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Full text of "Wissenschaft und Hypothese. Autorisierte deutsche Ausgabe mit erläuternden Anmerkungen"

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H.  P0INCAR6 

WISSENSCHAFT  UND 
HYPOTHESE 

DEUTSCH  K 

VON  F.  UND  L.  LINDEMANN 


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HENRI  POINCARE 

MEMBRE  DE  L'INSTITUT 

WISSENSCHAFT  UND 
HYPOTHESE 


AUTORISIERTE   DEUTSCHE   AUSGABE 
MIT  ERLÄUTERNDEN  ANMERKUNGEN 

VON 

F.  UND  L.  LINDEMANN 


LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER 

1904 


ALLE  RECHTE, 
EINSCHLIESSLICH  DES  ÜBERSETZUNGSRECHTS,  VORBEHALTEN. 


115"  LIBRARY 

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Vorwort. 


Wenige  Forscher  sind  sowohl  in  der  reinen  als  in 
der  angewandten  Mathematik  mit  gleichem  Erfolge 
schöpferisch  tätig  gewesen,  wie  der  Verfasser  des  vor- 
liegenden Werkes.  Niemand  war  daher  mehr  als  er  be- 
rufen, sich  über  das  Wesen  der  mathematischen  Schluß- 
weisen und  den  erkenntnistheoretischen  Wert  der  mathe- 
matischen Physik  im  Zusammenhange  zu  äußern.  Und 
wenn  auch  in  diesen  Gebieten  die  Ansichten  des  ein- 
zelnen zum  Teil  von  subjektiver  Beanlagung  und  Er- 
fahrung abhängen,  werden  doch  die  Entwicklungen  des 
Verfassers  überall  ernste  und  volle  Beachtung  finden, 
um  so  mehr,  als  sich  derselbe  bemüht,  auch  einem  weiteren, 
nicht  ausschließlich  mathematischen  Leserkreise  verständ- 
lich zu  werden,  und  ihm  dies  durch  passende  und 
glänzend  durchgeführte  Beispiele  in  hohem  Maße  gelingt. 

Die  Erörterungen  erstrecken  sich  auf  die  Grundlagen 
der  Arithmetik,  die  Grundbegriffe  der  Geometrie,  die 
Hypothesen  und  Definitionen  der  Mechanik  und  der 
ganzen  theoretischen  Physik  sowohl  in  ihrer  klassischen 
Form  als  in  ihrer  neuesten  Entwicklung. 

In  betreif  der  gewonnenen  Resultate  muß  auf  das 
Werk  selbst  verwiesen  werden.  Um  den  Standpunkt  des 
Verfassers  zu  bezeichnen,  wird  es  genügen,  einige  charakte- 
ristische Sätze  herauszugreifen,  deren  Gehalt  man  aller- 
dings nur  im  Zusammenhange  des  Ganzen  erfassen  wird: 

„Der  Verstand  hat  von  dieser  Macht  (d.  i.  der  Geistes- 
kraft, welche  überzeugt  ist,  sich  die  unendliche  Wieder- 
holung eines  und  desselben  Schrittes  vorstellen  zu  können) 
eine  direkte  Anschauung,    und    die  Erfahrung    kann    für 


IV  Vorwort. 

ihn  nur  eine  Gelegenheit  sein,  sich  derselben  zu  bedienen 
und   dadurch  derselben  bewußt  zu  werden"   (S.   13). 

,,Die  geometrischen  Axiome  sind  weder  synthetische 
Urteile  a  priori  noch  experimentelle  Tatsachen;  es  sind 
auf  Übereinkommen  beruhende  Festsetzungen  bez.  ver- 
kleidete Definitionen.  Die  Geometrie  ist  keine  Erfahrungs- 
wissenschaft; aber  die  Erfahrung  leitet  uns  bei  Aufstel- 
lung der  Axiome;  sie  läßt  uns  nicht  erkennen,  welche 
Geometrie  die  richtige  ist,  wohl  aber,  welche  die  be- 
quemste ist.  Es  ist  ebenso  unvernünftig  zu  untersuchen, 
ob  die  fundamentalen  Sätze  der  Geometrie  richtig  oder 
falsch  sind,  wie  es  unvernünftig  wäre  zu  fragen,  ob  das 
metrische  System  richtig  oder  falsch  ist"  (S.  51,  73  u.  138). 

„Das  Trägheitsgesetz,  das  in  einigen  besonderen 
Fällen  erfahrungsmäßig  bewiesen  ist,  kann  ohne  Furcht 
auf  die  allgemeinsten  Fälle  ausgedehnt  werden,  weil  wir 
wissen,  daß  in  diesen  Fällen  die  Erfahrung  das  Gesetz 
weder  bekräftigen  noch  entkräften  kann"   (S.  gg). 

,,Das  Prinzip  der  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegen- 
wirkung darf  nicht  als  ein  experimentelles  Gesetz,  sondern 
muß  als  eine  Definition  angesehen  werden"   (S.   102). 

„Die  Erfahrung  kann  den  Prinzipien  der  Mechanik 
als  Grundlage  dienen  und  dennoch  ihnen  niemals  wider- 
sprechen"  (S.   107). 

,,Die  Prinzipien  der  Mechanik  sind  Übereinkommen 
und  verkleidete  Definitionen.  Sie  sind  von  experimen- 
tellen Gesetzen  abgeleitet;  diese  Gesetze  sind  sozusagen 
als  Prinzipe  hingestellt,  denen  unser  Verstand  absolute 
Gültigkeit  beilegt"   (S.   140). 

„Wenn  man  das  Prinzip  von  der  Erhaltung  der 
Energie  in  seiner  ganzen  Allgemeinheit  aussprechen  und 
auf  das  Universum  anwenden  will,  so  sieht  man  es  sich 
sozusagen  verflüchtigen,  und  es  bleibt  nichts  übrig  als  der 
Satz:    Es   gibt  ein  Etwas,   das  konstant  bleibt"    (S.   134). 

„Das  Experiment    ist    die    einzige  Quelle    der  Wahr- 


A^onvort.  V 

heit;  die  mathematische  Physik  hat  die  Aufgabe,  die 
Verallgemeinerung  so  zu  leiten,  daß  der  Nutzeffekt  der 
Wissenschaft  vermehrt  wird"   (S.   144). 

„Jede  Verallgemeinerung  setzt  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  den  Glauben  an  die  Einheit  und  die  Einfach- 
heit der  Natur  voraus.  Es  ist  nicht  sicher,  daß  die 
Natur  einfach  ist"   (S.   152). 

,,Die  mathematische  Wissenschaft  hat  nicht  den  Zweck, 
uns  über  die  wahre  Natur  der  Dinge  aufzuklären.  Ihr 
einziges  Ziel  ist,  die  physikalischen  Gesetze  miteinander 
zu  verbinden,  welche  die  Erfahrung  uns  zwar  erkennen 
ließ,  die  wir  aber  ohne  mathematische  Hilfe  nicht  aus- 
sprechen können"   (S.  212). 

,,Es  kümmert  uns  wenig,  ob  der  Äther  wirklich 
existiert;  wesentlich  ist  nur,  daß  alles  sich  abspielt,  als 
wenn  er  existierte,  und  daß  die  Hypothese  für  die  Er- 
klärung der  Erscheinungen  bequem  ist"   (ibid.). 

„Was  die  Wissenschaft  erreichen  kann,  sind  nicht 
die  Dinge  selbst,  sondern  es  sind  einzig  die  Beziehungen 
zwischen  den  Dingen;  außerhalb  dieser  Beziehungen 
gibt  es  keine  erkennbare  Wirklichkeit"   (S.  XIII). 

Man  wird  bemerken,  daß  wir  damit  wieder  auf  Kants 
Ausspruch  zurückkommen,  wonach  der  Verstand  die  Ge- 
setze nicht  aus  der  Natur  schöpft,  sondern  sie  dieser 
vorschreibt  und  die  oberste  Gesetzgebung  der  Natur  in 
uns  selbst,  d.  h.  in  unserm  Verstände  liegt,  oder  auf 
Goethes  Wort:  ,, Alles  Vergängliche  ist  nur  ein  Gleich- 
nis", das  man  auf  den  gleichen  Gedanken  beziehen  wird, 
wenn  man  sich  die  Relativität  aller  Erkenntnisse  zum 
Bewußtsein  bringt.  Solchen  allgemeinen  Aussprüchen  kommt 
eine  hohe  subjektive  Bedeutung  zu,  denn  sie  befriedigen 
in  gewissem  Sinne  unser  Bedürfnis  nach  einem  Abschlüsse 
der  Forschung  und  Erkenntnis.  Für  den  empirischen 
Forscher  aber  gibt  es  keinen  derartigen  Abschluß;  jeder 
allgemeine  Ausspruch  bedarf  für  ihn  der  ständigen  Prüfung 


VI  Vorwort. 

an  der  Hand  der  Erfahrung  und  hat  für  ihn  nur  so  lange 
Gültigkeit,  als  er  sich  in  Übereinstimmung  mit  der  Er- 
fahrung befindet,  mag  es  sich  um  eine  allgemeine  Denk- 
notwendigkeit unseres  Geistes  oder  um  einen  speziellen 
Lehrsatz  der  exakten  Wissenschaft  handeln.  Denn  für 
solche  Erfahrung  sind  nicht  nur  die  eigentlichen  Be- 
obachtungen der  Natur  maßgebend,  sondern  auch  die 
inneren  Erfahrungen  des  menschlichen  Verstandes.  Nichts 
zeigt  klarer,  wie  sehr  der  letztere  der  Ausbildung,  der 
Verfeinerung  und  der  Vervollkommnung  fähig  ist,  als  die 
Geschichte  der  Mathematik  im  letzten  Jahrhundert.  Die 
eigenen  Schöpfungen  des  menschlichen  Verstandes  geben 
hier  wieder  das  Erfahrungsmaterial,  auf  dem  sich  weitere 
Forschungen  aufbauen;  manche  Wahrheit,  die  für  alle 
Zeiten  sicher  begründet  schien,  wird  heute  in  ihrer  Gültig- 
keit beschränkt  oder  auf  neue  ,, einwandfreie"  Weise  er- 
schlossen; und  wir  sind  nicht  sicher,  daß  nicht  neue  Zweifel 
und  neue  Einwände  unsere  Nachkommen  zu  erneuten  An- 
strengungen in  gleicher  Richtung  veranlassen  werden. 

Auch  wer  sich  nicht  auf  diesen  rein  empirischen 
Standpunkt  stellt,  wird  das  Bedürfnis  empfinden,  die 
leitenden  Grundgedanken  auf  den  oft  verschlungenen 
Wegen  der  exakten  Wissenschaften  zu  verfolgen,  und  er 
wird  sich  gern  der  Führung  des  Verfassers  anvertrauen, 
um  die  üppig  wuchernden  Ranken  beiseite  zu  biegen, 
die  sich  zwischen  den  festen  Stämmen  unserer  Erkenntnis 
verbindend  ausbreiten,  und  sich  dadurch  den  freien  Aus- 
blick zu  wahren.  Die  scheinbar  spielende  Leichtigkeit, 
mit  welcher  dies  Ziel  durch  den  Verfasser  meist  erreicht 
wird,  war  es,  wodurch  wenigstens  mein  Interesse  an  dem 
Werke  besonders  geweckt  wurde. 

Nicht  so  sehr  auf  die  gewonnenen  Resultate  ist  im 
vorliegenden  Werke  das  Hauptgewicht  zu  legen,  sondern 
auf  die  Methode  der  Behandlung;  und  die  vom  Ver- 
fasser   befolgte    Methode    ist    dieselbe,    welche    bei    Er- 


Vorwort.  VII 

forschung  der  Grundlagen  von  Geometrie  und  Arith- 
metik in  den  letzten  Dezennien  zu  so  reichen  und  vor- 
läufig befriedigenden  Ergebnissen  geführt  hat.  Sie  besteht 
darin,  daß  man  eine  erfahrungsmäßig  zulässige  Hypothese, 
deren  Zusammenhang  mit  andern  Voraussetzungen  zu 
untersuchen  ist,  durch  eine  Annahme  ersetzt,  die  zwar 
auch  unser  logisches  Denken  befriedigt,  aber  nicht  mit  der 
Erfahrung  in  Einklang  steht,  und  daß  man  dadurch  die 
gegenseitige  Abhängigkeit  verschiedener  Hypothesen  oder 
Axiome  zu  evidenter  Anschauung  bringt. 

Dem  Fachmann  ist  ein  großer  Teil  der  Entwicklungen 
(zumal  der  späteren  Kapitel)  aus  anderen  Schriften  des 
Verfassers  bekannt,  aber  auch  ihm  wird  eine  zusammen- 
fassende Darstellung  willkommen  sein.  Ganz  besonders 
gebe  ich  mich  der  Hoffnung  hin,  daß  in  einer  Zeit,  wo  so 
leicht  der  Sinn  für  den  Zusammenhang  unserer  Erkenntnis 
unter  der  Hingabe  an  die  Einzelforschung  leidet,  die  nach- 
folgenden Darlegungen  für  die  studierende  Jugend  erneutVer- 
anlassung  bieten  mögen,  sich  dem  Studium  der  Grundlagen 
und  der  Grundbegriffe  unserer  Wissenschaft  zu  widmen. 

Zur  Erreichung  dieses  Zieles  habe  ich  der  deutschen 
Ausgabe  zahlreiche  Anmerkungen  hinzugefügt,  die  teils 
einzelne  Stellen  des  Werkes  näher  erläutern,  teils  durch 
literarische  Nachweisungen  dem  Leser  die  Mittel  zu  weiterem 
Studium  der  besprochenen  Fragen  an  die  Hand  geben. 
Auf  irgendwelche  systematische  Vollständigkeit  kam  es  da- 
bei nicht  an.  Besonders  dort  konnten  diese  Bemerkungen 
kürzer  gehalten  werden,  wo  ich  wegen  weiterer  Ausführungen 
auf  andere  Werke  des  Verfassers  verweisen  konnte. 

Wenn  es  gelungen  sein  sollte,  der  oft  bilderreichen 
Sprache  des  Verfassers  auch  bei  der  Übertragung  ins 
Deutsche  gerecht  zu  werden,  so  hat  daran  meine  Frau 
einen  wesentlichen  Anteil,  indem  sie  die  eigentlich  tech- 
nische Arbeit  der  Übersetzung  durchgeführt  hat. 

München,  im  Januar  1904.  F.  Lindemann. 


Inhalt. 

Seite 

Vorwort III 

Einleitung XI 

Erster  Teil: 
Zahl  und  Größe. 

Erstes  Kapitel:    Über   die  Natur   der   mathematisclien 

Schlußweisen I 

Syllogistische  Schlußweisen I 

Verifikation  und  Beweis 3 

Elemente  der  Arithmetik 5 

Algebraische  Rechnung 9 

Rekurrierendes  Verfahren II 

Induktion 12 

Mathematische  Konstruktion. 14 

Zweites  Kapitel:     Die    mathematische    Größe    und    die 

Erfahrung 17 

Definition  der  inkommensurablen  Zahlen 20 

Das  physikalische  Kontinuum 22 

Das  mathematische  Kontinuum 23 

Die  meßbare  Größe 28 

Verschiedene   Bemerkungen    (Kurven    ohne  Tangenten)  29 

Das  physikalische  Kontinuum  von  mehreren  Dimensionen  3 1 

Das  mathematische  Kontinuum  von  mehreren  Dimensionen  34 

Zweiter  Teil: 
Der  Raum. 

Drittes  Kapitel:  Die  nicht-Euklidische  Geometrie    .    .  36 

Die  Geometrie  von  Lobatschewsky 37 

Die  Geometrie  von  Riemann 38 

Die  Flächen  konstanten  Krümmungsmaßes 4*^ 

Veranschaulichung  der  nicht-Euklidischen  Geometrie    .  42 

Die  implizieten  Axiome 44 

Die  vierte  Geometrie .    .    .    ,    , 47 

Der  Lehrsatz  von  Lie 48 

Die  Geometrien  von  Riemann 48 

Von  der  Natur  der  Axiome 49 


Inhalt.  IX 

Seite 

Viertes   Kapitel:  Der  Raum  und  die  Geometrie    ...  52 

Der  geometrische  Raum  und  der  VorsteUungsraum    .  53 

Der  Gesichtsraum 54 

Der  Tastraum  und  der  Bewegungsraum 56 

Zustands-  und  Ortsveränderungen 59 

Bedingungen  der  Kompensation  von  Bewegungen  .    .  61 

Die  festen  Körper  und  die  Geometrie  ......  62 

Das  Gesetz  der  Homogenität 65 

Die  nicht-Euklidische  Welt 66 

Die  vierdimensionale  Welt 70 

Fünftes   Kapitel:  Die  Erfahrung  und  die  Geometrie  .  73 

Die  Geometrie  und  die  Astronomie 74 

Das  Gesetz  der  Relativität 78 

Tragweite  der  Experimente 82 

Anhang  (Was  ist  ein  Punkt.?)         86 

Dritter  Teil: 

Die  Kraft. 

Sechstes   Kapitel:  Die  klassische  Mechanik 91 

Das  Prinzip  der  Trägheit 93 

Das  Gesetz  der  Beschleunigung 99 

Die  anthropomorphe  Mechanik 108 

Die  Schule  des  Fadens 109 

Siebentes   Kapitel:    Die  relative  und  die  absolute  Be- 
wegung      113 

Das  Prinzip  der  relativen  Bewegung 113 

Die  Schlußweise  Newtons 115 

Achtes  Kapitel:  Energie  und  Thermodynamik.    .    .    .  124 

Das  energetische  System 124 

Thermodynamik 131 

Allgemeine  Übersicht  des  dritten  Teiles 138 

Vierter  Teil: 

Die  Natur. 

Neuntes  Kapitel:  Die  Hypothesen  in  der  Physik     .    .  142 

Die  Rolle  des  Experimentes  und  der  Verallgemeinerung  142 

Die  Einheit  der  Natur 147 

Die  Rolle  der  Hypothese 152 

Ursprung  der  mathematischen  Physik 155 

Zehntes   Kapitel:  Die  Theorien  der  modernen  Physik  i6l 

Die  Bedeutung  der  physikalischen  Theorien     ....  161 

Die  Physik  und  der  Mechanismus 168 

Der  gegenwärtige  Zustand  der  Wissenschaft    ....  173 

Elftes  Kapitel:  Die  Wahrscheinlichkeitsrechnung      .  183 

Einteilung  der  Wahrscheinlichkeitsprobleme     ....  189 


X  Inhalt. 

Seite 
Die  Wahrscheinliclikeit  in  den  mathematisclien  Wissen- 
schaften    192 

Die  Wahrscheinlichkeit  in  den  physikalischen  Wissen- 
schaften    196 

Rouge  et  noir 202 

Die  Wahrscheinlichkeit  der  Ursachen 204 

Die  Theorie  der  Fehler 207 

Schlußfolgerungen 210 

Zwölftes  Kapitel:    Optik  und  Elektrizität 211 

Die  Fresnelsche  Theorie 211 

Die  Maxwellsche  Theorie 213 

Die    mechanische    Erklärung    der    physikalischen    Er- 
scheinungen      216 

Dreizehntes   Kapitel:  Die  Elektrodynamik 224 

Die  Amperesche  Theorie 225 

I.  Wirkung  geschlossener  Ströme 227 

IL  Wirkung  eines  geschlossenen  Stromes  auf  einen 

Stromteil 228 

III.  Stetige  Rotationen 230 

IV.  Gegenseitige  Wirkung   zweier   offenen  Ströme.  231 
V.  Induktion 234 

Die  Helmholtzsche  Theorie 235 

Die  diesen  Theorien  anhaftenden  Schwierigkeiten    .    .  238 

Die  Maxwellsche  Theorie 239 

Die  Rowlandschen  Experimente 240 

Die  Lorentzsche  Theorie 242 

Erläuternde  Anmerkungen  (von  F.  Lindemann)     .    .    .      245 

Verbesserungen. 

Seite     32,  Zeile     3  v.  u.     lies  „entnehmen"  statt  ,, nehmen". 

lies  „dem"  statt  „demselben", 
lies  ,,nur"  statt  „nicht". 
Es    ist  hier  auf  die  Anmerkung  56)    zu 
verweisen. 

lies       „auszuscheiden"      statt       „auszu- 
schneiden". 

lies  „welcher"  statt  „welche", 
lies  „Hysteresis"  statt  „Hysterisis". 
lies  „Schon  vor"  statt  „Vor". 
Vor  dem  Worte  „Gefahr"  ist  das  Wort 
„keineswegs"  einzuschalten. 


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Zeile 

3 

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Einleitung. 


Für  einen  oberflächlichen  Beobachter  ist  die  wissen- 
schaftHche  Wahrheit  über  jeden  Zweifel  erhaben;  die 
wissenschaftliche  Logik  ist  unfehlbar,  und  wenn  die  Ge- 
lehrten sich  hie  und  da  täuschen,  so  geschieht  es  nur, 
weil  sie  die  Regeln  der  Logik  verkannten. 

,,Die  mathematischen  Wahrheiten  werden  durch  eine 
Kette  untrüglicher  Schlüsse  aus  einer  kleinen  Anzahl 
evidenter  Sätze  abgeleitet;  sie  drängen  sich  nicht  nur 
ims,  sondern  der  ganzen  Natur  auf.  Sie  fesseln  sozu- 
sagen den  Schöpfer  und  gestatten  ihm  nur  zwischen 
einigen  verhältnismäßig  wenig  zahlreichen  Lösungen  zu 
wählen.  Einige  Experimente  werden  dann  genügen,  um 
zu  erfahren,  welche  Wahl  er  getroffen  hat.  Aus  jedem 
Experimente  können  durch  eine  Reihe  mathematischer 
Deduktionen  eine  Menge  Folgerungen  hervorgehen,  und 
auf  diese  Weise  läßt  uns  jedes  Experiment  einen  Winkel 
•des   Weltalls  erkennen." 

So  ungefähr  denken  sich  viele  Leute,  besonders  die 
Schüler,  welche  die  ersten  physikalischen  Begriffe  kennen 
lernen,  den  Ursprung  der  wissenschaftlichen  Gewißheit. 
So  fassen  sie  die  Rolle  des  Experimentes  und  der  Mathe- 
matik auf.  Und  dieselbe  Auffassung  hatten  vor  hundert 
Jahren  viele  Gelehrte,  welche  in  ihren  Träumen  die 
Welt  konstruieren  und  dabei  der  Erfahrung  möglichst 
wenige  Materialien  entlehnen  wollten. 

Als  man  ein  wenig  mehr  nachdachte,  bemerkte  man, 
ein  wie  großer  Platz  der  Hypothese  eingeräumt  war;  man 


XII  Einleitung. 

sah,  wie  der  Mathematiker  ihrer  nicht  entraten  kann  und 
wie  der  Experimentator  sie  noch  weniger  missen  kann. 
Darauf  fragte  man  sich,  ob  wohl  dieses  Gebäude  solid 
genug  wäre,  und  man  glaubte,  daß  ein  Hauch  es  stürzen 
könnte.  Derartig  skeptisch  urteilen,  hieße  oberflächlich 
sein.  Entweder  alles  anzweifeln  oder  alles  glauben, 
das  sind  zwei  gleich  bequeme  Lösungen;  die  eine  wie 
die  andere  erspart  uns  das  Denken. 

Anstatt  eine  summarische  Verurteilung  auszusprechen, 
müssen  wir  mit  Sorgfalt  die  Rolle  der  Hypothese  prüfen; 
wir  werden  dann  erkennen,  daß  sie  notwendig  und 
ihrem  Inhalte  nach  berechtigt  ist.  Wir  werden  dann 
auch  sehen,  daß  es  mehrere  Arten  von  Hypothesen  gibt, 
daß  die  einen  verifizierbar  sind  und,  einmal  vom  Experi- 
mente bestätigt,  zu  fruchtbringenden  Wahrheiten  werden ; 
daß  die  anderen,  ohne  uns  irrezuführen,  uns  nützlich 
werden  können,  indem  sie  unseren  Gedanken  eine  feste 
Stütze  geben;  daß  schließlich  noch  andere  nur  schein- 
bare Hypothesen  sind  und  sich  auf  Definitionen  oder  ver- 
kleidete Übereinkommen  und  Festsetzungen  zurückführen 
lassen. 

Diese  letzteren  finden  wir  hauptsächlich  in  der  Mathe- 
matik und  in  den  ihr  verwandten  Wissenschaften.  Ge- 
rade hieraus  schöpfen  diese  Wissenschaften  ihre  Strenge; 
diese  Übereinkommen  sind  das  Werk  der  freien  Tätig- 
keit unseres  Verstandes,  der  in  diesem  Gebiete  kein 
Hindernis  kennt.  Hier  kann  unser  Verstand  behaupten, 
weil  er  befiehlt;  aber  verstehen  wir  uns  recht:  diese  Be- 
fehle beziehen  sich  auf  unsere  Wissenschaft,  welche 
ohne  dieselben  unmöglich  wäre;  sie  beziehen  sich  nicht 
auf  die  Natur.  Sind  diese  Befehle  nun  willkürlich? 
Nein,  denn  sonst  würden  sie  unfruchtbar  sein.  Das 
Experiment  läßt  uns  freie  Wahl,  aber  es  leitet  diese 
Wahl,  indem  es  uns  hilft,  den  bequemsten  Weg  einzu- 
schlagen.      Unsere    Befehle    werden    also    gleich    denen 


Einleitung.  XIII 

eines  absoluten,  aber  weisen  Fürsten  sein,  der  zuerst 
seinen  Staatsrat  befragt. 

Manche  sind  darüber  verwundert,  daß  man  gewissen 
fundamentalen  Prinzipien  der  Wissenschaft  den  Charakter 
freier  konventioneller  Festsetzungen  beilegen  soll.  Sie 
haben  übermäßig  verallgemeinern  wollen  und  dabei  ver- 
gessen, daß  Freiheit  nicht  Willkür  ist.  Sie  gelangten  so 
zu  dem  sogenannten  ,, Nominalismus"  und  sie  fragten 
sich,  ob  der  Gelehrte  sich  nicht  durch  seine  Definitionen 
betrügen  läßt  und  ob  die  Welt,  die  er  zu  entdecken 
glaubt,  nicht  einfach  nur  durch  die  Willkür  seiner  Laune 
geschaffen  ist.*)  Bei  diesem  Standpunkte  wäre  die 
Wissenschaft  sicher  begründet,  aber  sie  wäre  ihrer  Trag- 
weite beraubt. 

Wenn  dem  so  wäre,  so  wäre  die  Wissenschaft  ohn- 
mächtig. Nun  haben  wir  aber  jeden  Tag  ihren  Einfluß 
vor  Augen.  Das  könnte  nicht  der  Fall  sein,  wenn  sie 
uns  nicht  etwas  Reelles  erkennen  ließe;  aber  was  sie 
erreichen  kann,  sind  nicht  die  Dinge  selbst,  wie  die 
naiven  Dogmatiker  meinen,  sondern  es  sind  einzig  die 
Beziehungen  zwischen  den  Dingen;  außerhalb  dieser  Be- 
ziehungen gibt  es  keine  erkennbare  Wirklichkeit. 

Zu  dieser  Erkenntnis  werden  wir  gelangen,  aber  bis 
wir  so  weit  sind,  müssen  wir  die  Reihe  der  Wissen- 
schaften, von  der  Arithmetik  und  der  Geometrie  an  bis 
zur  Mechanik  und  experimentellen  Physik,   durchgehen. 

Welcher  Art  ist  die  Natur  der  mathematischen  Schluß- 
weise? Ist  sie,  wie  man  gewöhnlich  glaubt,  wirklich 
deduktiv?  Eine  tiefergehende  Analyse  zeigt  uns,  daß 
sie  es  nicht  ist,  daß  sie  in  gewissem  Grade  an  der 
Natur  der  induktiven  Schlußweise  Anteil  hat  und  gerade 
dadurch    so    fruchtbringend    ist.       Sie    bewahrt    deshalb 


*)  Vergl.  Le  Roy,   Science    et   Philosophie     (Revue  de  Meta- 
physique  et  de  Morale   1901). 


XIV  Einleitung. 

nicht  weniger  ihren  Charakter  absoluter  Genauigkeit;   das 
haben  wir  zuerst  zu  zeigen. 

Indem  wir  jetzt  eines  der  Hilfsmittel  genauer  kennen, 
welches  die  Mathematik  dem  Forscher  an  die  Hand 
gibt,  haben  wir  einen  anderen  fundamentalen  Begriff  zu 
analysieren,  nämlich  denjenigen  der  mathematischen 
Größe.  Finden  wir  sie  in  der  Natur  vor  oder  sind  wir 
es,  die  sie  in  die  Natur  hineinlegen?  Riskieren  wir 
nicht  im  letzteren  Falle,  alles  zu  verderben?  Wenn  wir 
die  grob  organisierten  Angaben  unserer  Sinne  mit  dieser 
außerordentlich  komplizierten  und  feinen  Vorstellung  ver- 
gleichen, welche  die  Mathematiker  als  Größe  bezeichnen, 
so  müssen  wir  gezwungenermaßen  einen  Unterschied  be- 
merken; diesen  Rahmen,  in  welchen  wir  alles  einfügen 
wollen,  haben  wir  selbst  hergestellt;  aber  wir  haben  ihn 
nicht  auf  gut  Glück  gemacht,  wir  haben  ihn  sozusagen 
nach  Maß  angefertigt  und  darum  können  wir  die  Tat- 
sachen hineinbringen,  ohne  ihrer  Natur  das  Wesentliche 
zu  nehmen. 

Ein  anderer  Rahmen,  den  wir  der  Welt  anpassen, 
ist  der  Raum.  Woher  stammen  die  ersten  Grundlagen 
der  Geometrie?  Sind  sie  uns  durch  die  Logik  auferlegt? 
Lobatschewsky  hat  das  Gegenteil  bewiesen,  indem  er 
die  nicht-Euklidische  Geometrie  schuf.  Ist  der  Raum 
uns  durch  unsere  Sinne  offenbart?  Ebenfalls  nicht,  denn 
der  Raum,  den  uns  unsere  Sinne  zeigen  können,  unter- 
scheidet sich  absolut  von  dem  geometrischen  Räume. 
Hat  die  Geometrie  ihren  Ursprung  in  der  Erfahrung? 
Eine  gründlichere  Erörterung  zeigt  uns,  daß  dies  nicht 
der  Fall  ist.  Wir  schlußfolgern  also,  daß  die  Grund- 
lagen nur  Übereinkommen  sind;  aber  diese  Überein- 
kommen sind  nicht  willkürlich,  und  wenn  wir  in  eine 
andere  Welt  versetzt  würden,  welche  ich  die  nicht- 
Euklidische  Welt  nenne  und  die  ich  mir  vorzustellen  ver- 
suche, so  müßten  wir  zu  anderen  Übereinkommen  gelangen,. 


Einleitung.  XV 

In  der  Mechanik  werden  wir  zu  analogen  Schluß- 
sätzen geführt  und  wir  sehen,  daß  die  Prinzipe  dieser 
Wissenschaft,  obgleich  sie  sich  direkt  auf  das  Experiment 
stützen,  ebenfalls  an  dem  konventionellen  Charakter  der 
geometrischen  Postulate  beteiligt  sind.  Bis  hier  triumphiert 
der  Nominalismus,  aber  wir  kommen  zu  den  eigentlichen 
physikalischen  Wissenschaften.  Da  ändert  sich  das 
Schauspiel;  wir  treffen  eine  andere  Art  von  Hypothesen 
und  wir  sehen  deren  ganze  Fruchtbarkeit.  Ohne  Zweifel 
erschienen  uns  zuerst  die  Theorien  hinfällig,  und  die 
Geschichte  der  Wissenschaft  beweist  uns,  daß  sie  ver- 
gänglich sind:  sie  sind  aber  dennoch  nicht  ganz  ver- 
gangen, von  jeder  ist  etwas  übriggeblieben.  Dieses 
Etwas  muß  man  sich  bemühen  herauszusuchen,  weil  nur 
dieses  und  dieses  allein  der  Wirklichkeit  wahrhaft  ent- 
spricht. 

Die  Methode  der  physikalischen  Wissenschaften  be- 
ruht auf  der  Induktion,  welche  uns  die  Wiederholung 
einer  Erscheinung  erwarten  läßt,  wenn  die  Umstände 
sich  wiederholen,  unter  welchen  sie  sich  das  erste  Mal 
darbot.  Wenn  alle  diese  Umstände  sich  auf  einmal 
wiederholen  könnten,  so  könnte  dieses  Prinzip  ohne  Ge- 
fahr angewendet  werden:  aber  das  wird  niemals  vor- 
kommen; einige  dieser  Umstände  werden  immer  fehlen. 
Sind  wir  absolut  sicher,  daß  sie  ohne  Wichtigkeit  sind? 
Gewiß  nicht.  Das  kann  wahrscheinlich  sein,  es  kann 
aber  nicht  wirklich  gewiß  sein.  Darum  spielt  der  Be- 
griff der  Wahrscheinlichkeit  eine  bedeutende  Rolle  in 
den  physikalischen  Wissenschaften.  Die  Wahrscheinlich- 
keitsrechnung ist  also  nicht  nur  ein  Zeitvertreib  oder  ein 
Führer  für  die  Baccaratspieler,  und  wir  müssen  ver- 
suchen, ihre  Prinzipe  fester  zu  begründen.  In  dieser 
Beziehung  kann  ich  nur  unvollkommene  Resultate  geben; 
so  sehr  widerstrebt  der  unbestimmte  Instinkt,  welcher  uns 
den  Begriff  der  Wahrscheinlichkeit  fassen  läßt,  der  Analyse. 


XVI  Einleitung. 

Nachdem  wir  die  Bedingungen,  unter  welchen  der 
Physiker  arbeitet,  studiert  haben,  hielt  ich  es  für  richtig, 
ihn  dem  Leser  bei  der  Arbeit  zu  zeigen.  Dazu  nahm 
ich  einige  Beispiele  aus  der  Geschichte  der  Optik  und 
derjenigen  der  Elektrizität.  Wir  werden  sehen,  von  wo 
die  Ideen  Fresnels  und  diejenigen  Maxwells  ausgegangen 
sind,  und  welche  unbewußten  Hypothesen  Ampere  und 
die  anderen  Begründer  der  Elektrodynamik  machten. 

H.  P. 


Erster  Teil. 
Zahl  und  Größe. 

Erstes  Kapitel. 
Über  die  Natur  der  mathematischen  Schlußweisen. 

I. 

Die  Möglichkeit  der  Existenz  einer  mathematischen 
Wissenschaft  scheint  ein  unlösbarer  Widerspruch  in  sich 
zu  sein.  Wenn  diese  Wissenschaft  nur  scheinbar  deduktiv 
ist,  woher  kommt  ihr  dann  diese  vollkommene  Un- 
widerlegbarkeit, welche  niemand  zu  bezweifeln  wagt? 
Wenn  im  Gegenteil  alle  Behauptungen,  welche  sie  auf- 
stellt, sich  auseinander  durch  die  formale  Logik  ab- 
leiten lassen,  warum  besteht  die  Mathematik  dann  nicht 
in  einer  ungeheueren  Tautologie?  Der  logische  Schluß 
kann  uns  nichts  wesentlich  Neues  lehren,  und  wenn  alles 
vom  Prinzipe  der  Identität  ausgehen  soll,  so  müßte  auch 
alles  darauf  zurückzuführen  sein.  Dann  müßte  man  also 
zugeben,  daß  alle  diese  Lehrsätze,  welche  so  viele  Bände 
füllen,  nichts  anderes  lehren,  als  auf  Umwegen  zu 
sagen,  daß  A  gleich  A  ist. 

Man  kann  ohne  Zweifel  zu  den  Axiomen  zurück- 
gehen, welche  an  der  Quelle  aller  dieser  Betrachtungen 
stehen.  Wenn  man  meint,  sie  auf  das  Prinzip  des 
Widerspruches  nicht  zurückführen  zu  können,  wenn  man 
noch  weniger  in  ihnen  erfahrungsmäßige  Tatsachen  sehen 
will,  welche  an  der  mathematischen  Notwendigkeit  keinen 
Anteil  haben,  so  hat  man  doch  noch  immer  den  Aus- 
Po  in  care,  Wissenschaft  und  Hypothese.        "  I 


2  I,  I.     Mathematische  Schlußweisen. 

weg,  sie  den  synthetischen  Urteilen  a  priori  einzureihen. 
Das  heißt  aber  nicht,  die  Schwierigkeit  lösen,  sondern 
ihr  nur  einen  Namen  geben;  und  wenn  selbst  die  Natur 
der  synthetischen  Urteile  für  uns  kein  Geheimnis  wäre, 
so  würde  der  Widerspruch  nicht  hinfällig,  er  würde  nur 
hinausgeschoben;  die  syllogistische  Beweisführung  bleibt 
unfähig,  den  gegebenen  Voraussetzungen  irgend  etwas 
hinzuzufügen;  diese  Voraussetzungen  reduzieren  sich  auf 
einige  Axiome,  und  man  könnte  in  den  Folgerungen 
nichts  anderes  wiederfinden. 

Kein  Lehrsatz  würde  neu  sein,  bei  dessen  Beweis 
nicht  ein  neues  Axiom  in  Frage  käme.  Die  logische 
Durchführung  könnte  uns  nur  die  unmittelbar  evidenten 
Wahrheiten  geben,  welche  der  direkten  Anschauung  ent- 
lehnt sind.  Sie  wäre  nichts  anderes  als  ein  überflüssiges 
Zwischenglied  der  Betrachtung;  und  würde  man  auf  diese 
Weise  nicht  dahin  kommen  sich  zu  fragen,  ob  dieser 
ganze  syllogistische  Apparat  nur  dazu  dient,  um  zu  ver- 
schleiern, inwieweit  wir  der  Anschauung  etwas  ent- 
lehnt haben? 

Der  Widerspruch  wird  uns  noch  mehr  auffallen,  wenn 
wir  irgend  ein  mathematisches  Buch  aufschlagen;  auf 
jeder  Seite  wird  der  Verfasser  die  Absicht  ankündigen, 
einen  schon  bekannten  Satz  zu  verallgemeinern.  Kommt 
dieses  nun  daher,  daß  die  mathematische  Methode  vom 
Besonderen  zum  Allgemeinen  fortschreitet,  und  wie  kann 
man  sie  dann  deduktiv  nennen? 

Wenn  endlich  die  Wissenschaft  der  Zahl  rein  ana- 
lytisch wäre,  oder  wenn  sie  von  einer  kleinen  Anzahl 
synthetischer  Urteile  nach  analytischer  Methode  ausgehen 
könnte,  so  vermöchte  ein  genügend  starker  Verstand 
mit  einem  Blicke  scheinbar  alle  Wahrheiten  zu  über- 
sehen; was  sage  ich!  man  könnte  sogar  hoffen,  eines 
Tages  eine  hinreichend  einfache  Sprache  zu  erfinden, 
um  sie  so   auszudrücken,    daß   sie   auch   einem   gewöhn- 


Beweis  und  Verifikation.  -> 

liehen  Verstandesvermögen  ebenso  unmittelbar  ein- 
leuchten. 

Wenn  man  es  ablehnt,  diese  Folgerungen  zuzulassen, 
so  muß  man  doch  zugeben,  daß  die  mathematische 
Überlegung  an  sich  eine  Art  schöpferischer  Kraft  ent- 
hält und  sich  dadurch  von  der  syllogistischen  Schluß- 
weise unterscheidet. 

Der  Unterschied  muß  sogar  tiefgehend  sein.  Wir 
werden  zum  Beispiel  den  Schlüssel  zu  dem  Geheimnisse 
nicht  in  dem  öfteren  Gebrauche  des  Gesetzes  finden, 
nach  welchem  eine  und  dieselbe  eindeutige,  auf  zwei 
gleiche  Zahlen  angewandte  Operation  zu  gleichen  Re- 
sultaten führt. 

Alle  diese  Schlußweisen,  mögen  sie  nun  auf  den 
eigentlichen  Syllogismus  zurückführbar  sein  oder  nicht, 
bewahren  den  analytischen  Charakter  und  sind  ebenda- 
durch  ohnmächtig. 

IL 

Der  Streit  ist  alt;  schon  Leibniz  suchte  zu  beweisen, 
daß  2  und  2  gleich  4  ist;  wir  wollen  seine  Darlegungen 
ein  wenig  untersuchen. 

Ich  setze  voraus,  daß  man  die  Zahl  i  definiert  habe, 
und  ebenso  die  Operation  x  -\-  i,  welche  darin  besteht, 
einer  gegebenen  Zahl  x  die  Einheit  hinzuzufügen. 

Diese  Definitionen  kommen,  wie  sie  auch  beschaffen 
sein  mögen,  für  die  folgende  Betrachtung  nicht  in  Frage. 

Ich  definiere  hierauf  die  Zahlen  2,  3  und  4  durch 
die  Gleichungen: 

(i)  1  +  1  =  2, 

(2)  2+1=3, 

(3)  3+1=4. 

Ich  definiere  ebenso  die  Operation  x  +  2  durch  die 
Beziehung : 


A  I,  I.    Mathematische  Schlußweisen. 

(4)  X  +  2  =  {x  +  l)  +  I. 

Dieses  vorausgesetzt,  haben  wir: 

2  +  2=(2  +  i)+i      (Definition  4), 

(2+1)4-1  =  34-   I      (Definition   2), 

3  4-1=4  (Definition  3), 

also: 

24-2=4,  w.  z.  b.  w. 

Man  wird  nicht  ableugnen  können,  daß  diese  Be- 
weisführung eine  rein  analytische  ist.  Fragt  man  jedoch 
irgend  einen  Mathematiker,  so  wird  er  sagen:  ,,Das  ist 
keine  eigentliche  Beweisführung,  sondern  eine  Verifi- 
kation". Man  hat  sich  darauf  beschränkt,  zwei  rein 
konventionelle  Definitionen  einander  zu  nähern,  und  hat 
ihre  Identität  festgestellt;  man  hat  nichts  Neues  gelernt. 
Die  Verifikation  unterscheidet  sich  genau  vom  wirk- 
lichen Beweise,  weil  sie  rein  analytisch  und  unfruchtbar 
ist.  Sie  ist  unfruchtbar,  weil  die  Schlußfolgerung  nur 
die  Übersetzung  der  Voraussetzungen  in  eine  andere 
Sprache  ist.  Der  wirkliche  Beweis  dagegen  ist  frucht- 
bar, weil  die  Schlußfolgerung  einen  allgemeineren  Inhalt 
hat,  als  die  Voraussetzungen. 

Die  Gleichung  24-2  =  4  ist  nur  deshalb  einer  sol- 
chen Verifikation  fähig,  weil  sie  einen  besonderen  Cha- 
rakter hat.  Jede  besondere  Aussage  in  der  Mathematik 
kann  auf  solche  Weise  verifiziert  werden.  Aber  wenn 
die  Mathematik  sich  auf  eine  Reihe  von  ähnlichen  Veri- 
fikationen zurückführen  ließe,  so  wäre  sie  keine  Wissen- 
schaft. So  erschafft  zum  Beispiel  ein  Schachspieler  keine 
Wissenschaft,  indem  er  eine  Partie  gewinnt.  Eine 
Wissenschaft  kann  sich  nur  auf  allgemeine  Wahrheiten 
beziehen. 

Man  kann  sogar  sagen,  daß  gerade  die  exakten 
Wissenschaften  die  Aufgabe  haben,  uns  von  diesen 
direkten  Verifikationen  zu  entlasten. 


Die  Arithmetik. 


III. 

Wir  wollen  den  Mathematiker  bei  der  Arbeit  beobach- 
ten und  versuchen,  einen  Einblick  in  seine  Denkweise 
zu  gewinnen. 

Der  Versuch  ist  nicht  ohne  Schwierigkeit;  es  genügt 
nicht,  ein  Werk  auf  gut  Glück  aufzuschlagen  und  darin 
den  nächstbesten  Beweis  zu  zergliedern. 

Wir  müssen  zuerst  die  Geometrie  ausschließen,  denn 
hier  wird  die  Frage  durch  die  schwer  zugänglichen 
Probleme  verwickelt,  welche  sich  auf  das  Wesen  der 
Postulate,  auf  die  Natur  und  den  Ursprung  der  Raum- 
vorstellung beziehen.  Aus  analogen  Gründen  können 
wir  uns  nicht  an  die  Infinitesimal-Rechnung  wenden. 
Wir  müssen  den  mathematischen  Gedanken  da  suchen, 
wo  er  rein  geblieben  ist,   das  ist  in  der  Arithmetik. 

Auch  dabei  muß  man  noch  auswählen;  in  den  höch- 
sten Gebieten  der  Zahlentheorie  haben  die  mathemati- 
schen Elementarbegriffe  bereits  eine  solche  Entwicklung 
durchgemacht,  daß  es  schwer  fällt,  dieselbe  zu  analy- 
sieren. 

So  dürfen  wir  erwarten,  die  gesuchte  Erklärung  in 
den  Anfängen  der  Arithmetik  zu  finden,  aber  gerade  in 
den  Beweisen  der  allerelementarsten  Lehrsätze  kommt  es 
vor,  daß  die  Verfasser  der  klassischen  Abhandlungen 
das  geringste  Maß  von  Genauigkeit  und  Schärfe  an- 
wenden. Man  kann  ihnen  daraus  keinen  Vorwurf 
machen ;  sie  gehorchen  einer  Notwendigkeit ;  die  Anfänger 
sind  nicht  für  die  wirkliche  mathematische  Strenge  vor- 
bereitet; sie  würden  darin  nur  unnütze  und  langweilige 
Spitzfindigkeiten  sehen;  man  würde  seine  Zeit  verlieren, 
wenn  man  sie  zu  früh  anspruchsvoller  machen  würde; 
sie  müssen  schnell  den  Weg  durchlaufen,  welchen  die 
Begründer  der  Wissenschaft  langsam  durchmessen  haben. 


5  I>  !•    Mathematische  Schlußweisen. 

aber  immer  dabei  die  schon  zurückgelegten  Strecken  im 
Auge  behalten. 

Warum  ist  eine  so  lange  Vorbereitung  notwendig, 
um  sich  an  diese  vollkommene  Strenge  zu  gewöhnen, 
welche,  wie  man  glauben  möchte,  alle  gut  veranlagten 
Köpfe  sich  selbst  auferlegen  sollten?  Darin  liegt  ein 
logisches  und  psychologisches  Problem,  das  wohl  des 
Nachdenkens  wert  ist. 

Wir  können  uns  dabei  nicht  aufhalten,  es  liegt  unse- 
rem Gegenstande  fern;  alles,  was  ich  hervorheben  möchte, 
ist,  daß  wir,  um  unser  Ziel  nicht  zu  verfehlen,  die  Be- 
weise der  elementarsten  Lehrsätze  von  Anfang  an  durch- 
gehen müssen  und  ihnen  nicht  die  grobe  Form  lassen, 
welche  man  ihnen  gibt,  um  die  Anfänger  nicht  zu  er- 
müden, sondern  diejenige,  welche  einen  geübten  Mathe- 
matiker befriedigen  kann.^) 

Definition  der  Addition.  —  Ich  setze  voraus, 
daß  man  zuvor  die  Operation  x  -j-  i,  welche  darin  be- 
steht, daß  man  die  Zahl  i  einer  gegebenen  Zahl  x  hin- 
zufügt,  definiert  hat. 

Diese  Definition,  welcher  Art  sie  auch  sei,  wird  in 
der  Fortsetzung  unserer  Entwicklungen  keine  Rolle 
spielen. 

Es  handelt  sich  jetzt  darum,  die  Operation  x  -\-  a  zu 
definieren,  welche  darin  besteht,  die  Zahl  a  zu  einer  ge- 
gebenen Zahl  X  hinzuzufügen. 

Setzen  wir  voraus,  man  hätte  die  Operation: 

X  -{-  {a  —  i) 

definiert,  so  wird  die  Operation  x  -\-  a  durch  die  Glei- 
chung: 

(i)  X  -{-  a  =  [x  -\-  {a  —  i)]  -\-  1 

definiert  sein. 

Wir  werden  also  wissen,  was  x  -\-  a  bedeutet,  wenn 
wir  wissen,  was  x  -{-  {a  —  i)  bedeutet,    und    da   ich   am 


.    Addition  und  Multiplikation.  y 

Anfang  vorausgesetzt  habe,  man  wisse,  was  x  -\-  i  be- 
deute, so  wird  man  successive  und  „durch,  rekurrierendes 
Verfahren"  die  Operationen  x-\-2,  x -\- ^  etc.  definieren 
können. 

Diese  Definition  verdient  einen  Augenblick  unsere 
Aufmerksamkeit,  sie  unterscheidet  sich  durch  ihre  be- 
sondere Natur  von  der  rein  logischen  Definition,  und 
derartig  besondere  Definitionen  werden  uns  noch  oft  be- 
gegnen. Die  Gleichung  (i)  enthält  tatsächlich  eine  un- 
endliche Anzahl  von  verschiedenen  Definitionen,  deren 
jede  nur  einen  Sinn  hat,  wenn  man  die  vorhergehende 
kennt. 

Eigenschaften  der  Addition.  —  Associatives 
Gesetz.  —  Ich  behaupte,   daß: 

a+{ö  +  c)  =  (a  +  d)-i-c. 

In  der  Tat,  der  Lehrsatz  ist  richtig  für  c  =  i;  er 
heißt  dann: 

und  das  ist  nichts  anderes,  abgesehen  vom  Unterschiede 
in  der  Bezeichnungsweise,  als  die  Gleichung  (i),  durch 
welche  ich  soeben  die  Addition   definiert  habe. 

Nehmen  wir  an,  daß  der  Lehrsatz  richtig  sei  für 
c  =  y,  SO  behaupte  ich,  daß  er  für  c  =  y  -\-  i  auch  rich- 
tig ist.     Sei  in  der  Tat: 

so  wird  man  daraus  ableiten,   daß: 

[(^  +  ^)  +  y]  +   I   =  [^  +  (^  +  y)]  +1 

oder  infolge  der  Definition  (i): 
{aJrl>)  +  {y+i)  =  a  +  (b  +  7+i)  =  a+[b+{y+i)]. 

Das  beweist,  durch  eine  Reihe  von  rein  analytischen 
Schlüssen,   daß  der  Lehrsatz  für  7+1   richtig  ist. 

Ist  er  also  richtig  für  c  =  i,  so  würde  man  so  suc- 
cessive einsehen,  daß  er  richtig  ist  für  c  =  2,  für  <:  =  3  etc. 


3  I,  I.    Mathematische  Schlußweisen. 

Commutatives  Gesetz.  —   i.  Ich  behaupte,    daß: 

a  -\-  i  =  1  -\-  a. 

Der  Satz  ist  evident  für  ß  =  i ;  man  könnte  durch  rein 
analytische  Schlüsse  verifizieren,  daß  er  für  a  =  y  richtig 
ist;  er  ist  dann  auch  für  ß  =  y  +  i  richtig;  er  gilt  nun 
für  a  =  I,  also  auch  für  a  =  2,  für  0=3  etc.;  das 
meint  man,  wenn  man  sagt,  daß  der  ausgesprochene 
Satz  durch  rekurrierendes  Verfahren  bewiesen  sei. 
2.  Ich  behaupte,  daß: 

a  -{-  d  =  b  -\-  a. 

Der  Satz  ist  soeben  für  ^  =  i  bewiesen ;  man  kann  durch 
analytische  Schlüsse  verifizieren,  daß  er,  wenn  er  für 
b  =  ß  richtig  ist,  auch  für  b  =  ß  -\-  i   gilt. 

Der  Inhalt  der  Behauptung  ist  folglich  durch  rekur- 
rierendes Verfahren  sicher  gestellt. 

Definition  der  Multiplikation.  —  Wir  definieren 
die  Multiplikation  durch  die  Gleichungen: 

a  X  i  =  a, 

(2)  ax  b  =  [a  X  [b  —  i)]  +  a. 

Die  Gleichung  {2)  umfaßt  wie  die  Gleichung  (i)  eine  un- 
endliche Anzahl  von  Definitionen;  wenn  sie  0x1  defi- 
niert hat,  so  erlaubt  sie  successive  a  x  2,  0x3  etc.  zu 
definieren. 

Eigenschaften  der  Multiplikation.  —  Distri- 
butives Gesetz.   —  Ich  behaupte,   daß: 

{a  -\-  b)  X  c  ==  (ax  c)  -i-  (b  X  c). 

Man  verifiziert  durch  analytische  Schlußweise,  daß  die 
Gleichung  richtig  ist  für  c  =  i ;  sodann,  daß  der  Satz, 
wenn  er  für  c  =  y  richtig  ist,  es  auch  für  c  =  y  -\-  i   ist. 

Die  Behauptung  ist  wiederum  durch  rekurrierendes 
Verfahren  bewiesen. 

Commutatives   Gesetz.   —   Ich  behaupte,   daß: 


Algebraische  Reclinung.  g 

a  X  I  =  I  X  a. 

Der  Satz  ist  evident  für  ö  =  i . 

Man  verifiziert  analytisch,  daß  er  für  a  =  a  richtig 
ist,  wenn  -  er  für  a  ==  a  -\-  i   gilt. 

2.  Ich  behaupte,  daß: 

ax  b  =  b  X  a. 

Der  Satz  ist  soeben  bewiesen  für  b  =  1.  Man  würde 
analytisch  beweisen,  daß  er  für  b  =  ß  richtig  ist,  wenn 
er  für  b  =  ß  -\-  I   richtig  ist. 

IV. 

Ich  halte  jetzt  mit  dieser  einförmigen  Aufeinander- 
folge von  Entwicklungen  inne.  Aber  gerade  diese  Ein- 
förmigkeit läßt  das  Verfahren  besser  zur  Geltung  kommen, 
das  einförmig  ist  und  das  wir  bei  jedem  Schritte  wieder- 
finden. 

Dieses  Verfahren  ist  der  Beweis  durch  die  rekur- 
rierende Schlußweise.  Man  stellt  zuerst  den  Lehrsatz 
für  «  =  I  auf;  man  beweist  darauf,  daß  er  für  n  richtig 
ist,  wenn  er  für  n  —  i  stimmt,  und  man  schlußfolgert 
daraus,  daß  er  für  alle  ganzen  Zahlen  gilt. 

Wir  haben  soeben  gesehen,  wie  man  sich  dieses  Ver- 
fahrens bedienen  kann,  um  die  Regeln  der  Addition  und 
Multiplikation  zu  beweisen,  d.  h.  die  Regeln  der  alge- 
braischen Rechnung;  diese  Rechnung  ist  ein  Werkzeug, 
das  sich  in  weit  umfassenderem  Maße  zu  Umformungen 
eignet  als  der  einfache  logische  Schluß;  aber  sie  ist 
noch  ein  rein  analytisches  Werkzeug  und  nicht  fähig, 
uns  etwas  Neues  zu  lehren.  Wenn  die  Mathematik  kein 
anderes  hätte,  so  würde  sie  alsbald  in  ihrem  Vorwärts- 
kommen aufgehalten  werden;  aber  sie  findet  neue  Hilfs- 
quellen in  demselben  Verfahren,  d.  h.  in  der  rekurrieren- 
den Schlußweise,  und  so  kann  sie  weiter  vorwärtsschreiten. 


jO  I)  I-     Mathematische  Schlußweisen. 

Bei  näherer  Prüfung  findet  man  auf  Schritt  und  Tritt 
diese  Art  der  Schlußweise,  sei  es  in  der  einfachen  Ge- 
stalt, welche  wir  ihr  soeben  gaben,  sei  es  in  einer  mehr 
oder  weniger  veränderten  Gestalt. 

Hier  haben  wir  die  mathematische  Schlußweise  in 
ihrer  reinsten  Form,  und  es  ist  für  uns  notwendig,  sie 
näher  zu  prüfen. 

V. 

Die  Haupteigenschaft  des  rekurrierenden  Verfahrens 
besteht  darin,  daß  es,  sozusagen  in  einer  einzigen  Formel 
zusammengedrängt,  eine  unendliche  Anzahl  von  Syllogis- 
men enthält. 

Um  sich  darüber  besser  klar  zu  werden,  will  ich 
einen  dieser  Syllogismen  nach  dem  anderen  darlegen; 
sie  folgen  aufeinander  —  man  gestatte  mir  dieses 
Bild   —  wie  Kaskaden. 

Es  sind,  wohlverstanden,  hypothetische  Syllogismen. 
Der  Lehrsatz  gilt  für  die  Zahl    i. 
Ist  er  richtig  für    i,   so   ist  er  auch  richtig  für  2. 
Er  gilt  also  für   2. 

Ist  er  richtig  für  2,  so  gilt  er  auch  für  3. 
Er  gilt  also  für  3,  und  so  weiter. 

Man  sieht,  daß  die  Schlußfolgerung  eines  jeden  Syl- 
logismus dem  folgenden  als  Unterlage  dient. 

Ja,  noch  mehr:  die  Folgesätze  aller  unserer  Syllo- 
gismen können  auf  eine  einzige  Formel  zurückgeführt 
werden : 

Wenn  der  Lehrsatz  füin  —  i  gilt,  so  gilt  er  auch  für  ?t. 

Man  sieht  also,  daß  man  sich  bei  dem  rekurrieren- 
den Verfahren  darauf  beschränkt,  die  Unterlage  des  ersten 
Syllogismus  und  die  allgemeine  Formel  darzulegen,  welche 
alle  Folgesätze  als  besondere  Fälle  enthält. 

Diese  Reihe  von  Syllogismen,  welche  niemals  enden 
würde,  wird  so  auf  einen  Satz  von  wenigen  Linien  reduziert. 


Rekurrierendes  Verfahren.  1 1 

Es  ist  jetzt  leicht  verständlich,  warum  jede  besondere 
Folgerung  eines  Lehrsatzes,  wie  ich  es  oben  dargelegt 
habe,  durch  rein  analytisches  Verfahren  verifiziert  werden 
kann. 

Wenn  wir,  anstatt  zu  zeigen,  daß  unser  Lehrsatz  für 
alle  Zahlen  gilt,  nur  vor  Augen  führen  wollen,  daß  er 
z.  B.  für  die  Zahl  6  gilt,  so  wird  es  genügen,  die  fünf 
ersten  Syllogismen  unserer  Kaskade  aufzustellen;  wir 
würden  neun  brauchen,  wenn  wir  den  Lehrsatz  für  die 
Zahl  lo  beweisen  wollten,  für  eine  größere  Zahl  würden 
wir  noch  mehr  brauchen;  aber  wie  groß  auch  diese  Zahl 
sei,  wir  würden  sie  schließlich  immer  erreichen,  und  die 
analytische  Verifikation  würde  möglich  sein. 

Und  wenn  wir  auch  noch  so  weit  in  dieser  Weise 
fortschreiten  würden,  so  könnten  wir  uns  doch  niemals 
bis  zu  dem  allgemeinen  Lehrsatze  erheben,  der  für  alle 
Zahlen  anwendbar  ist  und  welcher  allein  der  Gegenstand 
der  Wissenschaft  ist.  Um  dahin  zu  gelangen,  bedürfte 
es  einer  unendlichen  Anzahl  von  Syllogismen;  es  müßte 
ein  Abgrund  übersprungen  werden,  welchen  die  Geduld 
des  Analysten,  der  auf  die  formale  Logik  als  einzige 
Quelle  beschränkt  ist,  niemals  ausfüllen  könnte. 

Ich  fragte  zu  Anfang  (vgl.  S.  2),  weshalb  man  sich 
nicht  einen  Verstand  vorstellen  könnte,  der  stark  genug 
wäre,  mit  einem  Blicke  die  Gesamtheit  der  mathemati- 
schen Wahrheiten  zu  erfassen. 

Die  Antwort  ist  jetzt  erleichtert;  ein  Schachspieler 
kann  vier  Züge  im  voraus  berechnen,  vielleicht  auch 
fünf,  aber  wenn  man  ihm  auch  Außerordentliches  zu- 
traut, so  wird  er  sich  immer  nur  eine  endliche  Zahl  zu- 
rechtlegen können;  wenn  er  seine  Fähigkeiten  auf  die 
Arithmetik  anwendet,  so  wird  er  nicht  im  stände  sein, 
sich  deren  allgemeine  Wahrheiten  mit  einer  einzigen 
direkten  Anschauung  zum  Bewußtsein  zu  bringen;  um 
zu    dem  kleinsten  Lehrsatze  zu  gelangen,  kann  er  nicht 


12  I>  I«     Mathematische  Schlußweisen. 

das  rekurrierende  Verfahren  entbehren,  weil  dies  ein 
Werkzeug  ist,  welches  uns  erlaubt,  vom  Endlichen  zum 
Unendlichen  fortzuschreiten. 

Dieses  Werkzeug  ist  immer  nützlich,  denn  es  erlaubt 
uns,  mit  einem  Satze  so  viele  Stationen  zu  überspringen, 
wie  wir  wollen,  und  erspart  uns  dadurch  lange,  er- 
müdende und  einförmige  Verifikationen,  welche  sich  bald 
als  unbrauchbar  erweisen  würden.  Aber  dieses  Werk- 
zeug wird  unentbehrlich,  wenn  man  den  allgemeinen 
Lehrsatz  im  Auge  hat,  dem  wir  uns  durch  analytische 
Verifikationen  unaufhörlich  nähern,  ohne  ihn  jemals  zu 
erreichen. 

In  diesem  Gebiete  der  Arithmetik  kann  man  meinen, 
von  der  Infinitesimal-Rechnung  weit  entfernt  zu  sein; 
und  dennoch  spielt,  wie  wir  soeben  gesehen  haben,  die 
Idee  des  mathematischen  Unendlich  schon  eine  hervor- 
ragende Rolle,  und  ohne  sie  würde  es  keine  Wissen- 
schaft geben,  weil  es  nichts  Allgemeines  geben  würde. 

VI. 

Das  Urteil,  auf  welchem  die  Entwicklung  durch  das 
rekurrierende  Verfahren  beruht,  kann  in  andere  Formen 
gesetzt  werden;  man  kann  z.  B.  sagen,  daß  es  in  einer 
unendlichen  Menge  von  verschiedenen  ganzen  Zahlen 
immer  eine  gibt,  welche  kleiner  ist  als  alle  übrigen. 

Man  kann  leicht  von  einer  Aussage  zur  anderen 
übergehen  und  sich  so  der  Einbildung  hingeben,  als 
hätte  man  die  Legitimität  des  rekurrierenden  Verfahrens 
bewiesen.  Aber  man  wird  immer  auf  ein  Hindernis 
stoßen,  man  wird  immer  zu  einem  unbeweisbaren  Axiom 
gelangen,  welches  im  Grunde  nichts  weiter  ist  als  der 
zu  beweisende  Satz,  in  eine  andere  Sprache  übersetzt. 

Man  kann  sich  daher  der  Schlußfolgerung  nicht  ent- 
ziehen,   daß    das   Gesetz    des    rekurrierenden    Verfahrens 


Physikalische  Induktion.  Iß 

nicht  auf  das  Prinzip  des  Widerspruchs  zurückführ- 
bar ist. 

Zu  diesem  Gesetze  können  wir  nicht  durch  die  Er- 
fahrung gelangen;  die  Erfahrung  könnte  uns  z.  B.  lehren, 
daß  das  Gesetz  für  die  zehn,  für  die  hundert  ersten 
Zahlen  richtig  ist,  sie  kann  nicht  die  unendliche  Folge 
der  Zahlen  erreichen,  sondern  nur  einen  größeren  oder 
kleineren,  aber  immer  einen  begrenzten  Teil  dieser  Zahlen- 
folge. 

Wenn  es  sich  jedoch  nur  darum  handelt,  so  würde 
das  Prinzip  des  Widerspruchs  genügen;  es  würde  uns 
gestatten,  immer  so  viele  logische  Schlüsse  zu  entwickeln, 
wie  wir  wollen;  nur  wenn  es  sich  darum  handelt,  eine 
unendliche  Anzahl  in  eine  einzige  Formel  zusammenzu- 
fassen, nur  vor  dem  Unendlichen  versagt  dieses  Prinzip, 
und  genau  an  diesem  Punkte  wird  auch  die  Erfahrung 
machtlos.  Dieses  Gesetz,  welches  dem  analytischen  Be- 
weise ebenso  unzugänglich  ist  wie  der  Erfahrung,  gibt 
den  eigentlichen  Typus  des  synthetischen  Urteils  a  priori. 
Man  kann  andrerseits  darin  nicht  bloßes  Übereinkommen 
sehen  wollen,  wie  bei  einigen  Postulaten  der  Geometrie. 

Warum  drängt  sich  uns  dieses  Urteil  mit  einer  un- 
widerstehlichen Gewalt  auf?  Das  kommt  daher,  weil  es 
nur  die  Bestätigung  der  Geisteskraft  ist,  welche  über- 
zeugt ist,  sich  die  unendliche  Wiederholung  eines  und 
desselben  Schrittes  vorstellen  zu  können,  wenn  dieser 
Schritt  einmal  als  möglich  erkannt  ist.  Der  Verstand 
hat  von  dieser  Macht  eine  direkte  Anschauung,  und  die 
Erfahrung  kann  für  ihn  nur  eine  Gelegenheit  sein,  sich 
derselben  zu  bedienen  und  dadurch  derselben  bewußt 
zu  werden. 

Aber,  wird  man  einwenden,  wenn  das  rohe  Experi- 
ment das  rekurrierende  Verfahren  nicht  rechtfertigen 
kann,  ist  es  dann  nicht  ebenso,  wenn  die  Induktion 
dem  Experimente  zu  Hilfe  kommt?     Wir   sehen   succes- 


I^  I5  I.     Mathematische  Schlußweisen. 

sive,  daß  ein  Lehrsatz  richtig  ist  für  die  Zahl  i,  für  die 
Zahl  2,  für  die  Zahl  3  u.  s.  w. ;  das  Gesetz  ist  evi- 
dent, so  sagen  wir;  und  es  ist  das  ebenso  berechtigt 
wie  bei  jedem  physikalischen  Gesetze,  das  sich  auf  Be- 
obachtungen stützt,  deren  Zahl  zwar  sehr  groß,  aber 
immer  endlich  ist. 

Man  kann  nicht  verkennen,  daß  hier  eine  auffällige 
Analogie  mit  den  gebräuchlichen  Verfahrungsweisen  der 
Induktion  vorhanden  ist.  Aber  es  besteht  ein  wesent- 
licher Unterschied.  Die  Induktion  bleibt  in  ihrer  An- 
wendung auf  die  physikalischen  Wissenschaften  immer 
unsicher,  weil  sie  auf  dem  Glauben  an  eine  allgemeine 
Gesetzmäßigkeit  des  Universums  beruht,  und  diese  Ge- 
setzmäßigkeit liegt  außerhalb  von  uns  selbst.  Die  mathe- 
matische Induktion  dagegen,  d.  h.  der  Beweis  durch 
rekurrierendes  Verfahren,  zwingt  sich  uns  mit  Notwendig- 
keit auf,  weil  er  nur  die  Betätigung  einer  Eigenschaft 
unseres  eigenen  Verstandes  ist.^) 


VII. 

Wie  ich  schon  erwähnt  habe,  bemühen  sich  die 
Mathematiker  immer,  die  Sätze,  welche  sie  erhalten 
haben,  weiter  zu  verallgemeinern;  so  (um  nicht  andere 
Beispiele  zu  suchen)  haben  wir  eben  die  Gleichung: 

a  -\-  1  =  I  -\-  a 

bewiesen;  und  wir  haben  uns  derselben  bedient,  um  da- 
raus die  Gleichung: 

a  -]-  b  =  b  -{-  a 

abzuleiten,  welche  offenbar  allgemeiner  ist. 

Die  Mathematik  kann  daher,  wie  die  anderen  Wissen- 
schaften, vom  Besonderen  zum  Allgemeinen  fortschreiten. 

Hierin  liegt  eine  Tatsache,  welche  uns  am  Anfang 
dieser   Darlegung    unverständlich    erschienen    wäre,    aber 


Mathematische  Konstruktion.  ic 

welche  jetzt  für  uns  nichts  Geheimnisvolles  hat,  nach- 
dem wir  die  Analogie  zwischen  dem  rekurrierenden  Be- 
weise und  der  gewöhnlichen  Induktion  festgestellt  haben. 

Ohne  Zweifel,  die  mathematisch-rekurrierende  Schluß- 
weise und  die  physikalisch-induktive  Schlußweise  beruhen 
auf  verschiedenen  Grundlagen,  aber  ihre  Wege  laufen 
parallel;  sie  schreiten  in  demselben  Sinne  fort,  d.  h.  vom 
Besonderen  zum  Allgemeinen. 

Gehen  wir  darauf  noch  etwas  näher  ein.  Um  die 
Gleichung : 

(1)  ß  -|-   2  =  2  -f-  (2 

ZU  beweisen,  genügt  es,  zweimal  die  Regel: 

a  -\-  1  =  i  -\-  a 
anzuwenden  und  zu  schreiben: 

(2)  a-{-2=a-}-i-\-i  =  i-\-a-^i  =  i-^i+a  =  2-\-a. 

Die  Gleichung  (2)  ist  so  auf  rein  analytischem  Wege 
aus  der  Gleichung  (i)  abgeleitet;  sie  ist  demnach  nicht 
ein  bloßer  Spezialfall  derselben;  sie  ist  etwas  anderes. 

Man  kann  daher  nicht  sagen,  daß  man  im  eigentlich 
analytischen  und  deduktiven  Teile  der  mathematischen 
Entwicklungen  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  vom 
Allgemeinen  zum  Besonderen  übergeht.  Die  beiden 
Seiten  der  Gleichung  (2)  sind  einfach  verwickeitere  Kom- 
binationen als  die  beiden  Seiten  der  Gleichung  (i),  und 
die  Analyse  dient  nur  dazu,  die  Elemente,  welche  in 
diese  Kombinationen  eingehen,  zu  trennen  und  ihre  gegen- 
seitigen Beziehungen  zu  studieren. 

Die  Mathematik  kommt  also  „durch  Konstruktionen" 
vorwärts,  sie  ,, konstruiert"  immer  verwickeitere  Kom- 
binationen. Indem  sie  dann  durch  die  Analyse  dieser 
Kombinationen,  die  man  als  selbständige  Gesamtheiten 
bezeichnen  könnte,  zu  ihren  ursprünglichen  Elementen 
zurückkehrt,  wird  sie  sich  der  gegenseitigen  Beziehungen 


j^  I,  I.    Mathematisclie  Schlußweisen, 

dieser  Elemente  bewußt  und  leitet  daraus  die  Beziehungen 
zwischen  diesen  Gesamtheiten  selbst  ab. 

Das  ist  ein  rein  analytisches  Vorgehen,  aber  nicht 
ein  Vorgehen  vom  Allgemeinen  zum  Besonderen,  denn 
die  Gesamtheiten  können  offenbar  nicht  so  angesehen 
werden,  als  wären  sie  von  speziellerer  Natur  wie  ihre 
Elemente. 

Man  hat  mit  Recht  diesem  Prozesse  der  Konstruktion 
eine  große  Wichtigkeit  beigelegt,  und  man  hat  darin  die 
notwendige  und  hinreichende  Bedingung  für  die  Fort- 
schritte der  exakten  Wissenschaften  erkennen  wollen. 

Notwendig?  ohne  Zweifel;   aber  hinreichend?  nein! 

Damit  eine  Konstruktion  nützlich  sein  kann,  damit 
sie  nicht  nur  eine  überflüssige  Anstrengung  des  Ver- 
standes darstellt,  damit  sie  jedem  als  Sprungbrett  dienen 
kann,  der  sich  höher  erheben  will,  muß  sie  vor  allem 
eine  Art  Einheit  besitzen,  welche  erlaubt,  darin  etwas 
anderes  zu  sehen  als  die  bloße  Anhäufung  von  Ele- 
menten. 

Oder  genauer:  man  muß  einen  Vorteil  darin  erkennen, 
daß  man  lieber  die  Konstruktion  als  die  einzelnen  Ele- 
mente betrachtet. 

Welcher  Art  kann  dieser  Vorteil  sein? 

Warum  z.  B.  soll  man  sich  lieber  mit  einem  Polygon 
beschäftigen,  das  doch  stets  in  Dreiecke  zerlegbar  ist, 
als  mit  diesen  Elementar-Dreiecken? 

Offenbar,  weil  es  Eigenschaften  gibt,  die  den  Poly- 
gonen mit  einer  beliebigen  Anzahl  von  Seiten  zukommen 
und  die  man  unmittelbar  auf  irgend  ein  besonderes 
Polygon  anwenden  kann. 

Meistens  dagegen  wird  man  sie  nur  um  den  Preis 
sehr  langwieriger  Bemühungen  dadurch  wiederfinden,  daß 
man  direkt  die  Verhältnisse  der  Elementar- Dreiecke 
studiert. 

Wenn   das  Viereck   etwas   anderes   ist   als   zwei    an- 


Mathematische  Induktion.  17 

einandergelegte  Dreiecke,  so  liegt  dies  daran,  daß  das 
Viereck  zur  Klasse  der  Polygone  gehört. 

Eine  Konstruktion  wird  nur  interessant,  wenn  man 
sie  an  andere,  ähnliche  Konstruktionen  anreihen  kann, 
so  daß  alle  zu  einer  gemeinsamen  Klasse  gehören. 

Überdies  muß  man  die  Eigenschaften  dieser  Klasse 
ableiten  können,  ohne  sie  einzeln  nacheinander  für  jedes 
Individuum  der  Klasse  aufzustellen. 

Um  dahin  zu  gelangen,  muß  man  notwendigerweise 
vom  Besonderen  zum  Allgemeinen  aufsteigen,  indem  man 
eine  oder  mehrere  Stufen  weiterklimmt. 

Das  analytiscde  Verfahren  ,, durch  Konstruktion"  nötigt 
uns  nicht  herabzusteigen,  aber  es  läßt  uns  auf  demselben 
Niveau. 

Wir  können  uns  nur  durch  die  mathematische  In- 
duktion erheben,  welche  allein  uns  etwas  Neues  lehren 
kann.  Ohne  die  Hilfe  dieser  Induktion,  welche  in  ge- 
wissem Sinne  von  der  physikalischen  Induktion  verschie- 
den, aber  fruchtbar  wie  diese  ist,  würde  die  Konstruk- 
tion nicht  im   stände  sein,  eine  Wissenschaft  aufzubauen. 

Schließlich  wollen  wir  bemerken,  daß  diese  Induktion 
nur  möglich  ist,  wenn  eine  und  dieselbe  Operation  un- 
endlich oft  wiederholt  werden  kann.  Deshalb  wird  die 
Theorie  des  Schachspiels  niemals  eine  Wissenschaft  werden 
können,  denn  die  verschiedenen  Züge  einer  und  derselben 
Partie  haben  keine  Ähnlichkeit  untereinander. 


Zweites  Kapitel. 

Die  mathematische  Größe  und  die  Erfahrung. 

Wenn  man  wissen  will,  was  die  Mathematiker  unter 
einem  Kontinuum  verstehen,  muß  man  nicht  bei  der 
Geometrie  anfragen;   der  Geometer  sucht  sich  immer  die 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  2 


l8  I,  2.    Mathematische  Größe  und  Erfahrung. 

von  ihm  studierten  Figuren  mehr  oder  weniger  darzu- 
stellen, aber  seine  Darstellungen  sind  für  ihn  nur  Hilfs- 
mittel. Er  macht  Geometrie  mit  nur  im  Räume  vorge- 
stellten Linien  ebenso  gut  wie  mit  der  Kreide  auf  der 
Tafel;  auch  muß  man  sich  hüten,  Zufälligkeiten,  welche 
oft  ebenso  unwichtig  sind  wie  die  Farbe  der  Kreide,  all- 
zuviel Bedeutung  beizulegen. 

Der  reine  Analytiker  hat  diese  Klippe  nicht  zu  fürch- 
ten. Er  hat  die  mathematische  Wissenschaft  aller  fremden 
Elemente  entkleidet  und  er  kann  auf  die  Frage  ant- 
worten: was  ist  eigentlich  dieses  Kontinuum,  mit  dem 
die  Mathematiker  arbeiten?  Viele  von  ihnen,  welche 
über  ihre  Kunst  nachdenken,  haben  bereits  geantwortet, 
z.  B.  Herr  Tannery  in  seiner  „Introduction  ä  la  theorie 
des  fonctions  d'une  variable." 

Gehen  wir  von  der  Stufenleiter  der  ganzen  Zahlen 
aus;  zwischen  zwei  aufeinanderfolgende  Stufen  schieben 
wir  eine  oder  mehrere  Zwischenstufen  ein,  dann  zwischen 
diese  neuen  Stufen  wieder  andere  und  so  fort  ohne 
Ende.  Wir  haben  so  eine  unbegrenzte  Anzahl  von 
Gliedern;  das  sind  die  Zahlen,  welche  man  als  Brüche 
oder  als  rationale,  bezw.  kommensurable  Zahlen  be- 
zeichnet. Aber  dies  ist  nicht  alles;  zwischen  diese 
Glieder,  welche  doch  schon  in  unendlicher  Anzahl  vor- 
handen sind,  muß  man  noch  wieder  andere  einschalten, 
welche  man  als  irrationale  oder  inkommensurable  Zahlen 
bezeichnet. 

Bevor  wir  weiter  gehen,  machen  wir  erst  eine  Be- 
merkung. Das  so  aufgefaßte  Kontinuum  ist  nur  eine 
Ansammlung  von  Individuen,  die  in  eine  gewisse  Ord- 
nung gebracht  sind;  allerdings  ist  ihre  Anzahl  unendlich 
groß,  aber  sie  sind  doch  voneinander  getrennt. 
Das  ist  nicht  die  gewöhnliche  Vorstellung,  bei  der  man 
zwischen  den  Elementen  des  Kontinuums  eine  Art  inniger 
Verbindung  voraussetzt,  welche  daraus  ein  Ganzes  macht 


Das  Kontinuum.  jq 

und  wo  der  Punkt  nicht  früher  als  die  Linie  existiert^ 
aber  wohl  die  Linie  früher  als  der  Punkt.  Von  der  be- 
rühmten Formulierung  ,,das  Kontinuum  ist  die  Einheit 
in  der  Vielheit"  bleibt  nur  die  Vielheit  übrig,  die  Ein- 
heit ist  verschwunden.  Die  Analytiker  haben  deshalb 
nicht  weniger  Recht,  ihr  Kontinuum  so  zu  definieren, 
wie  sie  es  tun,  denn  nur  mit  dem  so  definierten  Kon- 
tinuum arbeiten  sie,  wenn  sie  die  höchste  Strenge  ihrer 
Beweise  erreichen  wollen.  Aber  das  ist  genug,  um  vor- 
läufig einzusehen,  daß  das  eigentliche  mathematische 
Kontinuum  etwas  ganz  anderes  ist  als  das  Kontinuum 
der  Physiker  oder  dasjenige  der  Metaphysiker. 

Man  wird  vielleicht  sagen,  daß  sich  die  Mathematiker, 
welche  sich  mit  dieser  Definition  begnügen,  durch  Worte 
betrügen  lassen,  daß  man  in  einer  knappen  Form  aus- 
drücken müßte,  was  jede  dieser  dazwischen  liegenden 
Stufen  bedeute,  daß  man  erklären  müßte,  wie  man  sie 
einzuschalten  hat,  und  beweisen  müßte,  daß  es  möglich 
ist  dieses  auszuführen.  Aber  das  würde  unbillig  sein; 
die  einzige  Eigenschaft  dieser  Stufen,  welche  bei  ihren 
Überlegungen*)  benutzt  wird,  ist  diejenige,  daß  jede  sich 
vor  oder  hinter  einer  anderen  befindet;  diese  Eigenschaft 
allein  darf  deshalb  bei  Definition  der  Stufe  benutzt 
werden. 

Also  braucht  man  sich  nicht  über  die  Art  und  Weise 
zu  beunruhigen,  wie  man  diese  Zwischenglieder  einzu- 
schalten hat;  andererseits  wird  niemand  daran  zweifeln, 
daß  diese  Operation  möglich  ist,  es  sei  denn,  er  vergäße, 
daß  dieses  letztere  Wort  in  der  Sprache  der  Mathematik 
einfach  so  viel  bedeutet  als  „frei  von  Widersprüchen". 

Unsere  Definition  ist  gleichwohl  noch  nicht  vollständig, 


*)  Hier  sind  diejenigen  Überlegungen  eingeschlossen,  welche 
in  den  gewöhnlichen  Festsetzungen  implicite  enthalten  sind,  die 
zur  Definition  der  Addition  dienen  und  auf  die  wir  später  zurück- 
kommen. 


20  I)  2.     Mathematische  Größe  und  Erfahrung. 

und  nach  dieser  allzulangen  Abschweifung  komme  ich 
jetzt  darauf  zurück. 

Definition  der  inkommensurablen  Zahlen.  —  Die 

Mathematiker  der  Berliner  Schule  haben  mit  Vorliebe 
den  Gedanken  vertreten,  daß  man  diese  kontinuirliche 
Stufenleiter  der  gebrochenen  und  irrationalen  Zahlen 
aufbauen  könne,  ohne  sich  anderer  Bausteine  zu  be- 
dienen als  ganzer  Zahlen.  Bei  dieser  Anschauungsweise 
würde  das  mathematische  Kontinuum  nur  eine  Schöpfung 
des  Verstandes  sein,  mit  der  die  Erfahrung  nichts  zu 
tun  hat.^) 

Der  Begriff  der  rationalen  Zahl  schien  ihnen  keine 
Schwierigkeit  zu  bereiten,  sie  haben  sich  hauptsächlich 
bemüht,  die  inkommensurable  Zahl  definieren  zu  wollen. 
Aber  ehe  ich  eine  entsprechende  Definition  gebe,  muß  ich 
eine  Bemerkung  einflechten,  um  dem  Erstaunen  zuvor- 
zukommen, das  sie  unfehlbar  bei  solchen  Lesern  hervor- 
rufen würde,  welche  mit  den  Gewohnheiten  der  Mathe- 
matiker wenig  vertraut  sind. 

Die  Mathematiker  studieren  nicht  Objekte,  sondern 
Beziehungen  zwischen  den  Objekten;  es  kommt  ihnen 
deshalb  nicht  darauf  an,  diese  Objekte  durch  andere  zu 
ersetzen,  wenn  dabei  nur  die  Beziehungen  ungeändert 
bleiben.  Der  Gegenstand  ist  für  sie  gleichgültig,  die 
Form  allein  hat  ihr  Interesse.  Wenn  man  dieses  nicht 
im  Auge  hätte,  würde  es  unverständlich  bleiben,  wie 
man  mit  dem  Namen  einer  inkommensurablen  Zahl 
ein  bloßes  Symbol  bezeichnet,  d.  h.  etwas,  das  gänzlich 
verschieden  von  der  Idee  ist,  welche  man  sich  von 
einer  Größe  macht,  die  doch  meßbar  und  greifbar  sein 
sollte. 

Die  gemeinte  Definition  kann  etwa  in  folgender  Weise 
gefaßt  werden^): 

Man  kann  auf  unendlich  viele  Weise  die  kommen- 
surablen  Zahlen    derart    in    zwei   Klassen    einteilen,    daß 


Inkommensurable  Zahlen.  2  I 

irgend  eine  Zahl  der  ersten  Klasse  größer  ist  als  irgend 
eine  Zahl  der  zweiten  Klasse. 

Es  kann  eintreten,  daß  unter  den  Zahlen  der  ersten 
Klasse  eine  vorkommt,  welche  kleiner  ist  als  alle  ande- 
ren; wenn  man  z.  B.  in  die  erste  Klasse  alle  Zahlen 
einreiht,  die  größer  als  2  sind,  und  2  selbst  und  in  die 
zweite  Klasse  alle  Zahlen,  die  kleiner  als  2  sind,  so  ist 
es  klar,  daß  2  die  kleinste  Zahl  unter  allen  in  der  ersten 
Klasse  ist.  Die  Zahl  2  wird  dann  als  Symbol  dieser 
Einteilungsart  gewählt  werden  können. 

Im  Gegensatze  hierzu  kann  es  vorkommen,  daß  unter 
den  Zahlen  der  zweiten  Klasse  eine  auftritt,  die  größer 
ist  als  alle  anderen;  das  ist  z.  B.  der  Fall,  wenn  die 
erste  Klasse  alle  Zahlen  umfaßt,  die  größer  als  2  sind, 
und  die  zweite  alle  Zahlen,  die  kleiner  als  2  sind,  und 
2  selbst.  Auch  hier  kann  die  Zahl  2  als  Symbol  dieser 
Einteilungsar t  gelten. 

Aber  es  kann  ebenso  gut  vorkommen,  daß  man  weder 
in  der  ersten  Klasse  eine  Zahl  kleiner  als  alle  anderen, 
noch  in  der  zweiten  eine  Zahl  größer  als  alle  anderen 
finden  kann.  Nehmen  wir  z.  B.  an,  daß  man  in  die 
erste  Klasse  alle  kommensurablen  Zahlen  stellt,  deren 
Quadrat  größer  als  2  ist,  und  in  die  zweite  alle,  deren 
Quadrat  kleiner  als  2  ist.  Man  weiß,  daß  es  keine  Zahl 
gibt,  deren  Quadrat  genau  gleich  2  ist.  Es  gibt  dann 
offenbar  in  der  ersten  Klasse  keine  Zahl  kleiner  als  alle 
anderen,  denn  wie  nahe  das  Quadrat  einer  Zahl  auch 
der  2  komme,  man  wird  immer  eine  kommensurable 
Zahl  finden  können,  deren  Quadrat  der  Zahl  2  noch 
näher  kommt. 

Bei  dieser  Betrachtungsweise  ist  die  inkommensurable 
Zahl 

yT 

nichts  anderes    als    das  Symbol    dieser    besonderen  Ein- 


2  2  I,  2.     Mathematische  Größe  und  Erfahrung. 

teilung  der  kommensurablen  Zahlen;  und  jeder  Eintei- 
lungsart entspricht  so  eine  kommensurable  Zahl,  welche 
ihr  als  Symbol  dient,  oder  es  entspricht  ihr  keine  kom- 
mensurable Zahl. 

Aber  wenn  man  sich  hiermit  begnügen  wollte,  so 
würde  man  zu  sehr  den  Ursprung  dieser  Symbole  ver- 
gessen; es  bleibt  unaufgeklärt,  wie  man  dahin  gekommen 
ist,  ihnen  eine  Art  konkreter  Existenz  zuzusprechen;  und 
beginnt  andererseits  die  Schwierigkeit  nicht  ebenso  schon 
bei  den  gebrochenen  Zahlen  selbst?  Würden  wir  den 
Begriff  dieser  Zahlen  haben ^),  wenn  wir  nicht  im  voraus 
einen  Gegenstand  kennen  würden,  den  wir  uns  als  bis 
ins  Unendliche  teilbar,  d.  h.  als  ein  Kontinuum  vor- 
stellen? 

Das  physikalische  Kontinuum.  —  Man  kommt 
so  dazu,  sich  zu  fragen,  ob  der  Begriff  des  mathemati- 
schen Kontinuums  nicht  einfach  der  Erfahrung  ent- 
nommen ist.  Wenn  dem  so  wäre,  so  würden  die  rohen 
Angaben  der  Erfahrung,  die  eben  unsere  Empfindungen 
sind,  der  Messung  zugänglich  sein.  Wir  könnten  ver- 
sucht sein  zu  glauben,  daß  es  wirklich  so  ist,  denn  man 
hat  in  neuerer  Zeit  versucht,  sie  zu  messen,  und  sogar 
ein  Gesetz  formuliert,  daß  unter  dem  Namen  des  Fechner- 
schen  Gesetzes  bekannt  ist  und  nach  welchem  die  Emp- 
findung proportional  dem  Logarithmus  des  Reizes 
sein  soll.^) 

Aber  wenn  man  die  Experimente  genauer  prüft, 
durch  welche  man  dieses  Gesetz  zu  begründen  suchte, 
wird  man  zu  einer  ganz  entgegengesetzten  Folgerung  ge- 
führt. Man  hat  z.  B.  beobachtet,  daß  ein  Gewicht  A 
von  zehn  Gramm  und  ein  Gewicht  B  von  1 1  Gramm 
identische  Empfindungen  hervorriefen,  daß  das  Gewicht 
B  ebensowenig  von  einem  12  Gramm  schweren  Ge- 
wichte C  unterschieden  werden  konnte,  daß  man  aber 
leicht  das  Gewicht  A  vom  Gewichte  C  auseinanderhielt. 


Physikalisches  und  mathematisches  Kontinuum.  2^ 

Die  groben  Erfahrungsresultate  können  also  durch  folgende 
Beziehungen  ausgedrückt  werden: 

A  =  B,     B  ^  C,     A<  C, 

und  diese  können  als  Formulierung  des  physikalischen 
Kontinuums  betrachtet  werden. 

Das  ist  aber  absolut  unverträglich  mit  dem  Prinzipe 
des  Widerspruchs,  und  die  Notwendigkeit,  diesen  Miß- 
klang zu  beseitigen,  hat  uns  dazu  geführt,  das  mathe- 
matische Kontinuum  zu  erfinden.  Man  wird  also  zu 
dem  Schlüsse  genötigt,  daß  dieser  Begriff  in  allen  seinen 
Teilen  durch  den  Verstand  geschaffen  ist,  aber  daß  die 
Erfahrung  uns   dazu  Veranlassung  gegeben  hat. 

Wir  können  nicht  glauben,  daß  zwei  Größen,  welche 
einer  und  derselben  dritten  gleich  sind,  nicht  unterein- 
ander gleich  sein  sollen,  und  dadurch  werden  wir  dazu 
gebracht  vorauszusetzen,  daß  A  sowohl  von  B  als  von 
C  verschieden  sei,  daß  aber  die  Unvollkommenheit  unserer 
Sinne  uns  nicht  erlaubte,   sie  auseinanderzuhalten. 

Die  Schöpfung  des  mathematischen  Konti- 
nuums. —  Erstes  Stadium.  —  Um  uns  über  die  Tat- 
sachen Rechenschaft  zu  geben,  konnten  wir  uns  bisher 
damit  begnügen,  zwischen  A  und  B  eine  kleine  Anzahl 
von  Gliedern  einzuschalten,  deren  jedes  für  sich  blieb. 
Was  geschieht  nun,  wenn  wir  irgend  ein  Werkzeug  zu 
Hilfe  nehmen,  um  der  Schwäche  unserer  Sinne  nachzu- 
helfen, wenn  wir  uns  z.  B.  eines  Mikroskopes  bedienen? 
Glieder,  welche  wir  nicht  voneinander  unterscheiden 
konnten,  wie  soeben  A  und  B,  erscheinen  uns  jetzt  voll- 
kommen getrennt,  aber  zwischen  A  und  B,  die  jetzt  von- 
einander getrennt  sind,  läßt  sich  ein  neues  Glied  D  ein- 
schalten, das  wir  weder  von  A  noch  von  B  unterscheiden 
können.  Trotz  der  Anwendung  der  vollkommensten 
Methoden  werden  die  groben  Resultate  unserer  Erfahrung 
immer  den  Charakter  des  physikalischen  Kontinuums   an 


24  I,  2.    Mathematische  Größe  und  Erfahrung. 

sich  tragen  mit  dem  Widerspruche,  der  davon  unzer- 
trennlich ist.  Wir  werden  dem  nur  entgehen,  indem 
wir  ohne  Aufhören  neue  GHeder  zwischen  die  schon 
unterschiedenen  hineinschieben,  und  diese  Operation  muß 
bis  ins  Unendhche  fortgesetzt  werden.  Wir  würden  nur 
begreifen  können,  daß  man  dabei  irgendwo  aufhören 
müsse,  wenn  wir  uns  ein  Werkzeug  ausdenken,  das  hin- 
reichend mächtig  wäre,  um  das  physikaHsche  Kontinuum 
in  diskrete  Elemente  zu  zerlegen,  wie  das  Teleskop  die 
Milchstraße  in  einzelne  Sterne  auflöst.  Aber  das  können 
wir  uns  nicht  vorstellen;  in  der  Tat,  nur  durch  Ver- 
mittlung unserer  Sinne  bedienen  wir  uns  unserer  Werk- 
zeuge. Mit  dem  Auge  beobachten  wir  das  durch  <^as 
Mikroskop  vergrößerte  Bild,  und  folglich  muß  dieses 
Bild  immer  den  Charakter  der  Gesichtsempfindung  be- 
halten und  folglich  auch  denjenigen  des  physikalischen 
Kontinuums. 

Nichts  unterscheidet  eine  direkt  beobachtete  Länge 
von  der  Hälfte  dieser  Länge,  wenn  letztere  durch  das 
Mikroskop  verdoppelt  wird.  Das  Ganze  ist  dem  Teile 
homogen;  dadurch  entsteht  ein  neuer  Widerspruch  oder, 
besser  gesagt,  es  würde  ein  solcher  entstehen,  wenn  die 
Anzahl  der  Glieder  als  endlich  vorausgesetzt  wäre;  es 
ist  in  der  Tat  klar,  daß  der  Teil,  welcher  doch  weniger 
Glieder  enthält  als  das  Ganze,  dem  Ganzen  nicht  ahn-, 
lieh  sein  kann. 

Der  Widerspruch  hört  auf,  sobald  die  Anzahl  der 
Glieder  als  unbegrenzt  angesehen  wird;  nichts  verhindert 
uns,  z.  B.  die  Gesamtheit  der  ganzen  Zahlen  als  ähnlich 
der  Gesamtheit  der  geraden  Zahlen  anzusehen,  welche 
doch  nur  einen  Teil  der  ersteren  bilden,  und  wirklich 
gehört  zu  jeder  ganzen  Zahl  eine  gerade  Zahl,  welche 
von  der  ersteren   das  Doppelte  beträgt. 

Aber  nicht  bloß,  um  diesem  Widerspruche  zu  ent- 
gehen,   welcher  in    der  Erfahrungstatsache   enthalten   ist, 


Kontinua  verschiedener  Ordnung.  25 

wird  der  Verstand  dazu  geführt,  den  Begriff  eines  Kon- 
tinuums  zu  schaffen,  welches  durch  eine  unendliche  An- 
zahl von  Gliedern  gebildet  wird. 

Es  vollzieht  sich  dabei  alles  wie  in  der  Folge  der 
ganzen  Zahlen.  Wir  haben  die  Fähigkeit  zu  begreifen, 
daß  eine  Einheit  einer  gegebenen  Menge  von  Einzel- 
heiten hinzugefügt  werden  kann;  dank  der  Erfahrung 
haben  wir  Gelegenheit,  diese  Fähigkeiten  zu  üben  und 
uns  dieselbe  zum  Bewußtsein  zu  bringen:  aber  von  die- 
sem Moment  ab  fühlen  wir,  daß  unsere  Macht  keine 
Grenze  hat  und  daß  wir  endlos  weiter  zählen  könnten, 
obgleich  wir  niemals  eine  unbegrenzte  Anzahl  von  Dingen 
zu  zählen  hatten. 

Ebenso  empfinden  wir,  sobald  wir  dazu  geführt  sind, 
Mittelglieder  zwischen  die  unmittelbar  aufeinanderfolgen- 
den Glieder  einer  Reihe  einzuschalten,  daß  diese  Opera- 
tion über  jede  Grenze  hinaus  fortgesetzt  werden  kann 
und  daß  es  sozusagen  keinen  triftigen  Grund  dafür  gibt 
aufzuhören. 

I\Ian  erlaube  mir,  um  mich  kürzer  zu  fassen,  als 
mathematisches  Kontinuum  erster  Ordnung  jede  Gesamt- 
heit von  Gliedern  zu  bezeichnen,  die  nach  demselben 
Gesetze  gebildet  werden,  wie  die  Stufenleiter  der  kom- 
mensurablen Zahlen.  Wenn  wir  in  der  Folge  nach  dem 
Bildungsgesetze  der  inkommensurablen  Zahlen  neue  Stufen 
einschalten,  so  werden  wir  das  erhalten,  was  wir  ein 
Kontinuum  der  zweiten  Ordnung  nennen  wollen. 

Zweites  Stadium.  —  Wir  haben  bis  jetzt  nur  den 
ersten  Schritt  getan;  wir  haben  den  Ursprung  des  Kon- 
tinuums  erster  Ordnung  erklärt;  aber  wir  müssen  jetzt 
sehen,  warum  das  noch  nicht  genügt  und  warum  es  not- 
wendig ist,   die  inkommensurable  Zahl  zu  ersinnen. 

Wenn  man  sich  eine  Linie  vorstellen  will,  so  wäre 
es  nur  möglich  mit  den  Merkmalen  des  physikalischen 
Kontinuums,    das  heißt,   man  kann  sie  sich  nur  in  einer 


20  I)  2.    Mathematisclie  Größe  und  Erfahrung. 

gewissen  Breite  vorstellen.  Zwei  Linien  würden  uns  als- 
dann in  der  Gestalt  von  zwei  engen  Streifen  erscheinen, 
und  wenn  man  sich  mit  dieser  groben  Vorstellung  be- 
gnügt, so  ist  es  klar,  daß  diese  beiden  Linien,  wenn 
sie  sich  schneiden,  einen  Teil  gemeinsam  haben. '^) 

Aber  der  reine  Mathematiker  geht  einen  Schritt  weiter : 
ohne  ganz  auf  die  Hilfsmittel  seiner  Sinne  zu  verzichten, 
will  er  den  Begrifif  der  Linie  ohne  Breite  erlangen  und 
denjenigen  des  Punktes  ohne  Ausdehnung.  Er  kann 
dazu  nur  kommen,  indem  er  die  Linie  als  die  Grenze 
betrachtet,  welcher  sich  ein  immer  schmaler  werdender 
Streifen  unbegrenzt  nähert,  und  den  Punkt  als  die  Grenze, 
welcher  sich  ein  immer  kleiner  werdendes  Flächenstück 
beliebig  nähert.  Dann  werden  unsere  beiden  Streifen, 
so  schmal  sie  auch  sein  mögen,  immer  ein  Flächenstück 
gemeinsam  haben,  welches  desto  kleiner  sein  wird,  je 
weniger  breit  die  Streifen  sind,  und  deren  Grenze  das 
sein  wird,  was  der  reine  Mathematiker  einen  Punkt  nennt. 

Von  diesem  Standpunkte  aus  sagt  man,  daß  zwei 
Linien,  welche  sich  schneiden,  einen  Punkt  gemeinsam 
haben,  und  in  diesem  Sinne  erscheint  diese  Wahrheit 
einleuchtend. 

Aber  sie  würde  einen  Widerspruch  enthalten,  wenn 
man  die  Linien  als  Kontinua  erster  Ordnung  betrachten 
würde,  d.  h.  wenn  auf  den  vom  Mathematiker  gezogenen 
Linien  sich  nur  Punkte  befinden  sollten,  welche  rationale 
Zahlen  zu  Koordinaten  haben.  Der  Widerspruch  wird 
offenbar,  sobald  man  zum  Beispiel  die  Existenz  von 
Geraden  und  Kreisen  zuläßt. 

In  der  Tat  ist  folgendes  klar:  wenn  nur  die  Punkte 
mit  kommensurablen  Koordinaten  als  wirklich  betrachtet 
würden,  so  würden  die  Diagonale  eines  Quadrates  und 
der  diesem  Quadrate  eingeschriebene  Kreis  sich  nicht 
schneiden,  denn  die  Koordinaten  des  Schnittpunktes  be- 
rechnen sich  als  inkommensurable  Zahlen.^) 


Punkt  und  Linie. 


27 


Das  würde  nicht  genügen,  denn  man  würde  auf  diese 
Weise  nur  gewisse  inkommensurable  Zahlen  und  keines- 
wegs  alle  diese  Zahlen  erhalten. 

Stellen  wir  uns  eine  gerade  Linie  vor,  welche  in 
zwei  Halbstrahlen  geteilt  ist.  Jeder  dieser  Halbstrahlen 
wird  unserer  Einbildungskraft  als  ein  Streifen  von  einer 
gewissen  Breite  erscheinen;  diese  Streifen  würden  über- 
einander greifen,  weil  es  zwischen  ihnen  keinen  Zwischen- 
raum geben  darf.  Der  gemeinsame  Teil  wird  uns  wie 
ein  Punkt  erscheinen,  w^elcher  immer  bestehen  bleibt, 
wenn  wir  unsere  Streifen  in  der  Vorstellung  dünner  und 
dünner  werden  lassen,  und  so  werden  wir  es  als  eine 
anschauungsmäßige  Wahrheit  zulassen,  daß  die  gemein- 
same Grenze  zweier  Halbstrahlen,  in  welche  eine  Gerade 
geteilt  wird,  ein  Punkt  ist;  hier  werden  wir  an  die  oben 
erörterte  Vorstellung  (S.  2 1  f )  erinnert,  nach  welcher  eine 
inkommensurable  Zahl  als  die  gemeinsame  Grenze  zweier 
Klassen  von  rationalen  Zahlen  betrachtet  wurde. 

Auf  solche  Weise  entsteht  das  Kontinuum  zweiter 
Ordnung,  welches  mit  dem  eigentlichen  mathematischen 
Kontinuum  identisch  ist. 

Zusammenfassung.  —  Wir  haben  also  folgendes 
erkannt:  Der  Verstand  hat  die  Fähigkeit,  Symbole  zu 
schaffen,  und  dadurch  konstruiert  er  das  mathematische 
Kontinuum,  welches  nichts  anderes  ist  als  ein  beson- 
deres System  von  Symbolen.  Seine  Macht  wird  nur  be- 
grenzt durch  die  Notwendigkeit,  Widersprüche  zu  ver- 
meiden; aber  der  Verstand  macht  von  dieser  Fähigkeit 
nur  Gebrauch,  wenn  die  Erfahrung  ihm  dazu  Veran- 
lassung gibt. 

In  unserem  Falle  liegt  diese  Veranlassung  in  der 
Vorstellung  des  physikalischen  Kontinuums,  wie  sie  aus 
den  groben  Erfahrungen  der  Sinne  abgeleitet  wird.  Aber 
diese  Vorstellung  führt  zu  einer  Reihe  von  Widersprüchen, 
die  man   schrittweise  beseitigen   muß.     Dadurch   werden 


28  Ij  2.     Mathematische  Größe  und  Erfahrung. 

wir  genötigt,  ein  System  von  Symbolen  zu  ersinnen,  das 
immer  verwickelter  wird.  Dasjenige,  mit  welchem  wir 
uns  zufrieden  geben,  ist  nicht  nur  frei  von  inneren  Wider- 
sprüchen (das  galt  schon  für  alle  einzelnen  Abschnitte 
des  von  uns  zurückgelegten  Weges),  sondern  es  steht 
auch  nicht  im  Widerspruche  mit  den  verschiedenen 
Sätzen,  die  wir  als  anschauungsmäßige  bezeichnen  und 
welche  aus  mehr  oder  weniger  durchgearbeiteten,  er- 
fahrungsmäßigen Vorstellungen  abgeleitet  werden. 

Die  meßbare  Größe.  —  Die  Größen,  welche  wir 
bis  jetzt  studiert  haben,  sind  nicht  meßbar;  wir  können 
wohl  sagen,  ob  die  eine  dieser  Größen  größer  ist  als 
eine  bestimmte  andere,  aber  nicht,  ob  sie  zwei-  oder 
dreimal  so  groß  ist. 

Ich  habe  mich  in  der  Tat  bis  jetzt  nur  mit  der  Ord- 
nung beschäftigt,  in  welcher  unsere  Glieder  aufeinander 
folgen.  Aber  für  die  meisten  Anwendungen  ist  das 
nicht  genügend.  Wir  müssen  lernen,  die  Intervalle  zu 
vergleichen,  welche  die  aufeinanderfolgenden  Glieder 
irgend  zweier  Paare  von  Gliedern  voneinander  trennen. 
Nur  unter  dieser  Bedingung  wird  das  Kontinuum  eine 
meßbare  Größe  und  kann  man  auf  dasselbe  die  Opera- 
tionen der  Arithmetik  anwenden. 

Das  kann  nur  mit  Hilfe  einer  neuen  und  besonderen 
Übereinkunft  geschehen.  Man  wird  also  dahin  über- 
einkommen, daß  in  einem  gewissen  bestimmten  Falle 
das  Intervall  zwischen  den  Gliedern  A  und  B  gleich  ist 
dem  Intervalle,  welches  C  von  Z>  trennt.  Beim  Beginn 
unserer  Arbeit  sind  wir  z.  B.  von  der  Stufenleiter  der 
ganzen  Zahlen  ausgegangen,  und  wir  haben  vorausge- 
setzt, daß  man  zwischen  zwei  aufeinanderfolgenden  Stufen 
n  Zwischenstufen  einschalte;  wenn  dem  so  ist,  so  sollen 
die  neuen  Stufen  durch  Übereinkunft  als  äquidistant 
betrachtet  werden. 

Auf    diese    Weise    kann    man    die    Addition    zweier 


Meßbare  Größen,  29 

Größen  definieren;  denn  wenn  das  Intervall  AB  nach 
der  Definition  gleich  dem  Intervalle  CD  ist,  so  ist  nach 
der  Definition  auch  das  Intervall  AD  gleich  der  Summe 
der  Intervalle  A  B  und  A  C. 


AB  CD 

Voraus.   AB  =  CD,  Behaup.   AD  =  AB  +  AC 

Bew.   AD  =  AB  +  BC  +  CD 
=^  AB  +  fBC+  AB) 
==AB-^AC. 

Diese  Definition  ist  in  sehr  weitem  Umfange,  jedoch 
nicht  ganz  willkürlich.  Sie  ist  gewissen  Bedingungen 
unterworfen,  z.  B.  den  Gesetzen  der  Kommutativität  und 
der  Associativität  der  Addition  (Vgl.  oben  S.  7  f.).  Aber 
wenn  nur  die  gewählte  Definition  diesen  Regeln  genügt, 
so  steht  die  Wahl  sonst  frei,  und  es  ist  überflüssig,  sie 
näher  zu  präcisieren. 

Verschiedene  Bemerkungen.  —  Wir  können  uns 
mehrere  wichtige  Fragen  vorlegen: 

I.  Ist  die  schaff"ende  Kraft  des  Verstandes  mit  der 
Erschaffung   des   mathematischen  Kontinuums    erschöpft? 

Nein:  die  Arbeiten  von  P.  du  Bois-Reymond  zeigen 
es  in  schlagender  Weise.^) 

Man  weiß,  daß  die  Mathematiker  unendlich  kleine 
Größen  verschiedener  Ordnung  unterscheiden  und  daß 
diejenigen  zweiter  Ordnung  unendlich  klein  sind,  nicht 
nur  in  absolutem  Sinne,  sondern  sogar  in  Bezug  auf 
diejenigen  erster  Ordnung.  Es  ist  nicht  schwer,  sich 
unendlich  kleine  Größen  gebrochener  oder  sogar  irratio- 
naler Ordnung  auszudenken,  und  wir  finden  hier  die 
Stufenleiter  des  mathematischen  Kontinuums  wieder,  mit 
welcher  wir  uns  auf  den  vorhergehenden  Seiten  be- 
schäftigt haben. 


^O  I>  2.     Mathematische  Größe  und  Erfahrung. 

Noch  mehr:  es  existieren  unendhch  kleine  Größen, 
welche  unendlich  klein  im  Verhältnis  zu  denjenigen 
erster  Ordnung,  dagegen  unendlich  groß  im  Verhältnis 
zu  denjenigen  der  Ordnung  i  -\-  e  sind,  und  das  gilt,  so 
klein  auch  s  sein  mag.  Da  haben  wir  also  neue  Glieder 
in  unsere  Reihe  eingeschaltet,  und  wenn  man  mir  er- 
lauben will,  zu  der  schon  eben  angedeuteten  Ausdrucks- 
weise zurückzukehren,  welche  sehr  bequem,  wenn  auch 
nicht  durch  den  Gebrauch  geheiligt  ist,  so  könnte  ich 
sagen,  daß  man  auf  diese  Weise  ein  Kontinuum  dritter 
Ordnung  geschaffen  hat. 

Es  würde  leicht  sein  weiter  zu  gehen,  aber  es  würde 
ein  leeres  Spiel  des  Verstandes  werden;  man  würde  sich 
Symbole  ausdenken  ohne  jede  Möglichkeit  der  Anwen- 
dung, und  niemand  wird  sich  darum  kümmern.  Das 
Kontinuum  dritter  Ordnung,  zu  dem  die  Betrachtung 
der  verschiedenen  Ordnungen  unendlich  kleiner  Größen 
führt,  bietet  selbst  zu  wenig  Vorteile,  um  sich  das  Bürger- 
recht zu  erwerben,  und  die  Mathematiker  betrachten  es 
nur  als  eine  Merkwürdigkeit.  Der  Verstand  bedient  sich 
seiner  schöpferischen  Kraft  nur,  wenn  die  Erfahrung  ihn 
dazu  nötigt. 

2.  Hat  man  sich  einmal  den  Begriff  des  mathemati- 
schen Kontinuums  verschafft,  ist  man  dann  gegen  die- 
jenigen Widersprüche  gesichert,  welche  zur  Konstruktion 
des  Kontinuums  Veranlassung  gaben? 

Nein;  ich  will  es  durch  ein  Beispiel  erläutern: 

Man  muß  schon  sehr  weit  in  der  Mathematik  vorge- 
schritten sein,  um  es  nicht  für  selbstverständlich  zu 
halten,  daß  jede  Kurve  eine  Tangente  hat:  und  in  der 
Tat,  wenn  man  sich  diese  Kurve  und  eine  gerade  Linie 
als  zwei  schmale  Streifen  vorstellt,  so  wird  man  sie 
immer  in  eine  solche  Lage  bringen  können,  daß  sie  ein 
Flächenstück  gemeinsam  haben,  ohne  sich  zu  schneiden. 
Man  stellt  sich  weiter  vor,   daß  die  Breite  dieser  beiden 


Kurven  ohne  Tangenten.  ■JI 

Streifen  unbegrenzt  abnimmt,  so  wird  dieses  gemeinsame 
Stück  immer  erhalten  bleiben,  und  beim  Verfolgen  des 
Grenzüberganges  wird  man  sagen  können,  daß  die  beiden 
Linien  einen  Punkt  gemeinsam  haben,  ohne  sich  zu 
schneiden,   d.  h.   daß  sie  sich  berühren. 

Der  Mathematiker,  welcher  (bewußt  oder  unbewußt) 
auf  diese  Weise  seine  Schlüsse  machen  wollte,  würde 
nichts  anderes  tun,  als  was  wir  oben  (vgl.  S.  26)  getan 
haben,  um  zu  beweisen,  daß  zwei  Linien,  welche  sich 
schneiden,  einen  Punkt  gemeinsam  haben,  und  seine 
Anschauung  könnte  als  ebenso  berechtigt  erscheinen. 

Sie  würde  ihn  jedoch  in  diesem  Falle  täuschen.  INIan 
kann  beweisen,  daß  es  Kurven  gibt,  welche  keine  Tan- 
gente haben,  wenn  eine  solche  Kurve  als  ein  analytisches 
Kontinuum  zweiter  Ordnung  definiert  wird.^^) 

Ohne  Zweifel  hätte  irgend  ein  Kunstgriff,  ähnlich  den- 
jenigen, welche  wir  oben  studiert  haben,  genügt,  um 
diesen  Widerspruch  aufzuheben;  aber  da  letzterer  nur 
ganz  ausnahmsweise  vorkommt,  so  hat  man  sich  damit 
weiter  keine  Mühe  gegeben.  Anstatt  zu  versuchen,  die 
Anschauung  mit  der  Analysis  in  Übereinstimmung  zu 
bringen,  hat  man  sich  damit  begnügt,  die  eine  der  beiden 
zu  opfern,  und  da  die  Analysis  unfehlbar  bleiben  muß, 
so  hat  man  natürlich  der  Anschauung  Unrecht  gegeben. 

Das  physikalische  Kontinuuni  von  mehreren 
Dimensionen.  —  Ich  habe  weiter  oben  das  physi- 
kalische Kontinuum  durchgenommen,  so  wie  es  aus  den 
unmittelbaren  Beobachtungen  unserer  Sinne  hervorgeht, 
oder  wenn  man  will,  aus  den  groben  Resultaten  der 
Versuche  von  Fechner  (vgl.  S.  2 2 f.);  ich  habe  gezeigt, 
daß  diese  Erfahrungen  in  den  widersprechenden  Formeln 
zusammengefaßt  sind: 

A  =  B,     B  =  C,     A<:  C. 

Wir   wollen  jetzt   sehen,    wie    diese  Vorstellung   sich 


■2  2  I,  2.    Mathematisclie  Größe  und  Erfahrung. 

verallgemeinern  läßt  und  wie  daraus  der  Begriff  des 
Kontinuums  von  mehreren  Dimensionen  hervorgehen 
kann. 

Betrachten  wir  irgend  zwei  Gesamtheiten  von  Emp- 
findungen. Entweder  wir  können  sie  voneinander  unter- 
scheiden, oder  wir  können  es  nicht,  ebenso  wie  sich  in 
den  Untersuchungen  Fechners  ein  Gewicht  von  lo  Gramm 
von  einem  Gewichte  von  I2  Gramm  unterscheiden  ließ, 
aber  nicht  von  einem  Gewichte  von  1 1  Gramm.  Ich 
brauche  nichts  weiter,  um  das  Kontinuum  von  mehreren 
Dimensionen  zu  konstruieren. 

Wir  wollen  eine  dieser  Gesamtheiten  der  Empfindun- 
gen Element  nennen.  Dasselbe  wird  dem  mathematischen 
Punkt  ungefähr  analog  sein;  aber  doch  wird  es  nicht 
ganz  dasselbe  sein.  Wir  können  nicht  sagen,  daß  unser 
Element  ohne  Ausdehnung  sei,  weil  wir  es  nicht  von 
benachbarten  Elementen  unterscheiden  können  und  weil 
es  auch  von  einer  Art  undurchsichtiger  Schicht  umgeben 
ist.  Wenn  man  mir  diesen  astronomischen  Vergleich 
gestatten  will,  so  würden  sich  unsere  ,, Elemente"  wie 
Nebelflecke  verhalten,  während  die  mathematischen  Punkte 
sich  wie  Sterne  verhalten. 

Wenn  wir  an  dieser  Vorstellung  festhalten,  so  wird 
ein  System  von  Elementen  ein  Kontinuum  bilden,  wenn 
man  von  irgend  einem  Elemente  zu  irgend  einem  ande- 
ren durch  eine  Reihe  von  aufeinanderfolgenden  Elementen 
hindurch  übergehen  kann,  unter  denen  keines  sich  vom 
vorhergehenden  unterscheiden  läßt.  Diese  lineare  Reihe 
verhält  sich  zur  Linie  des  Mathematikers  wie  ein  ein- 
zelnes Element  sich  zum  Punkte  verhält. 

Ehe  wir  weiter  gehen,  muß  ich  erörtern,  was  ein 
Querschnitt  ist.  Fassen  wir  ein  Kontinuum  C  ins 
Auge  und  nehmen  ihm  gewisse  seiner  Elemente,  welche 
wir  für  einen  Augenblick  als  nicht  zu  diesem  Kontinuum 
zugehörig   betrachten.     Die    so    entnommene    Gesamtheit 


Mehrere  Dimensionen. 


33 


der  Elemente  wird  man  einen  Querschnitt  nennen.  Ver- 
mittelst dieses  Querschnittes  läßt  es  sich  bewerkstelligen, 
daß  C  in  mehrere  getrennte  Kontinua  zerlegt  wird,  und 
zwar  dann,  wenn  die  Gesamtheit  der  zurückbleibenden 
Elemente  aufhört  ein  einziges  Kontinuum  zu  bilden. 

Alsdann  sind  auf  C  zwei  Elemente  angebbar,  A  und 
B,  welche  man  als  zu  den  beiden  getrennten  Kontinuis 
gehörig  betrachten  müßte;  und  zwar  wird  man  letzteres 
dann  tun,  wenn  es  unmöglich  ist,  eine  lineare  Reihe 
aufeinander  folgender  Elemente  von  C  zu  finden,  wobei 
keines  der  Elemente  vom  vorhergehenden  zu  unter- 
scheiden ist  und  das  erste  Element  mit  A,  das  letzte 
mit  B  zusammenfällt,  ohne  daß  eines  unter  den 
Elementen  dieser  Reihe  von  einem  Elemente 
des  Querschnittes  nicht  unterschieden  werden 
kann. 

Es  kann  im  Gegenteil  möglich  sein,  daß  der  ge- 
machte Querschnitt  ungenügend  ist,  um  das  Kontinuum 
C  zu  zerlegen.  Um  die  physikalischen  Kontinua  einzu- 
teilen, werden  wir  genau  prüfen,  welches  diejenigen  Quer- 
schnitte sind,  die  man  notwendig  braucht,  um  die  Zer- 
legung durchzuführen. 

Wenn  man  ein  physikalisches  Kontinuum  C  durch 
einen  Querschnitt  zerlegen  kann,  welcher  sich  auf  eine 
endliche  Anzahl  von  gegeneinander  abgegrenzten  Ele- 
menten reduziert  und  welcher  folglich  weder  ein  Kon- 
tinuum noch  mehrere  Kontinua  bildet,  so  werden  wir  C 
ein  Kontinuum  von  einer  Dimension  nennen. ■'^^) 

Wenn  im  Gegenteil  C  nur  durch  Querschnitte  zer- 
legt werden  könnte,  welche  selbst  Kontinua  sind,  so 
werden  wir  sagen,  daß  C  mehrere  Dimensionen  hat. 
Wenn  es  genügt,  Querschnitte  zu  haben,  welche  Kon- 
tinua von  einer  Dimension  sind,  so  werden  wir  sagen, 
.daß    C  zwei    Dimensionen    hat;    wenn    zweidimensionale 

P  o  i  n  c  a  r  e ,  AVissenschaft  und  Hypothese.  3 


,o^  Mathematische  Größe  und  Erfahrung. 

Querschnitte  genügen,  so  werden  wir  sagen,   daß  C  drei 
Dimensionen  hat,  und  so  weiter. 

So  läßt  sich  der  Begriff  des  physikaUschen  Kon- 
tinuums  von  mehreren  Dimensionen  definieren,  dank  der 
einfachen  Tatsache,  daß  zwei  Gesamtheiten  von  Emp- 
findungen entweder  voneinander  unterscheidbar  oder 
nicht  voneinander  unterscheidbar  sind. 

Das  mathematische  Kontinuum  von  mehreren 
Dimensionen.  —  Der  Begriff  des  mathematischen  Kon- 
tinuums  von  n  Dimensionen  ist  daraus  ganz  natürHch 
durch  einen  Prozeß  hervorgegangen,  ganz  ähnUch  dem- 
jenigen, den  wir  am  Anfang  dieses  Kapitels  behandelt 
haben.  Ein  Punkt  eines  derartigen  Kontinuums  erscheint 
uns,  wie  man  weiß,  als  definiert  durch  ein  System  von  n 
verschiedenen  Größen,  welche  man  seine  Koordinaten 
nennt. 

