500  =  Ch.  Michel,  Recueil 
nr.  451  (dazu  A.  Kirchhoff,  Studien  z.  Gesch. 
des  griech.  Alphab.*,  Gütersloh  1887, 1  ff.).  A. 
Baueb  a.  0.  hält  die  Angabe  von  einer  Auswan- 
derung nach  Samos  für  erfunden,  um  den  ioni- 
schen Dialekt  seines  Geschichtswerkes  zu  er- 
klären ;  beides  bringt  allerdings  Suidas  in  Zu- 
sammenhang. Daß  man  aber  auch  in  Halikar- 
nassos  damals  ionisch  schrieb,  zeigen  die  In- 
schriften, namentlich  das  unter  der  Oberhoheit 
des  Lygdamis  zustandegekommene  Gesetz  der 
Gemeinden  Halikamassos  und  Salmakis,  in 
dem  auch  ein  Panyassis  vorkommt.  Daß  H. 
zu  Samos  in  nähcrem  Verhältnis  steht,  ist 
aus  seiner  eingehenden  Behandlung  samischer 
Verhältnisse  (III  118  ff.;  IV  43.  88.  152  ff.; 
VI  22  ff.),  der  gründlichen  Darstellung  der 
Geschichte  von  Samos  (III  39— 60  u.  s.),  der 


Verteidigung  der  samischen  Politik  (H.  Stein 
zu  V  10,  4)  ersichtlich. 

*)  Das  muß  vor  454  stattgefunden  haben, 
da  nach  der  Inschrift  IGA  500  damals  Hali- 
kamassos dem  athenischen  Seebund  schon 
beigetreten  war. 

^)  Die  Hauptnachricht  darüber  bei  Plu- 
tarch  de  Her.  mal.  26,  geschöpft  aus  Diyllos, 
einem  Historiker  der  Diadochenzeit;  als  Jahr 
ist  Ol.  83,  3  oder  83,  4  von  Eusebios  an- 
gegeben. Lucian.  Herod.  1  und  Suid.  u.  Bovxvd, 
reden  von  einer  Vorlesung  in  Olympia,  die 
durchaus  möglich  erscheint  (es  handelt  sich 
um  Vorlesung  zusammengehöriger  Teile  des 
Werkes) ;  Suidas,  Marcellinus  vit  Thuc.  c.  54 
und  Photios  bibl.  p.  60  b  19  lassen  den  Knaben 
Thukydides  unter  den  Zuhörem  sein  (dagegen 
F.  Chr.  Dahlmann  a.  0.  30  ff.).  Von  weiteren 
Vorlesungen  in  Theben  und  Korinth  melden 
Plutarch  de  Her.  mal.  31,  Ps.  Dio  Chrys.  (Favo- 
rinus)  or.  37,  7  p.  103  R.  Eine  tadebde  An- 
spielung auf  solche  Vorlesungen  steht  bei 
Thucyd.  I  22  xxrjfia  ig  dei  fiäXXov  fj  dycoviafia 
ig  t6  TtoLQaxQrjfia  dxovsiv.  Siehe  über  Vor- 
lesung von  Geschichtswerken  E.  Rohde,  Griech. 
Rom.«  328  A. 

®)  Siehe  o.  S.  297,  1.  Gemeinsam  ist  den 
beiden  Männern  Abneigung  gegen  aufkläre- 
rischen Radikalismus,  tiefe  Religiosität,  Ver- 
ständnis für  Frauengröße.  Die  Elegie  des 
Sophokles  vom  Jahr  441  kann  dem  ab- 
wesenden Herodot  geschickt  worden  sein. 
Der  Schluß  von  A.  Kirchhoff,  daß  Hdt.  HI 
119  dem  Sophokles  für  Ant.  905  ff.  schon 
vorgelegen,  also  c.  442  noch  in  Athen  ge- 
schrieben sei,  bricht,  da  die  Unechtheit  der 
Antigonestelle  außer  Zweifel  steht,  zusammen. 
')  Vgl.  Duris  bei  Suidas  u.  Tlavvaaoig, 
Strab.  p.  656,  Steph.  Byz.  u.  Oovqioi,  Julian. 

28* 


436 


Qrieohi8ohe  LitteratargeBchiohte.    I.  Klassische  Periode. 


suchte  er  Italien  und  Sizilien,^)  ohne  aber  irgendwo  im  Westen  außerhalb 
von  Thurioi dauernd  seinen  Wohnsitz  aufzuschlagen.*)  Nicht  unwahrscheinlich 
ist,  daß  er  sich  schon  vor  Ausbruch  des  peloponnesischen  Krieges  in  Athen 
niedergelassen*)  und  hier  sein  Werk,  das  im  Jahr  425  jedenfalls  heraus- 
gegeben war,*)  soweit  als  es  überhaupt  kam,  fertig  gemacht  habe.  In 
den  ersten  Jahren  des  peloponnesischen  Krieges  starb  er,  ungewiß  ob  in 
Athen  oder  in  Thurioi.^)  Sein  Bild,  zugleich  mit  dem  des  Thukydides  auf 
einer  Neapler  Doppelherme  erhalten,®)  ist  wohl  nur  ein  Idealporträt  aus 
späterer  Zeit. 

248.  Quellen  Herodots  (litterarische  Studien  und  Reiseerfahrungen). 
Eine  der  wichtigsten  Fragen  in  der  Beurteilung  eines  Geschichtsschreibers 
ist  die  nach  seinen  Quellen.  Diese  Frage  stellt  sich  bei  Herodot  anders 
als  bei  Historikern  unserer  Zeit.  Heutzutage  sammelt  ein  Geschichtsschreiber, 
wenn  er  nicht  Selbsterlebtes  erzählt,  sein  Material  aus  Archiven  und  Biblio- 
theken. Herodot  konnte  aus  den  Schriften  seiner  Vorgänger  nicht  viel 
lernen;  er  hat  zwar  bei  der  Geschichte  fremder  Völker  die  Logographen 
Hekataios,  Xanthos  und  Hellanikos,   vielleicht  auch  Dionysios,   benutzt;^) 


ep.  22,  Plinius  n.  h.  XII  18,  Avien.  or.  mar.  49. 
Daß  Herodot  selbst  I  1  'HgodoTov  Sovgiov 
^'  laTOQiTjg  oTiöds^tg  geschrieben  habe,  wie 
schon  Aristot.  rhet.  1409a  28  angibt,  aber 
in  keiner  Herodothandschrifb  fiberliefert  ist, 
wird  schon  durch  Flut,  de  Herodoti  mal.  35 
widerlegt  (s.  a.  H.  Stein,  Rh.  Mus.  56,  1901, 
627,  der  nur  nicht  die  Aristotelesstelle  als 
Interpolation  ausscheiden  sollte). 

»)  A.KiB0HHOPEa.a.0. 18. 17;  H.  Stein, 
Einl.  zu  I«  p.  LI  f.  • 

«)  C.Waohsmüth,  Rh.  Mus.  56, 1901,215. 
Hdt.  V  77  lo  de  doioTSQ^c  x^igog  iottjxe  Jtg&rm' 
iotöyti  ig  ta  jrgoTivXaia  rä  ev  rfj  dxQ0Jt6Xft 
bezieht  sich  auf  das  peisistratische  Propylon, 
nicht  auf  die  Propyläen  des  Mnesikles,  ist 
also  vor  der  Bauperiode  der  letzteren  (437 
bis  432)  geschrieben  (W.  Judeioh,  Topographie 
von  Athen,  München  1905,  216  f.  A.  8). 

»)  A.  KiBCHHOFF  a.  0.  23  flf.;  E.  Mbybb, 
Forsch.  II  196  f.  läßt  den  H.  schon  439  wie- 
der in  Athen  sein,  wofür  aber  die  Stelle  aus 
Perikles  ,samischer  Leichenrede*  VII  162 
eine  sehr  gebrechliche  Stütze  bildet 

*)  Ar.  Ach.  70  (Hdt.  VH  41),  85  (I  138), 
89  (II  73),  92  (I  114),  523  ff.  (I  4)  müssen 
wohl  als  Herodotparodien  verstanden  werden 
(H.  Stein,  Einl.  zu  P  p.  LH  4). 

*)  In  Thurioi  auf  dem  Markt  war  er  nach 
Suidas  begraben;   das   sicherlich  gefälschte 
Epigramm    lautete  nach  Stephanos   Byz.  u. 
ßovgtoi ; 
'HgöSoTOV  Av^eo)   xgvjixEi   xovig  f/de  ^avorrUf 

*Iddog  dgxatrjg  loxoghjg  :rgvxaviv, 
Acogiöog  ix  mirgr^g  ßlaaiövt* '  datoiv  ydg  ätXrjxov 
fiwfjim'  ifjrFX7rgo(pvy(ov  ßovgtov  eaxs  ^xdxgrjv. 
Andere  bei  Suidas  lassen  ihn  in  Pella  sterben. 
Nach  Marcellinus  vit.  Thuc.  c.  17  befand  sich 
ein  Grabdenkmal  des  Herodot  neben  dem  des 


Thnkydides  in  den  kimonischen  Gräbern  zu 
Athen,  was  unmöglich  ist  (für  'Hgoöoxov  ist 
'HgMov  oder  *0'Ji6gov  vermutet). 

^)  In  der  Bibliothek  von  Pergamon  war 
eine  Büste  des  Herodot  aufgestellt,  worüber 
A.  Conze,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1884  S.  1261. 

')  Porphyrios  bei  Eusebios  praep.  ev.  X  3 
bemerkt  auf  Grund  der  speziellen  Nachweise 
des  Grammatikers  Pollio,  daß  Herodot  im 
zweiten  Buch  vieles  wörtlich  aus  Hekataios 
herübergenommen  habe;  dieses  begründet  den 
Zweifeln  der  Neueren  gegenüber  H.  Diels 
Herm.  22(1887)441  ff.  Herodot  selbst  II 143  u. 
VI  137  verweist  auf  Hekataios.  Das  chro- 
nologische System  des  Hekataios  scheint  H. 
übernommen  zu  haben  (E.  Meter,  Forsch. 
I  169  ff.).  Benützung  des  Hekat.  bei  Hdt.  I 
95  ff.  sucht  V.  Pbasek,  Beitr.  zur  alten  Gesch. 
4  (1904)  193  ff.  zu  erweisen.  Die  auffälligen 
Gemeinsamkeiten  zwischen  Herodot  und  Hip- 
pocr.  :iegi  degoiv  vddxcov  xosimv  können  auch 
auf  Hekat.  als  gemeinsame  Quelle  zurück- 
geführt werden.  —  Über  sein  Verhältnis  zu 
Dionysios  s.  H.  Stein  zu  Hdt.  HI  61,  25  und 
o.  S.  428,  3.  Benützung  von  Choirilos*  Ilfgaixd 
nimmt  D.  Müldeb,  Klio  7  (1907)  29  ff.,  mit  un- 
sicherer Begründung  an  (s.o.  S.  30  f.).  Die  Be- 
nützung des  Xanthos,  die  Ephoros  bei  Ath.  615  e 
andeutet,  läßt  sich  nicht  in  gleicherweise  nach- 
prüfen ;  s.  0.  S.  428  f.  und  B.  Heil,  Logographis 
qui  dicuntur  num  Herodotus  usus  esse  videa- 
tur,  Marburg,  Diss.  1884.  Hellanikos  ist  offen- 
bar für  die  mythische  Vergangenheit  Persiens 
benfitzt  VII  61,  wie  aus  Hellan.  fr.  160  und 
159  erhellt,  vielleicht  auch  in  den  Aeoßtoi 
loyoi  I  23  gemeint  (s.  aber  E.  Mkyer,  Forsch. 
I  119).  Die  polemische  Bemerkung  III  115 
geht  vielleicht  (Hygin.  fab.  154)  gegen  Phere- 
kydes.   Zu  den  schriftlichen  Quellen  des  H. 


2.  Die  GescbichtsBohreibong.    b)  Herodotos.    (§  248.) 


437 


er  hat  auch,  wie  sich  das  bei  einem  gebildeten  Griechen  von  selbst  ver- 
stand, die  alten  Dichter,  vor  allen  Homer  und  die  kyklischen  Epiker,  auch 
z.  B.  die  'Agi/LidoTteia  ijtrj  des  Aristeas  (IV  13),  gelesen  und  die  ersten  Ver- 
suche litterarischer  Kritik  an  ihnen  gemacht.  0  Aber  die  Werke  der  Dichter 
und  die  Schriften  der  Logographen  konnten  ihn  bei  der  empiristischen  Art, 
wie  er  seine  Aufgabe  verstand,  nicht  viel  fördern;  wesentlich  war  er  doch  auf 
persönliche  Erkundigungen  bei  Leuten  der  älteren  Generation  und  auf  den 
direkten  Besuch  der  in  Betracht  gezogenen  Länder  angewiesen.*)  Dazu 
bedurfte  es  ausgedehnter  Reisen^),  bei  denen  er  übrigens  auch  geschäft- 
liche Interessen  verfolgt  haben  wird,  und  längeren  Aufenthalts  in  den 
Hauptzentren  der  alten  Welt.  Fremde  Sprachen  hat  er  nicht  gekannt, 
war  also  überall  auf  Dolmetscher  angewiesen,  woraus  sich  manche  Miia^ 
Verständnisse  erklären.*)  Zunächst  führten  ihn  seine  oben  geschilderten 
Lebensverhältnisse  nach  Kleinasien,  Athen,  ünteritalien  und  in  die  verschie- 
denen Städte  des  eigentlichen  Griechenlands.  Außerdem  unternahm  er 
mehrere  größere  Reisen  in  entlegenere  Gegenden,  teils  zu  Land,  teils  zur 
See:  zur  See  nach  dem  schwarzen  Meer  bis  zum  kimmerischen  Bosporos, 
sowie  nach  Kypros,  Ägypten,  Kyrene,  Tyros;  zu  Land  durch  ganz  Ägypten 
von  Naukratis  bis  nach  Elephantine,*^)  und  durch  das  persische  Reich 
von  der  Küste  bis  nach  Susa.  Die  letztgenannte  Reise,  die  bedeutendste 
von  allen,  machte  er  wahrscheinlich  auf  dem  leichteren  Weg  von  der 
syrischen  Küste  aus,^)  nicht  auf  der  großen,  von  Sardes  ausgehenden 
Königsstraße,  wiewohl  er  von  dieser  gelegentlich  V  52  und  VIII  98  eine 
genaue   Beschreibung  gibt.')    Wann  und  in  welcher  Reihenfolge  er  seine 


gehören  weiter:  Orakelspruchsammlungen (A. 
V.  GuTscHMiD,  Kl.  Sehr.  IV  157  flf.),  Verzeich- 
nisse der  persischen  Steuerbezirke,  die  im 
attischen  Seebundsreich  nachgebildet  wurden, 
und  der  Steuerbeträge  III  89  ff.,  der  46  per- 
sischen Stämme  und  ihrer  Führer  VII  61  ff., 
100  (vgl.  IX  27),  der  griechischen  Schiffe  VIII 
42 — 48,  ein  Itiuerar  der  persischen  Königs- 
straße V  52  ff. ;  für  Darstellung  der  ältesten 
attischen  Geschichte  VII  159  ff.,  IX  26  flf., 
vielleicht  (E.  Meyer,  Forsch.  II  219  flP.)  atti- 
sche br/oi  Lindqioi.  Über  Herodots  Littera- 
turkenntnis  im  allgemeinen  A.  v.  Gütschmid, 
Kl.  Sehr.  IV  163—167.  Zu  beachten  ist,  daß 
die  Betonung  mündlicher  Erkundigung  (s.  u. 
A.  2),  das  Fernhalten  des  Scheines  gelehrter 
Studien  zum  Stil  des  herodotischen  Werkes  ge- 
hört und  nicht  vorbehaltlos  zu  verstehen  ist. 
—  B.  Niese,  Herm.  42  (1907)  426  flf.  glaubt 
an  weitgehende  mündliche  Erkundigungen  des 
H.  und  sieht  in  jedem  Bericht  mit  ausdrück- 
lich genanntem  Berichterstatter  eine  Variante 
zu  einer  feststehenden  Hauptüberlieferung. 

^)  Über  das  Zeitalter  Homers  11  53,  über 
den  nichthomerischen  Ursprung  der  Kyprien 
II  117,  über  die  thebanischen  Heldengesänge 
IV  32.  über  die  Rhapsoden  in  Sikyon  V  67, 
über  die  ältesten  Dithyramben  I  23.  —  Über 
die  Quellen  Herodots  im  allgemeinen  s.  den 
Index  fontium  Herodoti  in  A.  v.  Gutschmid, 


Kl.  Sehr.  IV  145  flf. 

*)  Herod.  II 123:  eixoi  de  nagä  Jidrza  tov 
loyov  vjzoxsezaif  oxi  td  Xeyofisva  v:i6  Sxaarcov 
dxofj  ygd(p<o,  VII  152:  iycD  de  6q;slk(a  Isysiv 
id  Xeyofisva,  Jiei^ea&ai  ye  fikv  ov  Jtavrdjtaoiy 
d<fslXw  xal  fioi  tovTO  t6  ?Jtog  ex^o>  h  Jrdvta 
Tov  Xdyov. 

•)  B.  G.  NiEBUHR,  Die  Geographie  Hero- 
dots, mit  einer  Karte,  Kl.  bist.  u.  pnilol.  Sehr. 
I,  Bonn  1828,  132—258;  C.  Hachkz,  De  He- 
rodoti itineribus  et  scriptis,  Göttingen  1878; 
F.  R.  HiLDBBBANDT,  De  itinenbus  Herodoti 
Europaeis  et  Africanis,  Lips.  1883;  R. 
Müller,  Die  geographische  Tafel  nach  den 
Angaben  Herodots,  1881.  Im  Westen  ist  He- 
rodot  weit  weniger  als  im  Osten  bewandert; 
80  macht  er  II  33  (vgl.  IV  49)  Uvq^vpj  (die 
Pyrenäen)  zu  einer  Stadt  und  läßt  bei  ihr  im 
Land  der  Kelten  den  Istros  entspringen^  (s. 
übrigens  Th.  Bbrgk,  Griech.  Litt.  IV  272). 

♦)  E.  Meyer.  Forsch.  I  192  flf. 

*)  Über  die  ägyptische  Route  A.  v.  Güt- 
schmid, Kl.  Sehr.  1 70  flf.  Er  war  in  Ägypten  im 
Hochsommer  während  der  Nilschwellen  (II 97). 

*)  H.  Matzat,  Über  die  Glaubwürdigkeit 
der  geograph.  Angaben  Herodots  über  Asien, 
Herm.  6  (1872)  392—486. 

')  W.  Götz,  Die  vorderasiatische  Reichs- 
poststxaße  der  persischen  Großkönige,  in 
Jahrb.  d.  geogr.  Ges.  München  1885,  S.  90  ff. 


438  (hieohisohe  Litteratnrgeschiohte.    L  Klassische  Periode. 

Reisen  unternahm,  läßt  sich  nur  teilweise  ermitteln.  Nach  Ägypten  kam 
er  sicher  erst  einige  Zeit  nach  der  Niederwerfung  des  ägyptischen  Auf- 
standes, wie  aus  III  12  und  II  30  und  99  hervorgeht,  wahrscheinlich  von 
Athen  oder  Thurioi  aus  zwischen  445  und  432.  i)  Schon  zuvor  war  er  in 
Assyrien  und  Persien  gewesen,*)  und  wohl  noch  früher  in  Pontes  und  im 
Innern  Kleinasiens,  vermutlich  schon  vor  445,  als  er  noch  Untertan  des 
Perserkönigs  war.  Durch  diese  Reisen  verschaffte  er  sich  von  den  Ländern 
und  ihren  Sehenswürdigkeiten,  über  die  er  berichtet,  Kenntnis  aus  Autopsie 
und  nahm  zugleich  die  Gelegenheit  wahr,  mit  den  Einheimischen,  nament- 
lich den  Gelehrten  (koyioi)  der  Perser  und  dem  Kultpersonal  der  Tempel 
Ägyptens^)  in  Verbindung  zu  treten.  Auch  monumentale  Quellen  verstand 
er  zu  benützen.*)  Die  größeren  Reisen  kommen  wesentlich  dem  ersten 
Teil  seines  Werkes  zugute;  ihr  Ertrag  besteht,  abgesehen  von  der  Fülle 
der  ersammelten  Einzelnotizen,  besonders  in  der  lebendigen  Anschauung 
von  den  Kulturen  des  Orients,  Ägypten  eingeschlossen,  und  der  Bewunde- 
rung für  ihre  Leistungen,  aus  der  sich  das  Bestreben  erklärt,  den  Orient 
als  Quelle  aller,  auch  der  griechischen  Kultur  zu  betrachten;  für  den 
zweiten  und  wichtigsten  Teil  war  er  vornehmlich  auf  Erkundigungen  in 
den  Städten  Griechenlands  selbst  und  auf  den  intimeren  Verkehr  mit  her- 
vorragenden Staatsmännern  angewiesen;  ohne  Zweifel  haben  vor  allem 
Athen  und  die  Kreise  des  Perikles^)  ihn  gefesselt  und  beeinflußt.^)  Mit 
Namen  nennt  er  seine  mündlichen  Gewährsmänner^)  selten.  Daß  er  von 
einem  griechischen  Refugiö  wie  Dikaios  von  Athen,®)  allenfalls  auch  von 
den  Nachkommen  des  Spartanerkönigs  Demaratos®)  vieles  erfahren  konnte 
und  erfahren  hat,  ist  sehr  wahrscheinlich.  Die  Art  der  mündlichen  Über- 
lieferung, die  dem  Herodot  für  seine  Darstellung  der  Perserkriege  vorlag, 
charakterisiert  E.  Meyer ^<^)  zutreffend:  in  den  allgemeinen  Umrissen  waren 
die  entscheidenden  Ereignisse  und  Persönlichkeiten  festgehalten,  dagegen 
die  inneren  Zusammenhänge  zum  Teil  vergessen  und  durch  phantastisch- 
anekdotische Kombinationen  ersetzt,  d.  h.  die  Sagenbildung  hatte  sich  der 
Geschichte  des  Kriegs  zu  bemächtigen  schon  angefangen.  Geblieben  ist 
dem  Herodot  die  Stimmung  seiner  Zeit  gegenüber  dem  Krieg,  in  dem  man, 
ohne  Anwandlungen  nationalen  Chauvinismus,  ein  Gottesgericht  über  die 
vßoig  der  Barbaren  sah. 


*)  Nach  Thuc.  1112  hielt  sich  im  Jahre  |   Mutter   Agariste    in   ihrer    Schwangerschaft 

449   noch  Amyrtaios  in  den  Marschen  des  geträumt  habe,  einen  Löwen  zu  gebären  und 

Nildeltas,  während  Herodot  III 15  dessen  Sohn  dann  nach  wenigen  Tagen  den  Perikles  ge- 

Pausiris  schon  wieder  mit  seines  Vaters  Herr-  i  boren  habe. 


Schaft  von  den  Persem  belehnt  sein  läßt. 
A.  V.  GüTscHMiD,  Kl.  Sehr.  1 106  f.;  E.  Meybr, 
Forsch.  1  155  f. 


den  Unterbediensteten  der  Tempel  verkehren 
und  ist  in  das  Innere  der  Heiligtümer  nicht 
zugelassen  worden  (A.  Wiedemann  zu  Hdt. 
n  p.  157.  497.  508;  vgl.  Hdt.  II  148.  169). 


®)  K.  W.  NiTzscH,  Über  Herodots  Quellen 
für  die  Geschichte  der  Perserkriege,  Rh.  Mus. 
27  (1872)  226  ff. 
'^)  Dies  bezeugt  Herodot  II  150.  '  ^)  Verzeichnis   der   Stellen    A.  v.  Gut- 

')  Sicher  konnte  er  in  Ägypten  nur  mit  ,   sohmid,  Kl.  Sehr.  IV  145 — 47,  167 — 82. 

"     ""         '        *    '  ®)  Von  ,  Memoiren  des  Dikaios **(?.? KAUT- 

WBiN,  Herm.  25, 1890, 527  ff.)  zu  reden,  haben 
wir  keinen  Anlaß. 

^)  E.  Meyer,  Forsch.  II  231.    IL  Stein 
A.  V.  GüTSOHMiD,  Kl.  Sehr.  IV  148  ff.       zu  Herodot.  VIII  126   denkt   an   persönliche 
^)  Ein  Denkmal  hat  Herodot  VI  131  dem   j  Beziehungen  zu  Artabazos. 
Perikles  gesetzt  in  der  Erzählung,  daß  seine   I  *^)  Geschichte  des  Altert.  III  239  ff. 


2.  Die  GeschichtsBohreibong.    b)  Herodotos.    (§  249.)  439 

249.  Das  Geschichtswerk  Herodots,*)  Komposition  und  Ent- 
stehungsweise. Herodots  Geschichtswerk  wurde  von  den  Grammatikern 
in  neun  nach  den  Musen  benannte  Bücher  eingeteilt.^)  Den  Mittelpunkt 
bilden  die  Kämpfe  der  Hellenen  und  Barbaren  unter  den  Perserkönigen 
Dareios  und  Xerxes.  Diese  Kämpfe  werden  schon  im  ersten  Buch  c.  1 
bis  5  durch  Zurückgehen  auf  die  ersten  Zusammenstöße  Asiens  und  Eu- 
ropas in  der  mythischen  Vorzeit,  den  Raub  der  Helena  auf  der  einen,  die 
Entführung  der  Europa  und  Medeia  auf  der  anderen  Seite,  eingeleitet,*) 
werden  aber  erst  vom  fünften  Buch  an  in  fortlaufender  Erzählung  vor- 
geführt. In  den  vorausgehenden  Büchern  greift  Herodot  zunächst  auf  die 
Geschichte  der  Lyder,  deren  König  Kroisos  den  ersten  Angriff  auf  die 
Griechen  Kleinasiens  gemacht  hatte,  zurück;  Kroisos  führt  ihn  auf  die 
Perser,  die  Besieger  der  Lyder,  diese  wieder  zu  den  Ägyptern,  Baby- 
loniern  und  Skythen,  die  der  R^ihe  nach  den  Persern  unterlegen  waren. 
Es  ist  also  ein  lockeres  Band,  das  die  Teile,  die  wohl  ursprünglich  jeder 
für  sich  {Xoyoi  IleQOtxoi,  AlyvTtnoi,  Aißvxol,  AvövhoI,  Zxv&ihoI,  Zdfuoi  etc.) 
niedergeschrieben  waren  und  vielleicht  auch  vor  der  Gesamtredaktion  so 
stückweise  vorgelesen  wurden,  zu  einem  Ganzen  verbindet.  Dazu  kommen 
noch  innerhalb  der  einzelnen  Teile  zahlreiche,  dem  zwanglosen  Ton  der 
Erzählung  leicht  sich  anpassende  Digressionen  (Tr^ooi^^xm);*)  so  lehnt  sich 
das  Werk  stilistisch  an  die  Odyssee  mit  ihrer  verschlungenen  Darstellungs- 
weise an,  und  Herodot  hat  sich  die  Möglichkeit  geschaflfen,  die  Behandlung 
seines  besonderen  Gegenstandes  in  einer  freilich  wenig  organischen  Art 
zu  einer  Weltgeschichte  des  Mittelmeerkreises  zu  erweitem.  A.  Kirchhoflf 
(Über  die  Abfassungszeit  des  herodotischen  Geschichtswerkes)  hat  den  Ver- 
such gemacht,  die  Abfassung  der  verschiedenen  Teile  des  Werkes  zeitlich 
festzulegen;*^)  er  nimmt  an,  daß  die  Bücher  I — HI  119  zwischen  445  und 
443  in  Athen,6)  HI  120  bis  V  76  zwischen  443  und  432  in  Thurioi,')   der 


')  Siehe  die  Übersicht  über  die  Ökonomie    I   ixh   xaxa  'Ptjyivovg    te   xal    TaQavtivovg   rov 
des  Werkes  bei  A.  v.  Gütschmid,  Kl.  Sehr.   1   löyov  fioi  :taQe%^xrj  yeyove. 


IV  183—187. 

*)  Als  ioTOQirjg  oLioöe^ig,  d.  h.  Darlegung 
des  Erkundeten,  bezeichnet  H.  sein  Werk  im 
Proömium.  Die  sehr  unsachgemäße  Einteilung 
in  neun  Bücher  kennt  bereits  Diodor  XI  37 ; 


*)  Gegen  A.  Kirchhoff  (Berl.Ak.Abh.  1868, 
1  ff.  1871 II  47  ff. ;  2.  Aufl.,  Berl.  1878)  wendet 
sich  Ad.  Bauer,  Die  Entstehung  des  herodot 
Geschichtswerkes,  Wien  1878,  indem  er  viele 
spätere  Einfügungen  infolge  der  zwischen  445 


nach   den  Musen   fand   sie  benannt  Lucian.  imd  432  gesetzten  ägyptischen  Reise  annimmt, 

de  bist,  conscr.  42.    Ebenso  haben  nach  den  und  den  Xerxeszug  oder  die  letzten  drei  B.früher, 

Musen  der  Historiker  Kephalion  (Phot.  bibl.  vor  445  entworfen  sein  läßt.   Vgl.  E.  Ammbb, 

p.  34a  8),  der  Rhetor  Bion  (Diog.  Laert.  IV  58),  Herod.  Hai.  quo  ordine  libros  suos  conscrip- 

der  Lateiner  Opilius  (Gell.  I  25)  die  Bücher  serit,  Virceb.  1881,  und  Über  die  Reihenfolge 

ihrer  Werke  benannt.  und  Zeit  der  Abfassung  des  herod.  Geschichts- 

^)  Nach  dem  Vorbild  Herodots  hat  Poly-  Werkes,  Straubing  Progr.  1889 ;  V.  Costanzi 

gnotos  in  der  bunten  Halle  die  Schlacht  von  j   a.  0.  14  ff. 

Salamis  mit  dem  Untergang  Troias  verbunden,  |  ®)  Der  Endtermin  ergibt  sich  aus  der 
und  ähnlich  später  Attalos  in  den  Weih-  ,  Annahme,  Sophokles  Antig.  905  ff.  nehme  auf 
gescheuken  der  Akropolis  Amazonenkämpfe,  Herod.  III  119  Bezug.  Aber  die  Sophokles- 
Marathonschlacht  und  Besiegung  der  Gallier.  stelle  ist  offenkundige  Interpolation  (s.  o. 
Solche  Kombination  ist  auch  die  Art  der  S.  313,  1). 
attischen  ?y>yoi  Ltiidcfioi.  '')  In  Thurioi  ist  sicher  geschrieben  IV  99, 

*)  Herod.  IV  30  nQoo&tjxag   yao   dfj  fioi  wo  die  Gestalt  des  kimmerischen  Bosporus 

6  Aoyos   i^  uQ^^ijg  iötC^ito;  VII  171   dXla  r«  an  Attika  und  lapygien  erläutert  ist 


440  Ghieöhisohe  litteratargeschichte.    L  Klassisohe  Periode. 

Best  in  Athen  zwischen  431  und  428  entstanden  sei.^)  Daß  zwischen  der 
Abfassung  des  ersten  Continuums  und  der  Partie  von  III  120  an  eine 
längere  Unterbrechung  des  Schriftstellers  (infolge  seiner  Auswanderung 
nach  Thurioi)  liege,  schlieM  Eirchhoff  daraus,  daß  die  I  106.  184  in  Aus- 
sicht gestellten  ^egoi,  'Aoovgioi  köyoi  an  der  Stelle,  wo  sie  zu  erwarten 
wären,  III  150  nicht  kommen.  Dabei  ist  aber  fraglich,  ob  die  Vergeßlichkeit 
des  Herodot  nur  auf  die  eine  von  Kirchhoflf  empfohlene  Weise  erklärt 
werden  kann,  und  noch  fraglicher,  ob  III  150  die  einzige  oder  auch  nur 
eine  überhaupt  mögliche  Stelle  für  die  Einfügung  der  ^Aoovgioi  köyoi  war;*) 
auch  besteht  noch  die  Möglichkeit,^)  daß  Herodot  in  jenen  Stellen  des 
ersten  Buches  ein  besonderes  Werk  über  assyrische  Geschichte,  das  aber 
nicht  zur  Ausführung  kam,  ankündigen  wollte.  Der  Beweis  dafür,  daß 
das  Werk  in  der  uns  vorliegenden  Abfolge  der  Teile,  wenn  auch  mit  Unter- 
brechungen, verfaßt  worden  sei,  ist  also  nicht  erbracht.  Das  zweite  Buch 
über  Ägypten  wenigstens  macht  den  Eindruck,  als  könnte  es  auch  außer- 
halb des  Gesamtwerkes  existiert  haben,  und  vielleicht  hätte  sich  Herodot 
nicht  zweimal,  II  33  und  IV  49,  und  an  der  zweiten  Stelle  ohne  jede  Rück- 
beziehung, über  den  Ursprung  und  den  Lauf  des  Istros  ausgesprochen, 
wenn  das  zweite  Buch  von  vornherein  bestimmt  gewesen  wäre,  mit  dem 
vierten  einen  Teil  desselben  Werkes  zu  bilden.*)  Noch  auffalliger  wäre 
die  zweimalige  Erwähnung  der  Lage  von  Pedasos  und  des  langen  Bartes 
der  Athenapriesterin  dieser  Stadt  I  175  und  VIII  104,  wenn  nicht  die  zweite 
Stelle  nach  einer  Interpolation^)  aussähe. 

Eine  zweite  Kontroverse  betrifft  die  Frage,  ob  Herodot  sein  Werk 
zum  Abschluß  gebracht  habe.  Aus  den  'Aoougioi  kdyoi  (siehe  oben)  ist 
ein  sicherer  Schluß  darüber  nicht  möglich.  Mehr  ins  Gewicht  fällt  VII  213, 
wo  Herodot  später  {h  roig  omo^ev  Xdyöig)  von  dem  Tod  des  Verräters 
Ephialtes  zu  berichten  verspricht,  während  tatsächlich  in  den  nachfolgen- 
den Büchern  davon  nichts  steht.  ^)  Demnach  scheint  es,  als  hätte  Herodot 
die  Absicht  gehabt,   sein  Werk,   das  jetzt  mit  der  Einnahme  von  Sestos 

*)  Herod.  V  77   erwähnt  die  Propyläen,  1  *)  Auch  in  VI  60,  wo  eine  Ergänzung  zu 

aber  die  vormnesikl eischen  (s.  o.  S.  436,  2).  |  II  167  über  gemeinsame  Sitten  bei  den  Lake- 

*)  E.  Meyer,  Forsch.  II  198  f.,  findet,  ,  daimoniern  und  Ägyptern  gegeben  ist,  konnte 
daß  die  Uaavgtot  loyoi  nur  im  ersten  Buch  j  auf  II  167  zurückverwiesen  werden;  eine  in- 
hätten untergebracht  werden  können.  Gegen  |  direkte  Bezugnahme  auf  11  68  ff.  liegt  IV  44 
die  Möglichkeit,  sie  III  150  einzuschalten,  :  vor,  aber  in  einem  vielleicht  später  erst  bei- 
E.  Bachof,  N.  Jahrbb.  115  (1877)  577  ff.  gefügten  Nebensatz. 

«)  So  J.H.LiPsiüs,  Leipz.  Stud.  20(1902)  »)  So  H.  Stein  zu  VIII 104,  18  und  Th. 

200  f.  Als  Stütze  für  die  Annahme  eines  eigenen  Bebok,  Griech.  Litt.  IV  246,  27. 

Werkes   über  assyrische  Geschichte  benützt  i  ®)  Gegen  den  daraus  gezogenen  Schluß 


Lipsius  die  Stelle  Aristot.  bist.  an.  VIII  18 
p.  601  b  1  T«  fiFv  ovv  ya^tyfwrvxa  .  .  .  atojra 
Ttdujiav  ioTiV  «/A*  'Höiodog  {'Hgodozog  var. 
lect.,  'Ho66o)gog  coni.  Th.  Bergk,  ^loiyovog 
A.  V.  GuTscHMiD,   Kl.   Sehr.   11  119)    f)yr6£i 


erhebt  Einwendungen  Ed.  Meyer,  Rh.  Mus.  42 
(1887)  146  ff.  In  VIII  120  ist  uns  durch  cod.  B 
eine  kleine  Lücke  bezeugt;  aber  es  wäre 
doch  ein  sonderbarer  Zufall,  wenn  die  Er- 
wähnung  des  Versprochenen   gerade    in  der 


tovTO'  nFnoirjxe  yäg  lur  Tijg  fimtetag  :tQ6f-Som'  kleinen  Lücke  von  zwanzig  Zeilen  gestanden 
uFTor  h  xfj  önfy?]oei  t//  jisoI  ttjv  jio?.ioQy.im'  1  wäre.  Auch  das  Versprechen  V  22  wird  später 
TTjv  Ntrov  nlvnrxa.  Wo  man  diese  Geschichte  I  VIII  137  nicht  ganz  erfüllt.  Sonstige  Vor- 
bei Hesiod  unterbringen  soll,  ist  schwer  zu  Weisungen  stimmen,  so  II  3s  auf  III  28; 
sagen;  Th.  Bekgk,  Gr.  Litt.  IV  258  denkt  an  11  161  auf  IV  159;  VI  19  auf  77;  VI  39  auf 
die  ^ÖQVii^ouavTeia.  \    103. 


2.  Die  Oeschichtsschreibimg.    b)  Herodotos.    (§  250.) 


441 


(478)  schließt,  noch  über  dieses  Ereignis  hinaus  fortzuführen.  Denn  wenn 
man  auch  zugeben  muß,  daß  mit  jener  Expedition  der  Flotte  nach  dem 
Hellespont  der  Defensivkrieg  der  Griechen  zum  Abschluß  gebracht  istO 
und  daß  die  Erzählung  von  dem  Zwiegespräch  des  Artembares  imd  Kyros 
mit  dem  Schlußsatz  äg^eiv  eikovxo  Xvng^v  olxiovteg  jnäkkov  fj  nedidda  onei- 
Qovreg  äiloioi  dovXeveiv  sehr  passend  den  betreffenden  Abschnitt  schließt,*) 
so  erwartet  man  doch  die  Fortführung  des  Werkes  bis  zu  einem  entschei- 
denderen Wendepunkt,  etwa  bis  zur  Einnahme  von  Byzantion  477.^)  In 
Gedanken  und  Darstellungstechnik  bildet  aber  das  Werk  ein  geschlossenes 
Ganze,  und  da  eine  mechanische  Verstümmelung  des  Schlusses  in  der 
Überlieferung  keine  Wahrscheinlichkeit  hat,  so  hat  die  Annahme,  Herodot 
sei  durch  äußere  Umstände  an  der  Erreichung  des  von  ihm  erstrebten 
Ziels  verhindert  worden,  viel  für  sich. 

250.  Dialekt  und  Darstellungskunst.  Der  ionische  Dialekt  des 
herodotischen  Werkes,  ohnehin  bis  c.  430  der  allgemeine  Dialekt  für  grie- 
chische Prosaschriften,  erregt  vollends  kein  Befremden  mehr,  seit  man 
ionisch  geschriebene  Inschriften  von  Halikarnassos  aus  dem  5.  Jahrhundert 
kennt.-*)  Herodot  ist  für  uns  neben  dem  Corpus  Hippocrateum  Hauptvertreter 
der  jüngeren  ionischen  Mundart.^)    Mit  der  Weichheit  und  Flüssigkeit  des 


>)  E.  Meybr,  Forsch.  I  189  ff.,  U  217  ff. 
Siehe  dagegen  die  gewichtigen  Einwendungen 
von  J.  H.  Lipsiüs,  Leipz.  Stud.  20  (1902) 
195  ff. 

*)  Dieser  Gedanke  ausgeführt  von  Th. 
GoMPERz,  Herodoteische  Studien,  Wiener 
Akad.  Sitz.ber.  103  (1883)  141  ff.;  dagegen 
A.  KiBCHHOPP,  Berl.  Akad.  Sitz.ber.  1885, 
S.  301  ff.  Dem  Inhalt  nach  ähnlich  ist  die 
Stelle  des  Hippokrates  :iegl  degcDv  vddtcoy 
TOJTcov  23  (I  p.  67,  21  Kühlew.):  ojto  (aev  ^av- 
/itjg  xai  Qi^&v^urjg  rj  dsditj  av^erai,  oJto  de 
Tfß  TaXaiJzcogiTjg  xal  röjv  Ji6vcov  al  ävdoEiai' 
öia  tovTo  eioi  fiaxififozeQoi  oi  zrjv  Evocojitjv 
oiüovvxEq,  xai  Öta  rovg  vofiovg,  Sti  ov  ßaai' 
/.evoyrat  (oojieo  oi  'AmrjvoL 

')  So  J.  H.  LiPsiüs  a.  a.  0.  Keinen  Glau- 
ben verdient  die  Angabe  des  Schwindlers 
Ptolemaios  bei  Photios,  bibl.  p.  148  b  10:  dtg 
ID.rjoiQooog  6  Seoaa?,6g  o  v/ivoygdq^og  igcbfie- 
vog  yeym'fhg  'HgoÖotov  xal  xXtjgovöfiog  xwv 
avTov,  ovTog  :toir)oEiE  x6  ngooifiiov  Tfjg  Jio(bvrig 
lOTogt ag  'Ilgodoiou  'jXixaovaaaecog'  xr]v  ydg 
xata  rpvaiv  stvai  zwv  'Hooöotov  hrogtcov  dg- 
yj]v'  JjEgnhor  oi  ?>6ytot  xxl.  Danach  suchte  die 
Ünechtheit  des  Proömium  zu  erweisen  F.  La- 
RocuE,  Philol.  14  (1859)  281  ff. 

*)  Die  wichtigste  bei  H.  Röhl,  IGA  500, 
besprochen  von  A.  Kibchhofp,  Stud.  z.  Gesch. 
d.  griech.  Alph.,  4.  Aufl.,  S.  4  ff.  und  F.  Rühl, 
Phil.  41  (1882)  54  ff. 

*)  über  den  Eindruck  der  Süßigkeit,  den 
der  ionische  Dialekt  an  sich  hervorrufe,  s. 
Auct.  .T.  vtj).  23;  Anon.  Seguerian.  p.  322, 
27  Sp.;  Aristid.  Quint.  de  mus.  II,  13;  W. 
ScHMiD,    Atticism.    III  16.      Daß    Herodots 


Sprache  kein  reiner  Lokaldialekt  war,  son- 
dern viele  poetische  Elemente  namentlich  aus 
Homer  aufgenommen  hatte,  bemerkten  be- 
reits die  Alten;  s.  Hermogenes  in  Rhet.  gr. 
II  423,  25  Sp.,  der  dem  Herodot  im  Gegen- 
satz zu  Hekataios  'Idda  jtoixdtfv  zuschreibt. 
Dem  Dionysios  Halic.  ep.  ad  Pomp.  3  ist 
'HgoSoxog  xfjg  'Iddog  dgiaxog  xavcbv.  Vgl.  F. 
J.  C.  Bbedow,  Quaest.  critic.  de  dialecto  He- 
rodotea  libri  IV,  Lips.  1846;  über  Herodots 
Dialekt  R.  Merzdobp  in  G.  Gürtius,  Stud. 
8  (1875)  125  ff.  und  9  (1876)  199  ff.;  H.  Stein 
in  der  Ed.  mai.  praef.  XLIVsqq.  0.  Hopf- 
mann, Die  griech.  Dialekte  III  186—193. 
Unsere  Handschriften  schwanken  vielfach, 
wie  zwischen  ^ekü)  und  i^eXco,  ixsTvog  und 
xEivog^  EtvExa  und  Etvsxevy  und  haben  falsche 
Formen,  wie  iyevdaxo,  Kgoiasco  u.  a.  V.  Co- 
STANZi  in  der  Ausg.  des  ersten  Buches  (To- 
rino  1895)  gibt  den  Text  in  dem  Dialekt  der 
ionischen  Inschriften.  Ob  die  Abneigung  des 
uns  überlieferten  Herodottextes  gegen  Vokal- 
kontraktion und  Krasis,  die  Weglassung  des 
Nv  EifFXxvaxtxdv  auf  Herodot  selbst  zurück- 
geht, ist  sehr  fraglich;  die  gleichzeitigen  io- 
nischen Inschriften  verhalten  sich  anders. 
Daß  aber  Herodot  selbst  mit  Bewußtsein  in 
manchen  Formen  archaisierte,  braucht  man 
nicht  zu  bezweifeln;  hierher  gehören  Formen 
wie  dxgi^tog,  dv^gcojttjiog  bei  Herodot  gegen 
—  Flog  bei  Hippokrates,  Substantiva  wie  ev- 
jiadsifj,  evvoit}  gegen  Evjrd&siaf  evvoia,  dann 
dvayxairj  gegen  dvdyxrf ;  ebenso  die  Produk- 
tivität der  femininalen  Abstrakta  -xvg  bei 
Herodot,  die  bei  Homer  häufig  sind,  in  den 
j   hippokratischen  Schriften  dagegen  fehlen. 


442 


Oriechische  Litteratnrgesohichte.    I.  KlasBische  Periode. 


Dialektes  steht  in  Einklang  die  Einfachheit  des  Stils  und  die  Naivetät  der 
Erzählung.  Von  den  Eigentümlichkeiten  der  herodotischen  Darstellung 
sind  ohne  Zweifel  die  meisten  auf  den  altionischen  Erzählerstil  zurück- 
zuführen. So  die  zahlreichen  Novellen,  die  er  einfügt,  die  Freude  am 
Wunderbaren  und  Märchenhaften,  0  &n  rätselartig  gestellten  Pointen,^)  an 
Bonmots, 3)  Ätiologien.*)  Dem  Novellenstil  gehören  auch  gewisse  typische 
Figuren  und  Situationen  an,  die  sich  immerhin  an  Geschichtliches  frei  an- 
gelehnt haben  mögen:  so  die  Figuren  der  Warner  bei  den  Königen,  wie 
Artabanos,  dem  als  Gegenstück  Mardonios  gegenübergestellt  wird  und  den 
dann  der  Grieche  Demaratos^)  ablöst,  bei  den  Perserkönigen,  Sandanis  bei 
Kroisos  (I  71),  Artabazos  bei  Mardonios;  femer  die  Beratungsszenen  (IV 
118 — 120;  VII  7 — 11),  unter  denen  Herodot  die  Beratung  der  persischen 
Verschworenen  nach  der  Ermordung  des  falschen  Smerdis  (III  80 — 87)  mit 
merkwürdiger  Bestimmtheit  (HI  80;  V  43)  als  geschichtlich  hervorhebt.®) 
An  Geschichtlichkeit  der  eingelegten  Reden  und  Gespräche  ist  natürlich 
nicht  zu  denken.  Was  hier  die  strenge  historiche  Kritik  etwa  ver- 
wirft, nimmt  die  Volkskunde  um  so  dankbarer  an,  und  jedenfalls  geben 
alle  diese  Züge  dem  Werk  seine  unverweUdiche  Frische  und  Anziehungs- 
kraft. Die  Gefahr,  sich  in  das  bunte  Vielerlei  der  Einzelheiten  zu  ver- 
lieren, war  zumal  bei  Herodots  Sorglosigkeit  in  Einschaltung  von  Episoden^) 
vorhanden;  man  fühlt  sich  oft  an  den  Stil  der  orientalischen  Rahmen- 
erzählung erinnert.  Die  Einheit  liegt  aber  in  der  religiösen  Idee,  der  zu- 
folge Herodot   ebenso   wie  Aischylos    die  Niederlage   der   Perser  als   ein 


^)  Bericht  über  die  russisch  geschriebene 
Schrift  von  W.  Klinoeb,  Die  Märchenmotive  im 
Geschichtswerk  des  Herodot,  Kiew  1 903,vonTH. 
ZiBLiNSKi  in  der  Berl.  philol.  W.schr.  23  (1903) 
1505  ff.  Besonders  gelangen  sind  die  tragischen 
Geschichten  von  Kroisos  und  Periandros  und 
ihren  Söhnen  uud  die  Erzählungen  von  dem 
Arzt  Demokedes  (III  125  ff.).  Über  die  natio- 
nalägyptischen (demotischen)  Substrate  für 
die  ägyptische  Sage  bei  Herodot  s.  A.  Ebman, 
Handbücher  der  k.  Museen  Beriin  VIII  (1899) 
13  f.  Ein  blspel  vom  törichten  Mann,  der  seine 
Liebe  nicht  verschwiegen  genießen  kann,  ist 
die  Kandaulesgeschichte  I  8  ff .  (vgl.  E.  Wil- 
helm, Rh.  Mus.  59,  1904,  288). 

^)  Die  Frage  wird  z.  B.  gestellt:  wer  in 
irgend  einem  Stück  die  größte  Befähigung 
oder  Leistung  aufweise  (so  schon  Hom.  II. 
B  216.  673.  761  ff.;  vgl.  E.  Rohde,  Kl.  Sehr. 
I  103),  welche  Einrichtungen  und  Sitten  nur 
bei  einem  bestimmten  Volk  zu  finden  seien, 
wer  als  erster  dies  oder  jenes  getan  habe, 
welche  Erscheinung,  welches  Werk  in  seiner 
Alt  das  hervorragendste  sei  (vgl.  II  148  f. 
157.  182;  III  10.  12.  20.  60.  125.  142.  148; 
IV  5.  46.  53.  64.  85.  93.  104.  106.  141.  152. 
166.  183.  184.  187.  204;  V  3.  47.  49;  VII 
70.  106.  117.  170.  238;  VIH  8.  11.  17.  79. 
93.  104.  124;  IX  7.  14.  37.  71.  96.  105  u.  s.). 
Pikantes  Zusammentreffen  wird  notiert,  so, 
daß  die  Schlachten  gegen  die  Karthager  in 


Sizilien  und  gegen  die  Perser  bei  Salamis  an 
demselben  Tag  geschlagen  wurden,  ebenso  die 
von  PlatÄia  und  Mykale  (VII 166;  IX  90),  daß 
die  Athener  vom  marathonischen  Herakleion 
zum  Herakleion  beim  Kynosarges  marschier- 
ten (VII  116),  daß  sowohl  bei  Plataia  als  bei 
Mykale  ein  Demeterheiligtum  eine  Rolle 
spielte  (IX  101),  daß  Kroisos  vierzehn  Jahre 
lang  König  war  und  vierzehn  Tage  lang  be- 
lagert wurde  (I  86).  —  Noch  bei  Thuc.  z.  B. 
I  2, 1;  II  11,1;  Vn  75,  7  wirken  solche  Ge- 
dankenschemata nach. 

»)  Z.  ß.  IV  143.  144;  VII  120.  226;  VIU 
125;  IX  55.  82. 

<)  n  130  f.  136.  137.  141.  150.  175;  IV 
30.  166;  V  12  ff.  75.  86.  87;  VI  52.  138; 
1X73. 

*)  I.  Bbuks,  Litt.  Poitr.  92  ff. 

ö)  E.  Meybb,  Forsch.  I  201  f.;  zu  dem 
Motiv  des  Kronrats  vgl.  B.CHALATiANZ.Ztschr. 
f.  Volksk.  14  (1904)  290  f.  Nachahmungen 
Dio  Cass.  LH  1  ff.,  Philostr.  vit.  Apoll.  V  33  f. 

7)  Siehe  o.  S.  439,  4.  Mit  einem  Stich- 
wort {ö/jcovv/jia  der  beiden  Kleisthenes)  ist 
V  67  f.  die  Episode  über  den  Tyrannen  Klei- 
sthenes eingeführt.  Sehr  gewaltsam  erscheint 
die  Episode  von  Kypselos  in  der  Rede  des 
korinthischen  Gesandten  V  92.  Dagegen  ist 
der  Ort  für  die  Einschaltung  der  Peisistratos- 
geschichte  V  55—96  passend  gewählt. 


2.  Die  Oeschichtssohreibimg.    b)  HerodotoB.    (§  250.)  443 

Gottesgericht,  und  der  pragmatischen,  der  zufolge  er  den  Perserkrieg  als 
letzten  Akt  in  einer  Reihe  von  Zusammenstößen  zwischen  Orient  und 
Occident  betrachtet.  Je  näher  Herodot  an  seinen  Hauptgegenstand  heran- 
kommt, desto  strafifer  wird  die  Darstellung  und  desto  mehr  treten  die  Epi- 
soden zurück.  Zum  Stil  des  ganzen  Werkes  gehört  es,  alles  fernzuhalten, 
was  nach  angestrengter  gelehrter  Durcharbeitung  des  Stoflfes  aussieht.  In 
chronologischen  Dingen  fehlt  es  sehr  an  Schärfe:  für  die  ältere  Zeit 
rechnet  Herodot  nach  Generationen,  deren  gewöhnlich  (aber  nicht  immer)  1) 
drei  auf  ein  Jahrhundert  gehen,  und  nach  Regierungszeiten,  die  teilweise  mit 
Generationen  gleichgesetzt  werden.  Einen  schwachen  Anlauf  zu  annalistischer 
Darstellung  nimmt  er,  wo  er  an  die  Perserkriege  kommt:  er  rechnet  nach 
natürlichen  Jahren, 2)  Monaten,*)  Jahreszeiten,*)  gibt  auch  gelegentlich 
einen  attischen  Archen  (VHI  51)  oder  griechische  Festzeiten*)  an.  Bei 
den  Hauptentscheidungen  im  Perserkrieg  bezeichnet  er  auch  Tage.^)  Die 
überlieferten  Züge  hervortretender  Persönlichkeiten  zu  einem  widerspruchs- 
freien Gesamtbild  zu  vereinigen  gelingt  ihm  wenig,')  und  auffallig  ist  auch 
die  Prinziplosigkeit,  mit  der  er  gerade  von  den  bedeutendsten  Männern 
keine  Charakteristik,  dagegen  von  untergeordneten  Leuten  charakteristi- 
sches Detail  gibt.  8)  Wo  ihm  verschiedenartige  Nachrichten  über  einen 
Gegenstand  vorliegen,  da  kann  er  sich,  sehr  im  Gegensatz  zu  Thukydides, 
begnügen,  sie,  unter  kurzer  Bezeichnung  seiner  eignen  Auffassung,  zu 
registrieren  und  dem  Hörer  das  Urteil  zu  überlassen.»)  Den  Beispielen 
eines  unschlüssigen  Gewährenlassens  vor  dem  zudrängenden  Stoflf  stehen 
aber  Fälle  gegenüber,  in  denen  der  Historiker  mit  überraschender  Be- 
stimmtheit ein  Urteil  abgibt,  fremde  Ansichten  widerlegt,  eigene  umständ- 
lich begründet  *<^)  oder  betont,  daß  eine  völlig  sichere  Darstellung  unmöglich 
sei  infolge  des  Mangels  an  Berichten  ^0  ^der  der  Unvereinbarkeit  der  vor- 
handenen.»«)  In  diesem  Stück  wie  auch  sonst  in  manchen  zeigt  das  Werk 
Herodots  zwei  verschiedene  Gesichter.  Er  steht  auf  der  Übergangsstufe 
von  dem  frischen  und  frohen  Ausschütten  des  ersammelten  interessanten 
Materials  zur  kritischen  Verarbeitung  desselben.  Der  Geist  der  Sophistik, 
der  die  geschichtliche  Kritik  hervorbrachte,  hat  ihn  eben  noch  gestreift, 
aber  nicht,  wie  den  Thukydides,  durchdrungen. 

Den  Höhepunkt  erreicht  bei  Herodot  die  Kunst  des  Auf  baus  und  der 
fast  dramatischen  Spannung  in  der  Einleitung  zum   zweiten  Perserkrieg, 

»)  Vgl.  II  142  mit  I  7.     Über  chronolo-   i  ^)  I.  Bbüns  a.  a.  0.  73  S, 

gische  Irrtümer  s.  z.  B.  E.  Bohren,  De  VII   ■  ®)  Bericht  über  einen  Vorgang  mit  dem 

sapientibus  40  ff. ;  A.  WiEDBMANN  zu  Herodot.      Vorbehalt,   daß   er  ihn   nicht  glaube,  JI  73; 


II  p.  500  f. 

^)  VI  42.  46;  VII  1.  4.  7.  20.  37;  VIU 
51.  130.  131;  1X39.  40.  41.  121. 

3)  IX  3. 

*)  VIII  12;  IX  117. 

^)  Olympien  und  Karneen  VIII  72. 

«)  VII 183;  VIII 9. 12. 13. 15. 54. 107. 115; 
IX  17.  84.  90.  92.  100.  101.  Dabei  kommen 
auch  Fehler  vor:  Th.  Lenschaü,  Jahresber. 
über  die  Foilschr.  der  Altertumswiss.  122 
(1904)  196. 

')  I.  Brcns,  Das  litterar.  Porträt  75  ff. 


IV  5.  25.  105.  173.  187.  195;  IV  42;  V  10. 
86;  VI  121.  123.  173;  VIII 119.  120;  Neben- 
einanderstellung verschiedener  Berichte  mit 
oder  ohne  vergleichende  Würdigung  II;  II 20 ; 
m  1  ff.  9.  32.  47.  87.  120  f.;   IV  5  ff.   150; 

V  44.  85  f.;  VI  75.  84.  134;  VII 148 ff.  150 ff. 
166  f.  213;  VIII  85.  94.  118  ff.;  IX  74. 

»0)  Siehe  z.  B.  II  16.  20.  45.  135;  III 45; 
VII  214.  221;  VUI  120. 

>>)  VIII  128.  133;  IX  84. 
»«)  VIU.  82;  VII  54. 


444  GriechiBche  Litteraturgeschichte,    I.  EUnusche  Periode. 

wo  man  die  Einwirkung  homerischer  Technik  (Dias  B)  spürt.  0  Voran 
steht  der  Kronrat  bei  Xerxes  (VII  8 — 12)  mit  verteilten  Rollen  der  Sua- 
sores  und  Dissuasores  (Mardonios  und  Artabanos).  Dann  hat  Xerxes  in 
der  Nacht  einen  Traum,  einen  richtigen  „ovXog  dveigog'^,  der  sich  wieder- 
holt und  auch  dem  Artabanos,  um  dessen  Zweifel  niederzuschlagen,  er- 
scheint. Durch  die  Macht  der  "Airj  wird  so  der  König  in  die  vßgig  hinein- 
getrieben. Nachdem  er  entschlossen  ist,  erscheint  ein  weiterer  verheißungs- 
voller Traum  (VII  19).  Zur  Erhöhung  der  Spannung  wird  dann  darauf 
hingewiesen,  daß  dieser  Zug  der  weitaus  bedeutendste  Machtaufwand  der 
Perser  seit  jeher  gewesen  sei;  der  Abschnitt  schließt  in  einer  dem  Herodot 
sonst  ganz  fremden  Weise  mit  einer  pathetischen  Figur,  der  rhetorischen 
Frage  VII  21.  Es  folgen  die  vorbereitenden  Maßregeln  und  der  Zug  zur 
Reichsgrenze.  Die  Überschreitung  der  Grenze  wird  wieder  mit  allem 
Prunk  ausgestattet:  der  Aufzug  des  Königs,  der  Rückblick  auf  den  Zug 
von  Sardes  nach  Abydos  mit  dem  wirkungsvollen  Kontrast  zwischen  den 
großartigen  Opfern  des  Königs  bei  Ilion  und  dem  panischen  Schrecken, 
der  in  der  folgenden  Nacht  das  Perserheer  ergreift;  dann  der  Höhepunkt, 
die  großartige  Heeres-  und  Flottenschau,  ein  Seitenstück  des  homerischen 
Schiffskatalogs  (VII  61 — 99).  Sonst  vermeidet  Herodot  allen  stilistischen 
Aufwand,  alle  Formen,  die  logische  oder  künstlerische  Anspannung  aus- 
drücken. Nur  durch  eine  gewisse  poetische  Tönung,  besonders  in  Homer- 
reminiszenzen,«) erhebt  sich  der  Ausdruck  über  das  Gewöhnliche;  Meta- 
phorik  und  Bildlichkeit  treten  ganz  zurück;*)  ebenso  die  pathetischen  Fi- 
guren des  Sinns*)  und  gesuchter  Schmuck  in  Wortfiguren. ^)  Der  Satzbau 
ist  schlicht  anreihend «)  und  beiordnend,  ohne  kunstmäßige  Periodisierung 
und  Rhythmisierung.  In  einer  gewissen  Breite*^)  und  kleinen  logischen 
Entgleisungen®)  zeigt  sich  die  Läßlichkeit  der  Formgebung,  ebenso  in 
einem  sorglosen  Hervortretenlassen  der  subjektiven  Anschauung  des  Schrift- 
stellers.») Mit  allen  diesen  Eigenschaften  stellt  das  Werk  Herodots  die 
denkbar  größte  Reinheit  und  Einheitlichkeit  des  Stils  dar  und  erweckt 
nach  Dionysios  Hai.  {n,  fufxrio,  B  3  p.  207,  20  f.  üs.)  den  Eindruck  der  fjöovri, 
7iet&(6,  x^Q^^f  ^ös  avroq?vig;  es  ist  der  Typus  eines  „ethischen"  Geschichts- 
werks, in  vollem  Gegensatz  zu  dem  „patketischen**  des  Thukydides.^^) 


')  D.  MüLDBE,  Klio  7  (1907)  29  ff.  sucht 
hier  schwerlich  richtig  Beeinflussung  durch 
Choirilos'  TTEgaixd. 

*)  H.  Stein  zu  Hdt.  IV  119,  17. 

»)  H.  Blümnke,  Jahrbb.  f.  cl.  Philol.  143 
(1891)  9  ff. 


Litotes,  Jahrbb.  für  cl.  Phil.  Suppl.  15  (1887) 
451  ff 

*)  Anakoluthien  s.  H.  Stein  zu  IV  147, 
14;  Voranstellung  der  Begründung  ders.  zu 
I  8,  4.  24,  17;  öfter  hat  Her.  die  homerische 
Verschiebung  der  Gegensätze,  s.  H.  R.  Grund- 


*)    Rhetorische   Fragen    nur  VII  9.  21;  '  mann.   Quid  in    elocutione  Arriani  Herodoto 

Hypophora  III  6.  '  debeatur,  Beri.  1884,  50  ff. 

*)  Etymologische  Figuren,  Antithesen,  1  •)  Hieher  gehören  vorausweisende  Be- 
Wortspiele fehlen;  nur  III  147  begegnet  ein  I  merkungen  wie  fyco  dtj^icooco,  arjfiavko.  Rück- 
scherzhaftes Oxymoron.  Verweisungen,    scheinbare   Willkürlichkeiten 


<•)  /.f'c/c:  ftgofierrj  Aristot. rhet.  1409a  24 ff.; 
von  Rhythmen  des  H.  redet  Hermogenes  -t. 
Id.  p.  421,  13  f.  Sp. 

')  Tautologien  und  Pleonasmen  s.  H. 
Stein  zu  III  36,  29;  oxfjfia  xat*  äoaiv  xai 
^eoiv  C.  Weymann,  Stud.  über  die  Figur  der 


{ov  fiot  tjdinr  eiJisTv  u.  ä.  vgl.  II  46.  47.  S6. 
123;  m  95;  IV  43  extr.;  V  72  extr.;  VI  55; 
VII  96.  99.  224;  VIH  85);  eine  gewisse  Ge- 
heimniskrämerei in  religiösen  Dingen  (H. 
Stein  zu  II  3.  8). 

*^)  Cicero  or.  39  vergleicht  den  Herodot 


2.  Die  GeechiohtssGhreibnng.    b)  Herodotos.    (§  251.) 


445 


251.  Wissenschaftlicher  Charakter  des  Werkes.  Den  Zweck 
seiner  Arbeit  bezeichnet  Herodot  im  Anfang  seines  Werkes  mit  Worten 
{(bg  ju}]T€  rd  yevojueva  iS  äv&Q(bn(ov  Tq>  XQ^^  iSirrjia  yevrjrai  fxrire  k'gya 
jueydXa  xe  xal  doyvfJLaoxä  xä  juiv  TJXXi]oi  xä  di  ßagfiägoioi  djiodex'&ivxa  äxkeä 
yivrjxai  xd  xe  äXXa  xal  di  fjv  alxii]v  ijtoXeßArjoav  äXXijXoioi),  die  zeigen,  daß 
er  weder  eine  zeitliche  noch  eine  örtliche  Einschränkung  des  Stoffes  im 
Auge  hat,  daß  er  Weltgeschichte  schreiben  will,  unter  dem  Gesichtspunkt, 
die  Konflikte  zwischen  Griechen  und  Ausländem,  insbesondere  Orientalen, 
im  Zusammenhang  zu  betrachten  und  zu  begründen.  Er  ist  sich  bewußt, 
daß  es  zu  diesem  Zweck  möglichst  umfassender  und  gewissenhafter  Stoff- 
sammlung bedürfe,  und  betont,  daß  er  in  dieser  Beziehung  das  Erforder- 
liche getan  habe  (IV  192;  V  57;  IX  43  u.  s.)  durch  Reisen  und  mündliche 
Erkundigungen,  zu  denen  auch,  mehr  als  er  aus  stilistischen  Gründen  (s.  o. 
S.  436  A.  7  Schluß)  zugibt,  litterarische  Studien  Einzutreten.  Seine  Aufgabe 
löst  er  in  dem  oben  charakterisierten  Stil  des  Geschichtenerzählers,  der 
belehren  und  unterhalten  will.  Wissenschaftliche  Schärfe  im  vollen  Sinn 
liegt  diesem  Stil  und  liegt  auch  der  Eigenart  Herodots  fem.*)  Während 
seines  Aufenthalts  in  Athen  ist  er  ohne  Zweifel  von  dem  kritischen  Geist 
der  Sophistik  berührt  worden;*)  aber  die  Äußemngen  seiner  Kritik  sind 
(s.  0.  S.  443)  weit  entfemt  von  dem  bohrenden,  methodischen  Intellek- 
tualismus dieser  Richtung;  er  ist  nicht  sowohl  unfähig,  als  daß  er  sich 
scheut,  das  zuströmende  Tatsachenmaterial  verstandesgemäß  zu  meistern. 
Übrigens  ist  seine  Kritik  litterarischen  Quellen  gegenüber  weit  schärfer 
als  mündlichen  gegenüber.  In  seinen  Berichten  über  den  Orient  ist 
manches  Irrtümliche  und  Mißverständliche  5)  aus  seiner  Unkenntnis  der 
barbarischen  Sprachen  zu  erklären.  In  anderem  hat  er,  auch  auf  grie- 
chischem  Gebiet,    die    „Legende"    zu   wenig   kritisch   übernommen.*)     In 


mit  einem  sedatus  amnis;  ähnlich  QointU.  IX 
4,  18;  Dio  Chrys.  or.  18,  10  p.  479  R.;  Athen. 
78  e  nennt  ihn  fieliyriQvg.  —  Dion.  Hai.  ep.  ad 
Pomp.  3  giht  eine  sehr  lesenswerte  Verglei- 
chung  des  Thukydides  und  Herodot  zugunsten 
des  letzteren,  aus  der  nur  der  Satz  hervor- 
gehoben sei:  t;  fikv'HQodotov  dtd^eoig  h  obzaatv 
ejiisixrjg  xal  xoXg  fikv  dya&oTg  ovvrjÖofiivrj ,  toTg 
de  xaxoXg  ovvakyovaa^  vgl.  Dionys.  de  Thuc. 
23.  Hermogenes  de  ideis  II  12  p.  421  Sp.: 
/f/fTot  Tov  xaikLQOv  xal  evxgivovg  noXvg  ian 
raig  rjdovaig'  xal  ydg  latg  swolaig  fiv&ixatg 
oyfSov  dsidaaig  xal  zfj  ?J^ei  Jtoirjrtxfj  xe^Qt^rai 
Sio/.ov. 

^)  Zusammenhängend  handelt  über  Hero- 
dots Weltanschauung  E.  Meter,  Forsch.  II 
252  flf.  über  seine  Religion  J.  L.  Hsibbro, 
Festskrift  til  J.  L.  üssing,  Kopenh.  1900,91  ff. 

^)  Spuren  davon  finden  sich  in  seinem 
Operieren  mit  Begriffen  der  Sophistik:  olxog 
(III  108.  111;  IV  31.  195;  V  10;  VI  82;  VH 
102.  104.  129.  160.  167.  218.  239;  VHI  10. 
60.  eSß);  Aoyog  6o06g  (H.  Stein  zu  VII  103, 
11) ;  Antithesen  v6^iog-(f)votg  (IV  39.  45),  koyog- 
ioyor  (III  72;  IV  8;  V  24;  VI  38;  oft  bei  So- 
phokles) ;  prodikeKsche  Auffassung  der  Sprache 


als  eines  Naturproduktes  II  2;  sehr  sophistisch 
ist  die  Widerlegung  von  Hekataios'  Erd- 
einteilung (II 1 6) .  Die  Bewunderung  für  kultur- 
lose Naturvölker  (UI  21  f.)  berührt  sich  mit 
jenen  Stimmungen  der  Sophistenzeit,  die  dann 
in  dem  kynischen  g^vaig-Ideal  zum  Durch- 
bruch kommen. 

•)  Die  Übertreibung  von  Herodots  ün- 
zuverlässigkeit  über  Orientalia  (A.  H.  Satob, 
The  ancient  empires  of  the  east.  Herodotos 
books  I — III,  Lond.  1883)  wird  durch  neuere 
Funde  und  Untersuchungen  (J.  Oppebt  in 
Mölanges  Weil  321  ff.;  A.  Croiset,  Rev.  des 
6t.  Gr.  1,  1888,  154  ff.;  ü.  Wilckbn,  D.  Lit- 
teraturz.  22, 1901, 2211;  H.  SchIfer,  Beitr.  z. 
alten  Gesch.  4, 1904, 152  ff. ;  F.  W.  v.  Bissinq, 
Der  Bericht  des  Diodor  über  die  Pyramiden, 
Berl.  1901)  stark  eingeschränkt. 

^)  Hieher  gehören  die  unmöglichen  Zahlen 
für  die  persischen  Eontingente,  die  übrigens 
nach  B.  Niese  (Gott.  Gel.  Anz.  1901,  602  ff.) 
doch  nicht  so  stark  vergriffen  sind,  wie  H. 
Delbrück  (Geschichte  der  Kriegskunst  im 
Rahmen  der  politischen  Geschichte  I,  Berlin 
1900)  annimmt.    Siehe  unten  S.  448,  3. 


446  GriechiBohe  litteraturgesohiohte.    L  SlaMische  Periode. 

naturwissenschaftlichen  und  geographischen  Dingen  sind  seine  Kenntnisse 
zum  Teil  unzureichend  und  seine  GtesamtvorsteUungen  schief,  von  ihm  aber 
mit   besonderem   Nachdruck   verteidigt.     Den  Winden   schreibt  er  z.  B. 
einen  gewaltigen  Einfluß   auf  den  Sonnenlauf,   das  Klima,   den  Wasser- 
reichtum der  Flüsse  zu,»)  Sonnenfinsternis  bedeutet  ihm  ein  Weggehen  der 
Sonne  von  ihrem  Platz  am  Himmel  (VII  32);  wenn  er  sich  II  23.  IV  8.36 
von  Homers  Anschauung,  als  sei  die  kreisrunde  Erde  vom  Okeanos  um- 
flossen, losmacht,   so   steht  er   doch  VH  70  mit  seinem  Glauben   an  die 
zweierlei  Äthiopen  unter  Homers  (a  23)  Einfluß.*)    Der  spekulativen  natur- 
wissenschaftlichen Geographie  der  altionischen  Physiker  und  des  Hekataios 
begegnet  er  mit  ähnlicher  Skepsis  wie  Hippokrates  der  spekulativen  Medizin. 
Seine  Geistesrichtung  ist  nach  Niebuhrs  Ausdruck  der  Empirismus.    Seine 
Religion,  die  sich  mit  der  des  Sophokles  deckt,  war  einer  objektiven  Dar- 
stellung der  Vorgänge  in  keiner  Weise  hinderlich,  da  sie  völlige  Ergebung 
in  den  Weltlauf  in   sich  schließt:    nach  seiner  Meinung  waltet  über  der 
Welt  ein  festes  Gesetz,  eine  göttliche  Macht,  ^)  die  in  Orakeln,  Stimmen, 
Träumen  ihren  Willen  zu  erkennen  gibt  —  wer  sich  dem  nicht  fügt,   hat 
davon  den  Schaden.*)    In  das  Wesen  der  Gottheit  tiefer  eindringen  zu 
wollen  ist  zwecklos;  am  besten  ist  es  darüber  zu  schweigen.^)  Die  Benennung 
der  Götter  und  die  Verteilung  ihrer  Wirkungskreise  ist  Menschenwerk«) 
und  unverbindlich.   Gerechte  Ausgleichung  von  Glück  und  Verdienst  unter 
Völkern  (VIII  13)  und  einzelnen   ist  Beruf  der  Götter.    Ihr  Neid^)  trifft 
die,  denen  es  über  Verdienst  wohl  ergeht.    Niemand,  auch  Herakles  nicht 
(II  43  f.),  kann  sich  das  Glück  verdienen;  die  Götter  haben  aber  ihre  Lieb- 
linge,   und    diesen   mag  auch   einmal  eine  Freveltat  ungestraft  hingehen 
(VU  133;  VIII  88).   In  der  Regel  muß  jeder  auch  einmal  Unglück  erleiden, 
und  je   höher  er  stand,   desto  tiefer  ist  dann  sein  Fall  (0133;  VH  203). 
Wenn  dem   Herodot  auch  die  Göttersagen   und  die  Kultgebräuche   unter 
den  Begriff  der  Menschensatzung  fallen,  so  anerkennt  er  doch  die  Berech- 
tigung nationaler  Spezifikationen  im  Kultus;®)  aber  der  Gedanke,  die  ver- 
schiedenartigen voßioi  so,  wie  der  Verfasser  der  AiaU^eig  tut,   gegen   ein- 
ander im  Sinn  eines  immoralen  Naturalismus  auszuspielen,  liegt  ihm  ganz 
fern.   Neben  den  Göttern,  jedoch  deutlich  von  ihnen  gesondert,^)  sind  ihm 
die  Heroen  Gegenstände  des  Glaubens  und  der  Verehrung,  ^ö)    Im  einzelnen 
äußert  er  Zweifel,  z.  B.  gegen  die  Existenz  der  athenischen  Burgsehlange 
(Vni  41)  oder  gegen  die  Wirksamkeit  von  Sturmbeschwörungen  (VII  191). 
Der  sittlich-religiöse  Radikalismus  der  Sophistenzeit  ist  ihm  aber  sicherlich 


1)  B.  G.  NiEBUHR,  Kl.  bist.  u.  philol.  Sehr. 
I  132  flf. 

^)  Kritische  Äußerungen  über  geographi- 
sche Dinge  III  115.  116;  IV  36  ff.  über 
seine  geographischen  Anschauungen  im  all- 
gemeinen H.  Bergeb,  Gesch.  der  wissensch. 
Erdkunde  I,  Leipz.  1887,  26.  Richtige  An- 
schauungen II  10—12;  VII  129. 

3)  ovvTvyu)  IX  91;  Osiri  xv^V  V  92y; 
Tioovoh]  III  108  (für  uns  erster  Beleg  einer 
Theodicee  in  griechischer  Litteratur). 


*)  VII  57;  VIII  20.  77;  IX  41. 

^)  H.  Stein  zu  II  3 ;  IX  65 ;  ebenso  denkt 
Sophokles  (E.  Rohdk,  Psyche  H»  238.  3). 

«)  n  53. 

^)  I  32;  III  40;  VH  10,  5.  46;  VIII  109. 
Aischylos  verwirft  diese  volkstümliche  Vor- 
stellung (G.  Finsler,  Orestie  22). 

8)  III  31.  38;  V18. 

ö)  H.  Stein  zu  VI  53,  4. 

»oj  VII  137.  169;  Vfll  109;  IX  116  ff. 


2.  Die  GeeohiohtBsöhreibiuig.    b)  Herodotes.    (§  251.; 


447 


ebenso  antipathisch  gewesen  wie  dem  Sophokles,  und  es  ist  möglich,  daJg 
sein  auffällig  ungünstiges  Urteil  über  Themistokles,  der  ein  ganz  prosaischer, 
„modemer"  Mensch  war,*)  in  der  Verschiedenheit  der  Weltanschauungen 
mit  begründet  ist.  Dem  Perikles  dagegen  war  er  trotz  der  engen  Be- 
ziehungen, in  denen  dieser  zur  Sophistik  stand,  innig  zugetan.')  Wiewohl 
er  im  ganzen  von  der  Superiorität  der  auf  Freiheit  begründeten  griechi- 
schen Kultur  gegenüber  derjenigen  der  orientalischen.Despotien  überzeugt 
ist,^)  erfüllen  ihn  doch  auch  die  großzügigen  Staatsordnungen  und  Leistungen 
des  Orients  mit  ehrfürchtiger  Bewunderung,  und  in  seiner  Darstellung  der 
Perserkriege  hört  man  keinen  Ton  von  nationalistischem  Chauvinismus.  — 
Was  seine  Beurteilung  der  griechischen  Stämme  und  Staaten  betrifft,  so 
ist  er  ebenso  wie  Ion  und  Stesimbrotos  Renegat  des  loniertums*)  und  sieht 
in  den  Führern  des  ionischen  Aufstandes  lediglich  gewissenlose  Aben- 
teurer.^) Seine  Sympathien  aber  wendet  er  nicht  dorischem  Wesen  zu, 
sondern  dem  Staat,  der  sich  im  Freiheitskrieg  am  höchsten  über  den 
Partikularismus  erhoben  und  den  Vorkampf  für  die  hellenische  Kultur  über- 
nommen hat,  Athen. ^)  Sein  Werk,  in  einer  Zeit  erschienen,  da  Athen 
ganz  besonders  verhaßt  war  wegen  seiner  egoistischen  Politik,  kann  ge- 
radezu als  Apologie  für  Athen,  bezeichnet  werden.  7)  Auch  die  Verfassung 
Athens  mit  ihrer  hovo/Lurj  (III  143)  und  lorjyoQtrj  (V  78)  bewundert  er,  ohne 
übrigens  für  die  Schwächen  der  Demokratie  blind  zu  sein  (V  97),  und 
datiert  Athens  Aufschwung  seit  der  Abschüttelung  der  Tyrannis.®)  Diese 
verwirft  er  im  Prinzip,^)  wiewohl  er  ihre  fieyaXonQmeia  (III  125)  anerkennt. 
Von  der  in  den  Aristokratien  üblichen  Vergötterung  des  Reichtums  ist  er, 
wie  die  Kroisosgeschichten  und  die  ironisch  gemeinte  Anekdote  von  Alkmeon 
(VI  125)  zeigen,  weit  entfernt;  im  Gegenteil  gilt  ihm  wie  dem  Demokritos 
die  neviri  als  Schwester  der  Freiheit  (VII  102,  VIII  137;  vgl.  oben  S.  185,  2; 
230,  4).  Seine  Parteinahme  für  Athen  hat  seinen  Blick  für  die  Leistungen 
anderer  Staaten  im  Perserkrieg,  weniger  Spartas  (s.  IX  71)  als  Korinths^ö) 
etwas  getrübt. 

Schon  im  Altertum  glaubte  man  sich  der  Wahrheit  gegen  seine  Ent- 
stellungen annehmen  zu  müssen,  wie  in  der  erhaltenen  wissenschaftlich 
nicht  sehr  hoch  stehenden  Schrift  negl  rfjg  ^Hgodorov  xaxorj&elag  Plutarchos 


1)  H.  Stein  zu  Vlll  4,  11.  E.  Mbybb, 
Forsch.  II  223  f.  findet  in  dem  Urteil  Hero- 
dots  das  des  Perikles  und  der  attischen  Adels- 
kreise (s.  a.  Kritias  bei  Ael.  var.  hist.  X  17). 
Das  Urteil  des  Thukydides  (1 138,  3)  ist  gegen 
Herodot  gerichtet  (s.  a.  Ar.  eq.  812  ff.)- 

^)  Siehe  VI  131  und  besonders  die  Ver- 
teidigung der  Alkmaioniden  VI  121  ff. 

')  Viele  Errungenschaften  der  Kultur 
führt  er  auf  , barbarischen*  Ursprung  zurück 
(II  4.  43.  49.  50.  58  f.  123;  IV  180.  189;  V 
58.  88;  VI  53  f.  55.  58  f.) ;  aber  für  die  besten 
rofioi  erklärt  er  VII  102.  104  die  mit  owfiij 
verbundenen  und  dgeti^  bewirkenden,  und 
diese  sind  die  griechischen.  Das  Urteil  ßag- 
ßfiQoioi  ovre  jtiotov  ovrs  dXrj&kg  ovdiv  wird 
VIII  142  den  Lakoniern  in  den  Mund  gelegt. 


Siehe  a.  IX  79. 

4)  VI  11  f. 

^)  VI  2  f.  29.  124. 

«)  VII  139  f.;  VIII  3.  144;  IX  7.  Die  Be- 
rechtigung dieser  Auffassung  anerkennt  so- 
gar Plut.  de  mal.  Herod.  29. 

^)  E.  Mbybb,  Forsch.  II  197.  Daß  H. 
durch  seine  Darstellung  der  Taten  der  Vor- 
fahren die  Griechen  seiner  Zeit  vom  Bruder- 
krieg habe  abhalten  wollen,  ist  eine  absonder- 
liche Idee  von  H.  Nissen. 

8)  E.  Mbybb  a.  0.  I  198;  II  222  ff. 

»)  III  143;  V  78;  Männer,  die  nach  Be- 
freiung ihrer  Heimat  auf  die  Alleinherrschaft 
verzichtet  haben,  hebt  er  mit  besonderer 
Wärme  hervor  (UI  142;  VU  164). 

»0)  E.  Meyer,  Forsch.  II  202  ff. 


448 


Ghriechische  litteratiirgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


{inkg  Tojv  jtQoyovcov  äßxa  xal  x^g  AXrj^etag)   tut,   indem   er  weniger  positive 
Tatsachen  (einiges  aus  „simonideYschen''  Epigrammen,  Charon  und  anderen 
Logographen)  bringt,  als  den  Herodot  durch  Nachweis  von  Widersprüchen 
aus  ihm  selbst  zu  widerlegen  sucht.  ^    Seit  Thukydides  ihn  stillschweigend 
ablehnt,  Ktesias,  wiewohl  als  Historiker  tief  unter  Herodot  stehend,  ihn 
der  Lüge   bezichtigt  und  Aristoteles  (de  gen.  an.  756  b  6)  ihn  ^v^oXoyog 
nennt,  ist  es  Mode   geworden,  seine  Fähigkeiten  als  Geschichtsschreiber 
nach  der  sittlichen  und  intellektuellen  Seite  herunterzusetzen.*)    An  Irr- 
tümern und  Mißverständnissen  fehlt  es  freilich  bei  Herodot  nicht,')  aber 
bewußte  Fälschungen  hat  ihm   noch  niemand  nachweisen  können;  wo   er 
unrichtig  berichtet,  geschieht  es  bona  fide.     Seine  Darstellung  trägt  aller- 
dings die  Farbe  einer  bestimmten  Weltanschauung  an  sich;  aber  sein  ehr- 
liches Bekenntnis  dieser  Anschauung  gibt  jedem  Leser,  der  sich  ihr  nicht  an- 
schließen will,  das  Mittel  zur  Verifikation  in  die  Hand;  die  Sympathien  und 
Antipathien,   die   er  hat,  sind  von  ihm  begründet  und  somit  verständlich. 
Herodot  will  aber  nicht  als  sogenannte  Quelle  behandelt  und  aus- 
genützt, sondern  als  eine  ganze,  und  zwar  überaus  liebenswerte,  von  allem 
pedantischen  und  gewaltsamen  Rationalismus,  von  allem  falschen  Pathos 
freie,  aufgeschlossene,  ernst  und  heiter  in  die  Welt  blickende  und  ihrem 
Reichtum  in  Gestalten  und  Farben   sich  hingebende  Persönlichkeit  gefaßt 
werden.    Er  hat  ein  echtes,  volles,  überreiches  Bild  des  Lebens  mit  seiner 
unendlichen    Abwechselung,    seinen    Widersprüchen,    seinen    verschieden- 
artigen  Maßstäben,    seinen    heroischen    Erhebungen    wie    seinen   kleinen 
Menschlichkeiten,  eine  wahre  Weltbibel  geschaffen,  die  nicht  veralten  kann. 
Durch  Einstellung  der  Pentekontaetie  in  sein  erstes  Buch  hat  auch  Thuky- 


*)  Die  Schrift  ist  schon  von  Favorinus 
(Ps.Dio  Chr.  37,  7.  18)  benutzt. 

*)  Photiosbibl.  p.  35  b  41 :  Ktrjaiag  sv  abtaotv 
dvrtxeifieva  'HooSorq)  Iotoqwv,  d).Xa  xai  ytn)- 
azijv  avxov  ouieXeyx^'^  ^  jioXXoXg  xai  Xoyojioiov 
astoxakwy,  id.  43b  21;  Diodor.  I  69,  7;  II 
15,  2.  Ähnlich  urteilt  Manethos  bei  losephos 
C.  Ap.  I  14:  nosla  xov  'Hqoboxw  eleyxet  rujv 
Aiyvjiuaxcjv  v-V  dyvoiag  fxpevofihov.  Eine 
Schrift  des  M.  gegen  H.  erwähnt  auch  Eustath. 
ad  II.  A  480  und  Et.  m.  s.  Aeovxoxofiog,  So- 
gar Bestechlichkeit  wird  ihm  vorgeworfen 
von  Favorinus  (Ps.Dio  Chrysost.  or.  37, 7  p.  103 
R.)  und  Marcellinus  vit.  Thucyd.  c.  26.  Be- 
sonders animos  Strab.  508.  818.  Eine  Schrift 
des  Alius  Harpokration  jisgi  xov  xaxetpevodai 
xijv  'Hqoöoxov  iaxoglav  erwähnt  Snid.  s. 
'Agjt.  a.  JuL.  ScHVABGZ,  Die  Demokratie  von 
Athen,  Leipz.  1882  S.  22  f.  und  661  ff.  macht 
gar  in  seinem  Eifer  gegen  die  Größen  des 
Altertums  den  Herodot,  weil  er  von  Athen 
eine  Belohnung  von  zehn  Talenten  erhielt, 
zimi  offiziösen  Eüstoriographen  und  sein  Werk 
zu  einer  Subventionsarbeit.  Von  einem  fons 
philodelphus  redet,  angeregt  durch  Wilamo- 
wiTZ  (Äschyl.  Choöph.  S.  20),  A.  Öri,  De  Hero- 
doti  fönte  Delphico,  Diss.  Basel  1899.  Wie 
sollte  aber  ein  von  Delphoi  aus  beeinflußter 


Mann  die  Bestechlichkeit  der  Pythia  so  rück- 
sichtslos an  den  Pranger  stellen  wie  Herod. 

IV  150;  V  63.  66;  VI  123,  und  die  Athener 
so  wie  er  VII  139  f.  143  loben,  weil  sie  sich 
nicht  durch  Orakelsprüche  einschüchtern 
ließen? 

')  So  hatte  er  von  dem  Alter  der  Schrift 
keine   richtige  Vorstellung,   so   daß  er  sich 

V  58  Inschriften  des  Amphitr^'on  aufbinden 
ließ.  Irrtümer  in  der  Beschreibung  des  Phönix 
finden  sich  II  73.  Über  das  Mißverständnis 
vom  Herumgeben  einer  Mumie  beim  Mahl  II 78  f. 
A.  WiKDBMANN  z.d.  St.  uud  A.Erman,  Äg>^ten, 
Tübingen  1885—87,  II  516;  eine  falsche"^  Maß- 
angabe VII  34;  elementarer  Rechenfehler  VII 
187;  grobe  ünwahrscheinlichkeiten  z.  B.  1170. 
93;  VU  187.  VII  37  ist  die  Sonnenfinsternis 
von  478  in  die  Zeit  des  Xerxeszuges  gesetzt 
(s.  N.  Wecklein,  Über  die  Tradition  der 
Perserkriege,  Bayr.  Akad.  Sitz.ber.  1876, 
253)  und  V  89  der  äginetisch- athenische 
Krieg  von  487  mit  dem  von  506  verwechselt 
(WiLAMOwiTZ,  Aristot.  und  Athen  II  280  ff.). 
Die  übermäßigen  Zahlenangaben  über  die 
Kontingente  im  Perserkrieg  nimmt  gegen  H. 
Delbrück  in  Schutz  B.  Niese  (s.  o.  S.  445,  4); 
s.  a.  Th.  Lenschau,  Jahresber.  über  die  Fort- 
schr.  des  Altert;.  122  (1904)  192  f. 


2.  Die  Gesohichtssohreibang.    b)  Herodotos.    (§  251.)  449 

dides,  so  wenig  günstig  er  sonst  gegen  Herodot  gesinnt  ist,  doch  anerkannt, 
daß  dessen  Werk  unter  den  älteren  Geschichtsdarstellungen  die  bedeutendste 
sei.  Bewußter,  aber  nicht  sehr  glücklicher  Nachahmer  der  herodotischen 
Schlichtheit  in  attischem  Dialekt  ist  Xenophon*);  im  Gegensatz  zu  Thuky- 
dides  ist  dann  Ephoros  wieder  auf  Herodots  Plan  einer  Welthistorie,  freilich 
in  neuer  Form,  zurückgekommen.  Daß  Herodot  dem  vierten  Jahrhundert 
zu  breit  war,  ersieht  man  daraus,  daß  Theopompos  eine  Epitome  aus  ihm 
in  z.wei  Büchern  verfaßt  hat.  Aristoteles  hat  den  Herodot  in  geschicht- 
lichen und  naturwissenschaftlichen  Schriften  viel  benützt.*)  Nach  der 
abschätzigen  Beurteilung,  die  er  im  hellenistischen  Zeitalter  erfahren,  folgt 
die  Periode  seiner  stihstischen  Renaissance.  Dionysios  von  Halikarnassos 
stellt  ihn  über  Thukydides,  und  im  zweiten  Jahrhundert  wird  es  Mode, 
in  herodotischem  Dialekt  und  Stil  Geschichte  zu  schreiben,  wie  Kephalion, 
Arrianos  in  den  'Ivdixd^  Lucian  de  dea  Syria,  einige  Historiker  des  zweiten 
Partherkriegs  tun,  oder  wenigstens  seine  Schlichtheit  (äq)iXeia)  in  attischem 
Dialekt  nachzuahmen,  worin  sich  Pausanias  und  Älianus  versuchen.*) 

Codd.:  Zwei  Familieo,  die  aber,  da  beide  das  interpolierte  Kapitel  VIII  104  enthalten, 
auf  einen  Archetypus  zurückgehen;  die  ältere  vertreten  durch  A  (Flor.  73,  5,  s.  XI)  B  C 
(A  und  B  mit  stichometrischen  Angaben),  die  jüngere,  von  G.  G.  Cobet  und  Th.  Gomperz 
höher  geschätzte  durch  R  (Vatic.  123),  P  (Paris.  1633),  Vindob.,  Sancroftianus.  Kritischer 
Apparat  am  besten  in  den  Ausgaben  von  Th.  Gaisfobd  und  von  H.  Stein.  Hinzugekommen 
sind  für  das  erste  Buch  Papyri  von  Oxyrhynchos  (der  älteste,  1 115 — 116  enthaltende,  s.  II  p.  Chr., 
in  München),  worüber  ü.  Wilckbn,  Arch.  f.  Pap.  1  (1901)  471  f. 

Hypomnemata  schrieben  Aristarchos  (ein  Rest  Amherst  papyri  II,  1901,  nr.  12,  wozu 
s.  L.  Radebmacheb,  Rhein.  Mus.  57, 1902,  139  ff.)  und  wahrscheinlich  (SchoI.Soph.Philoct.201) 
auch  sein  Gegner  Hellanikos,  in  der  Kaiserzeit  nach  Suidas  die  Rhetoren  Heron  aus  Athen, 
Salustius  und  Tiberius,  auch  Eirenaios  (E.  Milleb,  M^langes  de  litt,  grecque,  Paris  1868, 
397).  Kritische  Studien  stellte  in  Hadrians  Zeit  der  Granmiatiker  Alexandres  von  Ko- 
tyaeion  an  (Porphyr,  quaest  ad  Iliad.  p.288  Schbadeb).     Damals  etwa  ist  wohl  auch  der 

fseudoherodotische  ßiog  'O^ijgov  (s.  o.  ö.  33,  3)  entstanden.  rXojaaai  'Hgodotoit  von  Apol- 
onios  erwähnt  Et.  M.  (ed.  nova  Lips.  1816)  p.  500.  Auf  uns  gekommen  sind  kaum  nennens- 
werte Scholien  und  dürftige '//joo^orov  Xe^eig^  abgedruckt  im  Anhang  von  H.  Steins  Ausgabe; 
vgl.  A.  Kopp,  Beiträge  zur  griech.  Exzerptenlitt.,  Berl.  1887,  72  ff. 

Ausgaben:  cum  annot.  Galei,  Fr.  Gronovii,  Valckenarii,  ed.  P.  Wessblino,  Amstel.  1763. 
—  cum  annot.  Wesselingii  et  Valckenarii  aliommque  ed.  J.  Schweiqhauseb,  Argent.  1816, 
6  Bde.  —  ed.  Th.  Gaisfobd,  ed.  III  Oxon.  1840.  —  ed.  J.  C.  F.  Bähb  mit  Kommentar,  ed.  II 
Lips.  1856—61,  4  Bde.  —  ed.  H.  Stein,  Berol.  1869—71,  2  Bde.  mit  erlesenem  kritischen 
Apparat,  ed.  min.  Berol.  1884.  —  Textausgabe  mit  km*zem  Apparat  von  A.  Holdeb  in  Bibl. 
Schenkl  1886.  88;  mit  Einführung  einer  auf  die  ionischen  Inscmriften  gestützten  Orthographie 
hat  A.  Fbitsch  in  seiner  Schulausgabe  (I  Leipz.  1906)  einen  Anfang  gemacht.  —  Erklärende 
Schulausgabe  von  H.  Stein  bei  Weidmann  1856—62;  von  K.  Abicht  bei  Teubner  1861—66 
(zuletzt  1906);  von  Y.  Hintneb  in  Wien  (zuletzt  1904).  Ihres  brauchbaren  Sachindex  wegen 
ist  auch  die  Ausgabe  von  W.  Dindobf  (Paris  1844)  noch  zu  nennen.  —  Herodotos  1. 1 — III 
with  notes  introduction  and  appendices  von  A.  H.  Sayce,  Lond.  1883,  worin  die  neueren  For- 
schungen der  Orientalisten  verwertet  sind ;  in  gleichem  Sinn  das  4. — 6.  Buch  bearbeitet  von 
R.  W.  Mac  AN,  London  1895.  Herodots  zweites  Buch  mit  sachlichen  Erläuterungen  von  A. 
Wiedemann,  Leipzig  1890,  dazu  J.  Kball,  Wien.  Stud.  4  (1882)  33—54.  —  Nordafrika  westlich 
vom  Nil  nach  Herodot  von  R.  Neumann,  Halle  1892.  —  Englische  Übersetzung  mit  reichen 
sachlichen  Kommentaren  von  G.  Rawunson,  ed.  lU.  Lond.  1876, 4  Bde.  Klassische  Übersetzung 
ins  Deutsche  von  Fb.  Lange,  2.  Aufl.,  Breslau  1824.  —  Lexicon  Herodoteum  von  J.  Schweiq- 
hauseb, Straßb.  1824.  —  Über  den  Dialekt  Herodots  s.  oben  §  248.  —  Letzter  Bericht  (über 
1898— 1901)indem  Jahresber.üb.  d.Fortschr.  d.  kh  Alt. wiss.  von  J.  Sitzleb  Bd.  114(1902)  26  ff. 


*)  Dionys.  Hai.  ti.  fn/i^a.  B  3  p.  208,  1 
üs.;  ad.  Pomp.  4,  1. 

*)  ü.  KöHLEB,  Beri.  Ak.  Sitz.ber.  1892, 
339  ff.  (über  Benützung  der  Peisistratos-  und 

Kleisthenesgeschichte  in  der  'A^vaiojv  noki-   |  Apologeten,  Leipz.  1907,  188,  3. 
Handbuch  der  Idass.  AltertomswiBseiiMhaft.    vn.    5.  Aufl.  29 


xeia)\  H.  DiELS,  Herm.22(1887)430ff.;  J.  H. 
Lipsiüs,  Leipz.  Stud.  20  (1902)  201. 

')  Über  Herodotbenützung  durch  die  spä- 
teren Philosophen  J.  Geffcken,  Zwei  griech. 


450  Griechische  Litteratiirgeachichte.    L  Klassische  Periode. 

c)  Anfänge  der  attischen  Prosa.   Thukydides  (am  460  bis  um  400). 

262.  In  der  zweiten  Hälfte  des  fünften  Jahrhunderts  gewinnt  der 
attische  Dialekt  auch  auf  dem  Gebiet  der  Prosa  dem  ionischen  die  Herr- 
schaft ab.  Dieser  Prozeß  ist  eingeleitet  durch  den  Zusammenbruch  der 
Selbständigkeit  der  kleinasiatischen  lonierstädte,  durch  die  Gründung  des 
attischen  Seebundsreiches,  in  dem  der  attische  Dialekt  über  die  Inseln  des 
ägäischen  Meeres  und  die  Küsten  Kleinasiens  und  Thrakiens  hin  als  amt- 
liche Verkehrssprache  getragen  wurde,  durch  die  Wirkung  der  attischen 
Tragödie  außerhalb  Attikas,  besonders  im  Norden  und  Westen,  und  nament- 
lich durch  die  Ansiedelung  der  Sophistik  in  Athen.  *)  Zur  Zeit  des  pelo- 
ponnesischen  Kriegs  bediente  sich  der  Perserkönig  im  diplomatischen  Ver- 
kehr mit  Griechen,  auch  Nichtattikern,  eines  attischen  Sekretärs,*)  schon 
427  hat  der  Leontiner  Gorgias  in  Athen  attischen  Dialekt  gesprochen. 
Die  attische  Litteraturprosa  des  fünften  Jahrhunderts  weist,  ebenso  wie 
der  Dialog  der  Tragödie,  selbst  in  den  Lauten  {po,  go  statt  zr,  gg),  be- 
sonders aber  in  der  Phraseologie  und  Syntax  Einwirkungen  von  seiten  des 
Ionischen  auf.^)  Unsere  ältesten  Dokumente  für  den  attischen  Dialekt 
stammen  aus  der  Zeit  des  beginnenden  6.  Jahrhunderts.^)  Selbstverständ- 
lich ist,  daß  der  attische  Dialekt  des  5.  Jahrhunderts  sich  von  dem  der 
solonischen  Zeit  stark  unterscheidet*)  und  daß  der  Litteraturdialekt  wiederum 
nicht  identisch  ist  mit  dem  attischen  Vulgär,  das  wir  aus  Vaseninschriften 
und  Verfluchungstäfelchen  kennen  lernen.®)  Je  mehr  im  Lauf  des  5.  Jahr- 
hunderts die  Verfassung  Attikas  sich  demokratisierte,  desto  mehr  wurden 
Gericht  und  Volksversammlung  Schulen  für  die  kunstmäßige  Rede  in  atti- 
schem Dialekt.  Vielleicht  die  frühste  Prosaschrift  in  diesem  Dialekt  hat 
Dämon,  der  Musiklehrer  des  Perikles,  ohne  Zweifel  aus  pythagorei- 
scher Schule,  geschrieben,  eine  Rede  an  die  Areopagiten  zur  Verteidigung 
der  ethischen  Wirkung  der  Musik;')  zweifelhaft  bleibt,  ob  diese  Schrift 
durch  eine  die  musikalische  Erziehung  beeinträchtigende  Maßregel  des 
Demos®)  oder  durch  eine  gegen  die  pythagoreische  Lehre  vom  Ethos  ge- 
richtete Polemik  von  sophistischer  Seite®)  veranlaßt  ist.    Auch  der  Kalender 


*)   A.  Thumb,   Die   griech.  Sprache   im  1  Ps.Xen.Ath.resp.  II 8  über  den  Mischcharakter 

Zeitalter  des  Hellenismus,  Straßb.  1901,  234  ff.  I  der  attischen  Umgan^prache  zu  bestätigen. 

')  W.  ScHMiD,  Deutsche  Litteraturzeitung  —  K.  Meisterhans,  Grammatik  der  attischen 

1896,  362.  i  Inschriften,  3.  Aufl.  von  E.  Schwyzer,  Berl. 

')  0.  Diener,   De  sermone  Thucydidis  1900. 

quatenus  cum  Herodoto  congruens  differat  a  ;  ^)  F.  Bücheler  hat  (Rhein.  Mus.  40, 1885, 

acriptoribus  Atticis,  Diss.  Leipzig  1889.  309)  diese  Schiift  ins  Licht  gestellt. 

*)  Der  attische   Teil  der  Inschrift  von  **)  Bücheler  verweist  auf  Ps.Xen.  resp. 

Sigeion  (H.  Röhl,  Inscr.  Gr.  antiquiss.  492);  i  Ath.  I  13. 

ein  aus  der  drakonischen  Gesetzgebung  über-  i  ^)  Eine  solche   Polemik,  die  wohl   ins 

nommenes    Stück    von   Solons   erstem  a^cov  5.  Jahrhundert  hinaufreicht,  lernen  wir  jetzt 

(CIA  I  61,  10  ff.),    ein    yfi^qpiofÄa    aus    dem  |  aus   Hibeh   pap.  I    nr.  13   kennen.     Vorher 

6.  Jahrh.  (CIA  IV  p.  57  nr.  la).  ]  waren  Philodem,   de   mus.  und  Sext.   Emp. 

^)  Lys.  10,  16  ff.  '  adv.  math.  VI  unsere  Hauptquellen  über  diese 

®)   P.  Kretschmer,    Die   griech.  Vasen-  i  weitgreifende,  auch  von  Piaton  und  Aristoteles 

inschriften   ihrer   Sprache    nach   untersucht,  in  ihren  politischen  Werken  berührte  Kontro- 

Gütersloh  1894;  E.  Schwyzer,  N.  Jahrbb.f.kl.  l  verse.    Dämons  Schrift  ist  auch  von  Aristid. 

Altert.  5  (1900)  244  ff.  Diese  Dokumente  haben  ,  Quintil.de  mus.  benützt  (H.Deiters.  De  Ar. 

übrigens  nichts  dazu  beigetragen,   die  offen-  '  Q.  doctrinaeharmonicaefontibus,  Düren  1870). 

bar  gehässig   übertriebene  Behauptung   von  |  Siehe  a.  H.  Abert,  DieLehrev.  Ethos38ff.48f. 


2.  Die  GeschichtBschreibimg.  c)  Anl&nge  der  attischen  Prosa.  Thukydides.  (§252.)  451 

auf  Grund  eines  neunzehnjährigen  Schaltzyklus,  den  der  Astronom  Meton 
432  veröffentlichte,  gehört  unter  die  ersten  Proben  attischer  Prosalitteratur. 
Erhalten  ist  von  diesen  Anfängen  nur  die  Schrift  vom  Staat  der 
Athener,  die  als  Gegenstück  zur  xenophontischen  Aaxedaifiovioyv  no- 
XiTEia  in  das  Corpus  von  Xenophons  Schriften  aufgenommen  worden  ist. 
Es  ist  eine  bei  einer  gewissen  Zurückhaltung  in  der  Form  tief  leiden- 
schaftUche  Parteischrift,  verwandt  mit  Schriften  wie  Andokides'  ngog  rovg 
haiQovg  oder  Antiphons  Aoidoglai  xar  *Ahcißiddov  mit  dem  Zweck,  die 
Oligarchen  darüber  aufzuklären,  daß  die  in  Athen  nunmehr  voll  entwickelte 
Demokratie  eine  durchaus  planmäßig  auf  den  Ruin  der  Aristokraten  an- 
gelegte Verfassung  sei.  Der  Verfasser  drückt  das  mit  theognideischer 
Terminologie  aus  eXXovxo  rovg  novrjgovg  äfieivov  ngdrceiv  fj  xovg  XQV^^^^ 
(I  1)^)  und  anerkennt  die  methodische  Konsequenz,  die  alle  Einrichtungen 
dieser  Demokratie  beherrsche  (III  1).  Der  Ton  ist  ein  resigniert-ironischer. 
Die  Anschauungen,  welche  die  Schrift  vertritt,  sind  bei  Thukydides,  be- 
sonders im  ^Emxdq)iog  des  Perikles,  sehr  häufig  berührt  und  widerlegt. 
Für  eine  rein  theoretische  Abhandlung  aus  sophistischen  Kreisen*)  hat  die 
Schrift  zu  viel  Temperament  und  zu  wenig  Form,  sie  ist  aber  anderseits 
doch  wieder  zu  gemessen,  um  als  eine  zur  Revolution,  etwa  zu  dem  Staats- 
streich von  411,3)  aufreizende  Brandschrift  verstanden  werden  zu  können. 
Am  ehesten  mochte  sie  bestimmt  sein,  als  Codex  politischer  Bj'itik  für 
die  jungen  Aristokraten  in  den  Hetärien  zu  dienen,  also  nicht  für  die 
volle  Öffentlichkeit.  Der  Anfang  negl  dk  r^g  'A'&rjvaUov  nolireiag  läßt  ver- 
muten, daß  ursprüngUch  ein  jetzt  verlorener  Abschnitt  voranging.*)  Ver- 
faßt ist  die  Schrift  in  der  zweiten  Hälfte  des  archidamischen  Krieges.*) 
Die  mehrfach  gebrauchte  Anrede  in  zweiter  Person  ist  nicht  etwa  mit 
C.  G.  Cobet  so  zu  deuten,*)  als  hätte  die  Schrift  ursprünglich  —  eine  litterar- 
historische  Unmöglichkeit  —  dialogische  Form  gehabt;  sie  ist  vielmehr 
eine  Nachwirkung  des  Stils  der  alten  lehrhaften  Elegiendichtung,  wie  sie 
auch  sonst  (z.  B.  bei  Aineias)  in  der  sophistischen  Belehrungslitteratur 
auftritt  und  in  den  späteren  Diatribenstil  übergegangen  ist.  Die  zum  Teil 
an  Andokides  gemahnende  Ungeschicklichkeit  der  Anlage  und  des  Stils 
ist  nicht  Folge  von  Umarbeitung  oder  schlechter  Überlieferung,')  sondern 

*)  Von  derAuffasBung  dieses  Schriftstellers      auf  die  Zeit  425 — 22  II  13   und   vielleicht 


lebt  noch  etwas  in  der  aristotelischen  Defi- 
nition der  Demokratie  (pol.  1279  b  8)  als  einer 
Herrschaft  Jtgog  t6  av(Äq)iQov  to  x&v  aJiOQOiiv. 
')  So  R.  Scholl  in  seiner  ausgezeichneten 
Rede  Die  Anfänge  einer  politischen  Littera- 
tur  bei  den  Griechen,  München  1890,  14  ff. 
und  an  ihn  anschließend  E.  Ealinka,  Wiener 
Stud.  18  (1896)  27  flf.  Als  Vorläufer  der  isokra- 


II  5.  A.  KiRGHHOFF,  Über  die  Schrift  vom 
Staate  der  Athener,  Berl.  Ak.  Abhandl.  1874. 
M.  Schmidt,  Memoire  eines  Oligarchen  in 
Athen  ttber  die  Staatsmaximen  des  Demos, 
Jena  1876,  setzt  die  Schrift ,  430/29 ,  H. 
Müllbb-Stbübino,  Die  attische  Schrift  vom 
Staat  der  Athener,  Philol.  Suppl.  4(1881)  1  ff. 
417—414,  und  so  im  wesentlichen  auchTn. 


tischen  Pamphletlitteratur  faßt  sie  A.Baübb,      Bbbok,   Gr.  Litt.  IV  238  Anm.  7.    G.  Hof- 


Die  Forschungen  zur  alten  Geschichte  239  f. 
')  E.  Meybb,  Forschungen  II  401  fL 
^)  Bei  den  Klassizisten  sind  solche  An- 
fänge mit  äXXd  oder  öf,,  offenbar  nach  xeno- 
phontischem  Vorbild,  Mode  geworden  (W. 
ÖCHMID,  Atticism.  IV  546). 

^)   Auf  die   Zustände   im   Anfang    des 
Krieges  weisen  II  15.  16  (vgl.  Thuc.  II 14, 1), 


KANN,  Beitr.  z.  Kritik  u.  Erkl.  der  pseudox. 
*A^.  noL,  Progr.  München  1907. 

*)  Die  Hypothese  von  C.  G.  Cobet  ist 
aufgenommen  von  C.  Wachsmuth,  De  Xeno- 
phontis  qui  fertur  libello  'A^.  noX.j  GOttingen 
1874. 

^)  F.  G.  Rbttig,  Über  die  Schrift  vom 
Staate  der  Athener,  Ztschr.  für  österr.  Gjmn. 

29* 


452 


GhriechiBche  Litteratnrgescliichte.    I.  ElassiBche  Periode. 


Folge  des  Naturalismus  des  Verfassers,  i)    Wer  der  Verfasser  sei,   darauf 
läßt  sich  nur  raten  ohne  wissenschaftliche  Gnindlage.*) 

Neue  Ausgabe  von  E.  EALn^KA»  De  republica  Atheniensiain  qui  inscribitur  libellus,. 
Wien  1898. 

253.  Thukydides.  An  das  Büchlein  vom  Staat  der  Athener  reihten  sich 
von  erhaltener  altattischer  Prosalitteratur  an  die  Reden  des  Antiphon,  über 
die  später  zu  handeln  ist,  dann  das  Geschichtswerk  des  Thukydides.  In  diesem 
Werk  bewundern  wir  die  höchste  wissenschaftlich-kritische  Leistung,  zu  der 
es  die  antike  Geschichtsschreibung  gebracht  hat  Es  ist  gesättigt  vom  Geist 
der  Sophistik,  aber  die  Lust  am  dialektischen  Spiel,  welche  die  Sophisten 
vielfach  zu  frivolem  Experimentieren  im  Gebiet  der  Wissenschaft,  Sittlich- 
keit, Politik  und  Religion  gereizt  hat,  ist  hier  gebändigt  durch  eine  Per- 
sönlichkeit von  tiefem  Ernst,  festem  Wirklichkeitssinn  und  unerbittlicher 
Konsequenz,  die  auf  Klarheit,  Wahrheit,  Abschluß  der  Erkenntnis  dringt 
und  mit  der  beobachtenden  und  doch  teilnahmsvollen  Ruhe  des  Arztes 
den  Erscheinungen  des  öffentlichen  Lebens  sich  gegenüberzustellen  vermag. 
Thukydides  ist  eine  Denkernatur,  die  zur  Theorie  neigt,  aber  eigener  Ent- 
schluß und  Lebensschicksale  haben  ihn  aus  der  Studierstube  hinaus  in 
Welt  und  Leben  geführt,  und  so  ist  ein  Werk  entstanden,  das  bei  aller 
wissenschaftlichen  Schärfe  und  Methodik  doch  keineswegs  doktrinär,  son- 
dern im  eminentesten  Sinn  praktisch  gemeint  ist  und  entsprechend  wirkt. 

254.  Leben.»)     Thukydides   ist  Sohn  des  Oloros  aus  dem  attischen 


28  (1877)  241  ff.;  L.  Lange,  De  pristina libelli 
de  rep.  Atheniensiom  forma  restituenda  com- 
mentatio,  Ldpz.  1882  mid  Leipz.  Stud.  5  (1882) 
393  ff.;  E.  Uebzog,  Zm:  Litteratur  ttber  den 
Staat  der  Athener,  Tübinger  Doktorenverz. 
1892;  E.  EALiNKAa.  a.  0. 

^)  Charakteristik  des  Stils  bei  F.  Blass, 
Die  att.  Beredsamkeit  P  276  ff. 

*)  Auf  Kritias  riet  A.  Böckh,  Staats- 
haushaltung der  Atiiener  I*  432  unter  Hin- 
weis auf  Pollux  VIII  25,  verglichen  mit  Ath. 
resp.  III  6 ;  ähnlich  E.  Müllsb,  Wer  ist  der 
Verf.  der  älteren  Schrift  von  der  ath.  Ver- 
fassung? Progr.  Zittau  1891  und  E.  Dbbbuf, 
Jahrbb.  für  class.  Philol.  Suppl.  27  (1902) 
313  ff.  (über  eine  echte  *A&.  jtoI.  des  Kritias 
A.  V.  GüTsoHMiD.  Kl.  Sehr.  IV  327  f. ;  F.  Dümm- 
LEB.  Kl.  Sehr.  II  417  ff.).  Indessen  zitiert 
Pollux  diese  Schrift  als  xenophontisch,  und 
Kritias  war  nach  allem,  was  wir  von  ihm 
wissen,  ein  viel  zu  routinierter  Schriftsteller, 
um  ein  so  ungelecktes  Produkt  zu  verfassen. 
Siehe  o.  S.  173.  An  Phrynichos  dachte  H. 
Mülleb-Stbübing  ,  unter  Zustimmung  von 
E.  Meyeb,  Forsch.  II  403,  1. 

')  Außer  dem  Artikel  des  Suidas  und 
zwei  wertlosen  Stücken  (Vita  eines  Anonym, 
und  Aphthen,  progymn.  p.  36,  20  ff.  Sp.)  liegt 
vor  eine  ausfuhrliche  Vita  von  Marcellinus 
in  TÖ)v  elg  ßovH.  oj^okicov  JieQi  tov  ßiov  nvxov 
Sovy.v^idov  xai  rijg  xov  ),6yov  tdea^j  dem- 
selben Rhetor,  von  dem  wir  auch  Schollen 
zu  Hermogenes  (Rhet.  gr.  IV  39  ff.  Walz) 
haben.    Die  echte  Marcellinusbiographie  bil- 


dete die  Einleitung  zu  einem  Thukydides- 
konmientar  (Greg.  Cor.  p.  79  Sch.)  dieses  dem 
5.  Jahrb.  n.  Chr.  angehörenden  Rhetors.  Die 
uns  unter  seinem  Namen  vorliegende  Bio- 
graphie zerfällt,  wie  E.  Petebsen,  De  vita 
Thuc,  Dorpat  1873,  festgestellt  hat,  in  drei 
mechanisch  zusammengeschobene  Teile  (§2 
bis  44;  45—53;  54—57),  die  vielleicht  der 
Rhetor  Zosimos  von  Askalon  c.  500  ver- 
bunden hat.  Der  echte  Marcellinus  steckt  im 
ersten  Teil.  Die  Biographie  enthält,  was 
richtiger-  oder  unrichtigerweise  aus  dem  Werk 
des  Th.  erschlossen  worden  ist,  auch  Ver- 
wechslungen mit  Th.  dem  Sohn  des  Me- 
lesias.  Nicht  aufgenommen  sind  Daten,  die 
teils  aus  monumentaler  (Familiengrab  in 
Melite  und  inschriftliches  y't)(fioita  auf  der 
Akropolis  von  Oinobios,  s.  Plut.  Cim.  4  und 
Paus.  1  23,  11)  teils  aus  litterarischer  (Kra- 
tippos?)  Überlieferung  stammen  (Dionys.Hal. 
de  Thuc.  16;  vgl.  Marcellin.  33).  Die  Vitae 
des  Marcellin.  u.  Anonym,  in  der  Thuk.ausg. 
von  E.  HüDE  I  (Leipz.  1898).  —  Neuere  Dar- 
stellungen: K.  W.  Kbügeb,  Untersuchungen 
über  das  Leben  des  Thukydides,  Beri.  1832, 
mit  Nachtrag  1839;  W.  H.Rosoheb  (der  be- 
rühmte Nationalökonom),  Leben,  Werk  und 
Zeitalter  des  Thukydides,  Göttingen  1842; 
J.  Classen,  Einl.  zur  Thukydidesausgabe  I, 
4.  Aufl.  von  J.  Steup,  Berl.  1897 ;  Wilamowitz, 
Die  Thukydideslegende,  Herrn.  12(1877)326  ff., 
mit  Entgegnungen  von  R.  Scholl,  Herrn.  13 
(1878)  433  ff.,  und  G.  F.  Ungeb,  Jahrbb.  f.  cl. 
Phü.  133  (1886)  97  ff.  145  ff.  Orientierend  über 


^.  Die  aeschichtsschreibang.  c)  Anl&nge  der  att.  Prosa.  Thnkydides.  (§§  253—254.)    453 


Demos  Halimus.O  Sein  Stamm  ging  mütterlicherseits  auf  den  thrakischen 
König  Oloros  zurück,  dessen  Tochter  Hegesipyle  der  Marathonsieger  Mil- 
tiades,  der  Vater  des  Kimon  und  der  Großmutter  unseres  Historikers,  ge- 
heiratet hatte.*)  Die  Verwandtschaft  mit  den  Peisistratiden  ist  leicht- 
fertige Vermutung  des  Hermippos')  auf  grund  der  Exkurse  über  die  Peisi- 
stratiden I  20  und  VI  54 — 59,  wo  der  Historiker  sich  um  Berichtigung 
falscher  Traditionen  über  die  Tyrannen  bemüht  zeigt.  Von  seinen  thrakischen 
Ahnen  oder  von  seiner  Frau,  die  aus  der  attischen  Besitzung  Skaptehyle 
an  der  thrakischen  Küste  stammte,*)  hatte  er  die  Erbpacht^)  der  reichen 
Bergwerke  in  Thrake,  nach  denen  er  sich  in  der  letzten  Zeit  seines 
Lebens  zurückzog.  Die  Wirkung  des  thrakischen  Blutes  hat  man  schon 
in  dem  fast  finsteren,  ungriechischen  Ernst  seines  Wesens,  der  sich  auch 
in  seinen  Gesichtszügen  ausdrückt,  finden  wollen.*)  —  Die  Angaben  der 
Alten  über  sein  Geburtsjahr  beruhen  auf  falschen  Voraussetzungen; 7)  aus- 
zugehen ist  von  seinen  eigenen  Worten  I  1  und  V  26,  4,  wonach  er  im 
Jahr  431  nicht  zu  jung  war,  um  dem  Gang  der  Ereignisse  mit  Verständnis 
folgen  und  darüber  Aufzeichnungen  machen  zu  können;  demnach  kann  das 
Oeburtsjahr  bis  gegen  452  herab-  und  schwerlich  über  460  hinaufgerückt 
werden.«)  Der  Einfluß,  den  die  Sophistik  auf  seine  Denk-  und  Ausdrucks- 
formen ausgeübt  hat,  ist  mit  Händen  zu  greifen,  aber  die  Angaben  der 
Biographie  über  bestimmte  Lehrer  wie  Anaxagoras,  Antiphon  verdienen 
keinen  Glauben. 0)  Auch  das  Geschichtchen  von  dem  Eindruck,  den  eine 
Vorlesung  des  Herodot  auf  den  jungen  Thukydides  gemacht  habe,  ist 
novellistische  Erfindung  späterer  Grammatiker.  ^0)  —  im  Jahr  430/29  ward 


die  neueren  biographischen  Forschungen  A. 
Bauer,  Die  Forschungen  z.  griech.  Geschichte, 
München  1899, 210ff.  und  genauer  E.  Lakge, 
Philol.  57  (1898)  465  ff.^ 

*)  ßovxvdidrjg  *016qov  ' AXifiovoiog  stand 
auf  seinem  Grabstein  in  der  kimonischen 
Grabstätte  (s.  Marcell.  16). 

')  Vermutungen  über  den  Stammbaum 
von  J.  TöPFFER,  Attische  Genealogie  282  flf. 
und  E.  Kirchneb,  Beiträge  zur  Geschichte  atti- 
scher Familien,  Festschr.  z.  lOOjähr.  Jubelf.  d. 
Friedr.-Wilhelms-Gymn.,  Berlin  1897  S.  83  ff., 
vgl.  Kirchner,  Prosopogr.  att.,  Berl.  1901.  03, 
2  voll. 

»)  Marcell.  18  und  Schol.  zu  I  20.  Die 
Vermutung  des  Hermippos  unterstützt  H. 
Müller-Strübino,  Aristoph.  534  ff. 

*)  Marcell.  19  i/ydyero  Se  ywaTna  cbio 
ZfcojiTfjoidrjg  rrjg  Ogqxrjg  nXovälav  aqyoSga 
9cal  fiexakXa  xepcTtjfievrjv  ev  xfj  Gqoxjj,  Nach 
Plut  Cim.  4  hatte  er  diö  Bergwerke  von 
seinen  thrakischen  Ahnen. 

^)  L.  Mitteis.  Abb.  der  sächs.  Gesellsch. 
d.  Wiss.  philol.-histor.  Kl.  20  (1902)  4  S.  6  ff. 

®)  A.  Michaelis,  Die  Bildnisse  des  Thuky- 
dides. Straßb.  1877,  dazu  Rh.  Mus.  34  (1879) 
149  ff. 

^)  Zwei  widersprechende  Angaben  haben 
wir  aus  dem  Altertum,  die  der  Pamphila  bei 
Gellius  XV  23   (nach  Apollodoros),  wonach 


er  im  Beginn  des  peloponnesischen  Krieges 
40  Jahre  alt,  also  c.  470  geboren  war,  und 
die  des  Marcellinus  34,  wonach  er  über 
50  Jahre  alt  starb,  also  um  450  geboren 
war.  Auszugehen  ist  von  der  sicheren  Tat- 
sache, daß  er  424  das  Strategenamt  be- 
kleidete, also  damals  mindestens  30  Jahre 
zählte.  Vgl.  H.  DiELS,  Rh.  Mus.  31  (1876)  48; 
F.  Jacoby,  Apollod.  Chron.  277  ff. 

»)  E.  Kalinka,  Festschr.  f.  Th.  Gom- 
perz  110. 

•)  Marcell.  22:  ijxovae  öe  didaaxdkcov 
'Ava^ayogov  fikv  ev  q)iXoa6rpoig,  o&tt',  (ftjoiv 
6  "AvrvXXog,  xai  ädeog  tjgd^a  ivo/AiaOrj  rfjg 
exsT&ev  ^scogiag  ifÄqpogfj^sig,  *AvTt(p(ovTog  de 
^riTogog  öetvov  trjv  grjrogtxrjv  dvSgög,  ov  xai 
fiifjtvrixai  h  xfj  dydojj  (VIII  68).  Aus  dieser 
Lobrede  auf  Antiphon  wurde  wohl  zunächst, 
und  zwar  zuerst  von  Caecilius  (Ps.Plut.  vit.  X 
or.  p.  833  e)  geschlossen,  dieser  sei  sein  Lehrer 
gewesen,  was  man  vielleicht  schon  im  Alter- 
tum (wie  neuerdings  Th.  Bergk,  Griech.  Litt 
IV  460,  L.  Herbst,  Philol.  49, 1890,  177)  durch 
Beziehung  von  Plat.  Menex.  236  a  auf  Th. 
bestätigt  fand.  Vgl.  A.  Nieschke,  De  Thucy- 
dide  Antiphontis  discipulo  et  Homeri  imitatore, 
Diss.  Münden  1885. 

»0)  Marcell.  54,  Suidas  und  Phot.  cod.  60. 
Nach  Marcell.  36  fand  man  im  Stil  des 
Thukydides  auch  Spuren  der  jtagiacooeig  und 


454  Griechische  litteraturgeschichte.    L  KlaasiBche  Periode. 

er  von  der  Pest  befallen,  i)  Wie  weit  er  in  den  ersten  Jahren  des  archi- 
damischen  Krieges  selbst  mit  auf  dem  Kriegsschauplatz  gewesen  ist,  läfit 
sich  nicht  genau  feststellen.  Im  Januar  424  etwa,  zu  einer  Zeit,  da  man 
die  Bedrohung  der  thrakischen  Besitzungen  Athens  durch  den  kühnen  Zug 
des  Brasidas  noch  nicht  voraussehen  konnte,  wählten  ihn  die  Athener  zum 
Strategen  und  übertrugen  ihm,  vermutlich  in  der  Annahme,  daß  er  vermöge 
seines  persönlichen  Einflusses  in  dieser  Gegend  der  athenischen  Sache  dort 
nützen  könne,  das  Gebiet  an  der  thrakischen  Küste  zusammen  mit  seinem 
Kollegen  Eukles.  Daß  Thukydides,  der  die  staunenswerten  Erfolge  des 
Brasidas  auf  Chalkidike  mit  Augen  sah  und  die  außerordentliche  Bedeu- 
tung von  Amphipolis  kannte  (IV  108),  im  entscheidenden  Augenblick  mit 
sieben  Trieren  und  den  ihm  unterstellten  attischen  Bürgertruppen  eine 
halbe  Tagereise  von  Amphipolis  entfernt  bei  Thasos  lag,  während  Amphi- 
polis nur  durch  die  Söldner  unter  Eukles  gedeckt  war,')  darin  liegt  ein 
schwerer,  in  seinen  Motiven  nicht  aufgeklärter  Fehler,  den  Thukydidea 
nicht  sowohl  in  den  undeutlichen  Worten  (V  26  xal  Svvißrj  ßioi  (pevyeiv  rrjv 
ifxamov  hrj  eixooi  ^erä  rrjv  ig  'Aßiq>bio3Uv  oTQaTrjylav)  als  in  seinem  Verhalten 
nach  dem  Fall  von  Amphipolis  eigentlich  zugibt:  er  kehrte  nicht  nach 
Athen  zurück,  offenbar  ohne  seine  nachher  beschlossene  Verurteilung  ab- 
zuwarten. Daß  er  keinen  Hochverrat  begangen  hatte,  darf  man  aus  dem 
Schweigen  der  Komödie  schließen.*)  Von  der  mit  dem  Frieden  von  404 
verbundenen  allgemeinen  Amnestie  wagte  er  nicht  Gebrauch  zu  machen^ 
sondern  kehrte  erst  nach  Athen  zurück,  als  Oinobios,  vielleicht  der  Sohn 
seines  ehemaligen  Kollegen  Eukles,  durch  ein  besonderes  x^^ricpiafia  seine 
Rückberufung  beantragte.*)  Die  Muße  der  Verbannung,  während  der  er 
selbstverständlicherweise  sich  nicht  auf  der  attischen  Staatsdomäne  in 
Skaptehyle  aufgehalten  haben  kann,  benutzte  er,  um  Materialien  für  sein 
Geschichtswerk  zu  sammeln  und  an  diesem  zu  arbeiten.  Er  betrachtet  es 
selbst  als  Vorteil,  daß  er  während  dieser  Zeit  auch  die  Verhältnisse  der  Gegner 
kennen  lernte.  Timaios^)  läßt  ihn  nach  Italien  in  die  Verbannung  gehen; 
an  dieser  von  anderer  Seite  verworfenen  Notiz  kann  so  viel  wahr  sein, 

dvriOFOfii   des  Leontiners   Gorgias   und   der  |  keit  der  Angabe,  da  dem  Thukydides  ohne- 

axoißoXoyia    des    Keers    Prodikos;    vgl.    L.  '  hin  durch  die  allgemeine  Amnestie  von  404 

Spengel,  avvayoyyt)  re/rcSv  53  flf. ;   F.  Blass,  |  die  Rückkehr  freistand.    Dagegen  R.  Scholl, 

Att-Bereds.  P218;  E.  Scheel,  De  Gorgianae  j  Herm.l3(1878)438,undG.F.UNOERa.0. 138. 

disciplinaevestigiis,Ro8tockl890;  E.  NoBDEN,  I  Die   Pausaniasstelle    ist   durch    Einwirkung 

Die  antike  Kunstprosa  S.96 — 101.  Elinflußdes  |  herodotischer  Phraseologie  (Herod.  IX  27.  73) 

Aristophanes  und  selbst  des  Pindar  auf  Thuky-  j  getrübt,   aber  doch  brauchbar.     Die  Deszen- 

dides  sucht  nachzuweisen  M. 6 üdinger,  Poesie  denzlinie  Eukles-Oinobios  ist  von  H.  Müller- 


und  Urkunde  bei  Thukydides,  Denkschr.  d. 
Wien.  Ak.  39  (1891)  nr.  3. 

M  Thuc.  II  48.  3. 

»)  Thuc.  IV  103-7. 

')  Falschlich  bezog  H.  Mülleb-Strübing, 
Aristoph.  529,  Ar.  Ach.  603  auf  Th.  (L. 
Herbst,  Philol.  49,  1890,  151). 

*)  Pausanias  I  23,  11.  Epigrammatisch 
pointiert  Plinius  n.  h.  VII  111:  Thucydidem 
imperatoretn  Athenienses  in  exilium  egere, 
rerum  conditorem  revocavere,  ehquentiam 
mirati  cuius  virttUem  damnaveratit,  Wila- 
xowiTz  a.  0.  344  ff.   bestreitet  die  Richtig- 


Stbübing,  Aristoph.  627  entdeckt  (s.  a.  CIA 
IV 15).  G.  BüsoLT,  Herm.  33  (1898)  336  ff.  will 
das  Oinobiospsephisma  vor  den  Frieden  von 
404  und  nach  dem  Psephisma  des  Patro- 
kleides  setzen.  Siehe  a.  E.  Meteb,  Gesch.  d. 
Altert.  IV  660,  und  P.  Ustbbi,  Ächtung  und 
Verbannung  im  griech.  Recht,  Berl.  1903,  127. 
*)  Mareen.  25  u.  33;  Thuc.^V  26:  $vvFßrj 
fioi  qpevysty  trjv  ijuainov  hrj  eTxooi  fisra  rijv 
ig  'Afiqrütohv  OTQorrjyinv  xal  y^vo/irro)  nag* 
dfitpoTegoig  xotg  Jigayfiant,  xai  ovx  V^<iov  röig 
IleXojiovvrfotcov  diä  xrjv  (pvy^v,  xa&^  i/avj^iay 
u  avT&v  fjLoXkov  aio^ia&ai. 


2.  Die  GeschichtBBchreibnng.  c)  Anfänge  der  attiachen  Prosa.  Thnkydides.  (§255.)  455 


daß  er  Italien  und  Syrakus,  dessen  Schilderung  im  sechsten  und  siebenten 
Buch  Autopsie  verrät,  besucht  hat.  Der  aus  einer  schwer  verdorbenen 
Stelle  des  Marcellinus ^  erschlossene  Aufenthalt  des  Thukydides  bei  dem 
Tyrannen  Archelaos  von  Makedonien  gehört  zur  „Thukydideslegende"  und 
ist,  wenn  überhaupt  im  Altertum  von  irgendwem  über  ihn  geredet  wurde, 
jedenfalls  nicht  als  geschichtliche  Tatsache  angesehen  worden.  —  Unsicher 
ist,  wie  lange  er  die  Zeit  seiner  Zurückberufung  überlebte,  wo  und  wie 
er  gestorben  ist.  Am  glaubwürdigsten  ist  die  anscheinend  auf  Kratippos 
zurückgehende*)  Nachricht,  er  sei  in  Thrake,  wohin  er  schließlich  von 
Athen  aus  sich  begeben  haben  muß,  gestorben  und  in  Athen  begraben.^) 
Daß  der  Tod  ihn  überraschte,  läßt  der  unfertige  Zustand  seines  Werkes 
vermuten.*)  Der  Tod  fällt  jedenfalls  nach  399,  ob  auch  nach  396,  wie 
man  unter  Beziehung  der  Stelle  III  116,  2  auf  den  bei  Diodor  XIV  59,  3 
erwähnten  Ätnaausbruch  dieses  Jahres  annahm,  ist  fraglich,  weil  Thuky- 
dides mit  dem  dritten  Ausbruch  des  Ätna  wahrscheinlich  nicht  den  von 
396,  sondern  einen  vor  475  erfolgten  meint.*) 

255.  Das  Geschichtswerk  und  seine  Einteilung.  Die  Geschichte 
des  peloponnesischen  Krieges  ist  das  einzige  Werk  des  Thukydides,  und 
dieses  eine  Werk  ist  Torso  geblieben,  da  es  mitten  im  Krieg  mit  dem 
Jahr  411  abbricht.  Den  ganzen  Krieg  hatte  er  zu  schreiben  im  Sinn,  wie 
er  gleich  im  Anfang  ausspricht  und  V  26,  1  wiederholt.  Auch  hatte  er 
unzweifelhaft  das  Material  zur  Darstellung  des  ganzen  Krieges  gesammelt, 
eine  Arbeit,  mit  der  er  gleich  im  Anfang  des  Krieges  in  Voraussicht  seiner 
Bedeutung  begann  und  die  er  während  desselben  ununterbrochen  fort- 
setzte, ß)  Aber  der  Tod  verhinderte  ihn,  die  Verarbeitung  des  Stoffes  zum 
Schluß  zu  führen,')  so  daß  die  Geschichte  der  letzten  Jahre  ungeschrieben 


^).  Marcell.  29:  ovvexQovMe  6\  c5^  (priai 
IIoa^KpdvTjg  iv  icp  :z£qI  iorogiag  (d.  h.  in  einem 
Dialog  mit  freierfundener  Situation :  R.  Hibzel, 
Herm.  13,  1878,  46  flf.)»  nkdxoyyi  toj  xco/iixtp, 
'AydOcovi  TOJ  xgayixcp,  NtxtjQaTcp  ijzojtoiw  xai 
Xoioucp  aal  MelavtJiJiidf).  xai  ejtei  fih  e^tj 
*AoxeXaog,  ädo^og  rjv  ü>5  isii  nXeXarov,  wg  avxog 
TIoa^Kpdvtjg  SrjXoT,  ifoxegov  de  Öatfiovicog  i&av- 
ftdoörj.  Das  angebliche  Epigramm  des  Th. 
auf  Euripides'  Grab  (Anth.  Pal.  VII  45),  das 
auch  ziur  Bestätigung  von  Thuk.'  makedoni- 
schem Aufenthalt  herangezogen  wurde,  ist 
offenbare  Fälschung  mit  starken  Anklängen 
an  Thuc.  II  41,  1.  43,  3. 

*)  W.  ScHMiD,  Philol.  60  (1901)  155  ff. 

^)  Marcell.  33.  Die  Angabe  bei  Stephanos 
Byz.  u.  llaojidgMv,  er  sei  bei  Perperene,  einem 
äolischen  Städtchen  gegenüber  Lesbos,  ge- 
storben, beruht  auf  Verwechslung  mit  Hel- 
lanikos.  Wilamowitz  findet  in  der  Angabe 
des  Marcellinus  31  (vgl.  17)  von  einem  Keno- 
taph  des  Thukydides  in  Athen  ein  grobes 
Mißverständnis,  das  G.  F.  Unger  mit  kühnen 
Hypothesen  zu  zerstreuen  sucht.  Das  Keno- 
taph  scheint  von  Didymos  vermutet  zu  sein. 

*)  Die  Angabe  von  gewaltsamem  Tod 
kann  daraus  kombiniert  sein.     Dionys.  Hai. 


de  Thuc.  12  und  ad  Pomp.  3, 10  freilich  meint, 
der  Schluß  sei  von  Thuk.  mit  Absicht  ge- 
wählt, und  so  auch,  wohl  als  der  einzige 
unter  den  neueren,  H.  MüLLBR-STKÜBiNG,Thuk. 
Forsch.  73. 

'^)  G.  F.  ÜNGEE  a.  0.  164  ff.  setzt  den 
Tod  des  Thukydides  erst  zwischen  Spätsommer 
395  und  Sommer  393,  weil  die  Stelle  IV  74 
voraussetze,  daß  die  394  in  Megara  aufge- 
kommene Aristokratie  seitdem  wieder  abge- 
schafft worden  sei.  Die  lobende  Stelle  II  100 
über  die  Einrichtungen  des  Königs  Archelaos 
setzt,  dem  Stil  des  Thukydides  nach,  den 
Tod  des  Arch.  (399)  voraus.  387  muß  das 
Werk  der  Öffentlichkeit  übergeben  gewesen 
sein  (W.  Schmid,  Philol.  52,  1893,  130  f.;  F. 
BLASS,  Att,  Bereds.  II*  465). 

•)  Thuc.  II  und  V  26. 

')  Aus  dem  Perfekt  yeyga(pe  de  xai  xavra 
BovxvSiörfg  (V  26)  schließt  H.  Müllkb-Stbü- 
BiNo,  Thuk.  Forsch.  74,  daß  Thuk.  den  ganzen 
Krieg  geschrieben  habe,  daß  aber  der  Schluß- 
teil des  Werkes  durch  Ermordung  und  Be- 
raubung des  Verfassers  verloren  gegangen 
sei.  Beachtenswert  ist,  daß  dem  yiygatpe  an 
jener  Stelle  gegenübersteht  ^wsygayfe  I  1,  1; 
il  70,  5.  103;  m  25,  2.  88,  4.  116,  8;  IV  51. 


456 


Griechische  Litteratnrgeechiohte.    I.  Klassische  Periode. 


blieb.^)  Das  Fehlen  direkter  Beden  im  achten  Buch,^)  dessen  Echtheit  trotz 
einiger  Anzweifelung  im  Altertum  sicher  steht,*)  ist  übrigens  nicht  als 
Zeichen  der  Unfertigkeit  zu  betrachten,  sondern  als  Zeichen  fOr  einen 
Wechsel  der  stilistischen  Grundsätze,  der  für  den  Historiker  bezeichnend 
ist:  er  kam  zu  dem  Entschluß,  Reden,  für  deren  Wortlaut  er  nicht  ein- 
stehen konnte,  nicht  mehr  in  direkter  Form  zu  geben  und  hätte  bei  län- 
gerem Leben  vermutlich  diesen  neuen  Grundsatz  auch  in  Umredigierung 
der  direkten  Reden  der  ersten  sieben  Bücher  durchgeführt.  —  Welchen 
Titel  Thukydides  seinem  Werke  gab,  ist  unsicher,*)  vermutlich  den  in 
einigen  der  besten  Handschriften  überlieferten  Svyygaq?/]^  mit  dem  es 
auch  Libanios  (or.  I  148  F.)  zitiert.  Die  überlieferten  Buchteilungen  des 
Werkes  rühren  ebenfalls  schwerlich  von  Thukydides  selbst  her;  neben 
der  in  den  Handschriften  herrschenden  in  acht  erfahren  wir  von  solchen 
in  neun  und  dreizehn  Bücher.  0)  Die  alte  Ansicht  von  K.  W.  Krüger  und 
J.  Classen,  nach  der  Th.  den  Ausgang  des  ganzen  Krieges  404  abgewartet 
und  erst  dann  mit  der  Ausarbeitung  begonnen  hätte,  hat  gegen  sich  vor 
allem  die  allgemein  psychologische  WahrscheinUchkeit,  daß  der  Historiker 
nach  Abschluß  des  Nikiasfriedens  der  Meinung  sein  mußte,  der  Krieg  sei 
bis  auf  weiteres  zu  Ende,  wonach  die  Annahme  naheliegt,  er  habe  um  421 
den  archidamischen  Krieg  darzustellen  angefangen,  der  Ausdruck  ode  6 
Ttökeßiog  beziehe  sich  zunächst^)  nur  auf  diesen,  und  diejenigen  Stellen,  die 


135,  2;  VI  7,  4.  93,  4;  VII  18,  4;  VIII  6,  5. 
60,3. 

^)  Nachgetragen  wurde  diese  durch  Xe- 
nophon  und  Kratippos;  tther  den  ersteren  s. 
unten  S.  466  ff. ;  den  Kratippos  (Fragmente  hei 
C.MüLLEB,  FHGII75— 8)  setzt  Marceil.  33 
mißverständlich  (W.  ScHifiD,  Philol.  60, 1901, 
155)  nach  Zopyros.  J.  M.  Stahls  Versuch,  den 
Kratippos  in  die  römische  Zeit  herahzudatieren, 
ist  widerlegt  von  W.  Schmid,  Philol.  52  (1893) 
118  ff.,  hat  aber  Unterstützung  durch  F.  Süsb- 
MiHL  (Philol.  59,  1900,  537  ff.)  und  H.  Weil 
(Revue  des  6t.  gr.  13,  1900,  1  ff.)  gefunden. 

*)  Nach  Dionysios  de  Thuc.  16  hatte 
Bjratippos,  der  Fortsetzer  des  Werkes,  be- 
richtet, Thukydides  habe  absichtlich  im  achten 
Buche  die  direkten  Reden  weggelassen,  weil 
sie  die  Erzählung  der  Handlung  störten  und 
den  Lesern  lästig  seien.  Siehe  L.  Holzapfel, 
Herm.  28  (1893)  435  ff.;  W.  Schmid,  Philol.  60 
(1901)  a.O. 

')  Marcell.  43:  leyovai  de  ttveg  xrjv  6y- 
Sörjv  ioTOQtav  voi^even^ai  xai  firj  eJvai  Sovxv- 
didov,  du.*  Ol  fiiv  (paoiv  slvai  rrjg  {hyaigog 
avTov,  Ol  08  Eevo(f(x)-iTog.  Den  Xenophon,  den 
Fortsetzer  des  Werkes,  nennt  als  Heraus- 
geber Diog.  Laert.  II  57. 

*)  Die  ^AxiHg   des  Hellanikos    nennt  er 

I  97,  2  'AiTixij  ^vyygaqW)  (|.  ist  Gegensatz  zu 
Poesie   Hippias   fr.  6   bei  C.  Müller,   FHG 

II  61),  und  so  mag  der  im  Cisalpin.,  Vatic. 
und  Palat.  überlieferte  Titel  ^vyyoaqprj  au- 
thentisch sein.  Der  Titel  IleXo.^ovtfjaicixd  ist 
späte  Gelehrtenbezeichnung   (Plut.  Lyc.  28), 


wie  flberhaupt  der  Name  neXonovyijaiaxog 
noiefiog  vor  Diodoros  und  Cicero  nicht  nach- 
weisbar ist  (F.  W.  ÜLLBicH,  Beiträge  I  10  ff.). 
Die  Athener  nannten  den  Krieg  Acogiaxog 
(Thuc.  II  54,  2)  oder  Äaxojvtxog  (Aristot.  pol. 
1303  a  10)  :i6k€fiog,  die  Peloponnesier  l4TTiy.(h; 
-T.  (J.  Classen  zu  Thuc.  V  28,  2).  Die  Ein- 
heit des  gesamten  Krieges,  den  andere  in 
zwei  Stücke  zerlegen  (Plat.  Menex.  242  d  ff.) 
hat  Th.  zuerst  erfaßt  und  hervorgehoben, 
wenn  er  auch  den  Einschnitt  mit  dem  Nikias- 
frieden  V  26  betont. 

*)  Marcell.  58 :  rtjv  ngayfiaxFiav  avxov  oi 
(ihv  xathefiov  eig  rosig  xai  Sixa  (Schol.  Thuc. 
II  78;  m  116;  JV135.2;  IV  78)  lotogiag, 
älXot  de  äXloyg '  o/n<og  de  rj  :iXeiOTrj  xai  i)  xoivii 
xexgdtrjxe  z6  fie/^gi  twv  6xtcj  Öifjgfjo&ai  irjv 
jigayfjiaTelav  wg  xai  ejzexgtvev  6  'AaxArjnidStjg. 
Eine  Einteilung  in  neun  Bücher  kennt  Diodor 
XII 37, 2  und  XIII 42, 5 ;  s.  Wilamowitz,  Curae 
Thucyd.,  Gott.  1885,  p.  6  f.:  E.  Kalinka,  Zu 
Thukydides,  in  Festschr.  für  Gomperz  S.  109  ff. 
Die  Teilung  in  acht  Bücher  kennt  Diodoros 
a.  a.  0.  und  Greg.  Cor.  p.  79  ff.  Seh. ;  ebenso 
die  Lexika  Segueriana  (Phrynichos,  Anti- 
atticist)  und  Herodian  (II  1217  Lentz).  Das 
Unorganische  der  Einteilung  scheint  Schol. 
Aristid.  p.  402.  1  ff.  Dind.  hervorzuheben. 

•)  Die  frühste  Stelle,  an  der  ode  6  :i6- 
Xefiog  im  Gegensatz  zu  dem  letzten  Teil  des 
Gesamtkrieges  vom  archidamischen  Krieg 
gebraucht  wird  und  der  Schriftsteller  auf  ein 
Ereignis  des  Jahres  410  (Diod.  XIII  48)  hin- 
deutet, ist  IV  48,  5. 


2.  Die  GeschichtBsohreibimg.  c)  Anfänge  der  attischen  Prosa.  Thnkydides.  (§  255.)  457 


Kenntnis  des  ganzen  Krieges  verraten,  seien   erst  bei  einer  späteren  Re- 
daktion eingefügt  (II  65.  100;  IV  81,  2.  108,  4;  V  20,  2.  24,  2). 

Diese  im  ganzen  durchaus  wahrscheinliche  Ansicht  ist  von  Franz 
Wolf  gang  Ullrich^)  aufgestellt  worden;  es  ist  aber  weder  ihm  noch  seinen 
Nachfolgern*)  gelungen,  von  der  schichtenweisen  Entstehung  des  Werkes 
eine  im  einzelnen  einwandfreie  Vorstellung  zu  geben,  so  daß  jetzt  nam- 
hafte Forscher»)  wieder  zu  der  unitarischen  Auffassung  neigen.  An  Spuren 
davon,  daß  die  Gesamtredaktion  nicht  eine  völlig  durchgreifende  gewesen 
ist,  fehlt  es  nicht.  Zwar  ist  es  verfehlt,*)  das  erste  Buch  als  ein  „Un- 
geheuer von  Komposition"  zu  bezeichnen  oder  Spuren  von  ünfertigkeit  im 
achten  nachweisen  zu  wollen;*)  auch  die  beiden  Peisistratosepisoden  I  20 
und  VI  54  ff.  haben  jede  an  ihrem  Ort  ihren  eigenen  Grund  und  Zweck 
und  sind  nicht  etwa  Dubletten.  Wohl  aber  darf  angenommen  werden, 
daß  Thukydides,  hätte  er  die  angefangene  Schlußredaktion  ganz  durch- 
führen können,  die  Schlußpartie  des  fünften  Buches  vom  27.  Kapitel  an, 
deren  zerstückelter  Charakter  nicht  bloß  aus  der  Beschaffenheit  des  Stoffes 
zu  erklären  ist,  besser  ausgearbeitet,  auch  sonst  stilistisch  manches  aus- 
geglichen und  geändert  hätte.  Aber  er  starb  über  der  Arbeit  an  der  Fort- 
setzung, nachdem  er  zu  den  älteren  Büchern  nur  einige  Zusätze  nach  404 
hatte  fügen  können.  Unter  diesen  Umständen  ist  klar,  daß  Thukydides  das 
Werk  nicht  selbst  herausgegeben  hat.  Der  Herausgeber  ist  nicht  bekannt; 
man  kann  an  die  Tochter,  die  gewiß  existiert  hat,  oder  an  einen  der  Fort- 
setzer, am  ehesten  Kratippos,  denken.  Jedenfalls  sind  von  einer  etwa 
verschlechternden  Tätigkeit  des  Herausgebers    keine   Spuren    mit   irgend 


')  F.  W.  Ullrich,  Beiträge  zur  Erklä- 
rung des  Thukydides,  I  Hamb.  1845;  II  1846; 
dagegen  J.  Classen  in  der  Einleitung  seiner 
Ausgabe.  Die  Hypothese  Ullrichs  wurde  teil- 
weise modifiziert  von  J.  Steup,  Quaest.  Thu- 
cyd.,  Bonn  1868,  weiter  verfolgt  von  H.  Mül- 
lee-Strübino,  Thukydideische  Forschungen, 
Wien  1881,  S.  42  flf.  Fest  steht,  daß  II  23 
vor  411  geschrieben  (Wilamowitz,  Herrn.  12, 
1877,  342  A.  26;  21,  1886,97)  und  bei  der 
Gesamtredaktion  nicht  geändert  worden  ist. 
Über  spätere  Zusätze  Wilamowitz,  Herrn.  35, 
1900,  553—61. 

*)  L.  Cwiklinski,  Quaest.  de  tempore  quo 
Thuc.  priorem  historiae  suae  partem  composu- 
erit.Berl.  1873;  ders..  Die  Entstehungsweise  des 
2.  Teils  der  thukvdideischen  Geschichte,  Herrn. 
12  (1877)  23—87,  stellt  folgende  Chronologie 
auf:  1 .  archidamischer  Krieg  I — V  24,  nach  421, 
aber  vor  404  geschrieben,  später  durch  sehr 
umfangreiche  Zusätze  wie  Archäologie  (I  1, 
2—22)  und  Pentekontaßtie  (I  97—118,  2)  er- 
weitert; 2.  der  sizilische  Krieg,  ebenfalls  vor 
404  abgefaßt;  3.  Geschichte  der  Friedenszeit 
und  des  ionisch-dekelefechen  Krieges,  BuchV 
von  c.  25  an,  einzelne  Partien  von  Buch  VI 
und  VII,  endlich  VI  11,  geschrieben  nach  404; 
4.  Einreihung  des  sizilischen  Krieges  und  voll- 
ständige Umarbeitung  des  ganzen  Werkes, 
die  nur  bis  zum  Ende  des  vierten  Buches 


gedieh.  Modifikationen  von  G.  Feibdbich,  Die 
Entstehung  des  Thukydideischen  Geschichts- 
werkes, Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  155  (1897)  175  flf.,  zu- 
sammenfassend S.  255  ff.  Die  Schwächen  von 
Cwiklinskis  Annahmen  sind  durch  J.  Fabeb, 
Quaest.  Thucyd..  Marburg  1885,  dargetan. 
Auch  A.  Kirchhoffs  eigenartiger  Versuch 
(Thuk.  und  sein  Urkundenmaterial,  Berlin 
1895),  durch  Konfrontation  der  thukydideH- 
schen  Urkunden  in  IV,  V,  VIII  mit  dem  er- 
zählenden Zusammenhang,  in  den  sie  ein- 
gelegt sind,  zu  festeren  Daten  für  die  Ent- 
stehungszeit einzelner  Schichten  des  Werkes 
zu  kommen,  ist  mißlungen  (W.  Schxid,  Deut- 
sche Litteraturzeit.  1896,  359  ff.). 

*)  E.  Mbyeb,  Gesch.  d.  Altert.  IH  262  f.; 
A.  Bauer,  N.  Jahrbb.  f.  klass.  Altert.  9  (1902) 
236. 

*)  Die  Annahme  eines  Bruches  vor  I  97 
(A.  KiBOHHOFP,  Herm.  11,  1876,  27  ff.)  ist  er- 
ledigt durch  M.  Fränkel  zu  A.  Böckh  Staats- 
haush.  der  Ath.  II»  A.  626.  Gegen  Wilamo- 
witz, Herm.  20  (1885)  477  ff.  u.  E.  Schwabtz, 
Rh.  Mus.  41  (1886)  203  ff.  s.  A.  Baueb,  PhUol. 
46  (1887)  458  ff. 

*)  Siehe  o.  S.  456,  2;  gegen  L.  Holz- 
apfel, Herm.  28  (1893)  435  ff.  s.  E.  Meybb, 
Forsch.  IL  409  f.  Ohne  Belang  ist,  was  I. 
Bbüns,  Litterar.  Portr.  23,  für  ünfertigkeit 
von  Vni  vorbringt. 


458 


Ghriechische  Litteratnrgesohichte.    I.  Elassisohe  Periode. 


welcher  Sicherheit  nachgewiesen.    Die  zwei  einzigen  größeren  Interpola- 
tionen in  dem  Werk  (III  17.  84)  stammen  nicht  vom  Herausgeber. 

256.  Inhalt  und  Anlage  des  Werkes.  Von  seinen  Vorgängern 
unterscheidet  sich  Thukydides  schon  durch  die  Wahl  des  Stoffes,  indem 
er  nur  erzählt,  was  er  selbst  miterlebt  hat,  und  in  die  Vergangenheit  nicht 
weiter,  als  es  ihm  der  Zusammenhang  zu  fordern  scheint,  zurückgreift  Er 
betont  mit  Selbstgefühl  wiederholt  diesen  Umstand,  ^  weil  er  sich  so  über 
die  leitenden  Persönlichkeiten  ein  sicheres  Urteil  bilden  konnte  und  be- 
züglich der  Tatsachen  nicht  wie  Hellanikos  und  andere  Logographen  auf 
die  fabelhaften  Überlieferungen  der  Vergangenheit  angewiesen  war,  son- 
dern selbst  gewissenhafte  Erkundigungen  einziehen  konnte.  Im  Oegensat2; 
zu  Herodot  bleibt  er  streng  bei  der  Sache  und  erlaubt  sich,  abgesehen 
von  orientierenden  Einleitungen,  wie  den  Abschnitten  über  die  Vorgeschichte 
(Archäologie)  Griechenlands  (I  1 — 21),  die  Geschichte  Athens  seit  den 
Perserkriegen  (Pentekontaetie  I  89 — 118),  das  Reich  der  Odrysen  in 
Thrake  (II  96—101),  die  Lage  und  ältere  Geschichte  Siziliens  (VI  1— 5),»> 
fast  gar  keine  Abschweifungen.  Nachdem  er  bei  seinem  eigentlichen 
Gegenstand  angekommen  ist,  schiebt  er  eine  größere  Episode  (VI  54 — 59) 
nur  noch  einmal,  und  bezeichnenderweise  aus  methodologischen  Gründen, 
recht  gewaltsam  ein.^)  Den  Angaben  der  Dichter  und  Logographen  steht 
er  mit  rationalistischer  Kritik,  der  mündlichen  Tradition  mit  Mißtrauen 
gegenüber;*)  im  übrigen  sucht  er  aus  festen  Daten  gegenwärtiger  Zustände 
durch  Wahrscheinlichkeitsschlüsse  Gewißheit  über  Vorzeitliches  zu  ge- 
winnen*) mit  einer  Methode,  die  mit  Recht  als  Vorläuferin  modernster 
historischer  Methoden  bezeichnet  worden  ist.^)  Auf  diese  Art  ist  er  zu 
Ergebnissen  gekommen,  die  von  mündlicher  und  schriftlicher  Überlieferung 
unabhängig  jenes  völlig  neue,  alles  romantischen  Glanzes  entkleidete  Bild 
von  Griechenlands  Vorzeit  in  der  sogenannten  Archäologie  geliefert  haben. 0 


*)  Thuc.  V  26 :  ijteßimy  dia  navTog  amov 
aia&avöfjisvog  te  rfj  riXixlq,  xat  jiqoosxcov  rrjv 
yvoafirjv,  Sjicog  dxgißeg  ri  etoofiat.  I  1 :  lo  yäg 
ngo  avzcbv  (sc.  peloponnes.  Krieg)  xai  ra  hi 
staXaiorega  oaqputg  fiev  et^oeiv  dia  XQ^o^  nXfj- 
Oog  ddvrara  ijv.  Vgl.  I  73,  2;  VI  2,  1.  Ab- 
schätziges Urteil  über  Hellanikos  197;  ver- 
deckte Vorwürfe  gegen  Herodot  I  20,  3  mit 
Schol.;  n  97,  6  (Her.  IV  46);  VII  85  (Her.  VII 
170);  8.  im  allgemeinen  Aristid.  or.  49  p.  513 
DiND.;  G.  ScHNEEOE.  De  relatione  historica, 
quae  intercedat  inter  Thuc.  et  Herodot.,  Bres- 
lau 1884;  A.  Baüeb,  Philol.  50  (1891)  420. 

')  In  den  Abschnitten  über  ältere  Ge- 
schichte war  auch  Thukydides  auf  ältere 
Quellenschriftsteller  angewiesen,  und  zwar  hat 
er  in  dem  Abschnitt  über  Sizilien  den  Antiochos 
benützt,  wie  E.  Wölfplin,  Antiochos  von 
Syrakus  und  Coelius  Antipater,  Winterthur 
1872,  erwiesen  hat.  In  dem  1.  Buch  hat  er 
Homer,  ein  kyküsches  Epos,  Herodot,  Hella- 
nikos und  eine  chronikartige  Aufzeichnung 
benutzt  (U.  Köhler,  Über  die  Archäologie 
des  Thuk.,  in  Comm.  in  honor.  Momms.,  Berl. 
1877,  370—7).  —  H.  StBiw,  Zur  Quellenkritik 


des  Thukydides,  Rh.  Mus.  55  (1900)  531-64, 
dehnt  die  Benutzung  des  Antiochos  über  die 
ganze  ältere  Geschichte  Siziliens  aus  und  nimmt 
Ikir  die  spätere  Zeit  die  weitere  Vorlage  einer 
Biographie  des  Hermokrates  an,  wogegen 
J.  Steup,  Rh.  Mus.  56  (1901)  443-61. 

')  Über  den  Parallelbericht  bei  Aristot. 
*A^.  jioX,  18  s.  WiLAMOwiTz,  Aristot.  u.  Athen 
1  108  ff.;  weitere  Episoden  I  126,  3—12.  128 
bis  138;  II  15.29.  Siehe  über  alle  Episoden  W. 
H.  RosoHER  a.  a.  0.  359  ff. 

^)  Für  das  Recht  des  Dichtei-s  hält  er 
das  xoofAfjoai  kni  ro  /äcICov  (I  10,  3;  21,  1), 
und  wo  er  den  Homer  zitiert,  fügt  er  bei  et 
xq)  ixavog  xsxfxrjQiibaai  (I  9,  3.  10,  3)  u.  ä.  Sein 
Urteil  über  mündliche  Traditionen  1 9, 2;  20, 1. 

»)  elxdCfiv  s.  J.  Classen  zu  Thuc.  I  9, 5. 
Beispiele  besonders  16,7;  II  15,  4.  Die  Me- 
thode ist  von  Aristoteles  angenommen:  J. 
Bernays,  Theophrastos'Schr.  über  Frömmigk., 
Beri.  1866,  51  ff. 

•)  R.  Scholl,  Die  Anfänge  einer  polit. 
Litt,  bei  den  Griechen,  München  1890,  26  ff. 

'')  Die  Wirkung  dieses  Bildes  zeigt  Ari- 
stot. pol.  1268  b  40;  über  sein  Verhältnis  zu 


2.  Die  QeschichtBschreibang.  o)  Anfänge  der  attischen  Prosa.  Thnkydides.  (§  256.)    459 

Die  Geschichte  der  Gegenwart  schöpft  er  teils  aus  der  eigenen  Er- 
innerung, soweit  er  bei  den  Vorgängen  gegenwärtig  gewesen  ist  und  die 
Persönlichkeiten  kennen  gelernt  hat,  teils  aus  Erkundigung  bei  solchen, 
die  dabei  gewesen  sind,  immer  mit  dem  kritischen  Vorbehalt,  daß  Partei- 
lichkeit oder  Gedächtnisschwäche  oder  Unfähigkeit  zu  genauer  Wiedergabe 
beim  Berichterstatter  die  Wahrheit  trüben  könne,  0  teils  aus  urkundlichen 
Aufzeichnungen,  die  er  aus  Archiven  oder  Steininschriften  entnommen  hat.*) 
Was  er  bieten  will,  ist  lediglich  Geschichte  des  Krieges  und  der  mit  diesem 
solidarisch  verbundenen  diplomatischen  Aktion.*)  Die  Personen  berührt 
er  in  der  Regel  bloß  insofern,  als  sie  für  die  Gestaltung  der  öflFentlichen 
Dinge  Kraftzentren  bilden;  er  vermeidet  es  auch,  im  eigenen  Namen 
Persönlichkeiten  zu  charakterisieren*)  und  nennt  keine  Personen,  die  zur 
Zeit,  da  er  schrieb,  noch  am  Leben  waren.*)  Es  ist  also  völlig  verfehlt, 
von  ihm  Verfassungs-  oder  Kulturgeschichte  oder  biographische  Daten  zu 
erwarten.®)  Alles  Novellistische  scheidet  er  mit  Bewußtsein  aus,  strebt 
vielmehr,  im  Sinn  der  Sophistik,  aus  den  Geschehnissen  eine  Mechanik  und 
Statik  der  Geschichte  zu  entwickeln,  die  für  den  Staatsmann  praktischen 
Wert  haben  soll,  weil  die  Situationstypen  sich  im  Ablauf  des  öflFentlichen 
Lebens  wiederholen  müssen.  7)  Als  unerläßliche  Bedingung  für  diese  prak- 
tische Nützlichkeit  der  Geschichte  gilt  ihm  größtmögliche  Genauigkeit  der 
Darstellung.  Um  ihretwillen  verzichtet  er  mit  Bewußtsein  auf  den  Reiz 
gruppierender  Erzählung,  zerlegt  vielmehr,  um  ein  möglichst  zutreffendes  Bild 
der  zeitlichen  Abfolge  der  Ereignisse  zu  bieten,  seinen  Stoff  nach  Kriegs- 
halbjahren. Die  Einteilung  ist  offenbar  schon  von  Ästhetikern  zu  Thuky- 
dides'  Zeit,®)  noch  mehr  nach  ihm^)  beanstandet  worden;  sie  entspricht 
aber  den  Verhältnissen  der  damaligen  Kriegführung,  die  Winterfeldzüge 
noch  so  gut  wie  gar  nicht  kennt,  und  da  sie  auf  die  natürlichen  Jahres- 
zeiten gegründet  ist,  hebt  sie  den  Geschichtsschreiber  über  die  Verwir- 
rungen des  mit  rohen  Schaltmethoden  arbeitenden  bürgerlichen  Kalenders 
und  die  Undeutlichkeiten  der  Rechnung  nach  Amtsführung  von  Magistraten 
oder  Priesterschaften  griechischer  Städte  ;^o)  eine  festere  und  objektivere 
Datierungsweise  war  zu  jener  Zeit  und  noch  lange  hin  nicht  möglich. 

Homer  handelte  Porphyrios  elg  t6  Sovx.  tzqo'  '           ^)  I  22,  4;   II  48,  2;   vgl.   Aristot.  rhet. 

oiiL4ior  (Suid.  s.  Ilogq?.).  1418a  1  flf.;  Quint  inst.  III  8,  66. 

^)  Hauptstellen  über  seine  methodischen  ^)  Daher    die    Selbstverteidigung  Thuc. 

Grundsätze  I  22;  V  26;  vgl.  VII  8,  2  und  über  V  20,  2. 


die  besondere  Schwierigkeit,  zutreffende 
Schlachtberichte  zu  erhalten  VK  44,  1. 

^)  über  die  im  Wortlaut  ausgeschriebe- 
nen Urkunden  in  IV,  V,  VIII  s.  A.  Kiboh- 
HOFF  (o.  S.  457, 2) ;  ein  Grabepigramm  benützt 
Th.  VI  59,  3,  eine  (neuerdings  aufgefundene) 
Altarinschrift  VI  54,  7. 

')  Die  Ttgaxi^evra  zerlegt  er  in  zwei  gleich- 
berechtigte Teüe,  e(jya  und  koyoi  (I  22,  1  f.), 
ähnlich  Plat.  Tim.  19  c. 

*)  I.  Bruns,  Das  litterar.  Porträt  8  ff., 
64  f. 

s)  VI  60,  2  (Andokides). 

•)  So  H.  Müller-Stbübiko,  Aristoph. 
385  ff.;  J.  ScHVARcz,  Die  Demokratie 1 421  ff. 


»)  Dionys.  Hai.  de  Thuc.  9;  ad  Pomp.  3, 
13  ff. 

»0)  Die  Verwirrung  des  attischen  Kalen- 
ders war  am  Anfang  des  peloponnesischen 
Krieges  besonders  groß  (Aristoph.  nub.  615. 
pac.  406  ff. ;  Aristoz.  harmon.  II  p.  30  Meübs.; 
vgl.  CIA  IV  27  b  p.  59  Z.  53  f.).  Das  Kriegs- 
jfdu:  des  Thuk.  beginnt  mit  dem  natürlichen 
Frühjahrsanfang,  der  im  Jahr  431  vier  Mo- 
nate vor  Schluß  des  attischen  Amtsjahres 
fiel  (II  2,  1).  Den  Überfall  von  Plataia  hat 
sich  Thuk.  mit  dem  Datum  des  attischen 
bürgerlichen  Kalenders  notiert  und  berechnet 
von  da  aus  größere  Zeitdistanzen  V  20,  1 
(vgl.  I  125;  II  2,  1).    Bei  wichtigen  Epochen 


460 


QriechiBche  Litteratnrgoschichie.    I.  Klassische  Periode. 


257.  Charakteristik.  Thukydides  gilt  mit  Recht  als  der  größte 
Historiker  des  Altertums.  Er  brachte  zur  Geschichtsschreibung  eine  reife, 
aus  eigener  praktischer  Tätigkeit  stammende  Kenntnis  der  Staatsgeschäfte 
und  des  Kriegswesens  mit.  Sein  aufgeklärter  Geist  war  frei  von  jeder 
religiösen  Befangenheit^  und  erhaben  über  die  engherzigen  Parteivorurteile 
der  Politiker  gewöhnlichen  Schlages.  Die  Welt  zerfällt  ihm  in  die  beiden 
Sphären  des  Rationalen  (yvwjutr])  und  Irrationalen  (rvxr]).^)  Die  Einwirkungen 
der  Tvxv  ^^f  ^^^  Leben  der  Staaten  und  einzelnen  anerkennt  er  als  un- 
vermeidlich, tadelt  aber  den  Staatsmann,  der  diese  Wirkungen  in  seine 
Pläne  aufnimmt,  da  es  doch  seine  Aufgabe  wäre,  das  Gebiet  der  rvxrj  nach 
Möglichkeit  einzuschränken  und  in  dem  der  yvcofirj  sich  mit  einem  mög- 
lichst hohen  Maß  von  Intelligenz  und  Energie  zu  betätigen.  Lediglich  nach 
dem  Einsatz  dieser  rationalen  Kräfte,  nicht  nach  dem  Erfolg  wertet  er  die 
menschliche  Leistung. s)  Jedem  Staat  erkennt  er  das  Recht  zu,  seine  Inter- 
essen bis  auf  das  Äußerste  zu  verteidigen,  nur  mit  der  Einschränkung, 
daß  ein  Überspannen  der  Interessenpolitik  ihrem  Vertreter  auch  wieder 
Schaden  bringen  könne.*)  Was  die  Zuverlässigkeit  des  Thukydides  betrifft, 
so  sind  ihm  Versehen  und  Irrtümer  von  nennenswerter  Bedeutung  nicht 
nachgewiesen.*)  Auch  die  leidenschaftlichen  Angriffe  auf  seine  Unpartei- 
lichkeit, die  nächst  A.  Schmidt  besonders  H.  MüUer-Strübing  unternommen 
hat,  sind  wirkungslos  abgeprallt. ß)    Allerdings  ist  es  uns  nur  selten  mög- 


zieht er  subsidiär  auch  Datierungen  nach 
Amtsjahren  bei  (II  2;  V  25;  ein  Olympionike 
wird  nur  bei  besonderem  Anlaß  III 8  ge- 
nannt). Die  beiden  Hälften  des  Eriegsjahrs, 
^igos  (umfaßt  als  Unterabschnitte  tjq  [V  40, 1 ; 
VI  94,  1]  und  (f&ivojiwoov  [II  31])  und  yjtfiaw 
werden  je  zu  sechs  Monaten  berechnet  (V 
20,  3) ;  Abschnitte  des  i^egog  werden  gelegent- 
lich durch  landwirtschaftliche  Daten  näher 
bezeichnet  (Classkn-Stbxtp,  Einl.  zu  I*  S.  LVI). 
Siehe  im  allgemeinen  H.  L.  Schmitt,  Quae- 
stioneschronol.  ad  Thucyd.  pertin.,  Leipz.  1882 ; 
G.  F.  ÜNGEB,  Philol.43  (1884)  577  fr.,  44  (1885) 
622  fr. ;  WiLAMowiTZ,  Curae  Thucydidiae,  Gott 
1885.  Die  hohe  Wertung  chronologischer  Ge- 
nauigkeit, die  sich  auch  in  dem  Tadel  I  97, 2 
ausspricht,  teilt  Th.  mit  allen  großen  Ge- 
schichtsschreibern. 

*)  Freigeistiges  Urteil  über  die  Orakel 
II  17,  54,  über  Sonnenfinsternis  II  28;  über 
seine  Ansicht  vom  panischen  Schrecken  W. 
ScHMiD,  Rh.  Mus.  50  (1895)  310  f.  Vgl.  über 
Thuk.' Religion  H.  Meuss,  Jahrbb.  f.  cl.  Philol. 
145  (1892)225  ff.;  Th.  Gompebz.  Griechische 
Denker  I  409—413.  Besonders  ist  das  Fazit 
bezeichnend,  das  Th.  aus  dem  Leben  des  ihm 
nicht  unsympathischen  religiös  observanten 
Nikias  zieht  VII  86,  5. 

«)  Siehe  bes.  1  140,  1;  IV  64,  1.  Die  ter- 
mini  für  das  Rationale  s.  Classen-Steuf, 
Einl.  zu  I*  p.  XLVIIff.;  über  die  tvxv  bei 
Thuk.  H.  Meüss,  N.  Jahrbb.  139  (1889)  469.  Das 
ixkoyiCea&ai  und  rol/tiäv  findet  er  am  meisten 
bei  den  Athenern  vereinigt  II  40,  3. 


*)  So  gilt  ihm  die  sizilische  Expedition 
trotz  ihres  Scheiterns  an  sich  nicht  als  yvcofAtj^ 
aficLQxrjfia  (II  65,  1);  aber  Demosthenes  steht 
ihm,  weil  er  auf  Glück  gerechnet  hat.  trotz 
seiner  Erfolge  als  Feldherr  nicht  hoch  (III 97, 2 ; 

IV  10,  1);  noch  weit  tiefer  der  Glückspilz 
Eleon.  Verworfen  werden  eooyg  (III 45,  5)  und 
khildeg  (V 103.  113;  IV  65,  4;  Schol.  Thuc. III 
45,  5;  VI  23,  3)  als  irrationale  Ttdd^j. 

<)  Vgl.  besonders  IV  61,  5;  VI  79.  85,  1; 

V  85  ff.  90.  Daß  Th.  an  diesen  Stellen  nicht 
von  Privatmoral  redet,  betont  mit  Recht  I. 
Bbüns,  Litterar.  Portr.  65  ff.  Wie  weit  er  von 
sophistischer  Eannibalenmoral  entfernt  war, 
zeigt  er  in  der  schönen  Gestalt  des  Diodotos 
III  37-48. 

*)  Von  Namensverwechslungen,  wie  sie 
bei  Diodor  öfter  vorkommen  (A.  v.  Mess,  Rh. 
Mus.  61,  1906,  257,  5)  kennen  wir  nur  einen 
Fall  (151,  4  müßte  es  nach  CIA  1 179  Drakon- 
tides  statt  Andokides  heißen).  Die  Abwei- 
chungen unseres  handschriftlichen  Textes 
V  47  von  der  Steinurkunde  CIA  IV  1  p.  14, 
46  b  sind  von  A.  Kirchhoff  und  A.  Schöne 
maßlos  übertrieben  worden;  sie  sind  nicht 
größer,  als  sie  zwischen  zwei  von  demselben 
Steinmetzen  gefertigten  Exemplaren  einer  und 
derselben  Inschrift  im  5.  Jahrh.  vorkommen 
(A.  Wilhelm,  Jahresh.  des  östr.  arch.  Inst.  6, 
1903, 14).  Gegen  die  Verdächtigung  der  thuky- 
didel[schen  Darstellung  von  dem  Mauerbau 
des  Themistokles  durch  E.  v.  Stern  s.  G.  Bu- 
soLT,  Beitr.  z.  alten  Gesch.  5  (1905)  255  ff. 

«)  A.  Baueb,  Thukyd.  und  Herr  Müller- 


2.  Die  Qesohichtsschreibang.  o)  Anfänge  der  attischen  Prosa.  Thnkydides.  (§257.)  461 


lieh,  den  Thukydides  durch  gleichwertige  Parallelberichte  zu  kontrollieren. 
Fest  steht  aber,  daß  der  Wert  späterer  abweichender  Berichte  über  den 
peloponnesischen  Krieg  null  ist.  Abgesehen  von  den  Peisistratosepisoden, 
denen  Berichte  des  Herodot  und  Aristoteles  zur  Seite  stehen,  haben  wir 
durch  die  Entdeckung  des  die  aristotelische  ^A'&rivaUov  noXtreia  enthaltenden 
Papyrus  eine  von  der  thukydideischen  mehrfach  abweichende,  mit  neuen 
Urkunden  ausgestattete,  darum  aber  im  wesentlichen  keineswegs  richtigere 
Schilderung  des  Umsturzes  vom  Jahr  411  bekommen,  i)  Wiewohl  Aristokrat 
von  Geblüt  und  Anhänger  einer  gemäßigten  Oligarchie,^)  wiewohl  ein 
Kenner  der  Schwächen  der  Demokratie, 8)  würdigt  Thukydides  doch  die 
Vollender  der  attischen  Volksherrschaft  mit  begeistertem  Verständnis.*) 
Vor  wahrer  Heldengröße  schwinden  ihm  alle  Parteischablonen,  und  der 
Mann,  dessen  Erfolge  ihm  selbst  so  verhängnisvoll  geworden  sind,  Brasidas, 
wird  ihm  zum  Gegenstand  enthusiastischer  Bewunderung.  Dagegen  ist 
diesem  vornehmen  Geist  dünkelhafte  Niedrigkeit  trotz  aller  Glückserfolge 
tief  verhaßt:  über  Kleon  äußert  er  sich  mit  einer  Heftigkeit,*)  die  um  so 
auffälliger  ist,  je  mehr  er  sonst  mit  eigenen  Urteilen  zurückhält,  hinter 
der  man  aber  keineswegs  egoistische  Gründe  zu  suchen  braucht;  auch  hat 
noch  niemand  erwiesen,  daß  Thukydides  die  kriegerischen  Leistungen  des 
Kleon  —  und  nur  um  diese  handelt  es  sich  —  unrichtig  eingeschätzt  habe. 
Er  ist  auch  weder  einseitiger  Parteigänger  der  Athener  —  wie  könnte  er 
sonst  so  günstig  über  Brasidas  und  Gylippos  urteilen?  —  noch  der  Lake- 
daimonier  —  wie  könnte  er  sonst  die  Schwächen  der  lakonischen  Ver- 
fassung, das  altfränkische  Wesen  der  Lakonier,  die  Unbehilflichkeit  ihrer 
Versuche  im  Seekrieg  so  ironisch  beleuchten,  wie  er  I  141  ff.;  H  11.  37 — 40; 
ni  26  ff.  tut?    Überall  ist  er  ernstlich  um  Objektivität  (t6  oacpeg)  bemüht. 


Strübing,  Nördl.  1887.  E.  Lange,  N.  Jahrbb. 
135  (1887)  721  ff.  und  Philol.  52  (1893)  616  ff.; 
MüLLER-STBÜBiNos(N.Jahrbb.l31,1885,289ff.) 
Angriffe  auf  die  Darstellung  der  Belagerung 
von  Plataia  weist  H.  Waoner,  Die  Belag,  von 
Plat.,  Programme  Doberan  1892.  1893  zurück. 
Eingehend  handelt  über  die  Zuverlässigkeit 
des  Th.  W.  H.  Forbes  in  der  Ausg.  von  Thuc.  I 
(Oxford  1895)  LXXXI— CXXXII.  Durch  H. 
NissENs  (Histor.  Zeitschr.  N.  F.  27, 1889, 385  ff.) 
Mutmaßungen  wird  der  solide  Bericht  des  Th. 
über  die  Ursachen  des  Krieges  nicht  erschüt- 
tert. Siehe  a.  L.  Holzapfel,  Rh.  Mus.  37  (1882) 
448  ff. ;  L.  Herbst,  Philol.  42  (1884)  707  ff. ;  B. 
Schmidt,  Korkyräische  Studien,  Leipz.  1890; 
G.  B.  Grundy,  Joum.  of  hell.  stud.  16  (1896)  1  ff. 
1)  U.  Köhler,  Beri.  Ak.  Sitz.ber.  1895, 
451  ff.,  1900,  808  ff.,  zieht  den  Bericht  des 
Aristoteles  vor,  während  E.  Meter,  Forsch. 
II  406  ff.,  und  A.  Bauer,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt 
9  (1902)  236,  den  thukydidetechen  für  authen- 
tischer halten,  ebenso,  unter  Beseitigung 
einiger  Differenzpunkte,  W.  Judeich,  Rh.  Mus. 
62  (1907)  295  ff.  Vgl.  auch  Chr.  A.  Vol- 
QüARDSEN,  Verb,  der  48.  Philologenvers.  1906, 
123  ff 


*)  Thuc.  VUI  97  (jieTQia  es  rovg  dUyovg 
xal  Tovg  jtokXovg  ^vyxgaaig) ;  vgl.  Aristot.  Ath. 
resp.  33,2;  über  die  Schwäche  der  Oligarchie 
Thuc.  VIU  89,  3.  —  Seine  Unparteilichkeit  in 
Beurteilung  der  Monarchie  ist  aus  I  17.  20; 
VI  54  ff.  ersichtlich. 

»)  n21.65;in36;IV28;VI63;  Vmi. 

*)  Über  Themistokles  I  138,  3;  über  Pe- 
rikles  besonders  II  65.  Die  Darstellung  der 
Ursachen  des  Krieges  im  ersten  Buch  ist  zu- 
gleich eine  Verteidigung  des  Staatsmanns 
gegen  den  E^atsch  der  Komödie  (Ar.  Ach. 
513  ff.),  den  dann  Ephoros  weitergetragen 
hat;  ebenso  ist  der  'Ejntd(ptog  des  Perikles 
II  35  ff.  eine  glänzende  Apologie  des  Geistes 
der  periklelschen  Politik. 

»)  m  36;  IV  28,  5.  39,  3;  V  7,  2.  10,  9. 
Siehe  W.  H.  Röscher  a.  a.  0.  230  ff.  Was 
A.  KiRCHHOFP,  Beri.  Ak.  Sitz.ber.  1882,  920 ff., 
vorbringt,  um  dem  Th.  Unterdrückungen  der 
Wahrheit  zu  Ungunsten  Kleons  vorzuwerfen, 
hält  nicht  Stich.  Ober  die  auffällig  objekti- 
vierte Form  der  Urteile  über  EQeon  s.  I. 
Bruns,  Litt.  Portr.  10  ff.  Im  ganzen  vgl.  E. 
Lange,  Thuc.  und  die  Parteien,  Philol.  52 
(1893)  616  ff. 


462 


Qriechisohe  LitteratiirgeBchichte.    L  Elassisohe  Periode. 


Temperamentlose  Indifferenz  freilich  darf  man  von  einem  so  ausgeprägten 
Charakter  nicht  erwarten,  und  die  Alten  haben  die  starke  Persönlichkeit, 
die  hinter  der  statuarischen  Ruhe  seiner  Darstellung  steht,  richtig  em- 
pfunden, wenn  sie  ihn  im  Gegensatz  zu  Herodot  als  den  »pathetischen* 
Historiker  bezeichneten.*)  Über  seine  lebhafte  Teilnahme  an  seinem  Gegen- 
stand darf  der  ernsthaft-sachliche  Stil,  den  er  nur  selten  durchbricht,  nicht 
täuschen.*)  Viel  von  seinen  eigenen  Anschauungen  versteckt  er  in  den 
Reden,  die  entweder  in  direkter  oder  indirekter  Form  {J^vfuiaaa  yvibput) 
I  22,  1)  gehalten,  den  Schein  objektiver  Berichterstattung  erwecken,  tat- 
sächlich aber  weder  ihrer  Form«)  noch  ihrem  Inhalt*)  nach  authentisch 
sein  können.  Übrigens  braucht  man  an  der  Tatsache,  da&  bei  den  An- 
lässen, bei  denen  Thukydides  sie  reden  läßt,  die  Personen  wirklich  geredet 
und  die  von  dem  Historiker  ihnen  in  den  Mund  gelegten  Gedanken  zum 
Teil  auch  ausgesprochen  haben,  nicht  zu  zweifeln.  Doch  sind  im  all- 
gemeinen fQr  Thukydides  die  Reden,  die  er  als  erster  eigentlich  in  die 
griechische  Geschichtsschreibung  eingeführt  hat,*)  ein  Mittel,  innere  Motive 
und  Zusammenhänge,  wie  sie  bei  den  politischen  Verhandlungen  wirklich 
zutage  kamen,  darzulegen.  Das  Suchen  nach  psychologischen  Motiven  der 
handelnden  Personen,  durch  das  Theopompos  und  später  Tacitus«)  ihren 
Werken  einen  so  pikanten,  aber  wissenschaftlich  bedenklichen  Reiz  zu  geben 
wußten,  hat  er  vermutlich  mit  Bewußtsein  verschmäht.^)  Ebensowenig 
wie  die  Reden  darf  der  Dialog  der  Melier  und  Athener  V  85  ff.«)  oder  das 
kurze  Gespräch  IH  113, 4  oder  der  Brief  des  Nikias  VII 11  ff.  für  authentisch 
gehalten  werden. 

258.  Stil,  Sprache  und  Überlieferung.  Auf  der  gewaltigen 
Spannung,  die  durch  den  überbrückten  Gegensatz  zwischen  dem  sachlich 
ernsten  Vortrag   und   der  tiefen  inneren  Leidenschaft  des   Schriftstellers 


»)  Dionys.  Hai.  de  imit.  ß  3  p.  207,  13 
Ü8.;  Quint.  inst.  XI,  73;  Plut.  Nie.  1;  de 
glor.  Ath.  p.  347  a. 

*)  Nur  selten  entfährt  ihm  ein  Wort  der 
Teilnahme  an  einem  fiirchtharen  Ereignis 
(in  98,  4;  VII  80,  4).  Auch  Charakteristiken 
von  Personen  (ITiemistokles,  Perikles  s.  o. 
S.461,4;  Antiphon  VIII  68,1)  oder  Zuständen 
(III  82—83  die  Pathologie  des  Kriegs)  giht 
er  selten  im  eigenen  Namen. 

*)  Aus  den  erhaltenen  Apophthegmen 
des  Perikles  (F.  Blass,  Att.  Bereds.  P  37) 
sieht  man,  daß  Perikles  viel  drastischer  und 
sinnlicher  geredet  hat,  als  ihn  Thukydides 
reden  läßt,  abgesehen  davon,  daß  das  bei 
Aristot.  rhet.  p.  1365  a  31;  1411a  1  aus  dem 
perikleYschen  Epitaphios  (natürlich  nicht  dem 
.samischen"!)  zitierte  Bild  sich  bei  Th.  nicht 
findet. 

*)  Einen  sehr  akademischen  Charakter 
hat  die  Rede  I  73  ff. ;  oft  berühren  die  Redner 
nachträglich  Eingetretenes,  was  sie  nicht 
wissen  konnten  (I  77,  5.  81,  6.  82,  4;  beson- 
ders I  140  ff.;  I  144,  2  ist  nach  J.  Classens 
Bemerkung  geradezu  vom  Standpunkt  des 
Schriftstellers  aus  gesagt)  oder  beziehen  sich 


auf  andere  Reden  des  Geschichtswerks,  die 
sie  nicht  gehört  hatten  (VII  67,  4  auf  VII 
61,  3).  Siehe  F.  W.  Ullbich,  Beitr.  I  58  f.; 
L.  CwiKLnvsKi,  Quaest.  de  tempore  42  ff.;  H. 
SwoBODA,  Thukydid.  Quellenstudien.Innsbruck 
1881,  27  ff.  Die  Alten  waren  von  der  freien 
Fiktion  der  Reden  völlig  überzeugt  (Dionys. 
Hai.  deThuc.  17;  Schol.  Thuc.  I  22,  1).  Siehe 
a.  F.  BLASS,  Att  Bereds.  P  203ff. 

»)  Marcellin.  vit.  Thuc.  38 ;  vgl.  die  Kri- 
tik  bei  Diod.  XX  1;  lustin.  XXXVIII,  3.  11. 

•)  C.  NiPPBBDEY,  Einl.  zu  Tac.  ann.  P 
(Berlin  1884)  31  ff.  K.  Lehbs,  Popul.  Aufs.» 
450  ff. 

')  H.  Swoboda  a.  a.  0.  33  ff. ;  vgl.  bes. 
die  vorsichtige  Form  VII  86,  5;  VUI  46.5; 
56,3. 

®)  Das  Fehlen  jeder  Ethopoie  in  diesem 
für  den  ethischen  Radikalismus  der  Sophistik 
höchst  interessanten  Dokument  bemerkt  Albin. 
isag.  in  Plat.  dial.  2  extr.  Sonst  finden  sich 
in  den  Reden  vereinzelte  Ansätze  zu  indi- 
vidueller Charakteristik  und  Illusion,  wenn 
z.  B.  die  Lakedaimonier  IV  17,  2  notwendig 
finden,  zu  begründen,  daß  sie  eine  lange 
Rede  halten. 


2.  Die  Oeschichtsschreibiing.  c)  Anfänge  der  attischen  Prosa.  Thnkydides.  (§  258.)  463 


entsteht,  beruht  im  wesentlichen  der  eigenartige  und  mächtige  Eindruck 
des  ffeschichtswerks.  Man  fühlt  sich  gegenüber  einer  verwickelten,  gehalt- 
schweren Persönlichkeit,  der  es  nicht  leicht  wird,  die  Fülle  ihrer  Gedanken 
und  den  Drang  ihrer  Empfindungen  zu  bemeistem,  einer  im  Grund  ver- 
schlossenen Natur,  die,  indem  sie  sich  enthüllt,  nur  einer  inneren  Pflicht 
gehorcht  und  durch  ihre  eigene  Sprödigkeit  zum  kürzesten  und  knappsten 
Gedankenausdruck  hingetrieben  wird.  Mehr  in  diesem  Charakter  des  Schrift- 
stellers als  in  der  Nötigung,  unter  der  er  stand,  sich  eine  geschichtliche 
Prosa  in  attischem  Dialekt  zu  schaffen,^)  liegt  die  Schwerflüssigkeit  seiner 
Darstellung  begründet.  Sie  zeigt  sich  weniger  in  den  verhältnismäßig 
einfacheren  erzählenden  Partien,  wiewohl  auch  diese  im  Vergleich  mit 
Herodot  etwas  Rauhes  und  Düsteres  haben,*)  als  in  der  fast  prätentiösen 
Gedankenmäßigkeit  der  Reden;  ihnen  verleiht  Thnkydides,  in  verspätetem 
Anschluß  an  Modeliebhabereien  altsophistischer  Kunstprosa,  einigen  Schmuck 
aus  der  Schematik  des  Prodikos  und  Gorgias,^)  der  die  tief  bohrende  Ge- 
dankenarbeit gerade  in  diesen  Stücken  oft  seltsam  umkräuselt.  Von  den 
Künsten  des  Thrasymachos  und  Isokrates,  der  Rhythmisierung  und  Hiatus- 
vermeidung, zeigt  Thnkydides  noch  keine  Spur.*)  In  der  Erzählung  strebt 
er  nach  größter  Anschaulichkeit,^)  aber  lediglich  durch  Mittel  des  Realismus, 
nicht  durch  solche  poetischer  Verbildlichung®)  oder  Belebung.')  Ein  großer 
Zug  der  Einheit  geht  bei  ihm  durch  Gedanken  und  Worte  und  bewirkt  eine 
tadellose,  bis  ins  Kleinste  gehende  Stilreinheit:  die  Richtung  auf  die  Sache, 
der  Verzicht  auf  den  Reiz  der  Darstellung  um  seiner  selbst  willen.  — 
Wohl  oder  übel  muß  sich  bei  ihm  eine  inhaltlich  verbundene  Gedanken- 
gruppe mit  allen  ihren  Seitenbeziehungen  in  einen  Satz  zusammenbinden 
lassen,  ohne  daß  auch  bei  besonders  langen  Sätzen  sich  der  Schriftsteller 
bemühte,  die  Übersicht  durch  sinnliche  Nachhilfen  wie  Korresponsion 
gleicher  Satzglieder,  Konzinnität  zu  erleichtem;«)  im  Satz  wird  die  Stel- 
lung der  Worte  rücksichtslos  nach  sachlichem  Gesichtspunkt  bestimmt.^) 
Der  Wortschatz  ist  nach  der  lautlichen  wie  nach  der  lexikalischen  Seite 
keineswegs  peinlich  gesichtet:  neben  ionischem  aa,  qo,  Ijv  steht  das  spezi- 
fisch attische  fvr;  neben  ionischen  Konstruktionen  und  Redewendungen 
stehen  Neubildungen,  besonders  auf  dem  Gebiet  der  abstrakten  Substantive, 
die,  von  der  Sophistik  in  Schwung  gebracht,  für  das  Bedürfnis  des  Thnky- 
dides nach  gedankenmäßiger  Darstellung  besonders  bezeichnend  sind,^^)  und 


1)  Cic.  Brut.  288  ipse  Thucydides  ai 
posterius  fuisset,  muUo  maturior  fuisset. 

«)  Die  Alten  (Schol.  Thuc.  1 126,  3;  Theon 
prog.  p.  66, 23  Sp.)  hoben  die  , Heiterkeit*  der 
Kylonepisode  hervor. 

»)  Siehe  o.  S.  453,  10. 

*)  Die  von  H.  Diels,  Gott.  Gel.  Anz. 
1894,  298  aufgestellte  Wohllautsregel  im 
Gebrauch  von  jtäg  und  abtag  ist  ganz  un- 
sicher.    Siehe  Cic.  or.  39. 

*)  Siehe  die  oben  462,  1  zitierten  Plu- 
tarchs  teilen. 

^)  J.  F.  CoBSTENs,  De  translationibus, 
quibus  usus  est  Th.,  Diss.  Leiden  1894. 
Sprichwörtliche  Wendungen  klingen  nur  118, 


1.  2;  V  65,  2  ;  Vn  68,  1  an;  poetische  Renu- 
niszenzen  VU  64, 2  (D.  Z  429).  69,  2  (IL  A'  68) ; 
77.  7  und  vielleicht  II  44,  3  (Soph.  OR.  56). 

^)  Rhetorische  Fragen,  von  den  Reden 
abgesehen,  nur  VII 44,  1 ;  VIII 96, 2.  F.  Stein, 
De  figurar.  apud  Thuc.  usu,  Progr.  Köln  1881. 

^)  Beispiele  der  später  besonders  von 
Tacitus  nachgemachten  Vermeidung  des  Kon- 
zinnen Poppo-Stahl  zu  II  42,  2 ;  J.  Classen 
zu  III  77,  1. 

^)  Berühmt  waren  die  vjisgßaxd  des  Th. : 
Theo  prog.  82,  20  Sp.;  Fb.  Dabpb,  De  verbor. 
apud  Thuc.  coUoeatione,  Diss.  Münster  1865. 

*®)  H.  R.  Gbükdmann,  Quid  in  elocut.  Ar- 
riani  Herodoto  debeatur,  Berl.  1884;  0.  Diener, 


464 


(Mechisohe  Litteraturgeschichie.    L  KlassiBche  Periode. 


wieder  veraltete,  glossematischei)  oder  poetische  Ausdrücke.^)  Alles 
dieses^)  zusammen  macht  den  Thukydides  zum  schwerstverständlichen 
unter  den  griechischen  Prosaikern,  was  schon  die  Alten  so  empfunden 
haben.*) 

Die  hohe  Bedeutung  des  Werkes  ist  sofort  nach  seinem  Erscheinen 
erkannt  worden:  Kratippos,  Xenophon,  Theopompos  setzen  es  fort;  Philistos 
ahmt  es  nach;  Demosthenes  studiert  es  eifrig;^)  Aineias  der  Taktiker,*) 
Piaton,')  Aristoteles, 8)  Isokrates®)  kennen  und  benützen  den  Thukydides;  Theo- 
phrastos  stellt  fest,*^)  daß  er  und  Herodot  die  principes  historiae  seien.  In 
der  hellenistischen  Zeit  ist  er  fortwährend  von  Gelehrten  benützt  worden, i') 
tritt  aber  als  Stilist  im  allgemeinen  zurück,  ^^)  bis  man,  des  asianischen 
Barockstils  müde  geworden,  ihn  seit  dem  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  zuerst  ver^ 
einzelt,^*)  dann  allgemeiner  auch  als  Künstler  wieder  würdigen  lernt.**)  Die 
Attici  des  1.  Jahrhunderts  v.  Chr.  auf  griechischer  und  noch  mehr  auf 
römischer  Seite  begeistern  sich  so  sehr  für  seinen  Stil,  daß  Dionysios  von 
Halikarnassos  und  Cicero  (nach  Vorgang  des  Cäcilius?)  vor  törichter  Nach- 
ahmung warnen  müssen.  ^^)  In  diesem  Zusammenhang  sind  die  für  die  Ge- 
schichte der  antiken  Stilkritik  höchst  wichtigen  einseitig  ästhetisch-rheto^ 
rischen  Schriften  des  Dionysios  von  Halikarnassos  über  Thukydides  (negl 
Govxvöidov  an  AI.  Tubero  und  jiegl  xibv  Govxvdidov  IdicojLiajcov  an  Ammans) 
entstanden. 

Von  dem  Anfang  der  Kaiserzeit  an  findet  man  die  Einflüsse  von 
Thukydides'  Gedanken  und  Sprache  fast  überall  bei  Griechen  und  Römern  — 
unter  jenen   sind   besonders   die  Rhetoren  Dionysios    von  Halikarnassos» 


s.  0.  S.  450,  3.  Besonders  reichlich  sind  hei 
Th.  Neuhildungen  von  Substantiva  abstracta 
auf  -oic  oder  ans  substantivierten  neutralen 
Adjektiven  {to  xoXfirjQoVf  ^nt'erov  u.  Ä.)»  Nomina 
agentis  auf  -t;/;  (Hco?.vTt)c:). 

*)  Darüber  klagt  schon  Dionys.  Hai.  ad 
Amm.  II  3;  Marcellin.  52;   Aufzählung  bei 

E.  F.  Poppo.  De  elocut.  Thuc.  p.  237  fF. 

^)  Ch.  Fobstee-Smith  in  Transact  of  the 
americ.  philol.  associat.  23  (1892)  proceedings 
XLVm  ff.;  ders.  ibid.  25  (1894)  61  ff 

')  Charakteristiken  von  Thukydides'  Stil 
und  Sprache  bei  Classen-Steüp,  Einl.^LIIlff.; 

F.  BLASS,  Att.  Bereds.  I*  203  ff.;  E.  Norden, 
Ant.  Eunstprosa  95  ff. 

*)  Dionys.  Hai.  de  Thuc.  51 ;  Cic.  or.  30; 
Brut.  83. 

^)  Ungenügend  ist  die  Dissertation  von 
C.  Waltheb,  Num  quae  imitationis  Thucyd. 
vestigia  in  Demosthenis  orationibus  inveniri 
possint.  Gießen  1886;  Ps.Dem.  59,  99  ff.  fast 
wörtlich  nach  Thuc.  II  2  ff. 

«)  J.  M.  Stahl  zu  Thuc.  II  4,  2. 

^)  Der  Menezenos  setzt  den  periklelschen 
'Emidffio^  voraus;  vgl.  Plat.  reip.  348d. 
560  d  mit  Thuc.  III  83;  Plat.  reip.  561  e  mit 
Thuc.  U  41, 1  (Th.Gompebz,  Gr.  Denker  II 406). 

8)  Siehe  o.  S.  458,  7.  461,  2. 

»)  W.  H.  RoscHBB,  Thuk.  513  ff. ;  B.  Keil, 
Anal.  Isoer.,  Leipz.  1885,  97  f. 


»0)  Cic.  or.  39. 

**)  Über  Benützimg  durch  Philochoros  F. 
ScHBöDEB,  Thucydidis  historiar.  memoria  quae 
prostat  apud  Ael.  Aristidem,  Gott  1887,  33 ff.; 
durch  Aristarchos:  A.  Römeb,  Blätter  f.  bayr. 
Gymn.  15  (1879)  60  ff. ;  über  Polybios  H.  Stich, 
Acta  semin.  Erlang.  2  (1881)  211,  3;  durch 
Demetr.  Sceps.:  R.  Gäde,  Demetrii  Scepsii 
quae  supers.,  Greifswald  1880,  67;  ohne  Nen- 
nung zitiert  ihn  Philodemos  ^roi  ^avaroif, 
Wiener  Ak.  Sitz.ber.  110  (1886)  339  col.  XI  6. 
Die  Nachwirkung  der  Archäologie  insbesondere 
zeigt  H.  ScHBADEB,  Festgi'uB  zu  L.Herbsts  80. 
Geburtstag,  Hamburg  1891.  1  ff. 

")  Cic.  Brut.  66.  Ephoros  und  Theo- 
pompos standen  ihm  im  Licht;  immerhin  galt 
er  für  kanonisch  (J.  Brzoska,  De  canone  X 
orator.  Atticor.  quaestiones,  Breslau  1883, 35  f.), 
auch  sind  erklärende  Schriften  über  ihn  vor 
Dionysios  geschrieben  worden  (H.  Usekeb, 
DionysiiHal.  de  imitat.  libror.  rell.,  Bonn  1889, 
p.  72  ff). 

")  Agatharchides  Bewunderer  des  Th.: 
Phot.  bibl.  p.  171b9B. 

")  Lucretius  de  rer.nat.VI  1138  ff.  ahiirt 
die  Pestschilderung  des  Thuk.  nach  (H. 
ScHBöDEB,  Lucr.  und  Thuk.,  Straßb.  1898). 

^^)  Dionys.  Hai.  de  Thuc.  52;  Cic.  or.  30; 
Brut.  287  f. ;  Thukydidesnachahmer  ist  be- 
sonders Sallustius. 


2.  Die  GtoBchichtsschreibimg.  o)  Anf&nge  der  attischen  Prosa.  Thnkydidee.  (§  258.)  465 

Lesbonax,  Älius  Aristides,  Libanios,  Chorikios  (der  ihn  nrjyi]  rijg  §tjxoQWYjg 
nennt  Philol.  54,  1895,  119,  24),  die  Historiker  loseplios,^  Pausanias,*)  Pro- 
kopios  von  Kaisareia,*)  Dio  Cassius,  der  Romanschriftsteller  Chariten,  unter 
diesen  Tacitus  und  Ammianus  Marcellinus^)  hervorzuheben.  Am  meisten  ge- 
lesen waren  in  der  Kaiserzeit  die  beiden  ersten  Bücher.^)  Tadelnde  Urteile 
über  seinen  Stil  verstummen  fast  ganz,«)  und  er  ist  von  den  Attikisten  in 
den  Kanon  der  Musterschriftsteller  attischen  Dialekts  aufgenommen.  7)  Sein 
Werk  ist  so  wirklich,  wie  er  selbst  voraussah,  ein  xTrjfia  ig  alei,  kein 
äycüviojua  ig  rd  naQaxQfjfia  geworden,  und  er  heißt  der  Spätzeit  des  Alter- 
tums 6  ^vyyQaq)evg^  wie  Homer  6  TioujTrjg^  Demosthenes  6  ^fjrcoQ.  Von  er- 
klärender Arbeit  an  Thukydides  haben  wir  aus  der  hellenistischen  Zeit 
kaum  eine  Spur  (s.  o.  S.  464,  12).  Ob  die  biographischen  Angaben  aus  Didy- 
mos  zu  einer  Vita  und  ob  diese  zu  einem  Kommentar  gehört  haben,  ist 
höchst  fraglich.^)  Numenios  verfaßte  Hypotheseis,  Sabines  und  Heron 
unter  Hadrian  Hypomnemata,  hauptsächlich  vom  rhetorischen  Stand- 
punkt;®) 7Z€qI  'HgodÖTov  xal  Qovxvdiöov  schrieb  der  Rhetor  Tiberius;  lexi- 
kalisch scheint,  abgesehen  von  dem  großen  Attikistenlexikon  des  Aelius 
Dionysius  und  Pausanias,  den  Thukydides  lulius  Vestinus  (ixXoyi]  ix  tojv 
Qovxvdiöov  u.  s.  w.)  für  Attikistenzwecke  behandelt  zu  haben.  Euagoras 
von  Lindos  schrieb  C^ri^aeig  xarä  cnoi^eiov  Sovxvöiöov  xal  xwv  naqa  Govxv- 
didf]  ^TjTovjuivcov  xarä  Xe^iv.^^)  In  der  Neuzeit  ist  namentlich  von  den  Ge- 
lehrten derjenigen  Nation,  die  zuerst  zu  einem  freien  politischen  Leben 
erwachte,  von  den  Engländern  Th.  Hobbes,  J.  Hudson,  J.  Wasse  das  Ver- 
ständnis und  die  Bewunderung  für  den  großen  Staatsmann  unter  den  Histo- 
rikern wieder  geweckt  worden.  L.  v.  Ranke  hat  das  Bekenntnis  abgelegt, 
daß  neben  Luther  und  Niebuhr  Thukydides  auf  ihn  den  größten  Einfluß 
ausgeübt  habe. 

Verschiedenheit  der  Lesarten  bei  Th.  erwähnt  schon  Strabo  374.  Ober  die  Abwei- 
chungen des  inschriftlichen  Textes  der  Urkunde  V  47  vom  handschriftlichen  s.  o.  S.  460,  5. 
Sehr  wenig  zuverlässig  ist  der  Text  bei  Dionysios  von  Halikam.  (L.  Sad^e,  De  Dionysii 
Hai.  scriptis  rhet.  quaest.  crit.,  Argentor.  1878,  141  fF.)  und  Gregorios  von  Eorinth,  besser  bei 
Aelius  Aiistides  und  Syrianos  zitiert,  von  denen  wiederum  Hermogenes  abweicht  (s.  die  oben 
S.  464, 1 1  zitierte  Arbeit  von  F.  Schröder).  Über  die  stichometrischen  Angaben  bei  Dionys.  Hai.  s. 
Th.  Birt.  Ant.  Buchwesen,  Berl.  1882, 170.  198.  Libanios  besaß  bereits  einen  Th.  in  Codexform 


*)  H.Drüner,  Unters,  überloseph.,  Marb. 
1896,  1  ff. 

2)  0.  FisoHBACH,  Wiener  Stud.  15  (1893) 
161  ff. ;  über  die  Historiker  des  zweiten  Parther- 
krieges Luc.  de  bist,  conscr.  15. 

»)  H.  Braun,  Acta  semin.  Erlang.  4  (1886) 
161  ff. 

*)  Eine  von  Ammians  Quellen  ahmt  die 
Einteüung  nach  KriegsSemestem  nach  (0. 
Seeck,  Herm.  41,  1906.  481  ff.). 

*)  F.  Schröder  a.  a.  0.  6. 

')  Bezeichnend  sind  die  Entschuldigungen 
bei  Hermog.  p.  421  f.  Sp.;  Longin.  p.  324,  14 
Sp.  tadelt  t6  xaxeoioißaoftivov  xai  jteQieiQyaa- 

flFVOi'. 

')  W.  ScHMiD,  Der  Atticism.  I  206  ff. 
*)  M.  H.  E.  Meier,  Opusc.  II  61  und  M. 
Schmidt,  Didymi  fragm.  p.  334.    R.  Sohöll, 


Herm.  13  (1878)  443  leitet  die  Th.  betreffenden 
Angaben  des  Didvmos  aus  dessen  Pindar- 
kommentar ab  und  bestreitet  die  Existenz  eines 
Th.kommentars  von  Didymos. 

')  E.  DoBERBUTz,  De  scholüs  in  Thucy- 
didem,  Diss.  phU.  Halens.  2  (1876)  221  ff.;  E. 
Schwabs,  Quaestiones  de  scholiorum  Thuc. 
fontibus,  Leipz.  Stud.  4(1881)  65 ff.;  F.  Al- 
TiNOER,  De  rhetoricis  in  orationes  Thucyd. 
scholiis,  München,  Progr.  1885.  Zitiert  sind 
in  den  Schollen  Antyllos,  Asklepiades,  Phoi- 
bammon  (dieser  im  5.  oder  6.  Jahrb.,  A. 
Brinkmann,  Rh.  Mus.  61.  1906,  118.  634). 

^^)  Siehe  über  alle  diese  die  Artikel  bei 
Suidas.  Über  Porphyrios  elg  t6  Bovxvdlöov 
:zooolfAiov  (s.  0.  S.  458,  7)  H.  Schrader  in 
der  Festgabe  zu  L.  Herbsts  80.  Geburtstag, 
Hamburg  1891,  1  ff. 


Handbuch  der  klass.  Altertamvwuaenaehaft.    VII.    5.  Aufl.  30 


466  Griechische  Litteratnrgeechichte.    I.  KUasische  Periode. 

^or.  I  148  F.).  Der  teztkritische  Wert  der  Papyri,  deren  erster  in  Fajjam  gefunden  und  von 
C.  Wesselt,  Wiener  Stud.  7  (1885)  116  ff.,  veröffentlicht  ist,  ist  nicht  sehr  groß  (J.  Steup,  Rh. 
Mus.  58,  1898,  308  ff.).  Siehe  W.  Cbönebt,  Arch.  f.  Papyrusf.  1  (1901)  114.  519;  F.  Blass 
ebenda  3  (1906)  281  f.  488.  —  Die  alle  auf  einem  Archetypus  beruhenden  Codd.  bilden  zwei 
Familien,  die  eine  (auf  die  auch  die  Thukydidesstellen  in  den  konstantinischen  Exzerpten 
zurückgehen:  Berl.  philol.  Woch.  26,  1906,  872)  vertreten  durch  Laur.  69,  2  s.  X  (G)  und 
Monac.  228  s.  XIII  (G),  die  andere  durch  Vatic.  126  s.  XI  (B),  der  aber  von  VI  92,  5  an 
einer  abweichenden  Rezension  folgt  (darüber  ist  viel  geschrieben,  zuletzt  R.  Riohtbb  in 
Dissert.  philol.  Halens.  16,  1906,  253  ff.),  Cisalpin.  (A)  in  Paris  s.  XI/XII.  Palatin.  (£)  s.  XI, 
Monacens.  Augustan.  430  (F)  s.  XI;  in  der  Mitte  steht  der  Britannus  (M)  s.  XL  Daß  Ste- 
phanos  Byz.  noch  einen  reineren  Text  hatte,  meint  B.  Niese,  Herrn.  14  (1879)  423  ff.  —  Früher 
stark  überschätzt  wurde  der  kritische  Wert  der  lat.  Obersetzung  von  L.  Valla  1452. 

Schollen,  die  vorwiegend  auf  das  atticistische  Lexikon  des  Aelius  Dionysius  und  Pau- 
sanias  zurückgehen  (was  6.  Wentzbl,  Herrn.  30,  1895,  367  ff.,  auch  für  die  Thiücydidesglossen 
im  Photioslexikon  nachweist)  und  in  die  uns  vorliegende  Form  zwischen  dem  4.  und  6.  Jahrh. 
gebracht  worden,  im  Cod.  Palatin.  E  von  Joh.  Tzetzes  vermehrt  sind,  in  der  Ausgabe  des 
Thuk.  von  F.  Haase,  Paris  1840.  Neue  Scholien  (meist  Worterklftrungen)  aus  einem  Codex 
von  Patmos  s.  X.  herausgegeben  von  J.  Sakkelion,  Revue  de  philol.  1  (1877)  184 — 8.  Er- 
wähnt wird  von  Suidas  des  Claudius  Didymus  Buch  jregl  reot'  rjpioQtrififvwv  noQa  xfjv  ava- 
koyUjLv  ßovxvSidf), 

Ausgaben:  Ed.  princ.  Venedig  1502;  Juntina  mit  Scholien  1526;  von  H.  Stephanus, 
Paris  1564  (1588);  von  J.  Wasse  u.  C.  A.  Düker,  Amstelod.  1731 ;  cum  diversorum  comment. 
(Hudson,  Wasse,  Düker)  ed.  E.  F.  Poppo,  Lipe.  1821—38,  11  voll,  neu  besorgt  von  J.  M.  Stahl, 
3.  Aufl.  Leipz.  1886,  4  volL;  comment.  F.  J.  Göller,  ed.  II,  Lips.  1836,  2  Bde.  Kritische 
Ausgabe  auf  Grund  des  Vat.  B  von  I.  Bekker,  Berlin  1821,  3  voll.;  edit.  min.  gleichfalls  mit 
kritischem  Apparat  1868;  von  F.  Haase,  Paris  1840;  rec.  C.  Hüde  (auf  Grund  eigener  Neu- 
kollation der  sieben  Haupthandschriften;  der  Text  wesentlich  auf  C  gestellt),  Lips.,  2  voll., 
1898.  1901 ;  rec.  et  annot.  H.  v.  Herwerden,  Utrecht  1877,  5  Hefte  (seine  der  handschrift- 
lichen Überlieferung  gegenüber  radikale  Kritik  ist  auf  die  Spitze  getrieben  von  W.  G.  Ruther- 
PORD  in  seiner  Ausg.  des  vierten  Buches,  London  1889).  —  Thukyd.  1. 1  et  II  ed.  A.  Schöne. 
Berol.  1874,  mit  Scholien  und  kritischem  Apparat,  wichtig  durch  die  erstmalige  ausgiebige 
Heranziehung  der  besten  Handschrift  Laur.  C.  —  Ausgaben  mit  erklärenden  Anmerkungen 
von  K.  W.  Krüger,  Berlin  1855—1861,  neu  aufgelegt  von  W.  Pökel  1885  fF. ;  von  J.  Classen 
und  J.  Steüp  bei  Weidmann,  von  G.  Böhme  und  S.  Widmann  bei  Teubner. 

Lexicon  Thucyd.  von  E.  A.  Betant.  der  auch  eine  Übersetzung  ins  Französische  ge- 
liefert hat,  Genf  1843 — 47  (ohne  Präpositionen,  Eigennamen,  Partikeln;  Supplemente  von 
E.  F.  Poppo  in  drei  Frankfurter  Programmen  1845.  47.  54);  Index  Thucydideus  von  W.  H.  N. 
von  Essen,  Berlin  1887.  —  Gute  Übersetzung  mit  inhaltreichen  Anmerkungen  von  .1.  D.  Heil- 
XANN.  Lemgo  1760;  3.  Aufl.  von  G.  G.  Bredow  (auch  in  der  Reclamschen  Bibliothek),  1823. 
Sehr  zu  wünschen  wäre,  daß  die  kaum  mehr  übersehbare  Zahl  der  Schriften  über  Stil  und 
Sprache  des  Th.  zu  einer  Grammatica  Thucydidea,  einer  Erneuerung  von  E.  F.  Poppos  Ab- 
handlung de  elocutione  Thuc,  verarbeitet  würde.  —  Jahresberichte  von  E.  Lanoe,  Fnilol.  56 
(1897)  658  ff.;  57  (1898)  436  ff.  für  die  Jahre  1890—1X97;  von  8.  Widmann  im  Jahresber. 
über  die  Fortschr.  d.  kl.  Alt.wiss.  117  (1903)  166  ff.  für  1900—1903. 

d)  Xenophon  (um  430  bis  um  354).  0 
259.    Leben.    Xenophon,  den  die  Historiker  wie  die  Philosophen  zu 
den  Ihrigen  zählten,  war  Sohn  des  Gryllos  und  der  Diodora  und  stammte 

^)  Biographie  in  Diog.  Laert.  II  48 — 59,  wie  die  Xenophonbriefe  bei  Stobaios  (Episto- 

neben  welcher  der  erste  Artikel  des  Suidas  (der  l   logr.  p.  788—91  Herchek)  sind  mit  Vorsicht 

zweite  ist  Excerpt  aus  der  Anabasis)  nichts  ,   zu   benutzende  Quellen.   —   K.  W.  Krügek. 

Neues    enthält.     Diogenes   schöpft   aus    De-  De  Xenophontis  \iA  quaost.  crit.   in  dessen 

metrios  Magnes;    die    erhaltenen    biographi-  Histor. -philol.  Stud.  2  (Berl.  1851)  262  ff. ;  C. 

sehen  Daten   stammen   in   letzter  Linie   aus  F.  Ranke.   De  Xenophontis   vita   et  sciiptis 

der    Anabasis,    aus    Deinarchos'    Rede    für  i   commentatio,  Berl.  1851;   A.  Croiset,  Xono- 

Aischylos,  einen  Freigelassenen  des  jüngeren  phon  son  caracterc  et  son  talent,  Par.  1^73; 

Xenophon,  und  aus  den  verlorenen  Enkoraien  |   A.   Roqüette.    De   Xenophontis   viU.    Diss. 

auf  Xenophons  bei  Mantineia  gefallenen  Sohn  ,   Königsberg  1><84,  wozu  J.M.Stahl  im  Pliilol. 

Gryllos  (Aristot.  bei  Diog.  L.  1155);  8.  WiLAMO-  Anz.  1886;   J.  J.  Hartman,   Analecta  Xono- 

wiTz.  Phil.  ünters.4(18><l)330— 5.  Die  Briefe  phontea,   Leiden  u.  Leipz.  1887,   nova  1889. 

der  Sokratiker  18—22  (p.  623  if.  Hbrcheb)  so-  ' 


2.  Die  QeBchiohtsschreibmig.    d)  Xenophon.    (§  259.) 


467 


•aus  einer  wohlhabenden  Familie  des  Demos  Erchia.^  Sein  Geburtsjahr 
wird  nicht  angegeben;  ausgehend  von  der  Überlieferung,«)  daß  Sokrates 
in  der  Schlacht  von  Delion  (424)  den  vom  Pferd  gestürzten  Xenophon 
gerettet  habe,  und  daß  Xenophon  über  neunzig  Jahre  alt  geworden  sei,») 
setzte  es  Krüger  auf  444  an.  Aber  da  Xenophon  in  der  Anabasis  noch  als 
junger  Mann,  sicherlich  nicht  über  dreißig  Jahre  alt,  erscheint,*)  so  verwarf 
C.  G.  Cobet(Nov.  lect.,  Leiden  1858,  534  ff.)  jene  Geschichte  von  der  Errettung 
des  Schülers  durch  den  Lehrer  als  tendenziöse  Erfindung  und  nahm  auf 
örund  von  Athen,  p.  216d,  wonach  Xenophon  im  Jahr  421,  in  dem  sein 
Symposion  spielt,  bestenfalls  noch  ein  Kind  war,  als  Geburtsjahr  434  an.*) 
In  der  Jugend,  etwa  in  den  Jahren  zwischen  404  und  401, «)  schloß  sich 
Xenophon  an  Sokrates  an;  man  erzählte,  dieser  habe  ihn  einst  in  einer 
engen  Gasse  mit  der  Frage  angehalten,  jiov  xaXol  x&yai^ol  ylvovrai  äv^Q(o- 
Tioi;  und  ihm  dann,  als  er  um  die  Antwort  verlegen  war,  zugerufen:  inov 
TOI  VW  xai  judvßave.'^)  AUemnach  aufgewachsen  in  der  beschränkten  Inter- 
essensphäre des  dorisierenden  attischen  Junkertums®)  und  zeitlebens  leiden- 
schaftlicher Sportsmann  geblieben,  war  er  wenig  befähigt,  den  Sokrates 
nach  seiner  ganzen,  zumal  intellektuellen  Bedeutung  zu  verstehen.  Sokrates 
blieb  ihm  immer  Sittenlehrer  und  Sittenvorbild,  was  er  ja  jedenfalls  auch 
gewesen  ist,  nur  nicht  in  dem  bürgerlich  korrekten  und  konventionellen, 
fast  philiströsen  Sinn,  wie  ihn  Xenophon  auffaßte.  Immerhin  mag  die 
charaktervolle  Askese  des  Sokrates  dahin  gewirkt  haben,  den  sittlichen 
Begriffen  des  oberflächlichen,  aber  liebenswürdigen  jungen  Menschen  etwas 
mehr  Ernst,  Festigkeit  und  Klarheit  beizubringen,  und  dafür  fühlte  er  sich 
dem  großen  Philosophen  immer  zu  Dank  verpflichtet.  Sein  religiöses,  sitt- 
liches und  rechtliches  Gefühl  ist  aber  auf  der  Stufe  des  „anständigen* 
Durchschnittsbürgers  stehen  geblieben,  der  sich  begnügt,  den  bösen  Schein 
zu  meiden   —  evjigejieia  fxäXXov  fj  äXi^&eia^  wie  Piaton  (Euthyd.  305  e)  der- 


^)  Daß  er  den  Rittercensus  hatte,  ist 
wahrscheinlich:  E.  Schwartz,  Rh.  Mus.  44 
(1889)  164  ff. 

2)  Strab.  p.  403;  Diog.  L.  II  22. 

')  Ps.Lucian.  macrob.  21. 

*)  Vgl.  besonders  anab.  III  1,  14.  25; 
2,37;  4,  42;  VI  4,  25. 

*)  J.  J.  Hartman,  Anal.  Xenoph.  geht  mit 
dem  Geburtsjahr  auf  425,  E.  Sohwartz  auf  427 
herab,  und  man  könnte  bis  gegen  421  herab- 
rücken. Den  peloponnesischen  Krieg  hat  er  offen- 
bar (E.  RicuTER,  Xenophonstudien,  Jahrbb.  f. 
cl.  Phil.  Suppl.  19,  1893, 156)  als  zu  jung  nicht 
mitgemacht.  Die  chronologischen  Mutmaßun- 
gen von  H.  8cHE>KL  (Festschr.  f.  Th.  Gomperz 
1902, 122  ff.)  sind  nicht  überzeugend.  Der  An- 
satz der  Blüte  bei  Diog.  L.  II 55  und  Suid.  auf 
ol.  94,  4  bez.  95  (=  401  v.  Chr.)  ist  mechanisch 
an  die  Epoche  der  Anabasis  angeschlossen  (vgl. 
armen.  Hieronym.  ad  ann.  Abr.  1615).  Daneben 
hat  Euseb.  (Hieron.  ad  Ol.  101, 3  =  374  v.  Chr.) 
noch  einen  für  Xenophon  und  Piaton  und  die 
übrigen  Sokratiker  gemeinschaftlichen  Ansatz 
auf  375    (Plato   et  Xenofon   nee   non  et  alii 


Socratici  clari  habentur),  der  ebensowenig 
brauchbar  ist  wie  der  des  Diog.  L.  II  59  auf 
Ol.  89  (=  424  V.  Chr.). 

^)  So  weit  die  sokratischen  Gespräche, 
deren  Zeuge  X.  gewesen  sein  will,  in  den 
Memorabilien  datierbar  sind  (II  7,  2.  8,  1), 
fallen  sie  in  die  Jahre  von  4()4  an.  Auf  E. 
Richters  (Xenophonstudien  57  ff.)  bodenlose 
Meinung,  X.  habe  den  Sokrates  nur  flüchtig 
gekannt  und  sich  in  seiner  Notlage  nach  der 
Verbannung  des  Sokratesstoffs  bemächtigt, 
um  mit  Schriften  über  einen  dankbaren  Gegen- 
stand Geld  (von  wem?)  zu  verdienen,  braucht 
nicht  eingegangen  zu  werden. 

')  Diog.  L.  II 48.  Nach  Philostr.  Vit.  soph. 
I  12  hatte  er  den  Prodikos  in  B()otien  als 
Kriegsgefangener  gehört,  was  vielleicht  mit 
der  Anekdote  von  der  Schlacht  bei  Delion 
zusammenhängt. 

®)  f}ßtjxixoi  xai  {^rjoevTixoi  nai  tJTJiixoi 
xai  jiatStxoi  loyot  Hell.  V  3.  20  (vgl.  Theogn. 
1253  ff.;  Selon  fr.  25  Bbrok^  dagegen  Plat 
Lys.  212e). 


30* 


468 


QrleohiBche  litteratnrgeschichte.    L  KUasische  Periode. 


artige  Geistesrichtungen  charakterisiert.^)  Als  ihn  sein  Freund,  der  Böoter 
Proxenos  im  Jahr  401  zur  Teilnahme  an  dem  Zug  des  persischen  Prinzen 
Kyros  gegen  dessen  Bruder  König  Artaxerxes  11.  einlud,  war  es  mit  seiner 
Philosophie  vorbei:*)  er  ging  rasch  zu  dem  ihm  mehr  gemäßen  Kriegs- 
leben mit  seinen  Abenteuer-  und  Beutehoffiiungen  über  und  gewann  sich, 
um  über  wohlbegründete  Bedenklichkeiten  Herr  zu  werden,  in  sehr  be- 
zeichnender, aber  wenig  anständiger  Weise  (anab.  III  1,  7)  die  Zustimmung 
des  delphischen  Gottes  zu  einem  Vorhaben,  von  dem  er  wissen  mußte,  daß 
es  mit  den  Interessen  seiner  Vaterstadt  Athen  unvereinbar  war.«)  In  der 
Schule  des  Spartaners  Klearchos  ist  er  rasch  zu  einem  tüchtigen  Truppen- 
führer herangewachsen,  der  nach  dem  Tod  des  Kyros  in  der  Schlacht  von 
Kunaxa  (401)  und  der  Ermordung  der  hellenischen  Führer  durch  die  Perser 
nach  seiner  eigenen,  freilich  wohl  übertreibenden*)  Schilderung  mit  staunens- 
werter Klugheit  und  Unerschrockenheit  den  Rückzug  der  Zehntausend  mitten 
durch  Feindes  Land  leitete.  Am  Hellespont  angekommen,  führte  er  die 
Geretteten  dem  Heer  der  Spartaner  zu,  die  bereits  die  Befreiung  der  klein- 
asiatischen Griechen  vom  Joch  der  Perser  begonnen  hatten;  er  selbst  schloß 
sich  im  weiteren  Verlauf  der  Dinge  dem  Zug  des  Agesilaos  nach  Griechen- 
land gegen  die  Feinde  der  Spartaner  an.  An  der  Schlacht  von  Koroneia 
(394)  gegen  die  mit  Athen  verbundenen  Thebaner  hat  er  teilgenommen. 
Infolge  dieser  seiner  Verbindung  mit  den  Feinden  des  Vaterlandes  wurde 
er  wegen  Hochverrats  von  den  Athenern  verurteilt. 5)  Die  Lakedaimonier 
hingegen  entschädigten  ihn  durch  Verleihung  der  Proxenie.  Nachdem  er 
mit  der  Verbannung  jedenfalls  auch  seine  Güter  in  Attika  verloren  hatte, 
erwarb  er  ein  Landgut  in  Elis  bei  dem  Städtchen  Skillus,  eine  Stunde  süd- 
lich von  Olympia.®)  Dort  gründete  er  sich  ein  Privatheiligtum  der  Artemis, 
die  hier  besonders  als  Jagdgöttin  verehrt  wurde,')  und  lebte  mit  seiner 
Frau  Philesia  und  seinen  zwei  Söhnen  Gryllos  und  Diodoros*)  in  friedlicher 


*)  Sorgfältige  SammluDg  der  Züge  von 
Xenophons  geistiger  und  sittlicher  Eigenart 
bei  K.  JofiL,  Der  echte  und  der  xenophontische 
Sokrates  I,  Berlin  1893;  treffende  Charakte- 
ristik bei  A.  V.  GüTSOHMiD,  Kl.  Sehr.  IV  328  ff. 

«)  anab.  III  1,  4  ff. 

»)  anab.  III  1,  9  u.  VI  4,  8  sind  Flunke- 
reien. 

*)  6  :tooFOTi]xu)<:  twv  KvoeUov  nennt  er 
sich  HelL^III  2,  7.  Th.  Gompbrz,  Grioch. 
Denker  I[  98  meint,  Cheirisophos  habe  tat- 
sächlich die  Hauptrolle  gespielt.  Ephoros- 
Diodoros  gedenken  der  Verdienste  des  X. 
nicht;  erst  bei  Paus.  IX  15, 3  heißt  er  wieder 
Leiter  des  Rückzugs.  Über  die  Bedeutung 
des  Zugs  der  Zehntausend  Xen.  Hell.  III  4,  2; 
VI  1,  12;  Isoer.  4,  145  f.;  Pol.  lU  6.  10. 

^)  Das  Jahr  der  Verbannung  steht  nicht 
fest.  Nach  Paus.  V  6,  5,  Dio  Chrys.  or.  8,  1, 
Diog.  L.  II  51  wurde  er  infolge  seiner  Be- 
teiligung am  Zug  des  Kyros  als  eines 
Feindes  der  Athener  verbannt:  wahrschein- 
lich war  auch  hierauf  in  dem  Verbannungs- 
beschluß, den  nach  Istros  bei  Diog.  L.  II  59 


Eubulos  beantragte,  Bezug  genommen.  Sicher 
erfolgte  aber  die  Verbannung  weder  während 
des  Zuges  noch  unmittelbar  danach :  das  er- 
hellt aus  anab.  V  3,  5  f.  (als  Verbannter  hätte 
er  sein  Weihgeschenk  für  den  delphischen 
Apollon  nicht  im  Schatzhaus  der  Athener 
niederlegen  dürfen)  und  VII  7,  57. 

