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WISSENSCHAFT UND
HYPOTHESE
DEUTSCH K
VON F. UND L. LINDEMANN
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HENRI POINCARE
MEMBRE DE L'INSTITUT
WISSENSCHAFT UND
HYPOTHESE
AUTORISIERTE DEUTSCHE AUSGABE
MIT ERLÄUTERNDEN ANMERKUNGEN
VON
F. UND L. LINDEMANN
LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER
1904
ALLE RECHTE,
EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN.
115" LIBRARY
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Vorwort.
Wenige Forscher sind sowohl in der reinen als in
der angewandten Mathematik mit gleichem Erfolge
schöpferisch tätig gewesen, wie der Verfasser des vor-
liegenden Werkes. Niemand war daher mehr als er be-
rufen, sich über das Wesen der mathematischen Schluß-
weisen und den erkenntnistheoretischen Wert der mathe-
matischen Physik im Zusammenhange zu äußern. Und
wenn auch in diesen Gebieten die Ansichten des ein-
zelnen zum Teil von subjektiver Beanlagung und Er-
fahrung abhängen, werden doch die Entwicklungen des
Verfassers überall ernste und volle Beachtung finden,
um so mehr, als sich derselbe bemüht, auch einem weiteren,
nicht ausschließlich mathematischen Leserkreise verständ-
lich zu werden, und ihm dies durch passende und
glänzend durchgeführte Beispiele in hohem Maße gelingt.
Die Erörterungen erstrecken sich auf die Grundlagen
der Arithmetik, die Grundbegriffe der Geometrie, die
Hypothesen und Definitionen der Mechanik und der
ganzen theoretischen Physik sowohl in ihrer klassischen
Form als in ihrer neuesten Entwicklung.
In betreif der gewonnenen Resultate muß auf das
Werk selbst verwiesen werden. Um den Standpunkt des
Verfassers zu bezeichnen, wird es genügen, einige charakte-
ristische Sätze herauszugreifen, deren Gehalt man aller-
dings nur im Zusammenhange des Ganzen erfassen wird:
„Der Verstand hat von dieser Macht (d. i. der Geistes-
kraft, welche überzeugt ist, sich die unendliche Wieder-
holung eines und desselben Schrittes vorstellen zu können)
eine direkte Anschauung, und die Erfahrung kann für
IV Vorwort.
ihn nur eine Gelegenheit sein, sich derselben zu bedienen
und dadurch derselben bewußt zu werden" (S. 13).
,,Die geometrischen Axiome sind weder synthetische
Urteile a priori noch experimentelle Tatsachen; es sind
auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen bez. ver-
kleidete Definitionen. Die Geometrie ist keine Erfahrungs-
wissenschaft; aber die Erfahrung leitet uns bei Aufstel-
lung der Axiome; sie läßt uns nicht erkennen, welche
Geometrie die richtige ist, wohl aber, welche die be-
quemste ist. Es ist ebenso unvernünftig zu untersuchen,
ob die fundamentalen Sätze der Geometrie richtig oder
falsch sind, wie es unvernünftig wäre zu fragen, ob das
metrische System richtig oder falsch ist" (S. 51, 73 u. 138).
„Das Trägheitsgesetz, das in einigen besonderen
Fällen erfahrungsmäßig bewiesen ist, kann ohne Furcht
auf die allgemeinsten Fälle ausgedehnt werden, weil wir
wissen, daß in diesen Fällen die Erfahrung das Gesetz
weder bekräftigen noch entkräften kann" (S. gg).
,,Das Prinzip der Gleichheit von Wirkung und Gegen-
wirkung darf nicht als ein experimentelles Gesetz, sondern
muß als eine Definition angesehen werden" (S. 102).
„Die Erfahrung kann den Prinzipien der Mechanik
als Grundlage dienen und dennoch ihnen niemals wider-
sprechen" (S. 107).
,,Die Prinzipien der Mechanik sind Übereinkommen
und verkleidete Definitionen. Sie sind von experimen-
tellen Gesetzen abgeleitet; diese Gesetze sind sozusagen
als Prinzipe hingestellt, denen unser Verstand absolute
Gültigkeit beilegt" (S. 140).
„Wenn man das Prinzip von der Erhaltung der
Energie in seiner ganzen Allgemeinheit aussprechen und
auf das Universum anwenden will, so sieht man es sich
sozusagen verflüchtigen, und es bleibt nichts übrig als der
Satz: Es gibt ein Etwas, das konstant bleibt" (S. 134).
„Das Experiment ist die einzige Quelle der Wahr-
A^onvort. V
heit; die mathematische Physik hat die Aufgabe, die
Verallgemeinerung so zu leiten, daß der Nutzeffekt der
Wissenschaft vermehrt wird" (S. 144).
„Jede Verallgemeinerung setzt bis zu einem gewissen
Grade den Glauben an die Einheit und die Einfach-
heit der Natur voraus. Es ist nicht sicher, daß die
Natur einfach ist" (S. 152).
,,Die mathematische Wissenschaft hat nicht den Zweck,
uns über die wahre Natur der Dinge aufzuklären. Ihr
einziges Ziel ist, die physikalischen Gesetze miteinander
zu verbinden, welche die Erfahrung uns zwar erkennen
ließ, die wir aber ohne mathematische Hilfe nicht aus-
sprechen können" (S. 212).
,,Es kümmert uns wenig, ob der Äther wirklich
existiert; wesentlich ist nur, daß alles sich abspielt, als
wenn er existierte, und daß die Hypothese für die Er-
klärung der Erscheinungen bequem ist" (ibid.).
„Was die Wissenschaft erreichen kann, sind nicht
die Dinge selbst, sondern es sind einzig die Beziehungen
zwischen den Dingen; außerhalb dieser Beziehungen
gibt es keine erkennbare Wirklichkeit" (S. XIII).
Man wird bemerken, daß wir damit wieder auf Kants
Ausspruch zurückkommen, wonach der Verstand die Ge-
setze nicht aus der Natur schöpft, sondern sie dieser
vorschreibt und die oberste Gesetzgebung der Natur in
uns selbst, d. h. in unserm Verstände liegt, oder auf
Goethes Wort: ,, Alles Vergängliche ist nur ein Gleich-
nis", das man auf den gleichen Gedanken beziehen wird,
wenn man sich die Relativität aller Erkenntnisse zum
Bewußtsein bringt. Solchen allgemeinen Aussprüchen kommt
eine hohe subjektive Bedeutung zu, denn sie befriedigen
in gewissem Sinne unser Bedürfnis nach einem Abschlüsse
der Forschung und Erkenntnis. Für den empirischen
Forscher aber gibt es keinen derartigen Abschluß; jeder
allgemeine Ausspruch bedarf für ihn der ständigen Prüfung
VI Vorwort.
an der Hand der Erfahrung und hat für ihn nur so lange
Gültigkeit, als er sich in Übereinstimmung mit der Er-
fahrung befindet, mag es sich um eine allgemeine Denk-
notwendigkeit unseres Geistes oder um einen speziellen
Lehrsatz der exakten Wissenschaft handeln. Denn für
solche Erfahrung sind nicht nur die eigentlichen Be-
obachtungen der Natur maßgebend, sondern auch die
inneren Erfahrungen des menschlichen Verstandes. Nichts
zeigt klarer, wie sehr der letztere der Ausbildung, der
Verfeinerung und der Vervollkommnung fähig ist, als die
Geschichte der Mathematik im letzten Jahrhundert. Die
eigenen Schöpfungen des menschlichen Verstandes geben
hier wieder das Erfahrungsmaterial, auf dem sich weitere
Forschungen aufbauen; manche Wahrheit, die für alle
Zeiten sicher begründet schien, wird heute in ihrer Gültig-
keit beschränkt oder auf neue ,, einwandfreie" Weise er-
schlossen; und wir sind nicht sicher, daß nicht neue Zweifel
und neue Einwände unsere Nachkommen zu erneuten An-
strengungen in gleicher Richtung veranlassen werden.
Auch wer sich nicht auf diesen rein empirischen
Standpunkt stellt, wird das Bedürfnis empfinden, die
leitenden Grundgedanken auf den oft verschlungenen
Wegen der exakten Wissenschaften zu verfolgen, und er
wird sich gern der Führung des Verfassers anvertrauen,
um die üppig wuchernden Ranken beiseite zu biegen,
die sich zwischen den festen Stämmen unserer Erkenntnis
verbindend ausbreiten, und sich dadurch den freien Aus-
blick zu wahren. Die scheinbar spielende Leichtigkeit,
mit welcher dies Ziel durch den Verfasser meist erreicht
wird, war es, wodurch wenigstens mein Interesse an dem
Werke besonders geweckt wurde.
Nicht so sehr auf die gewonnenen Resultate ist im
vorliegenden Werke das Hauptgewicht zu legen, sondern
auf die Methode der Behandlung; und die vom Ver-
fasser befolgte Methode ist dieselbe, welche bei Er-
Vorwort. VII
forschung der Grundlagen von Geometrie und Arith-
metik in den letzten Dezennien zu so reichen und vor-
läufig befriedigenden Ergebnissen geführt hat. Sie besteht
darin, daß man eine erfahrungsmäßig zulässige Hypothese,
deren Zusammenhang mit andern Voraussetzungen zu
untersuchen ist, durch eine Annahme ersetzt, die zwar
auch unser logisches Denken befriedigt, aber nicht mit der
Erfahrung in Einklang steht, und daß man dadurch die
gegenseitige Abhängigkeit verschiedener Hypothesen oder
Axiome zu evidenter Anschauung bringt.
Dem Fachmann ist ein großer Teil der Entwicklungen
(zumal der späteren Kapitel) aus anderen Schriften des
Verfassers bekannt, aber auch ihm wird eine zusammen-
fassende Darstellung willkommen sein. Ganz besonders
gebe ich mich der Hoffnung hin, daß in einer Zeit, wo so
leicht der Sinn für den Zusammenhang unserer Erkenntnis
unter der Hingabe an die Einzelforschung leidet, die nach-
folgenden Darlegungen für die studierende Jugend erneutVer-
anlassung bieten mögen, sich dem Studium der Grundlagen
und der Grundbegriffe unserer Wissenschaft zu widmen.
Zur Erreichung dieses Zieles habe ich der deutschen
Ausgabe zahlreiche Anmerkungen hinzugefügt, die teils
einzelne Stellen des Werkes näher erläutern, teils durch
literarische Nachweisungen dem Leser die Mittel zu weiterem
Studium der besprochenen Fragen an die Hand geben.
Auf irgendwelche systematische Vollständigkeit kam es da-
bei nicht an. Besonders dort konnten diese Bemerkungen
kürzer gehalten werden, wo ich wegen weiterer Ausführungen
auf andere Werke des Verfassers verweisen konnte.
Wenn es gelungen sein sollte, der oft bilderreichen
Sprache des Verfassers auch bei der Übertragung ins
Deutsche gerecht zu werden, so hat daran meine Frau
einen wesentlichen Anteil, indem sie die eigentlich tech-
nische Arbeit der Übersetzung durchgeführt hat.
München, im Januar 1904. F. Lindemann.
Inhalt.
Seite
Vorwort III
Einleitung XI
Erster Teil:
Zahl und Größe.
Erstes Kapitel: Über die Natur der mathematisclien
Schlußweisen I
Syllogistische Schlußweisen I
Verifikation und Beweis 3
Elemente der Arithmetik 5
Algebraische Rechnung 9
Rekurrierendes Verfahren II
Induktion 12
Mathematische Konstruktion. 14
Zweites Kapitel: Die mathematische Größe und die
Erfahrung 17
Definition der inkommensurablen Zahlen 20
Das physikalische Kontinuum 22
Das mathematische Kontinuum 23
Die meßbare Größe 28
Verschiedene Bemerkungen (Kurven ohne Tangenten) 29
Das physikalische Kontinuum von mehreren Dimensionen 3 1
Das mathematische Kontinuum von mehreren Dimensionen 34
Zweiter Teil:
Der Raum.
Drittes Kapitel: Die nicht-Euklidische Geometrie . . 36
Die Geometrie von Lobatschewsky 37
Die Geometrie von Riemann 38
Die Flächen konstanten Krümmungsmaßes 4*^
Veranschaulichung der nicht-Euklidischen Geometrie . 42
Die implizieten Axiome 44
Die vierte Geometrie . . . , , 47
Der Lehrsatz von Lie 48
Die Geometrien von Riemann 48
Von der Natur der Axiome 49
Inhalt. IX
Seite
Viertes Kapitel: Der Raum und die Geometrie ... 52
Der geometrische Raum und der VorsteUungsraum . 53
Der Gesichtsraum 54
Der Tastraum und der Bewegungsraum 56
Zustands- und Ortsveränderungen 59
Bedingungen der Kompensation von Bewegungen . . 61
Die festen Körper und die Geometrie ...... 62
Das Gesetz der Homogenität 65
Die nicht-Euklidische Welt 66
Die vierdimensionale Welt 70
Fünftes Kapitel: Die Erfahrung und die Geometrie . 73
Die Geometrie und die Astronomie 74
Das Gesetz der Relativität 78
Tragweite der Experimente 82
Anhang (Was ist ein Punkt.?) 86
Dritter Teil:
Die Kraft.
Sechstes Kapitel: Die klassische Mechanik 91
Das Prinzip der Trägheit 93
Das Gesetz der Beschleunigung 99
Die anthropomorphe Mechanik 108
Die Schule des Fadens 109
Siebentes Kapitel: Die relative und die absolute Be-
wegung 113
Das Prinzip der relativen Bewegung 113
Die Schlußweise Newtons 115
Achtes Kapitel: Energie und Thermodynamik. . . . 124
Das energetische System 124
Thermodynamik 131
Allgemeine Übersicht des dritten Teiles 138
Vierter Teil:
Die Natur.
Neuntes Kapitel: Die Hypothesen in der Physik . . 142
Die Rolle des Experimentes und der Verallgemeinerung 142
Die Einheit der Natur 147
Die Rolle der Hypothese 152
Ursprung der mathematischen Physik 155
Zehntes Kapitel: Die Theorien der modernen Physik i6l
Die Bedeutung der physikalischen Theorien .... 161
Die Physik und der Mechanismus 168
Der gegenwärtige Zustand der Wissenschaft .... 173
Elftes Kapitel: Die Wahrscheinlichkeitsrechnung . 183
Einteilung der Wahrscheinlichkeitsprobleme .... 189
X Inhalt.
Seite
Die Wahrscheinliclikeit in den mathematisclien Wissen-
schaften 192
Die Wahrscheinlichkeit in den physikalischen Wissen-
schaften 196
Rouge et noir 202
Die Wahrscheinlichkeit der Ursachen 204
Die Theorie der Fehler 207
Schlußfolgerungen 210
Zwölftes Kapitel: Optik und Elektrizität 211
Die Fresnelsche Theorie 211
Die Maxwellsche Theorie 213
Die mechanische Erklärung der physikalischen Er-
scheinungen 216
Dreizehntes Kapitel: Die Elektrodynamik 224
Die Amperesche Theorie 225
I. Wirkung geschlossener Ströme 227
IL Wirkung eines geschlossenen Stromes auf einen
Stromteil 228
III. Stetige Rotationen 230
IV. Gegenseitige Wirkung zweier offenen Ströme. 231
V. Induktion 234
Die Helmholtzsche Theorie 235
Die diesen Theorien anhaftenden Schwierigkeiten . . 238
Die Maxwellsche Theorie 239
Die Rowlandschen Experimente 240
Die Lorentzsche Theorie 242
Erläuternde Anmerkungen (von F. Lindemann) . . . 245
Verbesserungen.
Seite 32, Zeile 3 v. u. lies „entnehmen" statt ,, nehmen".
lies „dem" statt „demselben",
lies ,,nur" statt „nicht".
Es ist hier auf die Anmerkung 56) zu
verweisen.
lies „auszuscheiden" statt „auszu-
schneiden".
lies „welcher" statt „welche",
lies „Hysteresis" statt „Hysterisis".
lies „Schon vor" statt „Vor".
Vor dem Worte „Gefahr" ist das Wort
„keineswegs" einzuschalten.
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8
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u.
Einleitung.
Für einen oberflächlichen Beobachter ist die wissen-
schaftHche Wahrheit über jeden Zweifel erhaben; die
wissenschaftliche Logik ist unfehlbar, und wenn die Ge-
lehrten sich hie und da täuschen, so geschieht es nur,
weil sie die Regeln der Logik verkannten.
,,Die mathematischen Wahrheiten werden durch eine
Kette untrüglicher Schlüsse aus einer kleinen Anzahl
evidenter Sätze abgeleitet; sie drängen sich nicht nur
ims, sondern der ganzen Natur auf. Sie fesseln sozu-
sagen den Schöpfer und gestatten ihm nur zwischen
einigen verhältnismäßig wenig zahlreichen Lösungen zu
wählen. Einige Experimente werden dann genügen, um
zu erfahren, welche Wahl er getroffen hat. Aus jedem
Experimente können durch eine Reihe mathematischer
Deduktionen eine Menge Folgerungen hervorgehen, und
auf diese Weise läßt uns jedes Experiment einen Winkel
•des Weltalls erkennen."
So ungefähr denken sich viele Leute, besonders die
Schüler, welche die ersten physikalischen Begriffe kennen
lernen, den Ursprung der wissenschaftlichen Gewißheit.
So fassen sie die Rolle des Experimentes und der Mathe-
matik auf. Und dieselbe Auffassung hatten vor hundert
Jahren viele Gelehrte, welche in ihren Träumen die
Welt konstruieren und dabei der Erfahrung möglichst
wenige Materialien entlehnen wollten.
Als man ein wenig mehr nachdachte, bemerkte man,
ein wie großer Platz der Hypothese eingeräumt war; man
XII Einleitung.
sah, wie der Mathematiker ihrer nicht entraten kann und
wie der Experimentator sie noch weniger missen kann.
Darauf fragte man sich, ob wohl dieses Gebäude solid
genug wäre, und man glaubte, daß ein Hauch es stürzen
könnte. Derartig skeptisch urteilen, hieße oberflächlich
sein. Entweder alles anzweifeln oder alles glauben,
das sind zwei gleich bequeme Lösungen; die eine wie
die andere erspart uns das Denken.
Anstatt eine summarische Verurteilung auszusprechen,
müssen wir mit Sorgfalt die Rolle der Hypothese prüfen;
wir werden dann erkennen, daß sie notwendig und
ihrem Inhalte nach berechtigt ist. Wir werden dann
auch sehen, daß es mehrere Arten von Hypothesen gibt,
daß die einen verifizierbar sind und, einmal vom Experi-
mente bestätigt, zu fruchtbringenden Wahrheiten werden ;
daß die anderen, ohne uns irrezuführen, uns nützlich
werden können, indem sie unseren Gedanken eine feste
Stütze geben; daß schließlich noch andere nur schein-
bare Hypothesen sind und sich auf Definitionen oder ver-
kleidete Übereinkommen und Festsetzungen zurückführen
lassen.
Diese letzteren finden wir hauptsächlich in der Mathe-
matik und in den ihr verwandten Wissenschaften. Ge-
rade hieraus schöpfen diese Wissenschaften ihre Strenge;
diese Übereinkommen sind das Werk der freien Tätig-
keit unseres Verstandes, der in diesem Gebiete kein
Hindernis kennt. Hier kann unser Verstand behaupten,
weil er befiehlt; aber verstehen wir uns recht: diese Be-
fehle beziehen sich auf unsere Wissenschaft, welche
ohne dieselben unmöglich wäre; sie beziehen sich nicht
auf die Natur. Sind diese Befehle nun willkürlich?
Nein, denn sonst würden sie unfruchtbar sein. Das
Experiment läßt uns freie Wahl, aber es leitet diese
Wahl, indem es uns hilft, den bequemsten Weg einzu-
schlagen. Unsere Befehle werden also gleich denen
Einleitung. XIII
eines absoluten, aber weisen Fürsten sein, der zuerst
seinen Staatsrat befragt.
Manche sind darüber verwundert, daß man gewissen
fundamentalen Prinzipien der Wissenschaft den Charakter
freier konventioneller Festsetzungen beilegen soll. Sie
haben übermäßig verallgemeinern wollen und dabei ver-
gessen, daß Freiheit nicht Willkür ist. Sie gelangten so
zu dem sogenannten ,, Nominalismus" und sie fragten
sich, ob der Gelehrte sich nicht durch seine Definitionen
betrügen läßt und ob die Welt, die er zu entdecken
glaubt, nicht einfach nur durch die Willkür seiner Laune
geschaffen ist.*) Bei diesem Standpunkte wäre die
Wissenschaft sicher begründet, aber sie wäre ihrer Trag-
weite beraubt.
Wenn dem so wäre, so wäre die Wissenschaft ohn-
mächtig. Nun haben wir aber jeden Tag ihren Einfluß
vor Augen. Das könnte nicht der Fall sein, wenn sie
uns nicht etwas Reelles erkennen ließe; aber was sie
erreichen kann, sind nicht die Dinge selbst, wie die
naiven Dogmatiker meinen, sondern es sind einzig die
Beziehungen zwischen den Dingen; außerhalb dieser Be-
ziehungen gibt es keine erkennbare Wirklichkeit.
Zu dieser Erkenntnis werden wir gelangen, aber bis
wir so weit sind, müssen wir die Reihe der Wissen-
schaften, von der Arithmetik und der Geometrie an bis
zur Mechanik und experimentellen Physik, durchgehen.
Welcher Art ist die Natur der mathematischen Schluß-
weise? Ist sie, wie man gewöhnlich glaubt, wirklich
deduktiv? Eine tiefergehende Analyse zeigt uns, daß
sie es nicht ist, daß sie in gewissem Grade an der
Natur der induktiven Schlußweise Anteil hat und gerade
dadurch so fruchtbringend ist. Sie bewahrt deshalb
*) Vergl. Le Roy, Science et Philosophie (Revue de Meta-
physique et de Morale 1901).
XIV Einleitung.
nicht weniger ihren Charakter absoluter Genauigkeit; das
haben wir zuerst zu zeigen.
Indem wir jetzt eines der Hilfsmittel genauer kennen,
welches die Mathematik dem Forscher an die Hand
gibt, haben wir einen anderen fundamentalen Begriff zu
analysieren, nämlich denjenigen der mathematischen
Größe. Finden wir sie in der Natur vor oder sind wir
es, die sie in die Natur hineinlegen? Riskieren wir
nicht im letzteren Falle, alles zu verderben? Wenn wir
die grob organisierten Angaben unserer Sinne mit dieser
außerordentlich komplizierten und feinen Vorstellung ver-
gleichen, welche die Mathematiker als Größe bezeichnen,
so müssen wir gezwungenermaßen einen Unterschied be-
merken; diesen Rahmen, in welchen wir alles einfügen
wollen, haben wir selbst hergestellt; aber wir haben ihn
nicht auf gut Glück gemacht, wir haben ihn sozusagen
nach Maß angefertigt und darum können wir die Tat-
sachen hineinbringen, ohne ihrer Natur das Wesentliche
zu nehmen.
Ein anderer Rahmen, den wir der Welt anpassen,
ist der Raum. Woher stammen die ersten Grundlagen
der Geometrie? Sind sie uns durch die Logik auferlegt?
Lobatschewsky hat das Gegenteil bewiesen, indem er
die nicht-Euklidische Geometrie schuf. Ist der Raum
uns durch unsere Sinne offenbart? Ebenfalls nicht, denn
der Raum, den uns unsere Sinne zeigen können, unter-
scheidet sich absolut von dem geometrischen Räume.
Hat die Geometrie ihren Ursprung in der Erfahrung?
Eine gründlichere Erörterung zeigt uns, daß dies nicht
der Fall ist. Wir schlußfolgern also, daß die Grund-
lagen nur Übereinkommen sind; aber diese Überein-
kommen sind nicht willkürlich, und wenn wir in eine
andere Welt versetzt würden, welche ich die nicht-
Euklidische Welt nenne und die ich mir vorzustellen ver-
suche, so müßten wir zu anderen Übereinkommen gelangen,.
Einleitung. XV
In der Mechanik werden wir zu analogen Schluß-
sätzen geführt und wir sehen, daß die Prinzipe dieser
Wissenschaft, obgleich sie sich direkt auf das Experiment
stützen, ebenfalls an dem konventionellen Charakter der
geometrischen Postulate beteiligt sind. Bis hier triumphiert
der Nominalismus, aber wir kommen zu den eigentlichen
physikalischen Wissenschaften. Da ändert sich das
Schauspiel; wir treffen eine andere Art von Hypothesen
und wir sehen deren ganze Fruchtbarkeit. Ohne Zweifel
erschienen uns zuerst die Theorien hinfällig, und die
Geschichte der Wissenschaft beweist uns, daß sie ver-
gänglich sind: sie sind aber dennoch nicht ganz ver-
gangen, von jeder ist etwas übriggeblieben. Dieses
Etwas muß man sich bemühen herauszusuchen, weil nur
dieses und dieses allein der Wirklichkeit wahrhaft ent-
spricht.
Die Methode der physikalischen Wissenschaften be-
ruht auf der Induktion, welche uns die Wiederholung
einer Erscheinung erwarten läßt, wenn die Umstände
sich wiederholen, unter welchen sie sich das erste Mal
darbot. Wenn alle diese Umstände sich auf einmal
wiederholen könnten, so könnte dieses Prinzip ohne Ge-
fahr angewendet werden: aber das wird niemals vor-
kommen; einige dieser Umstände werden immer fehlen.
Sind wir absolut sicher, daß sie ohne Wichtigkeit sind?
Gewiß nicht. Das kann wahrscheinlich sein, es kann
aber nicht wirklich gewiß sein. Darum spielt der Be-
griff der Wahrscheinlichkeit eine bedeutende Rolle in
den physikalischen Wissenschaften. Die Wahrscheinlich-
keitsrechnung ist also nicht nur ein Zeitvertreib oder ein
Führer für die Baccaratspieler, und wir müssen ver-
suchen, ihre Prinzipe fester zu begründen. In dieser
Beziehung kann ich nur unvollkommene Resultate geben;
so sehr widerstrebt der unbestimmte Instinkt, welcher uns
den Begriff der Wahrscheinlichkeit fassen läßt, der Analyse.
XVI Einleitung.
Nachdem wir die Bedingungen, unter welchen der
Physiker arbeitet, studiert haben, hielt ich es für richtig,
ihn dem Leser bei der Arbeit zu zeigen. Dazu nahm
ich einige Beispiele aus der Geschichte der Optik und
derjenigen der Elektrizität. Wir werden sehen, von wo
die Ideen Fresnels und diejenigen Maxwells ausgegangen
sind, und welche unbewußten Hypothesen Ampere und
die anderen Begründer der Elektrodynamik machten.
H. P.
Erster Teil.
Zahl und Größe.
Erstes Kapitel.
Über die Natur der mathematischen Schlußweisen.
I.
Die Möglichkeit der Existenz einer mathematischen
Wissenschaft scheint ein unlösbarer Widerspruch in sich
zu sein. Wenn diese Wissenschaft nur scheinbar deduktiv
ist, woher kommt ihr dann diese vollkommene Un-
widerlegbarkeit, welche niemand zu bezweifeln wagt?
Wenn im Gegenteil alle Behauptungen, welche sie auf-
stellt, sich auseinander durch die formale Logik ab-
leiten lassen, warum besteht die Mathematik dann nicht
in einer ungeheueren Tautologie? Der logische Schluß
kann uns nichts wesentlich Neues lehren, und wenn alles
vom Prinzipe der Identität ausgehen soll, so müßte auch
alles darauf zurückzuführen sein. Dann müßte man also
zugeben, daß alle diese Lehrsätze, welche so viele Bände
füllen, nichts anderes lehren, als auf Umwegen zu
sagen, daß A gleich A ist.
Man kann ohne Zweifel zu den Axiomen zurück-
gehen, welche an der Quelle aller dieser Betrachtungen
stehen. Wenn man meint, sie auf das Prinzip des
Widerspruches nicht zurückführen zu können, wenn man
noch weniger in ihnen erfahrungsmäßige Tatsachen sehen
will, welche an der mathematischen Notwendigkeit keinen
Anteil haben, so hat man doch noch immer den Aus-
Po in care, Wissenschaft und Hypothese. " I
2 I, I. Mathematische Schlußweisen.
weg, sie den synthetischen Urteilen a priori einzureihen.
Das heißt aber nicht, die Schwierigkeit lösen, sondern
ihr nur einen Namen geben; und wenn selbst die Natur
der synthetischen Urteile für uns kein Geheimnis wäre,
so würde der Widerspruch nicht hinfällig, er würde nur
hinausgeschoben; die syllogistische Beweisführung bleibt
unfähig, den gegebenen Voraussetzungen irgend etwas
hinzuzufügen; diese Voraussetzungen reduzieren sich auf
einige Axiome, und man könnte in den Folgerungen
nichts anderes wiederfinden.
Kein Lehrsatz würde neu sein, bei dessen Beweis
nicht ein neues Axiom in Frage käme. Die logische
Durchführung könnte uns nur die unmittelbar evidenten
Wahrheiten geben, welche der direkten Anschauung ent-
lehnt sind. Sie wäre nichts anderes als ein überflüssiges
Zwischenglied der Betrachtung; und würde man auf diese
Weise nicht dahin kommen sich zu fragen, ob dieser
ganze syllogistische Apparat nur dazu dient, um zu ver-
schleiern, inwieweit wir der Anschauung etwas ent-
lehnt haben?
Der Widerspruch wird uns noch mehr auffallen, wenn
wir irgend ein mathematisches Buch aufschlagen; auf
jeder Seite wird der Verfasser die Absicht ankündigen,
einen schon bekannten Satz zu verallgemeinern. Kommt
dieses nun daher, daß die mathematische Methode vom
Besonderen zum Allgemeinen fortschreitet, und wie kann
man sie dann deduktiv nennen?
Wenn endlich die Wissenschaft der Zahl rein ana-
lytisch wäre, oder wenn sie von einer kleinen Anzahl
synthetischer Urteile nach analytischer Methode ausgehen
könnte, so vermöchte ein genügend starker Verstand
mit einem Blicke scheinbar alle Wahrheiten zu über-
sehen; was sage ich! man könnte sogar hoffen, eines
Tages eine hinreichend einfache Sprache zu erfinden,
um sie so auszudrücken, daß sie auch einem gewöhn-
Beweis und Verifikation. ->
liehen Verstandesvermögen ebenso unmittelbar ein-
leuchten.
Wenn man es ablehnt, diese Folgerungen zuzulassen,
so muß man doch zugeben, daß die mathematische
Überlegung an sich eine Art schöpferischer Kraft ent-
hält und sich dadurch von der syllogistischen Schluß-
weise unterscheidet.
Der Unterschied muß sogar tiefgehend sein. Wir
werden zum Beispiel den Schlüssel zu dem Geheimnisse
nicht in dem öfteren Gebrauche des Gesetzes finden,
nach welchem eine und dieselbe eindeutige, auf zwei
gleiche Zahlen angewandte Operation zu gleichen Re-
sultaten führt.
Alle diese Schlußweisen, mögen sie nun auf den
eigentlichen Syllogismus zurückführbar sein oder nicht,
bewahren den analytischen Charakter und sind ebenda-
durch ohnmächtig.
IL
Der Streit ist alt; schon Leibniz suchte zu beweisen,
daß 2 und 2 gleich 4 ist; wir wollen seine Darlegungen
ein wenig untersuchen.
Ich setze voraus, daß man die Zahl i definiert habe,
und ebenso die Operation x -\- i, welche darin besteht,
einer gegebenen Zahl x die Einheit hinzuzufügen.
Diese Definitionen kommen, wie sie auch beschaffen
sein mögen, für die folgende Betrachtung nicht in Frage.
Ich definiere hierauf die Zahlen 2, 3 und 4 durch
die Gleichungen:
(i) 1 + 1 = 2,
(2) 2+1=3,
(3) 3+1=4.
Ich definiere ebenso die Operation x + 2 durch die
Beziehung :
A I, I. Mathematische Schlußweisen.
(4) X + 2 = {x + l) + I.
Dieses vorausgesetzt, haben wir:
2 + 2=(2 + i)+i (Definition 4),
(2+1)4-1 = 34- I (Definition 2),
3 4-1=4 (Definition 3),
also:
24-2=4, w. z. b. w.
Man wird nicht ableugnen können, daß diese Be-
weisführung eine rein analytische ist. Fragt man jedoch
irgend einen Mathematiker, so wird er sagen: ,,Das ist
keine eigentliche Beweisführung, sondern eine Verifi-
kation". Man hat sich darauf beschränkt, zwei rein
konventionelle Definitionen einander zu nähern, und hat
ihre Identität festgestellt; man hat nichts Neues gelernt.
Die Verifikation unterscheidet sich genau vom wirk-
lichen Beweise, weil sie rein analytisch und unfruchtbar
ist. Sie ist unfruchtbar, weil die Schlußfolgerung nur
die Übersetzung der Voraussetzungen in eine andere
Sprache ist. Der wirkliche Beweis dagegen ist frucht-
bar, weil die Schlußfolgerung einen allgemeineren Inhalt
hat, als die Voraussetzungen.
Die Gleichung 24-2 = 4 ist nur deshalb einer sol-
chen Verifikation fähig, weil sie einen besonderen Cha-
rakter hat. Jede besondere Aussage in der Mathematik
kann auf solche Weise verifiziert werden. Aber wenn
die Mathematik sich auf eine Reihe von ähnlichen Veri-
fikationen zurückführen ließe, so wäre sie keine Wissen-
schaft. So erschafft zum Beispiel ein Schachspieler keine
Wissenschaft, indem er eine Partie gewinnt. Eine
Wissenschaft kann sich nur auf allgemeine Wahrheiten
beziehen.
Man kann sogar sagen, daß gerade die exakten
Wissenschaften die Aufgabe haben, uns von diesen
direkten Verifikationen zu entlasten.
Die Arithmetik.
III.
Wir wollen den Mathematiker bei der Arbeit beobach-
ten und versuchen, einen Einblick in seine Denkweise
zu gewinnen.
Der Versuch ist nicht ohne Schwierigkeit; es genügt
nicht, ein Werk auf gut Glück aufzuschlagen und darin
den nächstbesten Beweis zu zergliedern.
Wir müssen zuerst die Geometrie ausschließen, denn
hier wird die Frage durch die schwer zugänglichen
Probleme verwickelt, welche sich auf das Wesen der
Postulate, auf die Natur und den Ursprung der Raum-
vorstellung beziehen. Aus analogen Gründen können
wir uns nicht an die Infinitesimal-Rechnung wenden.
Wir müssen den mathematischen Gedanken da suchen,
wo er rein geblieben ist, das ist in der Arithmetik.
Auch dabei muß man noch auswählen; in den höch-
sten Gebieten der Zahlentheorie haben die mathemati-
schen Elementarbegriffe bereits eine solche Entwicklung
durchgemacht, daß es schwer fällt, dieselbe zu analy-
sieren.
So dürfen wir erwarten, die gesuchte Erklärung in
den Anfängen der Arithmetik zu finden, aber gerade in
den Beweisen der allerelementarsten Lehrsätze kommt es
vor, daß die Verfasser der klassischen Abhandlungen
das geringste Maß von Genauigkeit und Schärfe an-
wenden. Man kann ihnen daraus keinen Vorwurf
machen ; sie gehorchen einer Notwendigkeit ; die Anfänger
sind nicht für die wirkliche mathematische Strenge vor-
bereitet; sie würden darin nur unnütze und langweilige
Spitzfindigkeiten sehen; man würde seine Zeit verlieren,
wenn man sie zu früh anspruchsvoller machen würde;
sie müssen schnell den Weg durchlaufen, welchen die
Begründer der Wissenschaft langsam durchmessen haben.
5 I> !• Mathematische Schlußweisen.
aber immer dabei die schon zurückgelegten Strecken im
Auge behalten.
Warum ist eine so lange Vorbereitung notwendig,
um sich an diese vollkommene Strenge zu gewöhnen,
welche, wie man glauben möchte, alle gut veranlagten
Köpfe sich selbst auferlegen sollten? Darin liegt ein
logisches und psychologisches Problem, das wohl des
Nachdenkens wert ist.
Wir können uns dabei nicht aufhalten, es liegt unse-
rem Gegenstande fern; alles, was ich hervorheben möchte,
ist, daß wir, um unser Ziel nicht zu verfehlen, die Be-
weise der elementarsten Lehrsätze von Anfang an durch-
gehen müssen und ihnen nicht die grobe Form lassen,
welche man ihnen gibt, um die Anfänger nicht zu er-
müden, sondern diejenige, welche einen geübten Mathe-
matiker befriedigen kann.^)
Definition der Addition. — Ich setze voraus,
daß man zuvor die Operation x -j- i, welche darin be-
steht, daß man die Zahl i einer gegebenen Zahl x hin-
zufügt, definiert hat.
Diese Definition, welcher Art sie auch sei, wird in
der Fortsetzung unserer Entwicklungen keine Rolle
spielen.
Es handelt sich jetzt darum, die Operation x -\- a zu
definieren, welche darin besteht, die Zahl a zu einer ge-
gebenen Zahl X hinzuzufügen.
Setzen wir voraus, man hätte die Operation:
X -{- {a — i)
definiert, so wird die Operation x -\- a durch die Glei-
chung:
(i) X -{- a = [x -\- {a — i)] -\- 1
definiert sein.
Wir werden also wissen, was x -\- a bedeutet, wenn
wir wissen, was x -{- {a — i) bedeutet, und da ich am
. Addition und Multiplikation. y
Anfang vorausgesetzt habe, man wisse, was x -\- i be-
deute, so wird man successive und „durch, rekurrierendes
Verfahren" die Operationen x-\-2, x -\- ^ etc. definieren
können.
Diese Definition verdient einen Augenblick unsere
Aufmerksamkeit, sie unterscheidet sich durch ihre be-
sondere Natur von der rein logischen Definition, und
derartig besondere Definitionen werden uns noch oft be-
gegnen. Die Gleichung (i) enthält tatsächlich eine un-
endliche Anzahl von verschiedenen Definitionen, deren
jede nur einen Sinn hat, wenn man die vorhergehende
kennt.
Eigenschaften der Addition. — Associatives
Gesetz. — Ich behaupte, daß:
a+{ö + c) = (a + d)-i-c.
In der Tat, der Lehrsatz ist richtig für c = i; er
heißt dann:
und das ist nichts anderes, abgesehen vom Unterschiede
in der Bezeichnungsweise, als die Gleichung (i), durch
welche ich soeben die Addition definiert habe.
Nehmen wir an, daß der Lehrsatz richtig sei für
c = y, SO behaupte ich, daß er für c = y -\- i auch rich-
tig ist. Sei in der Tat:
so wird man daraus ableiten, daß:
[(^ + ^) + y] + I = [^ + (^ + y)] +1
oder infolge der Definition (i):
{aJrl>) + {y+i) = a + (b + 7+i) = a+[b+{y+i)].
Das beweist, durch eine Reihe von rein analytischen
Schlüssen, daß der Lehrsatz für 7+1 richtig ist.
Ist er also richtig für c = i, so würde man so suc-
cessive einsehen, daß er richtig ist für c = 2, für <: = 3 etc.
3 I, I. Mathematische Schlußweisen.
Commutatives Gesetz. — i. Ich behaupte, daß:
a -\- i = 1 -\- a.
Der Satz ist evident für ß = i ; man könnte durch rein
analytische Schlüsse verifizieren, daß er für a = y richtig
ist; er ist dann auch für ß = y + i richtig; er gilt nun
für a = I, also auch für a = 2, für 0=3 etc.; das
meint man, wenn man sagt, daß der ausgesprochene
Satz durch rekurrierendes Verfahren bewiesen sei.
2. Ich behaupte, daß:
a -{- d = b -\- a.
Der Satz ist soeben für ^ = i bewiesen ; man kann durch
analytische Schlüsse verifizieren, daß er, wenn er für
b = ß richtig ist, auch für b = ß -\- i gilt.
Der Inhalt der Behauptung ist folglich durch rekur-
rierendes Verfahren sicher gestellt.
Definition der Multiplikation. — Wir definieren
die Multiplikation durch die Gleichungen:
a X i = a,
(2) ax b = [a X [b — i)] + a.
Die Gleichung {2) umfaßt wie die Gleichung (i) eine un-
endliche Anzahl von Definitionen; wenn sie 0x1 defi-
niert hat, so erlaubt sie successive a x 2, 0x3 etc. zu
definieren.
Eigenschaften der Multiplikation. — Distri-
butives Gesetz. — Ich behaupte, daß:
{a -\- b) X c == (ax c) -i- (b X c).
Man verifiziert durch analytische Schlußweise, daß die
Gleichung richtig ist für c = i ; sodann, daß der Satz,
wenn er für c = y richtig ist, es auch für c = y -\- i ist.
Die Behauptung ist wiederum durch rekurrierendes
Verfahren bewiesen.
Commutatives Gesetz. — Ich behaupte, daß:
Algebraische Reclinung. g
a X I = I X a.
Der Satz ist evident für ö = i .
Man verifiziert analytisch, daß er für a = a richtig
ist, wenn - er für a == a -\- i gilt.
2. Ich behaupte, daß:
ax b = b X a.
Der Satz ist soeben bewiesen für b = 1. Man würde
analytisch beweisen, daß er für b = ß richtig ist, wenn
er für b = ß -\- I richtig ist.
IV.
Ich halte jetzt mit dieser einförmigen Aufeinander-
folge von Entwicklungen inne. Aber gerade diese Ein-
förmigkeit läßt das Verfahren besser zur Geltung kommen,
das einförmig ist und das wir bei jedem Schritte wieder-
finden.
Dieses Verfahren ist der Beweis durch die rekur-
rierende Schlußweise. Man stellt zuerst den Lehrsatz
für « = I auf; man beweist darauf, daß er für n richtig
ist, wenn er für n — i stimmt, und man schlußfolgert
daraus, daß er für alle ganzen Zahlen gilt.
Wir haben soeben gesehen, wie man sich dieses Ver-
fahrens bedienen kann, um die Regeln der Addition und
Multiplikation zu beweisen, d. h. die Regeln der alge-
braischen Rechnung; diese Rechnung ist ein Werkzeug,
das sich in weit umfassenderem Maße zu Umformungen
eignet als der einfache logische Schluß; aber sie ist
noch ein rein analytisches Werkzeug und nicht fähig,
uns etwas Neues zu lehren. Wenn die Mathematik kein
anderes hätte, so würde sie alsbald in ihrem Vorwärts-
kommen aufgehalten werden; aber sie findet neue Hilfs-
quellen in demselben Verfahren, d. h. in der rekurrieren-
den Schlußweise, und so kann sie weiter vorwärtsschreiten.
jO I) I- Mathematische Schlußweisen.
Bei näherer Prüfung findet man auf Schritt und Tritt
diese Art der Schlußweise, sei es in der einfachen Ge-
stalt, welche wir ihr soeben gaben, sei es in einer mehr
oder weniger veränderten Gestalt.
Hier haben wir die mathematische Schlußweise in
ihrer reinsten Form, und es ist für uns notwendig, sie
näher zu prüfen.
V.
Die Haupteigenschaft des rekurrierenden Verfahrens
besteht darin, daß es, sozusagen in einer einzigen Formel
zusammengedrängt, eine unendliche Anzahl von Syllogis-
men enthält.
Um sich darüber besser klar zu werden, will ich
einen dieser Syllogismen nach dem anderen darlegen;
sie folgen aufeinander — man gestatte mir dieses
Bild — wie Kaskaden.
Es sind, wohlverstanden, hypothetische Syllogismen.
Der Lehrsatz gilt für die Zahl i.
Ist er richtig für i, so ist er auch richtig für 2.
Er gilt also für 2.
Ist er richtig für 2, so gilt er auch für 3.
Er gilt also für 3, und so weiter.
Man sieht, daß die Schlußfolgerung eines jeden Syl-
logismus dem folgenden als Unterlage dient.
Ja, noch mehr: die Folgesätze aller unserer Syllo-
gismen können auf eine einzige Formel zurückgeführt
werden :
Wenn der Lehrsatz füin — i gilt, so gilt er auch für ?t.
Man sieht also, daß man sich bei dem rekurrieren-
den Verfahren darauf beschränkt, die Unterlage des ersten
Syllogismus und die allgemeine Formel darzulegen, welche
alle Folgesätze als besondere Fälle enthält.
Diese Reihe von Syllogismen, welche niemals enden
würde, wird so auf einen Satz von wenigen Linien reduziert.
Rekurrierendes Verfahren. 1 1
Es ist jetzt leicht verständlich, warum jede besondere
Folgerung eines Lehrsatzes, wie ich es oben dargelegt
habe, durch rein analytisches Verfahren verifiziert werden
kann.
Wenn wir, anstatt zu zeigen, daß unser Lehrsatz für
alle Zahlen gilt, nur vor Augen führen wollen, daß er
z. B. für die Zahl 6 gilt, so wird es genügen, die fünf
ersten Syllogismen unserer Kaskade aufzustellen; wir
würden neun brauchen, wenn wir den Lehrsatz für die
Zahl lo beweisen wollten, für eine größere Zahl würden
wir noch mehr brauchen; aber wie groß auch diese Zahl
sei, wir würden sie schließlich immer erreichen, und die
analytische Verifikation würde möglich sein.
Und wenn wir auch noch so weit in dieser Weise
fortschreiten würden, so könnten wir uns doch niemals
bis zu dem allgemeinen Lehrsatze erheben, der für alle
Zahlen anwendbar ist und welcher allein der Gegenstand
der Wissenschaft ist. Um dahin zu gelangen, bedürfte
es einer unendlichen Anzahl von Syllogismen; es müßte
ein Abgrund übersprungen werden, welchen die Geduld
des Analysten, der auf die formale Logik als einzige
Quelle beschränkt ist, niemals ausfüllen könnte.
Ich fragte zu Anfang (vgl. S. 2), weshalb man sich
nicht einen Verstand vorstellen könnte, der stark genug
wäre, mit einem Blicke die Gesamtheit der mathemati-
schen Wahrheiten zu erfassen.
Die Antwort ist jetzt erleichtert; ein Schachspieler
kann vier Züge im voraus berechnen, vielleicht auch
fünf, aber wenn man ihm auch Außerordentliches zu-
traut, so wird er sich immer nur eine endliche Zahl zu-
rechtlegen können; wenn er seine Fähigkeiten auf die
Arithmetik anwendet, so wird er nicht im stände sein,
sich deren allgemeine Wahrheiten mit einer einzigen
direkten Anschauung zum Bewußtsein zu bringen; um
zu dem kleinsten Lehrsatze zu gelangen, kann er nicht
12 I> I« Mathematische Schlußweisen.
das rekurrierende Verfahren entbehren, weil dies ein
Werkzeug ist, welches uns erlaubt, vom Endlichen zum
Unendlichen fortzuschreiten.
Dieses Werkzeug ist immer nützlich, denn es erlaubt
uns, mit einem Satze so viele Stationen zu überspringen,
wie wir wollen, und erspart uns dadurch lange, er-
müdende und einförmige Verifikationen, welche sich bald
als unbrauchbar erweisen würden. Aber dieses Werk-
zeug wird unentbehrlich, wenn man den allgemeinen
Lehrsatz im Auge hat, dem wir uns durch analytische
Verifikationen unaufhörlich nähern, ohne ihn jemals zu
erreichen.
In diesem Gebiete der Arithmetik kann man meinen,
von der Infinitesimal-Rechnung weit entfernt zu sein;
und dennoch spielt, wie wir soeben gesehen haben, die
Idee des mathematischen Unendlich schon eine hervor-
ragende Rolle, und ohne sie würde es keine Wissen-
schaft geben, weil es nichts Allgemeines geben würde.
VI.
Das Urteil, auf welchem die Entwicklung durch das
rekurrierende Verfahren beruht, kann in andere Formen
gesetzt werden; man kann z. B. sagen, daß es in einer
unendlichen Menge von verschiedenen ganzen Zahlen
immer eine gibt, welche kleiner ist als alle übrigen.
Man kann leicht von einer Aussage zur anderen
übergehen und sich so der Einbildung hingeben, als
hätte man die Legitimität des rekurrierenden Verfahrens
bewiesen. Aber man wird immer auf ein Hindernis
stoßen, man wird immer zu einem unbeweisbaren Axiom
gelangen, welches im Grunde nichts weiter ist als der
zu beweisende Satz, in eine andere Sprache übersetzt.
Man kann sich daher der Schlußfolgerung nicht ent-
ziehen, daß das Gesetz des rekurrierenden Verfahrens
Physikalische Induktion. Iß
nicht auf das Prinzip des Widerspruchs zurückführ-
bar ist.
Zu diesem Gesetze können wir nicht durch die Er-
fahrung gelangen; die Erfahrung könnte uns z. B. lehren,
daß das Gesetz für die zehn, für die hundert ersten
Zahlen richtig ist, sie kann nicht die unendliche Folge
der Zahlen erreichen, sondern nur einen größeren oder
kleineren, aber immer einen begrenzten Teil dieser Zahlen-
folge.
Wenn es sich jedoch nur darum handelt, so würde
das Prinzip des Widerspruchs genügen; es würde uns
gestatten, immer so viele logische Schlüsse zu entwickeln,
wie wir wollen; nur wenn es sich darum handelt, eine
unendliche Anzahl in eine einzige Formel zusammenzu-
fassen, nur vor dem Unendlichen versagt dieses Prinzip,
und genau an diesem Punkte wird auch die Erfahrung
machtlos. Dieses Gesetz, welches dem analytischen Be-
weise ebenso unzugänglich ist wie der Erfahrung, gibt
den eigentlichen Typus des synthetischen Urteils a priori.
Man kann andrerseits darin nicht bloßes Übereinkommen
sehen wollen, wie bei einigen Postulaten der Geometrie.
Warum drängt sich uns dieses Urteil mit einer un-
widerstehlichen Gewalt auf? Das kommt daher, weil es
nur die Bestätigung der Geisteskraft ist, welche über-
zeugt ist, sich die unendliche Wiederholung eines und
desselben Schrittes vorstellen zu können, wenn dieser
Schritt einmal als möglich erkannt ist. Der Verstand
hat von dieser Macht eine direkte Anschauung, und die
Erfahrung kann für ihn nur eine Gelegenheit sein, sich
derselben zu bedienen und dadurch derselben bewußt
zu werden.
Aber, wird man einwenden, wenn das rohe Experi-
ment das rekurrierende Verfahren nicht rechtfertigen
kann, ist es dann nicht ebenso, wenn die Induktion
dem Experimente zu Hilfe kommt? Wir sehen succes-
I^ I5 I. Mathematische Schlußweisen.
sive, daß ein Lehrsatz richtig ist für die Zahl i, für die
Zahl 2, für die Zahl 3 u. s. w. ; das Gesetz ist evi-
dent, so sagen wir; und es ist das ebenso berechtigt
wie bei jedem physikalischen Gesetze, das sich auf Be-
obachtungen stützt, deren Zahl zwar sehr groß, aber
immer endlich ist.
Man kann nicht verkennen, daß hier eine auffällige
Analogie mit den gebräuchlichen Verfahrungsweisen der
Induktion vorhanden ist. Aber es besteht ein wesent-
licher Unterschied. Die Induktion bleibt in ihrer An-
wendung auf die physikalischen Wissenschaften immer
unsicher, weil sie auf dem Glauben an eine allgemeine
Gesetzmäßigkeit des Universums beruht, und diese Ge-
setzmäßigkeit liegt außerhalb von uns selbst. Die mathe-
matische Induktion dagegen, d. h. der Beweis durch
rekurrierendes Verfahren, zwingt sich uns mit Notwendig-
keit auf, weil er nur die Betätigung einer Eigenschaft
unseres eigenen Verstandes ist.^)
VII.
Wie ich schon erwähnt habe, bemühen sich die
Mathematiker immer, die Sätze, welche sie erhalten
haben, weiter zu verallgemeinern; so (um nicht andere
Beispiele zu suchen) haben wir eben die Gleichung:
a -\- 1 = I -\- a
bewiesen; und wir haben uns derselben bedient, um da-
raus die Gleichung:
a -]- b = b -{- a
abzuleiten, welche offenbar allgemeiner ist.
Die Mathematik kann daher, wie die anderen Wissen-
schaften, vom Besonderen zum Allgemeinen fortschreiten.
Hierin liegt eine Tatsache, welche uns am Anfang
dieser Darlegung unverständlich erschienen wäre, aber
Mathematische Konstruktion. ic
welche jetzt für uns nichts Geheimnisvolles hat, nach-
dem wir die Analogie zwischen dem rekurrierenden Be-
weise und der gewöhnlichen Induktion festgestellt haben.
Ohne Zweifel, die mathematisch-rekurrierende Schluß-
weise und die physikalisch-induktive Schlußweise beruhen
auf verschiedenen Grundlagen, aber ihre Wege laufen
parallel; sie schreiten in demselben Sinne fort, d. h. vom
Besonderen zum Allgemeinen.
Gehen wir darauf noch etwas näher ein. Um die
Gleichung :
(1) ß -|- 2 = 2 -f- (2
ZU beweisen, genügt es, zweimal die Regel:
a -\- 1 = i -\- a
anzuwenden und zu schreiben:
(2) a-{-2=a-}-i-\-i = i-\-a-^i = i-^i+a = 2-\-a.
Die Gleichung (2) ist so auf rein analytischem Wege
aus der Gleichung (i) abgeleitet; sie ist demnach nicht
ein bloßer Spezialfall derselben; sie ist etwas anderes.
Man kann daher nicht sagen, daß man im eigentlich
analytischen und deduktiven Teile der mathematischen
Entwicklungen im gewöhnlichen Sinne des Wortes vom
Allgemeinen zum Besonderen übergeht. Die beiden
Seiten der Gleichung (2) sind einfach verwickeitere Kom-
binationen als die beiden Seiten der Gleichung (i), und
die Analyse dient nur dazu, die Elemente, welche in
diese Kombinationen eingehen, zu trennen und ihre gegen-
seitigen Beziehungen zu studieren.
Die Mathematik kommt also „durch Konstruktionen"
vorwärts, sie ,, konstruiert" immer verwickeitere Kom-
binationen. Indem sie dann durch die Analyse dieser
Kombinationen, die man als selbständige Gesamtheiten
bezeichnen könnte, zu ihren ursprünglichen Elementen
zurückkehrt, wird sie sich der gegenseitigen Beziehungen
j^ I, I. Mathematisclie Schlußweisen,
dieser Elemente bewußt und leitet daraus die Beziehungen
zwischen diesen Gesamtheiten selbst ab.
Das ist ein rein analytisches Vorgehen, aber nicht
ein Vorgehen vom Allgemeinen zum Besonderen, denn
die Gesamtheiten können offenbar nicht so angesehen
werden, als wären sie von speziellerer Natur wie ihre
Elemente.
Man hat mit Recht diesem Prozesse der Konstruktion
eine große Wichtigkeit beigelegt, und man hat darin die
notwendige und hinreichende Bedingung für die Fort-
schritte der exakten Wissenschaften erkennen wollen.
Notwendig? ohne Zweifel; aber hinreichend? nein!
Damit eine Konstruktion nützlich sein kann, damit
sie nicht nur eine überflüssige Anstrengung des Ver-
standes darstellt, damit sie jedem als Sprungbrett dienen
kann, der sich höher erheben will, muß sie vor allem
eine Art Einheit besitzen, welche erlaubt, darin etwas
anderes zu sehen als die bloße Anhäufung von Ele-
menten.
Oder genauer: man muß einen Vorteil darin erkennen,
daß man lieber die Konstruktion als die einzelnen Ele-
mente betrachtet.
Welcher Art kann dieser Vorteil sein?
Warum z. B. soll man sich lieber mit einem Polygon
beschäftigen, das doch stets in Dreiecke zerlegbar ist,
als mit diesen Elementar-Dreiecken?
Offenbar, weil es Eigenschaften gibt, die den Poly-
gonen mit einer beliebigen Anzahl von Seiten zukommen
und die man unmittelbar auf irgend ein besonderes
Polygon anwenden kann.
Meistens dagegen wird man sie nur um den Preis
sehr langwieriger Bemühungen dadurch wiederfinden, daß
man direkt die Verhältnisse der Elementar- Dreiecke
studiert.
Wenn das Viereck etwas anderes ist als zwei an-
Mathematische Induktion. 17
einandergelegte Dreiecke, so liegt dies daran, daß das
Viereck zur Klasse der Polygone gehört.
Eine Konstruktion wird nur interessant, wenn man
sie an andere, ähnliche Konstruktionen anreihen kann,
so daß alle zu einer gemeinsamen Klasse gehören.
Überdies muß man die Eigenschaften dieser Klasse
ableiten können, ohne sie einzeln nacheinander für jedes
Individuum der Klasse aufzustellen.
Um dahin zu gelangen, muß man notwendigerweise
vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigen, indem man
eine oder mehrere Stufen weiterklimmt.
Das analytiscde Verfahren ,, durch Konstruktion" nötigt
uns nicht herabzusteigen, aber es läßt uns auf demselben
Niveau.
Wir können uns nur durch die mathematische In-
duktion erheben, welche allein uns etwas Neues lehren
kann. Ohne die Hilfe dieser Induktion, welche in ge-
wissem Sinne von der physikalischen Induktion verschie-
den, aber fruchtbar wie diese ist, würde die Konstruk-
tion nicht im stände sein, eine Wissenschaft aufzubauen.
Schließlich wollen wir bemerken, daß diese Induktion
nur möglich ist, wenn eine und dieselbe Operation un-
endlich oft wiederholt werden kann. Deshalb wird die
Theorie des Schachspiels niemals eine Wissenschaft werden
können, denn die verschiedenen Züge einer und derselben
Partie haben keine Ähnlichkeit untereinander.
Zweites Kapitel.
Die mathematische Größe und die Erfahrung.
Wenn man wissen will, was die Mathematiker unter
einem Kontinuum verstehen, muß man nicht bei der
Geometrie anfragen; der Geometer sucht sich immer die
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. 2
l8 I, 2. Mathematische Größe und Erfahrung.
von ihm studierten Figuren mehr oder weniger darzu-
stellen, aber seine Darstellungen sind für ihn nur Hilfs-
mittel. Er macht Geometrie mit nur im Räume vorge-
stellten Linien ebenso gut wie mit der Kreide auf der
Tafel; auch muß man sich hüten, Zufälligkeiten, welche
oft ebenso unwichtig sind wie die Farbe der Kreide, all-
zuviel Bedeutung beizulegen.
Der reine Analytiker hat diese Klippe nicht zu fürch-
ten. Er hat die mathematische Wissenschaft aller fremden
Elemente entkleidet und er kann auf die Frage ant-
worten: was ist eigentlich dieses Kontinuum, mit dem
die Mathematiker arbeiten? Viele von ihnen, welche
über ihre Kunst nachdenken, haben bereits geantwortet,
z. B. Herr Tannery in seiner „Introduction ä la theorie
des fonctions d'une variable."
Gehen wir von der Stufenleiter der ganzen Zahlen
aus; zwischen zwei aufeinanderfolgende Stufen schieben
wir eine oder mehrere Zwischenstufen ein, dann zwischen
diese neuen Stufen wieder andere und so fort ohne
Ende. Wir haben so eine unbegrenzte Anzahl von
Gliedern; das sind die Zahlen, welche man als Brüche
oder als rationale, bezw. kommensurable Zahlen be-
zeichnet. Aber dies ist nicht alles; zwischen diese
Glieder, welche doch schon in unendlicher Anzahl vor-
handen sind, muß man noch wieder andere einschalten,
welche man als irrationale oder inkommensurable Zahlen
bezeichnet.
Bevor wir weiter gehen, machen wir erst eine Be-
merkung. Das so aufgefaßte Kontinuum ist nur eine
Ansammlung von Individuen, die in eine gewisse Ord-
nung gebracht sind; allerdings ist ihre Anzahl unendlich
groß, aber sie sind doch voneinander getrennt.
Das ist nicht die gewöhnliche Vorstellung, bei der man
zwischen den Elementen des Kontinuums eine Art inniger
Verbindung voraussetzt, welche daraus ein Ganzes macht
Das Kontinuum. jq
und wo der Punkt nicht früher als die Linie existiert^
aber wohl die Linie früher als der Punkt. Von der be-
rühmten Formulierung ,,das Kontinuum ist die Einheit
in der Vielheit" bleibt nur die Vielheit übrig, die Ein-
heit ist verschwunden. Die Analytiker haben deshalb
nicht weniger Recht, ihr Kontinuum so zu definieren,
wie sie es tun, denn nur mit dem so definierten Kon-
tinuum arbeiten sie, wenn sie die höchste Strenge ihrer
Beweise erreichen wollen. Aber das ist genug, um vor-
läufig einzusehen, daß das eigentliche mathematische
Kontinuum etwas ganz anderes ist als das Kontinuum
der Physiker oder dasjenige der Metaphysiker.
Man wird vielleicht sagen, daß sich die Mathematiker,
welche sich mit dieser Definition begnügen, durch Worte
betrügen lassen, daß man in einer knappen Form aus-
drücken müßte, was jede dieser dazwischen liegenden
Stufen bedeute, daß man erklären müßte, wie man sie
einzuschalten hat, und beweisen müßte, daß es möglich
ist dieses auszuführen. Aber das würde unbillig sein;
die einzige Eigenschaft dieser Stufen, welche bei ihren
Überlegungen*) benutzt wird, ist diejenige, daß jede sich
vor oder hinter einer anderen befindet; diese Eigenschaft
allein darf deshalb bei Definition der Stufe benutzt
werden.
Also braucht man sich nicht über die Art und Weise
zu beunruhigen, wie man diese Zwischenglieder einzu-
schalten hat; andererseits wird niemand daran zweifeln,
daß diese Operation möglich ist, es sei denn, er vergäße,
daß dieses letztere Wort in der Sprache der Mathematik
einfach so viel bedeutet als „frei von Widersprüchen".
Unsere Definition ist gleichwohl noch nicht vollständig,
*) Hier sind diejenigen Überlegungen eingeschlossen, welche
in den gewöhnlichen Festsetzungen implicite enthalten sind, die
zur Definition der Addition dienen und auf die wir später zurück-
kommen.
20 I) 2. Mathematische Größe und Erfahrung.
und nach dieser allzulangen Abschweifung komme ich
jetzt darauf zurück.
Definition der inkommensurablen Zahlen. — Die
Mathematiker der Berliner Schule haben mit Vorliebe
den Gedanken vertreten, daß man diese kontinuirliche
Stufenleiter der gebrochenen und irrationalen Zahlen
aufbauen könne, ohne sich anderer Bausteine zu be-
dienen als ganzer Zahlen. Bei dieser Anschauungsweise
würde das mathematische Kontinuum nur eine Schöpfung
des Verstandes sein, mit der die Erfahrung nichts zu
tun hat.^)
Der Begriff der rationalen Zahl schien ihnen keine
Schwierigkeit zu bereiten, sie haben sich hauptsächlich
bemüht, die inkommensurable Zahl definieren zu wollen.
Aber ehe ich eine entsprechende Definition gebe, muß ich
eine Bemerkung einflechten, um dem Erstaunen zuvor-
zukommen, das sie unfehlbar bei solchen Lesern hervor-
rufen würde, welche mit den Gewohnheiten der Mathe-
matiker wenig vertraut sind.
Die Mathematiker studieren nicht Objekte, sondern
Beziehungen zwischen den Objekten; es kommt ihnen
deshalb nicht darauf an, diese Objekte durch andere zu
ersetzen, wenn dabei nur die Beziehungen ungeändert
bleiben. Der Gegenstand ist für sie gleichgültig, die
Form allein hat ihr Interesse. Wenn man dieses nicht
im Auge hätte, würde es unverständlich bleiben, wie
man mit dem Namen einer inkommensurablen Zahl
ein bloßes Symbol bezeichnet, d. h. etwas, das gänzlich
verschieden von der Idee ist, welche man sich von
einer Größe macht, die doch meßbar und greifbar sein
sollte.
Die gemeinte Definition kann etwa in folgender Weise
gefaßt werden^):
Man kann auf unendlich viele Weise die kommen-
surablen Zahlen derart in zwei Klassen einteilen, daß
Inkommensurable Zahlen. 2 I
irgend eine Zahl der ersten Klasse größer ist als irgend
eine Zahl der zweiten Klasse.
Es kann eintreten, daß unter den Zahlen der ersten
Klasse eine vorkommt, welche kleiner ist als alle ande-
ren; wenn man z. B. in die erste Klasse alle Zahlen
einreiht, die größer als 2 sind, und 2 selbst und in die
zweite Klasse alle Zahlen, die kleiner als 2 sind, so ist
es klar, daß 2 die kleinste Zahl unter allen in der ersten
Klasse ist. Die Zahl 2 wird dann als Symbol dieser
Einteilungsart gewählt werden können.
Im Gegensatze hierzu kann es vorkommen, daß unter
den Zahlen der zweiten Klasse eine auftritt, die größer
ist als alle anderen; das ist z. B. der Fall, wenn die
erste Klasse alle Zahlen umfaßt, die größer als 2 sind,
und die zweite alle Zahlen, die kleiner als 2 sind, und
2 selbst. Auch hier kann die Zahl 2 als Symbol dieser
Einteilungsar t gelten.
Aber es kann ebenso gut vorkommen, daß man weder
in der ersten Klasse eine Zahl kleiner als alle anderen,
noch in der zweiten eine Zahl größer als alle anderen
finden kann. Nehmen wir z. B. an, daß man in die
erste Klasse alle kommensurablen Zahlen stellt, deren
Quadrat größer als 2 ist, und in die zweite alle, deren
Quadrat kleiner als 2 ist. Man weiß, daß es keine Zahl
gibt, deren Quadrat genau gleich 2 ist. Es gibt dann
offenbar in der ersten Klasse keine Zahl kleiner als alle
anderen, denn wie nahe das Quadrat einer Zahl auch
der 2 komme, man wird immer eine kommensurable
Zahl finden können, deren Quadrat der Zahl 2 noch
näher kommt.
Bei dieser Betrachtungsweise ist die inkommensurable
Zahl
yT
nichts anderes als das Symbol dieser besonderen Ein-
2 2 I, 2. Mathematische Größe und Erfahrung.
teilung der kommensurablen Zahlen; und jeder Eintei-
lungsart entspricht so eine kommensurable Zahl, welche
ihr als Symbol dient, oder es entspricht ihr keine kom-
mensurable Zahl.
Aber wenn man sich hiermit begnügen wollte, so
würde man zu sehr den Ursprung dieser Symbole ver-
gessen; es bleibt unaufgeklärt, wie man dahin gekommen
ist, ihnen eine Art konkreter Existenz zuzusprechen; und
beginnt andererseits die Schwierigkeit nicht ebenso schon
bei den gebrochenen Zahlen selbst? Würden wir den
Begriff dieser Zahlen haben ^), wenn wir nicht im voraus
einen Gegenstand kennen würden, den wir uns als bis
ins Unendliche teilbar, d. h. als ein Kontinuum vor-
stellen?
Das physikalische Kontinuum. — Man kommt
so dazu, sich zu fragen, ob der Begriff des mathemati-
schen Kontinuums nicht einfach der Erfahrung ent-
nommen ist. Wenn dem so wäre, so würden die rohen
Angaben der Erfahrung, die eben unsere Empfindungen
sind, der Messung zugänglich sein. Wir könnten ver-
sucht sein zu glauben, daß es wirklich so ist, denn man
hat in neuerer Zeit versucht, sie zu messen, und sogar
ein Gesetz formuliert, daß unter dem Namen des Fechner-
schen Gesetzes bekannt ist und nach welchem die Emp-
findung proportional dem Logarithmus des Reizes
sein soll.^)
Aber wenn man die Experimente genauer prüft,
durch welche man dieses Gesetz zu begründen suchte,
wird man zu einer ganz entgegengesetzten Folgerung ge-
führt. Man hat z. B. beobachtet, daß ein Gewicht A
von zehn Gramm und ein Gewicht B von 1 1 Gramm
identische Empfindungen hervorriefen, daß das Gewicht
B ebensowenig von einem 12 Gramm schweren Ge-
wichte C unterschieden werden konnte, daß man aber
leicht das Gewicht A vom Gewichte C auseinanderhielt.
Physikalisches und mathematisches Kontinuum. 2^
Die groben Erfahrungsresultate können also durch folgende
Beziehungen ausgedrückt werden:
A = B, B ^ C, A< C,
und diese können als Formulierung des physikalischen
Kontinuums betrachtet werden.
Das ist aber absolut unverträglich mit dem Prinzipe
des Widerspruchs, und die Notwendigkeit, diesen Miß-
klang zu beseitigen, hat uns dazu geführt, das mathe-
matische Kontinuum zu erfinden. Man wird also zu
dem Schlüsse genötigt, daß dieser Begriff in allen seinen
Teilen durch den Verstand geschaffen ist, aber daß die
Erfahrung uns dazu Veranlassung gegeben hat.
Wir können nicht glauben, daß zwei Größen, welche
einer und derselben dritten gleich sind, nicht unterein-
ander gleich sein sollen, und dadurch werden wir dazu
gebracht vorauszusetzen, daß A sowohl von B als von
C verschieden sei, daß aber die Unvollkommenheit unserer
Sinne uns nicht erlaubte, sie auseinanderzuhalten.
Die Schöpfung des mathematischen Konti-
nuums. — Erstes Stadium. — Um uns über die Tat-
sachen Rechenschaft zu geben, konnten wir uns bisher
damit begnügen, zwischen A und B eine kleine Anzahl
von Gliedern einzuschalten, deren jedes für sich blieb.
Was geschieht nun, wenn wir irgend ein Werkzeug zu
Hilfe nehmen, um der Schwäche unserer Sinne nachzu-
helfen, wenn wir uns z. B. eines Mikroskopes bedienen?
Glieder, welche wir nicht voneinander unterscheiden
konnten, wie soeben A und B, erscheinen uns jetzt voll-
kommen getrennt, aber zwischen A und B, die jetzt von-
einander getrennt sind, läßt sich ein neues Glied D ein-
schalten, das wir weder von A noch von B unterscheiden
können. Trotz der Anwendung der vollkommensten
Methoden werden die groben Resultate unserer Erfahrung
immer den Charakter des physikalischen Kontinuums an
24 I, 2. Mathematische Größe und Erfahrung.
sich tragen mit dem Widerspruche, der davon unzer-
trennlich ist. Wir werden dem nur entgehen, indem
wir ohne Aufhören neue GHeder zwischen die schon
unterschiedenen hineinschieben, und diese Operation muß
bis ins Unendhche fortgesetzt werden. Wir würden nur
begreifen können, daß man dabei irgendwo aufhören
müsse, wenn wir uns ein Werkzeug ausdenken, das hin-
reichend mächtig wäre, um das physikaHsche Kontinuum
in diskrete Elemente zu zerlegen, wie das Teleskop die
Milchstraße in einzelne Sterne auflöst. Aber das können
wir uns nicht vorstellen; in der Tat, nur durch Ver-
mittlung unserer Sinne bedienen wir uns unserer Werk-
zeuge. Mit dem Auge beobachten wir das durch <^as
Mikroskop vergrößerte Bild, und folglich muß dieses
Bild immer den Charakter der Gesichtsempfindung be-
halten und folglich auch denjenigen des physikalischen
Kontinuums.
Nichts unterscheidet eine direkt beobachtete Länge
von der Hälfte dieser Länge, wenn letztere durch das
Mikroskop verdoppelt wird. Das Ganze ist dem Teile
homogen; dadurch entsteht ein neuer Widerspruch oder,
besser gesagt, es würde ein solcher entstehen, wenn die
Anzahl der Glieder als endlich vorausgesetzt wäre; es
ist in der Tat klar, daß der Teil, welcher doch weniger
Glieder enthält als das Ganze, dem Ganzen nicht ahn-,
lieh sein kann.
Der Widerspruch hört auf, sobald die Anzahl der
Glieder als unbegrenzt angesehen wird; nichts verhindert
uns, z. B. die Gesamtheit der ganzen Zahlen als ähnlich
der Gesamtheit der geraden Zahlen anzusehen, welche
doch nur einen Teil der ersteren bilden, und wirklich
gehört zu jeder ganzen Zahl eine gerade Zahl, welche
von der ersteren das Doppelte beträgt.
Aber nicht bloß, um diesem Widerspruche zu ent-
gehen, welcher in der Erfahrungstatsache enthalten ist,
Kontinua verschiedener Ordnung. 25
wird der Verstand dazu geführt, den Begriff eines Kon-
tinuums zu schaffen, welches durch eine unendliche An-
zahl von Gliedern gebildet wird.
Es vollzieht sich dabei alles wie in der Folge der
ganzen Zahlen. Wir haben die Fähigkeit zu begreifen,
daß eine Einheit einer gegebenen Menge von Einzel-
heiten hinzugefügt werden kann; dank der Erfahrung
haben wir Gelegenheit, diese Fähigkeiten zu üben und
uns dieselbe zum Bewußtsein zu bringen: aber von die-
sem Moment ab fühlen wir, daß unsere Macht keine
Grenze hat und daß wir endlos weiter zählen könnten,
obgleich wir niemals eine unbegrenzte Anzahl von Dingen
zu zählen hatten.
Ebenso empfinden wir, sobald wir dazu geführt sind,
Mittelglieder zwischen die unmittelbar aufeinanderfolgen-
den Glieder einer Reihe einzuschalten, daß diese Opera-
tion über jede Grenze hinaus fortgesetzt werden kann
und daß es sozusagen keinen triftigen Grund dafür gibt
aufzuhören.
I\Ian erlaube mir, um mich kürzer zu fassen, als
mathematisches Kontinuum erster Ordnung jede Gesamt-
heit von Gliedern zu bezeichnen, die nach demselben
Gesetze gebildet werden, wie die Stufenleiter der kom-
mensurablen Zahlen. Wenn wir in der Folge nach dem
Bildungsgesetze der inkommensurablen Zahlen neue Stufen
einschalten, so werden wir das erhalten, was wir ein
Kontinuum der zweiten Ordnung nennen wollen.
Zweites Stadium. — Wir haben bis jetzt nur den
ersten Schritt getan; wir haben den Ursprung des Kon-
tinuums erster Ordnung erklärt; aber wir müssen jetzt
sehen, warum das noch nicht genügt und warum es not-
wendig ist, die inkommensurable Zahl zu ersinnen.
Wenn man sich eine Linie vorstellen will, so wäre
es nur möglich mit den Merkmalen des physikalischen
Kontinuums, das heißt, man kann sie sich nur in einer
20 I) 2. Mathematisclie Größe und Erfahrung.
gewissen Breite vorstellen. Zwei Linien würden uns als-
dann in der Gestalt von zwei engen Streifen erscheinen,
und wenn man sich mit dieser groben Vorstellung be-
gnügt, so ist es klar, daß diese beiden Linien, wenn
sie sich schneiden, einen Teil gemeinsam haben. '^)
Aber der reine Mathematiker geht einen Schritt weiter :
ohne ganz auf die Hilfsmittel seiner Sinne zu verzichten,
will er den Begrifif der Linie ohne Breite erlangen und
denjenigen des Punktes ohne Ausdehnung. Er kann
dazu nur kommen, indem er die Linie als die Grenze
betrachtet, welcher sich ein immer schmaler werdender
Streifen unbegrenzt nähert, und den Punkt als die Grenze,
welcher sich ein immer kleiner werdendes Flächenstück
beliebig nähert. Dann werden unsere beiden Streifen,
so schmal sie auch sein mögen, immer ein Flächenstück
gemeinsam haben, welches desto kleiner sein wird, je
weniger breit die Streifen sind, und deren Grenze das
sein wird, was der reine Mathematiker einen Punkt nennt.
Von diesem Standpunkte aus sagt man, daß zwei
Linien, welche sich schneiden, einen Punkt gemeinsam
haben, und in diesem Sinne erscheint diese Wahrheit
einleuchtend.
Aber sie würde einen Widerspruch enthalten, wenn
man die Linien als Kontinua erster Ordnung betrachten
würde, d. h. wenn auf den vom Mathematiker gezogenen
Linien sich nur Punkte befinden sollten, welche rationale
Zahlen zu Koordinaten haben. Der Widerspruch wird
offenbar, sobald man zum Beispiel die Existenz von
Geraden und Kreisen zuläßt.
In der Tat ist folgendes klar: wenn nur die Punkte
mit kommensurablen Koordinaten als wirklich betrachtet
würden, so würden die Diagonale eines Quadrates und
der diesem Quadrate eingeschriebene Kreis sich nicht
schneiden, denn die Koordinaten des Schnittpunktes be-
rechnen sich als inkommensurable Zahlen.^)
Punkt und Linie.
27
Das würde nicht genügen, denn man würde auf diese
Weise nur gewisse inkommensurable Zahlen und keines-
wegs alle diese Zahlen erhalten.
Stellen wir uns eine gerade Linie vor, welche in
zwei Halbstrahlen geteilt ist. Jeder dieser Halbstrahlen
wird unserer Einbildungskraft als ein Streifen von einer
gewissen Breite erscheinen; diese Streifen würden über-
einander greifen, weil es zwischen ihnen keinen Zwischen-
raum geben darf. Der gemeinsame Teil wird uns wie
ein Punkt erscheinen, w^elcher immer bestehen bleibt,
wenn wir unsere Streifen in der Vorstellung dünner und
dünner werden lassen, und so werden wir es als eine
anschauungsmäßige Wahrheit zulassen, daß die gemein-
same Grenze zweier Halbstrahlen, in welche eine Gerade
geteilt wird, ein Punkt ist; hier werden wir an die oben
erörterte Vorstellung (S. 2 1 f ) erinnert, nach welcher eine
inkommensurable Zahl als die gemeinsame Grenze zweier
Klassen von rationalen Zahlen betrachtet wurde.
Auf solche Weise entsteht das Kontinuum zweiter
Ordnung, welches mit dem eigentlichen mathematischen
Kontinuum identisch ist.
Zusammenfassung. — Wir haben also folgendes
erkannt: Der Verstand hat die Fähigkeit, Symbole zu
schaffen, und dadurch konstruiert er das mathematische
Kontinuum, welches nichts anderes ist als ein beson-
deres System von Symbolen. Seine Macht wird nur be-
grenzt durch die Notwendigkeit, Widersprüche zu ver-
meiden; aber der Verstand macht von dieser Fähigkeit
nur Gebrauch, wenn die Erfahrung ihm dazu Veran-
lassung gibt.
In unserem Falle liegt diese Veranlassung in der
Vorstellung des physikalischen Kontinuums, wie sie aus
den groben Erfahrungen der Sinne abgeleitet wird. Aber
diese Vorstellung führt zu einer Reihe von Widersprüchen,
die man schrittweise beseitigen muß. Dadurch werden
28 Ij 2. Mathematische Größe und Erfahrung.
wir genötigt, ein System von Symbolen zu ersinnen, das
immer verwickelter wird. Dasjenige, mit welchem wir
uns zufrieden geben, ist nicht nur frei von inneren Wider-
sprüchen (das galt schon für alle einzelnen Abschnitte
des von uns zurückgelegten Weges), sondern es steht
auch nicht im Widerspruche mit den verschiedenen
Sätzen, die wir als anschauungsmäßige bezeichnen und
welche aus mehr oder weniger durchgearbeiteten, er-
fahrungsmäßigen Vorstellungen abgeleitet werden.
Die meßbare Größe. — Die Größen, welche wir
bis jetzt studiert haben, sind nicht meßbar; wir können
wohl sagen, ob die eine dieser Größen größer ist als
eine bestimmte andere, aber nicht, ob sie zwei- oder
dreimal so groß ist.
Ich habe mich in der Tat bis jetzt nur mit der Ord-
nung beschäftigt, in welcher unsere Glieder aufeinander
folgen. Aber für die meisten Anwendungen ist das
nicht genügend. Wir müssen lernen, die Intervalle zu
vergleichen, welche die aufeinanderfolgenden Glieder
irgend zweier Paare von Gliedern voneinander trennen.
Nur unter dieser Bedingung wird das Kontinuum eine
meßbare Größe und kann man auf dasselbe die Opera-
tionen der Arithmetik anwenden.
Das kann nur mit Hilfe einer neuen und besonderen
Übereinkunft geschehen. Man wird also dahin über-
einkommen, daß in einem gewissen bestimmten Falle
das Intervall zwischen den Gliedern A und B gleich ist
dem Intervalle, welches C von Z> trennt. Beim Beginn
unserer Arbeit sind wir z. B. von der Stufenleiter der
ganzen Zahlen ausgegangen, und wir haben vorausge-
setzt, daß man zwischen zwei aufeinanderfolgenden Stufen
n Zwischenstufen einschalte; wenn dem so ist, so sollen
die neuen Stufen durch Übereinkunft als äquidistant
betrachtet werden.
Auf diese Weise kann man die Addition zweier
Meßbare Größen, 29
Größen definieren; denn wenn das Intervall AB nach
der Definition gleich dem Intervalle CD ist, so ist nach
der Definition auch das Intervall AD gleich der Summe
der Intervalle A B und A C.
AB CD
Voraus. AB = CD, Behaup. AD = AB + AC
Bew. AD = AB + BC + CD
=^ AB + fBC+ AB)
==AB-^AC.
Diese Definition ist in sehr weitem Umfange, jedoch
nicht ganz willkürlich. Sie ist gewissen Bedingungen
unterworfen, z. B. den Gesetzen der Kommutativität und
der Associativität der Addition (Vgl. oben S. 7 f.). Aber
wenn nur die gewählte Definition diesen Regeln genügt,
so steht die Wahl sonst frei, und es ist überflüssig, sie
näher zu präcisieren.
Verschiedene Bemerkungen. — Wir können uns
mehrere wichtige Fragen vorlegen:
I. Ist die schaff"ende Kraft des Verstandes mit der
Erschaffung des mathematischen Kontinuums erschöpft?
Nein: die Arbeiten von P. du Bois-Reymond zeigen
es in schlagender Weise.^)
Man weiß, daß die Mathematiker unendlich kleine
Größen verschiedener Ordnung unterscheiden und daß
diejenigen zweiter Ordnung unendlich klein sind, nicht
nur in absolutem Sinne, sondern sogar in Bezug auf
diejenigen erster Ordnung. Es ist nicht schwer, sich
unendlich kleine Größen gebrochener oder sogar irratio-
naler Ordnung auszudenken, und wir finden hier die
Stufenleiter des mathematischen Kontinuums wieder, mit
welcher wir uns auf den vorhergehenden Seiten be-
schäftigt haben.
^O I> 2. Mathematische Größe und Erfahrung.
Noch mehr: es existieren unendhch kleine Größen,
welche unendlich klein im Verhältnis zu denjenigen
erster Ordnung, dagegen unendlich groß im Verhältnis
zu denjenigen der Ordnung i -\- e sind, und das gilt, so
klein auch s sein mag. Da haben wir also neue Glieder
in unsere Reihe eingeschaltet, und wenn man mir er-
lauben will, zu der schon eben angedeuteten Ausdrucks-
weise zurückzukehren, welche sehr bequem, wenn auch
nicht durch den Gebrauch geheiligt ist, so könnte ich
sagen, daß man auf diese Weise ein Kontinuum dritter
Ordnung geschaffen hat.
Es würde leicht sein weiter zu gehen, aber es würde
ein leeres Spiel des Verstandes werden; man würde sich
Symbole ausdenken ohne jede Möglichkeit der Anwen-
dung, und niemand wird sich darum kümmern. Das
Kontinuum dritter Ordnung, zu dem die Betrachtung
der verschiedenen Ordnungen unendlich kleiner Größen
führt, bietet selbst zu wenig Vorteile, um sich das Bürger-
recht zu erwerben, und die Mathematiker betrachten es
nur als eine Merkwürdigkeit. Der Verstand bedient sich
seiner schöpferischen Kraft nur, wenn die Erfahrung ihn
dazu nötigt.
2. Hat man sich einmal den Begriff des mathemati-
schen Kontinuums verschafft, ist man dann gegen die-
jenigen Widersprüche gesichert, welche zur Konstruktion
des Kontinuums Veranlassung gaben?
Nein; ich will es durch ein Beispiel erläutern:
Man muß schon sehr weit in der Mathematik vorge-
schritten sein, um es nicht für selbstverständlich zu
halten, daß jede Kurve eine Tangente hat: und in der
Tat, wenn man sich diese Kurve und eine gerade Linie
als zwei schmale Streifen vorstellt, so wird man sie
immer in eine solche Lage bringen können, daß sie ein
Flächenstück gemeinsam haben, ohne sich zu schneiden.
Man stellt sich weiter vor, daß die Breite dieser beiden
Kurven ohne Tangenten. ■JI
Streifen unbegrenzt abnimmt, so wird dieses gemeinsame
Stück immer erhalten bleiben, und beim Verfolgen des
Grenzüberganges wird man sagen können, daß die beiden
Linien einen Punkt gemeinsam haben, ohne sich zu
schneiden, d. h. daß sie sich berühren.
Der Mathematiker, welcher (bewußt oder unbewußt)
auf diese Weise seine Schlüsse machen wollte, würde
nichts anderes tun, als was wir oben (vgl. S. 26) getan
haben, um zu beweisen, daß zwei Linien, welche sich
schneiden, einen Punkt gemeinsam haben, und seine
Anschauung könnte als ebenso berechtigt erscheinen.
Sie würde ihn jedoch in diesem Falle täuschen. INIan
kann beweisen, daß es Kurven gibt, welche keine Tan-
gente haben, wenn eine solche Kurve als ein analytisches
Kontinuum zweiter Ordnung definiert wird.^^)
Ohne Zweifel hätte irgend ein Kunstgriff, ähnlich den-
jenigen, welche wir oben studiert haben, genügt, um
diesen Widerspruch aufzuheben; aber da letzterer nur
ganz ausnahmsweise vorkommt, so hat man sich damit
weiter keine Mühe gegeben. Anstatt zu versuchen, die
Anschauung mit der Analysis in Übereinstimmung zu
bringen, hat man sich damit begnügt, die eine der beiden
zu opfern, und da die Analysis unfehlbar bleiben muß,
so hat man natürlich der Anschauung Unrecht gegeben.
Das physikalische Kontinuuni von mehreren
Dimensionen. — Ich habe weiter oben das physi-
kalische Kontinuum durchgenommen, so wie es aus den
unmittelbaren Beobachtungen unserer Sinne hervorgeht,
oder wenn man will, aus den groben Resultaten der
Versuche von Fechner (vgl. S. 2 2 f.); ich habe gezeigt,
daß diese Erfahrungen in den widersprechenden Formeln
zusammengefaßt sind:
A = B, B = C, A<: C.
Wir wollen jetzt sehen, wie diese Vorstellung sich
■2 2 I, 2. Mathematisclie Größe und Erfahrung.
verallgemeinern läßt und wie daraus der Begriff des
Kontinuums von mehreren Dimensionen hervorgehen
kann.
Betrachten wir irgend zwei Gesamtheiten von Emp-
findungen. Entweder wir können sie voneinander unter-
scheiden, oder wir können es nicht, ebenso wie sich in
den Untersuchungen Fechners ein Gewicht von lo Gramm
von einem Gewichte von I2 Gramm unterscheiden ließ,
aber nicht von einem Gewichte von 1 1 Gramm. Ich
brauche nichts weiter, um das Kontinuum von mehreren
Dimensionen zu konstruieren.
Wir wollen eine dieser Gesamtheiten der Empfindun-
gen Element nennen. Dasselbe wird dem mathematischen
Punkt ungefähr analog sein; aber doch wird es nicht
ganz dasselbe sein. Wir können nicht sagen, daß unser
Element ohne Ausdehnung sei, weil wir es nicht von
benachbarten Elementen unterscheiden können und weil
es auch von einer Art undurchsichtiger Schicht umgeben
ist. Wenn man mir diesen astronomischen Vergleich
gestatten will, so würden sich unsere ,, Elemente" wie
Nebelflecke verhalten, während die mathematischen Punkte
sich wie Sterne verhalten.
Wenn wir an dieser Vorstellung festhalten, so wird
ein System von Elementen ein Kontinuum bilden, wenn
man von irgend einem Elemente zu irgend einem ande-
ren durch eine Reihe von aufeinanderfolgenden Elementen
hindurch übergehen kann, unter denen keines sich vom
vorhergehenden unterscheiden läßt. Diese lineare Reihe
verhält sich zur Linie des Mathematikers wie ein ein-
zelnes Element sich zum Punkte verhält.
Ehe wir weiter gehen, muß ich erörtern, was ein
Querschnitt ist. Fassen wir ein Kontinuum C ins
Auge und nehmen ihm gewisse seiner Elemente, welche
wir für einen Augenblick als nicht zu diesem Kontinuum
zugehörig betrachten. Die so entnommene Gesamtheit
Mehrere Dimensionen.
33
der Elemente wird man einen Querschnitt nennen. Ver-
mittelst dieses Querschnittes läßt es sich bewerkstelligen,
daß C in mehrere getrennte Kontinua zerlegt wird, und
zwar dann, wenn die Gesamtheit der zurückbleibenden
Elemente aufhört ein einziges Kontinuum zu bilden.
Alsdann sind auf C zwei Elemente angebbar, A und
B, welche man als zu den beiden getrennten Kontinuis
gehörig betrachten müßte; und zwar wird man letzteres
dann tun, wenn es unmöglich ist, eine lineare Reihe
aufeinander folgender Elemente von C zu finden, wobei
keines der Elemente vom vorhergehenden zu unter-
scheiden ist und das erste Element mit A, das letzte
mit B zusammenfällt, ohne daß eines unter den
Elementen dieser Reihe von einem Elemente
des Querschnittes nicht unterschieden werden
kann.
Es kann im Gegenteil möglich sein, daß der ge-
machte Querschnitt ungenügend ist, um das Kontinuum
C zu zerlegen. Um die physikalischen Kontinua einzu-
teilen, werden wir genau prüfen, welches diejenigen Quer-
schnitte sind, die man notwendig braucht, um die Zer-
legung durchzuführen.
Wenn man ein physikalisches Kontinuum C durch
einen Querschnitt zerlegen kann, welcher sich auf eine
endliche Anzahl von gegeneinander abgegrenzten Ele-
menten reduziert und welcher folglich weder ein Kon-
tinuum noch mehrere Kontinua bildet, so werden wir C
ein Kontinuum von einer Dimension nennen. ■'^^)
Wenn im Gegenteil C nur durch Querschnitte zer-
legt werden könnte, welche selbst Kontinua sind, so
werden wir sagen, daß C mehrere Dimensionen hat.
Wenn es genügt, Querschnitte zu haben, welche Kon-
tinua von einer Dimension sind, so werden wir sagen,
.daß C zwei Dimensionen hat; wenn zweidimensionale
P o i n c a r e , AVissenschaft und Hypothese. 3
,o^ Mathematische Größe und Erfahrung.
Querschnitte genügen, so werden wir sagen, daß C drei
Dimensionen hat, und so weiter.
So läßt sich der Begriff des physikaUschen Kon-
tinuums von mehreren Dimensionen definieren, dank der
einfachen Tatsache, daß zwei Gesamtheiten von Emp-
findungen entweder voneinander unterscheidbar oder
nicht voneinander unterscheidbar sind.
Das mathematische Kontinuum von mehreren
Dimensionen. — Der Begriff des mathematischen Kon-
tinuums von n Dimensionen ist daraus ganz natürHch
durch einen Prozeß hervorgegangen, ganz ähnUch dem-
jenigen, den wir am Anfang dieses Kapitels behandelt
haben. Ein Punkt eines derartigen Kontinuums erscheint
uns, wie man weiß, als definiert durch ein System von n
verschiedenen Größen, welche man seine Koordinaten
nennt.
Es ist nicht immer notwendig, daß diese Größen
meßbar sind, und es gibt z. B. einen Zweig der Mathe-
matik, in welchem man von der Messung dieser Größen
Abstand nimmt und wo man sich ausschließlich damit
beschäftigt, zu erfahren, ob z. B. auf einer Kurve
A — B — C der Punkt B zwischen den Punkten A und
C liegt, und nicht damit, zu erfahren, ob der Bogen
AB gleich dem Bogen BC oder ob er etwa zweimal,
so groß ist. Diesen Zweig der Geometrie nennt man
Analysis situs.^^)
Das ist ein Lehrgebäude für sich, welches die Auf-
merksamkeit der größesten Mathematiker auf sich ge-
lenkt hat und bei welchem man eine Reihe bemerkens-
werter Lehrsätze auseinander hervorgehen sieht. Diese
Lehrsätze sind von denjenigen der gewöhnlichen Geome-
trie dadurch ausgezeichnet, daß sie rein qualitativ sind
und daß sie wahr bleiben, auch wenn die Figuren
durch einen ungeschickten Zeichner kopiert würden,
welcher dabei ihre Proportionen in plumper Weise ver-
Analysis situs. i> c
ändert und die geraden Linien durch mehr oder minder
krumme Züge ersetzt.
