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Full text of "W.J.A. Jonckbloet's Geschichte der niederländischen Literatur. Autorisirte deutsche Ausg. von ..."

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W. J. A. JONCKBLOETS 

GESCHICHTE 



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W. J. A. JONCKBLOET'S 



GESCHICHTE 



DER 



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W. J. A. JONCKBLOET'S 



GESCHICHTE 



DER 



NIEDERLÄNDISCHEN LITERATUR. 



W. J. A. JONCKBLOETS 



GESCHICHTE 



DER 



NIEDERLÄNDISCHEN LITERATUR. 



VON VERFASSER UND VERLEGER DES ORIGINAL- 
WERKES AUTORISIRTE DEUTSCHE AUSGABE 



VON 



WILHELM BERG 

IN ROTTERDAM. 



MIT EINEM VORWORT UND EINEM VERZEICHNISS DER 
NIEDERLÄNDISCHEN SCHRIFTSTELLER UND IHRER WERKE. 



VON 



ERNST MARTIN 

PROFESSOR IN FREIBURG I. B. 



ERSTER BAND. 




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LEIPZIG, <r//<.^ 
F. C. W. VOGEL. " ' 

1870. 



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DEM VERFASSER 



HEREN PROF. DR. W. J. A. JONCKBLOET, 

MITGLIED BEB ZWEITEN KAMMER DES GENEBALSTAATEN. 



IN DANKBARER VEREHRUNG 



ROTTEBDAM, FEBRUAR 1870. DER ÜBERSETZER 



Vorwort des Uebersetzers, 



Meine nähere Bekanntschaft mit der niederländischen 
Liiteratur; das Bewusstsein, dass ihre Geschichte in der 
grossen Kette, der Literarhistorien aller Völker germanischen 
Stammes in Deutschland bis jetzt fehlt; die Bedeutung des 
T'orUegenden Werkes bewogen mich zu einer deutschen Ueber- 
setzung desselben. Der Name des Verfassers, sowie des Herrn 
Professor Martin, der das Werk des fremden Gelehrten in 
Deutschland einführt, machen jedes Wort meinerseits über- 
flüssig. 

Nur über den Plan, nach welchem ich die im Buche 
«ehr häufig vorkommenden Proben übersetzte oder in der 
Originalsprache wiedergab, wünschte ich mich zu erklären: 
Im ersten Theile sind diese Proben meistens Auszüge aus 
Protokollen und Chroniken, die hauptsächlich sprachlichen 
Werth haben. Diese liess ich unübersetzt, gab jedoch in nicht 
zu grossen Zwischenräumen einzelne Stücke derselben in 
hochdeutscher Uebersetzung, um durch eine Vergleichung auch 
die Originalproben verständlich zu machen. Man sehe bei- 
spielsweise das Kapitel über die Rederijker. — Da die alten 
Proben in alter Sprache gegeben sind, so machen sie ia 



Till 

ihrer fortlaufenden Folge zugleich den Entwickelungsprozes» 
der niederländischen Sprache einigermassen anschaulich. 

Um aber den während des Druckes der letzten Bogen 
dieses Ersten Theiles von verschiedener Seite an mich ergan- 
genen Wünschen zu entsprechen, werde ich nachträglich in 
einem Anhange zum zweiten Theile die Uebersetzung der nur 
im Original mitgetheilten Stellen hinzufiigen. 

Im zweiten Theile werde ich die meisten Proben in. 
metrischer Uebersetzung geben und nur ein oder zwei Gedichte 
jedes Verfassers in der Originalsprache mittheilen. 

Möge es mir gelingen, durch meine Arbeit in Deutschland 
das Interesse für die verwandte Literatur zu erwecken! 



Rotterdam, im Februar 1870, 



Wilhelm Berg. 



Vorwort. 



Der ehrenvollen Aufforderung Jonckbloets Niederländische 
Literaturgeschichte bei den deutschen Lesern einzuführen, bin 
ich gern nachgekommen. Nicht als wenn ich geglaubt hätte^ 
das Buch in Bezug auf sein Verdienst an sich empfehlen zu 
sollen: einer solchen Empfehlung bedarf es nicht, und wenn 
es ihrer bedürfte, so würde sie von anderer Seite als von mir 
weit berechtigter und wirksamer sein. Aber es schien mir wohl 
der Mühe werth, die deutschen Leser auf die Wichtigkeit hin- 
zuweisen, welche der niederländischen Literatur wegen ihres 
Verhältnisses zu der unsrigen und wegen der zwischen beiden 
mehrfach Statt gefundenen Einwirkungen von unserer Seite 
zuerkannt werden muss. 

Vor Allem möge bemerkt werden, dass die Forschung 
und Darstellung auf beiden Gebieten sich in enger Verbin- 
dung entwickelt hat. Die deutsche Alterthumswissenschaft^ 
die seit Jacob Grimm's Grammatik (1819) ihre Aufgabe als 
die Erkenntniss des nationalen Geisteslebens aller germanischen 
Völker auffasst, hat auch die Denkmäler dieses Geisteslebens 
bei den uns am allernächsten stehenden Niederländern durch- 
forscht. Sie fand hier höchst achtungswerthe Arbeiten der 
Niederländer selbst vor, und ihre neuen Gesichtspunkte wur- 
den von den jüngeren niederländischen Gelehrten aufrichtig 
angenommen und eifrig ausgebildet. Einen persönlichen Ver- 



X Vorwort. 

einigungspunkt bot namentlich die Germanistenversammlung 
zu Frankfurt a. M. 1846. Seitdem hat die niederländische 
Philologie, welcher das Nationalgefuhl ihres heimischen Publi- 
kums bereitwillig entgegenkam und selbst die Staatsunter- 
stützung namentlich in Belgien nicht fehlte, ihre Aufgabe in 
einer Reihe von Werken gefördert, unter denen ausser Jonek- 
bloets mittelniederländischer Literaturgeschichte das nieder- 
ländische und das mittelniederländische Wörterbuch von De 
Vries hervorzuheben sind. InMner aber ist die Verbindung 
mit der deutschen Philologie von niederländischer Seite sorg- 
faltig bewahrt worden, wie auch andererseits die niederländi- 
schen Forschungen nirgends im Auslande solche Theilnahme 
gefunden haben als in Deutschland. 

Allerdings ist die Grundlage zu dieser Verbindung gegeben 
in der nahen Verwandtschaft, in welcher die Niederländer 
namentlich zu den niederdeutschen Bestandtheilen unseres 
Volkes stehen. Diese Verwandtschaft ist bis tief ins Mittel- 
alter hinein als fester Zusammenhang nachzuweisen. Jonckbloet 
fuhrt durchaus überzeugend aus, daqp es deshalb keine alt- 
niederländische Literatur gegeben habe, weil in der althoch- 
deutschen Zeit das Niederländische sich noch nicht wesentlich 
Tom Niederdeutschen getrennt hatte. Dies gilt nicht nur von 
den spärlichen literarischen Denkmälern, sondern auch von 
den Sagen und anderen Volksüberlieferungen, welche wir 
jetzt nur in späterer, veränderter Gestalt aufgezeichnet be- 
sitzen, z. B. der Gudrunsage. Die Abtrennxmg des niederlän- 
dischen Stammes ward hauptsächlich durch seine politische 
Entwickelung bewirkt. Flandern, der ursprüngliche Kern der 
niederländischen Nation, stand politisch nicht unter deutscher, 
sondern unter französischer Oberherrschaft ; und an die durch 
diese Zwischenstellung bedingte eigenthümliche Ausbildung 
des flämischen Wesens schlössen sich bald die Nachbarländer 
im Norden und Osten, zunächst Holland und Brabant an. 
Die eigentliche Entstehung der niederländischen Literatur 



Vorwort. XI 

lässt sich gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts ansetzen. 
Noch kurz zuvor lebt ein Dichter in dem freilich am weitesten 
nach Osten gelegenen Theile der späteren Niederlande, dessen 
rein im heimatlichen Dialekt überliefertes Erstlingswerk 
beiden Literaturen, der niederländischen und der deutschen 
angehört: der Servatius des Heinrich von Veldeke. Denn 
gegenüber der Uebereinstimmung in Namen und sonstigen 
äusseren Umständen haben mir die inneren Gründe, welche 
Jonckbloet S. 90 fg. gegen die Identität des Dichters des 
Servatius mit dem der Eneit ausfährt, nicht ausreichend ge- 
schienen*) Der Servatius wird von Maerlant im Spieghel 
historiael als ein Werk seiner heimischen Literatur und von 
Püterich von Reichertshausen als ein deutsches angeführt. 

Drei Ursachen führten vornehmlich zur Abtrennimg und 
selbständigen Entwickelung der niederländischen Literatur. 
Einmal die Bildung der mittelhochdeutschen Hofsprache, welche 
auch in Niederdeutschland die Dialekte wenigstens aus der 
poetischen Literatur zu verdrängen drohte. Wo nun so viel 
selbständiges Leben in den Dialekten war, dass es durch 
den fremden Einfluss nicht bezwungen wurde, war die natür- 
liche Folge die völlige Trennung und die unabhängige Weiter- 
entwickelung. Zweitens aber war in den Niederlanden wäh- 
rend des zwölften Jahrhunderts eine im übrigen Deutschland 
erst weit später und nie so vollständig eingetretene Erhebung 
der nichtritterlichen Hassen vor sich gegangen. Die Träger 
der mittelniederländischen Literatur sind weit überwiegend 
Bürger, die der mittelhochdeutschen Ritter. Dies ist über- 
haupt der Grundzug der niederländischen Nationalität, dass 



*) Dass der Dichter des Servatius ein Geistlicher und bereits be- 
jahrt gewesen, lässt sich nicht erweisen. Auch Hartmanu von 
Aue dichtete als junger Ritter Legenden und ganz im kirchlichen 
Sinne. Die Sprache der Eneit aber darf nicht in Vergleich kommen, 
da wir dies Gedicht ebenso wie die Lieder Heinrichs nur in halbhoch- 
deutscher Bearbeitung besitzen. Die Frage wird also wenigstens offen 
bleiben müssen. 



XII Vorwort. 

in ihr der Mittelstand vorherrscht; im Mittelalter und in der 
Neuzeit hat die handel- und gewerbetreibende Schicht der 
Bevölkerung in den Niederlanden mehr als irgend anderswo 
den Volkscharakter bestimmt. Wenn dies für die Wohlfahrt, 
Bildung, Freiheit, ja zeitweise selbst für die Macht der Na- 
tion die allergünstigsten Folgen hatte, so war für die Poesie 
der Nachtheil vielleicht grösser als der Vortheil. Daher die 
entschiedene Richtung auf die Wirklichkeit; datier die Absicht 
der Dichter entweder zu lehren oder zu unterhalten, welche 
die Gebiete der Dichtung beschränkt, freilich auf dem ent- 
sprechenden Boden auch Vorzügliches hervorgebracht hat. 
Die dritte, mit den beiden vorigen innig zusammenhängende 
Ursache der selbständigen Entwickelung der niederländischen 
Literatur war ihr enger Anschluss an fremde, gelehrte Vor- 
bilder, erst an die französische, dann an die lateinische Li- 
teratur. Das nordfranzösische , zunächst das picardische Volk 
stand allerdings in vielen innigen Beziehungen zu den deut- 
schen Niederlanden, aus welchen es selbst viele Elemente 
erbalten hatte. Andrerseits wurde die nordfranzösische Li- 
teratur sogar theilweise auf niederländischem Boden ausgebil- 
det. Als sich nun im zwölften Jahrhundert die nordfran- 
zpsische Bildung so glänzend entwickelte, fand sie bei dem 
wohlhabenden Mittelstand des niederländischen Volkes eine 
hingebende Aufnahme, die ihr in den entsprechenden Schich- 
ten des deutschen versagt blieb. Die Sagen von Karl dem 
Grossen, die in Deutschland immer auf die gelehrten und 
höfischen Dichter beschränkt blieben, mochten im niederlän- 
dischen Volke bereits früher verbreitet gewesen sein : ihre 
französischen Bearbeitungen wurden schnell ausserordentlich 
beliebt, während die ursprünglich deutsche Heldensage bald 
so gut wie völlig verschwand. Bemerkenswerth ist ferner, 
wie wenig selbständig die niederländischen Dichter ihre 
französischen Vorbilder behandelten: von der Neugestaltung 
dieser Stoffe, deren die mittelhochdeutsche Dichtung sich ruh- 



Vorwort. XIII 

men kann^ ist hier keine Rede. Nur der Reinaert m^cht eine 
Ausnahme; er ist eine ebenso hohe dichterische Leistung als 
ein echter Ausdruck des niederländischen Geistes. Wie nun 
fiir die ältere mittelniederländische Zeit das französische, so 
ward für die spätere die lateinische Literatur des Mittelalters 
Vorbild und Quelle. In der Neuzeit hat sich dann dieser Ein- 
fluss erst der französischen , dann der lateinischen — diesmal 
der classischen — Literatur wiederholt. 

Während der eigentlichen Blüthezeit der mittelhochdeut- 
schen und der mittelniederländischen Literatur sind die direk- 
ten Beziehungen zwischen beiden sehr gering: es lässt sich 
etwa die niederländische Uebersetzung der Nibelungen anfuh- 
ren. Viele französische Rittergedichte und Legenden sind in 
beiden Literaturen bearbeitet worden ; aber in völliger Unab- 
hängigkeit von einander. Lebendiger wird der geistige Ver- 
kehr erst in der Zeit; da beide Literaturen ihre eigenthüm- 
Hch mittelalterliche Entwickelung abschlössen^ gegen die Mitte 
des vierzehnten Jahrhunderts. Wichtig wird namentlich der 
Zerfall des deutschen Reichs in seine einzelnen Gebiete und 
demgemäss das Wiederaufkommen der Mimdarten neben der 
gemeinsamen Reichssprache. Indem die niederdeutschen Stämme 
wieder ein eigenes literarisches Leben begannen, knüpfte sich 
daran von neuem der Austausch mit dem geistigen Eigenthum . 
der Niederlande. Daher die zahlreichen Uebertragungen nie- 
derländischer Werke in die niederdeutschen Mundarten: die 
1498 erfolgte Abfassung des Reineke steht so ziemlich am 
zeitlichen Ende dieses Verkehrs. Das Volkslied, das im vier- 
zehnten und funfeehnten Jahrhundert überall auftaucht , ver- 
knüpfte beide Nationen noch inniger. Indem es zwischen 
den einzelnen Stämmen hin und her wandernd überall das 
Gewand ihrer Mundart annahm, gehörte es dem oberdeut- 
schen, dem niederdeutschen, dem niederländischen. Volke ge- 
meinsam an. Auch in den höheren Gesellschafts- und Bil- 
dungskreisen stellte sich diese Verbindung zwischen hoch- 



XIV Vorwort. 

deutscher und niederländischer Literatur her. Bereits die 
holländischen Grafen in der ersten Hälfte des vierzehnten 
Jahrhunderts unterhielten unter ihren Sprechern auch Ober- 
deutsche, und es sind uns Gedichte dieser Art überkommen; 
noch mehr war dies der Fall, als bairische Fürsten in Hol- 
land regierten. Andererseits ist die mittelniederländische Li- 
teratur wenigstens in die pfälzischen Bibliotheken des fünf- 
zehnten Jahrhunderts verpflanzt worden. Endlich lässt sich 
dieser Zusammenhang der Niederlande mit Deutschland noch 
in einer Literaturgattung nachweisen, welche freilich an ein 
mehr wissenschaftliches Gebiet anstreift, in den geistHcheü 
Schriften der Mystiker. 