«)  Eine  Schilderung  anab.  V  3,  7  ff. ;  vgl. 
Paus.  V  6,  5  f.  Der  Anfang  des  Aufenthaltes 
in  Skillus  wird  teils  ca.  394  (F.  Klett,  Zu 
Xen.*  Leben,  Schwerin  1900;  I.  Pantazidis, 
Vorrede  zur  Anab.,  Athen  1900),  teils  nach 
387  (W.  NiTSCHE.  Über  die  Abfassung  von 
Xen.  Hell.,  Berl.  1871)  gesetzt. 

^)  L.  Wekigeb,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Altert. 
19  (1907)  96  ff.  Siehe  auch  die  Schilderung 
des  gegenwärtigen  Zustands  von  Skillus  bei 
J.  Partsch  im  Textband  zu  der  Kartenmai)pe 
von  , Olympia*  S.  10. 

^)  Aus  an. VII 6,  34  kann  man  schließen, 
daß  X.  während  des  Aufenthalts  bei  dem 
Thrakerfürsten  Seuthes  verheiratet  war,  aber 
noch  keine  Kinder  hatte. 


2.  Die  Gesohichtsschreibimg.    d)  Xenophon.    (§  260.) 


469 


Zurückgezogenheit,  litterarischen  Arbeiten  und  den  Freuden  des  Landlebens 
hingegeben,  bis  die  Kämpfe  der  Thebaner  und  Lakedaimonier  ihn  aus 
dieser  Ruhe  wieder  aufscheuchten.  Als  nach  der  Schlacht  von  Leuktra 
die  Eleier  Skillus  einnahmen  (370),  verlor  er  seinen  dortigen  Besitz  und 
rettete  sich  mit  Mühe  über  Elis  und  Lepreon  nach  Korinth.  Von  hier  aus 
trat  er  wieder  in  gute  Beziehungen  zu  seiner  Vaterstadt,  die  sich  damals 
mit  den  Lakedaimoniern  gegen  Theben  verbunden  hatte.  Der  Verbannungs- 
beschluß wurde  aufgehoben  ;i)  er  selbst  zwar  nahm  an  den  Kämpfen  keinen 
Anteil  mehr,  aber  er  ließ  seine  beiden  Söhne  in  die  attische  Reiterei  ein- 
treten. Von  diesen  fiel  Gryllos  bei  Mantineia  (362).*)  Den  Tod  des  Sohnes 
überlebte  der  Vater;  sicher  starb  er  nicht,  wie  Stesikleides  bei  Diog.  L. 
n  56  ansetzt,  schon  360/59,  sondern  erst  nach  359,  in  welches  Jahr  die 
Hell.  VI  4,  36  gemeldete  Ermordung  des  Tyrannen  Alexandres  von  Pherai 
fällt,*)  wahrscheinlich  erst  nach  355,  wenn  anders  die  Schrift  Ilögoi  mit 
Recht  ihm  beigelegt  wird.  Nach  Demetrios  Magnes  bei  Diogenes  a.  a.  0. 
starb  er  in  Korinth;  danach  scheint  er  also  trotz  der  Auf  hebung  des  Ver- 
bannungsbeschlusses nicht  mehr  nach  Athen  zurückgekehrt  zu  sein. 

260.  Charakter,  Schriftstellerei.  Vor  seiner  Ansiedelung  in 
Skillus  hat  Xenophon  jedenfalls  nichts  geschrieben.  Als  er  sich  schrift- 
stellerisch zu  betätigen  anfing,  war  ihm  das  Sokratesideal  bereits  einiger- 
maßen verdunkelt  durch  Fürsten-  und  Feldherrnideale.  Auf  dem  Zug 
durch  Asien  hatte  er  für  den  ritterlichen  Perserprinzen  Kyros,  nachher 
für  den  klugen  und  durch  leutseliges  Benehmen  gewinnenden  Agesilaos, 
zwei  ehrgeizige,  in  ihrer  geistigen  und  sittlichen  Bedeutung  von  Xenophon 
weit  überschätzte  Männer,  eine  Begeisterung  gefaßt,  die  bis  an  sein  Lebens- 
ende vorhielt;  jenem  hat  er  in  der  Anabasis  und  indirekt  auch  in  der 
Kyrupaideia,  diesem  in  den  Hellenika  und  dem  Agesilaos  Denkmäler  ge- 
setzt. Zwei  schriftstellerische  Pläne  beschäftigten  ihn  aber  zunächst  nach 
seiner  Rückkehr,  die  Redaktion  seiner  Memoiren  über  den  Zug  mit  Kyros, 
mit  der  er  gewiß  bald  nach  den  Ereignissen  begonnen  hat,^)  und  das  Ein- 
greifen in  die  Kontroverse  über  den  Wert  von  Sokrates'  Wirksamkeit,  die 
gegen  das  Jahr  390  in  Athen  brennend  geworden  war.  Damals  taten 
Rhetoren  verschiedener  Richtung  und  Philosophen  in  Athen  ihre  Schulen 
auf  und  eröffneten  jenen  Wettstreit  zwischen  Philosophie  und  Rhetorik  um 
die  Ausbildung  der  Jugend,  der  das  ganze  Altertum  hindurch  nicht  zur 
Ruhe  gekommen  ist.^)    Der  „Fall  Sokrates**  wurde  zum  Gegenstand  sophi- 


*)  Nach  Istxos  bei  Diog.  L.  II  59  durch 
denselben  Eubulos.  Die  Sache  selbst,  nicht 
bloß  die  Person  des  Antragstellers  wird  be- 
zweifelt von  C.  G.  CoBET,  Nov.  lect.  757  f. 

^)  Diog.  L.  n  54  erzählt  die  schöne  Anek- 
dote, wie  Xenophon,  dem  beim  Opfern  die 
Nachricht  vom  Tod  seines  Sohnes  über- 
bracht wurde,  anfangs  den  Eranz  vom  Haupt 
nahm,  dann  aber,  als  er  vernommen,  daß 
sein  Sohn  erst  nach  tapferer  Gegenwehr  ge- 
fallen sei,  ihn  wieder  aufsetzte.  Auf  den 
Heldentod  des  einen  der  Dioskuren  wurden 
unzählige    Enkomien    abgefaßt    (Aristoteles 


bei  Diog.  L.  II  55) ,  von  deren  einem  viel- 
leicht Oxyrh.  pap.  HI  nr.  431  ein  Stück- 
chen  enthält.  Ein  anonymes  Enkomion  gibt 
X.  selbst  Hell.Vn  5,  16  f.  —  Die  Söhne  des 
Xenophon  wollte  man  nach  Paus.  I  22,  4  in 
den  beiden  Reitern  am  Aufgang  zu  den  Pro- 
pyläen wiedererkennen. 

»)  Diodor  XV 61,  2;  XVI  14;  A.Schäfbb, 
Demosth.  I«  (Leipz.  1885—87)  151. 

*)  G.  Cousin,  Kyros  le  jeune  en  Asie 
mineure,  Paris  1905. 

*)  H.  V.  Aenim,  Dio  von  Prusa,  Berl.  1898, 
Kap.  I. 


470 


Orieehische  LÜteratargesohiohie.    L  Elasaisohe  Periode. 


stischer  Paradestücke  gemacht,  in  denen  die  Rhetoren  ihre  Formkimst 
zeigen  und  so  Schüler  für  sich  werben  wollten,  durch  die  aber  doch  auch» 
mit  mehr  oder  weniger  Absicht  Urteile  über  die  Persönlichkeit  und  den 
Einfluß  des  Sokrates  in  die  Öffentlichkeit  geworfen  wurden.  Zu  diesen 
mußten  dessen  Schüler  Stellung  nehmen.  Insbesondere  ein  Erzeugnis  dieser 
Art,  die  einige  Zeit  nach  394  (Diog.  Laert.  II  39) ')  herausgegebene  xarrj- 
yoQia  Zwxgdxovg,  die  ihr  Verfasser  Polykrates  dem  Anytos  in  den  Mund 
legte,  war  so  geartet,  daß  sie  nicht  bloß  den  Rhetoren  Anlaß  zu  Ver- 
besserungen in  rein  formalem  Sinn,^)  sondern  auch  den  Philosophen  sokra- 
tischer  Schule  Anlaß  zur  Richtigstellung  in  sachlichen  Punkten  gab.  Denn 
Polykrates  hatte  in  seiner  gewiß  an  sich  recht  unbedeutenden  Deklamation 
insbesondere  die  Staatsgefährlichkeit*)  des  Sokrates  in  einer  Weise  be- 
leuchtet, die  für  den  Bestand  der  Sokratikerschulen  in  Athen  sehr  be- 
denklich werden  konnte.  Xenophon  hatte  nun  in  Sokrates  immer  vor 
allen  Dingen  den  loyalen  und  korrekten  Staatsbürger  gesehen  und  mußte 
sich  durch  das  Bild,  das  Polykrates  von  ihm  entworfen  hatte,  zum  Wider- 
spruch herausgefordert  fühlen.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  er  in 
diesem  Zusammenhang  die  Schutzschrift  für  Sokrates  geschrieben  hat,  an 
die  er  später  seine  sokratischen  Denkwürdigkeiten  anlehnte,  Mem.  I  1.  2. 
Diese  seine  frühste  Schrift  ist  vielleicht  nicht  sogleich  herausgegeben 
worden.  Das  Erste,  was  er,  veranlaßt  durch  das  Erscheinen  von  Sokrates- 
apologien  anderer  Verfasser  wie  Lysias  und  Piaton,  veröffentlicht  hat, 
wird  die  ^AnoXoyia  HcoxQdrovg  sein.  Über  seine  weitere  schriftstellerische 
Tätigkeit  wird  bei  Besprechung  der  Einzelschriften  gehandelt  werden. 
Von  den  mächtigen  geistigen  Anregungen  der  Sophistik,  die  den  Thuky- 
dides  zum  größten  Historiker,  den  Sokrates  und  Piaton  zu  den  größten 
Philosophen  der  Griechen  gemacht  haben,  ist  bei  Xenophon  kaum  ein 
Hauch  zu  verspüren.  Sein  anmutiger,  aber  schwungloser  Geist  kennt  weder 
scharfe  Kritik  noch  gedankenmäßige  Vertiefung,  und  am  wenigsten  ideale 
Erhebung.  In  kurzatmigem  Optimismus  schmiegt  er  sich  weich  und 
flüssig  an  die  gegebenen  Lebensformen  und  -anschauungen  der  herrschen- 
den Gesellschaft  an  und  verteidigt  deren  Recht  so  weit  als  möglich.  Der 
Verkehr  mit  Sokrates  hat  auf  ihn  ähnlich  wie  auf  Antisthenes  gewirkt, 
nur  daß  dieser  ein  weit  bedeutenderer  und  originellerer  Kopf  war.  Von 
Sokrates  hat  Xenophon  die  Abneigung  gegen  Naturwissenschaft  und  meta- 
physische Spekulation,  die  Richtung  auf  das  Praktisch-Ethische  und  Per- 
sönlich-Private, die  konservative  Haltung  in  politischen  und  religiösen 
Fragen,  den  Abscheu  vor  extremer  Demokratie.  Es  fehlt  ihm  aber  die 
Denkschärfe  des  Sokrates  in  Stellung  und  Behandlung  der  Probleme;  wenn 
Sokrates  den  kultlichen  Einrichtungen  gegenüber  schonende  Zurückhaltung 
übte  und  die  Zeremonien  der  Staatsreligion  eben  noch  mitmachte,  so  blieb 


^)  Aber  nicht  erst  nach  387,  wie  F. 
DüMMLEK,  Akad.  29  will. 

^)  Isoer.  1 1 ,  4  f. ;  Lysias  schrieb  dagegen 
eine  ri-TOAnyia  ^fox(jdTov<:  (fr.  IISThalh.). 

^)  Anytos  kann  in  dem  geschichtlichen 
Prozeß,  in  dem  wegen  der  Amnestie  von  403 
die  politische  Seite  sicherlich  gar  nicht  be- 


rührt werden  durfte,  nicht  gesprochen  haben, 
was  ihn  Pol.  sprechen  ließ  (A.  Menzel, 
Untersuchungen  zum  Sokratesprozeß,  Wiener 
Ak.  Sitz.ber.  145,  1902,  II  36  ff.).  Pol.  hat 
also  ein  neues  und  sehr  gefährliches  Motiv 
der  Verdächtigung  eingeführt. 


2.  Die  GMohichtBschreibimg.    d)  Xenophon.    (§  260.)  471 

Xenophon  in  einer  kleinlichen,  unausgesetzt  mit  Beten,  Opfern,  Beobachten 
von  göttlichen  Zeichen  und  Orakeln  beschäftigten  Observanz  der  äui^r- 
liebsten  Art  stecken,  rechnete  nach  Art  des  gemeinen  Mannes  über  mensch- 
liche Leistung  und  göttliche  Gegenleistung  ab  und  fQhlte  sein  metaphysi- 
sches Bedürfnis  durch  eine  ganz  oberflächliche  Teleologie  und  Theodicee 
(mem.  14;  IV  3)  befriedigt,  die  später  merkwürdigerweise  von  der  Stoa 
ausgebaut  worden  ist;  wenn  Sokrates  bei  allem  Freimut  der  Kritik  demo- 
kratischer Ausschreitungen  doch  ein  treuer  Sohn  seiner  Vaterstadt  Athen 
blieb,  so  hat  es  Xenophon  über  sich  gebracht,  gegen  sein  Vaterland  zu 
kämpfen,  ein  Schritt,  um  dessen  willen  ihn  B.  G.  Niebuhr^)  den  ausgeartet- 
sten Sohn  nennt,  den  jemals  ein  Staat  ausgestoßen  habe. 

Sein  sittliches  Ideal  verkörpert  sich  nicht  sowohl  in  einem  idealisti- 
schen, weitabgewandten  Asketen  wie  Sokrates  als  in  dem  Gentleman  dori- 
sierenden  Zuschnitts,  der,  körperlich  abgehärtet,  sich  in  allen  Lagen  be- 
herrscht (HeU.  IV  8,22;  V  3,  21;  VI  1,  16),  besonders  Schlagfertigkeit, 
leutselige  Verkehrsformen,  gute  Einfälle  hat,  sich  treue  und  dienstfertige 
Freunde  (siehe  besonders  Anab.  I  5,  8  f.;  9,  15  flf.)  zu  verschaffen  und  zu 
erhalten  weiß.  Derartige  Persönlichkeiten  kultiviert  er  und  ist  überzeugt, 
daß  sie  zum  Herrschen  geboren  seien;  er  fand  sie  in  dem  Athen  des 
4.  Jahrhunderts  nicht,  dagegen  im  Ausland,  bei  den  Persern  und  Spar- 
tanern, und  im  Verkehr  mit  Kyros  und  Agesilaos  haben  sich  ihm  die  un- 
hellenischen, monarchischen  Anschauungen  befestigt,  die  er  in  der  Kyru- 
paideia  zusammenhängend  vorträgt  und  die,  besonders  durch  die  Wirk- 
samkeit des  Isokrates  im  Lauf  des  4.  Jahrhunderts,  je  mehr  in  Griechen- 
land die  Persönlichkeiten  großen  Stils  ausgingen,  desto  mehr  Boden  fanden. 
Xenophon  ist  neben  Antisthenes  der  erste  griechische  Verkünder  des 
(pvoei  ßaodevg,  dessen  als  einer  glücklichen  Möglichkeit  auch  Aristoteles 
(pol.  p.  1310a  39  flf.,  1284a  3  ff.,  1288a  15  ff.,  1289a  41  f.,  1332b  20  f.) 
gedenkt.  Den  praktischen  Fragen  der  Erziehung,  in  der  das  Theoretische 
für  ihn  eine  sehr  geringe,  die  Frömmigkeit  und  die  körperliche  und  sitt- 
liche Übung  zu  Mut  und  Selbstbeherrschung  eine  sehr  große  Rolle  spielt, 
und  der  Staatsorganisation  gilt  sein  ganzes  Interesse,  und  von  diesen 
Gegenständen  handeln  alle  seine  Schriften  direkt  oder  indirekt,  auch  die 
historischen,  insofern  in  der  Anabasis  das  Persönlich-Vorbildliche  sehr 
stark  hervortritt  und  die  Hellenika  an  dem  Beispiel  der  spartanischen 
Hegemonie  zeigen  wollen,  wie  das  bestorganisierte  Staatswesen  durch 
Verletzung  göttlicher  Gebote  und  Vertragsbruch  zugrunde  geht. 

Den  Sachgebieten  nach  lassen  sich  seine  Schriften  in  die  drei  großen 
Gruppen  der  philosophischen,  historischen  und  lehrhaften  teilen.  In  den 
beiden  ersten  beruht  Xenophons  schriftstellerische  Größe.  Seine  Begabung 
kommt  hier  am  reinsten  in  Werken  persönlichen  Charakters,  in  zwanglos 
subjektivistischen  Formen,  im  Memoire  zur  Geltung.  Am  meisten  Frische 
hat  seine  Anabasis,  die  lediglich  Selbsterlebtes  gibt;  nahe  stehen  ihr  der 
Art  nach  die  sokratischen  Denkwürdigkeiten,  die  freilich  zum  kleinsten 
Teil  für  Geschichte  im  strengen  Sinn  gelten  können,   wenn   sie  sich  auch 

^)  B.  G.  NiEBUHs,  Kl.  Sehr.  I  467;  s..dle  oben  S.  468,  1  angeftthrten  Charakteristiken. 


472 


Griechische  Litteratnrgesohichie.    L  Klassiache  Periode. 


formell  so  darstellen;  sie  gehören  vielmehr  nebst  dem  S}rmposion  und  dem 
Oikonomikos  in  die  nach  Aristoteles  der  Poesie  zuzurechnende  Gattung 
der  ücoxQarixol  X6y Ol ;  von  den  platonischen  Dialogen  unterscheiden  sie  sich 
stark  durch  das  Schwanken  zwischen  erzählender  und  dialogischer  Form, 
durch  die  ausschließlich  praktisch-moralistische  Haltung  und  ihre  nirgends 
einen  Gegenstand  erschöpfende  bunte  Vielseitigkeit  und  Oberflächlichkeit, 
die  in  den  ^Anofivrifiovev^aTa  ermüdend  wirkt,  während  die  zwei  mit  Liebe 
ins  einzelne  ausgearbeiteten,  nach  ihrem  Sachinhalt  den  Xenophon  offenbar 
besonders  interessierenden  Stücke  Symposion  und  Oikonomikos  vorzüglich 
gelungen  sind.  Mit  den  Hellenika  wagt  Xenophon  den  Thukydides  fort- 
zusetzen und  steht,  insofern  als  er  Zeitgeschichte  erzählt,  methodisch  unter 
seinem  Einfluß;  aber  Auswahl  und  Behandlung  von  Personen  und  Sachen 
zeigen  die  subjektive  Art  des  Schriftstellers  nur  zu  deutlich.  Sein  kühnster 
Wurf,  die  Kyrupaideia,  ist  formal  eine  Verbindung  von  Philosophie  und 
Historie  —  ein  politisch-pädagogisches  Ideal  in  freier  Weise  geschichtlich 
lokalisiert  und  individualisiert,  ein  „^rdog*',  aber  ohne  Piatons  großartige 
und  hinreißende  Phantasie.  A.  Krohn^  urteilt  wohl  in  Xenophons  eigenem 
Sinn,  wenn  er  sie  als  dessen  bestgelungene  Schrift  betrachtet.  In  allen 
diesen  Leistungen  ist  ohne  Zweifel  viel  eigenes  schriftstellerisches  Verdienst 
des  Xenophon,  wiewohl  wir  nicht  mit  voller  Sicherheit  beurteilen  können, 
ob  und  wie  weit  etwa  die  Schriften  des  Antisthenes  oder  anderer  Sokra- 
tiker  außer  Piaton  formal  und  sachlich  auf  seine  sokratischen  Schriften 
eingewirkt  haben  mögen,  und  auch  vermuten  dürfen,  daß  die  schlichte, 
persönliche,  der  strengen  rednerischen  Schulung  ermangelnde*)  Art  sich 
schriftstellerisch  zu  geben,  für  die  unter  den  vollständig  erhaltenen  grie- 
chischen Schriftstellern  jener  Zeit  nur  allenfalls  Andokides  eine  Analogie 
bietet,  schon  von  Memoirenschriftstellern  wie  Ion  vorgebildet  gewesen  sei; 
sicher  hat  er  auch  aus  Herodot  schriftstellerisch  vieles  gelernt.  3)  Aber 
jedenfalls  ist  seine  läßliche,  mehr  psychologisch-assoziative  als  logisch 
durchdringende  Schreibweise  in  der  attischen  Litteratur  ein  neuer,  eigen- 
artiger Typus,  der  für  alle  Zeiten  Vorbild  der  äcpeXeia  des  Stils  geblieben 
ist.  Fremde  schriftstellerische  Formen  hat  er  sich  angeeignet  im  Agesi- 
laos,  der  von  isokratischer  Manier  abhängt,  und  in  den  Lehrschriften,  für 
welche  die  Sophistik,  insbesondere  Kritias,  Muster  geschaffen  hatte.  Aber 
nicht  nur  stilistisch,  sondern  auch  sprachlich  ist  Xenophon  eine  neue  Er- 
scheinung. Wenn  man  ihn  im  Altertum  die  attische  Biene*)  oder  attische 
Muse*)  genannt  hat,  so  bezieht  sich  das  lediglich  auf  die  Anmut  seines 
Ausdrucks,  nicht  auf  die  attische  Reinheit  seiner  Sprache.  Sein  langes 
Wanderleben,   sein  Verkehr  mit  Griechen   anderer  Staaten  und   mit  Bar- 


^)  A.  Krohn,  Sokrates  und  Xenophon, 
Halle  1875. 

^)  Bewußt  rhetoiisiert  X.  nur  im  Agesi- 
laos;  sonst  ist  ihm  nur  einzelnes  Rhetorische 
angeflogen:  H.  Schacht,  De  Xenophontis 
studiis  rhetoricis.  Diss.  Berlin  1890. 

')  Dionys.  Hai.  ad  Pomp.  4;  F.  Reuss, 
Jahrbh.  f.  Philol.  145(1892)  564  f.;  A.  v.  Gut- 
scHMiD,  Kl.  Sehr.  IV  832  urteilt  ,  Herodot  ist 


wahrhaft  naiv,  Xenophon  nur  grün",  und  in 
der  Tat  steht  die  Naivetät  vor  dem  Einwirken 
der  Sophistik  in  einer  wesentlich  anderen 
Beleuchtung  als  nach  diesem.  Siehe  darüber 
auch  E.  Meyer,  Gesch.  d.  Altert.  III  280. 

*)  Suid.  S.  Zeroqwv. 

»)  Diog.  L.  II  57;  Cic.  or.  62;  Quint.  X 
1,33.82;  Tac.  dial.  31. 


2.  Die  Geschichtflschreibimg.    d)  XenopholL 


261—262.) 


473 


baren,  0  der  Mangel  an  einer  geschlossenen  Ausbildung  seines  Geistes  und 
Geschmacks  haben  zusammengewirkt^  nicht  bloß  seiner  Gesinnung  die  aus- 
gesprochen nationale  Farbe  zu  nehmen,  sondern  auch  das  Gefühl  für  die 
scharf  umschriebene  Eigenart  des  attischen  Dialekts,  für  die  Grenzen 
zwischen  poetischem  und  prosaischem  Ausdruck*)  bei  ihm  abzustumpfen.  Die 
Bezeichnung  ^Vorläufer  des  Hellenismus",  die  man»)  ihm  gegeben  hat,  trifft 
auch  auf  seine  Sprache  zu.*)  Bei  Dionysios  von  Halikamassos  sind  mit 
Recht  Lysias  und  Isokrates,  nicht  Xenophon,  als  Vorbilder  attischer  Sprach- 
reinheit hingestellt.  Wenn  man  in  alter  und  neuer  Zeit  seine  Klarheit 
hoch  gepriesen  hat,  so  soll  nicht  vergessen  werden,  daß  diese  Eigenschaft 
bei  der  Seichtigkeit  seiner  Gedanken  nicht  allzu  schwer  wiegt.  Hinter- 
lassen hat  er  nach  Diogenes  Laertios  H  56  an  vierzig  Bücher  (nicht 
Schriften);^)  alle  dann  von  Diogenes  namentlich  aufgezählten  Schriften  sind 
auch  unversehrt  auf  uns  gekommen,^)  darunter  zwei  unechte. 

261.  Die  einzelnen  Schriften.  Eine  Besprechung  der  einzelnen 
Schriften  in  chronologischer  Folge  ist  nicht  möglich,  weil  wir  nur  für 
wenige  von  ihnen  (Laced.  resp.,  Agesil.,  de  vectigal.),  und  zwar  solche  aus 
den  letzten  zwanzig  Jahren  von  Xenophons  Leben,  feste  Punkte  zur  Bestim- 
mung der  Abfassungszeit  haben.  Es  empfiehlt  sich  daher,  sie  in  die  drei 
großen  Sachgruppen  geteilt  vorzuführen.  Weitere  relative  Daten  zur  Fest- 
stellung der  Abfassungszeit  können  nur  durch  Fortsetzung  einer  umsichtigen 
sprachstatistischen  Untersuchung,  mit  der  A.  Roquette"^)  einen  Anfang  ge- 
macht hat,  gewonnen  werden.®) 

I.  Geschichtliche  Schriften  haben  wir  von  Xenophon  drei,  die 
Anabasis,  die  Hellenika  und  den  Agesilaos.  Jede  von  ihnen  vertritt  eine 
eigene  Gattung:  die  Anabasis  ist  ein  Memoire,  die  Hellenika  Zeitgeschichte 
im  Anschluß  an  Thukydides,  der  Agesilaos  eine  Lobrede  auf  eine  geschicht- 
liche Persönlichkeit. 

262.  KvQov  ävdßaaig  in  sieben  Büchern^)  hat  den  Namen  von  dem 


^)  Helladios  bei  Phot.  bibl.  p.  533  b  25. 

*)  Hennog.  .t.  id.  p.  419,  21  Sp.;  Phot. 
lex.  in  den  Nachr.  der  Gott  Ges.  d.  Wiss. 
1897,  328,  9  oÄcog  JtokXä  ra  ylcooorjftauxa 
jraQ*  avTo).  Einzelheiten  an  X.'  Sprache  tadelt 
Phrynichos  (W.  Schmid,  Attic.  I  207). 

')  J.  P.  Mahafpy,  The  progress  of  Hel- 
lenism  in  Alexanders  empire,  Chicago  1905, 
chap.  1. 

*)  Der  Kompositcharakter  tritt  in  der 
Analyse  des  Wortschatzes  von  G.A.Sauppb, 
Lexilogiis  Xenophonteus,  Leipz.  1869,  hervor. 
Die  zahlreichen  Neubildungen  des  X.  bewegen 
sich  in  den  Bahnen  der  Koivrj.  Vgl.  W.  G. 
Rütherford,  The  new  Phrynichus,  Lond. 
1887,  161  f.  Über  Xenophons  Wortvorrat  s.  a. 
F.  RiEMANN,  Observationes  in  dlalectum 
Xenoph.,  Jever  1882. 

^)  Die  erhaltenen  Schriften  machen  zu- 
sammen 37  Bücher  aus,  wenn  man  aber  die 
Einteilung  der  Hellenika  in  9  Bücher  zu- 
grunde legt,  39;  von  der  letzteren  2^hl  läBt 
daher  C.  Wachsmüth,  Rh.  M.  34  (1879)  334 


den  Diogenes  ausgehen. 

®)  Nicht  erhalten  ist  uns  die  von  Sto- 
baios  Flor.  88,  14  erwähnte  Schrift  tibqi 
Seoyvidogi  0.  ImasoH.  Xenophon  über  Theo- 
gnis  u.  das  Problem  des  Adels,  in  Comment. 
Ribbeck.  71—98. 

^)  Siehe  die  oben  S.466, 1  zitierte  Schrift. 
Die  Bemängelung  derartiger  Untersuchungen 
durch  E.  Schwabtz,  RL  Mus.  44  (1889)  184  f. 
ist  bedeutungslos. 

8)  Von  den  Fragen  der  Abfassungszeit 
ist  bei  den  einzelnen  Schriften  zu  handeln. 
Im  voraus  sei  nur  bemerkt,  daß  Ed.  Sohwartz, 
Quellenuntersuchungen  zur  griech.  Geschichte, 
Rh.  Mus.  44  (1889)  190  £f.  und  ähnlich  E. 
Richter,  Xenophonstudien  149  ff.,  den  Xeno- 
phon erst  370  nach  seiner  Ansässigmachung 
in  Korinth  mit  Schriftstellerei  sich  befassen 
lassen.  Wir  können  diese  von  vornherein 
paradoxe  Meinung  nicht  teilen. 

®)  Die  Einteilung  in  Bücher  rührt  von 
später  Hand  her,  von  derselben  auch  die 
üjber  den  Inhalt  orientierenden  Einleitungen 


474 


Grieohiache  Lüteratargasehichte.    L  Khuwasche  Periode. 


kleineren  ersten  Teil  (I  1 — 6),  in  dem  der  Zug  des  Kyros  vom  Meer  hinauf 
nach  Innerasien  in  der  Form  eines  Reisejournals  (ähnlich  Herod.  V  52  ff.) 
beschrieben  ist.^)  Den  Hauptgegenstand  aber  bildet  die  großenteils  von 
Xenophon  geleitete  Heimkehr  der  Zehntausend  nach  der  Schlacht  von 
Kunaxa,  ein  Stück  von  einzigartiger  geschichtlicher,  geographischer  und 
ethnographischer  Wichtigkeit,  das  obendrein  durch  die  zentrale  Stellung 
Xenophons  bei  diesem  außerordentlich  schwierigen,  ja  abenteuerlichen 
Unternehmen  einen  eigenartigen  persönlichen  Reiz  erhält.  Unter  den 
erhaltenen  Memoiren  des  Alterturas  dürften  der  Anabasis  nur  die  Kom- 
mentare Cäsars  über  den  gallischen  Krieg  den  Rang  streitig  machen. 
Mit  diesen  teilt  die  Anabasis  auch  den  Charakter  als  Rechtfertigungs- 
schrift, ^)  den  aber  Xenophon  durch  die  Art  der  Stilisierung  und  Publi- 
kation möglichst  verborgen  hat.  Er  redet  nämlich,  wie  Cäsar,  von  sich 
immer  in  der  dritten  Person,*)  einigemal  wird  (I  8,  18;  V  4,  34)*)  sogar 
auch  eine  Ansicht  mit  üyovol  xiveg  eingeführt,  wo  es  sich  nur  um  Be- 
obachtungen des  Verfassers  selbst  handelt.  Femer  hat  Xenophon  die 
Schrift  unter  fremden  Namen  veröffentlicht.^)  Hell.  IH  1,  2  nimmt  er  offen- 
bar auf  seine  eigene  Anabäsis  als  auf  ein  Werk  des  Themistogenes  aus 
Syrakus  Bezug.  Daß  vom  Zug  der  Zehntausend  außer  Xenophon  und  dem 
Stymphalier  Sophainetos,  dessen  Anabasis*  Stephanos  von  Byzantion  viermal 
zitiert,^)  auch  noch  Themistogenes  eine  eigene  Darstellung  gegeben  habe, 
ist  ebensowenig  glaublich, 7)  als  daß  Xenophon  in  den  Hellenika  diesen 
Zug,  dessen  Seele  er  selbst  gewesen  war,  mit  Stillschweigen  übergangen 
und  auf  eine  fremde  Darstellung  verwiesen  hätte,  wenn  er  nicht  Verfasser 
der  Anabasis  wäre.  Was  der  Schriftsteller  hier  bietet,  ist  meist  von  ihm 
selbst  miterlebt  oder  bei  Augenzeugen  erfragt;   doch  hat  er  auch  Litte- 

zu  Anfang  jedes  Buches;  vgl.  Th.  Birt,  Ant. 
Buchw.  464  ff.  Arrian  las  jene  einleitenden 
Inteipolationen  schwerlich  in  seinem  Exem- 
plar, da  er  die  Bücher  seiner  Anabasis  ohne 
jede  Einleitung  beginnt. 

')  Nur  locker  ist  das  erste  Buch  mit 
den  folgenden  Büchern  verbunden,  so  daß 
an  eine  ehemalige  selbständige  Stellung  des- 
selben denkt  G.  Osbekoer,  Studien  z.  1.  B.  von 
Xen.  Anab.,  Progr.  Speier  1896.  Andere  wie 
A.  Croiset  scheiden  die  zwei  ersten  Bücher, 
die  eine  rasche  und  summarische  Darstellung 
enthalten,  von  den  übrigen,  in  denen  die 
Person  des  Xenophon  in  den  Vordergrund  tritt. 

*)  F.  Dürrbach.  Rev.  des  6t.  Gr.  6  (1893) 
343  ff.,  der  nur  schwerlich  mit  R«cht  die  Ab- 
fassung der  An.  auf  die  Absicht  des  X.  zurück- 
führt, seine  Rückbenifung  nach  Athen  zu  be- 
wirken und  sie  darum  bis  370  herabrückt.  W. 
Vollbrecht  in  der  Festschr.,  der  48.  Philol.- 
vers.  dargebr.  von  dem  Lehrerkolleg,  des 
Christianeums,  Altona  1905. 

')  Nur  in  dem  unechten  Schlußkapitel 
VII  8,  25  steht  die  erste  Person  sm)ldo^isv. 
Auch  Hell.  III  2,  7  hält  er  die  erste  Person 
fest. 

*)  Die  Echtheit  der  Stellen  wird  von 
C.  G.  Cobet  und  andern  Kritikern  bezweifelt ; 


das  Xeyeiai  von  II  2,  6  hat  nichts  Auffälliges. 

^)  Im  Altertum  ist  die  Pseudonymität 
nicht  bezweifelt  gewesen  (Plut.  de  glor.  Ath. 
1  p.  345e;  Tzetz.  Chil.  VII  920),  wohl  aber 
in  neuerer  Zeit  (K. Schexkl,  Wiener  Ak.  Sitz- 
ber.  60, 1868, 635  flf.  und  G.  Cousin  in  der  oben 
S.  469, 4  erwähnten  Schrift).  Unsicher  ist 
die  Beziehung  des  äXXfj  yiyQOJiTtu  an.  II  6,  4 
von  einer  Sache,  die  X.  sonst  nirgends  be- 
rührt. 

®)  Steph.  u.  KoQÖovxot,  Tdo^roi,  ^voxoi, 
Xaofidvdtf.  Benützt  zu  haben  scheint  diesen 
und  vielleicht  auch  den  Etesias  Diodor.  XIV 
19 — 31  durch  Vermittlung  des  Ephoros  in 
den  Partien,  die  von  Xenophon  abweichen.  — 
Sophainetos  von  Stvmphalos  hatte  wohl  vor 
Xenophon  sein  Buch  geschrieben,  so  daß  im 
Gegensatz  dazu  Xenophon,  ohne  sich  das 
merken  zu  lassen,  seine  Verdienste  in  besseres 
Licht  zu  setzen  suchte.  Dementsprechend 
findet  Th.  Gohperz,  Griech.  Denker  II  98  in 
der  Anabasis  eine  große  Selbstüberschätzung 
des  Autors. 

')  Suidas  erwähnt  von  diesem  Themisto- 
genes außer  der  Anabasis  noch  iVJ.a  urd 
jtegi  Tijg  iavtov  nargi^os.  Die  uns  erhaltene 
Anabasis  kann  dem  Stil  nach  nur  von  Xeno- 
phon selbst  verfaßt  sein. 


2.  Die  GaBohichtssohreibang.    d)  Xenophon.    (§  263.)  475 

ratur,  z.  B.  den  Ktesias  (An.  I  8,  26  f.,  vielleicht  auch  III  4,  8—12)0  ^^' 
nützt.  Der  schlichte  Fluß  der  Darstellung  wird  öfter  unterbrochen  durch 
reflektierende  Partien  teils  in  Form  von  Personalcharakteristiken,  die  als 
erste  Versuche,  in  griechischer  Prosa  die  Eigenart  menschlicher  Charaktere 
schriftstellerisch  zu  fassen,  sehr  bedeutungsvoll  sind,^  teils  in  Form  von 
Reden.  —  Die  Anabasis  war  für  die  Darstellung  der  Kyrosexpedition  bei 
Ephoros  neben  Ktesias  die  Hauptquelle.')  Die  Abfassung  der  Anabasis 
wird  jetzt  meist  Mitte  oder  Ende  der  siebziger  Jahre  des  vierten  Jahr- 
hunderts angesetzt,^)  ohne  daß  für  so  späte  Datierung  ein  zwingender 
Grund  vorläge.  Fest  steht  nur,  daß  die  An.  V  3,  7  bezeichnete  Olympiade 
frühestens  die  des  Jahres  388  sein  kann,  da  die  ganze  Schilderung  des 
Lebens  in  Skillus^)  voraussetzt,  daß  Xenophon  schon  seit  geraumer  Zeit 
dort  ansässig  war. 

263.  Die  'Ellrjvixd  in  sieben  Büchern^)  setzen  die  Vollendung  der 
Anabasis  voraus  (HI  1,  2);  sie  enthalten  die  griechische  Geschichte  von 
411  bis  362,  d.  h.  von  dem  Zeitpunkt  an,  mit  dem  das  Werk  des  Thukydides 
endigte,  bis  zur  Schlacht  von  Mantineia.  Das  Werk  fängt  ganz  abrupt 
an  mit  juezä  dk  ravta,  will  also  sicher  in  seinem  ersten  Teil  nur  eine  Fort- 
setzung oder  Ergänzung  der  unvollendeten  Geschichte  des  Thukydides 
bieten,')  wiewohl  der  Schluß  von  Thukydides  VIII  und  der  Anfang  von 
Hellenika  I  nicht  ganz  genau  aufeinander  passen.®)  Die  Schlußworte  ijtiol 
fjiv  dt)  juixQi  rovTOv  yoacpia&co,  rd  dk  fxe:iä  ravra  Towg  äXXq)  jue^oei  machen 
den  Eindruck,  Xenophon  habe,  als*  er  sie  schrieb,  bereits  von  einem  be- 
stimmten Fortsetzer  gewußt.  Der  Abschluß  mit  der  Schlacht  von  Manti- 
neia, d.  h.  der  endgültigen  Niederwerfung  von  Spartas  Hegemonie,  ist 
übrigens,  dem  ganzen  Plan  und  Geist  des  Werkes  nach,  der  von  Xenophon 
gewollte.  Auf  diese  Schlacht  folgt  nach  seiner  Anschauung  ein  Zustand, 
von  dem  er  sich  mit  Widerwillen  abwendet  und  den  zu  schildern  er  keine 
Lust  mehr  hat.  Das  ganze  Werk,  an  dem  Xenophon,  wie  wir  aus  einer 
gelegentliehen  Bemerkung  VI  4,  36  sehen,  noch  über  das  Jahr  359  hinaus 

')  0.  Neuhaus,   Die  Quellen   des  Pom-  nötigerweise  an,  daß  der  Passus  über  Skillus 

peius  Trogus  in  der  pers.  Gesch.,  Progr.  Königs-  ähnlich  wie  der  Epilog  der  Kyrupaideia  erst 

berg  1896;  ders.,  Kh.  Mus.  56  (1901)  272;  M.  ■   später  bei  einer  Neuausgabe  des  Buches  zu- 

Pancritius,   Studien  über  die   Schlacht  bei  gefügt  worden  sei. 

Kunaxa,  Berlin  1906.  ^)  Daneben   existierte   eine  Ausgabe   in 

*)  I.  Bruns,  Das  litterar.  Porträt  141  fF. ;  9  Büchern,  wie  aus  den  Zitaten  des  Harpo- 

F.  Leo,  Die  griech.-röm.  Biogr.,  Leipz.  1901,  kration  A.  Schafbb,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  101 

87  ft.  (1870)  527,  nachgewiesen  hat. 

3)  A.v.Mess, Rhein.  Mus.61  (1906)362ff,  ')  G.  Friedrich,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil,  lb^ 

*)  Zwischen  379  u.  371  E.  Meyer,  Gesch.  (1896)299  nimmt  an,  daß  dieser  Anschluß  erst 

des  Altert.  III  277  f. ;   um  375  I.  Pantazidis  später  durch  den  Redaktor  gemacht  sei ;  das 

(in  seiner  Ausg.  Athen  1900) ;  um  370  F.  Dürr-  j   Gleiche  könnte  man  für  den  Schluß  anneh- 


BACH  a.  a.  0. ;  I.  Bruns  a.  a.  0.  findet  in  den  Cha- 
rakteristiken des  Menon  und  Proxenos  Ein- 
flüsse von  Isokrates*  Euagoras  und  geht  dem- 
nach nicht  über  373  zurück.  K.  Sghenkl, 
Xenoph.  Studien  11  (Wien  1875)  73  schließt 
aus  den  Imperfecta  an.  V  3,  9,  das  Werk  sei 
erst  nach  Xenophons  Abzug  aus  Skillus,  also 
nach  373  geschrieben;  ähnlich  E.  Sohwartz, 
Rh.  Mus.  44  (1889)  193. 

»)  Th.  Berok,  Gr.  Litt.  IV  313  nimmt  un- 


men.  Der  Redaktor  hätte  dann  beabsichtigt, 
in  einem  Eyklos  von  Geschichtswerken  nach 
Art  des  epischen  die  Hellenika  zwischen 
Thukydides  und  die  Philippika  des  Theopom- 
pos  oder  Anaximenes  zu  setzen. 

^)  0.  RiEMANN,  Qua  rei  criticae  tractan- 
dae  ratione  Hellenicon  Xenoph.  textus  con- 
stituend.  sit,  Paris  1879,  52 ff.;  Th. Lbi^schaü, 
Jahresber.  über  die  Fortschr.  d.  kl.  Alt  122 
(1902)  231. 


476 


Grieohische  litteratnrgeBchiehte.    L  KlaariBche  Periode. 


gearbeitet  hat,  ist  trotz  einiger  gelungenen  Partien  ^  weit  entfernt  von 
der  feinen  Durcharbeitung  der  Anabasis  und  K}rrupaideia.  Die  Vermutung 
liegt  nahe,  daß  er  es  nicht  zur  Herausgabe  als  Ganzes  abgerundet,  nicht 
die  letzte  Feile  daran  gelegt  habe.')  Auf  solche  Weise  erklären  sich 
Spuren,  die  auf  Abfassung  der  einzelnen  Teile  zu  verschiedenen  Zeiten 
hinweisen.  B.  G.  Niebuhr')  hat  zuerst  darauf  aufinerksam  gemacht,  da&, 
wenn  es  am  Schluß  des  zweiten  Buches  von  den  unter  sich  ausgesöhnten 
Parteien  Athens  heißt  hi  xou  vvv  öfiov  xe  jioJUrevovrai  xal  röig  Sgxoig  iju/iieysi 
6  dijjLLog^  Xenophon  unmöglich  zur  Zeit  der  Schlacht  von  Mantineia,  nach- 
dem jene  Aussöhnung  längst  vergessen  und  ein  ganz  anderer  Zustand  ein- 
getreten war,  noch  so  habe  schreiben  können.  Er  nahm  deshalb  an, 
Xenophon  habe  zuerst  nur  die  zwei  ersten  Bücher  als  Fortsetzung  des 
Thukydides*)  geschrieben.  Weiter  gingen  Neuere,  indem  sie  auf  den 
stärkeren  Einschnitt  nach  V  1  und  die  stilistische  Verschiedenheit  der  ein- 
zelnen Teile  hinwiesen.^)  Die  ersten  zwei  Bücher  oder  genauer  I  1  bis 
n  3,  10  führen  in  annalistischer  Anordnung,  unter  Beibehaltung  der  thuky- 
didel'schen  Formeln  am  Schluß  und  Anfang  des  Kriegsjahrs,  ^)  und  trockenem 
Ton  sine  ira  et  studio  (nur  daß  in  der  ausführlichen  Darstellung  des 
Arginussenprozesses  sich  das  Interesse  des  Sokratikers  verrät)  die  Ge- 
schichte des  peloponnesischen  Krieges  zu  Ende;  den  Eindruck  eines  ab- 
geschlossenen, mit  Vorliebe  ausgearbeiteten  Teiles,  der  aber  noch  unter 
thukydidel'schem  Stilgesetz  steht,  ^)  macht  die  Geschichte  der  Herrschaft 
der  dreißig  Tyrannen  H  3,  11—4,  43  (jJ  'A&tjvrjoi  axdoig  IH  1,  1).«)  Diese 
beiden  ersten  Bücher  waren  ursprünglich  bestimmt,  mit  dem  Werk  des 
Thukydides  als  dessen  Ergänzung  herausgegeben  zu  werden.  Daran 
schließt   sich    in   freierer    und  lebhafterer,   gruppierender  Darstellung  und 


*)  Einige  besonders  farbenfrische  Teile 
hebt  I.  Bruns,  Litt.  Portr.  42  f.,  heraus. 

«)  R.  Gbossbb,  Jahrbb.  f.cl.  Phil.  93  (1866) 
721  ff. ;  95  (1867)  737  ff. ;  105  (1872)  723  ff.  sucht 
die  Hellenika  als  einen  späteren  Auszug  zu 
erweisen,  worauf  insbesondere  auch  das  äXXfj 
yeyocuirai  der  Anab.  II  6,4  (s.  o.  S.  474, 5)  hinzu- 
weisenscheine, da  er  dort  etwas  verspricht,  was 
in  unseren  Hellenika  nicht  steht.  Zuvor  schon 
hatte  A.  Kyprianos,  IIfqI  töv  'ElXtjvixcoy  tov 
Ssi'offcJrTog,  Athen  1859,  den  Gedanken  einer 
Epitome  ausgesprochen.  Dem  tritt  mit  ge- 
sundem Urteil  W.  Vollbbboht,  De  Xeno- 
phontis  Hellenicis  in  epitomen  non  coactis, 
Hann.  1874,  entgegen.  Daß  die  den  Agesi- 
laos  betreffenden  Abschnitte  uns  nicht  im 
Auszug  erhalten  sind,  dafür  haben  wir  eine 
Garantie  in  der  Lobrede  auf  Agesilaos. 

')  B.  G.  NiEBüHR,  Über  Xenophons  Hel- 
lenika, Kl.  Sehr.  I  464  ff.  Dagegen  behauptet 
auf  Grund  der  unbewiesenen  Voraussetzung, 
daß  die  Hellenika  lediglich  den  Zweck  ver- 
folgten, in  Athen  Stimmung  für  Sparta  und 
gegen  Theben  zu  machen.  Ed.  Schwabtz, 
Rh.  Mus.  44  (1889)  182  ff.,  sie  seien  in  einem 
Zug  und  mit  der  gleichen  Tendenz  nach  859 
abgefaßt    E.  Metbb,  Gesch.  des  Altert.  HI 


281  schließt  sich  an  Schwartz  an. 

*)  Daß  Xenophon  den  Nachlaß  des  Tlm- 
kydides  in  die  Hände  bekam,  scheint  die  ver- 
worrene Nachricht  bei  Diog.  L.  II  57  (vgl. 
auch  Marcellin.  vit.  Thuc.  45)  zu  besagen. 

*)  W.  NiTSCHB,  Über  die  Abfassung  von 
Xen.*  Hellenika,  Progr.  des  Berliner  Sophien- 
gymn.  1871;  vgl.  A.  Roqubttb  S.  61,  der  mit 
W.  Dittbnbebgbb,  Herm.  16  (1881)  330,  auch 
Eigentümlichkeiten  des  Sprachgebrauchs  (na- 
mentlich von  fit/v)  für  die  Scheidung  ver- 
wertet; vgl.  J.  Habtman,  Anal.  Xenoph.  p.  35  ff. 
Orientierend  L.  Lanoeb,  Eine  Sichtung  der 
Streitschriften  über  die  Gliederung  der  Hell, 
von  Xen.,  Progr.  Brunn  1897. 

«)  G.  BüsoLT,  Herm.  33  (1898)  661  ff. 

')  Eine  Abweichung  von  ihm  entschul- 
digt nach  der  Bemerkung  von  I.  Brüns  (Das 
litterar.  Portr.  37)  X.  selbst  II  3,  56  (vgl. 
auch  V  1,  4).  Siehe  a.  E.  Römpler,  Studie  üb. 
die  Darstell,  der  Persönlichk.  in  den  Ge- 
schichtswerken des  Thuk.  und  Xen.,  Diss. 
Eriangen  1898. 

*)  Vergleichung  dieses  Abschnitts  mit 
dem  Bericht  bei  Aristot.  *Ad.  :io/..  G.  Bcsolt, 
Herm.  33  (1898)  71  ff.;  Th.  Lbnsohau  a.  a.  0. 
122,  232  f. 


2.  Die  GeBchichtsschreibimg.    d)  Xenophon«    (§  268.)  477 

mit  entschiedener  Parteinahme  für  Sparta  und  gegen  Theben  die 
übrigens  recht  lückenhafte  und  ungleichmäßige^)  Erzählung  der  Ereignisse 
bis  387  oder  bis  zum  Frieden  des  Antalkidas  (bis  V  1,  36).  Dieser  Ab- 
schnitt ist  gewissermaßen  eine  Verherrlichung  der  Politik  des  Agesilaos 
und  scheint  von  Xenophon  um  384  in  dankbarer  Anerkennung  der  von 
Agesilaos  empfangenen  Wohltaten  abgefaßt  zu  sein.^)  Der  im  ersten  Teil 
beobachtete  Grundsatz,  alles  genau  in  annalistischer  Weise  mit  Unter- 
scheidung der  Jahreszeiten  zu  erzählen,')  ist  hier  so  wenig  festgehalten, 
daß  so  wichtige  Ereignisse  wie  die  Schlacht  von  Knidos  keine  direkte  Er- 
wähnung gefunden  haben.  Sehr  bezeichnend  für  Xenophons  ganze  mora- 
listische Auffassung  ist  der  Einschnitt,  den  er  nach  V  3  macht  und  durch 
ein  neues  Proömium  (V  4,  1)  hervorhebt.  Dieser  rein  kompositorische 
Einschnitt  ist  ihm  offenbar  viel  wichtiger  als  der  sachliche  mit  dem  Antal- 
kidasfrieden,  V  1,  36.  Man  sieht,  sein  Thema  ist  die  Geschichte  der  spar- 
tanischen Hegemonie  seit  403;  sie  zerfällt  ihm  in  zwei  Teile,  1.  Auf- 
schwung (bis  V  3),  2.  Niedergang  infolge  der  spartanischen  Gottlosigkeit 
(V  4  bis  Schluß).  Der  frömmelnde  Ton  ist  hier  noch  stärker  und,  da  die 
Gottheit  so  weit  als  möglich  die  Spartaner  begünstigen  muß  (IV  4,  12;  V 
4,  1;  VI  4,  3  f.;  VII  4,  9.  32;  5,  10.  12.  13),  widerwärtiger  als  in  der  Ana- 
basis. Noch  mehr  als  zuvor  kommt  von  V  4  an  über  der  politischen  und 
moralischen  Reflexion  die  nächste  Aufgabe  des  Historikers,  die  erschöpfende 
Darstellung  der  Ereignisse,  zu  kurz;  noch  mehr  drängt  sich  die  spartaner- 
freundliche Tendenz  auf.  Männer  wie  Konon  und  Pelopidas  werden  kaum 
erwähnt,  Epimaneinondas  als  ehrgeiziger  Streber  mit  einigen  taktischen 
Fähigkeiten  (VH  5,  19)  charakterisiert,  der  Sieg  von  Leuktra  als  Zufalls- 
erfolg dargestellt  (VI  4,  3  ff.),  während  die  Trefflichkeit  selbst  mittelmäßiger 
Spartaner  wie  des  Derkyllidas  (III  1,  8  ff.  21  ff.;  2,  7),  die  Gerechtigkeit 
der  spartanischen  Ephoren  und  Feldherrn  (HI  2,  6.  31;  V  4,  64;  VI  5,  12) 
übermäßig  herausgehoben  werden.*)  Besonders  widerlich  wirkt,  daß  Xeno- 
phon (wie  Isokrates)^)  seine  Parteilichkeit  hinter  dem  Vorwand,  für  die 
unterdrückten  griechischen  Kleinstaaten  eintreten  zu  wollen,  versteckt. 
Infolge  dieser  materiell  sehr  starken  Subjektivität  der  Anschauung  bei 
gleichzeitiger  Festhaltung  der  objektiven  Formen  des  Thukydides  geht, 
was  den  Stil  betrifft,   ein  Riß  durch  das  Werk.*)     Die  Anabasis  in  ihrem 


*)  Siehe  darüber  E.  Meter,  Gesch.  des 
Altert.  III  278  ff.;  grell  beleuchtet  ist  die 
Lückenhaftigkeit  durch  den  Kratippospapyrus 
(s.  B.  Grenfell  und  A.  Hunt,  Oxyrh.  pap. 


keit  der  Hell.  L.  Lohse,  Quaest.  chronolo- 
gicae  ad  Xen.  Hell,  pertinentes,  Diss.  Leipz. 
1905. 

*)  Dem  Lucian  (de  bist,  conscr.  39)  war 


V  1908  p.  120  f.).  I   es  vorbehalten,  den  X.  als  öUatog  ovyygaq^evg 

*)  Hell.  IV  3,  16  wird  die  Schlacht  von      zu  loben.  Aber  mit  J.Six  (Jahrb.  des  arch.  Inst. 


Eoroneia  genannt  oia  ovx  ällrf  Twy  y'  i(p* 
rjfKor,  was  nach  der  Schlacht  von  Leuktra 
niclit  mehr  paßt;  der  Ausdruck  ist  freilich 
mechanisch  übernommen  in  den  viel  späteren 
Agesilaos  2, 9.  Die  Ansicht  von  E.  v.  Lbutsoh, 
Phil.  33  (1874)  97,  daß  Xenophon  die  ersten  vier 
Bücher  unter  dem  Pseudonym  Eratippos  ver- 
öffentlicht habe,  widerlegt  F.  Rühl,  Jahibb. 
f.  cl.  Phil.  127  (1883)  738  f. 

^)  Über  die   chronologische  Undeutlich- 


20, 1905, 97  ff.)  die  Schilderung  der  Schlacht 
bei  Fhlius  VII  2,  20  ff.  für  Ekphrase  eines 
Gemäldes  zu  halten,  wird  man  sich  doch 
kaum  entschließen. 

^)  F.  BLASS,  Att.  Bereds.  II«  91.  Das 
Rezept  ist  übrigens  nach  Maßgabe  der  lako- 
nischen Tendenzlügen  (Thuc.  II  8,  4)  schon 
von  der  altattischen  Komödie  (Aristoph.  Ba- 
ßvltovioi)  angewendet. 

^)  Siehebesonders  I.  Brunb  a. a. 0. 87 ff. 


478  Grieohisdie  LitteratnrgeBchiclite.    I.  KUsaisohe  Periode. 

Memoirencharakter  ist  weit  stilreiner.  Die  in  den  Hellenika  eingelegten 
Iteden  sind,  abgesehen  von  II  3,  24flF.;  V  1,  UflF.;  VI  3,  4flF.,  sehr  farblos.») 
Litterarische  Quellen  für  die  Hellenika  kennen  wir  nicht.  Was  Xenophon 
gibt,  hat  er  teils  selbst  mit  angesehen,  teils  sich  von  Zeugen  berichten 
lassen  {icpaoav  III  5,  21;  VI  4,  29;  VII  1,  30.  4,  40).  Daher  mag  sich  zum 
Teil  die  Ungleichmä&igkeit  der  Darstellung  erklären.  Die  Zusamraenord- 
nung  der  zu  verschiedenen  Zeiten  geschriebenen  und  vielleicht  auch  heraus- 
gegebenen Teile  kann  wohl  von  Xenophon  selbst  herrühren,  der  ja  noch 
eine  Reihe  von  Jahren  nach  362  gelebt  hat.  Aber  zu  einer  durchgreifen- 
den Schlußredaktion  ist  er  nicht  gekommen.  Von  späterer  Hand  sind 
Glosseme  zur  Ergänzung  und  chronologischen  Fixierung  hinzugekommen.*) 
264.  Der  *AyrjaUaog^  eine  Lobrede  nach  der  Schablone  von  Isokrates' 
Euagoras^)  auf  den  verstorbenen  König  Agesilaos,  hängt  mit  den  Hellenika 
eng  zusammen;  waren  doch  diese  in  ihrem  Hauptteil  der  Verherrlichung 
der  politischen  Ziele  und  der  kriegerischen  Tüchtigkeit  dieses  Königs  ge- 
widmet. Der  Agesilaos  verwendet  die  Materialien  der  Hellenika*)  zu  einer 
Charakteristik  des  Agesilaos  nach  der  ethischen  Seite  hin;  das  Verhältnis 
der  beiden  Schriften  ist  ähnlich  wie  das  zwischen  Theopompos'  Philippika 
und  iyxcojuiov  <PiXbi7tov.  Die  Folge  der  Entlehnungen  ist,  daß  die  Einleitung 
des  Agesilaos  viel  rhetorischer  als  das  weitere  geformt  ist.  Nachdem 
Agesilaos  im  Winter  361/60  auf  der  Heimkehr  von  dem  ägyptischen  Feld- 
zug gestorben  war,  wurde  eine  Menge  von  Enkomien  auf  ihn  geschrieben.*) 
Sein  Bewunderer  Xenophon  durfte  hier  nicht  fehlen.  Unter  vielfach  wört- 
licher Benützung^)  seiner  Hellenika,  aber  selbstverständlich  in  wesentlich 
verschiedenem  Stil  schrieb  er  die  erhaltene  Lobrede.  Daß  er  ihr  Verfasser 
sei,  ist  ohne  Grund  bezweifelt  worden.^) 

^)  I.  Bruns  a.  a.  0.  402  f.  oder  habe  sich  Xenophon  bei  der  Herausgabe 

')  G.  F.  Umoer,   Die  historischen  Glos-  des  Agesilaos  an  das  ältere  Manuskript,  die 

seme  in  Xen.  Hellenika,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  I   erste  Niederschrift,  gehalten  (das  erstere  an- 

1882I237ff.;  J.  Beloch,  Phil.43(1884)261ff.  genommen  von  H.  Rosenstiel,   De  Xen.  hi- 

')  G.  Kaibel.  Herm.  25  (1890)  581  ff.;  storiae  Graecae  parte  bis  edita,  Jena  1882,  das 

].  Bruns  a.a.  0.  126  ff.,  der  bemerkt,  daCs  der  |   letztere  von  G.  Friedrich,  Zu  Xen.  Hellenika 

Ag.  weit  mehr  Frische,   wenn  auch  weniger  ,   und  Agesilaos,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  153,  1896, 

Kunst  als  der  Euag.  habe.  <   298);    sie   erklären   sich   aus   der  bewußten 

*)  Daß  die  Hellenika  zur  Zeit  der  Publi-  Stil  Verschiedenheit  der  beiden  Scliriften. 

kation  des  Agesilaos  schon  als  Ganzes  her-  ^)  Anstoß   erregte   die  Angabe  I  6,  daß 

ausgegeben  waren,   ist   nicht  notwendig  an-  Agesilaos  als  junger  Mann  {fti  vfoc:  on')  den 

zunehmen.  Der  Ag.  schöpft  aus  Hell.  III  bis  Thron  bestiegen  habe,   während   er  tatsäch- 

V  1;  nur  Ag.  II  22   berührt   sich   mit   einer  lieh  damals  bereits  40  Jahre  alt  war;   doch 

späteren  Stelle  der  Hell.  (V  4.  38),  ohne  daß  I    fällt   eine   solche   Hyperbel    bei    einem  Epi- 

wir  entscheiden  können,   welche   der  beiden  deiktiker  nicht  ins  Gewicht.    Die  Hypothese 

Stellen  hier  der  anderen  vorgelegen  habe.  von  H.  Beckhaüs,  Ztschr.  f.  Gymn.wesen  26 

*)  Isoer.  epist.  9,  1.  (1872)  225 ff.,   ist  mit  Recht  allgemein  (vgl. 

•)  Die  kleinen  sprachlichen  und  stilisti-  |   G.  Kaibel  a.  0. ;   F.  Blass.  Att.  Bereds.  11'^ 

sehen  Abweichungen  (der  Hiatus  ist  im  Ag.  479  ff.)  verworfen;  ebenso  ist  G.  Sauppes  Un- 

zwar  nicht  ganz,  aber  mit  größerer  Sorgfalt  :   echterklärung  des  elften  Kapitels  von  1.  Bruns 

als  früher   vennieden;    im  Agesilaos   stehen  (De  Xen.  Ages.  cap.  XI,  Kiel  1895;  ders..  Litt. 

Formen    der  älteren  Sprechweise    wie  /'jrfo-  |   Portr.  132  f.)  abgetan.   Im  Altertum  (Polenion 

■dui,  afttfl  c.  acc,  fifuüv,  wo  in  den  Helleni-  "   bei  Ath.  138e;  Cic.  ad  fam.  V  12.  7)  galt  die 

ka,   dem  jüngeren  Attikismos  entsprechend,  i    Schrift  als  xenophontisch.    Vgl.  W.  Nitsoue, 

(tHolovihlv,   jieoi  c.  acc,   iXdxnov  steht)   hat  '    Jahresber.  über  die  Fortschr.  d.  kl.  Alt.wiss. 

man    irrig    dahin    deuten   wollen,    entweder  [    9  (1877)  31  flf. 

seien  die  Hellenika  später  umredigiert  worden  | 


2.  Die  Geschichtssohreibang.    d)  Xenophon.    (§§  264—266.)  47g 

265.  IL  Philosophische  Schriften  sind  uns  von  Xenophon  fünf  er- 
halten :  die  Verteidigung  des  Sokrates,  die  Denkwürdigkeiten  des  Sokrates, 
der  Oikonomikos,  das  Gastmahl  und  der  Hieron.  Die  ersten  vier  handeln 
von  Sokrates.  Alle  sind  charakterisiert  durch  das  einseitige  Interesse  für 
die  Fragen  der  praktischen  Ethik,  durch  eine  gewisse  dialektische  Stumpf- 
heit und  Oberflächlichkeit,  vermöge  der  Probleme  der  Erkenntnistheorie 
oder  Metaphysik*)  völlig  zurücktreten.  Als  Schüler  des  Sokrates  wählt 
Xenophon  für  seine  philosophischen  Erörterungen  nicht  die  Form  der  fort- 
laufenden Rede,  sondern  des  Gesprächs,  das  er  aber  stark  mit  berichtenden 
Teilen  versetzt,  so  daß  eine  auf  die  spätere  Diatribe  vorbereitende  Misch- 
form entsteht.^) 

266.  Die  Apologie  ist,  wie  oben  (S.  470)  gesagt,  nicht  die  zuerst  ver- 
faßte, wahrscheinlich  aber  die  zuerst  selbständig  veröffentlichte  sokratische 
Schrift  Xenophons.  Sie  ist  nicht  eine  Rede,  wie  die  Apologie  Piatons, 
sondern  ein  Bericht  über  das  Verhalten  des  Sokrates  vor,  während  und 
nach  der  Prozeßverhandlung  in  fünf  Teilen  (1.  vor  der  Verhandlung  macht 
er  sich  und  seinen  Freunden  klar,  daß  eine  Verlängerung  seines  Lebens 
nicht  wünschenswert  sei  1 — 10;  2.  Verteidigung  vor  Gericht  gegen  den 
Vorwurf  der  äaeßeia  11 — 21;  3.  der  Gegenantrag  des  Sokrates  22 — 23; 
4.  seine  Ansprache  und  Verhalten  nach  der  Verurteilung  24 — 26;  5.  So- 
krates nach  der  Verhandlung  27 — 34).  Xenophon  war  bei  dem  Prozeß  nicht 
anwesend;  er  schrieb  die  Apologie,  um  einen  Beitrag  zur  richtigen  Würdi- 
gung seines  Lehrers  zu  liefern.  Wie  er  selber  im  Eingang  sagt,  hatten 
schon  andere  über  die  Verteidigung  und  das  Ende  des  Sokrates  geschrieben; 
seine  Schrift  steht  also  in  Zusammenhang  mit  der  litterarischen  Bewegung, 
welche  die  nach  394  erschienene  Anklage  des  Sophisten  Polykrates  hervor- 
gerufen hatte.  3)  An  den  bisher  erschienenen  Verteidigungsschriften  für 
Sokrates  (unter  denen  jedenfalls  auch  Piatons  Apologie)*)  vermißt  Xeno- 
phon die  innere  Begründung  der  stolzen  Worte,  die  dem  Sokrates,  im 
Gegensatz  zu  dem  gewöhnlichen  Verhalten  Angeklagter  vor  attischen  Ge- 
richten, in  den  Mund  gelegt  wurden,  und  trägt  nun  vor,  was  er  zur  Be- 
richtigung und  Ergänzung  beibringen  zu  können  glaubt,  wobei  er  Materialien 
aus  den  beiden  ersten  (damals  schon  geschriebenen,  aber  nicht  veröffent- 
lichten) Kapiteln  der  Memorabilien  verwendet.    Sprache  und  Stil*)  sind  ganz 


>)  Nur  mem.  14.  IV  3  mit  ihrer  Theo- 
dicee  berühren  das  metaphysische  Gebiet, 
freilich  in  höchst  ungenügender  Weise. 

«)  R.  HiRZEL,  Der  Dialog  I  140—174. 

')  über  Polykrates  und  seine  Schrift 
unterrichtet  uns  Isokrates  Bus.  5  und  Schol. 
Aristid.  T.  ITT  480  Dind.  Siehe  oben  S.  470. 
Aesch.  I  173  muß  an  Polykr.   oder   die  von 


Diog.  L.  II 57) :  verworfen  wurde  die  Apologie 
von  L.  C.  Valokenaer  zu  mem.  I  1  (auf 
Grund  starker  Überschätzung  von  Xen.'  gei- 
stiger Bedeutung),  dem  Enkel  zugeschrieben 
von  H.  Beckhaüs,  in  das  2.  Jahrh.  v.  Chr.  ver- 
wiesen von  K.  ScHENKL,  Xen.  Stud.  II  146  f., 
für  den  Schluß  einer  älteren  Ausgabe  der 
Memorabilien  erklärt  von  A.  Croiset,  Hist. 


diesem  ausgegangene  Legende  anknüpfen,  da   ■   de  la  lit.  gr.  IV  365,   wieder  verworfen  von 


im  Prozeß  die  politische  Seite  nicht  berührt 
wurde:  A.  Menzel  (s.  o.  S.  470,  8)  37.  45. 

*)  So  nimmt  richtig  M.  Schanz,  Einl.  zn 
seiner  Ausg.  von  Plat.  Ap.,  Leipz.  1893  p.  80  an. 

^)  Die    Echtheitsfrage    bildet   eine   alte 


WiLAMOwiTZ,  Herm.  32  (1897)  99  ff.,  und  F. 
Bbyschlao.  Die  Anklage  des  Sokr.,  Progr. 
von  Neustadt  a.  d.  Hardt  1900,  von  neuem 
verteidigt  von  I.  Brüns,  Litt.  Portr.  210  f.; 
K.  JoäL.  Der  echte  und  der  xenoph.  Sokr.  I 


Kontroverse    (im  Altertum   ist   die   Echtheit      479 ;  bes.  M.  Wetzel  und  0.  Immisch,  Neue 
nicht  bezweifelt  worden:  Demetr.  Magn.  bei      Jahrbb.  5  (1900)  889  ff. 


480  Griechisclie  Litteraturgeschichte.    I.  KlasaiBohe  Periode. 

xenophontisch,  und  weder  die  Zerflossenheit  der  Darstellung  noch  die  Un- 
bedeutendheit des  Inhalts  sprechen  gegen  xenophontischen  Ursprung.  Am 
Schluß  der  Memorabilien  (IV  8,  4 — 10)  hat  der  Schriftsteller  Stücke  aus 
seiner  Apologie  (2 — 9)  mit  einigen  stilistischen  Verbesserungen  wiederholt. 
Die  Bedeutung  der  Apologie  als  geschichtlicher  Quelle  wird  neuerdings^) 
immer  mehr  erkannt.  Für  die  Zeitbestimmung  ergibt  sich  aus  dem  Schluß- 
satz von  §  32,  weil  er  vielleicht  unecht  und  jedenfalls  die  Identität  des 
Anytos  bei  Lys.  22,  8  mit  dem  Ankläger  des  Sokrates  ganz  unwahrschein- 
lich ist,  nichts.*) 

267.  Die  'ATiojuvrjjnovevjuara  ZcoxQdxovg  {Memorabiliu  Socratis)  in 
vier  Büchern  stellen  sich  dar  als  ein  Aggregat  von  Berichten  über  Handlungen, 
Anschauungen,  Gespräche  und  vereinzelte  Äußerungen  des  Sokrates. ')  Die 
Gespräche  mit  genannten*)  oder  ungenannten  Personen,  die  nicht  nach  Art 
der  platonischen  in  großem  dramatischen  Aufbau  einzelne  Probleme  dia- 
lektisch durchbehandeln,  sondern  kurz  und  zwanglos  erörternd  durch  alle 
Gebiete  des  sittUchen  Lebens  führen,  dienen  den  allgemeinen  Urteilen  über 
Sokrates  zur  Illustration.  Ihre  Reihenfolge  ist  nicht  von  einer  festen  Dis- 
position beherrscht,  sondern  durch  lockere  Assoziation  bestimmt.  Nur  zwei 
Gruppen  zeigen  straffere  Geschlossenheit:  die  beiden  ersten  Kapitel,  wahr- 
scheinlich das  Frühste,  was  Xenophon  geschrieben  hat,  widerlegen  im  An- 
schluß an  die  Klageschrift  und  Polykrates'  KaxjjyoQia  ZMxgdrovg^)  den  auf 
Sokrates  und  seine  Schule  geworfenen  Verdacht  der  Religions-  und  Staats- 
gefahrlichkeit,  wobei  der  Schriftsteller  mit  bemerkenswerter  Vorsicht  nicht 
etwa  eigene  Erinnerungen  an  den  Philosophen,  sondern  allgemein  Zu- 
gestandenes oder  glaubhaft  Berichtetes  über  ihn  wiedergibt;  offenbar  ver- 
folgt er  hier  einen  unmittelbar  praktischen  Zweck,  der  ihn  zu  größt- 
möglicher Objektivität  nötigte,  und  so  können  diese  beiden  Kapitel  ihrem 
Sachinhalt  nach,  wenn  man  von  einiger  advokatischen  Schönfärberei  ab- 
sieht, 8)  zu  dem  Zuverlässigsten  gerechnet  werden,  was  wir  über  Sokrates 
als  Menschen  und  Bürger  wissen.   Außer  diesem  Stück  hebt  sich  das  vierte 


*)  K.  JofiL  a.  a.  0.;  A.  Menzel  (s.  o.  |  gegen  die  Einwände  von  L.  Breitenbach, 
S.  470,  3)  5  flf.  Insbesondere  verdient  die  |  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  99  (1869)  801  ff.  siegreich 
Angabe  betr.  den  Gegenantrag  des  Sokr.  bei  '  verteidigt  von  K.  Schenkl.  Xen.  Stud.  II 1  fF. 
Xen.  ap.  23  den  Vorzug  vor  der  ironischen  I  Ins  Gewicht  fällt  namentlich  die  gegen  die 
Stelle  Plat.  apol.  38  a  f.  Über  die  Histori-  Hereinziehung  des  Kritias  und  Alkibiades  ge- 
zität  der  Angabe  betr.  das  Sokratesorakel  |  richtete  Abwehr  mem.  I  2,  12,  da  für  diese 
Xen.  apol.  14  s.  E.  Leorand,  Mölanges  Perrot,  i  Polykrates  (Isoer.  Bus.  5)  den  Sokrates  ver- 
Paris 1903,  213,  2.  I  antwortlich  gemacht  hatte,  eine  Ansicht,  die 


2)  Gegenüber  von  Wilamowitz,  Aristot. 
imd  Athen  II  375  und  Herrn.  32  (1897)  100,  1, 
verwerfen  den  auf  Anytos  bezüglichen  Satz 
in  §  31  M.  Wetzel  a.  a.  0.  400  und  A.  Men- 


beim  attischen  Publikum  Erfolg  gehabt  hat 
Aeschin.  or.  I  173).  In  der  'A.-ioÄoyia  2*0)- 
x^firoiv  von  Libanios  (Sonderausg.  von  H. 
RoGGE,  De  Libanii  apol.  Socratis,  Amsterdam 


ZEL  a.  a.  0.  43  A.  |  1891)  ist  die  Knrtjyooia  des  Polykrates  und 

')  I.  Bruns,  Das  litt.  Porträt  361  flf.  |  die  (lTo?.oyia  des  Lysias  benützt  (R.  Hirzel, 

*)  C.   G.   CoBET,   Prosopographia  Xeno-  i  Rh.  Mus.  42, 1887, 239  fif.).  Siehe  a.  o.  S.  479, 3. 

phontea,  Leiden  1836.  '  470. 

*)  Dieses    Verhältnis,    daß    unter   dem  i  *)  X.  mißt  hier  dem  Sokrates  das  Maxi- 

y.aiiiyono^  nicht  Meletos,  sondern  Polykrates  !  mum   von  geschichtlich  noch  zu  verantwor- 

zu  verstehen   sei,    wurde  zuerst  richtig  er-  1  tender  Loyalität  in  politischer  und  religiöser 

kannt  von  C.  G.  Cobet,  Nov.  lect.  661  ff.  und  Beziehung  bei. 


Die  Ge8chicht498clireibimg.    d)  Xenophon.    (§  267.)  481 

Buch  ab,i)  eine  geschlossene  Abhandlung  über  die  Erziehungsfrage,  über 
die  als  eine  damals  brennende  alle  hervorragenden  Sokratiker,  insbesondere 
auch  Antisthenes  und  Aristippos  in  eigenen  Schriften  sich  geäußert  haben; 
dieses  Stück  kann  wohl  einmal  selbständig  publiziert  gewesen  sein,  bevor 
es  an  den  Schluß  der  Memorabilien  angeschoben  wurde.  Für  die  Bestim- 
mung seines  Verhältnisses  zu  den  übrigen  Teilen  des  Gesamtwerkes  ist 
wichtig  die  Vergleichung  der  Kapitel  über  die  Theodicee*)  IV  3  und  I  4, 
von  denen  das  letztere*)  als  eine  (namentlich  durch  Weglassung  der  läp- 
pischen Kosmologie)  verbesserte  Auflage  des  ersteren  gelten  kann  und 
also  später  als  IV  3  geschrieben  sein  muß.  Es  ergibt  sich  demnach  diese 
Abfolge  sokratischer  Schriften: 

1.  Piatons  Apologie,  in  der  die  Schrift  des  Polykrates  bezw.  deren 
Inhalt  nicht  berührt  wird. 

2.  Polykrates'  xarrjyoQia  ZcoxQdrovq. 

3.  Xenophons  Schutzschrift  mem.  11.2. 

4.  Xenophons  Apologie  (s.  o.  S.  479  f.). 

5.  Xen.  mem.  IV. 

6.  Der  Rest  der  Memorabilien. 

Was  zwischen  I  2  und  IV  steht,  ist  eine  lose  Masse  von  Berichten, 
die  unter  dem  Gesichtspunkt  zu  zeigen,  daß  Sokrates  seinen  Schülern  ge- 
nützt habe,  also  immer  noch  in  allgemein  apologetischem  Sinn,  im  übrigen 
aber  ohne  festes  Prinzip  zusammengereiht  sind.  In  einzelnen  Abschnitten 
zwai*  läßt  sich  Zusammenhang  nachweisen:  so  beziehen  sich  die  sieben 
Kapitel  III  1 — 7  alle  auf  die  Heranbildung  des  Feldherrn-Staatsmannes,  und 
von  den  Gesprächen  II  2 — 10,  die  von  der  Freundschaft  oder  dem  guten 
Einvernehmen  mit  den  Mitmenschen  handeln,  stehen  die  über  die  Nachsicht 
gegen  die  Eltern  (II  2)  und  die  Eintracht  unter  den  Brüdern  (II  3)  in 
passender  Weise  voran.  Aber  sonst  herrscht  meist  Unordnung,  zu  deren 
Beseitigung  verschiedene  Wege*)  eingeschlagen  worden  sind.  Mit  An- 
nahme von  Interpolationen  sind  zuerst  maßvoll  L.  Dindorf  und  K.  Schenkl, 
dann  in  zügellosester  Weise  A.  Krohn  und  J.  J.  Hartman  vorgegangen,^) 
andere  suchen  durch  mehr  oder  weniger  verwickelte  Annahmen  über  die 
Art  der  Abfassung  zu   helfen,  ß)     Billigung   verdient  jedenfalls,   daß   man 

M  Seine  Sonderstellung  ist  klar  erkannt  man  s.  o.  S.  466,  1. 
von  Tu.  BiRT,  De  Xenophontis  commentarior.  *)  A.  Döring,   Die  Lehre  des  Sokr.  als 

Socraticor.  compositione,  Marburg  1893.  soziales   Reformsystem,    München   1895,  62 

^)  über  den  ganzen  Ciegeustand  W.  Ca-  rechnet  aus,  daß  nach  Annahme  von  Krohns 


PELLE.  Z.  antiken  Theodicee,  Arch.  f.  Gesch. 
der  Philos.  20  (1907)  173  «F.;   Th.  Gomperz, 


und   Hartmans    Athetesen   etwa   noch  zehn 
Teubnersche  Textseiten  übrig  bleiben  würden. 


G riech.  Denker  II  72  f.     Die  Auffassung  F.  *)  Am  besonnensten  Th.  Birt,  s.  o.  A.  1. 

Dümmlers  (Akademika  96  ff.)    von   dem  Ver-  E.   Richter    nimmt    fünf   ursprünglich   selb- 

hältnis  der   beiden   Kapitel   und   der  Quelle  ,   ständige  Vorträge  an:    1.  die  erste  Apologie 

(Diogenes  von  Apollonia)  ist  ganz  schief  und  I  1 — 3;  2.  die  zweite  Apologie  I  4.  IV  3.  5.  6; 

durch  K.  Joül  a.  a.  0.  1 147  ff.  widerlegt.  |   3.  Abschnitt  über  den  Feldherrn-Staatsmann 

')  I  4  ist  gekannt  von  Aristot.  part.  an.  III  1—7;  4.  die  dritte  Apologie  I  5 — II  1.  III 

656a  12;  658b  15;  660a  22;  661b  8.  i   8—9;  5.  Abschnitt  über^/Am  112—10;  außer- 

■*)  E.  Zellek,  Geschichte  der  Philos.  II*  1,  |   dem  noch  zwei  Einzelblätter  IV  2  und  IV  4 

236  ff. ;   L.  Dindorf,   Praef.   ed.  Memorabil.  \  und   mehrere   kleine   Gedenkzettel.     Anders 

Oxon.  1862,  VII  ff.;  K.  Schenkl,  Wiener  Ak.  '   K.  Linüke,   Jahrbb.  f.  cl.  Philol.  153  (1896) 

Sitz.ber.  80(1875)  87  ff.;  A.  Krohn.  Sokrates  447  ff.   741  ff.   und    A.  Döring   (A.  5),   der 

und  Xenophon,  Halle  1875,  83 ff.;  J.  J.  Hart-  |   vieles  mißversteht. 

Handbuch  der  klass.  AlterttuxiBwissenBebaft.    VIT.  5.  Anfl.                                                      31 


482  Grieohiache  Litteratargaschichte.    L  ElassiBche  Periode. 

allmählich  die  Versuche  aufgibt,  Ordnung  zu  schaffen,  wo  von  Hause  aus 
keine  gewesen  war.  Das  Werk  als  Ganzes  ist  nach  Gedanken,  Stil  und 
Sprache  durchaus  xenophontisch,  aber  in  einem  schriftstellerisch  so  un- 
fertigen und  unausgeglichenen  Zustand,  daß  man  selbst  dem  Xenophon 
den  Entschluß,  es  in  dieser  Form  zu  veröffentlichen,  nicht  zutrauen  möchte. 
Die  Konzeptblätter,  die  zwischen  I  3  und  IV  liegen,  hätte  er  gewiß  zur 
Herausgabe  noch  besser  sortiert  und  arrangiert.  Sogar  im  zweiten  Kapitel 
von  Buch  I  und  in  IV  sind  eingeschaltete  Blätter*)  erkennbar,  die  Un- 
gleichheiten und  Widersprüche  hereinbringen.  Eine  weniger  weiche  und 
assoziative  Natur  als  Xenophon  würde  wohl  schon  bei  der  ersten  Nieder- 
schrift den  Stoff  mehr  gemeistert  haben,  und  der  Herausgeber,  der  nun 
die  Materialien  im  wesentlichen,  wie  er  sie  fand,  zusammenreihte,  hat  sich 
an  dem  Namen  des  Schriftstellers  der  Nonchalance  nicht  allzusehr  ver- 
*  sündigt.  Äußere  Zeugnisse  oder  Anzeichen  für  die  Abfassungszeit  der  ver- 
schiedenen Schichten  —  an  Abfassung  in  einem  Zug  ist  ja  nicht  zu 
denken  —  haben  wir  nicht.*)  Nur  daß  I  1.  2  in  ihrem  Kernbestand  c.  390 
verfaßt  sind,  darf  für  sicher  gelten,  und  daß  sich  Xenophon,  nachdem  er 
die  Begeisterung  für  Agesilaos  gefaßt  hatte  und  der  attischen  Sphäre  ent- 
rückt war,  noch  allzulang  mit  Sokrates  beschäftigt  habe,  ist  wenig  wahr- 
scheinlich. A.  Roquettes  Ansatz  in  Bausch  und  Bogen  auf  c.  384 — 80 
dürfte  dem  Richtigen  am  nächsten  stehen.  Die  Nachricht  in  Epist.  Socratic. 
22,  daß  Xenophon  die  Memorabilien  bei  Eukleides  in  Megara  geschrieben 
habe,  ist  wertlos.  Eine  besonders  verwickelte  Frage  ist  die  nach  der 
Glaubwürdigkeit  der  Memorabilien  als  Quelle  über  die  Lehre  des  Sokrates. 
Wenn  man  die  Banalität  der  sittlichen  Anschauungen,  die  Xenophon  dem 
Sokrates  beilege,  gegen  deren  Authenticität  angeführt  hat,»)  so  ist  zu  be- 
denken, daß,  was  uns  in  christlichen  Grundsätzen  Aufgewachsenen  heute 
banal  erscheint,  dem  5.  und  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  anders  erscheinen  konnte 
und  wohl  mußte.  Richtig  ist  aber,  daß  die  Ansichten  über  Gott  und  Welt, 
die  Xenophon  seinen  Sokrates  darlegen  läßt,  sich  mit  seinen  eigenen  völlig 
docken,^)  wobei  die  Zweifler  übrigens  von  Fall  zu  Fall  den  Beweis  zu  er- 
bringen hätten,  daß,  was  xenophontisch  ist,  nicht  auch  sokratisch  sein 
könne.  Richtig  ist  auch,  daß  Xenophons  ethische  Betrachtungsweise  und 
Terminologie  starke  Verwandtschaft  mit  dem,  was  über  Antisthenes  be- 
richtet wird,  erkennen  läßt.  Bevor  man  nun  aber  mit  K.  Joel  den  ganzen 
Ethiker  Xenophon  in  den  Antisthenes,  von  dem  wir  eigentlich  recht  wenig 
Sicheres   wissen,   aufzulösen   oder  gar  den   Antisthenes   aus  Xenophon   zu 

')  ]  2.  17—28.  40—40.  03;  IV  4.  '   a.  a.  0.  I  22  ff.  die  Mem.  in  Xenophons  Alter. 

*)  Über  die  Unglaubwürdigkeit  von  Ep.  '           ^)  So  besonders  Tu.  Klett  in  dem  übri- 

Socratic.  22  R.  Bentley,  Über  die  Briefe  des  '   gens  scharfsinnigen  Programm  Sokr.  nach  den 

rhalaris,   deutsch   von   W.   Ribbeck.  Leipz.  xenophont.  Memorabilien.  Cannstatt  1893. 

1807,  549  f.   E.  Richters  Versuch  (Xenophon-  ■*)  Dies   genau   dargelegt   zu  haben,   ist 

Studien  129  ff.   und  150)  nachzuweisen,   daß  das  Verdienst    von   K.  JoßL    in    dem    ange- 

das  (Jcsprilch  Mem.  IlT  5  seinen  Gegenstand  i   fühiien  zweibändigen  Werk  (Berlin  1S93  bis 

nur   aus  der   nach  der  Schlacht  bei  Leuktra  1902).     Nach  ihm   muß  auf  Benützung   der 

gegebenen  Situation  schöpfen  könne,  erledigt  i   Mem.  als  unmittelbarer  geschichtlicher  (Quelle 

sich   durch  Hinweis   auf  das  oben  S.  323  f.  über  Sokr.  verzichtet  werden  (s.  bes.  11  901). 
Berlllirte.  Wenig  überzeugend  datiert  K.  JofiL 


2.  Die  GeBchicht498clireibiing.    d)  Xenophon.    (§  268.)  483 

rekonstruieren  unternimmt,  wäre  erst  die  Frage  zu  beantworten,  ob 
nicht  der  gemeinsame  Lehrer  Sokrates  der  Grund  der  Ähnlichkeiten  sei. 
Jedenfalls  findet  sich  von  einer  Reihe  der  bezeichnendsten  Lehrmeinungen 
des  Antisthenes,  wie  der  starken  Betonung  der  q)voig  im  Gegensatz  zum 
v6iJ,og,  der  Etymologie,  der  allegorischen  Homererklärung,  seinem  abstrakten 
und  bildlosen  Monotheismus,  seinem  Kosmopolitismus  und  Kommunismus 
bei  Xenophon  keine  Spur,  und  in  den  Memorabilien  gibt  es  sogar  Stellen, 
die  gegen  die  kynische  Lehre  gerichtet  sind.*)  Es  ist  gut,  den  echten 
Sokrates  von  dem  xenophontischen  zu  unterscheiden,*)  aber  nicht  in  dem 
Sinn,  als  schlösse  sich  sokratische  und  xenophontische  Ethik  schlechthin 
aus,  sondern  in  dem,  daß  von  dem  gewaltigen  Dialektiker,  der  Sokrates 
gewesen  sein  muß,  allerdings  nicht  Xenophon,  sondern  nur  der  sonst  weit 
weniger  historische  Piaton  uns  einen  Begriff  gibt. 

268.  Der  Olxovo/Liixog  ist  eine  Ergänzung  zu  den  Denkwürdigkeiten 
des  Sokrates,  wie  der  Verfasser  selbst  im  Eingang  andeutet.  Die  kleine, 
anmutige  Schrift  enthält  ein  Gespräch  des  Sokrates  mit  Kritobulos  über 
die  beste  Führung  des  Hauswesens,  besonders  in  Bezug  auf  die  Agrikultur, 
die  er  die  Mutter  und  Nährerin  aller  Künste  nennt.*)  Ein  ähnlicher 
Gegenstand  ist  Mem.  H  7  behandelt.  Cicero  hat  das  Büchlein  ins  Latei- 
nische übersetzt.*)  Der  abrupte  Eingang  ijxovoa  de  jtore^)  veranlaßte  einige 
schon  im  Altertum,  das  Schriftchen  als  Anhang  der  Denkwürdigkeiten  aus- 
zugeben, ß)  Aber  die  schriftstellerische  Kunst  ist  hier  viel  bedeutender  und 
die  Person  des  Sokrates  viel  freier  gezeichnet,  indem  Xenophon  ganz  seine 
eigenen  Gedanken  dem  Sokrates  unterlegt."^)  Wahrscheinlich  ist  die  Er- 
örterung über  die  Kunst  des  Haushaltens,  die  dem  Xenophon  sehr  am 
Herzen  lag,  zuerst  für  den  Zusammenhang  der  Memorabilien  bestimmt  ge- 
wesen, dem  Schriftsteller  aber,  seiner  Neigung  entsprechend,  unter  der 
Hand  zu  einem  eigenen  kleinen  Werk  ausgewachsen.    Nach  allgemeineren 


>)  I  2,  17-23   (vgl.  JogL  II  613  f.).  —  1895.  M.  Hodebmann,  Xen.'  Wirtschaftslehre 

Gegen  Joöls  Übertreibungen  s.  0.  Apblt,  Berl.  unter  dem  Gesichtspunkt  sozialer  Tagesfragen 

philol.  Wochenschr.  21  (1901)  868  ff.,  und  H.  ;   betr.,  Progr.  Wernigerode  1899. 

GoMPERz.   Arch.   für  Gesch.    der  Philos.    19  |           **)  Vgl.  Cic.  fragm.  in  C.  F.  W.  Müllebs 

(1906)  240  ff.,  251  flf.    Von  einer  besonderen  i   Ausg.  IV  3,  307—310.     Siehe   K.  Schekkl, 

Verehrung  für  Antisthenes  ist  im  Symposion,  Xen.  Stud.  II  3. 

vro  ihn  X    einführt,   nichts   zu  bemerken  (I.  ^)  Ahnliche  Formeln  in   den  Mem.:  E. 

Bruns,  Litt.  Portr.  388  ff.).  Richteb,  Xenophonstud.  126, 

■*)  A.  Dörings  Meinung  (s.  S.  481,  5),  aus  *)  Galen.   Comm.   in   Hippocr.   de  artic. 

Xenophons  Memorabilien,  die  er  völlig  schief  1  1:  Szi  x6  ßißkiov  xovxo  ratv  ZwxQauxwv  cLto- 

als  Schutzschrift   im  ganzen   verstehen  will.  '   fjtvfjftm'Fv/taiToyv  iari  ro  Foxarov,    Ebenso  Stob, 

ohne  weiteres  den  echten  Sokrates  entnehmen  ;   flor.  55,  19.    K.  Schbnkl,  Wien.  Ak.  Sitz.ber. 

zu   können,   bedeutet   Joöl   gegenüber   einen  i   80  (1875)  147  ff. 

Rückachritt.  Beachtenswert  ist  P.  Wendland,  ^)  K.  Lincke  dachte  deshalb  an   starke 

Anaximenes  (Berl.  1905)  S.  65  flf.,  der  aus  der  Interpolationen  durch  den  jüngeren  Xenophon, 

Zusammenstellung  von  Xen.  mem.  III  6  mit  den  Sohn  des  Gryllos,  der  nach  Photios  bibl. 

Anaxim.  rhet.  2   und   Aristot.   rhet.  I  4  auf  260  Schüler  des  Isokrates  war.  —  Nachdem 

gemeinsame  Benutzung   einer  älteren  rheto-  E.  Jo£l  a.a.O.  I  29  darauf  hingewiesen  hatte, 

rischen  Topik  über  die  symbuleutischo  Rede  wie  wenig  nahe  dem  Interesse  des  Sokrates 

schließen  will,  was  eine  neue  Erschütterung  der  Gegenstand  des  Oik.  liegen  konnte,  hat 

der  Geschichtlichkeit  von  Xenophons  Bericht  sich  I.  Brüns,   Litt   Portr.  418  ff.,   bemüht, 

im  einzelnen  bedeuten  würde.  die  Kunst  zum  Bewußtsein  zu  bringen,  mit 

\  I  Zergliederung  der  Schrift  von  G.Vogel,  der  X.  die    inneren   Unwahrscheinlichkeiten 

Die  Ökonomik  des  Xenophon,  Diss.  Erlangen  beseitigt  habe. 

31* 


484  Griechische  Litteraturgeschichte.    I.  Klaiurische  Periode. 

Erörterungen  zwischen  Sokrates  und  Kritobulos  über  den  Begriff  der  Haus- 
wirtschaft und  die  Pflichten  des  Hauswirts  berichtet  Sokrates  von  Kap.  8 
an  aus  dem  Mund  des  Jungverheirateten  Ischomachos  eine  Schilderung 
von  dessen  Hauswesen  und  Familienleben,  die  an  Reiz  und  Intimität  ihres- 
gleichen nicht  hat  und  nicht  bloß  kulturgeschichtlich  von  höchstem  Wert^ 
sondern  auch  schriftstellerisch  eine  glänzende  Leistung  ist.^  Bemerkens- 
wert ist  4,  17  ff.  der  Anklang  an  die  Anabasis,  den  man')  nicht  tilgen  darf. 
Kritisiert  wiixl  Xenophons  Olxovoßuxög  in  der  Schrift  des  Philodemos  Jiegi 
olxovojuiag  (ed.  C.  Jensen.  Leipz.  1907). 

369.  Nicht  sowohl  in  den  Sachkreis  der  Denkwürdigkeiten  hinein 
komponiert,  sondern  eine  Art  Gegenstück  zu  ihnen  ist  das  ^vunooiov^  in 
dem  Xenophon  den  Sokrates  auch  von  der  heiteren  Seite  zeigen  will.») 
Das  Mahl,  an  dem  hier  der  Philosoph  teilnimmt,  ist  von  dem  reichen 
Kallias  zu  Ehren  seines  Lieblings  Autolykos,  der  an  den  Panathenäen  einen 
Sieg  im  Pankration  errungen  hatte  (422),  gegeben;  es  ist  derselbe  Kreis^ 
in  den  Eupolis  in  den  KöXaxeg^  Piaton  im  Protagoras  einführt.  Sokrates^ 
Antisthenes  und  einige  andere  sind  als  Gäste  geladen.  Das  Mahl  wird  so 
geschildert,  wie  derartige  Gelage  in  reichen  Häusern  gewesen  sein  mögen: 
neben  dem  philosophischen  Tischgespräch  und  der  Rede  des  Sokrates  über 
die  Liebe  nehmen  der  Spaßmacher,  die  Tänzerinnen  und  die  Lautenspiele- 
rinnen einen  breiten  Raum  ein.  Die  Art,  wie  während  des  Mahls  Sokrates 
an  allerlei  zufällig  sich  darbietende  Gelegenheiten  moralische  Erörterungen 
anschließt,  will  uns  etwas  pedantisch  vorkommen.  Nach  Aufhebung  der 
Tafel  veranstaltet  er  (cap.  4)  eine  Art  von  Aya)v  zwischen  den  Gästen 
—  jeder  soll  sagen,  auf  was  er  sich  am  meisten  einbilde  —  und  hält  dann 
eine  Rede  über  irdische  und  himmlische  Liebe  (cap.  8),  deren  Ernsthaftig- 
keit bei  80  heiterem  Anlaß  er  selbst  (8,  41)  unangebracht  findet.  Das  Ganze 
schließt  mit  einer  hübschen  Schilderung  eines  pantomimischen  Balletts* 
Neben  und  nach*)  dem  platonischen  Symposion,  dessen  geistige  Höhe  gewiß 

^)  I.  Bruns.  Frauenemanzipation  in  Athen,  und  in  seiner  Ausg.  von  Plat.  Sympos.  (Leipz. 
Kiel  1900,    sieht  in  den  Ausführungen    des      1876);   die  umgekehiie  Meinung  vertritt  K. 

Ischomachos  das  Urteil  der  konservativen  |  Fb.  Hermann,  Disput,  de  eo  num  Plato  an 
Männer  üher  die  damaligen  Emanzipations-  Xenophon  convivium  suum  prius  scripseritf 
bestrebungen  der  Frauen  Attikas.  Marb.  1834  und  1841,  neuerdings  mitsprach- 

■^)  K.  SciiENKL,  Wiener  Ak.  Sitz.ber.  80,       liehen  Gründen   M.  Schanz,  Herm.  21  (1886) 

154  f.  I   458.  Auch  H.  Räder,  Piatons  ^»hilos.  Entw.  159 

')  conviv.  I  1:  J/./.*  tftol  i^oxeT  uov  xio.iuv  neigt  zu  dieser  Auffassung.  Vgl.  K.  Schenkl, 
xayaOcor  dvdocor  toya  ov  fiovor  ra  uera  onov-  Xen.  Stud.  II  46;  R.  Hirzel,  Der  Dialog  I  156, 
Sf'jg  jroaTToftfra  d^iofiyijiioi'fVTa  Fmu,  d/.m  y.<u  F. DÜMMLER,  Antisthenica,  Halle  1882  p.  50  und 
in  h'  Tau  .-TmdmTy  (vgl.  Mem.  IV  1,  1).  Zum  K.  Joäl,  Der  echte  und  der  xenoph.  Sokrates, 
Ganzen  vgl.  das  Mustersymposion  Cyrop.  II  2.       11  912  ff.    nehmen  an,   daß   Antisthenes  mit 

*)  Xen.  conv.  8,  32  bezieht  sich  auf  Plat.  I  seinem  Symposion  dem  Xenophon  und  Platon 
symp.  178 e,  ebenso  Xen.  8,  9  f.  auf  Plat.  vorangegangen  sei.  ül)er  Beziehungen  zwi- 
180  d.  Siehe  übrigens  auch  H.  GoMPERz,  Arch.  sehen  Xen.  symp.  einer-,  Plat.  Phaedr.  und 
f.  Gesch.  d.  Philo«.  19  (1906)  247 f.  Vgl.  Xen.  svmp.  anderseits  F.  Dimmler.  Akademika 
conv.  8,84   und   Plat.  symp.  l><2b    (die  Be-       Kap.III:  I.  Bkuns,  N.Jalirbb.  f.kl.  Alt5(1900) 

Ziehung  Xenoplious  auf  Platon  leugnet  für  i  26  flf.,  36  f.  II.  Räder  a.  a  0.  249  denkt  an 
diese  Stelle  II.  Räder,  Piatuns  philos.  Entw.       eine  Schrift  des  Antisthenes  als  gemeinsame 

161  f.).  Siehe  a.  Ath.  216e.  Die  Priorität  des  '  Quelle.  Benützung  von  Piatons  Ion  in  Xen. 
Xenophon  behauptet   A.  Böckh,  Commentat.       symp.  sucht  W.  Jannell,    Quaest.  Plat.  (N. 

acad.  de  simultate,  quam  Plato  cum  Xeno-  I  Jahrbb.  f.  cl.Phil.Suppl.26,  1901,  2r)5ff.)  zu  be- 
phonte  exercuisse  fertur,  Berl.  1811  —  Kl.  Sehr.  weisen.  —  Stilistische  Vergleichung  der  beiden 
IV  1  ff.,  und  A.  Huo,  Philol.  7  (1852)  638  ff.      Symposien  Hermog.  -t.  id.  p.  419,  2  ff.  Sp. 


2.  Die  GeschichtsBchreibiing.    d)  Xenophon.    (§§  269—271.)  485 

nie  in  einem  attischen  Gastmahl  erreicht  worden  ist,  hat  das  xenophon- 
tische  mit  seinem  schlichten,  kurzatmigen  Realismus  seine  Berechtigung 
und  auch  sein  künstlerisches  Verdienst.  0  Mit  demselben  Selbstgefühl  wie 
in  der  Apologie  über  die  fxeyahfiyoQia  der  platonischen  Apologie  wird  sich 
Xenophon  in  dem  Symposion  über  das  platonische  erhaben  erschienen  sein 
und  sich  auf  die  praktische  Nützlichkeit  der  ganzen  Schrift  und  besonders 
der  moralischen  Schlußwendung  für  Ehemänner  etwas  zugute  getan  haben. 

270.  Der  einzige  Dialog  Xenophons,  in  demSokrates  nicht  auftritt,  ist  der 
Vegcüv;  er  berichtet,  in  der  Einkleidung  an  Simonidesnovellen  (s.o.  S. 207, 7) 
angeknüpft,  ein  Gespräch  des  Dichters  Simonides  mit  dem  älteren  Hieron 
über  den  Vorzug  des  Lebens  eines  Privatmannes  vor  dem  eines  Tyrannen 
und  über  die  Mittel,  mit  denen  ein  Herrscher  sein  Land  glücklich  und  sich 
beliebt  machen  kann.  Die  Schrift  kann  zusammenhängen  mit  Beziehungen 
Xenophons  zum  Hof  des  Dionysios,  an  dessen  Tafel  ihn  Athenaios  p.  427  f. 
sitzen  läßt;  an  eine  bestimmte  Gelegenheit,  zu  der  die  Schrift  geschrieben 
wäre  (jedenfalls  könnte  nicht  der  Aufzug  der  Gesandten  des  älteren  Dionysios 
bei  den  olympischen  Spielen  388,  sondern  eher  die  Thronbesteigung  des 
jüngeren  Dionysios  367  in  Frage  kommen)  zu  denken,  ist  kein  Grund.*)  Die 
Fragen  nach  dem  Wesen  der  Monarchie,  den  Pflichten  des  Monarchen,  dem 
Unterschied  zwischen  dem  wahren  und  dem  falschen  König,  die  für  das 
4.  Jahrhundert  immer  mehr  aktuell  wurden,  haben  ja  alle  Philosophen  jener 
Zeit  beschäftigt;^)  auch  Xenophon  hat  sie  sonst  (Oec.  21,  10  flf.;  Mem.  IV 
6,  12)  gestreift,  und  man  kann  sich  nicht  wundem,  daß  er,  auf  dem  Weg 
zu  überzeugtem  Monarchismus,  ihnen  eine  besondere  Schrift  gewidmet  hat.*) 
Der  Hieron  kann  als  Vorarbeit  zur  Kyrupaideia  gelten. 

271.  Die  Lehrschriften  Xenophons  sind  entweder  unmittelbar 
politisch  oder  haben  sie  die  nächste  Beziehung  zu  Staatsinteressen.  Den 
schriftstellerischen  Formen  nach  bewegt  er  sich  hier  in  den  Geleisen  der 
sophistischen  Lehrtraktate.^) 

Die  Aaxedaifioviov  jioXireia  ist  im  Geist  der  Kyrupaideia  und 
zur  Empfehlung    des   spartanischen   Königtums  geschrieben.^)     Sie  sucht 


^)  Feinsinnig,    aber  zu  enthosiastisch  I. 
Bruns,  Litt.  Portr.  383  ff. 

')  W.  NiTSCHE,  Jahresber.  üb.  d.  Fortschr. 


adeiag;  Plat.  reip.  VIII  extr.  u.  IX;  Aristot. 
pol.  ni  14  ff.;  V  10  f.;  Aristoxen.  fr.  15  Mül- 
ler;  Isoer.   ad  NicocI.     Im  allg.  s.  J.  Endt 


d.  kl.  Alt.  9(1877)  25  ff.   denkt  an   367   und  I   a.a.O.  —  Antisthenischen  Einfluß  vermutet 

widerlegt   J.  Sitzler,   der   die  Echtheit   auch  '   im  Hieron  K.  Joth  I  420. 

dieser  Schrift  bezweifeln  wollte.    K.  Lincke,  *)  Die  Gründe,  die  R.  Hirzel,  Der  Dia- 

Xenophons  Hieron  und  Demetrius   von  Pha-  log  I  171,   für  Ausatz   des  H.  in  Xenophons 

leron,  Piniol.  58  (1899)  224—51  erklärt  den  spätere  Zeit  vorbringt,  sind  nicht  überzeugend. 

Dialog,   indem   er  die  darin  vorausgesetzten  *)  Über   diese   s.   A.  Espinas,   Arch.  f. 

Zustände   nur  in  dem  Athen   des  Demetrios  Gesch.  d.  Philos.  6  (1893)  499  ff. 

von     Phaleron    wiederfindet ,     für     unecht.  ^)  Interessant  ist  es,  die  ganz  entgegen- 

Beachtenswert   ist   der   Nachweis    E.  Rich-  gesetzte  Beurteilung  des  lakonischen  Staats 

TERs  (Xenophonstudien  147  f.)  von  den  Ahn-  bei  Aristoteles  (pol.  II  9;  ibid.  p.  1334a  40; 

lichkeiten  zwischen  Stellen  des  Hieron.  und  1333b  12  ff.)  zu  vergleichen.    Über  den  Kreis 

Isoer.  de  pace  111  f.     Es   ist  aber  schwer-  stoffverwandter  Schriften  jener  Zeit,  in  dem 

lieh  hier  gegenseitige  Abhängigkeit,  sondern  das  Büchlein    steht,    Thibron    (Aristot.    pol. 

gemeinsame  Benützung  älterer  Topik  (Anti-  j    1333b  10),  Fausanias  s.  G.  Büsolt,   Griech. 

sthenes?)  anzunehmen.  Siehe  J.  Endt,  Wiener  |   Gesch.  P  513.     Den  Inhalt  der  Schrift   des 

Stud.  24  (1902)  1  ff  ;  H.  Gomperz  ebenda  27  \   394  verbannten  Spartanerkönigs  Fausanias  IL 

(1905)  175  f.  gegen  die  lykurgische  Verfassung  (Strabo^366) 

^)  Vgl.  AntiBthenes 'Aox^Aaog  i}  jieoi  fta-  sucht  E.  Meter,  Forsch.  I  233  ff.  und 


486  GriedÜBche  Litteratnrgeschichte.    L  Klaiurische  Periode. 

den  Grund  von  Spartas  Macht  und  Ansehen  in  der  Verfassung  des  Lykur- 
gos,  gibt  aber  zugleich  im  Epilog  (c.  14 — 15)  zu,  daß  die  Gesetze  des 
Lykurgos  nicht  mehr  in  voller  Kraft  bestehen,  und  daß  nur  die  Stellung- 
der  Könige  die  gleiche  geblieben  sei.  Der  Gegenstand  wird  in  vier  Ab« 
schnitten  behandelt:  1.  die  inneren  Zustände  und  Einrichtungen  auf  Grund 
der  lykurgischen  Verfassung  (c.  1 — 10),  2.  der  Krieg  und  die  Ausbildung- 
dazu  (11 — 13),  3.  Spartas  gegenwärtiger  Abfall  von  der  lykurgischen  Ver- 
fassung  und  daraus  folgender  trauriger  Zustand  (14),  4.  das  spartanische 
Königtum  (15).  Auf  die  Abfassungszeit  im  Beginn  des  zweiten  attischen 
Seebundes  (378)  führt  die  Bemerkung  14,  6,  daß  früher  die  Hellenen  Spartas 
Führerschaft  sich  erbeten  hätten,  jetzt  aber  zueinander  Gesandtschaften 
schickten,  um  eine  neue  Herrschaft  Spartas  zu  verhindern. ') 

Die  Notiz  in  dem  Schriftenverzeichnis  bei  Diogenes  Laertios  II  57 
*A'&r]vai(ov  xal  AaxedaijuovicDv  Tzohreiav,  fjv  <pi]oiv  ovx  elvai  Eevoq)CüVTog  6  Mdyvrjc 
AtjjurJTgiog  ist  wohl  ungenau  und  dahin  einzuschränken,  daß  Demetrios  die 
A&7]vaio)v  Ttohreia  allein  für  unecht  hielt.  Denn  ein  Zweifel  an  der  Echtheit 
der  AaxsdaijuovUov  nohxeia  konnte  und  kann  nicht  bestehen.  Nur  das  letzte 
Kapitel  von  den  Königen  Spartas  sieht  wie  ein  ursprünglich  nicht  zur 
Sache  gehöriges  Anhängsel  aus.  Polybios  aber,  wenn  er  VI  45,  1  den 
Xenophon  von  der  Verwandtschaft  der  kretischen  Verfassung  mit  der 
spartanischen  reden  läßt,  scheint  keinen  vollständigeren  Text  unserer  Schrift 
vor  Augen  gehabt,  sondern  nur  ungenau  referiert  zu  haben.*)  Die  Schrift 
in  ihrer  heutigen  Gestalt  war  eine  Hauptquelle  des  Plutarchos  im  Leben 
des  Lykurgos  und  in  den  Lakedämonischen  Einrichtungen. 

Über  die  fälschlich  unter  Xenophons  Schriften  geratene  ^Adrjvaiiov 
noXixeia  s.  o.  S.  451. 

272.  Uogoi  J)  ttsoI  nQooodcov  ist  der  Titel  einer  interessanten  Schrift» 
der  wir  vielfache  Belehrung  über  das  athenische  Finanzwesen  verdanken; 
sie  enthält  ein  wirtschaftliches  Roformprogramm,  indem  sie  die  Mittel  an- 
gibt, durch  die  den  schlechten  Finanzen  der  Stadt,  insbesondere  durch  staat- 
liche Ausnutzung  der  Silberbergwerke  von  Laurion,  aufgeholfen  werden 
könne.  Mit  zunehmender  Verarmung  dos  attischen  Staats  zumal  nach 
dem  Zusammenbruch  des  zweiten  Seebundes  wurde  die  Frage  nach  den  :i6qoi 
immer  brennender.     Xenophon  berührt  sie  auch  mcm.  III  G,  5  ff.  und  Hier. 

42  (1907)  134  ff.  wiederzugewinnen;  s.  a.  B.  führt,    nennt   pol.  p.   1333b  18   unter   den- 

NiESE,  Beitr.  z.  Gesch.  u.  Landeskunde  Lake-  jenigen,  welche  über  den  Staat  der  Lakedai- 

dämons,  Gott.  Nachr.  1906,  101  ff.   Auf  eine  monier  geschrieben  haben,   nur  den  Thibron 

Schrift  über   den  Spartanerstaat  will  F.  G.  mit  Namen,  hat  aber  vielleicht  pol.  p.  12ö8b  41 

Kenyon,  Rev.  de  philol.  21  (1897)  1  ff.  ein  Pa-  I  Xenophons  Schrift  im  Auge  gehabt.    Neuer- 

pyrusfragment  zurückführen;   s.  aber  P.  Gi-  dings  verteidigte  die  von  Heyne,  Lehmann, 

BARD,  Rev.  des  et.  gr.  11  (1898)  31  ff.  Hartman  u.  a.  bezweifelte  Echtheit  E.  Nau- 

*)  Diese  Abfassungszeit  ist  auf  den  Epi-  •   mann  a.  0.,  G.  Erler,  Quaestiones  de  Xeno- 

log  beschränkt  und  das  übrige  in  387 — 5  ge-  I   phonteo  libro  de  rep.  Lacedaem.,  Lipsiae  1874, 

setzt  von  E.  Naumann,  De  Xenophontis  libro  '   und  abschließend  U.  Köhler.  Berl.  Ak.  Sitz.- 

qui  Auy.FÖaiuovhiv  .io?uTeia  inscribitur,  Berlin  ;   her.  1896,  361  ff.,  der  meint,  die  Schrift  sei 

1876.  I   durch   Piatons  Staat   veranlaßt:   polemische 

')  Auf  einen  Auszug  schließt  aus  jener  :   Beziehungen    auf  Thukydides   kommen    vor 

Stelle  C.  G.  Cobet,  Nov.  lect.  707.    Aristot.,  (Lac.  resp.  1,  2  auf  Thuc.  II  37.  1;  L.  r.  8,  2 

der  den  Xenophon  benutzt,  aber  nirgends  an-  auf  Th.  II  37). 


2.  Die  GeschichtsBchreibimg.    d)  Xenophon.    (§§  272—273.)  487 

9,  9;  der  Taktiker  Aineias  hatte  eine  noQiaxtxfi  ßvßXog  (tact.  14,  2)  ge- 
schrieben und  Theozotides  darauf  bezügliche  Anträge  gestellt,  die  Lysias 
in  einer  Rede*)  bekämpfte.  Später  behandelt  dasselbe  Thema  die  pseudo- 
aristotelische Ökonomik  im  zweiten  Buch  mit  geschichtlichen  Beispielen. 
Die  Schrift  zeigt  erneutes  Interesse  des  Verfassers  für  sein  bedrängtes 
altes  Vaterland,  dem  er  guten  Rat  anbietet;  sie  enthält  aber  neben  an- 
regenden, praktischen,  zum  Teil  höchst  modern  anmutenden  Gedanken  auch 
unpraktische  Phantasmen.  Bezeichnend  für  den  Rückgang  der  bürgerlichen 
Tüchtigkeit  ist  der  Ruf  nach  Staatshilfe  an  allen  Ecken  und  Enden,  der 
die  Schrift  durchdringt,  echt  xenophontisch  der  fromme  Augenaufschlag 
am  Schluß.  Die  Zeitverhältnisse,  aus  denen  die  Vorschläge  erwachsen 
sind,  führen  nach  C.  G.  Cobets  Auffassung  (Nov.  lect.  756  flf.)  auf  das  Jahr 
355  oder  die  Zeit  unmittelbar  nach  Beilegung  des  Bundesgenossenkrieges. 
Mit  ihrem  Rat  zum  Frieden  ist  die  Schrift  ein  Seitenstück  zum  Zvjußiaxixog 
des  Isokrates.  Andere^)  gehen,  anknüpfend  an  5,  9,  wo  von  der  versuchten 
Verdrängung  der  Phoker  aus  der  Vorstandschaft  des  delphischen  Orakels 
die  Rede  ist,  bis  auf  346  herab.  Wäre  diese  Meinung  richtig,  was  aber 
6.  Friedrich  (Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  153,  1896,  289  flf.)  mit  guten  Gründen  be- 
streitet, dann  könnte  nicht  Xenophon,  der  damals  bereits  tot  war,  sondern 
nur  irgend  ein  Parteigänger  der  Friedenspolitik  des  Eubulos  Verfasser  der 
Schrift  sein. 3) 

273.  Eng  zusammen  gehören  die  zwei  Schriften  über  Kavallerie.  Der 
'Injiaoyjxog  seil,  koyog,  geschrieben  für  einen  Reiterführer,  gibt  sach- 
gemäße Anweisungen  zur  Verbesserung  der  athenischen  Reiterei.  Der 
Hinweis  auf  die  mit  den  Athenern  verbundenen  Lakedaimonier  (9,  4)  und 
auf  den  drohenden  Einfall  der  Boioter  (7,  3)  führt  auf  die  Zeit  kurz  vor 
der  Schlacht  bei  Mantineia,  in  der  sich  die  attischen  Reiter  tatsächlich 
ausgezeichnet  haben.  Von  dem  Gegenstand  handelt  Xenophon  auch 
mem.  III  3. 

Ueoi  IjiTiixijg  ist  nach  dem  Hipparchikos,  der  am  Schluß  (12,  14) 
zitiert  wird,  geschrieben.  Wie  jene  Schrift  für  einen  Reiterobersten  be- 
stimmt war,  so  diese  für  einen  gemeinen  Kavalleristen  {iÖKOTj}  btnei);  sie 
gibt  praktische  Ratschläge  für  Ankauf  und  Schulung  des  Pferdes,  sowie 
für  Ausrüstung  des  Reiters.  Aus  1,  3  und  11,  6  ersehen  wir,  daß  schon 
vor  Xenoplion  Simon  von  Athen  über  denselben  Gegenstand  geschrieben 
hatte;  aus  dessen  Schrift  heoI  eidovg  xai  ijidoyfjg  himov  ist  ein  Stück  er- 
halten.*)    Wie  alt  derartige  Anweisungen  sind,   ersieht  man  aus  flom.  II. 

*)  Hibeh  pap.  I  nr.  13.  '   insiotovro  5,  9  in  nftotovro  bessert.    Siehe  a. 

2)  H.  Hagen,  Eos  2  (1866)  149;  L.  Holz-  j    A.  Pintschovtus,  Xen.  de  vect.  V9  und  die 

APFEL,  Philol.  41  (1882)  242  ff.    Siehe  beson-  ■   Überlieferung  vom  Anfang  des  phok.  Krieges 

ders    A.  Scbäfer,    Demosth.    I'  193  f.;    A.  bei  Diodor,  Progr.  Hadersleben  1900. 

BöcKH,  Staatshaush.  d.  Ath.  I*  698  ff.  *)  Zuerst  von  Ch.  V.  Daremberg  notiert, 

8)  W.  OxcKEN,   Isokrates    und    Athen,  dann  von  F.  Blaß  kritisch  behandelt   (liber 

Heidelb.  1862,  S.  96  hat  die  Schrift  für  unecht  miscell.   ed.   a  societate  philol.  Bonn  1864, 

erkläi-t.    Die  Echtheit  verteidigt  der  Heraus-  49  ff.)  und  von  E.  Oder  (Anecdota  Cantabrig.  I, 

geber  der  Schrift  A.  Zurbobu,  De  Xenophontis  Berl.  1896)  herausgegeben.   Über  Simon  s.  E. 

libello    qui   Ilogot   inscribitur,    Berlin  1874;  i    Odbr,  Rhein.  Mus.  51  (1896)  58  ff.,   wo  das 

ebenso  J.  N.  Madvio,   Adv.  crit.  I  (Hauniae  ;    Schriftchen  p.  67—69  gedruckt  ist. 
1871)  364,   der   das   chronologisch  anstößige 


488  Griechische  Litteratiirgeschichte.    I.  Klassische  Periode, 

W  306  flF.  Sie  existierten  wohl  ursprünglich,  bevor  sich  die  Sophistik  ihrer 
bemächtigte,  in  gebundener  Form. 

Der  Kvvrjyerixog  enthält  das  Lob  der  Jägerei,  die  im  griechisch- 
römischen  Altertum  keinerlei  rechtlichen  Einschränkungen  unterworfen 
war^)  und  gibt  viele  praktische  Anweisungen  für  die  Abrichtung  der  Jagd- 
hunde. Gegen  Schluß  wird  das  Waidwerk  als  Vorschule  des  Kriegsdienstes 
gepriesen  und  der  Wortklauberei  der  Sophistik  entgegengesetzt.  Das  Werk 
wird  von  dem  Grammatiker  Tryphon  bei  Athen.  400  a  als  xenophontisch 
anerkannt,  paßt  auch  seines  Gegenstandes  wegen  ganz  in  den  Interessen- 
kreis des  Schriftstellers  (vgl.  Xen.  Lac.  resp.  4,  7;  Cyrop.  I  2,  9  f.  6,  39  f.; 
VIII  1,  34);  es  weicht  aber  im  Stil  und  hyperbolischen  Ausdruck  stark  von 
der  Schlichtheit  des  Xenophon  ab,  so  daß  man  es  zu  den  untergeschobenen 
Schriften  zählen  muß.«)  Übrigens  gehört  es,  vom  Proömium  abgesehen, 
noch  dem  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  an. 

274.  Die  höchste  schriftstellerische  Aufgabe  hat  sich  Xenophon  ge- 
stellt in  der  Kvqov  jzaidela  in  acht  Büchern.  In  quasigeschichtlicher  Ein- 
kleidung stellt  er  hier  seine  Gedanken  über  den  Idealkönig,  wie  er  erzogen 
werden  und  wie  er  seines  Amtes  walten  soll,  verkörpert  in  der  Gestalt 
des  älteren  Kyros  dar.  Das  Werk  ist  also  ein  pädagogisch-politischer 
Tendenzroman.  3)  Mit  den  überlieferten  Tatsachen  wird  sehr  frei  um- 
gesprungen. Aus  ethischen  Rücksichten  wird  z.  B.  die  Entthronung  des 
Astyages  durch  seinen  Enkel  (^xoitwv  i^yi^oaxo  Mtjdayv  I  1,  4)  und  die  Ver- 
brennung des  Kroisos  verschwiegen,  aus  ästhetischen  dem  Kyros  (I  1,  4; 
VIII  7,  20)  auch  die  Eroberung  Ägyptens  zugeschrieben  und  sein  gewalt- 
samer Tod  im  Massagetenland  (Herodot.  I  214)  durch  ein  erbauliches  und 
friedliches  Ende  im  Kreis  der  Seinen  (VIII  7)  ersetzt.**)  Redewendungen, 
die  auf  mündliche  Quellen  hinzuweisen  scheinen,  wie  t'(fHway  (I  3,  4.  4,  25), 
(ffioiv^  keyexai  sind  ebenso  wie  die  kritischen  Äußerungen  VIII  5,  28  ledig- 
lich stilistische  Floskeln.  Schriftliche  Quellen,  insbesondere  den  Ktesias, 
hat  Xenophon   ohne  Zweifel   benützt,  und   bei  genügender  Vorsicht  kann 


*)  H.  V.  Kayseb,  Jagd  und  Jagdrecht  in 
Rom,  Dias,  (tött  1895;  R.Johannes,  De  studio 
venandi  apud  Graecos  et  Romanos,  Gott.  1908. 

*)  Für  eine  Jugendschrift  sprachen  sich 
aus  C.  G.  CoBET,  Nov.  lect  774,  und  A.  Ro- 
QüETTE  a.  0.  Auffällig  ist  namentlich  der  dem 
Xenophon  sonst  fremde  Gehrauch  des  Infini- 
tivus  ahsolutus  im  Sinn  des  Imperativs.  K. 
SiTTL,  Gr.  Lit.  II  462  findet  Anzeichen  spä- 
teren ürspnmgs  auch  in  der  Foim  der  Ai- 
neiassage  1 1, 15.  Die  Unechtheit  überzeugend 
begründet  von  L.  Radermacher,  Über  den 
Cyncgeticus  des  Xenophon.  Rh.  Mus.  51  (1896) 
596—629.  52  (1897)  13—41 ;  K.  Lincke,  Xeno- 


3.  Jahrh.  v.  Chr.  setzen  wollte,  hält  E.  Norden, 
Die  ant.  Kunstprosa  432  für  ein  Werk  der 
zweiten  Sophistik:  jedenfalls  ist  es  dem  Ar- 
rian  (Cynog.  1)  bekannt  gewesen. 

')  Über  den  politischen  Gehalt  der  K3rr. 
H.  Henkel,  Stud.  z.  Gesch.  der  griech.  Lehre 
V.  Staat,  Leipz.  1872,  136  ff. 

*)  Cicero  epist.  ad  C^uiut.  I  1,  28  be- 
merkt: Cyrns  i'lie  a  Xenojyhonte  non  ad  hi^ 
sttoriae  fidem  scriptum,  sed  ad  efpgiem  iusti  im^ 
perii.  Vgl.  Dionys.  Hai.  ep.  ad  Pomp.  4:  Kvqov 
jiaiöeiar,  hixöva  fiaat/Jm,;  dyaOiw  xai  et'Öai' 
finvo^.  A.  Chassang,  Hist.  du  roman  *,  Par. 
1862, 46  f.,  der  S  45—70  eine  gute  Analyse  des 


phonsKvnegetiküs.  in  Jahrbb.  f.  cl.Philol.  153  Werkes  gibt.  Ihm  gegenüber  bezeichnet  die 
(1896)209—217.  Einfluß  des  Isokrates  sucht  j  Ansicht  von  R.  Hibzel,  Der  Dialog  I  165, 
nachzuweisen  (i.Kaibel,  Herm.  25  (1890)581       einen    Rückschritt.      Die    Vei-suche    von    E. 


bis  597,  Einfluß  des  Antisthenes  F.  DCmmler, 
Philol.  50  (1.^91)  288  ff.  Das  Proömium.  in  dem 
schon  Radermacher  Spuren  von  asianischen 
Rhythmen  finden  und  es  deshalb  nicht  vor  das 


ScHWARTZ.  Fünf  Vortiäge  über  den  griech. 
Roman,  Berl.  1896,  46  ft.,  dem  Roman  Daten 
für  Xenophons  Biographie  abzugewinnen,  sind 
höchst  problematisch. 


2.  Die  Qeschichtsachreibimg.    d)  Xenophoxu    (§  274.)  489 

dem  Roman  einiges  Geschichtliche  abgewonnen  werden.*)  Interessant  ist, 
daß  es  Xenophon  angemessen  fand,  eine  erotische  Episode  einzuflechten  in 
der  Geschichte  von  der  edlen  Pantheia,  die  auch  als  Kriegsgefangene 
ihrem  Gemahl  Abradates  die  Treue  wahrt,  von  ihm,  als  er  in  den  Kampf 
zieht,  rührend  Abschied  nimmt  (VI  4)  und  schließlich  mit  ihm  den  Tod 
teilt  (VII  3).*)  Dem  Titel  des  Werkes  nach  sollte  man  bloß  eine  Dar- 
stellung der  Erziehung  des  Kyros  erwarten,  das  Buch  gibt  aber  eine  Ge- 
schichte seines  ganzen  Lebens  und  will  nicht  bloß  die  Erziehung  des 
Königs,  sondern  auch  die  Einrichtungen  des  Volkes  der  Perser  darstellen. 
Der  Titel  soll  wohl  von  vornherein  die  Tendenz  des  Buches  andeuten, 
nämlich  zu  zeigen,  wie  die  Erfolge  des  Königs  und  seine  guten  Regierungs- 
maximen in  der  richtigen  Erziehung  ihre  Wurzeln  hatten')  und  daß  diese 
daher  auch  für  andere  Menschen  vorbildUch  sei.  Dafür,  daß  Xenophon 
seinen  Roman  gerade  in  Persien  spielen  ließ,  werden,  abgesehen  von  der 
Rücksicht  auf  die  für  das  Idealisieren  günstige  Distanz  und  auf  die  farbige 
Buntheit  des  Orients  mancherlei  Gründe  maßgebend  gewesen  sein:  ein  Zug 
zur  Idealisierung  Altpersiens  ist  schon  bei  Herodot  und  Aischylos  unver- 
kennbar, und  auch  in  den  Kreisen  der  Sokratiker  zeigt  sich  lebhaftes  Inter- 
esse für  die  Perser;*)  das  des  Xenophon  insbesondere  war  geweckt  durch 
seine  Begeisterung  für  den  jüngeren  Kyros.  Das  Wichtigste  aber  ist,  daß, 
wer  damals  einen  aus  inneren  Gründen  herrschaftsfahigen  und  also  auch 
herrschaftsberechtigten*»)  König  vorführen  wollte,  dafür  in  Griechenland 
kein  Vorbild  fand;  denn  Griechenland  kennt  nach  Aristoteles  (1313a  3  ff.) 
keine  ßaoueiai,  sondern  nur  /novagxiai  und  rugm^vldeg,  d.  h.  gesetzliche  oder 
gesetzwidrige  Herrschaften  einzelner  sittlich  nicht  überragender  Persönlich- 
keiten. Xenophon  mußte  also,  da  er  doch  den  lebenden  Agesilaos  nicht 
bringen  konnte,  zu  den  ßägfiagoi  hinübergreifen.  Damit  erreichte  er  auch 
den  Vorteil,  seine  Ideen  über  Erziehung  von  allen  griechischen  Vorurteilen 
unabhängig  (I  2)  vortragen  zu  können:  denn  es  ist  gewiß  nicht  bloß  Kon- 
zession an  das  persische  Kolorit,  wenn  er  eine  Erziehung  der  männlichen 
Jugend  empfiehlt,  in  der  alles  auf  Ausbildung  körperlicher  und  sittlicher 
Vorzüge  abzielt,  in  der  das  städtische  Gymnasien  der  Griechen  durch  natur- 
gemäßere Übungen  im  Schießen,  Reiten  und  Jagen  ersetzt  ist  und  die 
intellektuelle  und  musische  Bildung  völlig  fehlt.  Übrigens  haben  auf  das 
Bild  der  persischen  dycoyt]  und  Verfassung,  das  Xenophon  entwirft,  auch 
Züge  des  spartanischen  Lebens  abgefärbt,  <*)  wie  das  Bild  des  alten  Kyros 


A.  V.  GüTscHMiD,  Kl.  Sehr.  V  43;  E.  *)  Vgl.  Antisthenes'  Kvgoc:;  Plat.  Ale.  I 


Meyer,  Gesch.  d.  Alt.  III  8  f.,  der  auf  Über- 
einstimmungen mit  Herodot  hinweist. 

«)  E.  RoHDE.  Griech.  Roman*  139,  1;  die 


121c  ff.  Piaton  kritisiert  leg.  III  694  c  ff.  die 
Perserverherrlichung;  ähnlich  Isoer.  jianeg. 
150  ff.,  der  vielleicht  schon  die  Kynipaideia 


Beliebtheit  der  Episode  bezeugen  Hermog.  .t.   ,   im  Auge  hat. 

iß.  p.  418,  18  Sp.;    Philostr.  vit.  soph.  1  22.  3;  *)  Hauptstelle  VIII 1,  37:  oifxfoeio^jtooo- 

imag.  II  9.  t)xeiy  ovöefi  do;if>7s,  oarig  fiif  ßelriojv  sTtj   rwv 

')  Cyr.  I  1,  6:   :Toin  iiri  jtaidelq.  jzaiSsv-  uQ^ouevrov.     Vgl.  oben  S.  471. 
dei<;  tooovtov  dujreyxFv   eh  to  ägyeiv  dv&o(0'  ®)  E.   Wetnek,   Xen.  in  effingenda  Per- 

jrojv.     Von  Einfluß   für   die  Benennung  war  sicae  civitatis  imagine  quatenus  Lacedaemo- 

aber  hier,  wie  ähnlich  bei  der  Anabasis,  zu-  nior.institutaexpressit,  Revall893.  K.LI^'CKE. 

meist,   daß  die  Daratellung   mit   der  naiöeia  Xen.*  persische  Politie.  Phil.  60  (1901)  541  ff., 

Kvoov  begann.  trägt   sehr  phantastische  Vermutungen  über 


490  GriechiBche  Litteratorgesohiohte.    L  Klassische  Periode. 

Züge  von  dem  jüngeren,  von  Sokrates  und  von  Agesilaos  angenommen  hat. 
Das  Ganze  zerfällt  in  zwei  ungleiche  Hälften:  1.  die  Erziehung  des  Kyros 
mit  der  Eroberung  Asiens,  wobei  Xenophon  allerlei  strategische  und  tak- 
tische Weisheit  anbringt  I — VII  5,  36;  2.  die  Organisation  des  Reiches  VII 
5,  37 — Vni  6.  Im  zweiten  Teil  verändert  Kyros  sein  bisheriges  kamerad- 
schaftliches Verhältnis  zu  seinen  Volksgenossen  und  geht  zur  königlichen 
aejLivÖTrjg  über.  An  Anachronismen  und  Widersprüchen  im  einzelnen  fehlt 
es  nicht,  wenn  z.  B.  ein  Sophist  am  armenischen  Hof  auftritt  (HI  1,  14. 
38  ff.)  oder  Kyros  seine  VHI  5, 20  ff.  ausgesprochene  Absicht  nachher  ganz 
vergißt,  ähnlich  wie  Patroklos  in  der  Ilias  seinen  Auftrag.  Geredet  wird 
überall  teils  in  fortlaufender  Rede,  teils  in  Gesprächen  viel  mehr  als  ge- 
handelt. Die  Charaktere  neben  Kyros  treten  wenig  hervor;  am  meisten 
das  Gegenstück  zu  ihm,  der  tyrannische  Assyrerkönig  (IV  6,  2;  V  2,  28) 
und  der  regierungstreue  Kapuziner  Chrysantas  (II  3,  8  flf.;  IV  3,  15  flf.;  VI 
2,  21;  Vn  5,  55  flf.;  VHI  1,  1  flf.  4,  11  flf.),  ein  Kynikertypus,  der  die  Unter- 
tanen bei  guter  Laune  hält.  —  Das  Werk  muß  dem  Stü  nach  in  die  mitt- 
lere Periode  von  Xenophons  Leben  gesetzt  werden.  Von  dem  Epilog  VIH  8 
freilich,  in  dem  die  Entartung  der  damaligen  Perser  und  ihr  Abfall  von 
der  alten  Sitte  (Ttaideia)  dargetan  wird,  steht  fest,  daß  er  nicht  vor  364 
geschrieben  sein  kann;^)  aber  er  wird  von  namhaften  Kritikern  für  un- 
echt erklärt  und  scheint  jedenfalls  erst  nachträglich,  sei  es  (was  wahr- 
scheinlich) von  Xenophon  selbst  oder  von  einem  anderen  zugefügt  zu  sein.*) 
Von  dem  ganzen  Werk  setzt  die  Überlieferung  bei  Gellius  XIV  3,  3,  daß 
Xenophon  mit  der  Kyrupaideia  ein  Gegenstück  zu  den  zwei  ersten  Büchern 
der  platonischen  Politeia  habe  liefern  wollen,  voraus,  daß  es  vor  der  Ver- 
öflFentlichung  der  ganzen  Politeia  des  Piaton,  d.  h.  doch  wohl  vor  367  ver- 
faßt worden  sei.  Ohne  Wert  ist  die  in  neuerer  Zeit  von  verschiedenen 
Seiten  geäußerte  Vermutung, »)  daß  der  Autor  selbst  HI  1,  38 — 40  auf  seine 
Aussöhnung  mit  seiner  Vaterstadt  Athen  anspiele.  —  Den  Römern  war  dieses 
eminent  praktisch  gerichtete  Buch  besonders  sympathisch:  es  war  das 
Lieblingsbuch  des  jüngeren  Scipio  (Cic.  ad  Quint.  ifr.  I  1,  23);  auch  Cicero 
liebte  es  (ad  fam.  IX  25, 1)  und  hat  den  Schluß  im  Cato  maior  (79  f.)  über- 
setzt. In  der  griechischen  Litteratur  ist  es  Vorbild  für  Bücher  wie  Onesi- 
kritos'  jicog  i]/ßv  'AXiSavdoog,  Marsyas'  'AXe^ävögov  Aycüyii%  Lysimachos'  jtfqI 
Ttjg  'Arrdkov  Jiaidelag,   Nikolaos'  von  Damaskos  KaioaQog  äyoyyr}  geworden. 


perser freundliche  und  perserfeindliche  Inter-  |  C.  Valckenaer  und  F.  A.  Wolf;  s.  K.  Schenkl, 

polation  des  Textes  der  Kyrup.  vor,   für  die  ;  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  83  (1861)  540  ff.    H.  Beck- 

er  zum  Teil  den  Jüngeren  Xen.*  in  Anspruch  j  haüs,  Ztschr.  f.  Gymn.  26  (1872)  226  f.  schreibt 

nimmt.   Siehe  H.  Goxpebz,  Arch.  f.  Gesch.  d.  '  dem  jüngeren  Xenophon  den  Epilog  zu;  ahn- 

Philos.  19  (1906)  417  ff.  lieh  Th.  Bbrgk,  Gr.  Lit.  IV  312.    Beachtens- 

^)  In    die    letzten    Regierungsjahre    des  wert  ist  der  ähnliche  Schluß  der  AaxeSat/iw 

Artaxerxes  II  (gestorben  362)  setzt  Diodor  XV  |  vicov  jrohTeta. 

92  die  in  jenem  Epilog  erwähnte  Roheit  des  ')  Ed.  Schwaktz,   Fünf  Vorträge   über 

Rheomitres.    Sehr  auf&llig  ist  der  stilistische  j  den  griechischen  Roman  S.  57 ;  F.  Beyschlao, 

Unterschied    des    Epilogs    von   der   übrigen  !  Bl.  f.  bajT.  Gymn.  37  (1901)  53.  E.  Schwartz 

Kyrupaideia:    von    den  16  ye  fir)v,  die  das  '■  und   E.  Meyer  (Gesch.  d.  Alt.  III  8)   setzen 

ganze  Werk  enthält,   entfallen  fünf  auf  den  die  Abfassung  Ende  der  sechziger  Jahre  des 

Epilog.  I  4.  Jahrh. 

')  Für  unecht  erklärten  den  Epilog  L.  | 


2.  Die  QeTOhiohtsBchreibnng.    d)  Xenophon.    (§  275.)  49 1 

Auch  einem  Pehlewiroman  über  Artachschir,  den  Begründer  des  Sassaniden- 
reiche's,  hat  die  K.  als  Muster  gedient.  0 

Die  Unechtheit  der  sieben  meist  bei  Stobaios  erhaltenen  Xenophon- 
b riefe  (Epistologr.  Gr.  ed.  Hereher  788  flf.)  ist  längst  von  R.Bentley  (Opusc. 
54)  festgestellt. 

276.  In  den  zwei  ersten  Jahrhunderten  der  hellenistischen  Epoche, 
als  in  philosophischen  Kreisen  aller  Nachdruck  auf  Verschärfung  der  dia- 
lektischen Methoden  gelegt  wurde  und  in  der  Rhetorik  der  asianische  Ge- 
schmack blühte,  erlahmte  das  Interesse  für  den  populärethischen  Xeno- 
phon und  seine  dipikeia^  deren  schwächliche  Zerflossenheit  dem  scharfen 
Urteil  des  Timon  von  Phlius  (Diog.  L.  11  55)  nicht  entgangen  ist.  Aber 
seit  in  den  heftigen  Schulkämpfen  des  3.  und  2.  Jahrhunderts  v.  Chr.  die 
rabies  der  Dialektiker  sich  ausgetobt  hatte  und  man,  mit  unter  dem  Ein- 
fluß der  Römer,  sich  der  Aufstellung  klarer,  allgemein  verbindlicher  Normen 
des  praktischen  Lebens  zuwandte,  seit  die  Mittelstoa  den  Heroenkult  der 
attischen  Philosophie  und  Litteratur  aufrichtete,  zog  man  ihn  wieder  her- 
vor, und  durch  die  vereinten  Anstrengungen  der  Römer  und  des  Panaitios 
und  Poseidonios*)  kam  er  zu  der  unverdienten  Ehre,  unter  die  Klassiker 
der  Philosophie  versetzt  zu  werden,  unter  denen  er  nun  bei  Diogenes 
Laertios  erscheint.  Nun  kommt  auch  der  Stilist  Xenophon  wieder  zu  Ehren. 
Schon  der  alte  Cato  (fr.  2  Peter)  zeigt  Spuren  von  Xenophonkenntnis 
(conv.  1),  Lutatius  Catulus  (Cic.  Brut.  132)  und  andere  (Cic.  or.  32)  ahmen 
ihn  nach,  Cornelius  Nepos  benützt  ihn.»)  Cicero,  der  seine  Weichheit  und 
Anmut  hervorhebt  (de  or.  II  58;  or.  62),  liebt  ihn  und  hat  seinen  Oikono- 
mikos  ins  Lateinische  übersetzt,  findet  ihn  aber  zum  Vorbild  für  den 
Redner  nicht  geeignet.  Die  griechischen  Atticisten  (Dionys.  Hai.  de  imitat. 
B  HI  2  p.  208  Us.;  ad  Pomp.  4)  heben  bei  aller  Anerkennung  doch  seine 
Schwunglosigkeit  hervor.  Dagegen  rechnet  ihn  der  Verfasser  der  Schrift 
7i€ol  vy^ovg  (4,  4),  wohl  inspiriert  von  dem  Urteil  des  Poseidonios,  unter 
die  Heroen  der  griechischen  Litteratur;  Dion  von  Prusa  ist  (s.  bes.  or.  18,4) 
ein  begeisterter  Nachahmer  von  ihm;  nicht  minder  hoch  stellen  ihn  Epi- 
ktetos,  Plutarchos  (coni.  praec.  145  c),  Quintilianus  (X  1,  82),  und  für  die 
Neusophistik*)  ist  er  schlechthin  das  Vorbild  der  ätpekeia  (Aristid.  rhet.  II; 
Hermog.  ji.iö,  p.  418  f.  Sp.),  dem  Pausanias,  Arrianos,  Appianos,  Nikostratos, 
Lucianus,  Alianus,  Philostratos  nachstreben.  Daß  dieses  Urteil  bis  zum 
Ende  des  Altertums  bestehen  geblieben  ist,  zeigen  die  begeisterten  Worte 
des  Eunapios  (vit.  soph.  prooem.),  der  ihn  Iv  Xoyoig  xal  loyoig  als  Philo- 
sophen,  als  Lehrer  Alexanders  des  Großen  in  der  Strategie  bewundert.^) 

Auffällig  ist  die  Dürftigkeit  und  Wertlosigkeit  (C.  G.  Cobet,  Nov.  lect.  546)  der 
Scholien  zu  X.  (zur  Anab.  in  der  Ausg.  v.  L.  Dindorf,  Oxf.  1855,  381  ff.;  dazu  E.  Picco- 
LOMiNi.  Stud.  ital.  3, 1885,  518  ff.),  zumal  wir  wissen,  daß  im  Altertum  zahlreiche  grammatische 
Schriften  (aufgezählt  bei  G.  Buohenau,  De  scriptore  libri  -T^gt  vipov^,  Marb.  1849  p.  63  ff.)  über 

^)  A.  V.  GuTscHMiD,  Kl.  Sehr.  III  133  f.  I  51  Hense).  —  Siehe  a.E.  Richter,  Xenophon 
')  M.  Wellmann.  Herm.  41  (1906)  632  f.,      in  der  römischen  Litteratur,  Charlottenb.  1905. 

findet  bezeichnend,  daß  der  stoisierende  Begrün-  ')  F.  Leo,  Griech.-römische  Biogr.  211  ff. 

der  der  pneumatischen  Ärzteschule,  Athenios,  I  ^j  Siehe  a.  W.  Schmid,  Atticism.  I  206  f. ; 

eine  Stelle  ausXen.  oecon.  zitiert.  Ebenso  be-       IV  657. 

zeichnend  ist  die  Xenophonbenützung  in  der  1  ^)  Seiner  vielsagenden  Kürze  wegen  stellt 

populären  Diatribenlitteratur  (Teles  p.  47, 9  ff.  !   ihn  Schol.  Townl.  IL  K  298    neben  Homer. 


492  Griechische  Litteratorgeflushichte.    L  Klassische  Periode. 

ihn  geschrieben  worden  sind.  Nach  Suidas  hatten  über  seinen  Stil  gehandelt  Harpokration 
negt  rwv  naga  EevogcbiTi  öviTctleöw,  ferner  Heron,  Zenon,  Metrophanes,  Theon,  TiberiojK  Auch 
Ps.Longin.  .1.  vy,  8  spricht  von  einer  Schrift,  die  er  über  Xenophon  geschrieben  habe. 

Die  handschriftliche  Überlieferung  ist  zu  den  einzelnen  Büchern  verschieden,  durch- 
weg aber  haben  wir  nur  verhältnismäßig  junge  Codd.;  die  besten  sind:  zur  Anabasis  und 
Eyrupaideia  Paris.  1640  (C)  vom  Jahr  1320,  der  aber  auf  einen  Cod.  s.  IX  zurückgeht  (A. 
HüG,  De  Xen.  anab.  cod.  C,  Turici  1878);  zur  Kyrupaideia  Marc.  511  s.  XII,  Paris.  1635  (A); 
zu  HeUen.  Paris.  1738  (B)  Auf.  s.  XIV,  Ambros.  A  4  inf.  v.  J.  1344  (M),  Paris.  1642  (D) 
8.  XV;  zu  Memorab.  Paris.  1302  s.  XIII  (enthält  nur  Buch  I  und  II)  und  1740.  Kritischer 
Apparat  in  den  Oxforder  Ausgaben  L.  Dindorfs  (Hell.  1852,  Cyrop.  1857,  Mem.  1862);  be- 
reichert in  der  Ausgabe  von  E.  Schenkl  (2  voll.,  Berl.  1869.  76).  dazu  Mitteilungen  über 
die  benutzten  Codd.  in  dessen  Xen.  Stud.  Neuerdings  sind  zahlreiche  Papyrusreste  aus 
nachchristlicher  Zeit  hinzugekommen  (F.  G.  Kbkyon,  The  Palaeography  of  the  greek  papyri 
148;  W.  Cbönebt.  Arch.  f.  Papyrusf.  1,  520;  F.  Blass  ebenda  2,  281.  489  f.)  mit  Stücken 
aus  Anab.,  Hell.,  Mem.,  Oecon.,  CjTop. 

Frühste  gedruckte  Gesamtausgaben:  Juntina  1516,  Aldina  1525 ;  dann  von  H.  Stephaitus, 
Paris  1561;  J.  G.  Sgh}(eid£b,  6  voll,  (einzelne  Bände  neu  bearbeitet  von  F.  A.  BoBinsMANK), 
Lips.  1790 — 1849;  rec.  et  coroment.  instr.  R.  Eühneb,  F.  A.  Bobkbhann,  L.  Bbettenbach, 
Gotha  1838—63,  4  voll.;  ed.  G.  Sauppb.  Lips.  1867—1870,  5  voll.,  von  der  GesamUusgabe 
(Sevotfcjytos  ovyyQd^ifxata)  von  I.  Pantazidis  ist  bis  jetzt  Bd.  I  (Anabasis  Athen  1900)  er- 
schienen; Op.  omnia  rec.  £.  C.  Mabchant,  Oxf.  1900  ff.  —  Kritische  Einzelausgaben  auf 
Grund  von  nandschriftl.  Apparat:  Expeditio  Cyri  rec.  A.  Hüg,  Lips.  1878,  mit  Facsimile 
des  cod.  Paris.  1640;  exped.  Cyri  rec.  W.  Gemoll  ed.  mai.  Lips.' 1899;  Xenophontis  Hei- 
lenica  rec.  0.  Kelleb  ed.  mai.  Lips.  1890  mit  Wortindex;  Commentarii  Socratis  rec.  W. 
Gilbert  ed.  mai.  Lips.  1888;  De  reditibus  libellus,  rec.  A.  Zubbobo,  Berl.  1876;  Oecono- 
micus  ed.  H.  A.  Holden,  5.  Aufl.,  London  1895;  Hipparchicus  rec.  P.  Cerocohi,  Berlin  1901; 
de  re  equestri  rec.  V.  Tommasini,  Berlin  1902;  Cynegeticus  rec.  G.  Piebleoni,  Berlin 
1902;  Resp.  Laced.  rec.  G.  Piebleoni,  Berlin  1905.  Apologie  mit  Wortindex  von  L.  Trbt- 
TBB,  Graz  1903  (daneben  die  Ausg.  von  V.  Lündstböm,  Leipz.  1906,  entbehrlich).  —  Text- 
kritische  Ausgaben  auf  Grund  der  Sprachgesetze  des  Atticismus  von  C.  G.  Cobet,  Anabas., 
Leiden  (1859)  1880,  Hellen.,  Amst.  1862,  Leiden  1880.  —  Einzelausgaben  mit  erklärenden  An- 
merkungen: Anabasis  von  K.  W.  Kbügeb,  7.  Aufl.  von  W.  Pökel  1888;  von  F.  Vollbbbcht 
bei  Teubner,  von  C.  Rehdantz  und  0.  Cabnuth  bei  Weidmann,  6.  Aufl.  von  W.  Nitschb 
1905;  Eyrupaideia  von  L.  Bbeitenbach  bei  Teubner,  von  K.  F.  Hebtlein  und  W.  Nitsohb 
bei  Weidmann,  Hellenika  von  L.  Bbeitenbach  bei  Weidmann,  von  B.  Büchsekschütz  bei 
Teubner,  von  A.  Zubbobo  und  R.  Gbosseb  bei  Perthes,  von  E.  Kubz.  München  1874  (dazu 
ders..  Zu  Xen.*  griech.  Gesch.  I.  II,  Progr.  des  Ludwigsgymn.  1873.  1875);  Memor.  mit  Anm. 
von  Raph.  Kühneb  bei  Teubner  (6.  Aufl.  von  Run.  Kühneb  1902),  von  L.  Bbeitenbach  bei 
Weidmann.  Eine  Art  von  philosophischem  Kommentar  zu  den  Mem.  gibt  A.  Döbino,  Die  Lehre 
des  Sokrates  als  soziales  Reformsystem,  München  1895,  84  ff.  —  Lexicon  Xenophonteum  in 
vier  Bänden  von  F.  W.  Stübz,  Leipz.  1801—4;  Lexilogus  Xenophontis  von  G.  A.  Sauppb, 
Lips.  1868.  Wortindex  zu  den  Memorabilien  von  C.  M.  Gloth  und  M.  Fb.  Kellogg  in 
Comell  studies  in  class.  philol.  11  (1900);  Wörterbücher  zur  Anabasis  von  F.  Vollbbbcht 
(10.  Aufl.  von  W.  Vollbbecht,  Leipz.  1905)  und  W.  Gemoll  (1906).  Letzter  Jahresbericht 
im  Jahresb.  üb.  d.  Fortschr.  d.  kl.  Alt.wiss.  117  (1903)  47  ff.  von  E.  Richteb  über  1899—1902. 

e)  Die  kleineren  und  verlorenen  Geschichtswerke.  Die  Begründung 
der  rhetorischen  Geschichtsschreibung:.  Geographie. 
276.  Fortsetzer  des  Thukydides,  wie  Xenophon,  war  Kratippos 
(FHG  II  75  ff.),  sein  Zeitgenosse  (Dionys.  Hai.  de  Thuc.  16).i)  Er  scheint 
in  der  Einleitung  Mitteilungen  über  Thukydides  gemacht,  dessen  Werk 
bis  zum  kononischen  Mauerbau  fortgeführt  (Plut.  de  glor.  Ath.  1)  und  epi- 
sodisch, vielleicht  im  Zusammenhang  mit  der  Geschichte  des  Jahres  399, 
auch  den  Hermokopidenfrevel  berührt  zu  haben  (fr.  1).  In  alexandrinischer 
Zeit  durch  Xenophon  und  Theopompos  in  Schatten  gestellt,  ist  er  von  Plu- 
tarchos   oder  einer  Quelle  desselben  wieder  beachtet  worden.     Ein  großes 

M  Die  Versuche,   den  Kratippos   in  das  1   F.  Susemiul,  Philol.  59, 1900, 537  ff.)  sind  miß- 

1.  .Jahrh.   v.  Chr.   herunterzudatieren   (.T.  M.  I   langen   (W.  Sohmid,  Philol.  52,  1893.  110  ff., 

8tahl.  De  Cratippo  historico.  Index  Münster  1   60, 1901, 155  ff.   E.  Kalinka,  Zeitschr.  f.  östr. 

1887,88;  H.WEiL,Rev.de8^t.gr.,13,1900,lff.;  1   Gymn.  56,1905,402). 


2.  Die  aeschichtsschreibiing.    e)  Kleinere  Oeschichtswerke.    (§§  276—277.)     493 

und  wohlerhaltenes  Stück  geschichtlicher  Darstellung  von  Ereignissen  des 
Jahres  396  (Vorbereitungen  zum  korinthischen  Krieg,  Agesilaos  in  Klein- 
asien, Geschichte  Konons,  Krieg  zwischen  Boiotem  und  Phokem)  ist  auf 
dem  Oxyrhynchos-Papyrus  Bd.  V  (1908)  nr.  842  p.  147  flf.  gefunden  worden. 
Die  Herausgeber  B.  Grenfell  und  A.  Hunt  haben  bereits  erklärt,  daß  Ver- 
fasser unseres  Wissens  nur  entweder  Theopompos  oder  Kratippos  sein  kann. 
Wenn  die  sorgfältige  Vermeidung  des  Hiatus  für  Theopompos  sprechen  könnte, 
so  spricht  gegen  ihn  die  außerordentlich  glatte,  ruhige,  schlichte,  von  jeder 
rhetorischen  Prätension  weit  entfernte  Darstellungsweise  und  das  Fehlen 
direkter  Reden,  zu  denen  (col.  XIV  37  flf.)  Anlaß  vorhanden  gewesen  wäre. 
Der  Verfasser  ist  im  Gegensatz  zu  Xenophon  Bewunderer  des  Konon  und  kein 
Freund  des  Agesilaos,  dessen  kleinliche  und  planlose  Räubereien  und  dessen 
bedenklich  persönliche  Behandlung  der  Dinge  (col.  XX  17  flf.)  ohne  ein 
eigentlich  tadelndes  Wort  doch  sehr  scharf  beleuchtet  werden.  Das  Er- 
haltene genügt,  um  aufs  neue  und  deutlicher  zu  zeigen,  wie  schlecht  wir 
mit  dem  Historiker  Xenophon  beraten  sind.  Das  Darstellungsprinzip  1)  und 
auch  eine  sprachliche  Einzelheit*)  weist  auf  thukydideischen  Einfluß,  und 
das  Fehlen  der  direkten  Reden  stimmt  zu  Kratippos'  Grundsätzen.  Viel- 
leicht für  Kratippos,  jedenfalls  aber  gegen  Theopompos  entscheidet  die  Äuße- 
rung col.  XIV  25  flf., 3)  die  nur  von  einem  Zeitgenossen  des  korinthischen 
Kriegs  so  geschrieben  sein  kann. 

Ein  anderer  Konkurrent  Xenophons  ist  mit  einer  Kvgov  ävdßaoig  sein 
Mitstrateg  bei  der  Kyrosexpedition,  Sophainetos  von  Stymphalos  ge- 
worden, aus  dessenWerkStephanosByz.  einige  geographische  Daten  anführt.*) 

277.  Der  letzte  bedeutendere  Nachzügler  der  Geschichtsschreibung 
im  ionischen  Dialekt,  zugleich  ein  Beispiel  für  ihre  Ausartung,  ist  Ktesias 
von  Knidos  aus  dem  Geschlecht  der  dortigen  Asklepiaden;  er  war  in  die 
Kriegsgefangenschaft  der  Perser  geraten  und  verbrachte,  wegen  seiner 
ärztlichen  Kunst  hoch  geehrt,  siebzehn  Jahre  bei  Artaxerxes  (also  frühestens 
404—387,  spätestens  401— 384)^)  in  Persien.^)  In  der  Schlacht  von  Kunaxa 
befand  er  sich  im  Gefolge  des  Artaxerxes  und  heilte  den  König  von  der 
ihm  durch  Kyros  beigebrachten  Wunde.  ^)  Später  wurde  er  vom  König 
zu  diplomatischen  Sendungen  an  Euagoras  und  Konon  verwendet,  wobei 
er  um  398  wieder  nach  seiner  Heimat  kam,  um  nicht  mehr  nach  Persien 
zurückzukehren.*^)  Die  reichen  Kenntnisse,  die  er  sich  vom  Orient  an  Ort 
und    Stelle    durch    den  Verkehr  mit  dem  persischen  Hof  und    durch   das 

*)  Teilung  nach  Sommern  und  Wintern  1   Theopompos  zuschreibt, 

col.  XI  34.  I           *)  Die  Altere  Ansicht,   daß  Ephoros  die 

2)  .ingmM.nTTidi(K:  col.  XXI 17  hat  außer  j   Darstellung   der  Kyrosexpedition  aus   Soph. 

Thukydides  nur  Dio  Cassius.     Von  ITiuky-  '  geschöpft  habe,  ist  widerlegt  von  A.  v.  Mess, 

dides'  Gedankenschwere  und  Dunkelheit  ist  1   Rh.  Mus.  61  (1906)  362  ff. 

der  Verfasser  freilich  weit  entfernt.  *)  So  richtig  L.  Holzapfel,   Berl.  phil. 

*)  FOTt  xöig  FÖvEoiv  xovxoig  djiKptaßrjti^ai'  Woch.  25  (1905)  1266,  nachdem  Carolina  Lan- 

fiog  y^oa  .  .  .  hfoI  ijg  xal  rromeoth'  txoxs  .ib-  zani  (i  Persica  di  Ctesia,  Riv.  di  storia  ant. 

cjohinjy.nöir.    Die  Herausgeber  sind  p.  236  in  N.  S.   5.  6,   Messina    1900.    1901)   erwiesen 

ihren   chronologischen  Folgerungen   zu  zag-  hatte,  daß  Kt  noch  393  in  Persien  gewesen 

haft.  Skeptisch  in  der  Verfasserfrage  K.  Fuhr,  |   sein  muß. 

Berl.  phil.  Woch.  28  (1908)  196  ff.   DieZuver-  «)  Diodor.  U  32,  4. 

lässigkeit  des  Berichts  bemängelt  G.  Büsolt  ')  Xenoph.  anab.  I  8,  26. 

(Herrn.  43,  1908,  255  ff.),  der  das  Stück  dem  j           «)  Photios  bibl.  p.  44b  nach  Ktesias. 


494  Ghiechische  Litteratnrgesohiclite.    L  ElassiBche  Periode. 

Studium  einheimischer  Geschichtsbücher i)  erworben  hatte,  legte  er  in 
seinen  ionisch  geschriebenen  IleQoixd  in  dreiundzwanzig  Büchern  nieder. 
Dem  Patriarchen  Photios  cod.  72  verdanken  wir  einen  Auszug  aus  der 
Epitome,  welche  die  Grammatikerin  Pamphila  unter  Nero  in  drei  Büchern 
gemacht  hatte.*)  Danach  behandelten  die  ersten  sechs  Bücher  die  assyrische 
und  medische  Geschichte;  es  folgte  sehr  ausführlich  (7 — 11)  die  anekdoten- 
und  märchenreiche  Geschichte  von  Kyros  L,  dann  wesentlich  kürzer  die 
der  weiteren  Perserkönige  bis  auf  Artaxerxes  11.,  dessen  Regierung  bis 
398  die  letzten  drei  Bücher  füllte  (Diod.  XIV  46).  Ein  Abschnitt  des 
Werkes,  den  Athenaios  (II  67  a)  wie  eine  besondere  Schrift  zitiert,  han- 
delte negl  rcbv  xar  'Aaiav  (pogayv.  In  der  Erzählung  hofmeisterte  Ktesias 
mit  Vorliebe  den  Herodot,  indem  er  ihn  nicht  bloß  vielfach  berichtigte,*) 
sondern  geradezu  als  Lügner  (loyoTioiog  Phot.  p.  106)  hinstellte;  aber  er 
selbst  gab  sich  oft  nur  den  Schein,  besseres  )Vissen  aus  einheimischeft 
alten  Pergamenten  geschöpft  zu  haben,  um  damit  seine  eigenen  Auf- 
schneidereien zu  verkleiden.*)  Vergleicht  man  ihn  mit  Herodot,  so  kann 
man  sich  überzeugen,  wie  die  von  attischer  Wissenschaft  ganz  unberührte 
ionische  Geschichtsschreibung  den  schlichten  Wahrheitssinn  mehr  und  mehr 
einbüßte.  Bezeichnenderweise  hat  Ktesias,  in  der  Nähe  des  königlichen 
Harems,  seine  Darstellung  auch  mit  erotischen  Episoden  gewürzt,*)  während 
ihm  die  echte  Volkssage  fremd  geblieben  ist.^)  Das  beste  ist  bei  ihm  noch 
das  Lokalkolorit  des  Perserhofes  seiner  Zeit,  das  er  ungescheut  auf  die 
Urgeschichte  überträgt.  Außer  Herodot  hat  er,  wie  es  scheint,  Xanthos 
und  Hellanikos'  Persika  benützt.  Ein  zweites  Werk  ^Ivöixa  gab  in  einem 
Buch  die  ersten  Nachrichten  von  dem  Wunderland  Indien,  besonders  von 
seiner  Tier-  und  Pflanzenwelt.  Auch  von  ihm  hat  uns  Photios  a.  0.  einen 
Auszug  erhalten.  Außerdem  wird  von  Ktesias  ein  geographisches  Werk 
IleQmkovg  oder  IleQioÖoq  (Steph.  Byz.  und  Suid.)  erwähnt.^)    Je  weniger  er 

')  Das  waren  die  ßaadtxai  ÖKpMoai  des  |   Hauptechrift  J.  Marquart.  Die  Assyriaka  des 

Diodor  1132,4.    Siehe  a.  E.  Meyer,  ^Gesch.  Ktesias,  Philol.  Suppl.  6  (1891— 93)  501-658. 

d.  Alt.  III  47.  Über  die  Lügenhaftigkeit  des  Ktesias  war  im 

*)  Suidas  8.  UaficpiXrj.   Außer  durch  Pho-  Altertum  nur  eine  Stimme  (die  Stellen  in  C. 

tios,  der  auf  seine  Gesandtschaftsreise  nach  1   Müllers  Ausg.  p.  8  f.).  Das  Romanartige  hebt 


namentlich  Flut.  Artax.  6  hervor  (ola  .Tcia/« 
6  /o;'o>  avioi'  noog  tv  fivOioöeg  xai  ÖQa- 
f^tartxov  exTOEnofin'og  Ttjg  aJ.tjOelag) ^  und 
Demetr.  tt.  eofujv.  §  215  nennt  ihn  geradezu 


Persien  den  Ktesias  als  Reiselektüre  mitzu- 
nehmen besonderen  Anlaß  hatte,  ist  durch 
die  ersten  Bücher  des  Diodoros.  der  aber  den 
Kt.  nicht  direkt,  sondern  für  die  Assyriaka 
durch  Vermittlung  des  Agatharchides  (J.  Mar- 
quart) benützt  hat,  und  Plutarchs  Leben  des  •  *)  E.  Rohde,  Griech.  Roman*  41. 
Artaxei-xes  (P.  Krumbiiolz,  De  Ctesia  aliis-  \  *^)  J.  Marquart  a.  a.  0.  626  ff. 
que  auctorib.  in  Plut.  Artax.  vit.  adhibitis,  ')  Fragmente  gesammelt  von  C.  Müller 
Eisenach  1889)  manches  von  Ktesias  auf  die  im  Anhang  der  Didotschen  Ilerodotausgabe. 
Nachwelt  .gekommen.  ■   Paris  1844.    Dazu  kommen  aber  die  Stellen. 

^)  Daß  seine  Angaben   über  griechische  1   in  denen  Ktesias   bloü  benutzt,   nicht  zitiert 

Geschichte  zum  Teil  wirklich  mehr  Glauben  1   ist,  wie  namentlich   in  Diodor  II  1—34  und 

verdienen  als  die  des  Herodot.  sucht  C.  Lak-  '   in  Plutarchs  Leben  des  Ailaxerxes.  worüber 

ZANi  a.  a.  0.   zu  beweisen.     Über  sein  Ver-  C.  Wachsmutii  Einl.  367  f.  —  Spir.  Lambros, 

hältnis   zu  Herodot   im   ganzen  xV.  v.  Mess,  'latontxa  itF/.FTtjuaTa,  Atli.  1883  p.  61 — 68  teilt 

Rh.  Mus.  61  (1906)  396  ff.  drei  neue  Bruchstücke  der  Indika  des  Ktesias 

*)  Vielfach  geben  dem  Herodot  dicMonu-  mit.  J.  Marquart  a.  a.  0.  542  eines  aus  den 

mente  recht  ;s.M.Hauo.  Die  Quellen  Plutarchs.  I   nfoinkoi.  —  P.  Krumbholz.  Zu  den  Assyriaka 

Tübingen  1854, 88  f.  Scharfer  Tadel  des  Ktesias  :   des  Ktesias,  Rh.  Mus.  50  (1895)  205—40;  52 

schon  bei  den  Alten,  wie  Plut.  vit.  Artax.  6.  (1897)  237—285. 


2.  Die  Geschichtsschreibimg.    e)  Kleinere  QeBchichtswerke,    (§  278.)       495 

von  Wissenschaftlichkeit  berührt  war,  desto  angenehmer,  rührender,  an- 
schaulicher, spannender^)  wußte  er  zu  erzählen  und  war  bis  in  die  Kaiser- 
zeit gern  gelesen,  auch  nachdem  Pamphila  ihre  Epitome  verfaßt  hatte. 
Platon,^)  Xenophon,*)  Ephoros*)  haben  ihn  schon  benützt.  —  Apokryph 
sind  Schriften  jieqI  öqojv  und  tzsqI  Tiorajuöjv^  die  dem  Ktesias  von  Schwind- 
lern wie  Ps.Plut.  de  fluv.  zugeschrieben  werden. 

Etwa  gleichzeitig  scheint  Agathokles  von  Kyzikos  eine  Schrift  :rrf^2 
KvCixov,  ebenfalls  in  ionischem  Dialekt  (FHG  IV  288  flf.),  geschrieben  zu 
haben.^) 

278.  Aineias  der  Taktiker  lebte  zu  gleicher  Zeit  mit  Xenophon  und 
berührte  sich  mit  ihm  durch  die  gleiche  Vorliebe  für  die  praktische 
Beschäftigung  eines  Kriegsmannes.  Er  ist  vielleicht,  wie  bereits  J. 
Casaubonus  vermutete,  identisch  mit  dem  von  Xenophon  Hell.  VE  3,  1 
erwähnten  Stymphalier  Aineias.  ö)  Die  erhaltene  Schrift  Taxnxov  vjt6juv7]jua 
Tiegi  Tov  ncbg  ygij  noXioQxovfxivovg  aviixeiv  ist  nur  ein  Abschnitt  eines 
größeren,  von  Polybios  X  44  unter  dem  Titel  Ta  jiegl  rcov  oroairjyrjjuanxcöv 
vTzofivyifiaxa  aufgeführten  Werkes.  Das  Erhaltene  bricht  ab  mit  der  Ein- 
leitung zu  einem  Abschnitt  über  den  Seekrieg.  Die  Regeln  der  Taktik, 
die  eine  noch  sehr  niedere  Stufe  des  erst  unter  den  Diadochen  ausgebil- 
deten Geniewesens  erkennen  lassen,  werden  durch  zahlreiche  Beispiele  er- 
läutert, und  eben  diese  geben  dem  Buch  den  Hauptwert.  Nach  ihnen 
läßt  sich  auch  die  Abfassungszeit  dahin  bestimmen,  daß  es  in  den  nächsten 
Jahren  nach  360  entstanden  ist.'')  Der  Stil  ist  hart  und  dunkel,  Fehler, 
die  indessen  teilweise  der  schlechten  Überlieferung  des  Textes  zur  Last 
fallen.  Später  machte  Kineas,  der  Feldherr  des  Königs  Pyrrhos,  von 
dem  Werk  einen  Auszug,  dessen  Arrian.  tact.  I  2  Erwähnung  tut.  Daß 
nun  wirklich  dieser  Aineias,  den  Aelian  1.  1.  den  frühesten  Schriftsteller 
über  Taktik  und  Verfasser  einer  größeren  Anzahl  von  oTQaTjjyixd  ßvßUa 
nennt,  diese  Schrift  geschrieben  habe,  bleibt  wahrscheinlich,®)  wiewohl  die 
Handschrift  den  Aineias  nur  in  der  Unterschrift,  in  der  Überschrift  da- 
gegen den  Aelianus  als  Verfasser  bezeichnet  (letzteres  ist  nicht  möglich). 
Jedenfalls  steht  der  Verfasser  mit  dieser  Schrift  und  seiner  ganzen  Denk- 
und  Lehrart  in  den  Bahnen  der  Sophistik:  er  hat  Vorlesungen  (äxovojLtara 
38,  5)  gehalten  und  veröffentlicht  und  eine  Anzahl  weiterer  Lehrschriften, 
die    er   zitiert   (eine  jzaQaoxevaonxi^,  jiogiozixij,  orgaTOTiedevTixfj  ßvßkog),  ge- 

^)  Demetr.  ct.  eg/i.  §212.  216  f.;  Apsin.  De  Aeneac  commeutario  poliorcetico,   Berlin 

rhet.  p.  400,  26  Sp.  1879  und  Animadv.  crit.  de  Aen.  comm.  poli- 

'^)  A.  V.  GuTscHMiD,  Kl.  Sehr.  III  494;  E.  orc.,CasselProgr.l883;K.ScHBNKL.Jahresber. 

Meyer,  Gesch.  des  Altert.  III  8.     Über  spft-  I   üb.  d.  Fortschr.  d.  kl.  Alt.wi8s.38(1884)261ff. 

tere   Benutzer  P.  Krümbholz,   Rh.  Mus.  52  ^)    A.  Huo,    Aeneas    von    Stvmphalos, 

(1897)  237  ff.  Zürich  1877.  nimmt  d.  J.  359—8,  Ä.  v.  Güt- 


»)  Siehe  0.  S.  475.  488.    E.  Mbybr  a.  a. 
0.8  f. 

*}  Über  die  Art,   wie  ihn   Ephoros  zur 


scHMiD,  Kl.  Sehr.  IV  218—221  d.  J.  357—5 
an,  H.  Sauppe,  Ausgew.  Schrift.,  Berl.  1896 
631:  nicht  vor  360  und  bald   nach  346. 


Ausfüllung   oder   Abänderung   herodotischer  Das  jüngste  geschichtliche  Beispiel,  das  der 

oder  xenophontischer  Berichte  über  die  Perser-  ;  Verf.  anführt  (24,3),  ist  die  Belagerung  von 

geschichte  (Perserkrieg  und  Kyrosexpedition)  i  Hion  durch  Charidemos  a.  360. 

benützt,  s.  A.v.Mess,  Rh.Mus.61  (1906) 360ff.  !           ^)  Über   Wahrscheinlichkeit  geht   auch 

^)  E.  ScinvARTz  in  derRealenz.  Ip.758,68  ff.  !  T.  Hudson  Williams.  Americ.  journ.  of  philol . 

®)  Über  diese  Kontroverse  A.  C.  Lakge,  26  (1904)  390  ff.  nicht  hinaus. 


496  Griechische  Litteraturgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

schrieben.    Für  seine  geschichtlichen  Beispiele  hat  er  teils  den  Thukydides 

(tact.  2,  3  aus  Thuc.  II  2  flf.),  teils  den  Ephoros^)  benützt. 

Die  Überlieferung  beruht  auf  Cod.  Laurent.  55,  4.  Ausgabe  mit  Polybios  von  J.  Ca- 
SAUBONUS,  Paris  1609;  neuere  kiitische  Bearbeitung  von  R.  Hebcheb,  Berlin  1870;  von 
A.  Huo,  Lips.  1874. 

279.  Philistos  aus  Syrakus,^)  der  bedeutendste  sizilische  Historiker^ 
war  schon  herangewachsen,  als  der  spartanische  Feldherr  Gylippos  die 
Verteidigung  von  Syrakus  gegen  die  Athener  leitete,^)  kann  also  nicht 
nach  430  geboren  sein;  später  spielte  er  als  Parteigänger  und  Feldherr 
der  beiden  Dionysii  eine  hervorragende  Rolle  in  seiner  Heimat.  Mit  seinem 
großen  Vermögen  half  er  406  dem  älteren  Dionysios,  mit  dessen  Nichte 
er  verheiratet  war,  zu  seiner  Usurpation  (Diod.  XIII  91),  wurde  aber  nebst 
seinem  Schwiegervater  Leptines  386  von  dem  Tyrannen  verbannt  und  be- 
gab sich  zuerst  nach  Thurioi,  dann  in  die  junge  Kolonie  Hatria  (Plut. 
Dio  11),  wo  er  sein  Geschichtswerk  zu  schreiben  begann.  So  sehr  er  in 
diesem  dem  Dionysios  I.  schmeichelte,  gelang  es  ihm  doch  nicht  seine 
Rückberufung  zu  erwirken  (Pausan.  I  13,  9);  erst  >< Dionysios  H.  rief  ihn 
366  zurück,  und  an  ihn  schloß  er  sich  nun  aufs  engste  an.  Als  dessen 
Feldherr  kam  er  in  einer  Seeschlacht  gegen  die  Anhänger  des  Dion  356 
um,  sei  es  daß  er  sich  nach  seiner  Niederlage  zur  See  selbst  entleibte, 
wie  Ephoros  (fr.  152  M.)  und  Diodoros  XVI  16,  3  erzählen,  sei  es  daß  er 
gefangen  genommen  und  von  den  wütenden  Gegnern  unter  schmählichen 
Insulten  ums  Leben  gebracht  wurde,  wie  Timonides  als  Augenzeuge  bei 
Plutarchos  (Dio  35)  berichtet.  Sein  Geschichtswerk  zerfiel  (Dionys.  Hai. 
ad  Pomp.  5;  Diod.  XHI  103;  Cic.  ad  Quint.  fr.  II  11,  4)  in  zwei  Abteilungen 
(ovvrd^eig).  Die  erste  in  sieben  Büchern  behandelte  die  ältere  Geschichte 
Siziliens  bis  zur  Thronbesteigung  des  ersten  Dionysios  (406);  im  zweiten 
Teil  gab  er  zunächst  in  vier  Büchern  eine  Geschichte  des  älteren  Dionysios; 
dieser  ließ  er  dann  später  noch  die  Geschichte  des  jüngeren  Dionysios 
von  367 — 363  in  zwei  Büchern  nachfolgen.*)  Cicero^)  nennt  den  Philistos 
paene  pusillutn  Thucijdidem;^)  mit  seinem  großen  Vorbild  teilte  er  die  ge- 
drungene, Digressionen  vermeidende  7)  Darstellung,  die  aus  eigener  Erfah- 
rung entsprungene  Sachkenntnis  und  die  Belebung  der  Erzählung  durch 
eingelegte  Reden;  aber  er  stand  ihm  weit  nach  an  mannhaftem  Freiheits- 


M  Dies  macht  A.  V.  GuTSCHMiD,  Kl.  Sehr.  I  Büchern  bestehen,  indem  er  die  spätere  Fort- 

V  193  If.  214  ff.  wahrscheinlich.     Die    Be-  ,   Setzung  nicht  berücksichtigt, 

nützung   müßte   aber    stattgefunden    haben,  *)  Cic.  ad  Quint.  fr.  II  11,  4;  vgl.  Brut, 

als    erst   ein  Teil   von  Ephoros'  Werk   ver-  66;  de  or.  II  57;  Quint.  X  1,  74  gesteht  ihm 

öffentlicht  war.  vor  Thukydides   den  Vorzug  der   Leichtver- 

*)  Zwei  konfuse  Artikel  des  Suidas;  G.  i   ständlichkeit  zu. 
W.  Körber,    De   Philisto    rerum   Siculaiiim  ®)    Ähnlich    Dionys.    de    imitat.    B    III 
scriptore,  Bresl.  1874;  F.  Rühl,  Jahrbb.  f.  cl.  |   p.  208,  14  ff.  Us.     In   der   Kunst,   ohne  Auf- 
Phil. 133  (1886)  128  f.;  C.  Müller,    FHG  I  |   wand  ungewöhnlicher  Wörter  mit  der  Dar- 
p.  XLV  ff. :  IV  625.  i   Stellung   den  Eindruck   der   Erhabenlieit   zu 

^)  Flut.  Nie.  19.   Philistos  selbst  gehörte  machen,    vergleicht   ihn   Ps.Longin.    .t.    rt/«. 


zu  den  Jungen,  von  deren  Keckheit  Plutarch 
Nie.  24  und  Diodor.  XIII  14  nach  Philistos  er- 
zählen (G.  BusoLT,  Plutarchs  Nikias  u.  Phi- 
listos, Herrn.  34,  1899,  288). 

*)  Diodor.  XIII 103  u.  XV  89;  Dionys.  ep. 
ad  Pomp.  5.     Suidas  läßt  das  Werk  aus  elf 


40,  2  mit  Aristophanes  und  Euripides. 

')  Dionys.  ad  Pomp.  5;  aber  Theo  prog. 
p.  68  ff.  Sp.  imd  Flut.  Pelopid.  34  bezeugen, 
daß  er  sich  bei  aller  gesuchten  Knappheit 
doch  die  Einlage  glänzender  Ekphrascn  nicht 
versagen  konnte. 


2.  Die  Qeschichtsschreibnng.    e)  Kleinere  Qeschichtswerke.    (§§  279—280.)     497 

sinn;  Dionysios  von  Halikarnassos  (ad  Pomp.  5)  wirft  ihm  Schmeichelei 
gegen  die  Tyrannen  vor.  Die  Notiz  bei  Suidas  (s.  0diaxog  f.  und  s.  <PlhoTog)y 
daß  er  im  Stil  und  in  der  rhetorischen  Technik  Schüler  des  Elegikers  Buenos 
aus  Faros  gewesen  sei,  hat  schon  C.  Müller  (FH6  I  p.  XL  VI)  als  unglaub- 
würdig erkannt.  Nach  Dionysios  hätte  er  als  Schriftsteller  von  seinem 
Vorbild  Thukydides  nur  dessen  ästhetisch  tadelnswerte  Eigenschaften  über- 
nommen. Beurteilen  können  wir  das  nicht  mehr,  da  er  durch  Timaios  und 
Diodoros  völlig  aufgesogen  worden  ist,  so  daß  uns  nur  noch  unbedeutende 
Fragmente  meist  geographischen  Inhalts  vorliegen.  Die  Geschichte  der 
sizilischen  Expedition  soll  er^)  großenteils  wörtlich  aus  Thukydides  ge- 
nommen haben.  Einige  Sizilien  betreffende  Notizen  aus  der  Zeit  des  pelo- 
ponnesischen  Krieges,  die  sich  bei  Thukydides  nicht  finden,  haben  Ephoros 
oder  Diodoros  vielleicht  aus  ihm  gezogen ;  auch  Plutarchos  im  Nikias  schöpft 
aus  ihm.  Als  Quellen  benutzte  er  für  die  ältere  Zeit  auch  karthagische 
Nachrichten.«)     Die  Fragmente   bei   C.  Müller  FHG  I  185— 192;  IV  369  f. 

Eine  Fortsetzung  des  Philistos  lieferte  Athanas  (v.  1.  Athanis,  ob 
\i^dyrjg?%  der  die  Geschichte  des  jüngeren  Dionysios  zu  Ende  führte  und 
daran  die  des  Dion  und  Timoleon  (362 — 337)  reihte.  Der  Titel  ist  bei 
Diodoros  XV  94,  4  rcbv  negi  AUova  Jigd^eoyv  ßvßloi  iy\  bei  Athenaios  98  d 
ZiviEhyta.  Die  Fragmente  bei  C.  Müller  FHG  II  81  flf.  Plutarchos  im  Leben 
des  Timoleon  hat  ihn  vielleicht  neben  Timaios  benützt.  Sonst  schrieben 
im  4.  Jahrhundert  noch  über  sizilische  Geschichte  Hermeias  von  Mytilene 
(FHG  II  80  f.)  und  Timonides  von  Leukas  (FHG  H  83  f.). 

280.  Die  großen  attischen  Historiker  der  älteren  Zeit  fühlten  sich 
durch  praktische  Tätigkeit  im  Staats-  und  Kriegsdienst  zur  Geschichts- 
schreibung angeregt  und  berechtigt,  ja  verpflichtet.  Ihre  Werke  haben 
eine  innere  Notwendigkeit.  Das  wird  anders,  seit  die  Rhetorik  zu  Beginn 
des  4.  Jahrhunderts  im  Wettkampf  mit  der  Philosophie  den  Anspruch  er- 
hebt, nicht  mehr  bloß  zu  praktischer  Routine  im  Reden  vor  Volk  und 
Gericht  anzuleiten,  sondern  eine  für  jeden  Sonderberuf  höherer  Art  un- 
erläßliche allgemeine  Bildung  des  Geistes  und  Charakters  zu  geben.  Iso- 
krates,3)  der  diese  Auffassung  zuerst  vertritt,  hat  auch  ein  neues  Programm 
für  die  Geschichtsschreibung  aufgestellt  und  in  seinem  Panegyrikos  und 
Euagoras  vorläufig  verwirklicht.  Mit  Bewußtsein  macht  er  den  Dichtern, 
die  bisher  die  Lehrer  der  griechischen  Nation  gewesen  waren,  den  Rang 
streitig.  Nicht  bloß  daß  die  neue  Kunstprosa  formell  der  alten  poetischen 
Darstellung  ebenbürtig  werden  soll,  sie  soll  die  Poesie  überbieten  durch 
Wahl  dankbarerer  Gegenstände:  statt  der  halbdunklen  Gestalten  des  Mythos 
sollen  die  verdienten  Männer  der  Gegenwart  durch  die  Kunst  ins  Licht 
gestellt  werden  zu  Nutz  und  Frommen  der  Nachwelt,  die  sich  an  ihnen 
erbauen  möge.  Da  es  dem  Rhetor  besonders  um  das  ethisch  Vorbildliche 
zu  tun  ist,  tritt  in  der  Geschichtsdarstellung,  die  er  inauguriert,  die  Per- 
sönlichkeit in  den  Vordergrund,  in  vollem  Gegensatz  zu  der  Ai't  des  Thuky- 

»)  Theo  prog.  p.  63,  25  Sp.  ^)  R.  v.  Soala.  Über  Isokr.  und  die  Ge- 

2)  0.  Mkltzer.  Geschichte  der  Karthager  1  Schichtschreibung,  Verhandl.  der  Münchener 

I  (Berl.  1879)  125,  134;  A.  v.  Gutschmid,  Kl.   !  Philologenvers.  1891,  102  ff. 

Sehr.  II  89  ff. 

Handbuch  der  klass.  Altertomswissenscbaft    YU.  5.  Aufl.                                                     32 


498  Ghiechisohe  Litteratnrgeflushichte.    I.  Elasaische  Periode. 

dides;  sie  wird  nach  Verdienst  gelobt  oder  getadelt.  Die  Geschichtsschrei- 
bung ist  auf  dem  Weg,  sich  in  lyxm^uov  und  xpoyog^  die  beiden  Teile  des 
Xoyog  ijiideixTixog,  aufzulösen.  Es  ist  durchaus  glaubhaft,  daß  Isokrates 
systematisch  die  Eroberung  des  überaus  dankbaren  Gebietes  der  Historio- 
graphie durch  die  Rhetorik  betrieben  und  den  Geschichtsstoflf  zur  Be- 
arbeitung in  seinem  Sinn  geradezu  an  begabte  Schüler  verteilt  habe. 
Gegeben  waren  durch  ihn  auch  die  Grundzüge  des  Sinns,  in  dem  man 
Geschichte  schreiben  sollte:  ein  für  die  kunstmäßige  Darstellung  und 
ethische  Wirkung  geeigneter  Stoff  soll  beherrscht  sein  vom  Glauben  an 
die  Superiorität  der  auf  attischer  Grundlage  ruhenden  griechischen  Kultur 
und  an  die  Notwendigkeit  des  Zusammenstehens  der  in  dieser  Kultur  Ver- 
einigten gegen  die  Barbarenwelt  unter  einer  einheitlichen  Leitung.  Im  ein- 
zelnen hat  der  Historiker  das  Recht,  die  Überlieferung  nach  ethischen  und 
ästhetischen  Rücksichten  zu  modifizieren.  Die  Grundsätze,  die  in  dieser  Be- 
ziehung Dionysios  von  Halikarnassos  in  seinem  Urteil  über  Thukydides  aus- 
spricht, sind  ganz  aus  dem  Geist  des  Isokrates.  Die  Isokrateer  machten  von 
Anfang  an  eifrig  Propaganda^  für  ihre  Richtung,  und  diese  hat  sich,  zum 
großen  Schaden  der  Geschichtswissenschaft,  tatsächlich  im  allgemeinen  durch- 
gesetzt, zumal  seit  Aufrichtung  des  atticistischen  Ideals.  Cicero  kennt  zwar') 
den  Gegensatz  zwischen  iyxco/buaorixöv  und  ImoQixov  wohl,  aber  die  isokra- 
tische  Geschichtsschreibung  gilt  ihm  doch  als  die  wahre.*)  Den  Sieg  der 
isokratischen  Richtung  haben  die  beiden  Schüler  des  Rhetors,  Ephoros  und 
Theopompos,  entschieden.  Isokrates  hatte  dem  langsameren  Ephoros  die 
Aufgabe  zugewiesen,  die  Geschichte  der  Vergangenheit,  dem  temperament- 
volleren Theopompos  die  andere,  die  Geschichte  der  Gegenwart  im  Anschluß 
an  Thukydides  zu  schreiben.*) 

281.  Ephoros  ist  zwischen  408  und  405  geboren^)  in  Kyme^)  im 
äolischen  Kleinasien,  Sohn  des  Demophilos;  er  hat  die  Schule  des  Isokrates 
zweimal  durchgemacht.^)  In  der  eigentlichen  Redekunst  soll  er  es  nicht 
weit  gebracht  haben;  doch  verfaßte  er  eine  Schrift  jieol  ieSecog,  die  Cicero 

*)  In  der  Schilderung   von   dem  Weit-  ad  historiam  contulerunt;  dicehat  Isoerates 

lauf  der   isokratischen  Historikerschule   um  j   se   calcarihus  in   Ephoro,  contra  autem  in 

die    Stellung    des    Hofhistoriographen    am  |    Theopompo  frenis  tUi  solere.    Suidas  unter 

makedonischen  Hof  in  den  Sokratikerbriefen  "Etpogog:    ^looxodxrig    xov    fth    etptj    x^^*^^ 


nr.  30  ff.  (p.  629  ff.  Hkrcher)  darf  man  gewiß 
einen  Nachhall  geschichtlicher  Vorgänge  fin- 
den. Hat  ja  doch  Isokrates  selbst  seine 
Korrespondenz  mit  Fürsten  nachdrücklich 
betrieben. 

»)  Cic.  ad  Att.  H  19,  10. 

')  Cic.  or.  207.    Man  darf  übrigens  nicht 


deio{^ai,  ror  Öe  ^Eqooov  xerroor. 

*)  Dieses  Datum  darf  wohl  aus  den  ver- 
worrenen Angaben  des  Suidas  s.  ^Erpogos  u, 
Bedjiofuiog  entnommen  werden.  F.  Blaß 
setzt,  von  der  Annahme  ausgehend,  Eph.  u. 
Theopompos  seien  etwa  gleichalterige  Mit- 
schüler bei  Isokrates  gewesen,  das  Geburts- 


meinen,    daß    das   Altertum   sich   über   die  jähr  des  Ephoros  380;   aber  Ephoros  ist  ja 

Glaubwürdigkeit  der  rhetorischen  Historiker  |   zweimal,  vermutlich  in  größerem  Zeitabstand 

Illusionen  gemacht  habe:   diese  Eigenschaft  Isokratesschüler.   und  vielleicht   das   zweite 

vom   Rhetor   zu   erwarten,    fiel    niemandem  i   Mal  mit  Th.  zusammen,  gewesen. 


ein,  wie  man  z.  B.  aus  Dionys.  Hai.  de  Thuc. 
und  Cic.  Brut.  42.  62  sieht. 

^)  Phot.  bibl.  cod.  176  p.  121a27.Ps.Plut. 
Vit.  X  or.  839  a.  Cicero  de  or.  II  57  und 
III  36 :  ex  clarissima  rhetoria  Isocratis  offi- 


«)  Artikel  bei  Suidas.  M.  Marx,  Ephori 
Cumaei  fragm.,  Karlsruhe  1815;  J.  A.  Klüg- 
MAKN,  De  Ephoro  historico  graeco,  Gott. 
1860;  C.  Waohsmüth,  Einl.  498ff.;  M.  Bü- 
DiNGER,  Die  Universalhistorie  im  Altertum  32  ff. 


cina  duo  2)rae8tante8   ingenio,    Theopompus   j  ')  Deshalb  scherzweise  Aicponoi  genannt 

et  Ephorus,  ab  hocrate  magistro  impulsi  ae  \   von  Ps.Plut.  vit.  X  erat.  p.  839  a. 


2.  Die  QeBchichtssohreibimg.    e)  Kleinere  Geschichtswerke.    (§  281.)        499 

(or.  57  ff.,  danach  Quintil.  inst.  IX  4,  87)  und  Theon  (Rhet.  gr.  II  71  Sp.) 
anführen;  es  war  in  ihr  vom  Rhythmus  der  Kunstprosa  gehandelt.  Sein 
historisches  Hauptwerk  in  dreißig  Büchern  war  die  erste  kunstmäßig  durch- 
geführte Universalgeschichte  der  Griechen  (lörogla  xotvwv  Tigd^eoDv);^)  sie 
begann  mit  der  Rückkehr  der  Herakliden  als  dem  ersten  beglaubigten  Er- 
eignis^)  und  ging  herab  bis  auf  die  Belagerung  von  Perintbos  (340).  Daß 
gerade  hiemit  das  Werk  schloß,  daran  scheint  der  Tod  des  Verfassers  schuld 
gewesen  zu  sein.  Denn  jenes  Ereignis  bezeichnet  keinen  Einschnitt  in  der 
Geschichte,  und  Ephoros  selbst  hatte  die  ganze  Regierung  des  Philippos 
und  auch  noch  den  Zug  des  Alexandres  gegen  das  Perserreich  miterlebt. 
Auch  besorgte  sein  Sohn  Demophilos  die  Herausgabe  des  Gesamtwerks, 
indem  er  zugleich  im  letzten  Buch  die  Erzählung  des  heiligen  Krieges  zu 
Ende  führte.*)  Die  Darstellung  wurde,  je  mehr  sie  sich  der  Gegenwart 
näherte,  desto  ausführlicher:  mit  Buch  X  war  Ephoros  beim  ersten  Perser- 
krieg, mit  XX  bei  der  Auflösung  von  Mantineia  a.  384,  mit  XXV  bei  der 
Schlacht  von  Mantineia  362.  Einzelne  Abschnitte  scheinen  schon  vor  360 
gesondert  herausgegeben  gewesen  zu  sein.*)  Das  vielgerühmte^)  Werk 
stellt  sich  nach  Inhalt  und  Form  zu  Thukydides  in  Gegensatz  und  bedeutet 
ein  Zurückgreifen  auf  Herodots  Art,  insofern  Ephoros  nicht  Zeit-  und 
Spezialgeschichte,  sondern  Vergangenheits-  und  Universalgeschichte,  und 
zwar  nicht  in  annalistischer,  sondern  in  gruppierender ß)  Darstellung  geben 
will.  Über  die  Forderung  vollständiger  Genauigkeit  der  Berichterstattung 
setzt  er  sich  (fr.  2  M.)  offenbar  mit  Thukydides  auseinander  und  lehnt  sie 
für  sein  Gebiet  ab,  wiewohl  er  sonst  den  Unterschied  zwischen  Geschichte 
und  Epideixis  betont,'')  die  Wichtigkeit  wahrheitsgemäßer  Darstellung 
hervorhebt,^)  dem  Hellanikos  Irrtümer  nachweist,^)  das  Mythische  verwirft,*®) 
beziehungsweise  rationalistisch  umformt.**)  Dem  Herodot  nähert  er  sich 
durch  Einschaltung  von  Exkursen i*)  und  eine  respektvolle  Beurteilung  der 
barbarischen  Kulturen.* 5)  Den  rhetorischen  Stubenhistoriker  verriet  sein 
Sentenzenreichtum**)  und  die  Einlegung  unpassender  Reden  besonders  vor 
Schlachten,  worüber  das  Witzwort  gesagt  wurde  ovdelg  oidrjQov  xavia  fM}- 
Qaivei  jrfAa?,*ö)  ebenso  die  topographischen  Unmöglichkeiten  in  seinen 
Schlachtschilderungen*  ö)   und   die  Mangelhaftigkeit   seiner   geographischen 


hatte  sein  eigenes  Proömium  (Diod.  XVI  76, 5), 
konnte  also  gesondert  herausgegeben  werden. 
-)  Polyb.  XII  28,  11. 


*)    Polyb.  V  33,  2:  "Expooov    xov   nowrov 
xal  fioror  ijTißeßXrj^ih'ov  rä  xa^oXov   yQd(feiv, 

'^)  Diod.  IV  1 ;    durch   diese  Abgrenzung 
unterscheidet  sich  Eph.  vorteilhaft  von  ZolÜos  *)  fr.  1.  3  M 

und  Anaximenes,   die  ihre  Geschichtswerke  *)  los.  contr.  Ap.  I  3. 

mit  der  Theogonie    anfingen.    Die   dorische  '^)  Siehe  o.  A.  2. 

Wanderung  setzte  Eph.  735  Jahre  vor  Ale-  **)  Siehe  bes.  Strab.  p.  422  von  dem  del- 

xandros'  Übergang  nach  Asien,  also  1069  v.       phischen  Drachen,  der  bei  Eph.  ein  x^^^^ 

Chr.   Seine  Verwahrung  gegen  das  Mythische  »   ovtjq  Ilv&oiv   Tovvo/4a,   i:iixXrjotv   öe  ÄQaxtov 

(Strab.  p.  422)   und   überhaupt  ein  koketter  i   wird. 

Gegensatz   gegen   die  Musenkunst  (fr.  1  M.)  |  ")  Polyb.  XII  28,  10. 

ist  im  Sinn  des  Isokrates.  ")  Diod.  I  9. 

8)  Diodor  XVI  14,  3;  vgl.  Ath.  232  d.  |  »*)  Polyb.  XII  28,  10. 

*)  A.  V.  GüTscHMiD.   Kl.  Sehr.  V  214  f.  '  ")  Plut.  praec.  reip.  ger.  803b,   der  mit 

*)  Polyb.  VI  45,  XII  28;  loseph.  c.  Ap.       demselben  Wort  auch  den  Theopompos  und 
I  67  (E.  unter   den  dxotßsazaroi  avyygaq^eig),       Anaximenes  trifft. 

«)  xard  yhog  Diod.  V  1.      Jedes   Buch  |  »«)  Polyb.  XH  25  f. 

32* 


500  Qriechische  LitteraturgeBchichte.    I.  Klassische  Periode. 

Kenntnisse,*)  die  er  in  großem  Umfang  anbrachte;*)  das  vierte  Buch  hatte 
von  seinem  geographischen  Inhalt  den  Titel  Evgwjirj;  Pseudoskymnos  (c.  90 
V.  Chr.)  bekennt,  seine  Darstellung  von  Hellas  dem  Ephoros  entlehnt  zu 
haben.  Hinsichtlich  der  innergriechischen  Politik  bekennt  er  sich  zu  dem 
Dualismus  seines  Lehrers')  sowie  zu  dessen  Abneigung  gegen  die  theba- 
nischen  Emporkömmlinge.*)  In  der  Sammlung  des  Stoflfes  war  Ephoros, 
da  der  weitaus  größte  Teil  seines  Werkes  jenseits  seiner  eigenen  Be- 
obachtungen und  Erinnerungen  lag,  auf  die  Benützung  älterer  Geschichts- 
werke angewiesen.  Er  benutzt  den  Xanthos  (fr.  102  M.)  und  Hellanikos,  den 
letzteren  mit  vielen  Einwendungen  (s.  o-  S.  499,  9);  aus  Herodot  nament- 
lich hat  er  ganze  Partien,  wie  man  aus  Diodoros  sehen  kann,  fast  wörtlich 
herübergenommen,  neben  Herodot  aber  für  die  persische  Geschichte  auch 
mehr  vereinzelt  den  Ktesias  benutzt^)  und  jenen  aus  diesem  korrigiert. 
Ähnlich  hält  er  sich  weiterhin  an  die  Werke  des  Thukydides  und  Xeno- 
phon,  indem  er  im  einzelnen  deren  Darstellungen  mit  rhetorischem  Putz 
verbrämt  und  durch  Kontamination  mit  anderweitigen  Berichten^)  modi- 
fiziert. Wo  seine  Vorlagen  voneinander  abweichen,  findet  er  mit  unerfreu- 
licher Handfertigkeit  eine  konziliatorische  Formel,  wie  am  besten  aus 
seinem  höchst  fatalen  Arrangement  der  verschiedenen  Traditionen  über 
Homers  Heimat  zu  ersehen  isf)  Für  die  Geschichte  des  Philippos  von 
Makedonien  hat  er  auch  die  attischen  Redner  ausgebeutet.®)  Sein  Stil  galt 
für  temperamentlos;^)  gleichwohl  ist  er  viel  gelesen  und  benützt  worden:^") 
an  sein  Werk  knüpften  die  Historiker  der  Diadochenzeit  an,  Diodoros  nahm 
es  sich  zum  Muster,  hat  es  vom  elften  bis  zum  Anfang  seines  sechzehnten 
Buches  fortlaufend  als  Hauptquelle  benützt  und  so  mit  zu  seiner  Verdrän- 
gung beigetragen,  nachdem  es  in  der  Aloxandrinerzeit  die  beherrschende 
Weltgeschichte  gewesen  war.  Auszüge  aus  dem  Hauptwerk  scheinen  die 
unter  Ephoros'  Namen  von  Suidas  aufgezählten  Bücher  Ilegi  Ayadayv  xal 
xaxcov  und  Flagado^aiv  to)v  ixaoTaxov  ßißkia  le  zu  sein.  Der  Geschichte 
seiner  Vaterstadt   Kyme,   die   er   auch    in    seiner  Weltgeschichte    in    oft 


^)  Sein  KailenbUd  ist  das  altionische: 
fl.  Beruer,  Gesch.  der  wissensch.  Erdk.* 
108  f. 

*)  Daher  schätzt  ihn  der  Geograph  Stra- 
bon  besonders  302.  332,  422.  JSehr  bezeich- 
nend fr.  108  M. 

^)  Seine  Darstellung  des  peloponnesischen 
Krieges,  dessen  Ursachen  er  auf  Grund  des 
athenischen  Stadtklatsches  (fr.  119  M.)  ganz 
anders  als  Thukydides  gibt,  ist  durchaus 
athenerfreundlich  (L.  Holzapfel,  Unters,  über 
die  Darstellung  griech.  Gesch.  von  489 — 413 


®)  So  nimmt  er  zu  Xenophons  Anabasis 
die  Persika  des  Ktesias  (s.  o.  S.  495.  4). 

^)  fr.  164  M.  Weitere  Exempel  in  dem 
lehrreichen  Aufsatz  von  A.  v.  Mess,  der  die 
Arbeitsweise  des  Eph.  treffend  beleuchtet, 
Rh.  Mus.  61  (1906)  382  f..  385. 

')  R.  Schubert,  Unters,  über  die  Quellen 
z.  Gesch.  Philipps  11.,  Königsberg  1904.  Über 
die  weitverzweigte  ältere  Ephoroslitteratur 
orientieren  die  Programme  Beiträge  zur  Epho- 
roskritik  von  C.  F.  H.  Buuchmann,  Breslau 
1890.  1893. 


v.  Chr.,  Leipz.  1879,  8  ff.);  er  lobt  aber  auch  |  »)  F.  Blass.  Att.  Bereds.  IP  434  ff.    Dio 

die  ypaiianische  Erziehung  (fr.  64).  Chrys.  or.  18,  10;  Suidas  u.  VtV/ooo^-    r//)'  di^ 

*)  fr.  67.  .  egjmp'etar  t/;»   iorooias   rjnioi  xui  rcot9oo>r  xai 

^)  A.  Bauer,   Die   Benutzung  Herodots  >  fitj^efuav  f'x^or  tnhaoiv. 

durch  Ephoros  bei  Diodor,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  ,  **)  Benützung  im  Marmor  Parium  für  die 

Suppl.  10  (1878—79)  279—342.    A.  v.  Mess,  '  universalhistorischen  Notizen   ei-weist  F.  Ja- 

Rh.  Mus.  61  (1906)  390  ff.     Lysimachos  von  |  coby.  Mann.  Par.  XIV  f.    Die  zahlreichen  Be- 

Aloxandreia  hatte  nach  Euscb.  praep.  ev.  X  rührungen  mit  Aristoteles'  J/o/urfTai  scheinen 

3,  23  .-leol  'Effooov  xÄojiifg  geschrieben.  |  sich  aus  Quellengemeinschaft  zu  erklären. 


2.  Die  Qeschichtsschreibang.    e)  Kleinere  Gescbiobtswerke.    (§  282.)        501 

komischer  Weise  berücksichtigt  hatte/)  widmete  er  noch  ein  besonderes 
Buch  ^Em/wQiog  (sc.  koyog).  Ob  auch  die  zwei  Bücher  Erfindungen  (ci'g^- 
fidxcov  ßißUa  (f)  aus  den  Historien  ausgezogen  waren  oder  ein  selbstän- 
diges Werk  für  sich  bildeten,  läßt  sich  schwer  entscheiden.  Die  Schrift 
betraf  die  von  der  Sophistik  formulierte,  von  den  Peripatetikem  weiter  ver- 
folgte Frage  nach  den  Anfängen  und  den  Urhebern  der  menschlichen 
Kultur;*)  Ephoros  nahm  hier,  indem  er  die  Ableitung  der  Erfindungen 
von  Göttern  und  Heroen  ablehnte,  grundsätzlich  eine  den  Peripatetikem 
entgegengesetzte  Stellung  ein  und  ist  später  von  Strabon  bekämpft  worden. 
Fragmente  bei  Müller  FH6  I  234—277;  IV  641  f. 

282.  Theopompos,*)  Sohn  des  Damasistratos  aus  Chios,  geboren 
376,^)  kam,  aus  seiner  Heimat  vertrieben,  mit  seinem  Vater,  der  Führer 
der  lakonischen  Partei  gewesen  war,  wahrscheinhch  vor  357  nach  Athen, 
von  wo  er  erst  im  fünfundvierzigsten  Lebensjahre  durch  Vermittlung  des 
Alexandres  nach  Chios  zurückkehren  durfte.  Nach  Alexandres'  Tod,  als 
die  makedonierfeindliche  Volkspartei  unter  Theokritos'*)  Führung  zur  Herr- 
schaft gelangt  war,  von  neuem  in  die  Fremde  gestoßen,  ist  er  viel  herum- 
gereist und  unter  anderem  auch  nach  Ägypten  zu  König  Ptolemaios  I.  ge- 
kommen, der  Lust  gehabt  hätte,  ihn  als  unruhigen  Kopf  aus  dem  Weg 
zu  räumen,  wenn  nicht  Freunde  sich  für  ihn  verwendet  hätten.  Wahr- 
scheinlich ist  er  in  der  Fremde  auch  gestorben.  In  jüngeren  Jahren  ver- 
folgte er  die  Richtung  seines  Lehrers  Isokrates  und  trat  in  verschiedenen 
Städten  als  epideiktischer  Redner  auf;  auch  gab  er  Reden  im  Umfang 
von  zwanzigtausend  Zeilen  (=  etwa  fünfhundertsechzig  Seiten  Teubner- 
schen  Druckes)  heraus.  Insbesondere  erhielt  er  mit  einem  Panegyrikos 
auf  den  König  Maussolos  von  Karien  351  den  Siegespreis.  0)  Rede- 
unterricht zu  geben  hatte  er  bei  seiner  günstigen  Vermögenslage  nicht 
nötig.  Von  seinen  beiden  großen  historischen  Werken  waren  das  erste 
die  Hellenika  in  zwölf  Büchern,  die,  an  Thukydides  anknüpfend,  die  Ge- 
schichte von  410 — 394  oder  bis  zur  Schlacht  von  Knidos  behandelten;  es 
folgten  die  Philippika  in  achtundfünfzig  Büchern,  welche  die  Regierung 
des  Königs  Philippos  von  Makedonien  zum  Mittelpunkt  hatten,  aber  in 
zahh-eichen  und  teilweise  bis  zum  Umfang  von  Büchern'^)  ausgedehnten 
Digressionen  die  ganze  Zeitgeschichte  und  vieles  andere  umfaßten.  So 
enthielten   sie   drei  Bücher  sizilischer  Geschichte   (Diod.  XVI  71,  3),   einen 


')  Strab.623:  Ch.A.Volquardsen, Unter- 
such, üb.  die  Quellen  der  griech.  u.  sizil.  Gesch. 
bei  Diodor,  Kiel  1868,  59  f. 

2)  E.  Wendung,  De  Peplo  Aristot.,  Straßb. 
1891.  p.  61  ff.;  F.  Jacoby,  Marm.  Par.  praef. 
XVI.  Letzter  Niederschlag  derartiger  Schriften 


richtigend  M.  H.  E.  Meier,  Opusc.  II  284  ff.; 
I.  Dellios,  Zur  Kritik  des  Geschichtsschreibers 
Theopompos,  Diss  Jena  1880;  R.  Hibzel, 
Rh.  Mus.  47  (1892)  359  ff.  Neue  Fragmente 
im  Demostheneskommentar  des  Didymos 
(Berliner  Klassikertexte  I  1904). 


sind  für  uns  die  Erfinderkataloge,  über  die  M.  *)  Das  Jahr  der  Geburt  folgt  daraus,  daß 

Kkemmer,  De  catalogis  heurematum,  Leipz.  er  bei  seiner  Rückkehr  nach  Chios  im  Jahr 

1890.  —  Die  Reste  von  Ephoros'  Schrift  bei  332   gerade  45  Jahre  alt   war,    worüber  E. 

P.  EicHHOLTZ,   De   scriptorib.  jt.  evgri^dxwv,  \   Roiiüe,  Kl.  Sehr.  I  345  f. 

Halle  1867,  31  ff.  *)  Tb.  denunziert  ihn   dem   Alexandros 

*)  Suidas  8.*'E(fogo^  u.  OsöjtofAjiog;  Phot.  fr.  276  M.;  s.  a.  Strab  645. 

cod.  176;   A.  J.  E.  Pplügk,   De   Theopompi  \           «)  Gellius  X  18,6. 

Chii   vita  et  scriptis,  Berlin  1827,   wozu  be-  \           ^)  Theo  progym.  81,  1  ff.  Sp. 


502  Griechische  Litteratorgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

Exkurs  über  die  Demagogen  Athens  (im  zehnten  Bueh),i)  einen  über  die 
aus  Delphoi  geraubten  Schätze;  an  Wundergeschichten  war  seine  Dar- 
stellung so  reich,  daß  man  sie  sich  besonders  exzerpierte;*)  am  berühmtesten 
war  die  Märchenerzählung  im  achten  Buch  der  ^duimxd  von  dem  Wunder- 
land Meropis.')  Die  Philippika  sind  erst  nach  324  herausgegeben  worden.*) 
Als  Photios  das  Werk  las  und  exzerpierte,  waren  die  Bücher  VI.  VII.  IX. 
XX.  XXX  verloren.  Die  Philippika  verdanken  ihre  Entstehung  der  schranken- 
losen Bewunderung  des  Schriftstellers  für  den  Vater  Alexandres'  d.  Gr. ;  er 
hielt  ihn  für  den  größten  Mann,  den  Europa  hervorgebracht  habe  (fr.  27), 
und  hat  auch  noch  (fr.  285)  ein  besonderes  iyxwfuoy  auf  ihn  geschrieben; 
wenn  er  gleichwohl  auch  seine  Schwächen  aufdeckte,  so  dürfte  er  das 
weniger  aus  Unbesonnenheit^)  als  aus  Skandalsucht  getan  haben.  Die 
Philippika  wurden  später  von  König  Philippos  V  unter  Weglassung  des 
Fremdartigen  in  einen  auf  die  eigentliche  Oeschicht'O  des  Philippos  be- 
schränkten Auszug  von  sechzehn  Büchern  gebracht.  Den  Titel  hat  sich 
der  lateinische  Universalhistoriker  Trogus  Pompeius  in  seinen  Historiae 
Philippicae,  von  denen  wir  die  Epitome  des  lustinus  besitzen,  angeeignet. 
Außerdem  verfaßte  Theopompos  eine  Epitome  des  Herodot  in  zwei  Büchern. 
Die  drei  Werke  scheinen  dann  später,  ähnlich  wie  die  Annalen  und  Historien  • 
des  Tacitus,  zu  einem  Gesamtwerk  von  zweiundsiebzig  Büchern  vereinigt 
worden  zu  sein.®)  Aus  Bosheit  wurde  dem  Theopompos  von  dem  Rhetor 
Anaximenes  die  Schmähschrift  TgixdQavog  unterschoben,  in  der  alles  Unheil 
Griechenlands  auf  die  Häupter  der  drei  Städte  Athen,  Sparta,  Theben  geladen 
war.'')  Uns  sind  nur  Fragmente  und  Auszüge  erhalten,  und  so  sind  wir  auch 
in  der  Charakterisierung  des  Theopompos  wesentlich  auf  die  Urteile  der 
Alten  angewiesen.  Dionysios,  der  mehr  auf  die  Form  sieht  (ad  Pomp.  6), 
rühmt  an  ihm  die  Ökonomie,  den  Sammelfleiß,  den  Stoffreichtum,  die 
moralistische  Reflexion,  die  reine  Diktion  und  die  leidenschaftliche,  an 
Demosthenes  anstreifende  Gehobenheit  der  Darstellung,  die  freilich  durch 
die  Monotonie  des  unablässigen  Periodisierens*)  beeinträchtigt  werde,  be- 
sonders aber  das  Eindringen  in  die  geheimen  Motive  der  Handelnden.^) 
Der  mehr  sachlich  urteilende  Polybios  dagegen  findet  an  ihm  viel  zu  tadeln. 


»)  .iFol  Ttor  *A(h)%^oi   Si]fiayo)Y(ov   Schol.  Paus.  VI  18,  5;   Aristid.  or.  14  p.  342  Dikd. 

Luc.   Tim.  c.  29,   d.  h.   über  Tkemistokles,  Gegen   den  Tg.  schrieb   der  Isokrateer  Phi- 

Kimon,  Perikles  u.  s.  f.,  vielleicht  eine  Aus-  liskos  (Suid.  s.  ^ätmog).    Nach  dem  griechi- 

einandersetzung  mit   Piatons  Ansichten   im  sehen  Vorbild  dichtete  der  Römer  M.  Terentius 

Gorgias.  Varro  (fr.  556  Bücheler^)  die  Satire  Tgixd- 

*)  Apollon.  hist.  mir.  10.    Siehe  a.  Strab.  1   Qaros  auf  Pompeius,   Cäsar  und  Crassus;  s. 

43;  Cic.  de  leg.  I  1,  5;  Dionys.  ad  Pomp.  6  |   A.  Riese,  Varr.  sat.  Men.,  Leipz.  1865  p.  232. 

p.  245,  13  Us.  über  solche  böswilligen  Unterschiebungen  s. 

')  Daß  dies  ein   tendenziöses   Märchen  Ch.  A.  Lobeck,  Aglaoph.  359  m. 

war,  beweist  gegen  R.  Hirzel  E.  Rohde.  Kl.  *)  Vgl.  Cic.  or.  207. 

Sehr.  II  19  ff. ;  s.  a.  dens.  Griech.  Rom.*  219  ff.  ®)  In   diesem   von   Dionysios  besonders 

*)  Theop.  fr.  108.  334  M.  hervorgehobenen  Stück  hat  Tacitus  von  Theo- 

*)  So  meint  Polyb.  VIII  11.  13,8;  s.  a.  pompös   gelernt,    aber   mit  dem,   was   er  an 

Dionys.  Hai.  ad  Pomp.  6,  8.  ,   feeiz  psychologischer  Beleuchtungseffekte  ge- 

«)  So  erklärt  sich  die  Angabe  des  Suidas  winnt.   den  Wahrheitsgehalt  seines  Werkes 

^t).i:imxa   fv  ßtßUoig   oß' ,    wie    C.  MüLLEB,  !   herabgesetzt,  und  dasselbe  wird  bei  Th.  der 

FHG  I  p.  LXIX  nachgewiesen  hat.  Fall  gewesen  sein. 

^)  los.  c.  Ap.  1  221;  Lucian.  Pseudol.  29;  ; 


2.  Die  Oeschichtsschreibimg.    e)  Kleinere  Qeschichtswerke.    (§  283.)         503 

namentlich  seine  mit  Schmähsucht  vermischte  Parteilichkeit  für  König 
Pbilippos  und  seinen  Hof  und  den  Mangel  an  militärischen  Kenntnissen 
in  seinen  Schlachtenberichten  ;i)  auch  er  konnte  sich  wie  Ephoros  nicht 
genug  tun  im  Einschalten  von  Reden,  besonders  vor  den  Schlachten  (s.  o. 
S.  499,  15)  und  wurde  darum  bespöttelt.*)  Stilistisch  ist  er,  wie  auch  die 
neugefundenen  Fragmente  bestätigen,  völlig  Schüler  des  Isokrates,  dessen 
wohlgeglätteter  Ausdruck  nur  nicht  immer  zu  der  Erregtheit  von  Theo- 
pompos'  Stimmung  paßt.^)  Mochte  übrigens  auch  Theopompos  den  Namen 
maledicenfissimus  scriptor^)  verdienen  und  in  seinen  Darstellungen  mehr 
den  gewandten  Rhetor  als  den  erfahrenen  Politiker  verraten,  so  war  er 
doch  einer  der  bedeutendsten  und  einflußreichsten  Historiker  Griechen- 
lands. Davon  zeugt  schon  der  Umstand,  daß  er  von  den  Späteren  eifrig 
gelesen  und  benutzt  wurde;  an  der  Art,  wie  der  Aristeasbrief  (§314)  ihn 
erwähnt,  wie  Cicero  ihn  schätzt^)  und  wie  Didymos  im  Demostheneskom- 
mentar  ihn  zitiert,  sieht  man,  daß  seine  Philippika  in  der  hellenistischen 
Zeit  als  klassisches  Buch  galten,  und  auch  im  1.  Jahrhundert  n.  Chr.  noch 
rangiert  er  als  Schriftsteller  neben  Herodotos  und  Thukydides.  Dagegen 
hat  die  Neusophistik  ihn  wenig  geschätzt,  und  so  sind  seine  Werke 
in  Vergessenheit  geraten,  ß)  Eine  Hauptquelle  war  er  namentlich  für 
Trogus  Pompeius,  die  Paradoxographen  und  den  Freund  der  chronique 
scandaleuse,  Athenaios,  durch  den  uns  auch  die  meisten  Fragmente  er- 
halten sind.')  Neben  den  Geschichtswerken  waren  auch  epideiktische 
Reden  und  Briefe  {Xiaxal  tnaxokai  zitiert  Dionys.  ad  Pomp.  6,  1,  10;  einen 
Brief  an  Philippos  Didym.  ad  Demosth.  col.  5,  21 ;  Weiteres  fr.  276—278  M.) 
von  ihm  herausgegeben;  endlich  eine  bösartige  Schmähschrift  xarä  r^g 
IIMroyyog  diaxQißfjg  (Ath.  508  c),  in  der  er  dem  Piaton  alle  Originalität  ab- 
stritt^) und  den  zu  Piatons  Lebzeiten  latent  gebliebenen  Gegensatz  zwischen 
diesem  und  der  isokratischen  Rhetorik  in  voller  Schärfe  zum  Ausdruck 
brachte. 

Theopompi  fragm.  coli.  R.  H.  E.  Wichbbs,  LB.  1829;  C.  Müller,  FHG  1278—333. 
IV  643—5 ;  Zuwachs  aus  Didymos'  Demostheneskommentar  (s.  dazu  W.  Cbönert,  Rh.  Mus. 
62,  1907,  382);  C.  Bünoer,  Theopompea,  Argent.  1874,  der  besonders  dem  Sprachgebrauch  des 
Theopompos  nachgeht. 

283.  Der  dritte  bedeutende  Historiker  mit  rhetorischer  Richtung 
(s.  0.  S.  499,  15)  aus  dieser  Zeit  ist  Anaximenes  von  Lampsakos,^)  Schüler 

')  Polyb.  Vlll  11—13.  XII  25  f,  6.     Er-  1   Studemundi,  Straßb.  1889,  145  fif.  und  Diodor 

dichtungen  (/^rt^oi's)  macht  ihm  zum  Vorwurf  und  Theopompos,  Progr.  Durlach  1891. 

Clemens  Alex,  ström.  I  1  p.  316  P.  i           ^)  fr.  279  M.  Arr.  Diss.  Epict.  II  17,  5  fif. 

2)  Proben   Didym.   ad   Demosth.  X  col.  \   fehlt  bei  Müller.    Die  Art  der  Kritik  erinnert 

8,  64  ff.:  14,  57  ff.  j   an  Aristot.  metaph.  I  6.  In  diesen  Zusammen- 

')    Über  seinen  Stil   F.  Blass,  Att.  Be-  hang  gehört  auch  die  Nachricht  über  Theo- 

reds.  IP  419  ff.  pompös'  Schimpfen  gegen  Piaton  am  makedo- 

^)  Com.  Nepos,  Alcib.  11.    Daß  er  trotz-  nischen  Hof  (epist.  Socratic.  30, 12  Hercheb). 
dem  selbst  sich  nicht  frei  von  litterarischem  Bezeichnend   ist  dem  gegenüber   seine  Ver- 
Diebstahl hielt,  weist  Porphyrios  bei  Eusebios  ehrung  für  Antisthenes  (Diog.  L.  VI  14). 
praep.  ev.  X  3,  3  nach.  •)  J.  Brzoska  in  der  Kealenz.  I  2086  ff.; 

'^)  R.  HiRZEL,  Rh.  Mus.  47  (1892)  369.  F.  Blass,  Att.  Bereds.  IP  378  ff.;  P.  Wbnd- 

®)  Hermog.  .t.  16.  p.  424.  10  ff.  Sp.  land,  Anaximenes  von  Lamps.,  Berlin  1905. 

^)  Seine  Benützung  durch   Diodoros  ist  Weitere   gewagte  Hypothesen    über   Anazi- 

überschätzt  von  W.  Stern,  Comm.  in  honor.  |   menes*  Verbindung  mit  Demochares   bei  W. 


504  Griechische  Litteratorgesohichte.    L  Elasflische  Periode. 

des  Zoilos  und  Diogenes,  e.  380 — 320,  später  Lehrer  und  Begleiter  Ale- 
xandres' des  Großen.  Schon  die  Titel  seiner  beiden  ersten  Werke  '£>Ui;- 
vixd  oder  :Tod)Trj  lotogia  (in  zwölf  Büchern  von  der  Weltschöpfung  bis  zur 
Schlacht  von  Mantineia,  Diod.  XV  189,  3)  und  0tlumixd  (mindestens  acht 
Bücher),  denen  er  später  auch  eine  Alexandergeschichte  {m  jieol  'AUSav^ 
dgov)^)  hinzufügte,  verraten  den  Konkurrenten  des  Theopompos.  Seine 
Leistungen  als  Historiker  sind  im  Altertum  nicht  gering  eingeschätzt 
worden,*)  waren  uns  aber  ganz  schattenhaft,  bis  P.  Wendland  auf  Orund 
einer  Notiz  im  Didymoskommentar  zu  Demosthenes  (col.  10  b.  11,  10)  nach- 
wies, daß  zwei  in  unser  Demosthenescorpus  eingeschlossene  Stücke,  der 
Brief  des  Philippos  und  die  Rede  gegen  diesen  Brief  (Demosth.  11.  12) 
aus  dem  siebenten  Buch  von  Anaximenes'  Philippika  entnonmien  sind  und 
daß  dieses  Buch,  da  in  der  Rede  gegen  den  Brief  die  demosthenische 
Kranzrede  verwendet  ist,  nach  330  ausgearbeitet  sein  muß.  Man  sieht 
jetzt,  welch  große  Rolle  die  Rhetorik  in  seinen  Geschichtswerken  gespielt 
hat,  wie  wir  denn  auch  sonst  wissen,  daß  er  großer  Improvisator  (Paus. 
VI  18,  3),  Verfasser  von  Gerichtsreden  und  nalyvia  (iyxwjinov  'Elevijs)  war. 
Ihm  gehört  auch  die  in  das  Corpus  Aristotelicum  verschlagene  und  schon 
von  Ath.  508  a  als  aristotelisch  zitierte  sogenannte  Rhetorik  an  Alexandros 
(der  Titel  hängt  zusammen  mit  dem  gefälschten  Widmungsbrief  an  den 
König,  in  dem  übrigens  Wendland  S.  29.  48  auch  einen  echten  Kern  finden 
will).  Daß  sie  kein  Werk  des  Aristoteles  sein  könne,  hat  zuerst  D.  Eras- 
mus  gesehen,  und  ihre  Zuweisung  an  Anaximenes  durch  P.  Victorius  und 
L.  Spengel  ist  von  Wendland  abschließend  begründet  worden.  Daß  sie  dem 
4.  Jahrhundert  angehört,  ist  zudem  durch  den  Hibeh-papyrus  I  (1906)  nr.  26, 
der  etwa  ein  Neuntel  der  Schrift  enthält  und  zwischen  285  und  250  v.  Chr. 
geschrieben  ist,  gesichert.  In  der  desultorischen  und  empiristischen  Dar- 
stellungsweise zeigt  sich,  daß  sie  einer  der  ersten  Versuche  ist,  auf  dem 
Grund  der  isokratischen  Lehren  und  Beispiele  dieses  Gebiet  zusammen- 
fassend zu  behandeln.  Von  den  drei  Gattungen  der  Rede,  die  er  bereits  kennt 
(L.  Spengels  Athetese  in  cap.  1  ist  falsch),  behandelt  der  Verfasser  zwei, 
das  yh'og  dixavtxov  und  ovjußovXevrixov,  am  ausführlichsten;  Quellen  sind 
hier  Korax  und  die  dem  Anaximenes  durch  Theodektes  vermittelte  isokra- 
tische  Lehre  (Wendland  35.  64). 

284.  Unbedeutender  waren  andere  rhetorisierende  Historiker,  die 
wir  kurz  aufzählen:  Kephisodoros  von  Theben,  Verfasser  einer  Geschichte 
des  heiligen  Kriegs  (FHG  II  85);   Deinen  von  Kolophon  (FHG  K  88  flf.). 


NiTSCHE,  Demosth.  und  Anaxim.,  Jahresber.  *)  Wenn    Didym.    ad    Dem.    col.   9.  43 

des  Berl.  pliilol.  Vereins  (in  Zschr.  f.  Gymn.  60)  richtig  ein  Datum  aus  der  Zeit  der  Schlacht 

1906,  73  ff.,  der  dem  A.  auch  Ps.Dem.  Rede  10.  von  Issos   aus   dem  neunten  Buch   der  Ale- 

13.  25,  Briefe  1— 4u.  Prooem.  zuschreibt.  Die  xandergeschichte  zitieren  würde,  so  wäre  das 

Fragmente  ed.  C.  Müller  im  Anhang  von  F.  j   Werk  des  An.  das  ausführlichste   über  Ale- 

Dübners  Airiänausg..  Paris  1877,  p.  33  ff.,  zu  xanders  Taten,  das  wir  kennen;  das  ist  aber 

vermehren  aus  Didym.  ad  Demosth.  Über  den  |   nicht  wahrscheinlich  und  somit  die  Zahl  bei 

dem  Theopompos  untei-schobenen  Trikaranos  Didymos  entweder  unrichtig  oder  anders  zu 

s.  S.  502,  7.   Als  schlechter  Poet  (s.  übrigens  i   verstehen  (A.  Körte.  Rh.  Mus.  61, 1906, 476  ff.). 

Paus.  VI  18.  3j  ist  Anaximenes  mit  Choirilos  ■           '')  Anax.  ist  in  den  Kanon  der  Historiker 

aufgeführt  in  einer  herkulanischen  Rolle,  s.  aufgenommen:  0.  Kröhi^ert.  Canonesne  .  .  . 

H.  üsENEB,  Rh.  Mus.  43  (1888)  150.  |   fuerunt.  Diss.  Königsb.  1897,  p.  7.  13.  35  ff. 


2.  Die  Gescbichtssobreibimg.    e)  Kleinere  Gescbicbtswerke.    (§  284.)        505 

Vater  des  Kleitarehos,  Verfasser  umfangreicher  Persika,  die  bis  auf  die 
Eroberung  Ägyptens  durch  Artaxerxes  III.  (340)  herabgingen  und  für  die 
Späteren  neben  Herodotos  und  Ktesias  Hauptquelle  über  persische  ße- 
schichte  waren  (benützt  von  Diodoros,  Trogus,  Nepos,  Plutarchos  im  Artax. 
und  Athenaios);  ebenfalls  Verfasser  von  IleQotxd^  die  sich  in  breiten  Zu- 
standsschilderungen  ergingen,  ist  Herakleides  von  Kyme  (FHGHOöflf.). 
Femer  Theokritos  aus  Chios,^)  Gegner  des  Theopompos,  von  dem 
Suidas  eine  Geschichte  Libyens  und  Wunderbriefe  anführt  (FHG  H  86  f.) ; 
Kallisthenes  aus  Olynthos,  Schüler  und  Schwestersohn  des  Aristoteles, 
der  Hellenika  in  zehn  Büchern,*)  ein  Werk  über  den  dritten  heiligen  Krieg 
und  eines  über  die  Taten  des  Alexandros  {Ttgä^eig  ^AkeSävdgov)  verfaßte;  er  war 
als  warmer  Verehrer  des  Alexandros  mit  nach  Asien  gezogen;  als  er  aber 
ein  kritisches  Verhalten  gegen  den  zunehmenden  Orientalismus  des  Königs 
kundgab,  fiel  er  in  Ungnade  und  wurde  seit  327  in  grausamer  Gefangen- 
schaft mitgeschleppt.*)  Außer  ihm  und  Anaximenes  sind  noch  eine  Reihe 
von  Zeitgenossen  von  dem  überaus  dankbaren  Alexanderstoflf  zur  Dar- 
stellung gereizt  worden.*)  Von  allen  diesen  Werken  ist  uns  keines  mehr 
erhalten,  vielmehr  haben  wir  nur  abgeleitete  Werke,  unter  denen  Arrians 
Anabasis  und  Plutarchs  Alexanderbiographie  am  wertvollsten  sind  (sonst 
Diodor.  XVH,  lustin.  XI.  XH;  Q.  Curtius  Rufus  und  der  in  griechischer  und 
lateinischer  Form  vorliegende  Alexanderroman).  Wiewohl  die  Teilnehmer 
an  Alexanders  Zug,  die  Darstellungen  verfaßt  haben,  in  der  Lage  gewesen 
wären,  auf  Grund  des  Selbsterlebten,  des  königlichen  Journals, ß)  etwa  auch 
der  Briefe  des  Königs^)  Verbürgtes  zu  bieten,  so  hat  doch  die  unerhörte 
Fülle  völlig  neuer  Eindrücke,  mit  denen  der  nunmehr  sich  ganz  erschließende 
Orient  die  Griechen  überschüttete,  und  der  märchenhafte  Erfolg  des  Königs 
selbst  den  Besonnensten  unter  ihnen  den  Blick  getrübt.     Zu  bedauern  ist 


M  Eine  Schrift  vonBryson  (W.  Crönert, 
Rh.  Mus.  62,  1907,  384.  danach  Diog.  L.  V  11 
zu  verbessern)  über  ihn  zitiert  Didjm.  ad 
Demosth.  col.  6,  44. 