Es  ist  nicht  immer  notwendig,  daß  diese  Größen 
meßbar  sind,  und  es  gibt  z.  B.  einen  Zweig  der  Mathe- 
matik, in  welchem  man  von  der  Messung  dieser  Größen 
Abstand  nimmt  und  wo  man  sich  ausschließlich  damit 
beschäftigt,  zu  erfahren,  ob  z.  B.  auf  einer  Kurve 
A  —  B  —  C  der  Punkt  B  zwischen  den  Punkten  A  und 
C  liegt,  und  nicht  damit,  zu  erfahren,  ob  der  Bogen 
AB  gleich  dem  Bogen  BC  oder  ob  er  etwa  zweimal, 
so  groß  ist.  Diesen  Zweig  der  Geometrie  nennt  man 
Analysis  situs.^^) 

Das  ist  ein  Lehrgebäude  für  sich,  welches  die  Auf- 
merksamkeit der  größesten  Mathematiker  auf  sich  ge- 
lenkt hat  und  bei  welchem  man  eine  Reihe  bemerkens- 
werter Lehrsätze  auseinander  hervorgehen  sieht.  Diese 
Lehrsätze  sind  von  denjenigen  der  gewöhnlichen  Geome- 
trie dadurch  ausgezeichnet,  daß  sie  rein  qualitativ  sind 
und  daß  sie  wahr  bleiben,  auch  wenn  die  Figuren 
durch  einen  ungeschickten  Zeichner  kopiert  würden, 
welcher  dabei  ihre  Proportionen   in   plumper  Weise  ver- 


Analysis  situs.  i>  c 

ändert  und  die  geraden  Linien  durch  mehr  oder  minder 
krumme  Züge  ersetzt. 

Dadurch,  daß  man  das  Maß  in  das  von  uns  soeben 
definierte  Kontinuum  einführen  wollte,  ist  dieses  Kon- 
tinuum  zum  Räume  geworden  und  ist  die  Geometrie 
geboren.  Aber  das  nähere  Studium  dieser  Verhältnisse 
behalte  ich  mir  für  den  zweiten  Teil  vor. 


Zweiter  Teil. 
Der  Raum. 

Drittes  Kapitel. 

Die  nicht -Euklidische  Geometrie. 

Jede  Schlußfolgerung  stützt  sich  auf  Voraussetzungen ; 
diese  Voraussetzungen  selbst  sind  entweder  an  sich  evi- 
dent und  bedürfen  keines  Beweises  oder  sie  können  nur 
dadurch  gesichert  werden,  daß  man  sich  auf  andere 
Sätze  stützt,  und  weil  man  so  nicht  ins  Unendliche  fort- 
fahren kann,  so  beruht  jede  deduktive  Wissenschaft  und 
besonders  die  Geometrie  auf  einer  gewissen  Anzahl  von 
unbeweisbaren  Axiomen.  Alle  Lehrbücher  der  Geometrie 
beginnen  daher  mit  der  Aufzählung  dieser  Axiome. 
Aber  man  muß  einen  Unterschied  zwischen  letzteren 
machen:  einige,  wie  z.  B.:  ,,Zwei  Größen,  die  einer  und 
derselben  dritten  gleich  sind,  sind  untereinander  gleich", 
sind  nicht  Behauptungen  der  Geometrie,  sondern  analy- 
tische Sätze.  Ich  betrachte  sie  als  analytische  Urteile 
a  priori    und  beschäftige  mich  nicht  weiter  mit  ihnen. ^^) 

Aber  ich  muß  mich  auf  andere  Axiome  berufen, 
welche  der  Geometrie  eigentümlich  sind.  Die  meisten 
Lehrbücher  geben  drei  solche  an: 

1.  Durch  zwei  Punkte  kann  nur  eine  Gerade   gehen; 

2.  Die  gerade  Linie  ist  der  kürzeste  Weg  von  einem 
Punkte  zum  anderen; 

3.  Durch  einen  Punkt  kann  man  nur  eine  Gerade 
gehen  lassen,  welche  zu  einer  gegebenen  Geraden  pa- 
rallel ist. 


Nicht-Euklidische  Geometrie.  ^y 

Obgleich  man  sich  im  allgemeinen  nicht  die  Mühe 
gibt,  das  zweite  Axiom  zu  beweisen,  würde  es  doch 
möglich  sein,  es  aus  den  beiden  anderen  und  aus  den 
viel  zahlreicheren  Axiomen  abzuleiten,  welche  man  im- 
plicite  zuläßt,  ohne  sie  auszusprechen,  wie  ich  weiterhin 
darlegen  werde. 

Man  hat  lange  vergeblich  versucht,  das  dritte  Axiom 
ebenfalls  zu  beweisen,  welches  unter  dem  Namen  des 
Euklidischen  Postulates  bekannt  ist.  Was  man  in 
dieser  unerfüllbaren  Hoffnung  an  Kräften  verschwendet 
hat,  ist  wirklich  unvorstellbar.  Endlich  stellten  im  An- 
fange des  Jahrhunderts  und  ungefähr  zu  der  gleichen 
Zeit  zwei  Gelehrte,  ein  Russe  und  ein  Ungar,  Loba- 
tschewsky  und  Bolyai  unwiderlegbar  fest,  daß  dieser  Be- 
weis unmöglich  sei;  sie  haben  uns  so  ziemlich  von  den 
Erfindern,  welche  unsere  elementare  Geometrie  ohne  das 
Euklidische  Postulat  aufstellen  wollten,  befreit;  seitdem 
erhält  die  Academie  des  Sciences  nur  noch  ein  oder 
zwei  solche  Beweise  im  Jahr.^*) 

Die  Frage  war  noch  nicht  erschöpft;  aber  sie  machte 
bald  einen  großen  Schritt  vorwärts  durch  die  Publikation 
der  berühmten  Abhandlung  von  Riemann,  betitelt:  Über 
die  Hypothesen,  welche  der  Geometrie  zu  Grunde 
liegen.  Diese  Schrift  hat  die  meisten  neueren  Arbeiten 
beeinflußt,  von  welchen  ich  weiterhin  sprechen  werde,  und 
unter  denen  man  diejenigen  von  Beltrami  und  von  Helm- 
holtz   erwähnen  muß.^^) 

Die  Geometrie  von  Lobatschewsky.  —  Wenn  es 
möglich  wäre,  das  Euklidische  Postulat  auf  andere  Axiome 
zurückzuführen,  so  würde  man  off"enbar  durch  Verneinung 
des  Postulates,  bei  Zulassung  der  anderen  Axiome  auf 
widerstreitende  Folgerungen  stoßen;  es  würde  also  un- 
möglich sein,  auf  solche  Voraussetzungen  eine  zusammen- 
hängende Geometrie  zu  stützen. 


og  II,  3.     Nicht-Euklidische  Geometrie. 

Genau  das  hat  Lobatschewsky  durchgeführt.  Er  setzt 
zu  Anfang  voraus: 

„Man  kann  durch  einen  Punkt  mehrere  Paral- 
lelen zu  einer  gegebenen  Geraden  ziehen." 

Und  er  behält  andererseits  alle  anderen  Axiome 
Euklids  bei.  Aus  diesen  Hypothesen  leitet  er  eine 
Reihe  von  Lehrsätzen  ab,  zwischen  denen  keinerlei 
Widerspruch  besteht,  und  er  konstruiert  eine  Geometrie, 
deren  unfehlbare  Logik  in  nichts  derjenigen  der  Eukli- 
dischen Geometrie  nachsteht. 

Die  Lehrsätze  sind,  wohl  verstanden,  sehr  verschieden 
von  denjenigen,  an  welche  wir  gewöhnt  sind,  und  sie 
machen  anfangs  etwas  stutzig. 

„So  ist  die  Summe  der  Winkel  eines  Dreiecks 
immer  kleiner  wie  zwei  Rechte,  und  die  Differenz 
zwischen  dieser  Summe  und  zwei  Rechten  ist  dem 
Flächeninhalte  des  Dreiecks  proportional." 

,,Es  ist  unmöglich,  zu  einer  gegebenen  Figur  eine 
ähnliche  Figur  in  größeren  oder  kleineren  Dimensionen 
zu  zeichnen." 

„Wenn  man  einen  Kreis  in  n  gleiche  Teile  teilt  und 
wenn  man  Tangenten  in  den  Teilpunkten  zieht,  so 
werden  diese  n  Tangenten  ein  Polygon  bilden,  wenn 
der  Halbmesser  des  Kreises  klein  genug  ist,  aber  wenn 
der  Halbmesser  hinreichend  groß  ist,  so  werden  sie  sich 
gegenseitig  nicht  schneiden." 

Es  ist  unnütz,  diese  Beispiele  zu  vermehren;  die 
Sätze  Lobatschewskys  haben  keine  Beziehungen  zu  den- 
jenigen von  Euklid,  aber  sie  sind  nicht  weniger  streng 
logisch  untereinander  verbunden. 

Die  Geometrie  von  Riemann.  —  Wir  wollen  uns 
eine  eigenartige  Welt  vorstellen,  welche  mit  We?en  be- 
völkert ist,  die  keine  Dicke  (oder  Höhe)  haben,  und  wir 
wollen  ferner  voraussetzen,  daß  diese  „gänzlich  flachen" 
Lebewesen    alle    in    derselben  Ebene  sich  befinden   und 


Lobatschewsky  und  Riemann.  ^^g 

nicht  aus  ihr  heraus  können.  Wir  nehmen  außerdem 
an,  daß  diese  Welt  weit  genug  von  den  anderen  Welten 
entfernt  sei,  so  daß  sie  deren  Einflüsse  entzogen  ist. 
Wenn  wir  einmal  dabei  sind,  Hypothesen  aufzustellen, 
so  kostet  es  uns  weiter  keine  Mühe,  diese  Wesen  mit 
Vernunft  auszustatten  und  sie  für  fähig  zu  halten,  Geome- 
trie zu  treiben.  In  diesem  Falle  werden  sie  dem  Räume 
gewiß  nur  zwei  Dimensionen  zuerkennen. ■'^^) 

Aber  wir  wollen  jetzt  voraussetzen,  daß  diese  einge- 
bildeten Lebewesen,  indem  sie  zwar  ohne  Dicke  (resp. 
Höhe)  bleiben,  eine  kugelförmig  gewölbte  Gestalt  haben 
und  nicht  eine  flache  Gestalt,  und  daß  sie  alle  auf  der- 
selben Kugel  wären,  ohne  die  Macht  zu  haben,  sich  da- 
von zu  entfernen.  Welche  Geometrie  würden  sie  kon- 
struieren? Es  ist  klar,  daß  sie  vor  allem  dem  Räume 
nur  zwei  Dimensionen  zusprechen  würden;  was  würde 
nun  für  sie  die  Rolle  der  geraden  Linie  spielen?  Off"en- 
bar  der  kürzeste  Weg  zwischen  einem  Punkte  und  dem 
anderen  auf  der  Kugel,  d.  h.  ein  Bogen  eines  größesten 
Kreises;  mit  einem  Worte:  ihre  Geometrie  würde  die 
Geometrie  der  Kugel  sein  (Sphärische  Geometrie). 

Was  sie  den  Raum  nennen  würden,  wird  diese  Kugel 
sein,  von  welcher  sie  nicht  fort  können  und  auf  welcher 
sich  alle  Ereignisse  abspielen,  von  denen  sie  Kenntnis 
haben  können.  Ihr  Raum  wird  also  ohne  Grenzen 
sein,  weil  man  auf  einer  Kugel  stets  vorwärts  schreiten 
kann,  ohne  jemals  aufgehalten  zu  werden,  und  dennoch 
wird  er  endlich  sein;  man  wird  niemals  ans  Ende  kommen, 
aber  man  wird  bei  stetigem  Fortschreiten  in  gleicher 
Richtung  zum  Ausgangspunkte  zurückkehren. 

In  gleichem  Sinne  ist  die  Geometrie  von  Riemann 
identisch  mit  der  sphärischen  Geometrie,  wenn  man 
letztere  auf  drei  Dimensionen  ausdehnt.  Um  sie  zu 
konstruieren,  mußte  der  deutsche  Mathematiker  nicht  nur 
das  Euklidische  Postulat  über  Bord  werfen,   sondern  auch 


^O  II>  3«    Nicht-Euklidische  Geometrie. 

das    erste    Axiom:     durch    zwei    Punkte    kann    man 
nur  eine   Gerade  gehen  lassen. 

Auf  einer  Kugel  kann  man  durch  zwei  gegebene 
Punkte  im  allgemeinen  nur  einen  größten  Kreis  legen 
(der  wie  wir  soeben  gesehen  haben,  für  unsere  einge- 
bildeten Lebewesen  die  Rolle  der  geraden  Linie  spielen 
würde);  aber  es  gibt  eine  Ausnahme:  Wenn  die  beiden 
gegebenen  Punkte  einander  diametral  gegenüber  liegen, 
kann  man  durch  sie  eine  unendliche  Anzahl  von  größten 
Kreisen  hindurch  legen.  Ebenso  wird  man  in  der 
Riemann sehen  Geometrie  (wenigstens  bei  einer  der  für 
sie  möglichen  Formen)  durch  zwei  Punkte  im  allgemeinen 
nur  eine  gerade  Linie  legen  können;  aber  es  gibt  Aus- 
nahmefälle, wo  durch  zwei  Punkte  unendlich  viele  gerade 
Linien  hindurchgehen.^'^) 

Es  besteht  eine  Art  Gegensatz  zwischen  der  Riemann- 
schen  und  der  Lobatschewskyschen  Geometrie.  So  ist 
die  Summe  der  Winkel  eines  Dreiecks 

gleich  zwei  Rechten  in   der  Euklidischen  Geometrie, 
kleiner  als  zwei  Rechte  bei  Lobatschewsky, 
größer  als  zwei  Rechte  bei  Riemann. 
Die  Zahl  der  Linien,   welche   man   parallel  zu  einer 
gegebenen  Linie    durch    einen    gegebenen    Punkt    ziehen 
kann,  ist: 

gleich  eins  in  der  Euklidischen  Geometrie, 
gleich  Null  bei  Riemann, 
unendlich  groß  bei  Lobatschewsky.^^) 
Wir  wollen  noch  hervorheben,   daß   der  Riemannsche 
Raum  endlich,    jedoch  unbegrenzt  ist,    wenn    man  diese 
Worte  in  dem  oben  festgesetzten  Sinne  versteht. 

Die  Flächen  konstanten  Krümmungsmaßes.  — 
Ein  Einwurf  bliebe  indessen  möglich.  Die  Lehrsätze 
von  Lobatschewsky  und  von  Riemann  enthalten  keinen 
Widerspruch;  aber  wie  zahlreich  auch  die  Folgerungen 
sein  mögen,  welche  diese  beiden  Mathematiker  aus  ihren 


Flächen  konstanter  Krümmung.  aj 

Hypothesen  gezogen  haben,  sie  haben  stehen  bleiben 
müssen,  bevor  sie  alle  erschöpft  hatten,  denn  die  An- 
zahl dieser  Folgerungen  würde  unendlich  sein;  wer  sagt 
uns  aber,  daß  sie  nicht  doch  auf  irgend  einen  Wider- 
stand gestoßen  wären,  wenn  sie  ihre  Ausführungen  weiter 
verfolgt  hätten? 

Diese  Schwierigkeit  existiert  für  die  Riemannsche 
Geometrie  nicht,  vorausgesetzt,  daß  man  sich  auf  zwei 
Dimensionen  beschränkt;  die  Riemannsche  Geometrie 
von  zwei  Dimensionen  unterscheidet  sich  in  der  Tat, 
wie  wir  schon  gesehen  haben,  nicht  von  der  sphärischen 
Geometrie,  welche  nur  ein  Zweig  der  gewöhnlichen 
Geometrie  ist  und  welche  dadurch  außerhalb  jeder  Dis- 
kussion steht. 

Beltrami  hat  ebenso  gezeigt,  daß  die  Lobatschewsky- 
sche  Geometrie  von  zwei  Dimensionen  nichts  anderes 
ist  als  ein  Zweig  der  gewöhnlichen  Geometrie  und  da- 
durch ebenfalls  jeden  Einwand  entkräftet,  den  man  gegen 
dieselbe  machen  könnte. 

Ich  erwähne,  wie  er  dazu  gekommen  ist.  Fassen 
wir  auf  einer  Oberfläche  irgend  eine  Figur  ins  Auge. 
Wir  wollen  uns  einbilden,  diese  Figur  wäre  auf  eine 
biegsame  und  unausdehnbare  Leinwand  gezeichnet,  welche 
so  über  diese  Oberfläche  gespannt  ist,  daß  die  verschie- 
denen Linien  ihre  Gestalt,  aber  nicht  ihre  Länge  ändern 
können,  wenn  die  Leinwand  verschoben  und  verbogen 
wird.  Im  allgemeinen  kann  diese  biegsame  und  unaus- 
dehnbare Figur  nicht  von  ihrem  Platze  verschoben  werden, 
ohne  die  Oberfläche  zu  verlassen;  aber  es  gibt  gewisse 
besondere  Oberflächen,  bei  welchen  eine  solche  Be- 
wegung möglich  wird:  das  sind  die  Oberflächen  kon- 
stanten Krümmungsmaßes. 

Wenn  wir  den  Vergleich  aufnehmen,  welchen  wir 
weiter  oben  machten,  wenn  wir  uns  Wesen  ohne  Dicke 
(bezw.  Höhe)    einbilden,    welche    auf   einer  dieser  Ober- 


4  2  n,  3»     Nicht-Euklidische  Geometrie. 

flächen  leben,  so  würden  dieselben  die  Bewegung  einer 
Figur,  deren  Linien  eine  konstante  Länge  bewahren, 
für  möglich  halten.  Eine  ähnliche  Bewegung  würde  für 
Wesen  ohne  Dicke  (resp.  Höhe),  welche  auf  einer  Ober- 
fläche mit  variabler  Krümmung  (d.  h.  einer  Fläche,  deren 
Krümmung  nicht  an  jeder  Stelle  denselben  Wert  hat) 
leben,  unmöglich  sein. 

Diese  Oberflächen  mit  konstanter  Krümmung  lassen 
sich  in  zwei  Arten  einteilen: 

Die  einen  sind  von  positiver  Krümmung  und 
können  ihre  Gestalt  so  verändern,  daß  sie  sich  auf  eine 
Kugel  abwickeln  lassen  (ohne  daß  dabei  die  Längen  der 
auf  der  Fläche  gezeichneten  Linien  geändert  würden). 
Die  Geometrie  dieser  Oberflächen  reduziert  sich  also  auf 
die  sphärische  Geometrie,  welche  mit  derjenigen  Riemanns 
identisch  ist. 

Die  anderen  sind  von  negativer  Krümmung. 
Beltrami  hat  gezeigt,  daß  die  Geometrie  dieser  Ober- 
flächen keine  andere  wie  diejenige  Lobatschewskys  ist. 
Die  zwei-dimensionalen  Geometrien  von  Riemann  und 
von  Lobatschewsky  lassen  sich  also  wiederum  zur  Eukli- 
dischen  Geometrie  in  Beziehung  setzen. 

Veranschaulichung  der  nicht -Euklidischen  Geo- 
metrien. —  So  erledigt  sich  der  obige  Einwurf,  inso- 
fern er  die   Geometrie  von  zwei  Dimensionen  betriff't. 

Es  wäre  leicht,  die  Entwicklung  Beltramis  auf  die 
Geometrien  von  drei  Dimensionen  auszudehnen.  Wer 
sich  durch  den  Raum  von  vier  Dimensionen  nicht  ab- 
schrecken läßt,  würde  darin  keine  Schwierigkeit  sehen, 
aber  das  wird  nur  für  wenige  gelten.  Ich  ziehe  es  vor, 
in  anderer  Weise  vorzugehen. 

Wir  wollen  eine  gewisse  Ebene  betrachten,  welche 
ich  als  Fundamental-Ebene  bezeichnen  will,  und  wir 
wollen  eine  Art  von  Wörterbuch  herstellen,  indem  wir 
mit  einer  doppelten  Reihe  von  Gliedern,  welche  in  zwei 


Mittel  zur  Veranscliaulichung.  aj 

Kolonnen    aufgeschrieben    sind,  in  derselben  Art   wie  in 
den     gewöhnlichen    Wörterbüchern     die     Worte     zweier 
Sprachen,    die    denselben  Sinn    haben,    einander  korres- 
pondieren lassen  :^^) 
Raum    —  —  —  —     Teil    des    Raumes    oberhalb    der 

Fundamentalebene. 
Ebene    —  —  —   —     Kugel,  welche  die  Fundamental- 
ebene rechtwinklig  schneidet. 
Gerade —   —    —  —     Kreis,   welcher  die  Fundamental- 
ebene rechtwinklig  schneidet. 
Kugel    —  —  —  —     Kugel. 
Kreis      —  —  —  —     Kreis. 

Winkel Winkel. 

Gegenseitige  Entfernung 

zweier  Punkte.     —     Logarithmus  des  Doppel-Verhält- 

nisses,  welches  diese  beiden 
Punkte  mit  zwei  anderen  Punk- 
ten bilden,  wenn  letztere  als 
Schnittpunkte  der  Fundamen- 
talebene mit  einem  Kreise  de- 
finiert werden,  der  durch  diese 
beiden  Punkte  hindurchgeht 
und  die  Fundamentalebene 
rechtwinklig  schneidet, 
etc.  —   —  —  —  —     etc. 

Wir  nehmen  jetzt  die  Lehrsätze  von  Lobatschewsky 
und  übersetzen  sie  mit  Hilfe  dieses  Wörterbuches,  wie 
wir  einen  deutschen  Text  mit  Hilfe  eines  deutsch-französi- 
schen Wörterbuches  übersetzen  würden.  Wir  werden 
so  Lehrsätze  der  gewöhnlichen  Geometrie  er- 
halten. 

Nehmen  wir  z.  B.  folgenden  Satz  von  Lobatschewsky : 
,,die  Summe  der  Winkel  eines  Dreiecks  ist  kleiner  wie 
zwei  Rechte";  seine  Übersetzung  lautet  folgendermaßen: 
,,Wenn   ein   krummliniges  Dreieck  Kreisbögen   zu  Seiten 


AA  II,  3.     Nicht-Euklidische  Geometrie. 

hat,  deren  Verlängerungen  die  Fundamentalebene  recht- 
winklig schneiden  würden,  so  ist  die  Summe  der  Winkel 
dieses  rechtwinkligen  Dreiecks  kleiner  als  zwei  Rechte." 
Auf  diese  Weise  wird  man  niemals,  soweit  man  auch 
die  Folgerungen  der  Hypothesen  von  Lobatschewsky  treibt, 
auf  einen  Widerspruch  stoßen.  In  der  Tat,  wenn  zwei 
Lehrsätze  von  Lobatschewsky  einander  widersprechen 
würden,  so  würde  dasselbe  der  Fall  sein  mit  den  Über- 
setzungen dieser  beiden  Lehrsätze,  welche  mit  Hilfe 
unseres  Wörterbuches  gemacht  sind,  aber  diese  Über- 
setzungen sind  Lehrsätze  der  gewöhnlichen  Geometrie, 
und  niemand  zweifelt  daran,  daß  die  gewöhnliche  Geo- 
metrie von  Widersprüchen  frei  ist.  Woher  kommt  uns 
diese  Gewißheit  und  ist  sie  gerechtfertigt?  Darin  liegt 
eine  Frage,  welche  ich  hier  nicht  zu  behandeln  weiß, 
welche  aber  sehr  interessant  ist,  und  die  ich  nicht  für 
unlösbar  halte.  Es  bleibt  also  nichts  von  dem  Einwurfe 
übrig,   den  ich  weiter  oben  formuliert  habe. 

Das  ist  nicht  alles.  Die  Geometrie  von  Loba- 
tschewsky, welche  einer  konkreten  Veranschaulichung  fähig 
ist,  hört  auf,  ein  leeres  Spiel  des  Verstandes  zu  sein,  und 
kann  Anwendungen  erhalten;  ich  habe  nicht  Zeit,  hier 
von  diesen  Anwendungen  zu  sprechen,  noch  von  dem 
Vorteil,  den  Klein  und  ich  daraus  für  die  Integration 
linearer  Differentialgleichungen  gezogen  haben. ^^) 

Diese  Veranschaulichung  ist  nicht  die  einzig  mög- 
liche, und  man  könnte  mehrere  Wörterbücher  herstellen, 
analog  dem  obigen,  welche  alle  erlauben  würden,  durch 
eine  einfache  ,, Übersetzung"  die  Lehrsätze  Lobatschewskys 
in  solche  der  gewöhnlichen  Geometrie  zu  verwandeln.^^) 

Die  impliziten  Axiome.  —  Sind  die  Axiome,  welche 
in  den  Lehrbüchern  ausdrücklich  aufgezählt  werden,  die 
einzige  Grundlage  der  Geometrie?  Man  kann  vom 
Gegenteil  versichert  sein,  wenn  man  sieht,  daß  sie  nach- 
einander aufgegeben  werden  können,    und    daß    dennoch 


Implizite  Axiome.  ac 

einige  Lehrsätze  bestehen  bleiben,  die  den  Theorien 
EukHds,  Lobatschewskys  und  Riemanns  gemeinsam  sind. 
Diese  Lehrsätze  müssen  auf  Voraussetzungen  beruhen, 
welche  die  Mathematiker  zu  Hilfe  nehmen,  ohne  sie  aus- 
drücklich auszusprechen.  Es  ist  interessant  zu  versuchen, 
sie  von  den  klassischen  Beweisen  abzulösen. 

Stuart-Mill  hat  behauptet,  daß  jede  Definition  ein 
Axiom  enthält,  denn  wenn  man  eine  Definition  aus- 
spricht, so  behauptet  man  implizite  die  Existenz  des  de- 
finierten Objektes.  Aber  das  ist  zu  weit  gegangen;  es 
ist  selten,  daß  man  in  der  Mathematik  eine  Definition 
gibt,  ohne  den  Beweis  von  der  Existenz  des  definierten 
Objektes  darauf  folgen  zu  lassen,  und  wenn  man  dies 
unterläßt,  so  geschieht  es  in  der  Regel  nur,  weil  der 
Leser  leicht  selbst  die  Lücke  ausfüllen  kann;  man  muß 
auch  nicht  vergessen,  daß  das  Wort  ,, Existenz,"  wenn 
es  sich  um  ein  mathematisches  Objekt  handelt,  nicht 
denselben  Sinn  hat,  als  wenn  ein  materieller  Gegenstand 
in  Frage  kommt.  Ein  mathematisches  Objekt  existiert, 
sobald  nur  seine  Definition  weder  mit  sich  selbst  noch 
mit  den  vorher  schon  bewiesenen  Sätzen  in  Widerspruch 
steht. 

Aber  wenn  auch  die  Bemerkung  Stuart-Mills  sich 
nicht  auf  alle  Definitionen  anwenden  läßt,  so  ist  sie 
doch  um  so  mehr  für  einige  unter  ihnen  richtig.  Man 
definiert  manchmal  die  Ebene  in  folgender  Weise: 

Die  Ebene  ist  eine  solche  Oberfläche,  daß  die  ge- 
rade Linie,  welche  irgend  zwei  ihrer  Punkte  verbindet, 
ganz  in  dieser  Oberfläche  liegt. 

Diese  Definition  verbirgt  offenbar  in  sich  ein  neues 
Axiom;  man  könnte  sie  allerdings  abändern,  und  das 
würde  vorteilhaft  sein,  wenn  man  nur  gleichzeitig  das 
betreffende  Axiom  explizite  ausspricht. 

Andere  Definitionen  können  zu  nicht  weniger  wichtigen 
Überlegungen  Veranlassung  geben. ^^) 


A^  ir,  3.     Nicht-Euklidische  Geometrie. 

So  ist  es  z.  B.  mit  der  Definition  der  Gleichheit 
zweier  Figuren:  zwei  Figuren  sind  gleich,  wenn  man  sie 
aufeinander  legen  kann;  um  sie  aufeinander  zu  legen, 
muß  man  die  eine  von  ihnen  so  weit  verschieben,  bis 
sie  mit  der  anderen  zusammenfällt;  aber  wie  soll  man 
diese  Verschiebung  ausführen?  Wenn  wir  so  fragen, 
wird  man  uns  zweifellos  antworten,  daß  man  es  tun 
muß,  ohne  die  Figur  zu  deformieren,  d.  h.  so,  wie  man 
einen  festen  Körper  im  Räume  bewegt.  Der  circulus 
vitiosus  wird  dadurch  evident. 

In  Wirklichkeit  definiert  diese  Definition  gar  nichts; 
sie  hätte  gar  keinen  Sinn  für  ein  Wesen,  das  eine  Welt 
bewohnt,  in  der  es  nichts  anderes  als  Flüssigkeiten  gibt. 
Wenn  sie  uns  klar  erscheint,  so  liegt  das  daran,  daß 
wir  durch  Gewohnheit  mit  den  Eigenschaften  der  natür- 
lichen Körper  vertraut  sind,  welche  sich  nicht  wesentlich 
von  den  Eigenschaften  solcher  idealen  Körper  unter- 
scheiden, deren  sämtliche  Dimensionen  unveränderlich 
sind. 

Diese  Definition  ist  nicht  nur  unvollständig,  sondern 
sie  enthält  auch  ein  nicht  ausgesprochenes  Axiom. 

Die  Möglichkeit  der  Bewegung  einer  unveränderlichen 
Figur  ist  an  sich  keine  evidente  Wahrheit,  oder  sie  ist  es 
wenigstens  nur  in  demselben  Sinne  wie  das  Euklidische 
Postulat  und  nicht  in  dem  Sinne,  wie  es  von  einem 
analytischen  Urteile  a  priori  gelten  würde. 

Studiert  man  andererseits  die  Definitionen  und  Be- 
weise der  Geometrie,  so  wird  klar,  daß  man  nicht  nur 
die  Möglichkeit  dieser  Bewegung,  sondern  auch  einige 
ihrer  Eigenschaften  zulassen  muß,  ohne  sie  zu  beweisen. 

Dieses  geht  vor  allem  aus  der  Definition  der  geraden 
Linie  hervor.  Man  hat  viele  mangelhafte  Definitionen 
gegeben,  aber  die  wahre  ist  diejenige,  welche  bei  allen 
Beweisen,  in  denen  die  gerade  Linie  vorkommt,  still- 
schweigend vorausgesetzt  wird: 


Eine  \-ierte  Geometrie.  2J.7 

„Es  kann  eintreten,  daß  die  Bewegung  einer  unver- 
änderlichen Figur  dergestalt  ist,  daß  alle  Punkte  einer 
Linie,  welche  zu  dieser  Figur  gehören,  unbeweglich 
bleiben,  während  alle  Punkte,  welche  außerhalb  dieser 
Linie  liegen,  sich  bewegen.  Eine  solche  Linie  wird 
man  eine  gerade  Linie  nennen."  Wir  haben  absicht- 
lich in  dieser  Angabe  die  Definition  von  dem  Axiom, 
welches  sie  enthält,  getrennt.^^) 

Viele  Beweise,  wie  diejenigen  für  die  verschiedenen 
Kongruenz-Sätze  beim  Dreieck  oder  für  die  Möglichkeit, 
eine  Senkrechte  von  einem  Punkte  auf  eine  Gerade  zu 
fällen,  beruhen  auf  Sätzen,  deren  besondere  Erwähnung 
man  sich  erspart,  weil  sie  nämlich  dazu  nötigen  vor- 
auszusetzen, daß  es  möglich  ist,  eine  Figur  im  Räume 
zu  verschieben.^*) 

Die  vierte  Geometrie.  —  Unter  diesen  impliziten 
Axiomen  ist  eines,  welches  einige  Aufmerksamkeit  zu 
verdienen  scheint,  weil  man  unter  Fortlassung  desselben 
eine  vierte  Geometrie  konstruieren  kann,  die  ebenso  in 
sich  zusammenhängend  ist  wie  diejenige  von  Euklid, 
von  Lobatschewsky  und  von  Riemann. 

Um  zu  beweisen,  daß  man  in  einem  Punkte  A  stets 
eine  Senkrechte  auf  einer  Geraden  AB  errichten  kann, 
betrachtet  man  eine  Gerade  A  C  als  um  den  Punkt  A 
beweglich  und  anfänglich  mit  der  festen  Geraden  AB 
zusammenfallend ;  man  läßt  sie  sich  um  den  Punkt  A  so 
lange  drehen,  bis  sie  in  die  Verlängerung  von  AB  fällt. 

Man  setzt  hierbei  zwei  Behauptungen  voraus:  zuerst, 
daß  eine  solche  Umdrehung  möglich  ist,  und  dann,  daß 
sie  fortgesetzt  werden  kann,  bis  jede  der  beiden  Geraden 
in  die  Verlängerung  der  anderen  fällt. 

Wenn  man  den  ersten  Punkt  zuläßt  und  den  zweiten 
verwirft,  so  wird  man  zu  einer  Reihe  von  Lehrsätzen 
geführt,    welche    noch    fremdartiger    sind    wie    diejenigen 


^g  II,  3.    Nicht-Euklidische  Geometrie. 

von  Lobatschewsky  und  Riemann,  aber  ebenso  frei  von 
Widersprüchen.^^) 

Ich  werde  nur  einen  dieser  Lehrsätze  anführen  und 
ich  wähle  nicht  einmal  den  seltsamsten:  eine  reelle 
Gerade  kann   senkrecht  zu  sich  selbst  sein. 

Der  Lehrsatz  von  Lie.  —  Die  Anzahl  der  Axiome, 
welche  implizite  in  die  klassischen  Beweise  eingeführt 
sind,  ist  größer,  als  es  nötig  wäre,  und  es  würde  interes- 
sant sein,  sie  auf  ein  Minimum  zurückzuführen.  Man 
muß  sich  zuerst  fragen,  ob  diese  Reduktion  möglich  ist, 
und  ob  die  Anzahl  der  notwendigen  Axiome  und  die- 
jenige   der    ersonnenen    Geometrien   nicht   unendlich   ist. 

Ein  Lehrsatz  von  Sophus  Lie  beherrscht  diese  ganze 
Diskussion. ^^)  Man  kann  ihn  folgendermaßen  aussprechen : 

,, Setzen  wir  voraus,  daß  man  die  folgenden  Vorder- 
sätze zuläßt: 

1.  Der  Raum  hat  n  Dimensionen; 

2.  Die  Bewegung  einer  unveränderlichen  Figur  ist 
möglich ; 

3.  Man  braucht/  Bedingungen,  um  die  Lage  dieser 
Figur  im  Räume  zu  bestimmen. 

Die  Anzahl  der  mit  diesen  Vordersätzen  ver- 
träglichen  Geometrien  ist  begrenzt.'' 

Ich  kann  sogar  hinzufügen,  daß,  wenn  n  gegeben 
ist.  man  für  p  eine  obere   Grenze  angeben  kann. 

Wenn  man  also  die  Möglichkeit  der  Bewegung  zu- 
gibt, so  braucht  man  nur  eine  endliche  (sogar  ziemlich 
beschränkte)  Anzahl  von  dreidimensionalen  Geometrien 
auszudenken. 

Die  Geometrien  von  Riemann.  —  Dieses  Resultat 
widerspricht  scheinbar  dem  Riemannschen,  denn  dieser 
Gelehrte  konstruiert  eine  unendliche  Anzahl  von  ver- 
schiedenen Geometrien,  und  diejenige,  welcher  man 
gewöhnlich  seinen  Namen  gibt,  ist  nur  ein  besonde- 
rer Fall. 


Natur  der  Axiome. 


49 


Alles  hängt,  wie  er  sagt,  von  der  Art  ab,  in 
welcher  man  die  Länge  einer  Kurve  definiert.  Es  gibt 
eine  unendliche  Anzahl  von  Möglichkeiten,  diese  Länge 
zu  definieren,  und  jede  von  ihnen  kann  der  Ausgangs- 
punkt einer  neuen   Geometrie  werden. 

Das  stimmt  vollkommen,  aber  die  meisten  dieser 
Definitionen  sind  unverträglich  mit  der  Bewegung  einer 
unveränderlichen  Figur,  welche  man  in  dem  Lehrsatze 
von  Lie  als  möglich  voraussetzt.  Diese  Riemannschen 
Geometrien,  so  interessant  sie  unter  verschiedenen  Ge- 
sichtspunkten sind,  können  demnach  niemals  anders  als 
rein  analytisch  sein  und  lassen  sich  nicht  zu  Beweisen 
verwenden,  welche  denjenigen  Euklids  analog  sind.^^) 

Von  der  Natur  der  Axiome.  —  Die  meisten  Mathe- 
matiker betrachten  die  Lobatschewskysche  Theorie  nur  als 
eine  einfache  logische  IMerkwürdigkeit ;  einige  von  ihnen 
sind  allerdings  weiter  gegangen.  Ist  es  gewiß,  daß  unsere 
Geometrie  die  rechte  ist,  denn  es  sind  doch  mehrere 
Geometrien  möglich?  Die  Erfahrung  lehrt  uns  ohne 
Zweifel,  daß  die  Summe  der  Winkel  eines  Dreiecks  gleich 
zwei  Rechten  ist;  aber  das  ist  nur  der  Fall,  wenn  wir 
mit  zu  kleinen  Dreiecken  operieren;  nach  Lobatschewsky 
ist  der  Unterschied  von  zwei  Rechten  der  Oberfläche 
des  Dreiecks  proportional:  kann  diese  Differenz  nicht 
wahrnehmbar  werden,  wenn  wir  mit  größeren  Dreiecken 
operieren  und  wenn  unsere  Messungen  genauer  werden? 
Die  Euklidische  Geometrie  würde  für  uns  damit  nur 
eine  vorläufig  richtige  Geometrie  sein. 

Um  über  diese  Meinung  zu  disputieren,  müssen  wir 
uns  vor  allem  fragen:  Welches  ist  die  Natur  der  geome- 
trischen Axiome? 

Sind  es  synthetische  Urteile  a  priori,  wie  Kant  sie 
nennt  ? 

Sie  drängen  sich  uns  mit  einer  solchen  Macht  auf, 
.daß  wir  die  gegensätzliche  Behauptung  weder  begreifen, 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese,  4 


CQ  II,  3.     Nicht-Euklidisclie  Geometrie. 

noch  auf  ihr  als  Grundlage  ein  theoretisches  Gebäude 
errichten  können.  Es  würde  keine  nicht- Euklidische 
Geometrie  mehr  geben. 

Man  nehme,  um  sich  davon  zu  überzeugen,  ein  wirk- 
liches synthetisches  Urteil  a  priori,  z.  B.  dasjenige,  dessen 
hervorragende  Wichtigkeit  wir  im  ersten  Kapitel  aner- 
kannt haben: 

Wenn  ein  Lehrsatz  für  die  Zahl  i  wahr  ist, 
und  wenn  man  bewiesen  hat,  daß  er  für  n  -\-  i 
wahr  ist,  vorausgesetzt,  daß  er  fürn  gilt,  so  wird 
er  für  alle  ganzen,  positiven  Zahlen  gelten. 

Man  versuche  diesen  Schluß  beiseite  zu  lassen  und 
eine  falsche  Arithmetik  zu  konstruieren,  analog  der  nicht- 
Euklidischen  Geometrie  —  das  wird  man  nie  durch- 
führen können;  man  würde  sogar  versucht  sein,  diese 
Urteile  für  analytisch  zu  halten. 

Wir  wollen  andererseits  die  Vorstellung  von  Lebe- 
wesen ohne  Dicke  (resp.  Höhe)  wieder  aufnehmen  (vgl. 
S.  4if);  wir  können  wohl  kaum  annehmen,  daß  sich  diese 
Wesen,  wenn  sie  einen  Verstand  gleich  dem  unsrigen 
hätten,  die  Euklidische  Geometrie  aneignen  würden^ 
welche  allen  ihren  Erfahrungen  widerspräche. 

Sollen  wir  nun  daraus  schließen,  daß  die  geometri- 
schen Axiome  erfahrungsmäßige  Wahrheiten  sind?  Man 
experimentiert  doch  nicht  mit  idealen  geraden  Linien 
oder  Kreisen;  man  kann  dazu  nur  wirkliche  Gegenstände 
brauchen.  Worauf  begründet  sich  also  die  Erfahrung, 
welche  als  Fundament  in  der  Geometrie  dienen  soll? 
Die  Antwort  ist  leicht. 

Wir  haben  weiter  oben  gesehen  (vgl.  S.  46),  daß 
man  bei  allen  Schlüssen  so  verfährt,  als  ob  die  geome- 
trischen Figuren  sich  ebenso  verhielten  wie  feste  Körper. 
Was  die  Geometrie  von  der  Erfahrung  entlehnt,  sind 
die  Eigenschaften  dieser  Körper. 

Die  Eigenschaften  des  Lichtes  und  seine  geradlinige 


Die  Axiome  als  Definitionen. 


51 


Fortpflanzung  haben  ebenfalls  Veranlassung  zu  einigen 
Sätzen  der  Geometrie  gegeben,  besonders  zu  denjenigen 
der  projektiven  Geometrie,  und  zwar  derart,  daß  man 
von  diesem  Gesichtspunkte  aus  versucht  sein  könnte  zu 
behaupten,  daß  die  metrische  Geometrie  das  Studium 
der  festen  Körper  ist  und  daß  die  projektive  Geometrie 
sich  mit  dem  Studium  des  Lichtes  beschäftigt.^^) 

Aber  es  besteht  eine  Schwierigkeit,  welche  unüber- 
windlich ist.  Wenn  die  Geometrie  eine  Experimental- 
Wissenschaft  wäre,  so  würde  sie  aufhören,  eine  exakte 
Wissenschaft  zu  sein,  sie  würde  also  einer  beständigen 
Revision  zu  unterwerfen  sein.  Noch  mehr,  sie  würde 
von  jetzt  ab  dem  Irrtum  verfallen  sein,  weil  wir  wissen, 
daß  es  keine  streng  unveränderlichen  Körper  gibt. 

Die  geometrischen  Axiome  sind  also  weder 
synthetische  Urteile  a  priori  noch  experimentelle 
Tatsachen. 

Es  sind  auf  Übereinkommen  beruhende  Fest- 
setzungen; unter  allen  möglichen  Festsetzungen  wird 
unsere  Wahl  von  experimentellen  Tatsachen  geleitet; 
aber  sie  bleibt  frei  und  ist  nur  durch  die  Notwendig- 
keit begrenzt,  jeden  Widerspruch  zu  vermeiden.  In 
dieser  Weise  können  auch  die  Postulate  streng  richtig 
bleiben,  selbst  wenn  die  erfahrungsmäßigen  Gesetze, 
welche  ihre  Annahme  bewirkt  haben,  nur  annähernd 
richtig  sein  sollten. 

Mit  anderen  Worten:  die  ge  ometrischen  Axiome 
(ich  spreche  nicht  von  den  arithmetischen)  sind  nur 
verkleidete  Definitionen. 

Was  soll  man  dann  aber  von  der  folgenden  Frage 
denken:  Ist  die  Euklidische  Geometrie  richtig? 

Die  Frage  hat  keinen  Sinn. 

Ebenso  könnte  man  fragen,  ob  das  metrische  System 
richtig  ist  und  die  älteren  Maß-Systeme  falsch  sind,  ob 
die    Cartesiusschen    Koordinaten     richtig    sind    und    die 


e2  11,  4.     Raum  und  Geometrie. 

Polar-Koordinaten  falsch.  Eine  Geometrie  kann  nicht 
richtiger  sein  wie  eine  andere;  sie  kann  nur  bequemer 
sein. 

Und  die  Euklidische  Geometrie  ist  die  bequemste 
und  wird  es  immer  bleiben: 

1.  weil  sie  die  einfachste  ist,  und  das  ist  sie  nicht 
nur  infolge  der  Gewohnheiten  unseres  Verstandes  oder 
infolge  irgend  welcher  direkten  Anschauung,  sondern  sie 
ist  die  einfachste  in  sich,  gleichwie  ein  Polynom  ersten 
Grades    einfacher   ist    als    ein  Polynom    zweiten  Grades. 

2.  weil  sie  sich  hinreichend  gut  den  Eigenschaften 
der  natürlichen,  festen  Körper  anpaßt,  dieser  Körper, 
welche  uns  durch  unsere  Glieder  und  unsere  Augen  zum 
Bewußtsein  kommen  und  aus  denen  wir  unsere  Meß- 
instrumente herstellen.  ^^) 


Viertes  Kapitel. 
Der  Raum  und  die  Geometrie. 

Beginnen  wir  mit  einem  kleinen  Paradoxon! 

Wesen,  deren  Verstand  und  Sinne  wie  die  unsrigen 
gebildet  wären,  welche  aber  noch  keinerlei  Erziehung 
genossen  haben,  würden  von  der  Außenwelt,  wenn  diese 
passend  gewählt  wird,  solche  Eindrücke  empfangen,  daß 
sie  dazu  geführt  werden,  eine  andere  Geometrie  als  die 
Euklidische  zu  konstruieren  und  die  Erscheinungen  dieser 
Außenwelt  in  einem  nicht-Euklidischen  Räume  oder  gar 
in    einem  Räume    von   vier  Dimensionen  zu  lokalisieren. 

Für  uns,  deren  Erziehung  durch  unsere  tatsächliche 
Welt  bewerkstelligt  ist,  würde  es  keine  Schwierigkeit 
haben,  in  diese  neue  Welt  die  Phänomene  unseres  Euklidi- 
schen Raumes  zu  übertragen,  wenn  wir  plötzlich  dahin- 
ein versetzt  würden.     (Denn  die  Eigenschaften  der  nicht- 


Der  geometrisclie  Raum.  er 

Euklidischen  und  der  mehrdimensionalen  Geometrie  sind 
uns  durch  die  im  vorhergehenden  erwähnten  mathe- 
matischen  Spekulationen  hinreichend  bekannt). 

Mancher,  der  seine  Existenz  dieser  Sache  widmen 
wollte,  könnte  vielleicht  dahin  gelangen,  sich  die  vierte 
Dimension  vorzustellen.^^) 

Der  geometrische  Raum  und  der  Vorstellungs- 
Raum.  —  Man  sagt  oft,  daß  die  Bilder  der  äußeren 
Gegenstände  im  Räume  lokalisiert  sind,  und  sogar,  daß 
solche  Bilder  sich  nur  unter  dieser  Bedingung  bilden 
können.  Man  sagt  auch,  daß  dieser  Raum,  welcher  so- 
mit als  ein  zu  unseren  Gefühlen  und  Vorstellungen  voll- 
kommen passender  Rahmen  dient,  identisch  ist  mit  dem 
Räume  der  Geometrie,  dessen  sämtliche  Eigenschaften 
er  besitzt. 

Mancher  tüchtige  Denker  wird  diese  Auffassung  teilen, 
und  ihm  muß  der  obige  Ausspruch  ganz  außergewöhn- 
lich scheinen.  Sehen  wir  indessen  nach,  ob  er  nicht 
irgend  einer  Täuschung  unterliegt,  welche  eine  gründliche 
Analyse  verscheuchen  könnte. 

Welches  sind  vor  allem,  kurz  gefaßt,  die  Eigen- 
schaften des  Raumes?  Ich  meine  die  Eigenschaften  des- 
jenigen Raumes,  welcher  den  Gegenstand  der  Geometrie 
ausmacht,  und  den  ich  den  geometrischen  Raum, 
nennen  will.  Einige  seiner  hauptsächlichsten  Eigen- 
schaften sind  die  folgenden: 

1.  Er  ist  ein  Kontinuum; 

2.  Er  ist  unendlich; 

3.  Er  hat  drei  Dimensionen; 

4.  Er  ist  homogen,  d.  h.  alle  seine  Punkte  sind  unter- 
einander identisch. 

5.  Er  ist  isotrop,  d.  h.,  alle  die  Geraden,  welche 
durch  denselben  Punkt  gehen,  sind  untereinander 
identisch.^^) 

Vergleichen    wir   ihn    nun   mit   dem  Rahmen   unserer 


r  1  n,  4.    Raum  und  Geometrie. 

Vorstellungen  und  unserer  Empfindungen,  welche  ich  den 
Vorstellungs-Raum  nennen  will. 

Der  Gesichts  -  Raum.  —  Wir  wollen  vorerst  eine 
reine  Gesichts-Empfindung  betrachten,  die  durch  ein  Bild 
hervorgerufen  wird,  welches  sich  auf  dem  Grunde  der 
Netzhaut  bildet. 

Eine  summarische  Analyse  zeigt  uns  dieses  Bild  als 
ein  Kontinuum,  welches  zwei  Dimensionen  besitzt;  das 
unterscheidet  bereits  den  geometrischen  Raum  von  dem- 
jenigen. Räume,  welchen  wir  als  reinen  Gesichts- 
Raum  bezeichnen.^^) 

Ferner  ist  dieses  Bild  in  einem  begrenzten  Rahmen 
eingeschlossen. 

Endlich  besteht  noch  ein  anderer,  nicht  minder 
wichtiger  Unterschied:  Dieser  reine  Gesichts-Raum 
ist  nicht  homogen.  Sehen  wir  von  den  Bildern  ab, 
die  auf  der  Netzhaut  entstehen  können,  so  spielen  nicht 
alle  Punkte  der  letzteren  dieselbe  Rolle.  Der  gelbe 
Fleck  kann  unter  keiner  Bedingung  als  identisch  mit 
einem  Punkte  des  Randes  der  Netzhaut  betrachtet  werden. 
In  der  Tat,  dasselbe  Objekt  ruft  nicht  nur  an  dieser 
Stelle  weit  lebhaftere  Eindrücke  hervor,  sondern  es 
kann  überhaupt  in  jedem  begrenzten  Rahmen  der 
Punkt,  welcher  die  Mitte  des  Rahmens  einnimmt,  niemals 
mit  einem  Punkte  gleichwertig  erscheinen,  der  nahe  am 
Rande  liegt. 

Eine  gründlichere  Analyse  würde  uns  ohne  Zweifel 
zeigen,  daß  diese  Kontinuität  des  Gesichts-Raumes  und 
seine  zwei  Dimensionen  nur  auf  Täuschung  beruhen,  sie 
würde  diesen  Raum  also  noch  mehr  vom  geometrischen 
Räume  unterscheiden  lassen,  aber  wir  wollen  über  diese 
Bemerkung  hinweggehen. 

Das  Sehen  erlaubt  uns  indessen,  die  Entfernungen 
abzuschätzen  und  folglich  eine  dritte  Dimension  wahrzu- 
nehmen.    Aber  jeder  weiß,   daß  diese  Wahrnehmung  der 


Der  Gesichts-Raum. 


55 


dritten  Dimension  sich  auf  die  Empfindung  einer  An- 
strengung bei  der  zu  machenden  Accomodation  des 
Auges  reduziert  und  auf  die  Empfindung  der  konver- 
genten Richtung,  welche  beide  Augen  annehmen  müssen, 
um  einen  bestimmten  Gegenstand  deutlich  wahrzunehmen. 

Das  sind  Muskelempfindungen,  und  diese  sind  gänz- 
lich von  den  Gesichtsempfindungen  verschieden,  welche 
uns  die  Vorstellung  der  beiden  ersten  Dimensionen  ge- 
geben haben.  Die  dritte  Dimension  wird  uns  also  nicht 
so  erscheinen,  als  ob  sie  dieselbe  Rolle  wie  die  beiden 
anderen  spiele.  Was  man  den  vollständigen  Ge- 
sichts-Raum nennen  kann,  wird  also  nicht  ein  isotroper 
Raum  sein. 

Er  hat  zwar  genau  drei  Dimensionen ;  das  will  heißen : 
die  Elemente  (vgl.  S.  ^2)  unserer  Gesichts-Empfindung 
(wenigstens  diejenigen,  welche  zur  Ausbildung  der  Raum- 
vorstellung beitragen)  werden  vollständig  definiert  sein, 
wenn  man  drei  von  ihnen  kennt;  oder,  um  die  mathe- 
matische Sprachweise  anzuwenden:  die  Gesichtsemp- 
findungen sind  Funktionen  von  drei  Variabein. 

Wir  wollen  die  Sache  noch  etwas  näher  prüfen.  Die 
dritte  Dimension  wird  uns  auf  zwei  verschiedene  Arten 
off"enbart:  durch  die  Anstrengung  beim  Accomodieren 
und  durch  die  Konvergenz   der  Augen. 

Ohne  Zweifel  stimmen  diese  beiden  Indikationen 
immer  überein;  es  gibt  unter  ihnen  eine  konstante  Be- 
ziehung, oder  mathematisch  ausgedrückt:  die  beiden 
Variabein,  welche  diese  beiden  Muskelempfindungen 
messen,  erscheinen  uns  nicht  als  unabhängige,  oder  noch 
besser:  wir  können,  um  eine  Berufung  auf  schon  ziemlich 
raffinierte  mathematische  Begriffe  zu  vermeiden,  zur  Sprache 
des  vorhergehenden  Kapitels  zurückkehren  und  dieselbe 
Tatsache  folgendermaßen  aussprechen:  Wenn  zwei  Kon- 
vergenz-Empfindungen A  und  B  ununterscheidbar  sind, 
so  werden  die   beiden  Accomodations-Empfindungen  A'^ 


r5  II,  4.     Raum  und  Geometrie. 

und  B\  welche  sie  bezw.  begleiten,  gleichfalls  ununter- 
scheidbar  sein. 

Wir  stehen  hier  sozusagen  vor  einer  experimentellen 
Tatsache;  nichts  verhindert  uns,  a  priori  das  Gegenteil 
vorauszusetzen,  und  wenn  das  Gegenteil  da  ist,  wenn 
diese  beiden  Muskelempfindungen  sich  unabhängig  von- 
einander verändern,  so  haben  wir  mit  einer  unabhängigen 
Variabein  mehr  zu  rechnen,  und  der  ,, vollständige  Gesichts- 
raum" wird  uns  als  ein  physikalisches  Kontinuum  von 
vier  Dimensionen  erscheinen. 

Das  ist  sogar,  wie  ich  hinzufügen  will,  eine  Tatsache 
der  äußeren  Erfahrung.  Nichts  verhindert  uns  voraus- 
zusetzen, daß  ein  Wesen,  welches  einen  Verstand  hat, 
der  ebenso  ausgebildet  ist  wie  der  unsrige,  und  welches 
dieselben  Sinnesorgane  wie  wir  hat,  in  eine  Welt  gestellt 
werde,  wo  das  Licht  nur  dann  zu  ihm  gelangt,  nachdem 
es  brechende  Medien  komplizierter  Form  durchdrun- 
gen hat. 

Die  beiden  Indikationen,  welche  uns  dazu  dienen, 
die  Entfernungen  abzuschätzen,  würden  aufhören,  durch 
eine  konstante  Beziehung  verbunden  zu  sein.  Ein  Wesen, 
welches  in  einer  solchen  Welt  die  Erziehung  seiner  Sinne 
bewerkstelligt,  würde  ohne  Zweifel  dem  vollständigen 
Gesichts-Raume  vier  Dimensionen  beilegen.^^) 

Der  Tast-Raum  und  der  Bewegungs-Raum.  — 
Der  Tast-Raum  ist  noch  komplizierter  als  der  Gesichts- 
Raum  und  unterscheidet  sich  noch  mehr  vom  geometri- 
schen Räume.  Es  ist  überflüssig,  für  das  Tasten  die- 
jenige Erörterung  zu  wiederholen,  welche  ich  für  das 
Sehen  durchgeführt  habe.^*) 

Abgesehen  von  den  Wahrnehmungen,  die  uns  durch 
das  Gesicht  und  durch  den  Tastsinn  vermittelt  werden, 
gibt  es  noch  andere  Empfindungen,  welche  ebenso  oder 
noch  mehr  zur  Entstehung  der  Raum -Vorstellung  bei- 
tragen.    Dieselben  sind  allgemein  bekannt,   sie  begleiten 


Der  Tast-Raum. 


57. 


alle  unsere  Bewegungen,  und  man  nennt  sie  gewöhnlich 
Muskel-Empfindungen. 

Den  entsprechenden  Rahmen  kann  man  als  Be- 
wegungs-Raum bezeichnen. 

Jeder  Muskel  gibt  zu  einer  besonderen  Empfindung 
Veranlassung,  welche  fähig  ist  zu  wachsen  oder  abzu- 
nehmen, so  daß  die  Gesamtheit  unserer  Muskel-Emp- 
findungen von  so  vielen  Veränderlichen  abhängt,  wie  die 
Zahl  unserer  Muskeln  angibt.  Unter  diesem  Gesichts- 
punkte würde  die  Anzahl  der  Dimensionen  des 
Bewegungsraumes  gleich  der  Anzahl  unserer 
Muskeln  sein. 

Hierauf  wird  man  sicher  folgendes  erwidern:  Wenn 
die  Muskel-Empfindungen  zur  Bildung  unserer  Raum- 
Vorstellung  beitragen,  so  beruht  dies  darauf,  daß  wir 
das  Gefühl  der  Richtung  einer  jeden  Bewegung  be- 
sitzen und  daß  dieses  einen  integrierenden  Bestandteil 
der  Empfindung  bildet.  Wenn  dem  so  wäre,  wenn  eine 
Muskel-Empfindung  nur  in  Begleitung  dieses  geometri- 
schen Richtungsgefühles  entstehen  könnte,  so  würde  in 
der  Tat  der  geometrische  Raum  eine  unserer  Gefühls- 
welt auferlegte  Form  sein. 

Aber  davon  bemerke  ich  durchaus  nichts,  wenn  ich 
meine  eigenen  Empfindungen  analysiere. 

Ich  sehe  nur,  daß  die  Empfindungen,  welche  Be- 
wegungen gleicher  Richtung  entsprechen,  in  meinem 
Geiste  durch  eine  einfache  Ideen-Association  ver- 
knüpft sind.  Auf  diese  Association  läßt  sich  das  zurück- 
führen, was  wir  das  „Richtungsgefühl'*  nennen.  Bei 
einer  einzelnen  Empfindung  kann  man  also  von  diesem 
Gefühle  nicht  sprechen. 

Diese  Association  ist  außerordentlich  mannigfaltig, 
denn  die  Kontraktion  eines  und  desselben  Muskels  kann, 
je  nach  der  Stellung,  Bewegungen  von  ganz  verschiedener 
Richtung  entsprechen. 


c3  II,  4.    Raum  und  Geometrie. 

Sie  ist  übrigens  offenbar  erworben;  sie  ist  wie  alle 
Ideen- Associationen  das  Resultat  einer  Gewohnheit; 
diese  Gewohnheit  ihrerseits  resultiert  aus  sehr  zahlreichen 
Erfahrungen;  wenn  die  Erziehung  unserer  Sinne  sich 
in  anderer  Umgebung  vollzogen  hätte,  wo  wir  anderen 
Eindrücken  unterworfen  wären,  so  würden  sich  ohne 
Zweifel  ganz  entgegengesetzte  Gewohnheiten  ausgebildet 
haben,  und  unsere  Muskel -Empfindungen  würden  sich 
nach  anderen  Gesetzen  associiert  haben. 

Charakter  des  Vorstellungs-Raumes.  —  Der  Vor- 
stellungs-Raum ist  hiernach  in  seiner  dreifachen  Form 
als  Gesichts-,  Tast-  und  Bewegungs-Raum  wesentlich 
vom  geometrischen  Räume  verschieden. 

Er  ist  weder  homogen  noch  isotrop;  man  kann  nicht 
einmal  behaupten,   daß  er  drei  Dimensionen  habe. 

Man  sagt  oft,  daß  wir  die  Objekte  unserer  äußeren 
Wahrnehmung  in  den  geometrischen  Raum  „projizieren", 
daß  wir  sie  dort  „lokalisieren". 

Hat  dies  eine  Bedeutung,  und  welch  eine  Bedeutung? 

Soll  dies  heißen,  daß  wir  uns  die  äußeren  Objekte 
im  geometrischen  Räume  vorstellen? 

Unsere  Vorstellungen  sind  nur  die  Reproduktion 
unserer  Empfindungen;  sie  können  also  nur  in  demselben 
Rahmen  wie  diese  geordnet  werden,  d.  h.  im  Vorstellungs- 
Raume. 

Es  ist  uns  ebenso  unmöglich,  uns  die  äußere  Körper- 
welt im  geometrischen  Räume  vorzustellen,  wie  es  einem 
Maler  unmöglich  ist,  die  Objekte  mit  ihren  drei  Dimen- 
sionen auf  eine  ebene  Leinwand  zu  malen.  Der  Vor- 
stellungsraum ist  nur  ein  Bild  des  geometrischen  Raumes, 
und  zwar  ein  durch  eine  Art  von  Perspektive  deformiertes 
Bild,  und  wir  können  uns  die  Objekte  nur  vorstellen, 
indem  wir  sie  den  Gesetzen  dieser  Perspektive  anpassen. 

Wir  stellen  uns  also  die  äußere  Körperwelt  nicht 
im    geometrischen    Räume    vor,    sondern    wir    machen 


Zustands-  und  Orts- Veränderungen.  eg 

unsere  Erwägungen  über  diese  Körper,  als  wenn  sie 
sich  im  geometrischen  Räume  befänden. 

Was  soll  es  aber  bedeuten,  wenn  man  nun  sagt,  daß 
wir  ein  bestimmtes  Objekt  an  einem  bestimmten  Punkte 
des  Raumes  ,,lokalisieren?" 

Das  bedeutet  einfach,  daß  wir  uns  die  Be- 
wegungen vorstellen,  welche  man  ausführen  muß, 
um  zu  diesem  Objekte  zu  gelangen;  man  sage  nicht, 
daß  man  diese  Bewegungen  selbst  in  den  Raum  projizieren 
muß,  um  sie  sich  vorzustellen,  und  daß  folglich  der 
Raum-Begriff  präexistieren  muß. 

Wenn  ich  sage,  daß  wir  uns  diese  Bewegungen  vor- 
stellen, so  meine  ich  damit  nur,  daß  wir  uns  die  Muskel- 
Empfindungen  vorstellen,  welche  sie  begleiten  und  welche 
keinerlei  geometrischen  Charakter  haben,  welche  folglich 
auf  keinen  Fall  die  Präexistenz  des  Raum-Begriffes  im- 
plizieren. 

Zustands-  und  Orts- Veränderungen.  —  Man  wird 
jedoch  fragen:  wie  konnte  die  Idee  des  geometrischen 
Raumes  entstehen,  wenn  sie  sich  nicht  von  selbst  unserem 
Verstände  aufzwingt  und  wenn  auch  keine  unserer  Emp- 
findungen sie  uns  zu  liefern  vermag? 

Wir  wollen  das  jetzt  genau  prüfen;  es  wird  uns 
einige  Zeit  kosten,  aber  ich  kann  schon  jetzt  den  Inhalt 
der  versuchten  Erklärung  in  einigen  Worten  zusammen- 
fassen: 

Keine  unserer  Empfindungen  würde  für  sich 
allein  uns  zur  Idee  des  Raumes  führen  können; 
wir  sind  zu  derselben  nur  durch  das  Studium 
der  Gesetze  gekommen,  nach  welchen  diese  Emp- 
findungen aufeinander  folgen. 

Zuerst  sehen  wir,  daß  unsere  Eindrücke  der  Verände- 
rung unterworfen  sind;  aber  nach  kurzer  Zeit  werden 
wir  dazu  geführt,  zwischen  diesen  von  uns  konstatierten 
Veränderungen  zu  unterscheiden. 


^Q  II,  4.     Raum  und  Geometrie. 

Bald  sagen  wir,  daß  die  Objekte,  welche  unsere  Ein- 
drücke verursachen,  ihren  Zustand  verändert  haben,  bald, 
daß  sie  ihre  Stellung  verändert  haben,  daß  sie  im  Räume 
nur  verschoben  sind. 

Möge  ein  Objekt  nur  seinen  Zustand  oder  nur  seine 
Stellung  verändern,  für  uns  macht  sich  das  immer  in 
gleicher  Weise  geltend,  nämlich  durch  eine  Änderung 
in  einer  gewissen  Gesamtheit  von  Eindrücken. 

Wie  konnten  wir  denn  dazu  geführt  werden,  sie  zu 
unterscheiden?  Wenn  es  sich  nur  um  eine  Ortsverände- 
rung gehandelt  hat,  so  können  wir  die  ursprüngliche 
Gesamtheit  von  Eindrücken  wieder  herstellen,  indem  wir 
Bewegungen  ausführen,  welche  uns  gegenüber  dem  be- 
wegten Objekte  in  die  ursprüngliche  relative  Stellung 
zurückbringen.  Wir  korrigieren  so  die  Veränderung, 
welche  sich  vollzogen  hatte,  und  wir  stellen  den  Anfangs- 
Zustand  durch  eine  umgekehrte  Veränderung  wieder  her. 

Wenn  es  sich  z.  B.  um  das  Sehen  handelt,  und  wenn 
ein  Objekt  sich  vor  unserem  Auge  verschiebt,  so  können 
wir  ihm  „mit  dem  Auge  folgen"  und  durch  angemessene 
Bewegungen  des  Augapfels  sein  Bild  stets  an  derselben 
Stelle  der  Netzhaut  festhalten. 

Diese  Bewegungen  kommen  uns  zum  Bewußtsein, 
weil  sie  willkürlich  sind  und  weil  sie  von  Muskel-Emp- 
findungen begleitet  werden,  aber  damit  ist  durchaus  nicht  ge- 
sagt,  daß  wir  sie  uns  im  geometrischen  Räume  vorstellen. 

Die  Orts-Veränderung  ist  also  dadurch  charakterisiert 
und  unterscheidet  sich  dadurch  von  der  Zustandsäude- 
rung,  daß  sie  sich  immer  durch  das  erwähnte  Mittel 
korrigieren  läßt. 

Es  kann  demnach  eintreten,  daß  man  von  einer  Ge- 
samtheit A  von  Vorstellungen  zu  einer  Gesamtheit  B  auf 
zwei  verschiedene  Weisen  gelangt:  i.  unwillkürlich  und 
ohne  Muskel-Empfindungen  zu  haben,  (das  tritt  ein,  wenn 
das  Objekt  sich  bewegt);   2.  willkürlich  und  mit  Muskel- 


Kompensation  von  Bewegungen.  5l 

Empfindungen,  (das  tritt  ein,  wenn  das  Objekt  unbeweglich 
bleibt,  wir  aber  unsere  Stellung  so  verändern,  daß  das  Objekt 
im  Verhältnisse  zu  uns  eine  relative  Bewegung  ausführt). 

Wenn  dem  so  ist,  so  bedeutet  der  Übergang  von 
einer  Gesamtheit  A  zu  einer  Gesamtheit  B  von  Emp- 
findungen nur  eine  Ortsveränderung. 

Es  folgt  daraus,  daß  Gesichts-  und  Tast-Sinne  uns 
ohne  die  Hilfe  des  ,, Muskel-Sinnes"  den  Raum-Begriff 
nicht  geben  können. 

Und  zwar  könnte  dieser  Begriff  nicht  aus  einer  ein- 
zelnen Empfindung,  auch  nicht  aus  einer  Folge  von  Emp- 
findungen abgeleitet  werden,  ja  sogar  ein  unbeweg- 
liches Wesen  könnte  niemals  zu  ihm  gelangen,  denn 
es  könnte  durch  seine  Bewegungen  nicht  die  Wirkungen 
der  Ortsveränderung  äußerer  Objekte  korrigieren  und 
hätte  also  keinerlei  Grund,  sie  von  den  Zustands-Ände- 
rungen  zu  unterscheiden.  Ebensowenig  könnte  es  diesen 
Begriff  erlangen,  wenn  seine  Bewegungen  nicht  willkürlich 
wären  oder  wenn  sie  nicht  von  irgend  welchen  Emp- 
findungen begleitet  würden. 

Bedingungen  der  Kompensation.  —  Wie  ist  eine 
solche  Kompensation  möglich,  wenn  sie  bewirken  soll, 
daß  zwei  Veränderungen,  die  übrigens  unabhängig  von- 
einander sind,   sich  gegenseitig  korrigieren? 

Ein  Verstand,  der  schon  Geometrie  gelernt  hat, 
würde  in  folgender  Weise  schließen: 

Damit  die  Kompensation  stattfindet,  müssen  offenbar 
die  verschiedenen  Teile  des  äußeren  Objektes  einerseits, 
die  verschiedenen  Organe  unserer  Sinne  andererseits  sich 
nach  der  doppelten  Veränderung  in  derselben  relativen 
Stellung  befinden.  Überdies  müssen  die  verschiedenen 
Teile  des  äußeren  Objektes  dabei  dieselbe  relative  Stel- 
lung gegeneinander  bewahrt  haben,  und  das  Gleiche 
muß  für  die  verschiedenen  Teile  unseres  Körpers  in 
ihrem  gegenseitigen  Verhältnisse  Geltung  haben. 


52  IIj  4«     Raum  und  Geometrie. 

Mit  anderen  Worten:  bei  der  ersten  Bewegung  muß 
sich  das  äußere  Objekt  so  verschieben,  wie  ein  unver- 
änderhcher  Körper,  und  das  Gleiche  muß  für  die  Ge- 
samtheit unseres  Körpers  bei  der  zweiten  Bewegung 
gelten,  welche  die  erste  korrigiert. 

Unter  diesen  Bedingungen  kann  sich  die  Kompen- 
sation vollziehen. 

Aber  wir  haben  noch  keine  Geometrie  ge- 
lernt, denn  für  uns  soll  der  Raum-Begriff  noch  nicht 
ausgebildet  sein;  wir  können  also  die  erwähnten  Schlüsse 
nicht  machen,  und  wir  können  deshalb  nicht  a  priori 
voraussehen,  ob  die  Kompensation  möglich  ist.  Jedoch 
die  Erfahrung  lehrt  uns,  daß  sie  hin  und  wieder  eintritt, 
und  von  dieser  Erfahrungstatsache  gehen  wir  aus,  um 
die  Zustandsänderungen  von  den  Ortsveränderungen  zu 
unterscheiden. 

Die  festen  Körper  und  die  Geometrie.  —  Unter 
den  Objekten,  welche  uns  umgeben,  gibt  es  einige,  die 
häufig  solche  Ortsveränderungen  erleiden,  daß  sie  durch 
eine  entsprechende  Bewegung  unseres  Körpers  korri- 
giert werden  können;   dies   sind  die  festen  Körper. 

Die  anderen  Objekte,  deren  Gestalt  veränderlich  ist, 
unterliegen  nur  ausnahmsweise  derartigen  Verschiebungen 
(Ortsveränderungen  ohne  Veränderung  der  Form.)  Wenn 
ein  Körper  sich  verschiebt  und  sich  zugleich  deformiert, 
so  können  wir  durch  geeignete  Bewegungen  unsere  Sinnes- 
organe nicht  mehr  in  dieselbe  relative  Lage  in  Bezug 
auf  diesen  Körper  zurückführen.  Wir  können  folglich 
die  ursprüngliche  Gesamtheit  von  Eindrücken  nicht  mehr 
wiederherstellen. 

Wir  lernen  erst  später  und  infolge  neuer  Erfahrungen 
die  Körper  von  veränderlicher  Gestalt  in  kleinere  Ele- 
mente zerlegen,  so  daß  jedes  von  ihnen  sich  so  ziemlich 
nach  denselben  Gesetzen  verschiebt  wie  die  festen  Körper. 
Wir  unterscheiden  also  die  „Deformation"  von  den  ande- 


Feste  Körper.  53 

ren  Zustandsänderungen ;  bei  diesen  Deformationen  er- 
leidet jedes  Element  eine  einfache  Ortsveränderung, 
welche  korrigiert  werden  kann,  aber  die  Veränderung, 
welche  die  Gesamtheit  der  Elemente  erleidet,  geht  tiefer 
und  kann  nicht  mehr  durch  eine  entsprechende  Bewegung 
korrigiert  werden. 

Eine  solche  Vorstellung  ist  schon  sehr  kompliziert 
und  hat  nur  relativ  spät  sich  geltend  machen  können ; 
sie  hätte  überhaupt  nicht  entstehen  können,  wenn  uns 
nicht  die  Beobachtung  der  festen  Körper  gelehrt  hätte, 
die  Ortsveränderungen  von  den  übrigen  Veränderungen 
zu  unterscheiden. 

Wenn  es  also  keine  festen  Körper  in  der 
Natur  geben  würde,  so  hätten  wir  keine  Geo- 
metrie. 

Eine  andere  Bemerkung  verdient  ebenfalls  einen 
Augenblick  unsere  Aufmerksamkeit.  Nehmen  wir  an,  ein 
fester  Körper  habe  zuerst  die  Stellung  u  und  gehe  von 
dort  in  die  Stellung  1^  über;  in  seiner  ersten  Stellung 
wird  er  uns  eine  Gesamtheit  A  von  Eindrücken  verur- 
sachen und  in  seiner  zweiten  Stellung  eine  Gesamtheit 
B  von  Eindrücken.  Es  werde  außerdem  ein  zweiter 
fester  Körper  betrachtet,  dessen  Eigenschaften  von  denen 
des  ersten  gänzlich  verschieden  sind;  er  sei  z.  B.  von 
verschiedener  Farbe.  Nehmen  wir  an,  daß  er  ebenfalls 
von  der  Stellung  a,  wo  er  auf  uns  die  Gesamtheit  A' 
von  Eindrücken  ausübt,  in  die  Stellung  (3  übergehe,  wo 
er  uns  die  Gesamtheit  B'  von  Eindrücken  verursacht. 

Im  allgemeinen  wird  weder  die  Gesamtheit  A  mit 
der  Gesamtheit  A\  noch  die  Gesamtheit  B  mit  der  Ge- 
samtheit B'  etwas  Gemeinsames  haben.  Der  Übergang 
von  der  Gesamtheit  A  zu  der  Gesamtheit  B  und  der 
Übergang  von  der  Gesamtheit  A'  zu  der  Gesamtheit  B^ 
besteht  also  in  zwei  Veränderungen,  welche  an  sich  im 
allgemeinen  nichts   Gemeinsames  haben. 


(^A  II,  4.     Raum   und  Geometrie. 

Und  dennoch  sehen  wir  diese  beiden  Veränderungen 
eine  wie  die  andere  als  Verschiebungen  an,  noch  mehr, 
wir  betrachten  sie  als  die  gleiche  Verschiebung.  Wie 
ist  das  möglich? 

Das  geschieht  einfach  dadurch,  daß  sie  eine  wie  die 
andere  durch  die  gleiche  entsprechende  Bewegung 
unseres  Körpers  korrigiert  werden  können. 

Die  „entsprechende  Bewegung*'  ist  es  also,  welche 
das  einzige  Bindeglied  zwischen  zwei  Erscheinungen 
bildet,  welche  einander  zu  nähern  uns  sonst  nie  einge- 
fallen wäre. 

Andererseits  kann  unser  Körper  eine  Menge  von  ver- 
schiedenen Bewegungen  ausführen,  dank  der  Anzahl 
seiner  Gliederungen  und  Muskeln;  aber  es  sind  nicht 
alle  fähig,  eine  Veränderung  der  äußeren  Objekte  zu 
„korrigieren";  nur  diejenigen  sind  dazu  fähig,  bei  denen 
unser  ganzer  Körper  oder  wenigstens  alle  unsere  Sinnes- 
organe, welche  in  Betracht  kommen,  sich  als  ein  Ganzes 
verschieben,  d.  h.  ihren  Ort  verändern,  ohne  daß  ihre 
relativen  Stellungen  sich  ändern,  sich  also  verhalten  wie 
ein  fester  Körper. 

Fassen  wir  zusammen: 

1.  Wir  werden  dazu  geführt,  vor  allem  zwei  Kate- 
gorien von  Erscheinungen  zu  unterscheiden. 

Die  einen,  welche  unwillkürlich  und  nicht  von  Muskel- 
Empfindungen  begleitet  sind,  werden  von  uns  den  äuße- 
ren Objekten  zugeteilt;  das  sind  die  äußeren  Verände- 
rungen. 

Die  anderen,  denen  entgegengesetzte  Charaktere  zu- 
kommen, schreiben  wir  den  Ortsveränderungen  unseres 
eigenen  Körpers  zu ;  das  sind  die  inneren  Veränderungen. 

2.  Wir  bemerken,  daß  gewisse  Veränderungen  aus 
jeder  dieser  Kategorien  durch  eine  entsprechende  Ver- 
änderung der  anderen  Kategorie  korrigiert  werden 
können. 


Homocrenität  des  Raumes. 


65 


3.  Wir  unterscheiden  unter  den  äußeren  Verände- 
rungen diejenigen,  denen  eine  entsprechende  Verände- 
rung in  der  anderen  Kategorie  gegenübersteht;  diese 
nennen  wir  Bewegungen.  Und  ebenso  unterscheiden  wir 
unter  den  inneren  Veränderungen  diejenigen,  denen  eine 
entsprechende  Veränderung  in  der  ersten  Kategorie 
gegenübersteht. 

Dank  dieses  gegenseitigen  Verhältnisses  ist  eine  be- 
sondere Klasse  von  Erscheinunoren  definiert,  welche  wir 


*ö' 


Orts- Veränderungen  nennen.  Die  Gesetze  dieser  Er- 
scheinungen bilden  den  Gegenstand  der  Geo- 
metrie. 

Das  Gesetz  der  Homogenität.  —  Das  erste  dieser 
Gesetze  ist  das   der  Homogenität. 

Setzen  wir  voraus,  daß  wir  durch  eine  äußere  Ver- 
änderung a  von  der  Gesamtheit  A  der  Empfindungen 
zu  der  Gesamtheit  B  gelangen,  femer,  daß  diese  Ver- 
änderung a  durch  eine  entsprechende  willkürliche  Be- 
wegung ß  korrigiert  wird,  und  daß  wir  auf  diese  Art  zur 
Gesamtheit  A  zurückgeführt  wären. 

Setzen  wir  weiter  voraus,  daß  eine  andere  äußere 
Veränderung  a  uns  nochmals  von  der  Gesamtheit  A  zu 
der   Gesamtheit  B  kommen  läßt. 

Die  Erfahrung  lehrt  uns  dann,  daß  diese  Verände- 
rung c/  ebenso  wie  a  fähig  ist,  durch  eine  entsprechende 
willkürliche  Bewegung  ß'  korrigiert  zu  werden,  und  daß 
diese  Bewegung  ß'  zu  denselben  Muskel -Empfindungen 
gehört  wie  die  Bewegung  ß,  welche  a  korrigierte. 

Dieser  Tatsache  trägt  man  gewöhnlich  Rechnung, 
wenn  man  sagt,  daß  der  Raum  homogen  und  iso- 
trop ist. 

Man  kann  auch  sagen,  daß  eine  einmal  hervorge- 
brachte Bewegung  zum  zweitenmal,  zum  drittenmal 
und  so  weiter  sich  wiederholen  kann,  ohne  daß  ihre 
Eigenschaften  sich  verändern. 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  5 


55  II>  4-     Raum  und  Geometrie. 

Im  ersten  Kapitel,  in  welchem  wir  die  Natur  der 
mathematischen  Schlußweise  studiert  haben,  sahen  wir 
die  Wichtigkeit,  welche  man  der  Möglichkeit  zuerteilt, 
eine  und  dieselbe  Operation  unendlich  oft  zu  wieder- 
holen. 

Aus  dieser  Wiederholung  entnimmt  die  mathematische 
Schlußweise  ihre  Stärke;  dank  dem  Gesetze  der  Homo- 
genität hat  sie  sich  die  geometrischen  Tatsachen  unter- 
worfen. 

Um  vollständig  zu  sein ,  müßte  man  den  Gesetzen 
der  Homogenität  eine  Menge  anderer  analoger  Gesetze 
anfügen,  auf  deren  Einzelheiten  ich  nicht  eingehen  will; 
dieselben  werden  von  den  Mathematikern  in  einem  Worte 
zusammengefaßt,  wenn  sie  davon  sprechen,  daß  die  Be- 
wegungen ,,eine  Gruppe"  bilden  (d.  h.  daß  zwei 
aufeinanderfolgende  Bewegungen  immer  durch  eine  ein- 
zige Bewegung  ersetzt  werden  können). 

Die  nicht -Euklidische  Welt.  —  Wenn  der  geome- 
trische Raum  ein  Rahmen  wäre,  in  den  jede  unserer 
Vorstellungen  für  sich  allein  betrachtet  hineingepaßt 
werden  kann,  so  wäre  es  unmöglich,  sich  ein  Bild  ohne 
diesen  Rahmen  vorzustellen,  und  wir  könnten  an  unserer 
Geometrie  nichts  ändern. 

Aber  dem  ist  nicht  so;  die  Geometrie  ist  nur  die 
Zusammenfassung  der  Gesetze,  nach  welchen  diese  Bilder 
aufeinander  folgen.  Nichts  hindert  uns  daran,  eine 
Reihe  von  Vorstellungen  auszudenken,  welche  in  allem 
unseren  gewöhnlichen  Vorstellungen  vollkommen  ähnlich 
sind,  aber  welche  nach  Gesetzen  aufeinanderfolgen,  die 
von  den  uns  vertrauten  Gesetzen  verschieden  sind. 

Man  begreift  demnach,  daß  Wesen,  deren  Erziehung 
sich  in  einer  Umgebung  vollzieht,  in  der  diese  Gesetze 
völlig  umgestürzt  sind,  eine  von  der  unserigen  sehr  ver- 
schiedene Geometrie  haben  können. 

Wir    wollen  uns  z.  B.   eine  in  eine  große  Kugel  ein- 


Die  nicht-Euklidische  Welt. 


67 


schlossene  Welt  denken,  welche  folgenden  Gesetzen  unter- 
worfen ist: 

Die  Temperatur  ist  darin  nicht  gleichmäßig;  sie  ist 
im  Mittelpunkte  am  höchsten  und  vermindert  sich  in 
dem  Maße,  als  man  sich  von  ihm  entfernt,  um  auf  den 
absoluten  Nullpunkt  herabzusinken,  wenn  man  die  Kugel 
erreicht,  in  der  diese  Welt  eingeschlossen  ist. 

Ich  bestimme  das  Gesetz,  nach  welchem  diese  Tempe- 
ratur sich  verändern  soll,  noch  genauer.  Sei  R  der 
Halbmesser  der  begrenzenden  Kugel,  sei  r  die  Ent- 
fernung des  betrachteten  Punktes  vom  Mittelpunkte  dieser 
Kugel,  dann  soll  die  absolute  Temperatur  proportional 
zu  R^  —  r^  sein. 

Ich  setze  weiter  voraus,  daß  in  dieser  Welt  alle 
Körper  denselben  Ausdehnungs-Koeffizienten  haben,  so 
daß  die  Länge  irgend  eines  Lineals  seiner  absoluten 
Temperatur  proportional  sei. 

Endlich  setze  ich  voraus,  daß  ein  Objekt,  welches 
von  einem  Punkte  nach  einem  anderen  mit  verschiedener 
Temperatur  übertragen  wird,  sich  sofort  ins  Wärme- 
Gleichgewicht  mit  seiner  neuen  Umgebung  setzt. 

Nichts  ist  in  dieser  Hypothese  widerspruchsvoll  oder 
undenkbar. 

Ein  bewegliches  Objekt  wird  also  immer  kleiner  in 
dem  Maße,  wie  es  sich  der  begrenzenden  Kugel  nähert. 

Beachten  wir  vor  allem,  daß  diese  Welt  ihren  Ein- 
wohnern unbegrenzt  erscheinen  wird,  wenn  sie  auch  vom 
Gesichtspunkte  unserer  gewöhnlichen  Geometrie  aus  als 
begrenzt  gilt. 

Wenn  diese  Einwohner  sich  in  der  Tat  der  be- 
grenzenden Kugel  nähern  wollen,  kühlen  sie  ab  und 
werden  immer  kleiner.  Die  Schritte,  welche  sie  machen, 
sind  also  auch  immer  kleiner,  so  daß  sie  niemals  die  be- 
grenzende Kugel  erreichen  können. 

Wenn   für   uns    die  Geometrie   nur   das  Studium  der 

5* 


^g  II,  4.     Raum  und  Geometrie. 

Gesetze  ist,  nach  welchen  die  festen,  unveränderlichen 
Körper  sich  bewegen,  so  wird  sie  für  diese  hypothetischen 
Wesen  das  Studium  der  Gesetze  sein,  nach  denen  sich 
die  (für  jene  Einwohner  scheinbar  festen)  Körper  be- 
wegen, welche  durch  die  soeben  besprochenen 
Temperatur-Differenzen  deformiert  werden. 

Ohne  Zweifel  erfahren  in  unserer  Welt  die  natür- 
lichen festen  Körper  gleicherweise  Schwankungen  an 
Gestalt  und  Volumen,  welche  durch  Erwärmung  oder 
Abkühlung  entstehen.  Wir  vernachlässigen  diese  Schwan- 
kungen, während  wir  die  Grundlagen  der  Geometrie  fest- 
legen; denn,  abgesehen  von  dem  Umstände,  daß  sie 
sehr  gering  sind,  so  sind  sie  vor  allem  unregelmäßig 
und  erscheinen  uns  folglich  als  zufällig. 

In  dieser  hypothetischen  Welt  würde  dem  nicht  so 
sein,  und  solche  Veränderungen  würden  nach  regel- 
mäßigen und  sehr  einfachen   Gesetzen  erfolgen. 

Andererseits  würden  die  verschiedenen  festen  Bestand- 
teile, aus  denen  sich  die  Körper  dieser  Einwohner  zu- 
sammensetzen, denselben  Schwankungen  in  Gestalt  und 
Volumen  unterworfen  sein. 

Ich  werde  noch  eine  andere  Hypothese  aufstellen; 
ich  setze  voraus,  daß  das  Licht  verschieden  brechende 
Medien  durchdringt,  und  zwar  so,  daß  der  Brechungs- 
Index  zu  R'^  —  r^  umgekehrt  proportional  sei.  Es  ist 
leicht  zu  ersehen,  daß  die  Licht-Strahlen  unter  diesen 
Bedingungen  nicht  geradlinig,  sondern  kreisförmig  sein 
werden. ^^) 

Um  das,  was  vorausgeht,  zu  rechtfertigen,  muß  ich 
beweisen,  daß  gewisse  Ortsveränderungen,  welche  die 
äußeren  Objekte  erlitten  haben,  durch  entsprechende  Be- 
wegungen der  fühlenden  Wesen,  welche  diese  einge- 
bildete Welt  bewohnen,  korrigiert  werden  können,  und 
zwar  so,   daß  sich  die  ursprüngliche  Gesamtheit  von  Ein- 


Nicht-Euklidische  Bewegungen.  5(> 

drücken,  denen  diese  fühlenden  Wesen  unterworfen  sind^ 
wiederherstellt. 

Setzen  wir  in  der  Tat  voraus,  daß  ein  Objekt  sich 
von  der  Stelle  bewegt,  indem  es  sich  deformiert,  aber 
nicht  wie  ein  unveränderlicher  Körper,  sondern  wie  ein 
Körper,  der  ungleichmäßige  Dilatationen  genau  nach  den 
eben  angenommenen  Temperaturgesetzen  erleidet.  Man 
möge  mir  erlauben,  eine  solche  Bewegung  —  um  die 
Sprache  abzukürzen  —  nicht-Euklidische  Orts-Ver- 
änderung zu  nennen. ^^) 

Wenn  ein  fühlendes  Wesen  sich  in  der  Nachbarschaft 
befindet,  so  werden  seine  Eindrücke  durch  das  Fort- 
rücken des  Objektes  verändert,  aber  es  kann  sie  wieder 
herstellen,  wenn  es  sich  selbst  in  passender  Weise  be- 
wegt. Schließlich  müssen  nur  das  Objekt  und  das 
fühlende  Wesen,  beide  zusammen  (d.  h.  als  ein  einziger 
Körper  betrachtet),  eine  dieser  besonderen  Orts -Ver- 
änderungen erlitten  haben,  welche  ich  soeben  die  nicht- 
Euklidischen  genannt  habe.  Das  ist  möglich,  wenn  man 
voraussetzt,  daß  die  Glieder  dieser  Wesen  sich  nach 
demselben  Gesetze  ausdehnen  wie  die  anderen  Körper 
der  von  ihnen  bewohnten  Welt. 

Wenngleich  sich  unter  dem  Gesichtspunkte  unserer 
gewöhnlichen  Geometrie  die  Körper  bei  dieser  Orts- 
veränderung deformiert  haben  und  wenngleich  sich  ihre 
verschiedenen  Teile  nicht  mehr  in  derselben  relativen 
Stellung  wiederfinden,  so  werden  wir  doch  sehen,  daß 
die  Eindrücke  des  fühlenden  Wesens  wieder  dieselben 
geworden  sind. 

In  der  Tat,  wenn  die  gegenseitigen  Entfernungen 
der  verschiedenen  Teile  verändert  werden  konnten,  so 
sind  nichtsdestoweniger  die  ursprünglich  sich  berührenden 
Teile  auch  nachher  wieder  in  Berührung.  Die  Eindrücke 
des  Tast-Sinnes  haben  sich  nicht  geändert. 

Wenn    man     andererseits     der    oben    in    Bezug    auf 


70 


II,  4-     Raum  und  Geometrie. 


die  Brechung  und  die  Krümmung  der  Lichtstrahlen  ge- 
machten Hypothese  Rechnung  trägt,  so  werden  auch  die 
Gesichts-Eindrücke  dieselben  geblieben  sein. 

Diese  hypothetischen  Wesen  werden  also  wie  wir  dazu 
geführt,  die  Erscheinungen,  deren  Zeugen  sie  sind,  ein- 
zuteilen und  unter  ihnen  die  ,, Orts- Veränderungen"  zu 
unterscheiden,  welche  durch  eine  willkürliche  ent- 
sprechende Bewegung  korrigiert  werden  können. 

Wenn  sie  eine  Geometrie  begründen,  so  wird  diese 
nicht  wie  die  unserige  das  Studium  der  Bewegungen 
unserer  festen  Körper  sein;  es  wird  vielmehr  das  Studium 
derjenigen  Orts- Veränderungen  sein,  welche  sie  so  von 
den  übrigen  unterschieden  haben  und  welche  keine 
anderen  als  die  ,, nicht-Euklidischen  Orts- Veränderungen" 
sind,  es  wird  die  nicht- Euklidische  Geometrie 
sein. 

So  werden  uns  ähnliche  Wesen,  deren  Erziehung  in 
einer  solchen  Welt  bewerkstelligt  wäre,  nicht  dieselbe 
Geometrie  wie  wir  haben. 

Die  vierdimensionale  Welt.  —  Eine  vierdimen- 
sionale  Welt  kann  man  sich  ebenso  gut  vorstellen,  wie 
eine  nicht-Euklidische  Welt. 

Der  Gesichts-Sinn,  selbst  mit  einem  Auge,  verbunden 
mit  Muskel-Empfindungen,  die  sich  auf  die  Bewegungen 
des  Augapfels  beziehen,  würde  genügen,  um  den  drei- 
dimensionalen Raum  kennen  zu  lernen. 

Die  Bilder  der  äußeren  Objekte  malen  sich  auf  der 
Netzhaut,  welche  ein  zweidimensionales  Gemälde  dar- 
stellt;  das  sind  die  Perspektiven. 

Da  aber  die  Objekte  beweglich  sind  und  dasselbe 
für  unser  Auge  gilt,  so  sehen  wir  nacheinander  ver- 
schiedene Perspektiven  eines  und  desselben  Körpers, 
von  mehreren  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  aufge- 
nommen. 

Wir    konstatieren    zugleich,    daß    der  Übergang    von 


Die  vierdimensionale  Welt. 


71 


einer  Perspektive  zur  anderen  oft  von  Muskel-Emp- 
findungen begleitet  ist. 

Wenn  der  Übergang  der  Perspektive  A  zur  Perspek- 
tive B  und  derjenige  der  Perspektive  A'  zur  Perspek- 
tive B'  von  denselben  Muskel-Empfindungen  begleitet 
ist,  so  machen  sie  uns  den  Eindruck  gleichartiger  Ope- 
rationen, die  wir  zueinander  in  Beziehung  setzen  können. 

Wenn  wir  darauf  die  Gesetze  studieren,  nach  welchen 
sich  diese  Operationen  zusammensetzen,  so  bemerken 
wir,  daß  sie  eine  Gruppe  bilden,  welche  dieselbe  Struktur 
hat  wie  die  Gruppe  der  Bewegungen  von  festen  Körpern. 

Wir  haben  nun  gesehen  (vgl.  S.  66),  daß  wir  gerade 
aus  den  Eigenschaften  dieser  Gruppe  den  Begriff  des 
geometrischen  und  des  dreidimensionalen  Raumes  abge- 
leitet haben. 

Wir  verstehen  somit,  wie  der  Begriff  eines  drei- 
dimensionalen Raumes  aus  dem  Schauspiel  dieser  Per- 
spektiven entstehen  konnte,  wenngleich  jede  von  ihnen 
nur  zwei  Dimensionen  hat;  denn  sie  folgen  aufein- 
ander nach  gewissen   Gesetzen. 

Also  gut  5  so  wie  man  auf  einer  Leinwand  die  Per- 
spektive einer  dreidimensionalen  Figur  zeichnen  kann, 
so  kann  man  auch  die  Perspektive  einer  vierdimen- 
sionalen  Figur  auf  eine  drei-  (oder  zwei-)  dimensionale 
Leinwand  zeichnen.  Das  ist  für  den  Mathematiker  nur 
leichtes  Spiel. 

Man  kann  sogar  von  derselben  Figur  verschiedene 
Perspektiven  von  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  ent- 
werfen.^'^) 

Wir  können  uns  diese  Perspektiven  leicht  vorstellen, 
weil  sie  nur  drei  Dimensionen  haben. 

Wir  wollen  uns  denken,  die  verschiedenen  Perspek- 
tiven eines  und  desselben  Objektes  folgten  aufeinander 
und  der  Übergang  von  einer  zur  anderen  wäre  von 
Muskel-Empfindungen  begleitet. 


«j  9  II,  4,  5.     Raum  und  Geometrie. 

Man  wird,  wohlverstanden,  zwei  dieser  Übergänge 
als  zwei  Operationen  gleicher  Natur  betrachten,  wenn  sie 
mit  den  gleichen  Muskel-Empfindungen  verbunden  sind. 

Nichts  hindert  dann  daran,  sich  zu  denken,  daß 
diese  Operationen  sich  nach  einem  Gesetze,  wie  wir  es 
haben  wollen,  zusammensetzen,  z.  B.  derart,  daß  sie  eine 
Gruppe  bilden,  welche  dieselbe  Struktur  hat  wie  die- 
jenige der  Bewegungen  eines  vierdimensionalen  festen 
Körpers. 

Da  gibt  es  nichts,  was  man  sich  nicht  vorstellen 
könnte,  und  dennoch  sind  diese  Empfindungen  genau 
dieselben,  denen  ein  mit  einer  zweidimensionalen  Netz- 
haut versehenes  Wesen  unterworfen  wäre,  welches  sich 
im  vierdimensionalen  Räume  bewegen  könnte. 

In  diesem  Sinne  ist  es  erlaubt  zu  sagen,  daß  man 
sich  die  vierte  Dimension  vorstellen  könne. 

Schlußfolgerungen.  —  Man  sieht,  daß  die  Erfahrung 
eine  unumgänglich  notwendige  Rolle  in  der  Genesis  der 
Geometrie  spielt;  aber  es  würde  ein  Irrtum  sein,  daraus 
zu  schließen,  daß  die  Geometrie  —  wenn  auch  nur  teil- 
weise  —   eine  Erfahrungswissenschaft  sei. 

Wenn  sie  erfahrungsmäßig  wäre,  so  würde  sie  nur 
annähernd  richtig  und  provisorisch  sein.  Und  von  welch* 
grober  Annäherung! 

Die  Geometrie  würde  nur  das  Studium  der  Be- 
wegungen von  festen  Körpern  sein;  aber  sie  beschäftigt 
sich  in  Wirklichkeit  nicht  mit  natürlichen  Körpern,  sie 
hat  gewisse  ideale,  durchaus  unveränderliche  Körper  zum 
Gegenstand,  welche  nur  ein  vereinfachtes  und  wenig 
genaues  Bild  der  natürlichen  Körper  geben. 

Der  Begriff  dieser  idealen  Körper  ist  aus  allen  Teilen 
unseres  Verstandes  hervorgegangen,  und  die  Erfahrung 
ist  nur  eine  Gelegenheit,  welche  uns  antreibt,  sie  daraus 
hervorgehen  zu  lassen. 

Das  Objekt  der  Geometrie  ist  das  Studium  einer  be- 


Erfahrung  und  Geometrie.  y  j 

sonderen  ,, Gruppe' ';  aber  der  allgemeine  Gruppen-Be- 
griff präexistiert  in  unserem  Verstände,  zum  mindesten 
die  Möglichkeit  zur  Bildung  desselben;  er  drängt  sich 
uns  auf,  nicht  als  eine  Form  unseres  Empfindungs- Ver- 
mögens,  sondern  als  eine  Form  unserer  Erkenntnis. 

Unter  den  möglichen  Gruppen  muß  man  nur  die- 
jenige auswählen,  welche  sozusagen  das  Normalmaß  sein 
wird,  auf  das  wir  die  Erscheinungen  der  Natur  beziehen. 

Die  Erfahrung  leitet  uns  in  dieser  Wahl,  zwingt  sie 
uns  aber  nicht  auf;  sie  läßt  uns  nicht  erkennen,  welche 
Geometrie  die  richtigste  ist,  wohl  aber,  welche  die  be- 
quemste ist. 

Man  wird  bemerken,  daß  ich  die  phantastischen 
Welten,  welche  ich  oben  erdachte,  beschreiben  konnte, 
ohne  aufzuhören,  die  Sprache  der  gewöhnlichen 
Geometrie  anzuwenden. 

Und  wirklich,  wir  brauchten  diese  nicht  zu  wechseln, 
wenn  wir  in  jene  Welten  versetzt  würden. 

Wesen,  welche  dort  ihre  Erziehung  durchmachen, 
würden  es  ohne  Zweifel  bequemer  finden,  sich  eine  von 
der  unserigen  verschiedene  Geometrie  zu  schaffen,  welche 
sich  ihren  Eindrücken  besser  anpaßte.  Was  uns  betrifft, 
so  ist  es  gewiß,  daß  wir  angesichts  derselben  Ein- 
drücke es  bequemer  finden  würden,  unsere  Gewohnheiten 
nicht  zu   ändern. 


Fünftes  Kapitel. 

Die  Erfahrung  und  die  Geometrie. 

I.  In  den  vorhergehenden  Zeilen  habe  ich  bereits 
verschiedene  Male  zu  beweisen  versucht,  daß  die  Prin- 
zipien   der  Geometrie   keine   Erfahrungs-Tatsachen   sind, 


«74.  n,  5.     Erfahrung  und  Geometrie. 

und  daß  insbesondere  das  Euklidische  Postulat  nicht 
durch  Erfahrung  bewiesen  werden  kann. 

So  entscheidend  mir  auch  die  bereits  dargelegten 
Gründe  erscheinen  mögen,  so  glaube  ich  doch  hierbei 
besonders  verweilen  zu  müssen,  weil  in  vielen  Köpfen 
eine  hierauf  bezügliche  falsche  Idee  tief  eingewurzelt  ist. 

2.  Man  stelle  sich  einen  materiellen  Kreis  her,  messe 
dessen  Halbmesser  und  Umfang  und  versuche  zu  sehen, 
ob  das  Verhältnis  dieser  beiden  Längen  gleich  jr  ist; 
was  hat  man  damit  getan?  Man  wird  ein  Experiment 
gemacht  haben  über  die  Eigenschaften  der  Materie,  aus 
welcher  man  diesen  Kreis  gefertigt  hat,  und  derjenigen 
Materie,  aus  welcher  man  das  zum  Messen  benutzte 
Metermaß  gefertigt  hat. 

3.  Die  Geometrie  und   die   Astronomie.   —   Man 

hat  die  Frage  noch  auf  andere  Weise  gestellt.  Wenn 
die  Lobatschewskysche  Geometrie  wahr  ist,  so  ist  die 
Parallaxe  eines  sehr  entfernten  Sternes  endlich;  wenn  die 
Riemannsche  Geometrie  wahr  ist,  so  wird  sie  negativ 
sein.  Damit  haben  wir  Resultate,  welche  der  Erfahrung 
zugänglich  sind,  und  man  hoffte,  daß  die  astronomischen 
Beobachtungen  erlauben  würden,  zwischen  den  drei  Geo- 
metrien zu  entscheiden.^^) 

Aber  was  man  in  der  Astronomie  die  gerade  Linie 
nennt,  ist  einfach  die  Bahn  des  Lichtstrahles.  Wenn 
man  also,  was  allerdings  unmöglich  ist,  negative  Parallaxen 
entdecken  könnte  oder  beweisen  könnte,  daß  alle  Paral- 
laxen oberhalb  einer  gewissen  Grenze  liegen,  so  hätte 
man  die  Wahl  zwischen  zwei  Schlußfolgerungen:  wir 
könnten  der  Euklidischen  Geometrie  entsagen  oder  die 
Gesetze  der  Optik  abändern  und  zulassen,  daß  das 
Licht  sich  nicht  genau  in  gerader  Linie  fortpflanzt. 

Es  ist  unnütz  hinzuzufügen,  daß  jedermann  diese 
letztere  Lösung  als  die  vorteilhaftere  ansehen  würde. 


Geometrie  und  Astronomie. 


75 


Die  Euklidische  Geometrie  hat  also  von  neuen  Er- 
fahrungen nichts  zu  fürchten. 

4.  Kann  man  behaupten,  daß  gewisse  Erscheinungen, 
welche  im  Euklidischen  Räume  möglich  sind,  im  nicht- 
Euklidischen  Räume  unmöglich  wären,  und  zwar  so,  daß 
die  Erfahrung,  indem  sie  diese  Erscheinungen  bestätigt, 
der  nicht-Euklidischen  Hypothese  direkt  widersprechen 
würde?  Meiner  Äleinung  nach  kann  eine  derartige  Frage 
nicht  aufgestellt  werden.  Ich  würde  sie  für  gleich- 
bedeutend mit  der  folgenden  halten,  deren  Abgeschmackt- 
heit allen  in  die  Augen  springt:  „Gibt  es  Längen,  welche 
man  in  Metern  und  Centimetern  angeben  kann,  aber 
welche  man  nicht  in  Klafter,  Fuß  und  Zoll  abmessen 
kann,  und  könnte  das  Experiment,  durch  welches  man 
die  Existenz  dieser  Längen  bestätigt,  zugleich  der  Hypo- 
these widersprechen,  daß  es  in  sechs  Fuß  eingeteilte 
Klafter  gibt?" 

Prüfen  wir  die  Frage  näher.  Ich  setze  voraus,  daß 
die  gerade  Linie  im  Euklidischen  Räume  zwei  beliebige 
Eigenschaften  besitzt,  welche  ich  A  und  B  nennen  werde; 
wir  nehmen  an,  daß  diese  gerade  Linie  im  nicht-Eukli- 
dischen Räume  noch  die  Eigenschaft  A,  aber  nicht  mehr 
die  Eigenschaft  jB  besitzt;  schließlich  setze  ich  voraus, 
daß  die  gerade  Linie  sowohl  im  Euklidischen,  wie  im 
nicht-Euklidischen  Räume  die  einzige  Linie  sei,  welche 
die  Eigenschaft  A  besitzt. 

Wenn  dem  so  wäre,  so  würde  die  Erfahrung  geeignet 
sein,  zwischen  der  Euklidischen  Hypothese  und  der 
Lobatschewskyschen  zu  entscheiden.  INIan  würde  fest- 
stellen, daß  ein  bestimmtes  konkretes  und  dem  Experi- 
mente zugängliches  Objekt,  wie  z.  B.  ein  Bündel  von 
Lichtstrahlen,  die  Eigenschaft  A  besitzt;  man  würde 
daraus  schließen,  daß  es  geradlinig  ist,  und  man  würde 
daraufhin  untersuchen,  ob  es  die  Eigenschaft  B  besitzt 
oder  nicht. 


»75  II,  5«     Erfahrung  und  Geometrie. 

Aber  dem  ist  nicht  so,  es  existiert  keine  Eigen- 
schaft, welche  wie  diese  Eigenschaft  A  ein  absolutes 
Kriterium  sein  könnte,  um  die  gerade  Linie  als  solche 
zu  erkennen  und  sie  von  jeder  anderen  Linie  zu  unter- 
scheiden. 

Vielleicht  wird  man  einwerfen  (vgl.  oben  S.  47) : 
,, Diese  Eigenschaft  ist  doch  die  folgende:  die  gerade 
Linie  ist  eine  derartige  Linie,  daß  eine  Figur,  deren 
Teil  diese  Linie  ist,  sich  bewegen  kann,  ohne  daß  die 
gegenseitigen  Entfernungen  ihrer  Punkte  sich  verändern, 
und    daß    somit   alle  Punkte    dieser  Linie   fest   bleiben." 

Da  hätten  wir  tatsächlich  eine  Eigenschaft,  welche, 
sei  es  nun  im  Euklidischen  oder  sei  es  im  nicht-Eukli- 
dischen Räume,  der  Geraden  zukommt  und  nur  ihr  zu- 
kommt. Aber  wie  erkennt  man  durch  die  Erfahrung, 
ob  sie  diesem  oder  jenem  konkreten  Objekte  zugehört? 
Man  muß  Entfernungen  messen,  und  wie  wird  man  wissen 
können,  daß  eine  solche  konkrete  Größe,  welche  ich 
mit  meinem  materiellen  Instrument  gemessen  habe,  die 
abstrakte  Entfernung  richtig  angibt? 

Man  hat  die  Schwierigkeit  nur  weiter  hinausge- 
schoben. 

In  Wirklichkeit  ist  die  Eigenschaft,  von  der  ich  so- 
eben sprach,  nicht  nur  eine  Eigenschaft  der  geraden 
Linie  allein,  es  ist  eine  Eigenschaft  der  geraden  Linie 
und  der  Entfernung.  Wenn  sie  als  absolutes  Kriterium 
dienen  soll,  so  müßte  man  nicht  nur  feststellen,  daß  sie 
der  Entfernung,  und  keiner  anderen  Linie  als  der  geraden 
Linie  eigentümlich  ist,  sondern  auch  daß  sie  keiner 
anderen  Linie  als  der  geraden  Linie  zukommt  und 
keiner  anderen  Größe  als  der  Entfernung.  Aber  das 
ist  nicht  richtig. 

Wenn  man  von  diesen  Betrachtungen  nicht  über- 
zeugt   ist,    so   möge   man    mir  ein  konkretes  Experiment 


Postulat  und  Erfahrung.  h^ 

nennen,  welches  im  Euklidischen  Systeme  erklärt  werden 
kann,   aber  nicht  im  Lobatschewskyschen  System. 

Da  ich  genau  weiß,  daß  man  dieser  Aufforderung 
niemals  nachkommen  wird,   so  kann  ich  hieraus  schließen: 

Keine  Erfahrung  wird  jemals  mit  dem  Euklidischen 
Postulate  im  Widerspruch  sein;  ebenso  aber  anderer- 
seits: keine  Erfahrung  wird  jemals  im  Widerspruch  mit 
dem  Lobatschewskyschen  Postulate  sein. 

5.  Aber  es  genügt  nicht,  daß  die  Euklidische  (oder 
nicht -Euklidische)  Geometrie  niemals  durch  die  Erfah- 
rung direkt  widerlegt  werden  kann.  Könnte  es  nicht 
eintreten,  daß  die  Geometrie  sich  mit  der  Erfahrung 
nur  in  Übereinstimmung  bringen  läßt,  wenn  man  das 
Prinzip  des  zureichenden  Grundes  oder  das  Prinzip  der 
Relativität  des  Raumes  verletzt? 

Ich  will  dies  näher  ausführen:  Betrachten  wir  irgend 
ein  materielles  System;  wir  werden  einerseits  den  ,, Zu- 
stand" der  verschiedenen  Körper  dieses  Systems  ins 
Auge  fassen  müssen  (z.  B.  ihre  Temperatur,  ihr  elektri- 
sches Potential  u.  s.  w.),  und  andererseits  ihre  Stellung 
im  Räume;  und  unter  den  Angaben,  welche  zur  Defini- 
tion dieser  Stellung  dienen,  werden  wir  noch  die  gegen- 
seitigen Entfernungen  dieser  Körper  (die  ihre  relativen 
Stellungen  bestimmen)  von  den  Bedingungen  unterscheiden, 
welche  den  absoluten  Ort  des  Systems  und  seine  absolute 
Orientierung  im  Räume  festlegen. 

Die  Gesetze  der  Erscheinungen,  welche  sich  in  diesem 
Systeme  abspielen,  werden  von  dem  Zustande  dieser 
Körper  und  von  ihren  gegenseitigen  Entfernungen  ab- 
hängen; aber  wegen  der  Relativität  und  wegen  der 
Passivität  des  Raumes  werden  sie  nicht  vom  absoluten 
Orte  und  von  der  absoluten  Orientierung  des  Systems 
abhängen. 

Mit  anderen  Worten:  der  Zustand  der  Körper  und 
ihre    gegenseitigen  Entfernungen    in    irgend    einem   Zeit- 


yg  n,  5.    Erfahrung  und  Geometrie. 

punkte  hängen  allein  vom  Zustande  dieser  selben  Körper 
und  von  ihren  gegenseitigen  Entfernungen  zur  Anfangs- 
zeit ab,  aber  sie  hängen  niemals  vom  absoluten  anfäng- 
lichen Orte  des  Systems  ab  oder  von  seiner  absoluten 
anfänglichen  Orientierung.  Um  die  Ausdrucksweise  ab- 
zukürzen, werde  ich  dies  als  das  Gesetz  der  Rela- 
tivität bezeichnen. 

Bis  jetzt  habe  ich  wie  ein  Euklidischer  Mathematiker 
gesprochen.  Wie  ich  schon  gesagt  habe,  gestattet  jede 
beliebige  Erfahrungstatsache  eine  Interpretation  in  der 
Euklidischen  Hypothese;  aber  sie  gestattet  eine  solche 
gleichfalls  in  der  nicht-Euklidischen  Hypothese.  Nehmen 
wir  also  an,  wir  hätten  eine  Reihe  von  Experimenten 
gemacht;  wir  hätten  sie  in  der  Euklidischen  Hypothese 
interpretiert  und  wir  hätten  erkannt,  daß  diese  so  inter- 
pretierten Experimente  unser  „Gesetz  der  Relativität" 
nicht  verletzen. 

Jetzt  interpretieren  wir  sie  in  der  nicht-Euklidischen 
Hypothese:  das  ist  immer  möglich;  nur  werden  die  nicht- 
Euklidischen  Entfernungen  unserer  verschiedenen  Körper 
bei  dieser  neuen  Interpretation  im  allgemeinen  nicht  die- 
selben sein  wie  die  Euklidischen  Entfernungen  bei  der 
früheren  Interpretation. 

Werden  nun  unsere  Experimente,  wenn  sie  auf  diese 
neue  Weise  interpretiert  werden,  auch  noch  im  Einklang 
mit  unserem  ,, Gesetze  der  Relativität"  stehen?  Und 
wenn  eine  solche  Übereinstimmung  nicht  stattfindet,  würde 
man  dann  nicht  auch  das  Recht  haben  zu  sagen,  daß 
die  Erfahrung  die  Falschheit  der  nicht-Euklidischen  Geo- 
metrie bewiesen  hat? 

Man  erkennt  leicht,  daß  diese  Befürchtung  ohne  Grund 
ist;  in  der  Tat,  um  das  Gesetz  der  Relativität  in  aller 
Strenge  anwenden  zu  können,  muß  man  es  auf  das 
ganze  Universum  anwenden.  Denn  wenn  man  nur  einen 
Teil  dieses  Universums  betrachtet,  und  wenn  der  absolute 


Gesetz  der  Relativität. 


79 


Ort  dieses  Teiles  sich  zu  verändern  beginnt,  so  werden 
sich  die  Entfernungen  von  den  übrigen  Körpern  des 
Universums  gleichfalls  ändern ;  ihr  Einfluß  auf  den  gerade 
betrachteten  Teil  des  Universums  würde  sich  folglich 
vermehren  oder  vermindern,  und  das  könnte  die  Gesetze 
der  beobachteten  Erscheinungen  beeinflussen. 

Aber  wenn  unser  System  das  ganze  Universum  um- 
faßte, so  ist  die  Erfahrung  nicht  im  stände,  uns  über  seinen 
absoluten  Ort  und  seine  absolute  Orientierung  zu  unter- 
richten. Alles  was  unsere  Instrumente,  wenn  sie  auch 
noch  so  vollkommen  sind,  uns  lehren  können,  ist  der 
Zustand  der  verschiedenen  Teile  des  Universums  und 
die  gegenseitigen  Entfernungen   dieser  Teile. 

Man  könnte  also  unser  Gesetz  der  Relativität  so 
aussprechen: 

Die  Ablesungen,  welche  wir  in  einem  beliebigen  Zeit- 
punkte an  unseren  Instrumenten  machen  können,  werden 
einzig  von  den  Ablesungen  abhängen,  welche  wir  an 
denselben  Instrumenten  in  der  Anfangszeit  machen 
können. 

Eine  solche  Aussage  ist  unabhängig  von  jeder  Inter- 
pretation der  Erfahrungstatsachen.  Wenn  das  Gesetz  in 
der  Euklidischen  Interpretation  wahr  ist,  so  wird  es  auch 
in  der  nicht-Euklidischen  Interpretation  wahr  sein. 

Man  gestatte  mir  inbezug  hierauf  eine  kleine  Ab- 
schweifung. Ich  habe  weiter  oben  von  den  Angaben 
gesprochen,  welche  die  Stellung  der  verschiedenen  Körper 
des  Systems  definieren;  ich  hätte  gleicherweise  von  den- 
jenigen sprechen  sollen,  welche  ihre  Geschwindigkeiten 
definieren;  ich  hätte  dann  einzeln  die  Geschwindigkeiten 
angeben  sollen,  mit  welcher  die  gegenseitigen  Entfernungen 
der  verschiedenen  Körper  sich  verändern;  und  anderer- 
seits hätte  ich  die  Geschwindigkeiten  der  Translation 
und   der  Rotation  des  Systems  unterscheiden  sollen,   d.  h. 


gQ  11,  5-    Erfahrung  und  Geometrie. 

die   Geschwindigkeiten,    mit    welchen    ihr    absoluter   Ort 
und  ihre  absolute  Orientierung  sich  ändern. 

Damit  der  Verstand  ganz  befriedigt  wird,  hätte  man 
das  Gesetz  der  Relativität  folgendermaßen  ausdrücken 
müssen : 

Der  Zustand  der  Körper  und  ihre  gegenseitigen  Ent- 
fernungen in  irgend  einem  Zeitpunkte,  sowie  die  Ge- 
schwindigkeiten, mit  denen  diese  Entfernungen  sich  in 
demselben  Zeitpunkte  ändern,  hängen  allein  von  dem 
Zustande  dieser  Körper  und  von  ihren  gegenseitigen  Ent- 
fernungen in  der  Anfangszeit  ab,  ebenso  von  den  Ge- 
schwindigkeiten, mit  welchen  diese  Entfernungen  in  der 
Anfangszeit  sich  verändern,  aber  sie  hängen  weder  von 
demselben  absoluten  anfänglichen  Orte  des  Systems,  noch 
von  seiner  absoluten  Orientierung  ab,  noch  von  den 
Geschwindigkeiten,  mit  welchen  sich  dieser  absolute  Ort 
und   diese  absolute  Orientierung  zur  Anfangszeit  ändern. 

Unglücklicherweise  steht  das  so  ausgesprochene  Gesetz 
mit  den  Erfahrungen  nicht  im  Einklang,  wenigstens  nicht, 
wenn  man  die  letzteren  in  der  gewöhnlichen  Weise 
interpretiert. 

Man  nehme  an,  daß  ein  Mensch  auf  einen  Planeten 
versetzt  sei,  dessen  Himmel  beständig  mit  einer  dicken 
Wolkenschicht  bedeckt  wäre,  und  zwar  derart,  daß  man 
niemals  die  anderen  Gestirne  bemerken  könnte;  auf 
diesem  Planeten  würde  man  leben,  als  ob  derselbe  im 
Räume  isoliert  wäre.  Dieser  Mensch  könnte  indessen 
bemerken,  daß  sich  der  Planet  dreht,  entweder  indem 
er  die  Abplattung  nachmißt  (was  man  gewöhnlich  mit 
Hilfe  astronomischer  Beobachtungen  bewerkstelligt,  was 
man  aber  auch  mit  rein  geodätischen  Hilfsmitteln  aus- 
führen kann),  oder,  indem  er  das  Experiment  des 
Foucaultschen  Pendels  wiederholt.  Die  absolute  Rotation 
dieses  Planeten   würde   also   völlig   klar   gestellt  werden. 

Das     ist     eine     Tatsache,     welche     bei    den    Philo- 


Empirismus  in  der  Geometrie.  8l 

sophen    Anstoß    erregt,    welche   aber    der  Physiker   aner- 
kennen muß. 

Man  weiß,  daß  Newton  aus  dieser  Tatsache  die 
Existenz  des  absoluten  Raumes  geschlossen  hat;  ich 
kann  diese  Anschauungsweise  durchaus  nicht  teilen,  im 
dritten  Teile  werde  ich  erklären,  warum ^^).  Für  jetzt 
möchte  ich  nicht  anfangen  diese  Schwierigkeit  zu  er- 
örtern. 

Ich  habe  mich  bei  der  Formulierung  des  Gesetzes 
der  Relativität  begnügen  müssen,  alle  Arten  von  Ge- 
schwindigkeiten unter  die  Angaben  einzuschließen,  welche 
den  Zustand  der  Körper  definieren. 

Wie  dem  auch  sei,  diese  Schwierigkeit  ist  dieselbe 
für  die  Euklidische  und  für  die  Lobatschewskysche  Geo- 
metrie; ich  brauche  mich  also  deshalb  nicht  weiter  zu 
beunruhigen  und  ich  habe  nur  beiläufig  davon  sprechen 
wollen. 

Wie  man  sich  auch  drehen  und  wenden  möge,  es 
bleibt  unmöglich,  mit  dem  Empirismus  in  der  Geometrie 
einen  vernünftigen  Sinn  zu  verbinden. 

6.  Die  Erfahrungstatsachen  lassen  uns  nur  die 
gegenseitigen  Beziehungen  der  Körper  erkennen;  keine 
von  ihnen  bezieht  sich  (oder  kann  sich  auch  nur  be- 
ziehen) auf  die  Beziehungen  der  Körper  zum  Räume 
oder  auf  die  wechselseitigen  Beziehungen  der  verschie- 
denen Raumteile. 