Fnt eine neue, nunmehr völlige, politische und literarische 
Abtrennung der Niederlande entschied jedoch die Vereinigung 
der ihnen zugehörigen Lande unter dem burgundischen Herr- 
scherhause. Durch dieses gewann der französische Einfluss 
wieder völlig das Uebergewicht. Die Rederijker sind nichts 
als Nachahmer der Franzosen. Selbst die Reformation, die 
anfangs in der Lutherischen Gestalt Eingang gefunden hatte, 
wandte sich bald dem französischen Calvinismus zu. Ein 
Beispiel der niederländischen Einwirkung auf Deutschland in 
der Reformationszeit gibt die Fischartische Bearbeitung des 
Bienenkorbs von Marnix. Vorher hatten die Schriften der 
weitergehenden holländischen Sekten, namentlich der Wieder- 
täufer in Deutschland Verbreitung gefunden, waren aber bald 
mit den von ihnen vertretenen Lehren unterdrückt worden. 

Im Gefolge der religiösen Umwälzung, die nirgends so 
harte Kämpfe durchzumachen hatte als gerade in den Nieder- 
landen, bildete sich auch der ganze Charakter des Volkes in 
der schärfsten Weise aus. Die Blüthe Hollands im siebzehn- 
ten Jahrhundert gab sich naturgemäss auch in der Literatur 
kund. Für die neue niederländische Dichtung wurde das 
Vorbild der klassischen Literaturen, deren Studium die hol- 
ländische Philologie damals so tief erfasst und so weit ver- 



Vorwort. XV 

breitet hatte, durchaus massgebend. Unseren heutigen deut- 
schen Anschauungen sagt freilich diese nahe Anlehnung an 
die klassischen Muster weniger zu. Wir wünschen — denn 
in diesem Punkte hat die Lehre unserer romantischen Schule 
den Sieg davon getragen — wir wünschen in allen National- 
literaturen das eigenthümliche Wesen der Völker wiederzu- 
erkennen^ und es fehlt allerdings auch in der holländischen 
Literatur jener Zeit, namentUch auf dem Gebiete des Lustr 
Spiels, nicht an dessen Aeusserungen. Im siebzehnten Jahr* 
hundert aber fand auch die tragische Bühne Hollands in 
Niederdeutschland willige Zuschauer: man weiss, dass hollän- 
dische Schauspielertruppen in den Hansestädten spielten. Auf 
die gleichzeitige deutsche Literatur, welche ebenfalls den 
Mustern des klassischen Alterthums und ihren italienischen 
und französischen Nachahmungen sich anzuschliessen suchte^ 
scheint jedoch, die holländische Blüthezeit nur geringen Ein- 
fluss gehabt zu haben; vielleicht deshalb weil die Träger der 
neuen Richtung in der deutschen Literatur dem entlegensten 
Osten, Schlesien angehörten. 

Während Holland im siebzehnten Jahrhundert blühte^ 
war dies für Deutschland die Zeit des tiefsten Elends. Als 
im achtzehnten sich die deutsche Dichtung von neuem erhob — 
später als die der anderen Völker der Neuzeit, aber auch mit 
dem kühnsten Fluge — da fand sie in Holland eine wesent- 
lich verschiedene Nation vor, die an unserem Aufschwünge 
nicht Theil nahm, wenn sie auch die Grösse imserer Dichter 
und Denker willig anerkannte. Wie innig die Niederländer 
in unserem Jahrhundert sich mit der neuen deutschen Bildung 
vertraut gemacht haben, wird man am besten an den nieder- 
ländischen Schriftstellern unserer Zeit erkennen. Denn diese 
haben gerade eine Gattung wirkHch zur Meisterschaft aus- 
gebildet, die dem Volkscharakter in der That auch am näch- 
sten liegt^ die treue Wiedergabe des wirklichen Lebens. Die 
humoristische Färbung, die bei den Holländern, die sentimen- 



XVI Vorwoöt. 

talC; die bei den Belgien) vorherrscht, verdunkeln nicht die 
Wahrheit des Hintergrundes. Die Werke dieser Art, die 
Novellen Hildebrands u. a. sind in Deutschland nicht entfernt 
nach ihrer Bedeutung gewürdigt; besser kennt man die 
Romane von Conscience. 

In diesen ebenso anziehenden als lehrreichen Lebensbil- 
dern tritt die Gesinnung der Niederländer gegen unser deut- 
sches Wesen klarer und wahrer hervor, als in Schilderungen, 
die ausdrücklich für deutsche Leser bestimmt sind: solche 
Schilderungen werden selbst unwillkürlich sich durch Rück- 
sichten verschiedener Art beeinflussen lassen. Nähere Kennt- 
niss aber wird, so hoffen wir, auch zu innigerer Befreundung 
fuhren, wie sie zwischen zwei so nahverwandten Völkern das 
natürliche Verhältniss ist. 

Freiburg i. B., im Januar 1870. 



Ernst Martin. 



Einleitung" 



1. Die Geschichte eines Volkes umfasst das Bild seiner 
Entstehung und Entwicklung, seines ganzen Lebens : nicht nur 
seiner Staatsformen und politischen Schicksale , sondern auch 
seines Gemüths- und Geisteslebens; wie sich dasselbe in seinen 
gesellschaftlichen Eigenartigkeiten, in seiner ReHgion, in sei- 
nen Sitten und Gewohnheiten, in den Erzeugnissen seiner Wis- 
senschaft und Kunst äussert. 

Der menschliche Geist macht sich den Ueberblick über 
das Ganze leicht, indem er dasselbe in Abtheilungen und Un- 
terabtheilungen zerlegt, von denen jede einzeln behandelt wer- 
den kann, wenn dabei nur der Zusammenhang mit dem Gan- 
zen nicht aus dem Auge verloren wird. 

Wir wollen uns hier hauptsächUch mit jenen Erscheinun- 
gen in der Entwickelungsgeschichte des niederländischen Vol- 
kes beschäftigen , welche ' in seiner Literatur zu Tage tre- 
ten, und zwar in demTheile seiner Literatur, welcher die- 
sen Namen im engern Sinne trägt, imd sich, mit Ausschliessung 
von rein wissenschaftlichen Lehrsätzen oder Betrachtungen, 
nur im Gebiete der Kunst bewegt. 

Also die Geschichte der niederländischen Li- 
teratur, zu der wir nicht nur die Poesie rechnen, sondern 
auch die Schriftwerke in Prosa, insofern sie etwas Anderem, 
als dem NützlichkeitsbegrüF huldigen , und nach der Verwirk- 
lichung des Schönen streben. 

Haben wir so mit wenigen Linien unseren Gegenstand in 
Beziehung auf seinen allgemeinen Inhalt abgegrenzt, so müssen 
wir dasselbe auch im Hinblick auf das Sprachgebiet thim. 

Der niederländischen Literatur dient zum Ausdruck na- 
türlich die niederländische Sprache. Indess, in Folge von be- 
sonderen Umständen, hat auch hier zuweilen die Poesie sich 
eines fremden Gewandes bedient; und niederländische Dichter 
haben auf niederländischem Boden nicht selten in fremder 
Sprache gesungen. Ln Mittelalter, zumal in Flandern, in der fran- 
zösischen und lateinischen, und nach der Renaissance haupt-^ 
sächlich in Holland in letzterer Sprache. 

Jonckbloet^s Geschichte der Niederländischen Literatur. Band I. 1 



2 Einleitung. 

Die lateinischen Gedichte aus dem letztgenannten Zeit- 
abschnitt gehören nicht hierher: ihre Würdigung findet 
den geeigneten Platz in einer Geschichte der alten Literatm*. 
Hingegen müssen wu* unser Augenmerk auf die Gedichte rich- 
ten, welche die Geistlichkeit vom zehnten bis zwölften Jahr- 
hundert in der Kirchensprache schrieb, da sie in einem sehr 
engen Verbände mit der eigentlichen Natiopalliteratur »tehen. 
Die französische Poesie, die im zwölften Jahrhundert am Hof 
der vlämischen Grafen blühte, weil in diesen Kreisen die fremdlän- 
dische Bildung weiter vorausgeschritten war, als am Hof ihrer 
französischen Lehnsherren — auch diese Poesie dürfen wir nicht 
unbeachtet lassen, weil sie sehr grossen Einfluss auf die vlä- 
mische Dichtkunst ausgeübt hat ; ihre ausfuhrliche Behandlung 
gehört jedoch in eine Geschichte der französischen Literatur. 

2. Die Geschichte kann nicht mit einem willkührlich ge- 
wählten Zeitpunkt beginnen; Alles steht im Zusammenhang. 
In der Vergangenheit ruht das Heute, im Heute das 
Zukünftige. Will man also eine klare Vorstellung von 
folgerechter Geistesentwickelung geben, bei welcher das Wie 
und Warum der einander folgenden, aber auch unter einan- 
der zusammenhängenden Zustände nicht aus dem Auge ver- 
loren wird, so muss man so weit als möglich zurückgehen: 
bis zu den ältesten Erscheinungen eigenartiger, selbstständiger 
Nationalentwickelung im Gebiet der Sprache und Literatur. 

Aber jedes Volk hängt eng zusanunen mit der Geschichte 
seines Stammes, und auch diese Anknüpfungspunkte darf man 
nicht ausser Augen lassen. Darum beginnen wir die Geschichte 
unserer Literatur schon mit Hinweisung auf die ältesten Spu- 
ren der Dichtkunst bei den Germanen, woraus sich seit der 
Zeit der Völkerwanderung die historische Volkspoesie ent- 
wickelthat, und an welche sich wiederum unser mittelalterliches' 
Ritterepos anschliesst. 

So weit wir auch zurückgeheji, um einen natürlichen Aus- 
gangspunkt zu finden, so kann unsere Aufgabe doch erst dann 
erfüllt sein, wenn wir die .literarische Entwickelung des nie- 
derländischen Volkes bis zur gegenwärtigen Zeit gezeichnet 
haben. Dann erst wird uns ein helles Bild von der literari- 
schen Eigenartigkeit, der ästhetischen Empfänglichkeit und 
Kraft dieses Volkes vor die Augen treten, und das auf die- 
sem Wege erlangte Bild wird uns ein zuverlässiger Finger- 
zeig flir die Zukunft sein. 



Einleitung. 3 

Das weite Feld, das sich unserer Wanderung öffnet, zer- 
fallt natürlich in Unterabtheilungen, welche den Ueberblick 
•erleichtem. 

Wie sich im Gebiet der Politik die -mittelalterliche Ge- 
schichte durch Geist und Charakter vor der Geschichte des 
sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, und diese sich wieder 
vor der der späteren Zeit auszeichnet, so ist es auch mit der 
Oeschichte unserer Literatur. 

Daher giebt es drei natürliche Abtheilungen, welche — 
weil Nichts in Sprüngen geht — durch Uebergangsperioden 
mit einander verbunden sind. So entsteht folgende Eintheilung : 

I. Das Mittelalter, von 1200—1450. 

n. Die Rederijkers, von 1450—1600. 
in. Die Republik der VereinigtenNiederlande, vonl600 — 1700. 
rV. Die Poetischen Vereine, von 1700—1800. 

V. Die Neue Zeit, von 1800 bis auf unsere Tage. 

3. Man wundert sich vielleicht, dass unsere Literatur erst 
iingeföhr im dreizehnten Jahrhundert anfangt, und bei uns nicht, 
in Uebereinstimmung mit dem Vorgange anderer Länder, der 
mittelniederländischen Periode die altniederländische vorangeht. 

Es ist wahr, in Deutschland wird sowohl die Geschichte 
-der Sprache, als auch die der Literatur in drei Perioden ein- 
getheilt: In die Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsche. Wenn 
es nun beim ersten Blick befremdet, dass bei uns diese drei 
Eintheilungen nicht Statt finden, so wird bei näherer Unter- 
suchung die Befremdung bald aufhören. 

Das Althochdeutsche umfasst ungefähr den Zeitraum von 
700 — 1150. Wenn wir nun behaupten, dass dieser Zeit keine 
Periode des Altniederländischen entspricht, so will das nicht 
bloss sagen, dass aus diesem Zeitraum kein niederländi- 
scher Sprachrest, kein Schriftdenkmal bis auf uns gekom- 
men oder bewahrt geblieben ist: sondern, dass selbst Keines 
zu Stande kommen konnte, weil niemals Altniederländisch 
geschrieben oder, gesprochen wurde. 

In diesem Zeitabschnitt machten sicher die Einwohner 
jener Gegenden eben so viel Gebrauch von ihrem Sprachver- 
mögen, als in der übrigen Welt ; und es ist nicht abzuläugnen, 
dass auch damals in den „flachen Ländern am Meere^' Schrift- 
denkmäler entstanden sind; aber weder jene Sprache, noch 
jene Gedichte können aus einem anderen, als geographischen 



4 Einleitung. 

Standpunkte, also nicht in sprachlicher Beziehung, auf den 
Namen Niederländisch Anspruch machen. 

Ich weiss wohl, dass dieser Annahme widersprochen wird, 
aber ein entscheidender Beweis für das Gegentheil ist meines 
Wissens niemals geliefert worden. ^) 

*) Wir besitzen zwei Sprachdenkmäler, die, wie es scheint, in den 
südlichen Niederlanden geschrieben sind, und deren Ursprung vor der 
Zeit des Mittelniederländischen zu suchen ist: Ich meine das Ludwigs- 
lied von 881 (worüber später ausführlich) und die Fnterlinearversion der 
Psalmen, gemeiniglich unter dem Namen „Wachtendoncksche Psal- 
men" bekannt. Beide Stücke bestätigen meine Meinung. Ich nehme 
an, dass das Ludwigslied, wie es wohl am Wahrscheinlichsten ist, 
auf niederländischem Boden entstand. Ist aber die darin vorkommende 
Sprache Niederländisch ? Ganz und gar nicht ; es ist Fränkisch , Hoch- 
deutsch, mit einzelnen niederdeutschen Worten oder Wendungen vermischt. 

Wagte man auch nicht, dieses Gedicht für uns in Anspruch zuneh- 
men , so war das doch mit den Psalmen etwas Anderes ; diese wollte 
man unserem Sprachgebiete annectiren. Dr. L. A. te Winkel hat noch un- 
längst in der Akademie der Wissenschaften für diese Behauptung eine 
Lanze gebrochen ; aber ich kann nicht zugeben, dass er bewiesen habe, 
die Sprache jener Psalmen sei specifisch Niederländisch. Seine Ab- 
handlung ist in die Berichte der Akademie, Abtheilung für Literatur; 
X, S. 315 u. flg. aufgenommen. Er glaubte seine Aufgabe durch den 
Beweis zu lösen, „die Sprache der Psalmen sei weder Sächsisch, noch 
Niederrheinisch; sie enthalte mehrere specifisch niederländische Worte und 
trüge die Spuren der Eigenthümlichkeiten, welche das spätere Niederlän- 
dische kennzeichnen ; und wenn er endlich die Grundlosigkeit mehrerer Ein- 
würfe darlege, die man leicht aufgeben könne oder schon aufgegeben habe," 

Ich will nur bei den Hauptpunkten seines Vortrages stehen bleiben. 

Er beweist, dass die Psalmen der sächsischen -a- und -ja-De- 
clination der Masculina nicht folgen: dort bildet sich im Plural der 
Nom. und Acc. auf oa und joa, hier auf a. Das ist jedoch nicht speci- 
fisch Niederländisch: auch das Althochdeutsche hat das a. 