'^)  Nach  Diodor  XIV  117,  7  reichten  sie 


Über  die  zwei  entgegengesetzten,  durch  das 
Altertum  gehenden  Auffassungen  von  Alexan- 
ders Charakter  W.  Hoppmann,  Das  literar. 
Porträt  Alex.'  d.  Gr.  im  Altertum,  Leipz.  1907. 
')  Dieses,  von  Eumenes  und  Diodotos  ge- 


von  387  oder  dem  Frieden  des  Antalkidas  bis  führt  (Ath.  434b),  ist  jedenfalls  dem  Ptole- 

zum  phokischen  Krieg  357,  s.  E.  Schwartz,  '   maios  zugänglich  gewesen.    Die  Reste  dieser 

Kallisthenes'Hellenika.  Herm.35(1900)  106ff.  *E(pTff4egidei^  welche  die  Dicta  und  Facta  des 

Dai3   das  Alexanderbuch   nicht   ein  Teil  der  Königs  von  Tag  zu  Tag  in  der  von  ihm  an- 

Hellenika   war,   begründet   gegen    Schwartz  |    erkannten  Form  enthielten,  sammelt  ü.  Wil- 

C.  Wachsmuth,  Rh.  Mus.  56  (1901)  224  flf.  cken,  Philol.  53  (1894)  80  ff.    Solche  Jouniale 

^)  Über  seinen    Stil   Auct.  .t.  ri/'.  3,2;  hielten  sich  auch  die  Diadochen  (Aristeas  ep. 

Athen,  -t.  ftrjzar.  p.  7  Wkscher.  üntergescho-  298)  und  die  Form  wirkt  in  den  aus  Papyri 

ben  wurde  ihm  eine  romanhafte  Alexander-  i   bekannten  römischen  Beamtenjoumalen  nach 

geschichte  {\4/.e^dydgov  ,Tod|«s),  auf  die  wir  j    (L.  Mitteis,   Aus   den  griech.  Papyrusurk., 

unten  zurückkommen  werden.  '   Leipz.  1900,  9.  37  f.). 

*)  Die  Fragmente  hinter  F.  Dübners  Ar-  *)  Die  Echtheit  der  Alexanderbriefe  (es 


rian  herausgegeben  von  C.  Mülleb,  Scriptores 
rerum  Alexandri  M.,  Paris  1877;  St.  Cboix, 
Examen  critique  des  anciens  historiens  d'Ale- 
xandre    le   Grand,    2.  edit.   Paris  1810;    R. 


handelt  sich  besonders  um  den  bei  Plutarch 
mitgeteilten  über  die  Porosschlacht)  ist  von 
J.  Karst,  PhUol.  51  (1892)  602  ff.,  und  A.  Bauer 
bestritten,  während  E,  Pbidik,  De  Alexandri 


(JEiKK.  Scriptores  historiar.  Alexandri  Magni  M.epistular.commercio,Dorpat  1893, Mischung 

aetate  suppares.  Lips  1844;  A.  Fbänkel,  Die  von  Echtem  und  Unechtem  annimmt,     über 

Quellen  der  Alexanderhistoriker,  Bresl.  1883 ;  die  in  den  Alexanderroman  aufgenommenen 

A  Schäfer,  Abriß  der  Quellenk.   V  (Leipz.  Schwindelbriefe    s.  E.  Rohde,    Gr.  Roman* 

lH82j  P)4  ff.;  C.  Wachsmuth,  Einl.  565  ff.  —  i   200  ff. 


506  Oriechisohe  Litteratnrgeschichte.    L  KlassiBche  Periode. 

der  große  Einfluß,  den  auf  die  spätere  Alexandergeschichtschreibung  der 
höchst  unzuverlässige,  dem  Alexandres  ungünstig  gesinnte  Kleitarchos, 
Sohn  des  Deinon  und  Schüler  des  Kyrenaikers  Aristoteles  und  des  Megarikers 
Stilpon,  ausgeübt  hat.  Seine  jiegl  'AXeSdvdgov  taiogiai  in  mindestens  zwölf 
BüchernO  in  asianischem  Stil*)  scheinen  vor  den  Memoiren  des  Ptolemaios 
herausgekommen  zu  sein.  Seine  süßliche  Manier  diente  dem  Kömer  Sisenna 
zum  Vorbild.  Ptolemaios  Lagu^)  und  Aristobulos  von  Kassandreia 
waren  nach  Arrianos  (Anab.  prooem.)  die  zuverlässigsten  Autoren  über  das 
Leben  des  Alexandres;  jener  hat  sein  Buch  erst  als  König  (Ptolemaios  I. 
seit  306)  verfaßt  und  hauptsächlich  das  Kriegstechnische  berücksichtigt; 
dieser  hat  erst  nach  der  Schlacht  von  Ipsos  als  vierundachtzigjähriger 
Greis,  nicht  bloß  aus  seiner  Erinnerung,  sondern  auch  mit  Benützung  von 
Litteratur  (Kallisthenes)  geschrieben;  er  bot  viel  Geographisches  und  Ethno- 
graphisches und  dient  dem  Arrianos  zur  Ausfüllung  des  trockenen  Grund- 
risses, den  Ptolemaios  gab.  Beide  berichteten  für  Alexandres  günstig.  Ob 
Arrianos  ihre  Werke  direkt  oder  durch  Vermittelung  des  Strabon  benützt 
habe,  ist  kontrovers.^)  Auch  drei  Mitglieder  von  Alexandres'  Flottentruppe 
haben  Beiträge  zur  Geschichte  des  Königs  geliefert:  der  Admiral  Nearchos 
von  Kreta,  der  326/25  die  indische  Küste  befuhr,  und  Androsthenes  von 
Thasos  in  ihren  naoankoi  boten  vorwiegend  Geographisches;  Onesikritos 
von  Astypalaia  aber,  Schüler  des  Kynikers  Diogenes  und  als  Steuermann 
des  Nearchos  bei  der  indischen  Expedition  beteiligt,  wobei  er  sich  (fr.  10. 
11)  als  Kyniker  für  die  indischen  Asketen  (yv^voi)  begeisterte,  machte  in 
seiner  Schrift  Jicog  fiyßrj  *AU^avdgog  nach  dem  Vorbild  der  xenophontischen 
Kyrupaideia  (Diog.  Laert.  VI  84)  den  König  zum  Helden  eines  Bildungs- 
romans, in  dem  viel  Abenteuerliches  vorkam,  der  aber  wohl  auch  nicht  mit 
dem  strengen  Maßstab,  den  Strabon*)  an  ihn  anlegt,  gemessen  sein  wollte. 
—  Marsyas  von  Pella,  Halbbruder  des  Generals  Antigenes  und  a.  306 
Strateg  des  makedonischen  Reiches,  schrieb  als  erster  eine  Geschichte 
Makedoniens  {Maxeöovixd)  vom  Anfang  bis  zum  Jahr  330  in  zehn  Büchern 
und  eine  AXe^dvögov  uyoiyrj.^)  Auch  Ephippos  von  Olynthos,  auf  den 
Nachrichten  über  Alexanders  Tod  und  Bestattung  zurückgehen,  Medios 
von  Larissa  und  Kyrsilos  von  Pharsalos  waren  Begleiter  des  Alexandres 
und  Berichterstatter  über  ihn.  Chares  aus  Mytilene  wußte  als  Zeremonien- 
meister (eioaycoyeu';)  viel  von  dem  Privatleben  des  Königs  zu  erzählen. 

Im  4.  Jahrhundert  setzt  auch  die  historische  und  antiquarische  Lokal- 


^)  Die  von  Schönle  verworfene  Ansicht.  |           *)  Vermittelung  durch  Strabon  nehmen 

daß    Diodoros    für   die   Alexandergeschichte  |   nach  dem  Vorgang  von  M.  Lüdecke,  Leipz. 

hauptsächlich  den  Kl.  benutzt  habe,  ist  aufs  Stud.  11  (1889)  1  ff.,  J.  Karst  und  B.  Niese  an. 

neue  gestützt  durch  0.  Maass,  Kl.  und  Dio-  *)  p  698;   ähnlich   Plut.  Alex.  46;  Arr. 

dor,  Petersburg  1894.    Die  Annahme  von  F.  an.  VI  2.  3;  E.  Schwartz,  Fünf  Vorträge  über 

Reüss  (Rh.  Mus.  57,  1902,  559  ff),  Kleitarchs  den  griech.  Roman  82  ff. 

Darstellung   sei   die   für  die  Folgezeit   mafa-  *)  Es  gab  zwei  Marsyas.  einen  ans  Pella, 

gebende  geworden,  geht  über  das  Beweisbare  einen  anderen   aus  Philippoi,   die  beide  Mn-  ' 

hinaus.  xfboviyA    und    manches    andere    (s.    Suidas) 

2)  0.  Immisch,   Rh.  Mus.  48(1893)517.  schrieben; über ihreUnterscheidungF.RiTscHL, 

')  Ein    Fragment    bei   Synesios   encom.  i   De  Marsyis   rerum  scriptoribus,   in  Opusc.  I 

calv.  c.  16  nachgewiesen  von  E.  Rohde,  Kl.  449—70.    Zwei  neue  Fragmente  bei  Didvm. 

Sehr.  I  847  ff.  |   ad  Demosth.  col.  12,  49.  57. 


2.  Die  GeBohichtsflchreibimg.    e)  Kleinere  GeBchichtswerke.    (§  285.)        507 

forschung  ein,  die  sich  dann  in  der  alexandrini sehen  Zeit  weithin  verzweigt. 
Sie  ist  für  uns  am  greifbarsten  vertreten  durch  die  Atthidenschreiber,  über 
die  unten  gehandelt  werden  wird.  Sonst  nennt  Diodoros  (XV  95,  4)  zwei 
böotische  Darsteller  der  thebanischen  Hegemonie,  Dionysodoros  und 
Anaxis.  —  Insofern  Geschichte  und  Mythos  nach  der  Auffassung  der 
Alten  unter  eine  Kategorie  fallen,  kann  hier  noch  angeführt  werden: 
Asklepiades  von  Tragilos,  Schüler  des  Isokrates,  der  in  den  sechs  Büchern 
Tgaycpdovjiuva  die  von  den  Tragikern  auf  die  Bühne  gebrachten  Mythen 
in  pragmatischer  Zusammenfassung,  ohne  Trennung  der  verschiedenen 
Versionen  darstellte  (Fragmente  gesammelt  von  F.  X.  Werfer,  Acta  phil. 
Monac.  II,  1818,  491—557,  und  C.  Müller,  FHG  III  301— 6).i) 

286.  Geographie.*)  Die  Geographie  und  Ethnographie  waren  in 
klassischer  Zeit  in  der  Regel  mit  der  Geschichte  solidarisch  verbunden. 
Bei  Hekataios,  Herodotos,  Ephoros  waren  reichlich  Mitteilungen  über  fremde 
Länder,  Städtegründungen,  Sitten  und  Bräuche  fremder  Völker  eingestreut. 
Wichtig  für  die  Ethnographie  sind  auch  Schriften  von  Ärzten;  so  gibt 
Hippokrates  im  letzten  Teil  seines  Buches  Tiegl  degov  vddroyv  totccov 
äußerst  interessante  Beobachtungen  über  die  von  Luft  und  Boden  ab- 
hängigen physischen  und  geistigen  Eigenschaften  der  Bewohner  Europas 
und  Asiens.  Sie  sind  uns  doppelt  interessant,  da  der  Verfasser  mit  dem 
erfahrenen  Blick  des  Arztes  zugleich  den  hohen  Sinn  des  für  Freiheit  be- 
geisterten Hellenen  verbindet;  insbesondere  erhalten  wir  durch  ihn  und 
das  vierte  Buch  des  Herodotos  die  ersten  genaueren  Nachrichten  über  die 
Anwohner  des  Schwarzen  Meeres,  die  Skythen  und  Sauromaten.*)  Leider 
ist  durch  eine  große  Lücke  am  Schluß  des  zwölften  Kapitels  der  von 
Ägypten  und  Libyen  handelnde  Abschnitt  verloren  gegangen.*)  —  Auch 
die  Anfange  kartographischer  Darstellung  finden  wir  bereits  in  der  Zeit 
vor  den  Perserkriegen.  Nach  Strabou  I  p.  7  hat  zuerst  der  Philosoph 
Anaximandros  eine  geographische  Karte  {yecoyoacpixbv  mvaxa)  hergestellt. 
Bei  Herodot  V  49  kommt  Aristagoras  von  Miletos  mit  einer  ehernen  Tafel, 
auf  der  der  ganze  Erdkreis  eingraviert  war,  zum  König  Kleomenes  von 
Sparta,  um  ihn  durch  Vorzeigung  der  Länder  des  persischen  Reiches  zum 
Krieg  gegen  den  Perserkönig  zu  bewegen.  Die  richtige  Vorstellung  von 
der  Kugelgestalt  der  Erde  kam  schon  durch  die  Pythagoreer  Italiens  im 
5.  Jahrhundert  auf. 

Eine  Litteratur  von  Reisebeschreibungen  zu  Land  {7ieQn]yt]oeig)  und 
zur  See  {neobikoi  und  TtagdjiXot)   für   praktischen  Gebrauch   muß  es  schon 


M  G.  Wentzel  in  der  Realenz.  II  1628. 

^)  H.  Berger,  Geschichte  der  wissen- 
schaftlichen Erdkunde  der  Griechen,  Leipz. 
(1887)  1908.  —  Sammlung  der  Fragmente 
und  kleinen  Geographen:  J.  Hudson,  Geo- 
graphiae   veteris   scriptores    graeci   minores, 


damit  vergleiche  man  Herodot  V  16  über  die 
Pfahlbaaten  der  Paioner  und  die  ähnlich  zu 
deutenden  'Axr^tdeg  jrdgoixoi  Sqj}xI(ov  ejiav- 
k(ov  in  Aesch.  Fers.  872. 

^)  Zu   dem  berühmten  Buch  des  Hippo- 
krates  hatte  Galcnos   einen  Kommentar  ge- 


Öxoniae  1698 — 1712;  C.  Müller,  Geographi      schrieben,   der  durch  eine  lateinische  Über- 
graeci  minores(GGM),  2  voll.,  Faris  1855. 1861.      Setzung   auf  uns  gekommen  ist;   leider  l&ßt 
^)  Über  die  Ffahlbauem  am  Fhasis  Hip-      sich  auch  aus  diesem  nichts  zur  Ausfüllung 


pocr.  de  aq.  15  p.  56,  22  ff.  Kühl.:  ^  rs  diana 
ToU  (h'Ooconoi^  Fv  Toig  ileair  id  t€  otxtjfAaTa 
^vkiva    xai  xaXduiva    h  vöaai  fiejiirjxavrjfuvaj 


jener  Lücke  gewinnen;  s.  J.  Ilbebg  in  Comm. 
Ribbeck.  p.  343  Anm. 


508  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

in  Altionien  gegeben  haben.  Der  homerische  Schiffskatalog  zeigt  bereits 
die  Wirkungen  derartiger  Schriften,  Hekataios  und  Ktesias,  vielleicht  auch 
der  alte  Skylax  von  Karyanda,  sind  Verfasser  von  solchen  (s.  o.  S.  426  f.). 
Mit  der  gewaltigen  Erweiterung  des  geographischen  Horizonts  der  Griechen 
im  4.  Jahrhundert  durch  Alexandros'  Zug  nach  Osten,  durch  Forschung»- 
reisen  nach  Süden  und  Nordwesten  wächst  Zahl,  Umfang  und  Bedeutung 
dieser  Werke.  Über  Nearchos  und  Androsthenes  ist  oben  S.  506  geredet 
worden,  ebenso  über  die  an  geographischem  Detail  reichen  Alexanderhisto- 
riker. Etwas  später  unter  Seleukos Nikator  gab  Patrokles,  der  als  Befehls- 
haber von  Babylon  (seit  312)  den  Osten  aus  eigener  Anschauung  kennen  zu 
lernen  Gelegenheit  hatte  und  die  Aufzeichnungen  des  Gelehrtenstabs  des 
Alexandros  benützte,  0  eine  Beschreibung  der  Länder  am  Kaspischen  Meer. 
Auf  uns  gekommen  ist  eine  Küstenbeschreibung  unter  dem  Namen  des 
Skylax,  der,  aus  Karyanda  in  Kurien  gebürtig,  im  Auftrag  des  Dareios  I. 
die  Küsten  des  arabischen  Meerbusens  umfahren  hatte.  ^)  Der  erhaltene 
IleQbikovg  Tfjg  ^idoorjg  r^g  olxavfiivrjg  Evgcojijjg  xat  ^Aalag  xal  Aißvrjg  ist 
eine  allgemeine  Küstenbeschreibung  und  rührt  aus  viel  späterer  Zeit  her, 
trägt  aber  alte  Angaben  weiter.»)  G.  F.  Unger  (Phil.  33,  1874,  29  ff.)  setzt 
ihn  in  das  Jahr  347.*)    Ausgabe  in  C.  Müllers  GGM  I  15—96. 

Der  größte  Mehrer  geographischen  Wissens  in  diesem  Jahrhundert  ist 
Pytheas  von  Massilia  gewesen,  der  zur  Zeit,  da  Alexandros  das  Perserreich 
eroberte,  mit  einigen  Begleitern  von  seiner  Vaterstadt  aus  an  den  Küsten 
Spaniens  und  Frankreichs  hin  eine  Entdeckungsfahrt  nach  Norden  machte,  um 
festzustellen,  wie  weit  sich  der  Kontinent  in  dieser  Richtung  erstrecke  und 
von  welchen  Völkern  er  bewohnt  sei.  Er  ist  bis  zu  den  Shetland-  und 
Orkney-Inseln,  vielleicht  sogar  bis  Island  vorgedrungen.  Im  äußern  Meer 
{(hxeavog)  lernte  er  die  Gezeiten  kennen,  deren  Wirkung  die  Anwohner 
des  Mittelmeers  kaum  verspüren,  und  verglich  ihr  Wesen  mit  Meerlungen.*) 
Das  Wattenmeer  dagegen  kennt  er  offenbar  nur  vom  Hörensagen,  ist  also 
nicht  an  der  germanischen  Nordküste  gewesen. ß)  Die  Fixierung  des  nörd- 
lichen Polarkreises  ist  wahrscheinlich  ihm  zu  verdanken.'')  Die  Ergebnisse 
seiner  Reise,  die  er  in  dem  Buch  negl  (hxmvov  niederlegte,  sind  von  der 
konservativen  stoischen  Geographie  (Polybios,  Strabon)  mit  hartnäckigem 
Unglauben  abgelehnt  worden;  ein  Urteil,  das  trotz  der  gerechteren  Wür- 
digung von  Seiten  des  Astronomen  Hipparchos  bei  Aelius  Aristides  (or.  48 
p.  475  Dind.  ovd^  6  Maoonhonr^g  djnouog  ydbg  eiJinv  xal  mnzog,  nkkn  zig  äg^niog 
jiiäXXov  xal  jioujrixog)  nachklingt.  Die  Nachrichten  des  Pytheas  wurden 
nachher  von  einem  Geographen  aus  der  Schule  dos  Eratosthenes  oder  Hip- 

*)  Strab.  p.  69.    H.  Bretzl.  Botan.  For-      des  Buclies  und  sein  Verhältnis  zu  Herodotos 
schungen  des  Alexanderzuges,  Leipz.  1903,  3.      H.  Berger,  (tcscIi.  der  wiss.  Erdk.*  86  fF. 

^)  Herod.  IV  44.     Siehe  o.  S.  427.  *)  Das  l^ild  von  fIs-tvo/j  und  fx^tvot)  hatte 

')  F,  Hiller  v.  Gärtrinoen,  Zu  Inschr.  '   schon  Piaton  für  Wasserverhältnisse  gebraucht 
V.  Priene  (Berlin  1906)  nr  1.  (H.  Bergek.  (lesch.  der  wiss.  Erdk.«  289). 

*)  C.  Th.  Fischer,   Griech.  Studien,   H.  '^)  Strab.  p  104;  zur  Inteq)retation  der  Stelle 

Lipsius  dargebracht,  Leipzig  1894,  141  ff.,  !  G.GERLANi),Beitr.z.  Geophysik  11  (1895)  185 ff., 
sucht   im    Skylax   Stücke   aus  Phileas'  von      und  E.  Gerland,  Berl.  phil.  W.schr.  25  (1905) 

Athen  Periplus  (5.  Jahrh.)  in  einer  Über-  I  94  ff.  (anders  S.  Nilsson,  Ureinwohner  des 
arbeitung  aus  dem  Ende  des  4.  Jahrh.  nach-      scandinav.  Nordens,  Hamb.  1863,  123  f.). 

zuweisen,     über  den  geographischen   Wert  i  ')  H.  Berger,  Geogr.Ztschr.  12(1906)447. 


2.  Die  Geschichtsschreibung,    e)  Kleinere  Oesohichtswerke.    (§  285.)        509 

parchos  zu  einem  Periplus  der  Westküste  Europas  verarbeitet;  diesen  legte 
im  4.  Jahrhundert  n.  Chr.  Avienus  dem  ersten  Teil  seines  uns  erhaltenen 
geographischen  Lehrgedichtes  Ora  maritima  zugrund.  Dieses  Gedicht  ist 
neben  den  vereinzelten,  meist  polemischen  Angaben  älterer  Schriftsteller 
die  Hauptquelle,  aus  der  wir  unsere  Kenntnis  von  den  Entdeckungen  des 
Pytheas  schöpfen.^)  Aristoteles  weiß  von  Pytheas  noch  nichts,  wohl  aber 
sein  Schüler  Dikaiarchos. 

Vor  Pytheas  hatte  Antiphanes  von  Berga  in  einem  geographischen 
Märchenbuch  {'"Amaia)  auch  über  nordische  Zustände  schwindelhafte  Nach- 
richten verbreitet,  die  zur  Diskreditierung  des  Pytheas  beigetragen  haben 
mögen.  Bei  Eratosthenes  und  Polybios  erscheint  er  als  Typus  des  Auf- 
schneiders, *)  und  ßegyatCeiv  heißt  späterhin  soviel  als  unverschämt  lügen. 
Antiphanes  ist  von  dem  Romanschreiber  Antonius  Diogenes  benützt  worden. 

Im  4.  Jahrhundert,  wie  es  scheint,  ist  den  Griechen  auch  bekannt 
und  in  ihre  Sprache  übersetzt  worden  die  Beschreibung  einer  Küstenfahrt, 
die  der  Karthager  Hanno  zwischen  466  und  4508)  an  der  Westküste 
Afrikas  südwärts  wahrscheinlich  bis  zum  Gap  Palmas  und  der  Zahnküste 
gemacht  und  deren  punisch  geschriebenen  Originaltext  er  im  Kronostempel 
in  Karthago  deponiert  hatte.*)  Die  frühste  Spur  von  Benützung  dieser 
Schrift  zeigt  eine  auf  Theophrastos  zurückgehende  Stelle  in  Ps. Aristoteles 
mirab.  auscult.*^)     Ausgabe  bei  C.  Müller,  GGM  I  1  ff. 

Wichtige  Beiträge  zur  Erweiterung  und  Befestigung  des  Kartenbildes 
konnten  auch  die  Routenmesser  (ßrjjbiariorai)  liefern,  die  Alexandres  auf 
seiner  Expedition  aufgestellt  hatte,  Baiton  und  Diognetos;  von  ersterem 
erwähnt  Athenaios  ein  Werk  oTa&juol  rijg  ^Ake^dvdgov  nogeiag^  das  auch 
Notizen  über  Ethnographisches  enthielt  und  um  deswillen  nicht  für  un- 
echt gehalten  zu  werden  braucht. ö)  Es  scheint,  daß  sich  Eratosthenes 
der  hier  gebotenen  Mittel  bedient  hat. 

^)  Siehe  bes.  K.  Müllenhoff.  Deutsche      habe  den  Pytheas  parodiert,  ist  nicht  haltbar. 
Altertumsk.  I  (Berl.  1870)  211—497;  H.  Bbr--  »)  Plinius  n.  h.  II  169:  Hanno  Cartha- 

GER.  Gesch.  der  wiss.  Erdk.*327ff.;  einiges  ,  ginis  potentia  florente  circumvecttis  a  Gadibus 
NeuefügtG.  Knaack,  Rh.Mus.  61  (1906)  135ff.  j  ad  finem  Arabiae,  natngationem  eam  prodi- 
zu  den  Fragmenten.  W.  Christ  hat  seine  An-  '  dit  scriptOf  sicut  ad  extera  Europae  noscenda 
sieht  (Avien  und  die  ältesten  Nachrichten  über      missus  eodetn   tempore  Himilco,     Vgl.  V  8. 


Iberien  und  die  Westküste  Europas,  Münch. 
Ak.  Sitz.ber.  11.  1868,  113  ff.)  gegen  Müllen- 


G.  F.  ÜNGEB.  Philol.  Suppl.4(1883)  197  ff.  und 
Rh.  Mus.  38  (1883)  182  sucht  zu  beweisen,  daß 


hoffs  Einwände  verteidigt  (Jahrbb.  f.  cl.  Philol.      der  Periplus  erst  zwischen  390  und  370  verfaßt 
103,  1871,  707  ff.)  und  sich  später  betr.  die      sei.    C.  Th.  Fischer,  De  Hannonis  Carthag. 


Quellen  des  Avienus  der  Auffassung  von  F 
Marx,  Rh.  Mus  50  (1895)  321  ff.  (Münchener 
Allg.Zeit.  Beil.  1897 nr.  162 f.),  angeschlossen. 

*j  Siehe  außer  der  bei  W.  Scumid  in  der   1   Dind.  an, 
Realenz.  12521  f.  angeführten  Litteratur  noch  ^)  Fischer  a.  a.  0.  116  f. 


periplo,  Lips.  1892  (=  Unters,  auf  d.  Gebiet 
der  alten  Länder-  und  Völkerkunde  I). 

*)  Darauf  spielt  auch  Aristid.  or.  48  p.  475 


0.  Crusius,  Ad  Plut.  de  prov.  Alex.  lib. 
comm.,  Tüb.  1895,  26.  C.  Wunderer,  Poly- 
biosforschungen  I.  Leipz.  1898,  101  ff.;  K. 
Büroer,  Stud.  z.  Gesch.  des  griech.  Romans 
II  (Progr.  Blankenburg  1903)  6, 2.    Daß  Anti- 


«)  C.  Müller,  Script,  bist.  Alex.  M.  134  ff. ; 
E.  ScHWARTz,  Artikel  Baiton  und  Bematistai 
in  der  Realenz.;  H.  Beroer  ebenda  Artikel 
Diognetos.  Anathem  des  Alexanderbematisten 
Philonides  an  den  Zeus  in  Olympia,  Archäol. 


phanes  in  das  4.  Jahrb.  gehört,  ist  von  Wi-  ,  Zeitg.  37  (1879)  139,  209.     Illustration  des 

LAMüwiTZ,  Herrn.  40  (1905)  149  f.,  erwiesen;  '  ßtifiaui^eiv  Pallad.   Hist.  Laus.   cap.  47  init 

G.  Knaacks (Rh.  Mus.  61, 1906, 135  ff.)  Ansatz  |  ed.  Butler. 

nach  Polybios   und  seine  Auffassung,   Ant.  ] 


510 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  EUssische  Periode. 


3.  Die  BeredsamkeitO 
a)  Anfänge  kunstmässigrer  Beredsamkeit. 
286.  Gelegenheiten  zur  Übung  im  Reden  und  zur  Ausbildung  einer 
gewissen  Technik  war  schon  in  den  engeren  Ratsversammlungen  und  den 
öffentlichen  Gerichtsverhandlungen  der  alten  griechischen  Aristokratien  ge- 
geben. Homer  bietet  dafür  Beispiele  genug  (insbesondere  mag  auf  die 
kunstvollen  und  charakteristischen  Reden  der  Ugsaßeia  ngog  ^AydXia^  die  Ge- 
richtsszene D.  2  499  flf.  und  die  feine  Charakteristik  der  Redestile  U.  7^212  flf. 
hingewiesen  werden)  und  hat  in  Nestor  schon  den  Typus  eines  gewandten 
und  erfolgreichen  Redners  hingestellt,  so  daß  die  Alten,  insbesondere  die 
Stoiker,  mit  Recht  in  Homer  auch  den  Vater  der  Beredsamkeit  gesehen 
haben. 2)   Zur  Entwicklung  rhetorischen  Schmuckes  freilich  war  vor  kleinen 


^)  Von  den  älteren  alexandrinischen  Ge- 
lehrten wurden  die  Redner  wenig  beachtet,  wo- 
für die  Ignorierung  der  Redner  in  der  parischen 
und  apollodorischen  Chronik  bezeichnend  ist 
Erst  Dldymos  schrieb  Kommentare  zu  attischen 
Rednern  (M.  Schmidt,  Didymi  fragm.  p.  310  ff.), 
von  deren  Art  uns  die  rapyrusreste  zu  De- 
mosthenes'  Philippischen  Reden  (Berliner 
Klassikertexte  I)  eine  Vorstellung  geben.  Mehr 
Interesse  als  die  Alexandriner  scheinen  die 
pergamenischen  Grammatiker  an  der  rhetori- 
schen Prosa  gehabt  zu  haben  (J.  Brzoska,  De 
canone  X  orator.Attic,  Breslau  1883),  und  seit 
dem  Einsetzen  der  atticistischen  Strömung 
werden  die  attischen  Redner  Gegenstand  lit- 
terarhistorischer  und  rhetorisch-ästhetischer 
Untersuchungen,  die  besonders  von  Cftcilius 
und  Dionysios  von  Halikamassos  geführt 
worden  sind.  Erhalten  sind  uns  außer  den 
Schriften  des  Dionysios  die  Bioi  xtor  dexa 
QYjxoQMv  des  Ps.Plutarchos,  die  auf  Diony- 
sios und  Cäcilius  zurückgehen.  Mit  diesen 
stimmen  im  wesentlichen  die  betreffenden 
Abschnitte  des  Photios  cod.  259—268;  über 
ihr  Verhältnis  A.  Schöne.  Die  Biographien  der 
zehn  att.  Redner,  in  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  103  (1871) 
761  ff.,  und  dagegen  A.  Zucker,  Quae  ratio 
inter  vitas  Lysiae  Dionysiacam  Pseudoplutar- 
cheam  Photianam  intercedat,  Erlangen  1878. 
L.  Radermacher,  Philol.  58(1899)  161  ff.  (über 
die  Dinarchvita).  —  Neuere  Werke:  D.  Rühn- 
KEN,  Hist.  critica  oratorum  graecorum,  in  der 
Ausg.  des  Rutilius  Lupus,  Leiden  1768  = 
Opusc.  I  Lugd.  Bat.  1807,  310  ff.;  einen  be- 
deutsamen Schritt  zu  geschichtlicher  Auffas- 
sung des  Technischen  bezeichnet  L.  Spenoel, 
Zvraycoyrj  xf/vmv,  Stuttg.  1829;  A.  W ESTER- 
MANN, Gesch.  der  Beredsamkeit  in  Griechen- 
land und  Rom,  Leipzig  1833.  35,  2  Bde.;  F. 
BLASS.  Die  attische  Beredsamkeit,  Leipzig 
1868-80.  3  Bde.,  2.  Aufl.  1887—1898;  G. 
Perrot.  L'eloquence  politique  et  judiciaire 
a  Athoncs,  Paris  1873;  J.  Girabd,  ifitudes 
sur  l'eloquence  attique,  Paris  1874,  ed.  II  (un- 
veränd.  Abdr.)  Paris  1884;  R.  C.  Jebb,  The 


Attic  orators  from  Antiphon  to  Isaeos,  London 
1876;  Selections  from  Attic  orators,  1 880, 2  voll. ; 
R.  Volkmann,  Die  Rhetorik  der  Griechen  und 
Römer,  2.  Aufl  ,  Leipzig  1885;  wertlos  ist  der 
geschichtliche  Abschnitt  bei  A.  E.  Chaionet, 
La  rh^torique  et  son  histoire,  Paris  1888 :  E. 
Norden,  Die  antike  Kunstprosa  vom  6.  Jahrh. 
V.  Chr.  bis  in  die  Zeit  der  Renaissance,  Leipz. 
1898 ;  wichtig  0.  Navarre,  Essai  sur  la  rh^- 
torique  Grecque  avant  Aristote,  Paris  1900, 
wo  die  Anfänge  der  rhetorischen  Theorie  und 
ihrer  praktischen  Anwendung  beleuchtet  wer- 
den; E.  Drerup,  Die  Anfänge  der  rhetori- 
schen Kunstprosa,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl. 
27  (1902)  219ff.  —  Sammelausgaben :  Oratorum 
graecorum  quae  supersunt  monumenta  in- 
genii  ed.  J.  J.  Reiske,  Lips.  1770 — 5,  12  voll, 
(ohne  Isokrates  und  Hypereides);  Oratores 
attici  ex  rec.  Imm.  Bekkeri,  Berol.  1823  bis 
1824, 5  voll. ;  Oratores  attici  rec.  J.  G.  Baiterus 
et  Herm.  Sauppius,  Zürich  1838-50.  9  fasc. 
mit  Fragmenten,  Schollen  und  Onomastiken, 
'Hauptausgabe.  Orat  att.  ed.  C.  Müller,  2  voll., 
Paris  1846—58,  wertvoll  durch  den  Sach- 
index von  J.  HuNziKER.  Neue  Rednerfrag- 
mente aus  Photios:  R.  Rbitzenstein,  Der  An- 
fang des  Lexik,  des  Phot ,  Leipz.  1907,  XXVII. 
—  Indices  graecitatis  zu  den  einzelnen  att.  Red- 
nern auf  Grund  von  Reiskes  Sonderindices  von 
T.  Mitchell,  Ox.  1828,  2  voll.  —  Jahres- 
bericht über  die  griech.  Redner  im  Jahresber. 
üb.  d.  Fortsch.  d.  kl.  Alt.wiss.  von  K.  Emminoeb, 
Bd.  133  (1907)  1  ff.  (für  1886—1904);  über 
Rhetorik  ebenda  von  G.  Lehnert,  Bd.  125 
(1905)  86  ff.  (für  1894-1900). 

«)  Ar.  nub.  1056.  Cic.  Brut.  40;  beson- 
ders Ps.Plut.  Vit.  Hom.  II 161  ff.  Über  die  ho- 
merische Rhetorik  schrieb  der  stoische  Gram- 
matiker Telephos  von  Pergamon  (H.  Sohra- 
DER,  Herm.  37,  1902,  530  ff  ;  K.  Fuhr,  Beri. 
phUol.  Woch.  22. 1902. 1499  f.).  M.  Hecht.  Zur 
homer.  Beredsamk.  in  der  Festschr.  z.  50jähr. 
Doktorjubil.  L.  Friedländers.  Leipz.  1895, 1 13  ff. 
Einzelne  rhetor.  Figuren  weist  aus  Hom.  nach 
N.  Wecklein,  Studien  z.  llias,  Halle  1905,  1  ff. 


3.  Die  Beredsamkeit,    a)  Anfänge  kunstmäfiiger  Beredsamkeit.    (§  286.)    511 

Kreisen  Sachverständiger,  die  knappe  Sachlichkeit  verlangten,  i)  weniger  Ge- 
legenheit. Aber  je  mehr  die  Demokratien  sich  ausbildeten  und  poUtische 
wie  rechtliche  Fragen  vor  großen  Versammlungen  zu  sachlich-ruhiger  Be- 
urteilung großenteils  unfähiger  Leute  gezogen  wurden  und  politische  Streber 
vermittelst  ihrer  Redegewandtheit  um  die  Jigoaraota  xov  drjixov  sich  be- 
mühten, desto  mehr  Anlaß  war  zur  Ausbildung  dialektischer  Kniflfe  und 
von  der  Sache  ablenkender  Reizmittel  der  Form  (Aristot.  rhet.  III  1).  Die 
großen  Staatsmänner  Athens  im  5.  Jahrhundert,  Themistokles*)  und  be- 
sonders Perikles,^)  sind  auch  große  Redner  gewesen,  die  sich  aber  im  Vor- 
trag noch  der  altertümlich  ernsten  Ruhe  befleißigten,  während  Kleon 
(Aristot.  Ath.  resp.  28,  3)  die  plebejische  Aufregung  in  die  Staatsrede  ein- 
geführt haben  soll.  Dialoge  und  §rioei<;  der  jüngeren  attischen  Tragiker*) 
verraten  schon  Einflüsse  rhetorischer  Art. 

Die  wichtigste  Gattung  der  Rede  war  die  gerichtliche  (Xoyog  dixavtxög)^ 
weil  vor  dem  attischen  Gericht  jeder  seine  Sache  selbst  vertreten  mußte.  Zwar 
scheint  hier  in  älterer  Zeit  nicht  sowohl  zusammenhängend  geredet  als  dia- 
logisch zwischen  den  Parteien  und  dem  Richter  verhandelt  worden  zu  sein, 
wie  sich  das  in  der  ältesten  Schilderung  einer  attischen  Gerichtsszene  bei 
Aischylos  in  den  Eumeniden  und  noch  in  der  platonischen  Apologie  c.  12  ff. 
(s.  bes.  p.  25 d)  darstellt.  Aber  die  Ansprüche  an  die  Form  wuchsen  —  soll 
sich  dochPerikles  auf  jede  Gerichtsrede  genau  schriftlich  vorbereitet  haben,^) 
und  wer  nicht  von  Natur  zum  Redner  veranlagt  war,  mußte  sich,  um  sein 
Recht  durchzusetzen,^)  nach  Unterstützung  umsehen.  Diesem  Bedürfnis 
entsprach  der  Stand  der  ^nyyo^oi,')  die  aus  Rechtsräten  allmählich  zu 
loyoyodqjoi  wurden,  d.  h.  ihren  Klienten  Reden  schrieben,  die  von  jenen 
memoriert  und  vor  Gericht  vorgetragen  wurden.  Bei  solcher  Tätigkeit 
entwickelte  sich  von  selbst  eine  gewisse  Schablone  der  Gedanken  und 
Redeformen.®)  Der  verstandesmäßigen  Zuspitzung  der  Gerichtsrede  kamen 
die  sprachlichen  und  dialektischen  Studien  der  ionischen  Sophistik,  ins- 
besondere die  ÖQ^omeia  des  Protagoras  und  die  Synonymik  des  Prodikos 
zustatten.^)  Man  wollte  nun,  wie  Aristophanes  in  den  Wolken  kari- 
kierend zeigt,   bei  den  Sophisten  für  die  praktische  Prozeßbehandlung  die 

*)  F^(o  Tov  noayftaT<K  Xeyeiv  war  vor  dem  1            ro  xevtgov  iyxareXetJie   rolg  dxQOCOfievotg, 

Areopag  verboten  (Lys.  3,  46 ;  Aristot.  rhet.  |   danach  Cic.  Brut.  38  und  44. 

1354  a  22,  Lycurg.  Leoer.  11;  Alex.  Numen.  !           *)  Schol.  Aesch.  Prom.  311;  M.  Leohnek, 

in  Spengels  Kh.  Gr.  I  432,  14;  s.  a.  I.  Bruns,  |   Derhetoricae  usu  Sophocleo,  Berlin  1877;  Th. 

Litt.  Portr.  483  ff.).  [  Miller,  Euripides  rhetoricus,  Gott.  1887.  Ober 

*)  Die  Rede,  die  ihm  Herodot  VIII  83  in  Sinnfiguration  bei  den  Tragikern  G.  Thiele, 

den  Mund  legt,  ist  freilich  nicht  authentisch,  Hermagoras,   Straßb.  1893,  156  ff.  —  Ander- 

auch   der  Bericht  des  Herodot  VI  136   über  seits  setzt  Aesch.  Suppl.  603  K.   kunstvolle 

das  im  Miltiadesprozeß  aufgewendete  redne-  Volksreden  voraus, 

rische   Feuerwerk    fragwürdig.     Siehe   aber  *)  F.  Blass,  Att.  Bereds.  I*  35,  5. 

Thuc.  I  138,  3;  Isoer.  15,  307  f.  «)  Antiph.  5,  2;  Demosth.  21,  141;   vgl. 

')  Den  erhaltenen  Apophthegmen  nach  Xen.  apol.  4. 

(Schriftliches  hat  er  außer  seinen  Psephismen  ;           ')  Schon   in  Aesch.    Eum.    ist   Apollon 

nicht  hinterlassen)  muß  er  ganz  anders,  d.  h.  1   ^wijyooog  des  Orestes.  Aristophanes  verhöhnt 

weit  derber   und   sinnlicher  geredet  haben.  ;   die  ct^v/Jyooo*  Ja/roA.  fr.  198  K.;  vesp.  687ff.; 

als  ihn  Thukydides  reden   läßt  (F.  Blass,  Ach.  705;"eq.  1318. 

Att.  Bereds  1«  37).    Eupolis  von  Perikles  in  ^)  Vgl.  Cratin.  fr.  185  K.  mitAndoc.  1, 1; 

den  Atuioi  fr.  94:  F.  Blass,  Att.  Bereds.  1«  115  f. 

IIsi&oj  Tig  L-TExd&i^Fv  ijil  ToTg  yfiXeoiv  •)  Darüber  am  besten  L.  Spengel,  Zwa- 

ovxoyg  ixtjlei,  xai  fidvog  xwv  Qrjröoeov  \    y(oyij  tsx,vwv. 


512  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

Kunst  Tov  rJTTO}  X6yov  xgeixTü)  noieiv^  das  dem  Prozessierenden  günstige 
Scheinbare  und  Wahrscheinliche  (elxog)  gegen  das  Wahre  auszuspielen 
(Plat.  Phaedr.  272 d  ff.;  vgl.  P.  Wendland,  Anaximenes  31,  2),  systematisch 
erlernen;  die  Wirkungen  treten  in  den  Reden  des  Antiphon,  die  nur  auf 
verstandesmäßige  Überlistung  angelegt  sind,  deutlich  hervor. 

Auch  die  Anfange  der  epideiktischen  Prosarede  in  Athen  fallen  um 
die  Mitte  des  5.  Jahrhunderts:  0  den  frühsten  Gegenstand  bilden  die  öflFent- 
lichen,  von  einem  staatlich  bestellten  Sprecher  zu  haltenden  Reden  bei  der 
Bestattung  der  für  das  Vaterland  Gefallenen,  ein  Ersatz  für  die  älteren 
^QTjvoi  in  musikalisch-lyrischer  Form.  Wir  haben  Anlaß  anzunehmen,  daß 
die  Leistungen  der  einheimischen  attischen  Beredsamkeit,  was  Auffindung 
{evgeoig)  und  Anordnung  (tdSig)  des  Stoffs  betrifft,  schon  eine  beträchtliche 
Höhe  erreicht  hatten,*)  bevor  Gorgias  im  Jahr  427  seinen  sinnfälligen 
Flitterkram  aus  Westgriechenland  dort  importierte. 

Die  Bedeutung  der  sizilischen  Beredsamkeit  ist  in  unseren 
auf  die  tendenziöse  Darstellung  des  Siziliers  Timaios  im  wesentlichen 
zurückgehenden  Berichten  vielleicht  zu  stark  betont.*)  Was  Aristoteles 
berichtet,  daß  nach  dem  Sturz  der  Tyrannis  in  Sizilien,  in  den  sech- 
ziger Jahren  des  5.  Jahrhunderts,  infolge  der  vielen  mit  der  politischen 
Umwälzung  verbundenen  Eigentumsstreitigkeiten  das  Bedürfnis  nach 
advokatischem  Beistand  und  rednerischem  Erfolg  eine  technische  Rhetorik 
hervorgetrieben  habe,  ist  glaublich,  und  der  Westen  scheint  es  darin,  daß 
er  das  erste  rhetorische  Lehrbuch  schuf,  die  rexyrj  des  Syrakusiers  Korax,*) 
dem  Osten  zuvorgetan  zu  haben.  Die  Definition  der  Rhetorik  als  jieiüovg 
örjjuiovgyog^  die  Gorgias  und  Isokrates  beibehalten  haben,  und  die  Ein- 
teilung der  Rede  in  jigooijutov,  dycbveg,  biiXoyog  geht  auf  dieses  Buch 
zurück,  das  eine  Anweisung  zu  den  dialektischen  Kniflfen  skrupellosester 
Rabulisterei,  besonders  mit  dem  Begriff  des  eixog^  gegeben  haben  muß. 
Im  übrigen  hat  sich  die  Anekdote^)  des  Korax  und  seines  Schülers  Teisias 
von  Syrakus,  von  dem  es  ebenfalls  eine  rhetorische  rexvt]  gab,  bemächtigt. 
Dieser,  der  die  Lehre  vom  dxog  eingehend  behandelte,^)  ist  als  Lehrer  des 
Gorgias,  Lysias  und  Isokrates  auch  für  die  attische  Beredsamkeit  wichtig 
geworden.  Neben  diesen  Nachrichten  über  das  Hervorgehen  der  sizilischen 


M  Diod.  XI  33,  3  läßt  den  Xoyog  imidqHog 
seit  Plataia  eingeführt  sein,  wahrscheinlich 
zu  früh  (ähnlich  Dionys.  Hai  ant  Rom.  V 
17,  4),  wie  auch  die  Ansätze  von  Wilamo- 
wiTZ  auf  475  (Arist.  und  Athen  1 14ö,  41)  und 
A.  Hauvette  (MelangesWeil  159  ff.)  auf  c.  470 
wohl  zu  früh  sind.  Sicher  steht  erst  der  sa- 
mische  Epitaphios  des  Perikles  440  (Plut. 
Per.  28).  Vgl  F.  8cuinnerer.  De  epitaphiis 
Graecor.  vet,  Erlangen  1886;  J.  Chaillet,  De 
orationib.  quae  Athenis  in  funerib.  publ.  habe- 
bantiu*,  Leiden  1891;  Th.  C.  Hurgess,  Epi- 
deictic  litterature,  Chicago  1902,  146  ff. 

^)  TOV  {tf'/Togo^  Tf^'  TF/rt]y  fI^ov  xai  oi 
do/aioTnrot  nov  orrt]y6go)v  sagt  richtig  Philod. 
de  rhct.  suppl.  p.  15,  7  Sudhaus. 

^)  Timao.  bei  Dionys.  Hai.  de  Lys.  3 
(dazu  L,  Radermaciiek,  Rh.  Mus.  52,  1897, 


412  ff.);  außerdem  Aristot.  bei  Cic.  Brut.  46. 

*)  Aristot.  (rhet.  1402  a  17)  kannte  das 
Buch,  vielleicht  auch  Piaton  (Phaedr.  273  b) 
und  Anaximenes  (P.  Wendland,  Anax.30  ff.), 
und  es  ist  kein  Grund,  mit  F.  Susemihl.  F. 
Blaß  (Att.  Bereds.  1=^  19  f.)  u.  a.  an  seiner 
Existenz  zu  zweifeln  (L.  Spenuel,  Xvray,  29). 

*)  Sext.  Emp.  adv.  math.  II  96  ff.:  Rhet. 
Gr.  IV  1 3 ;  VII  6  Walz.  Quelle  für  dergleichen 
mag  w^ohl  auch  die  Komödie  des  Westens  ge- 
wesen sein:  schonEpicharmos(A. O.F.Lorenz, 
Epich.  94  ff.,  116  ff.)  witzelt  über  die  Kunst- 
beredsamkeit. 

«)  Plat.  Phaedr.  267  a.  273a.  Das  inter- 
essante rhetorische  Bruclistück  in  dorischem 
Dialekt  (Oxvrh.  pap.  111  p.  27  ff)  will  W.  R. 
Roberts,  class.  rev.  18  (1904)  18  ff.,  auf  T. 
zurückführen. 


3.  Die  Beredsamkeit,    a)  Anfänge  kanstmäßiger  Beredsamkeit.    (§  286.)     515 

Beredsamkeit  aus  der  Advokatur  steht  ein  anderer  Bericht  in  Aristoteles' 
Jugenddialog -To^föTi/cO  ^^r  sie  aus  philosophischer  Quelle  ableitet:  Empe- 
dokles  wird  als  „Erfinder"  der  Rhetorik  bezeichnet  oder  gar,  nachdem 
Empedokles  in  den  pythagoreischen  Schulverband  eingegliedert  ist,  Pytha- 
goras  selbst. 2)  Gorgias  ist  dann  wieder  Schüler  des  Empedokles  gewesen; 
aber  ob  er  auch  rhetorische  Anregungen  von  ihm  empfangen  hat,  ist  un- 
sicher. 3)  Jedenfalls  ist  Gorgias  für  die  Entwicklung  der  griechischen  Kunst- 
prosa epochemachend  geworden  durch  die  Idee,  den  in  den  Sprachformen 
liegenden  musikalischen  Reiz  der  Gleichklänge  oder  Reime  der  Prosa  dienst- 
bar zu  machen  und  ihr  dadurch  ein  von  der  vornehmeren  Poesie  mit  Be- 
wußtsein verschmähtes,  in  Sizilien  wahrscheinlich  besonders  populäres'*) 
Mittel  sinnlicher  Wirkungen  auf  das  Ohr  zur  Verfügung  zu  stellen.  Mit 
seiner  Entdeckung  auf  dem  Gebiet  der  Xe^ig  hat  er  die  attische  Beredsam- 
keit auf  das  nachhaltigste  befruchtet.  Aber  unabhängig  von  ihm  und  viel- 
leicht schon  vor  seiner  Ankunft  in  Athen ^)  hat  der  Sophist  Thrasy- 
machos  von  Chalkedon,  von  dessen  sittlichem  Radikalismus  Piaton  im 
ersten  Buch  des  Staates  ein  vielleicht  allzugrelles  Bild  entwirft,  den  Be- 
griff der  Periode  aus  der  Poesie  in  die  Prosa  übertragen  und  dadurch  dem 
in  sich  geschlossenen  Gedankenkreis  des  prosaischen  Satzes  auch  nach  der 
sinnlichen  Seite  hin  eine  deutlich  ins  Ohr  fallende  Abgeschlossenheit  ver- 
schafft. Er  knüpfte  hiemit  an  die  im  homerischen  Versbau  stark  hervor- 
tretende, aber  auch  von  der  attischen  Chorlyrik  mehr  und  mehr  angenom- 
mene Tendenz  an,  Sinnschluß  und  Schluß  der  rhythmischen  Gruppe  zu- 
sammenfallen zu  lassen.  Um  den  Vortrag  der  Periode  oder  des  Periodengliedes 
in  einem  Atem  möglich  zu  machen,  mußte  im  Inneren  der  Periode  der 
Atemvergeudung  bewirkende  Zusammenstoß  der  Vokale  vermieden  werden. 
Durchgehende  Rhythmisierung  der  Sätze,  die  ja  die  Grenze  zwischen  Kunst- 
prosa und  Dithyrambus  neuen  Stils  verwischt  hätte,")  gestattete  Thrasy- 
machos  nicht,  ^)  aber  Anfang  und  Schluß  der  Periode  sollte  durch  paionischen 
Rhythmus  markiert  sein.®)  Auch  über  den  Vortrag  hat  er  zuerst  An- 
weisungen gegeben.'^)  Theophrastos  (bei  Dionys.  Hai.  de  Dem.  3)  nennt 
ihn  Erfinder  des  „gemischten"  Stils,  der  zwischen  Erhabenheit  und  Nüchtern- 
heit die  Mitte  hielt.  Er  war  Advokat  in  Athen,  legte  aber  den  Nachdruck 
auf  seine  Leistungen  als  Epideiktiker  und  Techniker.*")    Neben  einem  Lehr- 


»)  Diog.  Laert.VIII57;  1X25;  Scxt.Emp. 
adv.  dogra.  I  6:  Qaint.  inst.  III  1,  8. 

*)  Schol.  lambl.  vit.  Pvth.  bei  E.  Rohde, 
Kl.  Sehr.  I  232  A;  284  A.    H.  Diels,  Arch.  f. 


*)  Thrasyraachos  wird  schon  von  Aristo- 
phanes  in  den  AatmXfi^  fr.  198  K.  (aufgeführt 
427)  genannt;  Prodikos  war  vielleicht  sein 
Lehrer  (Aristot.  rhet.  1400  b  19   ist  ebenso 


Gesch.  der  Philos.  3  (1^90)4541,  sieht  darin  wie  1361a  5  Jlgodtfcoi:  statt  7/oo(5.  zu  lesen), 

schwerlich  richtig  eine  Mißdeutung  von  He-  •)  Theophr.  bei  Cic.  de  or.  III  185  (vgl. 

roclit.  fr.  129  D.    Spätere  Mache  ist  die  An-  j   Cic.  or.  183). 

gäbe  des   Schol..  Korax   und  Teisias   seien  ")  Das  Verbot  blieb :  Aristot.  rhet.  1408b 

Schüler  des  Empedokles.  21  ff.;  Cic.de  or.  111  175;  or.  189.  194. 

»)  H.  Diels,    Berl.   Ak.   Sitz.ber.    1884,  ;           «)  Aristot.  rhet.   1409a  2  ff.;   Quint.  III 

343  ff.,  sucht  das  zu  erklären;   s.  aber  auch  3,  4. 

0.  Navarre,  Essai  96,  und  schon  F.  Blass,  ^)  Aristot.    rhet.    1404a   14;     vielleicht 

Att.  Bereds.  P  66,  5.  i   spottet  darüber  Aristoph.  FfcoQyoi  bei  Phot. 

*)  Über  sizilische  xofti/u'mjc  0.  Jahn  zu  lex.  init.  p.  48,  10  Reitzenstein. 

Cic.  Brut.  46;  E.  Norden,  Ant.Kunstpr.  25,2;  ^o)  Dionys.  de  Isaeo  20. 
0.  Navabre,  Essai  4. 

Handbuch  der  klass.  Altertnmswisaenschaft.    VU.  5.  Aufl.                                                  33 


514 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  KLassische  Periode. 


buch  der  Rhetorik*)  und  Musterstücken  für  die  pathologischen  Teile  der 
Rede  {v7TeQßdU.ovTeg,  noooifua  und  ^leoi)^)  schrieb  er  jiaiyvia  und  ovjußov- 
Xtvxtxoi;  die  letzteren  müssen,  da  er  als  Metöke  nicht  selbst  in  der  Volks- 
versammlung auftreten  konnte,  als  politische  Pamphlete  verstanden  werden. 
Ein  langes  Stück  aus  einem  solchen  ovjußovknmxog,  freilich  in  schwer  ver- 
derbtem Zustand,  hat  Dionysios  von  Halikamassos  (de  Dem.  3)  erhalten; 
die  Rede  scheint  403,  in  demselben  Jahr  mit  dem  ovjußovXevuxog  des  Lysias 
geschrieben  zu  sein.^)  Eine  politische  Rede  von  ihm  für  die  Larissäer 
(Clem.  AI.  Strom.  VI  2,  16  p.  746  P.),  zwischen  413  und  399  verfaßt,  hat 
Herodes  Atticus  in  der  uns  erhaltenen  Deklamation  jtegl  nohxeiai;  benützt.*) 
Wie  angesehen  Thrasymachos  als  Technograph  war,  zeigen  die  Äußerungen 
des  Piaton  (im  Phaidros),  Aristoteles  und  Metrodoros*)  über  ihn.  Seine 
Reden  wurden  noch  in  der  Kaiserzeit  gelesen  und  nachgeahmt.^) 

287.  Gorgias,  der  Sohn  des  Charmantidas,  von  Leontinoi')  kam 
427  als  Abgesandter  seiner  Vaterstadt  nach  Athen  und  gefiel  dort  so  sehr, 
daß  er,  übrigens  ohne  festen  Wohnsitz  (Isoer.  15, 155),  in  Hellas  zu  bleiben 
sich  entschloß  und  in  Athen  und  anderen  Städten,  namentlich  Thessaliens, 
teils  als  Redner,  insbesonders  auch  Improvisator  (Philostr.  vit.  soph.  p.  3, 
19  ff.  K.),  teils  als  Lehrer  der  Beredsamkeit  auftrat,  wodurch  er  sich  ein 
sehr  großes  Vermögen  erwarb.  Wie  groß  sein  Einfluß  war,  erhellt  vor- 
züglich aus  Piaton,  der  seine  Polemik  gegen  die  Rhetorik  an  die  Person 
des  Gorgias  in  dem  nach  ihm  benannten  Dialog  anknüpfte.  Über  seine 
Ausbildung*)  ist  glaubwürdig  nur  berichtet,  er  sei  Schüler  des  Empedokles 
gewesen  (Diog.  L.  VIII  58;  Quint.  III  1,  8);  er  wird  aber  dann  durch  den 
Transcendentalismus  der  Eleaten  zu  der  skeptischen  Stimmung  geführt 
worden  sein,  aus  der  seine  nihilistische  Schrift  neQl  (pvoeox;  f)  Jiegl  rov  juiii 
övTog  hervorwuchs. ^)  Folgerichtigerweise  mußte  er  sich  nun  gestehen,  daß 
der  Mensch  und  sein  Wille  für  ihn  die  einzige  Realität  sei,  und  tatsächlich 


^)  '^^■X^'^i  QTjxoQixi)  (Said.  9.  Ggaa.),  fieydXtj 
xf-yvrj  (Schol.  Ar.  av.  880)  und  aq^oof-iai  grj- 
toQiy.ai  (Suid.)  sind  vielleicht  identisch  (F. 
BLASS  P  249,  0.  Navarbe  155). 

^)  Scharfe  Kritik  derartiger  Leidenschafts- 
erregung Plat.  apol.  34  b  ff.  (danach  Aristot. 
rhet.  I  1),  38  d. 

»)  So  U.  Köhler,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1895, 
457.    F.  Blaß  datiert  es  411. 

*)  W.  ScHMiD.  Rh.  Mus.  59  (1904)  512  ff.  ; 
ü.  Köhler.  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1893,  502  ff. 
Dagegen  E.  Drerüp  in  Stud.  z.  Gesch.  und 
Kultur  des  Altert  II  1  (Paderborn  1908), 
der  die  Herodesrede  in  „den  Hochsommer, 
d.  i.  Juli/August  d.  J.  404  v.  Chr."  datieren 
und  sie  einem  Litteraten  aus  dem  Kreis  des 
Theramenes  zuweisen  zu  können  meint,  und 
dies  „mit  voller  Sicherheit"  (S.  123). 

*)  Philod.  de  rhet.  suppl.  p.  43  Sudu. 

^)  Dionys.  Hai.  de  Dem.  3 ;  über  Herodes 
Att.  s.  A.  3 ;  lulius  Vestinus  hat  sie  für  sein 
Lexikon  exzerpiert  (Suid.  s.  Ch)t]OTTvog).  Über 
Thr.  im  allgemeinen  E.  Sohwartz,  Commen- 
tatio  de  Thras}Tnacho  Chalced.,  Rostock  1892; 
F.  BLASS,  Att.  Bereds.  P  245  ff.  Einen  stilisti- 


schen Gegensatz  zwischen  Gorgias  und  Thras. 
konstruiert  E.  Drerup,  N.  Jahrb.  f.  Philol. 
Suppl.  27  (1902)  219  ff 

^)  Philostr.  Vit.  soph.  1  9;  H.  E.  Foss.  De 
Gorgia  Leontino  comm.,  Halle  1828.  Gorgias 
erreichte  nach  Apollodoros  ein  Alter  von  105 
oder  108  bis  109  Jahren;  sein  Leben  setzt 
demnach  Foss  496—388,  Frei  483—375,  E. 
Drerup,  N.  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl.  27  (1902)  251  f. 
480 — 370,  WiLAMOWiTz,  Aristot.  und  Athen 
I  172  A.  75:  500/497—391/88.  Daß  Gorgias 
zur  Zeit  des  gleichnamigen  Dialogs  des  Piaton 
(um  390)  noch  lebte,  ist  möglich  (Ath.  505  e; 
F.  Jacoby,  Apollodors  Chronik  p.  264  f.). 
über  die  späteren  Anhänger  des  Gorgias  s. 
den  Brief  des  Philostratos  epist.  73  an  die 
Kaiserin  lulia.  Alle  Zeugnisse  und  Frag- 
mente H.  DiELS,  Vorsokratiker  *  S.  523  ff. 

8)  H.  DiELS,  Beri.  Ak.  Sitz.ber.  1884, 
343  ff.;  dagegen  E.  Meyer,  Gesch  d.  Altert 
III  658. 

®)  Sie  gipfelt  in  dem  Satz  (Ps.  Aristot.  de 
Xenoph.  Mel.  Zen.  V  p.  979  a  12)  ov>c  elvai 
ovÖev  ei  6*faTir,  ayvwoTov  etvai'  ei  de  xai 
I    eart  xai  yvcooröv,  ov  dtjXiOTov  äkloig. 


3.  Die  Beredsamkeit,    a)  Anfänge  knnstmäfiiger  Beredsamkeit.    (§  287.)     515 

wandte  er  schließlich  sein  ganzes  Interesse  der  Kunst  zu,  durch  die  Rede 
den  eigenen  Willen  durchzusetzen  und  den  fremden  zu  leiten:  er  wollte 
nicht  mehr  ao(pioTi^gj  sondern  ^tJTcoQ  heißen  (Plat.  Gorg.  449a.  456c),  nicht 
ägsTij  oder  Realkenutnis  (Plat. Men. 95 c)  lehren,  sondern  nur  Redekunst») 
Um  die  radikalen  ethischen  Konsequenzen  aus  seiner  Überzeugung  prak- 
tisch zu  ziehen,  dazu  war  er  eine  viel  zu  vornehme  und  zu  wenig  aggres- 
sive Natur  —  wie  hierin  seine  Schüler  folgerichtiger  gewesen  sind, 
zeigt  sehr  fein  Piaton  im  Gorgias.  Als  reiner  Ästhet  hielt  er  sich  von 
der  Advokatur  fern  (Dionys.  Hai.,  Rhet.  Gr.  V  548  A.  2  Walz)  und  widmete 
sich  ganz  der  Ausbildung  der  epideiktischen  Rede;  in  ihr  wollte  er  einen 
Ersatz  für  die  Poesie  schaffen  (Aristot.  rhet.  1404a  24  flf.),  im  rhetorischen 
Unterricht  ein  Mittel  zur  Formung  auch  des  Charakters.  Welchen  Erfolg 
er  damit  und  auch  durch  sein  eigenes  Vorbild  hatte,  spricht  die  Inschrift 
von  Olympia  aus: 

roQyiov  daxfjoai  tpvyji]v  ägexijg  ig  äycbvag 
ovdeig  tzo)  ^i]Tcbv  xalkiov    rjvge  xe^vriv, 

ov  xal  ^AnoXkayvog  yvdXoig  eix(bv  ävaxeirai 
ov  Jikovrov  naoddeiyju,  dmeßiag  de  tqoticov. 
Am  berühmtesten  waren  unter  seinen  Reden  der  Uv^ixog  (sc.  koyog)^  ge- 
halten in  Delphoi,  wo  er  nachher  ein  vergoldetes  Standbild  von  sich  auf- 
stellen ließ,*)  der  ^OXvfxnixog^  in  dem  der  später  oft  wiederholte  Gedanke, 
die  Hellenen  sollten  ihre  inneren  Händel  lassen  und  ihre  vereinten  Kräfte 
gegen  die  Barbaren  wenden,  zum  erstenmal  glanzvoll  durchgeführt  war») 
(beide  Reden  hielt  er  von  den  Stufen  der  Tempel  aus  an  die  panhelleni- 
schen Festversammlungen),  femer  AQr^Emxdifiog  auf  die  gefallenen  Athener, 
der,  selbstverständlich  nicht  von  ihm  selbst,  da  er  Metöke  war,  gehalten, 
für  die  später  so  häufigen  Grabreden  auf  die  Vaterlandsverteidiger  Vor- 
bild wurde.  Wir  haben  von  diesen  berühmten  Reden  nur  Inhaltsangaben 
(bei  Philostratos)  und  spärliche  Fragmente;  hingegen  sind  unter  seinem 
Namen  zwei  sophistische  Reden,  "Elivrjg  iyxwjiuov  und  TTakajurjdrjg^  auf  uns 
gekommen,  an  deren  Echtheit  nicht  mehr  gezweifelt  werden  sollte.*)  In 
seinen  Werken^)  hat  Gorgias  einen  durch  Figuren-  und  Metaphemschmuck 
gehobenen,  halbpoetischen  Stil  ausgebildet;  unter  seinen  Figuren  werden 
hauptsächlich  die  Antithesen,  die  Parisa  und  Paromoia  (das  sind  die  log- 
yma  oyjjjuam)  von  Cicero  or.  175  und  Dionys.  de  Thuc.  23  hervorgehoben.^) 


M  Übrigens  reklamierte  er  schon  (fr.  28 
Sacppe)  den  Namen  <pi),ooo(fia  für  seine  Lehre. 
Die  Macht  der  Redekunst,  die  er  als  :teidovg 
dtjfnoi'oyog  definierte  (test.  28  D.),  preist  er 
Hei.  8~fr.;  vgl.  test.  26  D. 

')  Philostr.  a.  0.:  Ath.  505  d. 

8)  Auch  in  Olympia  wurde  ihm  später 
eine  St«tue  gesetzt,  deren  Inschrift  (Inschr. 
V.  Olympia  nr.  239)  s.  oben:  der  Dedikant 
ist  Gorgias'  Großneffe  und  Schüler  Eumolpos, 


*)  Für  die  Echtheit  bringt  neue  Gründe 
vor  E.  Maass,  Herrn.  22  (1887)  566—81. 
ebenso  G.Thiele,  Herrn.  36  (1901)  218—71, 
und  E.Drerüp,  Jahrbb.  a.O.  Die  Verschieden- 
heit der  Hiatusbehandlung  in  den  beiden 
Reden  kommt  von  der  verschiedenen  Ab- 
fassungszeit: in  dem  späteren  Palamedes 
erst  tritt  G.  in  die  Fußstapfen  des  Thrasy- 
machos  und  meidet  den  Hiatus. 

')  Eine  rhetorische  Techne  hat  er  nicht 


Über  eine  übersehene  Stelle   des  Olympikos   .   verfaßt:   seine  Reden   sind   seine  reyraii  E. 
s.  J.  Beknays,  Ges.  Abh.  I  121.     Versuche,      Maass,  Herm.  a.  a.  0.  578. 
die  Rede  zu  datieren  (F.  Dümmler,  Akadem.  23  *)  Einzelne  solche  Gleichklänge  kommen 

setzt  sie  391 ;  WiLAMO WITZ,  Aristot.  u.  Athen   i   natürlich   auch   vor  Gorgias  schon  vor  (E. 
II 72: 408)  führen  zu  keinem  sicheren  Ergebnis.   |   Norden,  Ant.  Kunstpr.  16  ff.). 

33* 


516  Griechische  Litteratorgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

Übrigens  greifen  manche  seiner  Lehren,  wie  z.  B.  die  Anweisung,  über  den- 
selben Gegenstand  kurz  oder  lang  reden  zu  können  (Plat.  Qorg.  449  c)  oder 
das  Lachen  der  Gegner  durch  Ernst,  ihren  Ernst  durch  Lachen  zu  Fall 
zu  bringen  (fr.  12  D.;  vgl.  Cic.  de  or.  II  236),  auch  in  das  Praktische  ein. 
Zur  Verbreitung  des  attischen  Dialektes  hat  er,  als  ein  von  allen  Griechen 
gesuchter  Redner,  viel  beigetragen.')  So  sehr  man  späterhin*)  die  gor- 
gianischen  Figuren  kindisch  fand,  so  sind  sie  doch  Ende  des  5.  und  An- 
fang des  4.  Jahrhunderts  derart  Mode  geworden,  dafa  die  ernsthaftesten 
Schriftsteller  sie  anwendeten.*)  Systematiker  der  gorgianischen  Technik 
wurde  der  aus  Piaton  bekannte  Gorgiasschüler  Polos  von  Akragas  (geb. 
c.  440);  ins  Süßliche  und  Überladene  führten  Agathen  und  Likymnios 
seinen  Stil,  während  Isokratcs  ihm  das  kleinlich  Unruhige  und  Schillernde 
nahm  und  ihn  zu  seinem  breiten  und  vollklingenden  Periodenstil  umbildete. 

Die  Ideen  einer  Zusammenfassung  aller  griechischen  Kräfte  zum 
Gegensatz  gegen  das  Barbarentum,  einer  sittlichen  Erziehung  durch  die 
Rhetorik,  einer  mit  Mitteln  der  Poesie  wirkenden  Prosa  schlugen  zündend 
ein  in  eine  Zeit  der  Zerrissenheit,  die,  dem  Geist  der  alten  Dichtung 
entfremdet,  eine  würdige  Form  suchte,  um  die  Gedanken,  Interessen, 
Empfindungen  der  Gegenwart,  auf  welche  die  ernsthafte  Poesie  nicht  ein- 
gehen mochte,  zum  Ausdruck  zu  bringen,  und  eine  Methode  der  Erziehung, 
die  weltläufige  Formgewandtheit  und  Erfolg  beim  öffentlichen  Auftreten 
in  Aussicht  stellte,  mußte  gerade  damals  höchst  zeitgemäß  erscheinen. 
Daraus  erklärt  sich  die  Begeisterung  der  Zeitgenossen  für  Leistungen,  die 
uns  jetzt  von  mäßiger  Bedeutung  zu  sein  scheinen.  Wenn  von  der  Mitte 
des  4.  Jahrhunderts  an  der  Kunstredner  neben  den  Dichtern  und  Musikern 
in  die  Konzert-  und  Rezitationsvorstellungen  im  Theater,  die  als  äyojveg 
{^vjueXixol  in  hellenistischer  Zeit  ein  wichtiger  Kulturfaktor  geworden  sind,*) 
mit  aufgenommen  wird,  so  zeigt  sich  darin  die  Wirkung  des  gorgianischen 
Gedankens,  daß  die  schön  geformte  Rede  eine  der  Dichtung  ebenbürtige 
Kunstleistung  und  Bildungsmacht  sei. 

288.  Ihre  weitere  Entwicklung  fand  die  Beredsamkeit  in  Athen;  hier 
vereinigte  sich  alles,  um  die  neue  Kunst  zur  Blüte  zu  bringen.  Vor  allem 
war  hier  die  Redefreiheit  {jiaogijoia,  d.  i.  Trav'gtjoia^  Freiheit,  alles  zu 
sagen)  ein  Grundpfeiler  des  attischen  Staatswesens  zugleich  und  ein 
Lebenselement  der  Beredsamkeit.  Dazu  traten  die  Öffentlichkeit  der  Ver- 
handlungen, die  Macht  der  Volksversammlungen,  die  Häufigkeit  der  Pro- 
zesse, das  Wohlgefallen  an  schönen  Reden.  So  kamen  in  Athen  zwischen 
der  Zeit  des  poloponnesischen  Krieges  und  der  Herrschaft  des  Alexandres 

0  WiLAMOwiTZ,  Entstehung  der  griech.  vestigiis,  Rostock  1890  (bei  Thukydides.  der 
Schriftsprachen,  in  Verh.  der  Vers.  d.  Phil.  besonders  dem  Öizilier  Hermokrates  solche 
in  Wiesbaden,  1877,  und  Phil.  Unt.  7  (1884)   ,  Figuren  in  den  Mund  legt,  dann  bei  Isokrates, 


312  f.;  E.  Zarncke.  Die  Entstehung  der 
griech.  Litteraturspr.  S.  18  f.  und  49  f.;  E. 
Norden,  Antike  Kunstprosa  15  ff. 

*)  Dionys.  Hai.  de  Isaeo  19;  ad  Amm. 
11  17;  Diod.  XII  53;  Plut.  mor.  fr.  138  (vol. 
VII  167  Bern.). 

')  E.  SciiEEL,   De  Gorgianae  disciplinae 


Agathon,  Alkidamas,  Archytas,  Lysias,  Ver- 
fassern von  .Schriften  des  hippokratischen 
Corpus);  J.  C.  Robertson,  The  Gorgian 
figures  in  earlv  Greek  prose,  Diss.  Baltimore 
1893. 

*)  J.  Frei,    De   certaminib.   thymelicis, 
p.  10.  12. 


3.  Die  Beredsamkeit,    a)  Anfänge  knnatmäßiger  Beredsamkeit.    (§  288.)     517 

alle  drei  Gattungen  von  Reden  zur  Blüte,  die  Reden  vor  Gericht  {yivog 
dixavixöv)^  die  bei  den  Beratungen  im  Senat  und  in  den  Volksversamm- 
lungen (yevog  ovjußovkevuxov  oder  drijLii]yogix6v)^  endlich  die  in  den  Fest- 
versammlungen (yivog  imdeixTixöv  oder  Jiavi]yvgtx6v),  Anfangs  scheuten 
sich  die  großen  Staatsmänner  noch,  ihre  Reden  herauszugeben;*)  bald  aber, 
gegen  Ende  des  peloponnesischen  Krieges,  wurde  auch  diese  Scheu  über- 
wunden, und  die  Politiker  betrachteten  nun  geradezu  die  Veröffentlichung  ihrer 
Reden  als  ein  Hauptmittel  zur  Stärkung  ihres  politischen  Einflusses.  Aber 
auch  Gerichtsreden  in  nachträglich  redigierter  Form  wurden  als  Muster- 
stücke zur  Nachahmung  von  hervorragenden  Logographen  herausgegeben; 
wie  groß  das  öffentliche  Interesse  an  ihnen  war,  zeigt  das  Urteil  des 
Thukydides  (VIII  68,  2)  über  die  Verteidigungsrede  des  Antiphon.  Theorie 
und  Praxis  sind  in  dieser  ganzen  Periode  insofern  nebeneinander  hergegangen, 
als  die  Lehrer  der  Beredsamkeit  zugleich  Redner  waren,  nur  daß  bei  den 
einen  die  Tätigkeit  des  Lehrens,  bei  den  andern  das  öffentliche  Wirken  in 
den  Vordergrund  trat.*)  Diese  Redekünstler  haben  nach  und  nach  alle 
Mittel  aufgefunden,  irgend  einen  noch  so  bedenklichen  Gegenstand  dem 
Publikum  in  der  Art  mundgerecht  zu  machen,  daß  die  vom  Redner  ge- 
wünschte Einwirkung  auf  Willen  und  Entschließung  der  Hörenden  nicht 
ausblieb.  Der  Rhetor  wird  —  ein  scharfes,  aber  wahres  Urteil  des  Piaton 
—  tatsächlich  zum  Kochkünstler,  und  die  Wort-  und  Gedankenköche  haben 
den  Griechen  den  Gaumen  so  verwöhnt  und  den  Magen  so  verderbt,  daß 
für  die  einfach  rauhe  Kost  der  Wahrheit  nur  noch  wenige  empfänglich 
blieben  und  das  Gesinnungstüchtige  ohne  formellen  Aufputz  bei  den  Ge- 
bildeten sich  immer  weniger  durchsetzen  konnte.  Die  ausdörrende  und 
verfälschende  Wirkung  der  Rhetorik  wird  nicht  erst  von  Piaton,  sondern 
schon  von  Euripides  konstatiert.^)  Aber  so  sehr  sich  Philosophie  und 
Fachwissenschaft  in  der  hellenistischen  Zeit  gegen  solche  parasitenartige 
Wucherung  des  an  sich  edlen  Strebens  der  griechischen  Anlage  nach 
schöner  Form  wehren,*)  sie  war  schließlich  doch  nicht  mehr  aufzuhalten 
und  hat  die  geistige  und  sittliche  Verödung  des  ausgehenden  Altertums 
wesentlich  befördert. 

In  der  Entwicklung  der  Überredungsmittel  lassen  sich  vier  Stufen 
unterscheiden:  1.  man  sucht  den  Verstand  durch  Künste  der  logischen 
(bezw.  paralogistischen)  Beweisführung  zu  gewinnen  (Antiphon),  2.  die  sinn- 
lichen Reize  der  Sprache  werden  für  die  Prosa  fruchtbar  gemacht  (Thra- 
symachos,  Gorgias,  Isokrates),  3.  die  Überzeugungskraft,  die  in  der  (echten 
oder  nachgemachten)  ethischen  Persönlichkeit  des  Redenden  liegt,  wird 
entdeckt  (Lysias),  4.  der  Redner  ist  oder  stellt  sich  dar  in  leidenschaft- 
licher Erregung  und  wirkt  dadurch  entsprechend  auf  das  Publikum  (Isaios, 


')  Plat.  Phaedr.  257  d. 

-)  Von  den  Rednern  Athens  gut  nament- 
lich der  sprichwörtliche  Ausdruck  Piatons, 
legg.  I  p.  642  c,  daß,  wenn  die  Athener  irgend- 
wo tüchtig  sind,  sie  dieses  in  hervorragendem 
Maße  sind:  to  vjto  :io/J.u)v  Igyofievov,  wg  oaot 
'Ai}T]vai(ov  eloiv  ayadoi,    Sta(feo6vT(og  eioi  xoi" 


ovTot,  doxsT  akij^ioraxa  Xeyea&ai. 

»)  Eur.  Hippel.  469  ff.,  486  ff.,  988  f.; 
Tro.  966  f. ;  Phoen.  526  f. :  fr.  600 ;  Hec.  1 187  ff., 
1238  f.  (dagegen  Hec.  814  ff.). 

*)  Der  Kampf  ist  dargestellt  bei  H. 
V.  Arnim,  Leben  und  Schriften  des  Dio 
V.  Pmsa  Kap.  I. 


518 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  ElasBische  Periode. 


Demosthenes  und  seine  Zeitgenossen).  Daß  diese  Künste  meist  lediglich 
darauf  hinzielen,  den  Hörer  von  der  Sache  abzulenken  und  ihm  ein  sach- 
liches Urteil  unmöglich  zu  machen,  bemerkt  Aristoteles  im  Anfang  seiner 
Rhetorik;  immerhin  können  sie,  wie  namentUch  Demosthenes  zeigt,  auch 
in  den  Dienst  ernster  und  wahrer  Überzeugung  gestellt  werden. 

Von  den  Grammatikern,  vielleicht  von  den  Pergamenem  um  125 
V.  Chr.,  wurde  ein  Kanon  von  zehn  attischen  Rednern  aufgestellt:^)  Anti- 
phon, Andokides,  Lysias,  Isokrates,  Isaios,  Aischines,  Demosthenes,  Hyper- 
eides,  Lykurgos,  Deinarchos. 

b)  Antiphon  und  Andokides. 

289.  Antiphon,^)  Sophilos'  Sohn  aus  dem  Demos  Rhamnus,  etwas 
jünger  als  Gorgias,  fand  bei  den  politischen  Wirren  gegen  Ende  des  pelo- 
ponnesischen  Krieges  den  Tod.  Ein  eifriger  Anhänger  der  Oligarchen  und 
Mitbegründer  des  Rates  der  Vierhundert  wurde  er  nach  dem  Mißlingen  der 
Staatsumwälzung  von  seinen  Gegnern  des  Landesverrates  angeklagt  und 
zum  Tod  verurteilt  (411).«)  Er  war  als  Redner  in  der  Volksversammlung 
nicht  aufgetreten,  auch  von  seiner  Tätigkeit  als  Lehrer  der  Beredsamkeit*) 


*)  Über  das  Verzeichnis  M.  H.  E.  Meier, 
Opusc.1 120  ff.  und  besonders  W.  Studemund, 
Herrn.  2  (1867)  484  ff.,  wo  die  abweichenden 
Angaben  über  die  Zahl  der  Reden  bei  Ps.- 
Plutarch-Photios  und  einem  anonymen,  in 
mehreren  Handschriften  erhaltenen  Verzeich- 
nis der  zehn  Redner  und  ihrer  Werke  er- 
örtert sind.  Die  erste  bestimmte  Kunde  von 
dem  Kanon  haben  wir  bei  Gäcilius  (in  der 
Zeit  des  Augustus),  der  eine  Schrift  Jirgi  rov 
Xagaxxijgog  kuv  Sf.xa  qtjtöomv  schrieb.  Daß 
er  aber  von  den  Pergamenem  ausging,  sucht 
J.  Bbzoska,  De  canone  decem  oratorum  atti- 
corum,  Bresl.  Diss.  1883,  in  apagogischer  Art 
zu  beweisen.  Dagegen  lassen  R.  Weise, 
Quaestiones  Caecilianae,  Berl.  1888,  und  P. 
Hartmann,  De  canone  decem  oratorum,  Gott. 
1891,  den  Kanon  erst  von  Gäcilius  ausgehen. 
Die  These  von  Wilamowitz  (Textgesch.  der 
griech.  Lyriker  63  ff.),  daß  die  Alexandriner- 
zeit mehr  als  die  zehn  Redner  nicht  gekannt 
habe,  von  einem  Kanon,  d.  h.  einer  Auswahl 
also  nicht  geredet  werden  könne,  wird  durch 
das  von  W.  selbst  67 — 69  Vorgebrachte  wider- 
legt. Der  mangelhaften  Echtheitskritik  der 
Alten,  von  der  Dionys.  Hai.  de  Din.  den 
besten  Begriff  gibt,  verdanken  wir,  daß  eine 
Anzahl  unechter  Reden  in  die  Sammlungen 
des  Antiphon,  Lysias  und  Demosthenes  auf- 
genommen worden  sind.  Wir  kennen  also 
auch  einige  rednerischen  Werke  dieser  Zeit, 
die  nicht  von  einem  der  zehn,  sondern  von 
anderen  teils  unbenennbaren  (Ps.Antiph.  Te- 
tral.,  Ps.Lys.  6.  15.  20,  Verschiedenes  im 
Gorp.  Demosth.)  teils  benennbaren  (Hegesip- 
pos.  d.  h.  Ps.Dem.  7,  Apollodoros)  Verfassern 
stammen. 

«)  Außer  Ps  Plutarch  Vit.  X  or.  und  Pho- 


I  tios,  Philostr.  vit.  soph.  I  15  und  Suidas  dient 
I  als  Quelle  ein  wesentlich  auf  Ps.Plutarch 
I  zurückgehendes  Fevog  *AvTi(pu)yTog  unserer 
;  Handschriften.  D.  Ruhnken,  Dissertatio  de 
Antiphonte  oratore  Att.,  Opusc.  (Leiden  1807) 
214—256.  —  Von  dem  Redner  Antiphon  wird 
der  Sophist  Antiphon  unterschieden,  über  den 
H.  Sauppe,  De  Antiphonte  sophista,  Ausgew. 
Schriften,  508  ff.  Die  Unterscheidung  des  So- 
^  phisten  von  dem  Redner  stützt  der  Rhetor 
Hermogenes  de  id.  II  11.  7  p.  414  Sp.  haupt- 
sächlich auf  Unterschiede  des  Stils.  Die 
Fragmente  des  Sophisten,  von  dem  es  eine 
erkenntnistheoretische  {\4?,i]&eia)  und  eine 
ethisch-politische  {'OfÄovoia)  Schrift,  außerdem 
ein  Traumbuch  {Ttegi  xgiaeoyg  6veIoo>v)  gab 
(ein  IloXiupcog  gehört  wohl  dem  Rhanmusier), 
neubearbeitet  von  H.  Diels,  Fragm.  d.  Vor- 
sokr.*  550—562.  K.  JoSls  (Der  echte  und  der 
xenoph.  Sokr.  II  638  ff.)  Versuch,  den  Redner 
und  den  Sophisten  zu  identifizieren,  ist  miß- 
lungen; aber  das  Stück  aus  lambl.  Protr.  20, 
das  F.  Blaß  dem  Sophisten  Ant.  zugewiesen  hat, 
bleibt  bis  auf  weiteres  besser  anonym  (Diels, 
Vorsokr.i  577  ff.;  JofiL  a.  a.  0.  II  673  ff.). 

»)  Thuc.  VIII  68:  'AyiKpwv  tjv  drijQ  'A^- 
vaicov  Td>v  xad*  eavToy  dgerf}  te  ovdeva;  vote- 
Qog  xai  fcgdriaTog  ev&vfjirj&fjvai  yerofisvog  xai 
ä  «r  yvoiti  ebteXv,  xai  eg  fin'  örjuov  ov  noQiiov 
ovd*  ig  nllov  dyibva  fxoraiog  ovdfva,  o/./,* 
VTionxoyg  T<h  :i).r)Oei  did  Öo^av  deivortjTog  dta- 
xsifievog,  zovg  fjEtnroi  dycovtCofievovg  xai  ev 
dtxaazrigio}  xai  n'  ^f'ifto)  Jt/^eiora  elg  dyijg  ooxig 
^vfißov/.eraaiTo  ri  Svrdftevog  oxpeXeir. 

*)  Plat.  Menex.  236  a.  Siehe  a.  o.  S.453,  9. 
Von  einer  dem  Antiphon  untergeschobenen 
QfjTooixij  iF-xv^j  Stellen  bei  L.  Spenoel,  ^way. 
xexv,  p.  115—8. 


3.  Die  Beredsamkeit,    b)  Antiphon  nnd  Andokides. 


9.) 


519 


läßt  sich  nicht  viel  Sicheres  nachweisen.  Von  der  Komödie  wird  er  unseres 
Wissens  zuerst  um  420  angegriffen,  i)  ist  also  vorher  wohl  wenig  hervor- 
getreten.*) Sein  eigentliches  Feld  fand  er  in  der  Advokatentätigkeit,  die  er 
gegen  Entgelt  ausübte.*)  In  eigener  Sache  war  Antiphon  wenigstens  einmal 
bei  jenem  Hochverratsprozeß  aufgetreten;  die  Alten  hatten  noch  seine 
Verteidigungsrede  :i€ol  ^letaotdoewg  oder  über  die  Verfassungsändenmg,*) 
aus  der  uns  ein  Stück  jetzt  auch  aus  einem  in  Genf  befindlichen  Papyrus 
des  2.  Jahrhunderts  n.  Chr.  (s.  unten  A.  2)  bekannt  geworden  ist. 

Unter  Antiphons  Namen  waren  sechzig  Reden  in  Umlauf,  von  denen 
Cäcilius  fünfundzwanzig  für  unecht  erklärte.  Auf  uns  gekonmien  sind  nur 
fünfzehn,  lauter  Reden  in  Mordsachen  {dixai  (povixal);  man  hat  also  den 
Antiphon  als  eine  Hauptautorität  im  Kriminalrecht,  wie  später  den  Isaios 
in  Erbschaftssachen,  angesehen.  Von  jenen  fünfzehn  Reden  sind  zwölf 
bloß  skizzierte  Musterschablonen  in  drei  fingierten  Rechtsfallen  (unerwie- 
sener  Mord  (povog  (biaQdarjjuog^  unfreiwilliger  Totschlag  q?6vog  äxovaiog^^) 
Körperverletzung  in  der  Notwehr  mit  nachgefolgtem  Tod  q)6vog  dtxatog)^ 
80  angelegt,  daß  immer  je  vier  (Anklage,  Verteidigung,  Replik,  Gegen- 
replik) zu  einer  Tetralogie  zusammengehören.^)  Die  drei  größeren  Reden 
sind:  xaxxjyooia  (paofxaxeiag  xatä  x^g  ju}]Tovtäg  (1),  Jiegi  xov  'Hgcodov  q^ovov  (5), 
negi  xov  ypQEvxov  (6).  Die  vorzüglichste  und  als  solche  schon  von  den  Alten 
anerkannte  ist  zweifellos  die  zweite,  mit  der  sich  ein  gewisser  Euxitheos^) 
gegen   die   Anschuldigung   verteidigt,   den  auf  einer  Fahrt  mit  ihm   von 


1)  Plat.  com.  fr.  103  K. 

*)  Das  wird  bestätigt  durch  den  Genfer 
Papyrus  (J.  Nicole,  L'apologio  d' Antiphon, 
Genf-Basel  1907,  j».  19  f.),  zu  dessen  Texther- 
stellung vgl.  Th.  Thalheim,  Berl.  phil.  Woch. 
27  (1907)  1505  ff. 

»)  J.  Nicole  a.  a.  0.  20,  25  f. 

*)  Arist.  eth.  Eud.  III  5  p.  1232b  6. 

*)  Der  Fall  von  Tetr.  II  war  Gemein- 
platz in  den  sophistischen  Erörterungen  über 
Fragen  des  Kriminalrechts  (Flut.  Per.  36)  und 
auch  Aristot.  eth.  Nie.  113Äb  11  ff.  scheint 
ihn  im  Sinn  zu  haben. 

^)  L.  Spengels  Vermutung,  die  Tetralo- 
gien hätten  einen  Teil  der  jexvi}  gebildet,  die 
seit  s.  IL  p.  Chr.  auf  Antiphons  Namen  zitiert 
und  von  £.  Norden  (Ant.  Kunstpr.  72)  un- 
richtig dem  Sophisten  vindiziert  wird,  ist 
schwerlich  haltbar;  wohl  aber  können  dahin 
Antiphons  Troooitna  und  ijit).oyot  gehören.  Die 
Tetralogien  haben  Eigentümlichkeiten  im 
sprachlichen  Ausdruck,  namentlich,  wie  L. 
Spengkl,  Rh.  Mus.  17  (1862)  167  hervorhob, 
häufiges  TF  . . .  Tf .  Anstößig  ist  der  öfter  vor- 
kommende Aorist  ane),oyi)Otiv  und  das  ioni- 
sche oiöafiew  Vgl.  F.  J.  Brückner,  De  tetra- 
logiis  Antiphonti  Hhamnusio  adscriptis.  Baut- 
zen ly»7.  Sprachliche  Indizien  gegen  die 
Echtheit  sind  sonst  von  H.  v.  Hebwebdbn, 
Mnem.  N.  S.  9  (1881)  203  ff.,  vorgebracht. 
Auch  sachlich-juristische  Bedenken  erheben 
W.  DiTTENBEROER,   Herm.  31  (1896)  271  ff. 


und  32  (1897)  1  ff.,  E.Szanto,  Archäol.-epigr. 
Mitteil,  aus  Österr.-Ungam  19  (1896)  71  ff. 
Nachdem  Dittenberoer,  Herm.  40  (1905) 
450  ff ,  seine  Unechterklärung  gegen  F.  Blass 
(Att.  Bereds.  P  151  ff.,  UI  2'  863  ff.)  und  J. 
H.  Lipsius  (Ber.  der  sächs.  Ges.  der  Wiss. 
56,  1904.  192  ff.)  verteidigt  hat,  kann  im  all- 
gemeinen gesagt  werden,  daß  die  sachlichen 
Bedenken  nicht  genügen  würden,  die  Echt- 
heit auszuschließen,  die  sprachlichen  aber  in 
voller  Schwere  bestehen  bleiben  (die  letzteren 
sind  neuerdings  vermehrt  durch  Beobachtun- 
gen von  K.  Fuhr,  Berl.  phil.  Woch.  22,  1902, 
872;  R.  S.  Radford,  Personification  and  the 
use  of  abstracte  subjects  in  the  attic  orators 
and  Thucyd.,  Baltimore  1901).  Für  die  Echt- 
heit haben  sich  0.  Navarre,  Essai  147  f.,  H. 
Richard,  Class.  rev.  20  (1906)  148  ff.,  W.  Ro- 
senthal, De  Antiph.  in  particular.  usu  pro- 
priet..  Rostocker  Diss.  Leipz.  1894,  ausge- 
sprochen, auch  E.  Rohde  (Psyche  IP  436  A.) 
hat  frühere  Zweifel  zmlickgenommen.  Ter- 
minus post  quem  ist  jedenfalls  428  (vgl.  lß\2 
mit  Thuc.  III  19,  1).  aber  Altertümlichkeiten 
der  Anschauung  (H.  Meuss,  Jahrbb.  f.  cl. 
Phil.  139,  1889,  «08  f.)  verbieten  über  400  her- 
abzugehen. Eine  eigentümliche  Auffassung, 
als  ob  die  Tetr.  Exemplifikationen  einer  neuen 
rechtsphilosoph.  Theorie  wären,  vertritt  E. 
SzANTO,  Ausgew.  Abb.,  Tüb.  1906,  114  ff. 

^)  Euxitheos  genannt  von  Sopatros,  Rhet. 
gr.  IV  316  Walz  (H.  Meuss,   De  ajtayioyijg 


520  Grieohische  Litfceratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

Mytilene  nach  Ainos  spurlos  verschwundenen  Kleruchen  Herodes  ermordet 
zu  haben.  1)  Interessant  ist  auch  der  erste  Rechtsfall,  in  dem  ein  unehe- 
licher Sohn  gegen  seine  Stiefmutter  wegen  eines  ihrem  Mann  gereichten 
Liebestrankes  klagend  auftritt;  die  Stellung  der  Erzählung  (dirjytjaig)  mitten 
zwischen  den  Beweisen  und  der  Mangel  einer  eigentlichen  Peroratio  haben 
ohne  Grund  Anstoß  erregt  und  Zweifel  an  der  Echtheit  der  Rede  hervor- 
gerufen.*) Auch  die  Rede  negl  xov  ^ooevrov^)  gehört  zu  den  Eriminal- 
reden,  da  darin  ein  Chorege  gegen  den  Vorwurf,  an  dem  Tod  eines  Knaben 
seines  Chors  schuld  zu  sein,  verteidigt  wird.  Der  Stil  des  Antiphon  zeigt 
noch  die  Strenge  und  schlichte  Einfachheit  der  alten  Zeit;  aber  in  der 
geradezu  aufdringlichen  Verstandesmäßigkeit  der  Beweisführung,  die  frei- 
lich hie  und  da  mit  Tönen  altertümlich  religiöser  Feierlichkeit  eigentümlich 
gemischt  ist,  in  gewissen  gorgianischen  Spielereien,  in  dem  ebenmäßigen 
Satzbau,  der  seine  Reden  denen  des  Thukydides  gegenüber  auszeichnet, 
und  in  der  häufigen  Wiederkehr  von  Gemeinplätzen  und  Sentenzen  erkennt 
man  den  Einfluß  dialektisch-rhetorischer  Schule.  Eine  Eigentümlichkeit 
seiner  Reden,  die  Br.  Keil*)  schwerlich  richtig  mit  dem  Gesetze  jui]  övojuaoü 
xiojucpdeJv  in  Verbindung  gebracht  hat,  besteht  darin,  daß  die  Namen  der 
in  dem  Prozeß  irgendwie  kompromittierten  Personen  in  der  Regel  nicht 
angegeben  werden.  Dies  steht  in  Zusammenhang  mit  der  ünpersönlich- 
keit  der  Behandlung  überhaupt:  es  fehlen  alle  individualisierenden  Charakter- 
züge,*) Ethopoie  ist  dem  Redner  noch  terra  incognita.^)  Die  Art  der 
Beweisführung  ist  so  sophistisch  als  möglich;  mit  Verdrehungen,  Unter- 
drückungen, Schlüssen  auf  Grund  unvollständiger  Prämissen  wird  skrupellos 
gearbeitet.  Sehr  bezeichnend  ist  in  dem  Fragment  der  Apologie  Antiphons 
Versuch,  den  Verdacht  einer  Mitwirkung  bei  dem  Staatsstreich  im  Jahr  411 
durch  Hinweis  darauf  zu  beseitigen,  daß  unter  der  Demokratie  seine  Advokaten- 
praxis viel  besser  gedeihen  könne  als  unter  der  Oligarchie  (col.  2,  12  flf.). 
Ein  Element  der  Frische  in  der  allgemeinen  Steifheit  der  Darstellung  ist 
das  Fehlen  fester  Dispositionen  —  nur  Proömien  haben  alle  drei  Reden, 
der  Schluß  fehlt  (aus  rhetorischen  Gründen)  in  VI.^)  —  Wiewohl  in  den 
Kanon  aufgenommen,  ist  Antiphon  doch  späterhin  in  den  Schulen  wenig 
gelesen  worden;  nur  die  Glossographen  exzerpieren  ihn  noch.*^) 

Der  Text  des  Antiphon  und  der  kleinen  attischen  Redner  überhaupt  beruht  auf  Cod. 
Crippsianus  des  britischen  Museums  (A)  s.  XIII  und  Oxoniensis  (N)  s.  XIV,  die  zwei  selb- 
ständige Nachkommen  eines  nicht  mehr  erhaltenen  Archetypus  sind.  —  Ausgabe  mit  Kom- 
mentar von  E.  Mätzner,  Berol.  1838;  von  V.  Jernstedt,  Petersburg  1H80;  von  F.  Blass  in 

actione  apud  Athenienses,  Breslau  1884  p.27  und  B.  Keil,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  135  (1887) 

und    A.  BoHLMAKN,    Antiphontis    de    caede  !   89  if. 

Herodis  oratio,  Liegnitz  1886,  nach  einer  An-  \           ')  Vor  415  setzt  sie  B.  Keil,  Herm.  29 

deutung  in  E.  Mätzners  Antiphonkommentar  i   (1894)  32  if.;  §§1—6  sind  aus  einer  Proömien- 

p.  205).  Sammlung  genommen  (  Wilamowitz,  Berl.  Ak. 

')  Gehalten  geraume  Zeit  nach  der  Ein-  '   Sitz.ber.  1900,  398  if). 

nähme  von  Mytilene  (427),  als  die  Seemacht  *)  a.  a.  0.  101. 

der  Athener  noch  nicht  erschüttert  war,  um  j           ^)  I.  Bruns,  Litt.  Poi-tr.  430  ff. 

417;  s.  F.  Blass  I^  178.     über   die  Rechts-  i           «)  Gut  bemerkt  O.  Navarre,  Essai  115, 

Verhältnisse  in  or.  V  A.  Böckh,  Staatshaush.  kein  Redner  habe  je  mit  solcher  Kunst  über 

P  479  f.  seine  künstlerische  Unfähigkeit  geklagt,  wie 

'')  Gegen  die  Ausstellungen  von  Mätzner  Ant.  im  Anfang  von  or.  V. 

und  Blaß  wird  die  Rede  in  Schutz  genommen  ')  A.  Reuter.  Herm.  38  (1903)  481  ff. 

von   Wilamowitz,   Herm.  22  (1887)    194  flf.  |           »)  B.  Keil,  Herm.  29  (1894)  32  f. 


3.  Die  Beredsamkeit,    b)  Antiphon  und  Andokides.    (§  290.)  521 

Bibl.  Teubn.  1871;  2.  A.  1881.  —  F.  Ignatius,  De  Antiphontis  Rhamn.  elocutione,  Gott.  1882; 
Ch.  L.  f.  Cücükl,  Essai  sur  la  langue  et  le  style  d*Antiphon,  Paris  1886.  Neuere  Litteratur  be- 
sprochen von  G.  HüTTNEB,  Jalu-esb.  über  die  Fortschr.  d.  kl.  Alt.wiss.  46  (1886)  14—23  u.  K.  Em- 
MiNGEB.  ebenda  133  (1907)  38—57.     Wortindex  von  Fb.  L.  v.  Cleep,  Boston  1895. 

290.  Andokides, 0  Sohn  des  Leogoras  aus  Kydathenai,  Sprosse  des 
alten  Geschlechts  der  Krjgvxeg^^)  ist  der  kunstloseste  der  in  den  Kanon 
aufgenommenen  Redner,  aber  eben  dadurch  ein  eigenartiger  und  inter- 
essanter Typus.  Er  trat  weder  als  Lehrer  der  Beredsamkeit  auf,  noch 
trieb  er  als  Logograph  eine  Sachwalterpraxis;  die  wenigen  Reden,  die  wir 
von  ihm  kennen,  hat  er  alle  in  eigener  Sache  gehalten.  Geboren  nicht 
viel  vor  440 '')  und  als  junger  Mensch  Mitglied  des  politischen  Klubs  (haigia) 
eines  gewissen  Euphiletos  und  Verfasser  eines  Pamphlets  Jigog  lovg  hai- 
001'?,*)  führte  er  ein  unstetes  Leben  seit  der  Zeit  des  Hermokopiden- 
prozesses  (415),  wo  er  in  der  Hoffnung  auf  eigene  Straflosigkeit  sich  zur 
Denunziation  seiner  Genossen  herbeiließ,  hintendrein  aber  doch  von  Markt 
und  Opfer  ausgeschlossen  wurde.  •'^)  Er  verließ  daher  seine  Vaterstadt  und 
kehrte,  nachdem  er  zuerst  411,  dann  407  (in  diesem  Jahr  ist  die  Rede 
jT€ol  rfjg  iavTov  xa&odov  gehalten)  vergebliche  Versuche  gemacht  hatte, 
sich  durch  billige  Lieferung  von  Schiflfsmaterialien  bei  den  Athenern  be- 
liebt zu  machen,  erst  402  unter  dem  Schutz  der  allgemeinen  Amnestie 
nach  Athen  zurück.  Aber  auch  jetzt  noch  wurden  ihm  Chikanen  be- 
reitet, indem  ihn  im  Jahr  399  der  Demagoge  Kephisios  wegen  un- 
befugter Teilnahme  an  den  Mysterien  durch  eine  evdei^ig  anklagte.  Aber 
diesmal  sprach  ihn  der  aus  Mysten  zusammengesetzte  Gerichtshof  frei, 
und  er  wurde  sogar  392/91  im  korinthischen  Krieg  mit  der  Mission  be- 
traut, über  den  Frieden  mit  Sparta  zu  unterhandeln. '')  Aber  die  Unter- 
handlungen erregten  in  Athen  solche  Verstimmung J)  daß  er  selbst  infolge- 
dessen von  neuem  ins  Exil  wandern  mußte.  Während  seiner  wiederholten  Ab- 
wesenheit von  Athen  war  es  ihm  indessen  gelungen,  durch  Handelsgeschäfte 
großen  Reichtum  zu  erwerben,  so  daß  er  durch  glänzende  Ausstattung 
eines  kyklischen  Knabenchores  (nach  403)  die  Augen  auf  sich  zu  ziehen 
vermochte.®) 

Unter  dem  Namen  des  Andokides  sind  vier  Reden  auf  uns  gekommen, 
und    schon   die   Alten    scheinen    nicht  viel   mehr  gehabt  zu  haben.     Von 


*)  Aus  dem  Altertum  ein  Kapitel  in  Ps.- 
Plutarch.  vit.  X  orat.  und  Artikel  des  Suidas. 
Von  Neueren  F.  Vater,  Remm  Andocidearum 
capita  IV,  I,  Berol.  1840;  II.  III.  Jahrbb.  f. 


•*)  Geschrieben  nach  A.  Kirchhoff  und 
F.  Blaß  c.  420/18.  Letzterer  identifiziert  sie 
mit  dem  ovfjtßovkevTixog^  der  zweimal  zitiert 
wird. 


cl.  Phil.  Suppl.  9  (1848)  165  ff.;  IV.  ebenda   "  *)  Thuc.  VI  60,  2  nennt  ihn,  vermutlich 

Suppl.  11    (1845)    426  ff.;    M.  H.  E.  Meibb,   |   als  noch  Lebenden,  nicht;   Andoc.  1,  25  ff.; 
De    Andocidis    quao    vulgo    fertur   oratione   I   Ps.Lys.  adv.  Andoc.  21  ff. 


contra  Alcibiadem  dissert.  VI,  Halle  1836—42. 
Opusc.  I  74  ff. ;  II  1  flf.  J.  H.  Lipsius  in  der 
Ausgabe  des  Redners. 

■-)  Darüber  Hellanic.  fr.  78;  J.  Töpfpeb, 
Attische  Genealogie  83  ff. 

^)  Ps.Lysias  adv.  Andoc.  46;  Andoc.  2,  7; 
Ps.Plutarch  p.  885  a  setzt  seine  Gebmt  Ol. 
78, 1  (468,7),  von  der  falschen  Voraussetzung 
ausgehend,  dafi  er  mit  dem  Strategen  Ando- 
kides (sollte  heißen:  Drakontides)  bei  Thuc. 
1  51  identisch  sei:  s.  Meier,  Opusc.  I  96  ff. 


*)  Datum  und  nähere  Umstände  sind  jetzt 
gesichert  durch  Philoch.  bei  Didym.  ad  De- 
mosth.  Philipp.  (Berliner  Klassikertexte  1) 
col.  7,  19  ff. 

^ )  Philochoros  im  Argumentum  der  drit- 
ten Rede. 

»j  Ps.Plutarch  p.  835  b  stützt  sich  bei 
dieser  Angabe  auf  die  Inschrift  eines  Drei- 
fußes; bezeugt  ist  die  Liturgie  durch  die  In- 
schrift in  CIA  II  553,  21. 


522 


Ghriechiache  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 


diesen  vier  Reden,  Tiegl  rcbv  fxvoxriQiwv  (gehalten  399),  tuqI  Ttjg  iavrov 
xa'&odov  (gehalten  407),  neoi  xrjg  nobg  Aaxedaijuoviovg  elgi^vrjg  (gehalten 
391),  xaTci  'Ahcißiddovy  sind  die  zwei  ersten  unzweifelhaft  echt.  Die  Ver- 
anlassungen, bei  denen  sie  gehalten  wurden,  sind  bereits  erwähnt;  sie  sind 
für  Kenntnis  des  Mysterienwesens  und  der  Parteiverhältnisse  in  der  letzten 
Zeit  des  peloponnesischen  Krieges  äußerst  wichtig;  der  ersten  sind  auch 
Urkunden  beigegeben,  i)  Ein  spätes  und  konfuses  Machwerk  ist  die  An- 
klagerede gegen  Andokides  in  der  Mysteriensache,  die  als  sechste  unter 
den  Reden  des  Lysias  erhalten  ist.*)  Dasselbe  gilt  von  der  vierten  Rede 
der  Andokidessammlung.»)  Ihr  liegt  die  Voraussetzung  zugrund,  daß  die 
Strafe  des  Ostrakismus  einen  von  den  dreien,  Nikias,  Alkibiades  oder  den 
Sprecher  (Phaiax)  treffen  sollte,  und  daß  nun  der  Sprecher  die  drohende 
Verbannung  von  sich  auf  den  Alkibiades  abzuwälzen  suchte.  Die  Situa- 
tion ist  etwa  in  das  Jahr  418  gedacht.  Auch  die  dritte  Rede  ist  be- 
anstandet worden,*)  namentlich  wegen  der  schweren  historischen  Veretöße, 
an  denen  die  Darstellung  der  früheren  Friedensschlüsse  (§§  3 — 9)  leidet. 
Aber  gerade  diese  Paragraphen  sind  wörtlich  von  Aischines  in  seine  Ge- 
sandtschaftsrede (§§  172 — 5)  herübergenommen,  imd  ihre  historischen  Irr- 
tümer müßten  bei  einem  späteren  Fälscher  noch  mehr  als  bei  einem  un- 
gelehrten Praktiker  des  5.  Jahrhunderts  befremden.  Einen  entwickelten 
Kunstchai'akter  zeigen  die  Reden  des  Andokides  nicht;  sie  entbehren  be- 
sonders der  Kunst  berechneter  Ökonomie  sowie  des  Figurenschmuckes  und 
leiden  an  Weitschweifigkeit;    am    meisten  Lob   vordient   die  Frische   und 


*)  Die  Echtheit  verteidigt  Joh.  Dboysen, 
De  Demophanti  Patroclidis  Tisameni  popu- 
liscitis  quae  inserta  sunt  Andocidis  orationi 
.T€()i  jiivaTtigiüJv,  Diss.  Berl.  1873. 

^)  Dai3  die  ps.lysianische  Rede  6  nicht  für 
die  gerichtliche  Anklage  geschrieben  sei,  sucht 
zu  erweisen  Val.  Schneider.  Ps.Lysias  ;^«t* 
'Avdoxidov  doEßein?^  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl. 
27  (1902)  352—72.  Wiewohl  sie  einiges  ge- 
schichtlich Brauchbare  enthält,  kann  sie  nicht 
dem  4.  Jahrh.  angehören,  auch  nicht  als  eine 
nach  dem  Prozeß  geschriebene  Invektive,  wie 
nach  J.  H.  Lipsius'  Vorgang  W.  Weber,  De 
Lysiae  q.  f.  contra  Andoc.  or.  VI.,  Leipzig 
1900  meint;  völlig  bodenlos  ist  die  Idee  von 
E.  Drerup  (Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl.  27, 1902, 
339  ff.),  sie  dem  Theodoros  von  Byzantion 
zuzuschreiben.  Sie  braucht  nicht  lange  vor 
Harpokration,  der  sie  als  erster  zitiert,  ent- 
standen zu  sein ;  für  die  richtigen  historischen 
Daten  kann  Dionys.  Hai.  de  Andoc.  Quelle 
gewesen  sein.  Als  Sprecher  ist  ein  Eumol- 
pide  gedacht  (§  54). 

*j  Die  Unechtheit  zuerst  aufgedeckt  von 
J.  Taylor.  Lectiones  Lysiacae  (in  J  J.  Reis- 
kes  Or.  gr.  VI,  Leipzig  1772)  c.  6;  gegen- 
über inzwischen  erhobenen  Zweifeln  streng 
bewiesen  von  M.  H.  E.  Meier,  Opusc.  I  74  ff. 
Andokides  war  damals  (41Si  als  Politiker 
noch  unbekannt;  er  schrieb  überhaupt  nicht 
Reden  für  andere,  und  beim  Scherbengencht 


wurden  gar  keine  Reden  gehalten.  Nach  Ath. 
408  c  wurde  die  Rede  von  anderen  dem  Lysias 
zugeschrieben.  Die  sprachlichen  Besonder- 
heiten beleuchtet  A.  S.  Kilpeläinen,  Quaest 
Andoc.  cum  specimine  lexici,  Helsingfors  1900. 
E.  Drerup,  Jahrbb.  f.  Phil.  Suppl.  27  (1902) 
328  nimmt,  um  die  Echtheit  der  Rede  auf- 
recht zu  erhalten,  zu  der  Annahme  seine  Zu- 
flucht, daß  Andokides  sie  erst  in  späterer 
Zeit,  nach  891,  als  Invektive  gegen  Alki- 
biades verfaßt  habe,  ist  aber  völlig  zuiilck- 
gewiesen  von  K.  Fuhr,  Berl.  philol.  Woch. 
23  (1903)  411  ff.  I.  Brüns,  Litt.  Portr.  514  ff., 
sieht  in  ihr  ein  in  Form  einer  Invektive  ge- 
kleidetes Enkomion  des  Alkibiades  und  stellt 
sie  in  die  Gruppe  der  pro  und  contra  Alki- 
biades geschriebenen  Schriften  (Isoer.  16; 
Lys.  14).  Sachlich  und  stilistisch  steht  nichts 
im  Weg,  sie,  wie  Bruns  und  Blaß  tun,  in  das 
4.  Jahrh.  zu  setzen. 

*)  Gegen  die  Echtheit  erklärt  sich  schon 
Dionysios  in  der  Hypothesis  der  Rede;  für 
die  Echtheit  tritt  mit  überzeugenden  Gründen 
ein  F.  Blass,  Att.  Bereds.  I^  329  ff.  Das 
attische  Publikum,  über  dessen  Vergeßlich- 
keit sich  die  Redner  mehrfach  beklairen 
(Ps.Dem.  7.  18;  Dem.  18.  138;  Lys.  34.*' 2; 
A.  Schäfer,  Demosth.  IP  198,  56;  auch  dem 
Demosthenes  kommen  23,  205  ähnliche  Dinge 
vor),  merkte  die  Schnitzer  schwerlich. 


3.  Die  Beredsamkeit,    c)  Lysias  und  iBaios.    (§  291.)  523 

Anschaulichkeit  der  Erzählung,  während  die  logische  Schärfe  der  Beweis- 
führung sehr  zurücktritt.^) 

Die  Textüberlieferung  ist  die  gleiche  wie  bei  Antiphon.  —  Sonderausgaben  von 
C.  Schiller,  Lips.  1835:  von  J.  H.  Lipsiüs,  Lips.  1888.  Textausgabe  der  Bibl.  Teubn.  von 
BLASS  (3.  Aufl.  1906).  —  S.  A.  Nabeb,  Mnem.  3  (1854)  66  ff.,  wollte  sämtliche  Reden  des  Ando- 
kides  der  Schule  des  Isokrates  zuweisen.  Zum  Sprachgebrauch  M.  H.  Mobgajt,  Harvard  Studies 
in  class.  philol.  2  (1891)  57  ff.;  L.  L.  Fobman,  Index  Andoc.  Lycurg.  Dinarch.,  Oxf.  1897. 

c)  Lysias  und  Isaios. 

291.  Lysias  und  Isaios  stehen  in  diesem  Abschnitt  als  die  Haupt- 
vertreter der  gerichtlichen  Redeschreibekunst  zusammen.  Beide  waren 
Fremde  und  konnten  deshalb  in  Athen  nicht  als  Staatsredner  oder  auch 
nur  vor  Gericht  außer  in  eigener  Sache  auftreten.  Aber  beide  waren  die 
berühmtesten  Sachwalter  ihrer  Zeit,  und  beide  haben,  wenn  auch  nicht  in 
Athen  geboren,  den  Ton  der  attischen  Rede  in  mustergültiger  Weise  ge- 
troffen. 

Lysias^)  war  Sohn  des  Kephalos.  Diesen  hatte  Perikles  bewogen, 
von  Syrakus  nach  Athen  überzusiedeln,  wo  er  dreißig  Jahre  lang  als 
Metöke  wohnte  und  mehrere  Häuser  und  eine  Schildfabrik  mit  hundert- 
zwanzig Sklaven  besaß.  In  das  Haus,  das  er  im  Peiraieus  hatte,  ist  die 
Szene  im  Staat  Piatons  verlegt,  der  dem  Gespräch  auch  den  Lysias,  aber  als 
stumme  Person,  beiwohnen  läßt.  Das  Geburtsjahr  des  Lysias  läßt  sich  nicht 
mit  Bestimmtheit  angeben.  Die  Alten  lassen  ihn  459/8  unter  dem  Archen 
Philokles  geboren  sein;  aber  diese  scheinbar  so  bestimmte  Angabe  beruht 
nur  auf  unsicherem  Schluß.  Dionysios  wußte  nämlich,  wahrscheinlich  aus 
einer  Rede  des  Lysias  selbst,  daß  er  fünfzehn  Jahre  alt  mit  einem  seiner 
Brüder  nach  Thurioi  ausgewandert  war;  indem  er  nun  voraussetzte,  daß 
diese  Auswanderung  gleich  bei  Gründung  der  Kolonie  stattgefunden  habe, 
kam  er  auf  444  -|-  15  ^  459.  Aber  diese  Voraussetzung  ist  unsicher,  da 
Lysias  erst  später  nach  Thurioi  gegangen  sein  kann.  Denn  wenn  Kephalos 
auf  Perikles'  Veranlassung  nach  Athen  gekommen  ist  und  hier  dreißig 
Jahre  als  Metöke  gelebt  hat  (Lys.  12,  4),  so  kann  sein  Umzug  nach  Athen 
nicht  vor  459,  sein  Tod  nicht  vor  429,  also  die  Auswanderung  des  Lysias 
nach  Syrakus,  die  erst  nach  dem  Tod  des  Kephalos  stattfand  (Ps.Plut. 
vit.  X  or.  835  d),  frühestens  429  gesetzt  werden.  Sie  kann  aber  auch 
schwerUch  viel  später  fallen;  denn  nach  Piaton  (Phaedr.  278 e)  war  Lysias^) 
erheblich  älter  als  Isokrates  (geb.  436).  Demnach  ist  Lysias  um  445  in 
Syrakus    geboren,*)    bald    nachher   mit    seinem   Vater   nach  Athen   über- 

* )  Bei  seiner  niederen  Einschätzung  durch  '   xGiv  Idiwv  svEgyeotcjv  (fr.  36  Th.).     Aus  dem 

die    alten   Eunstrichter    (Philostr.   vit.  soph.  Altertum  haben  wir   neben  den  allgemeinen 

p.  72,  13  K.;  Hermog.  de  id.  p.  416,  30  Sp.)  Quellen  die  Schrift  des  Dionysios  von  Halik. 

könnte  seine  Aufnahme   in  den  Kanon  auf-  über  Lysias.  Aus  neuerer  Zeit  J.  Taylor  in  J. 

fallen.      J.    Brzoskas    Erklärung    derselben  ReiskesOr.gr.VI  lOOif.;  F.Blass,  Att.ßereds. 

(De  canone  X  orat.)   aus  einem  Kompromiß  I   P  339  ff.;  B  Pretzsch,  De  vitae  Lysiae  ora- 

zwischen  attischer  u.  asianischer  Geschmacks-  toris  temporibus  definiendis,  Halle  Diss.  1881. 

richtung  ist  schief;  A.  ist  immerhin  als  eigen-  ^)  Die  völlig  frei  fingiei*te  Szenerie  von 

artiger  Typus  der  Aufnahme  wert  gewesen.  ,   Piatons  Staat  I   ist   nicht  geeignet,   irgend- 

*)  Er  selbst  gibt  Material  über  sein  Leben  j   welchen  chronologischen  Schlüssen  über  das 

in  der  erhaltenen  Rede   gegen   Eratosthenes  1   Leben  des  Lysias   als  Grundlage  zu  dienen. 

(12)  und  gab  weiteres  in  der  verlorenen  ;7€^i  ;           *)  Irrig  Cicero  Brut  63:  est  enim  AUU 


524  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  Elassiache  Periode. 

gesiedelt,  um  429  aber  mit  seinem  älteren  Bruder  Polemarchos  wieder  nach 
dem  Westen,  und  zwar  nach  Thurioi,  der  von  Perikles  gegründeten  und 
begünstigten  Kolonie,  zurückgekehrt.  Einen  Teil  seiner  Jugend  verlebte 
er  demnach  in  ünteritalien,  wo  er  den  Unterricht  des  Teisias  in  der 
Rhetorik  genoß  und  vielleicht  auch  einige  philosophische  Anregungen  er- 
hielt.^) Als  aber  nach  dem  unglücklichen  Ausgang  des  sizilischen  Feld- 
zugs die  antiathenische  Partei  in  Thurioi  die  Oberhand  erhielt,  kehrte  er 
wieder  nach  Athen  zurück  (412).*)  Wahrscheinlich  hat  er  damals  als 
Übungsstück  die  fingierte  Verteidigungsrede  für  den  Feldherm  Nikias  mit 
ihrem  gorgianischen  Qekräusel  (fr.  191 — 193  Th.)  geschrieben;»)  eine  öffent- 
liche Rolle  als  treuer  Anhänger  der  Demokratie  hat  er  erst  nach  dem 
Schluß  des  peloponnesischen  Kriegs  gespielt.  Das  große  Vermögen  seines 
Hauses  hatte  die  Habgier  der  dreißig  Tyrannen  gereizt;  so  wurde, 
wie  er  anschaulich  und  ergreifend  in  der  Rede  gegen  Eratosthenes  er- 
zählt, sein  Bruder  Polemarchos  von  den  Schergen  der  Gewalthaber  er- 
mordet, und  er  selbst  entkam  nur  mit  knapper  Not  und  mit  dem  Verlust 
des  größten  Teiles  seines  Vermögens  nach  Megara.  Von  hier  setzte  er 
sich  mit  Thrasybulos  in  Verbindung  und  wirkte  für  die  Rückkehr  des  Demos. 
Zm*  dankbaren  Anerkennung  seiner  Verdienste  beantragte  Thrasybulos  die 
Aufnahme  des  Metöken  unter  die  athenischen  Bürger;  aber  das  Dekret 
wurde  von  Archinos,  einem  Rivalen  des  Thrasybulos,  wegen  eines  Form- 
fehlers angefochten  und  annulliert. 

Lysias  mußte  sich  also  mit  der  bevorzugten  Stellung  eines  gleich- 
steuemden  (tooteXi^g)  Metöken  begnügen.*)  Diese  erlaubte  ihm  bald  nach 
seiner  Rückkehr  (403)  gegen  Eratosthenes,  den  Mörder  seines  Bruders 
Polemarchos,  vor  Gericht  als  Ankläger  aufzutreten.*)  Die  Rede  ist  uns 
noch  erhalten,  sie  ist  die  einzige,  die  (nach  einer  alten  Beischrift)  Lysias 
selbst  vor  Gericht  gesprochen  hat.  Aber  schon  zuvor  hatte  er  sich  mit 
technischen  Studien  über  Beredsamkeit  beschäftigt.  In  Piatons  Phaidros 
begegnet  uns  Lysias  als  angesehener  Lehrer  der  Beredsamkeit.  Der  in 
diesen  Dialog  eingelegte  erotische  Brief  (koyog  igomxog^  den  er  als  Muster 
seinen  Schülern  zum  Auswendiglernen   diktiert  hatte,®)   ein  frostiges  Pro- 


CU8,  quoniam  cerie  Athenis  est  et  natus  et 
mortuus  et  functus  omni  civium  tnunere. 
Schwerer  wiegt  das  Urteil  des  Timaios,  des 
guten  Kenners  der  sizilischen  Verhältnisse, 
von  dem  Cicero  an  derselben  Stelle  berichtet: 
quamquam  2'imaeus  eum  quasi  Licinia  et 
Mucia  lege  repetit  Syracusas, 


nysios  ist  ungerechtfertigt. 

*)  über  die  Privatverhältnisse  des  Ly- 
sias, namentlich  seinen  Umgang  mit  der  ife- 
täre  Metaneira  erfahren  wir  Näheres  aus  der 
ps.demosthenischen  Rede  gegen  Neaira  21  f. 

*)  Formell  handelt  es  sich  hier  nicht 
um  einen  MordprozeB,  sondern,  da  Eratosth. 


*)  Ps.Plutarch   p.  835  d:   xäxei    (seil,  h  als   Beamter   die   Tötung   des  Pol.    bewirkt 

BovQioig)   disfietve  jraidevöjiuy'Os    ^iolqu.    Teioiqi  \   hatte,    um    eine  Euthynenklage  (Bulss,  Att. 

xai    Nixia   roig   ZvQoxovaioigy   xzrjadfievog    t*  Bereds.  1*  541  f.). 

otxt'av    xai    xh'jQov    tvxo)v    i:zo?ATSvaaTo    suyg  •)  über  den  Sti'eit,    ob  der  löyog  igont- 

K/.€oxoiTov  (413/2).     Lys.  fr.  115  Th.  verrät  x6g   von   Lysias    selbst   herrühre    oder   von 

Kenntnis  der  empedoklelschen  Lehre,  freilich  Platondem  Lysias  zugeschrieben  sei,  F.  Blass, 

vielleicht  nur  eines  sprichwörtlich  gewordenen  Att.  Bereds.  I*  423  flf.    Die  Echtheit  erweisen 

Teils  derselben.  außer  Blaß  L.  Schmidt.  Über  die  lysianische 

-)  Ps.Plutarch  a.  0.  nach  Dionysios.  Rede  im  plat.Phaedrus,Vhdl.d.l8.Vers.d.  Phil., 

S)  Theophrastos  hielt  die  Rede  für  echt  Wien  1858,  S.  93— 100,  und  J.Vahlen,  Berl. 

(Dionys.  de  Lys.  14);   der  Zweifel  des  Dio-  |   Ak.  Sitz.ber.  1903  S.  788— 816.  —  Ob  Piatons 


3.  Die  Beredsamkeit,    c)  Lysias  nnd  Isaios.    (§  291.)  525 

dukt,  ist  das  einzige,  was  wir  aus  dieser  Sphäre  seiner  Tätigkeit  noch 
besitzen.  Indessen  soll  ihm  Theodoros  von  Byzantion  in  der  Technographie 
den  Rang  abgelaufen  haben,  wiewohl  wir  aus  der  Schilderung  in  Piatons 
Phaidros  schließen  müssen,  da&  er  auf  die  attische  Jugend  auch  mit  seinen 
naiyvia  tiefen  Eindruck  gemacht  habe.^)  Da  zu  den  naiyvia  auch  seine 
äjioXoyia  Zcoxgdxovg^  eine  Replik  auf  Polykrates'  xarrjyogia  gehört,  so  muß 
die  technographische  Tätigkeit  bis  Ende  der  neunziger  Jahre  des  4.  Jahr- 
hunderts gedauert  haben.  Nach  der  Wiederherstellung  der  Demokratie  in 
Attika  wandte  er  sich  mehr  und  mehr  einer  anderen  Seite  rhetorischer 
Tätigkeit  zu,^)  der  Logographie.^)  Lysias  ist  der  Entdecker  der  Tatsache 
geworden,  daß  weit  mehr  Überzeugungskraft  als  in  scharfsinniger  ver- 
standesmäßiger Beweisführung  oder  pathetischer  Erregung  in  dem  sym- 
pathischen Eindruck  liege,  den  der  Charakter  des  Redenden  seinen  Worten 
nach  auf  die  Richter  mache,  und  er  ist  der  Künstler  gewesen,  seinen 
Klienten  Worte  zu  leihen,  die  diesen  Eindruck  hervorriefen.  Das  ist  seine 
berühmte  fj^onoila^  die  unter  Umständen  auch  darin  sich  betätigt,  den 
wahren  Charakter  des  Klienten  zu  verhüllen,*)  immer  aber  eine  unbegrenzte 
Fähigkeit  der  Akkommodation  des  Logographen  an  die  Einzelumstände 
des  Prozesses  zeigt  und  alles  Schablonenhafte  in  Gedanken,  Stimmungen 
und  Worten  ausschließt.  Das  Schlichte  (xö  äq^ekeg)^  das  Einfache  (to  xa- 
^ao6v\  das  Klare  (ivdgyeia,  oacprjveia)  gelten  den  Alten  als  die  Charakter- 
züge der  lysianischen  Rede.^)  Mit  diesen  Eigenschaften  verbindet  er  große 
Knappheit  und  Sachlichkeit  des  Ausdrucks,  ohne  doch  je  dunkel  oder 
trocken  zu  werden.  Bei  allem  diesem  setzt  er  eine  besondere  Kunst  darein, 
die  Kunst,  die  er  auf  Denken  und  Formen  wendet,  so  zu  verbergen,  daß 
alles  sich  wie  selbstverständlich  ausnimmt.^)  In  Anbetracht  dessen,  daß 
er  viele  Jahre  im  Westen  zugebracht  hat,  ist  die  Reinheit  seines  attischen 
Ausdrucks  bewundernswert.^)  Auf  der  Höhe  seines  Könnens  zeigt  er 
sich  in  der  Erzählung.     Man  kann  kaum  etwas  Anschaulicheres  lesen,  als 

verwerfende  Kritik  der  lysianischen  Schrift  Polystr.  Lysiaca,  Diss.  phil.  Argentor.  5,  1881, 
mit  der  feindseligen  Stellung  des  Lysias  gegen  |  332  fif.;  F.  Blass,  Att.  Bereds.  1*  508  ff.; 
die  Sokratiker  zusammenhängt,   die  sich  in       Wilamowitz,    Arist.  und    Athen   II  356  ff.; 


den  zwei  Reden  gegen  Alkibiades  den  Jün- 
geren, namentlich  aber  in  der  ehrenrührigen 
Anklagerede  gegen  den  Sokratiker  Aischmes 
kundgab  (Th.  Gomperz,  Griech.  Denker  II 
332  ff.),  ist  sehr  fraglich,  da  er  ja  doch  auch 
eine  'Anoloyia  ^ioxodrov?  geschrieben  hat. 
Unter  den  jFyvai  des  L.  fPs.Plut.  vit.  X  or. 
836  b;  Suid.i'vgl.  Marcellin.  ad  Heim og.  IV 
352  W.)  sind  derartige  Stücke  zu  verstehen. 

*)  ÖFAroiarry;  t(x>v  vvr  youfpeiov  nennt  ihn 
Phaidros  bei  Plat.  Phaedr.  228  a. 

'^}  Cicero  Brut.  48  nach  Aristoteles:  Ly- 
siam  primo  profiteri  solitum  ariem  dicendi, 
deinde  quod  Theodorus  esset  in  arte  subtilior, 
in  orationibus  ieiunior^  orationes  tum  scri" 
bere  aliis  cnepisse,  artem  removisse. 

^)  Die  Privatreden,  die  uns  erhalten  sind, 
fallen  nach  404;  die  für  Polystratos  (20), 
zwischen  411  und  407  gehalten,  ist  nicht 
lysianisch   (s.  über  sie  A.  Pohl,  De  or.  pro 


1.  Brüns,  Litt.  Portr.  437  f.). 

*)  I.  Bbüns,  Litt.  Portr.  544  ff. ;  W.  L.  Dk- 
VBiEs,  Ethopoiia,  arhetorical  study  of  the  types 
of  character  in  the  orations  of  Lysias.  Balti- 
more 1892;  s.  a.  Cic.  or.  70  ff.,  de  or.  II  182  ff. 
Das  Prinzip  drückt  auch  der  Komiker  Menan- 
dros  fr.  472  K.  aus:  xqojioq  ea&*  6  nel^wv  xou 
ÄF.yovTogj  ov  Xoyog. 

^)  Aristoteles  scheint  dieseVorzüge  wenig 
gewürdigt  zu  haben;  er  berücksichtigt  den 
Lysias  fast  gar  nicht  in  seiner  Rhetorik ;  hin- 
gegen sagt  Dionysios  Lys.  2  von  ihm :  xaiki' 
Qog  ioTi  TTjv  eofiffvsiav  jzdvv  xai  rrfg  'Aitixfjg 
yXiüTxrjg  ägtOTOs  xavojv. 

«)  Dionys.  Hai.  de  Lys.  8;  Cic.  or.  145 
eloquentiatn  Uli  ipsi  qui  consecuti  sunt,  ta- 
rnen ea  se  valere  dissitntdant, 

^)  Dionys.  de  Lys.  2;  einzelne  Verstöße 
wie  die  Formayr/oxa  kommen  freilich  vor.  Siehe 
W.  G.  RuTHEBFOBD,  The  new  Phrynichus  202. 


526 


Griechische  Litteratnrgeachichte.    L  Elassiache  Periode. 


die  Erzählung  von  den  schurkenhaften  Gewalttaten  des  Eratosthenes  und 
seiner  Spießgesellen  in  dem  Xoyog  xax'  ^Egaroa&evovg  (vgl.  S.  528,  3),  oder 
von  der  raffinierten  Überlistung  des  Ehemanns  und  seiner  gerechten  Not- 
wehr in  der  änoXoyla  neol  rov  'EgaToo&evovg  <p6vov.  Die  jedem  Einzelfall 
genau  angepaßte  Sachlichkeit  der  lysianischen  Rede  zeigt  sich  auch  in 
dem  Fehlen  der  Gemeinplätze;  Dionysios  (de  Lys.  17)  macht  die  im  ganzen 
treffende  Bemerkung,  daß,  wiewohl  Lysias  so  viele  Reden  geschrieben 
habe,  doch  jedes  Proömium  sein  Eigentümliches  habe.^  In  ähnlichem  Sinn 
Favorinus  bei  Gellius  II  15  über  das  Verhältnis  der  Redeweise  des  Piaton 
zu  der  des  Lysias:  si  ex  Piatonis  oratione  verbum  aliquod  demas  mutesve 
atque  id  commodatwsime  facias,  de  elegantia  tarnen  detraxerisy  si  ex  Lysiae, 
de  sententm.  Kein  Wunder  also,  daß  Lysias  mit  diesen  Vorzügen  auch 
glänzende  Erfolge  bei  den  Richtern  erzielte,  daß  er  ein  vielgesuchter 
Rechtsanwalt  wurde  und  mit  seiner  Redenschreiberei  sich  ein  anständiges 
Vermögen  erwarb.  So  begegnen  uns  denn  in  den  nächsten  zwei  Dezennien 
nach  404  zahlreiche,  in  einzelnen  Jahren  sich  häufende  Reden;  die  letzte 
chronologisch  fixierbare,  für  Pherenikos^,)  fällt  um  380,  und  viel  länger 
wird  er  wohl  auch  nicht  gelebt  haben. ^) 

292.  Im  Altertum  waren  unter  Lysias'  Namen  vierhundertfünfund- 
zwanzig Reden  vorhanden;  von  diesen  haben  die  alten  Kritiker  zweihundert- 
dreiunddreißig  als  echt  anerkannt.*)  Auf  uns  gekommen  sind  vierunddreißig 
Reden  und  diese  nicht  alle  vollständig  und  nicht  alle  von  unzweifelhafter 
Echtheit,^)  überdies  Reste  erotischer  Briefe,  ein  Genre,  das  Lysias  als  erster  in 
die  Litteratur  eingeführt  zu  haben  scheint;  nicht  alle  sind  so  steif  rhetorisch 


*)  Das  Lob  muß,  wie  M.  H.  E.  Meier. 
Opusc.  II 315  nachweist,  insofern  eingeschränkt 
werden,  als  or.  19  ein  schablonenhaftes 
Proömium  (Andoc.  1,  Cratin.  fr.  185  K.)  hat. 
—  Auch  der  politische  Standpunkt  ist  nicht 
immer  der  gleiche,  indem  Lysias  auch  hier 
sich  dem  Charakter  und  den  Anschauungen 
seiner  Klienten  anbequemte,  wie  besonders 
die  Vergleichung  der  21.  und  25.  Rede  lehrt. 

*)  Dionys.  de  Lys.  5 :  in  diese  Zeit  fällt 
auch  die  erhaltene  26.  Rede. 

*)  In  noch  spätere  Zeit  fallen  zwei  dem 
Lysias  zugeschriebene  Reden  für  Iphikrates, 
deren  eine  dem  Jahr  371.  die  andere  dem 
Jahr  354  angehört;  aber  Dionysios  verwarf 
beide;  s.  F.  Blass,  Att. Bereds.  I"  344.  Die  An- 
gaben über  das  Lebensalter  des  Lysias  diffe- 
rieren zwischen  76,  80,  83  Jahren. 

*)  Die  Zahl  von  233  echten  Reden  wird 
bei  Plutarchos  auf  Dionysios  und  Cäcilius 
zurückgeführt;  außerdem  soll  nach  Photios 
p.  489a  35  Bekk.  und  Suidas  sich  Paulus 
von  Germe  aus  Mysien  mit  der  Kritik  der 
Echtheit  beschäftigt  haben. 

*)  Die  elfte  Rede  ist  eine  Epitome  der 
zehnten  (die  Unechtheit  auch  der  zehnten 
suchen  K.  Herrmann,  Zur  Echtheitsfrage  von 
Lys.  zehnter  Rede,  Hannover  1878,  und  I. 
Bruns,  Litt.  Portr.  460,  zu  beweisen,  ohne 
zu  überzeugen),  die  fünfzehnte  in  demselben 


Prozeß  wie  die  vierzehnte  und  für  denselben 
Kläger  Archestratides,  aber  nicht  von  Lysias 
gehalten  (F.  Nowack,  Leipz.  Stud.  12,  1890, 
1  ff.,  hält  die  vierzehnte  für  unecht.  Zur  Sache 
1.  Bbüns  a.  a.  O.  494  flf.);  über  die  zwanzigste 
pro  Polystrato  s.  o.  S.  525,  3.  Die  Echtheit 
der  sechsten  Rede  gegen  Andokides  (s.  o. 
S.  522,  2)  ebenso  wie  die  der  neunten  v:i'f,q 
rov  oToaxicoTov  war  schon  im  Altertum  (Har- 
pokration)  mit  Recht  bezweifelt;  für  die  Echt- 
heit der  neunten  tritt  H.  Keller,  Die  Rechts- 
frage in  Lysias' 9.  Rede,  Progr.  Nürnberg  1894, 
ein,  doch  ist  die  Rede  jedenfalls  unbedeutend 
und  entbehrt  der  lysianischen  Ethopoie  und 
Klarheit  in  sachlicher  und  sprachlicher  Bezie- 
hung: über  ihre  Datierung  Tii.  Thalheim,  Berl. 
phil.  W.schr.28(1908)30ß.  Die  achte  Rede 
erregt  wegen  der  Sorgfalt  in  Vermeidung  des 
Hiatus  Verdacht;  s.  F.  Blass  1«  642  und  H. 
RöHL,  Ztschr.  f.  Gymn..  35  (1881)  Jahresber. 
191  ff.  Die  einunddreißigste  Rede  gegen 
Philon  verdächtigt  wegen  der  vielen  Gemein- 
plätze und  des  unlysianischen  Sprachgebrauchs 
nach  dem  Vorgang  von  K.  F.  Scheibe  und  Ad. 
Büchle  (Lys.'  Rede  gegen  Philon,  Progr.  Dur- 
lach 1894)  Fr.  Vogel,  Analecta  I  Aus  griech. 
Schriftstellern,  Progr.  Fürth  1901.  Weitere 
Einzellitteratur  über  die  Echtheitsfragen  ver- 
zeichnet zu  den  einzelnen  Reden Th.  Thalheim 
in  seiner  Ausg.,  Leipz.  1901  p.  XXXVI  ff. 


3.  Die  Beredsamkeit,    c)  Lysias  nnd  Isaios.    (§  292.)  527 

geformt  gewesen  wie  der  einzig  ganz  erhaltene  in  Piatons  Phaidros.  Die 
Reden  sind  größtenteils  Gerichtsreden,  doch  fehlen  auch  die  köyoi  ovfÄ- 
ßovhvxixoi  und  imdeixrixoi  nicht  ganz.  Eine  Demegorie,  wenn  auch  vielleicht 
keine  wirklich  gehaltene,  also  wohl  ein  Pamphlet  in  Form  einer  Rede,  war 
die  Rede  tieq!  tov  jutj  xaxaXvoat  trjv  ndxQiov  nohxeiav  'A^vrjoi  (34),  von  der 
Dionysios  ein  Bruchstück  erhalten  hat:  geschrieben  unmittelbar  nach  Ver- 
treibung der  Dreißig  (403),  tritt  sie  mit  Nachdruck  för  die  Wiederherstel- 
lung der  vollen  unbeschränkten  Demokratie  gegen  den  reaktionär-agrari- 
schen Antrag  des  Phormisios  ein.  —  Von  den  epideiktischen  Reden  bezieht 
sich  der  Epitaphios  (2)  auf  den  korinthischen  Krieg,  dessen  Schluß  vermut- 
lich (vgl.  Plat.  Menex.)  die  Federn  der  Rhetoren  stark  in  Bewegung  gesetzt 
hat;  die  Rede  greift  aber,  wie  es  zum  Stil  der  attischen  bindtpioi  gehört, 
beim  Lob  der  Vorfahren  in  die  Vorgeschichte  Attikas  bis  auf  die  Ama- 
zonenkämpfe zurück.  Der  Redner  denkt  sich  in  den  Anfang  des  korinthi- 
schen Krieges,  hält  aber  die  Situation  nicht  fest.')  Lysias  konnte  als 
Metöke  die  Rede  nicht  halten.  Sie  ist  aber  auch  nicht  für  praktischen 
Zweck  geschrieben,  um  von  einem  anderen  gehalten  zu  werden.  2)  Der 
^Emtdfpiog  war  seit  Gorgias  ein  beliebter  Gegenstand  der  Zierberedsam- 
keit geworden,  und  so  ist  auch  dieser  nur  ein  litterarisches  Paradestück. 
Er  verrät  Benützung  des  Thukydides  und  berührt  sich  stark  mit  Isokrates' 
Panegyrikos,  und  zwar  allemnach  in  der  Art,  daß  Isokrates  aus  dem  ^Em- 
Td(fiog  schöpft,  woraus  sich  die  Abfassungszeit  zwischen  387  und  380  er- 
geben würde.  Wenn  also  der  Zeit  nach'*)  Lysias  der  Verfasser  sein  könnte, 
so  ist  doch  fraglich,  ob  dieser  noch  in  so  späten  Jahren  epideiktische 
Reden  geschrieben  hat  (s.  0.  S.  524  f.).  Stilistisch  ist  die  Rede  natürlich  von 
den  lysianischen  Prozeßreden  sehr  verschieden;  die  Echtheitsfrage  wird  in- 
dessen davon  nicht  berührt  und  könnte  nach  der  stilistisch-sprachlichen 
Seite  nur  entschieden  werden,  wenn  wir  noch  eine  weitere  in  vollem  Sinn 
epideiktische  Rede  des  Lysias  hätten.*)  —  Zur  Klasse  der  epideiktischen 
Reden  gehört  zwar  auch  ^QT^Okvfjmiaxdgi^^),  von  dem  uns  ein  Fragment  mit 
den  bei  solchen  Festreden  üblichen  Phrasen  vom  einträchtigen  Zusammen- 
gehen der  Griechen  gegen  ihre  Feinde  erhalten  ist;  er  ist  aber  wesentlich 
anderer  Art  als  AQv''Emxd(piog;  denn  er  ist  wirklich  gelesen  beim  Olympien- 
fest 388  und  hat  eine  praktische  Spitze,  aber  nicht  gegen  den  Perser- 
könig,  sondern   gegen  Dionysios,   den  Tyrannen  von   Syrakus;  der  Erfolg 


')  F.  BLASS,  Att.  Bereds.  P  437;   übri-  '  sich  auch  F.  Blass,  Att.  Bereds.  P  437  if. 

gens  wäre  dieses  xaxojikaoiov  kein  entschei-  '  aus,  glaubt  aber,  ausgehend  von  einer  Stelle 

dendes  Anzeichen  gegen  die  Echtheit.  |  des  Theon,  Rhet.  gr.  II  63  Sp.,  daß  die  sophi- 

*)  Daß  die  erwählten  Sprecher  der  'Em-  I  stische  Übungsrede  in  der  Zeit  des  Lysias 

xdq)toi  Leute  waren,   die  nicht  nötig  hatten,  '  vor  dem  Panegyrikos  des  Isokrates  entstanden 

sich   von  anderen  Reden  machen  zu  lassen,  sei.  F.  Reuss,  Rh.  Mus.  38(1883)  149,  setzt  sie 


geht  aus  Thuc.  II  34,  6  hervor. 

^)  Aristot.  rhet.  p.  1411a  30  meint  den 
lysianischen  T,:nx,  (falsch  E.  Maass,  Herrn. 
22,  1887.  575). 

*)  Für  die  Echtheit  tritt  ein  L.  le  Beau, 


nach  Isokr.  Areop  oder  nach  353.  E.  Wolfp, 
Quae  ratio  intercedat  inter  Lys.  epit.  et 
Isoer.  Paneg.,  Diss.  Berlin  1895,  hält  Iso- 
krates' Rede  für  das  Vorbild  und  setzt  dem- 
nach  den  Ep.  zwischen   380  und  371.     Die 


Lysias'  Epitaphios  als  echt  erwiesen,  Stuttg.  Echtheit    bestreitet   R.  Nitzsche,  Über    die 

1863.   Dagegen  H.  Saüffe  in  der  Rezension,  griech.  Grabreden   der   klass.  Zeit  I   (Progr. 

Gott.  Gel.  Anz.  1864  S.  824  ff.  =  Ausgew.  |   Altenburg  1901). 

Schriften  369  ff.    Gegen  die  Echtheit  spricht  | 


528  Ghriechisohe  Litteratnrgeschichte.    L  Elassische  Periode. 

war,  daß  die  FestversammluDg  über  die  von  Dionysios  geschickten  Zelte 
herfiel  und  sie  plünderte.^)  —  Ein  sophistisches  Paradestück  war  endlich 
die  &jioXoyia  Zwxoaxovs^  bestimmt,  die  mehrere  Jahre  nach  dem  Tod  des 
Sokrates  geschriebene  Anklagerede  des  Sophisten  Polykrates  zu  widerlegen.  2) 
Weitaus  am  wichtigsten  für  die  Kenntnis  der  künstlerischen  Eigen- 
art des  Lysias  sowie  der  politischen  Verhältnisse  Athens  sind  die  gericht- 
lichen Reden.  Voran  stehen  unter  diesen  die  schon  oben  berührte,  im 
Altertum  am  meisten  gelesene'*)  Rede  12  gegen  Eratosthenes  (403)  und 
die  verwandte,  ein  paar  Jahre  später  gehaltene  Rede  13  gegen  Agoratos, 
ein  gemeines  Subjekt,  das  im  Dienst  der  Oligarchen  den  Tod  des  Dionyso- 
doros  und  anderer  Häupter  der  Demokratie  herbeigeführt  hatte.  In  dieser 
bewährt  Lysias  nicht  bloß  seine  Meisterschaft  in  lebensvoller  Schilderung 
des  Schreckensregiments,  sondern  zeigt  auch  eine  besondere  Geschicklich- 
keit in  der  kunstvollen  Anordnung,  indem  er  den  schwächsten  Teil,  daß 
die  Anklage  erst  viele  Jahre  nach  dem  Verbrechen  und  vor  dem  unstatt- 
haften Gerichtshof  der  Elfmänner  angebracht  worden  war,  in  die  Mitte 
zwischen  die  packende  Erzählung  und  die  pathetische  Peroratio  stellt,  ein 
Kunstgriff,  dessen  sich  in  ähnlicher  Weise  auch  Piaton  in  der  Apologie 
und  Demosthenes  in  der  Kranzrede  bedient  haben.  —  Einen  politischen 
Hintergrund  in  den  Verhältnissen  der  dreißig  Tyrannen  haben  auch  die 
Anklagereden  gegen  Philon  (Sl)-*)  und  Euandros  (26)  und  die  Ver- 
teidigungsreden für  Mantitheos  (16)  und  einen  andern  wegen  oligarchi- 
scher  Gesinnung  verfolgten  Ungenannten  (25),  die  alle  vier  bei  Doki- 
masieklagen  (Prüfung,  ob  der  ausgeloste  Senator  oder  Beamte  die  Be- 
dingungen zur  Übernahme  des  Amtes  erfülle)  gehalten  wurden.  —  Auf  die 
Rechenschaftsablage  (eP&vrai)  nach  Verwaltung  des  Amtes  beziehen  sich 
die  Reden  gegen  Epikrates  (27)  und  Nikomachos  (30);  die  erste  ist 
bloß  ein  kurzer  Epilog,  in  der  zweiten  handelt  es  sich  um  willkürliche 
Änderungen,  die  sich  der  Angeklagte  infolge  von  Bestechung  als  dva- 
yQacpevg  bei  der  Aufzeichnung  von  Gesetzen,  namentlich  von  Sakralgesetzen 
hatte  zu  schulden  kommen  lassen.^)  Interessanter  noch  sind  die  zwei  Reden 
gegen  den  jüngeren  Alkibiades  (14.  15,  gehalten  395/4)  wegen  Versäumung 
militärischer  Pflichten  (//jioraf/ot'),^)  sowie  die  Rede  v:ikQ  tcov  'Agiotocpdvovg 
XQYjuaT(ov  Tzoog  xö  drjjnoatov  (19),  und  die  vorzügliche  Deuterologie  Jiegl  tj)s: 
dTjjuEvoEcog  Tojv  Tov  Nixiov  ädeXcpov  biikoyog  (18j,   in  denen   sich  der  Streit 


*)  Diodor  XIV  109,  3;   Dionys.   de  Lys.  |  447:   ,Maii  kann  ohne  Übertreibung  sagen. 

29 ;  Ps.Plutarch  vit.  X  or.  886  d.  daß  es  nicht  nur  in  der  griechischen,  sondern 

2)  Schol.  Aristid  p.  320, 4D.  Xen.  apol.  1  in  der  Litteratur  überhaupt  nicht  viele  Bei- 
kann sich  auch  mit  auf  diese  lysianische  spiele  einer  so  vollendeteu  Erzählung  gibt." 
Apologie   beziehen ;   Isoer.  Busir.  4   ignoriert  ;           *)  I.  Bruns,  Litt.  Port.  469  ff. 

sie.    Die  Anekdote,  Lysias  habe  diese  Rede  *)  0.  Gülde,  Quaestiones  de  Lysiae  ora- 

dem    Sokrates   angeboten,    begegnet    zuerst  tione  in  Nicomachmii.    Diss.  Berlin  1H82. 

Cic.  de  or.  1  231,  dann  Quint.  inst.  II  15,  30;  ®)  In  Sachen    des   jüngeren    Alkibiades 

Val.  Max.  IV  6  ext.  2.     Daß  die  Reden  des  sprach  zu  dessen  Gunsten  Isokrates,  worül)er 

Lysias  und  Polykrates  noch  von  dem  Rhetor  j   unten  S.  587.   Siehe  a.  o.  S.  522,  3.   Auch  in 

Libanios  in  seiner  Apologie  benutzt  wurden,  !   Sachen    der    zeugenlosen    {afidorvoo;;)    Rede 

führt  nach  einer  Andeutung  L.  Dindorfs  aus  stand  Isokrates  auf  selten   der  Gegenpartei; 

R.  HiRZEL,  Rli.  Mus.  42  (1887)  239  if.  |   vgl.  E.  Dbebup,  Jahrbb.  für  cl.  Phil.  Suppl. 

3)  J.MALcinN,DeChoriciiGaz.vet.Graecor.  22  (1896)  352  ff. 
scriptstud.  (Kiel  1884)  58.  I. Bau ks, Litt. Portr.  | 


3.  Die  Beredsamkeit,    b)  Lysias  nnd  Isaioa.    (§  292.)  529 

um  Güterkonfiskationen  wegen  Staatsverbrechen  dreht.  0  In  die  humane 
Fürsorge  der  Athener  für  erwerbsunfähige  Mitbürger  gewährt  einen  erfreu- 
lichen Einblick  die  kleine  Rede  vTikg  xov  ädvvdrov  (24),  mit  der  ein  Krüppel 
den  Fortbezug  der  Pension,  die  Mißgünstige  ihm  entziehen  wollten,  von 
dem  Rat  sich  erbittet.^)  Die  Angst  der  Athener  vor  der  Gefahr  einer 
Monopolisierung  des  Getreidehandels  in  Privathänden  veranschaulicht  die 
24.  Rede  gegen  die  Getreidehändler  (22),  die  das  Gesetz,  das  ihnen  auf 
einmal  mehr  als  fünfzig  Trachten  (q^ogjuovg)  zu  kaufen  verbot,  in  den  Wind 
geschlagen  hatten.*)  Ein  besonderes  religionsgeschichtliches  Interesse  knüpft 
sich  an  die  Rede  irnkg  rov  arjxov  (7),  in  welcher  der  Angeklagte  sich 
gegen  den  Vorwurf  verteidigt,  daß  er  einen  auf  seinem  Grundstück  befind- 
lichen heiligen  Ölbaum  (juogia)  ausgerodet  und  mitsamt  der  Umzäunung 
(arjxog)  habe  verschwinden  lassen.  Im  übrigen  drehen  sich  viele  der  Reden 
um  Bagatellsachen,  die  nur  durch  die  Art  der  Behandlung  einiges  Inter- 
esse erregen;  eine,  ein  ovvovaiaorixog  (8)  von  zweifelhafter  Echtheit  (s.  o. 
S.  526,  5),  hat  nur  private  Zänkereien  zum  Gegenstand  und  ist  ein  in 
Redeform  gekleideter  Absagebrief.  Von  der  am  meisten  gerühmten  Privat- 
rede xaTOL  Aioyekovog  (32)  wegen  unehrlicher  Vormundschaft  {imjQOJifjg)  sind 
uns  nur  Bruchstücke  durch  Dionysios  überkommen. 

Durch  seinen  ungemein  akkommodationsfähigen  stilistischen  Rela- 
tivismus tritt  Lysias  in  Gegensatz  zu  dem  Schöpfer  des  feierlich  ge- 
hobenen rednerischen  Universalstils,  Isokrates,  und  schon  bei  Lebzeiten  der 
beiden  Redner  scheint  der  Streit  über  die  vergleichende  Wertung  der 
beiden  ausgebrochen  zu  sein.*)  Ende  des  4.  Jahrhunderts  ist  man  in  dem 
Bestreben,  das  Steife  zu  vermeiden  und  die  lysianische  x^Q^^  nachzubilden, 
wieder  in  Ziererei  verfallen,  und  so  führt  seltsamerweise  eine  Entwick- 
lungslinie von  Lysias  über  Charisios  zu  dem  Begründer  des  Asianismus, 
Hegesias  (Cic.  Brut.  286). 0)  Im  Kampf  gegen  die  poetisierende  Überladen- 
heit und  Gedunsenheit  der  Asianer  zitieren  dann  die  Attikisten,  insbeson- 
dere die  gegen  Cicero  kämpfenden  römischen  im  1.  Jahrhundert  v.  Chr., 
den  Geist  der  lysianischen  loxvorrjg  (exilitas),  die  keine  Rhythmen,  keinen 
Metaphernschwulst  kennt;  Cäcilius  von  Kaie  Akte  erhob  ihn  gegenüber 
von  Piatons  poetisierender  Prosa  auf  den  Schild  (jt,  vi^k  32, 8).  Er  gilt  nun, 
wie  besonders  Dionysios  das  in  seiner  Schrift  über  Lysias  im  einzelnen 
darlegt,  als  Muster  des  schlichten  Stils.  Die  philosophisch  beeinflußte 
Ästhetik  der  Kaiserzeit  aber  stellt  ihn  gegen  Piaton  {jt.  vy>.  35,  1),  die  um 


*)  R.  Scholl,  Quaestiones  iiscales  iuris  *)  Zur   sachlichen   Erklärung   der  Rede 


attici  ex  Lysiae  orationibus  illustratae,  Gra- 
tulationsschr.  der  philos.  Fak.  Greifswald 
zu  G.  F.  Schömanns  60jähr.  Lehrerjub..  Berl 


WiLAMOWiTZ,  Aristot.  und  Athen  II  374  ff. 

*)  Plat.   Phaedr.  278  e   gab  dem   Isokr. 
den    Vorzug,    Antisthenes    in    einer    Schrift 


1873.    Zu  der  18.  Rede  vgl.  I.  Bbuns,  Litt.  (Diog.  L.  VI  15),    deren   Titel    M.    Pohlenz, 

Portr.  490  f.  Herrn.  42  (1907)  157  ff.,  lesen  will  ,.Tfo<  tcöv 

*)  Daß  die  Sache  des  Verteidigten   faul  dixoygdq^cov   Aeoiag  (=  Avoiag)  rj  'laoyodtpog 

war,  daß  aber  doch  die  Rede  nicht,   wie  A.  (=  'looxgdxjjq)*,  vielleicht  dem  Lysias  (s.  a. 

Böckh  und  I.  Bruns  angenommen  hatten,  eine  H.  Usener,  Quaest.  Anax.,  Gott.  1856,  8). 


untergeschobene  Cbungsrede  sei,  beweist  gut 
G.  WöBPEL,  De  Lysiae  oratione  vjisq  xov 
u6v%'dxov  quaest.,  Lips.  1901. 


"O  Bezeichnend  ist,  daß  Rutilius  Lupus 
in  seiner  asianisch  beeinflußten  Figurenlenre 
öfter  Beispiele  aus  Lysias  heranzieht. 


Handbach  der  klass.  Altartamswissenschaft.    VII.    5.  Aafl.  84 


530  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Elassische  Periode. 

große  Formen  beflissene  zweite  Sophistik  gegen  Demosthenes  zurück,  i) 
Didymos  hat,  so  viel  wir  wissen,  keinen  Kommentar  zu  ihm  geschrieben, 
und  die  rhetorischen  Kommentare  der  Kaiserzeit  von  C.  Harpokration, 
Zosimos  von  Gaza,  Zenon  von  Kition,  Paulus  von  Qerme  (Suid.  s.  w.)  sind 
für  uns  verschollen.  Bezeichnend  ist  auch,  daß  der  bis  jetzt  einzige  ge- 
fundene Lysiaspapyrus  (Hibeh  pap.  I  nr.  13)  noch  der  ersten  Hälfte  des 
3.  vorchristl.  Jahrhunderts  angehört.  Aus  den  Artikeln  in  Valerius  Harpo- 
krations  Rhetorenlexikon  sieht  man,  daß  das  Interesse  der  späten  Zeit  an 
ihm  wesentlich  antiquarisch-historisch  war. 

Einzige  Grundlage  des  Textes  ist  für  die  meisten  Reden,  wie  zuerst  H.  Saüppe,  Epist. 
crit.  ad  God.  Hermannum,  Leipz.  1841  =  Ausgew.  Sehr.  80  ff.  nachwies,  der  cod.  Palatinus  s.  XII 
in  Heidelberg ;  er  hat  eine  Lücke,  in  welcher  der  Schluß  von  Rede  5,  und  der  Anfang  von 
6,  und  eine  größere,  in  welcher  der  Schluß  von  25,  eine  ganze  Rede  xaia  Nixiöov  und 
der  Anfang  von  26  untergegangen  ist.  Nur  die  Reden  über  Eratosthenes'  Mord  und  der 
Epitaphios  (1.  2)  sind  auch  noch  durch  eine  andere  Quelle  auf  uns  gekommen,  die  am  besten 
durch  Marcianus  F  vertreten  ist,  worüber  R.  Scholl,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  1889  II  26—38. 
Die  übrigen  neunundzwanzig  Reden  gehen  auf  zwei  Sammlungen  zurück,  von  denen  die  eine 
sämtliche  Reden  nach  den  ProzeBarten  geordnet  enthielt  und  von  der  die  Reden  tieoi  rgav- 
fMTog,  doEßeiag,  xaxoXoyuov  (8 — 11)  auf  uns  gekommen  sind,  die  andere  eine  Auswahl  der 
politisch  interessantesten  Reden  umfaßte  (12 — 81),  unter  denen  die  Rede  gegen  Eratosthenes 
(12)  voranstand.  22  neue  Fragmente  der  Rede  gegen  Theozotides  (LIX  Thalheim)  gibt  der 
frühptolemäische  Hibeh  pap.  I  nr.  18  (dazu  K.  Führ.  Berl.  phil.  Woch.  26,  1906,  1413  f.);  eines 
der  Rede  :^eoi  rov  diftfi^ogorog  rov  6<fdaXfi6v  aus  dem  Hermogeneskommentar  des  Joh.  Diac. 
herausg.  von  H.  Rabb,  Rh.  Mus.  63  (1908)  144. 

Hauptausgabe  von  J.  J.  Reiske  cum  annot.  Taylori,  Marclandi,  suis,  Lips.  1772, 
2  voll.  Kritische  Textausgabe  von  C.  G.  Cobet,  Amstel.  1863;  in  Bibl.  Teubn.  zuerst  von 
C.  Scheibe,  1868  u.  1887,  dann  von  Th.  Thalheik  mit  kritischem  Apparat  und  Verzeichnis 
der  neueren  Lysiaslitteratur,  edit.  maior.  Leipz.  1901,  wozu  die  gediegene  Rezension  von  K. 
Führ.  Berl.  phil.  Woch.  21,  1901,  1508  ff..  1537  ff.  Erklärende  Ausgabe  ausgewählter  Reden 
von  R.  Raüchenstein  und  K.  Fuhr  bei  Weidmann,  von  H.  Frohberger  und  Th.  Thalheik 
bei  Teubner  mit  kritischen  Anhang. 

293.  Isaios,*)  Sohn  des  Diagoras  aus  Chalkis  auf  Euboia,«)  wurde 
von  Hermippos  unter  den  Schülern  des  Isokrates  aufgezählt,  wirkte  aber 
so  ziemlich  zu  gleicher  Zeit  wie  jener,  um  390 — 350,  und  hat  sich  in 
seiner  Redeweise  mehr  an  Lysias  als  an  Isokrates  angelehnt.  Beachtens- 
wert ist  übrigens,  daß  er  den  Hiatus  sorgfaltig  vermeidet,  was  er  jedoch 
von  Isokrates  angenommen  haben  kann,  ohne  dessen  Schüler  gewesen  zu 
sein.  Da  er  Fremder  war,  so  war  ihm  die  Laufbahn  des  Staatsredners 
versagt,  er  betätigte  sich  daher  nur  als  Lehrer  der  Beredsamkeit  und 
Logograph.  Seine  Spezialität  waren  Erbschaftsangelegenheiten,  bei  deren 
Behandlung  er  Rechtskenntnis  mit  geschickter  Beweisführung  und  Anord- 
nung verband.  Von  den  vierundsechzig  oder,  nach  Ausscheidung  der  un- 
echten, fünfzig  Reden,  die  er  hinterließ,  sind  nur  die  koyoi  xkrjQixoi  auf 
uns  gekommen,  die  von  dem  Privatleben  und  den  Kulturzuständen  des  da- 
maligen Athen  sehr  anschauliche  Bilder  geben  (vgl.  besonders  Reden  3. 
6.  8;  4,  7  flf.   erinnert  an    den  Anfang  von  Jean  Pauls  Flegeljahren).     Es 

M  Aristides,  der  ihn  natürlich  kennt  (or.  1  Bioyo.  p.  261  f.   und  ein  Artikel  des  Harpo- 

26  p.  520  D.).  erwähnt  ihn  im  zweiten  Buch  |  kration  'JaaTog. 

seiner  Rhetorik  nicht  ;Hermogencs(.T./ö.p.  410,  j  ')  Diese  Angabe   geht   nach  Suidas  auf 

20)  tut  ihn  sehr  kurz  ab ;  Moiris  zitiert  nicht  Demetrios  Magnes  zurück ;  wenn  er  nach  an- 

aus  ihm.  ■  dern  (Hermippos?)  Athener  hieß  (Dionysios. 

^)    Außer     den     gewöhnlichen    Quellen  |  Suidas,  yh'og  lo.),   so  bezog   sich   dies  wohl 

(Dionys.  Hai.  de  Isaeo,   Ps.Plut.  vit.  X  or.,  i  auf  die  Adoptivheimat. 
Suidas)  ein  yh'og  'loaiov  bei  A.  Westkbmann, 


3.  Die  Beredsamkeit,    d)  Isokrates.    (§§  293-^294.)  531 

waren  deren  dreizehn,  aber  durch  den  Wegfall  der  Schlußblätter  des  Codex 
archetypus  sind  uns  nur  zehn  und  die  Hälfte  der  elften  erhalten.  Außer- 
dem hat  uns  Dionysios  ein  großes,  in  den  Ausgaben  an  zwölfter  Stelle 
gednicktes  Bruchstück  aus  einem  anderen  Rechtsfall  aufbewahrt,  in  dem 
ein  gewisser  Euphiletos  gegen  die  Gemeinde  der  Erchiäer  wegen  wider- 
rechtlicher Streichung  aus  der  Bürgerliste  Appellation  einlegt.  Die  elfte 
Rede  über  die  Verlass^nschaft  des  Hagnias  zugunsten  des  Theopompos  hat 
dadurch  für  uns  ein  besonderes  Interesse,  daß  uns  aus  demselben  Erb- 
schaftsprozeß eine  pseudodemosthenische  Rede  (43  gegen  Makartatos,  den 
Sohn  des  Theopompos)  erhalten  ist.  Die  Aufnahme  in  den  Kanon  ver- 
dankte Isaios  neben  dem  Umstand,  daß  er  als  Lehrer  des  Demosthenes 
betrachtet  wurde  (Dionys.  de  Isaeo  20),  der  Subtilität  der  Beweisführung, 
durch  die  er  zu  der  sachlichen  Schlichtheit  des  Lysias  in  Gegensatz  trat. 
Das  Verhältnis  beider  ist  von  dem  Biographen  gut  mit  dem  Satz  be- 
zeichnet, daß  Lysias  überzeugte,  auch  wenn  er  für  Ungerechte  eintrat, 
Isaios  Verdacht  erregte,  auch  wenn  er  für  Gute  sprach;  in  der  Wirkung 
vergleicht  Dionysios  (de  Isaeo  4)  die  Reden  des  Lysias  mit  Zeichnungen, 
bei  denen  die  Linienführung  alles  ist,  die  des  Isaios  mit  Gemälden,  bei 
denen  Lichter,  Schatten  und  Farben  spielen.  In  der  Ethopoie  aber  kommt 
er,  so  sauber  und  anschaulich  seine  Erzählungen  sind,  dem  Lysias  nicht 
gleich;  etwas  schablonenhaft  wird  dem  Gegner  Geldgier  und  Hinterlist 
vorgeworfen,  während  der  Klient  als  ein  Mann  dasteht,  der  durch  selbst- 
lose Aufwendungen  für  das  Staatswohl  seine  edle  Gesinnung  bekundet.*) 
Die  Disposition  behandelt  er  mit  zielbewußter  Freiheit  von  Schematismus. 
Der  schlauen  Gewandtheit  in  der  Behandlung  des  Rechtsfalls  entspricht 
das  größere  Pathos  und  die  mehr  gesuchte  Weise  der  Rede.  Auf  den 
bei  Isaios  zuerst  stark  hervortretenden  Gebrauch  der  Sinnfiguren,  durch 
die  wirkliche  oder  fiktive  Erregungszustände  ausgedrückt  und  analoges 
Pathos  nebst  Trübung  des  ruhigen  Urteils  beim  Hörer  bewirkt  wird,  hat 
als  auf  ein  bedeutsames  Symptom  in  der  Entwicklung  der  Redekunst 
Cäcilius  hingewiesen.^)  In  dieser  Richtung  ist  Demosthenes  fortgeschritten. 
Die  Atticisten  der  Kaiaerzeit  stellen  ihn  über  Lysias.  5) 

Zu  neun  Reden  ist  einzige  Quelle  der  Cod.  Crippsianus  A.  —  Ausgaben:  recogn. 
adnot.  crit.  et  comment.  adi.  G.  F.  Schömakn,  Greifsw.  1831 :  rec.  H.  Bübmakn,  Berl.  1883, 
wozu  textkritische  Beiträge  in  Herrn.  19  (1884)  325  ff.  Textausgabe  in  Bibi.  Teubn.  von  C. 
Scheibe,  Leipz.  1860,  dann  Th.Thalh£ik,  1903.  Beste  Ausgabe  mit  Kommentar  jetzt  von  W. 
Wyse,  Cambridge  1904. 

d)  Isokrates  und  die  sophistische  Beredsamkeit. 
294.    Isokrates    (436—338),*)    Sohn    des    Theodoros,    eines    wohl- 
habenden  Flötenfabrikanten   aus  dem  Demos  Erchia,   war  geboren   nach 

^)  I.  Bruns.  Litt.  Portr.  532  f.  '   or.,  Photios  cod.  260  and  Suidas  die  Spezial- 

^)  Caecil.  fr.  103.  103a  Ofenloch;  über  ■   schrift  des  Dionysios  über  Isokrates    und 

die  sittliche  Seite  der  Sache  K.  0.  Müller,  eine  anonyme  Vita,  vielleicht  von  dem  Rhetor 

Griech.  Litt.  IPBlOf.;  Longin.  in  Rhet.  Gr.  Zosimos,    alles    zusammengestellt   bei    A. 

l  325,  9  ff.  Si>.  ;    Wbstbrmann.  Bioyg,  245—259.    Wichtig  ist 

^)  Hermog.  :i.  id.  p.  411,  1  S,  Sp.;  Isid.  |   überdies  Socraticorum  epist.  30.    Zur  Lebens- 

Peius,   ep.  IV  91  p.  1152  B   Mione:   öixavi-  und  Quellenkunde  B.  Keil.  Analecta  Isocra- 

pcwreoo^  /<fi'  'laoxgdtovg,  vyrfXoTEQog  de  Avoiov.  tea,  Prag-Leipz.  1885. 


Quellen  sind  außer  Ps.Plutarch  vit.  X 


34 


* 


532  Griechische  LitteratnrgeBchichte.    L  Klassische  Periode. 

seiner  eigenen  Angabe  de  permut.  9  im  Jahre  436.  Mit  aller  Sorgfalt 
erzogen,')  hörte  er  in  den  Jünglingsjahren  von  Philosophen  den  Prodikos, 
von  Rednern  den  Gorgias,  Teisias  und  Theramenes.  Mit  den  Kreisen  der 
Sokratiker  kam  er  erst  etwa  zehn  Jahre  nach  Sokrates'  Tod  in  Beziehung,*) 
Piaton  läßt  am  Schluß  des  Phaidros  den  Sokrates  glänzende  Erwartungen 
von  dem  jungen  Isokrates  aussprechen,  und  der  Peripatetiker  Praxiphanes 
führte  in  dem  Dialog  über  Dichter  den  Isokrates  alg  Gast  des  Piaton  auf 
dem  Land  ein.  3)  Aber  seine  philosophische  Neigung  ging  nicht  über  ein 
in  würdevoll  schöner  und  anständiger  Form  befriedigtes  allgemeines  Bil- 
dungsstreben hinaus,  und  so  fühlte  er  sich  mehr  zu  der  Tätigkeit  eines 
Redners  hingezogen.  Anfangs  trat  er,  wie  Lysias,  als  Redenschreiber 
(koyoyQdq)0(;)  auf;  aus  dieser  seiner  Laufbahn  sind  uns  noch  sechs  Reden 
(16—21)  aus  der  Zeit  von  402—390  erhalten.*)  Aber  bald  suchte  er 
infolge  von  Unannehmlichkeiten,  die  ihm  diese  Anwaltspraxis  zugezogen 
haben  soll,^)  ein  anderes  Feld  rednerischer  Tätigkeit.  Von  der  Beteiligung 
an  den  öffentlichen  Kämpfen  auf  dem  Markt  und  in  der  Ratsversammlung 
hielt  ihn  eine  angeborene  Schüchternheit  und  die  Schwäche  seiner  Stimme 
ab;  aber  zu  einem  Lehrer  der  Beredsamkeit  glaubte  er  das  Zeug  in  sich 
zu  haben.  Um  390  also  eröffnete  er  des  Erwerbs  wegen  (15,  161)  eine 
Schule,^)  nach  der  Angabe  des  Ps.Plutarch  p.  837b  zuerst  mit  neun  Schülern 
in  Chios.  Das  Programm,  mit  dem  er  seine  Schule  in  Athen  um  388  er- 
öffnete, liegt  uns  in  der  Rede  gegen  die  „Sophisten"  vor.  Er  versprach 
darin,  seine  Schüler  nicht  bloß,  soweit  sie  dazu  die  Begabung  {q?vaig) 
hätten,  zu  Rednern  zu  bilden,  sondern  überhaupt  in  die  Bildung  und  prak- 
tische Lebensweisheit  einzuführen.  Damit  trat  er  als  Konkurrent  der 
Dichter,^)  anderer  Sophisten  und  der  Philosophen  sokratischer  Schule  auf, 
die  sich  eben  damals  in  Athen  etablierten.^)  Den  Polykrates  scheint  er 
ausgestochen  zu  haben,  und  auch  der  weit  gewandtere  und  geistreichere 
Alkidamas,  der  in  der  erhaltenen  Rede  negl  rcov  ao(pioTO)v  dem  steifen  iso- 
kratischen  Lehrstil  gegenüber  das  Recht  der  kecken  Improvisation  ver- 
ficht, kam  nicht  gegen  ihn  auf.  Unter  den  Sokratikern  kritisiert  er  be- 
sonders,  aber  ohne  Namensnennung,   den  Antisthenes,   so  viele  Gedanken 

')  Isoer.  15,  161.  (17,  36);   der  Aiginetikos  391   oder  390  jR. 

*)  Spuren     philosophischer    Bildung    R.  Mende.  Prolegomena  in  Isoer.  Aeginet.  Diss. 

V.  ScALA,  Jahrbb.f.  el.  Phil.  143(1891)445if.;  !   Lips.  1899  p.  15).     Siehe   a.  E.  Drerup,  De 

sokratiseher  Einfluß  H.  F.  Schröder,  Quaest.  Isocratis    orationib.    iudieialib.    quaest.    sei., 

Isoer.,  Utrecht  1859,  und  besonders  H.  Gom-  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl.  22  (1896)  335  ff. 

PERZ,  Wiener  Stud.  27  (1905)  163  ff. ;  28  (1906)  ;           ^)  Cicero  Brut.  48  nach  Aristoteles:  cum 

1  flf.,  der  nachweist,  wie  die  Sokratik,  nament-  i   ex  eo,  quia  quasi  committeret   contra   legem 

lieh   antisthenischer,  aber  auch  platonischer  |  'quo  quis  iudicio  circumveniretur\  saepe  ipse 

Art,  seit  der  Sophistenrede  immer  stärker  auf  '   in  iudicium  rocaretur,   orationes  aliis  desti- 

Isokr.  abfärbt.   Von  persönlichen  Beziehungen  iisse   scrihere   totumque   se  ad  artes   compo- 

des  Is.  zu  Sokrates  kann  (Gomperz  a.a.  0.28,  nendas  transtulisse, 

26  f.)  keine  Rede  sein.  •)  D.  h.  er  wurde  ooqtmfjs,  wie  ihn  Auct. 

')  Diog.  L.  III  8.  ji.  vif.  4,  2  nennt.    Eine  Andeutung  der  Zeit 

*)  In  die  Zeit  unmittelbar  nach  Hei"stel-  in  der  Rede  de  permut.  195,  wonach  er  die 

lung   der  Demokratie   fällt   die  einundzwan-  Programnirede   gegen   die  Sophisten  schrieb 

zigste  Rede  {nudoTvgog)  gegen  Euthynus;  der  veioTFoo^  xai  dx/nuior. 

Trapezitikos   ist   einige  Jahre   nach  Wieder-  ")  B.  Keil.  Analecta  Isoer.  3  tf. 

aufrichtung  der   athenischen  Seemacht   oder  ®)  C.  Reinhardt,    De  Isocratis  aemulis, 

nach  der  Schlacht  von  Knidos  (394)  gehalten  ,   Bonn  1873. 


3.  Die  Beredsamkeit,    d)  Isokrates.    (§  294.)  533 

er  auch  späterhin  von  ihm  entlehnt  hat.  Die  von  L.  Spengel  in  sehr 
bestechender  Weise  begründete  Annahme  von  einem  besonders  gespannten 
Verhältnis  zwischen  Isokrat^s  und  Piaton  1)  muß  aufgegeben  werden;  erst 
nach  Piatons  Tod  hat  Isokrates  einige  weniger  freundliche  Seitenblicke  auf 
ihn  geworfen  (or.  5, 12;  12,  117  f.).  Piaton  seinerseits  trifft  allerdings  mit 
den  scharfen  Bemerkungen  Euthyd.  304  d  einen  Typus,  den  auch  Isokrates 
vertritt,  aber  nicht  diesen  persönlich,  und  Phaedr.  278 e  anerkennt  er, 
wenn  auch  mit  einiger  Reserve,  daß  unter  den  Rhetorenschulen  damaliger 
Zeit  die  des  Isokrates  sich  verhältnismäßig  am  meisten  dem  Ideal  der 
philosophischen  Rhetorik  nähere.')  Die  praktische  Wirkung  dieser  gegen- 
seitigen Würdigung  wird  wohl  von  H.  Gomperz  richtig  dahin  verstanden, 
daß  die  Schüler  der  Akademie  bei  Isokrates  Rhetorik,  die  des  Isokrates 
in  der  Akademie  Philosophie  und  Fachwissenschaften  studieren  durften. 
Erst  als  Aristoteles  seit  355  eine  eigene  Rhetorikschule  eröffnete,  macht 
Isokrates  gegen  ihn  und  die  Sokratik  stärkere  Ausfälle,  zuerst  in  der  Rede 
vom  Vermögenstausch  (15,  258  gegen  Aristoteles).  InnerUch  freilich  ist 
Isokrates,  dem  die  imoTTJjurj  für  Chimäre  galt  (15,  271flf.),  der  mit  Bewußt- 
sein im  Bereich  der  do^a  blieb  und  zur  Empfehlung  der  von  ihm  gelehrten 
ägen]  anführte  (15,  84),  daß  sie  nicht  dem  Streit  der  Philosophen sekten 
unterworfen,  sondern  allgemein  anerkannt  sei,  der  Lust,  Gewinn  und  Ehre 
für  die  einzigen  Motive  menschlichen  Handelns  hielt  (15,217),  dem  Piaton 
immer  fremd  geblieben.  Den  sittlichen  Relativismus  der  Sophistik  hält 
Isokrates  völlig  fest,  aber  er  verheißt  seinen  Schülern  als  Frucht  seines 
rednerischen  Unterrichts  die  leidenschaftslos  vornehme  Form  der  Worte 
wie  des  gesamten  Auftretens,  die  für  den  Redner  gewinnt  (15,  278),  und 
das  ohne  die  schwere  Mühe  fachwissenschaftUcher  oder  philosophischer 
Vertiefung.  3)  Diese  Versprechungen,  die  er  ohne  schwindelhafte  Reklame 
machte  —  natürliche  Begabung  bezeichnete  er  immer  als  unerläßliche  Be- 
dingimg — ,  der  Anspruch,  über  die  Kniffe  der  rabuUstischen  Gerichts- 
beredsamkeit weit  hinaus  zu  etwas  viel  Erhabenerem  zu  führen  (13,  19; 
15,  46  ff.  276)  und  der  verhältnismäßig  niedere  Preis*)  des  Kurses  führten 


^)  L.  Spengels  Auffassung  (Isokrates  und  |   wird  dadurch  (268 — 279)  zu  der  gezwungenen, 

Piaton,  Bayr.  Ak.  Abhdl.  7,  1855,  729  if.  mit  auch  von  E.  Pfleiderer  schon  vorgetragenen 

einem  Nachtrag  im  Phüol.  19,  1863,  593  ff.;  |   Auffassung   geführt,    die  Phaidrosstelle   sei 

ins  Phantastische  weitergeführt  von  F.  Dumm-  schneidende  Ironie    gegen   Isokr.,    wobei    er 

LEK,  Akademika,  52  ff.)  ist  verworfen  von  Th.  übrigens  richtig  hervorhebt,  daß  zwischen  der 

Gomperz,  Griech.  Denker  II  339.  434.  590  f.,  Auffassung  von  Rhetorik  bei  Piaton  im  Phai- 

widerlegt   von   H.    Gomperz,    Wiener   Stud.  dros  und  der  des  Isokrates  noch  immer  ein 

28  (1906)  27  ff.  und  B.  v.  Hagen,  Niyn  simul-  i   großer  Unterschied  sei. 

tas  intercesserit  Isocrati  cum  Piatone,  Diss.  |           ')  0.  Navarre,  Essai  sur  la  rh^t.  Gr. 

Jena  1906.    Beide  betonen  besonders  die  Tat-  194.  272  f. 

Sache,   daß   Isokrates  und  Piaton  einige  ge-  ')  Der  Mathematik  und  Naturwissenschaft 

meinsanie  Schüler  (Theodektes,  Hypereides,  ,   gesteht   er    einen  gewissen  propädeutischen 

Lykurgos,  Philiskos,  Isokrates  von  Apollonia,  Wert  zu  (15,  264  ff.);   aber  wie  Aristoteles 

Klearchos)  gehabt  haben.    Man  darfauch  auf  (pol.  1337  b  15)  warnt  er  vor  zu  grflndlichem 

die  gemeinsamen  Feinde  der  beiden,  Antisthe-  Eingehen :  die  sju^töXatog  jiaiöela  ist  sein  Ideal 

nes  und  ZoKlos  (Dionvs.  ad  Pomp.  1,  4.  16;  (2,  39;  12,  30  ff.). 

Ael.  v.  h.  XI,  10,  Suid.  s.  Zwlkog)  verweisen.  *)  1000  Drachmen;  die  großen  Sophisten 
H.  Räder,  Piatons  philos.  Entwickl.  137  f.,  des  5.  Jahrh.  nahmen  das  Drei-  und  Vier- 
hält  die   Spengelsche  Auffassung  fest   und  fache. 


534  Qriechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

ihm  eine  Menge  von  Schülern  aus  allen  Teilen  Griechenlands,  abgesehen 
von  den  westlichen  Kolonien,  zu.  Nicht  bloß  künftige  Redner,  sondern 
auch  solche,  die  sich  der  Staatsverwaltung  widmen  oder  nur  einen 
höheren  Grad  von  Bildung  überhaupt  sich  erwerben  wollten,  drängten  sich 
in  seine  Schule.  Cicero  de  orat.  II  94  ^  hat  den  berühmten  Ausspruch  ge- 
tan: Isocratis  e  ludo  tamquam  ex  equo  Troiano  meri  principes  exierunt^  und 
im  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  schrieb  Hermippos  ein  eigenes  Buch  negi  tcov 
'laoxQOTotjg  jua^rcov.*)  Staatsmänner  wie  Timotheos  und  Leodamas  nannten 
sich  seine  Schüler;  die  Historiker  Ephoros  und  Theopompos  und  der 
Tragiker  Theodektes  hatten  aus  seiner  Schule  die  Anregung  erhalten;  die 
groiaen  Redner  der  nächsten  Zeit,  Isaios,  Lykurgos,  Aischines,  Hypereides, 
waren  durch  ihn  in  die  Redekunst  eingeführt  worden ;  mit  den  bedeutend- 
sten und  mächtigsten  Persönlichkeiten  seines  Jahrhunderts,  mit  den  Königen 
Euagoras  von  Kypros,  Archidamos  von  Sparta,  Philippos  von  Makedonien 
trat  er  durch  seine  Schule  in  Verbindung.  Der  Kurs  dauerte  gewöhnlich 
drei  bis  vier  Jahre ;^)  allmonatlich  fand  ein  Certamen  statt;  der  Preis  be- 
stand in  einem  Kranz.*)  Dem  Unterricht  lag  eine  entwickelte,  aber  von 
Isokrates  nicht  buchmäßig  fixierte^)  Theorie  {^exvrj)  zugrund,  von  der 
manches  noch  in  spätere  Lehrbücher  der  Rhetorik  übergegangen  ist;  die 
Hauptsache  aber  bildeten  die  zur  Einübung  vorgelegten  Musterbeispiele 
und  die  Anleitung  zum  Ausarbeiten  von  Reden  und  Redeteilen.  In  der 
Geschichte  der  antiken  Pädagogik  verdient  Isokrates  Beachtung  als  Be- 
gründer dessen,  was  wir  Seminarbetrieb  nennen,  im  Gegensatz  zu  dem 
Vorlesungsbetrieb  der  Sophisten;  wahrscheinlich  hat  in  diesem  Stück 
Sokrates  auf  ihn  eingewirkt. 

Am  meisten  angesehen  war  indessen  Isokrates  nicht  als  Lehrer 
der  Beredsamkeit,  sondern  als  Verfasser  epideiktisch-politischer  Reden; 
diese  sind  nicht  wirklich  von  ihm  gehalten,  sondern  nur  vorgelesen 
worden, ö)  hauptsächlich  wohl  als  Schulreden,  die  den  Schülern  als 
Muster  in  der  Redekunst  dienen  sollten;  si^  wirkten  aber  als  politische 
Pamphlete  auch  auf  die  weitere  Öffentlichkeit')  für  Isokrates'  politisches 
Ideal,  die  Vereinigung  aller  Hellenen  zum  gemeinsamen  Krieg  gegen 
die  Barbaren;  als  Träger  dieses  Ideals  dachte  er  sich  zunächst  den 
spartanisch-athenischen  Dualismus  —  Sparta  führt  die  Land-,  Athen  die 
Seemacht;  je  mehr  aber,  zumal  im  Bundesgenossenkrieg,  Athens  Seemacht 
und  in  den  Zeiten  der  thebanischen  Hegemonie  Spartas  Landmacht  zu- 
sammenbrach, desto  mehr  wird  seine  Richtung  monarchisch  —  er  wendet 
sich  an  die  Fürsten,   zu  denen  ihn   seine  kyprischen  Beziehungen   zuerst 

^)  Vgl.  Cic.  Brut  32:   Isocratis  dotnus  land,  Anaxim.  35  if.,  zeigt  den  durch  Theo- 

cunctae  Graeciae  quasi  ludus  quidam  patuity  dektes  veruiittelten  Einfluß  der  isokratisclien 

atque  officina  dicendi.  Siehe  a.  Philod.  de  rhet.  Technik  auf  Anaximenes  und  Aristoteles, 

suppl.  20,  17  SuDH.  *)  Die  Vorlesung  besorgte  ein  dvayvMOTtjg 

*)  Ath.  342c  und  451  e;  Dionys.  de  Isaeo  '  jrati  (Philod.  de  rhet.  1  199  Slt)H.);  vgl.  E. 

1;  Ps.Plutarch  p.  837  c.  Roude.  Kl.  Sehr.  I  265.  1. 

^)  Isoer.  15,  87.  ')  Siehe  A.  3.    Daß  Isokrates  mit  seinen 

*}  Menandros  in  Rhet.  gr.  III  398,  11  Sp.  Reden   bei  den  auswärtigen  Großen   betteln 

*)  Daß  Is.  keine  texvrj  geschrieben  hat,  ging   und    dieselbe  Rede   mit  kleinen   üm- 

erweist  M.  Sheehan,  De  fide  artis  rhet.  Iso-  arbeitungen  mehreren  antrug,  wird  ihm  vor- 

crati  tributae,   Diss.  Bonn  1901;   P.  Wend-  I   geworfen  epist.  Socratic.  30,  13. 


8.  Die  Beredsamkeit,    d)  Isokrates.    (§  294.)  535 

geführt  hatten,  und  bietet  ihnen  die  Führung  Griechenlands  au:  dem 
Dionysios  I.  von  Syrakus  (wenn  ep.  I  echt  ist),  dem  Archidamos,  schließ- 
lich dem  Philippos  von  Makedonien;  so  wird  er  in  aller  Gemütsruhe  zum 
Landesverräter.  Die  von  B.  G.  Niebuhr  inaugurierte  tiefe  Verachtung  des 
Isokrates  als  Politikers  ist  allerdings  insofern  nicht  gerechtfertigt,  als  ja 
tÄtsächlich  vieles  so  geworden  ist,  wie  er  voraussagte.^)  Aber  ein  Real- 
politiker ist  er  freilich  nicht  gewesen;  denn  zwei  Illusionen  lösen  einander 
bei  ihm  ab:  zuerst  glaubt  er  an  die  Möglichkeit  des  Dualismus,  ein  Ge- 
danke, der  noch  unpraktischer  war  als  ehemals  der  großdeutsche;  dann 
macht  er  sich  von  der  Selbstlosigkeit  der  Monarchen,  die  er  anruft,  ganz 
unrichtige  Vorstellungen  und  erwartet  offenbar  nichts  weniger  als  die 
Niedertretung  der  Staaten  des  Mutterlandes,  die  dann  erfolgt  ist.  Es 
fehlt  ihm  der  derbe  und  gesunde  Nationalinstinkt  des  Polis-Bürgers :  Athen, 
Griechenland  sind  ihm  nur  noch  Kulturfaktoren,  die  er  als  solche  hoch 
verehrt  (Panegyrikos,  Panathenaikos) ;  aber  den  heimischen  Traditionen  in 
Verfassung,  Religion,  Sitte  steht  er,  wiewohl  er  es  einmal  (Areopagiticus) 
angezeigt  findet,  das  Lob  der  alten  Zeit  zu  singen,  ohne  Temperament  und 
Verständnis  gegenüber.*)  Nach  dem  Untergang  der  spartanischen  und 
thebanischen  Hegemonie  konnte,  wer  an  Athens  Zukunft  nicht  mehr 
glaubte,  allerdings  das  Aufgeben  der  inneren  Händel  und  die  Zusammen- 
fassung aller  griechischen  Kräfte  unter  monarchischer  Leitung  empfehlen, 
wie  Isokrates  getan  hat;  aber  ein  attischer  Staatsmann,  der  an  den  ethi- 
schen Fonds  seiner  Mitbürger  glaubte,  dem  die  Überlieferungen  seiner 
Heimat  heilig  waren,  konnte  nur  den  Weg  gehen,  den  Demosthenes  ge- 
gangen ist,  und  mußte  den  Versuch  auf  Leben  und  Tod  wagen,  die  Vor- 
macht Athens  wieder  herzustellen.  Insofern  ist  Demosthenes,  in  dem  sich 
das  ganze  Pathos  der  altgriechischen  Polis  noch  einmal  zusammenballt, 
doch  mehr  als  Isokrates  Realpolitiker  gewesen,  wiewohl  der  Erfolg  gegen 
ihn  war.  Isokrates  aber  mit  seinen  humanistischen,  kosmopolitischen, 
monarchischen  Neigungen  ist  neben  Xenophon  Vorläufer  des  Hellenismus. 
Kurz  nach  der  Schlacht  von  Chaironeia,  welche  die  Erfüllung  seiner 
Wünsche  in  einer  übrigens  doch  vielleicht  auch  für  ihn  beängstigenden 
Weise  einleitete,  ist  er  gestorben,  aber  gewiß  nicht  aus  Herzeleid;*)  wenn 
er  sich  selbst  den  Tod  durch  Verweigerung  der  Nahrungsaufnahme  gab, 
so  wird  es  geschehen  sein,  um  der  ünerträglichkeit  seiner  Altersleiden 
(12,  267)  ein  Ende  zu  machen.  Er  hinterließ  einen  als  Redner  und 
tragischer  Dichter  bekannt  gewordenen  Stiefsohn  Aphareus,  den  ihm  seine 
Frau  Plathane,  die  er  in  späten  Jahren  als  Witwe  heiratete,  aus  ihrer 
ersten  Ehe  mit  dem  Sophisten  Hippias  zugebracht  hatte,  und  eine  Tochter, 

*)  panath.  171   spielt  er  ein  wenig  Kas-  ep.  II 10, 1 ;  VIII 2 ;  Liban.  or.  XI 184  F.)  weiter- 

sandra.  wirkt  und  überhaupt  die  ganze  hellenistische 

2)  Besonders    bezeichnend   ist    12,  153,  Weltanschauung   beherrscht.    —    Über   Iso- 

wo  der  Unterschied  zwischen  lakonischer  und  krates'  Anschauungen  betr.  Staatsverfassung 

athenischer  Verfassung  verwaschen  wird.  Den  s.  H.  Henkel,   Stud.   z.   Gesch.   der  griech. 

Gegensatz   zwischen  Hellenen   faßt  er  nicht  Lehre  v.  Staat,  Leipz.  1872,  147  ff. 

als  Kassengegensatz,  sondern  als  Kulturgegen-  ')  Den  sentimentalen  Anekdoten  (F.Blass, 

satz  (paneg.  50).   eine  Idee,  die  bei  Erato-  Att.  Bereds.  II*  96  f.)  widerspricht  der  glaub- 
sthenes  (Strab.  66)  und  Späteren  (Sidon.  Ap.   ,  würdige  3.  Isokratesbrief. 


536  (hiechische  Litteraturgeschichte.    L  Klasaiflche  Periode. 

die  er  mit  der  Hetäre  Lagiske  gezeugt  hatte.  Eine  Statue,  gefertigt 
von  dem  berühmten  Leochares,  hatte  ihm  sein  Schüler  Timotheos,  eine 
Büste  auf  einer  Säule  sein  Stiefsohn  Aphareus  gesetzt. 

295.  Von  dem  litterarischen  Nachlaß  des  Isokrates  sind  einundzwanzig 
Reden  und  neun  Briefe  auf  uns  gekommen;  die  Alten  hatten  von  echten 
Werken  schwerlich  mehr;  Cäcilius  erkannte  achtundzwanzig,  Dionysios 
fünfundzwanzig  unter  den  sechzig  zirkulierenden  Reden  als  echt  an.^)  Die 
uns  erhaltenen  Reden,  außer  denen  auch  das  spätere  Altertum  keine  mehr 
von  Isokrates  gehabt  hat,  gehörten  jedenfalls  zu  der  engeren  Auswahl  der 
beiden  Attikisten.  Unter  die  Fälschungen  gehört  auch  eine  tixvv^  deren 
Reste  L.  Spengel,  ^vvaycoytj  xexvcbv  p.  154 — 172,  sammelt  und  erläutert.*) 
Die  erhaltenen  Reden  stehen  in  unseren  Ausgaben  in  der  Reihenfolge,  die 
ihnen  Hieronymus  Wolf  gegeben  hat,*)  voran  die  paränetischen  (drei),  dann 
die  epideiktischen  (zwölf),  zuletzt  die  gerichtlichen  (sechs).  —  Zeitlich  am 
frühesten  fallen  die  sechs  gerichtlichen  Reden  {jieol  xov  C^vyovg,  tga- 
TcsCiTixogt  :^g6g  KaXUfxayov,  Alyivrjtixog,  xaxä  Aoyjtov,  Jigog  Ev&vvovv\  die, 
wie  schon  bemerkt,  zwischen  402  und  390  gehalten  oder  vielmehr  von 
Isokrates  für  andere  geschrieben  worden  sind.*)  Von  ihnen  ist  die  zweite 
eine  Synegorie  für  einen  bosporanischen  Metöken  gegen  den  Bankier 
(TQajieC(Ti]g)  Pasion  wegen  vorenthaltenen  Depositums;  sie  gibt  über  die 
Handelsbeziehungen,  die  in  jener  Zeit  Athen  mit  dem  bosporanischen  Reiche 
unterhielt,  höchst  interessante  Aufschlüsse.  Die  vierte  Rede  heißt  Alyrnj- 
nxog,  weil  sie  (in  einer  Erbschaftsangelegenheit  ähnlich  der  in  Isae.  2.  Rede) 
vor  einem  aiginetischen  Gerichtshof  gehalten  worden  ist;  auch  sie  ist  ge- 
schichtlich bedeutungsvoll,  weil  sie  ein  Bild  der  trostlosen  Zustände  auf 
den  griechischen  Inseln  gegen  das  Jahr  390  hin  gibt.  Die  letzte  der  Ge- 
richtsreden, in  ihrer  heutigen  Gestalt  nur  ein  Bruchstück,  ist  eine  Syne- 
gorie für  Nikias,  der  berühmte  köyog  äjudoxvgog^  so  genannt,  weil  in  der 
Sache   keine  Zeugen  beigebracht  werden  konnten.*)     In  dem  bezüglichen 

*)  Umföngliche  Fälschungen  erwähnt  '  mit  Erfolg  verteidigt  von  E.  Drerup,  Jahrbb. 
schon  Aristoteles  (Dionys.  de  Isoer.  18).  und  i  f.  cl.  Phil.  Suppl.  22  (1896)  355  ff.,  zugleich 
Zosimos  (A.  Westermakn,  ^/oj»^.  p.  258,  128)  '  mit  Aufhellung  der  verwickelten  Rechtsver- 
gibt Titel  von  Xoyoi  F.^st^qeoo/tevoi,  Die  Atti-  hältnisse  von  P.  Galle,  Beiträge  zur  Erklä- 
kisten  nahmen  wahrscheinlich  Reden  und  rung  der  17.  Rede  des  Isokr.  (Trapezitikos) 
Briefe  unter  dem  Namen  Xoyoi  zusammen  und  und  zur  Frage  der  Echtheit,  Progr.  Zittau 
athetierten  einige  von  den  Briefen.    B.  Keil,  j    1896. 

Anal.  Isoer.  c.  2  weist  nach,  daß  schon  Her-  '           ^)  Diese  Prozeßlage  beschäftigte  sophi- 

mogenes  nicht  mehr  als  unsere  einundzwanzig  I   stischen  Scharfsinn    schon   lange  (Ar.   nub. 

Reden,    und   zwar  in  der  Ordnung   unserer  777.1152:  Antiph.  or.  5;  Isoer.  4.  188).    Die 

Hdschr.  hatte.  '   Rede  ist  läppisch  in  der  Beweisführung  und 

^)  Inhaltlich  stimmen  die  Reste  mit  der  i   schmeckt  nach  den  Künsten  der  Schule,  aber 

Lehre  des  Isokr.  überein.    Siehe  o.  S.  534,  5.  |   schon  das  Zeugnis  des  Aristoteles  rhet.  1392b 

*)  Über  ihre  Folge  in  den  verschiedenen  11  schützt   sie   gegen  die  Angriffe   auf  ihre 

Klassen  der  Handschriften  s.  E.  Drerup,  Kh.  Echtheit  von  E.  Drerup  a.  0.  364  ff.,  Berl. 

Mus.  51  (1896)  21  ff.  ;    phil.  Woch.  19  {1x99)  7  ff..  Jahrbb.  f.  cl.  Phil. 

*)   Wie    wir   aus    Dionys.    de   Isoer.   8  j   Suppl.  27  (1902)  333,  und  K.  Münscher,  Gott, 

sehen,   hat  Aphareus  nach  dem  Willen   des  I    Gel.  Anz.  1907.  77«  f.  —  Wie  beliebt  diese 

Vaters   die  Autorschaft   dieser  gerichtliehen  Depositumsprozesse   als    Übungsgegenstände 

Reden  später   verleugnet.     Die  Echtheit  des  in   den  Rhetorensehulen    blieben,    zeigt  der 

Trapezitikos,  wegen  der  sprachlichen  Beson-  von  F.   G.  Kenyon,   Melanges   Weil  243  ff., 

derheiten   und   sachlichen   Unklarheiten   an-  '   veröffentlichte  Papyrus  aus   dem   1.  Jahrb. 

gezweifelt  von  G.  Benseier  und  Grosse,  wird  |   n.  Chr. 


3.  Die  Beredsamkeit,    d)  Isokrates.    (§  295.) 


537 


Streit,  der  um  402  kurz  nach  Vertreibung  der  Dreißig  zum  gerichtlichen 
Austrag  kam,  stand  Isokrates  dem  Lysias  gegenüber,  und  die  beiderseitigen 
Reden  gaben  dem  Antisthenes  Anlaß  zu  einer  gegen  Isokrates  gerich- 
teten Streitschrift  Jieol  xdfv  dixoyQdq)cov  f)  Avalag  xal  ^laoxgdrrjg,  Jigog  tov 
Vaoxgdrovg  äjLidQtvgov.^)  Auch  in  der  Bede  Jtegl  tov  l^evyovg  für  Alkibiades 
den  Jüngeren,  in  der  es  sich  um  ein  fremdes  Gespann  2)  handelt,  mit  dem 
der  berühmte  Alkibiades,  der  Vater  des  Angeklagten,  in  Olympia  gesiegt 
hatte,  trat  Isokrates  den  Kreisen  des  Lysias  feindlich  gegenüber,  da  dieser 
zu  den  Gegnern  des  Alkibiades,  des  Freundes  der  Sokratiker,  gehörte  und 
einige  Jahre  nach  jenem  Rechtshandel  (395/4)  eine  uns  noch  erhaltene 
Rede  gegen  Alkibiades  hielt.  Isokrates  erlaubte  sich,  bei  der  Publikation 
seiner  Rede^)  die  vor  Gericht  gehaltene  Rede  zu  erweitern  und  in  sie 
überschwengliche  Lobpreisungen  auf  die  Verdienste  des  Alkibiades  ein- 
zulegen,*) die  technisch  als  Vorläufer  des  Euagoras  interessant  sind.  — 
Einen  ganz  anderen  Charakter  trägt  die  1812  durch  A.  Mustoxydis  aus 
dem  Cod.  Ambros.  415  vervollständigte  Rede  Tiegl  dvndoaecog.  Sie  ist 
353^)  von  dem  Redner  in  eigener  Sache  im  zweiundachtzigsten  Lebensjahre 
geschrieben  worden,  hat  aber  von  einer  Gerichtsrede  nur  die  Form.  Ver- 
anlaßt war  sie  durch  eine  Chikane  des  Lysimachos,  der  ihm  durch  das 
Anerbieten  des  Vermögenstausches  die  Leistung  einer  kostspieligen  Trier- 
archie  zuschob.  In  Athen  konnte  nämlich  einer,  dem  eine  Liturgie  zu- 
gemutet wurde,  einen  anderen  Bürger,  den  er  für  reicher  hielt,  dadurch 
zur  Übernahme  der  Leistung  zwingen,  daß  er  ihm  für  den  Fall  der  Wei- 
gerung Vermögenstausch  (ävridoatg)  anbot.  Nun  stand  Isokrates  im  Ruf, 
sich  durch  seine  Lehrtätigkeit  und  vornehmen  Verbindungen  ein  enormes 
Vermögen  erworben  zu  haben,  und  daher  bot  ihm  jener  Lysimachos  zwei- 
mal Vermögenstausch  an.  Darüber  kam  es  zur  gerichtlichen  Verhandlung, 
und  beim  zweiten  Mal  mußte  sich  wirklich  Isokrates,  wollte  er  nichts 
Schlimmeres  über  sich  ergehen  lassen,  zur  Übernahme  der  Tierarchie  ver- 
stehen.  Hintendrein  schrieb  er  dann  die  vorliegende  Rede,  die  längste  und 


»)  Diog.  L.  VI  15.  Siehe  o.  S.  529,  4.  Die 
Parteinahme  des  Antisthenes  für  Lysias  er- 
kannt von  H.  UsENEB,  Quaest.  Anax.  7  ff., 
von  demselben  in  weitere  Kombinationen  ge- 
zogen Rh.  Mus.  35  (1880)  135  ff. 

-)  Auffälligerweise  heißt  der  Eigentümer 
des  Gespanns  in  unserer  Rede  Teisias,  bei 
Ps.Andokides  4.  26  aber,  mit  dem  Diodor. 
13,  74,  3  und  Plutarch.  Alcib.  12  stimmen, 
Diomedes.  Vielleicht  war,  wie  der  Heraus- 
geber Frohberger  annimmt,  Teisias  der  Sohn 
des  Diomedes,  wenn  nicht  der  Name  Dio- 
medes  überhaupt  auf  einem  Irrtum  beruht. 
R.  Münsterberg  in  der  Festschr.  f.  Th.  Gom- 
perz  298  f.  sucht  die  Schwierigkeit  zu  lösen 
durch  die  Annahme,  die  Rosse  seien  diome- 
dischen  Geblüts  gewesen. 

*)  Die  R^de  des  Isokrates  setzt  F.  Blass, 
Att.  Bered.  IP  205  in  das  Jahr  397;  sie  fÄllt 
nach  §  40  jedenfalls  vor  den  Wiederaufbau 
der  Mauern. 

*)  Vorliebe  für  Alkibiades  verrät  Isokr. 


auch  Busir.  5.  I.  Brüns,  Das  litterarische 
Porträt  S.  495  ff.  erweist,  daß  die  Rede  des 
Isokrates  und  die  Hauptrede  des  Lysias  gegen 
Alkibiades  (or.  14  §  24 — 29),  so  wie  sie  uns 
vorliegen,  vor  Gericht  nicht  gehalten  sein 
konnten,  sondern  litterarische  Produktionen 
sind.  Im  Anschluß  daran  nimmt  derselbe, 
um  die  wechselseitige  Bezugnahme  des  Iso- 
krates (16,  10.  11.  12.  13)  auf  Lysias  und 
des  Lysias  (14.  32.  37)  auf  Isokrates  zu  er- 
klären, an,  daß  einerseits  Isokrates,  als  er 
seine  Rede  veröffentlichte,  auf  das  lysiani- 
sche  Plaidoyer  Bezug  nahm,  anderseits  dem 
Lysias,  als  er  die  vierzehnte  Rede  heraus- 
gab, die  isokratische  Publikation  bereits  vor- 
lag. Ähnlich  hatte  schon  Fr.  Nowack.  De 
Isocratis  jtfqI  tov  C^vyovg  oratione  (XVI)  et 
Lysiae  xat*  *AXxiß,  priore  (XIV).  in  Comm. 
Ribbeck.  463—74  eine  nachträgliche  Umar- 
beitung der  Rede  des  Isokrates  angenommen. 
*)  Das  Jahr  gibt  Isokrates  selbst  §  9. 


538 


Qriechische  LitteraturgoBchichte«    L  Klassische  Periode. 


langweiligste  von  allen,  in  der  er  sich  gegen  die  Mißgunst  seiner  Mitbürger 
zu  verteidigen  und  seine  Verdienste  in  helles  Licht  zu  setzen  suchte.^) 
Als  Aktenstücke  über  sein  eigenes  Loben  und  Denken  legt  er  Teile  seiner 
früheren  Reden  ein,*)  die  den  Gang  der  ohnehin  formlosen«)  Rede  noch 
schleppender  machen.  Die  Anklänge  der  Rede  an  die  Apologie  des  Piaton 
im  ganzen  und  in  Einzelheiten  sind  schon  von  dem  Augsburger  Huma- 
nisten Hieronymus  Wolf  bemerkt  worden.*) 

296.  Sophistische  Jialyvia  und  paränetische  Reden.  Den  eigent- 
lichen Gerichtsreden  stehen  der  Zeit  nach  am  nächsten  die  schon  erwähnte 
Programmrede  xarä  rcov  aoipiatcoVf  mit  der  Isokrates  eine  feindselige  Stel- 
lung zunächst  gegen  die  Eristiker  vom  Schlag  des  Antisthenes,  aber  doch 
auch  gegen  die  Philosophen  überhaupt  einnimmt,  und  die  sophistischen 
Schulreden  auf  Bovaeigig  und  'Ekivtj,^)  zwei  durch  das  Drama  populär 
gewordene  Gestalten.  Durch  den  Buseiris  will  er  seinen  Rivalen  Polykrates, 
durch  die  Helena  seinen  Lehrer  Gorgias  (doch  gewiß  erst  nach  dessen 
Tod)®)  überbieten.  —  Paränetische  Reden  sind  uns  drei  als  isokratisch 
überUefert:  der  Fürstenspiegel  (jigog  Nixoxkia)^  gerichtet  an  Nikokles, 
den  Sohn  des  Euagoras,  der  um  374  seinem  Vater  in  der  Herrschaft 
über  Kypros')  gefolgt  war  (das  Thema  wird  3,  II  bezeichnet  cbg  xQV  '^^*" 
gawsiv);^)  die  Mahnrede  an  die  Untertanen  des  Nikokles,  NixoxXfjg  be- 
titelt, weil  sie  dem  Nikokles  selbst  in  den  Mund  gelegt  ist;  die  Spnich- 
rede  an  Demonikos,  mit  dessen  Vater  der  Verfasser  befreundet  sein 
will.  Alle  drei  Reden  enthalten  eine  Fülle  schöner,  zum  Teil  ohne  erkenn- 
bares Band  aneinandergereihter  Sentenzen;  aber  die  letzte  wird  von  Harpo- 
kration  unter  inaxrög  ogxog  als  Werk  des  Isokrates  von  ApoUonia  zitiert 
und   enthält  auffällige  Abweichungen  vom   isokratischen   Sprachgebrauch, 


»)  Eingeflochten  ist  in  die  Rede  (§  107 
bis  139)  eine  mit  ähnlichem  Schematismus 
wie  Xenoph.  Ages.  arbeitende  Lobrede  auf 
Timotheos,  den  berühmten  Schüler  und  Freund 
des  Isokrates. 

*)  Über  die  Abweichungen  des  Textes 
dieser  Zitate  von  dem  der  ganz  erhaltenen 
Reden  C.Münscheb,  Quaest.  Isoer.,  Gött.Diss. 
1895. 

•)  Über  Isokrates*  Unfähigkeit  in  dieser 
Rede  sich  selbst  zu  charakterisieren,  I.  Bbüns, 
Litt.  Portr.  526  flf.;  über  ihre  Bedeutung  für 
die  Geschichte  der  Autobiographie,  deren 
erstes  Specimen  sie  ist,  G.  Misch,  Gesch. 
der  Autobiographie  I  (Leipz.  und  Berlin  1907) 
90  ff. 

*)  Siehe  jetzt  die  Zusammenstellung  von 
H.  GoMPERz,  Wiener  Stud.  28  (1906)  1  ff. 

^)  Den  vollständigeren  Titel  'E),ivtfg  fy- 
fccüutor  hatte  nach  §  14  die  Rede  des  Gor- 
gias. Th.  Berok,  Fünf  Abhandl.  z.  Gesch.  der 
Philos.  u.  Astronomie,  herausg.  von  G.  Hin- 
RicHS,  Leipz.  1883  S.  34  rückt  diese  Rede, 
weil  in  ihr  Antisthenes  als  gealtert  bezeich- 
net werde,  in  spätere  Zeit  herab;  ebenso 
setzt  sie  B.  Keil,  Anal.  Isoer.  p.  6  um  das 
J.  366.    F.  BLASS,  Att.  Bereds.  I*  47  f.  geht 


mit  Recht  erheblich  weiter  hinauf,  wenn  auch 
das  J.  393  zu  früh  sein  dürfte.  W.  Judeich, 
Eleinasiatische  Studien,  Marburg,  1892  S.  156, 
tritt  für  385  ein;  ebenso  G  Thiele,  Herrn.  36 
(1901)  253  ff.,  und  K.  Münscher,  Rh.  Mus.  54 
(1899)  248  ff.  Der  Buseiris  kann  von  der  Helena 
nicht  weit  abgerückt  werden  und  ist  von  W. 
Judeich  a.  a.  0.  152  ff.,  wiewohl  auf  Grund 
eines  nicht  ganz  sicheren  Indiziums,  c.  387 
richtig  angesetzt.  Der  Ansatz  von  H.  Gom- 
PERZ  (Wiener  Stud.  27, 1905, 192  ff.)  c.  372  ist 
unmöglich  und  beruht  auf  der  irrigen  Vor- 
aussetzimg von  einer  sehr  weitgehenden  Be- 
nützung des  platonischen  Staats  im  Bus.  (§17 
kann  sich  auf  Pythagoreer  beziehen). 

^)  Gegen  die  Sophisten  und  Philosophen 
überhaupt  ist  insbesondere  das  Proömium  der 
Helena  §§  1 — 15  gerichtet,  durch  das  sich 
entschieden  auch  Piaton  beleidigt  fühlen 
I  mußte.  Siehe  H.  Gomperz,  Wiener  Stud.  27 
(1905)  174  ff. 

")  Geschichte  des  kyprischen  Fürsten- 
hauses bei  W.  Judeich  a.  a.  0.  113 — 136. 

")  über  die  verkürzte  Textfassung,  in 
der  Stellen  der  Rede  ad  Nie.  in  der  Rede 
Tiegi  dvTi<)uoe(oc:  zitiert  werden,  s.  K.  Mün- 
scher, Gott.  Gel.  Anz.  1907,  775  ff. 


3.  Die  Beredsamkeit,    d)  Isokrates. 


296-297.) 


539 


so  daß  an  Echtheit  nicht  gedacht  werden  kann.i)  Sie  ist  uns  aber  als 
erste  Probe  der  Ersetzung  der  alten  poetischen  vno^xai  in  elegischer 
Form  durch  ein  prosaisches  Sentenzenbuch  sehr  interessant.  Sie  vertritt, 
mit  einer  kynischen  Tönung,  die  Vulgatmoral  der  gebildeten  Stände  des 
4.  Jahrhunderts,  in  das  sie  ohne  Zweifel  noch  zu  setzen  ist, 2)  und  hat  in 
der  Weltlitteratur  später  eine  wichtige  Rolle  gespielt.'*)  —  Mit  den  Er- 
mahnungen an  Nikokles  hängt  die  Lobrede  auf  Euagoras  zusammen.  Sie 
war  die  erste  dieser  Gattung,  da  man  zuvor  das  Gebiet  der  iyxcojuia  auf 
Zeitgenossen  ganz  den  Dichtern  überlassen  hatte.*)  In  der  Entwicklung 
der  griechischen  Rhetorik  und  Geschichtsschreibung  macht  dieses  iyxcofuov 
Epoche  als  erste  Applikation  von  Isokrates*  ästhetischen  Grundsätzen  auf 
einen  geschichtlichen,  und  zwar  zeitgeschichtlichen  Gegenstand,  als  Protest 
gegen  die  unpersönliche  Geschichtsschreibung  des  Thukydides,  als  erste 
Festlegung  eines  Schemas  für  die  Behandlung  der  Biographie  historischer 
Größen.^)  Geschrieben  ist  sie  nach  dem  Tod  des  Euagoras  (374)  und  nach 
der  Mahnrede  an  Nikokles  (s.  9,  78),  längere  Zeit  vor  360.  Von  einer 
Gegenschrift  aus  dem  4.  Jahrhundert  ist  ein  Rest  auf  einem  Wiener 
Papyrus^)  erhalten. 

297.  Große  epideiktische  Reden.  Das  Höchste  leistet  Isokrates 
als  Redner  in  den  epideiktischen  Reden:  IlavrjyvQixog,  Preisrede  auf 
Athen,  geschrieben  im  Sinn  einer  vor  dem  versammelten  Hellenenvolk 
(jiavi^yvQig)  gehaltenen  Festrede  im  Jahr  380  kurz  vor  Stiftung  des  zweiten 
Seehundes,*^)  das  sorgfältigst  ausgearbeitete  Meisterwerk  isokratischer  Form- 


*)  Die  von  Dionys.  Hai.  geglaubte  Echt- 
heit wurde  zuerst  angefochten  von  G.  Ben- 
seier. Die  Echtheitsfrage  ist  seitdem  eine 
Seeschlange  in  der  philologischen  Litteratur 
geworden,  worüber  erschöpfend  K.  Emmingeb, 
Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl.  27  (1902)  373-442. 
E.  Drerups  und  Emmingers  Ansicht,  Theodoros 
von  Byzantion  sei  Verfasser,  ist  ganz  unerweis- 
lich, ebenso  aber  P.  Wendlands  Zuweisung 
an  Anaximenes  von  Lampsakos  (Anax. 
S.  97  flf.). 

*)  Die  Stellung  in  ethischer  Beziehung 
hat  schon  A.  Dyropp,  Arch.  f.  Gesch.  der 
Philos.  12  (1899)  55  if.,  und  Demokritstudien, 
Leipz.  1899,  127  fF.  im  wesentlichen  richtig  be- 
zeichnet. Abhängigkeit  der  Schrift  von  einer 
älteren  Sammlung  der  Siebenweisensprtiche, 
von  Theognis,  Demokritos,  Isokrates,  der  So- 
kratik,  Aristoteles*  Protreptikos  erweist  P. 
Wendland  a.  0. 80  ff. 

»)  Eine  syrische  Übersetzung  publiziert  P. 
deLagarde,  Anal.  Syr.  Lips.  1858;  A.  Baum- 
stark, Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl.  21  (1894) 
438  ff. ;  im  4.  Jahrb.  n.  Chr.  war  das  Buch 
neben  Theognis  und  Phokylides  viel  gelesen 
(Julian,  adv.  Christ.  203  Neümann),  auch  Cho- 
rikios  zitiert  es  öfter;  im  byzantinischen 
Mittelalter  ist  es  unter  dem  Namen  Spaneas 
in  verschiedenen  Versionen  in  vulgärgrie- 
chische Verse   gebracht  worden. 

*)  Dieses  hebt  der  Redner  §  8  mit  Stolz 


auf  die  neue  Erfindung  seiner  Weisheit  hervor 
(s.  aber  Aristoteles  rhet.  1368  a  17  und  Wila- 
MowiTZ,  Herm.  35,  1900,  533  f.)  Auch  ein  iy 
xcüfiiov  auf  Gryllos,  den  Sohn  des  Xenophon, 
soll  er  geschrieben  haben,  nach  Diog.  L.  II 55 : 
äXXa  xal  "Eg/nJiTiog  ev  xq)  Jiegi  Seofpgdotov 
xai  ZmxQdxTj  (loongarrj  em.  M.  H.  E.  Meier, 
Opusc.  II  287)  (prjol  rQv)lq)  eyxoifiiov  yeyQa- 
<fEvat.  Bei  dem  Wettstreit  der  Lobredner  auf 
Mausollos  war  nicht  er,  sondern  Isokrates 
von  Apollonia  beteiligt  (Gellius  X  18,  6  und 
Meier  a.  0.). 

*)  F.  Leo,  Die  griech.-röm.  Biogr.  92  f.; 
L  Brüns.  Litt.  Portr.  115  ff. 

«)  Mitteil,  aus  der  Samml.  der  Pap.  Erz- 
herzog Rainer  2(1887)  79  ff.  Auf  einen  Verfasser 
zu  raten  (C.  Wessely:  Alkidamas;  F.  Blass: 
Polvkrates)  ist  nutzlos.  B.  Keil  (Herm.  23, 
1888, 389  ff.)  setzt  das  Stück  in  römische  Zeit. 

")  Das  Jahr  geht  hervor  aus  §  126;  über 
die  sich  daraus  ergebende  politische  Tendenz 
der  Rede  Wilamowitz,  Aristot.  und  Ath.  II 
380  und  E.  Drerüp,  Philol.  54  (1895)  636  ff. 
Festzuhalten  ist  die  zehnjährige  Dauer  des 
kyprischen  Kriegs  390 — 81.  Diodor  gibt  den 
Anfang  (XIV  98),  nicht  aber  den  Schluß  (XV  8 
auf  385)  richtig  an.  Wenn  nun  153  so  ge- 
redet wird,  als  sei  der  Krieg  beendigt.  134 
und  141  aber  so.  als  dauerte  er  noch,  so  ist 
wohl  nicht  darüber  wegzukommen,  daß  Iso- 
krates die  Diskrepanzen  des  geschichtlicfaen 


540  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

kunst  nach  Disposition  des  Stoffs  und  der  Sprache,  schon  von  den  Zeit- 
genossen angestaunt  (Isoer.  5,  11;  Aristot.  rhet.  zitiert  die  Rede  sechzehD- 
mal)  und  ungefähr  den  Anforderungen  des  Piaton  (Phaedr.  264  c)  ent- 
sprechend; nXara'Cxog,  den  Plataiern  in  den  Mund  gelegt,  die,  von  den 
Thebanern  aus  Haus  und  Hof  vertrieben,  den  Schutz  der  Athener  anflehten 
(373);  ^ÄQxidajLiogj  angeblich  von  dem  Kronprinzen  Archidamos  in  der 
spartanischen  Volksversammlung  in  einer  in  das  Jahr  365  passenden 
Situation  gehalten,  i)  um  die  Bürger  zur  Ausdauer  in  dem  Kampf  gegen 
die  thebauische  Neugründung  Messenien  zu  bewegen;^)  Zvjujuaxixdg  fj 
Ttegl  eioi^vtjg^  Flugschrift  aus  dem  Jahre  357  oder  355,  in  der  Isokrates 
der  Kriegspart^i  des  Chares  entgegentritt  und  ein  gerechtes  Entgegen- 
kommen gegen  die  Bundesgenossen,  d.  h.  im  Grunde  Aufgebung  des  atti- 
schen Seebundsreiches  befürwortet;  ^AgeoTiaytrixog^  wahrscheinlich  nach 
dem  Bundesgenossenkrieg  um  354  geschrieben  zugunsten  des  Areopags, 
indem  Isokrates  einen  Ausweg  aus  den  zerfahrenen  Zuständen  nur  in  der 
Rückkehr  zur  alten  Verfassung  und  in  der  Wiederherstellung  des  Areopags 
sah;8)  ^UiJiTiog,  Sendschreiben  an  König  Philippos  nach  Abschluß  des 
philokratischen  Friedens  (346),  in  dem  der  altersschwache  Greis  den  sieg- 
reichen König  auffordert,  die  Städte  der  Hellenen  untereinander  zu  ver- 
söhnen und  die  Führerrolle  im  Krieg  gegen  die  Perser  zu  übernehmen; 
IIava&r]vaix6g^  geschrieben  342 — 339,  eine  Neuauflage  des  Panegyrikos,*) 
in  der  mit  dem  Lob  Athens  gegenüber  Sparta  die  Verherrlichung  der 
eigenen  Kunstrichtung  in  ermüdender  Breite  verbunden  ist.  I.  Bruns 
nennt  die  Rede*^)  ein  Unikum  von  Stillosigkeit.  Sie  stellt  aber  einen 
(freilich  greisenhaft  unbeholfenen)  Versuch  des  Redners  dar,  von  der  hoch- 
trabenden Vornehmheit  seiner  eigentlich  klassischen  Reden  zu  einem  neuen 
Stil  der  schlichten  Nonchalance  überzugehen  (vgl.  §  2.  3),  wie  ihn  Xenophon 
mit  Glück  gehandhabt  hatte  und  die  Diatribe  ihn  fortführte.^) 

Den  Reden   sind  neun  Briefe  angefügt, 7)   über  deren  Echtheit  das 


Standpunktes,    die   sich   aus  der  sehr  lang-  !   zwischen  356  und  351. 

Samen,   stückweisen  Ausarbeitung  der  Rede   j  ')  Über  die  k^^nisierende  Farbe  des  Areop. 


(4,  14;  von  zehn  Jahren  redet  Tim.  bei  Auci 
JT.  ry.  4,  2)  erklären,  nicht  ganz  ausgeglichen 
hat.  Siehe  a.  J.  Mesk,  Wiener  Stud.  24(1902) 
309  ff.    G.  Friedrich,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  147 


H.  GoMPERz,  Wiener  Stud.  27  (1905)  204  ff. 

*)  Der   Titel    kommt   daher,    weil    den 

Hauptteil  der  Rede  (42 — 99)  das  Lob  Athens 

büdet  und  weü  dazu  das  nahende  Fest  der 


(1893)  21  f.  und  155  (1897)  175  f.,  hilft  sich  aus  Panathenäen  (§  17)  Anlaß  bot. 

den  Bedenken,  welche  die  Widersprüche  über  *)  I.  Brüns,  Litt.  Portr.  526.  Sprachliche 

die  Zeit  des  Feldzugs  des  Tiribazos  erwecken  Härten  s.  F.  Blass,   Att.  Bereds.  II*  174,  4. 

(paneg.  134  und  Diodor  XIVllO),  mit  der  An-  Das    seltsame    Abbrechen    der  Lobrede    auf 

nähme,  daß  der  Panegyrikos  zuerst  385,  dann  Athen    und    Anfügen    einer    ausgleichenden 

in  einer  zweiten  Ausgabe  380   veröffentlicht  1   Lobrede   auf  Sparta  sucht   aus  rhetorischen 

worden  sei.    Gegen  Friedrich  F.  Reuss,  Der  \   Gründen  J.  Mesk,  Der  Panath.  des  Is.,  Progr. 

isokr.  Paneg.  und  der  kj-pr.  Krieg,  Leipz.  1894.  Brunn  1902,  aus  litterarhistorischen  K.  Führ. 

»)  Natürlich   war   die  Rede   nicht  wirk-  Berl.  philol.   Woch.    22  (1902)  1602    zu   er- 

lich   von  Archidamos   gehalten  worden;   sie  I   klären. 

wurde  von  den  Alten  wegen  ihres  ethischen  ^)  Bemerkenswert  ist  die  eigentlich  ganz 

Gehaltes  besonders  hoch  geschätzt;  s.Dionvs.  unisokratische  .-rof^jiGirjotc  axfötaa/nov  in  den 

de  Isoer.  9  und  Philostr.  vit.  soph.  I  17.  '  späten  Reden  12^".  88;  15, 140. 

^)  Gerichtet   war   die  Rede  gegen  Alki-  ;           ")  Einen  zehnten  von  Theophylaktos  her- 

damas,  der  in  seinem  Meootp'ia?e6g  die  Partei  rührenden  Brief  haben  die  Züricher  Heraus- 

der  Messenier  ergriff,  oder  der  Meao.  ist  die  geber  wieder  ausgeschieden. 