Dadurch, daß man das Maß in das von uns soeben
definierte Kontinuum einführen wollte, ist dieses Kon-
tinuum zum Räume geworden und ist die Geometrie
geboren. Aber das nähere Studium dieser Verhältnisse
behalte ich mir für den zweiten Teil vor.
Zweiter Teil.
Der Raum.
Drittes Kapitel.
Die nicht -Euklidische Geometrie.
Jede Schlußfolgerung stützt sich auf Voraussetzungen ;
diese Voraussetzungen selbst sind entweder an sich evi-
dent und bedürfen keines Beweises oder sie können nur
dadurch gesichert werden, daß man sich auf andere
Sätze stützt, und weil man so nicht ins Unendliche fort-
fahren kann, so beruht jede deduktive Wissenschaft und
besonders die Geometrie auf einer gewissen Anzahl von
unbeweisbaren Axiomen. Alle Lehrbücher der Geometrie
beginnen daher mit der Aufzählung dieser Axiome.
Aber man muß einen Unterschied zwischen letzteren
machen: einige, wie z. B.: ,,Zwei Größen, die einer und
derselben dritten gleich sind, sind untereinander gleich",
sind nicht Behauptungen der Geometrie, sondern analy-
tische Sätze. Ich betrachte sie als analytische Urteile
a priori und beschäftige mich nicht weiter mit ihnen. ^^)
Aber ich muß mich auf andere Axiome berufen,
welche der Geometrie eigentümlich sind. Die meisten
Lehrbücher geben drei solche an:
1. Durch zwei Punkte kann nur eine Gerade gehen;
2. Die gerade Linie ist der kürzeste Weg von einem
Punkte zum anderen;
3. Durch einen Punkt kann man nur eine Gerade
gehen lassen, welche zu einer gegebenen Geraden pa-
rallel ist.
Nicht-Euklidische Geometrie. ^y
Obgleich man sich im allgemeinen nicht die Mühe
gibt, das zweite Axiom zu beweisen, würde es doch
möglich sein, es aus den beiden anderen und aus den
viel zahlreicheren Axiomen abzuleiten, welche man im-
plicite zuläßt, ohne sie auszusprechen, wie ich weiterhin
darlegen werde.
Man hat lange vergeblich versucht, das dritte Axiom
ebenfalls zu beweisen, welches unter dem Namen des
Euklidischen Postulates bekannt ist. Was man in
dieser unerfüllbaren Hoffnung an Kräften verschwendet
hat, ist wirklich unvorstellbar. Endlich stellten im An-
fange des Jahrhunderts und ungefähr zu der gleichen
Zeit zwei Gelehrte, ein Russe und ein Ungar, Loba-
tschewsky und Bolyai unwiderlegbar fest, daß dieser Be-
weis unmöglich sei; sie haben uns so ziemlich von den
Erfindern, welche unsere elementare Geometrie ohne das
Euklidische Postulat aufstellen wollten, befreit; seitdem
erhält die Academie des Sciences nur noch ein oder
zwei solche Beweise im Jahr.^*)
Die Frage war noch nicht erschöpft; aber sie machte
bald einen großen Schritt vorwärts durch die Publikation
der berühmten Abhandlung von Riemann, betitelt: Über
die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde
liegen. Diese Schrift hat die meisten neueren Arbeiten
beeinflußt, von welchen ich weiterhin sprechen werde, und
unter denen man diejenigen von Beltrami und von Helm-
holtz erwähnen muß.^^)
Die Geometrie von Lobatschewsky. — Wenn es
möglich wäre, das Euklidische Postulat auf andere Axiome
zurückzuführen, so würde man off"enbar durch Verneinung
des Postulates, bei Zulassung der anderen Axiome auf
widerstreitende Folgerungen stoßen; es würde also un-
möglich sein, auf solche Voraussetzungen eine zusammen-
hängende Geometrie zu stützen.
og II, 3. Nicht-Euklidische Geometrie.
Genau das hat Lobatschewsky durchgeführt. Er setzt
zu Anfang voraus:
„Man kann durch einen Punkt mehrere Paral-
lelen zu einer gegebenen Geraden ziehen."
Und er behält andererseits alle anderen Axiome
Euklids bei. Aus diesen Hypothesen leitet er eine
Reihe von Lehrsätzen ab, zwischen denen keinerlei
Widerspruch besteht, und er konstruiert eine Geometrie,
deren unfehlbare Logik in nichts derjenigen der Eukli-
dischen Geometrie nachsteht.
Die Lehrsätze sind, wohl verstanden, sehr verschieden
von denjenigen, an welche wir gewöhnt sind, und sie
machen anfangs etwas stutzig.
„So ist die Summe der Winkel eines Dreiecks
immer kleiner wie zwei Rechte, und die Differenz
zwischen dieser Summe und zwei Rechten ist dem
Flächeninhalte des Dreiecks proportional."
,,Es ist unmöglich, zu einer gegebenen Figur eine
ähnliche Figur in größeren oder kleineren Dimensionen
zu zeichnen."
„Wenn man einen Kreis in n gleiche Teile teilt und
wenn man Tangenten in den Teilpunkten zieht, so
werden diese n Tangenten ein Polygon bilden, wenn
der Halbmesser des Kreises klein genug ist, aber wenn
der Halbmesser hinreichend groß ist, so werden sie sich
gegenseitig nicht schneiden."
Es ist unnütz, diese Beispiele zu vermehren; die
Sätze Lobatschewskys haben keine Beziehungen zu den-
jenigen von Euklid, aber sie sind nicht weniger streng
logisch untereinander verbunden.
Die Geometrie von Riemann. — Wir wollen uns
eine eigenartige Welt vorstellen, welche mit We?en be-
völkert ist, die keine Dicke (oder Höhe) haben, und wir
wollen ferner voraussetzen, daß diese „gänzlich flachen"
Lebewesen alle in derselben Ebene sich befinden und
Lobatschewsky und Riemann. ^^g
nicht aus ihr heraus können. Wir nehmen außerdem
an, daß diese Welt weit genug von den anderen Welten
entfernt sei, so daß sie deren Einflüsse entzogen ist.
Wenn wir einmal dabei sind, Hypothesen aufzustellen,
so kostet es uns weiter keine Mühe, diese Wesen mit
Vernunft auszustatten und sie für fähig zu halten, Geome-
trie zu treiben. In diesem Falle werden sie dem Räume
gewiß nur zwei Dimensionen zuerkennen. ■'^^)
Aber wir wollen jetzt voraussetzen, daß diese einge-
bildeten Lebewesen, indem sie zwar ohne Dicke (resp.
Höhe) bleiben, eine kugelförmig gewölbte Gestalt haben
und nicht eine flache Gestalt, und daß sie alle auf der-
selben Kugel wären, ohne die Macht zu haben, sich da-
von zu entfernen. Welche Geometrie würden sie kon-
struieren? Es ist klar, daß sie vor allem dem Räume
nur zwei Dimensionen zusprechen würden; was würde
nun für sie die Rolle der geraden Linie spielen? Off"en-
bar der kürzeste Weg zwischen einem Punkte und dem
anderen auf der Kugel, d. h. ein Bogen eines größesten
Kreises; mit einem Worte: ihre Geometrie würde die
Geometrie der Kugel sein (Sphärische Geometrie).
Was sie den Raum nennen würden, wird diese Kugel
sein, von welcher sie nicht fort können und auf welcher
sich alle Ereignisse abspielen, von denen sie Kenntnis
haben können. Ihr Raum wird also ohne Grenzen
sein, weil man auf einer Kugel stets vorwärts schreiten
kann, ohne jemals aufgehalten zu werden, und dennoch
wird er endlich sein; man wird niemals ans Ende kommen,
aber man wird bei stetigem Fortschreiten in gleicher
Richtung zum Ausgangspunkte zurückkehren.
In gleichem Sinne ist die Geometrie von Riemann
identisch mit der sphärischen Geometrie, wenn man
letztere auf drei Dimensionen ausdehnt. Um sie zu
konstruieren, mußte der deutsche Mathematiker nicht nur
das Euklidische Postulat über Bord werfen, sondern auch
^O II> 3« Nicht-Euklidische Geometrie.
das erste Axiom: durch zwei Punkte kann man
nur eine Gerade gehen lassen.
Auf einer Kugel kann man durch zwei gegebene
Punkte im allgemeinen nur einen größten Kreis legen
(der wie wir soeben gesehen haben, für unsere einge-
bildeten Lebewesen die Rolle der geraden Linie spielen
würde); aber es gibt eine Ausnahme: Wenn die beiden
gegebenen Punkte einander diametral gegenüber liegen,
kann man durch sie eine unendliche Anzahl von größten
Kreisen hindurch legen. Ebenso wird man in der
Riemann sehen Geometrie (wenigstens bei einer der für
sie möglichen Formen) durch zwei Punkte im allgemeinen
nur eine gerade Linie legen können; aber es gibt Aus-
nahmefälle, wo durch zwei Punkte unendlich viele gerade
Linien hindurchgehen.^'^)
Es besteht eine Art Gegensatz zwischen der Riemann-
schen und der Lobatschewskyschen Geometrie. So ist
die Summe der Winkel eines Dreiecks
gleich zwei Rechten in der Euklidischen Geometrie,
kleiner als zwei Rechte bei Lobatschewsky,
größer als zwei Rechte bei Riemann.
Die Zahl der Linien, welche man parallel zu einer
gegebenen Linie durch einen gegebenen Punkt ziehen
kann, ist:
gleich eins in der Euklidischen Geometrie,
gleich Null bei Riemann,
unendlich groß bei Lobatschewsky.^^)
Wir wollen noch hervorheben, daß der Riemannsche
Raum endlich, jedoch unbegrenzt ist, wenn man diese
Worte in dem oben festgesetzten Sinne versteht.
Die Flächen konstanten Krümmungsmaßes. —
Ein Einwurf bliebe indessen möglich. Die Lehrsätze
von Lobatschewsky und von Riemann enthalten keinen
Widerspruch; aber wie zahlreich auch die Folgerungen
sein mögen, welche diese beiden Mathematiker aus ihren
Flächen konstanter Krümmung. aj
Hypothesen gezogen haben, sie haben stehen bleiben
müssen, bevor sie alle erschöpft hatten, denn die An-
zahl dieser Folgerungen würde unendlich sein; wer sagt
uns aber, daß sie nicht doch auf irgend einen Wider-
stand gestoßen wären, wenn sie ihre Ausführungen weiter
verfolgt hätten?
Diese Schwierigkeit existiert für die Riemannsche
Geometrie nicht, vorausgesetzt, daß man sich auf zwei
Dimensionen beschränkt; die Riemannsche Geometrie
von zwei Dimensionen unterscheidet sich in der Tat,
wie wir schon gesehen haben, nicht von der sphärischen
Geometrie, welche nur ein Zweig der gewöhnlichen
Geometrie ist und welche dadurch außerhalb jeder Dis-
kussion steht.
Beltrami hat ebenso gezeigt, daß die Lobatschewsky-
sche Geometrie von zwei Dimensionen nichts anderes
ist als ein Zweig der gewöhnlichen Geometrie und da-
durch ebenfalls jeden Einwand entkräftet, den man gegen
dieselbe machen könnte.
Ich erwähne, wie er dazu gekommen ist. Fassen
wir auf einer Oberfläche irgend eine Figur ins Auge.
Wir wollen uns einbilden, diese Figur wäre auf eine
biegsame und unausdehnbare Leinwand gezeichnet, welche
so über diese Oberfläche gespannt ist, daß die verschie-
denen Linien ihre Gestalt, aber nicht ihre Länge ändern
können, wenn die Leinwand verschoben und verbogen
wird. Im allgemeinen kann diese biegsame und unaus-
dehnbare Figur nicht von ihrem Platze verschoben werden,
ohne die Oberfläche zu verlassen; aber es gibt gewisse
besondere Oberflächen, bei welchen eine solche Be-
wegung möglich wird: das sind die Oberflächen kon-
stanten Krümmungsmaßes.
Wenn wir den Vergleich aufnehmen, welchen wir
weiter oben machten, wenn wir uns Wesen ohne Dicke
(bezw. Höhe) einbilden, welche auf einer dieser Ober-
4 2 n, 3» Nicht-Euklidische Geometrie.
flächen leben, so würden dieselben die Bewegung einer
Figur, deren Linien eine konstante Länge bewahren,
für möglich halten. Eine ähnliche Bewegung würde für
Wesen ohne Dicke (resp. Höhe), welche auf einer Ober-
fläche mit variabler Krümmung (d. h. einer Fläche, deren
Krümmung nicht an jeder Stelle denselben Wert hat)
leben, unmöglich sein.
Diese Oberflächen mit konstanter Krümmung lassen
sich in zwei Arten einteilen:
Die einen sind von positiver Krümmung und
können ihre Gestalt so verändern, daß sie sich auf eine
Kugel abwickeln lassen (ohne daß dabei die Längen der
auf der Fläche gezeichneten Linien geändert würden).
Die Geometrie dieser Oberflächen reduziert sich also auf
die sphärische Geometrie, welche mit derjenigen Riemanns
identisch ist.
Die anderen sind von negativer Krümmung.
Beltrami hat gezeigt, daß die Geometrie dieser Ober-
flächen keine andere wie diejenige Lobatschewskys ist.
Die zwei-dimensionalen Geometrien von Riemann und
von Lobatschewsky lassen sich also wiederum zur Eukli-
dischen Geometrie in Beziehung setzen.
Veranschaulichung der nicht -Euklidischen Geo-
metrien. — So erledigt sich der obige Einwurf, inso-
fern er die Geometrie von zwei Dimensionen betriff't.
Es wäre leicht, die Entwicklung Beltramis auf die
Geometrien von drei Dimensionen auszudehnen. Wer
sich durch den Raum von vier Dimensionen nicht ab-
schrecken läßt, würde darin keine Schwierigkeit sehen,
aber das wird nur für wenige gelten. Ich ziehe es vor,
in anderer Weise vorzugehen.
Wir wollen eine gewisse Ebene betrachten, welche
ich als Fundamental-Ebene bezeichnen will, und wir
wollen eine Art von Wörterbuch herstellen, indem wir
mit einer doppelten Reihe von Gliedern, welche in zwei
Mittel zur Veranscliaulichung. aj
Kolonnen aufgeschrieben sind, in derselben Art wie in
den gewöhnlichen Wörterbüchern die Worte zweier
Sprachen, die denselben Sinn haben, einander korres-
pondieren lassen :^^)
Raum — — — — Teil des Raumes oberhalb der
Fundamentalebene.
Ebene — — — — Kugel, welche die Fundamental-
ebene rechtwinklig schneidet.
Gerade — — — — Kreis, welcher die Fundamental-
ebene rechtwinklig schneidet.
Kugel — — — — Kugel.
Kreis — — — — Kreis.
Winkel Winkel.
Gegenseitige Entfernung
zweier Punkte. — Logarithmus des Doppel-Verhält-
nisses, welches diese beiden
Punkte mit zwei anderen Punk-
ten bilden, wenn letztere als
Schnittpunkte der Fundamen-
talebene mit einem Kreise de-
finiert werden, der durch diese
beiden Punkte hindurchgeht
und die Fundamentalebene
rechtwinklig schneidet,
etc. — — — — — etc.
Wir nehmen jetzt die Lehrsätze von Lobatschewsky
und übersetzen sie mit Hilfe dieses Wörterbuches, wie
wir einen deutschen Text mit Hilfe eines deutsch-französi-
schen Wörterbuches übersetzen würden. Wir werden
so Lehrsätze der gewöhnlichen Geometrie er-
halten.
Nehmen wir z. B. folgenden Satz von Lobatschewsky :
,,die Summe der Winkel eines Dreiecks ist kleiner wie
zwei Rechte"; seine Übersetzung lautet folgendermaßen:
,,Wenn ein krummliniges Dreieck Kreisbögen zu Seiten
AA II, 3. Nicht-Euklidische Geometrie.
hat, deren Verlängerungen die Fundamentalebene recht-
winklig schneiden würden, so ist die Summe der Winkel
dieses rechtwinkligen Dreiecks kleiner als zwei Rechte."
Auf diese Weise wird man niemals, soweit man auch
die Folgerungen der Hypothesen von Lobatschewsky treibt,
auf einen Widerspruch stoßen. In der Tat, wenn zwei
Lehrsätze von Lobatschewsky einander widersprechen
würden, so würde dasselbe der Fall sein mit den Über-
setzungen dieser beiden Lehrsätze, welche mit Hilfe
unseres Wörterbuches gemacht sind, aber diese Über-
setzungen sind Lehrsätze der gewöhnlichen Geometrie,
und niemand zweifelt daran, daß die gewöhnliche Geo-
metrie von Widersprüchen frei ist. Woher kommt uns
diese Gewißheit und ist sie gerechtfertigt? Darin liegt
eine Frage, welche ich hier nicht zu behandeln weiß,
welche aber sehr interessant ist, und die ich nicht für
unlösbar halte. Es bleibt also nichts von dem Einwurfe
übrig, den ich weiter oben formuliert habe.
Das ist nicht alles. Die Geometrie von Loba-
tschewsky, welche einer konkreten Veranschaulichung fähig
ist, hört auf, ein leeres Spiel des Verstandes zu sein, und
kann Anwendungen erhalten; ich habe nicht Zeit, hier
von diesen Anwendungen zu sprechen, noch von dem
Vorteil, den Klein und ich daraus für die Integration
linearer Differentialgleichungen gezogen haben. ^^)
Diese Veranschaulichung ist nicht die einzig mög-
liche, und man könnte mehrere Wörterbücher herstellen,
analog dem obigen, welche alle erlauben würden, durch
eine einfache ,, Übersetzung" die Lehrsätze Lobatschewskys
in solche der gewöhnlichen Geometrie zu verwandeln.^^)
Die impliziten Axiome. — Sind die Axiome, welche
in den Lehrbüchern ausdrücklich aufgezählt werden, die
einzige Grundlage der Geometrie? Man kann vom
Gegenteil versichert sein, wenn man sieht, daß sie nach-
einander aufgegeben werden können, und daß dennoch
Implizite Axiome. ac
einige Lehrsätze bestehen bleiben, die den Theorien
EukHds, Lobatschewskys und Riemanns gemeinsam sind.
Diese Lehrsätze müssen auf Voraussetzungen beruhen,
welche die Mathematiker zu Hilfe nehmen, ohne sie aus-
drücklich auszusprechen. Es ist interessant zu versuchen,
sie von den klassischen Beweisen abzulösen.
Stuart-Mill hat behauptet, daß jede Definition ein
Axiom enthält, denn wenn man eine Definition aus-
spricht, so behauptet man implizite die Existenz des de-
finierten Objektes. Aber das ist zu weit gegangen; es
ist selten, daß man in der Mathematik eine Definition
gibt, ohne den Beweis von der Existenz des definierten
Objektes darauf folgen zu lassen, und wenn man dies
unterläßt, so geschieht es in der Regel nur, weil der
Leser leicht selbst die Lücke ausfüllen kann; man muß
auch nicht vergessen, daß das Wort ,, Existenz," wenn
es sich um ein mathematisches Objekt handelt, nicht
denselben Sinn hat, als wenn ein materieller Gegenstand
in Frage kommt. Ein mathematisches Objekt existiert,
sobald nur seine Definition weder mit sich selbst noch
mit den vorher schon bewiesenen Sätzen in Widerspruch
steht.
Aber wenn auch die Bemerkung Stuart-Mills sich
nicht auf alle Definitionen anwenden läßt, so ist sie
doch um so mehr für einige unter ihnen richtig. Man
definiert manchmal die Ebene in folgender Weise:
Die Ebene ist eine solche Oberfläche, daß die ge-
rade Linie, welche irgend zwei ihrer Punkte verbindet,
ganz in dieser Oberfläche liegt.
Diese Definition verbirgt offenbar in sich ein neues
Axiom; man könnte sie allerdings abändern, und das
würde vorteilhaft sein, wenn man nur gleichzeitig das
betreffende Axiom explizite ausspricht.
Andere Definitionen können zu nicht weniger wichtigen
Überlegungen Veranlassung geben. ^^)
A^ ir, 3. Nicht-Euklidische Geometrie.
So ist es z. B. mit der Definition der Gleichheit
zweier Figuren: zwei Figuren sind gleich, wenn man sie
aufeinander legen kann; um sie aufeinander zu legen,
muß man die eine von ihnen so weit verschieben, bis
sie mit der anderen zusammenfällt; aber wie soll man
diese Verschiebung ausführen? Wenn wir so fragen,
wird man uns zweifellos antworten, daß man es tun
muß, ohne die Figur zu deformieren, d. h. so, wie man
einen festen Körper im Räume bewegt. Der circulus
vitiosus wird dadurch evident.
In Wirklichkeit definiert diese Definition gar nichts;
sie hätte gar keinen Sinn für ein Wesen, das eine Welt
bewohnt, in der es nichts anderes als Flüssigkeiten gibt.
Wenn sie uns klar erscheint, so liegt das daran, daß
wir durch Gewohnheit mit den Eigenschaften der natür-
lichen Körper vertraut sind, welche sich nicht wesentlich
von den Eigenschaften solcher idealen Körper unter-
scheiden, deren sämtliche Dimensionen unveränderlich
sind.
Diese Definition ist nicht nur unvollständig, sondern
sie enthält auch ein nicht ausgesprochenes Axiom.
Die Möglichkeit der Bewegung einer unveränderlichen
Figur ist an sich keine evidente Wahrheit, oder sie ist es
wenigstens nur in demselben Sinne wie das Euklidische
Postulat und nicht in dem Sinne, wie es von einem
analytischen Urteile a priori gelten würde.
Studiert man andererseits die Definitionen und Be-
weise der Geometrie, so wird klar, daß man nicht nur
die Möglichkeit dieser Bewegung, sondern auch einige
ihrer Eigenschaften zulassen muß, ohne sie zu beweisen.
Dieses geht vor allem aus der Definition der geraden
Linie hervor. Man hat viele mangelhafte Definitionen
gegeben, aber die wahre ist diejenige, welche bei allen
Beweisen, in denen die gerade Linie vorkommt, still-
schweigend vorausgesetzt wird:
Eine \-ierte Geometrie. 2J.7
„Es kann eintreten, daß die Bewegung einer unver-
änderlichen Figur dergestalt ist, daß alle Punkte einer
Linie, welche zu dieser Figur gehören, unbeweglich
bleiben, während alle Punkte, welche außerhalb dieser
Linie liegen, sich bewegen. Eine solche Linie wird
man eine gerade Linie nennen." Wir haben absicht-
lich in dieser Angabe die Definition von dem Axiom,
welches sie enthält, getrennt.^^)
Viele Beweise, wie diejenigen für die verschiedenen
Kongruenz-Sätze beim Dreieck oder für die Möglichkeit,
eine Senkrechte von einem Punkte auf eine Gerade zu
fällen, beruhen auf Sätzen, deren besondere Erwähnung
man sich erspart, weil sie nämlich dazu nötigen vor-
auszusetzen, daß es möglich ist, eine Figur im Räume
zu verschieben.^*)
Die vierte Geometrie. — Unter diesen impliziten
Axiomen ist eines, welches einige Aufmerksamkeit zu
verdienen scheint, weil man unter Fortlassung desselben
eine vierte Geometrie konstruieren kann, die ebenso in
sich zusammenhängend ist wie diejenige von Euklid,
von Lobatschewsky und von Riemann.
Um zu beweisen, daß man in einem Punkte A stets
eine Senkrechte auf einer Geraden AB errichten kann,
betrachtet man eine Gerade A C als um den Punkt A
beweglich und anfänglich mit der festen Geraden AB
zusammenfallend ; man läßt sie sich um den Punkt A so
lange drehen, bis sie in die Verlängerung von AB fällt.
Man setzt hierbei zwei Behauptungen voraus: zuerst,
daß eine solche Umdrehung möglich ist, und dann, daß
sie fortgesetzt werden kann, bis jede der beiden Geraden
in die Verlängerung der anderen fällt.
Wenn man den ersten Punkt zuläßt und den zweiten
verwirft, so wird man zu einer Reihe von Lehrsätzen
geführt, welche noch fremdartiger sind wie diejenigen
^g II, 3. Nicht-Euklidische Geometrie.
von Lobatschewsky und Riemann, aber ebenso frei von
Widersprüchen.^^)
Ich werde nur einen dieser Lehrsätze anführen und
ich wähle nicht einmal den seltsamsten: eine reelle
Gerade kann senkrecht zu sich selbst sein.
Der Lehrsatz von Lie. — Die Anzahl der Axiome,
welche implizite in die klassischen Beweise eingeführt
sind, ist größer, als es nötig wäre, und es würde interes-
sant sein, sie auf ein Minimum zurückzuführen. Man
muß sich zuerst fragen, ob diese Reduktion möglich ist,
und ob die Anzahl der notwendigen Axiome und die-
jenige der ersonnenen Geometrien nicht unendlich ist.
Ein Lehrsatz von Sophus Lie beherrscht diese ganze
Diskussion. ^^) Man kann ihn folgendermaßen aussprechen :
,, Setzen wir voraus, daß man die folgenden Vorder-
sätze zuläßt:
1. Der Raum hat n Dimensionen;
2. Die Bewegung einer unveränderlichen Figur ist
möglich ;
3. Man braucht/ Bedingungen, um die Lage dieser
Figur im Räume zu bestimmen.
Die Anzahl der mit diesen Vordersätzen ver-
träglichen Geometrien ist begrenzt.''
Ich kann sogar hinzufügen, daß, wenn n gegeben
ist. man für p eine obere Grenze angeben kann.
Wenn man also die Möglichkeit der Bewegung zu-
gibt, so braucht man nur eine endliche (sogar ziemlich
beschränkte) Anzahl von dreidimensionalen Geometrien
auszudenken.
Die Geometrien von Riemann. — Dieses Resultat
widerspricht scheinbar dem Riemannschen, denn dieser
Gelehrte konstruiert eine unendliche Anzahl von ver-
schiedenen Geometrien, und diejenige, welcher man
gewöhnlich seinen Namen gibt, ist nur ein besonde-
rer Fall.
Natur der Axiome.
49
Alles hängt, wie er sagt, von der Art ab, in
welcher man die Länge einer Kurve definiert. Es gibt
eine unendliche Anzahl von Möglichkeiten, diese Länge
zu definieren, und jede von ihnen kann der Ausgangs-
punkt einer neuen Geometrie werden.
Das stimmt vollkommen, aber die meisten dieser
Definitionen sind unverträglich mit der Bewegung einer
unveränderlichen Figur, welche man in dem Lehrsatze
von Lie als möglich voraussetzt. Diese Riemannschen
Geometrien, so interessant sie unter verschiedenen Ge-
sichtspunkten sind, können demnach niemals anders als
rein analytisch sein und lassen sich nicht zu Beweisen
verwenden, welche denjenigen Euklids analog sind.^^)
Von der Natur der Axiome. — Die meisten Mathe-
matiker betrachten die Lobatschewskysche Theorie nur als
eine einfache logische IMerkwürdigkeit ; einige von ihnen
sind allerdings weiter gegangen. Ist es gewiß, daß unsere
Geometrie die rechte ist, denn es sind doch mehrere
Geometrien möglich? Die Erfahrung lehrt uns ohne
Zweifel, daß die Summe der Winkel eines Dreiecks gleich
zwei Rechten ist; aber das ist nur der Fall, wenn wir
mit zu kleinen Dreiecken operieren; nach Lobatschewsky
ist der Unterschied von zwei Rechten der Oberfläche
des Dreiecks proportional: kann diese Differenz nicht
wahrnehmbar werden, wenn wir mit größeren Dreiecken
operieren und wenn unsere Messungen genauer werden?
Die Euklidische Geometrie würde für uns damit nur
eine vorläufig richtige Geometrie sein.
Um über diese Meinung zu disputieren, müssen wir
uns vor allem fragen: Welches ist die Natur der geome-
trischen Axiome?
Sind es synthetische Urteile a priori, wie Kant sie
nennt ?
Sie drängen sich uns mit einer solchen Macht auf,
.daß wir die gegensätzliche Behauptung weder begreifen,
Poincare, Wissenschaft und Hypothese, 4
CQ II, 3. Nicht-Euklidisclie Geometrie.
noch auf ihr als Grundlage ein theoretisches Gebäude
errichten können. Es würde keine nicht- Euklidische
Geometrie mehr geben.
Man nehme, um sich davon zu überzeugen, ein wirk-
liches synthetisches Urteil a priori, z. B. dasjenige, dessen
hervorragende Wichtigkeit wir im ersten Kapitel aner-
kannt haben:
Wenn ein Lehrsatz für die Zahl i wahr ist,
und wenn man bewiesen hat, daß er für n -\- i
wahr ist, vorausgesetzt, daß er fürn gilt, so wird
er für alle ganzen, positiven Zahlen gelten.
Man versuche diesen Schluß beiseite zu lassen und
eine falsche Arithmetik zu konstruieren, analog der nicht-
Euklidischen Geometrie — das wird man nie durch-
führen können; man würde sogar versucht sein, diese
Urteile für analytisch zu halten.
Wir wollen andererseits die Vorstellung von Lebe-
wesen ohne Dicke (resp. Höhe) wieder aufnehmen (vgl.
S. 4if); wir können wohl kaum annehmen, daß sich diese
Wesen, wenn sie einen Verstand gleich dem unsrigen
hätten, die Euklidische Geometrie aneignen würden^
welche allen ihren Erfahrungen widerspräche.
Sollen wir nun daraus schließen, daß die geometri-
schen Axiome erfahrungsmäßige Wahrheiten sind? Man
experimentiert doch nicht mit idealen geraden Linien
oder Kreisen; man kann dazu nur wirkliche Gegenstände
brauchen. Worauf begründet sich also die Erfahrung,
welche als Fundament in der Geometrie dienen soll?
Die Antwort ist leicht.
Wir haben weiter oben gesehen (vgl. S. 46), daß
man bei allen Schlüssen so verfährt, als ob die geome-
trischen Figuren sich ebenso verhielten wie feste Körper.
Was die Geometrie von der Erfahrung entlehnt, sind
die Eigenschaften dieser Körper.
Die Eigenschaften des Lichtes und seine geradlinige
Die Axiome als Definitionen.
51
Fortpflanzung haben ebenfalls Veranlassung zu einigen
Sätzen der Geometrie gegeben, besonders zu denjenigen
der projektiven Geometrie, und zwar derart, daß man
von diesem Gesichtspunkte aus versucht sein könnte zu
behaupten, daß die metrische Geometrie das Studium
der festen Körper ist und daß die projektive Geometrie
sich mit dem Studium des Lichtes beschäftigt.^^)
Aber es besteht eine Schwierigkeit, welche unüber-
windlich ist. Wenn die Geometrie eine Experimental-
Wissenschaft wäre, so würde sie aufhören, eine exakte
Wissenschaft zu sein, sie würde also einer beständigen
Revision zu unterwerfen sein. Noch mehr, sie würde
von jetzt ab dem Irrtum verfallen sein, weil wir wissen,
daß es keine streng unveränderlichen Körper gibt.
Die geometrischen Axiome sind also weder
synthetische Urteile a priori noch experimentelle
Tatsachen.
Es sind auf Übereinkommen beruhende Fest-
setzungen; unter allen möglichen Festsetzungen wird
unsere Wahl von experimentellen Tatsachen geleitet;
aber sie bleibt frei und ist nur durch die Notwendig-
keit begrenzt, jeden Widerspruch zu vermeiden. In
dieser Weise können auch die Postulate streng richtig
bleiben, selbst wenn die erfahrungsmäßigen Gesetze,
welche ihre Annahme bewirkt haben, nur annähernd
richtig sein sollten.
Mit anderen Worten: die ge ometrischen Axiome
(ich spreche nicht von den arithmetischen) sind nur
verkleidete Definitionen.
Was soll man dann aber von der folgenden Frage
denken: Ist die Euklidische Geometrie richtig?
Die Frage hat keinen Sinn.
Ebenso könnte man fragen, ob das metrische System
richtig ist und die älteren Maß-Systeme falsch sind, ob
die Cartesiusschen Koordinaten richtig sind und die
e2 11, 4. Raum und Geometrie.
Polar-Koordinaten falsch. Eine Geometrie kann nicht
richtiger sein wie eine andere; sie kann nur bequemer
sein.
Und die Euklidische Geometrie ist die bequemste
und wird es immer bleiben:
1. weil sie die einfachste ist, und das ist sie nicht
nur infolge der Gewohnheiten unseres Verstandes oder
infolge irgend welcher direkten Anschauung, sondern sie
ist die einfachste in sich, gleichwie ein Polynom ersten
Grades einfacher ist als ein Polynom zweiten Grades.
2. weil sie sich hinreichend gut den Eigenschaften
der natürlichen, festen Körper anpaßt, dieser Körper,
welche uns durch unsere Glieder und unsere Augen zum
Bewußtsein kommen und aus denen wir unsere Meß-
instrumente herstellen. ^^)
Viertes Kapitel.
Der Raum und die Geometrie.
Beginnen wir mit einem kleinen Paradoxon!
Wesen, deren Verstand und Sinne wie die unsrigen
gebildet wären, welche aber noch keinerlei Erziehung
genossen haben, würden von der Außenwelt, wenn diese
passend gewählt wird, solche Eindrücke empfangen, daß
sie dazu geführt werden, eine andere Geometrie als die
Euklidische zu konstruieren und die Erscheinungen dieser
Außenwelt in einem nicht-Euklidischen Räume oder gar
in einem Räume von vier Dimensionen zu lokalisieren.
Für uns, deren Erziehung durch unsere tatsächliche
Welt bewerkstelligt ist, würde es keine Schwierigkeit
haben, in diese neue Welt die Phänomene unseres Euklidi-
schen Raumes zu übertragen, wenn wir plötzlich dahin-
ein versetzt würden. (Denn die Eigenschaften der nicht-
Der geometrisclie Raum. er
Euklidischen und der mehrdimensionalen Geometrie sind
uns durch die im vorhergehenden erwähnten mathe-
matischen Spekulationen hinreichend bekannt).
Mancher, der seine Existenz dieser Sache widmen
wollte, könnte vielleicht dahin gelangen, sich die vierte
Dimension vorzustellen.^^)
Der geometrische Raum und der Vorstellungs-
Raum. — Man sagt oft, daß die Bilder der äußeren
Gegenstände im Räume lokalisiert sind, und sogar, daß
solche Bilder sich nur unter dieser Bedingung bilden
können. Man sagt auch, daß dieser Raum, welcher so-
mit als ein zu unseren Gefühlen und Vorstellungen voll-
kommen passender Rahmen dient, identisch ist mit dem
Räume der Geometrie, dessen sämtliche Eigenschaften
er besitzt.
Mancher tüchtige Denker wird diese Auffassung teilen,
und ihm muß der obige Ausspruch ganz außergewöhn-
lich scheinen. Sehen wir indessen nach, ob er nicht
irgend einer Täuschung unterliegt, welche eine gründliche
Analyse verscheuchen könnte.
Welches sind vor allem, kurz gefaßt, die Eigen-
schaften des Raumes? Ich meine die Eigenschaften des-
jenigen Raumes, welcher den Gegenstand der Geometrie
ausmacht, und den ich den geometrischen Raum,
nennen will. Einige seiner hauptsächlichsten Eigen-
schaften sind die folgenden:
1. Er ist ein Kontinuum;
2. Er ist unendlich;
3. Er hat drei Dimensionen;
4. Er ist homogen, d. h. alle seine Punkte sind unter-
einander identisch.
5. Er ist isotrop, d. h., alle die Geraden, welche
durch denselben Punkt gehen, sind untereinander
identisch.^^)
Vergleichen wir ihn nun mit dem Rahmen unserer
r 1 n, 4. Raum und Geometrie.
Vorstellungen und unserer Empfindungen, welche ich den
Vorstellungs-Raum nennen will.
Der Gesichts - Raum. — Wir wollen vorerst eine
reine Gesichts-Empfindung betrachten, die durch ein Bild
hervorgerufen wird, welches sich auf dem Grunde der
Netzhaut bildet.
Eine summarische Analyse zeigt uns dieses Bild als
ein Kontinuum, welches zwei Dimensionen besitzt; das
unterscheidet bereits den geometrischen Raum von dem-
jenigen. Räume, welchen wir als reinen Gesichts-
Raum bezeichnen.^^)
Ferner ist dieses Bild in einem begrenzten Rahmen
eingeschlossen.
Endlich besteht noch ein anderer, nicht minder
wichtiger Unterschied: Dieser reine Gesichts-Raum
ist nicht homogen. Sehen wir von den Bildern ab,
die auf der Netzhaut entstehen können, so spielen nicht
alle Punkte der letzteren dieselbe Rolle. Der gelbe
Fleck kann unter keiner Bedingung als identisch mit
einem Punkte des Randes der Netzhaut betrachtet werden.
In der Tat, dasselbe Objekt ruft nicht nur an dieser
Stelle weit lebhaftere Eindrücke hervor, sondern es
kann überhaupt in jedem begrenzten Rahmen der
Punkt, welcher die Mitte des Rahmens einnimmt, niemals
mit einem Punkte gleichwertig erscheinen, der nahe am
Rande liegt.
Eine gründlichere Analyse würde uns ohne Zweifel
zeigen, daß diese Kontinuität des Gesichts-Raumes und
seine zwei Dimensionen nur auf Täuschung beruhen, sie
würde diesen Raum also noch mehr vom geometrischen
Räume unterscheiden lassen, aber wir wollen über diese
Bemerkung hinweggehen.
Das Sehen erlaubt uns indessen, die Entfernungen
abzuschätzen und folglich eine dritte Dimension wahrzu-
nehmen. Aber jeder weiß, daß diese Wahrnehmung der
Der Gesichts-Raum.
55
dritten Dimension sich auf die Empfindung einer An-
strengung bei der zu machenden Accomodation des
Auges reduziert und auf die Empfindung der konver-
genten Richtung, welche beide Augen annehmen müssen,
um einen bestimmten Gegenstand deutlich wahrzunehmen.
Das sind Muskelempfindungen, und diese sind gänz-
lich von den Gesichtsempfindungen verschieden, welche
uns die Vorstellung der beiden ersten Dimensionen ge-
geben haben. Die dritte Dimension wird uns also nicht
so erscheinen, als ob sie dieselbe Rolle wie die beiden
anderen spiele. Was man den vollständigen Ge-
sichts-Raum nennen kann, wird also nicht ein isotroper
Raum sein.
Er hat zwar genau drei Dimensionen ; das will heißen :
die Elemente (vgl. S. ^2) unserer Gesichts-Empfindung
(wenigstens diejenigen, welche zur Ausbildung der Raum-
vorstellung beitragen) werden vollständig definiert sein,
wenn man drei von ihnen kennt; oder, um die mathe-
matische Sprachweise anzuwenden: die Gesichtsemp-
findungen sind Funktionen von drei Variabein.
Wir wollen die Sache noch etwas näher prüfen. Die
dritte Dimension wird uns auf zwei verschiedene Arten
off"enbart: durch die Anstrengung beim Accomodieren
und durch die Konvergenz der Augen.
Ohne Zweifel stimmen diese beiden Indikationen
immer überein; es gibt unter ihnen eine konstante Be-
ziehung, oder mathematisch ausgedrückt: die beiden
Variabein, welche diese beiden Muskelempfindungen
messen, erscheinen uns nicht als unabhängige, oder noch
besser: wir können, um eine Berufung auf schon ziemlich
raffinierte mathematische Begriffe zu vermeiden, zur Sprache
des vorhergehenden Kapitels zurückkehren und dieselbe
Tatsache folgendermaßen aussprechen: Wenn zwei Kon-
vergenz-Empfindungen A und B ununterscheidbar sind,
so werden die beiden Accomodations-Empfindungen A'^
r5 II, 4. Raum und Geometrie.
und B\ welche sie bezw. begleiten, gleichfalls ununter-
scheidbar sein.
Wir stehen hier sozusagen vor einer experimentellen
Tatsache; nichts verhindert uns, a priori das Gegenteil
vorauszusetzen, und wenn das Gegenteil da ist, wenn
diese beiden Muskelempfindungen sich unabhängig von-
einander verändern, so haben wir mit einer unabhängigen
Variabein mehr zu rechnen, und der ,, vollständige Gesichts-
raum" wird uns als ein physikalisches Kontinuum von
vier Dimensionen erscheinen.
Das ist sogar, wie ich hinzufügen will, eine Tatsache
der äußeren Erfahrung. Nichts verhindert uns voraus-
zusetzen, daß ein Wesen, welches einen Verstand hat,
der ebenso ausgebildet ist wie der unsrige, und welches
dieselben Sinnesorgane wie wir hat, in eine Welt gestellt
werde, wo das Licht nur dann zu ihm gelangt, nachdem
es brechende Medien komplizierter Form durchdrun-
gen hat.
Die beiden Indikationen, welche uns dazu dienen,
die Entfernungen abzuschätzen, würden aufhören, durch
eine konstante Beziehung verbunden zu sein. Ein Wesen,
welches in einer solchen Welt die Erziehung seiner Sinne
bewerkstelligt, würde ohne Zweifel dem vollständigen
Gesichts-Raume vier Dimensionen beilegen.^^)
Der Tast-Raum und der Bewegungs-Raum. —
Der Tast-Raum ist noch komplizierter als der Gesichts-
Raum und unterscheidet sich noch mehr vom geometri-
schen Räume. Es ist überflüssig, für das Tasten die-
jenige Erörterung zu wiederholen, welche ich für das
Sehen durchgeführt habe.^*)
Abgesehen von den Wahrnehmungen, die uns durch
das Gesicht und durch den Tastsinn vermittelt werden,
gibt es noch andere Empfindungen, welche ebenso oder
noch mehr zur Entstehung der Raum -Vorstellung bei-
tragen. Dieselben sind allgemein bekannt, sie begleiten
Der Tast-Raum.
57.
alle unsere Bewegungen, und man nennt sie gewöhnlich
Muskel-Empfindungen.
Den entsprechenden Rahmen kann man als Be-
wegungs-Raum bezeichnen.
Jeder Muskel gibt zu einer besonderen Empfindung
Veranlassung, welche fähig ist zu wachsen oder abzu-
nehmen, so daß die Gesamtheit unserer Muskel-Emp-
findungen von so vielen Veränderlichen abhängt, wie die
Zahl unserer Muskeln angibt. Unter diesem Gesichts-
punkte würde die Anzahl der Dimensionen des
Bewegungsraumes gleich der Anzahl unserer
Muskeln sein.
Hierauf wird man sicher folgendes erwidern: Wenn
die Muskel-Empfindungen zur Bildung unserer Raum-
Vorstellung beitragen, so beruht dies darauf, daß wir
das Gefühl der Richtung einer jeden Bewegung be-
sitzen und daß dieses einen integrierenden Bestandteil
der Empfindung bildet. Wenn dem so wäre, wenn eine
Muskel-Empfindung nur in Begleitung dieses geometri-
schen Richtungsgefühles entstehen könnte, so würde in
der Tat der geometrische Raum eine unserer Gefühls-
welt auferlegte Form sein.
Aber davon bemerke ich durchaus nichts, wenn ich
meine eigenen Empfindungen analysiere.
Ich sehe nur, daß die Empfindungen, welche Be-
wegungen gleicher Richtung entsprechen, in meinem
Geiste durch eine einfache Ideen-Association ver-
knüpft sind. Auf diese Association läßt sich das zurück-
führen, was wir das „Richtungsgefühl'* nennen. Bei
einer einzelnen Empfindung kann man also von diesem
Gefühle nicht sprechen.
Diese Association ist außerordentlich mannigfaltig,
denn die Kontraktion eines und desselben Muskels kann,
je nach der Stellung, Bewegungen von ganz verschiedener
Richtung entsprechen.
c3 II, 4. Raum und Geometrie.
Sie ist übrigens offenbar erworben; sie ist wie alle
Ideen- Associationen das Resultat einer Gewohnheit;
diese Gewohnheit ihrerseits resultiert aus sehr zahlreichen
Erfahrungen; wenn die Erziehung unserer Sinne sich
in anderer Umgebung vollzogen hätte, wo wir anderen
Eindrücken unterworfen wären, so würden sich ohne
Zweifel ganz entgegengesetzte Gewohnheiten ausgebildet
haben, und unsere Muskel -Empfindungen würden sich
nach anderen Gesetzen associiert haben.
Charakter des Vorstellungs-Raumes. — Der Vor-
stellungs-Raum ist hiernach in seiner dreifachen Form
als Gesichts-, Tast- und Bewegungs-Raum wesentlich
vom geometrischen Räume verschieden.
Er ist weder homogen noch isotrop; man kann nicht
einmal behaupten, daß er drei Dimensionen habe.
Man sagt oft, daß wir die Objekte unserer äußeren
Wahrnehmung in den geometrischen Raum „projizieren",
daß wir sie dort „lokalisieren".
Hat dies eine Bedeutung, und welch eine Bedeutung?
Soll dies heißen, daß wir uns die äußeren Objekte
im geometrischen Räume vorstellen?
Unsere Vorstellungen sind nur die Reproduktion
unserer Empfindungen; sie können also nur in demselben
Rahmen wie diese geordnet werden, d. h. im Vorstellungs-
Raume.
Es ist uns ebenso unmöglich, uns die äußere Körper-
welt im geometrischen Räume vorzustellen, wie es einem
Maler unmöglich ist, die Objekte mit ihren drei Dimen-
sionen auf eine ebene Leinwand zu malen. Der Vor-
stellungsraum ist nur ein Bild des geometrischen Raumes,
und zwar ein durch eine Art von Perspektive deformiertes
Bild, und wir können uns die Objekte nur vorstellen,
indem wir sie den Gesetzen dieser Perspektive anpassen.
Wir stellen uns also die äußere Körperwelt nicht
im geometrischen Räume vor, sondern wir machen
Zustands- und Orts- Veränderungen. eg
unsere Erwägungen über diese Körper, als wenn sie
sich im geometrischen Räume befänden.
Was soll es aber bedeuten, wenn man nun sagt, daß
wir ein bestimmtes Objekt an einem bestimmten Punkte
des Raumes ,,lokalisieren?"
Das bedeutet einfach, daß wir uns die Be-
wegungen vorstellen, welche man ausführen muß,
um zu diesem Objekte zu gelangen; man sage nicht,
daß man diese Bewegungen selbst in den Raum projizieren
muß, um sie sich vorzustellen, und daß folglich der
Raum-Begriff präexistieren muß.
Wenn ich sage, daß wir uns diese Bewegungen vor-
stellen, so meine ich damit nur, daß wir uns die Muskel-
Empfindungen vorstellen, welche sie begleiten und welche
keinerlei geometrischen Charakter haben, welche folglich
auf keinen Fall die Präexistenz des Raum-Begriffes im-
plizieren.
Zustands- und Orts- Veränderungen. — Man wird
jedoch fragen: wie konnte die Idee des geometrischen
Raumes entstehen, wenn sie sich nicht von selbst unserem
Verstände aufzwingt und wenn auch keine unserer Emp-
findungen sie uns zu liefern vermag?
Wir wollen das jetzt genau prüfen; es wird uns
einige Zeit kosten, aber ich kann schon jetzt den Inhalt
der versuchten Erklärung in einigen Worten zusammen-
fassen:
Keine unserer Empfindungen würde für sich
allein uns zur Idee des Raumes führen können;
wir sind zu derselben nur durch das Studium
der Gesetze gekommen, nach welchen diese Emp-
findungen aufeinander folgen.
Zuerst sehen wir, daß unsere Eindrücke der Verände-
rung unterworfen sind; aber nach kurzer Zeit werden
wir dazu geführt, zwischen diesen von uns konstatierten
Veränderungen zu unterscheiden.
^Q II, 4. Raum und Geometrie.
Bald sagen wir, daß die Objekte, welche unsere Ein-
drücke verursachen, ihren Zustand verändert haben, bald,
daß sie ihre Stellung verändert haben, daß sie im Räume
nur verschoben sind.
Möge ein Objekt nur seinen Zustand oder nur seine
Stellung verändern, für uns macht sich das immer in
gleicher Weise geltend, nämlich durch eine Änderung
in einer gewissen Gesamtheit von Eindrücken.
Wie konnten wir denn dazu geführt werden, sie zu
unterscheiden? Wenn es sich nur um eine Ortsverände-
rung gehandelt hat, so können wir die ursprüngliche
Gesamtheit von Eindrücken wieder herstellen, indem wir
Bewegungen ausführen, welche uns gegenüber dem be-
wegten Objekte in die ursprüngliche relative Stellung
zurückbringen. Wir korrigieren so die Veränderung,
welche sich vollzogen hatte, und wir stellen den Anfangs-
Zustand durch eine umgekehrte Veränderung wieder her.
Wenn es sich z. B. um das Sehen handelt, und wenn
ein Objekt sich vor unserem Auge verschiebt, so können
wir ihm „mit dem Auge folgen" und durch angemessene
Bewegungen des Augapfels sein Bild stets an derselben
Stelle der Netzhaut festhalten.
Diese Bewegungen kommen uns zum Bewußtsein,
weil sie willkürlich sind und weil sie von Muskel-Emp-
findungen begleitet werden, aber damit ist durchaus nicht ge-
sagt, daß wir sie uns im geometrischen Räume vorstellen.
Die Orts-Veränderung ist also dadurch charakterisiert
und unterscheidet sich dadurch von der Zustandsäude-
rung, daß sie sich immer durch das erwähnte Mittel
korrigieren läßt.
Es kann demnach eintreten, daß man von einer Ge-
samtheit A von Vorstellungen zu einer Gesamtheit B auf
zwei verschiedene Weisen gelangt: i. unwillkürlich und
ohne Muskel-Empfindungen zu haben, (das tritt ein, wenn
das Objekt sich bewegt); 2. willkürlich und mit Muskel-
Kompensation von Bewegungen. 5l
Empfindungen, (das tritt ein, wenn das Objekt unbeweglich
bleibt, wir aber unsere Stellung so verändern, daß das Objekt
im Verhältnisse zu uns eine relative Bewegung ausführt).
Wenn dem so ist, so bedeutet der Übergang von
einer Gesamtheit A zu einer Gesamtheit B von Emp-
findungen nur eine Ortsveränderung.
Es folgt daraus, daß Gesichts- und Tast-Sinne uns
ohne die Hilfe des ,, Muskel-Sinnes" den Raum-Begriff
nicht geben können.
Und zwar könnte dieser Begriff nicht aus einer ein-
zelnen Empfindung, auch nicht aus einer Folge von Emp-
findungen abgeleitet werden, ja sogar ein unbeweg-
liches Wesen könnte niemals zu ihm gelangen, denn
es könnte durch seine Bewegungen nicht die Wirkungen
der Ortsveränderung äußerer Objekte korrigieren und
hätte also keinerlei Grund, sie von den Zustands-Ände-
rungen zu unterscheiden. Ebensowenig könnte es diesen
Begriff erlangen, wenn seine Bewegungen nicht willkürlich
wären oder wenn sie nicht von irgend welchen Emp-
findungen begleitet würden.
Bedingungen der Kompensation. — Wie ist eine
solche Kompensation möglich, wenn sie bewirken soll,
daß zwei Veränderungen, die übrigens unabhängig von-
einander sind, sich gegenseitig korrigieren?
Ein Verstand, der schon Geometrie gelernt hat,
würde in folgender Weise schließen:
Damit die Kompensation stattfindet, müssen offenbar
die verschiedenen Teile des äußeren Objektes einerseits,
die verschiedenen Organe unserer Sinne andererseits sich
nach der doppelten Veränderung in derselben relativen
Stellung befinden. Überdies müssen die verschiedenen
Teile des äußeren Objektes dabei dieselbe relative Stel-
lung gegeneinander bewahrt haben, und das Gleiche
muß für die verschiedenen Teile unseres Körpers in
ihrem gegenseitigen Verhältnisse Geltung haben.
52 IIj 4« Raum und Geometrie.
Mit anderen Worten: bei der ersten Bewegung muß
sich das äußere Objekt so verschieben, wie ein unver-
änderhcher Körper, und das Gleiche muß für die Ge-
samtheit unseres Körpers bei der zweiten Bewegung
gelten, welche die erste korrigiert.
Unter diesen Bedingungen kann sich die Kompen-
sation vollziehen.
Aber wir haben noch keine Geometrie ge-
lernt, denn für uns soll der Raum-Begriff noch nicht
ausgebildet sein; wir können also die erwähnten Schlüsse
nicht machen, und wir können deshalb nicht a priori
voraussehen, ob die Kompensation möglich ist. Jedoch
die Erfahrung lehrt uns, daß sie hin und wieder eintritt,
und von dieser Erfahrungstatsache gehen wir aus, um
die Zustandsänderungen von den Ortsveränderungen zu
unterscheiden.
Die festen Körper und die Geometrie. — Unter
den Objekten, welche uns umgeben, gibt es einige, die
häufig solche Ortsveränderungen erleiden, daß sie durch
eine entsprechende Bewegung unseres Körpers korri-
giert werden können; dies sind die festen Körper.
Die anderen Objekte, deren Gestalt veränderlich ist,
unterliegen nur ausnahmsweise derartigen Verschiebungen
(Ortsveränderungen ohne Veränderung der Form.) Wenn
ein Körper sich verschiebt und sich zugleich deformiert,
so können wir durch geeignete Bewegungen unsere Sinnes-
organe nicht mehr in dieselbe relative Lage in Bezug
auf diesen Körper zurückführen. Wir können folglich
die ursprüngliche Gesamtheit von Eindrücken nicht mehr
wiederherstellen.
Wir lernen erst später und infolge neuer Erfahrungen
die Körper von veränderlicher Gestalt in kleinere Ele-
mente zerlegen, so daß jedes von ihnen sich so ziemlich
nach denselben Gesetzen verschiebt wie die festen Körper.
Wir unterscheiden also die „Deformation" von den ande-
Feste Körper. 53
ren Zustandsänderungen ; bei diesen Deformationen er-
leidet jedes Element eine einfache Ortsveränderung,
welche korrigiert werden kann, aber die Veränderung,
welche die Gesamtheit der Elemente erleidet, geht tiefer
und kann nicht mehr durch eine entsprechende Bewegung
korrigiert werden.
Eine solche Vorstellung ist schon sehr kompliziert
und hat nur relativ spät sich geltend machen können ;
sie hätte überhaupt nicht entstehen können, wenn uns
nicht die Beobachtung der festen Körper gelehrt hätte,
die Ortsveränderungen von den übrigen Veränderungen
zu unterscheiden.
Wenn es also keine festen Körper in der
Natur geben würde, so hätten wir keine Geo-
metrie.
Eine andere Bemerkung verdient ebenfalls einen
Augenblick unsere Aufmerksamkeit. Nehmen wir an, ein
fester Körper habe zuerst die Stellung u und gehe von
dort in die Stellung 1^ über; in seiner ersten Stellung
wird er uns eine Gesamtheit A von Eindrücken verur-
sachen und in seiner zweiten Stellung eine Gesamtheit
B von Eindrücken. Es werde außerdem ein zweiter
fester Körper betrachtet, dessen Eigenschaften von denen
des ersten gänzlich verschieden sind; er sei z. B. von
verschiedener Farbe. Nehmen wir an, daß er ebenfalls
von der Stellung a, wo er auf uns die Gesamtheit A'
von Eindrücken ausübt, in die Stellung (3 übergehe, wo
er uns die Gesamtheit B' von Eindrücken verursacht.
Im allgemeinen wird weder die Gesamtheit A mit
der Gesamtheit A\ noch die Gesamtheit B mit der Ge-
samtheit B' etwas Gemeinsames haben. Der Übergang
von der Gesamtheit A zu der Gesamtheit B und der
Übergang von der Gesamtheit A' zu der Gesamtheit B^
besteht also in zwei Veränderungen, welche an sich im
allgemeinen nichts Gemeinsames haben.
(^A II, 4. Raum und Geometrie.
Und dennoch sehen wir diese beiden Veränderungen
eine wie die andere als Verschiebungen an, noch mehr,
wir betrachten sie als die gleiche Verschiebung. Wie
ist das möglich?
Das geschieht einfach dadurch, daß sie eine wie die
andere durch die gleiche entsprechende Bewegung
unseres Körpers korrigiert werden können.
Die „entsprechende Bewegung*' ist es also, welche
das einzige Bindeglied zwischen zwei Erscheinungen
bildet, welche einander zu nähern uns sonst nie einge-
fallen wäre.
Andererseits kann unser Körper eine Menge von ver-
schiedenen Bewegungen ausführen, dank der Anzahl
seiner Gliederungen und Muskeln; aber es sind nicht
alle fähig, eine Veränderung der äußeren Objekte zu
„korrigieren"; nur diejenigen sind dazu fähig, bei denen
unser ganzer Körper oder wenigstens alle unsere Sinnes-
organe, welche in Betracht kommen, sich als ein Ganzes
verschieben, d. h. ihren Ort verändern, ohne daß ihre
relativen Stellungen sich ändern, sich also verhalten wie
ein fester Körper.
Fassen wir zusammen:
1. Wir werden dazu geführt, vor allem zwei Kate-
gorien von Erscheinungen zu unterscheiden.
Die einen, welche unwillkürlich und nicht von Muskel-
Empfindungen begleitet sind, werden von uns den äuße-
ren Objekten zugeteilt; das sind die äußeren Verände-
rungen.
Die anderen, denen entgegengesetzte Charaktere zu-
kommen, schreiben wir den Ortsveränderungen unseres
eigenen Körpers zu ; das sind die inneren Veränderungen.
2. Wir bemerken, daß gewisse Veränderungen aus
jeder dieser Kategorien durch eine entsprechende Ver-
änderung der anderen Kategorie korrigiert werden
können.
Homocrenität des Raumes.
65
3. Wir unterscheiden unter den äußeren Verände-
rungen diejenigen, denen eine entsprechende Verände-
rung in der anderen Kategorie gegenübersteht; diese
nennen wir Bewegungen. Und ebenso unterscheiden wir
unter den inneren Veränderungen diejenigen, denen eine
entsprechende Veränderung in der ersten Kategorie
gegenübersteht.
Dank dieses gegenseitigen Verhältnisses ist eine be-
sondere Klasse von Erscheinunoren definiert, welche wir
*ö'
Orts- Veränderungen nennen. Die Gesetze dieser Er-
scheinungen bilden den Gegenstand der Geo-
metrie.
Das Gesetz der Homogenität. — Das erste dieser
Gesetze ist das der Homogenität.
Setzen wir voraus, daß wir durch eine äußere Ver-
änderung a von der Gesamtheit A der Empfindungen
zu der Gesamtheit B gelangen, femer, daß diese Ver-
änderung a durch eine entsprechende willkürliche Be-
wegung ß korrigiert wird, und daß wir auf diese Art zur
Gesamtheit A zurückgeführt wären.
Setzen wir weiter voraus, daß eine andere äußere
Veränderung a uns nochmals von der Gesamtheit A zu
der Gesamtheit B kommen läßt.
Die Erfahrung lehrt uns dann, daß diese Verände-
rung c/ ebenso wie a fähig ist, durch eine entsprechende
willkürliche Bewegung ß' korrigiert zu werden, und daß
diese Bewegung ß' zu denselben Muskel -Empfindungen
gehört wie die Bewegung ß, welche a korrigierte.
Dieser Tatsache trägt man gewöhnlich Rechnung,
wenn man sagt, daß der Raum homogen und iso-
trop ist.
Man kann auch sagen, daß eine einmal hervorge-
brachte Bewegung zum zweitenmal, zum drittenmal
und so weiter sich wiederholen kann, ohne daß ihre
Eigenschaften sich verändern.
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. 5
55 II> 4- Raum und Geometrie.
Im ersten Kapitel, in welchem wir die Natur der
mathematischen Schlußweise studiert haben, sahen wir
die Wichtigkeit, welche man der Möglichkeit zuerteilt,
eine und dieselbe Operation unendlich oft zu wieder-
holen.
Aus dieser Wiederholung entnimmt die mathematische
Schlußweise ihre Stärke; dank dem Gesetze der Homo-
genität hat sie sich die geometrischen Tatsachen unter-
worfen.
Um vollständig zu sein , müßte man den Gesetzen
der Homogenität eine Menge anderer analoger Gesetze
anfügen, auf deren Einzelheiten ich nicht eingehen will;
dieselben werden von den Mathematikern in einem Worte
zusammengefaßt, wenn sie davon sprechen, daß die Be-
wegungen ,,eine Gruppe" bilden (d. h. daß zwei
aufeinanderfolgende Bewegungen immer durch eine ein-
zige Bewegung ersetzt werden können).
Die nicht -Euklidische Welt. — Wenn der geome-
trische Raum ein Rahmen wäre, in den jede unserer
Vorstellungen für sich allein betrachtet hineingepaßt
werden kann, so wäre es unmöglich, sich ein Bild ohne
diesen Rahmen vorzustellen, und wir könnten an unserer
Geometrie nichts ändern.
Aber dem ist nicht so; die Geometrie ist nur die
Zusammenfassung der Gesetze, nach welchen diese Bilder
aufeinander folgen. Nichts hindert uns daran, eine
Reihe von Vorstellungen auszudenken, welche in allem
unseren gewöhnlichen Vorstellungen vollkommen ähnlich
sind, aber welche nach Gesetzen aufeinanderfolgen, die
von den uns vertrauten Gesetzen verschieden sind.
Man begreift demnach, daß Wesen, deren Erziehung
sich in einer Umgebung vollzieht, in der diese Gesetze
völlig umgestürzt sind, eine von der unserigen sehr ver-
schiedene Geometrie haben können.
Wir wollen uns z. B. eine in eine große Kugel ein-
Die nicht-Euklidische Welt.
67
schlossene Welt denken, welche folgenden Gesetzen unter-
worfen ist:
Die Temperatur ist darin nicht gleichmäßig; sie ist
im Mittelpunkte am höchsten und vermindert sich in
dem Maße, als man sich von ihm entfernt, um auf den
absoluten Nullpunkt herabzusinken, wenn man die Kugel
erreicht, in der diese Welt eingeschlossen ist.
Ich bestimme das Gesetz, nach welchem diese Tempe-
ratur sich verändern soll, noch genauer. Sei R der
Halbmesser der begrenzenden Kugel, sei r die Ent-
fernung des betrachteten Punktes vom Mittelpunkte dieser
Kugel, dann soll die absolute Temperatur proportional
zu R^ — r^ sein.
Ich setze weiter voraus, daß in dieser Welt alle
Körper denselben Ausdehnungs-Koeffizienten haben, so
daß die Länge irgend eines Lineals seiner absoluten
Temperatur proportional sei.
Endlich setze ich voraus, daß ein Objekt, welches
von einem Punkte nach einem anderen mit verschiedener
Temperatur übertragen wird, sich sofort ins Wärme-
Gleichgewicht mit seiner neuen Umgebung setzt.
Nichts ist in dieser Hypothese widerspruchsvoll oder
undenkbar.
Ein bewegliches Objekt wird also immer kleiner in
dem Maße, wie es sich der begrenzenden Kugel nähert.
Beachten wir vor allem, daß diese Welt ihren Ein-
wohnern unbegrenzt erscheinen wird, wenn sie auch vom
Gesichtspunkte unserer gewöhnlichen Geometrie aus als
begrenzt gilt.
Wenn diese Einwohner sich in der Tat der be-
grenzenden Kugel nähern wollen, kühlen sie ab und
werden immer kleiner. Die Schritte, welche sie machen,
sind also auch immer kleiner, so daß sie niemals die be-
grenzende Kugel erreichen können.
Wenn für uns die Geometrie nur das Studium der
5*
^g II, 4. Raum und Geometrie.
Gesetze ist, nach welchen die festen, unveränderlichen
Körper sich bewegen, so wird sie für diese hypothetischen
Wesen das Studium der Gesetze sein, nach denen sich
die (für jene Einwohner scheinbar festen) Körper be-
wegen, welche durch die soeben besprochenen
Temperatur-Differenzen deformiert werden.
Ohne Zweifel erfahren in unserer Welt die natür-
lichen festen Körper gleicherweise Schwankungen an
Gestalt und Volumen, welche durch Erwärmung oder
Abkühlung entstehen. Wir vernachlässigen diese Schwan-
kungen, während wir die Grundlagen der Geometrie fest-
legen; denn, abgesehen von dem Umstände, daß sie
sehr gering sind, so sind sie vor allem unregelmäßig
und erscheinen uns folglich als zufällig.
In dieser hypothetischen Welt würde dem nicht so
sein, und solche Veränderungen würden nach regel-
mäßigen und sehr einfachen Gesetzen erfolgen.
Andererseits würden die verschiedenen festen Bestand-
teile, aus denen sich die Körper dieser Einwohner zu-
sammensetzen, denselben Schwankungen in Gestalt und
Volumen unterworfen sein.
Ich werde noch eine andere Hypothese aufstellen;
ich setze voraus, daß das Licht verschieden brechende
Medien durchdringt, und zwar so, daß der Brechungs-
Index zu R'^ — r^ umgekehrt proportional sei. Es ist
leicht zu ersehen, daß die Licht-Strahlen unter diesen
Bedingungen nicht geradlinig, sondern kreisförmig sein
werden. ^^)
Um das, was vorausgeht, zu rechtfertigen, muß ich
beweisen, daß gewisse Ortsveränderungen, welche die
äußeren Objekte erlitten haben, durch entsprechende Be-
wegungen der fühlenden Wesen, welche diese einge-
bildete Welt bewohnen, korrigiert werden können, und
zwar so, daß sich die ursprüngliche Gesamtheit von Ein-
Nicht-Euklidische Bewegungen. 5(>
drücken, denen diese fühlenden Wesen unterworfen sind^
wiederherstellt.
Setzen wir in der Tat voraus, daß ein Objekt sich
von der Stelle bewegt, indem es sich deformiert, aber
nicht wie ein unveränderlicher Körper, sondern wie ein
Körper, der ungleichmäßige Dilatationen genau nach den
eben angenommenen Temperaturgesetzen erleidet. Man
möge mir erlauben, eine solche Bewegung — um die
Sprache abzukürzen — nicht-Euklidische Orts-Ver-
änderung zu nennen. ^^)
Wenn ein fühlendes Wesen sich in der Nachbarschaft
befindet, so werden seine Eindrücke durch das Fort-
rücken des Objektes verändert, aber es kann sie wieder
herstellen, wenn es sich selbst in passender Weise be-
wegt. Schließlich müssen nur das Objekt und das
fühlende Wesen, beide zusammen (d. h. als ein einziger
Körper betrachtet), eine dieser besonderen Orts -Ver-
änderungen erlitten haben, welche ich soeben die nicht-
Euklidischen genannt habe. Das ist möglich, wenn man
voraussetzt, daß die Glieder dieser Wesen sich nach
demselben Gesetze ausdehnen wie die anderen Körper
der von ihnen bewohnten Welt.
Wenngleich sich unter dem Gesichtspunkte unserer
gewöhnlichen Geometrie die Körper bei dieser Orts-
veränderung deformiert haben und wenngleich sich ihre
verschiedenen Teile nicht mehr in derselben relativen
Stellung wiederfinden, so werden wir doch sehen, daß
die Eindrücke des fühlenden Wesens wieder dieselben
geworden sind.
In der Tat, wenn die gegenseitigen Entfernungen
der verschiedenen Teile verändert werden konnten, so
sind nichtsdestoweniger die ursprünglich sich berührenden
Teile auch nachher wieder in Berührung. Die Eindrücke
des Tast-Sinnes haben sich nicht geändert.
Wenn man andererseits der oben in Bezug auf
70
II, 4- Raum und Geometrie.
die Brechung und die Krümmung der Lichtstrahlen ge-
machten Hypothese Rechnung trägt, so werden auch die
Gesichts-Eindrücke dieselben geblieben sein.
Diese hypothetischen Wesen werden also wie wir dazu
geführt, die Erscheinungen, deren Zeugen sie sind, ein-
zuteilen und unter ihnen die ,, Orts- Veränderungen" zu
unterscheiden, welche durch eine willkürliche ent-
sprechende Bewegung korrigiert werden können.
Wenn sie eine Geometrie begründen, so wird diese
nicht wie die unserige das Studium der Bewegungen
unserer festen Körper sein; es wird vielmehr das Studium
derjenigen Orts- Veränderungen sein, welche sie so von
den übrigen unterschieden haben und welche keine
anderen als die ,, nicht-Euklidischen Orts- Veränderungen"
sind, es wird die nicht- Euklidische Geometrie
sein.
So werden uns ähnliche Wesen, deren Erziehung in
einer solchen Welt bewerkstelligt wäre, nicht dieselbe
Geometrie wie wir haben.
Die vierdimensionale Welt. — Eine vierdimen-
sionale Welt kann man sich ebenso gut vorstellen, wie
eine nicht-Euklidische Welt.
Der Gesichts-Sinn, selbst mit einem Auge, verbunden
mit Muskel-Empfindungen, die sich auf die Bewegungen
des Augapfels beziehen, würde genügen, um den drei-
dimensionalen Raum kennen zu lernen.
Die Bilder der äußeren Objekte malen sich auf der
Netzhaut, welche ein zweidimensionales Gemälde dar-
stellt; das sind die Perspektiven.
Da aber die Objekte beweglich sind und dasselbe
für unser Auge gilt, so sehen wir nacheinander ver-
schiedene Perspektiven eines und desselben Körpers,
von mehreren verschiedenen Gesichtspunkten aus aufge-
nommen.
Wir konstatieren zugleich, daß der Übergang von
Die vierdimensionale Welt.
71
einer Perspektive zur anderen oft von Muskel-Emp-
findungen begleitet ist.
Wenn der Übergang der Perspektive A zur Perspek-
tive B und derjenige der Perspektive A' zur Perspek-
tive B' von denselben Muskel-Empfindungen begleitet
ist, so machen sie uns den Eindruck gleichartiger Ope-
rationen, die wir zueinander in Beziehung setzen können.
Wenn wir darauf die Gesetze studieren, nach welchen
sich diese Operationen zusammensetzen, so bemerken
wir, daß sie eine Gruppe bilden, welche dieselbe Struktur
hat wie die Gruppe der Bewegungen von festen Körpern.
Wir haben nun gesehen (vgl. S. 66), daß wir gerade
aus den Eigenschaften dieser Gruppe den Begriff des
geometrischen und des dreidimensionalen Raumes abge-
leitet haben.
Wir verstehen somit, wie der Begriff eines drei-
dimensionalen Raumes aus dem Schauspiel dieser Per-
spektiven entstehen konnte, wenngleich jede von ihnen
nur zwei Dimensionen hat; denn sie folgen aufein-
ander nach gewissen Gesetzen.
Also gut 5 so wie man auf einer Leinwand die Per-
spektive einer dreidimensionalen Figur zeichnen kann,
so kann man auch die Perspektive einer vierdimen-
sionalen Figur auf eine drei- (oder zwei-) dimensionale
Leinwand zeichnen. Das ist für den Mathematiker nur
leichtes Spiel.
Man kann sogar von derselben Figur verschiedene
Perspektiven von verschiedenen Gesichtspunkten aus ent-
werfen.^'^)
Wir können uns diese Perspektiven leicht vorstellen,
weil sie nur drei Dimensionen haben.
Wir wollen uns denken, die verschiedenen Perspek-
tiven eines und desselben Objektes folgten aufeinander
und der Übergang von einer zur anderen wäre von
Muskel-Empfindungen begleitet.
«j 9 II, 4, 5. Raum und Geometrie.
Man wird, wohlverstanden, zwei dieser Übergänge
als zwei Operationen gleicher Natur betrachten, wenn sie
mit den gleichen Muskel-Empfindungen verbunden sind.
Nichts hindert dann daran, sich zu denken, daß
diese Operationen sich nach einem Gesetze, wie wir es
haben wollen, zusammensetzen, z. B. derart, daß sie eine
Gruppe bilden, welche dieselbe Struktur hat wie die-
jenige der Bewegungen eines vierdimensionalen festen
Körpers.
Da gibt es nichts, was man sich nicht vorstellen
könnte, und dennoch sind diese Empfindungen genau
dieselben, denen ein mit einer zweidimensionalen Netz-
haut versehenes Wesen unterworfen wäre, welches sich
im vierdimensionalen Räume bewegen könnte.
In diesem Sinne ist es erlaubt zu sagen, daß man
sich die vierte Dimension vorstellen könne.
Schlußfolgerungen. — Man sieht, daß die Erfahrung
eine unumgänglich notwendige Rolle in der Genesis der
Geometrie spielt; aber es würde ein Irrtum sein, daraus
zu schließen, daß die Geometrie — wenn auch nur teil-
weise — eine Erfahrungswissenschaft sei.
Wenn sie erfahrungsmäßig wäre, so würde sie nur
annähernd richtig und provisorisch sein. Und von welch*
grober Annäherung!
Die Geometrie würde nur das Studium der Be-
wegungen von festen Körpern sein; aber sie beschäftigt
sich in Wirklichkeit nicht mit natürlichen Körpern, sie
hat gewisse ideale, durchaus unveränderliche Körper zum
Gegenstand, welche nur ein vereinfachtes und wenig
genaues Bild der natürlichen Körper geben.
Der Begriff dieser idealen Körper ist aus allen Teilen
unseres Verstandes hervorgegangen, und die Erfahrung
ist nur eine Gelegenheit, welche uns antreibt, sie daraus
hervorgehen zu lassen.
Das Objekt der Geometrie ist das Studium einer be-
Erfahrung und Geometrie. y j
sonderen ,, Gruppe' '; aber der allgemeine Gruppen-Be-
griff präexistiert in unserem Verstände, zum mindesten
die Möglichkeit zur Bildung desselben; er drängt sich
uns auf, nicht als eine Form unseres Empfindungs- Ver-
mögens, sondern als eine Form unserer Erkenntnis.
Unter den möglichen Gruppen muß man nur die-
jenige auswählen, welche sozusagen das Normalmaß sein
wird, auf das wir die Erscheinungen der Natur beziehen.
Die Erfahrung leitet uns in dieser Wahl, zwingt sie
uns aber nicht auf; sie läßt uns nicht erkennen, welche
Geometrie die richtigste ist, wohl aber, welche die be-
quemste ist.
Man wird bemerken, daß ich die phantastischen
Welten, welche ich oben erdachte, beschreiben konnte,
ohne aufzuhören, die Sprache der gewöhnlichen
Geometrie anzuwenden.
Und wirklich, wir brauchten diese nicht zu wechseln,
wenn wir in jene Welten versetzt würden.
Wesen, welche dort ihre Erziehung durchmachen,
würden es ohne Zweifel bequemer finden, sich eine von
der unserigen verschiedene Geometrie zu schaffen, welche
sich ihren Eindrücken besser anpaßte. Was uns betrifft,
so ist es gewiß, daß wir angesichts derselben Ein-
drücke es bequemer finden würden, unsere Gewohnheiten
nicht zu ändern.
Fünftes Kapitel.
Die Erfahrung und die Geometrie.
I. In den vorhergehenden Zeilen habe ich bereits
verschiedene Male zu beweisen versucht, daß die Prin-
zipien der Geometrie keine Erfahrungs-Tatsachen sind,
«74. n, 5. Erfahrung und Geometrie.
und daß insbesondere das Euklidische Postulat nicht
durch Erfahrung bewiesen werden kann.
So entscheidend mir auch die bereits dargelegten
Gründe erscheinen mögen, so glaube ich doch hierbei
besonders verweilen zu müssen, weil in vielen Köpfen
eine hierauf bezügliche falsche Idee tief eingewurzelt ist.
2. Man stelle sich einen materiellen Kreis her, messe
dessen Halbmesser und Umfang und versuche zu sehen,
ob das Verhältnis dieser beiden Längen gleich jr ist;
was hat man damit getan? Man wird ein Experiment
gemacht haben über die Eigenschaften der Materie, aus
welcher man diesen Kreis gefertigt hat, und derjenigen
Materie, aus welcher man das zum Messen benutzte
Metermaß gefertigt hat.
3. Die Geometrie und die Astronomie. — Man
hat die Frage noch auf andere Weise gestellt. Wenn
die Lobatschewskysche Geometrie wahr ist, so ist die
Parallaxe eines sehr entfernten Sternes endlich; wenn die
Riemannsche Geometrie wahr ist, so wird sie negativ
sein. Damit haben wir Resultate, welche der Erfahrung
zugänglich sind, und man hoffte, daß die astronomischen
Beobachtungen erlauben würden, zwischen den drei Geo-
metrien zu entscheiden.^^)
Aber was man in der Astronomie die gerade Linie
nennt, ist einfach die Bahn des Lichtstrahles. Wenn
man also, was allerdings unmöglich ist, negative Parallaxen
entdecken könnte oder beweisen könnte, daß alle Paral-
laxen oberhalb einer gewissen Grenze liegen, so hätte
man die Wahl zwischen zwei Schlußfolgerungen: wir
könnten der Euklidischen Geometrie entsagen oder die
Gesetze der Optik abändern und zulassen, daß das
Licht sich nicht genau in gerader Linie fortpflanzt.
Es ist unnütz hinzuzufügen, daß jedermann diese
letztere Lösung als die vorteilhaftere ansehen würde.
Geometrie und Astronomie.
75
Die Euklidische Geometrie hat also von neuen Er-
fahrungen nichts zu fürchten.
4. Kann man behaupten, daß gewisse Erscheinungen,
welche im Euklidischen Räume möglich sind, im nicht-
Euklidischen Räume unmöglich wären, und zwar so, daß
die Erfahrung, indem sie diese Erscheinungen bestätigt,
der nicht-Euklidischen Hypothese direkt widersprechen
würde? Meiner Äleinung nach kann eine derartige Frage
nicht aufgestellt werden. Ich würde sie für gleich-
bedeutend mit der folgenden halten, deren Abgeschmackt-
heit allen in die Augen springt: „Gibt es Längen, welche
man in Metern und Centimetern angeben kann, aber
welche man nicht in Klafter, Fuß und Zoll abmessen
kann, und könnte das Experiment, durch welches man
die Existenz dieser Längen bestätigt, zugleich der Hypo-
these widersprechen, daß es in sechs Fuß eingeteilte
Klafter gibt?"
Prüfen wir die Frage näher. Ich setze voraus, daß
die gerade Linie im Euklidischen Räume zwei beliebige
Eigenschaften besitzt, welche ich A und B nennen werde;
wir nehmen an, daß diese gerade Linie im nicht-Eukli-
dischen Räume noch die Eigenschaft A, aber nicht mehr
die Eigenschaft jB besitzt; schließlich setze ich voraus,
daß die gerade Linie sowohl im Euklidischen, wie im
nicht-Euklidischen Räume die einzige Linie sei, welche
die Eigenschaft A besitzt.
Wenn dem so wäre, so würde die Erfahrung geeignet
sein, zwischen der Euklidischen Hypothese und der
Lobatschewskyschen zu entscheiden. INIan würde fest-
stellen, daß ein bestimmtes konkretes und dem Experi-
mente zugängliches Objekt, wie z. B. ein Bündel von
Lichtstrahlen, die Eigenschaft A besitzt; man würde
daraus schließen, daß es geradlinig ist, und man würde
daraufhin untersuchen, ob es die Eigenschaft B besitzt
oder nicht.
»75 II, 5« Erfahrung und Geometrie.
Aber dem ist nicht so, es existiert keine Eigen-
schaft, welche wie diese Eigenschaft A ein absolutes
Kriterium sein könnte, um die gerade Linie als solche
zu erkennen und sie von jeder anderen Linie zu unter-
scheiden.
Vielleicht wird man einwerfen (vgl. oben S. 47) :
,, Diese Eigenschaft ist doch die folgende: die gerade
Linie ist eine derartige Linie, daß eine Figur, deren
Teil diese Linie ist, sich bewegen kann, ohne daß die
gegenseitigen Entfernungen ihrer Punkte sich verändern,
und daß somit alle Punkte dieser Linie fest bleiben."
Da hätten wir tatsächlich eine Eigenschaft, welche,
sei es nun im Euklidischen oder sei es im nicht-Eukli-
dischen Räume, der Geraden zukommt und nur ihr zu-
kommt. Aber wie erkennt man durch die Erfahrung,
ob sie diesem oder jenem konkreten Objekte zugehört?
Man muß Entfernungen messen, und wie wird man wissen
können, daß eine solche konkrete Größe, welche ich
mit meinem materiellen Instrument gemessen habe, die
abstrakte Entfernung richtig angibt?
Man hat die Schwierigkeit nur weiter hinausge-
schoben.
In Wirklichkeit ist die Eigenschaft, von der ich so-
eben sprach, nicht nur eine Eigenschaft der geraden
Linie allein, es ist eine Eigenschaft der geraden Linie
und der Entfernung. Wenn sie als absolutes Kriterium
dienen soll, so müßte man nicht nur feststellen, daß sie
der Entfernung, und keiner anderen Linie als der geraden
Linie eigentümlich ist, sondern auch daß sie keiner
anderen Linie als der geraden Linie zukommt und
keiner anderen Größe als der Entfernung. Aber das
ist nicht richtig.
Wenn man von diesen Betrachtungen nicht über-
zeugt ist, so möge man mir ein konkretes Experiment
Postulat und Erfahrung. h^
nennen, welches im Euklidischen Systeme erklärt werden
kann, aber nicht im Lobatschewskyschen System.
Da ich genau weiß, daß man dieser Aufforderung
niemals nachkommen wird, so kann ich hieraus schließen:
Keine Erfahrung wird jemals mit dem Euklidischen
Postulate im Widerspruch sein; ebenso aber anderer-
seits: keine Erfahrung wird jemals im Widerspruch mit
dem Lobatschewskyschen Postulate sein.
5. Aber es genügt nicht, daß die Euklidische (oder
nicht -Euklidische) Geometrie niemals durch die Erfah-
rung direkt widerlegt werden kann. Könnte es nicht
eintreten, daß die Geometrie sich mit der Erfahrung
nur in Übereinstimmung bringen läßt, wenn man das
Prinzip des zureichenden Grundes oder das Prinzip der
Relativität des Raumes verletzt?
Ich will dies näher ausführen: Betrachten wir irgend
ein materielles System; wir werden einerseits den ,, Zu-
stand" der verschiedenen Körper dieses Systems ins
Auge fassen müssen (z. B. ihre Temperatur, ihr elektri-
sches Potential u. s. w.), und andererseits ihre Stellung
im Räume; und unter den Angaben, welche zur Defini-
tion dieser Stellung dienen, werden wir noch die gegen-
seitigen Entfernungen dieser Körper (die ihre relativen
Stellungen bestimmen) von den Bedingungen unterscheiden,
welche den absoluten Ort des Systems und seine absolute
Orientierung im Räume festlegen.
Die Gesetze der Erscheinungen, welche sich in diesem
Systeme abspielen, werden von dem Zustande dieser
Körper und von ihren gegenseitigen Entfernungen ab-
hängen; aber wegen der Relativität und wegen der
Passivität des Raumes werden sie nicht vom absoluten
Orte und von der absoluten Orientierung des Systems
abhängen.
Mit anderen Worten: der Zustand der Körper und
ihre gegenseitigen Entfernungen in irgend einem Zeit-
yg n, 5. Erfahrung und Geometrie.
punkte hängen allein vom Zustande dieser selben Körper
und von ihren gegenseitigen Entfernungen zur Anfangs-
zeit ab, aber sie hängen niemals vom absoluten anfäng-
lichen Orte des Systems ab oder von seiner absoluten
anfänglichen Orientierung. Um die Ausdrucksweise ab-
zukürzen, werde ich dies als das Gesetz der Rela-
tivität bezeichnen.
Bis jetzt habe ich wie ein Euklidischer Mathematiker
gesprochen. Wie ich schon gesagt habe, gestattet jede
beliebige Erfahrungstatsache eine Interpretation in der
Euklidischen Hypothese; aber sie gestattet eine solche
gleichfalls in der nicht-Euklidischen Hypothese. Nehmen
wir also an, wir hätten eine Reihe von Experimenten
gemacht; wir hätten sie in der Euklidischen Hypothese
interpretiert und wir hätten erkannt, daß diese so inter-
pretierten Experimente unser „Gesetz der Relativität"
nicht verletzen.
Jetzt interpretieren wir sie in der nicht-Euklidischen
Hypothese: das ist immer möglich; nur werden die nicht-
Euklidischen Entfernungen unserer verschiedenen Körper
bei dieser neuen Interpretation im allgemeinen nicht die-
selben sein wie die Euklidischen Entfernungen bei der
früheren Interpretation.
Werden nun unsere Experimente, wenn sie auf diese
neue Weise interpretiert werden, auch noch im Einklang
mit unserem ,, Gesetze der Relativität" stehen? Und
wenn eine solche Übereinstimmung nicht stattfindet, würde
man dann nicht auch das Recht haben zu sagen, daß
die Erfahrung die Falschheit der nicht-Euklidischen Geo-
metrie bewiesen hat?
Man erkennt leicht, daß diese Befürchtung ohne Grund
ist; in der Tat, um das Gesetz der Relativität in aller
Strenge anwenden zu können, muß man es auf das
ganze Universum anwenden. Denn wenn man nur einen
Teil dieses Universums betrachtet, und wenn der absolute
Gesetz der Relativität.
79
Ort dieses Teiles sich zu verändern beginnt, so werden
sich die Entfernungen von den übrigen Körpern des
Universums gleichfalls ändern ; ihr Einfluß auf den gerade
betrachteten Teil des Universums würde sich folglich
vermehren oder vermindern, und das könnte die Gesetze
der beobachteten Erscheinungen beeinflussen.
Aber wenn unser System das ganze Universum um-
faßte, so ist die Erfahrung nicht im stände, uns über seinen
absoluten Ort und seine absolute Orientierung zu unter-
richten. Alles was unsere Instrumente, wenn sie auch
noch so vollkommen sind, uns lehren können, ist der
Zustand der verschiedenen Teile des Universums und
die gegenseitigen Entfernungen dieser Teile.
Man könnte also unser Gesetz der Relativität so
aussprechen:
Die Ablesungen, welche wir in einem beliebigen Zeit-
punkte an unseren Instrumenten machen können, werden
einzig von den Ablesungen abhängen, welche wir an
denselben Instrumenten in der Anfangszeit machen
können.
Eine solche Aussage ist unabhängig von jeder Inter-
pretation der Erfahrungstatsachen. Wenn das Gesetz in
der Euklidischen Interpretation wahr ist, so wird es auch
in der nicht-Euklidischen Interpretation wahr sein.
Man gestatte mir inbezug hierauf eine kleine Ab-
schweifung. Ich habe weiter oben von den Angaben
gesprochen, welche die Stellung der verschiedenen Körper
des Systems definieren; ich hätte gleicherweise von den-
jenigen sprechen sollen, welche ihre Geschwindigkeiten
definieren; ich hätte dann einzeln die Geschwindigkeiten
angeben sollen, mit welcher die gegenseitigen Entfernungen
der verschiedenen Körper sich verändern; und anderer-
seits hätte ich die Geschwindigkeiten der Translation
und der Rotation des Systems unterscheiden sollen, d. h.
gQ 11, 5- Erfahrung und Geometrie.
die Geschwindigkeiten, mit welchen ihr absoluter Ort
und ihre absolute Orientierung sich ändern.
Damit der Verstand ganz befriedigt wird, hätte man
das Gesetz der Relativität folgendermaßen ausdrücken
müssen :
Der Zustand der Körper und ihre gegenseitigen Ent-
fernungen in irgend einem Zeitpunkte, sowie die Ge-
schwindigkeiten, mit denen diese Entfernungen sich in
demselben Zeitpunkte ändern, hängen allein von dem
Zustande dieser Körper und von ihren gegenseitigen Ent-
fernungen in der Anfangszeit ab, ebenso von den Ge-
schwindigkeiten, mit welchen diese Entfernungen in der
Anfangszeit sich verändern, aber sie hängen weder von
demselben absoluten anfänglichen Orte des Systems, noch
von seiner absoluten Orientierung ab, noch von den
Geschwindigkeiten, mit welchen sich dieser absolute Ort
und diese absolute Orientierung zur Anfangszeit ändern.
Unglücklicherweise steht das so ausgesprochene Gesetz
mit den Erfahrungen nicht im Einklang, wenigstens nicht,
wenn man die letzteren in der gewöhnlichen Weise
interpretiert.
Man nehme an, daß ein Mensch auf einen Planeten
versetzt sei, dessen Himmel beständig mit einer dicken
Wolkenschicht bedeckt wäre, und zwar derart, daß man
niemals die anderen Gestirne bemerken könnte; auf
diesem Planeten würde man leben, als ob derselbe im
Räume isoliert wäre. Dieser Mensch könnte indessen
bemerken, daß sich der Planet dreht, entweder indem
er die Abplattung nachmißt (was man gewöhnlich mit
Hilfe astronomischer Beobachtungen bewerkstelligt, was
man aber auch mit rein geodätischen Hilfsmitteln aus-
führen kann), oder, indem er das Experiment des
Foucaultschen Pendels wiederholt. Die absolute Rotation
dieses Planeten würde also völlig klar gestellt werden.
Das ist eine Tatsache, welche bei den Philo-
Empirismus in der Geometrie. 8l
sophen Anstoß erregt, welche aber der Physiker aner-
kennen muß.
Man weiß, daß Newton aus dieser Tatsache die
Existenz des absoluten Raumes geschlossen hat; ich
kann diese Anschauungsweise durchaus nicht teilen, im
dritten Teile werde ich erklären, warum ^^). Für jetzt
möchte ich nicht anfangen diese Schwierigkeit zu er-
örtern.
Ich habe mich bei der Formulierung des Gesetzes
der Relativität begnügen müssen, alle Arten von Ge-
schwindigkeiten unter die Angaben einzuschließen, welche
den Zustand der Körper definieren.
Wie dem auch sei, diese Schwierigkeit ist dieselbe
für die Euklidische und für die Lobatschewskysche Geo-
metrie; ich brauche mich also deshalb nicht weiter zu
beunruhigen und ich habe nur beiläufig davon sprechen
wollen.
Wie man sich auch drehen und wenden möge, es
bleibt unmöglich, mit dem Empirismus in der Geometrie
einen vernünftigen Sinn zu verbinden.
6. Die Erfahrungstatsachen lassen uns nur die
gegenseitigen Beziehungen der Körper erkennen; keine
von ihnen bezieht sich (oder kann sich auch nur be-
ziehen) auf die Beziehungen der Körper zum Räume
oder auf die wechselseitigen Beziehungen der verschie-
denen Raumteile.
,,Ja", werden Sie darauf antworten, ,,ein einziges
Experiment ist ungenügend, weil es nur eine einzige
Gleichung mit mehreren Unbekannten gibt; aber wenn
ich hinreichend viele Experimente gemacht habe, so
werde ich auch eine hinreichende Anzahl von Glei-
chungen haben, um alle meine Unbekannten zu be-
rechnen. *'
Die Höhe des Topmastes zu kennen, ist nicht ge-
nügend, um das Alter des Kapitäns zu berechnen. Wenn
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. 6
g') II, 5- Erfahrung und Geometrie.
Sie alle Holzstücke des Schiffes gemessen haben, so
haben Sie viele Gleichungen, aber das Alter des Kapitäns
kennen Sie deshalb doch nicht. Alle Ihre Messungen
beziehen sich auf Ihre Holzstücke und können Ihnen
deshalb nur Dinge offenbaren, die mit diesen Holzstücken
zusammenhängen. Ebenso haben Ihre Experimente, so
zahlreich sie auch sein mögen, nur mit den wechsel-
seitigen Beziehungen der Körper zu tun und werden
uns deshalb nichts über die wechselseitigen Beziehungen
der verschiedenen Raumteile offenbaren.
7. Sie werden behaupten, daß die Experimente sich
doch mindestens auf die geometrischen Eigenschaften
der Körper beziehen, wenn sie überhaupt mit Körpern
zu tun haben.