Im sächsischen Verbum endigt die dritte Person des Singular auf d: 
in den Psalmen auf t. Wieder wie im Althochdeutschen. Im Sächsischen 
sind die drei Personen des Plurals gleichlautend; im Präsens ist der 
Ausgang — ad, im Präterit — un ; nicht so in den Psalmen. Da endet 
die erste Person des Präsens auf n, die zweite auf t, die dritte auf nt, 
also wieder gleich mit dem Althochdeutschen ; denn wenn die erste Per- 
son dort auf amea endigt, so geht es in am und schon im neun- 
ten Jahrhundert in an über (Grimm, Gramm. I, 856). Und was das 
Präterit betrifft;, so endet die erste .und dritte Person ebenso wie im 
Sächsischen auf ww; von der zweiten giebt es keine Beispiele. 

„Das Angeführte beweist hinlänglich ," sagt Dr. te W. , „dass der 
Mechanismus der Sprache in den Psalmen ein anderer ist, als im Alt- 
sächsischen (S. 326).^^ Es ist wahr, man findet eine Vermischung des 
Hoch- und Niederdeutschen, aber ist es deshalb schon Niederländisch? 



Einleitung. 5 

Eine eigene Sprache und eine eigene Literatur sind die 
Folgen einer selbstständigen, eigenartigen, nationalen Entwicke- 
lung, welche einem Volke den besonderen, charakteristischen 
Stempel aufdrückt, der es von anderen Völkern unterscheidet^ 
und dieser Stempel fehlte in den Jahrhunderten, von welchen 
wir hier sprechen, der Bevölkerung in jenem Theile des 
westlichen Deutschland's, der seitdem Niederland geworden ist. 

Vom achten bis zum zwölften Jahrhundert waren unsere 
Voreltern nach Sprache, Sitten, Einrichtungen und G-ewohn- 
heiten noch Hoch- aber zumal Niederdeutsche. Es wurden 
verschiedene Dialekte gesprochen, die zuweilen mehr hoch-, 
zuweilen mehr niederdeutsche Färbung trugen, je nachdem 
das fränkische oder sächsische Element darin vorherrschte. 
Die Dialekte verschmolzen mit der Zeit, und bildeten sich zu 
«iner eigenen Sprache aus : zuerst in der Provinz, welphe den 
anderen an Civilisation und Entwickelung voraus war und 



Ferner Jsemerkt der Verfasser, „dass in den Psalmen noch viele der 
Diphthongen ei und uo zu finden sind , die im sächsischen Dialekt in e 
und 6 übergehen; und dass das eigenthümliche sächsische Wort hebhan 
oder hevan , für Himmel nicht darin vorkommt , aber wohl verschiedene 
Male himil.^^ Ich erwiedere hierauf, dass 6 älter und regelmässiger 
und dass uo im Althochdeutschen ein jüngerer Laut ist (Grrimm I' 110). 
Sowohl hierin, als in dem Laut ei stimmen die Psalmen wieder mit dem 
Althochdeutschen überein. Und was himü betriflPt, ist das nicht auch 
ein sächsisches Wort? In dem Heljand kommt himiloriki zu wiederhol- 
ten Malen vor. 

Auch finden wir daselbst Worte, die einmal dem hochdeutschen, 
dann wieder dem niederdeutschen Consonantensysteme folgen, z. B. 
et, cß, aber auch te und ti-^ cende und tende'^ heceihnedo und 
feikon^ u. s. w. Dr. te W. schreibt diess bloss auf Rechnung des 
Copisten; aber ist das wohl anzunehmen? Derartige Schwankungen kom- 
men stets bei den althochdeutschen Schriftstellern (Isidor und Tatian) 
vor, die nach Grimm (Greschichte der deutschen Sprache, Seite 547) 
auf dem linken Rheinufer übersetzt wurden. (Veigl. auch S. 424^ 

Und was die Pronomina betrifft, die nach Dr. te. W. „sehr deutlich 
€cht niederländisch** sind (S. 328) — sie sind eben so echt Sächsisch. 
Was hingegen sig betrifft, das findet man nicht in dem Heliand; es 
kommt aber auch nicht im Mittelniederländischen vor. 

Fasse ich Alles zusammen, so komme ich zu dem Resultat, dass 
die Psalmen ein Gemisch von hoch- und niederdeutschen Sprachformen 
bieten, die zusammen einen eigenartigen Dialekt bilden; einen Dialekt, 
der gewiss in vielen Hinsichten das Vlämische oder Niederländische vor» 
bereitet, aber doch auf den Namen eines selbstständigen Niederlän- 
disch in sprachwissenschaftlichem Sinne keinen Anspruch hat. 



6 Einleitung. 

von ihr aus ging die Sprache und die darin verfassten Schrif- 
ten in die anderen Landschaften über. 

Die Grafschaft Flandern war, durch ein glückliches^ 
Zusammentreffen von Umständen begünstigt, den übrigen nie- 
derländischen Provinzen in Entwickelung und Bildung voraus. 
Dazu trug die Lage am Meer nicht wenig bei, aber eben so 
auch die Beziehungen, in denen es sowohl zu Deutschland , ala 
auch zu Frankreich stand. 

Schon zu den Römerzeiten kannte man die Bildung auf 
diesem glücklichen Fleck Erde. Die Moriner ernteten die Früchte 
des Verkehrs, den ihnen Portusitius, woselbst man sich nach 
Britannien einschiflfte, brachte; die Atrebatenser waren schon 
durch ihren Landbau, ihre Industrie und ihren Handel mit 
Rom berühmt. 

Die Bevölkerung vermischte sich nun im vierten und 
fünften Jahrhundert mit anderen Stämmen, theils Sueven^ 
aber meistens Sachsen, die sich zumal im gegenwärtigen West- 
flandern niederliessen. Daher stammt der Namelitt US saxoni- 
c u m , daher wurde Hülst noch im vierzehnten Jahrhunderte S a x - 
Haven genannt. Dieses sächsische Element wurde noch ver- 
mehrt, als, ungefähr um's Jahr 795, Karl der Grosse Tausende 
von Sachsen nach Flandern überfülirte. Es war also kein 
Wunder, dass dort im neunten und zehnten Jahrhundert haupt- 
sächlich Sächsisch, d. h. Niederdeutsch gesprochen wurde. 

Wenn man nun nachgeht, dass die Bildung des Althoch- 
deutschen zum Mittelhochdeutschen sich erst mit der Mitte 
des zwölften Jahrhunderts vollzog, so wird man es wohl für 
natürlich halten , dass der Uebergang von (Alt -) Niederdeutsch 
zu (Mittel-) Niederländisch nicht viel weniger Zeit erforderte. 

4. Dass diese Veränderung hauptsächlich im elften Jahr- 
hunderte vor sich ging, kann kaum bezweifelt werden. Aus 
jener Zeit datirt sich die grosse Entwickelung der vlämischen 
Städte, deren Einwohner — die Freien sowohl, als die Un- 
freien — sich durch Handel und Betriebsamkeit auszeichneten. 
Nur aus dieser Entwickelung ist es zu erklären, dass schon 
in der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts die vlämischen 
Städte ein so grosses Gewicht in die politische Wagschale legten. 

Schon im Jahre 1127, bei dem Morde Graf KarFs des 
Guten, als ein Nachfolger für ihn gewählt werden musste,. 
zeigt sich der Einfluss der Städte. Sie nehmen lebhaften An- 
theil an der Wahl eines neuen Landesherrn. Zu gleicher 
Zeit erwerben sie Freiheiten, die in den Verordnungen aus- 



Einleitung. 7 

fuhrlich beschrieben werden, und bald wird ihre Macht so 
gross, dass ihre Stimme sowohl bei Fragen ausländischer, als 
inländischer Politik entscheidend wird. 

Die schnelle und beispiellose Entwickelung mancher Plätze, 
die ein Jahrhundert früher kaum von einiger Bedeutung waren, 
ist, WarnkönigsUrtheil zufolge, ein in der Geschichte einzig 
dastehendes Beispiel, dessen wahre Ursachen zu ergründen 
gewiss Yom höchsten Interesse wäre. Aber es ist nicht leicht, 
diesen Vorgang zu erklären, und eben so wenig: wie die vlä- 
mischen Städte ohne heftigen Kampf mit ihren Fürsten sich 
zu beinahe unabhängigen Corporatiqnen erhoben haben. 

Mag aber auch, die Lösung dieser Frage in all ihren Be- 
sonderheiten schwierig sein, so kann man aus dem Factum 
selbst doch wohl schliessen, dass eigenartige, vlämische Ent- 
wickelung, Bildung einer engeren Nationalität, und also ge- 
wiss auch das Erblühen einer eigenen Sprache, die etwas An- 
deres und mehr war als ein blosser Dialekt des Niederdeut- 
sehen, gerade in diesem Jahrhunderte stattfand. 

Als die Umwandelung entschieden war, hatte sich auch 
der vlämisch - sächsisch - fränkische Dialekt ganz von dem nie- 
derdeutschen Mutterstamme losgelösst, und sich zu einer 
selbstständigen Sprache entwickelt, die bald einer blühenden 
Literatur zum Ausdruck diente. * 

Diese Sprache und Literatur trägt den Namen Mittel- 
Niederländisch. 

5. Aus dem Vorhergehenden sieht man schon, dass das 
Niederländische eine eigene Sprache ist, und nicht, wie bei 
unseren überrheinischen Nachbarn oft behauptet wird, eine 
der vielen Dialektsprachen des Plattdeutschen. Eine kurze 
Genealogie unserer Sprache möge diess deutlich machen. 

Auf den Hochebenen nördlich vom Kaspischen Meere 
lebte in uralten Zeiten ein Volksstamm der kaukasischen 
Race, der sich von dort aus sowohl nach dem fernen Osten, 
als nach Westen ausbreitete. Der ursprüngliche Sprachstamm 
theilte sich in Dialekte, aus welchen sich später, unter dem 
Einiluss verschiedener Umstände, unter einander verwandte 
Sprachzweige entwickelt haben. 

Da im Osten sich das gemeinschaftliche Sprachgebiet bis 
Indien, ja, noch weiter hinaus erstreckt, während nach Westen 
zu die Germanen es am Weitesten ausgebreitet haben, so nennt 
man den allgemeinen Sprachstamm, zu welchem alle Zweige 
gehören, Lido-Germanisch. 



8 Einleitung. 

In Asien gehören dazu 1) die indische Familie, deren 
ältester und reinster Vertreter das Sanskrit ist. 2) die arische 
Familie, welche das Alt- und Neupersisch umfasst. 

In Europa rechnet man dazu 1) die griechisch-lateinische 
Familie, mit den daraus hervorgegangenen Zweigen der neu- 
lateinischen Sprachen, der italienischen, spanischen, portugie- 
sischen, französischen und romanischen (in den Donaufür- 
stenthümern und in Graubündten) ; 2) die celtische Familie; 
3) die germanische Familie und 4) die slavische Familie, deren 
Hauptsprachen Russisch, Polnisch und Böhmisch sind. 

Dass die Sprachstämme und die daraus entsprungenen 
Sprachen (zumal die sogenannten secundären) nach so viel 
Jahrhunderten, und unter dem Einfluss von Boden, Klima 
und Geschichte, solche Veränderungen erlitten haben, dass 
für den oberflächlichen Beobachter die Verwandtschaft nicht 
mehr ins Auge springt, ist nicht zu verwundern. 

Indessen hat Eifer und rastlos fortgesetzte Untersuchung 
bei vielen dieser Veränderungen nachgewiesen, dass, und 
wie sie, festen Gesetzen folgend, vor sich gingen; diess hat 
natürlich ein früher* unbekanntes Licht im Gebiete des ver- 
gleichenden Sprachstudiums verbreitet, und der wilden Phan- 
tasie mancher Etymologen Fesseln angelegt. 

Was die germanische Sprachfamilie betriflft, so hat man 
für die Forschungen in derselben zumeist dem ausgezeichneten 
deutschen Gelehrten Jakob Grimmzu danken. Er ent- 
deckte das wichtige Gesetz der Lautverschiebung, bei welcher 
wir einen Augenblick verweilen müssen. 

6. Die Sprache ist der durch articulirte Laute hervor- 
gebrachte Ausdruck alles dessen, was in des Menschen Innern — 
um mich einer allgemein gebrauchten Bezeichnung zu bedie- 
nen — was in seinem Kopf und Herzen vorgeht. Im Allge- 
meinen kann man hinzufugen, dass die Vocale der Ausdruck 
des Gefühls, die Consonanten die Dolmetscher des regelnden 
Verstandes sind. 

Dass die Letzteren sowohl aus diesem Grimde, als auch 
wegen ihrer längeren Dauer, den wichtigsten Theil der Sprache 
ausmachen, bedarf keines Beweises. 

Die eigentlichen Mitlaute sind die stummen Consonanten 
(mutae), welche nach den Sprachorganen, welche bei ihrem 
Aussprechen hauptsächlich thätig sind, in Lippen-, Kehl-, und 
Zungenlaute eingetheilt werden; und die wiederum nach der 



Einleitung. 9 

Anstrengung, mit der sie hervorgebracht werden, in weiche 
(mediae), harte (tenues) und aspirirte (aspiratae) zerfallen. 

Vergleicht man nun das ältest bekannte Deutsch, das 
öothische, mit einer der älteren verwandten Sprachen, z. B. 
mit dem Griechischen und Lateinischen, so bemerkt man, dass 
eine regelmässige Verschiebung der stummen Consonanten 
stattgefimden hat; und zwar so, dass an die Stelle des grie- 
chischen weichen Consonanten im Gothischen der harte 
getreten ist, an Stelle des harten der aspirirte, an Stelle 
des aspirirten endlich der weiche. 

Diese Verschiebung, deren Ursachen wir hier unerörtert 
lassen, fing wahrscheinlich schon im ersten Jahrhundert unse- 
rer Zeitrechnung an, und war in dem vierten vollständig zu 
Ende gebracht, wie uns die gothische Bibelübersetzung des 
Ulfilas (t 360) beweist. 

Nicht lange darauf entstand unter den deutschen Sprach- 
stämmen in Ober- und Süddeutschland eine zweite Verschie- 
bung in derselben Folge. 

Die deutschen Dialekte, und die daraus hervorgegangenen 
Sprachen, deren Consonanten auf der ersten Lautstufe stehen 
geblieben sind, bilden zusammen die niederdeutsche Sprach- 
gruppe oder Familie ; die zur zweiten Stufe übergegangen 
sind, tragen den Namen Hochdeutsch. 

Das Verhältniss wäre also regelmässig folgendermassen : 
Griechisch: B. P. Ph. G. K. Ch. D. T. Th. 

Niederdeutsch: P. Ph. B. K. Ch. G T. Th. D. 
Hochdeutsch: Ph. B. P. Ch. G. K. Th. D. T. 

Aber wie schon im Lateinischen der aspirirte Lippenlaut 
(Ph.) in einen Spiranten (F) übergeht, und der aspirirte Kehl- 
laut (CH) in eine blosse Aspiration (H), so findet diess oft 
auch im Niederdeutschen (Goth.) Statt, und der also verän- 
derte Laut ist keiner weiteren Verschiebung mehr fähig. Die 
Regel erhält also folgende Veränderung: 
Niederdeutsch: P. F. B. K H. G. T. Th. D. 
Hochdeutsch: Ph. F. P. Ch. H. K. Z. D. T. 

Ich lasse hier der Deutlichkeit wegen einige Beispiele fol- 
gen, welche die Verschiebung zumal in den Anfangsbuch- 
staben der Worte zeigen, wo sie sich natürlich am regel- 
mässigsten bildet, da an dieser Stelle die Mitlaute keinem an- 
deren Einflüsse biossgestellt sind. 