Antwort  auf  den'AgxiÖ,;  geschrieben  ist  sie  i 


3.  Die  Beredsamkeit,    d)  Isokrates.    (§  298.)  541 

Urteil  schwankt,  die  aber  jedenfalls  ganz  im  Stil  des  Isokrates  geschrieben 
sind-O  Sie  sind  gerichtet  an  Dionysios,  den  Tyrannen  von  Syrakus,  an 
König  Philippos,*)  den  jungen  Alexandros,  an  Antipatros,  Timotheos  (Ty- 
rannen von  Herakleia),  Archidamos,  die  Kinder  des  lason  von  Pherai,  die 
Archonten  von  Mytilene.  In  dem  dritten  Brief  an  Philippos,  der  nach 
der  Schlacht  von  Chaironeia  geschrieben  ist,  geht  der  Schreiber  in  seiner 
Einfalt  so  weit,  auch  noch  nach  der  Niederwerfung  der  Athener  von  einer 
Fuhrerrolle  des  Königs  in  einem  Perserkrieg  zu  träumen.^)  —  Endlich 
bewahrte  man  in  den  Rhetorenschulen  das  Andenken  an  Aussprüche 
(äjioip'&iyjuaTa)  des  Lehrers,  darunter  den  schönen  rrjg  jiaideiag  xi]v  /tikv 
^'fav  elvai  nixodvt  tov  de  xaQjrdv  yhfxi^v.^) 

298.  Charakteristik.  Die  Bedeutung  des  Isokrates  liegt  in  der 
Ausbildung  des  hohen,  leidenschaftslosen  Stils.*)  Anknüpfend  an  die 
Grundsätze  des  Thrasymachos  und  Gorgias,«)  dabei  die  kleinliche,  glitzernde 
Wirkung  des  Wortfigurenschmuckes  ebenso  wie  alle  Formen  der  Erregung 
und  der  volkstümlichen  Lebhaftigkeit  vermeidend,  hat  er  die  Prosaperiode 
zu  ihrer  höchsten  Ausbildung  gebracht.  In  seinen  Perioden  stellen  sich 
satzmäßig  zusammengefaßte  Gedankenkomplexe  sowohl  ihrem  Abschluß 
als  auch  ihrer  inneren  Gliederung  nach  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
durch  das  Ohr  mit  zuvor  nicht  gekannter  Klarheit  und  Ebenmäßigkeit 
dar;  dem  Sinn  und  der  Struktur  nach  unter  sich  korrespondierenden  Satz- 
gliedern gibt  er  etwa  gleiche  Ausdehnung  an  Silbenzahl  {jidgtaa)  oder 
macht  sie  durch  Anklänge  {nagouoia)  kenntlich;  um  diese  Abmessungen 
zustandezubringen,  versteht  er  es,  die  sprachlichen  Ausdrucksformen  je 
nach  eurhythmischem  Bedarf  zu  kürzen  oder  durch  umschreibende  Wen- 
dungen zu  dehnen.^)  Dabei  entfernt  er  sich  nirgends  von  den  eigentlichen 
Ausdrücken  der  gebildeten  attischen  Umgangssprache  und  meidet  alle 
Kühnheiten  und  Härten  der  poetischen  Bildlichkeit  ebenso  wie  der  Wort- 
stellung.«)   Die  Beziehungen  der  Sätze  und  Satzteile  untereinander  werden 


*)  WiLAMowiTz,  Aristoteles  und  Athen 
II  391  ff.  erklärt  sich  für  die  Echtheit  des 
ersten,  zweiten,  fünften,  siebenten,  achten. 
Sämtliche  Briefe  hält  für  Fälschungen  De- 
METBius  DE  Gratia,  De  Isocratis  quae  fe- 
runtur  epistulis,  Catinae  1888.  Zu  beachten 
ist.  daß  Dionysios  Halik.  sehr  oft  Reden, 
aber  nirgends  Briefe  des  Isokrates  anführt. 
C.  WoYTE,  De  Isocratis  q.  f.  epistulis.  Diss. 
Leipz.  1907,  erklärt  den  8.  4.  6.  9.  Brief  für 
unecht  (s.  a.  K.  Münscher,  Berl.  phil.  Woch. 
28,  1908,  421  ff.). 


^)  C.  Rehdantz,  Gott.  Gel.  Anz.  1872 
S.  1169  ff.;  E.  Norden,  Die  antike  Kunst- 
prosa 113  ff. 

«)  Cic.  or.  174—176;  Quint.  lU  1,  13; 
nicht  leicht  ist  der  Rhytiimus  der  isokrati- 
tischen  Periodik  zu  fassen  (F.  Blass,  De  nu- 
meris  Isocrateis,  Kiel  1891;  K.  Münscheb, 
Die  Rhythmen  in  Isokr.*  Panegyr.,  Progr. 
Ratibor  1908);  das  demosthenische  Kürzen- 
gesetz kennt  er  jedenfalls  noch  nicht.  Verse, 
die  ihm  entschlüpften,  wies  Hieronymos  30 
nach  (Cic.  or.  190). 


*)  Von  einem  Feind  des  Redners  stammt  ')  W.  Höss,  De  nbertate  et  abundantia 

der  dreißigste  Brief  der  Sokratiker,  in  dem  sermonis  Isoer.,  Diss.  Freiburg  1892.  Cic.  or. 

das  Vertrauen  des  Philippos  zu  Isokrates  und  37  f.  40  primus  instituit  dilatare  verbis  et  moU 

seiner  Schule   erschüttert  und   damit  gegen  ,   lioribtis  numeris  explere  sententicts;  über  die 

die  isokratische  Historiographie   angekämpft  |   Wirkung  der  jteoiq:Qaoig  Auct.  -t.  vyf.  28,  2 

wird.  I    xa&djteg  agfioviay  nva  ttjv  ex  rfjg  nsQiqQaasoyg 

^)  WiLAMOWiTZ,  Unechte  Briefe,  Herrn.  jisgi/FUfifvog  n^^ehiav.  Durch  diese  Variations- 

33  (1898)  494;  ders.,  Aristot.  und  Ath.  II  391  \  künste  gewinnt  Is.  die  Fähigkeit,  deren  ersieh 

hält  den  Brief  für  gefälscht.  4,  8   rühmt,    rot   :r«>laia   xaivwg   diekdeXv   xai 


*)  Zusammengestellt  von  H.  Sauppe,  Orat 
att.  II  227. 


jfeol  xwv  vEcooii    ysyevrjfiEvmv   dgxatcog  ebtetv, 
^)  Geringe  Modifikationen  der  Wortstel- 


542  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

durch  konjunktionale  Ausdrücke  sorgfältig  vermittelt.  0  Innerhalb  der  Satz- 
glieder ist  der  Hiatus,  d.  h.  der  Zusammenstoß  zweier  Vokale,  mit  Sorg- 
falt vermieden;*)  auch  die  Aufeinanderfolge  gleicher  Silben  oder  gleicher 
Konsonanten  im  Auslaut  des  vorangehenden  und  Anlaut  des  nachfolgenden 
Wortes  wird  ferngehalten;  ein  wohlklingender  Rhythmus,  doch  ohne  be- 
stimmtes Metrum,  schlägt  an  das  Ohr  des  Hörenden,  und  eine  bis  ins  ein- 
zelne durchgehende  Sauberkeit  und  Deutlichkeit  der  sprachlichen  Gedanken- 
fassung befriedigt  seinen  Geist.  Isokrates  hat  es  sich  schwere  Mühe  kosten 
lassen,  diesen  Sieg  der  Form  über  den  Sprachstoff  zu  einem  vollständigen 
zu  machen.  Auf  die  Ausarbeitung  des  Panathenaikos  hat  er  nach  seinem 
eigenen  Geständnis  drei  Jahre  verwendet,  und  zu  seinem  schönsten  Werk, 
dem  Panegyrikos,  soll  er  gar  zehn  Jahre  gebraucht  haben,  wozu  Timaios 
bei  Ps.Longinus  in  dem  Buch  vom  Erhabenen  4,  2  witzig  bemerkt,*)  daß 
Alexandres  in  weniger  Jahren  Asien  erobert,  als  Isokrates  den  Panegyrikos 
geschrieben  habe.  Was  Isokrates  wollte,  hat  er  so  vollkommen  wie  keiner 
vor  und  nach  ihm  erreicht  —  ein  Non  plus  ultra  von  Bemeisterung  des 
Gedanken-  und  Sprachmaterials,  und  insofern  verdient  er  die  Bewunderung, 
die  ihm  das  Altertum  gezollt  hat,  vollauf.  Wer  nach  tiefen  Gedanken, 
nach  Frische  und  Abwechselung  der  Darstellung  sucht,  kommt  freilich  bei 
ihm  nicht  auf  seine  Rechnung,  legt  aber  auch  einen  falschen  Maßstab  an 
ihn  an.  Der  Mangel  an  Originalität  seiner  Gedanken  ist  ihm  gelegentlich 
selbst  aufgefallen^)  und  jedenfalls  auch  von  Zeitgenossen  ebenso  vorgerückt 
worden,  wie  ihm  Alkidamas  in  der  erhaltenen  Rede  die  Steifigkeit  seines 
Stils  vorhält.  Alles  das  wird  ihn  wenig  angefochten  haben;  er  war  stolz 
darauf,  den  einheitlichen  Kanon  der  ygacpixrj  Xi^ig  festgestellt  zu  haben; 
um  den  Preis  der  äycovianx/j  bemühte  er  sich  gar  nicht.  Passend  ver- 
glichen ihn  die  Alten ^)  mit  den  zum  festlichen  Agon  gerüsteten  Athleten, 
den  Demosthenes  mit  dem  zur  Schlacht  gewappneten  Hopliten.  So  ein- 
förmig uns  sein  streng  unitarischer,  dissonanzloser  Stil  erscheint,  so  hat 
doch  eben  diese  straffe  Konzentration  auf  ein  stilistisches  Ziel  hin  ihre 
große  erzieherische  Bedeutung  bewährt:  die  schleppende,  hiatusfreie  Periode 
des  Schreibestils  der  Koiv/j  ist  ein  Erbe  des  Isokratismus,  und  seine  letzte 
Entartung  ist  die  hohläugige,  vornehmtuerische  Feierlichkeit  des  byzan- 
tinischen Bildungsbegiiffs.  Aber  auch  der  Humanismus  mit  seinem  »for- 
malen** Bildungsideal  hat  in  ihm  seinen  eigentlichen  Vater  zu  verehren. 
Johannes  Sturms  Straßburger  Schule  ist  ein  Kind  isokratischen  Geistes. 
Isokrates  nannte  das  q)dooo<pia^  aber  nur  selten  tut  ihm   ein  Alter  den 


long  aus  Hiatusrücksicht  kommen  immerhin 
vor:  K.  Fuhb,  Berl.  phU.  Woch.  25  (1905)  335  f. 

1)  Auct.  .1.  tV-  21,  1. 

*)  Entdeckt  von  G.  Benseler.  De  hiatu 


und  besonders  in  der  S.  538.  5  zitierten  Ab- 
handlung von  H.  Gomperz.  Um  so  mehr  be- 
tont Is.  die  Vielheit  seiner  ideai  oder  elÖrf 
(über  den  Begriff  0.  Navabke.  Essai  sur  la 


in  oratoribus  atticis  et  historicis  graecis.  Frei-  rhöt.  Gr.  190)  15,  11. 

berg  1841;   F.   Blass,   Die  att.  Bereds.  IP  ,           »)  König  Philipp  nach  Ps.Plut.  j).  845d. 

139  ff.     In   den   Reden    17  und  21    ist   die  i   Kleochares   bei   Phot.    p.  121b.  9.     Ähnlich 

Hiatusvermeidung  noch  nicht  streng.  urteilte    der   Peripatetiker    Hieronymos    bei 


»)  Vgl.  Plut.  de  glor.  Athen.  350  f. 
*)  Isoer.  ep.  6,  7;    Epist.  Socrat.  30,  13; 
Nachweis   fremder   Gedanken   bei   Isokr.   J. 


Dionys.  de  Isoer.  13  und  Philodemos  rhet.  I 
198  SuDH.  Die  meist  sehr  treffenden  ästhe- 
tischen  Urteile   Späterer   über  Isokr.   s.  bei 


Vahlen,  Wiener  Akad.Sitz.ber.  43(1863)518   i  F.  Blass,  Att.  Bereds.  11*202. 


8.  Die  Beredsamkeit,    d)  laokrates.    (§  298.)  543 

Gefallen,  ihn  g?d6oo(pog  zu  nennen.^)  Aber  auch  die  sachliche  Wirkung 
seiner  großen  epideiktischen  Reden  darf  nicht  gering  veranschlagt  werden: 
er  hat  die  kulturelle  Überlegenheit  der  griechischen  Bildung  und  ihr  Herr- 
schaftsrecht proklamiert,  hat  ihr  Wesen  nicht  in  ausgeprägter  nationaler 
Eigenart,  sondern  in  allgemein  humanen  und  formalen  Eigenschaften  ge- 
sucht, er  hat  die  monarchische  Leitung  Griechenlands  als  eine  Notwendig- 
keit im  Interesse  der  Aufrechterhaltung  der  griechischen  Kultur  verstehen 
gelernt  und  gelehrt  und  so  alle  Grundgedanken  des  Hellenismus  in  seiner 
wohltönenden  Sprache  der  Welt  eindringlich  verkündet.  Die  rednerische 
Bedeutung  des  Isokrates  ist  schon  in  der  aristotelischen  Rhetorik  anerkannt; 
seine  Schule  hat,  anscheinend  in  Rivalität  mit  der  peripatetischen  Rhetorik,*) 
über  die  Periode  des  Hellenismus  gedauert.  Der  Rhetor  Matris  ist  Iso- 
krateer;^)  Lucilius  (I  p.  14  v.  186  Marx)  kennt  isokratische  Disziplin.  Die 
Römer  lehnen  ihn  im  allgemeinen  als  zu  leblos  und  unpraktisch  ab,<) 
ebenso  wie  die  Asianer  tun.^)  Aber  in  der  Stil-  und  Geschichtsbetrachtung 
der  griechischen  Attikisten,  insbesondere  des  Dionysios  von  Halikarnassos, 
erlebt  er  eine  glänzende  Auferstehung.  Aelius  Aristides  ist,  wiewohl  er  in 
seiner  Rhetorik  mehr  auf  demosthenische  Beispiele  hinweist,  ein  neuer 
Isokrates  in  Weltanschauung  und  Redekunst,^)  und  durch  ihn  wirkt  Iso- 
krates wieder  auf  die  großen  Sophisten  und  Prediger  des  4.  und  5.  Jahr- 
hunderts. Über  seine  Renaissance  in  der  Humanistenzeit  s.  E.  Norden, 
Ant.  Kunstprosa  796  flf. 

Die  handschriftlichen  Verhältnisse  sind  in  allem  Wesentlichen  von  H.  Bübmakn 
(Die  handßchriftl.  Üherlieferung  des  Isokr.  1.  die  Handschr.  der  Vulgata,  2.  der  Urbinas. 
Berlin  1885.  1886)  festgestellt.  In  alexandrinischer  Zeit  ist  keine  Isokratesausgabe  gemacht 
worden;  den  ersten  Kommentar  schrieb  wohl  Didymos.  Die  121  Codices  bilden  zwei  nach 
E.  Drbrup,  Leipz.  Stud.  17  (1896)  1  ff.  auf  eine  Quelle  zurückgehende  Familien  (was  aber  K. 
MüNscHER,  Quaest.  Isoer.,  Gott.  1895  und  Gott.  Gel.  Anz.  1907,  759  ff.,  bestreitet) ;  die  ältere 
und  bessere  vertritt  der  Urbinas  CXI  der  Vaticana  (F)  s.  IX  oder  X,  in  dem  aber  die  acht- 
zehnte und  einundzwanzigste  Rede  fehlen  (beschriebeil  ist  der  Cod.  von  A.  Martin,  Le 
manuscr.  d'Isocr.  Urbin.  111  de  la  Vaticane,  Paris  1881;  dazu  E.  Drerüp,  Zur  Textgeschichte 
des  Isocrates,  Philol.  55,  1896,  654  ff.);  die  zweite  Familie  (Vulgatüberlieferung)  spaltet  sich  in 
zwei  Zweige,  deren  einer  ausschließlich  durch  Laurent.  87,  14  s.  XII [  (ß)  repräsentiert  wird, 
während  der  andere  sich  in  zwei  Gruppen  teilt  (die  eine  vertreten  durch  Vatic.  65a  1063  (-i), 
die  andere  durch  Paris.  2932  s.  XIV  (II)  und  Laurent.  58,  5  s.  XV).  Reste  stichometri- 
scher  Angaben  in  /'  weist  nach  K.  Fuhr,  Rh.  Mus.  37  (1882)  468  ff.  Zu  den  mittelalterlichen 
Handschriften  sind  zahlreiche  nachchristliche  (s.  I — IV)  Isokratespapyri  gekommen  (einen 
großen  Pap.  des  Paneg.,  aus  §  19—116,  bringt  Oxyrh.  Pap.  V,  1908,  nr.  844  s.  II  p.  Chr.). 
Über  sie  und  alle  Handschriften  sowie  über  die  oben  S.  539,  3  erwähnte  syrische  Übersetzung 
der  Praec.  ad  Demonic.  gibt  am  eingehendsten  E.  Drerup  in  der  Vorrede  zu  Bd.  I  seiner 
Isokratesausgabe  Auskunft.  Siehe  a.  die  Übersicht  über  die  Textgeschichte  von  K.  Müx- 
SCHER,    Gott.  Gel.  Anz.  1907,  762  ff.    Dürftige   Schollen   und    Inhaltsangaben   bei    Baiter- 


^)  Den  isokratischen  Gebrauch  des  Wortes  1  Psaon  und  Sosigenes  als  Nachahmer  des  Iso- 
(ydoaoqia  illustriert  E.  Scheel,  De  Gorgianae  !  krates;  s.  a.  K.  Münsgheb,  Gott.  Gel.  Anz. 
discipl.  vestig.  9  ff.    Von  Epikureern  wird  er      1907,  763. 


wohl  auch  als  Philosoph  bezeichnet  (S.  Sud- 
haus, Rh.  Mus.  48,  1893,  561). 

2)  Cic.  de  inv.  II  8;  ad  Att.  II  1,  1;  ad 
fam.  I  9,  23.  G.  Ammon.  B1  .f.  bayr.  Gymn. 
27  (1891)  231  ff.  meint,  die  beiden  Jamiliae" 
lebten  in  den  Apollodoreem  (isokratische  Tra- 
dition) und  Theodoreem  wieder  auf. 

»)  Philod.  de  rhet.  11  233,  15  Sudh.; 
Dionys.   de  Din.  8   bezeichnet  den  Timaios, 


*)  Cic.  or.  37. 40  (auch  der  Atticus  Brutus 
verschmäht  ihn).  42;  Tac.  dial.  25  übergeht 
ihn. 

6)  W.  ScHMiD,  Atticism.  II  4,  3. 
'  «)  W.  Schmid  a.  a.  0.  II  3,  3.  Isokrates- 
nachahmer  ist  der  Verfasser  des  pseudolucia- 
nischen  Charidemos.  Merkwürdig  ist,  daß  wir 
von  kommentierender  Arbeit  an  Isokrates  fast 
keine  Spur  haben. 


544:  Griechische  Litteraturgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

Sauppb  p.  3 — 11  (sie  werden  in  Bd.  II  der  Ausgabe  von  E.  Dremp  neu  erscheinen).  Ober  die 
unter  dem  Namen  des  Isokrates  in  den  Florilegien  überlieferten,  schwerlich  von  Isokrates 
selbst  stammenden  Sprüche  A.  Elter.  Gnomica  homoiomata,  Bonn.  1902.  p.  184.  —  Die  Briefe 
stehen  nicht  in  den  Vulgathandschriften ;  für  ihre  Überlieferung  hat  E.  Dremp  im  Vatic.  gr.  64 
a.  1270  {4>)  den  Archetypus  gefunden;  der  zehnte  Brief  ist  erst  von  A.  Schott  aus  einem  Cod. 
des  Fulvius  Ursinus  gezogen.  —  Eine  textlich  wertlose  Sonderüberlieferung  der  Praecepta 
ad  Demon.  ist  von  Drerup  gefunden  (K.  Münscher,  Gott.  Gel.  Anz.  1907,  777  f.). 

Ausgaben:  Edit.  princ.  von  D.  Chalcocondtles  Mediol.  1493.  Die  Yulgata  bildete 
bis  in  unser  Jahrhundert  die  Ausgabe  von  Hibronymus  Wolf,  Basel  1548,  neue  Ausgaben 
von  G.  E.  Benseler  und  F.  Blass,  Lips.  1882,  E.  Drerup  I,  Lips.  1906  (auf  Grund  des  Urb.). 
leider  mit  neuer  Numerierung  der  Reden.  —  Ausgewählte  Reden  mit  Anmerkungen  für  die 
Schule  von  R.  Raüchenstein  und  E.  Reinhardt  (4.  7.)  bei  Weidmann,  von  0.  Schneider 
(1.  4.  5.  7.  9.)  bei  Teubner.  —  Antidosis  von  E.  Havet,  Paris  1863.  —  Geschichte  und 
Verzeichnis  aller  Ausgaben  bei  E.  Drerup  I,  CLXIV  fF.  —  Index  Isocrateus  von  S.  Preuss, 
Leipz.  1904. 

299.  Nebenbuhler  des  Isokrates  in  der  sophistischen  Beredsamkeit 
waren  besonders  Antisthenes,  Alkidamas,  Thrasymachos  (s.  o.  S.  513), 
Theodoros,  Polos,  Lykophron  (Aristot.  soph.  el.  174b  32),  Polykrates 
und  sein  Schüler  Zoilos.  Den  Streit  des  Isokrates  gegen  Aristoteles  setzte 
sein  Schüler  Kephisodoros  fort,  der  auch  Geschichte  schrieb  (C.  Müller 
FH6  II  85).  Von  Antisthenes,  dem  Sokratiker,  wird  eine  theoretische 
Schrift  71€qI  U^ecog  i}  tteqi  yaQaxTYjQcov  angeführt;  erhalten  sind^  von  ihm 
die  zwei  kurzen  charakteristischen  Schulreden  Aiag  und  *Odvooevg^  die, 
selbst  wenn  sie  Prosaparaphrasen  tragischer  ^rjaEig  (etwa  aus  Aischylos 
"OtiAcov  xo/aec)  wären,*)  keineswegs  unecht  zu  sein  brauchten.  Alkidamas 
aus  dem  äolischen  Elaia  war  Schüler  des  Gorgias  und  lehrte  in  Athen 
gleichzeitig  mit  Isokrates.  Gegen  diesen,  mit  dem  er  übrigens  den  perio- 
disierenden  Stil  gemeinsam  hatte,  ^)  ist  die  erhaltene  Rede  Tiegl  rwv  tavg  ygan- 
Tovg  Xoyovg  ygatpövrayv  Tj  tieqi  oocpiardn'^)  gerichtet,  in  welcher  der  Verfasser 
als  ein  Haupterfordernis  des  Redners  die  Fähigkeit  der  Improvisation  be- 
zeichnet. Auch  der  verlorene  Messeniakos  stand  zum  Archidamos  des  Iso- 
krates in  Gegensatz  (s.  o.  S.  540,  2);  in  ihm  kam  bereits  der  denkwürdige, 
den  Anschauungen  der  Zeit  vorauseilende  Satz  vor:  iXev&^oovg  ä(pf]xe 
Tidvxag  "^eog,  ovÖeva  dovXov  t]  ffvoig  jieTioitjxev.  Bunten,  teils  litterarhistori- 
schen,  teils  ethisch-pädagogischen  Inhalt  hatte  Alkidamas'  Schrift  Mov- 
oeiov  (d.  h.  Schule,  eine  Art  Lesebuch  zur  Unterhaltung,  Belehrung, 
Erbauung), ö)  in  der  unter  anderem  die  Erzählung  von  dem  äycov  zwischen 
Homer  und  Hesiod  und  vom  Tod  des  Hesiod  vorkam;  in  dem  Museion 
wurde  der  Satz  illustriert,  daß  die  Dichter  Kinder  der  Musen  sind  und 
unter  dem  Schutz  der  Götter  stehen;^)  viele  Anekdoten  der  älteren  Litte- 


*)  Der  Gegenstand  blieb  als  rhetorische  I.   Bekkers    Orat.    Attici    p.   673—9,    auch 

Übung   beliebt    (Ov.  met.  XIII  1  fF. ;   Quint.  hinter  der  Antiphonausg.  von  F.  Blass  (ebenda 

Smyrn.  V  181  flf.).    Im  Katalog  der  Schriften  die   sicher    unechte    Reklamation   ^OdvooFv; 

des  Antisthenes  hei   Diog.  L.  VI  15  werden  !   xara  Ilahifn'iöovg    n^ooöoniag^    die    auf   Alk.' 

außerdem  angeführt:  Vofotov  (iiokoyla,  .lenl  '   Namen  läuft). 

itjv  bixoyod<fO)%'  7]  Avoiaq  xai'IanxgaTfjg  jtoo;  j            *)  Ähnlich    spricht    Plat.    Phaedr.  267  c 

Tor  ^In<ty.(uixovq  aud()TVoov  (s.  O.  8.  529.  4.  537).  |    von  fioroFia  ).oyov  des  PoloS. 

^)  SoL.  Radermacher,  Kh.  Mus.  27  (1802)  i           ^j  I.  Vahlen,    Der   Rhetor   Alkidamas. 

569  tf.;  Ähnliches  haben  wir  ja  von  DioChrys.  Wien.  Ak.  Sitz.ber.  43  (1863)  491  -528.  und 


*)  Demetr.  de  eloc.  12. 

*)  Die  Rede  muß  vor  Isokrates'  Paneg. 
(380),  dessen  §  11  auf  Aleid.  12  anspielt, 
verfaßt  sein;  sie  steht  im  fünften  Band  von 


J.  Brzoska  in  der  Realenzykl.  I  1533  ff.  Über 
das  Museion  im  besonderen  F.  Nietzsche, 
Rh.  Mus.  25  (1870)  528  flf.,  28  (1873)  211  ff. 
--  Ein  Bruchstück,   das   dem  ayiov  Vf(f]oov 


3.  Die  Beredsamkeit,    d)  Isokrates.    (§  299.)  545 

raturgeschichte  gehen  auf  dieses  Buch  des  sophistischen  Rhetors  zurück. 
Sonst  werden  technische  Schriften  und  Lobreden  auf  paradoxe  Gegen- 
stände, z.  B.  den  Tod,  von  ihm  angeführt.  Aristoteles  (rhet.  II  3)  ent- 
nimmt mit  Vorliebe  aus  seinen  Schriften  die  Beispiele  für  Geschmacklosig- 
keiten des  Ausdrucks  (ywxQov).  —  Theodoros  von  Byzantion  lief  als 
theoretischer  Techniker  dem  Lysias  den  Rang  ab  (Cic.  Brut.  48).  Was 
Piaton  und  Aristoteles  aus  seiner  Techne,  insbesondere  von  der  Dispositions- 
lehre, mitteilen,  macht  den  Eindruck  starker  Tiftelei;  gleichwohl  wirft  ihm 
Dionysios  (de  Isae.  19)  Mangel  an  Genauigkeit  vor.  Ihm  Ps.Lys.  Rede  6 
oder  Ps.Isocr.  1  zuzuschreiben^)  ist  nicht  der  geringste  Grund,  wenn  er  auch 
(Suid.  s.  Oeod.)  eine  Rede  gegen  Andokides  geschrieben  haben  mag.  — 
Polos  von  Akragas,  Schüler  des  Gorgias,  Gesprächsperson  in  Piatons  Gor- 
gias,  verfaßte  ein  technisches  Lehrbuch,  von  dem  Reste  bei  Piaton  und 
Aristoteles  vorliegen.^)  Mit  ihm  zusammen  wird  der  Dithyrambendichter 
Likymnios  genannt,  ebenfalls  Verfasser  einer  reyvr]^  in  der  der  bildliche 
Schwulst  sogar  in  die  Terminologie  eindrang.  Auch  der  Elegiker  Euenos 
von  Paros  befaßte  sich  mit  rhetorischer  Technik. 3)  —  Polykrates  von  Athen, 
etwas  älter  als  Isokrates  (Isoer.  11,  50),  verfaßte  meist  rhetorische  Spiele- 
reien und  paradoxe  Lobreden,  mit  denen  er  dem  Isokrates  ins  Gehege  kam; 
dieser  setzt  dem  Buseiris  des  Polykrates  seinen  eigenen  besseren,  und  Poly- 
krates wiederum  der  Helena  des  Isokrates  die  seinige  entgegen.  Für  die 
Litteraturgeschichte  bedeutsam  geworden  ist  er  durch  seine  Kaztjyogia 
Zcjxodrovg^  die  auf  eine  politische  Verdächtigung  des  Sokrates  und  seiner 
Schule  hinauslief,  die  Etablierung  der  Sokratiker  in  Athen  c.  390  verhin- 
dern wollte  und  so  der  sokratischen  Schriftstellerei  einen  wichtigen  Anstoß 
gab  (s.  0.  S.  470.  479,  3.  525).  Die  Rede,  die  dem  Anytos  in  den  Mund  ge- 
legt war,  läßt  sich  im  wesentlichen  aus  einigen  Zitaten,*)  aus  Xen.  mem. 
I  2  und  Liban.  apol.  Socr.  rekonstruieren.  Eine  xix^ri  von  ihm  erwähnt 
nur  Quint.  inst.  III  1,  11.  —  Ähnlich  gerichtet  ist  sein  Schüler  Zoilos  von 
Amphipolis,  Verfasser  einer  rexvri  (Ps.Plut.  vit.  X  or.  844c;  Quint.  IX  1, 14), 
einer  Lobrede  auf  Polyphemos,  daneben  Homerkritiker  und  Historiker.*)  — 
Die  Techne  des  Pamphilos  und  Kallippos,  die  Aristoteles«)  anführt, 
scheint  sich  ausschließlich  mit  dem  dialektischen  Teil  der  Rhetorik  (Schluß- 
lehre) beschäftigt  zu  haben.  —  Über  das  wohl  in  diese  Zeit  gehörige  merk- 
würdige rhetorische  Fragment  in  dorischem  Dialekt  aus  Oxyrhynch. 
pap.  III  p.  27  flf.  s.  0.  S.  512,  6.7) 


xai  'Hoiodov  zugrunde  lag,  wurde  aus  einem 
alten  Papyrus  ans  Licht  gebracht  von  J.  P. 
Mahaffy,  On  the  Flinders  Petrie  papyri, 
Cunningham  Memoirs  1891  tab.  XXV. 

^)  E.  Drerup,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl. 
27  (1902)  334  ff.;  vgl.  K.  Führ,  Berl.  phil. 
Woch.schr.  28  (1908)  57S  f.  A. 

*)  Siehe  o.  S.  516.  Die  6i:i}.aöioXoyUif 
über  die  so  viel  gemutmaßt  ist,  hat  wohl  J. 
Vahlen,  Wiener  Akad.  8itz.ber.  43(1868)508, 


Quaest.  Anaxim.  41. 

^)  Isoer.  Busir.  5  f.  (vgl.  Xen.  mem.  I  2, 
12  ff.);  Schol.  Aristid.  p.  480,  29  D.  (vgl.  Xen. 
mem.  I  2,  58);  Diog.  L.  II  39. 

^)  Siehe  0.  S.  76.  7;  FHG II 85a  Müller; 
über  seine  Feindschaft  mit  Piaton  und  Iso- 
krates o.  S.  533.  1. 

•)  Aristot.  rhet.  1400a 4;  s.  0.  Navarre, 
Essai  sur  la  rh^t.  Gr.  158.  270. 

')  Vgl.  auch  K.  Führ,  Berl.  philol.  Woch. 


am  richtigsten  erklärt:  es  ist  der  verbreiterte.  '  23(1903)  1473 ff.  P.  Wendland.  Anaxim.  39.3, 
zweigliedrige  Ausdruck,  den  man  dann  bei  ,  will  darin  die  Nachschrift  der  Vorlesung  des 
Isokrates  und  Demosthenes  findet.  Theodektes    durch   einen  dorischen   Schüler 

»)  Plat.  Phaedr.  267  a;  vgl.  H.  üsener,   \  sehen. 
Handbuch  der  klass.  Altertnnuiwissenschaft    VII.    5.  Aufl.  35 


546 


(hiechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Elasaische  Periode. 


6)  Demosthenes  (384—322). 

300.  Als  Demosthenes  in  Athen  in  die  politische  Arena  eintrat,  waren 
für  eine  höchste  rednerische  Leistung  dort  alle  Bedingungen  schon  gegeben. 
Topik  und  Disposition  ^  für  die  drei  Gattungen  der  dikanischen,  symbu- 
leutischen  und  epideiktischen  Rede  waren  festgestellt,  die  Ausformung  des 
Gedankenmaterials  nach  der  logischen  Seite  hin  durch  die  Dialektik  und 
Eristik  der  Sophisten  eingeübt,  die  Mittel  sinnlicher  Klangwirkung  erprobt 
und  verfügbar  gemacht,  die  Kunst,  die  Person  des  Redners  durch  seine  Rede 
günstig  zu  beleuchten  und  zu  charakterisieren,  gefunden,  die  für  die  Öffent- 
lichkeit passende  attische  Sprache  nach  Satzbau,  Phraseologie  und  Wortwahl 
fest  geprägt.  Die  Kämpfe  aber  um  Athens  und  Griechenlands  Selbständig- 
keit mit  dem  Makedonierkönig  entfachten  die  große  Leidenschaft,  in  deren 
Dienst  nun  alle  jene  Kunstmittel  erst  zu  voller  und  ergreifender,  weil  tief 
innerlich  begründeter  Wirkung  in  der  Staatsrede  gebracht  worden  sind. 
Auf  diese  höchste  Höhe  hat  Demosthenes  die  attische  Beredsamkeit  ge- 
führt. Seine  Reden  sind,  wenn  er  sie  auch  zu  einem  wesentlichen  Teil 
als  politische  Pamphlete  nachträglich  selbst  veröffentlicht  hat,  doch  vor 
allem  für  das  Hören  und  für  praktische  Wirkung  bestimmt,*)  wie  denn 
jede  seiner  Staatsreden  ein  Stück  seines  eigenen  Lebens  ist;  sie  sind  aber 
bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten  der  Form  mit  einer  Pünktlichkeit  aus- 
gearbeitet, die  schon  im  Altertum  manchen  ganz  unglaublich  vorkam.  5) 
Das  künstlerische  Gewissen  des  Isokrates  verbindet  sich  hier  mit  tiefster 
Ergriffenheit  von  patriotischem  Pflichtgefühl.  Nirgends  wird  Demosthenes 
von  den  Formen  beherrscht,  sondern  überall  beherrscht  er  sie  mit  jener 
souveränen  Freiheit,  welche  die  Alten  als  detvdTrjg  bezeichnen.*) 

301.  Leben  des  Demosthenes.*)    Ausbildung.    Advokatur.    Die 


»)  0.  Navabbb,  Essai  sur  la  rh^t.  Gr.  213  ff. 

')  Daher  die  große  Bedeutung,  die  De- 
mosthenes dem  Vortrag  (vjröxoiaig)  beimaß: 
Ps.Plut.  Vit.  X  or.  845  a;  Philod.  rhet.  4,  16 
p.  196,3  SüDH.;  Cic.  de  erat.  III  213  (=  Plin. 
n.  h.  VII  1 10) ;  Brut.  142  u.  a. ;  s.  A.  Schäfer, 
Demosth.  I«298  f. 

')  Dionys.  Hai.  de  comp.  verb.  25;  de 
Dem.  51. 

*)  Dionys.  Jisoi  xi)g  Arjfxoadhovs  SetvS- 
rrjTOs;  Longin.  in  L.  Spenoels  Rhet.  Gr.  1 325, 
24  ovx  dei  F.fifttrFi    rf]  rix^Vt    «^^»'  f^^-^^^?  y^Y' 

VFTai    TFX^V' 

*)  Die  Quellen  (abgesehen  von  Reden 
des  Demosthenes  [18.  19.  21.  27—31],  Ai- 
schines,  Hypereides,  Deinarchos),  gedruckt  bei 
A.  Westermann,  Bwyg.  p.  281 — 312u.  Quaest. 
Demosth.IV(Leipz.l837)  sind:  Ps.Plutarch, 
vit.  X  or.,  mit  dem  im  wesentlichen  Photios 
cod.  265  stimmt;  Plutarch,  Vita  Demosth. 
(F.  Gerhard,  De  Plutarchi  in  Dem.  vita  fonti- 
bus  ac  fide.  München  1880;  W.  Sturm,  De 
fontibus  historiae  Demosthenicae  quaestiones 
duae,  Halle  1881);  Dionysios  ad  Am- 
maeum  c.  4  und  10  (wichtig  für  die  Chrono- 
logie der  Reden)  imd  .teai  t>/c  ÖFimTtjtOs  Arj- 
jiiooi^Fvovg ;   Ps.Lucian,   Dem.   encom.;   Li- 


banios,  Vita  et  hypotheses  Dem.;  Zosi- 
mos  Vita  Dem.;  anonyme  Vita  aus  der- 
selben Quelle  mit  dem  dritten  Suidasartikel; 
Suidas,  drei  Artikel.  Die  uns  erhaltenen 
Biographien  gehen  auf  die  Reden  des  De- 
mosthenes und  seiner  Gegner  und  die  bio- 
graphischen Nachrichten  des  Demetrios  aus 
Phaleron  (s.  Dionys.  de  Dem.  53),  Hermippos 
und  Satyros  zurück.  —  Neuere  Bearbeitungen: 
das  Hauptwerk,  im  Gegensatz  zu  der  jetzt 
bei  Stubenhistorikem  und  Anbetern  des  Er- 
folgs Mode  werdenden  Verkleinerung  des  D. 
von  warmer  Verehrung  für  den  Redner  ge- 
tragen, A.  Schäfer,  Demosthenes  und  seine 
Zeit,  3  Bde,  Leipz.  1856—58,  2.  Aufl.  1885—87 
von  M.  Hoffmann  (ohne  die  in  III  2*  ent- 
haltenen Beilagen);  F.  Blass,  Die  attische 
Bereds.  III  1 ;  H.  Köchly,  über  Demosthenes, 
in  Akad.  Vortr.  u.  Reden  N.  F..  Heidelb.  1882, 
131  f.;  A.  Hüo,  Demosthenes  als  politischer 
Denker,  in  Studien  aus  dem  kl.  Alt.,  Freiburg 
1881 ;  M.  Croiset,  Les  idöes  morales  dans  l'^lo- 
quence  polit.  de  Dömosth.,  Montpell.  1874;  L. 
Bbedif,  L'eloquence  politique  en  Grece,  Dömo- 
sthene,  Toulouse  1878,  A.  Boügot,  Rivalit^ 
d'Eschine  et  Dömosth^ne,  Paris  1891.  Bei 
Einschätzung  der  überlieferten  Lebensdaten 


8.  Die  Beredsamkeit,    e)  Demosthenes. 


800-301.) 


547 


Herkunft  des  Demosthenes  ist  in  dem  Vers  bezeichnet,  mit  dem  Philippos 
von  Makedonien  nach  dem  Sieg  von  Chaironeia  seinem  Übermut  Luft  ge- 
macht haben  solhO  Arjjuoo&eyrjg  Arjfioo'&ivovg  Ilaiavievg  (so  auch  auf  der 
Trierarchenliste  CIA  II  804  Ba  167)  rdd'  ehtev.  Der  Vater  des  Redners 
war  Besitzer  einer  Waflfenfabrik  {jiaxaiQonotog)^  in  der  dreißig  Sklaven 
arbeiteten,*)  und  hatte  außerdem  noch  durch  Pfändung  eine  Stuhlfabrik 
mit  zwanzig  Arbeitern  erhalten.  Das  Geschlecht  der  Mutter  Kleobule 
stammte  angeblich  aus  dem  Skythenland.  ^)  Als  Geburtsjahr  läßt  sich  aus 
den  eigenen  Angaben  des  Redners  das  Jahr  384  berechnen.*)  Der  junge 
Demosthenes  hatte  noch  nicht  das  achte  Lebensjahr  erreicht,  als  sein 
Vater,  ein  begüterter,  zur  ersten  Vermögensklasse  gehörender  Mann,  starb 
und  durch  Testament  drei  Vormünder  seiner  Kinder,  eines  Sohnes  und 
einer  Tochter,  bestellte.  Aber  die  Vormünder,  Aphobos,  Demophon  und 
Therippides,  rechtfertigten  das  in  sie  gesetzte  Vertrauen  nicht,  sie  brachten 
das  Vermögen  von  vierzehn  Talenten,  statt  es  durch  gute  Verwaltung  zu 
verdoppeln,  fast  ganz  durch,*)  so  daß  es  die  erste  Handlung  des  volljährig 
gewordenen  Demosthenes  (zu  der  er  übrigens  als  Ephebe  schon  berechtigt 
gewesen  wäre  nach  Aristot.  Ath.  resp.  42,  5)  war,  seine  Vormünder,  zu- 
nächst den  Aphobos,  vor  Gericht  zu  ziehen  (364).  Die  nötigen  Rechts- 
kenntnisse und  rhetorischen  Kunstgriffe  hatte  er  sich  bei  Isaios  erworben, 
als  dessen  Schüler  ihn  Hermippos  (Dionys.  de  Isaeo  1)  bezeichnet.^)  Daß 
das  Werk  des  Thukydides  auf  seine  Bildung  nachhaltig  eingewirkt  habe, 


ist  folgendes  in  Anschlag  zu  bringen:  1.  vieles 
ist  aas  Reden  von  Demosthenes*  Gegnern 
entnommen,  2.  anderes  aus  Komikerwitzen 
(Ath.  VI  223 ff.;  VIU  341),  3.  die  Peripatetiker 
seit  Aristoteles,  der  ihn  in  der  Rhet.  nicht 
erwähnt,  sind  dem  Demosthenes  nngfinstig 
gesinnt  (vgl.  Theophrastos'  Urteil  Flut.  Dem. 
10),  4.  Episoden  aus  Demosthenes'  Leben 
waren  in  den  Rhetorenschulen  beliebte  De- 
klamationsthemata (A.  Wbstebmann,  Qnaest. 
Dem.  IV  80  ff.),  5.  ist  Demosthenes  in  den 
philosophisch-rhetorischen  Schulkämpfen  der 
hellenistischen  Zeit  Gegenstand  von  Kontro- 
versen geworden,  indem  man  die  Frage  auf- 
warf, ob  der  Redner  seine  ösivoxrjg  philoso- 
phischer Schulung  zu  verdanken  habe  oder 
nicht;  im  Zusammenhang  damit  ist  er  von 
verschiedenen  Fhilosophensekten  als  der 
Ihrige  angesprochen  worden  (durch  Gharma- 
das  und  Panaitios  für  die  Akademie  Gic.  de 
or.  I  84;  or.  15;  vgl.  Ps.Dem.  ep.  5;  A.Schkb- 
KEL,  Die  Philos.  d.  mittl.  Stoa,  Berl.  1892, 
232  ff. :  von  Ktesibios  für  den  Gynismus  vit. 
X  or.  844  c;  für  die  Peripatetiker  von  jenen, 
denen  Dionys.  ad  Amm.  I  nachweist,  daß 
eine  Benutzung  der  aristotelischen  Rhetorik 
durch  Demosth.  ausgeschlossen  sei;  über  den 
Streit,  ob  Dem.  texvixrjg  gewesen  sei,  S.  Sud- 
haus, Praef.  Philod.  de  rhet.  I,  Leipz.  1892, 
p.  XXIX).  Auch  der  Gharakter  des  Dem.  inter- 
essierte die  Philosophen,  zumal  die  Mittel- 
stoiker, die  (S.  Sudhaus,  Philod.  vol.  rhet. 
suppl.,  Leipz.  1895,  praef.  XLI)  zu  der  Über- 


zeugung kamen,  er  sei  von  sittlichen  Mängeln 
nicht  ganz  freizusprechen  (s.  Plut.  Dem.  30; 
id.   comp.   Gic.  et  Dem.  5);   sehr  ungünstig 
Kritolaos  bei  Gell.  XI  9. 
>)  Plut.  Dem.  20. 

*)  Daraus  wird  dann  Abkunft  von  einem 
Schmied  bei  luvenal.  sat.  X  130:  quem  pater 
ardentia  massae  ftdigine  lippua  a  carbone  .  .  . 
ad  rhetora  misit. 

')  Dinarch.  adv.  Dem.  15  schilt  ihn  des- 
halb einen  Skythen.  E.  Gubtius,  Gr.  Gesch. 
III  549:  «Die  außerordentliche  Spannkraft 
deines  Geistes  mag  damit  zusammenhängen, 
daß  etwas  von  dem  Blute  der  nordischen 
Völker  in  seinen  Adern  floß.   Auch  der  gei- 

{  stesverwandte  Thukydides  stammte  mütter- 
licherseits von   einem  nordischen  Barbaren- 

I   Volk." 

^)  In  Betracht  kommt  besonders  30, 15  f. 
und  21.  154;  s.  F.  Blass,  Att.  Ber.  III  V  la. 

,   A.  Schäfer  III  Beil.  2.  Irrtümlich  läßt  Apol- 

;   lodoros  den  Dem.  381/0  geboren  sein,  worüber 
F.  Jacoby,  Apollodors  Ghronik  p.  328  ff. 

^)  Dergleichen  war  im  damaligen  Athen 
nicht  ungewöhnlich:  Plat.  Theaet.  144 d;  Lys. 

i   or.  32,  vgl.  F.  BLASS,  Att.  Ber.  I«  608  ff. 

I  ®)  Anklänge  an  Isaios  0.  Navabre,  Essai 

sur  la  rh6t.  Gr.  168  f.  271.  Anklänge  zwischen 
Dem.  und  Isokrates,  dessen  Schüler  er  aber 
schwerlich   gewesen  ist  (Plut.   Dem.  5;   A. 

'   Schäfer  P  310)  bei  J.  Mesk,  Wiener  Stud.  23 

!   (1901)  209  ff.  Siehe  a.  M.  H.  E.  Meier,  Gpusc. 

i   II  317  ff. 

35* 


548  (hiechische  Litteraturgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

galt  im  Altertum  für  notorisch.*)  Philosophie  hat  er  nicht  getrieben  (s. 
S.  546,  5).  Großen  Eindruck  soll  auf  ihn  der  Prozeß  wegen  Verrat  (der 
sog.  oropische  Prozeß)  gemacht  haben,  der  im  Jahr  366  gegen  den  Feld- 
herm  Chabrias  und  den  Führer  der  Spartanerpartei  Kallistratos  verhandelt 
wurde,  und  insbesondere  die  glänzende  Verteidigungsrede,  die  Kallistratos 
bei  dieser  Gelegenheit  hielt.  Die  beiden  Reden,  die  der  junge  Demosthenes 
im  Kampf  um  seine  Existenz  vor  Gericht  hielt,  die  Anklagerede  gegen 
Aphobos  und  die  Replik  auf  dessen  Verteidigung,  sind  uns  erhalten  (27. 
28),  und  so  überzeugend  wirkte  die  Darstellung  des  zwanzigjährigen  Jüng- 
lings auf  die  Gemüter  der  Richter,  daß  sie  den  Aphobos  zum  Schadenersatz 
von  zehn  Talenten  verurteilten.*)  An  diesen  Prozeß  reihte  sich  aber  ein 
anderer  (i^ovXrjg)  gegen  Onetor,  den  Schwager  des  Aphobos,  der,  als  es 
zur  Pfändung  kam,  ein  Grundstück  des  Aphobos  als  Unterpfand  für  die 
nicht  zurückbezahlte  Mitgift  seiner  von  Aphobos  geschiedenen  Schwester 
in  Anspruch  nahm.  Auch  die  Reden  gegen  Onetor  sind  uns  erhalten  (30. 
31),  der  Ausgang  des  Prozesses  aber  ist  unbekannt;  wahrscheinlich  kam 
es  schließlich  zu  einem  Vergleich,  bei  dem  Demosthenes  weniges  aus  dem 
Schiffbruch  seines  Vermögens  rettete.*)  Doch  war  er  359  wieder  in  der 
Lage,  eine  Triere  auszurüsten  (51.  Rede).*)  So  wurde  auch  er,  ähnlich  wie 
vordem  Lysias,  durch  äußere  Verhältnisse,  durch  die  Nötigung,  auf  Ersatz 
des  verlorenen  Vermögens  zu  sinnen,  auf  die  Bahn  eines  Xoyoygdfpog  ge- 
drängt. Auf  diesem  Weg  fand  er  aber  zugleich  Gelegenheit,  sich  in  der 
Beredsamkeit  praktisch  zu  üben  und  die  Aufmerksamkeit  des  Volkes  auf 
sich  zu  lenken,  wie  später  auch  Cicero  durch  die  Tätigkeit  vor  Gericht 
sich  den  Weg  zur  politischen  Laufbahn  geebnet  hat.  Freilich  konnte 
infolge  der  athenischen  Verhältnisse  Demosthenes  nicht,  wie  Cicero,  sich 
selbst  dem  Volk  zeigen  und  zum  geschickten  Entwurf  der  Rede  auch 
noch  die  packende  Gewalt  des  Vortrags  fügen.  Er  schrieb  bloß  die  Reden, 
damit  der  Angeklagte  oder  Kläger  sie  vor  Gericht  vortrage;  nur  in  der 
Rede  für  Phormion  gegen  ApoUodoros  (36)  ist  er  vielleicht  selbst  in  der 
Eigenschaft  eines  Fürsprechers  {ovvrjyogog)  vor  den  Richtern  aufgetreten.*^) 
Im  übrigen  muß  er  großen  Erfolg  in  seiner  Advokatenpraxis  gehabt 
haben,  wiewohl  ihm  die  Leichtigkeit  und  Akkomodationsfahigkeit  des 
Lysias  nicht  eigen  ist  und  ein  gewisses  monotones  Pathos  auch  in  Bagatell- 
sachen seine  Gerichtsreden  beherrscht.  Zahlreiche  Reden  in  Privatprozessen, 
die  bis  über  das  Jahr  345  herabreichen,')  geben  davon  Zeugnis,  und  doch 

1)  Außer  A.  Schäfer  P  315  ff.,  IP  303  f.  Isaios  aus. 

Choric.  Philol.  54  (18J)5)  120,  1  und  das  Epi-  i           ')  Darauf  führt  Aesch.  3,  173:   ix  loui- 

kedion  s.  IV.  Berl.  Klassikertexte  V  1  p.  84,  \   Qo^yor  loyoyodqog  dvFcpdrf),  t«  .-rarpipa  xara- 

28ff. :  anders  nur  Cic.  or.  31.  ;   yeluoTcog  jioofftFvog. 

0  Daß  Dem.  seine  Ersatzansprüche  nach  !           *)   Die   Echtheit    der   51.  Rede   erweist 

oben  abrundete,  kann  nach  den  Ausführungen  nach  F.  Blaß  C.  Rüoer  (s.  u.  S.  550,  1). 

von    0.   ScHüLTHESs,    Die   Vonnundschafts-  ,           *)  Daß  der  ai'i7/;'oooir  nicht  Demostlienes, 

rechnung   des   D.,   Progr.   Frauenfeld   1899,  sondern   ein  anderer  war,   nimmt  Blass  III 

nicht  bezweifelt  werden.  —  Die  beiden  Reden  P,  31,  2  an.     I.  Brüns,  Litt.  Portr.  534  ff. 

gegen  Aphobos  zeigen  tüchtige  Schulung  (be-  ^)  I.  Brdns,   Litt.  Portr.    547  ff.;   Auct. 

sonders  wirksam  ist  das  Proömium  von  27  .t.  ri/;.  34,  2  ff. 

und  der  Schluß  von  28)  und  zeichnen   sich  ")  Die  Privatrede  Jigog    ^aiyijz.iov  fällt 

durch  persönliche  Wärme  vor  den  Reden  des  erst  330,   ist  aber   unecht.    Aber  auch   die 


8.  Die  Beredsamkeit,    e)  DemosthenoB.    (§  301.) 


549 


hat  er  gewiß  nur  einen  ganz  kleinen  Teil  seiner  gerichtlichen  Reden  der 
Veröffentlichung  wert  gehalten.  Wenn  ihm  der  Vorwurf  der  Zweideutig- 
keit und  des  Verrats  der  Sache  seines  Klienten  an  die  Gegenpartei  ge- 
macht wurde,')  so  beruht  das  wohl  nur  darauf,  daß  er  für  und  gegen 
Apollodoros,  den  prozeßsüchtigen  Bankier,  in  verschiedenen  Reden  auf- 
getreten war.^)  Daß  er  daneben  auch  als  Lehrer  der  Beredsamkeit  wirkte, 
erfahren  wir  nur  aus  Aischines  I  117  und  175;  es  hat  aber  bei  der  in 
Athen  herkömmlichen  Verbindung  der  beiden  Tätigkeiten  des  Redners  und 
des  Redelehrers  durchaus  nichts  Unwahrscheinliches. 

In  den  schweren  und  verstimmenden  Kämpfen,  die  der  junge,  auch 
mit  physischen  Schwierigkeiten^)  beim  rednerischen  Vortrag  ringende 
Mann  zu  bestehen  hatte,  wird  sich  seine  illusionsfreie,  pessimistisch  an- 
gehauchte, in  der  Hauptsache  aber  doch  großartig  ideale  und  optimistische 
Lebensanschauung  ausgebildet  haben.  Ohne  im  Sinn  des  Traditionalismus 
religiös  observant  oder  von  mystischen  Strömungen  berührt  zu  sein,*)  ist 
er  doch  eine  tief  religiöse  Natur,  fest  überzeugt,  daß  schließlich  Wahr- 
heit und  Recht  vermöge  ihrer  natürlichen  Superiorität  (s.  bes.  2,  3 — 10) 
siegen  müssen,  fest  überzeugt  auch,  trotz  aller  Einsicht  in  die  Schwächen 
seines  Volkes,  von  Athens  kultureller,  geistiger  und  ethischer  Überlegen- 
heit über  alle  übrigen  Griechenstaaten,  also  von  seinem  berechtigten  An- 
spruch auf  Freiheit  und  Glück  und  auf  Führerschaft  in  panhellenischen 
Fragen,^)  überzeugt  endlich  von  der  Überlegenheit  der  Hellenen  über 
die  Barbaren. ö)  Aus  dieser  Anschauung  und  seinem  leidenschaftlich- 
düsteren  Temperament  erklärt  sich  der  ernste,^)  herbe,  oft  stürmisch  an- 


kaum  anzuzweifelnde  Rede  gegen  Phormion  I 
(34)  föllt  in  die  Zeit  nach  Zerstörung  Thebens 
oder  nach  335.  Demosthenes  bemerkt  selbst 
32,  32:  ifioi  avfißsßijxsv  ä(f  ov  jz€qI  xcbv  xoi- 
v<bv  keyeiv  TJg^d^tjv,  fitjde  jrgog  Pv  jigäyina 
Tdtov  jrQooehßv&^vat.  Vgl.  jedoch  A.  Schäfer 
P  350;  F.  BLASS  III  P,  30  f. 

M  Aesch.  2,  165;  Plut.  Dem.  15. 

^)  Die  betreffenden  Reden  sind :  fQr  Phor- 
mion (36),  gegen  Stephanos  (45  und  46),  den 
Zeugen  zugunsten  des  Phormion.  Doch  ist 
die  Rede  46  sicher  unecht,  und  auch  die 
Echtheit  der  Rede  45  wird  bestritten,  worüber 
J.  E.  Sandys,  Select  private  orations  of  De- 
mosth.,  Cambr.  1896,11  p.  36—46.  Möglicher- 
weise änderte  sich  aber  auch  das  Verhältnis  des 
Demosthenes  zu  Apollodoros  infolge  des  kräf- 
tigen Eintretens  des  Geldmannes  für  die  Politik 
des  Redners.  Übrigens  ist  gar  kein  Grund, 
dem  Advokaten  Demosthenes  eine  beson- 
ders sublime  Moral  anzusinnen.  Andererseits 
aber  sind  die  verleumderischen  Bosheiten  und 
Verdrehungen,  vor  denen  er  sich  zumal  in 
eigener  Angelegenheit  so  wenig  als  Aischines 
scheut,  nicht  ihm  persönlich  allein,  sondern 
wesentlich  auch  der  tiefen  Gesunkenheit  des 
attischen  Tribunals  im  4.  Jahrh.  zuzuschreiben 
(I.  Brünö  a.  a.  0.  552  ff.). 

^)  Er  scheint  drei  Fehler  gehabt  zuhaben: 


er  stammelte,  d.  h.  konnte  das  R  nicht  aus- 
sprechen (wie  auch  von  Alkibiades  berichtet 
wird),  seine  Unterlippe  war,  den  Porträt- 
statuen nach,  zu  kurz,  und  er  hatte  (wie 
Kaiser  lulian)  ein  nervöses  Zucken  mit  den 
Schultern,  das  dem  an  fi»o;fi7/Moavvi;  der  Redner 
gewöhnten  Publikum  Athens  gegenüber  fatal 
war.  Aischines  ist  darin  das  volle  GegenteU. 
Wieweit  die  Anekdoten  über  die  Mittel,  die 
D.  zur  Bekämpfung  jener  Übelstände  an- 
wendete, Glauben  verdienen,  ist  zweifelhaft. 
Zungen-,  Lippen-  und  Atemgymnastik,  Be- 
obachtung der  Artikulationsbewegungen  vor 
dem  Spiegel  sind  noch  heute  die  Mittel,  mit 
denen  Stammeln  und  Stottern  bekämpft  wird. 

*)  H.  Meüss,  Jahrbb.  f.  cl.Phil.  139  (1889) 
445  ff.  801  ff.  Einzelne  Götter  werden  nur  in 
Beteuerungsformeln  genannt,  besonders  Zeus; 
stark  tritt  bei  D.  die  Tvxfj  hervor;  vom  Leben 
nach  dem  Tod  findet  sich  nur  in  einer 
echten  Rede  (24,  104;  25  ist  unecht)  eine 
Andeutung. 

')  Dem.  2,  1  ff  22;  18,  253;  14,  16;  20, 
109. 

«)  Dem.  15,  Uff.  30  ff.;  19,  226;  23, 
204  ff. 

^)  Das  Fehlen  des  Witzes,  der  evrocute- 
IIa,  bemerkten  seine  Gegner  und  die  späteren 
Ästhetiker  (F.  Blass,  Att  Ber.  III 1 «,  186, 4). 


550  Griechische  Litteraturgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

schwellende  Ton,  der  alle  seine  Staatsreden  und  die  in  Staatsprozessen 
gesprochenen  Plaidoyers  beherrscht  und  auch  in  seinen  übrigen  Gerichts- 
reden sich  nicht  ganz  verleugnet. 

302.  Politische  Tätigkeit.  Erste  Periode  bis  zum  philo- 
kratischen  Frieden  (355 — 346).  Die  Tätigkeit  als  Sachwalter  bildete 
die  Stufenleiter,  auf  der  Demosthenes  zur  Stellung  eines  Parteihauptes  und 
schließlich  leitenden  Staatsmannes  emporstieg.  Das  Aufsteigen  geschah 
allmählich;  bevor  er  in  der  Volksversammlung  sich  an  das  souveräne  Volk 
wandte,  trat  er  vor  Gericht  und  im  Senat  in  Streitfallen  auf,  welche  die 
öffentlichen  Angelegenheiten  berührten.  Die  erste  Rede  dieser  Art  war  die 
über  den  trierarchischen  Kranz  (51.  jieol  rov  axetpdvov  Tfjg  TgirjoaQxiag)^  die 
er  359  nach  der  Niederlage  der  Athener  in  dem  Seetreflfen  bei  Peparethos 
zugunsten  eines  Unbekannten^)  hielt,  da  dieser  von  dem  Senat  nach  deofi 
Gesetz  den  Kranz  verlangte,  weil  er  zuerst  seine  Triere  fertig  gestellt  hatte. 
Schon  im  folgenden  Jahr  (358)  soll  er  nach  Aischines  (3,  51  f.)  gegen  den 
Feldherm  Kephisodotos  als  Ankläger  wegen  Hochverrates  aufgetreten  sein; 
die  Rede  ist  nicht  erhalten.  Seine  staatsmännische  Tätigkeit  Angt  an 
355/54.  Wie  es  damals  in  Athen  bei  Leuten,  die  eine  politische  Rolle 
spielen  wollten,  üblich  war,  begann  er  mit  Klagen  wegen  gesetz- 
widriger Anträge  {ygaq^al  jiaoavöjuiov)  sein  Interesse  für  die  öffentlichen 
Dinge  und  seine  Bereitschaft,  in  dieselben  einzugreifen,  dem  Volk  zu  be- 
kunden. Die  erste  Periode  reicht  bis  346.  Demosthenes  wird  mehr  und 
mehr  Haupt  der  Opposition  gegen  das  Einschläferungssystem  des  Eubulos. 
Zuerst  schrieb  er  355/4  für  Diodoros  eine  Anklagerede  gegen  den  Iso- 
kratesschüler  Androtion  (22),  weil  dieser  eine  Bekränzung  des  Rates 
der  Fünfhundert  beantragte,  wiewohl  der  Rat  während  seines  Amtsjahres 
nichts  für  die  Flotte  getan  hatte.  *)  Daran  schloß  sich  die  352  wieder 
für  Diodoros  geschriebene  Rede  gegen  Timokrates  (24),  einen  Genossen 
des  Androtion,  der  zugunsten  der  Staatsgläubiger  Ausstand  für  die  Rück- 
zahlung der  dem  Staat  geschuldeten  Gelder  beantragt  hatte;  die  Rede 
hat  im  Altertum  als  Muster  erschöpfender  Beweisführung  (die  aber  zum 
Teil  sehr  schikanös  ist)  gegolten.  Erfolg  scheint  Demosthenes  nicht 
gehabt  zu  haben.  Zum  erstenmal  trat  er  persönlich  in  der  Eigen- 
schaft eines  Synegoros  an  der  Seite  des  Ktesippos,  eines  Sohnes  des 
Chabrias,  in  einer  öffentlichen  Prozeßsache  mit  der  Rede  gegen  Leptines 
auf  (355/4).  Dieser  hatte,  um  der  finanziellen  Bedrängnis  des  Staates  ab- 
zuhelfen, die  Abschaffung  der  Steuerbefreiung  (drekeia)  für  alle,  mit  Aus- 
nahme der  Nachkommen  der  Tyrannenmörder  Harmodios  und  Aristogeiton, 
beantragt.  Demosthenes,  der  bei  aller  Sorge  für  die  Hebung  der  Finanzen 
doch  keine  Knauserei   zu   unrechter  Stunde  wollte,   befürwortete  in  einer 

')  Nach  Libanios    war   es   Apollodoros,  1865  S.  65— 108:  C.  Rügeb,  Oratio  de  Corona 

was  man  deshalb  vermutet  zu  haben  scheint,  navali  num  a  Dcmosthene  scripta  sit.  inqui- 

weil  die  Rede  mitten  unter  solchen  steht,  die  ritur.  Progr.  Dresden,  Wettiner  Gymn.  1900. 
für  Apollodoros   gehalten  wurden;   nach  an-  ^)  Dionys.  ad  Amm.  4  nennt  sie  die  erste 

deren  sprach  Demosthenes  in  eigener  Hache.  öffentliche  Rede,   indem   er  die  Rede  wegen 

Ober   die    Rede,    deren    Echtheit   bestritten  des  trierarchischen  Kranzes   außer  Betracht 

wird.  8.  A.  KiRCHHOFF,  über  die  Rede  vom  läßt, 
trierarchischen  Kranze,   Berl.   Ak.  Abhandl. 


3.  Die  Beredsamkeit,    e)  Demoathenes.    ($§  802—303.)  551 

glänzenden,  wohldurchdächten,  durch  den  großartigen  Idealismus  ihrer  Be- 
trachtungsweise berühmt  gewordenen  Rede  das  Recht,  ja  die  Pflicht  des 
Staates,  hervorragende  Verdienste  einzelner  Männer  zu  belohnen  und  auf 
solche  Weise  die  andern  zum  Wetteifer  in  Erfüllung  der  Bürgerpflichten 
anzuspornen.  1)  In  die  auswärtige  Politik  griflf  die  vierte  öflFentliche  Rede 
gegen  Aristokrates  (23)  ein  (352),  in  der  er,  gegenüber  dem  Aristo- 
krates,  der  besondere  Vergünstigungen  füi*  den  Odrysenkönig  Kersobleptes 
und  dessen  Schwager  Charidemos  beantragt  hatte,  den  Satz  verfocht,  daß 
Athen  am  besten  seine  Besitzungen  im  Chersones  behaupten  könne,  wenn 
es  den  Zwiespalt  und  die  Eifersucht  der  angrenzenden  thrakischen  Fürsten 
möglichst  nähre.  Der  Erfolg  war,  daß  diö  Privilegierung  des  Charidemos 
unterblieb.  Mit  diesen  vier  Reden  steht  Demosthenes  schon  auf  der  Höhe 
seines  rednerischen  Könnens;*)  insbesondere  ist  die  Aristocratea  von  un- 
übertrefflicher Klarheit  der  Anlage  und  Vollständigkeit  der  Beweisführung. 
Diesen  Reden  schließt  sich  die  Rede  wegen  vßgig  gegen  Meidias  (von 
der .  Ohrfeige,  negl  tov  xovdvkov)  an,  mit  der  Demosthenes  347  *)  den 
Meidias,  der  ihn  350  als  Choregen  beschimpft  und  damit  das  Dionysosfest 
gestört  hatte,  zu  belangen  gedachte.  Meidias,  ein  brutaler  Protze,  der 
schon  in  dem  Vormundschaftsprozeß  gegen  Demosthenes  Partei  ergriffen 
hatte,  war  über  Demosthenes  ärgerlich,  weil  dieser  gegen  die  von  Meidias 
beantragte  Expedition  nach  Euboia  (350)  gewesen  war.  Die  Rede  wurde 
indessen  nicht  gehalten,  da  es  Demosthenes  noch  in  letzter  Stunde  vorzog, 
gegen  eine  Abfindung  mit  dreißig  Minen  die  Klage  fallen  zu  lassen.^) 

303.  Inzwischen  hatte  Demosthenes  auch  unmittelbar  als  Volksredner 
in  die  Politik  einzugreifen  begonnen,  und  wir  konmien  somit  zu  seiner  be- 
deutsamsten Tätigkeit  als  des  leitenden  Staatsmanns  und  Verfassers  von 
Volksreden  {&r]jLi7]yogiai).^)  Zur  Zeit  seines  ersten  Auftretens  waren  die 
Verhältnisse  Athens  überaus  traurig  und  zerfahren.  In  den  Kämpfen  mit 
den  Thebanem  und  Thessalem  war  die  Grenzstadt  Oropos  an  die  The- 
baner  verloren  gegangen  (366),  und  der  Tyrann  Alexandres  von  Pherai 
konnte  es  nach  der  Niederlage  des  athenischen  Admirals  Leosthenes  bei 
Peparethos  wagen,  mit  seiner  Flotte  in  den  Hafen  des  Peiraieus  ein- 
zulaufen (361).  Sodann  war  Athen  durch  den  unglücklichen  Ausgang  des 
Bundesgenossenkrieges  (357 — 5)  fast  aller  seiner  auswärtigen  Besitzungen 


')  Die  Rede,  die  als  Deaterologie  nicht 
den  ganzen  Stoif  zn  erschöpfen  brauchte  und 
deshalb   in  der  Komposition   etwas  lose  ist, 


8.  A.  BöoKH,  Von  den  Zeitverhältnissen  der 
dem.  Rede  gegen  Meidias,  Ges.  El.  Sehr.  V, 
Leipz.  1871,  153—204. 


ist  mit  der  Gegenrede  des  Rhetors  Ar i 8 tides  !  *)  Strittig  ist  es,   ob  Demosthenes  die 

(53)  herausgegeben  und  erläutert  von  F.  A.      Rede   herausgegeben   hat   oder  ob   sie  erst 


Wolf,  Halle  1789.  Der  Gegenstand  ist  in 
den  späteren  Rhetorenschulen  sehr  beliebt 
gewesen  (W.  Schmid,  Atticism.  I  34,  10;  E. 
Wenkbbach.  Quaest.  Dion.,  Kirchhain  1907, 
54  ff.).  Zwei  Deklamationen  des  Aelius  Ari- 
stides  (or.  53.  54)  sind  erhalten. 

«)  Theo  prog.  p.  61,  14  ff.  Sp.  hält  sie 
nebst  der  Kranzrede  für  die  beste  des  De- 
mosthenes. 

*)  Nach  §  154  war  er  dvo  xai  xQidxovra 
h}}  alt,  was  Schäfer  in  xeoaaoa  x.  tq.  änderte; 


nach  seinem  Tod  aus  seinen  Papieren  heraus- 
gegeben wurde;  über  diese  Kontroverse  G. 
Hüttner,  Jahresb.  üb.  d.  Fortschr.  d.  kl.  Alt.- 
wiss.  50  (1887)  218  f.  Streng  zur  Sache  ge- 
hören  nur  §  1 — 76 ;  dann  folgen  maßlose  Be- 
schuldigungen, über  die  8. 1.  Bruns,  Litt.  Portr. 
557  ff. 

^)  L.  Spenqel,  Die  Atjfirjyogiai  des  Demo- 
sthenes, Bayr.  Ak.  Abhdl.  9  (1863)51  ff.  277ff.; 
W.  Habtel,  Demosthenische  Studien,  Wiener 
Ak.  Sitz.ber.  87  (1877)  3  ff.;  88  (1877)  365  ff. 


552  Grieohiache  litteratnrgeschichte.    I.  Elaasisohe  Periode. 

beraubt  und  auf  den  dürftigen  Besitz  von  Lemnos,  Imbros,  Skyros  und  der 
Südküste  Thrakiens  beschränkt  worden.  Im  Innern  war  auf  die  kräftige 
Leitung  des  Staates  durch  Kallistratos,  der  361  in  die  Verbannung  gehen 
mußte,  eine  Periode  der  allgemeinen  Erschlaffung  und  spießbürgerlichen 
Friedens-  und  Handelspolitik  gefolgt.  Ihr  Träger  war  Eubulos,  der,  hoch- 
fahrenden Plänen  abhold,  lieber  die  verringerten  Kräfte  des  Staates  auf 
Pflege  gemächlichen  Lebens  als  auf  Übernahme  einer  rühm-,  aber  mühe- 
vollen Führerstellung  Athens  wenden  wollte.  Demosthenes'  ganze  Natur 
widerstrebte  von  vornherein  einer  so  mattherzigen  Politik;  doch  ist  seine 
volle  Energie  erst  durch  das  Vorgehen  des  Königs  Philippos  geweckt 
worden,  und  selbst  diesem  gegenüber  war  sein  Verhalten  anfangs  noch 
zaudernd  und  zurückhaltend,  bis  endlich  die  helle  Flamme  des  Hasses  gegen 
die  Vertreter  der  Friedenspolitik,  die  Vaterlandsverräter,  wie  er  sie  schalt, 
emporschlug.  Bis  zum  ersten  Vorgehen  gegen  Philippos  in  der  ersten 
philippischen  Rede  (351)  war  überhaupt  sein  politisches  Auftreten  mehr 
ein  gelegentliches,  je  näher  aber  die  makedonische  Gefahr  kam,  desto 
mehr  sah  er  in  ihrer  Bekämpfung  seine  Lebensaufgabe  und  wurde  wirk- 
liches Parteihaupt. 

Die  Volksreden,  die  er  in  dem  vorbereitenden  Stadium  seiner  politi- 
schen Tätigkeit  hielt,  waren  folgende:  In  der  trefflich  disponierten  Rede  14 
negi  tcov  ovjujuoqiöjv  (über  die  Steuerverbände)  suchte  er  354/3,  als 
ein  Krieg  mit  dem  Perserkönig  auszubrechen  drohte,  das  überstürzte  von 
Stubenpolitikern  und  Rhetoren  wie  Isokrates  geschürte  Kriegsfieber  der 
Athener  zu  dämpfen,  i)  indem  er  vor  allem  auf  bessere  Ausrüstung  der 
Flotte  durch  Vermehrung  der  zur  Trierenleistung  verpflichteten  Bürger 
und  durch  Erhöhung  der  Zahl  der  Schiffe  auf  dreihundert  drang.  De- 
mosthenes hätte  gern  die  Symraorien  aus  einer  nur  für  dringende  Notfalle 
dienenden  Ausnahmeeinrichtung  zum  ständigen  Organ  der  Steuererhebung 
gemacht.  Bei  seinem  Rat,  sich  schlagfertig  zu  machen,  schwebt  ihm 
wahrscheinlich  unausgesprochen  schon  der  nordische  Feind  vor  Augen. 
Durchgedrungen  ist  er  nicht;  der  alte  Schlendrian  im  Besteuerungswesen 
dauerte  an,  bis  340  Demosthenes  sein  trierarchisches  Gesetz  einbrachte. 
Im  folgenden  Jahr  (353/2),  als  Gesandte  der  Spartaner  und  der  von  diesen 
hart  bedrängten  Stadt  Megalopolis  in  Athen  erschienen  waren,  warnte  er 
in  der  Rede  vTiko  MeyakonokiTcov  (16)  vor  einem  unbedingten  Eintreten 
gegen  die  Megalopoliten  und  empfahl  eine  bloße  Aufforderung  zum  billigen 
Ausgleich  an  die  streitenden  Parteien.  Ähnlich  wie  in  der  Aristocratea 
(§  102.  124)  vertrat  er  auch  hier  den  Grundsatz,  daß  es  für  Athen  günstig 
sei,  in  seiner  Interessensphäre  keine  große  Machtkonzentration,  in  diesem 
Fall  weder  bei  den  Lakedaimoniem  noch  bei  den  Thebanern.  aufkommen 
zu  lassen.  In  der  Rede  vnhQ  rfjg  'Podlcov  IXev^egias  (353)^)  tritt  er 
schon  für  eine  aktivere  Politik  ein,  indem  er  den  alten  Gedanken,  daß  die 

^)  Dem.   befand    sich    damals    in    einer   ;   und  Phrasen  vom  ^Erbfeind*  einen  Anschluß 


ähnlichen  Lage  wie  Bismarck  (Gedanken  und 
Erinn.  I  156  ff.)  während  seiner  Pariser  Ge- 
sandtschaft, als  er  gegenüber  den  vom  Be- 
freiungskrieg her  eingewurzelten  Vorurteilen 


Preußens  an  Napoleon  III.  betrieb,  um  Preu- 
ßens Isolierung  zu  verhindern. 

*)  Den  Ansatz  353  vertritt  W.  Jcdeich. 
Kleinasiat.  Stud.  186  f. 


8.  Die  Beredsamkeit,    e)  Demoathenes.    (§  304.)  553 

Athener  sich  als  ein  Bollwerk  der  Demokratie  hinstellen  müßten,  aufiiahm 
und  der  Unterstützung  der  Demokraten  von  Rhodos  gegen  die  von  Mausollos 
begünstigten  Oligarchen  trotz  der  im  Bundesgenossenkrieg  bewiesenen  Un- 
dankbarkeit der  Rhodier  und  trotz  der  Gefahr  eines  Konflikts  mit  dem 
Perserkönig  das  Wort  redete.  Neuerdings  wird  von  manchen^)  auch  die 
Rede  jtegl  avvxdSecog  (13),  in  der  Aufhebung  der  Theorikenkasse  ge- 
fordert wird,  für  echt  gehalten  und  350/49  gesetzt. 

304.  Von  da  an  konzentrierte  sich  Demosthenes'  ganze  politische 
Tätigkeit  auf  die  Abwendung  der  größten  Gefahr,  die  Athen  und  ganz 
Hellas  von  Norden,  von  PhiUppos,  dem  König  der  Makedonier  (seit  359), 
drohte.  Demosthenes  erkannte  sie  von  Anfang  an^)  und  setzte  mit  immer 
steigender  Energie  seine  ganze  Beredsamkeit  und  seinen  ganzen  Einfluß 
ein,  um  die  Athener  aus  dem  Schlaf  aufzurütteln  und  die  Gegenpartei  des 
Eubulos,  Aischines,  Philokrates,  Demades  niederzuwerfen.  Die  erste  Rede, 
die  er  in  dieser  Richtung  hielt,  ist  die  erste  philippische,  gehalten  351 
bald  nach  dem  Zug  gegen  Pylai,  auf  den  §  17  angespielt  ist.*)  Den  be- 
sonderen Anlaß  der  Rede  kennen  wir  nicht.  Mit  Mäßigung,  Einsicht  und 
Kraft,  ohne  Rücksicht  auf  den  Beifall  der  genußsüchtigen  Menge  mahnt 
er  zur  Rüstung,  namentlich  zur  eigenen  Beteiligung  der  Bürger,  die  wenig- 
stens ein  Viertel  des  Heeres  stellen  sollten.  Athen  sollte  nach  seiner 
Meinung  für  alle  Feinde  des  Philippos  einen  Sammelpunkt  bilden.  Ernst  in 
der  Kriegführung  war  in  der  Tat  äußerst  notwendig,  da  Philippos  nicht 
bloß  Pydna,  Methone,  Potidaia  bereits  weggenommen  hatte,  sondern  auch 
schon  die  alten  Besitzungen  der  Athener  auf  Imbros  und  Lemnos  bedrohte. 
AuffälUgerweise  nimmt  Dionysios  (ad  Amm.  4)  an,  daß  mit  §  30  unserer  Rede 
eine  neue  Rede  beginne,  wahrscheinlich  verleitet  durch  die  Überschrift 
II600V  djiödei^ig^  die  aber  nicht  eine  neue  Rede  einleiten  sollte,  sondern 
dem  eingelegten,  jetzt  verlorenen  Finanzplan  zur  Aufbringung  der  von 
ihm  für  die  Rüstungen  geforderten  neunzig  Talente  galt/)  In  die  nächste 
Zeit  fallen  die  drei  olynthischen  Reden,  von  denen  die  letzte  im  Jahr 
348  gehalten  wurde.  Philippos  begann  schon  351  Olynthos,  die  mächtigste 
Stadt  der  Chalkidike,  zu  bedrängen,  und  die  Athener,  wohl  einsehend,  daß 
es  sich  dort  für  sie  um  vitale  Interessen  handle,  sandten  im  ganzen  drei 
Hilfskorps  zum  Entsatz  der  bedrängten  Stadt  ab;  aber  die  Lage  bei  der 
ersten  und  zweiten  Rede  ist  im  wesentlichen  die  gleiche,*)  und  nur  zwischen 
die  dritte  und  die  beiden  ersten  Reden  fiel  ein  kleiner  Erfolg  der  atheni- 
schen   Hilfstruppen. <5)     Demosthenes   trat   mit   aller   Kraft   für   eine   ent- 

»)  WiLAMOwiTz,  Aristot.   und  Athen  II  '  (1884)  173—205. 
215  f.;  P.  Wendland,  Gott.  Gel.  Anz.  1906,  ^)  Schon  1,  2  und  17  ist,  wie  W.Hartel, 


364  f. 

=»)  Er  rühmt  sich  dessen  18,246;  Hin- 
weisungen in  den  früheren  Reden  A.  Schäfer 
IP  57  f. 

*)  Die  gewöhnliche  Datierung  der  Rede 
auf  351  (nicht  349)  verteidigt  Th.  Thalheim, 
Berl.  phil.  Woch.  14  (1894)  1480  und  17  (1897) 


Dem.Stud.  I  15  hervorhebt,  aller  Nachdruck 
darauf  gelegt,  daß  die  Bürger  selbst  ins 
Feld  ziehen. sollen ;  es  war  also  wahrschein- 
lich damals  schon  die  Absendung  von  Söld- 
nertruppen vorausgegangen. 

*)  Dem.  3,  85.    Dionys.  ad  Amm.  hatte, 
wohl  durch  Philochoros'  Nachrichten  von  den 


643  ff.  verschiedenen  Hilfszügen  verleitet,  einen  grö- 

*)  A.  Baran,    Die   einheitliche  Kompo-   ,  Beren  Zwischenraum  zwischen  der  ersten  und 
sition   der  ersten  phil.  Rede,  Wien.  Stnd.  6   |  zweiten  Rede  angenommen  und  die  zweite 


554  Griechische  LitteratnrgeBchichte.    L  ElassiBche  Periode. 

ßchiedene  Hilfeleistung  ein,  und  die  wuchtige  Sprache  macht  die  drei 
kurzen  Reden  fOr  Olynthos  zu  den  vorzüglichsten  Erzeugnissen  der  demo- 
sthenischen  Beredsamkeit.  Aber  die  Anstrengungen  des  Redners  blieben 
ohne  Erfolg;  er  selbst  wagte  es  nicht,  einen  förmlichen  Antrag  auf  Ver- 
wendung der  Theatergelder  für  Kriegszwecke  zu  stellen, ^  und  ehe  sich 
Athen  zu  einer  tatkräftigen  Hilfeleistung  mit  einem  Bürgerheer  aufraffte, 
fiel  Olynthos  durch  den  Verrat  der  beiden  Reiterführer  Lasthenes  und 
Euthykrates  in  die  Gewalt  des  Makedonierkönigs. 

806.  Schon  in  das  zehnte  Jahr  ging  der  Krieg  mit  Philippos;  die 
Kräfte  Athens  waren  erschöpft,  ein  Staat,  der  wie  Athen  so  ganz  auf  den 
Handel  und  den  Export  von  Artikeln  der  Kunstindustrie  angewiesen  war, 
konnte  nicht  auf  die  Dauer  die  Unsicherheit  der  Meere  und  den  alles  ge- 
fährdenden Kriegszustand  ertragen.  Auch  an  seinen  Verbündeten  hatte 
Athen  keine  Freude  erlebt:  der  schändliche  Tempelraub  der  Phoker  erfüllte 
ganz  Griechenland  mit  Abscheu;  die  jahrelang  fortdauernde  Verwüstung 
griechischen  Landes  durch  die  gegenseitigen  Raubzüge  der  Phoker  und 
Thebaner  war  gewiß  nicht  bloß  einem  unpraktischen  Friedensfreund  wie 
Isokrates,  sondern  auch  vielen  anderen  Athenern  ein  Greuel.  Auf  der 
anderen  Seite  litten  auch  die  Küsten  des  makedonischen  Reiches  schwer 
unter  dem  langjährigen  Krieg  mit  einem  zur  See  überlegenen  Feind,  so 
daß  sich  auch  Philippos  zum  Frieden,  namentlich  zu  einem  Separatfrieden 
mit  Athen,  geneigt  zeigte.  Unter  solchen  Umständen  beschloß  Athen  auf 
den  Antrag  des  Philokrates  eine  Gesandtschaft  von  zehn  Männern  an 
Philippos  zur  Einleitung  von  Friedensverhandlungen  abzuordnen,  und  nach- 
dem diese  über  die  zu  erwartenden  Friedensbedingungen  günstigen  Bericht 
erstattet  hatten,  durch  dieselben  Gesandten  den  Frieden  zu  ratifizieren  und 
den  Philippos  zu  vereidigen.  So  kam  346  der  Friede  nach  dem  Antrag  des 
Philokrates  zustande.  An  seinem  Zustandekommen  hatte  Demosthenes  mit- 
gewirkt; denn  er  war  beidemal  zugleich  mit  Aischines  Mitglied  der  Gesandt- 
schaft gewesen,  und  wenn  er  auch  mit  seinen  Kollegen  in  bezug  auf  die 
Langsamkeit  der  Reise  und  die  Schönfärberei  der  Berichterstattung  nicht 
einverstanden  gewesen  war,  so  hatte  er  sich  doch  auch  nicht  entschieden 
von  ihnen  getrennt  oder  seine  Mitwirkung  offen  versagt.  Er  war  wohl  gleich 
den  andern  von  der  Notwendigkeit  des  Friedensschlusses  überzeugt  und  sah 
sich  außer  stand,  den  Phihppos  zu  schleunigerer  Eidesleistung  und  zur 
Einbeziehung  der  Phoker  in  den  Frieden  zu  zwingen.  Aber  wenn  er  nicht 
mit  gleich  guter  Hoffnung  an  dem  Friedenswerk  mitarbeitete,  so  zeigte 
sich    bald,   wie   sehr    seine    Besorgnisse    begründet    waren.     Der   schlaue 

vor  (lio  erste  gesetzt.  Ihm  pflichtete  in  neue-  1  Croiset,  M^langes  Perrot,  Paris  1908,  64  fF., 
ster    Zeit    G.  F.  Unoer,    Zeitfolge    der   vier   |   die  überlieferte  Reihenfolge   für  die  richtige 


ersten  demosthen.  Reden  (Bayr.  Ak.  Sitz.ber. 
1880  S.  273  ff.)  insofern  bei, 'als  er  die  erste 
Olynth.  Rede  im  J.  352  vor  der  ersten  phi- 
lippischen gehalten  sein  ließ;  dagegen  A. 
Baran,  Zur  Chronologie  des  euböischen 
Krieges  und  der  olvnthischen  Reden  des  Dem., 
Wien.  Stud.  7  (1885)  190—231.  F.  Blass 
schließt  sich  (Att.  Bereds.  III  P  319  f.)  der 
Anordnung    des   Dionysios    an,    während  M. 


hält.   Die  zuletzt  gehaltene  ist  jedenfalls  die 
dritte,  zugleich  die  bedeutendste. 

^)  Bloß  eine  Anregung  enthält  Olynth. 
3,  10;  einen  förmlichen  Antrag  hatte  imlTrüh- 
jahr  349  bei  der  Expedition  nach  Euboia  und 
Olynthos  Apollodoros  gestellt,  er  war  aber 
infolge  der  Anklage  des  Stephanos  wegen 
gesetzwidrigen  Antrags  nicht  durchgedrungen 
(in  Neaer.  3  f.). 


8.  Die  Beredsamkeit,    e)  Demosthene«.    (§§  805—806.)  555 

Philippos  hatte  sich  nicht  bloß  durch  sein  Säumen  vor  der  Eidesleistung 
in  den  Besitz  mehrerer  wichtiger  Punkte  an  der  thrakischen  Küste 
gesetzt,  er  warf  auch  nach  dem  Abschluß  des  Sonderfriedens  bezüglich 
der  Phoker  die  Maske  ab,  setzte  sich  mit  seinen  nun  freigewordenen 
Truppen  sofort  gegen  Thessalien  in  Bewegung  und  nahm  in  Ausführung 
eines  Amphiktionenbeschlusses  an  den  Phokem,  den  vormaligen  Bundes- 
genossen der  Athener,  blutige  Rache  für  ihre  Frevel.  Über  eine  solche 
Treulosigkeit,  die  so  gar  nicht  den  verlockenden  Vorspiegelungen  der  Ge- 
sandten entsprach,  geriet  man  in  Athen  außer  sich;  sogar  Aischines  hielt 
damals  eine  Philippika;  aber  man  hatte  keine  Macht,  dem  Philippos  ent- 
gegenzutreten, zumal  da  die  formellen  Friedensbedingungen  von  ihm  nicht 
verletzt  worden  waren.  Noch  im  Herbst  346  gelang  es  dem  Demosthenes, 
die  Wut  des  Volkes,  das  gute  Lust  gehabt  hätte,  einen  Krieg  gegen  Phi- 
lippos und  die  Amphiktionen  vom  Zaun  zu  brechen,  durch  die  Rede  über 
den  Frieden  (5)  zu  dämpfen. 

306.  Nach  dem  philokratischen  Frieden  folgt  die  zweite  Periode 
von  Demosthenes'  politischer  Tätigkeit,  in  der  er  sich,  je  mehr  die 
Makedonierpartei  das  öffentliche  Vertrauen  verlor,  desto  mehr  zum  Leiter 
der  athenischen  Politik  {noocxärrig  xov  drifiov)  aufschwang,  345 — 338.  Die 
Patriotenpartei  (außer  Demosthenes:  Lykurgos,  Kallisthenes,  Polyeuktos, 
Hypereides,  Hegesippos,  Diotimos,  Nausikles)  ging  nun  systematisch  mit 
Prozessen  gegen  die  Verräter  vor.  Zuerst  brachte  Hypereides  den  Haupt- 
anstifter Philokrates  zu  Fall,  der  sich  nach  seiner  Verurteilung  durch  frei- 
willige Verbannung  dem  Todesurteil  entzog.  Bald  kam  auch  Aischines  an  die 
Reihe,  gegen  den  Timarchos  und  mit  ihm  Demosthenes  eine  Klage 
{eloayyeUa)  wegen  Truggesandtschaft  (19,  jiagoTiQeaßeiag)  einbrachte. 
Die  Klage  kam  nicht  sogleich  zum  Austrag,  da  ihr  Aischines  mit  einer 
Klage  gegen  Timarchos  in  den  Weg  trat,  indem  er  diesen  der  Unzucht 
{haigeiag)  beschuldigte,  wodurch  er  als  ärißwg  das  Recht  öffentlicher  Klage 
verlor.  So  kam  der  Prozeß  gegen  Aischines  erst  343,  und  zwar  jetzt  in 
der  Form  eines  Rechenschaftsprozesses  (ei^^&vvai)^  zur  Verhandlung;  die  An- 
klagerede des  Demosthenes  wie  die  Verteidigungsrede  des  Aischines  sind 
uns  erhalten,  doch  muß  Demosthenes  seine  Rede  erst  hintendrein  sorg- 
fältig ausgearbeitet  und  zum  Teil  auch  umgearbeitet  oder  (so  Blaß)  seinen 
Entwurf  von  346  anstatt  der  gesprochenen  Rede  veröffentlicht  haben. 
Denn  wie  man  aus  Aischines  (2,  86)  sieht,  kamen  in  der  wirklich  ge- 
sprochenen Rede  des  Demosthenes  Dinge  vor,  die  in  der  geschriebenen 
und  uns  erhaltenen  nicht  stehen.*)  Die  lange  Anklagerede  nimmt  gegen 
Aischines  ein,  genügt  aber  nicht,  um  von  dessen  Schuld,  daß  er  sich 
nämlich  nicht  bloß  durch  den  schlauen  König  überlisten  ließ,  sondern  auch 
um  Geld  die  Interessen  seines  Vaterlandes  verraten  habe,  vollauf  zu  über- 
zeugen. Übrigens  ist  die  Rede  des  Aischines  nicht  eine  Widerlegung, 
sondern  nur  eine  entrüstete  Zurückweisung  der  Klagepunkte.  Aischines, 
für  den  Eubulos  seinen  Einfluß   einsetzte,   wurde  mit  einer  Mehrheit  von 


*)  Über  die  neuere  Litteratur   hierüber  G.  Hüttneb,  Jahresb.  üb.  d.  Fortschr.  d.  kl. 
Altwiss.  50  (1887)  217  f. 


556  GrieohiBohe  Litteratnrgesohichte.    I.  Elassiiche  Periode. 

dreißig  Stimmen  freigesprochen.  ^  Im  Jahr  vor  diesem  Prozeß  war  De- 
mosthenes  als  Gesandter  nach  dem  Peloponnes  gereist,  um  den  engeren 
Zusammenschluß  von  Athen  und  Sparta  gegen  die  unter  makedonische 
Protektion  übergegangenen  Staaten  Messene  und  Argos  zu  betreiben.  Eine 
Beschwerde  makedonischer  Gesandter  in  Athen  über  sein  Vorgehen  gab  ihm 
Anlaß  zu  der  zweiten  philippischen  Rede  (6).  Die  Rede,  mit  der  er 
342  die  Ansprüche  Athens  auf  die  von  Philippos  besetzte  Insel  Halon- 
nesos  verteidigte,*)  ist  nicht  erhalten,  dagegen  diejenige,  welche  Hege- 
sippos  von  Sunion  damals  in  derselben  Angelegenheit  hielt;  wiewohl  schon 
an  der  derben  Sprache  und  Ungeschicklichkeit  der  sachlichen  Behandlung 
als  undemosthenisch  erkennbar,  ist  sie  doch  als  Nr.  7  in  unser  Demosthenes- 
corpus  aufgenommen  worden.  Seine  beiden  letzten^)  und  gewaltigsten 
Staatsreden,  die  uns  unversehrt  erhalten  sind,  fallen  ins  Jahr  341,  die  über 
die  Angelegenheiten  in  Chersonesos  8.  (März  341)  und  die  dritte 
philippische  9.  (Mai  341).  In  der  Rede  über  Chersonesos  verteidigt  er 
den  athenischen  Söldnerführer  Diopeithes  gegen  die  Beschwerde,  die 
Philippos  in  Athen  über  seine  Übergriffe  geführt  hatte,  in  der  dritten 
philippischen  reißt  er  mit  überwältigendem  sittlichen  Pathos  dem  Philippos 
und  der  Verräterpartei  die  Maske  vom  Gesicht.  Die  dritte  philippisehe 
Rede  ist  in  zwei  Rezensionen  erhalten,  einer  kürzeren  und  einer  erweiterten, 
deren  Verhältnis  verschieden  beurteilt  wird.*)  Von  nun  an  ist  Demosthenes 
der  Vertrauensmann  des  Volkes,  das  er  zu  der  letzten  heldenmütigen  Kraft- 
anspannung für  die  Freiheit  Griechenlands  hinreißt.  Er  macht  Gesandt- 
schaftsreisen in  Griechenland  und  betreibt  mit  Erfolg  die  Bildung  einer 
Allianz  gegen  Philippos;  er  ist  der  moralische  Urheber  der  endgültigen 
Befreiung  Euboias  von  makedonischer  Abhängigkeit  und  einer  Reihe 
kleinerer  maritimer  Erfolge  über  PhiKppos.  Für  aUes  das  ehrt  ihn  das 
Volk  340  auf  Antrag  des  Aristonikos  durch  Verleihung  eines  goldenen 
Kranzes.  Wiewohl  formell  der  philokratische  Friede  noch  zurecht  bestand, 
traten  nach  Ausbruch  des  Krieges  zwischen  Philippos  und  den  Städten 
Perinthos  und  Byzantion  die  Athener  offen  auf  die  Seite  der  Städte. 
Philippos  beschwerte  sich  brieflich  darüber,  und  Demosthenes  hielt  eine 
Rede  gegen  diesen  Brief.     Rede  und  Brief  stehen  als  Nr.  11  und  12 


*)  So  Idomeneu8  bei  Flut.  Dem.  15 ;  Plut. 
selbst  nahm  an,  der  Prozeß  sei  gar  nicht 
zur  Entscheidung  gekommen.  Aber  Demo- 
sthenes de  cor.  142  spricht  gegen  diese  An- 
nahme; s.  F.  BLASS  III  1',  348  ff. 


38,  1907,  37),  wäre  die  vierte  Philippika 
(10)  341,40  zu  setzen. 

*)  Die  kürzere  liegt  uns  im  cod.  2"  vor, 
nach  dem  die  Rede  von  A.  Westermann  in 
seiner  Ausgabe  abgedruckt  ist.   Sie  liegt  auch 


*)  Der  Satz  des  Demosthenes,  daß  Phi-  '  den   stichometrischen  Angaben  der  Attikus- 

lippos  das  Inselchen  den  Athenern  zwar  fL-ro-  ,  ausgäbe  zugrunde;   s.  W.  Christ,  Die  Atti- 

dovvai,  aber  nicht  doDva<  könne,  hat  den  Witz  l  kusausgabe   des  Dem.,  Bayr.  Ak.  Abhdl.  16 

der  Komiker  geübt  (Ath.  223  e).    Hegesippos  ,  (1882)  3,  205  ff.    Über  die  zwei  Redaktionen 


Verfasser  nach  Liban.  Arg..  Harpocr.  s.  'Hyt'i' 
ouT.TOs  und  Phot.  bibl.  491a  11.  Siehe  L. 
Heinlein,  Heges.  Rede  jt. '^Äoirr/öot;  verglichen 
mit  den  demosth.  Reden,  Progr.  Würzb.  1900. 
^)  Im  Fall  ihrer  Echtheit,  die  jetzt  wieder 
Verteidiger  findet  (A.  Körte,  Rh.  Mus.  60, 1 905, 
388  ff.;  P.  Wendland.  Gott.  gel.  Anz.  1906, 
362  ff. ;  P.  FouoART,  M6m.  de  l'ac.  des  inscr. 


handelt  J.  DrÄseke.  Die  Überlieferung  der 
dritten  phil.  Rede  des  Dem.,  in  Jahrbb.  f. 
cl.  Phil.  Suppl.  7  (1873— 75)97ff.  A.Spenoel, 
Bayr.  Ak.  Sltz.ber.  1887  II  272  ff.  weist  nach, 
daß  die  längere  Redaktion  nicht  von  Demo- 
sthenes, sondern  von  Interpol atoren  herrührt. 
Siehe  a.  F.  Blass.  N.  Jahrb.  f.  kl.  Alt.  13 
(1904)  486  ff. 


3.  Die  Beredsamkeit,    e)  Demosthenes.    (§  307.)  557 

in  unserem  Demosthenescorpus.  Die  richtige  Beleuchtung  ist  den  beiden 
Stücken,  für  und  gegen  deren  Echtheit  früher  viel  geschrieben  worden  ist, 
erst  durch  eine  Notiz  aus  dem  Berliner  Demostheneskommentar  des  Didy- 
mos^  zuteil  geworden,  aus  der  P.  Wendland 2)  die  Folgerung  gezogen 
hat,  daß  beide  aus  dem  siebenten  Buch  von  Anaximenes'  Philippika  ge- 
nommen und  noch  im  4.  Jahrhundert  unter  die  Werke  des  Demosthenes 
gestellt  worden  sind.  Anaximenes  hatte  beide  teils  frei  komponiert,  teils 
(die  Rede  11  unter  Benützung  von  Dem.  Reden  1.  2.  8.  9.  18,  also  nach 
330)  stilisiert,  auch  die  verletzenden  Spitzen  und  Namensnennungen  heraus- 
genommen. —  Nun  zerstörten  die  Athener  die  Urkunde  des  philokratischen 
Friedens  und  traten  in  offenen  Krieg  gegen  den  König  ein.  Der  wichtigste 
Erfolg  der  Patriotenpartei  war,  daß  es  ihr  allmählich  gelang,  die  Leitung 
der  Finanzverwaltung  in  die  Hände  zu  bekommen:  340  setzte  Demosthenes 
sein  trierarchisches  Gesetz  durch,  und  338  erhielt  Lykurgos  auf  zwölf  Jahre 
das  oberste  Finanzamt.  Aber  doch  war  es  möglich,  daß  340  drei  Männer 
der  Makedonierpartei ,  unter  ihnen  Aischines,  als  Abgeordnete  Athens 
(Pylagoren)  bei  der  Amphiktionenversammlung  funktionierten  und,  um  einen 
von  ihnen  denunzierten  Religionsfrevel  der  Lokrer  zu  ahnden,  die  Herbei- 
rufung des  Philippos  bewirkten.  Blitzschnell  stand  Philippos  in  Phokis  und 
besetzte  Elateia.  Anfang  Winter  339  rückten  die  Athener  in  Böotien  ein. 
Demosthenes  erhielt  damals  auf  Antrag  des  Hypereides  und  Demomeles  den 
zweiten  goldenen  Ehrenkranz.  Anfangs  waren  die  Athener  glücklich;  der 
Beredsamkeit  und  diplomatischen  Geschicklichkeit  des  Demosthenes  gelang 
es  sogar,  eine  Aussöhnung  und  ein  Bündnis  der  Athener  und  Thebaner  zu- 
standezubringen, aber  die  entscheidende  Niederlage  bei  Chaironeia  (August 
338)  machte  allen  Berechnungen  und  Hoffnungen  ein  Ende.  3) 

307.  Letzte  Periode  338—322.  Nach  der  Schlacht  von  Chairo- 
neia, an  der  er  persönlich  ohne  besondere  Auszeichnung  teilgenommen 
hatte,  beginnt  die  letzte,  traurigste  Periode  von  Demosthenes'  Leben,  nur 
flüchtig  erleuchtet  von  einigen  trügerischen  Hoffnungen  der  Patriotenpartei 
und  einem  Vertrauenserfolg  des  Redners  bei  seinen  Mitbürgern,  im  ganzen 


^)  Berliner  Elassikertexte  I  col.  11,  7  ff.  1   Vorsokr.^582)  beugen  konnte  und  daß  nur  ein 

^)  P.  Wendlakd,  Anaximenes,  1905,  Iff.   |   Staatsmann,  der  den  Staat  dementsprechend 

Die  Fassung  in  dem  Zitat  bei  Didymos  deckt      leitete,  den  Geist  und  Charakter  seines  Staats 


sich  übrigens  (Wendland  14)  nicht  genau 
mit  der  in  unseren  Demostheneshandschnften. 
Der  Brief  (n.  12)  fehlt  in  unseren  Demosthe- 
neshandschriften  außer  F  Y  ü  und  fehlte  in 
der  Ausgabe  des  Didymos. 

')  Das  durch  Aischines  inspirierte  ab- 
schätzige Urteil  über  die  griechische  Heeres- 
leitung bei  Chaironeia  ist  berichtigt  von  J.Kbo- 
MAYER,AntikeSchlachtfelder,Beri.l903,143ff., 
der  auch  die  Chronologie  dieser  Ereignisse 
aufklärt.  Der  schiefen  Darstellung  von  A.  Holm 


zum  Ausdruck  brachte:  die  Frage,  die  Demo- 
sthenes in  der  Kranzrede  wiederholt  stellt, 
T(  izQ^y  f*s  jioietv;  kann  keiner  seiner  post 
eventum  klugen  modernen  Beurteiler  beant- 
worten. Ein  Verständnis  für  Makedoniens 
weltgeschichtliche  Mission,  als  Riegel  gegen 
die  Invasion  der  nordischen  Barbaren  und 
als  Sturmbock  für  die  Eroberung  Asiens  zu 
dienen,  kann  von  einem  damaligen  Athener 
nicht  verlangt  werden.  In  der  ^schütznng 
der  beiderseitigen  Kräfte  hat  sich  DnirrosthoTiGS 


(Griech.  Gesch.  III,  Berl.  1891,  315  ff.)  gegen-  I  (Rede  1. 2)  keine  lUnsion^D  gemacht,  ubor  ein 

über  ist  zu  sagen,  daß  sich  eine  Republik  von  ,  Erfolg  war,  zumal  bei  richtiger  Diploma^tie, 

Athens  Vergangenheit  nicht  kampflos  einem  1  keineswegs  ausgeschloseen,  tmd  ohne  ^ 

barbarischen  König   (und  für  Barbaren  hielt  1  sthenes   würde   Athen  wohl    das   Si ' 

man  damals  in  Athen  allgemein   die  Make-  |  Thebens  erlitten  haben. 

donier,   s.  z.  B.  AiaXe^.  2,  12   bei  H.  Diels,  | 


558  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Elassische  Periode. 

aber  eine  dumpfe  Zeit  für  ihn,  in  der  er  nur  noch  in  eigener  Sache  ge- 
redet hat.  Zunächst  legte  er  auch  nach  der  verhängnisvollen  Niederlage 
die  Hände  nicht  in  den  Schoß;  er  hielt  nicht  bloß  die  Leichenrede  auf  die 
in  der  Schlacht  gefallenen  Athener,  0  er  beantragte  auch  die  Ausbesserung 
der  Mauern  und  trat  selbst  in  die  damit  beauftragte  Kommission  ein,  wobei 
er  zu  den  vom  Staat  ausgeworfenen  Mitteln  noch  Geld  aus  seiner  eigenen 
Kasse  zuschoß.*)  Wegen  dieser  Verdienste  beantragte  Ktesiphon  im  Jahr 
336  kurz  vor  Philippos'  Tod 3)  eine  —  die  dritte  —  öffentliche  Bekränzung 
des  Demosthenes  und  zwar,  um  die  Demonstration  der  Patrioten  und 
Makedonierfeinde  desto  glänzender  zu  gestalten,  im  Theater,  an  den  städti- 
schen Dionysien,  vor  den  versammelten  Bundesgenossen.  Sofort  erhob 
Aischines  gegen  den  Antrag  Einsprache  und  verhinderte  dessen  Aus- 
führung, indem  er  den  Ktesiphon  mit  einer  Klage  wegen  Gesetzwidrigkeit 
belangte.  Der  Prozeß  verschleppte  sich,  man  weiß  nicht  warum,  sechs 
volle  Jahre  und  kam  erst  im  Jahr  330  zur  Verhandlung.  Daß  er  gerade 
damals,  als  die  Schilderhebung  des  Agis  in  Sparta  die  Hoffnungen  der 
Patrioten  neu  belebte,  verhandelt  wurde,  ist  wohl  auf  die  Partei  des  De- 
mosthenes zurückzuführen,  die  in  einem  ihr  günstig  scheinenden  Moment 
den  Aischines  gezwungen  haben  mag,  zu  seiner  Anklage  zu  stehen  (Dem. 
21,  47;  58  6).*)  Die  Klage  war  formell  gegen  Ktesiphon  gerichtet,  galt 
aber  in  der  Tat  dem  Demosthenes  und  der  von  ihm  vertretenen  Politik; 
sie  hängte  sich  an  Nebenpunkte,  daß  die  Bekränzung  beantragt  war  ohne 
den  ausdrücklichen  Zusatz,  daß  Demosthenes  zuvor  Rechenschaft  abgelegt 
haben  müßte,  und  daß  die  Gesetze  eine  Bekränzung  im  Theater  verboten; 
in  Wahrheit  sollte  sie  die  Handlungsweise  des  Demosthenes  treffen,  der, 
weit  entfernt  eine  solche  Auszeichnung  zu  verdienen,  an  allem  Unglück 
der  Griechen  schuld  sei.  Der  Prozeß  war  so  von  vornherein  ein  hoch- 
politischer, wiewohl  es  sich  um  eine  tatsächliche  Bekränzung  des  Demo- 
sthenes im  Fall  von  Ktesiphons  Freisprechung  im  Jahr  330  nicht  mehr 
handeln  konnte;  er  erhielt  noch  mehr  den  Charakter  einer  großen  Staats- 
aktion, in  der  ein  Verdikt  über  die  beiden  sich  gegenüberstehenden  Par- 
teien, der  käuflichen  Friedensfreunde  und  der  ungebeugten  Verteidiger  der 
Ehre  des  Vaterlandes,   gefallt  werden  sollte,   durch  die  Kunst  der  beiden 


')  Dem.  de  cor.  285.  Der  erhaltene  fm- 
xdqnag  (60)  ist  unecht,  eine  Schulübung  eines 
unbekannten  Rhetors  mit  Benutzung  des  thu- 


Hauptstelle,  de  cor.  113,  heißt  es  in  i^rany- 
XwfiBva  eSojxay  in  B  sachlich  richtiger  xony- 
Icofih'a   FjzeScoxa,    So   stellt   die   Sache    dar 


kydideltschen  Epitaphios,  des  platonischen  '  H.  Reich  in  Abhdl.,  W.  Christ  dargebracht, 
Menexenosund  desHypereides;  s.  A.  Schäfer  j  München  1891,  S.  286—291. 
IIP  36.  »)  Aesch.  3,219;  f&lschlich  lassen  Cicero 
^)  Die  Angaben  über  den  von  Demo-  de  opt.  gen.  orat.  und  Plut.  Dem.  24  die  Klage 
sthenes  geleisteten  Zuschuß  weichen  von-  '■  schon  vor  der  Schlacht  von  Chaironeia  an- 
einander ab.  Nach  Aesch.  in  Ctes.  17  betrug  gebracht  sein;  s.C.  G.  Böhnecke, Forschungen 
er  100  Minen,  nach  dem  Ehrendekret  für  i  auf  d.  Gebiete  der  att.  Redner  u.  der  Gesch. 
Demosthenes  bei  Ps.Plutarch  p.  851  drei  |  ihrer  Zeit,  Berl.  1843,  587  ff.  und  A.  Schäfer 
Talente   und    eine   weitere   Summe    für   die  '  IIP  84  f. 


Gräben  im  Peiraieus.  Wahrscheinlich  gab 
Demosthenes  selbst  an,  er  habe  drei  Talente 
im  ganzen  aus  seiner  Tasche  hinzugegeben. 


*)  Dagegen  weist  F.  Blass  III  P,  432  auf 
Anzeichen  dafür  hin,  daß  zur  Zeit  der  Pro- 
zeßverhandlung die  Makedonier  wieder  un- 


speziell 100  Minen  für  den  freiwillig  über-  I  bedingt  die  Herrschaft  hatten;  aber  das 
nommenen  Weiterbau  (eoyor  fiei^ov  i^etoyao-  braucht  zur  Zeit  der  Einbringung  der  Klage 
jiitvor  Aesch.  Ctes.  17)  der  Gräben.     An  der      noch  nicht  der  Fall  gewesen  zu  sein. 


8.  Die  Beredsamkeit,    e)  Demosthenes.    (§  808.) 


559 


Redner,  die  sich  im  entscheidenden  Redekampf  maßen,  des  Anklägers 
Aischines  und  des  als  Rechtsbeistand  für  Ktesiphon  auftretenden  Demo- 
sthenes. Cicero  sagt  in  der  seiner  Übersetzung  der  beiden  Reden  voraus- 
geschickten Einleitung  [de  optimo  genere  oratorum):  ad  quod  iudidum  con- 
cursus  dicitiir  e  tota  Graecia  f actus  esse;  quid  enim  tarn  aut  visendum  auf 
audiendum  fuit  quam  summorum  oratorum  in  gravissima  causa  accurata  et 
inimicitiis  incensa  contentio?^)  Beide  Reden  sind  uns  erhalten;  die  demo- 
sthenische,  die  Rede  vom  Kranz  {neoi  areqjdvov^  nicht  vjihg  rov  oxetp,^ 
wie  Aristid.  or.  26,  530  D.  zitiert,  oder  vTikg  rfjg  ävaggijaeayg  Aristid.  49, 
516  D.),  ist  ein  unübertroffenes  Meisterstück;*)  der  Redner  verdeckt  durch 
geschickte  Anordnung  die  schwachen  Punkte')  und  verbindet  mit  der  Ver- 
teidigung seines  Klienten  die  Verherrlichung  seiner  Verdienste  und  die 
moralische  Vernichtung  seines  Gegners;  die  Rede  ist  ein  glänzendes  Denk- 
mal des  Patriotismus  und  zugleich  der  Beredsamkeit  des  Mannes,  der 
durch  seine  flammende  VaterlandsUebe  und  hinreißende  Redegewalt  diese 
Zeit  des  Niedergangs  der  hellenischen  Freiheit  verklärt  hat.*)  So  urteilten 
auch  bereits  die  Geschworenen  Athens,  die  so  zahlreich  für  die  Politik  des 
Demosthenes  eintraten,  daß  Aischines  nicht  einmal  ein  Fünftel  der  Stimmen 
erhielt,  worauf  er  Athen  für  immer  verließ. 

308.  Dem  Thronwechsel  in  Makedonien  336  jubelte  Demosthenes  zu, 
aber  er  hatte  sich  stark  verrechnet  mit  der  Erwartung,  in  Alexandres 
werde  ein  „Margites**  den  Thron  besteigen.  Gegen  die  großen  Siege  des 
Alexandres  in  Asien  konnten  die  in  ihrer  Vereinzelung  ohnmächtigen  Ver- 
suche der  Auflehnung  gegen  die  makedonische  Oberherrschaft,  und  konnte 
auch  ein  Politiker  von  dem  Scharfblick  und  der  Redegewalt  des  Demosthenes 
nichts  ausrichten.    Zwar  fällt  in  jene  Zeit^)  die  unter  seinem  Namen  um- 


*)  Die  grJTOQog  judxrj  Theophr.  char.  7, 
wofür  Casaubonus  otjtoqcov  fi.  las,  bezieht 
sich  nicht  auf  den  Eranzprozeß  (H.  Weil, 
Rev.  de  phil.  14,  1890,  106  f.). 

^)  Die  günstigen  Urteile  der  Alten  bei 
F.  BLASS  III  1^  436,  3  und  A.  Schäfer  IIP 
387, 2;  doch  wird  von  skeptischer  (Sext  Emp. 
adv.  math.  II  38)  und  namentlich  später  von 
christlicher  Seite  (I.  Bekkeb,  Anecd.  1447  f.; 
Job.  Sicul.  Rh.  Gr.  VI  75.  175  f.  Walz;  Phot 
bibl.  p.  491  B.)  auch  die  advokatische  Kniffig- 
keit nicht  ofa^e  Grund  hervorgehoben,  und 
was  Unflätigkeit  desVerleumdens  betrifft,  steht 
die  Rede  keineswegs  über  der  des  Aischines. 

')  Die  schwache  Seite  bildet  die  Erörte- 
rung der  Rechtspunkte;  diese  sind  in  die 
Mitte  genommen,  so  daß  Demosthenes  durch 
Darlegung  seiner  Politik  der  Ehre  und  des 
Patriotismus  im  ersten  Teil  die  Richter  (Qr 
sich  einnimmt  und  im  dritten  diejenigen, 
welche  durch  die  schwache  Rechtfertigung 
der  Rechtspunkte  wankend  geworden  waren, 
wieder  für  sich  gewinnt  und  durch  das  Pa- 
thos des  Epilogs  zur  rückhaltlosen  Partei- 
nahme fortreißt.  Formell  war  Aischines 
zweifellos  im  Recht;  die  Schwächen  seiner 
Beweisführung    bezeichnet  F.  Blass,  Dem. 


Rede  v.  Kranz,  Leipz.  1900,  S.  14. 

*)  L.  SPBNQEL,DemosthenesTerteidigung 
des  Ktesiphon,  Bayr.  Ak.  Abhdl.  10  (1866)  27  ff. ; 
A.  Huo,  Der  Entscheidungsproz.  zw.  Äsch. 
und  Dem.,  Zürich  1870;  J.  Bärwinkel, 
De  lite  Ctesiphontea,  Progr.  Sondershausen 
1878;  H.  Reich,  Beweisführung  des  Äschines 
in  seiner  Rede  gegen  Ktesiphon,  I.  II.  Progr. 
Nürnberg  1884.  85;  W.  Fox,  Die  Kranzrede 
des  Dem.,  Leipz.  1880.  Über  die  vermeint- 
liche Redaktion  der  Rede  A.  Kirohhoff,  Über 
die  Redaktion  der  demosthenischen  Kranzrede, 
Berl.  Ak.  Abhdl.  1875,  59  ff.,  der  ohne  Ver- 
ständnis für  die  Künste  der  Rhetorik  als  Be- 
weis mangelhafter  Redaktion  betrachtet,  was 
bewußte  Absicht  des  Redekünstlers  ist;  H. 
Reich,  Die  Frage  der  sog.  zweiten  Redaktion 
der  Reden  vom  Kranze  im  Festgruß  an  die 
41.  Versamml.  deutscher  Philol.  von  dem 
Lehrerkoll.  des  Wilhelmsgymn. ,  München 
1891  (vollständige  LitteraturUbersicht) ;  A. 
Rabe,  Die  Redaktion  der  demosthenischen 
Kranzrede,  Diss.  Gott.  1892. 

»)  C.  G.  BöHKECKE,  ForschuÄgen  I  628, 
ebenso  Spengel,  Blaß  setzen  die  Rede  vor 
Thebens  Zerstörung  im  Sommer  335,  ebenso 
St.  Sohüllbr,  Wiener  Stud.  19  (1897)211,  der 


560  Ghriechiache  Litteratnrgeschichte.    I.  KlassiBche  Periode. 

laufende  Rede  ji€qI  tcov  ngög  ^AXiSavdgov  ovv&rixibv^  die  eine  Aufforderung 
zum  Aufstand  gegen  die  Makedonier  wegen  Bruchs  der  Verträge  enthält; 
aber  sie  kann,  wie  bereits  die  Alten  sahen,  >)  nicht  demosthenisch  sein. 
Auch  kam  die  Leitung  der  beiden  Parteien  Athens  allmählich  in  andere 
Hände,  in  die  des  Hypereides  auf  der  einen  und  die  des  Demades  auf  der 
anderen  Seite.  Eine  neue  Bewegung,  in  die  auch  Demosthenes  verwickelt 
werden  sollte,  brachte  die  Angelegenheit  des  Harpalos.  Dieser  war  mit 
Schätzen  des  Königs  Alexandres  davongegangen  und  begehrte  Einlaß  in 
Athen.  Demosthenes  erklärte  sich  gegen  die  Aufnahme  und  riet,  nachdem 
Harpalos  doch  Einlaß  gefunden  hatte,  Deponierung  der  Gelder  auf  der 
Akropolis.  Als  hintendrein,  nachdem  Harpalos  nach  Kreta  geflohen  war, 
das  Depot  untersucht  wurde,  fand  sich  ein  bedeutender  Abmangel  (von 
siebenhundert  Talenten  fehlte  die  Hälfte)  und  entstand  der  Verdacht,  daß 
die  fehlende  Summe  zur  Bestechung  der  Redner  verwendet  worden  sei. 
Der  Areopag  nahm  selbst  die  Voruntersuchung  in  die  Hand  und  veröffent- 
lichte eine  Liste  derjenigen,  welche  Geld  von  Harpalos  empfangen  hätten 
{x(bv  dcogodoxrjadvTcov).  Auf  dieser  stand  auch  Demosthenes  mit  fünfund- 
zwanzig Talenten.*)  Die  Sache  kam  darauf  vor  Gericht,  vertreten  von 
einer  Kommission  von  zehn  öffentlich  bestellten  Anklägern  unter  Stratokies, 
in  der  auch  Hypereides  war,  und  da  Demosthenes  nicht  leugnen  konnte, 
Geld  empfangen  zu  haben,  und  nur  behauptete,  dieses  nicht  für  sich,  son- 
dern für  die  öffentlichen  Bedürfnisse  der  Stadt  erhalten  zu  haben,  so  ver- 
urteilten die  Richter,  ohne  die  Sache  näher  zu  untersuchen,*)  den  Redner 
zu  einer  Geldbuße  von  fünfzig  Talenten  (324).  Da  er  die  Summe  nicht 
bezahlen  konnte,  so  entfloh  er  nach  Aigina  und  weiter  nach  Troizen,  wo 
auch  schon  nach  der  Schlacht  von  Chaironeia  flüchtige  Athener  Aufnahme 
gefunden  hatten  (Hyperid.  adv.  Athenog.  29).  Seine  Rechtfertigung  und 
Bitte  um  Rückberufung,  die  den  Inhalt  des  zweiten  an  Volk  und  Rat  der 
Athener  gerichteten  Briefes  bilden,  fruchteten  nichts;  eine  Wendung  trat 
erst  ein,  als  nach  dem  Tod  des  Alexandros  (323)  Athen,  Argos  und  Korinth 
sich  gegen  die  makedonische  Zwingherrschaft  erhoben.  Demosthenes  schloß 
sich  noch  als  Verbannter  den  athenischen  Gesandten,  die  zum  Ki'ieg  gegen 
die  Makedonier  aufriefen,  an  und  wurde  bald  feierlich  auf  Demons  Antrag 
zurückberufen.     Die  Zahlung  der  Buße  übernahm   unter  der  Form   einer 


sie  für  Improvisation  (!)  eines  alten,  mit  den 
Schriften  des  Isokrates  vertrauten  Mannes 
hält;  hingegen  A.  Schäfer  IIP  208  f.  in  das 
Jahr  330,  ebenso  J.  Windel,  De  oratione  quae 
est  inter  Demosthenicas  decima  septima,  Leipz. 
1881,  und  A.  Kornitzer,  Ztschr.  f.  österr. 
Gymn.  33  (1882)  249-270. 

*)  Nach  Libanios  in  der  Hypothesis  fan- 
den einige   in  ihr  den  Charakter   des  Hype- 


schickt habe;  ebenso  den  schlechten  Witz, 
den  einige  über  Dem.  machten,  als  er  mit 
verbundenem  Hals  auf  den  Markt  kam  und 
nicht  sprechen  zu  können  erklärte:  ovx  r:i6 
ovvdyx^jg  erftjnCo}',  dÄA'  tvi*  a^yx^QdyxV^  eiXrjq:'- 
dai  vvxxiOQ  n)v  ^rjftaycoyoi'. 

^)  Wir  haben  aus  dem  Prozeß  noch  die 
von  Invektiven  überfließende  Rede  des  Dei- 
narchos  und  Teile  der  Rede  des  Hypereides. 


reides.  was  nicht  ganz  zutrifft  (St.  Schülleb   ;   Über  mangelhafte   Untersuchung   beschwert 

a.  a.  0.).  sich  Dem.   im   zweiten   Brief.     Für  die  ün- 

^)  Plut.  Dem.25  erzählt  nach  feindseliger  schuld  des  Demosthenes  spricht  das  von  Pau- 

Quelle  die 'Anekdote  von  dem  goldenen  Be-  sanias  II  33,  4  erwähnte  Zeugnis  des  Kassiers 

eher,   der   bei  der  Musterung   dem  Dem.    in  des   Harpalos,   daß   in   Harpalos'  Ausgaben- 

die  Augen  gestochen  habe  und  den  ihm  Har-  buch  der  Name   des  Demosthenes  nicht  ge- 

palos   dann   gefüllt   mit  20  Talenten   zuge-  standen  habe. 


3.  Die  Beredsamkeit,    e)  DemosthenoB.    (§  809.)  561 

Anweisung  von  fünfzig  Talenten  an  Demosthenes  zu  einem  Opfer  an  Zeus 
Soter  der  Staat.  Aber  der  Traum  der  wiedererstandenen  Freiheit  sollte 
nicht  lange  währen;  die  Niederlage  bei  Krannon  vernichtete  vollständig 
die  Hoffnung  der  Patrioten.  Athen  wurde  eingenommen  und  mit  einer 
Besatzung  belegt.  Demosthenes  und  Hypereides,  auf  Antrag  des  Demades 
zum  Tod  verurteilt,  ergriffen  die  Flucht.  Dem  Demosthenes  gelang  es, 
nach  Kalaureia  in  den  Poseidontempel  zu  entfliehen;  aber  die  Schergen 
des  Antipatros  rissen  ihn  vom  Altar.  Um  sich  den  Insulten  seiner  Feinde 
zu  entziehen,  nahm  er  Gift,  das  er  in  einem  Ring  oder  Schreibrohr  bei 
sich  trug.i)  So  starb  Athens  größter  Redner  im  Oktober  322,  nachdem 
er  in  seinen  letzten  Jahren  ein  ähnliches  Geschick  wie  später  der  größte 
Redner  Roms  zu  erleiden  gehabt  hatte. 

309.  Kunst  des  Demosthenes.  Die  überragende  künstlerische  Be- 
deutung des  Demosthenes  läßt  sich  auf  keine  Schulformel  bringen,  wiewohl 
er  technische  Anregungen  ohne  Zweifel  von  Isaios,  Isokrates,  noch  mehr 
vielleicht  von  praktischen  Staatsrednem  wie  Kallistratos  empfangen  hat. 
Sie  hat  ihre  Wurzel  in  dem  sittlichen  Ernst  seiner  Politik,  in  der  mann- 
haften Entschiedenheit,  mit  der  er  in  einer  Zeit  der  Verweichlichung  und 
des  Kleinmutes  für  die  Ehre  und  Freiheit  seines  Vaterlandes  eintrat,  in 
der  Eigenart  seiner  Persönlichkeit  und  seines  Temperaments,  in  dem  Feuer, 
mit  dem  er  seine  Ideale  ergriff  und  seine  Zuhörer  fortzureißen  verstand.*) 
Dionysios  hat  mit  dem  Wort  deivdrrjg^  mit  dem  er  eine  Zusammenfassung 
aller  rednerischen  Vorzüge  und  ein  freies  Verfügen  über  sie  je  nach  Um- 
ständen bezeichnet,  die  Bedeutung  des  Demosthenes  charakterisiert.*)  Er 
weist  sie  in  dem  erhaltenen  Teil  seiner  Schrift  über  Demosthenes  aus  der 
sprachlichen  Kunst  der  Reden  nach;  den  Abschnitt  über  die  Sachbehandlung 
{jigayjuauxdg  to.tos)  hat  Dionysios  vielleicht  nie  ausgearbeitet  (de  Dem.  58  extr.). 
Aber  wenn  auch  die  Reden  des  Demosthenes  ganz  aus  dem  Leben  und  aus 
den  Kämpfen  einer  bewegten  Zeit  hervorgegangen  sind  und  dadurch  einen 
ganz  anderen  Eindruck  auf  uns  machen  als  die  in  dem  Schatten  der  Schule 
ausgearbeiteten  Deklamationen,  so  war  er  doch  nicht  ein  einfaches  Natur- 
genie, sondern  hatte  sich  mit  Mühe  und  Sorgfalt  zum  großen  Redner 
herangebildet.  Daß  er  alle  Kunstgriffe  der  Rhetorik  kannte,  daß  er  ganz 
nach  den  Regeln  der  Schule  die  schwachen  Teile  durch  die  Kunst  der 
Anordnung  {rd^ig)  zu  verstecken  und  durch  das  Pathos  und  die  Zuversicht- 
lichkeit der  Rede  die  Schwäche  der  Beweisgründe  zu  übertönen  wußte,  das 
hat  besonders  L.  Spengel  verstehen  gelehrt.  Ist  durch  dessen  Analysen  der 
Glaube  an  die  Unparteilichkeit  des  Demosthenes  und  an  die  Wahrhaftig- 
keit seiner  Anklagen  in  nicht  wenigen  Fällen  herabgemindert  worden,  so 
wird  dadurch  die  Bewunderung  für  seine  Kunst  nicht  abgeschwächt. 

Die  Regeln  der  Kunst  und  die  Gewandtheit  im  sprachlichen  Ausdruck 
hat  Demosthenes  zunächst  in   den  Rhetorenschulen  und  in  dem  Studium 

*)  Ai}ftoodevr]s  Ltißoj/iKx;  ist  dargestellt   I   §§95—101.   Zur  Beurteilung  von  Demosthe- 


auf  einem  in  England  befindlichen  Terra- 
kottarelief: 8.  A.  Michaelis  im  Anhang  zu 
Schäfers  Demosth.'-. 

*)  Besonders    schön    in   der   Kranzrede 
Handbnch  der  Idass.  Altertnnuwissenschaft.    TU.    5.  Aufl.  86 


nes*  Politik  s.  o.  S.  557,  3. 

')  Aischines  schon  nennt  ihn  Seivöi  Dem. 
de  cor.  276.     Siehe  o.  S.  546,  4. 


562  Ghriechische  LitteraturgOBchichte.    L  Slassische  Periode. 

geistesverwandter  Autoren  gelernt.^)  Ganz  besondere  Aufmerksamkeit 
wandte  er  der  von  den  früheren  Rednern  wenig  beachteten*)  Kunst  des 
Vortrags  (vjioxQioig)  zu.  Gefragt,  was  beim  Reden  das  erste  sei,  soll  er 
der  Kunst  des  Vortrags  die  erste,  zweite  und  dritte  Stelle  zugewiesen 
haben.  5*)  Er  soll  auch  bei  Schauspielern  in  die  Lehre  gegangen  sein  und 
sich  insbesondere  von  dem  berühmten  Schauspieler  Satyros  öfter  einzelne 
Stellen  haben  vorsagen  lassen.^)  Mit  der  Zeit  brachte  er  es  so  im  Vortrag 
und  Gebärdenspiel  zu  großer  Virtuosität.  Beobachteten  die  Früheren,  mit 
einzelnen  plebejischen  Ausnahmen  wie  Kleon,  eine  feierlich  steife  Haltung, 
indem  sie  die  Rechte  unverrückt  im  Gewände  behielten,  so  sprach  er 
zuerst  degagiert,  frei  und  lebhaft  die  Hand  bewegend.*)  Der  Geist,  der 
ihn  beseelte,  trat  dann  in  seine  Augen  und  gab  seinem  Gesicht  jenen 
energisch,  fast  krampfhaft  konzentrierten,  von  innerer  Erregung  glühenden 
Ausdruck,  den  wir  an  seiner  Büste  bewundern.«)  Die  ephemeren  Lorbeeren 
des  geschickten  Improvisators,  mit  denen  sich  sein  Gegner  Demades  be- 
deckte, lockten  ihn  nicht;  er  war  auch  dazu  nicht  geboren.  Vielmehr 
verwandte  er  den  größten  Fleiß  auf  die  Ausarbeitung  und  Feilung  der 
Rede.  Deine  Reden  riechen  nach  der  Lampe,  warf  ihm  Pytheas  vor;') 
andere  schalten  ihn  einen  Wassertrinker,  der  sich  vor  lauter  Studieren 
nicht  die  Zeit  zu  lustigen  Gelagen  nehme.  Jedenfalls  hat  er  die  Reden, 
bevor  er  sie  veröffentlichte,  sorgfaltig  durchgearbeitet,  vielleicht  auch  bei 
zweiter  Herausgabe  nochmals  revidiert.  Wir  haben  das  bereits  oben  bei 
der  Rede  von  der  Truggesandtschaft  angedeutet;  bei  der  Rede  vom  Kranz 
scheint  er  auch  auf  die  inzwischen  veröffentlichte  Gegenrede  des  Aischines 
Rücksicht  genommen  zu  haben.  ^)  Vorzüglich  aber  wird  sich  die  Feilung 
vor  der  Veröffentlichung  auf  die  Feinheiten  des  sprachlichen  Ausdrucks 
und  den  Rhythmus  der  Rede  erstreckt  haben.  Demosthenes  trat  hier 
insofern  in  die  Fußtapfen  des  großen  Stilmeisters  Isokrates,  als  er  den 
Hiatus,  wenn  auch  nicht  peinlich,  so  doch  sorgsam  zu  vermeiden  suchte; 
auch  die  ihm  beliebte  Verbreiterung  des  Ausdrucks  durch  synonymische 
Zweigliedrigkeit  {oxomTv  xal  ögav  u.  ä.)  ist  isokratische  Art.  Eigentümlich 
ist  ihm  selbst  die  Abneigung  gegen  gehäufte  Aufeinanderfolge  kurzer  Silben; 
sie  schien  ihm  die  Kraft  des  Ausdrucks  zu  brechen, ^^  ^i°®  Anschauung, 


^)  über  seine  Aasbildung  s.  o.  S.  577  f. 

*)  Vgl.   Arist  rhet.  III  1   p.  1403b  21. 

')  Siehe  o.  S.  546,  2. 

*)  Plut.  Dem.  6. 

^)  Darauf  spielt  an  Aesch.  1, 25  und  Dem. 


T(ov  eq-1}  Tovg  Xoyoi^g  xov  Arjftoo^eyovi  kvxvoiv 
«LtoC«»',  ähnlich  Plut.  Dem.  8.  L.  RiJ>ER- 
MACHBB,  Berl.  phil.  Woch.  27  (1907)  301. 
zeigt,  daß  der  Vorwurf  gemeinplätzig  (Ar. 
eq.  347)  ist. 


de  fals.  leg.  255:  vgl.  das  Bild  des  Redners.  »)  A.  Schäfer  III*  68  ff.;  H.  Reich  a.  0. 

Den    peripatetischen    Salonprofessoren     war  •)  Das   wichtige   , rhythmische   Gesetz* 

sein   Vortrag    zu    leidenschaftlich    (Demetr.  wurde  erst  von  F.  Blass  III 1*,  105  f.  erkannt 

Phal.   bei  Philod.   de  rhet.  vol.  I  197  Sudh.)  Aus  ihm  erklärt  es  sich  z.  B.,  daß  D.  or.  41.  6 

und  doch  nicht  aktuell  wirksam  genug  (Theo-  i   dti&eto  ooovg  ijiioiijoat  den  Plural  Sgovg  statt 

phrast.  bei  Plut.  Dem.  10).  '   ogov  anwandte,  wiewohl  es  sich  dort  nur  um 

®)  Siehe  die  Büste  der  Münchener  Glj'pto-  ein  Pfand  handelte.  —  Rhythmische  Analysen 

thek  n.  149.     Vgl.  H.  Schböder,   Über  die  (solche  findet  man  schon  bei  Dionys.  de  comp. 

Abbild,  d.  Demosthenes,  Braunschweig  1842;  ;   verb.  18)  aus  der  ersten  philippischen  Rede 

A.   Michaelis  in   A.Schäfers  Demosthenes  :   gibt  E.Norden,  Die  antike  Kunstprosa  911  ff., 

IIP  165.  indem  er  die  Kola  nach  den  Anzeichen  des 

')  Liban.  vit.  Dem.  Z.  79 :  Ilv^iag  axco.i-  Sinns,  vielfach  aber  auch  nach  sehr  subjek- 


8.  Die  Beredsamkeit,    e)  Demosthenes.    (§  309.)  563 

die  sich  schon  in  der  Vermeidung  zu  vieler  Auflösungen  im  Dialog  der  Tra- 
giker ausdrückt.  Wirkungsvoll  ist  namentlich  seine  rhetorische  Kunst  der 
Wortstellung  und  die  nicht  überhäufige,  aber  doch  gern  gesuchte  Belebung 
der  Rede  durch  Figuren,  von  denen  er  einige,  wie  die  Leiter  (xAZ/caf),  zuerst 
einführte.^)  Auf  diese  Weise  vereinigen  die  Reden  des  Demosthenes  auf 
das  schönste  das  Feuer  und  die  Kraft,  welche  die  Hitze  des  Redekampfes 
auf  dem  Markt  erzeugte,  und  die  Sauberkeit  und  Sorgfalt  des  Stiles,  welche 
die  nachträgliche  Feilung  im  Studierzimmer  dem  ersten  Erguß  der  Rede 
hinzufügte.*) 

Um  das  Gesagte  an  Beispielen  zu  erläutern,  seien  ein  paar  Stellen  ans  der  dritten 
philippischen  Rede  herausgegriffen:  §  13  lesen  wir  eh*  oUad'*  avj6v,  oi  ijioiijoav  /lev  ovdh 
äv  xaxm',  firj  jia&eTv  ö*  itpvld^avt*  av  tawg,  rovtovg  fiev  i^ouiatäv  aigeXo&at  fiäXXov  tj  jtooXeyovxa 
ßtai^eodai,  vfiTv  S*  ix  jrgooQi^oecjg  jzoXefirjaetv,  xal  xavd*  «üff  av  kxovxsg  i^ouiaräa^e;  Wir  hahen 
hier  ein  kondizionales  Sachverhftltnis,  aber  das  bringt  der  Redner  nicht  in  der  Form  der 
Logik  mit  Vorder-  und  Nachsatz  vor  (wenn  er  diejenigen  ...  so  wird  er  euch  .  .  .),  son- 
dern in  kraftvoller  Nebeneinanderstellnng  der  Gegensätze,  und,  statt  in  der  einfachen  Form 
der  Behauptung,  mit  wirksamstem  Appell  an  das  eigene  UrteU  der  Zuhörer  (oTead*  avzoy 
.  .  .  :ioXffjirjoeiv;),  Gestellt  sind  die  Worte  so,  daß  nicht  ein  nichtssagendes  Fronomen  dem 
Relativsatz  vorangeht,  sondern  das  Relativum  o?  mit  dem  Demonstrativum  rovxovg  wirkungs- 
voll aufgenommen  wird,  daß  femer  die  entgegengesetzten  Pronomina  xovxovg  und  vfiiv  an 
die  Spitze  der  Sätze  treten,  und  daß  die  Gegensätze  e^<maxäv  und  ßtd^eo^t  die  nebensäch- 
lichen Worte  algeio&ai  —  jtgoXsyoyxa  in  die  Mitte  nehmen.  Um  femer  dem  Zweifel,  ob  die 
Duodezstaaten  sich  überhaupt  zur  Wehr  setzen  würden,  kräftigeren  Ausdmck  zu  geben, 
ist  von  der  gewöhnlichen  Stellung  Tacog  äv  e<pvXd^avxo  Umgang  genommen  und  das  zweifelnde 
locog  mit  Nachdruck  an  den  Schluß  gesetzt.  Um  endlich  den  anstößigen  Hiatus  algeiaücu 
tj  HQokiyovxa  zu  vermeiden,  erlaubt  sich  der  Redner,  ein  überflüssiges  oder  doch  nicht  not- 
wendiges fjäXXoy  zwischen  die  klaffenden  Vokale  zu  schieben.  —  Ein  ähnliches  Verhältnis 
liegt  in  §  17  vor:  6  ydg  olg  äv  «yw  Xtjfp^eitjVf  xavxa  jigdxxoDV  xcu  xaxaaxeifaCofuvog,  oöxog  efioi 
nolefiel  xäv  ^rjjico  ßdXXfj  fitjdk  xo^evjj.  Auch  hier  wiid  zweimal  das  Demonstrativum  xavxa 
und  ovxog  dem  Relativsatz  kraftvoll  nachgestellt,  im  übrigen  aber  ist  zum  Ausdrack  der 
logischen  Verhältnisse  eine  andere  Form  gewählt;  die  gleiche  Form,  wenn  auch  noch  so 
gut,  hätte  bei  öfterer  Wiederholung  Überdruß  erzeugt;  aber  auch  so  kein  mattes  Wenn, 
sondern  ein  direktes  Hinweisen  auf  den  alle  Vorbereitungen  zur  Überlistung  der  Stadt 
treffenden  Feind  (6  .  .  ovxog  eftoi),  dann  aber  auch  nichts  mehr  von  einem  bloßen  Glauben, 
sondern  bestimmte  kategorische  Behauptung  (jioXefxeZ).  Beachtenswert  ist  sodann  in  unserer 
Periode  der  Unterschied  in  den  Satzschlüssen  oi'xog  ijuoi  jtoks^X  und  firjde  xo^eiffj :  im  ersten 
vermeidet  Demosthenes,  in  dessen  Rede  schon  die  Alten,  vorzüglich  der  Rhetor  Dionysios, 
einen  gewissen  Rhythmus  fanden,  selbst  nicht  die  Ähnlichkeit  mit  der  ersten  Hälfte  des 
Hexameters,  in  dem  zweiten  führt  er  durch  die  Schwere  der  gehäuften  Längen  den  Athenern 

tivem  Ermessen  abteilt.  —  Neue,  aber  sehr  I  Isokrates  unterscheidet  sich  Demosthenes 
bedenkliche  Sätze  über  den  Rhythmus  in  der  i   durch  Femhaltung  der  bloß  klingenden  und 


prosaischen  Rede  überhaupt  stellt  auf  F 
Blass,  Die  Rhythmen  der  attischen  Kunst- 
prosa. Leipz.  1901.  K.  Fuhr,  Rh.  Mus.  57 
(1902)  426  f.,  versteht  den  von  355  an  häufigen 
Gebrauch  der  x-Formen  im  Plural  der  Aoriste 
von  Verba  -/«  als  Wirkung  des  „rhythmischen 
Gesetzes*;  vgl.  dens.,  Berl.  phil.  Woch.  24 
(1904)  1030  f.  A.  5.  Eine  rhythmische  Scha- 
blone kennt  Dem.  nicht,  aber  eine  Vorliebe 
für   trochäisch-kretische  Klauseln   verbindet 


spielenden  und  durch  Anwendung  auch  volks- 
tümlicherer und  derberer  Figuren  wie  Ana- 
phora, Frage.  In  diesem  Sinn  sind  auch  die 
Improvisation  vortäuschenden  Redewendungen 
(jiQoajfoitjatg  o^fdiaofiov)  sehr  charakteristisch 
für  ihn:  s.  F.  Blass,  Att.  Bereds.  IIl  1«,  183  f. 
')  Quintil.  X  1,  76:  oratonim  longe  prin" 
ceps  Demosthenes  ac  paene  lex  orandi  fuit: 
tanta  vis  in  eOy  tarn  densa  ornntOj  ita  qui- 
busdam  nervis  intenta  sunt,   tarn  nihil  otio^ 


ihn  mit  den  späteren  Asianem.  |   sunty  is  dieendi  modus y  ut  nee  guod  desit  in 

0  J-  Straub,   De  tropis  et  figuris  quae   I   eo  nee  quod  redundet  invenias.  Vergleich  mit 
inveniuntur   in    orationibus   Demosthenis   et   i   Cicero  bei  Auct.  jt.  vyf.  12,  4. 
Ciceronis,   Progr.  Aschaffenburg  1883.     Von 

36* 


564  Griechische  Litieratnrgeschichte.    I.  KlasBische  Periode. 

eindringlichst  die  Größe  der  Gefahr  zu  GemQt  und  schließt  zugleich,  ähnlich  wie  im  Ein- 
gang der  Kranzrede  tiqwtov  fih',  w  ävSgeg  *AOi]vaToi,  roig  dcoii  evxoftai  jtäat  xai  jidoatg^  mit 
wuchtigem  doppelkretisch  katalektischem  Rhythmus  die  Periode.  —  Von  besonderem  Inter- 
esse sind  die  ziemlich  zahlreichen  Stellen,  an  denen  uns  die  Rede  in  zwei  Rezensionen, 
einer  demosthenischen  und  einer  nachdemosthenischen,  erhalten  ist;  denn  an  ihnen  kann 
man  zumeist  den  großen  Unterschied  zwischen  dem  gedrungenen,  wuchtigen  Stil  des 
echten  Demosthenes  und  der  matten  Breite  seiner  Nachtreter  oder  Bearbeiter^)  kennen 
lernen.  Auf  die  besonders  lehrreiche  Stelle  §  46  kann  hier  nicht  näher  eingegangen  werden ; 
erwähnt  sei  nur  noch  ein  einfacherer  Fall.  In  §  25  hatte  Demosthenes  auf  die  Ankündi- 
gung  7idv&*   56'  e^fffidQTTfzai  AtuceSatftovlotg eXdrrov*  iailv,    m    ävögeg  'A^vdioi,    ihv 

^ÜLuijrog  h  tgioi  xai  Sex*  oi'/  okoig  heatv,  oTg  emnoka^n,  rjfiixrjxe  xovg  "EkXipfog,  fiäikov 
6*  ovdk  jidfuiTov  fiioog  tovicov  ixetva  sofort  das  Sündenregister  des  Philipp  mit  X>lvv&or 
/UV  dy  xai  Me&wvtfv  xai  lAjioXXcoriav  xtX.  folgen  lassen.  Was  tut  der  Nachtreter  und 
was  würden  wir  Epigonen  in  ähnlichem  Falle  tun?  er  ersetzt  das  individuelle  jiefunov  mit 
dem  verwaschenen  noUootov  und  schiebt  zwischen  die  kurz  abgebrochene  Propositio  und 
die  Schlag  auf  Schlag  erfolgende  Argumentatio  den  langweiligen  Satz  xai  xovxo  ix  ßoaxeog 
loyov  gqtStov  dei^at, 

310.  Persönlicher  Charakter  des  Demosthenes.  In  der  Hoheit 
der  Gesinnung  und  der  rhetorischen  Kunst  beruht  der  hohe  Wert  der 
Reden  des  Demosthenes.  Diese  Vorzüge  würden  bleiben,  auch  wenn  er 
selbst  im  Leben  weichlich  und  feige  gewesen  wäre.  Aber  die  Vorwürfe, 
die  in  dieser  Beziehung  gegen  ihn  erhoben  wurden,  sind  gewiß  nur  aus 
dem  Haß  und  Neid  seiner  politischen  Gegner  hervorgegangen.  Hätte  er 
wirklich,  wie  ihm  Aischines  (3, 152)  vorwirft  und  Plutarch  (Dem.  20)  gläubig 
nacherzählt,  in  der  Schlacht  von  Chaironeia  in  feiger  Flucht  den  Schild 
weggeworfen,  so  hätten  ihn  schwerlich  seine  Mitbürger  der  Ehre  gewür- 
digt, den  Gefallenen  die  Grabrede  zu  halten.*)  Und  daß  er  kein  Wüstling 
war,  der  sich  durch  Ausschweifungen  entnervte,  beweist  die  zähe  Energie, 
mit  der  er  für  seine  politischen  Ideale  zeitlebens  eintrat.  Der  Spitzname 
Bdrakos,  der  allerdings  auf  derartiges  deutet,  kann  dagegen  nichts  be- 
weisen.»)  Wie  skrupellos  man  im  Athen  des  4.  Jahrhunderts  mit  der- 
artigen Verdächtigungen  umging,  lehren  abgesehen  von  der  Komödie  die 
Reden  des  Demosthenes  und  Aischines  selbst.  Daß  er  sieben  Tage  nach 
dem  Tod  seiner  einzigen  Tochter*)  auf  die  Nachricht  vom  Tod  des  Phi- 
lippos hin  Festkleider  anlegte,  darf  nicht  mit  Aischines^)  als  rohe  Gefühl- 
losigkeit gedeutet  werden,  sondern  war  Wirkung  jener  hochentwickelten 
Vaterlandsliebe,  vor  der  bei  den  Alten  alle  Rücksichten  des  Privatlebens 
zurücktreten  mußten.  Für  seine  Unbestechlichkeit  aber  spricht  schon  das 
Zeugnis  seines  Erzfeindes  Philippos,  der,  als  einst  seine  Ratgeber  in  losen 

-)  Derartige  Stellen  werden  nach  der  oben  selbst  (Mid.  103)  mit  Entrüstung.    Deinarchos 

S.  504  erwähnten  Entdeckung  über  Nr.  11  und  (or.  1,  12)  versteigt  sich  zu  der  lächerlichen 

1 2  unserer  Demosthenessammlung  noch  weiter  Behauptung,  Dem.  sei  allein  geflohen, 

auf  die  Möglichkeit  zu  prüfen  sein,  daß  de-  *)  Der  Name  besagt  /at'ro.TpwpfTo^  nach 

mosthenische  Reden  mit  einigen  stilistischen  L.  Radermacher,  Berl.  phil.  Woch.  27  (1907) 

und  sachlichen  Abänderungen  in  Creschichts-  301.   Über  die  unbewiesenen  Nachreden  vom 

werke   aufgenommen    und   aus  ihnen  in  der  Umgang  mit  Hetären  bei  Ath.  592  f.,  Diog.  L. 

veränderten  Form  wieder  in  das  Corpus  De-  VI  34  und  andern  s.  Schäfer  IIP  395. 

mosthenicum  zurückversetzt  worden  sind.  *)  Außerdem  hatte  er  noch  zwei  Söhne 


-)  Das  hat  schon  J.  J.  Reiske  richtig 
geltend  gemacht  und  Demosthenes  selbst  de 
cor.  285.  Daß  früher  seine  Gegner  eine  Klage 
keijxoza^iov  gegen   ihn   planten,   bemerkt   er 


von  derselben  Mutter,   die   den  Vater   über- 
lebten; s.  Ps.Plut.  847  c. 
^}  Aesch.  o,  77. 


8.  Die  BeredBamkeit.    e)  Demoathenes.    (g§  310—311.) 


565 


Schimpfreden  über  den  attischen  Redner  sich  ergingen,  diese  mit  den 
Worten  zurechtwies:  Demosthenes  darf  schon  ein  freies  Wort  sprechen, 
denn  von  ihm  allein  findet  sich  der  Name  nicht  in  meinen  Ausgabebüchern,  i) 
Und  so  haben  denn  auch  seine  Mitbürger  zweiundvierzig  Jahre  nach  seinem 
Tod,  als  ein  ruhiges  Urteil  an  die  Stelle  erregter  Parteileidenschaft  getreten 
war,  in  dankbarer  Anerkennung  seiner  patriotischen  Gesinnung  und  der  Auf- 
opferung für  das  gemeine  Beste,  die  er  auch  durch  freiwillig  übernommene 
Staatsleistungen,  Loskauf  von  Kriegsgefangenen,  Unterstützung  bedürftiger 
Bürger  betätigt  hatte,  ihm  auf  Antrag  seines  Neffen  Demochares  ein  von 
Polyeuktos  gefertigtes  ehernes  Standbild  auf  dem  Markt  gesetzt*)  mit  der 
vielsagenden  Inschrift: 

emeg  Torjv  §d)jut]v  yvco/u]],  Arjjuoa&eveg,  elxe^f 
ov  no%  hv  'EU.r]v(ov  fjQ^ev  ^jiQtjg  Maxedibv, 
311.  Werke  des  Demosthenes.  Unter  dem  Namen  des  Demo- 
sthenes sind  auf  uns  gekommen  einundsechzig  Reden  oder  richtiger,  nach 
Ausscheidung  des  Briefes  des  Philippos  (12.),  sechzig,  ferner  eine  Samm- 
lung von  sechsundfünfzig  Einleitungsmustern  zu  Staatsreden  (TtQooijuia)  und 
sechs  Briefe,  die  alle  mit  Ausnahme  des  fünften  von  Demosthenes  aus  dem 
Exil  an  Rat  und  Volk  der  Athener  gerichtet  sind.  Die  Echtheit  der  Briefe 
wird  bezweifelt;  ob  bei  allen  mit  Recht,  ist  noch  nicht  ausgemacht.') 
Unter  den  Proömien  decken  sich  mehrere  mit  den  Eingängen  wirklicher 
Reden,  andere  sind  Schulvariationen,  die  schwerlich  den  Demosthenes 
selbst,  eher  seine  Schüler  und  Anhänger  zu  Verfassern  haben.*)  Von  den 
Reden  ist  so  ziemlich  alles  erhalten,  was  die  Alten  als  demosthenisch  an- 
erkannten. Ps.Plutarch  gibt  die  Zahl  der  echten  Reden  auf  fünfundsechzig 
an,s)  es  fehlen  demnach  nur  vier,  die  wahrscheinlich  von  den  späteren 
Kritikern  noch  ausgeschieden  wurden,  darunter  die  sicher  unechte  neol  rov 


*)  Ps.Lucian.  Dem.  enc.  33:  öixatos  6  Atj- 
fioaOh'rjg  :iaQoriaiag  rvyxotveiv  fiovog  ye  xtbv 
ijti  Tf^g  'EXXdSos  brifiaycoywv  wöafiov  obroAo- 
ytauoTg  iyyiyocuixai  xdtv  ificbv  dvaX(Ofidt(ov. 
Daß  Demosthenes  als  Agent  des  Perserkönigs 
Subsidien  bezog,  wirft  ihm  Deinarchos  in 
Dem.  18  und  20  f.  vor. 

-)  Plut.  Dem.  30;  Zosim.  vit.  Dem.  p.302 
Westekmann.  Das  Dekret  im  Wortlaut  bei 
Ps.Plut.  p.  850.  Auf  jenes  Standbild  gehen 
vermutlicn  zurück  die  lebensgroße  Marmor- 
statue des  Vatikan,  die  vorzügliche  Statue 
in  Schloß  Knole  (Eigentum  des  Lord  Sack- 
ville),  die  Bronzebüste  von  Hefkulaneum  und 
der  Marmorkopf  der  Münchener  Glyptothek. 

')  A.  Schäfer  verwirft  sie  alle.  Gegen 
eine  Unechterklärung  in  Bausch  und  Bogen 
erklärt  sich  F.  Blass  III 1*,  439  ff.  und  Jahrbb. 
f.  cl.  Phil.  115  (1877)  541  ff.,  indem  er  nament- 
lich die  beiden  umfangreichen  Biiefe  zwei  und 
drei,  weniger  bestimmt  auch  den  ersten  und 
sechsten,  dem  Demosthenes  zuweist;  gegen 
die  Echtheit  A.Neupekt,  De  Demosthenicarum 
quae  feruntur  epistularum  fide  et  auctoritate, 
Diss.  Lips.  1885;  auch  den  zweiten  und  dritten 


Brief  verwirft  Wilamowitz,  Herm.  33  (1898) 
496  f.  Vgl.  F.  SusBMiHL,  AI.  Lit.  II  581  f. 
Quintilian  X  1,  107  redet  von  echten  Briefen, 
ohne  daß  wir  wissen,  ob  er  die  uns  erhaltenen 
meint;  Cic.  Brut.  121.  or.  15  meint  jedenfalls 
andere,  ebenso  Plut  Dem.  20  extr.  Von  dem 
dritten  Brief  ist  ein  Teil  auf  einem  Papyrus 
s.  I  p.  Chr.  erhalten  (F.  Blass,  Jahrbb.  f.  cl. 
Phil.  145,  1892,  33  ff.). 

*)  R.  SwoBODA.  De  Dem.  quae  feruntur 
prooemüs,  Vindob.  1887,  spricht  sie  insgesamt 
dem  Demosthenes  ab,  läßt  sie  aber  bald  nach 
seinem  Tod  entstanden  sein.  Vgl.  P.  Uhle, 
De  prooemiorum  collectionis  quae  Demosthe- 
nis  nomine  fertur  origine,  Chemnitz  1885.  Von 
Prooem.  26 — 29  finden  sich  Stücke  auf  einem 
Papyrus  s.  I/II  p.  Chr.  aus  Oxyrhynchos 
(Oxyrh.  pap.  I  53).  ITgooifiia  dtjfiTfyogi)cd  von 
Kritias  werden  erwähnt  (s.  o.  S.  173,  4).  Daß 
Demosthenes,  der  keinen  Redeunterricht  er- 
teilte, solche  für  fremden  oder  eigenen  Ge- 
brauch (wie  Cicero  seinen  liber  prooemionim) 
verfaßt  habe,  ist  nicht  wahrscheinlich. 

*)  Das  von  W.  Stüdemünd,  Herm.  2  (1867) 
443  veröffentlichte  Verzeichnis  gibt  71  Reden. 


566  Griechische  latteratnrgeschichte.    L  ElasBische  Periode. 

fArj  ixdovvai  "Agjiaiov,^)  Aber  auch  viele  von  den  erhaltenen  Reden  sind 
mit  größerer  oder  geringerer  Wahrscheinlichkeit  von  der  modernen  und 
teilweise  schon  von  der  alten  Kritik  verworfen  worden.  Dionysios  scheint 
sechsundvierzig  Reden  (darunter  zweiundzwanzig  itjjuoaioi)  für  echt  gehalten 
zu  haben  (Blaß  HI  1«,  62  f.). 

Die  Gerichtsreden  (Xoyoi  dixavixoi)  werden  eingeteilt  in  ArjßjiSaiOi*)  und 
IdicoTixoi;  neben  ihnen  stehen  avjußovXevrixol^)  und  imdetxrixoL  Die  zwei 
epideiktischen  Reden,  der  ijtiT(iq)iog*)  und  igayrixög^  sind  zweifellos  unecht; 
von  der  letzten,  einer  durch  Piatons  Phaidros  und  Isokrates  beeinflußten 
Lobrede  auf  einen  schönen  Knaben  Epikrates,  die,  in  Briefform  gekleidet, 
in  einen  Jigotgemixog  isokratischer  Art  ausläuft,  ist  es  schwer  zu  begreifen, 
wie  sie  sich  überhaupt  unter  die  Reden  des  Demosthenes  verirren  konnte;*) 
wahrscheinlich  liegt  dem  schon  die  Annahme  zugrunde,  Demosthenes  sei 
Piatons  Schüler  gewesen  (s.  o.  S.  546  f.  A.  5).  Von  den  öffentlichen  Reden, 
den  in  der  Volksversammlung  (drjfirjyoQiai)  und  den  vor  Gericht  gehaltenen, 
ist  bereits  im  Lebensabriß  gehandelt  worden.  Unter  ihnen  stehen  auch 
zwei  gegen  Aristogeiton  (25.  und  26.),  die  ziemlich  allgemein  als 
unecht  gelten.^)  Sie  geben  sich  für  Deuterologien  (Reden  an  zweiter 
Stelle)  aus,  gehalten  bei  der  Klage,  die  unter  Alexandros'  Regierung 
Lykurgos  gegen  jenen  der  Atimie  verfallenen  Demagogen  erhoben  hatte. 
Dionysios  de  Dem.  57  hatte  bereits  mit  gesundem  Urteil  die  ünechtheit 
der  beiden  Reden  erkannt;  wenn  bezüglich  der  ersten  andere,  wie  Plinius 
(ep.  IX  26),  Ps.Longinus  (27,  3),  Photios  (bibl.  p.  491a  29),  für  die  Echtheit 
eintraten,  so  ließen  sie  sich  durch  die  allerdings  schönen  Gemeinplätze, 
wie  namentlich  über  den  Wert  der  Gesetze,  täuschen.  Die  Privatreden  (25. 
bis  59.)  sind  für  die  Kenntnis  des  Privatlebens  der  Athener  und  des 
attischen  Rechts  von  großer  Bedeutung.  Sie  sind  teils  nach  der  Klage- 
form, teils  nach  der  Person  der  Streitenden  folgendermaßen  geordnet: 
sieben  Reden  in  Vormundschaftssachen  {IjiiiQomxoi)^  sieben  in  Fällen  von 
Schuldvemeinung  {jiagayQaq)al)^  namentlich  in  Handelsprozessen  {dixai  ijn- 
Ttogixai)^  sechs  in  Prozessen  des  Widerstreites  {diadixaala)^  wo  jede  der 
Parteien  das  Recht  sei  es  der  Erbschaft  sei  es  der  Lastbefreiung  für  sich 
in    Anspruch    nahm,    drei    wegen    falschen    Zeugnisses    {y^evdojuagtvgicbv). 


^)  Unsicher  ist  es,  ob  die  Rede  v:teo  rwr  *)  P.  Wkndland,    Anaxiraenes  S.  71  ff. 


grjTogwv,  gegen  die  Auslieferung  der  Redner, 
wirklich  existierte;  s.  F.  Blass  III  I*,  61. 
Über  nicht  erhaltene  Privatreden  s.  A.  Schäfer 
III  2.  315.     Schulübungen  im   Stil  des  De- 


will, unter  berechtigtem  Widerspruch  von 
W.  Crönebt  (Gott.  Gel.  Anz.  1907,  274  f.), 
'E:itzd(p.  u.  'EgcDT.  einem  Verf.  zuschreiben. 
®)  Die  Gründe  der  ünechtheit  der  ersten 


mosthenes  wurden  in  Menge  gemacht  (A.  Rede,  meist  sachlicher  Natur,  sucht  abzu- 
Westermanx,  Quaest.  Demosth.  IV  80  ff. ;  vgl.  j  schwächen  und  wegzuemendieren  H.  Weil, 
Aristid.  or.  53.  54;  zwei  demosthenisch  sein  I  Revue  de  phil.  6(1882)  p.  1 — 21  und  Melanges 
sollende  Reden  in  Ps.Callisth.  bist.  Alex.  II  '  Renier,  Paris  1887  p.  17  ff.;  dagegen  J.  H. 
3  ff.).  Lipsiüs,  Über  die  ünechtheit  der  ersten  Rede 
*)  Suid.  s.  V.  2>üo»'ör/^>c  ovuk.  gegen  Aristogeiton,  Leipz.  Stud.  6  (1883)  317 
^)  Über  die  Echtheitsfragen,  betr.  die  bis  331 ;  R.  Wagner,  De  priore  quae  Demo- 
siebenzehn ovufiov/,£VTty.oi  8.  o.  S.  504.  553  f.  sthenis  fertur  adversus  Aristogitonem  oratione, 
556  f.  559.  5  (es  handelt  sich  um  7.  10  bis  Diss.  Rost.  1883.  Schon  die  orphisch-mysti- 
13.  17).  sehen  Vorstellungen  in  Rede  25  (A.  Dieterich, 

*)  Rede  auf  die  Gefallenen  von  Chairo-  Nekyia  137  ff.)  zeigen  ihre  ünechtheit. 
neia,  s.  558,  1. 


8.  Die  Beredsamkeit,    e)  DemoBthenes.    (§  311.)  567 

eine  wegen  tätlicher  Beleidigung  (atxiag)^  acht  in  Rechtshändeln  des 
Apollodoros.  Von  diesen  Privatreden  verdienen  am  meisten  gelesen  zu 
werden  die  gegen  Konon  (54)  in  einem  Prozeß  wegen  Körperverletzung 
und  die  für  Phormion  (36),  den  Geschäftsleiter  in  dem  einflußreichen 
Bankhaus  des  Pasion.  i)  Die  unechte  Rede  gegen  Neaira,  eine  durchtriebene 
Hetäre  (59),  hat  ein  besonderes  kulturhistorisches  Interesse.  Sie  gehört 
zu  den  aus  dem  Familienarchiv  des  Apollodoros  stammenden  Reden  und 
richtet  sich  gegen  Stephanos,  einen  Gegner  des  Hauses  des  Apollodoros,  der 
jene  Neaira  ins  Haus  genommen  und  die  mit  ihr  gezeugten  Kinder  als  recht- 
mäßige Kinder  und  athenische  Bürger  ausgegeben  hatte.  —  Schwierig  ist 
bei  den  Privatreden  die  Echtheitsfrage,  da  zu  ihrer  Veröffentlichung  Demo- 
sthenes  selbst  weniger  Grund  hatte,  so  daß  diese  vermutlich  alle,  abgesehen 
von  den  Vormundschaftsreden  {Xoyoi  imxgomxol),^)  erst  nach  dem  Tod 
des  Redners  von  den  Herausgebern  seiner  Werke  aus  den  Papieren  der- 
jenigen, für  die  sie  geschrieben  waren,  gesammelt  und  veröffentlicht 
wurden.  Dabei  konnte  es  aber  leicht  vorkommen,  daß  die  Inhaber  der 
Reden,  wie  namentlich  die  Familie  des  Apollodoros,  3)  auch  manche  Reden 
hergaben,  die  sie  sich  von  andern  hatten  aufsetzen  lassen.  Einige  der 
Privatreden  können  schon  deshalb  nicht  von  Demosthenes  geschrieben  sein, 
weil  sie  in  eine  Zeit  fallen,  in  der  er  noch  zu  jung  war  (52.  53.  49), 
oder  umgekehrt  sich  schon  ganz  den  Staatsgeschäften  gewidmet  hatte 
(48.  56.  58.  59).  In  einer,  der  Anzeige  gegen  Theokrines  (58),  die  übrigens 
für  die  Parteistellung  des  Demosthenes  sehr  wichtig  ist,  wird  gegen 
Demosthenes  selbst  wacker  losgezogen  (58,  42  f.).  Wieder  andere  sind  aus 
sprachlichen  oder  stilistischen  Gründen  der  Unechtheit  verdächtig,*)  so  daß 
schließlich  F.  Blaß  außer  den  Vormundschaftsreden  nebst  der  Rede  (29)  für 
Phanos  (27—31)  nur  noch  zehn  Privatreden  (36—39.  41.  45.  51.  54.  55.  57) 


^)  Über  die  im  Altertum  besonders  ge-  !  Schafeb,  Dem.  III  2,  184  ff.  und  J.  Sioo,  Der 
feierte  36.  s.  I.  Bruxs,  Litt  Portr.  534  ff. ;  Qber  |  Verfasser  neun  angeblich  von  Demosthenes  fttr 
die  54.  dens.  548  ff.    Unter  den  Privatreden      Apollodor  geschriebener  Reden,  Jahrbb.  f.  cl. 


stehen  zwei  (57  und  58),  die  gegen  Eubulides 
in  einer  Klage  wegen  entzogenen  Bürger- 
rechts (ihre  Echtheit  verteidigt,  gegen  A. 
Schäfer  I.  Bruns  a.  a.  0.  546  f.)  und  die 
gegen  Theokrines  in  einer  Anzeige  {hdei^tg) 
wegen  Verschuldungen  gegen  den  Staat,  die 


Phil.  Suppl.6  (1872—73)  397  ff.  Die  Echtheit 
der  ersten  Rede  gegen  Stephanos  wird  mit  guten 
Gründen  aufrecht  erhalten  von  G.  Hüttnbr, 
Demosthenis  oratio  in  Stephanum  prior  num 
Vera  sit  inquiritur,  Progr.  Ansbach  1895;  s. 
a.  L  Bruns  a.  a.  0.  534  ff.    Die  übrigen  ge- 


Libanios    mit    Recht    zu     den    öffentlichen       nannten  Reden  außer  36.,  die  ebenfalls  echt 
rechnet.  ist,  sind  dem  Stil  nach  alle  von  einem  Ver- 

*)  Es  sind  deren  vier  (27.  28,  30.  31),   ;   fasser  (A.  Schäfer  meinte,  von  Apollodoros,  Was 


die  wahrscheinlich,  weil  in  eigener  Sache  ge- 
halten, von  Dem.  selbst  herausgegeben  wur- 
den; von  der  dritten  (die  gegen  Aphobos, 
aber  nicht  in  der  Vormundschaftsache,  son- 
dern als  Synegorie  für  den  Kläger  Phanos 
geschrieben  ist)  wird  indessen  die  Echtheit  be- 
zweifelt; s.  dagegen  S.  Reichenberoer,  Demo- 


aber  fraglich  bleibt:  F.  Blass,  Att.  Ber.  III 1*, 
592  f.).  Ebenso  sind  die  unechten  Reden  35. 
43.48.  von  einem,  rhetorisch  wenig  geschul- 
ten Verfasser;  vielleicht  auch  33.  34.  56.,  die 
stilistisch  höher  stehen  als  die  unechte  44., 
aber  ebenfalls  nicht  von  Demosthenes  sind. 
*)  In  der  Rede  gegen  Euergos  (47)  steht 


sthenis   tertiam    contra  Aphobum  orationem  i   nur  Tm,  nie  o.-Kog   in  Absichtssätzen;    über 

esse  genuinam,  Würzb.  1881.  ,   andere  sprachliche  Anzeichen  K.  Sittl,  Gr. 

^)  Es  sind  der  in  Sachen  des  Apollodoros  Litt.  II  223.     Vgl.  P.  Uhle,  Quaestiones  de 

geschriebenen   Reden  acht  (36.  45.  46.  49.  orationum  Demostheni  falso  addictarum  scrip- 

50.  52.  53.  59),  von  denen  F.  Blaß  nur  die  45.  toribus,  I.  Hagen  1883,  II.  Leipz.  1886. 

gegen  Stephanos  als  echt  anerkennt;   s.  A.  | 


568  (hiechische  litteratiirgeBcliiohte.    L  Klassiflohe  Periode. 

als  echt  anerkannte,  während  andere  noch  unter  diese  Zahl  herabgehen.  ^) 
Nimmt  man  dazu  die  achtzehn  sicher  echten  Staatsreden,  so  ergibt  sich  ein 
unangefochtener  Bestand  von  dreiunddreißig  (elf  ovjbtßovXevrixol^  sieben  duca- 
vixol  drjfiooLoi  und  fünfzehn  dixavixoi  lÖKonxoi)  demosthenischen  Reden. 

312.  Studien  über  Demosthenes.  Einen  Teil  seiner  Reden,  jeden- 
falls die,  welche  Anaximenes  in  seinem  Geschichtswerk  benützte  (2.  4. 
8.  9.  18),  hat  Demosthenes  als  Pamphlete  und  Rechtfertigungsschriften, 
auch  als  Stilmuster  selbst  herausgegeben;^)  weiter  mag  sich  sein  Ne£fe 
Demochares,  selbst  Redner  und  Politiker,  der  280  die  Ehrung  für  De- 
mosthenes durchsetzte  (s.  o.  S.  565),  um  Sammlung  und  Herausgabe  seines 
Nachlasses  verdient  gemacht  haben.  In  Alexandreia  fanden  zwar  die  Werke 
des  Demosthenes  Aufnahme  in  die  Bibliothek  und  wurden  von  Kallimachos 
katalogisiert,*)  aber  ein  besonderes  Studium  scheint  ihnen  dort  zunächst 
ebensowenig  wie  den  übrigen  rednerischen  Prosawerken  zugewendet  worden 
zu  sein.  Die  eingehenderen  exegetischen,  ästhetischen  und  echtheitskritischen 
Studien  datieren  aus  dem  Beginn  der  römischen  Kaiserzeit  und  gehen  auf  den 
Grammatiker  Didymos  und  die  beiden  Rhetoren  Dionysios  von  Halikarnassos 
und  Cäcilius  von  Kaie  Akte  zurück.  Von  jenem  sind  uns  die  für  die  ästhetische 
Kritik  und  die  Chronologie  der  Reden  wichtigen  Schriften  Jtegl  rtjg  Atj/Ao^ 
a&evovg  Xe^ecog  und  biiöxoXr]  jig&g  ^Afxfialov  erhalten.  Hypomnemata  des 
Didymos  zu  Demosthenes  werden  erwähnt  von  dem  Lexikographen  Harpo- 
kration  p.  73,  5  Bekk.,  und  ein  sehr  stoffreiches  Stück  aus  seinem  Kom- 
mentar zu  den  philippischen  Reden  (zu  9 — 11.  13),  der  den  Schluß  seines 
achtundzwanzig  Rollen  umfassenden  Gesamtkommentars  zu  Demosthenes 
bildete,  ist  neuerdings  in  einem  Berliner  Papyrus*)  aufgefunden  worden;  Didy- 
mos gibt,  ältere  Werke  kompilierend,  meist  Sacherklärung,  und  wir  müssen 
bedauern,  daß  er  von  unseren  einseitig  sprachlich-rhetorischen  Scholien 
nicht  mehr  benützt  worden  ist.  Sachliche  Richtung  zeigt  auch  der  Kom- 
mentar zur  Androtionea,  von  dem  Reste  auf  einem  Straßburger  Papyrus 
c.  100  p.  Chr.  erhalten  sind.^)  In  hellenistischer  Zeit  hatte  die  asianische 
Richtung  das  Pathos  des  Demosthenes  ins  Barocke  hinein  fortgebildet,  so 
daß  die  strengeren  Attikisten  des  1.  Jahrh.  v.Chr.  ihr  Ideal  zunächst  mehr 
in  Lysias  und  Hypereides  verwirklicht  fanden.  Aber  das  energische  Ein- 
treten des  Cicero  von  römischer,  des  Cäcilius  und  Dionysios  von  griechi- 
scher Seite  für  Demosthenes  hat  zu  dem  nunmehr  im  Altertum  nicht  mehr 
angezweifelten  Urteil  geführt,®)  daß  Demosthenes  der  größte  griechische 
Redner  sei.  Unter  den  Klassikerausgaben,  die  dem  Bedürfnis  der  Zeit 
entgegenkommend  der  Freund  Ciceros  T.  Pomponius  Atticus  mehr  in  guter 

*)  Ein   chronologisches  Verzeichnis  der  '   des  Didymos  in   derselben  Reihenfolge  wie 

echten  und  unechten  Reden  bei  A.  Schäfer  III  |   in  unsem  Handschriften,  nur  daß  12  fehlte. 

2,  316.  Der  Papyrus   ist   im   2.  Jahrh.   n.  Chr.   ge- 

^)  P.  Wkndland,  Anaxim.  12.  schrieben. 

')  Darüber  Dionys.  Hai.  de  vi  Dem.  13  '^)  B.Keil f Anonym.  Argentinensis.Straßb. 

p.  157,  5  üs. ;  C.  Rehdantz  bei  A.  Schäfer  III  1902)  hatte  in  diesen  Stücken  Fragmente  eines 

2,  317  flf.    Hermipp.  bei  Flut.  vit.  Dem.  5  zi-  Historikers  aus  dem  2.  oder  1.  Jahrh.  v.  Chr. 


tiert  ddfo.-TOTa  v.ionr/jfmra,  die  Biographisches 
über  Dem.  enthielten. 

*)  Berliner  Klassikertexte  I  1904.    Rede 


vermutet;  als  Stücke  eines  Kommentars  zu 
Dem.  Androt.  sind  sie  von  U.  Wiloken,  Herrn. 
42  (1907)  374  ff.,  erkannt  worden. 


1—13  standen  in   der  Demosthenesausgabe  ®)  W.  Schmid,   Rh.  Mus.  49  (1894)  142. 


8.  Die  Beredsamkeit,    e)  Demosthenes.    (§  312.) 


569 


Ausstattung  als  mit  wissenschaftlich  festgestelltem  Text  erscheinen  ließ, 
ist  auch  eine  des  Demosthenes  (s.  u.  S.  570).  In  den  nächsten  zwei  Jahr- 
hunderten, als  Demosthenes  der  Redner  schlechthin  hieß,  entstanden  die 
nicht  zum  kleinsten  Teil  auf  Demosthenes  fußenden  lexikalischen  Verzeich- 
nisse der  Attikisten,  die  Spezialschriften  über  den  Stil  des  Demosthenes, 
wie  die  erhaltene  Monographie  des  Tiberius  jtegl  tojv  jiagä  Atjjuoo&evei  o;^?/- 
juaTcov  (Rhet.  gr.  II  59 — 82  Sp.),  endlich  die  Inhaltsangaben  {vna&ioeig)  zu 
den  einzelnen  Reden.  ^)  In  dieser  Zeit  kamen  die  Erklärer  auch  auf  den 
Gedanken,  zu  den  meistgelesenen  Reden,  vom  Kranz,  von  der  Truggesandt- 
schaft, gegen  Meidias,  gegen  Timokrates,  Urkunden,  deren  Vorhandensein 
im  Text  nur  durch  Überschrift  angedeutet  gewesen  war,  zu  verfertigen  und 
in  die  Reden  einzulegen.*)  Sie  mochten  zu  diesen  Fälschungen  dadurch  ver- 
anlaßt werden,  daß  sie  in  einigen  Privatreden,  wie  gegen  Neaira,^)  Lakritos, 
Pantainetos,  Stephanos,  Makartatos  (Erbschaftsreden)  schon  seit  alters  Ur- 
kunden in  den  Text  eingelegt  fanden.  Denn  daß  die  Urkunden  jener  öffent- 
lichen Reden,  die  so  lange  die  Forscher  in  die  Irre  führten,  zum  größeren  Teil 
erst  nachträglich  von  den  Grammatikern  gemacht  wurden,  steht  durch  die 
Untersuchung  von  G.  Droysen  fest,*)  so  daß  es  sich  nur  noch  um  die  Hilfsmittel 
handelt,  welche  diese  bei  ihren  Fälschungen  benützten.  Im  3.  Jahrhundert 
schrieb  der  Rhetor  Menandros  seinen  verlorenen  Demostheneskommentar.^) 
Auf  uns  gekommen  sind  von  Erläuterungsschriften  aus  dem  Altertum  die 
für  den  Römer  Montius  verfaßten  Hypotheseis  des  Rhetors  Libanios  und 
die  Scholien  des  Zosimos  aus  Askalon  und  des  Grammatikers  Ulpianus,  die 
auf   die    älteren  Scholien   des  Menandros    und   Zenon    zurückgehen,  ß)     In 


^)  Verächtlich  redet  von  Demosthenes- 
exegeten  Hermog.  .t.  16.  384,  3  ff.  Sp. 

*)  W.  Chkist,  Die  Attikusausgabe  des 
Dem.,  Bayr.  Ak.  Abh.  16  (18H2)  3,  192  ff.  hat 
bewiesen,  daß  die  Urkunden  zu  den  bezeich- 
neten Reden  noch  nicht  in  der  Attikusausgabe 
standen  und  die  zur  Midiana  selbst  den  Scho- 
liasten  noch  nicht  vorlagen,  so  daß  sie  kaum 
vor  dem  3.  Jahrh.  entstanden  sein  können. 
Kleinasiatischen  Urspnmg  will  aus  der  Form 
der  Urkunden  nachweisen  J.  J.  Wortmanit,  De 
decretis  in  Demosthenis  Aeschinea,  Marburg 
1877.  Aber  was  er  für  kleinasiatisch  hält,  ist 

XOlVfj. 

^)  Die  Urkunden  zur  Rede  gegen  Neaira, 
teilweise  auch  zur  Aristocratea  und  Timo- 
cratea,  standen  schon  in  dem  Archetypus 
unserer  Handschriften,  wie  aus  den  Angaben 
der  Zeilenzahlen  hervorgeht.  Über  die  innere 
Glaubwürdigkeit  derselben  J.  Kiehemann,  De 
litis  instrumentis  in  Demosthenis  quae  fertur 
oratione  adv.  Neaeram,  Diss.  Leipz.  1886.  Aus 
inneren  Gründen  erweist  auch  die  Echtheit 
der  Erbschaftsgesetze  der  Macartatea  H.  Büb- 
MANN,  Rh.  Mus.  32  (1877)  353  ff.  gegen  K. 
Seelioer,  Rh.  Mus.  31  (1876)  176  ff.;  auch 
für  die  Echtheit  der  Gesetze  in  der  Midiana 
ij  47  und  113  tritt  ein  H.  Brewer,  Wien.  Stud. 
22  (1900)  258  ff.  Die  weitere  Litteratur  in 
dieser  Frage  zusammengestellt  und  geprüft 


von  E.  Drerup,  Über  die  bei  den  attischen 
Rednern  eingelegten  Urkunden,  Jahrbb.  f.  cl. 
Phil.  Suppl.  24  (1898)  223-365. 

*)  G.  Droysen,  Die  Urkunden  in  Demo- 
sthenes' Rede  vom  Kranz.  Zeitschr.  f.  Alt.  6 
(1839)537 ff.  mit  Nachtrag 3  (1845)  13ff.  (=  Kl. 
Sehr.,  Leipz.  1893, 1  95  ff.);  A.  Westermann, 
Untersuchungen  über  die  in  die  attischen  Red- 
ner eingelegten  Urkunden,  Abhdl.  d.  sächs. 
Ges.  1  (1850)  1  ff.;  W.  Christ,  Die  Attikus- 
ausg.  (s.  o.  Anm.  2) ;  R.  Scholl,  Über  attische 
Gesetzgebung,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  1886  S.  83 
bis  139.  Schon  vor  Droysen  hatten  die  Ur- 
kunden der  Kranzrede  und  namentlich  die 
archontes  pseudeponymi  in  ihnen  Anstoß  er- 
regt und  verschiedene  Lösungsversuche  her- 
vorgerufen, worüber  einen  geschichtlichen 
Überblick  gibt  E.  Drerup  a.  0. 

*)  W.  NiTSCHE,  Der  Rhetor  Men.  und 
die  Scholien  zu  Demosthenes,  Berl.  1883.  Aus 
den  Kommentaren  des  Menandros  u.  Phoibam- 
mon  zur  Androtionea  ein  Rest  bei  Job.  Dia- 
konos  ed.  H.  Rabe,  Rh.  Mus.  63  (1908)  143. 

®)  Über  die  Quellen  der  Scholien  W.  Din- 
DORF  im  siebenten  Bande  der  Oxforder  Aus- 
gabe 1849;  W.  ScHüNK,  De  scholiorum  in  De- 
mosthenis orationibus  XVI II.  XIX.  XXI.  fon- 
tibus,  Progr.  Koburg  1879;  Em.  Wangrin, 
Quaestiones  de  scholiorum  Demosthenicorum 
fontibus,  Diss.  Halle  1883.  W.Nitsohes.A.5. 


570  Oriechische  latteratnrgeschichte.    I.  ElaasiBche  Periode. 

neuerer  Zeit  wurde  das  Abendland  auf  den  großen  Redner  wieder  hin- 
gewiesen durch  den  Kardinal  Bessarion,  der  im  Jahr  1470,  um  die  christ- 
lichen Fürsten  zum  Kampf  gegen  die  Türken  aufzurütteln,  die  erste  olyn- 
thische  Rede  in  lateinischer  Übersetzung  herausgab.  Eine  Gesamtausgabe 
der  Reden  erschien  erst  1504  in  der  Venediger  Offizin  des  Aldus.  Be- 
merkenswert ist  Ph.  Melanchthons  Urteil^)  «antecellunt  Demosthenis  ora- 
tiones  forenses  omnibus  quae  scriptae  sunt.  Ciceronis  orationes  sind  Pawren- 
Predigt  dagögen;  denn  Cicero  hat  sich  nach  den  Krieges-Gm^geln  müssen 
richten,  sed  Qraeci  dicunt  accuratius  et  eruditius**.  Besondere  Aufenerk- 
samkeit  wurde  dann  dem  redegewaltigen  Politiker  zuerst  wieder  in  Eng- 
land zugewandt,  wo  schon  zu  Elisabeths  Zeiten  die  Staatsmänner  in  Demo- 
sthenes  die  beste  Schule  für  Ausbildung  in  der  öffentlichen  Debatte  er- 
kannten und  noch  im  vorigen  Jahrhundert  der  Parlamentsredner  der  zwan- 
ziger Jahre  Lord  Brougham*)  den  Demosthenes  als  unerreichtes  Vorbild 
politischer  Beredsamkeit  pries.  Mit  J.  J.  Reiskes  Ausgabe  nahm  die  philo- 
logische Tätigkeit  in  der  Erklärung  und  Kritik  der  Reden  einen  neuen 
Aufschwung,  der  nicht  bloß  zur  Herstellung  eines  reineren  Textes,  sondern 
auch  zur  richtigeren  Würdigung  der  Politik  des  Demosthenes  und  seiner 
Gegner  führte. 

Von  den  Reden  des  Dem.  gab  es,  wie  die  Subscriptio  zur  10.  Rede  in  B  und  F  ht<oo- 
ütorai  ix  ovo  'Atrixtanov  zeigt,  eine  Ausgabe,  die  in  der  römischen  Buchhandlung  des  Atticus 
erschienen  war;  auf  diese  scheinen  auch  die  stichomettischen  Angaben  in  2  Y  B  F  zurück- 
zugehen (W.  Christ,  Die  Attikusausgabe  d.  DemosÜi.,  s.  o.  S.  569,  2,  mit  berichtigenden 
Nachträgen  von  H.  Bürmann,  Herrn.  21,  1886,  34,  und  F.  Bürger,  Herm.  22,  1887,  650,  und 
Stichometrische  Untersuchungen  zu  Demosthenes  und  Herodot,  Progr.  München  1892).  Aus 
diesen  Utzixiavd  kennen  wir  vier  Lesarten  (zu  1,  7;  3,  7;  22,  20;  24.  11),  von  denen 
drei  falsch  sind;  ihr  Text  war  also  jedenfalls  nicht  hervorragend,  wahrscheinlich  (22,  20) 
nicht  einmal  streng  einheitlich,  und  es  ist  gar  kein  Grund,  unsere  beste  Überlieferung 
mit  J.  Th.  Vömel  als  attikianisch  zu  bezeichnen.  —  Infolge  der  Interpolationen  der  Kaiser- 
zeit und  der  Umschrift  aus  Papyrusrollen  in  Pergamenthandschriften  entstanden  zwei  Fa- 
milien von  Codd.,  die  sich  besonders  in  Rede  9  durch  kürzere  und  längere  Fassung  des 
Textes  unterscheiden.  Zu  der  a^;i^am  exÖGoig^  die  Schol.  Dem.  21,  133.  147  von  der  örj- 
ft(ü6T)g  unterscheidet,  stimmt  Cod.  2\  Starke  Textverderbnis  in  der  Kaiserzeit,  in  der  be- 
sonders die  rhetorischen  Variationsübungen  (Auct.  ad  Herenn.  IV  42,  54  ff. ;  Fronto  ep.  89  f. 
NiEB.;  Suet.  de  rhet.  1;  Apsin.  rhet.  386,  28  ff.  Sp.;  Hermog.  de  inv.  197,  16  f.  Sp.  242,  3; 
Greg.  Cor.  VII  1294  Walz;  Joh.  Diacon.  ed.  H.  Rabe,  Rh.  Mus.  63,  1908,  141)  den  Text  ge- 
fährden mochten,  zeigt  das  Zitat  bei  Hermog.  .t.  Id.  353,  24  Sp.  Der  Hauptcodex  der  älteren 
Überlieferung  ist  2"  =  Par.  2934  membr.  s.  IX  (in  phototypischer  Reproduktion  par  H.  Omont, 
Paris  1892.  93);  zur  anderen  Familie  gehören  F  =  Marcian.  416  membr.  s.  X  oder  XI  und  der 
davon  abgeschriebene  B  =  Monac.  (Bavaricus)  85  bomb.  s.  XIII;  ferner  A  =  Monac.  (Au- 
gustanus) 485  membr.  s.  XII;  Y  =  Paris.  2935  s.  X/XI.  Gegen  H.  Useners  (Nachr.  der  Gott. 
Ges.  1892  S.  188  ff.)  kühnen  Versuch,  unsere  beste  Überlieferung  auf  die  Attikiana  und  diese 
auf  ein  Exemplar  der  Aristotelesbibliothek  zurückzuführen,  s.  J.  H.  Lipsius,  Zur  Textesgesch. 
des  Demosthenes,  Ber.  d.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  45  (1893)  1  ff.  und  Leipz.  Stud.  18  (1898)  319  ff., 
wo  auch  von  den  neuerdings  gefundenen  Papvri  (über  diese  auch  F.  Blass,  Jahrbb.  f.  cl.  Philol. 
145,  1892.  29  ff.,  149, 1894.  441  ff.;  das  Neuste  Arch.  f.  Papyr.  1,  116.  523  ff.;  2,  360  f.;  3, 
283  ff.  493)  gehandelt  ist;  £.  Bethe,  Demosthenis  scriptorum  corpus  ubi  et  qua  aetate  collectum 
editumquo  sit,  Ind.  lect.  Rostock  1897;  E.  Drerup,  Philol.  Suppl.  7  (1899)  533  ff.;  ders..  Vor- 
läufiger Bericht  über  eine  Studienreise  zur  Erforschung  der  Demosthcnesüberlieferung,  Bayr. 
Ak.  Sitz.ber.  1902,  287  ff.  —  Über  den  Papyrus  der  .loooifua  s.  o.  S.  565,  3. 

Scholien  zu  achtzehn  Reden  von  Ulpianus  und  Zosimos,  meistens  rhetorischer  Art, 
am  besten  bei  J.  G.  Baiteru.H.  Sauppe,  Or.  att.  1149—126.  Kritische  Zeichen  insbesondere  zur 
Midiana  von  W.  Christ  nachgewiesen  (Attikusausg.  177  ff.)  und  aus  2"  von  H.  Weil,  Mel. 
Graux,  Paris  1884  p.  13—20.  W.  Christ,  Attikusausg.  S.  163  f.,  gibt  aus  den  Codices  Nachweise 

^)  Aus  seinen  Vorlesungen  bei  W.  Meyer,   |  *)  Lord   Broügham  im  siebenten  Band 

Gott.  Nachr.  1894,  170.  |   der  Werke,  Edinburgh  1872. 


8.  Die  Beredsamkeit,    f)  DemoBthenee'  Zeitgenossen.    (§  313.)  571 

von  Kolenteilang  durch  den  Rhetor  Lachares  aus  Athen  s.  v.;  s.  Rhet.  gr.  III  721  f.  Walz 
und  W.  Studemukd,  Ps.Castoris  excerpta  rhet,  Breslau  1888,  p.  23  (Spuren  von  Eolenteilung 
in  Papyri  F.  Blass,  Gott  Gel.  Anz.  1891,  730).  —  Neue  Schollen  aus  einem  Cod.  von 
Patmos  publiziert  von  I.  Sakkelioit  in  Bull,  de  corr.  hell.  1  (1877)  p.  1  ff.  137  ff.  Bruchstücke 
eines  Speziallexikons  zur  Aristocratea  aus  den  Papyri  von  Fajjum,  veröffentlicht  von  F. 
Blass,  Herrn.  17  (1882)  148  ff.,  zusammen  mit  umfangreichen  Resten  eines  Didymoskommen- 
tars  zu  Dem.  aus  Pap.  Berol.  9780  herausgegeben  von  H.  Diels  und  W.  Schubabt,  Berliner 
Klassikertezte  I,  Beri.  1904.  Glossen  aus  Cod.  Marc.  433  gibt  H.  Rabe,  Rh.  Mus.  49  (1894) 
625  ff.  Alte,  aber  wertlose  Schollen  zur  Midiana  enthält  der  Papyrus,  in  dem  Aristot. 
U^rcUoyv  jiokiT,  steht  (gedruckt  in  der  Ausg.  von  Arist  *A^.  jt.  von  J.  van  Lbbuwen  und 
H.  VAN  Hebwebden,  Leiden  1891). 

Ausgaben:  ed.  princ.  ap.  Aidum  Venet  1504.  —  Grundlegende  Ausg.  mit  Übers,  und 
Noten  von  Hieb.  Wolf,  Basil.  1547,  Öfters  wiederholt.  —  cum  comment.  Wolfii  Taylori  Mark- 
landi  suis  ed.  J.  J.  Reiske  in  Orat  graeci,  Lips.  1770;  in  verbesserter  Aufl.  von  G.  H.  Sohäfeb, 
Lips.  1823 — 26,  4  voll,  (bequeme  Zusammenfassung  der  alteren  Leistungen  zur  Demosthenes- 
kritik  u.  -exegese  in  A.  Schäfebs  Apparatus  crit  et  exeget  ad  Demosth.,  5  voll.,  Lond.  1824 — 27, 
dazu  Indices  von  E.  Seilbb,  Leipz.  1833)  —  ex  rec.  G.  Dnn>OBFn  mit  Noten  der  Früheren  und 
Schollen,  Oxon.  1846—51,  9  voll.  —  Ausg.  mit  kritischem  Apparat  von  I.  Bekkeb(  Berlin  1824) 
und  H.  Sauppe  (1841—44)  in  Orat  attici.  —  Textausg.  von  F.  Blass  in  Bibl.  Teubn.  1885  ff. 
mit  bedenklicher  Umformung  des  Textes  nach  rhythmischer  Theorie.  —  Spezialausg. :  Dem. 
adv.  Lept  c.  comm.  perp.  ed.  F.  A.  Wolf,  Hai.  1789;  Dem.  in  Midiam  ed.  Ph.  Büttmann,  Berol. 
1864;  Dem.  contiones,  de  Corona  et  de  fals.  leg.  ed.  J.  Th.  Vöhel,  Lips.  1862;  Les  harangues 
und  les  plaidoyers  politiques  ed.  H.  Weil  mit  krit.  und  exegetischen  Noten,  Paris  ed.  II 
1881  und  1883;  Dem.  de  cor.  explic.  L.  Dissen,  Gott.  1837,  ed.  J.  H.  Lipsiüs  mit  krit. 
Apparat,  Lips.  1876  (2.  Aufl.  1887).  —  Ausgewählte  Reden  mit  erklärenden  Anmerkungen 
von  A.  Westermann  u.  £. Rosenbebo bei  Weidmann;  von  C.  Rehdantz  u.  F.  Blass  bei  Teubner 
(in  letzterer  Ausgabe  auch  treffliche  rhetorische  und  grammatische  Indices),  von  J.  Söboel  und 

A.  Dbueblino  bei  Perthes.  —  Demosthenes*  Staatsreden  nebst  der  Rede  für  die  Krone  über- 
setzt mit  Einl.  und  Anm.  von  F.  Jacobs,  2.  Aufl.,  Leipz.  1833;  die  erste  Aufl.  Leipz.  1805 
veröffentlicht,  um  den  von  Napoleons  Gewaltherrschaft  bedrohten  Deutschen  ein  Mahnbild 
aus  alten  Zeiten  vorzuhalten.   —  Index  Demosthenicus   compos.  S.  Pbbuss,  Lips.  1892.  — 

B.  Kaiseb,  Quaestiones  de  elocutione  Demosthenica,  Diss.  philol.  Hai.  13  (1897)  Iff. 

f)  Die  Zeitgenossen  des  Demosthenes. 

313.  Lykurgos,^)  Sohn  des  Lykophron  aus  dem  alten  Geschlecht 
der  Eteobutaden  und  dadurch  erblicher  Inhaber  des  Priestertums  für  Posei- 
don Erechtheus,  erwarb  sich  seine  größten  Verdienste  als  Staatsmann  durch 
die  ehrliche  und  besonnene  Politik,  die  er  in  den  schweren  Zeiten  der  Be- 
drohung Athens  durch  Makedonien  vertrat,  insbesondere  aber  durch  die 
geschickte  Finanzverwaltung,  die  er  zwölf  Jahre  lang  (338 — 327),  teils  in 
eigener  Verantwortlichkeit  (338 — 335  und  330 — 327)  als  Finanz-  und  Bauten- 
minister,^)  teils  unter  dem  Namen  vorgeschobener  Freunde  (334 — 331)  zum 
Heil  der  Stadt  leitete.  Lange  scheint  er  das  letzte  Jahr  jener  Verwaltung 
(327)  nicht  überlebt  zu  haben,  da  sich  für  seine  Kinder,  die  man  nach  dem 
Tod  des  Vaters  wegen  angeblicher  Kassendefekte  in  den  Kerker  warf, 
noch  Demosthenes  in  treuer  Anhänglichkeit  an  seinen  ehemaligen  Partei- 
genossen verwandte.»)  Lykurgos  soll  zuerst  Schüler  des  Piaton,  dann  des 
Isokrates  gewesen  sein,  ist  aber  weder  Philosoph  noch  Epideiktiker  ge- 
worden. Seit  343  können  wir  seine  Tätigkeit  als  Mitglied  der  Patrioten- 
partei verfolgen;  geboren  ist  er  wohl  um  390.    Er  war  ein  Mann  des  sitt- 


^)  Quellen:  P8.Plutarch  (aus  Cäcilius), 
Inschriften  (CIA  U  162.  168.  173.  176.  180. 
180b.  202  Reste  seiner  Psephismen,  von 
denen  allen  nach  einem  Volksbeschluß  von 
307  Kopien  auf  der  Burg  aufgestellt  wurden) 
und  Suidas.  F.  Dürkbach,  L'orateur  Lycur- 
gue.  Paris  1889. 


')  Ob  ihm  schon  der  sonst  erst  seit  307 
nachweisbare  Titel  6  ejiI  r//  Ötoixtjaei  zukam, 
ist  fraglich. 

»)  Dem.  ep.  3;  außerdem  trat  Hype- 
reides  (or.  XXX[  Bl.»  p.  115  f.)  mit  für  die 
Kinder  seines  Parteigenossen  ein. 


572  GriechiBche  lätteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

liehen  Pathos,  von  priesterlicher  Strenge  und  Reinheit  des  Lebenswandels, 
ein  warmer  Verehrer  und  Förderer  der  heimischen  Religion  und  ihrer  Ver- 
kündiger, der  Dichter.  Besonders  bemühte  er  sich,  um  dem  eindrucks- 
vollsten der  staatlichen  Kulte,  dem  Dionysosdienst,  seine  Bedeutung  zu 
erhalten  und  zu  erhöhen:  auf  seine  Veranlassung  wurde  der  Agon  der 
komischen  Schauspieler  am  Ghytrentag  erneuert,  das  halbfertige  Dionysos- 
theater ganz  in  Stein  ausgeführt  und  in  ihm  die  Porträtstatuen  der  drei 
großen  Tragiker  aufgestellt,  auch  ein  staatliches  vor  Schauspielerinterpola- 
tionen gesichertes  Exemplar  des  Textes  der  drei  Tragiker  angefertigt.  Er 
war  für  seine  Zeit  ein  wahrer  Censorinus,  der  mit  unnachsichtlicher  Strenge 
über  Zucht,  Sitte  und  Gerechtigkeit  wachte  und  alle,  die  sich  dagegen  ver- 
gingen, teils  selbst  als  Ankläger  teils  als  Unterstützer  fremder  Anklagen 
zur  Strafe  zu  bringen  sich  bemühte;  und  dabei  kam  er,  weil  jedermann 
wußte,  daß  ihm  jeder  egoistische  Nebenzweck  fem  lag,  nicht  in  den  Ruf 
eines  Sykophanten,  sondern  erhielt  schon  bei  Lebzeiten  Ehrenkränze,  und 
lange  Zeit  nach  seinem  Tod,  noch  im  Jahr  307  nach  Wiedererlangung  ihrer 
Selbständigkeit,  erstatteten  ihm  seine  Mitbürger  den  Tribut  des  Dankes 
durch  ein  Ehrendekret,  das  in  litterarischer  (Ps.Plutarch  p.  852)  und  in- 
schriftlicher Überlieferung  (CIA  II  240)  auf  uns  gekommen  ist.^)  Das  Reden 
ist  ihm  nicht  leicht  geworden,  er  entschloß  sich  dazu  nur,  wo  er  ver- 
pflichtet zu  sein  glaubte.  Politische  Reden  konnte  er  dem  Demosthenes 
überlassen.  Er  sprach  nur  vor  Gericht,  und  zwar  abgesehen  von  zwei 
Euthynenklagen,  in  denen  er  sich  selbst  verteidigen  mußte,  immer  als  An- 
kläger. Vor  340  scheint  er  nicht  öffentlich  aufgetreten  zu  sein;  seine 
meisten  Reden  fallen  nach  338.  Die  Alten  hatten  von  ihm  fünfzehn  Reden; 
auf  uns  gekommen  ist  die  einzige  gegen  Leokrates,  der  nach  dem  Unglück 
von  Chaironeia  feige  die  Stadt  verlassen  hatte,  und  deshalb  von  Lykurgos, 
als  er  331  wieder  zurückzukehren  wagte,  mit  einer  Hochverratsklage  (efaay- 
yekla)  belangt  wurde,  ein  ähnlicher  Fall  wie  der  des  Autolykos,  den  Lykurgos 
schon  338  vor  Gericht  gezogen  hatte.  Die  Rede  wirkt  namentlich  durch  die 
sittliche  Entrüstung,  die  aus  ihr  spricht;  der  Angeklagte  entrann  mit 
knapper  Not  der  Todesstrafe,  indem  die  Stimmen  der  Richter  zu  gleichen 
Teilen  auseinandergingen,  ein  Fall,  für  den  die  Bestimmung  galt,  daß 
das  mildere  Urteil  obsiegen  sollte.^)  In  die  Rede  flocht  Lykurgos  mehrere 
Dichterzitate  und  den  berühmten,  aber  gefälschten  Eid  der  Hellenen  vor 
der  Schlacht  bei  Plataiai  (§  78)  ein.») 

Die  handschriftliche  Überlieferung  ist  die  gleiche  wie  bei  Antiphon  und  Andokides. 
Spezialausgaben  mit  Kommentar  von  G.  Pinzger,  Leipz.  1824;  von  C.  Rehdantz,  Leipz.  1876; 
von  C.  Scheibe,  Leipz.  1853;  A.  H.  G.  P.  van  den  Es,  Groningen  1862.   Kritische  Bearbeitung 

^)  Eine   Erzstatue    des  Lykurgos   beim  Magnesia  a.  M.  ist  die  Unterschrift  noch  er- 

Areopag  erwähnt  Paus.  I  8,  2;  die  Basis  eines   |  halten (Inschr.v.  Magnesia,  Berl.  1900nr.349); 

Denkmals  aus  römischer  Zeit  mit  der  Aufschrift  '  ebenso  von  einer  aus  Tivoli  (IGr.  XIV  1178; 

Avxoroyog  6  qijtwo  CIA  III  944.  W.  Jüdeich,   |  vielleicht  beziehen  sich  auch  die  Aufschriften 

Topogr.  V.  Athen ^"311.  23;  über  weitere  Sta-  ,  ib.  nr.  1176.  1177  auf  den  Redner  L.). 
tuen  des  L.  im  Erechtheion  und  dem  Theater  |  ^)  Aeschin.  3.  252. 

s.  dens.  S.  249.  280;   ein   Porträt   des  Lyk.   i  »)  Daß  der  Eid,  der  bei  Diodor  XI  29.  2 

mit  Nike  vermutet  auf  einer  panathenäischen   I  wiederkehrt,  gefälscht  sei,  behauptete  bereits 

Amphoravona.313C.ToRB,Rev.archäol.,3.s6r.   |  Theopompos  bei  Theon  in  Rhet.   gr.  II  67, 

26  (1895)  160  ff. ;  von  einer  Lykurgosherme  aus   I  21  Sp. 


8.  Die  Beredsamkeit,    f)  DemostheneB'  Zeitgenossen.    (§  314.)  573 

von  Th.  Thalh£im,  Berl.  1880;  mit  den  Fragmenten  von  F.  Blass,  Leipz.  1899.  Wortindex 
von  L.  L.  FoBXAN  s.  o.  S.  523.  Ein  neues  Fragment  aus  dem  Hermogeneskommentar  des 
Joh.  Diakonos  herausg.  von  H.  Rabe,  Rh.  Mus.  63  (1908)  148. 

814.  Aischines  (c.  389 — 314)^)  war  der  Sohn  ehrbarer,  aber  in 
kleinen  Verhältnissen  lebender  Eltern,  des  Schulmeisters  Atrometos,  dessen 
Name  die  Schmähsucht  seiner  Gegner  in  Tromes  (Zag  statt  Unverzagt) 
verwandelte,*)  und  der  Glaukothea,  die  als  Priesterin  von  Mysterien  sich 
Geld  verdiente.  Der  Lebenszeit  nach  war  er  einige  Jahre  älter  als  Demo- 
sthenes.  Da  er  nach  seiner  eigenen  Angabe  1,  49  zur  Zeit  des  Prozesses 
wegen  der  Truggesandtschaft  fiinfundvierzig  Jahre  alt  war,  so  muß  er 
389  geboren  sein.  Der  Vater  wußte  aus  allen  seinen  drei  Söhnen  etwas 
zu  machen:  der  eine,  Philochares,  wurde  Vasenmaler,  der  andere,  Apho- 
betos,  Staatsschreiber;*)  auch  Aischines  fing  mit  dem  Schreiberdienst  an, 
wandte  sich  aber  dann  zur  Schauspielkunst,  wobei  er  es  indessen  nicht  über 
den  Tritagonisten  brachte.  Vom  Theater  wandte  er  sich  der  öffentlichen 
Tätigkeit  als  Redner  und  Staatsmann  zu;  übrigens  lag  ihm  eine  regel- 
mäßige staatsmännische  Tätigkeit  fern,*)  und  es  fehlte  ihm  dazu  auch  die 
Autorität  beim  Volk.  Zum  erstenmal  trat  er  348  nach  dem  Fall  von 
Olynthos  auf,  um  den  Zusammentritt  eines  hellenischen  Kongresses  zu 
empfehlen,^)  aber  bald  ging  er  ganz  in  das  Lager  der  Friedenspartei  über, 
die  unter  Eubulos'  Führung  um  jeden  Preis  eine  Beendigung  der  kriege- 
rischen Verwicklungen  suchte.  Wie  schon  oben  (S.  554  f.)  erwähnt  ist, 
wirkte  er  als  Gesandter  in  hervorragender  Weise  zum  Abschluß  des  philo- 
kratischen  Friedens  mit  (346)  und  mußte  sich  dann  gegen  die  Anklage  der 
Truggesandtschaft  vor  Gericht  verantworten,  wobei  er  zuerst  den  Haupt- 
ankläger Timarchos  durch  die  Gegenanklage  wegen  Unsittlichkeit  (hat- 
geiag)  glücklich  beiseite  schob,  dann  aber  dem  Demosthenes  gegenüber  nur 
mit  knapper  Not  und  durch  den  Einfluß  seiner  Fürsprecher  Eubulos, 
Phokion  und  Nausikles  der  Verurteilung  entging  (343).  Im  Jahr  339  war 
er  Vertreter  Athens  (Tivkayogag)  beim  Amphiktionenkongreß  und  spielte 
dadurch,  daß  er  die  Achtung  der  Amphissäer  bewirkte,  dem  Philippos  die 
Entscheidung  über  die  griechischen  Angelegenheiten  in  die  Hände.  Nach 
der  Schlacht  von  Chaironeia  (338)  sank  selbstverständlich  das  Ansehen 
seiner  Partei,  und  er  kam  in  immer  weiteren  Kreisen  in  den  Verdacht, 
von  Philippos  Geld  zum  Verrat  seines  Vaterlandes  genommen  zu  haben. 
Die  Ungunst  seiner  Mitbürger  erfuhr  er  330  in  dem  Prozeß  gegen 
Ktesiphon  wegen  gesetzwidrigen  Antrags,  bei  dem  er  trotz  des  Auf- 
gebotes aller  Mittel  der  Beredsamkeit  gegen  Demosthenes  nicht  auf- 
zukommen vermochte,   so  daß  er  mit  seiner  Anklage    nicht   einmal   ein 


*)  Außer  Ps.PIut.  vit.    X    orat,   einem   |   570  ff.  —  Eine  Büste  des  Aischines  mit  Na- 


Kapitel  des  Philostr.  vit.  soph.  I  18  und  zwei 
Artikeln  des  Suidas  haben  wir  noch  die  Vitae 
eines  gewissen  Apollonios  und  eines  Anony- 
mus. Die  Lebensverhältnisse  sind  entstellt 
durch  Dem.  de  cor.  129  ff.  und  282  ff.,  Stellen, 
deren  Glaubwürdigkeit  schon  dadurch  ver- 
ringert wird,  daß  von  den  meisten  Vorwürfen 
in  der  Rede  de  fals.  leg.  noch  keine  Spur 
sich  findet.  Vgl.  I.Bruns,  Das  litterar.  Porträt 


mensinschrift  im  Vatikan;  eine  Statue  aus 
Herculaneum  in  Neapel  s.  Anhang. 

*)  Dem.  18,  129. 

«)  Nach  Dem.  19,  249  waren  die  Brüder 
anfangs  Unterschreiber  {vjtoyoan^iazevovxEg), 
brachten  es  aber  dann  b^ide  zum  Staats- 
schreiber {yga/n/narei^g  tco  dtjficp). 

*)  Dem.  18,  308. 

*)  Dem.  19,  10  und  303. 


574  GriechiBche  Litteratorgeschichte.    L  ElassiBche  Periode. 

Fünftel  der  Stimmen  erhielt.  Da  er  so  der  Atimie  verfallen  war  und  das 
Recht,  vor  dem  Volk  aufzutreten,  verlor,  so  verließ  er  Athen  und  wandte 
sich  nach  Ephesos,  später  nach  Rhodos,  wo  er  eine  Rednerschule  eröffiiet 
haben  soll,^  und  Samos.  Auch  nach  dem  lamischen  Krieg  kehrte  er  nicht 
nach  Athen  zurück,  sondern  starb  fünfundsiebzig  Jahre  alt  in  der  Fremde.^) 
Aischines  verdankt  seinen  Ruhm  bei  der  Nachwelt  dem  Konflikt,  in 
den  er  mit  seinem  berühmten  Gegner  Demosthenes  geriet.  Denn  auf  uns 
gekommen  sind  von  ihm  nur  die  drei  Reden  aus  Prozessen,  in  denen 
Demosthenes  ihm  als  Kläger  oder  Rechtsbeistand  der  Gegenpartei  gegen- 
überstand. Sie  sind  uns  erhalten  infolge  der  Aufmerksamkeit,  die  zu  allen 
Zeiten  den  Entgegnungen  auf  die  demosthenischen  Reden  neQi  naoangeo' 
ßeiag  und  ttsqI  Giecpdvov  zugewendet  wurde.  Dieses  Verhältnis  gibt  ihnen 
auch  heute  noch  ihre  hervorragende  Bedeutung.  Es  sind  die  Reden:  xaxä 
TifxoQxov  (1),  TieQl  Tiagangeo ßeiag  (2),  xard  KrrjocqHbvrog  (3).  Über  ihre  Ver- 
anlassungen ist  schon  oben,  im  Leben  des  Demosthenes,  gesprochen  wor- 
den; die  erste,  eine  wichtige  Quelle  für  die  sittlichen  Zustände  im  da- 
maligen Athen,  aber  widerlich  zu  lesen  infolge  der  geheuchelten  sittlichen 
Entrüstung,  muß  im  Altertum  viel  gelesen  worden  sein,  da  die  Grammatiker 
in  die  ersten  einundneunzig  Paragraphen  gefälschte  Urkunden  einlegten; 
in  der  dritten  Rede,  gegen  Ktesiphon,  hält  Aischines  trotz  aller  Kraft- 
ausdrücke doch  keinen  Vergleich  mit  der  hinreißenden  Gewalt  demostheni- 
scher  Beredsamkeit  aus;*)  dem  Demosthenes  ist  es  eben,  wiewohl  auch  er 
in  der  Leidenschaft  namentlich  bei  rein  persönlichen  Auseinandersetzungen 
übertreibt  und  verdreht,  doch  immer  um  ein  ideales  Interesse  zu  tun  und 
er  hat  seine  Hände  rein  gehalten.  Aischines,  der  notorisch  für  Athen 
keinerlei  Opfer  gebracht,  von  Philippos  dagegen  Geld  und  ein  Landgut  an- 
genommen und  doch  nicht  den  cynischen  Mut  eines  Demades  und  Philo- 
krates  gehabt  hat,  sich  zu  seiner  Bestechlichkeit  offen  zu  bekennen,  ist 
immer  damit  beschäftigt,  durch  gleißnerischen  Schein  seinen  Mangel  an 
Charakter  und  tieferer  Bildung*)  zu  verdecken,  und  diese  sittUche  Minder- 
wertigkeit setzt  auch  seine  künstlerische  Bedeutung  dem  Demosthenes 
gegenüber  herunter.*)  Am  meisten  Lob  verdient  die  zweite  Rede,  die 
auch  Lord  Brougham   (s.  o.  S.  570)    für   Aischines*   bestes   Werk   erklärt 


1)  Ps.Plut.  p.  840  d,  Philostr.  (willkürlich   ;   III  2«,  208  ff.   und  H.  Reich    in   der  ohen 


wird  diese  Schule  mit  der  rhodischen  Rhe- 
torenschule  in  Ciceros  Zeit  oder  gar  mit  der 
zweiten  Sophistik  von  manchen  Alten  in  Ver- 
bindung gesetzt:  F.  Blass,  Att.  Bereds.  III 
2*,  265  f.)  und  Suidas;  zum  Elementarlehrer 
macht  ihn  der  unzuverlässige  Anonymus. 

«)  Die  75  Jahre  gibt  ApoUonios  (p.  268. 
63  Westermann)  an,  verbindet  aber  diese 
Angabe   mit  dem  Mißverständnis  seiner  Er- 


S.  559, 4  angeführten  Schrift.  Selbst  A.  Weid- 
ner, der  so  sehr  für  die  Politik  seines  Ai- 
schines eintritt,  meint,  man  werde  bei  dem 
Lesen  der  beiden  Reden  an  den  Kampf  des 
Riesen  mit  dem  Zwerg  erinnert. 

*)  Bezeichnend  ist  der  Aufputz  mit  Dich- 
terzitaten 1,  144  ff.,  der  lächerliche  Schwur 
bei  avveoig  und  nmöeia  3,  260  (vgl.  dazu  Dem. 
18,  127),  die  Übernahme  einer  langen  Stelle 


raordung  durch  Antipatros,  wodurch  auch  jene  i   nebst   ihrem    geschichtlichen    Schnitzer   aus 

Angabe  zweifelhaft  wird.  '   Andocid.  3,  3  ff.   bei  Aesch.   2,  172  f.     Ein 

')  Die  Rede  des  Aisch.  ist  so  wenig  aus  '   kynischer  Anklang  1,  190  f.  (vgl.  E.  Norden, 
einem  Guß   wie  ^ie   des  Dem.;   sie   scheint      Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl.  18,  1892,  329  ff.), 
zum  Teil  schon   zur  Zeit   der  Klagestellung,  *)  Hermog.  n.  ib.  p.  413,  26  Sp.     Über 

als  Dem.  noch  nicht  Rechenschaft  über  sein      seine   Lügen   F.  Blass,  Att.  Bereds.  III  2*, 

Amt  abgelegt  hatte,  verfaßt  zu  sein ;  s.  F.  Blass  i    169  ff. 


3.  Die  Beredsamkeit,    f)  Demosthenea'  Zeitgenossen.    (§  815.)  575 

hat.     Die  drei  Reden  sind  noch  in  der  Kaiserzeit  viel  gelesen  und  wegen 

ihrer  Klarheit  geschätzt  worden,  ^  die  dritte  hat  Cicero  nebst  der  deraos- 

thenischen    Kranzrede    ins    Lateinische    übersetzt.      Die    Alten    kannten 

unter   seinem    Namen    noch    eine    delische    Rede,    hielten    sie    aber   für 

unecht,*)    zumal   der   Areopag    die    Wahl   des    Aischines   zum    Vertreter 

Athens  in  Delos  annulUert   und  dem  Hypereides  die  Führung  der  Sache 

der  Athener  aufgetragen  hatte.    Die  zwölf  uns  teils  in  epistolographischen 

Sammlungen   (1.  3.  6.  7),    teils   in  Handschriften    von  Aischines'    Reden 

erhaltenen  Briefe   sind  schon  deshalb  unecht,  weil  sie,   an  Private   (1.  2. 

4 — 6.  8.  9)  oder  an  Rat  und  Volk  von  Athen  (7.  11.  12)  gerichtet,  meist 

auf  der   falschen    geschichtlichen   Voraussetzung   beruhen,    Aischines    sei 

wirklich   verbannt   worden   und  habe   nötig,   um   seine   Rückberufung    zu 

bitten.  3)     Der  zehnte  Brief  ist  eine  Milesia  in  Briefform.*)    Der  Verfasser 

kennt  schon  (12,  14)  die  Demosthenesbriefe,  aber  noch  nicht  die  Legende 

von  der  Gründung  der  Rednerschule  auf  Rhodos,*)   gehört  also  spätestens 

in  das  1.  Jahrhundert  der  Kaiserzeit. 

Die  Codd.  des  Aisch.,  die  auf  einen  schon  stark  interpolierten  Archet3rpus  zurück- 
gehen, scheiden  sich  in  zwei  Klassen,  denen  sich  eine  dritte  kontaminierte  zugesellt.  Ein 
Stemma  von  ihnen  stellt  H.  Ortnbb,  Krit.  Unters,  zu  Aesch.  Reden,  München  1886,  S.  23 
auf.  Siehe  a.  M.  Heyse,  Über  die  Abhängigkeit  einiger  jüngeren  Aeschineshdschr.,  Progr. 
Bunzlau  1904.  Ein  Fragment  (3,  168—186)  enthält  ein  Papyrus  aus  Fajjum,  worüber  W. 
Habtel,  Ober  die  griech.  Papyri  Erzh.  Rainer,  Wien  1886,  S.  45.  Reste  aus  Rede  2  und  3  auf 
oxyrhynchitischen  Papyri  s.  II/III  p.  Chr.,  Arch.  f.  Papyr.  3,  293.  494.  —  Schollen  haben  sich 
viele  und  gute  erhalten ;  am  besten  herausgegeben  in  der  Ausgabe  von  Fbbd.  Schultz  ;  den 
Grundstock  bilden  die  Kommentare  von  Didymos,  Aspasios  und  ApoUonios;  s.  Ferd. 
Schultz,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  93  (1866)  289—315.  Th.  Fbeybb,  Quaest.  de  scholiorum  Aeschi- 
neorum  fontibus,  in  Leipz.  Stud.  5  (1882)  239 — 392,  erweist  als  Hauptquelle  die  Attikisten 
Aelius  Dionysius  und  Pausanias.  —  Ausgabe  von  J.  J.  Rbiskb,  Lips.  1771.  mit  den  Noten 
von  Hier.  Wolf,  J.  Taylor,  J.  Markland;  mit  erklärenden  Anmerkungen  von  J.  H.  Bbemi,  2.  voll., 
Turici  1823— 24,  mit  Apparat  von  Fbbd.  Schultz,  Lips.  1865;  crit.  Ausg.  von  A.  Wbidneb, 
Leipz.  1872.   Erklärende  Ausg.  der  Ctesiphontea  von  A.  Weidnbr  bei  Weidmann,  Berlin  1878. 

315.  Hypereides  (389— 322),6)  Sohn  des  Glaukippos  aus  dem  atti- 
schen Demos  Kollytos,  war  neben  Demosthenes  ein  Hauptvertreter  der 
antimakedonisehen  Partei,  aber  in  Temperament  und  Auftreten  das  Gegen- 
teil von  Lykurgos'  asketischem  Ernst,  ein  leichtlebiger  Freund  von  Hetären 
und  Tafelgenüssen,  so  daß  er  fast  eine  stehende  Figur  der  neuen  Komödie 
wurde.'')    In  die  Beredsamkeit  durch  Isokrates  eingeführt,®)  wagte  er  sich 


^)  Günstig  urteilt  Philostr.  vit.  soph.  I, 
18;  To  aa<peg  xal  kevxov  lobt  Isidor.  Peius,  ep. 
IV  91  p.  1152  b  MiGNE. 

»)  Philostr.  Vit.  soph.  I  18,  4.    Ein  Frag- 


öffentlicher Diätet  war,  berechnet  von 
Th.  Reinach,  Rev.  des  6tud.  gr.  5  (1892)  250. 
^)  Ath.  341  e  ff.,  wo   er  als  Gourmand, 
der  jeden  Morgen  den  Fischmarkt  besucht, 


ment  daraus  vielleicht  Choric.  p.  106  Boiss.  i   aufgezogen  wird;  die  vier  Hetären,  die  er  an 

')  Diese  Meinung  ist  zuerst  bei  Ps.Plut.  ;   verschiedenen  Orten  hatte,   zählt  Ath.  590  c 

vit.  X  or.  890  c  angedeutet.  auf.  Übrigens  möchte  L.  Radebmachbr  (Berl. 

*)  Zur  sachlichen  Erklärung  A.  Brück-  phil.  Woch.  27, 1907, 302)  manches  von  diesen 

NEB,  Mitt.  des  ath.  Inst.  82  (1907)  113.  Gerüchten  auf  die  Schmähschrift  des  Ido- 

*)  Phot.  bibl.  490  a  34  und  20  a  8  kennt  meneus  nsgi  drjftaytoycbv  zurQckführen.    Be- 

nur  neun  Briefe ;  Philostratos  a.  0.  gibt  keine  zeichnend  ist  aber  doch,  daß  von  den  uns 

Zahl  an.  Kritische  Bearbeitung  der  Briefe  von  bekannten   Prozeßreden  sechs  sich  auf  He- 


E.  Drerup,  Lips.  1904. 

«)  Die  Vita  des  Ps.Plut  und  der  Artikel 
des  Suidas  bei  A.  Westebmann,  Bioyg.  312 
bis  816.     Das   Geburtsjahr  daraus,  daß   er 


tärenangelegenheiten  beziehen. 

")  Daneben  wird  er  von  Ps.Plut  p.  848  b 
Mitschüler  des  Lykurgos  bei  Piaton  genannt 
Von  platonischer  Philosophie  und  Philosophie 


576  Oriechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

bereits  zur  Zeit  des  Bundesgenossenkrieges  mit  einer  Klage  an  den  da- 
mals allmächtigen  Staatsmann  Aristophon.^)  Feste  Stellung  zur  Politik 
nahm  er  in  der  Hoehverratsklage  gegen  Philokrates,  dessen  Verurteilung 
er  343  herbeiführte.  Zu  derselben  Zeit  vertrat  er  im  Auftrag  des  Areopags 
seine  Vaterstadt  mit  Erfolg  als  avvdixog  in  einem  Prozeß  wegen  Verwaltung 
des  delischen  ApoUontempels.  Von  nun  an  kämpfte  er  als  imerschrockener 
und  uneigennütziger  Patriot  an  der  Seite  des  Demosthenes  gegen  die  Vater- 
landsverräter, wie  er  denn  338  den  Demades,  der  die  Schamlosigkeit  be- 
saß, für  den  geächteten  Verräter  von  Olynthos,  Euthykrates,  Proxenie 
beim  Volk  zu  beantragen,  vor  Gericht  zog.  Aber  in  der  Sache  des  Har- 
palos  trennte  er  sich  von  Demosthenes  und  trat  sogar  als  sein  Ankläger 
auf.  Nach  dessen  Verbannung  wurde  er  Führer  der  Partei,  versöhnte  sich 
auch  später  wieder  mit  Demosthenes.  Nach  dem  unglücklichen  Ausgang 
des  lamischen  Krieges  wurde  ihm  noch  die  Ehre  zuteil,  für  die  gefallenen 
Athener  die  Leichenrede  halten  zu  dürfen,  aber  bald  mußte  er  seinen 
Patriotismus  mit  dem  Tod  büßen.  In  Gefahr,  von  dem  Volk  dem  Anti- 
patros  ausgeliefert  zu  werden,  floh  er  nach  Aigina,  wurde  dort  von  dem 
ehemaligen  Schauspieler  Archias  ergriffen  und  vor  Antipatros  geführt,  der 
ihm  die  Zunge  ausschneiden  und  ihn  grausam  töten  ließ  (322);*)  sein  Leich- 
nam wurde  unbeerdigt  hingeworfen  und  erst  später  nach  Athen  gebracht 
und  im  Erbbegräbnis  seiner  Familie  vor  dem  Reitertor  beigesetzt. 

Als  Redner  wurde  Hypereides  sehr  hoch  geschätzt;  man  rühmte  an 
ihm  die  Anmut  (xdoig),  wie  an  Demosthenes  die  Kraft.  Der  Verfasser  der 
Schrift  vom  Erhabenen  c.  34  vergleicht  ihn  mit  einem  Pentathlos,  weil  er, 
in  jeder  Einzelleistung  tüchtig,  doch  mit  keiner  das  Höchste  erreiche, 
und  urteilt,  daß  er  der  Zahl,  aber  nicht  der  Größe  der  Vorzüge  nach  über 
Demosthenes  zu  stellen  sei,  wie  ihn  einige  wirklich  dem  Demosthenes  vor- 
zogen.^) Einer  seiner  römischen  Bewunderer,  der  Redner  Messalla  Cor- 
vinus,  übersetzte  seine  Rede  für  Phryne  ins  Lateinische.^)  Die  geistvolle 
Freiheit,  mit  der  er  die  Sache  seiner  oft  recht  zweifelhaften  Klienten  und 
Klientinnen  führte,  spricht  sich  in  der  Anekdote  von  Phryne  aus:  wie 
andere  im  Epilog,  um  das  Mitleid  der  Richter  zu  erregen,  die  weinenden 
Kinder  des  Angeklagten  vorführten,  so  soll  er  am  Schluß  seiner  Rede  den 
Busen  seiner  Klientin  entblößt  haben,  um  durch  den  Anblick  ihrer  Schön- 
heit die  Richter  zur  Milde  zu  stimmen.*)  Das  Altertum  hatte  von  ihm 
siebenundsiebzig  Reden,  von  denen  zweiundfünfzig  die  Probe  der  Kritik 
bestanden.  Noch  zur  Zeit  des  Matthias  Corvinus  soll  in  Ofen  eine 
Hypereideshandschrift  existiert  haben,  aber  diese  ist,  wenn  nicht  über- 
haupt ein  Irrtum  vorliegt,   verschollen,   und  so  war  man  lange  einzig  auf 


überhaupt  merkt  man  aber  in  den  erhaltenen  '  dies  Urteil   auf  die  rhodische  Schule  zurück, 

Reden,  abgesehen  von  dem  sofortigen  Hinweis  i  in  der  H.  seiner  von  Pathos  freien  Eleganz 

auf  die  Unsterblichkeit  im  Epitaph.,  nichts.  |  wegen  als  Musterredner  galt  (Dionys.  de  Din. 

*)  Hyperid.  pro  Eux.  col.  38  §  28.  8;  vgl.  Petron.  sat.  2). 

«)  Nach  andern  (Ps.Plut.  p.  849  b)  wurde  *)  Quintil.  X  5,  2. 

er  gefoltert   und   hat  sich   dabei  selbst,  um  '           *)  Ath.  590  e;  der  Komiker  Poseidippos 

nicht  gegen  seine  Freunde  zeugen  zu  müssen,  |  (Ath.  591  e),  der  den  Prozeß  der  Phrj-ne  auf 

die  Zunge  abgebissen.  |  die  Bühne   brachte,   wußte  aber   von  jenem 

';  Ps.Plut.  p.  849  d;  wahrscheinlich  geht  ,'  Kunstgriff  des  Redners  nichts. 


8.  Die  Beredsamkeit,    f)  Demosthenes'  Zeitgenossen.    (§  816.)  577 

die  Berichte  der  Alten  angewiesen,  bis  im  19.  Jahrhundert  (seit  1847)  aus 
Gräbern  von  Theben  in  Oberägypten  nach  und  nach  sechs  Reden  {xarä 
Atjfioo&evovg  vjikg  rcbv  ^Agnakelmv,  vjitg  Avxocpqovog  äjioXoyia,  vTtkg  Ev^evbuiov 
äjtoXoyia  Jigög  Uoivevxrov,  hivzäfpiog,  xaxä  'A&rjvoyevov^t  xatä  ^ihnmdov)  ans 
Tageslicht  gezogen  wurden.  Am  vollständigsten  erhalten  sind  die  im  Alter- 
tum hochgeschätzte^)  Anklagerede  gegen  den  Salbenhändler  Athenogenes 
wegen  betrügerischer  Manipulationen  in  einem  Kaufvertrag,  die  einzige 
erhaltene  Rede  des  Hypereides  in  einem  Privatprozeß,  und  die  Verteidigungs- 
rede für  Euxenippos.  In  diese  Rede,  die  als  Deuterologie  in  einem  zwischen 
330  und  324  wegen  Verteilung  der  Ländereien  von  Oropos  ausgebrochenen 
Prozeß  gehalten  wurde,  sind  interessante  Mitteilungen  über  frühere  Rechts- 
falle eingeflochten.  Lehrreich  für  Erkenntnis  der  Grenzen  von  Hypereides' 
Begabung  ist  der  Epitaphios,  den  er  zu  Ehren  der  im  lamischen  Krieg 
Gefallenen,  besonders  des  Führers  Leosthenes  hielt,  und  in  dem  mit  An- 
klängen an  Piaton  die  Gefallenen  selig  gepriesen  werden  wegen  ihres  ruhm- 
vollen Loses  und  des  ehrenden  Empfanges  im  Hades.  ^)  Der  Anlauf  zum 
Pathetischen  ist  hier  dem  Meister  der  eleganten,  geistvollen  und  schlag- 
fertigen Nonchalance  mißglückt;  es  ist  die  einzige  sorgfältig  nach  der 
Regel  stilisierte,  aber  auch  die  kälteste  Rede  von  Hypereides. 

Sprache,  Figuration  und  Komposition  sind  bei  Hypereides  lange  nicht 
so  abgeklärt  und  vornehm  wie  bei  Isokrates,  aber  dafür  steht  er  auch  an 
Wirkung  weit  über  dessen  ermüdender  Steifigkeit.  Bei  Hypereides  ist  nichts 
Schablone  und  äußerlicher  Zierrat,  sondern  alles  voll  Leben,  Natürlichkeit, 
Temperament.  Gern  schiebt  er  vor  die  Erzählung  einen. Teil  zur  Gewin- 
nung des  Wohlwollens  der  Richter  (l9?o<5oc,  insinuatio  bei  den  Technikern 
genannt);  die  Erzählung  fangt  er,  wenn  es  ihm  paßt,  auch  einmal  von 
hinten  an,  den  Beweis  führt  er  nicht  im  großen  Aufbau,  sondern  ver- 
einzelnd, stoßweise.  So  ist  auch  bei  ihm  deiv6Ty]q^^)  freilich  eine  ganz 
andere,  von  hohem  Pathos  freie,  als  bei  Demosthenes. 