Aber was verstehen Sie denn unter geometrischen
Eigenschaften der Körper? Ich nehme an, es handelt
sich um Beziehungen der Körper zum Räume; diese
Eigenschaften sind also für Experimente unzugänglich,
welche nur mit gegenseitigen Beziehungen der Körper
zu tun haben. Das allein würde genügen, um zu be-
weisen, daß von diesen Eigenschaften keine Rede sein kann.
Fangen wir immerhin damit an, uns über den Sinn
dieser Worte zu verständigen: geometrische Eigenschaften
der Körper. Wenn ich behaupte, daß ein Körper sich
aus mehreren Teilen zusammensetzt, so setze ich voraus,
daß ich damit keine geometrische Eigenschaft aussage;
und das wird wahr bleiben, auch wenn ich jetzt den
kleinsten Teilen, die ich ins Auge fasse, den unrichtigen
Namen Punkte beilege.
Wenn ich sage, daß ein bestimmter Teil eines be-
stimmten Körpers in Berührung mit einem bestimmten
Teile eines bestimmten anderen Körpers ist, so spreche
ich eine Behauptung aus, welche die gegenseitigen Be-
ziehungen dieser beiden Körper zueinander und nicht
ihre Beziehungen zum Räume betrifft.
Tragweite von Experimenten. 3^
Ich nehme an, Sie werden mir darin beistimmen,
daß das keine geometrischen Eigenschaften sind; ich
bin wenigstens sicher, Sie werden mir zugeben, daß diese
Eigenschaften von jeder Bekanntschaft mit der metrischen
Geometrie unabhängig sind.
Dies vorausgesetzt, denke ich mir einen festen Körper,
gebildet von dünnen Eisenstäben OA, OB, OC, OD,
OE, OF, OG, OH, welchen allen der eine Endpunkt O
gemeinsam ist. Wir haben andererseits einen zweiten
festen Körper, z. B. ein Holzstück, das man mit drei
kleinen Tintenflecken zeichnen möge, welche ich a, ß, y
nennen will. Ich nehme ferner an, man habe sich über-
zeugt, daß man a, ß, y mit A, G, 0 in Berührung bringen
kann (ich will damit sagen: a mit A, zu gleicher Zeit
ß mit G und y mit 0), femer, daß man nach und nach
aßy mit BGO, CGO, DGO, EGO, EGO in Berüh-
rung bringen kann, dann mit AHO, BHO, CHO, DHO,
EHO, EHO', endlich ay nacheinander mit AB, B C,
CD, DE, EE, EA.
Damit haben wir Feststellungen, welche man ohne
irgend eine vorhergehende Vorstellung von der Form
oder von den metrischen Eigenschaften des Raumes
machen kann. Sie haben durchaus nichts mit den
„geometrischen Eigenschaften der Körper" zu tun. Diese
Feststellungen sind nicht möglich, wenn die Körper, mit
welchen man experimentiert hat, sich gemäß einer Gruppe
(vgl. S. 66) bewegen, mit derselben Struktur wie die
Lobatschewskysche Gruppe (ich will sagen, wenn sie sich
nach demselben Gesetze bewegen, wie die festen Körper
in der Lobatschewskyschen Geometrie). Sie genügen
aber, um zu zeigen, daß diese Körper sich gemäß der
Euklidischen Gruppe bewegen, oder wenigstens, daß sie
sich nicht gemäß der Lobatschewskyschen Gruppe bewegen.
Es ist leicht zu sehen, daß sie mit der Euklidischen
Gruppe verträglich sind.
6*
^A II, 5. Erfahrung und Geometrie,
Denn man könnte diese Feststellungen machen, wenn
der Körper aßy ein fester, unveränderlicher Körper
unserer gewöhnlichen Geometrie wäre, welche die Gestalt
eines geradlinigen Dreiecks hat und wenn die Punkte
AB CDEFGH die Scheitelpunkte eines Polyeders wären,
das von zwei hexagonalen regelmäßigen Pyramiden unserer
gewöhnlichen Geometrie gebildet ist, welche zur gemein-
samen Basis das Sechseck AB CDEF und als Spitzen
die eine den Punkt G und die andere den Punkt H
haben.
Setzen wir nun voraus, man beobachte an Stelle der
vorhergehenden Feststellungen, daß man, wie soeben,
aßy nacheinander zur Deckung bringen kann mit AGO,
BGO, CGO, DGO, EGO.FGO, AHO, B HO, CHO,
DHO, EHO, FHO, dann, daß man aß (aber nicht
mehr ay) nacheinander a-uf AB, B C, CD, DE, EF Mndi
FA legen kann.^^)
Das sind Feststellungen, welche man machen könnte,
wenn die nicht-Euklidische Geometrie wahr wäre, wenn
die Körper aßy, O AB CDEFGH feste unveränderliche
Körper wären, und wenn der erste ein geradliniges
Dreieck und der zweite eine doppelte, hexagonale,
regelmäßige Pyramide von passenden Dimensionen wäre.
Diese neuen Feststellungen sind also nicht möglich,
wenn die Körper sich gemäß der Euklidischen Gruppe
bewegen; aber sie werden möglich sein, wenn man vor-
aussetzt, daß die Körper sich gemäß der Lobatschewky-
schen Gruppe bewegen. Sie würden genügen (wenn
man sie ausführte), um zu beweisen, daß die fraglichen
Körper sich nicht gemäß der Euklidischen Gruppe be-
wegen.
Somit habe ich, ohne irgend eine Hypothese über
die Gestalt, über die Natur des Raumes, über die Be-
ziehungen der Körper zum Räume zu machen, ohne
den Körpern irgend eine geometrische Eigenschaft bei-
Unmögliclikeit der Entscheidung. S"?
zulegen, Feststellungen gemacht, welche mir erlaubt
haben darzulegen, in dem einen Falle, daß die zum
Experiment benutzten Körper sich einer Gruppe gemäß
bewegen, deren Struktur die Euklidische ist, und im
anderen Falle, daß sie sich einer Gruppe gemäß bewegen,
deren Struktur die Lob atschewsky sehe ist.
Man sage nicht, daß die erste Gesamtheit von Fest-
stellungen eine Erfahrung darstellen würde, welche be-
weist, daß der Raum ein EukHdischer ist und daß die
zweite Gesamtheit eine Erfahrung darstellen würde,
welche beweist, daß der Raum ein nicht-Euklidischer ist.
Man könnte sich in der Tat Körper vorstellen (ich
sage vorstellen), welche sich derart bewegen, daß sie
die zweite Reihe der Feststellungen ermöglichten. Der
Beweis dafür ist, daß der erste beste Mechaniker solche
Körper konstruieren kann, wenn er sich die Mühe geben
und die Kosten daran wenden wollte. Trotzdem werden
Sie daraus nicht schlußfolgern, daß der Raum ein nicht-
Euklidischer ist.
Und da die gewöhnlichen festen Körper nicht
aufhören würden zu existieren, wenn der Mechaniker
die sonderbaren Körper, von denen ich soeben sprach,
konstruiert hätte, so müßte man sogar schließen, daß
der Raum zugleich Euklidisch und nicht-Eukhdisch ist.
Setzen wir z. B. voraus, daß wir eine große Kugel
vom Halbmesser R hätten und daß die Temperatur vom
Mittelpunkte nach der Oberfläche dieser Kugel zu nach
dem Gesetze sinken würde, von dem ich sprach, als ich
die nicht-Euklidische Welt beschrieb (vgl. S. 67).
Wir könnten so Körper vor uns haben, deren Dila-
tation zu vernachlässigen ist und welche sich wie ge-
wöhnliche feste Körper verhalten, und andererseits sehr
stark ausdehnbare Körper, welche sich wie nicht-Eukli-
dische feste Körper verhalten. Wir könnten z. B. zwei
Doppelpyramiden OABCDEFGH \md 0' Ä B' C D' E'
36 II, 5' Erfahrung und Geometrie.
F' G' H' und zwei Dreiecke a^y und a ^' y' haben. Die
erste Doppelpyramide möge geradlinig und die zweite
krummlinig sein; das Dreieck a^y sei aus unausdehn-
barem Materiale hergestellt und das andere Dreieck aus
sehr stark ausdehnbarem Materiale.
Man könnte dann die ersten Feststellungen mit der
Doppelpyramide OA . . .H und dem Dreiecke aßy
machen und die zweite Klasse von Feststellungen mit
der Doppelpyramide O' Ä . . . H' und dem Dreiecke
cc'ß'y\ Und dann würde das Experiment beweisen
erstens, daß die Euklidische Geometrie richtig ist, zwei-
tens, daß sie falsch ist.
Die Experimente beziehen sich folglich nicht
auf den Raum, sondern auf die Körper.
Anhang.
8. Um vollständig zu sein, müßte ich noch eine
delikate Frage besprechen, welche lange Entwickelungen
erfordern würde; ich werde mich darauf beschränken,
hier zusammenfassend wiederzugeben, was ich in der
Revue de Metaphysique et de Morale und in der Zeit-
schrift The Monist*) dargelegt habe. Was verstehen wir
darunter, wenn wir sagen, daß der Raum drei Dimen-
sionen hat?
Wir haben die Wichtigkeit derjenigen „inneren Ver-
änderungen** kennen gelernt, welche uns durch unsere
Muskelempfindungen zum Bewußtsein kommen (vgl. S. 5 7 f.).
Sie können dazu dienen, die verschiedenen Haltungen
unseres Körpers zu charakterisieren. Nehmen wir irgend
eine willkürlich gewählte Körperhaltung A zum Ausgangs-
punkte. Wenn wir von dieser Anfangshaltung zu irgend
*) On the foundation of Geometry, The Monist, edited by
P. Carus, vol. 9, Chicago 1898.
Zahl der Dimensionen.
87
einer anderen Haltung B übergehen, so erleiden wir
eine Reihe S von Muskelempfindungen und diese Reihe
»S wird B definieren. Bemerken wir indessen, daß wir
oft zwei Reihen S und S' ansehen, als ob sie eine und
dieselbe Haltung B definieren (weil die Anfangshaltung
A und die Endhaltung B dieselben bleiben können,
während die Zwischenhaltungen und die begleitenden
Empfindungen verschieden sind). Wie können wir diese
beiden Reihen als äquivalent nachweisen? Weil sie
dazu dienen können, eine und dieselbe äußere Ver-
änderung zu kompensieren, oder allgemeiner, weil eine
dieser Reihen durch die andere ersetzt werden kann,
wenn es sich um die Kompensation einer äußeren Ver-
änderung handelt.
Unter diesen Reihen haben wir diejenigen hervor-
gehoben, welche für sich allein eine äußere Veränderung
kompensieren und welche wir ,, Ortsveränderungen" (vgl.
S. 60) genannt haben. Da wir zwei Ortsveränderungen,
welche einander zu benachbart sind, nicht unterscheiden
können, so besitzt die Gesamtheit dieser Ortsverände-
rungen die Charaktere eines physikalischen Kontinuums;
die Erfahrung lehrt uns*^), daß es die Charaktere eines
sechsdimensionalen physikalischen Kontinuums sind; aber
wir wissen noch nicht, wieviele Dimensionen der Raum
selbst hat, wir müssen zuerst eine andere Frage lösen.
Was ist ein Punkt im Räume? Jedermann glaubt
es zu wissen, aber das beruht auf einer Täuschung. Was
wir sehen, wenn wir versuchen, uns einen Punkt im
Räume vorzustellen, ist ein schwarzer Fleck auf weißem
Papier oder ein Kreidefleck auf einer schwarzen Tafel,
es ist immer ein Gegenstand. Die Frage muß also
folgendermaßen verstanden werden:
Was will ich damit ausdrücken, wenn ich sage,
daß der Gegenstand B sich an demselben Punkte be-
findet, in welchem soeben der Gegenstand A war? Und
gg n, 5. Erfahrung und Geometrie.
weiter, welches Kriterium wird es mir ermöglichen, dies
zu erkennen?
Ich will sagen, daß mein erster Finger, der soeben
den Gegenstand A berührte, jetzt den Gegenstand B
berührt, obgleich ich mich nicht von der Stelle
rühre (was mir meine Muskelempfindung anzeigt). Ich
könnte mich anderer Kriterien bedienen, z. B. eines
anderen Fingers oder des Gesichtssinnes. Aber das erste
Kriterium ist genügend; wenn dieses mit ,,Ja" antwortet,
so weiß ich, daß alle anderen Kriterien dieselbe Antwort
geben werden. Ich weiß es aus Erfahrung, ich kann
es nicht a priori wissen. Darum sage ich auch, daß
das Berühren nicht aus der Entfernung möglich ist, und
das ist eine andere Art, die gleiche experimentelle Tat-
sache auszusprechen. Wenn ich aber im Gegensatz dazu
sage, daß das Sehen aus der Entfernung möglich ist, so
will das heißen, daß das durch den Gesichtssinn ge-
lieferte Kriterium bejahen kann, während die anderen
Kriterien verneinen.
Kurz, mein erster Finger wird für jede Haltung
meines Körpers einen Punkt bestimmen, und das ist es,
und nur das allein, was einen Punkt im Räume definiert.
Mit jeder Haltung korrespondiert also ein Punkt;
aber es kommt öfters vor, daß der gleiche Punkt mit
verschiedenen Haltungen korrespondiert (in solchem Falle
sagen wir, daß unser Finger sich nicht bewegt hat, wohl
aber der übrige Teil des Körpers). Wir unterscheiden
also unter den Haltungs Veränderungen solche, bei denen
der Finger sich nicht bewegt. Wie sind wir dazu ge-
kommen? Weil wir oft bemerken, daß in diesen Ver-
änderungen der Gegenstand, welcher mit dem Finger in
Berührung kommt, diese Berührung nicht aufgibt.
Wir wollen also in ein und dieselbe Abteilung alle
Haltungen einreihen, welche sich auseinander mittelst
einer der Veränderungen ableiten, die wir so gekennzeichnet
Was ist ein Punkt? 8o
haben. Mit allen Haltungen derselben Abteilung wird
derselbe Punkt im Räume korrespondieren. So wird
also mit jeder Abteilung ein Punkt korrespondieren und
mit jedem Punkte eine Abteilung. Aber man kann sagen:
die Erfahrung bezieht sich nicht auf den Punkt, sondern
auf diese Abteilung von Veränderungen, oder besser ge-
sagt, auf die entsprechende Abteilung von Muskel-
empfindungen.
Dann werden wir, wenn wir vom dreidimensionalen
Räume sprechen, einfach meinen, daß die Gesamtheit
dieser Abteilungen uns wie die Charaktere eines physi-
kalischen, dreidimensionalen Kontinuums erscheint.
Wenn ich mich, anstatt die Punkte im Räume mit
Hilfe des ersten Fingers zu definieren, z. B. eines anderen
Fingers bedient hätte, würden dann die Resultate die
gleichen sein? Das ist keineswegs a priori sicher, aber
die Erfahrung zeigt uns, wie wir gesehen haben, daß
alle Kriterien übereinstimmen; darum können wir mit
,,Ja" antworten.
Wenn wir zu dem zurückkehren, was wir Ortsver-
änderungen nannten, deren Gesamtheit, wie wir schon
bemerkten (S. 66), eine Gruppe bildet, so werden wir
dazu geführt, von den übrigen diejenigen zu unterscheiden,
bei denen ein Finger sich nicht bewegt; nach dem Vor-
hergegangenen charakterisieren also diese Ortsverände-
rungen einen Punkt im Räume und ihre Gesamtheit wird
eine Untergruppe unserer Gruppe sein. Auf diese Weise
wird also jeder Untergruppe ein Punkt im Räume ent-
sprechen.*^)
Man wird versucht sein zu schlußfolgern, daß es die
Erfahrung ist, welche uns lehrt, wieviele Dimensionen der
Raum hat. Aber in Wahrheit haben wiederum unsere
Erfahrungen nichts mit dem Räume zu tun, sondern mit
unserem Körper und seinen Beziehungen zu den benach-
go II, 5- Erfahrung und Geometrie.
harten Gegenständen. Überdies sind sie außerordent-
lich groh.
In unserem Verstände präexistierte die latente Idee
einer gewissen Anzahl von Gruppen; es sind diejenigen,
deren Theorie Lie entwickelt hat (vgl. S. 48). Welche
sollen wir wählen, um daraus eine Art Normalmaß zu
fertigen, mit dem wir die natürlichen Erscheinungen
vergleichen könnten? Und welches ist von dieser aus-
gewählten Gruppe diejenige Untergruppe, die wir brauchen
können, um einen Punkt im Räume zu charakterisieren?
Die Erfahrung leitete uns, als sie uns zeigte, welche
Wahl sich am besten den Eigenschaften unseres Körpers
anpassen würde. Aber damit ist ihre Rolle ausgespielt.
Dritter Teil.
Die Kraft.
Sechstes Kapitel.
Die klassische Mechanik.
Die Engländer lehren die Mechanik wie eine experi-
mentelle Wissenschaft; auf dem Kontinent stellt man sie
stets als eine mehr oder weniger deduktive Wissenschaft
und als eine Wissenschaft a priori dar. Die Engländer
haben zweifelsohne recht, aber wie konnte man so lange
in solchen Irrtümern beharren? Warum konnten die
Gelehrten auf dem Kontinente, welche die Gewohnheiten
ihrer Vorgänger zu meiden suchten, sich meist nicht voll-
ständig von diesen Irrtümern befreien?
Wenn andererseits die Prinzipien der Mechanik keine
andere Quelle haben als die Erfahrung, sind sie dann
nicht nur annähernd und provisorisch richtig? Könnten
uns neue Erfahrungen nicht eines Tages dazu führen,
diese Prinzipien abzuändern oder sie sogar aufzugeben?
Solche Fragen drängen sich natürlicherweise auf, und
die Schwierigkeit der Lösung stammt hauptsächlich da-
her, daß die mechanischen Lehrbücher nicht klar unter-
scheiden, was Übereinkommen und was Hypothese ist.
Das ist nicht alles:
I. Es gibt keinen absoluten Raum, und wir begreifen
nur relative Bewegungen; trotzdem spricht man die
mechanischen Tatsachen öfters so aus, als ob es einen
absoluten Raum gäbe, auf den man sie beziehen könnte.
Q2 III, 6. Die klassische Mechanik.
2. Es gibt keine absolute Zeit; wenn man sagt, daß
zwei Zeiten gleich sind, so wäre das eine Behauptung,
welche an sich keinen Sinn hat und welche einen solchen
nur durch Übereinkommen erhalten kann.
3. Wir haben nicht nur keinerlei direkte Anschauung
von der Gleichheit zweier Zeiten, sondern wir haben
nicht einmal diejenige von der Gleichzeitigkeit zweier
Ereignisse, welche auf verschiedenen Schauplätzen vor
sich gehen; das habe ich in einem Aufsatze unter dem
Titel: la Mesure du temps*) dargelegt.^^)
4. Endlich ist unsere Euklidische Geometrie selbst
nur eine Art von Übereinkommen für unsere Ausdrucks-
weise; wir könnten die mechanischen Tatsachen aus-
sprechen, indem wir sie auf einen nicht-Euklidischen
Raum übertragen; das wäre zwar ein wenig bequemes,
aber ebenso berechtigtes Werkzeug wie unser gewöhn-
licher Raum; die Darstellung wird dann viel komplizierter
werden, aber sie bliebe möglich.^*)
So sind weder der absolute Raum, noch die absolute
Zeit, noch sogar die Geometrie Voraussetzungen, die für
die Mechanik absolut notwendig wären; alle diese Dinge
bestanden nicht vor der Mechanik, so wie logischerweise
die französische Sprache nicht vor den Wahrheiten be-
stand, welche man in dieser Sprache ausdrückt.
Man kann versuchen die fundamentalen Gesetze der
Mechanik in einer Sprache auszudrücken, welche von
allen diesen Übereinkommen unabhängig ist; man würde
sich so ohne Zweifel besser von dem Rechenschaft geben
können, was diese Gesetze in sich bedeuten; das hat
Andrade in seinen Le(^ons de Mecanique physique,
wenigstens teilweise, versucht klar zu stellen.
Die Darlegung dieser Gesetze würde, wohlverstanden,
*) Revue de Metaphysique et de Morale, t. VI p. i — 13
{janvier 1898).
Das Prinzip der Trägheit. g^
viel schwieriger werden, weil alle diese Übereinkommen
ausdrücklich ersonnen waren, um diese Darlegung abzu-
kürzen und zu vereinfachen.
Was mich betrifft, so werde ich alle diese Schwierig-
keiten beiseite lassen, ausgenommen diejenige, welche
sich auf den absoluten Raum bezieht; nicht, daß ich
diese Schwierigkeiten verkenne, davon bin ich weit ent-
fernt; aber wir haben sie zur Genüge in den beiden
ersten Teilen durchgenommen. Vorläufig will ich also
die absolute Zeit und die Euklidische Geometrie zu-
lassen.
Das Prinzip der Trägheit. — Ein Körper, welcher
keiner Kraft unterworfen ist, kann nur eine geradlinige
und gleichförmige Bewegung haben.
Liegt darin eine Wahrheit, welche sich dem Ver-
stände a priori aufdrängt? Wenn dem so wäre, wie
konnten die Griechen sie dann verkennen? Wie hätten
sie glauben können, daß die Bewegung in dem Augen-
blicke anhält, in dem die Ursache, welche die Be-
wegung entstehen ließ, aufhört? Oder wie konnten sie
sogar glauben, daß jeder Körper, sobald ihm nichts in
den Weg kommt, eine kreisförmige Bewegung machen
würde, welche die angeblich vornehmste aller Bewegungen
sein sollte?
Wenn man sagt, daß sich die Geschwindigkeit eines
Körpers nicht ändern kann, wenn kein Grund dazu vor-
liegt, könnte man dann nicht ebenso gut behaupten, daß
die Stellung dieses Körpers sich nicht ändern kann oder
daß die Krümmung seiner Bahn sich nicht ändern kann,
es sei denn, daß eine äußere Ursache abändernd ein-
wirkt ?
Ist also das Prinzip der Trägheit, welches doch keine
Wahrheit a priori enthält, eine experimentelle Tatsache?
Aber hat man jemals mit Körpern experimentiert, welche
der Wirkung jeder Kraft entzogen waren, und wenn man
94
III, 6. Die klassische Mechanik.
es getan hat, wie konnte man dann wissen, daß diese
Körper keiner Kraft unterworfen waren? Man citiert
gewöhnlich das Beispiel einer Kugel, welche eine sehr
lange Zeit hindurch auf einem Marmortische rollt; aber
wie können wir behaupten, daß sie keiner Kraft unter-
worfen ist? Vielleicht, weil sie von allen anderen
Körpern zu weit entfernt ist, um von ihnen merklich
beeinflußt zu werden? Aber sie ist doch von der Erde
nicht weiter entfernt, als wenn man sie frei in die Luft
würfe; und jeder weiß, daß sie in diesem Falle dem
Einflüsse der Schwerkraft unterworfen ist, welche auf der
Anziehungskraft der Erde beruht.
Die Lehrer der Mechanik haben die Gewohnheit,
über das Beispiel der Kugel schnell hinwegzugehen;
aber sie fügen hinzu, daß das Prinzip der Trägheit in-
direkt durch seine Folgerungen bestätigt wird. Dabei
drücken sie sich nicht richtig aus; sie wollen offenbar
sagen, daß man verschiedene Folgerungen eines allge-
meineren Prinzipes, von dem das Prinzip der Trägheit
nur ein besonderer Fall ist, durch die Erfahrung be-
stätigen kann.
Ich schlage vor, dies allgemeine Prinzip in folgender
Weise auszusprechen:
DieBeschleunigung eines Körpers hängt nur ab
von dem Orte dieses Körpers und der ihm benach-
barten Körper und von ihren Geschwindigkeiten.
Die Mathematiker würden statt dessen sagen ^^): Die
Bewegungen aller materiellen Moleküle des Universums
hängen von Differential-Gleichungen zweiter Ordnung ab.
Um verständlich zu machen, daß dies wirklich die
natürliche Verallgemeinerung des Trägheitsgesetzes ist,
erlaube man mir eine fingierte Annahme. Das Träg-
heitsgesetz drängt sich uns nicht a priori auf, wie ich
schon oben erwähnt habe; andere Gesetze würden eben-
so mit dem Prinzipe des zureichenden Grundes vertrag-
Verallgemeinertes Trägheitsgesetz. gc
lieh sein. Anstatt vorauszusetzen, daß die Geschwindig-
keit eines Körpers sich nicht ändert, wenn derselbe
keiner Kraft unterworfen ist, könnte man voraussetzen,
daß seine Lage, oder auch daß seine Beschleunigung
sich nicht ändern kann.
Denken wir uns für einen Augenblick, daß das eine
dieser beiden hypothetischen Gesetze mit demjenigen
der Natur identisch sei und unser Trägheitsgesetz er-
setze. Was würde dann dessen natürliche Verallge-
meinerung sein? Eine Minute Überlegung wird uns die
Antwort geben.
Im ersten Falle müßte man annehmen, daß die Ge-
schwindigkeit eines Körpers nur von seiner Lage und
von der Lage des Nachbarkörpers abhängt; im zweiten
Falle, daß die Änderung der Beschleunigung eines
Körpers nur von der Lage dieses Körpers und seiner
Nachbarkörper, von ihren Geschwindigkeiten und von
ihren Beschleunigungen abhängt.
Oder, wenn wir es mathematisch ausdrücken: Die
Differential- Gleichungen der Bewegungen würden im
ersten Falle von der ersten Ordnung, im zweiten Falle
von der dritten Ordnung sein.*^)
Ändern wir unsere fingierte Annahme etwas ab. Ich
setze eine unserem Sonnensysteme analoge Welt voraus,
in welcher aber, durch besonderen Zufall, die Bahnen
aller Planeten ohne Exzentrizität und ohne Neigung gegen
die Ekliptik sein sollen. Ich setze weiter voraus, daß
die Massen dieser Planeten zu schwach wären, um die
gegenseitigen Störungen der Planeten sichtbar werden zu
lassen. Die Astronomen, welche einen dieser Planeten
bewohnen, würden nicht verfehlen zu schlußfolgern, daß
die Bahn eines Gestirns nur kreisförmig und einer ge-
wissen Ebene parallel sein kann; die Stellung eines Ge-
stirnes in einem gegebenen Augenblicke würde also ge-
nügen, um seine Geschwindigkeit und seine ganze Bahn
g5 III, 6. Die klassische Mechanik.
zu bestimmen. Das Trägheitsgesetz, welches sie an-
nehmen würden, wäre das erste der beiden hypothetischen
Gesetze, von denen ich soeben sprach.*'^)
Denken wir uns, daß dieses System eines Tages mit
großer Schnelligkeit von einem groß -massigen Körper
durchschnitten würde, der von einem entfernten Stern-
bilde herkommt. Alle Planetenbahnen würden gründlich
gestört werden. Unsere hypothetischen Astronomen
würden nicht einmal sehr verwundert sein, sie würden
wohl erraten, daß dieses neue Gestirn allein an all dem
Unheil schuld ist. Sie würden sagen: ,,Die Ordnung
wird sich von selbst wiederherstellen, wenn der Stören-
fried wieder fort ist; ohne Zweifel werden die Ent-
fernungen der Planeten von der Sonne nicht wieder die-
selben werden, welche sie vor der Katastrophe waren;
aber wenn der Störenfried nicht mehr da ist, so werden
die Planetenbahnen wieder kreisförmig sein."
Nur dann werden diese Astronomen ihres Irrtums
gewahr werden und die Notwendigkeit erkennen, ihre
ganze Mechanik zu erneuern, wenn der störende Körper
sich weit entfernt hätte und wenn dennoch die Planeten-
bahnen anstatt kreisförmig elliptisch geworden wären.
Ich habe mich bei dieser Hypothese etwas aufge-
halten, denn es scheint mir, daß man nur gut verstehen
kann, was unser verallgemeinertes Trägheitsgesetz be-
deutet, wenn man es einer entgegengesetzten Hypothese
gegenüberstellt.
Nun gut; ist dieses verallgemeinerte Trägheitsgesetz
durch die Erfahrung bewahrheitet oder kann es in Zu-
kunft bewahrheitet werden? Als Newton die ,,Principia*^
schrieb, betrachtete er diese Wahrheit als gesichert und
durch Experimente bewiesen. Sie war es auch in seinen
Augen nicht nur durch die anthropomorphen Vorstellungen,
von denen wir weiterhin sprechen werden, sondern auch
durch die Arbeiten Galileis. Sie war überdies gesichert
Bestätigung durch Erfahrung. nj
durch die Kepplerschen Gesetze; nach diesen Gesetzen
ist in der Tat die Bahn eines Planeten vollkommen
durch seine Anfangs-Lage und seine Anfangs-Geschwindig-
keit bestimmt; gerade das verlangt ja unser verallge-
meinertes Trägheits-Prinzip.
Wenn dieses Prinzip nur scheinbar richtig sein soll,
wenn man zu befürchten hat, dasselbe eines Tages z. B.
durch eines der analogen Prinzipien ersetzen zu müssen,
welche ich ihm soeben gegenüberstellte, so müßten wir
durch einen ganz ungewöhnlichen Zufall getäuscht worden
sein, durch einen solchen Zufall, wie er unsere hypothe-
tischen Astronomen unter den oben fingierten Umständen
irregeführt hatte.
Eine solche Hypothese ist zu unwahrscheinlich, als
daß man sich mit ihr aufzuhalten brauchte. Niemand
wird glauben, daß solche Zufälligkeiten stattfinden können;
zweifelsohne ist die Wahrscheinlichkeit dafür (bis auf
die Beobachtungsfehler), daß zwei Exzentrizitäten beide
zugleich gleich Null seien, nicht kleiner wie die Wahr-
scheinlichkeit dafür, daß die eine z. B. (bis auf die
Beobachtungsfehler) genau gleich o, i und die andere
gleich 0,2 sei. Die Wahrscheinlichkeit eines einfachen
Ereignisses ist nicht geringer als die Wahrscheinlichkeit
eines zusammengesetzten Ereignisses; und dennoch werden
war, wenn das einfache Ereignis eintritt, es nicht dem
Zufall zuschreiben wollen; wir können nicht glauben, daß
das Naturereignis nur eintrat, um uns zu täuschen.
Nachdem die Möglichkeit eines derartigen Irrtums für
uns erledigt ist, können wir also zugeben, daß unser
Gesetz durch die Erfahrung bestätigt sei, wenigstens so-
weit es die Astronomie betrifft.
Aber die Astronomie ist nicht die ganze Physik.
Sollte man nicht fürchten, daß irgend ein neues
Experiment eines Tages das Gesetz in irgend einem
Gebiete der Physik zu nichte macht? Ein experimentelles
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. 7
qg III, 6. Die klassische Mechanik.
Gesetz ist immer der Kontrolle unterworfen; man muß
immer gewärtig sein, es durch ein anderes, genaueres
Gesetz ersetzt zu sehen.
Niemand denkt indessen ernstlich daran, daß das
Gesetz, von dem wir sprechen, jemals aufgegeben oder
verbessert werden könnte. Warum? Einfach deshalb,
weil man es niemals einer entsprechenden Probe unter-
werfen kann.
Um eine wirklich vollständige Probe zu machen,
müßte man zuerst alle Körper des Universums nach ge-
wisser Zeit mit ihren Anfangs-Geschwindigkeiten in ihre
Anfangs-Lagen zurückkehren lassen. Man wird dann
von diesem Momente ausgehen und sehen, ob sie die
Bahnen, welche sie bereits einmal verfolgten, wieder
durchlaufen.
Aber diese Probe ist unmöglich; man kann sie nur
teilweise ausführen, und w^enn man es auch noch so gut
machte, so \vird es doch immer einige Körper geben,
welche nicht zu ihrer Anfangs -Lage zurückkehren; so
findet jede Abweichung vom Gesetze in leichter Weise
ihre Erklärung.
Das genügt noch nicht: in der Astronomie sehen
wir die Körper, deren Bewegungen wir studieren, und
wir nehmen meistens an, daß sie nicht der Einwirkung
anderer, unsichtbarer Körper unterliegen. Unter solchen
Bedingungen muß unser Gesetz sich bewahrheiten oder
nicht bewahrheiten.
Aber in der Physik ist es nicht ebenso: wenn die
physikalischen Erscheinungen aus Bewegungen hervor-
gehen, so sind es die Bewegungen der Moleküle, und
die können wir nicht sehen. Wenn uns nun die Be-
schleunigung eines der Körper, welche wir sehen, von
einem anderen Ding abhängig erscheint als von Lagen
oder Geschwindigkeiten der anderen, sichtbaren Körper
oder der unsichtbaren Moleküle (deren Existenz wir
Gesetz der Beschleunigung. qq
schon vorhin zugelassen haben), so wird uns nichts daran
hindern vorauszusetzen, daß dieses andere Ding durch
die Lage oder die Geschwindigkeit anderer Moleküle
gegeben wird, deren Anwesenheit wir bis dahin nicht
geahnt haben. Das Gesetz wäre damit gerettet.
Man gestatte mir für einen Augenblick, die mathe-
matische Ausdrucksweise anzuwenden, um denselben Ge-
danken in anderer Form darzulegen. Ich setze voraus,
daß wir n Moleküle beobachten und daß nach unseren
Feststellungen ihre 3 ;/ Koordinaten ein System von 3 n
Differential-Gleichungen vierter Ordnung befriedigen (und
nicht zweiter Ordnung, wie es das Trägheits- Gesetz er-
fordern würde). Wir wissen, daß ein System von 3 ;z
Gleichungen vierter Ordnung durch Einführung von 3 n
Hilfs-Variabeln auf ein System von ^n Gleichungen
zweiter Ordnung zurückgeführt werden kann. Wenn wir
also voraussetzen, daß diese '^n Hilfs-Variabeln die
Koordinaten von n unsichtbaren Molekülen darstellen,
so ist das Resultat wiederum mit dem Trägheits- Gesetze
in Übereinstimmung.
Kurz, dieses Gesetz, das in einigen besonderen Fällen
erfahrungsmäßig bewiesen ist, kann ohne Furcht auf die
allgemeinsten Fälle ausgedehnt werden, weil wir wissen,
daß in diesen allgemeinsten Fällen die Erfahrung dieses
Gesetz weder bekräftigen noch entkräften kann.
Das Gesetz der Beschleunigung. — Die Beschleu-
nigung eines Körpers ist gleich der Kraft, welche auf
ihn wirkt, dividiert durch seine Masse.
Kann dieses Gesetz durch die Erfahrung bewiesen
werden? Dazu müßte man die drei Größen messen,
welche in dem eben ausgesprochenen Satze vorkommen:
Beschleunigung, Kraft und Masse.
Ich nehme an, daß man die Beschleunigung messen
kann, denn ich sehe von der Schwierigkeit ab, welche
im Zeitmaße liegt (vgl. S. 93). Aber wie soll man die
7*
joo ni, 6. Die klassische Mechanik.
Kraft oder die Masse messen? Wir wissen nicht ein-
mal, was diese Worte bedeuten.
Was ist Masse? Es ist, sagt Newton, das Produkt
des Volumens in die Dichte. — Man sollte besser
sagen, so meinen Thomson und Tait, daß die Dichtig-
keit der Quotient der Masse durch das Volumen ist. —
Was ist Kraft? Es ist, sagt Lagrange, eine Ursache,
welche die Bewegung eines Körpers hervorbringt oder
welche sie hervorzubringen bestrebt ist. — Kirchhoff
wird sagen, es ist das Produkt der Masse in die Be-
schleunigung*^). Aber warum sagt man dann nicht,
daß die Masse der Quotient der Kraft durch die Be-
schleunigung ist?
Diese Schwierigkeiten sind unentwirrbar.
Wenn man sagt, daß die Kraft die Ursache einer
Bewegung sei, so macht man Metaphysik, und diese
Definition würde, wenn man sich mit ihr begnügte, völlig
unfruchtbar sein. Wenn eine Definition zu irgend etwas
nützlich sein soll, muß sie uns lehren, die Kraft zu
messen; das genügt andererseits; es ist keineswegs
nötig, daß sie uns lehrt, was die Kraft an sich ist, noch
ob sie die Ursache oder die Wirkung der Bewegung ist.
Man muß also zuerst die Gleichheit von zwei Kräften
definieren. Wann wird man sagen, daß zwei Kräfte
gleich sind? Das ist der Fall, erwidert man, wenn sie,
auf dieselbe Masse angewandt, ihr eine gleiche Be-
schleunigung auferlegen, oder wenn sie, einander direkt
entgegenwirkend, sich das Gleichgewicht halten. Diese
Definition ist nur eine Augentäuschung. Man kann eine
an einen Körper angreifende Kraft nicht loshaken, um
sie einem anderen Körper anzuhaken, wie man eine
Lokomotive loshakt, um sie an einem anderen Zuge zu
befestigen. Es ist also unmöglich zu erfahren, welche
Beschleunigung eine bestimmte Kraft, die an einem be-
stimmten Körper angreift, einem bestimmten anderen
Gleichheit von Kräften. lOi
Körper erteilen würde, wenn sie an letzterem angriffe.
Es ist unmöglich zu wissen, wie sich zwei Kräfte ver-
halten würden, welche nicht einander direkt entgegen-
wirken, wenn sie dazu gebracht werden, einander direkt
entgegenzuwirken.
Diese Definition versucht man, sozusagen, zu
materialisieren, wenn man eine Kraft mit einem Dynamo-
meter mißt oder sie durch Gewichte äquilibriert. Zwei
Kräfte F und F', welche ich der Einfachheit wegen als
vertikal und von unten nach oben gerichtet voraussetze,
werden bezw. an zwei Körper C und C angebracht;
ich befestige einen und denselben schweren Körper P
zuerst an dem Körper C, dann an dem Körper C;
wenn in beiden Fällen Gleichgewicht stattfindet, so
schließe ich, daß die beiden Kräfte F und F' einander
gleich sind, denn sie sind beide gleich dem Gewichte
des Körpers P.
Aber bin ich gewiß, daß der Körper P dasselbe
Gewicht behalten hat, während ich ihn vom ersten Körper
zum zweiten übertragen habe? Weit gefehlt; ich bin
vom Gegenteil überzeugt; ich weiß, daß die Inten-
sität der Schwere sich von einem Punkte zum anderen
ändert und daß sie z. B. am Pole stärker ist als am
Äquator. Ohne Zweifel ist der Unterschied sehr gering
und, ins Praktische übersetzt, möchte ich damit nicht
rechnen; eine gute Definition soll von mathematischer
Strenge sein; diese Strenge vermissen wir. Was ich
vom Gewichte sage, Heße sich offenbar auf die Kraft
der Feder eines Dynamometers anwenden, welche die
Temperatur und eine Menge von Nebenumständen ver-
ändern können.
Noch nicht genug; man kann nicht sagen, daß das
Gewicht des Körpers P auf den Körper C übertragen
würde und direkt die Kraft F äquilibriert. Was an
den Körper C angreift, das ist die Wirkung A des
JQ2 III, 6. Die klassische Mechanik.
Körpers P auf den Körper C; der Körper P seiner-
seits ist einesteils seinem Gewichte, andernteils der
Gegenwirkung R des Körpers C auf P unterworfen.
Schließlich ist die Kraft F gleich der Kraft A, weil sie
ihr das Gleichgewicht hält; die Kraft A ist gleich R
vermöge des Prinzipes der Gleichheit der Wirkung und
Gegenwirkung (actio und reactio), endlich ist die Kraft
R gleich dem Gewichte von /*, weil sie ihm das Gleich-
gewicht hält. Aus diesen drei Gleichungen leiten wir
als Folgerung die Gleichheit der Kraft F mit dem Ge-
wichte des Körpers P ab.'*^)
Wir sind demnach genötigt, in die Definition der
Gleichheit dieser beiden Kräfte das Prinzip der Gleich-
heit der Wirkung und der Gegenwirkung eingehen zu
lassen; demzufolge darf dieses Prinzip nicht mehr
als ein experimentelles Gesetz, sondern als eine
Definition angesehen werden.
Um die Gleichheit zweier Kräfte zu erkennen, sind
wir also jetzt im Besitze zweier Regeln: Gleichheit zweier
Kräfte, die sich äquilibrieren ; Gleichheit von Wirkung
und Gegenwirkung. Aber wir haben weiter oben ge-
sehen, daß diese zwei Regeln ungenügend sind; wir
sind dazu gezwungen, eine dritte Regel zu Hilfe zu
nehmen und zuzulassen, daß gewisse Kräfte, wie z. B.
das Gewicht eines Körpers, nach Größe und Richtung
konstant sind. Diese dritte Regel ist, wie erwähnt, ein
physikalisches Gesetz; sie ist annähernd richtig; sie ist
eine schlechte Definition.
Wir werden also zu der Definition Kirchhoff"s ge-
führt: Die Kraft ist gleich der Masse, multipliziert
mit der Beschleunigung. Dieses ,,Newtonsche Ge-
setz" hört seinerseits auf, als experimentelles Gesetz be-
trachtet zu werden; es ist nichts als eine Definition.
Aber auch diese Definition ist noch ungenügend, weil
wir nicht wissen, was Masse ist. Sie erlaubt uns ohne
Kraft und Masse.
103
Zweifel das Verhältnis zweier Kräfte zu berechnen, die
an demselben Körper zu verschiedenen Zeiten angreifen;
sie lehrt uns nichts über das Verhältnis zweier Kräfte,
die an zwei verschiedenen Körpern angreifen.
Um sie zu vervollständigen, müssen wir wieder das
dritte Newtonsche Gesetz (Gleichheit der Wirkung und
Gegenwirkung) zu Hilfe nehmen und es nicht als ein
experimentelles Gesetz ansehen, sondern als eine Defini-
tion. Zwei Körper A und B wirken aufeinander; die
Beschleunigung von A, multipliziert in die Masse von A,
ist gleich der Wirkung von B auf A; ebenso ist das
Produkt der Beschleunigung von B in seine Masse gleich
der Gegenwirkung von A auf B. Da nach der Definition
die Wirkung gleich der Gegenwirkung ist, so verhalten
sich die Massen von A und B umgekehrt wie die Be-
schleunigungen dieser beiden Körper. Damit haben wir
das Verhältnis dieser beiden Massen definiert, und es ist
Sache des Experimentes zu bestätigen, daß dieses Ver-
hältnis unveränderlich ist.
Das wäre möglich, wenn die beiden Körper A und
B allein gegenwärtig und der Einwirkung der übrigen
Welt entzogen wären. Dem ist nicht so ; die Beschleu-
nigung von A wird nicht nur durch die Wirkung von B
hervorgebracht, sondern durch die Wirkung einer Menge
von anderen Körpern C, D, . . . . Um die vorhergehende
Regel anzuwenden, muß man die Beschleunigung des
Körpers A in verschiedene Komponenten zerlegen und
unterscheiden, welche von diesen Komponenten der Ein-
wirkung von B zuzuschreiben ist.
Diese Zerlegung wird stets möglich sein, wenn wir
zulassen, daß die Wirkung von C auf A einfach zu
derjenigen von B auf A hinzuzuzählen ist, ohne daß die
Gegenwart des Körpers C die Wirkung von B auf A
beeinträchtigt, oder daß die Gegenwart von B die Wir-
kung von C auf A beeinträchtigt; wenn wir folglich zu-
J04 ^^^' ^' -^^^ klassische Mechanik.
lassen, daß irgend welche zwei Körper sich anziehen, daß
die Richtung ihrer gegenseitigen Einwirkung mit ihrer
Verbindungslinie zusammenfällt und daß diese Einwirkung
nur von ihrer Entfernung abhängt; wenn wir, kurz ge-
sagt, die Hypothese von Zentral-Kräften zulassen.
Man weiß, daß man sich um die Massen der Himmels-
körper zu bestimmen, eines ganz verschiedenen Prinzipes
bedient. Das Gravitationsgesetz lehrt uns, daß die An-
ziehung zweier Körper ihren Massen proportional ist;
wenn r ihre Entfernung ist, 7?i und 7Ji' ihre Massen, k
eine Konstante, dann wird ihre Anziehung
kmm'
sein.
Was man dabei mißt, ist nicht die Masse, das Ver-
hältnis der Kraft zur Beschleunigung, es ist die an-
ziehende Masse; es ist nicht die Trägheit des Körpers,
sondern seine anziehende Kraft.
Wir haben damit ein indirektes Verfahren, dessen
Anwendung theoretisch nicht unumgänglich notwendig
ist. Man könnte z. B. annehmen, daß die Anziehung
dem Quadrate der Entfernung entgegengesetzt propor-
tional wäre, ohne dem Produkte der Massen proportional
zu sein; daß sie also gleich:
ist, aber ohne daß;
y^= k m VI '
wäre.
Wenn dem so ist, so könnte man nichtsdestoweniger
die Massen dieser Körper durch Beobachtung der rela-
tiven Bewegungen der Himmels-Körper messen. ^^)
Aber haben wir das Recht, die Hypothese von Zentral-
Kräften zuzulassen? Ist diese Hypothese streng exakt?
Bewegung des Schwerpunktes. I05
Ist es gewiß, daß sie durch die Erfahrung niemals wider-
legt wird? Wer wagte das zu bejahen? Und wieder,
wenn war diese Hypothese aufgeben, so stürzt das so
mühsam aufgerichtete Gebäude zusammen.
Wir haben nicht mehr das Recht, von der Komponente
der Beschleunigung von A, welche der Einwirkung von
B zuzuschreiben ist, zu reden. Wir haben keine Mittel,
sie von derjenigen zu unterscheiden, welche der Ein-
wirkung von C oder von einem anderen Körper zuzu-
schreiben ist. Die Regel für das Messen der Massen
wird nicht anzuwenden sein.
Was bleibt dann vom Prinzipe der Gleichheit von
Wirkung und Gegenwirkung? Wenn die Hypothese von
Zentral-Kräften verworfen wird, so müssen wir dieses
Prinzip offenbar folgendermaßen aussprechen: Die geo-
metrische Resultante aller Kräfte, die an den verschie-
ienen Körpern eines jeder äußeren Einwirkung ent-
zogenen Systems angreifen, ist gleich Null. Oder in
anderen Worten: Die Bewegung des Schwerpunktes
dieses Systems ist geradlinig und gleichförmig.
Darin scheint eine Möglichkeit zu liegen, die Masse
zu definieren; die Lage des Massenmittelpunktes (Schwer-
punktes) hängt augenscheinlich von den den Massen
beigelegten Werten ab; man muß diese Werte in der
Art verteilen, daß die Bewegung des Massenmittelpunktes
geradlinig und gleichförmig ist; das wird stets möglich
sein, wenn das dritte Gesetz von Newton richtig ist, und
das wird im allgemeinen nur auf eine Art möglich sein.
Aber es existiert kein System, das von jeder äußeren
Einwirkung frei ist; alle Teile des Universums unterliegen
in mehr oder weniger ausgeprägter Weise der Einwirkung
aller anderen Teile. Das Gesetz der Bewegung
des Massenmittelpunktes ist streng genommen
nur richtig, wenn man es auf das ganze Univer-
sum anwendet.
jo6 III> 6. Die klassische Mechanik.
Aber dann müßte man, um daraus die Massenwerte
zu berechnen, die Bewegung des Massenmittelpunktes
des Universums beobachten. Das Absurde in dieser
Forderung ist offenbar; wir kennen nur relative Be-
wegungen; die Bewegung des Massenmittelpunktes des
Universums wird für uns ewig unbekannt bleiben.
Wir haben also nichts erreicht, und unsere Anstren-
gungen sind vergeblich gewesen ; wir müssen gezwungener-
maßen zur folgenden Definition zurückkehren, welche
nur ein Geständnis unserer Ohnmacht ist: Die Massen
sind Koeffizienten, welche man zur größeren Be-
quemlichkeit in die Rechnungen einführt.
Wir könnten die ganze Mechanik erneuern, wenn
wir allen Massen andere Werte zuerteilten. Diese neue
Mechanik würde weder mit der Erfahrung, noch mit
den allgemeinen Prinzipien der Dynamik in Widerspruch
sein (Trägheits- Prinzip, Proportionalität der Kräfte zu
den Massen und Beschleunigungen, Gleichheit der
Wirkung und der Gegenwirkung, geradlinige und gleich-
förmige Bewegung des Schwerpunktes, Prinzip der
Flächen).
Nur würden die Gleichungen dieser neuen Mechanik
weniger einfach sein. Verstehen wir uns recht: nur
die ersten Glieder würden weniger einfach sein, d. h.
diejenigen, welche die Erfahrung uns bereits erkennen
ließ; vielleicht könnte man die Massen um kleine Quan-
titäten ändern, ohne daß die vollständigen Gleichungen
an Einfachheit gewinnen oder verlieren.
Hertz hat die Frage aufgeworfen^^), ob die Prinzipien
der Mechanik streng genommen richtig sind; er sagt,
,,daß in der Meinung vieler Physiker es als undenkbar
gilt, daß die späteste Erfahrung jemals etwas an den
feststehenden Grundsätzen der Mechanik ändern könnte;
und dennoch, was aus der Erfahrung stammt, könne
auch immer durch die Erfahrung vernichtet werden."
Definitionen in der Mechanik.
107
Nach dem, was wir gesagt haben, erscheint diese
Furcht überflüssig. Die Prinzipien der Dynamik er-
scheinen uns zuerst als experimentelle Wahrheiten; aber
wir haben sie wie Definitionen verwenden müssen.
Nach Definition ist die Kraft gleich dem Produkte
der Masse in die Beschleunigung; das ist ein Prinzip,
welches in Zukunft außer dem Bereiche jeder weiteren
Erfahrung liegt. Ebenso ist nach Definition die Wir-
kung gleich der Gegenwirkung.
Aber dann sind, wird man einwerfen, diese unveri-
fizierbaren Prinzipien jeder Bedeutung absolut bar; die
Erfahrung kann ihnen nicht widersprechen; aber sie
können uns nichts Nützliches lehren, wozu soll man dann
die Dynamik studieren?
Dieses voreilige Urteil würde ungerecht sein. Es
gibt in der Natur kein vollkommen isoliertes System,
das zugleich vollkommen frei von jeder äußeren Ein-
wirkung ist; aber es gibt nahezu isolierte Systeme.
Wenn man ein solches System beobachtet, so kann
man nicht nur die relative Bewegung seiner verschiedenen
Teile gegeneinander studieren, sondern auch die Be-
wegungen seines Schwerpunktes in Bezug auf die ande-
ren Teile des Universums. Man stellt dann fest, daß
die Bewegung dieses Schwerpunktes nahezu geradlinig
und gleichförmig ist, gemäß dem dritten Gesetze von
Newton.
Das ist eine experimentelle Wahrheit, welche durch
die Erfahrung nicht entkräftigt werden kann; was könnte
uns in der Tat noch genauere Erfahrung lehren? Sie
würde uns lehren, daß das Gesetz nur nahezu richtig
ist, aber das wissen wir bereits.
Es erklärt sich jetzt, warum die Erfahrung
den Prinzipien der Mechanik als Grundlage die-
nen konnte und dennoch ihnen niemals wird
widersprechen können.
jQg III, 6. Die klassische Mechanik.
Die anthropomorphe Mechanik. — Man könnte
einwerfen: ,,daß Kirchhoff nur dem Hange der meisten
Mathematiker zum Nominalismus gehuldigt hat; seine
physikalische Geschicklichkeit hat ihn nicht davor be-
wahrt. Er hat Wert darauf gelegt, eine Definition der
Kraft zu haben, und er hat dafür den ersten besten
Lehrsatz genommen; aber wir brauchen keine Definition
der Kraft: die Idee der Kraft ist ein ursprünglicher,
völlig selbständiger und undefinierbarer Begriff; wir wissen
alle, was Kraft ist; wir haben ja eine direkte Anschauung
davon. Diese direkte Anschauung entsteht aus dem
Begriffe der Anstrengung, der uns von Kindheit an ver-
traut ist."
Vorerst jedoch wird diese direkte Anschauung, selbst
wenn sie uns die wahre Natur der Kraft in sich er-
kennen ließe, ungenügend sein, um die Mechanik zu be-
gründen; sie wird andererseits gänzlich unnütz sein. Es
kommt nicht darauf an, zu wissen, was Kraft ist, sondern
zu wissen, wie man sie mißt.
Was nicht zum Messen der Kraft dient, ist für den
Mechaniker ebenso unnütz, wie es z. B. der subjektive
Begriff von Wärme und Kälte für den Physiker ist, der
die Wärme studiert. Dieser subjektive Begriff läßt sich
nicht in Zahlen übersetzen, also ist er unnütz. Ein
Gelehrter, dessen Haut ein absolut schlechter Wärme-
leiter ist und welcher folglich niemals weder Kälte- noch
Wärme-Empfindungen gespürt hat, könnte dennoch ein
Thermometer ebenso gut wie ein anderer betrachten,
und das würde ihm genügen, um die ganze Wärme-
Theorie zu konstruieren.
Der unmittelbare Begriff einer Anstrengung kann uns
nicht dazu dienen, die Kraft zu messen; es ist z. B. klar,
daß ich beim Heben eines Gewichtes von fünfzig Kilo
mehr Ermüdung empfinde als ein Mensch, der daran
gewöhnt ist, Lasten zu tragen.
Anthropomorphe Mechanik. IO9
Aber noch mehr: dieser Begriff der Anstrengung
läßt uns nicht die wahre Natur der Kraft erkennen; er
reduziert sich eigentlich auf eine Erinnerung an Muskel-
Empfindungen, und man wird nicht behaupten, daß die
Sonne eine Muskel-Empfindung hat, wenn sie die Erde
anzieht.^^)
Alles, was man aus diesen Empfindungen gewinnen
kann, ist ein noch ungenaueres und unbequemeres Symbol,
als es die Pfeile sind, deren sich die Mathematiker be-
dienen, um die Richtung von Kräften zu bezeichnen;
diese Pfeile sind ebensoweit von der Wirklichkeit ent-
fernt als unser Symbol.
Der Anthropomorphismus hat in der Genesis der
Mechanik eine beträchtliche historische Rolle gespielt;
vielleicht liefert er noch öfters ein Symbol, das manchem
als bequem erscheinen wird; aber er kann nichts begrün-
den, was einen wissenschaftlichen oder wahrhaft philoso-
phischen Charakter hätte.
„Die Schule des Fadens". — Andrade hat in seinen
Leyons de Mecanique physique die anthropomorphe
Mechanik verjüngt. Der Schule der Mechaniker, zu
denen Kirchhoflf gehört, stellt er eine andere Schule
gegenüber, welcher er den bizarren Namen ,, Schule des
Fadens" gegeben hat.
Diese Schule versucht, „alles auf die Betrachtung
gewisser materieller Systeme von sehr geringer Masse
zurückzuführen, die sich im Zustande der Spannung be-
finden und fähig sind, beträchtliche Kraft-Äußerungen
auf entfernte Körper zu übertragen, also Systeme, deren
idealer Typus der masselose Faden ist."
Ein Faden, welcher irgend eine Kraft überträgt,
verlängert sich leicht unter der Einwirkung dieser Kraft;
die Richtung des Fadens läßt uns die Richtung der
Kraft erkennen, deren Größe durch die Verlängerung
des Fadens gemessen wird.
j jO III, 6. Die klassische Mechanik.
Man kann also folgendes Experiment ausführen. Ein
Körper A ist an einem Faden befestigt; am anderen
Ende des Fadens soll irgend eine Kraft wirken, welche
man variieren läßt, bis der Faden eine Verlängerung a
annimmt; man merkt sich die Beschleunigung des Kör-
pers A] man löst A los und befestigt den Körper B an
demselben Faden, man läßt wiederum dieselbe Kraft
oder eine andere Kraft wirken und man läßt sie variieren,
bis der Faden die Verlängerung a wieder annimmt; man
merkt sich die Beschleunigung des Körpers B. Man
wiederholt das Experiment sowohl mit dem Körper A
als mit dem Körper B, aber derart, daß der Faden die
Verlängerung ß annimmt. Die vier beobachteten Be-
schleunigungen müssen einander proportional sein. Man
hat somit eine experimentelle Prüfung des weiter oben
besprochenen Beschleunigungsgesetzes.
Oder noch besser: man unterwirft einen Körper der
gleichzeitigen Einwirkung von mehreren identischen,
gleichmäßig gespannten Fäden, und man sucht durch
das Experiment festzustellen, bei welcher Lage aller
dieser Fäden der Körper im Gleichgewicht bleibt. Man
hat dann eine experimentelle Prüfung der Regel von der
Zusammensetzung der Kräfte. ^^)
Was haben wir nun in Summa getan? Wir haben
die Kraft definiert, welcher der Faden durch die von
ihm erlittene Deformation unterworfen ist; das ist hin-
reichend einleuchtend; wir haben ferner angenommen,
daß die Kraft, welche auf einen an diesem Faden be-
festigten Körper durch diesen Faden übertragen wird,
zugleich die Wirkung ist, welche dieser Körper auf
diesen Faden ausübt; schließlich haben wir uns also
des Prinzips der Gleichheit von Wirkung und Gegen-
wirkung bedient, indem wir es nicht als experimen-
telle Wahrheit, sondern als die Definition der Kraft selbst
ansehen.
Die Schule des Fadens. III
Diese Definition ist ebenso konventionell wie die-
jenige von Kirchhoff, aber sie ist weniger allgemein.
Es sind nicht alle Kräfte durch Fäden übertragbar
(überdies müßten alle Kräfte durch identische Fäden
übertragen werden, damit man sie vergleichen kann).
Selbst wenn man annehmen würde, daß die Erde durch
irgend einen unsichtbaren Faden an der Sonne befestigt
sei, so würde man zum mindesten zugeben, daß man
keine Mittel hat, die Verlängerung eines solchen Fadens
zu messen.
Folglich wird, in neun von zehn Fällen, unsere De-
finition falsch sein; man könnte ihr keinen Sinn bei-
legen, und wir müssen zu derjenigen von Kirchhoff
zurückkehren.
Wozu also diesen Umweg machen? Als Ausgangs-
punkt nehmen Sie eine gewisse Definition der Kraft,
welche nur für gewisse besondere Fälle Sinn hat. In
diesen Fällen bestätigen Sie durch das Experiment, daß
diese Definition zum Gesetze der Beschleunigung führt.
Auf dieses Experiment gestützt, nehmen Sie sodann
das Gesetz der Beschleunigung als Definition der Kraft
in allen anderen Fällen an.
Würde es nicht viel einfacher sein, das Gesetz der
Beschleunigung als eine Definition in allen Fällen zu
betrachten und die in Frage kommenden Experimente
nicht als Prüfungen dieses Gesetzes anzusehen, sondern
als Prüfungen des Prinzips der Gegenwirkung oder als
Beweismittel dafür, daß die Deformation eines elastischen
Körpers nur von den Kräften abhängt, denen dieser
Körper unterworfen ist.
Dabei haben wir noch gar nicht berücksichtigt, daß
die Bedingungen, unter welchen Ihre Definition ange-
nommen werden könnte, nie anders als unvollkommen
ausführbar sind, daß ein Faden nie ohne Masse sein
kann, daß auf ihn außer der Reaktion des an seinen
j j 2 III, 6. Die klassische Mechanik.
Enden befestigten Körpers immer noch andere Kräfte
einwirken.
Die Ideen Andrades sind trotzdem nicht weniger
interessant; wenn sie auch unser logisches Bedürfnis
nicht befriedigen, so lassen sie uns doch die historische
Genesis der fundamentalen mechanischen Begriffe besser
verstehen. Die Überlegungen, zu welchen sie uns ver-
anlassen, zeigen, wie der menschliche Verstand sich von
einem naiven Anthropomorphismus zu wirklichen, wissen-
schaftlichen Gedanken erhebt.
Wir sehen beim Beginne unseres Weges ein sehr
spezielles und ziemlich rohes Experiment, am Ende aber
ein ganz allgemeines und vollkommen genaues Gesetz,
das wir für absolut gewiß halten. Diese Gewißheit
haben einzig und allein wir demselben sozusagen frei-
willig beigelegt, indem wir es als durch Übereinkommen
festgelegt ansehen.
Beruhen demnach das Gesetz der Beschleunigung
und die Regel für die Zusammensetzung der Kräfte nur
auf willkürlichem Übereinkommen? Auf Übereinkommen?
Ja; aber auf willkürlichem? Nein. Die Gesetze wären
willkürlich, wenn man die Experimente aus den Augen
verlöre, welche die Begründer der Wissenschaft zu ihrer
Annahme bewogen und welche trotz ihrer Unvollkommen-
heit genügen, um sie zu rechtfertigen. Es ist gut, dem
experimentellen Ursprünge dieser konventionellen Fest-
setzungen hin und wieder unsere Aufmerksamkeit zu
schenken.
Relative Bewegung. 1 1 ^
Siebentes Kapitel.
Die relative und die absolute Bewegung.
Das Prinzip der relativen Bewegung. Man hat
manchmal versucht das Gesetz der Beschleunigung mit
einem allgemeineren Prinzipe in Verbindung zu bringen.
Die Bewegung irgend eines Systems muß denselben Ge-
setzen genügen, einerlei ob man sie auf feste Achsen
bezieht oder auf bewegliche Achsen, die eine gerad-
linige und gleichförmige Bewegung ausführen. Darin
besteht das Prinzip der relativen Bewegung, welches sich
uns aus zwei Gründen aufdrängt: erstens bestätigt es
die tagtägliche Erfahrung, und zweitens würde eine ent-
gegengesetzte Hypothese unserem Verstände außerordent-
lich widerstreben.
Nehmen wir dieses Prinzip also an und betrachten
einen Körper, welcher einer Kraft unterworfen ist; der
Beobachter bewege sich mit einer gleichförmigen Ge-
schwindigkeit, welche gleich der Anfangsgeschwindigkeit
des Körpers ist; die relative Bewegung des letzteren
inbezug auf den Beobachter muß dann ebenso verlaufen,
wie seine absolute Bewegung verlaufen würde, wenn die
Anfangsgeschwindigkeit gleich Null wäre (der Körper
also die Bewegung aus der Ruhelage begönne). Man
schließt daraus, daß seine Beschleunigung nicht von
seiner absoluten Geschwindigkeit abhängen kann und
man bemüht sich daraus das vollständige Gesetz der
Beschleunigung abzuleiten.
Spuren solcher Beweise hat man lange in den Auf-
gaben der Baccalaureats- Prüfungen bemerken können.
Offenbar muß dieser Versuch erfolglos bleiben. Die
Schwierigkeit, welche uns verhindert das Beschleunigungs-
gesetz zu beweisen, liegt darin, daß wir keine Definition
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. 8
j j 4 III, 7. Relative Bewegung.
der Kraft haben; und diese Schwierigkeit bleibt ihrem
ganzen Umfange nach bestehen, denn das zu Hilfe ge-
nommene Prinzip hat uns die fehlende Definition nicht
geliefert.
Das Prinzip der relativen Bewegung ist darum nicht
weniger interessant und verdient um seiner selbst willen
studiert zu werden. Versuchen wir zunächst, es in prä-
ciser Fassung auszusprechen.
Wir haben oben gesagt, daß die Beschleunigungen
der verschiedenen Körper, welche Teile eines isolierten
Systems sind, nur von ihren relativen Geschwindigkeiten
und ihren relativen Lagen abhängen und nicht von ihren
absoluten Geschwindigkeiten und ihren absoluten Lagen,
vorausgesetzt, daß die beweglichen Achsen, auf welche
die relative Bewegung bezogen wird, geradlinig und
gleichförmig im Räume fortrücken. Oder, wenn man
lieber will, ihre Beschleunigungen hängen nur von den
Differenzen ihrer Koordinaten und Geschwindigkeiten ab
und nicht von den absoluten Werten dieser Koordinaten
und Geschwindigkeiten.
Wenn dieses Prinzip für die relativen Beschleuni-
gungen, oder besser für die Beschleunigungsdifferenzen
richtig ist, so kann man es mit dem Gesetze der Wir-
kung und Gegenwirkung kombinieren und kommt so zu
dem Schlüsse, daß es auch für die absoluten Beschleu-
nigungen richtig ist.
Es bleibt uns also noch übrig nachzusehen, wie man
beweisen kann, daß die Differenzen der Beschleunigungen
nur von den Differenzen der Geschwindigkeiten und der
Koordinaten abhängen oder, um die mathematische Aus-
drucksweise zu gebrauchen, daß diese Koordinatendifife-
renzen ein System von Differentialgleichungen zweiter
Ordnung befriedigen.
Kann dieser Beweis durch Experimente oder durch
Überlegungen a priori erbracht werden?
Ne^^i:ons Schlußweise. I I e
Der Leser wird sich selbst die Antwort geben, wenn
er sich dessen erinnert, was wir oben dargelegt haben.
In der Tat gleicht das Prinzip der relativen Bewe-
gung, wie wir es ausgesprochen haben, außerordentlich
dem Prinzipe, welches ich oben als das verallgemeinerte
Prinzip der Trägheit bezeichnet habe (vgl. S. 94); es ist
aber nicht damit identisch, denn jetzt handelt es sich
um die Differenzen der Koordinaten und nicht um die
Koordinaten selbst. Das neue Prinzip lehrt uns also
etwas mehr als das alte, aber es lassen sich auf das-
selbe die gleichen Erörterungen anwenden, und diese
führen dann zu den gleichen Schlüssen; es ist deshalb
nicht nötig darauf zurückzukommen.
Die Schlußweise Newtons. — Hier kommen wir
auf einen sehr wichtigen und zuerst sogar störend er-
scheinenden Einwurf. Ich habe erwähnt, daß das Prinzip
der relativen Bewegung für uns nicht nur ein Resultat
der Erfahrung ist, und daß jede entgegengesetzte Hypo-
these a priori dem Verstände widerstreben würde.
Aber warum ist dann das Prinzip nur richtig, wenn
die Bewegung der beweglichen Achsen geradlinig und
gleichförmig ist? Es scheint, daß dieses Prinzip sich
uns mit derselben Macht aufdrängen müßte, wenn diese
Bewegung ungleichförmig ist, oder wenigstens' wenn sie
sich auf eine gleichförmige Rotation reduziert. In diesen
zwei Fällen ist das Prinzip aber nicht richtig.
Ich verweile nicht lange bei dem Falle, in welchem
die Bewegung der Achsen geradlinig ist ohne gleich-
förmig zu sein; das darin enthaltene Paradoxon kann
einer gründlichen Prüfung nicht standhalten. Wenn ich
im Eisenbahnwaggon bin und wenn der Zug auf irgend
ein Hindernis stößt und dann plötzhch anhält, so
werde ich auf den gegenüberliegenden Sitz geschleudert,
obgleich ich nicht direkt irgend einer Kraft unterworfen
bin. Darin liegt nichts Rätselhaftes; wenn ich nicht der
8*
j j 5 III j 7. Relative Bewegung.
Einwirkung einer äußeren Kraft unterlegen bin, so hat
doch der Zug an sich selbst eine äußere Erschütterung
erfahren. Wenn die relative Bewegung zweier Körper
von dem Momente ab gestört wird , wo die Bewegung
des einen von ihnen durch eine äußere Ursache geändert
wird, so liegt darin nichts Paradoxes.
Ich werde mich länger bei dem Fall der relativen
Bewegungen aufhalten, welche auf Achsen bezogen sind,
die eine gleichförmige Rotation ausführen. Wenn der
Himmel unaufhörlich mit Wolken bedeckt wäre, wenn
wir kein Mittel hätten die Gestirne zu beobachten, so
könnten wir nichtsdestoweniger schlußfolgern, daß die
Erde sich dreht; wir hätten durch ihre Abplattung davon
Kenntnis oder auch durch den Foucaultschen Pendel-
versuch (vgl. S. 80).
Und hätte es trotzdem in diesem Falle einen Sinn
zu behaupten, daß die Erde sich dreht? Wenn es
keinen absoluten Raum gibt, kann man da eine Drehung
erkennen, ohne daß diese Drehung auf irgend etwas
zu beziehen wäre? und andererseits, wie könnte man
die Schlußfolgerung Newtons annehmen und an den ab-
soluten Raum glauben?
Aber es genügt nicht zu konstatieren, daß alle die
möglichen Lösungen uns gleicherweise befremden; man
muß für jede von ihnen die Vernunftgründe für unser
Widerstreben analysieren, um nach Erkenntnis der Ur-
sache unsere Wahl zu treffen. Man möge also die lange
Erörterung, welche ich folgen lasse, entschuldigen.
Versetzen wir uns wieder in unsere fingierte Welt:
dichtes Gewölk verbirgt die Gestirne den Menschen,
welche sie nicht beobachten und sogar von ihrer Exi-
stenz nichts wissen können; wie erfahren diese Menschen,
daß die Erde sich dreht? Mehr noch wie unsere Vor-
fahren würden sie den Boden, welcher sie trägt, als fest
und unerschütterlich betrachten; sie würden viel später
Eine fingierte "Welt. 1 1 y
die Ankunft eines Coppemicus zu erwarten haben. Aber
schließlich würde dieser Coppernicus doch kommen; wie
würde er kommen?
Die Mechaniker dieser fingierten Welt würden sich
vorerst nicht durch eine Schlußfolgerung beunruhigen
lassen, die nach unserer Auffassung einen absoluten
Widerspruch enthält. In der Theorie der relativen Be-
wegung faßt man, abgesehen von den wirklichen Kräften,
zwei fingierte Kräfte ins Auge, welche man die gewöhn-
liche Zentrifugalkraft und die zusammengesetzte Zentri-
fugalkraft nennt. Unsere fingierten Gelehrten könnten
also alles erklären, indem sie diese zwei Kräfte als wirk-
liche ansehen und sie würden dabei keinen Widerspruch
mit dem verallgemeinerten Prinzipe der Trägheit bemerken,
denn von diesen Kräften würde die eine von den rela-
tiven Stellungen der verschiedenen Teile des Systems
abhängen (wie es bei wirklichen Anziehungen der Fall
ist), die andere von ihren relativen Geschwindigkeiten
(wie es bei den wirklichen Reibungen der Fall ist).
Indessen würden bald noch mehr Schwierigkeiten
ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen; wenn es ihnen
gelingen würde ein isoliertes System darzustellen, so
würde der Schwerpunkt dieses Systems nicht eine nahezu
geradlinige Bahn haben. Sie müßten, um diese Tat-
sache zu erklären, die Zentrifugalkräfte zu Hilfe nehmen,
welche sie als wirkliche betrachten und welche sie zweifel-
los den gegenseitigen Wirkungen der Körper zuschreiben.
Nur würden sie diese Kräfte bei großen Entfernungen,
d. h. in dem Maße, wie die Isolierung immer mehr ver-
wirklicht würde, nicht kleiner und kleiner werden sehen;
weit gefehlt: die Zentrifugalkraft wächst mit der Ent-
fernung ins Unendliche.
Diese Schwierigkeit würde ihnen bereits ziemlich
groß erscheinen; aber dennoch würde dieselbe sie nicht
lange aufhalten; sie würden sich bald irgend ein sehr
j j 8 III, 7. Relative Bewegung.
fein geartetes Medium ausdenken, das unserem Äther
analog wäre, in welchem alle Körper schwimmen und
welches auf die Körper eine abstoßende Wirkung aus-
üben würde.
Dieses ist noch nicht alles. Der Raum ist symme-
trisch und dennoch würden die Gesetze der Bewegung
keine Symmetrie aufweisen; sie müßten zwischen rechts
und links unterscheiden. Man würde z. B. sehen, daß
die Wirbelstürme sich immer in demselben Sinne drehen,
während gemäß den Gründen der Symmetrie diese Er-
scheinungen sich ebensowohl in dem einen wie im anderen
Sinne abspielen müßten. Wenn unsere Gelehrten ver-
möge ihrer Arbeit dahin gelangt wären, ihr Universum
völlig symmetrisch zu gestalten, so würde diese Symme-
trie mit derartigen Erscheinungen nicht verträglich sein,
obgleich es keinen vernünftigen Grund zu geben scheint,
warum sie in dem einen Sinne mehr als im anderen
gestört werden sollte.
Sie würden sich ohne Zweifel schon zu helfen wissen,
sie würden irgend ein Ding erfinden, das nicht außer-
ordentlicher wäre als die gläsernen Sphären des Ptolo-
mäus, und man würde so die Schwierigkeiten anhäufen,
bis der erwartete Coppernicus sie alle mit einem einzigen
Schlage beseitigen würde, indem er sagt: Es ist viel ein-
facher anzunehmen, daß die Erde sich dreht.
Und ebenso wie unser Coppernicus uns sagte: Es
ist bequemer vorauszusetzen, daß die Erde sich dreht,
weil man damit die astronomischen Gesetze in einer
viel einfacheren Sprache ausdrückt, so würde auch dieser
Coppernicus sagen: Es ist bequemer vorauszusetzen, daß
die Erde sich dreht, weil man damit die Gesetze der
Mechanik in einer viel einfacheren Sprache ausdrückt.
Das verhindert nicht, daß der absolute Raum, d. h.
das Hilfsmittel, auf welches man die Erde beziehen
müßte, um zu wissen, ob sie sich wirklich dreht, keine
Absolute Rotation. I I g
objektive Existenz hat. Daher hat die Behauptung: ,,Die
Erde dreht sich" keinen Sinn, weil sie sich durch keine
Erfahrung verifizieren läßt; weil ferner eine solche
Erfahrung nicht nur nicht verwirklicht, sondern nicht
einmal vom kühnsten Jules Verne erträumt werden, noch
ohne Widerspruch begriffen werden könnte; also diese
beiden Sätze: ,,Die Erde dreht sich" und ,,Es ist bequemer
vorauszusetzen, daß die Erde sich dreht" haben ein und
denselben Sinn; es liegt in dem einen nicht mehr wie
im anderen. ^^)
Vielleicht würde man sich damit noch nicht be-
gnügen und man würde es immer noch befremdlich
finden, daß unter allen Hypothesen oder vielmehr unter
allen Festsetzungen, welche wir auf diesem Gebiete
machen können, eine besteht, welche bequemer als die
anderen ist.
Aber warum sollte das, was man sorglos zuließ, als
es sich um die astronomischen Gesetze handelte, im
Gebiete der Mechanik befremdlich sein?
Wir haben gesehen, daß die Koordinaten der Körper
durch Differentialgleichungen zweiter Ordnung bestimmt
werden, und daß mit den Differenzen dieser Koordi-
naten dasselbe der Fall ist. Dieser Satz sprach den
Inhalt des verallgemeinerten Trägheitsprinzips (vgl. S. 94)
und des Prinzips der relativen Bewegung (vgl. S. 114) aus.
Wenn die Entfernungen dieser Körper ebenso durch
Gleichungen zweiter Ordnung bestimmt wären, so scheint
es, daß der Verstand vollkommen befriedigt sein müßte.
Bis zu welchem Grade erhält der Verstand diese Befrie-
digung und warum begnügt er sich nicht damit?
Um uns davon Rechenschaft zu geben, ist es besser
ein einfaches Beispiel zu wählen. Ich setze ein unserem
Sonnensysteme analoges System voraus, von welchem aus
man diesem Systeme fremde Fixsterne nicht bemerken
kann, und zwar derart, daß die Astronomen nur die
J20 m> 7« Relative Bewegung.
gegenseitigen Entfernungen der Planeten und der Sonne
und nicht die absoluten Längen (d. h. Stellungen in ihrer
Bahn) der Planeten beobachten könnten. Wenn wir
direkt aus dem Newtonschen Gesetze die Differential-
gleichungen ableiten wollten, welche die Veränderung
dieser Entfernungen definieren, so werden diese Glei-
chungen nicht zweiter Ordnung sein. Ich will damit
folgendes ausdrücken: wenn man, abgesehen vom Newton-
schen Gesetze, die Anfangswerte dieser Entfernungen
und ihre Differentialquotienten inbezug auf die Zeit (d. h.
die Geschwindigkeiten, mit denen sich die Entfernungen
ändern) kennen würde, so würde das nicht genügen, um
die Werte dieser selben Entfernungen in einem späteren
Zeitpunkte zu bestimmen. ^^) Es würde noch eine (der
Erfahrung zu entnehmende) Angabe fehlen, und diese
Angabe könnte z. B. in dem gefunden werden, was die
Astronomen Konstante des Flächensatzes nennen (vgl. das
zweite Kepplersche Gesetz).
Hier kann man zwei verschiedene Standpunkte ein-
nehmen; wir können zwei Arten von Konstanten unter-
scheiden. In den Augen der Physiker reduziert sich
die Welt auf eine Reihe von Naturerscheinungen, welche
einzig und allein einerseits von den Anfangszuständen
abhängen, andererseits von den Gesetzen, welche die
folgenden Zustände jeweils mit den vorhergehenden ver-
binden. Wenn dann die Beobachtung uns lehrt, daß
eine gewisse Größe eine Konstante ist, so werden wir
zwischen zwei Auffassungsweisen die Wahl haben.
Entweder wir nehmen an, daß es ein Gesetz gibt,
welches vorschreibt, daß diese Größe sich nicht ändern
kann, daß sie aber nur zufällig dazu gekommen ist, seit
Jahrhunderten gerade diesen bestimmten Wert lieber als
jeden anderen anzunehmen, den sie nun seitdem be-
halten muß. Diese Größe könnte man dann eine zu-
fällige Konstante nennen.
Zufallige und wesentliche Konstanten. I 2 i
Oder wir nehmen das Gegenteil an, nämlich, daß
es ein Naturgesetz gäbe, welches dieser Größe gerade
diesen bestimmten Wert und keinen anderen zuerteilt.
Wir werden dann eine Größe haben, die man eine
wesentliche Konstante nennen kann.
Zum Beispiel ist infolge der Newtonschen Gesetze
die Dauer der Umdrehung der Erde konstant. Wenn
sie aber 366 Stemtage und etwas darüber beträgt und
nicht 300 oder 400 Tage, so beruht dies auf irgend
welchem unbekannten, anfänglichen Zufalle. Dies ist eine
zufällige Konstante. Wenn dagegen die Potenz der
Entfernung, welche in dem Ausdrucke für das Attraktions-
gesetz vorkommt, gleich — 2 ist und nicht gleich — 3,
so ist das kein Zufall, sondern es ist so, weil das
Newtonsche Gesetz es so verlangt. Dies ist eine wesent-
liche Konstante.
Ich weiß nicht, ob es in sich gerechtfertigt ist, den
Zufall in solcher Weise in die Erscheinungen eingreifen
zu lassen, und ob die gemachte Unterscheidung nicht
etwas künstlich ist; jedenfalls steht so viel fest, daß die-
selbe in ihrer Anwendung sehr willkürlich und immer
mißlich bleibt, solange die Natur noch Geheimnisse
besitzt.
Was die Konstante des Flächensatzes betrifft, so be-
trachten wir dieselbe gewöhnHch als zufällig. Sind wir
gewiß, daß unsere fingierten Astronomen es ebenso
machen würden? Wenn sie zwei verschiedene Sonnen-
systeme miteinander hätten vergleichen können, so wür-
den sie die Idee haben, daß dieser Konstanten ver-
schiedene Werte zukommen können; aber ich habe
gerade am Beginne dieser Betrachtung vorausgesetzt, daß
ihnen ihr System als ein isoliertes erscheine, und daß
sie keinen Stern beobachten können, der nicht dazu
gehört. Unter diesen Bedingungen würden sie nur eine
einzige Konstante wahrnehmen können, deren Wert ab-
12 2 m> 7- Relative Bewegung.
solut fest und unveränderlich wäre; sie würden ohne
Zweifel dazu kommen , dieselbe für eine wesentliche
Konstante zu halten.
Um einem möglichen Einwurfe zu begegnen, schalte
ich hier die folgende Bemerkung ein: Die Bewohner
dieser fingierten Welt würden die Flächenkonstante weder
so beobachten noch so definieren können, wie wir es
tun, denn es fehlen ihnen dazu die absoluten Längen
der Planeten; das würde sie aber nicht hindern, sehr
bald zu bemerken, daß sich eine gewisse Konstante in
ihre Gleichungen naturgemäß einführen läßt, und diese
Konstante würde genau diejenige sein, die wir als die
Konstante des Flächensatzes bezeichnen.
Aber nun würden unsere Astronomen folgendermaßen
weiterschließen: Wenn die Flächenkonstante als eine
wesenthche (d. h. als bestimmt durch ein Naturgesetz)
betrachtet wird, so genügt es, die Anfangswerte der
Entfernungen der Planeten und die Anfangswerte der
ersten Diflferentialquotienten dieser Entfernungen zu ken-
nen, um daraus für irgend einen Zeitpunkt die Ent-
fernungen zu berechnen. Unter diesem neuen Gesichts-
punkte werden sich dann die Entfernungen wieder
durch Differentialgleichungen zweiter Ordnung bestim-
men lassen.
Wird sich indessen damit der Verstand unserer fin-
gierten Astronomen vollkommen zufrieden geben? Ich
glaube es nicht; sie würden es bald bemerken, daß ihre
Differentialgleichungen viel einfacher werden, wenn sie
dieselben differentiieren und dadurch ihre Ordnung er-
höhen. Vor allem aber würden sie über die Schwierig-
keit betroffen sein, welche in den Symmetrieverhältnissen
liegt. Je nachdem die Gesamtheit der Planeten die
Figur eines Polyeders oder des dazu symmetrischen
Polyeders bilden, würden sie verschiedene Gesetze auf-
stellen müssen, und sie würden sich dieser Folgerung
Ordnung der Differentialgleichungen. 122
nicht dadurch entziehen können, daß sie die Flächen-
konstante als eine zufällige betrachten.
Ich habe ein sehr spezielles Beispiel gewählt, indem
ich voraussetzte, daß unsere Astronomen sich durchaus
nicht mit der irdischen Mechanik beschäftigten, und daß
ihr Beobachtungsgebiet auf das Sonnensystem beschränkt
sei, aber unsere Schlußfolgerungen sind auf alle analogen
Fälle anwendbar. Unser Universum ist ausgedehnter als
das ihrige, denn wir haben Fixsterne, aber es ist den-
noch ebenfalls begrenzt, und deshalb könnten wir inbezug
auf unser gesamtes Universum dieselben Überlegungen
anstellen und dieselben Schlüsse ziehen wie jene fingierten
Astronomen inbezug auf ihr Sonnensystem.
Wie man hieraus sieht, würde man endlich zu dem
Schlüsse kommen, daß die zur Bestimmung der Entfer-
nungen dienenden Differentialgleichungen von höherer
als der zweiten Ordnung sind. Weshalb sollte uns das
befremden? Weshalb finden wir es ganz natürlich, daß
die Folge der Erscheinungen von den Anfangs werten
der ersten Differentialquotienten abhängen, während wir
zögern anzunehmen, daß sie von den Anfangswerten der
zweiten Differentialquotienten abhängen können? Das
kann nur eine Folge der Gewohnheiten unseres Verstandes
sein, die durch das beständige Studium des verallgemei-
nerten Trägheitsprinzips und seiner Folgerungen sich in
uns entwickelt haben.
Die Werte der gegenseitigen Entfernungen zu irgend
einem Zeitpunkte hängen von ihren Anfangs werten ab,
von den Anfangswerten ihrer ersten Differentialquotienten
imd von noch etwas anderem. Was ist dieses
andere?
Wenn man nicht zugibt, daß es einfach einer der
zweiten Differentialquotienten sei, so hat man nur die
Wahl zwischen zwei Hypothesen. Entweder muß man
annehmen (wie man es gewöhnlich tut), daß dieses
124 ^^^' ^' Energie und Thermodynamik.
andere durch die absolute Orientierung des Universums
im Räume gegeben ist und durch die Schnelligkeit, mit
welcher diese Orientierung sich ändert; das kann rich-
tig sein, jedenfalls ist es für den Mathematiker die be-
quemste Lösung; sie ist aber nicht die befriedigendste
für den Philosophen, denn eine solche absolute Orien-
tierung gibt es nicht.
Oder man muß annehmen, daß dieses andere durch
die Stellung und die Geschwindigkeit irgend eines un-
sichtbaren Körpers gegeben ist; zu dieser Annahme haben
sich manche bereits entschlossen; sie haben diesem Kör-
per sogar den Namen Alpha beigelegt, obgleich wir dazu
bestimmt sind, von diesem Körper in aller Zukunft nie-
mals mehr als seinen Namen zu wissen. Dieser Kunst-
griff ist ganz analog demjenigen, von welchem ich am
Schlüsse meiner Betrachtungen über das Trägheitsprinzip
gesprochen habe.
Aber auch die Schwierigkeit im ganzen ist eine künst-
liche. Wenn nur die künftigen Ablesungen unserer In-
strumente allein von den Ablesungen abhängen können,
welche wir früher gemacht haben oder welche wir in
Zukunft machen werden, so brauchen wir nichts weiter
(vgl. S. 79). Und inbezug hierauf können wir beruhigt sein.
Achtes Kapitel.
Energie und Thermodynamik.
Das energetische System. — Die Schwierigkeiten,
welche der klassischen Mechanik anhaften, haben manche
dazu geführt ein neues System zu bevorzugen, das sie
das energetische System nennen. Das energetische
System ist durch die Entdeckung des Prinzips von der
Das energetische System. I 2 5
Erhaltung der Energie (welchem Helmholtz seine definitive
Form gegeben hat) ermöglicht worden.^'^)
Zuerst müssen wir zwei Größen definieren, welche
in dieser Theorie eine fundamentale Rolle spielen. Diese
Größen sind: erstens die kinetische Energie oder
lebendige Kraft, zweitens die potentielle Energie.
Alle Veränderungen, welche die Körper in der Natur
erleiden, werden durch die folgenden beiden erfahrungs-
mäßigen Gesetze bestimmt:
1. Die Summe der kinetischen und der potentiellen
Energie ist konstant. Darin liegt das Prinzip von der
Erhaltung der Energie.
2. Wenn ein System von Körpern sich zur Zeit t^
in der Lage A und zur Zeit t^ in der Lage B befindet,
so bewegt es sich immer von der ersten Lage zur zweiten
auf einem solchen Wege, daß in dem Intervalle zwischen
den Zeiten f^ und t^ der mittlere Wert der Differenz
beider Arten von Energie möglichst klein ist.
So lautet das Hamiltonsche Prinzip; dasselbe ist eine
der Formen, unter denen man das Prinzip der kleinsten
Wirkung aussprechen kann.^^)
Die energetische Theorie hat vor der klassischen
Theorie folgende Vorzüge voraus:
1. Sie ist weniger unvollständig, d. h. das Prinzip
der Erhaltung der Energie und dasjenige Hamiltons
lehren uns mehr als die fundamentalen Prinzipien der
klassischen Theorie und schließen gewisse Bewegungen
aus, welche die Natur nicht verwirklicht, die hingegen
mit der klassischen Theorie vereinbar wären.
2. Sie macht für uns die Annahme von Atomen
überflüssig, während diese Annahme bei der klassischen
Theorie kaum zu vermeiden ist.
Aber sie erhebt ihrerseits neue Schwierigkeiten:
Die Definitionen der beiden Arten von Energie würden
fast ebenso große Schwierigkeiten bereiten wie diejenigen,
120 m> ^' Energie und Thermodynamik.
welche im ersten Systeme durch die Begriffe von Kraft
und Masse entstanden. Man kann sich dabei indessen
leichter helfen, wenigstens in den einfachsten Fällen.
Setzen wir ein isoliertes System voraus, das von
einer gewissen Anzahl materieller Punkte gebildet wird;
setzen wir weiter voraus, daß diese Punkte Kräften unter-
worfen sind, welche nur von ihrer relativen Stellung und
ihren gegenseitigen Entfernungen abhängen, von ihren
Geschwindigkeiten aber unabhängig sind. Vermöge des
Prinzips der Erhaltung der Energie müßte dann eine
Kräftefunktion existieren.
In diesem einfachen Falle ist die Aussage des Prin-
zips von der Erhaltung der Energie von außerordent-
licher Einfachheit. Eine bestimmte Größe, welche dem
Experimente zugänglich ist, soll konstant bleiben. Diese
Größe ist die Summe von zwei Gliedern; das erste
hängt nur von der Stellung der materiellen Punkte ab
und ist von ihren Geschwindigkeiten unabhängig; das
zweite ist dem Quadrate dieser Geschwindigkeiten pro-
portional. Diese Zerlegung läßt sich nur auf eine ein-
zige Art machen.
Das erste dieser Glieder, welches ich 17 nennen will,
soll die potentielle Energie sein; das zweite, welches
ich T nennen will, soll die kinetische Energie sein.^^)
Wenn T -\- [/ eine Konstante ist, so wird zwar das-
selbe mit irgend einer Funktion von T -\- U der Fall
sein:
q){T-{- U)= konstant,
aber diese Funktion (piT -\- U) wird nicht die Summe
von zwei Gliedern sein, deren eines unabhängig von den
Geschwindigkeiten ist, deren anderes dem Quadrate
dieser Geschwindigkeiten proportional ist. Unter den
Funktionen, welche konstant bleiben, gibt es nur eine,
welche diese Eigenschaft besitzt; diese ist T -\- U (oder
Definition der Energie. 12 7
eine lineare Funktion von T + U, was auf dasselbe
hinauskommt, denn diese lineare Funktion kann immer
durch eine Änderung der Maßeinheit und des Anfangs-
punktes auf die Funktion T ■\- ^"zurückgeführt werden).
Das also nennen wir Energie; das erste Glied wollen
wir potentielle Energie nennen und das zweite soll die
kinetische Energie heißen. Die Definition der beiden
Arten von Energie kann ohne jede Mehrdeutigkeit in
allen Fällen durchgeführt werden.
Dasselbe ist mit der Definition der Massen der Fall.
Die kinetische Energie oder lebendige Kraft drückt sich
sehr einfach mit Hilfe der Massen und relativen Ge-
schwindigkeiten aller materiellen Punkte aus^ wenn diese
Geschwindigkeiten auf einen dieser Punkte bezogen
werden. Diese relativen Geschwindigkeiten sind der
Beobachtung zugänglich und, wenn wir den Ausdruck
der kinetischen Energie in Funktion dieser relativen
Geschwindigkeiten kennen, so geben uns die Koeffizienten
dieses Ausdrucks die Massen.
So kann man in diesem einfachen Falle die fun-
damentalen Begriffe ohne Schwierigkeit definieren. Aber
die Schwierigkeiten tauchen in den komplizierteren Fällen
wieder auf, z. B. wenn die Kräfte, anstatt nur von Ent-
fernungen abzuhängen, auch von Geschwindigkeiten ab-
hängen. Weber setzt z. B. voraus, daß die gegenseitige
Einwirkung von zwei elektrischen Molekülen nicht nur
von ihrer Entfernung abhängt, sondern von ihrer Ent-
fernung und von ihrer Geschwindigkeit. Wenn die
materiellen Punkte sich einem analogen Gesetze gemäß
anzögen, so würde U von der Geschwindigkeit abhängen
und könnte ein dem Quadrate der Geschwindigkeit
proportionales Glied enthalten.^^)
Wie kann man unter den Gliedern, welche den Qua-
draten der Geschwindigkeiten proportional sind, die von
T abstammenden und die von U abstammenden von-
J28 III, 8. Energie und Thermodynamik.
einander unterscheiden? Und wie kann man folglich
die beiden einzelnen Teile der Energie trennen?
Aber noch mehr: wie kann man die Energie selbst
definieren? Wir haben keinen Grund, T -\- U als Defi-
nition lieber anzunehmen, als irgend eine andere Funk-
tion von T -\- U', wenn der Ausdruck T -\- [/ die für
ihn charakteristische Eigenschaft verloren hat, die Summe
zweier Glieder bestimmter Form zu sein.
Das ist nicht alles: man muß nicht nur die eigent-
liche mechanische Energie berücksichtigen, sondern auch
die anderen Formen der Energie, die Wärme, die che-
mische Energie, die elektrische Energie u. s. w. Das
Prinzip der Erhaltung der Energie ist:
r+ ^+ <2 = konst,
wo T die wahrnehmbare kinetische Energie, 17 die po-
tentielle Energie der Stellung (welche nur von der Stel-
lung der Körper abhängt) repräsentiert und Q die innere
molekulare Energie, möge es sich dabei um Wanne,,
chemische Verwandtschaft oder Elektrizität handeln.
Alles wäre in Ordnung, wenn diese drei Glieder
absolut voneinander zu unterscheiden wären, wenn T
dem Quadrate der Geschwindigkeiten proportional wäre,
U von diesen Geschwindigkeiten und von dem Zustande
der Körper unabhängig, Q unabhängig von den Ge-
schwindigkeiten und Stellungen der Körper und allein
abhängig von ihrem inneren Zustande.