10 Einleitung. 

B. P. Ph. ^) Labium, As. leppa, Althd. lefs. Stabulum. 
As. Stapel, Althd. staphol. Turba, Goth. thaurp Althd. dorf. — 
PFF. Pater, As. father Althd. fatar. Pecus, Goth. faihu^ 
As. fihu. Pe(d)s, Goth. fötus, Althd. fuoz. — PH (F) B P. 
Fagus, boka, puocha. Frater, brothar, pruodar. Fra(n)go, 
brika, prtchan. — G. K. Ch. Genus, kuni, chuni. Gelidus^ 
kalds, ehalt. Granum, kaurn, chorn. — EIHH. ycdkafiog (cul- 

mus), Goth Althd. halam. K^q (cor, cordis), hairtö , herza. 

Caput, haubith, haupit — CHGK. 2) XoQTog (hortus) gards^ 
karte. Homo, guma, komo. Hostis, gasts, käst. — DTZ. 
Den(t)s tunthus, zand. z/exa (deeem) taihun, zehan. Duo, tva, 
zuei. — TThD. Tenuis. Altnordisch thunnr, Althd. dunni. 
Tegere (tectum) As. thac , Althd. dach ; deechan. Tres , Ijireis, 
dri. — ThDT ^), Qt^q (Aol. q^iJQ , Lateinisch fera) diiis, tier. 
Qvga (fores), dauro, turi. Qvydzrji) dauhtar, tohtar. 

7. Dabei darf man folgende Bemerkungen nicht aus dem 
Auge lassen. Zweierlei in Beziehung auf das Hochdeutsche: 

1) Die zweite Verschiebung ist niemals ganz zu Stande 
gekommen; wenigstens bleiben hochdeutsche Schriftsteller sich 
weder selbst gleich, noch stimmen sie mit einander überein, 
was die LautverscI^iebungsstufe der stummen Consonanten 
betrifft. 

2) Unter dem Einfluss der allgemein verbreiteten Bibel- 
übersetzung Luthers, welche auf den Grenzen des Hoch- und 
Niederdeutschen Sprachgebietes geschrieben wurde, nahm das 
Hochdeutsche noch manches niederdeutsche Element in sich 
auf, wodurch sich nicht selten die Abweichung von der all- 
gemeinen Regel erklärt. 

Mit Hinblick auf das Niederdeutsche bemerke man, dass 
dazu in früheren Zeiten das Altsächsische und das Angel- 
sächsische (das deutsche Element des Englischen) gehörte. In 
Deutschland hat das Niederdeutsche lange Zeit neben dem 
Hochdeutschen fortbestanden, und sich selbst einer nicht un- 
bedeutenden Literatur erfreut. Aber seitdem das Hochdeutsche 



^) Da alle gothischen mit P und alle althochdeutschen mit PH an- 
fangenden Worte fremden Ursprunges sind, so müssen wir bei dieser 
Kategorie solche wählen, wo die Verschiebung in der Mitte vor sich geht, 

^) Das Lateinische hat hier H anstatt CH, ein einzelnes F anstatt 
H, zuweilen auch nur den Vocal. 

^ Der äolische Dialekt hat an Stelle des *P das O, und das La- 
teinische das F. 



EinleituDg. 1 1 

die Sprache der Bildung und die allgemeine Schriftsprache in 
ganz Deutschland wurde, verschwand nach und nach das 
Niederdeutsche, und sank wieder zu dem wenig entwickelten 
Zustand des Dialektes herab, welcher nur im täglichen Leben 
in Gebrauch blieb/ Seit jener Zeit trägt es den Namen: 
Plattdeutsch. 

In den Niederlanden wurde in den ältesten Zeiten, wie 
wir schon sahen, hauptsächlich Niederdeutsch gesprochen, wel- 
ches jedoch — wahrscheinlich am Meisten in Brabant — sehr 
Fränkisch, d. h. Hochdeutsch' gefärbt war. Aus jenem Nie- 
derdeutschen ist das Vlämische entstanden, das bald ein Recht 
darauf hatte, Niederländisch genannt zu werden. Dieses Nie- 
derländische ist eben so wenig als das Englische ein nieder- 
deutscher Dialekt geblieben , sondern hat sich zu einer beson- 
deren Sprache ausgebildet, welche der Ausdruck einer eigen- 
artigen, nationalen Entwickelung und fortwährend in Ueber- 
einstimmung mit der zunehmenden Volksbildung geblieben ist. ^) 

Man «ist also im Unrecht, diese Sprache Niederdeutsch zu 
nennen, wie es bei uns lange gebräuchlich war; es giebt nur 
Anleitung zu Begriffsverwirrungen. Und von diesen Begriffs- 
verwirrungen hat man in Deutschland oft genug Gebrauch 
oder Missbrauch gemacht, um uns, auf Grund des plattdeut- 
schen Dialektes, für den man unsere Sprache hielt, selbst da& 
Recht einer eigenen, selbstständigen Entwickelung abzu- 
sprechen. ^) 

^) Bei der Vergleichung unserer Sprache mit den verwandten be- 
halte man im Auge, dass wir , von dem Th absehend, dafür regelmässig 
D an die Stelle gesetzt haben, während das F zu V abgeschwächt 
wurde. In vader kommen beide Eigenthümlichkeiten vor. 

^) Dass deutsche Autoritäten nicht so urtheilen , möge eine Stelle 
aus Jakob Grimms „Geschichte der Deutschen Sprache'*' 
beweisen, welche ich wegen des grossen Gewichts, das seine Aussprüche 
in Deutschland haben, hier anziehe : S. 834. „Als Luther den glauben^ 
zugleich die spräche reinigte und hob, langsam aber nach der Verwil- 
derung des 17 jh. endlich im. ISten mächtige dichter entstanden, war 
das übergewicht hochdeutscher spräche völlig entschieden, nichts ist 
unverständiger als den Untergang des niederdeutschen dialects zu be- 
klagen, der längst schon zur blossen mundart wieder herabgesunken 
und unfähig war, wie der hochdeutsche zu nähren und zu sättigen, 
während sich alle hochdeutschen stamme der höheren Schriftsprache 
beugen, der niederdeutsche stamm bereits die niederlän- 
dische, in gewissemsinn die englische spräche hergegeben hat, 
wäre es ungerecht und unmöglich, der niedersächsischen bevölkerung 
ein anrecht auf Schriftsprache einzuräumen.** 



12 Einleitung. 

Unsere Sprache heisst weder Niederdeutsch, noch Platt- 
deutsch. Ihr eigentlicher Name im Mittelalter war Vlämisch, 
seit dem siebzehnten Jahrhundert Holländisch, nach den Pro- 
vinzen, deren Sprache der Ausgangspunkt fiir die allgemeine 
Wort- und Schriftsprache geworden war. Jetzt, wo Nord und 
Süd ebenbürtig neben einander stehen, wäre sicher der allgemeine 
Name Dietsch, d. i. die allgemein verständige Volkssprache 
(von Diet, Volk) am Meisten vorzuziehen, und dieser Name 
wird auch in Flandern nicht selten gebraucht, aber eben so 
wenig im Norden als in der Fremde ist dieser Ausdruck 
augenblicklich gangbar und verständHch; wir gebrauchen also 
am Besten den Namen Niederländisch. 



S. 836. Zur volksmundart herabgesunken ist der Friesen und Chau- 
ken spräche und ein gleiches gilt von einem grossen theil der altsäch- 
sischen, doch so, dass aus den trümmem eines anderen theils eine 
eigene niederländische zunge neu erstand, obschon diese 
nicht ganz mit der altsächsischen grundlage zusammen zu fallen, son- 
dern noch batavische oder fränkische stücke in sich einzuschliessen 
scheint, deren genauere ermittlung zu den einladendsten Untersuchun- 
gen gehören wird, die auf dem gebiete deutscher Sprachforschung zu- 
nächst bevorstehen. . . 

„Es haben sich bis auf heute nur fünf deutsche sprachen auf dem 
platz hehauptet, die hochdeutsche, niederländische, englische, 
schwedische und dänische, deren künftige Schicksale nicht vorausgesagt, 
vielleicht geahnt werden dürfen, wie in den Völkern selbst thut sich 
auch in den sprachen, die sie reden, eine unausweichliche anziehungs- 
kraft der Schwerpunkte kund, und lebhaft erwachte Sehnsucht nach fester 
Vereinigung aller sich zugewandten stamme wird nicht nachlassen, einen 
übertritt der Niederländer zur hochdeutschen spräche, der Dänen zur 
schwedischen halte ich in den nächsten Jahrhunderten sowohl für wahr- 
scheinlich, als allen deutschen Völkern für heilsam, und glaube, das ihm 
durch die lostrennung Belgiens von Holland, Norwegens von Dänemark 
vorgearbeitet ward: es leuchtet ein, dass dem Niederländer lieber sein 
muss deutsch als französisch, den Dänen lieber schwedisch, als deutsch 
zu werden, auch verdient die spräche der berge und höhen zu siegen 
über die der flachen ebene." 

Ich lasse die Ahnung dahin gestellt sein, und halte mich auch 
nicht berufen , hier in eine Untersuchung über die Richtigkeit der 
letzten Bemerkung einzugehen. Es genügt, anzuzeigen, dass der grosse 
Sprachforscher das Niederländische für etwas Anderes und für etwas 
Besseres hielt, als für einen niederdeutschen Dialekt. 



Erstes Buch. 



Das Mittelalter. 



I. 



Die altdeutsche Volkspoesie. 



8. Die Geschichte unserer Literatur muss, soll sie voll- 
ständig sein, weit zurückgreifen. Wenn wir auch nicht lange 
in den germanischen Wäldern zu verweilen brauchen, so 
dürfen wir dieselben doch nicht unerwähnt lassen; denn dort 
finden wir die ältestbekannten Spuren deutscher Dichtkunst. 

Wohl ist aus jener uralten Zeii Nichts bis auf uns ge- 
kommen, aber wir besitzen höchst merkwürdige Berichte in 
den Werken eines Schriftstellers aus dem ersten Jahrhunderte 
unserer Zeitrechnung, des Römers Tacitus. Dieser Geschicht- 
schreiber, der ziemlich genaue Kenntniss von den Germanen 
hatte, meldet uns, dass sie Gesang und poetische Volksüber- 
lieferung kannten. 

Wir nennen in erster Reihe ihre Schlachtgesänge , von 
denen wir aber nicht viel mehr wissen, als dass darin vor- 
züglich ein Gott oder Halbgott, den Tacitus Hercules nennt, 
angerufen wurde, und dass sie von wildem, Wald und Thal 
durchhallenden Geschrei begleitet waren. 

Von grösserem Interesse sind die Gesänge, welche ihrer 
Theogonie und Kosmogonie gewidmet waren. Darüber hören 
wir das Folgende in der Schrift: De moribus Ger ma- 
tt o r u m : „Sie preisen in alten Liedern, welche allein bei ihnen 
die Stelle von Denkmälern und Geschichtsbüchern vertreten, 
den erdgeborenenGottTuisco (Tuisto) und dessen Sohn Mannus, 
als des Volkes Stammväter und Stifter. 

„Von Mannus drei Söhnen leiteten sie die drei Hauptstämme 
ab; die dem Ocean zunächst wohnenden Ingävonen, die mehr 



16 I. Die altdeutsche Volkspoesie. 

im Innern lebenden Herminonen und die Iskävonen. Einige 
behaupten, aber der Ursprung dieser Behauptung ist alt und 
in Dunkel gehüllt, es habe jener Gott noch mehr Söhne gehabt, 
und somit ständen noch mehr Völkernamen mit ihnen in Ver- 
bindung, die Marsen, Gambrivier, Sueven, Vandalen; und 
diess sollten sogar die echten und wahren Namen sein." 

Aber nicht nur von der Entstehung des menschlichen 
Geschlechts handelten ihre Gesänge, in denselben werden auch 
die grossen Thaten der von den Göttern gezeugten Vorfah- 
ren gefeiert. Wir sahen schon, dass Tacitus ihrer poetischen 
Volksüberlieferungen erwähnt: an anderen Orten zeigt er uns, 
wie die Sage gleichzeitig mit der besungenen Heldenthat ent- 
steht; denn er erzählt, wie schon der Cherusker -Feldherr 
Arminius, der die Legionen des Varus vernichtete, in Volks- 
liedern verherrlicht wurde. ^) 

Alle deutschen Stämme feierten wahrscheinlich ihre Hel- 
den auf ähnliche Weise: diess kann man aus den UeberUe- 
ferungen schliessen, welche uns voii manchen Chronisten spä- 
terer Zeit aufbewahrt wurden. So wissen wir, dass die Gothen 
das Lob ihrer alten Könige sangen, und einige ihrer Sagen, 
von denen Jemandes berichtet, reichen bis in das erste Jahr- 
hundert unserer Zeitrechnung hinauf. Später gedenken sie 
in ihren Liedern des Attila, und die Leiche des berühmtesten 
westgothischen Königs, Theodorich, wird unter Jubelgesän- 
gen vom blutigen Schlachtfeld bei Chalons weggetragen. 

Auch die Langobarden besassen einen Schatz von Sagen 
und historischen Liedern, die theilweise von ihrem Geschicht- 
schreiber Paul Warnefried aufbewahrt wurden. 

9. Wie gering nun auch imsere Kenntniss der altger- 
manischen Poesie sei, so können wir doch aus dem Vorhan- 
denen sicher schliessen, dass vofi den frühesten Zeiten an, 
lange vor den grossen Veränderungen, welche durch die Völ- 
kerwanderung in den Zustand der deutschen Stämme gebracht 



*) Annales II, 88 . . „Arminius .... liberator haud dnbie Ger- 
maniae, et qui non primordia populi Rom. sicut alii reges ducesque, 
sed fiorentissimum imperium lacessierit: proeliis ambiguus, bello non 
victus. Septem et triginta annos vitae, daodecim potentiae explevit: 
caniturque adhac barbaros apad gentes: " Graecorum anna- 
libus ignotus, qui sua tantum mirantur: Romanis haud perinde celebris, 
dum vetera extoUimus, recentium incuriosi.** 



I. Die altdeutsche Volkspoesie, 17 

wurden, historische Heldengesänge in ganz Deutschland in 
grossem Ansehen standen. 

Es lag in der Natur dieser ursprünglichen Lieder, dass 
sie für uns verloren gehen mussten. Manche sind d^rch 
Umstände, denen wir eine nähere Aufmerksamkeit widmen 
wollen, in Vergessenheit gerathen; andere sind wahrscheinlich 
nach Art jeder Ueberlieferung umgebildet und hh zur Un- 
kenntlichkeit verändert worden, und lebten so bis in spätere 
Zeit fort. 

Diese Bemerkung ruft eine sehr wichtige Frage hervor, 
nämlich: ob die Germanen keine einzige Ueberlieferung 
bewahrt haben, die noch aus der Zeit vor ihrer Uebersiede- 
lung nach Europa stammt? Diese Frage wurde von ver- 
schiedenen Seiten bejahend beantwortet. 

Grimm zweifelte nicht, dass die Stammmythe von Man, 
und seinen drei Söhnen schon aus Asien mitgebracht wurde; 
und es scheint auch sicher, dass der aus Erde gebome Gott 
Tuisko ein Gott von Autochthonen war, und nicht erst Aus- 
wanderern mitgetheilt wurde. 

Ebenso meinen einige deutsche Gelehrte in dem Siegfried 
der später zu behandelnden Nibelungensage den Helden 
Karna des indischen Epos (Mahäbhärata) zu erkennen; wäh- 
rend Andere unter diesem Namen den Arminius, den Befreier 
Deutschlands „vom Geschlecht der Zwerge" gemeint halten. 

Aber es ist hier nicht der Ort, um dies Alles genau zu 
untersuchen. Es genügt, die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt 
zu lenken; denn gewaltige Ereignisse breiteten bald einen 
undurchdringlichen Schleier sowohl über die Helden-, als über 
die Göttersage. 