Zuerst  veröfTentlicht  sind  die  1847  von  J.  Arden  und  A.  C.  Harris  gefundenen  Reste 
der  Reden  gegen  Demosthenes  (1848)  und  fOr  Lykophron  und  Euxenippos  (1853);  dazu 
kamen  später  1858  der  Epitaphios,  von  dem  zuvor  nur  der  Schluß  aus  Stobaios  bekannt  ge- 
wesen war,  in  dem  Stobartschen  Papyrus  in  London  und  neuerdings  die  von  E.  R^villoüt 
in  der  Revue  ^gyptologique  6  (1891)  veröffentlichte  Rede  gegen  Athenogenes.  Zuletzt  be- 
kannt wurde  die  Rede  gegen  Philippides,  herausgegeben  von  F.  G.  Kenyon,  Class.  texts, 
London  1891,  p.  42 — 55.  Der  Name  des  Verfassers  fehlt;  dem  Hypereides  wird  die  Rede 
zugeschrieben,  weil  wir  aus  Athen.  552 d  wissen,  daß  er  in  dem  Prozeß  gesprochen  hat; 
nicht  dem  Hypereides,  sondern  dem  Demochares  oder  einem  andern  schreibt  die  Rede  zu 
0.  Ribbeck,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  145  (1892)  44  ff .  —  Gesamtausgabe  von  F.  Blass  in  Bibl. 
Teubn.  3.  Aufl.  1894;  von  F.  G.  Kenyon,  Oxford  1906.  Ein  neues  Fragment  der  Rede  gegen 
Demades  ist  von  H.  Rabe  (Rh.  Mus.  63,  1908,  144)  aus  dem  Hermogeneskommentar  des 
Johannes  Diakonos  gezogen. 

316.  Deinarchos,*)  Sohn  des  Sostratos  aus  Korinth,  geboren  c.  360, 

war  um  342  nach  Athen  gekommen,   hatte  bei  Theophrastos  studiert  und 

^)  Ps.Longin  :i.  v\i\  34.     Die  erhaltene  *)  Außer  den  allgemeinen  Quellen   die 

Rede  ist  die  erste  von  den  zwei  in  dem  Pro-  i   für  Echtheitskritik  wichtige  Spezialschrift  des 

zeß  gehaltenen  Reden.  I   Dionysios  über  Deinarchos,  über  deren  Ver- 

^)  Ps.Longin.  34  sagt  lobend  von  ihm:  hältnis  zu  Cäcilius  und  Ps.Plutarch  L.Rader- 

Tor  F.iiTarfiov  i.TiÖetxzixöjg   fbg  ovx  olb'  et  rig  |   MACHER,    Philol.  58    (1899)    161—9.      Dieser 

a//.oc  öädero.  leitet   mit  Unrecht   die   pseudoplutarchische 

^)  Hermog.  .t.  iö,  p.  411 ,  21  Sp.  i   Vita  direkt  aus  Cäcilius  ab;  sie  ist  vielmehr 

Handbuch  der  klus.  AltertnmswisseiMchaft.    YII.  5.  Aufl.                                                     87 


578  (hiechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

dann  seit  336  hier  als  Fremder,  wie  Lysias  und  Isaios,  zunächst  die  Tätig- 
keit eines  Redenschreibers  betrieben.  Eine  einflußreiche  Stellung  gewann 
er  überhaupt  erst  nach  dem  Hingang  der  großen  Redner  unter  der  Re- 
gierung des  Demetrios  von  Phaleron.  Wegen  der  Tätigkeit,  die  er  unter 
dessen  Ägide  entfaltete,  drohte  ihm  307,  als  nach  dem  Einzug  des  Demetrios 
Poliorketes  die  demokratische  Partei  wieder  Oberwasser  bekam,  die  Todes- 
strafe. Der  Verurteilung  entzog  er  sich,  indem  er  nach  Chalkis  auf  Euboia 
ging,  wo  er  fünfzehn  Jahre  lang  lebte,  bis  er  292  auf  Verwendung  seines 
Lehrers  Theophrastos  wieder  die  Erlaubnis  zur  straffreien  Rückkehr  er- 
hielt. In  die  Zeit  unmittelbar  nach  seiner  Rückkehr  fiel  der  Prozeß  gegen 
seinen  ehemaligen  Freund  Proxenos,  den  er  in  einer  von  Dionysios  noch 
gelesenen  Rede,  die  die  meisten  Angaben  über  sein  Leben  enthielt,  wegen 
Unterschlagung  seiner  Habe  belangte.  Er  war  damals  schon  ein  Greis; 
wie  lange  er  diesen  Gerichtshandel  überlebte,  wissen  wir  nicht.  Als 
Redner  bildete  er  keinen  bestimmten  Charakter  aus  und  wurde  von  Dio- 
nysios, wiewohl  ihn  Cäcilius  in  den  Kanon  aufgenommen  hatte,  nicht  zum 
Gegenstand  besonderer  ästhetischer  Untersuchung  gemacht  wie  Demosthenes 
und  Aischines.  Obgleich  politischer  Gegner  des  Demosthenes,  suchte  er 
doch  die  Kraft  demosthenischer  Rede  nachzuahmen,  freilich  ohne  sie  zu 
erreichen,  wovon  er  den  Beinamen  xqL&ivoq  Atjfioo^€vt]g  erhielt. ^  Über 
die  Zahl  seiner  Reden  und  ihre  Echtheit  schwanken  die  Angaben.  Ps.- 
Plutarch  und  Photios  geben  vierundsechzig,  das  ambrosianische  Verzeichnis 
vierhundert  {v\  wofür  vielleicht  f',  d.  i.  60,  zu  lesen),  Demetrios  Magnes*) 
und  Suidas  hundertsechzig,  Dionysios  sechzig  echte  und  siebenundzwanzig 
unechte  an.  Leser  fanden  nur  die  Reden,  die  zu  Demosthenes  in  Beziehung 
standen,  und  so  sind  uns  auch  nur  drei  auf  die  harpalische  Sache  bezüg- 
liche erhalten. 8)  Die  erste,  die  übrigens  Demetrios  für  unecht  erklärte, 
ist  die  für  Beurteilung  des  Demosthenes  und  der  Parteiverhältnisse  Athens 
äußert  wichtige  Rede  xard  Jrjuoo^hovg;  sie  wurde  nach  der  Anklagerede 
des  Hauptanklägers  Stratokies  gehalten;  Deinarchos  schweift  hier  von  der 
Sache  ab,  um  sich  in  der  Verurteilung  der  Politik  des  Demosthenes  und 
in  maßlosem  Schimpfen  über  seine  Person  unter  starken  Anklängen  an 
ältere  Redner,  besonders  Aischines'  Ctesiphontea,  zu  ergehen.  Auch  die 
Rede  für  Aischylos  gegen  Xenophon,  den  Enkel  des  Sokratikers,  bewegt 
sich  vorwiegend  in  persönhchen  Verunglimpfungen.*)  Das  günstige  Urteil 
des  Demetrios  von  Phaleron  über  seine  rednerischen  Eigenschaften^)  ist 
schwerlich  ganz  unparteiisch.  Kommentare  zu  ihm  verfaßte  vielleicht 
Didymos,  jedenfalls  Heron  (Suid.  s.  v.). 

Die  handschriftliche  Üherliefening  wie  für  Antiphon,  Andokides  und  Lykurgos.  Er- 
klärende Spezialausgahe  von  E.  Mätzneb,  Berol.  1842;  kritische  Ausgabe  von  F.  Blass, 
Leipz.  1871,  2.  Aufl.  1888;  Th.  Thalheim,  Berlin  1887.  Fragment  aus  der  Rede  gegen  Kephi- 
sokles  Schol.  Aristid.  p.  517.  10  Dind.;  aus  der  für  Dokimos  Didym.  Philipp,  col.  9,  55. 

fast  restlos  aus  Dionys.  Hai.  entnommen  (Wi-  I           ')  Dionysios  will   ihm    auch  die  unter 

LAMOwiTz,  Textgesch.  der  griech.  Lyr.  70,  3).  Demosthenes'  Namen  laufende   Rede  gegen 

*)  Hermog.  rr.  Id.  p.  413,  15  Sp.;   daher  Theokrines  zuweisen  (de  Din.  10). 

der  lateinische  Ausdruck   hordearius  rhetor  *)  Rekonstruiert  aus  Diog.  L.  durch  Wi- 

bei  Suet.  rhet.  2  (vgl.  Liban.  or.  I  8  Förster).  lamowitz,  Antigonos  von  Karj'stos  330  fF. 

^)  Bei  Dionys.  de  Din.  1.  *)  Dionys.  de  Din.  2. 


8.  Die  Beredsamkeit,    f)  Demosthenes'  Zeitgenossen.    (§  317.)  579 

317.  Von  sonstigen  Rednern  jener  Zeit  hatte  einen  Namen  Demades, 
Sohn  des  Demeas  aus  Paiania,  zuerst  Ruderer  und  ohne  höhere  Bildung, 
später  Lebemann  auf  König  Philippos'  Kosten,  der  als  genialer  Naturredner 
und  Erzähler  sich  eines  ganz  außerordentlichen  Rufes  bei  seinen  Lands- 
leuten erfreute.  Von  ihm  haben  sich  witzige  Aussprüche,  Arifiddeia^  wahr- 
scheinlich durch  Vermittlung  des  Theophrastos,  der  ein  Bewunderer  von 
ihm  war,  erhalten,  ^  und  ihm  wurden  in  der  Sophistenzeit  \4erzehn  Reden 
untergeschoben,^)  von  denen  eine,  vtieq  rfjg  dcodexaerlag^  uns  noch  aus  Ex- 
zerpten bekannt  ist.  5)  Ein  yn](piojua  von  ihm  ist  inschriftlich  (CIA  II  124) 
erhalten.  Femer  seien  erwähnt  Hegesippos  von  Sunion  mit  dem  Spitz- 
namen Krobylos,  dem  wahrscheinlich  die  Rede  negl  'Akowrjaov  angehört;*) 
Stratokies,  Hauptankläger  des  Demosthenes  im  harpalischen  Prozeß  und 
Verfasser  des  Ehrendekrets  für  Lykurgos,  seit  307  als  Politiker  und 
Schmeichler  des  Demetrios  Poliorketes  hervortretend;^)  Pytheas,  der  an- 
fangs auf  Seiten  der  Patrioten  stand  und  sich  der  Vergötterung  des  Ale- 
xandros  widersetzte,  später  aber  seit  dem  harpalischen  Prozeß  in  den  Sold 
der  makedonischen  Herrscher  trat,  Naturredner  wie  Demades;  sein  Partei- 
genosse Aristogeiton,  gegen  den  die  pseudodemosthenischen  Reden  25 
und  26  gehalten  sind,  Verfasser  unbedeutender,  zum  Teil  unter  die  dein- 
archischen  geratener  Reden;®)  Charisios,  den  Cicero  (Brut.  286)  einen 
Nachahmer  des  Lysias  nennt  und  der  wiederum  Vorbild  des  Asianers 
Hegesias  geworden  ist  (Cic.  1. 1.  und  or.  226);  Glaukippos,  der  Sohn  des 
Hypereides;  Demochares,  Schwestersohn  des  Demosthenes,  der  302 — 287 
aus  Athen  verbannt  war;  in  guter  Meinung,  aber  ohne  Verständnis  für 
den  Wechsel  der  Zeiten  und  in  romantischer  Phrasenhaftigkeit  redete  er 
einer  Politik  stolzer  Selbständigkeit  Athens  im  Stil  seines  Oheims  das 
Wort.  271/270  setzte  sein  Sohn  und  der  Erbe  seiner  Phrasen,  Laches  die 
Errichtung  einer  Statue  für  ihn  beim  athenischen  Volk  durch;')  280  be- 
antragte er  das  Ehrendekret  für  Demosthenes  und  306  unterstützte  er  in 
einer  Rede  vjikg  2!oq)oxX€ovg  ngog  0iX(ova  den  Antrag  des  Sophokles  auf 
Beschränkung  der  Lehrfreiheit  der  Philosophen  als  geschworener  Feinde 
der  Demokratie.^)    Außerdem  haben  wir  aus  ägyptischen  Papyri  ein  Bruch- 


^)  Diese  A  tjjudöeia  (Demetr.  de  eloc.  282  fF. ; 
W.  ScHMiD,  Rh.  Mus.  49,  1894,  147)  sind  aus 
einer  Wiener  Hdschr.  nicht  unerheblich  ver- 
mehrt von  H.  DiELs,  Rh.  Mus.  29  (1874)  107  ff. 
Schon  C.  Gracchus  benützte  JrjfidSeia  (Gell.  XI 
10,  6) ;  in  der  Polemik  des  Kritolaos  gegen 
die  Rhetorik  als  Te^vr]  spielt  Demades  neben 
Aischines  eine  Rolle  für  den  Beweis,  daß  man 
auch  ohne  technische  Vorbildung  ein  großer 
Redner  sein  könne :  Philod.  de  rhet.  vol.  II 97  f. 
SüDH.;  Sext.  Emp.  adv.  math.  II  16  ff.).  Siehe 


mitgeteilt  von  H.  Haupt  in  Herrn.  13  (1878) 
489  ff. 

<)  Siehe  oben  S.556. 

*)  Eine  Anekdote  über  Str.  noch  bei  Pro- 
cop.  epist.  91. 

•)  L.  Radbrmaoher,  Philol.  58  (1899) 
167  f.  Ein  neues  Fragm.  aus  seiner  Rede 
gegen  Hypereides  aus  dem  Hermogeneskom- 
mentar  des  Job.  Diakonos  gibt  H.  Rabe,  Rh. 
Mus.  63  (1908)  139. 

^)  A.  Westermann,  BtoyQ.  p.  292. 


Baiter-Sauppe,  Ör.Att.  II312f.  NochChoric.   :  *j  Über  jene  Polizeimaßregel  Wilamo- 

p.  60,  4  Boiss.  scheint  die  J.  zu  benutzen.        witz,  Antigenes  von  Karystos  189  ff.    Demo- 
'^)  Ein  Katalog  der  vierzehn  Reden  aus   !   chares  hatte   auch  Zeitgeschichte   (/arooiot«), 


einer  Florentiner  Hdschr.  veröffentlicht  von 
R.  Scholl,  Herm.  3  (1869)  277  f.  Cic.  Brut.  36 
sagt  noch:  cuius  tiulla  extant  scripta  und 
ähnlich  Quintil.  XIl  10,  49. 

')  Die  Exzerpte   aus  einem  Palat.  129 


die  Polybios  benützte,  in  mindestens  21  Bü- 
chern geschrieben;  Fragmente  (fr.  1  macht 
einen  sehr  üblen  Eindruck)  bei  C.  Müller, 
FHG  II 445 — 9.  Kritische  Behandlung  seiner 
Lebensumstände  F.  Ladbk,  Wiener  Stud.  13 

37* 


580  Chriechische  LitteraturgeBchichte.    I.  Elasaische  Periode. 

stück  einer  Rede,  in  der  ein  Feldherr  angegriffen  wird  (wahrscheinlich 
Chabrias  von  Leodamas),  weil  er  nach  einem  Seesieg  die  Toten  zu  be- 
statten und  die  noch  Lebenden  zu  retten  versäumt  habe.O  —  Bedeutender 
als  alle  diese  Redner  war  Phokion,  der  fünfundvierzigmal  zum  Peldherrn 
erwählt  in  der  Zeit  des  Demosthenes  und  über  dessen  Tod  hinaus  bis  zum 
Jahr  317  die  Sache  der  gemäßigten  -  Politik  im  Feld  vertrat.  Wiewohl 
kein  Redner  von  Profession,  machte  er  sich  doch  auch  bekannt  durch  eine 
Reihe  schlagender  Aussprüche.  So  soll  er,  ein  Verächter  der  Volksgunst, 
als  einmal  seine  Worte  beklatscht  wurden,  zu  seinem  Nachbar  gewandt, 
gefragt  haben:  „Habe  ich  doch  nicht,  ohne  es  zu  merken,  etwas  Schlechtes 
gesagt?**  8) 

318.  Aus  den  attischen  Rednern  und  den  zu  ihrer  sachlichen  Erklä- 
rung dienenden  Glossen  in  dem  Onomastiken  des  Julius  Polydeukes  (Pollux) 
und  in  dem  Lexikon  zu  den  zehn  attischen  Rednern  von  Harpokration  stammt 
das  meiste  von  dem,  was  wir  durch  die  Litteratur  über  griechisches 
Recht,  insbesondere  attisches  Straf-  und  Zivilrecht  wissen.  Eine  grie- 
chische Rechtswissenschaft,  durch  welche  die  Arten  der  Anwendung  der 
allgemeinen  Rechtsnormen  auf  die  Einzelfälle  festgelegt  und  motiviert 
worden  wären,  wie  das  in  Rom  geschehen  ist,  hat  es  nicht  gegeben.  Die 
Kodifikation  der  wichtigsten  Sätze  des  Staats-,  Verwaltungs-,  Kriminal- 
und  Zivilrechts  ist  in  Griechenland  wie  anderwärts  durch  demokratische 
Bewegungen  der  Aristokratie  abgezwungen  worden.  So  sind  die  alten 
Gesetzesaufzeichnungen  in  ünteritalien  und  Sizilien 3)  (Zaleukos  und  Cha- 
rondas)  sowie  in  Athen  (Drakon,  Selon)*)  im  7.  und  6.  Jahrhundert,  und 
ebenso  vermutlich  auch  die  uns  inschriftlich  vorliegenden  Stadtgesetze  von 
Gortyn^)  zustandegekommen.  Die  Grundgesetze  (vo^wi)  sowie  die  Psephis- 
men  des  Volkes  wurden  zur  Zeit  der  Demokratie  in  Athen  nicht  bloß  im 
Archiv  (im  Metroon)  verwahrt,  sondern  auch  vielfach  auf  Stein  gehauen 
und  an  öffentlichen  Plätzen  aufgestellt;  in  hellenistischer  Zeit  sind  Samm- 
lungen von  solchen  in  Buchform  veranstaltet  worden  von  Krateros  und 
Heliodoros.*)  Das  Recht,  insbesondere  das  Staatsrecht,  ist  seit  der  Sophisten- 
zeit Gegenstand  lebhafter  philosophischer  Diskussionen  und  Spekulationen 
geworden,   deren  Niederschlag  die  Staatsutopien  von  Hippodamos.  Piaton, 


(1891)  119  ff.  Beziehungen  zwischen  Anaxi- 
menes  und  Dem.  mutmaßt  W.  Nitsche.  De- 
mosth.  und  Anax..  Berlin  1906  (s.  o.  S.  503,  9). 
^)  Ein  Bruchstück  einer  nachattischen 
Rede  in  Oxyrh.  Pap.  II  Nr.  116.  W.  Crönert, 
Arch.  f.  Pap.  1,  526  f.  möchte  sie  s.  III  oder 
II  a.  Chr.  setzen.     Spätestens  Anfang  s.  III 


»)  G.  BüsoLT,  Griech.  Gesch.  P  424  ff. 

*)  Der  erste  ä$a)v  von  Drakons  Blut- 
gesetzgebung ist  in  der  Erneuerung  von  409 
inschriftlich  erhalten  CIA  I  61.  Über  Solons 
Gesetzgebungswerk  G.  Büsolt  a.  a.  0.  II * 
264  ff. 

6)  Siehe  o.  S.421,2.   Das  sog.  Stadtrecht 


a.  Chr.    verfaßt   ist  die   Rede   isokratischen  von  Gortyn.  in  Bustrophedonschrift  auf  zwölf 

Stils,   in  der  Leosthenes   (so  meint  F.  Blaß)  ;   Tafeln  an  die  Innenwand  eines  großen  Rund- 

die  Athener  zum  Widerstand  auffordert,  Hibeh  baues  geschrieben,  ist  den  Buchstabenformen 

pap.  I  nr.  15.  >   nach  schwerlich  älter  als  das  5.  Jalirh. 

*)  Die  griechischen  Worte  bei  Plut.  vit.  :           «)  B.  Keil,  Herm.  30  (1895)199  ff.  Echte 

Phoc.  8 :   ov  <Wj  :iov  ii   xaxov   leycov  F.fiavror  Urkunden  sind  in  einer  Anzahl  attischer  Reden 

XikrjOa;    —   J.  Bernays,  Phokion  und  seine  '   (Andocid.  1;  Aeschin.  1;  Demosth.  21.  23.  24. 

neueren  Beurteiler,  ein  Beitrag  zur  Geschichte  |   35.  37.  43.  45.  46.  Ps.Deni.  59;  Lycurg.  adv. 

der    griechischen    Philosophie    und    Politik,  Leoer.)  eingelegt;   sicher  gefälscht  sind  die 

Berlin  1881.  in  Dem.  18  und  Aesch.  1. 


4.  Die  Philosophie,    a)  Anfänge  der  Philosophie.    (§§  318—819.)  581 

Aristoteles,  Diogenes,  Zenon  u.  a.  bilden;  überall  handelt  es  sich  aber  hier 
de  lege  ferenda,  nicht  de  lege  lata,  so  daß  man  diese  Litteratur  nicht 
zur  positiven  Rechtswissenschaft  rechnen  kann.  Materialien  für  Rechts- 
geschichte und  Rechtsvergleichung  sammelte  zuerst  in  großem  Stil,  nach- 
dem die  Sophisten  mit  rechtsvergleichenden  Erörterungen  schon  gespielt 
hatten,  0  Aristoteles  in  seinen  nohxetai.  In  dem  Geist  der  sophistischen 
Rhetorik  und  seiner  praktischen  Betätigung  in  der  attischen  Gerichtspraxis 
liegt  das  Bestreben  begründet,  die  Anwendung  der  Rechtsnormen  möglichst 
flüssig  von  Fall  zu  Fall  zu  erhalten,  und  so  sind  grundsätzliche  Erörte- 
rungen über  das  positive  Recht  in  der  Litteratur  nicht  angestellt  worden. 
Je  mehr  rechtliche  Inschriften  und  Papyri  gefunden  werden,  desto  deut- 
licher zeigt  sich,  bei  allen  Einzelverschiedenheiten  in  der  kantonalen 
Rechtspflege,  eine  Einheitlichkeit  der  hellenischen  Rechtsanschauungen  im 
Unterschied  von  den  barbarischen  und  römischen.*)  Am  besten  bekannt 
ist  uns  das  attische  Recht,  3)  aber  durch  die  wachsende  Masse  der  Rechts- 
urkunden auf  Stein  und  Papyrus*)  wird  uns  auch  das  sonstige  griechische 
Recht,  insbesondere  das  der  hellenistischen  und  der  kaiserlichen  Zeit  in 
Ägypten,  immer  deutlicher. 

Allgemeine  Litteratur:  R.  Dareste,  La  science  du  droit  en  Gr^ce.,  Piaton,  Aristot, 
Thöophraste,  Paris  1893.  L.  Beauohet,  Histoire  du  droit  priv^  de  la  r^publique  Ath^nienne» 
4  voll.,  Paris  1897;  R.  v.  Scala,  Die  Staatsverträge  des  Altertums  I,  Leipz.  1898;  H.  Henkel, 
Studien  zur  Geschichte  der  griechischen  Lehre  vom  Staat,  Leipz.  1872.  R.  Löniho.  Ge- 
schichte der  strafrechtl.  Zurechnungslehre  I,  Die  Zurechnungslehre  des  Aristoteles,  Jena  1903. 
Eine  Reihe  einzelner  Beiträge  zum  griech.  Recht  gibt  E.  Szanto.  Ausgewählte  Abhandl., 
Tübingen  1906,  1—142. 

4.  Die  Philosophie  und  die  Anfänge  der  fachwissen- 
schaftlichen Litteratur/) 
a)  Anfänge  der  Philosophie  ausserhalb  Attikas. 

319.  Die  Quellen.  Vollständige  philosophische  Werke  aus  der  vor- 
alexandrinischen  Zeit  sind  uns  nur  von  Piaton,  Xenophon,  Aristoteles  und 


»)  JmAf|«?beiH.DiEL8,Vor8okr.»580ff.;  1  tümer,  Freiburg-Tübingen  1884. 

über  Kritias*  IloliTeiat  s.  o.  S.  173.  |           *)  Recueil    des    inscriptions    juridiques 

-)  J.  H.  Lipsius,  Von  der  Bedeutung  des  Grecques  par  R.  Dabestb,  B.  Haussoullieb, 

griech.  Rechts,  Leipziger  Rektoratsrede  1893 ;  Th.  Reikach,  Paris  1895.  —  Leges  Graecorum 

besonders   das  ausgezeichnete  Werk  von  L.  sacrae  e  titulis  collectae  edd.  J.  de  Pbott  et 

Mitteis.  Reichsrecht  und  Volksrecht  in  den  L.  Ziehen,  1,  Leipzig  1896;  II  1  1906.  —  Bi- 

östl.  Provinzen  des  röm.  Kaiserreichs,  Leipz.  bliographie  über  die  Papyri  rechtlichen  In- 

1891.  H.  Hitzig,  Die  Bedeutung  des  altgriech.  •   halts  ^^.  Hohl  wein,  La  papyrologie  Grecque, 

Rechts  für  die  vergleichende  Rechtswissensch.  :   Louvain  1905,  p.  111  ff. 

inZeitschr.  f.  vergl.Rechtswiss.  19  (1906)  Iff.  ^)  Fragmentsammlungen :   rell.    coli.   S. 

»)  M.  H.  E.  Meier  und  G.  F.  Schömann,  Kaksten.  2  voU.,  Haag  u.  Amsterd.  1830—8; 

Der  attische  Prozeß,  Halle  1824.    Neue  Be-  Fragm.  philos.  graec.  ed.  F.  G.  A.  Mullach, 

arbeitung  von  J.  H.  Lipsiüs  in  2  Bden.,  Berlin  Paris  1860—81,  3  voll.,  nicht  vollendet  und 

1883—87;  J.  H.  Lipsius,  Das  attische  Recht  unzuverlässig:  ein  sehr  brauchbares  Quellen- 

und  Rechtsverfahren  I,  Leipzig  1905,  n  1  1908,  buch   ist  Historia  philos.  giaec.  et  rom.  ex 

stellt  eine  Umarbeitung  dieses  Werkes  dar.  '   fontium  locis  contexta  cur.  H.  Ritter  et  L. 

Über  die  Terminologie  des  attischen  Prozesses  Pbelleb,  ed.  VIII  (Gotha  1898)  cur.  E.  Well- 

H.  ScHODORF  in  M.  Schanz*  Beiträgen  z.  histor.  mann;  Die  Fragmente  der  Vorsokratiker,  griech. 

Svntax  des  Griechischen,  Heft  17  (1904).  Th.  und  deutsch  von  H.  Diels,  Berlin  1903  (P 

Thalheim,  Lehrbuch  der  griech.  Rechtsalter-  1906;  II  1*  1908),  Hauptwerk.  —  Geschichte 


582 


Griechische  litteraturgeschichte.    L  Klassische  Periode. 


einem  namenlosen  dorisch  schreibenden  Sophisten  erhalten,  wozu  noch 
das  freilieh  meist  fachwissenschaftliche  Corpus  Hippocrateum  kommt.  So 
sind  wir  vielfach  auf  die  indirekte  Überlieferung  des  Altertums  angewiesen, 
deren  richtige  Verwertung  wesentlich  von  der  Einsicht  in  die  Quellen- 
verhältnisse abhängt.  Diese  sind,  soweit  es  sich  um  die  Traditionen  über 
die  Lehren  der  Philosophen  handelt,  aufgeklärt  worden  von  H.  Diels,  Doxo- 
graphi  graeci,  Berlin  1879.  Begründer  der  Geschichte  der  Philosophie  und 
der  Fachwissenschaften  im  Altertum  ist  Aristoteles.  Das  erste  Buch  seiner 
Metaphysik  ist  das  Zuverlässigste,  was  wir  über  die  ältere  griechische 
Philosophie  haben,  während  Piatons  Angaben  über  frühere  Philosophen 
mit  großer  Vorsicht  aufzunehmen  sind;^)  für  die  Geschichte  der  Rhetorik,*) 
der  Geometrie,*)  der  Medizin*)  hat  Aristoteles  die  Materialien  in  owaycoyai 
teils  selbst  gesammelt,  teils  durch  Schüler  sammeln  lassen,  und  aus  seiner 
Anregung  ist  auch  das  Grundwerk  der  griechischen  Schriftstellerei  über 
die  philosophischen  Lehrmeinungen  (Doxographie)  hervorgegangen,  Theo- 
phrastos'  do^ai  (pvoixwv  in  achtzehn  Büchern,  aus  denen  schon  in  helle- 
nistischer Zeit  eine  Epitome  in  zwei  Büchern  hergestellt  wurde.  Auf 
diesem  Werk  beruht  die  von  Diels  Vetusta  placita  genannte  verlorene 
doxographische  Darstellung  aus  der  ersten  Hälfte  des  1.  Jahrhunderts 
V.  Chr.,  aus  der  Cicero,  Varro,  Areios  Didymos  im  1.  Jahrhundert  v.  Chr., 


der  Philosophie:  J.  Jonsiüs,  De  scriptoribus 
historiae  philosophicae  libri  IV,  Francof.  1659, 
ex  rec.  J.  Chr.  Dorioi,  Jena  1716;  W.  G. 
Tennemann,  Gesch.  d.  Philos.  (Leipz.  1798  bis 
1819),  neue  Aufl.  von  A.  Wendt,  Leipz.  1829; 
Chr.  A.  Brandis,  Handbuch  der  Gesch.  d. 
griechisch-römischen  Philos.,  Berlin  1835—66, 
in  drei  Teilen  bis  Aristoteles  incL;  ders., 
Gesch.  der  Entwicklungen  der  griech.  Philos. 
und  ihre  Nachwirkungen  im  röm.  Reich, 
2  Bde.,  Berlin  1862—4;  E.  Zeller,  Philosophie 
der  Griechen  in  drei  Teilen.  Tübingen  1844  bis 
1852.  4.  Aufl.,  Leipz.  1876-1903;  5.  Aufl. 
von  I  1.  2  1892,  Hauptwerk  Hegelscher  Fär- 
bung; ders.,  Grundriß  der  Gesch.  der  griech. 
Philos.,  7.  Aufl..  Leipzig  1905:  F.  Über- 
weg, Grundriß  der  Gesch.  der  Philosophie, 
1.  Band  das  Altertum  behandelnd,  9.  Aufl.  be- 
sorgt von  M.  Heinze,  Berlin  1903,  mit  voll- 
ständiger Bibliographie ;  K.  Prantl,  Übersicht 
der  griechisch-römischen  Philosophie,  2.  Aufl., 
Stuttg.  1863;  K.  Prantl,  Gesch.  der  Logik  im 
Abendlande,  4  Bde.,  Leipz.  1855—70,  1.  Band 
die  griech.-röm.  Philos.  umfassend ;  A.  Schweg- 
LER,  Gesch.  d.  griech.  Phil.,  3.  Aufl.  besorgt 
von  K.  KöSTLiN,  Freib.  1881 ;  die  beste  Dar- 
stellung der  inneren  Geschichte  der  griech. 
Philosophie  nach  den  Problemen  von  W.Win- 
delband.  Gesch.  d.  alten  Philos.,  in  diesem 
Handbuch  V  1,  2.  Aufl.  1894;  ders.,  Lehrbuch 
der  Gescliichte  der  Philosophie,  Tübingen  1889, 
4.  Aufl.  1907;  Th.Gomperz,  Griechische  Den- 
ker, worin  die  Philosophie  im  Zusammenhang 
mit  den  Wissenschaften  behandelt  ist,  I  (Vor- 
sokratiker)  Leipz.  1896  (2.  Aufl.  1903);  II  (So- 
krates,  Sokratiker  und  Piaton)  1902  (2.  Aufl. 


1903);  III,  1.  Heft  1906,  2.  Heft  1908;  von 
einseitig  ethischem  Standpunkt  aus  und  der 
biographischen  Überlieferung  gegenüber  un- 
kritisch A.  Döring,  Geschichte  der  griechi- 
schen Philosophie,  gemeinverständlich  nach 
den  Quellen,  2  Bde.,  Leipz.  1903.  Vom  Stand- 
j  punkt  des  Marburger  Neukantianismus  W. 
Kinkel,  Gesch.  der  Philos.  als  Einleitung  in 
j  das  System  der  Philos.  I  (von  Thaies  bis  auf 
I  die  Sophisten),  Gießen  1906.  Vieles  bietet 
I  auch  E.RoHDE,  Psyche  UM  37  flf.  263  ff".  Unter 
'  einem  neuen  Gesichtspunkt  betrachtet  die 
griech.  PhilosophieW.  Benn,  The  philosophy  of 
Greece  considered  in  relation  of  the  character 
and  history  of  his  people,  London  1898.  — 
Archiv  für  Geschichte  der  Philos.,  heraus- 
gegeben von  L.  Stein,  Berl.  seit  1888,  darin 
auch  Jahresberichte  über  die  neuen  Erschei- 
nungen, über  die  sokrat,  piaton.  und  aristo- 
telische Philos.  von  H.  Gomperz,  über  die 
nacharistot.  von  A.  Dyroff;  in  dem  Jahres- 
bericht über  die  Fortschr.  der  klass.  Alter- 
tumswiss.  berichtet  über  die  vorsok ratische 
Philos.  F.  LoRTziNO  (Periode  1876—97:  Bd.  96, 
1898, 156—276;  Fortsetzungen: Bd.  112, 1902, 
132—322;  116,  1904,  1—158),  über  die  nach- 
aristotel.  K.  Prächter  (Periode  1876—97 
Bd.  96,  1898,  1—106). 

*)  E.  Zelleb,  Arch.  f.  Gesch.  der  Philos. 
5  (1892)  165  if. 

')  L.  Spengel,  ovray(oyi}  Tf;^rä>r,  Stuttg. 
1828. 

^)  Eudemos'  von  Rhodos  doi^firjTix//  und 
yscjfjfioixrj  iorooia. 

*)  Menons  laxQiyJj  ovvayioyn)  s.  H.  Diels, 
Herm.  28  (1893)  407  flf. 


4,  Die  Philotsophie.    a)  Anfänge  der  Philosophie.    (§  820.)  583 

Aetios  Tiegi  twv  Ageoxovxcov  im  1.— 2.  Jahrhundert  n.  Chr.,  stellenweise 
Philon^)  unmittelbar  geschöpft  haben.  Das  Werk  des  Aetios,  nach  Sach- 
kapiteln geordnet  in  der  Art,  daß  die  Antworten  verschiedener  Philosophen 
auf  einzelne  Fragen  der  Physik  und  Metaphysik  gegeben  werden,  hat  H. 
Diels  (p.  273 — 444)  aus  Pseudoplutarchos*  Placita  philosophorum,  Stobaios' 
Anthologie  und  Stellen  aus  des  Bischofs  Theodoretos  (c.  400  p.  Chr.)  "EUtj- 
vixöjy  Tza&fjjbuncov  '^BQcuievxixri^  und  ebenso  (p.  447 — 472)  das  des  Areios  Didy- 
mos  aus  Stobaios,  Clemens  und  Eusebios  rekonstruiert.  Erhalten  sind  uns 
zwei  Fälschungen  auf  berühmte  Namen,  die  im  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  dem 
Plutarchos  beigelegte  Schrift  negi  x(bv  ägeaxovrcov  <piXoo6q)oig  (pvaixcav  do^cbvj 
und  die  im  5.  oder  6.  Jahrhundert  dem  Qalenos  beigelegte  cpd6oo(pog  lorogia. 
Dazu  zwei  tendenziöse  Darstellungen  der  griechischen  doSat  von  christ- 
licher Seite,  des  Hippolytos  (3.  Jahrhundert  n.  Chr.)  ""EXeyxog  xarä  naacbv 
algeoecDv,  von  dessen  zwölf  Büchern  das  erste,  gewöhnlich  ^doocxpoviueva 
betitelt,  sich  unter  die  Schriften  des  Origenes  verirrt  hat,  und  des  Her- 
meias  (wahrscheinlich  2.  oder  3.  Jahrhundert  n.  Chr.)  AianvQ/idg  tcov  I5a> 
(pdoa6(pü)v.  —  Auch  die  biographische  Darstellung  der  griechischen 
Philosophen  ist  von  der  peripatetischen  Schule  (Aristoxenos,  Herakleides 
Pontikos,  Dikaiarchos)  ausgegangen.  Nicht  ohne  manche  Gewaltsamkeiten 
und  Verdrehungen  sind  dann  die  Verzeichnisse  der  Schulen  nach  ihren 
Häuptern  und  Mitgliedern  zurecht  gemacht  worden,  die  sog.  diadox^h  die 
Sotion  mit  einem  Werke  von  dreizehn  Büchern,  das  dann  Herakleides 
Lembos  in  zwei  zusammenzog,  in  die  Litteratur  eingeführt  hat;  in  ihnen 
ist  auch,  was  Gunst  und  Haß  der  Schulfreunde  und  -gegner  von  Geschichten 
aufgebracht  und  die  Schriftsteller  negl  algeoewr  (deren  erster  Epikuros) 
gebucht  hatten,  aufgenommen.*)  Beispiele  solcher  biographisch-doxogra- 
phischen  Darstellungen  haben  wir  in  dem  Academicorum  philosophorum 
index  Herculanensis,  den  nach  F.  Bücheier  S.  Mekler  (Berlin  1902)  neu 
herausgegeben  hat,  und  in  der  nach  Schulen  in  zehn  Bücher  geordneten 
Exzerptenmasse  von  Diogenes  Laertios'  Bioi  (pdooocpiov.  Verloren,  aber 
von  Hesychios  (Suidas)  benützt,*)  ist  des  Neuplatonikers  Porphyrios  bis  auf 
Piaton  gehende  <pd6ao(pog  lorogia, 

320.  In  der  satten  und  aufgeklärten  Diesseitigkeit  der  homerischen 
Gedichte  mit  ihrem  festen  Weltbild  und  ihrer  abgeschlossenen  Welt- 
anschauung ist  von  philosophischem,  über  den  Traditionalismus  hinaus- 
drängenden Trieb  kaum  eine  Spur,  und  wo  einmal  tiefere  Fragen  berührt 
werden,  wie  die  von  der  Provenienz  des  Übels  (Od.  a  32  flf.)  oder  von  dem 
Verhältnis  zwischen  persönlicher  Providenz  und  naturgesetzartiger  Moira 
(H.  X  209  flf.),  geschieht  das  in  spielender  OberflächUchkeit.  Tiefer  ein- 
dringende Spekulation  über  den  Weltzusammenhang,  insbesondere  den  Ur- 
sprung der  Welt,  enthalten  in  mythologischer  Verkleidung  die  Lohrdich- 
tungen  des  Hesiodos  und  der  Orphiker  und  das  Prosabuch  des  Pherekydes 
von  Syros.*)    Daneben  kristallisiert  sich  allerlei  ethische  Lebensanschauung 

')  P.  Wendland,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1897,  '•           »)  E.  Rohde,  Kl.  Sehr.  I  125.  160. 

1074  ff.  <)  Aristot.  met  983b  27  ff.:  eial  öi  uveg 

^)  H.  Schmidt,    Studia  Laertiana,    Dias,  i    o?  xai  rovg  jtafiJiaXawvg  xal  JtoXv  jiqo  rrfg  vvv 

Bonn  1906.  yeviaecag    xai    :iQco%ovg   &eoXoyt)ooa^ag   ovrcog 


584  Griechische  Litteratnrgeechichte.    L  Klassische  Periode. 

und  Lebensweisheit  seit  alters  in  Sprichwörtern,  deren  kulturgeschichtliche 
Bedeutung  Aristoteles^  und  seine  Schule  verstanden  haben,  in  Fabeln, 
Novellen,  Bildern  und  Beispielen,  Sprüchen,  wie  denen  der  sog.  Sieben 
Weisen  (s.  o.  S.  166  flf.)  oder  den  poetisch  gefaßten  der  Skolien-  und  Ele- 
giendichtung. Die  ethischen  Probleme  sind  aber  erst  in  der  Sophistenzeit 
Gegenstand  wissenschaftlichen  Nachforschens  geworden.  Die  frühesten  grie- 
chischen Philosophen,*)  aus  der  intellektualistischen  Sphäre  loniens  hervor- 
gegangen, knüpfen  an  die  systematischen  Bestrebungen  der  mythologischen 
Lehrgedichte  an,  reißen  sich  aber  los  von  den  mythischen  Anschauungs- 
formen. Sie  suchen  aus  einem  UrstoflF  (&Qxrj),  den  sie  von  dem  BegriflF 
der  Urkraft  nicht  reinlich  sondern,  alle  Naturerscheinungen  abzuleiten, 
d.  h.  die  Welt  als  Ganzes,  als  Geordnetes  («da/iog),*)  in  sich  Notwendiges 
zu  begreifen.  Mit  bewundernswerter  Kühnheit  abstrahieren  sie  vom  sinn- 
lichen Schein  und  fassen  meist  alles,  was  sich  den  Sinnen  bietet,  als  Trans- 
formation eines  bestimmten,  einheitlichen  ürstoflFs  oder  Sekretion  aus  einem 
Urgemisch  im  Sinn  eines  materialistischen  Monismus.  Eigentliche  Schul- 
gründungen und  propagandistische  Absichten  sind  diesen  altionischen 
Naturphilosophen  (cpvoixoi)  nicht  zuzutrauen.*) 

An  den  Anfang  stellt  die  antike  Tradition  den  Thaies,  Sohn  des 
Examyes,  phönikischen  Geblütes,^)  aus  Miletos.  Seine  Zeit  bestimmt  sich 
nach  der  von  ihm  vorausgesagten  Sonnenfinsternis  vom  28.  Mai  585,*)  wonach 
seine  Geburt  von  Apollodoros  625  gesetzt  wurde.  Er  bezeichnete,  vielleicht 
an  Homer  IL  5*  201  äußerlich  anknüpfend,')  aber  mit  neuer  Motivierung, 
das  Wasser  als  den  Urstofif.     Schriftliches  hat  er  nicht  hinterlassen.«) 

Der  erste,  von  dem  ein  Buch  erwähnt  wird,^)  war  Anaximandros 
von  Miletos,  geboren  c.  610,  der  bedeutendste  und  originalste  unter  den 
alten  Physikern  loniens;  er  setzt  das  neue  Erklärungsprinzip  der  Ableitung 
des  einzelnen  aus  einem  qualitativ  wie  quantitativ  unbestimmten  UrstofF 
{äjieiQov)  an  Stelle  der  Transformationshypothese.  Er  soll  auch  als  erster 
eine  Erdtafel  (yecoyQaq^ixdg  mva^)   und   eine   Sonnenuhr  (yvco^iwv)  gemacht 

oioyTai  jregi  rr/s  (fvo£(og  v:ioXaßsiv.  met.  1000  a  |  244  ff.)  ist  von  E.  Ziebarth  (Griech.  Vereina- 
9:  Ol  nfgi  'Hoiodov   xai  jiävTFg  ooot  dfoXoyoi,    \   wesen,  Leipz.  1896,  69  ff.)  mit  Recht  zurück- 


Über  Pherekydes  s.  o.  S.  423  ff. ;  etwas  zu  viel 
Philosophie  zieht  wohl  Th.  Gomperz,  Griech. 
Denker  I  70  ff.,  aus  ihm. 
M  Aristot.  fr.  2  Berol 


gewiesen. 

^)  Herodot.  I  170. 

®)  Die  Voraussage  gelang  ihm  wohl  in- 
folge seiner  Kenntnis  von  dem  babylonischen 


*j  Hervorragend  J.  Bürnet,  Early  Greek  '   Saros,   einem  Zyklus   von  18  Jahren,  inner- 

philosophy,  Edinburgh  1892.   Über  die  immer  halb  dessen  die  Finsternisse  sich  wiederholen, 

noch  nicht  zur  Ruhe  gekommenen  fruchtlosen  Babylonischen  Urspi*ungs  scheinen  auch  seine 

Versuche,  die  griechische  Philosophie  aus  dem  nicht  unbeträchtlichen   mathematischen  (M. 

Orient  abzuleiten,  berichtet  zusammenfassend  C.  P.  Schmidt,  Kulturhistor.  Beitr.  z.  Kennt- 

F.  LoRTZiNo.   Jahresber.   über   die  Fortschr.  nis  des  griech.  und  röm.  Altert.  1,  Leipz.  1906, 

derkl.  Alt.wiss.ll2(1902)143ff.  —  Über  die  '■   S.  29  ff.;  aus  Ägypten  war  in  diesem  Stück 

ionischen  Physiker  sehr  lehrreich  0.  Gilbert,  nicht  viel  zu  holen:  A.  Wiedemakn  zu  Herod.  II 

Die  meteorolog.  Theorien  des  griech.  Altert.,  ;   S.  424)  Kenntnisse  zu  sein.  H.  Beroer.  Geogr. 

Leipz.  1907.  i   Zeitschr.  12  (1906)  440  f..  geht  zu  weit,  wenn 

3)  xonfiog  im  Sinn  von  Welt  kommt  erst  |   er  ihm   schon  die  Kenntnis   von  der  Kugel- 

vou  Empedokles  an  vor  (H.  Diels,  Lehrged.  ,   gestalt  der  Erde  zuschreiben  will, 

des  Parmenides  66) ;  der  ältere  Ausdruck  ist  ;           '')  Aristot.  met.  983b  18  ff. 

öidy.oofAOs  (E.  Roiide,  Kl.  Sehr.  I  226,  1).  ^)  Daher  sagt  Aristoteles  met.  984a  2: 

*)  H.  Diels' dahingehende  Meinung (Phi-  öcd^s  leyexai  ovriog  oL^oqrtjvaaOm. 

losoph.  Aufsätze   für  E.  Zeller,  Leipz.  1887,  «)  Themist.  or.  25  p.  317. 


4.  Die  Philosophie,    a)  Anfänge  der  Philosophie.    (§  821.)  585 

haben.')  Die  Erde  dachte  er  sich  als  freischwebende  Trommel,  eindrittel- 
mal  so  tief  als  breit.  Ihm  folgte  Anaximenes  von  Miletos,  gleichfalls 
Verfasser  einer  Schrift  negl  q?voiog^  in  der  er  wieder  ein  Einzelelement, 
die  Luft,  zum  ürstoflf  machte.*) 

321.  Wenn  die  genannten  drei  Physiker  sich  ganz  mit  der  Ableitung 
des  Stoffes  beschäftigen,  so  ist  das  weit  reizvollere  Problem,  die  Spezi- 
fikation der  in  den  verschiedenen  Stoflfelementen  sich  darstellenden  Formen 
in  ihrer  Gesetzmäßigkeit  zu  erkennen,  zuerst  von  Pythagoras  von  Samos, 
dem  Sohn  des  Mnesarchos,  angefaßt  worden,  der  sich  zugleich  auch  als 
Organisator  des  sittlichen  Lebens  im  Kreis  der  von  ihm  gegen  530  in 
Kroton  gegründeten  philosophisch-politischen  Brüderschaft  betätigt  hat. 
Echte  Schriften  von  ihm  gab  es  im  Altertum  nicht,  und  er  scheint  über- 
haupt nichts  geschrieben  zu  haben.*)  Der  erste  Pythagoreer,  der  die 
Hauptsätze  der  Lehre  in  einem  Buch  zusammenfaßte,  war  Sokrates'  Zeit- 
genosse Philolaos  von  Kroton,  der  die  Zersprengung  der  pythagoreischen 
Vereine  in  Italien  miterlebte.  Aus  seinen  drei  Büchern  Jiegl  (pvoiog  haben 
wir  noch  umfangreiche  Fragmente  in  dorischem  Dialekt,  für  deren  Echt- 
heit A.  Böckh  eingetreten  ist.*)  Vier  mathematische  und  physikalische 
Bruchstücke  sind  uns  auch  von  Archytas  aus  Tarent,  dem  als  Politiker 
und  Strateg  nicht  minder  denn  als  Mathematiker,  Mechaniker  und  Musiker 
bedeutenden  Freund  Piatons,  erhalten.*)  Dem  Pythagoreer  Timaios 
Lokros  untergeschoben  ist  die  aus  dem  platonischen  Timaios  aus- 
gezogene Schrift  71€qI  ipvxäg  x6ofAo>  xai  (pvoiog.^)  —  Pythagoras  hat, 
neben  Xenophanes,  im  griechischen  Westen  das  Licht  der  Philosophie  an- 
gezündet und  die  Anregung  zur  Entstehung  einer  wissenschaftlichen  Lit- 
teratur  in  dorischem  Dialekt  gegeben.  Auf  Reisen,  deren  Umfang  von  der 
späteren  Legende  ins  Abenteuerliche  erweitert  worden  ist,^)  hat  er  die  schon 
von  Herakleitos  (fr.  40.  129  D.)  bemängelte  Fülle  der  Kenntnisse  und  Er- 


*)  Strab.  p.  7 ;  L.  Diog.  II 2,  wo  dem  Ana- 
ximandros  ein  Globus  beigelegt  wird:  Aga- 
thein.  geogr.  1,1;  vgl.  H.  Berobr,  Gesch.  der 
wissensch.  Erdkunde  der  Griechen  I  7.  Nach 
Herodot.  II  109  ist  die  Sonnenuhr  babyloni- 
sche Erfindung. 

^)  Die  Titel  Jitgl  tpvoiog  fttr  die  Bttcher 
der  ältesten  Philosophen  sind  wahrscheinlich 
erst  von  Rhetoren  gegeben,  da  der  Gebrauch 
von  ffvois  in  allgemeinstem  Sinn  =  Natur 
für  diese  frühe  Zeit  nicht  nachweisbar  ist. 

5)  Diog.  Laert.  VIII  15;  E.  Rohde.  Kl. 
Sehr.  I  240.  über  die  untergeschobenen  Schrif- 
ten der  Neupythagoreer  s.  unten.  Über  die 
Schriften    der  alten  Pythagoreer  H.  Dibls, 


math.,  in  M6L  Graux,  Paris  1884,  p.  573—84. 
G.  HABTENSTEnc ,  De  Archytae  Tar.  fragmentis 
philosophicis,  Lips.  1833.  H.  Dibls,  Vorsokr.* 
261  if.  Die  Anführungen  aus  philosophischen 
Schriften,  wie  negi  navrog,  :neQt  dgxäv,  Jicgi 
Tvjv  dexa  xaxtjyoQiiöv ,  Jiegi  voftov  xai  dixato- 
avyrjg  sind  unecht  und  nacharistotelisch.  Von 
dem  Ansehen  des  Archytas  bei  den  Späteren 
zeugt  die  Ode  des  Horaz  I  28  (dazu  Wilamo- 
wiTZ,  De  trib.  carminib.  lat,  Ind.  lect.  Gotting. 
1893/94,  3  ff.;  A.  Elter,  Analecta  Gr.,  Bonner 
Kaiserprogr.  1899,  37 ff).  Über  ein  Pseudepi- 
graphnm,  vier  Bücher  'AgxvTa  Ma^ifwv  xai^o- 
Xixfjg  {^ecogias  /neretoQOiv  s.  A.  Elteb  und  L. 
Radermaohbb,  Bonner  Progr.  1899 ;  über  Be- 


Fragm.  d.  Vorsokrat. '  243—303.  nützung  des  Krantor  in  den  falschen  Archy- 

*)  A.  Böckh,  Philolaos  des  Pythagoreers  tasfragmenten  K.  Pbächteb,  Arch.  f.  Gesch. 

Lehren,  Berlin  1819  (nebst  den  Bruchstücken).  1  der  Philos.  10  (1897)  186  ff. 

F.  Beckmann,  Quaest.  de  Pythagoreorum  reli-  I  *)  Plat.  Tim.  20  a. 

quüs,   Berlin  1850;    H.  Diels,    Fragm.  der  |  ^)  Die  Reise  des  Pythagoras  nach  Ägyp- 

Vorsokr.*  243  ff.     Über   die  musikal.  Frag-  ten   berichtet   als   ältester  Zeuge   Isokrates, 

mente  P.  Tannery,  Rev.  de  philol.  28  (1904)  I  Bus.  28;  die  späteren  Zeugnisse  bei  E.  Zeller 

233  ff.  '  P  303  ff.    Auch  die  Lehre  des  Zoroaster  soll 

^)  F.  Blass,  De  Archytae  Tarentini  fragm.  i  er  gekannt  haben;  ebenda  S.  301  f.   Daß  auch 


586 


Grieohische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 


fahrungen  gesammelt  und  eine  Höhe  und  Freiheit  der  Auffassung  gewonnen, 
die  ihn  ebenso  wie  später  den  Xenophanes,  Herodot,  Ion,  Stesimbrotos 
zum  Renegaten  der  ionischen  Kultur  und  ihrer  Ideale  0  gemacht  hat.  Seine 
mystische  und  innerliche  Natur  fühlte  sich  von  der  oberflächlichen  Sinnen- 
freudigkeit, die  am  Hof  des  Polykrates  von  Samos  wie  in  den  Städten 
Gro&griechenlands  herrschte,  abgestoßen,  und  er  glaubte  sein  Lebensideal 
nur  in  klösterlicher  Abgeschlossenheit  mit  Gleichgesinnten  erreichen  zu 
können;*)  so  bildeten  die  unteritalischen  Pythagoreergemeinden  immer 
einen  Staat  im  Staat  und  waren  bei  dem  übrigen  Volk  nicht  minder  ver- 
haßt und  verdächtigt  als  später  die  ersten  Christengemeinden.  In  diesen 
Kreisen  wurden  die  Formen  und  Proportionen  in  der  Natur  wie  im  sittlichen 
Leben  zum  Gegenstand  des  Nachdenkens  gemacht  und  geradezu  als  wir- 
kende Kräfte  angesehen.  Durch  Erhebung  der  Zahl  zum  Prinzip  der  Welt- 
erklärung ist  man  zu  jener  Zahlenmystik  und  Zahlenspielerei  gekommen, 
die  auch  große  Geister  umnebelt  hat,  wie  sie  denn  zu  primitiven  Neigungen 
der  menschlichen  Psyche  in  engster  Beziehung  steht  und  im  Zahlenaber- 
glauben und  der  Tagwählerei  ihren  Rückhalt  findet.»)  Aber  andrerseits 
sind  hier  gewaltige  Gedanken  und  Wahrheiten  gefunden  oder  verbreitet 
worden:  die  Lehre  von  der  sittlichen  Wirkung  der  Musik,  die  Wissenschaft 
der  Akustik,  neue  mathematische  Erkenntnisse,^)  die  Entdeckung  der 
Kugelgestalt  der  Erde,^)  der  erste  Schritt  auf  dem  Weg,  der  zum  Ver- 
ständnis der  Achsendrehung  durch  Ekphantos*)   und   zur  Aufstellung  des 


indische  Weisheit  auf  irgend  welchem  Weg 
zu  Pythagoras  gedrungen  sei,  behauptet  L. 
V.  ScHRÖDBB,  Pythagoras  und  die  Inder,  Leipz. 
1884:  dagegen  Einwände  von  F.  Lobtzino, 
Jahresb.  über  die  Fortschr.  d.  kl.  Alt.wiss.  112 
(1902)  146  ff.  Mit  assyrischen  Weisen  und 
Brahmanen  läßt  den  Pythagoras  zusammen- 
kommen Alexandros  Polyhistor  bei  Clemens 
Alex.  Strom.  I  p.  358P.  Pythagoras  ist,  wie  er 
sich  als  Heiliger  und  Asket  gab  und  so  von 
seinen  Anhängern  schon  bei  Lebzeiten  verehrt 
wurde,  alsbald  von  einem  dichten  Schleier  der 
Sage  umsponnen  worden,  ans  der  wir  kaum 
mehr  imstande  sind,  geschichtliche  Tatsachen 
herauszuheben  (E.  Rohde,  Kl.  Sehr.  II  102  ff.). 
Schon  seine  frühste  Biographie  muß  eine  Le- 
gende gewesen  sein,  in  der  er  natürlich  nicht 
als  der  große  Forscher,  sondern  als  Wunder- 
mann erschien.  Im  4.  Jahrh.  schrieb  Aristo- 
xenos  von  Tarent  eine  rationalisierende  Py- 
thagorasbiographie,  aus  der  dann,  Witze  der 
Komödie  über  den  Abstinenzler  P.  beifügend, 
Hermippos  von  Smyrna  Stoff  für  seine  Bio- 
graphie schöpft.  Materialien  über  Pythagoras 
bot  auch  Duris  in  seinen  mqoi  Za^iloiv.  Den 
Zustand  der  Pythagoraslegende  in  der  helle- 
nistischen Zeit  stellt  uns  ziemlich  rein  Diog. 
L.  VIII  1  dar.  Dem  neubelebten  mystischen 
Pythagoreüsmus  schuf  Apollonios  von  Tyana 
in  seinem  ßloc:  Uvi^ayooov  sein  neues  Pytha- 
gorasbild.  Die  weiteren  Pythagorasbiogra- 
phen  haben  lediglich  kompiliert,  sowohl  die  uns 
verlorenen  (Antonius  Diogenes,  Nikomachos 


von  Gerasa,  Moderatus)  als  die  erhaltenen 
(Porphyrios,  der  aus  den  drei  zuletzt  ge- 
nannten und  einer  dem  Diog.  L.  ähnlichen 
Biographie  schöpft,  und  lamblichos,  der  fast 
ausschließlich  den  Nikomachos  und  Apollo- 
nios von  Tyana  benützt). 

»)  Siehe  bes.  Diog.  L.  VIII  21. 

*)  ^li)  jiazetv  lijv  Xecoqrogov  ist  pythago- 
retecher  Grundsatz  (vgl.  Flut,  de  gen.  Socr. 
16  extr.). 

•)  Auch  andere  Lehren  der  Pythagoreer, 
wie  die  von  der  Seelenwanderung  (A.  Diete- 
BiCH,  Archiv  f.  Religionswiss.  8,  1905,  1),  die 
Speiseverbote  (E.  Rohde,  Kl.  Sehr.  II  368; 
M.  Wellmann,  Fragm.  d.  griech.  Ärzte  I 
30  f.  A.)  knüpfen  an  primitive  und  animisti- 
sche  Anschauung  an.  Siehe  a.  H.  Abert,  Die 
Musikanschauungen  des  Mittelalters  und  ihre 
Grundlagen,  Halle  1905,  176. 

*)  Darüber  M.  C.  P.  Schmidt,  Kultur- 
histor.  Beiträge  I  54  ff.  M.  Cantor,  Vorles. 
üb.  Gesch.  d.  Math.«,  1894,  137  ff. 

^)  Aristot.  de  caelo  II  13;  Plat.  Phaed. 
p.  97  d.  Die  damit  verbundene  Einteilung  der 
Erde  in  fünf  Zonen  wird  auf  Parmenides  zu- 
rückgeführt; s.  Strab.  94.  H.  Beroer,  Ber. 
der  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  47  ( 1 895)  57,  und  (gegen 
die  Einwendungen  von  H.  Diels)  Geogr.  Zeit- 
schrift 12  (1906)  442  ff.  G.  V.  Schiapakelli, 
Die  Vorläufer  des  Kopemikus  im  Altertum, 
Deutsch  von  M.  Cürtze,  Leipz.  1876. 

6)  H.  Diels,  Voi-sokr.^  S.  275  fr.  5.  P. 
Tannbry,  Arch.  f.  Ge^ch.  der  Philos.  1 1  (1898) 


4.  Die  Philosophie,    a)  Anfiüige  der  Philosophie.    (§  322.)  587 

heliozentrischen  Systems  (dieses  schon  im  4.  Jahrhundert)^)  geführt  hat. 
Mächtig  ist  auch  der  Einfluß,  den  der  Pythagoreismus  auf  Piaton  und 
eine  Gruppe  frühperipatetischer  Philosophen  (Aristoxenos,  Herakleides 
Pontikos,  Dikaiarchos)  wissenschaftlich,  ethisch  und  schriftstellerisch  geübt 
hat.  366  hörte  der  pythagoreische  Schulverband  auf  (Diod.  XV  76,  4; 
Aristox.  fr.  11.  12  Müller),  nicht  aber  die  Wirkung  der  Lehre,  die  vom 
1.  Jahrhundert  v.  Chr.  an  wieder  mit  neuer  Gewalt  hervorgetreten  ist,  je 
weniger  sich  die  Welt  von  der  ethisch-ästhetischen  Seichtigkeit  des  reinen 
Rationalismus  befriedigt  fühlte.*)  Von  einer  systemartigen  Lehre  des 
Pythagoras  selbst  weiß  übrigens  weder  Aristoteles  noch  Aristoxenos  etwas; 
eine  solche  haben  erst  die  Pythagoreer  ausgebildet. 

322.  Die  Eleaten  Xenophanes  und  Parmenides  haben  in  der  Ab- 
sicht, ihre  Gedanken  in  weitere  Kreise  zu  tragen,  die  poetische  Form  der 
Darstellung  gewählt  (s.  o.  S.  132  flf.).  Der  Begründer  der  eleatischen  Schule, 
Xenophanes  aus  Kolophon,  proklamierte  eine  höhere  Auffassung  des  Gottes- 
begriflfs  und  bekämpfte,  indem  er  nur  einen  Gott  annahm  und  diesen 
Einen  sich  ewig  gleichbleibend  dachte,  den  Polytheismus  und  die  anthro- 
pomorphen  Vorstellungen  der  Volksreligion.  3)  Dem  Bestreben  der  ionischen 
Physiker,  den  Ursprung  und  Verlauf  des  ewigen  Werdeprozesses  der  Welt 
objektiv  betrachtend  zu  verstehen,  setzen  die  Eleaten,  darin  dem  Pytha- 
goreismus wesensverwandt,*)  das  wahrscheinlich  zunächst  auf  sittlichem 
Gebiet  entstandene  lebhafte  Bedürfnis  nach  dem  Unwandelbaren,  nach  der 
festen  Norm  entgegen,  das  sie  nun  in  eine  transzendente  Welt  des  ewigen 
und  wechsellosen  Seins  projizieren.  Um  deren  Wesenheit  und  die  Unhalt- 
barkeit  des  sensualistischen  Hylozoismus  der  lonier  zu  beweisen,  haben 
sie  eine  spitzfindige  Dialektik  ausgebildet,  die  schließlich  zur  völligen 
Leugnung  der  sichtbaren  Erscheinungswelt  {<pvoig)  durch  den  Eleatenschüler 
Gorgias  führte,  daher  Aristoteles  diese  Richtung  ätpvoixoi  nennt.*) 

Parmenides  aus  Elea  in  Unteritalien  erwies  im  ersten  Teil  seines  philo- 
sophischen Lehrgedichtes  jenes  Eins  als  das  aUein  wahrhaft  Seiende,  das 
ewig  und  unveränderlich,  denkend  und  gedacht  zugleich  sei,  behandelte 
aber  im  zweiten  Teil  auch  das  Werden  und  Vergehen  oder  die  Welt  der 
trügerischen  Meinung  (<5dfa  im  Gegensatz  zu  dlrj'&eia)^  indem  er  sie  auf  zwei 
durch    eine    zentrale  Göttin   beherrschte   Prinzipien,   Licht  und  Finsternis 


263,  hält  den  Ekph.  für  eine  von  Herakleides 
Pont,  fingierte  Gesprächsperson;  ehenso  den 
Hiketas,  Rev.  des  et.  gr.  10  (1897)  127  ff. 

^)  C.  Ritter,  Piatos  Gesetze,  Komm. 
Leipz.  1896,  230  ff.;  H.  Staiomüllkr,  Arch. 
f.  Gesch.  d.  Philos.  15  (1902)  141  ff. 

^)  Über  die  Fortdauer  der  pythagorei- 
schen Sekte  in  der  alexandrinischen  Zeit  und 
ihr  Neuaufleben  bei  den  Neupythagoreem  s. 
unten  und  E.  Zeller,  Philos.  d.  Gr.  III'  2, 79  ff. 

')  Den  Kern  der  Lehre  enthalten  die 
Verse  slg  dsog  f.v  te  Ceolat  xai  dv&QOiJioioi 
fiiyioiog,    ov  ri    dejua^   dvrjtoXoiv    öfioitog    ovSe 


Theologie  des  Xenophanes,  Breslau  1886.  wo- 
nach bei  Xenophanes  doch  noch  von  keinem 
reinen,  streng  durchgeführten  Monotheismus 
die  Rede  sein  kann.  H.  Beroer,  Unters,  über 
das  kosm.  System  des  X.,  Ber.  der  sächs. 
Ges.  der  Wiss.  46  (1894)  15  ff. 

*)  Parmenides  war  nach  Diog.  L.  IX  21 
Verehrer  des  Pythagoreers  Ameinias:  s.  H. 
DiBLS.  Herm.  35  (1900)  196  ff.  E.  Rohdb, 
Psyche  II*  158,  2,  meint,  P.  sei  in  der  prak- 
tischen Ethik  Pythagoreer  gewesen. 

*)  Sext.  Emp.  adv.  dogm.  IV  46.  Von 
'EXsaxixov   e&vogj  das   mit  Xenophanes    und 


vorjfia.   Vgl.  Ps. Aristot.  de  Xenophane^  Zenone      schon  vor  ihm  (etwa  mit  Pythagoras?)   an- 
Gorgia  c.  3  und  J.  Fbeüdenthal,  über  die  |   fange,  redet  Plat.  soph.  242  d. 


588  Qriechische  Litteratnrgdschichte.    I.  Klassische  Periode. 

{(pdog  xal  oxorog,  xal  rä  ovaxoixa  ägatov  oxXrjgov  etc.),  zurückführte.^)  Diese 
Lehren  wurden  später  von  Parmenides'  Schülern  Zenon  und  Melissos 
in  prosaischer  Rede,  nach  Diog.  L.  III  48  auch  in  Dialogform,  dargelegt 
und  dialektisch  begründet  und  verfochten.  Über  die  Ergebnisse  des  Elea- 
tismus  urteilt  der  Empiriker  Aristoteles  sehr  geringschätzig;*)  aber  Piatons 
wie  Spinozas  Gedankenwelt  ist  von  dieser  Lehre  aufs  tiefste  beeinflußt 
worden,  und  in  Fichte  ist  sie  neu  erstanden. 

Mit  Parmenides  teilt  sein  Zeitgenosse  Empedokles  aus  Akragas  in 
Sizilien  die  Form  der  poetischen  Darstellung  (s.  oben  S.  133  fF.).  Die  Philo- 
sophie verdankt  ihm  die  Unterscheidung  von  Stoff  und  Kraft.  Den  StoflF 
bilden  ihm  die  vier  Elemente  (tSooaga  rwv  nävTcov  ^i^cojuaxa),  die  er  zuerst 
unterschied,  aber  noch  allegorisch  mit  Namen  von  Göttern  {Zevg  Feuer, 
*Hjoa  Luft,  *Ai'dcov€vg  Erde,  Nfjang  Wasser)  bezeichnete.  Die  Kraft  (ävdyxT]) 
tritt  ihm  in  zwiefacher  Gestalt  in  wechselnden  Weltperioden  auf,  als  Liebe 
{^iXorrjg)^  die  alles  in  die  eine  Kugel  (ptpalgog)  zusammenmischt,  und  als 
Streit  (Neixog)^  der  das  Vereinigte  wieder  scheidet,  bis  von  neuem  wieder 
die  Liebe  ihr  Werk  beginnt.*)  Seine  Anschauung  erscheint  als  ein  Kom- 
promiß zwischen  dem  materialistischen  Monismus  der  lonier  und  dem 
spiritualistischen  der  Eleaten,  deren  transzendentale  Erkenntnistheorie  er 
(fr.  4  D.)  ablehnt. 

323.  Der  erste  unter  den  ionischen  Physikern,  der  sich  uns  schrift- 
stellerisch als  eine,  bis  zum  Eigensinn,  scharf  markierte  Persönlichkeit 
darstellt,  ist  Herakleitos  von  Ephesos,  aus  dem  hohen  Adel  seiner 
Vaterstadt,  ein  stolzer  Verächter  alles  Pöbelhaften,  eine  einsiedlerische 
Denkematur  von  tiefster  Leidenschaftlichkeit.  Zugunsten  eines  jüngeren 
Bruders  verzichtete  er  auf  die  Vorrechte  seines  Geschlechtes,  dem  das 
Opferkönigtum  zukam*)  und  zog  sich,  tief  verstimmt  über  den  Gang  des 
politischen  Lebens  in  Ephesos,  zumal  sein  Freund  Hermodoros  verbannt 
worden  war,  vom  öffentlichen  Leben  zurück  {idiCrjoa/Lirjv  ejusovröv  fr.  101  D.), 
ohne  aber  durch  Reisen  nach  Erweiterung  seines  Gesichtskreises  zu  streben 
(fr.  40  D.).  Um  490  verfaßte  er*)  sein  Buch  und  deponierte  es  im  ephesi- 
schen  Artemistempel. ^)  Seine  Weltanschauung,  die  er  nicht  in  einem  fest- 
verbundenen, auf  Beweise  gestützten  System,  sondern  in  kraftvollen  apho- 
ristischen, dogmatisch  hingestellten  Kernsätzen,  absichtlich  mehr  andeutend 
als  breit  ausführend')  und  in  heftiger  Polemik  gegen  die  führenden  Geister 

*)  Zum   zweiten  TeU    geht  Parmenides  Opferkönige  kennen    wir  auch  inschriftlich 

über  mit  den  Versen  (fr.  8,  50  D.):  (Wilamowitz,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1904,  627). 

iv  T(p  aoi  jiavco  jitorov  loyov  tjök  vdtjfAa  *)  Die   Abfassungszeit   nach   H.   Diels, 

dfAqri^  aXrj&eiag'  Öo^ag  ö*  ano  tovöe  ßgoreiag  Lehrged.    des  Parmenides  S.  71  f.;    s.  a.   A. 

fAdvdav€,x6a^to%'F^to)vkn£iov  ojiazrjKov  axovMv.  !    Patin,    Jahrbb.  f.  cl.  Phil.   Suppl.  25  (1899) 

2)  Aristot.  de  gen.  an.  325  a  17:  ejii  pihv  .   653  f.     Die  Blüte  des  H.  setzte  Apollodoros 

Tibv  Xoycor  doxf.T  ravta  oviißatvstv,  Fm  de  twv  ,   auf  Ol.  69  =  504/1  (Diog.  L.  IX  1);  ein  zweiter 

nQayfidnov   fiavia   naoajiXijöiov  Ftrai  i6  öo^d-  unsicherer  Ansatz  bei  Eusebios  rückt  sie  auf 

^eiv  ovTco.     Die  ethischen  Konsequenzen  des  460/59  oder  456/5  herab,  worüber  F.  Jacoby, 

eleatischen  Standpunkts   deutet   Piaton  Par-  Apollodprs  Chronik  p.  229. 

menid.  134 d  an;   sie   führen   zu  der  anthro-  ^)  Ähnliches  erzählt  von  Krantor   Diog. 

pozentrischen  Betrachtung  des  Protagoras.  L.  IV  25. 

')  Formal  wirkt  diese  Anschauung  nach  ^)  Er  erhielt   davon   den  Beinamen   der 

in  dem  Mythos  von  Piatons  Politikos.  !   Dunkle  {n  axoxEtvog).    Aristoteles  rhet.  1407  b 

*)  Strab.  633;  Diog.  L.  IX  6;  G.  Finsler,  |    14:  xd'HQOxldiov  Öiami^ai  egym'  öid  to  ädrj- 

N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt.  17  (1906)  395.  Milesische  ?.ov  Fivat,  Ttoteoq)  noooxeuM,  rtp  votsqov  tj  rqß 


4.  Die  Philosophie,    a)  Anfänge  der  Philosophie.    (§  823.) 


589 


der  ionischen  Kultur  (fr.  40.  57.  105  D.)  vorträgt,  ist  monistisch  und  hyio- 
zoistisch  wie  die  der  älteren  Physiker,  indem  sie  das  Feuer  als  &Qxri  hin- 
stellt; neu  ist  aber  an  ihr  das  Streben,  eine  deutliche  Anschauung  von 
dem  Werdeprozeß,  durch  den  aus  dem  Urelement  das  einzelne  wird,  eine 
Erklärung  der  Erscheinungen  in  der  Natur  zu  gewinnen,  neu  auch  das 
Eingehen  auf  die  Phänomene  des  psychischen  und  ethischen  Lebens,  die 
von  der  gesamten  Naturanschauung  aus  scharf  beleuchtet  werden.  Am 
meisten  ist  er  wohl  angeregt  durch  Anaximandros,^)  dessen  Sekretions- 
hypothese er  mit  der  Transformationshypothese  der  übrigen  lonier  kom- 
biniert; aber  auch  an  Spuren  pythagoreischen  Einflusses  fehlt  es  nicht 
(fr.  20.  21  D.).  Ohne  dualistischer  Auffassung  sich  zu  nähern,  versteht  er 
das  ganze  Leben  von  Natur  und  Mensch  als  einen  Kampf  der  Gegensätze, 
als  einen  unaufhörlichen  Fluß,  eine  ewige  Mischung  und  Entmischung,  als 
Koexistenz  der  entgegengesetzten  Formen  desselben  ürprinzips  und  er- 
schöpft sich  in  Bildern,  um  diese  widerspruchsvolle  Einheit  zu  veranschau- 
lichen.*) Diese  Anschauung,  die,  auf  das  sittliche  Leben  angewandt,  eigent- 
lich zum  Indifferentismus  führen  mußte,  hat  er  dadurch  einer  positiven 
Sittenlehre  dienstbar  gemacht,  daß  er  eine  Rangordnung  vom  reinen  Feuer 
abwärts  zu  dessen  Zersetzungszuständen  einführt,  die  menschliche  Seele, 
je  mehr  sie  sich  ihre  Feuer-Reinheit  bewahrt,  sittlich  desto  höher  wertet*) 
und  den  vojjiog  im  Staat,  als  einen  Teil  der  Weltvernunft,  d.  h.  des  Welt- 
feuers, in  Analogie  zur  menschlichen  Seele  stellt  und  in  dem  Fluß  der  Er- 
scheinungen als  das  Bleibende  betrachtet  (fr.  44.  114  D.).  Sein  Stil  be- 
wegt sich,  im  Gegensatz  zu  der  läßlich  breiten  Anmut  und  Anschaulichkeit 
der  sonstigen  altionischen  Prosa,  in  gedrängten,  stark  akzentuierten  Anti- 
thesen, kräftigen  Bildern,  die  das  Dunkel  seiner  Gedanken  blitzartig  er- 
leuchten. Von  diesem  einsamen  und  bizarren  Denker  ist  eine  mächtige, 
noch    nicht   abgeschlossene  Bewegung   in   der  Philosophie   ausgegangen.*) 


jiQoxeQov.  Diese  Schwierigkeit  begegnet  außer 
in  dem  von  Aristoteles  selbst  angeführten 
Satz  Tov  Xoyov  rovö*  iovro^  äei  d^vverot  oi 
är&Qcojioi  yiyvovrai  besonders  in  dem  locus 
conclamatus  ev  xo  ao(p6v  fiovvov  keyea&at  ovx 
sdelei  xai  idelei  Zfjvog  ovvofia»  Von  drei  Stoif- 
kapiteln  der  herakleitischen  Schrift  (jtegi  rov 
jtavTog,  jtoAiTixov,  &Eokoyix6v)  redet  Diog.  L. 
1X5. 

*)  Vgl.  Anaximandr.  fr.  9  D.  mit  Heracl. 
fr.  94  D. 

2)  fr.  36.  51.  60.  62.  67  D. 

»)  fr.  36.  47.  72.  118  D. 

*)  Heracliti  Ephesii  rell.  rec.  I.  Bywater, 
Oxon.  1877 ;  H.  Dibls,  Herakleitos  von  Ephe- 
sos.  griechisch  und  deutsch,  Berlin  1901.  — 
F.  Lasalle,  Die  Philosophie  Herakleitos  des 
Dunkeln  v.  Ephesos,  2  voll.,  Berlin  1858;  J. 
Bernays,  Heraclitea,  in  Ges.  Abhdl.  I  1  ff.; 
F.  Schuster,  Heraklit  von  Ephesus,  Acta  soc. 
philol.  Lips.  3  (1873)  1  ff.;  E.  Pfleidbreb. 
Die  Philosophie  des  Heraklit  von  Ephesus  im 
Lichte  der  Mysterienidee.  Berlin  1886;  A.  Pa- 
tin, Heraklits  Einheitslehre,  Progr.  des  Ludw.- 
Gymn.  München  1885 ;  Herakli tische  Beispiele, 


Progr.  Neuburg  a.  D.  1892  und  1893;  Parme- 
nides  im  Kampfe  gegen  Heraklit,  Jahrbb.  f. 
cL  Phil.  Suppl.  25  (1899)  489— 660.  M.Wundt, 
Die  Philos.  des  H.  v.  Ephes.  im  Zusammen- 
hang mit  der  Kultur  loniens,  Arch.  f.  Gesch. 
der  Philos.  20  (1907)  431  ff.  —  A.  Bbibgbr,  Die 
Grundzüge  der  herakl.  Physik,  Herrn.  39  (1904) 
182  ff.;  ders..  Her.  der  Dunkle,  N.  Jahrbb.  f. 
cl.  Alt.  13  (1904)  686  ff.  —  Über  ein  neues 
Fragment,  hervorgezogen  aus  den  Kgr^a^iol  zwv 
'EXXtjvixün'  &e6)v,  K.  J.  Neumann,  Herm.  15 
(1880)  605  f.  —  Bald  nach  Erscheinen  von 
Herakleitos'  Buch  hat  Parmenides  lebhaft 
dagegen  Stellung  genommen  (s.  bes.  Parm. 
fr.  6  D.),  und  es  beginnt  der  Streit  der  gewreg 
gegen  die  oxaoiojtai  (Plat.  Theaet.  181a; 
179  d;  Cratyl.  411b  f.  439  c.  440  d).  Heraklei- 
teer war  der  aus  Piatons  Dialog  bekannte 
Kratylos.  Einen  Kommentar  zu  H.  in  vier 
Büchern  schrieb  Herakleides  Pontikos  (Diog. 
L.  V  88).  Einflüsse  auf  Demokritos  (A.  Brib- 
GBR,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  a.  0.  702),  die  pseudo- 
hippokratische  Schrift  Jiegi  Siaiirfg  (J.  Ber- 
nays, Ges.  Abh.  I  1  ff.;  K.  Frbdbioh,  Hippo- 
krat  Unters,  in  Philol.  Unters.  15,  Berl.  1898, 


590  Griechische  litteraturgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

Die  neun  unter  seinem  Namen  uns  erhaltenen  Briefe  rühren  von  einem 
hellenistischen  Juden  aus  der  Zeit  der  Kleopatra  her.») 

324.  Dem  Herakleitos  gegenüber  erscheint  Anaxagoras  von  Klazo- 
menai(c.500 — 428)  als  der  geistig  wie  stilistisch 8)  einfachere  und  anspruchs- 
losere. Sein  langer  Aufenthalt  in  Athen  (c.  460 — 430)  und  seine  Freund- 
schaft mit  Perikles  sowie  die  Bewunderung  des  Aristoteles  (met.  984b  17 
olov  vYjq)(ov  i(pdvrj  nag'  elxfj  kiyonnag  xovg  tiqötbqov)^  der  einen  Vorgänger 
seines  eigenen  Dualismus  in  ihm  sieht,  haben  ihn  wohl  zu  sehr  ins  Licht 
gerückt.  Seine  Physik  steht  auf  der  Grundlage  von  Anaximandros' Hypo- 
these, nur  daß  er  durch  seine  Homoiomerienlehre  das  Problem  der  StofiF- 
differenzierung  in  den  Uranfang  zurückschiebt.  Die  einfach  dualistische 
Formel  vovg  —  Stoff  hat  er  zwar  aufgestellt,  aber  nur  für  den  Schöpfungs- 
akt der  großen  Sonderung  des  ürgemisches  ((5/iou  oder  Iv)  in  die  Einzel- 
gebilde benützt,  nicht  für  die  Erklärung  der  weiteren  Weltentwicklung.») 
Die  Aufstellung  der  weltschaflfenden  bezw.  -ordnenden  Potenz  des  vovg 
führte  ihn  zu  seiner  Teleologie,  die  kein  Philosoph  vor  ihm  aufgestellt 
hatte,  für  die  aber  ein  Analogon  in  der  sittlichen  Auffassung  Altathens 
gegeben  war;  durch  sie  hat  er  auch  der  Ethik  wichtige  Anregungen  ge- 
geben. Im  übrigen  ist  sein  Verdienst  eine  richtige  wissenschaftliche  Er- 
klärung einzelner  Naturerscheinungen.  Anknüpfend  an  ein  c.  468  in 
Aigospotamoi  gefallenes  Meteor  erklärte  er  auch  die  Sonne  für  einen  durch 
die  Raschheit  der  ümschwingung  glühend  gewordenen  Stein.*)  Die  Finster- 
nisse erklärte  er  aus  dem  Dazwischentreten  {ävxicpQdrceiv)  von  Weltkörpem 
zwischen  die  Erde  und  das  sich  verfinsternde  Gestirn. «>)  Solche  Ansichten 
schienen  die  traditionellen  Vorstellungen  von  der  Göttlichkeit  der  Gestirne 
und  der  Würde  des  Wettergottes  Zeus^)  zu  beeinträchtigen,  und  so  wurde 
er  432/1  wegen  Gottlosigkeit  {äoeßeia)  verurteilt  und  mußte  die  Stadt  ver- 
lassen. Gestorben  ist  er  in  Lampsakos.  Sein  Buch  jieol  (pvoiog  wurde  zur 
Zeit  des  Sokrates  und  Piaton  in  Athen  viel  gelesen.')  Hauptschüler  von 
ihm  war  Archelaos  aus  Athen,  der  Lehrer  des  Sokrates  gewesen 
sein  soll.*) 

Eine  vermittelnde  Stellung  zwischen  der  Lehre  des  Anaxagoras  vom 
vovg  und  der  des  Anaximenes  von  der  Luft  nahm  der  Kreter  Diogenes 
aus  Apollonia  ein,  der  zur  Zeit  des  Perikles  nach  Athen  kam  und  hier 
eine  gewisse  Bedeutung  gewonnen  haben  muß;  von  seinem  Buch  über  die 

89  ff.),  insbesondere  die  stoische  Physik  sind  1   ternen  Gelehrtenstil. 

bekannt,  Spuren  des  H.  in  der  patristischen  *)  Dies  werfen  ihm   Piaton  Phaed.  97  b 

Litteratur  (J.  Dräseke,  Arch.  f.  Gesch.  der  I   und  Aristoteles  met.  985a  18;  988a  32  ff.  vor. 

Philos.  7,  1894,  158  ff.)  und  selbst  in  Heiligen-  |           *)  Als  Jahr  des  Ereignisses  ist  überliefert 

akten  (Di  Pauli,  Arch.  f.  Gesch.  der  Philos.  468/7  durch  Marm.  Par.  ep.  57,.  467/6  durch 

19, 1906,  504  ff.)  erwiesen.  Unter  den  Neueren  |   Plinius  n.  h.  II  149,  470/69  durch  Seilenos  bei 

sind  besonders  Hegel,  Goethe  und  Nietzsche  j   Diog.  L.  II  11  (F.  Jacoby,  Marra.  Par.  S.  182). 

sachlich  oder  formal  von  H.  beeinflußt.  j           *)  H.  Diels,  Vorsokr.*  320  f.  test.  77.  80. 

»)  J.  Bernays,  Die  heraklitischen  Briefe,  «)  J.  Geffoken,  Herm.  42  (1907)  127  ff. 

ein  Beitrag  zur  philos.  und  religionsgeschicht-  ^)  Plat.  apol.  26  d:  von   seinem  Einfluß 

liehen  Litteratur,  Berlin  1869;  E.  Pfleibereb,  ,   auf  Euripides  s.  o.  S.  330,  6. 

Die  ps.heraklitischen  Briefe  und  ihr  Verfasser,  *)  Einflüsse  des  Arch.  sucht  in  Schriften 

Rh.  Mus.  42  (1887)  153  ff.  des  Cori)us  Hippocrateum  nachzuweisen  (be- 

')  Diog.  L.  II  6  berichtet.  An.  schreibe  !   sonders   in  .t.  dtaiztjg   und  jr.  sßdoudSog)   K. 

fj^ecog  xai  fteycü^oTiQSJiojg]  fr.  12  D.  zeigt  n lieh-  j   Fbedbich,  Hippokrat.  Unters.  135.  139. 


4.  Die  Philosophie,    a)  Anfänge  der  Philosophie.    (§  324—825.) 


591 


Natur  (negi  <pvaiog)  hat  Simplikios,  der  es  noch  las,  zahlreiche  und  längere 
Bruchstücke  erhalten.  Aristophanes  scheint  Vorstellungen  des  Diogenes,  z.  B. 
von  der  Herrschaft  der  Luft  (*Ai^q)  und  von  den  beseelten  Wolkenwesen  (nub. 
264  ff.)  auf  Sokrates  übertragen  zu  haben. i)  —  Unbedeutend  ist  Hippon 
von  Kroton,  der  auf  die  Lehre  des  Thaies  vom  Wasser  als  ägx^  zurückkam. 
325.  Den  letzten  Versuch  einer  Lösung  des  Weltproblems  auf  moni- 
stisch-materialistischer Grundlage,  also  im  Geist  der  altionischen  Physik,  und 
den  gewandtesten  macht  Demokritos  von  Abdera,  ein  weitgereister*)  Mann, 
Sokrates'  jüngerer  Zeitgenosse,^)  dessen  Gestalt  der  hellenistischen  Laien- 
bildung zum  leblosen  Typus  des  lachenden  Philosophen*)  verflacht  ist.  An 
Stelle  der  Transformations-  und  Sekretionshypothesen,  die  einen  sei  es  ein- 
fachen, aber  verwandlungsfähigen,  öder  einen  als  Aggregat  aller  Einzel- 
stoflFe  gedachten  UrstoflF  voraussetzen,  proklamiert  er  die  Hypothese  von 
einem  qualitätslosen,  aufs  äußerste  zerkleinerten,  d.  h.  aus  den  Atomen  zu- 
sammengesetzten Urstoff,  von  dem  sich  die  sinnlich  faßbaren  Erscheinungen 
nicht  durch  ihre  Qualität,  sondern  durch  ihre  spezifische  Verbindung  unter- 
einander unterscheiden  sollen.  Da  die  Atome  sich  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung nirgends  unmittelbar  darbieten,  so  ist  auch  für  Demokritos  das 
durch  die  Sinne  vermittelte  Bild  der  Welt  zunächst  nur  ein  willkürliches 
(vo/Lup).  Eine  neue  Leistung  von  ihm  ist  der  Aufbau  einer  Ethik,*)  deren 
Ziel  das  Wohlbefinden  {evearcbf  eifdv^ir],  ä^ajußirj,  ag/novlrjf  öv/Ltjuetgli],  ära- 
ga^irj)  ist,^)  auf  seine  Naturlehre  —  die  erste  Natur  und  Mensch  im  vollen 
Sinn  umfassende  philosophische  Weltanschauung.  Unter  seinen  zahlreichen, 
meist  naturwissenschaftlichen  Schriften  in  ionischem  Dialekt,  die  Thrasyllos 
unter  Kaiser  Tiberius  in  fünfzehn  Tetralogien  ordnete,^)  waren  der  /icyac 
didxoo/iog^)  und  juixgög  didxoajuog  und  das  Buch  Jiegi  ev^^rjg  am  berühm- 


*)  H.  DiBLs,  Verh.  der  PhUol.vere.  in 
Stettin  1880,  105  ff.  Gegen  die  übertriebenen 
Ansichten  vom  Einfluß  des  D.  auf  Euripides, 
Xenophon,  Aristophanes,  die  F.  Dümmmlbr, 
Akademika  96  ff.  ausspricht,  s.  K.  JoSl,  Der 
echte  und  der  xenoph.  Sokrates  1  147  ff.  E. 
Krause,  Diog.  v.  Apoll.  I,  Progr.  Posen  1908. 

*)  Sein  eigenes  Zeugnis  dafür  fällt  frei- 
lich weg,  weil  fr.  299  Dibls  gefälscht  ist  (für 
Echtheit  Th.  Gomperz,  Wiener  Akad.  Sitz.ber. 
152,  1905,  23  f.). 

»)  H.  DiELS,  Rh.  Mus. 42  (1887)  1  ff.;  E. 
Zelleb,  Philos.  d.  Gr.  P  839  ff.  Der  Wahrheit 
scheint  am  nächsten  zu  kommen  der  Ansatz 
von  Apollodoros:  460-370;  s.  F.  Jacoby, 
Apollodors  Chron.  290  ff.  Anhaltspunkt  war 
lediglich  das  angebliche  SchOlervemältnis  zu 
Anaxagoras. 

*)  Aelian.  v.  h.  IV  20;  Suidas  u.  Atjfio- 
9<oiTog;  Anth.  Pal.  VII  56;  Hör.  ep.  II  1,  194; 
Seneca  de  tranqu.  an.  15,  2;  de  ira  II  10,  5; 
Lucian.  vit.  auct.  13;  Peregr.  7;  luvenal.  10 
28  ff.;  lul.  ep.  37  p.  534,  7  Hbrtl.  J.  F. 
Marcks,  Svmb.  ad  epistologr.  Gr.,  Bonn  1883, 
42  ff.;  H.  DiELS,  Vorsokr.»  S.371  nr.21.  Offen- 
bar ist  der  Name  des  lachenden  Philosophen 
aus  dem  Charakter  der  ihm  beigelegten,  später 


allein  gelesenen  Sentenzen  entstanden. 

')  Die  Echtheit  der  ethischen  Fragmente 
ist  von  P.  Natorp,  Die  Ethika  des  D.,  Mar- 
burg 1893  sehr  wahrscheinlich  gemacht;  ein 
eigentliches  System  der  Ethik  hat  D.  freilich 
nicht  entworfen. 

^)  An  Sinnenlust  denkt  D.  dabei  nicht: 
s.  fr.  235  D.  und  Natorp  a.  a.  0.  96  f. 

7)  Diog.L.IX45.  Auch  Schüler  hinterließ 
Demokritos,  darunter  den  Anaxarchos,  den 
Gefährten  des  Alexandres;  s.  Th.  Gomperz, 
Anaxarch  und  Eallisthenes,  in  Gomm.  in  hon. 
Momms.,  Berl.  1897,  471—80.  —  Benützung 
des  Dem.  bei  Aristoteles  sucht  A.  Dtroff, 
Philol.  63  (1904)  41  ff.,  ohne  viel  Erfolg  nach- 
zuweisen. 

*)  Der  /wiyaff  öidxoofAog  wurde  von  Theo- 
phrast  dem  Leukippos  beigelegt;  s.  Diog.  L. 
IX  46.  Auch  Aristoteles  redet  von  Leukippos 
als  einer  geschichtlichen  Persönlichkeit,  einem 
hatgog  des  Dem.  Die  Bedenken  aber,  die 
E.  RoHDE  (Kl.  Sehr.  I  209  ff.)  auf  Grund  von 
Epikuros'  Zeugnis  (Diog.  L.  X  13)  und  sach- 
lichen Erwägungen  gegen  die  Geschichtlich- 
keit des  L.  vorgebracht  hat,  sind  weder 
durch  die  Rettungsversuche  von  H.  Diels 
(Verh.  der  Stettiner  Philologenvers.  96  ff.). 


592 


Ghriechische  Litteraturgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


testen  ;0  wir  haben  aus  ihnen  nur  wenige  Zitate.  Auch  philologische 
Themen  behandelte  er  in  den  Schriften  negl  noirjoiog^  negl  'O^tjqov  fj  dg^oe- 
Tieit^Q  xal  ykcoaaioyv,  Tiegi  ^fjKxrcDv,  dvo^aGxixov.  Zu  den  echten  Werken 
kamen  später  viele  Fälschungen;  diese  rührten  größtenteils  von  dem 
Schwindler  Bolos  aus  Mendes  in  Ägypten  aus  der  Alexandrinerzeit  her, 
über  den  Columella  VII  5  sagt:  Bolus  Mendesius,  cuius  commenta,  quae  ap- 
pellantur  graece  vTzojuvrjjuaTaf  sub  nomine  Democriti  falso  produntur,*)  Die 
Fälschungen  des  Bolos  waren  als  vTzojuv^/naxa  xax  Idiav  terayfjUva  schon  in 
die  Tetralogien  des  Thrasyllos  aufgenommen;  vom  4. — 6.  Jahrhundert 
kommen  dann  alchemistische  Pseudepigrapha,  weiteres  noch  in  byzantini- 
scher Zeit  hinzu.  Zu  den  Fälschungen  gehören  der  zum  Teil  auf  uns  ge- 
kommene Briefwechsel  zwischen  Demokritos  und  Hippokrates  und  die  zer- 
streut zitierten  Stellen  aus  den  Büchern  Jiegl  ov^adeiwv  xal  äyruia^eicbv,^) 
(pvoixd  xal  fxvoxixdf  xeigoxjurjta.^)  —  Aus  einer  Sentenzensammlung  haben 
sich  viele  Kemsprüche  des  Demokritos  bis  auf  unsere  Zeit  erhalten;  sie 
gehören  zum  Schönsten,  was  in  dieser  Art  das  Altertum  hervorgebracht 
hat,  und  stehen  teils  zerstreut  bei  Stobaios,  teils  sind  sie  zu  einer  eigenen 
kleineren  Sammlung  zusammengefaßt.^)  Seine  stilistischen  Vorzüge**)  können 
wir  aus  den  erhaltenen  Resten  kaum  mehr  ahnen;  jedenfalls  näherte  er 
sich  in  seiner  Art  der  läßlichen  Anmut  des  altionischen  Stils.  Sein  Ein- 
fluß reicht  sehr  weit,  nicht  nur  auf  Philosophen  des  Altertums,  wie  Epi- 
kuros,  Philolaos,'')  Aristoteles,^)  sondern  auch  auf  moderne  Denker.^) 

326.  In  engem  Zusammenhang  mit  den  Bestrebungen  der  Philosophen 
steht  seit  dem  5.  Jahrhundert  die  Entwicklung  der  ältesten  Fachwissen- 
schaft, der  Heilkunde. ^0) 


P.Tannery  (Rev.  des  6t.  gr.  10.  1897, 127  AT.), 
der  übrigens  weder  Rohde  noch  Diels  kennt 
und  den  Namen  L.  als  Pseudonym  des  Demo- 
kritos auffaßt,  A.  Dtboff  (Demokritstudien, 
Leipz.  1899,  3  ff.)  noch  durch  E.  Zbllers  Be- 
hauptungen (Phil,  der  Gr.  P838A.)  erledigt 

*)  Aus  der  Schrift  ne^i  FvÜv^Urfc;  schöpfte 
Seneca  de  tranquillitate  animi,  worüber  R. 
HiBZEL,  Herm.  14  (1879)  354  ff. 

«)  F.  SüSEMiHL,  AI.  Lit.  I  482  ff.,  berich- 
tigt von  E.  Oder,  Rh.  Mus.  48  (1893)  1  f. 
Suidas  unterscheidet  BoAog  At^fioxalrsiog  qrt- 
koooffoc:  und  Bd)?.og  Mevörjaia;  Uifdayogetog. 
Erhalten  ist  von  dem  zur  Zeit  des  Eallimachos 
lebenden  Bolos  eine  Wundergeschichte  des 
Kreters  Epimenides  bei  dem  Paradoxographen 
Apollonios  in  Rer.  nat.  acript.  ed.  0.  Keller,  I 
Leipz.  1879.  p.  43  f.  Über  die  Demokritfäl- 
schungen  im  ganzen  H.  Diels,  Berl.  Ak.  Sitz.- 
ber.  1902,  1101. 

*)  Nepualii  fragm.  jreoi  id)v  xaia  avxi- 
naÜFtar  xal  oviinaOum'  et  Democriti  .t^oi 
avft.t.  X.  drr/.T.  rec.  W.  Gemoll,  Striegau  1884. 
Vgl.  Th.  Weidlich,  Die  Sympathie  in  der  an- 
tiken Litt.,  Progr.  Stuttgart  Karlsgym.  1894. 

*)  Vgl.  E.  Meyer,  Gesch.  der  Botanik, 
Königsb.  1854—57,  I  277.  unter  dem  Titel 
' y6oooxo:nxo%'  AfjftoxgtTov  haben  wir  in  Geo- 
pon.  II  6  ein  interessantes  Kapitel  über  Quel- 


lensucher. Daß  aber  der  Name  Demokritos 
hier  auf  einem  willkürlichen  Lemma  beruht 
und  der  Abschnitt  vielmehr  auf  Poseidonios 
zurückgeht,  beweist  E.  Oder,  Ein  angebliches 
Bruchstück  Demokrits  über  die  Entdeckung 
unterirdischer  Quellen,  Philol.  Suppl.  7  (1899) 
23 1 334 

»)  Vgl.  P.  Natorp,  Die  Ethika  des  Demo- 
kritos. Die  Gnomensammlung  auch  bei  H. 
Diels,  Fragm.  d.  Vorsokr.*  417 — 25  in  neuer 
Rezension.  Derselbe  S.  466  f.  über  gefälschte 
•p'iofÄai  des  Demokrit. 

«)  H.  Diels,  Vorsokr.»  S.  374  nr.  34;  G. 
Ammon  in  Xenien,  der  41.  Philologenvers,  in 
München  dargeboten,  1891,  1  ff.;  Th.  Birt 
hinter  P.  Natorp  a.  a.  0.  187  ff. 

^)  Tu.  GoMPERz,  Griech.  Denker  II*  490  f. 

«)  A.  Dyroff  s.  o.  S.  591,  7;  Piaton  er- 
wähnt ihn  nicht,  was  zu  gehässigen  Ge- 
rüchten (Aristoxen.  fr.  83  M.)  Anlaß  gegeben 
hat.  Neuere  haben  daran  gedacht,  den  pla- 
tonischen Philebos  oder  Plat.  Theaet.  155  e 
oder  Plat.  Lys.  2 14 ab  (H.Räder.  Plat. philos. 
Entw.  155, 1)  auf  D.  zu  beziehen,  was  nicht 
walirecheinlich  ist. 

^)  LOwENHEiM,  Arch.  f.  Gesch.  der  Philos. 
7  (1894)  280  ff.  (besonders  über  den  Einfluß 
auf  Galilei). 

*^)   Allgemeine  Litteratur  zu  den  Real- 


4.  Die  Philosophie,    a)  Anfänge  der  Philosophie.    Medizin. 


^) 


593 


Auf  dem  Weg  der  Loslösung  einer  rationellen  B[rankenbehandlung 
von  den  Wahnvorstellungen  primitiven  Aberglaubens  ist  das  Zeitalter  des 
homerischen  Epos  schon  weit  vorgeschritten.  Die  Ärzte  bilden  bei  Homer 
einen  hochangesehenen  (11.^1514)  Teil  des  Handwerkerstandes  {StijuioeQyoi 
Od.  Q  384),  dessen  Schutzpatrone  Asklepios  und  seine  Söhne  Podaleirios 
und  Machaon  sind;  Verwundungen  werden  durchaus  vernunftgemäß  be- 
handelt; von  hieratischen  Kuren  mit  Zaubersprüchen,  Inkubation  u.  dgl. 
findet  sich  keine  Spur  außer  Od.  t  457,  wo  biaoi&rj  zur  Blutstillung  an- 
gewendet wird;  Od.  £  411  scheint  sogar  die  Meinung,  als  gebe  es  von  Gott 
geschickte  Krankheiten,  gegen  die  der  Mensch  nicht  ankämpfen  könne  und 
solle  (^Qoi  voöoi),  ironisiert  zu  werden.*)  Die  abergläubischen  Ansichten 
und  Methoden,  zu  denen  auch  der  Glaube  an  die  Bedeutung  gewisser 
Zahlen,  besonders  der  Siebenzahl,  gehört,*)  bestehen  aber  immer  und 
überall  neben  der  Aufklärung  im  niederen  Volk  weiter,  in  Griechenland 
gepflegt  durch  die  Priesterschaften  des  Paieon  ApoUon  {taxQ6fiavxiq\  Askle- 
pios, der  Rhea  und  durch  allerlei  Wundermänner.  3)    Je  mehr  die  wissen- 


wissenschaften:  E.  Meiners,  Geschichte  des 
Ursprungs,  Fortgangs  und  Verfalls  der  Wissen- 
schaften in  Griechenland  und  Rom,  Lemgo 
1781—82,  2  Bände;  S.  Günther,  Mathematik, 
Naturwissenschaft  und  Erdkunde  im  Altertum, 
Handb.  derklass.  Alt.V  1,2.  Aufl.  1894.229ff.; 
J.  G.  Schneider,  Eclogae  physicae,  Jena  u. 
Leipz.  1801,  2  vol.,  eine  Chrestomathie  aus 
naturwissenschaftlichen  Werken  der  Alten;  M. 
C.  P.  Schmidt,  Realistische  Chrestomathie  aus 
der  Litteratur  des  klassischen  Altertums,  in 
3  Büchern,  Leipz.  1900;  Derselbe  im  Jahres- 
ber.  üb.  d.  Fortschr.  d.  kl.  Aliwiss.  73  (1892) 
und  90  (1896)  71  if. 

Litteratur  zur  griech.  Medizin:  Medi- 
corum  graecorum  opera  omnia  graece  et 
latine  ed.  C.  G.  Kühn,  Leipz.  1821—33, 26  vol. ; 
Physici  et  medici  graeci  minores  ed.  J.  L. 
Ideler,  Berl.  1841—42,  2  voll.,  größtenteils 
Byzantiner.  Von  der  Berliner,  Leipziger  und 
Eopeuhagener  Akademie  ist  geplant  ein  auf 
32  Bände  berechnetes  Corpus  reterum  medi- 
cor  um.  Siehe  H.  Diels,  Die  Handschriften 
der  antiken  Ärzte.  Griech.  Abteilung.  Abh.  der 
Berliner  Akad.  1906;  ders..  N.  Jahrbb.  f.  kl. 
Altert.  19  (1907)  722  flf.,  Fragmentensamm- 
lung der  griechischen  Ärzte,  von  M.  Well- 
XANN,  auf  5  Bde.  berechnet,  wovon  1.  Bd. 
Berlin  1901.  —  K.  Sprenoel,  Versuch  einer 
pragmat.  Geschichte  der  Arzneikunde,  4.  Aufl., 
Leipz.  1846 ;  H.  Häser,  Lehrbuch  der  Geschichte 
der  Medizin  u.  der  epidem.  Krankheiten,  3  Bde. 
3.  Aufl..  Jena  1875—1882;  in  Th.  Püsch- 
XANNs  Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin 
ist  die  griech.  Medizin  in  Bd.  I  von  R.  Fuchs 
(1902)  behandelt  S.  153—393;  J.  Hirschberg, 
Geschichte  der  Augenheilkunde,  I.Band  das 
Altertum  betreffend  im  Handbuch  der  ges. 
Augenheilk.  XII.  Leipz.  1899;  H.  Magnus, 
Die  Augenheilkunde  der  Alten,  Breslau  1901. — 
Eine  zusammenfassende  doxographische  Dar- 
Handbach  der  klass.  Altertamswissenschaft.     VII, 


Stellung  der  älteren  griechischen  Medizin  bis 
c.  370  ließ  Aristoteles  durch  seinen  Schttler 
Menon  herstellen.  Von  dieser  awayojy^ 
iargixrj  oder  Mevwvtia  iaiQixd  ist  ein  in- 
direkter, zunächst  aus  der  abschließenden 
doxographischen  Schrift  des  Alexandros 
Philale  th  es  aus  Laodikeia  sieoi  rd>i^  ägeo- 
xovxoiv  xolg  iaxQoig  (um  Chr.  Geb.)  geschöpf- 
ter Auszug  in  einem  Londoner  Papyrus  ge- 
funden (H.  Diels,  Beri.  Ak.  Sitz.ber.  1893, 
101  ff.;  ders.,  Herrn.  28, 1893,407  ff.  Ausgabe 
von  H.  Diels  im  Supplementum  Aristotelicum 
III  1.  Berlin  1893).  Später  schrieben  Biogra- 
phisches Soranus.  Herennius  Philonund 
Dionysios  der  Ephesier  Jitgi  iaiQwy.  In 
den  von  Montfaucon  und  Gramer  veröffent- 
lichten Eanones  steht  folgendes  Verzeich- 
nis berühmter  Arzte :  Atjfnöxgizog/IjEJioxQdTtjg, 
AtoüxoQidi]g,'AQXiyevTfg,'Povq?og,  Fcdfjvdg,  ^dd- 
ygiog,  Sioyv,  AXe^avSgog  ^Aqrgodiatevg ,  *AXi^av- 
Sgog  TgaXXiavog  . .  Aijfioa^evtjg,  Hevrjoog,  ^dov- 
iievog,  Aioxlfjg,  AetoviSrjg,  "AvtvkXogf  Soioavog, 
Ogeißdaiogf  'Aettog,  'Idxcoßog  Zxvjiakog  (Kojv- 
aiavuvojioUxtjg  corr.  Brinkmann  bei  Kröh- 
nert).  Vgl.  0.  Kröhnert,  Canonesne  poe- 
tarum  scriptorum  p.  54 — 63,  wo  noch  ein 
älteres  Verzeichnis  besprochen  ist.  Ein  drittes 
Verzeichnis  hinter  dem  Celsustext  erläutert  von 
M.  Wellmann,  Herm.  35  (1900)  367  ff.  —  Über 
die  Anfänge  der  Medizin  bei  den  Griechen 
Th.  Gomperz,  Griech.  Denker  I*  221—254; 
J.Ilberg,  N.  Jahrbb.  f.kL  Alt.  13  (1904)401  ff. 
Über  Medizin  und  Naturgeschichte  berichtet 
im  Jahresber.  über  die  Fortschr.  der  klass. 
Alt.wiss.  H.  Stadler  (Bd.  114,  1902.  26  ff.). 

*)  Vgl.  Hippocr.  de  aq.  vent.  loc.  22 ;  Eur. 
fr.  292  N.«. 

')  W.  H.  Röscher,  Die  Hebdomadenlehre 
der  griech.  Philosophen  und  Ärzte,  Abh.  der 
Sachs.  Ges.  der  Wiss.  24  (1906)  nr.  6. 

')  Chr.  A.  Lobegk.  Aglaoph.  639  ff.  und 
5.  Aufl.  38 


594  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

schaftliche  Medizin  aufblüht,  desto  mehr  stellt  sie  sich  zu  der  Priester- 
medizin in  Gegensatz,  1),  wenn  auch  zeitenweise,  wie  es  in  der  von  Empe- 
dokles  gegründeten  sizilischen  Ärzteschule  der  Fall  ist,  eine  gegenseitige 
Annäherung  stattfindet.  Ein  vernünftiger  Betrieb  scheint  übrigens  in  der 
Erankenbehandlung  durch  die  Asklepiospriester  von  Eos  geherrscht  zu 
haben,  von  der  Hippokrates  Nutzen  gezogen  haben  soll.*)  Die  rationelle 
Ausübung  der  auf  Erfahrung  begründeten  Heilkunst  hielten  die  griechi- 
schen Ärzte  des  5.  Jahrhunderts  für  etwas  spezifisch  Griechisches,*)  und 
tatsächlich  konnten  sie  in  diesem  Stück  von  den  Ägyptern^)  und  anderen 
Barbaren  nichts  Brauchbares  lernen.  Schon  im  6.  Jahrhundert  wurden 
von  Gemeinden  Ärzbe  mit  festem  Gehalt^)  angestellt,  und  der  berühmte 
Wundarzt  Demokedes  von  Kroton«)  konnte  durch  eine  glückliche  Kur 
bei  Dareios  I.  die  ägyptischen  Ärzte  am  persischen  Hof  verdrängen  und 
die  griechische  Medizin  dort  einführen,  wie  denn  auch  späterhin  der  Grieche 
Ktesias  als  Leibarzt  des  Artaxerxes  H.  begegnet.  Alte  Ärzteschulen  waren 
in  Kroton,  der  Heimat  des  Demokedes  und  des  Alkmaion,  in  Kyrene,^) 
Rhodos,^)  besonders  aber  bei  den  Asklepiostempeln  von  Kos  und  Knidos. 
Die  knidische  Schule,  die  ihre  Erfahrungen  auch  litterarisch  {Kvidiai  yvcofim 
8.  Ps.Hippocr.  71,  dtaiT.  d^,  1)  niederlegte,  stand  Mitte  des  5.  Jahrhunderts 
unter  Leitung  des  Euryphon.»)  Etwas  älter  als  er  ist  der  Krotoniate 
Alkmaion,  10)  der,  in  seiner  dualistischen  Grundanschauung  von  Pythagoras, 
in  seiner  Psychologie  von  Herakleitos  abhängig,  durch  seine  Lehre  von 
den  TTOQoi  auf  Empedokles  und  die  Atomisten,  durch  die  vom  Gehirn  als 
Zentralorgan  auf  Hippokrates  und  Piaton  gewirkt  hat.  Sein  Buch  mgi 
(pvoiog  in  ionischem  Dialekt  scheint  später  durch  die  Gegnerschaft  des 
Aiistoteles  in  Schatten  gestellt  worden  zu  sein;  es  ist  das  frühste  uns  be- 
kannte Stück  medizinischer  Litteratur,  aber  sicherlich  nicht  überhaupt  das 
frühste. 


P.  FoüCART,  Des  ossociations  r^lig.  chez  les  *)  Über  Entwicklang  der  Priestermedizin 

Grecs,   Paris  1873,  98.  171   über  Kuren   der  zu  rationellerer  Behandlung  hin  Th.  Lbfort. 

Rheapriester;  über  die  Inkubationskuren,  die  Notes  sur  le  culte  d'Asklepios  (Mus^e  Beige 

wir  am  besten  aus  Aristoph.  Flut,  den  inschrift-  |    10, 1906, 21  ff.) ;  J.  Ilbero,_N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt. 

liehen  Wunderberichten  aus  dem  Asklepieion  - 


von  Epidauros  (Ch.  Michel.  Recueil  d'inscr. 
Grecques  nr.  1009;  F.  Cavvadias,  M^langes 
Perrot,  Paris  1903,  41  ff.;  N.  Festa,  Atene  e 


13  (1904)415;  R.  Fohl,  De  Graecor.  medicis 
publicis,  Berl.  Diss.  1905,  14  ff.  (erst  in  später 
Zeit  verbinden  sich  Arzt  und  Asklepios- 
priester). 


Roma  3,  1900,  7  ff.)  und  den  irooi  koyoi  des  |           ')  Hippocr.  de  vet.  med.  5  p.  6,  3  Eühlbw. 

Aelius  Aristides   (or.  23 — 27  Dind.)  kennen,  j           *)  A.  Wibdemann  zu  Herodot.  II  p.  323  ff. 

s.  L.  Deubner,  DeincubationecapitaIV,  Leipz.  I   345;  nur  für  die  Augenheilkunde,  in  der  das 

1900;  M.  Hamilton.  Incubation  or  the  Cuie  1    19.  Jahrh.   unmittelbar    an    die    griechische 

of  Disease   in  Pagan   temples  and  Christian  Medizin   anknüpft,    ist    ägyptischer   Einfluß 

Churches,    St.  Andrews  1906.      Bei  Flaton  bedeutender. 

Chamiid.  156  d  ff.  verteidigt  ein  thrakischer  :           *)  So  Demokedes  in  Aigina  mit  1  Talent, 

Medizinmann   die  e:nMf  ^wissenschaftlich*.  dann  in  Athen  mit  100  Minen  Gehalt  (Herodot 

Vgl.  auch  F.  G.  Welcker,  Kl.  Sehr.  3,..64  ff.;  III  131).     Siehe  R.  Foul  a.  a.  0.  8.  67. 

M.  Wellmann,   Fragm.  der  griech.  Ärzte  I  ^)  Herodot.  III  125.  131  ff. 

29  f.  A.;  W.  ScHMiD.  Fhilol.  62  (1903)  15  f.  ")  Herodot.  III  131. 

M  Ar.  Flut.  407  ff.;  Aristid.  or.  45  p.  24  ^)  (lalen.  T.  X  5  Kühn. 

Dind.  ;   49  p.  534  u.  ö.     über    den    Kampf  •)  M.  Wellmann,  Realenz.  s.  v. 

zwischen    christlich-religiöser    imd    profaner  ■          *®)  J.  W achtler.   De  Alcmaeone   Croto- 

Krankenheilung  im  5.  und  6.  Jahrh.  n.  Chr.  niata.  Leipz.  1896:   H.  Diels,  Vorsokr.^  103ff. ; 
G.  LuMBRoso,   L'Egitto  al   tempo   dei  Greci 
e  dei  Romani*,  Roma  1895,  151  f. 


R.  Fohl  a.  a.  0.  12,  9. 


4.  Die  Philosophie,    a)  Anfänge  der  Philosophie.    Medizin.    (§  327.)         595 


327.  Aus  der  Schule  von  Kos  hervorgegangen  ist  der  gefeiertste 
griechische  Arzt,  Hippokrates;*)er  stammte  aus  einem  alten  Asklepiaden- 
geschlecht  der  Insel  Eos,  d.  h.  wohl  aus  einem  altthessalischen,  in  Eos  ein- 
gewanderten Adelsgeschlecht;  geboren  ist  er  nach  Apollodoros  Ol.  80.  1 
oder  460  v.  Chr.,  nach  Soranos  am  23.  des  Monats  Agrianos.*)  In  den 
Zeiten,  wo  in  solchen  Geschlechtern  zugleich  mit  dem  Eultus  des  Gottes 
sich  die  Heilkunst  und  ärztliche  Praxis  vererbte,  war  der  Vater  der  natür- 
liche Lehrer  des  Sohnes;  aber  außer  bei  seinem  Vater  Herakleides  soll  der 
junge  Hippokrates  bei  dem  Arzt  Herodikos  aus  Selymbria  in  die  Schule 
gegangen  sein.  Wenn  auch  Gorgias')  und  Demokritos  als  seine  Lehrer 
genannt  werden,  so  deutet  das  vielleicht  auf  Beziehungen  hin,  die  Hippo- 
krates mit  jenen  Männern  unterhielt.*)  Als  berühmter  Arzt  kam  er  ver- 
mutlich viel  in  der  Welt  herum;  ob  aber  die  Aufenthalte  in  Thasos,  Abdera, 
Eyzikos,  Erannon,  die  Behandlung  des  Eönigs  Perdikkas  von  Makedonien, 
die  Einladung  an  den  persischen  Hof  im  einzelnen  als  geschichtlich  an- 
gesprochen werden  können,  ist  sehr  fraglich;  es  können  hier  Schlüsse  aus 
den  Epidemien,  die  von  verschiedenen  Verfassern  sind,  vorliegen.  Nur 
ein  Aufenthalt  in  Thessalien  kann,  schon  wegen  des  Namens  Thessalos, 
den  einer  von  Hippokrates'  Söhnen  führte,  für  sicher  gelten.  Auch  die 
Annahme,  daß  er  längere  Zeit  in  Athen  gelebt  und  in  der  großen  Pest 
zu  Anfang  des  peloponnesischen  Erieges  seine  Eunst  gezeigt  habe,  ist 
ganz  unverbürgt.*)  Den  Tod  fand  er  im  thessalischen  Larissa.  Die  An- 
sätze für  das  Todesjahr  schwanken  mit  den  Angaben  über  die  Lebensdauer 
(85,  90,  104,  109  Jahre).  —  Unter  dem  Namen  des  Hippokrates  ist  eine 
Sammlung  von  dreiundfünfzig  Schriften  (in  zweiundsiebzig  Büchern)  in 
ionischem  Dialekt  auf  uns  gekommen.  Hippokrates  (und  nach  ihm  alle 
Ärzte  dieser  älteren  Periode)  schrieb  wie  sein  älterer  Landsmann  Hero- 
dotos    nicht   in   dem   Dialekt   seiner   dorischen   Heimat,    sondern    in    der 


^)  Quellen  sind  außer  einem  Artikel  des 
Suidas  und  Stephanos  Byz.  u.  K&g  eine  bei 
C.  G.  KüHK  III  850  abgedruckte  Vita,  die 
vermutlich  aus  Soranos'  B(oi  laxQwv  exzerpiert 
ist;  eine  neue  lateinische,  von  Soranos  un- 
abhängige Vita  publiziert  aus  einer  Brüsseler 
Handschr.  von  H.  Schöne,  Rh.  M.  58  (1903) 
56  ff.  Die  Briefe,  weil  unecht,  kOnnen  nur 
mit  Vorsicht  in  Betracht  gezogen  werden.  — 
Historia  litteraria  Hippocratis  auf 
Grund  der  Vorarbeiten  von  J.  A.  Fabricius 
und  Chr.  Ackermann  in  Kuhns  Ausg.  I ;  Chb. 
PETERSEy,  Hippocratis  scripta  ad  temporum 
rationes  disposita,  Hamb.  1839.  Vgl.  Th.  Gom- 
PERZ,  (Triech.  Denker  I*  226  ff. 

2)  F.  Jacoby,  Apollodors  Chronik  295  ff. 
Die  Zeitbestimmung  bei  Apollodoros  ist  durch 
den  Synchronismus  zwischen  Hipp.  u.  Demo- 
kritos beeinflußt. 

*)  Prodikos,  der  bei  Suid.  als  Lehrer  des 
H.  figuriert,  ist  sicher  aus  'Hoodixog  ver- 
schrieben (vgl.  o.  S.  513,  5).  Herodikos  wird 
genannt  Epid.  VI  3,  18. 

*)  Der  untergeschobene  Briefwechsel  des 
Demokritos  und  Hippokrates  steht  in  R.  Heb- 


CHERS  Epistel,  gr.  nr.  18.  20—23  (p.  306  ff.), 
tlber  die  Zeit,  in  der  die  Briefe  unter  Be- 
nützung der  Schriften  des  Hippokrates  unter- 
geschoben wurden,  s.  J.  F.  Marcks,  Symb. 
crit.  ad  epist.  gr.  30—45.  Ep.  1—1?  sind 
von  einem  Verfasser  und  älter  als  die 
übrigen;  ein  Brief  des  H.  an  KOnig  Ptole- 
maios  (!)  bei  J.  F.  Boissonadb,  Anecd.  HI 
422  ff. ;  eine  textlich  von  der  bisher  bekann- 
ten abweichende  Sammlung  der  Briefe,  io 
der  auf  V  sogleich  XI  folgt,  repräsentieren 
zwei  Berliner  Papyri  (Berl.  Elassikertexte 
III  6  ff.). 

')  Dankbare  Ehrenbezeugungen  der  Athe- 
ner erwähnt  unter  Beigabe  eines  gefälschten 
Volksbeschlusses  die  Vita.  Plinius  n.  h.  VII 123 
Hippocrates  medicina  (scenituit),  qui  venientem 
ab  Illyriia  pestilentiam  praedixit  discipulaa- 
que  ad  auxiliandum  circa  urbes  dimisit.  Gale- 
nos  nennt  unter  den  Städten,  denen  Hippo- 
krates mit  seiner  Kunst  Hilfe  geleistet,  wohl 
Krannon  und  Thasos,  nicht  aber  Athen.  Ohne 
alle  Beweiskraft  ist  die  Stelle  in  Piatons 
Protagoras  p.  311b,  wo  nur  der  Homonymität 
wegen  der  Koer  Hippokrates  angeführt  ist. 

38* 


596  Griechische  Litteratnrgeschiohte.    I.  Klassische  Periode. 

Sprache,  die  vor  dem  peloponnesiscben  Krieg  in  der  Prosa  herrschend 
war.^)  Die  dreiundfünfzig  Schriften  sind  an  Gehalt  und  Stil  sehr  ver- 
schieden, und  von  keiner  einzigen  steht  die  Abfassung  durch  Hippokrates 
völlig  fest;^)  sie  sind  aber  seit  dem  4.  Jahrhundert  die  Handbibliothek  der 
griechischen  Arzte  geworden,  rj  jioXv^gvXrjTog  xai  nokv&avfxaatog  iirjxovrd^ 
ßißkog  7)  näoav  iaTgixrjv  &reoTiJ//iyv  xe  xcd  ocxpiav  ijJuifQiexovoa  (Suid.).  Zum 
Teil  sind  es  konzeptartige  Notizen  über  Beobachtungen,  zum  Teil  schlichte 
Abhandlungen  für  Fachmänner,  zum  Teil  flüssiger  geschriebene  Erörte- 
rungen über  Gegenstände  von  allgemeinem  Interesse  für  weitere  Kreise, 
zum  Teil  (dies  trifft  nur  für  negi  Tsyvrjg  zu)  kokette  Erzeugnisse  sophisti- 
scher Epideiktik.  Eine  der  Schriften,  negi  (pvotog  ärdgcinov^  wird  von  Ari- 
stoteles (bist.  anim.  p.  512  b  12)  als  Werk  des  Polybos,  eines  Schwiegersohnes 
des  Hippokrates,  angeführt;')  andere  wurden  von  den  Kennern,  man  weifi 
nicht  auf  welche  Zeugnisse  hin,  dessen  Söhnen  Thessalos  und  Drakon  zu- 
geschrieben; andere  wieder  waren  erst  von  jüngeren  Ärzten  unter  dem 
falschen  Namen  des  berühmten  Asklepiaden  den  Königen  Ägyptens  ver- 
kauft worden;-^)  endlich  haben  auch  die  alten  und  echten  Werke  im  Lauf 
der  Zeit  Zusätze  und  Änderungen  erfahren.  In  der  Kaiserzeit,  als  die 
medizinischen  Studien  neu  erblühten,  suchten  daher  die  philologisch  ge- 
bildeten Ärzte  das  Echte  vom  Unechten  auszuscheiden.'')  Der  berühmte 
Arzt  Galenos  schrieb  darüber  ein  eigenes,  nicht  auf  uns  gekommenes  Buch 
und  kommt  in  den  uns  erhaltenen  Kommentaren  sehr  oft  auf  Echtheits- 
fragen zu  sprechen.  <^)  Am  meisten  tragen  das  Gepräge  der  Echtheit  und 
sind  durch  Zeugnisse  der  Alten  verbürgt:  nQoyvioorixd,  jiegl  diaiTrjg  ö^icov,'^) 
hn&qfjiiai    Buch   1    und    3,®)    negl    tojv   iv   xetpakf}    rgojfxdrcov.    Echtes    mag 

^)  Über  den  ionischen  Dialekt  des  Hip-  '.  K.  Fredrich,  Hippokr.  Untersuchungen.  11. 

pokrates  0.  Hofpmann,  Die  griech.  Dialekte  !   80   setzt   das  Zustandekommen  der  Samm- 

111  p.  192  ff.  und  die  Ausg.  von  H.Kühle  WEIN  Inng   in   den   Anfang  der  Alexandrinerzeit, 

1  praef.  LXV  ff.  spätestens    250.     Eine    reiche    medizinische 

*)  Schriften  des  Hippokrates  waren  schon  ,   Litteratur  setzt  schon  Xen.  mem.  IV  2.  10 


zu  Piatons  Zeit  in  Umlauf;  s.  Plat.  Phaedr. 
270c,  Protag.  311b;  aber  Piaton  nennt  uns 
keine  Titel  und  läßt  uns  auch  bezüglich  des 


voraus. 

')  Daß   der  Aristoteliker  Menon  schon 
unechte  Schriften  als  hippokratische  zitierte, 


Ursprungs  der  Rede  des  Arztes  £r}'ximachos  .   beweisen    die    latrika   Menoneia.     »Siehe    H. 

im   Symposion    mu*   raten;    s.  indessen    die  Dibls,  Herm.  28  (1893)  480;  R.  Schöne,  Gott. 

Ausleger  zu  p.  186  d  (die  Stelle  ist  wohl  auf  gel.  Anz.  1900.  660. 

Alkmaion   zurückzuführen).    Aristoteles  be-  *)  C.  G.  Kühn  I  p.  XX  sq. 

nützte  bereits  die  meisten  Schriften  unserer  ,           ^}  Von   unechten   Schriften    des  Hippo- 

Sammlung,  wie  F.  Poschenrieder,  Die  natur-  \   krates    im    allgemeinen    spricht   Augustinus 

wiss.  Schriften  des  Aristoteles  im  Verhältnis  I   contra  Faust.  22,  6. 

zu  den  Büchern  der  hippokratischen  Samm-  !           ^)   Galenos   erkannte   nur   13  Schriften 

lung.  Bamberger  Progr.  1887  nachwies.     Die  als  echt  an   und  statuierte   auch   bei   diesen 

ganze  Sammlung  kann,  schon  des  ionischen  weitgehende  lQter|)olationen ;  sein  Urteil  hat 

Dialektes  wegen,  nicht  jünger  als  das  4.  Jahr-  aber,  da  er  besonders  die  Echtheit  der  sicher 

hundert  sein;    sie  hat  wahrscheinlich   schon  unechten  Schrift  .Tfot   <yvoio^  uv\)qio:iov   be- 

dem   großen   athenischen  Arzt  Diokles   von  tont,   wenig  Bedeutung;   30   echte  Schriften 

Karystos  c.  3o0  vorgelegen,   wenn  auch  die  anerkannte   Erotianos   (J.  Ilberg,   Abh.  der 

von*^  M.  Wellmann  früher  vertretene  Ansicht.  1   sächs.  Ges.  d.  Wiss.  14,  1894,  103  ff.),  11  Pal- 

daß  dieser  sie  veranstaltet  habe,  nicht  halt-  !   ladio8(s.  VII.):  s.  J.  Ilberg,  Studiapseudhippo- 

bar  ist:  fest  steht  nur,  daß  Diokles  12  (viel-  cratea,  Lips.  1883;    L.  0.  Bröcker.  Die  Me- 

leicht  16:    M.  Wellmann,  Fragm.  gr.  Arzte  thoden  (ralens   in  der   litterarischen   Kritik, 

I  61  ff.)  Schriften  unseres  Corpus  gehabt  und  Rh.  Mus.  40  (1885)  415  ff. 

daß   er  nicht  sicherer   als  wir  gewußt  hat,  ')  Daher  akute  Krankheiten. 

was  echt  hippokratisch  sei   und  was  nicht.  ®)  Die  Bücher  2  und  4 — 7  galten  schon 


4.  Die  Philosophie,    a)  Anfänge  der  Philosophie.    Medizin.    (§  327.)        597 

auch  in  den  Aphorismen  0  stecken.  Als  echt  gelten  auch  noch  fast  all- 
gemein die  Bücher  Jieol  dQxairjg  IrjxQixijgf  negl  äyfjubv,  negi  x^M^'f  ^«^^ 
degcov  vddrcov  roncov,^)  negi  legijg  vovoov,^)  Tiegl  äg^gcov  (von  den  Oelenken). 
Das  Buch  jiegl  cpvoiog  äv^gamov  wird  von  Aristoteles,  wie  gesagt,  dem 
Polybos  zugeschrieben.  Unter  den  zweifelhaften  Büchern  gehen  zum  Teil 
in  die  Zeit  vor  Hippokrates  zurück  die  Kcoaxai  ngoyviooeig^  sechshundert- 
neunundvierzig  kurzgefaßte  Notizen  der  Asklepiaden  von  Kos,  benützt  in 
den  IlgoggrjTixd,  Die  meisten  der  unechten  Schriften  aber  stammen  aus 
späterer  Zeit;  interessant  sind  unter  diesen  besonders  die  ngoggrjjuid^  deren 
Unechtheit  Erotianos  nachzuweisen  versprach,  das  Buch  von  den  Muskeln 
{Tiegl  oagxayy)  und  die  sich  daran  anschließende,  nur  in  arabischer  und 
lateinischer  Übertragung  erhaltene  Schrift  über  die  Siebenzahl,  in  der 
schon  die  Alten  pythagoreische  Einflüsse  erkannten  (s.  0.  S.  586.  593^  2), 
die  vier  Bücher  negl  dialrrjg.  für  die  Galenos  ein  halbes  Dutzend  von  Ver- 
fassern {Evgv(p(bv^  Haupt  der  knidischen  Schule,  fj  0d(ov  fj  0diati(ov  fj 
"AgioTcov  tj  Tig  äXXog  töjv  7iakaid}v)  aufführt.*)  Zu  den  Büchern  über  Diät 
gehört  auch  das  Buch  über  die  Träume  {negl  hvjiviayv)^  die  älteste  Schrift, 
welche  die  Weissagung  aus  Träumen  lehrt  und  zu  erklären  sucht.  Gegen 
Sätze  der  Schrift  über  Diät,  des  weiteren  aber  gegen  naturphilosophische 
Richtungen  der  Medizin  (insbesondere  gegen  Empedokles)  überhaupt  ist 
gerichtet  die  besonnene  Schrift  eines  aufgeklärten  Praktikers  der  alten 
Schule  negl  dgyalrjg  li^rgixrjg.^)  Die  Schrift  negl  qrvoiog  dv&gconov  ist  Aus- 
zug aus  einer  ausführlicheren  Schrift,  von  der  die  Kapitel  negl  diaiTtjg 
ifyieivijg  einen  integrierenden  BestandteD  bilden.«)  Aus  den  Kreisen  der 
sophistischen  Physiker  stammen  die  Schriften  negl  qwocjv  (de  flatibus),  negl 
(fwoiog  naidtov,  negl  vovocdv  vier  Bücher.^)  In  den  Schulen  der  Rhetoren 
erdichtet   sind   die  Briefe   und  die  Rede  am  Altar  (Xoyog  inißd)jMog),   in 


dem  GaleDOs  als  unterschoben.  Orientierend 
über  den  Inhalt  der  'Emdrjfiicu  J,  Ilbebo,  N. 
Jahrbb.  f.  kl.  Alt.  18  (1904)  41 1  ff.  Schauplätze 
der  hier  niedergelegten  Krankengeschichten 
sind  Thasos,  Abdera  und  andere  nordgriechi- 
sche Städte,  Thessalien;  die  Patienten  aus 
allen  BevölkerunRsklassen. 

^)  Syrische  Übersetzung  ed.  H.  Pognon, 
Leipz.  1903. 

^)  Auf  diese  interessante  Schrift,  welche 
die  Elemente  der  Hygiene  enthält,  wird  in 
einem  jungen  Scholion  Arist.  nub.  332  Bezug 
genommen;  über  ihre  Bedeutung  für  Ethno- 
graphie s.  S.  507.  Wilamowitz,  der  einen  Teil 
der  Schrift  in  sein  Griechisches  Lesebuch  auf- 
genommen hat,  spricht  sie  zwar  dem  Hippo- 
krates ab,  setzt  sie  aber  in  perikleüsche 
Zeit.  Ein  Indicium  der  Zeit  liegt  c.  15,  wo 
Herodot.  11  104  zurückgewiesen  wird  (über 
den  Einfluß  des  Herodotos  auf  Hipp.  H. 
Berger,  Gesch.  der  wiss.  Erdk.  I  99).  Die 
Grundsätze  dieser  Schrift  sind  später  beson- 
ders von  Poseidonios  weitergeführt  (E.  Oder, 
Philol.  Suppl.  7,  1899,  325  A.  124;  326  ff.). 

')  Darunter  ist  die  Epilepsie  verstanden, 


die  heilige  Krankheit  hieß,  weil  das  Volk 
die  plötzlichen  Konvulsionen  auf  die  Kraft 
der  Dämonen  zurückführte  und  mit  den  Ver- 
zückungen der  Priester  und  Prophetinnen  ver- 
glich. Hippokrates  selbst  bekämpft  diese  Auf- 
fassung und  sucht  die  Wurzel  der  Krankheit 
im  Gehirn.  Über  die  Verwandtschaft  der 
Schrift  mit  der  jtsqI  äimov  Wilamowitz,  Berl. 
Ak.  Sitz.ber.  1901,  2  ff. 

*)  Über  die  Beeinflussung  des  Autors  der 
Schrift  :tegi  Aiahijg  durch  Herakleitos  und 
Empedokles  Th.  Gomperz,  Griech.  Denker  I* 
449  zu  S.  230,  der  nach  dem  Vorgang  von  F. 
Spät,  Die  geschichtl.  Entwicklung  der  sog. 
hippokratischen  Medizin  im  Lichte  der  neusten 
Forsch.,  Beri.  1897,  22  f.,  an  Herodikos  als 
Verfasser  denkt.  Analyse  des  Werkes  von 
C.  Fbedrich,  Hippokratische  Untersuchungen, 
Philol.  Unters.  15.  Heft,  1899. 

^)  Die  Bedeutung  dieser  Schrift  trefflich 
erläutert  von  Th.  Gomperz,  Griech.  Denker  I* 
238  ff 

«)  E.  HöTTERMANN,  Horm.  42  (1907) 
138  ff. 

')  Vgl.  H.  DiELS,  Herm.  28  (1893)  426  f. 


598  Griechische  litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

welcher  der  Redner,  angeblieh  Hippokrates  als  Schutzflehender  am  Altar  der 
Athene,  die  Thessaler  zur  Hilfe  gegen  die  Athener,  die  Unterdrücker  seiner 
Heimat  Kos,  aufruft.  Dem  Hippokrates  als  dem  Vater  der  Arzte  wurden  auch 
mehrere  Schriften  allgemeinen  Charakters  zugeschrieben,  wie  der  Eid  der 
Asklepiaden,  das  Gesetz  der  Ärzte,  von  der  ärztlichen  Kunst.  Die  beiden  ersten 
ganz  kurzen  Stücke  zeugen  von  der  hochentwickelten  Humanität  der  alten 
Asklepiadenschulen  und  enthalten  manche  auch  noch  heute  beachtenswerte 
Vorschriften.  Die  Apologie  der  Heilkunst  (jTegi  rixvrjg)  gegen  den  Vorwurf,  als 
gebe  es  in  diesem  Gebiet  nur  tvx^,  hat  gorgianischen  Stil  und  stark  sophisti- 
schen Anstrich,  aber  seine  Meinung,  Protagoras  sei  der  Verfasser,  scheint 
Th.  Gomperz  selbst  nicht  mehr  aufrecht  zu  halten. i)  —  Über  die  Lehre  des 
Hippokrates  selbst  ist  uns  nur  so  wenig  und  so  allgemein  Gehaltenes  (Plat. 
Phaedr.  270  c,  Ps.Aristot.  probl.  326  a  15)  sicher  bekannt,  daß  daraus  für  die 
Echtheitskritik  keine  sichere  Grundlage  gewonnen  werden  kann.    Der  alte 
Hippokrates  scheint  aber  ebenso  die  banausische  und  kasuistische  Empirik 
und  den  Traditionalismus  der  Knidier  {mgl  dtcuirjg  ö^ioiv)  wie  den  Priester- 
aberglauben {Txegl  leQtjg  vovoov)  und  die  vorlaute  philosophische  Spekulation 
der  sizilischen  Schule  {negl  ägxalrjg  Irjrgix^g)  verworfen    und  die  Ansicht 
vertreten  zu  haben,  daß  voraussetzungslose  Beobachtung  des  Menschen  der 
beste  Ausgangspunkt  für,  die  Erkenntnis  der  gesamten  Natur   (und  nicht 
umgekehrt)  sei,  daß  man  aber  dabei  den  Blick  immer  auf  das  Ganze  der 
(pvmg  gerichtet  halten  müsse.  ^)    Aus  dieser  Gesamtanschauung  ergibt  sich 
die  solide  und  bescheidene  Fassung  der  Aufgabe  des  Arztes,  der  Natur  in 
Heilung  der  Krankheiten  ein  Helfer  zu   sein:    vTxevavxiovo&ai  reo  vooyjiiau 
t6v  vooeovra  juerä  xov  Itjtqov  (epid.  I  11),   denn    vovocov  (pvoieg  IrjTgoi   (epid. 
VI  5,  1).    Auch  auf  diesem  Gebiet  wie  auf  dem  der  Geschichtschreibung 
und  der  Philosophie  vertritt  so  die  ionische  Litteratur  einen  gesunden,  von 
Kurzsichtigkeit   und    Befangenheit   ebenso    wie   von   phantastischem    und 
mystischem  Wesen  sich  fernhaltenden  Empirismus. 

Ausgaben  im  Altertum:  in  Alexandreia  hatte  im  2.  Jahrh.  v.  Chr.  Mnemon  aus  Side 
eine  öidQ&moig  von  Epid.  III  vorgenommen,  von  der  aber  schon  Galenos  nur  durch  Hörensagen 
etwas  wußte  (Galen.  XVIIa  603  ff.).  Unter  Hadrian  besorgten  neue  Ausgaben  Artemidorus 
Capito  und  (mit  mehr  Vorsicht)  Dioskorides;  s.  C.  G.  Kühn  I  p.  XXIV  sq.  und  J.  iLBEBOf 
Rh.  Mus.  45  (1890)  111  ff  —  Gedruckte  Ausgaben:  ed.  princ.  apud  Aldum  1526;  cum  vers. 
et  not.  ed.  A.  Fobsiüs,  Frankf.  1595,  oft  wiederholt;  ed.  R.  Chartier  1638—79:  ed.  C. 
G.  Kühn  in  Bd.  21—23  der  Gesamtausgabe  der  Medici  gr.,  Lips.  1821—27,  3  Bände;  ed.  M. 
P.  E.  Littr6  mit  kritischem  Apparat,  Par.  1839—61,  10  Bände;  ed.  F.  Z.  Ermerins.  ütr. 
1859—64,  3  Bände.  Eine  neue  Ausgabe  mit  kritischem  Apparat  von  J.  Ilbero  und  H. 
Kühlewein  in  BT.  im  Erscheinen  (Bd.  I  1895;  11  1902).  —  Spezialausgabe  n^tn  dfocov 
vöduor  Tojiwv  von  A.  KoRAES  (dem  berühmten  griechischen  Arzt  und  Philologen),  Paris  1800, 
2  Bde.  An  der  Erklärung  der  hippok ratischen  Schriften  beteiligen  sich  seit  der  Alexandriner- 
zeit Ärzte  aller  Richtungen. 

Glossare:  T(7}v  na(j  'IjrsioxQdiF.i  ?.F^e(or  avvaycoyt}  von  Erotianos  (J.  Ilbero,  Abh.  der 
Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  phil.-hist.  Kl.  14,  1894,  103  ff.)  mit  einer  Widmung  an  den  ngziarga;  'Av- 
d(j6im/f.h;,  Leibarzt  des  Kaisers  Nero  (dessen  gleichnamigen  Sohn  nimmt  nach  J.  Klein  M. 
Wcllmann  an) ;  das  Glossar  ist  in  alphabetischer,  nicht  vom  Verfasser  henührender  Ordnung 
auf  uns  gekommen,  neubearbeitet  von  J.  Klein,  Lips.  1865.  —  Jüngere  Glossare  haben  wir 
von  Galenos,  uov  tov  'In.ioxndiov?  ykioooiov  e^fjytjnic,  und  Herodotos  Lykios,  alle  her- 
ausgegeben von  J.  G.  F.  Franz,  Erotiani,  Galeni  et  Herodoti  gloss.  in  Hippocr.,  Leipz.  1780. 

^)  Tu.  Gomperz,  Die  Apologie  der  Heil-    i   Denker  P  392. 
kunst,  Wien  1890,  und  derselbe.  Griechische   |  *)  Geis,  de  med.  p.  8,  29  ff. 


4.  Die  Philosophie,    a)  Anfänge  der  Philoeophie.    Medizin.    (§§  328—329.)     599 

Haaptkommentator  ist  Galenos,  der  Kommentare  zu  siebzehn  Schriften  des  Hippokrates- 
corpus  schneb.  Außerdem  haben  wir  noch  mehrere  kleinere  Kommentare:  Apollonii  Gitiensis 
(um  70  V.  Chr.),  Stephani  (8.  Jahrh.  n.  Chr.),  Palladii  (7.  Jahrb.),  Theophili  (7.  Jahrb.),  Meletii, 
Damascii,  loannis,  aliorum  scholia  in  Hippocratem  et  Galenum  ed.  F.  R.  Dietz,  Königsberg 
1834,  2  Bde.  Scholia  inedita  in  Hipp.  ed.  C.  Dabbmbbbo,  Archives  des  missions  scientif. 
Paris  1852.  Die  Scholien  meist  ans  Galenos,  Erotianos.  und  Theodoros  Protospatharios' 
Komm,  zu  den  Aphorismen.  Kommentar  des  ApoUonios  aus  Kition  zu  Hippocr.  jteoi  äoOgoav 
mit  antiken  Zeichnungen,  herausg.  von  H.  Schöne,  Leipz.  1896.  —  Übersetzung  mit  Erläu- 
terungen von  R.  Fuchs  in  drei  Bänden,  München  1895 — 1900. 

Die  ältesten  (nicht  alle  Schriften  enthaltenden)  Handschriften  sind  Vindobonensis  med. 
IV  d  s.  X,  Parisin.  gr.  2253  A  s.  X,  Vatican.  276  V  s.  XII,  Marcian.  Ven.  269  M  s.  XI,  und 
Laurent.  74,  1  B  a.  XI/XlI.  Neben  ihnen  kommen  zur  Textkonstitution  die  Zitate  bei  Ero- 
tianos und  Galenos  sowie  alte  Übersetzungen^)  in  Betracht. 

328.  Zunächst  nach  Hippokrates  nennt  Plinius  in  der  Naturgeschichte 
(XXVI  10)  als  Begründer  der  Heilkunde  den  Diokles  aus  Kaiystos,  einen 
philosophisch  gebildeten  Arzt  aus  der  Zeit  des  Piaton,  den  Führer  der 
athenischen  Ärzteschule  Anfang  des  4.  Jahrhunderts;  er  schrieb  auch  in 
attischem  Dialekt  und  verband  die  Lehren  des  Hippokrates  mit  denen  der 
sizilischen  Schule.  Aus  seiner  Gesundheitslehre  {vyieivd  =  Hygiene)  ist  uns 
durch  die  medizinische  Enzyklopädie  des  Oreibasios  ein  Abschnitt  erhalten, 
den  Wilamowitz  in  das  Griechische  Lesebuch  (Berlin  1902)  p.  279  —  284  auf- 
genommen hat.  Er  verdient  diese  Auszeichnung,  da  er  uns  in  ungekünstelt 
schöner  Sprache  von  dem  Tageslauf  eines  Hellenen  der  besten  Zeit  ein 
anschauUches  Bild  entwirft,  aus  dem  wir  verstehen  lernen,  wie  durch  ver- 
nünftige Körperpflege,  einfache  Nahrung  und  regelmäßige  Gymnastik  der 
Grieche  sich  die  Voraussetzungen  nicht  bloß  zu  geistiger  Überlegenheit, 
sondern  auch  zu  kräftiger  und  schöner  Körpergestalt  zu  verschaffen  suchte. 
Für  alle  Folgezeit  maßgebend  ist  Diokles  geworden  durch  sein  Kräuterbuch 
{giCoTojLuxov)  mit  Beschreibung  der  offizineilen  Pflanzen.  Theophrastos  und 
alle  folgenden  botanischen  Schriftsteller  bis  auf  Dioskorides  hängen  hier 
von  ihm  ab.*) 

Die  sizilische  Schule  des  Empedokles  führen  im  5.  Jahrhundert  Akren 
von  Akragas  und  Philistion  von  Lokroi,  der  auf  Piatons  medizinische  An- 
sichten eingewirkt  hat,  weiter.  8) 

Den  älteren  Ärzten  gehört  auch  Mnesitheos  aus  Kyzikos  (nach 
anderen  aus  Athen)  an,  von  dem  Oreibasios  einen  Abschnitt  Tzegl  xQdjußrjg 
aufgenommen  hat  und  den  auch  der  alte  Cato  benutzt  zu  haben  scheint.*) 

329.  Die  Mathematik  und  Astronomie*)   beginnen   sich  in  dieser 


')  Die  arabischen  Hippokratesübersetz- 
ungen  verzeichnet  M.  Steinsohneioeb  in  Vir- 
chows  Archiv  f.  pathol.  Anat.  124  (1891) 
115  ff. 

^)  Seine  Theorien  und  Schriften  bespricht 
eingehend  M.  Wellmann  in  der  Realenz. 
9.  Halbb.  802  tf. ,,  Die  Fragmente  bei  dems., 
Fragm.   griech.  Ärzte    I  117  ff.      L.  Rader- 


Die  Fragmente  der  beiden  Sizilier  (von  denen 
aber  keines  im  Wortlaut  erhalten  ist)  ebenda 
S.  108-116. 

*)  P.  Reuther,  De  Catonis  de  agricultura 
libri  vestigiis  apud  Graecos,  Diss.  Lips.  1903 
p.  37  ff.  Einige  weitere  Namen  von  doxuToi 
(voralexandrinischen?)  iarooi  Galen.  XV  136. 

*)   Veterum    mathematicorum    Athenaei 


MACHER,  Berl.phil.Woch.  27  (1907)305  möchte  Apollodori  Philonis  Bitonis  Heronis  et  alior. 

auf  Grund   eines  gefälschten  Briefes  des  D.  opera  ed.  M.  Thevenot,  Par.  1693  (enthält  die 

an  Antigonos   von   Makedonien  die  Lebens-  Mechaniker); Opera mathematica ed. J.Wallis, 

zeit  des  D.  bis  nach  323  ausdehnen  und  Xen.  Oxon.  1699,  3  voll.   —   Uranologion  sive  sy- 

Cyr.  1  6^  16  auf  ihn  bezichen.  stema  variorum  authorum  qui  de  sphaei-a  ac 

^)  Über  Piatons  Abhängigkeit  von  Phi-  sideribus  eorumque  motibus  graece  commen- 
listion  s.  M.  Wellmann,  Fragm.  I  10.  74  f.   ,  tati  sunt,   Gemini,  Achillis  Tatii,  Hipparchi, 


600  Ghiechische  LitteratnrgeBchichte.    L  Klassische  Periode. 

Periode  schon  von  der  Philosophie  loszulösen.  Sie  sind  bodenständig  in 
Babylonien,  wo  schon  im  dritten  Jahrtausend  v.  Chr.  die  Rechenkunst  mit 
einer  praktischen,  Sexegesimal-  und  Dezimalsystem  verbindenden  Methode 
des  Zahlenschreibens  sowie  die  Beobachtung  des  Himmels  hoch  entwickelt 
war,  und  in  Ägypten,  ^  wo  die  eigenartig  verwickelten  Ackerbau-  und 
Pachtverhältnisse  eine  genaue  Landvermessung  notwendig  machten.  Dem 
griechischen  Volk  im  Ganzen  war  die  Mathematik  durchaus  nicht  kon- 
genial.*) Die  gewöhnliche  Rechenkunst  (loyiarixt])  der  Griechen  ist  immer 
in  ihren  Methoden  (Arm-  und  Fingerrechnen,  Rechenbretter)  höchst  ele- 
mentar geblieben.*)  Auch  die  Technik  ist,  wie  die  Vulgarität  ihrer  Kunst- 
ausdrücke schon  zeigt,  lange  Zeit  im  roh  handwerklichen  Empirismus  stecken 
geblieben,  bis  sie  sich  in  hellenistischer  Zeit  mit  der  Mathematik  verband 
und  in  dieser  Verbindung  bedeutende  Fortschritte  machte.  In  älterer  Zeit 
sind  es  beschränkte  Kreise,  die  sich  mit  diesen  Studien  abgeben,  und 
diese  sind  im  Anfang,  wie  z.  B.  Thaies  und  Pythagoras,  ohne  Zweifel 
vom  Orient  aus  inspiriert.  Die  mathematischen  Interessen  sind  zunächst  am 
meisten  im  pythagoreischen  Kreis  gepflegt  worden,  von  dem  auch  Piatons 
Eifer  für  die  Mathematik^)  entzündet  worden  ist.  Aber  schon  Aristoteles 
zeigt  in  mathematischer  Kenntnis  dem  Piaton  gegenüber  wieder  einen 
Rückschritt;*^)  wenn  auch  er,  wie  schon  Sokrates^)  und  Isokrates,')  der 
Mathematik  einen  gewissen  propädeutischen  Wert  beimaß,  so  wünschten 
sie  doch  alle  keine  eingehendere  Beschäftigung  mit  ihr.  Die  späteren 
Philosophenschulen  haben  sie  alle  abgelehnt;  erst  Poseidonios  führte  sie 
in  den  Kreis  der  philosophischen  Disziplinen  ein.  Bemerkenswert  ist 
übrigens,  daß  die  griechische  Geometrie,  wiewohl  aus  der  Fremde  impor- 
tiert, doch  abgesehen  von  jivQajulg  keinen  fremdsprachlichen  Kunstausdruck 

Ptolemaei  etc.,  cura  Dion.  Petavii,  Par.  1630,  verdanken  wir  sehr  willkommene  Angaben 
Amstel.  1703.  —  J.  B.  J.  Delambre,  Histoire  de  dem  Kommentar  des  Proklos  zu  Eukleides 
l'astronomieancienne,  2.  voll.,  Paris  1817;  Th.  I  p.  19  ed.  Bas.,  der  selbst  wiederum  ans  des 
H.  Martin,  Astronomie  grecque  et  romaine,  I  Eudemos  FEco^EXQixr}  torooin  schöpfte. 
Paris  1875.  —  H.  Hankel,  Zur  Geschichte  »)  Aristoteles  met.  981  b  23  hält  die  Ma- 
der Mathematik,  Leipz.  1874.  M.  Cantor,  Vor-  thematik  für  eine  Erfindung  der  ägyptischen 
lesungen   über  Geschichte  der  Mathematik,  i   Priester. 

4  Bde.,  Leipz.  1880—92;   2.  Aufl.  I— III  1894  i           «)  0.  Apelt,  Beitr.  z.  Gesch.  der  griecb. 

bis  1900;  3.  Aufl.  I  1907;  G.  Zeuthen.  Gesch.  '    Philos.,  Leipz.  1891,  253  ft.  (die  Widersacher 

d.  Mathematik  im  Altertum  und  Mittelalter,  der  Mathem.). 

Kopenh.  1896.  —  P.  Tannery,  La  g^ometrie  ^           *)  M.  C.  P.  Schmidt,   Eulturgeschichtl. 

grecque,   Paris   1887;   ders.,  Recherches  sur  l    Beiträge  zur  Kenntnis   des  griech.  und  röm. 

l'histoire    de    l'astronomie    ancienne,    Paris  '    Altert.  I,  Leipz.  1906. 

1893;  F.  RüDio,  Archimedes,  Huygens,  Lam-  *)  Index  philos.  acad.  p.  16  ff.  Meklbb. 

bert,  Legendre,  vier  Abhandl.  über  die  Kreis-  G.  Milhaüd  s.  o.  S.  599  A.  5.   Die  Oberlegen- 

messung.    Deutsch   herausgeg.    u.   mit  einer  1   heit  der  Äg3rpter  in  der  Mathematik  über  die 

Übersicht  üb.  die  Gesch.  des  Problems  von  der  '    Griechen  seiner  Zeit  konstatiert  Piaton  (leg. 

Quadratur  des  Zirkels  versehen,  Leipz.  1892;  819a b;   vgl.  Plut.  de  gen.  Socr.  579c)   und 

N.   Herz,    Geschichte   der  Bahnbestimmung  |   wirbt  unter  Hinweis  auf  ihren  vielfachen  prak- 

von  Planeten  und  Kometen  I,  Leipzig  18H7;  I   tischen  Nutzen  für  sie.    Die  reine  Mathematik 

G.  Milhaud,  Les  philosophes  g^omdtres  de  la  stellt  er  übrigens   (Phileb.  56 d  ff".)   über   die 

Griice.  Piaton  et  ses  prödecesseurs,  Paris  1900.  angewandte,  aber  unter  die  Dialektik. 

—  A.  V.  Braünmüul,  Vorlesungen  über  Ge-  *)  <t.  Miluaud,   Aristote   et   les  math^- 

schichte  der  Trigonometrie  I,  Leipz.  1900.  —  i    matiques,  Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.  16  (1903) 

Jahresberichte  über  alte  Mathematik,  Mecha-  I    367  ff.;  A.  Görland,  Aristot.  und  die  Mathem., 

nik  u.  Astronomie  im  Jahresber.  üb.  d.  Fortschr.  Marbm-g  1899. 

dA'l.Alt.wis8.v.K.TiTTEL,Bd.l29(1906)113ff.  «>  Xen.  mem.  IV  7,  8. 

über   die  ältere  Geschichte  der  Mathematik  ")  Isoer.  15,  265. 


4.  Die  Philosophie,    b)  Die  attische  Periode  der  Philosophie.    (§  330.)       601 

hat.  Originalschriften  aus  voralexandrinischer  Zeit  sind  nicht  erhalten, 
nur  ein  Exzerpt  aus  einem  mit  Figuren  ausgestattet  gewesenen  Buch  des 
Mathematikers  Hippokrates  von  Chios  bei  Simplicius.^) 

Bedeutende  Astronomen  des  5.  Jahrhunderts,  über  deren  schriftstelle- 
rische Betätigung  wir  aber  wenig  Sicheres  wissen,  waren  Oinopides  von 
Chios,*)  Eleostratos  von  Tenedos,')  der  erste  Grieche,  der  Sonnenbahn 
und  Tierkreis  gekannt  hat,  Meton  von  Athen,*)  der  Erfinder  eines  neuen 
Schaltzyklus;  als  Geometer  ragt  hervor  der  aus  Piatons  Theaitetos  be- 
kannte Theodoros  von  Kyrene,  als  Mechaniker  Archytas  von  Tarent.*) 
Vor  Piaton  beschäftigte  sich  Hippokrates  von  Chios  mit  der  Verdoppe- 
lung des  Würfels.^)  Vielseitig  wie  Archyias  war  Eudoxos  von  Knidos 7) 
(408 — 355),  ein  Schüler  des  Archytas,  des  Piaton,  der  Ärzte  Philistion  und 
Theomedon,  als  Philosoph,  Mathematiker,  Astronom,  Geograph,  Akustiker 
bedeutend.  Die  Geometrie  des  Eukleides  beruht  großenteils  auf  seiner 
Vorarbeit,  Aratos'  ^aivojLteva  sind  eine  Versifikation  von  Eudoxos'  gleich- 
namigem Prosabuch.  Eine  Verbesserung  der  Zeitrechnung  durch  einen 
achtjährigen  Schaltzyklus  ist  sein  Verdienst.  Als  Philosoph  ist  er  von 
Piaton  ausgegangen,  hat  aber  als  TeXog  die  ^don^  bezeichnet.*)  Die  Sphären- 
theorie des  Eudoxos  verbesserte  bald  nach  ihm  der  Astronom  Kallippos, 
über  dessen  Verhältnis  zu  Eudoxos  uns  hauptsächlich  Aristoteles  metaph. 
IX  8  und  des  Simplicius  Scholien  zu  Arist.  de  caelo  II  12   unterrichten.*) 

b)  Die  attische  Periode  der  Philosophie. 
330.  DieSophistik.  Zu  einhellig  angenommenen  Ergebnissen  hatte 
die  Spekulation  der  alten  lonier  zwar  nicht  geführt,  und  der  Praktiker  und 
Ethiker  mochte  in  allen  ihren  Lehrsätzen  nur  ein  buntes  Gewirre  unverein- 
barer und  also  unhaltbarer  Behauptungen  sehen,  ^o)  ^^er  doch  war  durch 
sie  eine  Fülle  neuer  Probleme  formuliert  und  durchgedacht,  mit  einer  Menge 
von  Vorurteilen  des  Traditionalismus  gebrochen,  ein  Schatz  positiver  neuer  Er- 
kenntnisse und  Betrachtungsweisen  gewonnen  und  so  eine  gewaltige  geistige 
Kraft  freigemacht,  und  diese  Kraft  des  Verstehens,  Wissens,  Könnens 
wollte  sich  nun  nicht  mehr  auf  theoretische  Studien  beschränken  lassen, 
sondern    sich   auch   in   praktischer   Beherrschung   der   Einrichtungen   des 

^)  H.  UsENER,  Rh.  Mus.  48(1893)96;  H.  |   thematischen   Schriften    des   Eudoxos.     Ein 

DiELs,  Vorsokr.*  241.  stark  interpoliertes  Stück  der  Evfio^ov  tfx^ 

'^)  H.  DiELS,  Vorsokr.*  S.  239  f.  •.   veröffentlichten   aus  einem  Pariser  Papvrus 

3)  H.  DiELS  a.  a.  0.  S.  505 ;  J.  L.  Heibebo,  ,   Brunet  de  Pbeslb,  Notices  et  extraits  t.  xVlII 

Nordisk  tidskrift  for  filol.  3  R.  12  (1904)  97  ff.  I   pl.  1—5;   dann  F.  Blass,   Eudoxi  ars  astro- 

*)  Siehe  o.  S.  451;  Vitruv.  IX  6,  3 ;  Ael.  nomica,  Kiel  1887;  vgl.  C.  Wachsmuth,  Joh. 

var.  hist.  X  7.    Über  einen  in  Milet  gefunde-  Laur.Lydiliberdeostentisetcalendariagraeca 

nen  , Steck kalender"  (jiagdjnjyfia)  s.  H.  Diels  omnia,  Lips.  1897  p.  272—5.    Über  die  Ver- 

und  A.  Rehh,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1904,  752  ff.  I   Wechsel ung  des  Astronomen  Eudoxos  mit  dem 

Über    die   ältesten   Kalendersysteme    G.   F.  |   gleichnamigen  Verfasser  der  geographischen 

Ukoer   in   J.  Müllers  Handbuch   der  klass.  Flegiodoc:  yrjg  s.  unten. 

•)  Th.  H.  Martin,  Memoire  sur  les  hy- 
potheses  astronomiques  d'Eudoxe,  de  Callippe, 


Altertumswiss.  P  736  ff. 

*)  Diog.  L.  Vni83;  s.  o.  S.  585. 

^)  WiLAMowrrz,   Nachr.  der  Gott.  Ges. 
der  Wiss.  1894,  2  ff. 

Siehe  den  Artikel  von  F.  Hultsch  in 


d'Aristote,  Paris  1880;  darüber  referiert  F. 
Hultsch,  Jahresber.  üb.  d.  Fortschr.  d.  kl.  Alt.- 
wiss.  40  (1884)  50  a  ff. 


der  Realenzvkl.  ^^)  So  tun  Gorgias  (Ps.Aristot.  de  Xenoph. 

8)  Eutokios   (6.  Jahrh.)    zu  Archimedes      Mel.  Zen.  p.  979  a  13  ff.),  Sokrates  (Xen.  mem. 
de  sphaera  et  cyl.  II  2  kannte  noch  die  ma-  |   I  1,  15)  und  Isokrates  (15,  268).  * 


602  Griechkehe  LüteratnrgeMliififate.    L  XlusiBche  Periode. 

Lebens  betätigen  und  durchsetzen:  das  Wissen  sollte  zur  Macht  im  Leben 
werden.^)  Dieser  neue  Geist  wirkt  sich  nach  negativer  Richtung  aus  in  einer 
durchgeführten  Kritik  des  Herkömmlichen  auf  allen  Gebieten  und  in  Be- 
seitigung aller  nicht  vor  dem  Richterstuhl  der  Vernunft  (Svveaig)  bestehen- 
den Vorstellungen  und  Einrichtungen,  nach  positiver  durch  Aufstellung  einer 
vernunftgemäßen  Lebenskunst,  deren  Erfolg  sein  soll,  das  Einwirken  des 
Irrationalen  (rvxv)  ^^^  ^^^  menschliche  Leben  auf  ein  Minimum  zu  be- 
schränken, das  ganze  Leben  durch  rexvrj  unter  die  Macht  der  Vernunft 
(yvcüfirj,  i7iujT7i/xrj)  zu  stellen  und  dem  einzelnen  diejenige  geistig-sittliche 
Ausrüstung  zu  geben,  die  ihn,  womöglich  ohne  Anwendung  roher  Gewalt, 
durch  Künste  des  Überzeugens  oder  Überredens,  befähigt,  seine  Zwecke 
zu  erreichen  (ägBr/j).^) 

Die  Träger  dieser  Richtung  heißen  Sophisten,  ein  Name,  der  ur- 
sprünglich berufsmäßige  Beschäftigung  mit  irgend  einer  Kunst  oder  Wissen- 
schaft ausdrückt  und  erst  durch  die  sokratische  Bewegung  und  die  Gegner- 
schaft altkonservativer  Kreise »)  Attikas  den  gehässigen  Beigeschmack 
des  unwissenschaftlichen  und  sittlich  indifferenten  Strebers  und  Routiniers 
bekommen  hat.*)  Der  Zusammenbruch  der  philosophischen  Systeme  hat 
im  ionischen  Osten  und  im  italisch-sizilischen  Westen  (Gorgias)  ganz  ana- 
loge Erscheinungen  des  Kritizismus  und  Praktizismus  hervorgerufen.  Von 
beiden  Seiten,  zuerst  aber  infolge  des  Untergangs  der  ionischen  Selb- 
ständigkeit von  Osten  her,  ist  die  Sophistik,  begünstigt  durch  den  Geist 
der  aufstrebenden  Demokratie  seit  Themistokles,  nach  Athen  getragen 
worden,  wo  sie  sich  mit  einem  bodenständigen,  in  Aischylos,  Sophokles 
und  endlich  in  Sokrates  verkörperten  ethischen  Positivismus  auseinander 
zu  setzen  hatte.  Der  Hauptvertreter  der  neuen  Weisheit  hier  war  Prota- 
goras  aus  Abdera  (geb.  um  480);^)  wie  die  meisten  Sophisten  führte  er  ein 
Wanderleben,  wählte  aber  Athen  zum  Hauptsitz  seiner  Tätigkeit ;ö)  wenn 
Herakleides  Pontikos  (bei  Diog.  L.  IX  50)  von  v6/ioi  Sovgioi  berichtet,  die 
Protagoras  verfaßt  habe,  so  braucht  darunter  nicht  eine  dann  tatsächlich 
in  der  444  gegründeten  Kolonie  Thurioi  eingeführte  Verfassung,   sondern 

^)  Vgl.  die  bezeichnende  Anekdote  vom  l   xnl   jiQaxTOftevoi.      Herodot    nennt   noch    die 

praktischen  Wert  des  Wissens  Aristot.  pol.  ,   sieben  Weisen  (II  49),   die    Dionysospriester 

1259  a  6  ff.  (H  49).   den  Pythagoras  (IV  95),  Pindar  die 

^)  J.  Ludwig,   Quae  fuerit  vocis  d(>frij  Dichter  (Isth.  5,  28),   Hippocr.    (jt.  äo^.  ItjxQ. 

vis  ac  natura  ante  Demosth.,  Leipz.  1906.  I   20)    und    Diog.    Apoll.   (H.  Dibls,  Vorsokr.* 

')  Siehe  besonders  Aristoph.  nub.  445  ff.  i   S.  342, 14)  die  Philosophen  ooqrwTm;  vgl.  auch 

Eupol.  Kolaxpg.  Diog.  L.   prooem.  12;   Luc.  Hipp.  2   (ünter- 

*)    G.    Grote,    Hist.    of   Greece   VIII'  schied  zwischen  00990c  und  007:1071;^):  Schol. 

(London  1855)  473—550;  M.  Schanz,  Beitr.  Luc.  p.  175,  3  Rabe.   —  Daß  das  Wandern 

zur  vorsokrat.    Philosophie   aus   Plato,  Gott.  !   zum  Begriff  der  Sophisten  gehört,  sagt  Plat. 

1867:    A.   Espinas,    Arch.  Jür    Geschichte  Tim.  19 e. 

der  Philos.  7  (1894)  193  ff.  über  den  Namen  1            ^)  J.  Frei,  Quaestiones  Protagoreae,  Bonn 

bei    Piaton   H.Räder,    Plat.   philos.    Entw.  '    1845.    F.  Jacoby,  Apollod.  Chron.  266  ff.  Die 

68  f.    Über  die  spätere  Bedeutung  des  Wortes  Reste   der   älteren   Sophisten   bei  H.  Diels, 

K.   Brandstätter,    Leipz.    Stud.    15    (1894)  Vorsokr.»  511  ff. 

129  ff.     Siehe   besonders   die  Definition    des  ,            ®)  In  Athen  verkehrte  er  im  Anfang  des 

Sophisten    bei    Piaton    Men.  91b:     01    vmo-  peloponnesischen  Krieges  mitPerikles;  dadn 

yvovfin'oi  ugt'Ttjc:  dtddaxa/.oi  fircu  y.ai  djio(f  i}-  verließ  er  Athen,  um,  als  Kallias  Herr  seines 

rarre^  eai'iorg  xotrovg  xutv  'EXh)%'cov  no  ßov-  Vermögens    geworden    war,    wieder    dorthin 

Äoiih'O)  ^lavdavEtv,  fiioOtW  tovtov  ra^dfievoi  xe  [    zurückzukehren. 


4.  Die  Philosophie,    b)  Die  attische  Periode  der  Philosophie.    (§  880.)      603 

es  kann  auch  eine  Utopie  gemeint  sein,  die  der  Sophist  bei  Gelegenheit 
jener  Neugründung  als  ein  Muster  des  sophistischen  Vemunftstaates  ent- 
worfen haben  mag.  Die  Reaktion  des  Jahres  41 1  beseitigte  den  unbequemen 
ausländischen  Modemisten  durch  eine  Anklage  wegen  Gottlosigkeit,  die 
sich  wohl  auf  seine  Schrift  jugl  ^ewv  (fr.  4  Diels)  gründete;  er  mufite 
fliehen  und  fand  c.  410  auf  der  Flucht  nach  Sizilien  im  Meer  den  Tod.^) 
Seine  Hauptschrift,  auf  die  mehrfach  von  Zeitgenossen  angespielt  wird,') 
führt  den  Titel  KaxaßaXkovxeg  (sc.  XoyoC)  oder  'AXrj^eia.^)  Ausgehend  von 
der  durch  Herakleitos  inspirierten  Ansicht,  daß  das  Erkenntnisobjekt  {vXri 
^Bvorrj)  ebenso  wandelbar  sei  wie  das  Erkenntnissubjekt,  kam  er  zu  seinem 
berühmten  Homo-mensura-Satz*)  und  weiterhin  zu  seiner  Lehre  von  Natur- 
recht und  Contrat  social*^)  und  zu  der  von  der  Sprache  als  einer  künst- 
lichen Schöpfung  menschlicher  Konvention,*)  woraus  ^r  wieder  das  Recht 
willkürlicher  Änderung  der  gegebenen  Sprachformen  im  Sinn  des  Ana- 
logismus  ableitete.')  Der  griechischen  Sprachwissenschaft  hat  er  durch 
seine  Studien  über  Sprachrichtigkeit  {ÖQ^oineia),^)  der  Rhetorik  durch 
seine  dialektischen  Künste»)  bedeutende  Anregung  gegeben.  Seine  Schriften, 
von  deren  Stil  wir  kaum  mehr  eine  sichere  Vorstellung  gewinnen  können,^®) 
waren  noch  nach  429  in  ionischem  Dialekt  geschrieben,  i^)  Nächst  ihm 
waren  von  großer  Bedeutung  Gorgias  aus  Leontinoi,**)  Hippias  aus  Elis 
und  Prodikos  aus  Keos. 

Der  Einfluß  dieser  Männer  auf  den  Geist  der  Zeit,  auf  die  Loslösung 
vom  Glauben  an  das  Überlieferte,  auf  die  gänzliche  Umgestaltung  der  Er- 


')  Vor  411  oder  vor  die  Zeit  des  Rates 
der  Vierhundert  setzt  die  Anklage  gegen 
Protagoras  H.  Müllbr-Strübino,  Jahrbb.  f.  cl. 
Phil.  121  (1880)  84.  Einer  der  Vierhundert, 
Pythodoros,  wird  als  Ankläger  genannt  bei 
Diog.  L.  IX  54. 

»)  Eur.  Bacch.  202;  Herodot.  VIII  77  (L. 
Radermacher,  Rh.  Mus.  53,  1898,  501),  viel- 
leicht auch  Democrit.  fr.  125  D. 

')  Die  beiden  Titel  Sext.  Emp.  adv.  dogm. 
I  60;  Plat.  Theaet.  161c.  J.  Bbrnays,  Ges. 
Abb.  I  117  ff.  Der  Schriftenkatalog  bei  Diog. 
L.  IX  55,  der  die  xazaß.  nicht  enthält,  ist 
unzuverlässig  und  aus  Stellen  des  Piaton  und 
Aristoteles  teilweise  konstruiert.  Ähnlich  ist 
der  Titel  von  Thrasymachos'  vnsQßaXkovrsg 
(Flut,  quaest.  symp.  616  d).  —  über  die  ver- 
meintlich protagoreXsche  Sehr,  mgi  xeyvrig  s. 
o.  S.  598. 

*)  7idvxo)v  xQ^t^^^ff^v  fJisxQOv  ioTiv  äv^Qco- 
Jtog,  TMv  fih  oyrcov  <hg  eou,  tö>v  d*  ovx  Svrcov 
(bc  ovx  ?oTt.  Platon  hat  diesen  Satz,  viel- 
leicht mehr  seiner  tatsächlichen  Eonsequen- 
zen als  seiner  ursprünglichen  Meinung  nach 
(s.  übrigens  H.  Räder.  Piatons  philos.  Ent- 
wicklung 281,  1)  im  Sinn  des  schrankenlosen 
Individualismus  verstanden  (Cratyl.  268  a; 
Theaet.  182a)  und  ihm  (leg.  IV  716c)  den  an- 
dern entgegengestellt:  6  {^eog  rjfiiv  ndvnov 
XQfjfiaKov  fiexQov  äv  eii]  fidXioza, 


^)  J.  KÄbst,  Gesch.  des  hellenist  Zeitalters 
I,  Leipz.  1901,  40  ff.  Die  Lehre  wird  von  Plat. 
reip.  358  e  ff.  wiedergegeben  und   verworfen. 

«)  Plat.  Protag.  322  a. 

^)  Aristot  soph.  el.  173b,  17  ff.;  Ar.  nub. 
655  ff. 

")  Die  Feststellung  der  drei  Geschlechter 
des  Substantivs  (Aristot.  rhet  1407  b  6),  die 
Scheidung  der  Satzarten  nach  Modalitäten 
(Diog.  L.  1X53;  Aristot.  poöt  1456  b  10  fl.; 
vgl.  A.  WiLLMANKS,  De  Varronis  libris  gramm. 
6  ff.),  der  Tempora  (Diog.  L.  IX  52)  geht  auf 
ihn  zurück. 

•)  Tov  tjooco  X6yov  xgeiaoco  jioteTv  Aristot. 
rhet.  1402a  23.  Auch  je  nach  Bedarf  ßgaxv- 
XoysTv  und  fia^goloyeiv  verstand  er  (Plat.  Prot 
329  b). 

^^)  Die  Rede  in  Piatons  Prot,  macht  auf 
stilistische  Treue  keinen  Anspruch.  Einen 
Versuch,  von  der  blühenden,  poStisierenden 
Art  der  altsophistischen  imdei^eig  eine  Vor- 
stellung zu  geben,  macht  0.  Navabre,  Essai 
sur  la  rh^torique  Grecque,  66  ff. 

»>)  Plut.  consol  ad  ApolJ.  p.   Ii8e. 

")  Vgl.  oben  S.  514  ff.    ^eme  philo 
sehen  Anschauuni^eD  kmen  wir  aus 
stoteles.  De  Xenophane  Zenotie  Gorgi^j 
Sextus  Empiricus   kt^nneo.    Siehe  H,  r 
Vorsokr.i  528  ff. 


604 


Griechische  Litteratargeschichte.    I.  EUBsieche  Periode. 


Ziehung  und  des  Unterrichtes  ^  war  ein  enormer,  dem  der  Enzyklopädisten 
im  18.  Jahrhundert  vergleichbar;  aber  ihre  Schriften  sind  früh  unter- 
gegangen.^) Das  liegt  zum  Teil  daran,  daß  sie  ihre  Anschauungen  weniger 
durch  Schriften  als  durch  Vorträge  (del^eig  oder  biideiieu;)  und  hochbezahlte 
Lehrkurse ^)  verbreiteten,  zum  größeren  Teil  aber  daran,  daä  ihre  halt- 
baren Ideen  ähnlich  wie  die  Herders  sehr  rasch  Gemeingut  geworden,  die 
unreifen  und  ephemeren  aber  durch  die  sokratische  Philosophie  rasch  ver- 
drängt worden  sind,  so  daß  man  auf  ihre  Originalschriften  nicht  mehr 
zurückgriflf.  Auch  ihren  zahlreichen  praktischen  Lehrschriften*)  scheint 
ein  bedenklicher  Doktrinarismus  angehaftet  zu  haben.^)  Von  dem  viel- 
seitigen Hippias  werden  mehr  geschichtliche  und  moralistische  {ävayQaq>ii 
^OXvjumovixwv  und  TgcDixög  didXoyogy)  als  philosophische  Schriften  angeführt. 
Gorgias  hatte  ohnehin  seine  Stärke  in  den  Reden,  neben  denen  seine 
dialektische,  an  die  Lehre  der  Eleaten  anknüpfende  Schrift  tuqI  tov  fxii 
dvTog  fj  Tzegi  tpvoetog'')  zurücktrat.  Von  Prodikos  (geb.  c.  470 — 60),  dem 
Schüler  des  Protagoras  und  Lehrer  des  Theramenes,  wird  ein  Buch  'jQpcu 
gerühmt,®)  in  dem  der  schöne  Mythus  von  Herakles  am  Scheideweg  stand.*) 
Er  wird  im  platonischen  Protagoras,  wenn  auch  nicht  ohne  Ironie,  als  ein 
ernsthafter  Mann  geschildert.  Seine  Studien  galten  hauptsächlich  der 
Sprache,  die  er  für  eine  Schöpfung  der  Natur  und  infolgedessen  für  eine 
wichtige  durch  Etymologie  zu  erschließende  Quelle  der  Sacherkenntnis 
hielt,  eine  Anschauung,  mit  der  er  besonders  auf  Antisthenes  gewirkt  zu 
haben  scheint;^®)     seine   synonymischen    Studien    (negi   övojudxcov   ÖQ^&tri^ 


0  Th.  Bebgk,  Gr.  Litt.  IV  330:  .Bisher 
hatte  sich  der  Unterricht  auf  Musik,  Gym- 
nastik und  die  Elemente  des  Lesens,  Schrei- 
bens und  Rechnens  beschränkt;  alles  was 
darüber  hinausging,  suchte  sich  der  einzelne 
selbst  im  öffentlichen  Leben  anzueignen.  Jetzt 
nahmen  die  Sophisten  den  wissenschaftlichen 
Unterricht  der  Jugend  in  die  Hand;  die  Ju- 
gend, die  seit  alters  in  den  Gymnasien  und 
Ringschulen  den  Leibesübungen  oblag,  sollte 
jetzt  in  der  Palästra  der  Sophistik  geschult 
werden,  welche  zu  ihren  Vorträgen  gerade 
jene  Gymnasien  mit  Vorliebe  wählte.* 

«)  Dio  Chrj's.  or.  54,  4. 

*)  Protagoras  und  Gorgias  haben  für  den 
Kurs  einen  Lohn  von  100  Minen  genommen; 
s.  Diog.  L.  IX  52;  Diodor.  XII 53;  Suidas  u.  log- 
yiag.  Prodikos  gab  in  der  Grammatik  (jteoi 
6(}{>6xTjTog  m'ofidtcov)  einen  Kurs  für  50  und 
einen  kürzeren  für  1  Drachme. 

*)  yeowyixd,  xrjTrovQiyd,  fiaystnixd  (eine 
Opsartytik  des  Philoxenos  erwähnt  Plat  com. 
0aQ)r  fr.  1)  nvyyfmuuata  nennt  Ps.Plat.  Min. 
316c  ff.  neben  :ro).nixd  und  iarnixa;  vgl.  auch 
Aristot.  pol.  1258b  40  f.  und" Plat.  Euthyd. 
271  d;  Prot.  318  e.  323c.  In  diese  Klasse  ge- 
hören auch  die  politischen  Lehrschriften  des 
Kritias  und  die  praktischen  des  Xenophon. 
Siehe  a.  W.  Schmid,  Philol.  62  (1903)  13. 

^)  Aristot.  eth.  Nie.  1181a  12  ff.  poL 
1331b   19    {ov   yao    xakejiöv    eoit    t«    Toiavia 


I    vofjoatf  dkla  JToiffoat  ftäXXm'), 
I  ')  Alte  Zweifel  an  der  Urkundlichkeit  von 

!  Hippias'  Olympionikenliste  hat,  angeregt  durch 
das  Olympionikenverzeichnis  Oxyrh.  pap.  II 
nr.  222,  A.  Körte,  Herrn.  39  (1904)  224  ff.  wieder 
aufgenommen.  —  Der  Towixog  war  kein  rich- 
tiger Dialog,  sondern  ein  dem  Nestor  in  den 
Mund  gelegter  moralistischer  Monolog  (R. 
HiBZEL,  Der  Dialog  I  59  f.). 

')  Der  Inhalt  dieser  Schrift  steht  bei 
Sext.  Empir.  adv.  math.  VII  65  ff.  und  Ps.- 
Aristot.  de  Melisse  5  f.  (H.  Dibls,  Vorsokr.* 
528  ff.);  er  gipfelt  in  den  Sätzen:  -tocötot  oti 
ov^kv  Fouv,    öfineQov  ou  ei  xai  eoTiv,  axaid" 

Al/.TTOV  dvdQ(O7t0),  TOITOV  OTI  El  xui  xataXrjsK' 
Tor,  d),}.d  xoi  ;»'  avs^oiaxm'  xai  nvrofii^vevroy 
TCO  :iüag.  Siehe  o.  S.  514,  9.  über  die  Ab- 
weichungen der  beiden  Berichte  0.  Apblt, 
Gorgias  bei  Ps. Aristoteles  und  bei  Sextus  Em- 
puicus.  Rh.  Mus.  43  (1888)  203ff. 

»)  Nach  H.  DiELs.  Vorsokr.*  537  ist  da- 
mit identisch  das  von  Plat.  symp.  177  b  zi- 
tierte Fyxojfuov  'HimxÄFovg. 

»)  Xen.  mem.  II  1,21—34,  eine  stilistisch 
freie  Wiedergabe  der  Originalerzählung.  Über 
spätere  Nachahmung  des  Mythus  s.  E.  Nor- 
den, N.  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl.  18  (1892) 
313  f.  —  Daß  fr.  5  Diels  nicht  in  ein  Lob  der 
Landwirtschaft  von  Pr.  gehört,  zeigt  A.  Kalb- 
fleisch, Festschr.  f.  Gomperz  4  ff. 
»0)  F.  DüMMLER,  Akad.  156  ff. 


4.  Die  Philosophie,    b)  Die  attische  Periode  der  Philosophie.    (§  330.)       605 

Togy)  haben  die  sokratische  Definitionsmethode  unzweifelhaft  beeinflußt^)  und 
auch  in  den  Reden  bei  Thukydides  deutliche  Spuren  hinterlassen.')  Gerade 
diese  dem  damaligen  Publikum  sehr  abstrus  erscheinenden  Studien  brachten 
ihn  in  den  Geruch  unheimlicher  Weisheit.*) 

Unmittelbar  (in  Handschriften  des  Sextus  Empiricus)  erhalten  ist  uns 
nur  eine  ziemlich  dürftige  Probe  altsophistischer  Schriftstellerei,  die  so- 
genannten AiaXe^eig,  ein  in  sechs  Kapitel  geteilter  Schulvortrag  über  das 
Recht  und  die  empirische  Begründung  des  sittlichen  Relativismus  in  do- 
rischem Dialekt  aus  der  Zeit  nach  Athens  Fall.*)  Der  Verfasser  ist  nicht 
genannt.*)  Es  ist  eine  interessante  Probe  sophistischer  Eristik.  Der 
vöjuog  wird  hier  als  etwas  rein  Subjektives  entkräftet  nicht  durch  Gegen- 
überstellung der  (pvoig,  sondern  durch  Hinweis  auf  die  Widersprüche  der 
vojLioi  verschiedener  Völker,  eine  Betrachtungsweise,  aus  der  der  fünfte 
TQOTiog  der  späteren  Skepsis  von  den  v6/xoi  ävTixei/iievoi  (Diog.  L.  IX  83) 
hervorgewachsen  ist. 

Im  übrigen  sind  wir  darauf  angewiesen,  den  Geist,  die  Problem- 
stellung, die  Methoden,  die  Terminologie  der  Sophistik  aus  Schriften  kennen 
zu  lernen,  die  teils  ihre  Anschauungen  weitertragen  und  verarbeiten,  teils 
sich  polemisch  mit  ihnen  auseinandersetzen.  Allen  voran  steht  das  Ge- 
schichtswerk des  Thukydides,  der  sprechende  Beweis  für  die  große  wissen- 
schaftliche Kraft,  die  von  der  Tätigkeit  der  Sophisten  ausging,  dann  die 
Tragödien  namentlich  des  Euripides,  die  Komödien  des  Aristophanes,  Piatons 
Dialoge,  Antiphon,  Isokrates,  Xenophons  philosophische  und  praktische 
Schriften.  Gegen  Ende  des  5.  Jahrhunderts  verflüchtigen  sich  die  An- 
regungen der  älteren  Sophistik  teils  in  die  Dialektik  der  philosophischen 
Systeme,  teils  in  den  Formalismus  und  die  Schönrednerei  der  Rhetorik. 
Nachzügler,  die  noch  in  das  4.  Jahrhundert  hereinragen,  sind  Thrasy- 
machos  von  Chalkedon  (s.  o.  S.  513  f.),  Polykrates  (s.  o.  S.  545),  die 
eristischen  Klopffechter  Euthydemos  und  Dionysodoros,  die  Piaton  mit 
unübertroffener  Ironie  in  dem  Dialog  Euthydemos  verspottet  hat,  Bryson, 
Sohn  des  Historikers  Herodoros  von  Herakleia,  Verfasser  von  Diatriben, 
aus  denen  Piaton  vieles  entnommen  haben  sollte  (Ath.  p.  508  d).'') 

M  Spuren  davon  vielleicht  schon  Soph.  |  kein  Eigenname.   Simmias  wurde  vermutet 

Ant.  215.  217;   Ar.  ran.   1181:    karikierend  :  von  Th.  Bbbok,  Fttnf  Abhdl.  z.  Gesch.  d.  gr. 

Plat.  Prot.   341  ff.;   s.  Schol.    Fiat.   Phaedr.  Philos.u.  Astron.  (Leipz.  1883)8. 119— 38,  und 

267  b  und  J.  Classbn,  De  grammaticae  Gr.  ,  von  F.  Blass.  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  123  (1881) 

primordiis,  Bonn  1829,  25  ff.  ;  739,  Simon  von  G.  Teichmülleb,  Litterar. 

')  K.  JofiL,  Der  echte  und  der  xenophont.  1  Fehden  des  4.  Jahrh.  II,  Breslau  15^84,  97,  wo 

Sokrates  I  330  f.  !  auch  der  Text  der  Schrift  mit  Übersetzung 

')  L.  Spenoel,  üwayfoytf  xexv&v  53  ff.  {  gegeben  ist.     Über  das  Verhältnis  der  Atak. 

*)  Ar.   nub.   361;   Sprichwort  Ilooöixov  zur  Sophistik  C.  Tbiebeb,  Herm.  27  (1892) 

ootpcoTegog  Said.  8.  Jloodixog,  210  ff.    Über  die  Codd.  und  die  Emendation 


*)  WiLAMOwiTZ,  Ind.  Gott.  1899  p.  9  weist 
nach,  daß  die  Schrift  um  400  von  emem  By- 
zantier  oder  Rhodier  verfaßt  sei.  Es  heißt 
deutiich  1,  8  p.  581,  20  f.  Diels  (VorsokraU) 
vixa,  av  evixiov  {oi  Aaxedaiuovioi)  *A{^rjvaiiog 
xni  uog  ovfifidxcog.     Auf  Kypros  als  Heimat 


der  Schrift  M.  Schanz,  Herm.  19  (1884)  369  ff. 
Eine  Neubearbeitung  von  E.  Webbb  in  Philol.- 
histor.  Beiträge  C.  Wachsmuth  überreicht, 
Leipz.  1897, 33ff ,  wozu  Philol.  57  (1898)  64  ff., 
über  den  Dialekt  der  sogenannten  Dialexeis. 
Der  Text  jetzt  auch  bei  H.  Diels,  Yorsokr.^ 


des  Verfassers  schloß  Th.  Bergk  aus  p.  224.  29      p.  580  -587. 
(=  4,  5  p.  585,  12  f  Diels  »).  .  ')  P.NAT0BpinderRealenzykl.,5.Halbbd. 

«)  Das  Wort  uvoia^  p.  584,  36  Diels  ist   |  927  f. 


606  Ghiechische  LitteratargeBohiohte,    L  Klaasische  Periode. 

331.  Daß  der  Relativismus  der  Sophistik,  der  einer  ernsthaften 
Wissenschaft  ebenso  wie  einer  gesunden  Sittlichkeit  Schaden  drohte,  in 
Schranken  gehalten  wurde,  ist  das  Verdienst  des  Sokrates  (469 — 399), 
des  ersten  eingeborenen  Atheners,  der  sich  das  Philosophieren  zum  Lebens- 
beruf machte.  Die  von  den  Sophisten  geschhfifene  Waffe  der  Dialektik 
wandte  er  gegen  diese  selbst,  und  die  Verbindung  hervorragender  Ver- 
standesschärfe mit  unbeugsamem  Willen  und  klaren,  festen  sittlichen 
Instinkten,  die  er  sich  schließlich  durch  keine  Vernünftelei  verkümmern 
ließ,  sicherten  ihm  in  dem  Kampf  gegen  die  Sophistik  um  eine  zugleich 
rational  begründete  und  sittlich  positive  Weltanschauung  den  Sieg.  In 
dem  Streit  darüber,  ob  Sokrates  nur  Denker  und  Theoretiker  oder  nur 
Sozialreformer  gewesen  sei,  9  ist  die  Frage  schief  gestellt.  Agitatorisch  oder 
praktisch  reformatorisch  aufzutreten  lag  ihm  völlig  fern,  aber  die  Oedanken, 
die  er  gesprächsweise  in  Bewegung  setzte,  konnten  so  wenig  wie  die 
Kants  verfehlen,  sich  in  Taten  umzusetzen.  Seine  Ansprüche  an  äußer- 
liches Lebensglück  nieder  zu  stellen,  mochte  er  in  den  handwerklich  dürftigen 
Kreisen,  aus  denen  er  stammte,  gelernt  haben,  und  dadurch  vermochte 
er  sich  den  BUck  freizuhalten  für  die  wahren  Lebenswerte.  Er  war  im 
Demos  Alopeke  geboren  als  Sohn  des  Bildhauers  Sophroniskos  und  der 
Hebamme  Phainarete.  Von  seinem  Vater  hatte  er  die  Bildhauerkunst  er- 
lernt, und  am  Eingang  zur  Akropolis  zeigte  man  später  noch  die  von  ihm 
gefertigten  drei  Chariten.*)  Im  peloponnesischen  Krieg  kämpfte  er  tapfer 
mit  bei  Potidaia,  Delion  und  Amphipolis;  im  Jahr  406  trat  er  als  Rats- 
herr {jigvrangy)  mutvoll,  wenn  auch  ohne  Erfolg,  für  die  mit  dem  Todes- 
urteil bedrohten  Feldherrn  der  Schlacht  bei  den  Arginussen  ein.  Ver- 
heiratet hatte  er  sich  mit  der  Athenerin  Xanthippe;  da  er  aber  ein  Leben 
in  der  Öffentlichkeit  mit  dem  Zweck  intellektueller  und  sittlicher  Auf- 
klärung der  athenischen  Bürgerschaft  für  Pflicht  hielt,  so  versäumte  er 
seine  Obliegenheiten  als  Familienvater,  und  wenn  aus  seinen  Kindern 
nichts  Tüchtiges  geworden  ist  (Arist.  rhet.  II  15),  so  wird  ein  Teil  der 
Schuld  auf  ihn  fallen.  Sophist  von  Profession  war  er  so  wenig,  daß  er 
nichts  schrieb,  nie  in  festen  Kursen  zusammenhängende  Vorträge  um  Geld 
hielt,  in  seinem  ganzen  Auftreten  die  Regeln  der  Schulweisheit  verleugnete. 
Er  bestritt  durchaus,  den  Namen  diddaxaXog  zu  verdienen  und  nannte  seine 
Schüler  nicht  ftaihjrai,  sondern  ovvovreg  oder  halgot,  den  Verkehr  mit 
ihnen  durch  Gespräche  ojudeTv,  diaXeyea^ai,  oweivai.  Auch  von  dem  An- 
schluß an  eine  bestimmte  Schule  kann  bei  ihm  nicht  die  Rede  sein;  er  hatte 
wohl  den  Protagoras,  Archelaos,  vielleicht  auch  Parmenides  gehört  und  war 
in  den  Schriften  der  älteren  Philosophen  nicht  unbewandert,*)   aber  seine 


*)  Die  Alternative  ist  am  schärfsten  for-  1  Heiitlei'S :  ^coxqux?]?  xai  :i?.etm'eg  (jiV.ot  Oew^ta 
muliert  durch  die  zwei  Bücher  von  K.  JofiL,  fikv  qatroviat  /otjod/^evoi  jroAXfj,  ravifi  de  ovx 
Der  echte  und  der  xenophontische  Sokrates,       äV.oi*  /Aq"'  «'^'^«  ^'1>  ^gd^fo)^. 


2  Bde.,  Berlin  1893—1901,  und  A.  Döring, 
Die  Lehre  des  Sokr.  als  soziales  Reform- 
system,  München  1895.  Zu  Joöls  Buch  vgl.  die 
Besprechung  von  H.  Gomperz,  Arch.  f.  Gesch. 


«)  Paus.  122,  8;  1X35,7. 

')  Wahrscheinlich  nicht  als  einfacher 
Pr^lane,  sondern  als  Vorsteher  {sjuardttj^), 
wie  Em.  Müller,  Sokrates  in  derVolksversamm- 


der  Philos.  19  (1906)  234  if.      Die   richtige   i   lung,  Progr.  Leipz.  1894,  nachweist. 
Lösung  hat  schon  Julian.  or.VI  p.  246,  14  ff.   |  *)  Xen.  mem.   1  1,  14;  IV  7,  6.     Nach 


4.  Die  Philosophie,    b)  Die  attische  Periode  der  Philosophie.    (§  331.)       607 

Denkweise  war  ebenso  persönlich  originell,  wie  seine  Lehrweise.  Mit  den 
Sophisten  teilte  er  die  rationale  und  ethische  Bichtung  des  Denkens:  von 
ihm  konnte  man  ebenso  wie  von  den  Sophisten  sagen  philosophiam  devo- 
cavit  e  caelo  et  in  urbibus  coUocavü  et  in  domus  etiam  introduxit;^)  von  ihm 
gilt  wie  von  den  Sophisten,  daß  er  jede  Einengung  der  Denkfreiheit  durch 
Schranken  dogmatischer  tJberlieferung  von  sich  wies  und  in  den  richtig 
entwickelten  Denkgesetzen  allein  den  Weg  zum  wahren  Wissen  erblickte. 
Es  ist  daher  nicht  zu  verwundem,  wenn  er  von  femerstehenden,  unphilo- 
sophischen Köpfen  mit  den  Sophisten  zusammengeworfen  und  für  das  von 
jenen  angerichtete  Unheil  verantwortlich  gemacht  wurde.  Es  ist  aber  ein 
gewaltiger  Unterschied,  der  nicht  bloß  die  Art  des  äußeren  Auftretens 
betriflft:  Sokrates  bedient  sich  des  von  der  Sophistik  ausgebildeten  Kriti- 
zismus nicht,  um  den  vöjuog  zu  beseitigen,  sondern  um  einen  neuen,  tieferen, 
rational  mit  aller  Umsicht  begründeten  vojLiog  für  das  menschliche  Leben 
zu  schaffen,  und  so  sehr  er  durch  Natur  und  Neigung  zum  Rationalisten 
bestimmt  ist,  so  bleibt  er  doch  ehrlich  und  einsichtig  genug,  einen  irratio- 
nalen, für  sein  Handeln  sehr  bedeutsamen  Faktor  in  seinem  Wesen,  das 
daijuoviov,  anzuerkennen.*)  Zu  den  bestehenden  Einrichtungen  der  attischen 
Demokratie  und  Religion  stellte  er  sich,  wenn  er  auch  kritische  Äuße- 
rungen nicht  scheute,  praktisch  nicht  in  Gegensatz. »)  Über  den  Inhalt 
von  Sokrates'  „Lehre"  —  wenn  man  von  einer  solchen  reden  darf;  ein 
„System**  hat  er  aber  jedenfalls  nicht  gebaut  —  ist  mit  den  uns  vor- 
liegenden Mitteln  nicht  volle  und  allseitige  Klarheit  zu  gewinnen.  Piaton 
will  in  keiner  seiner  Schriften,  auch  in  der  Apologie  nicht,  einen  geschicht- 
lichen Bericht  geben,  sondern  „^coxQarixol  Xoyoi'^^  d.  h.  Poesie  in  Prosa,*) 
und  daß  auch  Xenophons  Memorabilien,  abgesehen  von  den  besonders  zu 
beurteilenden  zwei  Anfangskapiteln,  nicht  als  geschichtliche  Quelle  ohne 
weiteres  benützt  werden  dürfen,  ist  das  bleibende  Ergebnis  von  A.  Joöls 
Untersuchung,    mag    man  seinem   Buche   (s.  o.  S.  606,  1)    sonst  noch  so 


Ion  von  Chios  bei  Diog.  L.  II  23  reiste  er  nach   |  haltloser    politischer    und    religiöser   Recht- 
Samos  mit  Archelaos,  dem  Schüler  des  Anaxa-   j  gläubigkeit  und  «Gesinnungstüchtigkeif  zu 


goras 

')  Cic.  Tusc.  disp.  V  4,  10;  Acad.  post. 
I  4,  15.  Über  das  Sokratesbild  bei  Aristo- 
phanes  in  den  Wolken  s.  o.  S.  400.  Beachtens- 
wert für  das  Verhältnis  des  geschichtlichen 
Sokr.  zu  den  Sophisten  ist,  daß  Xenophon 
ihn  zu  diesen  überhaupt  gar  nicht,  Piaton 
erst  in  seinen  späteren  Dialogen  in  Gegen- 
satz bringt  (H.  Rädbb,  Piatons  philos.  Entw. 
91.  102). 

')  Jeder  Versuch,  das  dcujuoviov  wegzu- 
deuten  und  zu  verflüchtigen  (s.  z.  B.  R.  Pöhl- 
MANN,  Sokrat.  Studien  in  Münch.  Ak.  Sitz.- 
ber.  1906,  122  f.),  bedeutet  einen  Ansatz 
zu  rationalistischer  G^schichtsverödung  und 
-Vergewaltigung. 

*)  Xenophons  Verteidigung  mem.  I  1.  2 
stützt  sich  auf  das  allgemein  Zugestandene, 


erweisen.  Bezeichnend  ist  jedenfalls,  daß 
die  höchste  religiöse  Instanz,  das  delphische 
Orakel,  ihm  eine  Anerkennung  zuteil  werden 
ließ,  die  bei  einem  auf&Uigen  Verstoß  des 
S.  in  Kultsachen  ganz  undenkbar  wäre.  An 
der  Geschichtlichkeit  des  bekannten  Sokrates- 
orakels  (dessen  versifizierte  Form  freilich 
nicht  authentisch  ist)  zu  zweifeln  (R.  Pöhl- 
MANN  a.  a.  0. 80  ff.)  ist  gänzlidi  verfehlt.  Die 
authentischste  Form  des  Orakels  bietet  Xen. 
apol.  14;  sie  macht  den  Eindruck,  das  Orakel 
sei  bei  einer  ganz  bestimmten  Veranlassung 
(etwa  Sokrates'  Auftreten  im  Arginussen- 
prozeßV)  provoziert  worden. 

*)  Aristot.  poöt.  1447b  10;  rhet.  1416a 
20;  fr.  55  R.;  pol.  1265a  11;  [Plat]  ep.  13 
p.  368  A.;  Diog.  L.  II  64;  Hör.  carm.  lU  21, 10. 
K.  JoßL,  Arch.  f.  Gesch.  der  Philos.  8  (1895) 


vermag  freilich  nicht  den  Sokrates  als  einen      476  ff.  Piatons  umständliche  Auseinanderset- 
durchaus   korrekten   Bürger   im  Sinn   rück-  I   zungTheaet.  148a  ist  nicht  ernst  zu  nehmen. 


608  GriechiBche  litteratnrgesohichte.    I.  Klassische  Periode. 

reserviert  gegenüberstehen.  Nicht  zu  überschätzen^)  sind  die  wenigen, 
auf  Piaton-  und  Xenophonstellen  zurückgehenden  Zeugnisse  des  Aristoteles. 
Immerhin  bezeichnet  dieser  richtig^)  die  induktive  Erkenntnismethode 
und  die  Entwicklung  allgemein  gültiger  Definitionen  als  das  Wesentliche 
von  Sokrates'  Philosophie.  Übereinstimmungen  zwischen  den  so  verschieden- 
artigen Berichterstattern  Piaton  und  Xenophon  fallen  immer  ins  Gewicht; 
aber  sie  reichen  nicht  zu,  ein  vollständiges  und  einhelliges  Bild  von  Sokrates' 
Philosophie  zu  gewinnen,  wie  denn  auch,  je  nachdem  ein  Zug  oder  der 
andere  mehr  betont  wurde,  Sokrates  neuerdings  bald  als  einseitiger  Logiker 
und  Theoretiker,  bald  als  einseitiger  Praktiker  und  Ethiker,  bald  als 
Mystiker,  bald  als  atheistischer  Freigeist  dargestellt  wird.»)  Festhalten  läfit 
sich  etwa  folgendes:  In  seinem  Streben,  das  sittliche  Leben  auf  einen 
festen  Boden  zu  stellen,  gab  er  die  Naturspekulation  als  unergiebig  und 
irreführend  auf  und  suchte  durch  gewissenhafte  Abstraktion  aus  der  Er- 
fahrung feste  Allgemeinbegrifife  zu  gewinnen,  aus  denen  sich  ohne  weiteres 
die  Normen  des  sittlichen  Lebens  ergeben  sollten.  In  Sätzen  wie  dem, 
daß  Tugend  Wissen  sei,  daß  richtiges  Wissen  (d.  h.  nicht  do^a,  sondern 
iniGxrjfii])  das  richtige  Handeln  bei  normaler  Geistesbeschaflfenheit  zur  not- 
wendigen Folge  habe  {pvdek  f,xa)v  äjuagtävei),  tritt  eine  Unterschätzung  der 
Seite  des  Willens  im  menschlichen  Wesen  zutage,  die  für  die  gesamte 
griechische  Philosophie  charakteristisch  ist.  Dem  Aufbau  der  positiven 
Begriffe  mußte  die  Beseitigung  der  Wahnvorstellungen  und  die  Erkenntnis 
eigenen  Nichtwissens  vorangehen.  In  diesem  Sinn  wirkte  Sokrates  in  freier 
Öffentlichkeit,  auf  Straßen  und  Plätzen  die  Menschen,  besonders  die  em- 
pfängUche  Jugend,  ihres  Scheinwissens  überführend  (Elenktik)  und  die  rich- 
tigen Begriffe  aus  ihnen  mit  Hebammenkunst  (Maieutik),  wie  er  das  humo- 
ristisch selbst  nannte,  dialektisch  herausholend.  Denn  er  war  ebenso  wie 
Christus  überzeugt,  daß  die  Besserung  der  Begriffe  und  Sitten  von  dem 
Einzelnen  ausgehen  müsse  und  erwartete  von  Staat  oder  Oesellschaft  nichts. 
Tugend  und  Glück  setzte  er,  im  Gegensatz  zu  den  oberflächlichen  Glücks- 
idealen des  älteren  Griechentums,  in  eins,*)  und  dieser  Grundsatz  ist  der 
philosophischen  Ethik  der  Griechen  geblieben. 

Daß  Sokrates'  Verkehr  mit  der  attischen  Jugend  das  Mißfallen  der 
konservativen  Kreise  erregte,  dafür  bieten  die  Wolken  des  Aristophanes 
(423)  das  früheste  Zeugnis.  Naseweisheiten  seiner  Schüler, 0)  schlimme 
poUtische  Streiche,  wie  sie  Kritias  und  Alkibiades  machten,  wurden  auf 
ihn  zurückgeführt,  und  gewiß  erregte  auch  das  schon  Verstimmung,  daß 
er   als   eingeborener  Athener    die  Betrachtungsweisen   der   ausländischen 


I 


^)  K.  JoÄL,   Der  echte  und  der  xenoph.  aristophanischen  Sokrates  s.  o.  S.  400,   über 

Sokr.  I  223  ff.  I   die    des    platonischen    und    xenophontischen 

2)  Arist.  met.  1078b  27  (vgl.  987b  1  ff.):  I.  Bruns.  Das  litt.  Porträt  281  ff.  376  ff. 

6ro  ydo  hur  ä  ii<;  är  usiobnit]  l\oy,gdTei  d(-  ,            ■•)  Kleanthes   bei  Clemens   Alex,  ström. 

xat'oK,  Torg  t'  EJtaxjixovg  koyovg    xnt    to  ooi-  II  22    p.  499  P.     lov    llioxodzrjy    q^rjoi    .Tao' 

CeoOai  xaOÖArtv,  vgl.  de  part.  anim.  642a  28.  Kxaoia    <^ihdoxFiv   mg   <>  ahog  Üixamg    xe    xal 

')  A.  Döring  a.  a.  0.  i  s.  o.  S.  606. 1)  Einlei-  i   evdaiiuov  dvrjo. 

tung:  dazu  kommt  in  neuester  Zeit  H.  Rück.  Der  '           ^)  Plat.  ap.  23  c;  Xen.  mem.  I  2,  40  ff.; 

unverfälschte  »Sokr.,  der  Atheist  und  Sophist,  vgl.  den  Ktesippos   in   Piatons  Euthydemos. 

Innsbr.    1903.      Über   die    Porträttreue    des  . 


4.  Die  Philosophie,    b)  Die  attisohe  Periode  der  Philosophie.    (§  331.)       609 

Wanderredner  systematisch  auf  die  attische  Jugend  übertrug.  Doch  nahm 
ihn  achtzehn  Jahre  nach  den  Wolken  sogar  Aristophanes  (ran.  1491  ff. 
bezieht  sich  trotz  Panaitios'  Widerspruch  auf  den  Philosophen)  noch  ganz 
harmlos,  bis  im  Zeitalter  der  altdemokratischen  Restaurationspolitik  ein 
Konsortium  aus  einem  Poeten  (Meletos),  einem  Politiker  (Anytos)  und 
einem  Rhetor  (Lykon)  ihm  in  demselben  Jahr,  in  dem  Andokides  wegen 
des  Mysterienfalls  vor  Gericht  stand,  wegen  Gottlosigkeit  anklagte.^)  Von 
Staatsgefährlichkeit  des  Sokrates  ist,  um  die  von  Anytos  auch  sonst  nach- 
drücklich vertretene  Amnestie  von  403  zu  wahren,  in  dem  Prozeß  kein 
Wort  gesprochen  worden,  wenn  auch  politische  Motive  mitgespielt  haben 
mögen.  ^)  Die  Motive  für  das  Schuldig,  das  die  Richter  mit  kleiner  Majo- 
rität sprachen,  waren  vermutlich  recht  verschiedenartig;  die  Verurteilung 
zum  Tod  aber  muß  wohl,  da  Sokrates  keinen  Gegenantrag  stellte^)  und 
uns  von  einem  Begnadigungsrecht  der  Heliaia  in  solchen  Fällen  nichts  be- 
kannt ist,*)  als  formelle  Notwendigkeit  betrachtet  werden. 

Die  Verurteilung  wirkte  durch  die  Perspektive,  die  sie  eröffnete,  daß 
nämlich  eine  Gesinnung,  die  sich  gar  nicht  in  straffälligen  Handlungen 
äußere,  doch  in  schikanöser  Weise  zur  Anklage  gebracht  und  mit  den 
schwersten  Strafen  belegt  werden  könne,  auf  das  geistige  Leben  Athens 
für  ein  Jahrzehnt  lähmend  —  es  ist  dieselbe  Zeit,  in  der  auch  der  alt- 
attischen Komödie  der  Maulkorb  angelegt  wurde.  Von  der  Gründung 
einer  Sokratikerschule  in  Athen  konnte  unter  diesen  Umständen  vorläufig 
nicht  die  Rede  sein.  Während  die  Ausläufer  der  Sophistik  in  Athen,  mit 
ihnen  vielleicht  der  Halbsophist  Antisthenes,  sich  auf  den  harmlosen  Unter- 
richt in  der  Rhetorik  zurückzogen  und  durch  weitere  Diskreditierung  der 
Philosophie  (Polykrates)  das  Monopol  auf  die  Jugendbildung  sich  zu  er- 
halten suchten,  flohen  die  Schüler  des  Sokrates  nach  allen  Seiten;  ein  Asyl 
für  manche,  unter  denen  Piaton,  bot  Eukleides  in  Megara.  Aber  gegen 
Ende  der  neunziger  Jahre  des  4.  Jahrhunderts  faßten  und  sammelten  sie 
sich  wieder,  und  die  Prophezeiung,  die  Piaton  dem  Sokrates  (ap.  39  d)  in 
den  Mund  legt,  begann  sich  zu  erfüllen:  nkeiovg  Eoovxai  vfiäg  ol  iXiyxovreg, 
ovg  vvv  iyio  xareXxov  (d.  h.  von  schriftstellerischer  Betätigung  abhielt)  xal 
Xdi-eTZioreQOi  iooviai  8oco  vsioxeooi  eloi. 


')  Die  originale  Fassung  der  Anklage-  ,  burts-  und   Geistesaristokraten  Piaton   übei 

Schrift  (die  gegen  die  Anzweifelung  von  M.  Ankläger  und  Richter  aus;  daß  Sokrates  so 

Schanz  sicher  gestellt  ist  durch  A.  Menzel,  gesprochen    habe,    ist    undenkbar.    —    Die 

s.  0.  S.  470,  3)  ist  erhalten  von  Xenoph.  mem.  i   politische  Verdächtigung  des  Sokrates  (und, 

11,1  und  Favorinus  bei  Diog.  L.  II  20,  der  I   wie    die    Meinung    des  Verfassers    ist,    der 

sie  noch  im  Archiv  zu  Athen  gesehen  hat.  !   Sokratiker)   tritt  erst  in   der  xazfjyogia  des 

Piaton  stellt  die  Punkte  (ap.24b)  in  tenden-  ■   Polykrates  als  neues  Motiv  auf.  WasAeschin. 

ziöser  Weise  um.  or.  1,  173  gibt,  ist  die  auf  Polykrates  zurück- 

^)    A.  Menzel  a.  a.  0.      Dieser  betont  gehende  Legende, 

auch,    wie    K.   Joöl,    mit   Recht,    daß    die  ')  Xen.  ap.  23;  das  verächtliche  Markten 

glaubwürdigste     Darstellung     des     ProzeB-  bei  Plat.  ap.  38  b  entspricht  dem  Ton  dieser 

Verlaufs    nicht    in    der    Apologie    Piatons,  ganzen   Schrift,    aber    nicht    der    geschicht- 

wiewohl  dieser  dabei  war,  sondern  in   der  liehen  Wahrheit. 

auf  Zeugnissen    des    Euthydemos    beruhen-  :           *)  Meieb-Schömann-Lipsiüs,  Att.  Prozeß 

den  des  Xenophon  vorliegt.    Piatons  Schrift  '   II  991  ff. 

schüttet    den    übermütigen    Hohn    des    Ge-  I 

Handbuch  der  klass.  AltertaiiiBwiMenschaft.    VIT.  5.  Anfl.                                                   39 


610  Qriechische  Litteraturgesohichte.    L  Klassische  Periode. 

332.  Sokrates  hat  selbst  nichts  geschrieben,^)  aber  doch  ist  er  von 
größter  Bedeutung  für  die  attische  Litteratur  nicht  nur  dadurch,  daß  von 
ihm  eine  Reihe  auf  dem  Gebiet  der  Philosophie  sich  schriftstellerisch  be- 
tätigender Schulen  ausgegangen  ist,  sondern  auch  als  Begründer  einer 
neuen  schriftstellerischen  Form  für  Darlegung  philosophischer  Gegenstände, 
des  Dialogs.^)  Seine  Überzeugung,  daß  die  Wahrheit  besser  durch 
gesprächsmäßige  Erörterung  als  durch  wohlausgearbeiteten  zusammen- 
hängenden Vortrag  {Xöyoi  owexeig,  h  die^ödcp)  gefunden  und  befestigt 
werde,  teilten  seine  Schüler,  und  so  kleideten  die  meisten  von  ihnen,  als 
sie  nach  dem  Tod  des  Sokrates  zu  Schriftstellern  begannen,  ihre  Aus- 
führungen in  die  durch  ihr  dramatisches  Leben  auch  schriftstellerisch 
wirksamere  Form  des  Dialogs.^)  Sie  zeigen  durch  diese  halbpoetische 
Form  auch,  daß  es  ihre  Absicht  ist,  auf  weitere  Kreise  zu  wirken  und 
deren  irregeleitetes  Urteil  über  den  Sinn  der  sokratischen  Philosophie  zu 
berichtigen.  Als  Xenophon  die  Stellen  apol.  1  und  mem.  I  4,  1 ;  IV  3,  2 
schrieb,  lagen  schon  üoyxQarixol  koyoi  vor.  Nach  Aristoteles  (fr.  61  p.  1485  b 
41  flf.)  hätte  Alexamenos  von  Teos  schon  vor  den  Sokratikem  Dialoge 
geschrieben.     Über  Xenophons  Xöyoi  ücüxganxoi  s.  o.  S.  479  flf. 

Aischines,  Sohn  des  Lysanias  aus  Sphettos,  verfaßte  sokratische 
Dialoge,  die  mit  besonderer  Treue  die  Manier  des  Sokrates  wiedergaben. 
Unter  der  größeren  Anzahl  der  auf  seinen  Namen  laufenden  Dialoge 
wurden  nur  sieben  {Mdjiddtjg^  KaiMag,  *A^ioxog,  ^Aonaoia,  *Aixißiddrjg^  Trjkavyrjg, 
'Pivcov)  für  echt  befunden  (Diog.  L.  II 61);  sie  wurden  noch  in  nachchristlicher 
Zeit,  von  Dion  von  Prusa*)  und  Aelius  Aristides,  gelesen;  aber  auf  uns  ist 
keiner  gekommen.'^)  Über  die  Anklagerede  des  Lysias  gegen  Aischines 
s.  0.  S.  524,  6. 

Eu  kl  ei  des  aus  Megara,  einer  der  ältesten  Sokratesschüler,  verband  die 
sokratische  Lehre  vom  Guten  mit  der  eleatischen  vom  Sein  und  vom  Einen.*) 


*)  Abzusehen  ist  von  den  äsopischen  Fabeln, 
die  er  im  Kerker  in  Verse  gebracht  haben  soll 
(Plat.  Phaed.  60  d;  vgl.  M.  Schanz.  Herrn.  29, 
1894, 597  ff.).  Außer  Betracht  bleiben  ohnehin 
die  acht  unechten  Briefe  des  Sokrates  (R. 
Hercher,  Epistologr.  609  ff.).  Auch  höchstens 
nur  auf  mündlicher  Überlieferung,  wenn  nicht 
geradezu  auf  Erdichtung  oder  Verwechselung 
beruht  es.  daß  mehrere  Sentenzen  und  Gleich- 
nisse, die  Stobaios  unter  dem  Lemma  fx  tov 
Iwxodzovg  zitiert,  auf  S.  zurückgeführt  wer- 
den. Auch  Fürstenbriefe  an  S.  wurden  ge- 
fälscht (Liban.  t.  III 59, 4  R.),  und  von  einem 
pseudosokrat.  Dialog  de  anima  ist  eine  syri- 
sche Übersetzung  (V.  Ryssel,  Rh.  Mus.  48, 


Siehe  K.  JoäL,  Der  echte  und  der  xen.  Sokr.  I 
368  f.;  W.  ScHMiD,  Philol.  50  (1891)  298; 
Xenocr.  fr.  13.  14  Heinzb;  Cic.  or.  62  ff.  113; 
de  fin.  II  17  f.;  de  off.  I  132;  Philod.  de  rhet. 
I  p.  239  f.  SuDH.;  Sen.  ep.  89,  17;  Aristid. 
or.  46  p.  477  Dind.  —   Siehe  a.  u.  S.  621  f. 

')  Diog.  L.  II 64 :  jrdvutn'  ftevToi  x(bv  Scofcga- 
tixüjv  öiaJ.6yo}v  Ilai'aiTioi  dJ.rj&eig  elvai  dofeet 
Tovg  nXdxiovog,  Sevoqpwvrog ,  *AvTto^svovgf  Ai- 
oxivoV  diardCet  de  jregi  ^cov  4*alöiovog  xal 
EvxXfiöov.  Tovg  6*  äk),o\)<;  dvatoft.  Daß  keiner 
vor  Sokrates*  Tod  schrieb,  zeigt  I.  Bbüits, 
Litt.  Poiir.  226  ff.  (für  Piaton  insbesondere 
H.  Räder,  Piatons  philos.  Entw.  92). 

*)  J.  Weoehaüpt,  De  Dione  Chr.  Xeno- 


1893.  175  ff.)  vorhanden.  1  phontis  sectatore,  Gotha  1896,  33  ff. 

'^)  R.  Hirzel,  Der  Dialog  I  68  ff.     Eine  '  ^)  Die  R<3st€  K.F.Hbrmann,  De  Aeschinis 

ironische   Motivierung   der   I)ialogform    legt  1  Socr.reliquiis,  GötL.  1850.  Über  Aisch.*  Vi o-Tacm 

Piaton   (Prot.  334d)   dem  S.  in   den  Mund;  |  P.  Natorp,  Philol.  51  (1892)  489  ff. 
vgl.  auch  Plat.  symp.  199  b.  212  c.     Die  rhe-  ^)  Gegen  Eukleides  scheint  gerichtet  zu 


torische  Technik  hat  für  die  Form  des  Dia- 
logs nur  widerwillige  Anerkennung  (Isoer. 
or.  12,  26;  15,45;  ep.  5;  Quint.  X  5,  15), 
aber  keine  Berücksichtigung  in  ihrem  System. 


sein  Plat.  soph.  p.  246  b:  ol  Ttoog  avtwg  dfi- 
(ptaß7]TovrTfc:  fjiiU.a  svAa/icög  avio{^n>  e^  doodrov 
jioi^f »'  duvroi'iai,  vofjrd  äria  xai  dacofiaxa  ePitf 
ßtaCdfierot    rifv    dXrf^ivi^v    ovoiav    eivat.     Vgl. 


4.  Die  Philosophie,    b)  Die  attische  Periode  der  Philosophie,    (g  832.)       611 

Wir  haben  nichts  von  ihm;  das  Altertum  hatte  sechs  Dialoge,  über  deren 
Echtheit  Zweifel  herrschte  (Diog.  L.  11  64).  Durch  seinen  Schüler  Bryson, 
der  wieder  Pyrrhons  Lehrer  wurde,  verbindet  ihn  die  Tradition  mit  der 
skeptischen  Schule.  Unter  den  späteren  Häuptern  der  megarischen  Schule 
gelangte  Stilpon  (um  380 — 300),  der  sich  den  ethischen  Ansichten  der 
Kyniker  zuneigte,  seine  Stärke  aber  im  Disputieren  hatte,  zu  besonderem 
Ansehen;  auch  von  ihm  waren  neun  Dialoge  im  Umlauf,  die  bei  Diog. 
L.  II  120  als  spitzfindig  und  frostig  {tpvxgol)  bezeichnet  werden.  Auch  Ale- 
xin os,  zum  Scherz  'EXey^vog  genannt,  betätigt  sich  in  negativer  Bjntik  gegen 
Rhetorik  und  stoischen  Dogmatismus. i)  Mit  ihm  verschwindet  die  Schule; 
ihr  Kritizismus  geht  in   der  skeptischen  und  akademischen  Richtung  auf. 

Von  den  Dialogen  des  Phaidon  aus  Elis,  nach  dem  das  gleichnamige 
Gespräch  Piatons  benannt  ist,  wurden  zwei,  ZibnvQog  und  Ui/icov  (Diog. 
L.  II  105),  als  echt  anerkannt.*)  Die  von  ihm  in  Elis  gegründete  Schule 
wurde  von  Menedemos  im  Anfang  des  3.  Jahrhunderts  nach  Eretria  ver- 
pflanzt. Menedemos  ist  eine  populäre  Figur  geworden,^)  hat  aber  nichts 
geschrieben,  und  die  von  ihm  gegründete  eretrische  Schule,  von  der  wir 
außer  den  Stifter  nur  den  Pasiphon  kennen,  hat  es  über  lokale  Bedeu- 
tung nicht  hinausgebracht. 

Antisthenes  aus  Athen,  Hörer  des  Gorgias,  dann  des  Sokrates,  war 
Gründer  der  kynischen  Schule,  die  von  dem  Ort,  wo  ihr  Stifter  lehrte, 
dem  Gymnasium  E3rnosarges,  ihren  Namen  hatte.  In  der  Lehre  und  in 
zahlreichen  Schriften  trat  er,  ein  Feind  der  Dialektik  wie  der  realen  All- 
gemeinbildung, in  erkenntnistheoretischer  Hinsicht  Sensualist  und  Nominalist, 
ein  Mann  von  vorwiegend  ethisch-pädagogischen  Interessen,*)  Anhänger 
der  prodikeischen  Sprachphilosophie*)  und  der  allegorischen  Homererklärung 
und  Vertreter  der  Bedürfnislosigkeit  (avraQxeia)^  vielfach  in  Gegensatz  zu 
Piaton,  dessen  Ideenlehre  er  ins  Lächerliche  zog  und  den  er  in  dem  Dialog 
üddcov^)  auch  persönlich  verspottete.  Auf  der  anderen  Seite  ließ  es  auch 
Piaton  nicht  an  Ausfällen  gegen  ihn  fehlen.  Die  Alten  hatten  von  Antisthenes 


E.  Zeller,  Gesch.  d.  gr.  Phü.*  II  1,  252  ff.;  «)  Vgl.  Ath.  220 d  und  507a;  gegen  die 

P.Natorp  in  derRealenz.,  ll.Halbbd.  lOOOff.  Lehre    des    Antisthenes    sind    gerichtet    die 

Daß  Piaton  in  Eukl.  einen  Vorläufer  seiner  ;   Stellen   Theaet.  155  e  und  soph.  251b,   viel- 

(pluralistischen)    Ideenlehre   gefunden   habe,  leicht    auch    die   Ablehnung    der  avxdoxeia 

ist  eine  jetzt  ^gemein  aufgegebene  Ansicht.  reip.  370  c  ff.  und  der  Spott  auf  den  Schweine- 

^)  H.  V.  Abnim,  Herrn.  28  (1893)  65  ff.  staat  372  d,   gegen  seine  Person    vielleicht 

^)   Andeutungen    über    den    nach    dem  Plat.  reip.  535  c.   Theaet  174a;  M.  Guogek- 

Schuster  Simon  benannten  Dialog  2V/ia)v  geben  HEitf.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt  9  (1902)  521  ff.    Die 

der  12.  und  13.  Brief  der  Sokratiker,  worüber  Idee,   daß   hinter  Piatons  Euthydemos  Anti- 

WiLAMowiTz.  Herm.  14  (1879)  187  ff.  u.  476  f.  sthenes  stecke,  ist  von  F.  Dümmler  angeregt, 

')  Das   zeigt  die  außerordentlich  anek-  von  A.  Jo^l,   Der  echte  und  der  xen.  Sokr. 

dotenreiche  Biographie  bei  Diog.  L.  II 125  ff.,  I  372  ff.  weiter  verfolgt.    Über  den  Versuch 

die  Beiziehung  des  M.  zum   Symposion  der  von  M.  Gtüooekheim,  Philol.  60  (1901)  149  ff., 

72  Dolmetscher  im  Aristeasbrief  201,   viel-  I    in  Piatons  Staat  polemische  Beziehungen  auf 

leicht    auch   Lykophrons   Satyrdama   Mevi-  Antisthenes   aufzudecken,    äußert   sich   mit 

<^7;/io<:.  verständiger  Skepsis  H.  Gompebz,    Arch.  f. 

*)  L.  R.  RosTAONo,  Le  idee  pedagogiche  Gesch.   der  Philos.  19  (1906)  419  ff.     Über 

neUa  filos.  cinica  e  specialm.   in  Antistene,  seinen  Dialog  Kvqoc:  rj  :Tegl  ßnodeiag,  mit  dem 

Torino  1904.  er  den  Anstoß  zur  Kyrupaideia  des  Xenophon 

^)  Über  Abhängigkeit  des  Ant  von  Pro-  gab,  s.  oben  S.  489,  4. 

dikos  F.  Dümmler,  Akademika  156  ff.  I 

39* 


612 


GriechiBohe  Litteratnrgeschichte.    I.  ElassiBche  Periode. 


zahlreiche  Schriften,  geordnet  nach  sachlichen  Gesichtspunkten  in  zehn 
Bänden.*)  Es  waren  teils  Dialoge,  in  denen  aher  nicht  immer  Sokrates 
auftrat,  teils  Abhandlungen  (z.  B.  ein  ngotgemixög).  Auf  uns  gekommen 
sind  unter  seinem  Namen  die  zwei  oben  (S.  544)  besprochenen  Deklamationen 
Atag  und  'Odvooevg.  Von  einem  seiner  Dialoge,  vermutlich  dem  'Agxe- 
Xaog  f}  jiegl  ßaaiXelag  gibt  den  Hauptinhalt,  daß  nicht  Geld  und  Macht,  son- 
dern nur  sittliche  Tüchtigkeit  den  Menschen  wahrhaft  glücklich  mache, 
Dion  Chrysostomos  in  der  dreizehnten  Rede  wieder.*)  Die  Abmessung 
zwischen  äußerem  Glück  und  sittlichem  Wert  war  durch  die  Laufbahn  des 
399  ermordeten  makedonischen  Usurpators  Archelaos,  den  auch  Piaton  im 
Gorgias  heranzieht,  aktuell  geworden  (s.  a.  Socraticor.  epist.  1).  Trotz  stilisti- 
scher Vorzüge  (Fronte  p.  146  Naber)  sind  seine  Schriften  in  Vergessenheit 
geraten,  wahrscheinlich  verdunkelt  durch  die  Diatribenlitteratur  der  spä- 
teren Zeit.  —  Schüler  des  Antisthenes  war  Diogenes  von  Sinope  (ge- 
boren 403,  gestorben  323,  angeblich  an  demselben  Tag  wie  Alexandros 
d.  Gr.).  Er  setzte  die  Lehre  vom  naturgemäßen  Leben  in  die  Tat  um. 
Infolge  seiner  originellen  Lebensführung  ist  er  schon  früh  in  einer  Flut 
von  Anekdoten  und  Witzworten  fast  untergegangen,»)  darf  aber  doch  nicht 
bloß  als  Spaßmacher  betrachtet  werden.*)  Die  ihm  beigelegten  Schriften 
wurden  von  Sosikrates  und  Satyros  für  unecht  erklärt  (Diog.  L.  VI  80). 

Aristippos  aus  Kyrene  war  Antipode  des  Antisthenes  und  Begründer 
der  kyrenäischen  Lehre  vom  vernunftgemäßen  Lebensgenuß.  Beide  stimmten 
darin  überein,  daß  sie  die  Philosophie  auf  die  Untersuchung  über  die  Tugend 
und  das  beste  Leben  beschränkten,  die  Fragen  nach  dem  Wissen  als  über- 
flüssig oder  doch  gleichgültig  ablehnten. 0)  Wenn  Aristoteles  (met.  p.  996  a  32) 


*)  Das  Verzeichnis  steht  bei  Diogenes 
VI  15;  vgl.  F.  DüMMLEB,  Antisthenica,  Halle 
1882;  F.  SüSEJOHL,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  135 
(1887)  S.  207-14. 