,,Ja",  werden  Sie  darauf  antworten,  ,,ein  einziges 
Experiment  ist  ungenügend,  weil  es  nur  eine  einzige 
Gleichung  mit  mehreren  Unbekannten  gibt;  aber  wenn 
ich  hinreichend  viele  Experimente  gemacht  habe,  so 
werde  ich  auch  eine  hinreichende  Anzahl  von  Glei- 
chungen haben,  um  alle  meine  Unbekannten  zu  be- 
rechnen. *' 

Die  Höhe  des  Topmastes  zu  kennen,  ist  nicht  ge- 
nügend, um  das  Alter  des  Kapitäns  zu  berechnen.    Wenn 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  6 


g')  II,  5-     Erfahrung  und  Geometrie. 

Sie  alle  Holzstücke  des  Schiffes  gemessen  haben,  so 
haben  Sie  viele  Gleichungen,  aber  das  Alter  des  Kapitäns 
kennen  Sie  deshalb  doch  nicht.  Alle  Ihre  Messungen 
beziehen  sich  auf  Ihre  Holzstücke  und  können  Ihnen 
deshalb  nur  Dinge  offenbaren,  die  mit  diesen  Holzstücken 
zusammenhängen.  Ebenso  haben  Ihre  Experimente,  so 
zahlreich  sie  auch  sein  mögen,  nur  mit  den  wechsel- 
seitigen Beziehungen  der  Körper  zu  tun  und  werden 
uns  deshalb  nichts  über  die  wechselseitigen  Beziehungen 
der  verschiedenen  Raumteile  offenbaren. 

7.  Sie  werden  behaupten,  daß  die  Experimente  sich 
doch  mindestens  auf  die  geometrischen  Eigenschaften 
der  Körper  beziehen,  wenn  sie  überhaupt  mit  Körpern 
zu  tun  haben. 

Aber  was  verstehen  Sie  denn  unter  geometrischen 
Eigenschaften  der  Körper?  Ich  nehme  an,  es  handelt 
sich  um  Beziehungen  der  Körper  zum  Räume;  diese 
Eigenschaften  sind  also  für  Experimente  unzugänglich, 
welche  nur  mit  gegenseitigen  Beziehungen  der  Körper 
zu  tun  haben.  Das  allein  würde  genügen,  um  zu  be- 
weisen, daß  von  diesen  Eigenschaften  keine  Rede  sein  kann. 
Fangen  wir  immerhin  damit  an,  uns  über  den  Sinn 
dieser  Worte  zu  verständigen:  geometrische  Eigenschaften 
der  Körper.  Wenn  ich  behaupte,  daß  ein  Körper  sich 
aus  mehreren  Teilen  zusammensetzt,  so  setze  ich  voraus, 
daß  ich  damit  keine  geometrische  Eigenschaft  aussage; 
und  das  wird  wahr  bleiben,  auch  wenn  ich  jetzt  den 
kleinsten  Teilen,  die  ich  ins  Auge  fasse,  den  unrichtigen 
Namen  Punkte  beilege. 

Wenn  ich  sage,  daß  ein  bestimmter  Teil  eines  be- 
stimmten Körpers  in  Berührung  mit  einem  bestimmten 
Teile  eines  bestimmten  anderen  Körpers  ist,  so  spreche 
ich  eine  Behauptung  aus,  welche  die  gegenseitigen  Be- 
ziehungen dieser  beiden  Körper  zueinander  und  nicht 
ihre  Beziehungen  zum  Räume  betrifft. 


Tragweite  von  Experimenten.  3^ 

Ich  nehme  an,  Sie  werden  mir  darin  beistimmen, 
daß  das  keine  geometrischen  Eigenschaften  sind;  ich 
bin  wenigstens  sicher,  Sie  werden  mir  zugeben,  daß  diese 
Eigenschaften  von  jeder  Bekanntschaft  mit  der  metrischen 
Geometrie  unabhängig  sind. 

Dies  vorausgesetzt,  denke  ich  mir  einen  festen  Körper, 
gebildet  von  dünnen  Eisenstäben  OA,  OB,  OC,  OD, 
OE,  OF,  OG,  OH,  welchen  allen  der  eine  Endpunkt  O 
gemeinsam  ist.  Wir  haben  andererseits  einen  zweiten 
festen  Körper,  z.  B.  ein  Holzstück,  das  man  mit  drei 
kleinen  Tintenflecken  zeichnen  möge,  welche  ich  a,  ß,  y 
nennen  will.  Ich  nehme  ferner  an,  man  habe  sich  über- 
zeugt, daß  man  a,  ß,  y  mit  A,  G,  0  in  Berührung  bringen 
kann  (ich  will  damit  sagen:  a  mit  A,  zu  gleicher  Zeit 
ß  mit  G  und  y  mit  0),  femer,  daß  man  nach  und  nach 
aßy  mit  BGO,  CGO,  DGO,  EGO,  EGO  in  Berüh- 
rung bringen  kann,  dann  mit  AHO,  BHO,  CHO,  DHO, 
EHO,  EHO',  endlich  ay  nacheinander  mit  AB,  B  C, 
CD,  DE,  EE,  EA. 

Damit  haben  wir  Feststellungen,  welche  man  ohne 
irgend  eine  vorhergehende  Vorstellung  von  der  Form 
oder  von  den  metrischen  Eigenschaften  des  Raumes 
machen  kann.  Sie  haben  durchaus  nichts  mit  den 
„geometrischen  Eigenschaften  der  Körper"  zu  tun.  Diese 
Feststellungen  sind  nicht  möglich,  wenn  die  Körper,  mit 
welchen  man  experimentiert  hat,  sich  gemäß  einer  Gruppe 
(vgl.  S.  66)  bewegen,  mit  derselben  Struktur  wie  die 
Lobatschewskysche  Gruppe  (ich  will  sagen,  wenn  sie  sich 
nach  demselben  Gesetze  bewegen,  wie  die  festen  Körper 
in  der  Lobatschewskyschen  Geometrie).  Sie  genügen 
aber,  um  zu  zeigen,  daß  diese  Körper  sich  gemäß  der 
Euklidischen  Gruppe  bewegen,  oder  wenigstens,  daß  sie 
sich  nicht  gemäß  der  Lobatschewskyschen  Gruppe  bewegen. 

Es  ist  leicht  zu  sehen,  daß  sie  mit  der  Euklidischen 
Gruppe  verträglich  sind. 

6* 


^A  II,  5.     Erfahrung  und  Geometrie, 

Denn  man  könnte  diese  Feststellungen  machen,  wenn 
der  Körper  aßy  ein  fester,  unveränderlicher  Körper 
unserer  gewöhnlichen  Geometrie  wäre,  welche  die  Gestalt 
eines  geradlinigen  Dreiecks  hat  und  wenn  die  Punkte 
AB  CDEFGH  die  Scheitelpunkte  eines  Polyeders  wären, 
das  von  zwei  hexagonalen  regelmäßigen  Pyramiden  unserer 
gewöhnlichen  Geometrie  gebildet  ist,  welche  zur  gemein- 
samen Basis  das  Sechseck  AB  CDEF  und  als  Spitzen 
die  eine  den  Punkt  G  und  die  andere  den  Punkt  H 
haben. 

Setzen  wir  nun  voraus,  man  beobachte  an  Stelle  der 
vorhergehenden  Feststellungen,  daß  man,  wie  soeben, 
aßy  nacheinander  zur  Deckung  bringen  kann  mit  AGO, 
BGO,  CGO,  DGO,  EGO.FGO,  AHO,  B HO,  CHO, 
DHO,  EHO,  FHO,  dann,  daß  man  aß  (aber  nicht 
mehr  ay)  nacheinander  a-uf  AB,  B  C,  CD,  DE,  EF  Mndi 
FA  legen  kann.^^) 

Das  sind  Feststellungen,  welche  man  machen  könnte, 
wenn  die  nicht-Euklidische  Geometrie  wahr  wäre,  wenn 
die  Körper  aßy,  O  AB  CDEFGH  feste  unveränderliche 
Körper  wären,  und  wenn  der  erste  ein  geradliniges 
Dreieck  und  der  zweite  eine  doppelte,  hexagonale, 
regelmäßige  Pyramide  von  passenden  Dimensionen  wäre. 

Diese  neuen  Feststellungen  sind  also  nicht  möglich, 
wenn  die  Körper  sich  gemäß  der  Euklidischen  Gruppe 
bewegen;  aber  sie  werden  möglich  sein,  wenn  man  vor- 
aussetzt, daß  die  Körper  sich  gemäß  der  Lobatschewky- 
schen  Gruppe  bewegen.  Sie  würden  genügen  (wenn 
man  sie  ausführte),  um  zu  beweisen,  daß  die  fraglichen 
Körper  sich  nicht  gemäß  der  Euklidischen  Gruppe  be- 
wegen. 

Somit  habe  ich,  ohne  irgend  eine  Hypothese  über 
die  Gestalt,  über  die  Natur  des  Raumes,  über  die  Be- 
ziehungen der  Körper  zum  Räume  zu  machen,  ohne 
den  Körpern    irgend   eine  geometrische  Eigenschaft  bei- 


Unmögliclikeit  der  Entscheidung.  S"? 

zulegen,  Feststellungen  gemacht,  welche  mir  erlaubt 
haben  darzulegen,  in  dem  einen  Falle,  daß  die  zum 
Experiment  benutzten  Körper  sich  einer  Gruppe  gemäß 
bewegen,  deren  Struktur  die  Euklidische  ist,  und  im 
anderen  Falle,  daß  sie  sich  einer  Gruppe  gemäß  bewegen, 
deren  Struktur  die  Lob atschewsky sehe  ist. 

Man  sage  nicht,  daß  die  erste  Gesamtheit  von  Fest- 
stellungen eine  Erfahrung  darstellen  würde,  welche  be- 
weist, daß  der  Raum  ein  EukHdischer  ist  und  daß  die 
zweite  Gesamtheit  eine  Erfahrung  darstellen  würde, 
welche  beweist,   daß  der  Raum  ein  nicht-Euklidischer  ist. 

Man  könnte  sich  in  der  Tat  Körper  vorstellen  (ich 
sage  vorstellen),  welche  sich  derart  bewegen,  daß  sie 
die  zweite  Reihe  der  Feststellungen  ermöglichten.  Der 
Beweis  dafür  ist,  daß  der  erste  beste  Mechaniker  solche 
Körper  konstruieren  kann,  wenn  er  sich  die  Mühe  geben 
und  die  Kosten  daran  wenden  wollte.  Trotzdem  werden 
Sie  daraus  nicht  schlußfolgern,  daß  der  Raum  ein  nicht- 
Euklidischer  ist. 

Und  da  die  gewöhnlichen  festen  Körper  nicht 
aufhören  würden  zu  existieren,  wenn  der  Mechaniker 
die  sonderbaren  Körper,  von  denen  ich  soeben  sprach, 
konstruiert  hätte,  so  müßte  man  sogar  schließen,  daß 
der  Raum   zugleich  Euklidisch   und   nicht-Eukhdisch  ist. 

Setzen  wir  z.  B.  voraus,  daß  wir  eine  große  Kugel 
vom  Halbmesser  R  hätten  und  daß  die  Temperatur  vom 
Mittelpunkte  nach  der  Oberfläche  dieser  Kugel  zu  nach 
dem  Gesetze  sinken  würde,  von  dem  ich  sprach,  als  ich 
die  nicht-Euklidische  Welt  beschrieb   (vgl.   S.  67). 

Wir  könnten  so  Körper  vor  uns  haben,  deren  Dila- 
tation zu  vernachlässigen  ist  und  welche  sich  wie  ge- 
wöhnliche feste  Körper  verhalten,  und  andererseits  sehr 
stark  ausdehnbare  Körper,  welche  sich  wie  nicht-Eukli- 
dische feste  Körper  verhalten.  Wir  könnten  z.  B.  zwei 
Doppelpyramiden  OABCDEFGH  \md  0' Ä  B' C  D' E' 


36  II,  5'  Erfahrung  und  Geometrie. 

F'  G' H'  und  zwei  Dreiecke  a^y  und  a  ^' y'  haben.  Die 
erste  Doppelpyramide  möge  geradlinig  und  die  zweite 
krummlinig  sein;  das  Dreieck  a^y  sei  aus  unausdehn- 
barem Materiale  hergestellt  und  das  andere  Dreieck  aus 
sehr  stark  ausdehnbarem  Materiale. 

Man  könnte  dann  die  ersten  Feststellungen  mit  der 
Doppelpyramide  OA  .  .  .H  und  dem  Dreiecke  aßy 
machen  und  die  zweite  Klasse  von  Feststellungen  mit 
der  Doppelpyramide  O'  Ä  .  .  .  H'  und  dem  Dreiecke 
cc'ß'y\  Und  dann  würde  das  Experiment  beweisen 
erstens,  daß  die  Euklidische  Geometrie  richtig  ist,  zwei- 
tens,  daß  sie  falsch  ist. 

Die  Experimente  beziehen  sich  folglich  nicht 
auf  den  Raum,   sondern  auf  die  Körper. 

Anhang. 

8.  Um  vollständig  zu  sein,  müßte  ich  noch  eine 
delikate  Frage  besprechen,  welche  lange  Entwickelungen 
erfordern  würde;  ich  werde  mich  darauf  beschränken, 
hier  zusammenfassend  wiederzugeben,  was  ich  in  der 
Revue  de  Metaphysique  et  de  Morale  und  in  der  Zeit- 
schrift The  Monist*)  dargelegt  habe.  Was  verstehen  wir 
darunter,  wenn  wir  sagen,  daß  der  Raum  drei  Dimen- 
sionen hat? 

Wir  haben  die  Wichtigkeit  derjenigen  „inneren  Ver- 
änderungen** kennen  gelernt,  welche  uns  durch  unsere 
Muskelempfindungen  zum  Bewußtsein  kommen  (vgl.  S.  5  7  f.). 
Sie  können  dazu  dienen,  die  verschiedenen  Haltungen 
unseres  Körpers  zu  charakterisieren.  Nehmen  wir  irgend 
eine  willkürlich  gewählte  Körperhaltung  A  zum  Ausgangs- 
punkte.    Wenn  wir  von  dieser  Anfangshaltung  zu  irgend 


*)  On   the    foundation   of  Geometry,    The   Monist,    edited   by 
P.  Carus,  vol.  9,  Chicago   1898. 


Zahl  der  Dimensionen. 


87 


einer  anderen  Haltung  B  übergehen,  so  erleiden  wir 
eine  Reihe  S  von  Muskelempfindungen  und  diese  Reihe 
»S  wird  B  definieren.  Bemerken  wir  indessen,  daß  wir 
oft  zwei  Reihen  S  und  S'  ansehen,  als  ob  sie  eine  und 
dieselbe  Haltung  B  definieren  (weil  die  Anfangshaltung 
A  und  die  Endhaltung  B  dieselben  bleiben  können, 
während  die  Zwischenhaltungen  und  die  begleitenden 
Empfindungen  verschieden  sind).  Wie  können  wir  diese 
beiden  Reihen  als  äquivalent  nachweisen?  Weil  sie 
dazu  dienen  können,  eine  und  dieselbe  äußere  Ver- 
änderung zu  kompensieren,  oder  allgemeiner,  weil  eine 
dieser  Reihen  durch  die  andere  ersetzt  werden  kann, 
wenn  es  sich  um  die  Kompensation  einer  äußeren  Ver- 
änderung handelt. 

Unter  diesen  Reihen  haben  wir  diejenigen  hervor- 
gehoben, welche  für  sich  allein  eine  äußere  Veränderung 
kompensieren  und  welche  wir  ,, Ortsveränderungen"  (vgl. 
S.  60)  genannt  haben.  Da  wir  zwei  Ortsveränderungen, 
welche  einander  zu  benachbart  sind,  nicht  unterscheiden 
können,  so  besitzt  die  Gesamtheit  dieser  Ortsverände- 
rungen die  Charaktere  eines  physikalischen  Kontinuums; 
die  Erfahrung  lehrt  uns*^),  daß  es  die  Charaktere  eines 
sechsdimensionalen  physikalischen  Kontinuums  sind;  aber 
wir  wissen  noch  nicht,  wieviele  Dimensionen  der  Raum 
selbst   hat,    wir   müssen   zuerst  eine  andere  Frage  lösen. 

Was  ist  ein  Punkt  im  Räume?  Jedermann  glaubt 
es  zu  wissen,  aber  das  beruht  auf  einer  Täuschung.  Was 
wir  sehen,  wenn  wir  versuchen,  uns  einen  Punkt  im 
Räume  vorzustellen,  ist  ein  schwarzer  Fleck  auf  weißem 
Papier  oder  ein  Kreidefleck  auf  einer  schwarzen  Tafel, 
es  ist  immer  ein  Gegenstand.  Die  Frage  muß  also 
folgendermaßen  verstanden  werden: 

Was  will  ich  damit  ausdrücken,  wenn  ich  sage, 
daß  der  Gegenstand  B  sich  an  demselben  Punkte  be- 
findet, in  welchem  soeben  der  Gegenstand  A  war?    Und 


gg  n,  5.     Erfahrung  und  Geometrie. 

weiter,  welches  Kriterium  wird  es  mir  ermöglichen,   dies 
zu  erkennen? 

Ich  will  sagen,  daß  mein  erster  Finger,  der  soeben 
den  Gegenstand  A  berührte,  jetzt  den  Gegenstand  B 
berührt,  obgleich  ich  mich  nicht  von  der  Stelle 
rühre  (was  mir  meine  Muskelempfindung  anzeigt).  Ich 
könnte  mich  anderer  Kriterien  bedienen,  z.  B.  eines 
anderen  Fingers  oder  des  Gesichtssinnes.  Aber  das  erste 
Kriterium  ist  genügend;  wenn  dieses  mit  ,,Ja"  antwortet, 
so  weiß  ich,  daß  alle  anderen  Kriterien  dieselbe  Antwort 
geben  werden.  Ich  weiß  es  aus  Erfahrung,  ich  kann 
es  nicht  a  priori  wissen.  Darum  sage  ich  auch,  daß 
das  Berühren  nicht  aus  der  Entfernung  möglich  ist,  und 
das  ist  eine  andere  Art,  die  gleiche  experimentelle  Tat- 
sache auszusprechen.  Wenn  ich  aber  im  Gegensatz  dazu 
sage,  daß  das  Sehen  aus  der  Entfernung  möglich  ist,  so 
will  das  heißen,  daß  das  durch  den  Gesichtssinn  ge- 
lieferte Kriterium  bejahen  kann,  während  die  anderen 
Kriterien  verneinen. 

Kurz,  mein  erster  Finger  wird  für  jede  Haltung 
meines  Körpers  einen  Punkt  bestimmen,  und  das  ist  es, 
und  nur  das  allein,   was  einen  Punkt  im  Räume  definiert. 

Mit  jeder  Haltung  korrespondiert  also  ein  Punkt; 
aber  es  kommt  öfters  vor,  daß  der  gleiche  Punkt  mit 
verschiedenen  Haltungen  korrespondiert  (in  solchem  Falle 
sagen  wir,  daß  unser  Finger  sich  nicht  bewegt  hat,  wohl 
aber  der  übrige  Teil  des  Körpers).  Wir  unterscheiden 
also  unter  den  Haltungs Veränderungen  solche,  bei  denen 
der  Finger  sich  nicht  bewegt.  Wie  sind  wir  dazu  ge- 
kommen? Weil  wir  oft  bemerken,  daß  in  diesen  Ver- 
änderungen der  Gegenstand,  welcher  mit  dem  Finger  in 
Berührung  kommt,   diese  Berührung  nicht  aufgibt. 

Wir  wollen  also  in  ein  und  dieselbe  Abteilung  alle 
Haltungen  einreihen,  welche  sich  auseinander  mittelst 
einer  der  Veränderungen  ableiten,  die  wir  so  gekennzeichnet 


Was  ist  ein  Punkt?  8o 

haben.  Mit  allen  Haltungen  derselben  Abteilung  wird 
derselbe  Punkt  im  Räume  korrespondieren.  So  wird 
also  mit  jeder  Abteilung  ein  Punkt  korrespondieren  und 
mit  jedem  Punkte  eine  Abteilung.  Aber  man  kann  sagen: 
die  Erfahrung  bezieht  sich  nicht  auf  den  Punkt,  sondern 
auf  diese  Abteilung  von  Veränderungen,  oder  besser  ge- 
sagt, auf  die  entsprechende  Abteilung  von  Muskel- 
empfindungen. 

Dann  werden  wir,  wenn  wir  vom  dreidimensionalen 
Räume  sprechen,  einfach  meinen,  daß  die  Gesamtheit 
dieser  Abteilungen  uns  wie  die  Charaktere  eines  physi- 
kalischen,  dreidimensionalen  Kontinuums  erscheint. 

Wenn  ich  mich,  anstatt  die  Punkte  im  Räume  mit 
Hilfe  des  ersten  Fingers  zu  definieren,  z.  B.  eines  anderen 
Fingers  bedient  hätte,  würden  dann  die  Resultate  die 
gleichen  sein?  Das  ist  keineswegs  a  priori  sicher,  aber 
die  Erfahrung  zeigt  uns,  wie  wir  gesehen  haben,  daß 
alle  Kriterien  übereinstimmen;  darum  können  wir  mit 
,,Ja"  antworten. 

Wenn  wir  zu  dem  zurückkehren,  was  wir  Ortsver- 
änderungen nannten,  deren  Gesamtheit,  wie  wir  schon 
bemerkten  (S.  66),  eine  Gruppe  bildet,  so  werden  wir 
dazu  geführt,  von  den  übrigen  diejenigen  zu  unterscheiden, 
bei  denen  ein  Finger  sich  nicht  bewegt;  nach  dem  Vor- 
hergegangenen charakterisieren  also  diese  Ortsverände- 
rungen einen  Punkt  im  Räume  und  ihre  Gesamtheit  wird 
eine  Untergruppe  unserer  Gruppe  sein.  Auf  diese  Weise 
wird  also  jeder  Untergruppe  ein  Punkt  im  Räume  ent- 
sprechen.*^) 

Man  wird  versucht  sein  zu  schlußfolgern,  daß  es  die 
Erfahrung  ist,  welche  uns  lehrt,  wieviele  Dimensionen  der 
Raum  hat.  Aber  in  Wahrheit  haben  wiederum  unsere 
Erfahrungen  nichts  mit  dem  Räume  zu  tun,  sondern  mit 
unserem  Körper  und   seinen  Beziehungen  zu  den  benach- 


go  II,  5-     Erfahrung  und  Geometrie. 

harten    Gegenständen.     Überdies    sind    sie    außerordent- 
lich groh. 

In  unserem  Verstände  präexistierte  die  latente  Idee 
einer  gewissen  Anzahl  von  Gruppen;  es  sind  diejenigen, 
deren  Theorie  Lie  entwickelt  hat  (vgl.  S.  48).  Welche 
sollen  wir  wählen,  um  daraus  eine  Art  Normalmaß  zu 
fertigen,  mit  dem  wir  die  natürlichen  Erscheinungen 
vergleichen  könnten?  Und  welches  ist  von  dieser  aus- 
gewählten Gruppe  diejenige  Untergruppe,  die  wir  brauchen 
können,  um  einen  Punkt  im  Räume  zu  charakterisieren? 
Die  Erfahrung  leitete  uns,  als  sie  uns  zeigte,  welche 
Wahl  sich  am  besten  den  Eigenschaften  unseres  Körpers 
anpassen  würde.     Aber  damit  ist  ihre  Rolle  ausgespielt. 


Dritter  Teil. 
Die  Kraft. 

Sechstes  Kapitel. 
Die  klassische  Mechanik. 

Die  Engländer  lehren  die  Mechanik  wie  eine  experi- 
mentelle Wissenschaft;  auf  dem  Kontinent  stellt  man  sie 
stets  als  eine  mehr  oder  weniger  deduktive  Wissenschaft 
und  als  eine  Wissenschaft  a  priori  dar.  Die  Engländer 
haben  zweifelsohne  recht,  aber  wie  konnte  man  so  lange 
in  solchen  Irrtümern  beharren?  Warum  konnten  die 
Gelehrten  auf  dem  Kontinente,  welche  die  Gewohnheiten 
ihrer  Vorgänger  zu  meiden  suchten,  sich  meist  nicht  voll- 
ständig von  diesen  Irrtümern  befreien? 

Wenn  andererseits  die  Prinzipien  der  Mechanik  keine 
andere  Quelle  haben  als  die  Erfahrung,  sind  sie  dann 
nicht  nur  annähernd  und  provisorisch  richtig?  Könnten 
uns  neue  Erfahrungen  nicht  eines  Tages  dazu  führen, 
diese  Prinzipien  abzuändern  oder  sie  sogar  aufzugeben? 

Solche  Fragen  drängen  sich  natürlicherweise  auf,  und 
die  Schwierigkeit  der  Lösung  stammt  hauptsächlich  da- 
her, daß  die  mechanischen  Lehrbücher  nicht  klar  unter- 
scheiden, was  Übereinkommen  und  was  Hypothese  ist. 
Das  ist  nicht  alles: 

I.  Es  gibt  keinen  absoluten  Raum,  und  wir  begreifen 
nur  relative  Bewegungen;  trotzdem  spricht  man  die 
mechanischen  Tatsachen  öfters  so  aus,  als  ob  es  einen 
absoluten  Raum  gäbe,  auf  den  man  sie  beziehen  könnte. 


Q2  III,  6.     Die  klassische  Mechanik. 

2.  Es  gibt  keine  absolute  Zeit;  wenn  man  sagt,  daß 
zwei  Zeiten  gleich  sind,  so  wäre  das  eine  Behauptung, 
welche  an  sich  keinen  Sinn  hat  und  welche  einen  solchen 
nur  durch  Übereinkommen  erhalten  kann. 

3.  Wir  haben  nicht  nur  keinerlei  direkte  Anschauung 
von  der  Gleichheit  zweier  Zeiten,  sondern  wir  haben 
nicht  einmal  diejenige  von  der  Gleichzeitigkeit  zweier 
Ereignisse,  welche  auf  verschiedenen  Schauplätzen  vor 
sich  gehen;  das  habe  ich  in  einem  Aufsatze  unter  dem 
Titel:  la  Mesure  du  temps*)   dargelegt.^^) 

4.  Endlich  ist  unsere  Euklidische  Geometrie  selbst 
nur  eine  Art  von  Übereinkommen  für  unsere  Ausdrucks- 
weise; wir  könnten  die  mechanischen  Tatsachen  aus- 
sprechen, indem  wir  sie  auf  einen  nicht-Euklidischen 
Raum  übertragen;  das  wäre  zwar  ein  wenig  bequemes, 
aber  ebenso  berechtigtes  Werkzeug  wie  unser  gewöhn- 
licher Raum;  die  Darstellung  wird  dann  viel  komplizierter 
werden,   aber  sie  bliebe  möglich.^*) 

So  sind  weder  der  absolute  Raum,  noch  die  absolute 
Zeit,  noch  sogar  die  Geometrie  Voraussetzungen,  die  für 
die  Mechanik  absolut  notwendig  wären;  alle  diese  Dinge 
bestanden  nicht  vor  der  Mechanik,  so  wie  logischerweise 
die  französische  Sprache  nicht  vor  den  Wahrheiten  be- 
stand, welche  man  in  dieser  Sprache  ausdrückt. 

Man  kann  versuchen  die  fundamentalen  Gesetze  der 
Mechanik  in  einer  Sprache  auszudrücken,  welche  von 
allen  diesen  Übereinkommen  unabhängig  ist;  man  würde 
sich  so  ohne  Zweifel  besser  von  dem  Rechenschaft  geben 
können,  was  diese  Gesetze  in  sich  bedeuten;  das  hat 
Andrade  in  seinen  Le(^ons  de  Mecanique  physique, 
wenigstens  teilweise,  versucht  klar  zu  stellen. 

Die  Darlegung  dieser  Gesetze  würde,  wohlverstanden, 


*)  Revue    de   Metaphysique    et    de    Morale,    t.  VI   p.   i  — 13 
{janvier   1898). 


Das  Prinzip  der  Trägheit.  g^ 

viel  schwieriger  werden,  weil  alle  diese  Übereinkommen 
ausdrücklich  ersonnen  waren,  um  diese  Darlegung  abzu- 
kürzen und  zu  vereinfachen. 

Was  mich  betrifft,  so  werde  ich  alle  diese  Schwierig- 
keiten beiseite  lassen,  ausgenommen  diejenige,  welche 
sich  auf  den  absoluten  Raum  bezieht;  nicht,  daß  ich 
diese  Schwierigkeiten  verkenne,  davon  bin  ich  weit  ent- 
fernt; aber  wir  haben  sie  zur  Genüge  in  den  beiden 
ersten  Teilen  durchgenommen.  Vorläufig  will  ich  also 
die  absolute  Zeit  und  die  Euklidische  Geometrie  zu- 
lassen. 

Das  Prinzip  der  Trägheit.  —  Ein  Körper,  welcher 
keiner  Kraft  unterworfen  ist,  kann  nur  eine  geradlinige 
und  gleichförmige  Bewegung  haben. 

Liegt  darin  eine  Wahrheit,  welche  sich  dem  Ver- 
stände a  priori  aufdrängt?  Wenn  dem  so  wäre,  wie 
konnten  die  Griechen  sie  dann  verkennen?  Wie  hätten 
sie  glauben  können,  daß  die  Bewegung  in  dem  Augen- 
blicke anhält,  in  dem  die  Ursache,  welche  die  Be- 
wegung entstehen  ließ,  aufhört?  Oder  wie  konnten  sie 
sogar  glauben,  daß  jeder  Körper,  sobald  ihm  nichts  in 
den  Weg  kommt,  eine  kreisförmige  Bewegung  machen 
würde,  welche  die  angeblich  vornehmste  aller  Bewegungen 
sein  sollte? 

Wenn  man  sagt,  daß  sich  die  Geschwindigkeit  eines 
Körpers  nicht  ändern  kann,  wenn  kein  Grund  dazu  vor- 
liegt, könnte  man  dann  nicht  ebenso  gut  behaupten,  daß 
die  Stellung  dieses  Körpers  sich  nicht  ändern  kann  oder 
daß  die  Krümmung  seiner  Bahn  sich  nicht  ändern  kann, 
es  sei  denn,  daß  eine  äußere  Ursache  abändernd  ein- 
wirkt ? 

Ist  also  das  Prinzip  der  Trägheit,  welches  doch  keine 
Wahrheit  a  priori  enthält,  eine  experimentelle  Tatsache? 
Aber  hat  man  jemals  mit  Körpern  experimentiert,  welche 
der  Wirkung  jeder  Kraft  entzogen  waren,   und  wenn  man 


94 


III,  6.     Die  klassische  Mechanik. 


es  getan  hat,  wie  konnte  man  dann  wissen,  daß  diese 
Körper  keiner  Kraft  unterworfen  waren?  Man  citiert 
gewöhnlich  das  Beispiel  einer  Kugel,  welche  eine  sehr 
lange  Zeit  hindurch  auf  einem  Marmortische  rollt;  aber 
wie  können  wir  behaupten,  daß  sie  keiner  Kraft  unter- 
worfen ist?  Vielleicht,  weil  sie  von  allen  anderen 
Körpern  zu  weit  entfernt  ist,  um  von  ihnen  merklich 
beeinflußt  zu  werden?  Aber  sie  ist  doch  von  der  Erde 
nicht  weiter  entfernt,  als  wenn  man  sie  frei  in  die  Luft 
würfe;  und  jeder  weiß,  daß  sie  in  diesem  Falle  dem 
Einflüsse  der  Schwerkraft  unterworfen  ist,  welche  auf  der 
Anziehungskraft  der  Erde  beruht. 

Die  Lehrer  der  Mechanik  haben  die  Gewohnheit, 
über  das  Beispiel  der  Kugel  schnell  hinwegzugehen; 
aber  sie  fügen  hinzu,  daß  das  Prinzip  der  Trägheit  in- 
direkt durch  seine  Folgerungen  bestätigt  wird.  Dabei 
drücken  sie  sich  nicht  richtig  aus;  sie  wollen  offenbar 
sagen,  daß  man  verschiedene  Folgerungen  eines  allge- 
meineren Prinzipes,  von  dem  das  Prinzip  der  Trägheit 
nur  ein  besonderer  Fall  ist,  durch  die  Erfahrung  be- 
stätigen kann. 

Ich  schlage  vor,  dies  allgemeine  Prinzip  in  folgender 
Weise  auszusprechen: 

DieBeschleunigung  eines  Körpers  hängt  nur  ab 
von  dem  Orte  dieses  Körpers  und  der  ihm  benach- 
barten Körper  und  von  ihren  Geschwindigkeiten. 

Die  Mathematiker  würden  statt  dessen  sagen  ^^):  Die 
Bewegungen  aller  materiellen  Moleküle  des  Universums 
hängen  von  Differential-Gleichungen  zweiter  Ordnung  ab. 

Um  verständlich  zu  machen,  daß  dies  wirklich  die 
natürliche  Verallgemeinerung  des  Trägheitsgesetzes  ist, 
erlaube  man  mir  eine  fingierte  Annahme.  Das  Träg- 
heitsgesetz drängt  sich  uns  nicht  a  priori  auf,  wie  ich 
schon  oben  erwähnt  habe;  andere  Gesetze  würden  eben- 
so mit  dem  Prinzipe   des  zureichenden  Grundes  vertrag- 


Verallgemeinertes  Trägheitsgesetz.  gc 

lieh  sein.  Anstatt  vorauszusetzen,  daß  die  Geschwindig- 
keit eines  Körpers  sich  nicht  ändert,  wenn  derselbe 
keiner  Kraft  unterworfen  ist,  könnte  man  voraussetzen, 
daß  seine  Lage,  oder  auch  daß  seine  Beschleunigung 
sich  nicht  ändern  kann. 

Denken  wir  uns  für  einen  Augenblick,  daß  das  eine 
dieser  beiden  hypothetischen  Gesetze  mit  demjenigen 
der  Natur  identisch  sei  und  unser  Trägheitsgesetz  er- 
setze. Was  würde  dann  dessen  natürliche  Verallge- 
meinerung sein?  Eine  Minute  Überlegung  wird  uns  die 
Antwort  geben. 

Im  ersten  Falle  müßte  man  annehmen,  daß  die  Ge- 
schwindigkeit eines  Körpers  nur  von  seiner  Lage  und 
von  der  Lage  des  Nachbarkörpers  abhängt;  im  zweiten 
Falle,  daß  die  Änderung  der  Beschleunigung  eines 
Körpers  nur  von  der  Lage  dieses  Körpers  und  seiner 
Nachbarkörper,  von  ihren  Geschwindigkeiten  und  von 
ihren  Beschleunigungen  abhängt. 

Oder,  wenn  wir  es  mathematisch  ausdrücken:  Die 
Differential- Gleichungen  der  Bewegungen  würden  im 
ersten  Falle  von  der  ersten  Ordnung,  im  zweiten  Falle 
von  der  dritten  Ordnung  sein.*^) 

Ändern  wir  unsere  fingierte  Annahme  etwas  ab.  Ich 
setze  eine  unserem  Sonnensysteme  analoge  Welt  voraus, 
in  welcher  aber,  durch  besonderen  Zufall,  die  Bahnen 
aller  Planeten  ohne  Exzentrizität  und  ohne  Neigung  gegen 
die  Ekliptik  sein  sollen.  Ich  setze  weiter  voraus,  daß 
die  Massen  dieser  Planeten  zu  schwach  wären,  um  die 
gegenseitigen  Störungen  der  Planeten  sichtbar  werden  zu 
lassen.  Die  Astronomen,  welche  einen  dieser  Planeten 
bewohnen,  würden  nicht  verfehlen  zu  schlußfolgern,  daß 
die  Bahn  eines  Gestirns  nur  kreisförmig  und  einer  ge- 
wissen Ebene  parallel  sein  kann;  die  Stellung  eines  Ge- 
stirnes in  einem  gegebenen  Augenblicke  würde  also  ge- 
nügen, um  seine  Geschwindigkeit  und  seine  ganze  Bahn 


g5  III,  6.     Die  klassische  Mechanik. 

zu  bestimmen.  Das  Trägheitsgesetz,  welches  sie  an- 
nehmen würden,  wäre  das  erste  der  beiden  hypothetischen 
Gesetze,  von  denen  ich  soeben  sprach.*'^) 

Denken  wir  uns,  daß  dieses  System  eines  Tages  mit 
großer  Schnelligkeit  von  einem  groß -massigen  Körper 
durchschnitten  würde,  der  von  einem  entfernten  Stern- 
bilde herkommt.  Alle  Planetenbahnen  würden  gründlich 
gestört  werden.  Unsere  hypothetischen  Astronomen 
würden  nicht  einmal  sehr  verwundert  sein,  sie  würden 
wohl  erraten,  daß  dieses  neue  Gestirn  allein  an  all  dem 
Unheil  schuld  ist.  Sie  würden  sagen:  ,,Die  Ordnung 
wird  sich  von  selbst  wiederherstellen,  wenn  der  Stören- 
fried wieder  fort  ist;  ohne  Zweifel  werden  die  Ent- 
fernungen der  Planeten  von  der  Sonne  nicht  wieder  die- 
selben werden,  welche  sie  vor  der  Katastrophe  waren; 
aber  wenn  der  Störenfried  nicht  mehr  da  ist,  so  werden 
die  Planetenbahnen  wieder  kreisförmig  sein." 

Nur  dann  werden  diese  Astronomen  ihres  Irrtums 
gewahr  werden  und  die  Notwendigkeit  erkennen,  ihre 
ganze  Mechanik  zu  erneuern,  wenn  der  störende  Körper 
sich  weit  entfernt  hätte  und  wenn  dennoch  die  Planeten- 
bahnen anstatt  kreisförmig  elliptisch  geworden  wären. 

Ich  habe  mich  bei  dieser  Hypothese  etwas  aufge- 
halten, denn  es  scheint  mir,  daß  man  nur  gut  verstehen 
kann,  was  unser  verallgemeinertes  Trägheitsgesetz  be- 
deutet, wenn  man  es  einer  entgegengesetzten  Hypothese 
gegenüberstellt. 

Nun  gut;  ist  dieses  verallgemeinerte  Trägheitsgesetz 
durch  die  Erfahrung  bewahrheitet  oder  kann  es  in  Zu- 
kunft bewahrheitet  werden?  Als  Newton  die  ,,Principia*^ 
schrieb,  betrachtete  er  diese  Wahrheit  als  gesichert  und 
durch  Experimente  bewiesen.  Sie  war  es  auch  in  seinen 
Augen  nicht  nur  durch  die  anthropomorphen  Vorstellungen, 
von  denen  wir  weiterhin  sprechen  werden,  sondern  auch 
durch  die  Arbeiten  Galileis.     Sie  war  überdies  gesichert 


Bestätigung  durch  Erfahrung.  nj 

durch  die  Kepplerschen  Gesetze;  nach  diesen  Gesetzen 
ist  in  der  Tat  die  Bahn  eines  Planeten  vollkommen 
durch  seine  Anfangs-Lage  und  seine  Anfangs-Geschwindig- 
keit bestimmt;  gerade  das  verlangt  ja  unser  verallge- 
meinertes  Trägheits-Prinzip. 

Wenn  dieses  Prinzip  nur  scheinbar  richtig  sein  soll, 
wenn  man  zu  befürchten  hat,  dasselbe  eines  Tages  z.  B. 
durch  eines  der  analogen  Prinzipien  ersetzen  zu  müssen, 
welche  ich  ihm  soeben  gegenüberstellte,  so  müßten  wir 
durch  einen  ganz  ungewöhnlichen  Zufall  getäuscht  worden 
sein,  durch  einen  solchen  Zufall,  wie  er  unsere  hypothe- 
tischen Astronomen  unter  den  oben  fingierten  Umständen 
irregeführt  hatte. 

Eine  solche  Hypothese  ist  zu  unwahrscheinlich,  als 
daß  man  sich  mit  ihr  aufzuhalten  brauchte.  Niemand 
wird  glauben,  daß  solche  Zufälligkeiten  stattfinden  können; 
zweifelsohne  ist  die  Wahrscheinlichkeit  dafür  (bis  auf 
die  Beobachtungsfehler),  daß  zwei  Exzentrizitäten  beide 
zugleich  gleich  Null  seien,  nicht  kleiner  wie  die  Wahr- 
scheinlichkeit dafür,  daß  die  eine  z.  B.  (bis  auf  die 
Beobachtungsfehler)  genau  gleich  o,  i  und  die  andere 
gleich  0,2  sei.  Die  Wahrscheinlichkeit  eines  einfachen 
Ereignisses  ist  nicht  geringer  als  die  Wahrscheinlichkeit 
eines  zusammengesetzten  Ereignisses;  und  dennoch  werden 
war,  wenn  das  einfache  Ereignis  eintritt,  es  nicht  dem 
Zufall  zuschreiben  wollen;  wir  können  nicht  glauben,  daß 
das  Naturereignis  nur  eintrat,  um  uns  zu  täuschen. 
Nachdem  die  Möglichkeit  eines  derartigen  Irrtums  für 
uns  erledigt  ist,  können  wir  also  zugeben,  daß  unser 
Gesetz  durch  die  Erfahrung  bestätigt  sei,  wenigstens  so- 
weit es  die  Astronomie  betrifft. 

Aber  die  Astronomie  ist  nicht  die  ganze  Physik. 

Sollte  man  nicht  fürchten,  daß  irgend  ein  neues 
Experiment  eines  Tages  das  Gesetz  in  irgend  einem 
Gebiete  der  Physik  zu  nichte  macht?    Ein  experimentelles 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  7 


qg  III,  6.     Die  klassische  Mechanik. 

Gesetz  ist  immer  der  Kontrolle  unterworfen;  man  muß 
immer  gewärtig  sein,  es  durch  ein  anderes,  genaueres 
Gesetz  ersetzt  zu  sehen. 

Niemand  denkt  indessen  ernstlich  daran,  daß  das 
Gesetz,  von  dem  wir  sprechen,  jemals  aufgegeben  oder 
verbessert  werden  könnte.  Warum?  Einfach  deshalb, 
weil  man  es  niemals  einer  entsprechenden  Probe  unter- 
werfen kann. 

Um  eine  wirklich  vollständige  Probe  zu  machen, 
müßte  man  zuerst  alle  Körper  des  Universums  nach  ge- 
wisser Zeit  mit  ihren  Anfangs-Geschwindigkeiten  in  ihre 
Anfangs-Lagen  zurückkehren  lassen.  Man  wird  dann 
von  diesem  Momente  ausgehen  und  sehen,  ob  sie  die 
Bahnen,  welche  sie  bereits  einmal  verfolgten,  wieder 
durchlaufen. 

Aber  diese  Probe  ist  unmöglich;  man  kann  sie  nur 
teilweise  ausführen,  und  w^enn  man  es  auch  noch  so  gut 
machte,  so  \vird  es  doch  immer  einige  Körper  geben, 
welche  nicht  zu  ihrer  Anfangs -Lage  zurückkehren;  so 
findet  jede  Abweichung  vom  Gesetze  in  leichter  Weise 
ihre  Erklärung. 

Das  genügt  noch  nicht:  in  der  Astronomie  sehen 
wir  die  Körper,  deren  Bewegungen  wir  studieren,  und 
wir  nehmen  meistens  an,  daß  sie  nicht  der  Einwirkung 
anderer,  unsichtbarer  Körper  unterliegen.  Unter  solchen 
Bedingungen  muß  unser  Gesetz  sich  bewahrheiten  oder 
nicht  bewahrheiten. 

Aber  in  der  Physik  ist  es  nicht  ebenso:  wenn  die 
physikalischen  Erscheinungen  aus  Bewegungen  hervor- 
gehen, so  sind  es  die  Bewegungen  der  Moleküle,  und 
die  können  wir  nicht  sehen.  Wenn  uns  nun  die  Be- 
schleunigung eines  der  Körper,  welche  wir  sehen,  von 
einem  anderen  Ding  abhängig  erscheint  als  von  Lagen 
oder  Geschwindigkeiten  der  anderen,  sichtbaren  Körper 
oder     der    unsichtbaren    Moleküle     (deren    Existenz    wir 


Gesetz  der  Beschleunigung.  qq 

schon  vorhin  zugelassen  haben),  so  wird  uns  nichts  daran 
hindern  vorauszusetzen,  daß  dieses  andere  Ding  durch 
die  Lage  oder  die  Geschwindigkeit  anderer  Moleküle 
gegeben  wird,  deren  Anwesenheit  wir  bis  dahin  nicht 
geahnt  haben.      Das  Gesetz  wäre  damit  gerettet. 

Man  gestatte  mir  für  einen  Augenblick,  die  mathe- 
matische Ausdrucksweise  anzuwenden,  um  denselben  Ge- 
danken in  anderer  Form  darzulegen.  Ich  setze  voraus, 
daß  wir  n  Moleküle  beobachten  und  daß  nach  unseren 
Feststellungen  ihre  3 ;/  Koordinaten  ein  System  von  3  n 
Differential-Gleichungen  vierter  Ordnung  befriedigen  (und 
nicht  zweiter  Ordnung,  wie  es  das  Trägheits- Gesetz  er- 
fordern würde).  Wir  wissen,  daß  ein  System  von  3  ;z 
Gleichungen  vierter  Ordnung  durch  Einführung  von  3  n 
Hilfs-Variabeln  auf  ein  System  von  ^n  Gleichungen 
zweiter  Ordnung  zurückgeführt  werden  kann.  Wenn  wir 
also  voraussetzen,  daß  diese  '^n  Hilfs-Variabeln  die 
Koordinaten  von  n  unsichtbaren  Molekülen  darstellen, 
so  ist  das  Resultat  wiederum  mit  dem  Trägheits- Gesetze 
in  Übereinstimmung. 

Kurz,  dieses  Gesetz,  das  in  einigen  besonderen  Fällen 
erfahrungsmäßig  bewiesen  ist,  kann  ohne  Furcht  auf  die 
allgemeinsten  Fälle  ausgedehnt  werden,  weil  wir  wissen, 
daß  in  diesen  allgemeinsten  Fällen  die  Erfahrung  dieses 
Gesetz  weder  bekräftigen  noch  entkräften  kann. 

Das  Gesetz  der  Beschleunigung.  —  Die  Beschleu- 
nigung eines  Körpers  ist  gleich  der  Kraft,  welche  auf 
ihn  wirkt,   dividiert  durch  seine  Masse. 

Kann  dieses  Gesetz  durch  die  Erfahrung  bewiesen 
werden?  Dazu  müßte  man  die  drei  Größen  messen, 
welche  in  dem  eben  ausgesprochenen  Satze  vorkommen: 
Beschleunigung,  Kraft  und  Masse. 

Ich  nehme  an,  daß  man  die  Beschleunigung  messen 
kann,  denn  ich  sehe  von  der  Schwierigkeit  ab,  welche 
im  Zeitmaße  liegt  (vgl.   S.  93).      Aber   wie    soll  man  die 

7* 


joo  ni,  6.    Die  klassische  Mechanik. 

Kraft  oder  die  Masse  messen?  Wir  wissen  nicht  ein- 
mal, was  diese  Worte  bedeuten. 

Was  ist  Masse?  Es  ist,  sagt  Newton,  das  Produkt 
des  Volumens  in  die  Dichte.  —  Man  sollte  besser 
sagen,  so  meinen  Thomson  und  Tait,  daß  die  Dichtig- 
keit der  Quotient  der  Masse  durch  das  Volumen  ist.  — 
Was  ist  Kraft?  Es  ist,  sagt  Lagrange,  eine  Ursache, 
welche  die  Bewegung  eines  Körpers  hervorbringt  oder 
welche  sie  hervorzubringen  bestrebt  ist.  —  Kirchhoff 
wird  sagen,  es  ist  das  Produkt  der  Masse  in  die  Be- 
schleunigung*^). Aber  warum  sagt  man  dann  nicht, 
daß  die  Masse  der  Quotient  der  Kraft  durch  die  Be- 
schleunigung ist? 

Diese  Schwierigkeiten  sind  unentwirrbar. 

Wenn  man  sagt,  daß  die  Kraft  die  Ursache  einer 
Bewegung  sei,  so  macht  man  Metaphysik,  und  diese 
Definition  würde,  wenn  man  sich  mit  ihr  begnügte,  völlig 
unfruchtbar  sein.  Wenn  eine  Definition  zu  irgend  etwas 
nützlich  sein  soll,  muß  sie  uns  lehren,  die  Kraft  zu 
messen;  das  genügt  andererseits;  es  ist  keineswegs 
nötig,  daß  sie  uns  lehrt,  was  die  Kraft  an  sich  ist,  noch 
ob  sie  die  Ursache  oder  die  Wirkung  der  Bewegung  ist. 

Man  muß  also  zuerst  die  Gleichheit  von  zwei  Kräften 
definieren.  Wann  wird  man  sagen,  daß  zwei  Kräfte 
gleich  sind?  Das  ist  der  Fall,  erwidert  man,  wenn  sie, 
auf  dieselbe  Masse  angewandt,  ihr  eine  gleiche  Be- 
schleunigung auferlegen,  oder  wenn  sie,  einander  direkt 
entgegenwirkend,  sich  das  Gleichgewicht  halten.  Diese 
Definition  ist  nur  eine  Augentäuschung.  Man  kann  eine 
an  einen  Körper  angreifende  Kraft  nicht  loshaken,  um 
sie  einem  anderen  Körper  anzuhaken,  wie  man  eine 
Lokomotive  loshakt,  um  sie  an  einem  anderen  Zuge  zu 
befestigen.  Es  ist  also  unmöglich  zu  erfahren,  welche 
Beschleunigung  eine  bestimmte  Kraft,  die  an  einem  be- 
stimmten   Körper    angreift,    einem    bestimmten    anderen 


Gleichheit  von  Kräften.  lOi 

Körper  erteilen  würde,  wenn  sie  an  letzterem  angriffe. 
Es  ist  unmöglich  zu  wissen,  wie  sich  zwei  Kräfte  ver- 
halten würden,  welche  nicht  einander  direkt  entgegen- 
wirken, wenn  sie  dazu  gebracht  werden,  einander  direkt 
entgegenzuwirken. 

Diese  Definition  versucht  man,  sozusagen,  zu 
materialisieren,  wenn  man  eine  Kraft  mit  einem  Dynamo- 
meter mißt  oder  sie  durch  Gewichte  äquilibriert.  Zwei 
Kräfte  F  und  F',  welche  ich  der  Einfachheit  wegen  als 
vertikal  und  von  unten  nach  oben  gerichtet  voraussetze, 
werden  bezw.  an  zwei  Körper  C  und  C  angebracht; 
ich  befestige  einen  und  denselben  schweren  Körper  P 
zuerst  an  dem  Körper  C,  dann  an  dem  Körper  C; 
wenn  in  beiden  Fällen  Gleichgewicht  stattfindet,  so 
schließe  ich,  daß  die  beiden  Kräfte  F  und  F'  einander 
gleich  sind,  denn  sie  sind  beide  gleich  dem  Gewichte 
des  Körpers  P. 

Aber  bin  ich  gewiß,  daß  der  Körper  P  dasselbe 
Gewicht  behalten  hat,  während  ich  ihn  vom  ersten  Körper 
zum  zweiten  übertragen  habe?  Weit  gefehlt;  ich  bin 
vom  Gegenteil  überzeugt;  ich  weiß,  daß  die  Inten- 
sität der  Schwere  sich  von  einem  Punkte  zum  anderen 
ändert  und  daß  sie  z.  B.  am  Pole  stärker  ist  als  am 
Äquator.  Ohne  Zweifel  ist  der  Unterschied  sehr  gering 
und,  ins  Praktische  übersetzt,  möchte  ich  damit  nicht 
rechnen;  eine  gute  Definition  soll  von  mathematischer 
Strenge  sein;  diese  Strenge  vermissen  wir.  Was  ich 
vom  Gewichte  sage,  Heße  sich  offenbar  auf  die  Kraft 
der  Feder  eines  Dynamometers  anwenden,  welche  die 
Temperatur  und  eine  Menge  von  Nebenumständen  ver- 
ändern können. 

Noch  nicht  genug;  man  kann  nicht  sagen,  daß  das 
Gewicht  des  Körpers  P  auf  den  Körper  C  übertragen 
würde  und  direkt  die  Kraft  F  äquilibriert.  Was  an 
den    Körper    C    angreift,    das    ist    die    Wirkung   A    des 


JQ2  III,  6.     Die  klassische  Mechanik. 

Körpers  P  auf  den  Körper  C;  der  Körper  P  seiner- 
seits ist  einesteils  seinem  Gewichte,  andernteils  der 
Gegenwirkung  R  des  Körpers  C  auf  P  unterworfen. 
Schließlich  ist  die  Kraft  F  gleich  der  Kraft  A,  weil  sie 
ihr  das  Gleichgewicht  hält;  die  Kraft  A  ist  gleich  R 
vermöge  des  Prinzipes  der  Gleichheit  der  Wirkung  und 
Gegenwirkung  (actio  und  reactio),  endlich  ist  die  Kraft 
R  gleich  dem  Gewichte  von  /*,  weil  sie  ihm  das  Gleich- 
gewicht hält.  Aus  diesen  drei  Gleichungen  leiten  wir 
als  Folgerung  die  Gleichheit  der  Kraft  F  mit  dem  Ge- 
wichte des  Körpers  P  ab.'*^) 

Wir  sind  demnach  genötigt,  in  die  Definition  der 
Gleichheit  dieser  beiden  Kräfte  das  Prinzip  der  Gleich- 
heit der  Wirkung  und  der  Gegenwirkung  eingehen  zu 
lassen;  demzufolge  darf  dieses  Prinzip  nicht  mehr 
als  ein  experimentelles  Gesetz,  sondern  als  eine 
Definition  angesehen  werden. 

Um  die  Gleichheit  zweier  Kräfte  zu  erkennen,  sind 
wir  also  jetzt  im  Besitze  zweier  Regeln:  Gleichheit  zweier 
Kräfte,  die  sich  äquilibrieren ;  Gleichheit  von  Wirkung 
und  Gegenwirkung.  Aber  wir  haben  weiter  oben  ge- 
sehen, daß  diese  zwei  Regeln  ungenügend  sind;  wir 
sind  dazu  gezwungen,  eine  dritte  Regel  zu  Hilfe  zu 
nehmen  und  zuzulassen,  daß  gewisse  Kräfte,  wie  z.  B. 
das  Gewicht  eines  Körpers,  nach  Größe  und  Richtung 
konstant  sind.  Diese  dritte  Regel  ist,  wie  erwähnt,  ein 
physikalisches  Gesetz;  sie  ist  annähernd  richtig;  sie  ist 
eine  schlechte  Definition. 

Wir  werden  also  zu  der  Definition  Kirchhoff"s  ge- 
führt: Die  Kraft  ist  gleich  der  Masse,  multipliziert 
mit  der  Beschleunigung.  Dieses  ,,Newtonsche  Ge- 
setz" hört  seinerseits  auf,  als  experimentelles  Gesetz  be- 
trachtet zu  werden;  es  ist  nichts  als  eine  Definition. 
Aber  auch  diese  Definition  ist  noch  ungenügend,  weil 
wir  nicht  wissen,   was  Masse  ist.      Sie    erlaubt   uns  ohne 


Kraft  und  Masse. 


103 


Zweifel  das  Verhältnis  zweier  Kräfte  zu  berechnen,  die 
an  demselben  Körper  zu  verschiedenen  Zeiten  angreifen; 
sie  lehrt  uns  nichts  über  das  Verhältnis  zweier  Kräfte, 
die   an  zwei  verschiedenen  Körpern  angreifen. 

Um  sie  zu  vervollständigen,  müssen  wir  wieder  das 
dritte  Newtonsche  Gesetz  (Gleichheit  der  Wirkung  und 
Gegenwirkung)  zu  Hilfe  nehmen  und  es  nicht  als  ein 
experimentelles  Gesetz  ansehen,  sondern  als  eine  Defini- 
tion. Zwei  Körper  A  und  B  wirken  aufeinander;  die 
Beschleunigung  von  A,  multipliziert  in  die  Masse  von  A, 
ist  gleich  der  Wirkung  von  B  auf  A;  ebenso  ist  das 
Produkt  der  Beschleunigung  von  B  in  seine  Masse  gleich 
der  Gegenwirkung  von  A  auf  B.  Da  nach  der  Definition 
die  Wirkung  gleich  der  Gegenwirkung  ist,  so  verhalten 
sich  die  Massen  von  A  und  B  umgekehrt  wie  die  Be- 
schleunigungen dieser  beiden  Körper.  Damit  haben  wir 
das  Verhältnis  dieser  beiden  Massen  definiert,  und  es  ist 
Sache  des  Experimentes  zu  bestätigen,  daß  dieses  Ver- 
hältnis  unveränderlich  ist. 

Das  wäre  möglich,  wenn  die  beiden  Körper  A  und 
B  allein  gegenwärtig  und  der  Einwirkung  der  übrigen 
Welt  entzogen  wären.  Dem  ist  nicht  so ;  die  Beschleu- 
nigung von  A  wird  nicht  nur  durch  die  Wirkung  von  B 
hervorgebracht,  sondern  durch  die  Wirkung  einer  Menge 
von  anderen  Körpern  C,  D,  .  .  .  .  Um  die  vorhergehende 
Regel  anzuwenden,  muß  man  die  Beschleunigung  des 
Körpers  A  in  verschiedene  Komponenten  zerlegen  und 
unterscheiden,  welche  von  diesen  Komponenten  der  Ein- 
wirkung von  B  zuzuschreiben  ist. 

Diese  Zerlegung  wird  stets  möglich  sein,  wenn  wir 
zulassen,  daß  die  Wirkung  von  C  auf  A  einfach  zu 
derjenigen  von  B  auf  A  hinzuzuzählen  ist,  ohne  daß  die 
Gegenwart  des  Körpers  C  die  Wirkung  von  B  auf  A 
beeinträchtigt,  oder  daß  die  Gegenwart  von  B  die  Wir- 
kung von  C  auf  A  beeinträchtigt;  wenn  wir  folglich  zu- 


J04  ^^^'  ^'     -^^^  klassische  Mechanik. 

lassen,  daß  irgend  welche  zwei  Körper  sich  anziehen,  daß 
die  Richtung  ihrer  gegenseitigen  Einwirkung  mit  ihrer 
Verbindungslinie  zusammenfällt  und  daß  diese  Einwirkung 
nur  von  ihrer  Entfernung  abhängt;  wenn  wir,  kurz  ge- 
sagt, die  Hypothese  von  Zentral-Kräften  zulassen. 
Man  weiß,  daß  man  sich  um  die  Massen  der  Himmels- 
körper zu  bestimmen,  eines  ganz  verschiedenen  Prinzipes 
bedient.  Das  Gravitationsgesetz  lehrt  uns,  daß  die  An- 
ziehung zweier  Körper  ihren  Massen  proportional  ist; 
wenn  r  ihre  Entfernung  ist,  7?i  und  7Ji'  ihre  Massen,  k 
eine  Konstante,   dann  wird  ihre  Anziehung 

kmm' 


sein. 

Was  man  dabei  mißt,  ist  nicht  die  Masse,  das  Ver- 
hältnis der  Kraft  zur  Beschleunigung,  es  ist  die  an- 
ziehende Masse;  es  ist  nicht  die  Trägheit  des  Körpers, 
sondern  seine  anziehende  Kraft. 

Wir  haben  damit  ein  indirektes  Verfahren,  dessen 
Anwendung  theoretisch  nicht  unumgänglich  notwendig 
ist.  Man  könnte  z.  B.  annehmen,  daß  die  Anziehung 
dem  Quadrate  der  Entfernung  entgegengesetzt  propor- 
tional wäre,  ohne  dem  Produkte  der  Massen  proportional 
zu  sein;   daß  sie  also  gleich: 


ist,   aber  ohne  daß; 


y^=  k  m  VI ' 
wäre. 

Wenn  dem  so  ist,  so  könnte  man  nichtsdestoweniger 
die  Massen  dieser  Körper  durch  Beobachtung  der  rela- 
tiven Bewegungen  der  Himmels-Körper  messen. ^^) 

Aber  haben  wir  das  Recht,  die  Hypothese  von  Zentral- 
Kräften  zuzulassen?     Ist    diese  Hypothese    streng  exakt? 


Bewegung  des   Schwerpunktes.  I05 

Ist  es  gewiß,  daß  sie  durch  die  Erfahrung  niemals  wider- 
legt wird?  Wer  wagte  das  zu  bejahen?  Und  wieder, 
wenn  war  diese  Hypothese  aufgeben,  so  stürzt  das  so 
mühsam  aufgerichtete   Gebäude  zusammen. 

Wir  haben  nicht  mehr  das  Recht,  von  der  Komponente 
der  Beschleunigung  von  A,  welche  der  Einwirkung  von 
B  zuzuschreiben  ist,  zu  reden.  Wir  haben  keine  Mittel, 
sie  von  derjenigen  zu  unterscheiden,  welche  der  Ein- 
wirkung von  C  oder  von  einem  anderen  Körper  zuzu- 
schreiben ist.  Die  Regel  für  das  Messen  der  Massen 
wird  nicht  anzuwenden  sein. 

Was  bleibt  dann  vom  Prinzipe  der  Gleichheit  von 
Wirkung  und  Gegenwirkung?  Wenn  die  Hypothese  von 
Zentral-Kräften  verworfen  wird,  so  müssen  wir  dieses 
Prinzip  offenbar  folgendermaßen  aussprechen:  Die  geo- 
metrische Resultante  aller  Kräfte,  die  an  den  verschie- 
ienen  Körpern  eines  jeder  äußeren  Einwirkung  ent- 
zogenen Systems  angreifen,  ist  gleich  Null.  Oder  in 
anderen  Worten:  Die  Bewegung  des  Schwerpunktes 
dieses   Systems    ist   geradlinig   und   gleichförmig. 

Darin  scheint  eine  Möglichkeit  zu  liegen,  die  Masse 
zu  definieren;  die  Lage  des  Massenmittelpunktes  (Schwer- 
punktes) hängt  augenscheinlich  von  den  den  Massen 
beigelegten  Werten  ab;  man  muß  diese  Werte  in  der 
Art  verteilen,  daß  die  Bewegung  des  Massenmittelpunktes 
geradlinig  und  gleichförmig  ist;  das  wird  stets  möglich 
sein,  wenn  das  dritte  Gesetz  von  Newton  richtig  ist,  und 
das  wird  im  allgemeinen  nur  auf  eine  Art  möglich  sein. 

Aber  es  existiert  kein  System,  das  von  jeder  äußeren 
Einwirkung  frei  ist;  alle  Teile  des  Universums  unterliegen 
in  mehr  oder  weniger  ausgeprägter  Weise  der  Einwirkung 
aller  anderen  Teile.  Das  Gesetz  der  Bewegung 
des  Massenmittelpunktes  ist  streng  genommen 
nur  richtig,  wenn  man  es  auf  das  ganze  Univer- 
sum anwendet. 


jo6  III>  6.     Die  klassische  Mechanik. 

Aber  dann  müßte  man,  um  daraus  die  Massenwerte 
zu  berechnen,  die  Bewegung  des  Massenmittelpunktes 
des  Universums  beobachten.  Das  Absurde  in  dieser 
Forderung  ist  offenbar;  wir  kennen  nur  relative  Be- 
wegungen; die  Bewegung  des  Massenmittelpunktes  des 
Universums  wird  für  uns  ewig  unbekannt  bleiben. 

Wir  haben  also  nichts  erreicht,  und  unsere  Anstren- 
gungen sind  vergeblich  gewesen ;  wir  müssen  gezwungener- 
maßen zur  folgenden  Definition  zurückkehren,  welche 
nur  ein  Geständnis  unserer  Ohnmacht  ist:  Die  Massen 
sind  Koeffizienten,  welche  man  zur  größeren  Be- 
quemlichkeit in  die  Rechnungen  einführt. 

Wir  könnten  die  ganze  Mechanik  erneuern,  wenn 
wir  allen  Massen  andere  Werte  zuerteilten.  Diese  neue 
Mechanik  würde  weder  mit  der  Erfahrung,  noch  mit 
den  allgemeinen  Prinzipien  der  Dynamik  in  Widerspruch 
sein  (Trägheits- Prinzip,  Proportionalität  der  Kräfte  zu 
den  Massen  und  Beschleunigungen,  Gleichheit  der 
Wirkung  und  der  Gegenwirkung,  geradlinige  und  gleich- 
förmige Bewegung  des  Schwerpunktes,  Prinzip  der 
Flächen). 

Nur  würden  die  Gleichungen  dieser  neuen  Mechanik 
weniger  einfach  sein.  Verstehen  wir  uns  recht:  nur 
die  ersten  Glieder  würden  weniger  einfach  sein,  d.  h. 
diejenigen,  welche  die  Erfahrung  uns  bereits  erkennen 
ließ;  vielleicht  könnte  man  die  Massen  um  kleine  Quan- 
titäten ändern,  ohne  daß  die  vollständigen  Gleichungen 
an  Einfachheit  gewinnen  oder  verlieren. 

Hertz  hat  die  Frage  aufgeworfen^^),  ob  die  Prinzipien 
der  Mechanik  streng  genommen  richtig  sind;  er  sagt, 
,,daß  in  der  Meinung  vieler  Physiker  es  als  undenkbar 
gilt,  daß  die  späteste  Erfahrung  jemals  etwas  an  den 
feststehenden  Grundsätzen  der  Mechanik  ändern  könnte; 
und  dennoch,  was  aus  der  Erfahrung  stammt,  könne 
auch  immer  durch  die  Erfahrung  vernichtet  werden." 


Definitionen  in  der  Mechanik. 


107 


Nach  dem,  was  wir  gesagt  haben,  erscheint  diese 
Furcht  überflüssig.  Die  Prinzipien  der  Dynamik  er- 
scheinen uns  zuerst  als  experimentelle  Wahrheiten;  aber 
wir  haben  sie  wie  Definitionen  verwenden  müssen. 
Nach  Definition  ist  die  Kraft  gleich  dem  Produkte 
der  Masse  in  die  Beschleunigung;  das  ist  ein  Prinzip, 
welches  in  Zukunft  außer  dem  Bereiche  jeder  weiteren 
Erfahrung  liegt.  Ebenso  ist  nach  Definition  die  Wir- 
kung gleich  der  Gegenwirkung. 

Aber  dann  sind,  wird  man  einwerfen,  diese  unveri- 
fizierbaren  Prinzipien  jeder  Bedeutung  absolut  bar;  die 
Erfahrung  kann  ihnen  nicht  widersprechen;  aber  sie 
können  uns  nichts  Nützliches  lehren,  wozu  soll  man  dann 
die  Dynamik  studieren? 

Dieses  voreilige  Urteil  würde  ungerecht  sein.  Es 
gibt  in  der  Natur  kein  vollkommen  isoliertes  System, 
das  zugleich  vollkommen  frei  von  jeder  äußeren  Ein- 
wirkung ist;   aber  es  gibt  nahezu  isolierte  Systeme. 

Wenn  man  ein  solches  System  beobachtet,  so  kann 
man  nicht  nur  die  relative  Bewegung  seiner  verschiedenen 
Teile  gegeneinander  studieren,  sondern  auch  die  Be- 
wegungen seines  Schwerpunktes  in  Bezug  auf  die  ande- 
ren Teile  des  Universums.  Man  stellt  dann  fest,  daß 
die  Bewegung  dieses  Schwerpunktes  nahezu  geradlinig 
und  gleichförmig  ist,  gemäß  dem  dritten  Gesetze  von 
Newton. 

Das  ist  eine  experimentelle  Wahrheit,  welche  durch 
die  Erfahrung  nicht  entkräftigt  werden  kann;  was  könnte 
uns  in  der  Tat  noch  genauere  Erfahrung  lehren?  Sie 
würde  uns  lehren,  daß  das  Gesetz  nur  nahezu  richtig 
ist,  aber  das  wissen  wir  bereits. 

Es  erklärt  sich  jetzt,  warum  die  Erfahrung 
den  Prinzipien  der  Mechanik  als  Grundlage  die- 
nen konnte  und  dennoch  ihnen  niemals  wird 
widersprechen  können. 


jQg  III,  6.     Die  klassische  Mechanik. 

Die  anthropomorphe  Mechanik.  —  Man  könnte 
einwerfen:  ,,daß  Kirchhoff  nur  dem  Hange  der  meisten 
Mathematiker  zum  Nominalismus  gehuldigt  hat;  seine 
physikalische  Geschicklichkeit  hat  ihn  nicht  davor  be- 
wahrt. Er  hat  Wert  darauf  gelegt,  eine  Definition  der 
Kraft  zu  haben,  und  er  hat  dafür  den  ersten  besten 
Lehrsatz  genommen;  aber  wir  brauchen  keine  Definition 
der  Kraft:  die  Idee  der  Kraft  ist  ein  ursprünglicher, 
völlig  selbständiger  und  undefinierbarer  Begriff;  wir  wissen 
alle,  was  Kraft  ist;  wir  haben  ja  eine  direkte  Anschauung 
davon.  Diese  direkte  Anschauung  entsteht  aus  dem 
Begriffe  der  Anstrengung,  der  uns  von  Kindheit  an  ver- 
traut ist." 

Vorerst  jedoch  wird  diese  direkte  Anschauung,  selbst 
wenn  sie  uns  die  wahre  Natur  der  Kraft  in  sich  er- 
kennen ließe,  ungenügend  sein,  um  die  Mechanik  zu  be- 
gründen; sie  wird  andererseits  gänzlich  unnütz  sein.  Es 
kommt  nicht  darauf  an,  zu  wissen,  was  Kraft  ist,  sondern 
zu  wissen,   wie  man  sie  mißt. 

Was  nicht  zum  Messen  der  Kraft  dient,  ist  für  den 
Mechaniker  ebenso  unnütz,  wie  es  z.  B.  der  subjektive 
Begriff  von  Wärme  und  Kälte  für  den  Physiker  ist,  der 
die  Wärme  studiert.  Dieser  subjektive  Begriff  läßt  sich 
nicht  in  Zahlen  übersetzen,  also  ist  er  unnütz.  Ein 
Gelehrter,  dessen  Haut  ein  absolut  schlechter  Wärme- 
leiter ist  und  welcher  folglich  niemals  weder  Kälte-  noch 
Wärme-Empfindungen  gespürt  hat,  könnte  dennoch  ein 
Thermometer  ebenso  gut  wie  ein  anderer  betrachten, 
und  das  würde  ihm  genügen,  um  die  ganze  Wärme- 
Theorie  zu  konstruieren. 

Der  unmittelbare  Begriff  einer  Anstrengung  kann  uns 
nicht  dazu  dienen,  die  Kraft  zu  messen;  es  ist  z.  B.  klar, 
daß  ich  beim  Heben  eines  Gewichtes  von  fünfzig  Kilo 
mehr  Ermüdung  empfinde  als  ein  Mensch,  der  daran 
gewöhnt  ist,   Lasten  zu  tragen. 


Anthropomorphe  Mechanik.  IO9 

Aber  noch  mehr:  dieser  Begriff  der  Anstrengung 
läßt  uns  nicht  die  wahre  Natur  der  Kraft  erkennen;  er 
reduziert  sich  eigentlich  auf  eine  Erinnerung  an  Muskel- 
Empfindungen,  und  man  wird  nicht  behaupten,  daß  die 
Sonne  eine  Muskel-Empfindung  hat,  wenn  sie  die  Erde 
anzieht.^^) 

Alles,  was  man  aus  diesen  Empfindungen  gewinnen 
kann,  ist  ein  noch  ungenaueres  und  unbequemeres  Symbol, 
als  es  die  Pfeile  sind,  deren  sich  die  Mathematiker  be- 
dienen, um  die  Richtung  von  Kräften  zu  bezeichnen; 
diese  Pfeile  sind  ebensoweit  von  der  Wirklichkeit  ent- 
fernt als  unser  Symbol. 

Der  Anthropomorphismus  hat  in  der  Genesis  der 
Mechanik  eine  beträchtliche  historische  Rolle  gespielt; 
vielleicht  liefert  er  noch  öfters  ein  Symbol,  das  manchem 
als  bequem  erscheinen  wird;  aber  er  kann  nichts  begrün- 
den, was  einen  wissenschaftlichen  oder  wahrhaft  philoso- 
phischen Charakter  hätte. 

„Die  Schule  des  Fadens".  —  Andrade  hat  in  seinen 
Leyons  de  Mecanique  physique  die  anthropomorphe 
Mechanik  verjüngt.  Der  Schule  der  Mechaniker,  zu 
denen  Kirchhoflf  gehört,  stellt  er  eine  andere  Schule 
gegenüber,  welcher  er  den  bizarren  Namen  ,, Schule  des 
Fadens"  gegeben  hat. 

Diese  Schule  versucht,  „alles  auf  die  Betrachtung 
gewisser  materieller  Systeme  von  sehr  geringer  Masse 
zurückzuführen,  die  sich  im  Zustande  der  Spannung  be- 
finden und  fähig  sind,  beträchtliche  Kraft-Äußerungen 
auf  entfernte  Körper  zu  übertragen,  also  Systeme,  deren 
idealer  Typus  der  masselose  Faden  ist." 

Ein  Faden,  welcher  irgend  eine  Kraft  überträgt, 
verlängert  sich  leicht  unter  der  Einwirkung  dieser  Kraft; 
die  Richtung  des  Fadens  läßt  uns  die  Richtung  der 
Kraft  erkennen,  deren  Größe  durch  die  Verlängerung 
des  Fadens  gemessen  wird. 


j  jO  III,  6.     Die  klassische  Mechanik. 

Man  kann  also  folgendes  Experiment  ausführen.  Ein 
Körper  A  ist  an  einem  Faden  befestigt;  am  anderen 
Ende  des  Fadens  soll  irgend  eine  Kraft  wirken,  welche 
man  variieren  läßt,  bis  der  Faden  eine  Verlängerung  a 
annimmt;  man  merkt  sich  die  Beschleunigung  des  Kör- 
pers A]  man  löst  A  los  und  befestigt  den  Körper  B  an 
demselben  Faden,  man  läßt  wiederum  dieselbe  Kraft 
oder  eine  andere  Kraft  wirken  und  man  läßt  sie  variieren, 
bis  der  Faden  die  Verlängerung  a  wieder  annimmt;  man 
merkt  sich  die  Beschleunigung  des  Körpers  B.  Man 
wiederholt  das  Experiment  sowohl  mit  dem  Körper  A 
als  mit  dem  Körper  B,  aber  derart,  daß  der  Faden  die 
Verlängerung  ß  annimmt.  Die  vier  beobachteten  Be- 
schleunigungen müssen  einander  proportional  sein.  Man 
hat  somit  eine  experimentelle  Prüfung  des  weiter  oben 
besprochenen  Beschleunigungsgesetzes. 

Oder  noch  besser:  man  unterwirft  einen  Körper  der 
gleichzeitigen  Einwirkung  von  mehreren  identischen, 
gleichmäßig  gespannten  Fäden,  und  man  sucht  durch 
das  Experiment  festzustellen,  bei  welcher  Lage  aller 
dieser  Fäden  der  Körper  im  Gleichgewicht  bleibt.  Man 
hat  dann  eine  experimentelle  Prüfung  der  Regel  von  der 
Zusammensetzung  der  Kräfte. ^^) 

Was  haben  wir  nun  in  Summa  getan?  Wir  haben 
die  Kraft  definiert,  welcher  der  Faden  durch  die  von 
ihm  erlittene  Deformation  unterworfen  ist;  das  ist  hin- 
reichend einleuchtend;  wir  haben  ferner  angenommen, 
daß  die  Kraft,  welche  auf  einen  an  diesem  Faden  be- 
festigten Körper  durch  diesen  Faden  übertragen  wird, 
zugleich  die  Wirkung  ist,  welche  dieser  Körper  auf 
diesen  Faden  ausübt;  schließlich  haben  wir  uns  also 
des  Prinzips  der  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegen- 
wirkung bedient,  indem  wir  es  nicht  als  experimen- 
telle Wahrheit,  sondern  als  die  Definition  der  Kraft  selbst 
ansehen. 


Die  Schule  des  Fadens.  III 

Diese  Definition  ist  ebenso  konventionell  wie  die- 
jenige von  Kirchhoff,   aber  sie  ist  weniger  allgemein. 

Es  sind  nicht  alle  Kräfte  durch  Fäden  übertragbar 
(überdies  müßten  alle  Kräfte  durch  identische  Fäden 
übertragen  werden,  damit  man  sie  vergleichen  kann). 
Selbst  wenn  man  annehmen  würde,  daß  die  Erde  durch 
irgend  einen  unsichtbaren  Faden  an  der  Sonne  befestigt 
sei,  so  würde  man  zum  mindesten  zugeben,  daß  man 
keine  Mittel  hat,  die  Verlängerung  eines  solchen  Fadens 
zu  messen. 

Folglich  wird,  in  neun  von  zehn  Fällen,  unsere  De- 
finition falsch  sein;  man  könnte  ihr  keinen  Sinn  bei- 
legen, und  wir  müssen  zu  derjenigen  von  Kirchhoff 
zurückkehren. 

Wozu  also  diesen  Umweg  machen?  Als  Ausgangs- 
punkt nehmen  Sie  eine  gewisse  Definition  der  Kraft, 
welche  nur  für  gewisse  besondere  Fälle  Sinn  hat.  In 
diesen  Fällen  bestätigen  Sie  durch  das  Experiment,  daß 
diese  Definition  zum  Gesetze  der  Beschleunigung  führt. 
Auf  dieses  Experiment  gestützt,  nehmen  Sie  sodann 
das  Gesetz  der  Beschleunigung  als  Definition  der  Kraft 
in  allen  anderen  Fällen  an. 

Würde  es  nicht  viel  einfacher  sein,  das  Gesetz  der 
Beschleunigung  als  eine  Definition  in  allen  Fällen  zu 
betrachten  und  die  in  Frage  kommenden  Experimente 
nicht  als  Prüfungen  dieses  Gesetzes  anzusehen,  sondern 
als  Prüfungen  des  Prinzips  der  Gegenwirkung  oder  als 
Beweismittel  dafür,  daß  die  Deformation  eines  elastischen 
Körpers  nur  von  den  Kräften  abhängt,  denen  dieser 
Körper  unterworfen  ist. 

Dabei  haben  wir  noch  gar  nicht  berücksichtigt,  daß 
die  Bedingungen,  unter  welchen  Ihre  Definition  ange- 
nommen werden  könnte,  nie  anders  als  unvollkommen 
ausführbar  sind,  daß  ein  Faden  nie  ohne  Masse  sein 
kann,    daß    auf  ihn    außer   der  Reaktion    des    an   seinen 


j  j  2  III,  6.     Die  klassische  Mechanik. 

Enden  befestigten  Körpers  immer  noch  andere  Kräfte 
einwirken. 

Die  Ideen  Andrades  sind  trotzdem  nicht  weniger 
interessant;  wenn  sie  auch  unser  logisches  Bedürfnis 
nicht  befriedigen,  so  lassen  sie  uns  doch  die  historische 
Genesis  der  fundamentalen  mechanischen  Begriffe  besser 
verstehen.  Die  Überlegungen,  zu  welchen  sie  uns  ver- 
anlassen, zeigen,  wie  der  menschliche  Verstand  sich  von 
einem  naiven  Anthropomorphismus  zu  wirklichen,  wissen- 
schaftlichen Gedanken  erhebt. 

Wir  sehen  beim  Beginne  unseres  Weges  ein  sehr 
spezielles  und  ziemlich  rohes  Experiment,  am  Ende  aber 
ein  ganz  allgemeines  und  vollkommen  genaues  Gesetz, 
das  wir  für  absolut  gewiß  halten.  Diese  Gewißheit 
haben  einzig  und  allein  wir  demselben  sozusagen  frei- 
willig beigelegt,  indem  wir  es  als  durch  Übereinkommen 
festgelegt  ansehen. 

Beruhen  demnach  das  Gesetz  der  Beschleunigung 
und  die  Regel  für  die  Zusammensetzung  der  Kräfte  nur 
auf  willkürlichem  Übereinkommen?  Auf  Übereinkommen? 
Ja;  aber  auf  willkürlichem?  Nein.  Die  Gesetze  wären 
willkürlich,  wenn  man  die  Experimente  aus  den  Augen 
verlöre,  welche  die  Begründer  der  Wissenschaft  zu  ihrer 
Annahme  bewogen  und  welche  trotz  ihrer  Unvollkommen- 
heit  genügen,  um  sie  zu  rechtfertigen.  Es  ist  gut,  dem 
experimentellen  Ursprünge  dieser  konventionellen  Fest- 
setzungen hin  und  wieder  unsere  Aufmerksamkeit  zu 
schenken. 


Relative  Bewegung.  1 1  ^ 


Siebentes  Kapitel. 

Die  relative  und  die  absolute  Bewegung. 

Das  Prinzip  der  relativen  Bewegung.  Man  hat 
manchmal  versucht  das  Gesetz  der  Beschleunigung  mit 
einem  allgemeineren  Prinzipe  in  Verbindung  zu  bringen. 
Die  Bewegung  irgend  eines  Systems  muß  denselben  Ge- 
setzen genügen,  einerlei  ob  man  sie  auf  feste  Achsen 
bezieht  oder  auf  bewegliche  Achsen,  die  eine  gerad- 
linige und  gleichförmige  Bewegung  ausführen.  Darin 
besteht  das  Prinzip  der  relativen  Bewegung,  welches  sich 
uns  aus  zwei  Gründen  aufdrängt:  erstens  bestätigt  es 
die  tagtägliche  Erfahrung,  und  zweitens  würde  eine  ent- 
gegengesetzte Hypothese  unserem  Verstände  außerordent- 
lich widerstreben. 

Nehmen  wir  dieses  Prinzip  also  an  und  betrachten 
einen  Körper,  welcher  einer  Kraft  unterworfen  ist;  der 
Beobachter  bewege  sich  mit  einer  gleichförmigen  Ge- 
schwindigkeit, welche  gleich  der  Anfangsgeschwindigkeit 
des  Körpers  ist;  die  relative  Bewegung  des  letzteren 
inbezug  auf  den  Beobachter  muß  dann  ebenso  verlaufen, 
wie  seine  absolute  Bewegung  verlaufen  würde,  wenn  die 
Anfangsgeschwindigkeit  gleich  Null  wäre  (der  Körper 
also  die  Bewegung  aus  der  Ruhelage  begönne).  Man 
schließt  daraus,  daß  seine  Beschleunigung  nicht  von 
seiner  absoluten  Geschwindigkeit  abhängen  kann  und 
man  bemüht  sich  daraus  das  vollständige  Gesetz  der 
Beschleunigung  abzuleiten. 

Spuren  solcher  Beweise  hat  man  lange  in  den  Auf- 
gaben der  Baccalaureats- Prüfungen  bemerken  können. 
Offenbar  muß  dieser  Versuch  erfolglos  bleiben.  Die 
Schwierigkeit,  welche  uns  verhindert  das  Beschleunigungs- 
gesetz zu  beweisen,  liegt  darin,   daß  wir  keine  Definition 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  8 


j  j  4  III,  7.     Relative  Bewegung. 

der  Kraft  haben;  und  diese  Schwierigkeit  bleibt  ihrem 
ganzen  Umfange  nach  bestehen,  denn  das  zu  Hilfe  ge- 
nommene Prinzip  hat  uns  die  fehlende  Definition  nicht 
geliefert. 

Das  Prinzip  der  relativen  Bewegung  ist  darum  nicht 
weniger  interessant  und  verdient  um  seiner  selbst  willen 
studiert  zu  werden.  Versuchen  wir  zunächst,  es  in  prä- 
ciser  Fassung  auszusprechen. 

Wir  haben  oben  gesagt,  daß  die  Beschleunigungen 
der  verschiedenen  Körper,  welche  Teile  eines  isolierten 
Systems  sind,  nur  von  ihren  relativen  Geschwindigkeiten 
und  ihren  relativen  Lagen  abhängen  und  nicht  von  ihren 
absoluten  Geschwindigkeiten  und  ihren  absoluten  Lagen, 
vorausgesetzt,  daß  die  beweglichen  Achsen,  auf  welche 
die  relative  Bewegung  bezogen  wird,  geradlinig  und 
gleichförmig  im  Räume  fortrücken.  Oder,  wenn  man 
lieber  will,  ihre  Beschleunigungen  hängen  nur  von  den 
Differenzen  ihrer  Koordinaten  und  Geschwindigkeiten  ab 
und  nicht  von  den  absoluten  Werten  dieser  Koordinaten 
und   Geschwindigkeiten. 

Wenn  dieses  Prinzip  für  die  relativen  Beschleuni- 
gungen, oder  besser  für  die  Beschleunigungsdifferenzen 
richtig  ist,  so  kann  man  es  mit  dem  Gesetze  der  Wir- 
kung und  Gegenwirkung  kombinieren  und  kommt  so  zu 
dem  Schlüsse,  daß  es  auch  für  die  absoluten  Beschleu- 
nigungen richtig  ist. 

Es  bleibt  uns  also  noch  übrig  nachzusehen,  wie  man 
beweisen  kann,  daß  die  Differenzen  der  Beschleunigungen 
nur  von  den  Differenzen  der  Geschwindigkeiten  und  der 
Koordinaten  abhängen  oder,  um  die  mathematische  Aus- 
drucksweise zu  gebrauchen,  daß  diese  Koordinatendifife- 
renzen  ein  System  von  Differentialgleichungen  zweiter 
Ordnung  befriedigen. 

Kann  dieser  Beweis  durch  Experimente  oder  durch 
Überlegungen  a  priori  erbracht  werden? 


Ne^^i:ons   Schlußweise.  I  I  e 

Der  Leser  wird  sich  selbst  die  Antwort  geben,  wenn 
er   sich  dessen  erinnert,    was  wir  oben  dargelegt  haben. 

In  der  Tat  gleicht  das  Prinzip  der  relativen  Bewe- 
gung, wie  wir  es  ausgesprochen  haben,  außerordentlich 
dem  Prinzipe,  welches  ich  oben  als  das  verallgemeinerte 
Prinzip  der  Trägheit  bezeichnet  habe  (vgl.  S.  94);  es  ist 
aber  nicht  damit  identisch,  denn  jetzt  handelt  es  sich 
um  die  Differenzen  der  Koordinaten  und  nicht  um  die 
Koordinaten  selbst.  Das  neue  Prinzip  lehrt  uns  also 
etwas  mehr  als  das  alte,  aber  es  lassen  sich  auf  das- 
selbe die  gleichen  Erörterungen  anwenden,  und  diese 
führen  dann  zu  den  gleichen  Schlüssen;  es  ist  deshalb 
nicht  nötig  darauf  zurückzukommen. 

Die  Schlußweise  Newtons.  —  Hier  kommen  wir 
auf  einen  sehr  wichtigen  und  zuerst  sogar  störend  er- 
scheinenden Einwurf.  Ich  habe  erwähnt,  daß  das  Prinzip 
der  relativen  Bewegung  für  uns  nicht  nur  ein  Resultat 
der  Erfahrung  ist,  und  daß  jede  entgegengesetzte  Hypo- 
these a  priori  dem  Verstände  widerstreben  würde. 

Aber  warum  ist  dann  das  Prinzip  nur  richtig,  wenn 
die  Bewegung  der  beweglichen  Achsen  geradlinig  und 
gleichförmig  ist?  Es  scheint,  daß  dieses  Prinzip  sich 
uns  mit  derselben  Macht  aufdrängen  müßte,  wenn  diese 
Bewegung  ungleichförmig  ist,  oder  wenigstens'  wenn  sie 
sich  auf  eine  gleichförmige  Rotation  reduziert.  In  diesen 
zwei  Fällen  ist  das  Prinzip   aber  nicht  richtig. 

Ich  verweile  nicht  lange  bei  dem  Falle,  in  welchem 
die  Bewegung  der  Achsen  geradlinig  ist  ohne  gleich- 
förmig zu  sein;  das  darin  enthaltene  Paradoxon  kann 
einer  gründlichen  Prüfung  nicht  standhalten.  Wenn  ich 
im  Eisenbahnwaggon  bin  und  wenn  der  Zug  auf  irgend 
ein  Hindernis  stößt  und  dann  plötzhch  anhält,  so 
werde  ich  auf  den  gegenüberliegenden  Sitz  geschleudert, 
obgleich  ich  nicht  direkt  irgend  einer  Kraft  unterworfen 
bin.     Darin  liegt  nichts  Rätselhaftes;  wenn  ich  nicht  der 

8* 


j  j  5  III j  7.     Relative  Bewegung. 

Einwirkung  einer  äußeren  Kraft  unterlegen  bin,  so  hat 
doch  der  Zug  an  sich  selbst  eine  äußere  Erschütterung 
erfahren.  Wenn  die  relative  Bewegung  zweier  Körper 
von  dem  Momente  ab  gestört  wird ,  wo  die  Bewegung 
des  einen  von  ihnen  durch  eine  äußere  Ursache  geändert 
wird,  so  liegt  darin  nichts  Paradoxes. 

Ich  werde  mich  länger  bei  dem  Fall  der  relativen 
Bewegungen  aufhalten,  welche  auf  Achsen  bezogen  sind, 
die  eine  gleichförmige  Rotation  ausführen.  Wenn  der 
Himmel  unaufhörlich  mit  Wolken  bedeckt  wäre,  wenn 
wir  kein  Mittel  hätten  die  Gestirne  zu  beobachten,  so 
könnten  wir  nichtsdestoweniger  schlußfolgern,  daß  die 
Erde  sich  dreht;  wir  hätten  durch  ihre  Abplattung  davon 
Kenntnis  oder  auch  durch  den  Foucaultschen  Pendel- 
versuch (vgl.   S.  80). 

Und  hätte  es  trotzdem  in  diesem  Falle  einen  Sinn 
zu  behaupten,  daß  die  Erde  sich  dreht?  Wenn  es 
keinen  absoluten  Raum  gibt,  kann  man  da  eine  Drehung 
erkennen,  ohne  daß  diese  Drehung  auf  irgend  etwas 
zu  beziehen  wäre?  und  andererseits,  wie  könnte  man 
die  Schlußfolgerung  Newtons  annehmen  und  an  den  ab- 
soluten Raum  glauben? 

Aber  es  genügt  nicht  zu  konstatieren,  daß  alle  die 
möglichen  Lösungen  uns  gleicherweise  befremden;  man 
muß  für  jede  von  ihnen  die  Vernunftgründe  für  unser 
Widerstreben  analysieren,  um  nach  Erkenntnis  der  Ur- 
sache unsere  Wahl  zu  treffen.  Man  möge  also  die  lange 
Erörterung,  welche  ich  folgen  lasse,  entschuldigen. 

Versetzen  wir  uns  wieder  in  unsere  fingierte  Welt: 
dichtes  Gewölk  verbirgt  die  Gestirne  den  Menschen, 
welche  sie  nicht  beobachten  und  sogar  von  ihrer  Exi- 
stenz nichts  wissen  können;  wie  erfahren  diese  Menschen, 
daß  die  Erde  sich  dreht?  Mehr  noch  wie  unsere  Vor- 
fahren würden  sie  den  Boden,  welcher  sie  trägt,  als  fest 
und   unerschütterlich   betrachten;    sie  würden  viel   später 


Eine  fingierte  "Welt.  1 1  y 

die  Ankunft  eines  Coppemicus  zu  erwarten  haben.  Aber 
schließlich  würde  dieser  Coppernicus  doch  kommen;  wie 
würde  er  kommen? 

Die  Mechaniker  dieser  fingierten  Welt  würden  sich 
vorerst  nicht  durch  eine  Schlußfolgerung  beunruhigen 
lassen,  die  nach  unserer  Auffassung  einen  absoluten 
Widerspruch  enthält.  In  der  Theorie  der  relativen  Be- 
wegung faßt  man,  abgesehen  von  den  wirklichen  Kräften, 
zwei  fingierte  Kräfte  ins  Auge,  welche  man  die  gewöhn- 
liche Zentrifugalkraft  und  die  zusammengesetzte  Zentri- 
fugalkraft nennt.  Unsere  fingierten  Gelehrten  könnten 
also  alles  erklären,  indem  sie  diese  zwei  Kräfte  als  wirk- 
liche ansehen  und  sie  würden  dabei  keinen  Widerspruch 
mit  dem  verallgemeinerten  Prinzipe  der  Trägheit  bemerken, 
denn  von  diesen  Kräften  würde  die  eine  von  den  rela- 
tiven Stellungen  der  verschiedenen  Teile  des  Systems 
abhängen  (wie  es  bei  wirklichen  Anziehungen  der  Fall 
ist),  die  andere  von  ihren  relativen  Geschwindigkeiten 
(wie  es  bei  den  wirklichen  Reibungen  der  Fall  ist). 

Indessen  würden  bald  noch  mehr  Schwierigkeiten 
ihre  Aufmerksamkeit  in  Anspruch  nehmen;  wenn  es  ihnen 
gelingen  würde  ein  isoliertes  System  darzustellen,  so 
würde  der  Schwerpunkt  dieses  Systems  nicht  eine  nahezu 
geradlinige  Bahn  haben.  Sie  müßten,  um  diese  Tat- 
sache zu  erklären,  die  Zentrifugalkräfte  zu  Hilfe  nehmen, 
welche  sie  als  wirkliche  betrachten  und  welche  sie  zweifel- 
los den  gegenseitigen  Wirkungen  der  Körper  zuschreiben. 
Nur  würden  sie  diese  Kräfte  bei  großen  Entfernungen, 
d.  h.  in  dem  Maße,  wie  die  Isolierung  immer  mehr  ver- 
wirklicht würde,  nicht  kleiner  und  kleiner  werden  sehen; 
weit  gefehlt:  die  Zentrifugalkraft  wächst  mit  der  Ent- 
fernung ins  Unendliche. 

Diese  Schwierigkeit  würde  ihnen  bereits  ziemlich 
groß  erscheinen;  aber  dennoch  würde  dieselbe  sie  nicht 
lange    aufhalten;    sie  würden   sich   bald   irgend  ein  sehr 


j  j  8  III,  7.     Relative  Bewegung. 

fein  geartetes  Medium  ausdenken,  das  unserem  Äther 
analog  wäre,  in  welchem  alle  Körper  schwimmen  und 
welches  auf  die  Körper  eine  abstoßende  Wirkung  aus- 
üben würde. 

Dieses  ist  noch  nicht  alles.  Der  Raum  ist  symme- 
trisch und  dennoch  würden  die  Gesetze  der  Bewegung 
keine  Symmetrie  aufweisen;  sie  müßten  zwischen  rechts 
und  links  unterscheiden.  Man  würde  z.  B.  sehen,  daß 
die  Wirbelstürme  sich  immer  in  demselben  Sinne  drehen, 
während  gemäß  den  Gründen  der  Symmetrie  diese  Er- 
scheinungen sich  ebensowohl  in  dem  einen  wie  im  anderen 
Sinne  abspielen  müßten.  Wenn  unsere  Gelehrten  ver- 
möge ihrer  Arbeit  dahin  gelangt  wären,  ihr  Universum 
völlig  symmetrisch  zu  gestalten,  so  würde  diese  Symme- 
trie mit  derartigen  Erscheinungen  nicht  verträglich  sein, 
obgleich  es  keinen  vernünftigen  Grund  zu  geben  scheint, 
warum  sie  in  dem  einen  Sinne  mehr  als  im  anderen 
gestört  werden  sollte. 

Sie  würden  sich  ohne  Zweifel  schon  zu  helfen  wissen, 
sie  würden  irgend  ein  Ding  erfinden,  das  nicht  außer- 
ordentlicher wäre  als  die  gläsernen  Sphären  des  Ptolo- 
mäus,  und  man  würde  so  die  Schwierigkeiten  anhäufen, 
bis  der  erwartete  Coppernicus  sie  alle  mit  einem  einzigen 
Schlage  beseitigen  würde,  indem  er  sagt:  Es  ist  viel  ein- 
facher anzunehmen,   daß  die  Erde  sich  dreht. 

Und  ebenso  wie  unser  Coppernicus  uns  sagte:  Es 
ist  bequemer  vorauszusetzen,  daß  die  Erde  sich  dreht, 
weil  man  damit  die  astronomischen  Gesetze  in  einer 
viel  einfacheren  Sprache  ausdrückt,  so  würde  auch  dieser 
Coppernicus  sagen:  Es  ist  bequemer  vorauszusetzen,  daß 
die  Erde  sich  dreht,  weil  man  damit  die  Gesetze  der 
Mechanik    in   einer   viel   einfacheren    Sprache    ausdrückt. 

Das  verhindert  nicht,  daß  der  absolute  Raum,  d.  h. 
das  Hilfsmittel,  auf  welches  man  die  Erde  beziehen 
müßte,  um  zu  wissen,   ob   sie  sich  wirklich  dreht,    keine 


Absolute  Rotation.  I  I  g 

objektive  Existenz  hat.  Daher  hat  die  Behauptung:  ,,Die 
Erde  dreht  sich"  keinen  Sinn,  weil  sie  sich  durch  keine 
Erfahrung  verifizieren  läßt;  weil  ferner  eine  solche 
Erfahrung  nicht  nur  nicht  verwirklicht,  sondern  nicht 
einmal  vom  kühnsten  Jules  Verne  erträumt  werden,  noch 
ohne  Widerspruch  begriffen  werden  könnte;  also  diese 
beiden  Sätze:  ,,Die  Erde  dreht  sich"  und  ,,Es  ist  bequemer 
vorauszusetzen,  daß  die  Erde  sich  dreht"  haben  ein  und 
denselben  Sinn;  es  liegt  in  dem  einen  nicht  mehr  wie 
im   anderen. ^^) 

Vielleicht  würde  man  sich  damit  noch  nicht  be- 
gnügen und  man  würde  es  immer  noch  befremdlich 
finden,  daß  unter  allen  Hypothesen  oder  vielmehr  unter 
allen  Festsetzungen,  welche  wir  auf  diesem  Gebiete 
machen  können,  eine  besteht,  welche  bequemer  als  die 
anderen  ist. 

Aber  warum  sollte  das,  was  man  sorglos  zuließ,  als 
es  sich  um  die  astronomischen  Gesetze  handelte,  im 
Gebiete  der  Mechanik  befremdlich  sein? 

Wir  haben  gesehen,  daß  die  Koordinaten  der  Körper 
durch  Differentialgleichungen  zweiter  Ordnung  bestimmt 
werden,  und  daß  mit  den  Differenzen  dieser  Koordi- 
naten dasselbe  der  Fall  ist.  Dieser  Satz  sprach  den 
Inhalt  des  verallgemeinerten  Trägheitsprinzips  (vgl.  S.  94) 
und  des  Prinzips  der  relativen  Bewegung  (vgl.  S.  114)  aus. 
Wenn  die  Entfernungen  dieser  Körper  ebenso  durch 
Gleichungen  zweiter  Ordnung  bestimmt  wären,  so  scheint 
es,  daß  der  Verstand  vollkommen  befriedigt  sein  müßte. 
Bis  zu  welchem  Grade  erhält  der  Verstand  diese  Befrie- 
digung und  warum  begnügt  er  sich  nicht  damit? 

Um  uns  davon  Rechenschaft  zu  geben,  ist  es  besser 
ein  einfaches  Beispiel  zu  wählen.  Ich  setze  ein  unserem 
Sonnensysteme  analoges  System  voraus,  von  welchem  aus 
man  diesem  Systeme  fremde  Fixsterne  nicht  bemerken 
kann,    und    zwar    derart,    daß    die   Astronomen  nur  die 


J20  m>  7«     Relative  Bewegung. 

gegenseitigen  Entfernungen  der  Planeten  und  der  Sonne 
und  nicht  die  absoluten  Längen  (d.  h.  Stellungen  in  ihrer 
Bahn)  der  Planeten  beobachten  könnten.  Wenn  wir 
direkt  aus  dem  Newtonschen  Gesetze  die  Differential- 
gleichungen ableiten  wollten,  welche  die  Veränderung 
dieser  Entfernungen  definieren,  so  werden  diese  Glei- 
chungen nicht  zweiter  Ordnung  sein.  Ich  will  damit 
folgendes  ausdrücken:  wenn  man,  abgesehen  vom  Newton- 
schen Gesetze,  die  Anfangswerte  dieser  Entfernungen 
und  ihre  Differentialquotienten  inbezug  auf  die  Zeit  (d.  h. 
die  Geschwindigkeiten,  mit  denen  sich  die  Entfernungen 
ändern)  kennen  würde,  so  würde  das  nicht  genügen,  um 
die  Werte  dieser  selben  Entfernungen  in  einem  späteren 
Zeitpunkte  zu  bestimmen. ^^)  Es  würde  noch  eine  (der 
Erfahrung  zu  entnehmende)  Angabe  fehlen,  und  diese 
Angabe  könnte  z.  B.  in  dem  gefunden  werden,  was  die 
Astronomen  Konstante  des  Flächensatzes  nennen  (vgl.  das 
zweite  Kepplersche  Gesetz). 

Hier  kann  man  zwei  verschiedene  Standpunkte  ein- 
nehmen; wir  können  zwei  Arten  von  Konstanten  unter- 
scheiden. In  den  Augen  der  Physiker  reduziert  sich 
die  Welt  auf  eine  Reihe  von  Naturerscheinungen,  welche 
einzig  und  allein  einerseits  von  den  Anfangszuständen 
abhängen,  andererseits  von  den  Gesetzen,  welche  die 
folgenden  Zustände  jeweils  mit  den  vorhergehenden  ver- 
binden. Wenn  dann  die  Beobachtung  uns  lehrt,  daß 
eine  gewisse  Größe  eine  Konstante  ist,  so  werden  wir 
zwischen  zwei  Auffassungsweisen  die  Wahl  haben. 

Entweder  wir  nehmen  an,  daß  es  ein  Gesetz  gibt, 
welches  vorschreibt,  daß  diese  Größe  sich  nicht  ändern 
kann,  daß  sie  aber  nur  zufällig  dazu  gekommen  ist,  seit 
Jahrhunderten  gerade  diesen  bestimmten  Wert  lieber  als 
jeden  anderen  anzunehmen,  den  sie  nun  seitdem  be- 
halten muß.  Diese  Größe  könnte  man  dann  eine  zu- 
fällige Konstante  nennen. 


Zufallige  und  wesentliche  Konstanten.  I  2  i 

Oder  wir  nehmen  das  Gegenteil  an,  nämlich,  daß 
es  ein  Naturgesetz  gäbe,  welches  dieser  Größe  gerade 
diesen  bestimmten  Wert  und  keinen  anderen  zuerteilt. 
Wir  werden  dann  eine  Größe  haben,  die  man  eine 
wesentliche  Konstante  nennen  kann. 

Zum  Beispiel  ist  infolge  der  Newtonschen  Gesetze 
die  Dauer  der  Umdrehung  der  Erde  konstant.  Wenn 
sie  aber  366  Stemtage  und  etwas  darüber  beträgt  und 
nicht  300  oder  400  Tage,  so  beruht  dies  auf  irgend 
welchem  unbekannten,  anfänglichen  Zufalle.  Dies  ist  eine 
zufällige  Konstante.  Wenn  dagegen  die  Potenz  der 
Entfernung,  welche  in  dem  Ausdrucke  für  das  Attraktions- 
gesetz vorkommt,  gleich  —  2  ist  und  nicht  gleich  —  3, 
so  ist  das  kein  Zufall,  sondern  es  ist  so,  weil  das 
Newtonsche  Gesetz  es  so  verlangt.  Dies  ist  eine  wesent- 
liche Konstante. 

Ich  weiß  nicht,  ob  es  in  sich  gerechtfertigt  ist,  den 
Zufall  in  solcher  Weise  in  die  Erscheinungen  eingreifen 
zu  lassen,  und  ob  die  gemachte  Unterscheidung  nicht 
etwas  künstlich  ist;  jedenfalls  steht  so  viel  fest,  daß  die- 
selbe in  ihrer  Anwendung  sehr  willkürlich  und  immer 
mißlich  bleibt,  solange  die  Natur  noch  Geheimnisse 
besitzt. 

Was  die  Konstante  des  Flächensatzes  betrifft,  so  be- 
trachten wir  dieselbe  gewöhnHch  als  zufällig.  Sind  wir 
gewiß,  daß  unsere  fingierten  Astronomen  es  ebenso 
machen  würden?  Wenn  sie  zwei  verschiedene  Sonnen- 
systeme miteinander  hätten  vergleichen  können,  so  wür- 
den sie  die  Idee  haben,  daß  dieser  Konstanten  ver- 
schiedene Werte  zukommen  können;  aber  ich  habe 
gerade  am  Beginne  dieser  Betrachtung  vorausgesetzt,  daß 
ihnen  ihr  System  als  ein  isoliertes  erscheine,  und  daß 
sie  keinen  Stern  beobachten  können,  der  nicht  dazu 
gehört.  Unter  diesen  Bedingungen  würden  sie  nur  eine 
einzige  Konstante  wahrnehmen  können,   deren  Wert  ab- 


12  2  m>  7-     Relative  Bewegung. 

solut  fest  und  unveränderlich  wäre;  sie  würden  ohne 
Zweifel  dazu  kommen ,  dieselbe  für  eine  wesentliche 
Konstante  zu  halten. 

Um  einem  möglichen  Einwurfe  zu  begegnen,  schalte 
ich  hier  die  folgende  Bemerkung  ein:  Die  Bewohner 
dieser  fingierten  Welt  würden  die  Flächenkonstante  weder 
so  beobachten  noch  so  definieren  können,  wie  wir  es 
tun,  denn  es  fehlen  ihnen  dazu  die  absoluten  Längen 
der  Planeten;  das  würde  sie  aber  nicht  hindern,  sehr 
bald  zu  bemerken,  daß  sich  eine  gewisse  Konstante  in 
ihre  Gleichungen  naturgemäß  einführen  läßt,  und  diese 
Konstante  würde  genau  diejenige  sein,  die  wir  als  die 
Konstante  des  Flächensatzes  bezeichnen. 

Aber  nun  würden  unsere  Astronomen  folgendermaßen 
weiterschließen:  Wenn  die  Flächenkonstante  als  eine 
wesenthche  (d.  h.  als  bestimmt  durch  ein  Naturgesetz) 
betrachtet  wird,  so  genügt  es,  die  Anfangswerte  der 
Entfernungen  der  Planeten  und  die  Anfangswerte  der 
ersten  Diflferentialquotienten  dieser  Entfernungen  zu  ken- 
nen, um  daraus  für  irgend  einen  Zeitpunkt  die  Ent- 
fernungen zu  berechnen.  Unter  diesem  neuen  Gesichts- 
punkte werden  sich  dann  die  Entfernungen  wieder 
durch  Differentialgleichungen  zweiter  Ordnung  bestim- 
men lassen. 

Wird  sich  indessen  damit  der  Verstand  unserer  fin- 
gierten Astronomen  vollkommen  zufrieden  geben?  Ich 
glaube  es  nicht;  sie  würden  es  bald  bemerken,  daß  ihre 
Differentialgleichungen  viel  einfacher  werden,  wenn  sie 
dieselben  differentiieren  und  dadurch  ihre  Ordnung  er- 
höhen. Vor  allem  aber  würden  sie  über  die  Schwierig- 
keit betroffen  sein,  welche  in  den  Symmetrieverhältnissen 
liegt.  Je  nachdem  die  Gesamtheit  der  Planeten  die 
Figur  eines  Polyeders  oder  des  dazu  symmetrischen 
Polyeders  bilden,  würden  sie  verschiedene  Gesetze  auf- 
stellen   müssen,    und    sie   würden    sich    dieser  Folgerung 


Ordnung  der  Differentialgleichungen.  122 

nicht  dadurch  entziehen  können,  daß  sie  die  Flächen- 
konstante als  eine  zufällige  betrachten. 

Ich  habe  ein  sehr  spezielles  Beispiel  gewählt,  indem 
ich  voraussetzte,  daß  unsere  Astronomen  sich  durchaus 
nicht  mit  der  irdischen  Mechanik  beschäftigten,  und  daß 
ihr  Beobachtungsgebiet  auf  das  Sonnensystem  beschränkt 
sei,  aber  unsere  Schlußfolgerungen  sind  auf  alle  analogen 
Fälle  anwendbar.  Unser  Universum  ist  ausgedehnter  als 
das  ihrige,  denn  wir  haben  Fixsterne,  aber  es  ist  den- 
noch ebenfalls  begrenzt,  und  deshalb  könnten  wir  inbezug 
auf  unser  gesamtes  Universum  dieselben  Überlegungen 
anstellen  und  dieselben  Schlüsse  ziehen  wie  jene  fingierten 
Astronomen  inbezug  auf  ihr  Sonnensystem. 

Wie  man  hieraus  sieht,  würde  man  endlich  zu  dem 
Schlüsse  kommen,  daß  die  zur  Bestimmung  der  Entfer- 
nungen dienenden  Differentialgleichungen  von  höherer 
als  der  zweiten  Ordnung  sind.  Weshalb  sollte  uns  das 
befremden?  Weshalb  finden  wir  es  ganz  natürlich,  daß 
die  Folge  der  Erscheinungen  von  den  Anfangs  werten 
der  ersten  Differentialquotienten  abhängen,  während  wir 
zögern  anzunehmen,  daß  sie  von  den  Anfangswerten  der 
zweiten  Differentialquotienten  abhängen  können?  Das 
kann  nur  eine  Folge  der  Gewohnheiten  unseres  Verstandes 
sein,  die  durch  das  beständige  Studium  des  verallgemei- 
nerten Trägheitsprinzips  und  seiner  Folgerungen  sich  in 
uns  entwickelt  haben. 

Die  Werte  der  gegenseitigen  Entfernungen  zu  irgend 
einem  Zeitpunkte  hängen  von  ihren  Anfangs  werten  ab, 
von  den  Anfangswerten  ihrer  ersten  Differentialquotienten 
imd  von  noch  etwas  anderem.  Was  ist  dieses 
andere? 

Wenn  man  nicht  zugibt,  daß  es  einfach  einer  der 
zweiten  Differentialquotienten  sei,  so  hat  man  nur  die 
Wahl  zwischen  zwei  Hypothesen.  Entweder  muß  man 
annehmen    (wie    man    es    gewöhnlich    tut),     daß    dieses 


124  ^^^'  ^'    Energie  und  Thermodynamik. 

andere  durch  die  absolute  Orientierung  des  Universums 
im  Räume  gegeben  ist  und  durch  die  Schnelligkeit,  mit 
welcher  diese  Orientierung  sich  ändert;  das  kann  rich- 
tig sein,  jedenfalls  ist  es  für  den  Mathematiker  die  be- 
quemste Lösung;  sie  ist  aber  nicht  die  befriedigendste 
für  den  Philosophen,  denn  eine  solche  absolute  Orien- 
tierung gibt  es  nicht. 

Oder  man  muß  annehmen,  daß  dieses  andere  durch 
die  Stellung  und  die  Geschwindigkeit  irgend  eines  un- 
sichtbaren Körpers  gegeben  ist;  zu  dieser  Annahme  haben 
sich  manche  bereits  entschlossen;  sie  haben  diesem  Kör- 
per sogar  den  Namen  Alpha  beigelegt,  obgleich  wir  dazu 
bestimmt  sind,  von  diesem  Körper  in  aller  Zukunft  nie- 
mals mehr  als  seinen  Namen  zu  wissen.  Dieser  Kunst- 
griff ist  ganz  analog  demjenigen,  von  welchem  ich  am 
Schlüsse  meiner  Betrachtungen  über  das  Trägheitsprinzip 
gesprochen  habe. 

Aber  auch  die  Schwierigkeit  im  ganzen  ist  eine  künst- 
liche. Wenn  nur  die  künftigen  Ablesungen  unserer  In- 
strumente allein  von  den  Ablesungen  abhängen  können, 
welche  wir  früher  gemacht  haben  oder  welche  wir  in 
Zukunft  machen  werden,  so  brauchen  wir  nichts  weiter 
(vgl.  S.  79).    Und  inbezug  hierauf  können  wir  beruhigt  sein. 


Achtes  Kapitel. 
Energie  und  Thermodynamik. 

Das  energetische  System.  —  Die  Schwierigkeiten, 
welche  der  klassischen  Mechanik  anhaften,  haben  manche 
dazu  geführt  ein  neues  System  zu  bevorzugen,  das  sie 
das  energetische  System  nennen.  Das  energetische 
System   ist    durch    die  Entdeckung  des  Prinzips  von  der 


Das  energetische  System.  I  2  5 

Erhaltung  der  Energie  (welchem  Helmholtz  seine  definitive 
Form  gegeben  hat)   ermöglicht  worden.^'^) 

Zuerst  müssen  wir  zwei  Größen  definieren,  welche 
in  dieser  Theorie  eine  fundamentale  Rolle  spielen.  Diese 
Größen  sind:  erstens  die  kinetische  Energie  oder 
lebendige  Kraft,  zweitens  die  potentielle  Energie. 

Alle  Veränderungen,  welche  die  Körper  in  der  Natur 
erleiden,  werden  durch  die  folgenden  beiden  erfahrungs- 
mäßigen Gesetze  bestimmt: 

1.  Die  Summe  der  kinetischen  und  der  potentiellen 
Energie  ist  konstant.  Darin  liegt  das  Prinzip  von  der 
Erhaltung  der  Energie. 

2.  Wenn  ein  System  von  Körpern  sich  zur  Zeit  t^ 
in  der  Lage  A  und  zur  Zeit  t^  in  der  Lage  B  befindet, 
so  bewegt  es  sich  immer  von  der  ersten  Lage  zur  zweiten 
auf  einem  solchen  Wege,  daß  in  dem  Intervalle  zwischen 
den  Zeiten  f^  und  t^  der  mittlere  Wert  der  Differenz 
beider  Arten  von  Energie  möglichst  klein  ist. 

So  lautet  das  Hamiltonsche  Prinzip;  dasselbe  ist  eine 
der  Formen,  unter  denen  man  das  Prinzip  der  kleinsten 
Wirkung  aussprechen  kann.^^) 

Die  energetische  Theorie  hat  vor  der  klassischen 
Theorie  folgende  Vorzüge  voraus: 

1.  Sie  ist  weniger  unvollständig,  d.  h.  das  Prinzip 
der  Erhaltung  der  Energie  und  dasjenige  Hamiltons 
lehren  uns  mehr  als  die  fundamentalen  Prinzipien  der 
klassischen  Theorie  und  schließen  gewisse  Bewegungen 
aus,  welche  die  Natur  nicht  verwirklicht,  die  hingegen 
mit  der  klassischen  Theorie  vereinbar  wären. 

2.  Sie  macht  für  uns  die  Annahme  von  Atomen 
überflüssig,  während  diese  Annahme  bei  der  klassischen 
Theorie  kaum  zu  vermeiden  ist. 

Aber  sie  erhebt  ihrerseits  neue  Schwierigkeiten: 
Die  Definitionen  der  beiden  Arten  von  Energie  würden 
fast  ebenso  große  Schwierigkeiten  bereiten  wie  diejenigen, 


120  m>  ^'    Energie  und  Thermodynamik. 

welche  im  ersten  Systeme  durch  die  Begriffe  von  Kraft 
und  Masse  entstanden.  Man  kann  sich  dabei  indessen 
leichter  helfen,   wenigstens  in  den  einfachsten  Fällen. 

Setzen  wir  ein  isoliertes  System  voraus,  das  von 
einer  gewissen  Anzahl  materieller  Punkte  gebildet  wird; 
setzen  wir  weiter  voraus,  daß  diese  Punkte  Kräften  unter- 
worfen sind,  welche  nur  von  ihrer  relativen  Stellung  und 
ihren  gegenseitigen  Entfernungen  abhängen,  von  ihren 
Geschwindigkeiten  aber  unabhängig  sind.  Vermöge  des 
Prinzips  der  Erhaltung  der  Energie  müßte  dann  eine 
Kräftefunktion  existieren. 

In  diesem  einfachen  Falle  ist  die  Aussage  des  Prin- 
zips von  der  Erhaltung  der  Energie  von  außerordent- 
licher Einfachheit.  Eine  bestimmte  Größe,  welche  dem 
Experimente  zugänglich  ist,  soll  konstant  bleiben.  Diese 
Größe  ist  die  Summe  von  zwei  Gliedern;  das  erste 
hängt  nur  von  der  Stellung  der  materiellen  Punkte  ab 
und  ist  von  ihren  Geschwindigkeiten  unabhängig;  das 
zweite  ist  dem  Quadrate  dieser  Geschwindigkeiten  pro- 
portional. Diese  Zerlegung  läßt  sich  nur  auf  eine  ein- 
zige Art  machen. 

Das  erste  dieser  Glieder,  welches  ich  17  nennen  will, 
soll  die  potentielle  Energie  sein;  das  zweite,  welches 
ich   T  nennen  will,  soll  die  kinetische  Energie  sein.^^) 

Wenn  T  -\-  [/  eine  Konstante  ist,  so  wird  zwar  das- 
selbe mit  irgend  einer  Funktion  von  T -\-  U  der  Fall 
sein: 

q){T-{-  U)=  konstant, 

aber  diese  Funktion  (piT  -\-  U)  wird  nicht  die  Summe 
von  zwei  Gliedern  sein,  deren  eines  unabhängig  von  den 
Geschwindigkeiten  ist,  deren  anderes  dem  Quadrate 
dieser  Geschwindigkeiten  proportional  ist.  Unter  den 
Funktionen,  welche  konstant  bleiben,  gibt  es  nur  eine, 
welche  diese  Eigenschaft  besitzt;   diese  ist  T  -\-  U  (oder 


Definition  der  Energie.  12  7 

eine  lineare  Funktion  von  T  +  U,  was  auf  dasselbe 
hinauskommt,  denn  diese  lineare  Funktion  kann  immer 
durch  eine  Änderung  der  Maßeinheit  und  des  Anfangs- 
punktes auf  die  Funktion  T ■\-  ^"zurückgeführt  werden). 
Das  also  nennen  wir  Energie;  das  erste  Glied  wollen 
wir  potentielle  Energie  nennen  und  das  zweite  soll  die 
kinetische  Energie  heißen.  Die  Definition  der  beiden 
Arten  von  Energie  kann  ohne  jede  Mehrdeutigkeit  in 
allen  Fällen  durchgeführt  werden. 

Dasselbe  ist  mit  der  Definition  der  Massen  der  Fall. 
Die  kinetische  Energie  oder  lebendige  Kraft  drückt  sich 
sehr  einfach  mit  Hilfe  der  Massen  und  relativen  Ge- 
schwindigkeiten aller  materiellen  Punkte  aus^  wenn  diese 
Geschwindigkeiten  auf  einen  dieser  Punkte  bezogen 
werden.  Diese  relativen  Geschwindigkeiten  sind  der 
Beobachtung  zugänglich  und,  wenn  wir  den  Ausdruck 
der  kinetischen  Energie  in  Funktion  dieser  relativen 
Geschwindigkeiten  kennen,  so  geben  uns  die  Koeffizienten 
dieses  Ausdrucks  die  Massen. 