Der Ausdruck der Energie ließe sich dann nur auf
eine einzige Art in drei Glieder der verlangten Form
zerlegen.
Das geht jedoch nicht; betrachten wir elektrisierte
Körper: die elektrostatische, durch ihre gegenseitige Ein-
wirkung entstandene Energie wird offenbar von ihrer
Ladung, d. h. von ihrem Zustande abhängen; aber sie
wird gleichzeitig von ihrer Lage abhängen. Wenn diese
Erhaltung der Energie. I2q
Körper in Bewegung sind, so werden sie aufeinander
elektrodynamisch einwirken, und die elektrodynamische
Energie wird nicht nur von ihrem Zustande und ihrer
Lage, sondern auch von ihren Geschwindigkeiten ab-
hängen.
Wir haben also kein Mittel mehr, um zwischen den
Gliedern, welche zu T, zu U und zu Q einen Beitrag
liefern sollen, eine Auswahl zu treffen und die drei Teile
der Energie zu trennen.
Wenn {T -\- U A;- Q) konstant ist, so wird dasselbe
mit irgend einer Funktion von 7^+ U -\- Q der Fall sein:
9)(r+ U-\- 0 = konst.
Wenn 7" + U A^ Q die besondere Form hätte, welche
ich weiter oben ins Auge faßte, so würde daraus keine
Mehrdeutigkeit hervorgehen; unter den Funktionen
welche konstant bleiben, wäre nur eine von dieser be-
sonderen Form, und wir wollen uns dahin einigen, diese
eine Funktion als Energie zu bezeichnen.
Ich habe bereits gesagt, daß es streng genommen
nicht so ist; unter den Funktionen, welche konstant
bleiben, gibt es keine solchen, welche sich streng dieser
besonderen Form fügen; wie soll man dann aber unter
ihnen diejenige auswählen, welche Energie genannt
werden soll? Wir haben keinen Anhaltspunkt mehr, der
uns bei dieser Auswahl leiten könnte.
Es bleibt uns nur noch ein Ausdruck für das Prinzip
der Erhaltung der Energie übrig: es gibt ein Etwas,
das konstant bleibt. Unter dieser Form entzieht es
sich wieder dem Bereiche der Erfahrung und reduziert
sich auf eine Art Tautologie. Es ist klar, daß, wenn
die Welt von Gesetzen regiert wird, es offenbar Größen
geben muß, welche konstant bleiben. Wie die Prinzipien
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. 9
j oQ m> ^' Energie und Thermodynamik.
Newtons (und aus einem analogen Grunde, vgl. S. 98 f.)
würde das Prinzip von der Erhaltung der Energie, das
doch durch die Erfahrung begründet ist, durch diese
niemals entkräftet werden können.
Diese Erörterung beweist, daß es einen Fortschritt
bedeutet, wenn man vom klassischen Systeme zum ener-
getischen Systeme übergeht; aber sie beweist zu gleicher
Zeit, daß dieser Fortschritt ungenügend ist.
Ein anderer Einwurf scheint mir noch gewichtiger:
das Prinzip der kleinsten Wirkung ist auf umkehrbare
Naturerscheinungen anwendbar, aber es ist keineswegs
befriedigend in seiner Anwendung auf nicht umkehrbare
Vorgänge; der Versuch von Helmholtz, es auf diese Art
von Erscheinungen auszudehnen, ist nicht gelungen und
kann nicht gelingen: in dieser Beziehung bleibt noch
alles zu tun übrig. ^^)
Der Inhalt des Prinzips der kleinsten Wirkung hat
an sich für den Verstand etwas Befremdliches. Um sich
von einem Punkte zu einem anderen zu begeben, wird
ein materielles Molekül, welches der Einwirkung jeder
Kraft entzogen ist, aber daran gebunden ist, sich auf
einer Oberfläche zu bewegen, die geodätische Linie be-
schreiben, d. h. den kürzesten Weg.
Dieses Molekül scheint den Punkt zu kennen, zu
dem man es hinführen will; es scheint die Zeit voraus-
zusehen, welche es braucht, um ihn zu erreichen; indem
es diesen und jenen Weg verfolgt und darauf den pas-
sendsten Weg wählt. Die Aussage des Prinzips stellt
es uns sozusagen als ein lebendiges und freies Wesen
dar. Es ist klar, daß man sie durch eine weniger be-
fremdende Aussage ersetzen müßte, bei welcher der
Schein vermieden wird, als ob, wie die Philosophen
sagen, die Endziele an Stelle der wirkenden Ursachen
gesetzt sind.
Das Mayersche Prinzip. I :? I
Thermodynamik.*) — Die Rolle der beiden funda-
mentalen Prinzipien der Thermodynamik wird in allen
Zweigen der Naturphilosophie von Tag zu Tag wichtiger.
Indem wir die ehrgeizigen, mit molekularen Hypothesen
überladenen Theorien aufgeben, welche man vor vierzig
Jahren hatte, versuchen wir heute allein auf der Thermo-
dynamik das ganze Gebäude der mathematischen Physik
zu errichten. Würden die beiden Prinzipien von Mayer'
und von Clausius^^) diesem Gebäude genügend solide
Grundmauern sichern, damit es sich einige Zeit halten
kann? Niemand zweifelt daran; aber woher kommt
uns dieses Vertrauen?
Ein berühmter Physiker sagte mir eines Tages inbezug
auf das Fehlergesetz: ,, Jedermann glaubt fest daran, weil
die Mathematiker sich einbilden, daß es eine Beob-
achtungstatsache sei, und die Beobachter glauben, daß
es ein mathematischer Lehrsatz sei." So war es auch
lange mit dem Prinzipe von der Erhaltung der Energie.
Heute ist es nicht mehr so; niemand bezweifelt, daß
dies eine experimentelle Tatsache ist.
Aber wer gibt uns dann das Recht, dem Prinzipe
selbst eine größere Allgemeinheit und größere Genauig-
keit beizulegen als den Experimenten, welche zum Be-
weise desselben gedient haben? Das würde auf die
Frage hinauskommen, ob es berechtigt ist, die Ergebnisse
der Erfahrung so zu verallgemeinern, wie man es täg-
lich tut; ich werde nicht so anmaßend sein diese Frage
zu erörtern, nachdem so viele Philosophen sich vergeb-
lich bemüht haben sie zu lösen. Eines ist gewiß: wenn
diese Gabe zur Verallgemeinerung uns versagt wäre, so
würde die Wissenschaft aufhören zu existieren, oder sie
würde sich wenigstens darauf beschränken eine Art von
*) Die folgenden Zeilen sind eine teilweise Reproduktion des
Vorwortes zu meinem Werke Thermodynamique.
9*
JT2 IIIj 8. Energie und Thermodynamik.
Inventar anzulegen, in dem vereinzelte Tatsachen ver-
zeichnet werden, und sie würde damit für uns jeden
Wert verlieren, denn sie könnte unser Bedürfnis nach
Ordnung und Harmonie nicht befriedigen und sie würde
zugleich unfähig sein. Zukünftiges vorauszubestimmen.
Da die Umstände, unter welchen irgend eine Tatsache
eintritt, sich wahrscheinlich niemals gleichzeitig wieder-
holen werden, so ist schon eine erste Verallgemeinerung
notwendig, um vorauszusehen, ob diese Tatsache sich
noch wiederholen wird, wenn in den genannten Um-
ständen auch nur die geringste Änderung eintritt.
Aber jeder Satz kann auf unendlich viele Arten ver-
allgemeinert werden. Unter allen möglichen Verallge-
meinerungen müssen wir eine Auswahl treffen, und da
können wir nur die einfachste Verallgemeinerung wählen.
Dadurch wird es verständlich, daß wir so handeln, als
ob ein einfaches Gesetz unter übrigens gleichen Um-
ständen mehr Wahrscheinlichkeit für sich habe wie ein
kompliziertes Gesetz. ^^)
Vor einem halben Jahrhundert bekannte man sich
offen zu dem Satze, daß die Natur die Einfachheit liebt;
aber seitdem haben wir zu viele entgegenstehende Er-
fahrungen gemacht. Heute erkennt man diesen Satz nicht
mehr an, oder wenigstens nur insoweit, als er unvermeid-
lich ist, wenn die Wissenschaft mögl^h bleiben soll.
Wenn wir, auf Grund einer verhältnismäßig geringen
Anzahl von Experimenten, die auch unter sich nicht voll-
kommen übereinstimmen, ein allgemeines, einfaches und
genaues Gesetz formulieren, so gehorchen wir dabei einer
inneren Notwendigkeit, der sich der menschliche Ver-
stand nicht entziehen kann.
Aber es handelt sich um noch mehr, und deshalb
verweile ich bei dieser Frage.
Niemand bezweifelt, daß das Mayersche Prinzip dazu
berufen ist, alle besonderen Gesetze, aus denen man es
Einfachlieit des Prinzips. ^33
abgeleitet hat, ebenso zu überleben, wie das Newtonsche
Gesetz die Kepplerschen Sätze überlebt hat, aus denen
es hervorgegangen war, und welche nur annähernd richtig
sind, sobald man die Störungen berücksichtigt.
Weshalb nimmt nun dieses Prinzip eine so bevor-
zugte Stellung unter allen physikalischen Gesetzen ein?
Dafür gibt es viele kleine Ursachen.
Vor allem glaubt man, daß wir es nicht verwerfen
oder auch nur seine absolute Strenge anzweifeln können,
ohne die Möglichkeit des perpetuum mobile zuzulassen;
die Aussicht auf eine solche Folgerung macht uns natür-
lich mißtrauisch, und so glauben wir weniger kühn zu
handeln, wenn wir das Prinzip annehmen, als wenn wir
es leugnen.
Vielleicht ist diese Vorstellung nicht ganz richtig; denn
nur für die umkehrbaren Prozesse zieht die Unmöglich-
keit des perpetuum mobile das Prinzip von der Erhaltung
der Energie nach sich.
Die überraschende Einfachheit des Mayerschen Prin-
zips trägt ebenfalls dazu bei, uns im Glauben an das-
selbe zu bestärken. Bei einem Gesetze, das unmittelbar
aus der Erfahrung abgeleitet wird, z. B. beim Mariotte-
schen Gesetze, würde solche Einfachheit uns eher Grund
zum Mißtrauen geben: aber hier ist es anders; Elemente,
die auf den ersten Blick scheinbar nichts miteinander
zu tun haben, reihen sich vor unseren Augen in uner-
warteter Ordnung aneinander und bilden ein harmoni-
sches Ganzes; und wir können unmöglich glauben, daß
diese unvorhergesehene Harmonie nur durch ein Spiel
des Zufalls zu stände komme. Unsere Errungenschaft
scheint uns um so wertvoller und lieber zu sein, je mehr
Anstrengungen sie uns gekostet hat, und es. scheint uns
um so sicherer, daß wir der Natur ihr wahres Geheimnis
entrissen haben, je eifersüchtiger dieselbe bemüht war,
es uns zu verbergen.
l -2 4 III, 8. Energie und Thermodynamik.
Aber das sind nur die kleinen Ursachen; um das
Mayersche Gesetz zu einem absoluten Prinzipe zu erheben,
bedarf es einer tiefergehenden Erörterung. Aber wenn
man versucht eine solche vorzunehmen, so bemerkt man,
daß dieses absolute Prinzip nicht leicht auszusprechen ist.
In jedem besonderen Falle sieht man wohl, was
Energie ist, und man kann eine zum mindesten provi-
sorische Definition derselben geben; aber es ist unmög-
lich eine allgemeine Definition zu finden.
Wenn man das Prinzip in seiner ganzen Allgemein-
heit aussprechen und auf das Universum anwenden will,
so sieht man es sozusagen sich verflüchtigen und es
bleibt nichts zurück als der Satz: Es gibt ein Etwas,
das konstant bleibt.
Aber hat selbst dieser einen Sinn? Unter dem Namen
der deterministischen Hypothese fasse ich die folgenden
Voraussetzungen zusammen: ,,Der Zustand des Universums
ist durch eine außerordentlich große Zahl 7t von Para-
metern bestimmt, welche ich x^ , ji'g , . . . , Xn nennen will.
Sobald man in irgend einem Augenblicke die Werte dieser
?t Parameter kennt, so kennt man gleichzeitig ihre Ab-
leitungen inbezug auf die Zeit, und man kann folglich
die Werte dieser selben Parameter für einen vorher-
gehenden oder künftigen Zeitpunkt berechnen. Mit
anderen Worten : Diese n Parameter genügen n Differential-
gleichungen erster Ordnung."
Diese Gleichungen lassen n — i Integrale zu und
daraus ergeben sich ;z — i Funktionen von x\, x^, . . ., x,„
welche konstant bleiben. Wenn wir also sagen, daß es
ein Etwas gibt, das konstant bleibt, so sprechen
wir nur eine Tautologie aus. Man wird sogar in Ver-
legenheit sein zu sagen, welches unter allen unseren
Integralen den Namen Energie erhalten soll.^*)
Übrigens versteht man das Mayersche Prinzip nicht
Das Prinzip für begrenzte Systeme. j ^ c
in diesem Sinne, wenn man es auf ein begrenztes System
anwendet.
Man läßt dann zu, daß p von unseren n Parametern
unabhängig von den anderen variieren, so daß wir nur
n — p (im allgemeinen lineare) Relationen zwischen unseren
n Parametern und ihren Differentialquotienten haben.
Setzen wir, um die Aussage zu vereinfachen, voraus,
daß die Summe der Arbeit der äußeren Kräfte gleich
Null sei, und daß ebenso die Summe der Wärmemengen,
welche nach außen abgegeben werden verschwinde.
Dann wird die Bedeutung unseres Prinzips folgende
sein:
Man kann aus unseren ;/ — p Relationen eine
neue Gleichung ableiten, deren linke Seite ein
exaktes Differential ist, während die rechte Seite
infolge unserer n — / Relationen gleich Null ist.
Das Integral dieses Differentials ist eine Konstante und
dieses Integral nennt man Energie.
Aber wie kann es möglich sein, daß es mehrere
Parameter gibt, die selbständig variieren? Das kann nur
unter dem Einflüsse der äußeren Kräfte stattfinden (ob-
gleich wir zur Vereinfachung voraussetzten, daß die
algebraische Summe der Arbeiten dieser Kräfte gleich
Null sei). Wenn das System in der Tat jeder äußeren
Einwirkung völlig entzogen ist, so würden die Werte
unserer n Parameter in einem gegebenen Augenblicke
genügen, um den Zustand des Systems in irgend einem
künftigen Augenblicke zu bestimmen, vorausgesetzt, daß
wir in der deterministischen Hypothese verbleiben; wir
würden also auf dieselbe Schwierigkeit , wie vorhin,
stoßen.
Wenn der Zustand des Systems durch seinen gegen-
wärtigen Zustand nicht vollkommen bestimmt ist, so liegt
dies daran, daß er außerdem vom Zustande der Körper
abhängt, die dem Systeme fremd sind. Aber ist es dann
j -3^ III, 8. Energie und Thermodynamik.
wahrscheinlich, daß es zwischen den Parametern x, welche
den Zustand des Systems definieren, Gleichungen gibt,
die unabhängig von diesem Zustande der fremden Körper
sind? und wenn wir in gewissen Fällen glauben, solche
finden zu können, beruht dieser Glaube dann nicht nur
auf unserer Unwissenheit und auf der Tatsache, daß der
Einfluß dieser Körper zu schwach ist, um sich unseren
Beobachtungen bemerkbar zu machen?
Wenn das System nicht als vollkommen isoliert be-
trachtet wird, so ist es wahrscheinlich, daß der streng
exakte Ausdruck für seine innere Energie vom Zustande
der außerhalb stehenden Körper abhängt. Ich habe
weiter oben vorausgesetzt, daß die Summe der äußeren
Arbeiten gleich Null ist, und wenn man sich von dieser
etwas künstlichen Einschränkung befreien will, so wird
es noch schwieriger, das Prinzig auszusprechen.
Um das Mayersche Prinzip in absolutem Sinne zu
formulieren, muß man es auf das ganze Universum aus-
dehnen, und dann wieder findet man sich dieser sel-
ben Schwierigkeit gegenüber, welche man zu vermeiden
suchte.
Alles zusammengefaßt und nicht mathematisch aus-
gedrückt, kann das Gesetz von der Erhaltung der Energie
nur eine Bedeutung haben, nämlich die, daß es eine
allen Möglichkeiten gemeinsame Eigenschaft gibt; aber
in der deterministischen Hypothese gibt es nur eine
Möglichkeit, und dann hat das Gesetz keine Bedeu-
tung mehr.
In der indeterministischen Hypothese würde es im
Gegenteil eine Bedeutung erhalten, sogar wenn man es
in absolutem Sinne verstehen wollte; das Gesetz würde
dann als eine unserer Freiheit gezogene Grenze er-
scheinen.
Aber dieses Wort erinnert mich daran, daß ich zu
weit gehe und daß ich im Begriff'e bin, das mathematische
Das Clausiussche Prinzip. j^y
und das physikalische Gebiet zu verlassen. Ich stehe
davon ab und will von dieser ganzen Erörterung nur
das eine betonen, nämlich, daß das Mayersche Gesetz
uns ein hinreichend dehnbares Gefäß darstellt, um in
dasselbe alles Mögliche hineinzubringen. Ich will damit
nicht sagen, daß das Gesetz weder irgend einer objek-
tiven Wirklichkeit entspricht, noch daß es sich auf eine
einfache Tautologie zurückführen läßt, denn es hat in
jedem besonderen Falle, und vorausgesetzt, daß man
nicht bis zum Absoluten gewaltsam vorgeht, einen voll-
kommen klaren Sinn.
Diese Dehnbarkeit veranlaßt uns an eine lange Dauer
des Gesetzes zu glauben und da dasselbe andererseits
nur verschwinden wird, um sich in eine höhere Har-
monie aufzulösen, so können wir mit Vertrauen weiter
arbeiten, indem wir uns auf dies Gesetz stützen; und
wir sind im voraus gewiß, daß unsere Arbeit keine ver-
lorene sein wird.
Fast alles, was ich soeben sagte, paßt auch auf das
Clausiussche Prinzip; der Unterschied ist, daß letzteres
sich durch eine Ungleichheit ausdrückt. Man wird viel-
leicht behaupten, daß dieses in allen physikalischen Ge-
setzen der Fall ist, weil ihre Genauigkeit immer durch
Beobachtungsfehler beschränkt ist. Aber die physikali-
schen Gesetze beanspruchen wenigstens erste Annähe-
rungen darzustellen, und man hat die Hoffnung, sie
nach und nach durch genauere Gesetze zu ersetzen.
Wenn im Gegenteil das Clausiussche Prinzip sich durch
eine Ungleichheit ausdrückt, so ist nicht die Unvoll-
kommenheit unserer Beobachtungsmittel daran schuld, son-
dern die Natur der Frage selbst.
I og III, 8. Energie und Thermodynamik.
Allgemeine Übersicht des dritten Teiles.
Die Prinzipien der Mechanik stellen sich uns unter
zwei verschiedenen Gesichtspunkten dar. Einesteils haben
wir auf Erfahrungen begründete Wahrheiten, die in sehr
angenäherter Weise verifiziert sind, wenigstens soweit es
sich um nahezu isolierte Systeme handelt. Anderenteils
haben wir Postulate, welche auf die Gesamtheit des Uni-
versums anwendbar sind und als streng richtig betrachtet
werden.
Wenn diese Postulate eine Allgemeinheit und eine
Zuverlässigkeit besitzen, welche den experimentellen Wahr-
heiten abgeht, aus denen man sie ableitete, so liegt dies
darin, daß sie sich in letzter Instanz auf ein einfaches
Übereinkommen reduzieren, welches wir mit Recht ein-
gehen, da wir im voraus wissen, daß keine Erfahrung
ihm widersprechen kann.
Dieses Übereinkommen ist jedoch nicht absolut will-
kürlich; es entspringt nicht unserer Laune; wir nehmen
es an, weil gewisse Experimente uns bewiesen haben,
daß es bequem ist.
Man erklärt sich so, wie das Experiment die Prin-
zipien der Mechanik aufbauen konnte und warum es sie
niemals umstoßen kann.
Wir wollen einen Vergleich mit der Geometrie ziehen.
Die fundamentalen Sätze der Geometrie, wie z. B. das
Euklidische Postulat, sind nichts anderes als Überein-
kommen, und es ist ebenso unvernünftig zu untersuchen,
ob sie richtig oder falsch sind, wie es unvernünftig wäre
zu fragen, ob das metrische System richtig oder falsch
ist (vgl. S. 51 f.).
Diese Übereinkommen sind jedoch bequem, und das
lehren uns bestimmte Erfahrungen.
Auf den ersten Blick ist die Analogie vollständig;
Geometrie und Mechanik.
139
die Rolle der Erfahrung scheint dieselbe zu sein. Man
wird demnach versucht zu sagen: Entweder wird die
Mechanik als eine experimentelle Wissenschaft angesehen,
und dann muß dasselbe für die Geometrie gelten, oder
die Geometrie ist im Gegensatze dazu eine deduktive
Wissenschaft, und dann muß dasselbe für die Mechanik
gelten.
Eine solche Schlußfolgerung würde unberechtigt sein.
Die Erfahrungen, welche uns dazu führten, die funda-
mentalen Übereinkommen der Geometrie als bequemer
anzunehmen, beziehen sich auf Gegenstände, welche mit
denjenigen, die der Mathematiker studiert, nichts ge-
meinsam haben; sie beziehen sich auf Eigenschaften der
festen Körper, auf die geradlinige Fortpflanzung des
Lichtes. Es sind mechanische und optische Experimente;
man kann sie unter keinem Gesichtspunkte als geome-
trische Experimente ansehen. Und der Hauptgrund, wes-
halb unsere Geometrie uns bequem erscheint, liegt darin,
daß die verschiedenen Teile unseres Körpers, unser
Auge, unsere Glieder, gewisse Eigenschaften fester Kör-
per besitzen. So angesehen sind unsere fundamentalen
Experimente vor allem physiologische Experimente, welche
sich nicht auf den Raum als das vom Mathematiker
studierte Objekt beziehen, sondern auf seinen Körper,
d. h. auf das Werkzeug, dessen er sich zu diesem Stu-
dium bedient.
Im Gegensatze dazu beziehen sich die fundamentalen
Übereinkommen der Mechanik und die Experimente,
welche uns beweisen, daß sie bequem sind, entweder
auf dieselben Gegenstände oder auf analoge Gegen-
stände. Die nach Übereinkommen festgesetzten und all-
gemeinen Prinzipien sind die natürliche und direkte Ver-
allgemeinerung der experimentellen und besonderen Prin-
zipien.
Man sage mir nicht, daß ich damit künstliche Grenzen
jAQ III, 8. Energie und Thermodynamik.
zwischen den Wissenschaften ziehe; daß ich zwischen
der experimentellen Mechanik und der gebräuchlichen
Mechanik der allgemeinen Prinzipien eine Schranke er-
richten könnte, wie ich die eigentliche Geometrie vom
Studium der festen Körper durch eine Schranke getrennt
habe. In der Tat, wer sieht nicht, daß ich beide Zweige
der Mechanik verstümmele, indem ich sie voneinander
trenne, daß von der allgemeinen Mechanik nur sehr
wenig übrig bleibt, wenn sie isoliert wird, und daß dieses
wenige keineswegs mit dem herrlichen Lehrgebäude, das
man Geometrie nennt, verglichen werden kann?
Man versteht jetzt, warum der Unterricht in der
Mechanik experimentell bleiben muß.
Nur so kann man die Genesis der Wissenschaft ver-
stehen lernen, und das ist für das vollkommene Ver-
ständnis der Wissenschaft selbst unerläßlich.
Andererseits studiert man die Mechanik, um sie an-
zuwenden, und man kann sie nur anwenden, wenn sie
objektiv bleibt. Wie wir gesehen haben, verlieren die
Prinzipien an Objektivität, was sie an Allgemeinheit und
Zuverlässigkeit gewinnen. Man muß sich also hauptsäch-
lich mit der objektiven Seite der Prinzipien rechtzeitig
bekannt machen, und man kann dieses nur bewerkstel-
ligen, wenn man vom Besonderen zum Allgemeinen schreitet,
anstatt den umgekehrten Weg einzuschlagen.
Die Prinzipien sind Übereinkommen und verkleidete
Definitionen (vgl. S. 102 u. S. 112). Sie sind indessen
von experimentellen Gesetzen abgeleitet, diese Gesetze
sind sozusagen als Priuzipe hingestellt, denen unser Ver-
stand absolute Gültigkeit beilegt.
Manche Philosophen haben zu viel verallgemeinert; sie
glaubten, die Prinzipien wären die ganze Wissenschaft,
und hielten folglich die ganze Wissenschaft für konven-
tionell.
Prinzipe und Gesetze. iaj
Diese paradoxe Lehre, welche man den Nominalis-
mus nennt, ist nicht stichhaltig.
Wie kann aus einem Gesetze ein Prinzip werden?
Es drückte eine Beziehung zwischen zwei realen Gliedern
A und B aus. Aber es war nicht streng genommen
richtig, es war nur annähernd richtig. Wir führen will-
kürlich ein dazwischen liegendes Glied C, das mehr oder
weniger fingiert ist, ein, und C ist durch Definition
dasjenige Ding, welches zu A genau "in der Beziehung
steht, die in dem Gesetze annähernd zum Ausdrucke
kommt.
So hat sich unser Gesetz in ein absolutes und strenges
Prinzip zerlegt, welches die Beziehung zwischen ^ zu C
ausdrückt, und in ein experimentelles, annähernd rich-
tiges Gesetz, welches der Verbesserung fähig ist und
die Beziehung von C zu B ausdrückt. Es ist klar, daß
immer Gesetze übrig bleiben, soweit man auch diese
Zerlegung verfolgt.
Wir gehen jetzt zu dem Gebiete der sogenannten
eigentlichen Gesetze über.
Vierter Teil.
Die Natur.
Neuntes Kapitel.
Die Hypothesen in der Physik.
Die Rolle des Experimentes und der Verallge-
meinerung. — Das Experiment ist die einzige Quelle
der Wahrheit; dieses allein kann uns etwas Neues lehren;
dieses allein kann uns Gewißheit geben. Das sind
zwei Punkte, die durch nichts bestritten werden können.
Wenn aber das Experiment alles ist, welcher Platz
bleibt dann für die mathematische Physik übrig? Was
hat die Experimental-Physik mit einem solchen Hilfs-
mittel zu schaffen, das unnütz und wohl gar gefährlich
zu sein scheint?
Und dennoch existiert die mathematische Physik;
sie hat unleugbare Dienste geleistet; darin liegt eine
Tatsache, die notwendigerweise erklärt werden muß.
Es genügt nicht allein, zu beobachten, man muß
seine Beobachtungen auch benutzen und zu diesem
Zwecke verallgemeinern. Das hat man jederzeit getan;
da jedoch die Erinnerung an die Fehler der Vergangen-
heit den Menschen immer vorsichtiger machte, beobachtete
man immer mehr und verallgemeinerte immer weniger.
Jedes Jahrhundert machte sich über das vorhergehende
lustig, indem es das letztere beschuldigte, zu schnell und
zu unbefangen verallgemeinert zu haben. Descartes be-
lächelte die lonier, wir lächeln über Descartes; ohne
Zweifel werden unsere Söhne über uns lächeln.
Experiment und Verallgemeinerung. IA3
Aber können wir nicht gleich bis ans Ziel gehen?
Ist das nicht das Mittel, um diesen Spöttereien, die wir
voraussehen, zu entgehen? Können wir uns nicht mit
dem völlig nackten Experimente begnügen?
Nein, das ist nicht möglich; das hieße den wahren
Charakter der Wissenschaft völlig verkennen. Der Ge-
lehrte soll anordnen; man stellt die Wissenschaft aus
Tatsachen her, wie man ein Haus aus Steinen baut;
aber eine Anhäufung von Tatsachen ist so wenig eine
Wissenschaft, wie ein Steinhaufen ein Haus ist.
Und vor allem: der Forscher soll voraussehen.
Carlyle hat irgendwo folgendes geschrieben: ,,Nur die
Tatsache hat Bedeutung; Johann ohne Land ist hier
vorbeigegangen; das ist bemerkenswert, das ist eine
tatsächliche Wahrheit, für die ich alle Theorien der
Welt hergeben würde." Carlyle war ein Landsmann von
Bacon; wie der letztere, so legte auch Carlyle Gewicht
darauf, seinen Kultus ,,for the God of Things as they
are" zu betonen; aber doch würde Bacon dergleichen
nicht gesagt haben. Das ist die Sprache des Historikers.
Der Physiker würde vielleicht sagen: ,, Johann ohne Land
ist hier vorbeigegangen; das ist mir sehr gleichgültig, weil
er nicht wieder vorbeikommt."
Wir wissen, daß es gute und daß es schlechte Expe-
rimente gibt. Die letzteren häufen sich nutzlos; wenn
man hundert oder gar tausend solche macht, so würde
doch die einzige Arbeit eines wirklichen Meisters, wie
z. B. Pasteur, genügen, um sie der Vergessenheit anheim-
fallen zu lassen. Bacon würde das wohl verstanden
haben; er ist es, der das Wort experimentum crucis er-
funden hat. Aber Carlyle hätte es nicht verstanden.
Eine Tatsache ist eine Tatsache; ein Schüler hat eine
gewisse Zahl an seinem Thermometer abgelesen, er
braucht dazu keine Kenntnisse; aber gleichviel, er hat
die Zahl abgelesen, und wenn es nur auf die Tatsache
j^^ IV, 9. Hypothesen der Physik.
ankommt, so ist dies ebensogut eine tatsächliche Wahr-
heit, wie das Vorbeipassieren des Königs Johann ohne
Land. Was ist denn ein gutes Experiment? Es ist ein
solches, welches uns etwas anderes als eine isolierte
Tatsache erkennen läßt; es ist ein solches, welches uns
voraussehen läßt, d. h. ein solches, welches uns erlaubt
zu verallgemeinern.
Denn ohne Verallgemeinerung ist das Voraussehen
unmöglich. Die Umstände, unter welchen man operiert
hat, werden sich niemals zugleich wieder einstellen. Die
beobachtete Tatsache wird sich nicht noch einmal ab-
spielen; das einzige, was man feststellen kann, ist, daß
unter analogen Umständen eine analoge Tatsache ein-
treten wird. Um vorauszusehen, muß man zum mindesten
die Analogie zu Hilfe nehmen, und das heißt wiederum:
verallgemeinern .
So vorsichtig man auch sein mag, so muß man doch
interpolieren; das Experiment gibt uns nur eine gewisse
Anzahl von isolierten Punkten, man muß sie durch einen
kontinuirlichen Linienzug verbinden, damit haben wir
eine wirkliche Verallgemeinerung. Aber man geht weiter,
die Kurve, welche man zieht, geht zwischen den beobach-
teten Punkten durch und nahe bei diesen Punkten vor-
bei; sie geht nicht durch diese Punkte selbst. Somit
beschränkt man sich nicht darauf, das Experiment zu
verallgemeinern, man verbessert es; und der Physiker,
welcher sich dieser Verbesserungen enthalten und sich
tatsächlich mit dem völlig nackten Experimente begnügen
wollte, wäre gezwungen, ganz merkwürdige Gesetze aus-
zusprechen.
Die ganz nackten Tatsachen können uns also nicht
genügen; darum brauchen wir eine geordnete, oder viel-
mehr organisierte Wissenschaft.
Man sagt oft, daß man ohne vorgefaßte Meinung
experimentieren soll. Das ist nicht möglich; nicht nur
Verallgemeinerung und Voraussage. jAt
würde dadurch jedes Experiment unfruchtbar gemacht,
sondern man würde sich etwas vornehmen, das man
nicht ausführen kann. Jeder trägt in sich seine Welt-
anschauung; von der er sich nicht so leicht loslösen
kann. Wir müssen uns z. B. der Sprache bedienen, und
imsere Sprache ist von lauter vorgefaßten Meinungen
durchdrungen, und es kann nicht anders sein. Es sind
unbewußte vorgefaßte Meinungen, die tausendmal gefähr-
licher als die anderen sind.
Behaupten wir nun, daß wir das Übel nur ver-
schlimmem, wenn wir andere vorgefaßte Meinungen mit
vollem Bewußtsein zulassen? Ich glaube es nicht; ich
meine vielmehr, daß dieselben sich gegenseitig das Gleich-
gewicht halten werden, daß sie wie Gegengifte wirken;
sie werden sich im allgemeinen schlecht miteinander
vertragen; sie werden miteinander in Konflikt geraten
und uns dadurch zwingen, die Dinge unter verschiedenen
Gesichtspunkten zu betrachten. Das ist hinreichend, um
uns frei zu machen; man ist kein Sklave mehr, wenn
man sich seinen Herrn wählen kann.
Dank der Verallgemeinerung läßt uns so jede be-
obachtete Tatsache eine große Anzahl anderer voraus-
sehen; nur dürfen wir nicht vergessen, daß die erste
allein gewiß ist, die anderen alle nur wahrscheinlich
sind. So fest auch eine Voraussage begründet erscheinen
mag, so sind wir doch niemals absolut sicher, daß das
Experiment sie auch bestätigen wird, wenn wir eine
Prüfung vornehmen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist
oft so groß, daß wir uns in der Praxis mit ihr zufrieden
geben können. Es ist besser, ohne absolute Gewißheit
vorauszusagen als gar nichts vorauszusagen.
Man darf daher niemals eine Prüfung von der Hand
weisen, wenn sich Gelegenheit zu einer solchen bietet.
Aber jedes Experiment ist langwierig und schwierig, die
Avissenschaftlichen Arbeiter sind wenig zahlreich, und die
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. 10
j »5 IV, 9. Hypothesen der Physik.
Anzahl der Tatsachen, welche wir im voraus bestimmen
sollen, ist ungeheuer groß; im Verhältnis zu dieser Menge
wird die Anzahl der direkten Prüfungen, welche wir
vornehmen können, immer verschwindend klein bleiben.
Das wenige, was wir direkt erreichen können, müssen
wir uns möglichst zu Nutze machen; jedes Experiment
muß so eingerichtet sein, daß es uns erlaubt, die größt-
mögliche Anzahl von Tatsachen mit dem höchstmöglichen
Grade von Wahrscheinlichkeit vorauszusehen. Diese
Aufgabe besteht sozusagen darin, den Nutzeffekt der
wissenschaftlichen Maschine möglichst zu vermehren.
Man gestatte mir, die Wissenschaft mit einer Bibliothek
zu vergleichen, welche unaufhörlich wachsen soll; der
Bibliothekar verfügt für seine Ankäufe nur über unge-
nügende Mittel; er muß sich bemühen, dieselben nicht
zu vergeuden.
Die Experimental-Physik spielt die Rolle des Biblio-
thekars; sie ist mit den Ankäufen beauftragt; sie allein
kann also die Bibliothek bereichern.
Was die mathematische Physik betrifft, so hat sie
die Mission, den Katalog herzustellen. Wenn dieser
Katalog gut gemacht ist, so wird die Bibliothek deshalb
nicht reicher; aber der Katalog ist für den Leser not-
wendig, um sich die Reichtümer der Bibliothek zu Nutze
zu machen.
Indem der Katalog ferner den Bibliothekar auf die
Lücken seiner Sammlungen aufmerksam macht, setzt er
ihn in den Stand, von seinen Mitteln einen vernünftigen
Gebrauch zu machen; und das ist um so wichtiger, als
diese Mittel gänzlich ungenügend sind.
Das ist also die Rolle der mathematischen Physik,
sie muß die Verallgemeinerung in dem Sinne leiten, daß
sie, wie ich mich soeben ausdrückte, den Nutzeffekt der
Wissenschaft vermehrt. Durch welche Mittel ihr dies
Einheit und Einfachheit der Natur. iaj
gelingt und wie sie es ohne Schaden durchführen kann,
haben wir noch näher zu prüfen.
Die Einheit der Natur. — Vor allem müssen wir
beachten, daß jede Verallgemeinerung bis zu einem ge-
wissen Grade den Glauben an die Einheit und die Ein-
fachheit der Natur voraussetzt. In Betreff der Einheit
ist keine Schwierigkeit vorhanden. Wenn die verschiede-
nen Teile des Universums sich nicht wie die Organe
eines und desselben Körpers verhielten, so könnten sie
nicht aufeinander wirken, sie würden sich gegenseitig
nicht kennen, und wir insbesondere, wir würden nur
eines dieser Organe kennen. Wir brauchen deshalb
nicht weiter zu fragen, ob die Natur einheitlich ist, son-
dern nur, wie diese Einheit zu stände kommt.
Was den zweiten Punkt angeht, so ist die Sache
nicht ebenso leicht. Es ist nicht sicher, daß die Natur
einfach ist. Können wir ohne Gefahr für uns handeln,
als ob sie einfach wäre?
Es gab eine Zeit, in der die Einfachheit des Gesetzes
von Mariotte ein oft zu Gunsten der Genauigkeit dieses
Gesetzes angerufenes Argument war, eine Zeit, in der
Fresnel selbst, nachdem er in einer Unterredung mit
Laplace geäußert hatte, daß die Natur sich aus analy-
tischen Schwierigkeiten nichts mache, sich verpflichtet
fühlte, Erklärungen zu geben, um die herrschende An-
schauung nicht zu sehr zu verletzen.
Heute haben sich die Meinungen darüber sehr ge-
ändert; und dennoch sind diejenigen, welche nicht daran
glauben, daß die natürlichen Gesetze einfach sein müssen,
genötigt, sich wenigstens so zu stellen, als ob sie es
glaubten. Sie können sich dieser Notwendigkeit nicht
ganz entziehen, ohne jede Verallgemeinerung als un-
möglich und folglich auch jede Wissenschaft als unmög-
lich hinzustellen.
Es ist klar, daß eine Tatsache, welche es auch immer
10*
j^g IV, 9. Hypothesen der Physik.
sein mag, auf unendlich viele Arten verallgemeinert
werden kann, und es handelt sich darum, zu wählen;
die Wahl kann nur durch Betrachtungen über die Ein-
fachheit geleitet werden. Nehmen wir den allergewöhn-
lichsten Fall, den der Interpolation. Die Punkte, welche
unsere Beobachtungen darstellen, verbinden wir durch
eine kontinuierliche, möglichst regelmäßige Linie. Warum
vermeiden wir dabei scharfe Ecken und zu plötzliche
Wendungen? Weshalb lassen wir nicht die Kurve nach
freier Laune Zickzacklinien beschreiben? Wir tun es
nicht, weil wir im voraus wissen, oder zu wissen glauben,
daß das auszudrückende Gesetz nicht so kompliziert sein
kann, um dergleichen zu rechtfertigen.
Man kann die Masse des Jupiter entweder aus den
Bewegungen seiner Trabanten berechnen oder aus den
Störungen der großen Planeten oder aus denjenigen der
kleinen Planeten. Wenn man das Mittel aus den Resul-
taten dieser drei Methoden nimmt, so findet man drei
sehr benachbarte, aber doch verschiedene Zahlen. Man
könnte dieses Resultat erklären, indem man voraussetzt,
daß der Koeffizient der Schwerkraft in den drei Fällen
nicht derselbe ist; die Beobachtungen wären dadurch
viel besser dargestellt. Warum verwerfen wir diese Inter-
pretation? Wir tun es, nicht, weil sie töricht ist, son-
dern weil sie unnütz kompliziert ist. Man wird sie nur
dann annehmen, wenn sie sich uns aufzwingt, und sie
zwingt sich uns bis jetzt noch nicht auf.
Alles zusammengefaßt, wird meist jedes Gesetz für
einfach gehalten, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Diese Gewohnheit drängt sich den Physikern aus
Gründen auf, welche ich soeben erklärt habe; aber wie
soll man diese Gewohnheit rechtfertigen im Hinblick auf
Entdeckungen, welche uns täglich neue, immer reichere
und immer zusammengesetztere Einzelheiten zeigen? Wie
soll man sie sogar mit der Empfindung von der Einheit
Scheinbare Einfachheit. 140
in der Natur vereinbaren? Denn wenn alles von ein-
ander abhängt, können Beziehungen, an denen so viele
Objekte teilnehmen, nicht einfacher Natur sein.
Wenn wir die Geschichte der Wissenschaft studieren^
treten zwei Erscheinungen auf, welche sozusagen ein-
ander entgegengesetzt shid: bald versteckt sich die Ein-
fachheit unter komplizierten Erscheinungen, bald ist im
Gegensatze dazu die Einfachheit sichtbar und verbirgt
außerordentlich komplizierte wirkliche Vorgänge.
Was gibt es Komplizierteres als die gestörten Be-
wegungen der Planeten, und was gibt es Einfacheres als
das Newtonsche Gesetz? Hier verhöhnt die Natur, wie
Fresnel sagt, unsere analytischen Schwierigkeiten, wendet
nur einfache Mittel an und erzeugt durch ihre Ver-
bindung, ich weiß nicht, welch' ein unlösliches Gewirre.
Hier ist die Einfachheit versteckt und wir müssen sie
entdecken.
Die Beispiele des Gegenteils sind im Überfluße vor-
handen. In der kinetischen Theorie der Gase faßt man
Moleküle, die mit großen Geschwindigkeiten begabt sind,
ins Auge, deren Bahnen durch unaufhörliche Stöße ver-
ändert, die seltsamsten Gestalten zeigen und den Raum
nach allen Richtungen hin durchschneiden. Das Be-
obachtungsresultat ist das einfache Gesetz von Mariotte;
jede einzelne Tatsache war kompliziert; das Gesetz der
großen Zahlen hat die Einfachheit im Durchschnitte
wiederhergestellt. Hier ist die Einfachheit nur schein-
bar, und die grobe Beschaffenheit unserer Sinne verhindert
uns, die Kompliziertheit zu bemerken. ^^)
Viele Erscheinungen gehorchen einem Gesetze der
Proportionalität; warum tun sie dieses? Weil es in
diesen Erscheinungen ein Etwas gibt, das sehr klein
ist. Das einfache Erfahrungsgesetz ist dann nichts anderes
als eine Übertragung dieser allgemeinen analytischen
Regel, nach welcher das unendlich kleine Anwachsen
j -Q IV, 9. Hypothesen der Physik.
einer Funktion dem unendlich kleinen Anwachsen der
Variabein proportional ist. Da in Wirklichkeit diese
Zunahme nicht unendlich klein, sondern sehr klein ist, so
ist das Gesetz der Proportionalität nur annähernd und
die Einfachheit nur scheinbar. Was ich soeben aus-
spreche, betrifft die Regel der Superposition kleiner Be-
wegungen, deren Anwendung so fruchtbringend ist und
welche die Grundlage der Optik bildet.^^)
Und wie steht es mit dem Newtonschen Gesetze
selbst? Seine so lang verborgene Einfachheit ist vielleicht
nur scheinbar. Wer kann wissen, ob sie nicht aus irgend
einem komplizierten Mechanismus entsteht, aus dem Stoße
irgend einer feinen, unregelmäßig bewegten Materie, und
ob sie nicht nur durch das Spiel der Mittelwerte und
großen Zahlen einfach wurde. Auf jeden Fall ist es
schwierig, nicht vorauszusetzen, daß das wirkliche Gesetz
ergänzende Glieder enthält, welche für kleine Entfernungen
merkbar werden könnten. Wenn diese weiteren Glieder
gegenüber dem ersten Gliede (das dem Newtonschen
Gesetze entspricht) in der Astronomie vernachlässigt
werden, so ist das nur eine Folge der ungeheuren Größe
der kosmischen Entfernungen.^^)
Wenn unsere Forschungsmittel immer schärfer werden,
so werden wir ohne Zweifel das Einfache unter dem
Komplizierten, dann das Komplizierte unter dem Ein-
fachen entdecken, dann wieder von neuem das Einfache
unter dem Komplizierten und so fort, ohne daß wir
voraussehen können, womit diese Kette schließen wird.
Man muß irgendwo aufhören, und damit die Wissen-
schaft möglich sei, muß man aufhören, wenn man die
Einfachheit gefunden hat. Das ist der einzige Boden,
auf welchem wir das Gebäude unserer Verallgemeine-
rungen errichten können. Aber wird dieser Boden solide
genug sein, wenn diese Einfachheit nur scheinbar ist?
Das müssen wir noch untersuchen.
Glaube an Einfachheit. I r j
Um das zu können, wollen wir sehen, welche Rolle
der Glaube an die Einfachheit in unseren Verallg-emeine-
rungen spielt. Wir haben ein einfaches Gesetz in einer
ziemlich großen Anzahl von besonderen Fällen verifiziert;
wir können unmöglich zulassen, daß diese so oft wieder-
holte Bestätigung ein bloßer Glückszufall sei, und wir
schließen daraus, daß das Gesetz im allgemeinen Falle
wahr sein muß.
Keppler bemerkt, daß die von Tycho beobachteten
Orte eines Planeten sich alle auf einer und derselben
Ellipse befinden. Er kommt nicht einen Augenblick auf
die Idee, daß Tycho infolge eines seltsamen Zufalls den
Himmel immer nur in dem Moment betrachtet hätte, in
welchem die wirkliche Bahn des Planeten im BeoTiff"e
O
war, diese Ellipse zu schneiden.
Was ist uns daran gelegen, ob die Einfachheit der
Wirklichkeit entspricht, oder ob sie eine komplizierte
Wahrheit verdeckt? Möge sie nun dem Einflüsse der
großen Zahlen, welche die individuellen Verschiedenheiten
ausgleicht, zu verdanken sein, oder möge sie der Größe,
bezw. der Kleinheit gewisser Größen, welche gestattet,
gewisse Glieder zu vernachlässigen, zu verdanken sein,
in jedem Falle ist sie nicht dem Zufalle zu verdanken.
Diese Einfachheit, ob sie nun wirklich oder scheinbar
ist, hat immer eine Ursache. Wir können also immer
dieselbe Überlegung machen, und wenn ein einfaches
Gesetz in verschiedenen besonderen Fällen beobachtet
ist, so können wir mit Recht voraussetzen, daß es auch
in den analogen Fällen noch wahr sein wird. Wenn
wir diese Schlußfolgerung ablehnen, so hieße das dem
Zufalle eine unstatthafte Rolle zuerteilen.
Es besteht indessen ein Unterschied. Wenn die Ein-
fachheit wirklich und tiefgehend wäre, so würde sie der
anwachsenden Genauigkeit unserer Meßinstrumente Wider-
stand leisten; wenn wir also glauben, daß die Natur im
jc-^ IV, 9. Hypothesen der Physik.
tiefsten Grunde einfach sei, so müssen wir aus einer an-
genäherten Einfachheit auf eine strenge Einfachheit
schließen. Das hat man früher getan; wir haben nicht
mehr das Recht, so zu handeln.
Die Einfachheit der Kepplerschen Gesetze ist z. B.
nur scheinbar. Das verhindert nicht, daß sie sich fast
auf alle analogen Systeme des Sonnensystems anwenden
lassen, aber es verhindert, daß sie streng genommen ge-
nau sind.
Die Rolle der Hypothese. — Jede Verallgemeine-
rung ist eine Hypothese; der Hypothese kommt also
eine notwendige Rolle zu, welche niemand je bestritten
hat. Allein sie muß immer sobald als möglich und so
oft als möglich der Verifikation unterworfen werden; es
ist selbstverständlich, daß man sie ohne Hintergedanken
aufgeben muß, sobald sie diese Prüfung nicht besteht.
Man macht es tatsächlich so, aber manchmal verdrießt
es uns, so handeln zu müssen.
Diese verdrießliche Stimmung ist nicht gerechtfertigt;
der Physiker, welcher im Begriff ist, auf eine seiner
Hypothesen zu verzichten, sollte im Gegenteil froh sein,
denn er findet eine unverhofi"te Gelegenheit zu einer
Entdeckung. Ich setze natürlich voraus, daß er seine
Hypothese nicht leichtsinnig angenommen hatte, und daß
letztere allen bekannten Faktoren standhielt, welche
möglicherweise auf die beobachtete Erscheinung einen
Einfluß üben konnten. Wenn die Verifikation nicht
möglich ist, so liegt es daran, daß irgend etwas Uner-
wartetes, Außergewöhnliches vorliegt; man muß also Un-
bekanntes und Neues entdecken.
Ist nun die so umgestoßene Hypothese unfruchtbar?
Weit gefehlt, man kann sagen, daß sie mehr Dienste
geleistet hat wie eine richtige Hypothese; sie hat nicht
nur Gelegenheit zu dem entscheidenden Experimente
gegeben, sondern man würde sogar dieses Experiment
Hypothesen verschiedener Art. I ^ ^
zufällig gemacht haben, und keinerlei Schlüsse daraus
gezogen haben, wenn man die Hypothese nicht gemacht
hätte; man würde darin nichts Außerordentliches gesehen
haben, man hätte nur eine Tatsache mehr festgestellt,
ohne daraus die geringsten Folgerungen abzuleiten.
Unter welcher Bedingung ist dann die Benutzung der
Hypothese ohne Schaden?
Der feste Vorsatz, sich dem Experimente unterzu-
ordnen, genügt nicht; es gibt trotzdem gefährliche Hypo-
thesen; das sind vorerst und hauptsächlich diejenigen,
welche stillschweigend und unbewußt gemacht werden.
Weil wir solche Hypothesen benutzen, ohne es zu wissen,
sind wir unfähig, sie aufzugeben. In diesem Falle kann
uns die mathematische Physik einen Dienst erweisen.
Durch die Genauigkeit, welche ihr eigentümlich ist,
zwingt sie uns, alle Hypothesen zu formulieren, welche
wir ohne die Mathematik unbewußt benutzt hätten.
Wir wollen andererseits bemerken, daß es wichtig
ist, die Hypothesen nicht übermäßig zu vervielfältigen und
sie einzeln nacheinander aufzustellen. Wenn wir eine,
auf vielfache Hypothesen gegründete Theorie bilden,
welche unter unsern Prämissen muß dann not^vendiger-
weise geändert werden, wenn das Experiment die Theorie
widerlegt? Das zu wissen ist unmöglich. Und umge-
kehrt, wenn das Experiment gelingt, wird man dann
glauben alle Hypothesen auf einmal verifiziert zu haben?
Wird man glauben, mit einer einzigen Gleichung mehrere
Unbekannte bestimmt zu haben?
Man muß Sorge tragen, unter den verschiedenen
Arten von Hypothesen zu unterscheiden. Es gibt vor-
erst solche, welche ganz natürlich sind, und denen man
sich kaum entziehen kann. Es ist schwer, nicht voraus-
zusetzen, daß der Einfluß sehr entfernter Körper ganz
und gar zu vernachlässigen ist, daß die kleinen Be-
wegungen einem linearen Gesetze gehorchen, daß die
l liA IV, 9. Hypothesen der Physik.
Wirkung eine stetige Funktion ihrer Ursache ist. Das-
selbe gilt von den durch die Symmetrie uns auferlegten
Bedingungen. Alle diese Hypothesen bilden sozusagen
die gemeinsame Grundlage aller Theorien der mathe-
matischen Physik. Sie wären die letzten, die man auf-
geben könnte.
Es gibt eine zweite Kategorie von Hypothesen, welche
ich als indifferente bezeichnen möchte. In den meisten
Fragen setzt der Analytiker im Anfange seiner Berech-
nung entweder voraus, daß die Materie kontinuierlich ist
oder daß sie aus Atomen zusammengesetzt sei. Er
könnte das Umgekehrte tun, und seine Resultate würden
sich deshalb nicht ändern; er würde nur mehr Mühe
haben, sie zu erreichen, das wäre alles. Wenn also das
Experiment seine Schlußfolgerungen bestätigt, wird er
dann z. B. glauben, die wirkliche Existenz der Atome
bewiesen zu haben?
In den optischen Theorien führt man zwei Vektoren
ein, von denen der eine als Geschwindigkeit, der andere
als Wirbel betrachtet wird. Das ist wieder eine indiffe-
rente Hypothese, weil man zu denselben Schlußfolge-
rungen gelangt, wenn man genau das Gegenteil tut. Der
Erfolg des Experimentes kann also nicht beweisen, daß
der erste Vektor wirklich eine Geschwindigkeit ist; er
beweist nur, daß er ein Vektor ist; das ist die einzige
Hypothese, welche man tatsächlich in die Voraussetzungen
eingeführt hat. Um dem Vektor den konkreten An-
schein, den die Schwachheit unseres Verstandes erfordert,
zu geben, muß man ihn betrachten, als wenn er ent-
weder eine Geschwindigkeit oder ein Wirbel wäre; ebenso
wie es notwendig ist, ihn durch einen Buchstaben, ent-
weder durch X oder durch y darzustellen; aber das
Resultat, wie es auch sei, wird nicht beweisen, ob man
Recht oder Unrecht hatte, wenn man ihn als eine Ge-
schwindigkeit ansah; nicht mehr, als es uns beweisen
Mathematisclie Physik. ic^
kann, daß man Recht oder Unrecht hatte, ihn x und
nicht y zu nennen.®^)
Diese indifferenten Hypothesen sind niemals gefähr-
lich, vorausgesetzt, daß man ihren Charakter nicht ver-
kennt. Sie können nützlich sein, sei es als Hilfsmittel
der Rechnung, sei es, um unser Verständnis durch kon-
krete Vorstellungen zu unterstützen, um die Ideen, wie
man sagt, zu fixieren. Es ist also kein Grund vorhanden,
diese Hypothesen zu verwerfen.
Die Hypothesen der dritten Kategorie sind die wirk-
lichen Verallgemeinerungen. Es sind solche, die von
der Erfahrung bestätigt oder entkräftet werden. Verifiziert
oder verworfen, immer werden sie fruchtbringend sein,
aber aus den von mir dargelegten Gründen nur, wenn
man sie nicht zu sehr vervielfältigt.
Ursprung der mathematischen Physik. — Wir
wollen weiter vordringen und die Bedingungen näher
studieren, welche die Entwicklung der mathematischen
Physik erlaubten. Wir erkennen auf den ersten Blick,
daß die Anstrengungen der Gelehrten immer dahin ge-
richtet waren, die von der Erfahrung direkt entnommene
Zusammengesetze Erscheinung in eine sehr große Anzahl
von elementaren Erscheinungen aufzulösen.
Das geschieht auf drei verschiedene Arten: zuerst
in der Zeit. Anstatt die fortschreitende Entwicklung
einer Erscheinung in ihrer Gesamtheit zu umfassen, ver-
sucht man einfach jeden Augenblick mit dem unmittel-
bar vorhergehenden zu verknüpfen; man nimmt an, daß
der gegenwärtige Zustand der Welt nur von der nächsten
Vergangenheit abhängt, ohne sozusagen von der Erinne-
rung an eine weiter entfernte Vergangenheit beeinflußt
zu sein. Vermöge dieses Postulates kann man sich, an-
statt direkt die ganze Folge der Erscheinungen zu
studieren, darauf beschränken, die Differentialgleichung
j c5 IV, 9. Hypothesen der Physik.
der Erscheinung hinzuschreiben: die Kepplerschen Gesetze
ersetzt man durch das Newtonsche Gesetz.
Darauf versucht man die Erscheinung im Räume
zu zerlegen. Die Erfahrung bietet uns eine verworrene
Gesamtheit von Tatsachen dar, die sich auf einem Schau-
platze von gevi^isser Ausdehnung abspielen; man muß
versuchen die elementare Erscheinung auszuschneiden,
welche im Gegensatze dazu auf einen sehr beschränkten
Teil des Raumes lokalisiert sein wird.
Einige Beispiele werden vielleicht meinen Gedanken-
gang verständlicher machen. Wenn man die Verteilung
der Temperatur in einem sich abkühlenden Körper in
ihrer ganzen Zusammengesetztheit studieren will, so würde
das nie gelingen. Alles wird einfach, wenn man über-
legt, daß ein Punkt des festen Körpers nicht direkt an
einen entfernten Körper Wärme abgeben kann; er wird
unmittelbar nur den am nächsten liegenden Punkten
Wärme abgeben, und so wird der Wärmestrom sich von
Punkt zu Punkt fortpflanzen, bis er den anderen Teil
des festen Körpers erreicht. Die Elementarerscheinung
ist der Wärmeaustausch zwischen zwei benachbarten
Punkten; dieser Austausch ist streng lokalisiert und ver-
hältnismäßig einfach, wenn man, wie es ja natürlich ist,
annimmt, daß er nicht durch die Temperatur derjenigen
Moleküle beeinflußt wird, deren Entfernung eine merk-
liche Größe hat. 69)
Ich biege einten Stab; er wird eine sehr komplizierte
Gestalt annehmen, deren direktes Studium unmöglich
wäre; aber ich kann die Schwierigkeiten überwinden
wenn ich beobachtete, daß seine Biegung nur die
Resultante der Deformation kleiner Elemente des Stabes
ist und daß die Deformation jedes dieser Elemente nur
von den Kräften abhängt, welche direkt an denselben
angreifen, und keineswegs von denjenigen Ki'äften, welche
auf die anderen Elemente wirken,'^)
Elementarersclieinungen. I c y
In allen diesen Beispielen, die ich ohne Mühe ver-
mehren kann, nimmt man an, daß es keine Fernwirkung
gibt, wenigstens nicht auf große Entfernung hin. Das
ist eine Hypothese; sie ist nicht immer richtig, das Ge-
setz der Schwerkraft beweist es uns; man muß sie also
der Verifikation unterwerfen; wenn sie auch nur an-
nähernd bestätigt wird, so ist sie wertvoll, denn sie er-
laubt uns, wenigstens mittelst successiver Annäherungen
mathematische Physik zu treiben.
Wenn sie der Prüfung nicht standhält, muß man
sich etwas anderes Analoges suchen, denn es gibt noch
andere Mittel, um zu der Elementarerscheinung zu ge-
langen. Wenn mehrere Körper gleichzeitig zur Wirkung
kommen, kann es vorkommen, daß ihre Wirkungen von-
einander unabhängig sind und sich einfach zueinander
addieren, entweder nach Art der Vektoren oder nach
Art der Scalare."^^) Die Elementarerscheinung ist alsdann
die Wirkung eines isolierten Körpers. Ein anderes mal
hat man mit kleinen Bewegungen, oder allgemeiner ge-
sagt, mit kleinen Änderungen zu tun, welche dem wohl-
bekannten Gesetze der Superposition gehorchen. Die
beobachtete Bewegung wird dann in einfache Bewegungen
zergliedert, z. B. der Ton in seine harmonischen Kom-
ponenten und das weiße Licht in seine einfarbigen Kom-
ponenten.
Durch welche Mittel wird man die Elementarerschei-
nung wirklich auffinden können, wenn man herausge-
funden hat, in welcher Richtung sie wahrscheinlich zu
suchen ist?
Um das Resultat vorauszusehen, oder vielmehr um
so viel vorauszusehen, als für uns nützlich ist, wird es
häufig nicht nötig sein, in den ganzen Mechanismus der
Erscheinung einzudringen; das Gesetz der großen Zahlen
wird genügen. Wir wollen das Beispiel von der Wärme-
leitung wieder aufnehmen; jedes Molekül strahlt gegen
jrrg IV, 9. Hypothesen der Physik.
jedes benachbarte Molekül Wärme aus; nach welchem
Gesetze das erfolgt, brauchen wir nicht zu wissen; wenn
wir irgend etwas in dieser Hinsicht voraussetzen, so
wäre es eine indifferente Hypothese und folglich etwas
Unnützes und Unverifizierbares. Und in der Tat, da
man nur mit durchschnittlichen Mittelwerten rechnet und
da das umgebende Medium symmetrisch vorausgesetzt
wird, gleichen sich alle Verschiedenheiten aus, und
welche Hypothesen man auch gemacht hat, das Resultat
bleibt immer dasselbe.
Derselbe Umstand tritt uns in der Theorie der
Elastizität und in derjenigen der Kapillarität entgegen;
die benachbarten Moleküle ziehen sich an und stoßen
sich ab; wir brauchen nicht zu wissen, nach welchem
Gesetze, es genügt uns, daß diese Anziehung nur auf
kleine Entfernungen hin bemerkbar ist, daß die Moleküle
sehr zahlreich sind, und daß das Medium symmetrisch
sein soll; wir brauchen dann nur das Gesetz der großen
Zahlen walten zu lassen.
Auch hier verbarg sich die Einfachheit der Elementar-
erscheinung unter der Kompliziertheit des zu beobachten-
den Schlußergebnisses; aber diese Einfachheit war ihrer-
seits nur eine scheinbare und verhüllte einen sehr kom-
plizierten Mechanismus.
Das beste Mittel, um zu der Elementarerscheinung
zu gelangen, würde offenbar das Experiment sein. Man
müßte durch experimentelle Kunstgriffe das verworrene
Bündel, das die Natur unserem Forschen darbietet, aus-
einanderlegen und mit Sorgfalt dessen möglichst gereinigte
Elemente studieren; man wird z. B. das weiße natürliche
Licht in einfarbige Lichtstrahlen mit Hülfe des Prismas
zerlegen und in polarisierte Lichtstrahlen mit Hilfe des
Polarisators.
Unglücklicherweise ist das weder immer möglich noch
immer genügend, und es ist notwendig, daß der Verstand
Vorauseilen des Verstandes.
159
manchmal der Erfahrung vorauseilt. Ich will davon
nur ein Beispiel erwähnen, das mich immer lebhaft be-
troffen hat.
Wenn ich das weiße Licht zerlege, so kann ich
einen kleinen Teil des Spektrums isolieren, aber so klein
er auch sei, er wird doch immer eine gewisse Breite be-
wahren. Ebenso geben uns die natürlichen, sogenannten
einfarbigen Lichtstrahlen eine sehr schmale Linie, die
aber doch nicht unendlich schmal ist. Man kann vor-
aussetzen, daß man durch einen Grenzübergang schließ-
lich dahin gelangen wird, die Eigenschaft eines streng
einfarbigen Lichtstrahles zu erkennen, indem man die
Eigenschaften dieser natürlichen Lichtstrahlen experimen-
tell prüft und dabei mit immer schmaleren Streifen des
Spektrums operiert.
Das würde nicht genau sein. Ich setze voraus, daß
zwei Strahlen von derselben Quelle ausgehen, daß man
sie zuerst in zwei zueinander rechtwinkligen Ebenen
polarisiert, daß man sie hierauf auf dieselbe Polarisations-
ebene zurückführt und daß man versucht, sie interferieren
zu lassen. Wenn das Licht streng einfarbig wäre, so
würden sie interferieren; aber mit unseren annähernd
einfarbigen Lichtstrahlen gibt es keine Interferenz, so
schmal der Streifen auch sei. Er müßte, damit es anders
würde, mehrere Millionen mal dünner als die schmälsten
bekannten Streifen sein.
Hier also hätte uns der Übergang zur Grenze ge-
täuscht; der Verstand mußte dem Experimente voraus-
eilen, und er hat dies mit Erfolg getan, weil er sich da-
bei durch das Gefühl für Einfachheit leiten ließ.
Die Kenntnis der Elementarerscheinung gestattet uns,
das Problem in eine Gleichung zu setzen; es bleibt nur
noch übrig, daraus durch Kombination die komplizierte
Tatsache abzuleiten, welche der Beobachtuug und Verifi-
j5o IV, 9. Hypothesen der Physik.
kation zugänglich ist. Das nennt man Integration;
das ist Sache des Mathematikers.
Man möchte fragen, warum die Verallgemeinerung
in der physikalischen Wissenschaft so gerne die mathe-
matische Form annimmt. Die Ursache ist jetzt leicht
erkennbar; es geschieht nicht nur deshalb, weil man
Zahlengesetze ausdrücken muß; es geschieht, weil die
zu beobachtende Erscheinung aus der Superposition
einer großen Anzahl von elementaren Erscheinungen
entstanden ist, welche alle einander ähnlich sind;
so führen sich die Differentialgleichungen ganz natür-
lich ein.
Es genügt nicht, daß jede Elementarerscheinung ein-
fachen Gesetzen gehorcht, es müssen alle diejenigen,
welche man zu kombinieren hat, demselben Gesetze ge-
horchen. Nur dann kann das Eingreifen der Mathe-
matik nützlich sein; die Mathematik lehrt uns in der
Tat, Ähnliches mit Ähnlichem zu kombinieren. Ihr Ziel
ist, das Resultat einer Kombination zu erraten, ohne
diese Kombination Stück für Stück wieder durchzu-
nehmen. Wenn man dieselbe Operation mehrere Male
zu wiederholen hat, erlaubt sie uns diese Wiederholung
zu vermeiden, indem sie uns im voraus das Resultat
durch eine Art Induktion erkennen läßt. Ich habe das
weiter oben in dem Kapitel über die mathematische
Schlußweise erörtert. (Vgl. S. 17).
Zu diesem Zwecke müssen alle diese Operationen
untereinander ähnlich sein; im entgegengesetzten Falle
müßte man sich offenbar damit begnügen, sie wirklich
nacheinander wieder durchzunehmen; dann wäre die
Mathematik überflüssig.
Infolge der angenäherten Homogenität der von den
Physikern studierten Materie konnte also die mathema-
tische Physik entstehen.
In den Naturwissenschaften findet man diese Bedin-
Physikalische Theorien. 1 5 1
giingen: Homogenität, relative Unabhängigkeit von ent-
fernten Teilen, Einfachheit der Elementarerscheinungen
nicht, und darum sind die Vertreter der beschreibenden
Naturwissenschaften genötigt, andere Arten von Verallge-
meinerungen zu Hilfe zu nehmen.
Zehntes Kapitel.
Die Theorien der modernen Physik.
Die Bedeutung der physikalischen Theorien. —
Die Laien sind darüber betroffen, wieviele wissenschaft-
liche Theorien vergänglich sind. Nach einigen Jahren
des Gedeihens sehen sie dieselben nacheinander aufge-
geben, sie sehen, wie sich Trümmer auf Trümmer
häufen; sie sehen voraus, daß die Theorien, die heut-
zutage Mode sind, in kurzer Zeit vergessen werden, und
sie schlußfolgern daraus, daß diese Theorien absolut
eitel sind. Sie nennen das: das Falissement der
Wissenschaft.
Ihr Skeptizismus ist oberflächlich; sie geben sich
keine Rechenschaft von dem Ziele und der zu spielen-
den Rolle der wissenschaftlichen Theorien, sonst ver-
ständen sie, daß die Trümmer vielleicht noch zu irgend
etwas nützen können.
Keine Theorie schien gefestigter wie diejenige Fresnels,
welche das Licht den Ätherschwingungen zuschrieb. Man
zieht ihr jetzt jedoch die Maxwellsche Theorie vor. Soll
damit gesagt sein, daß das Werk Fresnels vergeblich
war? Nein, denn das Ziel Fresnels war nicht, zu er-
forschen, ob es wirklich einen Äther gibt, ob seine Atome
sich wirklich in dem oder jenem Sinne bewegen; sein
Ziel war: die optischen Erscheinungen vorauszusehen.
P o i n c a r e , Wissenschaft und Hypothese. II
j52 I^> ^^' Theorien der modernen Physik.
Das erlaubt die Fresnelsche Theorie heute ebenso
wie vor Maxwell. Die Differentialgleichungen sind immer
richtig; man kann sie durch dasselbe Verfahren inte-
grieren, und die Resultate dieser Integration behalten
stets ihren vollen Wert.
Man erwidere nicht, daß wir auf diese Weise die
physikalischen Theorien zur Rolle einfacher, praktischer
Regeln erniedrigen; die genannten Gleichungen drücken
Beziehungen aus, und sie bleiben richtig, solange diese
Beziehungen der Wirklichkeit entsprechen. Sie lehren
uns vorher wie nachher, daß eine gewisse Beziehung
zwischen irgend einem Etwas und irgend einem anderen
Etwas besteht; nur daß dieses Etwas früher Bewegung
genannt wurde und jetzt elektrischer Strom heißt.
Aber diese Benennungen waren nichts als Bilder, die
wir an die Stelle der wirklichen Objekte gesetzt haben,
und diese wirklichen Objekte wird die Natur uns ewig
verbergen ; die wahren Beziehungen zwischen diesen wirk-
lichen Objekten sind das einzige Tatsächliche, welches
wir erreichen können, und die einzige Bedingung ist,
daß dieselben Beziehungen, welche sich zwischen diesen
Objekten befinden, sich auch zwischen den Bildern be-
finden, welche wir gezwungenermaßen an die Stelle der
Objekte setzen. Wenn diese Beziehungen uns bekannt
sind, so macht es nichts aus, ob wir es für bequemer
halten, ein Bild durch ein anderes zu ersetzen.
Es ist weder sicher noch interessant, ob eine gewisse
periodische Erscheinung (wie z. B. eine elektrische Schwin-
gung) wirklich dem Vibrieren eines gewissen Atomes zu-
zuschreiben ist, das sich wirklich in diesem oder jenem
Sinne wie ein Pendel bewegt. Daß es nun aber zwischen
der elektrischen Schwingung, der Bewegung des Pendels
und allen periodischen Erscheinungen eine enge Ver-
wandtschaft gibt, welche einer tieferen Wirklichkeit ent-
spricht; daß diese Versvandtschaft, diese Ähnlichkeit oder
Dispersion des Lichtes. Gastheorie. I 5 3
vielmehr dieser Parallelismus sich bis ins Kleinste fort-
setzt; daß sie aus allgemeinen Prinzipien, z. B. aus dem
Prinzipe der Energie und aus dem Prinzipe der kleinsten
Wirkung folgt, das können wir behaupten; darin liegt
eine Wahrheit, welche ewig dieselbe bleiben wird, unter
welchem Gewände wir sie auch aus praktischen Gründen
darstellen mögen.
Man hat zahlreiche Theorien der Dispersion vorge-
schlagen; die ersten waren unvollkommen und enthielten
nur einen Bruchteil von Wahrheit. Dann kam die Helm-
holtzsche Theorie; dann hat man sie auf verschiedene
Weise geändert, und ihr Urheber selbst hat eine andere
Theorie erdacht, die auf den Prinzipien von Maxwell
beruht. Aber es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß
alle Gelehrten, die nach Helmholtz kamen, zu denselben
Gleichungen gelangt sind, obgleich sie von scheinbar
ganz verschiedenen Gesichtspunkten ausgingen. Ich
möchte sagen, daß diese Theorien alle zugleich wahr
sind, nicht nur, weil sie uns dieselben Erscheinungen
voraussehen lassen, sondern weil sie eine wirkliche Be-
ziehung klarmachen, nämlich diejenige der Absorption
und der anomalen Dispersion. Was in den Prämissen
dieser Theorien richtig ist, das ist allen Autoren gemein-
sam; es ist die Bestätigung dieser oder jener Beziehung
zwischen gewissen Dingen, welche von den einen mit
dem, von den anderen mit jenem Namen bezeichnet
werden. '^^)
Die kinetische Theorie der Gase hat zu manchen
Einwürfen Anlaß gegeben, auf die man leicht antworten
könnte, wenn man die Absicht hätte, sie als absolut
richtig zu betrachten. Aber alle diese Einwürfe ver-
hindern nicht, daß die Theorie nützlich gewesen ist, und
zwar besonders dadurch, daß sie uns eine wahre und
ohne sie tief verborgene Beziehung offenbart: nämlich
die Beziehung des osmotischen Druckes zu dem von
II*
löd ^^' ^^' Theorien der modernen Physik.
Gasen ausgeübten Drucke. In diesem Sinne kann man
sagen, daß die Theorie richtig ist.'^^)
Wenn ein Physiker einen Widerspruch zwischen zwei
Theorien feststellt, welche ihm gleich lieb sind, so sagt
er oft: Wir wollen uns darüber nicht weiter beunruhigen;
wir wollen jedoch die beiden Enden der Kette fest-
halten, wenn auch die Zwischenglieder dieser Kette uns
verborgen sind. Dieses Argument eines in die Enge
getriebenen Theologen wäre lächerlich, wenn man den
physikalischen Theorien den Sinn beilegen müßte, welchen
die Laien ihnen zu geben pflegen. Im Falle des Wider-
spruchs müßte wenigstens eine von ihnen als falsch an-
gesehen werden. Anders ist es, wenn man in den
Theorien nur das sucht, was man suchen soll. Es kann
geschehen, daß die Theorien eine oder die andere Be-
ziehung richtig wiedergeben, und daß ein Widerspruch
nur in den Bildern liegt, deren wir uns an Stelle der
wirklichen Objekte bedient haben.
Sollte jemand meinen, daß wir das dem Gelehrten
zugängliche Gebiet allzusehr beschränken, so würde ich
ihm antworten: Diese Fragen, deren Behandlung wir
Ihnen verweigern und die Sie bei uns vermissen, sind
nicht nur unlösbar, sondern sogar gänzlich illusorisch und
haben keinen Sinn.
Mancher Philosoph behauptet, daß die ganze Physik
auf den gegenseitigen Stößen der Atome beruht. Wenn
er damit einfach sagen will, daß zwischen den physikali-
schen Erscheinungen dieselben Beziehungen herrschen
wie zwischen den gegenseitigen Stößen einer großen An-
zahl von Kugeln, so ist es gut; das kann man prüfen,
das ist vielleicht sogar richtig. Aber er will mehr sagen;
und wir glauben ihn zu verstehen, weil wir zu wissen
glauben, was der Stoß eigentlich ist; warum? Ganz
einfach, weil wir oft dem Billardspiele zugesehen haben.
Glauben wir deshalb, daß Gott, wenn er sein Werk be-
Neubelebung aufgegebener Theorien. 165
trachtet, dieselbe Empfindung hat wie wir, wenn wir
einem Wettspiele auf dem Billard zusehen? Wenn wir
der Behauptung jenes Philosophen nicht diesen bizarren
Sinn unterlegen wollen, wenn wir uns noch weniger mit
dem begrenzten Sinne begnügen wollen, den ich soeben
dargelegt habe, und der allein richtig ist, so hat jene
Behauptung gar keinen Sinn.
Die Hypothesen dieser Art haben nur einen meta-
phorischen Sinn. Der Forscher kann solche Metaphern
ebensowenig vermeiden wie der Dichter, aber er muß
wissen, was sie bedeuten. Sie können nützen durch die
Befriedigung, die sie dem Verstände gewähren, und sie
werden nicht schaden, vorausgesetzt, daß es sich nur
um indifferente Hypothesen handelt (vgl, S. 154).
Diese Betrachtungen geben uns die Erklärung dafür,
warum gewisse Theorien, welche man für aufgegeben
und definitiv durch die Erfahrung widerlegt hielt, plötz-
lich aus ihrer Asche wieder auferstehen und ein neues
Leben beginnen. Sie brachten eben wirkliche Beziehun-
gen zum Ausdrucke und sie hörten nicht auf, solche
auszudrücken, wenn wir auch aus diesem oder jenem
Grunde glaubten, dieselben Beziehungen in einer ande-
ren Sprache zum Ausdrucke bringen zu müssen. Sie be-
wahrten so eine Art latenten Lebens.
Noch sind es kaum fünfzehn Jahre her, da gab es
nichts Lächerlicheres und es galt nichts für einfältiger
und für so veraltet wie die Fluida von Coulomb. Und
doch sind sie unter dem Namen Elektronen wieder
auf der Bildfläche erschienen. Wodurch unterscheiden
sich nun dauernd diese elektrisierten Moleküle von den
elektrischen Molekülen Coulombs? Zwar wird jetzt bei
den Elektronen etwas, wenn auch sehr wenig Materie
als Träger der Elektrizität angenommen, mit anderen
Worten: die Elektronen haben Masse; aber Coulomb
dachte seine Fluida auch nicht ohne Masse, oder, wenn
j 5^ IV, 10. Theorien der modernen Physik.
er es tat, so geschah es nur mit Bedauern. Es wäre
anmaßend, wenn man behaupten wollte, daß der Glaube
an die Elektronen nicht noch einmal verdunkelt werde,
deshalb war es nicht weniger bemerkenswert, diese un-
verhoffte Wiedergeburt festzustellen.'^*)
Das schlagendste Beispiel ist jedoch das Carnotsche
Prinzip. Carnot ist bei seiner Begründung von falschen
Hypothesen ausgegangen; als man bemerkte, daß die
Wärme nicht unzerstörbar ist, sondern sich in Arbeit
umsetzen läßt, gab man die Ideen Carnots völlig auf;
da tritt Clausius dafür ein und läßt sie endgültig trium-
phieren. Die Carnotsche Theorie brachte in ihrer ur-
sprünglichen Form neben wirklichen Beziehungen andere
ungenaue Beziehungen zum Ausdrucke, die als Trümmer
veralteter Ideen zu betrachten sind; aber das Vorhanden-
sein dieser letzteren beeinflußt nicht die Wirklichkeit
der anderen. Clausius brauchte sie nur zu entfernen, so
wie man verdorbene Äste abschneidet."^^)
Das Resultat war das zweite Fundamentalgesetz der
Thermodynamik. Es handelte sich immer um dieselben
Beziehungen; obgleich diese Beziehungen nicht zwischen
denselben Objekten stattfanden, wenigstens scheinbar
nicht. Das genügte, um die Gültigkeit des Prinzips zu
sichern. Selbst die Entwicklungen Carnots sind deshalb
nicht untergegangen, man wandte sie auf Materien an,
die damals noch ganz falsch verstanden wurden; aber
ihre Form (d. h. das Wesentliche) blieb korrekt.
Was ich soeben gesagt habe, erklärt zu gleicher Zeit
die Rolle der allgemeinen Prinzipien, wie des Prinzips
der kleinsten Wirkung oder des Prinzips von der Erhal-
tung der Energie.
Diese Prinzipe sind von sehr hohem Werte; man
fand sie, während man danach forschte, was es Gemein-
sames in der Darlegung zahlreicher physikalischer Ge-
Grenzen des Energie-Prinzips. 167
setze gibt; sie stellen also gleichsam die Quintessenz un-
zähliger Beobachtungen dar.
Gleichwohl stammt aus ihrer Verallgemeinerung eine
Folgerung, auf welche ich die Aufmerksamkeit im achten
Kapitel lenkte: sie können nicht verifiziert werden. Da
wir eine allgemeine Definition der Energie nicht geben
können, so hat das Prinzip von der Erhaltung der
Energie einfach die Bedeutung, daß es irgend ein
Etwas gibt, das konstant bleibt. Also gut; wie nun
auch die neuen Begriffe über das Weltall sein mögen,
welche uns die zukünftigen Experimente geben werden,
eines ist uns im voraus sicher: es wird ein Etwas geben,
das konstant bleibt und das wir Energie nennen (S. 134).
Soll das heißen, daß das Prinzip keinen Sinn hat
und daß es sich zu einer Tautologie abschwächt? Keines-
wegs; es bedeutet, daß die verschiedenen Dinge, denen
wir den Namen Energie beilegen, durch eine wirkliche
Verwandtschaft verbunden sind; es besagt, daß unter
ihnen eine tatsächliche Beziehung besteht. Wenn nun
aber das Prinzip einen Sinn hat, so könnte es ein
falscher Sinn sein; möglicherweise hat man nicht das
Recht, seine Anwendung unbegrenzt auszudehnen, und
dennoch steht von vornherein fest, daß man es (streng
im obigen Sinne genommen) verifizieren kann; wie er-
fahren wir, wann es die volle Ausdehnung erlangt hat,
welche man ihm berechtigterweise zuerteilt? Dieser
Zeitpunkt tritt ein, wenn das Prinzip aufhört, uns nütz-
lich zu sein, d. h. wenn es aufhört, uns neue Erscheinun-
gen voraussehen zu lassen, ohne uns zu täuschen. In
einem solchen Falle sind wir sicher, daß die behauptete
Beziehung nicht mehr der Wirklichkeit entspricht; denn
anderenfalls würde das Prinzip sich als fruchtbringend
erwiesen haben. Das Experiment läßt uns eine neue
Ausdehnung des Prinzips verwerfen, obgleich es einer
solchen nicht direkt entgegen ist.
l68 rV> ^^' Theorien der modernen Physik.
Die Physik und der Mechanismus. — Die meisten
Theoretiker haben für die der Mechanik oder der
Dynamik entnommenen Erklärungen eine andauernde
Vorliebe. Die einen sind befriedigt, wenn sie sich von
allen Erscheinungen durch die Bewegungen der Mole-
küle, die sich gegenseitig nach bestimmten Gesetzen an-
ziehen, Rechenschaft geben können. Die anderen ver-
langen mehr; sie wollen die in der Entfernung wirken-
den Anziehungskräfte beseitigen; ihre Moleküle sollen
geradlinige Bahnen verfolgen und nur durch Stöße von
denselben abgelenkt werden können. Noch andere, wie
z. B. Hertz, beseitigen auch die Kräfte, setzen jedoch
an deren Stelle ihre Moleküle, die in ähnlicher Weise
geometrisch miteinander verbunden sind, wie wir Stäbe
durch Gelenke verbinden; sie wollen somit die Dynamik
auf eine Art von Kinematik zurückführen.'^^)
Kurz gesagt: Alle wollen die Natur in eine gewisse
Form einzwängen, und ohne diese Form würde ihr Ver-
stand nicht befriedigt sein. Wird die Natur für diesen
Zweck hinreichend gefügig sein?
Wir wollen die Frage im zwölften Kapitel bei Ge-
legenheit der Maxwellschen Theorie prüfen. Immer,
wenn das Prinzip der Energie und das Prinzip der
kleinsten Wirkung befriedigt ist, so ist nicht nur eine
mechanische Erklärung möglich, wie wir sehen werden,
sondern immer eine unendliche Anzahl solcher Erklärun-
gen. Vermöge eines wohlbekannten Lehrsatzes von
Königs über die Gelenksysteme ist man im stände zu be-
weisen, daß man auf unendlich viele verschiedene Arten
alles nach dem Vorgange von Hertz durch starre Ver-
bindungen erklären kann, oder auch durch zentral
wirkende Kräfte. Man könnte ohne Zweifel ebenso
leicht beweisen, daß alles sich durch einfache Stöße er-
klären läßt.'^)
Dazu braucht man sich, wohlverstanden, nicht mit der
Materie und Äther. 1 5 o
gewöhnlichen Materie zu begnügen, mit derjenigen, die
auf unsere Sinne wirkt und deren Bewegungen wir direkt
beobachten können. Entweder wird man voraussetzen,
daß diese gewöhnliche Materie aus Atomen gebildet ist,
deren innerliche Bewegungen uns entgehen, während
nur die Ortsveränderung der Gesamtheit unseren Sinnen
zugänglich ist; oder man erdenkt irgend eines dieser
empfindlichen Fluida, welche unter dem Namen Äther
oder unter anderen Namen von jeher eine so große
Rolle in den physikalischen Theorien gespielt haben.
Oft geht man noch weiter und betrachtet den Äther
als die einzige, ursprüngliche Materie oder sogar als die
einzige wirkliche Materie. Diejenigen, welche gemäßigter
denken, betrachten die gewöhnliche Materie als kon-
densierten Äther, was nichts Befremdliches an sich hat;
andere setzen die Bedeutung der gewöhnlichen Materie
noch mehr herab und sehen darin nur den geometrischen
Ort für die Singularitäten des Äthers. So ist z. B. nach
Lord Kelvin das, was wir Materie nennen, nur der
Ort der Punkte, in welchem der Äther durch wirbel--
artige Bewegungen erregt ist; nach Riemann ist es der
Ort der Punkte, in welchem beständig Äther vernichtet
wird. Nach anderen, neueren Autoren, z. B. Wiechert
und Larmor, ist es der Ort der Punkte, in dem der
Äther eine Art Torsion von einer ganz besonderen Be-
schaffenheit unterworfen ist.^^) Wenn man sich einen
dieser Gesichtspunkte aneignen will, so frage ich mich:
Mit welchem Rechte dehnt man auf den Äther unter
dem Vorwand, daß dies die wahre Materie sei, die
mechanischen Eigenschaften aus, welche nur an der ge-
wöhnlichen Materie, die doch nur die falsche ist, be-
obachtet sind?
Die alten Fluida, wie Wärmestoff, Elektrizität u. s. w.
wurden aufgegeben, als man bemerkte, daß die Wärme
nicht unzerstörbar ist. Aber sie wurden auch aus ande-
170
IV, lO. Theorien der modernen Physik.
rem Grunde aufgegeben. Indem man sie materialisierte,
hob man sozusagen ihre Individualität hervor, und man
trennte sie voneinander durch tiefe Abgründe. Man
mußte sich dazu bequemen, diese Abgründe wieder aus-
zufüllen, nachdem man ein lebhaftes Gefühl für die Ein-
heit in der Natur gewonnen hatte, und nachdem man
die innigen Verwandtschaften bemerkt hatte, welche alle
ihre Teile miteinander verbinden. Indem die alten
Physiker die Zahl der Fluida vermehrten, schufen sie
nicht nur Wesen ohne Daseinsberechtigung, sondern zer-
störten auch wirkliche Verwandtschaftsbande.
Es genügt nicht, daß eine Theorie keine falschen
Beziehungen behauptet, sie darf auch wirkliche Beziehun-
gen nicht verdecken.
Und existiert unser Äther nun wirklich? Man weiß
nicht, woher der Glaube an den Äther stammt. Wenn
das Licht eines entfernten Sternes während mehrerer
Jahre zu uns gelangt, so ist es nicht mehr auf dem
Sterne und noch nicht auf der Erde, es muß also dann
irgendwo sein und sozusagen an irgend einem materiellen
Träger haften.
Man kann denselben Gedanken in einer mehr mathe-
matischen und mehr abstrakten Form darstellen. Was
wir feststellen, sind durch materielle Moleküle erlittene
Veränderungen; wir bemerken z. B., daß unsere photo-
graphische Platte sich unter dem Einflüsse von Er-
scheinungen verändert, deren Schauplatz mehrere Jahre
vorher die weißglühende Masse eines Sternes war. Nun
hängt aber in der gewöhnlichen Mechanik der Zustand
des studierten Systemes nur von seinem Zustande in
einem unmittelbar vorhergehenden Zeitpunkte ab; das
System genügt also gewissen Differentialgleichungen.
Wenn wir an den Äther nicht glauben, so würde im
Gegenteil der materielle Zustand des Weltalls nicht nur
von dem unmittelbar vorheri^ehenden Zustande abhängen.
Notwendigkeit des Äthers. 1 7 1
sondern von viel älteren Zuständen; das System würde
Gleichungen zwischen endlichen Differenzen genügen.
Um dieser Beeinträchtigung der allgemeinen Gesetze
der Mechanik zu entgehen, haben wir den Äther er-
funden.
Das würde uns nur dazu nötigen, den leeren Raum
zwischen den Planeten mit Äther auszufüllen, aber nicht
den Äther bis in das Innere der materiellen Medien
selbst dringen zu lassen. Das Experiment von Fizeau
geht weiter. Durch die Interferenz von Strahlen, welche
bewegte Luft oder bewegtes Wasser durchlaufen hatten,
scheint dies Experiment uns zwei verschiedene Medien
zu zeigen, welche sich gegenseitig durchdringen und
dennoch in Bezug aufeinander relative Ortsveränderungen
erleiden. Man glaubt den Äther gleichsam mit dem
Finger zu berühren. "^^j
Man kann jedoch Experimente ausdenken, welche
uns dem Äther noch näher kommen lassen. Wir setzen
voraus, daß das Newtonsche Prinzip der Gleichheit von
Wirkung und Gegenwirkung nicht mehr richtig sei, wenn
man es allein auf die Materie anwendet, und daß man
dies festgestellt habe. Die geometrische Summe aller
Kräfte, die an alle materiellen Moleküle angreifen, wird
dann nicht mehr gleich Null sein. Man muß also, wenn
man nicht die ganze Mechanik ändern will, den Äther
einführen, damit diese Wirkung, welche die Materie zu
erleiden scheint, durch die Gegenwirkung der Materie
auf irgend etwas wieder ausgeglichen wird.
Oder besser, ich setze voraus, man habe erkannt,
daß die optischen und elektrischen Erscheinungen durch
die Bewegung der Erde beeinflußt werden. Man wäre
zu dem Schlüsse geführt worden, daß diese Erscheinun-
gen uns nicht nur die relativen Bewegungen der mate-
riellen Körper offenbaren können, sondern auch solche
Bewegungen, die uns als absolute erscheinen. Es ist
1-7 2 IV, 10. Theorien der modernen Physik.
notwendig, daß es einen Äther gibt, damit diese soge-
nannten absoluten Bewegungen nicht in Ortsverände-
rungen in Bezug auf einen leeren Raum bestehen, son-
dern in Ortsveränderungen in Bezug zu irgend einem
konkreten Objekte.
Wird man jemals dahin kommen? Ich habe diese
Hoffnung nicht, ich werde sofort sagen warum, und doch
ist diese Hoffnung nicht ganz ausgeschlossen, wenigstens
haben andere sie gehabt.
Wenn z. B. die Lorentzsche Theorie, von der ich
weiterhin im dreizehnten Kapitel sprechen werde, richtig
wäre, so würde das Newtonsche Prinzip auf die Materie
allein nicht anwendbar sein, und der dadurch bedingte
Unterschied würde wahrscheinlich der experimentellen
Prüfung zugänglich sein.
Andererseits hat man Untersuchungen über den Ein-
fluß der Erdbewegung gemacht. Die Resultate sind
immer negative gewesen. Aber wenn man diese Experi-
mente unternommen hat, geschah es, weil man über den
Ausgang nicht sicher war, und weil selbst nach den
herrschenden Theorien die Ausgleichung nur eine ange-
näherte war; und man durfte erwarten, daß wirklich
genaue Methoden positive Resultate ergeben.^^)
Ich halte eine solche Hoffnung für illusorisch; eben-
so seltsam würde es sein, wenn man beweisen wollte,
daß ein derartiger Erfolg uns irgendwie eine neue Welt
erschließen würde.
Und jetzt möge man mir eine Abschweifung gestatten;
ich muß in der Tat erklären, warum ich trotz der
Lorentzschen Theorie nicht glaube, daß genauere Be-
obachtungen jemals etwas anderes klar beweisen können
als die relativen Ortsveränderungen materieller Körper.
Man hat Experimente gemacht, welche uns die Glieder
erster Ordnung hätten offenbaren sollen; die Resultate
waren negative; sollte das Zufall sein? Niemand hat
Richtung des wissenschaftlichen Fortschrittes. 17^
das angenommen; man hat eine allgemeine Erklärung
versucht, und Lorentz hat sie gefunden; er bewies, daß
die Glieder erster Ordnung sich zerstören müßten, aber
das Gleiche ist nicht mit den Gliedern zweiter Ordnung
der Fall. Darauf hat man genauere Experimente ge-
macht; auch sie waren negativ; das konnte noch weniger
Zufall sein; man brauchte eine Erklärung dafür; man
fand sie; man findet eine solcher immer; an Hypothesen
ist niemals Mangel.
Aber das ist nicht genug; wer empfindet nicht, daß
man auf diese Weise dem Zufalle eine zu große Rolle
überläßt? Sollte der Zufall auch dieses sonderbare Zu-
sammentreffen herbeiführen, welches bewerkstelligt, daß
ein gewisser Umstand gerade zu rechter Zeit die Glieder
erster Ordnung zerstört und daß ein anderer, völlig ver-
schiedener, aber ebenso glücklicher Umstand es auf sich
nimmt, die Glieder zweiter Ordnung zu zerstören? Nein,
man muß für die einen wie für die anderen dieselbe
Erklärung finden, und dann drängt uns alles darauf hin
zu erwägen, daß diese Erklärung gleicherweise für die
Glieder höherer Ordnung gelten würde und daß die
gegenseitige Zerstörung dieser Glieder eine strenge und
absolute ist.
Der gegenwärtige Zustand der Wissenschaft. —
In der Geschichte der Entwicklung der Physik unter-
scheidet man zwei entgegengesetze Tendenzen. Einer-
seits entdeckt man in jedem Augenblicke neue Verbin-
dungen zwischen den Objekten, welche scheinbar immer
getrennt bleiben sollten; die zerstreuten Tatsachen hören
auf, einander fremd zu sein; sie ordnen sich immer
mehr zu einem gewaltigen Gebäude. Die Wissenschaft
strebt nach Einheit und Einfachheit und schreitet in
dieser Richtung vorwärts.
Andererseits offenbart uns die Beobachtung täglich
neue Erscheinungen; diese müssen lange auf einen Platz
IjA IV, 10. Theorien der modernen Physik.
im Gebäude warten, und manchmal muß man eine Ecke
niederreißen, um ihnen Platz zu machen. Sogar in den
bekannten Erscheinungen, bei denen uns unsere groben
Sinneswerkzeuge die Gleichartigkeit zeigten, bemerken
wir Einzelheiten, die von Tag zu Tag mannigfaltiger
werden; was wir für einfach hielten, wird wieder kom-
pliziert, und die Wissenschaft strebt scheinbar nach Mannig-
faltigkeit und Kompliziertheit.