')  Dieses  hat  H.  Usener  bei  F.  Dümmler 
p.  10  aus  der  Vergleich  ung  des  Verzeich- 
nisses der  Werke  des  Antisthenes  und  Dion 
p.  424  u.  431  R.  geschlossen.  Auf  den  Dia- 
log bezieht  sich  auch  Aristoteles  polit.  1284  a 
15  leyoiev  yäg  av  io(og  abiCQ  'Avxtodevrjg  F<p?j 
ToiV  XFOvxag  SrjinrjyogovvTcov  ttov  daovjioÖwv 
xai  ro  Yoov  a^ioifvxwv  :idvtag  ix^iv.  —  Vieles 
andere  sucht  auf  Antisthenes  zurückzuführen 
E.  JoäL  in  dem  S.  611,  6  u.  s.  zitierten  Buch, 
worüber  die  einschränkenden  Urteile  von  0. 
Apelt,  Berl.  phil.  W.schr.  21  (1901)  865  ff.  und 
H.  GoMPERz.  Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.  19  f  1906) 
241  ff.  253  ff.  Der  Gedankenkreis  des  Anti- 
sthenes wird  in  Joöls  Buch  gut  umschrieben, 
aber  die  schon  von  Dümmler  ins  Phantastische 
geführten  Versuche,  aus  Piaton,  Xenophon, 
Dion  Chr\sostomo8  den  Antisthenes  zu  re- 
konstruieren, kommen  bei  Jogi  vollends  ins 
Bodenlose.  —  Sammlung  der  Fragmente  von 
A.  W.  WiNOKKLMAXN,  ZüHch  1842.  Versuch, 
aus  Berührungen  zwischen  Isokr.,  Xenoph. 
und  Aristot.  den  ^'.t/>oo,toc  des  Antisth.  zu 
rekonstruieren,  H.  Gomperz,  Arch.  f.  Gesch. 


der  Philos.  a.  a.  0.  567  f.  H.  J.  Lülops,  De 
Antisth.  studiis  rhetoricis,  Amsterdam  1900. 

')  Diog.  L.  VI  2.  Satyros  scheint  sich 
besonders  mit  der  Diogenesbiographie  be- 
schäftigt zu  haben  (£.  Rohoe,  El.  Sehr.  I 
184;  F.  Leo,  Griech.-röm.  Biogr.  122  ff.). 
Neue  Diogenesanekdoten  auf  Papyrus:  C. 
Wessely,  Fostschr.  f.  Gomperz  67  ff.;  W. 
Crönert,  Arch.  f.  Pap.  2,  370  f.;  ders.,  Ko- 
lotes  und  Menedem.,  Leipz.  1906,  49  ff.  157  f., 
wo  auch  über  Diogenes*  tfoXtieia  und  ihre  Ein- 
wirkung auf  Zenon  und  andere  Stoiker  ge- 
handelt wird :  einige  Diogenessprüche  in  einem 
von  P.  Jouguet  und  P.  Perdrizet  in  C.  Wes- 
BELYsStud.z.griech.Paläogr.  VI  (1906)  heraus- 
gegebenen ägyptischen  Schülerheft.  —  über 
die  Tragödien  des  D.,  von  deren  Art  viel- 
leicht Lucians  'üximovc:  und  Tgayci}dojioddyoa 
eine  Vorstellung  geben,  s.  o.  S.  374. 

*)  H.  V.  Arnim,  Dio  v.  Prusa  39  f. 

*)  Sext.  Emp.  adv.  math.VII  11:  öoxovm 
6e  xard  tivag  xai  <n  dno  ti/s  Kvgip'ffs  fiwov 
dojid^fodai  i6  ijOixov  ftFoog,  jtaQCUtefA^fiv  de 
t6  (pvotxov  xai  xo  loyixov  iog  firfdev  jroog  tu 
evdaiiLtdv(og  ßiovr  avreoyovvra.  Aristot.  met. 
996  a  32:  rcTtr  aoffiorcov  ureg  olov  *AgiOTUt.iog 
:tgoe.irj?ytxtCov  avrdg  (sc.  rag  jua&tjfiarixdg 
ijziOTTJftag) '  ev  juev  ydg  taig  äXXaig  Tf;f »»aii  xai 


4.  Die  Philosophie,    c)  Platom    (§  833.)  613 

den  Aristippos  einen  Sophisten  nennt,  so  hängt  das  wohl  einerseits  damit 
zusammen,  daß  er  nach  Sophistenart  um  Geld  lehrte/)  anderseits  damit, 
daß  er  durch  die  Annahme,  einzig  die  Eindrücke  {tzöStj)  der  Dinge  auf 
uns  seien  ma&gehend,  sich  dem  Sensualismus  des  Protagoras  anschloß. 
Mit  Piaton,  dessen  Philebos  ohne  Namensnennung  hauptsächlich  gegen  ihn 
gerichtet  ist,')  kam  er  in  Sizilien  am  Hof  des  Dionysios  zusammen.  Seine 
teils  in  attischem,  teils  in  dorischem  Dialekt  abgefaßten  Dialoge,  deren 
Echtheit  schon  früh  kontrovers  war,  werden  von  Diog.  L.  11 84  f.  aufgezählt.*) 
—  Die  Lustlehre  des  Aristippos  schlug  in  einem  jüngeren  Vertreter  der 
kyrenäischen  Schule,  in  Hegesias  mit  dem  Beinamen  ö  neiaf^dvaiog^  der 
zur  Zeit  des  Ptolemaios  Lagu  lebte,  in  vollständigen  Pessimismus  um, 
indem  dieser,  an  der  Erreichung  der  Glückseligkeit  {evdaifwvia)  verzweifelnd, 
in  seinem  'Anoxagregcov  die  durch  den  Tod  am  sichersten  zu  erreichende 
Empfindungslosigkeit  als  das  Beste  empfahl*)  Hegesias  wie  Theodoros 
6  Meog,  der  die  Religion  als  Störerin  der  Seelenruhe  verwarf,  Annikeris 
und  Aristoteles,  die  letzten  bekannten  Vertreter  der  kyrenäischen  Lehre, 
sind  alle  Kyrenäer  von  Geburt.  Der  Kern  ihrer  ethischen  Anschauungen 
ist  durch  die  Lehre  des  Epikuros  aufgesogen  worden. 

Der  einzige  Sokratesschüler,  der  die  Lehre  des  Meisters  nicht  in  ein- 
seitig rationalistischer  Richtung  weiterbildete,  sondern  ihr,  angezogen  von 
pythagoreischem  Wesen,  eine  mystisch-religiöse  Wendung  in  die  Tiefe  gab, 
ist  Piaton.  Darin  wie  in  seiner  mächtigen  künstlerischen  Begabung  liegt 
der  Grund  für  seine  weit  überragende  philosophische  und  schriftstellerische 
Bedeutung  im  Kreis  der  Sokratiker  und  in  der  Weltlitteratur. 

c)  Piaton  (427—348/7)»)  und  die  ältere  Akademie. 
333.    Abkunft,   Jugend.    Piaton,  Sohn  des  Ariston  und  der  Peri- 

xat^  ßavavaoig,  olov  ev  lexxovixfi  xai  axvuxfjf  |  ^)  Quellen:    Diog.  L.  III;    Acad.  philoe. 

dioTi  ßilxiov  rj  x^^Qov  Xeyea&m  vTctiTa,   me  Sk  index  p.  6  ff.  Meklbb  (wo  alle  JParallelberichte 

fiaOrjjuaTixag  ov&Sva  jtoieta&ai  koyov  Jiegi  aya-  beigedruckt  sind;  s.  dazu  K.  Prächteb,  Gott 

0idv  xai  xaxöjv  (vgl.  1043b  24).  j  Gel.  Anz.  1902,   953  ff.,   und   W.  Cbönbbt, 

^)  Diog. L. II 65:  jtgoiTog  xwv ^(oxoatixatv  !  Herrn.  38,  1903,  357  ff.);  Olympiodoros,  Vita 

fttadoig  eiaejzgd^axo.  \  in  den  Prolegomena  zu  Alkibiades  1,  heraus- 

')  Gegen  Aristippos  ist  nach  F.  Schleier-  ;  gegeben  in  E.  F.  HsBicAinrB  Piaton  VI  190ff!.; 

machers  Vermutung,  der  E.  Zelleb,  Arch.  f.  !  Apuleius,   de   dogmate  Piatonis  I  1 — 4;  die 

rir^c^i.    j^-  Di,:i^«    t  /iQoox  iQo«p     «;«i,  ««.  Biographien   gehen   zurück    auf  Speusippos' 


Gesch.  der  PhUos.  5  (1892)  182  ff.,  sich  an- 
schließt,  gerichtet  Plat  Theaet.  156  ff.  Siehe 
a.  H.  Rädeb,  Piatons  philos.  Entw.  282.  Die 
Deutung  der  llieaitetosstelle  auf  die  aristip- 
pische  Erkenntnistlieorie  scheint  jetzt  ziemlich 
allgemein  (s.  a.  S.  Knospe,  Aristipps  Erkenntnis- 
theorie im  plat.  Theät.,  Progr.  Großstrelitz 
1902)  angenommen  außer  von  K.  Jo^l,  gegen 
den  H.  Gompebz,  Arch.  f.  Gesch.  der  Philos. 


eyxu}(juov  TlXdxcovog,  Philippos  den  Opuntier, 
der  nach  Suidas  (s.  v.  (ptÄöaoifjog)  :tsQi  IHd- 
xoDvog  schrieb,  auf  die  Platoniker  Xenokrates 
und  Hermodoros,  und  auf  die  ßriefe  (beson- 
ders der  siebente,  dem  Stellen  aus  Plut  Dio 
zur  Seite  treten,  ist  biographisch  wichtig) 
unter  Piatons  Namen.  Auch  Aristid.  or.  76 
und  Hieronym.  ep.  53. 1  enthalten  Daten  über 


19  (1906)  422  f.  .  Piatons  Leben.  Über  biographische  Notizen  bei 

5)  Den  Namen  des  Aristippos  trug  fälsch-  Byzantinern  (Kedrenos,  Synkellos)  K.  Pbäch- 

lich  ein  in  alexandrinischer  Zeit  entstandenes  ter,  Byzant   Zeitschr.  12  (1903)  224  ff.,   15 

Buch   \'{oioxin:Tov  negi  jtaXaiäg   xgvq??jgf  das  (1906)  588  f.    —   Neuere  Darstellungen:    F. 

auch  Diogenes  Laertios  aufführt;  s.  Wilamo-  Ast,   Piatons   Leben   und   Schriften,   Leipz. 

WITZ,  Antigonos  von  Karystos  (Philol.  Unters.  1816;  K.  Fb.  Hbbmann,  Geschichte  und  8y- 

4,  1881,  47 — 53).  —  Über  die  Statue  des  Ari-  stem    der   platonischen  Philosophie,   Heidel- 

stipposF.  Winter.  Festschr.  f.  Gomperz436ff.  I   berg  1889;  C.  Steinhabt,  Piatons  Leben  im 

*)  Cic.  Tusc.  I  83;  Plut.  de  amore  prolis  |   neunten  Band  der  Übersetzung  von  H.  Müllbb, 

p.  497  d;  Diog.  L.  II  93.  i   u.  gesondert  Leipz.  1873;  G.  Gbote,  Plato  and 


6U 


Qriechisohe  Litteratorgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


ktione  aus  dem  attischen  Demos  KoUytos,^)  ist  geboren  im  Jahr  427 
am  7.  Thargelion  (Mai),  welcher  Tag  in  seiner  Schule  auch  später  noch 
festlich  begangen  wurde.  ^)  Seine  Familie  gehörte  zu  den  altadeligen  Ge- 
schlechtern des  Landes;  sein  Vater  rühmte  sich,  ein  Kodride  zu  sein;*) 
seine  Mutter  war  eine  Schwester  des  Charmides  und  Base  des  Kritias,  der 
als  vielseitiger  Schriftsteller  und  als  einer  der  Dreißig  eine  hervorragende 
Rolle  in  der  Geschichte  Athens  spielte.  An  Geschwistern  hatte  er  zwei 
leibliche  Brüder,  Adeimantos  und  Glaukon,  deren  Andenken  er  in  der 
Republik  verewigte,  und  eine  Schwester  Potone,*)  deren  Sohn  Speusippos 
später  Piatons  Nachfolger  in  der  Akademie  wurde.  Ein  Halbbruder 
Antiphon,  Sohn  des  Pyrilampes,  kommt*)  im  Eingang  des  Parmenides  vor. 
Er  selbst  soll  anfangs  den  Namen  seines  Großvaters  Anstokles  geführt  und 
erst  von  seinem  Lehrer  in  der  Gymnastik  wegen  seines  breitschulterigen 
Körperbaus  den  Namen  Piaton  bekommen  haben.*) 

Als  Sohn  einer  angesehenen  Familie  und  als  Verwandter  hochgebil- 
deter Männer  erfreute  er  sich  in  seiner  Jugend  aller  Vorteile  edler  atti- 
scher Erziehung.  In  der  Musik,')  Mathematik,®)  Gymnastik,  Malerei®) 
erhielt  er  Unterricht;  in  der  Gymnastik  brachte  er  es  so  weit,  daß  er  bei 
den  isthmischen  Spielen  im  Ringen  einen  Sieg  gewann. ^o)  Auch  in  der 
Musik,  die  zugleich  die  Poesie  umfaßte,  ging  er  über  das  bloße  Lernen 
hinaus  und  dichtete  selbst  Dithyramben  und  Tragödien.  •  •)  Epicharmos  und 
Sophron  bildeten  auch  später  noch  seine  Liebüngslektüre;  jenen  soll   er 


the  other  companions  of  Socrates,  London 
1865,  3  vol.;  H.  v.  Stktn,  Sieben  Bttcher  zur 
Gesch.  d.  Piatonismus.  3  Bde.,  Gott.  1862—75, 
unvollendet.  Sonstige  Litt,  bei  Übebweo- 
Hbinze,  Grundriß  d.  Gesch.  d.  Phil.  1»  §  39. 

*)  Da  der  Vater  des  Piaton  ein  Ackerlos 
in  Aigina  hatte,  so  ließen  ihn  einige  nach 
Diog.  L.  III  3  aus  Aigina  stammen.  Zur  Sage 
von  Apollon  als  Vater  Piatons  s.  E.  Fehblb, 
Die  kultische  Keuschheit  im  Altert.,  Diss. 
Heidelberg  1908,  3  ff. 

*)  Die  Angaben  der  Alten  gingen  von 
dem  feststehenden  Todesjahr  unter  dem  Ar- 
chen Theophilos  Ol.  108,  1  (=  348.47)  aus 
und  kamen  von  da  zu  etwas  abweichenden 
Ansätzen  für  das  Geburtsjahr  (Ol.  88,  1 
oder  88.  2;  s.  K.  Präühter,  Gott.  Gel.  Anz. 
1902.  957  f.),  je  nachdem  sie  den  Philosophen 
80  oder  81  oder  84  [HA  =  84  wohl  verlesen 
ans  IIA  =  81)  Jahre  alt  gestorben  sein  lie- 
ßen: s.  H.  DiELS,  Rh.  Mus.  31  (1876)  41  f.; 
E.  Zeller,  Gesch.  d.  gr.  Phil.  II*  1,  390  f.;  F. 
Jacoby.  Apollodors  Chronik  304  ff.  —  Als 
sein  Glück  pries  es  Piaton  (Plut.  Mar.  46) 
als  Hellene  und  zur  Zeit  des  Sokrates  ge- 
boren zu  sein;  vgl.  Lactant.  inst.  div.  III  19. 

*)  Diog.  L.  III  1;  Apul.  1;  die  Annahme 
einer  Abkunft  (mütterlicherseits)  von  Solon  bei 
Olympiodoros  scheint  sich  auf  Plat.  Tim.  p.  20  e 
zu  stützen,  wo  Kritias  den  Solon  einen  Ver- 
wandten und  Freund  seines  jToöjTfu-ijiog  Agw- 
-Tid//c  nennt. 

*)  Nach   einigen  bei  Diog.  L.  III  1  hieß 


auch  die  Mutter  des  Piaton  Potone. 

^)  Ant.  erscheint  im  Parmenides  zunächst 
als  Halbbruder  der  in  demselben  Dialog  vor- 
kommenden Glaukon  u.  Adeimantos.  unter 
denen  vielleicht  die  beiden  im  Staat  vor- 
kommenden Brüder  Piatons  verstanden  sind. 

«)  Diog.  L.  III  4;  Ind.  acad.  philos.  p.  21 
Z.  38  ff.  Mekler.  Anders  deutete  der  Sillo- 
graph  Timon  fr.  19  Diels  den  Namen  WAuor, 
indem  er  ihn  witzig  mit  jtkdTuo  in  Verbin- 
dung brachte:  o>ff  drej^lntre  IlXauov  6  jre- 
jiXaofjha  i^aiffiara  etdMg^  auch  die  'Axafit^uta- 
xibv  jiXatt'Qffftoavvrj  dvdXtoTog  bei  Timon  fr. 
35  D.  scheint  mit  dem  Namen  zu  spielen. 
Die  Anekdote  vom  körperlichen  Grund  des 
Namens  verwirft  F.  Bechtel,  Griech.  Per- 
sonennamen als  Spitznamen,  Berl.  1898,  S.4f. 
Die  ganze  Umnennimg  stellt  0.  Benndorp, 
Jahresh.  d.  östr.  arch.  Inst.  2  (1899)  250  in  Frage. 

^)  Als  seine  Musiklehrer  nennt  Plut.  de 
mus.  17  den  Athener  Drakon  und  den  Akra- 
gantiner  Metallos. 

*)  C.  Blass,  De  Piatone  mathematico, 
Diss.  Bonn.  1861. 

•)  M.  Sartoriüs.  PI.  und  die  Malerei, 
Arch.  f.  Gesch.  der  Philos.  9  (1896)  123  ff. 

*®)  Diog.  III  4  nach  dem  Zeugnis  des  Di- 
kaiarchos. 

**)  Diog.  L.  III 5;  Olympiodor  3 ;  Aelian.  v. 
h.II30.  Eine  aus  Platons  im  ^Pim.  kundgegebe- 
ner Bewunderung  für  Solons  Poesie  herausge- 
sponnene ätiologische  Anekdote  über  seinen 
Abfall  von  der  Poesie  bei  Schol.  BHom./'263. 


4.  Die  Philosophie,    c)  Platon.    (§  388.)  615 

stets  unter  seinem  Kopfkissen  gehabt  haben,  i)  Hohe  poetische  und  mime- 
tische Begabung  spricht  auch  aus  der  szem'schen  Einkleidung  seiner  Dia«- 
loge  und  aus  der  Verwendung  des  Mythus  in  seiner  Philosophie.^)  Aber 
indem  er  den  natürlichen  Hang  zum  poetischen  Spiel  mit  Gewalt  zugunsten 
der  Philosophie  in  sich  unterdrückte,  eiferte  er,  gleichsam  seiner  ersten 
Liebe  zum  Trotz,  um  so  heftiger  gegen  den  nachteiligen  Einfluß,  den  die 
erdichtete  Leidenschaft  der  Epiker  und  Tragiker  auf  die  Seelen  der 
Menschen  übe,  und  verbannte  die  Dichter  mitsamt  dem  Homer  aus  seinem 
Idealstaat. ^)  In  der  Philosophie  hörte  er  nach  dem  Zeugnis  des  Aristoteles 
(met.  p.  987  a  32)  als  junger  Mensch*)  den  Herakleiteer  Kratylos,  zu  dessen 
Andenken  er  später  den  Dialog  Kratylos  schrieb.^)  Herakleitos'  Lehre 
vom  Fluü  aller  Dinge  war  insofern  bestimmend  für  Piatons  Gedankenwelt, 
als  sie  ihm  die  Überzeugung  verstärkte,  daß  die  in  ewigem  Wechsel  be- 
griffene q>voiQ  nicht  Gegenstand  eines  auf  Wahrheit  gerichteten  Erkennens 
sein  könne.  Noch  tiefer  wirkte  auf  ihn  die  seinem  Wesen  kongeniale 
Lehre  der  Eleaten,  in  der  ihn  Hermogenes,  ein  Schüler  des  Parmenides, 
unterwiesen  haben  soll,  die  ihm  aber  auch  Eukleides  von  Megara  vermittelt 
haben  kann.  Vom  zwanzigsten  Lebensjahr  an  schloß  er  sich  dem  Sokrates 
an,6)  dem  er  bis  zu  dessen  Lebensende  in  innigster  Verehrung  ergeben 
T)lieb.  Seine  eigene  Philosophie  wollte  er  nur  als  Ausfluß  der  sokratischen 
Weisheit  betrachtet  wissen,  weshalb  er  den  Sokrates  immer  außer  in  den 
Gesetzen  zum  Träger  oder  wenigstens  Teilnehmer  des  Gesprächs  in  seinen 
Dialogen  machte.'')  Erst  in  späteren  Jahren  trat  er  auf  seinen  sizilischen 
Reisen  in  engere  Beziehungen  zu  den  Pythagoreern  und  erfuhr  von  diesen 
bedeutenden  Einfluß  auf  seine  philosophischen  Anschauungen. 

Platon  wird,  da  sein  beginnendes  Mannesalter  in  kriegerische  Zeiten 
fiel,  auch  Kriegsdienste  geleistet  haben.  Aber  in  den  Angaben  des  Aristo- 
xenos  bei  Diogenes  Laertios  III  8,  daß  er  das  erste  Mal  gegen  Tanagra,  das 
zweite  Mal  gegen  Korinth  (394),  das  dritte  Mal  bei  Delion  im  Felde  ge- 
standen sei,®)  ist  bestenfalls  Falsches  mit  Wahrem  gemischt.  Daß  er  als 
Reiter  gedient  habe,  macht  die  genaue  Pferdekenntnis  im  Phaidros  p.  253  d, 
die  weit  über  das  Maß  eines  Laien  hinausgeht,  wahrscheinlich. s)   Vom  politi- 

*)  Diog.L.  III18;  01ymp.8;Valeriu8Max.  1  den   Hinweis    auf  die    negi   (pvoeayg   iorogla 

V  7.  I  ohne  den  Namen  Herakleitos  zu  nennen. 

'^)  R.  HiRZEL.  über  das  Rhetorische  und  |  ®)  Hermodoros  bei  Diog.  L.  HI  6  läßt  ihn 

seine  Bedeutung  bei  PL,  Leipz.  1871.  achtJahre(407— 399)  mit  Sokrates  verkehren. 

")  K.  Meiser,  Zu  Piatos  Phaedr.  Protag.  •  ^)  Unsicher  ist  die  Deutung  von  epist.  2 
und  Theätet,  München  1868;  J.  Reber,  Platon  p.  314c:  ovdkv  jico.tot*  syio  ne^l  tovtcov  yd- 
u.  die  Poesie,  München  1864;  Fb.  Stählin,  Die  yyafpa  ovS'  eon  ovyygafifia  Tlkdrayvog  ovöev 
Stellung  der  Poesie  in  der  platonischen  Phi-  ovS*  eorai,  lä  6k  vvv  Xeyo/nera  Swxodxovg  eoxi 
losophie,  München  1901.  G.  Finsler,  Platon  xaioif  xai  veov  yeyovörog.  über  die  Bezeich- 
unddiearistotel.Poetik,Leipz.  1901.  Vgl.  R.H.  nung  2coxganxoi  loyoi  s.  o.  S.  607,  4. 
Woltjer,  De  Platone  praesocraticorum  philo-  ^  ^)  Aelian.  v.  h.  VIl  14  spricht  nur  von 
sophorum  existimatore  et  iudice,  Lugd.  Bat.  '  Tanagra  und  Korinth.  Die  Hereinziehung  der 
1904.  Wie  sehr  die  Liebe  zur  Poesie  und  zu  ;  Schlacht  bei  Delion,  die  ja  auch  in  Xeno- 
Homer  in  seinem  Innern  fortdauerte,  zeigt  \  phons  Biographie  sich  eindrängt,  beruht  viel- 
sein eigenes  Geständnis  (reip.  607aff.).  j  leicht  auf  Verwechselung  des  Platon  mit  So- 

*)  Diog.  L.  legt  den  Verkehr  Piatons  mit  j  krates.      Von    seinem    Kriegsdienst    spricht 

Krat.  nach  Sokrates'  Tod  (III  6).  I  Platon  auch  bei  Diog.  L.  III  24. 

^)  Platon  selbst  bezeugt  das  im  Phaidon  ;  •)  Die  Beschreibung,  die  dort  Platon  von 

p.  96  a,   freilich  bloß   im  allgemeinen  durch  |  dem  guten  und  schlechten  Pferd  gibt,  wurde 


616 


GriechiBche  Litteratargeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


sehen  Leben  hielt  er  sich  fern.  Familientraditionen  und  eigene  Über- 
i^eugung  hatten  ihn  zum  entschiedenen  Gegner  der  Demokratie  gemacht; 
gegen  deren  Mißwirtschaft  er,  zumal  nach  der  Verurteilung  des  Sokrates, 
am  meisten  in  der  Apologie  und  dem  Gorgias,  Haß  und  Verachtung  äußert; 
aber  nachdem  die  Optimaten,  denen  er  im  Herzen  zugetan  war,  zur  Zeit 
der  Dreißig  einen  so  schnöden  Mißbrauch  mit  ihrer  Gewalt  getrieben  hatten, 
zerfiel  er  überhaupt  mit  dem  politischen  Leben  Athens.^) 

334.  Reisen.  Nach  dem  Tod  des  Sokrates  verließ  Piaton  Athen 
auf  elf  Jahre.*)  An  der  Gerichtsverhandlung  gegen  Sokrates  nahm  er  teil,«) 
bei  den  letzten  Stunden  seines  Lehrers,  die  er  später  im  Phaidon  so  er- 
greifend geschildert  hat,  konnte  er  aber  infolge  einer  Erkrankung  nicht 
anwesend  sein.^)  Bald  darauf  begab  er  sich  mit  anderen  Freunden  aus 
Furcht  vor  weiteren  Verfolgungen  nach  Megara,  wo  sich  um  Eukleides 
ein  Kreis  Gleichgesinnter  sammelte.^)  Ln  Eingang  des  Theaitetos  hat  er 
später  der  Liebenswürdigkeit,  mit  der  sich  jener  der  Sokratiker  annahm, 
ein  schönes  Denkmal  gesetzt.  Von  Megara  aus  unternahm  er  weitere 
Reisen,  deren  Ziele  verschieden  angegeben  •werden.  Für  einen  Besuch  in 
Ägypten  und  Kyrene  fehlt  es  an  glaubwürdigen  Zeugnissen.^) 

Sicher  stehen  die  Reisen  nach  Sizilien,  wo  damals  die  Dionysioi 
ebenso  wie  ehedem  Hieron  Philosophen  und  Dichter  an  ihren  Hof  zu 
ziehen  suchten.     Dreimal  besuchte  er  die  Insel  und  ünteritalien,  worüber 


noch  in  später  Zeit  beachtet  (E.  Odeb,  Anecd. 
Gantabrig.  21  f.),  ist  übrigens  in  Anbetracht 
der  urjtoTQotpia  des  Adels  bei  einem  Ange- 
hörigen dieser  Gesellschaftsklasse  nicht  ver- 
wunderlich. 

^)  Nach  dem  siebenten  Brief  p.  325  c 
brach  er  die  Beziehungen  zu  den  Oligarchen 
ab,  nachdem  Sokrates  von  den  Dreißig  aufge- 
fordert, einen  Bürger  zum  Tod  abzuholen, 
sich  dem  ungerechten  Befehl  widersetzt  hatte. 
Am  bittersten  äußert  er  seine  tiefe  Verstim- 
mung über  das  öffentliche  Leben  im  llieaet. 
173d  ff.  (vgl.  apol.Slef.;  reip.514eff.540aff. 
und  die  Kritik  der  Verfassimgen  reip.  VIII). 
Gorg.  521  c  ff.  versteht  H.  Räder,  Plat.  philos. 
Entw.  129, 1,  nach  dem  Vorgang  von  J.  Bake 
als  Selbstverteidigung  des  Piaton  gegen  den 
Vorwurf,  daß  er  sich  nicht  politisch  betätige, 
und  gewiß  ist  reip.  VI  3  ff.  in  diesem  Sinn 
zu  verstehen. 

*)  Strab.  p.  806  wohl  nach  Panaitios. 

»)  Plat.  apol.  84  a.  38b. 

*)  Plat.  Phaed.  p.  59  b.  Nur  als  schrift- 
stellerisches Motiv  betrachtet  diese  Angabe 
E.  Zeller,  Phil.  d.  Gr.  II  1*  400  A.  3. 

^)  Diog.  L.  II  106 :  .iQog  Evxlelbrjv  qrjoiv  6 
'E(>u6()o)gog  a(ftxio\}ai  TIXdxMva  xai  rai'i;  Xot- 
jiovi;  ff  uoo6q:>ov<;  /nerä  rtjv  ^ioxonxovg  TekevTtp' 
deioarrac  rijv  wuortjza  rwv  xvQavvMV  (vgl. 
III  6).  Über  Xenophons  angeblich  späteres 
Verweilen  in  Megara  Epist.  Socraticor.  22. 
Über  Piatons  Aufenthalt  in  Megara  vgl.  noch 
den  siebenten  Brief  p.  329  a. 


I  f)  Was  im  Phaidros  von  Anspielungen 

\  auf  Ägypten  steht  (274c  ff.),  beweist  keinen 
I  Aufenthalt  in  Ägypten,  und  aus  dem  gering- 
schätzigen Urteil  über  die  Ägypter  reip.  435  e 
folgt  wohl,  daß  die  Bewunderung  für  die  uralte 
Kultur  Ägyptens,  die  sich  z.B.  Tim.  21  d; 
Grit.  113a;  leg.  II  656  d  f  ausspricht,  erst  in 
Platens  Greisenalter  gehört  (s.  a.  W.  Christ, 
Piaton.  Stud.,  Bayr.  Ak.  Abh.  17, 1886, 507  f.). 
Zusammen  mit  Sinmiias  aus  Theben  läßt  ihn 
Plutarch  de  genio  Socratis  p.  578  f  nach  Ägypten 
kommen,  woraus  W.  Christ,  Plutarchs  Dialog 
vom  Daimonion  des  Sokrates,  Bayr.  Ak.  Sitz.- 
ber.  1901  S.  106  weitere  Konsequenzen  zu 
ziehen  wagt.  Da  aber  weder  in  dem  Index 
acad.  philos.  Herculan.  noch  im  siebenten 
Brief  von  den  Reisen  nach  Ägypten  und 
Kyrene  (freilich  im  Index  auch  nicht  von 
'  dem  Aufenthalt  in  Megara)  Erwähnung  ge- 
schieht, so  haben  die  Neueren  sie  mit  Recht 
I  angezweifelt  (s.  K.  Prächter,  Gott.  Gel. 
I  Anz.  1902,  959  ff.;  an  den  Reisen  nach 
Ägypten  und  Kyrene  hält  Th.  Gomperz,  Gr. 
Denker  IP  208'ff.  fest).  Legenden  darüber 
mögen  schon  in  frühperipatetischen  Dialogen 
und  Biographien  vorgekommen  sein.  Über- 
triebene Vorstellungen  von  ägyptischen  Ein- 
flüssen hegten  die  Späteren,  wie  Clemens 
Alex.  Strom.  1  p.  356  P. ;  auch  Strabon  schon 
(p.  806)  berichtet  Fabelhaftes  von  einem  ge- 
meinsamen, dreizehn  Jahre  dauernden  Be- 
such des  Piaton  und  Eudoxos  in  Heliopolis. 
Lactantius  inst.  IV  2  läßt  den  Platen  auch 


4.  Die  Philosophie,    c)  Platon.    (§  834.)  617 

wir  den  besten  Aufschluß  durch  den  siebenten  Brief  erhalten,  i)  Zum 
erstenmal  kam  er  dorthin,  als  er  nahezu  vierzig  Jahre  alt  war,  also  um 
388,  in  den  letzten  Zeiten  des  korinthischen  Krieges.  Dion,  der  Schwager 
des  Dionysios  L,  ein  glühender  Verehrer  Piatons  und  der  sokratischen 
Philosophie,  bemühte  sich,  ihn  mit  dem  Tyrannen  zusammenzubringen. 
Aber  zwischen  dem  illusionslosen  Realpolitiker  und  dem  hochsinnigen  Idea- 
listen war  ein  engeres  Verhältnis  unmöglich,  und  Piatons  Freimut  fand 
wenig  Anklang  am  Hof.  Von  Dionysios  dem  spartanischen  Gesandten 
PoUis  übergeben,  wurde  er  in  Aigina  auf  den  Sklavenmarkt  gebracht,  aber 
dadurch,  daß  ihn  Annikeris  von  Eyrene  kaufte  und  freiließ,  vor  Schlim- 
merem bewahrt.*)  Die  zweite  Reise  unternahm  er,  durch  denselben  Dion 
veranlaßt,  bald  nach  dem  Tod  des  älteren  Dionysios  (367)  in  der  Hoff- 
nung, den  jungen  König  für  die  Philosophie  und  seine  politischen  Ideale, 
die  Aufrichtung  eines  kommunistischen  Staates  unter  philosophischer  Leitung 
(ep.  7  p.  337 d),  zu  gewinnen.*)  Aber  als  sich  der  König,  unter  dem  Ein- 
fluß einer  von  dem  Historiker  Philistos  geführten  konservativen  Partei, 
mit  Dion  aus  eifersüchtigem  Argwohn  überwarf  und  ihn  vom  Hof  ver- 
bannte, mußte  Platon  froh  sein,  sich  der  peinlichen  Lage  durch  Rückkehr 
nach  Athen  entziehen  zu  können.  Oleichwohl  ließ  er  sich  nochmals  ver- 
leiten, der  wiederholten  Einladung  des  jüngeren  Dionysios  Folge  zu  leisten 
und  zum  drittenmal  die  Fahrt  durch  die  „verderblichen  Charybdis"  zu  wagen 
(361/60).  Aber  dieses  Mal  richtete  er  noch  weniger  aus;  eine  Aussöhnung 
des  Königs  mit  Dion  vermochte  er  nicht  zu  erwirken  und  bei  dem  König 
und  seinen  Generalen  verleumdet,  kam  er  selbst  in  Lebensgefahr,  der  er 
nur  durch  Vermittelung  seiner  pythagoreischen  Freunde  in  Tarent  entkam. 
Dion  selbst  kehrte  drei  Jahre  später  mit  bewaffneter  Hand  nach  Syrakus 
zurück,  aber  wiewohl  er  schließlich  den  Sieg  über  Dionysios  davontrug, 
nahm  doch  auch  seine  Herrschaft  schon  353  ein  Ende.  Die  politischen 
Absichten  des  Philosophen  bei  seinen  Reisen  nach  Syrakus  scheiterten  auf 
solche  Weise  gänzlich,  aber  von  dauernder  Bedeutung  waren  die  Ver- 
bindungen, die  er  in  ItaUen  mit  den  Pythagoreern,  besonders  mit  Archytas, 
anknüpfte.*)     Sie  steigerten  in  ihm   die  Neigung  zu  mathematischen  und 

zu    den   Magiern    und   Persern    reisen,    was  \   tiae  antistiti  Dionysius  ii/ranntis  alias  saevi- 

zweifellos  erdichtet  und  schon  von  Diogenes  i   tiae  superbiaeque  natus  vittatam  navem  misit 

L.  III  7  als  bloßer  Plan  bezeichnet  ist.  |   ohviamf  ipse  quadrigis  albis  egredientem  in 

*)  Außerdem  Diog.  L.  III 18  fF.;  Plut.  Dion  j   litore  excepil  u.  Ael.  var.  bist.  IV  18  scheinen 

4  und  10  ff.;  Cornelius  Nepos  Dio  3.  sich  auf  die  zweite  Reise  zu  beziehen. 

^)  Diodor.  XV  7,  1  zu  386;  Ind.  acad.  phil.  i           ')  Seine  hochfliegenden  Hoffnungen,  ßlov 

p.  12M.;  Aristid.  or.  46  p.  305  D. ;  Ath.  p.  507  b ;  ■    av  evdalfAova   xai  aXijOivov   h  ndon  xff  x^Q^ 

Diog.  L.  III  19;  Plut.  Dio  5  und  de  tranqu.  an.  '   xaxaoxevdoai   bezeichnet   ep.  7  p.  327  d,   das 

471  f.    Der  siebente  Brief  schweigt  von  jener  \   Grauen  des  Theoretikers   vor  der  Wirklich- 

Gefahr;   eine  Anspielung  hat  H.  Diels,  Zur  ■  keit  328  c. 

Textesgesch.  d.  arist.  Physik  (Berl.  Ak.  Abh.  *)  Über  den  Ankauf  der  Schrift  des  Py- 

1882,   23)    zu    finden    geglaubt   in    Aristot  thagoreers  Philolaos  berichtet  Uermippos  bei 

phys.  199b  20.    Über  die  Gehässigkeiten  zwi-  Diog.  L.  VIII  85  und  Gellius  III 17.   Die  Wir- 

schen  Athen  und  Aigina,  aus  denen  sich  die  kung  pythagorelischen  Einflusses  auf  Platon 

Geschichte  von  Piatons  Verkauf  erklärt,  K.  betont  besonders  Dikaiarchos  (Plut.  quaest. 

Pkächter,   Gott.  Gel.  Anz.  1902,  964.     Die  symp.  719b)  und  Poseidonlos  (A.  Schmekel. 

Stellen  über  seine  anfänglich  glänzende  Auf-  |   Philos.  d.  mittl.  Stoa  382). 
nähme  Plinius  n.  h.  VII  110:  Piatoni  sapien- 


G18 


Griechische  Litteratorgeschichte.    L  Elassische  Periode. 


physikalischen  Studien^)  und  beeinflußten  seine  philosophischen  Anschau- 
ungen derart,  daß  in  seinen  späteren  Schriften  die  Einfachheit  der  sokra- 
tischen  Lehre  immer  mehr  gegen  die  Subtilität  der  Eleaten  und  die 
mystische  Spekulation  der  Pythagoreer  zurücktrat.^)  Auch  die  Bekannt- 
schaft mit  der  sizilischen  Medizin,«)  der  Komödie  des  Epicharmos  und  dem 
Mimos  des  Sophron*)  wurde  für  den  Philosophen  und  den  Schriftsteller 
Piaton  sehr  bedeutungsvoll. 

336.  Anfang  der  Schriftstellerei  und  Schulgründung.  Schrift- 
stellerische Betätigung  entsprach  nicht  den  pädagogischen  Grundsätzen  des 
Sokrates  und  hat  auch  dem  Piaton,  seinen  Äußerungen  im  Phaidros  nach,*) 
immer  nur  als  Notbehelf  gegolten.  Mit  Sicherheit  ist  anzunehmen,  daß  er 
vor  Sokrates'  Tod  nichts  geschrieben  hat.^)  Nachher  hatte  er  aber 
mancherlei  Veranlassung,  zur  Feder  zu  greifen.  Durch  sein  vieljähriges 
freiwilliges  Exil  war  er  verhindert,  in  seiner  Vaterstadt  eine  Schule  zu 
gründen  und  in  der  freien,  mündlichen  Erörterung,  die  er  für  die  förder- 
lichste Methode,  Philosophie  zu  treiben,  hielt,  auf  die  Jugend  einzuwirken, 
und  doch  war  es  seinem  leidenschaftlichen  Temperament  Bedürfnis,  gerade 
der  athenischen  Bürgerschaft  die  wahre  Größe  seines  Lehrers,  wie  er  ihn 
verstand,  vorzuhalten  und  sie  zu  strafen  für  den  unverantwortlichen  Leicht- 
sinn, mit  dem  sie  den  Sokrates  verurteilt  hatte.  Das  hat  er  in  der  Apo- 
logie getan,  die  vor  seiner  Rückkehr  nach  Athen  und  vor  der  HcoxgaTovg 
xartjyoola  des  Polykrates')  entstanden  sein  muß;  in  dieselbe  Zeit  werden 
auch  einige  von  den  Dialogen  der  „sokratischen  Periode**  fallen.  Neue 
Veranlassung  zum  Schreiben  gab  die  fatale  Schrift  des  Polykrates  c.  390, 
die  ernstlich  versuchte,  die  Gründung  sokratischcr  Schulen  in  Athen  un- 
möglich zu  machen  und  damit  dem  rhetorischen  Schulbetrieb  dort  die  Kon- 

*)  Über  die  wahrscheinlich  erdichtete 
Aufschrift  seines  Hörsaales  y,fitjSeig  dyeo)- 
fihotjTog  slolxoy'^  berichten  David  Schol.  in 
Aiist.  cat.  ed.  Berol.  t.  IV  26a  10;  Philop.  ad 
Aristot.  de  an.  in  Comm.  in  Aristot.  GraecaXV 
p.l  17, 26 :  Tzetzes  Chil.  VIII 972.  Die  berühmte 
Stelle  reip.  VIII  p.  546  über  die  geometrische 
Zahl  gibt  heutzutage  noch  den  Mathematikern 
Rätselauf;  8.M.CuRTZE,Jahresb.tib.d.Fortschr. 
d.  cl.  Altwiss.  40  (1884)  13  ff.;  J.  Adam,  The 
number  of  Plato,  Exkurs  zur  Ausg.  der  Re- 
publik, London  1902;  F.  Hultsch,  Berl.  phil. 
Woch.  12  (1892)  1256  ff.;  16  (1896)  1478 ff.; 
und  im  Anhang  zu  W.  Krolls  Ausg.  von 
Procl.  ad  Plat.  remp. 400  ff.;  J.  Dupuis,  Rev. 
des  et.  gr.  7  (1894)  146  ff.;  15  (1902)  288 ff.; 
P.  Tannkry  ebenda  16  (1903)  173;  G.  Albert, 
Philol.  66  (1907)  153 ;  ders  ,  Die  piaton.  Zahl  als 
Präzessionszahl  u.  ihre  Konstruktion,  Wien 
1907.  Über  das  von  Piaton  den  Mathematikern 
zugewiesene  Problem  einen  Würfel  zu  verdop- 
peln s.  M.  Cantor,  Gesch.  d.  Math.  P  213  ff. 

2)  Die  Zahlenlehre  der  Pythagoreer  muß 
nach  Aristoteles  metaph.  I  6  und  Aristoxenos 
harmon.  p.  30  Meib.  in  den  Vorträgen  des 
Piaton  in  seinen  späteren  Lebensjahren  noch 
eine  viel  größere  Rolle  gespielt  haben  als  in 
seinen  späteren  Schriften;   vgl.  F.  A.  Tren- 


DELENBURu,  Platouis  de  ideis  et  numeris  doc- 
trina  ex  Aristotele  illustrata,  Leipz.  1826. 

')  Von  dem  Arzt  Philistion  übernahm 
PI.  unter  anderem  die  Anschauung,  daß  das 
Hirn  Zentralprgan  sei:  M.  Wellmann,  Fragm. 
der  griech.  Ärzte  I  30  A.  Siehe  a.  F.  Poschek- 
RiEDER,  Die  plat.  Dialoge  in  ihrem  Verh.  zu 
den  hippokrat.  Schriften.  Progr.  Landshut  1882. 

*)  Diog.  L.  III  18;  zu  viel  folgert  H. 
Reich.  Der  Mimus  I  260  A.,  der  S.  381  ff., 
405  ff.  über  Sophrons  Einfluß  auf  PI.  handelt. 
—  Auch  Piatons  eigentümliche  Angabe  über 
Theognis  (oben  S.  169,  3.  4)  wird  aus  Sizilien 
stammen.  Über  Beeinflussung  seiner  Sprache 
(Gebrauch  von  i^ii)v)  durch  die  sizilische  Ko- 
mödie W.Dittenberoer,  Herm.  16  (1881)  321  ff. 

'^)  Phaedr.  274  e  ff. 

«)  Das  liegt  in  Plat.  apol.  39  d  (T.  Brüns, 
Litt.  Portr.  226). 

^)  Das  ergibt  sich  daraus,  daß  in  der 
Apologie  die  politische  Diskreditierung  des 
Sokrates,  die  Polykrates  zuerst  ausgesprochen 
hatte  (s.  0.  S.  545),  mit  keinem  Wort  erwähnt 
wird.  Und  doch  hat  es  Piaton  (in  der  Any- 
tosepisode  des  Menon  89e  ff.,  die  die  erste 
noch  flüchtige  Reaktion  auf  Polykrates*  Schrift 
zu  sein  scheint,  und  noch  mehr  im  Gorgias, 
dessen  Entstehungsgrund  Th.  Gomperz,  Gr. 


4.  Die  PfailoBophie.    c)  Piaton.    (§  335.) 


619 


kurrenz  von  philosophischer  Seite  fernzuhalten.  Piaton,  der  jene  Schrift 
schon  im  Menon  gestreift  hatte,  gibt  die  volle  Antwort  auf  sie  im  Gorgias 
mit  seinem  zornigen  Vemichtungsurteil  über  die  Rhetorik  und  die  politi- 
schen Zustände,  auf  denen  diese  Sumpfpflanze  gedeihen  könne.  Dem  Gorgias 
folgt  wahrscheinUch  auf  dem  Fuß  die  kühne  Tat  der  Schulgründung,  zu  der 
Piaton  übergegangen  zu  sein  scheint,  sobald  ihm  klar  geworden  war,  daß  der 
Hof  von  Syrakus  seine  Philosophie  nicht  ertragen  konnte.  Nach  Athen  zurück- 
gekehrt, begann  er  hier  mitten  unter  den  feindseUgen  und  von  ihm  ge- 
reizten Rhetorenschulen  etwa  387  zu  lehren,  *)  zunächst  ganz  öffentlich  auf 
dem  etwa  zwanzig  Minuten  vor  dem  Tor  Dipylon  gelegenen,  mit  Gym- 
nasium und  Parkanlagen  ausgestatteten  Platz,  der  von  dem  Heros  Aka- 
demos  den  Namen  Akademie  hatte.  Daneben  erwarb  er  einen  eigenen 
Garten,*)  in  den  er  sich  später,  vermutlich  von  dem  Wirken  in  voller 
Öflfenthchkeit  unbefriedigt,  zu  stilleren  Studien  und  intimerem  Verkehr  mit 
einem  engeren  Kreis  seiner  Schüler  zurückzog. »)  Bald  schlössen  sich  ihm 
edle  Jünglinge  aus  allen  Teilen  Griechenlands  an,  auch  zwei  wißbegierige 
Frauen,  Lastheneia  aus  Mantineia  und  Axiothea  aus  Phleius,  diese  angeb- 
lich in  Männergewand. '^)  Die  Schule  hatte  äußerlich  die  Form  eines  Kult- 
vereins zu  Ehren  der  Musen  ;^)  sie  ist  der  älteste  attische  Philosophen- 
verein*) und  vorbildlich  geworden  für  ähnliche  Institute,  besonders  für  das 
alexandrinische  Museum.  Piaton  hat  übrigens  neben  dialogischen  Erörte- 
rungen jedenfalls  in  seiner  späteren  Zeit  auch  zusammenhängende  Vor- 
träge gehalten.'')  Sold  nahm  er  nicht. »)  An  Rivalitäten  mit  anderen 
Schulen  und  Schulleitern,  wie  mit  dem  Sokratiker  Antisthenes  und  nicht 
näher  bekannten  Rhetoren^)  fehlte  es  nicht,  zumal  Piaton  von  starkem 


Denker  IP  278  wohl  richtig  versteht)  sehr  fttr 
der  Mühe  wert  gehalten,  auf  diesen  Punkt 
einzugehen. 

»)  Eusebios  zu  Ol.  97,  4  =  389/8:  Plato 
philosophus  agnoscitur,  wird  sich  auf  die 
erste  Reise  Piatons  nach  Sizilien  beziehen. 
Auf  das  dreizehnte  Jahr  nach  dem  Tod  des 
Sokrates,  also  387,  führt  die  freilich  materiell 
bedenkliche  Notiz  bei  Strab.  806.  Schwer 
zu  deuten  Eusebios  zu  Ol.  101,  3  =  374/3: 
Flato  et  Xenofon  necnon  et  alii  Socratici 
clari  hahentur.  Siehe  F.  Jacoby,  Apollod. 
Chron.  311  f. 

«)  Diog.  L.  III 5.  20;  Plut.  de  exiUo  603  b; 
vgl.  K.  F.  Hermann  S.  121.  ^ 

^)  *Ev  evoxioig  ögofioiaiv  *Axadi^fÄOV  ^eov 
Eupol.  fr.  32  K.  In  die  Akademie  stiftete 
später  Mithridates  (D.  L.  III  25)  eine  von 
Silanion  gearbeitete  Statue  des  Piaton,  auf 
die  wohl  die  sitzende  Statue  des  Philosophen 
und  seine  Büste  (s.  W.  Helbio,  Jahrb.  d. 
arch.  Instit.  1,  1886,  71  ff.  und  Abbildung  im 
Anhang)  zurückgehen.  Die  von  A.  v.  Gut- 
scHMiD  (Kl.  Sehr.  III 520)  angenommene  Iden- 
tifikation des  Stifters  mit  Mithridates  I.  von 
Pontos  ist  nicht  sicher  (E.  Preuner,  Mitt. 
des  ath.  Inst.  28. 1903,  348  ff.).  In  dem  Garten 
befand  sich  seit  alters  ein  Altar  der  Musen 
und  die  Gruppe   der  Chariten,   worauf  sich 


die  Erzählung  bei  Plutarch  coniug.  praec. 
141  f.  stützt,  daß  Piaton  dem  Xenokrates  ge- 
raten habe,  den  Chariten  zu  opfern.  Von  den 
Symposien  in  der  Akademie  rühmte  man, 
daß  man  sich  nach  ihnen  auch  am  nächsten 
Tag  wohl  fühle;  s.  Athen.  419c  und  Plu- 
tarch. sympos.  p.  686  b.  Darstellung  Piatons 
und  seiner  Schüler  im  Akademiegarten  auf 
italischen  Mosalfken:  H.  Gräven,  N.  Jahrbb. 
f.  kl.  Alt.  1  (1898)  336  ff. 

*)  Diog.  L.  III  46.  IV  2;  Themist.  or.  22. 
Unter  den  Schülern  nennt  Plut.  adv.  Col. 
1126d  auch  den  Chabrias  und  Phokion. 

*)  Proleg.  Plat.  phil.  4  extr. 

®)  H.  UsENER,  Die  Organisat.  der  wissen- 
schaftl.  Arbeit  (Preuß.  Jahrbb.  53, 1884. 1  ff.); 
WiLAMowrrz.  Antig.  v.  Karj'st.  283  ff.;  E. 
ZiEBARTH,  Das  griech.  Vereinswesen  71. 

')  Aristot.  bei  Aristox.  härm.  p.  44,  5  ff. 
Marq. 

«)  Diog.  L.  IV  2;  Plut.  Dio  54. 

®)  Die  Feindschaft  mit  Isokrates  ver- 
flüchtigt sich  bei  genauerer  Betrachtung  (s. 
o.  S.  533, 1).  Über  das  Verhältnis  zu  Antisthe- 
nes oben  S.  611,  6;  über  das  des  Xenophon  zu 
Piaton  S.  484,4;  möglich,  daß  Piaton  mit  dem 
Euthvphron  auf  Xenophons  oberflächliche 
Eultfröramigkeit  zielt,  wenn  ihm  der  Mann 
nicht  überhaupt  zu  klein  war. 


620  GriechiBche  litteratnrgeschichte.    L  Elassische  Periode. 

und  nicht  zurückgehaltenem  Selbstbewußtsein  erfüllt  war.i)  Neben  dem 
Lehrberuf  fuhr  er  fort,  durch  dialogische  Schriftstellerei  auch  über  den  Kreis 
seiner  Schüler  hinaus  zu  wirken.  Seine  Dialoge,  in  denen  immer  außer  in 
den  Gesetzen  Sokrates  Gesprächsperson  und  zwar  überall  außer  in  Parmenides, 
Sophistes,  Politikos,  Timaios,  Kritias  Leiter  des  Gesprächs  ist,  geben  ein 
Bild  seiner  nie  rastenden  geistigen  Entwicklung:  in  allen  Punkten  hat  er 
seine  Anschauungen  modifiziert  und  weitergebildet,  auch  an  der  Technik 
der  Dialoge  fortwährend  gefeilt.  Fest  bleibt  aber  in  allem  Wandel  sein 
Idealismus  und  die  gesprächsmäßige  Darlegung,  für  die  das  Wahre  ein  an 
sich  zwar  Feststehendes,  aber  in  dem  Gewirr  der  Wahnvorstellungen 
immer  erst  zu  Suchendes  ist.  So  kommt  er  an  allen  Kernfragen  des 
geistigen  und  sittlichen  Lebens  herum:  er  untersucht  den  Begriff  der 
Tugend  in  seinen  Spezifikationen,  des  Wissens,  der  Bildung  und  Erziehung, 
der  Liebe,  die  Mittel  der  wahren  Erkenntnis,  die  menschliche  Seele,  ihr 
Leben  und  ihre  Zukunft,  das  Verhältnis  von  Tugend  und  Glück,  die  Natur 
der  Sprache,  der  Kunst  und  faßt  auf  der  Höhe  seines  geistigen  Schaffens 
alle  gewonnenen  Erkenntnisse  zusammen  in  der  gewaltigen  Staatsutopie, 
in  der  er  den  von  aller  Wirklichkeit  weit  entfernten  Idealstaat  auf  dem 
festen  Grund  der  Gerechtigkeit  verankert.  Nach  diesem  Hauptwerk  setzt 
eine  neue  Entwicklung  bei  ihm  ein;  die  Enttäuschungen,  die  er  in  Sizilien 
erlebt  hatte,  werden  dazu  beigetragen  haben,  ihn  zu  einer  Revision  seiner 
idealistischen  Auffassung  zu  führen,  deren  letztes  Ergebnis  sein  zweites  kon- 
struktives Werk,  die  Gesetze,  sind,  ein  Werk  der  Resignation  und  des  An- 
knüpfens  an  konkrete,  gegebene  Zustände.  Bezeichnend  für  diese  späte 
Periode  ist  auch  eine  Neigung  zum  systemartigen,  dogmatischen  Abschluß 
und  der  Versuch,  auch  die  außerethische  Sphäre  der  Natur  gedankenmäßig 
zu  durchdringen,  nach  außen  eine  gewisse  Gleichgültigkeit  gegenüber  der 
Darstellungsform.  Nach  langer  Tätigkeit,  die  ihn  trotz  seiner  stillen  Zurück- 
gezogenheit nicht  bloß  mit  auswärtigen  Herrschern,  sondern  auch  mit  hervor- 
ragenden Staatsmännern  Athens,  wie  Phokion,  Chabrias*)  und  Timotheos,^) 


*)  Dionys.  epist.  ad  Pompeium  1, 13  p.  225 
11  Us. :  jyv  yag,  i)v  h  rfj  Illdxoivog  <pvoEi  ttoX- 
Mtg  aoEToc:  ixovof}  t6  (pdörifiov.  Weitere  Vor- 
würfe gegen  Piatons  Charakter  Hegesandros 
bei  Ath.  507  a.  Piatons  jtgaoTtjg  betont  Epicrat. 
com.  bei  Ath.  59  f.  Die  Verkleinerung  von 
Piatons  Charakter  und  Geist  findet  ihren 
Rückhalt  in  der  pietätlos  kalten  Art,  wie 
Aristoteles  über  ihn  urteilt.  Der  Vorwurf  des 
Plagiats,  den  Theopompos  in  seiner  Schrift 
xara  Tijg  IlkaKovog  diuTgißf/g  (Ath.  508  C ;  vgl. 
Socratic.  epist.  30,  12  H. ;  Arr.  diss.  Epict. 
II  17,  5  f.)  und  Aristoxenos  (Diog.  L.  III  37 
vgl.  57)  erheben,  steckt  auch  in  dem  Urteil 
des  Aristoteles  met.  I  6;  andere  hielten  sich 
für  berufen,  ihm  Unfähigkeit  in  der  Beurtei- 
lung der  Poesie  vorzuwerfen  (so  Kallimachos, 
wegen  Piatons  Bewimderung  für  Antimachos, 
fr.  74b  Sohn.;  Duris  fr.  67M.;  beide  erwähnt 
von  Proklos  ad  Plat.  Tim.  p.  90.  25  Diehl. 
vgl.  Procl.  ad   Plat.  remp.  p.  43,  12;   65,  3 


Eroll);  die  nörgelnde  Beurteilung  von  Pia- 
tons Stil  bei  Aristoteles  und  Dikaiarchos 
(Diog.  L.  III  37.  38)  setzt  sich  fort  und  ver- 
stärkt sich  bei  Cäcil.  Calact.  fr.  150  Ofek- 
LOCH  imd  Dionys.  Hai.  ad  Pomp.;  de  Dem. 
5  ff.  23  flf.;  Plut.  fr.  138  Bern.;  Luc.  rhet. 
pr.  17;  s.  a.  0.  Immisch,  Ber.  der  sächs.  Ges. 
d.  Wiss.  56  (1904)  234  ff.  Bei  seinen  Vorträgen 
begegnete  ihm  dasselbe,  was  so  manchem 
akademischen  Lehrer  unserer  Tage,  daß  ihm 
die  Mehrzahl  der  Schüler  nicht  bis  zum 
Schluß  aushielt  (Aristox.  härm.  II  30,  vgl. 
Alex.  Aphrod.  bei  Simplic.  ad  Aristot  phys. 
p.  334  d  25;  362  a  10  Bbandis). 

^)  Plut.  adv.  Col.  1126  c. 

')  Diog.  L.  III  23;  über  Beziehungen  zu 
den  makedonischen  Königen  Archelaos  und 
Philippos  spricht  ungenau  Ath.  506  e,  womit 
der  fünfte  Brief  Piatons  an  Perdikkas  u.  Epist. 
Socratic.  30,  12  zu  verbinden  ist. 


4.  Die  Philosophie,    c)  Platon.    (§  336.)  621 

in  Beziehung  brachte,  starb  er  im  einundachtzigsten  Lebensjahr  Ol.  108,  1 
=  348/7.  In  seinem  Testament  setzte  er  zum  Erben  den  jungen  {naidlov) 
Adeimantos,^)  zum  Testamentsvollstrecker  drei  Männer,  darunter  seinen 
Schwestersohn  Speusippos,  ein. 

336.  Schriften  Piatons.  Dialogische  Form.  Die  Schriften  Pia- 
tons*) bieten  der  Betrachtung  zwei  Seiten,  von  denen  die  eine  den  Inhalt 
und  das  philosophische  System,  die  andere  die  Form  und  die  litterarischen 
Beziehungen  betrifft.  Die  erste  tritt  in  einer  Litteraturgeschichte  natür- 
lich zurück,  die  zweite  muß  um  so  sorgsamer  besprochen  werden,  als 
Platon  zugleich  der  vollendetste  Stilist,  ein  Dichter  in  Prosa,  gewesen 
ist  und  seine  Dialoge  die  litterarischen  Verhältnisse  und  Strömungen  des 
4.  Jahrhunderts  am  klarsten  widerspiegeln.  Das  höhere  Leben  Attikas, 
den  geselligen  und  geistig  angeregten  Verkehr  in  den  Hallen  und  auf  den 
Spaziergängen,  die  zwanglos  heitere  und  geistreiche  Unterhaltung  bei  den 
Trinkgelagen,  die  durch  geistiges  Band  zusammengehaltene  Freundschaft 
der  Jünger  und  Lehrer,  die  Blüte  attischen  und  griechischen  Lebens  lernen 
wir  durch  keinen  Schriftsteller  so  wie  durch  Platon  kennen.  —  Alle  seine 
Schriften  sind  mit  einziger  Ausnahme  der  Apologie  in  dialogische  Form 
gekleidet.  3)  Diese  Form  ist  keine  von  außen  hineingetragene,  sondern 
entspricht  den  Grundsätzen  des  Sokrates  und  seiner  Schule  über  die  rich- 
tige Methode  die  Wahrheit  zu  finden  (s.  o.  S.  610).  Sie  ist  aber  auch 
insbesondere  in  der  Auffassung  Piatons  vom  Wesen  des  Wissens  und  in 
seiner  ganzen  Lehrmethode  tief  innerlich  begründet.  Das  Denken  war  ihm 
eine  Zwiesprache  der  Seele  mit  sich  selbst,*)  und  nur  auf  ein  in  Ein- 
sprache und  Gegenverteidigung,  d.  i.  mit  dialektischer  Kunst  erworbenes 
Wissen  legte  er  Wert.  Er  ist  mit  dieser  Form  der  echteste  Vertreter 
hellenischer  Philosophie  und  attischen  Geistes  geworden;  die  Abneigung 
der  Griechen  gegen  einsame  Abgeschlossenheit  und  der  demokratische 
Anspruch   der  Athener  auf  das  sprichwörtliche  eksyx   ii-eyxo^  verschafften 


*)  Diog.  L.  III41.  Schwerlich  Sohn  oder 
Enkel  des  Platon  selbst,  eher  Enkel  seines 
Bruders  Adeimantos. 


2  Bde..  Breslau  1881.  84;  W.  Christ,  Fiat. 
Studien,  Bayr.  Ak.  Abh.  17  (1886)  451  ff.;  H. 
SiEBEüK,  Untersuchungen  zur  Philosophie  der 


'*)  F.  ScHLEiERMACHEB,  Obersetzung  (II.  Griechen,  2.  Aufl.,  Freib.l 888  ;C.RiTTBR,Unter 
2;  11  1—3,  Berl.  1804—10;  neue  Aufl.  1817  i  suchungen  über  Plato,  Stuttg.  1888;  F.  Hörn, 
bis  1824;  III 1,  1828;  1.  U  in  3.  Aufl.  und  III  !  Piatonstudien,  Wien  1893;  W.  Lütoslawski, 
1  in  2.  Aufl.  1855 — 62)  und  K.  Steinhart  in  The  origin  and  growth  of  Plato's  logic,  London 
den  Einleitungen  zu  H.  Müllers  Übersetzung,  1897;  0.  Immisch,  Zum  gegenwärtigen  Stande 
9  Bde.,  Leipz.  1850—73;  J.  Socher,  Über  |  der  platonischen  Frage,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt.  3 
Piatons  Schriften,  München  1820  (hier  ist  die  !  (1899)440ff.  H. Räder,  Piatons  philosoph. Ent- 
Sonderstellung von  Sophist.,  Politik,  und  Parm.  wicklung,  Leipz.  1905,  der  S.  2  ff.  eine  treffliche 
zum  erstenmal  scharf  erkannt) ;  F.  Susexihl,  kritische  Übersicht  über  die  wichtigsten  Epo- 


Die  genetische  Entwicklung  der  platon.  I^hilo- 
sophie,  Leipz.  1855—60,  2  Bde.;  G.  F.  W. 
SuoKow,  Die  wissenschaftliche  und  künstle- 
rische Form  der  plat.  Schriften,  Berl.  1855; 
F.  Überweg,  Untersuchungen  über  die  Echt- 


chen  der  neuen  Platonlitteratur  seit  Schleier- 
macher gibt.  —  Über  die  Meinung,  Piatons  Dia- 
loge seien  Werke  des  Sokrates,  s.  R.  Hirzel, 
Der  Dialog  II 90, 2 ;  auf  eine  Stufe  mit  Xenoph. 
mem.,  als  Bilder  aus  dem  Leben  des  Sokr .,  stellte 


heit  imd  Zeitfolge  plat.  Schriften,  Wien  1861;  .  sie  E.Mi^k  in  der  S.  625,  8  zitierten  Schrift. 

K.  ScHAARscHMiDT,   Die  Sammlung  der  plat.  1  ^)  IT  Schlottmann,  Ars  dialogorum  com- 

Schriften,   Bonn  1866;    E.  Zeller,    Platon.  '  ponendorum  quas  vicissitudines   apud  Grae- 

Studien,  TUb.  1839:  H.  Bonitz.  Plat.  Studien,  cos  et  Romanos  subierit,  Rostock  1889;   R. 

3.  Aufl.  Berlin  1886;  G.  Teichmüller,  Litera-  !  Hirzel,  Der  Dialog  I  174—271. 

rische  Fehden  des  4.  Jahrhunderts   v.  Chr.,  !  *)  soph.  263e;  Phaedr.  276e. 


622 


Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


von  vornherein  einer  Philosophie  Eingang,  in  der  die  Sätze  nicht  in  zu- 
sammenhängender Rede  ex  cathedra  verkündet,  sondern  in  dialektischem 
Zwiegespräch  entwickelt  waren.  Ob  Piaton  der  erste  war,  der  philo- 
sophische Dialoge  schrieb,  ist  zweifelhaft,^)  aber  jedenfalls  hat  er  dem 
Dialog  durch  anschauliche  Schilderung  der  Szenerie,')  feine  Zeichnung  der 
Charaktere,')  scharfsinnige  Entwicklung  der  Begriffe,  lebensvolle  Frische 
im  Fortgang  des  Gespräches  jene  Vollendung  gegeben,  die  seitdem  eben- 
sowenig wie  die  Erzählungskunst  des  Homer  wieder  erreicht  worden  ist>) 
Neider  haben  ihm  vorgeworfen,  er  habe  in  seinen  Dialogen  die  Mimen  des 
Sophron  kopiert;^)  aber  dem  gegenüber  hat  E.  Zeller  auf  die  Stelle  des 
Aristoteles  (poät.  1)  verwiesen,  an  dei;  die  vollständige  Verschiedenheit 
jener  beiden  Arten  von  Dialogen  ausgesprochen  ist.  Damit  ist  aber  nicht 
gesagt,  daß  er  nicht  von  Sophron  gelernt  habe. 

Während  der  fünfzig  Jahre  seiner  philosophischen  Lehrtätigkeit  blieb 
sich  Piaton  in  der  dialogischen  Technik  ebensowenig  gleich,  wie  in  den  An- 
schauungen und  der  Forschungsmethode.  Mit  zunehmendem  Alter  und  zu- 
nehmender Neigung  zum  Systematischen  und  Dogmatischen  legte  er  auf  die 
dichterische  Belebung  seiner  Gespräche  weniger  Wert.  Im  Parmenides,  So- 
phistes,  Politikos,  Philebos  haben  die  Mitunterredner  nur  die  Aufgabe,  die 
Ausführungen  des  Hauptsprechers  zu  bejahen  und  sind  nicht  näher  charakte- 
risiert, auch  fehlt  jede  Schilderung  des  Schauplatzes,  und  im  Timaios  und 
den  Gesetzen  überwiegt  so  sehr  der  Lehrton  zusammenhängender  Dar- 
stellung, daß  die  Beibehaltung  des  Dialoges  nur  noch  als  eine  lästige 
Fessel  erscheint.  Nach  einer  anderen  Seite  ist  Piaton  in  früheren  Jahren 
von  den  einfachen,  direkt  beginnenden  „dramatischen**  Gesprächen  mit 
zwei  bis  drei  Sprechenden  zur  verschlungeneren  Gestaltung  des  Dialoges 
durch  Heranziehung  mehrerer  Personen  (sechs  im  Phaidon,  neun  im  Pro- 
tagoras)^)    und  Einschachtelung  des  Hauptgespräches    in    ein   einleitendes 


*)  Diog.  L.  III 48  und  Olympiodor.  Proleg. 
in  Plat.  5  extr.  nennen  als  Vorgänger  die 
Eleaten  Zenon  und  Parmenides,  wahrschein- 
lich irrtümlich.  Derselbe  Diogenes  II  122 
läßt  den  Sokratiker  Simon  die  ersten  sokra- 
tischen  Dialoge  geschrieben  haben.  Aristo- 
teles :ieQi  :Toit]T(bv  bei  Diog.  L.  III  48  und  Ath. 
505  c  bezeugt,  daß  die  Dialoge  des  Alexame- 
nos  von  Teos  (R.  Hirzbl.  Der  Dialog  I  100  f.) 
ebenso  wie  die  Mimen  des  Sophron  vor  die 
sokratischen  fallen.  Schon  in  der  um  425 
geschriebenen  Schrift  über  den  Staat  der 
Athener  zeigt  sich  der  Einfluß,  den  die 
Übung  der  Philosophen  und  Sophisten,  einen 
Gegenstand  im  Gespräch  nach  zwei  Seiten 
zu  erörtern,  gehabt  hatte;  vergleiche  auch 
die  Methode  des  Protagoras  bei  Diog.  L.  IX  51 
und  Thukydides  V  85—113. 

')  F.  Thiersch,  Über  die  dramatische 
Natur  der  plat.  Dialoge,  Bayr.  Ak.  Abh.  2  (1837) 
1  ff.  Die  genaue  Zeichnung  des  Tj'pischen  in 
Personen  und  Zeitverhältnissen  hinderte  ihn 
aber  nicht,  sich  über  die  geschichtliche  Ge- 
nauigkeit wegzusetzen.   So  ist  im  Protagoras, 


der  zu  Perikles'  Zeiten  spielt,  die  Aufführung 
der  Wilden  des  Pherekrates  erwähnt  p.  327  d, 
wiewohl  diese  neun  Jahre  nach  Perikles*  Tod 
zur  Aufführung  kamen.  Über  die  Zeitver- 
stöße im  Menexenos  s.  unten  S.  632;  vgl.  E. 
Zeller,  Über  den  Anachronismus  in  den  plat. 
Gesprächen,  Beri.  Ak.  Abh.  1873,  79  ff.  R. 
Hirzbl,  Der  Dialog  I  181  ff. 

')  Piatons  ri^ojioiia  war  berühmt:  Schol. 
Aristid.  p.  671,  6  Dind. 

*)  Plut.  Cic.  24:  :iokXa  S*  avwv  xai  ojro- 
juvffjuovevovoiVf  olov  jtf.qI  xwv  nidrouvog  dia- 
Xoyeov  (og  tov  ^U6g,  et  Xoyq)  xQi}a{^cu  :t6<pvxev, 
ovt(o  Atcdeyofih'ov, 

^)  Diog.  L.  III 18;  H.  Reich,  Der  Mimus  I 
380  ff.  Beachtenswert  ist,  daß  Plato  selbst 
reip.  V  p.  451  mit  dvdgelov  Sgäfia  .  .  ro  yvvai- 
xfTov  av  jtfoaivEir  auf  Sophron  und  seine  zwei 
Arten  von  Mimen  anspielt. 

®)  Im  Alter  kehrte  er  in  dialektischen 
Dialogen  wieder  zu  einer  kleineren  Zahl 
von  Sprechenden  zurück,  wie  zu  drei  im 
Philebos. 


4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  836.) 


623 


Gespräch  zwischen  dem,  der  das  Hauptgespräch  erzählt,  und  einem  andern 
(diegematische  Dialoge) ^  übergegangen.  Die  letzte  Form  hatte  etwas 
Kompliziertes,  wurde  aber  von  Piaton  gewählt,  um  durch  Einschaltung 
anderer  Referenten  kenntlich  zu  machen,  daß  er  für  den  Wortlaut  des 
Gesprächs  die  Verantwortung  ablehne,  und  um  die  unmittelbare  juifxtjoig, 
die  ihm  bedenklich  erschien,  zu  vermeiden;*)  sie  gab  außerdem  die  Mög- 
lichkeit, über  die  das  Gespräch  begleitenden  Umstände,  wie  so  einzig 
schön  im  Phaidon  geschieht,  zu  referieren.  Aber  in  wiedererzählenden 
Gesprächen  mußten  die  stets  sich  wiederholenden  i(pr],  fj  d'  8g  Überdruß  bei 
den  Lesern  erwecken,  weshalb  sich  Piaton  später  erlaubte,  das  Gespräch, 
auch  wenn  er  es  erst  nach  einer  szenischen  Einleitung  beginnen  ließ, 
gleichwohl  in  direkter  Form  vorzuführen.  Zuerst  tat  er  das  im  Theaitetos, 
in  dessen  Eingang  p.  143  c  er  sich  ausdrücklich  dieses  Fortschrittes  rühmt. 
Von  weitertragender  Bedeutung  war  der  Versuch,  nach  Art  der  drama- 
tischen Trilogien  und  Tetralogien  drei  und  vier  Dialoge  durch  den  Fort- 
gang der  Untersuchung  zu  einem  großen  Ganzen  zu  verbinden,  wie  er  es 
in  Theaitetos  Sophistes  Politikos,^)  Politeia  Timaios  Kritias  getan  hat.  Piaton 
ist  auf  solchen  großangelegten  Aufbau  erst  in  seinen  späteren  Jahren  ge- 
kommen, hat  aber  dann  die  trilogische  Verknüpfung  auch  äußerlich  da- 
durch, daß  er  eine  Anreihung  der  Szene  des  Gespräches  in  den  Einleitungen 
herstellte,  deutUch  zum  Ausdruck  gebracht.  Die  alten  Erklärer  und  Heraus- 
geber, die  das  bemerkten,  sind  aber  ins  Mechanisieren  geraten;  sie  haben 
nun  alle  Dialoge  Piatons  zu  Trilogien  und  Tetralogien  zu  vereinigen  gesucht 
und  selbst,  damit  die  Rechnung  glatt  aufgehe,  die  Briefe  mit  irgend 
welchen  Dialogen  zu  Trilogien  oder  Tetralogien  zusammengekoppelt.*) 


*)  Die  Teiloog  ÖQaftartxog,  ditjYijjitauxog, 
fieixrog  ist  alt  (Diog.  L.  III  50;  Plut.  symp. 
quaest  711c;  Proci.  ad  Fiat.  remp.  t.  I  14, 
15  ff.  Kroll).  Wo  in  den  diegematischen 
Dialogen  PI.  nicht  den  Sokrates  das  Gespräch 
erzählen  läßt,  da  geschieht  das  (I.  Brüns), 
um  den  Sokr.  eingehender  charaJcterisieren 
zu  können  (Sympos.,  Phaed.).  Siehe  unten 
S.  625. 

^)  Vgl.  die  merkwürdige  Stelle  Plat.  reip. 
392  c  ff.  mit  den  Bemerkungen  von  O.Immisoh, 
N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt.  3  (1899)  621  ff.  und  der 
Analogie  aus  lliukydides  (W.  Schmid,  Philol. 
60,  1901,  156). 

^)  Zu  diesen  drei  Dialogen  beabsichtigte 
Piaton  noch  einen  vierten,  ^d6aoq?og,  zu  fügen, 
kam  aber  nicht  zur  Ausführung  des  Planes 
(politic.254bd;  A.  Dyroff,  B1.  f. bayr.  Gymn. 
32, 1896, 18  ff.).  Ebenso  sollte  auf  den  Kritias 
noch  ein  Hermokrates  folgen,  was  übrigens 
C.  Ritter,  Piatos  Politicus,  Progr.  Ellwangen 
1896  S.  14  bestreitet.  R.  Hirzel,  Der  Dialog 
l  240  ff.  vermutet,  zu  der  Zusammenreihung 
mehrerer  Dialoge  sei  Plat.  durch  die  Größe 
der  Probleme,  die  sich  in  Einzeldialogen  seiner 
fiüheren  Art  nicht  mehr  bewältigen  ließen, 
veranlaßt  worden. 

^)  Aristophanes  von  Byzantion  stellte  nach 
Diog.  L.  III  61  folgende  fünf  Trilogien  auf: 
1.  IIoÄiTeta,  Tifiatog,KQtrlag,2,  2:oq>iai]^g,  IIoXi- 


uxoQt  Kgarvlog,  3.  Nojnoi,  Mivmg,  'Emrofiii, 
4.  GsairtjTogf  Ev&vq^Qiov,  *AjToXoyia,  5.  KgUwVt 
0aida}v,  'EjriazoXai.  Die  übrigen  Dialoge 
führte  er  nur  einzeln  auf.  Thrasyllos,  der 
Astrolog  des  Kaisers  Tiberius,  oder  sein  ver- 
mutlicher Gewährsmann  T3rrannion  (so  H. 
UsENBR,  Nachr.  d.  Gott.  Ges.  1892  S.  212  ff.) 
brachte  alle  Schriften  in  Tetralogien  (die 
Varro  del.  l.VII  37  voraussetzt)  unter  (Diog. 
L.  III  56  ff.;  Olympiod.  proleg.  25),   nämlich: 

1.  Evdv<pf)(aVf    ^AnoXoyia,    Kqizo>v,     ^cuÖwv, 

2.  KgaTvXog,  ßeatTtjrog,   2o<piaTt)g,  TloXiuxog, 

3.  JlagfurlSrjg,  4^lXt}ßog,  2!vfÄJt6aioVf  ^aldoog, 

4.  'AXxtßiddtjg  a,  'JXxtßtddrjg  ß>  ,  "Innagxogy 
'AvrsQaojaif  5.  ßedyrjg,  XoQfiiSrjg,  Adxtjg,  Avoig^ 

6.  Evdvörjfiog,  TlQCDiaydQag,  FoQyiag,  Mevoyy, 

7.  'iTiuiag  f.ui^o)v,  'Izimag  eXdxroiVf  "hov,  Meve- 
s^og,  8.  KXeixo(p<üv,  IloXixeiat  Tifiaiog,  Kgtziag, 
9.  Mivoyg,  Nöfiot,  *Ejztvojnig,  EjiMxoXal.  In 
der  von  Thr.  festgesetzten  Reihenfolge  soll- 
ten die  Schriften  in  der  Schule  nach  seiner 
Meinung  gelesen  werden.  Den  einzelnen 
Dialogen  fügte  llir.  in  der  Oberschrift  kenn- 
zeichnende Attribute  bei  {uat€vxix(>g ,  :iei' 
Qaaxixog^  dvaxQf:xxix6g,  h'Seixxtxog,  Xoyixdg, 
fj&ixog,  jtoXtxtxdg,  g'votx(>g);  besonders  geläufig 
war  die  Teilimg  in  tji^txot,  Cv^rjxtxoi  und 
fisixxoi  Procl.   ad  Plat.  remp.  t.  I  15,  19  ff. 

,   Kroll,     über   die   tetralogische   Anordnung 
i  des  Derkyllides  haben  wir  eine  Andeutung 


624 


Griechische  Litteratargeschichte.    I.  Klaseieche  Periode. 


337.  Zahl  und  Chronologie  der  Schriften.  Unter  Piatons  Namen 
sind  auf  uns  gekommen  außer  poetischen  Kleinigkeiten  >)  zweiundvierzig  Dia- 
loge, zwölf  (s.  u.  S.  659)  Briefe  und  eine  Anzahl  von  Definitionen  {8goi).  Das 
sind  alle  Werke,  die  das  Altertum  von  Piaton  kannte.  Es  gab  allerdings 
aufäerdem  schon  zu  Aristoteles'  Zeit  Begriffszergliederungen  {dicugeaeig)^  aber 
das  waren  Aufzeichnungen  von  Schulübungen,  die  Piaton  selbst  nicht  zur 
Veröffentlichung  bestimmt  hatte.*)  Auch  unter  den  Dialogen  und  Briefen 
befinden  sich  nicht  wenige  Fälschungen  auf  Piatons  Namen.  Von  den  Dia- 
logen wurden  sieben  schon  von  den  Alten  als  unecht  (vo^oi)  bezeichnet;*)  in 
unserer  Zeit  ist  namentlich  durch  deutsche  Kritiker  noch  von  vielen  anderen 
Dialogen  die  Echtheit  angefochten  worden,  aber  nur  zum  kleineren  Teil  mit 
durchschlagendem  Erfolg.*)  Einen  festen  Grund  für  die  Echtheitskritik  hat, 
angeregt  durch  F.  Schleiermacher,  F.  Überweg  (S.  621,  2)  gelegt  durch 
genaue  Untersuchung  und  Klassifikation   der  Piatonzitate  bei  Aristoteles. 

Die  Zeitfolge  der  platonischen  Dialoge  läßt  sich  mit  unseren  Mitteln 
nicht  bis  in  alles  Einzelne  genau  bestimmen.^)  Aber  Anfang  und  Schluß 
seiner  Schriftstellerei  stehen  fest,  und  im  übrigen  kommt  man  wenigstens 
über  die  Gruppierung  der  Dialoge  in  sachlichem  und  zeitlichem  Sinn  nach 
und  nach  zu  übereinstimmenden  Ansichten.     Was  den  Anfangspunkt  von 


bei  Varro  de  ling.  lat.  VII  37.  Näheres  W. 
Christ,  Platonische  Studien  a.  a.  0. 458  ff.  Daß 
die  Teiralogienteilung  in  der  Akademie  nach 
der  Zeit  des  Arkesilaos  entstanden  sei  und  den 
Intentionen  Piatons  im  wesentlichen  ent- 
spreche, meint  E.  Bickel,  Arch.  f.  Gesch.  der 
Philos.  17  (1904)  460  ff.  Übersicht  der  antiken 
Gruppierungsprinzipien  Olympiod.  proleg.  24. 

^)  32  Epigramme,  deren  Echtheit  von 
Fall  zu  Fall  untersucht  werden  muß,  laufen 
in  der  palatinischen  Anthologie  auf  Piatons 
Namen  und  sind  von  Th.  Bekok,  Lyr.  Gr. 
11^  299  ff.  herausgegeben.  Siehe  G.  Knaack, 
Berl.  phil.  W.schr.  15  (1895)  1156,  D.  Fava, 
Gli  epigrammi  di  Piatone,  Milano  1901  und 
R.  Reitzenstein,  Realenz.  11.  Halbb.,  90. 

*)  Solche  dtatQFoeig  sind  erhalten  bei 
Diog.  L.III  80—109.  Die  Zergliederungen,  auf 
die  Aristot.  de  part.  an.  642  b  10  anspielt,  sind 
nach  0.  Apelt,  Ausg.  des  Soph.  (Leipz.  1897) 
Prolog.  34  f.  die  im  Sophistes  und  Politikos ; 
s.  W.Christ,  Plat. Stud. 484 ff.  und  E. Zeller 
UM,  437  ff. 

')  Außer  den  öiaXoyoi  vo^svouevoi  (*A^i- 
o^o^f  ^egl  dixaiov,  ns^ji  aQSxfjg,  Arj^iofioxog, 
^töV(fog,  'Egv^iag,  'Alxvwv,  s.  Diog.  L.  III  62) 
wurden  im  Altertum  noch  angezweifelt  die 
^AvxEoaoTai  von  Thrasyllos  bei  Diog.  L.  IX  37, 
die  Epinomis  bei  Diog.  L.  III 37,  der  Hipparchos 
bei  Aelian  V.  h.VIII  2,  der  zweite  Alkibiades 
bei  Ath.  506  c;  s.  K.  F.  Hermann,  Plat.  Phil. 
413  ff.  Noch  weiter  scheint  in  der  Athetese 
Proklos  nach  Olympiodoros  proleg.  25.  26 
gegangen  zu  sein,  worüber  J.  Frbüdenthal, 
Herrn.  16  (1881)  201  ff. 

*)  Am  weitesten  gingen  in  der  Manie 
der  Unechtheitserklärung  F.  Ast,  der  14,  K. 


Schaarschmidt,  der  9  echte  Dialoge  an- 
erkannte; am  konservativsten  ist  G.  Grote, 
der  den  Versuch,  ein  platonisches  System 
oder  einen  Entwicklungsgang  Piatons  zu  kon- 
struieren, völlig  verwirft,  die  Dialoge  einzeln 
betrachtet  wissen  will  und  so  auf  ein  Ver- 
ständnis von  Piatons  Leistung  im  ganzen 
verzichtet;  eine  Orientierung  über  die  Echt- 
heitsfrage geben  K.  Schaarschmidt,  Die 
Samml.  der  piaton.  Schriften  S.  15—60;  E. 
Zeller,  Phil,  der  Gr.  UM,  446  ff.  C.  Ritter, 
Unters,  über  Plato  81  ff.  H.  Räder,  Piatons 
philos.  Entw.  20  ff.  Die  neuere  Litteratur 
bis  1903  vollständig  bei  Ürerwbo-üeikze, 
Grundriß  P  160  ff.  Die  unechten  Dialoge 
müssen  in  der  nächsten  Zeit  nach  Piaton 
von  Nachahmern  und  pythagorelsierenden 
Schülern  ausgegangen  sein.  Denn  dem  Aristo- 
phanes  Byz.  lagen  bereits  unechte  Dialoge, 
wie  Minos  und  Epinomis  vor.  Wichtig  ist  die 
Nachricht  von  einem  Handel  des  Platonikers 
Hermodoros  mit  Dialogen  Piatons  bei  Zeno- 
bios  prov.  V  6 :  Xoyoiotv  'Egfiodtogog  efurooet^erai 
(das  Sprichwort  schon  Cic.  ad  Att  XUI  21,4)* 
6  'Egfiodtogog  dxQoatfjg  yeywe  IlXdicovog  xai 
Tovg  V.1*  avTov  ovvrtdeifih'ot^g  ?,6yoi>g  {Aoyio- 
fiovg  codd.)  yofjiC(or  elg  ZixF.Uav  ejt(oXei. 

^)  Die  einzige  alte  positive  Angabe  über 
das  Zeitverhältnis  zweier  platonischer  Dia- 
loge findet  sich  bei  Aristot.  pol.  1264  b  26 
(Gesetze  später  als  Staat).  Anspielungen 
eines  Dialogs  auf  den  anderen  (H.  Räder 
a.  a.  0.  78  f.)  sind  selten  zur  Evidenz  zu 
bringen,  doch  machen  solche  ziemlich  sicher, 
daß  Gorgias  vor  Phaidros,  Menon  vor  Phai- 
don,  Parmenides  vor  Sophistes  veröffent- 
licht sei. 


4.  Die  PhüoBophie.    c)  Platon.    (§  337.)  625 

Piatons  schriftstellerischer  Tätigkeit  betrifft,  so  ist  jetzt  ziemlich  allgemein 
die  Ansicht  von  G.  Grote  angenommen,  daß  keiner  der  Dialoge  vor  dem 
Tod  des  Sokrates  (399)  abgefaßt  sei  (s.  o.  S.  610,  3).  Allerdings  haben 
wir  Nachrichten  aus  dem  Altertum  über  ein  früheres  Hervortreten  Piatons: 
so  erzählt  Diogenes  Laertios  (in  35),  Sokrates  habe  sich,  als  ihm  Platon  den 
Lysis  vorgelesen,  verwundert  über  die  ihm  in  den  Mund  gelegten  Reden 
geäußert;^)  das  ist  aber  Anekdote.  Wenn  neuere  Gelehrte  den  Phaidros 
und  Protagoras  vor  399  gesetzt  haben,*)  so  beruht  dies  auf  völliger  Ver- 
kennung der  allmählichen  Entwicklung  der  Darstellungskunst  und  Philo- 
sophie Piatons.  Auf  der  anderen  Seite  hat  Platon  erst  sterbend  die  Feder 
aus  der  Hand  gelegt;  das  sieht  man  daraus,  daß  er  die  Gesetze  und  den 
Kritias  unvollendet  hinterlassen  hat  und  zur  Abfassung  der  geplanten  Dia- 
loge Philosophos  und  Hermokrates  nicht  mehr  gekommen  ist  (s.  übrigens  o. 
S.  623,  3).  Anspielungen  auf  naheliegende  Zeitverhältnisse,  aus  denen  sich 
eine  genauere  Ansetzung  ergäbe,  sind  bei  Piatons  Ai-t,  seine  Gesprächsszenen 
in  weitere  Vergangenheit  vor  Sokrates'  Tod  zurückzuversetzen,  ohne  Ana- 
chronismus schwer  möglich  und  schon  deshalb  in  den  einzelnen  Dialogen 
sehr  selten,  8)  Anspielungen  auf  Zeitgenossen  wie  Antisthenes,  Isokrates  aber, 
die  man  finden  wollte,  oft  trügerisch.*)  Wenn  wir  sagen,  daß  Euthyphron 
nach  der  Anklage  gegen  Sokrates,  Apologie,  Kriton,  Phaidon  und  Gorgias  nach 
dem  Tod  des  Sokrates  bezw.  Archelaos  von  Makedonien  (399),  Menon  nach  395, 
Symposion  bald  nach  385,  Nomoi  und  Timaios  nach  der  Politeia,  Sophistes 
und  Politikos  nach  dem  Theaitetos,  Theaitetos  nach  394  und  nach  dem 
Gorgias,^)  Gorgias  vor  388,*)  Menexenos  nach  387  geschrieben  sind,  so  ist 
das  so  ziemlich  alles,  was  man  mit  voller  Sicherheit  behaupten  kann.  Um 
so  mehr  hat  man  in  unserer  Zeit  andere  Anhaltspunkte  beachtet,  die 
Spuren  von  Wechsel  in  den  philosophischen  Anschauungen,')  in  der  Ge- 
sprächsform,^)  endlich  die  teils  bewußten,  teils  unbewußten  Wandlungen 

')  Eine  ähnliche  Geschichte  erzählt  Ath.    '  vorschwehendes  , System'  allmählich  in  seinen 
505  e  von  einer  Äußerung  des  Rhetors  Gor-   '   einzelnen  Schriften  aufgerollt,  so  daB   alle 


gias  üher  die  ihm  im  gleichnamigen  Dialog 
zugewiesene  Rolle,  und  ebenso  von  Phaidon 
in  gleicher  Sache 


zusammen  eine  geschlossene  Reihe  bildeten, 
in  welcher  der  folgende  Dialog  an  das  im 
vorausgegangenen  festgestellte  Ergebnis  an- 


-)  Über  Protagoras  E.  F.  Hermann,  Plat.  1   knüpfe,  trägt  dem  Gelegenheitscharakter  man- 

Phil.  S.  452   und  Anm.  328,   über  Phaidros  !   eher  Schriften  und  der  allmählichen  Geistes- 

H. ÜSBNBB. Rh. M. 35 (1880)  131  ff.; dagegen W.  entwicklung    Piatons    zu    wenig  Rechnung. 

Christ,  Platon.  Stud.  501  ff.  .  Den  Protagoras  Ihr   gegenüber   vertritt  K.  Fr.  Hermann    in 

und   Gorgias   läßt   vor   Sokrates*  Tod    auch  1   seinem   unvollendeten  Werk   den  historisch- 


Th.  Berok,  Gr.  Litt.  IV  440  geschrieben  sein. 
3)  H.  Räder  a.  a.  0.  61  ff. 
*)  Nachdem  L.  Spengel  den  Anfang  ge- 


kritischen Standpunkt,  indem  er  Piatons  Ent- 
wicklung in  drei  Stufen  von  den  sokratlschen 
über   die    dialektischen,    ein   Positives   vor- 


macht hatte,    Sticheleien   auf  Isokrates  bei      bereitenden   zu  den  konstruktiven  Dialogen 
PL  zu  wittern  (s.  o.  S.  533,  1),  und  G.  Teich-   \   auf  baut,  also  auf  ein  ^System**  als  Abschluß 


müller  (Litterar.  Fehden)  in  dieser  Richtung  ;  hinführt.  Die  aus  der  neueren  Diskussion 
weitergegangen  war,  haben  besonders  F.Dümm- 
1er  (Antisthenica,  Akademika)  und  ihm  nach 
K.  Jo($l  Jagd  auf  Antisthenes  bei  Platon  ge- 
macht, ohne  für  die  Chronologie  Sicheres  zu 
gewinnen. 

^)  I.  Bruns,  Das  litt.  Porträt  302  f. 


herausgearbeiteten  Resultate  gibt  P.  Natorp, 
Piatos  Ideenlehre,  Leipz.  1903,  und  besser  H. 
Räder  a.  a.  0. 1  ff.,  der  als  erster  nachW.  Lutos- 
lawski  mit  dem  Begriff  der  Entwicklung  bei 
PL  wirklich  Ernst  gemacht  hat,  während  G. 
Schneider,    Die   platon.  Metaphysik,   Leipz. 

®)H.GoMPERZ,WienerStud.  27(1905)  170.    j    1884,  von  einer  solchen   nichts  wissen  will. 

')  F.  Schleiermachers  Auffassung.  Platon  «)  Vgl.  oben  S.  622  f.  und  E.  Munk,  Die 

habe  sein  als  Ganzes  ihm  von  Anfang  an  |  natürliche  Ordnung  der  plat  Schriften,  Berlin 
Handbuch  der  klaas.  AltertnmswiBMiiaehaft.    YII.    5.  Aufl.  40 


626 


Griechische  Litteratorgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


im  Wortgebrauch  und  Stil.O  Die  Betrachtung  des  Inhalts  der  Dialoge^) 
hat  eine  Reihe  für  die  Chronologie  bedeutsamer  konvergenter  Entwick- 
lungslinien ergeben;  nur  ist  immer  der  Vorbehalt  zu  machen,  daß  aus 
dem  NichtVorkommen  einer  philosophischen  Anschauung  in  einem  Dialog 
nicht  sofort  der  Schluß  gezogen  werden  darf,  diese  Vorstellung  könne  dem 
Piaton  zur  Zeit,  da  er  den  Dialog  schrieb,  noch  nicht  bekannt  gewesen 
sein,  und  ein  Dialog,  in  dem  sie  sich  findet,  sei  darum  später  verfaßt; 
bevor  man  so  weit  geht,  ist  immer  erst  die  Frage  zu  stellen,  ob  in  einem 


1857;  R.  SoHÖNB,Über  Platons  ProtagoiusXeipz. 
1862;  G.  Teichmüllbb,  Über  die  Reihenfolge 
der  plat.  Dialoge,  Leipz.  1879 ;  I.  Bbuns,  Das 
litterar.  Porträt  245  fif.;  H.  Rädbb  a.  a.  0. 
44  ff.,  wo  die  sorgfältigste  Einteilung  nach 
dem  Prinzip  der  Dialogtechnik  gegeben  wird. 
')  Begründer  der  Methode,  aus  sprach- 
lichen Erscheinungen  Schlüsse  auf  die  Zeit- 
folge zu  ziehen,  ist  L.  Campbell,  der  (Einl. 
z.  Ausg.  des  Soph.  und  Politic,  Oxf.  1867,  und 
Ausg.  des  Staats  von  B.  Jowett  und  L.  Camp- 
bell n,  Oxford  1894,  46  ff.)  den  Wort- 
vorrat auf  Grund  von  Asts  Piatonlexikon 
zu  prüfen  begonnen  hat;  an  ihn  schließen 
sich  mit  Beobachtungen  über  den  Gebrauch 
einzelner  Partikeln  W.  Dittbkbebobb  ,  Die 
Chronologie  der  piaton.  Dialoge,  Herm.  16 
(1881)  821—45;  M.  Sohanz,  Zur  Entwicke- 
lung  des  piaton.  Stils,  Herm.  21  (1886)  439 
bis  459.  Weiter  verfolgten  die  Frage  u.  a. 
(vollständige  Litteraturangabe  bei  Übebweo- 
Heinzb,  Grundriß  !•  162)  C.  Ritteb,  Unter- 
suchungen über  Plato,  Stuttg.  1888  (Behand- 
lung von  37  verschiedenen  Frage-  und  Ant- 
wortformeln und  38  weiteren  sprachlichen  Er- 
scheinungen); H.  Siebbok,  Zur  Chronologie  der 
platonischen  Dialoge,  in  Unters,  z.  Phil.  d.  Grie- 
chen, Halle  1873,  S.  107—151  und  253—274; 
Th.  GrOMPERZ,  Plat.  Aufs.,  Wien.  Ak.  Sitz.ber. 
114  (1887)  751  ff.  und  Zeitschr.  f.  Philos.  109 
(1896)  161—76;  H.  v.  Abnim,  De  Piatonis  dia- 
logis  quaestiones  chronologicae,  Progr.  Rostock 
1896  7 ;  W.  Janbll,  Quaest.  Platonicae,  Jahrbb. 
f.  cl.  Phil.  Suppl.  26  (1901)  263  ff.  (Verhalten 
des  PI.  zum  Hiatus);  die  Arbeit  von  W.  Ka- 
lusoha  s.  u.  S.  628,3;  die  vereinzelten  älteren 
Versuche  faßt  zusammen  und  erweitert  zu 
einer  sehr  subtilen,  aber  mechanischen  «Stylo- 
metrie*  W.  Lütoslawski,  The  origin  and 
growth  of  Piatos  logic  with  an  account  of 
Platos  style  and  of  the  chronology  of  bis 
writings,  London  1897.  Über  die  Berechtigung 
der  von  E.  Zeller,  P.  Natorp  (Arch.  f.  Gesch. 
d.  Philos.  12,  1899.  1  ff.  159  ff.).  Ö.  Immisch 
(N.  Jahrbb.  f.  kl.  Altert.  3,  1899,  440  ff.)  u.  a. 
vei-worfencn  sprachstatistischen  Methode  H. 
v.  A  RNiM.  Ztschr.  f.  östr.  Gymn.  51  (1900)490  ff. ; 
C.  Ritter,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Altert.  11  (1903) 
241  ff.  Durch  plumpe  und  mechanische  Hand- 
habung wird  diese  wie  jede  Methode  entwertet; 
wo  sie  aber  mit  Vorsicht  zumal  auf  solche 
.Sprachformen,   deren  Gebrauch  dem  Schrift- 


steller am  wenigsten  zum  Bewußtsein  kommt, 
angewendet  wird,  da  ergibt  sie,  so  unbequenoi 
das  manchen  Philosophen  sein  mag,  Resultate, 
die  an  Sicherheit  allen  philosophischen  Kon- 
struktionen weit  überlegen  sind.    Immischs 
Hauptargument  gegen  die  Sprachstatistik  ist 
eine   (von  E.  Pfleiderer  und  E.  Rohde  ver- 
teidigte, aber  nicht  zur  Evidenz  gebrachte) 
Vermutung,  daß  Piatons  Staat  nicht  ein 
einheitliches  Werk  sei ;  von  dieser  Vermutung 
aus  postuliert  er  dann  Stilverschiedenheiten 
im  Staat,  die  tatsächlich  nicht  vorliegen,  aber 
für  den,  der  die  Vermutung  nicht  annimmt, 
auch  nicht  vorzuliegen  brauchen;  beachtens- 
!  wei-t  ist  z.  B.  das  spätere  Hervortreten  von 
u  fit'fVf   ye  fifjVf   xai  iiriv^   und  der  Gebrauch 
I   von  SvTwg  im  Philebos,  Poliükos,  Timaios, 
':   Nomoi,  Sophistes,  hingegen  von  r<p  Svzi  in 
I  ApoL,  Euthyphron,  Gorg.,  Lach.,  Lvs.,  Protag., 
I   Symp.,    Phaidon.     Mit   dem    Gebrauch    der 
'   Partikeln  steht  im  Einklang,   was  zuerst  F. 
;   BLASS  (Att  Bereds.  111'*  2,  887)  beobachtet 
und  W.  Janrll  (s.  o.)  weiterverfolgt  hat,  das 
,   seltene  Vorkommen   des   Hiatus   in   Nomoi, 
Philebos,  Timaios,  Kritias,  Sophistes,  Politikos, 
während  in  der  ersten  Klasse  der  Dialoge  keine 
Abneigung  gegen  den  Hiatus  erkennbar  ist  — 
Die  geistigeren  Seiten  des  Stils  bieten  weniger 
I   Ausbeute  für  die  Chronologie  der  Dialoge; 
in  Betracht  kommen  besonders  die  Mythen 
und  Gleichnisse.  Im  allgemeinen  liebte  Piaton 
Mythen  vornehmlich  in  seinen  späteren  und 
dogmatischen    Schriften.     Der    erste    noch 
kleinere  und  weniger  originelle  Mythus  findet 
sich  im  Gorgias  p.523;  der  im  Menonp.81  be- 
besteht nur  in  der  Wiedergabe  einer  p3rtha- 
goreüsch  gefärbten  Stelle  Pindars;   auch  der 
Mythus  im  Protagoras  p.  320  von  Prometheus 
'   und  Epimetheus  schließt  sich  noch  eng  an 
den  Volksglauben    an   und  wird    obendrein, 
indem  er  dem  Protagoras   in   den  Mund  ge- 
legt wird,  der  Manier  dieses  Sophisten   zu- 
gewiesen (E.  Zeller,  Arch.  f.  Gesch:  d.  Philos.  5, 
,    1892. 1 76  ff.).  Der  Mythus  im  Phaidros  p  246  ff. 
i    ist  weit  kühner  und  breiter  ausgeführt.   Von 
den  großen  Mythen  in  den  anderen  späteren 
Dialogen  (symp.  189  u.  203,  reip.  414  u.  614. 
polit.  269,  Tim.  21,  leg.  713,  Critias  110  ff.)  ist 
besonders  der  im  Politikos  beachtenswert,  da 
man   einen   solchen   in   einem  dialektischen 
Dialog  nicht  erwartet 

«)  H.  Rädbb  a.  a.  0.  74  ff. 


4.  Die  Philosophie,    c)  Platon.    (§  837.)  627 

Dialog  Veranlassung  oder  Nötigung  war,  diese  oder  jene  Anschauung  zu 
äußern.  Im  Mittelpunkt  der  platonischen  Philosophie  steht  die  Ideen- 
lehre;^  ihre  ersten  Spuren  begegnen  im  öorgias  und  Menon,  voll  ent- 
wickelt ist  sie  in  Hippias  maior,  Kratylos,  Symposion,  Phaidon,  Phaidros, 
Politeia,  kritisiert  im  Parmenides,  umgebildet  im  Sophistes,  rekonstruiert 
im  Timaios.  Daß  die  Seele  unteilbar  und  unsterblich  sei,  lehrt  der  Phaidon; 
im  Phaidros*)  erscheint  sie  dreiteilig  {cpQdvrjaiq,  '&viu6g,  ini'&viLua)  und  in 
allen  drei  Teilen  unsterblich;  in  der  Politeia  wird  (435c  flf.,  GlleflF.)  er- 
wogen, ob  sie  als  ein  geteiltes  Wesen  unsterblich  sein  könne,  und  im 
Timaios  gilt  nur  noch  der  oberste  Seelenteil  (koyuntxov)  für  unsterblich. 
Der  Unsterblichkeitsglaube  spielt  in  der  Apologie,  wo  er  doch  sehr 
nahe  läge,  noch  keine  Rolle;*)  bestimmter  tritt  er  im  öorgias  auf;  Be- 
weise für  ihn  werden  im  Phaidon  gegeben,  zu  denen  im  Phaidros  ein 
neuer  (die  Seele  Aeixlvtjxov  245c  flf.)  tritt,  der  in  den  Gesetzen  (893b  flf.) 
noch  allein  aufrecht  erhalten  wird.  Kardinaltugenden  werden  im  Gor- 
gias  und  Protagoras  fünf,  im  Euthyphron  vier  aufgezählt  (die  öatoTtjg  als 
Teil  der  dixaioovvrj)  und  im  Phaidros  und  der  Politeia  die  vier  (ohne  öoioxrjg) 
beibehalten.  Die  Scheidung  des  wahren  Wissens  {hiunri^ri)  vom  richtigen, 
aber  nicht  wissenschaftlich  begründeten  Meinen  {ÖQ&i]  öö^aY)  begegnet 
zuerst  im  Menon,  wird  vorausgesetzt  im  Phaidon  und  der  Politeia  in  dem 
Sinn,  daß  wirklich  wertvoll  nur  die  tnaxrifxri  sei;  mit  dem  Theaitetos  bahnt 
sich  eine  höhere  Schätzung  der  öq^yi  öo^a  an,  die  auf  das  Herabsteigen 
zu  gegebenen  Zuständen  in  Piatons  letzter  Periode  hindeutet.  Das  Phä- 
nomen der  Liebe  erklärt  Platon  im  Phaidros  aus  der  Ideenlehre  (die 
Liebe  entzündet  sich  an  dem  sinnlichen  Abbild  der  Idee  der  Schönheit), 
im  Symposion  physiologisch  (als  Wirkung  des  Zeugungstriebes;  ähnlich  im 
Timaios  91b  ff.),  hält  aber  den  sinnlichen  Charakter  des  Eros  fest,  bis  er 
sich  ihm  in  den  Gesetzen  (837  a)  zum  unsinnlichen  Begriff  der  xenophon- 
tischen  q)iXia  verflüchtigt.^)  Die  traditionelle  Rhetorik  verwirft  er  schroff 
schon  ap.  34b  ff.,  38 d  und  besonders  im  Gorgias;  im  Phaidros  zieht  er  die 
Grundlinien  einer  (pdoaoq^og  ^rjTOQixrj^  auf  die  Aristoteles  sein  Gebäude  ge- 
setzt hat,  und  im  Politikos  (304a)  wie  in  den  Gesetzen  (711  e)  spricht  er 
von  der  Möglichkeit  einer  dem  Staatszweck  dienenden  Rhetorik.  Parallel 
seinen  Anschauungen  über  die  Rhetorik  laufen  die  über  die  Poesie,«) 
gegen  deren  von  der  Sophistik  und  Antisthenes  sehr  hoch  eingeschätzten 


')  Über  die  eigenartige  Auffassung  von 
P.  Natobp  (Piatons  Ideeniehre,  Leipz.  1903), 
der  die  Ideen  nicht  als  transzendente  Wesen- 
heiten, sondern  als  bloße  Gesetze  und  Me- 


theory  of  ideas,  London  1904. 

*)  Auch  Antisthenes  schrieb   über  86^a 
und  imoxrjfArj  (Diog.  L.  VI  17). 

^)  I.  Bbuhs,  Attische  Liebestheorien,  N. 


thoden  des  Denkens  versteht,  s.  H.  Gomperz,  Jahrbb.  f.  kl.  Alt  5  (1900)  17  ff.  (=  Vorträge 

Arch.  f.  Gesch.d.PhUo8. 18(1905)441  ff.  — G.  und  Aufsätze,  München  1905,  118  ff.). 

Schneider,  Berl.phil.W.schr.  27  (1907)  1002  ff.  «)  G.  Finsler,  Platon  und  die  aristotel. 

findet  Ansätze  der  Ideenlehre  auch  im  Euthy-  Poetik,  215  ff.;  F.  Stählin,  Die  Stellung  der 

phron.  Poesie  in  der  platonischen  Philos.,  München 

^)  Siehe  Th.  Gomperz,  Griech.  Denker  IP  i    1901.    Interessant  ist  die  Formulierung  und 

349.   Über  die  Seelenlehre  Piatons  überhaupt  Widerlegung  von  Piatons  Einwänden  gegen 

E.  RoHDE,  Psyche  IP  263  ff.  die  Poesie  bei  Procl.  ad  Plat.  remp.  45,  7  ff. 

')   apol.  40a   wird   nur   damit  gespielt.  49—51  Kroll;  s.  a.  o.  S.  620,  1.    Über  Pla- 

Siehe  R.  K.  Gaye,   The  Piatonic  conception  tons  Stellung  zur  Musik  H.  Abert,  Die  Lehre 

of  immortality  and  its   connexion   with  the  |   vom  Ethos  in  der  griech.  Musik,  9  ff. 

40* 


628  GhdechiBche  LitteratnrgeBchichte.    I.  Klaasische  Periode. 

Bildungswert  er  schon  im  Lysis  (213e  flf.  214ab.  215cd),  der  Apologie  (22c), 
im  Ion  und  Menon  Bedenken  äußert,  indem  er  zwar  die  Inspiration  des 
Dichters  anerkennt,  aber  ihm,  weil  die  Inspiration  einen  maniakalen  Zu- 
stand hervorrufe,  die  Fähigkeit  abspricht,  mit  klarem  Bewußtsein  zu 
wahrem  Wissen  zu  erziehen;  im  Gorgias  gilt  ihm  die  Poesie  für  eine  nicht 
minder  verwerfliche  Schmeichelkunst  als  die  Rhetorik;  ita  Phaidros  und 
Symposion  denkt  er  an  die  Möglichkeit  einer  Poesie  im  wahren,  philo- 
sophischen Sinn,  der  er  aber  doch  in  der  Politeia  zu  seinem  Idealstaat 
keinen  Zutritt  gewährt;  im  Philebos  wird  der  ^öovri  und  damit  auch  der 
Kunst  wieder  eine  gewisse  Berechtigung  zugegeben,  und  schließlich  in  den 
Gesetzen  eine  im  Sinn  des  Staatszwecks  wirkende  und  staaÜich  kontrollierte 
Dichtung  geduldet.  —  Die  Untersuchung  der  Dialogtechnik  ergibt  nicht 
viel  Sicheres  für  die  Chronologie;  nur  das  wird  festzustellen  sein,^)  daß 
nach  dem  Theaitetos  keine  diegematischen  (referierenden)  Dialoge  mehr 
folgen  können.*) 

Nimmt  man  mit  den  sachlichen  Kriterien  die  sprachlichen  zusammen, 
so  scheidet  mit  aller  Sicherheit  eine  in  Piatons  spätestes  Alter  gehörige 
Gruppe  von  Dialogen  aus,  gebildet  durch  Parmenides,  Sophistes,  Politikos 
(284  b  wird  der  Sophistes  zitiert),  Philebos,  Timaios,  Kritias,  Gesetze  (in 
dieser  Reihenfolge).^)  Eine  Gruppe  bilden  wieder,  auf  der  Mittagshöhe  von 
Piatons  Schaffen,  Staat,  Phaidros  und  Theaitetos,  dieser  schon  zur  letzten 
Periode  überleitend,  aber  mit  dem  Staat  stimmungsverwandt.  Alles  übrige 
fällt  in  eine  erste  Periode.*)  Bei  dieser  Einteilung  ergibt  sich  ein  ver- 
ständliches Bild  von  Piatons  geistiger  Entwicklung:*)  vom  herakleitischen 
Dogma  muß  er  sich  schon  früh  befreit  haben;  es  führte  nach  seiner  Mei- 
nung (Theait.)  zum  Relativismus  der  Sophistik.  In  seiner  ersten  schrift- 
stellerischen Periode  finden  wir  ihn  ganz  im  Bann  des  sokratischen  Be- 
griffsrationalismus, die  geistige  Kraft,  die  er  aus  Sokrates'  Dialektik  ge- 
schöpft hat,    in   kritischen  Versuchen   nach   allen   Seiten   hin   erprobend. 


M  H.  Rädeb,  Piatons  philos.  Entw.  51.  Timaios).  Etwas  anders,  nach  Anregung  von 

^)  Eine  Ausnahme  macht  der  Parmenides,  j   H.  Jackson,  Gaye  (s.  o.  S.  627  A.  8):  1.  sokra- 

worüber  s.  unten.  tische  Dial.,  2.  erzieherische,  3.  metaphysische 

^)  Auf  Grund  von  Beobachtungen  über  |  Periode  (a)  Politeia,  Phaidon,  Krat.,  b)  Parm. 

die  Rhythmik  des  Satzschlusses  fordert  W.  Ka-  '   Phileb.  Theait.  Soph.  Politic.  Tim.),  4.  Greisen- 

LU8CHA,Wien.Stud.  26(  1904)  190  ff.  die  Reihen-  alter  (Leg.). 

folge  Tim.  Critias  Soph.  Pol.  Phileb.  Leges.  *)  Arist.  met.  A  6:  £x  veo%>  avvti^rjg  ye- 

*)  Diese   wird   von  Lutoslawski   wieder  vofie^'og  (sc.  Uldriov)  jtqwtov  KgaivXq)  xai  latg 

in  zwei  geteilt:   1.  sokratische  Gruppe  (Hipp.  'Hgax?^iTeioi<;   do^aig,    cog   dsidvxMV   uov   aia- 

II,  Apol.  Lach.  Charm.  Prot.  Euthyd.  Kriton,  drjiibv  clel  oeot'uor  -xai  imarrjftijg  Jtegi  avicbv 

Euthyphr.  Ion);    2.  erste  platonische  Gruppe  ovx  ovatjg,  ravia  fih  xai  varegov  ovTo>i  v:ie- 

(Kratyl.  Symp.  Politeia  I  rhaidon).     Er  läßt  Xaßev  ZcoxQarovg  de  jregi  fih  td  rj&ixd  Jigay- 

dann  vor  der  letzten  Periode  noch  eine  zweite  fiarei'of^ierov,  jiegi  6e  rfjg  oXrjg  q^vaecog  tn^Sir,  fv 

piaton.  Gruppe  folgen  (Politeia  II— X  Phaidr.  |   fievioi  rovioig  t6  xaOökov  Cv^ovvrog  xai  stfoL 

Theait.  Pannenid.).    Eine  ähnliche  Gruppen-  ogiofwjv    ejnaTijoarTog    :ig<oxov    xijv    öidrotav, 

teilung   setzt  Th.  (ioMPKitz,    Griech.  Denker  fxfTvov  äno^e^duFvog  öid  zo  totovrov  v:TF?.afiev 

IP  234  f.  an  (1.  Der  Begriffsethiker  Piaton,  2.  o>>  ^tfoI  hegcor  tovto   yiyrofu-vov  xai   or   tiov 

Übergang    zu    psychologischer    Grundlegung  1    aioOtjTfüy'  dörvarm'  ydg  Ftvat  rdv  xotror  ogov 

und  metaphys.  Ausbau,  von  der  Betrachtung  j    tiov    aioötjTior    Tirog,    dei    ye   fisTaßaXXovTfor, 

des    einzelnen  zum    Aufbau    des    »Staats,    3.  '   ovT(og   fih   ovr   tu  lotavia   T<bv   6vt(ov   tdeag 

Hcihepunkt:  Politeia.    4.  Revision  des  ganzen  TigomjydoFvoF,    xd  6*  a/oi?7;ra  :iagd   ravia  xai 

geistigen  Besitzes,  Hinzutritt  der  Physik  im  xard  xavTa  /Jyeo&ai  jidvxa. 


4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  388.)  629 

Daneben  wirken  auf  ihn  immer  mächtiger  die  Eleaten  mit  ihrem  Trans- 
szendentalismus  und  die  Pythagoreer.  Er  rückt  von  dem  ethisch  gerich- 
teten Dialektizismus  des  Sokrates  nach  der  Metaphysik  hin  ab.  Die  Über- 
zeugung von  der  allseitigen  Mangelhaftigkeit  der  bestehenden  Staatsver- 
fassungen drängt  ihn,  die  gesamte  Staatstheorie  auf  einen  neuen,  festen 
Grund  zu  stellen,  und  er  entwirft  seine  idealistische  Staatsutopie,  mit  der 
er  im  Aphelion  aller  geschichtlich-relativistischen  Betrachtungsweise  steht 
Endlich  aber  unterwirft  er  seine  ganze  Philosophie  von  der  Erkenntnis- 
theorie bis  zur  Ideenlehre  einer  Revision,  i)  deren  letzter  Ertrag  die  Ge- 
setze sind.  Unberührt  bleibt  von  allen  Umwälzungen  seine  Überzeugung, 
daß  das  vernunftgemäße  Handeln  über  das  instinktive  und  traditionidisti- 
sche  zu  stellen,  daß  aber  das  letzte  axiomatisch  feststehende  Ziel  die  Idee 
des  Guten  sei.*) 

338.  Arten  der  Dialoge.  Nach  dem  Charakter  der  Untersuchung 
hat  man  bereits  im  Altertum  die  Dialoge  in  verschiedene  Klassen  ein- 
geteilt.*) Schon  Aristoteles  (met.  1004  b  25)  macht,  wahrscheinlich  nach 
den  Traditionen  der  Akademie,  einen  Unterschied  zwischen  dem  prüfenden 
(TteiQaoTixrj)  und  erkennenden  {yvcogiorixi^)  Teil  der  Philosophie.  Zu  jenem 
gehören  die  vorbereitenden  und  dial^tischen  Dialoge,  in  denen  eine  Begriffs- 
bestimmung oder  irgend  ein  anderes  philosophisches  Problem  nach  allen 
Seiten,  meistens  ohne  positives  Ergebnis  erörtert  wird.  In  späterer  Zeit 
hat  man  (Diog.  L.  III  49)  diese  Dialoge  C^trjxixoi  genannt,  und  innerhalb  der- 
selben wieder  didXoyoi  yvjuvaarixoi  und  äycovunixoi  unterschieden.  Der  zweite, 
erkennende  Teil  der  Philosophie  gibt  die  positiven  Ergebnisse  philosophi- 
schen Denkens  und  liebt  mehr  den  lehrhaften,  zusammenhängenden  Vor- 
trag. Nach  dem  Inhalt  wurde  innerhalb  der  yvcogioxixr}  q)doaoq)ia  wieder 
eine  Teilung  in  physische,  logische,  ethische  und  politische  Dialoge  vor- 
genommen. Da  man  durch  Prüfung  zur  Erkenntnis  kommt,  so  liegt  es 
nahe  (wie  von  den  Früheren,  besonders  K.  F.  Hermann,  geschehen  ist),  im 
allgemeinen  prüfende  Dialoge,  wie  Lysis,  Laches,  Menon,  der  früheren 
Periode  des  Philosophen,  konstruktive,  wie  Politeia,  Timaios,  Nomoi,  der 
späteren  Zeit  gereiften  Denkens  zuzuschreiben.  Aber  Piaton  hat  nie  auf- 
gehört, seine  Sätze  zu  prüfen,  und  so  ist  es  nicht  verwunderlich,  wenn 
auch  in  späteren  Werken  Piatons,  wie  im  Theaitetos,  Sophistes,  Politikos, 
dialektische  Untersuchungen  begegnen.*)  Auf  der  anderen  Seite  kann  auch 
schon  im  Stadium  der  prüfenden  Voruntersuchung  eine  Ahnung  von  den 
Schlußergebnissen  durchbrechen;  so  spricht  sich  auch  bei  Piaton  schon  im 
Gorgias,  wiewohl  er  zu  den  Jugendwerken  zählt,  der  heilige  Ernst  des 
Idealismus  aus.  Außerdem  entzog  sich  Piaton,  ein  so  selbständiger  Denker 
er  auch  war,  doch  nicht  dem  Einfluß,  den  andere  Denker  zu  verschiedenen 
Zeiten  auf  ihn  ausübten;  infolgedessen  treten  die  Gegensätze  sokratischer, 
megarischer,    pythagoreYscher  Anschauung   in   seinen  Schriften   fast  noch 

^)  Dem  entspricht  formell,   daß  in   den  i  und   in   den  Gesetzen   schließlich  ganz  ver- 
letzten Dialogen  Sokrates,  den  Piaton  in  den  schwindet, 
früheren    Schriften    andersartige    Anschau-  '  ')  H.  Räder  a.  a.  0.  420  ff. 
ungen  hatte  vertreten  lassen,  von  der  Leitung  |  *)  Siehe  o.  S.  623,  1.  4. 
des  Gespräches  mehr  und  mehr  zurflcktritt  |           *)  H.  Rädbb  a.  a.  0.  78  ff.  88. 


630  ChiedÜBche  Litteratnrgeschichte.    I.  ElassiBche  Periode. 

schärfer  hervor  als  die  Unterschiede  prüfender  und  erkennender  Methode. 
Endlich  war  Piaton,  der  Dichter  unter  den  Philosophen,  auch  öelegenheits- 
schriftsteller,  der  nicht  immerfort  in  der  Weise  eines  Kathederphilosophen 
an  einem  System  arbeitete,  sondern  auch  über  Dinge,  die  ihm  gelegentlich 
in  den  Weg  traten,  seine  Gedanken  aussprach.  Die  oben  (S.  628)  dar- 
gelegte Teilung  in  drei  Gruppen,  die  zugleich  eine  zeitliche  und  eine  gene- 
relle ist,  wird  der  folgenden  Einzelbesprechung  zu  Grund  gelegt  mit  dem 
Vorbehalt,  daß  eine  genaue  chronologische  Einreihung  aller  Dialoge  inner- 
halb der  Einzelgruppen  nicht  möglich  ist. 

339.  Kleinere  Dialoge  der  ersten  Gruppe  (sokratische  Periode 
bei  K.  F.  Hermann)  i^) 

*A  7t  okoyia,  Verteidigungsrede  des  Sokrates  gegen  die  Anklage  des 
Anytos,  Lykon  und  Meletos,  vielleicht  Piatons  früheste  Schrift.*)  Die  Rede 
zerfällt  wie  die  xenophontische  Apologie  in  drei  Teile,  nämlich:  1.  eigent- 
liche Verteidigungsrede  vor  den  Richtern,  2.  Rede  über  das  Strafmaß, 
3.  Ansprache  an  die  Richter  nach  der  Abstimmung.  Die  Verteidigung  ist 
ohne  künstliches  rednerisches  Pathos,  aber  mit  unübertroffenem  Ethos  in  jener 
schlichten  Einfachheit  durchgeführt,  die  der  beste  Beweis  des  reinen  Ge- 
wissens ist.  Der  sokratische  Charakter  zeigt  sich  zumeist  in  den  ein- 
geflochtenen Zwiegesprächen,  in  denen  Sokrates  den  Politikern,  Dichtern 
und  Gewerbsleuten  beweist,  daß  sie  sich  wohl  einbilden  etwas  zu  wissen, 
tatsächlich  aber  nichts  wissen.  Die  Schrift  ist  weit  davon  entfernt,  die 
geschichtliche  Anklagerede  des  Sokrates  wiedergeben  zu  wollen,  obgleich 
Piaton  bei  der  Verhandlung  anwesend  gewesen  ist.  Sie  ist  so  gut  wie 
alle  platonischen  Dialoge  ein  ^(oxQaxtxog  Xoyoq.^)  Piaton  hat,  als  er  sie 
schrieb,  die  Anklagerede  des  Polykrates  noch  nicht  gekannt.*) 

KqItcov,  Dialog  des  Sokrates  mit  seinem  Freund  Kriton  im  Gefängnis 
zur  Rechtfertigung  der  leicht  als  Starrköpfigkeit  zu  deutenden  Weigerung  des 
Sokrates,  durch  Flucht  sein  Leben  zu  retten;  berühmt  ist  die  Personifikation 
der  Gesetze.  Der  Apologie  wird  p.  45  b  ausdrücklich  gedacht.  Aus  dem  be- 
denklichen Zeugen  Idomeneus  (negl  to)v  ScoxQanxibv)  hat  Diogenes  Laertios 
II  60  und  ni  36  die  Notiz,  nicht  Kriton,  sondern  Aischines  habe  dem  Sokrates 
zur  Flucht  geraten,  wozu  es  auch  stimmt,  daß  Piaton  selbst  im  Phaidon 
p.  115d   den  Kriton  Bürgschaft  für  das   Verbleiben  des  Sokrates  leisten 

^)  Neuerdings  ist  versucht  worden  (E.  I  der  xaxtjyoola  2!ü)xg.  des  Polykrates  erörtert 
HoRNEFFBB,  PI.  gegen  Sokrates,  Leipz.  1904),  1  ist;  über  das  Verhältnis  zu  Xenophons  Apo- 
die  allmähliche  Abwendung  Piatons  von  der  logie  S.  479;  X.  will  offenbar  dem  tempera- 
Sokratik  im  Hipp,  min..  Lach,  und  Charm.  I  mentvollen  Überschwang  des  platonischen 
nachzuweisen.  Sehr  Beachtenswertes  bringt  1  Meisterwerks  die  nüchterne  Wirklichkeit  ent- 
dagegen  vor  H.  Gompbrz,  Arch.  f.  Gesch.  der  gegensetzen,  ähnlich  wie  er  es  in  seinem 
Philos.  19  (1906)  524  ff.,  der  für  Hipp.  min.  und  Symposion  wieder  getan  hat. 
Lach,  überhaupt  keine  Polemik  gegen  Sokr.,  |  *)  S.  618,  7.  M.  Schanz  in  seiner  Aus- 
für Charm.  höchstens  eine  gegen  den  anti-  '  gäbe  S.  100  läßt  folgen:  Apologie  des  Piaton, 
sthenischen  Sokr.  zugibt.  Apol.  des  Xenophon,  Rede  des  Polykrates, 
2)  II.  Räder  92.  '  Rede  des  Lysias.  —  Über  eine  altarmenische 
')  Die  Ungeschichtlichkeit  spricht  schon  Übersetzung  der  Ap.  F.  C.  Conybbare,  Ame- 
Aristid.  or.  49  p.  518  Dind.  aus.  Siehe  a.  rican  joum.  ofphilol.  16  (1895)  300  ff.;  auch 
K.  JoiiL,  Der  echte  und  der  xen.  Sokr.  1476  ff. ;  ins  Arabische  ist  sie  übersetzt  worden  (M. 
Th.  Gomperz.  Griech.  Denker  IP  81  ff.  Vgl.  '  Steinschneider,  Centralbl.  f.  Bibliotlieks- 
0.  S.  609.  618,   wo  auch   das  Verhältnis  zu  i   wesen  Beiheft  12,  1893,  22). 


4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  339.)  631 

läßt.^)  Der  Kriton  hat  offenbar  den  Zweck,  Zweifel  an  der  Loyalität  des 
Sokrates  (und  der  Sokratik)  dem  Staat  gegenüber  zu  zerstreuen  und  könnte 
demgemäß   nach  der  KaTrjyogia  des  Polykrates  fallen. 

XaQfiidrjg^  der  einzige  referierende  Dialog  unter  den  sokratischen, 
in  der  erotischen  Einkleidung  nahe  mit  dem  Lysis  verwandt,  behandelt  das 
Thema  der  Besonnenheit  (acoq^Qoavvrj)  und  dient  zugleich  zur  persönlichen 
Erinnerung  an  den  liebenswürdigen  Charmides  und  den  beredten  Kritias, 
mütterliche  Verwandte  des  Piaton,  die  im  Kampf  gegen  den  zurück- 
kehrenden Demos  gefallen  waren  (403),  sowie  an  den  Leiter  des  Gesprächs, 
Sokrates  selbst.  Denn  der  Dialog  beginnt  mit  der  begeisterten  Aufnahme, 
welche  der  vom  Feldzuge  gegen  Potidaia  (422)  heimkehrende  Sokrates  bei 
seinen  Freunden,  namentlich  dem  wie  verrückt  auf  ihn  loseilenden  Chaire- 
phon  fand.  Im  eigentlichen  Dialog  werden  verschiedene  Definitionen  der 
oo)(pQoavvrj  aufgestellt  und  nacheinander  zurückgewiesen;  die  letzte  und 
oberste,  daß  das  acoq)Qov€iv  auf  Wissen  beruhe  und  mit  dem  yvcb&i  aavtov 
zusammengehe,  entspricht  der  von  Xenophon  (mem.  III  9,  4)  aufgestellten 
Lehre  des  Sokrates,  aber  auch  diese  kommt  nicht  zum  Abschluß,  so  daß 
schließlich  Eritias  dem  Charmides  nur  empfiehlt,  sich  auch  femer  ganz 
der  Unterweisung  des  Sokrates  hinzugeben.*) 

Aäxrjg^)  bezweckt  ähnlich  wie  Charmides  die  Befreiung  des  So- 
krates von  der  Anklage  des  Jugendverderbs  und  Empfehlung  der  sokra- 
tischen Jugendbildung  als  einer  aller  Fachausbildung  überlegenen.  Das 
Gespräch  schließt  an  die  Schauaufführung  eines  Fechtmeisters  an,  zu 
der  Lysimachos  und  Melesias  die  Feldherm  Laches  und  Nikias  eingeladen 
hatten,  um  ihren  Rat  darüber  zu  erholen,  ob  sie  ihre  Söhne  Aristeides 
und  Thukydides  in  dieser  Kunst  sollten  unterweisen  lassen.  In  die  Be- 
ratung zieht  Laches  den  Sokrates  herein,  dessen  tapferer  Beteiligung  an 
der  Schlacht  von  Delion  (424)  mit  Ehren  gedacht  wird.  Wie  in  allen 
Xoyoi  neiQaoxixoi  werden  mehrere  Definitionen  der  ävdgeia  versucht;  auch 
die  von  Laches  aufgestellte,  die  Tapferkeit  sei  das  rechte  Wissen  vom 
Gefährlichen  und  Sicheren,  führt  zu  keinem  festen  Resultat,  so  daß  zum 
Schluß  Laches  nur  den  Rat  erteilt,  die  Söhne  dem  Sokrates  zur  Unter- 
weisung zu  übergeben.  —  Die  Jünglinge  haben  ihrem  Lehrer  keine  Ehre 
gemacht;  insbesondere  wird  Aristeides  später  von  Piaton  selbst  (Theaet. 
150e;  vgl.  Theag.  130b)  als  einer  geschildert,  an  dem  die  guten  Lehren 
keine  Früchte  getragen  haben. 

'1 71 71  lag  iXdzTcov^  einer  der  einfachsten  Dialoge  Piatons,  jedenfalls 
auch  einer  der  ältesten.*)  Seine  Echtheit  wird  angezweifelt  von  F.  Ast, 
ist  aber  durch  das  Zeugnis  des  Aristoteles  (met.  1025  a  6  flf.)  geschützt.  Das 
Gespräch  knüpft  an  einen  Vortrag  des  Sophisten  Hippias  über  Homer  an, 
indem  Sokrates  die  Frage  aufwirft,  ob  Achilleus  oder  Odysseus,  Ilias  oder 

^)  K.  Meiser  (Abhandlungen  aus    dem  '  M.  Schanz,  Jahresber.  üb.  d.  Fortschr.  d.  kl. 

Gebiet  des  kl.  Altert.,  W.  Christ  dargebr.  '  Alt. wiss.  17  (1879)  236. 

5  fF.)    schließt    daraus    die   ünechtheit    des  i  »)  Über  die  Rhythmen  im  Laches  E.  Tüb- 

Kriton;  vgl.  dagegen  R.  Hibzbl,  Der  Dialog  \  neb,  Dissert.  philol.  Halens.  16  (1907)  2. 

1  1^^^-  j  *)  Nach  der  Apologie  setzt  ihn  H.  Rädeb 

')  Die  Echtheit  des  Charmides  leugnet  i  a.  a.  0.  94  f. 


632  Griechische  litteratnrgeflchichte.    I.  Klamsche  Periode. 

Odyssee  den  Vorzug  verdiene.  Sokrates  tritt  för  Odysseus  ein,  weil  er 
mit  Wissen  lüge  {tpevdetai).  Der  Dialog  endigt  obne  Einigung  der  Sprechen- 
den, beleuchtet  aber  die  sokratische  Fragemethode  im  Gegensatz  zur  epi- 
deiktischen  Prunkrede  der  Sophisten.  Ein  ähnliches  Verhältnis  zwischen 
dem  Tun  mit  Wissen  und  Tun  ohne  Wissen  stellt  Sokrates  bei  Xenophon 
mem.  IV  2,  20  auf. 

Die  Echtheit  des  'InTiiag  juei^cov  ist  ohne  Grund  bezweifelt  worden.*) 
Die  Verspottung  des  aufgeblasenen  Sophisten  ist  köstlich,  wenn  auch  etwas 
derb.  Die  Versuche  aber,  das  Wesen  des  Schönen  zu  definieren,  zeigen 
den  Piaton  auf  dem  Weg  zur  Ideenlehre  und  zu  der  hohen,  das  Schöne 
dem  Guten  unterordnenden  sittlichen  Autfassung  des  Gorgias  und  der 
Politeia. 

7a>v,  von  ähnlicher  Art  wie  der  kleine  Hippias,  und  gleich  ihm,  aber 
mit  Unrecht,  der  ünechtheit  verdächtigt,*)  richtet  sich  gegen  die  eitle,  durch 
Ion  repräsentierte  Zunft  der  Rhapsoden,  die  ihren  Homer  auswendig  wissen 
und  pathetisch  herdeklamieren,  aber  nichts  von  seinem  tieferen  Inhalt  ver- 
stehen. Indem  aber  auch  von  dem  Dichter  nachgewiesen  wird,  daß  er 
ohne  eigentliches  Wissen,  nur  von  göttlicher  Begeisterung  ergriffen,  seine 
Gesänge  dichtet,  arbeitet  der  Dialog  der  in  dem  Phaidros  und  der  Repu- 
blik ausgeführten  Anschauung  Piatons  von  der  Inferiorität  der  Dichtkunst 
vor.^)  Die  gleiche  Anschauung  über  die  Rhapsoden  läßt  Xenophon  in 
seinem  Gastmahl  (3,  6)  den  Antisthenes  aussprechen:  ola^d  xi  ovv  S&vog 
flXi'&id)TEQOV  §a\p(pd(x)v; 

Mev^evoq  knüpft  an  die  Beratung  der  Ratsversammlung  über  die 
Wahl  eines  Redners  zu  Ehren  der  im  Krieg  Gefallenen  an,  wobei  Sokrates 
nach  kurzem  dialogischem  Vorspiel,  dem  ein  ebenso  kurzes  Nachspiel  ent- 
spricht, sich  dazu  hergibt,  das  Muster  einer  solchen  Grabrede,  die  er  von 
Aspasia  gehört  haben  will,  zum  besten  zu  geben.  Es  ist  vermutlich  eine 
Gelegenheitsschrift,  voll  übermütigen  Hohns  auf  die  gefeierten  attischen 
Musterepideiktiker,  deren  Leistungen  Piaton  ebenso  nieder  einschätzt  wie 
die  modische  Begeisterung  ihrer  Zuhörer,  ein  Satyrspiel  zu  der  erhabenen 
Tragödie  des  Gorgias.  Mit  kecken  Anachronismen*)  werden  darin  Dinge 
berührt,  die  lange  nach  Aspasias  Tod  vorgefallen  sind  und  der  unmittel- 
baren Gegenwart  angehören.  Aus  diesen  Anachronismen  erhellt,  daß  die 
Rede  nach  dem  korinthischen  Kriegt)  geschrieben  ist.  Aristoteles  kennt 
sie  bereits  und  bezieht  sich  zweimal  auf  sie  (rhet.  1367b  8  und  1415b  30), 
aber  ohne  den  Verfasser  zu  nennen.    Dionysios  der  Halikarnassier  erkennt 

ME.  HoKN£FFER.  De  Hipp.  mai.  qui  fer-  1    34  ff.  und  136  läßt  den  Ion  gegen  Anüsthe- 

tur  Piatonis,  Gott.  1895.     Die  Echtheit  ver-  I    nes'  Homerstudien  gerichtet  und  389  heraus- 

teidigen  K.  F.  Hermann,  Plat.  Philos.  487  ff.  '    gegeben  sein,  wogegen  H.  Rädeb  95  auf  die 

und  IL  Räder  102  ff.  Übereinstimmungen  des  Ion  mit  Antisthenes 

")  Die  Echtheit   ist   mit  guten  Gründen  hinweist, 

verteidigt   von   F.  DCmmler,  Antisth.  27  ff.;  <)    Sie    sind    schon    von   Aristid.  or.  46 

W.  .Ianell,  N.  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl.  26  p.  370  Dind.  bemerkt. 

(1901)  324 ff.  (gegen  C.Ritter,  Unters.  95  ff);  6)  Men.  245e.  Die  Zweifel  von  F.  Dümm- 


F.  Stäulin,  Die  Stellung  der  Poesie  in  der  plat.. 
Philos.,  2S)  ff. ;  0.  Immiscu,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt. 
3  a^m  441,  3:  H.  Räder  a.  a.  0.  92  ff. 

')  F.  Dümmler,  Antisthenica,  Kl.  Sehr.  I 


ler,  Äkademika  22  an  der  (auch  von  Aristid. 
a.  a.  0.  als  selbstverständlich  angenommenen) 
Beziehung  dieser  Stelle  auf  den  antalkidi- 
sehen  Frieden  sind  nicht  berechtigt. 


4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  340.) 


633 


sie  als  echt^)  an  und  stützt  sich  in  der  Schrift  über  die  Redegewalt  des 
Demosthenes  c.  24 — 32  hauptsächlich  auf  sie,  um  die  Inferiorität  des  Piaton 
gegenüber  Demosthenes  darzutun.  ^)  Offenkundig  sind  die  zum  Teil  polemisch- 
ironischen Anspielungen  auf  den  perikle'ischen  Epitaphios  des  Thukydides,') 
so  daß  man  daran  denken  könnte,  die  Herausgabe  des  thukydideYschen  Ge- 
schichtswerkes habe  den  Menexenos  mit  veranlaßt.  Merkwürdigerweise  ist 
seit  der  Einführung  der  jährlichen  Epitaphienfeier  in  Athen  (im  4.  Jahrhundert) 
dabei  regelmäßig  die  Rede  aus  dem  Menexenos  verlesen  worden,^)  deren 
Ironie  man  also  nicht  mehr  empfand,  wie  sie  denn  auch  von  späteren 
Rhetoren  völlig  ernsthaft  genommen  wird.^) 

340.  Größere  Dialoge  der  ersten  Gruppe,  oder  solche,  in  denen 
Piaton  über  die  einfache  sokratische  Gesprächsform  hinausgeht,  unter  der 
Maske  des  Sokrates  eigene  Gedanken  zu  entwickeln  beginnt  und  so  tiefere 
und  kunstvoller  durchgeführte  Untersuchungen  anstellt.  Von  diesen  kenn- 
zeichnen .die  einen  (Protagoras,  Gorgias,  Euthydemos,  Kratylos)  die  Stellung 
des  Sokrates  und  Piaton  gegenüber  den  „Sophisten**,  zu  denen  Sokrates  nach 
und  nach  in  Gegensatz  gestellt  wird,  die  anderen  (Menon,  Phaidros,  Lysis, 
Symposion,  Phaidon,  Theaitetos)  enthalten  die  Keime  der  neuen,  über  So- 
krates hinausgehenden  Spekulation. 

Der  FlgcDTayogag,  eiaes  der  größten  Kunstwerke  Piatons,  bildet 
gewissermaßen  den  Schlußstein  zu  den  kleinen  Gesprächen  über  die  ein- 
zelnen Tugenden  der  Tapferkeit,  Freundschaft,  Sittsamkeit,  Frömmigkeit, 
indem  er  das  Wesen  der  Tugend  und  die  Frage  ihrer  Lehrbarkeit  im  all- 
gemeinen zum  Gegenstand  hat.  Aber  nicht  bloß  durch  den  erweiterten 
Horizont  geht  der  Protagoras  über  jene  kleineren  Gespräche  hinaus,  er 
übertrifft  sie  auch  durch  den  Glanz  der  Szenerie  und  die  Feinheit  der 
Ii'onie,  mit  der  die  angesehensten  Vertreter  der  Sophistik,  Protagoras, 
Prodikos,  Hippias  charakterisiert  werden,  ß)  Das  Gespräch  ist  in  die  Zeit 
verlegt,  da  eben  Protagoras,  sei  es  nun  zum  ersten-  oder  zum  zweitenmal, 
in  Athen  angekommen  war  und  im  Haus  des  reichen  Kallias,  des  frei- 
gebigen Protektors  der  Sophisten,  sein  Absteigequartier  genommen  hatte. '^) 
Im  Eingang  erzählt  Sokrates,  wie  Hippokrates,  der  Sohn  des  ApoUodoros, 


^)  Für  die  Echtheit  spricht  sich  aus  F. 
Blass,  Att.  Bereds.  IP  464  ff.,  H.  Dibls,  Das 
dritte  Buch  der  arist.  Rhetorik,  Berl.  Ak.  Abh. 
1886,  IV  21  ff.  und  P.  Wbndland,  Die  Ten- 
denz des  platonischen  Menexenos,  Herrn.  25 
(lf<90)  171—195.  Von  einem  flüchtig  hingewor- 
fenen Scherz  Piatons  spricht  Th.  Bebok,  Griech. 
Lit  IV  460.  Einen  Dialog  Aspasia  schrieb 
Aischines. 

2)  Vergleichung  der  platonischen  und  der 
thukydidetschen  Rede  Hermog.  :i.  fie^.  deivov 
p.  446, 6  ff.  Sp.;  Synes.  Dio  p.  316, 4  ff.  (hinter 
H.  V.  Arnims  Ausg.  des  Dion).  Die  Topik 
dieser  smxdfpioi  bei  Th.  C.  Bürgbss,  Epi- 
deicUc  litterature,  Chicago  1902,  p.  146  ff. 

')  Menex.  286  b;  vgl.  die  nicht  aus  ge- 
meinsamer Topik  erklärbaren  Beziehungen 
Thuc.  II  37,  1  Menex.  238  c;  Th.  II  42  extr. 


Menex.  246  d;  Th.  II  35,  1  Menex.  248  a;  Th. 
II  44,  3  Menex.  248c;  Th.  II  42,  4  Menex. 
248  a. 

*)  Cic.  or.  151.  Die  Feier  fand  bei  der 
Akademie  statt  (Philostr.  vit.  soph.  p.  122,  32 
Kayser  und  W.  Judeich,  Topogr.  von  Athen 
364). 

*)  Diese  Auffassung  vertritt  auch  A. 
Croisbt,  M61anges  Perrot,  Paris  1903,  59  ff. 
(c'est  une  tentative  interessante  et  f^conde 
pour  donner  le  modele  d'une  forme  d'^lo- 
quence  qui,  sans  valoir  la  dialectique  aux  yeux 
du  philosophe,  püt  au  moins  dtre  tol^r^e  et 
accept^e  par  lui  comme  un  auxiliaire  utile 
dans  r^ducation  de  la  d^mocratie). 

®)  Meinardüs,  Wie  ist  Piatos  Protago- 
ras aufzufassen?    Oldenburg  1865. 

')  Perikles,  dessen  Söhne  Paralos  und 


634  Griechische  Litteratorgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 

ihn  in  aller  Frühe  abholte  und  wie  sie  dann,  im  Haus  des  Kallias  mit 
Mühe  aufgenommen,  den  Protagoras  mit  seinen  Verehrern  bereits  dort 
gravitätisch  auf-  und  abgehend  fanden.  Im  folgenden  Hauptteil  ist  es 
namentlich  darauf  abgesehen,  den  Vorzug  der  schlichten  Art  des  Sokrates, 
durch  Frage  und  Antwort  die  Menschen  zu  höheren  Stufen  des  Erkennens 
zu  führen,  vor  den  pomphaften,  langen  Reden  der  Sophisten  darzutun. 
Das  geschieht  bei  der  Besprechung  des  Satzes  von  der  Lehrbarkeit  der 
Tugend,  den  Protagoras  und  die  Tugendlehrer  seines  Schlages  in  ihren 
prahlerischen  Ankündigungen  als  zugegeben  voraussetzten,  Sokrates  aber 
als  einen  noch  kritischer  Prüfung  bedürftigen  hinstellt,  wobei  er  die  Me- 
thode der  Sophisten,  philosophische  Sätze  in  das  trügerische  Gewand  von 
Mythen  zu  kleiden  oder  durch  Stellen  von  Dichtem^)  zu  stützen,  teils  als 
nichtsbeweisend  ablehnt,  teils  für  die  gegenteilige  Meinung  verwertet.  Die 
mit  reicher  Abwechselung  und  spannenden  Wendungen  geführte  Disputation 
kommt  nicht  zum  endgültigen  Abschluß,  so  daß  schließlich  die  Beantwor- 
tung der  aufgeworfenen  Frage,  ob  die  Tugend  lehrbar  sei,  von  einer  neuen, 
vertiefteren  Untersuchung  abhängig  gemacht  wird.  Daß  damit  auf  den 
Menon  hingewiesen  werde,  wie  die  meisten  Erklärer  annehmen, 2)  ist  wahr- 
scheinlich, wenn  auch  nicht  ganz  ausgemacht,  da  auch  dort  die  Unter- 
suchung nicht  zum  endgültigen  Ziel  führt  und  erst  im  vierten  Buch  der 
Politeia  ihre  positive  Lösung  findet.  Einen  Anhaltspunkt  zur  Zeitbestim- 
mung gewährt  vielleicht  die  Erwähnung  der  Peltasten,  die  mit  der  im 
Jahr  392  durchgeführten  und  erprobten  Heeresreform  des  Iphikrates  zu- 
sammenhängen kann.  3) 

Der  Mevcov  steht  mit  dem  Gorgias  und  Protagoras  in  Zusammen- 
hang, indem  in  ihm  einerseits  gleich  im  Eingang  auf  die  einflußreiche 
Tätigkeit  des  Gorgias  in  Menons  Heimatland  Thessalien  hingewiesen, 
anderseits  die  im  Protagoras  nicht  zum  Austrag  gekommene  Frage  über 
die  Lehrbarkeit  der  Tugend  wieder  aufgenommen  wird.  Die  Erwähnung 
der  „jüngsthin"  vorgekommenen  Bereicherung  des  Thebaners  Ismenias 
durch  das  Gold  der  Perser  ergibt  kein  sicheres  Datum  als  den  terminus 
post  quem  395.*)     Im   Hintergrund  spielt  noch   der  Prozeß   des  Sokrates, 


Xanthippos  der  UnterreduDg  beiwohnen,  ist 
p.  319  e  noch  als  lebend  gedacht,  weshalb 
Chr.  Cron  in  der  Einleitung  seiner  Ausgabe 
das  Gespräch  vor  den  Ausbruch  des  Krieges 
in  das  Jahr  432  setzt.  Dazu  stimmt  aber 
nicht,  wenn  p.  327  d  die  420  aufgeführten 
"Aygioi  des  Pherekrates  im  Jahr  zuvor  gegeben 
worden  sein  sollen,  so  daß  man  um  einen 
Anachronismus  oder  um  eine  Unklarheit  in 
dem  Zeitansatz  nicht  herumkommt,  mag  man 
nun  das  Gespräch  432  oder  419  setzen.  Des 
weiteren  kommt  in  Betracht,  daß  Eupolis  in 


SusEXiHL,  Genet.  Entwickl.  der  plat.  Philos. 
I  83;  H.  Räder  130. 

«)  Vgl.  Prot.  350  a  und  Xen.  Hell.  IV  4, 
16;  die  Sache  ist  beleuchtet  von  J.  S.  Kro- 
scHBL,  Ztschr.  f.  Gymn.  11  (1857)  561  fif.  und  G. 
Teichmüllbr,  Litt.  Fehd.  I  20  ff.  W.  Christ 
(Plat.  Stud.  498)  will,  gestützt  auf  die  kunst- 
volle Anlage  des  Dialoges  und  die  Erwähnung 
des  Lakonismos  in  Prot.  342  c,  noch  unter 
das  Jahr  387  oder  den  Frieden  des  Antal- 
kidas  herabgehen.  Dagegen  wendet  sich  £. 
Zeller  IP  1,  529  f. 


den  421  aufgeführten  Kolaxe,;  fr.  10  bereits   i  -*)    Meno  p.  90a;  Xen.  Hell.  III  5,  1  und 


den  Protagoras  in  dem  Haus  des  Kallias  ver- 
kehren läßt. 

M  Über  das  simonidöische  Gedicht  Wi- 
LAMOAviTz,  Nachr.  der  Gott.  Ges.  d.  Wiss. 
1898,  204  ff. 


dazu  Menonausg.  von  G.  Stallbaum  u.  R. 
Fritzsohe.  Einl.  S.  33  A.5;  E.  Meyer,  Gesch. 
d.  Alt.  V  233  A.;  H.  RXder  136.  Das  reoyaxi 
des  platonischen  Textes  dürfte  aber  einen  Zwi- 
schenraum  von  mehreren  Jahren  nicht  aus- 


*)  K.  F.  Hermann,  Plat.  Phil.   483;  F.   |   schließen,  wenn  auch  nicht  gerade  von  zehn 


4.  Die  PhUoBophie.    c)  Piaton.    (§  340.)  635 

wobei  Anytos,  einer  der  Ankläger  und  Mitsprechenden,  so  gezeichnet  wird 
(p.  91c),  dafä  seine  Schuld  mehr  nur  als  Folge  seiner  geistigen  Beschränkt- 
heit erscheint.  Die  Untersuchung  wird,  dem  Gegenstand  und  der  Abfassungs- 
zeit entsprechend,  in  einfacher  Form  geführt  und  dreht  sich,  wie  gesagt, 
um  die  bei  den  Sophisten  viel  verhandelte  Frage,  ob  die  Tugend  lehrbar 
sei.  Das  führt  zur  Frage  nach  dem  Wesen  der  Tugend,  und  nachdem 
diese  nach  mehreren  unglücklichen  Definitionsversuchen  in  hypothetischer 
Form  auf  Wissen  zurückgeführt  ist,  zu  der  Zwischenuntersuchung,  wie  man 
denn  überhaupt  etwas  wissen  könne.  Dabei  wird  mit  einer  über  Sokrates 
hinausgehenden  Tiefe  der  Spekulation  das  Wissen  als  ein  Wiedererkennen 
{&vdfivriaig)  von  Vorstellungen  aus  früherer  Existenz  gefaßt.  Die  Haupt- 
frage kommt  wieder  nicht  zum  Austrag,  sondern  es  wird  zum  Schluß  eine 
nochmalige  Untersuchung  über  das,  was  Tugend  ist,  gefordert. 

Im  Pogylag  hat  Piaton  für  alle  Zeiten  das  Grundwerk  der  Bekämp- 
fung der  Redekunst  im  gewöhnlichen  Sinn  geschaffen.  Er  geht  mit  un- 
erbittlicher Konsequenz  der  scheinbar  harmlosen  Blüte  gorgianischer  Rhe- 
torik bis  in  ihre  tiefsten  Wurzeln  nach  und  stellt  die  wissenschaftliche 
und  sittliche  Nichtigkeit  dieser  Schein-  und  Schmeichelkunst  in  helle  Be- 
leuchtung. Das  Gespräch  zeigt  noch  die  alte  Einfachheit  sokratischer 
Dialoge  und  bewegt  sich  auch  noch  wesentlich  im  sokratischen  Gedanken- 
kreis: der  Dialog  ist  dramatisch,  und  es  beteiligt  sich  an  ihm  außer  den 
beiden  Hauptsprechem,  Sokrates  und  GorglWs,  und  deren  Sekundanten, 
Chairephon  und  Polos,  nur  noch  der  vornehme  Kallikles,  bei  dem  der  ge- 
feierte Rhetor  abgestiegen  war.  Auch  im  Inhalt  entfernt  sich  der  Dialog 
insofern  nicht  von  der  Anschauung  des  Sokrates,  als  auch  dieser  der 
Scheinweisheit  der  Rhetorik  gram  war  und  die  Beschäftigung  mit  der 
Philosophie  als  eine  würdigere  Lebensaufgabe  ansah.  Aber  auf  der  anderen 
Seite  ist  der  Gorgias  nicht  bloß  ungleich  größer  angelegt  als  die  Dialoge 
der  ersten  Periode,  sondern  zeigt  auch  in  der  dialektischen  Entwicklung 
der  Hauptsätze  eine  weit  größere  Kunst.  ^)  In  der  Definition  der  Rhetorik 
als  einer  xexvri  dtjfuovQyog  Jiei&ovg  Ttiorevuxfjg,  äXi!  ov  didaaxakix^g,  negi 
dixaiov  te  xai  ädixov,  und  in  der  Gegenüberstellung  der  wahren  Künste 
latQixtjf  yvjuvaoTixij,  vojno&enxrj,  dixaioorm]y  und  der  falschen,  den  Schein  der 
Weisheit  erheuchelnden  Künste  {xoXaxevxixai)  öxpoTiouxrj,  xo/li/ucotixi],  oocpio- 
TixYjy  §t]xoQixri  tritt  schon  mit  voller  Deutlichkeit  Piatons  eigene  Lehre 
von  den  Gegensätzen  des  Meinens  und  Wissens,  des  Scheins  und  des 
wahrhaften  Seins  hervor,   und  die  tiefsten  Fragen  des  Rechts,   der  Sitt- 


Jahren.  Ob  Menon  nach  Gorgias  oder  um- 
gekehrt geschrieben  sei,  ist  eine  alte  Streit- 
frage; Th.  Gomperz,  Gr.  Denker  II*  303,  neigt 
zu  der  ersteren  Annahme,  weil  das  mildere  Ur- 
teil nicht  bloß  über  Anytos,  sondern  auch  über 
die  alten  Lenker  des  athenischen  Staats  (Menon 
93  a  gegenüber  Gorgias  517  a)  einer  Palinodie 
gleichkomme;  ebenso,  aber  aus  anderen  Grün- 
den, H.  Räder  131  ff.  Aber  die  desul torische 
Hereinziehung  des  Anytos,  des  Sprechers  der 
polykratischen  Kaxtjyogia,  p.  89  e  ff.,  macht 
den  Eindruck  einer  ersten  gelegentlichen  Er- 


widerung auf  die  Schrift  des  Polykrates  (R. 
HiRZEL,  Rh.  Mus.  42, 1887, 239  ff.),  die  dann  im 
Gorgias  völlig,  wenngleich  ohne  Nennung, 
vernichtet  wird.  Inwiefern  der  Menon  in  der 
Politeia  vorausgesetzt  wird,  zeigt  H.  Räder 
211.  233  f.  Der  Versuch  von  A.  R.  v.  Kleb- 
mann, Arch.  f.  Gesch.  der  Philos.  21  (1908) 
50  ff.,  den  Menon  unter  das  Symp.  zu  setzen, 
ist  nicht  überzeugend. 

^)  Über  den  Gedankengang  s.  H.  Bonitz, 
Plat.  Stud.  (3.  Aufl.  Berl.  1886)  1—46.  H.  Glo- 
6AÜ,  Arch.  f.  Gesch.  d.  PhUos.  8  (1895)  153  ff. 


636  Oriechisohe  Litteratnrgeachichte.    I.  Elaasische  Periode. 

lichkeit,  des  Verhältnisses  zwischen  dem  Guten  und  dem  Schönen,  zwischen 
Natur  und  Menschensatzung  (q)voig  und  vofjiog)  werden  mit  jener  eigenartig 
platonischen  Verbindung  von  wissenschaftlichem  Ernst  und  lebendiger 
Gefühlswärme  erörtert.  Zum  Schluß  steigt  die  Darstellung  nach  düsteren 
Vorausdeutungen  auf  Sokrates'  tragisches  Ende  (512  d — 522  c)  aus  der  nüch- 
ternen Sphäre  der  Dialektik  empor  zu  der  freien  Höhe  dichterischer  Ver- 
anschaulichung in  einem  eschatolo^schen  Mythus.  Die  Charaktere  sind  mit 
größter  Feinheit  gezeichnet:  der  Ästhet  Gorgias,  der  nicht  die  dialektische 
Schärfe  und  Gründlichkeit  hat,  seine  eigenen  Anschauungen  in  ihre  ethi- 
schen Konsequenzen  zu  verfolgen,  wird  von  Piaton  als  alter  Herr  ein- 
geführt und  mit  ritterlicher  Schonung  aus  äußerem  Grund  von  der  Aktion 
beurlaubt,  sobald  der  Prinzipienkampf  heftiger  wird.  Seine  Schüler  Polos 
und  Kallikles,^)  von  denen  der  zweite  ein  unübertrefflicher  Typus  der 
Übermenschenmoral  ist,  lösen  ihn  ab  und  veranschaulichen,  wie  die  Saat, 
die  Gorgias  ausgestreut  hat,  in  der  jüngeren  Generation  aufgegangen  ist. 
Kein  anderer  Dialog  Piatons  erscheint  geeigneter,  die  Jugend  auf  die 
höchste  Stufe  sittlicher  Betrachtung  zu  führen,  die  im  heidnischen  Alter- 
tum überhaupt  erreicht  ist  und  sie  über  Grundfragen  des  Lebens  aufeu- 
klären,  die  heute  und  immer  aktuell  sind.  Er  sollte  in  allen  humanisti- 
schen Schulen  gelesen  werden.  In  den  Dialog  ist  die  der  traditionellen 
Legende  kühn  ins  Gesicht  S9hlagende  heftige  Verurteilung  der  gefeierten 
athenischen  Staatsmänner  Themistokles,  Kimon,  Miltiades,  Perikles  ein- 
geflochten (c.  58);  auch  sie,  die  KaUikles  als  Vertreter  einer  heilsamen 
Wirkung  der  Redekunst  zitiert,  werden  als  Schmeichler  und  Verführer  des 
Volkes  hingestellt;  in  der  schroffen  Verwerfung  der  ganzen  attischen 
Demokratie  zittert  noch  mächtig  die  zornige  Entrüstung  über  die  un- 
gerechte Verurteilung  des  Sokrates  und  die  Verteidiger  des  Justizmordes 
nach.*)  Das  hat  zu  der  Vermutung  geführt,  daß  der  Dialog  nicht  allzu- 
lang nach  Sokrates'  Tod  geschrieben  sei.^)  Hindeutungen  auf  die  Abfas- 
sungszeit nach  394  kann  man  in  p.  469  e,  wo  die  Wiederherstellung  der 
athenischen  Seemacht  vorausgesetzt  zu  werden  scheint,  und  in  den  an- 
preisenden Worten  finden,  mit  denen  Isokrates  in  seiner  um  390  geschriebenen 
Rede  gegen  die  Sophisten  §  17  ^xavxa  dk  jioUfjg  IrnjueXelag  dela^ai  xal  tpvxrjg 
Avdgixfjg  xal  do^aorixfjg  egyov  ehai'  auf  den  Satz  des  Piaton  im  Gorgias 
p.  463  a  ^'doxei  xoivvv  juoi,  w  Pogyla,  elvai  u  ijiirrjdevfJLa  xexvocbv  juiv  ov, 
^w'/fig  de  oxoxaoxixfjg  xal  ävdgeiag  xal  cpvoei  deivijg  TigooojudeTv  xoig  äv&gcojtoig' 
Bezug  nimmt.*)  Die  nächste  Veranlassung  wird  die  Zatxgdxovg  xaxrjyogia 
des  Polykrates  oder  eine  an  diese  anschließende  antisokratische  Bewegung 


*)  I.  Brüns,  Das  litt.  Porträt  68  f.  |  Menon  nach  dem  Gorgias.    Ohne  den  Menon 

*)  Siehe  besonders  .521  c  ff.  |  hereinzuziehen,  erweist  S.  Sabbadini,  Epoca 

'»)Vgl.WiLAMOwiTZ,Philol.Unter8.I(1880)  '  del  Gorgia  di  Piatone,  Trieste  1903,  daß  Gor- 

213  ff.    P.  Natorp,  Arch.  f.  Gesch.  d.  Phil.  2  gias  nach  dem  Protagoras  und  vor  der  ersten 


( 1 889)  394  ff.  sucht  zu  erweisen,  daß  der  Gorgias 
zwischen  Protagoras,  Laches,  Charmides, 
Menon  auf  der  einen  und  Phaidros,  Theaite- 
tos  auf  der  anderen  Seite  zu  setzen  ist.  Um- 
gekehit  setzt  Th.  Gomperz,  Plat.  Aufs,  in 
Wiener  Ak.  Sitz.ber.  114  (1887)  741  ff.   den 


Reise  nach  Sizilien,  wahrscheinlich  noch  vor 
390  falle.    Siehe  a.  H.  Räder  a.  a.  0.  123. 

*)  Diese  Anspielung  wurde  bereits  er- 
kannt von  J.  Bake,  Scholica  hypomnemata 
(Leiden  1837—1862)  II  38;  weiter  veifolgt 
von    S.   Sudhaus,   Zur  Zeitbestimmung  des 


4.  Die  PhUoBophie.    c)  Piaton.    (§  340.)  637 

in  den  athenischen  Rhetorenkreisen  gegeben  haben. i)  In  der  Polemik 
über  die  Bedeutung  der  Redekunst  bildet  der  Dialog  einen  Eckstein.^) 
Diese  Polemik  ist  schon  in  hellenistischer  Zeit  auf  die  Formel  Piaton 
contra  Demosthenes  gebracht  worden.  Ihr  größtes  Monument  von  rhetori- 
scher Seite  bilden  die  zwei  langen  Reden  des  Rhetors  Aristides  in  der  Zeit 
der  Antonine  gegen  Piaton  (45.  46);  die  zweite  von  diesen  ist  eine  Wider- 
legung des  Gorgias,^)  in  der  es  ausdrücklich  heißt,  daß  viele  diesen  Dialog 
allen  anderen  vorzogen. 

Ev&v(pQ(ov  fallt,  was  die  Abfassungszeit  anbelangt,  nach  Apologie 
und  Kriton,  der  Einkleidung  nach  vor  sie.*)  Die  Szene  spielt  sich  nämlich 
ab  vor  der  Halle  des  Archen  Basileus,  wo  Sokrates,  im  Begriff  sich  vor  dem 
Archen  zu  verteidigen,  mit  dem  Wahrsager  Euthyphron  zusammentrifft, 
der  dort  eine  Klage  gegen  seinen  eigenen  Vater  wegen  Tötung  eines  Tag- 
löhners  anbringen  will  Das  führt  zur  Erörterung  des  Begriffes  der  Fröm- 
migkeit {evoeßeia)^  wobei  Euthyphron  der  unklaren  Vorstellung  von  dem, 
was  fromm  und  gottgefällig  {Soiov  xal  evoeßeg)  ist,  überführt  wird.  Der 
Dialog  endet  ohne  positives  Ergebnis.  Er  ist  von  den  Grammatikern  an 
die  Spitze  der  Tetralogie  Euthyphron,  Apologie,  Kriton,  Phaidon  gestellt 
worden,  weil  er  das  tragische  Drama  vom  Tod  des  Sokrates  eröffnet  und 
weil  der  Erörterung  des  Göttlichen  die  erste  Stelle  zu  gebühren  schien.^) 

Der  Ev&vdrjjuog  ist  eine  ergötzliche  Satire  auf  die  dialektische 
Klopffechterei  zweier  uns  unbekannten,  aber  wohl  geschichtlichen  „Eri- 
stiker*",  Euthydemos  und  Dionysodoros;  in  ihnen  gibt  Piaton  eine  burleske 
Karikatur  der  Übertreibung  sokratischer  Methode.  Daß  damit  eigentlich 
Antisthenes  getroffen  werde,  ist  jetzt  allgemein  angenommen. ß)  Trefflich 
ist  die  Unwahrhaftigkeit  jener  Eristiker  gezeichnet,  denen  nichts  an  der 
Ermittelung  der  Wahrheit  gelegen  ist,  die  vielmehr  nur  mit  ihren  Sophismen 
die  Zuhörer  verblüffen  und  zum  Beifall  für  ihre  Taschenspielerkünste  hin- 
reißen wollen,  im  Grund  genommen  aber  nicht  besser  sind  als  die  sophi- 
stischen Epideiktiker  mit  ihren  langen  Reden.  Die  Einkleidung  des  Dia- 
loges ist  ähnlich  wie  die  von  Protagoras  und  Symposion;  Sokrates  erzählt 

Euihyd.,  des  Gorg.  u.  derRepubl.,  Rh.  Mus.  44  Progr.  Regensburg  N.  G.  1901  sucht,  im  An- 
(1889)  52  ff.,  der  des  weiteren  nachzuweisen      Schluß   an  F.  Schleiermacher  und  E.  Zeller, 


sucht,  daß  Isokrates  im  Nikokles  (3,  2)  auf 
die  Vorwürfe  Piatons  antworte,  weshalb  er 
den  Gorgias  bis  376  herabrücken  will,  wo- 
gegen überzeugend  opponiert  F.  Dühxleb, 
Kl.  Sehr.  1  79  ff.  Siehe  a.  H.  RXdbr  124,  der 
Gorg.  463  a  als  Anspielung  auf  die  ältere 
Sophistenrede  des  Isokrates  versteht. 

*)  Umgekehrt,  aber  schwerlich  richtig, 
faßt  WiLAMOwiTZ,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1899, 
781  die  Schrift  des  Polykrates  als  Antwort 
auf  den  Gorgias.  —  Die  Politeia  klingt  mehr- 
fach an  den  Gorg.  an  (H.  Räder  204  f.). 

»)  W.  Kroll,  Rh.  Mus.  58  (1903j  579. 

»)  W.  SoHMiD.  Atticism.  II  3  ff.  und  in 
der  Realenz.  II 888,  49  ff.;  0.  Immisch,  Philol. 
65  (1906)  8 f.;  vgl.  auch  Liban.  T.  in 347, 19R. 
und  Procl.  ad  Plat.  Tim.  I  121,  7  Diehl 
(gegen  Aristid.  or.  48). 

*)  K.  Meiser,  Über  Piatons  Euthyphron, 


nachzuweisen,  daß  der  Dialog  noch  vor  der 
Verurteilung  des  Sokrates  geschrieben  sei. 
In  jenen  Zeitpunkt  ist  aber  nur  die  Szene 
verlegt. 

*)  Vgl.  Xen.  mem.  IV  6,  2 :  jtocörov  dk 
jtKoi  evoeßeiag  wdi  jrw?  eoxonn.  Die  Frage, 
ob  man  auch  einen  Verwandten,  wenn  er  Un- 
recht tue,  anklagen  müsse,  wird  berührt  in 
Gorgias  480  c  und  507  d  wie  im  Euthyphron, 
was  auf  etwa  gleiche  Abfassungszeit  beider 
Dialoge  zurückgeführt  werden  könnte.  Die 
Einreihung  nach  dem  Gorgias  und  Protagoras 
ist  von  Th.  Gomperz,  Griech.  Denker  IP  289  ff., 
und  H.  Räder  127  ff.  sehr  einleuchtend  ge- 
macht. 

®)  Siehe  besonders  K.  JofiL,  Der  echte 
und  der  xenoph.  Sokr.  I  372  ff.  Nach  H.  Rä- 
der a.  a.  0.  141  f.  mischt  Piaton  in  das  Bild 
des  Antisthenes  auch  Züge  des  Protagoras. 


638  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Elaasische  Periode. 

dem  Kriton  die  gestrige  Disputation  der  Eristiker  und  des  jungen  Kleinias, 
den  jene,  mochte  er  das  eine  oder  das  andere  sagen,  in  die  Enge  trieben, 
wieder.  Der  Schluß  enthält  einen  Hieb  auf  einen  nicht  mit  Namen  ge- 
nannten Sophisten,  der  sich  verächtlich  nicht  bloß  über  die  Eristik,  son- 
dern über  alle  Dialektik  geäußert  hatte,  in  der  Tat  aber  hinter  beiden, 
dem  rechten  Staatsmann  und  dem  rechten  Philosophen,  zurücksteht. ')  Auf 
solche  Weise  wird  von  Piaton  in  diesem  Dialog  der  Beruf  der  Philosophie, 
die  wahre  Bildnerin  des  Menschen  zu  sein,  nach  zwei  Seiten  hin  ver- 
teidigt, auf  der  einen  Seite  gegen  die  Eristiker,  die  sich  durch  dialektische 
Haarspaltereien  lächerlich  machten,  auf  der  anderen  Seite  gegen  die  Rhe- 
toren,  die  sich  den  Namen  von  Philosophen  anmaßten,  aber  über  philo- 
sophische Allgemeinheiten  nicht  hinauskamen.') 

Der  KgaTvkog,  benannt  nach  dem  Hauptsprecher,  einem  Schüler  des 
Herakleitos,  ist  in  Anlage  und  Tendenz  dem  Euthydemos  auf  das  nächste 
verwandt.  8)  Er  bekämpft  den  Nominalismus  des  Antisthenes  ebenso  wie 
den  Relativismus  des  Protagoras  und  zeigt  auf  die  Ideenlehre  hin.  Er 
behandelt  eine  schon  den  älteren  Sophisten  geläufige  Frage :  ob  die  Sprache 
ein  Produkt  der  Natur  oder  der  Satzung  (q)vaig  oder  &eaig)  sei.  Kratylos 
vertritt  die  Ansicht,  sie  sei  Naturprodukt*)  und  sucht  in  der  Voraus- 
setzung, daß  die  Worte  der  naturgemäße  und  notwendige  Ausdruck  der 
Sachen,  also  die  Etymologie  der  Weg  zum  Sachwissen  sei,  die  Lehre 
seines  Meisters  an  der  Hand  sprachlicher  Etymologien  zu  begründen. 
Das  letzte  wird  entschieden  zurückgewiesen  und  zugleich  angedeutet,  wie 
die  Lehre  vom  ewigen  Fluß  der  Dinge  die  Möglichkeit  des  Erkennens 
{yvd>aig),  das  auf  das  Ständige  und  Bleibende  gerichtet  sei,  ausschließe. 
Im  übrigen  hat  der  Dialog  für  uns  eine  besondere  Bedeutung  als  der  erste 
erhaltene  Versuch  einer  Sprachphilosophie.  Etymologien,  wie  ^edg  djio  xov 
'ßeiv,^)  tjXiog,  dorisch  ähog,  djid  rov  äXlCeiv  sind  auch  in  der  Worterklärung  des 
späteren  Altertums  keineswegs  überwunden  worden.  0)  —  Für  die  Bestim- 
mung der  Abfassungszeit  ist  es  nicht  von  entscheidender  Bedeutung,  daß 
Piaton  im  Phaidon  p.  80 d  "Aidrjg  nach  der  gewöhnlichen  Etymologie  mit 
äeidijg  Tojiog  ,unsichtbarer  Raum*  erklärt,  im  Kratylos  hingegen  p.  404  b 
"Aid7]g  djTÖ  rov  ndvxa  xä  xaXä  eldevai  {''Aidrjg  =  ä-ecdi^g)  ableitet,  unter  aus- 
drücklicher Ablehnung  der  Etymologie   djid  rou  decdovg.'^)     Sicher  ist   die 


*)  Gegen  die  seit  L.  Spengel  übliche  An- 
nahme, daS  Isokrates  gemeint  sei,  s.  o.  S.  532  f. 

*)  Wegen  einiger  vermeintlichen  Schwä- 
chen des  Dialoges  sind  Chr.  Cron  (Zu  Pia- 
tons Euthydemos,  Bavr.  Ak.  Sitz.ber.  1891, 
556  ff.)  und  K.  Lüddbcke  (Zur  Frage  d.  Echt- 
heit u.  Abfassungszeit  d.  Euthyd.,  Progr.  Celle 
1897)  geneigt,  dieses  geistreiche  philosophi- 
sche Satyrdrama  dem  Piaton  abzusprechen  u. 
einem  nachahmenden  Schüler,  etwa  dem  Speu- 
sippos  zuzuschreiben.  Analyse  von  H.  Bonitz, 
Piaton.  Stud.»  93  ff.  Über  die  relative  Zeit- 
bestimmung des  Euthyd.  (nach  Euthyphr. 
Gorg.  Men.)  H.  Räder  a.  a.  0.  146. 

3)  H.  Räder  a.  a.  0.  146  ff. 


klos  im  Kommentar  zum  Kratylos  p.  6  ed. 
Boiss.  anführt.  Näheres  über  den  Streit  gibt 
Th.  Gomperz,  Griech.  Denker  I«  318  ff. 

*)  Über  diese  Etymologie,  die  schon  Em- 
pedocl.  fr.  134, 6  Diels  vorschwebt,  s.  A.Wikdk- 
MANN  zu  Herodot.  11  p.  237. 

*)  J.  Deüsohle.  Die  platonische  Sprach- 
philosophie, Marburg  1852;  H.  Stehtthal, 
Gesch.  der  Sprachwissenschaft  I*  (Berl.  1890j 
S.  41  ff.  79  ff;  Th.  Benfey,  Über  die  Aufgabe 
des  plat.  Dial.  Kratylos,  Gott.  Ges.  d.  Wiss. 
AbhdI.  12  (1866)  189  ff. ;  P.  Rosenstook,  Piatos 
Kratylos  und  die  Sprachphilosophie  der  Neu- 
zeit, Progr.  Straßburg  in  Westpr.  1893. 

')  H.  ÜSENER,  Nachr.  d.  Gott.  Ges.  1892 


*)  Als  Urheber   der   Gegentheorie    wird   '   S.  46,    setzt   mittelst  dieses    Indiciums    den 
Demokritos  genannt,  dessen  Argumente  Pro-   ,   Krat.  nach  Phaidon.    Daß  der  Kratylos  erst 


4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  840.)  639 

Abfassung  vor  dem  Theaitetos,  wahrscheinlich  die  nach  dem  Euthy- 
demos. 

Avaig  ist  nach  einer  wertlosen  Überlieferung  bei  Diog.  L.  in  35  noch 
zu  Sokrates'  Lebzeiten  geschrieben,  gehört  aber  seinem  Inhalt  nach  auf 
die  Grenze  zu  der  zweiten  Gruppe,  in  die  Nähe  des  Symposion.»)  Der 
Dialog,  voll  jugendlicher  Schönheit  und  mit  reichem  mimischem  Beiwerk, 
spielt  in  einer  Palästra  und  handelt,  an  die  Liebe  des  Hippothales  zu  dem 
schönen  Lysis  anknüpfend,  von  der  Freundschaft  {negl  (pdiag),  oder  ge- 
nauer von  der  Art,  wie  man  mit  seinem  Liebling  (jiaidixd)  umgehen  soll, 
um  seine  Liebe  zu  gewinnen  und  ihn  zugleich  sittlich  zu  veredeln.  In 
echt  sokratischer  Weise  endet  das  Gespräch  so,  daß  Lysis  und  Menexenos 
von  ihren  Pädagogen  abgerufen  werden,  noch  ehe  der  Begriff  der  (fuXia 
festgestellt  ist.  Die  Liebe  war  bei  Sokrates  und  Piaton,  die  mit  ihren 
Schülern  durch  das  Band  inniger  Freundschaft  und  Liebe  sich  verbunden 
fühlten,  ein  Lieblingsthema,  auf  das  Piaton  nochmals  im  Phaidros  und  im 
Symposion  zurückkam  und  das  Sokrates  auch  bei  Xenophon  mem.  11  6  mit 
Kritobulos  bespricht.*) 

Das  Zvfinooiov  ist  unter  Piatons  Werken  die  blühendste  und  farben- 
reichste Dichtung,  schon  bei  den  Alten  von  denen,  die  Piaton  mehr  seiner 
Kunst  als  seiner  philosophischen  Lehre  wegen  lasen,  vor  allen  anderen 
Werken  bevorzugt.^)  Das  Gastmahl,  über  das  ApoUodoros,  der  selbst 
wieder  von  Aristodemos  Kunde  erhalten  hatte,  seinen  Freunden  berichtet, 
hatte  der  Tragiker  Agathen  zu  Ehren  seines  dramatischen  Sieges  im 
Jahr  416  gegeben.  Eingeladen  war  dazu  eine  bunte  Gesellschaft;  außer 
Sokrates,  der  noch  den  Aristodemos  mitgebracht  hatte,  Phaidros,  Pausanias, 
der  Arzt  Eryximachos,*)  der  Dichter  Aristophanes.  Als  Thema  der  Tisch- 
reden wird  auf  Phaidros'  Vorschlag  der  Eros  gewählt.*)  Piatons  Kunst 
zeigt  sich  in  der  Art,  wie  er  das  Thema  von  den  einzelnen  Tischgenossen 
entsprechend  ihrem  verschiedenen  Charakter  anfassen  und  nach  und  nach 
zu  immer  höheren  Zielen  führen  läßt.  Durch  diese  Formgebung  mit  einer 
Reihe  zusammenhängender  Reden,  die  Piaton  sonst  nirgends  hat,  wird  der 
Gegenstand  auf  das  anregendste  von  allen  Seiten  beleuchtet  und  in  wunder- 
voller Ökonomie  und  reicher  Abwechslung  von  Stufe  zu  Stufe  die  Betrach- 
tung vertieft.  Schon  in  der  zweiten  Rede  (Pausanias)  ist  der  Standpunkt 
erreicht,  in  dem  das  xenophontische  Symposion  (mit  der  Rede  des  So- 
krates) gipfelt.  Am  genialsten  ist  die  Rede  des  Aristophanes,  der  in  einem 
geistreich  erfundenen  Mythus  die  Liebe   als   das  Suchen   der  einen  Hälfte 

nach  dem  Frieden  des  Antalkidas  geschrieben  |           *)  Zeugnisse  in  der  Ausgabe  von  0.  Jahn  ; 

sei,   ist  ein  ganz  unsicherer  Schluß  von  F.  I   s.  besonders  die  überströmende  Bewunderung 

DüMMLER,  Kl.  Sehr.  I  138,  wud  aber  an  sich  Plutarchs  quaest  conv.  VII  7  p.  710  c. 

richtig  sein.  *)  Nach  0.  Apelt,  N.  Jahrb.  f.  kl.  Alt. 

»)  H.  Räder  a.  a.  0.  158  ff.  |    19(1907)252,  1  ein  komischer  redender  Name 


«)  In  Vol.Hercul.  coli,  alt  VI  112  u.  96  bis 
105  finden  sich  Reste  von  den  Schriften  des 
Epikureers  Kolotes  -t^oc  tov  IlXdtcovog  Avatv 
und  .Toos  Toy  JlkaTcovog  Ev&vdfjfioVj  die  von 


„SchluGksenbekämpfer  "^ . 

^)  Das  Thema  war  offenbar  damals  be- 
liebt; auch  im  Phaidros  hat  es  Piaton  be- 
rührt, ähnlich  Isokrates  in  seiner  Helena  mit 


W.  Crönert,  Kolotes  u.  Menedemos  (Stud.  z.  dem  Lob  der  Schönheit,  fgcotixoi  Xoyoi  gab 
Palaeogr.  u.  Papyrusk.  VI,  Leipz.  1906,  4  ff.  es  von  Antisthenes.  Aischines  dem  Sokratiker, 
163  ff.)  neu  herausgegeben  sind.  Pausanias,  Simmias,  Eukleides. 


640  Orieohiflche  Litteratargeschichte.    I.  ElassiBche  Periode. 

des  ehemals  vereinten,  aber  von  Gott  auseinandergeschnittenen  Urmenschen 
nach  seiner  anderen  Hälfte  hinstellt.  Die  letzte  Steigerung  wird  mit  gutem 
Bedacht  gegensätzlich  vorbereitet  durch  die  inhaltlich  weit  unbedeutendere, 
von  gorgianischem  Figurenwerk  klingelnde  Rede  des  Agathen,  die  der  des 
Aristophanes  folgt.  Den  Schluß  bildet  die  Auseinandersetzung  des  Sokrates, 
der,  von  einer  Kritik  der  Ansicht  Agathons  ausgehend,  seiner  Rede  die 
Form  einer  Unterredung  mit  der  weisen  Mantineerin  Diotima  gibt  und  in 
ihr  die  Liebe  als  den  Trieb  nach  Unsterblichkeit  faßt,  der  den  Leib  der 
Frauen  mit  Kindersamen  und  die  Seele  edler  Jünglinge  mit  Weisheit  und 
Tugend  befruchte.  Mehr  und  mehr  wird  der  Begriff  der  Schönheit  von 
seinen  individuellen  Schranken  befreit  und  dem  egoistischen  Genußverlangen 
entrückt.  So  ist  in  mächtigem  Gedankenschwung  das  Sinnlichste  mit  dem 
Geistigsten  zusammengebunden,  der  Aufgabe  des  Erziehers  die  Richtung 
auf  das  Höchste  gegeben  und  zugleich  alle  banausische  Enge  wie  alle 
verstandesmäßige  Kälte  genommen:  Lehrer  und  Schüler  sollen  sich  in 
gemeinsamem  Streben  nach  Vervollkommnung  liebend  fördern.  Das  drama- 
tische Leben,  von  dem  der  ganze  Dialog  sprüht,  erreicht,  nachdem  der 
Höhepunkt  der  philosophischen  Erörterung  schon  überschritten  ist,  nach 
der  äußeren  Seite  die  höchste  Steigerung  in  der  Szene  gegen  das  Ende 
hin,  die  A.  Feuerbach  zum  Gegenstand  seines  berühmten  Gemäldes  ge- 
macht hat:  eben  ist  Sokrates  mit  seiner  Rede  zu  Ende,  da  kommt  Alki- 
biades  halbberauscht  herein  und  hält,  von  den  Tischgenossen  aufgefordert, 
eine  Lobrede  auf  Sokrates,  die  von  leidenschaftlicher  Begeisterung  für  den 
geliebten  Meister  überströmt  und  die  Person  des  Sokrates  selbst  in  eine 
Sphäre  übersinnlicher  Reinheit  und  übermenschlicher  Selbstbeherrschung 
hinaufhebt.  Auch  der  Schluß  dient  noch  dazu,  den  Sokrates  in  seiner 
sittlichen  und  damit  auch  physischen  Überlegenheit  halb  humoristisch  zu 
beleuchten:  eine  neue  Schar  von  Nachtschwärmern  war  eingedrungen; 
über  dem  wüsten  Zechen  schlichen  die  einen  davon,  die  andern  nickten 
ein,  unter  ihnen  der  Erzähler  des  Dialoges,  Aristodemos;  als  der  beim 
Krähen  der  Hähne  in  der  Frühe  erwacht,  sieht  er  den  Sokrates  noch 
ganz  geistesfrisch  mit  den  beiden  Dichtern  Agathen  und  Aristophanes  aus 
einem  großen  Humpen  zechen  und  über  das  Thema,  daß  der  rechte  Dichter 
sich  zugleich  auf  die  Tragödie  und  die  Komödie  verstehen  müsse,  eifrig 
disputieren.  —  Für  die  Abfassungszeit  des  Dialogs  liegt  ein  Anzeichen  in 
der  Anspielung  auf  die  Zerteilung  der  Stadtgemeinde  von  Mantineia  in 
vier  Landgemeinden  p.  193a;  danach  ist  er  im  Jahre  385  oder  bald  nach- 
her abgefaßt.*)  Aus  der  Stelle  am  Ende  des  Symposion  rov  avrov  dv- 
dgog  elvai  xcojbuodiav  xal  rgaycodiav  imazaa&ai  ttoieXv  läßt  sich  kein  sicherer 
Schluß  in  dem  Sinn  ziehen,  daß  der  Phaidon  vor  dem  Symposion  ge- 
schrieben  sei.  2)  —  Den   charakteristischen   Gedankenfortschritt  des   Sym- 


M  Vgl.  Xenoph.  Hell.  V  2.  Der  Ana- 
chronismus ist  von  Ael.  Aristides  or.  46 
p.  371  DiND..  47  p.  435  notiert.  Ohne  Grand 
will  WiLAMOwiTz   die  Bezugnahme   auf  den 


418    beziehen.      Über    das  Verhältnis    zum 
xenophontischen  Symposion  S.  484. 

2)  0.  Immisch/N.  Jahrb.  f. kl.  Alt.  3  (1899) 
623,  1  bezieht  nach  anderen  (H.  Räder  169) 


fiioixioiuk  a.  385  (Herrn.  32,  1897,  102  und  die  Stelle  auf  den  Phaidon;  s.  a.  F.  Stählin, 
Textgesch.  der  griech.  Lyr.  103,  1)  in  Abrede  |  Die  Stellung  der  Poesie  in  der  piaton.  Philos. 
stellen  (s.  H.  Räder  167)  und  die  Stelle  auf  |   66  ff.  und  U.  Fiksler,  Piaton  und  die  aristot^ 


4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  341.)  641 

posion  findet  H.  Räder  (S.  166  flf.)  darin,  daß  hier  zuerst  die  volle  Trans- 
szendenz  der  Ideen  angenommen  und  das  Verhältnis  der  Erscheinungswelt 
zu  ihnen  als  ein  jueiexeiv  (p.  211b)  aufgefaßt  werde.  Darum  sei  das  Sym- 
posion nach  Kratylos  und  Lysis  zu  setzen. 

0aidcov  wurde  von  Thrasyllos  mit  Euthyphron,  Apologie,  Kriton 
zu  einer  Tetralogie  verbunden,  weil  er  die  Erzählung  von  den  letzten 
Stunden  des  Sokrates  enthält;  der  Dialog  ist  aber  offenbar,  wie  die 
kunstvolle  Einkleidung,  die  voll  ausgebildete  Ideen-  und  ünsterblich- 
keitslehre  und  der  Einfluß  pythagoreischer  Philosophie  zeigt,  geraume  Zeit 
nach  jenen  Erstlingsarbeiten  verfaßt.^)  Der  Dialog,  in  dem  zum  ersten- 
mal der  Dualismus  von  Piatons  Anschauung  in  der  starken  Antithese  von 
Körper  und  Seele  scharf  hervortritt,  ist  das  Ergreifendste,  was  Piaton 
geschrieben  hat,  und  der  Schluß  sollte  auch  von  denen  gelesen  werden, 
die  der  philosophischen  Spekulation  abgeneigt  sind  und  die  Unzulänglich- 
keit der  vorgebrachten  ünsterblichkeitsbeweise  kennen.*)  Das  würdige 
Thema  des  Gesprächs  von  Sokrates'  letzten  Stunden  bildet  nämlich  die 
Unsterblichkeit  der  Seele,  deren  Annahme  mit  der  Ideenlehre  Piatons  und 
mit  der  bereits  im  Menon  ausgesprochenen  Auffassung,  daß  das  Erkennen 
ein  Rückerinnern  an  früheres  Wissen  oder  Schauen  {ävdjLivrjoig)  in  einer 
Präexistenz  der  Seele  sei,  aufs  engste  zusammenhängt;  außerdem  nimmt 
der  Philosoph  in  der  Beweisführung  auf  die  pythagoreische  Lehre  von  der 
Seele  als  Harmonie,  die  er  auf  seiner  sizilischen  Reise  kennen  zu  lernen 
Gelegenheit  gehabt  hatte  und  in  dem  Dialog  durch  Simmias  vertreten  läßt, 
ausdrücklich  Bezug,  wenn  er  ihr  auch  keine  Beweiskraft  beilegt.*)  In  einen 
weihevollen  eschatologischen  Mythus*)  klingen  die  Reden  des  Sokrates  aus. 
Trotz  der  Abstraktheit  der  Beweise  drang  der  herrliche  Dialog  so  sehr  in 
weite  Kreise,  daß  der  Komiker  Theopompos  auf  der  Bühne  in  seinem 
'Hdvx<igf]g  eine  Anspielung  auf  ihn  machen  konnte. ß)  Nach  dem  Epigramm 
des  KaUimachos  Anth.  Pal. VE  471  (vgl.  Cic.  Tusc.  I  83  f.)  weihte  sich  Kleom- 
brotos  aus  Ambrakia  mit  dem  Ausruf  ''HXie  x^'^Q^  ^^^  Tod,  nachdem  er 
den  Dialog  gelesen  hatte.  0) 

341.  Die  Dialoge,  welche  die  Entwicklung  der  ersten  Periode 
Piatons  abschließen  (Politeia)  und  zur  letzten  überleiten  (Phaidros, 
Theaitetos).   Die  Abneigung  Piatons,  mit  den  herkömmlichen  Einrichtungen 

Poetik  204  ff.    H.  Rädeb  S.  167  versteht  die      möchten,  haben  vergessen  oder  nie  gewußt, 


Stelle  dahin.  Piaton  spreche  hier,  da  kein 
Grieche  Tragödien  und  Komödien  habe  schrei- 
ben können,  den  Dichtem  künstlerische  Ein- 


weiche anregende  Kraft  in  diesem  Schau- 
spiel des  Hingens  um  den  rationalen  Be- 
weis für  ein  ethisches  Postulat  gerade  auch 


sieht  überhaupt  ab.  —  A.  v.  Eleemann,  Das  1   für  die  Jugend  liegt,  und  sollten  sich  wenig- 

Problem  d.  plat.  Symposion,  Progr.Wien  1906.  stens  bemühen,  den  Phaidon  als  eine  wichtige 

^)  Eine  Rückbeziehung  auf  den  Phaidon  1   Durchgangsstufe    in   Piatons  geistiger   Ent- 
enthält die  Republik  p.  608  f.,  611b  und  612  a,  I   wicklune  ihren  Schülern  nahe  zu  bringen, 
worüber  H.  Siebeck,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  131  «)  über  die  Seelenlehre  im  Ph.  E.  Prüm, 
(1885)  227;   umgekehrt  geht  Phaed.  72  e  auf  Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.  21  (1908)  30  ff. 
den  Menon  zurück.    Über  das  Verhältnis  zum  ^)  Über  die  Korrektur  des  Phaidonmythus 
Kratylos  s.  S.  638.  in  reip.  X  H.  Räder  242. 

'^)  Die  Pedanten,   die,   von   anderen  be-  |           *)  Die  Verse,  erhalten  bei  Diog.  L.  III  26, 

lehrt    (siehe   übrigens  Piaton   selbst  Phaed.  |   beziehen  sich  auf  Phaed.  p.  96  e. 

107 ab),  über  diese  Beweise  die  Nase  rümpfen  I           *)  Die  Stellung  des  Phaidon  nach  Symp. 

und   den  Phaidon  aus  der  Schule  verweisen  ist  von  U.  Räder  178  wahrscheinlich  gemacht. 

Handbuch  der  klass.  AltertmuBwissenschaft.    VII.  5.  Aufl.                                                      41 


642  Orieohische  Litteraturgeschichte.    I.  Ela4SMriBche  Periode. 

und  Anschauungen  Kompromisse  zu  schließen,  hat  hier  ihren  Höhepunkt 
erreicht  und  drängt  ihn  zu  dem  großartigen  Entwurf  eines  Idealstaates, 
der  eine  Verkörperung  der  Gerechtigkeit  darstellen  soU. 

Die  TIoXiTEia^)  umfaßt  zehn  Bücher,  eine  Bucheinteilung,  die  viel- 
fach verkehrt  und  geradezu  sinnwidrig  ist,*)  also  nicht  vom  Verfasser 
selbst  herrühren  kann.  Das  Werk  hat  die  Form  eines  Gesprächs,  das  im 
Haus  des  greisen  Kephalos  gelegentlich  eines  im  Peiraieus  zu  Ehren  der  Göttin 
Bendis  veranstalteten  Festes  gehalten  wird.')  Anwesend  sind  außer  Kephalos 
und  dessen  Söhnen  Sokrates,  die  Brüder  des  Piaton,  Glaukon  und  Adeiman- 
tos,  der  Rhetor  Thrasymachos,  Kleitophon  und  mehrere  stumme  Personen. 
Die  große  Ausdehnung  des  Werkes  paßt  freilich  schlecht  in  den  Rahmen 
des  Gesprächs  an  einem  Tag,  aber  es  bleibt  doch  sehr  fraglich,  ob  etwa 
ursprünglich  ein  kleinerer  Umfang  beabsichtigt  war  und  das  Ganze  erst 
allmählich  durch  Erweiterung  auf  zehn  Bücher  angewachsen  ist.  Dafür 
könnte  eine  freilich  fragwürdige  Anekdote  bei  Gellius  angeführt  werden,*)  der 
zufolge  von  der  Republik  zuerst  nur  ungefähr  zwei  Bücher  in  die  Öffent- 
lichkeit kamen.  Von  einem  sicheren  Zeugnis  für  Veröffentlichung  irgend 
eines  Teils  der  Politeia  vor  dem  Ganzen  ist  aber  keine  Spur  da,  und  im 
übrigen  versteht  sich  von  selbst,  daß  Piaton  das  Werk  nicht  in  einem 
Jahr  und  in  einem  Zug  von  Anfang  bis  Ende  geschrieben  hat.    Es  finden 

*)  Über  den  Titel  UoktreTai  in  Arist.  polit.  !   Greifsw.  1884  p.  XII  und  oben  S.  528. 

p.  1293b  1  und  Themist.  or.  2  p.  38, 21  Dind.  *)  Gellius    XIV  3,  3:   Xenophon  inelito 

s.  K.  E.  Ch.  Sguneideb  im  Eingang  seiner  Uli  operi  Piatonis ^  quod  de  optima  statu  rei-^ 

Ausgabe  (Leipz.  1830 — 33).    Über  die  Staats-  publicae  civitatisqxu  administrandae  scriptum 

lehre   Piatons   im   größeren   Zusammenhang  i    est^  lectis  ex  eo  duobus  fere  libris  qtU  primi 

H.  Henkel,  Studien  z.  Gesch.  der  griech.  Lehre  !   in  volgus  exierant,  opposuit  contra  conserip' 

von  Staat,  Leipz.  1872,  48  flf.  '   sitque  diversum  regiae  administrationis  ye- 

*)  Vgl.  W.  Christ,  Plat.  Stud.  473  f.  Von  nus,  quod  jtaiöeiag  Kvoov  inscriptum  est, 
einer  älteren  Einteilung  in  sechs  Bücher  hat  '  Diese  erste  Auflage  könnte  die  jetzigen  Bücher 
Spuren  in  einem  antiattikistischen  Lexikon  I— IV  oder  2'/*  der  alten  Bucheinteilung  um- 
nachgewiesen J.  HiRMEB,  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  faßt  haben.  Daß  in  der  alten  Republik  auch 
Suppl.  23  (1897)  588—92.  676  ff.  schon  die  Weibergemeinschaft  gepredigt  war, 

*)  Das  über  dieses  Fest  und  den  Fackel-  möchte  man  aus  Aristoph.  Eccl.  (aufgeführt 

lauf  im  Eingang  Bemerkte   zeigt,   daß  sich  ,   389)  schließen  im  Zusammenhalt  mit  p.  452  b : 

Piaton   das    Gespräch   bei  einer  bestimmten  '    ov    (foßrjxeov    ra    nov    y^aoiEvxMv    axwfifjiam. 


Gelegenheit  gehalten  dachte.  Auch  ist  die 
Schilderung  des  Festes  und  der  Person  des 
greisen  Kephalos  so  lebensvoll,  daß  man 
glauben  möchte,    Piaton   habe   diesen  noch 


Aber  von  dieser  handelt  tatsächlich  Piaton 
erst  im  fünften  Buch,  und  keine  Spur  führt 
auf  die  Abfassung  irgend  eines  Buches  der 
Politeia  vor  389  (s.  o.  S.  407,  4).  Auf  die  alte 


selbst  in  seiner  Häuslichkeit  gesehen.    Aber  :   Überlieferung,   daß   Piaton  jahrelang  an  der 

die  Zeit  ist  schwer  festzustellen;  am  meisten  I   Politeia  gearbeitet  und  sie  wieder  und  wieder 

Zustimmung  verdient  A.  Böckh,  Kl.  Sehr.  IV  umgearbeitet  habe,   führt  die  Anekdote  bei 

437  ff.,  der  für  409  eintritt.   Für  eine  so  späte  Dion.    Hai.   de   comp.    verb.  25    p.  133   üs. 

Zeit    spricht    insbesondere,    daß    Sophokles  (xTm-:fO' x«« /^oorot^/cT«/»')  und  Diog.L.  I1I37, 

p.  329  b  als  Greis  gedacht  ist,   und  daß  die  ,   daß  nach  dem  Tode  des  Philosophen  ein  Blatt 

Brüder  Piatons,    Glaukon  und   Adeimantos,  i   gefunden  worden  sei,   auf  dem   der  Anfang 

sich  nach   p.  368a  bereits   im  Krieg   ausge-  '   der  Republik  wiederholt  umredigiert  (:To<x/ilftKr 

zeichnet  hatten.    K.  Fr.  Hermann,  Plat.  Phil.  '   fieraxFifth'?))  gestanden  habe.    H.  v.  Arnim, 

695  erklärt  sich   für  430,  weil   für  den  An-  De   reipublicae  Piatonis  compositione  ex  Ti- 

fang  des  peloponnesischen  Krieges  am  meisten  ,    maeo  illustranda,    Ind.   lect.    Rostock    1898 

die  Lebensverhältnisse  des  Lysias  sprechen,  und  sucht  nach  dem  Vorgang  E.  Rohdes  (Psyche 

versteht  daher  unter  Glaukon  und  Adeimantos  IV  266  A.)  aus  der  Rekapitulation,  die  Piaton 

die  Oheime  des  Piaton.  Vgl.F.SusEMiHL.Gcnet.  im  Timaio.s  (p.  17  c— 19  a)  von  seiner  Republik 

Entw.  IT  76  ff.  und  De  canninis  Lucret.  pro-  gibt  und  die  von  unserer  Republik  abweicht, 

oemio  et  de  vitis  Tisiae  Lysiae  Isoer.  Plat.  An-  den  Gedankengang  der  ersten  Republik  wie- 

tisth.  Aleid.  (rorg.  quaest.  epicrit,   Ind.  lect.  derzugew innen.     Siehe  u.  S.  644,  2. 


4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  B41.)  643 

sich  auch  Spuren  der  aUmählichen  Entstehung,  indem  z.  B.  das  Haupt- 
thema des  dritten  und  vierten  Buches  nochmtds  im  zehnten  Buch  behan- 
delt und  dabei  p.  607  b  auf  die  inzwischen  aufgetauchte  Polemik  Rücksicht 
genommen  ist.»)  Die  Hauptteile,  in  die  das  umfangreiche  Werk  zerfallt, 
sind  folgende:  Buch  I  und  die  neun  ersten  Kapitel  von  H  enthalten  die 
Einleitung  und  die  Untersuchung  über  das,  was  das  Gerechte  (ro  dixaiov) 
ist,  in  ähnlicher  Weise  wie  in  den  kleinen  Dialogen  (Laches,  Charmides, 
Lysis,  Euthyphron)  das  Wesen  der  ävögeiay  ococpgoovvrj,  tpdiay  öoiÖTrjg  unter- 
sucht wird.  Als  Gegner  des  Sokrates  tritt  hier  Thrasymachos  auf,  der 
doktrinäre  Übermensch  und  Vertreter  des  Rechtes  des  Stärkeren,  ähnlich 
dem  Kallikles  im  Gorgias.  Nach  verschiedenen  Versuchen,  den  Begriff 
der  Gerechtigkeit  festzustellen,  schlägt  Sokrates  vor,  ihn,  da  er  für  das 
Individuum  schwer  zu  umgrenzen  sei,  zuerst  in  den  größeren  Formen  des 
Staates  zu  suchen,  und  so  ist  der  Übergang  zur  Konstruktion  des  Ideal- 
staats gemacht.  Die  Analogie  zwischen  Individuum  und  Staat  beherrscht 
das  ganze  Werk.  Sie  ist  nicht  nur  formal  oder  pädagogisch,  sondern 
als  Ausdruck  der  Überzeugung  zu  verstehen,  daß  Individual-  und  Sozial- 
ethik auf  denselben  Voraussetzungen  beruhen.  Der  Abschnitt  II  10 — IV  5 
umfaßt  die  Gründung  und  Organisation  desjenigen  Staates,  in  dem  die 
Idee  der  Gerechtigkeit  sich  verkörpert.  Den  Hauptgegenstand  dieses 
Teils  bildet  die  Erziehung  der  Schützer  des  Staates  (qyvXaxeg)^  die 
geistige  (juovoixi])  und  körperliche  {y^v/uvaariHrj);  sie  wird  nach  einer  ver- 
werfenden Kritik  der  im  gewöhnlichen  attischen  Jugendunterricht  ein- 
geführten Dichterlektüre  im  einzelnen  geschildert  und  die  grundlegende 
Wichtigkeit  der  Erziehung  für  die  Existenz  des  Staates  nachdrücklich 
hervorgehoben.  IV  5  ist  die  Skizze  des  Idealstaates,  soweit  er  die  (pvkaxeg 
angeht,  beendigt,  und  es  wird  wieder  auf  die  Anfangsfrage  von  der  dixaio- 
avvrj  zurückgekommen,  die  nebst  den  drei  anderen  Kardinaltugenden  {(fgo- 
vrjoig  oder  oo(pia^  oa)q)Qoovvrj,  dvögeia)  sich  im  Staat  findet  und  vor  allem 
in  der  richtigen,  der  Begabung  entsprechenden  und  das  verderbliche  noXv- 
TiQayfxoveiv  ausschließenden  Berufsteilung  sich  betätigt.  Für  das  Individuum 
bedeutet  dixaioavvrj  die  Herbeiführung  eines  richtigen  Verhältnisses  zwischen 
den  drei  Teilen  der  Seele,  so  daß  das  koyiorixov  mit  Hilfe  des  ^vfioeideg 
über  das  im^vjurjnxoy  herrscht.  Damit  ist  eigentlich  das  Ziel  des  Dialogs 
erreicht,  der  Begriff  der  Gerechtigkeit  und  seine  Anwendung  auf  Staat 
und  Individuum  gefunden.  Es  erhebt  sich  die  neue  Frage,  ob  Gerechtig- 
keit   oder   Ungerechtigkeit   nützlicher   sei;    zu   ihrer  Beantwortung  sollen 


*)   Übertrieben   hat   diese  Gedanken  A.   I  Münster    1887,    R.  Hibzel,    Der    Dialog  I 
Krohn,  Der  platonische  Staat  (Halle  1876),  Die   !   230^  ff.;    C.  Ritter,   Unters^  über  PL  124  f.; 
platonische  Frage  (Halle  1878),  der  die  Republik 
als  ein  allmählich  entstandenes  Aggregat  be- 


trachtet; ähnlich  E.  Pfleidbrer,  Zur  Lösung 


I.  Bruns.  Litt  Portr.  319  ff.;  Th.  Gompbbz, 
Griech.  Denker  II«  359  f.;  E.  Zeller  (II  1* 
556  ff.)t  L.  Campbell  (Ausg.  der  Rep.),  J. 


der  platonischen  Frage,   Freiburg  1888,   der  Hirmer,   Entstehung    und   Komposition  der 

drei    gesonderte  Teile   annimmt  I — V  471c  j   platonischen  Politeia,  in  Jahrbb.  f.  cl.  Phil, 

und  VIII-IX;  X;  V-VU.    Dagegen  ist  die  |   Suppl.  23  (1897)  583-678,  H.  Rades  181  bis 

Einheit  gut  erwiesen  von  B.  Grimmelt.   De  243,  0.  Apelt,  Berl.  Phil.  W.schr.  15  (1895) 

reip.  Plat.  conipositione  et  unitate,  Diss.  Berl.  971  ff. 

1887,   C.  Westerwick,   De  rep.  Plat,  Diss.  ; 

41* 


644  Oriechische  Litteraturgeschichte.    L  Klassische  Periode, 

zunächst  dem  richtigen  Staat,  der  geschildert  ist,  die  schlechten  Verfas- 
sungen gegenübergestellt  werden.  Die  Bücher  V — VII  bilden  den  dritten 
Teil.  Im  Eingang  des  fünften  Buches  schickt  sich  Sokrates  an,  im  An- 
schluß an  das  vorausgegangene  Buch  die  verfehlten  Staatsformen  zu  be- 
sprechen; aber  diese  Diskussion  wird  verschoben  infolge  der  Einrede  des 
Polemarchos,  der,  an  eine  frühere  Äußerung  des  Sokrates  (423  e)  an- 
knüpfend, nun  das  Bild  des  Staates,  in  dem  es  kein  Privateigentum  gibt» 
näher  ausgeführt  wissen  will;  so  wird  zunächst  von  der  Kinder-  und  Weiber- 
gemeinschaft, dann  von  der  Erziehung  der  zukünftigen  Herrscher  des 
Staates,  d.  h.  der  Philosophen,  gehandelt.  In  diesem  dritten  Teil  sind 
tiefste  Gedanken  der  Philosophie  niedergelegt;  Leonhard  Spengel  wollte  in 
ihm  den  im  Eingang  des  Sophistes  in  Aussicht  gestellten  Dialog  Philo- 
sophos  erkennen.  *)  Aber  das  ist  schon  aus  chronologischen  Gründen  un- 
möglich, da  der  Sophistes  erst  nach  der  Politeia  abgefaßt  ist.  Jedenfalls 
gehört  der  dritte  Teil  wesentlich  zur  Lehre  vom  Staat,  indem  er  die  Er- 
ziehung der  Herrscher  (durch  Mathematik  und  Dialektik),  die  im  zweiten 
Teil  nicht  behandelt  worden  war,  zum  Gegenstand  eingehender  Erörterung 
macht.  Denn  daß  Piaton  in  keinem  Stadium  seiner  geistigen  Entwicklung 
sich  einen  bloß  aus  (pidaxeq  bestehenden  Staat  ohne  philosophische  Spitze 
gedacht  haben  kann,  ist  ohne  weiteres  klar.  Ohne  den  Inhalt  von  Buch  V, 
der  nur  nähere  Ausführung  eines  freilich  sehr  wesentlichen  Stückes  ist» 
könnte  das  Werk  allenfalls  gedacht  werden;  aber  völlig  unentbehrlich  ist 
für  das  Ganze,  was  über  das  Verhältnis  der  Philosophen  zum  Staat  und 
die  Ausbildung  der  philosophischen  Staatsleiter  in  VI  und  VII  vorgetragen 
wird;  ein  Abschnitt  dieses  Inhalts  muß  von  allem  Anfang  an  in  den  Plan 
des  Werkes  aufgenommen  gewesen  sein.  Ob  freilich  der  dritte  Teil  in 
seiner  jetzigen  Form  von  Piaton  erst  später  bearbeitet  und  in  die  früher 
geschriebenen  Bücher  nachträglich  eingeschoben  wurde,  oder  ob  wir  in 
der  Einschiebung  (VI)  nur  ein  stilistisches  Motiv  des  Schriftstellers  zu 
sehen  haben,   darüber  wird  gestritten.*)     Die  Bücher  VIII  und  IX  kehren 

M  L.  Spengel  Id  Münchener  Gel.  Anz.   j   bis  VII  extr. ;  der  Name  K.  aus  reip.VII  527  c) 
23  (1846)  653  und  Philol.  19  (1863)  595,  s.  da-   [   als  gegeben  annimmt,  kann  jenes  Verhältnis 


gegen  W.  Christ,  Plat  Stud.  S.  488  f. 

*)  Die  erste  Meinung  vertreten  nament- 
lich  E.  Pfleiderer,   E.  Rohde   (Psyche  IP 


zur  Bekämpfung  der  statistischen  Methode 
überhaupt  benützen.  Der  einzige  äußere 
Grund  für  Zerreißung  des  Staates  liegt  schein- 


266  f.  A.)  und  0.  Immisch  (N.  Jahrbb.  f.  kl.  I  bar  im  Tim.  17  b  ff.,  wo  nur  das  , Staats- 
Alt.  3,  1899, 440  ff.  549  ff.  612  ff.),  die  zweite  \  paradigma"  erwähnt  wird.  I.  Bbuns  (Das 
J.  HiRMER.  Jedenfalls  ist  die  vervollständigte  litt.  Portr.  275  ff.)  will  dieser  von  H.  Usener, 
und  vertiefte  Darstellung  des  Idealstaates,  P.  Brandt  (Zur  Entwickl.  der  piaton.  Lehre  von 
wie  sie  in  den  Büchern  V — VlI  gegeben  ist,  1  denSeelenteilen,Leipz.l890, 3ff.)undE.Rohde 
passend  der  Besprechung  der  verfehlten  '  betonten  Tatsache  gar  keinen  Wert  beilegen ; 
Staaten  vorausgeschickt.  Die  Sprachstatistik  '  Tn.  Gomperz,  Griech.  Denker  II*  478  findet 
ergibt  keinerlei  Indicien  für  die  schichten-  I  durch  die  eigenartige  Einkleidung  des  Tim. 
weise  Entstehung  des  Staates,  sondern  weist  I  eine  Bezugnahme  auf  die  „Kallipolis*  aus- 
ihn  als  Ganzes,  von  dem  höchstens  Buch  I  ]  geschlossen.  Sehr  ansprechend  ist  die  Ver- 
abgelöst werden  könnte  (s.  aber  H.  Räder  ,  mutung  von  C.Ritter,  Philol. 62 (1903) 410 ff.» 
201),   in  Piatons  mittlere  Periode;   nur  wer,  durch  Nichterwähnung  der  „Kallipolis*  gebe 


wie  Immisch,  die  Voraussetzung  von  der  Un- 
zusammengehörigkeit  von  „Staatsparadigma* 
(reip.  II  11— V  16)    und    „Kallipolis"  (V  18 


PL  zu  verstehen,  daß  er  gerade  diesen  Teil 
(imHermokratesV)  umgestalten  wolle.  Orien- 
tierend H.  Räder  187  ff.,  der  zu  der  Episode 


4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  941.)  645 

zum  Anfang  des  fünften  Buches  zurück  und  besprechen  im  Gegensatz  zur 
Staatsform  des  Philosophenkönigtums  die  schlechten  Verfassungen  der 
Timokratie  (auch  tijuagxla  oder  (pdonjuog  Tiohreia  genannt,  d.  h.  nicht  wie 
sonst  Vermögensherrschaft,  sondern  eine  auf  Bevorzugung,  rtyu*),  begrün- 
dete Herrschaft,  wie  sie  sich  in  der  kretischen  und  lakonii^chen  Verfassung 
darstellt),  Oligarchie,  Demokratie,  Tyrannis.  Piaton  denkt  sich  diese 
Formen  in  einem  Kreislauf  der  Entwicklung  bezw.  Entartung  begi-ilfen, 
so  daß  in  der  angegebenen  Reihenfolge  eine  aus  der  anderen  hervorgeht. 
Im  neunten  Buch  wird,  nachdem  das  achte  mit  Besprechung  der  Tyrannis 
geschlossen  hat,  das  Bild  des  xvQawixog  &v7)q^  zu  dem  der  erste  Dionysios 
Modell  gestanden  haben  dürfte,  vorgeführt  und  auf  seinen  sittlichen  Wert 
und  seinen  Glücksgehalt  geprüft.  Die  wahre  Lust,  das  wahre  Glück 
kennt  nur  der  Philosoph  oder  philosophische  König;  der  Tyrann,  der  von 
den  Menschen  beneidet  zu  werden  pflegt,  ist  der  allerunglücklichste  Mensch. 
Damit  ist  Piaton  wieder  auf  den  Inhalt  des  ersten  Buches,  den  Gegen- 
stand der  Erörterung  mit  Thrasymachos,  zurückgekommen.  Im  zehnten 
Buch  redet  er  zuerst  nochmals  von  der  Poesie,  indem  er  an  seinem 
früheren  Urteil  (Buch  II — III)  über  die  rechte  Erziehung  festhält  und 
wider  eigene  Neigung  jede  nachahmende  Poesie,  die  Tragödie  und  den 
Erzvater  der  Tragödie  (p.  598  d),  den  Homer,  aus  dem  Idealstaat  verbannt, 
weil  sie  nur  den  Schein,  nicht  die  Wahrheit  wiedergeben,  i)  Mit  einem  Aus- 
blick ins  Jenseits,  noch  viel  großartiger  und  ergreifender  als  der  im  Gorgias, 
schließt  das  gewaltige  Werk:  der  von  den  Toten  wiedererstandene  Pam- 
phylier  Er,  der  Sohn  des  Armenios,  erzählt  in  einem  Mythus  (auf  den 
schon  I  330 d  ff.  vorausverwiesen  war),  was  er  im  Hades  von  dem  Leben 
der  Seligen  und  Verbannten,  dem  Schicksal  der  Seelen  und  ihren  Wande- 
rungen gesehen  und  gehört  hatte.  In  den  Ruf  nach  Gerechtigkeit  und 
Einsicht  klingt  das  Ganze  aus  und  kehrt  so  zum  Ausgangspunkt  zurück. 
Der  planmäßige  und  kunstvolle  Aufbau  ist,  wenn  man  auch  einzelne  Un- 
regelmäßigkeiten zugeben  mag,*)  die  sich  in  jedem  Werk  von  solcher 
Ausdehnung  nachweisen  lassen  werden,  im  Ganzen  unverkennbar.  Daß 
nicht  jeder  Gedanke,  nicht  jede  Problemstellung,  jedes  Bild  in  diesen  zehn 
Büchern  ganz  Piatons  Eigentum  ist,  versteht  sich  bei  einem  Schriftsteller 
von  seiner  Belesenheit  von  selbst  Aber  der  Vorwurf  des  Plagiats  an 
Protagoras,  den  ihm  Aristoxenos  macht,  ^)  gehört  zu  dem  oben  (S.  620,  1) 
berührten  unsauberen  Klatsch.  Ansprechend  ist  der  Gedanke,*)  daß  der 
Staat  eine  polemische  Spitze  gegen  Antisthenes  kehre.  —  Die  Abfassungs- 
zeit kann  natürlich  nicht  auf  das  Jahr  festgesetzt  werden,  da  Piaton  an 
diesem  seinem  großartigsten  Werk  viele  Jahre,  wenn  auch  nicht   gerade 

V— VII  eine  Analogie  in  sophist.  287  b— 264b  müssen.    Ähnlich  H.  Rädeb  235  f. 

findet  und  (194  ff.)  Schlüsse  aus  dem  Anfang  «)  H.  Räder  191.  238  f. 

des  Tim.  ablehnt.  |           '}  Diog.L.  III 87.  Das  immer  wieder  nach- 

*)  Die  Wiederholung  dieser  Betrachtungen  ,   gesprochene  Urteil  des  nüchternen  Praktikers 

findet  G.  Finsleb,  PL  und  die  aristot.  Poet.  '   über  Piatons  Staat  hat  Polyb.  VI  47,  7  f.  zu- 

227  ff.  bezeichnend     für    den    persönlichen  erst  ausgegeben;  vgl.  los.  contr.  Ap.  II  223. 

Schmerz,    den    es    dem   PL    bereitet,    einer  *)  M.  Guggenheim,  N.  Jahrb.  f.  kl.  Alt. 

eigenen  natürlichen  Neigung  zur  Kunst  aus  9  (1902)  521  ff. 
wissenschaftlicher  Überzeugung  entsagen  zu 


646 


Orieohische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klaagische  Periode. 


zwanzig,  gearbeitet  hat,  0  und  der  erste  Entwurf  vielleicht,  der  referieren- 
den Gesprächsart  nach,  noch  in  die  zweite  Periode  seiner  Schriftstellerei 
fällt. ^)  Anspielungen  auf  Zeitereignisse  sind,  wenn  überhaupt  vorhanden , 
jedenfalls  sehr  unsicher.  3)  In  weite  Kreise  war  das  Werk  wohl  schon  vor 
der  zweiten  Reise  des  Piaton  nach  Sizilien  gedrungen;  denn  man  wird 
schwerlich  fehl  gehen,  wenn  man  den  Dion  und  seine  Freunde  ihre  Hoff- 
nungen an  die  in  der  Republik  niedergelegten  Ideen  knüpfen  lä&t.^)  Dem- 
nach hat  F.  Susemihl  (Genetische  Entwicklung  der  Platonischen  Philosophie 
II  296)  den  Staat  in  die  Jahre  380—370  gesetzt:  jedenfalls  fällt  die  Schluß- 
redaktion vor  den  Regierungsantritt  des  jüngeren  Dionysios  (367).*) 

Am  meisten  umstritten  ist  die  chronologische  Einreihung  des  ^aiögogy 
der  seinen  Titel  von  dem  begeisterungsfähigen  und  -bedürftigen  jungen 
Phaidros,  einem  der  Lobredner  auf  den  Eros  im  platonischen  Symposion, 
erhalten  hat.«)  Der  poetische  Anhauch  des  Dialogs  hat  schon  auf  alte 
Beurteiler  den  Eindruck  gemacht,  der  Phaidros  sei  eine  Jugendschrift 
Piatons.  ^)  Bei  dieser  Auffassung  läßt  sich  aber  weder  die  Sprache,  die  nach 
allen  Kriterien  auf  Platona  spätere  Entwicklung  hinweist,  noch  der  Ge- 
dankeninhalt, der  die  Politeia,  den  Gorgias  und  das  Symposion  voraus- 
setzt,**) verstehen.  Die  idyllischen  Reize  der  Einkleidung,  die  unter  die 
berühmte  Platane  am  Ilissos^)  zur  Mittagszeit  beim  Gezirpe  der  Grillen 
führt  und  den  Vorwand  bietet,  den  Sokrates  gelegentlich  selbst  als 
einen  vom  Zauber  der  Natur  in  Ekstase  Versetzten  darzustellen,  umgeben 
eine  im  wesentlichen   aus  drei  zusammenhängenden  Reden  mit  einem  dia- 


*)  Nach  A.  Kbohn,  Der  piaton.  Staat, 
Die  piaton.  Frage  (8.  oben  S.  643,  1 ),  wären 
sämtliche  Dialoge  späteren  Ursprungs  als  der 
Staat.  Dagegen  J.  Nusseb,  Piatons  Politeia 
nach  Inhalt  und  Form  betrachtet,  Amberg 
1882 ;  H.  Siebeck,  Unters.  148.  Zu  Krohn  kehrt 
teilweise  wieder  zurück  E.  Pplbidebbb  a.  0. 

■*)  Der  erste  Entwurf  müßte,  wenn  auf 
ihn  wirklich  Aristophanes  in  den  Ekklesia- 
zusen  anspielte,  um  390  gesetzt  werden. 

')  p.  577  a  auf  des  Verfassers  Aufent- 
halt am  Hof  des  älteren  Dionysios,  p.  471  ab 
auf  die  Grausamkeit  der  Thebaner  gegen 
Plataia  im  Jahr  374,  p.  498  d  auf  den  Eua- 
goras  des  Isokrates  (verfaßt  bald  nach  374). 
F.  Reiniiabdt.  De  Isocratis  aemulis  p.  39  hat 
die  Stelle  p.  498  d  auf  den  Areopagitikos  (a. 
354)  bezogen,  was  ganz  unmöglich  ist.  H. 
Kädeb  nimmt  reip.  IV  426  eine  Anspielung 
auf  Isokr.  Paneg.  an  und  setzt  die  Veröffent- 
lichung des  Staates  mit  guten  Gi-ünden  c.  377. 

*)  Nach  p.  499  b  weckte  der  jüngere 
Dionysios  gute  Erwartungen,  noch  ehe  er 
zur  Regierung  gekommen. 

^)  Die  Politeia  gehört  zu  den  bis  zum 
Ende  des  Altertums  besonders  viel  i^clesenen 
Dialogen:  J.  Malchin,  De  Chorioii  Gaz.  vete- 
rum  (iraec.  scriptor.  studiis  59.  Nach  Epictet. 
fr.  15  p.  414ScnENKL  war  die  IIoa.  eine  Lieb- 
lingslektüre emanzipierter  Damen  in  Rom. 

c)  Die  Anekdote  (Diog.  L.  111  31)  macht 


den  Ph.  zum  Geliebten  Piatons.  Nach  Lys. 
or.  19,  15  ist  er  ohne  Verschulden  verarmt. 
Über  die  Zeit  seines  Lebens  O.  Iuxisoh,  Ber. 
der  Sachs.  Ges.  d.  W.  56  (1904)  226,  3. 

^)  Diog.  L.  III  36 :  Xoyoc  Ae  jxqwiov  yoa.y*ai 
avTov  xov  <Patd()ov  (ebenso  Olympiod.  vit. 
Plat.  3;  Proleg.  24  offenbar  auf  Grund  von 
Phaedr.  238  d)  *  xai  yao  Px^iv  fieigaxidideg  ti  t6 
jiQoßkrj^a,  Atxaiagxo*;  de  xat  tov  tqotiov  ri}^ 
ygaq^yg  okov  FJiifidfKfeTat  (og  (fooiixov.  Über 
(pooTiy.ov  (peripatetischer  term.  techn.  seit 
Aristoteles)  s.  Theophrastos  bei  Dionys.  Hai. 
de  Lys.  14,  de  Isoer.  13.  Jener  Tradition  steht 
aber  die  andere  von  Cicero  or.  42  nicht  auf- 
gebrachte, sondern  natürlich  aus  griechischer 
Quelle  übernommene  gegenüber,  der  zufolge 
der  Ph.  zu  Piatons  späteren  Schriften  gehört. 
Der  künstliche  Versuch  von  0.  Immisch  a.  a.  O. 
213—251,  diese  letztere  Tradition  auf  eine 
tendenziöse  Geschichtsfälschung  der  neuen 
Akademie  (Philon  und  Antiochos),  die  andere 
aber  auf  altperipatetische  Quellen  (Dikaiarchos) 
zurückzuführen,  steht  auf  ganz  schwachen 
Füßen. 

^)  Dies  ist  sehr  einleuchtend  erwiesen 
von  H.  Rädek  252  ff.  259. 

0)  Cic.  de  or.  I  28;  Philostr.  vit.  Ap.  VII 
11p.  260,  32  K.  Anspielungen  auf  den  Ph. 
sind  in  späterer  Litteratur  besonders  häufig, 
so  Lucian,  bis  accus.  33,  pisc.  22,  rhet.  praec. 
26  auf  246  e. 


4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  341.)  647 

logischen  Anhang  gebildete  Darlegung  zwiefachen  Inhalts.  Zunächst  trägt 
Phaidros  eine  Schulrede  des  Lysias  vor  über  das  frostige  Thema,  daß 
man  die  Liebesgunst  eher  dem  Nichtliebenden  als  dem  Liebenden  erweisen 
soll;  Sokrates  übt  an  dem  dürftigen  rhetorischen  Machwerk  eine  ver- 
nichtende Kritik  und  stellt  ihm  dann  zwei  eigene  Reden  entgegen.  Von 
diesen  steht  die  erste  noch  auf  dem  Standpunkt  eines  moralisierenden 
rhetorischen  Aufsatzes,  die  zweite  aber  enthüllt  die  ganze  Tiefe  philo- 
sophischer Spekulation,  indem  sie  den  Eros  aus  der  Sphäre  gewöhnlicher 
Sinnlichkeit  heraushebt  und  als  das  Streben  nach  dem  Urschönen  und  der 
Welt  der  Ideen  faßt.  Damit  ist  die  unmeßbare  Überlegenheit  der  philo- 
sophischen Anschauung  über  die  leere  Wortkünstelei  der  Rhetorik  aus- 
gesprochen imd  Anlaß  gegeben,  eine  den  Durchschnittsrednern  völlig  fremde 
neue  Betrachtung  der  Redekunst  im  Licht  des  Ideenwissens  vorzuführen. 
Im  Gegensatz  zu  der  schroffen  Verwerfung  aller  Rhetorik  im  Qorgias  wird 
hier  zu  einer  q)d6oo(pog  ^rjrogixrj  der  Weg  gewiesen,  und  auf  diesem  Weg 
ist  dann  Aristoteles  in  seiner  Rhetorik  weitergegangen.  Die  Kritik  aller 
Schriftstellerei  im  Gegensatz  zum  lebendigen  Wort,  die  in  der  Erzählung 
von  Theuth  (274c  flf.)  ausgesprochen  ist,  muß  wohl  zugleich  als  Verteidigung 
der  dialektischen  Darstellungsmethode  verstanden  werden.  Das  Kompliment 
an  Isokrates  (278 e  ff.)*)  bedeutet  ein  gewisses  Entgegenkommen  diesem 
Rhetor  gegenüber,  der  in  seinem  Panegyrikos  doch  bis  zu  einem  vorher 
nicht  dagewesenen  Grad  ein  Specimen  eines  Rede-Organismus  gegeben 
hatte,  wenn  auch  von  einer  unbedingten  Anerkennung  der  isokratischen 
„(fiXooocfia''  durch  Piaton  nicht  die  Rede  sein  kann.  Dazu  stimmt  auch 
die  zunehmende  Annäherung  Piatons  an  die  isokratischen  Stilregeln  in 
seinen  späteren  Schriften.  Struktiv  betrachtet  ist  der  Dialog  keiner  von 
Piatons  glücklichsten;  die  Abfolge  der  drei  Reden,  wenn  sie  auch  eine 
Hebung  von  Stufe  zu  Stufe  mit  sich  bringt,  belastet  das  Gespräch  über 
Gebühr,  und  diese  Anlage  ist  weit  weniger  dramatisch  belebt  als  die  ana- 
loge im  Symposion;  auch  die  Zusammenkoppelung  der  zwei  heterogenen 
Gegenstände  (der  Erotik  und  Rhetorik)  hat,  wenn  auch  die  materielle  und 
formelle  Kritik  an  dem  Produkt  des  Lysias  äußerlich  Anlaß  zu  der  Ver- 
bindung gab,  etwas  Gewaltsames.  —  Bezüglich  der  Abfassungszeit  gehen, 
wie  gesagt,  die  Meinungen  stark  auseinander;  F.  Schleiermacher  stellte 
den  Phaidros  als  Programm  in  den  Anfang  aller  Schriften,  K.  Fr.  Hermann 
wenigstens  an  den  Anfang  der  konstruktiven  Dialoge,  H.  Usener  (Rh.  Mus. 
35,  1880,  131  flf.)  wollte  ihn  gar  zu  Lebzeiten  des  Sokrates  im  Jahre  402  ge- 
schrieben sein  lassen.«)  Dem  gegenüber  hat  schon  Hermann  (Plat  Phil.  374) 
hervorgehoben,  daß,  wenn  man  auch  in  dem  erhabenen  Schwung  einzelner 
Stellen  und  in  dem  reichen  Schmuck  des  Ausdrucks  mit  Recht  Spuren  der 
dichterischen  Versuche  des  jugendlichen  Philosophen  finde,  doch  in  dem 
philosophischen  Inhalt  vieles  übrig  bleibe,  was  einer  ganz  anderen  als  der 
sokratischen  Begriflfssphäre  angehört  und  uns,  wenn  nicht  auf  die  Pytha- 
goreer  Italiens,   so  doch  auf  den  Megariker  Eukleides,   den  Erfinder  des 

*)  Siehe  o.  S.  533.  1   genommen  von  0.  Immisch,  N.  Jahrbb.  3  (1899) 

*)    Useners  Hypothese   ist  wieder   auf-  1   549  flf. 


648  Oriechiflche  Litteraturgesohichte.    I.  Ela4SMii8che  Periode. 

fMoiT-Begrilfes,  hinweist.*)  Der  polemische  Charakter  des  Dialogs  legt 
den  Gedanken  an  eine  bestimmte  Veranlassung  nahe;  aber  wir  kennen 
eine  solche  nicht.  Die  Einreihung  an  Öer  Stelle,  die  dem  Dialog  hier  ge- 
geben ist,  hat  H.  Räder  ausreichend  begründet.  Das  Einlenken  zum  Be- 
stehenden, bei  aller  Festhaltung  der  idealistischen  Betrachtungsweise,  das 
für  Piatons  spätere  Schriften  bezeichnend  ist,  beginnt  im  Phaidros,  zunächst 
der  Rhetorik  gegenüber. 