So  kann  man  in  diesem  einfachen  Falle  die  fun- 
damentalen Begriffe  ohne  Schwierigkeit  definieren.  Aber 
die  Schwierigkeiten  tauchen  in  den  komplizierteren  Fällen 
wieder  auf,  z.  B.  wenn  die  Kräfte,  anstatt  nur  von  Ent- 
fernungen abzuhängen,  auch  von  Geschwindigkeiten  ab- 
hängen. Weber  setzt  z.  B.  voraus,  daß  die  gegenseitige 
Einwirkung  von  zwei  elektrischen  Molekülen  nicht  nur 
von  ihrer  Entfernung  abhängt,  sondern  von  ihrer  Ent- 
fernung und  von  ihrer  Geschwindigkeit.  Wenn  die 
materiellen  Punkte  sich  einem  analogen  Gesetze  gemäß 
anzögen,  so  würde  U  von  der  Geschwindigkeit  abhängen 
und  könnte  ein  dem  Quadrate  der  Geschwindigkeit 
proportionales  Glied  enthalten.^^) 

Wie  kann  man  unter  den  Gliedern,  welche  den  Qua- 
draten der  Geschwindigkeiten  proportional  sind,  die  von 
T  abstammenden    und    die    von   U  abstammenden   von- 


J28  III,  8.     Energie  und  Thermodynamik. 

einander  unterscheiden?  Und  wie  kann  man  folglich 
die  beiden  einzelnen  Teile  der  Energie  trennen? 

Aber  noch  mehr:  wie  kann  man  die  Energie  selbst 
definieren?  Wir  haben  keinen  Grund,  T  -\-  U  als  Defi- 
nition lieber  anzunehmen,  als  irgend  eine  andere  Funk- 
tion von  T  -\-  U',  wenn  der  Ausdruck  T  -\-  [/  die  für 
ihn  charakteristische  Eigenschaft  verloren  hat,  die  Summe 
zweier  Glieder  bestimmter  Form  zu  sein. 

Das  ist  nicht  alles:  man  muß  nicht  nur  die  eigent- 
liche mechanische  Energie  berücksichtigen,  sondern  auch 
die  anderen  Formen  der  Energie,  die  Wärme,  die  che- 
mische Energie,  die  elektrische  Energie  u.  s.  w.  Das 
Prinzip   der  Erhaltung  der  Energie  ist: 

r+  ^+  <2  =  konst, 

wo   T  die  wahrnehmbare  kinetische  Energie,    17  die  po- 
tentielle Energie  der  Stellung  (welche  nur  von  der  Stel- 
lung der  Körper  abhängt)  repräsentiert  und  Q  die  innere 
molekulare    Energie,    möge    es    sich    dabei    um  Wanne,, 
chemische  Verwandtschaft  oder  Elektrizität  handeln. 

Alles  wäre  in  Ordnung,  wenn  diese  drei  Glieder 
absolut  voneinander  zu  unterscheiden  wären,  wenn  T 
dem  Quadrate  der  Geschwindigkeiten  proportional  wäre, 
U  von  diesen  Geschwindigkeiten  und  von  dem  Zustande 
der  Körper  unabhängig,  Q  unabhängig  von  den  Ge- 
schwindigkeiten und  Stellungen  der  Körper  und  allein 
abhängig  von  ihrem  inneren  Zustande. 

Der  Ausdruck  der  Energie  ließe  sich  dann  nur  auf 
eine  einzige  Art  in  drei  Glieder  der  verlangten  Form 
zerlegen. 

Das  geht  jedoch  nicht;  betrachten  wir  elektrisierte 
Körper:  die  elektrostatische,  durch  ihre  gegenseitige  Ein- 
wirkung entstandene  Energie  wird  offenbar  von  ihrer 
Ladung,  d.  h.  von  ihrem  Zustande  abhängen;  aber  sie 
wird  gleichzeitig  von  ihrer  Lage  abhängen.     Wenn  diese 


Erhaltung  der  Energie.  I2q 

Körper  in  Bewegung  sind,  so  werden  sie  aufeinander 
elektrodynamisch  einwirken,  und  die  elektrodynamische 
Energie  wird  nicht  nur  von  ihrem  Zustande  und  ihrer 
Lage,  sondern  auch  von  ihren  Geschwindigkeiten  ab- 
hängen. 

Wir  haben  also  kein  Mittel  mehr,  um  zwischen  den 
Gliedern,  welche  zu  T,  zu  U  und  zu  Q  einen  Beitrag 
liefern  sollen,  eine  Auswahl  zu  treffen  und  die  drei  Teile 
der  Energie  zu  trennen. 

Wenn  {T  -\-  U A;-  Q)  konstant  ist,  so  wird  dasselbe 
mit  irgend  einer  Funktion  von  7^+  U -\-  Q  der  Fall  sein: 

9)(r+  U-\-  0  =  konst. 

Wenn  7"  +  U  A^  Q  die  besondere  Form  hätte,  welche 
ich  weiter  oben  ins  Auge  faßte,  so  würde  daraus  keine 
Mehrdeutigkeit  hervorgehen;  unter  den  Funktionen 

welche  konstant  bleiben,  wäre  nur  eine  von  dieser  be- 
sonderen Form,  und  wir  wollen  uns  dahin  einigen,  diese 
eine  Funktion  als  Energie  zu  bezeichnen. 

Ich  habe  bereits  gesagt,  daß  es  streng  genommen 
nicht  so  ist;  unter  den  Funktionen,  welche  konstant 
bleiben,  gibt  es  keine  solchen,  welche  sich  streng  dieser 
besonderen  Form  fügen;  wie  soll  man  dann  aber  unter 
ihnen  diejenige  auswählen,  welche  Energie  genannt 
werden  soll?  Wir  haben  keinen  Anhaltspunkt  mehr,  der 
uns  bei  dieser  Auswahl  leiten  könnte. 

Es  bleibt  uns  nur  noch  ein  Ausdruck  für  das  Prinzip 
der  Erhaltung  der  Energie  übrig:  es  gibt  ein  Etwas, 
das  konstant  bleibt.  Unter  dieser  Form  entzieht  es 
sich  wieder  dem  Bereiche  der  Erfahrung  und  reduziert 
sich  auf  eine  Art  Tautologie.  Es  ist  klar,  daß,  wenn 
die  Welt  von  Gesetzen  regiert  wird,  es  offenbar  Größen 
geben  muß,  welche  konstant  bleiben.     Wie  die  Prinzipien 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  9 


j  oQ  m>  ^'     Energie  und  Thermodynamik. 

Newtons  (und  aus  einem  analogen  Grunde,  vgl.  S.  98  f.) 
würde  das  Prinzip  von  der  Erhaltung  der  Energie,  das 
doch  durch  die  Erfahrung  begründet  ist,  durch  diese 
niemals  entkräftet  werden  können. 

Diese  Erörterung  beweist,  daß  es  einen  Fortschritt 
bedeutet,  wenn  man  vom  klassischen  Systeme  zum  ener- 
getischen Systeme  übergeht;  aber  sie  beweist  zu  gleicher 
Zeit,   daß  dieser  Fortschritt  ungenügend  ist. 

Ein  anderer  Einwurf  scheint  mir  noch  gewichtiger: 
das  Prinzip  der  kleinsten  Wirkung  ist  auf  umkehrbare 
Naturerscheinungen  anwendbar,  aber  es  ist  keineswegs 
befriedigend  in  seiner  Anwendung  auf  nicht  umkehrbare 
Vorgänge;  der  Versuch  von  Helmholtz,  es  auf  diese  Art 
von  Erscheinungen  auszudehnen,  ist  nicht  gelungen  und 
kann  nicht  gelingen:  in  dieser  Beziehung  bleibt  noch 
alles  zu  tun  übrig. ^^) 

Der  Inhalt  des  Prinzips  der  kleinsten  Wirkung  hat 
an  sich  für  den  Verstand  etwas  Befremdliches.  Um  sich 
von  einem  Punkte  zu  einem  anderen  zu  begeben,  wird 
ein  materielles  Molekül,  welches  der  Einwirkung  jeder 
Kraft  entzogen  ist,  aber  daran  gebunden  ist,  sich  auf 
einer  Oberfläche  zu  bewegen,  die  geodätische  Linie  be- 
schreiben,  d.  h.   den  kürzesten  Weg. 

Dieses  Molekül  scheint  den  Punkt  zu  kennen,  zu 
dem  man  es  hinführen  will;  es  scheint  die  Zeit  voraus- 
zusehen, welche  es  braucht,  um  ihn  zu  erreichen;  indem 
es  diesen  und  jenen  Weg  verfolgt  und  darauf  den  pas- 
sendsten Weg  wählt.  Die  Aussage  des  Prinzips  stellt 
es  uns  sozusagen  als  ein  lebendiges  und  freies  Wesen 
dar.  Es  ist  klar,  daß  man  sie  durch  eine  weniger  be- 
fremdende Aussage  ersetzen  müßte,  bei  welcher  der 
Schein  vermieden  wird,  als  ob,  wie  die  Philosophen 
sagen,  die  Endziele  an  Stelle  der  wirkenden  Ursachen 
gesetzt  sind. 


Das  Mayersche  Prinzip.  I  :?  I 

Thermodynamik.*)  —  Die  Rolle  der  beiden  funda- 
mentalen Prinzipien  der  Thermodynamik  wird  in  allen 
Zweigen  der  Naturphilosophie  von  Tag  zu  Tag  wichtiger. 
Indem  wir  die  ehrgeizigen,  mit  molekularen  Hypothesen 
überladenen  Theorien  aufgeben,  welche  man  vor  vierzig 
Jahren  hatte,  versuchen  wir  heute  allein  auf  der  Thermo- 
dynamik das  ganze  Gebäude  der  mathematischen  Physik 
zu  errichten.  Würden  die  beiden  Prinzipien  von  Mayer' 
und  von  Clausius^^)  diesem  Gebäude  genügend  solide 
Grundmauern  sichern,  damit  es  sich  einige  Zeit  halten 
kann?  Niemand  zweifelt  daran;  aber  woher  kommt 
uns   dieses  Vertrauen? 

Ein  berühmter  Physiker  sagte  mir  eines  Tages  inbezug 
auf  das  Fehlergesetz:  ,, Jedermann  glaubt  fest  daran,  weil 
die  Mathematiker  sich  einbilden,  daß  es  eine  Beob- 
achtungstatsache sei,  und  die  Beobachter  glauben,  daß 
es  ein  mathematischer  Lehrsatz  sei."  So  war  es  auch 
lange  mit  dem  Prinzipe  von  der  Erhaltung  der  Energie. 
Heute  ist  es  nicht  mehr  so;  niemand  bezweifelt,  daß 
dies  eine  experimentelle  Tatsache  ist. 

Aber  wer  gibt  uns  dann  das  Recht,  dem  Prinzipe 
selbst  eine  größere  Allgemeinheit  und  größere  Genauig- 
keit beizulegen  als  den  Experimenten,  welche  zum  Be- 
weise desselben  gedient  haben?  Das  würde  auf  die 
Frage  hinauskommen,  ob  es  berechtigt  ist,  die  Ergebnisse 
der  Erfahrung  so  zu  verallgemeinern,  wie  man  es  täg- 
lich tut;  ich  werde  nicht  so  anmaßend  sein  diese  Frage 
zu  erörtern,  nachdem  so  viele  Philosophen  sich  vergeb- 
lich bemüht  haben  sie  zu  lösen.  Eines  ist  gewiß:  wenn 
diese  Gabe  zur  Verallgemeinerung  uns  versagt  wäre,  so 
würde  die  Wissenschaft  aufhören  zu  existieren,  oder  sie 
würde  sich  wenigstens  darauf  beschränken  eine  Art  von 


*)  Die   folgenden  Zeilen  sind  eine  teilweise  Reproduktion  des 
Vorwortes  zu  meinem  Werke  Thermodynamique. 

9* 


JT2  IIIj  8.     Energie  und  Thermodynamik. 

Inventar  anzulegen,  in  dem  vereinzelte  Tatsachen  ver- 
zeichnet werden,  und  sie  würde  damit  für  uns  jeden 
Wert  verlieren,  denn  sie  könnte  unser  Bedürfnis  nach 
Ordnung  und  Harmonie  nicht  befriedigen  und  sie  würde 
zugleich  unfähig  sein.  Zukünftiges  vorauszubestimmen. 
Da  die  Umstände,  unter  welchen  irgend  eine  Tatsache 
eintritt,  sich  wahrscheinlich  niemals  gleichzeitig  wieder- 
holen werden,  so  ist  schon  eine  erste  Verallgemeinerung 
notwendig,  um  vorauszusehen,  ob  diese  Tatsache  sich 
noch  wiederholen  wird,  wenn  in  den  genannten  Um- 
ständen auch  nur  die  geringste  Änderung  eintritt. 

Aber  jeder  Satz  kann  auf  unendlich  viele  Arten  ver- 
allgemeinert werden.  Unter  allen  möglichen  Verallge- 
meinerungen müssen  wir  eine  Auswahl  treffen,  und  da 
können  wir  nur  die  einfachste  Verallgemeinerung  wählen. 
Dadurch  wird  es  verständlich,  daß  wir  so  handeln,  als 
ob  ein  einfaches  Gesetz  unter  übrigens  gleichen  Um- 
ständen mehr  Wahrscheinlichkeit  für  sich  habe  wie  ein 
kompliziertes  Gesetz. ^^) 

Vor  einem  halben  Jahrhundert  bekannte  man  sich 
offen  zu  dem  Satze,  daß  die  Natur  die  Einfachheit  liebt; 
aber  seitdem  haben  wir  zu  viele  entgegenstehende  Er- 
fahrungen gemacht.  Heute  erkennt  man  diesen  Satz  nicht 
mehr  an,  oder  wenigstens  nur  insoweit,  als  er  unvermeid- 
lich ist,  wenn  die  Wissenschaft  mögl^h  bleiben  soll. 

Wenn  wir,  auf  Grund  einer  verhältnismäßig  geringen 
Anzahl  von  Experimenten,  die  auch  unter  sich  nicht  voll- 
kommen übereinstimmen,  ein  allgemeines,  einfaches  und 
genaues  Gesetz  formulieren,  so  gehorchen  wir  dabei  einer 
inneren  Notwendigkeit,  der  sich  der  menschliche  Ver- 
stand nicht  entziehen  kann. 

Aber  es  handelt  sich  um  noch  mehr,  und  deshalb 
verweile  ich  bei  dieser  Frage. 

Niemand  bezweifelt,  daß  das  Mayersche  Prinzip  dazu 
berufen  ist,   alle  besonderen  Gesetze,   aus  denen  man  es 


Einfachlieit  des  Prinzips.  ^33 

abgeleitet  hat,  ebenso  zu  überleben,  wie  das  Newtonsche 
Gesetz  die  Kepplerschen  Sätze  überlebt  hat,  aus  denen 
es  hervorgegangen  war,  und  welche  nur  annähernd  richtig 
sind,  sobald  man  die  Störungen  berücksichtigt. 

Weshalb  nimmt  nun  dieses  Prinzip  eine  so  bevor- 
zugte Stellung  unter  allen  physikalischen  Gesetzen  ein? 
Dafür  gibt  es  viele  kleine  Ursachen. 

Vor  allem  glaubt  man,  daß  wir  es  nicht  verwerfen 
oder  auch  nur  seine  absolute  Strenge  anzweifeln  können, 
ohne  die  Möglichkeit  des  perpetuum  mobile  zuzulassen; 
die  Aussicht  auf  eine  solche  Folgerung  macht  uns  natür- 
lich mißtrauisch,  und  so  glauben  wir  weniger  kühn  zu 
handeln,  wenn  wir  das  Prinzip  annehmen,  als  wenn  wir 
es  leugnen. 

Vielleicht  ist  diese  Vorstellung  nicht  ganz  richtig;  denn 
nur  für  die  umkehrbaren  Prozesse  zieht  die  Unmöglich- 
keit des  perpetuum  mobile  das  Prinzip  von  der  Erhaltung 
der  Energie  nach  sich. 

Die  überraschende  Einfachheit  des  Mayerschen  Prin- 
zips trägt  ebenfalls  dazu  bei,  uns  im  Glauben  an  das- 
selbe zu  bestärken.  Bei  einem  Gesetze,  das  unmittelbar 
aus  der  Erfahrung  abgeleitet  wird,  z.  B.  beim  Mariotte- 
schen Gesetze,  würde  solche  Einfachheit  uns  eher  Grund 
zum  Mißtrauen  geben:  aber  hier  ist  es  anders;  Elemente, 
die  auf  den  ersten  Blick  scheinbar  nichts  miteinander 
zu  tun  haben,  reihen  sich  vor  unseren  Augen  in  uner- 
warteter Ordnung  aneinander  und  bilden  ein  harmoni- 
sches Ganzes;  und  wir  können  unmöglich  glauben,  daß 
diese  unvorhergesehene  Harmonie  nur  durch  ein  Spiel 
des  Zufalls  zu  stände  komme.  Unsere  Errungenschaft 
scheint  uns  um  so  wertvoller  und  lieber  zu  sein,  je  mehr 
Anstrengungen  sie  uns  gekostet  hat,  und  es.  scheint  uns 
um  so  sicherer,  daß  wir  der  Natur  ihr  wahres  Geheimnis 
entrissen  haben,  je  eifersüchtiger  dieselbe  bemüht  war, 
es  uns  zu  verbergen. 


l  -2  4  III,  8.    Energie  und  Thermodynamik. 

Aber  das  sind  nur  die  kleinen  Ursachen;  um  das 
Mayersche  Gesetz  zu  einem  absoluten  Prinzipe  zu  erheben, 
bedarf  es  einer  tiefergehenden  Erörterung.  Aber  wenn 
man  versucht  eine  solche  vorzunehmen,  so  bemerkt  man, 
daß  dieses  absolute  Prinzip  nicht  leicht  auszusprechen  ist. 

In  jedem  besonderen  Falle  sieht  man  wohl,  was 
Energie  ist,  und  man  kann  eine  zum  mindesten  provi- 
sorische Definition  derselben  geben;  aber  es  ist  unmög- 
lich eine  allgemeine  Definition  zu  finden. 

Wenn  man  das  Prinzip  in  seiner  ganzen  Allgemein- 
heit aussprechen  und  auf  das  Universum  anwenden  will, 
so  sieht  man  es  sozusagen  sich  verflüchtigen  und  es 
bleibt  nichts  zurück  als  der  Satz:  Es  gibt  ein  Etwas, 
das  konstant  bleibt. 

Aber  hat  selbst  dieser  einen  Sinn?  Unter  dem  Namen 
der  deterministischen  Hypothese  fasse  ich  die  folgenden 
Voraussetzungen  zusammen:  ,,Der  Zustand  des  Universums 
ist  durch  eine  außerordentlich  große  Zahl  7t  von  Para- 
metern bestimmt,  welche  ich  x^  ,  ji'g ,  .  .  . ,  Xn  nennen  will. 
Sobald  man  in  irgend  einem  Augenblicke  die  Werte  dieser 
?t  Parameter  kennt,  so  kennt  man  gleichzeitig  ihre  Ab- 
leitungen inbezug  auf  die  Zeit,  und  man  kann  folglich 
die  Werte  dieser  selben  Parameter  für  einen  vorher- 
gehenden oder  künftigen  Zeitpunkt  berechnen.  Mit 
anderen  Worten :  Diese  n  Parameter  genügen  n  Differential- 
gleichungen erster  Ordnung." 

Diese  Gleichungen  lassen  n  —  i  Integrale  zu  und 
daraus  ergeben  sich  ;z  —  i  Funktionen  von  x\,  x^,  .  .  .,  x,„ 
welche  konstant  bleiben.  Wenn  wir  also  sagen,  daß  es 
ein  Etwas  gibt,  das  konstant  bleibt,  so  sprechen 
wir  nur  eine  Tautologie  aus.  Man  wird  sogar  in  Ver- 
legenheit sein  zu  sagen,  welches  unter  allen  unseren 
Integralen  den  Namen  Energie  erhalten  soll.^*) 

Übrigens   versteht   man    das  Mayersche  Prinzip   nicht 


Das  Prinzip  für  begrenzte  Systeme.  j  ^  c 

in  diesem  Sinne,  wenn  man  es  auf  ein  begrenztes  System 
anwendet. 

Man  läßt  dann  zu,  daß  p  von  unseren  n  Parametern 
unabhängig  von  den  anderen  variieren,  so  daß  wir  nur 
n  — p  (im  allgemeinen  lineare)  Relationen  zwischen  unseren 
n  Parametern  und  ihren  Differentialquotienten  haben. 

Setzen  wir,  um  die  Aussage  zu  vereinfachen,  voraus, 
daß  die  Summe  der  Arbeit  der  äußeren  Kräfte  gleich 
Null  sei,  und  daß  ebenso  die  Summe  der  Wärmemengen, 
welche  nach  außen  abgegeben  werden  verschwinde. 
Dann  wird  die  Bedeutung  unseres  Prinzips  folgende 
sein: 

Man  kann  aus  unseren  ;/  — p  Relationen  eine 
neue  Gleichung  ableiten,  deren  linke  Seite  ein 
exaktes  Differential  ist,  während  die  rechte  Seite 
infolge  unserer  n  — /  Relationen  gleich  Null  ist. 
Das  Integral  dieses  Differentials  ist  eine  Konstante  und 
dieses  Integral  nennt  man  Energie. 

Aber  wie  kann  es  möglich  sein,  daß  es  mehrere 
Parameter  gibt,  die  selbständig  variieren?  Das  kann  nur 
unter  dem  Einflüsse  der  äußeren  Kräfte  stattfinden  (ob- 
gleich wir  zur  Vereinfachung  voraussetzten,  daß  die 
algebraische  Summe  der  Arbeiten  dieser  Kräfte  gleich 
Null  sei).  Wenn  das  System  in  der  Tat  jeder  äußeren 
Einwirkung  völlig  entzogen  ist,  so  würden  die  Werte 
unserer  n  Parameter  in  einem  gegebenen  Augenblicke 
genügen,  um  den  Zustand  des  Systems  in  irgend  einem 
künftigen  Augenblicke  zu  bestimmen,  vorausgesetzt,  daß 
wir  in  der  deterministischen  Hypothese  verbleiben;  wir 
würden  also  auf  dieselbe  Schwierigkeit ,  wie  vorhin, 
stoßen. 

Wenn  der  Zustand  des  Systems  durch  seinen  gegen- 
wärtigen Zustand  nicht  vollkommen  bestimmt  ist,  so  liegt 
dies  daran,  daß  er  außerdem  vom  Zustande  der  Körper 
abhängt,   die  dem  Systeme  fremd  sind.    Aber  ist  es  dann 


j  -3^  III,  8.     Energie  und  Thermodynamik. 

wahrscheinlich,  daß  es  zwischen  den  Parametern  x,  welche 
den  Zustand  des  Systems  definieren,  Gleichungen  gibt, 
die  unabhängig  von  diesem  Zustande  der  fremden  Körper 
sind?  und  wenn  wir  in  gewissen  Fällen  glauben,  solche 
finden  zu  können,  beruht  dieser  Glaube  dann  nicht  nur 
auf  unserer  Unwissenheit  und  auf  der  Tatsache,  daß  der 
Einfluß  dieser  Körper  zu  schwach  ist,  um  sich  unseren 
Beobachtungen  bemerkbar  zu  machen? 

Wenn  das  System  nicht  als  vollkommen  isoliert  be- 
trachtet wird,  so  ist  es  wahrscheinlich,  daß  der  streng 
exakte  Ausdruck  für  seine  innere  Energie  vom  Zustande 
der  außerhalb  stehenden  Körper  abhängt.  Ich  habe 
weiter  oben  vorausgesetzt,  daß  die  Summe  der  äußeren 
Arbeiten  gleich  Null  ist,  und  wenn  man  sich  von  dieser 
etwas  künstlichen  Einschränkung  befreien  will,  so  wird 
es  noch  schwieriger,   das  Prinzig  auszusprechen. 

Um  das  Mayersche  Prinzip  in  absolutem  Sinne  zu 
formulieren,  muß  man  es  auf  das  ganze  Universum  aus- 
dehnen, und  dann  wieder  findet  man  sich  dieser  sel- 
ben Schwierigkeit  gegenüber,  welche  man  zu  vermeiden 
suchte. 

Alles  zusammengefaßt  und  nicht  mathematisch  aus- 
gedrückt, kann  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie 
nur  eine  Bedeutung  haben,  nämlich  die,  daß  es  eine 
allen  Möglichkeiten  gemeinsame  Eigenschaft  gibt;  aber 
in  der  deterministischen  Hypothese  gibt  es  nur  eine 
Möglichkeit,  und  dann  hat  das  Gesetz  keine  Bedeu- 
tung mehr. 

In  der  indeterministischen  Hypothese  würde  es  im 
Gegenteil  eine  Bedeutung  erhalten,  sogar  wenn  man  es 
in  absolutem  Sinne  verstehen  wollte;  das  Gesetz  würde 
dann  als  eine  unserer  Freiheit  gezogene  Grenze  er- 
scheinen. 

Aber  dieses  Wort  erinnert  mich  daran,  daß  ich  zu 
weit  gehe  und  daß  ich  im  Begriff'e  bin,  das  mathematische 


Das  Clausiussche  Prinzip.  j^y 

und  das  physikalische  Gebiet  zu  verlassen.  Ich  stehe 
davon  ab  und  will  von  dieser  ganzen  Erörterung  nur 
das  eine  betonen,  nämlich,  daß  das  Mayersche  Gesetz 
uns  ein  hinreichend  dehnbares  Gefäß  darstellt,  um  in 
dasselbe  alles  Mögliche  hineinzubringen.  Ich  will  damit 
nicht  sagen,  daß  das  Gesetz  weder  irgend  einer  objek- 
tiven Wirklichkeit  entspricht,  noch  daß  es  sich  auf  eine 
einfache  Tautologie  zurückführen  läßt,  denn  es  hat  in 
jedem  besonderen  Falle,  und  vorausgesetzt,  daß  man 
nicht  bis  zum  Absoluten  gewaltsam  vorgeht,  einen  voll- 
kommen klaren  Sinn. 

Diese  Dehnbarkeit  veranlaßt  uns  an  eine  lange  Dauer 
des  Gesetzes  zu  glauben  und  da  dasselbe  andererseits 
nur  verschwinden  wird,  um  sich  in  eine  höhere  Har- 
monie aufzulösen,  so  können  wir  mit  Vertrauen  weiter 
arbeiten,  indem  wir  uns  auf  dies  Gesetz  stützen;  und 
wir  sind  im  voraus  gewiß,  daß  unsere  Arbeit  keine  ver- 
lorene sein  wird. 

Fast  alles,  was  ich  soeben  sagte,  paßt  auch  auf  das 
Clausiussche  Prinzip;  der  Unterschied  ist,  daß  letzteres 
sich  durch  eine  Ungleichheit  ausdrückt.  Man  wird  viel- 
leicht behaupten,  daß  dieses  in  allen  physikalischen  Ge- 
setzen der  Fall  ist,  weil  ihre  Genauigkeit  immer  durch 
Beobachtungsfehler  beschränkt  ist.  Aber  die  physikali- 
schen Gesetze  beanspruchen  wenigstens  erste  Annähe- 
rungen darzustellen,  und  man  hat  die  Hoffnung,  sie 
nach  und  nach  durch  genauere  Gesetze  zu  ersetzen. 
Wenn  im  Gegenteil  das  Clausiussche  Prinzip  sich  durch 
eine  Ungleichheit  ausdrückt,  so  ist  nicht  die  Unvoll- 
kommenheit  unserer  Beobachtungsmittel  daran  schuld,  son- 
dern die  Natur  der  Frage  selbst. 


I  og  III,  8.     Energie  und  Thermodynamik. 


Allgemeine  Übersicht  des  dritten  Teiles. 

Die  Prinzipien  der  Mechanik  stellen  sich  uns  unter 
zwei  verschiedenen  Gesichtspunkten  dar.  Einesteils  haben 
wir  auf  Erfahrungen  begründete  Wahrheiten,  die  in  sehr 
angenäherter  Weise  verifiziert  sind,  wenigstens  soweit  es 
sich  um  nahezu  isolierte  Systeme  handelt.  Anderenteils 
haben  wir  Postulate,  welche  auf  die  Gesamtheit  des  Uni- 
versums anwendbar  sind  und  als  streng  richtig  betrachtet 
werden. 

Wenn  diese  Postulate  eine  Allgemeinheit  und  eine 
Zuverlässigkeit  besitzen,  welche  den  experimentellen  Wahr- 
heiten abgeht,  aus  denen  man  sie  ableitete,  so  liegt  dies 
darin,  daß  sie  sich  in  letzter  Instanz  auf  ein  einfaches 
Übereinkommen  reduzieren,  welches  wir  mit  Recht  ein- 
gehen, da  wir  im  voraus  wissen,  daß  keine  Erfahrung 
ihm  widersprechen  kann. 

Dieses  Übereinkommen  ist  jedoch  nicht  absolut  will- 
kürlich; es  entspringt  nicht  unserer  Laune;  wir  nehmen 
es  an,  weil  gewisse  Experimente  uns  bewiesen  haben, 
daß  es  bequem  ist. 

Man  erklärt  sich  so,  wie  das  Experiment  die  Prin- 
zipien der  Mechanik  aufbauen  konnte  und  warum  es  sie 
niemals  umstoßen  kann. 

Wir  wollen  einen  Vergleich  mit  der  Geometrie  ziehen. 
Die  fundamentalen  Sätze  der  Geometrie,  wie  z.  B.  das 
Euklidische  Postulat,  sind  nichts  anderes  als  Überein- 
kommen, und  es  ist  ebenso  unvernünftig  zu  untersuchen, 
ob  sie  richtig  oder  falsch  sind,  wie  es  unvernünftig  wäre 
zu  fragen,  ob  das  metrische  System  richtig  oder  falsch 
ist  (vgl.  S.  51  f.). 

Diese  Übereinkommen  sind  jedoch  bequem,  und  das 
lehren  uns  bestimmte  Erfahrungen. 

Auf    den    ersten   Blick   ist   die   Analogie   vollständig; 


Geometrie  und  Mechanik. 


139 


die  Rolle  der  Erfahrung  scheint  dieselbe  zu  sein.  Man 
wird  demnach  versucht  zu  sagen:  Entweder  wird  die 
Mechanik  als  eine  experimentelle  Wissenschaft  angesehen, 
und  dann  muß  dasselbe  für  die  Geometrie  gelten,  oder 
die  Geometrie  ist  im  Gegensatze  dazu  eine  deduktive 
Wissenschaft,  und  dann  muß  dasselbe  für  die  Mechanik 
gelten. 

Eine  solche  Schlußfolgerung  würde  unberechtigt  sein. 
Die  Erfahrungen,  welche  uns  dazu  führten,  die  funda- 
mentalen Übereinkommen  der  Geometrie  als  bequemer 
anzunehmen,  beziehen  sich  auf  Gegenstände,  welche  mit 
denjenigen,  die  der  Mathematiker  studiert,  nichts  ge- 
meinsam haben;  sie  beziehen  sich  auf  Eigenschaften  der 
festen  Körper,  auf  die  geradlinige  Fortpflanzung  des 
Lichtes.  Es  sind  mechanische  und  optische  Experimente; 
man  kann  sie  unter  keinem  Gesichtspunkte  als  geome- 
trische Experimente  ansehen.  Und  der  Hauptgrund,  wes- 
halb unsere  Geometrie  uns  bequem  erscheint,  liegt  darin, 
daß  die  verschiedenen  Teile  unseres  Körpers,  unser 
Auge,  unsere  Glieder,  gewisse  Eigenschaften  fester  Kör- 
per besitzen.  So  angesehen  sind  unsere  fundamentalen 
Experimente  vor  allem  physiologische  Experimente,  welche 
sich  nicht  auf  den  Raum  als  das  vom  Mathematiker 
studierte  Objekt  beziehen,  sondern  auf  seinen  Körper, 
d.  h.  auf  das  Werkzeug,  dessen  er  sich  zu  diesem  Stu- 
dium bedient. 

Im  Gegensatze  dazu  beziehen  sich  die  fundamentalen 
Übereinkommen  der  Mechanik  und  die  Experimente, 
welche  uns  beweisen,  daß  sie  bequem  sind,  entweder 
auf  dieselben  Gegenstände  oder  auf  analoge  Gegen- 
stände. Die  nach  Übereinkommen  festgesetzten  und  all- 
gemeinen Prinzipien  sind  die  natürliche  und  direkte  Ver- 
allgemeinerung der  experimentellen  und  besonderen  Prin- 
zipien. 

Man  sage  mir  nicht,  daß  ich  damit  künstliche  Grenzen 


jAQ  III,  8.     Energie  und  Thermodynamik. 

zwischen  den  Wissenschaften  ziehe;  daß  ich  zwischen 
der  experimentellen  Mechanik  und  der  gebräuchlichen 
Mechanik  der  allgemeinen  Prinzipien  eine  Schranke  er- 
richten könnte,  wie  ich  die  eigentliche  Geometrie  vom 
Studium  der  festen  Körper  durch  eine  Schranke  getrennt 
habe.  In  der  Tat,  wer  sieht  nicht,  daß  ich  beide  Zweige 
der  Mechanik  verstümmele,  indem  ich  sie  voneinander 
trenne,  daß  von  der  allgemeinen  Mechanik  nur  sehr 
wenig  übrig  bleibt,  wenn  sie  isoliert  wird,  und  daß  dieses 
wenige  keineswegs  mit  dem  herrlichen  Lehrgebäude,  das 
man  Geometrie  nennt,  verglichen  werden  kann? 

Man  versteht  jetzt,  warum  der  Unterricht  in  der 
Mechanik  experimentell  bleiben  muß. 

Nur  so  kann  man  die  Genesis  der  Wissenschaft  ver- 
stehen lernen,  und  das  ist  für  das  vollkommene  Ver- 
ständnis der  Wissenschaft  selbst  unerläßlich. 

Andererseits  studiert  man  die  Mechanik,  um  sie  an- 
zuwenden, und  man  kann  sie  nur  anwenden,  wenn  sie 
objektiv  bleibt.  Wie  wir  gesehen  haben,  verlieren  die 
Prinzipien  an  Objektivität,  was  sie  an  Allgemeinheit  und 
Zuverlässigkeit  gewinnen.  Man  muß  sich  also  hauptsäch- 
lich mit  der  objektiven  Seite  der  Prinzipien  rechtzeitig 
bekannt  machen,  und  man  kann  dieses  nur  bewerkstel- 
ligen, wenn  man  vom  Besonderen  zum  Allgemeinen  schreitet, 
anstatt   den  umgekehrten  Weg  einzuschlagen. 

Die  Prinzipien  sind  Übereinkommen  und  verkleidete 
Definitionen  (vgl.  S.  102  u.  S.  112).  Sie  sind  indessen 
von  experimentellen  Gesetzen  abgeleitet,  diese  Gesetze 
sind  sozusagen  als  Priuzipe  hingestellt,  denen  unser  Ver- 
stand absolute  Gültigkeit  beilegt. 

Manche  Philosophen  haben  zu  viel  verallgemeinert;  sie 
glaubten,  die  Prinzipien  wären  die  ganze  Wissenschaft, 
und  hielten  folglich  die  ganze  Wissenschaft  für  konven- 
tionell. 


Prinzipe  und  Gesetze.  iaj 

Diese  paradoxe  Lehre,  welche  man  den  Nominalis- 
mus  nennt,  ist  nicht  stichhaltig. 

Wie  kann  aus  einem  Gesetze  ein  Prinzip  werden? 
Es  drückte  eine  Beziehung  zwischen  zwei  realen  Gliedern 
A  und  B  aus.  Aber  es  war  nicht  streng  genommen 
richtig,  es  war  nur  annähernd  richtig.  Wir  führen  will- 
kürlich ein  dazwischen  liegendes  Glied  C,  das  mehr  oder 
weniger  fingiert  ist,  ein,  und  C  ist  durch  Definition 
dasjenige  Ding,  welches  zu  A  genau  "in  der  Beziehung 
steht,  die  in  dem  Gesetze  annähernd  zum  Ausdrucke 
kommt. 

So  hat  sich  unser  Gesetz  in  ein  absolutes  und  strenges 
Prinzip  zerlegt,  welches  die  Beziehung  zwischen  ^  zu  C 
ausdrückt,  und  in  ein  experimentelles,  annähernd  rich- 
tiges Gesetz,  welches  der  Verbesserung  fähig  ist  und 
die  Beziehung  von  C  zu  B  ausdrückt.  Es  ist  klar,  daß 
immer  Gesetze  übrig  bleiben,  soweit  man  auch  diese 
Zerlegung  verfolgt. 

Wir  gehen  jetzt  zu  dem  Gebiete  der  sogenannten 
eigentlichen  Gesetze  über. 


Vierter  Teil. 
Die  Natur. 

Neuntes  Kapitel. 
Die  Hypothesen  in  der  Physik. 

Die  Rolle  des  Experimentes  und  der  Verallge- 
meinerung. —  Das  Experiment  ist  die  einzige  Quelle 
der  Wahrheit;  dieses  allein  kann  uns  etwas  Neues  lehren; 
dieses  allein  kann  uns  Gewißheit  geben.  Das  sind 
zwei  Punkte,  die  durch  nichts  bestritten  werden  können. 

Wenn  aber  das  Experiment  alles  ist,  welcher  Platz 
bleibt  dann  für  die  mathematische  Physik  übrig?  Was 
hat  die  Experimental-Physik  mit  einem  solchen  Hilfs- 
mittel zu  schaffen,  das  unnütz  und  wohl  gar  gefährlich 
zu  sein  scheint? 

Und  dennoch  existiert  die  mathematische  Physik; 
sie  hat  unleugbare  Dienste  geleistet;  darin  liegt  eine 
Tatsache,  die  notwendigerweise  erklärt  werden  muß. 

Es  genügt  nicht  allein,  zu  beobachten,  man  muß 
seine  Beobachtungen  auch  benutzen  und  zu  diesem 
Zwecke  verallgemeinern.  Das  hat  man  jederzeit  getan; 
da  jedoch  die  Erinnerung  an  die  Fehler  der  Vergangen- 
heit den  Menschen  immer  vorsichtiger  machte,  beobachtete 
man    immer   mehr   und   verallgemeinerte   immer  weniger. 

Jedes  Jahrhundert  machte  sich  über  das  vorhergehende 
lustig,  indem  es  das  letztere  beschuldigte,  zu  schnell  und 
zu  unbefangen  verallgemeinert  zu  haben.  Descartes  be- 
lächelte die  lonier,  wir  lächeln  über  Descartes;  ohne 
Zweifel  werden  unsere  Söhne  über  uns  lächeln. 


Experiment  und  Verallgemeinerung.  IA3 

Aber  können  wir  nicht  gleich  bis  ans  Ziel  gehen? 
Ist  das  nicht  das  Mittel,  um  diesen  Spöttereien,  die  wir 
voraussehen,  zu  entgehen?  Können  wir  uns  nicht  mit 
dem  völlig  nackten  Experimente  begnügen? 

Nein,  das  ist  nicht  möglich;  das  hieße  den  wahren 
Charakter  der  Wissenschaft  völlig  verkennen.  Der  Ge- 
lehrte soll  anordnen;  man  stellt  die  Wissenschaft  aus 
Tatsachen  her,  wie  man  ein  Haus  aus  Steinen  baut; 
aber  eine  Anhäufung  von  Tatsachen  ist  so  wenig  eine 
Wissenschaft,  wie  ein  Steinhaufen  ein  Haus  ist. 

Und  vor  allem:  der  Forscher  soll  voraussehen. 
Carlyle  hat  irgendwo  folgendes  geschrieben:  ,,Nur  die 
Tatsache  hat  Bedeutung;  Johann  ohne  Land  ist  hier 
vorbeigegangen;  das  ist  bemerkenswert,  das  ist  eine 
tatsächliche  Wahrheit,  für  die  ich  alle  Theorien  der 
Welt  hergeben  würde."  Carlyle  war  ein  Landsmann  von 
Bacon;  wie  der  letztere,  so  legte  auch  Carlyle  Gewicht 
darauf,  seinen  Kultus  ,,for  the  God  of  Things  as  they 
are"  zu  betonen;  aber  doch  würde  Bacon  dergleichen 
nicht  gesagt  haben.  Das  ist  die  Sprache  des  Historikers. 
Der  Physiker  würde  vielleicht  sagen:  ,, Johann  ohne  Land 
ist  hier  vorbeigegangen;  das  ist  mir  sehr  gleichgültig,  weil 
er  nicht  wieder  vorbeikommt." 

Wir  wissen,  daß  es  gute  und  daß  es  schlechte  Expe- 
rimente gibt.  Die  letzteren  häufen  sich  nutzlos;  wenn 
man  hundert  oder  gar  tausend  solche  macht,  so  würde 
doch  die  einzige  Arbeit  eines  wirklichen  Meisters,  wie 
z.  B.  Pasteur,  genügen,  um  sie  der  Vergessenheit  anheim- 
fallen zu  lassen.  Bacon  würde  das  wohl  verstanden 
haben;  er  ist  es,  der  das  Wort  experimentum  crucis  er- 
funden hat.  Aber  Carlyle  hätte  es  nicht  verstanden. 
Eine  Tatsache  ist  eine  Tatsache;  ein  Schüler  hat  eine 
gewisse  Zahl  an  seinem  Thermometer  abgelesen,  er 
braucht  dazu  keine  Kenntnisse;  aber  gleichviel,  er  hat 
die  Zahl  abgelesen,    und  wenn  es  nur  auf  die  Tatsache 


j^^  IV,  9.     Hypothesen  der  Physik. 

ankommt,  so  ist  dies  ebensogut  eine  tatsächliche  Wahr- 
heit, wie  das  Vorbeipassieren  des  Königs  Johann  ohne 
Land.  Was  ist  denn  ein  gutes  Experiment?  Es  ist  ein 
solches,  welches  uns  etwas  anderes  als  eine  isolierte 
Tatsache  erkennen  läßt;  es  ist  ein  solches,  welches  uns 
voraussehen  läßt,  d.  h.  ein  solches,  welches  uns  erlaubt 
zu  verallgemeinern. 

Denn  ohne  Verallgemeinerung  ist  das  Voraussehen 
unmöglich.  Die  Umstände,  unter  welchen  man  operiert 
hat,  werden  sich  niemals  zugleich  wieder  einstellen.  Die 
beobachtete  Tatsache  wird  sich  nicht  noch  einmal  ab- 
spielen; das  einzige,  was  man  feststellen  kann,  ist,  daß 
unter  analogen  Umständen  eine  analoge  Tatsache  ein- 
treten wird.  Um  vorauszusehen,  muß  man  zum  mindesten 
die  Analogie  zu  Hilfe  nehmen,  und  das  heißt  wiederum: 
verallgemeinern . 

So  vorsichtig  man  auch  sein  mag,  so  muß  man  doch 
interpolieren;  das  Experiment  gibt  uns  nur  eine  gewisse 
Anzahl  von  isolierten  Punkten,  man  muß  sie  durch  einen 
kontinuirlichen  Linienzug  verbinden,  damit  haben  wir 
eine  wirkliche  Verallgemeinerung.  Aber  man  geht  weiter, 
die  Kurve,  welche  man  zieht,  geht  zwischen  den  beobach- 
teten Punkten  durch  und  nahe  bei  diesen  Punkten  vor- 
bei; sie  geht  nicht  durch  diese  Punkte  selbst.  Somit 
beschränkt  man  sich  nicht  darauf,  das  Experiment  zu 
verallgemeinern,  man  verbessert  es;  und  der  Physiker, 
welcher  sich  dieser  Verbesserungen  enthalten  und  sich 
tatsächlich  mit  dem  völlig  nackten  Experimente  begnügen 
wollte,  wäre  gezwungen,  ganz  merkwürdige  Gesetze  aus- 
zusprechen. 

Die  ganz  nackten  Tatsachen  können  uns  also  nicht 
genügen;  darum  brauchen  wir  eine  geordnete,  oder  viel- 
mehr organisierte  Wissenschaft. 

Man  sagt  oft,  daß  man  ohne  vorgefaßte  Meinung 
experimentieren   soll.     Das   ist  nicht  möglich;    nicht   nur 


Verallgemeinerung  und  Voraussage.  jAt 

würde  dadurch  jedes  Experiment  unfruchtbar  gemacht, 
sondern  man  würde  sich  etwas  vornehmen,  das  man 
nicht  ausführen  kann.  Jeder  trägt  in  sich  seine  Welt- 
anschauung; von  der  er  sich  nicht  so  leicht  loslösen 
kann.  Wir  müssen  uns  z.  B.  der  Sprache  bedienen,  und 
imsere  Sprache  ist  von  lauter  vorgefaßten  Meinungen 
durchdrungen,  und  es  kann  nicht  anders  sein.  Es  sind 
unbewußte  vorgefaßte  Meinungen,  die  tausendmal  gefähr- 
licher als   die  anderen  sind. 

Behaupten  wir  nun,  daß  wir  das  Übel  nur  ver- 
schlimmem, wenn  wir  andere  vorgefaßte  Meinungen  mit 
vollem  Bewußtsein  zulassen?  Ich  glaube  es  nicht;  ich 
meine  vielmehr,  daß  dieselben  sich  gegenseitig  das  Gleich- 
gewicht halten  werden,  daß  sie  wie  Gegengifte  wirken; 
sie  werden  sich  im  allgemeinen  schlecht  miteinander 
vertragen;  sie  werden  miteinander  in  Konflikt  geraten 
und  uns  dadurch  zwingen,  die  Dinge  unter  verschiedenen 
Gesichtspunkten  zu  betrachten.  Das  ist  hinreichend,  um 
uns  frei  zu  machen;  man  ist  kein  Sklave  mehr,  wenn 
man  sich  seinen  Herrn  wählen  kann. 

Dank  der  Verallgemeinerung  läßt  uns  so  jede  be- 
obachtete Tatsache  eine  große  Anzahl  anderer  voraus- 
sehen; nur  dürfen  wir  nicht  vergessen,  daß  die  erste 
allein  gewiß  ist,  die  anderen  alle  nur  wahrscheinlich 
sind.  So  fest  auch  eine  Voraussage  begründet  erscheinen 
mag,  so  sind  wir  doch  niemals  absolut  sicher,  daß  das 
Experiment  sie  auch  bestätigen  wird,  wenn  wir  eine 
Prüfung  vornehmen.  Aber  die  Wahrscheinlichkeit  ist 
oft  so  groß,  daß  wir  uns  in  der  Praxis  mit  ihr  zufrieden 
geben  können.  Es  ist  besser,  ohne  absolute  Gewißheit 
vorauszusagen  als  gar  nichts  vorauszusagen. 

Man  darf  daher  niemals  eine  Prüfung  von  der  Hand 
weisen,  wenn  sich  Gelegenheit  zu  einer  solchen  bietet. 
Aber  jedes  Experiment  ist  langwierig  und  schwierig,  die 
Avissenschaftlichen  Arbeiter  sind  wenig  zahlreich,  und  die 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  10 


j  »5  IV,  9.     Hypothesen  der  Physik. 

Anzahl  der  Tatsachen,  welche  wir  im  voraus  bestimmen 
sollen,  ist  ungeheuer  groß;  im  Verhältnis  zu  dieser  Menge 
wird  die  Anzahl  der  direkten  Prüfungen,  welche  wir 
vornehmen  können,  immer  verschwindend  klein  bleiben. 
Das  wenige,  was  wir  direkt  erreichen  können,  müssen 
wir  uns  möglichst  zu  Nutze  machen;  jedes  Experiment 
muß  so  eingerichtet  sein,  daß  es  uns  erlaubt,  die  größt- 
mögliche Anzahl  von  Tatsachen  mit  dem  höchstmöglichen 
Grade  von  Wahrscheinlichkeit  vorauszusehen.  Diese 
Aufgabe  besteht  sozusagen  darin,  den  Nutzeffekt  der 
wissenschaftlichen  Maschine  möglichst  zu  vermehren. 

Man  gestatte  mir,  die  Wissenschaft  mit  einer  Bibliothek 
zu  vergleichen,  welche  unaufhörlich  wachsen  soll;  der 
Bibliothekar  verfügt  für  seine  Ankäufe  nur  über  unge- 
nügende Mittel;  er  muß  sich  bemühen,  dieselben  nicht 
zu  vergeuden. 

Die  Experimental-Physik  spielt  die  Rolle  des  Biblio- 
thekars; sie  ist  mit  den  Ankäufen  beauftragt;  sie  allein 
kann  also   die  Bibliothek  bereichern. 

Was  die  mathematische  Physik  betrifft,  so  hat  sie 
die  Mission,  den  Katalog  herzustellen.  Wenn  dieser 
Katalog  gut  gemacht  ist,  so  wird  die  Bibliothek  deshalb 
nicht  reicher;  aber  der  Katalog  ist  für  den  Leser  not- 
wendig, um  sich  die  Reichtümer  der  Bibliothek  zu  Nutze 
zu  machen. 

Indem  der  Katalog  ferner  den  Bibliothekar  auf  die 
Lücken  seiner  Sammlungen  aufmerksam  macht,  setzt  er 
ihn  in  den  Stand,  von  seinen  Mitteln  einen  vernünftigen 
Gebrauch  zu  machen;  und  das  ist  um  so  wichtiger,  als 
diese  Mittel  gänzlich  ungenügend  sind. 

Das  ist  also  die  Rolle  der  mathematischen  Physik, 
sie  muß  die  Verallgemeinerung  in  dem  Sinne  leiten,  daß 
sie,  wie  ich  mich  soeben  ausdrückte,  den  Nutzeffekt  der 
Wissenschaft    vermehrt.      Durch    welche  Mittel    ihr    dies 


Einheit  und  Einfachheit  der  Natur.  iaj 

gelingt  und  wie  sie  es   ohne  Schaden  durchführen  kann, 
haben  wir  noch  näher  zu  prüfen. 

Die  Einheit  der  Natur.  —  Vor  allem  müssen  wir 
beachten,  daß  jede  Verallgemeinerung  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  den  Glauben  an  die  Einheit  und  die  Ein- 
fachheit der  Natur  voraussetzt.  In  Betreff  der  Einheit 
ist  keine  Schwierigkeit  vorhanden.  Wenn  die  verschiede- 
nen Teile  des  Universums  sich  nicht  wie  die  Organe 
eines  und  desselben  Körpers  verhielten,  so  könnten  sie 
nicht  aufeinander  wirken,  sie  würden  sich  gegenseitig 
nicht  kennen,  und  wir  insbesondere,  wir  würden  nur 
eines  dieser  Organe  kennen.  Wir  brauchen  deshalb 
nicht  weiter  zu  fragen,  ob  die  Natur  einheitlich  ist,  son- 
dern nur,   wie  diese  Einheit  zu   stände  kommt. 

Was  den  zweiten  Punkt  angeht,  so  ist  die  Sache 
nicht  ebenso  leicht.  Es  ist  nicht  sicher,  daß  die  Natur 
einfach  ist.  Können  wir  ohne  Gefahr  für  uns  handeln, 
als  ob   sie  einfach  wäre? 

Es  gab  eine  Zeit,  in  der  die  Einfachheit  des  Gesetzes 
von  Mariotte  ein  oft  zu  Gunsten  der  Genauigkeit  dieses 
Gesetzes  angerufenes  Argument  war,  eine  Zeit,  in  der 
Fresnel  selbst,  nachdem  er  in  einer  Unterredung  mit 
Laplace  geäußert  hatte,  daß  die  Natur  sich  aus  analy- 
tischen Schwierigkeiten  nichts  mache,  sich  verpflichtet 
fühlte,  Erklärungen  zu  geben,  um  die  herrschende  An- 
schauung nicht  zu  sehr  zu  verletzen. 

Heute  haben  sich  die  Meinungen  darüber  sehr  ge- 
ändert; und  dennoch  sind  diejenigen,  welche  nicht  daran 
glauben,  daß  die  natürlichen  Gesetze  einfach  sein  müssen, 
genötigt,  sich  wenigstens  so  zu  stellen,  als  ob  sie  es 
glaubten.  Sie  können  sich  dieser  Notwendigkeit  nicht 
ganz  entziehen,  ohne  jede  Verallgemeinerung  als  un- 
möglich und  folglich  auch  jede  Wissenschaft  als  unmög- 
lich hinzustellen. 

Es  ist  klar,  daß  eine  Tatsache,  welche  es  auch  immer 

10* 


j^g  IV,  9.     Hypothesen  der  Physik. 

sein  mag,  auf  unendlich  viele  Arten  verallgemeinert 
werden  kann,  und  es  handelt  sich  darum,  zu  wählen; 
die  Wahl  kann  nur  durch  Betrachtungen  über  die  Ein- 
fachheit geleitet  werden.  Nehmen  wir  den  allergewöhn- 
lichsten  Fall,  den  der  Interpolation.  Die  Punkte,  welche 
unsere  Beobachtungen  darstellen,  verbinden  wir  durch 
eine  kontinuierliche,  möglichst  regelmäßige  Linie.  Warum 
vermeiden  wir  dabei  scharfe  Ecken  und  zu  plötzliche 
Wendungen?  Weshalb  lassen  wir  nicht  die  Kurve  nach 
freier  Laune  Zickzacklinien  beschreiben?  Wir  tun  es 
nicht,  weil  wir  im  voraus  wissen,  oder  zu  wissen  glauben, 
daß  das  auszudrückende  Gesetz  nicht  so  kompliziert  sein 
kann,  um  dergleichen  zu  rechtfertigen. 

Man  kann  die  Masse  des  Jupiter  entweder  aus  den 
Bewegungen  seiner  Trabanten  berechnen  oder  aus  den 
Störungen  der  großen  Planeten  oder  aus  denjenigen  der 
kleinen  Planeten.  Wenn  man  das  Mittel  aus  den  Resul- 
taten dieser  drei  Methoden  nimmt,  so  findet  man  drei 
sehr  benachbarte,  aber  doch  verschiedene  Zahlen.  Man 
könnte  dieses  Resultat  erklären,  indem  man  voraussetzt, 
daß  der  Koeffizient  der  Schwerkraft  in  den  drei  Fällen 
nicht  derselbe  ist;  die  Beobachtungen  wären  dadurch 
viel  besser  dargestellt.  Warum  verwerfen  wir  diese  Inter- 
pretation? Wir  tun  es,  nicht,  weil  sie  töricht  ist,  son- 
dern weil  sie  unnütz  kompliziert  ist.  Man  wird  sie  nur 
dann  annehmen,  wenn  sie  sich  uns  aufzwingt,  und  sie 
zwingt  sich  uns  bis  jetzt  noch  nicht  auf. 

Alles  zusammengefaßt,  wird  meist  jedes  Gesetz  für 
einfach  gehalten,   bis  das   Gegenteil  bewiesen  ist. 

Diese  Gewohnheit  drängt  sich  den  Physikern  aus 
Gründen  auf,  welche  ich  soeben  erklärt  habe;  aber  wie 
soll  man  diese  Gewohnheit  rechtfertigen  im  Hinblick  auf 
Entdeckungen,  welche  uns  täglich  neue,  immer  reichere 
und  immer  zusammengesetztere  Einzelheiten  zeigen?  Wie 
soll  man  sie  sogar  mit  der  Empfindung  von  der  Einheit 


Scheinbare  Einfachheit.  140 

in  der  Natur  vereinbaren?  Denn  wenn  alles  von  ein- 
ander abhängt,  können  Beziehungen,  an  denen  so  viele 
Objekte  teilnehmen,  nicht  einfacher  Natur  sein. 

Wenn  wir  die  Geschichte  der  Wissenschaft  studieren^ 
treten  zwei  Erscheinungen  auf,  welche  sozusagen  ein- 
ander entgegengesetzt  shid:  bald  versteckt  sich  die  Ein- 
fachheit unter  komplizierten  Erscheinungen,  bald  ist  im 
Gegensatze  dazu  die  Einfachheit  sichtbar  und  verbirgt 
außerordentlich  komplizierte  wirkliche  Vorgänge. 

Was  gibt  es  Komplizierteres  als  die  gestörten  Be- 
wegungen der  Planeten,  und  was  gibt  es  Einfacheres  als 
das  Newtonsche  Gesetz?  Hier  verhöhnt  die  Natur,  wie 
Fresnel  sagt,  unsere  analytischen  Schwierigkeiten,  wendet 
nur  einfache  Mittel  an  und  erzeugt  durch  ihre  Ver- 
bindung, ich  weiß  nicht,  welch'  ein  unlösliches  Gewirre. 
Hier  ist  die  Einfachheit  versteckt  und  wir  müssen  sie 
entdecken. 

Die  Beispiele  des  Gegenteils  sind  im  Überfluße  vor- 
handen. In  der  kinetischen  Theorie  der  Gase  faßt  man 
Moleküle,  die  mit  großen  Geschwindigkeiten  begabt  sind, 
ins  Auge,  deren  Bahnen  durch  unaufhörliche  Stöße  ver- 
ändert, die  seltsamsten  Gestalten  zeigen  und  den  Raum 
nach  allen  Richtungen  hin  durchschneiden.  Das  Be- 
obachtungsresultat ist  das  einfache  Gesetz  von  Mariotte; 
jede  einzelne  Tatsache  war  kompliziert;  das  Gesetz  der 
großen  Zahlen  hat  die  Einfachheit  im  Durchschnitte 
wiederhergestellt.  Hier  ist  die  Einfachheit  nur  schein- 
bar, und  die  grobe  Beschaffenheit  unserer  Sinne  verhindert 
uns,   die  Kompliziertheit  zu  bemerken. ^^) 

Viele  Erscheinungen  gehorchen  einem  Gesetze  der 
Proportionalität;  warum  tun  sie  dieses?  Weil  es  in 
diesen  Erscheinungen  ein  Etwas  gibt,  das  sehr  klein 
ist.  Das  einfache  Erfahrungsgesetz  ist  dann  nichts  anderes 
als  eine  Übertragung  dieser  allgemeinen  analytischen 
Regel,    nach    welcher    das    unendlich    kleine    Anwachsen 


j  -Q  IV,  9.     Hypothesen  der  Physik. 

einer  Funktion  dem  unendlich  kleinen  Anwachsen  der 
Variabein  proportional  ist.  Da  in  Wirklichkeit  diese 
Zunahme  nicht  unendlich  klein,  sondern  sehr  klein  ist,  so 
ist  das  Gesetz  der  Proportionalität  nur  annähernd  und 
die  Einfachheit  nur  scheinbar.  Was  ich  soeben  aus- 
spreche, betrifft  die  Regel  der  Superposition  kleiner  Be- 
wegungen, deren  Anwendung  so  fruchtbringend  ist  und 
welche  die  Grundlage  der  Optik  bildet.^^) 

Und  wie  steht  es  mit  dem  Newtonschen  Gesetze 
selbst?  Seine  so  lang  verborgene  Einfachheit  ist  vielleicht 
nur  scheinbar.  Wer  kann  wissen,  ob  sie  nicht  aus  irgend 
einem  komplizierten  Mechanismus  entsteht,  aus  dem  Stoße 
irgend  einer  feinen,  unregelmäßig  bewegten  Materie,  und 
ob  sie  nicht  nur  durch  das  Spiel  der  Mittelwerte  und 
großen  Zahlen  einfach  wurde.  Auf  jeden  Fall  ist  es 
schwierig,  nicht  vorauszusetzen,  daß  das  wirkliche  Gesetz 
ergänzende  Glieder  enthält,  welche  für  kleine  Entfernungen 
merkbar  werden  könnten.  Wenn  diese  weiteren  Glieder 
gegenüber  dem  ersten  Gliede  (das  dem  Newtonschen 
Gesetze  entspricht)  in  der  Astronomie  vernachlässigt 
werden,  so  ist  das  nur  eine  Folge  der  ungeheuren  Größe 
der  kosmischen  Entfernungen.^^) 

Wenn  unsere  Forschungsmittel  immer  schärfer  werden, 
so  werden  wir  ohne  Zweifel  das  Einfache  unter  dem 
Komplizierten,  dann  das  Komplizierte  unter  dem  Ein- 
fachen entdecken,  dann  wieder  von  neuem  das  Einfache 
unter  dem  Komplizierten  und  so  fort,  ohne  daß  wir 
voraussehen   können,    womit  diese  Kette    schließen  wird. 

Man  muß  irgendwo  aufhören,  und  damit  die  Wissen- 
schaft möglich  sei,  muß  man  aufhören,  wenn  man  die 
Einfachheit  gefunden  hat.  Das  ist  der  einzige  Boden, 
auf  welchem  wir  das  Gebäude  unserer  Verallgemeine- 
rungen errichten  können.  Aber  wird  dieser  Boden  solide 
genug  sein,  wenn  diese  Einfachheit  nur  scheinbar  ist? 
Das  müssen  wir  noch  untersuchen. 


Glaube  an  Einfachheit.  I  r  j 

Um  das  zu  können,  wollen  wir  sehen,  welche  Rolle 
der  Glaube  an  die  Einfachheit  in  unseren  Verallg-emeine- 
rungen  spielt.  Wir  haben  ein  einfaches  Gesetz  in  einer 
ziemlich  großen  Anzahl  von  besonderen  Fällen  verifiziert; 
wir  können  unmöglich  zulassen,  daß  diese  so  oft  wieder- 
holte Bestätigung  ein  bloßer  Glückszufall  sei,  und  wir 
schließen  daraus,  daß  das  Gesetz  im  allgemeinen  Falle 
wahr  sein  muß. 

Keppler  bemerkt,  daß  die  von  Tycho  beobachteten 
Orte  eines  Planeten  sich  alle  auf  einer  und  derselben 
Ellipse  befinden.  Er  kommt  nicht  einen  Augenblick  auf 
die  Idee,  daß  Tycho  infolge  eines  seltsamen  Zufalls  den 
Himmel  immer  nur  in  dem  Moment  betrachtet  hätte,  in 
welchem    die    wirkliche  Bahn    des    Planeten    im   BeoTiff"e 

O 

war,   diese  Ellipse  zu  schneiden. 

Was  ist  uns  daran  gelegen,  ob  die  Einfachheit  der 
Wirklichkeit  entspricht,  oder  ob  sie  eine  komplizierte 
Wahrheit  verdeckt?  Möge  sie  nun  dem  Einflüsse  der 
großen  Zahlen,  welche  die  individuellen  Verschiedenheiten 
ausgleicht,  zu  verdanken  sein,  oder  möge  sie  der  Größe, 
bezw.  der  Kleinheit  gewisser  Größen,  welche  gestattet, 
gewisse  Glieder  zu  vernachlässigen,  zu  verdanken  sein, 
in  jedem  Falle  ist  sie  nicht  dem  Zufalle  zu  verdanken. 
Diese  Einfachheit,  ob  sie  nun  wirklich  oder  scheinbar 
ist,  hat  immer  eine  Ursache.  Wir  können  also  immer 
dieselbe  Überlegung  machen,  und  wenn  ein  einfaches 
Gesetz  in  verschiedenen  besonderen  Fällen  beobachtet 
ist,  so  können  wir  mit  Recht  voraussetzen,  daß  es  auch 
in  den  analogen  Fällen  noch  wahr  sein  wird.  Wenn 
wir  diese  Schlußfolgerung  ablehnen,  so  hieße  das  dem 
Zufalle  eine  unstatthafte  Rolle  zuerteilen. 

Es  besteht  indessen  ein  Unterschied.  Wenn  die  Ein- 
fachheit wirklich  und  tiefgehend  wäre,  so  würde  sie  der 
anwachsenden  Genauigkeit  unserer  Meßinstrumente  Wider- 
stand leisten;  wenn  wir  also  glauben,   daß  die  Natur  im 


jc-^  IV,  9.     Hypothesen  der  Physik. 

tiefsten  Grunde  einfach  sei,  so  müssen  wir  aus  einer  an- 
genäherten Einfachheit  auf  eine  strenge  Einfachheit 
schließen.  Das  hat  man  früher  getan;  wir  haben  nicht 
mehr  das  Recht,   so  zu  handeln. 

Die  Einfachheit  der  Kepplerschen  Gesetze  ist  z.  B. 
nur  scheinbar.  Das  verhindert  nicht,  daß  sie  sich  fast 
auf  alle  analogen  Systeme  des  Sonnensystems  anwenden 
lassen,  aber  es  verhindert,  daß  sie  streng  genommen  ge- 
nau sind. 

Die  Rolle  der  Hypothese.  —  Jede  Verallgemeine- 
rung ist  eine  Hypothese;  der  Hypothese  kommt  also 
eine  notwendige  Rolle  zu,  welche  niemand  je  bestritten 
hat.  Allein  sie  muß  immer  sobald  als  möglich  und  so 
oft  als  möglich  der  Verifikation  unterworfen  werden;  es 
ist  selbstverständlich,  daß  man  sie  ohne  Hintergedanken 
aufgeben  muß,  sobald  sie  diese  Prüfung  nicht  besteht. 
Man  macht  es  tatsächlich  so,  aber  manchmal  verdrießt 
es  uns,   so  handeln  zu  müssen. 

Diese  verdrießliche  Stimmung  ist  nicht  gerechtfertigt; 
der  Physiker,  welcher  im  Begriff  ist,  auf  eine  seiner 
Hypothesen  zu  verzichten,  sollte  im  Gegenteil  froh  sein, 
denn  er  findet  eine  unverhofi"te  Gelegenheit  zu  einer 
Entdeckung.  Ich  setze  natürlich  voraus,  daß  er  seine 
Hypothese  nicht  leichtsinnig  angenommen  hatte,  und  daß 
letztere  allen  bekannten  Faktoren  standhielt,  welche 
möglicherweise  auf  die  beobachtete  Erscheinung  einen 
Einfluß  üben  konnten.  Wenn  die  Verifikation  nicht 
möglich  ist,  so  liegt  es  daran,  daß  irgend  etwas  Uner- 
wartetes, Außergewöhnliches  vorliegt;  man  muß  also  Un- 
bekanntes und  Neues  entdecken. 

Ist  nun  die  so  umgestoßene  Hypothese  unfruchtbar? 
Weit  gefehlt,  man  kann  sagen,  daß  sie  mehr  Dienste 
geleistet  hat  wie  eine  richtige  Hypothese;  sie  hat  nicht 
nur  Gelegenheit  zu  dem  entscheidenden  Experimente 
gegeben,    sondern   man    würde    sogar  dieses  Experiment 


Hypothesen  verschiedener  Art.  I  ^  ^ 

zufällig  gemacht  haben,  und  keinerlei  Schlüsse  daraus 
gezogen  haben,  wenn  man  die  Hypothese  nicht  gemacht 
hätte;  man  würde  darin  nichts  Außerordentliches  gesehen 
haben,  man  hätte  nur  eine  Tatsache  mehr  festgestellt, 
ohne   daraus  die  geringsten  Folgerungen  abzuleiten. 

Unter  welcher  Bedingung  ist  dann  die  Benutzung  der 
Hypothese  ohne  Schaden? 

Der  feste  Vorsatz,  sich  dem  Experimente  unterzu- 
ordnen, genügt  nicht;  es  gibt  trotzdem  gefährliche  Hypo- 
thesen; das  sind  vorerst  und  hauptsächlich  diejenigen, 
welche  stillschweigend  und  unbewußt  gemacht  werden. 
Weil  wir  solche  Hypothesen  benutzen,  ohne  es  zu  wissen, 
sind  wir  unfähig,  sie  aufzugeben.  In  diesem  Falle  kann 
uns  die  mathematische  Physik  einen  Dienst  erweisen. 
Durch  die  Genauigkeit,  welche  ihr  eigentümlich  ist, 
zwingt  sie  uns,  alle  Hypothesen  zu  formulieren,  welche 
wir  ohne  die  Mathematik  unbewußt  benutzt  hätten. 

Wir  wollen  andererseits  bemerken,  daß  es  wichtig 
ist,  die  Hypothesen  nicht  übermäßig  zu  vervielfältigen  und 
sie  einzeln  nacheinander  aufzustellen.  Wenn  wir  eine, 
auf  vielfache  Hypothesen  gegründete  Theorie  bilden, 
welche  unter  unsern  Prämissen  muß  dann  not^vendiger- 
weise  geändert  werden,  wenn  das  Experiment  die  Theorie 
widerlegt?  Das  zu  wissen  ist  unmöglich.  Und  umge- 
kehrt, wenn  das  Experiment  gelingt,  wird  man  dann 
glauben  alle  Hypothesen  auf  einmal  verifiziert  zu  haben? 
Wird  man  glauben,  mit  einer  einzigen  Gleichung  mehrere 
Unbekannte  bestimmt  zu  haben? 

Man  muß  Sorge  tragen,  unter  den  verschiedenen 
Arten  von  Hypothesen  zu  unterscheiden.  Es  gibt  vor- 
erst solche,  welche  ganz  natürlich  sind,  und  denen  man 
sich  kaum  entziehen  kann.  Es  ist  schwer,  nicht  voraus- 
zusetzen, daß  der  Einfluß  sehr  entfernter  Körper  ganz 
und  gar  zu  vernachlässigen  ist,  daß  die  kleinen  Be- 
wegungen   einem    linearen  Gesetze    gehorchen,    daß    die 


l  liA  IV,  9.     Hypothesen  der  Physik. 

Wirkung  eine  stetige  Funktion  ihrer  Ursache  ist.  Das- 
selbe gilt  von  den  durch  die  Symmetrie  uns  auferlegten 
Bedingungen.  Alle  diese  Hypothesen  bilden  sozusagen 
die  gemeinsame  Grundlage  aller  Theorien  der  mathe- 
matischen Physik.  Sie  wären  die  letzten,  die  man  auf- 
geben könnte. 

Es  gibt  eine  zweite  Kategorie  von  Hypothesen,  welche 
ich  als  indifferente  bezeichnen  möchte.  In  den  meisten 
Fragen  setzt  der  Analytiker  im  Anfange  seiner  Berech- 
nung entweder  voraus,  daß  die  Materie  kontinuierlich  ist 
oder  daß  sie  aus  Atomen  zusammengesetzt  sei.  Er 
könnte  das  Umgekehrte  tun,  und  seine  Resultate  würden 
sich  deshalb  nicht  ändern;  er  würde  nur  mehr  Mühe 
haben,  sie  zu  erreichen,  das  wäre  alles.  Wenn  also  das 
Experiment  seine  Schlußfolgerungen  bestätigt,  wird  er 
dann  z.  B.  glauben,  die  wirkliche  Existenz  der  Atome 
bewiesen  zu  haben? 

In  den  optischen  Theorien  führt  man  zwei  Vektoren 
ein,  von  denen  der  eine  als  Geschwindigkeit,  der  andere 
als  Wirbel  betrachtet  wird.  Das  ist  wieder  eine  indiffe- 
rente Hypothese,  weil  man  zu  denselben  Schlußfolge- 
rungen gelangt,  wenn  man  genau  das  Gegenteil  tut.  Der 
Erfolg  des  Experimentes  kann  also  nicht  beweisen,  daß 
der  erste  Vektor  wirklich  eine  Geschwindigkeit  ist;  er 
beweist  nur,  daß  er  ein  Vektor  ist;  das  ist  die  einzige 
Hypothese,  welche  man  tatsächlich  in  die  Voraussetzungen 
eingeführt  hat.  Um  dem  Vektor  den  konkreten  An- 
schein, den  die  Schwachheit  unseres  Verstandes  erfordert, 
zu  geben,  muß  man  ihn  betrachten,  als  wenn  er  ent- 
weder eine  Geschwindigkeit  oder  ein  Wirbel  wäre;  ebenso 
wie  es  notwendig  ist,  ihn  durch  einen  Buchstaben,  ent- 
weder durch  X  oder  durch  y  darzustellen;  aber  das 
Resultat,  wie  es  auch  sei,  wird  nicht  beweisen,  ob  man 
Recht  oder  Unrecht  hatte,  wenn  man  ihn  als  eine  Ge- 
schwindigkeit ansah;    nicht    mehr,    als    es   uns   beweisen 


Mathematisclie  Physik.  ic^ 

kann,  daß  man  Recht  oder  Unrecht  hatte,  ihn  x  und 
nicht  y  zu  nennen.®^) 

Diese  indifferenten  Hypothesen  sind  niemals  gefähr- 
lich, vorausgesetzt,  daß  man  ihren  Charakter  nicht  ver- 
kennt. Sie  können  nützlich  sein,  sei  es  als  Hilfsmittel 
der  Rechnung,  sei  es,  um  unser  Verständnis  durch  kon- 
krete Vorstellungen  zu  unterstützen,  um  die  Ideen,  wie 
man  sagt,  zu  fixieren.  Es  ist  also  kein  Grund  vorhanden, 
diese  Hypothesen  zu  verwerfen. 

Die  Hypothesen  der  dritten  Kategorie  sind  die  wirk- 
lichen Verallgemeinerungen.  Es  sind  solche,  die  von 
der  Erfahrung  bestätigt  oder  entkräftet  werden.  Verifiziert 
oder  verworfen,  immer  werden  sie  fruchtbringend  sein, 
aber  aus  den  von  mir  dargelegten  Gründen  nur,  wenn 
man  sie  nicht  zu  sehr  vervielfältigt. 

Ursprung    der    mathematischen   Physik.    —    Wir 

wollen  weiter  vordringen  und  die  Bedingungen  näher 
studieren,  welche  die  Entwicklung  der  mathematischen 
Physik  erlaubten.  Wir  erkennen  auf  den  ersten  Blick, 
daß  die  Anstrengungen  der  Gelehrten  immer  dahin  ge- 
richtet waren,  die  von  der  Erfahrung  direkt  entnommene 
Zusammengesetze  Erscheinung  in  eine  sehr  große  Anzahl 
von  elementaren  Erscheinungen  aufzulösen. 

Das  geschieht  auf  drei  verschiedene  Arten:  zuerst 
in  der  Zeit.  Anstatt  die  fortschreitende  Entwicklung 
einer  Erscheinung  in  ihrer  Gesamtheit  zu  umfassen,  ver- 
sucht man  einfach  jeden  Augenblick  mit  dem  unmittel- 
bar vorhergehenden  zu  verknüpfen;  man  nimmt  an,  daß 
der  gegenwärtige  Zustand  der  Welt  nur  von  der  nächsten 
Vergangenheit  abhängt,  ohne  sozusagen  von  der  Erinne- 
rung an  eine  weiter  entfernte  Vergangenheit  beeinflußt 
zu  sein.  Vermöge  dieses  Postulates  kann  man  sich,  an- 
statt direkt  die  ganze  Folge  der  Erscheinungen  zu 
studieren,    darauf  beschränken,   die  Differentialgleichung 


j  c5  IV,  9.     Hypothesen  der  Physik. 

der  Erscheinung  hinzuschreiben:  die  Kepplerschen  Gesetze 
ersetzt  man  durch  das  Newtonsche   Gesetz. 

Darauf  versucht  man  die  Erscheinung  im  Räume 
zu  zerlegen.  Die  Erfahrung  bietet  uns  eine  verworrene 
Gesamtheit  von  Tatsachen  dar,  die  sich  auf  einem  Schau- 
platze von  gevi^isser  Ausdehnung  abspielen;  man  muß 
versuchen  die  elementare  Erscheinung  auszuschneiden, 
welche  im  Gegensatze  dazu  auf  einen  sehr  beschränkten 
Teil  des  Raumes  lokalisiert  sein  wird. 

Einige  Beispiele  werden  vielleicht  meinen  Gedanken- 
gang verständlicher  machen.  Wenn  man  die  Verteilung 
der  Temperatur  in  einem  sich  abkühlenden  Körper  in 
ihrer  ganzen  Zusammengesetztheit  studieren  will,  so  würde 
das  nie  gelingen.  Alles  wird  einfach,  wenn  man  über- 
legt, daß  ein  Punkt  des  festen  Körpers  nicht  direkt  an 
einen  entfernten  Körper  Wärme  abgeben  kann;  er  wird 
unmittelbar  nur  den  am  nächsten  liegenden  Punkten 
Wärme  abgeben,  und  so  wird  der  Wärmestrom  sich  von 
Punkt  zu  Punkt  fortpflanzen,  bis  er  den  anderen  Teil 
des  festen  Körpers  erreicht.  Die  Elementarerscheinung 
ist  der  Wärmeaustausch  zwischen  zwei  benachbarten 
Punkten;  dieser  Austausch  ist  streng  lokalisiert  und  ver- 
hältnismäßig einfach,  wenn  man,  wie  es  ja  natürlich  ist, 
annimmt,  daß  er  nicht  durch  die  Temperatur  derjenigen 
Moleküle  beeinflußt  wird,  deren  Entfernung  eine  merk- 
liche Größe  hat. 69) 

Ich  biege  einten  Stab;  er  wird  eine  sehr  komplizierte 
Gestalt  annehmen,  deren  direktes  Studium  unmöglich 
wäre;  aber  ich  kann  die  Schwierigkeiten  überwinden 
wenn  ich  beobachtete,  daß  seine  Biegung  nur  die 
Resultante  der  Deformation  kleiner  Elemente  des  Stabes 
ist  und  daß  die  Deformation  jedes  dieser  Elemente  nur 
von  den  Kräften  abhängt,  welche  direkt  an  denselben 
angreifen,  und  keineswegs  von  denjenigen  Ki'äften,  welche 
auf  die  anderen  Elemente  wirken,'^) 


Elementarersclieinungen.  I  c  y 

In  allen  diesen  Beispielen,  die  ich  ohne  Mühe  ver- 
mehren kann,  nimmt  man  an,  daß  es  keine  Fernwirkung 
gibt,  wenigstens  nicht  auf  große  Entfernung  hin.  Das 
ist  eine  Hypothese;  sie  ist  nicht  immer  richtig,  das  Ge- 
setz der  Schwerkraft  beweist  es  uns;  man  muß  sie  also 
der  Verifikation  unterwerfen;  wenn  sie  auch  nur  an- 
nähernd bestätigt  wird,  so  ist  sie  wertvoll,  denn  sie  er- 
laubt uns,  wenigstens  mittelst  successiver  Annäherungen 
mathematische  Physik  zu  treiben. 

Wenn  sie  der  Prüfung  nicht  standhält,  muß  man 
sich  etwas  anderes  Analoges  suchen,  denn  es  gibt  noch 
andere  Mittel,  um  zu  der  Elementarerscheinung  zu  ge- 
langen. Wenn  mehrere  Körper  gleichzeitig  zur  Wirkung 
kommen,  kann  es  vorkommen,  daß  ihre  Wirkungen  von- 
einander unabhängig  sind  und  sich  einfach  zueinander 
addieren,  entweder  nach  Art  der  Vektoren  oder  nach 
Art  der  Scalare."^^)  Die  Elementarerscheinung  ist  alsdann 
die  Wirkung  eines  isolierten  Körpers.  Ein  anderes  mal 
hat  man  mit  kleinen  Bewegungen,  oder  allgemeiner  ge- 
sagt, mit  kleinen  Änderungen  zu  tun,  welche  dem  wohl- 
bekannten Gesetze  der  Superposition  gehorchen.  Die 
beobachtete  Bewegung  wird  dann  in  einfache  Bewegungen 
zergliedert,  z.  B.  der  Ton  in  seine  harmonischen  Kom- 
ponenten und  das  weiße  Licht  in  seine  einfarbigen  Kom- 
ponenten. 

Durch  welche  Mittel  wird  man  die  Elementarerschei- 
nung wirklich  auffinden  können,  wenn  man  herausge- 
funden hat,  in  welcher  Richtung  sie  wahrscheinlich  zu 
suchen  ist? 

Um  das  Resultat  vorauszusehen,  oder  vielmehr  um 
so  viel  vorauszusehen,  als  für  uns  nützlich  ist,  wird  es 
häufig  nicht  nötig  sein,  in  den  ganzen  Mechanismus  der 
Erscheinung  einzudringen;  das  Gesetz  der  großen  Zahlen 
wird  genügen.  Wir  wollen  das  Beispiel  von  der  Wärme- 
leitung  wieder  aufnehmen;    jedes  Molekül   strahlt   gegen 


jrrg  IV,  9.     Hypothesen  der  Physik. 

jedes  benachbarte  Molekül  Wärme  aus;  nach  welchem 
Gesetze  das  erfolgt,  brauchen  wir  nicht  zu  wissen;  wenn 
wir  irgend  etwas  in  dieser  Hinsicht  voraussetzen,  so 
wäre  es  eine  indifferente  Hypothese  und  folglich  etwas 
Unnützes  und  Unverifizierbares.  Und  in  der  Tat,  da 
man  nur  mit  durchschnittlichen  Mittelwerten  rechnet  und 
da  das  umgebende  Medium  symmetrisch  vorausgesetzt 
wird,  gleichen  sich  alle  Verschiedenheiten  aus,  und 
welche  Hypothesen  man  auch  gemacht  hat,  das  Resultat 
bleibt  immer  dasselbe. 

Derselbe  Umstand  tritt  uns  in  der  Theorie  der 
Elastizität  und  in  derjenigen  der  Kapillarität  entgegen; 
die  benachbarten  Moleküle  ziehen  sich  an  und  stoßen 
sich  ab;  wir  brauchen  nicht  zu  wissen,  nach  welchem 
Gesetze,  es  genügt  uns,  daß  diese  Anziehung  nur  auf 
kleine  Entfernungen  hin  bemerkbar  ist,  daß  die  Moleküle 
sehr  zahlreich  sind,  und  daß  das  Medium  symmetrisch 
sein  soll;  wir  brauchen  dann  nur  das  Gesetz  der  großen 
Zahlen  walten  zu  lassen. 

Auch  hier  verbarg  sich  die  Einfachheit  der  Elementar- 
erscheinung unter  der  Kompliziertheit  des  zu  beobachten- 
den Schlußergebnisses;  aber  diese  Einfachheit  war  ihrer- 
seits nur  eine  scheinbare  und  verhüllte  einen  sehr  kom- 
plizierten Mechanismus. 

Das  beste  Mittel,  um  zu  der  Elementarerscheinung 
zu  gelangen,  würde  offenbar  das  Experiment  sein.  Man 
müßte  durch  experimentelle  Kunstgriffe  das  verworrene 
Bündel,  das  die  Natur  unserem  Forschen  darbietet,  aus- 
einanderlegen und  mit  Sorgfalt  dessen  möglichst  gereinigte 
Elemente  studieren;  man  wird  z.  B.  das  weiße  natürliche 
Licht  in  einfarbige  Lichtstrahlen  mit  Hülfe  des  Prismas 
zerlegen  und  in  polarisierte  Lichtstrahlen  mit  Hilfe  des 
Polarisators. 

Unglücklicherweise  ist  das  weder  immer  möglich  noch 
immer  genügend,  und  es  ist  notwendig,  daß  der  Verstand 


Vorauseilen  des  Verstandes. 


159 


manchmal  der  Erfahrung  vorauseilt.  Ich  will  davon 
nur  ein  Beispiel  erwähnen,  das  mich  immer  lebhaft  be- 
troffen hat. 

Wenn  ich  das  weiße  Licht  zerlege,  so  kann  ich 
einen  kleinen  Teil  des  Spektrums  isolieren,  aber  so  klein 
er  auch  sei,  er  wird  doch  immer  eine  gewisse  Breite  be- 
wahren. Ebenso  geben  uns  die  natürlichen,  sogenannten 
einfarbigen  Lichtstrahlen  eine  sehr  schmale  Linie,  die 
aber  doch  nicht  unendlich  schmal  ist.  Man  kann  vor- 
aussetzen, daß  man  durch  einen  Grenzübergang  schließ- 
lich dahin  gelangen  wird,  die  Eigenschaft  eines  streng 
einfarbigen  Lichtstrahles  zu  erkennen,  indem  man  die 
Eigenschaften  dieser  natürlichen  Lichtstrahlen  experimen- 
tell prüft  und  dabei  mit  immer  schmaleren  Streifen  des 
Spektrums  operiert. 

Das  würde  nicht  genau  sein.  Ich  setze  voraus,  daß 
zwei  Strahlen  von  derselben  Quelle  ausgehen,  daß  man 
sie  zuerst  in  zwei  zueinander  rechtwinkligen  Ebenen 
polarisiert,  daß  man  sie  hierauf  auf  dieselbe  Polarisations- 
ebene zurückführt  und  daß  man  versucht,  sie  interferieren 
zu  lassen.  Wenn  das  Licht  streng  einfarbig  wäre,  so 
würden  sie  interferieren;  aber  mit  unseren  annähernd 
einfarbigen  Lichtstrahlen  gibt  es  keine  Interferenz,  so 
schmal  der  Streifen  auch  sei.  Er  müßte,  damit  es  anders 
würde,  mehrere  Millionen  mal  dünner  als  die  schmälsten 
bekannten  Streifen  sein. 

Hier  also  hätte  uns  der  Übergang  zur  Grenze  ge- 
täuscht; der  Verstand  mußte  dem  Experimente  voraus- 
eilen, und  er  hat  dies  mit  Erfolg  getan,  weil  er  sich  da- 
bei durch  das   Gefühl  für  Einfachheit  leiten  ließ. 

Die  Kenntnis  der  Elementarerscheinung  gestattet  uns, 
das  Problem  in  eine  Gleichung  zu  setzen;  es  bleibt  nur 
noch  übrig,  daraus  durch  Kombination  die  komplizierte 
Tatsache  abzuleiten,  welche  der  Beobachtuug  und  Verifi- 


j5o  IV,  9.     Hypothesen  der  Physik. 

kation  zugänglich  ist.  Das  nennt  man  Integration; 
das  ist  Sache  des  Mathematikers. 

Man  möchte  fragen,  warum  die  Verallgemeinerung 
in  der  physikalischen  Wissenschaft  so  gerne  die  mathe- 
matische Form  annimmt.  Die  Ursache  ist  jetzt  leicht 
erkennbar;  es  geschieht  nicht  nur  deshalb,  weil  man 
Zahlengesetze  ausdrücken  muß;  es  geschieht,  weil  die 
zu  beobachtende  Erscheinung  aus  der  Superposition 
einer  großen  Anzahl  von  elementaren  Erscheinungen 
entstanden  ist,  welche  alle  einander  ähnlich  sind; 
so  führen  sich  die  Differentialgleichungen  ganz  natür- 
lich ein. 

Es  genügt  nicht,  daß  jede  Elementarerscheinung  ein- 
fachen Gesetzen  gehorcht,  es  müssen  alle  diejenigen, 
welche  man  zu  kombinieren  hat,  demselben  Gesetze  ge- 
horchen. Nur  dann  kann  das  Eingreifen  der  Mathe- 
matik nützlich  sein;  die  Mathematik  lehrt  uns  in  der 
Tat,  Ähnliches  mit  Ähnlichem  zu  kombinieren.  Ihr  Ziel 
ist,  das  Resultat  einer  Kombination  zu  erraten,  ohne 
diese  Kombination  Stück  für  Stück  wieder  durchzu- 
nehmen. Wenn  man  dieselbe  Operation  mehrere  Male 
zu  wiederholen  hat,  erlaubt  sie  uns  diese  Wiederholung 
zu  vermeiden,  indem  sie  uns  im  voraus  das  Resultat 
durch  eine  Art  Induktion  erkennen  läßt.  Ich  habe  das 
weiter  oben  in  dem  Kapitel  über  die  mathematische 
Schlußweise  erörtert.      (Vgl.   S.   17). 

Zu  diesem  Zwecke  müssen  alle  diese  Operationen 
untereinander  ähnlich  sein;  im  entgegengesetzten  Falle 
müßte  man  sich  offenbar  damit  begnügen,  sie  wirklich 
nacheinander  wieder  durchzunehmen;  dann  wäre  die 
Mathematik  überflüssig. 

Infolge  der  angenäherten  Homogenität  der  von  den 
Physikern  studierten  Materie  konnte  also  die  mathema- 
tische Physik  entstehen. 

In  den  Naturwissenschaften  findet  man  diese  Bedin- 


Physikalische  Theorien.  1 5 1 

giingen:  Homogenität,  relative  Unabhängigkeit  von  ent- 
fernten Teilen,  Einfachheit  der  Elementarerscheinungen 
nicht,  und  darum  sind  die  Vertreter  der  beschreibenden 
Naturwissenschaften  genötigt,  andere  Arten  von  Verallge- 
meinerungen zu  Hilfe  zu  nehmen. 


Zehntes  Kapitel. 

Die  Theorien  der  modernen  Physik. 

Die  Bedeutung  der  physikalischen  Theorien.  — 
Die  Laien  sind  darüber  betroffen,  wieviele  wissenschaft- 
liche Theorien  vergänglich  sind.  Nach  einigen  Jahren 
des  Gedeihens  sehen  sie  dieselben  nacheinander  aufge- 
geben, sie  sehen,  wie  sich  Trümmer  auf  Trümmer 
häufen;  sie  sehen  voraus,  daß  die  Theorien,  die  heut- 
zutage Mode  sind,  in  kurzer  Zeit  vergessen  werden,  und 
sie  schlußfolgern  daraus,  daß  diese  Theorien  absolut 
eitel  sind.  Sie  nennen  das:  das  Falissement  der 
Wissenschaft. 

Ihr  Skeptizismus  ist  oberflächlich;  sie  geben  sich 
keine  Rechenschaft  von  dem  Ziele  und  der  zu  spielen- 
den Rolle  der  wissenschaftlichen  Theorien,  sonst  ver- 
ständen sie,  daß  die  Trümmer  vielleicht  noch  zu  irgend 
etwas  nützen  können. 

Keine  Theorie  schien  gefestigter  wie  diejenige  Fresnels, 
welche  das  Licht  den  Ätherschwingungen  zuschrieb.  Man 
zieht  ihr  jetzt  jedoch  die  Maxwellsche  Theorie  vor.  Soll 
damit  gesagt  sein,  daß  das  Werk  Fresnels  vergeblich 
war?  Nein,  denn  das  Ziel  Fresnels  war  nicht,  zu  er- 
forschen, ob  es  wirklich  einen  Äther  gibt,  ob  seine  Atome 
sich  wirklich  in  dem  oder  jenem  Sinne  bewegen;  sein 
Ziel  war:   die  optischen  Erscheinungen  vorauszusehen. 

P  o  i  n  c  a  r  e ,  Wissenschaft  und  Hypothese.  II 


j52  I^>  ^^'    Theorien  der  modernen  Physik. 

Das  erlaubt  die  Fresnelsche  Theorie  heute  ebenso 
wie  vor  Maxwell.  Die  Differentialgleichungen  sind  immer 
richtig;  man  kann  sie  durch  dasselbe  Verfahren  inte- 
grieren, und  die  Resultate  dieser  Integration  behalten 
stets  ihren  vollen  Wert. 

Man  erwidere  nicht,  daß  wir  auf  diese  Weise  die 
physikalischen  Theorien  zur  Rolle  einfacher,  praktischer 
Regeln  erniedrigen;  die  genannten  Gleichungen  drücken 
Beziehungen  aus,  und  sie  bleiben  richtig,  solange  diese 
Beziehungen  der  Wirklichkeit  entsprechen.  Sie  lehren 
uns  vorher  wie  nachher,  daß  eine  gewisse  Beziehung 
zwischen  irgend  einem  Etwas  und  irgend  einem  anderen 
Etwas  besteht;  nur  daß  dieses  Etwas  früher  Bewegung 
genannt  wurde  und  jetzt  elektrischer  Strom  heißt. 
Aber  diese  Benennungen  waren  nichts  als  Bilder,  die 
wir  an  die  Stelle  der  wirklichen  Objekte  gesetzt  haben, 
und  diese  wirklichen  Objekte  wird  die  Natur  uns  ewig 
verbergen ;  die  wahren  Beziehungen  zwischen  diesen  wirk- 
lichen Objekten  sind  das  einzige  Tatsächliche,  welches 
wir  erreichen  können,  und  die  einzige  Bedingung  ist, 
daß  dieselben  Beziehungen,  welche  sich  zwischen  diesen 
Objekten  befinden,  sich  auch  zwischen  den  Bildern  be- 
finden, welche  wir  gezwungenermaßen  an  die  Stelle  der 
Objekte  setzen.  Wenn  diese  Beziehungen  uns  bekannt 
sind,  so  macht  es  nichts  aus,  ob  wir  es  für  bequemer 
halten,  ein  Bild  durch  ein  anderes  zu  ersetzen. 

Es  ist  weder  sicher  noch  interessant,  ob  eine  gewisse 
periodische  Erscheinung  (wie  z.  B.  eine  elektrische  Schwin- 
gung) wirklich  dem  Vibrieren  eines  gewissen  Atomes  zu- 
zuschreiben ist,  das  sich  wirklich  in  diesem  oder  jenem 
Sinne  wie  ein  Pendel  bewegt.  Daß  es  nun  aber  zwischen 
der  elektrischen  Schwingung,  der  Bewegung  des  Pendels 
und  allen  periodischen  Erscheinungen  eine  enge  Ver- 
wandtschaft gibt,  welche  einer  tieferen  Wirklichkeit  ent- 
spricht; daß  diese  Versvandtschaft,  diese  Ähnlichkeit  oder 


Dispersion  des  Lichtes.     Gastheorie.  I  5  3 

vielmehr  dieser  Parallelismus  sich  bis  ins  Kleinste  fort- 
setzt; daß  sie  aus  allgemeinen  Prinzipien,  z.  B.  aus  dem 
Prinzipe  der  Energie  und  aus  dem  Prinzipe  der  kleinsten 
Wirkung  folgt,  das  können  wir  behaupten;  darin  liegt 
eine  Wahrheit,  welche  ewig  dieselbe  bleiben  wird,  unter 
welchem  Gewände  wir  sie  auch  aus  praktischen  Gründen 
darstellen  mögen. 

Man  hat  zahlreiche  Theorien  der  Dispersion  vorge- 
schlagen; die  ersten  waren  unvollkommen  und  enthielten 
nur  einen  Bruchteil  von  Wahrheit.  Dann  kam  die  Helm- 
holtzsche  Theorie;  dann  hat  man  sie  auf  verschiedene 
Weise  geändert,  und  ihr  Urheber  selbst  hat  eine  andere 
Theorie  erdacht,  die  auf  den  Prinzipien  von  Maxwell 
beruht.  Aber  es  ist  eine  bemerkenswerte  Tatsache,  daß 
alle  Gelehrten,  die  nach  Helmholtz  kamen,  zu  denselben 
Gleichungen  gelangt  sind,  obgleich  sie  von  scheinbar 
ganz  verschiedenen  Gesichtspunkten  ausgingen.  Ich 
möchte  sagen,  daß  diese  Theorien  alle  zugleich  wahr 
sind,  nicht  nur,  weil  sie  uns  dieselben  Erscheinungen 
voraussehen  lassen,  sondern  weil  sie  eine  wirkliche  Be- 
ziehung klarmachen,  nämlich  diejenige  der  Absorption 
und  der  anomalen  Dispersion.  Was  in  den  Prämissen 
dieser  Theorien  richtig  ist,  das  ist  allen  Autoren  gemein- 
sam; es  ist  die  Bestätigung  dieser  oder  jener  Beziehung 
zwischen  gewissen  Dingen,  welche  von  den  einen  mit 
dem,  von  den  anderen  mit  jenem  Namen  bezeichnet 
werden. '^^) 

Die  kinetische  Theorie  der  Gase  hat  zu  manchen 
Einwürfen  Anlaß  gegeben,  auf  die  man  leicht  antworten 
könnte,  wenn  man  die  Absicht  hätte,  sie  als  absolut 
richtig  zu  betrachten.  Aber  alle  diese  Einwürfe  ver- 
hindern nicht,  daß  die  Theorie  nützlich  gewesen  ist,  und 
zwar  besonders  dadurch,  daß  sie  uns  eine  wahre  und 
ohne  sie  tief  verborgene  Beziehung  offenbart:  nämlich 
die   Beziehung    des    osmotischen    Druckes    zu    dem    von 

II* 


löd  ^^'  ^^'    Theorien  der  modernen  Physik. 

Gasen  ausgeübten  Drucke.  In  diesem  Sinne  kann  man 
sagen,   daß  die  Theorie  richtig  ist.'^^) 

Wenn  ein  Physiker  einen  Widerspruch  zwischen  zwei 
Theorien  feststellt,  welche  ihm  gleich  lieb  sind,  so  sagt 
er  oft:  Wir  wollen  uns  darüber  nicht  weiter  beunruhigen; 
wir  wollen  jedoch  die  beiden  Enden  der  Kette  fest- 
halten, wenn  auch  die  Zwischenglieder  dieser  Kette  uns 
verborgen  sind.  Dieses  Argument  eines  in  die  Enge 
getriebenen  Theologen  wäre  lächerlich,  wenn  man  den 
physikalischen  Theorien  den  Sinn  beilegen  müßte,  welchen 
die  Laien  ihnen  zu  geben  pflegen.  Im  Falle  des  Wider- 
spruchs müßte  wenigstens  eine  von  ihnen  als  falsch  an- 
gesehen werden.  Anders  ist  es,  wenn  man  in  den 
Theorien  nur  das  sucht,  was  man  suchen  soll.  Es  kann 
geschehen,  daß  die  Theorien  eine  oder  die  andere  Be- 
ziehung richtig  wiedergeben,  und  daß  ein  Widerspruch 
nur  in  den  Bildern  liegt,  deren  wir  uns  an  Stelle  der 
wirklichen  Objekte  bedient  haben. 

Sollte  jemand  meinen,  daß  wir  das  dem  Gelehrten 
zugängliche  Gebiet  allzusehr  beschränken,  so  würde  ich 
ihm  antworten:  Diese  Fragen,  deren  Behandlung  wir 
Ihnen  verweigern  und  die  Sie  bei  uns  vermissen,  sind 
nicht  nur  unlösbar,  sondern  sogar  gänzlich  illusorisch  und 
haben  keinen  Sinn. 

Mancher  Philosoph  behauptet,  daß  die  ganze  Physik 
auf  den  gegenseitigen  Stößen  der  Atome  beruht.  Wenn 
er  damit  einfach  sagen  will,  daß  zwischen  den  physikali- 
schen Erscheinungen  dieselben  Beziehungen  herrschen 
wie  zwischen  den  gegenseitigen  Stößen  einer  großen  An- 
zahl von  Kugeln,  so  ist  es  gut;  das  kann  man  prüfen, 
das  ist  vielleicht  sogar  richtig.  Aber  er  will  mehr  sagen; 
und  wir  glauben  ihn  zu  verstehen,  weil  wir  zu  wissen 
glauben,  was  der  Stoß  eigentlich  ist;  warum?  Ganz 
einfach,  weil  wir  oft  dem  Billardspiele  zugesehen  haben. 
Glauben  wir  deshalb,   daß  Gott,  wenn  er  sein  Werk  be- 


Neubelebung  aufgegebener  Theorien.  165 

trachtet,  dieselbe  Empfindung  hat  wie  wir,  wenn  wir 
einem  Wettspiele  auf  dem  Billard  zusehen?  Wenn  wir 
der  Behauptung  jenes  Philosophen  nicht  diesen  bizarren 
Sinn  unterlegen  wollen,  wenn  wir  uns  noch  weniger  mit 
dem  begrenzten  Sinne  begnügen  wollen,  den  ich  soeben 
dargelegt  habe,  und  der  allein  richtig  ist,  so  hat  jene 
Behauptung  gar  keinen  Sinn. 

Die  Hypothesen  dieser  Art  haben  nur  einen  meta- 
phorischen Sinn.  Der  Forscher  kann  solche  Metaphern 
ebensowenig  vermeiden  wie  der  Dichter,  aber  er  muß 
wissen,  was  sie  bedeuten.  Sie  können  nützen  durch  die 
Befriedigung,  die  sie  dem  Verstände  gewähren,  und  sie 
werden  nicht  schaden,  vorausgesetzt,  daß  es  sich  nur 
um  indifferente  Hypothesen  handelt  (vgl,   S.   154). 

Diese  Betrachtungen  geben  uns  die  Erklärung  dafür, 
warum  gewisse  Theorien,  welche  man  für  aufgegeben 
und  definitiv  durch  die  Erfahrung  widerlegt  hielt,  plötz- 
lich aus  ihrer  Asche  wieder  auferstehen  und  ein  neues 
Leben  beginnen.  Sie  brachten  eben  wirkliche  Beziehun- 
gen zum  Ausdrucke  und  sie  hörten  nicht  auf,  solche 
auszudrücken,  wenn  wir  auch  aus  diesem  oder  jenem 
Grunde  glaubten,  dieselben  Beziehungen  in  einer  ande- 
ren Sprache  zum  Ausdrucke  bringen  zu  müssen.  Sie  be- 
wahrten so   eine  Art  latenten  Lebens. 

Noch  sind  es  kaum  fünfzehn  Jahre  her,  da  gab  es 
nichts  Lächerlicheres  und  es  galt  nichts  für  einfältiger 
und  für  so  veraltet  wie  die  Fluida  von  Coulomb.  Und 
doch  sind  sie  unter  dem  Namen  Elektronen  wieder 
auf  der  Bildfläche  erschienen.  Wodurch  unterscheiden 
sich  nun  dauernd  diese  elektrisierten  Moleküle  von  den 
elektrischen  Molekülen  Coulombs?  Zwar  wird  jetzt  bei 
den  Elektronen  etwas,  wenn  auch  sehr  wenig  Materie 
als  Träger  der  Elektrizität  angenommen,  mit  anderen 
Worten:  die  Elektronen  haben  Masse;  aber  Coulomb 
dachte  seine  Fluida  auch  nicht  ohne  Masse,  oder,  wenn 


j  5^  IV,  10.    Theorien  der  modernen  Physik. 

er  es  tat,  so  geschah  es  nur  mit  Bedauern.  Es  wäre 
anmaßend,  wenn  man  behaupten  wollte,  daß  der  Glaube 
an  die  Elektronen  nicht  noch  einmal  verdunkelt  werde, 
deshalb  war  es  nicht  weniger  bemerkenswert,  diese  un- 
verhoffte Wiedergeburt  festzustellen.'^*) 

Das  schlagendste  Beispiel  ist  jedoch  das  Carnotsche 
Prinzip.  Carnot  ist  bei  seiner  Begründung  von  falschen 
Hypothesen  ausgegangen;  als  man  bemerkte,  daß  die 
Wärme  nicht  unzerstörbar  ist,  sondern  sich  in  Arbeit 
umsetzen  läßt,  gab  man  die  Ideen  Carnots  völlig  auf; 
da  tritt  Clausius  dafür  ein  und  läßt  sie  endgültig  trium- 
phieren. Die  Carnotsche  Theorie  brachte  in  ihrer  ur- 
sprünglichen Form  neben  wirklichen  Beziehungen  andere 
ungenaue  Beziehungen  zum  Ausdrucke,  die  als  Trümmer 
veralteter  Ideen  zu  betrachten  sind;  aber  das  Vorhanden- 
sein dieser  letzteren  beeinflußt  nicht  die  Wirklichkeit 
der  anderen.  Clausius  brauchte  sie  nur  zu  entfernen,  so 
wie  man  verdorbene  Äste  abschneidet."^^) 

Das  Resultat  war  das  zweite  Fundamentalgesetz  der 
Thermodynamik.  Es  handelte  sich  immer  um  dieselben 
Beziehungen;  obgleich  diese  Beziehungen  nicht  zwischen 
denselben  Objekten  stattfanden,  wenigstens  scheinbar 
nicht.  Das  genügte,  um  die  Gültigkeit  des  Prinzips  zu 
sichern.  Selbst  die  Entwicklungen  Carnots  sind  deshalb 
nicht  untergegangen,  man  wandte  sie  auf  Materien  an, 
die  damals  noch  ganz  falsch  verstanden  wurden;  aber 
ihre  Form   (d.  h.   das  Wesentliche)  blieb  korrekt. 

Was  ich  soeben  gesagt  habe,  erklärt  zu  gleicher  Zeit 
die  Rolle  der  allgemeinen  Prinzipien,  wie  des  Prinzips 
der  kleinsten  Wirkung  oder  des  Prinzips  von  der  Erhal- 
tung der  Energie. 

Diese  Prinzipe  sind  von  sehr  hohem  Werte;  man 
fand  sie,  während  man  danach  forschte,  was  es  Gemein- 
sames   in    der  Darlegung    zahlreicher    physikalischer  Ge- 


Grenzen  des  Energie-Prinzips.  167 

setze  gibt;  sie  stellen  also  gleichsam  die  Quintessenz  un- 
zähliger Beobachtungen  dar. 

Gleichwohl  stammt  aus  ihrer  Verallgemeinerung  eine 
Folgerung,  auf  welche  ich  die  Aufmerksamkeit  im  achten 
Kapitel  lenkte:  sie  können  nicht  verifiziert  werden.  Da 
wir  eine  allgemeine  Definition  der  Energie  nicht  geben 
können,  so  hat  das  Prinzip  von  der  Erhaltung  der 
Energie  einfach  die  Bedeutung,  daß  es  irgend  ein 
Etwas  gibt,  das  konstant  bleibt.  Also  gut;  wie  nun 
auch  die  neuen  Begriffe  über  das  Weltall  sein  mögen, 
welche  uns  die  zukünftigen  Experimente  geben  werden, 
eines  ist  uns  im  voraus  sicher:  es  wird  ein  Etwas  geben, 
das  konstant  bleibt  und  das  wir  Energie  nennen  (S.  134). 

Soll  das  heißen,  daß  das  Prinzip  keinen  Sinn  hat 
und  daß  es  sich  zu  einer  Tautologie  abschwächt?  Keines- 
wegs; es  bedeutet,  daß  die  verschiedenen  Dinge,  denen 
wir  den  Namen  Energie  beilegen,  durch  eine  wirkliche 
Verwandtschaft  verbunden  sind;  es  besagt,  daß  unter 
ihnen  eine  tatsächliche  Beziehung  besteht.  Wenn  nun 
aber  das  Prinzip  einen  Sinn  hat,  so  könnte  es  ein 
falscher  Sinn  sein;  möglicherweise  hat  man  nicht  das 
Recht,  seine  Anwendung  unbegrenzt  auszudehnen,  und 
dennoch  steht  von  vornherein  fest,  daß  man  es  (streng 
im  obigen  Sinne  genommen)  verifizieren  kann;  wie  er- 
fahren wir,  wann  es  die  volle  Ausdehnung  erlangt  hat, 
welche  man  ihm  berechtigterweise  zuerteilt?  Dieser 
Zeitpunkt  tritt  ein,  wenn  das  Prinzip  aufhört,  uns  nütz- 
lich zu  sein,  d.  h.  wenn  es  aufhört,  uns  neue  Erscheinun- 
gen voraussehen  zu  lassen,  ohne  uns  zu  täuschen.  In 
einem  solchen  Falle  sind  wir  sicher,  daß  die  behauptete 
Beziehung  nicht  mehr  der  Wirklichkeit  entspricht;  denn 
anderenfalls  würde  das  Prinzip  sich  als  fruchtbringend 
erwiesen  haben.  Das  Experiment  läßt  uns  eine  neue 
Ausdehnung  des  Prinzips  verwerfen,  obgleich  es  einer 
solchen  nicht  direkt  entgegen  ist. 


l68  rV>  ^^'    Theorien  der  modernen  Physik. 

Die  Physik  und  der  Mechanismus.  —  Die  meisten 
Theoretiker  haben  für  die  der  Mechanik  oder  der 
Dynamik  entnommenen  Erklärungen  eine  andauernde 
Vorliebe.  Die  einen  sind  befriedigt,  wenn  sie  sich  von 
allen  Erscheinungen  durch  die  Bewegungen  der  Mole- 
küle, die  sich  gegenseitig  nach  bestimmten  Gesetzen  an- 
ziehen, Rechenschaft  geben  können.  Die  anderen  ver- 
langen mehr;  sie  wollen  die  in  der  Entfernung  wirken- 
den Anziehungskräfte  beseitigen;  ihre  Moleküle  sollen 
geradlinige  Bahnen  verfolgen  und  nur  durch  Stöße  von 
denselben  abgelenkt  werden  können.  Noch  andere,  wie 
z.  B.  Hertz,  beseitigen  auch  die  Kräfte,  setzen  jedoch 
an  deren  Stelle  ihre  Moleküle,  die  in  ähnlicher  Weise 
geometrisch  miteinander  verbunden  sind,  wie  wir  Stäbe 
durch  Gelenke  verbinden;  sie  wollen  somit  die  Dynamik 
auf  eine  Art  von  Kinematik  zurückführen.'^^) 

Kurz  gesagt:  Alle  wollen  die  Natur  in  eine  gewisse 
Form  einzwängen,  und  ohne  diese  Form  würde  ihr  Ver- 
stand nicht  befriedigt  sein.  Wird  die  Natur  für  diesen 
Zweck  hinreichend  gefügig  sein? 

Wir  wollen  die  Frage  im  zwölften  Kapitel  bei  Ge- 
legenheit der  Maxwellschen  Theorie  prüfen.  Immer, 
wenn  das  Prinzip  der  Energie  und  das  Prinzip  der 
kleinsten  Wirkung  befriedigt  ist,  so  ist  nicht  nur  eine 
mechanische  Erklärung  möglich,  wie  wir  sehen  werden, 
sondern  immer  eine  unendliche  Anzahl  solcher  Erklärun- 
gen. Vermöge  eines  wohlbekannten  Lehrsatzes  von 
Königs  über  die  Gelenksysteme  ist  man  im  stände  zu  be- 
weisen, daß  man  auf  unendlich  viele  verschiedene  Arten 
alles  nach  dem  Vorgange  von  Hertz  durch  starre  Ver- 
bindungen erklären  kann,  oder  auch  durch  zentral 
wirkende  Kräfte.  Man  könnte  ohne  Zweifel  ebenso 
leicht  beweisen,  daß  alles  sich  durch  einfache  Stöße  er- 
klären läßt.'^) 

Dazu  braucht  man  sich,  wohlverstanden,  nicht  mit  der 


Materie  und  Äther.  1 5  o 

gewöhnlichen  Materie  zu  begnügen,  mit  derjenigen,  die 
auf  unsere  Sinne  wirkt  und  deren  Bewegungen  wir  direkt 
beobachten  können.  Entweder  wird  man  voraussetzen, 
daß  diese  gewöhnliche  Materie  aus  Atomen  gebildet  ist, 
deren  innerliche  Bewegungen  uns  entgehen,  während 
nur  die  Ortsveränderung  der  Gesamtheit  unseren  Sinnen 
zugänglich  ist;  oder  man  erdenkt  irgend  eines  dieser 
empfindlichen  Fluida,  welche  unter  dem  Namen  Äther 
oder  unter  anderen  Namen  von  jeher  eine  so  große 
Rolle  in  den  physikalischen  Theorien  gespielt  haben. 

Oft  geht  man  noch  weiter  und  betrachtet  den  Äther 
als  die  einzige,  ursprüngliche  Materie  oder  sogar  als  die 
einzige  wirkliche  Materie.  Diejenigen,  welche  gemäßigter 
denken,  betrachten  die  gewöhnliche  Materie  als  kon- 
densierten Äther,  was  nichts  Befremdliches  an  sich  hat; 
andere  setzen  die  Bedeutung  der  gewöhnlichen  Materie 
noch  mehr  herab  und  sehen  darin  nur  den  geometrischen 
Ort  für  die  Singularitäten  des  Äthers.  So  ist  z.  B.  nach 
Lord  Kelvin  das,  was  wir  Materie  nennen,  nur  der 
Ort  der  Punkte,  in  welchem  der  Äther  durch  wirbel-- 
artige  Bewegungen  erregt  ist;  nach  Riemann  ist  es  der 
Ort  der  Punkte,  in  welchem  beständig  Äther  vernichtet 
wird.  Nach  anderen,  neueren  Autoren,  z.  B.  Wiechert 
und  Larmor,  ist  es  der  Ort  der  Punkte,  in  dem  der 
Äther  eine  Art  Torsion  von  einer  ganz  besonderen  Be- 
schaffenheit unterworfen  ist.^^)  Wenn  man  sich  einen 
dieser  Gesichtspunkte  aneignen  will,  so  frage  ich  mich: 
Mit  welchem  Rechte  dehnt  man  auf  den  Äther  unter 
dem  Vorwand,  daß  dies  die  wahre  Materie  sei,  die 
mechanischen  Eigenschaften  aus,  welche  nur  an  der  ge- 
wöhnlichen Materie,  die  doch  nur  die  falsche  ist,  be- 
obachtet sind? 

Die  alten  Fluida,  wie  Wärmestoff,  Elektrizität  u.  s.  w. 
wurden  aufgegeben,  als  man  bemerkte,  daß  die  Wärme 
nicht  unzerstörbar  ist.      Aber  sie  wurden  auch  aus  ande- 


170 


IV,  lO.     Theorien  der  modernen  Physik. 


rem  Grunde  aufgegeben.  Indem  man  sie  materialisierte, 
hob  man  sozusagen  ihre  Individualität  hervor,  und  man 
trennte  sie  voneinander  durch  tiefe  Abgründe.  Man 
mußte  sich  dazu  bequemen,  diese  Abgründe  wieder  aus- 
zufüllen, nachdem  man  ein  lebhaftes  Gefühl  für  die  Ein- 
heit in  der  Natur  gewonnen  hatte,  und  nachdem  man 
die  innigen  Verwandtschaften  bemerkt  hatte,  welche  alle 
ihre  Teile  miteinander  verbinden.  Indem  die  alten 
Physiker  die  Zahl  der  Fluida  vermehrten,  schufen  sie 
nicht  nur  Wesen  ohne  Daseinsberechtigung,  sondern  zer- 
störten auch  wirkliche  Verwandtschaftsbande. 

Es  genügt  nicht,  daß  eine  Theorie  keine  falschen 
Beziehungen  behauptet,  sie  darf  auch  wirkliche  Beziehun- 
gen nicht  verdecken. 

Und  existiert  unser  Äther  nun  wirklich?  Man  weiß 
nicht,  woher  der  Glaube  an  den  Äther  stammt.  Wenn 
das  Licht  eines  entfernten  Sternes  während  mehrerer 
Jahre  zu  uns  gelangt,  so  ist  es  nicht  mehr  auf  dem 
Sterne  und  noch  nicht  auf  der  Erde,  es  muß  also  dann 
irgendwo  sein  und  sozusagen  an  irgend  einem  materiellen 
Träger  haften. 

Man  kann  denselben  Gedanken  in  einer  mehr  mathe- 
matischen und  mehr  abstrakten  Form  darstellen.  Was 
wir  feststellen,  sind  durch  materielle  Moleküle  erlittene 
Veränderungen;  wir  bemerken  z.  B.,  daß  unsere  photo- 
graphische Platte  sich  unter  dem  Einflüsse  von  Er- 
scheinungen verändert,  deren  Schauplatz  mehrere  Jahre 
vorher  die  weißglühende  Masse  eines  Sternes  war.  Nun 
hängt  aber  in  der  gewöhnlichen  Mechanik  der  Zustand 
des  studierten  Systemes  nur  von  seinem  Zustande  in 
einem  unmittelbar  vorhergehenden  Zeitpunkte  ab;  das 
System  genügt  also  gewissen  Differentialgleichungen. 
Wenn  wir  an  den  Äther  nicht  glauben,  so  würde  im 
Gegenteil  der  materielle  Zustand  des  Weltalls  nicht  nur 
von  dem  unmittelbar  vorheri^ehenden  Zustande  abhängen. 


Notwendigkeit  des  Äthers.  1 7 1 

sondern  von  viel  älteren  Zuständen;  das  System  würde 
Gleichungen  zwischen  endlichen  Differenzen  genügen. 
Um  dieser  Beeinträchtigung  der  allgemeinen  Gesetze 
der  Mechanik  zu  entgehen,  haben  wir  den  Äther  er- 
funden. 

Das  würde  uns  nur  dazu  nötigen,  den  leeren  Raum 
zwischen  den  Planeten  mit  Äther  auszufüllen,  aber  nicht 
den  Äther  bis  in  das  Innere  der  materiellen  Medien 
selbst  dringen  zu  lassen.  Das  Experiment  von  Fizeau 
geht  weiter.  Durch  die  Interferenz  von  Strahlen,  welche 
bewegte  Luft  oder  bewegtes  Wasser  durchlaufen  hatten, 
scheint  dies  Experiment  uns  zwei  verschiedene  Medien 
zu  zeigen,  welche  sich  gegenseitig  durchdringen  und 
dennoch  in  Bezug  aufeinander  relative  Ortsveränderungen 
erleiden.  Man  glaubt  den  Äther  gleichsam  mit  dem 
Finger  zu  berühren. "^^j 

Man  kann  jedoch  Experimente  ausdenken,  welche 
uns  dem  Äther  noch  näher  kommen  lassen.  Wir  setzen 
voraus,  daß  das  Newtonsche  Prinzip  der  Gleichheit  von 
Wirkung  und  Gegenwirkung  nicht  mehr  richtig  sei,  wenn 
man  es  allein  auf  die  Materie  anwendet,  und  daß  man 
dies  festgestellt  habe.  Die  geometrische  Summe  aller 
Kräfte,  die  an  alle  materiellen  Moleküle  angreifen,  wird 
dann  nicht  mehr  gleich  Null  sein.  Man  muß  also,  wenn 
man  nicht  die  ganze  Mechanik  ändern  will,  den  Äther 
einführen,  damit  diese  Wirkung,  welche  die  Materie  zu 
erleiden  scheint,  durch  die  Gegenwirkung  der  Materie 
auf  irgend  etwas  wieder  ausgeglichen  wird. 

Oder  besser,  ich  setze  voraus,  man  habe  erkannt, 
daß  die  optischen  und  elektrischen  Erscheinungen  durch 
die  Bewegung  der  Erde  beeinflußt  werden.  Man  wäre 
zu  dem  Schlüsse  geführt  worden,  daß  diese  Erscheinun- 
gen uns  nicht  nur  die  relativen  Bewegungen  der  mate- 
riellen Körper  offenbaren  können,  sondern  auch  solche 
Bewegungen,    die   uns    als    absolute    erscheinen.      Es    ist 


1-7  2  IV,  10.     Theorien  der  modernen  Physik. 

notwendig,  daß  es  einen  Äther  gibt,  damit  diese  soge- 
nannten absoluten  Bewegungen  nicht  in  Ortsverände- 
rungen in  Bezug  auf  einen  leeren  Raum  bestehen,  son- 
dern in  Ortsveränderungen  in  Bezug  zu  irgend  einem 
konkreten  Objekte. 

Wird  man  jemals  dahin  kommen?  Ich  habe  diese 
Hoffnung  nicht,  ich  werde  sofort  sagen  warum,  und  doch 
ist  diese  Hoffnung  nicht  ganz  ausgeschlossen,  wenigstens 
haben  andere  sie  gehabt. 

Wenn  z.  B.  die  Lorentzsche  Theorie,  von  der  ich 
weiterhin  im  dreizehnten  Kapitel  sprechen  werde,  richtig 
wäre,  so  würde  das  Newtonsche  Prinzip  auf  die  Materie 
allein  nicht  anwendbar  sein,  und  der  dadurch  bedingte 
Unterschied  würde  wahrscheinlich  der  experimentellen 
Prüfung  zugänglich  sein. 