Welche von diesen beiden entgegengesetzten Ten-
denzen, die abwechselnd zu triumphieren scheinen, wird
den Sieg davontragen? Wenn die erste siegt, ist die
Wissenschaft möglich; aber nichts gibt uns davon a priori
einen Beweis, und man kann fürchten, daß wir uns ver-
geblich bemüht haben, der Natur wider ihren Willen
unser Einheitsideal aufzuzwängen , daß wir durch die
steigende Flut unserer neuen Reichtümer überwältigt
werden, daß wir deshalb darauf verzichten müssen, diese
neuen Erscheinungen in unser System einzuordnen, viel-
mehr unser Ideal aufgeben und so die Wissenschaft auf
die Registrierung von unzähligen Einzelerträgnissen re-
duzieren.
Auf diese Frage können wir keine Antwort geben.
Alles was wir tun können, ist, die Wissenschaft von heute
zu beobachten und sie mit der Wissenschaft von gestern
zu vergleichen. Aus dieser Prüfung können wir zweifels-
ohne einige Ermunterung entnehmen.
Vor einem halben Jahrhundert hegte man große Hoff-
nungen. Die Entdeckung der Erhaltung der Energie
und ihrer Verwandlungen hatte uns die Einheit der
Kraft offenbart. Sie zeigte uns, daß die Erscheinungen
der Wärme sich durch molekulare Bewegungen erklären
ließen. Welches die Natur dieser Bewegungen war,
wußte man nicht genau, aber man zweifelte nicht daran,
daß man es bald wissen würde. Für das Licht schien
der Versuch völlig gelungen. Was die Elektrizität be-
Licht, Elektrizität, Magnetismus. I y c
traf, so war man weniger vorgeschritten. Die Elektrizität
zeigte den engsten Zusammenhang mit dem Magnetismus.
Das war ein bedeutender Schritt vorwärts der Einheit
zu, und ein entscheidender Schritt. Aber wie sollte die
Elektrizität ihrerseits in die allgemeine Einheit eintreten,
wie sollte sie sich in den universellen Mechanismus ein-
fügen? Davon hatte man keine Idee. Die Möglichkeit
dieser Reduktion wurde indessen von niemandem an-
gezweifelt, man hatte eben den Glauben an die Sache.
Was schließlich die molekularen Eigenschaften materieller
Körper angeht, so schien da die Reduktion einfacher
zu sein, aber alle Einzelheiten blieben sozusagen im
Nebel. Mit einem Worte: die Hoffnungen gingen weit,
sie waren lebhaft, aber sie waren unbestimmt.
Was sehen wir nun heute?
Vor allem einen ersten Fortschritt, einen ungeheueren
Fortschritt. Die Beziehungen zwischen Elektrizität und
Licht sind jetzt bekannt; die drei Gebiete: Licht, Elek-
trizität und Magnetismus, die früher getrennt waren,
bilden jetzt ein Ganzes ; und dieser Zusammenhang scheint
endgültig fest zu stehen.
Diese Eroberung hat uns jedoch einige Opfer ge-
kostet. Die optischen Erscheinungen ordnen sich als
besondere Fälle unter die elektrischen Erscheinungen
ein; solange sie isoliert blieben, war es leicht, sie
durch Bewegungen zu erklären, welche man in allen
Einzelheiten zu erkennen glaubte, das ging ganz von
selbst; aber eine Erklärung muß, um annehmbar zu sein,
sich ohne Mühe auf das ganze elektrische Gebiet aus-
dehnen lassen. Das geht jedoch nicht ohne Hindernisse.
Das Befriedigendste ist die Lorentzsche Theorie; sie
ist ohne Widerspruch diejenige, welche am besten von
den bekannten Tatsachen Rechenschaft gibt, sie ist die-
jenige, welche die größeste Anzahl wirklicher Beziehungen
zu Tage fördert, von ihr wird man bei der definitiven
Ij^) IV, 10. Theorien der modernen Physik.
Konstruktion des Gebäudes am meisten beibehalten.
Nichtsdestoweniger besitzt sie einen ersten Fehler, den
ich weiter oben andeutete: sie ist im Widerspruche mit
dem Newtonschen Prinzipe von der Gleichheit der Wir-
kung und Gegenwirkung; oder vielmehr dieses Prinzip
wäre nach der Ansicht von Lorentz auf die Materie
allein nicht anwendbar; damit das Prinzip wahr würde,
müßte man von den durch den Äther auf die Materie
ausgeübten Wirkungen Rechenschaft geben und ebenso
von der Gegenwirkung der Materie auf den Äther (vgl.
S. 172). Jedoch bis auf weiteres können wir annehmen,
daß sich die Dinge nicht so abspielen werden.
Wie dem auch sei, vermöge der Lorentzschen Theorie
finden sich die Resultate Fizeaus über die Optik der
bewegten Körper, die Gesetze der normalen und ano-
malen Dispersion und Absorption untereinander und mit
den anderen Eigenschaften des Äthers durch Bande ver-
knüpft, welche ohne Zweifel nicht mehr zerreißen werden.
Wir bemerken die Leichtigkeit, mit welcher das neue
Zeemansche Phänomen seinen Platz bereit fand und sogar
half, die magnetische Rotation von Faraday dem Systeme
einzuordnen, welche sich den Anstrengungen Maxwells
gegenüber rebellisch verhalten hatte; diese Leichtigkeit
beweist zur Genüge, daß die Lorentzsche Theorie kein
künstlicher, zur Auflösung bestimmter Bau ist. Man
muß sie vermutlich modifizieren, aber man braucht sie
nicht zu zerstören. ^^)
Lorentz kannte keinen anderen Ehrgeiz, als durch
seine Theorie die ganze Optik und die ganze Elektro-
dynamik der bewegten Körper gleichzeitig zu umfassen;
er hatte nicht die Absicht, eine mechanische Erklärung
dieser Erscheinungen abzugeben. Larmor ging weiter;
indem er die Lorentzsche Theorie im wesentlichen bei-
behielt, impfte er ihr sozusagen die Ideen Mac-Cullaghs
über die Richtung der Ätherbewegungen ein. Für ihn
Mechanische Erklärungen. I y 7
hatte die Geschwindigkeit des Äthers dieselbe Richtung
und dieselbe Größe wie die magnetische Kraft. So
scharfsinnig dieser Versuch auch war, so besteht der
Fehler der Lorentzschen Theorie dennoch fort und wird
immer schwerwiegender. Nach Lorentz wußten wir nicht,
welcher Art die Ätherbewegungen sind; dank dieser
Unwissenheit konnten wir die Bewegungen als solche
voraussetzen, welche die Bewegung der Materie aus-
gleichen und dadurch die Gleichheit zwischen Wirkung
und Gegenwirkung wiederherstellen. Nach Larmor
kennen wir die Ätherbewegungen, und wir können fest-
stellen, daß die Ausgleichung unmöglich ist.^^)
Soll das heißen, daß eine mechanische Erklärung
unmöglich ist, w^enn Larmors Bemühungen meines Er-
achtens nach gescheitert sind? Weit gefehlt, ich sagte
weiter oben, daß eine Erscheinung, welche den beiden
Prinzipien der Energie und der kleinsten Wirkung ge-
horcht, eine unendliche Anzahl von mechanischen Er-
klärungen gestattet (S. 168); ebenso ist es mit den opti-
schen und elektrischen Erscheinungen.
Das genügt jedoch nicht: damit eine mechanische
Erklärung gut sei, muß sie einfach sein; man muß, um
sie unter allen Erklärungen, die möglich sind, auszu-
wählen, andere Gründe haben als die Notwendigkeit,
eine Wahl zu treffen. Gut, aber eine Theorie, die in
dieser Hinsicht befriedigt und folglich zu irgend etwas
dienen könnte, haben wir noch nicht. Sollen wir uns
darüber beklagen? Das hieße das vorgesteckte Ziel ver-
gessen; nicht der Mechanismus ist das wahre, einzige
Ziel, die Einheit ist es.
Wir müssen also unseren Ehrgeiz einschränken; wir
wollen nicht versuchen, eine mechanische Erklärung zu
formulieren; wir wollen uns damit begnügen zu beweisen,
daß wir eine solche stets finden können, sobald wir nur
wollen. In diesem Punkte haben wir Erfolg gehabt; das
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. 12
I^S ' rVj i^* Theorien der modernen Physik. .
Prinzip von der Erhaltung der Energie ist immer von
neuem bestätigt worden; ein zweites Prinzip ist dazu
gekommen, nämlich das der kleinsten Wirkung, wenn
man es in die für die Physik brauchbare Form bringt.
Auch dieses hat alle Proben bestanden, wenigstens in-
soweit die umkehrbaren Erscheinungen in Betracht kom-
men, welche den Gleichungen von Lagrange, d. h. den
allgemeinsten Gesetzen der Mechanik folgen.
Die nicht umkehrbaren Erscheinungen sind viel re-
bellischer. Auch sie lassen sich in bestimmter Weise
ordnen und streben sozusagen der Einheit zu ; das Licht,
welches uns über sie aufgeklärt hat, kam uns aus dem
Carnotschen Prinzipe. Lange Zeit beschränkte sich die
Thermodynamik auf das Studium der Ausdehnung der
Körper und ihrer Zustandsänderungen. Seit einiger Zeit
ist sie kühner geworden und hat ihr Gebiet beträchtlich
erweitert. Wir verdanken ihr die Theorie der galvani-
schen Säule und diejenige der thermoelektrischen Er-
scheinungen; es gibt in der ganzen Physik keinen Winkel,
den sie nicht aufgeklärt hätte, und sie wagt sich sogar
an die Chemie. Überall herrschen dieselben Gesetze;
überall findet man unter der Mannigfaltigkeit der Er-
scheinungen das Carnotsche Prinzip; überall findet man
auch diesen so völlig abstrakten Begriff der Entropie,
welche ebenso allumfassend ist wie der Begriff der
Energie und gleich wie sie etwas wirklich Vorhandenes
zu verdecken scheint.^^) Die strahlende Wärme schien
dem Carnotschen Prinzipe entgehen zu wollen, man sah
aber neuerdings, daß sie sich denselben Gesetzen fügte.
Dadurch sind uns neue Analogien erschlossen, welche
sich oft bis ins Kleinste verfolgen lassen; der Ohmsche
Widerstand gleicht der Zähigkeit der Flüssigkeiten; die
Hysterisis würde mehr der Reibung fester Körper gleichen.
Auf alle Fälle scheint die Reibung einen Typus darzu-
stellen, auf den sich die verschiedensten nicht umkehr-
Nicht umkehrbare Prozesse. I'7q
baren Erscheinungen beziehen lassen, und diese Ver-
wandtschaft ist wirklich und tiefgehend.
Man hat auch eine eigentlich mechanische Erklärung
für diese Erscheinungen gesucht, obgleich sich dieselben
dafür nicht zu eignen scheinen. Um die mechanische
Erklärung aufzufinden, mußte man voraussetzen, daß die
Nichtumkehrbarkeit nur scheinbar ist, daß nämlich die
Elementarerscheinungen umkehrbar sind und den be-
kannten Gesetzen der Dynamik gehorchen. Aber die
Elemente sind außerordentlich zahlreich und vermischen
sich mehr und mehr miteinander, und zwar derart, daß
für unsere blöden Augen sich jeder Unterschied zu ver-
wischen scheint, d. h. daß alles scheinbar in gleichem
Sinne vorwärts geht, ohne Hoffnung auf Umkehr. Die
scheinbare Nichtumkehrbarkeit ist also nur ein Eifekt des
Gesetzes der großen Zahlen. Nur ein Wesen, dessen
Sinne unendlich feinfühlig wären, (wie der imaginäre Dämon
Maxwells) könnte dieses unentwirrbare Knäuel in seine
Bestandteile auflösen und das Weltsystem zur Umkehr
veranlassen.
Diese Auffassung, welche sich an die kinetische
Theorie der Gase anschließt, hat große Anstrengungen
gekostet und hat sich im ganzen als wenig fruchtbar er-
wiesen; aber sie kann es werden. Hier ist nicht der
Ort, zu prüfen, ob sie nicht zu Widersprüchen führt
und ob sie mit der wahren Natur der Dinsfe verträs:-
lieh ist.
Wir wollen die Aufmerksamkeit auf die originellen
Ideen von Gouy über die Brownsche Bewegung lenken.
Nach diesem Gelehrten würde diese seltsame Bewegung
dem Carnotschen Prinzipe entschlüpfen, die Teilchen,
welche er in Bewegung setzt, wären bedeutend kleiner
als die Knoten in dem erwähnten verworrenen Knäuel;
die Teilchen würden also fähig sein, diese Knoten zu
entwirren und dadurch das Weltsystem zur Umkehr auf
12*
l8o ^^> ^^' Theorien der modernen Physik.
seinen Bahnen und in seinen Zuständen zu veranlassen.
Man möchte glauben, den Maxwellschen Dämon bei der
Arbeit zu sehen.^^)
Im ganzen lassen sich die von altersher bekannten
Gesetze immer besser klassifizieren; aber neue Erschei-
nungen verlangen ihren Platz; die meisten von ihnen,
wie diejenige von Zeeman, haben ihn sofort gefunden.
Aber wir haben außerdem die Kathodenstrahlen, die
X-Strahlen, die Strahlen des Uraniums und des Radiums.
Hierin liegt eine ganze Welt, die niemand vermutete.
Was für unerwartete Gäste muß man da beherbergen!
Noch kann niemand voraussehen, welchen Platz sie
einnehmen werden. Aber ich glaube nicht, daß sie die
allgemeine Einheit stören, ich glaube vielmehr, daß sie
diese Einheit vervollkommnen werden. Einerseits scheinen
die neuen Strahlungserscheinungen mit den Luminiscenz-
erscheinungen zusammenzuhängen, sie erregen nicht nur
die Fluorescenz, sondern sie kommen sogar oft unter
denselben Bedingungen wie diese zu stände.
Andererseits sind sie ebenfalls nicht ohne Verwandt-
schaft mit der Ursache, welche den elektrischen Funken
unter der Einwirkung des ultravioletten Lichtes auf-
sprühen läßt.
Endlich, und hauptsächlich, glaubt man in diesen
Erscheinungen wirkliche Ionen zu erbliken, welche sich
in der Tat mit unvergleichlich viel größeren Geschwin-
digkeiten bewegen als in den Elektrolyten.
Das alles ist noch unbestimmt, aber das alles wird
genauer präcisiert werden.
Die Phosphorescenz und die Wirkung des Lichtes
auf den Funken gehören in ein etwas isoliertes, von den
Forschern deshalb ziemlich vernachlässigtes Gebiet. Man
kann jetzt hoffen, daß man einen neuen Weg bahnt, der
die Verbindungen dieser Gebiete mit der universellen
Wissenschaft erleichtert.^-^)
Einordnung neuer Tatsachen. 1 8 1
Wir werden nicht nur neue Erscheinungen entdecken,
sondern in denjenigen, welche wir bereits zu kennen
glauben, werden sich ungeahnte Ausblicke eröffnen. Im
freien Äther bewahren die Gesetze ihre majestätische
Einfachheit; aber die eigentliche Materie erscheint immer
komplizierter; alles, was man davon sagt, ist stets nur
annähernd, und jeden Augenblick verlangen unsere For-
meln neue Glieder.
Aber deshalb ist der Rahmen noch nicht zerbrochen,
der unsere allgemeinen Gesetze zusammenhält; die Be-
ziehungen, welche wir zwischen scheinbar einfachen Ob-
jekten erkannten, bestehen noch immer zwischen diesen
selben Objekten, nachdem wir ihre Kompliziertheit er-
kannt haben, und darauf allein kommt es an. Zwar
werden unsere Gleichungen immer komplizierter, um sich
immer näher an die Kompliziertheit der Natur anzu-
schUeßen; aber in den Beziehungen, welche gestatten,
diese Gleichungen auseinander abzuleiten, ist nichts ge-
ändert. Mit einem Worte: die Form dieser Gleichungen
hat standgehalten.
Nehmen wir die Gesetze der Reflexion zum Beispiel.
Fresnel begründete sie durch eine einfache und ver-
lockende Theorie, welche die Erfahrung zu bestätigen
schien. Seitdem haben genauere Nachforschungen er-
wiesen, daß diese Verifikation nur annähernd war; diese
Nachforschungen zeigen überall Spuren elliptischer Polari-
sation. Aber dank der Hilfe, die uns die erste Annähe-
rung gab, fand man sofort die Ursache dieser Unregel-
mäßigkeit; dieselbe liegt in der Existenz einer Übergangs-
schicht an der Grenze zweier optisch verschiedenen
Medien, und die Fresnelsche Theorie bestand in allem,
was sie Wesentliches hatte, weiter.^^)
Nur kann man nicht umhin, folgendes zu überlegen:
alle diese Beziehungen wären unbemerkt geblieben, wenn
man anfangs von der Kompliziertheit der Objekte, die
l82 IVj lO- Theorien der modernen Physik.
sie verbinden, eine Ahnung gehabt hätte. Vor langer
Zeit sagte man: Wenn Tycho zehnfach genauere Instru-
mente gehabt hätte, so hätte es nie einen Keppler, noch
einen Newton, noch überhaupt eine Astronomie gegeben.
Es ist für eine Wissenschaft ein Unglück, zu spät ge-
boren zu werden, d. h. nachdem die Beobachtungsmittel
zu vollkommen geworden sind. Das ist heutzutage der
Fall mit der physikalischen Chemie; ihre Begründer sind
in den Anwendungen ihrer Theorien durch die dritte
und vierte Decimale behindert, glücklicherweise sind sie
Männer von starkem Glauben.
Je mehr man die Eigenschaften der Materie kennen
lernt, desto mehr erkennt man die Herrschaft der Stetig-
keit. Seit den Arbeiten von Andrews und van der
Wals gibt man sich Rechenschaft über die Art, in der
sich der Übergang des flüssigen Zustandes zum gas-
förmigen Zustande vollzieht, und hat sich überzeugt, daß
dieser Übergang kein gewaltsamer ist. So gibt es auch
keinen Abgrund zwischen den flüssigen Zuständen und
den festen Zuständen, und in den Berichten eines vor
kurzem abgehaltenen Kongresses sah man neben einer
Arbeit über die Festigkeit der Flüssigkeiten eine Ab-
handlung über das Fließen der festen Körper.^^)
Bei dieser Tendenz geht die Einfachheit ohne Zweifel
verloren; eine solche Erscheinung wurde früher durch
mehrere gerade Linien dargestellt, jetzt muß man diese
geraden Linien durch mehr oder weniger komplizierte
Kurven ineinander übergehen lassen; zum Ersätze dafür
gewinnt die Einheit dabei bedeutend. ^^) Diese streng ge-
schiedenen Kategorien ließen den Verstand ausruhen,
aber sie befriedigten ihn nicht.
Endlich haben sich die Methoden der Physik eines
neuen Gebietes bemächtigt, desjenigen der Chemie; die
physikalische Chemie ist geboren. Sie ist noch sehr
jung, aber man sieht bereits, daß sie uns gestatten wird,
Die Wahrscheinlichkeitserscheinung. 183
Erscheinungen wie die Elektrolyse, die Osmose und die
Bewegungen der Ionen untereinander zu verbinden.
Was sollen wir aus dieser gedrängten Darstellung
schließen?
Aller Berechnung nach hat man sich der Einheit
genähert; es ging nicht so schnell, wie man es vor
fünfzig Jahren hoffte, man hat nicht immer den im
voraus geahnten Weg eingeschlagen; aber schließlich
hat man doch viel Terrain srewonnen.
Elftes Kapitel.
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Man wird ohne Zweifel erstaunt sein, an dieser
Stelle Betrachtungen über die Wahrscheinlichkeitsrechnung
zu finden. Was hat das mit der Methode der physi-
kalischen Wissenschaft zu tun?
Und doch muß sich ein Philosoph, der über die
Physik nachdenken will, die Frage vorlegen, die ich jetzt
anregen, aber nicht lösen werde.
Mußte ich doch in den beiden vorhergehenden Ka-
piteln mehrmals die Worte ,, Wahrscheinlichkeit" und
,, Zufall" aussprechen.
Ich sagte oben: ,,Die vorausgesehenen Tatsachen
können nur wahrscheinlich sein. So fest auch eine Vor-
aussage begründet erscheinen mag, so sind wir doch
niemals absolut sicher, daß das Experiment sie auch
bestätigen wird, wenn wir eine Prüfung vornehmen. Aber
die Wahrscheinlichkeit ist oft so groß, daß wir uns in
der Praxis mit ihr zufrieden geben können." (S. 145).
Und weiter fügte ich hinzu:
„Um das zu können, wollen wir sehen, welche Rolle
184 •'■^' ^^' "^^^ Wahrscheinlichkeitsreclinung.
der Glaube an die Einfachheit in unseren Verallgemei-
nerungen spielt. Wir haben ein . einfaches Gesetz in
einer ziemlich großen Anzahl von besonderen Fällen
verifiziert; wir können unmöglich zulassen, daß diese so
oft wiederholte Bestätigung ein bloßer Glückszufall
sei . . ." (S. 151).
So befindet sich in einer Menge von Fällen der
Physiker in derselben Lage wie der Spieler, wenn er
seine Chancen berechnet. Immer, wenn er induktive
Schlüsse zieht, muß er mehr oder weniger bewußt die
Wahrscheinlichkeitsrechnung anwenden.
Darum muß ich eine Zwischenbetrachtung einschieben
und unser Studium über die Methode in den physikali-
schen Wissenschaften unterbrechen, um etwas näher zu
untersuchen, was diese Rechnungsart bedeutet und in-
wieweit sie Vertrauen verdient.
Schon der Name allein: Wahrscheinlichkeitsrechnung,
enthält ein Paradoxon: die Wahrscheinlichkeit ist im
Gegensatze zur Gewißheit etwas, das wir nicht kennen,
und wie soll man berechnen, was man nicht kennt?
Dennoch haben sich viele der bedeutendsten Gelehrten
mit dieser Rechnung beschäftigt, und man kann nicht
leugnen, daß die Wissenschaft daraus Nutzen zog. Wie
erklärt sich dieser scheinbare Widerspruch?
Ist die Wahrscheinlichkeit definiert? Kann sie defi-
niert werden? Und wenn sie nicht definierbar ist, wie
kann man wagen, darauf Schlüsse zu bauen? Man wird
sagen, daß die Definition sehr einfach sei: die Wahr-
scheinlichkeit eines Ereignisses ist das Verhältnis der
Anzahl der diesem Ereignisse günstigen Fälle zur Ge-
samtzahl der möglichen Fälle.
Ein einfaches Beispiel genügt, um diese Definition
als unvollständig erscheinen zu lassen. Ich werfe zwei
Würfel; welches ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß
der eine der beiden Würfel wenigstens „sechs" zeigen
Definitionen. ige
wird? Jeder Würfel kann zum mindesten sechs ver-
schiedene Zahlen werfen; die Zahl der möglichen Fälle
ist 6 X 6 = 36; die Zahl der günstigen Fälle ist 11; die
Wahrscheinlichkeit ist also
o
6
Damit haben wir die korrekte Lösuno^. Aber kann
O'
ich nicht ebensogut sagen: Die von den beiden Wür-
6 X 7
fein geworfenen Zahlen können ■ =21 verschiedene
Kombinationen bilden? Unter diesen Kombinationen
sind 6 günstige; die Wahrscheinlichkeit ist also — •
Warum ist die erste Art, die möglichen Fälle zu
überzählen, berechtigter als die zweite? Jedenfalls klärt
uns unsere Definition darüber nicht auf.
Man wird so darauf geführt, diese Definition zu ver-
vollständigen, indem man sagt: ,, . . . zur Gesamtzahl
der möglichen Fälle, vorausgesetzt, daß diese Fälle gleich
wahrscheinlich sind." Wir sind also darauf gekommen,
das Wahrscheinliche durch das Wahrscheinliche zu
definieren.
W^oher wissen wir, daß zwei mögliche Fälle gleich
wahrscheinlich sind? Wissen wir es durch Überein-
kommen? Wenn wir zu Beginn eines jeden Problems
eine dem Übereinkommen entsprechende deutliche Fest-
setzung machen, wird alles gut gehen; wir brauchen nur
die Regeln der Arithmetik und der Algebra anzuwenden,
und wir können die Rechnung zu Ende führen, ohne
daß an unseren Resultaten zu zw^eifeln wäre. Aber
wenn wir die geringste Anwendung machen wollen,
müssen wir beweisen, daß unsere Festsetzung berechtigt
war, und wir befinden uns derselben Schwierigkeit gegen-
über, die wir umgehen wollten.
Kann man behaupten, daß der gesunde Menschen-
verstand genügt, um uns zu lehren, welcher Art das zu
treffende Übereinkommen sein muß? Auf diese Frage
l86 rV> II* I^i^ Wahrscheinlichkeitsreclinung.
ist nicht leicht zu antworten. Bertrand liebte es, sich
mit einfachen Problemen folgender Art zu beschäftigen:
„Welches ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß in einem
gegebenen Kreise eine willkürlich gezogene Sehne größer
ausfalle als die Seite des dem Kreise einbeschriebenen
gleichseitigen Dreiecks?" Der berühmte Mathematiker hat
nacheinander zwei Übereinkommen getroffen, welche
sich dem gesunden Menschenverstände als gleich gut
aufzudrängen schienen, und er fand mittelst der einen
Festsetzung die Wahrscheinlichkeit gleich — , mittelst der
anderen gleich — ^^)
Aus alledem scheint mit Notwendigkeit die Folge-
rung hervorzugehen, daß die Wahrscheinlichkeitsrechnung
eine nutzlose Wissenschaft ist, daß man dem dunkeln
Instinkte mißtrauen muß, den wir gesunden Menschen-
verstand nennen, und von welchem wir verlangen, daß
er unsere Festsetzungen legitimieren soll.
Aber diese Folgerung können wir nicht unterschreiben ;
diesen dunkeln Instinkt können wir nicht übergehen;
ohne ihn wäre die Wissenschaft unmöglich, ohne ihn
könnten wir ein Gesetz weder entdecken, noch es an-
wenden. Haben wir z. B. das Recht, das Newtonsche
Gesetz auszusprechen ? Zweifellos , zahlreiche Beob-
achtungen stimmen damit überein; aber ist dieses Gesetz
nicht ein einfacher Glückszufall? Wie wollen wir über-
haupt wissen, ob dieses seit Jahrhunderten richtige Gesetz
im nächsten Jahre noch richtig sein wird? Auf diese
Einwendung kann man nichts antworten als: ,,Das ist
sehr unwahrscheinlich."
Lassen wir nun das Gesetz gelten; auf Grund des-
selben glaube ich die Stellung des Jupiters während
eines Jahres berechnen zu können. Habe ich ein Recht
dazu? Wer sagt mir, ob nicht eine gigantische, von einer
Interpolation. Theorie der Gase. 187
riesigen Geschwindigkeit getriebene Masse im Laufe
dieses Jahres unserem Sonnensysteme so nahe kommt,
daß sie unenvartete Störungen verursacht? x\uch hier
kann man nichts antworten als: ,,Das ist sehr unwahr-
scheinlich."
Somit wären alle Wissenschaften nur unbewußte An-
wendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung; wenn man
diese Rechnungsart verwirft, so verwirft man damit die
ganze Wissenschaft.
Ich werde weniger bei solchen wissenschaftlichen
Problemen verweilen, bei denen das Eingreifen der
Wahrscheinlichkeitsrechnung klarer zu Tage tritt. Ein sol-
ches ist in erster Linie das Problem der Interpolation,
in welcher man dazwischenliegende Werte zu erraten
sucht, wenn eine gewisse Anzahl von Werten einer Funk-
tion bekannt ist.
Ich erwähne ebenso die berühmte Theorie der Be-
obachtungsfehler, aufweiche ich weiterhin zurückkomme;
die kinetische Theorie der Gase, eine wohlbekannte
Hypothese, bei der man voraussetzt, daß jedes Gas-
molekül eine außerordentlich komplizierte Bahn beschreibt,
bei welcher jedoch nach dem Gesetze der großen Zahlen
die durchschnittlichen und allein zu beobachtenden Er-
scheinungen einfachen Gesetzen gehorchen, z. B. den
Gesetzen von Mariotte und Gay-Lussac.^^)
Alle diese Theorien beruhen auf dem Gesetze der
großen Zahlen, und die Wahrscheinlichkeitsrechnung
würde sie unwiderstehlich in ihren Untergang mitreißen.
Zwar haben sie nur ein beschränktes Interesse, und, ab-
gesehen von der Anwendung auf die Interpolation, wären
das Verluste, zu denen man sich entschließen könnte.
Aber, wie ich weiter oben sagte, würde es sich nicht
nur um diese speziellen Opfer handeln, sondern die
Rechtmäßigkeit der ganzen Wissenschaft würde zweifel-
los in Frage gestellt werden.
l88 I^> ^^- ^^^ Wahrschemliclikeitsrecnnung.
Ich sehe sehr wohl, daß man sich auf folgende Über-
legung berufen könnte: ,,Wir sind Unwissende und danach
müssen wir handeln. Um handeln zu können, haben
wir nicht Zeit zu einer Untersuchung, die genügen würde,
um unsere Unwissenheit zu beseitigen ; eine solche Unter-
suchung würde eben eine unendliche Zeit kosten. Wir
müssen also eine Entscheidung treffen, ohne die nötigen
Kenntnisse zu haben; man muß es auf gut Glück tun
und nach Regeln handeln, über deren Berechtigung man
sich nicht klar ist. Ich weiß nicht, daß diese oder jene
Sache richtig ist, aber ich weiß, daß es für mich
das beste ist zu handeln, als ob sie richtig wäre.''
Die Wahrscheinlichkeitsrechnung und folglich auch die
Wissenschaft hätte dann nur noch einen praktischen
Wert.
Unglücklicherweise verschwindet hiermit die Schwierig-
keit noch nicht: ein Spieler will einen Zug versuchen;
er fragt mich um Rat. Wenn ich ihm einen solchen
gebe, so folge ich der Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber
ich kann ihm für den Erfolg nicht garantieren. Das
nenne ich die subjektive Wahrscheinlichkeit. In
diesem Falle kann man sich mit der Erklärung begnügen,
die ich flüchtig berührte. Aber ich setze voraus, daß
ein Beobachter dem Spiele beiwohnt, daß er alle Züge
des Spiels notiert und daß das Spiel sich lange hin-
zieht; wenn er nun das Facit aus seinen Notizen zieht,
wird er bestätigen, daß die Tatsachen sich gemäß den
Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung vollzogen haben.
Das nenne ich die objektive Wahrscheinlichkeit,
und diese Erscheinung bedarf der weiteren Erklärung.
Es bestehen zahlreiche Versicherungsgesellschaften,
welche die Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung an-
wenden, und sie verteilen an ihre Aktionäre Dividenden,
deren objektive Tatsächlichkeit niemand in Zweifel ziehen
kann. Um die Dividenden zu erklären, genügt es nicht,
Grade der Wahrsclieinliclikeit und Unwissenheit. i3q
sich auf unsere Unwissenheit und auf die Nohvendigkeit
zum Handeln zu berufen.
Also ist der absolute Skeptizismus nicht berechtigt;
wir müssen vorsichtig sein, aber wir brauchen nicht in
Bausch und Bogen zu verwerfen; es ist notwendig, noch
zu prüfen.
I . Einteilung der Wahrscheinlichkeitsprobleme. —
Um die Probleme einzuteilen, welche sich bei Wahr-
scheinlichkeitsbetrachtungen darbieten, kann man von
mehreren Gesichtspunkten ausgehen, vor allem von dem
Gesichtspunkte der Allgemeinheit. Ich sagte
weiter oben, daß die Wahrscheinlichkeit das Verhältnis
der Anzahl der günstigen Fälle zu der Anzahl der mög-
lichen Fälle ist. Was ich in Ermangelung eines besseren
Wortes die Allgemeinheit nenne, wird mit der Anzahl
der möglichen Fälle wachsen. Diese Zahl kann endlich
sein; so ist es z.B., wenn man ein Würfelspiel ins Auge
faßt, wo die Zahl der möglichen Fälle 36 ist. Das ist
der erste Grad der Allgemeinheit.
Wenn wir aber z. B. fragen, was ist die Wahrschein-
lichkeit dafür, daß ein im Inneren eines Kreises ge-
legener Punkt sich auch innerhalb des dem Kreise ein-
geschriebenen Quadrats befinde, so gibt es so viel mög-
liche Fälle als Punkte im Kreise, also eine Unendlichkeit.
Das ist der zweite Grad der Allgemeinheit. Die All-
gemeinheit kann noch weiter ausgedehnt werden: man
kann nach der Wahrscheinlichkeit dafür fragen, daß eine
Funktion einer gegebenen Bedingung genügt; dann gibt
es so viel mögliche Fälle, als man sich verschiedene Funk-
tionen vorstellen kann. Das ist der dritte Grad der
Allgemeinheit, zu welchem man sich erhebt, wenn man
z. B. versucht, aus einer endlichen Anzahl von Beob-
achtungen das wahrscheinlichste Gesetz abzuleiten.
Man kann einen gänzlich verschiedenen Standpunkt
einnehmen. Wenn wir nicht unwissend wären, gäbe es
IQO I^> ^^' ^^^ Wahrscheinlichkeitsrechnung.
keine Wahrscheinlichkeit; es wäre nur Platz für die
Gewißheit da; aber unsere Unwissenheit kann keine ab-
solute sein, denn sonst würde es nicht einmal eine Wahr-
scheinlichkeit geben; es muß doch wenigstens etwas
Licht vorhanden sein, um bis zu dieser unsicheren
Wissenschaft zu gelangen. Die Wahrscheinlichkeitspro-
bleme können so nach der größeren oder kleineren Tiefe
unserer Unwissenheit eingeteilt werden.
In der Mathematik kann man sich bereits Wahrschein-
lichkeitsprobleme stellen. Was ist die Wahrscheinlichkeit
dafür, daß die 5.Decimale eines auf gut Glück in einer
Tabelle aufgeschlagenen Logarithmus gleich 9 sei?
Man wird nicht zögern zu antworten, daß diese Wahr-
scheinlichkeit — ist. Hier sind wir im Besitze aller
10
Daten des Problems; wir könnten unseren Logarithmus
berechnen, ohne die Tabelle zu benutzen; aber wir wollen
uns nicht die Mühe geben. Das ist der erste Grad der
Unwissenheit.
In den physikalischen Wissenschaften ist unsere Un-
wissenheit schon größer. Der Zustand eines Systems
hängt in einem gegebenen Augenblicke von zwei Dingen
ab: von seinem Anfangszustande und dem Gesetze, nach
welchem dieser Zustand variiert. Wenn wir zu gleicher
Zeit dieses Gesetz und diesen Anfangszustand kennen
würden, so hätten wir nur noch ein mathematisches
Problem zu lösen, und wir würden von neuem zu dem
ersten Grade der Unwissenheit gelangen.
Aber es geschieht oft, daß man das Gesetz kennt,
aber nicht den Anfangszustand. Man fragt z. B., welches
die gegenwärtige Verteilung der kleinen Planeten ist;
wir wissen, daß sie seit jeher den Kepplerschen Gesetzen
unterworfen waren, aber wir wissen nicht, wie ihre an-
fängliche Verteilung war.
In der kinetischen Theorie der Gase setzt man vor-
Wahrscheinlichkeit der Wirkungen nnd Ursachen. i n i
aus, daß die Gasmoleküle geradlinige Bahnen beschreiben
und den Gesetzen des Stoßes elastischer Körper ge-
horchen; da man jedoch nichts von ihren Anfangsge-
schwindigkeiten weiß, so weiß man auch nichts von ihrer
gegenwärtigen Geschwindigkeit.
Nur die Wahrscheinlichkeitsrechnung erlaubt, die
durchschnittlichen Erscheinungen vorauszusehen, welche
aus der Kombination dieser Geschwindigkeiten hervor-
Q;ehen. Das ist der zweite Grad der Unwissenheit.
Schließlich ist es noch möglich, daß nicht nur die
Anfangsbedingungen, sondern die Gesetze selbst unbe-
kannt sind; man erreicht dann den dritten Grad der
Unwissenheit, und man kann im allgemeinen über die
Wahrscheinlichkeit einer Erscheinung nichts mehr be-
haupten.
Während man in der Regel versucht, aus einer mehr
oder weniger unvollkommenen Kenntnis der Gesetze ein
Ereignis vorauszusagen, kommt es oft vor, daß man die
Ereignisse kennt und das Gesetz zu erraten sucht; statt
die Wirkungen aus den Ursachen abzuleiten, will man
die Ursachen aus den Wirkungen ableiten. Solche
Probleme beziehen sich auf die sogenannte Wahrschein-
lichkeit der Ursachen; unter dem Gesichtspunkte der
wissenschaftlichen Verwertung sind es die interessantesten.
Ich spiele mit einem Herrn, den ich als vollkommen
ehrlich kenne, Ecarte; er hat zu geben; welches ist die
Wahrscheinlichkeit dafür, daß er den Könis: tourniert?
*o
sie ist -— ; diese Frage bezieht sich auf die Wahr-
o
scheinlichkeit der Wirkungen. Ich spiele mit
einem Herrn, den ich nicht kenne; er hat lomal ge-
geben und 6mal den König tourniert; wie groß ist die
Wahrscheinlichkeit dafür, daß er ein Falschspieler ist?
Das ist eine Frage, die sich auf die Wahrscheinlichkeit
der Ursachen bezieht.
IQ2 I^^' ^^- -^^^ Wahrscheinlichkeitsreclinuiig.
Man kann behaupten, daß dieses das wesentliche
Problem der experimentellen Methode ist. Ich habe
n Werte von x beobachtet und die entsprechenden Werte
von _>- ; ich habe festgestellt, daß das Verhältnis der
letzteren Größen zu den ersteren merklich konstant ist.
Damit haben wir das Ereignis; was ist dessen Ursache?
Ist es wahrscheinlich, daß es ein Gesetz gibt, nach
welchem y proportional zu x ist, und daß die kleinen
Abweichungen den Beobachtungsfehlem zur Last fallen?
Das ist eine Art von Frage, die man sich unaufhörlich
vorlegen muß, und die man unbewußt jedesmal löst,
wenn man Wissenschaft treibt.
Ich will jetzt diese verschiedenen Kategorien von
Problemen an uns vorbeiziehen lassen und dabei nach-
einander das, was ich weiter oben die subjektive Wahr-
scheinlichkeit und die objektive Wahrscheinlichkeit nannte,
näher ins Auge fassen.
2. Die Wahrscheinlichkeit in den mathematischen
Wissenschaften. — Die Unmöglichkeit der Quadratur
des Zirkels ist seit 1882 bewiesen; aber lange vor die-
sem verhältnismäßig jungen Datum betrachteten alle Ma-
thematiker diese Unmöglichkeit als derart wahrscheinlich,
daß die Akademie der Wissenschaften ohne Prüfung die
leider nur zu zahlreichen Abhandlungen, welche einige
unglückliche Narren ihr alle Jahre über diesen Gegen-
stand zusandten, verwarf. ^^)
Hatte die Akademie unrecht? Gewiß nicht, und sie
wußte wohl, daß sie durch diese Handlungsweise Gefahr
laufe, eine ernsthafte Entdeckung zu unterdrücken. Sie
konnte nur nicht beweisen, daß sie recht hatte; aber
sie wußte wohl, daß ihr Instinkt sie nicht täuschte.
Wenn Sie die Akademiker gefragt hätten, so würden sie
geantwortet haben: ,,Wir haben die Wahrscheinlichkeit,
vermöge welcher ein unbekannter Gelehrter das heraus-
fände, was man seit so langer Zeit vergeblich sucht,
Subjektive und objektive Wahrscheinlichkeit. ig^
mit derjenigen verglichen, daß es einen Narren mehr
auf der Welt gibt; die zweite Wahrscheinlichkeit schien
uns die größere zu sein." Das sind wohlerwogene Gründe,
aber sie haben nichts Mathematisches an sich, sie sind
rein psychologischer Natur.
Und wenn Sie noch eindringlicher mit Ihren Fragen
geworden wären, so hätten die Akademiker hinzugefügt:
„Warum soll durchaus ein besonderer Wert einer transcen-
denten Funktion gleich einer algebraischen Zahl sein?
Und wenn tt Wurzel einer algebraischen Gleichung mit
rationalen Koeffizienten wäre, weshalb soll dann gerade
diese eine Wurzel mit der Periode der Funktion sin 2 x
identisch sein, und nicht auch dasselbe für die anderen
Wurzeln dieser selben Gleichung gelten?" Kurz, sie hätten
das Prinzip des zureichenden Grundes in seiner un-
bestimmtesten Form angerufen.
Was konnten sie aus diesem Prinzipe schließen?
Höchstens eine Verhaltungsmaßregel für die Verwertung
ihrer Zeit, welche sie nützlicher zu ihren regelmäßigen
Arbeiten verwenden konnten als zur Lektüre phantasti-
scher Ausarbeitungen, die ihnen berechtigtes Mißtrauen
einflößten. Was ich jedoch oben als objektive Wahr-
scheinlichkeit bezeichnete, hat mit diesem ersten Probleme
nichts zu schaffen.
Anders ist es mit dem folgenden zweiten Probleme.
Betrachten wir die loooo ersten Logarithmen, wie
man sie in einer Tabelle findet. Unter diesen lOOOO
Logarithmen wähle ich auf gut Glück eine Zahl aus;
wie groß ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß ihre dritte
Decimale eine gerade Zahl sei? Sie werden nicht zögern
zu antworten, daß diese Wahrscheinlichkeit gleich — ist;
und wenn Sie in der Tat in einer Tabelle die dritten
Decimalen dieser lOOOO Zahlen nachsehen, so werden
Sie ungefähr ebensoviele gerade wie ungerade Ziffern finden.
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. I3
IQ 4- -^^J ^^' ^^^ Walarscheinlicilkeitsreclinung.
Dasselbe kann man auch in folgender Weise aus-
drücken. Schreiben wir loooo Zahlen auf, die unseren
I o ooo Logarithmen entsprechen sollen ; und zwar sei
jede dieser Zahlen gleich -j- i , wenn die dritte Decimale
des entsprechenden Logarithmus gerade ist, gleich — i
im entgegengesetzten Falle. Nehmen wir darauf das
arithmetische Mittel dieser lOOOO Zahlen. Ohne Zögern
behaupte ich, daß dieses Mittel wahrscheinlich gleich
Null ausfällt; und wenn ich die Rechnung wirklich
durchführe , so würde ich bestätigen , daß es sehr
klein ist.
Diese Bestätigung ist jedoch überflüssig. Ich hätte
streng beweisen können, daß dieses Mittel kleiner als
0,003 sein muß. Um dies Resultat zu erhalten, muß
man sehr ausgedehnte Überlegungen und Rechnungen
anstellen, für die hier kein Platz ist; ich verweise des-
halb auf einen Aufsatz, den ich in der Revue generale
des Sciences vom 15. April 1899 veröffentlicht habe.
Ich will hier nur auf den folgenden Punkt aufmerksam
machen: Bei dieser Rechnung brauchte ich mich nur
auf zwei Tatsachen zu stützen, nämlich, daß sowohl der
erste als auch der zweite Differentialquotient des Loga-
rithmus in dem betrachteten Intervalle zwischen gewissen
endlichen Grenzen eingeschlossen bleibt.
Hieraus ergibt sich die wichtige Folgerung, daß die
besagte Eigenschaft nicht nur dem Logarithmus zukommt,
sondern ebenso jeder beliebigen stetigen Funktion, denn
die Differentialquotienten jeder stetigen Funktion bleiben
zwischen endlichen Grenzen.
Von diesem Resultate war ich im voraus überzeugt,
denn erstens hatte ich oft analoge Tatsachen bei anderen
stetigen Funktionen beobachtet, zweitens hatte ich mehr
oder weniger unbewußt und unvollkommen in meinem
Inneren diejenigen Überlegungen angestellt, welche mich
zu den erwähnten Ungleichheiten geführt haben, wie ja
Wahrscheinliclikeit in der Mathematik. igr
auch ein geübter Rechner vor Vollendung einer Multipli-
kation sich darüber Rechenschaft gibt, ,,daß das Resultat
ungefähr so und so viel betragen wird."
Da nun meine Intuition nur in einem unvollständigen
Überblicke über eine Reihe wirklicher Schlußfolgerungen
bestand, so wird man verstehen, weshalb die Beobachtung
meine Vorhersagungen bestätigt hat und so die objektive
Wahrscheinlichkeit mit der subjektiven Wahrscheinlichkeit
in Einklang war.
Als drittes Beispiel wähle ich das folgende Problem:
Eine Zahl u werde auf gut Glück gewählt; es sei n eine
sehr große gegebene ganze Zahl; welches ist der wahr-
scheinUchste Wert von %mnul Diese Aufgabe hat an
sich gar keinen Sinn. Um ihr einen solchen zu geben,
bedarf es einer Festsetzung; wir setzen also fest: die
Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Zahl u zwischen a
und a -\- da liegt, sei gleich g)(a)da; sie sei also propor-
tional der Größe des unendlich kleinen Interv alles da
und gleich dieser Größe, multipliziert in eine Funktion cp{a),
welche nur von a abhängt. Diese Funktion wähle ich
willkürlich, nur muß ich sie als stetig voraussetzen. Der
Wert von sin 7111 bleibt derselbe, wenn u um 27t wächst;
ich kann also ohne die Allgemeinheit zu beeinträchtigen
voraussetzen, daß ti zwischen o und Zit liegt; und so
komme ich zu der Voraussetzung, daß g)(a) eine perio-
dische Funktion mit der Periode 2 n sein muß.
Der gesuchte wahrscheinliche Wert läßt sich leicht
durch ein einfaches Integral ausdrücken, und es ist nicht
schwierig zu zeigen, daß dieses Integral kleiner als
2 7t Mj^
k '
n
sei, wo Mk den größten Wert des k^^^ DifFerentialquotienten
von ^{li) bezeichnet. Man sieht hieraus, daß unser
wahrscheinlicher Wert, wenn dieser k^^ Differentialquo-
13*
Iq6 I^' ^^' -^^^ Wahrscheinliclikeitsreclinung.
tient endlich ist, bei unendlich wachsendem ;z sich der
Grenze Null nähert und zwar schneller als die Zahl
k—r
n
Der wahrscheinliche Wert von sin nu für große Werte
von 71 ist also gleich Null; um diesen Wert zu definieren,
bedurfte ich einer Festsetzung; aber das Resultat bleibt
dasselbe, wie auch diese Festsetzung getroffen
wird. Indem ich voraussetzte, daß die Funktion q)(a)
stetig und periodisch sei, habe ich mir nur unbedeutende
Beschränkungen auferlegt, und diese Voraussetzungen
sind in dem Grade natürlich, daß man sich denselben
kaum entziehen kann.
Die Betrachtung der drei vorhergehenden Beispiele,
die untereinander so sehr verschieden waren, läßt uns
einerseits die Rolle dessen erkennen, was die Philosophen
das Prinzip des zureichenden Grundes nennen, und läßt
uns andererseits die Wichtigkeit der Tatsache verstehen,
daß gewisse Eigenschaften allen stetigen Funktionen ge-
meinsam sind. Zu demselben Resultate wird uns das
Studium der Wahrscheinlichkeit in den physikalischen
Wissenschaften führen.
3. Die Wahrscheinlichkeit in den physikalischen
Wissenschaften. — Wir gelangen jetzt zu den Problemen,
welche sich auf das beziehen, was ich weiter oben den
zweiten Grad der Unwissenheit nannte; es sind diejenigen
Probleme, bei denen man das Gesetz kennt, aber nichts
von dem Anfangszustande weiß. Ich könnte eine Menge
von Beispielen anführen, will aber nur eines davon nehmen:
Welches ist die gegenwärtig wahrscheinliche Verteilung
der kleinen Planeten auf dem Tierkreise?
Wir wissen, daß die Planeten den Kepplerschen
Gesetzen gehorchen; wir können sogar, ohne irgend
etwas an der Natur des Problems zu ändern, voraus-
Wahrsclieinlichkeit in der Physik. jgy
setzen, daß ihre Bahnen sämtlich kreisförmig sind und
in derselben Ebene liegen, und daß wir das wissen.
Wir wissen hingegen absolut nichts über ihre anfängliche
Verteilung. Indessen zögern wir nicht damit, zu be-
haupten, daß diese Verteilung heutzutage fast gleich-
förmig ist. Wie kommen wir dazu?
Wenn h die Länge eines kleinen Planeten zur An-
fangszeit, d. h. zur Zeit / = o ist, ferner a seine mitt-
lere Bewegung, so wird seine Länge zur gegenwärtigen
Zeit, d. h. zur Zeit /, at -\- b sein. Wenn man sagt, daß
die gegenwärtige Verteilung gleichförmig ist, so soll das
heißen, daß der mittlere Wert des Sinus und des Cosinus
der Vielfachen von at -\- b gleich Null ist. Warum be-
haupten wir das?
Wir wollen uns jeden kleinen Planeten durch einen
Punkt in einer Ebene darstellen, und zwar durch den-
jenigen Punkt, dessen Koordinaten genau a und b sind.
Alle diese darstellenden Punkte sind in einem gewissen
Bezirke der Ebene enthalten, aber da sie sehr zahlreich
sind, wird dieser Bezirk mit Punkten dicht übersät er-
scheinen. Sonst wissen wir nichts von der Verteilung
dieser Punkte.
Wie kommt man dazu, die Wahrscheinlichkeitsrech-
nung auf eine ähnliche Frage anzuwenden? Was ist
die Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine gewisse Zahl dar-
stellender Punkte sich in einem bestimmten Teile der
Ebene befindet? In unserer Unwissenheit werden wir
dazu geführt, eine willkürliche Hypothese zu machen.
Um die Natur dieser Hypothese verständlich zu machen,
möge man mir gestatten, an Stelle einer mathematischen
Formel ein zwar grobes, aber faßliches Bild anzuwenden.
Denken wir uns, wir hätten über der Oberfläche unserer
Ebene eine fingierte Materie ausgebreitet, deren Dichtig-
keit veränderlich ist, sich aber nur auf stetige Weise
ändert. Wir kommen dahin überein, zu sagen, daß die
Iq8 rV, II. Die "Walirsclieiiilichkeitsrechnung.
wahrscheinliche Anzahl von darstellenden Punkten, die
sich auf einem Teile der Ebene befinden, der Menge
von fingierter Materie, welche sich in diesem Teile be-
findet, proportional ist. Wenn man dann zwei Bezirke der
Ebene von gleicher Ausdehnung hat, so werden sich die
Wahrscheinlichkeiten dafür, daß ein darstellender Punkt
eines unserer kleinen Planeten sich in dem einen oder
anderen Bezirke befindet, verhalten wie die durchschnitt-
lichen Dichtigkeiten der fingierten Materie in dem einen
oder anderen Bezirke.
Wir haben dann zwei Verteilungen, eine wirkliche,
in der die darstellenden Punkte sehr zahlreich und sehr
gedrängt sind, aber diskret wie die Moleküle der Materie
in der atomistischen Hypothese; die andere, von der
Wirklichkeit weit entfernte, in der unsere darstellenden
Punkte durch eine stetige und fingierte Masse ersetzt
sind. Diese letztere Verteilung halten wir nicht für wirk-
lich, aber unsere Unwissenheit verurteilt uns dazu, sie
anzunehmen.
Wenn wir irgend welche Idee von der wirklichen Ver-
teilung der darstellenden Punkte hätten, könnten wir es
so einrichten, daß in einem Bezirke gewisser Ausdehnung
die Dichtigkeit dieser stetigen, fingierten Materie der
Anzahl von darstellenden Punkten nahezu proportional
ist, oder, wenn man will, der Anzahl von Atomen pro-
portional sei, welche in diesem Bezirke enthalten sind.
Das ist unmöglich, und unsere Unwissenheit ist so groß,
daß wir gezwungen sind, die Funktion willkürlich zu
wählen, welche die Dichtigkeit unserer fingierten Materie
definiert. Wir sind nur zu einer Hypothese verpflichtet,
der wir uns kaum entziehen können; wir werden näm-
lich voraussetzen, daß diese Funktion stetig ist. Das
genügt, wie wir sehen werden, um uns eine Schlußfol-
gerung zu gestatten.
Welches ist im Augenblicke / die Verteilung der
A'erteilunsr der kleinen Planeten.
199
kleinen Planeten? Oder besser, was ist der wahrschein-
liche Wert des Sinus der Länge zur Zeit /, d. h. der
Wert von sin (af-\-b)} Wir haben anfänglich ein will-
kürliches Übereinkommen getroffen; wenn wir es aber
annehmen, so ist dieser wahrscheinliche Wert vollkommen
bestimmt. Zerlegen wir die Ebene in Flächenelemente.
Betrachten wir den Wert von sin {af -\- b) im Mittelpunkte
jedes dieser Elemente; multiplizieren wir diesen Wert
mit der Oberfläche des Elementes und mit der Dichtig-
keit, welche der fingierten Materie entspricht; und dann
bilden wir die Summe für alle Elemente der Ebene.
Diese Summe wird, nach Definition, der wahrscheinliche
Mittelwert sein, den wir suchten, und der sich hier durch
ein Doppelintegral ausdrückt.
Man könnte zuerst glauben, daß dieser mittlere Wert
von der Wahl der Funktion cp abhängen wird, welche
die Dichtigkeit der fingierten Materie definiert, und daß
wir, weil die Definition von cp willkürlich ist, je nach der
willkürlichen Wahl, die wir treffen, jeden beliebigen mitt-
leren Wert erhalten können. Es ist jedoch nicht so.
Eine einfache Rechnung beweist, daß unser Doppel-
integral sehr rasch abnimmt, wenn / wächst.
Anfangs war ich nicht klar darüber, welche Hypo-
these ich in Betreff der Wahrscheinlichkeit dieser oder
jener Anfangsverteilung machen sollte; aber welcher Art
auch die gemachte Hypothese sei, das Resultat wird
immer das gleiche bleiben, und das hilft mir aus der
Verlegenheit.
Welches auch die Funktion cp sei, der mittlere Wert
nähert sich der Null, wenn / wächst, und da die kleinen
Planeten sicher eine große Anzahl von Umläufen ausge-
führt haben (so daß / sehr groß ist), so kann ich be-
haupten, daß dieser mittlere Wert sehr klein sein muß.
Ich kann cp wählen, wie ich will, jedoch immer mit
einer Beschränkung: diese Funktion muß stetig sein; und
200 rV> ^^' -^^^ "Wahrsclieinlichkeitsrechnung.
in der Tat, vom Gesichtspunkte der subjektiven Wahr-
scheinlichkeit aus würde die Wahl einer unstetigen
Funktion unvernünftig gewesen sein; welcher Grund
würde mich z. B. veranlassen, vorauszusetzen, daß die
anfängliche Länge genau gleich o^ sei, daß ihr Wert
aber nicht zwischen o*^ und i^ liegen könne.
Aber die Schwierigkeit erscheint von neuem, wenn
man sich auf den Standpunkt der objektiven Wahrschein-
lichkeit stellt, wenn man von unserer imaginären Vertei-
lung, in der die fingierte Materie als stetig vorausge-
setzt ist, zur wirklichen Verteilung übergeht, in der
unsere darstellenden Punkte sich wie diskrete Atome
verhalten.
Der mittlere Wert von sin (af -\- b) wird ganz ein-
fach durch:
i^ sin {at + b)
dargestellt, wo n die Zahl der kleinen Planeten bezeich-
net. Anstatt eines Doppelintegrals, das sich auf eine
stetige Funktion bezieht, haben wir eine Summe von
diskreten Gliedern. Und doch wird niemand ernstlich
daran zweifeln, daß dieser mittlere Wert tatsächlich sehr
klein ist.
Das kommt daher, weil unsere darstellenden Punkte
dicht gedrängt sind und deshalb unsere diskrete Summe
im allgemeinen von einem Integral wenig verschieden
sein wird.
Ein Integral ist die Grenze, der sich eine Summe
von Gliedern nähert, wenn die Anzahl dieser Glieder
unendlich wächst. Wenn die Glieder sehr zahlreich sind,
so wird die Summe nur sehr wenig von ihrer Grenze,
d. h. von dem Integrale verschieden sein, und was ich
von dem letzteren sagte, bezieht sich auch auf die
Summe selbst.
Unwahrscheinlicher Anfangszustand. 201
Nichtsdestoweniger gibt es Ausnahmefälle. Wenn
man z. B. für alle kleinen Planeten:
b = at
2
hätte, so würden alle Planeten zur Zeit / wieder die
TT
Län^e — haben, und der mittere Wert würde offenbar
2
gleich I sein. Zu dem Zwecke müßte man annehmen,
daß die kleinen Planeten zur Zeit / = o sich sämtlich
auf einer besonderen Spirale mit sehr engen Windungen
befanden. Jeder wird mir darin beistimmen, daß eine
derartige anfängliche Verteilung äußerst unwahrscheinlich
ist, und selbst, wenn man annehmen wollte, daß sie
wirklich so gewesen sei, so würde die jetzige Verteilung
(z. B. am I. Januar igoo) nicht gleichförmig ausfallen,
aber sie würde einige Jahre später wieder gleichförmig
werden.
Warum halten wir denn diese anfängliche Verteilung
für unwahrscheinlich ? Es ist notwendig, das zu erklären,
denn, wenn wir keinen Grund haben, diese einfältige
Hypothese als unwahrscheinlich zu verwerfen, so würde
alles zusammenstürzen, und wir könnten in Betreff der
Wahrscheinlichkeit dieser oder jener wirklichen Verteilung
nichts mehr behaupten.
Wir müssen uns hier wieder auf das Prinzip des
zureichenden Grundes berufen, zu welchem man stets
zurückkehren muß. Wir könnten zulassen, daß zu An-
fang die Planeten ungefähr in gerader Linie verteilt
waren; wir könnten zulassen, daß sie unregelmäßig ver-
teilt waren; aber es scheint, daß es keinen genügenden
Grund dafür gibt, daß die unbekannte Ursache, welche
die Planeten entstehen ließ, gemäß einer so regelmäßigen
und doch so komplizierten Kurve (Spirale mit sehr engen
Windungen) gewirkt habe, die einzig nur darum so ge-
202 I^' ^i« ^^^ Wahrscheinlichkeitsrechnung.
wählt scheinen würde, damit die gegenwärtige Verteilung
nicht einförmig sei.
4. Rouge et noir. — Durch die Glücksspiele und
das Roulette sind Fragen angeregt worden, welche im
Grunde genommen mit den soeben behandelten voll-
kommen analog sind.
. Eine Scheibe ist z. B. in eine große Anzahl von
gleichen Abteilungen eingeteilt, die abwechselnd rot und
schwarz sind; eine Nadel wird mit großer Kraft in Be-
wegung gesetzt und, nachdem sie viele Umdrehungen
gemacht hat, bleibt sie vor einer dieser erwähnten Ab-
teilungen stehen. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß diese
Abteilung rouge sei, ist offenbar —
Die Nadel dreht sich um einen Winkel &, der meh-
rere Umgänge umfaßt (also größer als 360 Grad ist);
ich weiß nicht, welches die Wahrscheinlichkeit dafür ist,
daß die Nadel mit einer solchen Kraft in Bewegung
gesetzt werde, daß dieser Winkel zwischen '9' und d" + dd-
enthalten ist; aber ich kann eine Festsetzung treffen; ich
kann voraussetzen, daß diese Wahrscheinlichkeit gleich
€p{d')d<d- ist; was die Funktion (p(d') anbelangt, so kann
ich sie auf ganz willkürliche Art wählen; es gibt nichts,
was mich in meiner Wahl leiten könnte, jedoch habe
ich Veranlassung, diese Funktion als stetig vorauszu-
setzen.
Es sei e die Länge (gemessen auf dem Umfange
eines Kreises vom Radius i) jeder roten oder schwarzen
Abteilung.
Man muß das Integral von g){d')dd' berechnen, indem
man es einerseits auf alle roten Abteilungen, anderer-
seits auf alle schwarzen Abteilungen ausdehnt, und dann
die Resultate vergleichen.
Betrachten wir ein Intervall 2s, das eine rote und
die darauf folgende schwarze Abteilung in sich ein-
Rouge et noir. 20'^
schließt. Sei 211 und 7?i der größte, bezw. der kleinste
Wert der Funktion (p{'d') in diesem Intervalle. Das auf
die roten Abteilungen ausgedehnte Integral wird kleiner
als 2Jlf8 sein; das auf die schwarzen Abteilungen aus-
gedehnte Integral wird größer als Z7us sein; die Dif-
ferenz wird also kleiner als 2(Äf — ??i)s ausfallen. Aber
wenn die Funktion cp als stetig vorausgesetzt ist, wenn
andererseits das Intervall s im Verhältnis zu dem ganzen,
von der Nadel durchlaufenen Winkel sehr klein ist, so
wird die Differenz Jlf — 7/1 sehr klein sein.
Die Differenz zwischen den beiden Integralen wird
also sehr klein sein und die Wahrscheinlichkeit sehr
nahe an — lieo^en.
2 °
Man versteht, daß ich, ohne etwas von der Funk-
tion (p zu wissen, so handeln kann, als ob die Wahr-
scheinlichkeit — wäre. Man versteht andererseits, warum
2
ein objektiver Zuschauer bei Beobachtung einer gewissen
Anzahl von Drehungen die Nadel ungefähr ebenso oft
auf schwarz wie auf rot anhalten sieht.
Alle Spieler kennen dieses objektive Gesetz; aber
es verleitet sie zu einem sonderbaren Irrtum, der schon
oft aufgeklärt ist, und in welchen sie immer wieder
zurückfallen. Wenn rot z. B. sechsmal hintereinander
herauskommt, so setzen sie auf schwarz und glauben
damit einen sicheren Einsatz gemacht zu haben, weil,
wie sie behaupten, es sehr selten ist, das rot siebenmal
hintereinander herauskommt.
Tatsächlich bleibt ihre Wahrscheinlichkeit auf Gewinn
gleich — Die Beobachtung beweist zwar, daß die
Serien von siebenmal rot hintereinander sehr selten sind;
aber die Serien von sechsmal rot hintereinander, worauf
dann schwarz folgt, sind ebenso selten. Sie haben die
Seltenheit der Serien von siebenmal rot hintereinander
204 ^^' ^^' -^^^ Wahrscheinliclikeitsrechnung.
bemerkt; aber sie haben nicht die Seltenheit der Serien
von sechsmal rot hintereinander und einmal schwarz be-
merkt, nur weil dergleichen Serien die Aufmerksamkeit
weniger auf sich lenken.
5. Die Wahrscheinlichkeit der Ursachen. Ich
komme jetzt zu den Problemen von der Wahrscheinlich-
keit der Ursachen. Dieselben sind unter dem Gesichts-
punkte der wissenschaftlichen Anwendung die wichtigsten.
Wenn z. B. zwei Sterne auf der Himmelskugel einander
sehr nahe sind, ist dann diese scheinbare Nähe ein
reiner Zufall, und befinden sich diese Sterne, obgleich
sie nahezu in derselben Gesichtslinie liegen, tatsächlich
in sehr verschiedenen Entfernungen von der Erde, und
sind sie folglich auch voneinander sehr weit entfernt?
Oder besser gesagt, entspricht dies einer wirklichen
Nähe? Diese Frage bezieht sich auf die Wahrscheinlich-
keit der Ursachen.
Ich erinnere daran, daß wir am Anfange aller Pro-
bleme über Wahrscheinlichkeit von Wirkungen, die uns
bis jetzt beschäftigt haben, immer ein mehr oder minder
berechtigtes Übereinkommen treffen mußten. Und wenn
das Resultat meistens, bis zu einem gewissen Grade,
von diesem Übereinkommen unabhängig war, so lag dies
daran, daß wir gewisse Annahmen machten, welche uns
erlaubten, z. B. die diskontinuierlichen Funktionen oder
gewisse einfältige Festsetzungen a priori zu verwerfen.
Wir werden etwas Analoges wiederfinden, wenn wir
uns mit der Wahrscheinlichkeit der Ursachen beschäfti-
gen. Eine Wirkung kann durch die Ursache A oder
die Ursache B hervorgebracht werden. Man hat die
Wirkung beobachtet; man verlangt die Wahrscheinlich-
keit dafür, daß sie der Ursache A entspringt; das ist
die Wahrscheinlichkeit der Ursache a posteriori. Aber
ich könnte sie nicht berechnen, wenn nicht ein mehr
oder minder berechtigtes Übereinkommen mich im vor-
Wahrscheinliclikeit der Ursaclien. 20=)
aus erkennen ließe, welches die Wahrscheinlichkeit a
priori dafür ist, daß die Ursache A in Wirkung tritt;
ich meine, die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses
für jemanden, der die Wirkung noch nicht beobachtet hat.
Um mich besser auszudrücken, komme ich auf das
Beispiel des Ecarte - Spieles zurück, das ich weiter oben
erwähnte; mein Gegner gibt zum ersten Male und
tourniert den König; welches ist die Wahrscheinlichkeit
dafür, daß er ein Falschspieler sei? Die gewöhnlich
o
gelehrten Formeln ergeben — , ein offenbar sehr über-
raschendes Resultat. Aber wenn man die Formeln näher
prüft, bemerkt man, daß die Rechnung gemacht wurde,
als hätte ich mich mit der Überzeugung an den
Spieltisch gesetzt, daß mein Gegner ebenso gut ehr-
lich, wie unehrlich sein könnte. Das ist eine törichte
Hypothese, weil ich in solchem Falle gewiß nicht mit
ihm gespielt haben würde; das erklärt die Absurdität
der gezogenen Folgerung. ^^)
Das Übereinkommen über die Wahrscheinlichkeit
a priori war ungerechtfertigt; darum hatte mich die Be-
rechnung über die Wahrscheinlichkeit a posteriori zu
einem unstatthaften Resultate geführt. Man sieht die
Wichtigkeit dieses vorhergegangenen Übereinkommens;
ich füge sogar hinzu, daß das Problem der Wahrschein-
lichkeit a posteriori keinen Sinn hat, wenn man kein
Übereinkommen getroffen hat; man muß ein solches
immer herstellen, sei es ausdrücklich oder stillschweigend.
Wir wollen zu einem Beispiele von wissenschaft-
licherem Charakter übergehen. Ich will ein experimen-
telles Gesetz bestimmen; wenn ich dieses Gesetz kennen
würde, so wäre es durch eine Kurve dargestellt; ich.
mache eine bestimmte Anzahl von isolierten Beobach-
tungen; jede von ihnen wird durch einen Punkt darge-
stellt. Wenn ich diese verschiedenen Punkte erhalten
206 I^> ^^- -^^^ "Wahrscheinlichkeitsreclinung.
habe, so lasse ich eine Kurve zwischen diesen Punkten
hindurchgehen, indem ich mich bemühe, mich möglichst
wenig von den Punkten zu entfernen und dennoch meiner
Kurve eine regelmäßige Form zu bewahren, d. h. eine
Form ohne Ecken, ohne zu starke Biegungen, ohne
plötzliche Veränderung des Krümmungsradius. Diese
Kurve stellt mir das wahrscheinliche Gesetz dar, und ich
nehme nicht nur an, daß sie mich diejenigen Werte der
Funktion kennen lehrt, welche zwischen den beobachteten
liegen, sondern daß sie mir die beobachteten Werte
selbst genauer als die direkte Beobachtung darstellt
(darum zog ich die Kurve nahe an meinen Punkten vor-
bei und nicht durch die Punkte selbst hindurch).
Das ist ein Problem der Wahrscheinlichkeit der Ur-
sachen. Die Wirkungen sind die von mir eingetragenen
Messungen ; sie hängen von der Zusammenwirkung zweier
Ursachen ab: von dem wirklichen Gesetze der Erschei-
nung und von den Beobachtungsfehlern. Wenn man
die Wirkungen kennt, handelt es sich darum, die Wahr-
scheinlichkeit dafür zu suchen, daß die Erscheinung
einem gewissen Gesetze gehorcht, und dafür, daß die
Beobachtungen mit gewissen Fehlern behaftet waren.
Das wahrscheinlichste Gesetz entspricht dann der ge-
zogenen Kurve, und der wahrscheinlichste Fehler einer
einzelnen Beobachtung wird durch die Entfernung des
ihr entsprechenden Punktes von der Kurve dargestellt.
Das Problem hätte jedoch keinen Sinn, wenn ich
mir nicht, noch vor der Beobachtung, eine, Idee a priori
über die Wahrscheinlichkeit dieses oder jenes Gesetzes
zurechtgelegt hätte, und wenn ich nicht die verschiede-
nen Möglichkeiten überdacht hätte, die zu Beobachtungs-
fehlern Veranlassung geben können.
Wenn meine Instrumente gut sind (und das weiß
ich, bevor die Beobachtung begonnen hat), gestatte ich
meiner Kurve nicht, sich zu sehr von den Punkten,
Theorie der Fehler. 207
welche die rohen Messungen darstellen, zu entfernen.
Wenn meine Instrumente jedoch schlecht beschaffen
sind, könnte ich mich von den Punkten etwas weiter
entfernen, um eine Kurve mit nicht allzu viel Biegungen
zu erhalten; ich würde der Regelmäßigkeit ein größeres
Opfer bringen.
Warum versuche ich denn eine Kurve mit nicht all-
zu starken Biegungen zu ziehen? Es geschieht, weil
ich a priori ein durch eine stetige Funktion dargestelltes
Gesetz (oder durch eine Funktion, deren höhere Diffe-
rentialquotienten sehr klein sind), für wahrscheinlicher
halte als ein Gesetz, das diesen Bedingungen nicht
genügt. Ohne diesen Glauben hätte das Problem, von
dem wir sprechen, keinen Sinn; die Interpolation wäre
unmöglich; man könnte ein Gesetz nicht aus einer end-
lichen Zahl von Beobachtungen ableiten; die Wissen-
schaft würde dann aufhören zu existieren.
Vor fünfzig Jahren hielten die Physiker unter sonst
gleichen Umständen ein einfaches Gesetz für wahrschein-
licher als ein kompliziertes Gesetz, Sie beriefen sich
sogar auf dieses Prinzip zu Gunsten des Mariotteschen
Gesetzes gegenüber den Experimenten von Regnault.
Heutzutage haben sie sich von diesem Glauben losge-
sagt; und doch, wie oft sind sie nicht dazu genötigt zu
handeln, als ob sie noch diesen Glauben behalten hätten l
Wie dem auch sei, was von dieser Tendenz übrig bleibt,
ist der Glaube an die Stetigkeit, und wir haben gesehen,
daß die experimentelle Wissenschaft unmöglich wäre,
wenn dieser Glaube verschwinden würde (vgl. S. 149 ff.).
6. Die Theorie der Fehler. — Wir werden so da-
zu geführt, von der Theorie der Fehler zu sprechen,
welche sich direkt an das Problem von der Wahrschein-
lichkeit der Ursachen anschließt. Auch hier konstatieren
wir Wirkungen, nämlich eine gewisse Anzahl von nicht-
übereinstimmenden Beobachtungen, und wir versuchen
2 08 I^' ^^' ^^^ Wahrscteinliclikeitsreclinung.
die Ursachen zu erraten, und diese liegen einerseits
in dem wirklichen Werte der zu messenden Größe,
andererseits in dem Fehler, der bei jeder einzelnen Be-
obachtung gemacht wurde. Man muß berechnen, welches
a posteriori die wahrscheinliche Größe jedes Fehlers
und folglich der wahrscheinliche Wert der zu messenden
Größe ist.
Aber nach dem, was ich soeben auseinandersetzte, kann
man diese Rechnung nicht unternehmen, wenn man nicht
a priori, d. h. noch bevor man beobachtet, ein Gesetz
für die Wahrscheinlichkeit der Fehler annimmt. Gibt
es ein Fehlergesetz?
Das von allen Rechnern angenommene Fehlergesetz
ist das Gesetz von Gauß, welches durch eine gewisse
transcendente Kurve dargestellt wird, die unter dem
Namen ,, Glockenkurve" bekannt ist.^^)
Vorerst ist es jedoch ratsam, sich an die klassische
Unterscheidung zwischen den systematischen und den
zufälligen Fehlern zu erinnern. Wenn wir eine Länge
mit einem zu langen Metermaße messen, werden wir
immer eine zu kleine Zahl herausbekommen, und es
nützt nichts, die Messung öfter zu wiederholen; das ist
ein systematischer Fehler. Wenn wir die Länge mit
einem genauen Metermaße messen, können wir uns wohl
täuschen, aber wir werden uns bald um mehr, bald um
weniger täuschen, und wenn wir den Durchschnitt einer
großen Anzahl von Messungen nehmen, wird sich der
Fehler ausgleichen. Das sind zufällige Fehler.
Es ist klar, daß die systematischen Fehler dem Ge-
setze von Gauß nicht gehorchen können; aber befolgen
die zufälligen Fehler dieses Gesetz? Man hat eine
große Anzahl von Beweisen versucht; fast alle sind grobe
Trugschlüsse. Man kann trotzdem das Gesetz von Gauß
beweisen, indem man von folgenden Hypothesen aus-
geht: der begangene Fehler ist die Resultante sehr vieler
Systematische und zufallige Fehler. 20Q
einzelner und unabhängiger Fehler; jeder dieser einzel-
nen Fehler ist sehr klein und folgt außerdem irgend
einem Wahrscheinlichkeitsgesetze, nur muß die Wahr-
scheinlichkeit eines positiven Fehlers dieselbe sein wie
die Wahrscheinhchkeit eines gleich großen Fehlers von
entgegengesetztem Vorzeichen. Es ist klar, daß diese
Bedingungen oft erfüllt werden, aber nicht immer; und
wir können den Namen der zufälligen Fehler nur für
die Fehler beibehalten, welche diesen Bedingungen ent-
sprechen.
Man sieht, daß die Methode der kleinsten Quadrate
nicht in allen Fällen berechtigt ist; im allgemeinen miß-
trauen die Physiker dieser Methode mehr als die Astro-
nomen. Ohne Zweifel liegt dies daran, daß diese letz-
teren, abgesehen von den systematischen Fehlern, die
bei ihnen ebenso wie bei den Physikern vorkommen,
mit einer äußerst wichtigen Fehlerquelle zu tun haben,
die gänzlich vom Zufalle abhängt; ich meine die atmo-
sphärischen Undulationen. Es ist sehr merkwürdig, den
Meinungsaustausch zwischen einem Physiker und einem
Astronomen inbezug auf Beobachtungsmethoden an-
zuhören: Der Physiker ist davon überzeugt, daß eine
gute Messung besser ist als viele schlechte, und be-
schäftigt sich vor allem damit, die letzten systematischen
Fehler mit äußerster Vorsicht zu entfernen, und der
Astronom antwortet ihm darauf: „Aber Sie können ja
dann nur eine kleine Anzahl von Sternen beobachten;
die zufälligen Fehler werden sich nicht ausgleichen".
Was sollen wir daraus entnehmen? Soll man damit
fortfahren, die Methode der kleinsten Quadrate anzu-
wenden? Wir müssen folgendes unterscheiden: wir
haben alle systematischen Fehler, die wir vermuten
konnten, entfernt; wir wissen wohl, daß es noch welche
gibt, aber wir können sie nicht auffinden; dennoch
müssen wir einen Entschluß fassen und einen definitiven
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. I4
2 I O IVj 1 1 • Die Wahrscheinliclikeitsreclinung.
Wert annehmen, welcher als der wahrscheinliche Wert
betrachtet wird; es ist klar, daß man dafür am besten
die Gaußsche Methode anwendet. Wir haben nur eine
praktische, sich auf die subjektive Wahrscheinlichkeit be-
ziehende Regel anzuwenden. Dagegen läßt sich nichts
einwenden.
Aber man will noch weiter gehen und behaupten,
daß nicht nur der wahrscheinliche Wert so und so groß
ist, sondern daß auch der wahrscheinliche, dem Resultate
anhaftende Fehler so und so groß ist. Das ist abso-
lut unberechtigt; das würde nur richtig sein, wenn
wir sicher wären, daß alle systematischen Fehler ausge-
merzt sind, und davon wissen wir durchaus nichts. Wir
haben zwei Serien von Beobachtungen; wenn wir die
Regel der kleinsten Quadrate anwenden, so finden wir,
daß der wahrscheinliche Fehler in der ersten Serie zwei-
mal kleiner als in der zweiten ist. Die zweite Serie
kann indessen besser wie die erste sein, weil die erste
vielleicht von einem groben, systematischen Fehler beein-
flußt ist. Alles, was wir sagen können, ist, daß die erste
Serie wahrscheinlich besser als die zweite ist, weil
ihr zufälliger Fehler geringer ist, und daß wir keinen
Grund haben zu behaupten, der systematische Fehler
sei für die eine Serie größer als für die andere, denn
unsere Unwissenheit ist auf diesem Gebiete eine ab-
solute.
7. Schlußfolgerungen. — In den vorhergehenden
Zeilen habe ich viele Probleme aufgestellt, aber keines
davon gelöst. Ich bedaure dennoch nicht, diese Zeilen
geschrieben zu haben, denn sie werden den Leser viel-
leicht dazu veranlassen, über diese verwickelten Fragen
nachzudenken.^^)
Wie man auch darüber denken mag, gewisse Punkte
sind doch festgelegt. Um irgend eine Wahrscheinlich-
keitsrechnung zu unternehmen und um dieser Rechnung
Die Fresnelsche Theorie. 211
einen Sinn zu geben, muß man als Ausgangspunkt eine
Hypothese oder ein Übereinkommen zulassen, welches
immer eine gewisse Willkürlichkeit hineinbringt. In der
Wahl dieses Übereinkommens können wir uns nur von
dem Prinzipe des zureichenden Grundes leiten lassen.
Unglücklicherweise ist dieses Prinzip sehr unbestimmt
und sehr dehnbar, und wir haben bei der nur kurzen
Prüfung, der wir es unterzogen, bemerkt, daß es ver-
schiedene Gestalten annimmt. Die Gestalt, welche es
am häufigsten annahm, ist der Glaube an die Stetigkeit,
ein Glaube, der schwer durch eine apodiktische Beweis-
führung zu rechtfertigen ist, ohne den jedoch jede
Wissenschaft unmöglich sein würde. Die Probleme, auf
welche die Wahrscheinlichkeitsrechnung mit Recht an-
gewandt werden kann, sind schließHch diejenigen, bei
denen das Resultat unabhängig von der zu Anfang ge-
machten Hypothese ist, wenn nur diese Hypothese der
Bedingung der Stetigkeit genügt.
Zwölftes Kapitel.
Optik und Elektrizität.
Die Fresnelsche Theorie. — Das beste Beispiel^),
das wir wählen können, ist die Theorie des Lichtes und
ihre Beziehung zur Elektrizitäts-Theorie. Wir verdanken
Fresnel, daß die Optik der am weitesten vorgeschrittene
Teil der mathematischen Physik ist; die sogenannte
Theorie der Wellenbewegungen bildet für den Verstand
ein wahrhaft befriedigendes Ganze; aber wir dürfen von
ihr nicht verlangen, was sie nicht leisten kann.
^) Dieses Kapitel ist die teilweise Reproduktion der Vorrede
meiner beiden Werke: Theorie mathematique de la lumiere (Paris,
Naud, 1889) und Electricite et optique (Paris, Naud, 1901).
14*
219 IV, 12. Optik und Elektrizität.
Die mathematische Wissenschaft hat nicht den Zweck,
uns über die wahre Natur der Dinge aufzuklären; das
würde ein unbilliges Verlangen sein. Ihr einziges Ziel
ist, die physikalischen Gesetze miteinander zu verbinden,
»welche die Erfahrung uns zwar erkennen ließ, die wir
aber ohne mathematische Hilfe nicht aussprechen könnten.
Es kümmert uns wenig, ob der Äther wirklich exi-
stiert; das ist Sache des Metaphysikers ; wesentlich für
uns ist nur, daß alles sich abspielt, als wenn er exi-
stierte, und daß diese Hypothese für die Erklärung der
Erscheinungen bequem ist. Haben wir übrigens eine
andere Ursache, um an das Dasein der materiellen Ob-
jekte zu glauben? Auch das ist nur eine bequeme
Hypothese; nur wird sie nie aufhören zu bestehen, wäh-
rend der Äther eines Tages ohne Zweifel als unnütz
verworfen wird.
Aber auch an diesem Tage werden die Gesetze der
Optik und die Gleichungen, welche sie in die Sprache
der Analysis übertragen, richtig bleiben, wenigstens als
erste Annäherungen. Es wird also immer nützlich bleiben,
eine Lehre zu studieren, welche alle diese Gleichungen
untereinander verknüpft.
Die Theorie der Wellenbewegungen beruht auf einer
molekularen Hypothese; für die einen, d. h. für die-
jenigen, welche glauben, auf diese Art den Urgrund der
Gesetze zu entdecken, ist es ein Vorteil; für die andern
ein Grund mehr zum Mißtrauen; aber dieses Mißtrauen
scheint mir ebensowenig gerechtfertigt zu sein wie die
Illusion der ersteren.
Diese Hypothesen spielen nur eine untergeordnete
Rolle. Man könnte sie opfern; man tut es gewöhnlich
nicht, weil die Darstellung an Klarheit verlieren würde;
aber das ist auch der einzige Grund (vergl. S. 154).
Und wirklich, bei näherer Betrachtung wird man
sehen, daß man den molekularen Hypothesen nur zwei
Die Maxwellsche Theorie.
213
Dinge entlehnt: das Prinzip von der Erhaltung der
Energie und die lineare Form der Gleichungen, welche
das oberste Gesetz für die kleinen Bewegungen wie
überhaupt für alle kleinen Veränderungen ist.^^)
Das erklärt, warum die meisten Schlußfolgerungen
Fresnels ohne Veränderungen fortbestehen, wenn man
die elektro-magnetische Theorie des Lichtes annimmt.
Die Maxwellsche Theorie. — Man weiß, daß Max-
well zwei Abteilungen der Physik, die einander bis da-
hin vollkommen fremd waren, durch ein enges Band mit-
einander verknüpfte: Optik und Elektrizität. Die Optik
Fresnels büßte nichts von ihrer Lebensfähigkeit ein, wenn
sie derart mit einem umfassenderen Ganzen, mit einer
höheren Harmonie verschmolzen wurde. Ihre verschie-
denen Teile bestehen fort, und die gegenseitigen Be-
ziehungen derselben bleiben stets die gleichen. Nur die
Sprache, in welcher wir sie ausdrücken, hat sich ver-
ändert, aber andererseits hat uns Maxwell andere Be-
ziehungen, die bis jetzt noch nicht geahnt wurden,
zwischen den verschiedenen Teilen der Optik und dem
Gebiete der Elektrizität offenbart. ^^)
Wenn ein französischer Leser das Buch von Max-
well zum ersten Male öffnet, so mischt sich ein Gefühl
des Unbehagens, oft sogar des Mißtrauens in seine Be-
wunderung. Erst, nachdem er sich länger mit dem
Buche beschäftigt hat, und nach Überwindung großer
Schwierigkeiten verliert sich dieses Gefühl. Manch be-
deutender Geist behält diese Gefühle jedoch immer.
Warum führen sich die Ideen des englischen Ge-
lehrten so schwer bei uns ein? Wahrscheinlich, weil die
von den meisten gebildeten Franzosen erhaltene Er-
ziehung sie besonders dazu beanlagt, die Genauigkeit
und die Logik jeder anderen Eigenschaft vorzuziehen.
Die alten Theorien der mathematischen Physik boten
uns in dieser Hinsicht eine völlige Befriedigung. Alle
21 A IV, 12. Optik und Elektrizität.
unsere Meister von Laplace bis auf Cauchy sind in
gleicher Weise vorgegangen. Indem sie von klar aus-
gesprochenen Hypothesen ausgingen, leiteten sie aus
ihnen mit mathematischer Strenge alle Folgerungen ab
und verglichen sie darauf mit der Erfahrung. Sie schienen
jedem Zweige der Physik dieselbe Exaktheit wie der
Mechanik des Himmels geben zu wollen.
Ein Verstand, der gewohnt ist, solche Vorbilder zu
bewundern, ist schwer durch eine Theorie zu befriedigen.
Er wird in einer solchen nicht nur den geringsten Schein
eines Widerspruchs als unerträglich empfinden, sondern
er wird verlangen, daß die verschiedenen Teile der
Theorie logisch miteinander verbunden sein müssen, und
daß man die gemachten Hypothesen einzeln ausspricht
und ihre Anzahl auf ein Minimum beschränkt.
Das ist nicht alles, er wird noch andere Forderungen
stellen, die mir weniger vernünftig erscheinen. Hinter
der Materie, die von unseren Sinnen wahrgenommen
wird, und welche wir durch die Erfahrung kennen, ver-
sucht er eine andere Materie zu sehen, welche in seinen
Augen die einzig richtige ist, welche nur noch rein
geometrische Eigenschaften besitzt und deren Atome nur
mathematische, den alleinigen Gesetzen der Dynamik
unterworfene Punkte sind. Und dennoch wird er sich
gewissermaßen gegen seine eigene Überzeugung diese
unsichtbaren und farblosen Atome bildlich darzustellen
suchen und dieselben dadurch möglichst der gewöhn-
lichen Materie nähern.
Nur dann wird er völlig befriedigt sein und sich ein-
bilden, das Geheimnis des Weltalls erforscht zu haben.
Wenn diese Befriedigung auch eine trügerische ist, so
ist es deshalb doch nicht minder schwer, ihr zu entsagen.
Deshalb erwartet ein Franzose, wenn er Maxwells
Buch öffnet, eine zusammenhängende Theorie zu finden,
die ebenso logisch und ebenso genau ist wie die auf
Schwierigkeiten bei Maxwell. 2 I 5
der Hypothese vom Äther beruhende Optik; er bereitet
sich dadurch eine Enttäuschung, vor der ich den Leser
bewahren möchte, indem ich ihn sofort davon in Kenntnis
setze, was er bei Maxwell suchen soll und was er bei
ihm nicht finden kann.
Maxwell gibt keine mechanische Erklärung für die
Elektrizität und den Magnetismus; er beschränkt sich
darauf zu beweisen, daß diese Erklärung möglich ist.
Er zeigt zugleich, daß die optischen Erscheinungen
nur ein besonderer Fall der elektromagnetischen Erschei-
nungen sind. Aus jeder Theorie der Elektrizität kann
man also sofort eine Theorie des Lichtes ableiten.
Das Umgekehrte geht leider nicht; es ist nicht immer
leicht, aus einer vollkommenen Erklärung des Lichtes
eine vollkommene Erklärung der elektrischen Erschei-
nungen abzuleiten. Es ist besonders nicht leicht, wenn
man von der Fresnelschen Theorie ausgehen will; es
würde zweifellos nicht unmöglich sein; nichtsdestoweniger
muß man sich fragen, ob man nicht gezwungen werden
würde, bewunderungswürdigen Resultaten zu entsagen,
welche man definitiv gesichert glaubte. Das scheint ein
Schritt rückwärts zu sein, und mancher tüchtige Kopf
wird sich zu solcher Entsagung nicht entschließen.®'*^)
Wenngleich der Leser darein willigt, seine Hoff'nun-
gen zu beschränken, so wird er sich doch an anderen
Schwierigkeiten stoßen; der englische Gelehrte versucht
nicht ein einziges, bestimmtes und wohlgeordnetes Ge-
bäude zu errichten, er scheint vielmehr eine große An-
zahl provisorischer und voneinander unabhängiger Bauten
aufzuführen, zwischen denen die Verbindung manchmal
schwierig und oft unmöglich ist.
Nehmen wir z. B. das Kapitel, in welchem er die
elektrostatische Attraktion durch Druck- und Zugkräfte
erklärt, welche in dem dielektrischen Medium herrschen.
Dieses Kapitel könnte ausgelassen werden, ohne daß der
2i5 IV, 12. Optik und Elektrizität.
Rest des Buches weniger klar und weniger vollständig
wäre, und andererseits enthält es eine Theorie, welche
sich selbst genügt, und man kann sie verstehen, ohne
auch nur eine der vorhergehenden oder der folgenden
Zeilen zu lesen. Aber dieses Kapitel ist nicht nur un-
abhängig von dem übrigen Werke; es ist schwer mit den
fundamentalen Ideen des Buches in Einklang zu bringen,
Maxwell selbst versucht nicht, diese Übereinstimmung
herbeizuführen; er beschränkt sich darauf zu sagen:
,,I have not been able to make the next step, namely, to
account by mechanical considerations for these Stresses
in the dielectric."
Dieses Beispiel wird meinen Gedankengang ver-
ständlich machen; ich könnte noch andere Beispiele an-
führen. Wer würde daran zweifeln, wenn er die Seiten
liest, welche sich mit der magnetischen Drehung der
Polarisations-Ebene beschäftigen, daß es eine Wesens-
einheit zwischen den optischen und den magnetischen
Erscheinungen gibt?
Man soll sich nicht einbilden, jeden Widerspruch ver-
meiden zu können; man muß sich darin finden. Zwei
widersprechende Theorien können tatsächlich, voraus-
gesetzt, daß man sie nicht miteinander vermengt und in
ihnen nicht den Grund der Dinge erblickt, alle beide
nützliche Untersuchungs -Werkzeuge sein, und vielleicht
wäre die Lektüre Maxwells weniger anregend, wenn er
uns nicht so viele Ausblicke in die verschiedensten
Richtungen eröffnet hätte.
Aber die fundamentale Idee ist dadurch etwas ver-
kleidet, und zwar so sehr, daß sie in den meisten popu-
lären Werken fast vollständig übersehen wird.
Um ihre Wichtigkeit besser hervorzuheben, glaube
ich erklären zu müssen, worin diese fundamentale Idee
besteht. Dazu ist eine kurze Abweichung notwendig.
Die mechanische Erklärung der physikalischen
Mechanisclie Erklärung. 2 17
Erscheinungen. — In jeder physikalischen Erscheinung
gibt es eine gewisse Anzahl von Parametern, welche dem
Experimente direkt zugänglich sind und durch dasselbe
gemessen werden. Ich will sie die Parameter q nennen.
Die Beobachtung läßt uns darauf die Gesetze von
den Veränderungen dieser Parameter erkennen, und diese
Gesetze lassen sich allgemein in die Form von Differential-
gleichungen setzen, welche die Parameter q und die
Zeit miteinander verbinden.
Wie kann man eine mechanische Erklärung für eine
solche Erscheinung geben?
Man wird versuchen, sie entweder durch die Be-
wegungen der gewöhnlichen Materie oder durch die Be-
wegungen eines hypothetischen Fluidums oder mehrerer
Fluida zu erklären.
Diese Fluida werden von einer sehr großen Anzahl
einzelner Moleküle gebildet, die ich m nennen will.
Wann werden wir nun sagen, daß wir eine voll-
kommene mechanische Erklärung für die Erscheinung
haben? Das wird einerseits der Fall sein, wenn wir die
Differentialgleichungen kennen, welchen die Koordinaten
dieser hypothetischen Moleküle m genügen, dieselben
Gleichungen, welche andrerseits den Prinzipen der Dy-
namik konform sein müssen; andrerseits wird es ge-
schehen, wenn wir die Relationen kennen, welche die
Koordinaten der Moleküle m in Funktion der Parameter
q definieren, welch letztere dem Experimente zugäng-
lich sind.
Diese Gleichungen müssen, wie ich bereits sagte,
den Prinzipen der Dynamik und besonders dem Prinzipe
von der Erhaltung der Energie und dem Prinzipe der
kleinsten Wirkung konform sein.
Das erste dieser beiden Prinzipe lehrt uns, daß die
totale Energie konstant ist, und daß diese Energie sich
in zwei Teile teilt:
2i8 IV, 12. Optik und Elektrizität.
1. Die kinetische Energie oder lebendige Kraft,
welche von den Massen der hypothetischen Moleküle m
und von ihren Geschwindigkeiten abhängt, und die ich
T nennen werde.
2. Die potentielle Energie, welche nur von den Koor-
dinaten dieser Moleküle abhängt, und die ich U nennen
werde. Die Summe dieser beiden Energien T und U
ist konstant.