Der  Seaixr]xog^)  ist  wie  die  Dialoge  der  Frühzeit,  aber  viel  tiefer 
als  diese  eindringend,  ein  „dialektisches"  Gespräch  ohne  positives  Ergebnis 
zwischen  Sokrates,  Theaitetos  und  Theodoros  über  das  Wissen  (&riaT>;/ii;), 
wiedergegeben  in  direkter  Redeform  ^)  von  Eukleides,  dem  megarischen 
Sokratiker,  gelegentlich  des  Rücktransportes  des  im  korinthischen  Krieg 
(394)  erkrankten  Theaitetos.*)  Seltsam  ist,  daß  der  Theaitetos  einen  Ein- 
leitungsrahmen hat,  das  nachfolgende  Gespräch  des  Sokrates  aber  doch 
nicht  referierend,  sondern  dramatisch  gehalten  ist.  Die  Einleitung  kann 
demnach  nur  den  Sinn  haben,  dem  hier  eingeführten  Eukleides  eine  persön- 
liche Aufmerksamkeit  zu  erweisen,  indem  er  als  Verfasser  des  von  ihm  an- 
geblich aufgezeichneten  Sokratesgesprächs  erscheint.  Der  Dialog,  der  letzte, 
in  dem  die  Personen  noch  lebensvoll  charakterisiert  sind  und  Sokrates 
in  den  Mittelpunkt  der  Erörterung  gestellt  wird,  gibt  eine  Revision  der 
platonischen  Erkenntnistheorie;  er  führt  unter  scharfsinniger  Bekämpfung 
entgegenstehender  Meinungen,  namentlich  des  Protagoras  und  Uerakleitos 
und  wohl  auch  Antisthenes,  der  die  Möglichkeit  falscher  Vorstellungen 
geleugnet  hatte,*)  die  Frage  nach  dem  Wesen  des  Wissens  zwar  nicht 
zum  letzten  Abschluß,  aber  doch  so  weit,  daß  wir  über  die  erste  Stufe 
der  sinnlichen  Wahrnehmung  {aio&rioigY)  und  bloßen  Meinung  {dö^a)  zur 
richtigen  Meinung  (äXrj&i]g  do^a)  und  weiter  zur  richtigen  Meinung  mit 
Rechenschaftsabgabe  (äXtj&ijg  dö^a  fierä  koyovY)  emporsteigen.  Aber  auch 
diese  letzte  Definition  wird  wieder  umgestoßen  und  dadurch  die  Bedeutung 
der  äkr)ü))g  do^a  an  sich  gehoben,  insofern  als  hier  nicht  mehr  bloß  den 
Ideen,  sondern  auch  anderen  Gegenständen  der  Vorstellung  die  Fähigkeit 
zugestanden  wird,  wahrheitsgemäß  erkannt  zu  werden.     Völlig  klar  ist  in 

*)  Kritische  Übersicht  über  die   neuere  *)  An  den  Kampf  um  Korinth  im  J.  369 

Litteratur  bei  H.  Räder  245  ff.    Der  Versuch  I   dachte  Th.  Berok,  Fünf  Abb.  zur  Gesch.  der 

von  P.  Orain  (De  ratione,  quae  inter  Piatonis  griech.  Phil.  u.  Astron.  S.  3.     Dagegen   Ein- 

Phaedrum  symposiumque  intercedat,  Comra.  Wendungen  von  W.  Christ,  Plat.  Stud.  494  f. 

philol.Jenens.  7, 1906,  21  ff.),  den  Phaidros  vor  und  E.  Zeller,  Über  die  zeitgeschichtlichen 

das  Symposion  ^u  setzen,  überzeugt  nicht.  |   Beziehungen  des  plat.  Theätet,  Berl.  Ak.  Sitz.- 

»UnhaltsdaretellungbeiC.  Ritter,  Unters.  her.  1886  S.  631  ff.  und  1887  S.  214,  wo  die 

143—187.  ;   Stelle  über  die  Peltasten  p.  165  d  für  die  Zeit 

«)  Vgl.  S.  623;  die  Änderung  der  Form  |  392— 390  geltend  gemacht  wird.  DazuE.ZsL- 
weist  daraufhin,  daß  der  Theaitetos  nach  i  ler,  Archiv  f.  Gesch.  d.Philos.  5  (1892)  289  ff. 
Protagoras,  Euthydemos  und  Symposion  ge-  *)  Diese  Erörterungen  werden  in  der 
schrieben  ist.  Die  Eigenart  der  Einkleidung  großen  Digression  des  Sophistes  weiter- 
hat Anlaß  gegeben  zu  der  Legende,  die  in  gesponnen,  wo  p.  251b  Antisthenes  unter  den 
dem  Berliner  Theaitetoskommentar  (Berliner  otfiftaOng  nor  yFonruov  zu  verstehen  sein  wird. 
Klassikertexte  U.  1905,  col.  3,  28  ff.)  auftritt,  |  «)  Auf  diese  Stufe  stellt  Piaton,  künst- 
Pl.  habe  den  Th.  zuerst  als  dramatischen  '  lieh  verkoppelnd,  den  Protagoras  und  Hera- 
Dialog  veröffentlicht,  dann  umgearbeitet  {(ff-  kleitos  (H.  Räder  281  f.). 
(tfrai  (Vt  xni  ak/j)  .-roooi'uioy  r.-TÖy'r/oov  o/edor  ')  Über  die  allmähliche  Entstehung  dieses 
Tojy  t'oior  ort'/on\  or  aoyi) '  ,u.na  ye,  w  .lat,  7  s-  Begriffs  bei  Platon  H.  Kädbr  290. 
of/iT  Tor  ü^Eoi   ßeaiTt'jTov  ^.oyov;*). 


'  4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  342.)  649 

dem  Dialog  die  Verwerfung  der  alle  Erkenntnis  unmöglich  machenden 
Physik  des  Herakleitos  und  der  Hinweis  auf  die  entgegengesetzte  An- 
schauung der  Eleaten  —  eine  Vorausdeutung  auf  den  Parmenides  (183e). 
Aber  die  Möglichkeit,  durch  die  Ideenlehre  den  Begriff  des  Wissens  auf 
festen  Grund  zu  stellen,  wird  gar  nicht  in  Betracht  gezogen.  Die  Be- 
handlung des  ganz  abstrakten  Themas  ist  durch  herrliche  Bilder  und 
Gleichnisse  belebt,  wie  die  von  der  Hebammenkunst  (jjuuevtixt])  des  Sokrates 
(p.  149 — 151)0  und  von  der  Seele  als  dem  Taubenschlag  der  Ideen  (p.  197), 
Der  Dialog  erhält  seine  Fortsetzung  in  dem  Sophistes  und  Politikos,  deren 
Abfassung  aber  geraume  Zeit  später  zu  fallen  scheint.  Über  die  Ab- 
fassungszeit gingen  früher  die  Meinungen  weit  auseinander;  manche,  wie 
E.  Zeller,  setzten  ihn  bald  nach  der  Zeit  der  Eingangsszene  um  392,  andere 
nach  dem  Euagoras  des  Isokrates  oder  nach  374,  und  zwar  Th.  Bergk 
nach  dem  Tod  des  Königs  Agesilaos  357,  E.  Roh  de  nach  dem  Regierungs- 
antritt des  Agesipolis  II.  371.*)  Jedenfalls  gehört  er  zu  den  späteren  Dia- 
logen und  bezeichnet  den  ersten  bedeutsamen  Schritt  zu  der  letzten  Periode 
von  Piatons  Philosophie  hin. 

342.  Die  Dialoge  der  letzten  Periode.*)  Die  Ideenlehre  wird 
festgehalten  und  revidiert,  tritt  aber  in  den  konstruktiven  Dialogen 
der  spätesten  Zeit  in  der  Diskussion  fast  bis  zur  Unkenntlichkeit  in 
den  Hintergrund.  Bezeichnend  dafür  ist  auch  die  Neigung  (Timaios, 
Kritias,  Nomoi),  vorbildliche  Zustände  nicht  sowohl  im  Reich  der  Ideen, 
als  in  einer  fernen  Vergangenheit  zu  suchen,  also  ein  Übergehen  von  der 
absolutistisch-begrifflichen  in  relativistisch-geschichtliche  Betrachtung  mit 
pessimistischer  Stimmung  der  Gegenwart  gegenüber.  Gegenstand  der  Be- 
trachtung werden  immer  mehr  die  Mischzustände  der  Wirklichkeit,  deren 
Gesetzmäßigkeit  durch  eingehende  Begriflfsteilung  und  Gruppierung  er- 
schlossen und  für  die  dann  schließlich  in  den  Gesetzen  und  im  Timaios 
nach  der  ethisch-poUtischen  und  der  physikalischen  Seite  hin  eine  Norm 
festgestellt  wird.  Die  Sorgfalt  der  künstlerischen  Ausarbeitung  läßt  nach; 
die  prächtigen  Szenerien  und  feinen  Charakterzeichnungen  verschwinden 
vor  trocken  sachlicher  Dialektik;  Züge  lehrhafter  Systematik  machen  sich 


^)  Auf  die  Hebammenkunst  des  Sokrates 
ist,  wie  A.  Römeb,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  1896 
8.  228  nachweist,  schon  angespielt  von  Ari- 
stophanes  nub.  137. 

2)  E.  RoHDE,  Kl.  Sehr.  I  256  flf.  hielt,  wie 
zu  gleicher  Zeit  Th.  Bergk,  die  Stelle  p.  175  a 
über  die  Lobreden  auf  Könige  zusammen  mit 
Isoer.  Euag.  c.  8,  wo  sich  der  Rhetor  rühmt, 
die  erste  Lobrede  auf  einen  berühmten  Mann 
der  Gegenwart  geschrieben  zu  haben.  Da- 
gegen meint  E.  Zeller,  Piaton  rede  nicht  von 
geschriebenen  Lobreden  wie  Isokrates,  und 
bezieht  die  25  Ahnen  der  piaton.  Stelle  nicht 
auf  den  König  Agesilaos,  sondern  auf  dessen 
Kollegen  Agesipolis  (394—380),  auf  den  die 
Zahl  25  besser  passe,  an  dessen  Stelle  aber 
nach    Rohdes   Nachweis  Agesipolis  IL.    der 


einigen  plat.  Dialogen  aus  den  Reden  des  Isokr., 
Basel  1890.  S.22ff.  (=  Kl.  Sehr. 1 103  ff.),  den 
Th.  nach  364.  Für  spätere  Ansetzung  spricht 
auch  das  Mathematische,  worüber  C.  Ritter, 
Komm,  zu  den  Gesetzen  227.  F.  Süsbuihl, 
Neue  piaton.  Forschungen,  Ind.  lect.,  Greifs- 
wald 1898,  kommt  zu  dem  Schluß  .nicht  später 
als  etwa  387*.  Über  die  völlige  Unsicherheit 
aller  äußeren  Kriterien  H.  Rädeb  295  f. 

^)  Sehr  förderlich  für  das  Vei-ständnis 
der  Altersdialoge  sind  die  Inhaltsdarstellungen 
von  C.  Ritter  (zuerst  erschien  eine  solche 
für  die  Gesetze,  nebst  Kommentar,  Leipzig 
1896;  dann  von  Parm.  Soph.  Politic.  Phileb. 
Tim.  Critias,  Stuttg.  1903).  Rückständig  ist 
F.  HoBN,  Piatonstudien,  N.  F.  (Cratyl.  Theaet. 
Parm.  Soph.  Politic),  Wien  1904,  der  die  fünf 


erst  371  zur  Regierung  kam,   treten  müßte.    !   genannten  Dialoge  zwischen  Gorg.  u.  Symp. 
Ahnlich  setzt  F.  Dümmler,  Chronol.  Beitr.  zu   ,  setzen  will. 


650  Orieohiflche  Litteratnrgeschichte.    L  ElassiBche  Periode. 

bemerklich ;  die  Anlage  wird  durch  große  Digressionen  (besonders  im  Sophistes, 
Politikos,  Timaios-Kritias)  schwerfällig;  an  Stelle  lebendigen  Gedankenaus- 
tausches tritt  teils  katechismusartiges  Abfragen,  teils  fortlaufender  Vortrag. 
Auf  den  IlaQfxevldrjg^  ein  Gespräch i)  des  jugendlichen  Sokrates  mit 
dem  greisen  Parmenides,  wird  bereits  im  Sophistes  p.217c  als  Xöyog  ndyxcdog 
hingewiesen.*)  Das  Gespräch  wird  von  Antiphon,  dem  Halbbruder  Piatons 
(?  s.  0.  S.  614,  5),  wiedergegeben,  der  es  seinerseits  wieder  von  Pythodoros 
gehört  und  auswendig  gelernt  haben  will.  3)  Im  ersten  Teil  bekämpft  der 
eleatische  Philosoph  die  Ideenlehre,  und  Sokrates  weicht  vor  den  Einwürfen 
des  Gegners,  die  zum  Teil  bei  Aristoteles  (met.  I  9)  wiederkehren,  derart 
zurück,  daß  er  selbst  an  der  Möglichkeit  einer  dialektischen  Begründung 
jener  Grundlehre  der  früheren  platonischen  Philosophie  zu  verzweifeln 
scheint.^)  Der  zweite  größere  Teil  enthält  eine  äußerst  spinöse  Erörterung 
über  das  Eine  und  Viele,  eine  Probe  der  eleatischen  und  megarischen,  mit 
Antinomien  operierenden  Dialektik,  mit  dem  Ergebnis,  daß  die  eleatische 
Einslehre  in  ihren  Grundpfeilern  erschüttert  wird.  Wie  aber  dieser  zweite 
Teil  mit  dem  ersten  zusammenhängt,  ob  er  etwa  dazu  dienen  soll,  die  im 
ersten  halb  fallen  gelassene  Ideenlehre  wieder  zu  stützen,  ist  von  Piaton 
nicht  klar  gelegt.*^)  Aber  deshalb  darf  man  nicht  an  der  Echtheit  dieses 
hervorragenden  Werkes  der  Disputierkunst  z  weif  ein  ;<^)  W.  Christ  fand  es 
wahrscheinlich,  daß  Piaton  im  Sinne  hatte,  dem  Parmenides  noch  einen 
andern  Dialog  nachfolgen  zu  lassen,  der  die  Lösung  bringen  sollte,  ganz 
in  der  Art  des  Aristoteles,  welcher  der  Lösung  der  Fragen  eine  Aus- 
einandersetzung der  Aporien  vorauszuschicken  pflegte;  aber  Piaton  habe 
die  Lösung  nicht  gegeben  und  uns  werde  es  schwer  fallen,  einen  Versuch 
der  Lösung  im  Geist  Piatons  auch  nur  in  Umrissen  aufzustellen.')  Sehr 
ansprechend  ist  die  Auffassung  H.  Räders,®)  Piaton  führe  im  ersten  Teil 
eine  vernichtende  Kritik  seiner  eigenen  Ideenlehre  im  Namen  der  eleatisch 

^)  über  die  Zeit  des  Gespräches  s.  o.  ®)  Für  die  Unechthcit  K.  Schaarschiodt, 

S.  133.  !   Plat.  Sehr.  164;  F.  Übbrweo,  Unters.  176  ff. ; . 

«)  E.  Zeller  (Phil,  der  Gr.  II  1*  546)  und      H.  v.  Arnim,  Gott.  Gel.  Anz.  1892.  305  ff. 


andere  (auch  H.  Räder  335  f.)  nehmen  an, 
daß  Piaton  an  jener  Stelle  des  Sophistes  sich 
auf   Parmenides    zurückbeziehe.     Schon    F. 


')  Gegen  diesen  Ausweg  der  Verzweif- 
lung erklärt  sich  0.  Apelt,  der  schon  in 
seinen   grundlegenden  Untersuchungen   über 


Schleiermacher   setzte   den    Parm.   vor   den  i   den  Parmenides  des  Plato  (Weimar  1879)  den 

Soph.  '   Parm.  der  früheren  Zeit  platonischer  Schrift- 

')  Daß  trotz  dieser  ganz  besonders  um-  stellerei  zugeschrieben   hatte,   Phil.  Anz.  17 

ständlichen    dreifachen  Verpackung   als   re-  (1887)  27.    H.  Jackson,  Joum.  of  Philol.  11 

feriercnder  Dialog  der  Parm.  nach  dem  Theai-  ;   (1882)  287  ff.  und  10  (1882)  253  ff.  findet  in 

tetos   verfaßt  sei,  hält  wohl  mit  Recht  H.  i   Parmenides   und  Philebos  die  spätere,   dem 

Räder  52.  300  ff.  316  f.  fest.  Aristoteles   vorschwebende  Form   der   plato- 

*)  Piaton   läßt  allerdings  in  den  Nomoi  |   nischen  Ideenlehre, 

die  Ideen  beiseite;   aber  daraus  ist  nicht  zu  ®)  H.Räder  S.  315  formuliert  die  Meinung 

schließen,  daß  er  in  seiner  letzten  Entwick-  Platous  so:    ^Ihr  (Megariker)  behauptet  von 

lungsperiodo   überhaupt   die  Ideenlehre   auf-  '   mir,   daß  ich   zwischen   den  Ideen   und  den 

gegeben  habe.  ;   Einzeldingen  einen  Dualismus  statuiere  und 

^)  Zur  älteren  Litteratur  bei  F.  Susemihl  gebt  euch  selbst  für  die  einzigen  konsequen- 

II  353  kommt  noch  P.  Shorey,  De  Piatonis  ten  Monisten  aus.     Seht  ihr  denn  nicht  ein, 

idearum     doctrina    atque    mentis    Iiumanae  i   daß  ihr  in  demselben  Moment,   wo   ihr  den 

rationibu«  commentat.,  Monachii  1884.     Un-  i   Monismus    festhaltet    und    den    Dualismus 

genügend   ist  der  Ausweg  des  Plotinos  X  8  verwerft,   selbst   einen   Dualismus   aufstellt 

Kirchhoff,  daß  das  n-  in  dreifachem  Sinne  >   zwischen  dem,   was  ihr  festhaltet  und  dem, 

genommen  werden  könne.  \   was  ihr  verwerft?" 


4.  Die  Philosophie,    c)  Platon.    (§  842.)  651 

gerichteten  Megariker  vor,  um  dann  im  zweiten  Teil  zu  zeigen,  daß  durch 
die  gegen  die  Ideenlehre  geltend  gemachten  Einwendungen  ebenso  auch 
die  eleatische  Einheitslehre  umgestoßen  werde.  Jedenfalls  zeigt  die  schroff 
negativ-kritische  Richtung  des  Dialogs  eine  neue  Wendung  in  Piatons 
Gedankenwelt  an.  Die  Abfassungszeit  kann  von  der  des  Sophistes  nicht 
weit  abliegen.^) 

ZotpiGxrig  und  Uokirixog^  zwei  unter  sich  eng  zusammenhängende 
Dialoge,  in  denen  es  dem  Piaton  weniger  auf  die  Ergebnisse  als  auf  die 
Methode  ankommt,  sollten  nach  dem  Eingang  des  ersteren  den  Theaitetos 
fortsetzen*)  und  in  einem  nicht  mehr  geschriebenen  vierten  Dialog,  0d6o(Hpog^ 
ihren  Abschluß  finden.  8)  Sprachlich  und  stilistisch  tragen  sie  unverkennbar 
das  Gepräge  von  Piatons  letzter  schriftstellerischer  Periode.  Ausgesprochener, 
aber  keineswegs  einziger  Zweck  der  drei  Dialoge  ist,  die  Begriffe  des  ao- 
(piaTi]g,  jiokmxög  und  q.HX6ooq?og  festzustellen.  Die  angewandte  Methode  ist  die 
spezifisch  dialektische,  d.  h.  die  Spaltung  der  Art  in  ihre  Spezies  {dialgeoig, 
divisio)^  durch  die  schließlich  die  richtige  Definition  des  Sophisten  und  Poli- 
tikers gewonnen  wird;  der  Sophistes  handelt  aber  in  breiter  Digression  (237b 
bis  264  b),  deren  Inhalt  dem  Piaton  offenbar  (s.  politic.  284b)  die  Hauptsache 
war,  auch  über  das  Seiende  und  Nichtseiende.  Die  ganze  Darstellungsweise*) 
ist  weit  entfernt  von  der  ethischen  Wärme  der  früheren  Gespräche  und  wird 
von  Piaton  selbst  als  eine  fremde  dadurch  bezeichnet,  daß  im  Sophistes  der 
eleatische  Fremdling  {^evog),  den  Theodoros  mitbringt,  im  Politikos  der  junge 
Sokrates,^)  ein  Namensvetter  des  ebenfalls  anwesenden,  aber  meist  pas- 
siven Philosophen  Sokrates,  Hauptträger  des  Gesprächs  sind.  F.  Schleier- 
macher nahm  an,  daß  Piaton  im  Sophistes  p.  246  b  auf  die  megarische 
Schule  hingewiesen  habe  und  wir  also  in  unseren  Dialogen  die  von  Aischines 
weitergebildete  Kunst  der  eleatischen  Dialektik  vor  uns  haben.  Dagegen 
weist  F.  Dümmler  (Antisthenica  p.  51  ff.)  nach,  daß  die  Spitze  des  Sophistes 
mehr  gegen  Antisthenes  gerichtet  ist.^)  Die  beiden  Dialoge  scheinen  in 
dem  dreizehnten  platonischen  Brief  (360  b)  unter  dem  Titel  diaigioeig  er- 
wähnt zu  sein,  wonach  W.  Christ  (Platonische  Studien  488)  unter  Beistim- 
mung von  H.  Räder  (S.  351)  ihre , Abfassungszeit  um  364  setzt;  dazu  stimmen 

* )  J.  Ebebz,  Arch.  f.  Gesch.  der  Philos.  20  1  örtenmg  des  Sophistes  hereingezogenen  Frage 
(1907)  81  ff.  sieht  mit  viel  Phantasie  im  Farm.  |  über  das  Wesen  des  Seins  hatte  dieser  Dia- 
ein Protokoll  einer  Akademiesitzung  von  366  1  log  auch  die  Aufschrift  uegi  toi»  dvio^.  Vgl. 
mit  travestierten  Personen  (der  junge  Sokr.  !  0.  Apblt,  Piatons  Sophistes  in  geschicht- 
=  Speusippos.  Parm.  =  Piaton,  Zenon  =  j  licher  Beleuchtung,  Rh.  M.  50  (1895)  394  bis 
Dion,  Aristoteles  =  dem  Schttler  Piatons).  —  .  452.  Zur  Erklärung  des  Soph.  C.  Ritter, 
0.  Apelt  und  Th.  Gomperz  stellen  den  Parm.  Arch.  f.  Gesch.  der  Philos.  10  (1897)  478  ff.; 
vor  Theaitetos.  I  1 1  (1898)  18  ff. ;  zum  Polit.  ders.,  Plat.  Politicus^ 


'^)  Daß  die  Anknüpfung  an  den  Theai- 
tetos, ebenso  wie  die  des  Timaios  an  die 
Politeia  nur  eine  äußerliche  ist,  führt  gut 
aus  I.  Bbuns,  Das  litterarische  Porträt  274  f. ; 
H.  Räder  818. 

3)  L.  Spengels  Vermutung  über  den  0dd- 
ooff  o^  s.  o.  S.  644 ;   H.  Räder  352  ff.  meint, 


Beitr.  zu  seiner  Erkl.,  Progr.  Ellwangen  1896. 

^)  Über  diesen  jungen  Sokrates  vgl. 
Theaet.  174d,  Plat.  ep.  11  und  Aristoteles 
metaph.  p.  1036  b  25. 

^)  Darüber  0.  Apelt  in  der  Note  zu  der 
Stelle  p.  246  b.  —  Für  die  Echtheit  der  Dia- 
loge, trotzdem  sie  so  sehr  von  dem  Charakter 


das  Gedankenmaterial,  das  für  den  0/A.  be-  I  der  2üioy.oanxoi  koyoi  abweichen,  spricht,  ab- 
stimmt war,  sei  in  die  'Riivouig  aufgenommen  '  gesehen  von  dem  reichen  philosophischen  Ge- 
worden, halt,  namentlich,  daß  Aristoteles  polit.  VI  2 
^)  Über  diese  Scheidekunst  vgl.  Aristo-  p.  1289b  5  sich  auf  eine  Stelle  des  Politikos 
teles  metaph.  VI  12.  -—  Von  der  in  die  Er-  !   p.  303a  bezieht. 


652  Griechische  Litteratorgeschichte,    L  Klassische  Periode. 

auch  die  von  W.  Dittenberger,  M.  Schanz,  L.  Campbell  u.  a.  aufgedeckten 
sprachlichen  Indizien.  Diesen  gegenüber  kann  die  frühere,  namentlich  von 
E.  Zeller  und  F.  Susemihl  geteilte  Meinung,  daß  die  beiden  Dialoge  wegen 
ihres  prüfenden  Charakters  den  Jugendschriften  Piatons  zuzuzählen  seien, 
nicht  bestehen.^)  Die  Umwälzung  in  Piatons  Anschauungen,  die  sich  im 
Parmenides  ankündigte,  ist  im  Sophistes  vollzogen:  nebst  der  eleatischen 
Einheitslehre  wird  auch  Piatons  eigene  frühere  Ideenlehre  (unter  den 
„Ideenfreunden"  vorsteht  er  sich  selbst  in  seinem  früheren  Stadium)  ver- 
worfen; ein  unbewegliches  Sein  gilt  dem  Piaton  jetzt  als  unerkennbar; 
auch  der  Bewegung  kommt  ein  Sein  zu;  das  Sein  ist  ein  Gemisch  von 
Gegensätzen,  und  die  Aufgabe  ist,  das  Verhältnis  der  Ideen  zu  der  Viel- 
heit der  Erscheinungen,  das  zuvor  in  wenig  klarer  Weise  als  eine  Teil- 
nahme bezeichnet  war,  deutlicher  zu  formulieren.  —  Der  Politikos,  in  dem 
(284  b.  286  b)  der  Sophistes  zitiert  wird,  sucht  den  Begriff  des  richtigen 
Staatsmanns,  von  dem  die  Fähigkeit  gefordert  wird,  die  rechte  Mischung 
im  Staat  herzustellen;  im  Vergleich  mit  der  Politeia  wird  hier  die  Mon- 
archie stärker  hervorgehoben,  die  Demokratie  milder  beurteilt  und  über 
die  Aristokratie  gestellt,  von  Timokratie  nicht  mehr  gesprochen.  Der 
Idealzustand  rückt  femer,  die  Neigung,  sich  mit  dem  Gegebenen  abzu- 
finden, ihm  einen  gewissen  Wert  zuzuerkennen,  sich  analysierend  und 
teilend  darauf  einzulassen,  wächst.  Die  Kritik  an  der  kynischen,  auch  bei 
Xenophon  (Cyrop.  VIII  2,  14)  begegnenden  Vergleichung  des  Staatsleiters 
mit  einem  Hirten  wird  (269  c  ff.)  in  Form  eines  Mythus  gegeben. 

Der  <PiXrißog  teilt  mit  den  dialektischen  Dialogen  der  dritten  Periode 
den  Mangel  szenischer  Einkleidung,  so  daß  es  selbst  zweifelhaft  bleibt,  ob 
unter  Philebos  eine  wirkliche  Persönlichkeit  vorzustellen  sei.  Auch  in 
Eigenheiten  des  Stils,  wie  in  dem  kunstlosen  Bestreben,  den  ins  Stocken 
kommenden  Dialog  durch  Wendungen  wie  code,  ovrojg  und  ähnliche  wieder 
in  Gang  zu  bringen,  zeigt  sich  die  Verwandtschaft  mit  den  Schriften  der 
spätesten  Entwicklungsperiode  Piatons.*)  Den  älteren  Dialogen  ist  der 
Philebos  nur  darin  ähnlich,  daß  Sokrates  wieder  das  Gespräch  leitet,  aber 
nur  der  Name  Sokrates  ohne  alle  persönliche  Farbe,  also  doch  anders  als 
früher.  Gegenstand  des  Dialoges  ist  die  schon  in  der  Politeia  (505  a  flf.) 
berührte  ethische  Frage  nach  dem  Guten,  das  weder  mit  der  Lust,  noch 
mit  der  Einsicht 3)  gleichzusetzen,  sondern  in  der  Vereinigung  beider  zu 
suchen  ist.  Zur  Scheidung  der  Begriffe  zieht  Piaton  hier  in  weitem  Um- 
fang die  pythagoreischen  Kategorien  des  Begrenzten  und  Unbegrenzten 
herein   und  betont  den  Wert  der  Mathematik   stark,   während  die  Ideen- 


*)  Dem  alternden  Piaton  werden  die  Dia-  j   tonische   Aufsätze  III   (Wiener  Ak,  Sitz.ber. 

löge  auch  von  0.  Apelt  in  den  Prolegomena  '    145,  1902.  nr.  11)  32  und  Griech.  Denker  IP 

seiner  Ausgabe  des  Sophistes  (Leipz.  1897  p.  37)  601  f.  im  Zusammenhang  mit  der  Frage  der 

zugewiesen.   Daß  der  Politikos.  der  mehr  von  Abfassungszeit. 

praktischen  Gesichtspunkten  ausgeht,  nach  der  |           ^)  Daß  der  Phil,  gegen  bestimmte  zeit- 

Politeia  zu  setzen  ist,  nicht  umgekehrt,  wie  genössische  Philosophen,  etwa  Aristippos  oder 

man  früher  annahm,  beweist  J.  Nüssek,  über  I   die  Megariker  oder  gar  (H.  Siebeck,  Zeitschr. 

das  Verhältnis  der  platonischen  Politeia  zum  f.  Philos.  107,  1895,  1  ff.)   gegen  Aristoteles 

Politikos.  Philol.  53  (1894)  13—37.  polemisiere,   ist  nicht  nötig  anzunehmen  (H. 

^)  Nachgewiesen  von  Tn.  Gomperz,  Pia-  ■   Räder  357  f.). 


4.  IHe  Philosophie,    c)  Flaton.    (§  342.)  653 

lehre   zurücktritt.     Seiner  späteren  Gedankenentwicklung  gehört  auch  die 
Aufstellung  von  Mischformen  an.^) 

Das  Gespräch  im  Tljuaiog  hat  nach  der  Fiktion  des  Proömiums  am 
Tag  nach  der  Politeia  stattgefunden*)  und  knüpft  insofern  an  die  Politeia 
an,  als  Sokrates,  nicht  zufrieden  mit  der  Utopie  des  Idealstaats,  diesen 
nun  auch  in  die  Wirklichkeit  eingeführt  zu  sehen  wünscht  (Tim.  19b)  und 
diesen  Wunsch  in  einer  Art  von  Roman  sich  erfüllen  läßt;  die  Verwirk- 
lichung des  Staates  wird  in  ein  TJrathen,  wie  es  vor  neuntausend  Jahren 
war,  zurückversetzt.  Dieser  Plan  wird  aber  erst  im  Kritias  ausgeführt, 
so  daß  der  ganze  Timaios  von  Kapitel  5  an  als  eine  große  Digression^) 
empfunden  wird.  Mit  der  von  dem  Pythagoreer  Timaios^)  aus  dem  itali- 
schen Lokroi  (Tim.  20a)  zusammenhängend  vorgetragenen  Lehre  von  der 
Hervorbringung  der  Welt  durch  den  göttlichen  Schöpfer  {drjjuiovgyog),  von 
der  dem  All  innewohnenden  Weltseele  und  dem  zur  Aufnahme  (vTrodoxrj) 
der  Formen  oder  Ideen  geeigneten  unendlichen  Raum,  von  der  Bildung 
der  Elemente  und  der  Schöpfung  der  diesseitigen  Welt,  von  der  Gestaltung 
des  menschlichen  Organismus  und  der  Harmonie  von  Seele  und  Leib  greift 
Piaton,  früher  ein  Verächter  der  ^vatg  als  des  jui]  öv^  über  die  Menschen- 
geschichte zurück  auf  die  Geschichte  der  Natur  und  stellt  damit  seine 
Ethik  und  Politik  auf  einen  kosmischen  Hintergrund,  ein  Aufbau,  den 
Demokritos  angebahnt  und  Aristoteles  weiter  ausgeführt  hat.  Mit  dieser 
Auffassung  ist  die  volle  Konsequenz  gezogen  aus  den  Bemühungen  der 
nächst  vorangegangenen  Dialoge,  auch  der  Erscheinungswelt  wissenschaft- 
lich gerecht  zu  werden.  Wahrheitsgemäße  Erkenntnis  hält  Piaton  freilich  im 
Gebiet  der  werdenden  und  veränderlichen  cpvoig  für  unmöglich  und  trägt 
denn  seine  Physik  als  eine  nur  wahrscheinliche  in  mythologischer  Form 
vor,  will  also  hier  nicht  beim  Wort  genommen  werden.  Ideenwelt  und 
Sinnenwelt  stehen  sich  im  Timaios  unvermittelt  gegenüber,  einen  Paralle- 
lismus bildend.  Die  Sinnenwelt  schafft  der  drjjLuovQyog  mit  Hilfe  der  Einzel- 
götter nach  dem  Vorbild  der  Ideenwelt  aus  dem  hinter  den  vier  Elementen 
stehenden  qualitätslosen  ürstoflf  (Anaximandros) ;  sie  ist  ein  Ccpov  mit  eigener 
Seele.  Die  beiden  Welten  sind  von  der  Zahl  beherrscht  und  weisen  Ein- 
heit sowie  Vielheit  auf.  Die  alte  Scheidung  von  biioTruirj  und  öoi^}]  dö^a 
und  ihren  beiden  Gebieten,  der  Ideen-  und  der  Sinnenwelt,  wird  im  Timaios 
streng  aufrecht  gehalten.  Ist  der  Dialog  hier  richtig  eingeordnet,  so  muß  er 
als  eine  Rehabilitation  der  in  den  vorhergehenden  Dialogen  erschütterten 
Ideenlehre  gelten.  Nachdem  Timaios  die  Kosmologie  vorgetragen  hat, 
fügt  er  am  Schluß  noch  einen  kurzen,  aber  sehr  interessanten  Abriß  der 
Medizin  und  Zoologie  bei.  Die  durch  den  Kommentator  Proklos  uns  er- 
haltene  und  im  Anhang  des  platonischen  Dialogs  abgedruckte  Schrift  des 

>)  Die  Stellung  des  Philebos  nach  dem   I   Gesch.  derPhilo8.9(1896)l  ff.  Zur  inhaltlichen 
Tolitikos  ist  innerlich  begründet  von  H.  Räder   j   Erklärung  C.RiTTEB,Philol.62  (1903) 489— 540. 


873  f.  Die  geschichtlichen  Anspielungen,  die 
J.  Eberz,  Über  den  Philebos  des  Piaton  (Diss. 
Würzb.  1902)  im  Phil,  such!  (Protarchos  = 


^)  Daraus  folgt  natürlich  nicht,  daß  der 
Tim.  sofort  nach  der  Pol.  verfaßt  sein  müsse. 
')  Siehe   darüber  C.  Ritter,  Philol.  62 


Dionysios  IL,  Philebos  =  Philistos)  und  auf  (1903)  410  ff. 
die  er  die  Datierung  367  stützt,  sind  sehr  i  *)  Im  13.  Brief  scheint  die  Lehre  des 
unsicher.  —  Die  von  F.  Hörn  bestrittene  '  Timaios  unter  dem  Namen  Ilvdayfigeta  ver- 
Echtheit des  Phil,  stützt  0.  Apelt,   Arch.  f.  ,  steckt  zu  sein;  S.W.Christ,  Plat.  Stud.482f. 


654  Griechische  Litteratorgeschichte.    I.  KlaAsische  Periode. 

sogenannten  Timaios  Ttegl  x^wxäg  x6oju(o  xal  <pvoiog  ist  ein  auf  den  Namen 
jenes  Pythagoreers  gefälschter  Auszug  der  platonischen  Schrift,  verfaßt 
wohl  in  römischer  Zeit,  als  der  Neupythagoreismus  aufkam.*)  Das  tief- 
sinnige und  großartige  Weltbild,  das  Piaton  im  Timaios  entwirft,  hat  auf 
die  spätere  Zeit  trotz  seiner  vielfachen  Dunkelheit  mächtige  Anziehungs- 
kraft ausgeübt.  Cicero  hat  den  Timaios  ins  Lateinische  übersetzt,  Krantor,  ^) 
Eratosthenes,*)  Poseidonios,*)  Plutarchos^)  und  viele  andere^)  haben  sich 
mit  der  Deutung  des  Werkes  beschäftigt;  die  von  einem  Kommentar  be- 
gleitete lateinische  Übersetzung  des  Chalcidius  (4.  Jahrhundert  n.  Chr.)  hat 
im  ganzen  Mittelalter  eifrige  Leser  gefunden',)  bei  den  Arabern  war  der 
Timaios  das  am  meisten  beachtete  Werk  Piatons,®)  und  der  Timaios  ist  es, 
den  Raflfael  auf  dem  Fresko  der  Schule  von  Athen  den  Philosophen  in 
der  Hand  halten  läßt.») 

Der  Kgiriag  sollte  nach  dem  Eingang  des  Timaios  p.  20a  die  dritte, 
der  Hermokrates^o)  dje  vierte  Stelle  in  der  mit  Politeia  und  Timaios  be- 
ginnenden Tetralogie  einnehmen,  ^i)  Zur  Abfassung  des  Hermokrates  kam 
Piaton  gar  nicht;  der  Kritias  blieb  Fragment,  wie  Plutarch  (Selon  32)  be- 
zeugt. Er  enthält  die  Schilderung  eines  gewaltigen  Reiches  in  der  Atlantis, 
dessen  Macht  später  an  einem  kleinen,  nach  platonischem  Muster  ein- 
gerichteten Staate  scheitern  sollte.  Die  Kunde  von  jenem  Reich  in  der 
Atlantis  will  Kritias  von  seinem  Ahnen  Selon  erhalten  haben,  dem  sie 
ägyptische  Priester  in  Sais  vermittelt  hatten. i*)  Für  Piatons  erdgeschicht- 
liche Anschauungen  bietet  der  Dialog  interessante  Anhaltspunkte. 

Die  Nojuoi  in  zwölf  Büchern  sind  das  letzte  Werk  Piatons  und  fallen 
in  die  Zeit  des  jüngeren  Dionysios.^^)  Der  Standpunkt  des  Philosophen  in 
diesem  Werk  bedeutet  eiii  Aufgeben  des  Idealstaats  und  ein  Anbequemen 
an  die  Wirklichkeit  {Av&oo'moK;  ydg  diakeya/neßa,  dXk'  ov  i^oig  732  e):  aus 
einem  Philosophenkönigtum  wird  eine  auf  Grundbesitz  gestellte  Misch- 
verfassung aus  Elementen  der  Monarchie  und  der  Demokratie,  in  der  auf 
die  Staatsordnung  des  Minos  Rücksicht  genommen  wird.    Die  Gütergemein- 

*)  Verfaßt  ist  der   falsche  Timaios  vor  ')  Vom  Standpunkt  des  heutigen  Natur- 


dem  2.  Jahrh.  n.  Chr.,  da  er  bereits  von  Niko- 
machos  (härm.  11,  6  extr.)  zitiert  wird.  J. 
R.  W.  Akton,   De  origine   libclli  Jifoi  v''7«s 


forschers  hat  die  ganze  Naturlehre  Piatons 
einer  für  den  Philologen  und  Philosophen 
sehr    lesenswerten    Betrachtung    unterzogen 


xoofuo  y,nt  t/voio:;,  Naumburg  1891.  '   B.  Rothlaüp,  Die  Physik  Piatos,  Progr.  der 

«)   Procl.  ad  Plat.  Tim.  I  76,  1.  277,  8  =   Realsch.  München  1887  u.  1888. 

DiEiiL.  ,          »0)  H.  Rädbr  379  sucht  nach  E.Pfleiderers 

')  Über  Erat.  IJ/Muoyixd^  G.  Knaaok  in  j   Vorgang    den    Inhalt    des    ungeschriebenen 

der  Realenz.,  11.  Halbb.  361.  '   Hermokrates  in  den  Gesetzen. 

*)  A.  ScHMBKEL,  Philos.d.mittl.Stoa  317.  »»)  Vgl.  Grit.  p.  108a. 

*)  Plut.  mor.  VI  154  ff.  Bernardakis.  »«)  W.  Christ,  Piaton.  Stud.  507  f.  versucht 

*)  Verzeichnis  der  Timaioskommentatoren  eine  geschichtliche  Verifikation  dieser  Phan- 

bei  H.  Krause,  Studia  neoplat.,  Leipz.  1904,  i   tasie. 

46  ff.;  wirwis8euvon41Timaioskommentaren.  .          *')  Vgl.p.709e,  710d  u.638b  mit  Clearch. 

')  B.W.  SwiTALSKi,  Des  Chalcidius  Kom-  bei  Ath.  541  d;  die  sympathische  Beurteilung 
mentar  zu  Piatos  Timäus ,  eine  historisch-  ,  des  Tyrannen  an  den  beiden  zuerst  angeführ- 
kritische Untersuchung.  Diss.  München  1899  ,  ten  Stellen  steht  in  schroffem  Widerspruch 
=  Beitr.  zur  Gesch.  d.  Philos.  d.  Mittelalters,  zu  Politeia  IX  und  kann  wohl  nur  aus  ac- 
herausg.  von  C.  Bäumker  und  G.  v.  Hkrtling  cidentiellen  Gründen  erklärt  werden.  Daß 
III  (Münster  1902)  6;  vgl.  M.  Schanz.  Rom.  |  die  Nomoi  nach  der  Republik  geschrieben 
Litt.  IV  126  f.  ;   sind,    bezeugt    auch   Arist.  polit.  1264b  26. 

^)  M.  STErNsciiNEiDER,  Ccntralbl.  f.  Bibl.  Die    Gesetze   sind    wahrscheinlich   in   Isoer. 

Beiheft  12  (1893)  21.  ,   Pliil.  12  gemeint. 


4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  342.) 


655 


Schaft  wird  als  unausführbar  aufgegeben  (p.  739  c  ff.),  ebenso  die  kasten- 
artige Berufsteilung;  an  die  Stelle  treten  Vorschriften  über  Ackerverteilung 
und  Beschränkung  der  Besitzfreiheit;  die  Poesie  wird  nicht  ganz  aus  dem 
Staat  verbannt,  aber  ethisch-politischen  Grundsätzen  unterworfen  und 
staatlich  beaufsichtigt;  die  Ehe  wird  ebensowenig  wie  das  Privateigentum 
aufgehoben,  aber  sie  wie  alle  anderen  Grundlagen  des  Gemeinwesens,  Er- 
ziehung, Verteilung  der  öffentlichen  Gewalten,  Beamtenwahl,  Recht- 
sprechung, Staatsreligion,  militärische  Disziplin,  werden  durch  eine  all- 
seitige, bis  ins  einzelne  gehende,  zum  Teil,  wie  in  der  Beschränkung  der 
religiösen  Freiheit,  sehr  polizeimäßige  Gesetzgebung  (B.  X  Kap.  15  u.  16) 
geregelt,  wobei  vielfach  an  Stelle  der  freien  philosophischen  Konstruktion 
ein  Anschluß  an  reale  Verhältnisse  griechischer  Staaten,  insbesondere 
Athens,  1)  tritt.  Von  der  Erziehung  und  Sonderstellung  der  staatsleitenden 
Philosophen  in  der  Politeia  VI.  VII  lassen  die  Nomoi  nur  noch  die  ^nächt- 
liche Versammlung**  (X  15;  XII  6  ff.,  11  ff.)^)  übrig.  Der  wissenschaftliche 
Wert  der  Mathematik  und  Astronomie  wird  noch  höher  veranschlagt  als 
in  der  Politeia.  Bemerkenswert  ist  dagegen  die  Herabsetzung  des  Tugend- 
wertes der  ävdgeia  wegen  ihres  irrationalen,  triebartigen  Charakters.^)  Zu 
metaphysischen  Spekulationen  ist  wenig  Veranlassung  genommen;  aber 
eine  bedeutsame,  freilich  auch  schon  im  Parmenides  verbreitete  Weiter- 
bildung auf  diesem  Gebiet  ist  die  Vollendung  des  Dualismus  durch  An- 
nahme einer  bösen  Weltseele  neben  der  guten  (896  d  f.).*)  In  zwei  Forde- 
rungen faßt  Piaton  das  Glaubensbekenntnis  seines  Alters  zusammen:  fürs 
erste  verlangt  er  die  Überzeugung,  daß  die  Seele  dem  Körper  an  Alter 
und  Wert  voranstehe,  fürs  zweite  die  Überzeugung  von  der  kosmisch  be- 
gründeten Gesetzmäßigkeit  aller  Lebensformen,  die  durch  Studium  der 
Mathematik,  insbesondere  der  Astronomie,  wissenschaftlich  befestigt  werden 
müsse.  —  Anlaß  zu  dem  Gespräch  bietet  nach  der  Fiktion  des  Philosophen 
die  Neugründung  einer  kretischen  Kolonie,  zu  deren  Einrichtung  einer 
der  Mitunterredner,  Kleinias,  berufen  ist.  Cicero  hat  das  Verhältnis  der 
beiden  Werke  nachgeahmt,  indem  er  auf  den  Dialog  de  republica  in 
späteren  Jahren  die  Leges  folgen  ließ.  Piatons  Gesetze  spielen  in  Kreta, 
nicht  mehr  in  Athen;  in  ihnen  allein  auch  fehlt  die  Person  des  Sokrates 
ganz.  Das  Gespräch  wird  von  einem  bejahrten  Fremdling  aus  Athen, 
hinter  dem  Piaton  sich  selbst  verbirgt,  und  einem  spartanischen  und 
kretischen  Greis,  MegiUos  und  Kleinias  mit  Namen,  geführt.  Auf  die 
späte  Abfassung  weist  auch  der  Verfall  der  dialogischen  Kunstform  hin, 
indem  im  ganzen  fünften  Buch  und  zum  großen  Teil  auch  im  elften  und 
zwölften  der  Dialog  dem  fortlaufenden  Lehrvortrag  Platz  macht.  Daß  das 
Werk  unvollendet  von  Piaton  hinterlassen  wurde  und  sein  Schüler 
Philippos  aus  Opus  die  Herausgabe  besorgte,  ist  alte  Überlieferung  (Diog. 
L.  III  37;  Suid.  s.  (pd6oo<po<;;  Olympiod.  Proleg.  24).  Der  unvollendete  Zu- 
stand tritt  in  dem  Text  vielfach  entgegen,  namentlich  in  den  nicht  seltenen 


*)  Über  Piatons  staatsrechtliche  Studiea 
zu  den  Gesetzen  Wilamowitz,  Aristot.  und 
Athen  I  330  ff.;  B.  Kbil,  Gott.  Nachr. 
1899,  143,  1. 


*)  Über  deren  Verhältnis  zu  der  tpvXaxe^ 
der  UoliiEta  C.  Ritter,  Komm,  zu  d.  Ges.  350  ff. 
»)  H.  Räder  399  f. 
*)  Dagegen  C.  Ritter  a.  a.  0.  307  ff. 


656 


Oriechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klasaische  Periode. 


Wiederholungen  und  Widersprüchen,  denen  freilich  auf  der  anderen  Seite 
ein  dichtes  Netz  von  Vor-  und  Rückbeziehungen  gegenübersteht.*)  —  Nach 
einer  Stelle  im  fünften  Buch  p.  739e*)  trug  sich  Piaton  mit  dem  Gedanken, 
den  beiden  in  der  Politeia  und  den  Nomoi  dargestellten  Staatsverfassungen 
noch  eine  dritte  nachfolgen  zu  lassen;  aber  aus  der  vorsichtigen  Fassung 
TgiTjjv  jueid  ravxa,  idr  ^edg  t'^eXyjt  diaTiegavoifjuer^a  ersieht  man,  daß  er  selbst 
nicht  mehr  an  die  Möglichkeit  einer  Ausführung  des  Planes  glaubte.*)  — 
Für  das  richtige  Verständnis  der  ausgedehnten  theoretischen  Beschäftigung 
Piatons  mit  der  Staats-  und  Gesetzeslehre  verdient  die  Überlieferung  Be- 
achtung, daß  er  nicht  bloia  selbst  von  mehieren  Staaten,  wie  Kyrene, 
Theben,  Arkadien,  um  Entwerfung  von  Gesetzen  angegangen  wurde,*)  son- 
dern daß  auch  einige  seiner  Schüler,  wie  Aristonymos,  Phormion,  Mene- 
demos,  tatsächlich  als  Gesetzgeber  tätig  waren.^) 

343.  Unechte  und  zweifelhafte  Schriften.®)  Schon  im  Altertum 
wurden  als  unecht  erkannt  (s.  o.  S.  624,  3)  die  Dialoge  lA^ioxog,  negl  di- 
xaioVf"')  Tteol  ägsrrjgf  Arjjnödoxog,  2!iovq}og,^)  'Egv^iag  (/}  *EgaoioTgatog  Diog.  L. 
in  62),  ''AXxvcov.^)  Die  meisten  von  ihnen  sind  eristische  Disputationen  über 
landläufige  Fragen  der  Popularphilosophie,  wie  über  das  Gerechte,  die  Lehr- 
barkeit  der  Tugend,  den  Wert  des  Ileichtums,  etwa  in  der  Art  der  Memora- 
bilien  Xenophons.  Von  größerem  Umfang  ist  der  Axiochos,  ein  philosophi- 
scher Trostzuspruch  an  einen  Sterbenden,  ^o)  und  der  Eryxias,  der  an  das 


*)  Seine  1839  ausgesprochene  Unecht- 
erklärung der  Nomoi  hat  E.  Zeller  später 
selbst  aufgegeben.  I.  Bruns,  Piatos  Gesetze 
vor  und  nach  ihrer  Herausgabe  durch  Philip- 

g)8  von  Opus,  Weimar  1880,  stellte  die  kühne 
ypothese  auf,  daß  der  Redaktor  zwei  Vor- 
lagen des  Autors  (1.  I  nebst  Stücken  von  V 
und  XII;  2.  III — XII)  vorgefunden  und  un- 
geschickt miteinander  verbunden  habe.  Eine 
ähnliche  Ansicht  Th.  Bergks  wird  von  E. 
RoHDE,  Kl.  Sehr.  I  320  ff.  kritisiert.  Siehe  a. 
M.  Krie«,  Die  Überarbeitung  der  piaton.  Ges. 
durch  Philipp  von  Opus,  Frei  bürg  1896.  Da- 
gegen erhebt  Tn.  Gohperz,  Platonische  Auf- 
sätze III,  besonnene  Einwände;  ebenso  C. 
Ritter  im  Kommentar  zu  Plat.  leg.  p.  54  ff. 
61  ff.  und  Berl.  phil.  W.schr.  23  (1903)  551; 
daß  die  Gesetze  erst  nach  Piatons  Tod  ver- 
öffentlicht worden  seien,  ist  nur  schlecht  be- 
zeugt (so  F.  Blass  im  Apophoreton.  Berl.  1903, 
62:  H.  Räder  396,  der  die  Abfassung  zwischen 
357  und  354  legen  möchte.  Siehe  aber  auch 
H.GoMPERZ,  Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.19, 1906, 
539  f.).  —  G.  HoFMANN,  Krit.  Analyse  der  bei- 
den ersten  Bücher  der  platonischen  Gesetze. 
Diss.  München  1905;  F.  Döring.  De  legum 
Plat.  compositione,  Diss.  Leipz.  1907.  —  über 
die  soziale  Seite  der  Lehre  Piatons  in  der  Re- 
publik und  den  Nomoi  s.  R.  Pöhlmann,  Ge- 
schichte des  antiken  Kommunismus  und  Sozia- 
li.smus,  Bd.  I,  München  1893  S.  269-581. 

2)  Über  diese  Stelle  E.  Rohde.  Kl.  Sehr. 
I  321  f. 

3)  Andere  Erklärung  C.  Ritter  a.  a.  O. 
140  ff. 


*)  Aelian.  v.  h.  II  42  und  XII  30;  Diog. 
L.  III  28;  Flut.  Luculi.  2,  ad  princ.  inert  1 
p.  779  d. 

»)  Flut.  adv.  Col.  32  p.  1126  c  f. 

^)  Über  sprachliche  EchtheitBkriterien 
diesen  Schiiften  gegenüber  C.  Rittbb,  Unters. 
80-110. 

^)  Der  Inhalt  ist  verwandt  mit  Xen.  mem. : 
K.  JofiL.  Der  echte  und  der  xen.  Sokr.  1 402  ff. 

®)  Der  Sis.  ist  von  Dio  Chrys.  benützt: 
J.  Wegehaupt,  De  Dione  Chr.  Xenophontis 
sectatore,  Gotha  65  ff. 

•)  'A/.xv(or,  der  von  Myrto  als  zweiter  Frau 
des  Sokrates  redet  (vgl.  Epist.  Socratic.  29, 11) 
steht  auch  unter  Lukians  Werken ;  nach  Athen. 
506  c  schrieben  ihn  andere  dem  Akademiker 
Leon  zu.  Daß  er  aus  mittelstoischen  Kreisen 
im  2.  Jahrb. v.Chr.  hervorgegangen  ist,  beweist 
A.  Brinkmann,  Quaestion.  de  dialogis  Piatoni 
falso  addictis  specim.,  Diss.  Bonn  1891. 

*<>)  Eine  Analyse  des  Axiochos  gibt  0.  Im- 
Miscu,  Phil.  Stud.  zu  Plato,  1.  Heft,  Leipz.  1896. 
Versuche,  aus  dem  Ax.  Lehren  des  Prodi- 
kos wiederzugewinnen,  sind  zurückgewiesen 
von  H.Feddersen,  Ober  den  pseudoplat.  Dial. 
Ax.,  Cuxhaven  1895,  und  E.  Rohde,  Psyche 
IP  247,  1.  Die  ünsterblichkeitsbeweise  des 
Axiochos  zeigen  Einfluß  der  epikureischen 
Lehre,  worüber  A.  Brinkmann,  Beiträge  zur 
Kritik  und  Erklärung  des  Dialogs  Axiochos, 
Rh.  M.  51  (1896)  441—55.  den  auch  (Rh.  M. 
52.  1897,  682  f.)  ein  byzantinisches  Axiochos- 
zitat  nachweist.  Der  Ax.  gehört  zu  den  in 
Cic.  Tusc.  und  Plut.  consol.  ad  Apoll,  benützten 
Quellen  (P.  Corssen.  Rh.  M.  36, 1881,  516  ff.). 


4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  343.)  657 

Erscheinen  eines  steinreichen  Gesandten  aus  Syrakus  Betrachtungen  über 
den  wahren  Reichtum  anknüpft,  eine  Nachbildung  des  Chamiides.^)  Beide 
Dialoge  haben  das  Gemeinsame,  daß  sie  Erinnerungen  an  Vorträge  des  Pro- 
dikos in  das  Gespräch  einflechten  (Axioch.  p.  366  c  u.  369  b  und  Eryx.  p.  397  d). 
—  Zu  den  schon  im  Altertum  als  unecht  verworfenen  Dialogen  kommen 
noch  andere,  deren  Echtheit  erst  die  neuere  Kritik  angefochten  hat: 

Der  Oedyrjg  ist  eine  mit  Benützung  des  Alkibiades  I  und  anderer 
platonischer  Dialoge*)  gemachte  Nachbildung  des  Laches,  indem  auch  hier 
ein  angesehener  Athener,  Demodokos.  dem  Sokrates  seinen  Sohn  Theages 
in  die  Lehre  geben  will.  Anstößig  ist  die  ungeschichtliche,  namentlich 
unplatonische  Auffassung  des  Sokrates  als  eines  Wundermanns,  der  seine 
Schüler  durch  seine  bloße  Nähe  gewissermaßen  magnetisiert,  und  des  Dai- 
monion,  das  nicht  mehr  als  die  innere  Stimme  erscheint,  sondern  wie  ein 
Privatorakel  des  Sokrates  zum  Raterteilen  in  allen  Verlegenheiten  herhalten 
muß,^)  endlich  auch  die  Sprache.*)  So  gewiß  das  Gespräch  unecht  ist,  so 
interessant  ist  es  als  Dokument  einer  an  Spiritismus  grenzenden  Phase  in 
der  Entwicklung  der  Sokratik. 

^Akxißiddrjg  a  knüpft  an  den  Protagoras  und  die  Liebe  des  Sokrates 
zu  Alkibiades  an.  Der  Dialog  stand  als  Fürstenspiegel  in  großem  Ansehen 
bei  den  Späteren,  so  daß  er  oft  kommentiert  wurde.  Gut  und  echt  sokra- 
tisch  ist  die  Weise,  wie  Sokrates  dem  jungen  Alkibiades  zu  Gemüt  führt, 
daß  er,  bevor  er  als  Berater  des  Volkes  auftreten  dürfe,  zuerst  über  das, 
was  gerecht  (dixaiov)  und  nützlich  {ovju<p€Qov)  ist,  mit  sich  ins  reine  kommen 
müsse. '^)  Inhaltlich  verwandt  ist  Xenoph.  mem.  III  6.  Auch  mit  Xen.  anab. 
und  echten  platonischen  Dialogen  finden  sich  Berührungen,  ohne  daß  mit 
Bestimmtheit  gesagt  werden  könnte,  wer  der  Entlehner  oder  allenfalls  die 
gemeinsame  Quelle  sei.  Aber  die  Personalcharakteristik, ^)  der  Ton  und 
die  Sprache  lassen  doch  die  Feinheit  Piatons  vermissen.^)  Da  der  Dialog 
Anspielungen  auf  den  Frieden  des  Antalkidas  (p.  105c.  120a)  und  das 
Bündnis  von  Athen  und  Sparta  gegen  Theben  (p.  121a)  um  374  enthält, 
so  muß  er  nach  dieser  Zeit  verfaßt  sein,®)  in  die  auch  sprachliche  An- 
zeichen weisen.®) 

*)  I.Bbüns,  Litt.  Portr.  342.   Der  Ervxias  «  (wuig-    N.  Madvio,  Advers.  crit.  402  Anm. 

wurde  von  manchen  dem  Sokratiker  Aiscnines  verwirft  den  Dialog,  zugleich  aber  auch  den 

zugeschrieben.  O.ScHROHL,DeEryxiaquifertur  |   Charmides,  Lysis  und  Laches. 

Piatonis,  Göttingen  1901  urteilt  bezüglich  der  ^)  Ein  Aiizeichen   für  die  Zeit  vor  371 

Abfassungszeit  p.  42 :  non  dubitamus  quin  dia-  \  findet  E.  Meter,  Gesch.  d.  Alt.  V  29  in  p.  122 e. 

hgtii*non  ante  tertiumsaeculumconscriptua  Sit.  \   R.  Hibzel,  Rh.  M.  45  (1890)  419  flf.  sieht  im 

^)  R.  Adam,  Arch.  f.  Gesch.  der  Philos.  '   Ale.  1.  die  Antwort  eines  Akademikers  auf 

14  (1901)  62  ff.    Siehe  a.  H.  Gompebz  ebenda  i   einen  Dialog  des  Aristoxenos.   R.  Aoak,  Arch. 

19  (1906)  540  ff.,  der  den  Theag.  durch  Fiat.  f.  Gesch.  d.  Philos.  14  (190 1)40  ff.  hält  den  Dia- 

reip.496bc  angeregt  sein  läßt.  I   log  für  echt,   wie  ihn  Cicero  schon  als  echt 

')  Ähnlich  schon  Xenophon  mem.  1,  1,  4  benützt  habe,  sieht  in  ihm  ein  Parergon  zur 

undPlutarch.  degenioSocraUsc.  10  p.  580cff.;  I   Politeia  und  findet  Reminiscenzen  an  ihn  bei 

L  Bruks,  Litt.  Portr.  345  ff.    Vgl.  W.  Janell,  i   Xenophon;  jedenfalls  sei  er  369  entstanden. 

Die  Echtheit  und  Abfassungszeit  des  Theages,  Gegen  die  Echtheit  J.  Paulu,  Alcib.  prior 

Herm.  36  (1901)  427  ff.,  der  ihn  369/66  setzt,  i   quo  iure  vulgo  tribuatur  Piatoni,  Diss.  philol. 

*)  C.  Ritter,  Unters.  94  ff.  Vindob.  8  (1905)  1  ff.,   der  den  Dialog  nach 

'-")  Vgl.  Plat.  symp.  216a.  \   Isoer.  Paneg.  setzen  will;  ebenso  H.  Abbs,  De 

«)  I.  Bbüns,  Litt.  Portr.  339  ff.  Ale.  I  qui  fertur  Plat.,  Diss.  Kiel  1906. 

')  Hiate  z.  B.  p.  105  b  xai  ei  av  ooi  filTo«  •)  C.  Ritter,  Unters.  89. 

Handbuch  der  klau.  Alt^rtnmswissenschaft.    vn.  5.  Aufl.                                                    42 


658  Ghriechische  Litteratargescliiohte.    I.  Elaadsche  Periode. 

Fest  steht  die  ünechtheit  des  'Alxißiddrjg  /S',  in  dem  ^Ak>cißidAri<;  a 
benützt  ist;  er  empfiehlt  den  Brauch  der  Lakedaimonier,  Gott  einfach  um 
das  Gute  zu  bitten,  in  Übereinstimmung  mit  Xenophon  mem.  I  3,  2;  eben 
diesem  haben  nach  dem  Zeugnis  des  Athen,  p.  506  c  einige  geradezu  den 
Dialog  zugeschrieben.*) 

"InnaQxog  interessiert  zumeist  durch  die  Nachrichten  über  die  litte- 
rarische Tätigkeit  des  Peisistratiden  Hipparchos.  Hipparchos  wird  hier  von 
Sokrates  mit  einer  von  der  feinen  Ironie  des  platonischen  Sokrates  stark 
abweichenden  Pedanterie  über  das  Wesen  des  (pdoxegdi^g  examiniert.*) 

Die  'Egaoraiy  in  der  Situationsschilderung  an  Charmides  und  Lysis 
angeschlossen,  haben  den  Namen  von  den  Geliebten  zweier  Knaben,  mit 
denen  Sokrates  in  der  Schreibschule  des  Dionysios  das  Thema,  daß  Philo- 
sophie und  Vielwissen  zwei  ganz  verschiedene  Dinge  seien,  mit  entlehnten 
Phrasen  bespricht.*) 

KieiToqxüVy  eine  von  Chrysippos  an  vielbenützte*)  Schrift,  schließt 
sich  an  die  Politeia  an,  paßt  aber  eher  in  den  Mund  eines  Gegners  der 
platonischen  Staatslehre  als  des  Piaton  selbst*^)  und  wird  wohl  richtig 
als  eine  Streitschrift  gegen  die  antisthenische  Sokratik  verstanden,«)  der 
Sokrates  als  bloßer  jigorgejirixög,  Tugendredner,  erschien,  der  doch  das  Werk 
{^Qyov)  der  Tugend  nicht  zustandebringe. 

'EjTivojulg  {'Emvöfuor  bei  Olympiod.  proleg.  25)  soll  als  Schlußstein 
der  Gesetze  die  Erziehung  zur  Weisheit  enthalten,  und  ihre  Anschauungen, 
auch  die  hier  neu  oder  zuerst  in  festerer  Formulierung  auftretenden,  wie 
die  Lehre  von  den  fünf  Elementen  und  den  dämonischen  Zwischenweaen, 
liegen  ganz  in  der  Richtung  des  spätplatonischen  Philosophierens.  Die 
Entscheidung  über  die  Echtheit  hängt  davon  ab,  wieviel  pythagoreische 
Zahlenverehrung  und  wieviel  Nachlässigkeit  der  Form  man  dem  greisen 
Piaton  zutrauen  will.  Einige  (Diog.  L.  III  37)  schrieben  den  Dialog,  der 
jedenfalls  nach  Umfang  und  Gedankentiefe  über  die  sonstigen  Pseudoplatonica 
weit  hervorragt,  dem  Philippos,  dem  Herausgeber  der  Gesetze,  zu.') 

*)   Abweichungen    vom    Sprachgebrauch  *)  J.Weoehaüpt,  De  Dione  Clirys.  Xeno- 

des  echten  Piaton  verzeichnet  G.  Stallbaum  phontis  sect.  59  ff. 

V  V  Proleg.  340—42  u.  C.  Rittbr,  Unters.  88,  ;           *)  R.  Kunert,    Quae  inter  Clitophontem 

vom  attischen  Dialekt  H.  Usener.  Nachr.  d.  |   dialogum  et  Plat.  rempublicam  intercedat  ne- 

Gött.  Ges.  1892  S.  48  f.    E.  Bickel,  Arch.  f.  cessitudo,  Gr^-ph.  1881. 

Gesch.  d.  Philos.  17  (1904)  460 ff.  will  den  Alk.  «)  So  R.  Hirzel,  Dialog  I  119;  K.  JofiL, 

II  der  Akademie    des    Arkesilaos   zuweisen  Der  echte  und  der  xenoph.  Sokr.  1  483.    Zum 

wegen  der  Polemik  gegen  den  Kynismos.  Inhalt    und    der    Problemstellung   vgl.  Xen. 

*)  Die  Echtheit  bezweifelt  schon  Ael.  mem.  I  4,  1;  Aristot.  eth.  Nie.  II  3;  X  10 
var.  bist.  V^III  2  extr.;  über  die  Abfassungs-  p.  1179b  2  ff.;  M.  Aurel.  eig  hivxov  I  7  (Ver- 
zeit  F.  Kopp,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt.  9  (1902)  achtung  der  noo.^Qe.inxa  loydnia  des  Rusti- 
630  f.  und  J.  Beloch,  Griech.  Gesch.  II,  353  cus).  Piaton  selbst  hatte  ap.  29 d  den  So- 
A.  2;  einen  V^ersuch,  die  Echtheit  zu  retten,  krates  noch  wesentlich  als  Protreptiker  ver- 
macht W.  Eckert,  Dialektischer  Scherz  in  den  standen. 

frühereu  Dialogen  Platona.  Progr.  von  Schwa-  ')  E.  Zellkr.  Phil.  d.  Griech.  II 1*.  1040 ff. ; 

bach,  Nürnberg  1907.  für  unecht  hält  die  Ep.  Proklos  bei  Olympiod. 

^)  W.  Christ,  Plat.  Stud.  o08f.  nimmt  an.  proleg.  25  und  Comm.  ad  Plat.  remp.  11  134, 

daß  nach  einer  Stelle  der  Erastai(p.  135  e)  Era-  5  ff.  Kroll.     Für  die  Echtheit  der  Ep.  tritt 

stothenes   den   Beinamen    nnidObK   erhielt.  H.  Räder  413  ff.  ein,  und  ihm  schließt  sich 

Aelius  Aristides  (or.  40  p.  178  Dixd.)  hält  die  j    H.  Reuther,  De  Epinomide  Plat.,  Diss.  Leipz. 

7t;..  für  echt.  '    1907  an. 


4.  Die  FhiloBoplue.    c)  Platon.    (§  343.)  659 

Mlvcog,  ein  geschmackloser,  eher  eines  Grammatikers  als  eines  Philo- 
sophen würdiger  Dialog,  wurde  von  dem  Grammatiker  Aristophanes  mit 
Nomoi  und  Epinomis  zu  einer  Trilogie  zusammengefaßt.  Den  Namen  hat 
er  von  Minos,  der  als  Gesetzgeber  in  die  oberflächliche  Untersuchung  über 
das  Wesen  des  Gesetzes  hereingezogen  und  gegen  die  Verunglimpfungen 
durch  das  attische  Drama  in  Schutz  genommen  wird.  Entstanden  ist  der 
Dialog  erst  nach  dem  Tod  Piatons,  aber  jedenfalls  noch  im  4.  Jahr- 
hundert.^) 

Briefe  sind  uns  unter  Piatons  Namen  dreizehn  erhalten,  oder  viel- 
mehr zwölf,  da  der  erste  nicht  von  Platon,  sondern  von  seinem  Freund 
Dion  an  den  König  Dionysios  geschrieben  sein  will.  Diese  sind  von  Cicero, 
Plutarch  im  Dion,  Aelius  Aristides  als  echt  benützt  und  schon  von  Aristo- 
phanes von  Byzantion  in  die  Trilogieausgabe  aufgenommen  worden.  Die 
Sammlung  ist  aus  verschiedenen  Bestandteilen  zusammengeflossen,  wie 
man  schon  daraus  sieht,  daß  der  dreizehnte  Brief,  wiewohl  an  Dionysios 
gerichtet,  nicht  bei  den  übrigen  auf  sizilische  Verhältnisse  bezüglichen 
Briefen  (1 — 8)  steht.  Die  meisten  und  längsten  der  Briefe  betreffen  die 
Beziehungen  Piatons  zu  den  Machthabern  Siziliens  und  dienen  den  Partei- 
interessen der  Anhänger  Dions;  aber  gerade  diese  sind  trotz  der  vielen 
Detailangaben  entschieden  unecht.  Die  im  zweiten  und  siebenten  Brief 
(p.  312  d  und  341  f)  ausgesprochene  Anschauung,  daß  Platon  seine  Lehren 
über  die  letzten  Dinge  nicht  durch  die  Schrift  veröffentlicht,  sondern  für 
enge  Kreise  von  Eingeweihten  zur  bloß  mündlichen  Darlegung  vorbehalten 
habe,  ist  aus  jener  Geheimniskrämerei  hervorgegangen,  die  erst  nach 
Piatons  Tod  mit  dessen  Lehre  getrieben  wurde.  Die  Stelle  im  achten 
Brief  p.  353  e  von  dem  drohenden  Untergang  der  hellenischen  Zunge  durch 
die  Herrschaft  der  Punier  und  Opiker  klingt  wie  ein  vaticinium  ex  eventu 
aus  der  Zeit  nach  dem  Pyrrhoskriege  (280).  Aber  deshalb  brauchen  noch 
nicht  alle  Briefe  unecht  zu  sein.*)  Zweifellos  unecht  sind  die  Piatonbriefe 
14 — 18,  die  K.  F.  Hermann  aus  der  Sammlung  der  Sokratikerbriefe  ent- 
nommen und  an  die  ersten  dreizehn  angeschlossen  hat. 

344.  Gesamtcharakteristik.»)    Eine  Würdigung  von  Piatons  Philo- 

0  A.  BöcKH,  Comm.  in  Platonis  qui  viilgo  VII  in  Diss.  philol.  Halens.  17  (1907)  115  ff., 

ferturMinoem.Halisl806;H.  UsENEB.  Organi-  wo  auch   eine  kritische  Übersicht  über   die^ 

satiou  der   wiss.  Arbeit,    Preuß.  Jahrbb.  53  .   neuere   Litteratur    betr.    die    £chtheit8frage 

(1884)  20.  gegeben   wird;    für  die    des  siebenten   und 

*)  Gegen  W.  Christs  (Platon.  Stud.  477)  i  achten  Briefes  C.  Ritter,  Komm,  zu  den  Ge- 
Annahme der  Echtheit  von  ep.  XIII  erhoben  '  setzen  367  ff.  (mit  Ausscheidung  von  VII  341b 
Einsprache  E.  Zeller,  Gesch.  d.  gr.  Phil.  II  bis  345  c);  ihm  schließt  sich  an  M.  Odau. 
1^  483  und  F.  Süsbmihl,  AI.  Litt.  II  582,  vgl.  !  Quaest.  de  VII.  et  VIII.  Plat.  epistula  capita 
Th.  Gompbrz,  Gr.  Denker  IP  564  f.  Von  der  duo,  Königsb.  1906,  der  p.  89  f.  die  antiken 
Echtheit  aller  Briefe  gebt  aus  F.  Blass,  Att.  testimonia  für  die  Briefe  zusammenstellt. 
Bereds.  III  2^  286  und  ders..  Über  die  Zeit-  ''  ^)  Über  die  Lehre  Piatons  handeln  (abge- 
folge  von  Piatons  letzten  Schriften,  in  Apo-  sehen  von  E.  Zeller)  W.  G.  Tennemann, System 
phoreton,  dargebracht  von  der  Graeca  Haien-  derplaton.  Philosophie. Lei pz.  1792 — 95, 4  Teile 
sis  der  Philologenversammlung.  Berlin  1903.  in  2  Bde.;  F.  Susemihl.  Genet.  Entwicklung 
Weiter  tritt  für  die  Echtheit  aller  Briefe,  an  der  plat.  Philos.  I— IV  (S.  o.  S.  621,  2);  Tu.W. 
die  auch  Ed.  Meyer  glaubt.  H.  Räder,  Rh.  '  v.  Heusdb,  Initia  philosophiae  Platonicae,  üt- 
M.  61  (1906)  427  ff.  511  ff.  ein,  für  die  des  recht  1827— 31, 2 Bde.;  8. Ribbing, Genetische 
siebenten  Briefes  J.  Bertheau,  De  Plat.  ep.  Darlegung  der  plat  Ideenlehre,  Leipz.  1863  bis 

42* 


660  Oriechische  litteratorgeschichte.    L  KUsnsche  Periode. 

Sophie  nach  ihrem  Inhalt  ist  nicht  Aufgabe  dieser  Darstellung.  Nur  was 
von  ihr  zum  Verständnis  des  Piaton  als  Schriftstellers  unerläßlich  ist^  muß 
berührt  werden.  Bezeichnend  für  Piatons  Geistesart  ist,  daß  sein  Philo- 
sophieren nicht  in  irgend  einem  Zeitpunkt  seines  langen  Lebens  zu  einem 
System  unbeweglicher  Lehrsätze  erstarrt  ist,  sondern  sich  fortwährend 
und  ohne  jeden  Stillstand  betätigt  als  ein  unermüdliches  und  immer  neu 
ansetzendes  Durchdenken  und  Durchprüfen  der  Probleme  des  Lebens  und 
der  eigenen  Überzeugungen.  Er  ist  nicht  Eroberer  und  Organisator,  son- 
dern Sucher,  freilich  einer,  dem  eine  innere  Stimme  sagt,  was  er  finden 
soll  und  muß,  d.  h.  Persönlichkeit  im  höchsten  Sinn,  die  wohl  etwa  durch 
Einflüsse  äußerer  Art,  auch  Verstandeserwägungen  sich  zu  Umwegen  ge- 
nötigt sieht,  aber  keinen  Augenblick  ihr  Ziel  aus  den  Augen  verliert. 
Was  er  gedacht  und  geschrieben  hat,  ist  alles  mit  seiner  Persönlichkeit 
und  ihren  Wandlungen  innig  verwachsen  und  immer  notwendige  Äußerung 
seines  jeweiligen  inneren  Erlebens.  Daher  ist  zwar  in  allen  Schriften  eine 
konvergente  Gedankenrichtung  vorhanden,  aber  doch  ist  in  Stimmung  und 
philosophischem  Gehalt  keine  der  anderen  völlig  gleich.  Diese  Konfessionen 
gibt  er  nun  aber  nicht  in  direkter  Form,  sondern  in  objektiv-dramatischer 
Verkleidung:  was  dem  Tragiker  der  Heros  und  seine  Sage,  das  ist  dem 
Piaton  Sokrates  und  der  ZayxQaxixog  loyog.  Wenn  er  auch  durch  die 
Sokratestradition  im  Vortrag  eigener  Meinung  weniger  behindert  ist  und 
sich  behindert  fühlt  als  der  Tragiker  durch  seinen  Mythos,  so  sehen  wir 
doch  bei  dieser  Formgebung  Piatons  eigene  Person  nur  durch  einen  Schleier 
und  müßten  die  so  entstandene  Erschwerung  des  Verständnisses  bedauern, 
wenn  sie  nicht  zugleich  Anlaß  zur  Entfaltung  der  wunderbarsten  Kunst 
und  zur  Entwerfung  unschätzbarer  Kulturbilder  gäbe. 

Eine  mikroskopische  Analyse  von  Piatons  Gedanken  würde  wie  bei  den 
meisten  großen  Männern  das  Ergebnis  liefern,  daß  sehr  viele  von  ihnen  schon 
vorher  in  Vereinzelung  aufgetreten  und  so  auch  auf  ihn  übertragen  worden  sind 
oder  wenigstens  sein  konnten,  i)  Seine  Größe  liegt  in  der  energischen  Zu- 
sammenfassung dieser  Elemente  durch  eine  machtvolle,  autonome  und  gestal- 
tungskräftige Persönlichkeit.  In  seinen  Lehrjahren  (s.  o.  S.  614  f.)  hat  er 
sich  nur  angeeignet  und  in  sich  zur  Wirkung  kommen  lassen,  was  ihm 
gemäß  war.  Die  herakleitischen  Einflüsse  konnten  seine  tiefinnerliche 
Abneigung  gegen  allen  Relativismus,  seine  Skepsis  gegen  die  wandelbare 
Sinnenwelt  nur  befestigen.  Dann  trieb  ihn  sein  eigenes  sittliches  Pathos 
und  sein  leidenschaftliches  Verlangen  nach  festen  Ausgangspunkten  der 
Welterkenntnis  und  zugleich  Zielen  und  Normen  des  sittlichen  Lebens  zu 

1864,  2  Bde.;   D.  Peipers,   Ontologia  Plato-  ,   führung  in  den  Idealismus,  Leipz.  1903;    G. 

nica, Leipz.  1883 ;  E.  Ppleiderer, Sokrates  und  |   Schneider,   Die  piaton.  Metaphysik,   Leipz. 

Plato,  Tübingen  1896:  Tn.  (lOMPERz,  Griech.  1884;    ders..    Die  Weltanschauung   Piatons, 

Denker  II,  1902  (2.  Aufl.  1903) :  W.  Lutos-  dargest.  im  Anschl.  an  den  Dialog  Phaedon, 

LAWSKi,  The  Origin  and  growthofPlato's  Logic  Berl.  1898;   sehr  dogmatisch  die  kurze  Dar- 

18. o.S. 621.2);  VV. Pater  Plato  und  der  Plato-  Stellung  von  \V.  Windelband,  Piaton,  Stuttg. 

nismus.   übersetzt  von  H.  Hecht,  Jena  1904  ,    1900  (8.  A.  1901).   Siehe  auch  oben  S.  621,  2. 

(vielfach  subjektiv  und  einseitig  ästhetisierend,  '            *)    Schon    im    Altertum    gab    es  Leute, 

aber  von  feiner  Anempfindung);    H.  Räder,  denen  PI.  ein  Eklektiker  oder  gar  Plagiator 

Piatons  Philosoph.  Entwicklung,  Leipz.  1905;  war.     Siehe  o.  S.  620,  1. 

P.  Natorf,    Piatos    Ideenlehre,    eine    Ein-  I 


4.  Die  Philosophie,    c)  Piaton.    (§  344.)  661 

Sokrates  hin;  an  ihm  mußte  ihn  der  unbeirrbare  sittliche  Instinkt,  die 
Reinheit  der  Lebensführung,  die  Abwendung  von  der  Naturbetrachtung, 
die  nie  zuvor  dagewesene  Kunst,  durch  Dialektik  fremde  Wahnvorstel- 
lungen umzustürzen  und  die  eigene  Überzeugung  gegen  Zweifel  und  An- 
fechtungen zu  sichern,  in  hohem  Maß  anziehen.  Daß  weiterhin  der  ge- 
borene Gegner  des  Herakleitismus  in  das  eleatische  Lager  getrieben  wurde, 
bedarf  keiner  besonderen  Begründung;  er  hat  aber  den  starren  Begriff  der 
eleatischen  Seinseinheit  belebt  und  bereichert,  freilich  auch  eben  dadurch 
wieder  anfechtbar  gemacht.  Zur  Klarheit  über  die  richtige  Staatsverfas- 
sung wird  ihn  schon  die  Forderung  des  Sokrates  geleitet  haben,  daß  im 
Staat  nicht  irgendwelche  äußere,  sei  es  ererbte  oder  erschlichene  Autorität, 
sondern  lediglich  Einsicht  und  Sachkunde  regieren  sollten.  Durch  die  Be- 
kanntschaft mit  den  Pythagoreervereinen  hat  bei  ihm  dann  das  Ideal  des 
von  Philosophen  beherrschten  Staats  bestimmtere  Formen  angenommen 
und  ist  gleichzeitig  seine  Hochschätzung  für  die  Mathematik  als  die  Formen- 
lehre des  Universums  begründet  und  der  mystisch-religiöse  Zug  in  ihm 
verstärkt  worden.  Alle  diese  Einflüsse  haben  ihn  nicht  etwa  aus  seiner 
Bahn  getrieben,  sondern  nur  zur  Reife  gebracht,  was  in  ihm  angelegt  war. 

Aus  der  Schule  des  Sokrates,  dessen  einseitiger  Begriffsrationalismus 
Piatons  mystischer  Künstlernatur  auf  die  Dauer  nicht  völlig  genügen 
konnte,  ging  ein  scharfsinniger,  unerbittlicher  Kritiker  hervor,  der  im 
Gorgias  zeigte,  daß  er  vor  keiner  Konsequenz  zurückschrecke;  er  übt  aber 
nicht  die  ätzende  Kritik  des  gesinnungslosen  Spötters,  der  kein  Verant- 
wortungsgefühl kennt,  sondern  hinter  seinen  Angriffen  steht  eine  felsen- 
feste sittliche  Überzeugung  und  ein  klares  Bewußtsein  dessen,  was  sein  soll. 
Die  Welt,  die  sich  den  Sinnen  darbietet,  befriedigt  weder  seine  intel- 
lektuellen noch  seine  sittlichen  Forderungen:  als  ein  ewig  Werdendes  und 
Wachsendes  ist  sie  für  das  Streben  nach  Erkenntnis  unverrückbarer  Wahr- 
heit kein  geeignetes  Objekt,  und  in  den  menschlichen  Einrichtungen,  die 
auf  sie  gebaut  sind,  verwirklicht  sich  nicht  das  Gebot  der  Gerechtig- 
keit. Dieser  Welt  stellt  er,  zunächst  unvermittelt,  ein  transzendentes 
Reich  der  unwandelbaren  Begriffe  und  Werte,  der  Ideen  gegenüber;  an 
ihnen,  die  allein  wahres  Wissen  {imoxtj/Lifj)  gewähren,  soll  sich  der  mensch- 
liche Geist,  ebenfalls  aus  diesen  Lichtregionen  stammend,  aber  durch  die 
Fesseln  der  Körperlichkeit  gehemmt,  für  sein  Erkenntnisstreben  und  für 
die  Leitung  des  sittlichen  Lebens  orientieren;  auf  anderem  Weg  ist  wahres 
Glück  nicht  zu  erlangen.  So  ist  der  Satz  des  Sokrates,  daß  Tugend  auf 
Wissen  beruhe,  aus  seiner  rationalistischen  und  empiristischen  Enge  her- 
ausgehoben und  unendlich  vertieft.  Denn  Piatons  Ideen  sind  nicht  nur 
Gegenstände  vernunftmäßigen  Erkennens,  sondern  auch  liebenden  Ver- 
langens: die  Seele  sehnt  sich  nach  ihnen  wie  nach  ihrer  wahren  Heimat 
und  sucht  ihre  Spuren  in  dem  verschlechterten  Abbild  der  Sinnenwelt.  In 
die  nüchterne  Philosophie  des  Sokrates  hat  Piaton  ein  Element  des  Enthu- 
siasmus eingeführt  und  so  eine  Religion  aus  ihr  gemacht. 

Die  Arbeit  daran,  diesem  Glauben  an  die  Ideen  ein  wissenschaft- 
liches Fundament  zu  schaffen,  hat  den  Piaton  bis  ans  Ende  seines  Lebens 
beschäftigt.     Zunächst  streckt  er  mit  Blitzen  der  Kritik,   die   nach   allen 


662  OriecluBche  Litteraturgescluchte.    I.  Klassische  Periode. 

Seiten  fahren,  die  Scheinweisen  verschiedenster  Art  {doS6o(Hpoi)  nieder  und 
macht  sich  so  den  Plan  frei.  Seine  Leidenschaft  reißt  ihn  zur  moralischen 
Vernichtung  der  ganzen  attischen  Demokratie  nebst  allen  ihren  gefeierten 
^rjTOQeg  und  ngoordrai  hin.  Dann  wendet  er  sich  zum  Neubau  im  Lichte 
der  Ideen  mit  Politeia  und  Phaidros.  Aber  kaum  steht  der  Bau  fertig 
da,  so  beginnt  eine  neue  Phase  seines  Geisteslebens,  in  der  er  seine  Kritik 
nicht  mehr  gegen  auisen,  sondern  gegen  sich  selbst  wendet  und  nun  wie 
im  Selbstgespräch  die  Haltbarkeit  seiner  Ideenlehre,  den  Wahrheitsgehalt 
der  Sinnenwelt,  das  Verhältnis  der  Ideen  zu  ihr  einer  letzten  tiefdringen- 
den  Prüfung  unterwirft,  um  schließlich  in  den  Gesetzen  ein  der  Wirklich- 
keit mehr  angenähertes  Bild  der  richtigen  Verfassung  zu  entwerfen  und 
im  Timaios  auch  noch  eine  merkwürdige  Expedition  in  das  zuvor  ver- 
achtete Gebiet  der  Physik  zu  machen. 

Diese  weltfernen  Gedankengänge  trägt  nun  Piaton  nicht  in  abstrakter 
Lehrhaftigkeit  vor,  sondern  läßt  sie  auf  lebensvollem  Hintergrund  in  der 
Wechselwirkung  zwischen  greifbaren  Persönlichkeiten,  sei  es  Vertretern 
entgegengesetzter  Anschauungen,  sei  es  Lehrer  und  Schüler,  wie  von  selbst 
wachsen.  Hat  er  ja  doch  von  Sokrates  die  Überzeugung  übernommen, 
daß  die  Wahrheit  nicht  durch  Lehrvorträge,  sondern  nur  durch  dialektische 
Erörterung  gefunden  werde.  Seine  Ausführungen  gewinnen  dadurch  an 
Gemeinverständlichkeit  und  Überzeugungskraft,  wiewohl  dem  aufmerk- 
sameren Beobachter  nicht  entgehen  kann,  daß  Piaton  bewußt  oder  un- 
bewußt hie  und  da  Gedankensprünge  macht,  Möglichkeiten  der  vollständi- 
geren Problemstellung  übergeht,  Paralogismen  und  Sophismen  auch  von 
seinem  Sokrates  anwenden  läßt,  der  Diskussion  nicht  immer  eine  ganz 
unparteiische  Wendung  gibt.*) 

Als  Schriftsteller  ist  Piaton  —  das  gestehen  selbst  die  von  ihm  ge- 
ärgerten Khetoren  zu*)  —  von  keinem  anderen  griechischen  Philosophen, 
ja  von  keinem  griechischen  Prosaiker  erreicht  worden.  Zu  solcher  Voll- 
endung hat  er  es  gebracht,  obgleich  —  vielleicht  weil  —  er  keinen  rheto- 
rischen Unterricht  gehabt  hat.  Seine  stilistischen  Erzieher  sind  neben  den 
vornehmen  Kreisen  der  attischen  Gesellschaft,  aus  denen  er  stammte,  So- 
krates und  die  Dichter  gewesen.  Von  Sokrates  hat  er  als  Zuhörer  und 
'J'eilnehmor  bei  seinen  ungeschriebenen  Gesprächen  die  Kunst  geistig  be- 
lebter und  zugleich  sinnlich  anschaulicher  Gedankenentw4cklung,  Bilder- 
gebrauch, Humor,  Ironie  gelernt,  von  den  Dichtern  Blick  für  das  Typische 
und  Charakteristische   in  der  Erscheinungswelt,  Adel,  Schwung,  Freiheit') 

^)  W.  Eckert   in   der   oben   (S.  658,  2)  i    Rhetoren  als  Muster  hin. 

zitierten    Schrift.     Eine   feine   Charakteristik  ')    Piatons    tlevOeoia    .-rnn    itjv    q}Qnatv 

von  Piatons  Kunst  in  der  Dialogführung  gibt  rühmen  Dio  Chr.  36,  57 ;   Max.  Tyr.  diss.  27» 

0.  Apelt,  N.  Jahrbb.  f.  klass.  Alt.  19  (1907)  '   4  p.  40  R.     J.  Wackernagel.    Die    griech. 

247  ff.  {über  Piatons  Humor) ;  s.  im  allgemeinen  Sprache  (Kultur  der  Gegenwart  I,  VIII)  295: 

R.  HiRZEL.  Der  Dialog  I.  , vielleicht   darf  auch   die  nüchterne  Sprach- 

-)  Insbt'sondere  Aelius  Aristides  (\V.  forschung  die  Frage  aufwerfen,  ob  nicht 
ScnMii>.  Atticism.  II  3  ff.;  Cic.  or.  62);  Liban.  Piaton  ein  Höchstes  menschlichen  Sprach- 
(»r.  IS.  2SF.:  s.  a.  los.  c.  Ap.  II  223.  Die  könneus  darstelle.  Wohlklang  und  Deutlich- 
Vorwürfo  antiker  Kunstrichter  gegen  Piatons  keit.  begriffliche  Schärfe  und  poetische  An- 
Stil (s.o.  S.  620.  1)  betreffen  meist  das  poeti-  mut  und  Erhabenheit  sind  bei  ihm  in  un- 
sche  Kolorit.  Für  den  Rhvthmus  stellt  der  beschreiblicher  Harmonie  vereinigt.* 
l»hilo.soph  Taurus  (Gell.  XVII  20, 4  ff.)  PI.  den  : 


4.  Die  PhUoBophie.    c)  Flaton.    (§  344.)  663 

der  Sprache.  Die  Scheuklappen  der  Rhetorschule  kennt  er  nicht;  ihre 
Schablonen,  ihre  papiernen  Blumen  ironisiert  er  höchstens.  Seine  Meister- 
schaft erklärt  sich  übrigens  natürlich  nicht  aus  Einflüssen  der  Erziehung 
allein;  das  Wesentliche  ist  vielmehr  eine  einzigartige  Begabung  oder  viel- 
mehr eine  Verbindung  von  Begabungen,  wie  sie  sonst  nur  sehr  selten  vor- 
kommt: auf  der  einen  Seite  ein  sublimer  Scharfsinn  im  Erfassen  des  Ab- 
straktesten, auf  der  anderen  ein  Tiefblick  in  die  Welt  der  sinnlichen  Wirk- 
lichkeit, dem  keine  Linie,  keine  Farbe  entgeht,  der  den  Zauber  der  Natur, 
die  Intimitäten  des  örtlichen  und  geistigen  Milieus,  die  eigenartigen  Be- 
schaffenheiten menschlicher  Charaktere  und  ihre  Ausprägung  in  B;eden, 
Bewegungen,  Handlungen  mit  unfehlbarer  Sicherheit  erspäht.  Das  sind 
allgemein  künstlerische  Fähigkeiten  höchsten  Grades,  mit  denen  Piaton, 
wenn  ihn  nicht  Gründe  vermutlich  sachlicher^  und  ethischer  Natur  zur 
Schriftstellerei  und  im  besonderen  zur  Prosadarstellung  getrieben  hätten, 
ebensowohl  ein  großer  Dichter,  Maler,  Musiker  hätte  werden  können.  Der 
Reichtum  von  Stimmungen,  die  er,  jede  in  ihren  eigensten  Farben,  vor- 
zuführen versteht,  würde  uns  wahrscheinlich  auch  dann  noch  in  Erstaunen 
setzen,  wenn  wir  von  den  zwei  ältesten  Tragikern  die  Satyrspiele  besäßen 
und  ermessen  könnten,  ob  sie  Piatons  Forderung,  daß  derselbe  Mann  eine 
Komödie  und  eine  Tragödie  zu  schreiben  verstehen  müsse  (symp.  223  d), 
so  wie  er  erfüllt  haben.  Neben  den  heiteren  Neckereien,  mit  denen  er  in 
überlegener  Ironie  den  von  Eitelkeit  und  Wissensgefräßigkeit  gedunsenen 
Hippias,  den  schöngeistigen  Einfaltspinsel  Ion,  die  pädagogischen  Tausend- 
künstler Euthydemos  und  Dionysodoros  umwirft,  stehen  die  tief  ernsten 
und  leidenschaftlichen  Angriffe  im  Gorgias,  neben  dem  Meer  geistvoll 
schäumender  Lebenslust  im  Symposion,  dem  heiteren  Sommertag  im  Phai- 
dros,  dem  geistreichen  Salon  des  Kallias  im  Protagoras  die  düsteren  Bilder 
von  Gericht,  Kerker  und  Tod  in  Apologie,  Kriton  und  Phaidon  und  die 
ahnungsvollen  Ausbhcke  nach  den  Schauern  der  Ewigkeit  in  den  Mythen  des 
Gorgias,  des  Phaidon  und  der  Politeia.  In  diese  Stimmungen  hinein  setzt 
er  Szenerien*)  und  Charakterköpfe*)  von  unauslöschlicher  Leuchtkraft.  Ist 
er  hier  durchaus  realistischer  Künstler,  so  betätigt  er  seine  freischaffende 
Phantasie  in  den  berühmten  Mythen. 3)  Diese  treten  bei  ihm  ein,  wo  sie 
vor  der  begrifflichen  Darlegung  Vorzüge  bieten  oder  wo  eine  solche  über- 
haupt nicht  mehr  zureicht;  im  Gorgias,  Phaidon  und  Staat  bilden  sie  einen 
mächtig  ergreifenden  Nachhall  zu  streng  philosophischen  Ausführungen. 
Je  mehr  Bewunderung  Piatons  künstlerische  Fähigkeiten  verdienen, 
desto  mehr  Befremden  müssen  auf  den  ersten  Anblick  seine  Urteile  über 
Kunst  erregen.  Wer  aber  aus  eigener  Erfahrung  die  Kunst  ihrer  Natur  und 
ihren  ethischen  Wirkungen  nach  so  bis  ins  Innerste  kennt  wie  Piaton,  der 

*)  I.  Bruns,  Litt.  Portr.  234  ff.;  die  neu-   !  ')  R.  Hibzbl,   Über  das  Rhetorische  u. 

platonischen  Kommentatoren  waren  im  Zweifel,  seine  Bedeutung  bei  PI.,  Leipz.  1871;  wenig 

ob  sie  in  ihre  Erklärungen  auch  die  jigootuia  Bedeutung  hat  J.  A.  Stewart,  The  myths  of 

mit  den  szenischen  Hintergründen  aufnehmen  PL,  London  1905.  Die  Meinung  von  A.  Diete- 

sollten  (K.  Prächter,  Gott.  Gel.  Anz.  1905,  rieh  u.  A.  Döring,  daß  die   eschatologischen 

525).  Mythen    Piatons    zerrissene    Stücke    eines 

2)  I.  Bruns  a.  a.  0.  245  ff. ;  Procl.  ad  Plat.  einheitlichen  älteren  (orphischen)  Zusammen- 

remp.  t.  I  15,  1  flf.  Kroll;  Schol.  Aristid.  671,  hangs  seien,  ist  zurückgewiesen  von  H.  Räder 

6  DiND.  256  ff. 


664  Griechische  litteratorgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

darf  über  sie  sagen,  was  er  an  ergreifenden  Stellen  im  dritten  und  zehnten 
Buch  des  Staates  (s.  bes.  606 e  ff.)  mit  schwerem  Herzen  gesagt  hat:  er 
verwirft  die  auf  den  Mythus  gebaute  griechische  Nationalkunst,  ^  ins- 
besondere das  alte  Epos  und  die  Tragödie  und  fordert  eine  neue,  auf  der 
idealistischen  Ethik  beruhende  ernste  und  zielbewußte  Kunst.  So  zerreißt 
er  um  einer  höheren  Liebe  willen  (ov  ydg  tiqö  rrjg  dirj^elag  n/LitjTeog  dvijg 
reip.  X  595  c)  den  Faden,  der  ihn  mit  der  Sinnenfreudigkeit  seines  Volkes 
noch  verbindet,  ähnlich  wie  der  greise  Michelangelo,  und  streift  seinen 
späten  Dialogen  tatsächlich  den  poetischen  Schimmer  ab;  doch  kommt 
er  im  höchsten  Alter  noch  einmal  auf  eine  poetische  Einkleidungsform,  die 
des  Romans  in  der  unvollendeten  Trilogie  Timaios-Kritias-Hermokrates. 

Die  Synthese  von  Kunst  und  Philosophie,  die  Piatons  persönlichstes 
Werk  ist,  hat  eine  so  zwingende  Macht,  dafi  keine  bloß  mit  rationalen 
Mitteln  arbeitende  Kritik  mit  ihr  fertig  werden  kann.  Denn  wenn  man 
auch  alle  begrifflichen  Stützen  zerstören  würde,  so  bliebe  immer  noch  die 
unbesiegbare  Kraft  einer  persönlichen  Überzeugung,  deren  Reinheit  und 
Hoheit  überhaupt  keiner  Kritik  zugänglich  ist,  d.  h.  es  bliebe  der  mystisch- 
religiöse Kern  von  Piatons  Weltanschauung;  sie  ist  seit  jeher  der  Sammel- 
platz für  tiefangelegte  und  feingestimmte  Seelen,  die  den  Zwiespalt  in  der 
Welt  und  im  eigenen  Ich  schmerzlich  empfinden  und  sehnsuchtsvoll  aus- 
spähen nach  dem  ruhenden  Pol  in  der  Flucht  der  Erscheinungen. 

Mag  Piatons  Gedankenwelt  noch  so  viele  wirkliche  oder  vermeint- 
liche Schwächen  für  den  beobachtenden  und  nachrechnenden  Verstand  bieten, 
so  muß  doch  allen  Fanatikern  des  Systems  zum  Trotz  gesagt  werden,  daß 
durch  ihn  und  seine  Schule  mehr  wahre  Philosophie,  d.  h.  geistige  Kraft, 
sowohl  kritische  als  auch  konstruktive,  in  die  Welt  gekommen  ist,  als 
durch  viele  ausbündigen  Systematiker,  die  sich  und  ihre  Anhänger  vor  und 
nach  Piaton  mit  der  Illusion  lückenlosen  Weltverständnisses  getäuscht 
haben.  In  diesem  Sinn  ist  der  Philosoph  Piaton  nicht  überholt  und  kann 
schwerlich  überholt  werden.  Sollte  aber  auch  dieses  kaum  Denkbare  ein- 
treten, so  würden  seine  Schriften  doch  einen  unvergänglichen  Wert  be- 
halten als  Denkmäler  höchster  Kunst  und  Kultur. 

345.  Die  Akademie. *)  Für  die  Fortpflanzung  der  Lehre  und  die 
Erhaltung  der  Werke  Piatons  sorgte  vor  allem  die  von  ihm  gestiftete 
Akademie,  die  sich  unter  verschiedenen  Wandlungen  bis  zum  Ende  des 
Altertums  (529  n.  Chr.)  erhielt. 3)  In  Piatons  Philosophie  liegen  zwei  Mög- 
lichkeiten der  Weiterentwicklung,  wobei  immer  die  Ideenlehre  die  unver- 
rückbare Grundlage  bleibt:  einerseits  die  Ausbildung  eines  Lehrsystems, 
auf  die  Piaton  selbst  in  seiner  letzten  Periode  hingearbeitet  hatte;  anderer- 
seits die  Fortsetzung  des  Kampfes  gegen  die  Prätension  einer  Wissenschaft 

\)  Daß   hier  Piaton   mit   sich   selbst   in  ,   Tabelle  gegeben  ist. 

Widerspruch trete.bemerkt Procl. ad  Plat.remp.  *)  Man  unterschied   die  altere,   mittlere 

t.  I  159  flf.  Kroll  (vgl.  auch  Olympiod.  vit  6).  und   neuere  Akademie   und  die  theologische 

2)  F.  DüMMLER,  Akademika,  Beiträge  zur  Richtung  der  Neuplatoniker.     Zur   Zeit   des 

Litteraturgeschichte  der  sokratischen  »Schulen,  Wiederauflebens  der  platonischen  Studien  in 

Gießen  18S9.  —   Academicorum   philosopho-  |   der  Renaissance  ist  eine  neue  Akademie  zu 

rum  index  Herculanensis  ed.  S.MEKLER,BeroI.  Florenz    unter   der   Leitung    des   berühmten 

1902(dazuW.CRöNKRT,Herm.38,1908,357ff.),  Übersetzers   Piatons,    Marsiglio    Ficino,    ge- 

wo  im  Anhang  S.  117  ff.  eine  chronologische  gründet  worden. 


4.  Die  Philosophie,    c)  PUton.    Ältere  Akademie.    (§  845.)  665 

im  Gebiet  der  Sinnenwelt.  Nachdem  Aristoteles  und  die  sogenannte  alte 
Akademie  die  erste  dieser  Richtungen  eingeschlagen  hatte,  die  im  Dogma- 
tismus endigte,^)  hat  Arkesilaos,  der  als  Begründer  der  ^mittleren"  Aka- 
demie gilt,  der  Schule  eine  negativ-kritische  Richtung  gegeben  und  sie 
zum  wissenschaftlichen  Rückgrat  der  antiken  Skepsis  gemacht.  Als  solches 
hat  sie  sich  in  den  heißen  Schulkämpfen  gegen  den  stoischen  Dogmatismus 
im  hellenistischen  Zeitalter  trefflich  bewährt,  hat  aber  dann  im  1.  Jahrh» 
V.  Chr.  wieder  eine  Wendung  zum  Dogmatischen  genommen. 

Nächster  Nachfolger  Piatons  war  sein  Schwestersohn  Speusippos  (347 
bis  339),  der  die  Ideenlehre  seines  Lehrers  mit  der  Zahlenlehre  der  Pytha- 
goreer  verquickte,  indem  er  einerseits  das  Eins  und  die  Zweiheit  als  die 
Anfange  (dQxai)  der  Zahlen  und  damit  alles  Seienden  hinstellte,  anderseits  das 
Gute  zum  Ziel  und  Schlußstein  (riXog)  des  Ganzen  machte.*)  Indem  er  das 
äya&ov  von  den  materiellen  äoxai  loslöste  und  erst  nachträglich  in  die  Er- 
scheinungswelt eingreifen  und  diese  gleich  der  Hand  des  Künstlers  ge- 
stalten ließ,  kam  er  zu  einem  ähnlichen  Dualismus  wie  Aristoteles.  Für 
Piatons  Biographie  war  sein  iyxiojuiov  IlXdxoivog  wichtig.^)  —  In  ähnlicher 
Richtung  bewegt  sich  sein  Nachfolger  Xenokrates  aus  Chalkedon  (339 
bis  314),  kein  bedeutender  Kopf,  aber  ein  ernsthafter  und  würdiger  Cha- 
rakter; er  hat  zuerst  die  drei  Teile  der  Philosophie,  Dialektik,  Physik, 
Ethik,  unterschieden  und  drei  Stufen  des  Seins,  die  Welt  der  Sinne  (a/o- 
^TjTri  ovala)^  die  des  Geistes  {vorjti^)  und  die  gemischte  des  Himmels  oder 
der  Gestirne  {fj  do^aarr]  xai  avv&eroc:,  7J  avrov  roü  ovgavov)  aufgestellt.*)  — 
Die  Reihe  der  alten  Akademiker  beschließen  Polemon  von  Athen  (314  bis 
270), ö)  K  rat  es  aus  dem  Demos  Thria,  der  sich  seiner  Vaterstadt  auch  als 
Gesandter  an  Demetrios  Poliorketes  nützlich  gemacht  und  TZQeoßexmxol  koyoi 
hinterlassen  hat,  und  Krantor  von  Soloi.  Diese  wandten  sich  wieder  mehr 
der  praktischen  Tugendlehre  zu;  Krantor  wurde  besonders  berühmt  durch 
sein  Erbauungsbuch  über  die  Trauer  {tzeqI  nev&ovg),  gerichtet  an  Hippokles 
zum  Trost  über  den  Tod  seiner  Kinder ;«)  er  ist  zugleich  der  frühste  Piaton- 
kommentator (zum  Timaios).^)  Von  seiner  lebhaften,  diatribenartigen 
Schreibart  gibt  das  längere  Fragment  bei  Sext.  Emp.  adv.  dogm.  V  51  flf. 
einen  Eindruck. 

In  der  Akademie  wurde  auch  das  Studium  und  die  Erklärung  der 
Werke  Piatons  sorgfaltig  gepflegt.   Während  aber  die  ältere  Zeit  sich  meist 


^)  Über  die  von  der  alten  Akademie 
aufgerichtete  , Begriffshierarchie*  und  ihren 
Einfluß  auch  auf  Aristoteles  E.  Hambbuch, 
Log.  Regeln  der  piaton.  Schule  in  der  aristot. 
Topik,  Progr.  Berl.  1904. 

^)  Erhalten  sind  auf  Speusippos'  Namen 


*)  Sext.  Empir.  adv.  math.  VII  16  u.  147. 
Die  einzelnen  Schriften  sind  aufgezählt  bei 
Diog.  L.  IV  11—14.  —  über  die  Lehre  und 
ihr  Fortleben  bei  den  Späteren,  namentlich 
bei  Plutarch  in  dessen  Dämonenlehre  R. 
Heinze,  Xenokrates,  Leipz.  1892. 


gefälschte  Briefe,    darunter  einer  an  König  |  *)  Auf  seine  Bekehrung  von  lüderlichem 

Philippos  (epist.  Socraticorum  p.  30),  der  wert-  |  Leben  zur  Philosophie  spielt  an  Horat.  sat.  II 

volle  geschichtliche  Materialien  enthält,  aber  |  254.  Siehe  Acad.  philos.  ind.  p.  47  ff.  Mekler. 

unmöglich   echt  sein  kann ;   s.  F.  Süsehihl,  ^)  Das  Buch  wurde  später  von  Cicero  im 

AI.  Lit.  II  586.  I  ersten  Buch  der  Tusculanae  und  in  der  Con- 

')  Über  Speusippos*  Lobrede  auf  Pia-  I  solatio  und  von  Plutarch  in  seiner  Trostrede 

ton,  über  Hermodoros*  Nachrichten  vom  Leben  an  Apollonios  benutzt;  vgl.  F.  Susemihl,  AI. 

und   den   Schriften  Piatons,   über  die  Trilo-  ,  Litt.  1  120  Anm.  567. 

gienausgabe  des  Aristophanes  von  Byzantion  ')  Procl.  ad   Plat.  Tim.  I  76,  1  Diehl; 

s.  0.  S.  613,  5  und  F.  Überweg  P  213  ff.  ,  277,  8. 


666  OriecluBche  Litteratiirg6«cluchte.    I.  Klassische  Periode. 

auf  Schriften  über  sein  Leben  und  seine  Schriftstellerei  beschränkte,  be- 
gann mit  der  römischen  Kaiserzeit  die  bücherreiche  Periode  der  Kommen- 
tare. Zunächst  beschäftigte  man  sich  mit  der  Erklärung  einzelner  dunkler 
Stellen  (li^eK;),  deren  es  ja  in  Piatons  Schriften,  namentlich  im  Timaios, 
genug  gab;  dann  folgten  Zusammenstellungen  schwerverständlicher,  später 
aus  dem  Sprachgebrauch  verschwundener  Wörter  {yiwooai)^  zusammen- 
hängende Erläuterungen  {vnofxvrifiaxa)  und  Einleitungen  (eiaayoyai),  die  sich 
namentlich  gegen  Ende  des  Altertums  in  den  Schulen  der  Neuplatoniker  häuften. 

Spezial Wörterbücher  verfaBten  Cäsars  Zeitgenosse,  HarpokratioD  von  Argos,  der 
nach  Saidas  Ae^ng  Ukaxiovog  in  zwei  Büchern  schrieb;  Didymos  unter  Kaiser  Augustus, 
aus  dessen  Schrift  Jifol  rcor  miga  IlXarcovi  d.ioQovfih'o)v  U^ewr  E.  MiLLBB,  M^langes  de  litt, 
grecque  p.  399 — 406  dürftige  Exzerpte  mitgeteilt  hat;  Boethos,  dessen  Styvaywyij  ki^Ftov 
IIXai€oytxoj%'  Photios  cod.  154  (cod.  155  eine  zweite  Schrift  des  B.  :teol  rcof  :taga  Ukarfori 
djioQoi'fievfor  /J^fwv)  erwähnt  und  in  seinem  Lexikon  fleißig  benützt  hat;  Theon  von 
Sray  rna  (Büste  bei  J.  J.  Bernoulli,  Griech.  Ikon.,  München  1901,  II  tab.XXIX)  aus  der  gleichen 
Zeit,  dessen  Schrift  -Tfpi  tcov  ?cazd  tö  fia&vjfiatixov  X9V^0^^*^^  ^^^  '^*'  Ukduovo^  dvdyyfoatv  E. 
HiLLEB  in  Bibl.  Tenbn.  1878  herausgegeben  hat;^)  endlich  Timaios  (4.  Jahrh.),^)  von  dem 
uns  ein  kompendiarisches  Glossar  Jtegi  tmv  .toom  IlhiKovi  Xe^eoyy  y.ard  aToi^eTov  erhalten  ist. 

Kommentare,  die  uns  nicht  mehr  oder  nur  stückweise  erhalten  sind,  verfaßten  der  genannte 
Harpokration  in  vierzehn  Büchern  (Suid.),  Potamon  (vor  und  unter  Augustus,  nach  Suidas) 
zur  Politeia,  CalvisiusTaurus  (2.  Jahrh.)  zum  Gorgias  (s.  Gellius  VII  14,  5),  Atticus  zum 
Phaidros  (Porphyr,  vit.  Plot.  8;  id.  in  Plat.  Tim.  t.  III  247,  15  Diehl),  Severus,  Atticus 
(s.  F.  W.  Mullach.  FPhG  III  175— 205),  Plutarchos  (lüaKovixd  ^rjjijfiara  \m^  hfoi  tfjg  ev 
Tt/iaü})  v'»';i:o;'or/a?  mor.  p.  999c--1032f)  und  Galenos  zum  Timaios,  Longinus(8.  III.)  zu 
Phaidon  und  Timaios  (D.  Ruhnken,  Opusc.  317).  Die  älteste  uns  erhaltene  Probe  von  Platon- 
erklärung  für  die  Schule  ist  das  in  den  Berliner  Klassikertexten  II  (1905)  veröffentlichte 
Bruchstück  eines  Kommentars  zum  Theaitetos,  etwa  gleichzeitig  und  auch  der  Art  nach  ver- 
wandt mit  den  platonischen  Schriften  von  Galenos'  Lehrer  Albinos  (irrig  Alkinoos),  aus 
denen  zwei  Exzerpte  {F.igay(üyfi  und  aus  einem  größeren  Werk  Jifoi  täv  JUdron'i  dgeoxih- 
TO)v  der  loyog  ÖtdaoxaXixog  xatv  IIXaKovog  SoyftdToyv)  auf  uns  gekommen  sind.')  —  Im  4. 
und  5.  Jahrh  waren  die  Hauptkommentatoren:  Hermeias,  Schüler  des  Syrianos,  dessen  weit- 
schweifigen Kommentar  «um  Phaidros  aus  einer  Münchener  Handschr.  F.  Ast.  Lips.  1810, 
dann  auf  besserer  krit.  Grundlage  P.  Coüvreür,  Paris  1901,  herausgegeben  haben;  Proklos, 
von  dem  Kommentare  erhalten  sind  zu  Alkibiades  I.  (ed.  F.  Crbüzer,  Frankf.  1820),  Kra- 
tylos  (neue  Ausg.  von  G.  Pasquali  bei  Teubner  angekündigt),  Parmenides  (die  älteren 
Ausg.  bei  F.  Überweg  P  392),  Politeia  (Comment.  in  remp.,  kein  zusammenhängender 
Komm.,  sondern  eine  Reihe  einzelner  Abhandlungen,  ed.  W.  Kroll  in  BT..  2  voll.  1899. 
1900),  Timaios  (ed.  E.  Diehl  in  BT.  3  voll.  1903—1906);  Olympiodoros,  der  außer  einer 
Lebensbeschreibung  Piatons  Kommentare  zu  Alkibiades  I,  Gorgias,  Phaidon,  Philebos  (ältere 
Ausgaben  bei  F.  Überweg  I*  392  f.)  verfaßte,  welche  die  Ansichten  von  Ol.'  Lehrer  Am- 
monios  wiedergebend  uns  zum  Teil,  aber  in  der  rohen  Gestalt  von  Kollegiennachschriften, 
vorliegen;    Damaskios,    dessen  Kommentar  zum  Parmenides  großenteils  erhalten  ist  (ed. 

C.  E.  Rüelle.  Paris  1889).  Außerdem  hören  wir  von  Kommentaren  des  Longinos  zu 
Phaidon,  des  Porphyrios  zum  Sophistes,  des  Syrianos  zu  Phaidon,  Politeia,  Nomoi,  des 
Damaskios  zu  Alkibiades  I.,  Phaidon  und  Timaios.  über  Reste  eines  neuplatonischen 
Parmenideskomm.    aus   einem  Turiner   Palimpsest  W.  Kroll,   Rhein.  Mus.  47  (1892)  598  ff. 

Unsere  Scholien  (herausgegeben  im  sechsten  Band  der  Ausg.  von  K.  F.  Hermann), 
die  aus  den  Riindbemerkungen   der  Piatonhandschriften   allmählich   von  J.  Ph.  Siebenkees, 

D.  Ruhnken.  Th.  Gaisford  zusammengetragen  wurden  und  zu  Gorgias  und  Timaios  am 
umfangreichsten  sind,  enthalten  Exzerpte  aus  philosophischen  Kommentaren,  grammatische 
(ilossen  aus  Lexika,  darunter  auch  aus  Diogenianus,  Erläuterungen  aus  Sprich wörtersamm- 
lungen  und  geographischen  Verzeichnissen;  die  Sammlung  ist  bald  nach  529  gemacht;  vgl. 
Th.  Mettauer,  De  Plat.  scholionim  fontibus,  Zürich  1880;  S.  A.  Naber,  Proleg.  in  Phot.  lex.. 

')  (ber  diese   von  den  Arabern    vicihe-  387,  2;  l^hotios  cod.  154  stellt  das  Lexikon 

nützte,  auf  Tlirasyllos  beruhende  Einloitungs-  des  Boi^thos  über  das  des  Tim. 

Schrift  J.  LippKKT.  Studien  auf  dem  Gebiete  ^)  Albinos  geht  mit  Apuleius  de  Plat.  auf 

der   gricchisoh-arab.  Übersetzungslittcratur  1  eine  Quelle,  den  gemeinsamen  Lehrer  Gaius 

(Braunschw.  1894)  4o  i\\  zurück  nach  Th.  Sinko,  De  Apuleii  et  Albini 

-!  Über  die  Zeit  des  T.  (frühestens  An-  doctrinac    Plat.    adumbratione    in    den  Diss. 

fang  des  4.  Jahrli.)    E.  Rohde,   Kl.  Sehr.  II  philol.  class.  acad.  Cracov.  41,  1905. 


4.  Die  Philosophie,    c)  PUton.    (§  345.)  667 

Leiden  1864,  I  54  ff.  u.  113  ff.;  L.  Cony,  Unters,  über  die  Qaellen  der  Platoscholien,  in  Jahrbb. 
f.  cl.  Phil.  Suppl.  13  (1884)  771—864.  —  Im  Mittelalter  ist  zwar  Piaton  von  einzelnen  (z.  B. 
dem  Bischof  Arethas  von  Kaisareia,  wie  deseoi  Randnoten  im  Codex  Clarkianus  des  Plato 
zeigen)  gelesen  worden,  aber  doch  im  ganzen  in  Byzanz  das  Studium  seiner  Werke  bis 
auf  Psellos  (K.  Kumbachbr,  Byz.  Litt*  436  u.  442)  brach  gelegen;  in  der  Zeit  der  PalÄo- 
logen  war  ein  Hauptverehrer  des  Piaton  Demetrios  Kydones,  dessen  ehedem  viel  ge- 
lesene Rede  über  die  Verachtung  des  Todes  H.  Deckblmann  in  der  Bibl.  Teubn.  1901  heraus- 
gegeben hat.  Im  Abendland  studierte  man  fleißig  den  Timaios,  aber  nach  der  unvoll- 
ständigen ÜbeiBetzung  imd  Erkl&rung  des  Chalcidius  aus  dem  4.  Jahrh.  (ed.  J.  Wbobel, 
Leipz.  1876).  Bei  den  Arabern  blühten  im  Mittelalter  die  Piatonstudien  neben  denen  des 
Ariateteles;  aus  ihnen  sind  zahlreiche  Übersetzungen  und  Kommentare  zu  den  Haupt- 
dialogen hervorgegangen,  wie  die  erhaltene  Paraphrase  zur  Republik  von  Averroes,  die 
wieder  a.  1320  ins  Hebräische  und  von  da  1539  durch  Jacob  Mantinus  ins  Lateinische  über- 
setzt worden  ist  (vgl.  M.  Steinschneider,  Centralbl.  f.  Bibliothekswesen,  Beih.  12,  1893, 
16  ff.).  Über  armenische  Piatonübersetzungen  F.  C.  Conybeabe,  Americ.  joum.  of  philol. 
12  (1891)  193  ff.  (s.  a.  o.  S.  630,  4);  über  platonische  Einflüsse  in  Indien  im  2.  Jahrh.  v.  Chr. 
A.  Webeb,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1890,  901  ff. 

Die  Codices  (147,  aufgezählt  von  M.  Wohlrab,  Jahrbb.  f.  cl.  Philol.  Suppl.  15,  1887. 
641  ff.)  gehen  auf  eine  Ausgabe  der  römischen  Kaiserzeit  zurück,  in  der  die  Ordnung  der 
Dialoge  nach  Thrasyllos  befolgt  war;  die  besten  sind:  Clarkianus  (ß),  geschrieben  895, 
ehedem  auf  der  Insel  Patmos,  jetzt  in  Bibl.  Bodleiana,  phototypisch  wiedergegeben  in  den 
Codices  Gr.  et  Lat.  photographice  depicti  t.  HI.  IV,  von  Th.  W.  Allen,  bei  Si^off  in  Leiden 
1898.  99 :  er  ist  für  den  damaligen  Diakon,  späteren  Bischof  von  Kaisareia  Arethas  abgeschrieben 
und  enthält  nur  die  sechs  ersten  Tetralogien  (s.  M.  Schanz,  Novae  comment.  Piaton.,  Würzburg 
1871,  105  ff.);  Parisinus  1807  (A)  s.X,  enthält  die  zwei  letzten  Tetralogien ;  Venetus  s.  XII, 
Hauptvertreter  der  zweiten  Familie  in  den  sechs  ersten  Tetralogien.  Die  Beschränkung  des 
kritischen  Apparates  auf  diese  drei  Codd.  führte  M.  Schanz  auf  Grund  neuer  Vergleichungen 
durch,  während  J.  Bekker  noch  eine  zehnfach  größere  Anzahl  von  Codd.  herangezogen  hatte, 
und  auch  jetzt  noch  andere  Gelehrte,  wie  A.  Jordan,  M.  Wohlrab,  J.  Kral,  O.  Immisch  (der 
besonders  auf  Parisin.  suppl.  Gr.  668  s.  XI  Wert  legt)  die  Heranziehung  von  mehr  Codd. 
zur  Feststellung  der  Textüberlieferung  für  nötig  halten ;  daß  die  Lesarten  der  zweiten  Familie 
vielfach  mit  Zitaten  bei  Alexandres  von  Aphrodisias,  Proklos,  Olympiodoros  u.  a.  über- 
einstimmen und  daher  nicht  in  Überschätzung  der  ersten  Familie  vernachlässigt  werden 
dürfen,  betont  A.  Schäfper,  Quaest.  Piaton.,  Diss.  Argentorati  1898,  in  dessen  Richtung 
weiter  geht  E.  Bickel,  De  lo.  Stobaei  excerptis  Platonicis,  Jahrbb.  f.  cl.  Philol.  Suppl  28  )1903) 
405  ff.;  ähnlich  0.  Immisch,  Philol.  Studien  zu  Plato,  2.  Heft,  Leipz.  1903;  ders.,  N.  Jahrbb. 
f.  kl.  Alt.  17  (1906)  148  ff.  hebt  eine  Wiener  Hs.  W  wegen  ihrer  Übereinstimmung  mit  dem 
Piatontext  in  dem  Berliner  Theaitetoskomm.  hervor  (s.  über  WR.Hevsel,  Vindiciae Plat.,  Diss. 
Berl.  1906).  Großzügig,  aber  im  einzelnen  unsicher  ist  die  von  H.Usener,  Nachr.  der  Gott.  Ges. 
1892  S.  207  ff.,  versuchte  Rekonstruktion  der  Textgeschichte  Piatons,  zu  der  die  merkwürdige 
Tatsache  Anlaß  gab,  daß  die  älteste  Piatonhandschrift,  das  von  J.  P.  Mahaffy  veröffentlichte 
frühptolemäische  Fragment  des  Phaidon,  einen  weniger  guten  Text  bietet  als  unsere  mittel- 
alterlichen Handschriften.  Nach  0.  Immisch  hätte  es  im  Altertum  einen  einheitlichen  Platon- 
text  nicht  gegeben;  unsere  mittelalterlichen  Handschriften  gingen  auf  einen  Archetypus 
zurück,  in  dem  aber  Immisch  im  Gegensatz  zu  Schanz  (der  ihn  in  christliche  Zeit  setzt) 
eine  spätantike  Ausgabe  mit  kritischer  Zusammenfassung  der  varia  lectio  sieht.  Siehe  a. 
F.  Blass,  Zur  ältesten  Gesch.  des  platou.  Textes,  Ber.  der  sächs.  Ges.  d.  Wiss.  50  (1898) 
197  ff.;  51  (1899)  161  ff.  über  neu  gefundene  Platonpapyri,  unter  denen  ein  Lachesfragment 
aus  ptolemäischer  Zeit  sich  nächst  dem  erwähnten  Phaidonfragment  durch  Alter  auszeichnet, 
8.  W.  Crönert,  Arch.  f.  Papyrusf.  1,  115.  521  f.;  3,  294.  496.  Ein  großes  Stück  aus  dem 
Sympos.  Oxyrhynch.  pap.  V  (1908)  244  ff.,  geschrieben  c.  200  n.Chr.:  der  Text  ist  eklektisch 
und  geht  von  200  b— 223  d.  —  Über  den  textkritischen  Wert  der  Lemmata  in  den  Proklos- 
kommentaren K.  Prächter,  Gott.  gel.  Anz.  1905,  518  ff.  Textkritisch  wertvolle  Platon- 
exzerpte  einer  Brüsseler  Handschrift  s.XV:  L.  Parmentier,  Anecd.  Bruxellensia  II.  Gent  1894. 

Ausgaben;  ed.  princ.  ap.  Aldum  Venet.  1513:  ed.  H.  Stephanüs  Paris  1578  fol.  mit 
Seitenabteilungen,  nach  denen  gewöhnlich  zitiert  wird;  mit  kritischem  Apparat  von  I.  Bekker, 
BerL1816— 23.  10  tom.;  von  F.  Ast,  11  voll.,  Lips.  1819—32;  von  G.  Stallbaüm,  12  voll., 
Lips.  1821—25:  von  J.  G.  Baiter,  J.  C.  Orelli,  A.  G.  Winckelmann,  Turici  1839—42.  2  part. 
in  4*';  von  M.  Schanz.  Lips.  ed.  maior  et  min.,  nicht  vollendet,  mit  grundlegendem  krit.  Ap- 
parat (erschienen  sind  I.  Euthyphr.  Ap.  Crito  Phaed.  1875;  II.  Crat.  1877.  Theaet.  1880;  III,  1 
Sopb.  1887:  V.  Symp.  1881.  Phaedr.  1882:  VI.  Alcib.  I.  II.  Hipparch.  Am.  Theag.  1882.  Charm. 
Lach.  Lys.  1883;  VII.  Euthyd.  Prot.  1880;  VIIL  Gorg.  Men.  1881;  IX.  beide  Hipp.  Ion  Menex. 
Clit.  1885:  XII.  Leg.  I— VI.  Epinom.  1879);  Ausgabe  mit  latein.  Kommentar  in  Bibl.  Goth. 
von  G.  Stallbaüm,  10  voll..  1827—60,   in  neuer  Bearbeitung  von  M.  Wohlrab,  0.  Apelt, 


66g  Griechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Elassische  Periode. 

J.  S.  Kboschel,  R.  Fbitzsohe.  Leipz.  1833—69  (vol.  I.  Ap.  Grit.  Phaed.  Symp. ;  If.  Gorg.  Prot. ; 
m.  Politeift;  IV.  Phaedr.  Menex.  Lys.  Hipp.  I.  II.  Ion;  V.  Lach.  Charm.  Alcib.  I.  II.  Crat.; 
VI.  Euthyd.  Menon  Euthyphr.  Theag.  Am.  Hipparch. ;  VII.  Tim.  Critias;  VIII.  Theaet.  Soph.; 
IX.  Politic.  Min.  Phileb.;  X.  Leg.  Epin.);  Textausg.  mit  Scholien,  Albin.,  Olympiod.  und 
Timaios  Lexik,  in  Bibl.  Teubn.  von  C.  Fb.  Hebkaitk  und  M.  Wohlbab;  Opera  ed.  J.  Bübkbt 
5  voll.  Oxford  1900—1907.  —  Dialogi  sei.  ed.  L.  F.  Hbindobf  und  Ph.  BüTTMAim,  4  voll  Berl. 
1802—29.  Ausgewählte  Dialoge  mit  deutschem  Komm,  von  J.  Dbusohle,  Chb.  Cbon,  M. 
Wohlbab,  A.  Hüo  bei  Teubner;  von  H.  Sauppb  und  A.  Gbboke  (Grorgias  und  Protagoras)  bei 
Weidmann;  von  M.  Schahz  (Euthyphron,  Kriton,  Apologie)  bei  Tauchnitz.  —  Einzelausgaben: 
Apol.  von  J.  RiDDBL,  Oxf.  1867.  —  Gorg.  von  W.  H.  Thompson,  Lond.  1871.  —  Euthyd. 
von  E.  H.  GiFFOBD,  Oxford  1905.  —  Sympos.  in  usum  schol.  ed.  0.  Jahn,  ed.  II  cur.  H. 
UsENEB.  Bonn  1875  mit  kritischem  Apparat  imd  Scholien;  von  A.  Huo  (s.o.)  mit  erklärenden 
Anmerkungen,  2.  Aufl.,  Leipz.  1884;  von  G.  F.  Rettig,  Halis  1875.  —  Phaedo  explan.  D.  Wyt- 
TENBAGH,  Lips.  1825.  —  Phaedr.  von  dems ,  Lond.  1868.  —  De  civitate  rec.  et  annot.  Chb. 
SoHNEiDEB,  Lips.  1833,  3  vol.;  von  B.  Jowbtt  und  L.  Campbell  Oxford  1894,  3  vol.;  von 
J.  Adam  Cambridge  1902,  2  vol.  (auf  Grund  des  Parisin.  A).  —  Sophista  und  Politicns  von 
L.  Campbell,  Oxford  1867.  —  Th.  Mabtin,  fitudes  sur  le  Timöe  de  Piaton,  Par.  1841,  2  Bde; 
R.  D.  Aboheb-Hino,  The  Timaeus  of  Plato,  London  1887.  —  Piatos  Gesetze,  Inhaltsabersicht 
mit  Kommentar  von  Const.  Rittes,  Leipz.  1896. 

Hilfsmittel  außer  den  oben  besonders  §  830.  333.  334.  342.  344  angeführten:  Lat  Ober- 
setzung von  Mabsilius  Fionrus,  Flor.  1483—84.  —  Nicht  unübertrefflich,  aber  bis  jetzt  als 
Ganzes  nicht  übertroffen  ist  die  Obers,  mit  epochemachenden  Einleitungen  von  F.  Schlsibb- 
macheb  (ohne  Tim.,  Critias,  Leg.)  s.  o.  8.  621,  2;  Obers,  von  Hieb.  Mülleb,  mit  guten  Ein- 
leitungen und  mit  dem  Leben  Piatons  von  C.  Steinhabt,  Leipz.  1859.  Gut  sind  von  den  bei 
Mbtzleb,  Stuttg.  1853 — 76  in  40  Bändchen  erschienenen  Ohersetzungen  besonders  die  von 
J.  Deuschlb,  W.  S.  Teuffel  und  L.  Geobgu.  —  Obers,  des  Staats  von  A.  Hobkeffeb,  Leipz. 
1906;  Phaedr.  u.  Symp.  von  K.  Lehbs,  Leipz.  1870;  Symp.  von  E.  Zelleb,  Marb.  1857:  der 
Apol.  von  A.  WiLBBANDT  iu  dessen  Gesprächen  und  Monologen,  Stuttg.  1889,  131  ff.  —  Lex. 
Platonicum  von  F.  Ast,  Lips.  1835-38,  3  vol.  (anastat.  Neudruck  Berlin  1907);  eine  Neu- 
bearbeitung vorbereitet  von  der  Hellenic  Society.  —  W.  S.  Teuffel,  Übersicht  der  plat.  Litt.. 
Progr.  Tübingen  1874.   W.  Gboek  van  Pbibstebeb,  Prosopographia  Platonica,  Leiden  1828. 

d)  Aristoteles  (384—322).') 
346.  Leben.  Aristoteles  ist  384  zu  Stagiros,*)  einem  Städtchen  der 
thrakischen  Chalkidike,  geboren.  Sein  Vater  Nikomachos,  aus  einer  alten 
Ärztefamilie,  war  Leibarzt  des  makedonischen  Königs  Amyntas  III.;  von 
ihm  hat  der  Sohn  die  Liebe  zur  Naturforschung  geerbt,*)  durch  ihn  ist 
er  auch  in  Beziehungen  zum  makedonischen  Königshaus  gebracht  worden. 
Seine  Ausbildung  erhielt  Aristoteles  in  Athen;  er  kam  dahin  367  während 
Piatons  zweiter  sizilischer  Reise  und  ist  dann  als  Schüler  Piatons  zwanzig 
Jahre  bis  zu  dessen  Tod  dort  geblieben.     Er  hörte  also  den  Piaton  in  der 

')Diog.L.Vl — 35,  der  hez.  dessen  Quelle  i   platonikern,  die  Vita  des  Marcianus  und  ihr 

aus  den  Peripatetikern  Hermippos   und  Ari-  '   Verhältnis   zu   Pseudo-Ammonios   A.  Busse, 

ston,  aus  Demetrios  Magnes  Ttegl  ofwyvvftMv  Herrn.  28  (1893)  252  ff.    Was  die  Araber  von 

und  Apol lodoros' Chronik  (F.  Jacobt,  Apollod.  Arist.  wissen,  geht  meist  auf  den  Schwindler 

Chron.  316  ff.)  schöpfte;  Vita  Menagiana  (mit  Ptolemaios  Chennos  zurück:  J.  Lippert,  Stad. 

deren  erstem   Teil   der  Artikel    des  Suidas  :   auf  d.  Gebiet  der  griech.-arab.  Übersetzungs- 

stimmt),  die  zuerst  von  G.  Manage  zu  Diog.  litteratur  I  (s  o.  S.666, 1).  —  Neuere  Barstel- 

L.  V  35  veröffentlicht  ist  (aus  Hesychios  Illustr.  lungen:   J.  G.  Buhle,  Vita  Arist.  per  annos 

stammend:  G.Wentzel,  Herm.  33,  1898,  276)  digesta,  im  ersten  Band  der  Bipontiner  Ausg. 

und  Vita  Marciana.  beide  kritisch  berichtigt  bei  '    1791;  A.  Stahr,  Aristotelia.  Halle  1830 — 2, 

H.FLACH.Hesych.Mil..Leipz.l880p.245-255;  2  Bde;  G.H.Lbwes.  Aristotle.  London  1864, 

mit  der  letzteren,  die  auf  neuplatonische  Quelle  I   ins  Deutsche  übersetzt  von  J.V.  Carus.  Leipz. 

(Ptolemaios),  aber  nicht  bloß  auf Olympiodoros  l^ßh;    G.  Grotk.   Aristotle   (posthumes   und 

zurückgeht,   stimmt   wesentlich   überein   die  unvollendetes  Werk),    London   1872    (1879); 

Vita  Aristot,  von  Ps.Ammonios ;  Dionys.  Halic.  Wilamowitz.  Aristoteles  und  Athen.  1311  ff. ; 

ep.  ad  Amm.  I  5;  Weiteres  V.  Rose,  Aristot.  A.  Gekcke    in   der  Realenzykl.;   zuletzt  Th. 

fiagm..  Leipz.  1886  p.  426  ff.  Syrisch-arabische  Gomperz,  Griech.  Denker  III  (1906)  13  ff. 

Biographien  des  Aristoteles  publiziert  von  A.  =*)  Spätere  Form  des  Namens  ist  Stageira. 

Baumstark.  Aristoteles  bei  den  Syrern,  Leipz.  ^)  \V.  Oncken,  Die  Staatslehre  des  Arist. 

1900  ff.    L'ber  die  Aristotelesvita  bei  den  Neu-  in histor.-polit.ümrissen, Leipz.  1870 — 73, 1 3ff. 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles,    (g  346.)  669 

letzten  Phase  seiner  philosophischen  Entwicklung,  in  der  dieser  den  Timaios 
und  die  Nomoi  schrieb  und  zu  der  mystischen  Zahlenlehre  der  Pythagoreer 
hinneigte.  Das  ist  nicht  unwesentlich  zum  Verständnis  der  uns  vielfach 
befremdenden,  von  den  erhaltenen  Schriften  Piatons  abweichenden  Dar- 
stellung der  platonischen  Lehre  bei  Aristoteles,  macht  auch  die  geringe 
Anziehungskraft  begreiflich,  die  der  alternde  Piaton  auf  den  jungen  Ari- 
stoteles übte.  Der  Gegensatz  der  beiden  Naturen,  des  schwärmerischen 
Idealismus  auf  der  einen,  des  nüchternen  Realismus  auf  der  anderen  Seite, 
trat  später  unverhüllter  hervor.  Die  Art  von  Aristoteles'  Polemik  gegen 
den  Meister  z.  B.  eth.  Nie.  p.  1096  a  16  mit  den  berühmten,  ironisch  auf 
einen  Ausspruch  Piatons  (reip.  595c;  cf.  607c)  Bezug  nehmenden  Worten: 
äfxipdiv  (i.  e.  äkri&elag  xal  UkaTcovog)  ovroiv  (pii.oiv  öoiov  Jigonjuav  rijv  äXt]- 
^eiav^)  ist,  wenn  man  in  Anbetracht  zieht,  in  welchem  Umfang  Aristoteles 
mit  Piatons  Gedanken  Wucher  getrieben  hat,  und  wenn  man  Piatons  Ver- 
hältnis zu  Sokrates  oder  den  Eleaten  vergleicht,  höchst  pietätlos.  Die 
Schwächen  von  Piatons  Ideenlehre,  auf  die  dieser  im  Alter  selbst  hin- 
gewiesen hatte,  sind  in  auffallend  unfreundlicher  Weise  von  Aristoteles 
hervorgehoben  (metaph.  I  6;  eth.  Nie.  I  4),  mit  Worten,  aus  denen  man 
schließen  könnte,  Piaton  sei  ein  ganz  unselbständiger  Kopf  gewesen.  In 
ähnlichem  Ton  kritisiert  er  Piatons  Staat  (pol.  II  1 — 6  und  1266  b  29; 
1291a  10;  1274b  9  flf.;  1316a  1  flf.;  1327b  28  ff.;  1329a  9  ff.;  eth.  Nie. 
1155a  22  ff.),  dessen  Lehre  von  der  fjöüvri  (eth.  Nie.  1172a  28  ff.;  1173a 
29  ff.),  von  der  Musik  (pol.  1342a  32)  und  erzählte  seinen  Schülern  hämisch 
von  Piatons  Vorlesung  über  das  Gute  (Aristoxen.  härm.  II  init.).*)  Bei 
dieser  Stimmung  ist  es  nicht  denkbar,  daß  Aristoteles  in  der  Elegie  an 
den  Rhodier  (so  0.  Immisch)  Eudemos  auf  den  Mann,  den  selbst  zu  loben 
den  Schlechten  nicht  zukomme  {ävögog  3v  ovo*  atveiv  röioi  xaxoXoi  Mfuq\ 
den  Plato  gemeint  habe.^)    Übrigens  war  er  nicht  zwanzig  Jahre  hindurch 

*)  über  den  metaphysischen  Gegensatz  |  den  Stellen  wie  Timae.  fr.  70.  74;  Theocrit 

zwischen  PL  und  Arist.  M.  Altenbubg,  Die  |  Chi.  in  Müllebs  FHG.  II  86  atmen,  ist  jeden- 

Methode  der  Hypothesis  bei  Piaton,  Aristot.  >  falls   psychologisch   verständlich;    er   wirkt 

und  Proklos.  Marbnrgl  905.  Bezeichnend  für  den  auch  bei  Aristokles  s.  II  p.  Chr.  nach,  dessen 

Gegensatz  der  Naturen  ist  die  spöttische  Ver-  >  Urteile  s.  bei  0.  Immisch,  Philol.  65  (1905)  18  f. 


achtung  des  Eleatismus  bei  Aristoteles  (de  gen. 
et  corr.  325a  16  fi).  Spätere  stellten  in  er- 
dichteten Anekdoten  das  Verhältnis  schlimmer 


Die  eth.  Nie.  IV  8  extr.  als  Typus  der  /ue- 
yaloipvxia  photographierte  Persönlichkeit  ist 
gewiß  nicht  Piaton,  und  auch  die  rttcksichts- 


dar,  wie  daß  Piaton  den  Aristoteles  mit  einem  volle  Bemerkung  eth.  Nie.  1096  a  12  bezieht  sich 

Fallen  verglichen  habe,  das  gegen  seine  Mutter  vielleicht  mehr  auf  Xenokrates  als  auf  jenen, 

ausschlage  (Diog.  L.  V  2).    Noch  in  der  orien-  *)  Die  Elegie  wird  angeführt  von  Olym- 

talischen  Litteratur  sind  leise  Spuren  von  dem  piodoros  zu  Plat.  Gorg.  895  Jahn,   und  von 

Zerwürfnis  zwischen  Piaton  u.  Aristoteles:  W.  1   ihm  ebenso  wie  vom  Verfasser  der  Vita  Mar- 

Hebtz,  Gesamm.Abh.(Stuttg.l905)  310.  An-  ciana  auf  Piaton  bezogen,  der  freilich  nicht 

stoteles  selbst  bezeichnet  sich  noch  häufig  in  i   genannt  ist.  J.  Bebnats  Ges.  Abh.  I  141  ff. 


der  Metaphysik  durch  den  Plural  Xeyofiev  als 
Glied  der  platonischen  Familie.  Übrigens  kann 
man  den  Aristoteles  nicht  von  demVorwurf  frei- 


und  ihm  nach  Th.  Gompbbz,  Gr.  Denker  11* 
57. 539,  denken  richtig  an  Sokrates.  0.  Immisch, 
Philol.  65(1906)  1  flf.,  bezieht  im  Anschluß 


sprechen,  über  Stellen  Piatons  ungenau  berich-      an  Wilamowitz  die  zitierten  Worte  des  Epi- 
tet  zu  haben ;  so  hat  er  polit.IV2p.  1289  b  5  die   ,   gramms  wieder  auf  Piaton.    An  seiner  Echt- 


Worte  Piatons  politic.  p.303  a  oflfenbar  verdreht. 

^)  Stark,  aber  nicht  unrichtig  sagt  Isidor. 

Peius,  ep.  IV  91  p.  1153a  Mione  über  Ar.: 

TU  Ilkaioivoq  üoy^iaxa  xcoficodwv,  srmTtovfterog 


heit  darf  wohl,  obgleich  es  in  der  bedenk- 
lichen Verbindung  mit  einem  ganz  apokry- 
phen eyxcüfitov  WAtmvoq  des  Aristot.  auftritt, 
nicht  gezweifelt  werden;   als  Verdienst  Pla- 


llXdzwvt.  Der  Haß  gegen  Aristoteles*  Person,      tons  wird  ja  aber  oflfenbar  nur  gepriesen  die 


570  Griechische  LüteraturgeBchichte.    L  KlassiBche  Periode. 

nur  Schüler  und  Hörer  des  Piaton;  in  der  Akademie  arbeiteten  die  jün- 
geren Genossen  neben  dem  Meister  an  freigewählten  Problemen  und  hielten 
neben  dem  Schulhaupt  auch  selbst  in  engeren  Kreisen  von  Schülern  Vor- 
lesungen. So  scheint  Aristoteles  schon  in  jener  Zeit,  vermutlich  im  Ein- 
verständnis mit  Piaton,  zur  Begründung  der  im  Phaidros  geforderten  (pdö- 
aocpog  ^rjTogixij  im  wahren  Sinn,  Vorträge*)  über  Rhetorik  gehalten  zu  haben. 
Zum  Schüler  hatte  er  hier  unter  andern  den  jüngeren  Theodektes,  der 
vermutlich  nach  Aristoteles'  Abgang  aus  Athen  dessen  Vorlesungsheft  zu 
eigenen  Vorträgen  benützt  und  mit  Aristoteles'  Einwilligung  veröffentlicht 
hat.*)  Bei  Einrichtung  des  Kurses  über  Rhetorik  wird  er  wohl  in  Gegensatz 
zu  Isokrates  getreten  sein;  ob  er  dabei  auch  den  nach  Euripides'  Philoktetes 
parodierten  Vers  aloxQov  oKOJzäv,  ^looxQdTt]  d*iäv  kiyeiv  gesprochen  habe,^) 
mag  dahingestellt  bleiben.  Schlecht  stimmt  dazu  die  Anerkennung,  die  er 
dem  Isokrates  in  seiner  Rhetorik  erweist,  indem  er  mit  ausgesprochener 
Vorliebe  aus  dessen  Reden  Beispiele  wählt.*)  Daß  er  selbst  auch  wirk- 
samer Redner  gewesen  sei,  kann  schwerlich  aus  der  Äußerung  des  Anti- 
patros  bei  Plutarch.  Alcib.  et  Cöriol.  comp.  3  geschlossen  werden. 

347.  Nach  dem  Tod  Piatons  (347)  verlebte  Aristoteles  zuerst  einige 
Jahre  bei  seinem  Freund  Hermeias,  Herrscher  von  Atarneus  und  Assos 
in  Mysien,  den  er  bei  Piaton  kennen  gelernt  hatte,*)  und  dem  er  bis  zu 
dessen  gewaltsamem  Tod  (Winter  342/41)«)  in  warmer  Liebe  anhing.  Seinem 
Andenken  widmete  er  eine  Statue  in  Delphoi^)  und  ein  bewunderndes  Skolion, 
das  uns  zum  Teil  noch  erhalten  ist.  Auch  nahm  er  dessen  Nichte  und 
Adoptivtochter  Pythias  zur  Frau.  Im  Jahr  342  folgte  er,  nachdem  er  in- 
zwischen (344 — 2)  noch  in  Mytilene  gewesen  war,^)  einer  Einladung  des 
Königs  Philippos  nach  Pella^)  zur  Übernahme  der  Erziehung  seines  Sohnes 
Alexandros,  die  er  drei  Jahre  lang  in  ländlicher  Zurückgezogenheit  bei 
Mieza  leitete;  gewiß  hat  er  seinem  königlichen  Zögling  Verehrung  für  die 

Stiftung   der  neuen  Sokratikerschule  (ßfofioK  Quint.  III  1,  14. 

symbolisch,   im  Anschluß   an   das  Sokrates-  I           *)  Gegen  Isoer.  15,  88  ist  gerichtet  Arist. 

bild  Acad.  philos.  ind.  p.  19  col.  II  13M.V),  eth.  Nie.  X  10  p.  1181a  15,  wie  L.  Spengel 

d.h.  der  Akademie  nach  seiner  Rückkehr  von  gefunden  hat;  umgekehrt  scheint  Isoer.  Pan- 

-der  ersten  sizil.  Reise.  Das  Distichon  des  Ari-  ath.  17  gegen  Aristoteles  zu  polemisieren  (was 

stot.  auf  einen  angeblichen  Altar  für  Piaton  freilich  z.B.  von  H.  Gompbrz.  Wiener Stud. 28, 

ist   aus   der  Elegie    konstruiert    und   beruht  \    1906, 19,  bestritten  wird);  S.F.Reinhardt, De 

schon   auf  falscher  Interpretation  derselben,  '   Isoeratis  aemulis  p.  40  fiP.  Th.  Bergk  und  F. 

trotz  0.  Immisch  a.  a.  0.  S.  11  f.  Susemihl  setzen  die  rhetorischen  Vorträge  des 

M  Von  Vorträgen   des  Aristoteles   wäh-  i   Aristoteles   in  die  Zeit  seines   zweiten   Auf- 

rend    der    Abwesenheit    Piatons    in    Sizilien  I   enthaltes  in  Athen  in  den  Jahren  344 — 2. 

spricht  Aristokles  bei  Euseb.  praep.  ev.  XV  2.  !            *)  An  Hermeias  ist  der  sechste  platoni- 

^)  Arist.  rhet.  III  9  p.  1410b  2:  ai  ö'  dg-  sehe  Brief  gerichtet.     Aus  einer  Biographie 

yai  Trr>i'  .-tFntddo)r  o/Mv  h'  Tof<r  HfodexTeion;  des  H.  (von  Hermippos)  ist  ein  Stück  erhalten 

)^tjotOmiyTai.  Siehe  u.  S.  707.  Von  rhetorischen  durch  Didymos  ad  Demosth.  Philipp,  col.  4  ff. 

Lehrkursen  des  jungen   Arist.  weiß  übrigens  Bezeichnend  ist  die  genaue  Kenntnis  der  Ge- 

Dionys.  Hai.  (und  seine  Quelle)  nichts,  sonst  schichte  von  Atarneus  bei  Ar.  pol.  1267a  31  ff. 

müßte  er  .sie  ad  Amm.  I  erwähnen,  und  daß  ^)  Zur  Datierung  s.  P.  Wendland,  Gott, 

aus  ihet.  1891b  13  kein  Scliluß  auf  Abhal-  gel.  Anz.  1906.  362. 

tung   solcher  Kurse   gezogen   werden   kann,  ')  Die  Inschrift  der  Statue  bei  Diog.L.V  6. 

zeigt  F.  Makx.  Ber.  der  sächs.  Ges.  d.  Wiss.,  **)  Ein  zweiter  Aufenthalt  in  Athen,  der 

52  (lUOO)  290,  1.  nicht  bezeugt  ist,  wird  angenommen  von  Th. 

3)  Diog.L.V3;Philod.derhet.II50SuDH.;  Bkrgk,  Rh.  Mus.  37  (1882)  359  ff. 
darin  'looxoärtj  gebessert  statt  des  überliefer-  ^)  Der  unechte  Einladungsbrief  bei  Gel- 
ten Eeroxguiij    nach  Cic.  de  or.  lll  141  und  lius  IX  3,  6  und  Plut.  Alex.  7. 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  347.)  671 

griechische  Kultur,  besonders  für  Homer  beigebracht;  in  der  Politik  ist 
dieser  freilich  später  ganz  andere  Wege  als  sein  Lehrer  gegangen,  i)  Auch 
für  seine  Heimat  verwandte  er  seinen  Einfluß  bei  Alexandres,  indem  er 
den  Wiederaufbau  der  von  Philippos  zerstörten  Stadt  Stagiros  erwirkte. 
Nach  dem  Regierungsantritt  des  Alexandros  siedelte  er  mit  seinem 
Freund  Theophrastos  335/34  wieder  nach  Athen  über,  wo  er  durch  Vor- 
träge in  den  schattigen  Umgängen  {neghtaioi)  des  Gymnasiums  Lykeion, 
das  von  einem  Heiligtum  des  ''AnoU.ov  Auxeiog  benannt  war,  am  Süd- 
abhang des  Lykabettos  eine  eigene  Schule,  die  der  Peripatetiker  oder  der 
wandelnden  Philosophen  gründete.  Nach  Gellius  XX  5*)  hielt  er  zwei 
Arten  von  Vorträgen,  morgens  für  den  engeren  Zirkel  der  vorgerückteren 
Schüler  (axQoajuanxd)^  abends  in  populärer  Form  für  einen  größeren  Kreis 
von  Wißbegierigen  (i^coregixd).^)  In  den  letzteren  scheint  er  auch  wieder 
die  Rhetorik  aufgenommen  zu  haben.  Seiner  neuen  Heimat  verschaffte  er 
durch  Vermittlung  bei  Philippos  Vorteile,  um  deren  willen  ihm  die  Athener 
die  Proxenie  verliehen.**)  Auch  die  Delphier  ehrten  ihn  und  seinen  Neffen 
Kallisthenes  in  den  Jahren  340  und  334  durch  Kränze  für  die  Anfertigung 
der  Pythionikenliste.^)  Wie  weit  die  Vorwürfe  des  Epikuros  berechtigt 
sind,  wonach  sich  Aristoteles  in  seinen  letzten  Jahren  mehr  als  eines 
Philosophen  würdig  mit  praktischen  Fragen  befaßt  habe,  läßt  sich  nicht 
mehr  beurteilen,  ß)  Nach  dem  Tod  des  Alexandros,  den  ihm  während  des 
asiatischen  Feldzugs  die  Mißhandlung  des  Kallisthenes  zeitweilig  entfremdet 
hatte,')  wurde  er  durch  die  antimakedonische  Partei  in  einen  Prozeß  wegen 
Gottlosigkeit  verwickelt,®)  dem  er  sich  durch  die  Flucht  nach  Chalkis  ent- 
zog, um,  wie  er  sagte,  den  Athenern  die  Möglichkeit  zu  nehmen,  sich  zum 
zweitenmal  an  der  Philosophie  zu  versündigen.  Dort  in  Chalkis  starb  er 
bald  nachher,  im  Spätsommer  322,  an  einem  Magenleiden.^)  Sein  Testa- 
ment, zu  dessen  Vollstrecker  er  den  Antipatros  bestimmte,  steht  bei 
Diog.  L.  V  11;  er  hinterließ  eine  Tochter,  die  er  dem  Nikanor,  dem  Sohn 
seines  ehemaligen  Vormundes  Proxenos,  bestimmte,  und  einen  Sohn  Niko- 

*)  An  Alexandros   denkt   Ar.  wohl  eth.  xandros'  Tod  und  der  Asebieklage  gegen  Ar. 

Nie.  1159a  5  ff.,  pol.  1284a 3 ff.;  1288a  14 ff.;  in  Zusammenhang  bringt. 

1313a  3  ff.;  daß  er  wußte,  Prinzenerziehung  •)  S.  Sudhaus,  Rh.  Mus.  48  (1898)  564. 

sei  eine  Sache  für  sich,  geht  aus  pol.  1277a  ')  Spätere  (Plut.  Alex.  77,  Arrian.  an. VII 

16  ff.  hervor.  27,  Plin.n.h.XXX  149)  maßen  dem  Arist.  die 

*)  Vgl.  Philod.  de  rhet.  II  50  Südh.  Schuld  einer  Vergiftung  des  Alexandros  bei. 

^)  Eine  Andeutung  dieses  Unterschiedes  weshalb  Caracalla  nach  Cassius  DioLX  XVII 7 

gibt  Aristoteles  selbst  polit.  p.  1278  b  31  xai  die  Werke  des  Arist.  verbrannte.  Von  großen 
yao    ftV    ToTs    F^onFotxotc   /.oyoig    StoniCofie^a   '   Unterstützungen,  die  Alexandros  dem  Arist. 

.-zun   avtwv   no'üAxn;    (H.  BoNiTz,   Ind.  Ar.,  für  seine  naturwissenschaftlichen  Bestrebun- 

Berl.  1870  p.  104  b  43  ff.).  gen  zugehen  ließ,  wissen  Plinius  n.  h.  VIII 

**)  Das  Dekret  ist  aus  der  arabischen  Ari-  44,  XI  85;  Athen.  398 e,  Aelian  v.  h.  IV  19 

stotelesbiogr.  des  Ibn  Ab!  Usaibia  von  E.  Dre-  (dieser  redet  von  Unterstützung  durch  Philip- 

RUP,  Mitt.  des  ath.  Inst.  23  (1898)  369  ff.  re-  pos)  zu  erzählen, 

konstruiert.  ^)  Zum  Vorwand   diente   der  Paian   auf 

*)  Siehe  die  von  Th.  Homollb,  Bull,  de  Hermeias,s.  Ath.696ab;  697 ab;  Diog.  L.  V5; 

corr.hell.22(1898)260veröffentlichteln8chrift.  Aelian.  v.  h.  III  36. 

Nach  Ael.  var.  bist.  XIV  1    hätten   die  Del-  •)  Censorius  de  die  nat.  14,16.  Apokryph 

phier  a.  323   die  Ehrung   kassiert;   s.  a.  H.  ist  die  Nachricht  des  Eumelos  bei  Diog.  L. 

PoMTow.Berl.phil.Woch.  19(1899)251ff.,  der  V6   und  vit.  Menag.   p.  402,  17  Wbst.,   er 

die  Kassierung  mit  dem  makedonierfeindlichen  habe   sich   mit  Akonit  vergiftet  (F.  Jacoby 

Wechsel   der  phokischen   Politik  nach  Ale-  a.  a.  0.  321  f.).  . 


672  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  KlassiBche  Periode. 

machos,  den  er  von  einer  Konkubine  Herpyllis  hatte.  Ein  Porträt  von 
ihm  hat  man  ehedem  irrtümlich  in  einer  lebensgroßen  Statue  des  Palazzo 
Spada  in  Rom  erkennen  wollen,  i) 

348.  Schriften  des  Aristoteles.  Der  staunenswerten  Vielseitig- 
keit und  unermüdlichen  Arbeitskraft  des  Aristoteles  entspricht  die  Zahl 
und  der  Umfang  seiner  Schriften.  Vieles,  von  den  systematischen  Werken 
nahezu  alles,  ist  auf  uns  gekommen.  Aber  die  populären  und  vorbereitenden 
Schriften  sind  fast  sämtlich  verloren  gegangen.  Die  Folge  davon  ist,  daß 
uns  Aristoteles  in  den  erhaltenen  Schriften  als  ein  Fertiger  entgegentritt 
und  seine  geistige  Entwicklung  sich  unseren  Blicken  fast  ganz  entzieht. 
Nur  so  viel  ist  erkennbar,  daß  er  sich  zuerst  in  der  schriftstellerischen 
Form  an  Piaton  angeschlossen  und  Dialoge  über  ästhetisch-litterarhisto- 
rische  und  popularphilosophische  Gegenstände  geschrieben  hat.  Über  die 
Gesamt  werke  geben  uns  zunächst  die  Kataloge  Aufschluß;*)*  aber  diese 
weichen  voneinander  ab,  und  ihr  Bestand  hängt  mit  den  Schicksalen  der 
aristotelischen  Schriften  zusammen.  Diogenes  Laertios  V  22—27  gibt  ein  Ver- 
zeichnis von  146  Werken  in  445270  Zeilen^)  und  ungefähr  400  Büchern.*) 
Dieses  Verzeichnis,  dessen  Titel  erheblich  von  denen  der  Handschriften 
abweichen,*)  enthält  vermutlich  den  Bestand  der  alexandrinischen  Biblio- 
thek an  aristotelischen  Schriften  auf  Grund  der  Angaben  des  Hermippos.«) 
Ihm  steht  ein  zweites  Verzeichnis  gegenüber,  das  weit  mehr  Bücher  (1000 
statt  400)  umfaßt  und  auf  den  Peripatetiker  Andronikos,  der  zur  Zeit 
Ciceros  auf  Grund  eines  Handschriftenfundes  eine  vollständigere  Ausgabe 
der  Werke  des  Aristoteles  besorgte,')  zurückzugehen  scheint.    Von  diesem 

*)  Die  Reste  der  Inschrift  führen  eher  auf  Abweichungen  beruhen  zum  Teil  auf  Nach- 

APISTIjiJtog.    Den  echten  Aristoteles  sucht  lässigkeiten   der  Abschreiber,   wie  wenn  bei 

F.  Studniczka  (Boll.  dcll'  inst.  arch.  german.  \  Diogenes  die  Metaphysika  ganz  ausgefallen 

5  (1890)  12  ff.)  in  einem  Wiener  Kopf;  s.  J.  sind. 

Bernoulli,  Griech.  Ikonographie  II 85  Taf.  II.  *)  Der   Katalog   hat  IloXmxtj   dxgoaaig. 

Über  das  Äußere  seiner  Gestalt  ein  Vers  der  I   wir  IJoXiuxd,  wir  0vatxrf  dxgoaaig,  der  Kata- 

vit.  Menag.  p.  405,  98  West.  :  afuxgog  q)am-  '   log    <Pvoixd.     Von    der   Schrift   Jirgi    i^wxtjg 

xooc  rpai'Aos  o  ^^Tayeigm/i:,  Xdyvoc  jtQoydoTWQ  kennt   der  Katalog   nur   ein  Buch,   von   der 

jta?J,axnU  ovitj^iftevog  (letzteres  geht  nament-  ^fX^V   grjTogtxfj   nur  zwei;   das   vierte   Buch 

lieh  auf  seinen  Verkehr  mit  Herpyllis).    Vgl.  der  Metaphysik  führt  er  gesondert  unter  dem 

A.  Stahb,   Aristotelia  I,   Halle  1830,  160  flP.  Titel  .legi  twv  jiooaxwg  Aeyofisvwv  an. 

Atticus  hatte  ein  Aristotelesporträt  in  seiner  ®)   Diese  Annahme    stützt   sich   darauf, 

Bibliothek  (Cic.  ad  Att.  IV  10,  1).  daß  Hermippos  über  Aristoteles  geschrieben 

^)  Abgedruckt  in  der  akad.  Ausgabe  des  hatte,    und    daß    er   in   einem  Scholion   am 

Arist.  V  p.  1463  ff.  Schluß    der    Metaphysik    des    Theophrastos 

3)  Die  Zeilenzahl  gibt  Diogenes  oder  gab  neben  Andronikos  als  Verfasser  von  Katalogen 

Herraippos   auf  Grund   stichometrischer  An-  der  Schriften  des  llieophrastos  genannt  wird, 

gaben,  wie  sie  seit  der  alexandrinischen  Zeit  ^)  Von   Andronikos  wird    ein   tractatus 

auf  Grund   einer  Normalzeilenbreite  von  ca.  '   quintus  libri   de  indice   librorum  Aristotelis 

35  Buchstaben  üblich  waren   und   zur  Fest-  angeführt  in  dem  arabischen  Katalog  unter 

Setzung    des   Honorars   der   Abschreiber   be-  Nr.  90.   Porphyr,  vit.  Plotini  24:  ^Avögwucog  6 

nützt  wurden.  I    IleotjraTtjTixog  ja  'AoiororiXovg  xai  HfotfQuoxov 

"*)  In  der  Vita  Meuagiana.  die  sonst  mit  f/c  jigayuaiFtag  dttÜFv.     Daß  Andr.  tausend 

Diogenes  übereinstimmt,  ist  ein  Nachtrag  an-  Bücher  des  Arist.  unterschied,  sagt  David  in 

gehängt,  dcrauseinem  anderen  Katalog  stammt  Aristot.  categ.  24a  19  ed.  Berol.  —  Fälschlich 

und  ungeschickterweise  mit  dem  ersten  Ver-  •   dem  Andronikos  zugeschrieben  ist  die  Angabe 

zeichnis  verschmolzen  ist,   so  daß  nun  viele  Urdgorixor    .-regt    rd^ewg    .^cM»;T<ur,    worüber 

Werke  doppelt,   zum  Teil    mit  verschiedener  i   L.  Cohn,  Phil.  Abh.  dargebr.  M.  Hertz,  Berl. 

Bucheinteilung,  verzeichnet  sind.  Die  übrigen  1888,  S.  130  ff. 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§§  848—349.)  673 

zweiten  Verzeichnis  kennen  wir  aus  griechischen  Quellen^)  nur  die  Ge- 
samtzahl der  Bücher;  die  einzebaen  Titel  gibt  die  arabische  Übersetzung 
der  Schrift  eines  gewissen  Ptolemaios  über  Aristoteles  und  seine  Schriften.*) 
Mit  dem  flandschriftenfiind  aber  hat  es  folgende  Bewandtnis.^)  Nach  dem 
Tod  des  Theophrastos  war  dessen  Bibliothek,  die  auch  die  Werke  des 
Aristoteles  enthielt,  in  den  Besitz  eines  gewissen  Neleus  in  Skepsis  über- 
gegangen. Dessen  Erben  verbargen  die  Handschriften  aus  Furcht  vor  der 
Bibliomanie  der  Attaliden  in  einem  Gewölbe,  wo  sie  den  Motten  und  dem 
Moder  preisgegeben  blieben.  Um  100  v.  Chr.  entdeckte  sie  dort  ein  reicher 
Bücherliebhaber,  Apellikon  von  Teos,  und  brachte  sie  nach  Athen.  Bei 
der  Einnahme  der  Stadt  durch  die  Soldaten  des  Sulla  kamen  auch  die 
Bücher  in  die  Gewalt  des  Siegers,  der  sie  nach  Rom  verbringen  ließ  (86 
V.  Chr.).  Dort  erkannte  der  Grammatiker  Tyrannion  den  Wert  der  Bibho- 
thek  und  veranlaßte  den  Peripatetiker  Andronikos  sie  zu  katalogisieren. 
Mit  diesem  Handschriftenfund  nahm  das  Studium  des  Aristoteles,  dessen 
Schriften  nun  vollständig  und  in  besserer  Ordnung  publiziert  wurden,*) 
einen  neuen  Aufschwung  ;ö)  auf  die  neue  Ausgabe  geht  im  wesentlichen  die 
Rezension  unserer  Handschriften  zurück,  ß) 

Die  Schriften  des  Aristoteles  zerfallen,  von  den  poetischen  Kleinig- 
keiten und  den  Briefen  abgesehen,  in  drei  Kategorien:  in  Dialoge,  vor- 
bereitende Sammlungen,  systematische  Werke.  Von  den  beiden  ersten 
Klassen  sind  nur  dürftige  Bruchstücke,  von  vollständigen  Werken  aber  im 
ganzen  47  erhalten. 

349.  Die  populären  Schriften  und  die  Dialoge.')  Die  uns  er- 
haltenen Schriften  gehören  alle  der  Kategorie  der  systematischen  Werke 
des  gereiften  Alters  an.   Diesen  waren  populäre  Schriften,  die  sich  in  sorg- 


^)  Vita  Marciana  9 ;  David  in  Arist.  ca-  in  unseren  Handschriften  und  Ausgaben  be- 

teg.  24  a  18.  ginnen.  —   Die  Veröffentlichung   des   neuen 

'-')  Inder  akademischen  Ausgabe  p.  1469  ff.  Aristoteles  geschah  vielleicht  durch  den 
steht  die  von  M.  Stein schnbideb  angefertigte  Grammatiker  Tyrannion  um  46  v.  CHr.  (so  H. 
Rückübersetzung.  Jener  Ptolemaios  war  nach  Usensr,  Ein  altes  Lehrgebäude  der  Philo- 
dem arabischen  Bericht  Philosoph  in  Rom,  logie,  Bayr.  Ak.Sitz.ber.  1892S.  582ff.  u.  ders., 
vielleicht  eine  Person  mit  Ptolemaios  Chen-  Gott.  Nachr.  1892,  204;  dagegen  F.  Süsemihl, 
nos.  Genauere  Mitteilungen  gibt  F.  Littio,  N.  Jahrbb.  151,  1895,  225  ff.).  Unhaltbar  ist 
Andronikos  von  Rhodos,  Progr.  München  1890;  übrigens  die  Meinung,  als  wären  die  „Schul- 
A.  Baümstabk,  Syrisch-arabische  Biographien  Schriften*  des  Aristoteles  vor  der  Verwertung 
des  Aristoteles,  Leipz.  1898.  Über  den  rtole-  der  Bibliothek  von  Skepsis  überhaupt  un- 
maioskat.  ders.  in  Philolog.-hist.  Beiträge,  C.  bekannt  gewesen. 
Wachsmuth  überreicht,  145  ff.  ^)  Daher  heißt  es  von   den  alexandrini- 

^)  Strab.  p.  608  f.;  Plut.  Sulla  26;  Luc.    ;  sehen    Katalogen    bei  Philoponos   in   categ. 

adv.  ind.  4.     Konfundiert  sind  die^  Dinge  bei  39  a  20:  h  xaTs  JiaXaiaTg  ßißkio&7)xaig. 

Athenaios,   der  p.  8   den  Ptolemaios  Phila-  ®)  Die  Rezension  unserer  Handschriften 

delphos,   p.  214d   den   Apellikon   die  aristo-  wurde   aber  erst  gegen  Ende  des  Altertums 

telische  Bibliothek  des  Neleus  erwerben  läßt.  angefertigt  und  enthält  einiges   erst  später 

**)  So  kennt  das  neue  Verzeichnis,  wie  Hinzugekommene.    Dahin  gehören  jieqi  xöa- 

unsere  Handschriften,  drei  (nicht  zwei)  Bücher   ;  fwr,   jifoI  xQwfidTfov,  jiegi  äavfiaaiojv  dxovo- 

der Rhetorik,  drei  Bücher  (nichteines)  de  anima,  juaTMv. 

dreizehn  (nicht  zehn)  Bücher  der  Metaphysik,  ^)  Aristot.  fragmenta  ed.  Val.  Rose  im 

zwei  Bücher  (nicht  eines)  der  Poetik.  Die  Ein-  Aristoteles  pseudepigraphus  (weil  die  Schriften 

teilung  der  Werke  in  Bücher  scheint  nicht  unecht  sein  sollen),  Lips.  1863,   im  5.  Band 

von   Aristoteles   herzurühren:    der  Philosoph  der   akad.  Ausg.,    Berlin  1870;    derselbe  in 

selbst  würde    nicht  de  an.  1.  III   und   polit.  der  Bibl.  Teubn.  1886;   E.  Heitz,   Die  ver- 

1.  VIII  an  der  Stelle  begonnen  haben,  wo  sie  lorenen  Schriften  des  Arist.,  Leipz.  1865. 

Handbuch  der  klass.  AltertnmswiMeoschaft.    YII.  5.  Aufl.                                                    43 


674  Griechische  Litter atnrgeschichte.     I.  Elawusche  Periode. 

fältig  ausgearbeiteter  Form  an  einen  weiteren  Kreis  von  Gebildeten  wandten, 
und  Sammelschriften,  die  das  Material  für  die  Theorie  und  das  System  be- 
schafften, vorausgegangen.  Die  populären  Bücher  waren  mit  den  exote- 
rischen  {i^aneQixoi  koyoi)  verwandt,  da  der  Verfasser  die  für  einen  größeren 
Kreis  bestimmten  Bücher  eher  als  die  systematischen  durch  Abschriften 
zu  vervielfältigen  und  hinauszugeben  Anlais  hatte;  Aristoteles  verweist 
selbst  einigemal  auf  solche')  und  spricht  in  der  Poetik  p.  1454b  18  von 
den  ixdedo/uivoi  koyoi.  Da  in  diesen  eine  leichtverständliche  Beweisform 
angewendet  war,  so  sprach  man  auch  im  weiteren  Sinn  von  einer  exote- 
rischen  Untersuchungsweise  {oxhpig),  und  daraus  entwickelte  sich  die  be- 
sonders von  Andronikos  in  Umlauf  gebrachte  Unterscheidung  von  einer 
exoterischen,  an  das  allgemeine  Verständnis  gerichteten  Lehre  und  einer 
streng  wissenschaftlichen,  nur  für  enge  Kreise  von  Eingeweihten  bestimmten 
Theorie. 2)  Jene  populären  Schriften  hatten  größtenteils»)  dialogische  Ein- 
kleidung und  waren  gefällig  stilisiert,*)  so  daß  im  Blick  auf  sie  Cicero 
(Acad.  II  119)  von  einem  aureum  flumen  der  aristoteUschen  Sprache  reden 
kann,  was  unter  den  erhaltenen  Schriften  nur  auf  die  *A^vauov  jiolneia 
zutrifft.  Doch  fehlte  ihnen  das  mimetisch-dramatische  Element,  und  an 
die  Stelle  kurzer  Fragen  und  Antworten  traten  lange  Vorträge,  in  denen 
die  Sache  von  entgegengesetzten  Standpunkten,  ähnlich  wie  später  bei  Cicero, 
besprochen  war.*)  Aristoteles  führte  sich  auch  selbst  als  Unterredner 
ein,  und  den  Dialogen  waren  Proömien  vorangestellt,  die  zum  Bewußtsein 
brachten,  daß  der  Dialog  nur  pädagogische  Maske  sei.  Sachlich  schließen 
sie  teils  an  Piaton  an,  teils  kritisieren  sie  ihn.  Von  fünfzehn  dieser  Schriften 
besitzen  wir  erheblichere  Fragmente.  Zu  ihnen  gehörten  der  Eudemos 
über  die  Unsterblichkeit  der  Seele,^)  die  drei  Bücher  jzeoi  g)dooo(piag^  in  denen 
die  Hauptsätze  der  jiqojt7]  q)dooo(pia  entwickelt  und  zugleich  ein  Überblick 
über  die  Geschichte  der  Philosophie  gegeben  warj)  drei  Bücher  Jiegl  Täya- 
^ov,  die  sich  mit  dem  vorgenannten  Dialog  berührten  und  besonders  die 
pythagoreisch  gefärbte  Lehre  Piatons  von  der  Idee  des  Guten  behandelten, 
drei  Bücher  neol  jioujtwv,  die  neben  den  djioQrjfmTa  'O^urjgixd  als  Vorarbeiten 


*)  Die  Stellen  bei  H.  Bonitz,  Index  Arist.  rgejruxo^    (nach    dem    Vorgang    des    Anti- 

p.  104f.;  wichtig  besonders  metaph.  p.  1076a  sthenes?). 

28:    TFÜQvXi^zat    yag    lä    jio/./.a    xai    imo   xmv  *)  Cic.  de  fin.  V  12. 

E^unFQixcüv  Xoycüv,  polit.  p.  1323a  22:   rofu'-  \           »)  E.  Heitz  (s.o.  S.  673,  7),  H.  Schlott- 

oayTFg  ovv  ixavax;  mdla  keyeo^ai  xai  h  toU  <    MANN,  Ars  dialogorum  componendoroin  quas 

FitüifoixoTg  Xoyoig  :ieQl  irjs  niHorrji;  Cw/c  Vgl.  ,   vicissitudines  apud  Graecos  et  Romanos  su- 

A.  Stahr  II  237  ff.;  J.  Bernays,  Die  Dialoge  bierit,  Rostochii  1889,  p.  19—25;  R.  HmzBL, 

des  Aristoteles  im  Verhältnis  zu  seinen  übri-  Der   Dialog  I   272 — 300.      Testimonia    über 

gen  Werken,  Berl.  1863;  H.  Diels,  Über  die  Aristoteles'  Dialogbehandlung  V.  Rosb,  Ari- 

exoterischcn  Reden  des  Arist.,  Berl.  Ak.  Sitz.-  stot.  fragm.  1886,  23  f. 

ber.  1883  S.  477  if  ;  F.  Susemihl,  Jahrbb.  f.  cl.  ®)  l)em  Andenken  des  Genossen  gewid- 

Ph.  129  (1884)  265  ff.  met,   der  353/2  im  i'eldzug  des  Dion  gegen 

^)  Gellius  XX  5,  10:  durch  Andronikos  Dionysios  fiel;   Beiträge   zur  Erklärung  von 

ist  beeinflußt  Cicero  de  fin.  III  10;  V  12;   ad  i   J.  Bernays.  Ges.  Abb.  I  130—140. 

Att.  IV  16,  2:  Strab.  p.  609;  Galen,  de  subst.  •)  Über  ihre   dialogische  Form  J.  Ber- 

facult.  IV^  758;    Alex.  Aphrod.  in  Arist.  top.  nays.  Ges.  Abh.  I  148  ff.;  neue  Beiträge  von 

261a  25;    Siniplicius  386  b  25.     Jene  Unter-  J.  Bywater,  Joum.  of  Philol.  7  (1877)  64  ff. 

Scheidung    tritt   schon    in   den   Briefen    Pia-  Eine  Stelle  daraus,  die  uns  Aristoteles  auch  als 

tons  auf.  Mann  der  phantasievollen  Darstellung  kennen 

')  Schwerlich  dialogisch  war   der  //oo-  lehrt,   teilt   Cicero  de  nat.  deor.  II  95   mit. 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  350.) 


675 


für  die  Poetik*)  gelten  können,  femer  rgvlXog  fj  negi  grjrogixfjg,*)  Meve- 
^Evog,^)  NriQiv&og,*-)  vier  Bücher  negl  dtxatoovvrjg^^)  Schriften  negl  evyevelag^^) 
jiegl  Tiaideiag,  negl  cpiXiag,  ovjiitiööiov  fj  negl  /bit&rjg  mit  viel  kulturgeschicht- 
lichem Detail  über  Symposiongebräuche  und  die  Alkoholfrage ^)  u.  a.  In 
die  gleiche  Klasse  popidär-philosophischer  Bücher  gehörten  auch  die  beiden 
Sendschreiben  an  Alexandros  jiegl  ßaoiXeiag^)  und  negl  änoixiibv^  sowie  der 
an  Themison,  König  von  Kypros,  gerichtete  Protreptikos,  der  eine  Mah- 
nung zum  Philosophieren  enthielt.®)  Diese  populären  Schriften  und  Dialoge 
waren  es  zumeist,  die  noch  zur  Zeit  Ciceros  Leser  fanden. 

360.  Sammelschriften.  Aristoteles  hat  seine  Theorie  in  Philo- 
sophie, Poetik,  Politik  auf  Grund  ausgedehnter  Voruntersuchungen  über 
die  geschichtlichen  und  tatsächlichen  Verhältnisse  aufgebaut;  seinen  syste- 
matischen VSTerken  {ngayuaxelai)  gingen  daher  historische  und  philologische 
Vorstudien  (pvvaycoyai)  voraus. *<>)  Schon  in  den  Dialogen  liebte  er,  seine 
Sätze  durch  Beispiele  und  historische  Rückblicke  zu  beleuchten,  wie  das 
namentlich  von  den  Schriften  über  die  Dichter  und  die  Philosophie  bezeugt 
ist.  Dazu  kamen  nun  aber  noch  viele  andere  Bücher,  die  mehr  Exzerpten**) 
und  Kollektaneen  glichen,  als  daß  sie  zu  stilistisch  abgerundeten  Werken 
verarbeitet  waren.**)  Diese  scheinen  namentlich  in  den  philologischen  Kreisen 
Alexandriens  Verbreitung  gefunden  zu  haben,  während  viele  von  ihnen, 
nach  dem  Katalog  des  Ptolemaios  zu  urteilen,  in  der  theophrastischen 
Bibliothek    des  Neleus   fehlten,    sei  es  nun,    weil    sie   zur  Philosophie   im 


A.  Dyboff,  Blätter  für  bayr.  Gymn.  32 
(1896)  18  ff.  sucht  nachzuweisen,  daß  die 
Stellen,  welche  Chalcidius  c.  128  u.  254  ans 
dem  angeblichen  Philosophos  des  Piaton  an- 
führt, tatsächlich  aus  diesem  Buch  des  Aristo- 
teles geflossen  sind. 

»)  Vgl.  fr.  74  Rose»  mit  Ar.  po6t.  1460  b 
31  ff. 

')  Gryllos  war  der  gefeierte  Sohn  des 
Xenophon;  die  auf  seinen  Heldentod  (362) 
geschriebenen  Lobreden  werden  den  Aus- 
gangspunkt des  Dialoges,  der  sachlich  an 
Plat.  Phaedr.  anzuknüpfen  und  die  Prätensio- 
nen der  isokratischen  Rhetorik  zu  bekämpfen 
scheint,  gebildet  haben. 

')  Der  Titel  erinnert  ebenso  wie  der 
lW/töTi]g,  UoltTixog  an  Dialoge  des  Piaton 
und  Antisthenes.  Auf  den  IIoX.  bezieht  sich 
vielleicht  Ar.  pol.  1323  a  22. 

*)  Nerinthos  war  ein  Bauer  aus  Eorinth, 
der,  durch  die  Lektüre  von  Piatons  Gorgias 
veranlaßt,  das  Feld  verließ,  um  Piaton  zu 
hören. 

*)  Auf  diese  Schrift  will  F.  Susemihl, 
Jahresber.  üb.  d.  Fortschr.  d.  kl.  Altwiss.  30 
(1882)  3.  Plat.  leg.  p.  860  d  beziehen. 

®)  Die  Echtheit  bestritten  bei  Plut.  Ari- 
stid.  27,  verteidigt  von  0.  Immisgh,  Comm. 
Ribbeck.  78. 

')  Auch  Antisthenes  hatte  :iegl  otyov 
Xgf/OFWi:  geschrieben,  und  Piaton  berührt  den 
Gegenstand  (C.  Ritter,  Komm,  zu  Piatons 
Gesetzen  53  f.). 


^)  Eine  arabische  Schrift  über  Königtum 
hält  für  Übersetzung  eines  Aristotelesbriefs  H. 
Nissen,  Rh.  M.  47  (1892)  179 f.;  dagegen  E. 
Zelleb,  Arch.  f.  Gesch.  d.  Phil.  6  (1893)  408  f. 

•)  Über  die  stilistische  Verwandtschaft 
mit  den  Sendschreiben  des  Isokrates  Wila- 
MowiTZ,  Aristo t.  u.  Athen  I  326  f.  Der  Pro- 
treptikos ist  namentlich  von  Cicero  im  Hor- 
tensius  und  von  lamblichos  in  seinem  Protr., 
nach  P.  Wekdland,  Anaxim.  92  ff.  auch  in 
Ps.Isocr.  ad  Demonic.  benützt  worden.  Ein 
neues  Fragment  Oxyrh.  pap.  IV  nr.  666  (s.  IL 
p.  Chr.).  Die  Sitte,  den  Fürsten  geistige 
Studien  zu  empfehlen,  hat  wohl  Isokrates 
(NicocL,  ad  Nicocl.)  aufgebracht. 

*®)  Seine  Auffassung  über  den  wissen- 
schaftlichen Wert  solcher  Sammelschriften 
drückt  Aristot  eth.  Nie.  1181a  15  ff .  b  6  ff . 
aus.  Verunglimpfung  dieser  Schriften  Philod. 
de  rhet.  11  57  Sudh. 

**)  Im  Katalog  des  Ptolemaios  nr.  15 
heißt  es  geradezu:  in  quo  ahbreviavit  ser- 
monem  Piatonis  de  regimine  civitatum  =■  ta 
Fx  tfjg  jioXiieiag  IlXdioyvog.  Exzerpte  werden 
femer  gewesen  sein  la  ix  to)v  vofdcov  nkd- 
Tfovo<:,  ix  T(üv  TifÄaiov  xai  'Jqxvtov.  Kritische 
Polemik  enthielten  die  Bücher  .-rgog  rd  rog- 
yiovy  Jioos  zu  Meliaaov,  Jigog  rot  'Alxfiaioyvog, 
jiegi  xü)v  Uv^ayogeicov ,  Jiegi  rrfg  'Agxvrelov 
(pdoooffiag,  jtegi  Afjfioxgirov. 

**)  Übrigens  waren  nach  Cic.  de  inv.  II  6 
manche  dieser  ovvaytoyai  auch  sehr  genieß- 
bar geschrieben. 

43* 


()76  Griechische  Litteraturgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

engeren  Sinne  nicht  gehörten,  sei  es,  weil  sie  in  den  Kreisen  der  Ein- 
geweihten nicht  für  aristotelisch  galten.^)  Einige  dieser  Materialiensamm- 
lungen  werden  im  Zusammenhang  mit  den  erhaltenen  systematischen  Schriften 
ihre  Besprechung  finden.  Hier  seien  die  grammatischen  und  litterarhisto- 
rischen  Schriften  namhaft  gemacht:  ^Ajiogtj/xara  'OjLiTjQixd,  von  denen  die 
Quintessenz  in  der  Poetik  Kap.  25  steht,  AidaoxaUai^  die  Quelle  der  er- 
haltenen didaskalischen  Inschriften  aus  Athen,*)  Uv&iovTxai^  zwischen  340 
und  334  verfaßt,^)  'Yno^vrifAaxa  lorogixd^)  und  die  großen  Sammlungen  zur 
Geschichte  der  Wissenschaften,  zu  denen  Aristoteles  zum  Teil  auch  seine 
Schüler  anregte,  die  owaycoyi}  xexvwv^^)  eine  Geschichte  der  Rhetorik,  aus 
der  die  Späteren  ihre  Kenntnisse  geschöpft  haben,  die  Mevcoveta  laTQixd 
(s.  o.  S.  593  A.),  Eudemos*  von  Rhodos  (kQi&jLirjTixil],  yeoD/nergixrj,  äoxQokoyixt} 
ioTogia  (vielleicht  auch  rcbv  jiegl  xo  ^elov  lotogia^  d.  h.  Geschichte  der  Theo- 
logie), Theophrastos*  do^ai  q^voixojv,  lauter  Werke,  in  denen  nicht  das  Bio- 
graphische, sondern  das  Doxographische  vorwiegt.  Aus  der  Klasse  solcher 
historischer  Schriften  ist  auf  uns  gekommen  das  Buch  über  Melissos  Xeno- 
phanes  Gorgias,«)  das  durch  einen  Corrector  des  cod.  Vat.  R  dem  Theo- 
phrastos  beigelegt  ist"^)  und  so  vielfach  von  den  Angaben  in  den  echten 
Schriften  unseres  Philosophen  abweicht,  daß  es  nicht  von  Aristoteles  her- 
rühren kann.®)  Seinem  Charakter  nach  gehörte  hierher  auch  das  oft  zi- 
tierte, verloren  gegangene  Buch  Ilejikog^  das  von  dem  bunten  Inhalt 
seinen  Namen  hatte  (s.  unten  S.  707  f.). 

351.  Die  systematischen  Werke.  Die  wichtigste  Stellung  nahmen 
unter  den  Schriften  des  Philosophen  diejenigen  ein,  in  denen  er  seine  Lehre 
im  Zusammenhang  und  in  streng  wissenschaftlicher  Weise  vortrug;  sie 
hießen  äxgodoEK;^  weil  sie  von  Aristoteles  seinen  Vorträgen  zugrund  gelegt 
wurden,'^)  oder  jTgayjuardai^  weil  sie  die  sachliche  Darlegung  der  einzelnen 
Wissensgebiete  enthielten;  in  der  Schule  des  Meisters  wurden  sie  am  meisten 
in  Ehren  gehalten,  und  dieser  Hochachtung  verdanken  wir  ihre  fast  voll- 
ständige Erhaltung.  Um  ein  richtiges  Verständnis  und  einen  Einteilungs- 
grund für  die  Besprechung  dieser  Schriften    zu  gewinnen, *<>)   müssen   wir 

^)  Alle  die  KoUektaneen  erklärt  samt  den  |   teils  de  rhet.  libros,  Stuttg.  1828. 

populären  Schriften  Val.  Rose,  Arist.  pseud-  i           *)  In  Cod.  Vatic.  R  steht  der  falsche  Titel 

epigraphus  (s.  0.  S.  673,  7).   für  unecht.    Viele  |   Jtfgi  Efvoqdrovi:,  .-leoi  Zf}vcoyoc:,  :^fgi  Fonyiov. 

mochten  bloß   unter  der  Leitung  des  Schul-  '')  Vgl.  E.  Zeller  I'  500,  wo  auch  die 

hauptes  von  seinen  Schülern  angefertigt  sein.  umfangreiche  Litteratur  angegeben  ist 

Selbst  in  der  14 »V//i'a/ft»'--To/.rTf/a  macht  sich  ein  ,           ®)  E.  Zeller  a.  a.  0.;   F.  Susemihl,  AI. 

auffälliger  Unterschied  von   der  Sprache  der  Lit.  I  157.  H.  Diels.  Doxographi  gr.  S.  108  ff. , 

übrigen  erhaltenen  echten  Schriften  des  Ari-  setzt  die  Schrift  in  die  nächste  Zeit  nach  Theo- 

stoteles  bemerkbar.  Siehe  auch  u.  S.  678,  1.  phrastos.  In  das  1.  Jahrh.  n.  Chr.  geht  herab 

*)  WiLAMOwiTZ,  Gott.  Gel.  Anz.  1906,  617;  H.  Diels,  Aristotelis  qui   fertur  de   Melissa 

E.  Reisch.  Zeitschr.  f.  östr.  Gymn.  58  (1907)  '   Xenophane   Gorgia   libellus,  ßerl.  Ak.  Abb. 

310  ff.    Über  die  Anlage  des  Buches  (Katalog  1900,  1  ff. 

der  musischen  und  gymnischen  Sieger  und  der  ®)  Daher  7  voixif  axQoaaic:  und  axoonaEig 

Agonotheten)  s.  H.Pomtow,  Berl.  phil.W.schr.  met.  p.  994b  32.  Aus  derVortragsform  stammt 

19  (1899)  251  ff.  die  Anrede  v^iun'  rj  nor  dyQooyfin'cov  in  soph. 

^)  Siehe  o.  S.  672.  und  Pomtow  a.  a.  0.  el.  p.  184  b  2 — 6,   aus   dem   Konzeptstil    des 

*)  Von  andern  wurden   die  historischen  Kollegmanuskript«  die  Übergangsformel  tierä 

Erinnerungsblätter     dem     Theophrastos    zu-  Tarru  on   met.  p.  1069b  35;   1070a  4;  vgl. 

gesclmeben.  anal.  pr.  init. 

'^j  L.  Spenoel,  nv%'ayioyij  TF/ton'  s.  artium  *")  Die   Einteilung  der   Alten   gibt  Am- 

scriptores  ab  initiis   usque   ad  editos  Aristo-  monios   ad   Porphyrii   isagogen  p.  11   ss.  ed. 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  351.)  677 

uns  zuvor  im  allgemeinen  über  den  Charakter  der  aristotelischen  Schrift- 
stellerei  klar  werden.  Aristoteles  steht  hier  in  scharfem  Gegensatz  zu  Piaton 
dadurch,  daß  er  sein  Augenmerk  lediglich  auf  die  Sache  gerichtet  hält  und 
daneben  der  sprachlichen  Form  nur  geringe  Sorgfalt  zuwendet.  0  Während 
Piaton  stilistische  Kunstwerke  schuf  und  mit  der  Form  des  Dialoges  ein 
poetisches  Element  in  die  Philosophie  einführte,  behielt  Aristoteles  nur  in 
seinen  Jugendschriften  und  in  den  populär  gehaltenen  Werken  die  sokra- 
tische  Form  des  Dialoges  bei,  wandte  aber  in  den  Schriften  des  gereiften 
Alters  und  in  allen  uns  erhaltenen  die  lehrende  Darstellung  an.  Mit  diesem 
lehrhaften  und  systematischen  Charakter  der  Schriften  hängt  es  zusammen, 
daß  sie  von  Zeiteinflüssen  wenig  oder  gar  keine  Spuren  an  sich  tragen, 
was  ihre  chronologische  Festsetzung  erschwert.  Da  sie  außerdem  alle  aus 
den  Vorträgen  des  gereiften  Alters  hervorgegangen  sind,  so  ist  in  ihnen 
auch  so  gut  wie  nichts  von  einer  allmählichen  Entwicklung  wahrzunehmen,*) 
so  daß  z.  B.  die  philosophischen  Kunstausdrücke  xb  xl  fjv  elvai^  ovoia^  dv- 
va/Liig^  hxeUxeia,  die  Aristoteles  wahrscheinlich  erst  geschaffen  hat,  gleich- 
wohl in  allen  Schriften  gleichmäßig  und  in  vollständig  ausgeprägter  Be- 
deutung vorkommen.  Dazu  kommt,  daß  die  nicht  seltenen  Verweisungen 
sich  vielfach  kreuzen,  indem  z.  B.  in  der  Rhetorik  sechsmal  auf  die  Poetik, 
aber  auch  einmal  in  der  Poetik  auf  die  Rhetorik  verwiesen  ist,  8)  und  daß 
die  Anspielungen  auf  geschichtliche  Ereignisse  weit  auseinander  liegende 
Zeiten  berühren,  wie  in  der  Meteorologie  372a  28  der  Verfasser  von 
Beobachtungen  redet,  die  er  im  Lauf  von  mehr  als  fünfzig  Jahren  ge- 
macht habe,  aber  doch  371a  31  den  um  mehr  als  zwanzig  Jahre  zurück- 
liegenden Brand  des  Tempels  der  ephesischen  Diana  als  einen  Vorfall  der 
Gegenwart  bezeichnet  {yvv  t^ecoQovfxev),  Dieses  alles  hängt  damit  zu- 
sammen, daß  Aristoteles  selbst  von  den  systematischen  Werken  wenig 
oder  nichts  in  die  Öffentlichkeit  hinausgegeben  hat,  daß  aber  Eudemos, 
Nikomachos,  Theophrastos,  die  nach  seinem  Tod  die  Veröffentlichung  des 
litterarischen  Nachlasses  besorgten,  Manuskripte  vorfanden,  denen  die 
Spuren  wiederholter  Revision  und  nachträglicher  Erweiterung  aufgedrückt 
waren,  und  die  vor  der  Herausgabe  noch  einer  genaueren  Zusammenord- 
nung und  nachhelfenden  Redaktion  bedurften.*)    Auch  Schülemachschriften 

Busse.    Vgl.  A.  Stahr,  Aristotelia  II  254  fif.;  nau  zu  prüfen,  ob  sie  leicht  entbehrt  werden 

F.  N.  TiTZB.   De  Aristotelis  openun  serie  et  j  können  oder  mit   der  Umgebung   eng  ver- 

■distinctione  liber  singularis,  Lips.  1826.  I  wachsen  sind,   mit  anderen  Worten,   ob  sie 

^)  Seine  Ansicht,   daß  die  Sprache  nur  >  von  Aristoteles   selbst   oder   von   den    spä- 

zum  Ausdruck  der  Gedanken  da  sei,  ist  aus-  ,  teren  Herausgebern  und  Kommentatoren  her- 


gesprochen JifQi  FQiirjVEiag  1.  Von  ifsWCeiv 
des  Aristoteles  redet  PbJIodem.  de  rhet.  II 
p.  51,  36.  11  SuDH. 


rühren. 

^)  W.  Christ   hat   in   seinen   Ausgaben 
aristotelischer    Schriften    die    nachträglichen 


^)  Über  die  Reihenfolge   s.  außer  Titze  Zusätze  mit  typographischen  Mitteln  von  dem 

besonders  Chr.  A.  Bbandis,  Handb.  d.  Gesch.  ursprünglichen  Entwurf  zu  scheiden  versucht, 

d.  griech.-röm.  Phil.  IIb  111  ff.     Die  Unter-  Zweckmäßig  ist  dieses  namentlich  deshalb, 

suchungen  stehen  hier  noch  im  Anfang.  ,   weil    die  Redaktoren   oft   die  von  Arist.  am 

^)  rhet.  1372  a  1,  1404  a  38,  1404  b  7  und  Rand  angemerkten  Zusätze  und  Besserungen 
28.  1405a  5.  1419b  5,  po6t.  1456a  35.  Ganz  I  an  falscher  Stelle  einschoben.  Eine  völlige 
wertlos  sind  darum  die  Zitate  zur  Bestim-  Verwerfung  der  Blätter  und  Hefte  des  Ori- 
mung  des  Verhältnisses  der  Schriften  zu  ein-  ;  ginals  sucht  in  überkühner  Skepsis  zu  er- 
ander nicht ;  es  kommt  eben  darauf  an,  ge-  '   weisen  E.  Essen,  Der  Keller  zu  Skepsis,  Star- 


678  Griechische  Litteraturgeschichte.    L  Elasaische  Periode. 

von  Aristoteles'  Vorlesungen  mögen  zum  Teil  benutzt  worden  sein.  Da 
wir  so  unter  den  erhaltenen  Schriften  kaum  eine  haben,  die  in  allen  Teilen 
vom  Verfasser  zur  Herausgabe  abgeschlossen  war,»)  so  vermissen  wir  in 
ihnen  auch  den  „goldenen  Fluß  der  Rede",  den  Cicero  und  andere,  die 
noch  die  vollständigen  Werke  des  Aristoteles  hatten  und  die  populären 
Schriften  lieber  als  die  systematischen  lasen,  an  ihnen  rühmten.*)  Je 
schwieriger  das  Verständnis  dieser  Schriften  und  je  kunstloser  ihre  Form 
ist,  desto  mehr  ist  die  Heranziehung  guter  Übersetzungen  zu  ihrem  Studium 
zu  empfehlen  (hervorzuheben  sind  die  Metaphysik  von  H.  Bonitz,  heraus- 
gegeben von  E.  Wellmann,  Berlin  1890,  und  von  A.  Lassen,  Jena  1907,  die 
Ethiken  von  J.  Rieckher  in  der  Metzlerschen  Sammlung,  Stuttg.  1856 — 59). 

Dem  Inhalt  nach  zerfallen  die  erhaltenen  Werke  in  fünf  Klassen: 
1.  erkenntnistheoretische  und  logische  Schriften,  2.  naturwissenschaftliche 
Schriften,  3.  Schriften  von  dem  übernatürlichen  (transcendentalen)  Sein^ 
4.  Schriften,  die  sich  auf  das  Gebiet  des  menschlichen  Handelns  {jzgdjTeiv) 
beziehen,  5.  Schriften,  die  es  mit  dem  menschlichen  Kunstschaffen  {jtoulv) 
zu  tun  haben.  —  Anmerkungsweise  werden  bei  jeder  Schrift  die  Kommentare 
und  Paraphrasen  aus  dem  Altertum  angegeben,  die  bis  jetzt  in  der  auf 
35  Bände  angelegten,  von  der  Berliner  Akademie  veranstalteten  Samm- 
lung der  Commentaria  in  Aristotelem  graeca  gedruckt  sind  (die  Zahl  be- 
zeichnet die  Nummer  des  Bandes  dieser  Ausgabe). 

352.  Die  logischen  Schriften,®)  in  denen  Aristoteles  eine  von 
metaphysischen  wie  psychologischen  Voraussetzungen  befreite,  eben  da- 
durch aber  der  Gefahr  des  Mechanismus  ausgesetzte  syllogistische  Denk- 
technik entwickelt,  verdienen  unter  den  systematischen  Werken  die  erste 
Stelle,  weil  sie  das  Werkzeug  der  Dialektik  und  wissenschaftlichen  For- 
schung bilden*)  und  deshalb  auch  von  den  späteren  Peripatetikem*)  unter 
dem  Namen  Organen,  d.  i.  Werkzeug,  der  ganzen  Sammlung  vorangestellt 

gard  1866   und  Ein  Beitrag  zur  Lösung   der      bei  Übebweg-Heinze  P  240  f. 


ariatot.  Frage.  Berl.  1884. 

*)   Freilich   besteht   in   Bezug    auf   den 
Grad    der   Ausarbeitung    ein    großer   Unter- 


*)  Arist.  met.  p.  1005  b  4  sagt  selbst,  daH 
die  Analytik  der  Physik  und  Metaphysik 
vorangehen  müsse.   Die  Analytik  ist  vor  der 


schied  zwischen  den  einzelnen  Schriften  und  Physik  verfaßt  nach  p.  95  b  11,   ebenso   vor 

sogar   zwischen   den  einzelnen  Bttchern  der-  der  Ethik  nach  p.  1 139  b  27  u.  32. 

selben  Schrift,  wie  denn  z.B.  Teile  der  Poli-  *)  David  in  categ.  p.  26a  11:   oi  di-  af'- 

tik.  der  Metaphysik  (bes.  Buch  I),  die  Schrift  ycnteg,    ort    Sei    djio    tf^s    loyiySj;;    aQXfodnif 

netji  ovoavov    sorgfältiger   stilisiert   sind.     F.  j    expaoxov,  du  doyarov  y  koytxt'f.    Vgl.  Diog.  L. 

BLASS,  Att.  Bereds.  IP  330.  427  erklärt  das  '   V  28.     Ähnlich   spricht  schon   Arist.  selbst 

mit  der  Annahme,  einzelne  Stücke  seien  aus  top.   p.  163  b    11    von    einem    ogyarov    jroos 

den  Jugendschriften  herübergenommen.  yvdjoiv.    Den  Ausdruck  Organon  fand  bereits 

*)  Siehe  o.S.674;  vgl.  Cic.  top.  13;  de  in-  Alexandres  Aphrod.  als  allgemein  verbreitet 

vent.  112,6;  Quint.X  1,83.  Bestimmter  urteilt  vor;   s.  K.  Phantl,    Gesch.  der  Log.  I  532. 

Dionysios  de  imit.  B  p.  211,  1  ff.  Us.:   .tana-  Tatsächlich    war   die   Logik    für   Aristoteles 

hjnTeor  rU  xal  'AQiorortbjr  ftV  uintjoir  rjyc  ts  nicht  wie    für  die  Stoiker    ein    selbständiger 

:i€i>i  Tfjy  Eofijp'eiav  ÖFiröxrjTog  xai    ifj^   oarft}-  Zweig  der  Philosophie,    sondern   ein  ,Werk- 

vfia^    y.ai    jov    ij^eck    y.al   jto/.vftm'hvc.     Die  zeug**  (H.  UsENEK,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  1892, 

Schönheit    der    exoterischeu    Schriften    hebt  589).    Die  Orientalen  zogen  auch  Poetik  und 

hervor  Themist.  or.  26  p.  385D.;   Philoponos  Rhetorik    zum  Organon  (0.  Immisoh,   Philol. 

in  cat.  86  b  28;  David  in  cat.26b  35.  F.  Blass,  I   65.  1906,  20).  —  Eine  ausführliche  Darlegung 

Rh.  M.  30  ( 1«75)  481  ff.  weist   in    den    gc-  '   und  Kritik  der  aristotelischen  Lelire  gibt  H. 

feilteren  Schriften    auch    eine   größere  Sorg-  Maier.  Die  Syllogistik  des  Aristoteles,  2  Teile, 

falt  in  der  Vermeidung  des  Hiatus  nach.  Tübingen  1896—1900. 

»)  Vollständige   Bibliographie   bis    1902 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  852.)  679 

wurden.  Sie  sind  wohl  auch  die  zuerst  verfaßten.  Die  aristotelische 
Logik,  die  aus  den  Diskussionen  der  früheren  Sophisten  und  Philosophen 
über  äki^^eia  und  tiiari^inrj  die  Quintessenz  darstellt,  ist  in  der  antiken 
Philosophie  die  allein  herrschende  geworden;  der  Versuch  des  Plotinos, 
eine  neue  Kategorienlehre  aufzustellen,  blieb  vereinzelt.  Die  Neuplatoniker 
seit  Porphyrios  haben  die  aristotelische  Lehre  in  diesem  Stück  angenommen 
und  Kommentare  zum  Organen  geschrieben.  Von  einer  tieferen  Wirkung 
der  logischen  Technik  des  Aristoteles  auf  den  praktischen  Betrieb  der 
Wissenschaften  ist  übrigens  weder  bei  ihm  selbst  noch  bei  anderen  viel 
zu  spüren.  Das  ganze  logische  Gebäude  des  Aristoteles  strebt  zu  der 
Krönung  durch  die  Lehre  vom  Schluß  (Syllogistik)  hin.  Das  Allgemeine 
aber,  aus  dem  durch  Schlußverfahren  das  Einzelne  abzuleiten  ist,  gewinnt 
er  auf  dem  umgekehrten  Weg  der  Induktion  (ijiaycoyi^),  die  vom  Einzelnen 
ausgeht.  Erhalten  haben  sich  die  wichtigeren  logischen  Schriften  alle, 
und  zwar  in  dieser  Reihenfolge  i^) 

Karrjyoglai^)  oder  die  (zehn)  Grundformen  der  Aussage  vom  Seienden 
{ovoiGy  nooovy  TtQog  ii,  noiovy  tiov,  tzoxe,  xetai^ai,  ^x^tVy  noieiv,  ndox^iv),^) 
Ob  die  Schrift,  in  der  sich  die  eigenartig  aristotelische  Verbindung 
zwischen  Dialektik  und  Empirie  besonders  deutlich  ausprägt,  und  die 
nicht  sowohl  der  Metaphysik  als  der  Dialektik  des  Aristoteles  vor- 
arbeitet, in  der  vorUegenden  Form  von  Aristoteles  selbst  herrühre,  oder 
erst  nach  Aristoteles  unter  dem  Einfluß  der  herrschenden  Schulmethode 
im  Anschluß  an  die  Stelle  der  Topik  p.  103b  20  entstanden  sei,  ist  be- 
stritten.*) Der  Unechtheit  verdächtig  ist  namentlich  der  Schluß  mit  den 
sogenannten  Postpraedicamenta  (c.  10 — 15).  Keime  der  Kategorienlehre 
finden  sich  schon  bei  Pia  ton  (Theaet.  185cf;  soph.  254  e),  aber  Aristoteles 
ist  hier  besonders  selbständig  weitergegangen.  Den  Bedürfnissen  der 
heutigen  Wissenschaft  genügt  freilich  die  aristotelische  Kategorientafel 
nicht  mehr,  weder  was  Vollständigkeit  noch  was  scharfe  Abgrenzung  der 
Einzelkategorien  betrifft. 

Tlegl  iQ/iirjyeiag,^)  de  interpretationey  oder  vom  Satz,  den  Teilen  und 
Formen  desselben  (ßyo/ia,  §fjjua,  köyog,  xaxdqpaoig,  &7i6(paoig).  Auch  die 
Echtheit  dieser  Schrift  wurde  schon  im  Altertum  von  Andronikos  bestritten.«) 

^)  Der  AbfassuDgszeit  nach  folgen  sich  in  categ.  39  a  20   gab  es  unter  dem  Namen 

Kai.  TojT.  Viva/.  77.  eg/i.  des  Aristoteles  noch  ein  anderes  Buch  Kate- 

-)  Porphyr,  isag.et  in  categ.  comm.  ed.  A.  gorien     (fpegerai    xai    (Ulo    tojv    xatTjyogiiov 

Busse  IV  1  (1887);  Ammon.  in  Porphyr,  isag.  ßißUov  wg  'AoiatoteXovg).    Den  Schluß  unserer 

sive  V  voces  od.  A.  Busse  IV  3  (1891);  Elias  ;   Kategorien  c.  10—15,  die  sog.  postpraedica- 

in  Porph.  isag.  et  Aristot.  categ.  ed.  A.  Busse  !   menta  (afia  und  -TooTeoor,  xiveTv  und  f/fiv  etc.), 

XVIII  1  (1900);  Ammon.  ed.  A.  Busse  IV  4  !   hielt  schon  Andronikos  für  unecht,   s.  F.  A. 

(1895);   Dexipp.  ed.  A.  Busse  IV  2   (1888);  |   Trendelbnburo,  De  Arist.  categoriis,  Berlin 

Philoponus  (olim  Ammonius)   ed.  A.  Busse  '   1833;  ders.,  Geschichte  der  Eategorienlehre, 

XIII  1  (1898);  Anonym,  paraphr.  ed.  M.Hay-  Berl.  1846;  H.  Maibb,  SyUogist.  II  2,  292  A. 

duck  XXIIl  2  (1883);  Simplic.  ed.  C.  Kalb-  Für  Echtheit  der  ganzen  Schrift  spricht  sich 

FLEISCH  VIII  (1907);  David  proleg.  et  in  Por-  •   R.  Witten,    Arch.  f.  Gesch.  der  Philos.  17 

phyrii  isagogen  ed.  A.  Busse  XVIII  2  (1904).  1   (1904)  52  ff.  aus. 

*)  Der  Sachtitel  lautete  sifoI  tmv  yevo>v  I           ^)  Ammon.  comm. ed.  A. Busse IV 5 (1897); 

Tov  ovTog;  s.  Th.  Waitz  in  der  Ausgabe  des  i   Stephanus  ed.  M.  Hayduck  XVIII  3  (1885). 

Organon,  Leipz.  1844—1846,  I  265.  \           ®)  Die  von  Andronikos  gegen  die  Echt- 

**)  K.  Pbantl,   Gesch.  d.  Log.  I  207  flf.  [   heit  der  Schrift  erhobenen  Zweifel  sind  ab- 

Nach  Simplicius  in  categ.  fol.  8  und  Philop.  gelehnt  von  Alexandros  Aphrod.  in  Anal.  I 


680  Griechische  Litteratnrgesohichte.    I.  KlasedBche  Periode. 

Der  Kommentar  des  Ammonios  zeigt  einen  von  unseren  Handschriften  be- 
sonders stark  abweichenden  Text.^) 

^AvaXvTixd  ngorega^)  und  vorega^)  in  je  zwei  Büchern,^)  benannt  nach 
der  Terminologie  der  Mathematiker,  weil  sie  die  Zergliederung  oder  Bück- 
führung der  Wahrheiten  auf  die  Elemente,  aus  denen  sie  gewonnen  werden, 
bezwecken.  Die  erste  Analytik  enthält  die  Lehre  vom  Schluß  als  einem 
Mittel  des  wissenschaftlichen  Beweises  {äjiodei^ig  i}  inion^jurj  duiodeixtix/j)^ 
der  vermittelst  Satz,  Definition,  Konklusion  (jigöiaoig,  Sgogt  oviloyiofiog) 
zustandekommt;  die  zweite  handelt  vom  Erkennen  oder  Wissen  überhaupt 
{juudijoig  diayorjnxrj)^  vom  Wesen  des  Wissens,  das  in  der  Erkenntnis  des 
Grundes  wurzelt,  von  der  Möglichkeit  des  Wissens  unter  der  Voraussetzung 
gewisser  unmittelbarer  Wahrheiten,  von  den  Wegen  des  wissenschaftlichen 
Erkennens  durch  Beweis  (oviXoyiouog),  Induktion  (iTiaycoyi^)^^)  Definition 
(pgiojuog),  Zergliederung  (diaigeotg).  Es  ist  insbesondere  die  Lehre  vom 
deduktiven  Schluß  und  seinen  drei  Figuren,  die  Aristoteles  abschließend 
dargestellt  hat,^)  wiewohl  er  selbst  die  Bedeutung  der  Induktion  (tiaycoyrj) 
höher  einschätzte. 

Tojiixd'^)  in  acht  Büchern,  hervorgegangen  aus  der  Dialektik  oder 
der  von  den  Sophisten  gepflegten  Disputierkunst  und  auch  von  platonischen 
Begriffen  abhängig;^)  sie  enthalten  die  allgemeinen  Sätze  (totzoi).^)  mit 
deren  Hilfe  es  möglich  ist,  über  einen  aufgestellten  Satz  so  zu  disputieren, 
daß  man,  ohne  einen  streng  wissenschaftlichen  Beweis  zu  erbringen,  doch 
für  seine  Thesis  die  Wahrscheinlichkeit  erbringen  kann.^^)  Da  sie  so  den 
Weg  oder  die  Methode  des  Disputierens  angeben,  so  werden  sie  auch  in 
den  alten  Katalogen  und  von  Aristoteles  selbst  (rhet.  p.  1356  b  19)  jue&odixd 

p.  160  ed.  M.  Wallies.    H.  Maieb,  Arch.  f.  1   gangem,   die  noch   keine   eigentliche   rfx*^ 

Gesch. d.Philos.  13  (1900)  23  fif.  hält  die  Schrift  |   dieser  Dinge  hatten,  s.soph.el.  183b  Ifif.  Siehe 

für  aristotelisch,   aber  einen  unfertigen  Ent-  a.  W.  Fbeytao,  Die  Entwicklung  der  griech. 

wurf.  —   Übersetzung  mit  Kommentar  von  I   Erkenntnistheorie  bis  Aristoteles,  Halle  1907. 

J.  Laminne,  Bruxelles  1901.  ,           ^)  Alexander  Aphrod.  comm.  ed.  M.Wal- 

')  A.  Busse  in  der  Festschr.  zu  J.  Vah-  lies  II  2  (1891).     Kest  eines  Kommentars 

lens  70.  Geburtstag,  Berlin  1900,  71  ff.  s.  I.  p.  Chr.  auf  einem  Papyrus  aus  Fayum 

')  Alexander  Aphrod.  comm.  ed.  M.Wal-  j   s.  W.  Cbönebt.  Arch.  f.  Papyrusf.  2,  367.  — 

LIES  II  1  (1883) ;  Ammonius  ed.  Walliks  IV  Siehe  im  allg.  M.  Wallies.  Die  griech.  Aus- 

6   (1899):    Philoponus    ed.  Wallies   XIII  2  leger  der  aristot.  Topik,  Beri.  1891. 

(1905) ;  Themistius  paraphr.  libri  I  ed.  Wal-  **)  E.  Hambbuch,  Log.  Regeln  der  piaton. 

lies  XXIII  3  (1884).  Schule  in  der  aristotel.  Topik,   Berlin  1904; 

')  Themistius  comm.  ed.  M.  Wallies  V  1  H.  Mütschmann,  Divisiones  quae  vulgo  die. 

(1900);  Eustratiusin  Analyt.  post.  libr.  secund.  ,   Aristoteleae,  Leipz.  1906  praef.  VII  ff. 

ed.  M.  Hayduck  XXI  1  (1907).  •)  Diese   io.to«   sind   als   loci  communts 

*)  Nach  Philop.  in  cat.  39  a  20  gab  es  in  i  bekannter  geworden  in  der  Rhetorik,  die  ja 

den   alten    Bibliotheken   eine  Ausgabe   in  /i  |   mit   der  Dialektik   nahe   verwandt  ist.     Die 

(corrig.  //)  ßtß)Jn.    In  den  Katalogen  hat  die  rhetorische  Topik  bildet  den  Gegenstand  der 

erste  Analytik  neun  Bücher.    Die  ersten  Ana-  !   zwei  ersten  Bücher  :tF{}i  gtjrogixff^.    Auf  einer 

lytika  werden  von  Arist.  selbst  p.  96  a  1  mit  Bearbeitung  der  aristotelischen  Topika  durch 

Fv  ToTc  ngunoiQ  zitiert.    Zur  Exegese  der  Anal.  Antiochos  von  Askalon  beruhen  Ciceros  Topica 

priora  H.  Maier,  Syllogist.  des  Arist.  II  1.  nach  M.  Wallies,   De  fontib.  topicor.  Uic, 


^)  M.  CoNSBRUCH,  Fnay(oyi)  und  Theorie 
der  Induktion  bei  Aristot,  Arch.  f.  Gesch.  d. 
Philos.  5  (1892)  302  ff.:  ders.,  Die  Jlrkenntnis 
der  Prinzipien  bei  Ar.,   in  der  Festschr.  des 


Halle  1878.  während  P.  Thielscher,  Ciceros 
Topik  u.  Aristot.  (Philol.  67. 1908,  52  ff.)  sie  im 
wesentlichen  aus  Aristot.  Rhetorik  herleitet 
*®)  Top.  I   1:    ?5    iitv   .Toodeaig    xfjg  Jigay- 


Stadtgymu.    Halle    zur    47.   Phiiologenvers.,    '   fiaiFiag    uFi^odor    FvgetVf    atp    ?/<:   di'vtjoofie&a 
Halle   1903.  l    ovV.oyi^eoOai     Jtsgi    jraviog    tov    nQOTr&evr<K 

')    über    sein    Verhältnis    zu    den    Vor-      :jgoßh'jfiazos  i^  erdo^ior 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  353.)  Qgl 

genannt.  Die  Topik,  in  der  sich  der  Verfasser  in  breiter  Ausführung  gehen 
läßt,^  steht  hinter  der  Präzision  der  Analytik  weit  zurück  und  gehört  der 
älteren,  noch  der  rhetorischen  Schuldialektik  näher  stehenden  Periode  der 
aristotelischen  Philosophie  an.^)  Für  die  Wissenschaft  haben  die  hier  ge- 
gebenen Anweisungen  zu  rabulistischer  Beinstellerei  nichts  zu  bedeuten; 
ein  gewisser  praktischer  Wert  zur  Ausbildung  einer  freilich  keineswegs 
vornehmen  Wehrhaftigkeit  im  Disputieren  kann  ihnen  aber  nicht  bestritten 
werden,  und  dieser  ist  gewiß  im  Altertum  höher  als  heute  angeschlagen 
worden. 

Zo(pioTiHol  ekeyxoi^)  oder  die  Trugschlüsse  der  Sophisten;  sie  ge- 
hören zur  Topik  und  bilden  in  der  Ausgabe  des  Organon  von  Th.  Waitz 
geradezu  das  neunte  Buch  der  Topik;*)  ihre  Sonderstellung  hängt  mit 
der  Scheidung  von  Dialektik  und  Eristik  (rabulistische  Disputierkunst) 
zusammen. 

Von  den  verloren  gegangenen  Schriften  gehörten  in  das  Gebiet  der 
Logik  die  diaigeaeig  (Zergliederungen),*)  negl  evavricov  (von  den  Gegensätzen), 
jzegl  eidwv  xai  yevd)v  (von  den  Arten  und  Gattungen),  inixeigi^juaxa  koyixd 
(logische  Schlüsse).  Aber  alles  Bedeutende  ist  erhalten  und  damit  das 
Dauerhafteste,  was  der  zergliedernde  Verstand  des  Aristoteles,  anknüpfend 
an  die  Scheidekünste  des  alternden  Piaton,  im  Gebiet  der  Philosophie 
hervorgebracht  hat.  Denn  legen  wir  auch  heutzutage  auf  die  formale 
Logik  nicht  mehr  den  Nachdruck  wie  frühere  Zeiten,  so  gebührt  doch 
dem  Aristoteles  das  Verdienst,  die  äußeren  Formen  der  menschlichen  Denk- 
operationen, die  Wege  des  Erkennens  und  die  Arten  der  Schlüsse  zuerst 
und  für  Jahrhunderte  klargelegt  zu  haben. 

353.  Die  naturwissenschaftlichen  Schriften  beschäftigen  sich 
teils  mit  der  philosophischen  Begründung  der  Naturerscheinungen,  teils 
mit  Naturbeschreibung.  Bemerkenswert  ist,  daß  Aristoteles  der  Formen- 
lehre der  Naturwissenschaft,  der  Mathematik,  weit  weniger  Interesse  und 
Verständnis  entgegenbringt  (s.  o.  S.  600,  5)  als  Piaton,  obwohl  er  in  seinen 
logischen  Schriften  mathematische  Analogien  und  Kunstausdrücke  heran- 
zieht. 6)     Zur  ersten  Gattung  zählen: 

(Pvoixfj  äHgoamg"^)  in  acht  Büchern  handelt  von  den  Prinzipien  (agxai) 
des  in  Bewegung  befindlichen  Seins  und  ist  vor  der  Metaphysik,  in  der  sie 
wiederholt  vorausgesetzt  wird,   abgefaßt.®)     Die  Grundprinzipien  der  dua- 


^)  Die  Breite  der  Topika  hängt,  wie  am 
Schluss  p.  184  a  8  angedeutet  ist,  damit  zu- 
sammen, daß  sie  aus  einem  rhetorisch  an- 
gelegten Lehrkurs  hervorgegangen  sind. 

')  Die  Topik  ist  zitiert  in  Analytika 
priora  p.  24  b  12. 


ö)  Siehe  H.  Mutschmann  a.  a.  0.  XVIII. 
M.  hat  die  bei  Diog.  L.  und  in  einem  Codex 
Marcianus  erhaltenen  angeblich  aristoteli- 
schen ÖtatQtoetc  herausgegeben,  die  auf  pla- 
tonische und  altperipatetische  Zergliederungen 
zurückgehen,  und  in  der  Einleitung  über  die 


^)  Michael  Ephesius  comm.  ed.  M.Wal-  Geschichte  der Zergliedeningskunst  gehandelt. 

LIES  II  3   (1898);    Anonym,  paraphr.  ed.  M.  *)  Th.  Gomperz.  Griech.  Denker  111,84. 

Hayduck  XXIII  4  (1884).  ')  Themistius  paraphr.  ed.  H.  Schenkl  V  2 

*)  Vgl.  Th.  Waitz  U  o28;  entscheidend  (1900);  Simplicius  ed.  H.  Dibls  IX.  X  (1882. 

ist,   daß   am  Schluß   der  soph.  el.  eine  Re-  95);    Philoponus   ed.  G.  Vitelli  XVI.  XVII 

kapitulation    der   ganzen  Topik   steht.    Die  (1887.  88). 

Handschriften   indessen   sondern   die  beiden  **)  Ebenso  vor  der  Ethik  nach  dem  Zitat 

Werke;  der  cod.  Laur.  89  teilt  obendrein  die  p.  1174b  3. 
soph.  el.  in  zwei  Bücher. 


6g2  Qriechische  LitteratnrgeBchichte.    I.  KlasoiBche  Periode. 

listischen  aristotelischen  Lehre,  vkrj,  vjioxeljuevov,  dvva/nu:  auf  der  einen,  eldog^ 
^oQtpYj,  hreXeyeia  auf  der  andern  Seite,  femer  x6  ovvokov,  ro  riXog  oder  t6 
ov  evexa,  ovoia  und  ov^ßeßrjxoraf  rö  xivovv  oder  d'&ev  ^  xivtjoig  sind  hier 
zum  klarsten  Ausdruck  gebracht.  Die  Physik  des  Aristoteles,  die  unter 
einem  teleologischen  Gesichtspunkt  steht  (6  de  '&e6g  xau  ^  qwoig  avdkv  judrrjv 
jtoiovaiv  de  cael.  p.  271a  33),  hat  also  mit  dem,  was  wir  heutzutage  Physik 
nennen,  wenig  zu  tun;  sie  erläutert  nur  die  Begriffe,  unter  denen  wir  die 
Erscheinungen  der  Natur  anschauen,  enthält  nicht  auch  die  Gesetze,  nach 
denen  die  Dinge  werden  und  zueinander  in  Beziehung  treten;  sehr  be- 
zeichnend nannte  sie  Hegel  eine  Metaphysik  der  Physik.  Der  zweite  Teil 
(V — VIII)  handelt  von  der  Bewegung  und  den  verschiedenen  Arten  der 
Bewegung,  der  des  Raumes  (9^0^),  der  Beschaffenheit  ijietaßoh)  oder 
äkXoicooK;),  der  Größe  {aij^rjoig  und  (p&uji<;);  er  hatte  davon  auch  den 
besonderen  Titel  Jiegl  xivijoefog^)  Das  zweite  und  dritte  Kapitel  des  siebenten 
Buchs  liegen  in  doppelter  Redaktion  vor.*)  Eine  Bearbeitung  der  aristo- 
telischen Physik,  aus  der  Simplicius  eine  Anzahl  von  Stücken  erhalten  hat, 
verfaßte  Eudemos  von  Rhodos.  3) 

IIeqI  ovgavov^)  in  vier  Büchern*)  und  Tiegi  yeveoecog  xal  cp&ogäg^) 
in  zwei  Büchern  schließen  sich  eng  an  die  Physik  an  und  enthalten  aprio- 
rische Spekulationen  über  den  Himmel  und  das  Entstehen,  und  zwar 
handelt  die  erste  Schrift  von  der  ünvergänglichkeit  des  Weltalls  {jtgwTog 
ovQavoq)^  eine  Lehre,  die  seit  hellenistischer  Zeit  ein  Zankapfel  besonders 
zwischen  Stoa  und  Peripatos  gewesen  ist,  und  von  der  Gestalt  und  Be- 
wegung der  Gestirne  mit  Bezug  auf  die  Elemente  des  Leichten  und 
Schweren,')  die  zweite  von  dem  schlechthinigen  Entstehen  und  Vergehen 
und  dem  Entstehen  und  Vergehen  durch  Mischung  und  Änderung.  Nament- 
lich diese  Schrift  ist  auch  stilistisch  sorgfältig  durchgearbeitet  und  von 
großer  Bedeutung  für  die  Erkenntnis  der  aristotelischen  Lehre. 

METEcoQokoyixd,^)  eine  Pathologie  der  Elemente  unter  Ausschluß  der 
siderischen  Erscheinungen  in  vier  Büchern,  schließen  sich  an  die  beiden 
letzten  Schriften  an  und  suchen  die  Dinge  in  der  Höhe  unterhalb  der  Ge- 
stirne oder  die  atmosphärischen  Erscheinungen  mit  Einschluß  der  Kometen, 

*)  Andronikos   hat,   nach  Simplicius   in  *)  met.  p.  1078  b  5  h' äXXoic  Foovfjev  wird 

phys.  p.  923  f.  Diels,  gestützt  auf  alte  Zeug-  von  A.  Schwegler  auf  die  Schrift  :^eoi  ovgavov 

nisse,  den  drei  letzten  Büchern  den  Titel  .^egi   I  bezogen,  was  schwerlich  richtig  ist,    da  um- 

xtviioeoK  gegeben.  |  gekehrt  die  Metaphysik  später  abgefaßt  ist, 

^)  Nachgewiesen  von  L.  Spengkl,   Über   |  wofür  auch  das  Zitat  p.  1073  a  32  spricht. 


das  siebente  Buch  der  Physik  des  Arist.,  Bayr. 
Ak.  Abb.  3  (1840)  305—49,  durchgeführt  in 
der  Ausg.  der  Bibl.  Teubn.  von  K.  Prantl 
(Leipz.  1879).  Der  Versuch  von  P.  Tannery, 
Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.  7  (1894)  224  ff.:  9 
(1896)  115  ff.,  Buch  V  u.  VI  aus  der  Physik 
auszuscheiden,  ist  zurückgewiesen  von  (j. 
RoDiEU  ebenda  8  (1895)  454  ff.  9  (1896)  185  ff. 
^)  E.Martini  in  der  Kealenz..  ll.Halbbd. 


Philoponus  coram.  ed.  G.  Vitelli  XIV 
2  (1897).  Philopon.  (Michael  Ephes.)  ed.  M. 
Hayduck  XIV  3  (1903).  Zum  Titel  vgl.  Fiat 
Phaed.  95o;Tarmen.  136b;  Dio  Chr.  or.  33,  4. 
')  Aristoteles  schließt  sich  hier  an  die 
Sphärentheorie  des  Astronomen  Kallippos  aus 
Kyzikos,  eines  Schülers  des  Eudoxos,  an, 
wonach  Tu.  Bergk,  Gr.  Litt.  IV  486  das  Werk 
Ol.  112  (382)  .setzt. 


899,  49  ff.  ^)  Alcxand.  Aphr.  comm.  ed.  M.Hayduok 

^)  Simplic.  comm.  ed.  J.  L.  Heiberü  Vll   \   III  2  (1899);  Olympiodor.  ed.  G,  Stüve  XII  2 
(1894);  Theinistius  ed.  S.Landauer  V 4  (1902).   '    (1900);  Philoponus  ed.  G.  Stüve  XIV  1  (1901). 


Zur  Sache  0.  Gilbert,  Die  meteorolog.  Theo- 
rien des  griech.  Altertums,  Preisschr.  von  Mün- 
chen. Leipz.  1907,  besonders  S.  7  ff.  10  ff. 


Die  Geschichte  der  termini  usTEfoga  und  /4€- 
idnoia   behandelt   E.  Martini,   Leipz.  Stud. 

17"  (1896)  339  ff. 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  354.) 


683 


daneben  aber  auch  im  Zusammenhang  damit  die  Erscheinungen  des  Meeres 
und  die  Erdbeben  zu  erklären.  Als  Ursachen  für  die  nd^rj  der  Elemente 
betrachtet  Aristoteles  wie  seine  Vorgänger  die  zwei  Kräfte  der  Wärme 
und  der  Kälte.  Das  vierte  Buch  hat  eine  selbständige  Stellung  für  sich 
und  handelt  von  den  Gegensätzen  des  Warmen  und  Kalten,  Trockenen  und 
Feuchten,  als  den  Elementen  der  Körperwelt. ')  Schwierige  und  interessante, 
uns  zum  Teil  noch  heute  beschäftigende  Probleme  sind  in  diesem  Werk 
meisterhaft  mit  strenger  Schlußfolgerung  und  sicherer  Beherrschung  des 
damaligen  Materials  behandelt.  Dadurch  gehören  die  Meteorologika  zu  den 
bedeutendsten,  aber  auch  schwierigsten  Schriften  des  Philosophen.*) 

354.  Dem  Gebiet  der  Naturbeschreibung,  in  dem  Aristoteles  auf  den 
Leistungen  der  älteren  Ärzte,  Physiker,  auch  Herodots  fußt,*)  gehören  an: 

AI  Tieoi  rä  ^cöa  lorogiai  in  zehn  Büchern.*)  Mit  diesen  in  Zu- 
sammenhang stehen  die  Schriften:  negl  C(p(x}v  /hoqIcdv  in  vier  Büchern,  jieqI 
C(p(ov  yeveoeojg  in  fünf  Büchern,*)  negl  nogeiag  Coicov  in  einem  Buch.®) 
Zwei  Behandlungsarten  der  Zoologie  gehen  hier  nebeneinander  her,  was 
deutlich  hervortritt,  wenn  man  die  zehn  Bücher  der  Tiergeschichte  in 
ihre  Teile  zerlegt.  Diese  handelt  nämlich  nach  einem  allgemeinen  Über- 
blick (I  1—6)7)  von  den  Teilen  der  Tiere  (I  7— IV  7),  von  dem  Entstehen 


')  Der  Kommentator  AlexaDdros  Aphrod. 
(t.  III  2  p.  179,  3flf.  Berol.)  sprach  zuerst  aus, 
daß  das  vierte  Buch  nicht  zu  dieser  Ttoayftareia 
gehöre,  sondern  eher  zu  den  Büchern  Jiein  yevi- 
oewQ  xai  ffMoQäc^  s.  J.  L.  Idblbb,  Meteor.,  Berl. 
1832,  II 347—49;  L.  Spenoel,  Über  die  Reihen- 
folge der  naturwissenschaftl.  Schriften  des 
Arist.,  Bayr.  Ak.  Abh.  5  (1849)  141  flf. 