Andererseits  hat  man  Untersuchungen  über  den  Ein- 
fluß der  Erdbewegung  gemacht.  Die  Resultate  sind 
immer  negative  gewesen.  Aber  wenn  man  diese  Experi- 
mente unternommen  hat,  geschah  es,  weil  man  über  den 
Ausgang  nicht  sicher  war,  und  weil  selbst  nach  den 
herrschenden  Theorien  die  Ausgleichung  nur  eine  ange- 
näherte war;  und  man  durfte  erwarten,  daß  wirklich 
genaue  Methoden  positive  Resultate  ergeben.^^) 

Ich  halte  eine  solche  Hoffnung  für  illusorisch;  eben- 
so seltsam  würde  es  sein,  wenn  man  beweisen  wollte, 
daß  ein  derartiger  Erfolg  uns  irgendwie  eine  neue  Welt 
erschließen  würde. 

Und  jetzt  möge  man  mir  eine  Abschweifung  gestatten; 
ich  muß  in  der  Tat  erklären,  warum  ich  trotz  der 
Lorentzschen  Theorie  nicht  glaube,  daß  genauere  Be- 
obachtungen jemals  etwas  anderes  klar  beweisen  können 
als  die  relativen  Ortsveränderungen  materieller  Körper. 
Man  hat  Experimente  gemacht,  welche  uns  die  Glieder 
erster  Ordnung  hätten  offenbaren  sollen;  die  Resultate 
waren    negative;    sollte    das    Zufall    sein?     Niemand    hat 


Richtung  des  wissenschaftlichen  Fortschrittes.  17^ 

das  angenommen;  man  hat  eine  allgemeine  Erklärung 
versucht,  und  Lorentz  hat  sie  gefunden;  er  bewies,  daß 
die  Glieder  erster  Ordnung  sich  zerstören  müßten,  aber 
das  Gleiche  ist  nicht  mit  den  Gliedern  zweiter  Ordnung 
der  Fall.  Darauf  hat  man  genauere  Experimente  ge- 
macht; auch  sie  waren  negativ;  das  konnte  noch  weniger 
Zufall  sein;  man  brauchte  eine  Erklärung  dafür;  man 
fand  sie;  man  findet  eine  solcher  immer;  an  Hypothesen 
ist  niemals  Mangel. 

Aber  das  ist  nicht  genug;  wer  empfindet  nicht,  daß 
man  auf  diese  Weise  dem  Zufalle  eine  zu  große  Rolle 
überläßt?  Sollte  der  Zufall  auch  dieses  sonderbare  Zu- 
sammentreffen herbeiführen,  welches  bewerkstelligt,  daß 
ein  gewisser  Umstand  gerade  zu  rechter  Zeit  die  Glieder 
erster  Ordnung  zerstört  und  daß  ein  anderer,  völlig  ver- 
schiedener, aber  ebenso  glücklicher  Umstand  es  auf  sich 
nimmt,  die  Glieder  zweiter  Ordnung  zu  zerstören?  Nein, 
man  muß  für  die  einen  wie  für  die  anderen  dieselbe 
Erklärung  finden,  und  dann  drängt  uns  alles  darauf  hin 
zu  erwägen,  daß  diese  Erklärung  gleicherweise  für  die 
Glieder  höherer  Ordnung  gelten  würde  und  daß  die 
gegenseitige  Zerstörung  dieser  Glieder  eine  strenge  und 
absolute  ist. 

Der  gegenwärtige  Zustand  der  Wissenschaft.  — 
In  der  Geschichte  der  Entwicklung  der  Physik  unter- 
scheidet man  zwei  entgegengesetze  Tendenzen.  Einer- 
seits entdeckt  man  in  jedem  Augenblicke  neue  Verbin- 
dungen zwischen  den  Objekten,  welche  scheinbar  immer 
getrennt  bleiben  sollten;  die  zerstreuten  Tatsachen  hören 
auf,  einander  fremd  zu  sein;  sie  ordnen  sich  immer 
mehr  zu  einem  gewaltigen  Gebäude.  Die  Wissenschaft 
strebt  nach  Einheit  und  Einfachheit  und  schreitet  in 
dieser  Richtung  vorwärts. 

Andererseits  offenbart  uns  die  Beobachtung  täglich 
neue  Erscheinungen;   diese  müssen  lange  auf  einen  Platz 


IjA  IV,  10.    Theorien  der  modernen  Physik. 

im  Gebäude  warten,  und  manchmal  muß  man  eine  Ecke 
niederreißen,  um  ihnen  Platz  zu  machen.  Sogar  in  den 
bekannten  Erscheinungen,  bei  denen  uns  unsere  groben 
Sinneswerkzeuge  die  Gleichartigkeit  zeigten,  bemerken 
wir  Einzelheiten,  die  von  Tag  zu  Tag  mannigfaltiger 
werden;  was  wir  für  einfach  hielten,  wird  wieder  kom- 
pliziert, und  die  Wissenschaft  strebt  scheinbar  nach  Mannig- 
faltigkeit und  Kompliziertheit. 

Welche  von  diesen  beiden  entgegengesetzten  Ten- 
denzen, die  abwechselnd  zu  triumphieren  scheinen,  wird 
den  Sieg  davontragen?  Wenn  die  erste  siegt,  ist  die 
Wissenschaft  möglich;  aber  nichts  gibt  uns  davon  a  priori 
einen  Beweis,  und  man  kann  fürchten,  daß  wir  uns  ver- 
geblich bemüht  haben,  der  Natur  wider  ihren  Willen 
unser  Einheitsideal  aufzuzwängen ,  daß  wir  durch  die 
steigende  Flut  unserer  neuen  Reichtümer  überwältigt 
werden,  daß  wir  deshalb  darauf  verzichten  müssen,  diese 
neuen  Erscheinungen  in  unser  System  einzuordnen,  viel- 
mehr unser  Ideal  aufgeben  und  so  die  Wissenschaft  auf 
die  Registrierung  von  unzähligen  Einzelerträgnissen  re- 
duzieren. 

Auf  diese  Frage  können  wir  keine  Antwort  geben. 
Alles  was  wir  tun  können,  ist,  die  Wissenschaft  von  heute 
zu  beobachten  und  sie  mit  der  Wissenschaft  von  gestern 
zu  vergleichen.  Aus  dieser  Prüfung  können  wir  zweifels- 
ohne einige  Ermunterung  entnehmen. 

Vor  einem  halben  Jahrhundert  hegte  man  große  Hoff- 
nungen. Die  Entdeckung  der  Erhaltung  der  Energie 
und  ihrer  Verwandlungen  hatte  uns  die  Einheit  der 
Kraft  offenbart.  Sie  zeigte  uns,  daß  die  Erscheinungen 
der  Wärme  sich  durch  molekulare  Bewegungen  erklären 
ließen.  Welches  die  Natur  dieser  Bewegungen  war, 
wußte  man  nicht  genau,  aber  man  zweifelte  nicht  daran, 
daß  man  es  bald  wissen  würde.  Für  das  Licht  schien 
der  Versuch   völlig    gelungen.      Was    die  Elektrizität   be- 


Licht,  Elektrizität,  Magnetismus.  I  y  c 

traf,  so  war  man  weniger  vorgeschritten.  Die  Elektrizität 
zeigte  den  engsten  Zusammenhang  mit  dem  Magnetismus. 
Das  war  ein  bedeutender  Schritt  vorwärts  der  Einheit 
zu,  und  ein  entscheidender  Schritt.  Aber  wie  sollte  die 
Elektrizität  ihrerseits  in  die  allgemeine  Einheit  eintreten, 
wie  sollte  sie  sich  in  den  universellen  Mechanismus  ein- 
fügen? Davon  hatte  man  keine  Idee.  Die  Möglichkeit 
dieser  Reduktion  wurde  indessen  von  niemandem  an- 
gezweifelt, man  hatte  eben  den  Glauben  an  die  Sache. 
Was  schließlich  die  molekularen  Eigenschaften  materieller 
Körper  angeht,  so  schien  da  die  Reduktion  einfacher 
zu  sein,  aber  alle  Einzelheiten  blieben  sozusagen  im 
Nebel.  Mit  einem  Worte:  die  Hoffnungen  gingen  weit, 
sie  waren  lebhaft,   aber  sie  waren  unbestimmt. 

Was  sehen  wir  nun  heute? 

Vor  allem  einen  ersten  Fortschritt,  einen  ungeheueren 
Fortschritt.  Die  Beziehungen  zwischen  Elektrizität  und 
Licht  sind  jetzt  bekannt;  die  drei  Gebiete:  Licht,  Elek- 
trizität und  Magnetismus,  die  früher  getrennt  waren, 
bilden  jetzt  ein  Ganzes ;  und  dieser  Zusammenhang  scheint 
endgültig  fest  zu  stehen. 

Diese  Eroberung  hat  uns  jedoch  einige  Opfer  ge- 
kostet. Die  optischen  Erscheinungen  ordnen  sich  als 
besondere  Fälle  unter  die  elektrischen  Erscheinungen 
ein;  solange  sie  isoliert  blieben,  war  es  leicht,  sie 
durch  Bewegungen  zu  erklären,  welche  man  in  allen 
Einzelheiten  zu  erkennen  glaubte,  das  ging  ganz  von 
selbst;  aber  eine  Erklärung  muß,  um  annehmbar  zu  sein, 
sich  ohne  Mühe  auf  das  ganze  elektrische  Gebiet  aus- 
dehnen lassen.     Das  geht  jedoch  nicht  ohne  Hindernisse. 

Das  Befriedigendste  ist  die  Lorentzsche  Theorie;  sie 
ist  ohne  Widerspruch  diejenige,  welche  am  besten  von 
den  bekannten  Tatsachen  Rechenschaft  gibt,  sie  ist  die- 
jenige, welche  die  größeste  Anzahl  wirklicher  Beziehungen 
zu    Tage  fördert,    von  ihr   wird  man  bei  der    definitiven 


Ij^)  IV,  10.     Theorien  der  modernen  Physik. 

Konstruktion  des  Gebäudes  am  meisten  beibehalten. 
Nichtsdestoweniger  besitzt  sie  einen  ersten  Fehler,  den 
ich  weiter  oben  andeutete:  sie  ist  im  Widerspruche  mit 
dem  Newtonschen  Prinzipe  von  der  Gleichheit  der  Wir- 
kung und  Gegenwirkung;  oder  vielmehr  dieses  Prinzip 
wäre  nach  der  Ansicht  von  Lorentz  auf  die  Materie 
allein  nicht  anwendbar;  damit  das  Prinzip  wahr  würde, 
müßte  man  von  den  durch  den  Äther  auf  die  Materie 
ausgeübten  Wirkungen  Rechenschaft  geben  und  ebenso 
von  der  Gegenwirkung  der  Materie  auf  den  Äther  (vgl. 
S.  172).  Jedoch  bis  auf  weiteres  können  wir  annehmen, 
daß  sich  die  Dinge  nicht  so  abspielen  werden. 

Wie  dem  auch  sei,  vermöge  der  Lorentzschen  Theorie 
finden  sich  die  Resultate  Fizeaus  über  die  Optik  der 
bewegten  Körper,  die  Gesetze  der  normalen  und  ano- 
malen Dispersion  und  Absorption  untereinander  und  mit 
den  anderen  Eigenschaften  des  Äthers  durch  Bande  ver- 
knüpft, welche  ohne  Zweifel  nicht  mehr  zerreißen  werden. 
Wir  bemerken  die  Leichtigkeit,  mit  welcher  das  neue 
Zeemansche  Phänomen  seinen  Platz  bereit  fand  und  sogar 
half,  die  magnetische  Rotation  von  Faraday  dem  Systeme 
einzuordnen,  welche  sich  den  Anstrengungen  Maxwells 
gegenüber  rebellisch  verhalten  hatte;  diese  Leichtigkeit 
beweist  zur  Genüge,  daß  die  Lorentzsche  Theorie  kein 
künstlicher,  zur  Auflösung  bestimmter  Bau  ist.  Man 
muß  sie  vermutlich  modifizieren,  aber  man  braucht  sie 
nicht  zu  zerstören. ^^) 

Lorentz  kannte  keinen  anderen  Ehrgeiz,  als  durch 
seine  Theorie  die  ganze  Optik  und  die  ganze  Elektro- 
dynamik der  bewegten  Körper  gleichzeitig  zu  umfassen; 
er  hatte  nicht  die  Absicht,  eine  mechanische  Erklärung 
dieser  Erscheinungen  abzugeben.  Larmor  ging  weiter; 
indem  er  die  Lorentzsche  Theorie  im  wesentlichen  bei- 
behielt, impfte  er  ihr  sozusagen  die  Ideen  Mac-Cullaghs 
über    die  Richtung    der  Ätherbewegungen   ein.      Für   ihn 


Mechanische  Erklärungen.  I  y  7 

hatte  die  Geschwindigkeit  des  Äthers  dieselbe  Richtung 
und  dieselbe  Größe  wie  die  magnetische  Kraft.  So 
scharfsinnig  dieser  Versuch  auch  war,  so  besteht  der 
Fehler  der  Lorentzschen  Theorie  dennoch  fort  und  wird 
immer  schwerwiegender.  Nach  Lorentz  wußten  wir  nicht, 
welcher  Art  die  Ätherbewegungen  sind;  dank  dieser 
Unwissenheit  konnten  wir  die  Bewegungen  als  solche 
voraussetzen,  welche  die  Bewegung  der  Materie  aus- 
gleichen und  dadurch  die  Gleichheit  zwischen  Wirkung 
und  Gegenwirkung  wiederherstellen.  Nach  Larmor 
kennen  wir  die  Ätherbewegungen,  und  wir  können  fest- 
stellen, daß  die  Ausgleichung  unmöglich  ist.^^) 

Soll  das  heißen,  daß  eine  mechanische  Erklärung 
unmöglich  ist,  w^enn  Larmors  Bemühungen  meines  Er- 
achtens  nach  gescheitert  sind?  Weit  gefehlt,  ich  sagte 
weiter  oben,  daß  eine  Erscheinung,  welche  den  beiden 
Prinzipien  der  Energie  und  der  kleinsten  Wirkung  ge- 
horcht, eine  unendliche  Anzahl  von  mechanischen  Er- 
klärungen gestattet  (S.  168);  ebenso  ist  es  mit  den  opti- 
schen und  elektrischen  Erscheinungen. 

Das  genügt  jedoch  nicht:  damit  eine  mechanische 
Erklärung  gut  sei,  muß  sie  einfach  sein;  man  muß,  um 
sie  unter  allen  Erklärungen,  die  möglich  sind,  auszu- 
wählen, andere  Gründe  haben  als  die  Notwendigkeit, 
eine  Wahl  zu  treffen.  Gut,  aber  eine  Theorie,  die  in 
dieser  Hinsicht  befriedigt  und  folglich  zu  irgend  etwas 
dienen  könnte,  haben  wir  noch  nicht.  Sollen  wir  uns 
darüber  beklagen?  Das  hieße  das  vorgesteckte  Ziel  ver- 
gessen; nicht  der  Mechanismus  ist  das  wahre,  einzige 
Ziel,  die  Einheit  ist  es. 

Wir  müssen  also  unseren  Ehrgeiz  einschränken;  wir 
wollen  nicht  versuchen,  eine  mechanische  Erklärung  zu 
formulieren;  wir  wollen  uns  damit  begnügen  zu  beweisen, 
daß  wir  eine  solche  stets  finden  können,  sobald  wir  nur 
wollen.    In  diesem  Punkte  haben  wir  Erfolg  gehabt;   das 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  12 


I^S      '  rVj  i^*     Theorien  der  modernen  Physik.    . 

Prinzip  von  der  Erhaltung  der  Energie  ist  immer  von 
neuem  bestätigt  worden;  ein  zweites  Prinzip  ist  dazu 
gekommen,  nämlich  das  der  kleinsten  Wirkung,  wenn 
man  es  in  die  für  die  Physik  brauchbare  Form  bringt. 
Auch  dieses  hat  alle  Proben  bestanden,  wenigstens  in- 
soweit die  umkehrbaren  Erscheinungen  in  Betracht  kom- 
men, welche  den  Gleichungen  von  Lagrange,  d.  h.  den 
allgemeinsten  Gesetzen  der  Mechanik  folgen. 

Die  nicht  umkehrbaren  Erscheinungen  sind  viel  re- 
bellischer. Auch  sie  lassen  sich  in  bestimmter  Weise 
ordnen  und  streben  sozusagen  der  Einheit  zu ;  das  Licht, 
welches  uns  über  sie  aufgeklärt  hat,  kam  uns  aus  dem 
Carnotschen  Prinzipe.  Lange  Zeit  beschränkte  sich  die 
Thermodynamik  auf  das  Studium  der  Ausdehnung  der 
Körper  und  ihrer  Zustandsänderungen.  Seit  einiger  Zeit 
ist  sie  kühner  geworden  und  hat  ihr  Gebiet  beträchtlich 
erweitert.  Wir  verdanken  ihr  die  Theorie  der  galvani- 
schen Säule  und  diejenige  der  thermoelektrischen  Er- 
scheinungen; es  gibt  in  der  ganzen  Physik  keinen  Winkel, 
den  sie  nicht  aufgeklärt  hätte,  und  sie  wagt  sich  sogar 
an  die  Chemie.  Überall  herrschen  dieselben  Gesetze; 
überall  findet  man  unter  der  Mannigfaltigkeit  der  Er- 
scheinungen das  Carnotsche  Prinzip;  überall  findet  man 
auch  diesen  so  völlig  abstrakten  Begriff  der  Entropie, 
welche  ebenso  allumfassend  ist  wie  der  Begriff  der 
Energie  und  gleich  wie  sie  etwas  wirklich  Vorhandenes 
zu  verdecken  scheint.^^)  Die  strahlende  Wärme  schien 
dem  Carnotschen  Prinzipe  entgehen  zu  wollen,  man  sah 
aber  neuerdings,   daß  sie  sich  denselben  Gesetzen  fügte. 

Dadurch  sind  uns  neue  Analogien  erschlossen,  welche 
sich  oft  bis  ins  Kleinste  verfolgen  lassen;  der  Ohmsche 
Widerstand  gleicht  der  Zähigkeit  der  Flüssigkeiten;  die 
Hysterisis  würde  mehr  der  Reibung  fester  Körper  gleichen. 
Auf  alle  Fälle  scheint  die  Reibung  einen  Typus  darzu- 
stellen,   auf  den  sich  die  verschiedensten  nicht  umkehr- 


Nicht  umkehrbare  Prozesse.  I'7q 

baren  Erscheinungen    beziehen    lassen,    und    diese  Ver- 
wandtschaft ist  wirklich  und  tiefgehend. 

Man  hat  auch  eine  eigentlich  mechanische  Erklärung 
für  diese  Erscheinungen  gesucht,  obgleich  sich  dieselben 
dafür  nicht  zu  eignen  scheinen.  Um  die  mechanische 
Erklärung  aufzufinden,  mußte  man  voraussetzen,  daß  die 
Nichtumkehrbarkeit  nur  scheinbar  ist,  daß  nämlich  die 
Elementarerscheinungen  umkehrbar  sind  und  den  be- 
kannten Gesetzen  der  Dynamik  gehorchen.  Aber  die 
Elemente  sind  außerordentlich  zahlreich  und  vermischen 
sich  mehr  und  mehr  miteinander,  und  zwar  derart,  daß 
für  unsere  blöden  Augen  sich  jeder  Unterschied  zu  ver- 
wischen scheint,  d.  h.  daß  alles  scheinbar  in  gleichem 
Sinne  vorwärts  geht,  ohne  Hoffnung  auf  Umkehr.  Die 
scheinbare  Nichtumkehrbarkeit  ist  also  nur  ein  Eifekt  des 
Gesetzes  der  großen  Zahlen.  Nur  ein  Wesen,  dessen 
Sinne  unendlich  feinfühlig  wären,  (wie  der  imaginäre  Dämon 
Maxwells)  könnte  dieses  unentwirrbare  Knäuel  in  seine 
Bestandteile  auflösen  und  das  Weltsystem  zur  Umkehr 
veranlassen. 

Diese  Auffassung,  welche  sich  an  die  kinetische 
Theorie  der  Gase  anschließt,  hat  große  Anstrengungen 
gekostet  und  hat  sich  im  ganzen  als  wenig  fruchtbar  er- 
wiesen; aber  sie  kann  es  werden.  Hier  ist  nicht  der 
Ort,  zu  prüfen,  ob  sie  nicht  zu  Widersprüchen  führt 
und  ob  sie  mit  der  wahren  Natur  der  Dinsfe  verträs:- 
lieh  ist. 

Wir  wollen  die  Aufmerksamkeit  auf  die  originellen 
Ideen  von  Gouy  über  die  Brownsche  Bewegung  lenken. 
Nach  diesem  Gelehrten  würde  diese  seltsame  Bewegung 
dem  Carnotschen  Prinzipe  entschlüpfen,  die  Teilchen, 
welche  er  in  Bewegung  setzt,  wären  bedeutend  kleiner 
als  die  Knoten  in  dem  erwähnten  verworrenen  Knäuel; 
die  Teilchen  würden  also  fähig  sein,  diese  Knoten  zu 
entwirren   und  dadurch  das  Weltsystem  zur  Umkehr  auf 

12* 


l8o  ^^>  ^^'     Theorien  der  modernen  Physik. 

seinen  Bahnen  und  in  seinen  Zuständen  zu  veranlassen. 
Man  möchte  glauben,  den  Maxwellschen  Dämon  bei  der 
Arbeit  zu  sehen.^^) 

Im  ganzen  lassen  sich  die  von  altersher  bekannten 
Gesetze  immer  besser  klassifizieren;  aber  neue  Erschei- 
nungen verlangen  ihren  Platz;  die  meisten  von  ihnen, 
wie  diejenige   von   Zeeman,    haben   ihn   sofort   gefunden. 

Aber  wir  haben  außerdem  die  Kathodenstrahlen,  die 
X-Strahlen,  die  Strahlen  des  Uraniums  und  des  Radiums. 
Hierin  liegt  eine  ganze  Welt,  die  niemand  vermutete. 
Was    für   unerwartete  Gäste   muß   man    da   beherbergen! 

Noch  kann  niemand  voraussehen,  welchen  Platz  sie 
einnehmen  werden.  Aber  ich  glaube  nicht,  daß  sie  die 
allgemeine  Einheit  stören,  ich  glaube  vielmehr,  daß  sie 
diese  Einheit  vervollkommnen  werden.  Einerseits  scheinen 
die  neuen  Strahlungserscheinungen  mit  den  Luminiscenz- 
erscheinungen  zusammenzuhängen,  sie  erregen  nicht  nur 
die  Fluorescenz,  sondern  sie  kommen  sogar  oft  unter 
denselben  Bedingungen  wie  diese  zu   stände. 

Andererseits  sind  sie  ebenfalls  nicht  ohne  Verwandt- 
schaft mit  der  Ursache,  welche  den  elektrischen  Funken 
unter  der  Einwirkung  des  ultravioletten  Lichtes  auf- 
sprühen läßt. 

Endlich,  und  hauptsächlich,  glaubt  man  in  diesen 
Erscheinungen  wirkliche  Ionen  zu  erbliken,  welche  sich 
in  der  Tat  mit  unvergleichlich  viel  größeren  Geschwin- 
digkeiten bewegen  als  in   den  Elektrolyten. 

Das  alles  ist  noch  unbestimmt,  aber  das  alles  wird 
genauer  präcisiert  werden. 

Die  Phosphorescenz  und  die  Wirkung  des  Lichtes 
auf  den  Funken  gehören  in  ein  etwas  isoliertes,  von  den 
Forschern  deshalb  ziemlich  vernachlässigtes  Gebiet.  Man 
kann  jetzt  hoffen,  daß  man  einen  neuen  Weg  bahnt,  der 
die  Verbindungen  dieser  Gebiete  mit  der  universellen 
Wissenschaft  erleichtert.^-^) 


Einordnung  neuer  Tatsachen.  1  8 1 

Wir  werden  nicht  nur  neue  Erscheinungen  entdecken, 
sondern  in  denjenigen,  welche  wir  bereits  zu  kennen 
glauben,  werden  sich  ungeahnte  Ausblicke  eröffnen.  Im 
freien  Äther  bewahren  die  Gesetze  ihre  majestätische 
Einfachheit;  aber  die  eigentliche  Materie  erscheint  immer 
komplizierter;  alles,  was  man  davon  sagt,  ist  stets  nur 
annähernd,  und  jeden  Augenblick  verlangen  unsere  For- 
meln neue  Glieder. 

Aber  deshalb  ist  der  Rahmen  noch  nicht  zerbrochen, 
der  unsere  allgemeinen  Gesetze  zusammenhält;  die  Be- 
ziehungen, welche  wir  zwischen  scheinbar  einfachen  Ob- 
jekten erkannten,  bestehen  noch  immer  zwischen  diesen 
selben  Objekten,  nachdem  wir  ihre  Kompliziertheit  er- 
kannt haben,  und  darauf  allein  kommt  es  an.  Zwar 
werden  unsere  Gleichungen  immer  komplizierter,  um  sich 
immer  näher  an  die  Kompliziertheit  der  Natur  anzu- 
schUeßen;  aber  in  den  Beziehungen,  welche  gestatten, 
diese  Gleichungen  auseinander  abzuleiten,  ist  nichts  ge- 
ändert. Mit  einem  Worte:  die  Form  dieser  Gleichungen 
hat  standgehalten. 

Nehmen  wir  die  Gesetze  der  Reflexion  zum  Beispiel. 
Fresnel  begründete  sie  durch  eine  einfache  und  ver- 
lockende Theorie,  welche  die  Erfahrung  zu  bestätigen 
schien.  Seitdem  haben  genauere  Nachforschungen  er- 
wiesen, daß  diese  Verifikation  nur  annähernd  war;  diese 
Nachforschungen  zeigen  überall  Spuren  elliptischer  Polari- 
sation. Aber  dank  der  Hilfe,  die  uns  die  erste  Annähe- 
rung gab,  fand  man  sofort  die  Ursache  dieser  Unregel- 
mäßigkeit; dieselbe  liegt  in  der  Existenz  einer  Übergangs- 
schicht an  der  Grenze  zweier  optisch  verschiedenen 
Medien,  und  die  Fresnelsche  Theorie  bestand  in  allem, 
was  sie  Wesentliches  hatte,  weiter.^^) 

Nur  kann  man  nicht  umhin,  folgendes  zu  überlegen: 
alle  diese  Beziehungen  wären  unbemerkt  geblieben,  wenn 
man   anfangs   von   der  Kompliziertheit   der  Objekte,    die 


l82  IVj  lO-     Theorien  der  modernen  Physik. 

sie  verbinden,  eine  Ahnung  gehabt  hätte.  Vor  langer 
Zeit  sagte  man:  Wenn  Tycho  zehnfach  genauere  Instru- 
mente gehabt  hätte,  so  hätte  es  nie  einen  Keppler,  noch 
einen  Newton,  noch  überhaupt  eine  Astronomie  gegeben. 
Es  ist  für  eine  Wissenschaft  ein  Unglück,  zu  spät  ge- 
boren zu  werden,  d.  h.  nachdem  die  Beobachtungsmittel 
zu  vollkommen  geworden  sind.  Das  ist  heutzutage  der 
Fall  mit  der  physikalischen  Chemie;  ihre  Begründer  sind 
in  den  Anwendungen  ihrer  Theorien  durch  die  dritte 
und  vierte  Decimale  behindert,  glücklicherweise  sind  sie 
Männer  von  starkem  Glauben. 

Je  mehr  man  die  Eigenschaften  der  Materie  kennen 
lernt,  desto  mehr  erkennt  man  die  Herrschaft  der  Stetig- 
keit. Seit  den  Arbeiten  von  Andrews  und  van  der 
Wals  gibt  man  sich  Rechenschaft  über  die  Art,  in  der 
sich  der  Übergang  des  flüssigen  Zustandes  zum  gas- 
förmigen Zustande  vollzieht,  und  hat  sich  überzeugt,  daß 
dieser  Übergang  kein  gewaltsamer  ist.  So  gibt  es  auch 
keinen  Abgrund  zwischen  den  flüssigen  Zuständen  und 
den  festen  Zuständen,  und  in  den  Berichten  eines  vor 
kurzem  abgehaltenen  Kongresses  sah  man  neben  einer 
Arbeit  über  die  Festigkeit  der  Flüssigkeiten  eine  Ab- 
handlung über  das  Fließen  der  festen  Körper.^^) 

Bei  dieser  Tendenz  geht  die  Einfachheit  ohne  Zweifel 
verloren;  eine  solche  Erscheinung  wurde  früher  durch 
mehrere  gerade  Linien  dargestellt,  jetzt  muß  man  diese 
geraden  Linien  durch  mehr  oder  weniger  komplizierte 
Kurven  ineinander  übergehen  lassen;  zum  Ersätze  dafür 
gewinnt  die  Einheit  dabei  bedeutend. ^^)  Diese  streng  ge- 
schiedenen Kategorien  ließen  den  Verstand  ausruhen, 
aber  sie  befriedigten  ihn  nicht. 

Endlich  haben  sich  die  Methoden  der  Physik  eines 
neuen  Gebietes  bemächtigt,  desjenigen  der  Chemie;  die 
physikalische  Chemie  ist  geboren.  Sie  ist  noch  sehr 
jung,   aber  man  sieht  bereits,   daß  sie  uns  gestatten  wird, 


Die  Wahrscheinlichkeitserscheinung.  183 

Erscheinungen  wie  die  Elektrolyse,  die  Osmose  und  die 
Bewegungen  der  Ionen  untereinander  zu  verbinden. 

Was  sollen  wir  aus  dieser  gedrängten  Darstellung 
schließen? 

Aller  Berechnung  nach  hat  man  sich  der  Einheit 
genähert;  es  ging  nicht  so  schnell,  wie  man  es  vor 
fünfzig  Jahren  hoffte,  man  hat  nicht  immer  den  im 
voraus  geahnten  Weg  eingeschlagen;  aber  schließlich 
hat  man  doch  viel  Terrain  srewonnen. 


Elftes  Kapitel. 

Die  Wahrscheinlichkeitsrechnung. 

Man  wird  ohne  Zweifel  erstaunt  sein,  an  dieser 
Stelle  Betrachtungen  über  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
zu  finden.  Was  hat  das  mit  der  Methode  der  physi- 
kalischen Wissenschaft  zu  tun? 

Und  doch  muß  sich  ein  Philosoph,  der  über  die 
Physik  nachdenken  will,  die  Frage  vorlegen,  die  ich  jetzt 
anregen,   aber  nicht  lösen  werde. 

Mußte  ich  doch  in  den  beiden  vorhergehenden  Ka- 
piteln mehrmals  die  Worte  ,, Wahrscheinlichkeit"  und 
,, Zufall"  aussprechen. 

Ich  sagte  oben:  ,,Die  vorausgesehenen  Tatsachen 
können  nur  wahrscheinlich  sein.  So  fest  auch  eine  Vor- 
aussage begründet  erscheinen  mag,  so  sind  wir  doch 
niemals  absolut  sicher,  daß  das  Experiment  sie  auch 
bestätigen  wird,  wenn  wir  eine  Prüfung  vornehmen.  Aber 
die  Wahrscheinlichkeit  ist  oft  so  groß,  daß  wir  uns  in 
der  Praxis   mit  ihr   zufrieden   geben  können."      (S.   145). 

Und  weiter  fügte  ich  hinzu: 

„Um  das  zu  können,  wollen  wir  sehen,  welche  Rolle 


184  •'■^'  ^^'     "^^^  Wahrscheinlichkeitsreclinung. 

der  Glaube  an  die  Einfachheit  in  unseren  Verallgemei- 
nerungen spielt.  Wir  haben  ein  .  einfaches  Gesetz  in 
einer  ziemlich  großen  Anzahl  von  besonderen  Fällen 
verifiziert;  wir  können  unmöglich  zulassen,  daß  diese  so 
oft  wiederholte  Bestätigung  ein  bloßer  Glückszufall 
sei  .  .  ."      (S.   151). 

So  befindet  sich  in  einer  Menge  von  Fällen  der 
Physiker  in  derselben  Lage  wie  der  Spieler,  wenn  er 
seine  Chancen  berechnet.  Immer,  wenn  er  induktive 
Schlüsse  zieht,  muß  er  mehr  oder  weniger  bewußt  die 
Wahrscheinlichkeitsrechnung  anwenden. 

Darum  muß  ich  eine  Zwischenbetrachtung  einschieben 
und  unser  Studium  über  die  Methode  in  den  physikali- 
schen Wissenschaften  unterbrechen,  um  etwas  näher  zu 
untersuchen,  was  diese  Rechnungsart  bedeutet  und  in- 
wieweit sie  Vertrauen  verdient. 

Schon  der  Name  allein:  Wahrscheinlichkeitsrechnung, 
enthält  ein  Paradoxon:  die  Wahrscheinlichkeit  ist  im 
Gegensatze  zur  Gewißheit  etwas,  das  wir  nicht  kennen, 
und  wie  soll  man  berechnen,  was  man  nicht  kennt? 
Dennoch  haben  sich  viele  der  bedeutendsten  Gelehrten 
mit  dieser  Rechnung  beschäftigt,  und  man  kann  nicht 
leugnen,  daß  die  Wissenschaft  daraus  Nutzen  zog.  Wie 
erklärt  sich  dieser  scheinbare  Widerspruch? 

Ist  die  Wahrscheinlichkeit  definiert?  Kann  sie  defi- 
niert werden?  Und  wenn  sie  nicht  definierbar  ist,  wie 
kann  man  wagen,  darauf  Schlüsse  zu  bauen?  Man  wird 
sagen,  daß  die  Definition  sehr  einfach  sei:  die  Wahr- 
scheinlichkeit eines  Ereignisses  ist  das  Verhältnis  der 
Anzahl  der  diesem  Ereignisse  günstigen  Fälle  zur  Ge- 
samtzahl der  möglichen  Fälle. 

Ein  einfaches  Beispiel  genügt,  um  diese  Definition 
als  unvollständig  erscheinen  zu  lassen.  Ich  werfe  zwei 
Würfel;  welches  ist  die  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß 
der    eine    der   beiden  Würfel   wenigstens    „sechs"  zeigen 


Definitionen.  ige 

wird?  Jeder  Würfel  kann  zum  mindesten  sechs  ver- 
schiedene Zahlen  werfen;  die  Zahl  der  möglichen  Fälle 
ist  6  X  6  =  36;   die  Zahl  der  günstigen  Fälle  ist  11;   die 

Wahrscheinlichkeit  ist  also 


o 


6 


Damit   haben  wir   die   korrekte  Lösuno^.     Aber  kann 


O' 


ich    nicht   ebensogut  sagen:      Die  von  den  beiden  Wür- 

6  X  7 
fein  geworfenen  Zahlen  können  ■ =21  verschiedene 

Kombinationen    bilden?      Unter    diesen    Kombinationen 
sind  6  günstige;   die  Wahrscheinlichkeit  ist  also  — • 

Warum  ist  die  erste  Art,  die  möglichen  Fälle  zu 
überzählen,  berechtigter  als  die  zweite?  Jedenfalls  klärt 
uns  unsere  Definition  darüber  nicht  auf. 

Man  wird  so  darauf  geführt,  diese  Definition  zu  ver- 
vollständigen, indem  man  sagt:  ,, .  .  .  zur  Gesamtzahl 
der  möglichen  Fälle,  vorausgesetzt,  daß  diese  Fälle  gleich 
wahrscheinlich  sind."  Wir  sind  also  darauf  gekommen, 
das  Wahrscheinliche  durch  das  Wahrscheinliche  zu 
definieren. 

W^oher  wissen  wir,  daß  zwei  mögliche  Fälle  gleich 
wahrscheinlich  sind?  Wissen  wir  es  durch  Überein- 
kommen? Wenn  wir  zu  Beginn  eines  jeden  Problems 
eine  dem  Übereinkommen  entsprechende  deutliche  Fest- 
setzung machen,  wird  alles  gut  gehen;  wir  brauchen  nur 
die  Regeln  der  Arithmetik  und  der  Algebra  anzuwenden, 
und  wir  können  die  Rechnung  zu  Ende  führen,  ohne 
daß  an  unseren  Resultaten  zu  zw^eifeln  wäre.  Aber 
wenn  wir  die  geringste  Anwendung  machen  wollen, 
müssen  wir  beweisen,  daß  unsere  Festsetzung  berechtigt 
war,  und  wir  befinden  uns  derselben  Schwierigkeit  gegen- 
über,  die  wir  umgehen  wollten. 

Kann  man  behaupten,  daß  der  gesunde  Menschen- 
verstand genügt,  um  uns  zu  lehren,  welcher  Art  das  zu 
treffende   Übereinkommen    sein    muß?     Auf  diese  Frage 


l86  rV>  II*    I^i^  Wahrscheinlichkeitsreclinung. 

ist  nicht  leicht  zu  antworten.  Bertrand  liebte  es,  sich 
mit  einfachen  Problemen  folgender  Art  zu  beschäftigen: 
„Welches  ist  die  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  in  einem 
gegebenen  Kreise  eine  willkürlich  gezogene  Sehne  größer 
ausfalle  als  die  Seite  des  dem  Kreise  einbeschriebenen 
gleichseitigen  Dreiecks?"  Der  berühmte  Mathematiker  hat 
nacheinander  zwei  Übereinkommen  getroffen,  welche 
sich  dem  gesunden  Menschenverstände  als  gleich  gut 
aufzudrängen    schienen,    und    er   fand  mittelst  der  einen 

Festsetzung  die  Wahrscheinlichkeit  gleich  — ,  mittelst  der 

anderen  gleich  — ^^) 

Aus  alledem  scheint  mit  Notwendigkeit  die  Folge- 
rung hervorzugehen,  daß  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
eine  nutzlose  Wissenschaft  ist,  daß  man  dem  dunkeln 
Instinkte  mißtrauen  muß,  den  wir  gesunden  Menschen- 
verstand nennen,  und  von  welchem  wir  verlangen,  daß 
er  unsere  Festsetzungen  legitimieren  soll. 

Aber  diese  Folgerung  können  wir  nicht  unterschreiben ; 
diesen  dunkeln  Instinkt  können  wir  nicht  übergehen; 
ohne  ihn  wäre  die  Wissenschaft  unmöglich,  ohne  ihn 
könnten  wir  ein  Gesetz  weder  entdecken,  noch  es  an- 
wenden. Haben  wir  z.  B.  das  Recht,  das  Newtonsche 
Gesetz  auszusprechen  ?  Zweifellos ,  zahlreiche  Beob- 
achtungen stimmen  damit  überein;  aber  ist  dieses  Gesetz 
nicht  ein  einfacher  Glückszufall?  Wie  wollen  wir  über- 
haupt wissen,  ob  dieses  seit  Jahrhunderten  richtige  Gesetz 
im  nächsten  Jahre  noch  richtig  sein  wird?  Auf  diese 
Einwendung  kann  man  nichts  antworten  als:  ,,Das  ist 
sehr  unwahrscheinlich." 

Lassen  wir  nun  das  Gesetz  gelten;  auf  Grund  des- 
selben glaube  ich  die  Stellung  des  Jupiters  während 
eines  Jahres  berechnen  zu  können.  Habe  ich  ein  Recht 
dazu?  Wer  sagt  mir,   ob  nicht  eine  gigantische,  von  einer 


Interpolation.  Theorie  der  Gase.  187 

riesigen  Geschwindigkeit  getriebene  Masse  im  Laufe 
dieses  Jahres  unserem  Sonnensysteme  so  nahe  kommt, 
daß  sie  unenvartete  Störungen  verursacht?  x\uch  hier 
kann  man  nichts  antworten  als:  ,,Das  ist  sehr  unwahr- 
scheinlich." 

Somit  wären  alle  Wissenschaften  nur  unbewußte  An- 
wendungen der  Wahrscheinlichkeitsrechnung;  wenn  man 
diese  Rechnungsart  verwirft,  so  verwirft  man  damit  die 
ganze  Wissenschaft. 

Ich  werde  weniger  bei  solchen  wissenschaftlichen 
Problemen  verweilen,  bei  denen  das  Eingreifen  der 
Wahrscheinlichkeitsrechnung  klarer  zu  Tage  tritt.  Ein  sol- 
ches ist  in  erster  Linie  das  Problem  der  Interpolation, 
in  welcher  man  dazwischenliegende  Werte  zu  erraten 
sucht,  wenn  eine  gewisse  Anzahl  von  Werten  einer  Funk- 
tion bekannt  ist. 

Ich  erwähne  ebenso  die  berühmte  Theorie  der  Be- 
obachtungsfehler, aufweiche  ich  weiterhin  zurückkomme; 
die  kinetische  Theorie  der  Gase,  eine  wohlbekannte 
Hypothese,  bei  der  man  voraussetzt,  daß  jedes  Gas- 
molekül eine  außerordentlich  komplizierte  Bahn  beschreibt, 
bei  welcher  jedoch  nach  dem  Gesetze  der  großen  Zahlen 
die  durchschnittlichen  und  allein  zu  beobachtenden  Er- 
scheinungen einfachen  Gesetzen  gehorchen,  z.  B.  den 
Gesetzen  von  Mariotte  und  Gay-Lussac.^^) 

Alle  diese  Theorien  beruhen  auf  dem  Gesetze  der 
großen  Zahlen,  und  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
würde  sie  unwiderstehlich  in  ihren  Untergang  mitreißen. 
Zwar  haben  sie  nur  ein  beschränktes  Interesse,  und,  ab- 
gesehen von  der  Anwendung  auf  die  Interpolation,  wären 
das  Verluste,  zu  denen  man  sich  entschließen  könnte. 

Aber,  wie  ich  weiter  oben  sagte,  würde  es  sich  nicht 
nur  um  diese  speziellen  Opfer  handeln,  sondern  die 
Rechtmäßigkeit  der  ganzen  Wissenschaft  würde  zweifel- 
los in  Frage  gestellt  werden. 


l88  I^>  ^^-    ^^^  Wahrschemliclikeitsrecnnung. 

Ich  sehe  sehr  wohl,  daß  man  sich  auf  folgende  Über- 
legung berufen  könnte:  ,,Wir  sind  Unwissende  und  danach 
müssen  wir  handeln.  Um  handeln  zu  können,  haben 
wir  nicht  Zeit  zu  einer  Untersuchung,  die  genügen  würde, 
um  unsere  Unwissenheit  zu  beseitigen ;  eine  solche  Unter- 
suchung würde  eben  eine  unendliche  Zeit  kosten.  Wir 
müssen  also  eine  Entscheidung  treffen,  ohne  die  nötigen 
Kenntnisse  zu  haben;  man  muß  es  auf  gut  Glück  tun 
und  nach  Regeln  handeln,  über  deren  Berechtigung  man 
sich  nicht  klar  ist.  Ich  weiß  nicht,  daß  diese  oder  jene 
Sache  richtig  ist,  aber  ich  weiß,  daß  es  für  mich 
das  beste  ist  zu  handeln,  als  ob  sie  richtig  wäre.'' 
Die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  und  folglich  auch  die 
Wissenschaft  hätte  dann  nur  noch  einen  praktischen 
Wert. 

Unglücklicherweise  verschwindet  hiermit  die  Schwierig- 
keit noch  nicht:  ein  Spieler  will  einen  Zug  versuchen; 
er  fragt  mich  um  Rat.  Wenn  ich  ihm  einen  solchen 
gebe,  so  folge  ich  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  aber 
ich  kann  ihm  für  den  Erfolg  nicht  garantieren.  Das 
nenne  ich  die  subjektive  Wahrscheinlichkeit.  In 
diesem  Falle  kann  man  sich  mit  der  Erklärung  begnügen, 
die  ich  flüchtig  berührte.  Aber  ich  setze  voraus,  daß 
ein  Beobachter  dem  Spiele  beiwohnt,  daß  er  alle  Züge 
des  Spiels  notiert  und  daß  das  Spiel  sich  lange  hin- 
zieht; wenn  er  nun  das  Facit  aus  seinen  Notizen  zieht, 
wird  er  bestätigen,  daß  die  Tatsachen  sich  gemäß  den 
Gesetzen  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  vollzogen  haben. 
Das  nenne  ich  die  objektive  Wahrscheinlichkeit, 
und    diese   Erscheinung   bedarf  der   weiteren   Erklärung. 

Es  bestehen  zahlreiche  Versicherungsgesellschaften, 
welche  die  Regeln  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  an- 
wenden, und  sie  verteilen  an  ihre  Aktionäre  Dividenden, 
deren  objektive  Tatsächlichkeit  niemand  in  Zweifel  ziehen 
kann.     Um  die  Dividenden  zu  erklären,  genügt  es  nicht, 


Grade  der  Wahrsclieinliclikeit  und  Unwissenheit.  i3q 

sich  auf  unsere  Unwissenheit  und  auf  die  Nohvendigkeit 
zum  Handeln  zu  berufen. 

Also  ist  der  absolute  Skeptizismus  nicht  berechtigt; 
wir  müssen  vorsichtig  sein,  aber  wir  brauchen  nicht  in 
Bausch  und  Bogen  zu  verwerfen;  es  ist  notwendig,  noch 
zu  prüfen. 

I .  Einteilung  der  Wahrscheinlichkeitsprobleme.  — 
Um  die  Probleme  einzuteilen,  welche  sich  bei  Wahr- 
scheinlichkeitsbetrachtungen darbieten,  kann  man  von 
mehreren  Gesichtspunkten  ausgehen,  vor  allem  von  dem 
Gesichtspunkte  der  Allgemeinheit.  Ich  sagte 
weiter  oben,  daß  die  Wahrscheinlichkeit  das  Verhältnis 
der  Anzahl  der  günstigen  Fälle  zu  der  Anzahl  der  mög- 
lichen Fälle  ist.  Was  ich  in  Ermangelung  eines  besseren 
Wortes  die  Allgemeinheit  nenne,  wird  mit  der  Anzahl 
der  möglichen  Fälle  wachsen.  Diese  Zahl  kann  endlich 
sein;  so  ist  es  z.B.,  wenn  man  ein  Würfelspiel  ins  Auge 
faßt,  wo  die  Zahl  der  möglichen  Fälle  36  ist.  Das  ist 
der  erste   Grad  der  Allgemeinheit. 

Wenn  wir  aber  z.  B.  fragen,  was  ist  die  Wahrschein- 
lichkeit dafür,  daß  ein  im  Inneren  eines  Kreises  ge- 
legener Punkt  sich  auch  innerhalb  des  dem  Kreise  ein- 
geschriebenen Quadrats  befinde,  so  gibt  es  so  viel  mög- 
liche Fälle  als  Punkte  im  Kreise,  also  eine  Unendlichkeit. 
Das  ist  der  zweite  Grad  der  Allgemeinheit.  Die  All- 
gemeinheit kann  noch  weiter  ausgedehnt  werden:  man 
kann  nach  der  Wahrscheinlichkeit  dafür  fragen,  daß  eine 
Funktion  einer  gegebenen  Bedingung  genügt;  dann  gibt 
es  so  viel  mögliche  Fälle,  als  man  sich  verschiedene  Funk- 
tionen vorstellen  kann.  Das  ist  der  dritte  Grad  der 
Allgemeinheit,  zu  welchem  man  sich  erhebt,  wenn  man 
z.  B.  versucht,  aus  einer  endlichen  Anzahl  von  Beob- 
achtungen das  wahrscheinlichste  Gesetz  abzuleiten. 

Man  kann  einen  gänzlich  verschiedenen  Standpunkt 
einnehmen.      Wenn  wir  nicht  unwissend  wären,  gäbe  es 


IQO  I^>  ^^'     ^^^  Wahrscheinlichkeitsrechnung. 

keine  Wahrscheinlichkeit;  es  wäre  nur  Platz  für  die 
Gewißheit  da;  aber  unsere  Unwissenheit  kann  keine  ab- 
solute sein,  denn  sonst  würde  es  nicht  einmal  eine  Wahr- 
scheinlichkeit geben;  es  muß  doch  wenigstens  etwas 
Licht  vorhanden  sein,  um  bis  zu  dieser  unsicheren 
Wissenschaft  zu  gelangen.  Die  Wahrscheinlichkeitspro- 
bleme können  so  nach  der  größeren  oder  kleineren  Tiefe 
unserer  Unwissenheit  eingeteilt  werden. 

In  der  Mathematik  kann  man  sich  bereits  Wahrschein- 
lichkeitsprobleme stellen.  Was  ist  die  Wahrscheinlichkeit 
dafür,  daß  die  5.Decimale  eines  auf  gut  Glück  in  einer 
Tabelle  aufgeschlagenen  Logarithmus  gleich  9  sei? 
Man  wird  nicht  zögern  zu  antworten,  daß  diese  Wahr- 
scheinlichkeit —  ist.  Hier  sind  wir  im  Besitze  aller 
10 

Daten  des  Problems;  wir  könnten  unseren  Logarithmus 
berechnen,  ohne  die  Tabelle  zu  benutzen;  aber  wir  wollen 
uns  nicht  die  Mühe  geben.  Das  ist  der  erste  Grad  der 
Unwissenheit. 

In  den  physikalischen  Wissenschaften  ist  unsere  Un- 
wissenheit schon  größer.  Der  Zustand  eines  Systems 
hängt  in  einem  gegebenen  Augenblicke  von  zwei  Dingen 
ab:  von  seinem  Anfangszustande  und  dem  Gesetze,  nach 
welchem  dieser  Zustand  variiert.  Wenn  wir  zu  gleicher 
Zeit  dieses  Gesetz  und  diesen  Anfangszustand  kennen 
würden,  so  hätten  wir  nur  noch  ein  mathematisches 
Problem  zu  lösen,  und  wir  würden  von  neuem  zu  dem 
ersten  Grade  der  Unwissenheit  gelangen. 

Aber  es  geschieht  oft,  daß  man  das  Gesetz  kennt, 
aber  nicht  den  Anfangszustand.  Man  fragt  z.  B.,  welches 
die  gegenwärtige  Verteilung  der  kleinen  Planeten  ist; 
wir  wissen,  daß  sie  seit  jeher  den  Kepplerschen  Gesetzen 
unterworfen  waren,  aber  wir  wissen  nicht,  wie  ihre  an- 
fängliche Verteilung  war. 

In  der  kinetischen  Theorie  der  Gase  setzt  man  vor- 


Wahrscheinlichkeit  der  Wirkungen  nnd  Ursachen.         i  n  i 

aus,  daß  die  Gasmoleküle  geradlinige  Bahnen  beschreiben 
und  den  Gesetzen  des  Stoßes  elastischer  Körper  ge- 
horchen; da  man  jedoch  nichts  von  ihren  Anfangsge- 
schwindigkeiten weiß,  so  weiß  man  auch  nichts  von  ihrer 
gegenwärtigen  Geschwindigkeit. 

Nur  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  erlaubt,  die 
durchschnittlichen  Erscheinungen  vorauszusehen,  welche 
aus  der  Kombination  dieser  Geschwindigkeiten  hervor- 
Q;ehen.     Das  ist  der  zweite  Grad  der  Unwissenheit. 

Schließlich  ist  es  noch  möglich,  daß  nicht  nur  die 
Anfangsbedingungen,  sondern  die  Gesetze  selbst  unbe- 
kannt sind;  man  erreicht  dann  den  dritten  Grad  der 
Unwissenheit,  und  man  kann  im  allgemeinen  über  die 
Wahrscheinlichkeit  einer  Erscheinung  nichts  mehr  be- 
haupten. 

Während  man  in  der  Regel  versucht,  aus  einer  mehr 
oder  weniger  unvollkommenen  Kenntnis  der  Gesetze  ein 
Ereignis  vorauszusagen,  kommt  es  oft  vor,  daß  man  die 
Ereignisse  kennt  und  das  Gesetz  zu  erraten  sucht;  statt 
die  Wirkungen  aus  den  Ursachen  abzuleiten,  will  man 
die  Ursachen  aus  den  Wirkungen  ableiten.  Solche 
Probleme  beziehen  sich  auf  die  sogenannte  Wahrschein- 
lichkeit der  Ursachen;  unter  dem  Gesichtspunkte  der 
wissenschaftlichen  Verwertung  sind  es  die  interessantesten. 

Ich  spiele  mit  einem  Herrn,  den  ich  als  vollkommen 
ehrlich  kenne,  Ecarte;  er  hat  zu  geben;  welches  ist  die 
Wahrscheinlichkeit    dafür,    daß   er    den  Könis:   tourniert? 


*o 


sie  ist  -— ;    diese    Frage    bezieht    sich    auf    die    Wahr- 

o 

scheinlichkeit  der  Wirkungen.  Ich  spiele  mit 
einem  Herrn,  den  ich  nicht  kenne;  er  hat  lomal  ge- 
geben und  6mal  den  König  tourniert;  wie  groß  ist  die 
Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  er  ein  Falschspieler  ist? 
Das  ist  eine  Frage,  die  sich  auf  die  Wahrscheinlichkeit 
der  Ursachen  bezieht. 


IQ2  I^^'  ^^-     -^^^  Wahrscheinlichkeitsreclinuiig. 

Man  kann  behaupten,  daß  dieses  das  wesentliche 
Problem  der  experimentellen  Methode  ist.  Ich  habe 
n  Werte  von  x  beobachtet  und  die  entsprechenden  Werte 
von  _>- ;  ich  habe  festgestellt,  daß  das  Verhältnis  der 
letzteren  Größen  zu  den  ersteren  merklich  konstant  ist. 
Damit  haben  wir  das  Ereignis;  was  ist  dessen  Ursache? 

Ist  es  wahrscheinlich,  daß  es  ein  Gesetz  gibt,  nach 
welchem  y  proportional  zu  x  ist,  und  daß  die  kleinen 
Abweichungen  den  Beobachtungsfehlem  zur  Last  fallen? 
Das  ist  eine  Art  von  Frage,  die  man  sich  unaufhörlich 
vorlegen  muß,  und  die  man  unbewußt  jedesmal  löst, 
wenn  man  Wissenschaft  treibt. 

Ich  will  jetzt  diese  verschiedenen  Kategorien  von 
Problemen  an  uns  vorbeiziehen  lassen  und  dabei  nach- 
einander das,  was  ich  weiter  oben  die  subjektive  Wahr- 
scheinlichkeit und  die  objektive  Wahrscheinlichkeit  nannte, 
näher  ins  Auge  fassen. 

2.  Die  Wahrscheinlichkeit  in  den  mathematischen 
Wissenschaften.  —  Die  Unmöglichkeit  der  Quadratur 
des  Zirkels  ist  seit  1882  bewiesen;  aber  lange  vor  die- 
sem verhältnismäßig  jungen  Datum  betrachteten  alle  Ma- 
thematiker diese  Unmöglichkeit  als  derart  wahrscheinlich, 
daß  die  Akademie  der  Wissenschaften  ohne  Prüfung  die 
leider  nur  zu  zahlreichen  Abhandlungen,  welche  einige 
unglückliche  Narren  ihr  alle  Jahre  über  diesen  Gegen- 
stand zusandten,  verwarf. ^^) 

Hatte  die  Akademie  unrecht?  Gewiß  nicht,  und  sie 
wußte  wohl,  daß  sie  durch  diese  Handlungsweise  Gefahr 
laufe,  eine  ernsthafte  Entdeckung  zu  unterdrücken.  Sie 
konnte  nur  nicht  beweisen,  daß  sie  recht  hatte;  aber 
sie  wußte  wohl,  daß  ihr  Instinkt  sie  nicht  täuschte. 
Wenn  Sie  die  Akademiker  gefragt  hätten,  so  würden  sie 
geantwortet  haben:  ,,Wir  haben  die  Wahrscheinlichkeit, 
vermöge  welcher  ein  unbekannter  Gelehrter  das  heraus- 
fände,   was    man    seit    so    langer   Zeit   vergeblich    sucht, 


Subjektive  und  objektive  Wahrscheinlichkeit.  ig^ 

mit  derjenigen  verglichen,  daß  es  einen  Narren  mehr 
auf  der  Welt  gibt;  die  zweite  Wahrscheinlichkeit  schien 
uns  die  größere  zu  sein."  Das  sind  wohlerwogene  Gründe, 
aber  sie  haben  nichts  Mathematisches  an  sich,  sie  sind 
rein  psychologischer  Natur. 

Und  wenn  Sie  noch  eindringlicher  mit  Ihren  Fragen 
geworden  wären,  so  hätten  die  Akademiker  hinzugefügt: 
„Warum  soll  durchaus  ein  besonderer  Wert  einer  transcen- 
denten  Funktion  gleich  einer  algebraischen  Zahl  sein? 
Und  wenn  tt  Wurzel  einer  algebraischen  Gleichung  mit 
rationalen  Koeffizienten  wäre,  weshalb  soll  dann  gerade 
diese  eine  Wurzel  mit  der  Periode  der  Funktion  sin  2  x 
identisch  sein,  und  nicht  auch  dasselbe  für  die  anderen 
Wurzeln  dieser  selben  Gleichung  gelten?"  Kurz,  sie  hätten 
das  Prinzip  des  zureichenden  Grundes  in  seiner  un- 
bestimmtesten Form  angerufen. 

Was  konnten  sie  aus  diesem  Prinzipe  schließen? 
Höchstens  eine  Verhaltungsmaßregel  für  die  Verwertung 
ihrer  Zeit,  welche  sie  nützlicher  zu  ihren  regelmäßigen 
Arbeiten  verwenden  konnten  als  zur  Lektüre  phantasti- 
scher Ausarbeitungen,  die  ihnen  berechtigtes  Mißtrauen 
einflößten.  Was  ich  jedoch  oben  als  objektive  Wahr- 
scheinlichkeit bezeichnete,  hat  mit  diesem  ersten  Probleme 
nichts  zu  schaffen. 

Anders   ist  es  mit  dem  folgenden  zweiten  Probleme. 

Betrachten  wir  die  loooo  ersten  Logarithmen,  wie 
man  sie  in  einer  Tabelle  findet.  Unter  diesen  lOOOO 
Logarithmen  wähle  ich  auf  gut  Glück  eine  Zahl  aus; 
wie  groß  ist  die  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  ihre  dritte 
Decimale  eine  gerade  Zahl  sei?    Sie  werden  nicht  zögern 

zu  antworten,   daß  diese  Wahrscheinlichkeit  gleich  —  ist; 

und  wenn  Sie  in  der  Tat  in  einer  Tabelle  die  dritten 
Decimalen  dieser  lOOOO  Zahlen  nachsehen,  so  werden 
Sie  ungefähr  ebensoviele  gerade  wie  ungerade  Ziffern  finden. 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  I3 


IQ 4-  -^^J  ^^'    ^^^  Walarscheinlicilkeitsreclinung. 

Dasselbe  kann  man  auch  in  folgender  Weise  aus- 
drücken. Schreiben  wir  loooo  Zahlen  auf,  die  unseren 
I  o  ooo  Logarithmen  entsprechen  sollen ;  und  zwar  sei 
jede  dieser  Zahlen  gleich  -j-  i ,  wenn  die  dritte  Decimale 
des  entsprechenden  Logarithmus  gerade  ist,  gleich  —  i 
im  entgegengesetzten  Falle.  Nehmen  wir  darauf  das 
arithmetische  Mittel  dieser  lOOOO  Zahlen.  Ohne  Zögern 
behaupte  ich,  daß  dieses  Mittel  wahrscheinlich  gleich 
Null  ausfällt;  und  wenn  ich  die  Rechnung  wirklich 
durchführe ,  so  würde  ich  bestätigen ,  daß  es  sehr 
klein  ist. 

Diese  Bestätigung  ist  jedoch  überflüssig.  Ich  hätte 
streng  beweisen  können,  daß  dieses  Mittel  kleiner  als 
0,003  sein  muß.  Um  dies  Resultat  zu  erhalten,  muß 
man  sehr  ausgedehnte  Überlegungen  und  Rechnungen 
anstellen,  für  die  hier  kein  Platz  ist;  ich  verweise  des- 
halb auf  einen  Aufsatz,  den  ich  in  der  Revue  generale 
des  Sciences  vom  15.  April  1899  veröffentlicht  habe. 
Ich  will  hier  nur  auf  den  folgenden  Punkt  aufmerksam 
machen:  Bei  dieser  Rechnung  brauchte  ich  mich  nur 
auf  zwei  Tatsachen  zu  stützen,  nämlich,  daß  sowohl  der 
erste  als  auch  der  zweite  Differentialquotient  des  Loga- 
rithmus in  dem  betrachteten  Intervalle  zwischen  gewissen 
endlichen   Grenzen  eingeschlossen  bleibt. 

Hieraus  ergibt  sich  die  wichtige  Folgerung,  daß  die 
besagte  Eigenschaft  nicht  nur  dem  Logarithmus  zukommt, 
sondern  ebenso  jeder  beliebigen  stetigen  Funktion,  denn 
die  Differentialquotienten  jeder  stetigen  Funktion  bleiben 
zwischen  endlichen   Grenzen. 

Von  diesem  Resultate  war  ich  im  voraus  überzeugt, 
denn  erstens  hatte  ich  oft  analoge  Tatsachen  bei  anderen 
stetigen  Funktionen  beobachtet,  zweitens  hatte  ich  mehr 
oder  weniger  unbewußt  und  unvollkommen  in  meinem 
Inneren  diejenigen  Überlegungen  angestellt,  welche  mich 
zu  den  erwähnten  Ungleichheiten  geführt  haben,    wie  ja 


Wahrscheinliclikeit  in  der  Mathematik.  igr 

auch  ein  geübter  Rechner  vor  Vollendung  einer  Multipli- 
kation sich  darüber  Rechenschaft  gibt,  ,,daß  das  Resultat 
ungefähr  so  und  so  viel  betragen  wird." 

Da  nun  meine  Intuition  nur  in  einem  unvollständigen 
Überblicke  über  eine  Reihe  wirklicher  Schlußfolgerungen 
bestand,  so  wird  man  verstehen,  weshalb  die  Beobachtung 
meine  Vorhersagungen  bestätigt  hat  und  so  die  objektive 
Wahrscheinlichkeit  mit  der  subjektiven  Wahrscheinlichkeit 
in  Einklang  war. 

Als  drittes  Beispiel  wähle  ich  das  folgende  Problem: 
Eine  Zahl  u  werde  auf  gut  Glück  gewählt;  es  sei  n  eine 
sehr  große  gegebene  ganze  Zahl;  welches  ist  der  wahr- 
scheinUchste  Wert  von  %mnul  Diese  Aufgabe  hat  an 
sich  gar  keinen  Sinn.  Um  ihr  einen  solchen  zu  geben, 
bedarf  es  einer  Festsetzung;  wir  setzen  also  fest:  die 
Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  die  Zahl  u  zwischen  a 
und  a  -\-  da  liegt,  sei  gleich  g)(a)da;  sie  sei  also  propor- 
tional der  Größe  des  unendlich  kleinen  Interv alles  da 
und  gleich  dieser  Größe,  multipliziert  in  eine  Funktion  cp{a), 
welche  nur  von  a  abhängt.  Diese  Funktion  wähle  ich 
willkürlich,  nur  muß  ich  sie  als  stetig  voraussetzen.  Der 
Wert  von  sin  7111  bleibt  derselbe,  wenn  u  um  27t  wächst; 
ich  kann  also  ohne  die  Allgemeinheit  zu  beeinträchtigen 
voraussetzen,  daß  ti  zwischen  o  und  Zit  liegt;  und  so 
komme  ich  zu  der  Voraussetzung,  daß  g)(a)  eine  perio- 
dische Funktion  mit  der  Periode   2  n  sein  muß. 

Der  gesuchte  wahrscheinliche  Wert  läßt  sich  leicht 
durch  ein  einfaches  Integral  ausdrücken,  und  es  ist  nicht 
schwierig  zu  zeigen,   daß  dieses  Integral  kleiner  als 

2  7t  Mj^ 


k     ' 
n 


sei,  wo  Mk  den  größten  Wert  des  k^^^  DifFerentialquotienten 
von  ^{li)  bezeichnet.  Man  sieht  hieraus,  daß  unser 
wahrscheinlicher   Wert,    wenn    dieser  k^^  Differentialquo- 

13* 


Iq6  I^'  ^^'     -^^^  Wahrscheinliclikeitsreclinung. 

tient  endlich  ist,    bei  unendlich  wachsendem  ;z  sich  der 
Grenze  Null  nähert  und  zwar  schneller  als  die  Zahl 


k—r 

n 


Der  wahrscheinliche  Wert  von  sin  nu  für  große  Werte 
von  71  ist  also  gleich  Null;  um  diesen  Wert  zu  definieren, 
bedurfte  ich  einer  Festsetzung;  aber  das  Resultat  bleibt 
dasselbe,  wie  auch  diese  Festsetzung  getroffen 
wird.  Indem  ich  voraussetzte,  daß  die  Funktion  q)(a) 
stetig  und  periodisch  sei,  habe  ich  mir  nur  unbedeutende 
Beschränkungen  auferlegt,  und  diese  Voraussetzungen 
sind  in  dem  Grade  natürlich,  daß  man  sich  denselben 
kaum  entziehen  kann. 

Die  Betrachtung  der  drei  vorhergehenden  Beispiele, 
die  untereinander  so  sehr  verschieden  waren,  läßt  uns 
einerseits  die  Rolle  dessen  erkennen,  was  die  Philosophen 
das  Prinzip  des  zureichenden  Grundes  nennen,  und  läßt 
uns  andererseits  die  Wichtigkeit  der  Tatsache  verstehen, 
daß  gewisse  Eigenschaften  allen  stetigen  Funktionen  ge- 
meinsam sind.  Zu  demselben  Resultate  wird  uns  das 
Studium  der  Wahrscheinlichkeit  in  den  physikalischen 
Wissenschaften  führen. 

3.  Die  Wahrscheinlichkeit  in  den  physikalischen 
Wissenschaften.  —  Wir  gelangen  jetzt  zu  den  Problemen, 
welche  sich  auf  das  beziehen,  was  ich  weiter  oben  den 
zweiten  Grad  der  Unwissenheit  nannte;  es  sind  diejenigen 
Probleme,  bei  denen  man  das  Gesetz  kennt,  aber  nichts 
von  dem  Anfangszustande  weiß.  Ich  könnte  eine  Menge 
von  Beispielen  anführen,  will  aber  nur  eines  davon  nehmen: 
Welches  ist  die  gegenwärtig  wahrscheinliche  Verteilung 
der  kleinen  Planeten  auf  dem  Tierkreise? 

Wir  wissen,  daß  die  Planeten  den  Kepplerschen 
Gesetzen  gehorchen;  wir  können  sogar,  ohne  irgend 
etwas    an    der  Natur    des  Problems   zu    ändern,    voraus- 


Wahrsclieinlichkeit  in  der  Physik.  jgy 

setzen,  daß  ihre  Bahnen  sämtlich  kreisförmig  sind  und 
in  derselben  Ebene  liegen,  und  daß  wir  das  wissen. 
Wir  wissen  hingegen  absolut  nichts  über  ihre  anfängliche 
Verteilung.  Indessen  zögern  wir  nicht  damit,  zu  be- 
haupten, daß  diese  Verteilung  heutzutage  fast  gleich- 
förmig ist.     Wie  kommen  wir  dazu? 

Wenn  h  die  Länge  eines  kleinen  Planeten  zur  An- 
fangszeit, d.  h.  zur  Zeit  /  =  o  ist,  ferner  a  seine  mitt- 
lere Bewegung,  so  wird  seine  Länge  zur  gegenwärtigen 
Zeit,  d.  h.  zur  Zeit  /,  at  -\-  b  sein.  Wenn  man  sagt,  daß 
die  gegenwärtige  Verteilung  gleichförmig  ist,  so  soll  das 
heißen,  daß  der  mittlere  Wert  des  Sinus  und  des  Cosinus 
der  Vielfachen  von  at  -\-  b  gleich  Null  ist.  Warum  be- 
haupten wir  das? 

Wir  wollen  uns  jeden  kleinen  Planeten  durch  einen 
Punkt  in  einer  Ebene  darstellen,  und  zwar  durch  den- 
jenigen Punkt,  dessen  Koordinaten  genau  a  und  b  sind. 
Alle  diese  darstellenden  Punkte  sind  in  einem  gewissen 
Bezirke  der  Ebene  enthalten,  aber  da  sie  sehr  zahlreich 
sind,  wird  dieser  Bezirk  mit  Punkten  dicht  übersät  er- 
scheinen. Sonst  wissen  wir  nichts  von  der  Verteilung 
dieser  Punkte. 

Wie  kommt  man  dazu,  die  Wahrscheinlichkeitsrech- 
nung auf  eine  ähnliche  Frage  anzuwenden?  Was  ist 
die  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  eine  gewisse  Zahl  dar- 
stellender Punkte  sich  in  einem  bestimmten  Teile  der 
Ebene  befindet?  In  unserer  Unwissenheit  werden  wir 
dazu  geführt,  eine  willkürliche  Hypothese  zu  machen. 
Um  die  Natur  dieser  Hypothese  verständlich  zu  machen, 
möge  man  mir  gestatten,  an  Stelle  einer  mathematischen 
Formel  ein  zwar  grobes,  aber  faßliches  Bild  anzuwenden. 
Denken  wir  uns,  wir  hätten  über  der  Oberfläche  unserer 
Ebene  eine  fingierte  Materie  ausgebreitet,  deren  Dichtig- 
keit veränderlich  ist,  sich  aber  nur  auf  stetige  Weise 
ändert.     Wir  kommen  dahin  überein,  zu  sagen,   daß  die 


Iq8  rV,  II.     Die  "Walirsclieiiilichkeitsrechnung. 

wahrscheinliche  Anzahl  von  darstellenden  Punkten,  die 
sich  auf  einem  Teile  der  Ebene  befinden,  der  Menge 
von  fingierter  Materie,  welche  sich  in  diesem  Teile  be- 
findet, proportional  ist.  Wenn  man  dann  zwei  Bezirke  der 
Ebene  von  gleicher  Ausdehnung  hat,  so  werden  sich  die 
Wahrscheinlichkeiten  dafür,  daß  ein  darstellender  Punkt 
eines  unserer  kleinen  Planeten  sich  in  dem  einen  oder 
anderen  Bezirke  befindet,  verhalten  wie  die  durchschnitt- 
lichen Dichtigkeiten  der  fingierten  Materie  in  dem  einen 
oder  anderen  Bezirke. 

Wir  haben  dann  zwei  Verteilungen,  eine  wirkliche, 
in  der  die  darstellenden  Punkte  sehr  zahlreich  und  sehr 
gedrängt  sind,  aber  diskret  wie  die  Moleküle  der  Materie 
in  der  atomistischen  Hypothese;  die  andere,  von  der 
Wirklichkeit  weit  entfernte,  in  der  unsere  darstellenden 
Punkte  durch  eine  stetige  und  fingierte  Masse  ersetzt 
sind.  Diese  letztere  Verteilung  halten  wir  nicht  für  wirk- 
lich, aber  unsere  Unwissenheit  verurteilt  uns  dazu,  sie 
anzunehmen. 

Wenn  wir  irgend  welche  Idee  von  der  wirklichen  Ver- 
teilung der  darstellenden  Punkte  hätten,  könnten  wir  es 
so  einrichten,  daß  in  einem  Bezirke  gewisser  Ausdehnung 
die  Dichtigkeit  dieser  stetigen,  fingierten  Materie  der 
Anzahl  von  darstellenden  Punkten  nahezu  proportional 
ist,  oder,  wenn  man  will,  der  Anzahl  von  Atomen  pro- 
portional sei,  welche  in  diesem  Bezirke  enthalten  sind. 
Das  ist  unmöglich,  und  unsere  Unwissenheit  ist  so  groß, 
daß  wir  gezwungen  sind,  die  Funktion  willkürlich  zu 
wählen,  welche  die  Dichtigkeit  unserer  fingierten  Materie 
definiert.  Wir  sind  nur  zu  einer  Hypothese  verpflichtet, 
der  wir  uns  kaum  entziehen  können;  wir  werden  näm- 
lich voraussetzen,  daß  diese  Funktion  stetig  ist.  Das 
genügt,  wie  wir  sehen  werden,  um  uns  eine  Schlußfol- 
gerung zu  gestatten. 

Welches    ist    im    Augenblicke    /    die   Verteilung    der 


A'erteilunsr  der  kleinen  Planeten. 


199 


kleinen  Planeten?  Oder  besser,  was  ist  der  wahrschein- 
liche Wert  des  Sinus  der  Länge  zur  Zeit  /,  d.  h.  der 
Wert  von  sin  (af-\-b)}  Wir  haben  anfänglich  ein  will- 
kürliches Übereinkommen  getroffen;  wenn  wir  es  aber 
annehmen,  so  ist  dieser  wahrscheinliche  Wert  vollkommen 
bestimmt.  Zerlegen  wir  die  Ebene  in  Flächenelemente. 
Betrachten  wir  den  Wert  von  sin  {af  -\-  b)  im  Mittelpunkte 
jedes  dieser  Elemente;  multiplizieren  wir  diesen  Wert 
mit  der  Oberfläche  des  Elementes  und  mit  der  Dichtig- 
keit, welche  der  fingierten  Materie  entspricht;  und  dann 
bilden  wir  die  Summe  für  alle  Elemente  der  Ebene. 
Diese  Summe  wird,  nach  Definition,  der  wahrscheinliche 
Mittelwert  sein,  den  wir  suchten,  und  der  sich  hier  durch 
ein  Doppelintegral  ausdrückt. 

Man  könnte  zuerst  glauben,  daß  dieser  mittlere  Wert 
von  der  Wahl  der  Funktion  cp  abhängen  wird,  welche 
die  Dichtigkeit  der  fingierten  Materie  definiert,  und  daß 
wir,  weil  die  Definition  von  cp  willkürlich  ist,  je  nach  der 
willkürlichen  Wahl,  die  wir  treffen,  jeden  beliebigen  mitt- 
leren Wert  erhalten  können.      Es  ist  jedoch  nicht  so. 

Eine  einfache  Rechnung  beweist,  daß  unser  Doppel- 
integral sehr  rasch  abnimmt,  wenn  /  wächst. 

Anfangs  war  ich  nicht  klar  darüber,  welche  Hypo- 
these ich  in  Betreff  der  Wahrscheinlichkeit  dieser  oder 
jener  Anfangsverteilung  machen  sollte;  aber  welcher  Art 
auch  die  gemachte  Hypothese  sei,  das  Resultat  wird 
immer  das  gleiche  bleiben,  und  das  hilft  mir  aus  der 
Verlegenheit. 

Welches  auch  die  Funktion  cp  sei,  der  mittlere  Wert 
nähert  sich  der  Null,  wenn  /  wächst,  und  da  die  kleinen 
Planeten  sicher  eine  große  Anzahl  von  Umläufen  ausge- 
führt haben  (so  daß  /  sehr  groß  ist),  so  kann  ich  be- 
haupten,   daß   dieser  mittlere  Wert  sehr  klein  sein  muß. 

Ich  kann  cp  wählen,  wie  ich  will,  jedoch  immer  mit 
einer  Beschränkung:   diese  Funktion  muß  stetig  sein;   und 


200  rV>  ^^'    -^^^  "Wahrsclieinlichkeitsrechnung. 

in  der  Tat,  vom  Gesichtspunkte  der  subjektiven  Wahr- 
scheinlichkeit aus  würde  die  Wahl  einer  unstetigen 
Funktion  unvernünftig  gewesen  sein;  welcher  Grund 
würde  mich  z.  B.  veranlassen,  vorauszusetzen,  daß  die 
anfängliche  Länge  genau  gleich  o^  sei,  daß  ihr  Wert 
aber  nicht  zwischen  o*^  und   i^  liegen  könne. 

Aber  die  Schwierigkeit  erscheint  von  neuem,  wenn 
man  sich  auf  den  Standpunkt  der  objektiven  Wahrschein- 
lichkeit stellt,  wenn  man  von  unserer  imaginären  Vertei- 
lung, in  der  die  fingierte  Materie  als  stetig  vorausge- 
setzt ist,  zur  wirklichen  Verteilung  übergeht,  in  der 
unsere  darstellenden  Punkte  sich  wie  diskrete  Atome 
verhalten. 

Der  mittlere  Wert  von  sin  (af  -\-  b)  wird  ganz  ein- 
fach durch: 

i^  sin  {at  +  b) 

dargestellt,  wo  n  die  Zahl  der  kleinen  Planeten  bezeich- 
net. Anstatt  eines  Doppelintegrals,  das  sich  auf  eine 
stetige  Funktion  bezieht,  haben  wir  eine  Summe  von 
diskreten  Gliedern.  Und  doch  wird  niemand  ernstlich 
daran  zweifeln,  daß  dieser  mittlere  Wert  tatsächlich  sehr 
klein  ist. 

Das  kommt  daher,  weil  unsere  darstellenden  Punkte 
dicht  gedrängt  sind  und  deshalb  unsere  diskrete  Summe 
im  allgemeinen  von  einem  Integral  wenig  verschieden 
sein  wird. 

Ein  Integral  ist  die  Grenze,  der  sich  eine  Summe 
von  Gliedern  nähert,  wenn  die  Anzahl  dieser  Glieder 
unendlich  wächst.  Wenn  die  Glieder  sehr  zahlreich  sind, 
so  wird  die  Summe  nur  sehr  wenig  von  ihrer  Grenze, 
d.  h.  von  dem  Integrale  verschieden  sein,  und  was  ich 
von  dem  letzteren  sagte,  bezieht  sich  auch  auf  die 
Summe  selbst. 


Unwahrscheinlicher  Anfangszustand.  201 

Nichtsdestoweniger  gibt  es  Ausnahmefälle.  Wenn 
man  z.  B.   für  alle  kleinen  Planeten: 

b  = at 

2 

hätte,    so   würden    alle   Planeten   zur   Zeit   /  wieder   die 

TT 

Län^e  —  haben,    und    der  mittere  Wert  würde  offenbar 

2 

gleich  I  sein.  Zu  dem  Zwecke  müßte  man  annehmen, 
daß  die  kleinen  Planeten  zur  Zeit  /  =  o  sich  sämtlich 
auf  einer  besonderen  Spirale  mit  sehr  engen  Windungen 
befanden.  Jeder  wird  mir  darin  beistimmen,  daß  eine 
derartige  anfängliche  Verteilung  äußerst  unwahrscheinlich 
ist,  und  selbst,  wenn  man  annehmen  wollte,  daß  sie 
wirklich  so  gewesen  sei,  so  würde  die  jetzige  Verteilung 
(z.  B.  am  I.  Januar  igoo)  nicht  gleichförmig  ausfallen, 
aber  sie  würde  einige  Jahre  später  wieder  gleichförmig 
werden. 

Warum  halten  wir  denn  diese  anfängliche  Verteilung 
für  unwahrscheinlich  ?  Es  ist  notwendig,  das  zu  erklären, 
denn,  wenn  wir  keinen  Grund  haben,  diese  einfältige 
Hypothese  als  unwahrscheinlich  zu  verwerfen,  so  würde 
alles  zusammenstürzen,  und  wir  könnten  in  Betreff  der 
Wahrscheinlichkeit  dieser  oder  jener  wirklichen  Verteilung 
nichts  mehr  behaupten. 

Wir  müssen  uns  hier  wieder  auf  das  Prinzip  des 
zureichenden  Grundes  berufen,  zu  welchem  man  stets 
zurückkehren  muß.  Wir  könnten  zulassen,  daß  zu  An- 
fang die  Planeten  ungefähr  in  gerader  Linie  verteilt 
waren;  wir  könnten  zulassen,  daß  sie  unregelmäßig  ver- 
teilt waren;  aber  es  scheint,  daß  es  keinen  genügenden 
Grund  dafür  gibt,  daß  die  unbekannte  Ursache,  welche 
die  Planeten  entstehen  ließ,  gemäß  einer  so  regelmäßigen 
und  doch  so  komplizierten  Kurve  (Spirale  mit  sehr  engen 
Windungen)  gewirkt  habe,   die  einzig  nur  darum  so  ge- 


202  I^'  ^i«     ^^^  Wahrscheinlichkeitsrechnung. 

wählt  scheinen  würde,   damit  die  gegenwärtige  Verteilung 
nicht  einförmig  sei. 

4.  Rouge  et  noir.  —  Durch  die  Glücksspiele  und 
das  Roulette  sind  Fragen  angeregt  worden,  welche  im 
Grunde  genommen  mit  den  soeben  behandelten  voll- 
kommen analog  sind. 

.  Eine  Scheibe  ist  z.  B.  in  eine  große  Anzahl  von 
gleichen  Abteilungen  eingeteilt,  die  abwechselnd  rot  und 
schwarz  sind;  eine  Nadel  wird  mit  großer  Kraft  in  Be- 
wegung gesetzt  und,  nachdem  sie  viele  Umdrehungen 
gemacht  hat,  bleibt  sie  vor  einer  dieser  erwähnten  Ab- 
teilungen stehen.     Die  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  diese 

Abteilung  rouge  sei,  ist  offenbar  — 

Die  Nadel  dreht  sich  um  einen  Winkel  &,  der  meh- 
rere Umgänge  umfaßt  (also  größer  als  360  Grad  ist); 
ich  weiß  nicht,  welches  die  Wahrscheinlichkeit  dafür  ist, 
daß  die  Nadel  mit  einer  solchen  Kraft  in  Bewegung 
gesetzt  werde,  daß  dieser  Winkel  zwischen  '9'  und  d"  +  dd- 
enthalten  ist;  aber  ich  kann  eine  Festsetzung  treffen;  ich 
kann  voraussetzen,  daß  diese  Wahrscheinlichkeit  gleich 
€p{d')d<d-  ist;  was  die  Funktion  (p(d')  anbelangt,  so  kann 
ich  sie  auf  ganz  willkürliche  Art  wählen;  es  gibt  nichts, 
was  mich  in  meiner  Wahl  leiten  könnte,  jedoch  habe 
ich  Veranlassung,  diese  Funktion  als  stetig  vorauszu- 
setzen. 

Es  sei  e  die  Länge  (gemessen  auf  dem  Umfange 
eines  Kreises  vom  Radius  i)  jeder  roten  oder  schwarzen 
Abteilung. 

Man  muß  das  Integral  von  g){d')dd'  berechnen,  indem 
man  es  einerseits  auf  alle  roten  Abteilungen,  anderer- 
seits auf  alle  schwarzen  Abteilungen  ausdehnt,  und  dann 
die  Resultate  vergleichen. 

Betrachten  wir  ein  Intervall  2s,  das  eine  rote  und 
die     darauf   folgende    schwarze    Abteilung    in    sich    ein- 


Rouge  et  noir.  20'^ 

schließt.  Sei  211  und  7?i  der  größte,  bezw.  der  kleinste 
Wert  der  Funktion  (p{'d')  in  diesem  Intervalle.  Das  auf 
die  roten  Abteilungen  ausgedehnte  Integral  wird  kleiner 
als  2Jlf8  sein;  das  auf  die  schwarzen  Abteilungen  aus- 
gedehnte Integral  wird  größer  als  Z7us  sein;  die  Dif- 
ferenz wird  also  kleiner  als  2(Äf —  ??i)s  ausfallen.  Aber 
wenn  die  Funktion  cp  als  stetig  vorausgesetzt  ist,  wenn 
andererseits  das  Intervall  s  im  Verhältnis  zu  dem  ganzen, 
von  der  Nadel  durchlaufenen  Winkel  sehr  klein  ist,  so 
wird  die  Differenz  Jlf —  7/1  sehr  klein  sein. 

Die  Differenz  zwischen  den  beiden  Integralen  wird 
also    sehr    klein    sein    und    die   Wahrscheinlichkeit    sehr 

nahe  an  —  lieo^en. 

2        ° 

Man  versteht,  daß  ich,  ohne  etwas  von  der  Funk- 
tion (p  zu  wissen,  so  handeln  kann,  als  ob  die  Wahr- 
scheinlichkeit —  wäre.     Man  versteht  andererseits,  warum 

2 

ein  objektiver  Zuschauer  bei  Beobachtung  einer  gewissen 
Anzahl  von  Drehungen  die  Nadel  ungefähr  ebenso  oft 
auf  schwarz  wie  auf  rot  anhalten  sieht. 

Alle  Spieler  kennen  dieses  objektive  Gesetz;  aber 
es  verleitet  sie  zu  einem  sonderbaren  Irrtum,  der  schon 
oft  aufgeklärt  ist,  und  in  welchen  sie  immer  wieder 
zurückfallen.  Wenn  rot  z.  B.  sechsmal  hintereinander 
herauskommt,  so  setzen  sie  auf  schwarz  und  glauben 
damit  einen  sicheren  Einsatz  gemacht  zu  haben,  weil, 
wie  sie  behaupten,  es  sehr  selten  ist,  das  rot  siebenmal 
hintereinander  herauskommt. 

Tatsächlich  bleibt  ihre  Wahrscheinlichkeit  auf  Gewinn 

gleich   —      Die    Beobachtung    beweist    zwar,     daß    die 

Serien  von  siebenmal  rot  hintereinander  sehr  selten  sind; 
aber  die  Serien  von  sechsmal  rot  hintereinander,  worauf 
dann  schwarz  folgt,  sind  ebenso  selten.  Sie  haben  die 
Seltenheit    der  Serien   von    siebenmal   rot   hintereinander 


204  ^^'  ^^'    -^^^  Wahrscheinliclikeitsrechnung. 

bemerkt;  aber  sie  haben  nicht  die  Seltenheit  der  Serien 
von  sechsmal  rot  hintereinander  und  einmal  schwarz  be- 
merkt, nur  weil  dergleichen  Serien  die  Aufmerksamkeit 
weniger  auf  sich  lenken. 

5.  Die  Wahrscheinlichkeit  der  Ursachen.  Ich 
komme  jetzt  zu  den  Problemen  von  der  Wahrscheinlich- 
keit der  Ursachen.  Dieselben  sind  unter  dem  Gesichts- 
punkte der  wissenschaftlichen  Anwendung  die  wichtigsten. 
Wenn  z.  B.  zwei  Sterne  auf  der  Himmelskugel  einander 
sehr  nahe  sind,  ist  dann  diese  scheinbare  Nähe  ein 
reiner  Zufall,  und  befinden  sich  diese  Sterne,  obgleich 
sie  nahezu  in  derselben  Gesichtslinie  liegen,  tatsächlich 
in  sehr  verschiedenen  Entfernungen  von  der  Erde,  und 
sind  sie  folglich  auch  voneinander  sehr  weit  entfernt? 
Oder  besser  gesagt,  entspricht  dies  einer  wirklichen 
Nähe?  Diese  Frage  bezieht  sich  auf  die  Wahrscheinlich- 
keit der  Ursachen. 

Ich  erinnere  daran,  daß  wir  am  Anfange  aller  Pro- 
bleme über  Wahrscheinlichkeit  von  Wirkungen,  die  uns 
bis  jetzt  beschäftigt  haben,  immer  ein  mehr  oder  minder 
berechtigtes  Übereinkommen  treffen  mußten.  Und  wenn 
das  Resultat  meistens,  bis  zu  einem  gewissen  Grade, 
von  diesem  Übereinkommen  unabhängig  war,  so  lag  dies 
daran,  daß  wir  gewisse  Annahmen  machten,  welche  uns 
erlaubten,  z.  B.  die  diskontinuierlichen  Funktionen  oder 
gewisse  einfältige  Festsetzungen  a  priori  zu  verwerfen. 

Wir  werden  etwas  Analoges  wiederfinden,  wenn  wir 
uns  mit  der  Wahrscheinlichkeit  der  Ursachen  beschäfti- 
gen. Eine  Wirkung  kann  durch  die  Ursache  A  oder 
die  Ursache  B  hervorgebracht  werden.  Man  hat  die 
Wirkung  beobachtet;  man  verlangt  die  Wahrscheinlich- 
keit dafür,  daß  sie  der  Ursache  A  entspringt;  das  ist 
die  Wahrscheinlichkeit  der  Ursache  a  posteriori.  Aber 
ich  könnte  sie  nicht  berechnen,  wenn  nicht  ein  mehr 
oder  minder  berechtigtes  Übereinkommen  mich  im  vor- 


Wahrscheinliclikeit  der  Ursaclien.  20=) 

aus  erkennen  ließe,  welches  die  Wahrscheinlichkeit  a 
priori  dafür  ist,  daß  die  Ursache  A  in  Wirkung  tritt; 
ich  meine,  die  Wahrscheinlichkeit  dieses  Ereignisses 
für  jemanden,  der  die  Wirkung  noch  nicht  beobachtet  hat. 
Um  mich  besser  auszudrücken,  komme  ich  auf  das 
Beispiel  des  Ecarte  -  Spieles  zurück,  das  ich  weiter  oben 
erwähnte;  mein  Gegner  gibt  zum  ersten  Male  und 
tourniert  den  König;  welches  ist  die  Wahrscheinlichkeit 
dafür,    daß    er    ein   Falschspieler    sei?     Die    gewöhnlich 

o 

gelehrten  Formeln  ergeben  — ,  ein  offenbar  sehr  über- 
raschendes Resultat.  Aber  wenn  man  die  Formeln  näher 
prüft,  bemerkt  man,  daß  die  Rechnung  gemacht  wurde, 
als  hätte  ich  mich  mit  der  Überzeugung  an  den 
Spieltisch  gesetzt,  daß  mein  Gegner  ebenso  gut  ehr- 
lich, wie  unehrlich  sein  könnte.  Das  ist  eine  törichte 
Hypothese,  weil  ich  in  solchem  Falle  gewiß  nicht  mit 
ihm  gespielt  haben  würde;  das  erklärt  die  Absurdität 
der  gezogenen  Folgerung. ^^) 

Das  Übereinkommen  über  die  Wahrscheinlichkeit 
a  priori  war  ungerechtfertigt;  darum  hatte  mich  die  Be- 
rechnung über  die  Wahrscheinlichkeit  a  posteriori  zu 
einem  unstatthaften  Resultate  geführt.  Man  sieht  die 
Wichtigkeit  dieses  vorhergegangenen  Übereinkommens; 
ich  füge  sogar  hinzu,  daß  das  Problem  der  Wahrschein- 
lichkeit a  posteriori  keinen  Sinn  hat,  wenn  man  kein 
Übereinkommen  getroffen  hat;  man  muß  ein  solches 
immer  herstellen,  sei  es  ausdrücklich  oder  stillschweigend. 

Wir  wollen  zu  einem  Beispiele  von  wissenschaft- 
licherem Charakter  übergehen.  Ich  will  ein  experimen- 
telles Gesetz  bestimmen;  wenn  ich  dieses  Gesetz  kennen 
würde,  so  wäre  es  durch  eine  Kurve  dargestellt;  ich. 
mache  eine  bestimmte  Anzahl  von  isolierten  Beobach- 
tungen; jede  von  ihnen  wird  durch  einen  Punkt  darge- 
stellt.    Wenn    ich    diese    verschiedenen   Punkte    erhalten 


206  I^>  ^^-     -^^^  "Wahrscheinlichkeitsreclinung. 

habe,  so  lasse  ich  eine  Kurve  zwischen  diesen  Punkten 
hindurchgehen,  indem  ich  mich  bemühe,  mich  möglichst 
wenig  von  den  Punkten  zu  entfernen  und  dennoch  meiner 
Kurve  eine  regelmäßige  Form  zu  bewahren,  d.  h.  eine 
Form  ohne  Ecken,  ohne  zu  starke  Biegungen,  ohne 
plötzliche  Veränderung  des  Krümmungsradius.  Diese 
Kurve  stellt  mir  das  wahrscheinliche  Gesetz  dar,  und  ich 
nehme  nicht  nur  an,  daß  sie  mich  diejenigen  Werte  der 
Funktion  kennen  lehrt,  welche  zwischen  den  beobachteten 
liegen,  sondern  daß  sie  mir  die  beobachteten  Werte 
selbst  genauer  als  die  direkte  Beobachtung  darstellt 
(darum  zog  ich  die  Kurve  nahe  an  meinen  Punkten  vor- 
bei und  nicht  durch  die  Punkte  selbst  hindurch). 

Das  ist  ein  Problem  der  Wahrscheinlichkeit  der  Ur- 
sachen. Die  Wirkungen  sind  die  von  mir  eingetragenen 
Messungen ;  sie  hängen  von  der  Zusammenwirkung  zweier 
Ursachen  ab:  von  dem  wirklichen  Gesetze  der  Erschei- 
nung und  von  den  Beobachtungsfehlern.  Wenn  man 
die  Wirkungen  kennt,  handelt  es  sich  darum,  die  Wahr- 
scheinlichkeit dafür  zu  suchen,  daß  die  Erscheinung 
einem  gewissen  Gesetze  gehorcht,  und  dafür,  daß  die 
Beobachtungen  mit  gewissen  Fehlern  behaftet  waren. 
Das  wahrscheinlichste  Gesetz  entspricht  dann  der  ge- 
zogenen Kurve,  und  der  wahrscheinlichste  Fehler  einer 
einzelnen  Beobachtung  wird  durch  die  Entfernung  des 
ihr    entsprechenden  Punktes    von    der  Kurve    dargestellt. 

Das  Problem  hätte  jedoch  keinen  Sinn,  wenn  ich 
mir  nicht,  noch  vor  der  Beobachtung,  eine,  Idee  a  priori 
über  die  Wahrscheinlichkeit  dieses  oder  jenes  Gesetzes 
zurechtgelegt  hätte,  und  wenn  ich  nicht  die  verschiede- 
nen Möglichkeiten  überdacht  hätte,  die  zu  Beobachtungs- 
fehlern Veranlassung  geben  können. 

Wenn  meine  Instrumente  gut  sind  (und  das  weiß 
ich,  bevor  die  Beobachtung  begonnen  hat),  gestatte  ich 
meiner    Kurve    nicht,    sich    zu    sehr    von    den    Punkten, 


Theorie  der  Fehler.  207 

welche  die  rohen  Messungen  darstellen,  zu  entfernen. 
Wenn  meine  Instrumente  jedoch  schlecht  beschaffen 
sind,  könnte  ich  mich  von  den  Punkten  etwas  weiter 
entfernen,  um  eine  Kurve  mit  nicht  allzu  viel  Biegungen 
zu  erhalten;  ich  würde  der  Regelmäßigkeit  ein  größeres 
Opfer  bringen. 

Warum  versuche  ich  denn  eine  Kurve  mit  nicht  all- 
zu starken  Biegungen  zu  ziehen?  Es  geschieht,  weil 
ich  a  priori  ein  durch  eine  stetige  Funktion  dargestelltes 
Gesetz  (oder  durch  eine  Funktion,  deren  höhere  Diffe- 
rentialquotienten sehr  klein  sind),  für  wahrscheinlicher 
halte  als  ein  Gesetz,  das  diesen  Bedingungen  nicht 
genügt.  Ohne  diesen  Glauben  hätte  das  Problem,  von 
dem  wir  sprechen,  keinen  Sinn;  die  Interpolation  wäre 
unmöglich;  man  könnte  ein  Gesetz  nicht  aus  einer  end- 
lichen Zahl  von  Beobachtungen  ableiten;  die  Wissen- 
schaft würde  dann  aufhören  zu  existieren. 

Vor  fünfzig  Jahren  hielten  die  Physiker  unter  sonst 
gleichen  Umständen  ein  einfaches  Gesetz  für  wahrschein- 
licher als  ein  kompliziertes  Gesetz,  Sie  beriefen  sich 
sogar  auf  dieses  Prinzip  zu  Gunsten  des  Mariotteschen 
Gesetzes  gegenüber  den  Experimenten  von  Regnault. 
Heutzutage  haben  sie  sich  von  diesem  Glauben  losge- 
sagt; und  doch,  wie  oft  sind  sie  nicht  dazu  genötigt  zu 
handeln,  als  ob  sie  noch  diesen  Glauben  behalten  hätten  l 
Wie  dem  auch  sei,  was  von  dieser  Tendenz  übrig  bleibt, 
ist  der  Glaube  an  die  Stetigkeit,  und  wir  haben  gesehen, 
daß  die  experimentelle  Wissenschaft  unmöglich  wäre, 
wenn  dieser  Glaube  verschwinden  würde  (vgl.   S.   149  ff.). 

6.  Die  Theorie  der  Fehler.  —  Wir  werden  so  da- 
zu geführt,  von  der  Theorie  der  Fehler  zu  sprechen, 
welche  sich  direkt  an  das  Problem  von  der  Wahrschein- 
lichkeit der  Ursachen  anschließt.  Auch  hier  konstatieren 
wir  Wirkungen,  nämlich  eine  gewisse  Anzahl  von  nicht- 
übereinstimmenden  Beobachtungen,    und    wir    versuchen 


2  08  I^'  ^^'     ^^^  Wahrscteinliclikeitsreclinung. 

die  Ursachen  zu  erraten,  und  diese  liegen  einerseits 
in  dem  wirklichen  Werte  der  zu  messenden  Größe, 
andererseits  in  dem  Fehler,  der  bei  jeder  einzelnen  Be- 
obachtung gemacht  wurde.  Man  muß  berechnen,  welches 
a  posteriori  die  wahrscheinliche  Größe  jedes  Fehlers 
und  folglich  der  wahrscheinliche  Wert  der  zu  messenden 
Größe  ist. 

Aber  nach  dem,  was  ich  soeben  auseinandersetzte,  kann 
man  diese  Rechnung  nicht  unternehmen,  wenn  man  nicht 
a  priori,  d.  h.  noch  bevor  man  beobachtet,  ein  Gesetz 
für  die  Wahrscheinlichkeit  der  Fehler  annimmt.  Gibt 
es  ein  Fehlergesetz? 

Das  von  allen  Rechnern  angenommene  Fehlergesetz 
ist  das  Gesetz  von  Gauß,  welches  durch  eine  gewisse 
transcendente  Kurve  dargestellt  wird,  die  unter  dem 
Namen  ,, Glockenkurve"  bekannt  ist.^^) 

Vorerst  ist  es  jedoch  ratsam,  sich  an  die  klassische 
Unterscheidung  zwischen  den  systematischen  und  den 
zufälligen  Fehlern  zu  erinnern.  Wenn  wir  eine  Länge 
mit  einem  zu  langen  Metermaße  messen,  werden  wir 
immer  eine  zu  kleine  Zahl  herausbekommen,  und  es 
nützt  nichts,  die  Messung  öfter  zu  wiederholen;  das  ist 
ein  systematischer  Fehler.  Wenn  wir  die  Länge  mit 
einem  genauen  Metermaße  messen,  können  wir  uns  wohl 
täuschen,  aber  wir  werden  uns  bald  um  mehr,  bald  um 
weniger  täuschen,  und  wenn  wir  den  Durchschnitt  einer 
großen  Anzahl  von  Messungen  nehmen,  wird  sich  der 
Fehler  ausgleichen.     Das  sind  zufällige  Fehler. 

Es  ist  klar,  daß  die  systematischen  Fehler  dem  Ge- 
setze von  Gauß  nicht  gehorchen  können;  aber  befolgen 
die  zufälligen  Fehler  dieses  Gesetz?  Man  hat  eine 
große  Anzahl  von  Beweisen  versucht;  fast  alle  sind  grobe 
Trugschlüsse.  Man  kann  trotzdem  das  Gesetz  von  Gauß 
beweisen,  indem  man  von  folgenden  Hypothesen  aus- 
geht:  der  begangene  Fehler  ist  die  Resultante  sehr  vieler 


Systematische  und  zufallige  Fehler.  20Q 

einzelner  und  unabhängiger  Fehler;  jeder  dieser  einzel- 
nen Fehler  ist  sehr  klein  und  folgt  außerdem  irgend 
einem  Wahrscheinlichkeitsgesetze,  nur  muß  die  Wahr- 
scheinlichkeit eines  positiven  Fehlers  dieselbe  sein  wie 
die  Wahrscheinhchkeit  eines  gleich  großen  Fehlers  von 
entgegengesetztem  Vorzeichen.  Es  ist  klar,  daß  diese 
Bedingungen  oft  erfüllt  werden,  aber  nicht  immer;  und 
wir  können  den  Namen  der  zufälligen  Fehler  nur  für 
die  Fehler  beibehalten,  welche  diesen  Bedingungen  ent- 
sprechen. 

Man  sieht,  daß  die  Methode  der  kleinsten  Quadrate 
nicht  in  allen  Fällen  berechtigt  ist;  im  allgemeinen  miß- 
trauen die  Physiker  dieser  Methode  mehr  als  die  Astro- 
nomen. Ohne  Zweifel  liegt  dies  daran,  daß  diese  letz- 
teren, abgesehen  von  den  systematischen  Fehlern,  die 
bei  ihnen  ebenso  wie  bei  den  Physikern  vorkommen, 
mit  einer  äußerst  wichtigen  Fehlerquelle  zu  tun  haben, 
die  gänzlich  vom  Zufalle  abhängt;  ich  meine  die  atmo- 
sphärischen Undulationen.  Es  ist  sehr  merkwürdig,  den 
Meinungsaustausch  zwischen  einem  Physiker  und  einem 
Astronomen  inbezug  auf  Beobachtungsmethoden  an- 
zuhören: Der  Physiker  ist  davon  überzeugt,  daß  eine 
gute  Messung  besser  ist  als  viele  schlechte,  und  be- 
schäftigt sich  vor  allem  damit,  die  letzten  systematischen 
Fehler  mit  äußerster  Vorsicht  zu  entfernen,  und  der 
Astronom  antwortet  ihm  darauf:  „Aber  Sie  können  ja 
dann  nur  eine  kleine  Anzahl  von  Sternen  beobachten; 
die  zufälligen  Fehler  werden  sich  nicht  ausgleichen". 

Was  sollen  wir  daraus  entnehmen?  Soll  man  damit 
fortfahren,  die  Methode  der  kleinsten  Quadrate  anzu- 
wenden? Wir  müssen  folgendes  unterscheiden:  wir 
haben  alle  systematischen  Fehler,  die  wir  vermuten 
konnten,  entfernt;  wir  wissen  wohl,  daß  es  noch  welche 
gibt,  aber  wir  können  sie  nicht  auffinden;  dennoch 
müssen  wir  einen  Entschluß  fassen  und  einen  definitiven 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  I4 


2  I O  IVj  1 1  •     Die  Wahrscheinliclikeitsreclinung. 

Wert  annehmen,  welcher  als  der  wahrscheinliche  Wert 
betrachtet  wird;  es  ist  klar,  daß  man  dafür  am  besten 
die  Gaußsche  Methode  anwendet.  Wir  haben  nur  eine 
praktische,  sich  auf  die  subjektive  Wahrscheinlichkeit  be- 
ziehende Regel  anzuwenden.  Dagegen  läßt  sich  nichts 
einwenden. 

Aber  man  will  noch  weiter  gehen  und  behaupten, 
daß  nicht  nur  der  wahrscheinliche  Wert  so  und  so  groß 
ist,  sondern  daß  auch  der  wahrscheinliche,  dem  Resultate 
anhaftende  Fehler  so  und  so  groß  ist.  Das  ist  abso- 
lut unberechtigt;  das  würde  nur  richtig  sein,  wenn 
wir  sicher  wären,  daß  alle  systematischen  Fehler  ausge- 
merzt sind,  und  davon  wissen  wir  durchaus  nichts.  Wir 
haben  zwei  Serien  von  Beobachtungen;  wenn  wir  die 
Regel  der  kleinsten  Quadrate  anwenden,  so  finden  wir, 
daß  der  wahrscheinliche  Fehler  in  der  ersten  Serie  zwei- 
mal kleiner  als  in  der  zweiten  ist.  Die  zweite  Serie 
kann  indessen  besser  wie  die  erste  sein,  weil  die  erste 
vielleicht  von  einem  groben,  systematischen  Fehler  beein- 
flußt ist.  Alles,  was  wir  sagen  können,  ist,  daß  die  erste 
Serie  wahrscheinlich  besser  als  die  zweite  ist,  weil 
ihr  zufälliger  Fehler  geringer  ist,  und  daß  wir  keinen 
Grund  haben  zu  behaupten,  der  systematische  Fehler 
sei  für  die  eine  Serie  größer  als  für  die  andere,  denn 
unsere  Unwissenheit  ist  auf  diesem  Gebiete  eine  ab- 
solute. 

7.  Schlußfolgerungen.  —  In  den  vorhergehenden 
Zeilen  habe  ich  viele  Probleme  aufgestellt,  aber  keines 
davon  gelöst.  Ich  bedaure  dennoch  nicht,  diese  Zeilen 
geschrieben  zu  haben,  denn  sie  werden  den  Leser  viel- 
leicht dazu  veranlassen,  über  diese  verwickelten  Fragen 
nachzudenken.^^) 

Wie  man  auch  darüber  denken  mag,  gewisse  Punkte 
sind  doch  festgelegt.  Um  irgend  eine  Wahrscheinlich- 
keitsrechnung  zu  unternehmen  und  um  dieser  Rechnung 


Die  Fresnelsche  Theorie.  211 

einen  Sinn  zu  geben,  muß  man  als  Ausgangspunkt  eine 
Hypothese  oder  ein  Übereinkommen  zulassen,  welches 
immer  eine  gewisse  Willkürlichkeit  hineinbringt.  In  der 
Wahl  dieses  Übereinkommens  können  wir  uns  nur  von 
dem  Prinzipe  des  zureichenden  Grundes  leiten  lassen. 
Unglücklicherweise  ist  dieses  Prinzip  sehr  unbestimmt 
und  sehr  dehnbar,  und  wir  haben  bei  der  nur  kurzen 
Prüfung,  der  wir  es  unterzogen,  bemerkt,  daß  es  ver- 
schiedene Gestalten  annimmt.  Die  Gestalt,  welche  es 
am  häufigsten  annahm,  ist  der  Glaube  an  die  Stetigkeit, 
ein  Glaube,  der  schwer  durch  eine  apodiktische  Beweis- 
führung zu  rechtfertigen  ist,  ohne  den  jedoch  jede 
Wissenschaft  unmöglich  sein  würde.  Die  Probleme,  auf 
welche  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  mit  Recht  an- 
gewandt werden  kann,  sind  schließHch  diejenigen,  bei 
denen  das  Resultat  unabhängig  von  der  zu  Anfang  ge- 
machten Hypothese  ist,  wenn  nur  diese  Hypothese  der 
Bedingung  der  Stetigkeit  genügt. 


Zwölftes  Kapitel. 

Optik  und  Elektrizität. 

Die  Fresnelsche  Theorie.  —  Das  beste  Beispiel^), 
das  wir  wählen  können,  ist  die  Theorie  des  Lichtes  und 
ihre  Beziehung  zur  Elektrizitäts-Theorie.  Wir  verdanken 
Fresnel,  daß  die  Optik  der  am  weitesten  vorgeschrittene 
Teil  der  mathematischen  Physik  ist;  die  sogenannte 
Theorie  der  Wellenbewegungen  bildet  für  den  Verstand 
ein  wahrhaft  befriedigendes  Ganze;  aber  wir  dürfen  von 
ihr  nicht  verlangen,  was  sie  nicht  leisten  kann. 


^)  Dieses  Kapitel  ist  die  teilweise  Reproduktion  der  Vorrede 
meiner  beiden  Werke:  Theorie  mathematique  de  la  lumiere  (Paris, 
Naud,   1889)  und  Electricite  et  optique  (Paris,  Naud,   1901). 


14* 


219  IV,  12.     Optik  und  Elektrizität. 

Die  mathematische  Wissenschaft  hat  nicht  den  Zweck, 
uns  über  die  wahre  Natur  der  Dinge  aufzuklären;  das 
würde  ein  unbilliges  Verlangen  sein.  Ihr  einziges  Ziel 
ist,  die  physikalischen  Gesetze  miteinander  zu  verbinden, 
»welche  die  Erfahrung  uns  zwar  erkennen  ließ,  die  wir 
aber  ohne  mathematische  Hilfe  nicht  aussprechen  könnten. 

Es  kümmert  uns  wenig,  ob  der  Äther  wirklich  exi- 
stiert; das  ist  Sache  des  Metaphysikers ;  wesentlich  für 
uns  ist  nur,  daß  alles  sich  abspielt,  als  wenn  er  exi- 
stierte, und  daß  diese  Hypothese  für  die  Erklärung  der 
Erscheinungen  bequem  ist.  Haben  wir  übrigens  eine 
andere  Ursache,  um  an  das  Dasein  der  materiellen  Ob- 
jekte zu  glauben?  Auch  das  ist  nur  eine  bequeme 
Hypothese;  nur  wird  sie  nie  aufhören  zu  bestehen,  wäh- 
rend der  Äther  eines  Tages  ohne  Zweifel  als  unnütz 
verworfen  wird. 

Aber  auch  an  diesem  Tage  werden  die  Gesetze  der 
Optik  und  die  Gleichungen,  welche  sie  in  die  Sprache 
der  Analysis  übertragen,  richtig  bleiben,  wenigstens  als 
erste  Annäherungen.  Es  wird  also  immer  nützlich  bleiben, 
eine  Lehre  zu  studieren,  welche  alle  diese  Gleichungen 
untereinander  verknüpft. 

Die  Theorie  der  Wellenbewegungen  beruht  auf  einer 
molekularen  Hypothese;  für  die  einen,  d.  h.  für  die- 
jenigen, welche  glauben,  auf  diese  Art  den  Urgrund  der 
Gesetze  zu  entdecken,  ist  es  ein  Vorteil;  für  die  andern 
ein  Grund  mehr  zum  Mißtrauen;  aber  dieses  Mißtrauen 
scheint  mir  ebensowenig  gerechtfertigt  zu  sein  wie  die 
Illusion  der  ersteren. 

Diese  Hypothesen  spielen  nur  eine  untergeordnete 
Rolle.  Man  könnte  sie  opfern;  man  tut  es  gewöhnlich 
nicht,  weil  die  Darstellung  an  Klarheit  verlieren  würde; 
aber  das  ist  auch  der  einzige  Grund  (vergl.  S.   154). 

Und  wirklich,  bei  näherer  Betrachtung  wird  man 
sehen,    daß  man  den    molekularen  Hypothesen  nur  zwei 


Die  Maxwellsche  Theorie. 


213 


Dinge  entlehnt:  das  Prinzip  von  der  Erhaltung  der 
Energie  und  die  lineare  Form  der  Gleichungen,  welche 
das  oberste  Gesetz  für  die  kleinen  Bewegungen  wie 
überhaupt  für  alle  kleinen  Veränderungen  ist.^^) 

Das  erklärt,  warum  die  meisten  Schlußfolgerungen 
Fresnels  ohne  Veränderungen  fortbestehen,  wenn  man 
die  elektro-magnetische  Theorie  des  Lichtes  annimmt. 

Die  Maxwellsche  Theorie.  —  Man  weiß,  daß  Max- 
well zwei  Abteilungen  der  Physik,  die  einander  bis  da- 
hin vollkommen  fremd  waren,  durch  ein  enges  Band  mit- 
einander verknüpfte:  Optik  und  Elektrizität.  Die  Optik 
Fresnels  büßte  nichts  von  ihrer  Lebensfähigkeit  ein,  wenn 
sie  derart  mit  einem  umfassenderen  Ganzen,  mit  einer 
höheren  Harmonie  verschmolzen  wurde.  Ihre  verschie- 
denen Teile  bestehen  fort,  und  die  gegenseitigen  Be- 
ziehungen derselben  bleiben  stets  die  gleichen.  Nur  die 
Sprache,  in  welcher  wir  sie  ausdrücken,  hat  sich  ver- 
ändert, aber  andererseits  hat  uns  Maxwell  andere  Be- 
ziehungen, die  bis  jetzt  noch  nicht  geahnt  wurden, 
zwischen  den  verschiedenen  Teilen  der  Optik  und  dem 
Gebiete  der  Elektrizität  offenbart. ^^) 

Wenn  ein  französischer  Leser  das  Buch  von  Max- 
well zum  ersten  Male  öffnet,  so  mischt  sich  ein  Gefühl 
des  Unbehagens,  oft  sogar  des  Mißtrauens  in  seine  Be- 
wunderung. Erst,  nachdem  er  sich  länger  mit  dem 
Buche  beschäftigt  hat,  und  nach  Überwindung  großer 
Schwierigkeiten  verliert  sich  dieses  Gefühl.  Manch  be- 
deutender  Geist  behält  diese  Gefühle  jedoch  immer. 

Warum  führen  sich  die  Ideen  des  englischen  Ge- 
lehrten so  schwer  bei  uns  ein?  Wahrscheinlich,  weil  die 
von  den  meisten  gebildeten  Franzosen  erhaltene  Er- 
ziehung sie  besonders  dazu  beanlagt,  die  Genauigkeit 
und    die  Logik   jeder    anderen   Eigenschaft   vorzuziehen. 

Die  alten  Theorien  der  mathematischen  Physik  boten 
uns   in  dieser   Hinsicht    eine   völlige  Befriedigung.     Alle 


21  A  IV,  12.     Optik  und  Elektrizität. 

unsere  Meister  von  Laplace  bis  auf  Cauchy  sind  in 
gleicher  Weise  vorgegangen.  Indem  sie  von  klar  aus- 
gesprochenen Hypothesen  ausgingen,  leiteten  sie  aus 
ihnen  mit  mathematischer  Strenge  alle  Folgerungen  ab 
und  verglichen  sie  darauf  mit  der  Erfahrung.  Sie  schienen 
jedem  Zweige  der  Physik  dieselbe  Exaktheit  wie  der 
Mechanik  des  Himmels  geben  zu  wollen. 

Ein  Verstand,  der  gewohnt  ist,  solche  Vorbilder  zu 
bewundern,  ist  schwer  durch  eine  Theorie  zu  befriedigen. 
Er  wird  in  einer  solchen  nicht  nur  den  geringsten  Schein 
eines  Widerspruchs  als  unerträglich  empfinden,  sondern 
er  wird  verlangen,  daß  die  verschiedenen  Teile  der 
Theorie  logisch  miteinander  verbunden  sein  müssen,  und 
daß  man  die  gemachten  Hypothesen  einzeln  ausspricht 
und  ihre  Anzahl  auf  ein  Minimum  beschränkt. 

Das  ist  nicht  alles,  er  wird  noch  andere  Forderungen 
stellen,  die  mir  weniger  vernünftig  erscheinen.  Hinter 
der  Materie,  die  von  unseren  Sinnen  wahrgenommen 
wird,  und  welche  wir  durch  die  Erfahrung  kennen,  ver- 
sucht er  eine  andere  Materie  zu  sehen,  welche  in  seinen 
Augen  die  einzig  richtige  ist,  welche  nur  noch  rein 
geometrische  Eigenschaften  besitzt  und  deren  Atome  nur 
mathematische,  den  alleinigen  Gesetzen  der  Dynamik 
unterworfene  Punkte  sind.  Und  dennoch  wird  er  sich 
gewissermaßen  gegen  seine  eigene  Überzeugung  diese 
unsichtbaren  und  farblosen  Atome  bildlich  darzustellen 
suchen  und  dieselben  dadurch  möglichst  der  gewöhn- 
lichen Materie  nähern. 

Nur  dann  wird  er  völlig  befriedigt  sein  und  sich  ein- 
bilden, das  Geheimnis  des  Weltalls  erforscht  zu  haben. 
Wenn  diese  Befriedigung  auch  eine  trügerische  ist,  so 
ist  es  deshalb  doch  nicht  minder  schwer,  ihr  zu  entsagen. 

Deshalb  erwartet  ein  Franzose,  wenn  er  Maxwells 
Buch  öffnet,  eine  zusammenhängende  Theorie  zu  finden, 
die    ebenso    logisch   und   ebenso   genau   ist   wie  die   auf 


Schwierigkeiten  bei  Maxwell.  2  I  5 

der  Hypothese  vom  Äther  beruhende  Optik;  er  bereitet 
sich  dadurch  eine  Enttäuschung,  vor  der  ich  den  Leser 
bewahren  möchte,  indem  ich  ihn  sofort  davon  in  Kenntnis 
setze,  was  er  bei  Maxwell  suchen  soll  und  was  er  bei 
ihm  nicht  finden  kann. 

Maxwell  gibt  keine  mechanische  Erklärung  für  die 
Elektrizität  und  den  Magnetismus;  er  beschränkt  sich 
darauf  zu  beweisen,   daß   diese  Erklärung  möglich  ist. 

Er  zeigt  zugleich,  daß  die  optischen  Erscheinungen 
nur  ein  besonderer  Fall  der  elektromagnetischen  Erschei- 
nungen sind.  Aus  jeder  Theorie  der  Elektrizität  kann 
man  also   sofort  eine  Theorie  des  Lichtes  ableiten. 

Das  Umgekehrte  geht  leider  nicht;  es  ist  nicht  immer 
leicht,  aus  einer  vollkommenen  Erklärung  des  Lichtes 
eine  vollkommene  Erklärung  der  elektrischen  Erschei- 
nungen abzuleiten.  Es  ist  besonders  nicht  leicht,  wenn 
man  von  der  Fresnelschen  Theorie  ausgehen  will;  es 
würde  zweifellos  nicht  unmöglich  sein;  nichtsdestoweniger 
muß  man  sich  fragen,  ob  man  nicht  gezwungen  werden 
würde,  bewunderungswürdigen  Resultaten  zu  entsagen, 
welche  man  definitiv  gesichert  glaubte.  Das  scheint  ein 
Schritt  rückwärts  zu  sein,  und  mancher  tüchtige  Kopf 
wird  sich  zu  solcher  Entsagung  nicht  entschließen.®'*^) 

Wenngleich  der  Leser  darein  willigt,  seine  Hoff'nun- 
gen  zu  beschränken,  so  wird  er  sich  doch  an  anderen 
Schwierigkeiten  stoßen;  der  englische  Gelehrte  versucht 
nicht  ein  einziges,  bestimmtes  und  wohlgeordnetes  Ge- 
bäude zu  errichten,  er  scheint  vielmehr  eine  große  An- 
zahl provisorischer  und  voneinander  unabhängiger  Bauten 
aufzuführen,  zwischen  denen  die  Verbindung  manchmal 
schwierig  und  oft  unmöglich  ist. 

Nehmen  wir  z.  B.  das  Kapitel,  in  welchem  er  die 
elektrostatische  Attraktion  durch  Druck-  und  Zugkräfte 
erklärt,  welche  in  dem  dielektrischen  Medium  herrschen. 
Dieses  Kapitel  könnte  ausgelassen  werden,  ohne  daß  der 


2i5  IV,  12.     Optik  und  Elektrizität. 

Rest  des  Buches  weniger  klar  und  weniger  vollständig 
wäre,  und  andererseits  enthält  es  eine  Theorie,  welche 
sich  selbst  genügt,  und  man  kann  sie  verstehen,  ohne 
auch  nur  eine  der  vorhergehenden  oder  der  folgenden 
Zeilen  zu  lesen.  Aber  dieses  Kapitel  ist  nicht  nur  un- 
abhängig von  dem  übrigen  Werke;  es  ist  schwer  mit  den 
fundamentalen  Ideen  des  Buches  in  Einklang  zu  bringen, 
Maxwell  selbst  versucht  nicht,  diese  Übereinstimmung 
herbeizuführen;  er  beschränkt  sich  darauf  zu  sagen: 
,,I  have  not  been  able  to  make  the  next  step,  namely,  to 
account  by  mechanical  considerations  for  these  Stresses 
in  the   dielectric." 