Was lehrt uns nun das Prinzip der kleinsten Wirkung?
Es lehrt uns, daß das System, um von der Anfangslage,
welche es im Zeitpunkte t^ einnimmt, zur Endlage, die
es im Zeitpunkte t^ einnimmt, überzugehen, einen solchen
Weg einschlagen muß, daß in dem Intervalle der Zeit,
welche zwischen den beiden Zeitpunkten /q und t^ ver-
geht, der mittlere Wert der ,, Wirkung" (d. h. der Diffe-
renz zwischen den beiden Energien T und U) so klein
als möglich ist. Das erste dieser beiden Prinzipe ist
übrigens eine Folge des zweiten.
Wenn man die beiden Funktionen T und U kennt,
so genügt dieses Prinzip, um die Gleichungen der Be-
wegung zu bestimmen.
Unter allen Wegen, welche den Übergang von einer
Lage in die andere vermitteln, gibt es offenbar einen,
für welchen der mittlere Wert der Wirkung kleiner ist
als für alle anderen. Es gibt auch nur einen solchen
Weg, und es folgt daraus, daß das Prinzip der kleinsten
Wirkung hinreichend ist, um den eingeschlagenen Weg
und folglich die Gleichungen der Bewegung zu bestimmen.
Man erhält so die sogenannte erste Form der Glei-
chungen von Lagrange.
In diesen Gleichungen sind die unabhängigen Va-
riabein die Koordinaten der hypothetischen Moleküle m\
aber ich setze jetzt voraus, daß man die Parameter q zu
Variabein nimmt, weil sie der Erfahrung direkt zugäng-
lich sind.
Kinetisclie und potentielle Energie. 2 I Q
Die beiden Teile der Energie müssen sich dann in
Funktion der Parameter q und ihrer Diflferentialquotienten
ausdrücken lassen; in dieser Gestalt erscheinen sie offen-
bar dem Experimentator. Dieser sucht natürlich die
potentielle und die kinetische Energie mit Hilfe der
Größen, welche er direkt beobachten kann, zu definieren.*)
Dies vorausgesetzt, wird das System stets von einer
Lage zu einer anderen einen derartigen Weg verfolgen,
daß die mittlere Wirkung ein Minimum sein wird.
Es kommt nicht darauf an, daß T und U jetzt mit
Hilfe der Parameter q und ihrer Differentialquotienten
ausgedrückt werden; ebensowenig kommt es darauf an,
daß wir gerade mittelst dieser Parameter die Anfangs-
und Endlage definieren; das Prinzip der kleinsten Wir-
kung bleibt immer richtig.
Es sei hier gleich eingeschaltet, daß von allen Wegen,
die von einer Lage zu einer anderen führen, es einen
gibt, für den die mittlere Wirkung ein Minimum ist, und
daß es nur den einen Weg gibt. Das Prinzip der kleinsten
Wirkung genügt also, um die Differentialgleichungen zu
bestimmen, welche die Veränderungen der Parameter q
definieren.
Die so erhaltenen Gleichungen sind eine zweite Form
der Gleichungen von Lagrange. ^^)
Um diese Gleichungen zu bilden, brauchen wir nicht
die Verbindungen zu kennen, welche die Parameter q
mit den Koordinaten der hypothetischen Moleküle ver-
binden, noch die Massen dieser Moleküle, noch den
Ausdruck von U in Funktion der Koordinaten dieser
Moleküle. Alles was wir kennen müssen, ist der Aus-
druck von U in Funktion der q und derjenige von T
*) Wir fügen hinzu, daß TJ nur von den Parametern g, T von
den Parametern q und ihren Differentialquotienten inbezug auf
die Zeit abhängt, und daß T ein homogenes Polynom zweiten
Grades in Bezug auf diese Differentialquotienten ist.
2 20 I^» 12. Optik und Elektrizität.
in Funktion der q und ihrer Differentialquotienten, d. h,
die Ausdrücke der kinetischen Energie und der poten-
tiellen Energie in Funktion der experimentellen Daten.
Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder die in
obiger Weise hergestellten Lagrangeschen Gleichungen
stimmen bei passender Wahl der Funktionen T und U
mit den Differentialgleichungen überein, welche man aus
den Experimenten ableitet; oder es gibt keine solche
Funktionen T und U, für welche diese Übereinstimmung
stattfindet.
In diesem letzteren Falle ist es klar, daß eine
mechanische Erklärung nicht möglich ist.
Die notwendige Bedingung dafür, daß eine mecha-
nische Erklärung durchführbar sei, liegt also in der
Möglichkeit, die Funktionen T und U so zu wählen,
daß sie das Prinzip der kleinsten Wirkung befriedigen,
welches das Prinzip der Erhaltung der Energie zur
Folge hat.
Diese Bedingung ist übrigens hinreichend; in der
Tat: wir wollen voraussetzen, daß man eine Funktion U
der Parameter q gefunden hat, welche einen der Teile
der Energie darstellt, daß ein anderer Teil der Energie,
welche wir durch T darstellen, eine Funktion der q und
ihrer Diflferentialquotienten ist, und daß sie ein homo-
genes Polynom zweiten Grades inbezug auf diese
Differentialquotienten ist, und endlich, daß die Glei-
chungen von Lagrange, welche mit Hilfe dieser beiden
Funktionen T und U gebildet sind, den Daten der Er-
fahrung konform sind.
Wie leitet man nun daraus eine mechanische Er-
klärung ab? Man muß U als potentielle Energie eines
Systems ansehen und T als die lebendige Kraft dieses
selben Systems.
Das ist, was U betrifft, nicht schwierig; aber kann
Unendlicli viele Erklärungen. 2 2 1
T als die lebendige Kraft eines materiellen Systems an-
gesehen werden?
Es ist leicht zu beweisen, daß das stets möglich ist,
■und zwar auf unendlich viele verschiedene Arten. Für
weitere Einzelheiten verweise ich auf das Vorwort meines
Werkes: Elektrizität und Optik.
Wenn man also dem Prinzipe der kleinsten Wirkung
nicht genügen kann, so gibt es keine mögliche mecha-
nische Erklärung; wenn man dem Prinzipe genügen
kann, so gibt es nicht nur eine Erklärung, sondern un-
endlich viele Erklärungen, woraus hervorgeht, daß es
unendlich viele gibt, sobald es eine gibt.
Ich mache noch eine Bemerkung.
Unter den Größen, welche das Experiment uns direkt
nahe bringt, betrachten wir die einen als Funktionen
der Koordinaten unserer hypothetischen Moleküle; das
sind die Parameter q\ wir betrachten die anderen nicht
nur als abhängig von den Koordinaten, sondern auch
als abhängig von den Geschwindigkeiten oder, was auf
dasselbe herauskommt, als Differential quotienten der
Parameter q oder als Kombinationen dieser Parameter
und ihrer Differentialquotienten.
Dann drängt sich uns die folgende Frage auf: Welche
unter allen diesen experimentell gemessenen Größen
wählen wir, um die Parameter q darzustellen? Welche
von ihnen werden wir auswählen, um sie als Differential-
quotienten dieser Parameter zu betrachten? Diese Wahl
bleibt in sehr ausgedehntem Maße willkürlich, aber um
eine mechanische Erklärung zu ermöglichen, ist es ge-
nügend, wenn man sie so treffen kann, daß man mit
dem Prinzipe der kleinsten Wirkung in Übereinstimmung
bleibt.
Und in dieser Weise hat Maxwell sich gefragt, ob
er diese Wahl und die Auswahl der beiden Energien
T und U so treffen kann, daß die elektrischen Erschei-
22 2 I^» 12. Optik und Elektrizität.
nungen diesem Prinzipe genügen können. Die Erfah-
rung zeigt uns, daß die Energie eines elektromagnetischen
Feldes sich in zwei Teile zerlegt, in die elektrostatische
Energie und die elektrodynamische Energie. Maxwell
erkannte folgendes: Wenn man annimmt, daß die erste
die potentielle Energie U und die zweite die kinetische
Energie T darstellt, wenn andererseits die elektrostatischen
Ladungen der Konduktoren als Parameter q und die
Intensitäten der Ströme als Differential-Quotienten anderer
Parameter q betrachtet werden; unter diesen Bedingun-
gen, sage ich, erkannte Maxwell, daß die elektrischen
Erscheinungen dem Prinzipe der kleinsten Wirkung ge-
nügen. Er war seitdem von der Möglichkeit einer
mechanischen Erklärung überzeugt.
Wenn er diese Idee am Anfange seines Buches klar
ausgesprochen hätte, anstatt sie in einen Winkel des
zweiten Bandes zu verbannen, so wäre sie den meisten
Lesern nicht entgangen.
Wenn also eine Erscheinung eine vollständig mechani-
sche Erklärung zuläßt, so wird sie eine unendliche An-
zahl anderer mechanischer Erklärungen gestatten, welche
ebensogut von allen durch die Erfahrung geoflfenbarten
Einzelheiten Rechenschaft geben.
Und das ist durch die Geschichte aller Teile der
Physik bestätigt; in der Optik z. B. hält Fresnel die
Vibration für senkre.cht zur Polarisationsebene; Neumann
hält sie für parallel zu dieser Ebene. Man hat lange
ein ,,experimentum crucis" gesucht, welches zwischen
diesen beiden Theorien entscheiden sollte, aber man hat
ein solches nicht gefunden.
Ebenso können wir, ohne das Gebiet der Elektrizität
zu verlassen, konstatieren, daß die Theorie zweier Fluida
und die Theorie eines Fluidums beide gleich gut von
dem beobachteten Gesetze der Elektrostatik Rechenschaft
geben.
Anteil persönlicher Vorliebe. 22^
Alle diese Tatsachen erklären sich leicht dank den
Eigenschaften der Lagrangeschen Gleichungen, welche
ich erwähnte.
Es ist jetzt leicht zu verstehen, welches die funda-
mentale Idee Maxwells war.
Um die Möglichkeit einer mechanischen Erklärung
der Elektrizität zu beweisen, brauchen wir uns nicht vor-
zunehmen, diese Erklärung selbst wirklich aufzufinden;
es genügt uns, den A.usdruck für die beiden Funktionen
T und U zu kennen, welche die beiden Teile der
Energie sind, darauf mit diesen beiden Funktionen die
Lagrangeschen Gleichungen zu bilden und dann diese
Gleichungen mit den experimentellen Gesetzen zu ver-
gleichen.
Wie soll man unter allen diesen möglichen Erklärun-
gen eine Wahl treffen, für die wir in den Experimenten
keinen Anhalt finden? Es wird vielleicht ein Tag kom-
men, an dem die Physiker diesen für die positiven
Methoden unzugänglichen Fragen kein Interesse mehr
schenken und sie den Metaphysikern überlassen. Dieser
Tag ist noch nicht gekommen; der Mensch gesteht nicht
so leicht ein, daß er den Grund der Dinge niemals er-
kennen kann.
Unsere Wahl kann also nur von Betrachtungen ge-
leitet werden, bei denen der Anteil persönlicher Neigung
und Vorliebe sehr groß ist; es gibt indessen Lösungen,
welche von jedem ihrer Wunderlichkeit wegen verworfen
werden, und es gibt wiederum Lösungen, welche jeder
ihrer Einfachheit wegen bevorzugt.
Was die Elektrizität und den Magnetismus betriff't,
so enthält sich Maxwell jeder Wahl; aber nicht weil er
grundsätzlich alles, was die positiven Methoden nicht
nahe bringen können, verachtet; die Zeit, welche er der
kinetischen Theorie der Gase widmete, legt davon Zeug-
nis ab. Ich füge hinzu, daß, wenn er in seinem großen
2 24 ^^' ^3- ^^^ Elektrodynamik.
Werke keine vollständige Erklärung entwickelt, er anderer-
seits versucht, eine solche in einem Artikel des Philo-
sophical Magazine zu geben. Die Fremdartigkeit und
die Kompliziertheit der Hypothesen, welche er so machen
mußte, veranlaßten ihn, darauf zu verzichten. ^^)
Derselbe Geist findet sich im ganzen Werke wieder.
Alles Wesentliche, d. h. alles, was sämtlichen Theorien
gemeinsam bleiben muß, ist klar beleuchtet worden;
alles, was nur für eine besondere Theorie paßt, wird
fast immer mit Stillschweigen übergangen. Der Leser
findet sich somit einer fast inhaltlosen Form gegenüber,
welche er für einen vorübergleitenden und nicht greif-
baren Schatten halten möchte. Aber die Anstrengungen,
welche er gewaltsam machen muß, zwingen ihn zum
Denken, und schließlich begreift er das ganze Gebäude
der oft etwas künstlichen Theorien, welche er früher
lediglich bewunderte.
Dreizehntes Kapitel.
Die Elektrodynamik.
Die Geschichte der Elektrodynamik ist gerade für
unseren Standpunkt sehr lehrreich.
Ampere hat sein unsterbliches Werk ,, Theorie des
phenomenes electrodynamiques uniquement fondee sur
l'experience" betitelt. Er bildete sich also ein, keine
Hypothese gemacht zu haben; er hat, wie wir bald be-
merken werden, trotzdem Hypothesen aufgestellt, aber
er tat es, ohne es zu wissen.
Diejenigen welche nach ihm kamen, bemerkten sie
jedoch, weil ihre Aufmerksamkeit auf die schwachen
Punkte der Ampereschen Lösung gelenkt wurden. Sie
machten neue Hypothesen, diesesmal mit vollem Be-
Die Amperesche Theorie. 22^
wußtsein; aber wie oft mußte man sie ändern, bevor
man zu dem klassischen Systeme von heute gelangte,
welches vielleicht auch noch nicht definitiv ist; wir
wollen darauf näher eingehen.
I. Die Amperesche Theorie. — Als Ampere die
gegenseitigen Wirkungen der Ströme experimentell stu-
dierte, so operierte er nur mit geschlossenen Strömen
und konnte nicht anders operieren.
Das geschah nicht, weil er die Möglichkeit der offe-
nen Ströme leugnete. Wenn zwei Konduktoren mit ent-
gegengesetzter Elektrizität geladen sind und wenn man
sie durch einen Draht in Verbindung bringt, entsteht
ein Strom, der von einem Konduktor zum anderen geht
und welcher so lange dauert, bis die beiden Potentiale
gleich geworden sind. Für die Auffassung, welche zur Zeit
Amperes herrschte, war das ein offener Strom; man sah
wohl den Strom vom ersten Konduktor zum zweiten
übergehen, aber man sah ihn nicht vom zweiten zum
ersten Konduktor zurückkommen.
Ströme dieser Art betrachtete Ampere als offene,
z. B, die Entladungsströme der Kondensatoren; aber er
konnte sie nicht zum Gegenstande seiner Experimente
machen, weil ihre Dauer zu kurz ist.
Man kann sich noch eine andere Art von offenen
Strömen vorstellen. Ich setze zwei Konduktoren A und
B voraus, welche durch einen Draht A ÜB verbunden
sind. Kleine, in Bewegung geratene, leitende Massen
setzen sich zuerst mit dem Konduktor B in Berührung
und entnehmen ihm eine elektrische Ladung, sie ver-
lassen die Berührung mit B, setzen sich in Bewegung,
indem sie den Weg BNA verfolgen, und, indem sie
ihre Ladung mit sich tragen, kommen sie in Berührung
mit A und geben dort ihre Ladung ab, welche nun zu
B zurückgelangt, indem sie längs des Drahtes A ÜB
geht.
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. I5
2 2 6 IV, 13. Elektrodynamik.
Man hat hier in gewissem Sinne einen geschlossenen
Strom, weil die Elektrizität die geschlossene Kurve
B IVA ÜB beschreibt; aber die beiden Teile dieses
Stromes sind sehr verschieden; in dem Drahte AUB
bewegt sich die Elektrizität im Innern eines festen
Leiters in der Art eines Voltaschen Stromes, indem sie
einen Ohmschen Widerstand überwindet und Wärme
entwickelt; man sagt, daß sie sich durch Leitung
fortbewegt; in dem Teile B NA ist die Elektrizität durch
einen beweglichen Leiter übertragen; man sagt dann,
daß sie sich durch Konvektion bewegt.
Wenn der Konvektionsstrom als völlig analog mit
dem Leitungsstrome erachtet wird, so ist der Strom
BN AUB geschlossen; wenn im Gegensatze dazu der
Konvektionsstrom nicht ,,ein richtiger Strom" ist und
z. B. auf den Magnet nicht einwirkt, so bleibt nur der
Leitungsstrom A ÜB übrig, und der ist offen.
Wenn man z. B. die beiden Pole einer Holtzschen
Maschine durch einen Draht verbindet, so überträgt die
rotierende, mit Elektrizität beladene Scheibe von einem
Pole zum anderen durch Konvektion Elektrizität, und
diese gelangt durch Leitung im Innern des Drahtes zum
ersten Pole zurück.
Aber Ströme dieser Art sind sehr schwierig mit
wahrnehmbarer Intensität zu verwirklichen. Mit den
Mitteln, über welche Ampere verfügte, war es so gut wie
unmöglich.
Kurz, Ampere konnte das Vorhandensein zweier
Arten von offenen Strömen erkennen, aber er konnte
weder mit den einen noch mit den anderen operieren,
weil sie zu wenig intensiv waren oder zu kurze Zeit
dauerten.
Das Experiment konnte ihm also nur die Wirkung
eines geschlossenen Stromes auf einen geschlossenen
Strom zeigen oder, streng genommen, die Wirkung eines
Geschlossene Ströme. 227
geschlossenen Stromes auf einen Stromteil, denn man
kann einen Strom durch einen geschlossenen Weg
gehen lassen, der sich aus einem beweglichen und einem
festen Teile zusammensetzt. Man kann dann die Orts-
veränderungen des beweglichen Teiles unter der Wirkung
eines anderen geschlossenen Stromes studieren.
Dagegen hatte Ampere kein Mittel, die Wirkung
eines offenen Stromes zu studieren, weder inbezug auf
einen geschlossenen Strom noch inbezug auf einen an-
deren offenen Strom. ^^^)
I. "Wirkung geschlossener Ströme. — In dem
Falle der gegenseitigen Wirkung zweier geschlossenen
Ströme wurden Ampere durch das Experiment auffallend
einfache Gesetze geoffenbart.
Ich erwähne hier flüchtig diejenigen, welche uns in
der Folge nützlich sein werden:
1. Wenn die Intensität der Ströme konstant
erhalten wird und wenn die beiden Ströme nach
irgend welchen Ortsveränderungen und Deformationen
schließlich zu ihren Anfangslagen zurückkehren, so wird
die Totalarbeit der elektrodynamischen Wirkungen Null
sein.
Mit anderen Worten: Es gibt ein elektrodynami-
sches Potential der beiden Ströme, welches dem
Produkte der Intensitäten proportional und von der Ge-
stalt und der relativen Lage der Ströme abhängig ist;
die Arbeit der elektrodynamischen Wirkungen ist gleich
der Variation dieses Potentials.
2. Die Wirkung eines geschlossenen Solenoids ist
Null.
3. Die Wirkung eines geschlossenen Stromes C auf
einen anderen geschlossenen Voltaschen Strom C' hängt
nur von dem ,, magnetischen Felde" ab, welches durch
diesen Strom C erzeugt wird. In jedem Punkte des
Raumes kann man in der Tat nach Größe und Rich-
15*
2 28 1^5 ^3- Elektrodynamik.
tung eine gewisse Kraft definieren, welche die magne-
tische Kraft heißt und welche folgende Eigenschaften
besitzt :
a) Die von C auf einen magnetischen Pol ausgeübte
Kraft greift an diesem Pole an, sie ist gleich der mag-
netischen Kraft, multipliziert mit der magnetischen Masse
des Poles.
b) Eine sehr kurze Magnetnadel sucht die Richtung
der magnetischen Kraft einzunehmen, und das Kräfte-
paar, welches sie in diese Lage zurückzuführen sucht,
ist proportional dem Produkte der magnetischen Kraft
in das magnetische Moment der Nadel und in den
Sinus des Ausschlagswinkels.
c) Wenn der Stromkreis C seine Lage verändert,
so wird die Arbeit der elektrodynamischen, von C auf
C ausgeübten Wirkung gleich dem Zuwachse des ,, Flusses
magnetischer Kraft" sein, der diesen Strom kreuzt.
IL Wirkung eines geschlossenen Stromes auf
einen Stromteil. — Da Ampere einen eigentlich offenen
Strom nicht verwirklichen konnte, so hatte er nur ein
Mittel, die Wirkung eines geschlossenen Stromes auf
einen Stromteil zu beobachten.
Er operierte nämlich mit einem geschlossenen Strome
C", der sich aus zwei Teilen: einem festen und einem
beweglichen Teile zusammensetzte. Der bewegliche Teil
war z. B. ein beweglicher Draht aß, dessen Enden a
und ß längs eines festen Drahtes gleiten konnten. In
einer Lage des beweglichen Drahtes ruhte das Ende a
auf dem Punkte A des festen Drahtes und das Ende ß
auf dem Punkte B des festen Drahtes. Der Strom
circulierte von a nach /3, d. h. von A nach B längs des
beweglichen Drahtes, und er kam darauf von B nach A
zurück, indem er längs des festen Drahtes ging. Dieser
Strom war also geschlossen.
Nachdem der bewegliche Draht eine gleitende Be-
Beweglicher Stromteil. 2 2Q
wegimg ausgeführt hatte, befand er sich in einer zweiten
Lage. Hier ruhte das Ende a auf einem anderen
Punkte A' des festen Drahtes und das Ende ß auf
einem anderen Punkte B' des festen Drahtes. Der Strom
circulierte dann von a nach ß, d. h. von A^ nach B'
längs des beweghchen Drahtes, und er kam darauf von
B' nach B zurück, dann von B nach A, schließlich von
A nach A\ immer längs des festen Drahtes. Der Strom
war also wieder geschlossen.
Wenn ein solcher Strom der Wirkung eines ge-
schlossenen Stromes C unterworfen wird, so verändert
der bewegliche Teil seine Lage, als ob er der Wirkung
einer Kraft folgte. Ampere nimmt an, daß die schein-
bare Kraft, welcher dieser bewegliche Teil AB unter-
worfen ist und welche die Wirkung von C auf den
Stromteil aß darstellt, dieselbe ist, als wenn aß von
einem offenen Strome durchlaufen wurde, der in a und
ß aufhört, während tatsächlich ccß von einem geschlosse-
nen Strome durchlaufen wird, der von ß nach a zurück-
kehrt, indem er den festen Teil des Stromkreises durch-
läuft.
Diese Hypothese erscheint ziemlich natürlich, und
Ampere machte sie, ohne sich dessen bewußt zu sein;
nichtsdestoweniger ist sie nicht selbstverständlich,
denn wir werden später sehen, daß Helmholtz sie ver-
worfen hat. Wie dem auch sein mag, so konnte doch
Ampere vermöge dieser Hypothese, obgleich er einen
offenen Strom nicht verwirklichen konnte, die Gesetze
der Wirkung eines geschlossenen Stromes auf einen
offenen Strom oder selbst auf ein Stromelement aus-
sprechen.
Die Gesetze bleiben einfach:
I. Die Kraft, welche auf ein Stromelement einwirkt,
greift an diesem Elemente an; sie ist senkrecht zu dem
Elemente und zur magnetischen Kraft und proportional
2^0 -^j ^3* Elektrodynamik.
derjenigen Komponente dieser magnetischen Kraft, welche
zum Stromelemente senkrecht ist.
2. Die Wirkung eines geschlossenen Solenoids auf
ein Stromelement bleibt Null.
Aber es gibt kein elektrodynamisches Potential mehr,
d. h. wenn ein geschlossener und ein offener Strom,
deren Intensitäten konstant erhalten werden, in ihre An-
fangslagen zurückkehren, so ist die geleistete Totalarbeit
nicht Null.
III. Stetige Rotationen. — Unter den elektro-
dynamischen Experimenten sind diejenigen am meisten
bemerkenswert, bei denen man stetige Rotationen her-
stellen konnte und die man öfters Experimente der
,, unipolaren Induktion" nennt. Ein Magnet kann sich
um seine Achse drehen; ein Strom durchläuft zuerst einen
festen Draht, tritt dann in den Magnet z. B. durch den
Pol N ein, durchläuft die Hälfte des Magneten, verläßt
ihn durch einen Gleitkontakt und kehrt in den festen
Draht zurück.
Der Magnet kommt so in stetige Rotation, ohne
jemals eine Gleichgewichtslage einnehmen zu können.
Das ist das Faradaysche Experiment.
Wie ist dieses möglich? Wenn man mit zwei Strom-
kreisen von unveränderlicher Form zu tun hat: einena
festen Stromkreise C und einem anderen Stromkreise C\
der um eine Achse beweglich ist, so kann dieser letztere
niemals in stetige Rotation geraten; es existiert in der
Tat ein elektrodynamisches Potential; es wird also um
so mehr eine Gleichgewichtslage existieren, und zwar
diejenige, wo das Potential ein Maximum ist.
Die stetigen Rotationen sind also nur möglich, wenn
der Stromkreis C sich aus zwei Teilen zusammensetzt:
einem festen Teile und einem um eine Achse beweglichen
Teile, wie es in dem Experimente Faradays der Fall
war. Dennoch müssen wir einen Unterschied machen.
Stetige Rotationen. 23 1
Der Übergang des festen Teiles zum beweglichen Teile
oder umgekehrt vollzieht sich entweder durch eine ein-
fache Berührung (indem der gleiche Punkt des beweg-
lichen Teiles beständig mit dem gleichen Punkte des
festen Teiles in Berührung bleibt) oder durch eine
gleitende Berührung (indem der gleiche Punkt des be-
weglichen Teiles nacheinander mit verschiedenen Punkten
des festen Teiles in Berührung kommt).
Nur im zweiten Falle kann eine stetige Rotation
stattfinden. Dabei ereignet sich Folgendes: Das System
hat zwar das Bestreben, eine Gleichgewichtslage einzu-
nehmen; aber wenn diese eben erreicht wird, setzt der
Gleitkontakt den beweglichen Teil mit einem neuen
Punkte des festen Teiles in Verbindung; der bewegliche
Teil ändert die Verbindungen im Systeme; er ändert
also auch die Gleichgewichtsbedingungen, so daß die
Rotation sich ohne Ende fortsetzen kann, indem die
Gleichgewichtslage sozusagen vor dem Systeme, welches
sie einzunehmen sucht, beständig flieht.
Ampere nimmt an, daß die Einwirkung des Strom-
kreises auf die beweglichen Teile von C die gleiche
ist, als wenn der feste Teil von C nicht existierte, und
als ob folglich der Strom, welcher in dem beweglichen
Teile circuliert, offen wäre.
Hieraus schloß er also, daß die Wirkung eines ge-
schlossenen Stromes auf einen offenen Strom oder um-
gekehrt die Wirkung eines offenen Stromes auf einen
geschlossenen Strom zu einer stetigen Rotation Veran-
lassung geben kann.
Aber dieser Schluß hängt von der Hypothese ab,
welche ich hervorgehoben habe und die, wie ich weiter
oben erwähnte, von Helmholtz nicht zugelassen wird.
IV. Gegenseitige Wirkung z\veier offenen Ströme. —
Was die gegenseitige Wirkung zweier offenen Ströme und
besonders diejenige zweier Stromelemente betrifft, so ver-
2-12 ^^f ^3* Elektrodynamik.
sagt jedes Experiment. Ampere nahm die Hypothese
zu Hilfe. Er setzt voraus: i. daß die gegenseitige Wir-
kung der beiden Elemente sich auf eine Kraft reduziert,
welche in der Richtung ihrer geraden Verbindungslinie
wirkt; 2. daß die Wirkung zweier geschlossenen Ströme
die Resultante der gegenseitigen Einwirkungen ihrer ver-
schiedenen Elemente ist, welche übrigens die gleichen
sind, als ob diese Elemente isoliert wären.
Bemerkenswert ist, daß Ampere auch hier wieder
zwei Hypothesen macht, ohne sich dessen bewußt zu
sein.
Wie dem auch sei, wenn man diese beiden Hypo-
thesen mit den Experimenten über geschlossene Ströme
verbindet, so genügen sie, um das Gesetz der gegen-
seitigen Wirkung zweier Elemente vollständig zu be-
stimmen.
Dann sind jedoch die meisten einfachen Gesetze,
welchen wir in dem Falle der geschlossenen Ströme be-
gegneten, nicht mehr richtig.
Vor allem gibt es kein elektrodynamisches Potential;
es existierte übrigens schon, wie wir oben gesehen haben,
in dem Falle eines geschlossenen Stromes, der auf einen
offenen Strom einwirkt, nicht mehr.
Ferner gibt es, streng genommen, keine magnetische
Kraft mehr.
Und in der Tat haben wir von dieser Kraft weiter
oben (S. 228) drei verschiedene Definitionen gegeben:
1. durch die Wirkung auf einen magnetischen Pol;
2. durch das Kräftepaar, welches die Richtung der
Magnetnadel bestimmt;
3. durch die Wirkung auf ein Stromelement.
Nicht nur stimmen in dem Falle, der uns jetzt be-
schäftigt, diese drei Definitionen nicht überein, sondern
jede von ihnen verliert sogar ihren Sinn, und in
der Tat:
Offene Ströme. 2^X
1. Ein magnetischer Pol ist nicht einer nur an diesem
Pole angreifenden Kraft unterworfen. Wir haben tat-
sächlich gesehen, daß eine Kraft, welche durch die
Wirkung eines Stromelements auf einen Pol ausgeübt
wird, nicht am Pole, sondern am Elemente angreift; sie
kann andererseits durch eine Kraft ersetzt werden, welche
am Pole angreift, und durch ein hinzutretendes Kräfte-
paar.
2. Das Kräftepaar, welches auf die Magnetnadel
wirkt, beschränkt sich nicht mehr darauf, die Richtung
derselben zu bestimmen, denn sein Moment inbezug
auf die Längsachse der Nadel ist nicht Null. Es zerlegt
sich in ein Paar, das die Richtung bestimmt, und in ein
ergänzendes Paar, welches die stetige Rotation hervor-
zubringen strebt, von der ich oben gesprochen habe.
3. Schließlich ist die auf ein Stromelement ausge-
übte Kraft nicht mehr senkrecht zu diesem Elemente.
Mit anderen Worten: Die Einheit der magneti-
schen Kraft ist verschwunden.
Worin besteht diese Einheit? Zwei Systeme, welche
dieselbe Wirkung auf einen magnetischen Pol ausüben,
üben die gleiche Wirkung auf eine unendlich kleine
Magnetnadel oder auf ein Stromelement aus, welche
beide sich in demselben Raumpunkte befinden wie
dieser Pol.
Das ist richtig, wenn diese beiden Systeme nur ge-
schlossene Ströme enthalten; es wird (nach Ampere)
nicht mehr richtig sein, wenn diese beiden Systeme
offene Ströme enthalten.
Es genügt z. B. Folgendes zu bemerken: Wenn ein
magnetischer Pol in A und ein Stromelement in B liegt
und die Richtung des Elements mit der Verlängerung
der Linie AB zusammenfällt, so wird dieses Element
auf diesen in A liegenden Pol keine Wirkung ausüben,
es wird jedoch eine solche auf eine im Punkte A be-
204. IV, 13- Elektrodynamik.
findliche Magnetnadel ausüben oder auf ein im Punkte
A befindliches Stromelement.
V. Induktion. — Man weiß, daß die Entdeckung
der elektrodynamischen Induktion den unsterblichen
Arbeiten Amperes bald folgte.
Sobald es sich nur um geschlossene Ströme handelt,
entsteht keine Schwierigkeit, und Helmholtz hat sogar
bemerkt, daß das Prinzip von der Erhaltung der Energie
genügen könnte, um die Gesetze der Induktion aus den
elektrodynamischen Gesetzen Amperes abzuleiten. Aller-
dings unter einer Bedingung, wie Bertrand uns zeigte,
nämlich, daß man außerdem eine gewisse Anzahl von
Hypothesen zuläßt.
Dasselbe Prinzip gestattet diese Ableitung noch in
dem Falle der offenen Ströme, obgleich man, wohlver-
standen, das Resultat nicht der Kontrolle der Erfahrung
unterwerfen kann, denn man kann solche Ströme nicht
herstellen.
Wenn man diese Art Analyse auf die Amperesche
Theorie der offenen Ströme anwenden will, so gelangt
man zu Tatsachen, die wohl dazu geeignet sind, uns zu
überraschen.
Vor allem kann die Induktion nicht aus der Ver-
änderung des magnetischen Feldes gemäß der den Ge-
lehrten und Praktikern gleich gut bekannten Formel ab-
geleitet werden, und in der Tat gibt es, wie wir schon
gesagt haben, eigentlich kein magnetisches Feld mehr.
Noch mehr. Wenn ein Stromkreis C der Induktion
eines veränderlichen Voltaschen Systems S unterworfen
wird, wenn dieses System 6' seine Stellung verändert
und sich auf irgend welche Art deformiert und wenn
die Intensität der Ströme dieses Systems gemäß irgend
einem Gesetze variiert, wenn aber nach diesen Varia-
tionen das System schließlich in seine Anfangslage zu-
rückkehrt: so erscheint es natürlich vorauszusetzen, daß
Die Helmlioltzsclie Theorie.
235
die mittlere elektromotorische Kraft, welche in dem
Stromkreise C induziert wird, gleich Null ist.
Das ist richtig, wenn der Stromkreis C geschlossen
ist und wenn das System -5" nur geschlossene Ströme
enthält. Wenn man die Amperesche Theorie annimmt,
ist es nicht mehr richtig, sobald offene Ströme vor-
kommen. So würde die Induktion nicht mehr die Ver-
änderung des Flusses der magnetischen Kraft im gewöhn-
lichen Sinne dieses Wortes sein, sie könnte sogar nicht
durch die Veränderung irgend eines anderen Etwas dar-
gestellt werden.
2. Die Helmholtzsche Theorie. — Ich habe bei
den Folgerungen länger verweilt, zu denen Amperes
Theorie und seine Erklärungsweise für die Wirkung
offener Ströme Veranlassung gaben.
Es ist schwer, den paradoxen und verkünstelten
Charakter der Sätze zu verkennen, zu welchen man so
geführt wird; man kommt schließlich zu dem Gedanken:
,,So kann die Sache nicht sein."
Man begreift, daß Helmholtz sich veranlaßt fühlte,
etwas anderes zu suchen.
Helmholtz verwirft die fundamentale Amperesche
Hypothese, daß nämlich die gegenseitige Wirkung zweier
Stromelemente sich auf eine Kraft zurückführen läßt,
welche in der Richtung ihrer Verbindungslinie wirkt.
Er nimmt an, daß ein Stromelement nicht einer ein-
zigen Kraft unterworfen ist, sondern einer Kraft und
einem Kräftepaar. Diese Annahme gab zu der berühm-
ten Polemik zwischen Bertrand und Helmholtz Veran-
lassung. ^^^)
Helmholtz ersetzt die Amperesche Hypothese durch
die folgende: Zwei Stromelemente lassen immer ein
elektrodynamisches Potential zu, das einzig von ihrer
Lage und Orientierung abhängt, und die Arbeit der
2 56 rV> 13' Elektrodynamik.
Kräfte, welche sie aufeinander ausüben, ist gleich der
Variation dieses Potentials. So kann sich Helmholtz
ebensowenig wie Ampere der Hypothese enthalten; aber
wenigstens macht er sie nicht, ohne sie deutlich auszu-
sprechen.
In dem dem Experimente allein zugänglichen Falle
der geschlossenen Ströme stimmen die beiden Theorien
überein; in allen anderen Fällen sind sie voneinander
verschieden.
Im Gegensatze zu Amperes Voraussetzungen ist vor
allem die Kraft, welcher der bewegliche Teil eines ge-
schlossenen Stromes unterworfen ist, nicht dieselbe, der
dieser bewegliche Teil unterliegen würde, wenn er isoliert
wäre und einen offenen Strom bildete.
Wir wollen auf den Stromkreis C zurückkommen,
von dem wir weiter oben sprachen und der von einem
beweglichen Drahte aß gebildet wurde, welcher über
einen festen Draht gleitet; in dem einzig realisierbaren
Experimente ist der bewegliche Teil aß nicht isoliert,
sondern bildet einen Teil eines geschlossenen Strom-
kreises. Wenn der Teil von AB nach A' B' gelangt,
so variiert das totale elektrodynamische Potential aus
zwei Gründen: i. es erleidet einen ersten Zuwachs, weil
das Potential von A' B' inbezug auf den Stromkreis C
nicht dasselbe wie das Potential von ^^ ist; 2. es er-
leidet einen zweiten Zuwachs, weil man es um die
Potentiale der Elemente AA' und B B' inbezug auf C
vergrößern muß.
Dieses doppelte Anwachsen stellt die Arbeit der
Kraft dar , welcher der Teil A B scheinbar unter-
worfen ist.
Wenn im Gegenteil 0; ß isoliert wären, so würde das
Potential nur den ersten Zuwachs erleiden, und nur
dieser erste Zuwachs würde ein Maß für die Kraft geben^
welche auf AB einwirkt.
Solenoid und Magnet. 237
In zweiter Linie kann es keine stetige Rotation ohne
gleitende Berührung geben; und wirklich liegt darin, wie
wir schon bei Gelegenheit der geschlossenen Ströme be-
merkten, eine unmittelbare Folgerung der Existenz eines
elektrodynamischen Potentials.
In dem Faradayschen Experimente kann dieser be-
wegliche Teil eine stetige Rotation erleiden, wenn der
Magnet fest ist und wenn der außerhalb des Magneten
verlaufende Teil des Stromes einen beweglichen Draht
durchläuft. Aber damit ist nicht gesagt, daß der Draht
eine Bewegung stetiger Rotation annehmen würde, wenn
man die Berührungen des Drahtes mit dem Magneten
aufhöbe und den Draht von einem offenen Strome durch-
laufen ließe.
Ich habe soeben gesagt, daß ein isoliertes Element
nicht derselben Einwirkung unterliegt als ein bewegliches
Element, das einen Teil eines geschlossenen Stromkreises
ausmacht.
Es gibt noch einen anderen Unterschied: Die Wir-
kung eines geschlossenen Solenoids auf einen geschlosse-
nen Strom ist gemäß der Erfahrung und nach beiden
Theorien gleich Null; nach Ampere würde die Wirkung
eines geschlossenen Solenoids auf einen offenen Strom
gleich Null sein; nach Helmholtz wäre sie nicht gleich
Null.
Daraus entspringt eine wichtige Folgerung. Wir
haben weiter oben drei Definitionen der magnetischen
Kraft gegeben; die dritte hat hier keinen Sinn, weil ein
Stromelement nicht mehr nur einer einzigen Kraft unter-
w^orfen ist. Die erste Definition hat ebenfalls keinen
Sinn für unsere jetzige Untersuchung. Denn was ist
eigentlich ein magnetischer Pol? Es ist der Endpunkt
eines linearen, unendlich kleinen Magneten. Dieser
Magnet kann durch ein unendlich kleines Solenoid er-
setzt werden. Damit die Definition der magnetischen
238 rV, 13. Elektrodynamik.
Kraft einen Sinn behielte, ist es notwendig, daß die von
einem offenen Strome auf ein unendlich kleines Solenoid
ausgeübte Wirkung nur von der Lage des Endpunktes
dieses Solenoids abhänge, d. h. daß die Wirkung auf
ein geschlossenes Solenoid gleich Null ist. Wir haben
gesehen, daß dem nicht so ist.
Dagegen hindert uns nichts, die zweite Definition
anzunehmen, welcher das Maß desjenigen Kräftepaares
zu Grunde Hegt, das eine Magnetnadel zu orientieren
strebt.
Aber wenn man die zweite Definition annimmt, so
hängen weder die Wirkungen der Induktion noch die
elektrodynamischen Wirkungen allein von der Verteilung
der Kraftlinien dieses magnetischen Feldes ab.
3. Die diesen Theorien anhaftenden Schwierig-
keiten. — Die Helmholtzsche Theorie ist ein Fortschritt
gegenüber der Ampereschen Theorie; es bleibt indessen
notwendig, alle Schwierigkeiten zu ebnen. In der einen
wie in der anderen hat das Wort: ,, magnetisches Feld"
keinen Sinn, oder wenn man ihm durch eine mehr oder
weniger künstliche Festsetzung einen Sinn beilegt, so
sind die gewöhnlichen, allen Elektrikern so vertrauten
Gesetze nicht mehr anwendbar; so wird die in einem
Drahte induzierte elektromotorische Kraft nicht mehr
durch die Anzahl der Kraftlinien, welche diesen Draht
treffen, gemessen.
Und unsere Abneigung stammt nicht nur daher, daß
es schwer ist, eingewurzelten Gewohnheiten in Sprache
und Gedanken zu entsagen. Es spielt noch anderes
mit. Wenn wir an die Fernwirkungen nicht glauben,
muß man die elektrodynamischen Erscheinungen durch
eine Modifikation des Zwischenmediums erklären. Eben
diese Modifikation nennt man magnetisches Feld, dann
werden die elektrodynamischen Wirkungen nur von diesem
Felde abhängen.
Die Maxwellsche Theorie.
239
Alle diese Schwierigkeiten entstehen durch die
Hypothese der oifenen Ströme.
4. Die Maxwellsche Theorie. — Solchergestalt
waren die Schwierigkeiten der herrschenden Theorien,
als Maxwell erschien, der sie alle mit einem Federstriche
verschwinden ließ. Nach seinen Ideen gibt es nur ge-
schlossene Ströme.
Maxwell nimmt an, daß, wenn in einem Dielektrikum
das elektrische Feld sich zu verändern beginnt, dieses
Dielektrikum der Sitz einer besonderen Erscheinung
wird, die auf das Galvanometer wie ein Strom wirkt
und von Maxwell Verschiebungsstrom genannt wird.
Wenn dann zwei Leiter, welche entgegengesetzte
Ladungen tragen, durch einen Draht miteinander in
Verbindung gebracht sind, so herrscht in diesem Drahte
während der Entladung ein offener Leitungsstrom; aber
es entstehen zu gleicher Zeit in dem umgebenden
Dielektrikum Verschiebungsströme, welche diesen Lei-
tungsstrom schließen.
Man weiß, daß die Maxwellsche Theorie zur Er-
klärung der optischen Erscheinungen führt, indem letztere
aus außerordentlich schnellen elektrischen Oszillationen
bestehen.
Zu dieser Zeit war eine solche Auffassung nichts als
eine kühne Hypothese, welche sich auf keine Erfahrung
stützen konnte.
Nach Verlauf von zwanzig Jahren erhielten die Max-
wellschen Ideen ihre experimentelle Bestätigung. Es
gelang Hertz, Systeme elektrischer Oszillationen hervor-
zubringen, welche alle Eigenschaften des Lichtes auf-
weisen und sich von diesem nur durch die Wellenlänge
unterscheiden, d. h. so, wie sich violett von rot unter-
scheidet. Er venvirklicht gewissermaßen die Synthese
des Lichtes.
Man könnte sagen, daß Hertz nicht direkt die funda-
2AO ^> ^3' Elektrodynamik.
mentale Idee Maxwells, die Wirkung des Verschiebungs-
stromes auf das Galvanometer, bewiesen hat. Das stimmt
in gewisser Hinsicht; direkt hat er, alles in allem ge-
nommen, bewiesen, daß die elektromagnetische Induktion
sich nicht momentan, wie man bisher annahm, fortpflanzt,
sondern mit der Geschwindigkeit des Lichtes.
Ob man voraussetzt, daß es keinen Verschiebungs-
strom gibt und daß die Induktion sich mit der Ge-
schwindigkeit des Lichtes fortpflanzt, oder ob man vor-
aussetzt, daß die Verschiebungsströme Induktionswirkungen
hervorbringen und daß die Induktion sich momentan fort-
pflanzt, ist ganz das Nämliche.
Das sieht man nicht im ersten Augenblick, aber man
kann es durch eine Analyse beweisen, die ich unmöglich
hier wiedergeben kann.-*^^^)
5. Rowlandsche Experimente. — Wie ich weiter
oben sagte, gibt es zwei Arten von oflenen Leitungs-
strömen: zuerst die Entladungsströme eines Konden-
sators oder irgend eines Leiters.
Es gibt auch Fälle, in denen elektrische Ladungen
einen geschlossenen Weg beschreiben, indem sie sich
in einem Teile des Stromkreises durch Leitung fort-
bewegen und in einem anderen Teile durch Konvektion.
Für die offenen Ströme der ersten Art konnte die
Frage als gelöst betrachtet werden: sie wurden durch
die Verschiebungsströme geschlossen.
Für die offenen Ströme der zweiten Art erschien die
Lösung noch einfacher; wenn der Strom geschlossen war,
so konnte das, wie es schien, nur durch den Kon-
vektionsstrom selbst geschehen. Dazu genügte es anzu-
nehmen, daß ein ,,Konvektionsstrom", d. h. ein in Be-
wegung gesetzter geladener Leiter auf das Galvanometer
einwirken könne.
Aber die experimentelle Bestätigung fehlte. Es er-
schien in der Tat schwer, eine genügende Intensität zu
Rowlands Experimente. 24 1
erlangen, selbst wenn man die Ladung und die Ge-
schwindigkeit des Leiters so viel als möglich ver-
größerte.
Ein äußerst geschickter Experimentator, der Physiker
Rowland, wurde zuerst dieser Schwierigkeit Herr oder
schien sie wenigstens überwunden zu haben. Eine
Scheibe erhielt eine starke elektrostatische Ladung und
eine sehr große Rotationsgeschwindigkeit. Eine astatische
Magnetnadel, die in die Nähe der Scheibe gestellt war,
zeigte Ablenkungen.
Das Experiment wurde von Rowland zweimal ge-
macht, einmal in Berlin und einmal in Baltimore; es
wurde später von Himstedt wiederholt. Diese Physiker
glaubten sogar behaupten zu können, daß quantitative
Messungen ausgeführt werden könnten.
Tatsächlich ist seit zwanzig Jahren das Rowlandsche
Gesetz von allen Physikern ohne Widerspruch zugelassen
worden.
Alles schien es übrigens zu bestätigen. Der Funken
verursacht tatsächlich eine magnetische Wirkung; ist es
nicht wahrscheinlich, daß die Entladung durch den
Funken Teilchen zuzuschreiben ist, welche der einen
Elektrode entrissen und mit ihrer Ladung auf die
andere Elektrode übertragen werden? Ist nicht sogar
das Spektrum des Funkens, in welchem man die Metall-
streifen der Elektroden erkennt, ein Beweis dafür? Der
Funke wäre also ein wirklicher Konvektionsstrom.
Andererseits nimmt man bekanntlich an, daß die
Elektrizität in einem Elektrolyten von bewegten Ionen
mitgeführt wird. Der Strom in einem Elektrolyten wäre
also dann ebenfalls ein Konvektionsstrom; er wirkt ja
auch auf eine Magnetnadel.
Dasselbe gilt für die Kathodenstrahlen; Crookes
schrieb diese Strahlen der Wirkung einer sehr feinen
Materie zu, die mit negativer Elektrizität geladen sei
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. 16
2A2 IV, 13. Elektrodynamik.
und sich mit sehr großer Geschwindigkeit bewege, mit
anderen Worten: er sah die Strahlen als Konvektions-
ströme an. Diese Kathodenstrahlen werden durch den
Magneten abgelenkt. Vermöge des Prinzipes der Wir-
kung und Gegenwirkung müssen sie ihrerseits die Magnet-
nadel ablenken.
Zwar glaubte Hertz bewiesen zu haben, daß die
Kathodenstrahlen keine negative Elektrizität mit sich
führen und daß sie nicht auf die Magnetnadel wirken.
Aber Hertz täuschte sich; vor allem gelang es Perrin,
die von diesen Strahlen übertragene Elektrizität aufzu-
fangen, deren Existenz Hertz leugnete; der deutsche
Gelehrte scheint durch die Wirkung der X-Strahlen ge-
täuscht zu sein, die damals noch nicht entdeckt waren.
Ferner hat man ganz neuerdings die Wirkung der
Kathodenstrahlen auf die Magnetnadel vollkommen außer
Zweifel gestellt.
So wirken also alle diese Erscheinungen, die man
als Konvektionsströme betrachtet (Funken, elektrolytische
Ströme, Kathodenstrahlen), in gleicher Weise und gemäß
dem Rowlandschen Gesetze auf das Galvanometer. ^^^)
6. Die Lorentzsche Theorie. • — Man ging bald
noch weiter. Nach der Loren tzschen Theorie wären
die Leitungsströme selbst wirkliche Konvektionsströme:
die Elektrizität bliebe untrennbar mit gewissen materiellen
Teilchen, Elektronen genannt, verknüpft; die Bewegung
dieser Elektronen durch das Innere der Körper soll die
Voltaschen Ströme erzeugen, und der Unterschied der
Leiter von den Nichtleitern soll darin bestehen, daß die
einen von diesen Elektronen durchdrungen werden
können, während die anderen die Bewegungen der
Elektronen aufhalten.
Die Lorentzsche Theorie ist sehr verlockend, sie
gibt eine sehr einfache Erklärung für bestimmte Erschei-
nungen, von denen die alten Theorien, selbst diejenige
Die Lorentzsche Theorie.
243
Maxwells in ihrer ursprünglichen Form, keine genügende
Rechenschaft geben konnten, z. B. von der Aberration
des Lichtes, von der teilweisen Mitführung der Licht-
wellen, von der magnetischen Polarisation, von dem
Zeemanschen Experimente.^^*)
Es bestehen jedoch noch einige Einwürfe. Die in
einem Systeme beobachteten Erscheinungen scheinen von
der absoluten Translationsgeschwindigkeit des Schwer-
punktes dieses Systems abhängig zu sein, was der Idee
widerspricht, die wir uns von der Relativität des Raumes
machen. Gestützt auf Cremieu, hat Lippmann diesen
Einwurf in greifbare Form gebracht. Wir wollen zwei
geladene Leiter voraussetzen, welche mit derselben Trans-
lationsgeschwindigkeit begabt sind. Sie sind in relativer
Ruhe; sie müssen indessen sich gegenseitig anziehen,
wenn jeder von ihnen einem Konvektionsstrome äqui-
valent ist, und man könnte, indem man diese Anziehung
mißt, ihre absolute Geschwindigkeit messen.
„Nein", würden die Anhänger von Lorentz erwidern,
„was man dergestalt mißt, ist nicht ihre absolute Ge-
schwindigkeit, sondern ihre relative Geschwindigkeit in-
bezug auf den Äther, so daß das Prinzip der Rela-
tivität gerettet ist."
Was es auch mit diesem letzten Einwurfe für eine
Bewandtnis haben mag, das Gebäude der Elektrodynamik
schien, wenigstens in großen Umrissen, definitiv aufge-
führt zu sein; alles erschien vollkommen befriedigend;
die Theorien von Ampere und Helmholtz, welche für
die nicht mehr existierenden offenen Ströme gemacht
waren, schienen nur noch rein historisches Interesse zu
bieten, und man hatte fast vergessen, zu welch unent-
wirrbaren Verwicklungen diese Theorien führten.
Diese Ruhe wurde gründlich durch die Cr6mieuschen
Experimente gestört, welche dem einst von Rowland er-
16*
244 ^^' ^^' Elektrodynamik.
haltenen Resultate widersprachen oder wenigstens zu
widersprechen schienen. ■'^^^)
Zahlreiche Forscher haben sich angestrengt, die Frage
endgültig zu lösen, und neue Experimente wurden unter-
nommen. Welches Resultat werden sie ergeben? Ich
werde mich wohl hüten, ein Prognostikum zu wagen, das
zwischen dem Zeitpunkte, wo ich den Wechsel auf die
Zukunft ausstelle, und dem Tage, wo dieser Band er-
scheint, widerlegt werden könnte.
Erläuternde Anmerkungen
von F. Lindemann.
Erster Teil, Zahl und Größe.
1) Seite 6. Wegen einer eingehenden wissenschaft-
lichen Begründung der elementaren Arithmetik sei auf
folgende Werke verwiesen:
H. Graßmann, Lehrbuch der Arithmetik, 1861;
H. Hankel, Zur Theorie der komplexen Zahlensysteme,
1867;
E. Schröder, Lehrbuch der Arithmetik und Algebra,
Bd. I, 1873;
G. Peano, Arithmetices principia nova methodo exposita,
Turin 1889 und dessen Bearbeitung von Genocchi:
Differentialrechnung, deutsch von Bohlmann und Schepp,
1899;
Tannery, Le^ons d'arithmetique theorique et pratique,
Paris 1894.
O. Stolz und J. A. Gmeiner, Theoretische Arithmetik,
1900;
Helmholtz, Zählen und Messen, erkenntnistheoretisch
bearbeitet, 1887; Wissenschaftliche Abhandlungen
Bd. 3, p. 356.
2) S. 14. Dem widerspricht es scheinbar, wenn
Dedekind (Was sind und was sollen die Zahlen?
Braunschweig 1888, § 59, 60, 80) einen Nachweis da-
für gibt, daß ,,die unter dem Namen der vollständigen
Induktion (oder des Schlusses von n auf n -{■ \) bekannte
Beweisart wirklich beweiskräftig ist." Die Möglichkeit
dieses Nachweises liegt in der Art und Weise, wie das
Unendliche eingeführt (,, definiert") und die an endlichen
Ketten gemachten Operationen auf unendliche Ketten
übertragen werden (a. a. O., § 64). Irgendwo kommt
immer diese Geisteskraft in Frage, ,, welche überzeugt
2^6 Anmerkungen l — 3.
ist, sich die unendliche Wiederholung eines und des-
selben Schrittes vorstellen zu können". Bei Stolz und
Peano geschieht dies z. B. bei Aufstellung des Grund-
satzes: ,,Wenn ein System von Zahlen, zu welchem die
Zahl I gehört, die Eigenschaft hat, daß in demselben
neben jeder darin vorkommenden Zahl die darauf folgende
erscheint, so enthält es jede Zahl".
3) S. 20. Besonders hat Kronecker es angestrebt,
den Gebrauch irrationaler Zahlen aus der Algebra zu ver-
bannen und alle Beweise allein mit rationalen Zahlen
durchzuführen, ,,die gesamte arithmetische Theorie der
algebraischen Größen auf eine Theorie der ganzen ganz-
zahligen Funktionen von Variabein und Unbestimmten
zurückzuführen" (vgl. dessen Grundzüge einer arithmeti-
schen Theorie der algebraischen Größen, Festschrift zu
Kummers fünfzigjährigem Doktorjubiläum, Berlin 1882).
Später ging Kronecker noch weiter, indem er die
Existenz irrationaler Zahlen leugnete; so sagte er mir
in seiner lebhaften und zu Paradoxen geneigten Art ein-
mal: ,,Was nützt uns Ihre schöne Untersuchung über
die Zahl 7t? Wozu das Nachdenken über solche Probleme,
wenn es doch gar keine irrationalen Zahlen gibt?" In
diesem Sinne schreibt Kronecker in seiner Schrift
„Über den Zahlbegriff" (Grelles Journal Bd. loi): „Und
ich glaube auch, daß es dereinst gelingen wird, den
gesamten Inhalt aller dieser mathematischen Disziplinen
(nämlich Algebra und Analysis, nicht Geometrie und
Mechanik) zu ,,arithmetisieren", d. h. einzig und allein
auf den im engsten Sinne genommenen Zahlbegriff zu
gründen, aber die Modifikationen und Erweiterungen
dieses Begriffes (ich meine hier namentlich die Hinzu-
nahme der irrationalen, sowie der kontinuierlichen Größen)
wieder abzustreifen, welche zumeist durch die Anwen-
dungen auf Geometrie und Mechanik veranlaßt ^yorden
sind". Insbesondere erörtert Kronecker a. a. O., wie
die algebraischen Zahlen überall da entbehrlich werden,
wo nicht die Isolierung der untereinander konjugierten
erfordert wird, wobei dann weiterhin irrationale Wurzeln
algebraischer Gleichungen durch sogenannte ,,Isolierungs-
Zum ersten Teil.
247
Intervalle" zu ersetzen sind. Seine Bestrebungen, zumal
deren äußerste Konsequenzen, die er in mündlichen Er-
örterungen gern betonte, wurden von anderen nicht
durchaus gebilligt; Weierstraß äußert sich darüber
z. B. in seinen Briefen an Frau Kowalewski (Compte
rendu du deuxieme congres international des mathematici-
ens en 1900, Paris 1902).
Nach einer Bemerkung Dedekinds (in der oben
citierten Schrift, p. XI) hat schon Dirichlet sich mit
dem Gedanken an solche ,,Arithmetisierung" der Mathe-
matik beschäftigt; er schreibt darüber (und dürfte damit
zugleich den Wert der Kronecker sehen Ideen und die
Grenzen ihrer Berechtigung richtig bezeichnen): „Gerade
bei dieser Auffassung [nämlich, daß die schrittweise Er-
weiterung des Zahlbegriflfes, die Schöpfung der Null, der
negativen, gebrochenen, irrationalen und komplexen Zahlen
ohne jede Einmischung fremdartiger Vorstellungen (z. B.
der meßbaren Größen) stets durch Zurückführung auf
die früheren Begriffe (der ganzen Zahlen) herzustellen
ist, und daß erst dadurch jene anderen Vorstellungen,
z. B. der meßbaren Größen, zu völliger Klarheit erhoben
werden können] erscheint es als etwas Selbstverständ-
liches und durchaus nichts Neues, daß jeder, auch noch
so fern liegende Satz der Algebra und höheren Analysis
sich als ein Satz über die natürlichen (d. h. ganzen)
Zahlen aussprechen läßt, eine Behauptung, die ich auch
wiederholt aus dem Munde von Dirichlet gehört habe.
Aber ich erblicke keineswegs etwas Verdienstliches dar-
in — und das lag auch Dirichlet gänzlich fern — ,
diese mühselige Umschreibung wirklich vornehmen und
keine anderen als die natürlichen Zahlen benutzen und
anerkennen zu wollen. Im Gegenteil, die größten und
fruchtbarsten Fortschritte in der Mathematik und anderen
Wissenschaften sind vorzugsweise durch die Schöpfung
und Einführung neuer Begriffe gemacht, nachdem die
häufige Wiederkehr zusammengesetzter Erscheinungen, wel-
che von den alten Begriffen nur mühselig beherrscht werden,
dazu gedrängt hat". Dadurch ist nicht ausgeschlossen,
daß das Zurückgehen auf die natürlichen Zahlen in
2 4.8 Anmerkungen 4 — 8.
manchen Fällen prinzipielles Interesse bietet. So liegt
z. B. in Kroneckers oben mitgeteilter Äußerung über
die Zahl % die Frage: Wie werden sich derartige kom-
plizierte Grenzbetrachtungen gestalten lassen, wenn man
den Gebrauch irrationaler Zahlen ausschließt? Wie hat
man dann algebraische IrrationaHtäten von transcen-
denten zu unterscheiden?
4) S. 20. Die hier gegebene Definition der irratio-
nalen Zahlen schließt sich an die Darstellung von
Tannery an (Introduction ä la theorie des fonctions
d'une variable, Paris 1886, p. iff.); dieselbe ist nahe
verwandt mit der Dedekind sehen Behandlung 5 letzterer
spricht sich (vgl. die oben citierte Schrift, p. XII) selbst
über die Unterschiede näher aus. Andere Theorien des
Irrationalen sind von Weierstraß in seinen Vorlesungen
(vgl. auch Thomae, Theorie der bestimmten Integrale
1875) und G. Cantor (Math. Annalen Bd. 5 und 21)
aufgestellt. Eine übersichtliche Darstellung dieser Theorien
findet man bei Pringsheim: Irrationale Zahlen und Kon-
vergenz unendlicher Prozesse, Encyklopädie der mathe-
matischen Wissenschaften, I A3.
5) S. 22, Bei den besprochenen Autoren wird
wesentlich darauf Gewicht gelegt, daß der Zahlbegriff
eingeführt und in alle Konsequenzen verfolgt werden
kann, ohne daß die Zahl als Maß einer stetigen aus-
gedehnten Größe gedacht wird. In der Tat entsteht
dann schon bei Einführung der rationalen Zahl eine
eigentümliche, aber deshalb nicht unüberwindliche
Schwierigkeit; der rationale Bruch kann nicht mehr
durch Teilung der Einheit in gleiche Teile definiert
werden, sondern erscheint nur als ein von zwei ganzen
Zahlen (Zähler und Nenner) abhängiges Symbol, vgl.
Tannery loc. cit. p. VII der Vorrede und Kronecker,
Grelles Journal Bd. loi, p. 346 f.; geht man (wie z. B.
Weierstraß) von den Decimalbrüchen aus, so ver-
schwindet diese Schwierigkeit von selbst.
6) S. 22. Fechner faßte seine Arbeiten zusammen
in dem Werke: Elemente der Psychophysik, 2 Bände,
1860, neu herausgegeben von Wundt 1889. Das
Zum ersten Teil.
249
Fe ebner sehe Gesetz ist eine Folge des vorher von
H. Weber aufgestellten Gesetzes, naeb dem die Differenz
zwischen zwei Reizen [x und x -\- Jx, z. B. Gewichten,
Tonhöhen, Lichtstärken) immer gleich stark empfunden
wird, unabhängig von der absoluten Größe des Reizes,
so daß, wenn Jj' die Stärke der Empfindungsänderung
bedeutet, die Gleichung
Ay = a ' —
X
besteht oder durch Integration
J/ = (2 log X ■\- h^
wo a und h Konstanten bedeuten. Aus diesen Anfängen
der Psychophysik (welche die Beziehungen zwischen
Körper und Seele exakt formulieren wollte) hat sich in-
zwischen eine umfangreiche Wissenschaft entwickelt, vgl.
z. B. Wundts physiologische Psychologie und das zu-
sammenfassende Werk von Foucault, La psychophysi-
que, These pour le doctorat, Paris 1901.
Für den Mathematiker dürfte eine Bemerkung von
Laplaee von Interesse sein, die auch zu obiger Formel
bei einem Probleme der Wahrscheinlichkeitsrechnung
führt; nach ihm (und Bernoulli) ist nämlich der Zu-
wachs des moralischen Vorteils y , den ein Zuwachs dx
des Vermögens x für den Besitzer dieses Vermögens
mit sieh bringt, direkt proportional zu dx und umgekehrt
proportional zu .r; so daß zwischen moralischem und
materiellem Vermögen dieselbe Relation besteht wie
zwischen Empfindung und Reiz.
7) S. 26. Die Vorstellung der eine bestimmte
Funktion darstellenden Kurve als Grenzfall eines ,, Funk-
tionsstreifens" hat F. Klein eingehend besprochen:
Sitzungsberichte der physik.-mediz. Sozietät zu Erlangen,
1873, abgedruckt in Bd. 22 der Math. Annalen; vgl.
auch Pasehs Einleitung in die Differential- und Integral-
rechnung, Leipzig 1882.
8) S. 26. Ist die Länge der Quadratseite gleich 2 a und
sind die Seiten den Koordinatenachsen parallel, während
250
Anmerkungen 8 — 9.
der Mittelpunkt im Anfangspunkte x = o, jy = o liegt,
so sind die Gleichungen des eingeschriebenen Kreises
und der Diagonale bez.
woraus sich die Koordinaten ^, tj des Schnittpunktes in
der Form
a
ergeben, also irrational, wenn a rational gegeben war. —
In ähnlicher Weise formuliert Dedekind (loc. cit.) die-
sen Gedanken in folgenden Worten: ,, Wählt man drei
nicht in einer Geraden liegende Punkte A, jB, C nach
Belieben, nur mit der Beschränkung, daß die Verhält-
nisse ihrer Entfernungen AB, B C, A C algebraische
Zahlen sind (d. h. Zahlen, die sich als Wurzeln alge-
braischer Gleichungen mit rationalen Koeffizienten be-
stimmen lassen), und sieht man im Räume nur diejenigen
Punkte M als vorhanden an, für welche die Verhältnisse
von MA, MB, M C zw. AB ebenfalls algebraische Zahlen
sind, so ist der aus diesen Punkten M bestehende
Raum, wie leicht zu sehen, überall unstetig; aber trotz
der Unstetigkeit, Lückenhaftigkeit dieses Raumes sind
in ihm, so viel ich sehe, alle Konstruktionen, welche in
Euklids Elementen auftreten, genau ebenso ausführbar
wie in dem vollkommen stetigen Räume; die Unstetig-
keit dieses Raumes würde daher in Euklids Wissenschaft
gar nicht bemerkt, gar nicht empfunden werden. Wenn
mir aber jemand sagt, wir könnten uns den Raum gar
nicht anders als stetig denken, so möchte ich das be-
zweifeln und darauf aufmerksam machen, eine wie weit
vorgeschrittene, feine wissenschaftliche Bildung erforder-
lich ist, um nur das Wesen der Stetigkeit deutlich zu
erkennen und um zu begreifen, daß außer den rationalen
Größenverhältnissen auch irrationale, außer den alge-
braischen auch transcendente denkbar sind".
9) S. 29. Vgl. P. du Bois-Reymond: Die allge-
meine Funktionentheorie, Metaphysik und Theorie der
Zum ersten Teil. 2 "^ l
mathematischen Grundbegriffe, Tübingen 1882. Die ver-
schiedenen Ordnungen des Unendlichkleinen werden auf
S. 7 5 f. kurz besprochen. Die zahlreichen Arbeiten des
genannten Verfassers beziehen sich direkt mehr auf die
verschiedenen Ordnungen des Unendlichgroßen (woraus
man durch Umkehrung auf das Unendlichkleine schließen
kann) und auf die Besetzung der Geraden mit Verdich-
tungsstellen verschiedener Ordnungen von ,, Punktmengen**,
wie sie für die Beurteilung von Integralen wichtig sind
und mit Cantors Theorie der Punktmengen zusammen-
hängen. — Auf S. 55 des erwähnten Werkes bespricht
du Bois-Reymond auch den (zuerst von Heine in
Bd. 74 von Grelles Journal gemachten) Versuch, die
Zahlen rein formal (d. h. unabhängig von der Vorstellung
meßbarer Größen) zu definieren, und verwirft ihn als un-
fruchtbares Gedankenspiel; er stößt sich dabei besonders
an die schon beim Rechnen mit rationalen Brüchen ent-
stehende und oben unter 5) besprochene Schwierigkeit,
sowie an das beim Übergänge zur Anwendung der Zahlen
auf Messung von Größen in der Tat nicht vermeidbare
Axiom, wonach auch wirklich jedem Punkte der geraden
Linie eine Zahl zuzuordnen ist, denn direkt beweisbar
ist nur der Satz, daß jeder durch irgend ein Gesetz de-
finierten Zahl ein Punkt mit beliebiger Genauigkeit zu-
geordnet werden kann. Die neuere Entwicklung der
Mathematik geht dahin, die rein arithmetische Begrün-
dung der Analysis (unabhängig von geometrischen Vor-
stellungen) immer mehr zu bevorzugen, da sich so wesent-
liche Erleichterungen für alle mit Grenzbegriffen ope-
rierenden Beweise ergeben. — Eine wesentlich andere
Frage ist es, ob sich diese arithmetische Behandlung
auch für den Anfänger aus didaktischen Rücksichten
empfiehlt, oder ob es angezeigt ist, den Anfänger in
Kürze denjenigen Gang durchmachen zu lassen, den die
historische Entwicklung der Wissenschaft an die Hand
gibt, wie es z. B. der Verfasser des vorliegenden Werkes
oben auf S. 5 empfiehlt und wie es F. Klein mit be-
sonderem Nachdrucke verlangt hat (Über Arithmetisierung
der Mathematik, Göttinger Nachrichten, 1895). Den ent-
2^.2 Anmerkungen 10 — 12.
gegengesetzten Standpunkt vertritt Pringsheim (Über den
Zahl- und Grenzbegriff im Unterricht, VI. Jahresbericht
der deutschen Mathematiker- Vereinigung, 1898, und: Zur
Frage der Universitäts- Vorlesungen über Differentialrech-
nung, ib. VII, 1899). -^i^ Frage ist eine wesentlich prak-
tische und wird je nach Begabung und Erfahrung des
einzelnen Dozenten immer verschieden beantwortet werden ;
vielleicht empfiehlt es sich am meisten, keine der beiden
Auffassungen über der anderen ganz zu vernachlässigen;
auch Pringsheim hebt die Notwendigkeit hervor, das
Bedürfnis der betr. abstrakten Betrachtungen dem An-
fänger durch ein Beispiel (etwa die Auflösung der Gleichung
x"^ = 2) fühlbar zu machen, ihn also auf seine bisherige
(auch geometrische) Erfahrung zu verweisen. — Unend-
lich kleine Größen gebrochener Ordnung kommen schon
bei Leibniz vor. (Math. Schriften Bd. 2, p. 30off.)
10) S. 31. Nachdem Riemann und Schwarz
Funktionen konstruiert hatten, welche für gewisse Werte
von X, die in jedem noch so kleinen Intervalle unbe-
grenzt oft wiederkehren, keinen bestimmten endlichen
Differentialquotienten haben, hat Weierstraß zuerst eine
stetige Funktion angegeben, die an keiner Stelle einen
bestimmten Differentialquotienten hat, die also durch
eine Kurve ohne Tangenten dargestellt wird, und zwar
in einem Briefe an P. du Bois-Reymond, der in des
letzteren Abhandlung ,, Versuch einer Klassifikation der
willkürlichen Funktionen" (Grelles Journal Bd. 79, 1875)
veröffentlicht wurde. Andere Beispiele hat Darboux ge-
geben: Memoire sur les fonctions discontinues, Annales
de r^cole normale, 2. Serie, t. 4, 1875.
11) S. ;i,7,. Der Begriff des Querschnittes ist von
Riemann bei seinen Arbeiten über algebraische Funk-
tionen und deren Integrale und über die damit zusammen-
hängenden und zu deren Veranschaulichung dienenden
,,Riemannschen Flächen" eingeführt (Grelles Journal, Bd. 54,
^^575 Gesammelte Werke, Leipzig 1876) und wird seit-
dem allgemein angewandt; vgl. die Darstellung bei G. Neu-
mann, Theorie der Abelschen Integrale, Leipzig 1865,
2. Auflage 1884). — Die Angaben des Textes wird
Zum ersten Teil.
253
man sich an Beispielen klarmachen, indem man das
physikalische Kontinuum wieder durch das mathematische
Kontinuum ersetzt, also z. B. ein Kontinuum von einer
Dimension durch eine Kurve. Eine solche wird durch
eine diskrete Anzahl von Punkten (die zusammen den
Querschnitt darstellen) in getrennte Teile zerlegt, so eine
Gerade durch einen Punkt, ein Kreis durch zwei Punkte
u. s. f. Gehört dann der Punkt A dem einen Teile, der
Punkt B dem andern Teile an, so kann man von A
nach B längs der zerlegten Kurve C nur gelangen, in-
dem man einen Punkt des Querschnittes überschreitet.
Besteht der Querschnitt selbst nicht aus diskreten Punkten,
sondern aus einer stetigen Punktfolge (Kurve), so hatte
das zerschnittene Gebilde zwei Dimensionen; so wird
eine Ebene durch eine gerade Linie, eine Kugel durch
einen ebenen Schnitt (Kreis) in getrennte Kontinua zer-
legt, ferner unser Raum durch eine Ebene (Kontinuum
von zwei Dimensionen) in zwei getrennte Kontinua von
je drei Dimensionen u. s. f. — Der Begriff einer «-fach
ausgedehnten Mannigfaltigkeit wurde von Riemann in
der unten unter 15) citierten Abhandlung fixiert.
12) S. 34. Als Begründer der sogenannten Analysis
Situs ist Leibniz zu nennen; diesem Teile der Geo-
metrie gehört z. B. der Eulersche Satz an (Nov. Comm.
Petrop. 4, 1752), nach dem zwischen der Anzahlender
Flächen, e der Ecken und k der Kanten eines Polyeders
die Relation
k =/+ e - 2
besteht, denn dieser Satz gilt auch noch, wenn die
Flächen verbogen, die Kanten verzerrt werden; er hängt
in der Tat mit der Theorie Riemannscher Flächen (in
der auch beliebige Verbiegungen und Verzerrungen als
irrelevant behandelt werden) enge zusammen. Die Ana-
lysis Situs wurde durch Listing (Der Zensus der räum-
lichen Komplexe, Göttinger Abhandlungen, 1861), Rie-
mann (loc. cit.), Schläfli (Grelles Journal, Bd. 5, An-
nali di matematica, 5) und Klein (Math. Annalen, Bd. 7,
9 und 10) weiter entwickelt.
2^4 AnmerkuBgen 13—15.
Zweiter Teil, Der Raum.
13) S. 36. Der Grundsatz: „Zwei Größen, die einer
und derselben dritten gleich sind, sind untereinander
gleich" ist rein analytisch, wenn man ihn (wie es in
modernen elementaren Büchern meist geschieht) auf
Zahlengrößen bezieht. Wenn dieser Satz aber auch unter
Euklids Axiomen erscheint und wenn man bedenkt,
daß dem Altertume die Identifizierung von geometrischen
Größen mit Zahlen vollkommen fernlag, so muß man
jenem Grundsatze bei Euklid eine rein geometrische
Bedeutung beilegen, wie ich in meiner Darstellung der
nicht -Euklidischen Geometrie (Vorlesungen über Geo-
metrie unter Benutzung der Vorträge von Alfred Clebsch,
2. Bandes i. Teil, Leipzig 1891, p. 555) näher ausge-
führt habe. Der Satz ist nichts anderes als eine Defi-
nition der Gleichheit geometrischer Figuren, die nicht
direkt aufeinander gelegt werden können; denn durch
das vierte Axiom von Euklid werden solche Figuren als
gleich definiert, die man durch Bewegung zur Deckung
bringen kann. Über diese ,, Bewegungen" vgl. unten An-
merkung 24.
14) S. 37. Lobatschewskys erste Arbeiten wurden
182g — 38 in Kasan veröffentlicht, dann 1837 in Bd. 17
von Grelles Journal; seine Theorie der Parallelen ist
in Ostwalds Klassiker -Bibliothek wieder abgedruckt;
Bolyais Hauptwerk erschien 1832; auch Gauß, der mit
letzterem in Verbindung stand, beschäftigte sich mit ähn-
lichen Gedanken in seinen Briefen an Schumacher
(aus dem Jahre 1831). Über die Geschichte des Problems
vgl. Stäckel und Engel: Die Theorie der Parallellinien
von Euklid bis auf Gauß, Leipzig 1895, und von den-
selben Verfassern: Urkunden zur Geschichte d6r nicht-
Euklidischen Geometrie, Leipzig 1899, femer: Brief-
wechsel zwischen Gauß und Bolyai, herausgegeben von
Schmidt und Stäckel, Leipzig 1899. Ein Verzeichnis
aller Schriften über nicht -Euklidische Geometrie findet
sich in der von der Universität Klausenburg heraus-
Zum zweiten Teil. 255
gegebenen Festschrift: Libellus post saeculum quam
loannes Bolyai de Bolya anno 1802 a. D. Claudiopoli
natus est ad celebrandam memoriam eius immortalem ....
editus, Claudiopoli, 1902.
15) S. 37. Die genannte Abhandlung Riemanns
wurde von ihm am 10. Juni 1854 bei dem zum Zwecke
seiner Habilitation (als Privatdozent) veranstalteten Kol-
loquium mit der philosophischen Fakultät in Göttingen
vorgelesen. Dadurch erklärt sich der fragmentarische
Charakter, indem analytische Entwicklungen für diesen
Zweck möglichst vermieden werden mußten. Die Ab-
handlung wurde 1867 aus dem Nachlasse ihres Verfassers
durch R. Dedekind zuerst veröffentlicht: Abhandlungen
der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göt-
tingen, Bd. 13, abgedruckt in Riemanns gesammelten
Werken, Leipzig 1876, S. 254 ff. ; vgl. auch ib. S. 384,
wo Dedekind im Anschlüsse an eine andere Arbeit
Riemanns einige analytische Erläuterungen gibt.
Beltramis Abhandlung (Teoria fondamentale degli
spazii di curvatura constante) erschien 1868: Annali di
matematica, Serie II, t. 2 (vgl. dessen Opere matematiche).
Die Arbeit von Helmholtz (Über die Tatsachen, die
der Geometrie zu Grunde liegen) ist gleichfalls 1868 ver-
öffentlicht: Nachrichten der kgl. Gesellschaft der Wissen-
schaften zu Göttingen, Bd. 15 (vgl. dessen Wissenschaft-
liche Abhandlungen, Bd. 2, 1883); derselbe hat auch
versucht, seine Anschauungen in allgemein verständlicher
Weise darzulegen: Über den Ursprung und die Bedeu-
tung der geometrischen Axiome (Vorträge und Reden,
Bd. 2, Braunschweig 1884).
Durch die Arbeiten von F. Klein (Über die soge-
nannte nicht-Euklidische Geometrie, Math. Annalen Bd. 4,
1871; Bd. 6, 1873; Bd. 7, 1874; Bd. 37, 1890), die
sich an Cayleys Verallgemeinerung der Maßbestimmungs-
Funktion (A sixth memoir upon quantics, Philosophical
Transactions, vol. 149, 1859; Collected papers, vol. 2)
anschlössen, hat die Behandlung der betreffenden Pro-
bleme neue Bahnen eingeschlagen; vgl. meine Darstel-
lung dieser Theorien in dem Werke: Vorlesungen über
2 c 6 Anmerkungen 1 6 — 19.
Geometrie, bearbeitet unter Benutzung der Vorträge von
A. Clebsch, Bd. II, Teil i, Leipzig 1891; ferner Kil-
ling: Die nicht-Euklidischen Raumformen in analytischer
Behandlung, Leipzig 1885.
16) S. 39. In populärer und teilweise humoristischer
Weise ist die Geometrie der zweidimensionalen Wesen
behandelt in dem Werke: Fiatland, A romance of many
dimensions by A Square, London 1884. — Zweidimen-
sionale Wesen haben natürlich große Schwierigkeiten im
Studium der Geometrie, denn eine gezogene Linie ver-
deckt ihnen alles, was sich auf der einen Seite dieser
Linie befindet; andererseits würden vierdimensionale
Wesen mit Ebenen und Kugeln in analoger Weise leicht
operieren (durch dem Lineal und Zirkel analoge Instru-
mente), wie wir es mit geraden Linien und Kreisen tun.
1 7) S. 40. Die Euklidische, Lobatschewskysche und
Riemannsche Geometrie werden nach Klein in folgender
Weise charakterisiert: In der ersten (der parabolischen
Geometrie) verhalten sich die unendlich fernen Punkte
wie Punkte einer Ebene (nach Poncelet), in welcher sich
ein ausgezeichneter imaginärer Kegelschnitt befindet, der
nach Chasles und Laguerre zur Definition der Winkel
dient; in der zweiten (der hyperbolischen Geometrie)
haben wir statt der Ebene eine reelle, nicht geradlinige
Fläche zweiter Ordnung als Repräsentanten der unend-
lich fernen Punkte, in der dritten (der elliptischen Geo-
metrie) eine imaginäre Fläche zweiter Ordnung. Der
Satz, daß zwei Punkte ihre gerade Verbindungslinie ein-
deutig bestimmen, gilt gleichmäßig in allen drei Geo-
metrien. Im dritten Falle kann man durch eine quadra-
tische Transformation eine weitere Geometrie herstellen,
bei der jedem Punkte ein anderer eindeutig derartig
zugeordnet ist, daß beide zusammen eine gerade Linie
nicht bestimmen. Wenn man die Riemannsche Geo-
metrie der Ebene sich nach Riemann und Beltrami
auf einer Fläche konstanten Krümmungsmaßes (insbeson-
dere auf der Kugel) veranschaulicht (vgl. S. 41 ff. des
obigen Textes), so hat man diesen Fall vor sich, in dem
durch zwei Punkte unendlich viele gerade Linien hin-
Zum zweiten Teil.
257
durchgehen können (wie auf der Kugel unendlich viele
größte Kreise durch zwei diametral gegenüberliegende
Punkte). Killing hat a. a. O. gezeigt, daß nie mehr
als zwei Punkte einander so zugeordnet sein können;
deshalb ist im Texte des vorliegenden Werkes von ,,zwei
möglichen Formen" der Riemannschen Geometrie die
Rede. Dieses Verhalten der Geometrie auf der Kugel
hat Helmholtz zu der irrigen Ansicht geführt, daß eine
solche paarweise Zuordnung der Punkte notwendig mit
den Vorstellungen der Riemannschen Geometrie ver-
bunden sei; und diese Ansicht findet man seitdem häufig
vertreten, insbesondere z. B. bei Erdmann (Die Axiome
der Geometrie, eine philosophische Untersuchung der
Riemann - Helmholtzschen Raumtheorie, Leipzig 1877).
Riemann selbst spricht sich nicht darüber aus, welche
der beiden möglichen Formen ihm vorgeschwebt hat.
Diese beiden Formen unterscheiden sich auch dadurch,
daß bei der ersten der Raum durch eine Ebene (die
Ebene durch eine gerade Linie) nicht in zwei getrennte
Teile zerlegt werden kann, während dies in der zweiten
Form möglich ist; vgl. mein oben erwähntes Werk,
S. 527ff.
18) S. 40. Man beachte, daß das Wort „parallel"
in der Lobatschewskyschen Geometrie in doppeltem Sinne
gebraucht wird. Entweder man nennt zwei Linien pa-
rallel, wenn sie sich nicht schneiden; dann gibt es un-
endlich viele Parallele zu einer gegebenen Geraden durch
einen gegebenen Punkt. Oder man nennt sie parallel,
wenn sie sich im Unendlichen schneiden (d. h. wenn die
eine bei Drehung um den festen Punkt diejenige Grenz-
lage erreicht, bei welcher der Schnittpunkt sich ins Un-
endliche entfernt); dann gibt es nur zwei solche Paral-
lele, aber außerdem noch unendlich viele Gerade, welche
die gegebene Gerade nicht schneiden, und die man als
ultraparallel bezeichnen könnte. Die im Texte er-
wähnte Unterscheidung von „unbegrenzt" und ,, unend-
lich" hat Riemann a. a. O. eingeführt.
19) S. 43. Es seien x, y, z die rechtwinkligen Ko-
ordinaten eines Punktes in unserem Euklidischen Räume
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. \1
2ir8 Anmerkung 19.
und ^, rj, ^ die analogen Koordinaten im Lobatschewsky-
schen Räume (vgl. über die Definition der letzteren das
oben unter 1 5) citierte Werk : Vorlesungen über Geometrie,
Bd. II, p. 5i8flf); dann ist die im Texte des vorliegenden
Werkes durch das „Wörterbuch" zum Ausdruck gebrachte
Beziehung zwischen beiden Räumen durch die Formeln
/ \ y 2 CC X 2 ß y
^^2 _|_ ^,2 _^ 2^ — y^2 ' •/ ^2_|_^2_^ 22-/^2'
^ ;^2 ^ ^2 _|_ 22 _ ^2
analytisch dargestellt. Hieraus erhält man
^2 +^.2 ^ (^2 ^^2 ^ ,2 _ ^2)2 (_^^ + _J)
Die Auflösung der Gleichungen (i) ergibt also
(3) x=^' y = ^,
= ^l/^H^+2,^_,^g + ^)
Der Einfachheit halber nehmen wir a = ß = y = k.
Reelle Werte von x, y, z erhält man also nur dann,
wenn die Bedingung
(4) {ki+i?-'e-n^-i>o
erfüllt ist, d. h. wenn der Punkt 'E,, '}], ^ innerhalb der
(nicht geradlinigen) Fläche zweiter Ordnung
(5) (n+ o'-i'-i?'-i=o
gelegen ist, so daß die von ihm an diese Fläche zu
legenden Tangenten imaginär sind. In der Loba-
tschewskyschen Geometrie stellt diese Fläche die unend-
lich fernen Punkte des Raumes dar, so daß alle Punkte
dieses Raumes erschöpft sind, wenn ^, rj, ^ der Bedin-
Zum zweiten Teil.
259
gung (4) unterworfen werden; vgl. die Anmerkung 17.
Wählt man in (3) das positive Vorzeichen der Quadrat-
wurzel, so entspricht der Gesamtheit von Punkten ^, 7], ^
des Lobatschewskyschen Raumes die Gesamtheit der
Punkte in demjenigen „Halbraume" der Euklidischen Geo-
metrie, welcher durch die Bedingung 0 > o dargestellt
wird. Der ,, Fundamentalebene'' z = o des Euklidischen
Raumes entspricht die ,, Fundamentalfläche" (unendlich
ferne Fläche) zweiter Ordnung, die durch (5) ge-
geben war.
Eine Kugel des Euklidischen Raumes, welche die
Fundamentalebene 2 = 0 orthogonal schneidet (deren
Mittelpunkt also in der Ebene z =0 liegt), ist durch die
Gleichung
(6) x^ ■\- y'' -\- z^ — 2 ax — 2 bjy -\- a^ -\- P — r^ = o
dargestellt. Sie geht vermöge (i), wo wieder
a ^= ß =- y = k
zu nehmen ist, in die Gleichung
(7) u^-^ TJrj-^ w^-\- I = o,
also in eine Ebene über, wenn
, , a h «2 4- §2 + /&2 _ ^2
(7a) u = ~-^, ^ = -1' ^ = VI
gewählt wird. Eine zweite Kugel
(8) :r2 + :j/2 + z2— 2a^x- ib^y -\- a^^ -\- b^^ - r^^ = o
führt ebenso zu einer zweiten Ebene
(9) ^i'i + ^iV + "^^1^+ ^ = o,
wenn
(ga) «i = -f, ^i=-i' '^1= -^-^TI ^•
Ist die Entfernung ihrer Zentren kleiner als die Summe
der Radien, d. h. ist
(10) (a-a,Y+{b-b,)'<{r±r^)\
so schneiden sich beide Kugeln in einem Kreise, der
17*
25o Anmerkung 19.
in einer zn z = o senkrechten Ebene liegt; ihm ent-
spricht im Lobatschewskyschen Räume die Schnittlinie
der beiden Ebenen (7) und (9). Ist die Bedingung (10)
nicht erfüllt, so schneiden sich die Kugeln nicht, also
auch die zugeordneten Ebenen schneiden sich nicht,
d. h. die Werte von ^, rj, ^, welche den Gleichungen (7)
und (g) genügen, sind solche, denen im Lobatschewsky-
schen Räume keine Punkte entsprechen, indem die-
selben die verlangte Ungleichung (4) nicht befriedigen;
diese Wertetripel stellen (nach Kleins Ausdrucksweise,
vgl. S. 471 f. meines oben erwähnten Werkes) „ideale
Punkte" des Raumes dar. Berühren sich die Kugeln
(6) und (8), so haben sie einen reellen Punkt in der
Fundamentalebene z = o gemeinsam; den Ebenen (7)
und (9) ist also auch ein Punkt der (unendlich fernen)
Fundamentalfläche (5) gemeinsam, d. h. den Werten
von ^, 7], ^, welche den Gleichungen (7) und (9) ge-
nügen, entsprechen im allgemeinen keine Punkte des
Lobatschewskyschen Raumes, ausgenommen ein ein-
ziges Tripel ^, rj, ^, das einen unendlich fernen Punkt
liefert: die Ebenen (7) und (9) sind einander parallel
(sie schneiden sich in einer von ,, idealen*' Punkten er-
füllten Geraden, welche die Fundamentalfläche (5) be-
rührt).
Die Gleichung der Fläche (5) in Ebenenkoordinaten
u, z), w ist bekanntlich
(11) k^(u^ -^ 7J^ -{- l) — 2kw = O.
Die Bedingung dafür, daß sich durch die Schnittlinie
zweier Ebenen zwei imaginäre Tangentenebenen an die
Fläche (5), bezw. (11) legen lassen, ist (vgl. z. B. S. 197
meines oben genannten Werkes):
(12) I{^-GL<o,
wenn
G = k^(u^ + Z;2-f l) _ 2kw,
(13) L = P{u^^Jr^i^+ 0- 2^^i,
11= k^{uu^ -j- vv^ -\- i) — k[w -\- 7Ü^
Zum zweiten Teil. 201
gesetzt wird. Führt man hier die Werte (7a), bez. (9a)
ein, so wird:
(14) G = r\ L==r^,
und die Bedingung (12) ergibt
[{a - a,f + (^ - 5,)2 -r^- r^^)' < ^r^
was mit der Bedingung (10) übereinstimmt. Lassen sich
aber durch eine Gerade imaginäre Tangentenebenen an
eine nicht geradlinige Fläche zweiter Ordnung legen, so
sind die Schnittpunkte dieser Fläche mit jener Geraden
reell, und so ergibt sich wieder die Ungleichung (10)
als Bedingung dafür, daß sich die Ebenen (7) und (9)
in wirklichen Punkten des Lobatschewskyschen Raumes
schneiden (und somit als identisch mit der Bedingung,
daß sich die zugeordneten Kugeln in einem reellen
Kreise durchdringen); die wirklichen Punkte ^, 71, ^ liegen
zwischen beiden reellen Schnittpunkten der Geraden mit
der Fundamentalfläche (5); außerhalb dieser Schnittpunkte
ergeben sich ,, ideale" Punkte der Geraden.
Die Bedingung für den Parallelismus der beiden
Ebenen ist
(15) H^==^GL,
und dieselbe ist identisch mit der Bedingung für die
Berührung beider Kugeln, nämlich
(16) (a-a,f-^(b-b,Y = (r±r,Y.
Diese Bedingung der Berührung ergibt sich auch,
wenn man von dem Winkel beider Kugeln ausgeht, d. h.
dem Winkel, welchen die Tangentialebenen der Kugeln
in einem Punkte ihrer Schnittkurve miteinander ein-
schließen. Ist X, y, z ein Punkt der Schnittkurve und
werden mit X, V, Z laufende Koordinaten bezeichnet,
so sind die Gleichungen der beiden Tangentialebenen
für die Kugeln (6) und (8)
(x-a){X-a) + {j,-b){r-b) + 2.Z-r2 = o,
252 Anmerkung 19.
{x - a,){X - a,) ^(y- b,){F- b,) + z . Z - r,' = o;
ihr Winkel (p wird also bestimmt durch:
_ (-^ — ^) (^ — ^1 ) + b' — ^) (7 - ^1 ) + ^'
oder infolge der Gleichungen (6) und (8):
(17) cos cp =
irr.
Im Falle der Berührung ist cos 9 == + i, und daraus
ergibt sich wieder die Bedingung (16).
Vermöge ( 1 4) erhält man aus ( 1 7)
(18) cosgp = ^;
das ist aber genau der Ausdruck, welcher sich in der
Lobatschewskyschen Geometrie für den Winkel zweier
Ebenen (7) und (9) ergibt, wenn man G^ H, L gemäß
(13) durch die Koordinaten dieser Ebenen ausdrückt.
Damit ist die sechste Angabe des im Texte aufgestellten
,, Wörterbuches" bestätigt. Die siebente Angabe erledigt
sich dadurch, daß in der Lobatschewskyschen Geometrie
die Entfernung zweier Punkte ^, y], ^ und "g^, rj^, ^^ durch
den Ausdruck
gemessen wird, wenn P, Q, R durch die Gleichungen
definiert werden, und daß der im Argumente des Loga-
rithmus stehende Ausdruck eben gleich dem Doppel-
verhältnis ist, welches die beiden gegebenen Punkte mit
den beiden Punkten bilden, in denen ihre Verbindungs-
linie die Fundamentalfläche (5) schneidet. Das Doppel-
verhältnis der vier Punkte mit den Koordinaten ^, 7], ^
des ersten, 'E,^, rj^, ^^, des zweiten,
Zum zweiten Teil. 263
^ des dritten,
Punktes wird dabei durch den Quotienten l : t gegeben.
Die entsprechenden vier Punkte im Euklidischen Räume
liegen auf einem Kreise, der die Ebene e = o orthogonal
schneidet, und ihr Doppelverhältnis sei wieder durch
den gleichen Quotienten definiert; diese vier Punkte
haben nach (3) die Koordinaten x^ y, z und x^y y^, z^
für den ersten und zweiten Punkt, ferner
_ g + ^li ^ _ 2L±Jl^
2fo =
-^^y-{PJ^2lQ-\-l^R).
woraus sich x^ , j'^ , z^ ergeben , wenn man X durch X' er-
setzt.