10. Das Wort Sage kommt von sagen, und bedeutet 
eigentlich nichts Anderes als Erzählung; aber ebenso wie mit 
dem Wort Epos, das gleiche Bedeutung hat, ist nach und 
nach ein -^etwas abweichender Sinn damit verknüpft worden, 
nämlich der von epischer Erfindung. 

Und doch beruht jede Sage, jede dichterische Volksüber- 
lieferung, auf Wahrheit, und schildert eine Thatsache, die sich 
wirklich zugetragen hat. In der Kindheit eines Volkes er- 
zählt man nur, was man gesehen hat, oder gesehen zu haben 
meint. Wo das Geschehene so vollkommen in den Beobach- 
tungskreis des Erzählers fiel, dass es ganz seinem Wesen nach 

Jonckbloet's Gescliichte der NiederländiBchen Literatur. Band I. 2 



18 I. Die altdeutsche Volkspoesie. 

(objectiv) wiedergegeben werden konnte, da entstand Historiß. 
Wenn der Beobachter aber aus innern oder äussern Ursachen 
nicht diesen glücklichen Standpunkt einnahm, und wenn dem 
zu Folge seine persönliche (subjective) Vorstellung oder Auf- 
fassung beim Schaffen des Bildes eine grosse Rolle spielen 
musste, da wurde die Sage geboren. 

Die subjective Auffassung und Vorstellung ist gerade für 
die Sage charakteristisch : sie legt derselben hohen Werth bei, 
und macht das Volksepos, das nur eine Sage auf breiterer 
Grundlage ist, nicht selten historisch wichtiger, als die Ge- 
schichte selbst. Denn gerade durch dasselbe wird uns ein 
Blick in das Innere des Volkslebens gestattet ; es ist nicht die 
Subjectivität eines Einzelnen, sondern die des ganzen Volkes, 
welche sich darin ausspricht. 

Des ganzenVolkes: denn die Sage, der Kern des Volks- 
epos, ist nicht das Product eines einzelnen Individuums, son- 
dern die natürliche Aeusserung des allgemeinen Geflihls. 

Eine wichtige Begebenheit, eine auffallige Naturerschei- 
nung oder eine Heldenthat, fesseln die Aufmerksamkeit 
Aller : Einer aus der Menge, dessen Phantasie am lebhaftesten 
ist, leiht dem unwiderstehlichen Drang Gehör, und giebt den 
empfangenen Eindruck in Worten zurück. Er zeichnet die 
Thatsache so, wie Alle sich dieselbe vorstellen: und so ent- 
steht die Volksdichtung. 

Je jugendlicher ein Volk, desto allgemeiner ist die Stufe 
der Entwickelung , auf welcher dasselbe steht, und über die 
hinaus sich sehr selten ein Mensch erhebt. Hervorragende 
Ereignisse müssen also beinahe auf Alle denselben Eindruck 
machen: daher das epische Gedicht, von einem besonders 
dazu Begabten gesungen, in Aller Herzen Wiederhall findet, 
leicht im Gedächtniss behalten und von Mund zu Mund fort- 
gepflanzt wird. 

Da indessen das Werk eines Einzelnen nicht den ganzen 
Volksgeist zurückgiebt, so wird bei der mündHchen Ueber- 
lieferung hier ein Zug weggelassen, dort ein anderer hinzu- 
gefugt, bis endlich das Ganze wirklich der wahre Volksaus- 
druck genannt werden kann. Daher die Ueberlieferung auch 
mit Recht den Namen VolksüberHeferung , oder weil sie sich 
stets in poetischer Form offenbart, den von Volkspoesie trägt ; 



I. Die altdeutsche Volkspoesie. 19 

deshalb kann auch kein einzelner Sänger als Dichter genannt 
werden, weil in Wirklichkeit der ganze Stamm, das ganze Volk 
zu ihrer Bildung beigetragen haben. 

11. Es liegt in der Natur der Sache, dass der subjective 
Charakter der Volkspoesie, und deren mündliche Ueberlieferung, 
welche der schriftlichen Aufzeichnung lange vorausging, 
auch einen grossen Einfluss auf ihr Wesen ausübte. Wo 
neue Thaten mächtig auf die Volksphantasie einwirkten, 
wo durch die Berührung mit fremder Bildung der Horizont 
des Seelenlebens erweitert wurde , da war . es nicht anders 
möglich, als dass die Ueberlieferungen, wenn sie nicht ver- 
drängt wurden, sich mit fremden Elementen vermengten, oder 
tief eingreifende Veränderungen erlitten. 

Zwei grosse historische Ereignisse haben auch wirk- 
lich den grössten Einfluss auf die deutsche Volksüberlieferung 
ausgeübt: die Völkerwanderung und die Einführung des 
Christenthums. 

Wenn der Stamm, in welchem eine Sage entsteht, auf 
dem voralterlichen Grund und Boden wohnen bleibt, so be- 
halten die Gebilde jener Sage meistens ihre scharfen, deut- 
lichen Umrisse. Diess beweist die griechische Volksüberlie- 
ferung. Wenn sich aber der Schauplatz, auf welchem sich 
das Volk bewegt, zu wiederholten Malen verändert; wenn 
ein Stamm fortwährend mit anderen Stämmen in Berührung 
kommt, mit deren Heldensage man auch bekannt wird; wenn 
der oft genug wiederkehrende, gezwungene Kampf zwischen 
Anverwandten oder Fremden neue Heldenthaten hervorruft: 
dann muss wohl das Alte in den Hintergrund gedrängt und 
verdunkelt werden; dann müssen die Züge der Hauptper- 
sonen in einander verschmelzen, und die Volksüberlieferung 
deshalb ihren innigen Zusammenhang, ihre Abrundung und 
die Klarheit der Umrisse verlieren. 

Und dass dies der Zustand war, welchen auf diesem 
Gebiete die grosse Völkerwanderung hervorrief, fallt von 
selbst in's Auge. Dem unaufhörlichen, gegenseitigen, ge- 
*zwungenen Portdrängen der verschiedenen germanischen 
Stämme von Osten nach Westen ist auch die Erscheinung 
zuzuschreiben, deren Spuren man deutlich in verschiede- 
nen Volksdichtungen der späteren Zeit zurückfindet: dass 

nämlich die Sagen verschiedener Stämme, z. B. der Fran- 

2* 



20 I« I^iö altdeutsche Volkspoesie. 

ken und Burgunder, mit einander verbünden werden; das» 
grosse, von verschiedenen Helden verrichtete Thaten einer 
Person zugeschrieben, oder umgekehrt die Lorbeeren eine» 
Einzigen unter Verschiedene vertheilt werden; dass der Hin- 
tergrund von Zeit und Raum schwindet, und Ereignisse, die in 
verschiedenen Jahrhunderten, oder auf weit aus einander lie- 
genden Plätzen vorgefallen, in ein und denselben Rahmen zu- 
sammengedrängt werden. 

Weiter hatte die riesige und ruhelose Bewegung zur 
Folge, dass aus der Verwirrung hier ein. einzelner Name, dort 
eine einzelnstehende Thatsache im Gedächtniss bewahrt wurde ; 
um fortdauerndes Interesse zu wecken, gruppirte man darum 
die einzelnen Namen, welche alle anderen überglänzten. So 
wurde Attila, der berühmte Hunnenkönig, der den grössten 
Theil Europa's besiegt oder bedroht hatte, ein Mittelpunkt, an 
den sich vielerlei Volksgesänge knüpften. So wurde der 
mächtige Gothenkönig Theodorich, der seinen Sitz in Verona hatte^ 
in Berührung mit ihm gebracht?, und lebte als Dietrich von 
Bern mit seinem Dienstmann Hildebrand in der Volkserinnerung 
fort. Lieder, deren Helden sie waren, ertönten nicht nur in den 
ältesten Zeiten durch ganz Deutschland, sondern auch in späteren 
Jahrhunderten waren sie in den Niederlanden unvergessen. 

12. Solch ein Lied ist uns nach der Aufzeichnung au& 
dem achten Jahrhundert wenigstens theilweise aufbewahrt geblie- 
ben, das sogenannte Hildebrandslied: und ich möchte hier 
die Aufmerksamkeit auf dasselbe lenken, weil es mir Gelegenheit 
bietet, über die Form der ältesten deutschen Poesie zu sprechen. 

Es war zu erwarten, dass im Verhältniss zu dem poetischen 
Inhalt der Sage, die Form derselben auch rhythmisch sein 
musste: die Erfahrung lehrt, dass die poetische Form dem 
ungebundenen Prosastyl immer voranging. 

Und wir wissen, dass diess auch in Deutschland der Fall 
war. Ich verweise nur auf die bekannte Stelle des Chronisten 
Einhard, der von seinem Zeitgenossen Karl dem Grossen 
berichtet, „dass er die uralten Lieder, welche die Thaten und 
Kämpfe der Vorfahren besangen, sammeln liess."^) 

^) Einhard spricht von „barbara antiquissima carmina, quibus veterum 
regum actus et bella canebantur.*' Wenn Theganus von Ludwig sagt: 
„poetica carmina gentilia. quae in juventute didicerat, respuit, nee legere, 
nee audire, nee docere voluit," hat er wahrscheinlich lateinisch- 
heidnische Poesie im Auge, und keine französischen Volksgesänge. 



I. Die altdeutsche Volkspoe^ie. 21 

Dies wird auch durch das Hildohraudalied bestätigt. 

Werfen ^^-ir zueret einen Blick auf den Inhalt desselben, 
der ungefähr so lautet: Dietrich von Bern hat sieh vor Odoaker 
zu dem Hunnenkönige Attila geflüchtet; mit ihm sein getreuer 
Dienstmann Hildebrand. Der Letztere hat sein junges Gemahl 
mit einem unmündigen Sohne im Vaterhuide zurückgelassen. 
Nach Verlauf vieler Jahi-e kehrt er nach Bern (Verona) zurück, 
und begegnet unterwegs seinem Sohne Hadubrand, der indes- 
sen zmn Manne herangereift war. Sic kennen einander nicht, 
gerathen in Streit und fordern einander zmn Kampfe heraus. 
Hildebrand fragt nach dem Namen seines Gegners; dieser 
nennt sich, und nun will der Alte den Streit nicht fortsetzen, 
und giebt sich als Hadubrand's Vater zu erkennen. Der Sohn 
glaubt ihm jedoch nicht, imd kämpft fort, bis ihn endlich 
Hildebrand überwindet mid überzeugt, dass er sein Vater sei. 
Einträchtig ziehen Beide darauf nacli Bern, wo die Mutter sie 
mit Freuden empfiingt. 

Das Lied besteht aus Strophen von drei Doppelzeilen, 
deren zwei Theile nicht diu'ch den Endreim , sondern durch 
die sogenannte Alliteration, obwohl nur auf ziemlich will- 
kürliche Weise, zusanmien gehalten sind. Die Alliteration 
(Stabreim), die bis zum neimten Jahrhundert sowohl in Nord- 
imd Süddeutschland, als auch bei den Angelsachaen, dem 
Verse Wohllaut verlieh, beruhte auf der Gleichheit der Buch- 
staben, mit welchen die betontesten Silben der beiden zu ein- 
ander gehörenden Theile einer Verszeile anfingen. Alan nannte 
<üess die Reimstaben. ^) 

Die Darstellung ist kernig und kraftvoll, der Verlauf der 
Erzählung hat eine epische Breite und Gleichmässigkeit, die 
^n Homer eriitnert. *) 



1) Zum Beispiele diene eine Zeile aus dem Hildebrandslicd: 
i/iltibraht enti /fadhubrant, unter Äerjum tu^m. 
In einer Anzahl Redensarten gebrauchen wir noch heut zu Tage die 
Alliteration: Rind und Kegel (niederl. Kind noch Kraai), Stock und 
Stein, Haus und Hof, Mann und Maus, Wind und Wetter. 

•) Das ursprüngliche Stück ist nur ein Fragment, aber es ist in 
neueren Beai'beitungen bis auf uns gekommen. Auch in Flandern er- 
hielt es sich bis ins siebzehnte Jahrhundei*t. Willems gab einen vlämi- 
schen Text aus dem 16. Jahrhundert heraus, Belg. Mus. VIIT, S. 464. 
und Alte Volkslieder S. 129. 



22 I- Die altdeutsche Volkspoesie. 

Dies Lied ist ein abgeschlossenes Ganze, nach Art de» 
ursprünglichen Volksliedes. Später wurden die Dichtungen 
zu einem grösseren Ganzen verbunden, und in diese Zeit 
kann man erst den Anfang des eigentlichen Volksepos im 
engeren Sinne verlegen, zu welchem die Hand eines Künst- 
lers den vorhandenen poetischen Stoff umarbeitete. 

In den ältesten Zeiten war die Poesie in den Händen de» 
ganzen Volkes: es hatte die Thaten vollbracht, und sorgte 
nun dafür, dass sie nicht vergessen wurden. Aber die Ele- 
mente zu einem Ganzen vereinigen, musste die Arbeit einer 
einzigen, reichbegabten Natur sein ; das ganze Volk war nicht 
im Stande, das Epos durch den elektrischen Funken des^ 
Genius zu einer schönen Einheit zusammen zu fassen; diea^ 
war das Werk des Dichters. 

13. Nach der Meinung Vieler war die Zeit Karls des. 
Grossen die geeignetste, die einzelnen Volkslieder in epi- 
schem Tone zu einem Volksepos umzuschaffen. Die auf seinen 
Befehl vollendete Aufzeichnung von historischen Liedern kann 
dazu beigetragen haben. Als diese einmal gesammelt und 
leicht zu übersehen waren, musste an einem Hofe, der die: 
klassische Literatur pflegte, in einer Zeit, in welcher der 
eifrige Verkehr mit Rom wahrscheinlich Virgil, vielleicht 
selbst Homer — wenngleich nur in der Kirchensprache — 
bekannt gemacht hatte, auch die Lust entstehen, die Lieder zu 
einem Ganzen zu verbinden, und so eine Kunsteinheit zu schaffen. 

Vielleicht gilt dieses meistens für Frankreich. Für Deutsch- 
land war das Zeitalter der sächsischen Kaiser, die den Namen 
Otto unsterblich gemacht haben, als ein noch grösserer Ein- 
fluss des Klassicismus sich fühlbar machte und die Meister- 
werke der Alten sicher bekannt waren — noch geeigneter,, 
ein grosses Volksepos hervorzubringen. 

Das germanische Heldenzeitalter hatte sich zu einem ab- 
geschlossenen Ganzen entwickelt, für das man jedoch noch 
warme .Sympathie hegte, und dessen Geist man noch wehen 
fühlte.' Der Weltkampf, der zur grossen, nationalen That 
geworden war, bildete einen natürhchen Grundzustand, auf 
welchen eine epische Handlung gezeichnet werden konnte. 
Die zwei Hauptbedingungen zum Entstehen eines Volksepos 
waren also vorhanden. 



I. Die altdeutsche Volkspoesie. 23 

Und es ist auffällige dass Holtzmann gerade diese Zeit, 
zwischen 970 und 984, als diejenige bezeichnet, in welcher 
dem Nibelungenliede seine gegenwärtige Form imd sein gegen- 
wärtiger Inhalt gegeben wurde, die spätere Zeit hat daran nur 
noch modernisirt. ^) 

Vielleicht bildeten sich in Frankreich schon etwas früher 
einzelne grosse epische Gedichte ; am wahrscheinlichsten nimmt 
man jedoch das zehnte und elfte Jahrhundert als den Zeit- 
punkt an; worauf sowohl Raoul de Cambrai als Guillaume 
d'Orange hinweisen. 