Dieses  Beispiel  wird  meinen  Gedankengang  ver- 
ständlich machen;  ich  könnte  noch  andere  Beispiele  an- 
führen. Wer  würde  daran  zweifeln,  wenn  er  die  Seiten 
liest,  welche  sich  mit  der  magnetischen  Drehung  der 
Polarisations-Ebene  beschäftigen,  daß  es  eine  Wesens- 
einheit zwischen  den  optischen  und  den  magnetischen 
Erscheinungen  gibt? 

Man  soll  sich  nicht  einbilden,  jeden  Widerspruch  ver- 
meiden zu  können;  man  muß  sich  darin  finden.  Zwei 
widersprechende  Theorien  können  tatsächlich,  voraus- 
gesetzt, daß  man  sie  nicht  miteinander  vermengt  und  in 
ihnen  nicht  den  Grund  der  Dinge  erblickt,  alle  beide 
nützliche  Untersuchungs -Werkzeuge  sein,  und  vielleicht 
wäre  die  Lektüre  Maxwells  weniger  anregend,  wenn  er 
uns  nicht  so  viele  Ausblicke  in  die  verschiedensten 
Richtungen  eröffnet  hätte. 

Aber  die  fundamentale  Idee  ist  dadurch  etwas  ver- 
kleidet, und  zwar  so  sehr,  daß  sie  in  den  meisten  popu- 
lären Werken  fast  vollständig  übersehen  wird. 

Um  ihre  Wichtigkeit  besser  hervorzuheben,  glaube 
ich  erklären  zu  müssen,  worin  diese  fundamentale  Idee 
besteht.      Dazu  ist  eine  kurze  Abweichung  notwendig. 

Die   mechanische   Erklärung    der   physikalischen 


Mechanisclie  Erklärung.  2  17 

Erscheinungen.  —  In  jeder  physikalischen  Erscheinung 
gibt  es  eine  gewisse  Anzahl  von  Parametern,  welche  dem 
Experimente  direkt  zugänglich  sind  und  durch  dasselbe 
gemessen  werden.      Ich  will  sie  die  Parameter  q  nennen. 

Die  Beobachtung  läßt  uns  darauf  die  Gesetze  von 
den  Veränderungen  dieser  Parameter  erkennen,  und  diese 
Gesetze  lassen  sich  allgemein  in  die  Form  von  Differential- 
gleichungen setzen,  welche  die  Parameter  q  und  die 
Zeit  miteinander  verbinden. 

Wie  kann  man  eine  mechanische  Erklärung  für  eine 
solche  Erscheinung  geben? 

Man  wird  versuchen,  sie  entweder  durch  die  Be- 
wegungen der  gewöhnlichen  Materie  oder  durch  die  Be- 
wegungen eines  hypothetischen  Fluidums  oder  mehrerer 
Fluida  zu  erklären. 

Diese  Fluida  werden  von  einer  sehr  großen  Anzahl 
einzelner  Moleküle  gebildet,   die  ich  m  nennen  will. 

Wann  werden  wir  nun  sagen,  daß  wir  eine  voll- 
kommene mechanische  Erklärung  für  die  Erscheinung 
haben?  Das  wird  einerseits  der  Fall  sein,  wenn  wir  die 
Differentialgleichungen  kennen,  welchen  die  Koordinaten 
dieser  hypothetischen  Moleküle  m  genügen,  dieselben 
Gleichungen,  welche  andrerseits  den  Prinzipen  der  Dy- 
namik konform  sein  müssen;  andrerseits  wird  es  ge- 
schehen, wenn  wir  die  Relationen  kennen,  welche  die 
Koordinaten  der  Moleküle  m  in  Funktion  der  Parameter 
q  definieren,  welch  letztere  dem  Experimente  zugäng- 
lich sind. 

Diese  Gleichungen  müssen,  wie  ich  bereits  sagte, 
den  Prinzipen  der  Dynamik  und  besonders  dem  Prinzipe 
von  der  Erhaltung  der  Energie  und  dem  Prinzipe  der 
kleinsten  Wirkung  konform  sein. 

Das  erste  dieser  beiden  Prinzipe  lehrt  uns,  daß  die 
totale  Energie  konstant  ist,  und  daß  diese  Energie  sich 
in  zwei  Teile  teilt: 


2i8  IV,  12.     Optik  und  Elektrizität. 

1.  Die  kinetische  Energie  oder  lebendige  Kraft, 
welche  von  den  Massen  der  hypothetischen  Moleküle  m 
und  von  ihren  Geschwindigkeiten  abhängt,  und  die  ich 
T  nennen  werde. 

2.  Die  potentielle  Energie,  welche  nur  von  den  Koor- 
dinaten dieser  Moleküle  abhängt,  und  die  ich  U  nennen 
werde.  Die  Summe  dieser  beiden  Energien  T  und  U 
ist  konstant. 

Was  lehrt  uns  nun  das  Prinzip  der  kleinsten  Wirkung? 
Es  lehrt  uns,  daß  das  System,  um  von  der  Anfangslage, 
welche  es  im  Zeitpunkte  t^  einnimmt,  zur  Endlage,  die 
es  im  Zeitpunkte  t^  einnimmt,  überzugehen,  einen  solchen 
Weg  einschlagen  muß,  daß  in  dem  Intervalle  der  Zeit, 
welche  zwischen  den  beiden  Zeitpunkten  /q  und  t^  ver- 
geht, der  mittlere  Wert  der  ,, Wirkung"  (d.  h.  der  Diffe- 
renz zwischen  den  beiden  Energien  T  und  U)  so  klein 
als  möglich  ist.  Das  erste  dieser  beiden  Prinzipe  ist 
übrigens  eine  Folge  des  zweiten. 

Wenn  man  die  beiden  Funktionen  T  und  U  kennt, 
so  genügt  dieses  Prinzip,  um  die  Gleichungen  der  Be- 
wegung zu  bestimmen. 

Unter  allen  Wegen,  welche  den  Übergang  von  einer 
Lage  in  die  andere  vermitteln,  gibt  es  offenbar  einen, 
für  welchen  der  mittlere  Wert  der  Wirkung  kleiner  ist 
als  für  alle  anderen.  Es  gibt  auch  nur  einen  solchen 
Weg,  und  es  folgt  daraus,  daß  das  Prinzip  der  kleinsten 
Wirkung  hinreichend  ist,  um  den  eingeschlagenen  Weg 
und  folglich  die  Gleichungen  der  Bewegung  zu  bestimmen. 

Man  erhält  so  die  sogenannte  erste  Form  der  Glei- 
chungen von  Lagrange. 

In  diesen  Gleichungen  sind  die  unabhängigen  Va- 
riabein die  Koordinaten  der  hypothetischen  Moleküle  m\ 
aber  ich  setze  jetzt  voraus,  daß  man  die  Parameter  q  zu 
Variabein  nimmt,  weil  sie  der  Erfahrung  direkt  zugäng- 
lich sind. 


Kinetisclie  und  potentielle  Energie.  2  I Q 

Die  beiden  Teile  der  Energie  müssen  sich  dann  in 
Funktion  der  Parameter  q  und  ihrer  Diflferentialquotienten 
ausdrücken  lassen;  in  dieser  Gestalt  erscheinen  sie  offen- 
bar dem  Experimentator.  Dieser  sucht  natürlich  die 
potentielle  und  die  kinetische  Energie  mit  Hilfe  der 
Größen,  welche  er  direkt  beobachten  kann,  zu  definieren.*) 

Dies  vorausgesetzt,  wird  das  System  stets  von  einer 
Lage  zu  einer  anderen  einen  derartigen  Weg  verfolgen, 
daß  die  mittlere  Wirkung  ein  Minimum  sein  wird. 

Es  kommt  nicht  darauf  an,  daß  T  und  U  jetzt  mit 
Hilfe  der  Parameter  q  und  ihrer  Differentialquotienten 
ausgedrückt  werden;  ebensowenig  kommt  es  darauf  an, 
daß  wir  gerade  mittelst  dieser  Parameter  die  Anfangs- 
und Endlage  definieren;  das  Prinzip  der  kleinsten  Wir- 
kung bleibt  immer  richtig. 

Es  sei  hier  gleich  eingeschaltet,  daß  von  allen  Wegen, 
die  von  einer  Lage  zu  einer  anderen  führen,  es  einen 
gibt,  für  den  die  mittlere  Wirkung  ein  Minimum  ist,  und 
daß  es  nur  den  einen  Weg  gibt.  Das  Prinzip  der  kleinsten 
Wirkung  genügt  also,  um  die  Differentialgleichungen  zu 
bestimmen,  welche  die  Veränderungen  der  Parameter  q 
definieren. 

Die  so  erhaltenen  Gleichungen  sind  eine  zweite  Form 
der  Gleichungen  von  Lagrange. ^^) 

Um  diese  Gleichungen  zu  bilden,  brauchen  wir  nicht 
die  Verbindungen  zu  kennen,  welche  die  Parameter  q 
mit  den  Koordinaten  der  hypothetischen  Moleküle  ver- 
binden, noch  die  Massen  dieser  Moleküle,  noch  den 
Ausdruck  von  U  in  Funktion  der  Koordinaten  dieser 
Moleküle.  Alles  was  wir  kennen  müssen,  ist  der  Aus- 
druck  von   U  in    Funktion    der  q   und    derjenige   von   T 


*)  Wir  fügen  hinzu,  daß  TJ  nur  von  den  Parametern  g,  T  von 
den  Parametern  q  und  ihren  Differentialquotienten  inbezug  auf 
die  Zeit  abhängt,  und  daß  T  ein  homogenes  Polynom  zweiten 
Grades  in  Bezug  auf  diese  Differentialquotienten  ist. 


2  20  I^»  12.     Optik  und  Elektrizität. 

in  Funktion  der  q  und  ihrer  Differentialquotienten,  d.  h, 
die  Ausdrücke  der  kinetischen  Energie  und  der  poten- 
tiellen Energie   in   Funktion   der   experimentellen  Daten. 

Dann  gibt  es  zwei  Möglichkeiten.  Entweder  die  in 
obiger  Weise  hergestellten  Lagrangeschen  Gleichungen 
stimmen  bei  passender  Wahl  der  Funktionen  T  und  U 
mit  den  Differentialgleichungen  überein,  welche  man  aus 
den  Experimenten  ableitet;  oder  es  gibt  keine  solche 
Funktionen  T  und  U,  für  welche  diese  Übereinstimmung 
stattfindet. 

In  diesem  letzteren  Falle  ist  es  klar,  daß  eine 
mechanische  Erklärung  nicht  möglich  ist. 

Die  notwendige  Bedingung  dafür,  daß  eine  mecha- 
nische Erklärung  durchführbar  sei,  liegt  also  in  der 
Möglichkeit,  die  Funktionen  T  und  U  so  zu  wählen, 
daß  sie  das  Prinzip  der  kleinsten  Wirkung  befriedigen, 
welches  das  Prinzip  der  Erhaltung  der  Energie  zur 
Folge  hat. 

Diese  Bedingung  ist  übrigens  hinreichend;  in  der 
Tat:  wir  wollen  voraussetzen,  daß  man  eine  Funktion  U 
der  Parameter  q  gefunden  hat,  welche  einen  der  Teile 
der  Energie  darstellt,  daß  ein  anderer  Teil  der  Energie, 
welche  wir  durch  T  darstellen,  eine  Funktion  der  q  und 
ihrer  Diflferentialquotienten  ist,  und  daß  sie  ein  homo- 
genes Polynom  zweiten  Grades  inbezug  auf  diese 
Differentialquotienten  ist,  und  endlich,  daß  die  Glei- 
chungen von  Lagrange,  welche  mit  Hilfe  dieser  beiden 
Funktionen  T  und  U  gebildet  sind,  den  Daten  der  Er- 
fahrung konform  sind. 

Wie  leitet  man  nun  daraus  eine  mechanische  Er- 
klärung ab?  Man  muß  U  als  potentielle  Energie  eines 
Systems  ansehen  und  T  als  die  lebendige  Kraft  dieses 
selben  Systems. 

Das  ist,    was    U  betrifft,    nicht  schwierig;    aber  kann 


Unendlicli  viele  Erklärungen.  2  2  1 

T  als  die  lebendige  Kraft  eines  materiellen  Systems  an- 
gesehen werden? 

Es  ist  leicht  zu  beweisen,  daß  das  stets  möglich  ist, 
■und  zwar  auf  unendlich  viele  verschiedene  Arten.  Für 
weitere  Einzelheiten  verweise  ich  auf  das  Vorwort  meines 
Werkes:  Elektrizität  und  Optik. 

Wenn  man  also  dem  Prinzipe  der  kleinsten  Wirkung 
nicht  genügen  kann,  so  gibt  es  keine  mögliche  mecha- 
nische Erklärung;  wenn  man  dem  Prinzipe  genügen 
kann,  so  gibt  es  nicht  nur  eine  Erklärung,  sondern  un- 
endlich viele  Erklärungen,  woraus  hervorgeht,  daß  es 
unendlich  viele  gibt,   sobald  es  eine  gibt. 

Ich  mache  noch  eine  Bemerkung. 

Unter  den  Größen,  welche  das  Experiment  uns  direkt 
nahe  bringt,  betrachten  wir  die  einen  als  Funktionen 
der  Koordinaten  unserer  hypothetischen  Moleküle;  das 
sind  die  Parameter  q\  wir  betrachten  die  anderen  nicht 
nur  als  abhängig  von  den  Koordinaten,  sondern  auch 
als  abhängig  von  den  Geschwindigkeiten  oder,  was  auf 
dasselbe  herauskommt,  als  Differential  quotienten  der 
Parameter  q  oder  als  Kombinationen  dieser  Parameter 
und  ihrer  Differentialquotienten. 

Dann  drängt  sich  uns  die  folgende  Frage  auf:  Welche 
unter  allen  diesen  experimentell  gemessenen  Größen 
wählen  wir,  um  die  Parameter  q  darzustellen?  Welche 
von  ihnen  werden  wir  auswählen,  um  sie  als  Differential- 
quotienten dieser  Parameter  zu  betrachten?  Diese  Wahl 
bleibt  in  sehr  ausgedehntem  Maße  willkürlich,  aber  um 
eine  mechanische  Erklärung  zu  ermöglichen,  ist  es  ge- 
nügend, wenn  man  sie  so  treffen  kann,  daß  man  mit 
dem  Prinzipe  der  kleinsten  Wirkung  in  Übereinstimmung 
bleibt. 

Und  in  dieser  Weise  hat  Maxwell  sich  gefragt,  ob 
er  diese  Wahl  und  die  Auswahl  der  beiden  Energien 
T  und   U  so  treffen  kann,   daß  die  elektrischen  Erschei- 


22  2  I^»  12.     Optik  und  Elektrizität. 

nungen  diesem  Prinzipe  genügen  können.  Die  Erfah- 
rung zeigt  uns,  daß  die  Energie  eines  elektromagnetischen 
Feldes  sich  in  zwei  Teile  zerlegt,  in  die  elektrostatische 
Energie  und  die  elektrodynamische  Energie.  Maxwell 
erkannte  folgendes:  Wenn  man  annimmt,  daß  die  erste 
die  potentielle  Energie  U  und  die  zweite  die  kinetische 
Energie  T  darstellt,  wenn  andererseits  die  elektrostatischen 
Ladungen  der  Konduktoren  als  Parameter  q  und  die 
Intensitäten  der  Ströme  als  Differential-Quotienten  anderer 
Parameter  q  betrachtet  werden;  unter  diesen  Bedingun- 
gen, sage  ich,  erkannte  Maxwell,  daß  die  elektrischen 
Erscheinungen  dem  Prinzipe  der  kleinsten  Wirkung  ge- 
nügen. Er  war  seitdem  von  der  Möglichkeit  einer 
mechanischen  Erklärung  überzeugt. 

Wenn  er  diese  Idee  am  Anfange  seines  Buches  klar 
ausgesprochen  hätte,  anstatt  sie  in  einen  Winkel  des 
zweiten  Bandes  zu  verbannen,  so  wäre  sie  den  meisten 
Lesern  nicht  entgangen. 

Wenn  also  eine  Erscheinung  eine  vollständig  mechani- 
sche Erklärung  zuläßt,  so  wird  sie  eine  unendliche  An- 
zahl anderer  mechanischer  Erklärungen  gestatten,  welche 
ebensogut  von  allen  durch  die  Erfahrung  geoflfenbarten 
Einzelheiten  Rechenschaft  geben. 

Und  das  ist  durch  die  Geschichte  aller  Teile  der 
Physik  bestätigt;  in  der  Optik  z.  B.  hält  Fresnel  die 
Vibration  für  senkre.cht  zur  Polarisationsebene;  Neumann 
hält  sie  für  parallel  zu  dieser  Ebene.  Man  hat  lange 
ein  ,,experimentum  crucis"  gesucht,  welches  zwischen 
diesen  beiden  Theorien  entscheiden  sollte,  aber  man  hat 
ein  solches  nicht  gefunden. 

Ebenso  können  wir,  ohne  das  Gebiet  der  Elektrizität 
zu  verlassen,  konstatieren,  daß  die  Theorie  zweier  Fluida 
und  die  Theorie  eines  Fluidums  beide  gleich  gut  von 
dem  beobachteten  Gesetze  der  Elektrostatik  Rechenschaft 
geben. 


Anteil  persönlicher  Vorliebe.  22^ 

Alle  diese  Tatsachen  erklären  sich  leicht  dank  den 
Eigenschaften  der  Lagrangeschen  Gleichungen,  welche 
ich  erwähnte. 

Es  ist  jetzt  leicht  zu  verstehen,  welches  die  funda- 
mentale Idee  Maxwells  war. 

Um  die  Möglichkeit  einer  mechanischen  Erklärung 
der  Elektrizität  zu  beweisen,  brauchen  wir  uns  nicht  vor- 
zunehmen, diese  Erklärung  selbst  wirklich  aufzufinden; 
es  genügt  uns,  den  A.usdruck  für  die  beiden  Funktionen 
T  und  U  zu  kennen,  welche  die  beiden  Teile  der 
Energie  sind,  darauf  mit  diesen  beiden  Funktionen  die 
Lagrangeschen  Gleichungen  zu  bilden  und  dann  diese 
Gleichungen  mit  den  experimentellen  Gesetzen  zu  ver- 
gleichen. 

Wie  soll  man  unter  allen  diesen  möglichen  Erklärun- 
gen eine  Wahl  treffen,  für  die  wir  in  den  Experimenten 
keinen  Anhalt  finden?  Es  wird  vielleicht  ein  Tag  kom- 
men, an  dem  die  Physiker  diesen  für  die  positiven 
Methoden  unzugänglichen  Fragen  kein  Interesse  mehr 
schenken  und  sie  den  Metaphysikern  überlassen.  Dieser 
Tag  ist  noch  nicht  gekommen;  der  Mensch  gesteht  nicht 
so  leicht  ein,  daß  er  den  Grund  der  Dinge  niemals  er- 
kennen kann. 

Unsere  Wahl  kann  also  nur  von  Betrachtungen  ge- 
leitet werden,  bei  denen  der  Anteil  persönlicher  Neigung 
und  Vorliebe  sehr  groß  ist;  es  gibt  indessen  Lösungen, 
welche  von  jedem  ihrer  Wunderlichkeit  wegen  verworfen 
werden,  und  es  gibt  wiederum  Lösungen,  welche  jeder 
ihrer  Einfachheit  wegen  bevorzugt. 

Was  die  Elektrizität  und  den  Magnetismus  betriff't, 
so  enthält  sich  Maxwell  jeder  Wahl;  aber  nicht  weil  er 
grundsätzlich  alles,  was  die  positiven  Methoden  nicht 
nahe  bringen  können,  verachtet;  die  Zeit,  welche  er  der 
kinetischen  Theorie  der  Gase  widmete,  legt  davon  Zeug- 
nis ab.     Ich  füge  hinzu,   daß,  wenn  er  in  seinem  großen 


2  24  ^^'  ^3-     ^^^  Elektrodynamik. 

Werke  keine  vollständige  Erklärung  entwickelt,  er  anderer- 
seits versucht,  eine  solche  in  einem  Artikel  des  Philo- 
sophical  Magazine  zu  geben.  Die  Fremdartigkeit  und 
die  Kompliziertheit  der  Hypothesen,  welche  er  so  machen 
mußte,  veranlaßten  ihn,   darauf  zu  verzichten. ^^) 

Derselbe  Geist  findet  sich  im  ganzen  Werke  wieder. 
Alles  Wesentliche,  d.  h.  alles,  was  sämtlichen  Theorien 
gemeinsam  bleiben  muß,  ist  klar  beleuchtet  worden; 
alles,  was  nur  für  eine  besondere  Theorie  paßt,  wird 
fast  immer  mit  Stillschweigen  übergangen.  Der  Leser 
findet  sich  somit  einer  fast  inhaltlosen  Form  gegenüber, 
welche  er  für  einen  vorübergleitenden  und  nicht  greif- 
baren Schatten  halten  möchte.  Aber  die  Anstrengungen, 
welche  er  gewaltsam  machen  muß,  zwingen  ihn  zum 
Denken,  und  schließlich  begreift  er  das  ganze  Gebäude 
der  oft  etwas  künstlichen  Theorien,  welche  er  früher 
lediglich  bewunderte. 


Dreizehntes  Kapitel. 

Die  Elektrodynamik. 

Die  Geschichte  der  Elektrodynamik  ist  gerade  für 
unseren  Standpunkt  sehr  lehrreich. 

Ampere  hat  sein  unsterbliches  Werk  ,, Theorie  des 
phenomenes  electrodynamiques  uniquement  fondee  sur 
l'experience"  betitelt.  Er  bildete  sich  also  ein,  keine 
Hypothese  gemacht  zu  haben;  er  hat,  wie  wir  bald  be- 
merken werden,  trotzdem  Hypothesen  aufgestellt,  aber 
er  tat  es,  ohne  es  zu  wissen. 

Diejenigen  welche  nach  ihm  kamen,  bemerkten  sie 
jedoch,  weil  ihre  Aufmerksamkeit  auf  die  schwachen 
Punkte  der  Ampereschen  Lösung  gelenkt  wurden.  Sie 
machten    neue    Hypothesen,    diesesmal    mit    vollem    Be- 


Die  Amperesche  Theorie.  22^ 

wußtsein;  aber  wie  oft  mußte  man  sie  ändern,  bevor 
man  zu  dem  klassischen  Systeme  von  heute  gelangte, 
welches  vielleicht  auch  noch  nicht  definitiv  ist;  wir 
wollen  darauf  näher  eingehen. 

I.  Die  Amperesche  Theorie.  —  Als  Ampere  die 
gegenseitigen  Wirkungen  der  Ströme  experimentell  stu- 
dierte, so  operierte  er  nur  mit  geschlossenen  Strömen 
und  konnte  nicht  anders  operieren. 

Das  geschah  nicht,  weil  er  die  Möglichkeit  der  offe- 
nen Ströme  leugnete.  Wenn  zwei  Konduktoren  mit  ent- 
gegengesetzter Elektrizität  geladen  sind  und  wenn  man 
sie  durch  einen  Draht  in  Verbindung  bringt,  entsteht 
ein  Strom,  der  von  einem  Konduktor  zum  anderen  geht 
und  welcher  so  lange  dauert,  bis  die  beiden  Potentiale 
gleich  geworden  sind.  Für  die  Auffassung,  welche  zur  Zeit 
Amperes  herrschte,  war  das  ein  offener  Strom;  man  sah 
wohl  den  Strom  vom  ersten  Konduktor  zum  zweiten 
übergehen,  aber  man  sah  ihn  nicht  vom  zweiten  zum 
ersten  Konduktor  zurückkommen. 

Ströme  dieser  Art  betrachtete  Ampere  als  offene, 
z.  B,  die  Entladungsströme  der  Kondensatoren;  aber  er 
konnte  sie  nicht  zum  Gegenstande  seiner  Experimente 
machen,  weil  ihre  Dauer  zu  kurz  ist. 

Man  kann  sich  noch  eine  andere  Art  von  offenen 
Strömen  vorstellen.  Ich  setze  zwei  Konduktoren  A  und 
B  voraus,  welche  durch  einen  Draht  A  ÜB  verbunden 
sind.  Kleine,  in  Bewegung  geratene,  leitende  Massen 
setzen  sich  zuerst  mit  dem  Konduktor  B  in  Berührung 
und  entnehmen  ihm  eine  elektrische  Ladung,  sie  ver- 
lassen die  Berührung  mit  B,  setzen  sich  in  Bewegung, 
indem  sie  den  Weg  BNA  verfolgen,  und,  indem  sie 
ihre  Ladung  mit  sich  tragen,  kommen  sie  in  Berührung 
mit  A  und  geben  dort  ihre  Ladung  ab,  welche  nun  zu 
B  zurückgelangt,  indem  sie  längs  des  Drahtes  A  ÜB 
geht. 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  I5 


2  2  6  IV,  13.     Elektrodynamik. 

Man  hat  hier  in  gewissem  Sinne  einen  geschlossenen 
Strom,  weil  die  Elektrizität  die  geschlossene  Kurve 
B IVA  ÜB  beschreibt;  aber  die  beiden  Teile  dieses 
Stromes  sind  sehr  verschieden;  in  dem  Drahte  AUB 
bewegt  sich  die  Elektrizität  im  Innern  eines  festen 
Leiters  in  der  Art  eines  Voltaschen  Stromes,  indem  sie 
einen  Ohmschen  Widerstand  überwindet  und  Wärme 
entwickelt;  man  sagt,  daß  sie  sich  durch  Leitung 
fortbewegt;  in  dem  Teile  B NA  ist  die  Elektrizität  durch 
einen  beweglichen  Leiter  übertragen;  man  sagt  dann, 
daß  sie  sich  durch  Konvektion  bewegt. 

Wenn  der  Konvektionsstrom  als  völlig  analog  mit 
dem  Leitungsstrome  erachtet  wird,  so  ist  der  Strom 
BN  AUB  geschlossen;  wenn  im  Gegensatze  dazu  der 
Konvektionsstrom  nicht  ,,ein  richtiger  Strom"  ist  und 
z.  B.  auf  den  Magnet  nicht  einwirkt,  so  bleibt  nur  der 
Leitungsstrom  A  ÜB  übrig,  und   der  ist  offen. 

Wenn  man  z.  B.  die  beiden  Pole  einer  Holtzschen 
Maschine  durch  einen  Draht  verbindet,  so  überträgt  die 
rotierende,  mit  Elektrizität  beladene  Scheibe  von  einem 
Pole  zum  anderen  durch  Konvektion  Elektrizität,  und 
diese  gelangt  durch  Leitung  im  Innern  des  Drahtes  zum 
ersten  Pole  zurück. 

Aber  Ströme  dieser  Art  sind  sehr  schwierig  mit 
wahrnehmbarer  Intensität  zu  verwirklichen.  Mit  den 
Mitteln,  über  welche  Ampere  verfügte,  war  es  so  gut  wie 
unmöglich. 

Kurz,  Ampere  konnte  das  Vorhandensein  zweier 
Arten  von  offenen  Strömen  erkennen,  aber  er  konnte 
weder  mit  den  einen  noch  mit  den  anderen  operieren, 
weil  sie  zu  wenig  intensiv  waren  oder  zu  kurze  Zeit 
dauerten. 

Das  Experiment  konnte  ihm  also  nur  die  Wirkung 
eines  geschlossenen  Stromes  auf  einen  geschlossenen 
Strom  zeigen  oder,  streng  genommen,   die  Wirkung  eines 


Geschlossene  Ströme.  227 

geschlossenen  Stromes  auf  einen  Stromteil,  denn  man 
kann  einen  Strom  durch  einen  geschlossenen  Weg 
gehen  lassen,  der  sich  aus  einem  beweglichen  und  einem 
festen  Teile  zusammensetzt.  Man  kann  dann  die  Orts- 
veränderungen des  beweglichen  Teiles  unter  der  Wirkung 
eines  anderen  geschlossenen  Stromes  studieren. 

Dagegen  hatte  Ampere  kein  Mittel,  die  Wirkung 
eines  offenen  Stromes  zu  studieren,  weder  inbezug  auf 
einen  geschlossenen  Strom  noch  inbezug  auf  einen  an- 
deren offenen  Strom. ^^^) 

I.  "Wirkung  geschlossener  Ströme.  —  In  dem 
Falle  der  gegenseitigen  Wirkung  zweier  geschlossenen 
Ströme  wurden  Ampere  durch  das  Experiment  auffallend 
einfache   Gesetze  geoffenbart. 

Ich  erwähne  hier  flüchtig  diejenigen,  welche  uns  in 
der  Folge  nützlich  sein  werden: 

1.  Wenn  die  Intensität  der  Ströme  konstant 
erhalten  wird  und  wenn  die  beiden  Ströme  nach 
irgend  welchen  Ortsveränderungen  und  Deformationen 
schließlich  zu  ihren  Anfangslagen  zurückkehren,  so  wird 
die  Totalarbeit  der  elektrodynamischen  Wirkungen  Null 
sein. 

Mit  anderen  Worten:  Es  gibt  ein  elektrodynami- 
sches Potential  der  beiden  Ströme,  welches  dem 
Produkte  der  Intensitäten  proportional  und  von  der  Ge- 
stalt und  der  relativen  Lage  der  Ströme  abhängig  ist; 
die  Arbeit  der  elektrodynamischen  Wirkungen  ist  gleich 
der  Variation  dieses  Potentials. 

2.  Die  Wirkung  eines  geschlossenen  Solenoids  ist 
Null. 

3.  Die  Wirkung  eines  geschlossenen  Stromes  C  auf 
einen  anderen  geschlossenen  Voltaschen  Strom  C'  hängt 
nur  von  dem  ,, magnetischen  Felde"  ab,  welches  durch 
diesen  Strom  C  erzeugt  wird.  In  jedem  Punkte  des 
Raumes   kann   man    in    der  Tat   nach  Größe    und  Rich- 

15* 


2  28  1^5  ^3-     Elektrodynamik. 

tung  eine  gewisse  Kraft  definieren,  welche  die  magne- 
tische Kraft  heißt  und  welche  folgende  Eigenschaften 
besitzt : 

a)  Die  von  C  auf  einen  magnetischen  Pol  ausgeübte 
Kraft  greift  an  diesem  Pole  an,  sie  ist  gleich  der  mag- 
netischen Kraft,  multipliziert  mit  der  magnetischen  Masse 
des  Poles. 

b)  Eine  sehr  kurze  Magnetnadel  sucht  die  Richtung 
der  magnetischen  Kraft  einzunehmen,  und  das  Kräfte- 
paar, welches  sie  in  diese  Lage  zurückzuführen  sucht, 
ist  proportional  dem  Produkte  der  magnetischen  Kraft 
in  das  magnetische  Moment  der  Nadel  und  in  den 
Sinus   des  Ausschlagswinkels. 

c)  Wenn  der  Stromkreis  C  seine  Lage  verändert, 
so  wird  die  Arbeit  der  elektrodynamischen,  von  C  auf 
C  ausgeübten  Wirkung  gleich  dem  Zuwachse  des  ,, Flusses 
magnetischer  Kraft"  sein,   der  diesen  Strom  kreuzt. 

IL  Wirkung  eines  geschlossenen  Stromes  auf 
einen  Stromteil.  —  Da  Ampere  einen  eigentlich  offenen 
Strom  nicht  verwirklichen  konnte,  so  hatte  er  nur  ein 
Mittel,  die  Wirkung  eines  geschlossenen  Stromes  auf 
einen  Stromteil  zu  beobachten. 

Er  operierte  nämlich  mit  einem  geschlossenen  Strome 
C",  der  sich  aus  zwei  Teilen:  einem  festen  und  einem 
beweglichen  Teile  zusammensetzte.  Der  bewegliche  Teil 
war  z.  B.  ein  beweglicher  Draht  aß,  dessen  Enden  a 
und  ß  längs  eines  festen  Drahtes  gleiten  konnten.  In 
einer  Lage  des  beweglichen  Drahtes  ruhte  das  Ende  a 
auf  dem  Punkte  A  des  festen  Drahtes  und  das  Ende  ß 
auf  dem  Punkte  B  des  festen  Drahtes.  Der  Strom 
circulierte  von  a  nach  /3,  d.  h.  von  A  nach  B  längs  des 
beweglichen  Drahtes,  und  er  kam  darauf  von  B  nach  A 
zurück,  indem  er  längs  des  festen  Drahtes  ging.  Dieser 
Strom  war  also  geschlossen. 

Nachdem    der   bewegliche   Draht   eine   gleitende  Be- 


Beweglicher  Stromteil.  2  2Q 

wegimg  ausgeführt  hatte,  befand  er  sich  in  einer  zweiten 
Lage.  Hier  ruhte  das  Ende  a  auf  einem  anderen 
Punkte  A'  des  festen  Drahtes  und  das  Ende  ß  auf 
einem  anderen  Punkte  B'  des  festen  Drahtes.  Der  Strom 
circulierte  dann  von  a  nach  ß,  d.  h.  von  A^  nach  B' 
längs  des  beweghchen  Drahtes,  und  er  kam  darauf  von 
B'  nach  B  zurück,  dann  von  B  nach  A,  schließlich  von 
A  nach  A\  immer  längs  des  festen  Drahtes.  Der  Strom 
war  also  wieder  geschlossen. 

Wenn  ein  solcher  Strom  der  Wirkung  eines  ge- 
schlossenen Stromes  C  unterworfen  wird,  so  verändert 
der  bewegliche  Teil  seine  Lage,  als  ob  er  der  Wirkung 
einer  Kraft  folgte.  Ampere  nimmt  an,  daß  die  schein- 
bare Kraft,  welcher  dieser  bewegliche  Teil  AB  unter- 
worfen ist  und  welche  die  Wirkung  von  C  auf  den 
Stromteil  aß  darstellt,  dieselbe  ist,  als  wenn  aß  von 
einem  offenen  Strome  durchlaufen  wurde,  der  in  a  und 
ß  aufhört,  während  tatsächlich  ccß  von  einem  geschlosse- 
nen Strome  durchlaufen  wird,  der  von  ß  nach  a  zurück- 
kehrt, indem  er  den  festen  Teil  des  Stromkreises  durch- 
läuft. 

Diese  Hypothese  erscheint  ziemlich  natürlich,  und 
Ampere  machte  sie,  ohne  sich  dessen  bewußt  zu  sein; 
nichtsdestoweniger  ist  sie  nicht  selbstverständlich, 
denn  wir  werden  später  sehen,  daß  Helmholtz  sie  ver- 
worfen hat.  Wie  dem  auch  sein  mag,  so  konnte  doch 
Ampere  vermöge  dieser  Hypothese,  obgleich  er  einen 
offenen  Strom  nicht  verwirklichen  konnte,  die  Gesetze 
der  Wirkung  eines  geschlossenen  Stromes  auf  einen 
offenen  Strom  oder  selbst  auf  ein  Stromelement  aus- 
sprechen. 

Die  Gesetze  bleiben  einfach: 

I.  Die  Kraft,  welche  auf  ein  Stromelement  einwirkt, 
greift  an  diesem  Elemente  an;  sie  ist  senkrecht  zu  dem 
Elemente    und    zur  magnetischen  Kraft  und  proportional 


2^0  -^j  ^3*    Elektrodynamik. 

derjenigen  Komponente  dieser  magnetischen  Kraft,  welche 
zum  Stromelemente  senkrecht  ist. 

2.  Die  Wirkung  eines  geschlossenen  Solenoids  auf 
ein  Stromelement  bleibt  Null. 

Aber  es  gibt  kein  elektrodynamisches  Potential  mehr, 
d.  h.  wenn  ein  geschlossener  und  ein  offener  Strom, 
deren  Intensitäten  konstant  erhalten  werden,  in  ihre  An- 
fangslagen zurückkehren,  so  ist  die  geleistete  Totalarbeit 
nicht  Null. 

III.  Stetige  Rotationen.  —  Unter  den  elektro- 
dynamischen Experimenten  sind  diejenigen  am  meisten 
bemerkenswert,  bei  denen  man  stetige  Rotationen  her- 
stellen konnte  und  die  man  öfters  Experimente  der 
,, unipolaren  Induktion"  nennt.  Ein  Magnet  kann  sich 
um  seine  Achse  drehen;  ein  Strom  durchläuft  zuerst  einen 
festen  Draht,  tritt  dann  in  den  Magnet  z.  B.  durch  den 
Pol  N  ein,  durchläuft  die  Hälfte  des  Magneten,  verläßt 
ihn  durch  einen  Gleitkontakt  und  kehrt  in  den  festen 
Draht  zurück. 

Der  Magnet  kommt  so  in  stetige  Rotation,  ohne 
jemals  eine  Gleichgewichtslage  einnehmen  zu  können. 
Das  ist  das  Faradaysche  Experiment. 

Wie  ist  dieses  möglich?  Wenn  man  mit  zwei  Strom- 
kreisen von  unveränderlicher  Form  zu  tun  hat:  einena 
festen  Stromkreise  C  und  einem  anderen  Stromkreise  C\ 
der  um  eine  Achse  beweglich  ist,  so  kann  dieser  letztere 
niemals  in  stetige  Rotation  geraten;  es  existiert  in  der 
Tat  ein  elektrodynamisches  Potential;  es  wird  also  um 
so  mehr  eine  Gleichgewichtslage  existieren,  und  zwar 
diejenige,  wo   das  Potential  ein  Maximum  ist. 

Die  stetigen  Rotationen  sind  also  nur  möglich,  wenn 
der  Stromkreis  C  sich  aus  zwei  Teilen  zusammensetzt: 
einem  festen  Teile  und  einem  um  eine  Achse  beweglichen 
Teile,  wie  es  in  dem  Experimente  Faradays  der  Fall 
war.     Dennoch   müssen   wir   einen  Unterschied   machen. 


Stetige  Rotationen.  23 1 

Der  Übergang  des  festen  Teiles  zum  beweglichen  Teile 
oder  umgekehrt  vollzieht  sich  entweder  durch  eine  ein- 
fache Berührung  (indem  der  gleiche  Punkt  des  beweg- 
lichen Teiles  beständig  mit  dem  gleichen  Punkte  des 
festen  Teiles  in  Berührung  bleibt)  oder  durch  eine 
gleitende  Berührung  (indem  der  gleiche  Punkt  des  be- 
weglichen Teiles  nacheinander  mit  verschiedenen  Punkten 
des  festen  Teiles  in  Berührung  kommt). 

Nur  im  zweiten  Falle  kann  eine  stetige  Rotation 
stattfinden.  Dabei  ereignet  sich  Folgendes:  Das  System 
hat  zwar  das  Bestreben,  eine  Gleichgewichtslage  einzu- 
nehmen; aber  wenn  diese  eben  erreicht  wird,  setzt  der 
Gleitkontakt  den  beweglichen  Teil  mit  einem  neuen 
Punkte  des  festen  Teiles  in  Verbindung;  der  bewegliche 
Teil  ändert  die  Verbindungen  im  Systeme;  er  ändert 
also  auch  die  Gleichgewichtsbedingungen,  so  daß  die 
Rotation  sich  ohne  Ende  fortsetzen  kann,  indem  die 
Gleichgewichtslage  sozusagen  vor  dem  Systeme,  welches 
sie  einzunehmen  sucht,  beständig  flieht. 

Ampere  nimmt  an,  daß  die  Einwirkung  des  Strom- 
kreises auf  die  beweglichen  Teile  von  C  die  gleiche 
ist,  als  wenn  der  feste  Teil  von  C  nicht  existierte,  und 
als  ob  folglich  der  Strom,  welcher  in  dem  beweglichen 
Teile  circuliert,   offen  wäre. 

Hieraus  schloß  er  also,  daß  die  Wirkung  eines  ge- 
schlossenen Stromes  auf  einen  offenen  Strom  oder  um- 
gekehrt die  Wirkung  eines  offenen  Stromes  auf  einen 
geschlossenen  Strom  zu  einer  stetigen  Rotation  Veran- 
lassung geben  kann. 

Aber  dieser  Schluß  hängt  von  der  Hypothese  ab, 
welche  ich  hervorgehoben  habe  und  die,  wie  ich  weiter 
oben  erwähnte,  von  Helmholtz  nicht  zugelassen  wird. 

IV.  Gegenseitige  Wirkung  z\veier  offenen  Ströme.  — 
Was  die  gegenseitige  Wirkung  zweier  offenen  Ströme  und 
besonders  diejenige  zweier  Stromelemente  betrifft,  so  ver- 


2-12  ^^f  ^3*     Elektrodynamik. 

sagt  jedes  Experiment.  Ampere  nahm  die  Hypothese 
zu  Hilfe.  Er  setzt  voraus:  i.  daß  die  gegenseitige  Wir- 
kung der  beiden  Elemente  sich  auf  eine  Kraft  reduziert, 
welche  in  der  Richtung  ihrer  geraden  Verbindungslinie 
wirkt;  2.  daß  die  Wirkung  zweier  geschlossenen  Ströme 
die  Resultante  der  gegenseitigen  Einwirkungen  ihrer  ver- 
schiedenen Elemente  ist,  welche  übrigens  die  gleichen 
sind,   als  ob   diese  Elemente  isoliert  wären. 

Bemerkenswert  ist,  daß  Ampere  auch  hier  wieder 
zwei  Hypothesen  macht,  ohne  sich  dessen  bewußt  zu 
sein. 

Wie  dem  auch  sei,  wenn  man  diese  beiden  Hypo- 
thesen mit  den  Experimenten  über  geschlossene  Ströme 
verbindet,  so  genügen  sie,  um  das  Gesetz  der  gegen- 
seitigen Wirkung  zweier  Elemente  vollständig  zu  be- 
stimmen. 

Dann  sind  jedoch  die  meisten  einfachen  Gesetze, 
welchen  wir  in  dem  Falle  der  geschlossenen  Ströme  be- 
gegneten,  nicht  mehr  richtig. 

Vor  allem  gibt  es  kein  elektrodynamisches  Potential; 
es  existierte  übrigens  schon,  wie  wir  oben  gesehen  haben, 
in  dem  Falle  eines  geschlossenen  Stromes,  der  auf  einen 
offenen  Strom  einwirkt,  nicht  mehr. 

Ferner  gibt  es,  streng  genommen,  keine  magnetische 
Kraft  mehr. 

Und  in  der  Tat  haben  wir  von  dieser  Kraft  weiter 
oben  (S.  228)   drei  verschiedene  Definitionen  gegeben: 

1.  durch    die  Wirkung   auf  einen  magnetischen  Pol; 

2.  durch  das  Kräftepaar,  welches  die  Richtung  der 
Magnetnadel  bestimmt; 

3.  durch  die  Wirkung  auf  ein  Stromelement. 

Nicht  nur  stimmen  in  dem  Falle,  der  uns  jetzt  be- 
schäftigt, diese  drei  Definitionen  nicht  überein,  sondern 
jede  von  ihnen  verliert  sogar  ihren  Sinn,  und  in 
der  Tat: 


Offene  Ströme.  2^X 

1.  Ein  magnetischer  Pol  ist  nicht  einer  nur  an  diesem 
Pole  angreifenden  Kraft  unterworfen.  Wir  haben  tat- 
sächlich gesehen,  daß  eine  Kraft,  welche  durch  die 
Wirkung  eines  Stromelements  auf  einen  Pol  ausgeübt 
wird,  nicht  am  Pole,  sondern  am  Elemente  angreift;  sie 
kann  andererseits  durch  eine  Kraft  ersetzt  werden,  welche 
am  Pole  angreift,  und  durch  ein  hinzutretendes  Kräfte- 
paar. 

2.  Das  Kräftepaar,  welches  auf  die  Magnetnadel 
wirkt,  beschränkt  sich  nicht  mehr  darauf,  die  Richtung 
derselben  zu  bestimmen,  denn  sein  Moment  inbezug 
auf  die  Längsachse  der  Nadel  ist  nicht  Null.  Es  zerlegt 
sich  in  ein  Paar,  das  die  Richtung  bestimmt,  und  in  ein 
ergänzendes  Paar,  welches  die  stetige  Rotation  hervor- 
zubringen strebt,  von  der  ich  oben  gesprochen  habe. 

3.  Schließlich  ist  die  auf  ein  Stromelement  ausge- 
übte Kraft  nicht  mehr  senkrecht  zu   diesem  Elemente. 

Mit  anderen  Worten:  Die  Einheit  der  magneti- 
schen Kraft  ist  verschwunden. 

Worin  besteht  diese  Einheit?  Zwei  Systeme,  welche 
dieselbe  Wirkung  auf  einen  magnetischen  Pol  ausüben, 
üben  die  gleiche  Wirkung  auf  eine  unendlich  kleine 
Magnetnadel  oder  auf  ein  Stromelement  aus,  welche 
beide  sich  in  demselben  Raumpunkte  befinden  wie 
dieser  Pol. 

Das  ist  richtig,  wenn  diese  beiden  Systeme  nur  ge- 
schlossene Ströme  enthalten;  es  wird  (nach  Ampere) 
nicht  mehr  richtig  sein,  wenn  diese  beiden  Systeme 
offene  Ströme  enthalten. 

Es  genügt  z.  B.  Folgendes  zu  bemerken:  Wenn  ein 
magnetischer  Pol  in  A  und  ein  Stromelement  in  B  liegt 
und  die  Richtung  des  Elements  mit  der  Verlängerung 
der  Linie  AB  zusammenfällt,  so  wird  dieses  Element 
auf  diesen  in  A  liegenden  Pol  keine  Wirkung  ausüben, 
es    wird   jedoch    eine   solche    auf  eine  im  Punkte  A  be- 


204.  IV,  13-     Elektrodynamik. 

findliche  Magnetnadel  ausüben  oder  auf  ein  im  Punkte 
A  befindliches   Stromelement. 

V.  Induktion.  —  Man  weiß,  daß  die  Entdeckung 
der  elektrodynamischen  Induktion  den  unsterblichen 
Arbeiten  Amperes  bald  folgte. 

Sobald  es  sich  nur  um  geschlossene  Ströme  handelt, 
entsteht  keine  Schwierigkeit,  und  Helmholtz  hat  sogar 
bemerkt,  daß  das  Prinzip  von  der  Erhaltung  der  Energie 
genügen  könnte,  um  die  Gesetze  der  Induktion  aus  den 
elektrodynamischen  Gesetzen  Amperes  abzuleiten.  Aller- 
dings unter  einer  Bedingung,  wie  Bertrand  uns  zeigte, 
nämlich,  daß  man  außerdem  eine  gewisse  Anzahl  von 
Hypothesen  zuläßt. 

Dasselbe  Prinzip  gestattet  diese  Ableitung  noch  in 
dem  Falle  der  offenen  Ströme,  obgleich  man,  wohlver- 
standen, das  Resultat  nicht  der  Kontrolle  der  Erfahrung 
unterwerfen  kann,  denn  man  kann  solche  Ströme  nicht 
herstellen. 

Wenn  man  diese  Art  Analyse  auf  die  Amperesche 
Theorie  der  offenen  Ströme  anwenden  will,  so  gelangt 
man  zu  Tatsachen,  die  wohl  dazu  geeignet  sind,  uns  zu 
überraschen. 

Vor  allem  kann  die  Induktion  nicht  aus  der  Ver- 
änderung des  magnetischen  Feldes  gemäß  der  den  Ge- 
lehrten und  Praktikern  gleich  gut  bekannten  Formel  ab- 
geleitet werden,  und  in  der  Tat  gibt  es,  wie  wir  schon 
gesagt   haben,    eigentlich   kein   magnetisches  Feld   mehr. 

Noch  mehr.  Wenn  ein  Stromkreis  C  der  Induktion 
eines  veränderlichen  Voltaschen  Systems  S  unterworfen 
wird,  wenn  dieses  System  6'  seine  Stellung  verändert 
und  sich  auf  irgend  welche  Art  deformiert  und  wenn 
die  Intensität  der  Ströme  dieses  Systems  gemäß  irgend 
einem  Gesetze  variiert,  wenn  aber  nach  diesen  Varia- 
tionen das  System  schließlich  in  seine  Anfangslage  zu- 
rückkehrt:  so  erscheint  es  natürlich  vorauszusetzen,   daß 


Die  Helmlioltzsclie  Theorie. 


235 


die    mittlere    elektromotorische  Kraft,    welche    in    dem 
Stromkreise    C  induziert  wird,  gleich  Null  ist. 

Das  ist  richtig,  wenn  der  Stromkreis  C  geschlossen 
ist  und  wenn  das  System  -5"  nur  geschlossene  Ströme 
enthält.  Wenn  man  die  Amperesche  Theorie  annimmt, 
ist  es  nicht  mehr  richtig,  sobald  offene  Ströme  vor- 
kommen. So  würde  die  Induktion  nicht  mehr  die  Ver- 
änderung des  Flusses  der  magnetischen  Kraft  im  gewöhn- 
lichen Sinne  dieses  Wortes  sein,  sie  könnte  sogar  nicht 
durch  die  Veränderung  irgend  eines  anderen  Etwas  dar- 
gestellt werden. 

2.  Die  Helmholtzsche  Theorie.  —  Ich  habe  bei 
den  Folgerungen  länger  verweilt,  zu  denen  Amperes 
Theorie  und  seine  Erklärungsweise  für  die  Wirkung 
offener  Ströme  Veranlassung  gaben. 

Es  ist  schwer,  den  paradoxen  und  verkünstelten 
Charakter  der  Sätze  zu  verkennen,  zu  welchen  man  so 
geführt  wird;  man  kommt  schließlich  zu  dem  Gedanken: 
,,So  kann  die  Sache  nicht  sein." 

Man  begreift,  daß  Helmholtz  sich  veranlaßt  fühlte, 
etwas  anderes  zu  suchen. 

Helmholtz  verwirft  die  fundamentale  Amperesche 
Hypothese,  daß  nämlich  die  gegenseitige  Wirkung  zweier 
Stromelemente  sich  auf  eine  Kraft  zurückführen  läßt, 
welche  in  der  Richtung  ihrer  Verbindungslinie  wirkt. 

Er  nimmt  an,  daß  ein  Stromelement  nicht  einer  ein- 
zigen Kraft  unterworfen  ist,  sondern  einer  Kraft  und 
einem  Kräftepaar.  Diese  Annahme  gab  zu  der  berühm- 
ten Polemik  zwischen  Bertrand  und  Helmholtz  Veran- 
lassung. ^^^) 

Helmholtz  ersetzt  die  Amperesche  Hypothese  durch 
die  folgende:  Zwei  Stromelemente  lassen  immer  ein 
elektrodynamisches  Potential  zu,  das  einzig  von  ihrer 
Lage    und    Orientierung    abhängt,    und    die    Arbeit    der 


2  56  rV>  13'     Elektrodynamik. 

Kräfte,  welche  sie  aufeinander  ausüben,  ist  gleich  der 
Variation  dieses  Potentials.  So  kann  sich  Helmholtz 
ebensowenig  wie  Ampere  der  Hypothese  enthalten;  aber 
wenigstens  macht  er  sie  nicht,  ohne  sie  deutlich  auszu- 
sprechen. 

In  dem  dem  Experimente  allein  zugänglichen  Falle 
der  geschlossenen  Ströme  stimmen  die  beiden  Theorien 
überein;  in  allen  anderen  Fällen  sind  sie  voneinander 
verschieden. 

Im  Gegensatze  zu  Amperes  Voraussetzungen  ist  vor 
allem  die  Kraft,  welcher  der  bewegliche  Teil  eines  ge- 
schlossenen Stromes  unterworfen  ist,  nicht  dieselbe,  der 
dieser  bewegliche  Teil  unterliegen  würde,  wenn  er  isoliert 
wäre  und  einen  offenen  Strom  bildete. 

Wir  wollen  auf  den  Stromkreis  C  zurückkommen, 
von  dem  wir  weiter  oben  sprachen  und  der  von  einem 
beweglichen  Drahte  aß  gebildet  wurde,  welcher  über 
einen  festen  Draht  gleitet;  in  dem  einzig  realisierbaren 
Experimente  ist  der  bewegliche  Teil  aß  nicht  isoliert, 
sondern  bildet  einen  Teil  eines  geschlossenen  Strom- 
kreises. Wenn  der  Teil  von  AB  nach  A' B'  gelangt, 
so  variiert  das  totale  elektrodynamische  Potential  aus 
zwei  Gründen:  i.  es  erleidet  einen  ersten  Zuwachs,  weil 
das  Potential  von  A'  B'  inbezug  auf  den  Stromkreis  C 
nicht  dasselbe  wie  das  Potential  von  ^^  ist;  2.  es  er- 
leidet einen  zweiten  Zuwachs,  weil  man  es  um  die 
Potentiale  der  Elemente  AA'  und  B B'  inbezug  auf  C 
vergrößern  muß. 

Dieses  doppelte  Anwachsen  stellt  die  Arbeit  der 
Kraft  dar ,  welcher  der  Teil  A  B  scheinbar  unter- 
worfen ist. 

Wenn  im  Gegenteil  0;  ß  isoliert  wären,  so  würde  das 
Potential  nur  den  ersten  Zuwachs  erleiden,  und  nur 
dieser  erste  Zuwachs  würde  ein  Maß  für  die  Kraft  geben^ 
welche  auf  AB  einwirkt. 


Solenoid  und  Magnet.  237 

In  zweiter  Linie  kann  es  keine  stetige  Rotation  ohne 
gleitende  Berührung  geben;  und  wirklich  liegt  darin,  wie 
wir  schon  bei  Gelegenheit  der  geschlossenen  Ströme  be- 
merkten, eine  unmittelbare  Folgerung  der  Existenz  eines 
elektrodynamischen  Potentials. 

In  dem  Faradayschen  Experimente  kann  dieser  be- 
wegliche Teil  eine  stetige  Rotation  erleiden,  wenn  der 
Magnet  fest  ist  und  wenn  der  außerhalb  des  Magneten 
verlaufende  Teil  des  Stromes  einen  beweglichen  Draht 
durchläuft.  Aber  damit  ist  nicht  gesagt,  daß  der  Draht 
eine  Bewegung  stetiger  Rotation  annehmen  würde,  wenn 
man  die  Berührungen  des  Drahtes  mit  dem  Magneten 
aufhöbe  und  den  Draht  von  einem  offenen  Strome  durch- 
laufen ließe. 

Ich  habe  soeben  gesagt,  daß  ein  isoliertes  Element 
nicht  derselben  Einwirkung  unterliegt  als  ein  bewegliches 
Element,  das  einen  Teil  eines  geschlossenen  Stromkreises 
ausmacht. 

Es  gibt  noch  einen  anderen  Unterschied:  Die  Wir- 
kung eines  geschlossenen  Solenoids  auf  einen  geschlosse- 
nen Strom  ist  gemäß  der  Erfahrung  und  nach  beiden 
Theorien  gleich  Null;  nach  Ampere  würde  die  Wirkung 
eines  geschlossenen  Solenoids  auf  einen  offenen  Strom 
gleich  Null  sein;  nach  Helmholtz  wäre  sie  nicht  gleich 
Null. 

Daraus  entspringt  eine  wichtige  Folgerung.  Wir 
haben  weiter  oben  drei  Definitionen  der  magnetischen 
Kraft  gegeben;  die  dritte  hat  hier  keinen  Sinn,  weil  ein 
Stromelement  nicht  mehr  nur  einer  einzigen  Kraft  unter- 
w^orfen  ist.  Die  erste  Definition  hat  ebenfalls  keinen 
Sinn  für  unsere  jetzige  Untersuchung.  Denn  was  ist 
eigentlich  ein  magnetischer  Pol?  Es  ist  der  Endpunkt 
eines  linearen,  unendlich  kleinen  Magneten.  Dieser 
Magnet  kann  durch  ein  unendlich  kleines  Solenoid  er- 
setzt   werden.      Damit    die    Definition    der    magnetischen 


238  rV,  13.    Elektrodynamik. 

Kraft  einen  Sinn  behielte,  ist  es  notwendig,  daß  die  von 
einem  offenen  Strome  auf  ein  unendlich  kleines  Solenoid 
ausgeübte  Wirkung  nur  von  der  Lage  des  Endpunktes 
dieses  Solenoids  abhänge,  d.  h.  daß  die  Wirkung  auf 
ein  geschlossenes  Solenoid  gleich  Null  ist.  Wir  haben 
gesehen,   daß  dem  nicht  so  ist. 

Dagegen  hindert  uns  nichts,  die  zweite  Definition 
anzunehmen,  welcher  das  Maß  desjenigen  Kräftepaares 
zu  Grunde  Hegt,  das  eine  Magnetnadel  zu  orientieren 
strebt. 

Aber  wenn  man  die  zweite  Definition  annimmt,  so 
hängen  weder  die  Wirkungen  der  Induktion  noch  die 
elektrodynamischen  Wirkungen  allein  von  der  Verteilung 
der  Kraftlinien   dieses  magnetischen  Feldes   ab. 

3.  Die  diesen  Theorien  anhaftenden  Schwierig- 
keiten. —  Die  Helmholtzsche  Theorie  ist  ein  Fortschritt 
gegenüber  der  Ampereschen  Theorie;  es  bleibt  indessen 
notwendig,  alle  Schwierigkeiten  zu  ebnen.  In  der  einen 
wie  in  der  anderen  hat  das  Wort:  ,, magnetisches  Feld" 
keinen  Sinn,  oder  wenn  man  ihm  durch  eine  mehr  oder 
weniger  künstliche  Festsetzung  einen  Sinn  beilegt,  so 
sind  die  gewöhnlichen,  allen  Elektrikern  so  vertrauten 
Gesetze  nicht  mehr  anwendbar;  so  wird  die  in  einem 
Drahte  induzierte  elektromotorische  Kraft  nicht  mehr 
durch  die  Anzahl  der  Kraftlinien,  welche  diesen  Draht 
treffen,  gemessen. 

Und  unsere  Abneigung  stammt  nicht  nur  daher,  daß 
es  schwer  ist,  eingewurzelten  Gewohnheiten  in  Sprache 
und  Gedanken  zu  entsagen.  Es  spielt  noch  anderes 
mit.  Wenn  wir  an  die  Fernwirkungen  nicht  glauben, 
muß  man  die  elektrodynamischen  Erscheinungen  durch 
eine  Modifikation  des  Zwischenmediums  erklären.  Eben 
diese  Modifikation  nennt  man  magnetisches  Feld,  dann 
werden  die  elektrodynamischen  Wirkungen  nur  von  diesem 
Felde  abhängen. 


Die  Maxwellsche  Theorie. 


239 


Alle  diese  Schwierigkeiten  entstehen  durch  die 
Hypothese  der  oifenen  Ströme. 

4.  Die  Maxwellsche  Theorie.  —  Solchergestalt 
waren  die  Schwierigkeiten  der  herrschenden  Theorien, 
als  Maxwell  erschien,  der  sie  alle  mit  einem  Federstriche 
verschwinden  ließ.  Nach  seinen  Ideen  gibt  es  nur  ge- 
schlossene Ströme. 

Maxwell  nimmt  an,  daß,  wenn  in  einem  Dielektrikum 
das  elektrische  Feld  sich  zu  verändern  beginnt,  dieses 
Dielektrikum  der  Sitz  einer  besonderen  Erscheinung 
wird,  die  auf  das  Galvanometer  wie  ein  Strom  wirkt 
und  von  Maxwell  Verschiebungsstrom  genannt  wird. 

Wenn  dann  zwei  Leiter,  welche  entgegengesetzte 
Ladungen  tragen,  durch  einen  Draht  miteinander  in 
Verbindung  gebracht  sind,  so  herrscht  in  diesem  Drahte 
während  der  Entladung  ein  offener  Leitungsstrom;  aber 
es  entstehen  zu  gleicher  Zeit  in  dem  umgebenden 
Dielektrikum  Verschiebungsströme,  welche  diesen  Lei- 
tungsstrom schließen. 

Man  weiß,  daß  die  Maxwellsche  Theorie  zur  Er- 
klärung der  optischen  Erscheinungen  führt,  indem  letztere 
aus  außerordentlich  schnellen  elektrischen  Oszillationen 
bestehen. 

Zu  dieser  Zeit  war  eine  solche  Auffassung  nichts  als 
eine  kühne  Hypothese,  welche  sich  auf  keine  Erfahrung 
stützen  konnte. 

Nach  Verlauf  von  zwanzig  Jahren  erhielten  die  Max- 
wellschen  Ideen  ihre  experimentelle  Bestätigung.  Es 
gelang  Hertz,  Systeme  elektrischer  Oszillationen  hervor- 
zubringen, welche  alle  Eigenschaften  des  Lichtes  auf- 
weisen und  sich  von  diesem  nur  durch  die  Wellenlänge 
unterscheiden,  d.  h.  so,  wie  sich  violett  von  rot  unter- 
scheidet. Er  venvirklicht  gewissermaßen  die  Synthese 
des  Lichtes. 

Man  könnte  sagen,   daß  Hertz  nicht  direkt  die  funda- 


2AO  ^>  ^3'     Elektrodynamik. 

mentale  Idee  Maxwells,  die  Wirkung  des  Verschiebungs- 
stromes auf  das  Galvanometer,  bewiesen  hat.  Das  stimmt 
in  gewisser  Hinsicht;  direkt  hat  er,  alles  in  allem  ge- 
nommen, bewiesen,  daß  die  elektromagnetische  Induktion 
sich  nicht  momentan,  wie  man  bisher  annahm,  fortpflanzt, 
sondern  mit  der  Geschwindigkeit  des  Lichtes. 

Ob  man  voraussetzt,  daß  es  keinen  Verschiebungs- 
strom gibt  und  daß  die  Induktion  sich  mit  der  Ge- 
schwindigkeit des  Lichtes  fortpflanzt,  oder  ob  man  vor- 
aussetzt, daß  die  Verschiebungsströme  Induktionswirkungen 
hervorbringen  und  daß  die  Induktion  sich  momentan  fort- 
pflanzt, ist  ganz  das  Nämliche. 

Das  sieht  man  nicht  im  ersten  Augenblick,  aber  man 
kann  es  durch  eine  Analyse  beweisen,  die  ich  unmöglich 
hier  wiedergeben  kann.-*^^^) 

5.  Rowlandsche  Experimente.  —  Wie  ich  weiter 
oben  sagte,  gibt  es  zwei  Arten  von  oflenen  Leitungs- 
strömen: zuerst  die  Entladungsströme  eines  Konden- 
sators oder  irgend  eines  Leiters. 

Es  gibt  auch  Fälle,  in  denen  elektrische  Ladungen 
einen  geschlossenen  Weg  beschreiben,  indem  sie  sich 
in  einem  Teile  des  Stromkreises  durch  Leitung  fort- 
bewegen und  in  einem  anderen  Teile  durch  Konvektion. 

Für  die  offenen  Ströme  der  ersten  Art  konnte  die 
Frage  als  gelöst  betrachtet  werden:  sie  wurden  durch 
die  Verschiebungsströme  geschlossen. 

Für  die  offenen  Ströme  der  zweiten  Art  erschien  die 
Lösung  noch  einfacher;  wenn  der  Strom  geschlossen  war, 
so  konnte  das,  wie  es  schien,  nur  durch  den  Kon- 
vektionsstrom  selbst  geschehen.  Dazu  genügte  es  anzu- 
nehmen, daß  ein  ,,Konvektionsstrom",  d.  h.  ein  in  Be- 
wegung gesetzter  geladener  Leiter  auf  das  Galvanometer 
einwirken  könne. 

Aber  die  experimentelle  Bestätigung  fehlte.  Es  er- 
schien in  der  Tat  schwer,  eine  genügende  Intensität  zu 


Rowlands  Experimente.  24 1 

erlangen,  selbst  wenn  man  die  Ladung  und  die  Ge- 
schwindigkeit des  Leiters  so  viel  als  möglich  ver- 
größerte. 

Ein  äußerst  geschickter  Experimentator,  der  Physiker 
Rowland,  wurde  zuerst  dieser  Schwierigkeit  Herr  oder 
schien  sie  wenigstens  überwunden  zu  haben.  Eine 
Scheibe  erhielt  eine  starke  elektrostatische  Ladung  und 
eine  sehr  große  Rotationsgeschwindigkeit.  Eine  astatische 
Magnetnadel,  die  in  die  Nähe  der  Scheibe  gestellt  war, 
zeigte  Ablenkungen. 

Das  Experiment  wurde  von  Rowland  zweimal  ge- 
macht, einmal  in  Berlin  und  einmal  in  Baltimore;  es 
wurde  später  von  Himstedt  wiederholt.  Diese  Physiker 
glaubten  sogar  behaupten  zu  können,  daß  quantitative 
Messungen  ausgeführt  werden  könnten. 

Tatsächlich  ist  seit  zwanzig  Jahren  das  Rowlandsche 
Gesetz  von  allen  Physikern  ohne  Widerspruch  zugelassen 
worden. 

Alles  schien  es  übrigens  zu  bestätigen.  Der  Funken 
verursacht  tatsächlich  eine  magnetische  Wirkung;  ist  es 
nicht  wahrscheinlich,  daß  die  Entladung  durch  den 
Funken  Teilchen  zuzuschreiben  ist,  welche  der  einen 
Elektrode  entrissen  und  mit  ihrer  Ladung  auf  die 
andere  Elektrode  übertragen  werden?  Ist  nicht  sogar 
das  Spektrum  des  Funkens,  in  welchem  man  die  Metall- 
streifen der  Elektroden  erkennt,  ein  Beweis  dafür?  Der 
Funke  wäre  also  ein  wirklicher  Konvektionsstrom. 

Andererseits  nimmt  man  bekanntlich  an,  daß  die 
Elektrizität  in  einem  Elektrolyten  von  bewegten  Ionen 
mitgeführt  wird.  Der  Strom  in  einem  Elektrolyten  wäre 
also  dann  ebenfalls  ein  Konvektionsstrom;  er  wirkt  ja 
auch  auf  eine  Magnetnadel. 

Dasselbe  gilt  für  die  Kathodenstrahlen;  Crookes 
schrieb  diese  Strahlen  der  Wirkung  einer  sehr  feinen 
Materie    zu,    die    mit    negativer   Elektrizität   geladen    sei 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  16 


2A2  IV,  13.     Elektrodynamik. 

und  sich  mit  sehr  großer  Geschwindigkeit  bewege,  mit 
anderen  Worten:  er  sah  die  Strahlen  als  Konvektions- 
ströme  an.  Diese  Kathodenstrahlen  werden  durch  den 
Magneten  abgelenkt.  Vermöge  des  Prinzipes  der  Wir- 
kung und  Gegenwirkung  müssen  sie  ihrerseits  die  Magnet- 
nadel ablenken. 

Zwar  glaubte  Hertz  bewiesen  zu  haben,  daß  die 
Kathodenstrahlen  keine  negative  Elektrizität  mit  sich 
führen  und  daß  sie  nicht  auf  die  Magnetnadel  wirken. 
Aber  Hertz  täuschte  sich;  vor  allem  gelang  es  Perrin, 
die  von  diesen  Strahlen  übertragene  Elektrizität  aufzu- 
fangen, deren  Existenz  Hertz  leugnete;  der  deutsche 
Gelehrte  scheint  durch  die  Wirkung  der  X-Strahlen  ge- 
täuscht zu  sein,  die  damals  noch  nicht  entdeckt  waren. 
Ferner  hat  man  ganz  neuerdings  die  Wirkung  der 
Kathodenstrahlen  auf  die  Magnetnadel  vollkommen  außer 
Zweifel  gestellt. 

So  wirken  also  alle  diese  Erscheinungen,  die  man 
als  Konvektionsströme  betrachtet  (Funken,  elektrolytische 
Ströme,  Kathodenstrahlen),  in  gleicher  Weise  und  gemäß 
dem  Rowlandschen  Gesetze  auf  das  Galvanometer. ^^^) 

6.  Die  Lorentzsche  Theorie.  • —  Man  ging  bald 
noch  weiter.  Nach  der  Loren tzschen  Theorie  wären 
die  Leitungsströme  selbst  wirkliche  Konvektionsströme: 
die  Elektrizität  bliebe  untrennbar  mit  gewissen  materiellen 
Teilchen,  Elektronen  genannt,  verknüpft;  die  Bewegung 
dieser  Elektronen  durch  das  Innere  der  Körper  soll  die 
Voltaschen  Ströme  erzeugen,  und  der  Unterschied  der 
Leiter  von  den  Nichtleitern  soll  darin  bestehen,  daß  die 
einen  von  diesen  Elektronen  durchdrungen  werden 
können,  während  die  anderen  die  Bewegungen  der 
Elektronen  aufhalten. 

Die  Lorentzsche  Theorie  ist  sehr  verlockend,  sie 
gibt  eine  sehr  einfache  Erklärung  für  bestimmte  Erschei- 
nungen, von  denen  die  alten  Theorien,    selbst  diejenige 


Die  Lorentzsche  Theorie. 


243 


Maxwells  in  ihrer  ursprünglichen  Form,  keine  genügende 
Rechenschaft  geben  konnten,  z.  B.  von  der  Aberration 
des  Lichtes,  von  der  teilweisen  Mitführung  der  Licht- 
wellen, von  der  magnetischen  Polarisation,  von  dem 
Zeemanschen  Experimente.^^*) 

Es  bestehen  jedoch  noch  einige  Einwürfe.  Die  in 
einem  Systeme  beobachteten  Erscheinungen  scheinen  von 
der  absoluten  Translationsgeschwindigkeit  des  Schwer- 
punktes dieses  Systems  abhängig  zu  sein,  was  der  Idee 
widerspricht,  die  wir  uns  von  der  Relativität  des  Raumes 
machen.  Gestützt  auf  Cremieu,  hat  Lippmann  diesen 
Einwurf  in  greifbare  Form  gebracht.  Wir  wollen  zwei 
geladene  Leiter  voraussetzen,  welche  mit  derselben  Trans- 
lationsgeschwindigkeit begabt  sind.  Sie  sind  in  relativer 
Ruhe;  sie  müssen  indessen  sich  gegenseitig  anziehen, 
wenn  jeder  von  ihnen  einem  Konvektionsstrome  äqui- 
valent ist,  und  man  könnte,  indem  man  diese  Anziehung 
mißt,  ihre  absolute  Geschwindigkeit  messen. 

„Nein",  würden  die  Anhänger  von  Lorentz  erwidern, 
„was  man  dergestalt  mißt,  ist  nicht  ihre  absolute  Ge- 
schwindigkeit, sondern  ihre  relative  Geschwindigkeit  in- 
bezug  auf  den  Äther,  so  daß  das  Prinzip  der  Rela- 
tivität gerettet  ist." 

Was  es  auch  mit  diesem  letzten  Einwurfe  für  eine 
Bewandtnis  haben  mag,  das  Gebäude  der  Elektrodynamik 
schien,  wenigstens  in  großen  Umrissen,  definitiv  aufge- 
führt zu  sein;  alles  erschien  vollkommen  befriedigend; 
die  Theorien  von  Ampere  und  Helmholtz,  welche  für 
die  nicht  mehr  existierenden  offenen  Ströme  gemacht 
waren,  schienen  nur  noch  rein  historisches  Interesse  zu 
bieten,  und  man  hatte  fast  vergessen,  zu  welch  unent- 
wirrbaren Verwicklungen  diese  Theorien  führten. 

Diese  Ruhe  wurde  gründlich  durch  die  Cr6mieuschen 
Experimente  gestört,  welche  dem  einst  von  Rowland  er- 

16* 


244  ^^'  ^^'    Elektrodynamik. 

haltenen    Resultate    widersprachen    oder    wenigstens    zu 
widersprechen  schienen.  ■'^^^) 

Zahlreiche  Forscher  haben  sich  angestrengt,  die  Frage 
endgültig  zu  lösen,  und  neue  Experimente  wurden  unter- 
nommen. Welches  Resultat  werden  sie  ergeben?  Ich 
werde  mich  wohl  hüten,  ein  Prognostikum  zu  wagen,  das 
zwischen  dem  Zeitpunkte,  wo  ich  den  Wechsel  auf  die 
Zukunft  ausstelle,  und  dem  Tage,  wo  dieser  Band  er- 
scheint,  widerlegt  werden  könnte. 


Erläuternde  Anmerkungen 

von  F.  Lindemann. 


Erster  Teil,  Zahl  und  Größe. 

1)  Seite  6.  Wegen  einer  eingehenden  wissenschaft- 
lichen Begründung  der  elementaren  Arithmetik  sei  auf 
folgende  Werke  verwiesen: 

H.  Graßmann,   Lehrbuch  der  Arithmetik,    1861; 

H.  Hankel,   Zur  Theorie  der  komplexen  Zahlensysteme, 

1867; 
E.   Schröder,    Lehrbuch    der    Arithmetik    und    Algebra, 

Bd.   I,    1873; 
G.  Peano,  Arithmetices  principia  nova  methodo  exposita, 

Turin    1889  und   dessen  Bearbeitung  von  Genocchi: 

Differentialrechnung,  deutsch  von  Bohlmann  und  Schepp, 

1899; 
Tannery,    Le^ons  d'arithmetique   theorique  et  pratique, 

Paris    1894. 
O.  Stolz  und  J.  A.  Gmeiner,   Theoretische  Arithmetik, 

1900; 
Helmholtz,    Zählen    und  Messen,    erkenntnistheoretisch 

bearbeitet,      1887;      Wissenschaftliche     Abhandlungen 

Bd.  3,  p.  356. 

2)  S.  14.  Dem  widerspricht  es  scheinbar,  wenn 
Dedekind  (Was  sind  und  was  sollen  die  Zahlen? 
Braunschweig  1888,  §  59,  60,  80)  einen  Nachweis  da- 
für gibt,  daß  ,,die  unter  dem  Namen  der  vollständigen 
Induktion  (oder  des  Schlusses  von  n  auf  n  -{■  \)  bekannte 
Beweisart  wirklich  beweiskräftig  ist."  Die  Möglichkeit 
dieses  Nachweises  liegt  in  der  Art  und  Weise,  wie  das 
Unendliche  eingeführt  (,, definiert")  und  die  an  endlichen 
Ketten  gemachten  Operationen  auf  unendliche  Ketten 
übertragen  werden  (a.  a.  O.,  §  64).  Irgendwo  kommt 
immer    diese  Geisteskraft    in   Frage,    ,, welche    überzeugt 


2^6  Anmerkungen   l — 3. 

ist,  sich  die  unendliche  Wiederholung  eines  und  des- 
selben Schrittes  vorstellen  zu  können".  Bei  Stolz  und 
Peano  geschieht  dies  z.  B.  bei  Aufstellung  des  Grund- 
satzes: ,,Wenn  ein  System  von  Zahlen,  zu  welchem  die 
Zahl  I  gehört,  die  Eigenschaft  hat,  daß  in  demselben 
neben  jeder  darin  vorkommenden  Zahl  die  darauf  folgende 
erscheint,   so   enthält  es  jede  Zahl". 

3)  S.  20.  Besonders  hat  Kronecker  es  angestrebt, 
den  Gebrauch  irrationaler  Zahlen  aus  der  Algebra  zu  ver- 
bannen und  alle  Beweise  allein  mit  rationalen  Zahlen 
durchzuführen,  ,,die  gesamte  arithmetische  Theorie  der 
algebraischen  Größen  auf  eine  Theorie  der  ganzen  ganz- 
zahligen Funktionen  von  Variabein  und  Unbestimmten 
zurückzuführen"  (vgl.  dessen  Grundzüge  einer  arithmeti- 
schen Theorie  der  algebraischen  Größen,  Festschrift  zu 
Kummers  fünfzigjährigem  Doktorjubiläum,  Berlin  1882). 
Später  ging  Kronecker  noch  weiter,  indem  er  die 
Existenz  irrationaler  Zahlen  leugnete;  so  sagte  er  mir 
in  seiner  lebhaften  und  zu  Paradoxen  geneigten  Art  ein- 
mal: ,,Was  nützt  uns  Ihre  schöne  Untersuchung  über 
die  Zahl  7t?  Wozu  das  Nachdenken  über  solche  Probleme, 
wenn  es  doch  gar  keine  irrationalen  Zahlen  gibt?"  In 
diesem  Sinne  schreibt  Kronecker  in  seiner  Schrift 
„Über  den  Zahlbegriff"  (Grelles  Journal  Bd.  loi):  „Und 
ich  glaube  auch,  daß  es  dereinst  gelingen  wird,  den 
gesamten  Inhalt  aller  dieser  mathematischen  Disziplinen 
(nämlich  Algebra  und  Analysis,  nicht  Geometrie  und 
Mechanik)  zu  ,,arithmetisieren",  d.  h.  einzig  und  allein 
auf  den  im  engsten  Sinne  genommenen  Zahlbegriff  zu 
gründen,  aber  die  Modifikationen  und  Erweiterungen 
dieses  Begriffes  (ich  meine  hier  namentlich  die  Hinzu- 
nahme der  irrationalen,  sowie  der  kontinuierlichen  Größen) 
wieder  abzustreifen,  welche  zumeist  durch  die  Anwen- 
dungen auf  Geometrie  und  Mechanik  veranlaßt  ^yorden 
sind".  Insbesondere  erörtert  Kronecker  a.  a.  O.,  wie 
die  algebraischen  Zahlen  überall  da  entbehrlich  werden, 
wo  nicht  die  Isolierung  der  untereinander  konjugierten 
erfordert  wird,  wobei  dann  weiterhin  irrationale  Wurzeln 
algebraischer  Gleichungen  durch  sogenannte  ,,Isolierungs- 


Zum  ersten  Teil. 


247 


Intervalle"  zu  ersetzen  sind.  Seine  Bestrebungen,  zumal 
deren  äußerste  Konsequenzen,  die  er  in  mündlichen  Er- 
örterungen gern  betonte,  wurden  von  anderen  nicht 
durchaus  gebilligt;  Weierstraß  äußert  sich  darüber 
z.  B.  in  seinen  Briefen  an  Frau  Kowalewski  (Compte 
rendu  du  deuxieme  congres  international  des  mathematici- 
ens  en   1900,  Paris    1902). 

Nach  einer  Bemerkung  Dedekinds  (in  der  oben 
citierten  Schrift,  p.  XI)  hat  schon  Dirichlet  sich  mit 
dem  Gedanken  an  solche  ,,Arithmetisierung"  der  Mathe- 
matik beschäftigt;  er  schreibt  darüber  (und  dürfte  damit 
zugleich  den  Wert  der  Kronecker  sehen  Ideen  und  die 
Grenzen  ihrer  Berechtigung  richtig  bezeichnen):  „Gerade 
bei  dieser  Auffassung  [nämlich,  daß  die  schrittweise  Er- 
weiterung des  Zahlbegriflfes,  die  Schöpfung  der  Null,  der 
negativen,  gebrochenen,  irrationalen  und  komplexen  Zahlen 
ohne  jede  Einmischung  fremdartiger  Vorstellungen  (z.  B. 
der  meßbaren  Größen)  stets  durch  Zurückführung  auf 
die  früheren  Begriffe  (der  ganzen  Zahlen)  herzustellen 
ist,  und  daß  erst  dadurch  jene  anderen  Vorstellungen, 
z.  B.  der  meßbaren  Größen,  zu  völliger  Klarheit  erhoben 
werden  können]  erscheint  es  als  etwas  Selbstverständ- 
liches und  durchaus  nichts  Neues,  daß  jeder,  auch  noch 
so  fern  liegende  Satz  der  Algebra  und  höheren  Analysis 
sich  als  ein  Satz  über  die  natürlichen  (d.  h.  ganzen) 
Zahlen  aussprechen  läßt,  eine  Behauptung,  die  ich  auch 
wiederholt  aus  dem  Munde  von  Dirichlet  gehört  habe. 
Aber  ich  erblicke  keineswegs  etwas  Verdienstliches  dar- 
in —  und  das  lag  auch  Dirichlet  gänzlich  fern  — , 
diese  mühselige  Umschreibung  wirklich  vornehmen  und 
keine  anderen  als  die  natürlichen  Zahlen  benutzen  und 
anerkennen  zu  wollen.  Im  Gegenteil,  die  größten  und 
fruchtbarsten  Fortschritte  in  der  Mathematik  und  anderen 
Wissenschaften  sind  vorzugsweise  durch  die  Schöpfung 
und  Einführung  neuer  Begriffe  gemacht,  nachdem  die 
häufige  Wiederkehr  zusammengesetzter  Erscheinungen,  wel- 
che von  den  alten  Begriffen  nur  mühselig  beherrscht  werden, 
dazu  gedrängt  hat".  Dadurch  ist  nicht  ausgeschlossen, 
daß    das    Zurückgehen    auf    die    natürlichen    Zahlen    in 


2  4.8  Anmerkungen  4 — 8. 

manchen  Fällen  prinzipielles  Interesse  bietet.  So  liegt 
z.  B.  in  Kroneckers  oben  mitgeteilter  Äußerung  über 
die  Zahl  %  die  Frage:  Wie  werden  sich  derartige  kom- 
plizierte Grenzbetrachtungen  gestalten  lassen,  wenn  man 
den  Gebrauch  irrationaler  Zahlen  ausschließt?  Wie  hat 
man  dann  algebraische  IrrationaHtäten  von  transcen- 
denten  zu  unterscheiden? 

4)  S.  20.  Die  hier  gegebene  Definition  der  irratio- 
nalen Zahlen  schließt  sich  an  die  Darstellung  von 
Tannery  an  (Introduction  ä  la  theorie  des  fonctions 
d'une  variable,  Paris  1886,  p.  iff.);  dieselbe  ist  nahe 
verwandt  mit  der  Dedekind sehen  Behandlung 5  letzterer 
spricht  sich  (vgl.  die  oben  citierte  Schrift,  p.  XII)  selbst 
über  die  Unterschiede  näher  aus.  Andere  Theorien  des 
Irrationalen  sind  von  Weierstraß  in  seinen  Vorlesungen 
(vgl.  auch  Thomae,  Theorie  der  bestimmten  Integrale 
1875)  und  G.  Cantor  (Math.  Annalen  Bd.  5  und  21) 
aufgestellt.  Eine  übersichtliche  Darstellung  dieser  Theorien 
findet  man  bei  Pringsheim:  Irrationale  Zahlen  und  Kon- 
vergenz unendlicher  Prozesse,  Encyklopädie  der  mathe- 
matischen Wissenschaften,   I  A3. 

5)  S.  22,  Bei  den  besprochenen  Autoren  wird 
wesentlich  darauf  Gewicht  gelegt,  daß  der  Zahlbegriff 
eingeführt  und  in  alle  Konsequenzen  verfolgt  werden 
kann,  ohne  daß  die  Zahl  als  Maß  einer  stetigen  aus- 
gedehnten Größe  gedacht  wird.  In  der  Tat  entsteht 
dann  schon  bei  Einführung  der  rationalen  Zahl  eine 
eigentümliche,  aber  deshalb  nicht  unüberwindliche 
Schwierigkeit;  der  rationale  Bruch  kann  nicht  mehr 
durch  Teilung  der  Einheit  in  gleiche  Teile  definiert 
werden,  sondern  erscheint  nur  als  ein  von  zwei  ganzen 
Zahlen  (Zähler  und  Nenner)  abhängiges  Symbol,  vgl. 
Tannery  loc.  cit.  p.  VII  der  Vorrede  und  Kronecker, 
Grelles  Journal  Bd.  loi,  p.  346 f.;  geht  man  (wie  z.  B. 
Weierstraß)  von  den  Decimalbrüchen  aus,  so  ver- 
schwindet diese  Schwierigkeit  von  selbst. 

6)  S.  22.  Fechner  faßte  seine  Arbeiten  zusammen 
in  dem  Werke:  Elemente  der  Psychophysik,  2  Bände, 
1860,     neu     herausgegeben     von    Wundt     1889.       Das 


Zum  ersten  Teil. 


249 


Fe  ebner  sehe  Gesetz  ist  eine  Folge  des  vorher  von 
H.  Weber  aufgestellten  Gesetzes,  naeb  dem  die  Differenz 
zwischen  zwei  Reizen  [x  und  x  -\-  Jx,  z.  B.  Gewichten, 
Tonhöhen,  Lichtstärken)  immer  gleich  stark  empfunden 
wird,  unabhängig  von  der  absoluten  Größe  des  Reizes, 
so  daß,  wenn  Jj'  die  Stärke  der  Empfindungsänderung 
bedeutet,   die  Gleichung 

Ay  =  a  '  — 

X 

besteht  oder  durch  Integration 

J/  =  (2  log  X  ■\-  h^ 

wo  a  und  h  Konstanten  bedeuten.  Aus  diesen  Anfängen 
der  Psychophysik  (welche  die  Beziehungen  zwischen 
Körper  und  Seele  exakt  formulieren  wollte)  hat  sich  in- 
zwischen eine  umfangreiche  Wissenschaft  entwickelt,  vgl. 
z.  B.  Wundts  physiologische  Psychologie  und  das  zu- 
sammenfassende Werk  von  Foucault,  La  psychophysi- 
que,  These  pour  le  doctorat,  Paris    1901. 

Für  den  Mathematiker  dürfte  eine  Bemerkung  von 
Laplaee  von  Interesse  sein,  die  auch  zu  obiger  Formel 
bei  einem  Probleme  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung 
führt;  nach  ihm  (und  Bernoulli)  ist  nämlich  der  Zu- 
wachs des  moralischen  Vorteils  y ,  den  ein  Zuwachs  dx 
des  Vermögens  x  für  den  Besitzer  dieses  Vermögens 
mit  sieh  bringt,  direkt  proportional  zu  dx  und  umgekehrt 
proportional  zu  .r;  so  daß  zwischen  moralischem  und 
materiellem  Vermögen  dieselbe  Relation  besteht  wie 
zwischen  Empfindung  und  Reiz. 

7)  S.  26.  Die  Vorstellung  der  eine  bestimmte 
Funktion  darstellenden  Kurve  als  Grenzfall  eines  ,, Funk- 
tionsstreifens" hat  F.  Klein  eingehend  besprochen: 
Sitzungsberichte  der  physik.-mediz.  Sozietät  zu  Erlangen, 
1873,  abgedruckt  in  Bd.  22  der  Math.  Annalen;  vgl. 
auch  Pasehs  Einleitung  in  die  Differential-  und  Integral- 
rechnung,  Leipzig   1882. 

8)  S.  26.  Ist  die  Länge  der  Quadratseite  gleich  2  a  und 
sind  die  Seiten  den  Koordinatenachsen  parallel,    während 


250 


Anmerkungen  8 — 9. 


der  Mittelpunkt  im  Anfangspunkte  x  =  o,  jy  =  o  liegt, 
so  sind  die  Gleichungen  des  eingeschriebenen  Kreises 
und  der  Diagonale  bez. 

woraus  sich  die  Koordinaten  ^,  tj  des  Schnittpunktes  in 
der  Form 

a 

ergeben,  also  irrational,  wenn  a  rational  gegeben  war.  — 
In  ähnlicher  Weise  formuliert  Dedekind  (loc.  cit.)  die- 
sen Gedanken  in  folgenden  Worten:  ,, Wählt  man  drei 
nicht  in  einer  Geraden  liegende  Punkte  A,  jB,  C  nach 
Belieben,  nur  mit  der  Beschränkung,  daß  die  Verhält- 
nisse ihrer  Entfernungen  AB,  B  C,  A  C  algebraische 
Zahlen  sind  (d.  h.  Zahlen,  die  sich  als  Wurzeln  alge- 
braischer Gleichungen  mit  rationalen  Koeffizienten  be- 
stimmen lassen),  und  sieht  man  im  Räume  nur  diejenigen 
Punkte  M  als  vorhanden  an,  für  welche  die  Verhältnisse 
von  MA,  MB,  M C  zw.  AB  ebenfalls  algebraische  Zahlen 
sind,  so  ist  der  aus  diesen  Punkten  M  bestehende 
Raum,  wie  leicht  zu  sehen,  überall  unstetig;  aber  trotz 
der  Unstetigkeit,  Lückenhaftigkeit  dieses  Raumes  sind 
in  ihm,  so  viel  ich  sehe,  alle  Konstruktionen,  welche  in 
Euklids  Elementen  auftreten,  genau  ebenso  ausführbar 
wie  in  dem  vollkommen  stetigen  Räume;  die  Unstetig- 
keit dieses  Raumes  würde  daher  in  Euklids  Wissenschaft 
gar  nicht  bemerkt,  gar  nicht  empfunden  werden.  Wenn 
mir  aber  jemand  sagt,  wir  könnten  uns  den  Raum  gar 
nicht  anders  als  stetig  denken,  so  möchte  ich  das  be- 
zweifeln und  darauf  aufmerksam  machen,  eine  wie  weit 
vorgeschrittene,  feine  wissenschaftliche  Bildung  erforder- 
lich ist,  um  nur  das  Wesen  der  Stetigkeit  deutlich  zu 
erkennen  und  um  zu  begreifen,  daß  außer  den  rationalen 
Größenverhältnissen  auch  irrationale,  außer  den  alge- 
braischen auch  transcendente  denkbar  sind". 

9)  S.  29.     Vgl.  P.   du  Bois-Reymond:    Die  allge- 
meine Funktionentheorie,    Metaphysik    und    Theorie    der 


Zum  ersten  Teil.  2  "^  l 

mathematischen  Grundbegriffe,  Tübingen  1882.  Die  ver- 
schiedenen Ordnungen  des  Unendlichkleinen  werden  auf 
S.  7  5  f.  kurz  besprochen.  Die  zahlreichen  Arbeiten  des 
genannten  Verfassers  beziehen  sich  direkt  mehr  auf  die 
verschiedenen  Ordnungen  des  Unendlichgroßen  (woraus 
man  durch  Umkehrung  auf  das  Unendlichkleine  schließen 
kann)  und  auf  die  Besetzung  der  Geraden  mit  Verdich- 
tungsstellen verschiedener  Ordnungen  von  ,, Punktmengen**, 
wie  sie  für  die  Beurteilung  von  Integralen  wichtig  sind 
und  mit  Cantors  Theorie  der  Punktmengen  zusammen- 
hängen. —  Auf  S.  55  des  erwähnten  Werkes  bespricht 
du  Bois-Reymond  auch  den  (zuerst  von  Heine  in 
Bd.  74  von  Grelles  Journal  gemachten)  Versuch,  die 
Zahlen  rein  formal  (d.  h.  unabhängig  von  der  Vorstellung 
meßbarer  Größen)  zu  definieren,  und  verwirft  ihn  als  un- 
fruchtbares Gedankenspiel;  er  stößt  sich  dabei  besonders 
an  die  schon  beim  Rechnen  mit  rationalen  Brüchen  ent- 
stehende und  oben  unter  5)  besprochene  Schwierigkeit, 
sowie  an  das  beim  Übergänge  zur  Anwendung  der  Zahlen 
auf  Messung  von  Größen  in  der  Tat  nicht  vermeidbare 
Axiom,  wonach  auch  wirklich  jedem  Punkte  der  geraden 
Linie  eine  Zahl  zuzuordnen  ist,  denn  direkt  beweisbar 
ist  nur  der  Satz,  daß  jeder  durch  irgend  ein  Gesetz  de- 
finierten Zahl  ein  Punkt  mit  beliebiger  Genauigkeit  zu- 
geordnet werden  kann.  Die  neuere  Entwicklung  der 
Mathematik  geht  dahin,  die  rein  arithmetische  Begrün- 
dung der  Analysis  (unabhängig  von  geometrischen  Vor- 
stellungen) immer  mehr  zu  bevorzugen,  da  sich  so  wesent- 
liche Erleichterungen  für  alle  mit  Grenzbegriffen  ope- 
rierenden Beweise  ergeben.  —  Eine  wesentlich  andere 
Frage  ist  es,  ob  sich  diese  arithmetische  Behandlung 
auch  für  den  Anfänger  aus  didaktischen  Rücksichten 
empfiehlt,  oder  ob  es  angezeigt  ist,  den  Anfänger  in 
Kürze  denjenigen  Gang  durchmachen  zu  lassen,  den  die 
historische  Entwicklung  der  Wissenschaft  an  die  Hand 
gibt,  wie  es  z.  B.  der  Verfasser  des  vorliegenden  Werkes 
oben  auf  S.  5  empfiehlt  und  wie  es  F.  Klein  mit  be- 
sonderem Nachdrucke  verlangt  hat  (Über  Arithmetisierung 
der  Mathematik,  Göttinger  Nachrichten,   1895).    Den  ent- 


2^.2  Anmerkungen   10 — 12. 

gegengesetzten  Standpunkt  vertritt  Pringsheim  (Über  den 
Zahl-  und  Grenzbegriff  im  Unterricht,  VI.  Jahresbericht 
der  deutschen  Mathematiker- Vereinigung,  1898,  und:  Zur 
Frage  der  Universitäts- Vorlesungen  über  Differentialrech- 
nung, ib.  VII,  1899).  -^i^  Frage  ist  eine  wesentlich  prak- 
tische und  wird  je  nach  Begabung  und  Erfahrung  des 
einzelnen  Dozenten  immer  verschieden  beantwortet  werden ; 
vielleicht  empfiehlt  es  sich  am  meisten,  keine  der  beiden 
Auffassungen  über  der  anderen  ganz  zu  vernachlässigen; 
auch  Pringsheim  hebt  die  Notwendigkeit  hervor,  das 
Bedürfnis  der  betr.  abstrakten  Betrachtungen  dem  An- 
fänger durch  ein  Beispiel  (etwa  die  Auflösung  der  Gleichung 
x"^  =  2)  fühlbar  zu  machen,  ihn  also  auf  seine  bisherige 
(auch  geometrische)  Erfahrung  zu  verweisen.  —  Unend- 
lich kleine  Größen  gebrochener  Ordnung  kommen  schon 
bei  Leibniz  vor.      (Math.   Schriften  Bd.  2,  p.  30off.) 

10)  S.  31.  Nachdem  Riemann  und  Schwarz 
Funktionen  konstruiert  hatten,  welche  für  gewisse  Werte 
von  X,  die  in  jedem  noch  so  kleinen  Intervalle  unbe- 
grenzt oft  wiederkehren,  keinen  bestimmten  endlichen 
Differentialquotienten  haben,  hat  Weierstraß  zuerst  eine 
stetige  Funktion  angegeben,  die  an  keiner  Stelle  einen 
bestimmten  Differentialquotienten  hat,  die  also  durch 
eine  Kurve  ohne  Tangenten  dargestellt  wird,  und  zwar 
in  einem  Briefe  an  P.  du  Bois-Reymond,  der  in  des 
letzteren  Abhandlung  ,, Versuch  einer  Klassifikation  der 
willkürlichen  Funktionen"  (Grelles  Journal  Bd.  79,  1875) 
veröffentlicht  wurde.  Andere  Beispiele  hat  Darboux  ge- 
geben: Memoire  sur  les  fonctions  discontinues,  Annales 
de  r^cole  normale,   2.  Serie,  t.  4,    1875. 

11)  S.  ;i,7,.  Der  Begriff  des  Querschnittes  ist  von 
Riemann  bei  seinen  Arbeiten  über  algebraische  Funk- 
tionen und  deren  Integrale  und  über  die  damit  zusammen- 
hängenden und  zu  deren  Veranschaulichung  dienenden 
,,Riemannschen  Flächen"  eingeführt  (Grelles  Journal,  Bd.  54, 
^^575  Gesammelte  Werke,  Leipzig  1876)  und  wird  seit- 
dem allgemein  angewandt;  vgl.  die  Darstellung  bei  G.  Neu- 
mann, Theorie  der  Abelschen  Integrale,  Leipzig  1865, 
2.   Auflage    1884).     —     Die    Angaben    des    Textes   wird 


Zum  ersten  Teil. 


253 


man  sich  an  Beispielen  klarmachen,  indem  man  das 
physikalische  Kontinuum  wieder  durch  das  mathematische 
Kontinuum  ersetzt,  also  z.  B.  ein  Kontinuum  von  einer 
Dimension  durch  eine  Kurve.  Eine  solche  wird  durch 
eine  diskrete  Anzahl  von  Punkten  (die  zusammen  den 
Querschnitt  darstellen)  in  getrennte  Teile  zerlegt,  so  eine 
Gerade  durch  einen  Punkt,  ein  Kreis  durch  zwei  Punkte 
u.  s.  f.  Gehört  dann  der  Punkt  A  dem  einen  Teile,  der 
Punkt  B  dem  andern  Teile  an,  so  kann  man  von  A 
nach  B  längs  der  zerlegten  Kurve  C  nur  gelangen,  in- 
dem man  einen  Punkt  des  Querschnittes  überschreitet. 
Besteht  der  Querschnitt  selbst  nicht  aus  diskreten  Punkten, 
sondern  aus  einer  stetigen  Punktfolge  (Kurve),  so  hatte 
das  zerschnittene  Gebilde  zwei  Dimensionen;  so  wird 
eine  Ebene  durch  eine  gerade  Linie,  eine  Kugel  durch 
einen  ebenen  Schnitt  (Kreis)  in  getrennte  Kontinua  zer- 
legt, ferner  unser  Raum  durch  eine  Ebene  (Kontinuum 
von  zwei  Dimensionen)  in  zwei  getrennte  Kontinua  von 
je  drei  Dimensionen  u.  s.  f.  —  Der  Begriff  einer  «-fach 
ausgedehnten  Mannigfaltigkeit  wurde  von  Riemann  in 
der  unten  unter   15)   citierten  Abhandlung  fixiert. 

12)  S.  34.  Als  Begründer  der  sogenannten  Analysis 
Situs  ist  Leibniz  zu  nennen;  diesem  Teile  der  Geo- 
metrie gehört  z.  B.  der  Eulersche  Satz  an  (Nov.  Comm. 
Petrop.  4,  1752),  nach  dem  zwischen  der  Anzahlender 
Flächen,  e  der  Ecken  und  k  der  Kanten  eines  Polyeders 
die  Relation 

k =/+  e  -  2 

besteht,  denn  dieser  Satz  gilt  auch  noch,  wenn  die 
Flächen  verbogen,  die  Kanten  verzerrt  werden;  er  hängt 
in  der  Tat  mit  der  Theorie  Riemannscher  Flächen  (in 
der  auch  beliebige  Verbiegungen  und  Verzerrungen  als 
irrelevant  behandelt  werden)  enge  zusammen.  Die  Ana- 
lysis Situs  wurde  durch  Listing  (Der  Zensus  der  räum- 
lichen Komplexe,  Göttinger  Abhandlungen,  1861),  Rie- 
mann (loc.  cit.),  Schläfli  (Grelles  Journal,  Bd.  5,  An- 
nali di  matematica,  5)  und  Klein  (Math.  Annalen,  Bd.  7, 
9  und    10)  weiter  entwickelt. 


2^4  AnmerkuBgen   13—15. 


Zweiter  Teil,  Der  Raum. 

13)  S.  36.  Der  Grundsatz:  „Zwei  Größen,  die  einer 
und  derselben  dritten  gleich  sind,  sind  untereinander 
gleich"  ist  rein  analytisch,  wenn  man  ihn  (wie  es  in 
modernen  elementaren  Büchern  meist  geschieht)  auf 
Zahlengrößen  bezieht.  Wenn  dieser  Satz  aber  auch  unter 
Euklids  Axiomen  erscheint  und  wenn  man  bedenkt, 
daß  dem  Altertume  die  Identifizierung  von  geometrischen 
Größen  mit  Zahlen  vollkommen  fernlag,  so  muß  man 
jenem  Grundsatze  bei  Euklid  eine  rein  geometrische 
Bedeutung  beilegen,  wie  ich  in  meiner  Darstellung  der 
nicht -Euklidischen  Geometrie  (Vorlesungen  über  Geo- 
metrie unter  Benutzung  der  Vorträge  von  Alfred  Clebsch, 
2.  Bandes  i.  Teil,  Leipzig  1891,  p.  555)  näher  ausge- 
führt habe.  Der  Satz  ist  nichts  anderes  als  eine  Defi- 
nition der  Gleichheit  geometrischer  Figuren,  die  nicht 
direkt  aufeinander  gelegt  werden  können;  denn  durch 
das  vierte  Axiom  von  Euklid  werden  solche  Figuren  als 
gleich  definiert,  die  man  durch  Bewegung  zur  Deckung 
bringen  kann.  Über  diese  ,, Bewegungen"  vgl.  unten  An- 
merkung  24. 

14)  S.  37.  Lobatschewskys  erste  Arbeiten  wurden 
182g — 38  in  Kasan  veröffentlicht,  dann  1837  in  Bd.  17 
von  Grelles  Journal;  seine  Theorie  der  Parallelen  ist 
in  Ostwalds  Klassiker -Bibliothek  wieder  abgedruckt; 
Bolyais  Hauptwerk  erschien  1832;  auch  Gauß,  der  mit 
letzterem  in  Verbindung  stand,  beschäftigte  sich  mit  ähn- 
lichen Gedanken  in  seinen  Briefen  an  Schumacher 
(aus  dem  Jahre  1831).  Über  die  Geschichte  des  Problems 
vgl.  Stäckel  und  Engel:  Die  Theorie  der  Parallellinien 
von  Euklid  bis  auf  Gauß,  Leipzig  1895,  und  von  den- 
selben Verfassern:  Urkunden  zur  Geschichte  d6r  nicht- 
Euklidischen  Geometrie,  Leipzig  1899,  femer:  Brief- 
wechsel zwischen  Gauß  und  Bolyai,  herausgegeben  von 
Schmidt  und  Stäckel,  Leipzig  1899.  Ein  Verzeichnis 
aller  Schriften  über  nicht -Euklidische  Geometrie  findet 
sich    in    der    von    der    Universität    Klausenburg    heraus- 


Zum  zweiten  Teil.  255 

gegebenen  Festschrift:  Libellus  post  saeculum  quam 
loannes  Bolyai  de  Bolya  anno  1802  a.  D.  Claudiopoli 
natus  est  ad  celebrandam  memoriam  eius  immortalem .... 
editus,   Claudiopoli,    1902. 

15)  S.  37.  Die  genannte  Abhandlung  Riemanns 
wurde  von  ihm  am  10.  Juni  1854  bei  dem  zum  Zwecke 
seiner  Habilitation  (als  Privatdozent)  veranstalteten  Kol- 
loquium mit  der  philosophischen  Fakultät  in  Göttingen 
vorgelesen.  Dadurch  erklärt  sich  der  fragmentarische 
Charakter,  indem  analytische  Entwicklungen  für  diesen 
Zweck  möglichst  vermieden  werden  mußten.  Die  Ab- 
handlung wurde  1867  aus  dem  Nachlasse  ihres  Verfassers 
durch  R.  Dedekind  zuerst  veröffentlicht:  Abhandlungen 
der  königlichen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göt- 
tingen, Bd.  13,  abgedruckt  in  Riemanns  gesammelten 
Werken,  Leipzig  1876,  S.  254  ff. ;  vgl.  auch  ib.  S.  384, 
wo  Dedekind  im  Anschlüsse  an  eine  andere  Arbeit 
Riemanns  einige  analytische  Erläuterungen  gibt. 

Beltramis  Abhandlung  (Teoria  fondamentale  degli 
spazii  di  curvatura  constante)  erschien  1868:  Annali  di 
matematica,  Serie  II,  t.  2  (vgl.  dessen  Opere  matematiche). 
Die  Arbeit  von  Helmholtz  (Über  die  Tatsachen,  die 
der  Geometrie  zu  Grunde  liegen)  ist  gleichfalls  1868  ver- 
öffentlicht: Nachrichten  der  kgl.  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften zu  Göttingen,  Bd.  15  (vgl.  dessen  Wissenschaft- 
liche Abhandlungen,  Bd.  2,  1883);  derselbe  hat  auch 
versucht,  seine  Anschauungen  in  allgemein  verständlicher 
Weise  darzulegen:  Über  den  Ursprung  und  die  Bedeu- 
tung der  geometrischen  Axiome  (Vorträge  und  Reden, 
Bd.  2,  Braunschweig   1884). 

Durch  die  Arbeiten  von  F.  Klein  (Über  die  soge- 
nannte nicht-Euklidische  Geometrie,  Math.  Annalen  Bd.  4, 
1871;  Bd.  6,  1873;  Bd.  7,  1874;  Bd.  37,  1890),  die 
sich  an  Cayleys  Verallgemeinerung  der  Maßbestimmungs- 
Funktion  (A  sixth  memoir  upon  quantics,  Philosophical 
Transactions,  vol.  149,  1859;  Collected  papers,  vol.  2) 
anschlössen,  hat  die  Behandlung  der  betreffenden  Pro- 
bleme neue  Bahnen  eingeschlagen;  vgl.  meine  Darstel- 
lung dieser  Theorien   in    dem  Werke:  Vorlesungen  über 


2  c  6  Anmerkungen  1 6  — 19. 

Geometrie,  bearbeitet  unter  Benutzung  der  Vorträge  von 
A.  Clebsch,  Bd.  II,  Teil  i,  Leipzig  1891;  ferner  Kil- 
ling:  Die  nicht-Euklidischen  Raumformen  in  analytischer 
Behandlung,   Leipzig   1885. 

16)  S.  39.  In  populärer  und  teilweise  humoristischer 
Weise  ist  die  Geometrie  der  zweidimensionalen  Wesen 
behandelt  in  dem  Werke:  Fiatland,  A  romance  of  many 
dimensions  by  A  Square,  London  1884.  —  Zweidimen- 
sionale Wesen  haben  natürlich  große  Schwierigkeiten  im 
Studium  der  Geometrie,  denn  eine  gezogene  Linie  ver- 
deckt ihnen  alles,  was  sich  auf  der  einen  Seite  dieser 
Linie  befindet;  andererseits  würden  vierdimensionale 
Wesen  mit  Ebenen  und  Kugeln  in  analoger  Weise  leicht 
operieren  (durch  dem  Lineal  und  Zirkel  analoge  Instru- 
mente), wie  wir  es  mit  geraden  Linien  und  Kreisen  tun. 
1 7)  S.  40.  Die  Euklidische,  Lobatschewskysche  und 
Riemannsche  Geometrie  werden  nach  Klein  in  folgender 
Weise  charakterisiert:  In  der  ersten  (der  parabolischen 
Geometrie)  verhalten  sich  die  unendlich  fernen  Punkte 
wie  Punkte  einer  Ebene  (nach  Poncelet),  in  welcher  sich 
ein  ausgezeichneter  imaginärer  Kegelschnitt  befindet,  der 
nach  Chasles  und  Laguerre  zur  Definition  der  Winkel 
dient;  in  der  zweiten  (der  hyperbolischen  Geometrie) 
haben  wir  statt  der  Ebene  eine  reelle,  nicht  geradlinige 
Fläche  zweiter  Ordnung  als  Repräsentanten  der  unend- 
lich fernen  Punkte,  in  der  dritten  (der  elliptischen  Geo- 
metrie) eine  imaginäre  Fläche  zweiter  Ordnung.  Der 
Satz,  daß  zwei  Punkte  ihre  gerade  Verbindungslinie  ein- 
deutig bestimmen,  gilt  gleichmäßig  in  allen  drei  Geo- 
metrien. Im  dritten  Falle  kann  man  durch  eine  quadra- 
tische Transformation  eine  weitere  Geometrie  herstellen, 
bei  der  jedem  Punkte  ein  anderer  eindeutig  derartig 
zugeordnet  ist,  daß  beide  zusammen  eine  gerade  Linie 
nicht  bestimmen.  Wenn  man  die  Riemannsche  Geo- 
metrie der  Ebene  sich  nach  Riemann  und  Beltrami 
auf  einer  Fläche  konstanten  Krümmungsmaßes  (insbeson- 
dere auf  der  Kugel)  veranschaulicht  (vgl.  S.  41  ff.  des 
obigen  Textes),  so  hat  man  diesen  Fall  vor  sich,  in  dem 
durch    zwei   Punkte   unendlich   viele  gerade  Linien   hin- 


Zum  zweiten  Teil. 


257 


durchgehen  können  (wie  auf  der  Kugel  unendlich  viele 
größte  Kreise  durch  zwei  diametral  gegenüberliegende 
Punkte).  Killing  hat  a.  a.  O.  gezeigt,  daß  nie  mehr 
als  zwei  Punkte  einander  so  zugeordnet  sein  können; 
deshalb  ist  im  Texte  des  vorliegenden  Werkes  von  ,,zwei 
möglichen  Formen"  der  Riemannschen  Geometrie  die 
Rede.  Dieses  Verhalten  der  Geometrie  auf  der  Kugel 
hat  Helmholtz  zu  der  irrigen  Ansicht  geführt,  daß  eine 
solche  paarweise  Zuordnung  der  Punkte  notwendig  mit 
den  Vorstellungen  der  Riemannschen  Geometrie  ver- 
bunden sei;  und  diese  Ansicht  findet  man  seitdem  häufig 
vertreten,  insbesondere  z.  B.  bei  Erdmann  (Die  Axiome 
der  Geometrie,  eine  philosophische  Untersuchung  der 
Riemann - Helmholtzschen  Raumtheorie,  Leipzig  1877). 
Riemann  selbst  spricht  sich  nicht  darüber  aus,  welche 
der  beiden  möglichen  Formen  ihm  vorgeschwebt  hat. 
Diese  beiden  Formen  unterscheiden  sich  auch  dadurch, 
daß  bei  der  ersten  der  Raum  durch  eine  Ebene  (die 
Ebene  durch  eine  gerade  Linie)  nicht  in  zwei  getrennte 
Teile  zerlegt  werden  kann,  während  dies  in  der  zweiten 
Form  möglich  ist;  vgl.  mein  oben  erwähntes  Werk, 
S.  527ff. 

18)  S.  40.  Man  beachte,  daß  das  Wort  „parallel" 
in  der  Lobatschewskyschen  Geometrie  in  doppeltem  Sinne 
gebraucht  wird.  Entweder  man  nennt  zwei  Linien  pa- 
rallel, wenn  sie  sich  nicht  schneiden;  dann  gibt  es  un- 
endlich viele  Parallele  zu  einer  gegebenen  Geraden  durch 
einen  gegebenen  Punkt.  Oder  man  nennt  sie  parallel, 
wenn  sie  sich  im  Unendlichen  schneiden  (d.  h.  wenn  die 
eine  bei  Drehung  um  den  festen  Punkt  diejenige  Grenz- 
lage erreicht,  bei  welcher  der  Schnittpunkt  sich  ins  Un- 
endliche entfernt);  dann  gibt  es  nur  zwei  solche  Paral- 
lele, aber  außerdem  noch  unendlich  viele  Gerade,  welche 
die  gegebene  Gerade  nicht  schneiden,  und  die  man  als 
ultraparallel  bezeichnen  könnte.  Die  im  Texte  er- 
wähnte Unterscheidung  von  „unbegrenzt"  und  ,, unend- 
lich" hat  Riemann  a.  a.  O.   eingeführt. 

19)  S.  43.  Es  seien  x,  y,  z  die  rechtwinkligen  Ko- 
ordinaten eines  Punktes  in  unserem  Euklidischen  Räume 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  \1 


2ir8  Anmerkung   19. 

und  ^,  rj,  ^  die  analogen  Koordinaten  im  Lobatschewsky- 
schen  Räume  (vgl.  über  die  Definition  der  letzteren  das 
oben  unter  1 5)  citierte  Werk :  Vorlesungen  über  Geometrie, 
Bd.  II,  p.  5i8flf);  dann  ist  die  im  Texte  des  vorliegenden 
Werkes  durch  das  „Wörterbuch"  zum  Ausdruck  gebrachte 
Beziehung  zwischen   beiden  Räumen   durch   die  Formeln 

/  \         y  2  CC  X  2  ß  y 


^^2  _|_  ^,2  _^  2^  —  y^2  '      •/  ^2_|_^2_^  22-/^2' 

^  ;^2  ^  ^2  _|_  22  _  ^2 

analytisch  dargestellt.     Hieraus  erhält  man 

^2  +^.2  ^  (^2  ^^2  ^  ,2  _  ^2)2  (_^^  +  _J) 

Die  Auflösung  der  Gleichungen  (i)  ergibt  also 
(3)  x=^'      y  =  ^, 


=  ^l/^H^+2,^_,^g  +  ^) 


Der  Einfachheit  halber  nehmen  wir  a  =  ß  =  y  =  k. 
Reelle  Werte  von  x,  y,  z  erhält  man  also  nur  dann, 
wenn  die  Bedingung 

(4)  {ki+i?-'e-n^-i>o 

erfüllt  ist,  d.  h.  wenn  der  Punkt  'E,,  '}],  ^  innerhalb  der 
(nicht  geradlinigen)  Fläche  zweiter  Ordnung 

(5)  (n+ o'-i'-i?'-i=o 

gelegen  ist,  so  daß  die  von  ihm  an  diese  Fläche  zu 
legenden  Tangenten  imaginär  sind.  In  der  Loba- 
tschewskyschen  Geometrie  stellt  diese  Fläche  die  unend- 
lich fernen  Punkte  des  Raumes  dar,  so  daß  alle  Punkte 
dieses  Raumes   erschöpft  sind,    wenn  ^,  rj,  ^  der  Bedin- 


Zum  zweiten  Teil. 


259 


gung  (4)  unterworfen  werden;  vgl.  die  Anmerkung  17. 
Wählt  man  in  (3)  das  positive  Vorzeichen  der  Quadrat- 
wurzel, so  entspricht  der  Gesamtheit  von  Punkten  ^,  7],  ^ 
des  Lobatschewskyschen  Raumes  die  Gesamtheit  der 
Punkte  in  demjenigen  „Halbraume"  der  Euklidischen  Geo- 
metrie, welcher  durch  die  Bedingung  0  >  o  dargestellt 
wird.  Der  ,, Fundamentalebene''  z  =  o  des  Euklidischen 
Raumes  entspricht  die  ,, Fundamentalfläche"  (unendlich 
ferne  Fläche)  zweiter  Ordnung,  die  durch  (5)  ge- 
geben war. 

Eine  Kugel  des  Euklidischen  Raumes,  welche  die 
Fundamentalebene  2  =  0  orthogonal  schneidet  (deren 
Mittelpunkt  also  in  der  Ebene  z  =0  liegt),  ist  durch  die 
Gleichung 

(6)  x^  ■\-  y''  -\-  z^  —  2  ax  —  2  bjy  -\-  a^  -\-  P  —  r^  =  o 
dargestellt.      Sie  geht  vermöge  (i),  wo  wieder 

a  ^=  ß  =-  y  =  k 
zu  nehmen  ist,  in  die  Gleichung 

(7)  u^-^  TJrj-^  w^-\-  I  =  o, 
also  in  eine  Ebene  über,  wenn 

,      ,                       a                        h                   «2  4-  §2  +  /&2  _  ^2 
(7a)      u  =  ~-^,     ^  =  -1'     ^  = VI 

gewählt  wird.     Eine  zweite  Kugel 

(8)  :r2  +  :j/2  +  z2—  2a^x-  ib^y  -\- a^^  -\- b^^  -  r^^  =  o 
führt  ebenso  zu  einer  zweiten  Ebene 

(9)  ^i'i  +  ^iV  +  "^^1^+  ^  =  o, 
wenn 

(ga)     «i  =  -f,    ^i=-i'    '^1=       -^-^TI ^• 

Ist  die  Entfernung  ihrer  Zentren  kleiner  als  die  Summe 
der  Radien,  d.  h.   ist 

(10)  (a-a,Y+{b-b,)'<{r±r^)\ 

so    schneiden    sich    beide  Kugeln   in   einem  Kreise,    der 

17* 


25o  Anmerkung   19. 

in  einer  zn  z  =  o  senkrechten  Ebene  liegt;  ihm  ent- 
spricht im  Lobatschewskyschen  Räume  die  Schnittlinie 
der  beiden  Ebenen  (7)  und  (9).  Ist  die  Bedingung  (10) 
nicht  erfüllt,  so  schneiden  sich  die  Kugeln  nicht,  also 
auch  die  zugeordneten  Ebenen  schneiden  sich  nicht, 
d.  h.  die  Werte  von  ^,  rj,  ^,  welche  den  Gleichungen  (7) 
und  (g)  genügen,  sind  solche,  denen  im  Lobatschewsky- 
schen Räume  keine  Punkte  entsprechen,  indem  die- 
selben die  verlangte  Ungleichung  (4)  nicht  befriedigen; 
diese  Wertetripel  stellen  (nach  Kleins  Ausdrucksweise, 
vgl.  S.  471  f.  meines  oben  erwähnten  Werkes)  „ideale 
Punkte"  des  Raumes  dar.  Berühren  sich  die  Kugeln 
(6)  und  (8),  so  haben  sie  einen  reellen  Punkt  in  der 
Fundamentalebene  z  =  o  gemeinsam;  den  Ebenen  (7) 
und  (9)  ist  also  auch  ein  Punkt  der  (unendlich  fernen) 
Fundamentalfläche  (5)  gemeinsam,  d.  h.  den  Werten 
von  ^,  7],  ^,  welche  den  Gleichungen  (7)  und  (9)  ge- 
nügen, entsprechen  im  allgemeinen  keine  Punkte  des 
Lobatschewskyschen  Raumes,  ausgenommen  ein  ein- 
ziges Tripel  ^,  rj,  ^,  das  einen  unendlich  fernen  Punkt 
liefert:  die  Ebenen  (7)  und  (9)  sind  einander  parallel 
(sie  schneiden  sich  in  einer  von  ,, idealen*'  Punkten  er- 
füllten Geraden,  welche  die  Fundamentalfläche  (5)  be- 
rührt). 

Die  Gleichung  der  Fläche  (5)  in  Ebenenkoordinaten 
u,  z),  w  ist  bekanntlich 

(11)  k^(u^  -^  7J^  -{-    l)  —  2kw  =  O. 