Projizieren wir die beiden Punkte x, y, z und x^, y^, z^
in die Ebene s = o, so entstehen hier Punkte mit den
Koordinaten x, y und x^, y^. Die Verbindungslinie der
letzteren ist ein Durchmesser des betrachteten Kreises;
und die Endpunkte des Durchmessers haben die Koordi-
naten x^, y^, bez. x^, y^. Auf diesem Durchmesser haben
wir also die vier Punkte mit den Koordinaten
+ xi, ^^ a + n,
,, _ !? ,, —Vi V — ^^ + ^"^1 ,; _ ^ + ^'^t
Das Doppelverhältnis dieser vier Punkte ist in der Tat
gleich X : X'. Wenn also in der siebenten Angabe des
„Wörterbuches" von dem ,, Doppelverhältnisse dieser vier
Punkte des Kreises" gesprochen wird, so ist damit das
Doppelverhältnis ihrer Projektionen auf die Fundamental-
ebene z = o gemeint, nicht etwa im Sinne der synthe-
tischen Geometrie das Doppelverhältnis der vier Strahlen,
welche die vier Punkte mit einem beliebigen fünften
Punkte desselben Kreises verbinden.
264 Anmerkung 19.
Die vierte und fünfte Angabe unseres Wörterbuches
erledigt sich durch die folgende Betrachtung. Die
Gleichung einer beliebigen Kugel des Euklidischen
Raumes ist
(19) x^ -{-y^ -\- z^ — 2ax — 2dj/ — 2cz
Nach (i) ist die linke Seite gleich
(^2 _j_y 4- ^2 _ ^2)(j _|_ ^^^ _^ ^^^ _|. ^^^) _ 2^2,
wenn
gesetzt wird. Drücken wir also z nach (3) durch |, -jy, ^
aus, so entsteht die Gleichung derjenigen Fläche, welche
der Kugel (19) im Lobatschewskyschen Räume zugeord-
net wird, in der Form:
(20) k\i-^u^l-\-v^ri-\-w^lf=c\{)il^ l)2_^2_^2_ i].
Es ist dies die Gleichung einer Fläche zweiter Ordnung,
welche die Fundamentalfläche (5) längs ihres Schnittes
mit der Ebene
(2 i) u^l ^-v^ri^w^l^ \ =0
berührt; das ist aber eine Kugel im Sinne der Loba-
tschewskyschen Geometrie (vgl. S. 495 f. u. 521 f. meines
oben erwähnten Werkes). Der Mittelpunkt der Kugel
ist der Pol der Ebene (21) inbezug auf die Fläche (5).
Einer Kugel ist also in der Tat eine Kugel
zugeordnet und somit einem Kreise (als Schnitt
zweier Kugeln) wieder ein Kreis (Kegelschnitt,
der die Fundamentalfläche in zwei Punkten be-
rührt).
Einer Ebene des Euklidischen Raumes
Ax -^ By ^ Cz^ D = 0
entspricht nach (3) die Fläche
(22) (AI + ^^ -)- DtY = C^m + I)' -^'-v'- I].
also eine Kugel, für welche die Ebene des Berührungs-
Zum zweiten Teil. 265
kegelschnittes durch den Punkt ^ = 0, r] ^ o, ^ ^= o hin-
durchgeht, welcher selbst auf der Fundamentalfläche (also
unendlich fern) liegt. Der Mittelpunkt der Kugel {22)
liegt demnach in der Tangentialebene dieses unendlich
fernen Punktes, gehört also zu den oben erwähnten
idealen Punkten des Lobatschewskyschen Raumes.
Schneidet die Kugel (ig) die Ebene z = o in einem
imaginären Kreise, so ist der unendlich ferne Kegel-
schnitt der nicht-EukUdischen Kugel (20) imaginär; diese
Kugel selbst liegt ganz im Endlichen; ihr Mittelpunkt
ist ein wirklicher Punkt. Wird die Ebene s = o von
der Kugel (19) in einem reellen Kreise getroffen, so ist
der unendlich ferne Kegelschnitt der Kugel (20) reell,
und er teilt diese Fläche in zwei Teile; der eine Teil
entspricht der Kugel (19), der andere Teil derjenigen
Kugel des Euklidischen Raumes, welche aus (19) her-
vorgeht, wenn man c durch — c ersetzt, und welche auch
in den Halbraum s >> o hineinragt. Berühren sich die
Ebene z = o und die Kugel (19), so wird auch die
Fläche (5) von der Kugel (20) berührt; der unendUch
ferne Kegelschnitt der letzteren zerfällt in zwei imaginäre
Erzeugende; die Kugel selbst ist eine Grenzfläche, deren
Eigenschaften ich (a. a. O. S. 500 if.) näher angegeben
habe, indem ich insbesondere zeigte, daß diese Fläche
in der nicht-Euklidischen Geometrie zur Darstellung einer
komplexen Variabein dieselben Dienste leistet, wie die
sogenannte Gaußsche Ebene in unserer Euklidischen
Geometrie.
Interpretiert man die Größen ^, rj, ^ direkt im Euklidi-
schen Räume als rechtwinklige Koordinaten, so entspricht
jedem Punkte |, 7], ^ des Lobatschewskyschen Raumes
ein Punkt im Innern einer durch (5) dargestellten Fläche
zweiter Ordnung; jeder Ebene eine Ebene, jeder Geraden
eine Gerade, so daß die sogenannte projektivische Geo-
metrie des Euklidischen Raumes von der projektivi-
schen Geometrie des nicht -Euklidischen Raumes nicht
verschieden ist, und sich hier ein entsprechendes
Wörterbuch aufstellen ließe; insbesondere kann als be-
grenzende Fläche eine Kugel gewählt werden; dann
256 Anmerkung 19.
entsteht die schon von Beltrami benutzte Abbildung
(Annali di matematica, Serie II, t. 2), auf welche sich
auch Helmholtz in seinem erwähnten populären Vor-
trage bezieht. Jedem metrischen oder projektivischen
Satze der Lobatschewskyschen Geometrie entspricht ein
projektivischer Satz der gewöhnlichen Geometrie; auch
hier ist deshalb der Schluß zu machen, daß unsere Eukli-
dische Geometrie einen Widerspruch in sich enthalten
müßte, wenn dies mit der nicht-Euklidischen Geometrie
der Fall wäre, wie ich dies a. a. O. S. 552 ff. näher aus-
geführt habe. Dabei ist zu beachten, daß die Koordi-
naten '8,, rj, ^ sowohl in der Euklidischen als in der nicht-
Euklidischen Geometrie nach den Arbeiten von v. Stau dt,
Klein, Fiedler und de Paolis definiert werden kön-
nen, ohne daß dabei von den Begriffen der Entfernung
oder des Winkels Gebrauch gemacht würde.
Um den Zusammenhang mit Riemanns und Bel-
tramis Untersuchungen herzustellen, muß man den Aus-
druck des Bogenelementes ds aufstellen, der auch
weiter unten noch benutzt wird. Führt man homogene
Koordinaten ein, ersetzt also 'E,, tj, ^ bez. durch ^ : r, ?; .' r,
^ : r , so wird die Gleichung der Fundamentalfläche (5)
i' + n' + r'-(ki + tY = o.
Die absoluten Werte dieser Koordinaten kann man durch
eine beliebige Festsetzung fixieren, hier am einfachsten
durch die Bedingung
r + ,,2 + r^ - (ki + t)' = - c^
wo dann zwischen den Differentialen die Relation
'^d'E, + Tjdr] + rdr - (k^ + t) (kd^ -\- dr) = o
erfüllt ist. Für das Linienelement erhält man dann (vgl.
a. a. O. S. 478 und 524):
Die Gleichungen (3), in denen wieder a = ß = y = k zu
nehmen ist, ergeben dann:
Zum zweiten Teil. 207
I n c
und nach einigen Umformungen:
dx^ + dy^ + dz^
= j,[^''d6'C'-^[{n+z)d^-t[kdt^dz)Y-{rd^--idT)'^
= z^da^,
also mit Hilfe der dritten Gleichung (3)
(23) ^<?'= ^i - = ^
Um auf die üblichen Formeln zu kommen, müssen
wir den Halbraum 0 > o in das Innere einer Kugel mit
dem Radius i überführen, was durch eine Transforma-
tion mit reziproken Radien geschieht. Sei diese Kugel
durch die Gleichung
dargestellt, so setzen wir
pi = X^+ F\ ^^ = x^ -{-j^\
p^iz=^^/"~\, wo ^^^^:r^^
also
P^ ^ Z^ -\ =X^ ^Y^ -^ Z^ -1 =
2 z
Es wird also
2 _ ^■^- _ dX^^-^dY^-^dZ^
z-
(A"2_|_ Y^-\- Z^—\)'
Hat die Kugel den Radius R und bezeichnet r die Ent-
fernung des Punktes X, JT, Z von ihrem Mittelpunkte
(r2 = ^2 + ^2 _^ ^)^ so wird
, , , o dX^-\-dY^-\-dZ^
(24) ^ö' = iR^-r^J^ '
208 Anmerkungen 20 — 22.
und damit ist der Riemannsche Ausdruck für das Bogen-
dement einer dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit kon-
stanter Krümmung erreicht.
Für Z==o erhält man das Bogenelement einer Fläche
konstanter Krümmung im Gaußschen Sinne, wobei X
und F die Parameter der geodätischen Linien auf dieser
Fläche bedeuten, und damit das im Texte erwähnte
Bei tramische Resultat betreffend die Veranschaulichung
der Lobatschewskyschen Geometrie durch Flächen kon-
stanten Krümmungsmaßes.
Letzteres ist hier im Sinne von Gauß zu nehmen
(Disquisitiones generales circa superficies curvas, 1828,
Gesammelte Werke Bd. 4). Für die neuere Entwicklung
der Theorie der Flächen konstanten Krümmungsmaßes
sei z. B. auf die Lehrbücher von Bianchi (Vorlesungen
über Differentialgeometrie, deutsch von Lukat, Leipzig
1899) oder Scheffers (Einleitung in die Theorie der
Flächen, Leipzig 1902) verwiesen.
Ersetzt man k!^ durch — k^, so ergibt sich die Rie-
mannsche Geometrie; auch für sie kann in ähnlicher
Weise das System der Ebenen auf ein System von Kugeln
der Euklidischen Geometrie abgebildet werden, die eine
gewisse imaginäre Ebene (allgemeiner eine gewisse feste
imaginäre Kugel) orthogonal schneiden.
20) S. 44. Setzt man in den Formeln der vorher-
gehenden Anmerkung y = o und vertauscht die Buch-
staben _>' mit z, 7] mit ^, so entsteht aus (i):
, 2x 2
und aus (3)
Den geraden Linien einer Lobatschewskyschen Ebene
werden die Kreise zugeordnet, welche in der xy-Ebene
die Achse y = o orthogonal schneiden, soweit sie in der
Halbebene >' > o liegen. Auf die Untersuchung von sol-
chen Kreisen und den aus ihnen gebildeten Figuren
(Überführung der letzteren ineinander durch lineare Trans-
Zum zweiten Teil. 200
formation der komplexen Variabein x + z>') beziehen sich
die Arbeiten von Poincare und Klein über Gruppen
von linearen Transformationen der komplexen Veränder-
lichen X -\- iy und über die linearen Differentialgleichungen
zweiter Ordnung, welche mit diesen Gruppen zusammen-
hängen. Besonders die Ausdrücke für das Bogenelement
und den Flächeninhalt kommen dabei in Betracht. Die
(zuerst seit 1881 in den Comptes rendus des seances
de l'academie des sciences im Auszuge veröffentlichten)
Arbeiten von Poincare findet man ausführlicher in den
Acta mathematica, Bd. i, 3, 4 und 5; die von Klein in
den Mathematischen Annalen Bd. 21 (1882, besonders
S. 179 ff.) und 40 (1892); vgl. auch Klein und Fricke,
Vorlesungen über die Theorie der automorphen Funk-
tionen, Leipzig 1897.
21) S. 44. Wie man ein solches Wörterbuch durch
Übersetzung der nicht - Euklidischen Geometrie in die
projektivische Geometrie des Euklidischen Raumes her-
stellen kann, ist schon in Anmerkung 19) erwähnt (S. 265).
22) S. 45. Implizite Voraussetzungen macht man
z. B. auch bei den Gesetzen der Anordnung, insbeson-
dere beim Begriffe ,, zwischen"; vgl. Pasch, Vorlesungen
über neuere Geometrie, Leipzig 1882; ebenso wird das
sogenannte Archimedische Axiom meist implizite voraus-
gesetzt, welches aussagt, daß ein Teil einer Strecke AB von
A aus in der Richtung auf B wiederholt abgetragen, stets
nach einer endlichen Anzahl von Abtragungen zu einem
Punkte führt, der über B hinaus liegt (oder: eine Größe
kann so oft vervielfältigt werden, daß sie jede andere
ihr gleichartige übertrifft); vgl. Veronese, Grundzüge der
Geometrie, deutsch von Schepp, und Stolz: Berichte
des naturw.-mediz. Vereins in Innsbruck, XII, i88y2, und
Math. Annalen Bd. 39, 1891. Das Axiom ist evident,
wenn man die geometrischen Größen durch Zahlen dar-
gestellt hat (wie in der analytischen Geometrie), wird
aber gebraucht, um eine solche analytische Darstellung
zu vennitteln (kann aber vermieden werden, wenn man
die Einführung der Koordinaten auf rein projektivische
Methoden stützt, vgl. S. 445 f. meines obigen Werkes
2 70 Anmerkungen 23 — 24.
und die Verbesserung dazu am Schlüsse). Für die ebene
Geometrie hat Hubert gezeigt, daß dieses Axiom in
der Tat von den übrigen Axiomen unabhängig ist, in-
dem er eine Geometrie konstruierte, die von diesem
Axiome unabhängig besteht (vgl. dessen Grundlagen der
Geometrie, Festschrift zur Feier der Enthüllung des Gauß-
Weber- Denkmals in Göttingen, Leipzig 1899). Nimmt
man dagegen die Geometrie des Raumes zu Hilfe (d. h.
betrachtet man die Ebene als Schnitt einer dreidimen-
sionalen Mannigfaltigkeit), so läßt sich das Archime-
dische Axiom beweisen, vgl. Schur, Math. Annalen
Bd. 55, 1900, wo ein Hyperboloid benutzt wird). In
der Tat wird auch bei direkter Begründung der projek-
tivischen Geometrie ein Satz aus der Geometrie des
Raumes benutzt (vgl. S. 439 meines obigen Werkes und
dazu die Verbesserung am Schlüsse).
Insbesondere behandelt Hilbert (a. a. O. S. 43 ff.)
die Sätze über inhaltsgleiche Dreiecke, die bei Euklid
(Buch I, Satz 39) nach ihm nur durch Berufung auf
einen allgemeinen Größensatz gelingt (t6 olov xov ^egovg
^ei^ov satLv); nach der oben (S. 254) gemachten Bemerkung
ist dies aber nicht ein allgemeiner Größensatz, sondern
ein spezieller Grundsatz zur Definition des Begriffes
„größer" geometrischer Figuren; vgl. oben Anmerkung 13.
Auch Schur (Sitzungsberichte der Dorpater naturforschen-
den Gesellschaft, 1892, und Math. Annalen Bd. 57) hebt
hervor, daß zum exakten Beweise der Flächengleichheit
zweier Figuren ein neues (sonst stillschweigend voraus-
gesetztes) Axiom nötig sei, nach welchem eine Fläche
keinem ihrer Teile inhaltsgleich sein kann; nach meiner
Auffassung ist jener Grundsatz Euklids mit diesem
Axiome identisch.
2;^) S. 47. Fast genau so definiert z. B. P. du Bois-
Reymond die Gerade (vgl. S. 9 7 f. in dessen oben citier-
tem Werke), aber unter weniger scharfer Trennung von
Axiom und Definition; Euklids Definition: „eine ge-
rade Linie liegt gleichmäßig zwischen zwei Punkten" ist
auch nur verständlich und fruchtbar, wenn man sie in
gleichem Sinne auffaßt.
Zum zweiten Teil.
271
24) S. 47. Die in den letzten Entwicklungen vom
Verfasser mit Recht gerügte Unklarheit inbezug auf die
Definition von Gleichheit und Bewegung findet sich ins-
besondere auch in allen mir bekannten deutschen Lehr-
büchern der Elementar- Geometrie. Anders ist es aber,
wenn man Euklids Darstellung im Originale zu Rate
zieht. Durch die mit Unrecht als allgemeine Größen-
axiome bezeichneten Sätze führt er die Beurteilung der
Gleichheit, des ,, größer" und des ,, kleiner" auf Bewegung
zurück; vgl. oben die Anmerkung 13. Wie man aber
eine Bewegung auszuführen hat, lehrt der zweite Satz im
ersten Buche Euklids; denn dort wird gezeigt, wie man
eine gegebene Strecke durch Konstruktion mittelst Kreis
und Lineal von einer Stelle der Ebene an eine beliebige
andere Stelle übertragen kann; Konstruktionen mit Kreis
und Lineal aber sind vorher in den Postulaten ausdrück-
lich als ausführbar vorausgesetzt. Dadurch ist es mög-
lich, ein durch seine drei Seiten gegebenes Dreieck an
eine beliebige Stelle der Ebene zu bringen, somit den
betr. Kongruenzsatz (Satz 8 bei Euklid) zu beweisen und
dann auch die in Satz 2;^ gelehrte Winkelübertragung
auszuführen. Hierdurch ist also auf Grund der Postu-
late genau definiert, wie eine „Bewegung" in jedem ein-
zelnen Falle auszuführen ist; in der Tat enthält der
zweite Satz des Euklid nichts anderes als den wich-
tigen Satz unserer Kinematik, daß jede Bewegung der
Ebene auf eine Rotation (eventuell Parallelverschiebung,
d. h. Rotation um einen unendlich fernen Punkt) zurück-
geführt werden kann. Dieser Satz aber gehört unbedingt
an den Beginn eines jeden elementaren Lehrbuches; und
es ist bedauerlich, wenn die hohe Bedeutung desselben
in modernen Darstellungen der Elementar-Geometrie so
gänzlich verkannt wird, daß man ihn mit Stillschweigen
übergeht (vgl. S. 556 meines oben erwähnten Werkes).
Tut man dieses, so muß man allerdings bei der Be-
wegung von Dreiecken in der Ebene (also schon bei
den Kongruenzsätzen) von neuem auf direkte Anschauung
zurückgreifen, was nach Aufstellung der Definitionen,
Postulate und Axiome nicht mehr geschehen soll (wenig-
2'! 2 Anmerkungen 25 — 26.
stens nur noch in heuristischem Interesse geschehen
darf).
25) S. 48. Diese „vierte Geometrie" entsteht, wenn
man annimmt, daß wir uns in demjenigen Teile des
Raumes befinden, von dessen Punkten reelle Tangenten-
kegel an die unendlich ferne Fläche zweiter Ordnung
gelegt werden können, was z. B. immer eintritt, wenn
diese Fläche geradlinig vorausgesetzt wird.
26) S. 48. Vgl. Lie, Theorie der Transformations-
gruppen, Bd. 3, Leipzig 1893, S. 521. Ich kann dies
Werk nicht citieren, ohne auf die Kritik einzugehen, die
Lie darin an meiner Bearbeitung der nicht-Euklidischen
Geometrie übt. Schon in der Vorrede (S. XIII) sagt er,
daß sich bei mir (und anderen) eine Reihe von groben
Fehlem fänden, die darin ihren Grund hätten, daß die
Verfasser nur mangelhafte oder gar keine gruppentheore-
tischen Kenntnisse besäßen. Allerdings baut Lie seine
Theorie darauf auf, daß er die Bewegungen durch ihre
Gruppeneigenschaft definiert; aber deshalb ist es doch
nicht unerlaubt, von anderen Definitionen auszugehen,
aus denen dann umgekehrt die Gruppeneigenschaft folgt;
und das ist der von mir eingeschlagene Weg, bei dem
von Gruppentheorie in der Tat gar nicht die Rede ist. Der
von mir befolgte Gedankengang ist vielmehr kurz folgender:
Nachdem die Koordinaten eines Punktes im Räume
definiert sind, ohne daß der Begriff" der Entfernung oder
des Winkels angewandt wurde, und nachdem damit die
projektivische Geometrie in vollem Umfange begründet
war, handelte es sich darum, zu den spezielleren Sätzen
der metrischen Geometrie durch Einführung von ,, Winkel"
und ,, Entfernung" überzugehen. Zuerst entstand die Frage:
Welche Transformationen der Koordinaten sollen als Be-
wegungen definiert werden? Ich charakterisierte sie durch
folgende Eigenschaften
a) Jeder Punkt geht wieder in einen Punkt über.
b) Jede Ebene geht wieder in eine Ebene über.
c) Jeder Punkt kann in jeden andern durch Bewe-
gungübergeführt werden, ebenso jede Gerade (es gibt
keine ausgezeichneten Punkte oder Richtungen).
Zum zweiten Teil.
273
Für den Fall, daß reelle unendlich ferne Punkte
existieren, ist hiermit alles bestimmt (d. h. Bewegung,
Entfernung und Winkel sind definiert), wenn man noch
die weitere Festsetzung macht:
d) Es kann durch Bewegung kein Punkt verschwin-
den und keiner neu entstehen (d. h. unendlich
ferne und ideale Punkte bleiben unendlich fern,
bez. ideal).
Die hyperbolische Geometrie ist hiermit erledigt, und nur
der Grenzfall, wo die unendlich ferne Fläche in eine
Doppelebene ausartet, bedarf noch der näheren Be-
trachtung.
Wenn keine unendlich fernen Elemente existieren,
ist auf jeder Geraden eine Involution als gegeben vor-
auszusetzen, die jedem Punkte einen zweiten zuordnet,
so daß sich beide bei einer gewissen Bewegung mit-
einander vertauschen; die Festsetzung d) ist dann durch
die folgende zu ersetzen:
d') Die auf den verschiedenen Geraden bestimmten
Involutionen gehen durch Bewegung ineinander
über.
Dann ist auch für die elliptische Geometrie alles erledigt.
Man kann auch die zu d') dualistische Festsetzung
machen, daß durch jeden Strahl eine ausgezeichnete
Ebenen-Involution gegeben ist und daß alle diese Invo-
lutionen durch Bewegung ineinander übergehen (was dem
Euklidischen Postulate entspricht, nach dem alle rechten
Winkel einander gleich sind). Dies gilt gleichmäßig für
die elliptische, hyperbolische und parabolische Geometrie;
dieselben werden dann durch die unendlich fernen Punkte
nachträglich unterschieden.
Artet die imaginäre Fundamentalfläche in einen Kegel-
schnitt aus, so entsteht der Grenzfall der parabolischen
Geometrie; in dieser müssen noch die Ähnlichkeits-
transformationen von den Bewegungen getrennt werden,
was durch die Festsetzung geschieht, daß der Kreis eine
geschlossene Kurve sei (wie es auch Euklid ausdrück-
lich postulieren muß).
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. 18
2<7A Anmerkung 26.
Besonders dieser letztere Punkt gibt L i e Veranlassung
zu seiner Kritik, welche aber nur auf einem Mißverständ-
nisse beruht: Lie definiert die Bewegungen als eine
Untergruppe der projektiven Gruppe (Kollineationen), die
von sechs Parametern abhängt. Die Ähnlichkeitstransfor-
mationen im Räume hängen aber von sieben Parametern
ab und enthalten als einzig mögliche Untergruppe die
Bewegungen; letztere sind also bei Lie schon dadurch
definiert, daß die Zahl der Parameter vorgegeben war,
so daß Lie keine weitere Festsetzung braucht. Bei mir
dagegen ist nirgends verlangt, daß die Bewegungen von
nur sechs Parametern abhängen sollen; zum Schlüsse
mußte daher in der parabolischen Geometrie noch eine
Festsetzung hinzukonmien.
Bei Lie und mir sind also verschiedene Ausgangs-
punkte gewählt, die Resultate stimmen aber überein.
Betrachtet man die ebene Geometrie allein (unab-
hängig vom Räume), so hat auch Lie noch die Fest-
setzung nötig, daß der Kreis (d. i. der Ort der Punkte,
welche von einem festen Punkte gleiche Entfernung
haben: Axiom der Monodromie von Helmholtz) eine
geschlossene Kurve ist; denn in der Ebene erlauben
die Ähnlichkeitstransformationen noch Untergruppen
(vgl. auch S. 565 in dem Aufsatze von Klein, Math.
Annalen Bd. 37).
Was Lie a. a. O. S. 529 gegen meine Darstellung
einwendet, bezieht sich nur auf eine Bemerkung über
Helmholtz und eine andere über Lie selbst. Ich hatte
geäußert, Helmholtz setze implicite voraus, daß die
Bewegungen durch lineare Transformationen darstellbar
seien; nur unter dieser Voraussetzung war es mir näm-
lich gelungen, die Helmholtz sehen Rechnungen einiger-
maßen zu verstehen; und darin stimmt Lie mit mir voll-
kommen überein (geht sogar noch weiter, indem er die
Helmholtzschen Entwicklungen überhaupt für verfehlt
erklärt, wie auch Klein äußert: „Helmholtz hat hier
wie allerwärts in genialer Weise die richtigen allgemeinen
Gesichtspunkte erfaßt, die Einzelausführung aber be-
friedigt nur wenig", Math. Annalen Bd. 50); die Differenz
Zum zweiten Teil. 275
liegt nur darin, daß er eine von mir bei dieser Gelegen-
heit citierte Stelle aus Helmholt z' populären Vorträgen
anders versteht als ich, worauf es hier aber gar nicht
ankommt.
Was endlich meine Bemerkung über Lie betrifft, so
lag mir bei Abfassung des Werkes (i8go) nur die Arbeit
von Lie aus dem Jahre 1886 vor, von welcher er selbst
sagt (a. a. O. S. 399), daß sie die Resultate nur an-
deutet, und die keine Beweise enthielt; so ist es be-
greiflich, daß ich die betr. Stelle (über das erwähnte
Monodromieaxiom) nicht richtig verstand. Ich schrieb
damals an Lie, mit dem ich bis dahin in steter Ver-
bindung stand, und bat ihn um Mitteilung einer etwa
in nächster Zeit erscheinenden Fortsetzung, die dann
auch noch 1890 erschien, mir aber erst später zugäng-
lich wurde, da ich von Lie keine Antwort erhielt.
Um nun zur Sache zurückzukehren, muß beachtet
werden, daß die Liesche Gruppentheorie sich nur auf
Zahlenmannigfaltigkeiten bezieht, also erst dann zur An-
wendung kommen kann, wenn man die Punkte des
Raumes schon durch Koordinaten ausgedrückt hat; dann
aber ist man in der projektiven Geometrie schon so weit
vorgedrungen, daß der von mir eingeschlagene Weg
(oder ein ähnlicher) mindestens der einfachere ist.
Hubert hat ein System von Axiomen aufgestellt,
das ebenfalls auf dem Begriffe der Gruppe beruht, aber
die (von Lie benutzte) Differentiierbarkeit der die Be-
wegung vermittelnden Funktionen nicht voraussetzt (Math.
Annalen Bd. 56, 1902).
Es wurde soeben bemerkt, daß in der Ebene, wenn
die projektivische Geometrie als gültig erkannt ist, noch
Gruppen von Bewegungen möglich sind, bei denen der
Kreis keine geschlossene Kurve ist und dann nur durch
eine logarithmische Spirale ersetzt werden kann. Letztere
Bemerkung findet ihre Bestätigung in den Formeln, welche
Hilbert (London, Math. Society, vol. 35) für die dort
studierten (nicht- Archimedischen) Geometrien aufstellt,
bei denen die projektivische Geometrie erhalten bleibt.
Endlich macht Lie (a. a. O. S. 8iof.) noch einen
18*
2^6 Anmerkungen 27 — 30.
sachlichen Einwurf, indem er sagt: „Lindemann be-
zeichnet diese Punkte (die bei der Bewegung einer Ge-
raden in sich fest bleiben) als die unendlich fernen
Punkte der betreffenden Geraden, er setzt aber still-
schweigend voraus, daß ein Punkt, der in diesem Sinne
unendlich femer Punkt einer Geraden ist, auch auf jeder
anderen durch ihn gehenden Geraden unendlich fern
sei." Diese Bemerkung ist nicht richtig; denn ich setze
fest (S. 465 u. 540 a. a. O.), daß sich schneidende Linien
durch Bewegung wieder in sich schneidende übergehen,
also sich nicht schneidende in sich nicht schneidende;
das heißt aber: wirkliche Punkte bleiben wirklich, ideale
Punkte bleiben ideal, also auch die Grenzpunkte zwischen
beiden (d. h. die unendlich fernen Punkte) bleiben solche
Grenzpunkte (d. h. unendlich fern). Die betr. Voraus-
setzung ist also nicht stillschweigend gemacht ; vielmehr
habe ich über diesen Punkt bei der Ausarbeitung sehr
eingehend nachgedacht.
27) S. 49. Riemann charakterisiert eine in einer
Zahlenmannigfaltigkeit mögliche Geometrie im allge-
meinen durch die Art und Weise, wie sich das Bogen-
element ds durch die Differentiale dx^ der Koordinaten
ausdrückt, denn von dieser Funktion hängen nach Gauß
wesentliche Eigenschaften des Raumes ab. Wie in
Gleichung [2^) der Anmerkung 19) angegeben wurde,
ist für die hyperbolische und elliptische Geometrie ds"^
stets positiv und symmetrisch in den drei fundamentalen
Richtungen. Setzt man ganz allgemein
ds^ = ^ ^ Qp.^dx.dx^ = ^)^^dx^ -\- Zcp.^dx^dx^ + • • • >
wo die qp^^ Funktionen der Koordinaten x^ sind, so ist
im allgemeinen keine oder nur eine beschränkte Beweg-
lichkeit in der betr. Geometrie möglich. Auf einen
solchen Fall hatte Clifford aufmerksam gemacht, und
Klein hat diesen Gedanken weiter durchgeführt (Verschie-
bung einer Fläche zweiter Ordnung in sich, welche die ima-
ginäre Fundamentalfläche des Riemannschen Raumes in
vier imaginären Erzeugenden schneidet, und demnach nur
Zum zweiten Teil.
277
zwei Klassen von Bewegungen in sich, nämlich „rechts
und links gewundene", zuläßt, vgl. S. 371 meines er-
wähnten Werkes und ausführlicher Klein: Math. Annalen
Bd. 37). Die Verallgemeinerung dieses Beispiels führt
auf diejenigen Gruppen von linearen Transformationen
der komplexen Ebene, welche Poincare studiert hat und
die mit Systemen von Kreisen zusammenhängen, welche
einen festen Kreis (z. B. eine feste Gerade) orthogonal
schneiden; vgl. oben Anmerkung 20). Weiter ausgeführt
ist dies von Killing: Math. Annalen Bd. 39; vgl. auch
Klein: Zur ersten Verteilung des Lobatschewsky-Preises,
Kasan 1897 (auch Math. Annalen Bd. 50). — Andere
Geometrien hat Hilbert studiert (a. a. O. und Procee-
dings of the London mathematical Society, vol. 35), ferner
Minkowski (Geometrie der Zahlen, Heft i, Leipzig 1896);
hier gibt es im allgemeinen keine Bewegungen mehr, aber
die gerade Linie bleibt die kürzeste Linie.
28) S. 51. Die sogenannte projektivische Geometrie
beschäftigt sich mit denjenigen Sätzen, welche bei be-
liebigen Projektionen oder Kollineationen ungeändert
bleiben, und welche daher mit der Theorie der alge-
braischen Formen und deren Invarianten, bez. Kovarian-
ten aufs engste zusammenhängen; der metrischen Geo-
metrie rechnet man die übrigen Sätze zu. Vgl. die
lichtvolle Darstellung dieser und ähnlicher Verhältnisse
in Kl eins Programmabhandlung: Vergleichende Betrach-
tungen über neuere geometrische Forschungen, Erlangen
1872 (abgedruckt in Bd. 43 der Math. Annalen). —
Manche allgemeine Fragen der hier und im vorstehen-
den behandelten Art findet man auch bei Holder be-
sprochen: Anschauung und Denken in der Geometrie,
Akademische Antrittsvorlesung, Leipzig 1900.
29) S. 52. Die Rolle, welche unsere eigenen Ge-
sichts- und Tastempfindungen bei Ausbildung der Raum-
anschauung spielen, wird im folgenden (S. 54 ff.) ein-
gehender besprochen, ebenso (S. 62 ff".) die Rolle der
festen Körper.
30) S. 53. In der Tat kann man sich durch an-
dauernde Beschäftigung mit vierdimensionaler Geometrie
278 Anmerkungen 30— 33.
eine solche Gewandtheit in der betreffenden geometri-
schen Schlußweise aneignen, daß man sich fast der
Täuschung hingibt, wirklich mit vier Dimensionen zu
operieren. Teils findet dies darin seine Erklärung, daß
jedes geometrische Gebilde, das im Räume von vier
Dimensionen liegt, selbst mindestens drei Dimensionen
besitzt, so daß es auf unseren Raum bezogen (,, abge-
bildet*') werden kann, und daß man so unsere gewöhn-
liche Geometrie auf jenes Gebilde zu übertragen ver-
mag, teils darin, daß die geometrischen Schlüsse für
den Raum von vier Dimensionen eigentlich rein logischer
Natur sind und durch den Gebrauch geometrischer
Worte sich nur scheinbar in geometrisches Gewand
kleiden. Etwas anderes ist es, wenn man sich die Punkte
der vierdimensionalen Welt durch eine ,, Abbildung" auf
die geraden Linien unseres Raumes überträgt; denn
letztere bilden tatsächlich eine vierdimensionale Mannig-
faltigkeit. Man betrachtet dann nicht den Punkt, son-
dern die gerade Linie als erzeugendes Element für
räumliche Konstruktionen, und das ist in der neueren
Geometrie ein äußerst fruchtbares Prinzip gewesen; die
Begründung dieser sogenannten Liniengeometrie verdankt
man Plücker (Neue Geometrie des Raumes, Leipzig
1868 und 1869; vgl. auch die entsprechenden Kapitel
in meinem mehrfach citierten Werke) ; für die Beziehungen
zur vierdimensionalen Geometrie vgl. Klein: Math.
Annalen Bd. 5, 1872, für die historische Entwicklung
der Disziplin und überhaupt der neueren Geometrie:
Clebsch: Zum Gedächtnis an Julius Plücker, Ab-
handlungen der kgl. Gesellschaft der Wissenschaften
zu Göttingen 1872; ferner: R. F. A. Clebsch, Ver-
such einer Darlegung und Würdigung seiner wissen-
schaftlichen Leistungen, Math. Annalen Bd. 7; d'Ovidio:
Uno sguardo alle origini ed allo sviluppo della mate-
matica pura, Discorso in occasione della solenne aper-
tura degli studi nella R. Universita di Torino, 4. Novem-
ber 1889; und A. Cayley: Presidential Address Report
of the Brit. Association for the advancement of science,
Southport meeting, London 1883.
Zum zweiten Teil. 2 7 Q
31) S. 53. Das in den beiden letzten Forderungen
gebrauchte Wort „identisch" bedarf wohl noch näherer
Erklärung; es entsteht hier dieselbe Schwierigkeit, wie
bei dem Begriffe der Gleichheit, vgl. oben die Anmer-
kung 24. Die Forderung der Homogenität sagt aus,
daß jeder Punkt mit jedem andern Punkte durch ,, Be-
wegung" zur Deckung gebracht werden kann, die Forde-
rung der Isotropie, daß alle durch einen Punkt gehen-
den Geraden durch Drehung um diesen Punkt zur
Deckung gebracht werden können. Helmholt z stellt
statt dessen die Forderung (a. a. O.), daß der Raum
eine ,,in sich kongruente" Mannigfaltigkeit sei, Graß-
mann fordert, daß gleiche Konstruktionen, an verschiede-
nen Orten und nach verschiedenen Richtungen des
Raumes ausgeführt, zu kongruenten Figuren führen, Rie-
mann drückt dasselbe durch die Forderung eines kon-
stanten Krümmungsmaßes aus; wie ich (a. a. O. S. 548)
betont habe, ist Euklids Postulat, wonach alle rechten
Winkel einander ,, gleich" (d. h. durch Bewegung inein-
ander überführbar) sind, mit dieser Forderung der Homo-
genität und der Isotropie des Raumes äquivalent. —
Auch weiter unten (S. 65 des obigen Textes) werden
diese Forderungen auf gewisse Bewegungen zurückge-
führt.
^2) S. 54. Daß in der Tat durch die Empfindungen
der Netzhaut allein niemals eine dritte Dimension er-
kannt werden könnte, hat besonders Th. Lipps gegen-
über andern Theorien scharf betont: Psychologische
Studien, Heidelberg 1885. Für verschiedene Theorien
der Raumvorstellung sei hier außerdem auf folgende
Werke verwiesen:
Baumann, Die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik,
Bd. I, 1868, Bd. 2, 1869;
Wundt, Logik, Bd. 2, 1883;
Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raum-
vorstellung, 1873;
B. Erdmann, Die Axiome der Geometrie, 1877 (vgl.
o. S. 257).
33) S. 56. Wenn durch Störung der hier voraus-
2 So Anmerkungen 34—36.
gesetzten konstanten Beziehung zwischen Konvergenz-
und Akkomodationsempfindungen eine vierte Variable
zur Verfügung gestellt wird, so werden wir die Inter-
pretation derselben nach außen verlegen und zur An-
nahme einer vierten Dimension geführt, falls uns nicht
durch andere Beobachtungen (z. B. des Tastsinnes) be-
reits die Dreizahl der Dimensionen gesichert erscheint.
Ist letzteres der Fall, so wird unser Verstand die ver-
fügbare Variable benutzen, um die Deutung und Orien-
tierung des Gesichtsbildes im Räume mehr zu präcisieren,
als es sonst möglich wäre. Besteht also keine konstante
Beziehung zwischen den beiden Muskelempfindungen, so
wird sich ein neues Hilfsmittel der Beobachtung, etwa
ein ,, Ferntastsinn", bemerkbar machen, vermöge dessen
wir befähigt sind, Entfernungen direkt durch das Auge
abzuschätzen. Die Existenz eines solchen Ferntastsinnes
hat auf Grund anderweitiger Überlegungen G. Hirth be-
hauptet: Das plastische Sehen als Rindenzwang, München
1892 (La vue plastique fonction de l'^corce cerebrale,
traduit par L. Arr6at, Paris 1893); vgl. dazu gehörige
mathematische Ansätze in einer Anmerkung der Schrift
desselben Verfassers: Energetische Epigenesis (Merksystem
und plastische Spiegelungen), München 1898.
34) S. 56. Auch in bezug auf den Tastsinn sei
auf obige Werke verwiesen. Für die Beziehungen des-
selben zum Gesichtssinne sind von besonderem Interesse
die daselbst erwähnten Erfahrungen an Blindgeborenen,
denen durch Operation im späteren Leben, wo die
Raumanschauung allein auf Grund des Tastsinnes bereits
ausgebildet war, die Möglichkeit des Sehens verschafft
ward.
35) S. 68. Der Brechungsindex ist proportional zu
dem Verhältnisse der Fortpflanzungsgeschwindigkeiten in
den beiden Medien. Diese Geschwindigkeit ist gleich
dem Bogenelemente ds der beschriebenen Kurve, divi-
diert durch das Zeitelement d/; ist nun da das Bogenelement
eines Kreises, welcher die Fundamentalebene s = o
rechtwinklich schneidet, so haben wir nach Gleichung (24)
der obigen Anmerkung 19
t/ö2 =
Zum zweiten Teil. 28 1
ds^ = {dXf + {^dYY + {dZf,
Die Vorstellung des Textes ist die, daß der Lichtstrahl
in jedem Elemente seiner Bahn so gebrochen wird, als
wenn er aus dem leeren Räume in ein Medium einträte,
dessen Brechungsindex proportional zu (7?^ — r^) ~ ^
ist; dieser Index ist dann nach obiger Formel auch
de
proportional zu — ; und folglich ist da Bogenelement
eines Kreises, wie es soeben angenommen wurde. Einem
in der Euklidischen Welt lebenden Beobachter würden
die Lichtstrahlen kreisförmig vorkommen; ein nicht-Eukli-
disches Wesen dagegen würde den Eindruck geradliniger
Fortpflanzung des Lichtes haben.
36) S. 69. Wie die folgenden Erörterungen zeigen,
ist diese Bezeichnung deshalb gewählt, weil eine in der
nicht -Euklidischen Welt vor sich gehende Bewegung
einem Beobachter der Euklidischen Welt so erscheinen
würde, als ob die Körper gemäß dem supponierten
Temperaturgesetze Veränderungen erlitten. In der Tat
soll die Länge eines Lineals seiner absoluten Temperatur
und diese dem Ausdrucke J^^ — r^ proportional sein,
M^obei r in Euklidischer Weise gemessen ist. Zwei
Längenelemente ds und d's, die den Werten r und r'
entsprechen, genügen also der Bedingung
ds: d's = jR^-r^:R^-r^;
das ist aber dieselbe Relation, welche aus der Formel
(23) der obigen Anmerkung 19 hervorgeht; denn für
eine unveränderte Länge da der nicht-Euklidischen Geo-
metrie haben wir an zwei verschiedenen Stellen
-, ds d's
da =
Durch das Bild der Temperaturänderung erreicht der
Verfasser hier die gleiche Veranschaulichung, wie sie
Helmholtz durch Bezugnahme auf das Innere einer
2^2
Anmerkungen 37 — 39.
Kugel nach Beltrami darlegt und mittelst des Sehens
durch eine passend geschliffene Konvexlinse verständ-
lich zu machen sucht (vgl. dessen erwähnten popu-
lären Vortrag), wie ja auch Poincare die Lichtbrechung
in gleichem Sinne zu Hilfe nimmt; vgl. die vorhergehende
Anmerkung 35.
37) S. 71. Solche dreidimensionale Perspektiven
von vierdimensionalen Körpern sind in der Tat durch
V. Schlegel 1884 für die sechs regulären Körper,
welche im Räume von vier Dimensionen möglich sind,
hergestellt und sind durch den Buchhandel zu beziehen.
Es sind dies i. das Fünfzeil, begrenzt von 5 regulären
kongruenten Tetraedern, 2. das Ach tz eil, begrenzt von
8 kongruenten Würfeln, 3. das Sechzehnzeil, begrenzt
von 16 kongruenten regulären Tetraedern, 4. das Vier-
undzwanzigzell, begrenzt von 24 kongruenten regulären
Oktaedern, 5. das Sechshundertzell, begrenzt von 600
kongruenten regulären Tetraedern, 6. das Hundert-
zwanzigzell, begrenzt von 120 kongruenten regulären
Dodekaedern. Vgl. Schlegel: Nova Acta der Kais.
Leop. Carol. Akademie, Bd. 44, Nr. 4, sowie Katalog
mathematischer Modelle für den höheren mathematischen
Unterricht, Verlagshandlung von Martin Schilling in Halle
a. S. 1903.
38) S. 74. Als Parallaxe bezeichnet man bekannt-
lich den dritten Winkel eines Dreiecks, dessen Ecken
durch den Fixstern -S" und durch die Endpunkte A und
B eines Durchmessers der Erdbahn gebildet sind, wo-
bei dieser dritte Winkel dem Durchmesser gegenüber
liegt. Ist
^BAS=a, ^ABS=ß,
so folgt
r = 7t — (a + ^),
und wenn 2r den Durchmesser der Erdbahn bezeichnet,
so lassen sich die Entfernungen AS und BS berechnen.
Steht der Stern ungefähr senkrecht über der Ekliptik,
so kann AS=BS genommen werden, und man kann
Zum zweiten Teil. 283
a = ß =
2
wählen; die Entfernung q berechnet sich dann aus der
Hälfte des betrachteten Dreiecks nach der Formel
£ = tang U-"-^ = tang ^-±^.
weshalb auch ^ als Parallaxe bezeichnet wird. Be-
2
deutet nun F den Inhalt des Dreiecks ABS, so ist in
der Lobatschewskyschen Geometrie (vgl. z. B. S. 494
meines erwähnten Werkes):
J^= ^k^Tt- a — ß~y),
also
n — (a-\- ß) = —, + y, d. h. > o,
und in der Riemannschen Geometrie (vgl. a. a. O. S. 519)
ir=4A'2(a + /3 + >'-7r),
also
7t — {a -}- ß) = y 72 , d. h. < o , wenn y sehr klein ist.
Unter Parallaxe ist also im Texte die Differenz n — (or + /3)
zu verstehen.
Da sich der Winkel y einer direkten Messung ent-
zieht, so bleibt der Vergleich mit der Erfahrung genau
genommen stets unbefriedigend. Man kann nur durch
Hinzufügen weiterer plausibler Voraussetzungen zu einem
Resultate gelangen wollen; vgl. Schwarz Schild: Über
das zulässige Krümmungsmaß des Raumes, Vortrag auf
der Versammlung der Astronomischen Gesellschaft zu
Heidelberg 1 900.
Überlegungen, welche den zunächst folgenden des
Textes analog sind, findet man auch in dem (sonst in
mathematischer Beziehung wenig zuverlässigen) Werke
von Schmitz-D umont: Die mathematischen Elemente
der Erkenntnistheorie, Berlin 1878, S. 434.
39) S. 81. Die betreffenden Darlegungen Newtons
284 Anmerkungen 40 — 42.
findet man z. B. bei Mach wiedergegeben (Die Mechanik
in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt, 2. Aufl.,
Leipzig 1889, S. 211 ff.), der auch die Unmöglichkeit,
auf einen absoluten Raum zu schließen, bespricht; vgl.
ferner: Pearson, The Grammar of science, 2'^'^ ed., Lon-
don 1900, S. 533.
40) S. 84. Bei dieser Überlegung ist ay der Radius
eines Kreises mit dem Mittelpunkte O, dem ein reguläres
Sechseck mit den Ecken A, B, C, D, JE, F eingeschrieben
ist; hier ist (bei der ersten Reihe von Feststellungen)
AB = BC== CD = DE= JSF= aß, und da die Seite
des regulären Sechsecks gleich dem Radius ist, auch
aß = ay. Dieser Satz gilt aber nicht mehr in der
nicht-Euklidischen Geometrie, denn er beruht wesentlich
auf dem Satze, wonach die Summe der Winkel eines
Dreiecks gleich zwei Rechten sein muß; und letzterer
ist in der nicht-Euklidischen Geometrie nicht gültig; vgl.
oben Anmerkung 38. Bei der zweiten Reihe von Fest-
stellungen kann daher ay nicht mit AB oder BC etc.
zur Deckung gebracht werden.
41) S. 87. Dies ist ein anderer Ausdruck dafür,
daß sich alle Bewegungen in der analytischen Geometrie
durch Transformationen darstellen lassen, die von sechs
veränderlichen Größen stetig abhängen. Sind nämlich
X, y, z die Koordinaten eines Punktes im Innern eines
festen Körpers in der ersten Lage und X, V, Z die
Koordinaten desselben Körperpunktes nach Ausführung
einer Bewegung, so ist immer:
X = a^x -f b^jy -\- c^z -f d^ ,
r=a^x-\- b^y + c^z + 4 ,
Z = a^x ^ h^y + c^z + 4 ,
wo zwischen den neun Größen a, b, c folgende sechs
Bedingungen bestehen:
^1' + K + q' = I .
a^ + K + ^2^ = I '
Zum zweiten Teil. 285
^1^2 + ^1^2 + ^1^2 = O '
HH + ^3^1 + ^3^1 = ^ '
Mittelst dieser Gleichungen lassen sich sechs der neun
Größen a, b, c durch die übrigen drei ausdrücken; zu
letzteren treten noch die Konstanten d^, d^, d^, so daß
in der Tat sechs Parameter verfügbar sind. Die Zahl
sechs bleibt in der nicht-Euklidischen Geometrie unver-
ändert; die Bewegungen sind alsdann durch diejenigen
linearen Transformationen dargestellt, welche die Fläche
der unendlich fernen Punkte in sich überführen; vgl.
oben Anmerkung 26 und S. 356 ff. meines mehrfach er-
wähnten Werkes.
Um die Anzahl der Parameter durch Erfahrung fest-
zustellen, braucht man nur die Tatsache zu beobachten,
daß ein starrer Körper vollkommen festgelegt ist, wenn
man einen Punkt (drei Konstanten) , eine durch ihn
gehende Linie (zwei weitere Konstanten) und eine durch
letztere gehende Ebene (eine sechste Konstante) fest-
hält. Dabei ist vorausgesetzt, daß man die Zahl der
Dimensionen des Raumes bereits kennt.
42) S. 8g. Was man unter einer Gruppe von Ope-
rationen versteht, wurde schon oben kurz angedeutet
(S. 66). Eine Untergruppe dieser Gruppe ist ein System
von Operationen, die für sich eine Gruppe bilden und
in der gegebenen Gruppe enthalten sind. So bilden
alle Drehungen eines festen Körpers um einen festen
Punkt eine Untergruppe der umfassenderen Gruppe aller
Bewegungen, denn jede Drehung ist eine Bewegung,
und zwei successive Drehungen um denselben festen
Punkt lassen sich durch eine dritte Drehung ersetzen.
So bilden alle Bewegungen und alle Spiegelungen (an
beliebigen Ebenen) zusammen eine Gruppe; in letzterer
ist die Gruppe aller Bewegungen als Untergruppe ent-
halten; die Spiegelungen für sich bilden aber keine
Untergruppe, denn zwei nacheinander ausgeführte Spiege-
lungen sind durch eine Bewegung (nicht wieder durch
eine Spiegelung) zu ersetzen.
2 86 Anmerkung 43.
Dritter Teil, Die Kraft.
43) S. 92. In der citierten Abhandlung kommt
Poincare zu folgenden Schlüssen:
,,Wir haben keine direkte Anschauung von der Gleich-
zeitigkeit zweier Zeitdauern, ebensowenig von der Gleich-
heit. — Wir behelfen uns mit gewissen Regeln, die wir
beständig anwenden, ohne uns davon Rechenschaft zu
geben. — Es handelt sich dabei um eine Menge kleiner
Regeln, die jedem einzelnen Falle angepaßt sind, nicht
um eine allgemeine und strenge Regel. — Man könnte
dieselben auch durch andere ersetzen, aber man würde
dadurch das Aussprechen der Gesetze in der Physik,
Mechanik und Astronomie außerordentlich umständlich
machen. — Wir wählen also diese Regeln nicht, weil sie
wahr, sondern weil sie bequem sind, und wir können
sie in folgendem Satze zusammenfassen: Die Gleichzeitig-
keit zweier Ereignisse oder die Ordnung ihrer Aufein-
anderfolge und die Gleichheit zweier Zeitdauern müssen
so definiert werden, daß der Ausspruch der Naturgesetze
möglichst einfach wird; mit anderen Worten: Alle diese
Regeln und Definitionen sind nur die Frucht eines un-
bewußten Opportunismus."
Newton (dessen Anschauung man z. B. bei Mach
reproduziert findet: Die Mechanik in ihrer Entwicklung,
2. Aufl., Leipzig 1889, S. 207) setzte die Existenz einer
,, absoluten Zeit" voraus; d'Alembert, Locke u. a. hoben
den relativen Charakter aller Zeitmaße hervor; vgl. die
historischen Angaben bei A. Voß in dem Artikel über
die Prinzipien der rationellen Mechanik (Enzyklopädie
der math. Wissenschaften, IV, i). Nach de Tillys
Angabe (Sur divers points de la philosophie des sciences
mathematiques ; Classe des sciences de TAcad^mie R.
de Belgique, 1901) definiert z. B. Lobatschewsky die
Zeit als eine ,, Bewegung, welche geeignet ist, die anderen
Bewegungen zu messen". Auch eine solche Definition
setzt voraus, daß es eine Bewegung gibt, die zum Messen
der (also aller) anderen Bewegungen geeignet ist; und
Zum dritten Teil.
287
wann ist eine Bewegung „geeignet", als Maß anderer
zu dienen? Vielleicht kann die folgende analytische
Erörterung hier zur Klärung beitragen.
Wir betrachten z. B. das Fallgesetz eines schweren
Punktes auf der Erdoberfläche; dasselbe ist bekanntlich
durch die Diiferentialgleichung :
vollständig dargestellt, wenn z eine vertikal nach oben
gemessene Koordinate, / die Zeit, g die Beschleunigung
der Schwere bedeutet. Führen wir nun ein anderes
Zeitmaß t ein, so wird r eine Funktion von / sein:
x = cp{t), /=0(t),
und die Gleichung (i) nimmt, wenn wir r einführen,
folgende Gestalt an:
« [w.T©-l<^"w)=-^-
wo 0' und O" den ersten und zweiten Differentialquo-
tienten der Funktion 0(t) nach v bezeichnen. Die ein-
fache Form der Gleichung (i) beruht also wesentlich auf
der Wahl eines für die Gesetze des Falles „geeigneten"
Zeitmaßes; jede andere Art der Zeitmessung würde zu
wesentlich komplizierterem Ansätze führen; dadurch ist
die Zeit / vor der Zeit r ausgezeichnet. Dieses Zeitmaß
wird praktisch durch eine Uhr, etwa eine Pendeluhr, ge-
geben; die Bewegung des Pendels wird selbst wieder
durch die Fallgesetze bedingt; wir messen also in (i)
eine Fallerscheinung durch eine andere Fallerscheinung,
und deshalb ist die Einfachheit des Resultates nicht auf-
fällig. Anders ist es, wenn wir eine durch eine Feder
getriebene Uhr anwenden; hier ist es eine nicht selbst-
verständliche Tatsache, daß das Zeitmaß für das Ab-
laufen der Feder zur Beobachtung des freien Falles
geeignet ist; immerhin wird der richtige und gleichmäßige
Gang der Federuhr nur durch Vergleichung mit einer
Pendeluhr reguliert, und dadurch wird dieses Zeitmaß
2 88 Anmerkungen 43—45-
auf das vorhergehende reduziert. Auf die gewählte Zeit-
einheit, die der Rotation der Erde um ihre Achse ent-
lehnt ist, kommt es hierbei nicht an; wir bestimmen
allerdings die Länge des Sekundenpendels nach dieser
Einheit, könnten aber auch mit gleichem Erfolge umge-
kehrt eine beliebig gewählte Pendellänge zur Definition
der Einheit verwenden. Anders ist es, wenn man zu
kosmischen Problemen übergeht. Die Bewegung eines
Planeten (x, y) um die im Anfangspunkte stehende
Sonne mit der Masse ??i wird durch die Gleichungen
. . d^x 7n X d'^y m y
^^' dt^ ^ ^'^"" ^
definiert, welche das Newtonsche Gravitationsgesetz dar-
stellen (r = i/jc^ -|- y'^). Erfahrungsmäßig genügt auch
hier dasselbe Zeitmaß, das beim freien Falle eingeführt
wurde; denn alle aus den Gleichungen (3) zu ziehenden
Folgerungen stimmen (auch wenn man die Störungen
der anderen Planeten berücksichtigt) hinreichend mit
den Beobachtungen überein, so daß man keine Veran-
lassung hat, eine andere Zeit x einzuführen und die
obige Transformation anzuwenden. Analog verhält es
sich mit allen bekannten Erscheinungen ; es genügt immer,
die Komponenten der Beschleunigung durch die Aus-
drücke — ^, -~, — 2 zu messen, und es ist überflüssig,
die allgemeineren Ausdrücke
statt dessen einzuführen. In diesem Sinne kann man
erfahrungsmäßig von einer absoluten Zeit sprechen,
d. h. einer Zeit, die zur Beschreibung aller bisher be-
obachteten Erscheinungen gleichmäßig bequem ist, aller-
dings mit dem Vorbehalte, diese Vorstellung der ab-
soluten Zeit sofort aufzugeben, wenn nun Tatsachen oder
feinere Beobachtung alter Tatsachen dazu führen sollten,
für irgendeine Erscheinung durch eine Funktion 0(t)
ein neues Zeitmaß r einzuführen, so daß für diese Er-
Zum dritten Teil. 28q
scheinung die Beschleunigung durch — ^ statt durch — -|
dargestellt wird (d. h. das Produkt aus Masse und Be-
d'^x
schleunigungskomponente ~ sich als Funktion des
Ortes des bewegten Punktes und anderer fester oder
bewegter Punkte darstellen läßt). Aber auch dann würde
man wohl versuchen, die entstehende Schwierigkeit
durch Modifikation der anderen Annahmen, eventuell
durch Hinzufügung weiterer fingierter Punkte und Kräfte
(vgl. weiterhin die analogen Erörterungen auf S. 95 ff.
beim Trägheitsgesetz) zu beseitigen, ehe man sich ent-
schließt, bei verschiedenen Erscheinungen verschiedene
Zeitmaße anzuwenden. Durch diese Überlegung kommt
man zu wesentlich derselben Auffassung, welche Poin-
care a. a. O. mit dem Worte Opportunismus charak-
terisiert.
44) S. 92. Die Mechanik im nicht-Euklidischen Räume
ist in der Tat schon ziemlich ausgebildet; vgl. darüber:
Schering, Die Schwerkraft im Gaussischen Raum,
Göttinger Nachrichten 1870 und 1873; de Tilly,
Etudes de mecanique abstraite, Memoires publies par
TAcademie R. de Belgique, t. 21, 1868; Lindemann,
Über unendlich kleine Bewegungen und Kraftsysteme
bei allgemeiner Maßbestimmung, Inauguraldissertation,
Erlangen 1873 (Math. Annalen, Bd. 7); Killing, Die
Mechanik in den nicht-Euklidischen Raumformen, Grelles
Journal, Bd. 98, 1884; Heath, On the dynamics of a
rigid body in elliptic Space, Philosophical Transactions
of the R. Society, London 1884; de Francesco,
Alcuni problemi di Meccanica in uno spazio di cur-
vature constante, Atti d. R. Accademia d. Scienze fis. e
mat. di Napoli, Serie II, vol. 10, 1900.
45) S. 94. Sind 11 Punkte gegeben, deren jeder
durch drei rechtwinklige Koordinaten x, y, z bestimmt
wird, so haben wir die 3;^ Größen
JC-^ , y^ , z^ , x^ j y^ » ^2 ' • • • • Xfi , y^ , Zjj, ,
welche als Funktionen der Zeit / zu betrachten sind.
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. I9
290
Anmerkungen 45 — 46.
Die Geschwindigkeit Vi eines Punktes Xi, yi, Z{ wird
durch den ersten Differentialquotient bestimmt; es ist
(.) '.-(5)'+(t)'+e)=©"
wo dann ds^ das Bogenelement der vom Punkte Xj, y^, z^
beschriebenen Bahnkurve darstellt. Die Differential-
dx^ dy^ dz^
Quotienten -7-, -7-, -7- sind die „Komponenten der Ge-
^ dt dt dt
schwindigkeit" in Richtung der drei Achsen. Ebenso
wird die Beschleunigung des Punktes in die der ,,Kom-
d'^x^ d^y^ d^z^
ponenten" -— y, ■— y, -—g- (zweite Diflferentialquotienten
Ctt^ CVu Q/Jf
der Koordinaten nach der Zeit) zerlegt. Die auf den Punkt
in jedem Moment wirkende Beschleunigung würde durch
die Summe der Quadrate gegeben sein; sie wird aber
durch die momentane Geschwindigkeit des Punktes
(deren Richtung im allgemeinen eine andere ist als die
Richtung der „wirkenden" Beschleunigung) modifiziert,
und die wirklich in jedem Momente dt längs der Bahn
d'^s^
stattfindende Beschleunigung wird durch — ^ gemessen
und aus (i) durch Differentiation nach der Zeit ge-
wonnen :
ds. d\^dx. d^x. dy. d^ ^ d\
^^' ~dÄ ' 'd^ ~ ~dt ' ~d^ ^ ~dt ' ~dt'^ ^ ~dt ' 'd?'
Die Grundgleichungen der analytischen Mechanik sind
nun von der folgenden Form:
d'^c
m
' dt^
— Ji\ \p^\ ? y\ ) % > "^2 ' y^ ' ^2 ' * "^'^ ' -^ " j ^n) f
VI
dt''
dH
i
' 1?
— Ji^ \p^\ 1 y\ > ^1 J "^^ > y<i, > ^2 ' ' * * *^'^ ' y^^ i ^n) :
d. h. es bestehen für z* = i, 2, 3 • • • ?2 im ganzen 3«
solche „Differentialgleichungen zweiter Ordnung"; auf
Zum dritten Teil.
291
den rechten Seiten stehen Funktionen /^^, die nur von
den Koordinaten der n bewegten Punkte abhängen; die
Faktoren nii sind die „Massen" der n Punkte. Es ist
als Erfahrungstatsache zu betrachten, daß sich die Kom-
ponenten der Beschleunigungen in dieser Weise als
Funktionen des Ortes der bewegten Punkte (Moleküle)
darstellen lassen, denn die aus den Gleichungen (3)
durch Integration gezogenen Folgerungen stimmen mit
den beobachteten Tatsachen überein. Diese Aussage
bezieht sich auf eine umfangreiche Klasse von Problemen
der klassischen Mechanik, z. B. auf alle diejenigen, bei
denen es sich nur um sogenannte (anziehende oder ab-
stoßende) Zentralkräfte handelt. Bei anderen Problemen
treten auf den rechten Seiten der Gleichungen (3) neben
den Koordinaten noch die ersten Differentialquotienten
(also die Komponenten der Geschwindigkeiten) auf, so
daß sie von der Form werden:
(4)
m.
m.
m.
d^x.
dt^
= Fi^ \Xk,yk,
.2^;
dXj^
dt '
dt '
dt
dt^
= Fi^^yckO'k,
Zk\
dx^
dt '
dt '
dt ,
dH^
dt^ '
""^ ^ 3 \ ^k 1 yk )
Zk\
dXf^
dt '
<^yk
dt '
dt ^
).
).
wo rechts der Index h geschrieben ist, um anzudeuten,
daß die 3« Koordinaten und die 3« Geschwindigkeits-
komponenten der 11 Punkte in den Funktionen F gleich-
zeitig auftreten. Diese Gleichungen (4) finden z. B. An-
wendung, wenn verzögernde Reibungskräfte mit in Be-
tracht zu ziehen sind. Der Ausspruch des Textes, daß
„die Beschleunigung vom Orte und von den Geschwindig-
keiten der bewegten Moleküle abhängt", findet in den
Gleichungen (4) seinen mathematischen Ausdruck. In-
betreff der Entdeckung und Formulierung des Träg-
heitsgesetzes durch Galilei sei auf das erwähnte Werk
von Mach verwiesen (p. 130).
46) S. 95. Im ersten Falle, wo die Lage eines
Körpers sich nicht ändert, wenn er keiner Kraft unter-
19*
2Q2 Anmerkungen 46 — 47.
worfen ist, würden also die Differentialgleichungen (3)
bezw. (4) durch die folgenden zu ersetzen sein:
m.
dt
^fi\ {^k, Vk, ^k),
dt
dz^
also durch Differentialgleichungen erster Ordnung. Im
zweiten Falle, wo die Änderung der Beschleunigung
eines Körpers von Lage, Geschwindigkeit und Beschleuni-
gung dieses Körpers und der anderen Körper abhängt,
hätten wir die Differentialgleichungen dritter Ordnung:
d^_ ( dx^ dy^ dz^^ dhc^ d^^ dh^\
'^i-J^^—-^iA^k,yk,Zk\ at' dt' dt'' dt^ ' dt'^'dW)'
... d^_ ( dx^ dy^ ^ dhc^ db^ ^\
^\-_ / dx^ dy^ dz^ dh^ d^ d\\
^i-^ — -'^n\^k,yk.Zk\ ji^-^^-^^\ dt^'~d?''d?)'
Wirken keine ,, Kräfte" (d. h. sind keine Umstände vor-
handen, die eine Änderung der Beschleunigung veran-
lassen können), so wären die rechten Seiten der Glei-
chungen (6) durch Null zu ersetzen, und wir hätten die
Differentialgleichungen :
d^x^ d^y^ dh^-
-T^ = O, — ^ = O, -— ^ = O,
dt^ dt^ ' dt^
deren Integration zu den Formeln
yi = di{^ + h'it + c'i,
Zi = a'ifi + h"it + c"i
führt, wo mit a, b, c, a, b' , c , a\ b" , c" Integrationskon-
stanten bezeichnet sind; diese Formeln würden aussagen,
daß sich alle Punkte auf Parabeln bewegen (statt auf
Zum dritten Teil.
293
geraden Linien, wie es das tatsächlich geltende Träg-
heitsgesetz verlangt).
47) S. 96. Nimmt man die Ebene aller Planeten-
bahnen zur ^Y-jP^Ebene, so kann bei dieser Voraus-
setzung die Gleichung einer einzelnen Bahn in der
Form
x^ -\- y^ = r^
geschrieben werden, wo dann r den Radius des betr.
Kreises bezeichnet. Man eliminiert letzteren durch Diffe-
rentiation nach der Zeit:
dx . dv
und in dieser Gleichung läge ein für alle Planeten
gültiges Gesetz. Der fingierte Astronom würde daraus
schließen, daß
zu setzen ist, \ko fix,}) eine noch nicht näher bekannte
Funktion von x und y bezeichnet. Nimmt man aber
an, daß es sich tatsächlich um Bewegungen nach dem
Newtonschen Gesetze handelt (welches allerdings den
fingierten Astronomen nicht bekannt ist), so können sich
die Planeten in den Kreisen nur mit gleichförmiger Ge-
schwindigkeit bewegen. Führt man also Polarkoordinaten
/-, (p ein, so würden die fingierten Astronomen aus ihren
Beobachtungen die weitere Bedingung
^ = k = Konst.
df
ableiten, so daß die Bewegung den beiden Gesetzen
dr dcp
— = O, -~ ^ k
dt dt
genügte. Da nun
dy dx g dm „ , .
dt -^ dt dt -^ ^ '-^^ '
SO würden sie also /{x,y) ^= k setzen und die Glei-
chungen
2QA Anmerkungen 48 — 52.
dx . dy j
dt -^ ' dt
als fundamentale Differentialgleichungen für die Planeten-
bewegung betrachten.
48) S. 100. Die hier erwähnten Werke sind die
folgenden: Newton, Philosophiae naturalis Principia
mathematica, London 1687; Thomson und Tait, Hand-
buch der theoretischen Physik (1867, deutsch von Helm-
holtz und Wertheim, Braunschweig 1871); Kirchhoff,
Vorlesungen über mathematische Physik, Mechanik,
Leipzig 1876. Die von Newton geschaffenen Grund-
lagen der analytischen Mechanik sind besonders ein-
gehend von Volkmann besprochen: Einführung in das
Studium der theoretischen Physik, insbesondere in das
der analytischen Mechanik, Leipzig 1900, und: Über
Newtons „Philosophiae naturalis principia mathematica"
und ihre Bedeutung für die Gegenwart; Schriften der
physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg i.Pr.
1898. Vgl. auch die erwähnten Schriften von Mach und
Voß sowie Pearson, The Gram mar of Science, 2^ ed.
London 1900, und de Tilly, Essai sur les principes
fondamentaux de la g6om6trie et de la m6canique,
M6moires de la societ6 des sciences physiques et natu-
relles de Bordeaux, 2^^"^^ Serie, t. 3, 1878.
49) S. 102. Das Prinzip der Gleichheit von Wirkung
und Gegenwirkung hat Newton an die Spitze der
Mechanik gestellt; vgl. die Erörterungen darüber sowie
über die Begriffe von Kraft und Kausalität bei Volk-
mann a. a. O. p. 36 ff. und Wiedemanns Annalen Bd. 66,
1898, sowie Mach a. a. O. p. 185.
50) S. 104. Die Differentialgleichungen für die Be-
wegung eines Planeten (^, j') um die im Anfangspunkte
ruhende Sonne sind bekanntlich:
d'^x X j. dh' y .
wenn ;;z die Masse des bewegten Planeten ist und nach
dem Newtonschen Gesetze /= k7n?n gewählt wird, wo
k eine rein numerische Konstante (deren Wert von der
Zum dritten Teil.
295
Wahl der Masseneinheit abhängt) bedeutet und m die
Masse der Sonne bezeichnet. Die Integration der Glei-
chungen ist von dem speziellen Werte der Konstanten f
ganz unabhängig; es bleiben also auch die Kepler-
schen Gesetze gültig. Die Integration jener Gleichungen
liefert für die Umlaufszeit T des Planeten den Ausdruck
T^ =
471;^ ■ a^ ■ m
f '
wo a die halbe große Achse der Ellipse bezeichnet.
Sind T und a aus den Beobachtungen bekannt, so kann
man also aus ihnen die Verhältnisse der Massen ver-
schiedener Planeten berechnen , denn f fällt dabei her-
aus (wobei natürlich die gegenseitigen „Störungen" ver-
nachlässigt sind).
51) S. 106. Vgl. Hertz, Die Prinzipien der Mechanik
in neuem Zusammenhange dargestellt, Leipzig 1894 (Ge-
sammelte Werke Bd. 3), Seite 11. ,,Die systematische
Konstruktion der Kräfte (d. i. Beschleunigungen) auf
Grund einer rein kinetischen Theorie, welche von
J. J. Thomson in allgemeinen Zügen skizziert war, im
einzelnen durchgeführt zu haben, ist das eine Haupt-
verdienst der Hertz sehen Mechanik; das andere (mehr
formale) besteht in der außerordentlich anschaulichen
Form, in der Hertz die Geometrie der w-dimensionalen
Mannigfaltigkeit für seine Zwecke gedeutet hat, sowie in dem
von ihm eingeführten konsequenten System von Begriffen"
(vgl. Voß a. a. O.). Andererseits ist zu beachten, daß
die Einwürfe, welche Hertz gegen die bisherige Dar-
stellung der Mechanik erhebt, durch andere Arbeiten
(Voß, Math. Annalen Bd. 25, 1885; Routh, Dynamik
Bd. 2, § 445, 1892, deutsch von Schepp; Holder, Göttin-
ger Nachrichten 1896) entkräftet sind; vgl. auch Volk-
mann, Die gewöhnliche Darstellung der Mechanik und
ihre Kritik durch Hertz, Zeitschrift f. d. physik. u. chemi-
schen Unterricht, Jahrg. 14, 1901, sowie die vierte Auflage
des erwähnten Werkes von Mach, 1897, p. 271.
52) S. 109. Der hier gekennzeichnete anthropo-
morphe Standpunkt liegt uns heute fem; doch ging
2n6 Anmerkungen 53—55-
z. B. Kepler so weit, daß er sich Erde und Sonne als
lebende Wesen vorstellte (Opera ommia ed. Frisch,
Bd. 6 p. 174, Bd. 5 p. 253ff.); die betreffenden Stellen
sind von Pixis in seiner Inauguraldissertation (Kepler
als Geograph, München 1899) zusammengestellt. Analoge
Gedanken in modernerer Form finden sich bei Fechner
(Zend-Avesta, i. Th., Leipzig 1851) und Riemann (vgl.
dessen Nachlaß in seinen Gesammelten mathematischen
Werken) ; das Denken ist nach ihm Bildung neuer „Geistes-
masse"; die in die Seele eintretenden Geistesmassen er-
scheinen uns als Vorstellungen; die Ursachen der Ver-
änderungen auf der Erde werden in einem fortschreiten-
den Denkprozesse der „Erdseele" gesucht. Der Begriff
solcher Geistesmasse ist mit Cliffords ,,mindstuff" ver-
wandt: On the nature of things-in-themselfs (Lectures
and Essays, 2^ ed. p. 284, London 1886). Ähnlichen
Ideen begegnen wir ferner in den Monaden von Leib-
niz und dem Keimplasma von Weis mann bei dessen
Theorie der Vererbung.
53) S. 110. Diese experimentelle Prüfung des Ge-
setzes vom Parallelogramm der Kräfte durch gespannte
Fäden führte Wilhelm Weber in seinen damals be-
rühmten Vorlesungen über Experimentalphysik in Göttingen
tatsächlich aus. Das Verfahren erinnert an die Art und
Weise, wie Lagrange das Prinzip der virtuellen Ge-
schwindigkeiten (d. h. die allgemeinsten Gesetze für das
Gleichgewicht von Kräften) durch Konstruktionen mittels
Flaschenzügen beweisen wollte, ein Verfahren, das gegen-
wärtig als unzureichend betrachtet wird; vgl. darüber
den mehrfach erwähnten Aufsatz von Voß.
54) S. 119. In der Vorrede zur editio princeps des
berühmten Werkes ,,de revolutionibus" von Copper-
nicus (so schrieb er selbst seinen Namen) findet sich
in der Tat die Anschauung ,,es ist bequemer voraus-
zusetzen, daß die Erde sich dreht" vertreten, und zwar
in dem Satze: „Cum autem unius et eiusdem motus,
variae interdum hypotheses sese offerant (ut in motu
solis excentricitas et epicyclium) astronomus eam potissi-
mum eripiet, quae comprehensu sit quam facillima;
Zum dritten Teil.
297
philosophus fortasse veri similitudinem magis requiret."
Man darf hieraus aber nicht schließen, daß Coppernicus
auf dem Standpunkte modemer Natur-,, Beschreibung"
gestanden habe; denn diese Vorrede wurde durch
Oslander beim Drucke des Werkes untergeschoben
und ist nicht von Coppernicus verfaßt; sie sollte nur
das Werk vor Verfogungen schützen, die ja in der Tat
nicht ausblieben. Oslander hatte in diesem Sinne dem
Coppernicus Vorschläge gemacht, die aber von letzterem
(nach Keplers Beicht) abgewiesen wurden, da er
seine innerste Überzeugung vor aller Welt kundtun müsse.
Vgl. die betr. Darstellung bei Prowe, Nicolaus Copper-
nicus, I. Bandes 2. Teil, Berlin 1883, p. 519!?.
55) S. 120 ff. Die Differentialgleichungen für die
Bewegung eines Planeten (x, j') um die im Anfangs-
punkte stehende Sonne (mit der Masse ?n) sind oben
unter (3) in Anmerkung 43) mitgeteilt; aus ihnen folgt
durch Integration erstens der ,,Satz von der lebendigen
Kraft":
wo k eine Konstante ist, und zweitens der ,, Flächen-
satz" :
, V dv dx
(2) x^ — y -^ = c,
^ ^ dt -^ dt '
wo c die ,, Flächenkonstante" bedeutet (zweites Kepler-
sches Gesetz). Führt man durch die Gleichungen
X = r cos (p, j; = r sin cp
Polarkoordinaten ;-, cp ein, so werden diese beiden Glei-
chungen
(3) K)^+'-^(sr]=T+^'
wobei der Winkel ^ die ,, absolute Länge" des Planeten
definiert. Eliminiert man <p aus beiden Gleichungen, so
ergibt sich:
298 Anmerkung 55.
(5) ffiy+a=^+^-
und hieraus durch Differentiation:
dr d}r c'^ m
In dieser Differentialgleichung zweiter Ordnung kommt
noch die Flächenkonstante c vor; um sie zu eliminieren,
müssen wir die Gleichung in der Form
, . o dr d^r , , 9
(7) '' J-tJ?^'^'' = '
schreiben und nochmals differenzieren; das gibt
,0, ^drd^r . o(d^r\^ . ^ (dr\^ d^r , dr
Die Entfernung des Planeten von der Sonne hängt also
(wenn man sie direkt, d. h ohne den Winkel qp zu be-
nutzen, als Funktion der Zet / darstellen will) von einer
Differentialgleichung dritter Ordnung ab; die Lösung
einer solchen aber ist erst bestimmt, wenn für einen be-
liebigen Zeitpunkt (für die „Anfangszeit") nicht nur die
Werte von r und — gegeben sind, sondern auch der
•ITT d^^
Wert von -— ^•
dt^
Unsere fingierten Astronomen würden die Bewegung
des Planeten zunächst durch die Differentialgleichung (8)
darstellen; sie würden dann finden, daß dieselbe durch
die viel einfachere Gleichung (7) integriert werden kann;
sie würden ferner (da wir annehmen können, daß ihnen
die Methoden der analytischen Geometrie bekannt sind)
herausfinden, daß der Integrationskonstante c eine sehr
einfache Bedeutung zukommt, wenn man eine Ellipse
als Bahnkurve voraussetzt und demnach den Winkel qp
einführt; und dadurch würden sie zu den Gleichungen
(3) und (4) gelangen können.
Wenn sie so weit gekommen sind, werden sie die
Konstante c nicht mehr als ene ,, wesentliche" betrachten;
vorher aber werden sie es tun müssen, d. h. bis dahin
Zum dritten Teil.
299
werden sie an Stelle des Newtonschen Gesetzes das
komplizierte, durch die Gleichung (7) dargestellte An-
ziehungsgesetz, das noch die Konstante c als eine schein-
bar wesentliche enthält, für das einfachste halten, das
zur Beschreibung der Planetenbewegung dienen kann,
und das sich auch als Differentialgleichung zweiter
Ordnung darstellt.
Betrachtet man gleichzeitig mehrere Planeten, so
werden die weiterhin im Texte erwähnten Symmetrie-
verhältnisse das Vorzeichen der Flächenkonstante be-
stimmen. Letztere wird für verschiedene Planeten ver-
schiedene Werte haben, für alle aber gleiches Vorzeichen;
doch gibt es Kometen, die sich in entgegengesetzter
Richtung bewegen, für die also das Unwesentliche des
Vorzeichens bemerkbar wird. Sind demnach unsere
fingierten Astronomen nicht durch obige analytische Be-
trachtung dazu geführt, die Konstante c zu eliminieren
(d. h. als ,, unwesentliche" zu betrachten), so wird ihnen
diese Symmetriebetrachtung dazu Veranlassung geben.
Wollte man auch die in das Newtonsche Gesetz
eingehende (negative zweite) Potenz der Entfernung als
eine unwesentliche Konstante betrachten, so müßte man
sie durch eine beliebige Potenz {= k -\- i) ersetzen und
dann letztere durch Differentiation eliminieren. Die
Differentialgleichungen der Bewegung sind dann:
dKx
dt^'
— y
^ m X d^y ?ny
" rk + ^' dt"- ~ r^ + ^'
An Stelle von (i) und (2) erhält man:
T[CT)^+Cf)T
VI . - dy dx
rk ^ ' dt -^ dt
femer an Stelle von (5):
I
2
-(dr
Xdt
) -f;:ij = ;:^ + ^.
und durch Differenzieren an Stelle von (6);
dr d'^r c' , m'
300 Anmerkungen 56—57.
also an Stelle von (7) :
3 dr d^r m ^
und an Stelle von (8):
Hieraus müßte man durch nochmalige Differentiation eine
Gleichung vierter Ordnung:
dr d'^r\
m
ableiten. Die Elimination von k aus diesen beiden
Gleichungen würde nur durch Einführung transzendenter
Funktionen möglich sein (deren Einführung durch noch-
maliges Differenzieren und Aufsteigen zu einer Gleichung
fünfter Ordnung vermieden werden könnte). Das
resultierende Anziehungsgesetz würde also so kompliziert
werden, daß man sich nicht ohne die triftigsten
Gründe dazu entschließen wird, den Wert k == 2 als
eine „zufällige" Konstante anzusehen.
Davon zu unterscheiden ist die weitere Frage, ob
das Newtonsche Gravitationsgesetz nicht einer Modifi-
kation bedarf, um mit den Resultaten der Beobachtungen
in noch bessere Übereinstimmung gebracht zu werden,
eine Frage, die in der Tat mehrfach erörtert wurde;
vgl. darüber Seeliger, Astron. Nachrichten, Bd. 137,
No. 3273, 1894, und Sitzungsberichte der k. bayr. Aka-
demie d. Wiss. math. physik. Klasse, Bd. 26, 1896,
P- 373) sowie C. Neumann, Allgemeine Untersuchungen
über das Newtonsche Prinzip, Leipzig 1896.
56) S. 124. Durch Einführung dieses absolut festen
starren Körpers A, dessen Hauptträgheitsachsen die Koor-
dinatenachsen der Mechanik zu liefern haben, versuchte
C. Neumann (Die Prinzipien der Galilei-Newtonschen
Theorie, akademische Antrittsrede, Leipzig 1870) die
vorliegenden Schwierigkeiten zu überwinden. — Handelt
es sich um relativ beschleunigte Bewegungen, so ist
Zum dritten Teil. ^OI
die Anwendung der Gesetze für Zusammensetzung der
Kräfte etc. nicht mehr gestattet; vgl. das von de Tilly
gegebene Beispiel, Annales de la Soc. scientifique de
Bruxelles, t. 25, igoi.
57) S. 125. Das Prinzip der Erhaltung der Energie
tritt als Prinzip von der Erhahung der lebendigen
Kraft in der klassischen Mechanik auf, und zwar in
der Form
(i) ^2?n,7h'^= F + //,
wo die Summe sich auf die Indices z = i, 2, . . . n der
n bewegten Punkte erstreckt, jn^ die Masse und zv die
Geschwindigkeit des z**®° Punktes bezeichnen; V ist die
„Kräftefunktion" oder das ,, Potential", eine Funktion
der Koordinaten x^;, jv> ^t der bewegten Punkte, welche
zugleich als Maß der geleisteten Arbeit auftritt, und aus
der die Komponenten der wirkenden Kräfte durch
Differentiation nach den Koordinaten gewonnen werden,
indem die 3 ?t Gleichungen der Bewegung hier in
der Form
(') ^'^^-^^ä^.' '''^äW^dV/ ''''J^-d^
erscheinen; aus ihnen entsteht (i) durch Integration, und
h bezeichnet eine Integrationskonstante. Die Gleichung
(i) sagt aus, daß die lebendige Kraft oder die poten-
tielle Energie des Systems zu verschiedenen Zeiten
stets denselben Wert annimmt, sobald die n Punkte
solche Lagen annehmen, daß die Funktion V zu beiden
Zeiten denselben Wert erhält, insbesondere also, wenn
alle Punkte im zweiten Momente in die Lage zurück-
kehren, in der sie sich im ersten befanden. Seit Helm-
holtz (Über die Erhaltung der Kraft, Berlin 1847;
Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. i ; Ostwalds Klassiker-
bibliothek, Bd. i) pflegt man die Funktion 17= — V
in die Gleichung (i) einzuführen, so daß dieselbe die
Form
(3) ii:m,-v,^+ I7 = k
■2Q2 Anmerkungen 57 — 58.
annimmt; diese Form ist für weitere Verallgemeinerungen
besonders nützlich. Man bezeichnet U als Maß der
„Spannkräfte" oder (nach William Thomson) als
potentielle Energie im Gegensatze zur kinetischen
Energie oder lebendigen Kraft (d. i. ^Um^Vi-^) und
kann die Gleichung (i) bez. (3) nun dahin aussprechen,
daß die Summe der kinetischen und der poten-
tiellen Energie stets denselben Wert besitzt;
alle dynamischen Erscheinungen bestehen in einer Ver-
wandlung von kinetischer in potentielle Energie und
umgekehrt. — Die Ausdehnung dieser Vorstellungen auf
die Erscheinungen der Wärme, Elektrizität etc. führte zu
den großen Entdeckungen von R. Mayer, Joule,
Helmholtz u. a., woraus dann umgekehrt die ,, ener-
getische" Auffassung der Mechanik erwachsen ist.
Über letztere vgl. Planck, das Prinzip der Erhaltung
der Energie, Leipzig 1887; Ostwald, Lehrbuch der
allgemeinen Chemie, Leipzig 1893; Boltzmann, Wiede-
manns Annalen, Bd. 57 und 58; Planck, ib. Bd. 57;
sowie die Darstellung bei Voß a. a. O. Es sei hier
auch an das Urteil von Hertz über das , »energetische
System" erinnert (Die Prinzipien der Mechanik, 1894,
S. 26): ,, Mehrere ausgezeichnete Physiker versuchen
heutzutage, der Energie so sehr die Eigenschaften der
Substanz zu leihen, daß sie annehmen, jede kleinste
Menge derselben sei zu jeder Zeit an einen bestimmten
Ort des Raumes geknüpft und bewahre bei allem Wechsel
desselben und bei aller Verwandlung der Energie in
neue Formen dennoch ihre Identität. Diese Physiker
müssen notwendig die Überzeugung vertreten, daß sich
Definitionen der verlangten Art wirklich geben lassen.
Sollen wir selbst aber eine konkrete Form dafür auf-
weisen, welche uns genügt und welche allgemeiner Zu-
stimmung sicher ist, so geraten wir in Verlegenheit; zu
einem befriedigenden und abschließenden Ergebnisse
scheint diese ganze Anschauungsweise noch nicht gelangt.
Eine besondere Schwierigkeit muß auch von vornherein
der Umstand bereiten, daß die angebhch substanzartige
Energie in zwei so gänzlich verschiedenen Formen auf-
Zum dritten Teil. ^q^
tritt, wie es die kinetische und die potentielle Form
sind Die potentielle Energie hingegen widerstrebt
jeder Definition, welche ihr die Eigenschaften einer Sub-
stanz beilegt. Die Menge einer Substanz ist notwendig
eine positive Größe; die n einem Systeme enthaltene
potentielle Energie scheuen wir uns nicht als negativ
anzunehmen "
58) S. 125. Unter dem mittleren Werte der Differenz
beider Arten von Enero^ie versteht man den Ausdruck
ist.
(i) —^\{T-U)dt, ^NoT=\Zmro;^
und wobei man sich (nach Ausführung der Integration
der Differentialgleichungen der Bewegung) die Koordi-
naten Xi, )>{, Zi als Funktionen der Zeit eingesetzt denken
muß. Die Bedingung, daß der Wert dieses Integrals
möglichst klein sei, wird nach den Regeln der Variations-
rechnung in der Form
(2) SJ* {T- U)dt = o
geschrieben, und aus ihr können nach diesen Regeln
umgekehrt die Differentialgleichungen der Bewegung ab-
geleitet werden, wie es seit Jacobis berühmten Vor-
lesungen über Dynamik (gehalten im Winter 1842/43 an
der Universität Königsberg, herausgegeben nach Borch-
ardts Aufzeichnungen von Clebsch, Berlin 1866) in
fast allen Lehrbüchern der analytischen Mechanik zu
finden ist.
Das Prinzip der kleinsten Wirkung ist eigent-
lich von dem in Gleichung (2) ausgesprochenen ,, Hamil-
ton sehen Prinzipe" verschieden; es sagt aus, daß auch
die Variation des Integrals
(3) J^Zm^Vidsi =fy2 {h - U) 1/Zmidsi'^
gleich Null ist, so daß auch dieses Integral zu einem
Minimum wird. Dabei ist vorauszusetzen, daß die Zeit
oQ^ Anmerkungen 59 — 60.
mittelst der Gleichung
\Emi{dsiY = [h- U)dt^
eliminiert und alle Koordinaten X{, yi, z^ als Funktionen
von einer unter ihnen dargestellt seien (vgl. Jacob i
a. a. O. p. 43 ff.)- Nach den Regeln der Variations-
rechnung ergeben sich aus dieser Bedingung die Diffe-
rentialgleichungen der Bewegung ebenso, wie aus dem
Hamiltonschen Prinzipe. Beide Prinzipe stehen über-
haupt in engstem Zusammenhange (vgl. darüber von Helm-
hol tz, Zur Geschichte des Prinzipes der kleinsten Aktion,
Gesammelte Abhandlungen, Bd. i, p. 249, 1887, ferner
Voß, Bemerkungen über die Prinzipien der Mechanik,
Sitzungsberichte d. k. bayr. Akad. math. phys. Klasse,
Bd. 31, 1901, sowie die oben erwähnte Arbeit von
Holder). Der Name des Prinzips rührt von metaphysi-
schen Vorstellungen her, die man früher damit verband
und die zu heftigen Kontroversen Veranlassung gaben,
vgl. darüber: A. Mayer, Zur Geschichte des Prinzipes
der kleinsten Aktion, akademische Rede, Leipzig 1877,
und Helmholtz a. a. O.
59) S. 127. Der Ausdruck der kinetischen Energie
T in Funktion der Geschwindigkeiten v^ ist schon in
Anmerkung 58) unter (i) angegeben. Oft ist es nütz-
lich, statt der rechtwinkligen Koordinaten x, jy, z andere
(z. B. Polarkoordinaten oder elliptische Koordinaten) durch
Gleichungen der Form
einzuführen , wobei die 3 n Koordinaten Xi, yi, ^i an k
Bedingungen gebunden sein mögen; dann wird
T = ^^ Qrsqrq's ,
r s
WO mit Qrs gewisse Funktionen der q^ bezeichnet sind,
und wo
, dqr
Zum dritten Teil.
305
gesetzt ist. Für die Ableitung der Differentialgleichungen
der Bewegung in diesen neuen Koordinaten ist das
Hamiltonsche Prinzip besonders nützlich (vgl. Jacobi
a. a. O.). Auch die Größen q^ bezeichnet man dann
kurz als Geschwindigkeiten, obgleich sie sich nicht immer
als Quotient eines Weg- und eines Zeitelementes dar-
stellen. Man spricht auch dann noch kurz von Koor-
dinaten qr und Geschwindigkeiten q ^i wenn die q,. nur
Parameter zur Festlegung gewisser Zustände be-
zeichnen, die q r also Maße für die Geschwindigkeit der
Zustandsänderungen bedeuten; vgl. unten S. 2 18 ff. des
Textes.
60) S. 127. Wilhelm Weber hatte zuerst für die
elektrodynamischen Erscheinungen ein mathematisches
Elementargesetz aufgestellt; er setzte die zwischen zwei
elektrischen Teilchen m und m , welche sich in der
Entfernung r befinden, wirkende Kraft gleich
'dr\'^ , 2 r d^r
d?
R
min r I /dr\^
WO <r^ die konstante Geschwindigkeit bedeutet, mit
welcher sich die elektrische Kraft im Räume ausbreitet.
Es ist identisch
R = ??17JI
wenn
■ I 4 rf2|/7n ^u
y7 dt^ ^ d'^
TT 'T^ I ^ (dV^^"'
U = mm ^1 —^ — )
Lr ' c^\ dt / J
gesetzt wird. Das Potential (oder die potentielle Energie)
U hängt also von der Entfernung r und der gegen-
dr
seifigen Geschwindigkeit ~ ab, die Kraft R sogar noch
von der Beschleunigung — -g-
Nach Carl Neumann (Die Prinzipien der Elektro-
dynamik, Gratulationsschrift der Universität Tübingen
zum fünfzigjährigen Jubiläum der Universität Bonn,
Tübingen 1868) entsteht das Web ersehe Gesetz aus
dem Coulombschen (bez. aus dem Newtonschen),
Poincare, Wissenschaft und Hypothese. 20
5o6 Anmerkungen 60 — 62. '
wenn man annimmt, daß die wirkende Kraft sich mit
der Geschwindigkeit <:^ im Räume ausbreitet (vgl. auch
ähnliche Vorstellungen bei Riemann, Ein Beitrag zur
Elektrodynamik, 1867, Ges. Werke p. 270); umgekehrt
erhält man für c == 00 wieder das Newtonsche Gesetz.
Ist allgemein g)(r) diejenige Funktion von r, welche im
Falle c = 00 das Potential darstellt, und setzt man
so wird
^('
dr ,
J^
= —
du
dr
= -¥' + ^
dr
Unter der Annahme, daß auch die Ausbreitung der
Newton sehen Gravitationskraft im Räume mit endlicher
Geschwindigkeit erfolgt, hat Zöllner den Versuch ge-
macht, das Web ersehe Gesetz auch für die Bewegung
der Himmelskörper zu verwerten; zu derartig komplizierten
Annahmen haben die Beobachtungen bisher keine Ver-
anlassung geboten. Das Web ersehe Gesetz hat lange
die mathematische Theorie der elektrischen Erscheinungen
erfolgreich beherrscht, bis Helmholtz dasselbe durch
ein allgemeineres ersetzte, um gewisse Schwierigkeiten
zu beseitigen, die der Satz von der Erhaltung der Energie
zu bereiten schien. Nach ihm ist das elektrodynamische
Potential zweier elektrischen Teilchen m und m' , die
sich in den Stromelementen ds und ds' bewegen, gleich
(Grelles Journal, Bd. 72, 1870; Wissensch. Abhandlungen,
Bd. I, p. 545 ff.)
[(i -\- k) cos {ds, ds')
2r
-\- {1 — k) cosin (r, ds). cos (r, <//)] ds ds\
wo cos (r, q) den Cosinus der Richtung r gegen die
Richtung Q bezeichnet und k eine Konstante bedeutet,
welche für das Web ersehe Gesetz gleich Null zu nehmen
ist. Die sich hieran knüpfende Kontroverse zwischen
Zum dritten Teil.