Wie dem auch sei, sicher ist es, dass später nicht nur in 
Frankreich, sondern auch in Deutschland, der sich immer 
mehr ausbreitende christliche Geist; ferner die Verbindung 
mit dem Orient durch die Kreuzzüge; sodann der enge 
Völkerverkehr, der den Blick erweiterte ; wie auch die verän- 
derte Bildung, welche 'die germanischen Recken zu edlen Rittern 
formte ; endlich die Verbreitung gallischer Ueberlieferungen, — 
den Sinn für altdeutsche Zustände vermindertem und der fer- 
neren Entwickelung des deutschen Volksepos hindernd in den 
Weg traten. 

14. Hier wirft sich die Frage von selbst auf, ob in den 
niederländischen Gegenden keine Spur altgemianischer Poesie 
übrig geblieben sei? 

Diese Spuren sind nur selten zu finden. Und man wird 
sich darüber nicht wundern, wenn man bedenkt, dass in Flan- 
dern, welche Grafschaft den übrigen Provinzen, den Ton 
angab, die schnell emporwachsende Bildung den Blick bald 
nach anderen Idealen lenkte, wodurch frühere Erinnerun- 
gen verwischt wurden. 

Was Brabant betrifit, welches lange Zeit der Sitz der 
Franken und der Wohnplatz ihres berühmtesten Geschlechtes, 
der Karolinger war, — so wäre es sehr wohl zu verwundern, 
wenn dort die alte vaterländische, poetische Ueberlieferung 
spurlos verschwunden wäre. Und sie ist es auch nicht gänzlich. 

Ich habe hierbei nicht die Siegfriedssage im Auge, den 
Kern des Nibelungenliedes, dessen historischen Ursprung man 
in jene Gegenden verpflanzt hat. Ich halte die Siegfrieds- 
sage älter, als der Franken Niederlassung in Niederland, wo 
sich auch der Ort der Handlung nicht befindet. 

') Untersuchungen über das Nibelungenlied, S. 130. 



24 !• I^ie altdeutsche Volkspoesie. 

Aber in einem Gedicht von verhältnissmässig jüngerem 
Datum, das unter dem Namen „der Ritter mit dem Schwan, 
oder der Schwanenritter" bekannt ist, befinden sich Ueber- 
bleibsel einer Sage, die sicher in's höchste Alterthum hinauf- 
reicht. Um diese Sagenreste aufzufinden, müssen wir eine 
gedrängte Inhahsangabe des Gedichtes vorausschicken. 

15. Oriant, König von Lilefoort, ruhte nach der Jagd an 
einem Bininnen: da erscMen ihm eine bildschöne Jungfrau, 
für die er so sehr in Liebe entbrannte, dass er sicli mit ihr 
vermählte. 

Des Königs Mutter, Matabrune, welche die Frau ihrer 
niedern Herkunft wegen hasst, findet bald Gelegenheit, ihre 
Schwiegertochter in's Unglück zu stürzen. Beatrix, so hiess 
die junge Frau, gebar sieben Söhne, die Alle mit einer silbernen 
Kette um den Hals auf die Welt kamen. 

Matabrune lässt die Kinder wegbringen, in der Absicht, sie 
zu tödten, und legt sieben junge Hunde an ihren Platz. Sie 
beschuldigt Beatrix der abscheidichsten Untreue gegen ihren 
Gemahl. 

Der Rath des Königs verurtheilt die junge Frau zu 
lebenslänghchem Gefangniss, zu grossem Verdruss Matabrune's, 
die ihren Tod wünschte. 

Indessen hatte der Diener, der mit der Tödtimg der 
Kinder beauftragt war, sie aus Mitleiden in einem Walde aus- 
gesetzt. Sie wurden von einem Klausner, Namens Helias, 
gefimden, und von einer Ziege ernährt. 

Als sie zu kräftigen Knaben herangewachsen waren, wurden 
sie von einem der Jäger Matabrune's, Savari, entdeckt. Mata- 
brune gaT) aufs Neue den Befehl, die Knaben zu tödten, aber 
auch Savari konnte sich nicht dazu entschliessen. Er nahm 
den sechs Jünglingen, die er fand — der siebente war mit 
dem Pflegevater auf der Reise — ihre Ketten, um sie seiner- 
Herrin zum Wahrzeichen zu überbringen, dass er ihren Befehl 
ausgeführt habe. 

Als er ihnen dieselben abnahm, verwandelten sich die 
sechs Brüder plötzlich zu seiner grossen Verwunderung in 
Schwäne. 

Von dem Halsschmuck der Knaben Hess Matabrune einen 
Trinkbecher verfertigen ; aber da eine Kette schon mehr Silber 
lieferte, als zu dem Becher nöthig war, so behielt der Gold- 



I. Die altdeutsche Volkspoesie. 25 

Schmidt die übrigen für sich, sowie noch einen Becher, den 
er ebenfalls aus dem Metall der einen Kette verfertigt hatte. 

Der Klausner, der sehr verwundert war, bei seiner Nach- 
hausekunft seine Pflegekinder nicht zu finden, vernahm durch 
einen Engel das Geschehene; auf Befehl desselben sandte er 
den siebenten Jüngling, der auch Hellas hiess, an den Hof, 
Tim seine Mutter zu beschützen, die auf das Anstiften Mata- 
brune's dur^h deren Helfershelfer Macharis wieder der Untreue 
und des Vergiftungsversuches an ihrem Gemahl beschuldigt 
-wurde. 

Hellas machte sich auf den Weg und erschien gerade in 
dem AugenbHck am Hofe, als man 'Beatrix zum Tode ver- 
urtheilte. Er schlägt mit einem Faustschlag Macharis in des 
Königs. Gegenwart zu Boden und entdeckt den Betrug, den 
bald auch der Klausner bestätigt. Nun hat ein gerichtlicher 
Zweikampf statt, in welchem Hellas den Verräther besiegt, 
der seine Missethat bekennt und gehängt wird. 

Hellas hängt hierauf den Schwänen, die eben in den 
Schlossgraben fliegen, die Ketten um den Hals; sie neh- 
men sogleich ihre menschliche Gestalt wieder an und wer- 
den getauft. Aber der Eine, dessen Kette eingeschmolzen war, 
behielt seine Schwanengestalt. 

Matabrune wurde nun zum Tode verurtheilt, und Oriant 
entsagt der Krone zu Gunsten seines ' Sohnes Hellas. 

Als dieser geraimae Zeit regiert hatte, sah er eines Morgens 
einen Kahn daherschwimmen , gezogen von seinem Bruder, 
dem Schwane. Er sah darin einen Wink des Himmels, und 
begab sich an Bord. So kam er nach Nimwegen, wo er in 
einem Zweikampfe den Grafen von Frankenberg besiegte, der 
die Ehre seiner Schwägerin, der Herzogin von Billoen (Bouillon) 
angegrüFen hatte. Hellas vermählt sich mit der Tochter der 
Herzogin, Ciarisse, und erhält von Kaiser Otto das Lehen des 
Besiegten. 

Der Schwanenritter, wie er genannt wurde, verbot seiner 
Frau, nach seiner Abkunft zu fragen, und als sie nach meh- 
reren Jahren dieses Gebot übertrat, erschien der Schwan mit 
dem Kahne wieder, und der Ritter kehrte mit demselben in 
sein Land zurück. Dort betete er inbrünstig, dass sein Bru- 
der die menschliche Gestalt wieder erlangen möge, und nach- 
dem die beiden Becher wieder in eine Kette umgearbeitet 



26 I- I^ie altdeutsche Volkspoesie. 

waren, welche man dem Schwane umhing, wurde sein Gebet 
erhört. 

« 

Helias stiftete darauf ein Kloster, in welchem er seine 
letzten Lebenstage zubrachte. 

Er hatte von seiner Gemahlin eine Tochter, die sich spä- 
ter mit dem Graf Eustachius von Boulogne vermählte, dem 
sie drei Söhne schenkte : Eustachius, Balduin und den berühm^ 
ten Gottfried (von Bouillon). 

16. Diese Sage war schon im dreizehnten oder am Ende 
des zwölften Jahrhunderts unter dieser Form in Flandern und 
Brabant bekannt. Das vlämische Gedicht lebt nur noch in 
einem Prosavolksbuche lort, das aus dem sechzehnte^ Jahr- 
hunderte herrührt; aber aus dem zwölften ist uns ein fran- 
zösisches Gedicht dieses Inhalts erhalten geblieben. 

Es fallt in^s Auge, dass in dieser Erzählung Altes und 
Neues mit einander vermengt wurde, und dass man eine lieber- 
lieferung, deren Bedeutung man nicht mehr kannte, mit einem 
bekannten historischen Namen verknüpfte. Der Hauptgedanke 
ist wohl, dass die brabant'schen Herzöge von einem göttlichen 
Wesen abstammen. 

Der Kern der Dichtung scheint in der Ankunft des^ 
Schwanenritters im geheimniss vollen Kahne zu liegen, und 
diese Sage reicht sicher bis in die ältesten Zeiten zurück. Bei 
den Angelsachsen berichtete die Ueberlieferung, dass einer 
ihrer Stämme vor dem Zuge nach Britannien auf gleiche Weise 
einen König erhalten habe. Da kam auch ein unbekannter^ 
schöner Jüngling in einem Kahne an's Land: sein Name war 
Sceaf ; er stammte aus Wodans göttlichem Geschlechte. Er 
kommt noch im Beowulf, einem Gedichte aus dem sieben- 
ten Jahrhunderte, vor. 

Beide Ueberlieferungen haben eine gemeinschaftliche Quelle,, 
die sicher uralt ist 5 ja, es ist höchst bemerkenswerth, dass die 
indische Sage von Fischma's Geburt ganz mit der imserigen 
übereinstinamt. Es wäre also nicht unmöglich, dass wir auch 
hier den Resten einer Ueberlieferung begegnen, welche die 
Germanen schon aus ihrer Urheimath mit nach Europa 
gebracht hatten. 

Wie dem auch sei, später musste die übermenschliche, 
göttliche Abkunft des Fremden deutlich gemacht werden, 
und man Hess nun seine Mutter auftreten: auch sie war ein 



I. Die altdeutsche Volkspoesie. 27 

übernatürliches Wesen. Schon ihre plötzliche Erscheinung 
am Brunnen bestätigt dies; und wenn es auch von ihr nicht 
ausdrücklich gesagt wird, so ist es doch wahrscheinlich, das» 
man auch ihr die Gabe der Verwandlung zuschrieb. 

Dergleichen Schwanenjungfrauen sollen, nach dem Urtheile 
Jakob Grimmas, in der deutschen Ueberlief(M*ung uralt sein; es 
sind höhere Wesen, welche die Gestalt eines Schwanes anneh- 
men können, und gern am Ufer der Gewässer verweilen. Um 
sich in kühler Fluth zu baden, legen sie das Schwanhemde 
ab; wer ein solches Gewand erhascht, der hat damit volle 
Gewalt über sie erreicht. Das Vermögen, die Schwanengestalt 
anzunehmen, ist gewöhnlich an den Besitz eines Ringes oder 
einer Kette geknüpft. 

Das Alles spricht wohl für das Alter der Sage, die wahr- 
scheinlich von den Sachsen aus Deutschland nach Belgien 
mitgebracht wurde, gleich wie sie dieselbe auch nach England 
führten. Das Alter derselben wird noch unbestrittener, wenn 
wir sehen, dass bezeichnete Züge dieser Ueberlieferung auch 
anderswo vorkommen. Wie hier die Schwanenjungfrau sieben 
Söhne zur Welt bringt, für die man junge Hunde hinlegt, 
meldet auch die langobardische und die weifische Stammsage 
die Geburt von sieben Kindern; und die angelsächsischen 
Könige stammten von den sieben Söhnen Wodans. Aber man 
sieht zugleich aus dieser Erzählung, dass auch hier alte Ueber- 
Keferungen auf neue Helden übertragen, imd mit anderen 
bekannten Sagen verbunden wurden; denn das Aussetzen 

der Eander ist ein Zug^ der auch in der Geschichte Genoveva's 
von Brabant vorkommt. 

17. Wiewohl diese Sage hauptsächlich in Brabant heimisch 
geblieben ist, so war sie doch auch in Flandern zu Hause, 
und ging später nach Cleve, während sie auch in der Geschichte 
der Herren von Arkel in Holland Erwähnung findet. Uebrigens 
ist Holland arm an eigentlicher Volks- oder Heldensage: es 
scheint, dass unter dem Einflüsse des Bisthums in Utrecht hier 
Alles bald eine kirchliche Färbung bekam, und dass Legenden 
von Heiligen bald die alten Ueberlieferungen und die Helden- 
poesie ersetzten. Wahrscheinlich war hier auch kein günstiges 
Feld für die Bewahrung der alten Volkspoesie. Seit dem Zuge 
der Franken nach Süden liegt der nordwestliche Theil Nie- 
derlands für uns in undurchdringliche Nebel gehüllt: hierher 



28 I- I^ie altdeutsche Volkspoesie. 

verpflanzt die Phantasie die Nibelungen. Spärlich bevölkert^ 
durch fortwährende Raubzüge und vor Allem durch den unauf- 
hörlichen Krieg zwischen Friesen und Franken zerrüttet, muss 
der Barbarismus hier grösser gewesen sein, als irgendwo anders ; 
und noch lange Messen die nördlichen Einwohner jener Lande 
,,bestiales Frisones" oder ,,rude Vriesen". 

Indessen lässt sich doch erkennen, dass einzelne Volks- 
überlieferungen, theils aus uralter Zeit, theils von etwas jün- 
gerer Entstehung, erhalten worden sind, die auf Holland, 
ja auf das ganze westliche, niederländische Küstenland Bezug 
haben. Sie bestehen hier zu Lande nicht- mehr, werden 
aber in einem mittelhochdeutschen Gedichte angetroflfen, das 
den Namen Gudrun trägt, das wir gedrängt analysiren 
wollen. 

18. Hagen, der König von Eyrland, dessen abenteuerliche 
Jugend in einer Art von Vorgesang geschildeii; wird, hat eine 
Tochter, Hilde genannt. Er lässt sie mit der grössten Sorg- 
falt erziehen: weder Sonne noch Wind durften sie berühren, 
viel weniger ein Mann. Nur der, der ihn an Kraft übertriflft, 
soll sie zum Ehgemahl haben. Er liess die Boten, die mn sie 
warben, aufhängen, und denen, die nach ihrer Hand strebten, 
nahm er Ehre und Leben. 

Hetel, der König des Hegelingenlandes, sendet zwei seiner 
Getreuen, Frute und den berühmten Sänger Horand, welche 
um die Hand der schönen Hilde für ihn werben sollen. Sie 
weigern sich, das Wagestück ohne die Hülfe des alten, erfah- 
renen Klriegsmannes Wate zu unternehmen. 

Sie kommen an Hagen's Hof, und geben sich da für Kauf- 
leute aus; die Freigebigkeit, mit welcher sie Schätze verthei- 
len, verschafft ihnen einen guten Empfang. Während Frute 
Alle, durch seine zur Schau getragene Pracht und Wate durch 
seine Gewandtheit in Führung der Waffen in Erstaunen versetzt, 
bezaubert Horand Alle durch seinen Gesang, und selbst die 
Vögel schwiegen mit ihrem Gezwitscher, wenn sie ihm lauschten. 
Zumal Hilde wird davon entzückt: sie lässt den Sänger zu 
sich rufen und giebt ihm dadurch Gelegenheit, Hetels Werbung 
vor ihr auszusprechen. Dem vorgelegten Plan zur Entfuhrung 
stimmt sip bereitwillig bei. Darauf besucht sie das Schiff der 
Fremden ; die verborgenen Klriegsleute kommen zum Vorschein, 
trennen die Tochter von der Mutter, treiben Alle, die nicht 



I. Die altdeutsche Volkspoesie. 29 

zu ihnen gehören, vom Schiffe weg, ziehen die Segel auf — 
und landen bald glücklich im Hegelingenlande. 