Die  Bedingung  dafür,  daß  sich  durch  die  Schnittlinie 
zweier  Ebenen  zwei  imaginäre  Tangentenebenen  an  die 
Fläche  (5),  bezw.  (11)  legen  lassen,  ist  (vgl.  z.  B.  S.  197 
meines  oben  genannten  Werkes): 

(12)  I{^-GL<o, 
wenn 

G  =  k^(u^  +  Z;2-f    l)  _   2kw, 

(13)  L  =  P{u^^Jr^i^+  0-  2^^i, 
11=  k^{uu^  -j-  vv^  -\-  i)  —  k[w  -\-  7Ü^ 


Zum  zweiten  Teil.  201 

gesetzt  wird.  Führt  man  hier  die  Werte  (7a),  bez.  (9a) 
ein,  so  wird: 

(14)  G  =  r\     L==r^, 

und  die  Bedingung  (12)   ergibt 

[{a  -  a,f  +  (^  -  5,)2  -r^-  r^^)'  <  ^r^ 

was  mit  der  Bedingung  (10)  übereinstimmt.  Lassen  sich 
aber  durch  eine  Gerade  imaginäre  Tangentenebenen  an 
eine  nicht  geradlinige  Fläche  zweiter  Ordnung  legen,  so 
sind  die  Schnittpunkte  dieser  Fläche  mit  jener  Geraden 
reell,  und  so  ergibt  sich  wieder  die  Ungleichung  (10) 
als  Bedingung  dafür,  daß  sich  die  Ebenen  (7)  und  (9) 
in  wirklichen  Punkten  des  Lobatschewskyschen  Raumes 
schneiden  (und  somit  als  identisch  mit  der  Bedingung, 
daß  sich  die  zugeordneten  Kugeln  in  einem  reellen 
Kreise  durchdringen);  die  wirklichen  Punkte  ^,  71,  ^  liegen 
zwischen  beiden  reellen  Schnittpunkten  der  Geraden  mit 
der  Fundamentalfläche  (5);  außerhalb  dieser  Schnittpunkte 
ergeben  sich  ,, ideale"  Punkte  der  Geraden. 

Die  Bedingung  für  den  Parallelismus  der  beiden 
Ebenen  ist 

(15)  H^==^GL, 

und  dieselbe  ist  identisch  mit  der  Bedingung  für  die 
Berührung  beider  Kugeln,  nämlich 

(16)  (a-a,f-^(b-b,Y  =  (r±r,Y. 

Diese  Bedingung  der  Berührung  ergibt  sich  auch, 
wenn  man  von  dem  Winkel  beider  Kugeln  ausgeht,  d.  h. 
dem  Winkel,  welchen  die  Tangentialebenen  der  Kugeln 
in  einem  Punkte  ihrer  Schnittkurve  miteinander  ein- 
schließen. Ist  X,  y,  z  ein  Punkt  der  Schnittkurve  und 
werden  mit  X,  V,  Z  laufende  Koordinaten  bezeichnet, 
so  sind  die  Gleichungen  der  beiden  Tangentialebenen 
für  die  Kugeln  (6)  und  (8) 

(x-a){X-a)  +  {j,-b){r-b)  +  2.Z-r2  =  o, 


252  Anmerkung   19. 

{x  -  a,){X  -  a,)  ^(y-  b,){F-  b,)  +  z  .  Z -  r,' =  o; 
ihr  Winkel  (p  wird  also  bestimmt  durch: 

_  (-^  —  ^)  (^  —  ^1 )  +  b'  —  ^)  (7  -  ^1 )  +  ^'      

oder  infolge  der  Gleichungen  (6)  und  (8): 
(17)      cos  cp  =  


irr. 


Im  Falle   der  Berührung   ist   cos    9  ==  +  i,    und    daraus 
ergibt  sich  wieder  die  Bedingung  (16). 
Vermöge  ( 1 4)  erhält  man  aus  ( 1 7) 

(18)  cosgp  =  ^; 

das  ist  aber  genau  der  Ausdruck,  welcher  sich  in  der 
Lobatschewskyschen  Geometrie  für  den  Winkel  zweier 
Ebenen  (7)  und  (9)  ergibt,  wenn  man  G^  H,  L  gemäß 
(13)  durch  die  Koordinaten  dieser  Ebenen  ausdrückt. 
Damit  ist  die  sechste  Angabe  des  im  Texte  aufgestellten 
,, Wörterbuches"  bestätigt.  Die  siebente  Angabe  erledigt 
sich  dadurch,  daß  in  der  Lobatschewskyschen  Geometrie 
die  Entfernung  zweier  Punkte  ^,  y],  ^  und  "g^,  rj^,  ^^  durch 
den  Ausdruck 

gemessen   wird,    wenn   P,  Q,  R   durch    die    Gleichungen 

definiert  werden,  und  daß  der  im  Argumente  des  Loga- 
rithmus stehende  Ausdruck  eben  gleich  dem  Doppel- 
verhältnis ist,  welches  die  beiden  gegebenen  Punkte  mit 
den  beiden  Punkten  bilden,  in  denen  ihre  Verbindungs- 
linie die  Fundamentalfläche  (5)  schneidet.  Das  Doppel- 
verhältnis der  vier  Punkte  mit  den  Koordinaten  ^,  7],  ^ 
des  ersten,   'E,^,  rj^,  ^^,   des  zweiten, 


Zum  zweiten  Teil.  263 

^      des    dritten, 

Punktes  wird  dabei  durch  den  Quotienten  l :  t  gegeben. 
Die  entsprechenden  vier  Punkte  im  Euklidischen  Räume 
liegen  auf  einem  Kreise,  der  die  Ebene  e  =  o  orthogonal 
schneidet,  und  ihr  Doppelverhältnis  sei  wieder  durch 
den  gleichen  Quotienten  definiert;  diese  vier  Punkte 
haben  nach  (3)  die  Koordinaten  x^  y,  z  und  x^y  y^,  z^ 
für  den  ersten  und  zweiten  Punkt,  ferner 

_  g  +  ^li       ^  _  2L±Jl^ 


2fo  = 


-^^y-{PJ^2lQ-\-l^R). 


woraus  sich  x^ ,  j'^ ,  z^  ergeben ,  wenn  man  X  durch  X'  er- 
setzt. 

Projizieren  wir  die  beiden  Punkte  x,  y,  z  und  x^,  y^,  z^ 
in  die  Ebene  s  =  o,  so  entstehen  hier  Punkte  mit  den 
Koordinaten  x, y  und  x^, y^.  Die  Verbindungslinie  der 
letzteren  ist  ein  Durchmesser  des  betrachteten  Kreises; 
und  die  Endpunkte  des  Durchmessers  haben  die  Koordi- 
naten x^,  y^,  bez.  x^,  y^.  Auf  diesem  Durchmesser  haben 
wir  also  die  vier  Punkte  mit  den  Koordinaten 


+  xi,     ^^     a  +  n, 


,,    _    !?  ,,       —Vi  V       —    ^^  +  ^"^1  ,;       _    ^   +  ^'^t 

Das  Doppelverhältnis  dieser  vier  Punkte  ist  in  der  Tat 
gleich  X :  X'.  Wenn  also  in  der  siebenten  Angabe  des 
„Wörterbuches"  von  dem  ,, Doppelverhältnisse  dieser  vier 
Punkte  des  Kreises"  gesprochen  wird,  so  ist  damit  das 
Doppelverhältnis  ihrer  Projektionen  auf  die  Fundamental- 
ebene z  =  o  gemeint,  nicht  etwa  im  Sinne  der  synthe- 
tischen Geometrie  das  Doppelverhältnis  der  vier  Strahlen, 
welche  die  vier  Punkte  mit  einem  beliebigen  fünften 
Punkte  desselben  Kreises  verbinden. 


264  Anmerkung   19. 

Die  vierte  und  fünfte  Angabe  unseres  Wörterbuches 
erledigt  sich  durch  die  folgende  Betrachtung.  Die 
Gleichung  einer  beliebigen  Kugel  des  Euklidischen 
Raumes  ist 

(19)  x^  -{-y^  -\-  z^  —  2ax  —  2dj/  —  2cz 

Nach  (i)  ist  die  linke  Seite  gleich 

(^2  _j_y  4-  ^2  _  ^2)(j  _|_  ^^^  _^  ^^^  _|.  ^^^)  _  2^2, 

wenn 


gesetzt  wird.  Drücken  wir  also  z  nach  (3)  durch  |,  -jy,  ^ 
aus,  so  entsteht  die  Gleichung  derjenigen  Fläche,  welche 
der  Kugel  (19)  im  Lobatschewskyschen  Räume  zugeord- 
net wird,  in  der  Form: 

(20)  k\i-^u^l-\-v^ri-\-w^lf=c\{)il^  l)2_^2_^2_  i]. 

Es  ist  dies  die  Gleichung  einer  Fläche  zweiter  Ordnung, 
welche  die  Fundamentalfläche  (5)  längs  ihres  Schnittes 
mit  der  Ebene 

(2  i)  u^l  ^-v^ri^w^l^  \  =0 

berührt;  das  ist  aber  eine  Kugel  im  Sinne  der  Loba- 
tschewskyschen Geometrie  (vgl.  S.  495 f.  u.  521  f.  meines 
oben  erwähnten  Werkes).  Der  Mittelpunkt  der  Kugel 
ist  der  Pol    der  Ebene  (21)  inbezug  auf  die  Fläche  (5). 

Einer  Kugel  ist  also  in  der  Tat  eine  Kugel 
zugeordnet  und  somit  einem  Kreise  (als  Schnitt 
zweier  Kugeln)  wieder  ein  Kreis  (Kegelschnitt, 
der  die  Fundamentalfläche  in  zwei  Punkten  be- 
rührt). 

Einer  Ebene  des  Euklidischen  Raumes 

Ax  -^  By  ^  Cz^  D  =  0 
entspricht  nach  (3)   die  Fläche 

(22)  (AI  +  ^^  -)-  DtY  =  C^m  +  I)'  -^'-v'-  I]. 
also  eine  Kugel,  für  welche  die  Ebene  des  Berührungs- 


Zum  zweiten  Teil.  265 

kegelschnittes  durch  den  Punkt  ^  =  0,  r]  ^  o,  ^  ^=  o  hin- 
durchgeht, welcher  selbst  auf  der  Fundamentalfläche  (also 
unendlich  fern)  liegt.  Der  Mittelpunkt  der  Kugel  {22) 
liegt  demnach  in  der  Tangentialebene  dieses  unendlich 
fernen  Punktes,  gehört  also  zu  den  oben  erwähnten 
idealen  Punkten  des  Lobatschewskyschen  Raumes. 

Schneidet  die  Kugel  (ig)  die  Ebene  z  =  o  in  einem 
imaginären  Kreise,  so  ist  der  unendlich  ferne  Kegel- 
schnitt der  nicht-EukUdischen  Kugel  (20)  imaginär;  diese 
Kugel  selbst  liegt  ganz  im  Endlichen;  ihr  Mittelpunkt 
ist  ein  wirklicher  Punkt.  Wird  die  Ebene  s  =  o  von 
der  Kugel  (19)  in  einem  reellen  Kreise  getroffen,  so  ist 
der  unendlich  ferne  Kegelschnitt  der  Kugel  (20)  reell, 
und  er  teilt  diese  Fläche  in  zwei  Teile;  der  eine  Teil 
entspricht  der  Kugel  (19),  der  andere  Teil  derjenigen 
Kugel  des  Euklidischen  Raumes,  welche  aus  (19)  her- 
vorgeht, wenn  man  c  durch  —  c  ersetzt,  und  welche  auch 
in  den  Halbraum  s  >>  o  hineinragt.  Berühren  sich  die 
Ebene  z  =  o  und  die  Kugel  (19),  so  wird  auch  die 
Fläche  (5)  von  der  Kugel  (20)  berührt;  der  unendUch 
ferne  Kegelschnitt  der  letzteren  zerfällt  in  zwei  imaginäre 
Erzeugende;  die  Kugel  selbst  ist  eine  Grenzfläche,  deren 
Eigenschaften  ich  (a.  a.  O.  S.  500  if.)  näher  angegeben 
habe,  indem  ich  insbesondere  zeigte,  daß  diese  Fläche 
in  der  nicht-Euklidischen  Geometrie  zur  Darstellung  einer 
komplexen  Variabein  dieselben  Dienste  leistet,  wie  die 
sogenannte  Gaußsche  Ebene  in  unserer  Euklidischen 
Geometrie. 

Interpretiert  man  die  Größen  ^,  rj,  ^  direkt  im  Euklidi- 
schen Räume  als  rechtwinklige  Koordinaten,  so  entspricht 
jedem  Punkte  |,  7],  ^  des  Lobatschewskyschen  Raumes 
ein  Punkt  im  Innern  einer  durch  (5)  dargestellten  Fläche 
zweiter  Ordnung;  jeder  Ebene  eine  Ebene,  jeder  Geraden 
eine  Gerade,  so  daß  die  sogenannte  projektivische  Geo- 
metrie des  Euklidischen  Raumes  von  der  projektivi- 
schen  Geometrie  des  nicht -Euklidischen  Raumes  nicht 
verschieden  ist,  und  sich  hier  ein  entsprechendes 
Wörterbuch  aufstellen  ließe;  insbesondere  kann  als  be- 
grenzende   Fläche    eine    Kugel    gewählt    werden;     dann 


256  Anmerkung   19. 

entsteht  die  schon  von  Beltrami  benutzte  Abbildung 
(Annali  di  matematica,  Serie  II,  t.  2),  auf  welche  sich 
auch  Helmholtz  in  seinem  erwähnten  populären  Vor- 
trage bezieht.  Jedem  metrischen  oder  projektivischen 
Satze  der  Lobatschewskyschen  Geometrie  entspricht  ein 
projektivischer  Satz  der  gewöhnlichen  Geometrie;  auch 
hier  ist  deshalb  der  Schluß  zu  machen,  daß  unsere  Eukli- 
dische Geometrie  einen  Widerspruch  in  sich  enthalten 
müßte,  wenn  dies  mit  der  nicht-Euklidischen  Geometrie 
der  Fall  wäre,  wie  ich  dies  a.  a.  O.  S.  552  ff.  näher  aus- 
geführt habe.  Dabei  ist  zu  beachten,  daß  die  Koordi- 
naten '8,,  rj,  ^  sowohl  in  der  Euklidischen  als  in  der  nicht- 
Euklidischen  Geometrie  nach  den  Arbeiten  von  v.  Stau  dt, 
Klein,  Fiedler  und  de  Paolis  definiert  werden  kön- 
nen, ohne  daß  dabei  von  den  Begriffen  der  Entfernung 
oder  des  Winkels   Gebrauch  gemacht  würde. 

Um  den  Zusammenhang  mit  Riemanns  und  Bel- 
tramis  Untersuchungen  herzustellen,  muß  man  den  Aus- 
druck des  Bogenelementes  ds  aufstellen,  der  auch 
weiter  unten  noch  benutzt  wird.  Führt  man  homogene 
Koordinaten  ein,  ersetzt  also  'E,,  tj,  ^  bez.  durch  ^  :  r,  ?; .'  r, 
^ :  r ,    so    wird    die  Gleichung   der  Fundamentalfläche  (5) 

i'  +  n'  +  r'-(ki  +  tY  =  o. 

Die  absoluten  Werte  dieser  Koordinaten  kann  man  durch 
eine  beliebige  Festsetzung  fixieren,  hier  am  einfachsten 
durch  die  Bedingung 

r  +  ,,2  +  r^  -  (ki  +  t)'  =  -  c^ 

wo  dann  zwischen  den  Differentialen  die  Relation 

'^d'E,  +  Tjdr]  +  rdr  -  (k^  +  t)  (kd^  -\- dr)  =  o 

erfüllt  ist.  Für  das  Linienelement  erhält  man  dann  (vgl. 
a.  a.  O.  S.  478  und   524): 

Die  Gleichungen  (3),  in  denen  wieder  a  =  ß  =  y  =  k  zu 
nehmen  ist,  ergeben  dann: 


Zum  zweiten  Teil.  207 

I  n  c 

und  nach  einigen  Umformungen: 

dx^  +  dy^  +  dz^ 
=  j,[^''d6'C'-^[{n+z)d^-t[kdt^dz)Y-{rd^--idT)'^ 

=  z^da^, 
also  mit  Hilfe  der  dritten  Gleichung  (3) 

(23)  ^<?'=  ^i -  =  ^ 

Um  auf  die  üblichen  Formeln  zu  kommen,  müssen 
wir  den  Halbraum  0  >  o  in  das  Innere  einer  Kugel  mit 
dem  Radius  i  überführen,  was  durch  eine  Transforma- 
tion mit  reziproken  Radien  geschieht.  Sei  diese  Kugel 
durch   die  Gleichung 

dargestellt,   so   setzen  wir 

pi  =  X^+  F\     ^^  =  x^  -{-j^\ 

p^iz=^^/"~\,   wo    ^^^^:r^^ 

also 


P^  ^  Z^  -\  =X^  ^Y^  -^  Z^  -1  = 


2  z 


Es  wird  also 

2  _  ^■^-  _     dX^^-^dY^-^dZ^ 


z- 


(A"2_|_  Y^-\-  Z^—\)' 


Hat  die  Kugel  den  Radius  R  und  bezeichnet  r  die  Ent- 
fernung des  Punktes  X,  JT,  Z  von  ihrem  Mittelpunkte 
(r2  =  ^2  +  ^2  _^  ^)^   so  wird 

,      ,                            ,  o        dX^-\-dY^-\-dZ^ 
(24)  ^ö'  =  iR^-r^J^ ' 


208  Anmerkungen  20 — 22. 

und  damit  ist  der  Riemannsche  Ausdruck  für  das  Bogen- 
dement  einer  dreifach  ausgedehnten  Mannigfaltigkeit  kon- 
stanter Krümmung  erreicht. 

Für  Z==o  erhält  man  das  Bogenelement  einer  Fläche 
konstanter  Krümmung  im  Gaußschen  Sinne,  wobei  X 
und  F  die  Parameter  der  geodätischen  Linien  auf  dieser 
Fläche  bedeuten,  und  damit  das  im  Texte  erwähnte 
Bei  tramische  Resultat  betreffend  die  Veranschaulichung 
der  Lobatschewskyschen  Geometrie  durch  Flächen  kon- 
stanten Krümmungsmaßes. 

Letzteres  ist  hier  im  Sinne  von  Gauß  zu  nehmen 
(Disquisitiones  generales  circa  superficies  curvas,  1828, 
Gesammelte  Werke  Bd.  4).  Für  die  neuere  Entwicklung 
der  Theorie  der  Flächen  konstanten  Krümmungsmaßes 
sei  z.  B.  auf  die  Lehrbücher  von  Bianchi  (Vorlesungen 
über  Differentialgeometrie,  deutsch  von  Lukat,  Leipzig 
1899)  oder  Scheffers  (Einleitung  in  die  Theorie  der 
Flächen,  Leipzig   1902)  verwiesen. 

Ersetzt  man  k!^  durch  —  k^,  so  ergibt  sich  die  Rie- 
mannsche Geometrie;  auch  für  sie  kann  in  ähnlicher 
Weise  das  System  der  Ebenen  auf  ein  System  von  Kugeln 
der  Euklidischen  Geometrie  abgebildet  werden,  die  eine 
gewisse  imaginäre  Ebene  (allgemeiner  eine  gewisse  feste 
imaginäre  Kugel)   orthogonal   schneiden. 

20)  S.  44.  Setzt  man  in  den  Formeln  der  vorher- 
gehenden Anmerkung  y  =  o  und  vertauscht  die  Buch- 
staben _>'  mit  z,  7]  mit  ^,  so  entsteht  aus  (i): 

,  2x  2 

und   aus  (3) 

Den  geraden  Linien  einer  Lobatschewskyschen  Ebene 
werden  die  Kreise  zugeordnet,  welche  in  der  xy-Ebene 
die  Achse  y  =  o  orthogonal  schneiden,  soweit  sie  in  der 
Halbebene  >'  >  o  liegen.  Auf  die  Untersuchung  von  sol- 
chen Kreisen  und  den  aus  ihnen  gebildeten  Figuren 
(Überführung  der  letzteren  ineinander  durch  lineare  Trans- 


Zum  zweiten  Teil.  200 

formation  der  komplexen  Variabein  x  +  z>')  beziehen  sich 
die  Arbeiten  von  Poincare  und  Klein  über  Gruppen 
von  linearen  Transformationen  der  komplexen  Veränder- 
lichen X  -\-  iy  und  über  die  linearen  Differentialgleichungen 
zweiter  Ordnung,  welche  mit  diesen  Gruppen  zusammen- 
hängen. Besonders  die  Ausdrücke  für  das  Bogenelement 
und  den  Flächeninhalt  kommen  dabei  in  Betracht.  Die 
(zuerst  seit  1881  in  den  Comptes  rendus  des  seances 
de  l'academie  des  sciences  im  Auszuge  veröffentlichten) 
Arbeiten  von  Poincare  findet  man  ausführlicher  in  den 
Acta  mathematica,  Bd.  i,  3,  4  und  5;  die  von  Klein  in 
den  Mathematischen  Annalen  Bd.  21  (1882,  besonders 
S.  179  ff.)  und  40  (1892);  vgl.  auch  Klein  und  Fricke, 
Vorlesungen  über  die  Theorie  der  automorphen  Funk- 
tionen,  Leipzig    1897. 

21)  S.  44.  Wie  man  ein  solches  Wörterbuch  durch 
Übersetzung  der  nicht  -  Euklidischen  Geometrie  in  die 
projektivische  Geometrie  des  Euklidischen  Raumes  her- 
stellen kann,   ist  schon  in  Anmerkung  19)  erwähnt  (S.  265). 

22)  S.  45.  Implizite  Voraussetzungen  macht  man 
z.  B.  auch  bei  den  Gesetzen  der  Anordnung,  insbeson- 
dere beim  Begriffe  ,, zwischen";  vgl.  Pasch,  Vorlesungen 
über  neuere  Geometrie,  Leipzig  1882;  ebenso  wird  das 
sogenannte  Archimedische  Axiom  meist  implizite  voraus- 
gesetzt, welches  aussagt,  daß  ein  Teil  einer  Strecke  AB  von 
A  aus  in  der  Richtung  auf  B  wiederholt  abgetragen,  stets 
nach  einer  endlichen  Anzahl  von  Abtragungen  zu  einem 
Punkte  führt,  der  über  B  hinaus  liegt  (oder:  eine  Größe 
kann  so  oft  vervielfältigt  werden,  daß  sie  jede  andere 
ihr  gleichartige  übertrifft);  vgl.  Veronese,  Grundzüge  der 
Geometrie,  deutsch  von  Schepp,  und  Stolz:  Berichte 
des  naturw.-mediz.  Vereins  in  Innsbruck,  XII,  i88y2,  und 
Math.  Annalen  Bd.  39,  1891.  Das  Axiom  ist  evident, 
wenn  man  die  geometrischen  Größen  durch  Zahlen  dar- 
gestellt hat  (wie  in  der  analytischen  Geometrie),  wird 
aber  gebraucht,  um  eine  solche  analytische  Darstellung 
zu  vennitteln  (kann  aber  vermieden  werden,  wenn  man 
die  Einführung  der  Koordinaten  auf  rein  projektivische 
Methoden    stützt,    vgl.    S.   445  f.    meines    obigen    Werkes 


2  70  Anmerkungen  23 — 24. 

und  die  Verbesserung  dazu  am  Schlüsse).  Für  die  ebene 
Geometrie  hat  Hubert  gezeigt,  daß  dieses  Axiom  in 
der  Tat  von  den  übrigen  Axiomen  unabhängig  ist,  in- 
dem er  eine  Geometrie  konstruierte,  die  von  diesem 
Axiome  unabhängig  besteht  (vgl.  dessen  Grundlagen  der 
Geometrie,  Festschrift  zur  Feier  der  Enthüllung  des  Gauß- 
Weber- Denkmals  in  Göttingen,  Leipzig  1899).  Nimmt 
man  dagegen  die  Geometrie  des  Raumes  zu  Hilfe  (d.  h. 
betrachtet  man  die  Ebene  als  Schnitt  einer  dreidimen- 
sionalen Mannigfaltigkeit),  so  läßt  sich  das  Archime- 
dische Axiom  beweisen,  vgl.  Schur,  Math.  Annalen 
Bd.  55,  1900,  wo  ein  Hyperboloid  benutzt  wird).  In 
der  Tat  wird  auch  bei  direkter  Begründung  der  projek- 
tivischen  Geometrie  ein  Satz  aus  der  Geometrie  des 
Raumes  benutzt  (vgl.  S.  439  meines  obigen  Werkes  und 
dazu  die  Verbesserung  am  Schlüsse). 

Insbesondere  behandelt  Hilbert  (a.  a.  O.  S.  43  ff.) 
die  Sätze  über  inhaltsgleiche  Dreiecke,  die  bei  Euklid 
(Buch  I,  Satz  39)  nach  ihm  nur  durch  Berufung  auf 
einen  allgemeinen  Größensatz  gelingt  (t6  olov  xov  ^egovg 
^ei^ov  satLv);  nach  der  oben  (S.  254)  gemachten  Bemerkung 
ist  dies  aber  nicht  ein  allgemeiner  Größensatz,  sondern 
ein  spezieller  Grundsatz  zur  Definition  des  Begriffes 
„größer"  geometrischer  Figuren;  vgl.  oben  Anmerkung  13. 
Auch  Schur  (Sitzungsberichte  der  Dorpater  naturforschen- 
den Gesellschaft,  1892,  und  Math.  Annalen  Bd.  57)  hebt 
hervor,  daß  zum  exakten  Beweise  der  Flächengleichheit 
zweier  Figuren  ein  neues  (sonst  stillschweigend  voraus- 
gesetztes) Axiom  nötig  sei,  nach  welchem  eine  Fläche 
keinem  ihrer  Teile  inhaltsgleich  sein  kann;  nach  meiner 
Auffassung  ist  jener  Grundsatz  Euklids  mit  diesem 
Axiome  identisch. 

2;^)  S.  47.  Fast  genau  so  definiert  z.  B.  P.  du  Bois- 
Reymond  die  Gerade  (vgl.  S.  9 7  f.  in  dessen  oben  citier- 
tem  Werke),  aber  unter  weniger  scharfer  Trennung  von 
Axiom  und  Definition;  Euklids  Definition:  „eine  ge- 
rade Linie  liegt  gleichmäßig  zwischen  zwei  Punkten"  ist 
auch  nur  verständlich  und  fruchtbar,  wenn  man  sie  in 
gleichem  Sinne  auffaßt. 


Zum  zweiten  Teil. 


271 


24)  S.  47.  Die  in  den  letzten  Entwicklungen  vom 
Verfasser  mit  Recht  gerügte  Unklarheit  inbezug  auf  die 
Definition  von  Gleichheit  und  Bewegung  findet  sich  ins- 
besondere auch  in  allen  mir  bekannten  deutschen  Lehr- 
büchern der  Elementar- Geometrie.  Anders  ist  es  aber, 
wenn  man  Euklids  Darstellung  im  Originale  zu  Rate 
zieht.  Durch  die  mit  Unrecht  als  allgemeine  Größen- 
axiome bezeichneten  Sätze  führt  er  die  Beurteilung  der 
Gleichheit,  des  ,, größer"  und  des  ,, kleiner"  auf  Bewegung 
zurück;  vgl.  oben  die  Anmerkung  13.  Wie  man  aber 
eine  Bewegung  auszuführen  hat,  lehrt  der  zweite  Satz  im 
ersten  Buche  Euklids;  denn  dort  wird  gezeigt,  wie  man 
eine  gegebene  Strecke  durch  Konstruktion  mittelst  Kreis 
und  Lineal  von  einer  Stelle  der  Ebene  an  eine  beliebige 
andere  Stelle  übertragen  kann;  Konstruktionen  mit  Kreis 
und  Lineal  aber  sind  vorher  in  den  Postulaten  ausdrück- 
lich als  ausführbar  vorausgesetzt.  Dadurch  ist  es  mög- 
lich, ein  durch  seine  drei  Seiten  gegebenes  Dreieck  an 
eine  beliebige  Stelle  der  Ebene  zu  bringen,  somit  den 
betr.  Kongruenzsatz  (Satz  8  bei  Euklid)  zu  beweisen  und 
dann  auch  die  in  Satz  2;^  gelehrte  Winkelübertragung 
auszuführen.  Hierdurch  ist  also  auf  Grund  der  Postu- 
late  genau  definiert,  wie  eine  „Bewegung"  in  jedem  ein- 
zelnen Falle  auszuführen  ist;  in  der  Tat  enthält  der 
zweite  Satz  des  Euklid  nichts  anderes  als  den  wich- 
tigen Satz  unserer  Kinematik,  daß  jede  Bewegung  der 
Ebene  auf  eine  Rotation  (eventuell  Parallelverschiebung, 
d.  h.  Rotation  um  einen  unendlich  fernen  Punkt)  zurück- 
geführt werden  kann.  Dieser  Satz  aber  gehört  unbedingt 
an  den  Beginn  eines  jeden  elementaren  Lehrbuches;  und 
es  ist  bedauerlich,  wenn  die  hohe  Bedeutung  desselben 
in  modernen  Darstellungen  der  Elementar-Geometrie  so 
gänzlich  verkannt  wird,  daß  man  ihn  mit  Stillschweigen 
übergeht  (vgl.  S.  556  meines  oben  erwähnten  Werkes). 
Tut  man  dieses,  so  muß  man  allerdings  bei  der  Be- 
wegung von  Dreiecken  in  der  Ebene  (also  schon  bei 
den  Kongruenzsätzen)  von  neuem  auf  direkte  Anschauung 
zurückgreifen,  was  nach  Aufstellung  der  Definitionen, 
Postulate  und  Axiome  nicht  mehr  geschehen  soll  (wenig- 


2'! 2  Anmerkungen  25 — 26. 

stens    nur    noch    in    heuristischem    Interesse    geschehen 
darf). 

25)  S.  48.  Diese  „vierte  Geometrie"  entsteht,  wenn 
man  annimmt,  daß  wir  uns  in  demjenigen  Teile  des 
Raumes  befinden,  von  dessen  Punkten  reelle  Tangenten- 
kegel an  die  unendlich  ferne  Fläche  zweiter  Ordnung 
gelegt  werden  können,  was  z.  B.  immer  eintritt,  wenn 
diese  Fläche  geradlinig  vorausgesetzt  wird. 

26)  S.  48.  Vgl.  Lie,  Theorie  der  Transformations- 
gruppen, Bd.  3,  Leipzig  1893,  S.  521.  Ich  kann  dies 
Werk  nicht  citieren,  ohne  auf  die  Kritik  einzugehen,  die 
Lie  darin  an  meiner  Bearbeitung  der  nicht-Euklidischen 
Geometrie  übt.  Schon  in  der  Vorrede  (S.  XIII)  sagt  er, 
daß  sich  bei  mir  (und  anderen)  eine  Reihe  von  groben 
Fehlem  fänden,  die  darin  ihren  Grund  hätten,  daß  die 
Verfasser  nur  mangelhafte  oder  gar  keine  gruppentheore- 
tischen Kenntnisse  besäßen.  Allerdings  baut  Lie  seine 
Theorie  darauf  auf,  daß  er  die  Bewegungen  durch  ihre 
Gruppeneigenschaft  definiert;  aber  deshalb  ist  es  doch 
nicht  unerlaubt,  von  anderen  Definitionen  auszugehen, 
aus  denen  dann  umgekehrt  die  Gruppeneigenschaft  folgt; 
und  das  ist  der  von  mir  eingeschlagene  Weg,  bei  dem 
von  Gruppentheorie  in  der  Tat  gar  nicht  die  Rede  ist.  Der 
von  mir  befolgte  Gedankengang  ist  vielmehr  kurz  folgender: 

Nachdem  die  Koordinaten  eines  Punktes  im  Räume 
definiert  sind,  ohne  daß  der  Begriff"  der  Entfernung  oder 
des  Winkels  angewandt  wurde,  und  nachdem  damit  die 
projektivische  Geometrie  in  vollem  Umfange  begründet 
war,  handelte  es  sich  darum,  zu  den  spezielleren  Sätzen 
der  metrischen  Geometrie  durch  Einführung  von ,, Winkel" 
und  ,, Entfernung"  überzugehen.  Zuerst  entstand  die  Frage: 
Welche  Transformationen  der  Koordinaten  sollen  als  Be- 
wegungen definiert  werden?  Ich  charakterisierte  sie  durch 
folgende  Eigenschaften 

a)  Jeder  Punkt  geht  wieder  in  einen  Punkt  über. 

b)  Jede  Ebene  geht  wieder  in  eine  Ebene  über. 

c)  Jeder  Punkt  kann  in  jeden  andern  durch  Bewe- 
gungübergeführt werden,  ebenso  jede  Gerade  (es gibt 
keine    ausgezeichneten    Punkte    oder   Richtungen). 


Zum  zweiten  Teil. 


273 


Für  den  Fall,  daß  reelle  unendlich  ferne  Punkte 
existieren,  ist  hiermit  alles  bestimmt  (d.  h.  Bewegung, 
Entfernung  und  Winkel  sind  definiert),  wenn  man  noch 
die  weitere  Festsetzung  macht: 

d)  Es  kann  durch  Bewegung  kein  Punkt  verschwin- 
den und  keiner  neu  entstehen  (d.  h.  unendlich 
ferne  und  ideale  Punkte  bleiben  unendlich  fern, 
bez.  ideal). 

Die  hyperbolische  Geometrie  ist  hiermit  erledigt,  und  nur 
der  Grenzfall,  wo  die  unendlich  ferne  Fläche  in  eine 
Doppelebene  ausartet,  bedarf  noch  der  näheren  Be- 
trachtung. 

Wenn  keine  unendlich  fernen  Elemente  existieren, 
ist  auf  jeder  Geraden  eine  Involution  als  gegeben  vor- 
auszusetzen, die  jedem  Punkte  einen  zweiten  zuordnet, 
so  daß  sich  beide  bei  einer  gewissen  Bewegung  mit- 
einander vertauschen;  die  Festsetzung  d)  ist  dann  durch 
die  folgende  zu  ersetzen: 

d')   Die    auf  den  verschiedenen  Geraden   bestimmten 
Involutionen    gehen    durch   Bewegung    ineinander 
über. 
Dann  ist  auch  für  die  elliptische  Geometrie  alles  erledigt. 

Man  kann  auch  die  zu  d')  dualistische  Festsetzung 
machen,  daß  durch  jeden  Strahl  eine  ausgezeichnete 
Ebenen-Involution  gegeben  ist  und  daß  alle  diese  Invo- 
lutionen durch  Bewegung  ineinander  übergehen  (was  dem 
Euklidischen  Postulate  entspricht,  nach  dem  alle  rechten 
Winkel  einander  gleich  sind).  Dies  gilt  gleichmäßig  für 
die  elliptische,  hyperbolische  und  parabolische  Geometrie; 
dieselben  werden  dann  durch  die  unendlich  fernen  Punkte 
nachträglich  unterschieden. 

Artet  die  imaginäre  Fundamentalfläche  in  einen  Kegel- 
schnitt aus,  so  entsteht  der  Grenzfall  der  parabolischen 
Geometrie;  in  dieser  müssen  noch  die  Ähnlichkeits- 
transformationen von  den  Bewegungen  getrennt  werden, 
was  durch  die  Festsetzung  geschieht,  daß  der  Kreis  eine 
geschlossene  Kurve  sei  (wie  es  auch  Euklid  ausdrück- 
lich postulieren  muß). 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  18 


2<7A  Anmerkung  26. 

Besonders  dieser  letztere  Punkt  gibt  L  i  e  Veranlassung 
zu  seiner  Kritik,  welche  aber  nur  auf  einem  Mißverständ- 
nisse beruht:  Lie  definiert  die  Bewegungen  als  eine 
Untergruppe  der  projektiven  Gruppe  (Kollineationen),  die 
von  sechs  Parametern  abhängt.  Die  Ähnlichkeitstransfor- 
mationen im  Räume  hängen  aber  von  sieben  Parametern 
ab  und  enthalten  als  einzig  mögliche  Untergruppe  die 
Bewegungen;  letztere  sind  also  bei  Lie  schon  dadurch 
definiert,  daß  die  Zahl  der  Parameter  vorgegeben  war, 
so  daß  Lie  keine  weitere  Festsetzung  braucht.  Bei  mir 
dagegen  ist  nirgends  verlangt,  daß  die  Bewegungen  von 
nur  sechs  Parametern  abhängen  sollen;  zum  Schlüsse 
mußte  daher  in  der  parabolischen  Geometrie  noch  eine 
Festsetzung  hinzukonmien. 

Bei  Lie  und  mir  sind  also  verschiedene  Ausgangs- 
punkte gewählt,  die  Resultate  stimmen  aber  überein. 
Betrachtet  man  die  ebene  Geometrie  allein  (unab- 
hängig vom  Räume),  so  hat  auch  Lie  noch  die  Fest- 
setzung nötig,  daß  der  Kreis  (d.  i.  der  Ort  der  Punkte, 
welche  von  einem  festen  Punkte  gleiche  Entfernung 
haben:  Axiom  der  Monodromie  von  Helmholtz)  eine 
geschlossene  Kurve  ist;  denn  in  der  Ebene  erlauben 
die  Ähnlichkeitstransformationen  noch  Untergruppen 
(vgl.  auch  S.  565  in  dem  Aufsatze  von  Klein,  Math. 
Annalen  Bd.  37). 

Was  Lie  a.  a.  O.  S.  529  gegen  meine  Darstellung 
einwendet,  bezieht  sich  nur  auf  eine  Bemerkung  über 
Helmholtz  und  eine  andere  über  Lie  selbst.  Ich  hatte 
geäußert,  Helmholtz  setze  implicite  voraus,  daß  die 
Bewegungen  durch  lineare  Transformationen  darstellbar 
seien;  nur  unter  dieser  Voraussetzung  war  es  mir  näm- 
lich gelungen,  die  Helmholtz  sehen  Rechnungen  einiger- 
maßen zu  verstehen;  und  darin  stimmt  Lie  mit  mir  voll- 
kommen überein  (geht  sogar  noch  weiter,  indem  er  die 
Helmholtzschen  Entwicklungen  überhaupt  für  verfehlt 
erklärt,  wie  auch  Klein  äußert:  „Helmholtz  hat  hier 
wie  allerwärts  in  genialer  Weise  die  richtigen  allgemeinen 
Gesichtspunkte  erfaßt,  die  Einzelausführung  aber  be- 
friedigt nur  wenig",  Math.  Annalen  Bd.  50);  die  Differenz 


Zum  zweiten  Teil.  275 

liegt  nur  darin,  daß  er  eine  von  mir  bei  dieser  Gelegen- 
heit citierte  Stelle  aus  Helmholt z'  populären  Vorträgen 
anders  versteht  als  ich,  worauf  es  hier  aber  gar  nicht 
ankommt. 

Was  endlich  meine  Bemerkung  über  Lie  betrifft,  so 
lag  mir  bei  Abfassung  des  Werkes  (i8go)  nur  die  Arbeit 
von  Lie  aus  dem  Jahre  1886  vor,  von  welcher  er  selbst 
sagt  (a.  a.  O.  S.  399),  daß  sie  die  Resultate  nur  an- 
deutet, und  die  keine  Beweise  enthielt;  so  ist  es  be- 
greiflich, daß  ich  die  betr.  Stelle  (über  das  erwähnte 
Monodromieaxiom)  nicht  richtig  verstand.  Ich  schrieb 
damals  an  Lie,  mit  dem  ich  bis  dahin  in  steter  Ver- 
bindung stand,  und  bat  ihn  um  Mitteilung  einer  etwa 
in  nächster  Zeit  erscheinenden  Fortsetzung,  die  dann 
auch  noch  1890  erschien,  mir  aber  erst  später  zugäng- 
lich wurde,  da  ich  von  Lie  keine  Antwort  erhielt. 

Um  nun  zur  Sache  zurückzukehren,  muß  beachtet 
werden,  daß  die  Liesche  Gruppentheorie  sich  nur  auf 
Zahlenmannigfaltigkeiten  bezieht,  also  erst  dann  zur  An- 
wendung kommen  kann,  wenn  man  die  Punkte  des 
Raumes  schon  durch  Koordinaten  ausgedrückt  hat;  dann 
aber  ist  man  in  der  projektiven  Geometrie  schon  so  weit 
vorgedrungen,  daß  der  von  mir  eingeschlagene  Weg 
(oder  ein   ähnlicher)  mindestens   der  einfachere  ist. 

Hubert  hat  ein  System  von  Axiomen  aufgestellt, 
das  ebenfalls  auf  dem  Begriffe  der  Gruppe  beruht,  aber 
die  (von  Lie  benutzte)  Differentiierbarkeit  der  die  Be- 
wegung vermittelnden  Funktionen  nicht  voraussetzt  (Math. 
Annalen  Bd.  56,    1902). 

Es  wurde  soeben  bemerkt,  daß  in  der  Ebene,  wenn 
die  projektivische  Geometrie  als  gültig  erkannt  ist,  noch 
Gruppen  von  Bewegungen  möglich  sind,  bei  denen  der 
Kreis  keine  geschlossene  Kurve  ist  und  dann  nur  durch 
eine  logarithmische  Spirale  ersetzt  werden  kann.  Letztere 
Bemerkung  findet  ihre  Bestätigung  in  den  Formeln,  welche 
Hilbert  (London,  Math.  Society,  vol.  35)  für  die  dort 
studierten  (nicht- Archimedischen)  Geometrien  aufstellt, 
bei    denen    die    projektivische  Geometrie  erhalten  bleibt. 

Endlich  macht  Lie    (a.  a.  O.    S.   8iof.)    noch    einen 

18* 


2^6  Anmerkungen  27 — 30. 

sachlichen  Einwurf,  indem  er  sagt:  „Lindemann  be- 
zeichnet diese  Punkte  (die  bei  der  Bewegung  einer  Ge- 
raden in  sich  fest  bleiben)  als  die  unendlich  fernen 
Punkte  der  betreffenden  Geraden,  er  setzt  aber  still- 
schweigend voraus,  daß  ein  Punkt,  der  in  diesem  Sinne 
unendlich  femer  Punkt  einer  Geraden  ist,  auch  auf  jeder 
anderen  durch  ihn  gehenden  Geraden  unendlich  fern 
sei."  Diese  Bemerkung  ist  nicht  richtig;  denn  ich  setze 
fest  (S.  465  u.  540  a.  a.  O.),  daß  sich  schneidende  Linien 
durch  Bewegung  wieder  in  sich  schneidende  übergehen, 
also  sich  nicht  schneidende  in  sich  nicht  schneidende; 
das  heißt  aber:  wirkliche  Punkte  bleiben  wirklich,  ideale 
Punkte  bleiben  ideal,  also  auch  die  Grenzpunkte  zwischen 
beiden  (d.  h.  die  unendlich  fernen  Punkte)  bleiben  solche 
Grenzpunkte  (d.  h.  unendlich  fern).  Die  betr.  Voraus- 
setzung ist  also  nicht  stillschweigend  gemacht ;  vielmehr 
habe  ich  über  diesen  Punkt  bei  der  Ausarbeitung  sehr 
eingehend  nachgedacht. 

27)  S.  49.  Riemann  charakterisiert  eine  in  einer 
Zahlenmannigfaltigkeit  mögliche  Geometrie  im  allge- 
meinen durch  die  Art  und  Weise,  wie  sich  das  Bogen- 
element  ds  durch  die  Differentiale  dx^  der  Koordinaten 
ausdrückt,  denn  von  dieser  Funktion  hängen  nach  Gauß 
wesentliche  Eigenschaften  des  Raumes  ab.  Wie  in 
Gleichung  [2^)  der  Anmerkung  19)  angegeben  wurde, 
ist  für  die  hyperbolische  und  elliptische  Geometrie  ds"^ 
stets  positiv  und  symmetrisch  in  den  drei  fundamentalen 
Richtungen.      Setzt  man  ganz  allgemein 

ds^  =  ^  ^  Qp.^dx.dx^  =  ^)^^dx^  -\-  Zcp.^dx^dx^  +  •  •  •  > 

wo  die  qp^^  Funktionen  der  Koordinaten  x^  sind,  so  ist 
im  allgemeinen  keine  oder  nur  eine  beschränkte  Beweg- 
lichkeit in  der  betr.  Geometrie  möglich.  Auf  einen 
solchen  Fall  hatte  Clifford  aufmerksam  gemacht,  und 
Klein  hat  diesen  Gedanken  weiter  durchgeführt  (Verschie- 
bung einer  Fläche  zweiter  Ordnung  in  sich,  welche  die  ima- 
ginäre Fundamentalfläche  des  Riemannschen  Raumes  in 
vier  imaginären  Erzeugenden  schneidet,  und  demnach  nur 


Zum  zweiten  Teil. 


277 


zwei  Klassen  von  Bewegungen  in  sich,  nämlich  „rechts 
und  links  gewundene",  zuläßt,  vgl.  S.  371  meines  er- 
wähnten Werkes  und  ausführlicher  Klein:  Math.  Annalen 
Bd.  37).  Die  Verallgemeinerung  dieses  Beispiels  führt 
auf  diejenigen  Gruppen  von  linearen  Transformationen 
der  komplexen  Ebene,  welche  Poincare  studiert  hat  und 
die  mit  Systemen  von  Kreisen  zusammenhängen,  welche 
einen  festen  Kreis  (z.  B.  eine  feste  Gerade)  orthogonal 
schneiden;  vgl.  oben  Anmerkung  20).  Weiter  ausgeführt 
ist  dies  von  Killing:  Math.  Annalen  Bd.  39;  vgl.  auch 
Klein:  Zur  ersten  Verteilung  des  Lobatschewsky-Preises, 
Kasan  1897  (auch  Math.  Annalen  Bd.  50).  —  Andere 
Geometrien  hat  Hilbert  studiert  (a.  a.  O.  und  Procee- 
dings  of  the  London  mathematical  Society,  vol.  35),  ferner 
Minkowski  (Geometrie  der  Zahlen,  Heft  i,  Leipzig  1896); 
hier  gibt  es  im  allgemeinen  keine  Bewegungen  mehr,  aber 
die  gerade  Linie  bleibt  die  kürzeste  Linie. 

28)  S.  51.  Die  sogenannte  projektivische  Geometrie 
beschäftigt  sich  mit  denjenigen  Sätzen,  welche  bei  be- 
liebigen Projektionen  oder  Kollineationen  ungeändert 
bleiben,  und  welche  daher  mit  der  Theorie  der  alge- 
braischen Formen  und  deren  Invarianten,  bez.  Kovarian- 
ten  aufs  engste  zusammenhängen;  der  metrischen  Geo- 
metrie rechnet  man  die  übrigen  Sätze  zu.  Vgl.  die 
lichtvolle  Darstellung  dieser  und  ähnlicher  Verhältnisse 
in  Kl  eins  Programmabhandlung:  Vergleichende  Betrach- 
tungen über  neuere  geometrische  Forschungen,  Erlangen 
1872  (abgedruckt  in  Bd.  43  der  Math.  Annalen).  — 
Manche  allgemeine  Fragen  der  hier  und  im  vorstehen- 
den behandelten  Art  findet  man  auch  bei  Holder  be- 
sprochen: Anschauung  und  Denken  in  der  Geometrie, 
Akademische  Antrittsvorlesung,  Leipzig   1900. 

29)  S.  52.  Die  Rolle,  welche  unsere  eigenen  Ge- 
sichts- und  Tastempfindungen  bei  Ausbildung  der  Raum- 
anschauung spielen,  wird  im  folgenden  (S.  54 ff.)  ein- 
gehender besprochen,  ebenso  (S.  62  ff".)  die  Rolle  der 
festen  Körper. 

30)  S.  53.  In  der  Tat  kann  man  sich  durch  an- 
dauernde Beschäftigung  mit  vierdimensionaler  Geometrie 


278  Anmerkungen  30— 33. 

eine  solche  Gewandtheit  in  der  betreffenden  geometri- 
schen Schlußweise  aneignen,  daß  man  sich  fast  der 
Täuschung  hingibt,  wirklich  mit  vier  Dimensionen  zu 
operieren.  Teils  findet  dies  darin  seine  Erklärung,  daß 
jedes  geometrische  Gebilde,  das  im  Räume  von  vier 
Dimensionen  liegt,  selbst  mindestens  drei  Dimensionen 
besitzt,  so  daß  es  auf  unseren  Raum  bezogen  (,, abge- 
bildet*') werden  kann,  und  daß  man  so  unsere  gewöhn- 
liche Geometrie  auf  jenes  Gebilde  zu  übertragen  ver- 
mag, teils  darin,  daß  die  geometrischen  Schlüsse  für 
den  Raum  von  vier  Dimensionen  eigentlich  rein  logischer 
Natur  sind  und  durch  den  Gebrauch  geometrischer 
Worte  sich  nur  scheinbar  in  geometrisches  Gewand 
kleiden.  Etwas  anderes  ist  es,  wenn  man  sich  die  Punkte 
der  vierdimensionalen  Welt  durch  eine  ,, Abbildung"  auf 
die  geraden  Linien  unseres  Raumes  überträgt;  denn 
letztere  bilden  tatsächlich  eine  vierdimensionale  Mannig- 
faltigkeit. Man  betrachtet  dann  nicht  den  Punkt,  son- 
dern die  gerade  Linie  als  erzeugendes  Element  für 
räumliche  Konstruktionen,  und  das  ist  in  der  neueren 
Geometrie  ein  äußerst  fruchtbares  Prinzip  gewesen;  die 
Begründung  dieser  sogenannten  Liniengeometrie  verdankt 
man  Plücker  (Neue  Geometrie  des  Raumes,  Leipzig 
1868  und  1869;  vgl.  auch  die  entsprechenden  Kapitel 
in  meinem  mehrfach  citierten  Werke) ;  für  die  Beziehungen 
zur  vierdimensionalen  Geometrie  vgl.  Klein:  Math. 
Annalen  Bd.  5,  1872,  für  die  historische  Entwicklung 
der  Disziplin  und  überhaupt  der  neueren  Geometrie: 
Clebsch:  Zum  Gedächtnis  an  Julius  Plücker,  Ab- 
handlungen der  kgl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften 
zu  Göttingen  1872;  ferner:  R.  F.  A.  Clebsch,  Ver- 
such einer  Darlegung  und  Würdigung  seiner  wissen- 
schaftlichen Leistungen,  Math.  Annalen  Bd.  7;  d'Ovidio: 
Uno  sguardo  alle  origini  ed  allo  sviluppo  della  mate- 
matica  pura,  Discorso  in  occasione  della  solenne  aper- 
tura  degli  studi  nella  R.  Universita  di  Torino,  4.  Novem- 
ber 1889;  und  A.  Cayley:  Presidential  Address  Report 
of  the  Brit.  Association  for  the  advancement  of  science, 
Southport  meeting,  London    1883. 


Zum  zweiten  Teil.  2  7  Q 

31)  S.  53.  Das  in  den  beiden  letzten  Forderungen 
gebrauchte  Wort  „identisch"  bedarf  wohl  noch  näherer 
Erklärung;  es  entsteht  hier  dieselbe  Schwierigkeit,  wie 
bei  dem  Begriffe  der  Gleichheit,  vgl.  oben  die  Anmer- 
kung 24.  Die  Forderung  der  Homogenität  sagt  aus, 
daß  jeder  Punkt  mit  jedem  andern  Punkte  durch  ,, Be- 
wegung" zur  Deckung  gebracht  werden  kann,  die  Forde- 
rung der  Isotropie,  daß  alle  durch  einen  Punkt  gehen- 
den Geraden  durch  Drehung  um  diesen  Punkt  zur 
Deckung  gebracht  werden  können.  Helmholt z  stellt 
statt  dessen  die  Forderung  (a.  a.  O.),  daß  der  Raum 
eine  ,,in  sich  kongruente"  Mannigfaltigkeit  sei,  Graß- 
mann  fordert,  daß  gleiche  Konstruktionen,  an  verschiede- 
nen Orten  und  nach  verschiedenen  Richtungen  des 
Raumes  ausgeführt,  zu  kongruenten  Figuren  führen,  Rie- 
mann  drückt  dasselbe  durch  die  Forderung  eines  kon- 
stanten Krümmungsmaßes  aus;  wie  ich  (a.  a.  O.  S.  548) 
betont  habe,  ist  Euklids  Postulat,  wonach  alle  rechten 
Winkel  einander  ,, gleich"  (d.  h.  durch  Bewegung  inein- 
ander überführbar)  sind,  mit  dieser  Forderung  der  Homo- 
genität und  der  Isotropie  des  Raumes  äquivalent.  — 
Auch  weiter  unten  (S.  65  des  obigen  Textes)  werden 
diese  Forderungen  auf  gewisse  Bewegungen  zurückge- 
führt. 

^2)  S.  54.  Daß  in  der  Tat  durch  die  Empfindungen 
der  Netzhaut  allein  niemals  eine  dritte  Dimension  er- 
kannt werden  könnte,  hat  besonders  Th.  Lipps  gegen- 
über andern  Theorien  scharf  betont:  Psychologische 
Studien,  Heidelberg  1885.  Für  verschiedene  Theorien 
der  Raumvorstellung  sei  hier  außerdem  auf  folgende 
Werke  verwiesen: 
Baumann,  Die  Lehren  von  Raum,   Zeit  und  Mathematik, 

Bd.   I,    1868,  Bd.  2,    1869; 
Wundt,  Logik,  Bd.  2,    1883; 

Stumpf,  Über  den  psychologischen  Ursprung  der  Raum- 
vorstellung,   1873; 
B.  Erdmann,    Die    Axiome    der    Geometrie,    1877    (vgl. 
o.  S.   257). 

33)   S.  56.     Wenn    durch    Störung    der    hier    voraus- 


2  So  Anmerkungen  34—36. 

gesetzten  konstanten  Beziehung  zwischen  Konvergenz- 
und  Akkomodationsempfindungen  eine  vierte  Variable 
zur  Verfügung  gestellt  wird,  so  werden  wir  die  Inter- 
pretation derselben  nach  außen  verlegen  und  zur  An- 
nahme einer  vierten  Dimension  geführt,  falls  uns  nicht 
durch  andere  Beobachtungen  (z.  B.  des  Tastsinnes)  be- 
reits die  Dreizahl  der  Dimensionen  gesichert  erscheint. 
Ist  letzteres  der  Fall,  so  wird  unser  Verstand  die  ver- 
fügbare Variable  benutzen,  um  die  Deutung  und  Orien- 
tierung des  Gesichtsbildes  im  Räume  mehr  zu  präcisieren, 
als  es  sonst  möglich  wäre.  Besteht  also  keine  konstante 
Beziehung  zwischen  den  beiden  Muskelempfindungen,  so 
wird  sich  ein  neues  Hilfsmittel  der  Beobachtung,  etwa 
ein  ,, Ferntastsinn",  bemerkbar  machen,  vermöge  dessen 
wir  befähigt  sind,  Entfernungen  direkt  durch  das  Auge 
abzuschätzen.  Die  Existenz  eines  solchen  Ferntastsinnes 
hat  auf  Grund  anderweitiger  Überlegungen  G.  Hirth  be- 
hauptet: Das  plastische  Sehen  als  Rindenzwang,  München 
1892  (La  vue  plastique  fonction  de  l'^corce  cerebrale, 
traduit  par  L.  Arr6at,  Paris  1893);  vgl.  dazu  gehörige 
mathematische  Ansätze  in  einer  Anmerkung  der  Schrift 
desselben  Verfassers:  Energetische  Epigenesis  (Merksystem 
und  plastische  Spiegelungen),   München    1898. 

34)  S.  56.  Auch  in  bezug  auf  den  Tastsinn  sei 
auf  obige  Werke  verwiesen.  Für  die  Beziehungen  des- 
selben zum  Gesichtssinne  sind  von  besonderem  Interesse 
die  daselbst  erwähnten  Erfahrungen  an  Blindgeborenen, 
denen  durch  Operation  im  späteren  Leben,  wo  die 
Raumanschauung  allein  auf  Grund  des  Tastsinnes  bereits 
ausgebildet  war,  die  Möglichkeit  des  Sehens  verschafft 
ward. 

35)  S.  68.  Der  Brechungsindex  ist  proportional  zu 
dem  Verhältnisse  der  Fortpflanzungsgeschwindigkeiten  in 
den  beiden  Medien.  Diese  Geschwindigkeit  ist  gleich 
dem  Bogenelemente  ds  der  beschriebenen  Kurve,  divi- 
diert durch  das  Zeitelement  d/;  ist  nun  da  das  Bogenelement 
eines  Kreises,  welcher  die  Fundamentalebene  s  =  o 
rechtwinklich  schneidet,  so  haben  wir  nach  Gleichung  (24) 
der  obigen  Anmerkung   19 


t/ö2  = 


Zum  zweiten  Teil.  28 1 

ds^  =  {dXf  +  {^dYY  +  {dZf, 


Die  Vorstellung  des  Textes  ist  die,  daß  der  Lichtstrahl 
in  jedem  Elemente  seiner  Bahn  so  gebrochen  wird,  als 
wenn  er  aus  dem  leeren  Räume  in  ein  Medium  einträte, 
dessen  Brechungsindex  proportional  zu  (7?^  —  r^)  ~  ^ 
ist;    dieser    Index    ist    dann    nach    obiger    Formel    auch 

de 

proportional  zu  — ;    und    folglich    ist    da    Bogenelement 

eines  Kreises,  wie  es  soeben  angenommen  wurde.  Einem 
in  der  Euklidischen  Welt  lebenden  Beobachter  würden 
die  Lichtstrahlen  kreisförmig  vorkommen;  ein  nicht-Eukli- 
disches Wesen  dagegen  würde  den  Eindruck  geradliniger 
Fortpflanzung  des  Lichtes  haben. 

36)  S.  69.  Wie  die  folgenden  Erörterungen  zeigen, 
ist  diese  Bezeichnung  deshalb  gewählt,  weil  eine  in  der 
nicht -Euklidischen  Welt  vor  sich  gehende  Bewegung 
einem  Beobachter  der  Euklidischen  Welt  so  erscheinen 
würde,  als  ob  die  Körper  gemäß  dem  supponierten 
Temperaturgesetze  Veränderungen  erlitten.  In  der  Tat 
soll  die  Länge  eines  Lineals  seiner  absoluten  Temperatur 
und  diese  dem  Ausdrucke  J^^  —  r^  proportional  sein, 
M^obei  r  in  Euklidischer  Weise  gemessen  ist.  Zwei 
Längenelemente  ds  und  d's,  die  den  Werten  r  und  r' 
entsprechen,  genügen  also   der  Bedingung 

ds:  d's  =  jR^-r^:R^-r^; 

das  ist  aber  dieselbe  Relation,  welche  aus  der  Formel 
(23)  der  obigen  Anmerkung  19  hervorgeht;  denn  für 
eine  unveränderte  Länge  da  der  nicht-Euklidischen  Geo- 
metrie haben  wir  an  zwei  verschiedenen  Stellen 

-,  ds  d's 

da  = 


Durch  das  Bild  der  Temperaturänderung  erreicht  der 
Verfasser  hier  die  gleiche  Veranschaulichung,  wie  sie 
Helmholtz    durch    Bezugnahme    auf    das    Innere    einer 


2^2 


Anmerkungen  37 — 39. 


Kugel  nach  Beltrami  darlegt  und  mittelst  des  Sehens 
durch  eine  passend  geschliffene  Konvexlinse  verständ- 
lich zu  machen  sucht  (vgl.  dessen  erwähnten  popu- 
lären Vortrag),  wie  ja  auch  Poincare  die  Lichtbrechung 
in  gleichem  Sinne  zu  Hilfe  nimmt;  vgl.  die  vorhergehende 
Anmerkung  35. 

37)  S.  71.  Solche  dreidimensionale  Perspektiven 
von  vierdimensionalen  Körpern  sind  in  der  Tat  durch 
V.  Schlegel  1884  für  die  sechs  regulären  Körper, 
welche  im  Räume  von  vier  Dimensionen  möglich  sind, 
hergestellt  und  sind  durch  den  Buchhandel  zu  beziehen. 
Es  sind  dies  i.  das  Fünfzeil,  begrenzt  von  5  regulären 
kongruenten  Tetraedern,  2.  das  Ach tz eil,  begrenzt  von 
8  kongruenten  Würfeln,  3.  das  Sechzehnzeil,  begrenzt 
von  16  kongruenten  regulären  Tetraedern,  4.  das  Vier- 
undzwanzigzell,  begrenzt  von  24  kongruenten  regulären 
Oktaedern,  5.  das  Sechshundertzell,  begrenzt  von  600 
kongruenten  regulären  Tetraedern,  6.  das  Hundert- 
zwanzigzell,  begrenzt  von  120  kongruenten  regulären 
Dodekaedern.  Vgl.  Schlegel:  Nova  Acta  der  Kais. 
Leop.  Carol.  Akademie,  Bd.  44,  Nr.  4,  sowie  Katalog 
mathematischer  Modelle  für  den  höheren  mathematischen 
Unterricht,  Verlagshandlung  von  Martin  Schilling  in  Halle 
a.  S.    1903. 

38)  S.  74.  Als  Parallaxe  bezeichnet  man  bekannt- 
lich den  dritten  Winkel  eines  Dreiecks,  dessen  Ecken 
durch  den  Fixstern  -S"  und  durch  die  Endpunkte  A  und 
B  eines  Durchmessers  der  Erdbahn  gebildet  sind,  wo- 
bei dieser  dritte  Winkel  dem  Durchmesser  gegenüber 
liegt.     Ist 

^BAS=a,     ^ABS=ß, 
so  folgt 

r  =  7t  —  (a  +  ^), 

und  wenn  2r  den  Durchmesser  der  Erdbahn  bezeichnet, 
so  lassen  sich  die  Entfernungen  AS  und  BS  berechnen. 
Steht  der  Stern  ungefähr  senkrecht  über  der  Ekliptik, 
so  kann  AS=BS  genommen   werden,    und   man   kann 


Zum  zweiten  Teil.  283 


a  =  ß  = 


2 


wählen;    die  Entfernung  q   berechnet  sich  dann  aus  der 
Hälfte  des  betrachteten  Dreiecks  nach  der  Formel 


£  =  tang  U-"-^  =  tang  ^-±^. 


weshalb  auch  ^   als  Parallaxe  bezeichnet  wird.     Be- 

2 

deutet  nun  F  den  Inhalt  des  Dreiecks  ABS,  so  ist  in 
der  Lobatschewskyschen  Geometrie  (vgl.  z.  B.  S.  494 
meines  erwähnten  Werkes): 

J^=  ^k^Tt-  a  —  ß~y), 
also 

n  —  (a-\-  ß)  =  —,  +  y,   d.  h.  >  o, 

und  in  der  Riemannschen  Geometrie  (vgl.  a.  a.  O.  S.  519) 

ir=4A'2(a  +  /3  +  >'-7r), 
also 

7t  —  {a  -}-  ß)  =  y 72 ,   d.  h.  <  o ,  wenn  y  sehr  klein  ist. 

Unter  Parallaxe  ist  also  im  Texte  die  Differenz  n  —  (or  +  /3) 
zu  verstehen. 

Da  sich  der  Winkel  y  einer  direkten  Messung  ent- 
zieht, so  bleibt  der  Vergleich  mit  der  Erfahrung  genau 
genommen  stets  unbefriedigend.  Man  kann  nur  durch 
Hinzufügen  weiterer  plausibler  Voraussetzungen  zu  einem 
Resultate  gelangen  wollen;  vgl.  Schwarz  Schild:  Über 
das  zulässige  Krümmungsmaß  des  Raumes,  Vortrag  auf 
der  Versammlung  der  Astronomischen  Gesellschaft  zu 
Heidelberg    1 900. 

Überlegungen,  welche  den  zunächst  folgenden  des 
Textes  analog  sind,  findet  man  auch  in  dem  (sonst  in 
mathematischer  Beziehung  wenig  zuverlässigen)  Werke 
von  Schmitz-D umont:  Die  mathematischen  Elemente 
der  Erkenntnistheorie,  Berlin  1878,   S.  434. 

39)   S.  81.     Die  betreffenden  Darlegungen  Newtons 


284  Anmerkungen  40 — 42. 

findet  man  z.  B.  bei  Mach  wiedergegeben  (Die  Mechanik 
in  ihrer  Entwicklung  historisch-kritisch  dargestellt,  2.  Aufl., 
Leipzig  1889,  S.  211  ff.),  der  auch  die  Unmöglichkeit, 
auf  einen  absoluten  Raum  zu  schließen,  bespricht;  vgl. 
ferner:  Pearson,  The  Grammar  of  science,  2'^'^  ed.,  Lon- 
don 1900,  S.  533. 

40)  S.  84.  Bei  dieser  Überlegung  ist  ay  der  Radius 
eines  Kreises  mit  dem  Mittelpunkte  O,  dem  ein  reguläres 
Sechseck  mit  den  Ecken  A,  B,  C,  D,  JE,  F  eingeschrieben 
ist;  hier  ist  (bei  der  ersten  Reihe  von  Feststellungen) 
AB  =  BC==  CD  =  DE=  JSF=  aß,  und  da  die  Seite 
des  regulären  Sechsecks  gleich  dem  Radius  ist,  auch 
aß  =  ay.  Dieser  Satz  gilt  aber  nicht  mehr  in  der 
nicht-Euklidischen  Geometrie,  denn  er  beruht  wesentlich 
auf  dem  Satze,  wonach  die  Summe  der  Winkel  eines 
Dreiecks  gleich  zwei  Rechten  sein  muß;  und  letzterer 
ist  in  der  nicht-Euklidischen  Geometrie  nicht  gültig;  vgl. 
oben  Anmerkung  38.  Bei  der  zweiten  Reihe  von  Fest- 
stellungen kann  daher  ay  nicht  mit  AB  oder  BC  etc. 
zur  Deckung  gebracht  werden. 

41)  S.  87.  Dies  ist  ein  anderer  Ausdruck  dafür, 
daß  sich  alle  Bewegungen  in  der  analytischen  Geometrie 
durch  Transformationen  darstellen  lassen,  die  von  sechs 
veränderlichen  Größen  stetig  abhängen.  Sind  nämlich 
X,  y,  z  die  Koordinaten  eines  Punktes  im  Innern  eines 
festen  Körpers  in  der  ersten  Lage  und  X,  V,  Z  die 
Koordinaten  desselben  Körperpunktes  nach  Ausführung 
einer  Bewegung,   so  ist  immer: 

X  =  a^x  -f  b^jy  -\-  c^z  -f  d^ , 
r=a^x-\-  b^y  +  c^z  +  4 , 
Z  =  a^x  ^  h^y  +  c^z  +  4  , 

wo  zwischen  den  neun  Größen  a,  b,  c  folgende  sechs 
Bedingungen  bestehen: 

^1'  +  K  +  q'  =  I  . 
a^  +  K  +  ^2^  =  I  ' 


Zum  zweiten  Teil.  285 

^1^2  +  ^1^2  +  ^1^2  =  O  ' 

HH  +  ^3^1  +  ^3^1  =  ^  ' 

Mittelst  dieser  Gleichungen  lassen  sich  sechs  der  neun 
Größen  a,  b,  c  durch  die  übrigen  drei  ausdrücken;  zu 
letzteren  treten  noch  die  Konstanten  d^,  d^,  d^,  so  daß 
in  der  Tat  sechs  Parameter  verfügbar  sind.  Die  Zahl 
sechs  bleibt  in  der  nicht-Euklidischen  Geometrie  unver- 
ändert; die  Bewegungen  sind  alsdann  durch  diejenigen 
linearen  Transformationen  dargestellt,  welche  die  Fläche 
der  unendlich  fernen  Punkte  in  sich  überführen;  vgl. 
oben  Anmerkung  26  und  S.  356  ff.  meines  mehrfach  er- 
wähnten Werkes. 

Um  die  Anzahl  der  Parameter  durch  Erfahrung  fest- 
zustellen, braucht  man  nur  die  Tatsache  zu  beobachten, 
daß  ein  starrer  Körper  vollkommen  festgelegt  ist,  wenn 
man  einen  Punkt  (drei  Konstanten) ,  eine  durch  ihn 
gehende  Linie  (zwei  weitere  Konstanten)  und  eine  durch 
letztere  gehende  Ebene  (eine  sechste  Konstante)  fest- 
hält. Dabei  ist  vorausgesetzt,  daß  man  die  Zahl  der 
Dimensionen  des  Raumes  bereits  kennt. 

42)  S.  8g.  Was  man  unter  einer  Gruppe  von  Ope- 
rationen versteht,  wurde  schon  oben  kurz  angedeutet 
(S.  66).  Eine  Untergruppe  dieser  Gruppe  ist  ein  System 
von  Operationen,  die  für  sich  eine  Gruppe  bilden  und 
in  der  gegebenen  Gruppe  enthalten  sind.  So  bilden 
alle  Drehungen  eines  festen  Körpers  um  einen  festen 
Punkt  eine  Untergruppe  der  umfassenderen  Gruppe  aller 
Bewegungen,  denn  jede  Drehung  ist  eine  Bewegung, 
und  zwei  successive  Drehungen  um  denselben  festen 
Punkt  lassen  sich  durch  eine  dritte  Drehung  ersetzen. 
So  bilden  alle  Bewegungen  und  alle  Spiegelungen  (an 
beliebigen  Ebenen)  zusammen  eine  Gruppe;  in  letzterer 
ist  die  Gruppe  aller  Bewegungen  als  Untergruppe  ent- 
halten; die  Spiegelungen  für  sich  bilden  aber  keine 
Untergruppe,  denn  zwei  nacheinander  ausgeführte  Spiege- 
lungen sind  durch  eine  Bewegung  (nicht  wieder  durch 
eine  Spiegelung)  zu  ersetzen. 


2  86  Anmerkung  43. 


Dritter  Teil,    Die  Kraft. 

43)  S.  92.  In  der  citierten  Abhandlung  kommt 
Poincare  zu  folgenden  Schlüssen: 

,,Wir  haben  keine  direkte  Anschauung  von  der  Gleich- 
zeitigkeit zweier  Zeitdauern,  ebensowenig  von  der  Gleich- 
heit. —  Wir  behelfen  uns  mit  gewissen  Regeln,  die  wir 
beständig  anwenden,  ohne  uns  davon  Rechenschaft  zu 
geben.  —  Es  handelt  sich  dabei  um  eine  Menge  kleiner 
Regeln,  die  jedem  einzelnen  Falle  angepaßt  sind,  nicht 
um  eine  allgemeine  und  strenge  Regel.  —  Man  könnte 
dieselben  auch  durch  andere  ersetzen,  aber  man  würde 
dadurch  das  Aussprechen  der  Gesetze  in  der  Physik, 
Mechanik  und  Astronomie  außerordentlich  umständlich 
machen.  —  Wir  wählen  also  diese  Regeln  nicht,  weil  sie 
wahr,  sondern  weil  sie  bequem  sind,  und  wir  können 
sie  in  folgendem  Satze  zusammenfassen:  Die  Gleichzeitig- 
keit zweier  Ereignisse  oder  die  Ordnung  ihrer  Aufein- 
anderfolge und  die  Gleichheit  zweier  Zeitdauern  müssen 
so  definiert  werden,  daß  der  Ausspruch  der  Naturgesetze 
möglichst  einfach  wird;  mit  anderen  Worten:  Alle  diese 
Regeln  und  Definitionen  sind  nur  die  Frucht  eines  un- 
bewußten Opportunismus." 

Newton  (dessen  Anschauung  man  z.  B.  bei  Mach 
reproduziert  findet:  Die  Mechanik  in  ihrer  Entwicklung, 
2.  Aufl.,  Leipzig  1889,  S.  207)  setzte  die  Existenz  einer 
,, absoluten  Zeit"  voraus;  d'Alembert,  Locke  u.  a.  hoben 
den  relativen  Charakter  aller  Zeitmaße  hervor;  vgl.  die 
historischen  Angaben  bei  A.  Voß  in  dem  Artikel  über 
die  Prinzipien  der  rationellen  Mechanik  (Enzyklopädie 
der  math.  Wissenschaften,  IV,  i).  Nach  de  Tillys 
Angabe  (Sur  divers  points  de  la  philosophie  des  sciences 
mathematiques ;  Classe  des  sciences  de  TAcad^mie  R. 
de  Belgique,  1901)  definiert  z.  B.  Lobatschewsky  die 
Zeit  als  eine  ,, Bewegung,  welche  geeignet  ist,  die  anderen 
Bewegungen  zu  messen".  Auch  eine  solche  Definition 
setzt  voraus,  daß  es  eine  Bewegung  gibt,  die  zum  Messen 
der  (also  aller)    anderen   Bewegungen    geeignet  ist;    und 


Zum  dritten  Teil. 


287 


wann  ist  eine  Bewegung  „geeignet",  als  Maß  anderer 
zu  dienen?  Vielleicht  kann  die  folgende  analytische 
Erörterung  hier  zur  Klärung  beitragen. 

Wir  betrachten  z.  B.  das  Fallgesetz  eines  schweren 
Punktes  auf  der  Erdoberfläche;  dasselbe  ist  bekanntlich 
durch  die  Diiferentialgleichung : 

vollständig  dargestellt,  wenn  z  eine  vertikal  nach  oben 
gemessene  Koordinate,  /  die  Zeit,  g  die  Beschleunigung 
der  Schwere  bedeutet.  Führen  wir  nun  ein  anderes 
Zeitmaß  t  ein,   so  wird  r  eine  Funktion  von  /  sein: 

x  =  cp{t),      /=0(t), 

und  die  Gleichung  (i)  nimmt,  wenn  wir  r  einführen, 
folgende  Gestalt  an: 

«        [w.T©-l<^"w)=-^- 

wo  0'  und  O"  den  ersten  und  zweiten  Differentialquo- 
tienten der  Funktion  0(t)  nach  v  bezeichnen.  Die  ein- 
fache Form  der  Gleichung  (i)  beruht  also  wesentlich  auf 
der  Wahl  eines  für  die  Gesetze  des  Falles  „geeigneten" 
Zeitmaßes;  jede  andere  Art  der  Zeitmessung  würde  zu 
wesentlich  komplizierterem  Ansätze  führen;  dadurch  ist 
die  Zeit  /  vor  der  Zeit  r  ausgezeichnet.  Dieses  Zeitmaß 
wird  praktisch  durch  eine  Uhr,  etwa  eine  Pendeluhr,  ge- 
geben; die  Bewegung  des  Pendels  wird  selbst  wieder 
durch  die  Fallgesetze  bedingt;  wir  messen  also  in  (i) 
eine  Fallerscheinung  durch  eine  andere  Fallerscheinung, 
und  deshalb  ist  die  Einfachheit  des  Resultates  nicht  auf- 
fällig. Anders  ist  es,  wenn  wir  eine  durch  eine  Feder 
getriebene  Uhr  anwenden;  hier  ist  es  eine  nicht  selbst- 
verständliche Tatsache,  daß  das  Zeitmaß  für  das  Ab- 
laufen der  Feder  zur  Beobachtung  des  freien  Falles 
geeignet  ist;  immerhin  wird  der  richtige  und  gleichmäßige 
Gang  der  Federuhr  nur  durch  Vergleichung  mit  einer 
Pendeluhr    reguliert,    und    dadurch   wird    dieses  Zeitmaß 


2  88  Anmerkungen  43—45- 

auf  das  vorhergehende  reduziert.  Auf  die  gewählte  Zeit- 
einheit, die  der  Rotation  der  Erde  um  ihre  Achse  ent- 
lehnt ist,  kommt  es  hierbei  nicht  an;  wir  bestimmen 
allerdings  die  Länge  des  Sekundenpendels  nach  dieser 
Einheit,  könnten  aber  auch  mit  gleichem  Erfolge  umge- 
kehrt eine  beliebig  gewählte  Pendellänge  zur  Definition 
der  Einheit  verwenden.  Anders  ist  es,  wenn  man  zu 
kosmischen  Problemen  übergeht.  Die  Bewegung  eines 
Planeten  (x,  y)  um  die  im  Anfangspunkte  stehende 
Sonne  mit  der  Masse  ??i    wird  durch  die  Gleichungen 

.   .  d^x  7n  X        d'^y  m  y 

^^'  dt^  ^  ^'^""  ^ 

definiert,  welche  das  Newtonsche  Gravitationsgesetz  dar- 
stellen (r  =  i/jc^  -|-  y'^).  Erfahrungsmäßig  genügt  auch 
hier  dasselbe  Zeitmaß,  das  beim  freien  Falle  eingeführt 
wurde;  denn  alle  aus  den  Gleichungen  (3)  zu  ziehenden 
Folgerungen  stimmen  (auch  wenn  man  die  Störungen 
der  anderen  Planeten  berücksichtigt)  hinreichend  mit 
den  Beobachtungen  überein,  so  daß  man  keine  Veran- 
lassung hat,  eine  andere  Zeit  x  einzuführen  und  die 
obige  Transformation  anzuwenden.  Analog  verhält  es 
sich  mit  allen  bekannten  Erscheinungen ;  es  genügt  immer, 
die  Komponenten  der  Beschleunigung  durch  die  Aus- 
drücke — ^,  -~,  — 2  zu  messen,  und  es  ist  überflüssig, 
die  allgemeineren  Ausdrücke 

statt  dessen  einzuführen.  In  diesem  Sinne  kann  man 
erfahrungsmäßig  von  einer  absoluten  Zeit  sprechen, 
d.  h.  einer  Zeit,  die  zur  Beschreibung  aller  bisher  be- 
obachteten Erscheinungen  gleichmäßig  bequem  ist,  aller- 
dings mit  dem  Vorbehalte,  diese  Vorstellung  der  ab- 
soluten Zeit  sofort  aufzugeben,  wenn  nun  Tatsachen  oder 
feinere  Beobachtung  alter  Tatsachen  dazu  führen  sollten, 
für  irgendeine  Erscheinung  durch  eine  Funktion  0(t) 
ein  neues  Zeitmaß  r   einzuführen,    so    daß   für  diese  Er- 


Zum  dritten  Teil.  28q 

scheinung  die  Beschleunigung  durch  — ^  statt  durch  — -| 
dargestellt   wird   (d.  h.   das  Produkt  aus  Masse  und  Be- 

d'^x 

schleunigungskomponente    ~    sich     als     Funktion     des 

Ortes  des  bewegten  Punktes  und  anderer  fester  oder 
bewegter  Punkte  darstellen  läßt).  Aber  auch  dann  würde 
man  wohl  versuchen,  die  entstehende  Schwierigkeit 
durch  Modifikation  der  anderen  Annahmen,  eventuell 
durch  Hinzufügung  weiterer  fingierter  Punkte  und  Kräfte 
(vgl.  weiterhin  die  analogen  Erörterungen  auf  S.  95  ff. 
beim  Trägheitsgesetz)  zu  beseitigen,  ehe  man  sich  ent- 
schließt, bei  verschiedenen  Erscheinungen  verschiedene 
Zeitmaße  anzuwenden.  Durch  diese  Überlegung  kommt 
man  zu  wesentlich  derselben  Auffassung,  welche  Poin- 
care  a.  a.  O.  mit  dem  Worte  Opportunismus  charak- 
terisiert. 

44)  S.  92.  Die  Mechanik  im  nicht-Euklidischen  Räume 
ist  in  der  Tat  schon  ziemlich  ausgebildet;  vgl.  darüber: 
Schering,  Die  Schwerkraft  im  Gaussischen  Raum, 
Göttinger  Nachrichten  1870  und  1873;  de  Tilly, 
Etudes  de  mecanique  abstraite,  Memoires  publies  par 
TAcademie  R.  de  Belgique,  t.  21,  1868;  Lindemann, 
Über  unendlich  kleine  Bewegungen  und  Kraftsysteme 
bei  allgemeiner  Maßbestimmung,  Inauguraldissertation, 
Erlangen  1873  (Math.  Annalen,  Bd.  7);  Killing,  Die 
Mechanik  in  den  nicht-Euklidischen  Raumformen,  Grelles 
Journal,  Bd.  98,  1884;  Heath,  On  the  dynamics  of  a 
rigid  body  in  elliptic  Space,  Philosophical  Transactions 
of  the  R.  Society,  London  1884;  de  Francesco, 
Alcuni  problemi  di  Meccanica  in  uno  spazio  di  cur- 
vature  constante,  Atti  d.  R.  Accademia  d.  Scienze  fis.  e 
mat.   di  Napoli,   Serie  II,  vol.    10,    1900. 

45)  S.  94.  Sind  11  Punkte  gegeben,  deren  jeder 
durch  drei  rechtwinklige  Koordinaten  x,  y,  z  bestimmt 
wird,  so  haben  wir  die   3;^   Größen 

JC-^ ,  y^ ,  z^ ,     x^  j  y^ »  ^2 '     •  •  •  •     Xfi ,  y^ ,  Zjj, , 
welche    als  Funktionen    der  Zeit    /    zu    betrachten    sind. 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  I9 


290 


Anmerkungen  45 — 46. 


Die  Geschwindigkeit  Vi  eines  Punktes  Xi,  yi,  Z{  wird 
durch  den  ersten  Differentialquotient  bestimmt;  es  ist 

(.)    '.-(5)'+(t)'+e)=©" 

wo  dann  ds^  das  Bogenelement  der  vom  Punkte  Xj,  y^,  z^ 
beschriebenen    Bahnkurve     darstellt.        Die    Differential- 

dx^     dy^     dz^ 

Quotienten  -7-,  -7-,  -7-  sind  die  „Komponenten  der  Ge- 
^  dt       dt       dt 

schwindigkeit"  in  Richtung  der  drei  Achsen.  Ebenso 
wird  die  Beschleunigung  des  Punktes  in  die  der  ,,Kom- 

d'^x^     d^y^      d^z^ 
ponenten"    -— y,   ■— y,   -—g-    (zweite     Diflferentialquotienten 

Ctt^  CVu  Q/Jf 

der  Koordinaten  nach  der  Zeit)  zerlegt.  Die  auf  den  Punkt 
in  jedem  Moment  wirkende  Beschleunigung  würde  durch 
die  Summe  der  Quadrate  gegeben  sein;  sie  wird  aber 
durch  die  momentane  Geschwindigkeit  des  Punktes 
(deren  Richtung  im  allgemeinen  eine  andere  ist  als  die 
Richtung  der  „wirkenden"  Beschleunigung)  modifiziert, 
und  die  wirklich  in  jedem  Momente  dt  längs  der  Bahn 

d'^s^ 
stattfindende  Beschleunigung  wird  durch     — ^       gemessen 

und  aus  (i)  durch  Differentiation  nach  der  Zeit  ge- 
wonnen : 

ds.     d\^dx.     d^x.         dy.     d^        ^     d\ 
^^'  ~dÄ  '  'd^  ~  ~dt  '    ~d^  ^  ~dt   '  ~dt'^  ^  ~dt  '  'd?' 

Die  Grundgleichungen  der  analytischen  Mechanik  sind 
nun  von  der  folgenden  Form: 

d'^c 


m 


'  dt^ 


—  Ji\  \p^\  ?  y\  )  %  >    "^2  '  y^  '  ^2  '     *  "^'^ '  -^  "  j  ^n)  f 


VI 


dt'' 

dH 
i 

'   1? 


—  Ji^  \p^\  1  y\  >  ^1  J     "^^  >  y<i,  >  ^2  '     '   *   *    *^'^ '  y^^  i  ^n)  : 


d.  h.   es    bestehen   für  z*  =   i,  2,  3   •  •  •  ?2  im  ganzen  3« 
solche    „Differentialgleichungen    zweiter    Ordnung";     auf 


Zum  dritten  Teil. 


291 


den  rechten  Seiten  stehen  Funktionen  /^^,  die  nur  von 
den  Koordinaten  der  n  bewegten  Punkte  abhängen;  die 
Faktoren  nii  sind  die  „Massen"  der  n  Punkte.  Es  ist 
als  Erfahrungstatsache  zu  betrachten,  daß  sich  die  Kom- 
ponenten der  Beschleunigungen  in  dieser  Weise  als 
Funktionen  des  Ortes  der  bewegten  Punkte  (Moleküle) 
darstellen  lassen,  denn  die  aus  den  Gleichungen  (3) 
durch  Integration  gezogenen  Folgerungen  stimmen  mit 
den  beobachteten  Tatsachen  überein.  Diese  Aussage 
bezieht  sich  auf  eine  umfangreiche  Klasse  von  Problemen 
der  klassischen  Mechanik,  z.  B.  auf  alle  diejenigen,  bei 
denen  es  sich  nur  um  sogenannte  (anziehende  oder  ab- 
stoßende) Zentralkräfte  handelt.  Bei  anderen  Problemen 
treten  auf  den  rechten  Seiten  der  Gleichungen  (3)  neben 
den  Koordinaten  noch  die  ersten  Differentialquotienten 
(also  die  Komponenten  der  Geschwindigkeiten)  auf,  so 
daß  sie  von  der  Form  werden: 


(4) 


m. 


m. 


m. 


d^x. 

dt^ 

=  Fi^  \Xk,yk, 

.2^; 

dXj^ 

dt  ' 

dt ' 

dt 

dt^ 

=  Fi^^yckO'k, 

Zk\ 

dx^ 
dt   ' 

dt ' 

dt , 

dH^ 
dt^  ' 

""^  ^  3  \  ^k  1  yk ) 

Zk\ 

dXf^ 

dt   ' 

<^yk 
dt ' 

dt  ^ 

). 


). 


wo  rechts  der  Index  h  geschrieben  ist,  um  anzudeuten, 
daß  die  3«  Koordinaten  und  die  3«  Geschwindigkeits- 
komponenten der  11  Punkte  in  den  Funktionen  F  gleich- 
zeitig auftreten.  Diese  Gleichungen  (4)  finden  z.  B.  An- 
wendung, wenn  verzögernde  Reibungskräfte  mit  in  Be- 
tracht zu  ziehen  sind.  Der  Ausspruch  des  Textes,  daß 
„die  Beschleunigung  vom  Orte  und  von  den  Geschwindig- 
keiten der  bewegten  Moleküle  abhängt",  findet  in  den 
Gleichungen  (4)  seinen  mathematischen  Ausdruck.  In- 
betreff  der  Entdeckung  und  Formulierung  des  Träg- 
heitsgesetzes durch  Galilei  sei  auf  das  erwähnte  Werk 
von  Mach  verwiesen  (p.   130). 

46)    S.   95.      Im    ersten  Falle,    wo    die    Lage    eines 
Körpers  sich  nicht  ändert,    wenn   er  keiner  Kraft  unter- 

19* 


2Q2  Anmerkungen  46 — 47. 

worfen  ist,    würden   also    die   Differentialgleichungen   (3) 
bezw.   (4)  durch  die  folgenden  zu  ersetzen  sein: 


m. 


dt 


^fi\  {^k,  Vk,  ^k), 


dt 
dz^ 


also  durch  Differentialgleichungen  erster  Ordnung.  Im 
zweiten  Falle,  wo  die  Änderung  der  Beschleunigung 
eines  Körpers  von  Lage,  Geschwindigkeit  und  Beschleuni- 
gung dieses  Körpers  und  der  anderen  Körper  abhängt, 
hätten  wir  die  Differentialgleichungen  dritter  Ordnung: 

d^_         (  dx^    dy^   dz^^  dhc^    d^^    dh^\ 

'^i-J^^—-^iA^k,yk,Zk\    at'   dt'   dt''     dt^  '   dt'^'dW)' 

...         d^_         (  dx^    dy^   ^     dhc^    db^   ^\ 

^\-_  /  dx^    dy^    dz^     dh^    d^    d\\ 

^i-^  —  -'^n\^k,yk.Zk\    ji^-^^-^^\    dt^'~d?''d?)' 


Wirken  keine  ,, Kräfte"  (d.  h.  sind  keine  Umstände  vor- 
handen, die  eine  Änderung  der  Beschleunigung  veran- 
lassen können),  so  wären  die  rechten  Seiten  der  Glei- 
chungen (6)  durch  Null  zu  ersetzen,  und  wir  hätten  die 
Differentialgleichungen : 

d^x^  d^y^  dh^- 

-T^  =  O,      — ^   =  O,      -— ^  =  O, 
dt^  dt^  '      dt^ 

deren  Integration  zu  den  Formeln 

yi  =  di{^  +  h'it  +  c'i, 

Zi  =  a'ifi  +  h"it  +  c"i 

führt,  wo  mit  a,  b,  c,  a,  b' ,  c ,  a\  b" ,  c"  Integrationskon- 
stanten bezeichnet  sind;  diese  Formeln  würden  aussagen, 
daß    sich    alle    Punkte    auf  Parabeln    bewegen    (statt  auf 


Zum  dritten  Teil. 


293 


geraden  Linien,  wie  es  das  tatsächlich  geltende  Träg- 
heitsgesetz verlangt). 

47)  S.  96.  Nimmt  man  die  Ebene  aller  Planeten- 
bahnen zur  ^Y-jP^Ebene,  so  kann  bei  dieser  Voraus- 
setzung die  Gleichung  einer  einzelnen  Bahn  in  der 
Form 

x^  -\-  y^  =  r^ 

geschrieben  werden,  wo  dann  r  den  Radius  des  betr. 
Kreises  bezeichnet.  Man  eliminiert  letzteren  durch  Diffe- 
rentiation nach  der  Zeit: 

dx    .        dv 

und  in  dieser  Gleichung  läge  ein  für  alle  Planeten 
gültiges  Gesetz.  Der  fingierte  Astronom  würde  daraus 
schließen,   daß 

zu  setzen  ist,  \ko  fix,})  eine  noch  nicht  näher  bekannte 
Funktion  von  x  und  y  bezeichnet.  Nimmt  man  aber 
an,  daß  es  sich  tatsächlich  um  Bewegungen  nach  dem 
Newtonschen  Gesetze  handelt  (welches  allerdings  den 
fingierten  Astronomen  nicht  bekannt  ist),  so  können  sich 
die  Planeten  in  den  Kreisen  nur  mit  gleichförmiger  Ge- 
schwindigkeit bewegen.  Führt  man  also  Polarkoordinaten 
/-,  (p  ein,  so  würden  die  fingierten  Astronomen  aus  ihren 
Beobachtungen  die  weitere  Bedingung 

^  =  k  =  Konst. 

df 

ableiten,  so   daß  die  Bewegung  den  beiden  Gesetzen 


dr  dcp 

—  =  O,       -~   ^  k 

dt  dt 


genügte.     Da  nun 


dy              dx           g  dm  „      ,          . 

dt       -^    dt              dt  -^  ^    '-^^  ' 

SO    würden    sie    also  /{x,y)  ^=  k  setzen    und    die   Glei- 
chungen 


2QA  Anmerkungen  48 — 52. 

dx  .         dy  j 

dt  -^     '       dt 

als  fundamentale  Differentialgleichungen  für  die  Planeten- 
bewegung betrachten. 

48)  S.  100.  Die  hier  erwähnten  Werke  sind  die 
folgenden:  Newton,  Philosophiae  naturalis  Principia 
mathematica,  London  1687;  Thomson  und  Tait,  Hand- 
buch der  theoretischen  Physik  (1867,  deutsch  von  Helm- 
holtz  und  Wertheim,  Braunschweig  1871);  Kirchhoff, 
Vorlesungen  über  mathematische  Physik,  Mechanik, 
Leipzig  1876.  Die  von  Newton  geschaffenen  Grund- 
lagen der  analytischen  Mechanik  sind  besonders  ein- 
gehend von  Volkmann  besprochen:  Einführung  in  das 
Studium  der  theoretischen  Physik,  insbesondere  in  das 
der  analytischen  Mechanik,  Leipzig  1900,  und:  Über 
Newtons  „Philosophiae  naturalis  principia  mathematica" 
und  ihre  Bedeutung  für  die  Gegenwart;  Schriften  der 
physikalisch-ökonomischen  Gesellschaft  zu  Königsberg  i.Pr. 
1898.  Vgl.  auch  die  erwähnten  Schriften  von  Mach  und 
Voß  sowie  Pearson,  The  Gram  mar  of  Science,  2^  ed. 
London  1900,  und  de  Tilly,  Essai  sur  les  principes 
fondamentaux  de  la  g6om6trie  et  de  la  m6canique, 
M6moires  de  la  societ6  des  sciences  physiques  et  natu- 
relles de  Bordeaux,   2^^"^^   Serie,  t.  3,    1878. 

49)  S.  102.  Das  Prinzip  der  Gleichheit  von  Wirkung 
und  Gegenwirkung  hat  Newton  an  die  Spitze  der 
Mechanik  gestellt;  vgl.  die  Erörterungen  darüber  sowie 
über  die  Begriffe  von  Kraft  und  Kausalität  bei  Volk- 
mann a.  a.  O.  p.  36  ff.  und  Wiedemanns  Annalen  Bd.  66, 
1898,  sowie  Mach   a.  a.  O.  p.  185. 

50)  S.  104.  Die  Differentialgleichungen  für  die  Be- 
wegung eines  Planeten  (^,  j')  um  die  im  Anfangspunkte 
ruhende  Sonne  sind  bekanntlich: 

d'^x  X      j.  dh'  y    . 

wenn  ;;z  die  Masse  des  bewegten  Planeten  ist  und  nach 
dem  Newtonschen  Gesetze /=  k7n?n  gewählt  wird,  wo 
k  eine  rein   numerische  Konstante    (deren  Wert  von  der 


Zum  dritten  Teil. 


295 


Wahl  der  Masseneinheit  abhängt)  bedeutet  und  m  die 
Masse  der  Sonne  bezeichnet.  Die  Integration  der  Glei- 
chungen ist  von  dem  speziellen  Werte  der  Konstanten  f 
ganz  unabhängig;  es  bleiben  also  auch  die  Kepler- 
schen  Gesetze  gültig.  Die  Integration  jener  Gleichungen 
liefert  für  die  Umlaufszeit  T  des  Planeten  den  Ausdruck 


T^  = 


471;^  ■  a^  ■  m 


f  ' 

wo  a  die  halbe  große  Achse  der  Ellipse  bezeichnet. 
Sind  T  und  a  aus  den  Beobachtungen  bekannt,  so  kann 
man  also  aus  ihnen  die  Verhältnisse  der  Massen  ver- 
schiedener Planeten  berechnen ,  denn  f  fällt  dabei  her- 
aus (wobei  natürlich  die  gegenseitigen  „Störungen"  ver- 
nachlässigt sind). 

51)  S.  106.  Vgl.  Hertz,  Die  Prinzipien  der  Mechanik 
in  neuem  Zusammenhange  dargestellt,  Leipzig  1894  (Ge- 
sammelte Werke  Bd.  3),  Seite  11.  ,,Die  systematische 
Konstruktion  der  Kräfte  (d.  i.  Beschleunigungen)  auf 
Grund  einer  rein  kinetischen  Theorie,  welche  von 
J.  J.  Thomson  in  allgemeinen  Zügen  skizziert  war,  im 
einzelnen  durchgeführt  zu  haben,  ist  das  eine  Haupt- 
verdienst der  Hertz  sehen  Mechanik;  das  andere  (mehr 
formale)  besteht  in  der  außerordentlich  anschaulichen 
Form,  in  der  Hertz  die  Geometrie  der  w-dimensionalen 
Mannigfaltigkeit  für  seine  Zwecke  gedeutet  hat,  sowie  in  dem 
von  ihm  eingeführten  konsequenten  System  von  Begriffen" 
(vgl.  Voß  a.  a.  O.).  Andererseits  ist  zu  beachten,  daß 
die  Einwürfe,  welche  Hertz  gegen  die  bisherige  Dar- 
stellung der  Mechanik  erhebt,  durch  andere  Arbeiten 
(Voß,  Math.  Annalen  Bd.  25,  1885;  Routh,  Dynamik 
Bd.  2,  §  445,  1892,  deutsch  von  Schepp;  Holder,  Göttin- 
ger Nachrichten  1896)  entkräftet  sind;  vgl.  auch  Volk- 
mann, Die  gewöhnliche  Darstellung  der  Mechanik  und 
ihre  Kritik  durch  Hertz,  Zeitschrift  f.  d.  physik.  u.  chemi- 
schen Unterricht,  Jahrg.  14,  1901,  sowie  die  vierte  Auflage 
des  erwähnten  Werkes  von  Mach,    1897,   p.  271. 

52)  S.    109.     Der    hier    gekennzeichnete    anthropo- 
morphe    Standpunkt    liegt    uns    heute    fem;     doch    ging 


2n6  Anmerkungen  53—55- 

z.  B.  Kepler  so  weit,  daß  er  sich  Erde  und  Sonne  als 
lebende  Wesen  vorstellte  (Opera  ommia  ed.  Frisch, 
Bd.  6  p.  174,  Bd.  5  p.  253ff.);  die  betreffenden  Stellen 
sind  von  Pixis  in  seiner  Inauguraldissertation  (Kepler 
als  Geograph,  München  1899)  zusammengestellt.  Analoge 
Gedanken  in  modernerer  Form  finden  sich  bei  Fechner 
(Zend-Avesta,  i.  Th.,  Leipzig  1851)  und  Riemann  (vgl. 
dessen  Nachlaß  in  seinen  Gesammelten  mathematischen 
Werken) ;  das  Denken  ist  nach  ihm  Bildung  neuer  „Geistes- 
masse"; die  in  die  Seele  eintretenden  Geistesmassen  er- 
scheinen uns  als  Vorstellungen;  die  Ursachen  der  Ver- 
änderungen auf  der  Erde  werden  in  einem  fortschreiten- 
den Denkprozesse  der  „Erdseele"  gesucht.  Der  Begriff 
solcher  Geistesmasse  ist  mit  Cliffords  ,,mindstuff"  ver- 
wandt: On  the  nature  of  things-in-themselfs  (Lectures 
and  Essays,  2^  ed.  p.  284,  London  1886).  Ähnlichen 
Ideen  begegnen  wir  ferner  in  den  Monaden  von  Leib- 
niz  und  dem  Keimplasma  von  Weis  mann  bei  dessen 
Theorie  der  Vererbung. 

53)  S.  110.  Diese  experimentelle  Prüfung  des  Ge- 
setzes vom  Parallelogramm  der  Kräfte  durch  gespannte 
Fäden  führte  Wilhelm  Weber  in  seinen  damals  be- 
rühmten Vorlesungen  über  Experimentalphysik  in  Göttingen 
tatsächlich  aus.  Das  Verfahren  erinnert  an  die  Art  und 
Weise,  wie  Lagrange  das  Prinzip  der  virtuellen  Ge- 
schwindigkeiten (d.  h.  die  allgemeinsten  Gesetze  für  das 
Gleichgewicht  von  Kräften)  durch  Konstruktionen  mittels 
Flaschenzügen  beweisen  wollte,  ein  Verfahren,  das  gegen- 
wärtig als  unzureichend  betrachtet  wird;  vgl.  darüber 
den  mehrfach  erwähnten  Aufsatz  von  Voß. 

54)  S.  119.  In  der  Vorrede  zur  editio  princeps  des 
berühmten  Werkes  ,,de  revolutionibus"  von  Copper- 
nicus  (so  schrieb  er  selbst  seinen  Namen)  findet  sich 
in  der  Tat  die  Anschauung  ,,es  ist  bequemer  voraus- 
zusetzen, daß  die  Erde  sich  dreht"  vertreten,  und  zwar 
in  dem  Satze:  „Cum  autem  unius  et  eiusdem  motus, 
variae  interdum  hypotheses  sese  offerant  (ut  in  motu 
solis  excentricitas  et  epicyclium)  astronomus  eam  potissi- 
mum    eripiet,    quae    comprehensu    sit    quam    facillima; 


Zum  dritten  Teil. 


297 


philosophus  fortasse  veri  similitudinem  magis  requiret." 
Man  darf  hieraus  aber  nicht  schließen,  daß  Coppernicus 
auf  dem  Standpunkte  modemer  Natur-,, Beschreibung" 
gestanden  habe;  denn  diese  Vorrede  wurde  durch 
Oslander  beim  Drucke  des  Werkes  untergeschoben 
und  ist  nicht  von  Coppernicus  verfaßt;  sie  sollte  nur 
das  Werk  vor  Verfogungen  schützen,  die  ja  in  der  Tat 
nicht  ausblieben.  Oslander  hatte  in  diesem  Sinne  dem 
Coppernicus  Vorschläge  gemacht,  die  aber  von  letzterem 
(nach  Keplers  Beicht)  abgewiesen  wurden,  da  er 
seine  innerste  Überzeugung  vor  aller  Welt  kundtun  müsse. 
Vgl.  die  betr.  Darstellung  bei  Prowe,  Nicolaus  Copper- 
nicus,   I.  Bandes   2.  Teil,  Berlin    1883,  p.  519!?. 

55)  S.  120 ff.  Die  Differentialgleichungen  für  die 
Bewegung  eines  Planeten  (x,  j')  um  die  im  Anfangs- 
punkte stehende  Sonne  (mit  der  Masse  ?n)  sind  oben 
unter  (3)  in  Anmerkung  43)  mitgeteilt;  aus  ihnen  folgt 
durch  Integration  erstens  der  ,,Satz  von  der  lebendigen 
Kraft": 

wo  k  eine  Konstante  ist,  und  zweitens  der  ,, Flächen- 
satz" : 

,   V  dv  dx 

(2)  x^  — y  -^  =  c, 

^   ^  dt        -^  dt  ' 

wo  c  die  ,, Flächenkonstante"  bedeutet  (zweites  Kepler- 
sches  Gesetz).     Führt  man  durch  die  Gleichungen 

X  =  r  cos  (p,         j;  =  r  sin  cp 

Polarkoordinaten  ;-,  cp  ein,  so  werden  diese  beiden  Glei- 
chungen 

(3)      K)^+'-^(sr]=T+^' 

wobei  der  Winkel  ^  die  ,, absolute  Länge"  des  Planeten 
definiert.  Eliminiert  man  <p  aus  beiden  Gleichungen,  so 
ergibt  sich: 


298  Anmerkung  55. 

(5)       ffiy+a=^+^- 

und  hieraus  durch  Differentiation: 

dr  d}r         c'^  m 

In  dieser  Differentialgleichung  zweiter  Ordnung  kommt 
noch  die  Flächenkonstante  c  vor;  um  sie  zu  eliminieren, 
müssen  wir  die  Gleichung  in  der  Form 

,   .  o  dr  d^r    ,        ,  9 

(7)  ''   J-tJ?^'^''  =  ' 

schreiben  und  nochmals  differenzieren;   das  gibt 

,0,         ^drd^r    .       o(d^r\^    .  ^  (dr\^  d^r  ,  dr 

Die  Entfernung  des  Planeten  von  der  Sonne  hängt  also 
(wenn  man  sie  direkt,  d.  h  ohne  den  Winkel  qp  zu  be- 
nutzen, als  Funktion  der  Zet  /  darstellen  will)  von  einer 
Differentialgleichung  dritter  Ordnung  ab;  die  Lösung 
einer  solchen  aber  ist  erst  bestimmt,  wenn  für  einen  be- 
liebigen Zeitpunkt    (für  die  „Anfangszeit")  nicht  nur  die 

Werte  von  r  und  —  gegeben    sind,    sondern    auch    der 

•ITT  d^^ 

Wert  von  -— ^• 

dt^ 

Unsere  fingierten  Astronomen  würden  die  Bewegung 
des  Planeten  zunächst  durch  die  Differentialgleichung  (8) 
darstellen;  sie  würden  dann  finden,  daß  dieselbe  durch 
die  viel  einfachere  Gleichung  (7)  integriert  werden  kann; 
sie  würden  ferner  (da  wir  annehmen  können,  daß  ihnen 
die  Methoden  der  analytischen  Geometrie  bekannt  sind) 
herausfinden,  daß  der  Integrationskonstante  c  eine  sehr 
einfache  Bedeutung  zukommt,  wenn  man  eine  Ellipse 
als  Bahnkurve  voraussetzt  und  demnach  den  Winkel  qp 
einführt;  und  dadurch  würden  sie  zu  den  Gleichungen 
(3)  und  (4)  gelangen  können. 

Wenn  sie  so  weit  gekommen  sind,  werden  sie  die 
Konstante  c  nicht  mehr  als  ene  ,, wesentliche"  betrachten; 
vorher  aber  werden  sie  es  tun  müssen,    d.  h.  bis    dahin 


Zum  dritten  Teil. 


299 


werden  sie  an  Stelle  des  Newtonschen  Gesetzes  das 
komplizierte,  durch  die  Gleichung  (7)  dargestellte  An- 
ziehungsgesetz, das  noch  die  Konstante  c  als  eine  schein- 
bar wesentliche  enthält,  für  das  einfachste  halten,  das 
zur  Beschreibung  der  Planetenbewegung  dienen  kann, 
und  das  sich  auch  als  Differentialgleichung  zweiter 
Ordnung  darstellt. 

Betrachtet  man  gleichzeitig  mehrere  Planeten,  so 
werden  die  weiterhin  im  Texte  erwähnten  Symmetrie- 
verhältnisse das  Vorzeichen  der  Flächenkonstante  be- 
stimmen. Letztere  wird  für  verschiedene  Planeten  ver- 
schiedene Werte  haben,  für  alle  aber  gleiches  Vorzeichen; 
doch  gibt  es  Kometen,  die  sich  in  entgegengesetzter 
Richtung  bewegen,  für  die  also  das  Unwesentliche  des 
Vorzeichens  bemerkbar  wird.  Sind  demnach  unsere 
fingierten  Astronomen  nicht  durch  obige  analytische  Be- 
trachtung dazu  geführt,  die  Konstante  c  zu  eliminieren 
(d.  h.  als  ,, unwesentliche"  zu  betrachten),  so  wird  ihnen 
diese  Symmetriebetrachtung  dazu  Veranlassung  geben. 

Wollte  man  auch  die  in  das  Newtonsche  Gesetz 
eingehende  (negative  zweite)  Potenz  der  Entfernung  als 
eine  unwesentliche  Konstante  betrachten,  so  müßte  man 
sie  durch  eine  beliebige  Potenz  {=  k  -\-  i)  ersetzen  und 
dann  letztere  durch  Differentiation  eliminieren.  Die 
Differentialgleichungen  der  Bewegung  sind  dann: 


dKx 
dt^' 

—  y 

^    m  X         d^y                     ?ny 
"  rk  +  ^'       dt"-  ~            r^  +  ^' 

An  Stelle  von  (i)  und  (2)  erhält  man: 

T[CT)^+Cf)T 

VI     .     -              dy            dx 
rk  ^      '           dt        -^  dt 

femer  an  Stelle  von  (5): 

I 
2 

-(dr 
Xdt 

)   -f;:ij  =  ;:^  +  ^. 

und  durch  Differenzieren  an  Stelle  von  (6); 
dr  d'^r         c'  ,      m' 


300  Anmerkungen  56—57. 

also  an  Stelle  von  (7) : 

3  dr  d^r  m  ^ 

und  an  Stelle  von  (8): 

Hieraus  müßte  man  durch  nochmalige  Differentiation  eine 
Gleichung  vierter  Ordnung: 

dr  d'^r\ 


m 


ableiten.  Die  Elimination  von  k  aus  diesen  beiden 
Gleichungen  würde  nur  durch  Einführung  transzendenter 
Funktionen  möglich  sein  (deren  Einführung  durch  noch- 
maliges Differenzieren  und  Aufsteigen  zu  einer  Gleichung 
fünfter  Ordnung  vermieden  werden  könnte).  Das 
resultierende  Anziehungsgesetz  würde  also  so  kompliziert 
werden,  daß  man  sich  nicht  ohne  die  triftigsten 
Gründe  dazu  entschließen  wird,  den  Wert  k  ==  2  als 
eine  „zufällige"  Konstante  anzusehen. 

Davon  zu  unterscheiden  ist  die  weitere  Frage,  ob 
das  Newtonsche  Gravitationsgesetz  nicht  einer  Modifi- 
kation bedarf,  um  mit  den  Resultaten  der  Beobachtungen 
in  noch  bessere  Übereinstimmung  gebracht  zu  werden, 
eine  Frage,  die  in  der  Tat  mehrfach  erörtert  wurde; 
vgl.  darüber  Seeliger,  Astron.  Nachrichten,  Bd.  137, 
No.  3273,  1894,  und  Sitzungsberichte  der  k.  bayr.  Aka- 
demie d.  Wiss.  math.  physik.  Klasse,  Bd.  26,  1896, 
P-  373)  sowie  C.  Neumann,  Allgemeine  Untersuchungen 
über  das  Newtonsche  Prinzip,  Leipzig   1896. 

56)  S.  124.  Durch  Einführung  dieses  absolut  festen 
starren  Körpers  A,  dessen  Hauptträgheitsachsen  die  Koor- 
dinatenachsen der  Mechanik  zu  liefern  haben,  versuchte 
C.  Neumann  (Die  Prinzipien  der  Galilei-Newtonschen 
Theorie,  akademische  Antrittsrede,  Leipzig  1870)  die 
vorliegenden  Schwierigkeiten  zu  überwinden.  —  Handelt 
es  sich  um  relativ   beschleunigte  Bewegungen,    so    ist 


Zum  dritten  Teil.  ^OI 

die  Anwendung  der  Gesetze  für  Zusammensetzung  der 
Kräfte  etc.  nicht  mehr  gestattet;  vgl.  das  von  de  Tilly 
gegebene  Beispiel,  Annales  de  la  Soc.  scientifique  de 
Bruxelles,  t.  25,    igoi. 

57)  S.  125.  Das  Prinzip  der  Erhaltung  der  Energie 
tritt  als  Prinzip  von  der  Erhahung  der  lebendigen 
Kraft  in  der  klassischen  Mechanik  auf,  und  zwar  in 
der  Form 

(i)  ^2?n,7h'^=  F  +  //, 

wo  die  Summe  sich  auf  die  Indices  z  =  i,  2,  .  .  .  n  der 
n  bewegten  Punkte  erstreckt,  jn^  die  Masse  und  zv  die 
Geschwindigkeit  des  z**®°  Punktes  bezeichnen;  V  ist  die 
„Kräftefunktion"  oder  das  ,, Potential",  eine  Funktion 
der  Koordinaten  x^;,  jv>  ^t  der  bewegten  Punkte,  welche 
zugleich  als  Maß  der  geleisteten  Arbeit  auftritt,  und  aus 
der  die  Komponenten  der  wirkenden  Kräfte  durch 
Differentiation  nach  den  Koordinaten  gewonnen  werden, 
indem  die  3  ?t  Gleichungen  der  Bewegung  hier  in 
der  Form 

(')     ^'^^-^^ä^.'   '''^äW^dV/   ''''J^-d^ 

erscheinen;  aus  ihnen  entsteht  (i)  durch  Integration,  und 
h  bezeichnet  eine  Integrationskonstante.  Die  Gleichung 
(i)  sagt  aus,  daß  die  lebendige  Kraft  oder  die  poten- 
tielle Energie  des  Systems  zu  verschiedenen  Zeiten 
stets  denselben  Wert  annimmt,  sobald  die  n  Punkte 
solche  Lagen  annehmen,  daß  die  Funktion  V  zu  beiden 
Zeiten  denselben  Wert  erhält,  insbesondere  also,  wenn 
alle  Punkte  im  zweiten  Momente  in  die  Lage  zurück- 
kehren, in  der  sie  sich  im  ersten  befanden.  Seit  Helm- 
holtz  (Über  die  Erhaltung  der  Kraft,  Berlin  1847; 
Wissenschaftliche  Abhandlungen,  Bd.  i ;  Ostwalds  Klassiker- 
bibliothek, Bd.  i)  pflegt  man  die  Funktion  17= —  V 
in  die  Gleichung  (i)  einzuführen,  so  daß  dieselbe  die 
Form 

(3)  ii:m,-v,^+  I7  =  k 


■2Q2  Anmerkungen  57 — 58. 

annimmt;  diese  Form  ist  für  weitere  Verallgemeinerungen 
besonders  nützlich.  Man  bezeichnet  U  als  Maß  der 
„Spannkräfte"  oder  (nach  William  Thomson)  als 
potentielle  Energie  im  Gegensatze  zur  kinetischen 
Energie  oder  lebendigen  Kraft  (d.  i.  ^Um^Vi-^)  und 
kann  die  Gleichung  (i)  bez.  (3)  nun  dahin  aussprechen, 
daß  die  Summe  der  kinetischen  und  der  poten- 
tiellen Energie  stets  denselben  Wert  besitzt; 
alle  dynamischen  Erscheinungen  bestehen  in  einer  Ver- 
wandlung von  kinetischer  in  potentielle  Energie  und 
umgekehrt.  —  Die  Ausdehnung  dieser  Vorstellungen  auf 
die  Erscheinungen  der  Wärme,  Elektrizität  etc.  führte  zu 
den  großen  Entdeckungen  von  R.  Mayer,  Joule, 
Helmholtz  u.  a.,  woraus  dann  umgekehrt  die  ,, ener- 
getische" Auffassung  der  Mechanik  erwachsen  ist. 

Über  letztere  vgl.  Planck,  das  Prinzip  der  Erhaltung 
der  Energie,  Leipzig  1887;  Ostwald,  Lehrbuch  der 
allgemeinen  Chemie,  Leipzig  1893;  Boltzmann,  Wiede- 
manns  Annalen,  Bd.  57  und  58;  Planck,  ib.  Bd.  57; 
sowie  die  Darstellung  bei  Voß  a.  a.  O.  Es  sei  hier 
auch  an  das  Urteil  von  Hertz  über  das  , »energetische 
System"  erinnert  (Die  Prinzipien  der  Mechanik,  1894, 
S.  26):  ,, Mehrere  ausgezeichnete  Physiker  versuchen 
heutzutage,  der  Energie  so  sehr  die  Eigenschaften  der 
Substanz  zu  leihen,  daß  sie  annehmen,  jede  kleinste 
Menge  derselben  sei  zu  jeder  Zeit  an  einen  bestimmten 
Ort  des  Raumes  geknüpft  und  bewahre  bei  allem  Wechsel 
desselben  und  bei  aller  Verwandlung  der  Energie  in 
neue  Formen  dennoch  ihre  Identität.  Diese  Physiker 
müssen  notwendig  die  Überzeugung  vertreten,  daß  sich 
Definitionen  der  verlangten  Art  wirklich  geben  lassen. 
Sollen  wir  selbst  aber  eine  konkrete  Form  dafür  auf- 
weisen, welche  uns  genügt  und  welche  allgemeiner  Zu- 
stimmung sicher  ist,  so  geraten  wir  in  Verlegenheit;  zu 
einem  befriedigenden  und  abschließenden  Ergebnisse 
scheint  diese  ganze  Anschauungsweise  noch  nicht  gelangt. 
Eine  besondere  Schwierigkeit  muß  auch  von  vornherein 
der  Umstand  bereiten,  daß  die  angebhch  substanzartige 
Energie  in  zwei   so  gänzlich  verschiedenen  Formen  auf- 


Zum  dritten  Teil.  ^q^ 

tritt,    wie    es    die    kinetische    und    die    potentielle  Form 

sind Die  potentielle  Energie  hingegen  widerstrebt 

jeder  Definition,  welche  ihr  die  Eigenschaften  einer  Sub- 
stanz beilegt.  Die  Menge  einer  Substanz  ist  notwendig 
eine  positive  Größe;  die  n  einem  Systeme  enthaltene 
potentielle   Energie    scheuen    wir    uns    nicht    als    negativ 

anzunehmen " 

58)   S.  125.     Unter  dem  mittleren  Werte  der  Differenz 
beider  Arten  von  Enero^ie    versteht   man    den    Ausdruck 


ist. 


(i)     —^\{T-U)dt,      ^NoT=\Zmro;^ 

und  wobei  man  sich  (nach  Ausführung  der  Integration 
der  Differentialgleichungen  der  Bewegung)  die  Koordi- 
naten Xi,  )>{,  Zi  als  Funktionen  der  Zeit  eingesetzt  denken 
muß.  Die  Bedingung,  daß  der  Wert  dieses  Integrals 
möglichst  klein  sei,  wird  nach  den  Regeln  der  Variations- 
rechnung in  der  Form 

(2)  SJ*  {T-  U)dt  =  o 

geschrieben,  und  aus  ihr  können  nach  diesen  Regeln 
umgekehrt  die  Differentialgleichungen  der  Bewegung  ab- 
geleitet werden,  wie  es  seit  Jacobis  berühmten  Vor- 
lesungen über  Dynamik  (gehalten  im  Winter  1842/43  an 
der  Universität  Königsberg,  herausgegeben  nach  Borch- 
ardts  Aufzeichnungen  von  Clebsch,  Berlin  1866)  in 
fast  allen  Lehrbüchern  der  analytischen  Mechanik  zu 
finden  ist. 

Das  Prinzip  der  kleinsten  Wirkung  ist  eigent- 
lich von  dem  in  Gleichung  (2)  ausgesprochenen  ,, Hamil- 
ton sehen  Prinzipe"  verschieden;  es  sagt  aus,  daß  auch 
die  Variation  des  Integrals 

(3)  J^Zm^Vidsi  =fy2  {h  -  U)  1/Zmidsi'^ 

gleich  Null  ist,  so  daß  auch  dieses  Integral  zu  einem 
Minimum  wird.     Dabei  ist  vorauszusetzen,   daß  die  Zeit 


oQ^  Anmerkungen  59 — 60. 

mittelst  der  Gleichung 

\Emi{dsiY  =  [h-  U)dt^ 

eliminiert  und  alle  Koordinaten  X{,  yi,  z^  als  Funktionen 
von  einer  unter  ihnen  dargestellt  seien  (vgl.  Jacob i 
a.  a.  O.  p.  43  ff.)-  Nach  den  Regeln  der  Variations- 
rechnung ergeben  sich  aus  dieser  Bedingung  die  Diffe- 
rentialgleichungen der  Bewegung  ebenso,  wie  aus  dem 
Hamiltonschen  Prinzipe.  Beide  Prinzipe  stehen  über- 
haupt in  engstem  Zusammenhange  (vgl.  darüber  von  Helm- 
hol tz,  Zur  Geschichte  des  Prinzipes  der  kleinsten  Aktion, 
Gesammelte  Abhandlungen,  Bd.  i,  p.  249,  1887,  ferner 
Voß,  Bemerkungen  über  die  Prinzipien  der  Mechanik, 
Sitzungsberichte  d.  k.  bayr.  Akad.  math.  phys.  Klasse, 
Bd.  31,  1901,  sowie  die  oben  erwähnte  Arbeit  von 
Holder).  Der  Name  des  Prinzips  rührt  von  metaphysi- 
schen Vorstellungen  her,  die  man  früher  damit  verband 
und  die  zu  heftigen  Kontroversen  Veranlassung  gaben, 
vgl.  darüber:  A.  Mayer,  Zur  Geschichte  des  Prinzipes 
der  kleinsten  Aktion,  akademische  Rede,  Leipzig  1877, 
und  Helmholtz  a.  a.  O. 

59)  S.  127.  Der  Ausdruck  der  kinetischen  Energie 
T  in  Funktion  der  Geschwindigkeiten  v^  ist  schon  in 
Anmerkung  58)  unter  (i)  angegeben.  Oft  ist  es  nütz- 
lich, statt  der  rechtwinkligen  Koordinaten  x,  jy,  z  andere 
(z.  B.  Polarkoordinaten  oder  elliptische  Koordinaten)  durch 
Gleichungen  der  Form 

einzuführen ,  wobei  die  3  n  Koordinaten  Xi,  yi,  ^i  an  k 
Bedingungen  gebunden  sein  mögen;   dann  wird 

T  =  ^^  Qrsqrq's , 

r        s 

WO  mit  Qrs  gewisse  Funktionen  der  q^  bezeichnet  sind, 
und  wo 

,  dqr 


Zum  dritten  Teil. 