307
W. Weber, C. Neumann und Helmholtz ist ziemlich
gegenstandslos geworden, seitdem die Maxwell sehen
Vorstellungen über die Natur der elektrischen Erschei-
nungen immer mehr Anerkennung finden. In Maxwell s
Theorie nämlich sind nur geschlossene elektrische Ströme
möglich, und der Unterschied des Helmholtz sehen
Potentialausdruckes von dem Web ersehen würde nur in
den Folgerungen für nicht geschlossene Ströme bemerk-
bar werden; vgl. auch die weiterhin folgenden Erörte-
rungen auf S. 2i3ff. des vorliegenden Werkes. Poin-
care bestreitet übrigens die von Helmholtz gegen das
Webersche Gesetz erhobenen Einwürfe auch für offene
Ströme, vgl. dessen Electricite et Optique, 2^^"^® edition,
Paris 1901, p. 266,
61) S. 130. Vgl. die beiden Aufsätze von Helm-
holtz: Über die physikalische Bedeutung des Prinzips
der kleinsten Wirkung (Grelles Journal, Bd. 100, 1886)
und : Das Prinzip der kleinsten Wirkung in der Elektro-
dynamik (Sitzungsberichte der Berliner Akademie, Mai
1892; Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 3, p. 163,
476 und 595). In der ersten Abhandlung wird gleich-
falls die Schwierigkeit hervorgehoben, die Energie in die
beiden Glieder T und U zu zerlegen, sobald ,, verborgene
Bewegungen*' vorkommen, d. h. sobald U noch von den
Geschwindigkeiten abhängt. Die Ausdehnung der Gültig-
keit des Hamilton sehen Prinzips auf nicht umkehrbare
Prozesse (d. h. Prozesse, bei denen es mit unseren Mitteln
nicht möglich ist, ,, ungeordnete Atombewegungen wieder
zu ordnen", wenigstens soweit die anorganische Natur
in Betracht kommt, wie W. Thomson hinzusetzt) wird
nur angedeutet. An mehreren Stellen behält sich der
Verfasser weitere Ausführungen für später vor; auch
haben ihn diese noch in den letzten Lebenstagen be-
schäftigt, sind aber nicht zum Abschlüsse gekommen;
vgl. das (von Wiedemann verfaßte) Vorwort des dritten
Bandes seiner Wissensch. Abhandlungen.
62) S. 131. Robert Mayers berühmte Arbeiten
stammen aus dem Jahre 1842 (Annalen der Chemie und
Pharmazie, Bd. 42); vgl. dessen Werk: Die Mechanik
20*
oQg Anmerkungen 62 — 65.
der Wärme in ,, Gesammelte Schriften", Stuttgart 1867
(seitdem mehrere Auflagen). Mayer stellte zuerst die
Äquivalenz von Wärme und Arbeit fest und überträgt
diese Erkenntnis (1845) auf alle Naturerscheinungen
durch den Satz von der ,, Unzerstörbarkeit der Kraft"
(d. i. der Arbeit bez. der kinetischen Energie in unserer
Bezeichnungsweise). Seine Resultate werden wesentlich
ergänzt durch die experimentellen Arbeiten von Joule
(Philosophical Magazine 1843) und die theoretischen
von Helmholt z; vgl. oben die Anmerkung 57). Das
Gl aus ins sehe Prinzip erweitert den sogenannten zweiten
Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie, nach wel-
chem für jeden geschlossenen Kreisprozeß die Glei-
chung
ß
r=°
besteht, wenn Q die Wärmemenge, T die absolute
Temperatur bezeichnet, zu der Ungleichung (Poggen-
dorfs Annalen, Bd. 125, 1865)
/f^o.
wenn es sich um nicht umkehrbare P]gDzesse handelt,
woraus man dann folgert, daß bei mangelnder Wärme-
zufuhr (d. i. konstanter Energie) die Entropie S stets
wächst, wobei letztere nach Clausius durch die Glei-
chung dQ = T-dS definiert wird; vgl. z. B. W. Voigt,
Kompendium der theoretischen Physik, Bd. i, p. 507 ff.
und 547, Leipzig 1895. — Eine Geschichte der Ent-
wicklung der mechanischen Wärmetheorie findet man
bei Mach, Die Prinzipien der Wärmelehre, Leipzig 18 96.
63) S. 132. Die zu fordernde Einfachheit ist be-
sonders durch Kirchhoff am Beginne seiner Vorlesungen
über Mechanik betont: ,,Als Aufgabe der Mechanik be-
zeichnen wir, die in der Natur vor sich gehenden Be-
wegungen vollständig und auf.die einfachste Weise
zu beschreiben" (vgl. auch J. S. Mills Induktive Logik).
Diese Forderung wird ergänzt durch die von Mach be-
tonte Forderung der Ökonomie (Die ökonomische
Zum dritten und vierten Teil.
309
Natur der physikalischen Forschung, 1882; Populäre
Vorlesungen, Wien 1896). — Unterscheiden muß man
zwischen der Einfachheit der zur Beschreibung dienen-
den Gesetze und der Einfachheit der Naturerscheinungen
selbst. Es können sehr ver^vickelte Erscheinungen durch-
schnittlich richtig durch sehr einfache Gesetze beherrscht
werden; vgl. unten S. 147.
64) S. 134. Hat man die in der Anmerkung 59)
besprochenen 3« — k Parameter qr eingeführt, so wird
man bei vollendet gedachter Integration der Bewegungs-
gleichungen 3;z — k Gleichungen der Form
(1) i^(^i, ^2, ^3, • • ^3„_^; /; C^, C;, • • • C6„_2^) = o
erhalten (für / = i, 2, 3, • • • 3;^ — X'), wo Q, C^, • • • die
Integrationskonstanten bezeichnen; aus ihnen kann man
die gr als Funktionen der Zeit / und der Konstante Cr
berechnen; man wird daraus die DifFerentialquotienten
q'r berechnen in der Form
(2) q'r = Orii\ C^, C2, . . . . Cq^_^^);
aus diesen 6« — 2k Gleichungen (i) und (2) kann man
femer die Konstanten C durch die qr und q'r aus-
drücken und hat dann 6n — 2 k Funktionen der Para-
meter und ihrer Differentialquotienten , welche konstant
bleiben. Diese Parameter q sind im Texte mit x be-
zeichnet.
Vierter Teil, Die Natur.
65) S. 149. Auf dieses Beispiel wurde schon oben
in der Anmerkung 63) hingewiesen. Der Druck des
Gases auf die Wände des dasselbe enthaltenden Gefäßes
wird in der kinetischen Gastheorie durch die Stöße der
in allen Richtungen unregelmäßig sich bewegenden Mole-
küle gegen diese Wände erklärt, und trotz der schein-
baren Unbestimmtheit dieser Vorstellung führt die mathe-
matische Formulierung von Durchschnittswerten zu dem
•>IO Anmerkungen 65 — 68.
bekannten Gesetze von Mario tte und weiterhin zu der
van der Wals sehen Verallgemeinerung desselben. Es
kann hier auf die Lehrbücher von O. E. Meyer und
Clausius und die Vorlesungen von Kirchhoff sowie auf
die betr. Arbeiten von Maxwell verwiesen werden, be-
sonders aber auf die Thermodynamique von Poincare
(Le^ons professees pendant le premier semestre 1888 — 89,
redigees par Blondin, Paris 1892) und Boltzmann:
Vorlesungen über Gastheorie, Leipzig 1892 — 98. Das
Gesetz der großen Zahlen herrscht in diesen Theorien
ebenso wie in der Wahrscheinlichkeitsrechnung, worauf
die vielfachen Anwendungen der letzteren in der Gas-
theorie beruhen; vgl. auch unten S. 187 und die An-
merkung 87).
Was man freilich als einfach ansieht, ist zu ver-
schiedenen Epochen sehr verschieden gewesen. Vor
Kepler und Newton hielt man die Kreisbewegung
für die einfachste (und ,, vollkommenste") ; deshalb sollten
alle Planetenbewegungen auf Kreise und deren Rollen
aufeinander zurückgeführt werden; und heute sagen wir:
Was gibt es Einfacheres als das New ton sehe Gesetz?
Wir beurteilen heute die Einfachheit nach der Natur
des mathematisch formulierten Gesetzes, das sich ergibt,
wenn man die ,, zufälligen" Konstanten der Erscheinung
(durch Differentiation und Elimination) herausgeschafft hat.
Dieses und das folgende Kapitel bildeten einen Vor-
trag (Relations entre la physique experimentelle et la
physique mathematique), den Poincar6 beim internatio-
nalen Physikerkongresse 1900 in Paris gehalten hat;
vgl. den betr. ,, Rapport", t. i, p. i.
66) S. 150. Nicht nur in der Optik, sondern in der
ganzen mathematischen Physik (schon beim Parallelo-
gramm der Geschwindigkeiten) wenden wir fortwährend
dies Prinzip der Superposition an, d. h. die Annahme
des gleichzeitigen Bestehens kleiner Bewegungen (wie
die Schwingungen des Lichtäthers und die Zerlegung
des weißen Lichtes in die einzelnen Farben des Spek-
trums oder die Auflösung der Töne einer schwingenden
Saite in den Grundton und die zugehörigen Ober-
Zum \ierten Teil.
311
töne usf.). Ausführlich bespricht Volkmann die
logische Seite dieses Verfahrens: Erkenntnistheoretische
Grundzüge der Naturwissenschaften und ihre Beziehungen
zum geistigen Leben der Gegenwart, Leipzig 1896,
p. 69 fr.
67) S. 150. In der Tat hat man (besonders nach
Lesage) versucht, die Gravitation aus den Stößen einer
feinen, unregelmäßig verteilten Materie zu erklären; vgl.
P. du Bois-Reymond, Die Unbegreiflichkeit der Fern-
kraft, Naturwissenschaftliche Rundschau, Jahrg. 3, 1888;
Isenkrahe, Das Rätsel von der Schwerkraft, 1879, und
Maxwells Artikel ,, Atoms" in der Encyclopaedia Britan-
nica (Papers, vol. II, p. 473).
Das Newtonsche Gravitationsgesetz hat man zu er-
gänzen gesucht, indem man den Exponenten 2 im Nenner
durch 2 -{- s ersetzte, wo s eine kleine Zahl ist, oder
indem man die Funktion ^ ^ ^ als erstes Glied einer
Reihenentwicklung ansah; insbesondere hat man die
Funktion ^ ^ ^ e ' in Betracht gezogen, wo ^ eine
Konstante bedeutet; vgl. neben den in Anmerkung 55)
erwähnten Arbeiten von Neu mann und Seeliger noch:
Korn, Über die mögliche Erweiterung des Gravitations-
gesetzes, Sitzungsberichte d. k. bayr. Akad. math. phys.
Klasse, Bd. ;^^, 1903.
68) S. 155. Als Vektor bezeichnet man eine geome-
trische Größe, zu deren vollständiger Bestimmung man
einer Zahl und einer Richtung bedarf. Die Richtung
wird bei analytischer Darstellung durch ihre Neigungen
ccj ß, y gegen die drei Koordinatenachsen gegeben. Jede
Größe, die sich (analog der Kraft oder Geschwindigkeit)
in drei Komponenten zerlegen läßt, wird als Vektor be-
zeichnet. Ist z. B. eine Kraft oder Geschwindigkeit R
nach Größe und Richtung gegeben, so sind ihre Kom-
ponenten bekanntlich
X = R cos or, F = R cos ß, Z = R cos y.
In der Optik wird der eine Vektor durch die der (sehr
TJ2 Anmerkungen, 68 — 69.
kleinen) Verschiebungskomponenten u, v, w gegeben (wo-
bei ein Punkt x, jy, z infolge der elastischen Schwingung
in einen Punkt x ^ u, y -\- v , z -\- iv übergeht, und
u, V, ZV Funktionen von x, j', z und von der Zeit / sind),
der andere durch die Komponenten der kleinen Drehung,
welche das Volumelement erleidet, nämlich:
t-l.(^-^^\ ^_i./^_^\ l-_jl/^_^A.
^~'^\cv dz)' '^~'^\dz dxj' ^~'na^ dyj'
vgl. z. B. F. Neumann, Vorlesungen über die Theorie
der Elastizität, herausgegeben von O. E. Meyer, Leipzig
1885, p. 41, oder die betr. Abschnitte in Kirchhoffs
Mechanik oder v. Helmholtz, Vorlesungen über die
Mechanik deformierbarer Körper. Die Vertäu schbarkeit
der Größen ti, v, w mit den davon abgeleiteten ^, r}, ^ tritt
z. B. hervor beim Vergleiche der Fresnelschen mit der
Neumann sehen Theorie der Reflexion, vgl. Poincare,
Mathematische Theorie des Lichtes, deutsch von Gumlich
und Jäger, Berlin 1894, p. 255. Sind u, z\ w in der
Hydrodynamik die Komponenten der Geschwindigkeit
eines Flüssigkeitsteilchens, so sind ^, 7^, ^ die Kompo-
nenten einer unendlich kleinen Rotation, eines ,, Wirbels"
(vgl. z. B. Kirchhoff a. a. O.); dieses Wort ist im Text
wegen der analytischen Analogie auf die Erscheinungen
der Optik übertragen.
69) S. 156. Ist u die Temperatur eines Körpers
im Punkte x, y, z zur Zeit /, so ist u eine Funktion der
vier Variabein x, y, z, t, welche der partiellen Differen-
tialgleichung zweiter Ordnung
du
dt
genügt (wo a^ die Wärmeleitungskonstante des Körpers
bezeichnet) und sich aus dieser Differentialgleichung be-
stimmt, wenn man i. die Verteilung der Temperatur im
Innern des Körpers zur Anfangszeit t = t^, 2. die Ab-
hängigkeit der Temperatur von der Zeit an der Ober-
fläche des Körpers oder das Gesetz, nach welchem der
Temperaturfluß durch die Oberfläche des Körpers statt-
Zum vierten Teil.
313
findet, kennt. Die Aufstellung der Differentialgleichung
beruht auf der Annahme, daß die Wirkung der Wärme
(bei festen Körpern) nur in unendlich kleiner Entfernung
stattfindet und daß diese Wirkung eine ausgleichende
ist, indem der wärmere Teil an den kälteren Wärme
abgibt, die der Temperaturdifferenz proportional ist. Die
Theorie der ,, Wärmeleitung", d. i. die Theorie der aufge-
stellten partiellen Differentialgleichung, wurde zuerst von
Fourier entwickelt: 1808 im Bulletin des sciences de
la societe philomatique und 181 1 in den Memoires de
l'Academie des sciences, ausführlicher 1822 in dem
Werke ,, Theorie an alytique de la chaleur", das nicht nur für
die Theorie der Wärme, sondern auch für die Entwicklung
der Analysis von größter Bedeutung wurde und so einen
Markstein in der Geschichte der Mathematik bezeichnet;
vgl. die Darstellungen dieser Theorien bei Riemann:
Partielle Differentialgleichungen und deren Anwendung
auf physikalische Fragen, Vorlesungen, herausgegeben von
Hattendorff, 2. Aufl., Braunschweig 1872 (seitdem
durch H. Weber bearbeitet in neuer Auflage), ferner
Heine, Handbuch der Kugelfunktionen, 2. Aufl., Bd. 2
(Anwendungen), Berlin 1881, p. 302 ff. — Von beson-
derer Wichtigkeit ist die Fourier sehe Theorie für die
(besonders durch Poisson, F. Neumann und William
Thomson geförderte) Frage nach dem früheren und
jetzigen Zustande des Erdinnern und nach dem Einflüsse
der Sonnenwärme auf die Temperatur im Innern der
Erde und der Veränderung dieser letzteren mit den
Jahreszeiten. Vgl. darüber W. Thomson, On the re-
duction of observations of Underground temperature, 1860,
und: On the secular cooling of the earth 1862, Mathe-
matical and physical Papers, vol. 3; Adolf Schmidt,
Theoretische Verwertung der Königsberger Bodentempera-
tur-Beobachtungen, Schriften der phys. -ökonomischen Ge-
sellschaft zu Königsberg i. Pr., Jahrg. ;^2, i8gi, und
Leyst, Untersuchungen über die Bodentemperatur zu
Königsberg i. Pr., ib. Jahrg. ^^, 1892; P. Volkmann,
Beiträge zur Wertschätzung der Königsberger Erdthermo-
meterstation 1872 — 92, ib. Jahrg. 34, 1893; Franz, Die
■2 1^ Anmerkungen 69 — 72.
täglichen Schwankungen der Temperatur im Erdboden,
ib. Jahrg. 36, 1895.
Die Methoden der Theorie der Wärmeleitung lassen
sich auch auf die Ausbreitung der Elektrizität (vgl.
W. Thomson, Math, and phys. papers, vol. 2, p. 41 ff.,
Abhandlungen über Telegraphenleitung 1855 — 56; vgl.
auch Poincare, Electricite et Optique, p. 51 ff.) und
nach Fick auf die Hydrodiffusion anwenden (vgl. H. F.
Weber, Vierteljahrsschrift der Züricher naturforschenden
Gesellschaft, Novbr. 1878). Die der Leitung der Elektri-
zität in Drähten erfordert indessen das Studium einer
komplizierteren Differentialgleichung; vgl. Poincar6,
Comptes rendus, Dezbr. 1893, und Picard, Comptes
rendus, Jan. 1894, u. Bulletin de la Societ6 math.
de France t. 22, 1894.
70) S. 156. Die Theorie der Elastizität, insbesondere
der elastischen Schwingungen, beruht auf der Behandlung
der Differentialgleichung
welche derjenigen für die Wärmeleitung ganz analog
ist. Der Gleichgewichtszustand eines gebogenen elasti-
schen Stabes wurde zuerst von de Saint-Venant er-
folgreich behandelt: Memoire sur la torsion des prismes,
1858, und Memoire sur la flexion des prismes, Liouvilles
Journal, 2^^™^ s6rie, t. i, 1856; vgl. C leb seh, Theorie
der Elastizität fester Körper, Leipzig 1862; Saalschütz,
Der belastete Stab unter Einwirkung einer seitlichen
Kraft, Leipzig 1880; Poincare, Le^ons sur la theorie
de r61asticit6, Paris 1892.
71) S. 157. Ein Vektor ist durch Größe und Rich-
tung bestimmt; das Addieren von Vektoren geschieht wie
das Zusammensetzen von Kräften, Geschwindigkeiten
u. dergl., vgl. oben die Anmerkung 68). Ein Skalar
bezeichnet im Gegensatze zum Vektor eine reine (reelle,
positive oder negative) Zahl, ,,denn er kann stets ge-
funden und in gewissem Sinne konstruiert werden durch
Vergleichung von Strecken auf einer und derselben
Zum vierten Teil.
315
Skala (oder Achse)", indem der Quotient zweier gleich
gerichteter Vektoren einer solchen reinen Zahl gleich
ist. Die Bezeichnung ist der Theorie der Quaternionen
entnommen, welche in mechanischen und physikalischen
Arbeiten neuerdings vielfach Anwendung findet und mit
den geometrischen bez. arithmetischen Theorien von
Möbius und H. Graßmann enge verwandt ist. Die-
selbe wurde durch W. R. Hamilton (seit 1835 in ver-
schiedenen Abhandlungen der R. Irish Academy und
den Lectures on Quaternions, Dublin 1853) begründet;
vgl. dessen Elemente der Quaternionen (London 1866),
deutsch von P. Glan, Bd. i u. 2, Leipzig 1882 — 84;
ferner Tait, Elementary Treatise on Quaternions;
H. Hankel, Theorie der komplexen Zahlensysteme,
Leipzig 1867; Gibbs, Vector Analysis, New-York 1902.
72) S. 163. Die von Helmholtz 1874 aufgestellte
Theorie der Dispersion (Wissenschaftliche Abhandlungen
Bd. 2, p. 213) geht von der Annahme aus (im Anschlüsse
an frühere Arbeiten von W. Sellmeier), daß in den
Lichtäther mitschwingende ponderable Atome eingebettet
sind und daß sich zwischen Äther und Materie eine
Reibungskraft geltend macht, die der Bewegung der
Atome entgegenwirkt. Ausgehend von der elektromagne-
tischen Lichttheorie und der Annahme polarisierter Ionen
entwickelte Helmholtz 1892 eine zweite Theorie (Wiss.
Abhandig. Bd. 3, p. 505); jedem Ion entspricht dabei
eine besondere Linie (Absorptionsstreifen) im Spektrum;
jedes Element wäre also mit so vielen Ionen behaftet,
wie die Anzahl der Linien seines Spektrums beträgt.
Auf ähnlichen Vorstellungen beruhen die Theorien von
Drude (Lehrbuch der Optik, Leipzig 1900, p. 352) und
Poincare (Electricite et Optique, la lumiere et les
theories electrodynamiques, Paris 1901, p. 500 ff.).
Von ganz anderen Vorstellungen ging W. Thomson
(Lord Kelvin) aus (Notes and Lectures on molecular
dynamics, Baltimore 1884), indem bei ihm alle Wellen-
längen, die den Linien eines Spektrums entsprechen, durch
eine Gleichung bestimmt werden, deren Grad davon
abhängt, aus wie vielen konzentrischen Kugelschalen
o j 5 Anmerkungen 72 — 76.
man sich ein Atom bestehend denkt. Andererseits habe
ich versucht, das Auftreten der Verschiedenheiten in
den Spektren verschiedener Elemente aus der Gestalt
der Atome (die danach im allgemeinen nicht kugel-
förmig zu denken sind) zu erklären: Zur Theorie der
Spektrallinien, Sitzungsberichte der math. phys. Klasse
d. k. bayr. Akad. der Wissensch., Bd. 31, 1901, und
Bd. S3^ 1903 (eine weitere Fortsetzung wird demnächst
erscheinen); die einzelnen Linien des Spektrums werden
dabei durch transzendente Gleichungen bestimmt.
73) S. 164. In betreff der kinetischen Gastheorie
vgl. oben Anmerkung 65). Wird ein fester Körper ge-
löst, so werden seine Moleküle durch eine gewisse Ex-
pansivkraft in den mit Flüssigkeit gefüllten Raum hinein-
getrieben, in welchen sie unter einem gewissen Drucke,
dem ,, osmotischen Drucke", gelangen. Dieser Druck ist
von der Natur des Lösungsmittels unabhängig und ge-
horcht den für Gase gültigen Gesetzen (nach van't Hoff,
1885; vgl. z. B. Nernst, Theoretische Chemie, i. Aufl.,
Stuttgart 1893). Entsprechendes gilt auch für ,, feste
Lösungen" (z. B. Wasserstoff in Platin, Kohlenstoff in
Eisen), vgl. van't Hoff, Zeitschrift für physikalische
Chemie, Bd. 5, 1890.
74) S. 166. Die Theorie der Elektronen ist einer-
seits mit Rücksicht auf die Eigenschaften der (von Hittorf
und Crookes erforschten) Kathodenstrahlen entstanden,
andererseits aus der Annahme von wandernden Ionen
zur Erklärung der elektrolytischen Vorgänge; nur daß
man sich jetzt diese elektrischen Ionen von den wandern-
den Atomen losgelöst denkt und dann Elektronen nennt.
Die Elektrizität besteht hiernach also aus Atomen von
sehr geringer Masse (vielleicht aus den Uratomen, aus
denen sich alle anderen zusammensetzen). Diese Vor-
stellungen sind besonders von J. J. Thomson (Philo-
sophical Magazine, Serie 5, vol. 46, 1898), Lorentz (La
th^orie 61ectrodynamique de Maxwell et son application
aux Corps mouvants, Leyde 1892, und: Versuch einer
Theorie der elektrischen und optischen Erscheinungen
in bewegten Körpern, Leyden 1895) gefördert; vgl. auch
Zum vierten Teil.
317
Wiechert, Die Theorie der Elektrodynamik, Schriften
der physikahsch- ökonomischen Gesellschaft zu Königs-
berg i. Pr., Jahrg. i8g6, und: Grundlagen der Elektro-
dynamik, Festschrift zur Feier der Enthüllung des Gauß-
Weber- Denkmals in Göttingen, Leipzig 1899; sowie die
übersichtliche Darstellung bei Kays er: Die Elektronen-
theorie, akademische Festrede, Bonn 1903. — Auf
S. 175 ff. und 242 des vorliegenden Werkes wird die
Lorentzsche Theorie nochmals besprochen.
75) S. 166. Eine kurze Übersicht über Carnots
Gedankengang (Reflexions sur la puissance motrice du
feu, Paris 1824) gibt Gl aus ins in Abschnitt III, § 4,
Bd. I seiner Mechanischen Wärmetheorie (dritte Aufl.
1883); durch Abänderung und Verbesserung dieses Ge-
dankengangs kam Clausius zum sogenannten zweiten
Hauptsatze der mechanischen Wärmetheorie; vgl. auch
oben die Anmerkung 62).
Es sei erwähnt, daß F. Neumann die Grundgedanken
der heutigen Wärmetheorie schon vor 1850 in seinen
Königsberger Vorlesungen entwickelte (dabei das Wort
,,Arbeitsvorrath" für ,, Energie" gebrauchend); vgl. Volk-
mann, Franz Neumann, Ein Beitrag zur Geschichte
deutscher Wissenschaft, Leipzig 1896, p. 36.
76) S. 168. In seinen Prinzipien der Mechanik,
p. 207 ff., stellt sich Hertz das Wirken von Kräften
zwischen gegebenen Systemen durch das Bild von
,, Koppelungen*' der Systeme untereinander vor, die
dann die Bewegung als eine unfreie erscheinen lassen. —
Diese Vorstellung ist verwandt mit der Konstruktion
,, dynamischer Modelle '* gegebener materieller Systeme
(loco cit. p. 197 ff.); jedes System kann auf unendlich
viele Weisen durch solche Modelle dargestellt werden.
Um den Ablauf der natürlichen Bewegung eines mate-
riellen Systems vorauszusehen, genügt die Kenntnis eines
(möglichst zu vereinfachenden) Modells jenes Systems.
Auch andere physikalische Erscheinungen kann man
durch mechanische Modelle veranschaulichen; vgl. Boltz-
manns Vorlesungen über Maxwells Theorie der Elektri-
zität und des Lichtes, Leipzig 1891/93. — So konstruiert
T j 3 Anmerkungen 76 — 80.
W. Thomson ein gyrostatisches Modell des Lichtäthers,
um die ,,Quasi-Elastizität" des letzteren zu veranschau-
lichen (Math. a. phys. Papers, vol. 3, p. 466, 1889); vgl.
auch Sommerfeld, Mechanische Darstellung der elektro-
magnetischen Erscheinungen in ruhenden Körpern, Wiede-
manns Annalen, Bd. 46, 1892; auch seine oben in An-
merkung 72) erwähnte Konstruktion der Atome aus
elastisch verbundenen konzentrischen Kugelschalen will
Lord Kelvin nur als ein ,, rohes" mechanisches Modell
betrachtet wissen. — Zur Darstellung thermodynamischer
Vorgänge dient die Theorie der monozyklischen
Systeme (d. h. Systeme, in denen in sich zurücklaufende
Bewegungen vorkommen und die in ihrer Geschwindig-
keit nur von einem Parameter abhängen); vgl. Helm-
holtz, Wissenschaftl. Abhandlgn., Bd. 3 (1884); Boltz-
mann. Grelles Journal, Bd. 98 u. Bd. 100 (1884 — 85).
77) S. 168. Die Kinematik der Gelenksysteme
(systemes articul6s) ist von Königs besonders eingehend
behandelt: Lec^^ons de cinematique, Paris 1877; in Be-
treff der Dynamik der Gelenksysteme vgl. Routh, Die
Dynamik der Systeme starrer Körper, deutsch von
Schöpp, Bd. 2, p. 297ff., Leipzig 1898.
78) S. 169. Die W. Thomson sehe Vorstellung be-
ruht auf dem berühmten Helmholtz sehen Satze, nach
welchem Wirbelbewegungen in einer Flüssigkeit aufein-
ander anziehende und abstoßende Kräfte ausüben
(Wissenschaftl. Abhandlgn., Bd. i ; Grelles Journal, Bd. 55,
1858), und wonach ein ,, Wirbelfaden" unzerstörbar ist
und sich in der Flüssigkeit, ohne zu zerreißen, endlos
fortbewegt (vgl. auchz. B. Kirchho ff s Mechanik, p. 252 ff.;
J. J. Thomson, On the motion of vortex rings, London
1883; und Poincare, Th6orie des tourbillons, Paris
1893), also diese wesentliche Eigenschaft der Unzerstör-
barkeit mit der Materie teilt. Nimmt man an, daß die
vermeintlichen materiellen Atome aus solchen Wirbeln
(z. B. Wirbelringen) bestehen, die sich im Lichtäther
fortbewegen, so fällt die Schwierigkeit fort, die in der
sonst notwendigen Annahme liegt, daß sich materielle
Atome im absolut starren Lichtäther ohne wesentlichen
Zum vierten Teil.
319
Widerstand fortbewegen; vgl. W. Thomson, Philoso-
phical Magazine, Juli 1887, und Maxwell, Artikel ,, Atoms"
in der Encyclopaedia Britannica (Papers^ vol. 2, p. 467).
In betreff Riemanns Ideen über die Natur der
Atome vgl. die Veröffentlichung aus dessen Nachlasse
(p. 503 seiner Gesammelten Werke), sowie oben An-
merkung 52).
Wiecherts Anschauung nähert sich derjenigen von
W. Thomson; nach ihm ,,sind die Atome Stellen ausge-
zeichneter Beschaffenheit im Äther" , vgl. die in An-
merkung 74) zitierten Schriften, in denen allerdings auch
materielle Atome dem Äther und den elektrischen Atomen
gegenübergestellt werden. Auch Larmor betrachtet
die Atome als Unstetigkeitspunkte des Äthers: Aether
and Matter, Cambridge 1900, Kap. V u. VI und An-
hang (und frühere Arbeiten in den Proceedings und den
Philosophical Transactions der Royal Society). Clifford
betrachtete die Atome als Unstetigkeiten unseres Raumes,
in denen letzterer durch ,, Quellen" aus einer vierten
Dimension beeinflußt wird; vgl. Pearson, Grammar of
Science, p. 270. — Vgl. auch die in Anmerkung 76)
erwähnten Modellkonstruktionen.
79) S. 171. Fizeaus berühmtes Experiment stammt
aus dem Jahre 1859: Annales de chimie et de physique,
Serie 3, t. 57; dasselbe wurde in größerem Maßstabe
von Michelson und Morley wiederholt: American
Journal of science, serie 3, vol. 31, 1886. Spätere Ver-
suche von Fizeau mit Glassäulen ergaben ein zweifel-
haftes Resultat; vgl. die Bemerkung von Lorentz auf
S. 2 seines oben erwähnten Werkes.
80) S. 172. Einen Bericht über diese verschiedenen
Versuche findet man bei Lorentz a. a. O., bei Lar-
mor in dem zitierten Werke und bei W. Wien: Über
die Fragen, welche die translatorische Bewegung des
Lichtäthers betreffen, Wiedemanns Annalen, Neue Folge,
Bd. 65, 1898. Poincare begründet seine im Texte
ausgesprochene Ansicht genauer am Schlüsse seines
Werkes über die Theorie des Lichtes und im Kapitel
VI u. VII des Werkes: Electricit6 et Optique. Von der
0 20 Anmerkungen 8i — 84.
elastischen Lichttheorie ausgehend hat Voigt die Theorie
des Lichtes für bewegte Medien behandelt: Göttinger
Nachrichten 1887.
81) S. 176. Das Zeemannsche Phänomen (vgl.
K. Ak. van Wetenskaps, Bd. 5, i8g6, Communications
of Labor, of Physics, Leyden, Bd. 29 u. ^^, 1896, Philo-
sophical Magazine, serie 5, vol. 43, p. 226, 1897) be-
steht darin, daß eine Linie des Spektrums (z. B. eines
Elementes) durch Einwirkung eines Magneten in zwei
oder mehrere Linien zerspalten wird (vgl. z. B. die
eingehende Untersuchung des Quecksilberspektrums in
dieser Richtung von Runge und Paschen, Abhand-
lungen der Berliner Akademie, 1902), Lorentz hat
die Erscheinung theoretisch erklärt, indem er von Ionen
ausgeht, die sich selbst wieder aus noch einfacheren
Gebilden zusammensetzen; vgl. die Darstellung bei
Poincare, Electricite et Optique, p. 5 44 ff., wo auch
die Drehung der Polarisationsebene besprochen wird.
Eine andere Theorie des Zeemann-Effektes gab W. Voigt
(Wiedemanns Annalen, Bd. 67, 68, 69, und Annalen der
Physik, Bd. i u. 4) ; nach ihm ist die Erscheinung analog
der Doppelbrechung des Lichtes in Kristallen.
82 )S. 177. Mac-Cullagh hatte gleichzeitig mit
F. Neumann die Theorien der Optik aus der Annahme
eines Mediums abgeleitet, dem überall gleiche Dichte,
in verschiedenen Körpern aber verschiedene Elastizität
zukommt, so daß bei ihm (wie bei Neumann, im Gegen-
satze zu Fresnels Annahme) die Schwingung des polari-
sierten Lichtes senkrecht zur Polarisationsebene statt-
findet (vgl. The collected works by J. Mac-Cullagh,
Dublin und London 1880, und die Berücksichtigung
dieser Theorie in Volkmanns Theorie des Lichtes).
An diese Vorstellung hatte Larmor in dem oben zitierten
Werke angeknüpft. Poincare gibt eine eingehende
Darlegung seiner Anschauung darüber am Schlüsse des
Werkes: Electricite et Optique.
83) S. 178. Für die hier besprochenen Anwendungen
der Thermodynamik sei auf das in Anmerkung 73) er-
wähnte Werk von N ernst über theoretische (insbesondere
Zum vierten Teil.
321
physikalische) Chemie verwiesen, sowie auf J. J. Thom-
son, Applications of dynamics to physics and chemistry,
London 1888, Kapitel VII (Deutsche Übersetz., Leipzig
1890). Auf das Carnotsche Prinzip und die Entropie
wurde schon in Anmerkung 75) versviesen. Die im Texte
erwähnte Hysteresis ist eine mit der elastischen Nach-
wirkung verwandte Erscheinung. Letztere besteht darin,
daß die Ruhelage, die ein Körper nach einer elastischen
Deformation (z. B. ein tordierter Draht) einnimmt nicht
allein von der vor der Deformation vorhandenen Ruhelage
abhängt, sondern auch von Deformationen, die der
Körper etwa in weiter zurückliegenden Zeiten einmal
erlitten hat; diese Erscheinung ist besonders von Boltz-
mann (Wiedemanns Annalen, Erg. -Bd. 7, 1876) und
Maxwell studiert; vgl. J. J. Thomson, a. a. O. p. 130
und Wiechert: Über elastische Nachwirkung, Inaugural-
dissertation, Königsberg 1889. Von W. Thomson
wurde (Philosophical Transactions, vol. 170, 1879) be-
merkt, daß die wiederholte Torsion eines Drahtes einen
ähnlichen dauernden Einfluß auf die Magnetisierung des
Drahtes hat; War bürg studierte umgekehrt (Berichte der
naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg i. Br., Bd. 8,
1880) den Einfluß wiederholter Magnetisierungen auf
die Torsion des Drahtes. Über weitere Untersuchungen
betr. diese als Hysteresis bezeichneten Erscheinungen
vgl. den Bericht von Warburg, Rapport presente au
Congres international de Physique a Paris 1900. —
Auch die elektrischen Rückstandserscheinungen sind nach
Maxwell der elastischen Nachwirkung analog; vgl. den
Bericht von Grätz über Elektrostatik etc. Winkel-
manns ^Handbuch der Physik, 2. Aufl. Bd. 4, 1903.
84) S. 180. Die ungeordneten Bewegungen der
kleinsten Teile kann man bei den Brownschen „Wimmel-
bewegungen" der Beobachtung unterwerfen; dieselben
entstehen bei der Suspendierung kleinster Teile in Flüssig-
keiten und bei Emulsionen (vgl. Arbeiten von Stark in
Wiedemanns Annalen, Bd. 62, 65, 68). Die Nichtum-
kehrbarkeit gewisser Erscheinungen beruht (vgl. auch
oben Anmerkung 6 1 ) auch darauf, daß wir nur imstande
Poincare, AVissenscliaft uud Hypothese. 21
■7 22 ABmerkungen 84 — 88.
sind, mit den Molekülen in großen Massen zu experi-
mentieren, aber nicht einzelne Moleküle abtrennen und
beobachten können, also auf den Grenzen, welche uns
bei Anwendung experimenteller Methoden gesetzt sind
(vgl. J. J. Thomson a. a. O. p. 281). Um dies zu er-
läutern, erdachte Maxwell (vergl, dessen Theory of
Heat, 3^^ ed. p. 308, 1872) das Gleichnis eines „Dä-
mons", der imstande ist, die Moleküle nach gewissen
Gesetzen zu sortieren, selbstverständlich ohne an die
Existenz solcher Dämonen zu denken (wie ihm unter-
gelegt wurde); vgl. W. Thomson, Populäre Vorträge und
Reden (Bd. i, p. 473 der deutschen Ausgabe).
Handelt es sich um die Ausbreitung kleinster Teile
auf der Oberfläche einer Flüssigkeit oder an der Grenz-
fläche zweier Flüssigkeiten, so kommt für die Herstellung
des Gleichgewichts die Oberflächenspannung der Flüssig-
keiten in Betracht, die ihrerseits durch etwaige elektrische
Einflüsse umgeändert wird. So hängen diese Unter-
suchungen auch mit der Kapillaritätstheorie und mit den
kapillar - elektrischen Phänomenen zusammen , deren
Theorie von Helmholtz zuerst entwickelt wurde [1879,
Wiedemanns Annalen, Bd. 7, und 1880, Bd. 11; vgl.
auch die Beobachtungen von K. R. Koch: Wiedemanns
Annalen, Bd. 42, 1891; Bd. 45, 1892 (mit Wüllner);
Bd. 52, 1894] und die neuerdings durch Gouy experi-
mentell und theoretisch weiter geführt wurden: Comptes
rendus, 1895, 1900 u. 1901.
85) S. 180. Die Einwirkung des Lichtes auf den
elektrischen Funken ist von Hertz (Sitzungsberichte der
Berliner Akademie 1887) festgestellt worden und seit-
dem besonders von Elster und Geitel eingehend
studiert. Die neueren Beobachtungen über strahlende
Materie haben das Interesse an diesen und ähnlichen
Untersuchungen neu belebt. Vgl. Warburg, Verhand-
lungen der Deutschen physik. Gesellschaft, Jahrg. 2,
1900.
86) S. 181. Die Beseitigung der Schwierigkeiten,
welche der Fresnelschen Theorie der Reflexion ent-
gegenstehen, durch Annahme einer „Übergangsschicht"
Zum vierten Teil.
3>23
bespricht Poincare eingehend in dem Werke: Mathe-
matische Theorie des Lichtes, p. 247 der deutschen
Ausgabe. Auch in der Neu mann sehen Theorie er-
geben sich bei der partiellen Reflexion an durchsichtigen
Medien ähnliche Schwierigkeiten, die man nach W. Voigt
(Wiedemanus Annalen, Bd. 22,, 1884, u. Bd. 31, 1887)
auch durch Annahme einer Übergangsschicht beseitigen
kann; vgl. p. 3i8f. in Volkmanns mehrfach erwähnten
Vorlesungen über die Theorie des Lichtes.
87) S. 182. Durch Verallgemeinerung des Mariotte-
schen Gesetzes gelang es van der Wals zuerst, den
Übergang vom gasförmigen Zustande in den flüssigen
mathematisch zu formulieren: Die Kontinuität des gas-
förmigen und flüssigen Zustandes, Leipzig 1881 (deutsch
von Roth). In betreff" der theoretischen Ableitung seiner
berühmten ,, Zustandsgieichung" vgl. z. B. Boltzmanns
Vorlesungen über Gastheorie, wo auch die verschiedenen
Versuche besprochen sind, die man gemacht hat, um
durch Erweiterung jener Zustandsgieichung eine noch
bessere Übereinstimmung mit der Erfahrung in allen
Fällen zu sichern. Die Arbeiten von Andrews über
Aggregatzustände findet man in Philosophical Trans-
actions, vol. 159, II, i86g, vol. 166, 1870 und vol. 178A,
1887. Feste Lösungen wurden schon oben in Anmer-
kung 73) erwähnt; in betreff des Fließens fester Körper
vgl.: Schwedoff, La rigidit6 des fluides, und Spring,
Propriet^s des solides sous pression; diffusion de la
matiere des solides; Rapports präsentes au Congres
international, Paris 1900.
88) S. 182. Man bedient sich (nach Roozeboom,
vgl. Nernst, Theoretische Chemie, p. 485) einer graphi-
schen Methode, um die Abhängigkeit der Beschaffenheit
des Gleichgewichtszustandes von den äußeren Bedin-
gungen der Temperatur und des Druckes erkennen zu
lassen. Beim Wasser geschieht dies durch drei in einem
,, Übergangspunkte" zusammenlaufende Kurven; in kom-
plizierteren Fällen muß man (nach Maxwell und Clau-
sius) räumliche Konstruktionen zu Hilfe nehmen; vgl.
W. Voigt, Theoretische Physik, Bd. i, p. 576. AUe
21*
■^2A Anmerkungen 89 — 91.
diese Theorien beruhen auf den fundamentalen Unter-
suchungen von Gibbs über die Theorie der Phasen
[d. i. den räumlich gesonderten (festen, flüssigen oder
gasförmigen) Körpern, welche sich aus den zugleich vor-
handenen Komponenten bilden, d. h. aus den von-
einander unabhängigen chemischen Bestandteilen des
Systems]: Transactions of the Connecticut Academy,
vol. 3, 1876.
89) S. 186. Vgl. Bertrand, Calcul des probabilit6s,
Paris 1889, p. 4ff.; vgl. auch Poincare, Calcul des
probabilites, Paris 1896, p. 94f. Eine ähnliche Schwierig-
keit bietet sich bei dem folgenden einfacheren Probleme :
Eine geradlinige Strecke Z ist in drei Teile A, B, C ge-
teilt; mit welcher Wahrscheinlichkeit fällt ein willkürlich
auf der Strecke L gewählter Punkt P in den Teil B?
Es zeigt sich, daß die Antwort davon abhängig ist, wie
man sich die Teilung der Strecke sukzessive ausgeführt
denkt, wie Brunn näher ausgeführt hat (Sitzungsberichte
der philos.-philol. Klasse der k. bayr. Akad. d. Wiss.
1892); es ist also auch hier durch Übereinkommen eine
Festsetzung zu treffen. Das im Texte erwähnte Bertrand-
sche Problem ist neuerdings von de Monte ssus ein-
gehend behandelt worden (Nouvelles Annales des mathe-
matiques, Serie 4, t. 3, 1903); er findet, daß im allge-
meinen die Zahl der Lösungen unendlich groß ist, daß
sie erst bestimmt wird, wenn in der Ebene des Kreises
ein Punkt gegeben wird, durch den die fragliche Sehne
gezogen werden soll, und daß sie dann abhängt von
der Entfernung dieses Punktes vom Mittelpunkte des
Kreises.
90) S. 187. Es sei hier auf die in den obigen An-
merkungen 65) und 87) gemachten Literaturangaben
verwiesen.
91) S. 192. Der betreffende Beschluß der Pariser
Academie des Sciences aus dem Jahre 1775 wird von
Montucla in seiner Histoire des recherches sur la qua-
drature du cercle (2^^™^ ed., Paris 1831, p. 279) mitge-
teilt. Um die Unmöglichkeit der Quadratur nachzuweisen,
mußte man zeigen, daß die Ludolphsche Zahl tc eine
Zum vierten Teil. ^ 2 c
„transzendente" Zahl ist, d. h. daß sie nicht Wurzel
irgendeiner algebraischen Gleichung mit ganzzahligen
Koeffizienten sein kann (so hatte Leibniz das Problem
formuliert); vgl. meinen Aufsatz ,,Über die Zahl jr" in
Bd. 20 der Math. Annalen (sowie Sitzungsberichte d.
Berliner Akad. vom 22. Juni 1882 und der Pariser
Academie des Sciences vom 10. Juli 1882). Der Beweis
stützt sich auf die Untersuchung Hermites über die
Transzendenz der Zahl e (der Basis der natürlichen
Logarithmen); letztere hat Weierstraß in übersichtlicherer
Weise dargestellt (Zu Lindemanns Abhandlung „Über
die Ludolphsche Zahl'', Sitzungsber. d. Berliner Akad.
vom 22. Oktbr. 1885) und damit den Beweis für die
Transzendenz von % vereinfacht; vgl. die Darstellung
bei Bachmann, Vorlesungen über die Natur der Irra-
tionalzahlen, Leipzig 1892. Hilbert zeigte, daß man
durch Betrachtung eines gewissen bestimmten Integrals
die von Hermite und Weierstraß benutzten Systeme
von Gleichungen durch eine einzige Gleichung ersetzen
kann, wodurch eine wesentliche Abkürzung erreicht wird
(Göttinger Nachrichten 1893). Weitere Vereinfachungen
erreichten Hurwitz (ibid.) und Gordan (Math. Annalen,
Bd. 43, 1893), indem sie zeigten, daß die bisher be-
nutzten Integraleigenschaften der Exponentialfunktion
dabei ganz vermieden werden können und man alles
aus der Definition dieser Funktion durch eine Potenz-
reihe ableiten kann (der Übergang von der Zahl e zur
Zahl % geschieht indessen immer in wesentlich gleicher
Weise); vgl. die Darstellung von F. Klein: Vorträge
über ausgewählte Fragen der Elementargeometrie, Leipzig
1895, sowie H. Weber und J. Wellstein, Encyklopädie
der Elementarmathematik, Bd. i, 1903, p. 423 ff. — In
betreff der Geschichte des Problems sei auf obiges W>rk
von Montucla verwiesen, ferner auf Cantors Geschichte
der Mathematik; Schubert, Die Quadratur des Kreises,
Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vor-
träge, herausgeg. von Virchow und Holtzendorff, Hamburg
1889; Rudio, Archimedes, Huyghens, Lambert, Legendre,
vier Abhandlungen über die Kreismessung, Leipzig 1892;
^26 Anmerkungen 92 — 94.
Pringsheim, Über die ersten Beweise der Irrationalität
von e und tt, Sitzungsber. d. k. bayr. Akad. d. Wissensch.,
Bd. 27, 1898; W. W. R. Ball, Mathematical recreations
and Problems, 2^^ ed., London 1892, p. 162 ff.
92) S. 205. Das hier erwähnte Beispiel des Ecart6-
spiels ist von Poincare auf S. 134 des in Anmerkung 89)
zitierten Werkes behandelt; auf S. 129 ff. findet man da-
selbst auch eine eingehendere Darstellung des oben auf
S. 198 ff. besprochenen Problems über die Verteilung
der kleinen Planeten, ebenso auf S. 127 f. das Beispiel
des Roulettespieles (vgl. S. 202 des obigen Textes).
Wegen der sich bietenden begrifflichen Schwierig-
keiten ist besonders das sogenannte ,, Problem von
St. Petersburg" bekannt, das sich auf ein Glückspiel
und auf die Theorie der mathematischen Hoffnung be-
zieht; vgl. Poincare, a. a. O., S. 41 f.; Bertrand a. a. O.,
S. 62ff. ; sowie Pringsheim in den Anmerkungen zu
der von ihm übersetzten und neu herausgegebenen Ab-
handlung von Daniel Bernoulli: Versuch einer neuen
Theorie der Wertbestimmung von Glücksfällen (Sammlung
älterer und neuerer staatswissenschaftlicher Schriften Nr. 9),
Leipzig 1896.
93) S. 208. Die Gleichung dieser Gaußschen Fehler-
kurve ist in rechtwinkligen Koordinaten
h -h'^^''
Sie ist so bestimmt, daß das Differential y, dx die (un-
endlich kleine) Wahrscheinlichkeit dafür angibt, daß ein
gemachter Beobachtungsfehler zwischen den Werten x
und X -f dx liegt (Gauß, Theoria combinationis obser-
vationum erroribus minimis obnoxiae, 1821, und einige
weitere Abhandlungen; vgl. die Gesammelten Werke,
Bd. 4). Die Theorie der Fehler ist bei Bertrand und
Poincar6 a. a. O. eingehend besprochen (von denen
ersterer erhebliche Einwände erhebt, letzterer dieselben
aber möglichst zu beseitigen sucht), ebenso in fast jedem
Werke über Wahrscheinlichkeitsrechnung; vgl. auch
Helmert, Die Ausgleichungsrechnung nach der Methode
Zum vierten Teil.
Z^l
der kleinsten Quadrate, Leipzig 1872. — Die Fehler-
kiirve hat die Gestalt des Durchschnittes einer Glocke,
daher auch der Name ,, Glockenkurve".
Sieht man von der Forderung ab, daß positive und
negative Fehler gleich leicht vorkommen, so wird auch
eine andere Kurve zugrunde zu legen sein, um die
betr. Wahrscheinlichkeit zu definieren; derartige allge-
meinere Voraussetzungen hat besonders Pearson be-
nutzt, um die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf gewisse
Fragen der Biologie betr. die Beurteilung von Massen-
erscheinungen und der Variation der Arten anzuwenden;
vgl. dessen Abhandlungen in den Philosophical Trans-
actions von 1894 ab, sowie für einen kurzen Überblick
über diese Untersuchungen das in Anmerkung 48) zitierte
Werk ,,Grammar of Science". Ähnliche Gedanken hatte
auch Fe ohne r entwickelt; vgl. das aus dessen Nach-
lasse von G. F. Lipps herausgegebene Werk: Kollektiv-
maßlehre, Leipzig 1897, sowie G. F. Lipps: Die Theorie
der Kollektivgegenstände, Wundts Philosophische Studien,
Bd. 17, 1902). Es handelt sich um die Frage, ob die
beobachteten Abweichungen vom Durchschnitte in Massen-
erscheinungen auf Zufall oder Gesetz beruhen, und um Auf-
stellung von Zahlen, die den Grad der Abv.eichung
messen, ferner (bei Pearson) um die Untersuchung, ob
das vorliegende Beobachtungsmaterial in sich homogen
ist oder nicht.
94) S. 210. Die Notwendigkeit von Festsetzungen,
die auf Übereinkommen beruhen, wenn höhere Probleme
der Wahrscheinlichkeitsrechnung behandelt werden sollen,
ist von Poincare prinzipiell betont und in dem er-
wähnten Werke durchgeführt; nur die ,, Wahrscheinlich-
keit der Ursachen" bleibt stets unvollkommen begründet;
darauf bezieht sich der Schluß jenes Werkes: ,,Nur durch
Hypothesen dieser Art w^rd man zu richtigen Frage-
stellungen kommen; aber man muß nicht erwarten, ein
vollkommen befriedigendes Resultat zu erreichen. Gerade
in den Anfangsbetrachtungen der Wahrscheinlichkeits-
rechnung liegt ein innerer Widerspruch; und wenn ich
nicht fürchtete, ein zu oft gebrauchtes Wort zu wieder-
o^g Anmerkungen 95 — 98.
holen, würde ich sagen, daß sie uns nur eines lehrt: zu
erkennen, daß wir nichts wissen."
95) S. 213. Der Grund, weshalb wir nicht imstande
sind, zwischen den verschiedenen optischen Theorien
(insbesondere von Fresnel und F. Neumann) zu unter-
scheiden, wird am Schlüsse des Werkes von Poincare
über Lichttheorie eingehender besprochen; vgl. auch
oben Anmerkung 68).
96) S. 213. Das 1873 veröffentlichte fundamentale
Werk Maxwells (Treatise on Electricity and Magnetism)
ist unter dem Titel „Lehrbuch der Elektrizität und des
Magnetismus" in deutscher Übersetzung (von Weinstein)
erschienen, 2 Bände, Berlin 1883. Die zahlreichen Ab-
handlungen Maxwells sind gesammelt in zwei Bänden
(Scientific Papers) herausgegeben. Seine elektromagne-
tische Theorie wird jetzt besonders in der mathematischen
Form angewandt, die ihr durch Heaviside (Philoso-
phical Magazine, Serie 5, vol. 19, 1888) und Hertz
(Göttinger Nachrichten 1890) gegeben wurde.
97) S. 215. Dieser umgekehrte Weg (Ableitung der
elektrischen Erscheinungen aus den optischen) hat mich
seit langem beschäftigt; und ich habe denselben im Sommer
1902 in meinen Vorlesungen so weit durchgeführt, daß
sich die wichtigsten Resultate der Elektrodynamik und
des Magnetismus ergeben; ich hoffe eine Darstellung
dieser Untersuchungen bald veröffentlichen zu können.
Erwähnt seien auch die Versuche, die anziehenden
und abstoßenden Kräfte der elektrischen und magne-
tischen Erscheinungen (auch der Gravitation) dadurch
zu erklären, daß man die Atome als pulsierende Kugeln
betrachtet, die in einer vollkommenen Flüssigkeit ruhen.
Die Versuche gehen auf die Experimente von Bjerknes
zurück. Zwei in einer Flüssigkeit ruhende pulsierende
Kugeln wirken aufeinander anziehend (und zwar nach
dem Newtonschen Gesetze), wenn die Pulsationen mit
gleichen Phasen, abstoßend, wenn sie mit ungleichen
Phasen erfolgen; es entsteht also ein Bild der elektrischen
Erscheinungen mit Umkehrung des Sinnes der Kraft-
wirkung; vgl. Bjerknes, Memoire sur le mouvement
Zum vierten Teil.
329
simultan^ de corps spheriques variables dans un fluide
indefini et incompressible , Forh. Vidensk. , Christiania
187 1 und 1875, Göttinger Nachrichten 1876, Comptes
rendus 187g, 1880 und 1881. Anwendungen derartiger
Vorstellungen auf andere physikalische und chemische
Fragen gab Pearson, Cambridge Philosophical Trans-
actions, vol. 14, II, 1885, und Proceedings of the London
Mathematical Society, vol. 20. Die ,, Umkehrung des
Sinnes" beseitigte Korn durch weitere Hilfsannahmen
und gab fernere Ausführungen und Anwendungen: Eine
Theorie der Gravitation und der elektrischen Erscheinun-
gen auf Grundlage der Hydrodynamik (Münchener Habili-
tationsschrift), Berlin 1894 (2. veränderte Auflage 1896),
femer: Ein Modell zur hydrodynamischen Theorie der
Gravitation, Sitzungsberichte der math.-phys. Klasse der
bayr. Akad. d. W., Bd. 27, 1897; ^^nd: Die mechanische
Theorie der Reibung in kontinuierlichen Massensystemen,
Berlin 1 90 1 .
98) S. 219. In betreflf der hier eingeführten Para-
meter q sei auf obige Anmerkung 59) verwiesen. Es
seien Xi, y^, Zi die Koordinaten der n Moleküle (/ = i,
2, 3, . . . «), und führt man die m Parameter gk durch
die folgenden Gleichungen ein:
^i = 9» (^1 » ^2 ' • • • ^^0 ' yt = "^till ' " • ^v) ,
^i = Z^ (^1 ' • • • in^ '
SO geben die Funktionen qp^-, i/;^-, y^^ die ,, Verbindungen
dieser Parameter mit den Koordinaten der wirklichen
oder der hypothetischen Moleküle**. Es wird dann
(wenn — U die potentielle Energie bezeichnet)
Z7= F{pc^,y^, z^; . . . . ; .a;«,^«, Zn) = 0(g^, ^2» • • • ^m) >
und
T = ^Zm.ix'/- +y,-2 + 2^2) , wo x\- = ^, etc. ,
dt
wo Z. B.
-2 -IQ Anmerkungen 98—102.
' ^ '_^ " _| ^ ZJA _1_ _|_
9^^ — ^/ — ;]^ ^/ "T 2^^ df "T • • • T
dt dq^ dt ^ dq^ dt d q^ dt
Die Behauptung des Textes geht dahin, daß man
die Funktionen cpi, ip{, y nicht weiter zu kennen braucht,
sondern nur die Funktionen 0 und ^, denn diese allein
kommen in dem Prinzipe der kleinsten Wirkung, bezw.
im Hamiltonschen Prinzipe vor, nach welchem (vgl.
oben Anmerkung 58)
i
d f{T— U)dt = o
0
sein muß, und aus dem sich dann nach den Regeln
der Variationsrechnung die Differentialgleichungen der
Dynamik in der sogenannten ,, zweiten Lagrangeschen
Fonn" ergeben, nämlich
dt d
ik
für k = i, 2, . . . m.
Diese Gleichungen hat man zu integrieren und zu sehen,
ob die Resultate mit den Beobachtungen übereinstimmen,
denn die Parameter q^ sollen ja so eingeführt sein, daß
sie direkt der Beobachtung zugänglich sind. Nachträg-
lich hat man die Funktionen cp^, ip^, y und die Kon-
stanten vii so einzuführen, daß
n
\Z7ni{x'i^ +jlV^ + z'i'^) = W(q^, . . . qm\ q'i, - - - q'm)
t = i
wird, was immer möglich ist, da die Zahl n beliebig
groß gewählt werden darf. Die Zurückführung der
potentiellen auf kinetische Energie ,, ignorierter" Massen
ist besonders von J. J. Thomson in dem mehrfach er-
wähnten Werke weiter verfolgt.
gg) S. 224. Maxwell, Illustrations of the dynamical
theory of gases, Philosophical Magazine 1860 (Scient.
Papers, vol. i, p. 377); vgl. dazu: On the dynamical
theory of gases; Philosophical Transactions, vol. 157,
1866 (Papers, vol. 2, p. 26).
Zum vierten Teil.
33^
loo) S. 227. Das Werk von Ampere: Theorie
mathematique des phenomenes electrodynamiques uni-
quement deduite de rexp6rience, erschien 1823; eine
eingehendere mathematische Erörterung findet man bei
Poincar^, Electricit6 et Optique, p. 231 ff. An Ampere
knüpften W. Webers Arbeiten an (Elektrodynamische
Maßbestimmimgen, erste Abhandig., Königl. sächsische
Akademie d. W. 1852); vgl. oben Anmerkung 60).
lOi) S. 235. Die betr. Arbeit von Helmholtz
wurde schon in Anmerkung 60) erwähnt. Für seine
Diskussion mit Bertrand vgl. die dazu gehörige zweite
Abhandlung in Grelles Journal, Bd. 75, 1873 (Wissensch.
Abhandlgn., Bd. i, p. 646) und: Vergleich des Ampere-
schen und Neu mann sehen Gesetzes für die elektro-
dynamischen Kräfte, Monatsbericht der Berliner Akademie,
1873 (Wissensch. Abhandlgn., Bd. i, p. 688). — Das
hier erwähnte Neumann sehe Gesetz bezieht sich nicht
auf Stromelemente, sondern auf die gegenseitige Wirkung
geschlossener Ströme: Die mathematischen Gesetze der
induzierten elektrischen Ströme, und: Über ein allge-
meines Prinzip der mathematischen Theorie induzierter
elektrischer Ströme, Abhandlungen der Berliner Akademie
1845 und 1847 (vgl. auch F. Neumanns Vorlesungen
über elektrische Ströme, herausgegeben von Von derMühl,
Leipzig 1884). — Die divergierenden Auffassungen von
Helmholtz und Bertrand bespricht Poincare a. a. O.
p. 274ff.
102) S. 240. Hertz zeigte experimentell, daß elek-
trische Störungen sich im Räume fortpflanzen wie das
Licht, indem sie auch den Brechungsgesetzen unter-
worfen und folgHch als Wellenbewegungen aufzufassen
sind, Wiedemanns Annalen Serie 2, Bd. 34, 1888, und:
Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen
Kraft, Leipzig 1892. — Die Theorie dieser seitdem
vielfach studierten elektrischen Schwingungen behandelt
Poincare zusammenfassend in dem Werke: Les oscilla-
tions electriques, Paris 1894; vgl. auch die Darstellung
dieser und anderer elektrischer Erscheinungen bei E. Cohn:
Das elektromagnetische Feld, Leipzig 1900.
-3 -2 2 Anmerkungen 103 — 105.
103) S. 242. Die betr. Versuche (mit einer ver-
goldeten, elektrisch geladenen, schnell rotierenden Ebonit-
scheibe) wurden 1875 von Rowland in Berlin ausge-
führt und von Helmholtz der Berliner Akademie mit-
geteilt, vgl. des letzteren Wissenschaftliche Abhandlungen,
Bd. I, p. 791, und Poggendorffs Annalen, Bd. 158.
Rowland wiederholte seine Versuche später in Balti-
more, vgl. Philosophical Magazine, Serie 5, vol. 27,
p. 445, 1889. Himstedt kam bei Wiederholung der
Versuche zu gleichem Resultate: Über die elektromagne-
tische Wirkung der elektrischen Konvektion, 27. Bericht
der Oberhessischen Ges. für Natur- und Heilk., 1889,
und Wiedemanns Annalen, Bd. 38. — Die Ablenkung
der Kathodenstrahlen (d. i. des negativen Glimmlichts)
durch den Magneten beobachtete Hittorf, Poggendorffs
Annalen, Bd. 136, 1869; Perrin stellte Versuche an,
um die negativ elektrische Natur der Kathodenstrahlen
direkt nachzuweisen, Comptes rendus, t. 121, p. 1130, 1895.
104) S. 243. Die betr. Arbeiten von Lorentz und
Wiechert wurden in Anmerkung 74) erwähnt. In be-
treff der Aberration des Lichtes und die damit zusammen-
hängenden Fragen sei auf obige Anmerkungen 79) und
80) verwiesen, und für das Zeemannsche Phänomen
auf Anmerkung 81).
105) S. 243. Cremieu wiederholte die Rowland-
schen Experimente in etwas anderer Anordnung mit
negativem Resultate: Comptes rendus, t. 131, 1900,
p. 578 u. 797. Spätere Wiederholung gab aber ein
positives Resultat (Comptes rendus, t. 132, 1901, p. 327).
Nachtrag.
Seite 270. Das hier erwähnte Werk Huberts ,, Grund-
lagen der Geometrie" ist inzwischen in zweiter, erweiterter
Auflage erschienen, Leipzig 1904.
S. 285. Die hier und im folgenden behandelte Trans-
formation ist von Darboux angegeben, Annales de l'ecole
normale 1864; vergl. ferner dessen Werk: Sur une classe
remarquable de courbes et de surfaces algebriques, Paris
1873, p. 123 und seine Le^ons sur la theorie generale
des surfaces, t. 3, Paris 1894, p. 493.
S. 296. Eine Ableitung des d'Alembertschen Prin-
zips und somit auch des Prinzips der virtuellen Geschwindig-
keiten aus den Newtonschen Grundgesetzen gab ich in
den Sitzungsberichten der k. bayr. Akademie d. Wiss.
vom Februar 1904.
Für die Darstellung der sogenannten Prinzipe der
Mechanik in ihrer klassischen Form sei noch verwiesen
auf Boltzmanns Vorlesungen über die Prinzipe der
Mechanik, i. Teil, Leipzig 1897.
S. 315. Lord Kelvins Baltimore Lectures on mole-
cular dynamics and the wave theory of light sind in-
zwischen in neuer erweiterter Auflage erschienen, London
1904.
S. ^2^. Die hier erwähnten Arbeiten von Andrews
sind in Ostwalds Klassikerbibliothek in deutscher Über-
setzung erschienen.
S. 328 f. Die Untersuchungen von Bjerknes sind
durch seinen Sohn zusammenhängend dargestellt: Vor-
lesungen über hydrodynamische Femkräfte nach C. A.
Bjerknes' Theorie von V. Bjerknes, Bd. i u. 2, Leipzig
1900 u. 1902.
Register.
Aberration des Lichtes 171, 243,
319-
Absoluter Ort 77, Raum 8 1 , 90 f.,
118, 243, a. Zeit 93, 286 ff.,
a. Bewegung 113.
Addition, Definition 6 ff .
Älinlichkeits-Transformation274.
Äther 169 ff., 243, 319.
Akkomodation der Augen 5 5 f.
Allgemeinheit in d. Wahrschein-
lichkeitsrechnung 189.
Ampere, Elektrodynamik 224,
331.
Analysis u. Anschauung 31.
Analysis situs 34, 253.
Andrade, Mechanik 92, 109.
Andrews, Aggregatzustände 182,
323, 333-
Anordnung, Gesetze 269.
Anthropomorphismus 109.
Archimedisches Axiom 269 f.
Arithmetik 6, 245.
Arithmetisierung d. Mathematik
247, 251.
Assoziatives Gesetz 7.
Astronomie u. Geometrie 74 ff.,
fingierte nicht -galileische A.
95, 292, A. u. Physik 98, fin-
gierte Theorien 116 ff.
Axiome, der Geometrie 36, im-
plizite 44 ff., 269, Natur der A.
49 ff., als Übereinkommen u.
Definitionen 51, A. der Mo-
nodromie 274.
Ball, W. R., Mathematical re-
creations 326.
Baumann, Raum u. Zeit 279.
Beltrami, Flächen konstanter
Krümmung 41, 255, Bild d.
Lobatschewskyschen Geometr.
266, 282.
Beobachtungsfehler 187,209,326.
Bernoulli, D., Theorie d. Glücks-
fälle 326.
Bertrand , Wahrscheinlichkeits-
rechnung 186, 324, mathem.
Hoffnung 326, Fehlertheorie
326,Elektrodynamik234f.,33i.
Beschleunigung 94, 99 ff., relative
114.
Bewegungen 46, 254, 271, 272,
bei mehr Dimensionen 48, als
Gruppen 272, 285, dargestellt
durch Transformationen 284,
relative u. absolute Ii3ff.
Bewegungsraum 57.
Beweis und Verifikation 4, re-
kurrierender 9.
Bianchi, Flächentheorie 268.
Bilder physikalisch. Beziehungen
162.
Bjerknes, Kugeln in einer Flüssig-
keit 328 f., 333.
Bogenelement einerKurve 49,276.
du Bois Reymond, kontinuier-
liche Größen 29, Fernkraft 3 1 1.
Boltzmann, Energie 302, dyna-
mische Modelle 317, mono-
zyklische Systeme 318, elasti-
sche Nachwirkung 321.
Bolyai, nichteuklidisch. Geometrie
254.
Brechungsindex f. Lichtbewegung
Register.
335
in der nicliteuklidisclien Welt
68f., 281.
Brownsche Bewegungen iSo.
Brunn, Bertrands Paradoxon in
der Wahrscheinlichkeitsreclin.
324.
Cantor,G., ZalilbegrifF248, Punkt-
mengen 251.
Carnotsches Prinzip 166, 178,316.
Cayley, A., allgemeine Maß-
bestimmung 255, Entwicklung
d. neueren Math. 278.
Chasles, Definition des Winkels
256.
Chemie 180.
Clausius, Thermodynamik 131,
308, Carnotsches Prinzip 166,
317, Gastheorie 310.
Clebsch, über Plücker 278, Dar-
legung seiner Leistungen 278,
Elastizität 314.
Clifford, Raumformen 276, Geis-
tesstofF 296, Atome 319.
Cohn, E., Elektromagnetisches
Feld 331.
Coppemicus 118, 296 f.
Coulomb, elektrische Fluida 165.
Cremieu, elektrische Konvektion
243» 332.
Crookes, Kathodenstrahlen 241.
Darboux , unstetige Funktionen
252, Transformation 333.
Dedekind , irrationale Zahlen
245 ff. , in der Geometrie 250,
Erläuterungen zu Riemann 25 5 .
Definitionen 45, 140.
Deformationen 68.
Determinismus 134.
Differentialgleichungen, der Be-
wegungen 94, 290 ff., 99, 119,
297, für den Zustand des Uni-
versums 134, 170, hypothe-
tischer Fluida 2 17 ff.
Dilatation 85.
Dimensionen der Kontinua 33 ff.,
des Raumes 55, 86ff. , be-
stimmt durch Muskelempfin-
dungen 57.
Dirichlet, Arithmetisierung der
Math. 247.
Dispersion des Lichtes 163.
Distributives Gesetz 8.
Dreieck, Summe der Winkel 40.
Drude, Theorie d. Dispersion 315.
Ebene, Definition 44.
Ecartespiel 205.
Einfachheit d. Natur 132, I47ff.,
158, 182, 207, 309.
Einheit der Natur 147, 174, 180,
182.
Elektrische Ströme, offene und
geschlossene 225 ff.
Elektrodynamik 305, 328 ff.
Elektromagnetische Lichttheorie
213 ff.
Elektronen 165, 316, 242 ff.
Element eines Kontinuum 32.
Elementarerscheinung 156 f.
Empirismus s. Erfahrung.
Energetisches System 124 ff.
Energie 124 ff-, I33> 167, 178,
213, 2i7f., 301 f.
Entfernung, Definition 272, Ab-
schätzung 56, u. gerade Linie
76, gegenseitige 78.
Entropie 308.
Erdmann, B., Axiome der Geo-
metrie 257, 279.
Erfahrung in d. Geometrie 72 ff.,
81, 88.
Euklid, Axiome u. Postulate d.
Geometrie 254, Definition d.
Gleichheit 270 f., Definition der
Geraden 272, Postulat d. recht.
Winkel 279.
Eulerscher Satz über Polyeder
253-
Experiment 142 ff., 153.
Faden zur Darstellung v. Kräften
109 ff.
Faradays Experiment 230, 237.
Fechner, Psychophysik 248,
33^
Register.
Zend-Avesta 296, Kollektiv-
maßlehre 327.
Fechnersches Gesetz 22, 249.
Fehlertheorie 207 fF., 326.
Feld, magnetisches 238.
Feste Körper 52, u. Geometrie
62fF., 68, 85.
Festigkeit d. Flüssigkeiten 182.
Fick, HydrodifFusion 314.
Fiedler, W., projektive Koor-
dinaten 266.
Fizeau, Aberration d. Lichtes
171, 319-
Fläche konstanter Krümmung
41, 255f.
Flächengleichheit 270.
Flächensatz der Mechanik 120,
297.
Fluida, hypothetische 165, 169,
217.
Fortpflanzung d. Lichtes in d.
nichteuklid. Welt 68, 281.
Foucault, Pendelversuch Il6.
Foucault, Psychophysik 249.
Fourier, Wärmeleitung 313.
de Francesco , nichteuklidische
Mechanik 289.
Franz, Erdtemperatur 313.
Fresnel, Lichttheorie 161, 18 1,
2iiff., 312, 322.
Fricke, automorphe Funktionen
269.
Fundamentalfläche des Raumes
273.
Galilei, Trägheitsprinzip 96, 293.
Gastheorie 149, 163, 179, 187,
310.
Gauß, nichteukl. Geometrie 254,
Krümmungsmaß 268, Theorie
d. Beobachtungsfehler 326.
Gelenksystem 168, 318.
Genocchi, Differentialrechnung
245.
Geometrie, nichteuklidische 3 6 ff.,
254ff., Riemannsche 38, sphä-
rische 39, elliptische, hyper-
bolische,parabolische256, 273,
,, vierte" 47, von Riemann 48,
von Clifford 276, von Hilbert
277, von Minkowski 277, pro-
jektivische 277, Gegenstand
d. G. 65 , u. Astronomie 74.
Geometrische Eigenschaften d.
Körper 82.
Gerade Linie, Definition 47, 76,
270, erzeugendes Element 278,
Bahn d. Lichtstrahls 74.
Geschwindigkeit 94 ff. G. der
Entfernungsänderung 80.
Gesichtsraum 54.
Gibbs, Vektor- Analysis 315,
Phasen 324.
Gleichheit in d. Geometrie 28,
46, 254, 270 f., bei rechten
Winkeln 279, bei Kräften i ooff.
Glockenkurve 208, 327.
Gmeiner, Arithmetik 245.
Gordan, Zahlen e und n 325.
Gouy, Brownsche Bewegungen
179.
Graßm.ann, H., Arithmetik 245,
Kongruenz d. Raumes in sich
279, Zahlensysteme 315.
Gravitationsgesetz 150, 299, 306,
311, aus der Hydrodynamik
abgeleitet 328.
Größe, mathematische 17 ff., meß-
bare 28, unendlich kleine 29 f.
Größensätze, allgemeine in der
Geometrie 270.
Größer u. kleiner, Definition 270 f.
Gruppen v. Bewegungen 66, 272,
von linearen Transformationen
268, 276.
Gruppenbegriff als allgemeine Er-
kenntnisform 73.
Hamilton, H'sches Prinzip 125,
305, 307. 330-
Hamilton, W. R., Quaternionen
315-
Hankel, H., Zahlensysteme 245,
Quaternionen 245.
Heath, nichteuklidische Mechanik
289.
Register.
337
Heaviside, elektromagnetische
Grundformeln 328.
Heine, Zahlbegriff 251.
Helmert, Ausgleichungsrechnung
326.
V. Helmholtz, Zählen u. Messen
245, Grundlagen der Geo-
metrie 255, 257, Bild d. nicht-
euklid. Geometrie 266, 281,
Axiom d. ^Monodromie 274,
Erhaltung d. Energie 125, 301,
kleinste Wirkung 130, 304,
307, elektrodynamisches Gesetz
231, 234f., 306, 307, 331,
Theor. d. Dispersion 163, 315,
Monocyklen 318, Wirbel 318,
elektrische Polarisationen 322.
Hermite , Zahl e 325.
Hertz, Mechanik 106, 295, Energie
302, Koppelungen u. Modelle
168, 317, Licht u. Elektrizität
322, Elektromagnetismus 328,
elektrische Wellen 239, 331,
Katbodenstrahlen 242.
Hubert, D., nicht-archimedische
Geom. 270, 275, System von
geometrischen Axiomen 275,
Grundlagen d. Geometrie 277,
333, Zahlen e und n 325.
Himstedt, elektrische Konvektion
241, 332.
Hirth, G., Plastisches Sehen 280.
Hittorf, Kathodenstrahlen 316,
332.
Holder, Anschauen U.Denken 277,
mech. Prinzipien 295, 304.
van't Hoff, Osmotischer Druck
316.
Homogenität des Raumes 53,
65, 279, der Materie 160.
Hurwitz, Zahlen e und Tt 325.
Hypothesen d. Physik 142 ff., 152.
Hysteresis 178, 321.
Implizite Voraussetzungen 44,
269.
Indifferente Hypothesen 1 54, 164.
Induktion, unipolare 230, elektro-
dynamische 234.
Induktion und Verifikation 13 f.,
math. und physik. 17, 160,
Inkommensurable Zahlen 20 ff.,
in der Geometrie 26, 250.
Integration in d. math. Physik
160.
Interpolation 148, 187.
Ionen 180, 316.
Isenkrahe, Schwerkraft 311.
Isotropie des Raumes 65, 279.
Jacobi, Dynamik 303.
Joule, Mechanik d. Wärme 308.
Kant, Axiome als synthetische
Urteile 50.
Kathodenstrahlen 24 1 f., 3 1 6, 33 2.
Kayser, Elektronen 317.
Kelvin s. W. Thomson.
Kepler 296, 310.
Killing, nichteuklid. Geometrie
256 f., Cliffordsche Raum-
formen 277 , nichteuklidische
Mechanik 289.
Kinetische Energie 125, 301.
Kinetische Gastheorie 163, 179,
187, 191, 219, 330.
Kirchhoff, Mechanik 108, 294.
Klein, F., Funktionsstreifen 249,
I Arithmetisierung 252, Ana-
I lysis Situs 253, nichteuklid.
! Geometrie 2555., automorphe
Funktion 269, projektive Geo-
metrie 266, Helmholtz' Grund-
lagen d. Geometrie 274, Clifford-
sche Raumformen 277, Ver-
gleichende Betrachtungen 277,
vierdimension. Geometrie 278,
Fragen d. Elementargeometrie
325-
Koch, elektr. Polarisation 322.
Königs, Kinematik 318.
Kollektiverscheinungen 327.
Kommutatives Gesetz 8 f.
Kompensation v. Bewegungen 6 1 .
Poincare, Wissenschaft und H5-pothese.
22
338
Register.
Kongruenz des Raumes in sieb
53» 279.
Konstante 121, 134, 300.
Konstruktion, verallgemeinerter
Begriffe 15 ff., elementare geo-
metrische 271.
Kontinuum, matliematisclies 18,
23ff. , physikalisclies 22, 87,
Kontinua verschiedener Ord-
nung 25 , von mehreren Di-
mensionen 31 f., u. Raum 35,
Konvektion, elektrische 226,
240ff., 332.
Korn, Gravitation 311, 329.
Korrigieren ein. Ortsveränderung
60f., 64, 68.
Kraft 100, dargestellt durch Me-
chanismen 168.
Kronecker, Zahlbegriff 246.
Krümmung, konstante ein. Fläche
41 f.
Krümmungsmaß 268, konstantes
279, Bestimmung durch Stern-
parallaxen 283.
Kurve s. Linie.
Lagrange, virtuelle Geschwindig-
keiten 296, Form der dyna-
mischen Differentialgleichun-
gen 219, 329.
Laguerre, Definition des Winkels
256.
Larmor, Äther u. Materie 169,
I76ff., 319, 320.
Lebendige Kraft 301.
Leibniz, Addition 3, unendlich
kleine Größen 252, Analysis
Situs 253, Quadraturd. Kreises
325-
Leitung d. Elektrizität 226.
Leyst, Bodentemperatur 313.
Licht, Fortpflanzung im nicht-
euklidischen Raum 68, L. u.
Elektrizität 175, 2 1 1 ff.
Lie, Bewegungen bei n Dimen-
sionen 48, Grundlagen d. Geo-
metrie u. Gruppentheorie 272 ff.
Lindemann, F., nicht-euklidische
Geometrie 254, 257, 269 f., Dar-
stellung von X -\- iy in der
nichteuklid. Grenzfläche 265,
Euklids Größensätze 270 f.,
Übergang v. d. projektivischen
zur metrischen Geometrie 272,
Liniengeometrie 277, Gleich-
heit rechter Winkel 279, Be-
wegungen 285, nichteuklidische
Mechanik 289, Spektrallinien
316, Zahl TT 325, Ableitung d.
elektromagnetisch. Gesetze aus
d. elastischen Lichttheorie 328.
Linie als Grenze eines Streifens
26, 249.
Liniengeometrie 278.
Lippmann, absolute und relative
Geschwindigkeit 243.
Lipps, G. F., Kollektivgegen-
stände 327.
Lipps, Th., Psychologische Stu-
dien 279.
Listing, Analysis situs 253.
Lobatschewsky, nicht-euklidische
Geometrie 37 f., 254, Zeit 286.
Lokalisieren eines Objektes 59.
Lorentz, Optik u. Elektrodynamik
172, 175,316, Lichtäther 319,
Zeemann-Effekt243, 320, Elek-
tronen 242 ff.
Mac-Cullagh, Lichttbeorie 177,
320.
Magnetische Kraft 228 ff.
Magnetischer Pol 237.
Magnetische Rotation 230, 237,
Magnetismus 175.
Mach, Mechanik 284, 286, 291,
294, 295, Ökonomie der For-
schung 308, Wärmelehre 308.
Mariottesches Gesetz 149, 187,
207, 310.
Masse loo, 106.
Massenmittelpunkt, Bewegung
105.
Materie 169.
Mathematische Physik 155 ff.
Register.
339
Mayer, A., Prinzip d. kl. Wirkung
303.
Mayer, R., Mechanik der Wärme
131, 307-
Maxwell, GasÜieorie 224, 310,
330, Atome 311, 319, Dis-
persionstheorie 163, Dämonen
179, 322, elastische Nach-
wirkung 321, elektromagne-
tische Lichttheorie 213, Elek-
trizität u. Magnetismus 328 fF.,
239 ff.
Mechanik, klassische 90 fF., nicht-
euklidische 92, 289, anthropo-
morphe 108.
Mechanische Erklärung 177, 217.
Mechanismen 168.
Meyer, O. E., Gastheorie 310.
Michelson, Bewegung des Äthers
319.
Mill, Stuart-, Definition u. Axiom
45-
Minkowski, Geometrie der Zahlen
277.
Molekulare Hypothesen 212.
de Montessus, Bertrands Wahr-
scheinlichkeitsaufgabe 324.
Montucla, Quadratur des Kreises
324.
Morley, Bewegung d. Äthers 319.
Multiplikation, Definition 8.
Muskelempfindungen 57 ff., 71.
Nemst, theoretische Chemie 320,
323-
Neumann , C. , Riemannsche
Flächen 252, Gravitations-
gesetz 300, absolute Bewe-
gungen 300, Webersches Ge-
setz 305.
Neumann, F., Elastizität 312,
Bodentemperatur 313, Wärme-
theorie 317, Lichttheorie 320,
elektrodynamischesGesetz 331.
Newton, Mechanik 90, Zeitbegriff
286, Prinzipia 96, 294, abso-
luter Raum 1 1 5 ff. , Gravita-
tionsgesetz 299, Newtonsches
Gesetz 150, 294, 311.
Nichtarchimedische Geometrie
270, 275.
Nichteuklidische Geometrie 3 6 ff.,
67ff., 254ff.
Nichteuklidische Welt 66 ff., 85.
Nichtumkehrbare Prozesse I78ff.,
321.
Nutzeffekt der wissenschaftlichen
Maschine 146.
Orientierung, absolute, im Räume
77-
Ort, absoluter, im Räume 77.
Ortsveränderungen 59, 64, 65,
nichteuldidische 69, 87.
Osmotischer Druck 163 f.
Ostwald, Energie 302, 316.
Oszillationen, elektr. 239, 331.
d'Ovidio, Entwicklung d. neueren
Geometrie 278.
Parallaxe der Sterne 282.
Parallelentheorie 3 8 ff.
de Paolis, projektive Geometrie
266.
Pasch, Funktionsbegriff 249,
neuere Geometrie 269.
Paschen, Zeemann-Effekt 320.
Peano, Arithmetik 245 f.
Pearson, Grammar of science
284, 294, 319, Massenerschei-
nungen 327, pulsierende Atome
329.
Perpetuum mobile 133.
Perrin, Kathodenstrahlen 242,
332.
Perspektiven von vierdimensio-
nalen Körpern 71, 281.
Phosphoreszenz 180.
Physikalische Chemie 182.
Physikalische Theorien 161 ff.
Picard, Telegraphenleitung 314.
Planck, Energie 302.
Planeten, Bewegung 97, 294, der
fingierten Astronomie 95 f.,
22-
340
Register.
297 f., wahrscheinliclie Ver-
teilung d. kl. PL 196, 3 26 ff.
Plücker, Liniengeometrie 278.
Poincare, Anwendung d. niclit-
euklid. Geom. in d. Funktionen-
theorie 44, 268f., 276 f., Grund-
lagen d. Geometrie 86, Zeit-
begriff 91, 286, Webersches
Gesetz 305, Gastheorie 310,
math. Physik 310, Lichttheorie
312, 328, Telegraphenleitung
314, Elastizität 3 14, Dispersion
d. Lichtes 315, Wirbel 318,
Bewegung des Lichtäthers 319,
Zeemann-Effekt 320, Larmors
Theorie 3 20, Übergangsschicht
323, Wahrscheinlichkeitsrech-
nung 324, 326, wahrschein-
liche Verteilung der Ziffern
bei Logarithmen 194, Mathem.
Hoffnung 326, Mechanische
Erklärungen 221, Theorien
von Ampere u. W. Weber 33 1,
Kontroverse zwischen Bertrand
u. Helmholtz 331, elektrische
Oszillationen 331.
Poisson, Erdtemperatur 317.
Poncelet, unendlich ferne Ebene
256.
Postulate, Euklids 37, 271, in
d. Physik 138.
Potential 30 1 , elektrodynamisches
227.
Potentielle Energie 125,219,301.
Pringsheim, A., Zahlbegriff 248,
252, Zahlen e und tc 326,
Problem von S. Petersburg
326.
Prinzip, d. Trägheit 93 ff., 119,
d. actio et reactio 102, 114,
171, 294,d.relativenBewegung
113, 1 19, d. kleinsten Wirkung
125 ff., 178, 303, d. Thermo-
dynamik 131, 166, 178, von
Hamilton 125, 305 ff., 330, der
Energie 167, 178, 213, 217 f.
Projektivische Koordinaten 266.
Prowe, Coppernicus 297.
Punkt 32, 87.
Punktmengen 251.
Quadrate, Methode d. kleinst. Q.
209.
Quadratur des Kreises 192, 3 24 f.
Querschnitt 32, 252.
Rationale Brüche 22, 248.
Raum 36 ff., von 2 Dimensionen
39, 256, geometrischer 53, von
vier Dimensionen 278, in sich
kongruent 53, 279, Zahl der
Dimensionen 55 ff., 71, abso-
luter 81,90, drei Dimensionen
86, Relativität 77, 243.
Reflexion des Lichtes 181.
Reguläre Körper v. vier Dimen-
sionen 281.
RekurrierendesVerfahrengff., 50.
Relativität des Raumes 77 f.,
243, der Bewegung 113.
Richtungsgefühl 57.
Riemann, unstetige Funktionen
252, Querschnitt 252, mehr-
fach ausgedehnte Mannigfaltig-
keit 253, Hypothesen der Geo-
metrie 37, 255, 279, Bogen-
element als quadratische Form
der Differentiale 276, Geistes-
masse296,Elektrodynamik3o6,
Wärmeleitung 3 13, Atome 3 19.
Riemannsche Flächen 252.
Riemannsche Geometrie 37, 48 ff.,
2 54 ff.
Rotation, absolute eines Planeten
80.
Roulettespiel 202.
Routh, Dynamik 295, 318.
Rowland, elektrische Konvektion
240, 332.
Rudio, Quadratur d. Kreises 325.
Runge, Zeemann-Effekt 3 20.
Saalschütz, belasteter Stab 314.
de Saint- Venant, gebogener Stab
314.
Scheffers, Flächentheorie 268.
Register.
341
Schering, nichteukl. Mechan. 289.
Schlaf li, Analysis situs 253.
Schlegel, reguläre Körper v. vier
Dimensionen 281.
Schlußweisen, mathematische i ff.,
rekurrierende gif.
Schmidt, Ad., Bodentemperatur
313-
Schmitz -Dumont, Erkenntnis-
theorie 283.
Schröder, E., Arithmetik u. Al-
gebra 245.
Schubert, Quadratur des Kreises
325-
Schur, Archimed, Axiom 270,
Gleichheit von Figuren 2 70.
Schwarz, H. A. , Kurven ohne
Tangente 252.
Schwarzschild , Krümmungsmaß
des Raumes 283.
Schwedoff, Festigkeit d. Flüssig-
keiten 323.
Schwerpunkt s. Massenmittel-
punkt.
Seeliger, Gravitationsgesetz 300.
Senkrechte 48, 272.
Skalar 157, 314.
Sommerfeld , elektromagnetische
Erscheinungen 318.
Spiegelungen 285.
Spring, Diffusion d. festen Körper
323-
Stark, Emulsionen 321.
V. Staudt, proj. Geometrie 266.
Stetige Funktionen in der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung 194 ff.
Stolz, Arithmetik 245 f.. Archi-
medisches Axiom 269.
Strahl ungserscheinung. 180, 242.
Stumpf, Raumvorstellung 279.
Superposition kleiner Bewegun-
gen 150, 310.
Systematische Fehler 208.
Tait, theoret. Phys. 294, Quater-
nionen 315.
Tangente 31.
Tannery, Introduction ä la theorie
des fonctions 18, 248, Arith-
metik 245.
Tastraum 57, 280.
Tastsinn 61, 69.
Temperaturvx'ränderungen , be-
nutzt bei Vorstellung der nicht-
euklidischen Welt 67.
Temperaturverteilung 156.
Thermodynamik 124 ff., 131,166,
178, 316.
Thomae, J., Zahlbegrifl" 248.
Thomson, J. J., Elektronen 316,
Wirbelringe 318, Physik und
Chemie 321, Ignorierte Massen
330-
Thomson, W. (Lord Kelvin),
theoret. Physik 294, poten-
tielleEnergie 302, nichtumkehr-
bare Prozesse 307, Erdtempe-
ratur 3 1 3, Dispersion des Lichts
3 1 5j 333,^l^odell desÄthers3 18,
Atommodell 315,318, Wirbel-
atome 169, 318.
de Tilly, philosophie des sciences
286, nichteuklidische Mechanik
289, Prinzipien der Mechanik
294.
Trägheit, Prinzip d. T. 93 ff., 1 17.
Übergangsschicht in der Licht-
theorie 181, 323.
Übereinkommen, zur Messung
von Strecken 28, in Geometrie
u. Mechanik 51, 92, I12, in
d. Physik 138, in d. Wahr-
scheinlichkeitsrechnung 185 ff.,
205, 211, 327.
Übersetzung s. Wörterbuch.
Ultraparallel 257.
Umkehrbare Erscheinungen 130,
179.
Unbegrenzt u. unendlich 40, 257.
Unendlich ferne Punkte 256,273,
285.
Unendl. kleine Größen 29ff., 252.
Unipolare Induktion 230.
Unsichtbare Moleküle 98 f.
Untergruppe einer Gruppe 89,285.
342
Register.
Variation der Arten 327.
Vektor 154, 311.
Verallgemeinerung 14 ff., 142 ff.
Veranschaulicliung d. nicliteuklid.
Geometrie 42 f., 67 ff., 258 ff.
Verifikation u. Beweis 4, wieder-
holte 12, u. Induktion 13.
Veronese,Grundzüge d. Geometrie
269.
Verschiebungsströme 239.
Vierdimension.Geometrie 71,278.
Vierdimensionale Welt 73.
Voigt, W., Licifttlieorie 320,
323,Zeemann-Effekt 320, theor.
Physik 324.
Volkmann, theor. Physik 294,
Grundbegriffe der Mech. 294,
295, Erkenntnistheorie 311,
Erdthermoraeter 313, F. Neu-
mann 3 17, Lichttheor. 320, 323.
Voraussage V.Erscheinungen 145.
Vorstellungsraum 53 ff., 58.
Voß, A., mechanische Prinzipien
286, 294, 295, 296, 302.
Wärmeleitung 156, 312.
Wahrscheinlichkeit, Definition
184, Notwendigkeit einer Ver-
einbarung 185, 324, subjektive
und objektive 188, Grade der
Allgemeinheit 189 f., W. d.
Ursachen u. d. Wirkungen 191,
204, 207, W. in d. Mathema-
tik 192 ff., in d. Physik I96ft\,
beim Spiele 202 ff. , W. a
posteriori und a priori 204.
Wahrscheinlichkeitsrechn. 1 83 ff.,
angewandt in der Biologie 327.
van der Wals, Zustandsgieichung
310, 323-
Warburg, Hysteresis 321, Strah-
lungserscheinungen 322.
Weber, H., Elementarmathematik
325-
Weber, H.,E., psychophys. Gesetz
249.
Weber, H.F., Hydrodiffusion 314.
Weber, W., Parallelogramm d.
Kräfte 296, elektrodyn. Grund-
gesetz 127, 305, 307, 331.
Weierstraß, Zahlbegriff 247 f.,
nicht differenzierbare Funk-
tionen 252, Zahlen^ und TT 325.
Wellenbewegungen 2 1 1 ff.
Wesentliche Konstante 121.
Wiechert, Elektrodynamik 317,
Äther und Materie 169, 319,
elastische Nachwirkung 321.
Wien, W., Beweg, d. Äthers 319.
Winkel, Definition 256, 273.
Wirbel, in d. Optik u. Hydro-
dynamik 154, 312.
Wirkung u. Gegenwirkung 102,
114, 171.
Wörterbuch zur Übersetzung d.
Sätze der gewöhnlichen Geo-
metrie in solche d. nichteukl.
Geometrie 44, 258 — 268, der
letztern in solche der projek-
tivischen Geometrie 269.
Wundt, physiolog. Psychologie
249, Logik 279.
Zähigkeit der Flüssigkeiten 178.
Zahl, gebrochene 22, inkommen-
surable 20 ff., 250 ff.
Zahlbegriff 20 ff., 246 ff., 251.
Zeemannsches Phänomen 176,
243, 320.
Zeit, absolute 91, 286 ff.
Zentrifugalkräfte 1 1 7.
Zufällige Fehler 208.
Zufällige Konstante 121, 300,310.
Zusammensetzung v. Kräften I12.
Zustand der Körper 77, 80 f., des
Universums 134, eines Systems
135, 190.
Zustandsgieichung von van der
Wals 323.
Zustandsveränderungen 59ff.,305,
182.
Zwischenmedium 238.
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