Dort erscheint Hagen, der ihnen gefolgt ist, und der Kampf 
beginnt. Hetel wird verwundet, imd der grimmige Wate von 
Hagen' besiegt. Das Ende jedoch ist Versöhnung, Der 
Hegelingenkönig vermählt sich mit Hilde, und beim Scheiden 
lässt König Hagen die Spielgefährtin seiner Tochter, Hildburg, 
bei Hilden zurück. 

Hiermit schliesst diese Erzählung, und nun erst nimmt 
das eigentliche Gudrunlied seinen Anfang. 

19. König Hetel hatte zwei Kinder: Ortwin, den der alte 
Wate erzog, und Gudrun, der schönen Mutter reizende Tochter. 
Hartmuth, König Ludwigs von der Normandie Sohn, lässt 
um ihre Hand werben, wird aber abgewiesen. Er besucht 
unbekannt Hetels Hof, und nennt Gudrun seinen wahren 
Namen. Obschon sie ihm nicht abgeneigt ist, so befiehlt sie 
ihm doch, abzureisen; und von diesem Augenblicke an fasst 
er den Plan, sich ihrer mit Gewalt zu bemächtigen. 

Auch König Herwig von Seeland hatte, aber ebenfalls 
vergeblich, nach Gudruns Hand gestrebt, und beschloss seinen 
Antrag mit den Waffen in der Hand zu wiederholen. Eine» 
Morgens ruft der Wächter vom Thurme Hetels Mannen zu 
den Waffen: er bemerkte den hellen Glanz der feindlichen 
Helme. Herwig dringt in die Stadt, aber Gudrun macht dem 
begonnenen Kampf ein Ende, indem sie den Sieger zu ihrem 
Bräutigam wählt. Ein Jahr später soll die Hochzeit gefeiert 
werden. 

In der Zwischenzeit fallt Siegfried, König von Moorland^ 
in Herwigs Gebiet, und Hetel eilt auf Gudruns Bitte seinem 
zukünftigen Schwiegersohne zur Hülfe. Hartmuth erfahrt seine 
Abwesenheit durch Kundschafter, und benutzt dieselbe, um 
in das Hegelingenland einzufallen: er zeigt Gudrun vorher 
seine Ankunft an, sie aber theilt ihm ihre Verlobung mit. 
Nun dringt er mit Gewalt in die Stadt, raubt Gudrun und 
Hildburg und verwüstet HeteFs Besitzthum. 

Der Vater erhält die Kunde des Geschehenen: er ver- 
söhnt sich mit Siegfried, eilt mit seinem Heere den Räubern 
nach, und erreicht sie auf dem Wulpensande. Hier hat nun 
ein ernster, vortrefflich dargestellter Kampf statt, in welchem 
Hartmuths Vater Hetel tödtet; Wate wüthet gleich einem 



30 I. Die altdeutsche VolkspoeBie, 

Eber, und briagt manchen Krieger dahin, von wo er nimmer 
wiederkehrt. Der Kampf währt bis in die Nacht, so dass 
man Freund und Feind nicht unterscheiden kann. Nun 
benutzt Hartmuth die Dunkelheit, mn die Insel zu verlassen. 
Kr befiehlt tiefe Stille, und wer sein Wehklagen nicht' unter- 
drücken kann, wird in's Meer geworfen. Am anderen 
Tage sind die vom Hegelingenland erstaunt, keinen Feind 
mehr zu sehen, und nun beschäftigt sie die Frage, ob die 
t;efiJlenen Feinde zur Beute der Raben und Wölfe liegen 
bleiben müssen, oder ob man sie begraben solle? Man be- 
scbliesst, den Christen die Ehre des Begräbnisses zu gönnen; 
man lässt ilinen Seelenmessen lesen, und baut an der Stelle 
dufi Kampfes ein Kloster. Darauf kehren die Hegelinge in die 
Heimath zurück. Wate bringt der Mutter die Trauerkunde, 
!';itli ihr aber, ihre Klagen zu unterdrücken, wodurch die 
Tüdten nicht wieder lebendig werden. Wenn das junge Volk 
in ihrem Lande erwachsen sei, wolle man ihren Schmerz 
rächen. 

20. In Normandie angelangt, sucht der alte Ludwig 
liudrun für seinen Sohn zu gewinnen; imd da sie ihn aufs 
Entschiedenste abweist, und den Tod seiner Liebe vorzieht, 
ivirft der Alte sie in's Meer, aus welchem sie Hartmuth an 
den blonden Flechten herauszieht. Als aber Nichts sie bewegen 
kann, die Werbung anzunehmen, wird sie von seiner har- 
ten Mutter Gerlinde zu den niedrigsten Arbeiten gezwungen; 
sie muss die Dienste einer Waschfrau verrichten. Nur 
IJrtrun, Hartmuths Schwester, bezeigt ihr Theilnahme. 

Unterdessen wird im Hegelingenlande ein neues Heer 
zurRaclie gerüstet; dasselbe begiebt sich andieKüsten derNor- 
inandie. Ortwin imd Herwig, der Bruder und der Verlobte 
der geraubten Jungirau, gehen bei Sonnenuntergang aus, um 
Kundschaft über die Gefangene einzuziehen. 

Es war Winter: in der Nacht war viel Schnee gefallen; 
aber doch mussten auf Befeld von Hartmuths Mutter die 
gefangenen Frauen beim Anbruch des Tages die Wäsche an 
den Strand tragen. Ein Engel hat Gudrun verkündet, dass 
sich Hülfe nahe, und dass sie bald zwei Boten sehen werde. 
Es ist weniger die Hoffnung auf Befreiung, die ihre Seele 
erfüllt, als der Wunsch, Etwas von ihrer Mutter und ihren 
\'erwandten zu vernehmen. Lange späht sie mit ihrer Gefähr- 



I. Die altdeutsche Volkspoesie. 31 

tin nach den versprochenen Boten: es naht eine Barke, 
in welcher sich zwei Männer befinden, aber Scham treibt die 
Jungfrauen in die Flucht. Die Männer rufen sie zurück, zie- 
hen Nachrichten über den Platz ein, auf dem sie sich befinden, 
und bieten den vor Kälte bebenden Frauen vergebens ihre 
Mäntel an. 

Endlich erkennt man sich gegenseitig, Ortwin will seine 
Schwester, die ihm im offenen Kampfe geraubt wurde, nicht 
heimlich befreien. Er will sie öffentlich, mit dem Schwert in 
der Hand, zurückfordern. Die Helden fahren wieder von 
dannen, und im stolzen Gefühl ihres Werthes wirft Gudrun 
die Kleider, die sie waschen sollte, in's Meer. Als sie zu 
Hause zurückkehrt, entgeht sie der angedrohten, entehrenden 
Strafe nur durch das Versprechen, sich mit Hartmuth zu ver- 
mählen. Sie badet und schmückt sich, und bittet Hartmuth, 
seine Dienstmannen durch Boten zur Hochzeit zu entbifeten, 
um dadurch die Zahl der. Vertheidiger zu verkleinern. Ihr 
frohes Lachen verräth sie jedoch 'Gerlinden. 

Herwig tmd Ortwin sind indessen zu dem Heere zurück- 
gekehrt, und erzählen, wie sie Gudrun gefunden haben. Da 
weinen alle Krieger. Aber der alte Wate rief zornig aus: 
„Ihr gebart Euch ja alten Weibern ganz gleich : macht lieber 
die Kleider wieder roth, die da gewaschen haben ihre viel 
weissen Hände.^^ 

Da die Nacht hell war, zog man sogleich vor Hartmuths 
Burg. Mit der Morgenröthe trat eine Jungfrau Gudruns ans 
Fenster und erblickte die Kämpfer. Der Wächter ruft 
Ludwig's Mannen zu den Waffen, und Gerlinde fiihlt, dass 
sie heute Gudrun's Lachen theuer bezahlen muss; auch Hart-, 
muth spricht nun zum ersten Male seine Entwürdigung über 
die Misshandlung der Jimgfrau aus. Er macht einen Ausfall, 
verwundet Ortwin und Horand, und auch Herwig konnte erst 
vor dem alten Ludwig nicht bestehen, als er mit ihm hand- 
gemein wurde. Endlich wandte sich das Glück, und er 
schlug ihm das Haupt vom Rumpfe ; Wate wirft sich zwischen 
die Burg und Hartmuth, als dieser sich dorthin zurückziehen 
wilL Indessen hatte Gerlinde dem grosse Belohnung ver- 
sprochen, der Gudrun tödten würde; und schon wollte Einer 
ihres Gefolges den Lohn verdienen, als er von Hartmuth 
selbst daran verhindert wurde, der auf Gudrun's Hülfegeschrei 



32 I. Die altdeutsche Volkspoesie. 

hinauf blickte, und den Mörder mit schweren Drohungen 
davon abhielt, die Jungfrau zu tödten. 

Ortrun, die über den Tod ihres Vaters in Thränen zer- 
fliesst, fleht Gudrun an, Wate und Hartmuth zu scheiden. Da 
schickte diese Herwig ab; aber doch wollte Wate von dem 
Kampfe nicht ablassen. Hartmuth wurde gefangen weggeführt. 
Wate erstürmte die Burg, und opferte selbst die neugeborenen 
Kinder seiner Wuth, denn, „sollten die erwachsen, so wollte 
er ihnen nicht mehr trauen, als einem wilden Sachsen !" Ortrun 
und Gerlinde suchen bei Gudrun Schutz. Als der grimme 
Verderber mit knirschenden Zähnen, mit ellenbreitem Barte 
und durchbohrenden Augen heranstürmt, glückt es ihr, Ortrun 
zu retten; aber Gerlinde wird ihm verrathen, und muss nun, 
ebenso wie ihre Dienerinnen, von welchen Gudrun früher zu 
leiden hatte, mit dem Tode für Alles büssen. 

Die Hegelingen ziehen darauf in ihr Vaterland zurück; 
und die Erzählung endet mit einer dreifachen Hochzeit: Herwig 
mit Gudrun, Hartmuth mit Hildburg, Ortwin mit Ortrun, 
wodurch aller Fehde ein Ende gemacht wird. 

21. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, eine ästhetische 
Betrachtung' über den Werth einer Dichtung anzustellen, die 
nicht zum Gebiet unserer vaterländischen Literatur gehört; 
wir beschränken uns nur auf einige Bemerkungen über den 
Inhalt, der sichtlich aus uralten Bestandtheilen zusammen.- 
gesetzt ist. 

Es ist deutlich, dass wir hier mit der Bearbeitung einer 
echt deutschen üeberlieferung zu thun haben, mit welcher 
ursprünglich fremde Aventuren ziemlich lose verbunden sind. 

Der Theil, der die Entführung von Hagen's Tochter Hilde 
durch Hetel erzählt, mit dem Kampfe der beiden Fürsten^ 
scheint der älteste zu sein. Schon in einem angelsächsischen 
Gedichte aus dem achten Jahrhundert findet man eine Anspie- 
lung auf Horand, den liedeskundigen Mann (leothcraeftig man) 
vor, und die ganze Erzählung steht, von dem üebrigen 
getrennt, sowohl in der jüngeren Edda, als auch bei dem 
dänischen Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus; auch in 
einem hochdeutschen Gedichte aus der Mitte des zwölften 
Jahrhunderts (dem Alexander) finden wir Erwähnung 
derselben. Unbestritten kommen Anspielungen auf dieselbe 
seit dem neunten Jahrhunderte vor. 



I. Die altdeutsche Yolkspoesie. 33 

Augenscheinlich sind Veränderungen mit dem Gredicht 
vorgegangen, und wohl nicht bloss, um die Qudrunsage damit 
zu verknüpfen. In der dänischen Erzählung liest man, dass 
Hethin und Högni, zwei nordische Könige, mit einander be- 
freundet waren, und dass der Erstere sich mit des Letzteren 
Tochter verlobt hatte. Der Verlobte wurde beschuldigt, die 
Keuschheit seiner Braut nicht geachtet zu haben ; der erzürnte 
Vater sucht ihn zu SchiflFe auf, bekämpft und besiegt ihn, 
schenkt ihm aber das Leben. Sieben Jahre später wird ohne 
besonders erwähnte Ursache der Kampf bei der Insel Hithinsö 
erneuert, und Beide fallen. 

Wenn man nun bemerkt, dass Saxo von zwei Gefechten 
spricht, ohne dass er einen Grund dafür angiebt; und dass 
das Alexanderlied erzählt, dass auf dem Wulpesande ein 
Völkerkrieg ausgekämpft wird, in welchem Hilde's Vater, sowie 
Hetel und Wate mnkommen, so taucht wohl die Vermuthung 
auf, dass der Streit auf dem Wulpesande ursprünglich die 
Sage beschloss, die kriegföhrenden Helden daselbst ein tragisches 
Ende fanden, imd dem Gefechte vielleicht Hilde's Wehklage 
folgte und ihre verzweiflungsvollen Versuche, die Todten wieder 
in's Leben zurück zu rufen, wie Saxo berichtet. ^) 

22. Die Untersuchimg, welche von den historischen Ereig- 
nissen das Fundament der Sage ausmacht, wäre gewiss äusserst 
schwierig, die Erforschung des Schauplatzes jedoch, auf 
welchem sich die epischen Figuren bewegen, scheint einen 
günstigen Erfolg zu versprechen. Schon die Deutschen neh- 
men an, dass diese Ueberlieferung in das nordwesthche 
Deutschland, zumal in die Niederlande, Friesland, und auch 
in einen Theil Scandinaviens zu Hause gehört; und es wird 
nicht schwer fallen, den Beweis zu liefern, dass wir ganz 
bestinmit an die niederländischen Küsten zu denken haben. 

Wo muss man das Land der Hegelingen suchen? Es ist 
sicher der Name eines Stammes, der von Hegel abgeleitet 
wird. Aber die deutsche Kritik hat bewiesen, dass dieses 
Hegelingen verstmnmelt ist aus Hetheningen, und dass 
der ursprüngliche Name früher Hethen, Heden, Heiden 
lautete. 



>) „Fenint Hildam tanta mariti cupiditate flagrasse, ut noctu inter- 
fectomin manes redintegrandi belli gratia carminibus excitasse credatur." 

JonolcUoet^s Gesebiclite der Niederl&Ddischen Literatur. Band L 3 



34 I- ^6 altdeutsche Yolkspoesie. 

^ Wenn man nun sieht^ dass die dänische Erzählung den letz- 
ten Kampf auf oder bei die Insel Hithinsö verlegt, wobei 
man wahrscheinlich an die kleine Insel nordwestlich von 
Rügen dachte, die noch heut zu Tage Hiddensee heisst, — 
während sowohl imser Gredicht, als das Alexanderlied, 
diesen Kampf auf den Wulpesand verlegen; und wenn wir 
beide Namen auf einem kleinen Fleck Erde in Niederland 
wiederfinden, so kann man das wohl für einen sehr werth- 
vollen Fingerzeig halten. 

Ein Diplom der Stadt Brügge vom Jahre 1190 spricht 
noch von den „Wulpingi, homines de WuJpia, sive de 
Catsand^^, und man weiss, dass die westliche Scheidemündung, 
die dicht dabei Seeland und Flandern von einander trennte, 
früher Hedensee oder Heidensee genannt wurde. Bemerkt 
man nun, dass auf Catsand bis in das sechzehnte Jahrhundert 
eine Benedictiner-Probstei stand, so wird man die Ueberein- 
stimmung mit dan Berichte von dör Schlacht, die hier gelie- 
fert wurde, noch augenfälliger finden. Ganz gewiss werden 
wir dadurch auf die Grenzen von Seeland und Flandern hin- 
gewiesen. 