305 


gesetzt  ist.  Für  die  Ableitung  der  Differentialgleichungen 
der  Bewegung  in  diesen  neuen  Koordinaten  ist  das 
Hamiltonsche  Prinzip  besonders  nützlich  (vgl.  Jacobi 
a.  a.  O.).  Auch  die  Größen  q^  bezeichnet  man  dann 
kurz  als  Geschwindigkeiten,  obgleich  sie  sich  nicht  immer 
als  Quotient  eines  Weg-  und  eines  Zeitelementes  dar- 
stellen. Man  spricht  auch  dann  noch  kurz  von  Koor- 
dinaten qr  und  Geschwindigkeiten  q  ^i  wenn  die  q,.  nur 
Parameter  zur  Festlegung  gewisser  Zustände  be- 
zeichnen, die  q  r  also  Maße  für  die  Geschwindigkeit  der 
Zustandsänderungen  bedeuten;  vgl.  unten  S.  2 18 ff.  des 
Textes. 

60)  S.  127.  Wilhelm  Weber  hatte  zuerst  für  die 
elektrodynamischen  Erscheinungen  ein  mathematisches 
Elementargesetz  aufgestellt;  er  setzte  die  zwischen  zwei 
elektrischen  Teilchen  m  und  m ,  welche  sich  in  der 
Entfernung  r  befinden,  wirkende  Kraft  gleich 

'dr\'^    ,     2  r  d^r 
d? 


R 


min  r  I    /dr\^ 


WO  <r^  die  konstante  Geschwindigkeit  bedeutet,  mit 
welcher  sich  die  elektrische  Kraft  im  Räume  ausbreitet. 
Es  ist  identisch 


R  =  ??17JI 

wenn 


■  I  4      rf2|/7n  ^u 


y7    dt^  ^  d'^ 


TT  'T^      I       ^   (dV^^"' 

U  =  mm ^1  —^ —  ) 

Lr     '     c^\    dt     /  J 


gesetzt  wird.    Das  Potential  (oder  die  potentielle  Energie) 
U  hängt    also    von    der   Entfernung    r    und    der    gegen- 

dr 

seifigen  Geschwindigkeit   ~  ab,   die  Kraft  R  sogar  noch 

von  der  Beschleunigung  — -g- 

Nach  Carl  Neumann  (Die  Prinzipien  der  Elektro- 
dynamik, Gratulationsschrift  der  Universität  Tübingen 
zum  fünfzigjährigen  Jubiläum  der  Universität  Bonn, 
Tübingen  1868)  entsteht  das  Web  ersehe  Gesetz  aus 
dem    Coulombschen    (bez.     aus    dem    Newtonschen), 

Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese.  20 


5o6  Anmerkungen  60 — 62.  ' 

wenn  man  annimmt,  daß  die  wirkende  Kraft  sich  mit 
der  Geschwindigkeit  <:^  im  Räume  ausbreitet  (vgl.  auch 
ähnliche  Vorstellungen  bei  Riemann,  Ein  Beitrag  zur 
Elektrodynamik,  1867,  Ges.  Werke  p.  270);  umgekehrt 
erhält  man  für  c  ==  00  wieder  das  Newtonsche  Gesetz. 
Ist  allgemein  g)(r)  diejenige  Funktion  von  r,  welche  im 
Falle  c  =  00   das  Potential  darstellt,  und  setzt  man 


so  wird 


^(' 

dr , 

J^ 

=  — 

du 

dr 

=  -¥'  +  ^ 

dr 

Unter  der  Annahme,  daß  auch  die  Ausbreitung  der 
Newton  sehen  Gravitationskraft  im  Räume  mit  endlicher 
Geschwindigkeit  erfolgt,  hat  Zöllner  den  Versuch  ge- 
macht, das  Web  ersehe  Gesetz  auch  für  die  Bewegung 
der  Himmelskörper  zu  verwerten;  zu  derartig  komplizierten 
Annahmen  haben  die  Beobachtungen  bisher  keine  Ver- 
anlassung geboten.  Das  Web  ersehe  Gesetz  hat  lange 
die  mathematische  Theorie  der  elektrischen  Erscheinungen 
erfolgreich  beherrscht,  bis  Helmholtz  dasselbe  durch 
ein  allgemeineres  ersetzte,  um  gewisse  Schwierigkeiten 
zu  beseitigen,  die  der  Satz  von  der  Erhaltung  der  Energie 
zu  bereiten  schien.  Nach  ihm  ist  das  elektrodynamische 
Potential  zweier  elektrischen  Teilchen  m  und  m' ,  die 
sich  in  den  Stromelementen  ds  und  ds'  bewegen,  gleich 
(Grelles  Journal,  Bd.  72,  1870;  Wissensch.  Abhandlungen, 
Bd.  I,  p.  545 ff.) 

[(i  -\-  k)  cos   {ds,  ds') 


2r 
-\-  {1  —  k)   cosin  (r,  ds).      cos   (r,  <//)]  ds  ds\ 

wo  cos  (r,  q)  den  Cosinus  der  Richtung  r  gegen  die 
Richtung  Q  bezeichnet  und  k  eine  Konstante  bedeutet, 
welche  für  das  Web  ersehe  Gesetz  gleich  Null  zu  nehmen 
ist.     Die    sich    hieran    knüpfende    Kontroverse    zwischen 


Zum  dritten  Teil. 


307 


W.  Weber,  C.  Neumann  und  Helmholtz  ist  ziemlich 
gegenstandslos  geworden,  seitdem  die  Maxwell  sehen 
Vorstellungen  über  die  Natur  der  elektrischen  Erschei- 
nungen immer  mehr  Anerkennung  finden.  In  Maxwell s 
Theorie  nämlich  sind  nur  geschlossene  elektrische  Ströme 
möglich,  und  der  Unterschied  des  Helmholtz  sehen 
Potentialausdruckes  von  dem  Web  ersehen  würde  nur  in 
den  Folgerungen  für  nicht  geschlossene  Ströme  bemerk- 
bar werden;  vgl.  auch  die  weiterhin  folgenden  Erörte- 
rungen auf  S.  2i3ff.  des  vorliegenden  Werkes.  Poin- 
care  bestreitet  übrigens  die  von  Helmholtz  gegen  das 
Webersche  Gesetz  erhobenen  Einwürfe  auch  für  offene 
Ströme,  vgl.  dessen  Electricite  et  Optique,  2^^"^®  edition, 
Paris    1901,  p.  266, 

61)  S.  130.  Vgl.  die  beiden  Aufsätze  von  Helm- 
holtz: Über  die  physikalische  Bedeutung  des  Prinzips 
der  kleinsten  Wirkung  (Grelles  Journal,  Bd.  100,  1886) 
und :  Das  Prinzip  der  kleinsten  Wirkung  in  der  Elektro- 
dynamik (Sitzungsberichte  der  Berliner  Akademie,  Mai 
1892;  Wissenschaftliche  Abhandlungen,  Bd.  3,  p.  163, 
476  und  595).  In  der  ersten  Abhandlung  wird  gleich- 
falls die  Schwierigkeit  hervorgehoben,  die  Energie  in  die 
beiden  Glieder  T  und  U  zu  zerlegen,  sobald  ,, verborgene 
Bewegungen*'  vorkommen,  d.  h.  sobald  U  noch  von  den 
Geschwindigkeiten  abhängt.  Die  Ausdehnung  der  Gültig- 
keit des  Hamilton  sehen  Prinzips  auf  nicht  umkehrbare 
Prozesse  (d.  h.  Prozesse,  bei  denen  es  mit  unseren  Mitteln 
nicht  möglich  ist,  ,, ungeordnete  Atombewegungen  wieder 
zu  ordnen",  wenigstens  soweit  die  anorganische  Natur 
in  Betracht  kommt,  wie  W.  Thomson  hinzusetzt)  wird 
nur  angedeutet.  An  mehreren  Stellen  behält  sich  der 
Verfasser  weitere  Ausführungen  für  später  vor;  auch 
haben  ihn  diese  noch  in  den  letzten  Lebenstagen  be- 
schäftigt, sind  aber  nicht  zum  Abschlüsse  gekommen; 
vgl.  das  (von  Wiedemann  verfaßte)  Vorwort  des  dritten 
Bandes  seiner  Wissensch.  Abhandlungen. 

62)  S.  131.  Robert  Mayers  berühmte  Arbeiten 
stammen  aus  dem  Jahre  1842  (Annalen  der  Chemie  und 
Pharmazie,   Bd.  42);    vgl.    dessen  Werk:    Die  Mechanik 

20* 


oQg  Anmerkungen  62 — 65. 

der  Wärme  in  ,, Gesammelte  Schriften",  Stuttgart  1867 
(seitdem  mehrere  Auflagen).  Mayer  stellte  zuerst  die 
Äquivalenz  von  Wärme  und  Arbeit  fest  und  überträgt 
diese  Erkenntnis  (1845)  auf  alle  Naturerscheinungen 
durch  den  Satz  von  der  ,, Unzerstörbarkeit  der  Kraft" 
(d.  i.  der  Arbeit  bez.  der  kinetischen  Energie  in  unserer 
Bezeichnungsweise).  Seine  Resultate  werden  wesentlich 
ergänzt  durch  die  experimentellen  Arbeiten  von  Joule 
(Philosophical  Magazine  1843)  und  die  theoretischen 
von  Helmholt z;  vgl.  oben  die  Anmerkung  57).  Das 
Gl  aus  ins  sehe  Prinzip  erweitert  den  sogenannten  zweiten 
Hauptsatz  der  mechanischen  Wärmetheorie,  nach  wel- 
chem für  jeden  geschlossenen  Kreisprozeß  die  Glei- 
chung 


ß 


r=° 


besteht,  wenn  Q  die  Wärmemenge,  T  die  absolute 
Temperatur  bezeichnet,  zu  der  Ungleichung  (Poggen- 
dorfs  Annalen,  Bd.   125,    1865) 


/f^o. 


wenn  es  sich  um  nicht  umkehrbare  P]gDzesse  handelt, 
woraus  man  dann  folgert,  daß  bei  mangelnder  Wärme- 
zufuhr (d.  i.  konstanter  Energie)  die  Entropie  S  stets 
wächst,  wobei  letztere  nach  Clausius  durch  die  Glei- 
chung dQ  =  T-dS  definiert  wird;  vgl.  z.  B.  W.  Voigt, 
Kompendium  der  theoretischen  Physik,  Bd.  i,  p.  507 ff. 
und  547,  Leipzig  1895.  —  Eine  Geschichte  der  Ent- 
wicklung der  mechanischen  Wärmetheorie  findet  man 
bei  Mach,  Die  Prinzipien  der  Wärmelehre,  Leipzig  18 96. 
63)  S.  132.  Die  zu  fordernde  Einfachheit  ist  be- 
sonders durch  Kirchhoff  am  Beginne  seiner  Vorlesungen 
über  Mechanik  betont:  ,,Als  Aufgabe  der  Mechanik  be- 
zeichnen wir,  die  in  der  Natur  vor  sich  gehenden  Be- 
wegungen vollständig  und  auf.die  einfachste  Weise 
zu  beschreiben"  (vgl.  auch  J.  S.  Mills  Induktive  Logik). 
Diese  Forderung  wird  ergänzt  durch  die  von  Mach  be- 
tonte    Forderung     der    Ökonomie     (Die    ökonomische 


Zum  dritten  und  vierten  Teil. 


309 


Natur  der  physikalischen  Forschung,  1882;  Populäre 
Vorlesungen,  Wien  1896).  —  Unterscheiden  muß  man 
zwischen  der  Einfachheit  der  zur  Beschreibung  dienen- 
den Gesetze  und  der  Einfachheit  der  Naturerscheinungen 
selbst.  Es  können  sehr  ver^vickelte  Erscheinungen  durch- 
schnittlich richtig  durch  sehr  einfache  Gesetze  beherrscht 
werden;  vgl.  unten  S.    147. 

64)  S.  134.  Hat  man  die  in  der  Anmerkung  59) 
besprochenen  3«  —  k  Parameter  qr  eingeführt,  so  wird 
man  bei  vollendet  gedachter  Integration  der  Bewegungs- 
gleichungen 3;z  —  k  Gleichungen  der  Form 

(1)  i^(^i,  ^2,  ^3,  •  •  ^3„_^;  /;   C^,  C;,  •  •  •  C6„_2^)  =  o 

erhalten  (für  /  =  i,  2,  3,  •  •  •  3;^  —  X'),  wo  Q,  C^,  •  •  •  die 
Integrationskonstanten  bezeichnen;  aus  ihnen  kann  man 
die  gr  als  Funktionen  der  Zeit  /  und  der  Konstante  Cr 
berechnen;  man  wird  daraus  die  DifFerentialquotienten 
q'r   berechnen  in   der  Form 

(2)  q'r  =  Orii\   C^,  C2,  .  .  .  .   Cq^_^^); 

aus  diesen  6«  —  2k  Gleichungen  (i)  und  (2)  kann  man 
femer  die  Konstanten  C  durch  die  qr  und  q'r  aus- 
drücken und  hat  dann  6n  —  2  k  Funktionen  der  Para- 
meter und  ihrer  Differentialquotienten ,  welche  konstant 
bleiben.  Diese  Parameter  q  sind  im  Texte  mit  x  be- 
zeichnet. 


Vierter  Teil,   Die  Natur. 

65)  S.  149.  Auf  dieses  Beispiel  wurde  schon  oben 
in  der  Anmerkung  63)  hingewiesen.  Der  Druck  des 
Gases  auf  die  Wände  des  dasselbe  enthaltenden  Gefäßes 
wird  in  der  kinetischen  Gastheorie  durch  die  Stöße  der 
in  allen  Richtungen  unregelmäßig  sich  bewegenden  Mole- 
küle gegen  diese  Wände  erklärt,  und  trotz  der  schein- 
baren Unbestimmtheit  dieser  Vorstellung  führt  die  mathe- 
matische Formulierung  von  Durchschnittswerten   zu    dem 


•>IO  Anmerkungen  65 — 68. 

bekannten  Gesetze  von  Mario tte  und  weiterhin  zu  der 
van  der  Wals  sehen  Verallgemeinerung  desselben.  Es 
kann  hier  auf  die  Lehrbücher  von  O.  E.  Meyer  und 
Clausius  und  die  Vorlesungen  von  Kirchhoff  sowie  auf 
die  betr.  Arbeiten  von  Maxwell  verwiesen  werden,  be- 
sonders aber  auf  die  Thermodynamique  von  Poincare 
(Le^ons  professees  pendant  le  premier  semestre  1888 — 89, 
redigees  par  Blondin,  Paris  1892)  und  Boltzmann: 
Vorlesungen  über  Gastheorie,  Leipzig  1892  —  98.  Das 
Gesetz  der  großen  Zahlen  herrscht  in  diesen  Theorien 
ebenso  wie  in  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  worauf 
die  vielfachen  Anwendungen  der  letzteren  in  der  Gas- 
theorie beruhen;  vgl.  auch  unten  S.  187  und  die  An- 
merkung 87). 

Was  man  freilich  als  einfach  ansieht,  ist  zu  ver- 
schiedenen Epochen  sehr  verschieden  gewesen.  Vor 
Kepler  und  Newton  hielt  man  die  Kreisbewegung 
für  die  einfachste  (und  ,, vollkommenste") ;  deshalb  sollten 
alle  Planetenbewegungen  auf  Kreise  und  deren  Rollen 
aufeinander  zurückgeführt  werden;  und  heute  sagen  wir: 
Was  gibt  es  Einfacheres  als  das  New  ton  sehe  Gesetz? 
Wir  beurteilen  heute  die  Einfachheit  nach  der  Natur 
des  mathematisch  formulierten  Gesetzes,  das  sich  ergibt, 
wenn  man  die  ,, zufälligen"  Konstanten  der  Erscheinung 
(durch  Differentiation  und  Elimination)  herausgeschafft  hat. 

Dieses  und  das  folgende  Kapitel  bildeten  einen  Vor- 
trag (Relations  entre  la  physique  experimentelle  et  la 
physique  mathematique),  den  Poincar6  beim  internatio- 
nalen Physikerkongresse  1900  in  Paris  gehalten  hat; 
vgl.   den  betr.   ,, Rapport",  t.   i,  p.   i. 

66)  S.  150.  Nicht  nur  in  der  Optik,  sondern  in  der 
ganzen  mathematischen  Physik  (schon  beim  Parallelo- 
gramm der  Geschwindigkeiten)  wenden  wir  fortwährend 
dies  Prinzip  der  Superposition  an,  d.  h.  die  Annahme 
des  gleichzeitigen  Bestehens  kleiner  Bewegungen  (wie 
die  Schwingungen  des  Lichtäthers  und  die  Zerlegung 
des  weißen  Lichtes  in  die  einzelnen  Farben  des  Spek- 
trums oder  die  Auflösung  der  Töne  einer  schwingenden 
Saite    in     den    Grundton    und    die     zugehörigen    Ober- 


Zum  \ierten  Teil. 


311 


töne  usf.).  Ausführlich  bespricht  Volkmann  die 
logische  Seite  dieses  Verfahrens:  Erkenntnistheoretische 
Grundzüge  der  Naturwissenschaften  und  ihre  Beziehungen 
zum  geistigen  Leben  der  Gegenwart,  Leipzig  1896, 
p.   69  fr. 

67)  S.  150.  In  der  Tat  hat  man  (besonders  nach 
Lesage)  versucht,  die  Gravitation  aus  den  Stößen  einer 
feinen,  unregelmäßig  verteilten  Materie  zu  erklären;  vgl. 
P.  du  Bois-Reymond,  Die  Unbegreiflichkeit  der  Fern- 
kraft, Naturwissenschaftliche  Rundschau,  Jahrg.  3,  1888; 
Isenkrahe,  Das  Rätsel  von  der  Schwerkraft,  1879,  und 
Maxwells  Artikel  ,, Atoms"  in  der  Encyclopaedia  Britan- 
nica  (Papers,  vol.  II,  p.  473). 

Das  Newtonsche  Gravitationsgesetz  hat  man  zu  er- 
gänzen gesucht,  indem  man  den  Exponenten  2  im  Nenner 
durch   2  -{-  s   ersetzte,    wo  s   eine   kleine  Zahl   ist,    oder 

indem  man  die  Funktion      ^  ^  ^   als    erstes     Glied    einer 

Reihenentwicklung    ansah;    insbesondere    hat    man    die 

Funktion     ^  ^  ^   e     '      in  Betracht    gezogen,    wo    ^    eine 

Konstante  bedeutet;  vgl.  neben  den  in  Anmerkung  55) 
erwähnten  Arbeiten  von  Neu  mann  und  Seeliger  noch: 
Korn,  Über  die  mögliche  Erweiterung  des  Gravitations- 
gesetzes, Sitzungsberichte  d.  k.  bayr.  Akad.  math.  phys. 
Klasse,  Bd.  ;^^,    1903. 

68)  S.  155.  Als  Vektor  bezeichnet  man  eine  geome- 
trische Größe,  zu  deren  vollständiger  Bestimmung  man 
einer  Zahl  und  einer  Richtung  bedarf.  Die  Richtung 
wird  bei  analytischer  Darstellung  durch  ihre  Neigungen 
ccj  ß,  y  gegen  die  drei  Koordinatenachsen  gegeben.  Jede 
Größe,  die  sich  (analog  der  Kraft  oder  Geschwindigkeit) 
in  drei  Komponenten  zerlegen  läßt,  wird  als  Vektor  be- 
zeichnet. Ist  z.  B.  eine  Kraft  oder  Geschwindigkeit  R 
nach  Größe  und  Richtung  gegeben,  so  sind  ihre  Kom- 
ponenten bekanntlich 

X  =  R  cos  or,      F  =  R  cos  ß,     Z  =  R  cos  y. 

In  der  Optik  wird  der  eine  Vektor  durch  die  der  (sehr 


TJ2  Anmerkungen,  68 — 69. 

kleinen)  Verschiebungskomponenten  u,  v,  w  gegeben  (wo- 
bei ein  Punkt  x,  jy,  z  infolge  der  elastischen  Schwingung 
in  einen  Punkt  x  ^  u,  y  -\-  v ,  z  -\-  iv  übergeht,  und 
u,  V,  ZV  Funktionen  von  x,  j',  z  und  von  der  Zeit  /  sind), 
der  andere  durch  die  Komponenten  der  kleinen  Drehung, 
welche  das  Volumelement  erleidet,  nämlich: 

t-l.(^-^^\       ^_i./^_^\        l-_jl/^_^A. 

^~'^\cv      dz)'    '^~'^\dz      dxj'    ^~'na^      dyj' 

vgl.  z.  B.  F.  Neumann,  Vorlesungen  über  die  Theorie 
der  Elastizität,  herausgegeben  von  O.  E.  Meyer,  Leipzig 
1885,  p.  41,  oder  die  betr.  Abschnitte  in  Kirchhoffs 
Mechanik  oder  v.  Helmholtz,  Vorlesungen  über  die 
Mechanik  deformierbarer  Körper.  Die  Vertäu schbarkeit 
der  Größen  ti,  v,  w  mit  den  davon  abgeleiteten  ^,  r},  ^  tritt 
z.  B.  hervor  beim  Vergleiche  der  Fresnelschen  mit  der 
Neumann  sehen  Theorie  der  Reflexion,  vgl.  Poincare, 
Mathematische  Theorie  des  Lichtes,  deutsch  von  Gumlich 
und  Jäger,  Berlin  1894,  p.  255.  Sind  u,  z\  w  in  der 
Hydrodynamik  die  Komponenten  der  Geschwindigkeit 
eines  Flüssigkeitsteilchens,  so  sind  ^,  7^,  ^  die  Kompo- 
nenten einer  unendlich  kleinen  Rotation,  eines  ,, Wirbels" 
(vgl.  z.  B.  Kirchhoff  a.  a.  O.);  dieses  Wort  ist  im  Text 
wegen  der  analytischen  Analogie  auf  die  Erscheinungen 
der  Optik  übertragen. 

69)  S.  156.  Ist  u  die  Temperatur  eines  Körpers 
im  Punkte  x,  y,  z  zur  Zeit  /,  so  ist  u  eine  Funktion  der 
vier  Variabein  x,  y,  z,  t,  welche  der  partiellen  Differen- 
tialgleichung zweiter  Ordnung 


du 

dt 


genügt  (wo  a^  die  Wärmeleitungskonstante  des  Körpers 
bezeichnet)  und  sich  aus  dieser  Differentialgleichung  be- 
stimmt, wenn  man  i.  die  Verteilung  der  Temperatur  im 
Innern  des  Körpers  zur  Anfangszeit  t  =  t^,  2.  die  Ab- 
hängigkeit der  Temperatur  von  der  Zeit  an  der  Ober- 
fläche des  Körpers  oder  das  Gesetz,  nach  welchem  der 
Temperaturfluß  durch  die  Oberfläche  des  Körpers  statt- 


Zum  vierten  Teil. 


313 


findet,  kennt.  Die  Aufstellung  der  Differentialgleichung 
beruht  auf  der  Annahme,  daß  die  Wirkung  der  Wärme 
(bei  festen  Körpern)  nur  in  unendlich  kleiner  Entfernung 
stattfindet  und  daß  diese  Wirkung  eine  ausgleichende 
ist,  indem  der  wärmere  Teil  an  den  kälteren  Wärme 
abgibt,  die  der  Temperaturdifferenz  proportional  ist.  Die 
Theorie  der  ,, Wärmeleitung",  d.  i.  die  Theorie  der  aufge- 
stellten partiellen  Differentialgleichung,  wurde  zuerst  von 
Fourier  entwickelt:  1808  im  Bulletin  des  sciences  de 
la  societe  philomatique  und  181 1  in  den  Memoires  de 
l'Academie  des  sciences,  ausführlicher  1822  in  dem 
Werke  ,, Theorie  an alytique  de  la  chaleur",  das  nicht  nur  für 
die  Theorie  der  Wärme,  sondern  auch  für  die  Entwicklung 
der  Analysis  von  größter  Bedeutung  wurde  und  so  einen 
Markstein  in  der  Geschichte  der  Mathematik  bezeichnet; 
vgl.  die  Darstellungen  dieser  Theorien  bei  Riemann: 
Partielle  Differentialgleichungen  und  deren  Anwendung 
auf  physikalische  Fragen,  Vorlesungen,  herausgegeben  von 
Hattendorff,  2.  Aufl.,  Braunschweig  1872  (seitdem 
durch  H.  Weber  bearbeitet  in  neuer  Auflage),  ferner 
Heine,  Handbuch  der  Kugelfunktionen,  2.  Aufl.,  Bd.  2 
(Anwendungen),  Berlin  1881,  p.  302 ff.  —  Von  beson- 
derer Wichtigkeit  ist  die  Fourier  sehe  Theorie  für  die 
(besonders  durch  Poisson,  F.  Neumann  und  William 
Thomson  geförderte)  Frage  nach  dem  früheren  und 
jetzigen  Zustande  des  Erdinnern  und  nach  dem  Einflüsse 
der  Sonnenwärme  auf  die  Temperatur  im  Innern  der 
Erde  und  der  Veränderung  dieser  letzteren  mit  den 
Jahreszeiten.  Vgl.  darüber  W.  Thomson,  On  the  re- 
duction  of  observations  of  Underground  temperature,  1860, 
und:  On  the  secular  cooling  of  the  earth  1862,  Mathe- 
matical  and  physical  Papers,  vol.  3;  Adolf  Schmidt, 
Theoretische  Verwertung  der  Königsberger  Bodentempera- 
tur-Beobachtungen, Schriften  der  phys. -ökonomischen  Ge- 
sellschaft zu  Königsberg  i.  Pr.,  Jahrg.  ;^2,  i8gi,  und 
Leyst,  Untersuchungen  über  die  Bodentemperatur  zu 
Königsberg  i.  Pr.,  ib.  Jahrg.  ^^,  1892;  P.  Volkmann, 
Beiträge  zur  Wertschätzung  der  Königsberger  Erdthermo- 
meterstation 1872 — 92,  ib.  Jahrg.  34,  1893;  Franz,  Die 


■2  1^  Anmerkungen  69 — 72. 

täglichen    Schwankungen    der  Temperatur   im  Erdboden, 
ib.  Jahrg.  36,    1895. 

Die  Methoden  der  Theorie  der  Wärmeleitung  lassen 
sich  auch  auf  die  Ausbreitung  der  Elektrizität  (vgl. 
W.  Thomson,  Math,  and  phys.  papers,  vol.  2,  p.  41  ff., 
Abhandlungen  über  Telegraphenleitung  1855 — 56;  vgl. 
auch  Poincare,  Electricite  et  Optique,  p.  51  ff.)  und 
nach  Fick  auf  die  Hydrodiffusion  anwenden  (vgl.  H.  F. 
Weber,  Vierteljahrsschrift  der  Züricher  naturforschenden 
Gesellschaft,  Novbr.  1878).  Die  der  Leitung  der  Elektri- 
zität in  Drähten  erfordert  indessen  das  Studium  einer 
komplizierteren  Differentialgleichung;  vgl.  Poincar6, 
Comptes  rendus,  Dezbr.  1893,  und  Picard,  Comptes 
rendus,  Jan.  1894,  u.  Bulletin  de  la  Societ6  math. 
de  France  t.  22,    1894. 

70)  S.  156.  Die  Theorie  der  Elastizität,  insbesondere 
der  elastischen  Schwingungen,  beruht  auf  der  Behandlung 
der  Differentialgleichung 


welche  derjenigen  für  die  Wärmeleitung  ganz  analog 
ist.  Der  Gleichgewichtszustand  eines  gebogenen  elasti- 
schen Stabes  wurde  zuerst  von  de  Saint-Venant  er- 
folgreich behandelt:  Memoire  sur  la  torsion  des  prismes, 
1858,  und  Memoire  sur  la  flexion  des  prismes,  Liouvilles 
Journal,  2^^™^  s6rie,  t.  i,  1856;  vgl.  C leb  seh,  Theorie 
der  Elastizität  fester  Körper,  Leipzig  1862;  Saalschütz, 
Der  belastete  Stab  unter  Einwirkung  einer  seitlichen 
Kraft,  Leipzig  1880;  Poincare,  Le^ons  sur  la  theorie 
de  r61asticit6,  Paris    1892. 

71)  S.  157.  Ein  Vektor  ist  durch  Größe  und  Rich- 
tung bestimmt;  das  Addieren  von  Vektoren  geschieht  wie 
das  Zusammensetzen  von  Kräften,  Geschwindigkeiten 
u.  dergl.,  vgl.  oben  die  Anmerkung  68).  Ein  Skalar 
bezeichnet  im  Gegensatze  zum  Vektor  eine  reine  (reelle, 
positive  oder  negative)  Zahl,  ,,denn  er  kann  stets  ge- 
funden und  in  gewissem  Sinne  konstruiert  werden  durch 
Vergleichung    von     Strecken     auf    einer    und     derselben 


Zum  vierten  Teil. 


315 


Skala  (oder  Achse)",  indem  der  Quotient  zweier  gleich 
gerichteter  Vektoren  einer  solchen  reinen  Zahl  gleich 
ist.  Die  Bezeichnung  ist  der  Theorie  der  Quaternionen 
entnommen,  welche  in  mechanischen  und  physikalischen 
Arbeiten  neuerdings  vielfach  Anwendung  findet  und  mit 
den  geometrischen  bez.  arithmetischen  Theorien  von 
Möbius  und  H.  Graßmann  enge  verwandt  ist.  Die- 
selbe wurde  durch  W.  R.  Hamilton  (seit  1835  in  ver- 
schiedenen Abhandlungen  der  R.  Irish  Academy  und 
den  Lectures  on  Quaternions,  Dublin  1853)  begründet; 
vgl.  dessen  Elemente  der  Quaternionen  (London  1866), 
deutsch  von  P.  Glan,  Bd.  i  u.  2,  Leipzig  1882 — 84; 
ferner  Tait,  Elementary  Treatise  on  Quaternions; 
H.  Hankel,  Theorie  der  komplexen  Zahlensysteme, 
Leipzig  1867;   Gibbs,  Vector  Analysis,  New-York   1902. 

72)  S.  163.  Die  von  Helmholtz  1874  aufgestellte 
Theorie  der  Dispersion  (Wissenschaftliche  Abhandlungen 
Bd.  2,  p.  213)  geht  von  der  Annahme  aus  (im  Anschlüsse 
an  frühere  Arbeiten  von  W.  Sellmeier),  daß  in  den 
Lichtäther  mitschwingende  ponderable  Atome  eingebettet 
sind  und  daß  sich  zwischen  Äther  und  Materie  eine 
Reibungskraft  geltend  macht,  die  der  Bewegung  der 
Atome  entgegenwirkt.  Ausgehend  von  der  elektromagne- 
tischen Lichttheorie  und  der  Annahme  polarisierter  Ionen 
entwickelte  Helmholtz  1892  eine  zweite  Theorie  (Wiss. 
Abhandig.  Bd.  3,  p.  505);  jedem  Ion  entspricht  dabei 
eine  besondere  Linie  (Absorptionsstreifen)  im  Spektrum; 
jedes  Element  wäre  also  mit  so  vielen  Ionen  behaftet, 
wie  die  Anzahl  der  Linien  seines  Spektrums  beträgt. 
Auf  ähnlichen  Vorstellungen  beruhen  die  Theorien  von 
Drude  (Lehrbuch  der  Optik,  Leipzig  1900,  p.  352)  und 
Poincare  (Electricite  et  Optique,  la  lumiere  et  les 
theories  electrodynamiques,   Paris    1901,  p.  500 ff.). 

Von  ganz  anderen  Vorstellungen  ging  W.  Thomson 
(Lord  Kelvin)  aus  (Notes  and  Lectures  on  molecular 
dynamics,  Baltimore  1884),  indem  bei  ihm  alle  Wellen- 
längen, die  den  Linien  eines  Spektrums  entsprechen,  durch 
eine  Gleichung  bestimmt  werden,  deren  Grad  davon 
abhängt,     aus    wie     vielen    konzentrischen    Kugelschalen 


o  j  5  Anmerkungen  72 — 76. 

man  sich  ein  Atom  bestehend  denkt.  Andererseits  habe 
ich  versucht,  das  Auftreten  der  Verschiedenheiten  in 
den  Spektren  verschiedener  Elemente  aus  der  Gestalt 
der  Atome  (die  danach  im  allgemeinen  nicht  kugel- 
förmig zu  denken  sind)  zu  erklären:  Zur  Theorie  der 
Spektrallinien,  Sitzungsberichte  der  math.  phys.  Klasse 
d.  k.  bayr.  Akad.  der  Wissensch.,  Bd.  31,  1901,  und 
Bd.  S3^  1903  (eine  weitere  Fortsetzung  wird  demnächst 
erscheinen);  die  einzelnen  Linien  des  Spektrums  werden 
dabei   durch  transzendente   Gleichungen  bestimmt. 

73)  S.  164.  In  betreff  der  kinetischen  Gastheorie 
vgl.  oben  Anmerkung  65).  Wird  ein  fester  Körper  ge- 
löst, so  werden  seine  Moleküle  durch  eine  gewisse  Ex- 
pansivkraft in  den  mit  Flüssigkeit  gefüllten  Raum  hinein- 
getrieben, in  welchen  sie  unter  einem  gewissen  Drucke, 
dem  ,, osmotischen  Drucke",  gelangen.  Dieser  Druck  ist 
von  der  Natur  des  Lösungsmittels  unabhängig  und  ge- 
horcht den  für  Gase  gültigen  Gesetzen  (nach  van't  Hoff, 
1885;  vgl.  z.  B.  Nernst,  Theoretische  Chemie,  i.  Aufl., 
Stuttgart  1893).  Entsprechendes  gilt  auch  für  ,, feste 
Lösungen"  (z.  B.  Wasserstoff  in  Platin,  Kohlenstoff  in 
Eisen),  vgl.  van't  Hoff,  Zeitschrift  für  physikalische 
Chemie,  Bd.  5,    1890. 

74)  S.  166.  Die  Theorie  der  Elektronen  ist  einer- 
seits mit  Rücksicht  auf  die  Eigenschaften  der  (von  Hittorf 
und  Crookes  erforschten)  Kathodenstrahlen  entstanden, 
andererseits  aus  der  Annahme  von  wandernden  Ionen 
zur  Erklärung  der  elektrolytischen  Vorgänge;  nur  daß 
man  sich  jetzt  diese  elektrischen  Ionen  von  den  wandern- 
den Atomen  losgelöst  denkt  und  dann  Elektronen  nennt. 
Die  Elektrizität  besteht  hiernach  also  aus  Atomen  von 
sehr  geringer  Masse  (vielleicht  aus  den  Uratomen,  aus 
denen  sich  alle  anderen  zusammensetzen).  Diese  Vor- 
stellungen sind  besonders  von  J.  J.  Thomson  (Philo- 
sophical  Magazine,  Serie  5,  vol.  46,  1898),  Lorentz  (La 
th^orie  61ectrodynamique  de  Maxwell  et  son  application 
aux  Corps  mouvants,  Leyde  1892,  und:  Versuch  einer 
Theorie  der  elektrischen  und  optischen  Erscheinungen 
in  bewegten  Körpern,  Leyden  1895)  gefördert;  vgl.  auch 


Zum  vierten  Teil. 


317 


Wiechert,  Die  Theorie  der  Elektrodynamik,  Schriften 
der  physikahsch- ökonomischen  Gesellschaft  zu  Königs- 
berg i.  Pr.,  Jahrg.  i8g6,  und:  Grundlagen  der  Elektro- 
dynamik, Festschrift  zur  Feier  der  Enthüllung  des  Gauß- 
Weber- Denkmals  in  Göttingen,  Leipzig  1899;  sowie  die 
übersichtliche  Darstellung  bei  Kays  er:  Die  Elektronen- 
theorie, akademische  Festrede,  Bonn  1903.  —  Auf 
S.  175 ff.  und  242  des  vorliegenden  Werkes  wird  die 
Lorentzsche  Theorie  nochmals  besprochen. 

75)  S.  166.  Eine  kurze  Übersicht  über  Carnots 
Gedankengang  (Reflexions  sur  la  puissance  motrice  du 
feu,  Paris  1824)  gibt  Gl  aus  ins  in  Abschnitt  III,  §  4, 
Bd.  I  seiner  Mechanischen  Wärmetheorie  (dritte  Aufl. 
1883);  durch  Abänderung  und  Verbesserung  dieses  Ge- 
dankengangs kam  Clausius  zum  sogenannten  zweiten 
Hauptsatze  der  mechanischen  Wärmetheorie;  vgl.  auch 
oben  die  Anmerkung  62). 

Es  sei  erwähnt,  daß  F.  Neumann  die  Grundgedanken 
der  heutigen  Wärmetheorie  schon  vor  1850  in  seinen 
Königsberger  Vorlesungen  entwickelte  (dabei  das  Wort 
,,Arbeitsvorrath"  für  ,, Energie"  gebrauchend);  vgl.  Volk- 
mann, Franz  Neumann,  Ein  Beitrag  zur  Geschichte 
deutscher  Wissenschaft,  Leipzig   1896,  p.  36. 

76)  S.  168.  In  seinen  Prinzipien  der  Mechanik, 
p.  207  ff.,  stellt  sich  Hertz  das  Wirken  von  Kräften 
zwischen  gegebenen  Systemen  durch  das  Bild  von 
,, Koppelungen*'  der  Systeme  untereinander  vor,  die 
dann  die  Bewegung  als  eine  unfreie  erscheinen  lassen.  — 
Diese  Vorstellung  ist  verwandt  mit  der  Konstruktion 
,, dynamischer  Modelle '*  gegebener  materieller  Systeme 
(loco  cit.  p.  197 ff.);  jedes  System  kann  auf  unendlich 
viele  Weisen  durch  solche  Modelle  dargestellt  werden. 
Um  den  Ablauf  der  natürlichen  Bewegung  eines  mate- 
riellen Systems  vorauszusehen,  genügt  die  Kenntnis  eines 
(möglichst  zu  vereinfachenden)  Modells  jenes   Systems. 

Auch  andere  physikalische  Erscheinungen  kann  man 
durch  mechanische  Modelle  veranschaulichen;  vgl.  Boltz- 
manns  Vorlesungen  über  Maxwells  Theorie  der  Elektri- 
zität und  des  Lichtes,   Leipzig  1891/93.   —   So  konstruiert 


T  j  3  Anmerkungen  76 — 80. 

W.  Thomson  ein  gyrostatisches  Modell  des  Lichtäthers, 
um  die  ,,Quasi-Elastizität"  des  letzteren  zu  veranschau- 
lichen (Math.  a.  phys.  Papers,  vol.  3,  p.  466,  1889);  vgl. 
auch  Sommerfeld,  Mechanische  Darstellung  der  elektro- 
magnetischen Erscheinungen  in  ruhenden  Körpern,  Wiede- 
manns  Annalen,  Bd.  46,  1892;  auch  seine  oben  in  An- 
merkung 72)  erwähnte  Konstruktion  der  Atome  aus 
elastisch  verbundenen  konzentrischen  Kugelschalen  will 
Lord  Kelvin  nur  als  ein  ,, rohes"  mechanisches  Modell 
betrachtet  wissen.  —  Zur  Darstellung  thermodynamischer 
Vorgänge  dient  die  Theorie  der  monozyklischen 
Systeme  (d.  h.  Systeme,  in  denen  in  sich  zurücklaufende 
Bewegungen  vorkommen  und  die  in  ihrer  Geschwindig- 
keit nur  von  einem  Parameter  abhängen);  vgl.  Helm- 
holtz,  Wissenschaftl.  Abhandlgn.,  Bd.  3  (1884);  Boltz- 
mann.    Grelles  Journal,   Bd.  98  u.  Bd.   100  (1884 — 85). 

77)  S.  168.  Die  Kinematik  der  Gelenksysteme 
(systemes  articul6s)  ist  von  Königs  besonders  eingehend 
behandelt:  Lec^^ons  de  cinematique,  Paris  1877;  in  Be- 
treff der  Dynamik  der  Gelenksysteme  vgl.  Routh,  Die 
Dynamik  der  Systeme  starrer  Körper,  deutsch  von 
Schöpp,   Bd.  2,  p.  297ff.,  Leipzig  1898. 

78)  S.  169.  Die  W.  Thomson  sehe  Vorstellung  be- 
ruht auf  dem  berühmten  Helmholtz sehen  Satze,  nach 
welchem  Wirbelbewegungen  in  einer  Flüssigkeit  aufein- 
ander anziehende  und  abstoßende  Kräfte  ausüben 
(Wissenschaftl.  Abhandlgn.,  Bd.  i ;  Grelles  Journal,  Bd.  55, 
1858),  und  wonach  ein  ,, Wirbelfaden"  unzerstörbar  ist 
und  sich  in  der  Flüssigkeit,  ohne  zu  zerreißen,  endlos 
fortbewegt  (vgl.  auchz.  B.  Kirchho ff s  Mechanik,  p.  252 ff.; 
J.  J.  Thomson,  On  the  motion  of  vortex  rings,  London 
1883;  und  Poincare,  Th6orie  des  tourbillons,  Paris 
1893),  also  diese  wesentliche  Eigenschaft  der  Unzerstör- 
barkeit mit  der  Materie  teilt.  Nimmt  man  an,  daß  die 
vermeintlichen  materiellen  Atome  aus  solchen  Wirbeln 
(z.  B.  Wirbelringen)  bestehen,  die  sich  im  Lichtäther 
fortbewegen,  so  fällt  die  Schwierigkeit  fort,  die  in  der 
sonst  notwendigen  Annahme  liegt,  daß  sich  materielle 
Atome  im    absolut  starren  Lichtäther   ohne   wesentlichen 


Zum  vierten  Teil. 


319 


Widerstand  fortbewegen;  vgl.  W.  Thomson,  Philoso- 
phical  Magazine,  Juli  1887,  und  Maxwell,  Artikel ,, Atoms" 
in  der  Encyclopaedia  Britannica  (Papers^  vol.  2,  p.  467). 

In  betreff  Riemanns  Ideen  über  die  Natur  der 
Atome  vgl.  die  Veröffentlichung  aus  dessen  Nachlasse 
(p.  503  seiner  Gesammelten  Werke),  sowie  oben  An- 
merkung 52). 

Wiecherts  Anschauung  nähert  sich  derjenigen  von 
W.  Thomson;  nach  ihm  ,,sind  die  Atome  Stellen  ausge- 
zeichneter Beschaffenheit  im  Äther" ,  vgl.  die  in  An- 
merkung 74)  zitierten  Schriften,  in  denen  allerdings  auch 
materielle  Atome  dem  Äther  und  den  elektrischen  Atomen 
gegenübergestellt  werden.  Auch  Larmor  betrachtet 
die  Atome  als  Unstetigkeitspunkte  des  Äthers:  Aether 
and  Matter,  Cambridge  1900,  Kap.  V  u.  VI  und  An- 
hang (und  frühere  Arbeiten  in  den  Proceedings  und  den 
Philosophical  Transactions  der  Royal  Society).  Clifford 
betrachtete  die  Atome  als  Unstetigkeiten  unseres  Raumes, 
in  denen  letzterer  durch  ,, Quellen"  aus  einer  vierten 
Dimension  beeinflußt  wird;  vgl.  Pearson,  Grammar  of 
Science,  p.  270.  —  Vgl.  auch  die  in  Anmerkung  76) 
erwähnten  Modellkonstruktionen. 

79)  S.  171.  Fizeaus  berühmtes  Experiment  stammt 
aus  dem  Jahre  1859:  Annales  de  chimie  et  de  physique, 
Serie  3,  t.  57;  dasselbe  wurde  in  größerem  Maßstabe 
von  Michelson  und  Morley  wiederholt:  American 
Journal  of  science,  serie  3,  vol.  31,  1886.  Spätere  Ver- 
suche von  Fizeau  mit  Glassäulen  ergaben  ein  zweifel- 
haftes Resultat;  vgl.  die  Bemerkung  von  Lorentz  auf 
S.  2   seines  oben  erwähnten  Werkes. 

80)  S.  172.  Einen  Bericht  über  diese  verschiedenen 
Versuche  findet  man  bei  Lorentz  a.  a.  O.,  bei  Lar- 
mor in  dem  zitierten  Werke  und  bei  W.  Wien:  Über 
die  Fragen,  welche  die  translatorische  Bewegung  des 
Lichtäthers  betreffen,  Wiedemanns  Annalen,  Neue  Folge, 
Bd.  65,  1898.  Poincare  begründet  seine  im  Texte 
ausgesprochene  Ansicht  genauer  am  Schlüsse  seines 
Werkes  über  die  Theorie  des  Lichtes  und  im  Kapitel 
VI  u.  VII  des  Werkes:  Electricit6  et  Optique.     Von  der 


0  20  Anmerkungen  8i — 84. 

elastischen  Lichttheorie  ausgehend  hat  Voigt  die  Theorie 
des  Lichtes  für  bewegte  Medien  behandelt:  Göttinger 
Nachrichten    1887. 

81)  S.  176.  Das  Zeemannsche  Phänomen  (vgl. 
K.  Ak.  van  Wetenskaps,  Bd.  5,  i8g6,  Communications 
of  Labor,  of  Physics,  Leyden,  Bd.  29  u.  ^^,  1896,  Philo- 
sophical  Magazine,  serie  5,  vol.  43,  p.  226,  1897)  be- 
steht darin,  daß  eine  Linie  des  Spektrums  (z.  B.  eines 
Elementes)  durch  Einwirkung  eines  Magneten  in  zwei 
oder  mehrere  Linien  zerspalten  wird  (vgl.  z.  B.  die 
eingehende  Untersuchung  des  Quecksilberspektrums  in 
dieser  Richtung  von  Runge  und  Paschen,  Abhand- 
lungen der  Berliner  Akademie,  1902),  Lorentz  hat 
die  Erscheinung  theoretisch  erklärt,  indem  er  von  Ionen 
ausgeht,  die  sich  selbst  wieder  aus  noch  einfacheren 
Gebilden  zusammensetzen;  vgl.  die  Darstellung  bei 
Poincare,  Electricite  et  Optique,  p.  5 44 ff.,  wo  auch 
die  Drehung  der  Polarisationsebene  besprochen  wird. 
Eine  andere  Theorie  des  Zeemann-Effektes  gab  W.  Voigt 
(Wiedemanns  Annalen,  Bd.  67,  68,  69,  und  Annalen  der 
Physik,  Bd.  i  u.  4) ;  nach  ihm  ist  die  Erscheinung  analog 
der  Doppelbrechung  des  Lichtes  in  Kristallen. 

82  )S.  177.  Mac-Cullagh  hatte  gleichzeitig  mit 
F.  Neumann  die  Theorien  der  Optik  aus  der  Annahme 
eines  Mediums  abgeleitet,  dem  überall  gleiche  Dichte, 
in  verschiedenen  Körpern  aber  verschiedene  Elastizität 
zukommt,  so  daß  bei  ihm  (wie  bei  Neumann,  im  Gegen- 
satze zu  Fresnels  Annahme)  die  Schwingung  des  polari- 
sierten Lichtes  senkrecht  zur  Polarisationsebene  statt- 
findet (vgl.  The  collected  works  by  J.  Mac-Cullagh, 
Dublin  und  London  1880,  und  die  Berücksichtigung 
dieser  Theorie  in  Volkmanns  Theorie  des  Lichtes). 
An  diese  Vorstellung  hatte  Larmor  in  dem  oben  zitierten 
Werke  angeknüpft.  Poincare  gibt  eine  eingehende 
Darlegung  seiner  Anschauung  darüber  am  Schlüsse  des 
Werkes:  Electricite  et  Optique. 

83)  S.  178.  Für  die  hier  besprochenen  Anwendungen 
der  Thermodynamik  sei  auf  das  in  Anmerkung  73)  er- 
wähnte Werk  von  N ernst  über  theoretische  (insbesondere 


Zum  vierten  Teil. 


321 


physikalische)  Chemie  verwiesen,  sowie  auf  J.  J.  Thom- 
son, Applications  of  dynamics  to  physics  and  chemistry, 
London  1888,  Kapitel  VII  (Deutsche  Übersetz.,  Leipzig 
1890).  Auf  das  Carnotsche  Prinzip  und  die  Entropie 
wurde  schon  in  Anmerkung  75)  versviesen.  Die  im  Texte 
erwähnte  Hysteresis  ist  eine  mit  der  elastischen  Nach- 
wirkung verwandte  Erscheinung.  Letztere  besteht  darin, 
daß  die  Ruhelage,  die  ein  Körper  nach  einer  elastischen 
Deformation  (z.  B.  ein  tordierter  Draht)  einnimmt  nicht 
allein  von  der  vor  der  Deformation  vorhandenen  Ruhelage 
abhängt,  sondern  auch  von  Deformationen,  die  der 
Körper  etwa  in  weiter  zurückliegenden  Zeiten  einmal 
erlitten  hat;  diese  Erscheinung  ist  besonders  von  Boltz- 
mann  (Wiedemanns  Annalen,  Erg. -Bd.  7,  1876)  und 
Maxwell  studiert;  vgl.  J.  J.  Thomson,  a.  a.  O.  p.  130 
und  Wiechert:  Über  elastische  Nachwirkung,  Inaugural- 
dissertation, Königsberg  1889.  Von  W.  Thomson 
wurde  (Philosophical  Transactions,  vol.  170,  1879)  be- 
merkt, daß  die  wiederholte  Torsion  eines  Drahtes  einen 
ähnlichen  dauernden  Einfluß  auf  die  Magnetisierung  des 
Drahtes  hat;  War  bürg  studierte  umgekehrt  (Berichte  der 
naturforschenden  Gesellschaft  zu  Freiburg  i.  Br.,  Bd.  8, 
1880)  den  Einfluß  wiederholter  Magnetisierungen  auf 
die  Torsion  des  Drahtes.  Über  weitere  Untersuchungen 
betr.  diese  als  Hysteresis  bezeichneten  Erscheinungen 
vgl.  den  Bericht  von  Warburg,  Rapport  presente  au 
Congres  international  de  Physique  a  Paris  1900.  — 
Auch  die  elektrischen  Rückstandserscheinungen  sind  nach 
Maxwell  der  elastischen  Nachwirkung  analog;  vgl.  den 
Bericht  von  Grätz  über  Elektrostatik  etc.  Winkel- 
manns ^Handbuch  der  Physik,   2.  Aufl.  Bd.  4,    1903. 

84)  S.  180.  Die  ungeordneten  Bewegungen  der 
kleinsten  Teile  kann  man  bei  den  Brownschen  „Wimmel- 
bewegungen" der  Beobachtung  unterwerfen;  dieselben 
entstehen  bei  der  Suspendierung  kleinster  Teile  in  Flüssig- 
keiten und  bei  Emulsionen  (vgl.  Arbeiten  von  Stark  in 
Wiedemanns  Annalen,  Bd.  62,  65,  68).  Die  Nichtum- 
kehrbarkeit  gewisser  Erscheinungen  beruht  (vgl.  auch 
oben  Anmerkung  6 1 )  auch   darauf,  daß  wir  nur  imstande 

Poincare,  AVissenscliaft  uud  Hypothese.  21 


■7  22  ABmerkungen  84 — 88. 

sind,  mit  den  Molekülen  in  großen  Massen  zu  experi- 
mentieren, aber  nicht  einzelne  Moleküle  abtrennen  und 
beobachten  können,  also  auf  den  Grenzen,  welche  uns 
bei  Anwendung  experimenteller  Methoden  gesetzt  sind 
(vgl.  J.  J.  Thomson  a.  a.  O.  p.  281).  Um  dies  zu  er- 
läutern, erdachte  Maxwell  (vergl,  dessen  Theory  of 
Heat,  3^^  ed.  p.  308,  1872)  das  Gleichnis  eines  „Dä- 
mons", der  imstande  ist,  die  Moleküle  nach  gewissen 
Gesetzen  zu  sortieren,  selbstverständlich  ohne  an  die 
Existenz  solcher  Dämonen  zu  denken  (wie  ihm  unter- 
gelegt wurde);  vgl.  W.  Thomson,  Populäre  Vorträge  und 
Reden  (Bd.  i,  p.  473   der  deutschen  Ausgabe). 

Handelt  es  sich  um  die  Ausbreitung  kleinster  Teile 
auf  der  Oberfläche  einer  Flüssigkeit  oder  an  der  Grenz- 
fläche zweier  Flüssigkeiten,  so  kommt  für  die  Herstellung 
des  Gleichgewichts  die  Oberflächenspannung  der  Flüssig- 
keiten in  Betracht,  die  ihrerseits  durch  etwaige  elektrische 
Einflüsse  umgeändert  wird.  So  hängen  diese  Unter- 
suchungen auch  mit  der  Kapillaritätstheorie  und  mit  den 
kapillar  -  elektrischen  Phänomenen  zusammen ,  deren 
Theorie  von  Helmholtz  zuerst  entwickelt  wurde  [1879, 
Wiedemanns  Annalen,  Bd.  7,  und  1880,  Bd.  11;  vgl. 
auch  die  Beobachtungen  von  K.  R.  Koch:  Wiedemanns 
Annalen,  Bd.  42,  1891;  Bd.  45,  1892  (mit  Wüllner); 
Bd.  52,  1894]  und  die  neuerdings  durch  Gouy  experi- 
mentell und  theoretisch  weiter  geführt  wurden:  Comptes 
rendus,    1895,    1900  u.    1901. 

85)  S.  180.  Die  Einwirkung  des  Lichtes  auf  den 
elektrischen  Funken  ist  von  Hertz  (Sitzungsberichte  der 
Berliner  Akademie  1887)  festgestellt  worden  und  seit- 
dem besonders  von  Elster  und  Geitel  eingehend 
studiert.  Die  neueren  Beobachtungen  über  strahlende 
Materie  haben  das  Interesse  an  diesen  und  ähnlichen 
Untersuchungen  neu  belebt.  Vgl.  Warburg,  Verhand- 
lungen der  Deutschen  physik.  Gesellschaft,  Jahrg.  2, 
1900. 

86)  S.  181.  Die  Beseitigung  der  Schwierigkeiten, 
welche  der  Fresnelschen  Theorie  der  Reflexion  ent- 
gegenstehen,   durch  Annahme    einer    „Übergangsschicht" 


Zum  vierten  Teil. 


3>23 


bespricht  Poincare  eingehend  in  dem  Werke:  Mathe- 
matische Theorie  des  Lichtes,  p.  247  der  deutschen 
Ausgabe.  Auch  in  der  Neu  mann  sehen  Theorie  er- 
geben sich  bei  der  partiellen  Reflexion  an  durchsichtigen 
Medien  ähnliche  Schwierigkeiten,  die  man  nach  W.  Voigt 
(Wiedemanus  Annalen,  Bd.  22,,  1884,  u.  Bd.  31,  1887) 
auch  durch  Annahme  einer  Übergangsschicht  beseitigen 
kann;  vgl.  p.  3i8f.  in  Volkmanns  mehrfach  erwähnten 
Vorlesungen  über  die  Theorie  des  Lichtes. 

87)  S.  182.  Durch  Verallgemeinerung  des  Mariotte- 
schen Gesetzes  gelang  es  van  der  Wals  zuerst,  den 
Übergang  vom  gasförmigen  Zustande  in  den  flüssigen 
mathematisch  zu  formulieren:  Die  Kontinuität  des  gas- 
förmigen und  flüssigen  Zustandes,  Leipzig  1881  (deutsch 
von  Roth).  In  betreff"  der  theoretischen  Ableitung  seiner 
berühmten  ,, Zustandsgieichung"  vgl.  z.  B.  Boltzmanns 
Vorlesungen  über  Gastheorie,  wo  auch  die  verschiedenen 
Versuche  besprochen  sind,  die  man  gemacht  hat,  um 
durch  Erweiterung  jener  Zustandsgieichung  eine  noch 
bessere  Übereinstimmung  mit  der  Erfahrung  in  allen 
Fällen  zu  sichern.  Die  Arbeiten  von  Andrews  über 
Aggregatzustände  findet  man  in  Philosophical  Trans- 
actions,  vol.  159,  II,  i86g,  vol.  166,  1870  und  vol.  178A, 
1887.  Feste  Lösungen  wurden  schon  oben  in  Anmer- 
kung 73)  erwähnt;  in  betreff  des  Fließens  fester  Körper 
vgl.:  Schwedoff,  La  rigidit6  des  fluides,  und  Spring, 
Propriet^s  des  solides  sous  pression;  diffusion  de  la 
matiere  des  solides;  Rapports  präsentes  au  Congres 
international,  Paris    1900. 

88)  S.  182.  Man  bedient  sich  (nach  Roozeboom, 
vgl.  Nernst,  Theoretische  Chemie,  p.  485)  einer  graphi- 
schen Methode,  um  die  Abhängigkeit  der  Beschaffenheit 
des  Gleichgewichtszustandes  von  den  äußeren  Bedin- 
gungen der  Temperatur  und  des  Druckes  erkennen  zu 
lassen.  Beim  Wasser  geschieht  dies  durch  drei  in  einem 
,, Übergangspunkte"  zusammenlaufende  Kurven;  in  kom- 
plizierteren Fällen  muß  man  (nach  Maxwell  und  Clau- 
sius)  räumliche  Konstruktionen  zu  Hilfe  nehmen;  vgl. 
W.   Voigt,    Theoretische  Physik,    Bd.    i,    p.   576.     AUe 

21* 


■^2A  Anmerkungen  89 — 91. 

diese  Theorien  beruhen  auf  den  fundamentalen  Unter- 
suchungen von  Gibbs  über  die  Theorie  der  Phasen 
[d.  i.  den  räumlich  gesonderten  (festen,  flüssigen  oder 
gasförmigen)  Körpern,  welche  sich  aus  den  zugleich  vor- 
handenen Komponenten  bilden,  d.  h.  aus  den  von- 
einander unabhängigen  chemischen  Bestandteilen  des 
Systems]:  Transactions  of  the  Connecticut  Academy, 
vol.  3,    1876. 

89)  S.  186.  Vgl.  Bertrand,  Calcul  des  probabilit6s, 
Paris  1889,  p.  4ff.;  vgl.  auch  Poincare,  Calcul  des 
probabilites,  Paris  1896,  p.  94f.  Eine  ähnliche  Schwierig- 
keit bietet  sich  bei  dem  folgenden  einfacheren  Probleme : 
Eine  geradlinige  Strecke  Z  ist  in  drei  Teile  A,  B,  C  ge- 
teilt; mit  welcher  Wahrscheinlichkeit  fällt  ein  willkürlich 
auf  der  Strecke  L  gewählter  Punkt  P  in  den  Teil  B? 
Es  zeigt  sich,  daß  die  Antwort  davon  abhängig  ist,  wie 
man  sich  die  Teilung  der  Strecke  sukzessive  ausgeführt 
denkt,  wie  Brunn  näher  ausgeführt  hat  (Sitzungsberichte 
der  philos.-philol.  Klasse  der  k.  bayr.  Akad.  d.  Wiss. 
1892);  es  ist  also  auch  hier  durch  Übereinkommen  eine 
Festsetzung  zu  treffen.  Das  im  Texte  erwähnte  Bertrand- 
sche  Problem  ist  neuerdings  von  de  Monte ssus  ein- 
gehend behandelt  worden  (Nouvelles  Annales  des  mathe- 
matiques,  Serie  4,  t.  3,  1903);  er  findet,  daß  im  allge- 
meinen die  Zahl  der  Lösungen  unendlich  groß  ist,  daß 
sie  erst  bestimmt  wird,  wenn  in  der  Ebene  des  Kreises 
ein  Punkt  gegeben  wird,  durch  den  die  fragliche  Sehne 
gezogen  werden  soll,  und  daß  sie  dann  abhängt  von 
der  Entfernung  dieses  Punktes  vom  Mittelpunkte  des 
Kreises. 

90)  S.  187.  Es  sei  hier  auf  die  in  den  obigen  An- 
merkungen 65)  und  87)  gemachten  Literaturangaben 
verwiesen. 

91)  S.  192.  Der  betreffende  Beschluß  der  Pariser 
Academie  des  Sciences  aus  dem  Jahre  1775  wird  von 
Montucla  in  seiner  Histoire  des  recherches  sur  la  qua- 
drature  du  cercle  (2^^™^  ed.,  Paris  1831,  p.  279)  mitge- 
teilt. Um  die  Unmöglichkeit  der  Quadratur  nachzuweisen, 
mußte    man    zeigen,    daß    die  Ludolphsche  Zahl  tc    eine 


Zum  vierten  Teil.  ^  2  c 

„transzendente"  Zahl  ist,  d.  h.  daß  sie  nicht  Wurzel 
irgendeiner  algebraischen  Gleichung  mit  ganzzahligen 
Koeffizienten  sein  kann  (so  hatte  Leibniz  das  Problem 
formuliert);  vgl.  meinen  Aufsatz  ,,Über  die  Zahl  jr"  in 
Bd.  20  der  Math.  Annalen  (sowie  Sitzungsberichte  d. 
Berliner  Akad.  vom  22.  Juni  1882  und  der  Pariser 
Academie  des  Sciences  vom  10.  Juli  1882).  Der  Beweis 
stützt  sich  auf  die  Untersuchung  Hermites  über  die 
Transzendenz  der  Zahl  e  (der  Basis  der  natürlichen 
Logarithmen);  letztere  hat  Weierstraß  in  übersichtlicherer 
Weise  dargestellt  (Zu  Lindemanns  Abhandlung  „Über 
die  Ludolphsche  Zahl'',  Sitzungsber.  d.  Berliner  Akad. 
vom  22.  Oktbr.  1885)  und  damit  den  Beweis  für  die 
Transzendenz  von  %  vereinfacht;  vgl.  die  Darstellung 
bei  Bachmann,  Vorlesungen  über  die  Natur  der  Irra- 
tionalzahlen, Leipzig  1892.  Hilbert  zeigte,  daß  man 
durch  Betrachtung  eines  gewissen  bestimmten  Integrals 
die  von  Hermite  und  Weierstraß  benutzten  Systeme 
von  Gleichungen  durch  eine  einzige  Gleichung  ersetzen 
kann,  wodurch  eine  wesentliche  Abkürzung  erreicht  wird 
(Göttinger  Nachrichten  1893).  Weitere  Vereinfachungen 
erreichten  Hurwitz  (ibid.)  und  Gordan  (Math.  Annalen, 
Bd.  43,  1893),  indem  sie  zeigten,  daß  die  bisher  be- 
nutzten Integraleigenschaften  der  Exponentialfunktion 
dabei  ganz  vermieden  werden  können  und  man  alles 
aus  der  Definition  dieser  Funktion  durch  eine  Potenz- 
reihe ableiten  kann  (der  Übergang  von  der  Zahl  e  zur 
Zahl  %  geschieht  indessen  immer  in  wesentlich  gleicher 
Weise);  vgl.  die  Darstellung  von  F.  Klein:  Vorträge 
über  ausgewählte  Fragen  der  Elementargeometrie,  Leipzig 
1895,  sowie  H.  Weber  und  J.  Wellstein,  Encyklopädie 
der  Elementarmathematik,  Bd.  i,  1903,  p.  423 ff.  —  In 
betreff  der  Geschichte  des  Problems  sei  auf  obiges  W>rk 
von  Montucla  verwiesen,  ferner  auf  Cantors  Geschichte 
der  Mathematik;  Schubert,  Die  Quadratur  des  Kreises, 
Sammlung  gemeinverständlicher  wissenschaftlicher  Vor- 
träge, herausgeg.  von  Virchow  und  Holtzendorff,  Hamburg 
1889;  Rudio,  Archimedes,  Huyghens,  Lambert,  Legendre, 
vier  Abhandlungen  über  die  Kreismessung,  Leipzig  1892; 


^26  Anmerkungen  92 — 94. 

Pringsheim,  Über  die  ersten  Beweise  der  Irrationalität 
von  e  und  tt,  Sitzungsber.  d.  k.  bayr.  Akad.  d.  Wissensch., 
Bd.  27,  1898;  W.  W.  R.  Ball,  Mathematical  recreations 
and  Problems,   2^^   ed.,  London  1892,  p.   162  ff. 

92)  S.  205.  Das  hier  erwähnte  Beispiel  des  Ecart6- 
spiels  ist  von  Poincare  auf  S.  134  des  in  Anmerkung  89) 
zitierten  Werkes  behandelt;  auf  S.  129 ff.  findet  man  da- 
selbst auch  eine  eingehendere  Darstellung  des  oben  auf 
S.  198  ff.  besprochenen  Problems  über  die  Verteilung 
der  kleinen  Planeten,  ebenso  auf  S.  127 f.  das  Beispiel 
des  Roulettespieles   (vgl.   S.  202   des  obigen  Textes). 

Wegen  der  sich  bietenden  begrifflichen  Schwierig- 
keiten ist  besonders  das  sogenannte  ,, Problem  von 
St.  Petersburg"  bekannt,  das  sich  auf  ein  Glückspiel 
und  auf  die  Theorie  der  mathematischen  Hoffnung  be- 
zieht; vgl.  Poincare,  a.  a.  O.,  S.  41  f.;  Bertrand  a.  a.  O., 
S.  62ff. ;  sowie  Pringsheim  in  den  Anmerkungen  zu 
der  von  ihm  übersetzten  und  neu  herausgegebenen  Ab- 
handlung von  Daniel  Bernoulli:  Versuch  einer  neuen 
Theorie  der  Wertbestimmung  von  Glücksfällen  (Sammlung 
älterer  und  neuerer  staatswissenschaftlicher  Schriften  Nr.  9), 
Leipzig   1896. 

93)  S.  208.  Die  Gleichung  dieser  Gaußschen  Fehler- 
kurve ist  in  rechtwinkligen  Koordinaten 

h         -h'^^'' 

Sie  ist  so  bestimmt,  daß  das  Differential  y,  dx  die  (un- 
endlich kleine)  Wahrscheinlichkeit  dafür  angibt,  daß  ein 
gemachter  Beobachtungsfehler  zwischen  den  Werten  x 
und  X  -f  dx  liegt  (Gauß,  Theoria  combinationis  obser- 
vationum  erroribus  minimis  obnoxiae,  1821,  und  einige 
weitere  Abhandlungen;  vgl.  die  Gesammelten  Werke, 
Bd.  4).  Die  Theorie  der  Fehler  ist  bei  Bertrand  und 
Poincar6  a.  a.  O.  eingehend  besprochen  (von  denen 
ersterer  erhebliche  Einwände  erhebt,  letzterer  dieselben 
aber  möglichst  zu  beseitigen  sucht),  ebenso  in  fast  jedem 
Werke  über  Wahrscheinlichkeitsrechnung;  vgl.  auch 
Helmert,  Die  Ausgleichungsrechnung  nach  der  Methode 


Zum  vierten  Teil. 


Z^l 


der  kleinsten  Quadrate,  Leipzig  1872.  —  Die  Fehler- 
kiirve  hat  die  Gestalt  des  Durchschnittes  einer  Glocke, 
daher  auch  der  Name   ,, Glockenkurve". 

Sieht  man  von  der  Forderung  ab,  daß  positive  und 
negative  Fehler  gleich  leicht  vorkommen,  so  wird  auch 
eine  andere  Kurve  zugrunde  zu  legen  sein,  um  die 
betr.  Wahrscheinlichkeit  zu  definieren;  derartige  allge- 
meinere Voraussetzungen  hat  besonders  Pearson  be- 
nutzt, um  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  auf  gewisse 
Fragen  der  Biologie  betr.  die  Beurteilung  von  Massen- 
erscheinungen und  der  Variation  der  Arten  anzuwenden; 
vgl.  dessen  Abhandlungen  in  den  Philosophical  Trans- 
actions  von  1894  ab,  sowie  für  einen  kurzen  Überblick 
über  diese  Untersuchungen  das  in  Anmerkung  48)  zitierte 
Werk  ,,Grammar  of  Science".  Ähnliche  Gedanken  hatte 
auch  Fe  ohne  r  entwickelt;  vgl.  das  aus  dessen  Nach- 
lasse von  G.  F.  Lipps  herausgegebene  Werk:  Kollektiv- 
maßlehre, Leipzig  1897,  sowie  G.  F.  Lipps:  Die  Theorie 
der  Kollektivgegenstände,  Wundts  Philosophische  Studien, 
Bd.  17,  1902).  Es  handelt  sich  um  die  Frage,  ob  die 
beobachteten  Abweichungen  vom  Durchschnitte  in  Massen- 
erscheinungen auf  Zufall  oder  Gesetz  beruhen,  und  um  Auf- 
stellung von  Zahlen,  die  den  Grad  der  Abv.eichung 
messen,  ferner  (bei  Pearson)  um  die  Untersuchung,  ob 
das  vorliegende  Beobachtungsmaterial  in  sich  homogen 
ist  oder  nicht. 

94)  S.  210.  Die  Notwendigkeit  von  Festsetzungen, 
die  auf  Übereinkommen  beruhen,  wenn  höhere  Probleme 
der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  behandelt  werden  sollen, 
ist  von  Poincare  prinzipiell  betont  und  in  dem  er- 
wähnten Werke  durchgeführt;  nur  die  ,, Wahrscheinlich- 
keit der  Ursachen"  bleibt  stets  unvollkommen  begründet; 
darauf  bezieht  sich  der  Schluß  jenes  Werkes:  ,,Nur  durch 
Hypothesen  dieser  Art  w^rd  man  zu  richtigen  Frage- 
stellungen kommen;  aber  man  muß  nicht  erwarten,  ein 
vollkommen  befriedigendes  Resultat  zu  erreichen.  Gerade 
in  den  Anfangsbetrachtungen  der  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung liegt  ein  innerer  Widerspruch;  und  wenn  ich 
nicht   fürchtete,    ein  zu  oft  gebrauchtes  Wort  zu  wieder- 


o^g  Anmerkungen  95 — 98. 

holen,  würde  ich  sagen,   daß  sie  uns  nur  eines  lehrt:   zu 
erkennen,   daß  wir  nichts  wissen." 

95)  S.  213.  Der  Grund,  weshalb  wir  nicht  imstande 
sind,  zwischen  den  verschiedenen  optischen  Theorien 
(insbesondere  von  Fresnel  und  F.  Neumann)  zu  unter- 
scheiden, wird  am  Schlüsse  des  Werkes  von  Poincare 
über  Lichttheorie  eingehender  besprochen;  vgl.  auch 
oben  Anmerkung  68). 

96)  S.  213.  Das  1873  veröffentlichte  fundamentale 
Werk  Maxwells  (Treatise  on  Electricity  and  Magnetism) 
ist  unter  dem  Titel  „Lehrbuch  der  Elektrizität  und  des 
Magnetismus"  in  deutscher  Übersetzung  (von  Weinstein) 
erschienen,  2  Bände,  Berlin  1883.  Die  zahlreichen  Ab- 
handlungen Maxwells  sind  gesammelt  in  zwei  Bänden 
(Scientific  Papers)  herausgegeben.  Seine  elektromagne- 
tische Theorie  wird  jetzt  besonders  in  der  mathematischen 
Form  angewandt,  die  ihr  durch  Heaviside  (Philoso- 
phical  Magazine,  Serie  5,  vol.  19,  1888)  und  Hertz 
(Göttinger  Nachrichten    1890)  gegeben  wurde. 

97)  S.  215.  Dieser  umgekehrte  Weg  (Ableitung  der 
elektrischen  Erscheinungen  aus  den  optischen)  hat  mich 
seit  langem  beschäftigt;  und  ich  habe  denselben  im  Sommer 
1902  in  meinen  Vorlesungen  so  weit  durchgeführt,  daß 
sich  die  wichtigsten  Resultate  der  Elektrodynamik  und 
des  Magnetismus  ergeben;  ich  hoffe  eine  Darstellung 
dieser  Untersuchungen    bald    veröffentlichen    zu    können. 

Erwähnt  seien  auch  die  Versuche,  die  anziehenden 
und  abstoßenden  Kräfte  der  elektrischen  und  magne- 
tischen Erscheinungen  (auch  der  Gravitation)  dadurch 
zu  erklären,  daß  man  die  Atome  als  pulsierende  Kugeln 
betrachtet,  die  in  einer  vollkommenen  Flüssigkeit  ruhen. 
Die  Versuche  gehen  auf  die  Experimente  von  Bjerknes 
zurück.  Zwei  in  einer  Flüssigkeit  ruhende  pulsierende 
Kugeln  wirken  aufeinander  anziehend  (und  zwar  nach 
dem  Newtonschen  Gesetze),  wenn  die  Pulsationen  mit 
gleichen  Phasen,  abstoßend,  wenn  sie  mit  ungleichen 
Phasen  erfolgen;  es  entsteht  also  ein  Bild  der  elektrischen 
Erscheinungen  mit  Umkehrung  des  Sinnes  der  Kraft- 
wirkung;   vgl.    Bjerknes,    Memoire    sur    le    mouvement 


Zum  vierten  Teil. 


329 


simultan^  de  corps  spheriques  variables  dans  un  fluide 
indefini  et  incompressible ,  Forh.  Vidensk. ,  Christiania 
187 1  und  1875,  Göttinger  Nachrichten  1876,  Comptes 
rendus  187g,  1880  und  1881.  Anwendungen  derartiger 
Vorstellungen  auf  andere  physikalische  und  chemische 
Fragen  gab  Pearson,  Cambridge  Philosophical  Trans- 
actions,  vol.  14,  II,  1885,  und  Proceedings  of  the  London 
Mathematical  Society,  vol.  20.  Die  ,, Umkehrung  des 
Sinnes"  beseitigte  Korn  durch  weitere  Hilfsannahmen 
und  gab  fernere  Ausführungen  und  Anwendungen:  Eine 
Theorie  der  Gravitation  und  der  elektrischen  Erscheinun- 
gen auf  Grundlage  der  Hydrodynamik  (Münchener  Habili- 
tationsschrift), Berlin  1894  (2.  veränderte  Auflage  1896), 
femer:  Ein  Modell  zur  hydrodynamischen  Theorie  der 
Gravitation,  Sitzungsberichte  der  math.-phys.  Klasse  der 
bayr.  Akad.  d.  W.,  Bd.  27,  1897;  ^^nd:  Die  mechanische 
Theorie  der  Reibung  in  kontinuierlichen  Massensystemen, 
Berlin    1 90 1 . 

98)  S.  219.  In  betreflf  der  hier  eingeführten  Para- 
meter q  sei  auf  obige  Anmerkung  59)  verwiesen.  Es 
seien  Xi,  y^,  Zi  die  Koordinaten  der  n  Moleküle  (/ =  i, 
2,  3,  .  .  .  «),  und  führt  man  die  m  Parameter  gk  durch 
die  folgenden  Gleichungen  ein: 

^i  =  9»  (^1 »  ^2 '  •  •  •  ^^0  '      yt  =  "^till '  "  •  ^v)  , 
^i  =  Z^  (^1 '  •  •  •  in^  ' 

SO  geben  die  Funktionen  qp^-,  i/;^-,  y^^  die  ,, Verbindungen 
dieser  Parameter  mit  den  Koordinaten  der  wirklichen 
oder  der  hypothetischen  Moleküle**.  Es  wird  dann 
(wenn  —    U  die  potentielle  Energie  bezeichnet) 

Z7=  F{pc^,y^,  z^;  .  .  .  . ;  .a;«,^«,  Zn)  =  0(g^,  ^2»  •  •  •  ^m) > 
und 

T  =  ^Zm.ix'/-  +y,-2  +  2^2) ,     wo  x\-  =  ^,  etc. , 

dt 
wo    Z.  B. 


-2 -IQ  Anmerkungen  98—102. 


'    ^  '_^        "  _| ^  ZJA  _1_  _|_ 

9^^  —    ^/    —  ;]^     ^/    "T  2^^    df    "T  •  •  •  T 


dt  dq^    dt      ^     dq^    dt  d  q^    dt 

Die  Behauptung  des  Textes  geht  dahin,  daß  man 
die  Funktionen  cpi,  ip{,  y  nicht  weiter  zu  kennen  braucht, 
sondern  nur  die  Funktionen  0  und  ^,  denn  diese  allein 
kommen  in  dem  Prinzipe  der  kleinsten  Wirkung,  bezw. 
im  Hamiltonschen  Prinzipe  vor,  nach  welchem  (vgl. 
oben  Anmerkung   58) 

i 
d  f{T—  U)dt  =  o 
0 

sein  muß,  und  aus  dem  sich  dann  nach  den  Regeln 
der  Variationsrechnung  die  Differentialgleichungen  der 
Dynamik  in  der  sogenannten  ,, zweiten  Lagrangeschen 
Fonn"  ergeben,  nämlich 


dt  d 


ik 


für  k  =  i,  2,  .  .  .  m. 


Diese  Gleichungen  hat  man  zu  integrieren  und  zu  sehen, 
ob  die  Resultate  mit  den  Beobachtungen  übereinstimmen, 
denn  die  Parameter  q^  sollen  ja  so  eingeführt  sein,  daß 
sie  direkt  der  Beobachtung  zugänglich  sind.  Nachträg- 
lich hat  man  die  Funktionen  cp^,  ip^,  y  und  die  Kon- 
stanten vii  so   einzuführen,   daß 

n 

\Z7ni{x'i^  +jlV^  +  z'i'^)  =  W(q^,  .  .  .  qm\   q'i,  -  -  -  q'm) 
t  =  i 

wird,  was  immer  möglich  ist,  da  die  Zahl  n  beliebig 
groß  gewählt  werden  darf.  Die  Zurückführung  der 
potentiellen  auf  kinetische  Energie  ,, ignorierter"  Massen 
ist  besonders  von  J.  J.  Thomson  in  dem  mehrfach  er- 
wähnten Werke  weiter  verfolgt. 

gg)  S.  224.  Maxwell,  Illustrations  of  the  dynamical 
theory  of  gases,  Philosophical  Magazine  1860  (Scient. 
Papers,  vol.  i,  p.  377);  vgl.  dazu:  On  the  dynamical 
theory  of  gases;  Philosophical  Transactions,  vol.  157, 
1866   (Papers,  vol.  2,  p.  26). 


Zum  vierten  Teil. 


33^ 


loo)  S.  227.  Das  Werk  von  Ampere:  Theorie 
mathematique  des  phenomenes  electrodynamiques  uni- 
quement  deduite  de  rexp6rience,  erschien  1823;  eine 
eingehendere  mathematische  Erörterung  findet  man  bei 
Poincar^,  Electricit6  et  Optique,  p.  231  ff.  An  Ampere 
knüpften  W.  Webers  Arbeiten  an  (Elektrodynamische 
Maßbestimmimgen,  erste  Abhandig.,  Königl.  sächsische 
Akademie  d.  W.   1852);  vgl.   oben  Anmerkung  60). 

lOi)  S.  235.  Die  betr.  Arbeit  von  Helmholtz 
wurde  schon  in  Anmerkung  60)  erwähnt.  Für  seine 
Diskussion  mit  Bertrand  vgl.  die  dazu  gehörige  zweite 
Abhandlung  in  Grelles  Journal,  Bd.  75,  1873  (Wissensch. 
Abhandlgn.,  Bd.  i,  p.  646)  und:  Vergleich  des  Ampere- 
schen  und  Neu  mann  sehen  Gesetzes  für  die  elektro- 
dynamischen Kräfte,  Monatsbericht  der  Berliner  Akademie, 
1873  (Wissensch.  Abhandlgn.,  Bd.  i,  p.  688).  —  Das 
hier  erwähnte  Neumann  sehe  Gesetz  bezieht  sich  nicht 
auf  Stromelemente,  sondern  auf  die  gegenseitige  Wirkung 
geschlossener  Ströme:  Die  mathematischen  Gesetze  der 
induzierten  elektrischen  Ströme,  und:  Über  ein  allge- 
meines Prinzip  der  mathematischen  Theorie  induzierter 
elektrischer  Ströme,  Abhandlungen  der  Berliner  Akademie 
1845  und  1847  (vgl.  auch  F.  Neumanns  Vorlesungen 
über  elektrische  Ströme,  herausgegeben  von  Von  derMühl, 
Leipzig  1884).  —  Die  divergierenden  Auffassungen  von 
Helmholtz  und  Bertrand  bespricht  Poincare  a.  a.  O. 
p.  274ff. 

102)  S.  240.  Hertz  zeigte  experimentell,  daß  elek- 
trische Störungen  sich  im  Räume  fortpflanzen  wie  das 
Licht,  indem  sie  auch  den  Brechungsgesetzen  unter- 
worfen und  folgHch  als  Wellenbewegungen  aufzufassen 
sind,  Wiedemanns  Annalen  Serie  2,  Bd.  34,  1888,  und: 
Untersuchungen  über  die  Ausbreitung  der  elektrischen 
Kraft,  Leipzig  1892.  —  Die  Theorie  dieser  seitdem 
vielfach  studierten  elektrischen  Schwingungen  behandelt 
Poincare  zusammenfassend  in  dem  Werke:  Les  oscilla- 
tions  electriques,  Paris  1894;  vgl.  auch  die  Darstellung 
dieser  und  anderer  elektrischer  Erscheinungen  bei  E.  Cohn: 
Das  elektromagnetische  Feld,   Leipzig   1900. 


-3 -2  2  Anmerkungen   103 — 105. 

103)  S.  242.  Die  betr.  Versuche  (mit  einer  ver- 
goldeten, elektrisch  geladenen,  schnell  rotierenden  Ebonit- 
scheibe) wurden  1875  von  Rowland  in  Berlin  ausge- 
führt und  von  Helmholtz  der  Berliner  Akademie  mit- 
geteilt, vgl.  des  letzteren  Wissenschaftliche  Abhandlungen, 
Bd.  I,  p.  791,  und  Poggendorffs  Annalen,  Bd.  158. 
Rowland  wiederholte  seine  Versuche  später  in  Balti- 
more, vgl.  Philosophical  Magazine,  Serie  5,  vol.  27, 
p.  445,  1889.  Himstedt  kam  bei  Wiederholung  der 
Versuche  zu  gleichem  Resultate:  Über  die  elektromagne- 
tische Wirkung  der  elektrischen  Konvektion,  27.  Bericht 
der  Oberhessischen  Ges.  für  Natur-  und  Heilk.,  1889, 
und  Wiedemanns  Annalen,  Bd.  38.  —  Die  Ablenkung 
der  Kathodenstrahlen  (d.  i.  des  negativen  Glimmlichts) 
durch  den  Magneten  beobachtete  Hittorf,  Poggendorffs 
Annalen,  Bd.  136,  1869;  Perrin  stellte  Versuche  an, 
um  die  negativ  elektrische  Natur  der  Kathodenstrahlen 
direkt  nachzuweisen,  Comptes  rendus,  t.  121,  p.  1130,  1895. 

104)  S.  243.  Die  betr.  Arbeiten  von  Lorentz  und 
Wiechert  wurden  in  Anmerkung  74)  erwähnt.  In  be- 
treff der  Aberration  des  Lichtes  und  die  damit  zusammen- 
hängenden Fragen  sei  auf  obige  Anmerkungen  79)  und 
80)  verwiesen,  und  für  das  Zeemannsche  Phänomen 
auf  Anmerkung  81). 

105)  S.  243.  Cremieu  wiederholte  die  Rowland- 
schen  Experimente  in  etwas  anderer  Anordnung  mit 
negativem  Resultate:  Comptes  rendus,  t.  131,  1900, 
p.  578  u.  797.  Spätere  Wiederholung  gab  aber  ein 
positives  Resultat  (Comptes  rendus,  t.  132,    1901,  p.  327). 


Nachtrag. 


Seite  270.  Das  hier  erwähnte  Werk  Huberts  ,, Grund- 
lagen der  Geometrie"  ist  inzwischen  in  zweiter,  erweiterter 
Auflage  erschienen,   Leipzig  1904. 

S.  285.  Die  hier  und  im  folgenden  behandelte  Trans- 
formation ist  von  Darboux  angegeben,  Annales  de  l'ecole 
normale  1864;  vergl.  ferner  dessen  Werk:  Sur  une  classe 
remarquable  de  courbes  et  de  surfaces  algebriques,  Paris 
1873,  p.  123  und  seine  Le^ons  sur  la  theorie  generale 
des  surfaces,  t.  3,  Paris  1894,  p.  493. 

S.  296.  Eine  Ableitung  des  d'Alembertschen  Prin- 
zips und  somit  auch  des  Prinzips  der  virtuellen  Geschwindig- 
keiten aus  den  Newtonschen  Grundgesetzen  gab  ich  in 
den  Sitzungsberichten  der  k.  bayr.  Akademie  d.  Wiss. 
vom  Februar  1904. 

Für  die  Darstellung  der  sogenannten  Prinzipe  der 
Mechanik  in  ihrer  klassischen  Form  sei  noch  verwiesen 
auf  Boltzmanns  Vorlesungen  über  die  Prinzipe  der 
Mechanik,    i.  Teil,   Leipzig  1897. 

S.  315.  Lord  Kelvins  Baltimore  Lectures  on  mole- 
cular  dynamics  and  the  wave  theory  of  light  sind  in- 
zwischen in  neuer  erweiterter  Auflage  erschienen,  London 
1904. 

S.  ^2^.  Die  hier  erwähnten  Arbeiten  von  Andrews 
sind  in  Ostwalds  Klassikerbibliothek  in  deutscher  Über- 
setzung erschienen. 

S.  328 f.  Die  Untersuchungen  von  Bjerknes  sind 
durch  seinen  Sohn  zusammenhängend  dargestellt:  Vor- 
lesungen über  hydrodynamische  Femkräfte  nach  C.  A. 
Bjerknes'  Theorie  von  V.  Bjerknes,  Bd.  i  u.  2,  Leipzig 
1900  u.    1902. 


Register. 


Aberration  des  Lichtes  171,  243, 

319- 

Absoluter  Ort  77,  Raum  8 1 ,  90  f., 
118,  243,  a.  Zeit  93,  286  ff., 
a.  Bewegung   113. 

Addition,  Definition  6  ff . 

Älinlichkeits-Transformation274. 

Äther   169  ff.,  243,   319. 

Akkomodation   der   Augen  5  5  f. 

Allgemeinheit  in  d.  Wahrschein- 
lichkeitsrechnung  189. 

Ampere,    Elektrodynamik    224, 

331. 
Analysis  u.  Anschauung  31. 
Analysis  situs  34,  253. 
Andrade,  Mechanik  92,   109. 
Andrews,  Aggregatzustände  182, 

323,  333- 

Anordnung,  Gesetze  269. 

Anthropomorphismus   109. 

Archimedisches  Axiom  269  f. 

Arithmetik   6,  245. 

Arithmetisierung  d.  Mathematik 
247,  251. 

Assoziatives  Gesetz  7. 

Astronomie  u.  Geometrie  74  ff., 
fingierte  nicht -galileische  A. 
95,  292,  A.  u.  Physik  98,  fin- 
gierte Theorien   116  ff. 

Axiome,  der  Geometrie  36,  im- 
plizite 44  ff.,  269,  Natur  der  A. 
49  ff.,  als  Übereinkommen  u. 
Definitionen  51,  A.  der  Mo- 
nodromie  274. 

Ball,  W.  R.,  Mathematical  re- 
creations  326. 


Baumann,  Raum  u.  Zeit  279. 

Beltrami,  Flächen  konstanter 
Krümmung  41,  255,  Bild  d. 
Lobatschewskyschen  Geometr. 
266,  282. 

Beobachtungsfehler  187,209,326. 

Bernoulli,  D.,  Theorie  d.  Glücks- 
fälle 326. 

Bertrand ,  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung 186,  324,  mathem. 
Hoffnung  326,  Fehlertheorie 
326,Elektrodynamik234f.,33i. 

Beschleunigung  94,  99  ff.,  relative 

114. 

Bewegungen  46,  254,  271,  272, 
bei  mehr  Dimensionen  48,  als 
Gruppen  272,  285,  dargestellt 
durch  Transformationen  284, 
relative  u.  absolute   Ii3ff. 

Bewegungsraum  57. 

Beweis  und  Verifikation  4,  re- 
kurrierender 9. 

Bianchi,  Flächentheorie  268. 

Bilder  physikalisch.  Beziehungen 
162. 

Bjerknes,  Kugeln  in  einer  Flüssig- 
keit 328 f.,  333. 

Bogenelement  einerKurve  49,276. 

du  Bois  Reymond,  kontinuier- 
liche Größen  29,  Fernkraft  3 1 1. 

Boltzmann,  Energie  302,  dyna- 
mische Modelle  317,  mono- 
zyklische Systeme  318,  elasti- 
sche Nachwirkung  321. 

Bolyai,  nichteuklidisch. Geometrie 

254. 
Brechungsindex  f.  Lichtbewegung 


Register. 


335 


in  der  nicliteuklidisclien  Welt 

68f.,  281. 
Brownsche  Bewegungen    iSo. 
Brunn,  Bertrands   Paradoxon  in 

der  Wahrscheinlichkeitsreclin. 

324. 

Cantor,G.,  ZalilbegrifF248,  Punkt- 
mengen 251. 

Carnotsches  Prinzip  166, 178,316. 

Cayley,  A.,  allgemeine  Maß- 
bestimmung 255,  Entwicklung 
d.  neueren  Math.   278. 

Chasles,  Definition  des  Winkels 
256. 

Chemie   180. 

Clausius,  Thermodynamik  131, 
308,  Carnotsches  Prinzip  166, 
317,  Gastheorie  310. 

Clebsch,  über  Plücker  278,  Dar- 
legung seiner  Leistungen  278, 
Elastizität  314. 

Clifford,  Raumformen  276,  Geis- 
tesstofF  296,  Atome  319. 

Cohn,  E.,  Elektromagnetisches 
Feld  331. 

Coppemicus   118,  296  f. 

Coulomb,  elektrische  Fluida  165. 

Cremieu,  elektrische  Konvektion 

243»  332. 
Crookes,  Kathodenstrahlen  241. 

Darboux ,  unstetige  Funktionen 
252,    Transformation  333. 

Dedekind ,  irrationale  Zahlen 
245  ff. ,  in  der  Geometrie  250, 
Erläuterungen  zu  Riemann  25  5 . 

Definitionen  45,   140. 

Deformationen  68. 

Determinismus   134. 

Differentialgleichungen,  der  Be- 
wegungen 94,  290  ff.,  99,  119, 
297,  für  den  Zustand  des  Uni- 
versums 134,  170,  hypothe- 
tischer Fluida  2 17  ff. 

Dilatation  85. 

Dimensionen  der  Kontinua  33  ff., 
des    Raumes    55,   86ff. ,    be- 


stimmt durch  Muskelempfin- 
dungen 57. 

Dirichlet,  Arithmetisierung  der 
Math.  247. 

Dispersion  des  Lichtes   163. 

Distributives  Gesetz  8. 

Dreieck,  Summe  der  Winkel  40. 

Drude,  Theorie  d. Dispersion  315. 

Ebene,  Definition  44. 

Ecartespiel  205. 

Einfachheit  d.  Natur  132,  I47ff., 

158,   182,  207,  309. 
Einheit  der  Natur  147,  174,  180, 

182. 
Elektrische  Ströme,    offene   und 

geschlossene  225  ff. 
Elektrodynamik  305,  328  ff. 
Elektromagnetische  Lichttheorie 

213  ff. 

Elektronen   165,  316,  242  ff. 

Element  eines  Kontinuum  32. 

Elementarerscheinung  156  f. 

Empirismus   s.  Erfahrung. 

Energetisches  System   124  ff. 

Energie  124 ff-,  I33>  167,  178, 
213,  2i7f.,  301  f. 

Entfernung,  Definition  272,  Ab- 
schätzung 56,  u.  gerade  Linie 
76,   gegenseitige  78. 

Entropie  308. 

Erdmann,  B.,  Axiome  der  Geo- 
metrie 257,  279. 

Erfahrung  in  d.  Geometrie  72  ff., 
81,  88. 

Euklid,  Axiome  u.  Postulate  d. 
Geometrie  254,  Definition  d. 
Gleichheit  270  f.,  Definition  der 
Geraden  272,  Postulat  d.  recht. 
Winkel  279. 

Eulerscher    Satz    über  Polyeder 

253- 
Experiment  142  ff.,   153. 

Faden  zur  Darstellung  v.  Kräften 

109  ff. 
Faradays  Experiment    230,  237. 
Fechner,      Psychophysik      248, 


33^ 


Register. 


Zend-Avesta  296,  Kollektiv- 
maßlehre 327. 

Fechnersches  Gesetz  22,  249. 

Fehlertheorie  207  fF.,  326. 

Feld,  magnetisches  238. 

Feste  Körper  52,  u.  Geometrie 
62fF.,  68,  85. 

Festigkeit  d.  Flüssigkeiten   182. 

Fick,  HydrodifFusion  314. 

Fiedler,  W.,  projektive  Koor- 
dinaten 266. 

Fizeau,     Aberration   d.    Lichtes 

171,  319- 
Fläche     konstanter    Krümmung 

41,  255f. 
Flächengleichheit  270. 
Flächensatz   der  Mechanik    120, 

297. 
Fluida,  hypothetische   165,   169, 

217. 
Fortpflanzung   d.    Lichtes    in   d. 

nichteuklid.  Welt  68,  281. 
Foucault,  Pendelversuch   Il6. 
Foucault,  Psychophysik  249. 
Fourier,  Wärmeleitung  313. 
de    Francesco ,    nichteuklidische 

Mechanik  289. 
Franz,  Erdtemperatur  313. 
Fresnel,    Lichttheorie    161,   18 1, 

2iiff.,  312,   322. 
Fricke,  automorphe  Funktionen 

269. 
Fundamentalfläche    des   Raumes 

273. 

Galilei,  Trägheitsprinzip  96,  293. 

Gastheorie  149,  163,  179,  187, 
310. 

Gauß,  nichteukl.  Geometrie  254, 
Krümmungsmaß  268,  Theorie 
d.  Beobachtungsfehler  326. 

Gelenksystem   168,  318. 

Genocchi,     Differentialrechnung 

245. 
Geometrie,  nichteuklidische 3 6  ff., 
254ff.,  Riemannsche  38,  sphä- 
rische 39,    elliptische,    hyper- 
bolische,parabolische256,  273, 


,, vierte"  47,  von  Riemann  48, 
von  Clifford  276,  von  Hilbert 
277,  von  Minkowski  277,  pro- 
jektivische  277,  Gegenstand 
d.  G.   65 ,   u.  Astronomie  74. 

Geometrische  Eigenschaften  d. 
Körper  82. 

Gerade  Linie,  Definition  47,  76, 
270,  erzeugendes  Element  278, 
Bahn  d.   Lichtstrahls   74. 

Geschwindigkeit  94 ff.  G.  der 
Entfernungsänderung  80. 

Gesichtsraum    54. 

Gibbs,  Vektor- Analysis  315, 
Phasen  324. 

Gleichheit  in  d.  Geometrie  28, 
46,  254,  270 f.,  bei  rechten 
Winkeln  279,  bei  Kräften  i  ooff. 

Glockenkurve  208,  327. 

Gmeiner,  Arithmetik  245. 

Gordan,  Zahlen  e  und  n  325. 

Gouy,  Brownsche  Bewegungen 
179. 

Graßm.ann,  H.,  Arithmetik  245, 
Kongruenz  d.  Raumes  in  sich 
279,  Zahlensysteme  315. 

Gravitationsgesetz  150,  299,  306, 
311,  aus  der  Hydrodynamik 
abgeleitet  328. 

Größe,  mathematische  17  ff.,  meß- 
bare 28,  unendlich  kleine  29  f. 

Größensätze,  allgemeine  in  der 
Geometrie  270. 

Größer  u.  kleiner,  Definition  270  f. 

Gruppen  v.  Bewegungen  66,  272, 
von  linearen  Transformationen 
268,  276. 

Gruppenbegriff  als  allgemeine  Er- 
kenntnisform 73. 

Hamilton,  H'sches  Prinzip   125, 

305,  307.  330- 
Hamilton,  W.  R.,  Quaternionen 

315- 
Hankel,  H.,  Zahlensysteme  245, 

Quaternionen  245. 

Heath,  nichteuklidische  Mechanik 

289. 


Register. 


337 


Heaviside,  elektromagnetische 
Grundformeln   328. 

Heine,  Zahlbegriff  251. 

Helmert,  Ausgleichungsrechnung 
326. 

V.  Helmholtz,  Zählen  u.  Messen 
245,  Grundlagen  der  Geo- 
metrie 255,  257,  Bild  d.  nicht- 
euklid.  Geometrie  266,  281, 
Axiom  d.  ^Monodromie  274, 
Erhaltung  d.  Energie  125,  301, 
kleinste  Wirkung  130,  304, 
307,  elektrodynamisches  Gesetz 
231,  234f.,  306,  307,  331, 
Theor.  d.  Dispersion  163,  315, 
Monocyklen  318,  Wirbel  318, 
elektrische  Polarisationen  322. 

Hermite ,    Zahl  e    325. 

Hertz, Mechanik  106, 295,  Energie 
302,  Koppelungen  u.  Modelle 
168,  317,  Licht  u.  Elektrizität 
322,  Elektromagnetismus  328, 
elektrische  Wellen  239,  331, 
Katbodenstrahlen  242. 

Hubert,  D.,  nicht-archimedische 
Geom.  270,  275,  System  von 
geometrischen  Axiomen  275, 
Grundlagen  d.  Geometrie  277, 
333,  Zahlen  e  und  n  325. 

Himstedt,  elektrische  Konvektion 

241,  332. 
Hirth,  G.,  Plastisches  Sehen  280. 
Hittorf,    Kathodenstrahlen    316, 

332. 
Holder,  Anschauen  U.Denken  277, 

mech.  Prinzipien  295,  304. 
van't  Hoff,    Osmotischer   Druck 

316. 
Homogenität    des    Raumes    53, 

65,  279,  der  Materie   160. 
Hurwitz,  Zahlen  e  und  Tt  325. 
Hypothesen  d.  Physik  142  ff.,  152. 
Hysteresis   178,  321. 


Implizite    Voraussetzungen     44, 

269. 
Indifferente  Hypothesen  1 54, 164. 


Induktion,  unipolare  230,  elektro- 
dynamische 234. 

Induktion  und  Verifikation  13  f., 
math.  und  physik.   17,   160, 

Inkommensurable  Zahlen  20  ff., 
in  der  Geometrie  26,  250. 

Integration  in  d.  math.  Physik 
160. 

Interpolation   148,    187. 

Ionen   180,  316. 

Isenkrahe,  Schwerkraft  311. 

Isotropie  des  Raumes  65,  279. 

Jacobi,  Dynamik  303. 

Joule,  Mechanik  d.  Wärme  308. 

Kant,  Axiome  als  synthetische 
Urteile  50. 

Kathodenstrahlen  24 1  f.,  3 1 6, 33 2. 

Kayser,  Elektronen  317. 

Kelvin  s.  W.  Thomson. 

Kepler  296,  310. 

Killing,  nichteuklid.  Geometrie 
256  f.,  Cliffordsche  Raum- 
formen 277 ,  nichteuklidische 
Mechanik  289. 

Kinetische  Energie  125,  301. 

Kinetische  Gastheorie  163,  179, 
187,   191,  219,  330. 

Kirchhoff,  Mechanik    108,   294. 

Klein,  F.,  Funktionsstreifen  249, 
I  Arithmetisierung  252,  Ana- 
I  lysis  Situs  253,  nichteuklid. 
!  Geometrie  2555.,  automorphe 
Funktion  269,  projektive  Geo- 
metrie 266,  Helmholtz'  Grund- 
lagen d.  Geometrie  274, Clifford- 
sche Raumformen  277,  Ver- 
gleichende Betrachtungen  277, 
vierdimension.  Geometrie  278, 
Fragen  d.  Elementargeometrie 

325- 
Koch,   elektr.  Polarisation  322. 
Königs,  Kinematik  318. 
Kollektiverscheinungen  327. 
Kommutatives  Gesetz  8  f. 
Kompensation  v.  Bewegungen  6 1 . 


Poincare,  Wissenschaft  und  H5-pothese. 


22 


338 


Register. 


Kongruenz  des  Raumes  in  sieb 

53»  279. 

Konstante   121,   134,  300. 

Konstruktion,  verallgemeinerter 
Begriffe  15  ff.,  elementare  geo- 
metrische 271. 

Kontinuum,  matliematisclies  18, 
23ff. ,  physikalisclies  22,  87, 
Kontinua  verschiedener  Ord- 
nung 25 ,  von  mehreren  Di- 
mensionen 31  f.,  u.  Raum  35, 

Konvektion,  elektrische  226, 
240ff.,  332. 

Korn,  Gravitation  311,  329. 

Korrigieren  ein.  Ortsveränderung 
60f.,  64,  68. 

Kraft  100,  dargestellt  durch  Me- 
chanismen  168. 

Kronecker,  Zahlbegriff  246. 

Krümmung,  konstante  ein.  Fläche 
41  f. 

Krümmungsmaß  268,  konstantes 
279,  Bestimmung  durch  Stern- 
parallaxen 283. 

Kurve  s.  Linie. 

Lagrange,  virtuelle  Geschwindig- 
keiten 296,  Form  der  dyna- 
mischen Differentialgleichun- 
gen 219,  329. 

Laguerre,  Definition  des  Winkels 
256. 

Larmor,  Äther  u.  Materie  169, 
I76ff.,  319,  320. 

Lebendige  Kraft  301. 

Leibniz,  Addition  3,  unendlich 
kleine  Größen  252,  Analysis 
Situs  253,  Quadraturd.  Kreises 

325- 

Leitung  d.  Elektrizität  226. 

Leyst,  Bodentemperatur  313. 

Licht,  Fortpflanzung  im  nicht- 
euklidischen Raum  68,  L.  u. 
Elektrizität   175,  2 1 1  ff. 

Lie,  Bewegungen  bei  n  Dimen- 
sionen 48,  Grundlagen  d.  Geo- 
metrie u.  Gruppentheorie  272  ff. 

Lindemann,  F.,  nicht-euklidische 


Geometrie  254,  257, 269  f.,  Dar- 
stellung von  X  -\-  iy  in  der 
nichteuklid.  Grenzfläche  265, 
Euklids  Größensätze  270  f., 
Übergang  v.  d.  projektivischen 
zur  metrischen  Geometrie  272, 
Liniengeometrie  277,  Gleich- 
heit rechter  Winkel  279,  Be- 
wegungen 285, nichteuklidische 
Mechanik  289,  Spektrallinien 
316,  Zahl  TT  325,  Ableitung  d. 
elektromagnetisch.  Gesetze  aus 
d.  elastischen  Lichttheorie  328. 

Linie  als  Grenze  eines  Streifens 
26,  249. 

Liniengeometrie  278. 

Lippmann,  absolute  und  relative 
Geschwindigkeit  243. 

Lipps,  G.  F.,  Kollektivgegen- 
stände 327. 

Lipps,  Th.,  Psychologische  Stu- 
dien 279. 

Listing,  Analysis  situs  253. 

Lobatschewsky,  nicht-euklidische 
Geometrie  37 f.,  254,  Zeit  286. 

Lokalisieren   eines  Objektes  59. 

Lorentz,  Optik  u.  Elektrodynamik 
172,  175,316,  Lichtäther  319, 
Zeemann-Effekt243, 320,  Elek- 
tronen 242  ff. 


Mac-Cullagh,  Lichttbeorie  177, 
320. 

Magnetische  Kraft  228  ff. 

Magnetischer  Pol  237. 

Magnetische  Rotation  230,  237, 

Magnetismus   175. 

Mach,  Mechanik  284,  286,  291, 
294,  295,  Ökonomie  der  For- 
schung 308,  Wärmelehre  308. 

Mariottesches  Gesetz  149,  187, 
207,  310. 

Masse  loo,  106. 

Massenmittelpunkt,  Bewegung 
105. 

Materie   169. 

Mathematische  Physik   155 ff. 


Register. 


339 


Mayer,  A.,  Prinzip  d.  kl.  Wirkung 

303. 
Mayer,  R.,  Mechanik  der  Wärme 

131,  307- 
Maxwell,  GasÜieorie  224,  310, 
330,  Atome  311,  319,  Dis- 
persionstheorie  163,  Dämonen 
179,  322,  elastische  Nach- 
wirkung 321,  elektromagne- 
tische Lichttheorie  213,  Elek- 
trizität u.  Magnetismus  328  fF., 

239  ff. 

Mechanik,  klassische  90  fF.,  nicht- 
euklidische 92,  289,  anthropo- 
morphe   108. 

Mechanische  Erklärung  177,  217. 

Mechanismen   168. 

Meyer,  O.  E.,  Gastheorie  310. 

Michelson,  Bewegung  des  Äthers 

319. 
Mill,  Stuart-,  Definition  u.  Axiom 

45- 

Minkowski,  Geometrie  der  Zahlen 
277. 

Molekulare  Hypothesen  212. 

de  Montessus,  Bertrands  Wahr- 
scheinlichkeitsaufgabe 324. 

Montucla,  Quadratur  des  Kreises 

324. 
Morley,  Bewegung  d.  Äthers  319. 
Multiplikation,  Definition  8. 
Muskelempfindungen  57  ff.,  71. 


Nemst,  theoretische  Chemie  320, 

323- 

Neumann ,  C. ,  Riemannsche 
Flächen  252,  Gravitations- 
gesetz 300,  absolute  Bewe- 
gungen 300,  Webersches  Ge- 
setz 305. 

Neumann,  F.,  Elastizität  312, 
Bodentemperatur  313,  Wärme- 
theorie 317,  Lichttheorie  320, 
elektrodynamischesGesetz  331. 

Newton,  Mechanik  90,  Zeitbegriff 
286,  Prinzipia  96,  294,  abso- 
luter   Raum    1 1 5  ff. ,    Gravita- 


tionsgesetz 299,  Newtonsches 

Gesetz    150,  294,  311. 
Nichtarchimedische       Geometrie 

270,  275. 
Nichteuklidische  Geometrie  3 6 ff., 

67ff.,  254ff. 
Nichteuklidische  Welt  66 ff.,  85. 
Nichtumkehrbare  Prozesse  I78ff., 

321. 
Nutzeffekt  der  wissenschaftlichen 

Maschine   146. 

Orientierung,  absolute,  im  Räume 

77- 
Ort,  absoluter,  im  Räume  77. 
Ortsveränderungen     59,    64,    65, 

nichteuldidische  69,  87. 
Osmotischer  Druck  163  f. 
Ostwald,  Energie  302,  316. 
Oszillationen,  elektr.  239,  331. 
d'Ovidio,  Entwicklung  d.  neueren 

Geometrie  278. 

Parallaxe  der  Sterne  282. 

Parallelentheorie  3  8  ff. 

de  Paolis,  projektive  Geometrie 
266. 

Pasch,  Funktionsbegriff  249, 
neuere  Geometrie  269. 

Paschen,  Zeemann-Effekt  320. 

Peano,  Arithmetik  245  f. 

Pearson,  Grammar  of  science 
284,  294,  319,  Massenerschei- 
nungen 327,  pulsierende  Atome 

329. 
Perpetuum  mobile   133. 
Perrin,    Kathodenstrahlen    242, 

332. 
Perspektiven    von   vierdimensio- 

nalen  Körpern  71,  281. 
Phosphoreszenz   180. 
Physikalische  Chemie   182. 
Physikalische  Theorien   161  ff. 
Picard,  Telegraphenleitung  314. 
Planck,  Energie  302. 
Planeten,  Bewegung  97,  294,  der 

fingierten     Astronomie     95  f., 


22- 


340 


Register. 


297  f.,  wahrscheinliclie  Ver- 
teilung d.  kl.  PL    196,  3 26  ff. 

Plücker,  Liniengeometrie  278. 

Poincare,  Anwendung  d.  niclit- 
euklid.  Geom.  in  d.  Funktionen- 
theorie 44,  268f.,  276  f.,  Grund- 
lagen d.  Geometrie  86,  Zeit- 
begriff 91,  286,  Webersches 
Gesetz  305,  Gastheorie  310, 
math.  Physik  310,  Lichttheorie 
312,  328,  Telegraphenleitung 
314,  Elastizität  3 14,  Dispersion 
d.  Lichtes  315,  Wirbel  318, 
Bewegung  des  Lichtäthers  319, 
Zeemann-Effekt  320,  Larmors 
Theorie  3  20,  Übergangsschicht 
323,  Wahrscheinlichkeitsrech- 
nung 324,  326,  wahrschein- 
liche Verteilung  der  Ziffern 
bei  Logarithmen  194,  Mathem. 
Hoffnung  326,  Mechanische 
Erklärungen  221,  Theorien 
von  Ampere  u.  W.  Weber  33 1, 
Kontroverse  zwischen  Bertrand 
u.  Helmholtz  331,  elektrische 
Oszillationen  331. 

Poisson,  Erdtemperatur  317. 

Poncelet,  unendlich  ferne  Ebene 
256. 

Postulate,  Euklids  37,  271,  in 
d.  Physik  138. 

Potential  30 1 ,  elektrodynamisches 
227. 

Potentielle  Energie  125,219,301. 

Pringsheim,  A.,  Zahlbegriff  248, 
252,  Zahlen  e  und  tc  326, 
Problem  von  S.  Petersburg 
326. 

Prinzip,  d.  Trägheit  93  ff.,  119, 
d.  actio  et  reactio  102,  114, 
171,  294,d.relativenBewegung 
113,  1 19,  d.  kleinsten  Wirkung 
125 ff.,  178,  303,  d.  Thermo- 
dynamik 131,  166,  178,  von 
Hamilton  125,  305  ff.,  330,  der 
Energie    167,   178,  213,  217  f. 

Projektivische  Koordinaten  266. 

Prowe,  Coppernicus  297. 


Punkt  32,  87. 
Punktmengen  251. 

Quadrate,  Methode  d.  kleinst.  Q. 

209. 
Quadratur  des  Kreises  192,  3  24  f. 

Querschnitt  32,  252. 

Rationale  Brüche  22,  248. 

Raum  36  ff.,  von  2  Dimensionen 
39,  256,  geometrischer  53,  von 
vier  Dimensionen  278,  in  sich 
kongruent  53,  279,  Zahl  der 
Dimensionen  55  ff.,  71,  abso- 
luter 81,90,  drei  Dimensionen 
86,  Relativität  77,  243. 

Reflexion  des  Lichtes    181. 

Reguläre  Körper  v.  vier  Dimen- 
sionen 281. 

RekurrierendesVerfahrengff.,  50. 

Relativität  des  Raumes  77  f., 
243,  der  Bewegung   113. 

Richtungsgefühl  57. 

Riemann,  unstetige  Funktionen 
252,  Querschnitt  252,  mehr- 
fach ausgedehnte  Mannigfaltig- 
keit 253,  Hypothesen  der  Geo- 
metrie 37,  255,  279,  Bogen- 
element  als  quadratische  Form 
der  Differentiale  276,  Geistes- 
masse296,Elektrodynamik3o6, 
Wärmeleitung  3 13,  Atome  3 19. 

Riemannsche  Flächen  252. 

Riemannsche Geometrie  37, 48  ff., 
2  54  ff. 

Rotation,  absolute  eines  Planeten 
80. 

Roulettespiel  202. 

Routh,  Dynamik  295,  318. 

Rowland,  elektrische  Konvektion 
240,  332. 

Rudio,  Quadratur  d.  Kreises  325. 

Runge,  Zeemann-Effekt  3  20. 

Saalschütz,  belasteter  Stab  314. 
de  Saint- Venant,  gebogener  Stab 

314. 
Scheffers,  Flächentheorie  268. 


Register. 


341 


Schering,  nichteukl.  Mechan.  289. 
Schlaf li,  Analysis  situs  253. 
Schlegel,  reguläre  Körper  v.  vier 

Dimensionen  281. 
Schlußweisen,  mathematische  i  ff., 

rekurrierende  gif. 
Schmidt,  Ad.,    Bodentemperatur 

313- 

Schmitz -Dumont,  Erkenntnis- 
theorie 283. 

Schröder,  E.,  Arithmetik  u.  Al- 
gebra 245. 

Schubert,  Quadratur  des  Kreises 

325- 

Schur,  Archimed,  Axiom  270, 
Gleichheit    von    Figuren   2 70. 

Schwarz,  H.  A. ,  Kurven  ohne 
Tangente  252. 

Schwarzschild ,  Krümmungsmaß 
des  Raumes  283. 

Schwedoff,  Festigkeit  d.  Flüssig- 
keiten 323. 

Schwerpunkt  s.  Massenmittel- 
punkt. 

Seeliger,  Gravitationsgesetz  300. 

Senkrechte  48,  272. 

Skalar   157,  314. 

Sommerfeld ,  elektromagnetische 
Erscheinungen  318. 

Spiegelungen  285. 

Spring,  Diffusion  d.  festen  Körper 

323- 

Stark,  Emulsionen  321. 

V.  Staudt,  proj.  Geometrie  266. 

Stetige  Funktionen  in  der  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung 194  ff. 

Stolz,  Arithmetik  245 f..  Archi- 
medisches Axiom  269. 

Strahl ungserscheinung.  180,  242. 

Stumpf,  Raumvorstellung  279. 

Superposition  kleiner  Bewegun- 
gen  150,  310. 

Systematische  Fehler  208. 

Tait,  theoret.  Phys.  294,  Quater- 

nionen  315. 
Tangente  31. 
Tannery,  Introduction  ä  la  theorie 


des  fonctions  18,  248,  Arith- 
metik 245. 

Tastraum  57,  280. 

Tastsinn  61,  69. 

Temperaturvx'ränderungen ,  be- 
nutzt bei  Vorstellung  der  nicht- 
euklidischen Welt  67. 

Temperaturverteilung   156. 

Thermodynamik  124  ff.,  131,166, 
178,  316. 

Thomae,  J.,  Zahlbegrifl"  248. 

Thomson,  J.  J.,  Elektronen  316, 
Wirbelringe  318,  Physik  und 
Chemie  321,  Ignorierte  Massen 

330- 

Thomson,  W.  (Lord  Kelvin), 
theoret.  Physik  294,  poten- 
tielleEnergie  302,  nichtumkehr- 
bare Prozesse  307,  Erdtempe- 
ratur 3  1 3,  Dispersion  des  Lichts 
3 1  5j  333,^l^odell  desÄthers3 18, 
Atommodell  315,318,  Wirbel- 
atome  169,  318. 

de  Tilly,  philosophie  des  sciences 
286,  nichteuklidische  Mechanik 
289,  Prinzipien  der  Mechanik 
294. 

Trägheit,  Prinzip  d.  T.  93  ff.,  1 17. 

Übergangsschicht  in  der  Licht- 
theorie  181,  323. 

Übereinkommen,  zur  Messung 
von  Strecken  28,  in  Geometrie 
u.  Mechanik  51,  92,  I12,  in 
d.  Physik  138,  in  d.  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung 185  ff., 
205,  211,  327. 

Übersetzung  s.  Wörterbuch. 

Ultraparallel  257. 

Umkehrbare  Erscheinungen  130, 
179. 

Unbegrenzt  u.  unendlich  40,  257. 

Unendlich  ferne  Punkte  256,273, 
285. 

Unendl.  kleine  Größen  29ff.,  252. 

Unipolare  Induktion  230. 

Unsichtbare  Moleküle  98  f. 

Untergruppe  einer  Gruppe  89,285. 


342 


Register. 


Variation  der  Arten  327. 

Vektor   154,  311. 

Verallgemeinerung     14  ff.,   142  ff. 

Veranschaulicliung  d.  nicliteuklid. 
Geometrie  42  f.,  67 ff.,  258 ff. 

Verifikation  u.  Beweis  4,  wieder- 
holte  12,  u.  Induktion   13. 

Veronese,Grundzüge  d. Geometrie 
269. 

Verschiebungsströme  239. 

Vierdimension.Geometrie  71,278. 

Vierdimensionale  Welt  73. 

Voigt,  W.,  Licifttlieorie  320, 
323,Zeemann-Effekt  320,  theor. 
Physik  324. 

Volkmann,  theor.  Physik  294, 
Grundbegriffe  der  Mech.  294, 
295,  Erkenntnistheorie  311, 
Erdthermoraeter  313,  F.  Neu- 
mann 3 17,  Lichttheor.  320, 323. 

Voraussage  V.Erscheinungen  145. 

Vorstellungsraum  53 ff.,  58. 

Voß,  A.,  mechanische  Prinzipien 
286,  294,  295,  296,  302. 

Wärmeleitung   156,  312. 

Wahrscheinlichkeit,  Definition 
184,  Notwendigkeit  einer  Ver- 
einbarung 185,  324,  subjektive 
und  objektive  188,  Grade  der 
Allgemeinheit  189  f.,  W.  d. 
Ursachen  u.  d.  Wirkungen  191, 
204,  207,  W.  in  d.  Mathema- 
tik 192  ff.,  in  d.  Physik  I96ft\, 
beim  Spiele  202  ff. ,  W.  a 
posteriori  und  a  priori  204. 

Wahrscheinlichkeitsrechn.  1 83  ff., 
angewandt  in  der  Biologie  327. 

van  der  Wals,  Zustandsgieichung 

310,  323- 

Warburg,  Hysteresis  321,  Strah- 
lungserscheinungen 322. 

Weber,  H.,  Elementarmathematik 

325- 
Weber,  H.,E.,  psychophys.  Gesetz 
249. 


Weber,  H.F.,  Hydrodiffusion  314. 

Weber,  W.,  Parallelogramm  d. 
Kräfte  296,  elektrodyn.  Grund- 
gesetz  127,  305,  307,  331. 

Weierstraß,  Zahlbegriff  247  f., 
nicht  differenzierbare  Funk- 
tionen 252,  Zahlen^  und  TT  325. 

Wellenbewegungen  2 1 1  ff. 

Wesentliche  Konstante   121. 

Wiechert,  Elektrodynamik  317, 
Äther  und  Materie  169,  319, 
elastische    Nachwirkung    321. 

Wien,  W.,  Beweg,  d.  Äthers  319. 

Winkel,  Definition  256,  273. 

Wirbel,  in  d.  Optik  u.  Hydro- 
dynamik  154,  312. 

Wirkung  u.  Gegenwirkung  102, 
114,  171. 

Wörterbuch  zur  Übersetzung  d. 
Sätze  der  gewöhnlichen  Geo- 
metrie in  solche  d.  nichteukl. 
Geometrie  44,  258 — 268,  der 
letztern  in  solche  der  projek- 
tivischen  Geometrie  269. 

Wundt,  physiolog.  Psychologie 
249,   Logik  279. 

Zähigkeit  der  Flüssigkeiten  178. 

Zahl,  gebrochene  22,  inkommen- 
surable 20  ff.,  250  ff. 

Zahlbegriff  20  ff.,  246  ff.,   251. 

Zeemannsches  Phänomen  176, 
243,  320. 

Zeit,  absolute  91,   286  ff. 

Zentrifugalkräfte   1 1 7. 

Zufällige  Fehler  208. 

Zufällige  Konstante  121,  300,310. 

Zusammensetzung  v.  Kräften  I12. 

Zustand  der  Körper  77,  80  f.,  des 
Universums  134,  eines  Systems 

135,  190. 
Zustandsgieichung   von    van  der 

Wals  323. 
Zustandsveränderungen  59ff.,305, 

182. 
Zwischenmedium  238. 


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Santa  Barbara 


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