^)  Auf  die  Met.  geht  wahrscheinlich  der 
im  Mittelalter  dem  Aristot.  fälschlich  bei- 
gelegte Lapidarius  zurück  (F.  de  M^ly,  Rev. 
des  et.  gr.  7,  1894,  181). 

*)  F.  PoscHENBiEDEB ,  Die  uaturwisson- 
schaftl.  Schriften  des  Ar.  in  ihrem  Verh.  zu 
den  Büchern  der  hippokrat.  Sammlung,  Progr. 
Bamberg  1887;  K.  Hammekscumidt,  Ar.  als 
Zoologe,  Bl.  f.  bayr.  Gymn.  35  (1899)  561 ;  H. 
Diels,  Herrn.  22  (1887)  430  ff. 

*)  In  den  guten  Handschriften  und  in 
den  Katalogen  sind  es  nur  neun  Bücher. 
Das  zehnte  Buch,  das  auf  die  Begattung  der 
Menschen  und  speziell  auf  die  Gründe  der 
Unfruchtbarkeit  zurückkommt  und  im  Kata- 
log des  Diogenes  unter  dem  Titel  v:ifo  toi) 
////  yhvvav  angeführt  wird,  hält  L.  Spenoel, 
De  Aristotelis  libro  decimo  bist.  anim. 
et  incerto  auctore  libri  .ifgl  xoofiov,  Heidel- 
berg 1842,  für  eine  im  14.  oder  15.  Jahr- 
hundert gemachte  Rückübersetzung  der  lat. 
Übersetzung  von  Wilh.  v.  Mörbecke.  Daß 
auch  das  neunte  Buch,  das  nochmals  die 
Gewohnheiten  der  Tiere  (tu  i(7tv  ^unov  rjOrj) 
behandelt,  nicht  von  Aristoteles  herrührt,  hat 
aus  Sprache  und  Inhalt  L.  Dittmeyeb,  Blät- 
ter f.  bayr.  Gymn.  23  (1887)  16—162  über- 
zeugend nachgewiesen.  H.  Joaciiix,  De  Theo- 
phrasti  libris  ne^i  C^owv,  Bonn  1892,  S.  llff. 


beobachtete,  daß  in  dasselbe  Exzerpte  aus 
:  Theophrastos*  Buch  .tfoi  ^rixo^'  tjOwv  l)  .^eol 
j  Cfi'wfv  q-gov/jOFojg  gekommen  sind.  Auch  das 
I  siebente  Buch,  das  in  den  Handschr.  nach 
dem  neunten  steht  und  erst  von  Theodoros 
Gazes  an  seine  jetzige  Stelle  gesetzt  wurde, 
ist  schwerlich  echt.  —  Exzerpte  aus  der 
von  Aristophanes  von  Byzantion  gemachten 
Epitome  des  Werkes,  die  für  Konstantinos  Por- 
phyrogennetos  hergestellt  wurden,  publiziert 
Spybidion  Lambbos,  Suppl.  Aristot.,  Berol. 
t.  I  1885.  Mit  der  von  Älian  und  Suidas 
benützten  Epitome  des  Aristophanes  Byz.  (L. 
CoHN  in  der  Realenz.  II  1,  1004.  44  ff.)  setzt 
E.L.  deStepani  (Stud.  ital.  12, 1904, 428  ff.)  die 
pseudoaristotelischen  CoHxd  gleich.  —  Wert- 
los ist  die  lateinische  Übersetzung  desGeorgios 
Trapezuntios  (15.  Jahrb.),  von  der  Proben  mit- 
teilt L.  DiTTMEYER,  Untersuchungen  über 
einige  Hss.  und  lat.  Übersetzungen  der  Ari- 
stotelischen Tiergeschichte,  Progr.  Würzburg 
N.  G.  1902.  —  Kommentare  sind  veröffent- 
licht: des  Philoponos  zu  neol  Ctofoy  yfveo. 
von  M.HAYDUCK  XIV  3  (1903);  des  Michael 
Ephes.  zu  ,1.  \i<nu)v  fwotojy,  si.  Cv>f'»'  xiv//of(o;, 
n.  Cifxov  jiooEin^  von  dcms.  XXII  2  (1904). 

*)  Eigentlich  sind  es  nur  vier  Bücher, 
denen  ziemlich  lose  ein  Buch  hfol  .^nOtjfm- 
Tcov  C^iHov  angehängt  ist. 

*)  K.  Prantl,  De  Aristot  librorum  ad 
bist,  animal.  pertinentium  ordine  atque  dis- 
positione,  Monachii  1843  p.  35  beweist,  daß 
das  Buch  .iFoi  .loitFiag  seinen  Platz  zwischen 
dem  neunten  und  zehnten  Kapitel  des  vierten 
Buches  de  partibus  anim.  hatte. 

^)  bist.  anim.  I  p.  491a  7:  etotjuu  ir 
TVJifo  yevfjiaxo^  /Aq^^' 


gg4  Griechische  Litieraturgeschichie.    L  KLaasische  Periode. 

der  Tiere  (V — VII),  von  der  Lebensweise  und  Nahrung  der  Tiere  (VIII). 
Es  sind  also  in  den  einzelnen  Teilen  der  Tiergeschichte  dieselben  Gegen- 
stände behandelt  wie  in  den  bezeichneten  Spezialschriften.  Aber  die  Be- 
trachtungsweise ist  verschieden:  die  Naturgeschichte  hat  es  mit  dem  5t« 
oder  den  tatsächlichen  Erscheinungen  der  Tierwelt  zu  tun,  die  Spezial- 
schriften, welche  die  Physiologie  oder  die  Philosophie  der  Tierlehre  bilden,*) 
sind  auf  das  dion  oder  auf  den  Grund  der  Erscheinungen  gerichtet,  als 
welcher  in  letzter  Linie  die  Zweckmäßigkeit  oder  das  Gute  in  der  Welt- 
ordnung gefaßt  wird.  Auch  der  Zeit  nach  liegen  die  beiden  Arten  von 
Schriften  weit  auseinander.  Die  Tiergeschichte  wird  nicht  bloß  de  part. 
animal.  II  1  p.  646  a  9  als  abgeschlossen  vorausgesetzt,  sie  verrät  auch  an 
sich  eine  frühere  Entwicklungsstufe  im  Geistesleben  des  Aristoteles,  so 
daß  sie  nicht  bloß  vor  dem  Buch  über  die  Teile  der  Tiere,  sondern  auch 
vor  der  Physik*)  abgefaßt  zu  sein  scheint.  Die  ganze  Methode  der  natur- 
wissenschaftlichen Forschung,  woraus  zugleich  Plan  und  Ordnung  der  auf 
diesen  Gegenstand  bezüglichen  Schriften  hervorgeht,  ist  im  ersten  Buch  der 
Schrift  von  den  Teilen  der  Tiere  dargestellt,  weshalb  F.  N.  Titze  und 
L.  Spengel^)  jenes  Buch  als  gesonderte  Schrift  allen  zoologischen  Schriften 
vorausgeschickt  wissen  wollten;  aber  es  genügt,  wenn  es  gemäß  der  Über- 
lieferung den  Eingang  der  physiologischen  Schriften  bildet.  —  Die  Schriften 
des  Aristoteles  stellen  die  höchste  Leistung  auf  dem  Gebiet  der  antiken 
Zoologie  dar,  die  später  immer  mehr  in  Kuriositätenkrämerei  und  para- 
doxographischen  Schwindel  verfallen  ist. 

366.  Naturgeschichtliche  Werke  von  zweifelhafter  Echtheit  sind: 
ÜFoi  qvT(ov  (p.  814 — 830)  in  zwei  Büchern.  Das  auf  uns  gekommene  Werk  ist 
nach  dem  phrasenreichen  Vorwort  eine  Rückübersetzung  aus  dem  Lateinischen  und  des 
weiteren  aus  dem  Arabischen.  Aristoteles  hatte  ein  Buch  über  die  Pflanzen  geplant^)  und 
scheint  nach  p.  539a  20;  731a  29  den  Plan  auch  ausgeführt  zu  haben.^)  Aber  das  Pflanzen- 
buch  des  Aristoteles  war  schon  zur  Zeit  des  Alexandres  von  Aphrodisias  verloren  gegangen.*) 
Die  uns  erhaltene  Schrift  wird  von  ihrem  Herausgeber  E.  H.  F.  Meyer  (Leipzig  1841)  dem 
Nikolaos  Damaskenos,  der  unter  Augustus  eine  Art  Compendium  der  aristotelischen  Philo- 
sophie verfaßte,  zugewiesen.^) 

ITfQi  xoa/tor  (p.  391 — 401),  oder  über  das  wohlgeordnete  Ganze  des  Weltalls  in 
einem  stellenweise  enthusiastisch-teleologischen  Sinn  geschrieben,  der  an  die  Stimmung  des 
Gesangs  der  Erzengel  in  Goethes  Faust  gemahnt.  Das  Buch,  das  nicht  fach  wissenschaftlich 
im  engeren  Sinn  sein  will  (p.  397  b  11),  sondern  zur  Popularphilosophie  gehört,  ist  mitsamt 
dem  einleitenden  Bnef  an  Alexandros^)  fälschlich  dem  Aristoteles  beigelegt  worden.  Schon 
die  Erwähnung  der  britannischen  Inseln  p.  393  b  17  führt  über  die  Zeit  des  Aristoteles  und 

^)  de  longaev.  p.  464b  33:  ooov  rntßfuiet  20  eiorjim  h  xf)  dfrogif/L    tfj    nfQi    tmv  (fVT(ov 

ifl  (fvoixfi  q'doooqia,  de  part.  anim.  p.  641a  i   mit  seinem  bedenklichen  eiotfiai  von   einem 

29:  ro>  ^xFQi  (fvoFOK  i>FO}Q7)xixu).  Vgl. p. 653a  8.  I   Interpolator  her:  L.  Spengel  wollte  FTgi/rai  in 

Das  Buch  über  die  Teile  der  Tiere  ist  nach  '   Ftg/jOFTai  Andern, 

dem  Zitat  p.  645  a  5   nach   dem   Buch    über  ^)  Alexandres  zu  p.  442b  28. 

den  Himmel  geschrieben.  1            •)  Vgl.  F.  Susemihl,  AI.  Litt.  II  317. 

^)  Mit  Einschluß   des  Werkes  .Tfoi   ov-  ")  Unter  diesem  Alex,  versteht  derjenige, 

Qaror,  das  p.  645  a  5  zitiert  wird.  der  die  Schrift   dem  Aristoteles   unterschob. 

^)  L.  Spengel,    Reihenfolge   der   natur-  1   Alex.,  d.  Gr.,   ebenso  wie  der  Verfasser  des 

wissensch.  Schriften  19  ff. ;   K.  Prantl  a.  0.  Widmungsbriefa  zu  der  Rhetorik  des  Anaxi- 

*)  Stellen  bei  H.  Bonitz.  Index.  Aristot.  menes       Alle    weiteren    Hariolationen    über 

p.  104  b  38  ff.  die   Person    dieses   AI.   sind   überflüssig  (F. 

'-»)  Wahrscheinlich  rührt  das  Zitat  p.539a  Susemihl,  Alex.  Litt.  II  326  f.). 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  355.)  685 

Pytheas  hinaus.*)  Neuere  Gelehrte  haben  es  teils  dem  Stoiker  Chrysippos,')  teils  dem  Peri- 
patetiker  Nikolaos')  zuschreiben  wollen;  jedenfalls  ist  es  erst  nach  Poseidonios,  dem  das 
meiste  entlehnt  und  von  dessen  mystischer  Wärme  es  berührt  ist,  entstanden,  wofür  auch 
der  Umstand  spricht,  daß  es  in  den  Katalogen  der  aristotelischen  Schriften  noch  nicht  vor- 
kommt^) Lateinisch  bearbeitet  wurde  die  Schrift  von  Apuleius  de  mundo,  ins  Syrische 
übersetzt  von  Sergius  Resainensis  (6.  Jahrb.). 

FleQi  xivt)of.(t}g  war  der  Spezialtitel  des  zweiten  Teils  der  Physik.  Das  unter  dem 
Titel  Jiegi  ^axov  xivfjaso)g  (p.  698 — 704)  auf  uns  gekommene  unechte  Buch  sollte  nach  den 
Schlußworten  desselben  der  Schrift  De  generatione  animalium  vorausgehen,  während  tat- 
sächlich diese  Schrift  sich  unmittelbar  an  das  Werk  Jiegi.  Coxov  /jogicav  oder  .legl  :joQei(K 
Ciotov  anreiht.') 

n^Qi  jzvevfiazog  {p.  481—486),  ein  kleiner  Schulaufsatz,  inhaltlich  verwandt  mit  dem 
Buch  .^egi  avcmvofjg  (s.  u.  S.  688),  rührt  von  einem  Schulmeister  her,  der  sich  im  Aufwerfen 
von  Fragen  zu  ergehen  liebte. 

He  gl  /giof4ato)v  (p.  791  — 799),  oder  über  den  Grund  der  Farben  bei  Pflanzen  und 
Tieren.  Das  unechte,  von  einigen  dem  Theophrastos  zugeschriebene  Buch*)  steht  nicht  in 
den  alten  Katalogen;  ebensowenig  das  Buch  Jisgi  dxovoxibv  (p.  800—804),  das  durch  die 
Partikel  de  eng  mit  dem  vorausgegangenen  verknüpft  ist  und  wahrscheinlich  ebenso  wie 
das  vorausgehende  auf  den  Peripatetiker  Straton  zurückgeht.^) 

Die  *Pvoioyv<ofiovixd  (p.  805—814)  sind,  wie  schon  das  einleitende  6u  lehrt,  ein 
Auszug,  der  indessen  viele  interessante,  auch  für  die  Kunstanalyse  wichtige  Beobachtungen 
über  Eigenschaften  von  Menschen  und  Tieren  enthält.  Dem  Auszug  liegen  zwei  in  den 
Katalogen  der  aristotelischen  Werke  aufgezählte  Originalschriften  zugrund,  die  aus  der 
Schule  der  Peripatetiker  hervorgegangen  waren  und  den  von  Aristoteles  selbst  in  der  Ana- 
lytik ausgesprochenen  Gedanken*)  weiter  ausführten.  Über  die  Zeit  der  Abfassung  scheint 
die  Erwähnung  des  Sophisten  Dionysios  (c.  3  p.  808  a  16),  der  in  der  Zeit  Hadrians  lebte, 
einen  Fingerzeig  zu  enthalten.^) 

*)  L.  Spengel  in  der  oben  S.  683,  4  an-  |           *)  Die   Echtheit  der  Schrift,  die  große 

geführten  Schrift.  In  diesem  Buch  kommt  die  |  mechanische  Kenntnisse   voraussetzt,   sucht 

schon  Ps.Plat.  Epinom.  981  c  berührte  Tiefijrirj  \  ihr  Herausgeber  in  der  Bibl.  Teubn.,  F.  Littig, 

ovota  oder  quinta  essentia  vor.   Zu  obei*st  im  zu  verteidigen. 

reinen  Äther,  der  aus  der  fünften  Substanz  be-  1           ®)  K.  Pbantl  in  der  Ausgabe  der  Schrift 

steht,  wohnt  die  Gottheit;  erst  unterhalb  des  1   (München  1849)  S.  80  ff.  weist  ihre  Unechtheit 

Mondes  in  der  sublunaren  Welt  beginnt  die  Re-  ;   nach,  will  aber  nicht  gerade  den  Theophrastos 

gion  des  Wechsels,  des  Entstehens  und  Ver-  als   Verfasser  anerkennen ;    auch  der  Peri- 

gehens.  patetiker  Straton  hatte  über  die  Farben  ge- 

*)  F.  OsANN,  Beiträge  zur  griech.  u.  röm.  schrieben. 

Litteratargesch.,  Darmstadt  1835,  I  141  ff.  ')    So   vermutet   Chb.  A.  Brandts   Üb 

»)  Th.  Bergk,  Rh.  Mus.  37  (1882)  50  ff.  u.  '    1201 ;  dagegen  E.  Zellbb  II»  915  A. 

294.   Derselbe  weist  daraufhin,  daß  Nikolaos  \           *)  An.  pr.  II  27  p.  70b  7:   to   ds  (pvoio- 

aus  Damaskos  nach  Simplicius  zu  Arist.  de  yvM/novstv   öifvarov  iauv,   st   ng   diöcooiv   äfia 

caelo  p.  3, 28  ed.  Heiberg  eine  Schrift  Jtrgi  tov  '   fiETaßdXXstv  t6  atöfia  xai  lijv  ^pv^tp',  ooa  q>V' 

rrartog  geschrieben  hat;  dagegen  H.  Usener  '   aixd  ean  jiadt/fiata. 

in  J.  Bernays  Ges  Abh.  II  281.  E.  Zeller  ')  R.  Förster,  De  Aristotelis  quae  fe- 
il I'  1.  631  ff.  begnügt  sich,  die  Schiift  der  runtur  physiognomonicorum  indole  ac  condi- 
eklektischen  Richtung  des  1.  Jahrh.  und  der  ,  cione,  in  Philol.  Abh.  zu  Ehren  von  M.  Hertz 
Zeit  nach  Poseidonios   zuzuweisen.     Vgl.  F.  i   S.  283  ff.;    Corpus   scriptorum    physiognomi- 


SusEMiHL,  Jahresber.  üb.  d.  Fortschr.  d.  kl.  corum  ed.  R.  Förster  I,  Bibl.  Teubn.  1893, 
Altwiss.  30  (1882)  33  ff.  und  AI.  Litt.  \  wo  in  der  praef.  I— XVII  über  die  voraristo- 
II  326  ff.  W.  Capelle,  N.  Jahrbb.  f.  kl.  Alt.  '  telischen  und  aristotelischen  Studien  auf  dem 
15  (1905)  529  ff.,  der  eine  gehaltvolle  Ana- 
lyse und  Quellenuntersuchung  der  Schrift 
bietet,  möchte  sie  einem  stoisch-peripateti- 
Hchen  Eklektiker  aus  dem  Anfang  des  2.  Jahrb. 
n.  Chr.  zuschreiben.   Ders.,  Die  Schrift  von  der 


Gebiet  der  Physiognomik,  dann  p.  XVHI  bis 
LXIX   über  die  historia  critica  des   pseudo- 
aristotel.  Werkes  gehandelt  und  p.  4—91  der 
griechische    Text    nebst    der    latein.    Über- 
setzung des  Bartholomäus  v.  Messina  (s.  XIII.) 
Welt,  eingeleitet  und  verdeutscht,  Jena  1907.      gegeben  wird.    Unter  die  Werke  des  Aristo- 
*)  Im  jüngeren  Nachtrag  des  Ind.  Menag.   '   teles  ist  die  Schrift  dadurch  gekommen,  daß 
steht  der  auf  unser  Buch  schlecht  passende       der  erste  Satz  aus  der  Tiergeschichte   des 
Titel  .legi  xoo/nov  yerioecog  (Z.  184).  ,   Aristoteles  genommen  ist. 


ggg  Oriechische  Litteraturgeschichie.    I.  Klassische  Periode. 

TIf.qi  &avftaoi(ov  axovofAdxoyv  (p.  830— 847)  ist  die  älteste  paradoxographische 
Schrift,  rührt  aher  nicht  von  Aristoteles  her,  da  sie  aus  mehreren  heterogenen  Bestand- 
teilen zusammengesetzt  ist  und  vieles  enthält,  was  erst  nach  des  Aristoteles  Tod  sich  er- 
eignet hat.  wie  üher  Agathokles  c.  110  und  Eleomenes  c.  78.  Die  Znsammenstellnng,  bei 
der  aristotelische  Schriften  mit  ausgezogen  sein  mögen,  ist  sicher  erst  nach  Poseidonioe 
gemacht  worden,  da  dessen  Schriften  c.  87  und  91  henützt  sind,')  vielleicht  erst  nach  Hadrian, 
da  c.  51  das  von  diesem  Kaiser  erbaute  Pantheon  in  Athen  erwähnt  ist.') 

Die  IlgoßXTJfÄata  (p.  859 — 967)  in  achtunddreißig  sehr  stoffreichen  und  interessanten 
Kapiteln  beziehen  sich  zum  größten  Teil  auf  naturwissenschaftliche  Dinge,  behandeln  aber 
auch  Fragen  der  Musik  und  Poesie.  Die  Methode,  Fragen  aufzuwerfen  und  Lösungen  der- 
selben zu  versuchen,  war  dem  Aristoteles  eigen,  und  er  gebraucht  nicht  bloß  häufig  den 
Ausdruck  jiooßhjfia,  sondern  scheint  auch  einigemal')  auf  Schriften  zu  verweisen,  in  denen 
solche  Probleme  besprochen  und  gelöst  waren.  Aber  unsere  Problemata  sind  ein  Konglo- 
merat verschiedener  Sammlungen  und  enthalten  neben  Aristotelischem  auch  manches  Fremde 
aus  Hippokrates,  Theophrastos  und  Späteren.^) 

Die  Mrjxavixd  (p.  847  —  858)  bilden  eine  besondere  Art  von  Problemen;  das  Bnch 
wird  in  den  beiden  Verzeichnissen  der  Schriften  des  Aristoteles  aufgeführt 

'Are/io)v  Oiofig  xai  jiQoatjYooiai  (p.  973),  über  die  Windrose  und  die  landschaft- 
lich verschiedenen  Namen  der  Winde,  ein  Auszug  aus  der  Schrift  Jteoi  arj^ieicov,  welche  die 
einen  dem  Aristoteles,  die  andern  dem  Theophrastos  zuschrieben. 

Von  der  Schrift  -t^^*  rfjg  zov  Neilov  avaßdaeoyg  (ed.  Val.  Rose  Aristot.  psend- 
epigr.  p.  633 — 639)  ist  nur  eine  lateinische  Übersetzung  (s.  XIII)  aus  dem  Arabischen  be- 
kannt; die  Abhandlung  hat  die  Form  eines  Problems,  zu  dessen  Lösung  Aristoteles  die 
Beihilfe  Alexandres'  des  Großen  in  Anspruch  genommen  haben  soll;  sie  rührt  aber  nicht 
von  Aristoteles  her,  auch  nicht  von  Theophrastos,^)  sondern  von  einem  erst  nach  Eratos- 
thenes  lebenden  Verfasser. 

Von  naturwissenschaftlichen  Schriften  des  Aristoteles  werden  außerdem  genannt: 
Tieoi  vyieiag  xai  v6aot\  bereits  zur  Zeit  des  Alexandres  von  Aphrodisias  verloren,*)  7ie,gi  rojy 
dvuTOficov,')  welches  Werk  den  Alexandrinern  noch  in  sieben  Büchern  und  in  einem  Auszug 
von  einem  Buch  vorlag,*)  ferner  szegi  TQoqptjg,  *Ojixixd  und  ^AaxQoloyixd. 

356,  Die  naturwissenschaftlichen  Werke  machen  den  größeren  Teil 
der  aristotelischen  Schriften  aus,  und  es  zeigt  sich  in  ihnen,  von  der  Logik 
abgesehen,  Aristoteles'  wissenschaftliche  Tätigkeit  von  ihrer  fruchtbarsten 
und  erfolgreichsten  Seite.  In  den  Disziplinen  des  ethischen  Gebietes, 
Poetik,  Rhetorik,  Politik,  wandelte  Aristoteles  alte  Wege,  wenn  auch  mit 

*)  J.Beckmann  in  Ausg.  (GötUngen  1786)       Abh.  1896,  III,  daß  sie  viele  Parallelprobleme 


p.  XVII  sqq.;  A.  Wbstebmann,  Paradoxogr. 
(Braunschweig  1839)  XXV  sqq. ;  H.  Sohbader, 
Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  97  (1868)  217  ff ,  gegen 
dessen  atomistische  Zerstückelung  der  Schrift 
sich  K.  MüLLENHOFF,  Deutsche  Altertumsk. 
I  426  ff.  u.  A.  V.  GuTscHMiD,  Kl.  Sehr.  I  132  ff. 
wenden. 

^)  Noch  weiter  geht  mit  dem  Nachtrag 
c.  152-178  herab  A.Gerckb  im  Artikel  Ari- 
stoteles der  Realenz. 

^)  H.  BoNiTZ.  Index  Arist.  u.  nooßh'ifiaja. 

^)  K.  Prantl.  über  die  Probl.  des  Arist., 
Bayr.  Ak.  Abh.  6  (1H.52)  841—77.  E.  Richter, 
De  Arist.  probl.,    Diss.  Bonn  1885   sucht  die 


enthalten  und  deshalb  aus  zwei  Teilen  zn> 
sammengesetzt  sind.  Wenn  er  dann  aber 
ihren  Ursprung  in  die  Zeit  des  Plutarchos,  in 
das  1.  oder  2.  Jahrh.  n.  Chr.  verlegt,  so  macht 
dagegen  bedenklich,  daß  damals  das  Corpus 
der  aristotelischen  Werke  bereits  abgeschlossen 
war.  G.  Tischer,  Die  aristotel.  Musikpro- 
bleme, Diss.  Berl.  1902.  Ausgabe  der  musikal. 
Probleme  von  F.  A.  Gevaert  und  J.  C.Voll- 
GBAFF  mit  franz.  Übersetzung  und  Kommentar 
(Les  problemes  musicaux  d' Aristot.,  Gand  1899 
bis  1901). 

^)  H.  Diels.  Doxogr.  226  f. 

®)  Alex,  ad  Arist.  de  sensu  p.  436  a  17. 


einzelnen  Bestandteile  auseinanderzuscheiden.  i  Arist.  selbst  stellt  sie  in  Aussicht  p.464b  32; 

Vgl.  E.  Heitz,    Die  verlorenen  Schriften  des  vgl.  436a  17;  480b  23;  6.53a  8;  s.  u.  S.  689. 

Arist.  103  ff.;  F.  Süsemihl.  AI.  Litt.  I  160  ff.  I  •)  Öfter  von  Arist.  selbst  zitiert;   s.  H. 

Von  den  musikalischen  Problemen  der  neun-  ■  Bonitz,  Ind.  Arist.  p.  104a  4  ff. 

zehnten  Sektion  erweist  K.  Stumpf.  Die  pseudo-  \  ®)  Ind.  Diog.  Z.  104 ;  Ind.  Menag.  Z.  93. 94. 

aristotelischen  Probleme  über  Musik,  Berl.  Ak.  1 


4.  Die  Phüasophie.    d)  Aristoteles.    (§§  856—357.)  687 

selbständigem  Geist,  aber  in  der  Naturgeschichte  und  einer  auf  Induktion 
im  großen  Sinn  aufgebauten  Naturphilosophie  hatte  er  nur  unbedeutende 
Vorgänger,!)  so  daß  er  in  ihnen  der  Wissenschaft  wesentlich  neue  Bahnen 
erschloß.  Mit  einem  bei  einem  Philosophen  doppelt  anerkennenswerten 
Sinn  für  Einzelforschung  hatte  er  auch  fiir  das  Kleinste  in  der  Natur  ein 
offenes  Auge*)  und  umfaßte  mit  seinem  Wissen  eine  geradezu  staunens- 
werte Fülle  von  Tatsachen.  Er  ist  Schöpfer  der  Naturlehre  geworden 
und  hat  damit  die  in  spitzfindige  Verstandesoperationen  sich  verlierende 
Spekulation  auf  das  fruchtbare  Gebiet  des  Tatsächlichen  verwiesen.  Er 
verzichtete  freilich  nicht  auf  den  Versuch  eines  philosophischen  Begreifens 
der  Natur  und  ist  damit  zu  Prinzipien  gekommen,  die  heutzutage  zum 
größten  Teil  als  veraltet  angesehen  werden  müssen.  Aber  wenn  wir  auch 
über  die  vier  Elemente  und  ihre  begriffliche  Deduktion  hinausgekommen 
sind  und  auch  gegen  die  teleologische  Auffassung  der  Naturerscheinungen 
Zweifel  und  Einwendungen  erheben,  so  wird  doch  die  aristotelische  Unter- 
scheidung der  Prinzipien  der  Form,  der  Materie,  des  Bewegenden  und  des 
Zweckes  für  immer  eine  wichtige  Etappe  auf  dem  Weg  zur  Erkenntnis 
der  Natur  und  des  Kosmos  bilden. 

367.  Schriften  über  Psychologie  und  Metaphysik.  Die  psycho- 
logischen Schriften  stehen  nach  der  Auffassung  ihres  Urhebers  in  engem 
Zusammenhang  mit  den  naturwissenschaftlichen,  zunächst  mit  der  Tier- 
lehre, indem  darin  die  Seele  als  Entelechie  des  Leibes  und  somit  als  Sitz 
nicht  bloß  des  Denkvermögens,  sondern  auch  der  Wahrnehmung,  der  Orts- 
bewegung, der  Ernährung,  des  Lebens  überhaupt  gefaßt  ist.  3)  Tatsächlich 
aber  schlagen  die  hier  zu  betrachtenden  Schriften  weit  mehr  in  das  Gebiet 
der  Metaphysik  ein,  indem  sie  den  denkenden  Geist  {vovg)  des  Menschen 
zum  Hauptgegenstand  haben,  dieser  aber  im  Mikrokosmos  des  menschlichen 
Seins  eine  ähnliche  Stellung  einnimmt,  wie  der  göttliche  Geist  im  Makro- 
kosmos der  Welt.  So  sind  denn  auch  in  den  psychologischen  Schriften 
die  tiefsinnigsten  Spekulationen  enthalten,*)  und  sie  gehören  zu  denjenigen 
Werken  des  Aristoteles,  die  am  schwersten  verständlich  sind  und  am 
meisten  die  volle  Klarheit  abschließender  Erkenntnis  vermissen  lassen. 
Das  Hauptwerk  dieses  Gebietes  ist 

Tiegi  ^'vxtj';  in  drei  Büchern.^)  Das  erste  Buch  enthält  nach  ein- 
leitenden Bemerkungen  über  die  Bedeutung  und  Schwierigkeit  des  öegen- 

')  Daß  er  immerhin   den  Schriften   des  j   Pflanzen  zu,   dazu  tritt  bei   den  Tieren   das 

Hippokrates    und    der   Ärzte    viel   verdankt,  !   6oexhx6v  und  aioOrjxixcn'  nebst  der  Fähigkeit, 

lehrt  F.  Poschenrieder.  s.  o.  S.  683,  3.     Die  i   sich  vom  Ort  zu  bewegen,  beim  Menschen 

Schriften    der    hauptsächlichsten  Vorgänger,  '   das  ötavorjttxov. 

Dcmokritos  und  Diogenes,  sind  nicht  mehr  i           *)  Arist.  de  anim.  I  1  p. 402a  3:  rijv  :teQi 

vorhanden,  so  daß  uns  nach  dieser  Seite  ein  t»/c    yvx^s    iorogiav   evkoytoc   av  h  :tf)(t)Toig 

Vergleich  nicht  mehr  möglich  ist.  udFirjfm'. 

'-*)  Arist.  de  part.  animal.  I  5,  p.  645  a  15.  ')    Simplicius    comm.   ed.  M.  Hayduok 

'j  Der  Standpunkt  ist  klargelegt  de  part.  XI  (1882);  Sophonias  paraphr.  ed.  id.  XXIII 

an.  I  1  p.  641a  28:    rotovrov   ((hg   y  xiroraa  1  (1883);  Themistius  ed.  R.HeiiczbV3  (1899). 

uQ/jj  xal  (bg  t6  xekog)  tov  lo)ov  tjxot  mwa  t)  Philoponus  ed.  M.  Hayduok  XV  (1897).     Die 

i/'vxfj  rj  fifoog  u  avrijg'    (ootf   xai  ovrcog   av  Einteilung  in  Bücher  ist  ungeschickt  durch- 

Iexihov   eh)   rio  jTFoi  qvaFU)?  ^Fo)gi]zixto  jreQt  ]   geführt;  die  Ordner  hätten  das  zweite  Buch 

'l'^-XV'^-     Die  niederste  Stufe    der  Seele,   to  i   bis  zu  III  3  sich  erstrecken   lassen  sollen, 

OoFjntxor,  kommt  nach  Aiistoteles  auch  den  wie  W.  Christ,  Plat.  Stud.  p.  475  gezeigt  hat. 


()gg  Griechische  Litteraturgesohichie.    I.  Klassische  Periode. 

Standes  Untersuchungen  über  das  Wesen  der  Seele  in  der  dem  Aristoteles  so 
sehr  geläufigen,  auch  die  Ermittelung  der  Wahrheit  tatsächlich  fördernden 
Form  von  Einwänden  (dnogiai)  gegen  die  herrschenden  Annahmen;  ein- 
gelegt ist  ein  geschichtlicher  Rückblick  auf  die  Lehre  der  Früheren.  Das 
zweite  Buch,  das  die  Untersuchung  wieder  von  vorn  aufnimmt,  gibt  zuerst 
eine  Definition  der  Seele,  nämlich  die,  daß  sie  die  Form  (elöog)  und  das 
Lebensprinzip  {ägxt])  eines  zum  Leben  bestimmten  d.  i.  organischen  Körpers 
ist,  und  handelt  dann  von  den  fünf  Kräften  (dvvdjLLeig)  der  Seele  oder  von 
der  Kraft  des  Ernährens  (&Q€mix6v),  des  Begehrens  {dgextixov)^  des  Wahr- 
nehmens  {alo^tixöv),  der  örtlichen  Bewegung  {xivtjtixöv  xarä  tojtov),  des 
Denkens  {diavotjxtxöv).  Eingehender  wird  von  dieseh  fünf  Funktionen  die 
auf  Wahrnehmung  gerichtete  Seelentätigkeit  behandelt,  wobei  für  jede  der 
fünf  Wahrnehmungen  (ala&ijaetg)  ein  entsprechendes  Organ  {alo^zrjQiov) 
aufgestellt  und  auch  den  Tieren  oder  den  niederen  froa  eine,  aber  nur  mit 
Organen  für  die  niederen  Funktionen  ausgerüstete,  Seele  beigelegt  wird. 
Im  dritten  Buch  wird  die  Lehre  von  den  Sinneswahrnehmungen  abge- 
schlossen und  zu  der  Bewegungs-  und  der  Denkseele  übergegangen.  Dieser 
letzte  Teil  berührt  die  obersten  Probleme  der  Philosophie  und  ist  daher 
von  größter  Wichtigkeit;  leider  enthält  er  viele  dunkle  und  abgerissene 
Sätze,  so  daß  schon  unter  den  alten  Kommentatoren  über  den  Unterschied 
des  vovc;  jToiTjTixog  und  vovc:  na&rjrixog,  und  über  das,  was  an  der  Seele 
trennbar  (;fö>^«aTor)  vom  Leib  und  demnach  unsterblich  sei,  lebhafte  Diffe- 
renzen entstanden.  Die  Lehre  vom  vovg  x^9^^^^  ^^^  dessen  Unsterblich- 
keit ist  offenbar  bei  Aristoteles  ein  unorganisches  Überlebsei  platonischer 
Anschauung.^)  Auf  den  unfertigen  Zustand  des  aristotelischen  Manuskripts 
weisen  auch  die  Spuren  einer  doppelten  Textredaktion  hin,  welche  die 
neueren  Herausgeber  klar  gelegt  haben.*) 

Gewissermaßen  einen  Anhang  zu  den  drei  Büchern  über  die  Seele 
bilden  die  sogenannten  Parva  naturalia«)  (p.  436 — 480),  jedoch  so,  daß 
sie  mehr  die  niederen  Seiten  des  animalischen  Seelenlebens  behandeln  und 
eine  Mittelstellung  zwischen  Psychologie  und  Zoologie  einnehmen.  Der 
Name  Parva  naturalia,  mit  dem  die  acht  kleineren  Abhandlungen  negl 
ataih]OFO)g  xal  aloärjTwv,  jreol  juvrjfitjg  xal  dvajuvtjoecogf  Tregi  vttvov  xai  iygt]' 
yogoecüg,  Jiegl  ivvTTvlcoy  xal  rfjg  xad*  v7i7'ov  juavTixi]g^  negl  juaxgoßiOTTjtog  xal 
ßoaxvßiorrjTogf  negl  veoTrjzog  xal  yt]gcogy  negl  l^cofjg  xal  ßavdxov,  negl  dvanvoijg 
zusammengefaßt  werden,  stammt  aus  dem  lateinischen  Mittelalter  und  wird 
zuerst  von  Schülern  des  Thomas  von  Aquino  gebraucht.*)  Aristoteles  selbst 
stellt  gleich  im  Eingang  des  kleinen  Corpus  psychologisch-physiologischer 

^)  E.  RoHDE,  Psyche  II'  301-809.  eben    die   vatik.    entstanden    ist.     Siehe    A. 

2)  Siehe  darüber  außer  der  Ausgabe  von   ,   Busse, Berl.phil.W.schr.  12(1892)549  ff.  Einen 

A.Torstrik  (Berl.  1862)  H.Rabe,  Arist.  de  an.  Versuch,  das  erste  Buch  inderürgestaltvorzu- 

lib.  II,  Berlin  1«91.  der  die  aus  den  zwei  Bear-  legen,  machte  E.  Essen,  Das  erste  Buch  der 

beitungen  des  verlorenen  Originals  zusammen-  aristot.  Sehr.  üb.  d.  Seele  übertragen  u.  in  seiner 

geschweißte  vatikanische  Rezension  des  zwei-  ursprüngl.  Gestalt  wiederhergestellt,  Jena  1892. 

ten  Buches  herausgibt:   neben  dieser  stehen  ^)  Michael   Ephes.  comm.  ed.  P.  Wbnd- 

zwei   andere  Rezensionen,   die   der  Vulgata,  land  XXII  1  (1903):  Themistius  ed.  id.  V  6 

die  schon  den  Kommentatoren  des  Altertums  (1903):  Alex.  Aphrodis.  zu  .legi  ala&t^ofoK  ed. 

vorlag,  und  die  der  von  Torstrik  entdeckten  id.  111  1  (1901). 

Pariser  Fragmente  s.  X.,   aus   denen  beiden  *)  J.  Freüdenthal,  Rh.  Mus.  24(1869)81. 


4.  Die  Philosophie,    d)  AristoieleB.     (§  358.)  689 

Abhandlungen  fünf  Paare  gemeinsamer  Tätigkeiten  des  Körpers  und  der 
Seele  auf:  Wachen  und  Schlaf,  Jugend  und  Alter,  Einatmen  und  Ausatmen, 
Leben  und  Tod,  Gesundheit  und  Krankheit.  Aber  im  nachfolgenden  hat 
er  sich  nicht  genau  an  diese  Disposition  gehalten:  es  sind  andere  Abhand- 
lungen eingeschoben,  und  von  dem  Abschnitt  über  Gesundheit  und  Krank- 
heitO  ist  nur  im  Proömium  die  Rede,  die  Ausführung  fehlt,  sei  es  daß  sie 
im  Lauf  der  Zeiten,  jedenfalls  vor  Alexandres  von  Aphrodisias,  verloren 
gegangen  ist,  sei  es  daß  der  Philosoph  zu  ihr  nicht  gekommen  ist.  Das 
ganze  Corpus,  wie  es  uns  erhalten  ist,  zerfällt  in  zwei  Teile:  der  erste 
betrifft  das  Empfindungsvermögen  der  Seele,  wobei  an  die  Besprechung 
von  Wachen  und  Schlaf  ein  sehr  interessanter  Abschnitt  über  das  Seelen- 
leben im  Schlaf  und  die  Möglichkeit  einer  Erkenntnis  aus  Träumen  an- 
geschlossen ist.  Der  zweite  Teil,  der  schon  in  dem  auf  Ptolemaios  zurück- 
gehenden Verzeichnis  der  Werke  des  Aristoteles*)  vom  ersten  durch  andere 
zoologische  Schriften  getrennt  war,  behandelt  die  Seele  als  Lebensprinzip 
und  steht  in  engerer  Verbindung  mit  den  Büchern  über  das  Werden  und 
die  Teile  der  Lebewesen  (fwa).  Auffällig  erscheint  uns  die  dort  und  in 
den  latrika  Menoneia  vorgetragene  Lehre  vom  Atmen,  indem  die  durch 
dasselbe  zugeführte  Luft  nicht  den  Verbrennungsprozeß  erzeugen,  sondern 
umgekehrt  die  innere  Wärme  abkühlen  und  so  das  Leben  erhalten  soll 
(ähnlich  Plat.  Tim.  70  c),  eine  Vorstufe  zu  Chrysippos'  Lehre  von  der  neQi- 
xpv^ig.  Erhöhtes  Interesse  erhalten  die  Schriften  des  kleinen  Corpus  noch 
dadurch,  daß  Aristoteles  die  abweichenden  Lehren  der  Früheren,  des  Piaton, 
Empedokles,  Demokritos,  Anaxagoras,  Diogenes  eingehender  Berücksichti- 
gung würdigt,  wodurch  unter  anderem  zwei  längere  Fragmente  des  Empe- 
dokles erhalten  worden  sind. 

368.  Die  Metaphysik a')  in  13  (14)  Büchern  nehmen  dem  Inhalte 
nach  die  oberste  Stelle  unter  den  philosophischen  Schriften  ein.  Denn  sie 
bilden  die  höchste  Stufe  der  Philosophie,  die  Ttgcorrj  <pdooo(pla^  und  handeln 
von  den  obersten  Gründen  alles  Seienden,  des  beweglichen  wie  unbewegten.*) 
Sie  decken  sich  zugleich  mit  Theologie,  da  der  Volksglaube  mit  dem  Namen 
Gott  die  Vorstellung  des  obersten  Grundes  verbindet.  Das  Wort  itfera- 
(fvnixd  findet  sich  bei  Aristoteles  selbst  nicht  und  scheint  diesem  Komplex 
von  Büchern  erst  von  den  Peripatetikern  gegeben  worden  zu  sein,  weil 
Andronikos  ihnen  ihre  Stelle  nach  den  Physika  angewiesen  hatte. 0)  Ari- 
stoteles nahm  mit  ihnen  im  gereiften  Alter  den  Gegenstand,  den  er  bereits 


*)  Siehe  o.  S.  686,  6.  |   Dinge  (ra  h  dtpatgeoei)  an;  s.  de  caelo  III  1 

«)  Ed.  acad.  Berol.  t.  V  p.  1471  nr.  39  ff.;  '   p.  299a    16    und    H.  Bonitz    zu    met.  A  2 

vgl.  Praefatio  zur  Ausg.  der  Parva  naturalia  '   p.  982  a  27. 

in  Bibl.  Teubn.  von  W.  Biehl  p.  V.  *)  Im  Verzeichnis   des  Diogenes   fehlen 

^)  Alexandr.  Aphrodis.  comm.  ed.  M.  Hay-  die  Metaphysika  ganz,  vielleicht  bloß  infolge 


DUCK  I  (1891);  Asclepius  ed.  id.  VI  2  (1888); 
Syrian.  ed.  W.  Kboll  VI  1  (1902);  Themistius 
zu  Buch  A  ed.  S.  Landaubr  V  5  (1903). 

*)  Neben  dem  Beweglichen  und  Un- 
bewegten (xivovfifva  u.  dxivtjra),  dem  Ver- 
gänglichen und  Ewigen  {<fdaoxd  u.  dtdta) 
nimmt  Arist.  noch  die  durch  Absonderung 
von  der  Materie  gewonnenen  mathematischen 


eines  Ausfalls;  der  Ind.  Menag.  hat  /i^za- 
(fvaixd  X  (Z.  111)  und  fi€Taq.'Voixd  i  (Z.  154), 
das  arabische  Verzeichnis  nr.  49  kennt  unsere 
dreizehn  Bücher.  Bei  den  Alexandrinern  ist 
das  vierte  Buch  unter  einem  eigenen  Titel 
jieoi  Tcov  jioanxwi  ?.eyofiiv(ov  aufgeführt;  wahr- 
scheinlich hatten  bei  ihnen  auch  noch  die 
zwei  letzten  Bücher  eine  getrennte  Stellung. 


Handbuch  der  Ums.  AltertamawlMenschaft.    VII.    5.  Aafl.  44 


690  GriechiBche  Litteratnrgeschichie.    I.  Klassische  Periode. 

früher  in  dem  populären  Werk  Tiegt  cpdoowpiag  behandelt  hatte,  wieder  auf, 
um  ihn  nach  den  strengen  Grundsätzen  wissenschaftlicher  Beweisführung 
und  gestützt  auf  die  inzwischen  in  der  Physik  und  in  den  Büchern  vom 
Himmel  entwickelten  Sätze  durchzuführen.  Zur  vollen  Klarstellung  seiner 
Gedanken  und  zur  endgültigen  Überwindung  der  dem  menschlichen  Geist 
sich  gerade  hier  entgegentürmenden  Schwierigkeiten  hat  er  es  indes  nicht 
gebracht:  weder  sachlich  noch  in  der  Form  befriedigt  seine  Metaphysik. 
Das  erstere  darzutun  ist  Aufgabe  der  Geschichte  der  Philosophie;  es  genüge, 
darauf  hinzuweisen,  daß  die  Definition  der  Ttgcort]  (pdooocpia  als  Wissen  vom 
Seienden  als  Seienden  (rov  övxog  j)  Sv)  Definition  geblieben,  nicht  Aus- 
gangspunkt für  die  nachfolgenden  Untersuchungen  geworden  ist,^)  daß  der 
vovg  oder  die  Gottheit  als  die  den  Sternenhimmel  bewegende  Kraft  höch- 
stens die  Bewegung  der  Sterne,  aber  nicht  die  Gebilde  des  Weltalls  und 
das  Werden  der  Dinge  erklärt,  endlich  daß  die  aus  der  Physik  herüber- 
genommenen vier  Grundprinzipien,  vXrj  (Stoff  oder  Substrat),  eidog  (Form 
oder  Wesen),  tö  xivovv  (bewegende  Ursache),  rd  ov  evexa  (Zweck),  mit  dem 
vovg  in  keine  rechte  Verbindung  gebracht,  noch  in  ihrer  Genesis  und 
wechselseitigen  Einwirkung  beleuchtet  sind.  Wo  es  so  an  der  Klärung 
und  Beherrschung  der  Sache  fehlte,  konnte  auch  die  formale  Durchführung 
und  die  Zusammenwebung  der  Teile  zu  einem  Ganzen  nicht  gelingen.*) 
Gut  hängen  zusammen  und  sorgfältig  durchgearbeitet  sind  nur  die  drei 
ersten  Bücher  A  B  F^  die  den  Weg  zur  Lösung  durch  Kritik  der  Vorgänger 
und  Besprechung  der  Aporien  ebnen  sollen  und  von  denen  namentlich  das 
erste  als  kritische  Rundschau  über  die  früheren  Philosopheme  mit  Recht 
hochgeschätzt  ist.  Die  eigentliche  Ausführung  enthalten  die  Bücher  E  Z 
H  0  I A^  aber  so,  daß  wir  hier  überall  die  feilende  Hand,  ja  mehr,  das 
Ineinandergreifen  und  den  Abschluß  der  einzelnen  Untersuchungen  ver- 
missen. Namentlich  zeigen  sich  diese  Mängel  in  dem  Buche  yl,  das  die 
Krone  des  Ganzen,  die  Lehre  von  dem  vovg  und  den  Göttern,  enthalten 
soll.  Das  Buch  J  behandelt  die  Vieldeutigkeit  der  in  der  Philosophie  vor- 
kommenden Ausdrücke  {Tiegl  rov  Jiooaxojg)  und  bildet  ein  Buch  für  sich, 
das  nicht  unpassend  zwischen  F  und  E  eingelegt,  aber  mit  diesen  nicht 
organisch  verbunden  ist.  Das  Buch  K  enthält  im  ersten  Teil  eine  gute 
Zusammenfassung  der  Bücher  B  F  E,  im  zweiten  einen  weniger  genügenden 
Abriß  der  Kapitel  der  Physik,  die  für  die  Metaphysik  von  Wert  sind;  es 
stellt  in  Verbindung  mit  A  und  A  einen  kürzeren  Kurs  über  Metaphysik 
dar,  und  scheint  von  einem  Schüler  aus  den  Werken  des  Meisters  aus- 
gezogen und  nur  mit  einigen  eigenen  Zusätzen  versetzt  zu  sein.  3)  Die 
beiden  letzten  Bücher  M  N  enthalten  eine  für  sich  bestehende  Kritik  der 


\)  P.  Natorp,  Thema  und  Disposition  der  |   Essai  sur  la  Mötaphysique  d'Aristote,  2  voll, 

aristotel.  Metaphysik,  in  Philos.  Monatshefte  I    1888.  1846.     W.  Christs  Ansichten  s.  teils 

24  (1888)  37  —  65  sucht  die  Schwierigkeit  zu  in  seinen  Studia  crit.  in  Arist.  libros  metaph. 

mindern    durch    Streichung    der   Sätze    E  1  j   collata.   Berlin  1853,   teils  in   seiner  Ausg., 

p.  1026a  18  lönre  —  Oeo/.oyiy.f}   und  xai  Tijv  Leipzig  1886  (1896). 

TinKornTtp'  —  yh'o^  nvat.  \           ^)    Auch    sprachliche    Gründe   sprechen 

^)  Das   Beste    darüber   gibt   H.  Bonitz,  gegen  die  Urheberschaft  des  Arist;  vgl.  W. 

Arist.  met.  II  3—35.     Von    vorausgehenden  ,   Christs  Ausg.  p.  218  Note.    Der  Veranstalter 

Arbeiten    ist    hervorzuheben    F.  Ravaisson,  des  Auszugs  fand  noch  nicht  Buch  J  eingelegt. 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  359.) 


691 


platonischen  Ideenlehre,  gehören  also  zum  Gedankenkreis  der  Metaphysik, 
waren  aber  um  so  weniger  bestimmt,  mit  den  anderen  Büchern  zu  einem 
Werk  vereinigt  zu  werden,  als  sie  ganze  Kapitel  mit  dem  Buche  ^  (^  6.  9 
=  3/4.  5)  bis  aufs  Wort  gemein  haben.  *)  Eine  glaubwürdige  Überliefe- 
rung') besagt,  daß  Aristoteles  dem  Eudemos  von  Rhodos  die  Metaphysik 
vorgelegt  und  sie,  da  dieser  sie  zur  Herausgabe  nicht  geeignet  fand,  nicht 
herausgegeben  habe. 

Nicht  in  die  Metaphysik  aufgenommen,  aber  zu  ihr  gehörig  ist  die 
von  Neueren  dem  Theophrastos  zugeschriebene  Abhandlung  negi  äro/xcov 
yoajujucbv  (p.  968 — 972),  die  mit  der  Kritik  der  platonischen  Ideenlehre 
zusammenhängt  und  eigentlich  im  Anhang  der  Metaphysik  gedruckt  werden 
sollte.  Mehr  Gunst  hat  bei  den  alten  Aristotelikern  das  Büchlein  Meta- 
physik a  gefunden,  das  nach  Vorlesungen  des  Aristoteles  von  einem  Neffen 
des  Eudemos,  Pasikles,  der  übrigens  auch  als  Verfasser  von  A  bezeichnet  wird, 
herausgegeben,^)  aber  sehr  unpassend  zwischen  A  und  B  eingelegt  wurde. 

369.  Schriften  über  Ethik  und  Politik.  Der  objektiven  Betrach- 
tung {&Ea>Q€iv)  der  Welt  stellt  Aristoteles  das  subjektive  Handeln  gegen- 
über, indem  er  hier  selbst  wieder  zwischen  dem  vernunftgemäßen  Handeln 
im  engeren  Sinn  {TTodrcEiv)  imd  dem  künstlerischen  Schaffen  {ttoiciv),  zwi- 
schen Ethik  und  Ästhetik,  unterscheidet.*)  Der  praktischen  Philosophie 
{^  7i€oi  xd  &%*^Q(D7iiva  (fdooo(pia  eth.  Nie.  1181a  15)  gehört  zunächst  die 
Sittenlehre  {})&ix7]  (pdooofpla)  an;  wie  das  vernünftige  und  sittliche  Handeln 
im  Zusammenleben  der  Menschen  zu  organisieren  sei,  lehrt  die  Politik,  die 
demnach  einen  Anhang  der  Ethik  bildet,  so  daß  die  Ethik  das  Ziel,  die 
Politik  die  Mittel  und  Veranstaltungen  zu  dessen  Erreichung  zeigt. 

^H&ixd  Nixofxdxeia^)  in  zehn  Büchern,  ^H&txd  Evöi^jueia  in  sieben 
Büchern  und  *H&ixd  jueydka  in  zwei  Büchern  enthalten  alle  in  gleicher 
Weise  die  Grundsätze  der  aristotelischen  Sittenlehre;  aber  sicher  hat  Ari- 
stoteles nur  in  einem  Werk  seine  Lehre  darlegen  wollen,  und  dieses  ist 
die  nach  seinem  Sohn  Nikomachos,  vermutlich  dem  Herausgeber,  benannte 
Ethik.  Die  Evöif]fxeia  sind  eine  an  die  Vorträge  des  Meisters  und  an  die 
nikomachische  Ethik  sich  anschließende  Bearbeitung  des  gleichen  Gegen- 
standes durch  seinen  Schüler  Eudemos  von  Rhodos,  0)  die  einige  Abschnitte 


*)  Die  Echtheit  und  Einheit  der  Meta- 
physik verteidigt,  unter  dem  Gesichtspunkt, 
daß  Polemik  gegen  Piaton  die  Hauptsache 
sei.  J.  Zahlfleisch,  Philol.  55  (1896)  123  ff., 
der  Arch.  f.  Gesch.  d.  Phüos.  12  (1899)  434  ff. 
13  (1900)  81  ff.  auch  über  die  handschriftliche 
Überlieferung,  das  Verhältnis  zu  Piaton,  die 
Disposition  der  Met.  handelt.  Unechtes  (A 
n.  A'  8 — 12)  sucht  auszuscheiden  und  dadurch 
ein  geschlossenes  Werk  in  zwei  Bearbeitungen 
zu  gewinnen  A.  Gödeckbmeyer,  Gedanken- 
gang und  Anordnung  der  aristotel.  Metaph., 
Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.  20  (1907)  521  ff. 
(erste  Bearb.  A  7— Schluß.  K 1 — 8.  A ;  zweite 
Bearb.  A  1—7.  o.  B,  F.  E  bis  /.  M.  N;  von 
der  ersten  Bearb.  soll  der  Anfang,  von  der 
zweiten  der  Schluß  fehlen). 

')  Asclep.  ad  Arist.  metaph.  4,  9  ff.  Hayd. 


»)  Vgl.  Note  des  Cod.  E  in  W.  Christs 
Ausg.  p.  35.  Die  Einfügung  geschah  wohl 
in  der  Zeit  nach  Andronikos,  da  keine  Neu- 
zählnng  der  dreizehn  Bücher  des  Kataloges 
vorgenommen,  sondern  das  neuhinzugetretene 
Buch  mit  a  ^kaxiov  bezeichnet  wurde. 

<)  met.  1025b  25  f. 

^)  Eustratius,  Michael  u.  Anonym,  comm. 
ed.  G.  Hbylbüt  XX  (1892);  Aspasius  comm., 
Heliodorus  (der  Name  ist  ohne  Gewähr:  L. 
CoHN,  Berl.  phü.  W.schr.  9,  1889,  1419  f.) 
paraphr.ed.id.XIX  1.  2  (1889);  Michael  Ephes. 
ed.  M.  Haydück  XXU  3  (1901).  Siehe  unten 
S.  712,  3. 

®)  Dieser  Schüler  des  Arist.,  der  den 
Meister  überlebte,  ist  verschieden  von  dem 
älteren  Mitschüler  Eudemos,  dem  der  Dialog 
Eudemos  gewidmet  war.    Das  Altertum  hatte 

44* 


692  Oriechische  Litieratnrgeschichie.    I.  KlascoBche  Periode. 

mit  der  nikomachischen  Ethik  wörtlich  gemein  hat,^)  in  den  meisten  da- 
gegen eigene  Zusätze  und  Änderungen  enthält.  Die  'H&ixä  jueydXa^  die  in 
sonderbarem  Widerspruch  zum  Titel  den  kleinsten  Umfang  haben,*)  sind 
ein  jüngeres,  stoYsierendes  Werk  der  peripatetischen  Schule,  in  dem  die 
beiden  älteren  Ethiken  zu  einem  kleineren  Auszug  zusammengearbeitet 
sind; 3)  die  Worte  p.  1201b  25  ajoTteg  Ifpa/uev  h  rofc  ävaXvxixötg  müssen 
nicht  auf  die  Analytika  des  Aristoteles,  sondern  können  auch  auf  andere 
bezogen  werden.  —  Die  Ethika  sind  im  allgemeinen  von  Aristoteles  weit 
mehr  zur  Abrundung  gebracht  als  die  Metaphysika;  gleichwohl  erregt  ihre 
Komposition  mehrfach  Anstoß:  ob  die  der  nikomachischen  und  endemischen 
Ethik  gemeinsamen  Bücher  dem  ersten  oder  zweiten  Werk  ursprünglich 
angehörten,  ist  eine  schwer  zu  entscheidende  Frage;*)  der  erste  Teil  der 
nikomachischen  Ethik  I — VI  zerfällt  in  einen  allgemeinen  Teil  (Einleitung 
I  1.  2;  Begriff  der  Glückseligkeit  als  einer  der  Tugend  entsprechenden  Be- 
tätigung der  Seele  in  einem  vollkommenen  Leben  I  2 — 13,  der  Tugend,  die 
in  ethische  und  dianoötische  geteilt  wird,  II,  und  der  Zurechnung  in  1 — 8) 
und  einen  besonderen,  in  dem  die  einzelnen  ethischen  (III  9 — V  15:  dvdgeia, 
ooycpooovvrj,  ikevi^egioxtjg,  fisyaXojiQiTzeta,  fxeyaXoipvxia,  tpdorijLua,  TZQaoTt]^,  die 
Tugenden  des  geselligen  Lebens  und  ihre  Gegensätze,  die  Gerechtigkeit) 
und  dianoötischen  (VI)  Tugenden  behandelt  werden.  Daran  schließen  sich 
eine  Reihe  von  Anhängen,  die  sich  zum  Teil  mit  dem  Inhalt  von  I — VI 
berühren  (vgl.  X  6 — 9  mit  I  2 — 13),  am  ausführlichsten  der  über  die  Freund- 
schaft in  Buch  VIII  und  IX.  Diese  beiden  Bücher  bildeten  wohl  ehedem 
eine  eigene  Schrift  Tiegi  (pdiag^  wie  eine  derartige  noch  in  den  alexandri- 
nischen  Katalogen  aufgeführt  ist;  das  gleiche  scheint  mit  dem  zehnten 
Buch,  das  von  der  Lust  und  Glückseligkeit  (evdai/um'la)  handelt,  der  Fall 
zu  sein,  da  auch  hier  die  alexandrinischen  Kataloge  ein  eigenes  Buch  Tiegi 
^dovijg  registrieren.  In  dem  Inhalt  der  Lehre  zeigt  sich  insofern  ein  Ab- 
fall von  Piaton,  als  die  Untersuchung  über  die  eine  Wurzel  der  Sittlichkeit 
sich  in  dem  Detail  der  Einzeltugenden  verliert.^)    Aber  in  der  Schärfe  der 


außer  den  oben  S.  676  genannten  Schriften  1  stotelische  Studien  I,  Bayr.  Ak.  Abb.  10  (1864) 
zur  Geschichte  einzelner  Wissenschaften  und  I  169  ff.  Vgl.  F.  Überweg,  Grundriß  P  221. 
der  Bearbeitung  der  aristotelischen  Physik      232ff.;  E.ZellebIP  lOlf.  Über  die  Abschnitte 


(s.  0.  S.  682)  auch  Evdtjfiov  dvakvTtxd  in  zwei 
Büchern,  eine  an  Aristot.  :ieoi  eofirjveiag  an- 
schließende Schrift  jzegi  ks^ecog  und  eine 
mathematische  Untersuchung  ^legi  ycjvia?. 
Fälschlich  zugeschrieben  wurde  ihm  ein  von 
Aelianus  benutztes  populär  zoologisches  Werk. 
Eudemi  fragm.  ed.  L.  Spenoel,  Berol.  1866 — 68, 
wo  aber  die  Ethika  ganz  außer  Betracht  ge- 
lassen sind;  Eudemi  fragm.  in  F.  W.  Mul- 
lach, FPhG  III  222—292;  E.Martini  in  der 
Realenz.,  11.  Halbbd.  895  fF. 

')  Nicom.  V-VII  =  Eud.  IV— VI. 

^)  quia  de  pluribus  tractat  nach  Albertus 
Magnus. 

^)  Dieses  Verhältnis  ist  klargestellt  von 
L.  Spengel.  Über  die  unter  dem  Namen  des 
Arist.  erhaltenen  ethischen  Schriften,  Bavr. 
Ak.  Abh.  8  (1841)  437;  dazu  L.  Spenoel,  An- 


der Moralia  magna,  die  in  den  beiden  andern 
Ethiken  nicht  stehen,  s.  F.  Susemihl  in  den 
Proleg.  seiner  Ausgabe  der  ersten  Schrift 
(Leipzig  1880).  Th.  Bergk,  Gr.  Litt.  IV  494 
will  die  große  Ethik  dem  Peripatetiker  Pha- 
nias  beilegen.  Einfluß  der  Stoa  weist  nach 
E.  Zeller  II»  942, 3. 

*)  F.  Susemihl,  über  die  nikomachische 
Ethik  des  Arist,  in  Verb.  d.  35.  Philologen- 
versammlung. Stettin  1880,  22  ff.,  läßt  sie 
in  der  Hauptmasse  von  Aristoteles  stammen^ 
aber  aus  der  cudemischen  Ethik  ergänzt  sein. 

*)  Das  ist  Absicht  des  Aristoteles,  wie 
Politik  1260a  27  zeigt:  :To/iv  ydg  d,ueirov 
liyovoiv  Ol  i^agiO/JOvvxeg  Tag  dgerdg,  wa^rs^ 
Fooyiac,  tcöv  ovxcog  ogiCouevcor;  vgl.  eth.  Nie. 
1107a28ff. 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  859.)  698 

Begriflfsbestimmung,  der  Klarheit  der  Auffassung  hat  Aristoteles  auch  hier 
seine  Meisterschaft  bewährt.  Er  geht  aus  von  dem  Begriff  des  reinen 
Guten  oder  der  Glückseligkeit  (evdaijuovia);  diese  findet  er  nicht  in  der 
Lust,  auch  nicht  im  Reichtum  und  in  äußeren  Gütern  des  Lebens,  sondern 
in  derjenigen  denkenden  und  handelnden  Tätigkeit,  durch  die  der  Mensch 
die  ihm  als  Menschen  zukommenden  Aufgaben  erfüllt.^)  Die  Tugend  ist 
ihm  eine  dauernde,  auf  Einsicht  und  Übung  beruhende  Haltung  der  Seele 
(e?t^),  welche  die  rechte  Mitte  zwischen  dem  Zuviel  {vneQßoXrj)  und  dem 
Zuwenig  {ßU-eixpiq)  trifft  und  auf  solche  Weise  die  Leidenschaften  und 
Affekte  im  Menschen  beherrscht  und  regelt.*)  In  Übereinstimmung  mit 
der  Begriffsbestimmung  der  Eudämonie  und  ganz  im  Geist  des  Piaton  und 
des  Altertums  überhaupt  unterscheidet  er  des  weiteren  zwei  Arten  von 
Tugenden,  die  dianoätischen  oder  geistigen  und  die  praktischen  oder  ethi- 
schen im  engeren  Sinn.  Die  Ausführung  und  Charakterisierung  der  ein- 
zelnen Betätigungen  der  Tugend  des  Geistes  und  des  praktischen  Handelns 
nimmt  sodann  den  größeren  Raum  seines  Werkes  ein.  Den  Satz  des 
Sokrates,  daß  Tugend  Wissen  sei,  erkennt  Aristoteles  nicht  schlechthin 
an; 3)  er  ist  aber  der  Meinung,  daß  durch  Beeinflussung  des  Charakters, 
der  i'&ri^  durch  staatliche  und  private  Erziehung,  wenn  die  Anlage  {cpvoig) 
dazu  vorhanden  sei,  jenes  mittlere  Verhalten  zwischen  zwei  fehlerhaften 
Extremen  beigebracht  werden  könne,  das  er  als  Tugend  bezeichnet;  frei- 
lich töricht  (}ßi§iog  und  ävotjrog)  kann  der  Tugendhafte  nicht  sein,^)  und 
andererseits  ist  Klugheit  ohne  Tugend,  da  sie  so  das  richtige  Ziel  des 
Handelns  nicht  zu  erkennen  vermag,  unmöglich. 5)  Betätigung  der  Tugend 
(ivigyeta)  ist  das  Naturgemäße,  weil  dadurch  das  naturgemäße  Verhältnis 
der  Herrschaft  des  Geistigen  über  das  Sinnliche  zustandekommt.  Die 
Tugend  aber,  die  unerläßliche  Bedingung  für  ein  glückliches  Leben,  kann 
der  Förderung  iypQrjyia)  durch  äußere  Güter  nicht  völlig  entraten  —  nur 
die  Gottheit  kann  ohne  x^QVy^^  glücklich  sein;  ein  Tugendhafter  im  Zu- 
stand der  Folterung  ist  nach  Aristoteles  nicht  glücklich  zu  nennen.  <5)  Li 
diesen  von  der  alten  Stoa  heftig  bekämpften  Sätzen  liegt  der  Ausgangs- 
punkt für  die  Veräußerlichung  und  Herabstimmung  des  Glücks-  und  Tugend- 
begriffs, die  in  der  peripatetischen  Schule  seit  dem  3.  Jahrh.  v.  Chr.  ein- 
getreten und  Gegenstand  des  Hohns  7)  geworden  ist.  Das  Ziel  der  Glück- 
seligkeit ist  nach  Aristoteles  erreichbar  in  diesem  Leben  und  wird  erreicht 
von  dem  oo(p6g,  dessen  Vollkommenheit  schon  Aristoteles  in  ähnlich  über- 
triebener und  zur  Satire  herausfordernder  Weise  schildert  wie  später  die 
Stoa:  der  Weise  genügt  sich  vollkommen  selbst  {avTagxTJg),  ist  stets  heiter, 


*)  eth.  Nie.  I  6;   vgl.  IX  9  p.  1169  b  29:  '   Horaz  ep.  I  18,  9:  virtus  est  medium  ritiorum 
Tj  svdaifÄOvia  evsgyetd  zig  iauv.  et  uirimque  reductum. 

*)  eth. Nie.  1106a  22 ff.:  7)  rov  dr&gconov  '  *)  eth.  Nie.  1105b  2   Jigog    ök  Tag  dgeräg 

dQeTtjsXfj  dvs^igjd(p*  i)gdya&6gäv&QOinogy{vexai  I    to  eldevai  fuxQov  tj  ovdkv  layvei;  vgl.  ib.  112; 

xai  dq}^  rjg  xo  kavxov  egym'  d:iod(oaei;  1106  b  I    X  10. 
27:  fisaöirjg  ttg  uoa  iariv  ^  dnertj,  aroxaoxixi)  *)  eth.  N.  1123  b  3. 

ye   ovoa    rov   fudaov.     Die    Definition,    deren  *)  ib.  1144a  36. 

Keime  bei  Piaton  politie.  307b;  Critias  112b;  1  «)  ib.  1153b  19  ff. 

leges  728  d  ff.  liegen,  hat  großen  Naehklang  I  ^)  Siehe  z.  B.  Luc.  vit.  auct.  26. 

in  der  alten  Litteratur  gefunden,  so  auch  bei 


694  GhriechiBohe  LitteratnrgeBchichie.    L  KlasaiBche  Periode. 

mit  sich  selbst  zufrieden,  über  das  Gefühl  der  Reue  so  gut  wie  ganz  er- 
haben,^) göttergleich.  Bei  so  starker  Betonung  der  avrdgxeia  des  Weisen*) 
kann  es  für  die  Freundschaft,  die  Aristoteles  sehr  umständlich  behandelt, 
nur  eine  im  Grund  egoistische  Motivierung  geben:  wiewohl  der  oo(p6g  sich 
selbst  genügt,  werde  doch  seine  '9€coQr]Tix7]  ivegyeia  durch  Verbindung  mit 
avvegyoi  gefördert.^)  Alle  Schranken  altgriechischer  Humanität  sind  in 
dieser  Ethik  aufrecht  erhalten,  vor  allem  wird  der  Gegensatz  zwischen 
Griechen  und  Barbaren  wie  zwischen  Freien  und  Sklaven  mit  voller  Schärfe 
betont;  der  Sklave  ist  zwar  als  Mensch  mit  vovg  begabt,*)  aber  das  ßov- 
Xevea^ai  wird  ihm  abgesprochen 0)  und  menschliche  Behandlung  versagt; 
er  ist  (pvoei  dovXog^  zur  evdaifiovia  unfähig, 0)  und  der  Freie  kann  mit  ihm, 
sofern  er  Sklave  ist,  keine  Freundschaft  haben.  Hier  sind  Befangenheiten, 
zu  deren  Überwindung  man  schon  im  perikleischen  Athen  auf  dem  besten 
Weg  gewesen  war.  Auch  die  hochmütige  Geringschätzung  der  Arbeit, 
zumal  der  physischen,  gehört  zu  den  altgriechischen  und  überhaupt  heid- 
nischen') Vorurteilen,  die  Aristoteles  sanktioniert,  wenn  er  das  Ideal  des 
ßiog  ^€(OQf]nx6g  und  des  oxoXd^eiv  xaXcog  aufstellt.  Aristoteles'  Ethik  trägt 
wie  seine  Politik  und  Poetik  einen  retrospektiven  Charakter:  er  erscheint 
auf  allen  diesen  Gebieten  nicht  als  ein  selbständig  urteilender  Kopf  mit 
idealen  Zielen,  sondern  in  wesentlichen  Punkten  als  ein  Apologet  der 
nationalgriechischen  Kultur,  dessen  Leistungen  für  uns  von  bedeutendem 
geschichtlichem,  nicht  aber  von  praktisch  normativem  Wert  sind.  Der 
schwächste  Punkt  in  der  Ethik  und  der  Seelenlehre  des  Aristoteles  ist  die 
Unklarheit  über  die  Kraft  des  Willens  und  das  Verhältnis  des  Willens  zum 
natürlichen  Begehren  und  zur  geistigen  Einsicht,  das  Schwanken  zwischen 
Determinismus  und  Indeterminismus.®) 

Die  unechte  Schrift  mgi  ägexcov  xal  xaxuov  (p.  1249 — 1251)  enthält 
Definitionen  der  einzelnen  Tugenden  und  Laster,»)  die  aus  der  aristoteli- 
schen Ethik  abgezogen,  auf  das  platonische  Schema  von  der  dreigeteilten 
Seele  gespannt  und  zugleich  stark  verflacht  sind. 

360.  Die  IloXixixd^^)  in  acht  Büchern  haben  die  Ethik  zur  Voraus- 
setzung; am  Schluß  der  nikomachischen  Ethik  ist  auf  den  Staat  hingewiesen, 
durch  den  die  Menschen  zur  Sittlichkeit  erzogen  werden  sollen;  damit  ist 
der  Zusammenhang  der  Ethik  mit  der  Gesetzgebung  und  Politik  klar  aus- 


M  eth.  N.  1166a  23  ff.;  ib.  X  7.  8.     An-  |   der  aristotelischen  Ethik  R.  Löning,  Gesch. 

Sätze  zu  diesen  Verstiegenheiten  finden  sich  der  strafrechtl.  Zurechnungslehre  I,  Jena  1903 

bei    Piaton    Phaed.  82  bc;    114  bf;    Theaet.  |   und   dazu  H.  Gompbrz,   Arch.  f.  Gesch.  der 

176b  f.,    doch   ohne    den  Beisatz    von  hoch-  Philos.  19  (1906)  560  ff. 

mutigem  Egoismus.  •           ®)  Den  Aufsatz  hat  Ps.Andronikos  in  den 

=*)  eth.  N.  1177a  24  ff.    Der  Widerspruch  I   zweiten  Teil  seines  kompilierten  Buches  nfol 

zwischen  avzaQxsia  und  <f^tUa  ist  Plat.  Lys.  ,   jia&cov  aufgenommen,    den  C.  Sohüchhabdt, 

215  a  f  aufgedeckt.  Andronici  Rhodii  qui  fertur  libelli  negi  :tadiov 

')  eth.  N.  1174a  34.  pars  altera  de  viitutibus  et  vitiis,  Darmstadt 

*)  pol.  1260  b  5  ff.  1883,  auf  Grund  eines  guten  kritischen  Ap- 

*)  pol.  1460  a  12.  parates  neu  ediert  hat. 

^)  eth.  N.  1177  a  8.  »<>)  üi,er  Aristoteles'  Staatslehre  in  grös- 

")  P.  Allard,   lulien  Tapostat  I   (Paris  serem   Zusammenhang  H.  Henkel,   Studien 

1900)  213  ff.  z.  Gesch.  d.  griech.  Lehre  vom  Staat,   74  ff. 

'')  über  die  psychologischen  Grundlagen 


4.  Bie  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  360.) 


695 


gesprochen.  1)  Ein  eigenes  Kapitel  (polit.  III  4)  ist  der  Frage  gewidmet, 
ob  der  sittlich  gute  Mensch  (ävijg  äya&og)  mit  dem  politisch  tüchtigen 
Bürger  (jioXlrtjg  ojiovdmog)  sich  decke.  Die  Politika  selbst  handeln  ein- 
leitungsweise im  ersten  Buch  von  der  Grundlage  des  Staates,  dem  Haus 
oder  der  Familie,  und  im  Anschluß  daran  von  der  Hausverwaltung  und 
dem  Erwerb  (xgrjinaTiotixt]).  Als  Teil  des  Haushaltes  erscheinen  auch  die 
Sklaven,  da  diesen  die  körperlichen  Arbeiten  des  Hauses,  die  der  freie 
Grieche  als  seiner  unwürdig  betrachtete,*)  zuzufallen  pflegten.  —  Im  zweiten 
Buch  unterzieht  dann  Aristoteles  nach  der  ihm  beliebten  Methode  die  An- 
sichten der  Früheren,  der  Theoretiker  (Phaleas  von  Chalkedon,  Hippo- 
damos  von  Milet»)  und  besonders  Piaton)  wie  der  Gesetzgeber  (lakonische, 
kretische  und  karthagische  Verfassung  nebst  den  Gesetzen  des  Selon,  Za- 
leukos.  Charondas,  Philolaos,  Drakon,  Pittakos,  Androdamas),  einer  kriti- 
schen Betrachtung.  —  Die  eigentliche  Aufgabe  löst  er  in  den  sechs  näch- 
sten Büchern,  und  zwar  so,  daß  er  den  Unterschied  der  drei  guten  Staats- 
formen, bei  denen  die  Herrschenden  das  Wohl  der  Gesamtheit  im  Auge 
haben  (ßaodela,  äoiaroxgaTia,  noXireia)^  und  der  drei  Ausartungen,  bei  denen 
die  Herrschenden  von  ihren  eigenen  Interessen  sich  leiten  lassen  {rygawig, 
dkyagxta,  drjfxoxgarla),^)  zum  Ausgangspunkt  nimmt.  Die  Staatsform  ist 
dem  Aristoteles  der  Ausdruck  der  größeren  oder  geringeren  Veranlagung 
der  Staatsgenossen  zur  Tugend  (Pol.  1328a  37  flf.).  Es  kann  und  muß  also 
verschiedene  Staatsformen  geben;  eine  aber  ist  die  beste,  nämlich,  da  nicht 
einfaches  av^fjv^  sondern  ev  f^v,  d.  h.  eudaijudvcog,  xaXcbg,  avTagxcog  C^v  (pol. 
III  9)  Zweck  der  staatlichen  Gemeinschaft  ist,^)  diejenige,  in  der  die  Besten 
oder  die  durch  Tugend,  nicht  bloß  durch  Geburt  und  Reichtum  Hervor- 
ragenden, herrschen,  die  allerbeste  aber  die,  in  der  ein  einziger,  der  jedoch 
zugleich  allen  andern  an  Tugend  und  Einsicht  überlegen  sein  soll,  die  Herr- 
schaft führt.®)  Da  es  aber  ein  Glücksfall  besonderer  Art  ist,  daß  ein  von 
Natur   so    überragender  Mann   sich   finde,    ein    „dldiog  ßaodevg"^   dem  die 


^)  Die  Echtheit  jenes  Schlusses  der  Ethik 
ist  freilich  von  J.  Amsdorf  (s.  u.  S.  696, 1)  an- 
gefochten worden,  pol.  1261a  81  weist  auf 
eth.  N.  V  8  zurück;  s.  a.  pol.  1295a  36. 

»)  Arist.  pol.  VIII  2  p.  1337  b  6:  (pavegov 
on  T(bv  TotovTcov  Set  juerexetv  oaa  rcbv  XQ^^^' 
ficov  jroitfoei  zov  /jezexorra  fitj  ßdvavoov,  ßd- 
vavoov  d*  egyov  elvai  dei  zovxo  vo^ä^siv  xai 
xixv*]v  ravTtjv  xai  ^d^tjotv,  ooat  Jigog  tag 
XgTjaeig  xai  rag  Jigd^stg  Tag  rr)?  dgetifg  äxQfj- 
aiov  djiegydCovrat  t6  a(öfia  twv  iXev&egcov  fj 
rrjv  yvxv^  ^^^-     Vgl.p.  1277a  35. 

•)  Von  Hippodamos,  der  Baumeister  war 
und  um  die  Mitte  des  5.  Jahrhunderts  blühte, 
hat  uns  Stobaios  einige  pythagorel[sierende 
Bruchstücke  Jisgi  nokixsiag  und  Jitgi  evöai- 
iioviag  erhalten ;  s.  C.  F.  Hebmann,  De  Hippo- 
damo  Milesio,  Marburg  1841;  H.  Diels, 
Fragm.  d.  Vorsokr.»  236  f.;  H.  Hekkel,  Stud. 
z.  Gesch.  d.  griech.  Lehre  vom  Staat  162  fi. 
Pol.  1298  a  13  wird  auch  noch  eine  IIoliTeia 
des  Milesiers  Tel  ekles  genannt 

*)  Unseren  Ausdruck  Ochlokratie  kennt 


Aristoteles  noch  nicht;  er  läßt  sich  erst  bei 
Polybios  nachweisen.  Platonische  Einflüsse 
in  der  Lehre  von  den  Staatsformen,  beson- 
ders von  der  Tyrannis,  weist  nach  J.  Ekdt, 
Wiener  Stud.  24  (1902)  17  ff. 

*)  pol.  1328  a  35  Jiokig  xoivcovia  xig  iou 
Tctjv  ö/joion',  ^exsv  de  i^corjg  xijg  ivdexofjevtfg 
dgioxtjg;  vgl.  ib.  VII  13. 

*)  Die  Idee  ist  wohl  durch  Piaton  (politic. 
293c  ff.)  angeregt.  Ein  unbedingter  Loh 
redner  der  Monarchie  ist  Aristoteles  keines 
wegs,  am  wenigsten  einer  der  erblichen  Mon- 
archie, bei  der  für  das  Eintreffen  seiner  Vor- 
aussetzungen geringe  Wahrscheinlichkeit  ist 
s.  insbesondere  p.  1288a  1;  1286b  23  ff.; 
1313  a  10  ff.  Die  Doktrin  hat  sich  auch  in 
die  hellenistische  Zeit  hinein  gehalten  (Epist. 
Aristeae  288  ff.  Wendland).  Die  Monarcnien 
seiner  Zeit  beruhen  nach  Ar.  nicht  auf  persön- 
licher vjtegoxtf  ihrer  Träger,  sondern  auf  amt- 
licher Bestellung  (jiovagxiai)  oder  auf  Usur- 
pation (xvgat'^'iöeg).  Am  aristotelischen  Eönigs- 
ideal  mißt  sich  lulian.  ep.  p.  328  ff.  Hestl. 


696  Oriechische  Litteratnrgeschichte.    I.  Klasaische  Periode, 

Herrschaft  von  selbst  zufallen  muß,  so  gilt  dem  Aristoteles  für  gewöhn- 
liche Verhältnisse  eine  Mehrherrschaft  für  die  beste  um  so  mehr,  je  besser 
dafür  gesorgt  ist,  daß  die  sittlich  und  intellektuell  Überlegenen  (oTiovdaJoi, 
ijimxeig,  ;fa^&yr€c)  tatsächlich  regieren.  Vom  besten  Staat  ist  in  den  Schluß- 
kapiteln des  dritten  Buches  (III  14—18)  und  in  den  Büchern  Vü  und  VIII 
gehandelt.  1)  Aber  die  Behandlung  des  Gegenstandes  ist  nicht  zum  Ab- 
schluß gekommen;  besprochen  sind  nur  die  äußeren  Grundbedingungen  des 
besten  Staates  und  besonders  (VIII)  im  Hinblick  auf  Piaton  die  Erziehung 
und  Bildung  der  Staatsbürger.  Aristoteles  betont  hier  die  grundlegende 
Bedeutung  richtiger  Erziehung  und  Ausbildung  für  das  Bestehen  und  das 
Wohl  des  Staates,  erörtert  die  Frage,  ob  die  Bildung  realistisch  (rd  XQ^- 
aijua  TiQog  xbv  ßlov)  oder  humanistisch  (rd  xelvovxa  Ttgog  äQeztjv)  gerichtet 
sein  soll  und  weist  alles,  was  der  Erreichung  der  ägerij  hinderlich  sei,  ab, 
insbesondere  erniedrigende  Arbeit  des  Körpers  und  jede  Art  von  sei  es 
körperlichem  oder  geistigem  Spezialisten-  und  Virtuosentum.  Dieser  Teil 
ist  unvollendet  geblieben  oder  doch  unvollendet  auf  uns  gekommen;  be- 
handelt sind  nur  die  vier  Gegenstände  des  gewöhnlichen  Unterrichts,  Gram- 
matik, Gymnastik,  Musik  und  Zeichnen;*)  zu  den  höheren  Unterrichts- 
gegenständen, Philosophie  und  Ästhetik,  ist  Aristoteles  nicht  gekommen. 
—  Die  mittleren  drei  Bücher  IV — ^VI  bilden  eine  Untersuchung  für  sich; 
sie  handeln  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Realpolitikers*)  von  den  übrigen 
Staatsformen,  von  den  Teilen  des  Staates  (Rat,  Beamten,  Gerichte)  und 
deren  Aufgaben,  von  dem  was  den  Staat  erhält  und  ihn  zugrunde  richtet. 
Auch  hier  ist  die  Reihenfolge  der  Bücher  nicht  in  Ordnung.  Nach  der 
von  Aristoteles  selbst  IV  2  gegebenen  Disposition  und  nach  dem  Eingang 
des  fünften  Buches  sollte  man  erwarten,  daß  das  fünfte  Buch  den  Schluß 
bilde  und  ihm  das  in  den  Handschriften  an  sechster  Stelle  stehende 
Buch   vorangehe.*)      Aber    da    im   sechsten   Buch  wiederholt  (s.  u.  A.  1) 

^)  Daß  in  den  Handschriften  die  Bücher  |  III — V  zurück.  Gegen  die  ümstellungs- 
VII  u.  VIII  an  falscher  Stelle  stehen  und  in  versuche  von  L.  Spengel  (I— HI.  VII.  VIII. 
der  angedeuteten  Weise  umgestellt  werden  |  IV — VI)  und  J.  Barth^lemy  de  St.  Hilaire 
müssen,  hat  schon  im  15.  Jahrh.  Nicolas  I  (I—III.  VII.  VIII.  IV .  VI.  V)  sind  mit  Recht 
d'Oresme,  im  16.  der  Italiener  Segni  be-  \  H.  Dibls,  Arch.  für  Gesch.  der  Phil.  4  (1891) 
hauptet  und  ist  von  H.  Conring  in  der  Ein-  '  483  und  Wilamowitz,  Aristot.  und  Athen  I 
leitung  der  Übereetzung  des  Giphanius  1637,  355  ff.  aufgetreten.  So  gut  der  Schluß  von 
und  L.  Spenoel,  Über  die  Politik  des  Aristo- 
teles,  Bayr.  Ak.  Abh.  5  (1847),  näher  begründet 
worden .  Die  jetzige  Ordnung  ist  vorausgesetzt 
in  dem  Zitat  VII  4  p.  1325b  34  jreoi  läg  äXXag 
TToltTfing  fjfiir  TedfowtjTai  jto^tfqov  und  in 
dem  Schluß  der  Nikomachischen  Ethik.  Vgl. 
F.  SusEMiHL,  Über  die  Komposition  der  arist. 
Politik,  in  Verh.  d.  30.Ver8.  d.  Phil..  Rostock 
1875,  S.  17—29;   J.  Amsdorf,   Symbolae  ad 


Vni  fehlt,  kann  auch  am  Schluß  von  III 
eine  Lücke  angenommen  werden,  in  der  die 
Begründung  dafür  stand,  daß  sich  Aristot. 
nicht  sofort  zur  Darstellung  des  besten  Staates 
wendete. 

*)  W.  BiEHL.  Die  Erziehungslehre  des 
Aristoteles,  Innsbruck  1877.  Das  Zeichnen 
war  nach  Plinius  n.  h.  XXXV  77  um  diese 
Zeit  durch  den  Makedonier  Pamphilos.  den 
Arist.  politicorum  crisin  spectantes,  Lands-  Lehrer  dos  Apelles,  unter  die  Ünterrichts- 
hut  Progr.  1894.  Indessen  kann  die  Stelle  :  gegenstände  aufgenommen  worden. 
1289a  26  ff.  (wenn  auch  der  Ausdruck  aofr»;    |  »)  Hauptstelle  darüber   p.  1288b  35:   ol 

;<^;!foo//j'/;/<n'?;  1289a  33  wiederkehrt  1323b  41  f.)       jikeTorot  tibv  djioq-aivojiih'cov  Tiegi  nokiTeiag  xai 
schwerlich  anders  verstanden  werden  als  so,    ,    et  Tä).kn  )Jyovoi  y.aX(bg,  xcov  ye  xQ^oifuov  Sia- 
daß  hier  nur  die  Bücher  I — III,    nicht   auch       ftngTdvovair '    ov    yäg   fiovov  rtjv   olqmt^v   öeT 
VII.  VIII  als  vorausgehend  gedacht  sind ;  die    |    ^fcdokTv,  dV.a  xai  ri^v  dxn'aiijv. 
Stellen     des     sechsten    Buches    1316b    34;   i  *)   Diese   Bemerkung   ist   gemacht   von 

1317  a  10.   24.   37  f.,    1319b  37   weisen   auf  |  J.  Babthblemy  de  St.  Hilaibe  in  seiner  Über- 


4.  Bie  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  860.)  697 

auf  das  fünfte  Bezug  genommen  ist,*)  so  hat  doch  offenbar  Aristoteles 
das  sechste  Buch,  in  dem  nochmals  von  der  Demokratie  und  Oligarchie 
und  den  Mischungen  aus  jenen  beiden  Staatsformen  gehandelt  ist,  erst 
nachträglich  verfaßt  und  den  bereits  vollendeten  Büchern  IV — V  als  Er- 
gänzung angehängt.*) 

Die  beste  Einrichtung  des  Staates  galt  dem  Aristoteles  als  eine  der 
würdigsten  Aufgaben  der  Philosophie,  wie  auch  seine  Schule,  mehr  als 
selbst  die  Stoa,  sich  mit  politischen  Fragen  abgegeben  hat.^)  Aber  zum 
befriedigenden  Abschluß  hat  Aristoteles  seine  Politik  nicht  gebracht;  es 
fehlt  nicht  bloß  die  planmäßige  Ordnung  in  der  Reihenfolge  der  Bücher,*) 
es  fehlt  auch  die  Krönung  des  Gebäudes,  indem  das  Werk  ohne  Epilog  zu 
Ende  geht,  mag  man  nun  die  überlieferte  Ordnung  der  Bücher  beibehalten 
oder  ein  anderes  Buch,  das  fünfte  oder  sechste,  an  den  Schluß  stellen. 
Auch  sonst  reißt  oft  der  Faden  der  Untersuchung,  so  daß  die  Herausgeber 
Not  haben,  mit  allen  möglichen  Hausmitteln  der  Kritik  einen  strengere 
Ansprüche  der  Logik  befriedigenden  Text  herzustellen.  Auch  stilistisch 
ist  das  Werk  nicht  gleichmäßig  durchgearbeitet;  größere  Sorgfalt  in  Ver- 
meidung des  Hiatus  ist  in  Buch  VH  und  VHI  beobachtet.  Aber  gleich- 
wohl ist  das  Werk  eines  der  bedeutendsten  und  interessantesten,  die  uns 
das  Altertum  erhalten  hat:  namentlich  machen  die  auf  den  Materialien- 
sammlungen der  IIohTeiai  beruhenden  zahlreichen  Angaben  über  die  Ein- 
richtungen der  buntgestalteten  Staatswesen  des  Altertums  das  Buch  zu 
einer  Hauptquelle  für  den  Historiker  und  Altertumsforscher.  Der  Gegen- 
satz zu  Piaton  tritt  eben  besonders  hier  im  guten  Sinn  entgegen,  indem 
der  Verfasser  ideologische  Utopien  grundsätzlich  ablehnt  und  dafür  auf 
das  Tatsächliche  und  Mögliche  den  Blick  gerichtet  hält.^)  Freilich  hin- 
derte dieser  Realismus  ihn  auch,  über  die  Beschränktheiten  und  Vorurteile 
des  Altertums  hinauszukommen:  er  verteidigt  nicht  bloß  die  Sklaverei,  er 
sucht  sie  auch  physiologisch  durch  Annahme  einer  sklavenmäßigen  Natur- 
anlage gewisser  Menschen  und  Völker  zu  begründen  ;ö)  Handwerk  und  Arbeit 

Setzung,  Paris  1837  (4.  Ausg.  1874)  und  fest-  '  ;^offfe5v  Tiohxstibv  (Buch  IV — V  mit  dem  Nach- 
gehalten von  L.  Spengel  a.  a.  0.  und  Arist.  trag  von  Buch  VI),  und  die  Anfänge  einer 
Stud.  II  (München  1865);  H.  Oncken,  Staats-  ;  zusammenfassenden  Darstellung  (I  1;  II;  III; 
lehre  des  Arist.  I,  Leipzig  1870.  98  ff.    Vgl.  i  VII  1 — 3)  hinterlassen  habe.    Die  Zusammen- 


fassung der  Teile  scheine  Theophrastos  be- 
sorgt zu  haben,  da  einige  ihn  für  den  Ver- 
fasser des  Werkes  ausgaben;  s.  Diog.  L.  V  24: 


J.  Bendtxen  in  den  Jahresberichten  des  Philol. 
13  (1858)  264  ff.,  14  (1859)  332  ff.,  16  (1860) 
465  ff.  und  F.  Süsemihl  in  der  griech. deutsch. 

Ausg.  (2  Bde.,  Leipz.  1879)  Einl.  4  f.  u.  58  f.  j   jToXinxtjg  dxoodoeeog  [o>s]  5  Stofpgdatov. 

^)  Man  beachte  auch,  daß  die  Definition  l  ^)  pol.  1295  a  25  ff. 

der  doppelten  Ait  des  laov  im  fünften  Buch  |  •)  pol.  I  2 ;  damit  hängt  die  Ansicht  von 

p.  1301b  30  gegeben  und  im  sechsten  Buch  ,   der  Naturgemäßheit  des  Krieges  gegen  Bar- 
p.  1317  b  4  als  gegeben  vorausgesetzt  wird.      baren  zusammen,  worüber  I  8  p.  1256  b  27: 

^)  Andernfalls  müßten  jene  drei  Stellen  '    tfj  :io?,F./nixff  Sei  xQfjoi^i  .todg  rs  la  &tjoia  xal 
als   nachträgliche  Interpolationen   angesehen       zöjv  av&o(o7i(ov  oooi   jieqtvxoTsg   äoxeo&ai   fiif 

werden,   wofür   allerdings  einige  sprachliche  j   ^iXovoiv,   wg   <pvoei    dixaiov   m'ia   tovtov   tov 

Indizien  angeführt  werden  können.  j   jzole^oy.     Sein    nationalhellenischer    Chauvi- 

')  H.  Henkel.  Stud.  z.  Gesch.  d.  griech.  -   nismus  unterscheidet  sich  nicht  von  dem  des 


Lehre  vom  Staat,  19  ff. 

*)  W.  Christ  vermutet,  daß  Arist.  nur 
mehrere,  ursprünglich  für  sich  bestehende 
Traktate,  wie  neni  oixovouiag  (Buch  I),  :ieoI 
äoioToxqatiag  (VII  4 — VIII),    :T€.Qi  tcjv  vJiaQ- 


Euripides:  die  Hellenen  sind  ihm  unbedingt 
und  überall  ein  adeliges  Geschlecht  (pol. 
1255  a  33  ff.).  Dieser  Auffassung,  über  die 
schon  Piaton  (polit.  262 de)  spöttelt,  sind  im 
Sinn  des  Alexanderreichs  die  Kyniker,  Stoi- 


698 


Ghiechisohe  Litieratorgeschichte.    I.  Klassische  Periode. 


überhaupt  schätzt  er,  nicht  ohne  Widerspruch  mit  seiner  eigenen  Defi- 
nition der  Tugend  als  einer  iveoyeia,  gering,  weil  sie  ihm  den  Körper 
und  die  Seele  des  Freien  zu  beeinträchtigen  scheint;^)  um  dem  Übel  der 
Übervölkerung  vorzubeugen,  hat  er,  ein  Sohn  seiner  Zeit,  Worte  der  Ent- 
schuldigung für  die  Aussetzung  der  Kinder,^)  Abtreibung  der  Leibesfrucht 
und  die  Unnatur  der  kretischen  Knabenliebe.  ^)  Auf  der  anderen  Seite  ver- 
sagt er  darin,  daß  er  nach  Piatons  Vorgang  dem  Guten  {äya&og)  eine  un- 
umschränkte Gewalt  zuweist,  dem  naturgemäßen  Recht  der  einzelnen  Bürger, 
an  der  Ordnung  des  Gemeinwesens  teilzunehmen,  die  Anerkennung/)  Sein 
ganzer  Staat  dient  schließlich  trotz  aller  Kautelen  dem  Zweck,  der  Mino- 
rität der  »Tüchtigen**  die  Möglichkeit  zum  'ßecogeiv,  xcdcög  oxokdCeiv,  zur 
Betätigung  ihrer  äoexi^  zu  bieten.  Hier  wirkt  Piatons  Gedanke  von  der 
Philosophenhierarchie  nach;  im  übrigen  bekämpft  Aristoteles  den  platoni- 
schen Staat,  und  zwar  nicht  bloß  in  Einzelheiten,  wie  der  Kommunismus, 
die  Gleichstellung  der  Geschlechter,  die  kastenartige  Berufsteilung  sind, 
sondern  auch  die  Grundlage,  auf  die  Piaton  seinen  Staat  gebaut  hat  und 
die  in  den  Monarchien  der  Hellenistenzeit  prinzipiell  anerkannt  worden  ist,^) 
die  dixaioovvrj  wird  von  ihm  bemängelt.®)  Übrigens  erkennt  Aristoteles 
gelegentlich  doch  auch  der  Volksmenge  eine  gewisse  Bedeutung  für  den 
Staat  zu.^)  —  Für  die  Abfassungszeit  des  Werkes  gibt  der  Umstand  einen 
Wink,  daß  die  Ermordung  des  Königs  Philippos  (336)  erwähnt  ist  (p.  1311b  1), 
die  Einnahme  Babylons  aber  durch  Alexandres  und  die  Invasion  Kretas 
durch  Agis  H  (332)  nicht  in  Betracht  gezogen  sind  (p.  1276a  28  und  1272a 
22).®)  —  Das  ganze  Werk  trägt  einen  retrospektiven  Charakter  und  hat 


ker  und  Eratosthenes  (Strab.  p.  66)  eDtgegen- 
getreten. 

*)  Vgl.  die  oben  schon  angeführte  Stelle 
p.  1337  b  6  und  p.  1255  b  35  oooig  e^ovala  fiij 
avTOvg  y.axona&EiVy  ijtiigojiog  lafißdvet  xrjv 
XgrjaTixrjv  ri^rjv,  avxol  6s  jioXnevmtat  rj  quo- 
(jocpovai. 

^)  pol.  1335  b  19;  s.  J.  Bernays.  Ges. 
Abh.  I  248,  1. 

3)  Vgl.  p.  1335b  28  f.;  1265a  38  ff.  und 
1272  a  24;  leider  fehlt  die  an  letzter  Stelle 
versprochene  Ausführung.  Besser  wahrt  dieser 
Unsitte  gegenüber  die  Forderung  höherer 
Moral  Piaton  leg.  VII  [  p.  840  d  ff. 

*)  polit.  1288  a  29:  keinsiai  /növov  t6  jtsi- 
&eo&ai  Zip  ToiovTco  xai  xvoiov  etrui  /urf  ;<ara 
fteoog,  (Ux*  djiXwg.  Nach  dieser  Stelle  wäre 
die  absolute  Monarchie  Louis  XIV.  die  beste 
Staatsverfassung  gewesen;  denn  auch  dieser 
hatte  gesagt:  nous  devons  consid^rer  le  hien 
de  nos  aujets  plus  que  le  notre  propre  und 
c'est  la  volonte  de  Dien,  que  quicongue  est 
ne  sujet  obMsse  sans  discernement.  £inmal 
jedoch,  polit.  III  10,  erkennt  Aristoteles  das 
Unwürdige  an,  das  in  dem  Ausschluß  der 
Bürger  von  der  Staatsverwaltung  liegt.  — 
Das  ganze  System  des  Aristoteles  unterzieht 
einer  herben  Kritik  J.  Sciivarcz,  Kritik  der 
Staatsfonnen  des  Aristoteles,  mit  einem  An- 
hange  enthaltend    die  Anfänge   einer  politi- 


schen Litteratur  bei  den  Griechen,  2.  Aufl., 
Leipz.  1901. 

*)  epist.  Aristeae  267  Wendl. 

«)  Einer  Idee  Piatons  (leg.  628  c  f.)  fol- 
gend  erklärt  er  (eth.  N.  1155  a  22  ff.)  die 
(fiUa  und  ofiovoia  im  Staat  für  wichtiger  als 
die  öixaioovvi];  anderwärts  (pol.  1282  b  16) 
biegt  er  sie  ins  Relativistische  um  (ßixatoy 
=■  10  xoivfj  ovfKfioov). 

^)  Mehrfach  tritt  die  eigentümliche  Mei- 
nung hervor,  daß  infolge  einer  Summiening 
der  Ansichten  und  Intelligenzen  auch  die 
Masse  in  politischen  oder  ästhetischen  Fragen 
das  Richtige  treffen  könne  (pol.  1281a  4  ff. 
b34;  1282a  16;  1286b 28;  1287b 26 ff.).  Ana- 
log ist  die  Bewertung  der  in  denVolkssprich- 
wörtem  verborgenen  Weisheit  bei  Aristot. 
fr.  2  p.  1474b  5. 

^)  Der  Kranzprozeß  des  Demosthenes  und 
Aischines  hatte  ebenfalls  noch  nicht  statt- 
gefunden, da  es  nach  ihm  nicht  heißen  konnte 
p.  1299  a  29:  ov  yoQ  jtco  xgiotg  yeyovev  dfifpto- 
ßrjzoviTon'  negi  tov  ovofiaTog  sc.  olqx^Q  xai 
ejTtuFÄFiag.  Auffällig  bleibt,  daß  die  Spezial- 
schrift  vom  Staat  der  Athener  auf  spätere 
Zeit  hinweist,  wiewohl  man  glauben  möchte, 
daß  die  Sammlung  der  Staatsverfassungen 
der  theoretischen  Verarbeitung  vorausge- 
gangen dci. 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  361.)  699 

eben  darum,  als  letzte  Frucht  der  auf  dem  Boden  der  altgriechischen  jiöXtg 
gewachsenen  Staatslehre  für  uns  großes  geschichtliches  Interesse;  durch- 
weg schweben  dem  Verfasser,  namentlich  in  dem  Kapitel  von  der  Größe 
des  besten  Staates  (YII  4  u.  5),  die  Verhältnisse  der  kleinen  Stadtgemeinden 
vor  Augen.  1)  Den  Begriff  des  Reiches  oder  des  nationalen  Bundesstaates 
hat  er  überhaupt  nicht  erfaßt,  und  es  ist  ein  merkwürdiges  Schauspiel, 
den  Lehrer  Alexanders  des  Großen  in  dem  Moment,  als  dieser  sein  inter- 
nationales Weltreich  gründete,  mit  einem  Werk  hervortreten  zu  sehen,  in 
dem  alle  Befangenheiten  der  altgriechischen  jiokig  ihre  philosophische  Recht- 
fertigung erhalten.  Der  makedonisch  gesinnte  Philosoph  steht  hier  zu- 
sammen mit  dem  Makedonierfeind  Demosthenes  und  hat  ein  Buch  ge- 
schaffen, das,  von  der  praktischen  Seite  her  beurteilt,  bei  seinem  Erscheinen 
schon  veraltet  war. 

361.  Von  Staatslehre*)  hatte  Aristoteles  schon  früher  in  dem  popu- 
lären Dialog  Ilokmxög  gehandelt,  auf  den  sich  Cicero  de  fin.  V  11  und  ad 
Quint.  fratr.  III  5, 1  bezieht.  Er  hatte  aber  außerdem  in  großartigen  Sammel- 
werken, den  Ndfxifxa  ßagßagixd,^)  den  Acxatcüjuara^^)  besonders  den  IIoXiTeTai^ 
welche  die  Beschreibung  von  158  Staatsverfassungen^)  enthielten,  sich  das 
sachliche  Substrat  für  seine  theoretischen  Spekulationen  verschafft.  Die 
nohxeiai^  die  eine  reichhaltige  Fundgrube  für  die  Grammatiker  und  Histo- 
riker waren, 6)  sind  leider  für  uns  größtenteils  verloren.  Aristoteles  hat 
sie  selbst  in  den  IloXmxä^  am  ausgiebigsten  wohl  im  fünften  Buch  TieQi 
ßjLexaßokwv^  aus  dem  sich  manches  den  /ToA^TeFat-Fragmenten  hinzufügen  läßt, 
benützt.  Ein  Auszug  liegt  uns  in  den  nohtelat  des  sogenannten  Herakleides 
Pontikos  vor.^) 

In  neuerer  Zeit  ist  aus  einem  ägyptischen  Papyrus  ein  wichtiger 
Teil,  fast  die  ganze  ^A&y^valcov  noXiTeia,  die  der  Zahl  der  Zitationen 
nach  im  Altertum  am  meisten  gelesen  worden  sein  muß,  ans  Tageslicht 
gekommen;®)   es  fehlt  nur  außer  dem  Anfang  und  einzelnen  Kapiteln  der 


»)  Vgl.  p.  1327  b  29  ff.,  wo  das  griechische 
Volk  geradezu  als  das  ,Volk  der  Mitte*  er- 
scheint: i6  'EXkrjvoyv  yt-vog  MOJieo  /Mosvei  aaxa 
ToiV  Tojioi'g,    ovicos  djnqroTv  fteiexei'    9<ai   yoQ 


Staaten ;  98  Politien  weist  H.  Nissbn,  Rh.  Mus. 
47  (1892)  189  ff.  nach,  9  weitere  C.  v.  Hol- 
ziNOBB,  Philol.  52  (1893)  115. 

*)  Plutarch.  non  posse  suav.  10  p.  1093  c 


evOvfiov   xai   dtavotjrtxov  eoxiv'    dtojisg   eist)-   I   bezeichnet  die  Politeiai  des  Aristoteles  neben 


{^Boov  ze  dtaieXet  xai  ßfXxioxa  :ftoXix€v6iiitt'ov 
xai  dvvdfievov  uqxsiv  ndvxwv,  fjiäg  xvyxdvov 
noXiTfiag.  Es  ist  die  einzige  Stelle,  an  der 
der  Gedanke  eines  hellenischen  Universal- 
reiches  wenigstens  gestreift  wird. 

')  Zusammenhängend  über  Aristoteles' 
Staatslehre  E.  Szanto,  Ausgew.  Abb.,  Tübingen 
1906,  S.  302  ff. 

')  Ein  Papyrusfragment  aus  den  Nofi. 
s.  H.  DiELS,  Berl.  Ak.  Sitz.ber.  1891,  837;  be- 
nützt sind  sie  wohl  polit.  VII  2. 

*)  Von  den  hier  gesammelten  völker- 
rechtlichen Entscheidungen  soll  König  Phi- 
lippos Gebrauch  gemacht  haben  (Aristot.  fr. 
p.  1571b  23  ff.). 

')  Nach  dem  Katalog  des  Andronikos 
oder  dem  arabischen  des  Ptolemaios  von  171 


den  Geschichtswerken  des  Herodot  und  Xeno- 
phon  und  der  Erdbeschreibung  des  Eudoxos 
als  die  anziehendste  Lektüre. 

')  Nachgewiesen  von  C.  v.  Holzinoeb, 
Philol.  50  (1891)  436  ff.;  52  (1893)  58  ff. 

*)  Zuerst  kamen  zwei  Papyrusblätter, 
die  sich  jetzt  in  Berlin  befinden,  zum  Vor- 
schein; s.  H.  DiELS,  Über  die  Berliner  Frag- 
mente der  *A{h)vaUov  :!roXixfiaf  Abb.  d.  Berl. 
Ak.  1885  nr.  2;  den  aristotelischen  Ursprung 
des  Papyrusfragments  erkannte  zuerst  Th. 
Berok,  Rhein.  Mus.  36  (1881)  87  ff.;  vgl. 
U.  WiLCKEN,  Herm.  23  (1888)  464  ff.  Später 
kamen  vier  neue  Rollen  hinzu,  die  auf  der 
Kehrseite  Rechnungen  aus  der  Zeit  Ves- 
pasians  vom  J.  78.79  enthalten,  deren  Ari- 
stotelestext auf  dem  Recto  also  vor  79,  und 


700  Griechische  Litteratorgeschichte.    I.  KUssische  Periode. 

Staatsverwaltung  die  Verfassungsgeschichte  seit  dem  Ende  des  peloponne- 
sischen  Krieges.  In  klarer  und  glatter,  durch  eingelegte  Dichterzitate  be- 
lebter Darstellung  1)  gibt  das  Buch  einen  vollen  Einblick  in  die  innere 
Geschichte  Athens.  Nicht  bloß  die  Staatsformen  sind  aufs  genaueste  in 
historischer  Entwicklung  behandelt,  auch  was  mit  der  Staatsverwaltung 
zusammenhängt,  Maße,  Gewicht,  Gerichtshöfe,  Armenpflege,  ist  in  Betracht 
gezogen.  Das  Ganze  zerfallt  in  zwei  Teile,  einen  historischen  und  einen 
systematischen.  Der  erste  (c.  1 — 41)  enthält  eine  chronologische  Dar- 
stellung der  elf  Staatsverfassungen  Athens  von  der  ältesten  mythischen 
des  Ion  bis  zur  gegenwärtigen,  und  schließt  mit  einem  zusammenfassenden 
Überblick.  Der  zweite  Teil  (c.  42 — 63)  bespricht  die  Staatsorgane  der 
bestehenden  Verfassung  {iyygcLcprj  nohxwvt  ßovki^,  ägxat,  dixaaxriQia)  und 
setzt  ihren  Wirkungskreis  auseinander.  Als  Quelle  benützte  der  Verfasser 
außer  den  erhaltenen  Historikern  Herodotos,  den  er  einmal,  und  Thuky- 
dides,  den  er  nicht  nennt,  vorzüglich  Atthiden;  daneben  benützte  er  un- 
mittelbar Urkunden  verfassungsgeschichtlichen  Inhalts.  Auch  einschlägige 
Dichtungen  zog  er  heran,  und  wir  verdanken  so  dem  neuentdeckten  Buch 
eine  Reihe  schöner  Verse  des  Selon.  Vielfach  hat  die  neue  Schrift  unsere 
Kenntnis  der  attischen  Verhältnisse  bereichert  und  berichtigt;*)  aber  auch 
Irrtümer  und  Widersprüche  mit  Angaben  der  Politika,*)  wie  namentlich 
bezüglich  der  Regierungszeit  der  Peisistratiden,*)  sind  dem  Verfasser  unter- 
gelaufen, so  daß  einige  Kritiker  sogar  den  aristotelischen  Ursprung  der 
Schrift  angezweifelt  haben.*)  Die  richtige  Ansicht  ist  sogleich  von  B.  Niese 
ausgesprochen  worden r^)  die  Schrift  ist  von  Aristoteles,  sie  zeigt  aber 
Aristoteles  den  Historiker  in  keinem  günstigen  Licht.  So  glatt  sich  alles 
liest,  so  wenig  solid  sind  oft  die  wissenschaftlichen  Grundlagen.  Wo  wir 
die  Möglichkeit  der  Vergleichung  mit  Herodotos  und  Thukydides  haben, 
wie  in  den  Partien  über  die  Peisistratosherrschaft,  über  die  Chronologie 
des  Themistokles,  über  die  Umwälzung  des  Jahres  411,"^)  da  läßt  die  Dar- 


zwar  (wie  das  Opisthograph  und  der  Schrift-  i  E.Szanto,  Ausgew.  Abh.  331  ff.,  wo  die  Gleich- 
charakter zeigen)  für  Privatgebrauch,  nicht  zu  ,  heiten  der  politischen  Anschauung  in  beiden 
buchhftndlerischem  Vertrieb  geschrieben  sein  Schriften  herausgestellt  werden, 
muß.  Diese  befinden  sich  in  London  und  sind  ^)  Auch  in  dem  Bericht  über  die  solo- 
zuerst  herausgegeben  worden  von  F.  G.  Kenyon  ;  nische  Münz-  und  Gewichtsreform  c.  10  kommt 
London  1891;  manches  besser  gelesen  von  F.  j  man  ohne  die  Annahme  bedenklicher  Miß- 
Blass  in  der  2. — 4.  Textausg.  BT;  nochmals  |  Verständnisse  des  Aristoteles  nicht  aus  (W. 
revidiert  von  F.  G.  Kenyon  in  Aristot.  suppl.  Christ  in  Heptas  antiquarisch-philologischer 
III2,  Beri.  1903.  WiLAMo WITZ,  Aristoteles  und  ;  Miszellen,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  1900  S.  118 
Athen,    Beriin  1893,    2  Bde.     Quellenunter-  ;  bis  132). 


suchung  von  B.  Bubsy,  De  Aristotelis  :ioXi- 
Tflag  'Aßrjvaiojv  partis  alterius  fönte  et  aucto- 
ritate,  Diss.  Jurjew  1897.  Eine  Übersetzung 
ins  Deutsche  lieferten  G.  Kaibel  und  A.  Kiess- 
LiNG,  Straßb.  1891. 

^)  G.  Kaibel,  Stil  und  Text  der  aristo- 


*)  Bedenken  gegen  die  Echtheit  erhoben 
F.  Cauer,  Hat  Aristoteles  die  Schrift  vom 
Staat  der  Athener  geschrieben?,  Stuttgart 
1891  (dazu  Verhdl.  d.41.  Philol.vers.  München 
1891  S.  221—7);  F.  Rühl,  Über  die  von  Mr. 
Kenyon  veröffentlichte  Schrift  vom  Staat  der 


telischen:-l.7..To;..,  Berl.  1893,  ist  allzu  subtil  Athener,  Rh.  Mus.  46  (1891)  426  ff.;   ders., 

und  überschwenglich  (s.  dagegen  V.  v.Schöf-  :   Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl.  18  (1892)  475  ff.  Da- 

PER,  Berl.  phil.  W.schr.  15.  1895,  100  f.).  '  gegen  E.  Szanto,  Ausgew.  Abh.  323  ff. 

*)  Ad.  Bauer,  Litterarische  und  histori-  ^)  Sybels  Histor.Zeitschr.,  N.  F.  33(1892) 

sehe   Forschimgen    zu    Aristoteles  'Ad?p'aio>v  38  ff. 

jtoÄtTsia,  München  1891.  j           ')  Chr.  A.  Volquardsen,  Verb,  der  48. 

«)  Über  das  Verhältnis  zu  den  IloXtuxd  \  Philol.vers.,  Hamburg  1905,  123  ff. 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  362.) 


701 


Stellung  des  Aristoteles,  auch  wenn  er  (wie  für  die  Vorgänge  von  411) 
gute  urkundliche  Quellen  hat,  an  Zuverlässigkeit  zu  wünschen  übrig,  und 
in  der  Hervorhebung  von  Drakons  gesetzgeberischen  Verdiensten  auf  Kosten 
des  Solon  ist  er  ohne  genügende  Kritik  einem  parteiischen  Gewährsmann  i) 
gefolgt.  Auch  die  Sauberkeit,  mit  der  die  attische  Verfassungsgeschichte 
im  ersten  Teil  dargelegt  ist,  beruht  keineswegs  auf  wahrhaft  historischer 
Forschung.  Was  man  in  steigendem  Maß  bei  der  späteren  peripatetischen 
Geschichtsschreibung  findet,  daß  mit  dem  Fleiß  der  Stoffsammlung  die 
Kritik  gegenüber  dem  Ersammelten,  und  mit  der  Geschicklichkeit  und 
Genießbarkeit  der  Darstellung  die  Sorgfalt  der  wissenschaftlichen  Durch- 
arbeitung nicht  gleichen  Schritt  hält,  davon  erscheinen  Anzeichen  schon 
in  dieser  Schrift  des  Schulhauptes  selbst.  Das  ungünstige  Urteil  über  die 
attische  Demokratie  in  der  Schrift  entspricht  ganz  der  Abneigung  gegen 
die  radikale  und  industrielle  Demokratie,  die  in  den  Politika  (VI  4)  zutage 
tritt.  Abgefaßt  ist  das  Buch  nach  328,  da  es  c.  46  die  erst  damals  ein- 
geführten Tetreren  voraussetzt  und  c.  54,  7  das  Archontat  des  Kephisophon 
(329/8)  erwähnt,  anderseits  vor  322,  da  es  die  durch  die  makedonische 
Okkupation  herbeigeführte  Verfassungsänderung  nicht  kennt.  ^) 

362.  Die  Olxovoßxtxd  in  zwei  Büchern  (p.  1343 — 1353)  sind  unecht. 
Aristoteles  hatte  ein  Werk  ähnlichen  Inhalts  {jiegi  xzrjoecüg  polit.  1326  b  33  f.) 
wohl  geplant,  aber  schwerlich  ausgeführt.  Das  erste  Buch  handelt  von 
Begriff  und  Wesen  der  Hauswirtschaft  und  gibt  einzelne  Regeln.  Ein 
Stück  davon  (p.  1344b  26  ff.)  wird  von  Philodemos  tieqI  olxovojuiag  (p.  3  ff., 
27  ff.  Jensen)  zitiert.  Das  zweite  und  wichtigere  Buch  enthält  eine  Reihe 
yon  Beispielen,  wie  sich  Staaten  und  Private  aus  Geldverlegenheiten  halfen, 
und  rührt  sicher  nicht  von  Aristoteles  selbst,  sondern  von  einem  jüngeren 
Glied  der  peripatetischen  Schule  her,  da  unter  den  Beispielen  sich  mehrere 
aus  späterer  Zeit  finden.»)  Aber  auch  das  erste  Buch,  von  dem  im  grie- 
chischen Original  nur  Bruchstücke  existieren,  wird  von  Philodemos  negl 
xaxicüv  xal  Agerayv  col.  7  als  Werk  des  Theophrastos  zitiert;  es  zeigt  stoische 
Färbung  und  ist  nach  F.  Susemihl,  dem  neuesten  (1887)  Herausgeber  der 
Ökonomik,  um  250 — 200  v.  Chr.  entstanden.  Ein  drittes  Buch,  das  den 
Spezialtitel  vdfiot  ävdgog  xal  yafietr\g  hatte,  ist  nur  in  lateinischen  Über- 
setzungen erhalten.*)  Die  echte  Lehre  des  Aristoteles  über  das  Hauswesen 
enthält  das  erste  Buch  der  Politik. 


*)  WiLAMOwiTZ,  der  Aristot.  u.  Athen  I 
die  Arbeitsweise  des  Ar.  und  seine  Quellen 
genau  prüft,  denkt  an  eine  Parteischrift  des 
Theramenes.  Als  Quelle  für  den  zweiten, 
systematischen  Teil,  nimmt  er  neben  der 
Atthis  eine  für  den  Gebrauch  von  Beamten 
und  Advokaten  bestimmte  Sammlung  von 
Gesetzen  und  Verordnungen  an.  Einiges  die 
Zustände  zu  seiner  Zeit  Betreffende  hat  Ar. 
selbst  hinzugefügt  Siehe  übrigens  die  Ein- 
wendungen gegen  Wilamowitz  von  A.  Bauer, 
Die  Forschungen  über  griech.  Gesch.  1888 
bis  1898  S.  278  ff. 

*)  F.  Caüer  a.  0.  5  ff.  u.  Nachtrag  S.  76  f. ; 
Wilamowitz,  Aristot.  und  Athen  I  211.    Da- 


gegen P.  FoüCAKT,  Revue  de  philol.  19  (1895) 
27—31,  der,  weil  c.  54,  7  die  seit  332  ein- 
geführten Amphiaraia  außer  Betracht  gelassen 
oder  erst  nachträglich  berücksichtigt  sind, 
für  334—2  plädiert  (s.  aber  A.  Wilhelm, 
Wiener  Ak.  Anz.  1895  nr.  9). 

•)  Der  Grundstock  der  Beispielsammlung 
schließt  allerdings  schon  mit  den  Satrapen 
des  Alexandros  ab  und  kann  also  von  einem 
Zeitgenossen  Alexanders  stammen  (ü.  Wil- 
CKEN,  Herm.  36.  1901,  187  ff.).  Siehe  a.  P. 
Schneider,  Das  zweite  Buch  der  aristotel. 
ökonomika,  Diss.  Würzburg  1908. 

^)  L.  Spenoel,  Arist.  Stud.  Ill  (München 
1868)  65  ff.    Auch  K.  W.  Göttlino  in  seiner 


702  GhriechiBche  LitteratorgeBchichte.    I.  Klassische  Periode. 

363.  Die  Schriften  über  Poetik  und  Rhetorik  sind  wahrschein- 
lich nebeneinander  geschrieben  worden.  0  Rhetorik  und  Poetik  spielten  seit 
Piaton  eine  große  Rolle  in  den  Untersuchungen  der  Philosophen;  die 
Rhetorik,  weil  sie  an  die  Philosophie  angrenzte  und  mit  ihr  um  das  Recht 
auf  Erziehung  der  Jugend  kämpfte,  die  Poetik,  weil  die  Poesie  als  ein  längst 
anerkannter  Faktor  der  nationalen  Erziehung  ebenso  wie  die  Musik  die  Auf- 
merksamkeit des  Gesetzgebers  und  Staatsmanns  in  Anspruch  nahm. 2)  Die 
Stellung  des  Piaton  und  Aristoteles  zu  den  Grundsätzen  und  Leistungen  dieser 
Künste,  wie  sie  im  damaligen  Griechenland  allgemein  anerkannt  waren,  ist 
eine  grundverschiedene:  jener  ist  ein  unerbittlicher  Kritiker  der  griechi- 
schen Nationalkunst  vom  höchsten  sittlich  politischen  Standpunkt  aus, 
dieser  ihr,  aber  stark  von  des  Gedankens  Blässe  angekränkelter,  Apologet. 

Von  den  zwei  Büchern  der  Poetik  ist  nur  das  erste  erhalten.. 
Dieses  handelt  von  der  Tragödie  und  dem  Epos,  zwei  Gattungen,  die  als 
nur  stilistisch  verschiedenartige  Formen^)  der  ernsthaften  Darstellung  der 
Heldensage  für  Aristoteles  (wie  für  Piaton)  eng  zusammengehören  und  den 
Gegensatz  zu  dichterischen  Darstellungen  des  Alltagslebens  (ßiog)  bilden; 
das  zweite  Buch  war  der  Komödie  gewidmet.*)  Die  Lyrik,  die  „Mutter 
aller  Poesie",*)  bleibt,  abgesehen  von  dem  halbepibchen  Dithyrambus,  bei 
Aristoteles  bezeichnenderweise  völlig  unberücksichtigt.  Das  kleine  Büch- 
lein, das  nur  durch  Zufall  als  Anhang  einer  Sammlung  rhetorischer  Schriften 
im  Cod.  Paris.  1741«)  erhalten  ist,  hat  in  der  neueren  Litteratur  mehr 
Beachtung  gefunden  als  irgend  eine  der  philosophischen  Schriften  des 
Aristoteles.  Es  verdiente  eine  solche  Wertschätzung,  da  Aristoteles  hier 
mit  bewunderungswürdigem  Scharfsinn  und  gestützt  auf  ausgedehnt? 
Kenntnis  der  poetischen  Litteratur  Grundsätze  der  poetischen  Technik 
hingestellt  hat,  welche  die  dichterische  Produktion  des  Abendlandes  bis  in 

Ausg.  (Jena  1830)  verwirft  die  Echtheit  des   '   G.  Kaibels  Com.  gr.  fragm.  I  p.  50—53)  nacL 
Baches.  —  Mit  Erklärung  der  OUw.  befaßt   1   Vgl.  dazu  J.  Kaybbr,  De  vetenim  arte  po6t., 


sich  K.  RiEZLER,  Über  Finanzen  und  Monopole  |  Diss.  Leipzig  1906  p.  31  ff.     Zur  Herstellung 

im  alten  Griechenland,  Münchener  gekr.  Preis-  j  ist   der   arabische  Kommentar   des  Averroes 

Schrift,  Berlin  1907.  I  von  geringer  Bedeutung  (F.  Heidenhain,  N. 

0  G.  FiNSLBR,  Piaton  und  die  aristotel.  '  Jahrbb.  f.  cl.  Phil.  Suppl.  17,  1890,  353  ff.  ver- 
Poetik 9.  I  öffentlicht  die  lat.  Übersetzung  der  Averroes- 

*)  Nach  polit.  VIII  7  p.  1341b  39  scheint  I  paraphrase  zm*  Poetik  von  dem  spanischen 
geradezu  die  Poetik  zu  dem  von  der  Er-  ,  Juden  Jakob  Mantinus  nach  dem  Juntina- 
ziehung der  künftigen  Bürger  handelnden  '  druck,  Venedig  1562;  0.  Immisch,  Philol.  65, 
Teil    der    Politik    gehört    zu    haben;    vgl.  1906,  20  ff.).   J.Tkaö,  Wiener  Stud.  24  (1902) 


p.  1336  b  25  und  G.  Finsler  a.  a.  0.  8. 

')  Wie  geringe  klassifikatorische  Bedeu- 
tung Ar.  den    Darstellungsformen   als   sol- 


70  ff.  Die  Exegese  der  Schrift  ist  am  meisten 
gefördeit  worden  durch  die  Abhandlungen 
von  J.V AHLEN,  Beiträge  zu  Aristot.  Poetik  in 


eben  beimißt,  ist  aus  poöt.  1447  b  10  ff.  er-  '  den  Sitz.ber.  der  Wiener  Ak.  Bd.  50.  52.  56 
sichtlich,  wo  die  Bindung  des  Begriffs  Poesie  j  (1865 — 67);  außerdem  s.  G.  Teichmülleb, 
an  die  Versform  abgelehnt  wird.  ,  Aristot.  Forschungen  I.  II  (aristot.  Philos.  der 
*)  Auf  diesen  Teil  {jifqi  yF/.oio)r)  wird  1  Kunst),  Halle  1867. 69;  A.Döring.  Die  Kunst- 
in Aristot.  Rhetorik  1372a  1.  1419b  5  hin-  |  lehre  des  Aristot,  Jena  1796;  S.  H.  Butchbb, 
gewiesen.  J.  Behnays,  Zwei  Abhandlungen  .  Aristotle's  Poötic  translated  with  Essays,  Lond. 
über  die  arist.  Theorie  des  Drama,  Bcrl.  1880.  |  1896;  Ar.  Poöt.  übersetzt  und  eingeleitet  von 
Im  Katalog  des  Hesychios  finden  sich  noch  I  Th.Gomperz.  Leipz.1897.  Siehe  a.o.S.  249, 1. 
zwei  Bücher  aufgeführt:  tf/v?}^  nou]Tty.rjc;  fi\  ^)  L.  Uhland  bei  G.  Schmidt,  Uhlands 
ebenso  in  der  einen  Fassung  des  Ptolemaios-  1  Poetik,  Diss.  Tübingen  1906,  66. 
katalogs.  Reste  des  zweiten  Buches  über  die  *')  Ein  photolithographisches  Faksimile 
Komödie  weist  Bemays  aus  dem  Anonymus  der  Handschrift  ist  von  H.  Omont,  Paris 
de  comoedia    (sog.  Tractatus  Coislinianus  in  I  1891,  herausgegeben. 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  363.)  703 

das  vorige  Jahrhundert  herein  beherrscht  haben  und  einem  Lessing  geradezu 
als  unfehlbar  erschienen  sind.  Man  denke  nur  an  die  berühmte  Definition 
der  Tragödie  im  sechsten  Kapitel,*)  an  das  nicht  minder  wichtige  zwölfte 
Kapitel  über  die  Teile  der  Tragödie,  an  die  Lehre  von  der  Einheit  der 
Handlung  und  von  der  weisen  Stoffbeschränkung  in  den  homerischen  Epen 
(c.  23),  an  die  Unterscheidung  des  Wesens  der  tragischen  und  der  epischen 
Poesie  (c.  26).  Das  Buch  ist  trotz  der  Fülle  gelegentlicher  Bemerkungen 
streng  systematisch  angelegt.  Der  Verfasser  bespricht  zuerst  im  Eingang 
die  charakteristischen  Merkmale  der  drei  Arten  der  Poesie,  der  Epopoiie, 
des  Dramas  (Tragödie  und  Komödie)  und  des  Dithyrambos,  und  knüpft 
daran  eine  kurze  Darstellung  des  Ursprungs  und  der  allmählichen  Ent- 
wicklung der  Poesie,  insbesondere  des  Dramas  und  seiner  Arten.  Im  ersten 
Hauptteil  (c.  6 — 22)  behandelt  er  die  Tragödie,  und  zwar  nach  ihren  sechs 
Teilen:  Handlung  (juv&og  6 — 14),  Charakter  der  Handelnden  {jj^ärj  15 — 19), 
Gedankeninhalt  {dtdvoia  19),  sprachlichem  Ausdruck  {Xi^ig  19 — 22),  Gesang 
{jxeXojioua\  szenischer  Darstellung  (pipig).  Von  diesen  sechs  Teilen  tut  er 
die  szenische  Darstellung  mit  ein  paar  Worten  ab,  weil  diese  Sache  des 
Regisseurs  sei,  ebenso  das  MusikaUsche  (1450  b  16);  die  didvoia  verweist 
er  (1456a  34)  in  die  Rhetorik;  am  längsten  verweilt  er  bei  der  Handlung 
und  ihren  Angelpunkten,  der  Peripetie  und  der  Wiedererkennung  (drayvco- 
gmg).  Der  zweite,  kürzere  Abschnitt  (c.  23 — 26)  handelt  vom  Epos;  der 
Philosoph  legt  hier  nicht  bloß  das  Verhältnis  des  Epos  zum  Drama  scharf 
und  einsichtig  dar,  sondern  wirft  auch  die  schon  von  Piaton  in  den 
Gesetzen  (658  b  ff.)  berührte  Frage  auf,  welche  von  diesen  beiden  Dich- 
tungsarten die  höhere  sei.  Dabei  äußert  er  auch  die  merkwürdige,  un- 
griechische Ansicht,  für  die  sich  bei  Goethe  Analogien  finden,  daß  ein 
Drama  ohne  Aufführung,  beim  bloßen  Lesen,  zu  reinerer  künstlerischer 
Wirkung  komme.*)  Trotz  der  guten  Anlage  enthält  das  Buch  einige  nicht 
streng  in  den  gezeichneten  Rahmen  passende  Kapitel  und  viele  nicht  an 
passender  Stelle  eingelegte  Zusätze,  so  daß  F.  Ritter  in  seiner  Ausgabe 
sogar  die  Echtheit  zu  verdächtigen  suchte  und  viele  Gelehrte  in  die  Ver- 
werfung ganzer  Kapitel,  wie  auch  des  eben  gerühmten  zwölften,  ein- 
stimmten.*) Abgefaßt  ist  die  Poetik  nach  der  Politik,  da  in  dieser 
p.  1341b  40  der  Philosoph  von  der  Katharsis  später  in  der  Poetik  genauer 
zu  handeln  verspricht,  und  zwischen  Rhetorik  L  H.  einerseits,  UL  anderer- 
seits.*) Das  Gedankenmaterial,  mit  dem  Aristoteles  in  der  Poetik  arbeitet, 
ist  bis  ins  einzelne  aus  Piaton  übernommen,  aber  zur  Bekämpfung  und 
Modifikation  platonischer  Lehren  verwendet.*)  Platonisch  ist  die  Einteilung 
der  Poesie  in  ernsthafte  und  leichte  (s.  o.  S.  3),  platonisch  die  Auffassung 
der  Kunst  als  einer  Nachahmung,  die  Zusammennähme  von  Tragödie  und 


*)  Siehe  oben  S.  247,  8.  1  wenn  mangelnder  Zusammenhang  zur  Athe- 

*)  Siehe  darüber  E.  Szanto,  Ausgew.  Abb.  j  tese  berechtigte. 

343  flf.;  G.  FiNSLER  a.  a.  0.  210  ff.  l           *)   G.  Ammon,    B1.  f.  bayr.    Gymn.  36 

')  Zu  dieser  Hyperkritik  ließen  sich  viele  (1900)  20  ff. 

hinreißen,   weil  ihre  Aristotelesstudien  nicht  ,           *)  Chr.  Bbloer,  De  Aristotele  etiam  in 

über  dieses   einzige  Büchlein  hinausgingen;  arte  poßtica  Piatonis  discipulo,  Berl.  1872 ;  am 

wer  in  Aristoteles  besser  bewandert  ist,  weiß,  besten  G.  Finsler.  Piaton  und  die  aristotel. 

wie  wenig  von  seinen  Werken  übrig  bliebe,  Poetik,  Leipz.  1900. 


704  Griechische  Litteratorgeschichte.    L  KUssische  Periode. 

Epos,  die  Abneigung  gegen  die  persönliche  Satire  und  die  Zote  in  lambo- 
graphie  und  altattischer  Komödie J)  Wenn  nun  aber  Piaton  in  aller 
jui/utjoig  etwas  Minderwertiges,  ja  sittlich  Bedenkliches  findet,  so  erklärt 
Aristoteles  die  /ui/urjotg  für  naturgemäß  (1448b  5  f.),  also  berechtigt,  ja  not- 
wendig. Wenn  Piaton  die  Inspiration  mit  dem  Wesen  aller  Poesie  für 
untrennbar  verbunden  hält,  aber  eben  darum,  weil  sie  dieses  irrationale 
Element  in  sich  trägt,  der  Poesie  den  Einfluß  auf  die  Erziehung  verwehrt, 
so  bricht  Aristoteles  diesem  Angriff  die  Spitze  ab,  indem  er  die  Inspiration 
einfach  aus  dem  Begriff  der  Poesie  wegnimmt,^)  d.  h.  diese  entseelt  und 
zu  einer  bloßen  Technik  herabsetzt.  Die  moralisch-religiösen  Vorwürfe 
gegen  Homer  weist  er  zurück  (1460  b  37)  mit  dem  Satz,  der  eine  histo- 
rische Auffassung  in  diesem  Stück  anbahnt,  daß  Homer  nur  die  Vorstel- 
lungen seiner  Zeit  über  die  Götter  wiedergebe.  Homer  hört  bei  dieser 
Auffassung  zwar  auf,  der  Kanon  der  Religion  und  Sittlichkeit  zu  sein,  für 
den  die  Allegoriker  ihn  erklärten,  wird  aber  um  so  mehr  von  Aristoteles 
ästhetisch  in  eine  übermenschliche  Höhe  hinaufgehoben  und  damit  als 
wichtigster  Faktor  der  griechischen  Jugenderziehung  erhalten.  Neben  ihn 
tritt  die  Tragödie,  die,  je  augenfälliger  sie  Zustände  sittlicher  Schwäche, 
jiddtj^  vorführt,  desto  bedenklicher  vom  sittlichen  Standpunkt  aus  erscheinen 
mußte.  In  der  Verurteilung  der  jid^  sind  alle  philosophischen  Richtungen 
einig,  und  so  war  die  Apologie  der  Tragödie  für  Aristoteles  besonders 
schwierig.  Sie  ist  auch  verwickelt  genug  ausgefallen.  Von  allen  Affekten, 
die  durch  die  Tragödie  erregt  werden,  läßt  Aristoteles  ziemlich  will- 
kürlich nur  zwei,  Furcht  und  Mitleid,*)  übrig;  durch  sie  soll  der  Zuschauer 
erschüttert  und  durch  solche  Erschütterung  (hier  greift  Aristoteles  wieder 
einen  platonischen^)  Gedanken  zur  Stütze  für  seine  Meinung  auf)  eine 
Heilung  (xdi^agoig)  seelischer  Affektionen^)  überhaupt  (töjv  toiovtwv  Tiadj]- 
jüLdrcov)  herbeigeführt  werden.  So  ist  auch  die  Tragödie  für  den  staats- 
pädagogischen Zweck  gerettet.  Die  Beweisführung  macht  der  Dialektik 
des  Aristoteles  und  seiner  apologetischen  Findigkeit  alle  Ehre,  aber  davon, 
daß  ein  Grieche  des  5.  Jahrhunderts  in  diesem  Sinn  die  klassischen  Tra- 
gödien hätte  auf  sich  wirken  lassen,  kann  ernstlich  nicht  die  Rede  sein: 
ist  doch  in  den  aristotelischen  Darlegungen  von  dem  religiösen  Charakter 
und  Zweck  der  Tragödie  kaum  mehr  eine  Spur  übrig  geblieben.  Aber 
ein  Verdienst  bleibt  es,  daß  Aristoteles  mit  seiner  Advokatenkunst  einem 
rationalistisch  ernüchterten  und  entgötterten  Zeitalter  den  unvergänglichen 

M  Plat.  leg.  829cd;  93obd  flf. ;  vgl.  Arist.   1   Aristot,  Osnabrück  1906,  gibt  eine  brauchbare 
eth.  Nie.  1128a  20  fF.  |  Übersicht  über  die  die  xd^gatg  betreffenden 


*)  Die  Alternative  svtpvtjg  und  fiavixog 
ist  poöt.  1455  a  32  gestellt  (vermutlich  nach 
Plat.  ap.  22  c) ;  in  der  Definition  der  Kunst 
aber  fehlt  die  Inspiration  (rex^'V  ist  f^/c  fteTo, 


Theorien,   bezeichnet  aber  sonst  gegenüber 
von  Finsler  einen  Rückschritt. 

*)   Diese   Kurwirkung   schreibt   Aristot. 
unter  allen  Dichtungsarten  nur  der  Tragödie 


löyov,  ah)Oovg  jzoit^Ttxi/)  eth.  Nie.  1140  a  1  flf.  ,    zu,    während   ihm    sonst   als  Wirkung   und 

^)  Auct.  .T.  vt/fovg  8,  2  rechnet  ohne  alle  |   Zweck  der  Kunst  entweder  Öiayoyyt}   für  die 

Einschränkung   oIütoi,   /.r.-rai    und   qroßoi   zu  ,    oxold^ovTe-;   oder  uvfoiq   für  die   daxo^om'teg 

den  erniedrigenden  nddt].  (vgl.  epist.  Aristeae  284  Wendl.)  gilt,     über 

"•)  Plat.  Tim.  89a;  leg.  789  c.     Über  das  Heilwirkung  von  Furcht  und  Schrecken  bei 

Ganzes.  G.  Finsler  a.a.O.,  dem  die  richtige  I    Geisteskranken  s.  Cels.  de  medic.  p.  100,  6; 

Erkenntnis   verdankt  wird :    die  Abhandlung  |    102,  8  ff. 

von  F.  Knoke.  Der  Begriff  der  Tragödie  nach 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  364.)  705 

Wert  der  schwer  bedrohten  Schätze  altgriechischer  Nationalpoesie  plausibel 
2u  machen  verstanden  hat,  und  hoch  anzurechnen  ist  dem  lotoQixmxaxog 
unter  den  griechischen  Philosophen  das  Zugeständnis,  daß  der  ideale  und 
philosophische  Wert  der  Poesie  größer  sei  als  der  der  Geschichte  (poöt. 
1451  b  6).  Aber  er  hat  sich  genötigt  gesehen,  zu  seinem  Zweck  neue 
und,  vom  Standpunkt  der  älteren  griechischen  Dichterbeurteilung  aus  be- 
zeichnet, schiefe  Maßstäbe  einzuführen.  Die  Poetik  .ist  also  nicht  in  dem 
Sinn  ein  „Gesetzbuch  der  Dichtkunst",  daß  es  die  alte  nationalgriechische 
Bewertung  dieser  Kunst  kodifiziert  hätte,  noch  weniger  in  dem,  daß  es 
absolute  Geltung  für  alle  Zeiten  und  Verhältnisse  beanspruchen  könnte.^) 
Ähnlich  wie  die  Politik  hat  dieses  Buch  retrospektiven  Charakter  und 
stellt  durch  Sanktionierung  des  theokritischen  Wortes  „rfc  öi  xev  äXkov 
dxovot;  äitg  TiävTeooiv  '"Ojuijgog''  die  ganze  weitere  Entwicklung  der  grie- 
chischen Poesie  unter  den  Bann  des  Epigonentums.  Das  Versiegen  der 
poetischen  Originalität  im  4.  Jahrhundert  rechtfertigt  diesen  Standpunkt, 
und  die  Auffassung  des  Aristoteles,  daß  Poesie  ohne  Inspiration  mit  bloßer 
Technik  gechalfen  werden  könne,  wird  im  allgemeinen  durch  die  dichterische 
Tätigkeit  der  Alexandriner,  die  aber  freilich  auch  keine  Nationalpoesie 
mehr  gemacht  haben,  bestätigt.  Von  großem  und  segensreichem  Einfluß 
war  die  Poetik  als  Grundlage  einer  historischen  Dichterexegese  und  ästhe- 
tischen Homerapologie.  Die  alexandrinischen  Exegeten  haben  hier  einfach 
das  Programm  des  Aristoteles,  wie  es  besonders  im  25.  Kapitel  der  Poetik*) 
aufgestellt  ist,  ausgeführt.  Die  charakteristischen  Erscheinungen  der  helle- 
nistischen Poesie,  das  Schwinden  der  Melik  und  der  persönlichen  Satire  in 
der  höheren  Litteratur,  die  Ausdehnung  der  mimischen  Dichtung  im  engeren 
Sinn,  die  Entwicklung  der  Tragödie  zum  Schauerstück,  in  dem  die  Erregung 
von  Furcht  die  Hauptsache  ist,  liegen  zwar  ganz  im  Sinn  der  aristoteli- 
schen Poetik,  sind  aber  nicht  sowohl  durch  ihre  Wirkung,  als  durch  den 
Zeitgeist  zustande  gekommen.  —  Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich,  daß  die 
Poetik  weder  eine  theoretische  Reflexion  über  Abgeschlossenes  (W.  Dilthey ) 
noch  ein  Lehrbuch  für  Dichter  mit  dem  Zweck,  den  Kunstzerfall  auf- 
zuhalten, 3)  sondern  eine  Apologie  für  die  griechischen  Nationaldichter  und 
eine  Anweisung  zu  ihrem  richtigen  Verständnis  sein  will. 

Die  historische  Grundlage  für  die  Theorie  der  Poetik  hatte  sich  Ari- 
stoteles durch  eingehende  litterarhistorische  Studien  erworben;  von  diesen 
war  eine  Frucht  neben  dem  Jugenddialog  über  die  Dichter  das  im  Alter- 
tum vielbenutzte  Buch  über  die  Didaskalien.*) 

364.  Die  Rhetorik  {re/v}]  {>r)Tooiy,i]y)  umfaßt  drei  Bücher.  Der  Plan 
des  Aristoteles  bezog  sich  ursprünglich  nur  auf  die  beiden  der  Dialektik^) 

^)  G.FiNSLER,  Gott.  Gel.  Anz.  1906,  998.  *)  Anonym.  (Neobarii)  et  Stephan uscomin. 

*-)  Mitchell  Cabroll,  Aristot.  poöt.  c.  25  ed.  H.  Rabe  XXI  2  (1896). 

in  the  light  of  the  Homeric  scholia,   Balti-  ^)  Gleich  im  Eingang  der  Rhetorik  heißt 

more  1895.  es:    /}  ot/Togixt}   fohv  dvn'oTooq^os    Tfj  dta/,sx- 

')  G.  Teichmülleu,  Aristotel.  Forsch.  II  rixfi.    Daher  wird  sie  J  2  mit  seltsamer  Be- 

404  fF.  422.  schränkung    auf    die    Theorie    definiert    als 

*)  Cber  Anlage  und  Geschicke  der  Didas-  dvyaui^  .Tsni  txaoxov  {homijoni  t6  hde/dftFvor 

kalien   s.  J.  Richter,    Prol.  ad.  Arist.  vesp.  '  .-nOavör. 
(s.  0.  S.  415)  p.  13—29  und  oben  S.  676,  2. 

Handbuch  der  klass.  Altertomswissenscbaft    VII.  5.  Aufl.                                                    45 


706  Griechische  Litteratorgeschichie.    I.  Klassische  Periode. 

stofflich  nächststehenden  ersten  Bücher.  Diese  behandeln  das  Wesen  de» 
rednerischen  Beweises  (iv^jüLrjjLia)  und  seiner  Hauptsätze  {rojioi:  Spezial- 
topik  für  die  einzelnen  drei  Gattungen  der  Rede  I  4 — 15;  allgemeine  Topik 
II  18 — 26;  zwischen  beide  Teile  schiebt  sich  die  Pathologie  II  1 — 11  und 
Ethologie  II  12 — 17);  das  dritte,  das  ursprünglich  ein  Buch  für  sich  bil- 
dete,^) ist  erst  nachträglich,  2)  wohl  als  Konzession  an  die  rednerische 
Praxis  und  die  isokratische  Richtung,  hinzugefügt;  es  handelt  von  dem 
sprachlichen  Ausdruck  {U^ig  III  1 — 12)  und  der  Disposition  (rdltc),  bezw. 
den  vier  /uqtj  koyov  und  berührt  sich  infolgedessen  vielfach  mit  den  Schluß- 
kapiteln der  Poetik.  Dieses  dritte  Buch  hat  für  die  Geschichte  der  Gram- 
matik ein  besonderes  Interesse  dadurch,  daß  man  aus  ihm  (und  aus  Arist. 
poöt.  20)  die  Anfänge  der  Grammatik  und  ihrer  ersten  Kunstausdrücke,^ 
wie  &Q&QOV,  ovvdeofiog,  neglodog,  xo/njLia  kennen  lernt.  Über  die 
Abfassungszeit  der  Rhetorik  herrschte  schon  im  Altertum  Streit,  wahr- 
scheinlich weil  man  wußte,  daß  Aristoteles  schon  bei  seinem  ersten  oder 
zweiten  Aufenthalt  in  Athen  über  Rhetorik  Vorträge  gehalten  hatte. 
Gegner  des  Demosthenes  behaupteten,  der  Redner  habe  das  Beste  aus 
Aristoteles  gelernt;  diesen  gegenüber  weist  der  Rhetor  Dionysios  im  ersten 
Brief  an  Ammaios  nach,  daß  Aristoteles  seine  Rhetorik  erst  nach  den 
großen  Reden  des  Demosthenes  geschrieben  habe.  Die  Sache  hat  ihre 
Richtigkeit;*)  übrigens  ist  es  auffallig,  daß  Aristoteles  den  Demosthenes  so 
wenig  berücksichtigt,  was  wohl  daher  kommt,  daß  die  Grundlinien  seiner 
Lehre  aus  früherer  Zeit  stammen,  da  Isokrates  noch  ganz  das  Feld  der 
Beredsamkeit  beherrschte.*)  Aristoteles  ist  mit  diesem  Buch  der  eigent- 
liche Begründer  einer  wissenschaftlichen  Rhetorik  geworden  und  hat  Ver- 
anlassung zur  Aufnahme  auch  dieser  Disziplin  in  den  philosophischen  Lehr- 
kurs gegeben.^)  Er  führt  damit  den  Plan  einer  q?d6ooq)og  ^jjTogixi]  aus, 
den  Piaton  im  Phaidros  entworfen  hatte.  Auch  in  diesem  Buch  fehlen 
nicht  die  unvermittelten  Übergänge  und  Störungen  der  Disposition,  die  in 
allen  Werken  des  Aristoteles  vorkommen.  0)     Nachdem  durch   die   älteren 


*)  Im  Ind.  bei  Diog.  L.V  24  wird  aufge- 
führt ze/vfjg  gtjTOQix^g  a  /T,  negi  Ad$F(oc  n  /T, 
im  Verzeichnis  des  Ptolemaioa  ist  bereits  die 


OK  o  Atjudötjg  xtjv  .itfftoo&frovi  Jtohxeiav  .7«r- 
z(ov  tü)v  xaxtüv  ahiav. 

Ansprechend  ist  P. Wendlands  (Anaxi- 


Rhetorik  mit  drei  Büchern  aufgezählt;  ebenso  menes  35  ff.)  Ansicht,  die  Nichtberücksich- 

bei  Dionys.  Hai.  de  comp.  verb.  25  p.  126,  tigung   des  Demosthenes  (und  des  isokrati- 

6  Us.,  und  ep.  ad  Amm.  8  p.  266,  20  Us.    Der  sehen  Panathenaikos)   in  den  Beispielen  der 

Eingang  des  dritten  Buches  p.  1403  b  6 — 15  Rhetorik   habe   darin  ihren  Grund,   daß  Ar., 

rührt  von  der  Vereinigung   der  beiden  Teile  als  er   an   die  Ausarbeitung  der  Rhet.  ging, 

her.     Die  von  H.  Sauppe  u.  a.  angezweifelte  '   die  Beispiele,   die   er  in   seinem   alten,   347 

Echtheit  des    dritten   Buches   verteidigt  H.  ,   dem    Theodoktes    aberlassenen    Manuskript 

DiELS,  Über  das  dritte  Buch  der  arist.  Rhe-  gehabt  hatte,  unverändert  übernommen  habe, 

torik,  Berl.  Ak.  Abb.  1886,  IV.    Das   dritte  Siehe  auch  H.  Diels,   Berl.  Ak.  Abb.  1886, 

Buch   scheint  nach   der  Poetik,   auf  die   es  ,    IV  11  ff. 

wiederholt  Rücksicht  nimmt,  geschrieben  zu  ^)  H.  v.  Arnim,  Dio  von  Prusa  44. 

sein,   umgekehrt  poöt.  19  p.  1456a  35   nach  ®)  A.Römer  nimmt  in  der  2.  Aufl.  (Leipz. 

den  zwei  ersten  Büchern  der  Rhetorik;  dann  1898)  seiner  Ausg.,  gestützt  auf  ein  ungenaues 

aber  ist  dan  Zitat  1372  a  1  als  Interpolation  Referat  des  Quintilian  V  10, 17  an,  daß  dem 

zu  streichen.     Siehe  aber  o.  S.  702.  1.  Quintilian  noch  ein  vollständigeres  Exemplar 

-)  Nach  F.  Marx  (s.  u.  A.  6)  erst  zwischen  unserer  Rhetorik  vorgelegen  habe.  Diese  Mei- 

Hermagoras  und  Dionysios  von  Hai.  nung   ist  widerlegt  nach   dem  Vorgang  von 

^)  Hauptbew^eisstelle  II  24  p.  1401b  33:  F.  Marx  durch  0.  Angermann,  De  Aristotele 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  365.) 


707 


Peripatetiker  und  Hermagoras  die  Hauptsätze  der  aristotelischen  Rhetorik 
zum  Gemeingut  geworden  waren,  ist  das  Werk  selbst  nur  noch  von  wenigen, 
wie  Cäcilius  von  Kaie  Akte,  gelesen  worden,  i)  Die  Keime  der  herma- 
goreischen  Statuslehre  liegen  in  einigen  Stellen  der  aristotelischen  Rhetorik 
(1358b  31  flf.;  1417b  21  flf.);  die  Lehre  von  den  Stilarten  hat  erst  Theo- 
phrastos  im  Anschluß  an  Isokrates'  Ideenlehre  ausgebildet.*) 

Te/jyv^  Tt)c  ßeodexTov  ovvaycjyri^  als  Seoöexreia  rhet.  III9p.  1410b2 
zitiert,  enthielt  nach  Valerius  Maximus  (VIII  14  ext.  3)  Vorträge  des 
Aristoteles  aus  früherer  Zeit,  die  er  dem  Theodektes  aus  Phaseiis,  einem 
Isokrateer,  zur  Herausgabe  überlassen  hatte.  ^)  Die  erhaltenen  Reste  dieser 
Oeodexreia  stimmen  sachlich  nur  zum  Teil  mit  der  aristotelischen  Rhetorik 
über  ein.*) 

Über  die  Rhetorik  an  Alexandres  s.  o.  S.  504. 

365.  Briefe  und  Gedichte.  Von  Aristoteles  gab  es  außer  den 
philosophischen  Werken  auch  eine  Anzahl  von  Briefen  und  Gedichten. 
Beide  sind  uns  nur  in  Resten  erhalten  (fr.  594 — 629  ed.  acad.  Berol.). 
Briefe  zirkulierten  von  Aristoteles  an  Philippos,  Alexandres,  Antipatros 
u.  a.  Die  erhaltenen  Reste  des  Briefwechsels  tragen  viel  mehr  den  Stempel 
der  Echtheit  als  die  ähnlichen  Sammlungen  von  Piaton  und  den  attischen 
Rednern.^)  —  Von  den  Gedichten  haben  wii-  eine  Elegie  an  Eudemos  mit 
der  berühmten  Verherrlichung  des  Sokrates  als  drögog  8v  ovd'  alveiv  xolai 
xaxoioi  def-uq  (s.  o.  S.  669,  3),  ein  Epigramm  auf  die  in  Delphoi  aufgestellte 
Statue  seines  Freundes,  des  Tyrannen  Hermeias,  einen  schwungvollen 
Hymnus^)  zum  Andenken  an  Hermeias  auf  die  \iQEtd  in  sogenannten 
daktylo-epitritischen  Versen.') 

Außerdem  trägt  den  Namen  des  Aristoteles  eine  Sammlung,  Peplos, 


rhetorum  auctore,  Diss.  Leipzig  1904.  Aus  der 
schlechten  Zusammenarbeitung  von  Schüler- 
nachschriften nach  drei  verschiedenen  Vor- 
lesungen des  Meisters  erklärt  die  Mängel 
F.  Mabx,  Aristoteles'  Rhetorik,  Ber.  d.  sächs. 
Ges.  52  (1900)  241—328. 

*)  Daß  insbesondere  Cicero  (s.  a.  H.  üse- 
NER,  Manch.  Ak.  Sitz.ber.  1892,  636  f.)  und 
Quintilian  das  Buch  nicht  mehr  gelesen  haben, 
zeigt  0.  Angermann  a.  a.  0. 

*)  G.  L.  Hendrickson,  American  joum. 
of  philol.  25  (1904)  125  ff.  sucht  die  Lehre 
von  den  drei  Stilarten  aus  der  aristotelischen 
Lehre  von  der  agext)  =  fieaorrjg  herzuleiten. 

*)  Quintil.  11  15,  10:  a  quo  non  dissentit 
Theodectes,  sive  ipsius  id  opus  est,  quod  de 
rhetorice  nomine  eins  inscrihitury  sive  uf 
creditum  est  Aristotelis;  Anon.  in  L.  Spengels 
Rhet.  Gr.  I  454,  5;  vgl.  V.  Rose,  Arist.  pseud. 
135  ff.  Der  Epikureer  Philodemos  erwähnt 
und  benutzte  ra^  re/vag  tos  'Joiototsaovs  (mit 
diesem  Titel  zitiert  auch  Dionys.  Hai.  ad 
Amm.  I  die  Rhetorik),  s.  H.  üsener,  Epicurea 
(Leipz.  1887)  p.  401. 

*)  Abweichend  fr.  125.  126.  133—135  in 
V. Roses  Aristot.  fragm.  1886  p.  114  ff.:  vgl. 
auch  Anon.  bei  L.  Spengel,  Rhet.  Gr.  I  454,  5 


mit  Aristot.  rhet.  III  19  und  H.  Diels  a.  a.  O. 
12  A.  3.  Nach  Aelian.  nat.  an.  VI  10  hätte 
Theod.  auch  Vorschriften  über  fÄvijfxt)  ge- 
geben. In  dem  Fragment  einer  dori- 
schen Rhetorik  Oxyrh.  pap.  III  nr.  410 
möchte  P.Wendland  (Anaximenes  39,  3)  ein 
Vorlesungsmanuskript  von  einem  dorischen 
Schüler  des  Theodektes  sehen. 

')  A.  Stahr,  Aristotelia  II  167  (über  die 
angeblichen  Briefe  des  Aristoteles)  geht  in 
der  Verdächtigung  der  Echtheit  zu  weit.  Die 
Echtheit  des  von  Ael.  var.  bist.  XIV  1  er- 
wähnten Briefes  an  Antipatros  aus  dem  Jahr 
223  kann  jetzt  als  gesichert  gelten  (H.Pom- 
Tow,  Beri.  phil.  W.schr.  19.  1899,  254).  Über 
einen  ins  Arabische  übersetzten  Brief  des 
Ar.  an  Alexandres  nach  Babylon  s.  J.  Lip- 
pert,  De  epistula  pseudoaristotelica  negi 
ßaodeiag,  Beri.  1891,  und  H.  Nissen,  Rh.  M. 
47  (1892)  177  ff.     Vgl.  o.  S.  675,  8. 

®)  Paian  nennt  es  Didymos  ad  Demosth. 
Philipp.  (Beri.  Klassikertexte  1)  col.  6, 19,  wo- 
gegen Ath.  696  a  protestiert  und  das  Gedicht 
als  Skolion  angesprochen  wird. 

')  WiLAMOwiTz ,  Aristot.  und  Athen  II 
403  ff.  Die  Fragmente  624  und  625  Berol. 
zitiert  auch  Didym.  1.  1.  col.  6,  22  ff. 

45* 


708  Griechische  Litteratnrgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

von  48  Epitaphien^)  auf  die  Helden  vor  Troia.  Daß  Aristoteles  selbst  jene 
Grabepigramme  gedichtet  habe,  daran  ist  nicht  zu  denken,  zumal  sich  unter 
ihnen  eines,  nr.  7,  auf  Aias  den  Telamonier  befindet,  das  in  dorischem  Dialekt 
geschrieben  ist  und  in  der  palatinischen  Anthologie  VII  145  dem  Asklepiades 
beigelegt  wird.  Auch  der  älteste  Zeuge  der  Sammlung,  Diodor  V  79,  führt 
zwar  das  Epitaphion  auf  den  Kreter  Idomeneus,  das  auch  Anth.  Pal.  Yll  322 
(ohne  Verfassemamen)  steht,  wörtlich  an,  aber  ohne  den  Aristoteles  als  den 
Dichter  zu  bezeichnen.  Wahrscheinlich  wurde  der  Name  des  Aristoteles 
deshalb  über  diese  Epigramme  gesetzt,  weil  der  wirkliche  Verfasser  sich 
in  seiner  Dichtung  an  die  historische  Grundlage  hielt,  die  eine  prosaische 
Schrift  des  echten  oder  gefälschten  Aristoteles  unter  dem  Titel  Peplos  bot.*) 
Von  dieser  Schrift  heißt  es  in  dem  Bücherverzeichnis  bei  Hesychios  Z.  16& 
(vgl.  105)  avfijuixKov  Cv^tjjbidrcDV  o/T,  c3g  <pt]oiv  Evxaigog  6  dxovarijg  amov, 
jtmXoV  Tiegiex^t  de  ov/bt/bUKtov  laiogiav.  Da  konnte  wohl  auch  von  den 
Helden  vor  Troia  und  den  Orten  die  Rede  sein,  an  welche  diese  nach  der 
Einnahme  der  Stadt  verschlagen  worden  waren.  Das  historische  Miszellen- 
buch  enthielt  aber  auch  noch  anderes,  wie  z.  B.  von  der  Gründung  der 
hellenischen  Festspiele  {äycoveg^  fr.  594)  und  von  den  Beinamen  der  Götter. ») 
366.  Gesamtcharakter  und  Lehre  des  Aristoteles.  Fassen  wir 
die  Gesamtheit  der  Schriften  des  Aristoteles  ins  Auge,  so  erregt  vor  allem 
seine  an  Universalität  grenzende  Vielseitigkeit  Staunen;  in  dem  Reich  der 
Natur  war  er  ebenso  zu  Hause,  wie  in  dem  des  Geistes,  und  in  den 
mannigfachsten  DiszipKnen,  wie  Dialektik,  Rhetorik,  Poetik,  Zoologie,. 
Botanik,  überrascht  nicht  nur  sein  Überblick  über  das  Ganze,  sondern 
auch  die  Fülle  von  Einzelkenntnissen,  über  die  er  verfügt.  Piaton  nannte 
ihn  den  großen  Leser,*)  und  er  muß  wirklich  unendlich  viele  Reden, 
Dichtungen,  Geschichtswerke,  philosophische  Schriften  gelesen  haben;  aber 
daneben  hatte  er  auch  ein  offenes  und  geübtes  Auge  für  die  Schöpfungen 
der  Natur,  auch  die  kleinsten  und  scheinbar  unbedeutendsten.  Während 
aber  sonst  durch  solches  Vielwissen  das  Licht  des  ordnenden  und  kombi- 
nierenden Verstandes  verdunkelt  zu  werden  pflegt,  verband  Aristoteles  mit 
der  Fülle  des  Wissens  eine  seltene  Schärfe  des  Urteils  und  eine  überaus 
glückliche  Anlage  zu  konstruktiver  Spekulation.  Ja  es  überwog  bei  ihm, 
wenn  wir  seine  Leistungen  mit  dem   heutigen  Maßstab   der  Wissenschaft 

M  Die  Sammlung  des  cod.  Laur.  56,  1  i  dichtet  sein  u.  sieht  in  dem  Rest  EoUektaneen 
8.  XIII.  umfaßt  48  Epigramme  unter  der  Auf-  |  des  Aristoteles,  die  nach  dessen  Tod  Theophras- 
schrift IJov  txaoTog  rojy  'EXh'jvior  xtOcuzxai  \  tos  herausgegeben  und  dabei  erweitert  habe. 
xal  li  f:ir/tyoa:iTai  rm  Tto  laqot.  Diese  Bei  Diogenes  Laert.  und  in  dem  arabischen  Ver- 
sammlung ist  aber  nicht  vollständig:  15  !  zeichnis  fehlt  das  Buch.  Der  Titel  kommt  von 
weitere  bietet  Joh.  Tzetzes,  darunter  auch  |  dem  bunten  Inhalt  her  mit  Anspielung  auf  die 
auf  nichthellenische  Heroen,  wie  Hektor.  bunten  Stickereien  des  Mantels  (.TfjrAo?)  der  Göt- 
Aineias,  Sarpedon  u.a.:  eine  größere  Samm-  tin  Athene.  Von -tf.t  Ao;'()ayia  Varronis  spricht 
lung  hatte  auch  Ausonius  vor  sich,  der  unter  1  Cic.  ad  Att.  XVI  11,  3;  vgl.  Gell,  praef.  6. 
dem  Titel  Epitaphia  heroum  eine  Auswahl  *)  (rnindlegende  Abhandlung  über  den 
von  26  lateinisch  bearbeitete.  Peplos  von  F.  G.Schneidewiu,  Philol.  1  (1846) 

■^)  Tif.  Prkoer,  Zum  aristotelischen  Pe-  1  ff.     Vgl.  W.  Michaelis,   De  origino  indicis 

plos.   in  Abhandl.  W.  Christ  dargebr.,  1891,  ,   deorum  cognominum.  Diss.  Berl.  1898. 

S.  58 — 62;  E.  Wendling.  Depeplo  Aristotelico  '           **)  A.Westermaxn,  /^iov^.  p.  399,  24  ro- 

quaest.  sei.,  Straßb.  1891.  S.  58  läßt  die  Epi-  j    oavT7]vi'ioxi}OFvk^ifiü.siav,a)aT£T6vnkdTa)vaT6v 

taphia    zwischen    250    und    150    v.  Chr.    ge-  I    oJxov  Tov\'\(noTOTElovg  olxov  avayvoiiOTov  xaXnv, 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  366.)  709 

beui^teilen,  die  von  der  Schule  Piatons  und  der  Sophisten  auf  ihn  über- 
gegangene Neigung  zur  spekulativen  Betrachtung  so,  daß  er,  der  Begründer 
der  Naturwissenschaften,  gleichwohl  im  Mittelalter  als  Vorbild  unfrucht- 
barsten Wortkrams  und  leerer  Begriffsspalterei  dienen  konnte.  Was  er 
aber  nicht  oder  nur  in  geringem  Grad  hatte,  war  das  Vermögen  der  Ab- 
rundung  und  künstlerischen  Gestaltung.  Das  trat  zunächst  in  Sprache  und 
Ziel  hervor:  Aristoteles  hatte  zwar,  wie  das  namentlich  die  Poetik  und 
Rhetorik  zeigen,  ein  feines  Verständnis  für  poetische  Schönheit  und  redne- 
rischen Schmuck,  er  dichtete  auch  Elegien  und  Oden  und  war  ein  ge- 
wandter Briefschreiber,  aber  wo  es  sich  um  sachliche  Darlegungen  han- 
delte, hielt  er  die  Form  für  Nebensache  (s.  o.  S.  677,  1 ;  rhet.  III  1)  und 
bemühte  sich  weder  um  Anmut  noch  um  Schwung;  derartige  Darlegungen 
von  ihm  entbehren  auch  des  fesselnden  Aufbaus  und  des  krönenden  Ab- 
schlusses, i)  Der  letzte  Mangel  ist  aber  nicht  bloß  in  Fehlern  des  Stils  zu 
suchen,  er  liegt  tiefer,  nämlich  darin,  daß  Aristoteles  in  seinem  Denken 
bezüglich  der  obersten  Begriffe  nicht  zur  vollen  Klarheit  mit  sich  selbst 
gekommen  war.  Es  ist  gewiß  die  Unzulänglichkeit  unserer  Interpretations- 
kunst nicht  allein  schuld,  wenn  wir  über  den  vovg  noirjxixog  und  vovg  na^- 
Tixog^  die  xd^agaig  Tia^rj/tidrcov^  die  zwei  Arten  des  Zweckes  nicht  völlig 
ins  reine  kommen.  Aber  wenn  nun  auch  Aristoteles  keinen  befriedigenden 
Abschluß  in  der  philosophischen  Spekulation  erreicht  hat,  der  Weg,  den 
er  einschlug,  die  ixe^oöog,  war  vortrefflich:  er  geht  erst  zur  Entwicklung 
eigener  Gedanken,  nachdem  er  die  Versuche  der  Früheren  einer  Kritik 
unterzogen  hat;  wir  verdanken  diesem  Verfahren  viele  Aufschlüsse  über 
die  älteren  Philosopheme.  Er  sucht  sich  überall  den  Weg  zu  ebnen  durch 
Wegräumung  der  entgegenstehenden  Hindernisse,  beginnt  daher  ganz  ge- 
wöhnlich seine  Untersuchung  mit  Aufstellung  von  Aporien  und  ihrer 
Lösung.  2)  Dann  steigt  er  in  ^llem,  vermutlich  unter  dem  Einfluß  der  medi- 
zinisch-naturwissenschaftlichen Traditionen  seiner  Familie,  vom  Einzelnen 
und  Tatsächlichen  zum  Allgemeinen  und  zum  Begriff  auf,  und  verschmäht 
dabei,  wie  er  de  partibus  anim.  I  5  mit  Liebe  auseinandersetzt,  auch  das 
Unscheinbarste  nicht,  weil  die  Erkenntnis  des  Grundes  auch  beim  Kleinsten 
dem  wahren  Forscher  die  reinste  Freude  bereite. 

Bei  dieser  Richtung  seines  Forschens  ist  es  erklärlich,  daß  seine  Er- 
folge meist  auf  dem  Gebiet  der  Einzelwissenschaften  liegen.  Die  Philo- 
sophie, die  zuvor  als  Inbegriff  aller  spekulativen  Tätigkeit  galt  und  die 
Keime  der  Naturkunde,  Mathematik,  Astronomie,  Sprachlehre  in  sich  trug, 
verlor  durch  ihn  jenen  allgemeinen  Charakter  und  trat  in  verschiedene 
Disziplinen  auseinander.     Er  schrieb  nicht  bloß  eigene  Bücher  über  Logik, 

*)    Manche   Nachläßsigkeiten    des    Stils  ^)  Freilich  haben  wir   in  diesen  Partien 

mögen  daher  rühren,  daß  Aristoteles  die  er-  seiner  Werke,   wie   in  metaph.  II  u.  III  viel 

haltenen  Werke  nicht  selbst  zur  Herausgabe  sophistische  Wortklauberei .    die    Aristoteles 

vorbereitet  hat,    da  in   einzelnen  gefeilteren  aus   der    unfruchtbaren    Sphäre    der   Eristik 

Partien,   wie  metaph.  I,   der  Hiatus  und  die  übernommen   hatte.     Auf   der   andern   Seite 

rasche  Wiederkehr   desselben  Wortes   mehr  nimmt   Aristoteles  Fragwürdiges   und   schon 

gemieden  sind :  vgl.  S.  676  f.  Die  Stelle  Longin.  von  älteren  Forschem  Bezweifeltes  unbedenk- 

Rhet.  gr.  I  325,  6  Sp.,   über  die  s.  A.  Brlnk-  lieh    als    feststehend   an,    wie  die   Ewigkeit 

MANN.  Rhein.  Mus.  62  (1907)  625  ff.,  ist  nicht  der    Sonne,    der    Sterne    und    des  Himmels 

auf  den  Stil  des  Aristoteles  zu  beziehen.  p.  1050b  22. 


710  Oriechische  Litteraturgeschichte.    L  KUasische  Periode. 

Psychologie,  Ethik,  er  hat  auch  durch  seine  Rhetorik  und  Tiergeschichte 
den  Ausbau  der  von  der  gemeinsamen  Mutter  sich  loslösenden  Spezial- 
Wissenschaften  angebahnt,  aber  nur  angebahnt;  insbesondere  in  den  Natur- 
wissenschaften operiert  er  zu  sehr  mit  Worten  und  allgemeinen  Begriffen 
wie  dvva^i^y  hreUxeia^  ewig,  vergänglich,  so  daß  seine  Sätze  zum  großen 
Teil  der  entw^ickelten  Wissenschaft  unserer  Zeit  nicht  bloß  für  antiquiert, 
sondern  geradezu  für  unbrauchbar  gelten,  ja  für  irreleitend,  insofern  sie 
durch  allgemeine  Schlüsse  den  Schein  eines  Wissens  erwecken,  wo  noch 
nicht  einmal  die  richtigen  Wege  zum  Wissen  gefunden  sind.  In  seinen 
naturwissenschaftlichen  Schriften  ist  ein  unausgeglichener  Widerstreit  zwi- 
schen dem  Dialektiker  und  dem  Empiriker.  In  der  eigentlichen  Philo- 
sophie bekämpfte  er  mit  Erfolg  die  transzendentale  Lehre  Piatons,  indem 
er,  anknüpfend  an  Piatons  Selbstkritik  in  dessen  spätesten  Schriften,  nach- 
wies, daß  die  Ideen  nicht  ein  gesondertes  Leben  für  sich  führen,  sondern 
nur  in  den  Dingen  selbst  als  deren  wesenhafter  Inhalt  Existenz  haben. 
Indem  er  dann  die  von  ihm  neuerdachten  Begriffe  övra^iig  (Anlage  etwas 
sein  zu  können)  und  hxeUxeta  (Verwirklichung  der  Anlage)^)  zu  Hilfe 
nahm,  ließ  er  die  Materie  durch  die  Form  zur  Verwirklichung  des  ihr  vor- 
gesetzten Seins  (t6  li  fjy  ehai)  kommen.  Damit  traten  bei  ihm  Stoff  und 
Form,  Materie  und  Geist  in  ein  natürliches,  sich  gegenseitig  bedingendes 
Verhältnis.  Damit  war  auch  zugleich  dem  Guten  seine  passende  Stellung 
in  dem  Ganzen  der  Welt  gegeben.  Das  Gute  steht  nämlich  dem  Aristoteles 
nicht  wie  den  pythagoreisierenden  Akademikern  als  oberste  Stufe  des  Seins 
außerhalb  der  Dinge;  es  ist  ihm  vielmehr  der  Zweck  (t6  ov  evexa)^  der 
sich  dadurch  verwirklicht,  daß  die  Anlage  sich  zu  dem,  was  sie  zu  werden 
geschaffen  ist,  entwickelt.  Das  Streben  der  (pvoig^  die  in  ihr  liegende  Ten- 
denz nach  bestimmter  Gestaltung  zu  reinem  Ausdruck  zu  bringen,  kann 
und  soll  nach  Aristoteles  durch  die  Kunst  gefördert  werden,  eine  Betrach- 
tung, die  er  auch  auf  menschliche  Schöpfungen  wie  die  Tragödie  anwendet 
(poet.  1449a  15).  Durch  die  Stellung,  die  er  dem  Guten  anwies,  erwuchs 
dem  Aristoteles  aber  auch  die  schwierige  Aufgabe,  das  Gute  oder  Zweck- 
mäßige in  der  Welt  nachzuweisen  (Teleologie) ;  er  versuchte  das  in  ein- 
zelnen Fällen,  setzte  aber  im  allgemeinen  mehr  das  Gute  voraus,  als  daß 
er  die  These  selbst  und  die  damit  zusammenhängende  Frage  nach  dem 
Zufall  einer  unbefangenen  Prüfung  unterzogen  hätte.  *) 

Die  Unzulänglichkeit  der  platonischen  Ideenlehre  zur  Erklärung  der 
empirischen  Welt  erkannte  Aristoteles  zumeist  in  dem  Fehlen  einer  be- 
wegenden Kraft,  da  den  Ideen  selbst,  namentlich  wenn  sie  für  sich  be- 
stünden, eine  solche  Kraft  nicht  innewohnen  könne.  Den  Mangel  hat  er 
richtig  erkannt,  auch  im  Einzelleben,  wie  in  der  Zeugung,  die  Bedeutung 
jenes  dritten  Faktors   gut   nachgewiesen;    aber   sein  oberster  Beweger  (j6 

*)    Wörtlich    bedeutet    hielex^ia    ,Ziel-  Spruch    parv.    nat.  p.  476  a  12    ^axrjv    ovbev 

erlangung'   von  ivTfkfyh  =  t6   evTeXes   f/or.  öoo)iiev  noioroar  lijv  qroiv;    ebenso   de  cael. 

^)  liaßGott  alles' zum  Guten  erschaffen  271a  33.    Vgl.  Plat.  Tim.  33c.  92b;   leg.  X 

habe,   war  ein  von  Sokrates   (Xen.  mem.  I  4  903b ff.  mit  Ritters  Komm.;  W.  Capelle,  Zur 

und  IV  3)  überkommener  Satz,  der  allen  So-  '   antiken  Thcodicee.  Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos. 

kratikern   wie    ein  Vernunftaxiom  feststand.  20  (1907)  173  ff. 

Aristoteles   selbst  tat   den   berühmten   Aus-  i 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  366.)  711 

TiQdnov  xivovv,  primus  motor)^  der  die  Bewegung  der  Stemenwelt  bewir- 
kende göttliche  Nus,  hat  weder  die  Eigenschaften  eines  schaffenden  Gottes 
noch  eines  denkenden  Geistes.  Wenn  daher  ein  neuerer  Philosoph  den 
Kernpunkt  der  aristotelischen  Philosophie  in  dem  Bestreben  gefunden  hat, 
die  sokratisch-platonische  Begriffsphilosophie  zu  einer  die  Erscheinungen 
erklärenden  Theorie  umzubilden,  so  ist  das  richtig,  nur  darf  man  in  dem 
Streben  nicht  auch  schon  ein  Erreichen  des  Zieles  sehen.  Groß  war  Ari- 
stoteles —  und  hierin  ist  er  Schüler  des  alten  Piaton,  des  Verfassers  von 
Parmenides,  Sophistes,  Politikos  —  in  der  Aufstellung  und  Scheidung  von 
Begriffen,  und  viele  von  diesen,  wie  Potenz  und  Aktualität,  Materie  und 
Form,  Akzidenz  und  Substanz  leben  noch  in  unserer  Zeit  als  Handwerks- 
zeug philosophischer  Betrachtung  fort;  freilich  sind  mit  der  Scheidung  von 
Begriffen  noch  nicht  die  Grundelemente  der  Dinge  und  die  Gesetze  desWerdens 
gefunden.  Begründet  ist  auch  die  Polemik  des  Aristoteles  gegen  die  tran- 
szendente Ideenlehre  Piatons,  vorausgesetzt,  daß  er  den  Piaton  in  diesem 
Punkt  richtig  verstanden  hat.  Aber  indem  er  so  eine  Seite  der  platonischen 
Philosophie  erfolgreich  bekämpfte  und  wesentlich  zur  Ernüchterung  der 
wissenschaftlichen  Forschung  beitrug,  vergab  er  in  der  Ethik  und  Staats- 
lehre den  Ideen  ihr  unveräußerliches  Hoheitsrecht;  befangen  in  der  Hoch- 
achtung für  die  gegebenen  Zustände  und  Erscheinungen  der  Wirklichkeit 
(Realismus),  überzeugt  von  dem  Zusammenfallen  von  Sein  {ovoia)  und  Wesen 
(to  n  Jjv  ehai),  indem  dieses  sich  im  Bereich  der  ovola  verwirkliche,  hat  er 
selbst  unnatürliche  Verhältnisse,  wie  die  Sklaverei,  nicht  bloß  als  tatsächlich 
hingenommen,  sondern  sogar  als  natumotwendig  zu  begründen  gesucht. 

Fassen  wir  schließlich  unser  Urteil  über  das  Verhältnis  der  beiden 
größten  Philosophen  des  Altertums  zusammen,  so  hat  Aristoteles  mit  seinem 
Sinn  für  das  Reale  und  Mögliche  im  einzelnen  vieles  richtig  erfaßt,  aber 
seine  Philosophie  als  Ganzes  gewährt  uns  bei  dem  ungenügenden  Ausbau 
seiner  obersten  Prinzipien  weniger  Befriedigung  als  der  harmonisch  aus- 
geführte, wenn  auch  mit  der  Wirklichkeit  schwer  vereinbare  Kunstbau  des 
platonischen  Idealismus.^)  Aristoteles  hat  durchaus  den  Eindruck,  am  Ab- 
schluß der  griechischen,  d.  h.  für  ihn  der  menschlichen  Kultur  zu  stehen,*) 
als  wäre  die  Zeit  der  Produktion  vorbei,  alles  vorhanden,  was  man  braucht, 
und  die  Aufgabe  nur,  das  Gegebene  zu  ordnen  und  einzuteilen.  So  hat  er 
die  Illusion  erzeugt,  als  gebe  es  eine  Lehre,  die  man  sich  nur  anzueignen 
brauche,  um  richtig  zu  verstehen  und  richtig  zu  handeln.  Er  fühlt  sich 
als  Organisator  in  dem  eroberten  Reich  des  Geistes  und  bemüht  sich,  unter 
möglichst    weitgehender    Schonung    des   Bestehenden,    hier    einen    modus 


^)  Das  hat  Goethe  in  seiner  Farbenlehre  I  gewiesen  worden;  schon  in  seiner  Jugend- 
S.  84  so  ausgedrückt:  „Aristoteles  umzieht  j  schrift,  dem  77ooTßf.T«>c(K  (fr. 53  Rose*)  meint 
einen  ungeheueren  Grundkreis  für  sein  Ge-  i  er,  unter  dem  Eindruck  der  großen  in  kurzer 
bände,  schafft  Materialien  von  allen  Seiten  Zeit  gemachten  Fortschritte,  der  Abschloß 
her.  ordnet  sie,  schichtet  sie  auf  und  steigt  der  Philosophie  stehe  nahe  bevor;  in  der 
so  in  regelmäßiger  Form  pyramidenartig  in  |  Politik  (1286  b  20)  fühlt  er  sich  am  Abschloß 
die  Höhe,  wenn  Plato  einem  Obelisken,  ja  des  naturgemäßen  Entwicklungsrings  der  Ver- 
einer spitzen  Flamme  gleich  den  Himmel  fassungen.  und  pol.  1264  a  3  steht  die  be- 
sucht.* zeichnende   Äußerung  .^dvia  oxedov  evgrfrai, 

*)  Auf  die  retrospektive  Haltung  seiner   '  d/dä  rd  ftiv   ov  avt'tfxiait  loXg  d*  ov  xQ^'^'^o.i 

Politik  und  Poetik  ist  oben  (S.  698  f.  705)  hin-   |  ytyvo^axovTeg, 


712  Griechische  Litteraturgeschichte.    L  Klassische  Periode. 

vivendi  herzustellen.  Daher  der  vielfach  widerspruchsvolle  und  kompro- 
missarische Charakter  seiner  Lehre.  Aber  sein  Verdienst  bleibt  es,  daß 
er  die  Welt  der  Veränderung  und  des  Wechsels,  in  der  Piaton  bei  seinem 
außerweltlichen  Standpunkt  nie  heimisch  werden  konnte,  genauer  betrachten, 
ihre  Erscheinungen  sammeln,  ordnen  und  erklären  gelehrt  hat. 

367.  Fortleben  des  Aristoteles.  Aristoteles  sammelte  einen  großen 
Kreis  von  Schülern  um  sich  und  wurde  Begründer  einer  Schule,  die  sich 
von  den  Spaziergängen  (mQuiaroi)  des  Lykeion,  in  denen  wandelnd  der 
Meister  seine  Lehre  vortrug,  die  peripatetische  nannte.  Sein  nächster  Nach- 
folger war  Theophrastos  aus  Lesbos,  den  er  sterbend  vor  Eudemos  aus 
Rhodos  zur  Nachfolge  dadurch  empfohlen  haben  soll,  daß  er  von  denWeinen, 
die  man  ihm  zur  Stärkung  reichte,  den  rhodischen  für  stark,  den  lesbischen 
aber  für  süßer  erklärte  (Gellius  XIII  5).  Dieser  ebenso  wie  Eudemos^)  und 
Aristoteles'  Sohn  Nikomachos  besorgten  nicht  bloß  die  Herausgabe  seiner 
Werke,  sondern  schlössen  sich  auch  in  der  Lehre  und  Methode  eng  an 
ihren  Meister  an.  Nur  einer  unter  den  älteren  Peripatetikern,  Straten  von 
Lampsakos,  hat  einen  tiefen  Eingriff  in  das  aristotelische  System  gewagt, 
die  platonischen  Elemente  aus  ihm  ausgeschieden  und  den  in  ihm  liegenden 
Naturalismus  zum  materialistischen  Monismus  zu  führen  versucht.*)  Auf 
die  Römer  hat  die  aristotelische  Philosophie,  die  seit  dem  Scholarchat  des 
Lykon  sittlich  und  wissenschaftlich  zu  verflachen  begann,  wenig  eingewirkt, 
jedenfalls  weit  weniger  als  Akademie,  Stoa  und  Epikurelsmus.  Ihre  schönste 
und  reifste  Frucht  ist  die  empirische  Wissenschaft  in  Alexandreia,  ins- 
besondere die  dortige  Philologie  und  Naturwissenschaft.  Zwar  hat  in  die 
Schulkämpfe  der  hellenistischen  Zeit  auch  der  Peripatos,  besonders  in  der 
Person  des  Kritolaos,  eingegriffen,  aber  die  Rehabilitation  des  Aristotelis- 
mus  als  Philosophie  begann  erst  im  ersten  Jahrhundert  v.  Chr.  unter  dem 
Zeichen  des  Klassizismus  und  war  gefördert  durch  den  äußeren  Umstand 
der  Entdeckung  der  Bibliothek  von  Skepsis. 

Das  gelehrte  Studium  und  die  Erklärung  der  aristotelischen  Werke 
eröffnet  der  Peripatetiker  Andronikos')  in  der  Zeit  des  Sulla.  Die  Bei- 
träge zur  Erklärung  erreichten  dann  seit  dem  3.  Jahrhundert  nach  und 
nach  einen  solchen  Umfang,  daß  Aristoteles  selbst  von  ihnen  geradezu 
verschüttet  wurde  und  ein  richtigeres  Verständnis  des  Philosophen  erst  dann 
wieder  eintrat,  als  man  die  weitläufigen  Kommentare  und  Paraphrasen  zur 
Seite  zu  werfen  und  zum  Text  des  Schulgründers  selbst  zurückzukehren  be- 


M  Über  Eudemos  s.  o.  S.  691,  6.  Arist.  1 131  ff.  II 262 :  sie  ist  von  L.  Cohn.  Berl. 

«)   Cl.  Piat,    Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.  phil.  W.schr.  9  (1889)  1419  als  Fälschung  des 

16  (1903)  530  ff.  16.  Jahrh.  erwiesen.     Ebenso  ist  unecht  die 

')  Siehe  o.  S.  672  f.    Andronikos  verfaßte  auf  Andronikos*  Namen  laufende  Schrift  negl 

nebst  einem  verlorenen  Buch  über  die  Ord-  Tradojv  (erster  Teil  herausgeg.  von  X.  Krbutt- 

nung  der  Schriften  des  Aristoteles  und  einer  ner.   Heidelberg  1885,   zweiter  Teil   von  K. 

in   der  Überarbeitung   des  Boethios   uns   er-  Schüchhakdt.  i)armst.  1883).  F.  Littig,  An- 

haltonen    Schrift    ,iFin    diaigfanov    (Patrol.  dronikos  von  Rhodos.  3  Progr.  München  1890. 

LXIVMigne)  Kommentare  zur  Ethik,  Physik  1894.    Erlangen  1895.    —    Eine   Skizze   der 

und  zu  den  Kategorien.  Über  eine  Paraphrase  Aristotelesexegese    seit   Tyrannion    gibt   H. 

der  nikomachischen  Ethik  unter  dem  falschen  Usener,  Gott.  Gel.  Anz.  1892,  1014  ff.;  weiter 

Namen  des  Andronikos   (gednickt  bei  F.W.  s.  P.  Tanner  y.  Rev.  philos.  21  (1886)  266  ff. 
Mullach,  FPhG  III  303-569j   s.  A.  Staub. 


4.  Die  Philosophie,    d)  Aristoteles.    (§  867.)  713 

gann.  Die  Erläuterung  nahmen  zunächst  die  griechischen  Peripatetiker  in 
die  Hand.  Vom  3.  Jahrhundert  an  beteiligen  sich  auch  die  Neuplatoniker 
an  der  Arbeit,  zunächst  Porphyrios,  dann  im  5.  Jahrhundert  in  drei  auf- 
einanderfolgenden Generationen  zuerst ,  Ammonios,  der  Schüler  des  Proklos, 
dann  die  Schüler  des  Ammonios,  Olympiodoros,  Philoponos  und  Simplikios, 
endlich  Olympiodoros*  Schüler  Elias  und  David.  Ihre  unter  sich  sehr  ähn- 
lichen Kommentare  zu  den  Kategorien  beruhen  in  letzter  Linie  auf  den 
Vorlesungen  des  Ammonios  und  zeigen  das  Bestreben,  zwischen  Platonis- 
mus  und  Aristotelismus  zu  vermitteln,  wie  es  schon  von  Porphyrios  an- 
gebahnt war.O  Vom  Anfang  des  6.  Jahrhunderts  an  tritt  der  Aristotelis- 
mus in  die  folgenschwere  Verbindung  mit  dem  Christentum.  Den  ersten 
Schritt  in  dieser  Richtung  scheint  Johannes  ygajujuanxog  von  Alexandreia 
{cpdoTiovog  genannt)  getan  zu  haben,  der  529  im  Sinn  der  biblischen  Lehre 
und  unter  Benützung  des  aristotelischen  Systems  gegen  Proklos  neQi  äfp^ag- 
oiag  xöoßwv  schrieb.  Im  6.  Jahrhundert  n.  Chr.  verpflanzte  Boethios  die 
gelehrte  Bearbeitung  nach  Italien  und  dem  Abendland.*)  Vom  Anfang  des 
7.  Jahrhunderts  an  gewinnt  sich  der  Aristotelismus  mehr  und  mehr  die  An- 
erkennung als  offiziell  christliche  Philosophie  und  damit  einen  unabsehbaren 
Einfluß  auf  die  christliche  Theologie  und  das  geistige  Leben  der  Christenheit,*) 
der  in  der  Lehre  des  Thomas  von  Aquino  seinen  Höhepunkt  erreicht.  Im  Mittel- 
alter beteiligten  sich  byzantinische  Griechen,  Syrer,*)  Araber^)  und  lateinisch 
schreibende  Scholastiker  an  der  Arbeit  der  Aristoteleserklärung.  —  Schon  im 
Altertum  war  durch  die  Lebensgeschichte  des  Alexandres  von  Ps.Kallisthenes 
der  Philosoph  Aristoteles  mit  seinem  königlichen  Zögling  Alexandres  in  das 
Gewebe  romanhafter  Wundererzählungen  verwickelt  worden.  Im  Mittelalter 
wurden  diese  Beziehungen  immer  mehr  ins  Märchenhafte  und  Abenteuer- 
liche ausgebaut.®)  In  dieser  Atmosphäre  entstanden  mehrere  dem  Aristo- 
teles untergeschobene,  zum  Teil  aus  dem  Arabischen  übersetzte  lateinische 
Werke,  darunter  die  ehedem  oft  gedruckten  Secreta  secretorum,')  in 
denen  Aristoteles  als  Erfinder  aller  möglichen  Geheimnisse  der  Heilkunst 
und  Lebensweisheit  erscheint.  Schon  früher  hatte  man  ihm  den  Physio- 
logus  angedichtet,  und  es  zirkulierten  von  ihm  mystische  Theologumena.®) 


')  Porphyrios  schrieb  .Teot  tov  ^iav  eivai  Übersetzungen   und  Erklärungen   (M.  Stbin- 

ti/y  UloLTcovog  xal  ^AotororeXovg  aToeaiv,  Siehe  SCHNEIDER,  Centralbl.  f.  Bibliotheksw.  Beih.  5, 

a.  K.  Prachter,  Gott.  Gel.  Anz.  1904,  374  ff.  1889.  S.  54;    A.  Baumstabk  a.  a.  0.)-    Über 

*)  Schon  vor  Boethios.  im  4.  Jahrb.,  be-  .   ihre    Aristotelesstudien    M.   Steinschneider 

schftftigte  sich   unter  den  Lateinern  im  An-  '   a.  a.  0.  Beih.  12  (1893)  S.  29—91. 

Schluß   an   Themistios,    der   als   Aristoteles-  ®)   W.  Hertz,    Aristoteles   in   den  Ale- 

exeget  in  Konstantinopel  von  den  christlichen  xanderdichtungen  des  Mittelalters,  in  seinen 

Kaisem  bestellt  worden  war,  mit  Aristoteles  i    Ges.  Abb.,  Stuttg.  u.  Berlin  1905,  S.  1—154; 

Vettius    Agorius   Praetextatus:    s.  M.  Aristot.  bei  den  Persem,   ebenda  278—298; 

Schanz,  ^Röm.  Litt.  IV  128.  die  Sage  vom  Tod  des  Aristot.,  ebenda  31B 

^)  über  die  Rezeption  des  Aristotelismus  |   bis  412. 

im   Mittelalter  M.  Windelband,    Lehrb.  der  '           •)  M.  Steinschneider,  Centralbl.  f.  Bibl. 

Gesch.  d.  Philos.*  S.  262  ff.  Beih.  12  (1893)  79 f.;  G.  Kriesten,  Über  eine 

**)  A.  Baumstark.  Aristot.  bei  den  Syrern  deutsche  übers,  der  pseudoaristot.  Secr.  secr. 

vom  5.  bis  8.  Jahrb.  I,  Leipz.  1900.    über  die  '   aus  dem  13.  Jahrb..  Diss.  Berlin  1907. 

Art  der  syrischen  Übersetzungen  H.  Pognon,  ^)  Macrobius  satura.  I  18,  1 :   nam  Art- 

Hippocr..   aphorismes    version  syr.,   texte  et  stoteles  qui  theologumena  scripsit,  wo  andere 

traduction.  Leipz.  1903.  Aristocles  statt  Aristoteles  lesen. 

^)  Die  Araber  fußen  auf  den  syrischen  , 


714  OriechiBche  Litteratorgeachichte.    I.  Elassiache  Periode. 

Beim  Wiedererwachen  der  Wissenschaften  wurde  der  echte  Aristoteles  zur 
Bekämpfung  des  falschen  der  Scholastik  eifrig  hervorgeholt,^)  so  daß  im 
16.  Jahrhundei-t  seine  Werke  und  ihre  alten  Kommentare  öfter  und  in 
rascher  Folge  hintereinander  ediert  wurden.  Dann  erkaltete  das  Studium 
des  Philosophen,  bis  es  im  19.  Jahrhundert  durch  F.  A.  Trendelenburg, 
L.  Spengel,  H.  Bonitz  u.  a.  von  neuem  belebt  wurde. 

Erläuternde  Schriften:  Sie  zerfallen  in  Verzeichnisse  der  Schriften  {dvaygaq)cU,  indices), 
Kommentare  {vitouvrifiaxa,  commentarii),  Sinnumschreibongen  {jiaQaq.QaoFig),  eine  schon  von 
Sophonias  (s.  S.  715)  zu  de  caelo  t.  XSIII  p.  1  besprochene  Einteilung.  Von  den  ersten, 
den  Katalogen  des  Hermippos.  Andronikos,  Ptolemaios,  ist  oben  S.  672  f.  gehandelt. 
Mit  Inhaltsangaben  verbunden  war  des  Peripatetikers  Nikolaos  vonDamaskos  i>sa)Qia 
ta)v  *AotoToz£kovg,  von  der  ein  Scholion  zu  Theophrastos  metaph.  p.  323  ed.  Brakdis  Kenntnis 
gibt  (8.  a.  G  Müller,  FHG  III  344b). 

Der  bedeutendste  Kommentator  war  Alexandros  von  Aphrodisias,  6  f^i]yrjTf}g  (s, 
Philoponos  ad  anal.  pr.  in  Comm.  ad.  Aristot.  Gr.  XIII  2  p.  126, 20),  der  unter  Septimius  Severus 
Professor  in  Athen  war  und  nicht  bloß  treffliche  Kommentare  zu  Aristoteles,  von  denen  uns  die 
zu  Analytika  pr.  I,  Topika  (s.  o.  S.  680, 2.  7 ;  unecht,  ein  Werk  des  Michael  Ephesios,  sind  die 
zu  Sophist,  el.),  Meteorologika,  de  sensu  et  sensibili  (s.  o.  S.  682,8.  688,3),  Metaphysik  (s.  o. 
S.  689,  3)  erhalten  sind,  sondern  auch  nach  Weise  der  älteren  Peripatetiker  selbständige  Schriften 
negi  v^^>f'}*»  ^^P*  eifiagfAdvtjg,  (fvoixcjv  axokixdtv  cbtogiuh'  xni  kvoewv  ßißX.  y\  jtooßXrjfiaxa  rjdixd 
{Alexandri  Aphrod.  scripta  minora  ed.  I.  Bruns  in  Suppl.  Aristot.  II  1887  und  1892)  ver- 
faßte. —  Vorgänger  des  Alexandres  von  Aphrodisias  waren  Alexandres  von  Aigai,  Lehrer 
des  Nero,  der  die  Kategorien  kommentierte:  Hoethos  von  Sidon,  Schüler  des  Andronikos. 
der  Kommentare  zu  den  Kategorien  u.  a.  schrieb;  Adrastos  von  Aphrodisias  (Adrantos 
verschrieben  bei  Ath.  673  e),  der  jisqI  jfjg  wi^fojc  lojv 'Agiaioxelovg  avyyga/tftdTwv  (s.  Simpl.  ad 
categ.  t.  VIII p.  16.  1.  18.  16)  schrieb;  Aspasios  (um  110  n.  Chr.),  der  die  Ethik  kommentierte 
(s.  o.  S.  691,  5);  Herminos,  Lehrer  des  Alexander  Aphrod.  und  Kommentator  der  logischen 
Schriften  (H  Schmidt,  De  Hermino  peripatetico,  Diss.  Marburg  1908).  —  Auch  im  4.  Jahr- 
hundert blühten  in  Athen  die  Aristotelesstudien  (Liban.  t.  III  438  R.).  —  Einen  neuen  Auf- 
schwung nahm  die  Exegese  bei  den  Neuplatonikem  des  ausgehenden  Altertums.  Den  Reigen 
eröffnete  unter  diesen  Porphyrios  (3.  Jahrhundert)  mit  der  unendlich  oft  abgeschriebenen, 
von  Boethios  auch  ins  Lateinische  übersetzten  Isagoge  und  dem  Kommentar  zu  den  Kate- 
gorien (s.  o.  8.  679,  2).  Ein  neuer  Strom  kam  mit  Ammonios,  dem  Sohn  des  Hermeias  aus 
Alexandreia  (5.  Jahrhundert),  Schüler  des  Proklos,  der  eine  Einleitung  zur  Isagoge  des  Por- 
phyrios und  Kommentare  zu  Categ.,  De  ioterpret,  Anal.  pr..  schrieb  (s.  o.  S.  679,  2.  5;  680,  2) 
und  die  besten  Kommentatoren  des  6.  Jahrhunderts,  Simplicius,  Philoponos,  David  und  den 
unselbständigen  Asklepios,  zu  Schülern  hatte.  —  Aus  dieser  letzten  Zeit  sind  uns  umfang- 
reiche Kommentare  erhalten.  Der  hervorragendste  Exeget  war  Simplicius,  Schüler  des 
Ammonios  im  6.  Jahrhundert;  seine  durch  Sachkenntnis  und  gelehrte  Berücksichtigung  der 
älteren,  nun  meistenteils  verloren  gegangenen  Litteratur  ausgezeichneten  Kommentare  zu 
Physik  (s.  o.  S.  681,  7),  de  caelo  (s.  o.  S.  682,  4),  de  anima  (s.  o.  S.  687,  5),  categ.  (S.679,  2) 
sind  erhalten.  Sie  sind  alle  nach  529  entstanden,  und  zwar  in  der  Reihenfolge:  1.  zur 
Metaph.  (verloren),  2.  de  caelo.  3.  phys.,  4.  categ.  (5.  zu  Epiktetos'  Encheiridion).  —  Der 
gleichen  Zeit  gehört  an  loannes  Philoponos,  gleichfalls  Schüler  des  Ammonios,  von  dem 
wir  Kommentare  zu  den  Kategorien  (s.o.S.  679,  2),  der  Analytik.  Physik  (s.  o.  S.  680,  2 ;  681,  7), 
Meteorologie,  de  gen.  anim.  (s.o.  S.  682.  8;  683,  4).  de  gen.  et  corrupt.  (S.  682,  6),  de  anima 
(s  0.  S.  687,  5),  Metaphysik  besitzen.  —  Andere  Kommentatoren  des  untergehenden  Alter- 
turas sind:  Dexippos  (4.  Jahrhundert),  von  dem  uns 'Anogiat  xal  kvoKig  ng  tag 'AgioTotilovg 
xairjyogiag  erhalten  sind  (s.  o.  S.  679,  2) ;  Syrianos,  Lehrer  des  Proklos  (kommentierte 
logische  Schriften  und  von  der  Metaphysik  L  II.  XIL  XIII  (s.  o.  S.  689.  3) ;  Asklepios 
aus  Tralles  (6.  Jahrhundert),  der  umschreibende  Kommentare  zu  Metaphysik  A — Z  schrieb 
(s.  0.  S.  689,  3);  Olympiodoros,  Zeitgenosse  des  Simplicius  (zur  MeteoroL,  S.  682,  8); 
David  der  Armenier  (um  500  n.Chr.;  zu  Porph.  isag.,  S.679, 2);  Stephanos  von  Ale- 
xandreia (um  610),  Kommentator  von  .ifoi  rojitfireiag  (S.  679,  5),  der  auch  ein  astronomisches 
Lehrbuch  verfaßte  (s.  H.  üsener.  De  Stephano  Alexandrino,  Bonn  1879.  80)  und  Kommentare 
zur  Rhetorik  schrieb  (s.  o.  S.  705.  5;  verlorener  n/oktn  zur  Ethik  gedenkt  er  Comm.  Gr.  in 
Aristot.  XXI  2  p.  227.  27),  während  die  andern  sich  wesentlich  mit  den  logischen  Schriften 
abgaben;  endlich  Elias,  Kommentator  der  Kategorien  (S.  679,  2).*) 

^)  Luther  wollte  gründlicher  aufräumen,  indem  er  mit  der  Scholastik  auch  ihren  LTr- 
heber  über  Bord  warf. 

-)  David  und  Elias  t^ehören  zum  Krei.s  des  Olympiodoros;  sie  sind  beide  Christen; 
was  wir  von  ihnen  haben,  sind  Vorlesungshefte:  K.  Präghter,  Gott.  Gel.  Anz.  1908,  209  ff. 


4.  Die  PhiloBophie.    d)  Aristoteles.    (§  866.)  715 

Die  Litteratur  der  Paraphrasen  wird  eröffnet  durch  Themistios  (im  4.  Jahrhundert), 
der  Paraphrasen  zu  Anal.  (s.  o.  S.  680,  2),  Physik  (S.  681,  7),  de  anima  (S.  687,  5),  de  caelo 
(S.  682,  4),  Parva  Naturalia  (S.  688,  3),  Metaph.  A  (S.  689, 3)  verfaßte  (die  griechisch  erhaltenen 
zu  Anal,  post.,  Phys.,  de  an.,  parv.  nat.  herausgegeben  von  L.  Spengel,  Themistii  para- 
phrases,  Lips.  1866,  2  vol.).  In  seine  Fußtapfen  trat  im  Mittelalter  Sophonias  (Schluß  des 
13.  und  Anfang  des  14.  Jahrhimderts),  der  im  Eingang  seiner  Paraphrase  zu  de  anima  den 
Themistios  und  Psellos  als  seine  Vorgänger  bezeichnet.  Eustratios,  Metropolit  von  Nikaia 
(ca.  1050  bis  ca.  1120)  kommentierte  unter  Benützung  alter  Kommentare  die  Nikomachische 
Ethik  (s.  o.  S.  691,  5)  und  Anal.  post.  II  (S.  680,  3);  um  dieselbe  Zeit  schrieb  Michael 
Ephesios,  Schaler  des  Psellos,  Kommentare  zu  den  ao(fiaT,  fX.  (S.  681,3),  der  Nikomachi- 
sehen  Ethik  (s.  o.  S.  691.  5),  zoolog.  Schriften  (S.  683,  4)  und  den  Parva  Naturalia  (s.  o. 
S.  688,  3).  Unter  dem  falschen  Namen  des  Andronikos  oder  Heliodoros  von  Prusa 
(über  die  Fälschung  s.  L.  Cohtj.  Berl.  phil.  W.schr.  9,  1889.  1419)  geht  eine  Paraphrase  der 
nikomachischen  EtUk  (s.  o.  S.  691,  5).  Siehe  im  allgemeinen  K.  Pbantl,  Gesch.  d.  Log.  I 
617  ff.;  K.  Kbümbaohbb,  Byz.  Litt.'  430  ss. 

Ausgabe  der  Scholia  in  Aristotelem  (meist  im  Auszug)  in  dem  vierten  Band  der 
Berliner  akad.  Ausgabe  von  Chb.  Aug.  Bbandis.  —  Eine  neue  vollständige  Ausgabe  (nach 
den  alten  im  vierten  Band  der  Berl.  akad.  Ausgabe  p.  39  A.  verzeichneten  Einzelausgaben 
bei  Aldus)  der  Commentaria  in  Aristotelem  graeca,  in  35  vol.  von  der  preuß.  Akad.  unter  der 
Leitung  von  A.  Tobstbik  und  nach  dessen  Tod  von  H.  Diels  herausgegeben,  ist  unter  Mit- 
wirkung von  Busse,  Haydück.  Heylbut,  Hbibebo,  Hbinzb,  Kalbfleisch,  Kboll,  Landaueb, 
Rabe,  Schenkl,  Stüve,  Vitelli,  Wallies,  Wbndland  im  Erscheinen.  (Über  Geschichte  und 
Inhalt  des  Unternehmens  H.  Useneb,  Gott.  Gel.  Anz.  1892,  1001  ff.).  Von  den  lateinischen 
Kommentaren  des  , ersten  Scholastikers"  Boethios  ist  erschienen:  Comment.  in  librum 
Aristotelis  Jtsgi  egfAtjveiag  (geschrieben  510)  rec.  K.  Mbiseb,  in  Bibl.  Teubn.  2  voll.  1877.  80; 
in  isagogen  Porphyrii  commenta  ed.  S.  Bbaitot  im  Corp.  scriptor.  ecclesiasticor.  Lat.  vol. 
XLVIII,  Wien  1906. 

Der  Wert  der  Obersetzungen  ins  Syrische,  Arabische,  Lateinische  besteht  wesentlich 
darin,  daß  einige  Schriften  nur  durch  sie  uns  überkommen  sind,  wie  die  Bücher  nsgl  (pvr(bv 
durch  eine  arabische,  die  Kommentare  des  Themistios  zu  Metaph.  A  und  de  caelo  durch 
hebräische  Übersetzungen.  Über  die  Tätigkeit  der  Araber  im  Übersetzen  und  Kommentieren 
des  Aristoteles  s.  K.  Pbantl,  Gesch.  d.  Logik  II  307  ff.,  M.  Klamboth,  Zeitschr.  d.  deutsch, 
morgenl.  Gesellsch.  41  (1887)  439.  Anal,  orientalia  ad  poeticam  Aristoteliam  ed.  D.  Maboo- 
liouth,  London  1887;  vgl.  o.  S.  713,  5.  Armenische  Übersetzungen  des  David  von  categ.  de 
interpr.  de  mundo  de  virtut.  und  Porphyr,  introd.  sind  für  die  Textgestaltung  wertlos:  F.  C. 
Conybbabe,  Anecdota  Oxoniensia.  Classical  series  I  part  VI  (Oxford  1892).  —  Die  lateinischen 
Übersetzungen  beginnen  mit  dem  13.  Jahrhundert;  einige  von  ihnen,  wie  die  zur  Rhetorik 
und  Politik,  haben  die  Bedeutung  von  Handschriften,  namentlich  wegen  der  wortgetreuen 
Wiedergabe  des  griech.  Originals.  Der  bedeutendste  Übersetzer  war  der  Dominikanermönch 
Wilhelm  von  Moerbecke  (um  1260),  der  durch  Thomas  von  Aquino  die  Anregung  erhielt. 
Die  Problemata  sind  übersetzt  von  Bartholomaeus  Messanius,  Rat  des  Königs  Manfred 
von  Sizilien  (1258—66).  Näheres  geben  A.  Joubdain,  Recherches  critiques  sur  Tage  et 
l'origine  des  traductions  latines  d'Aristot.,  Paris  1819  (ed.  II  1843),  übersetzt  von  A.  Stahb, 
Halle  1831;  K.  Pbantl,  Gesch.  d.  Log.  II  99  ff.  und  IIl  3  ff.;  G.  v.  Hebtling,  Zur  Gesch.  der 
aristot.  Politik  im  Mittelalter,  Rh.  M.  39  (1884)  446—457. 

Codices:  ein  kritischer  Apparat  wurde  beschafft  durch  Imm.  Bekkeb  in  der  von  der 
preuß.  Akad.  ins  Leben  gerufenen  Gesamtausgabe  des  Aristoteles,  Berol.  1831 — 70.  Dieser 
wurde  ergänzt,  namentlich  durch  Ausbeutung  der  alten  Kommentare,  teilweise  auch  be- 
richtigt in  mehreren,  unten  anzuführenden  Spezialausgaben  und  in  der  Gesamtausgabe  der 
Bibl.  Teubn.  Die  maßgebenden  Codd.  sind  in  den  einzelnen  Schriften  verschieden;  die 
besten:  Paris.  1741  s.  XI  (^^),  einzige  Textesquelle  für  die  Poetik  (s.  o.  S.  702,  6),  haupt- 
sächlichste für  die  Rhetorik;  Paris.  1853  s.  XII  (£"),  Hauptquelle  für  Physik,  de  caelo,  de 
gen.,  de  an.,  parv.  nat,  Metaphysik;  Laurent.  87,  12  s.  XU  (A^),  neben  E  Hauptquelle  für  die 
Metaphysik,  mit  Resten  stichometrischer  Angaben  (s.  W.  Chbist,  Bayr.  Ak.  Sitz.ber.  1885 
S.  406  ff.);  Marc.  201  s.  X  (B)  und  ürbin.  35  (A),  wichtigste  Codd.  zu  dem  Organen.  Über 
zwölf  Paiimpsestblätter  des  Vatic.  1298  s.  X  zur  Politik  s.  G.  Heylbut,  Rh.  Mus.  42  (1887) 
102  ff.,  über  die  Papyrusblätter  der  'Aütp'aitov  nokixeia  o.  S.  699,  8. 

Ausgaben:  ed.  princ.  ap.  Aldum  Venet.  1495—8,  6  voll.;  ed.  Bipont.  besorgt  von  J. 
Th.  Buhle,  1—4  Zweibrücken  1791—1793,  5  Straßb.  1799  (blieb  unvollendet);  ed.  acad.  reg. 
boruss.,  Berol.  1831—70,  5  voll.  4®  (nach  ihr  wird  zitiert);  die  ersten  zwei  Bände,  besorgt 
von  1mm.  Bekkeb,  enthalten  den  griechischen  Text,  der  dritte  Band  die  lateinischen  Über- 
setzimgen  von  Pacius,  Argyropylus,  Bessarion,  Theod.  Gaza,  Budaeus,  Lambinus, 
Ricobonus.  Filelfus  etc.,  der  vierte  die  Schoben,  besorgt  von  Che.  A.  Bbandis,  der 
fünfte  die  Fragmente  nach  der  Rezension  von  Val.  Rose  und  den  Index  Aristotelicus  von 


716  Oriechische  LitteratnrgeBchichte.    L  Klassische  Periode. 

H.  BoNiTz;  dazu  Supplementum  Aristoteliciun,  wovon  bis  jetzt  t.  I — III  erschienen.  —  Edit. 
Didotiana,  besorgt  von  J.  F.  Dübner,  U.  C.  Bussbmakeb,  E.  Hbitz,  Paris  1848 — 1874,  5  voll. 

—  Textausg.  der  Bibl.  Teubn.  mit  krit.  Apparat,  besorgt  von  0.  Apelt,  W.  Bieul,  F.  Blass, 
W.  Christ,  L.  Dittmbyeb,  B.  Langkavel,  K.  Prantl,  A.  Römer,  V.  Rose,  F.  Susbmibl,  im 
Erscheinen. 

Wichtigste  Sonderausgaben:  Organen  rec.  comm.  Th.  Waitz,  Lips.  1844—6,  2  voll.; 
dazu  Kommentar  in  freier  Form  von  H.  Maier,  Die  Syllogistik  des  Aristoteles,  Tübingen 
1896 — 1900.  —  Physica,  griech.  n.  deutsch  mit  Anmerk.  von  E.  PBAinrL.  Leipz.  1854.  — 
Meteorologica  rec.  et  comm.  J.  L.  Ideleb,  Leipz.  1884 — 6,  2  vol.  —  Aristot.  über  die  Farben 
erläutert  von  K.  Prantl,  München  1849;  —  de  anim.  histor.  rec.  comm.  J.  G.  Schi^bidbr, 
Lips.  1811,  4  voll.;  Tiergeschichte  (Text  mit  deutscher  Übersetzung,  Erklärung  und  Index) 
von  H.  AüBERT  und  F.  Wimmer.  Leipzig  1868;  —  de  anima  rec.  comm.  illustr.  F.  A.  Tren- 
delenbüro, Jena  1833,  ed.  II  cur.  Chr.  Belueb,  Berlin  1877;  rec.  A.  Tobstbik,  Berol.  1862; 

—  de  an.  with  translation,  introduct.  and  notes  by  R.  D.  Hicks,  Cambridge  1908;  —  de 
sensu  and  de  memoria  (Text  mit  englischer  Übersetzung,  Einleitung  und  Anmerk.)  von 
G.  R.  T.  Ross,  Cambridge  1906.  —  Metaphysik  mit  Cbersetzung  und  Kommentar  von 
A.  SoBWEOLER,  Tübingen  1847/48,  4  Bände;  rec.  et  cnarr.  H.  Bonitz,  Bonn  1848/49.  2  voll., 
Hauptausgabe.  —  Ethica  Nicomachea  rec.  comm.  G.  Ramsaübr.  Lips.  1878:  ed.  I.  Bywater. 
Oxford  1890,  mit  Contributions  to  the  textual  critic,  Oxford  1892.  —  Politica  cum  vetusta 
translatione  Goil.  de  Moerbeka  ed.  F.  Susemihl,  Lips.  1872;  mit  sacherklärenden  Anmer- 
kungen von  F.  Susemihl  in  Bibl.  Engelm..  Leipz.  1879.  —  'A&jjvaitoy  :foXixeia  von  G.  Kaibel  u. 
U.  V.  W^ilamowitz.  Berl.  1891  (s.  dens.,  Aristoteles  und  Athen,  Berl.  1893,  2  Bände)  und  von 
F.  BLASS,  Leipz.  1892,  4.  Aufl.  1903;  Oeconomica  ed.  C.  Göttlino,  Jena  1824—30;  —  de  arte 
poöt.  ed.  annot.  Th  Tyrwhitt.  Oxon.  1794;  ed.  comm.  G.Hermann,  Lips.  1802;  rec.  J.  Vahlen. 
Berl.  1867;  ed.  II  1874;  ed.  III  1885;  mit  sacherklärenden  Anmerkungen  von  F.  Susemihl. 
ed.  II  Leipz.  1874  in  Bibl.  Engelm.  —  Rhetorica  comm.  P.  Victobius,  Flor.  1548  und  1579 : 
ann.  L.  Spengel,  Lips.  1867,  2  voll. ;  ed.  E.  M.  Cope  u.  J.  E.  Sandys.  Cambridge  1877.  in 
3  Bänden.  —  Übersetzungen  s.  o.  S.  678.  685,  3.  699,  8  und  Übebweo-Heinze  I»  220. 

Index  Aristotelicus  von  H.  Bonitz  im  fünften  Bande  der  Berliner  Akademie- Ausgabe. 

—  R.  EucKEN,  De  Aristotelis  dicendi  ratione,  Gotting.  1866.  —  M.  Schwab,  Bibliographie 
d'Aristote,  Paris  1896.  Übersichtliche  Darstellung  von  Aristoteles'  Philosophie:  H.  Siebeck, 
Aristoteles.  2.  Aufl.,  Stuttg.  1902. 


C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  Oskar  Beck  München 

Griechische  Grammatik 

(Lautlehre,  Stammbildungs-  und  Flexionslehre,  Syntax) 

von  Dr.  KARL  BRUGMANN,  Professor  an  der  Universität  Leipzig 

Dritte  Auflage:  Mit  einem  Anhang  über  Griechische  Lexikographie 

von   Dr.  LEOPOLD   KOHN,    Professor  an  der  Universität  Breslau 

41  Bogen  Lex.  8«  Geheftet  M  12.—,  in  Halbfranzband  M  14.— 

[Handbuch  der  klassisdien  Altertumswissensdiaft.    IL  Band,  1.  Abteilung] 

Grundriß  der  griechischen  Geschichte 

nebst  Quellenkunde 

Von  Dr.  ROBERT  PÖHLMANN,  Professor  an  der  Universität  München 

3.  neubearbeitete  Auflage 

20  Bogen  Lex.  8'>  Geheftet  M  5.50,  in  Halbfranzband  M  7.20 

[Handbudi  der  klassisdien  Altertumswissensdiaft.    III.  Band,  4.  Abteilung] 

Geographie  und  Geschichte  des  alten  Orients 

von  Dr.  FRITZ  HOMMEL 

o.ö.  Professor  der  Semitischen  Sprachen  an  der  Universität  München 

2.  neu  bearbeitete  Auflage  des  „Abrisses  der  Geschichte  des  alten  Orients** 

Erste  Hälfte:  Ethnologie  des  alten  Orients.    Babylonlen  und  Chaldäa 

1905.    26  Bogen  Lex.  8«,  mit  einer  Karte  Geheftet  M  7.50 

[Handbudi  der  klassisdien  Altertumswissensdiaft.    IIL  Band,  I.  Abteilung,  I.  Hälfte] 

(Die  2.  Hälfte  wird  1909  erscheinen) 

Topographie  von  Athen 

Von  Dr.  WALTHER  JUDEICH,  o.  Professor  an  der  Universität  Erlangen 

Mit  48  Abbildungen  im  Text  und  3  Plänen  (Alt-Athen  1  :  5000  —  Akropolis  1  :  1000  — 

Peiraieus  1  :  15000)  in  Mappe 

1905.  268/4  Bogen  Lex.S«  Geheftet  M  18.—,  in  Halbfranz  gebunden  M  20.— 
[Handbudi  der  klassisdien  Altertumswissensdiaft,     III.  Band,  2.  Abteilung  2.  Hälfte] 

Griechische  Mythologie  und  Religionsgeschichte 

von  Dr.  O.  GRUPPE,  Professor  am  Askanischen  Gymnasium  in  Berlin 

1906.  2  Bände.     123  Bogen  Lex.  S?.  Geheftet  M  36.—,  in  Halbfranzband  M  40.— 
[Handbudi  der  klassisdien  Altertumswissensdiaft.    V.  Band,  2,  Abteilung] 


C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  Oskar  Beck  München 

Geschichte  der  Römischen  Literatur 

bis  zum  Gesetzgebungswerk  des  Kaisers  Justinian 

von  MARTIN  SCHANZ,  o.  Professor  an  der  Universität  Würzburg 
[Handbudi  der  klassischen   Altertumswissenschaft.     VIII.  Band,  1. — 4.  Teil] 

1.  Teil:  Die  römische  Literatur  in  der  Zeit  der  Republik.  Erste  Hälfte:  Von  den 
Anfärben  der  Literatur  bis  zum  Ausgang  des  Bundesgenossenkrieges:  Mit 

Register.  3.  gänzlich  umgearbeitete  und  vermehrte  Auflage.  1907.  23*/«  Bg. 
Lex.  8«.  Geheftet M  7.—,  Halbfranzband M 8.80  (Die2.Haiftede8  I.Teils  beflndetsich  im  Druck) 

2.  Teil,  erste  Hälfte:  Die  augustische  Zeit,    3.  Auflage  in  Vorbereitung 

2.  Teil,  zweite  Hälfte:  Vom  Tode  des  Augustus  bis  zur  Regierung  Hadrians, 
3.  Auflage  in  Vorbereitung 

3.  Teil:  Die  römische  Literatur  Xfon  Hadrian  bis  auf  Constaniin  (324  n.Chr.) 

2.  Auflage.    33  Bogen  Lex.  8«.    Geheftet  M  9,—,  Halbfranzband  M  10.80 

4.  Teil,  erste  Hälfte:  Die  Literatur  des  4.  Jahrhunderts.  32  Bogen  Lex.8^  Mit 
Register.  Geheftet  M  8.50,  Halbfranzband  M  10.—  (Die  zweite,  das  ganze  Werk 
abschließende  Hälfte  des  4.  Teils  erscheint  baldmöglichst) 

Grundriß  der  römischen  Geschichte 

nebst  Quellenkunde 

Von  Dr.  BENEDICTUS  NIESE,  Professor  an  der  Universität  Marburg  a.  L. 
3.  umgearbeitete  und  vermehrte  Auflage 

26  Bogen  Lex.8<>  Geheftet  M  7.20,  in  Halbfranzband  M  9.— 

[Handbuch  der  klassisdien  Altertumswissenschaft.     III.  Band,  5.  Abteilung] 

Geographie  von  Italien  und  dem  Orbis  Romanus 

Von  Dr.  JUL.  JUNG,  Professor  an  der  deutschen  Universität  Prag 
2.  umgearbeitete  Auflage.    12  Bogen  Lex.8o  Geheftet  M  3.50 

[Handbudi  der  klassisdien  Altertumswissenschaft.    III.  Band,  3.  Abteilung  I,  Hälfte] 

Topographie  der  Stadt  Rom 

Von  Professor  Dr.  OTTO  RICHTER,  Gymnasialdirektor  in  Berlin 
2.  völlig  umgearbeitete  Auflage.    Mit  32  Abbildungen  im  Text,  18  Tafeln  und  2  Plänen 

27  Vi  Bogen  Lex.  8°  Geheftet  M  15.— 
[Handbuch  der  klassischen  Altertumswissensdiaft.    III.  Band,  3.  Abteilung  2.  Hälfte] 

Religion  und  Kultus  der  Römer 

Von  Dr.  GEORG  WISSOWA,  o.  Professor  an  der  Universität  Halle 

1902.    34  Bogen  Lex.S«  Geheftet  M  10.—,  Halbfranzband  M  12.— 

[Handbuch  der  klassisdien  Altertumswissensdiaft,     V.  Band,  4.  Abteilung] 


C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  Oskar  Beck  München 


Vorträge  und  Aufsätze 

von  IVO  BRUNSy  weiland  Professor  der  klassischen  Philologie  in  Kiel 
XXII,  480  Seiten  gr.  S'  Gebunden  M  10.— 

Inhalt:  Vorwort  —  Kult  historischer  Personen  —  Zur  Homerfrage  und  griechischen  Urgeschichte  — 
Die  griechischen  Tragödien  als  religionsgeschichtliche  Quelle  —  Helena  in  der  griechischen  $age  und 
Dichtung  —  Maske  und  Dichtung  —  Attische  Liebestheorien  —  Frauenemanzipation  in  Athen.  Ein  Bei- 
trag zur  attischen  Kulturgeschichte  des  5.  und  4.  Jahrhunderts  —  Die  atticistischen  Bestrebungen  In  der 
griechischen  Literatur  —  Zur  antiken  Satire  —  Philosophische  Satiren  Lucians.  Lucian  und  Ocnomaus  — 
Lucians  Bilder  —  Marc  Aurel  —  Der  Uebeszauber  bei  den  augusteischen  Dichtem  —  Montaigne  und 
die  Alten  —  Michael  Marullus  —  Erasmus  als  Satiriker  —  Gedächtnisrede  auf  Peter  Wilhelm  Forch- 
hammer —  Der  Kampf  um  die  neue  Kunst  —  Eine  musikalische  Plauderei 


Geschichte  des  antiken  Kommunismus  u*  Sozialismus 

Von  Dr.  ROBERT  PÖHLMANN,  Professor  an  der  Universität  München 

Zwei  Bände 
79  >/»  Bogen  gr.  8'>  Geheftet  M  23^,  elegant  gebunden  M  27.50 

Aus  Altertum  und  Gegenwart 

Gesammelte  Abhandlungen 

von  Dr.  ROBERT  PÖHLMANN 

25*/8  Bogen  8«  Geheftet  M  7.— 

Forschungen  zur  griechischen  Geschichte  1888-1898 

Verzeichnet  und  besprochen 

von  Dr.  AD.  BAUER,  Professor  an  der  Universität  Graz 

1899.    IV,  573  Seiten  8°  Geheftet  M  15.— 

Gesammelte  Abhandlungen 
zur  römischen  Religions-  und  Stadtgeschichte 

Von  Dr.  GEORG  WISSOWA,  o.  Professor  an  der  Universität  Halle 

1904.    20  »/2  Bogen  Lex.8o  Geheftet  M  8.— ,  in  Halbfranzband  M  10.— 

Ergänzungsband  zu  des  Verfassers  ^Religion  und  Kultus  der  Römer' 


C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  Oskar  Beck  München 


Quellen  und  Untersuchungen 
zur  lateinischen  Philologie  des  Mittelalters 

Herausgegeben  von  Dr.  LUDWIG  TRAUBE 

weiland  Professor  der  klassischen  Philologie  an  der  Universität  München 

Subskriptionspreis  für  jeden  Band  M  15. — 
Bisher  sind  erschienen: 

I.  Band,  1.  Heft:  Sedullm  Scottus  von  Dr.  J.  HELLMANN,  Privatdozent  der  Ge- 
schichte an  der  Universität  München.    XV,  203  Seiten  Lex.  8^    Einzelpreis  M  8.50 

2.  Heft:  Johannes  Scottus  von  E.  K.  RAND.  Assistant-Professor  of  Latin  at 
Harvard-University.    XIV,  106  Seiten  Lex.  8^    M  6.— 

3.  Heft:  Untersuchungen  zur  Dberlieferungsgeschichte  der  ältesten  lateini- 
schen Mönchsregeln  von  Dr.  HERIBERT  PLENKERS.  XI,  100  Seiten  Lex.  8«. 
Einzelpreis  M  7.— 

II.  Band:  Nomina  sacra.  Versuch  einer  Geschichte  der  christlichen  Kürzung  von 
Dr.  LUDWIG  TRAUBE,  Professor  der  klassischen  Philologie  an  der  Universität 
München.    Mit  Traubes  Porträt.    X.  287  Seiten  Lex.8o.    Einzelpreis  M  15.— 

III.  Band,    1.  Heft:    Franciscus  Modius   als   Handschriftenforscher  von   Dr.   PAUL 
LEHMANN.    XIII.  151  Seiten  Lex.8o.    Einzelpreis  M  7.— 
(Band  I  und  II  sind  komplett) 


Altgriechische  Plastik 

Einführung  in  die  Kunst  des  archaischen  und  gebundenen  Stils 
Von  Dr.  WILHELM  LERMANN 

Mit  80  Textbildern  und  20  farbigen  Tafeln   mit  Nachbildungen    von  Gewandmustern 

der  Mädchenstatuen  auf  der  Akropolis  zu  Athen 
XIII,  231  Seiten  4^  Gebunden  M  25.— 

Athenatypen  auf  griechischen  Mfinzen 

Beiträge  zur  Geschichte  der  Athena  in  der  Kunst 
Von  Dr.  WILHELM  LERMANN 

Mit  2  Tafeln.    92  Seiten  gr.  8'>  Geheftet  M  3.50 


THE  UNIVERSITY  OP  MICHKIAN 
ORADUATE  UBRARY 

DAH  DUE 


Aü(^r^äjif 


0. 


BOOK  CARD 
DO  NOT  REMOVE 

A  Chwfi  vM  kl  Mdi 

if  tlMCirtiii 

Of  Ml  fflVMM 

■MIlMtook 


6RADUATE  UBRARY 
THE  UNIVERSmr  OF  MICHIGAN 
ANN  ARBOR.  MICHIGAN 


GL 


ui 


•S 


»Tri 


DO  NOT  REMOVE 

OR 
MUTIUTE  CARD