Hetel war, dem Gedichte zufolge, in Däneland aufgewach- 
sen. Man denke hierbei nicht an Dänemark, sondetrn an die 
Mark gegen die Dänen, limes adversus Danos, die Markgraf- 
schaft Antwerpen. Um so mehr, da er auch Herr von Fries- 
land genannt wird, welches bis an die vlämischen Grenzen 
reichte. Seine Burg hiess Campatille und Matelane. 
Der eine Name erinnert an Camp an (Campvere), das in 
einem Briefe von 976 genannt wird, den anderen findet man 
vielleicht inMatlinge wieder (gegenwärtig K e t h e 1 ) , welcher 
in einem Briefe vom Jahre 988 vorkonmat, oder vielleicht in 
Mattenburg, das „auf der Grenze von Brabant und See- 
land" lag. 

23. Auch die eigentliche Gudrunerzählung verweist nach 
diesen Gegenden. Herwig wird Herr von Seeland genannt, 
und das lag nicht fern von Hetels Reich. Dort überfallt ihn 
Siegfried, und Hetel eilt ihm zur Hülfe. Der Kampf wird in 
der Nähe eines grossen Stromes ausgefochten. Die Gegend, 
wo Hetel mit seinem Heere lag, heisst einmal „in Sturmlande", 
dann wieder „ze Waleis bi der Marke", oder auch „in daz 
vierde Land". Ich erkenne in dem grossen Fluss die Scheide 



I. Die altdeutsche Yolkspoesie. 35 

und mit dem vierten Lande könnte wohl das Land der Vier 
Ambachten gemeint sein. Die Mark zu Waleis scheint^ 
zufolge anderen Quellen, der Grenzstrich zwischen Austrasien 
und Neustrien, Belgien und Frankreich zu sein. Moring, d. h. 
Merowing, der in diesem Lande Markgraf ist, wird auch 
Moring von Nijfland, d. h. von dem NijflFel- oder Nibelungen- 
lande genannt, was Rückert gerade in jene Gegenden verlegt. 

Es unterliegt also wohl keinem Zweifel, dass die Küste 
von Seeland und Flandern der Schauplatz der Sage ist; und 
wenn man hierzu noch rechnet, dass Hagen's Reich Eyrland 
heisst, was uns wieder auf Texel hinweist, so kann man wohl 
sagen, dass die ganze niederländische Küste in Beziehung zu 
dem Gedichte steht. 

Auch in Holland scheint ein Theil der Sage ihre Heimath 
zu haben. Einer ihrer Helden ist Siegfried von Moringen 
oder Moorlant, ein mächtiger Fürst, der durch seinen Muth 
weitberühmt, und Herrscher über sieben Könige ist. Der 
spätere deutsche Dichter dachte hierbei an das Land der 
Mohren, und nennt deshalb die Hauptstädte des Reiches 
Alzab^ und Abakie; aber der geographische Zusammenhang 
verweist deutlich auf die Merwengau, die der Geograph von 
Ravenna Maurungania nennt. Der holländische Graf Dietrich, 
Amold's Sohn, lieferte die berühmte Schlacht im Walde 
Mirwidu ums Jahr 1018 mit seinen Moorsaten (cum suis 
Frisonibus Morsatenis) und seitdem hiess jene Strecke Holtlant, 
wiewohl dieser Name für einen Theil des Landes schon im 

neunten Jahrhunderte vorkommt. Wenn in dem Gedichte die 

« 

Holzazen einmal unter Frute's von Dänenland's Banner gerech- 
net werden, und wenn dann wieder Holzänelant zu dem 
Gebiete Morings zu gehören scheint, so ist dies augenschein- 
lich ein Irrthum, der aus der Unkenntniss mit dem Vaterland 
der Sage entstanden war. 

Wenn ich dies Alles in Betracht ziehe, so glaube ich das vor 
Jahren Ausgesprochene wiederholen zu müssen : ich kann nicht 
tmohin, bei diesem Siegfried von Moorland an jenen Siegfried 
oder Sicco, den heldenmüthigen Bruder des kriegslustigen 
Grafen Dietrich, zu denken, dessen romantische Abenteuer 
ihn zu einem bleibenden Helden der Sage stempeln müss- 
ten, wenn man in HoUand etwas mehr Sinn für poetische 
üeberlieferung hätte; von dessen Schicksalen Stoke femer 

3* 



36 I* I^ie altdeutsche Volkspoesie. 

erzählt^ dass ihn eine castricuniBche Frau durch ihre Schön- 
heit bezauberte, ja vielleicht sogar wirkliche Zauberei' anwen- 
dete, um ihn in ihre Netze zu locken, und ihn zu einer für 
jene Zeit unerhörten Verbindung zu bewegen. Sein Zeitalter^ 
ein Zeitalter von Krieg und Gewalt, sowohl zu Wasser als zu 
Lande, bald gegen die „bestiales Frisones", dann wieder gegen 
die verbundenen Fürsten Süd -Niederlands, tritt beim Lesen 
des Gudrunliedes deutlich vor unsere Seele, und auf die 
tapferen Moor-Friesen lässt sich sehr gut anwenden, was der 
Dichter von denen von Moorland sagt: 

£z wseren ie die besten von allen ertliche: 

Si gaben andern gesten vil ofte herberge schädeliche. 

24 In den letztbehandelten Gedichten wird schon zu 
wiederholten Malen die Hand eines christlichen Dichters bemerk- 
bar; dies giebt uns Anleitung, einen Blick, auf den Einflus» 
zu werfen, den die Einführung dieser Eeligion auf die Germa- 
nen ausübte. 

Götter und Helden gingeh, wie sich das ganz von selbst 
versteht, auch im deutschen Volksepos Hand in Hand: Nichts 
ist deshalb natürlicher^ als dass die Verkünder des Christen- 
thums eine feindliche Haltung der Volkspoesie gegenüber ein- 
nahmen, welche ihrer Lehre entgegenwirken konnte. Denn die 
sinnlich poetische Ueberlieferung hatte für den geistig noch 
wenig entwickelten Naturmenschen mehr Anziehungskraft al& 
die neue Lehre, die Demuth, Ertödtung des Fleisches und 
Selbstverleugnung predigte. Darum wurden alle möglichen 
Mittel angewendet, um den alten Kultus auszurotten. 

Heidnische, heilige Orte wurden der neuen Lehre gewid- 
met, heidnischen Festen wurde ein christlicher Charakter 
gegeben, heidnische Ueberlieferungen und Götter erfuhren 
dieselbe Metamorphose: imd so wurde dasjenige, was man 
nicht mit einem Male vernichten konnte, doch wenigstens der 
Einführung des Neuen dienstbar gemacht. Aber mit den alten 
Namen verband man nur gar zu häufig die alten Ideen: 
darum erHessen Fürsten und Kirchenversammlungen Verbot 
über Verbot, die Lieder der Vorfahren zu singen; welch^i 
Verbote wohl öffentlich, aus Furcht vor Strafe Genüge gelei- 
stet wurde, was aber die Anhänglichkeit an das Erbtheil der 
Voreltern nicht vernichtete. Endlich sah die Geistlichkeit doch 
ein, dass sie das Alte wohl am Leichtesten verdrängen könne. 



I. Die altdeutsche Volkspoesie. 37 

wenn sie etwas Anderes an seine Stelle setze^ und so entstand 
die Literatur der Greistlichkeit, bei welcher wir jetzt stillstehen 
müssen. 

Christliche Poesie in der Kirchensprache wurde schon 
finih, sowohl in als ausser Deutschland von der Greistlichkeit 
gepflegt. Dies war natürlich wegen der Sprache, in welcher 
diese Gedichte verfasst waren , von geringem Einfluss auf die 
Nation ; aber bald strebte man danach, auf eine mehr nationale 
Weise dem literarischen Bedürfniss abzuhelfen, das sich mit 
der Zeit geltend machte. 

So entstand im vierten Jahrhundert die gothische Bibel- 
übersetzung des Bischofs Ulfilas, die wie durch ein Wiinder 
für uns bewahrt geblieben ist. Seit dem achten Jahrhundert 
nahm die Zahl der deutschen, geistlichen Schriften merklich 
ZM, Ich beschränke mich auf die Erwähnung von der Ueber- 
setzung des Traktats von Isidorus de Nativitate Domini, 
aus dem siebenten Jahrhunderte; Kero's Uebersetzung der 
regula Sancti Benedict!, aus der ersten Hälfte des 
richten Jahrhunderts; die Uebersetzung der EvangeHen; das 
alliterirende Gedicht vom jüngsten Gerichte, das unter dem 
Namen Muspilli erschien, und aus derselben Zeit die Ueber- 
setzung der sogenannten Tatianischen EvangeUenhärmonie iaus 
dem neunten, die Werke des St. Galler Mönches Notker Labeo, 
unter welchen zumal seine Uebersetzung der Psalmen und des 
Traktates de Consolatione Philosophiae von Boetius bemerkens- 
v^erth sind, aus den letzten Jahren des zehnten Jahrhunderts; 
und endlich die sogenannten Wachtendonckschen Psalmen. 
Merkwürdiger fiir uns sind zwei bibUsche Gedichte aus, oder 
kurz nach der Zeit Karl's des Grossen. 

25. Unermesslich war der Einfluss, den dieser wahrhaft 
grosse Fürst auf die Entwickelung seiner Zeit hatte, und nicht 
wenig ist derselbe auch auf literarischem Gebiete bemerkbar. 

Es ist a%emein bekannt, wie Karl der Grosse sich mit 
Gelehrten umgab, die er aus der Fremde herbeizog; so 
Peter von Pisa, Paulus Diakonus, Alkuin, welchen er haupt- 
sächlich den Unterricht der fränkischen GeistUchkeit anver- 
traute. Und sie schrieben für die Dom- und EQosterschulen 
Lehrbücher, die eifrig benutzt wurden. 

In diesen Schulen verlegte man sich hauptsächlich auf 
den Unterricht in der deutschen Sprache; sowie der Kaiser 



38 , I- ^^6 altdeutsche Yolkspoesie. 

auch befahl; dass dem Volke in dieser Sprache gepredigt 
wurde und dass die Gemeinde das Vaterunser und Credo in, 
der Landessprache beten lernte. 

Sicher hatte des Kaisers Vorliebe fiir diese Sprache zur 
Folge, dass die Geistlichkeit auch mehr und mehr in derselben, 
zu schreiben begann. In der Klosterschule zu Fulda wurde 
sie hauptsächlich unter der Leitung des berühmten Abtes- 
Hrabanus Maurus (776 — 856) gepflegt, und bald gingen von 
dort aus Lehrer nach den bekanntesten Klosterschulen, wie 
Hirschau, Reichenau, Corvey, Prüm il s. w. 

Das Studium der deutschen Sprache war nicht ohne 
Schwierigkeit, denn die Schriftsprache musste erst neugeschaffen 
werden. Bis jetzt hatte die Muttersprache hauptsächlich im 
häuslichen Kreise und zu wenig gebildetem Volksgesang 
gedient: jetzt sollte sie mehr geschrieben werden. Und dass^ 
die im Lateinischen geübte Geistlichkeit bei diesem neuen 
Studium ihre Zuflucht zu der Sprache der Gelehrten nahm^ 
ist natürlich. Wie man dabei zu Werke ging, lehren die 
zahlreichen Glossaria aus jener Zeit und die sogenannten 
zwischenzeiligen (interlinearen) Versionen kirchlicher Schriften^ 
erst später freiere Uebersetzungen, denen endlich poetische 
Umarbeitungen folgten. 

Dasselbe gut von Niederland : wenigstens besass . die 
Egmonder Abtei im zehnten Jahrhunderte ein Psalmenbuch 
mit deutschen Glo'ssen (Psalterium teutonice glossatum) und 
einige ähnliche Werke. 

Aus der Schule des Hrabanus Maurus stammte der Bene- 
dictinermönch Otfriied, der ungefähr im Jahre 868 in dem Kloster 
Weissenburg im Elsass eine Evangelienharmonie schrieb, die 
gewöhnUch nach der Hauptperson der Dichtung Krist 
(Christus) genannt wird,. und in vielen Hinsichten merkwür- 
dig ist. 

Die Sprache desselben ist Hochdeutsch, die Form ist neu, 
da der Dichter in seinen Versen den Stabreim (Alliteration) 
durch den Endreim ersetzt. In der Behandlung seines Stoffes 
verfahrt er lyrisch-didaktisch ; überall tritt seine Persönlichkeit 
in den Vordergrund; er redet und prunkt mit gelehrten An- 
spielungen auf klassische Dichter. 

Aber was für uns am Merkwürdigsten ist, das ist die 
Weise, in welcher er sich erstens über die Schwierigkeiten 



I. Die altdeutsclie Yolkspoesie. 39 

äussert; die er wegen der geringen Geschmeidigkeit der an- 
gewendeten Sprache zu bekämpfen hatte; und zweitens über 
den Zweck, den er mit seiner Schrift zu erreichen wünschte. 

Nicht ohne pedantische Uebertreibung beklagt er sich in 
der lateinischen Vorrede über die Unbeholfenheit der deutschen 
Sprache, die er roh, ungebändigt nennt, nicht gewöhnt, sich 
dem Zwange der grammatischen Regeln zu fugen. Und doch 
wendet er dieselbe an, weil er fiir sein Volk schreiben wollte, 
welches das Bedürftiiss fühlte nach einem deutschen Gedichte, 
das an die Stelle des anstössigen, unzüchtigen Volksgesanges 
und des heidnischen Heldenepos treten konnte: ein Gedicht, 
welches seinen Landsleuten Liebe zu frommer Poesie geben, 
und sie zum Lesen des Evangeliums in der eigenen Landes- 
sprache bewegen soUte. 

Eigentlich strebten seine Wünsche noch höher. ErwoUteden 
Franken ein christliches Heldengedicht schenken^ wobei ihm das 
Vorbild lateinischer Epiker aus der klassischen und neueren 
Zeit vor der Seele schwebte. Wie frei er nun auch seinen 
Gegenstand behandelte, so ist ihm seine Absicht doch nicht 
geglückt, weil der gelehrte, scholastische Mönch den Ton eines 
ihm durch Richtung und Leben fremden Volkes nicht begriff 
und ihn auch augenscheinlich nicht begreifen wollte. Viel 
besser gelang dies einem anderen Dichter, der ungefähr um 
dieselbe Zeit ein ähnliches Werk schrieb, aber denselben 
Gegenstand ganz anders auffasste. 

26. Dieses Werk trägt den Namen: Heljand (der Hei- 
land) : es ist in alt-niederdeutscher oder sächsischer Sprache 
und, wie man meint, im Auftrage Ludwigs des Frommen von 
einem berühmten sächsischen Dichter verfasst. Es hat allge- 
mein grosses Lob geerntet; und wenn auch der Ausspruch 
wohl etwas übertrieben ist, der es das „ausgezeichnetste, voll- 
kommenste imd erhabenste epische Gedicht nennt, welches die 
christliche Poesie aller Völker und aller Zeiten hervorgebracht 
habe, und das in einzelnen Theilen, Beschreibungen und 
Zügen ganz und gar mit den homerischen Gesängen ver- 
glichen werden könne" — so verdient es doch mit vollem Rechte 
den Namen der „ältesten, deutschen Messiade", mit dem man 
es bezeichnet hat. 

Im Allgemeinen hält sich der Dichter an die Erzählung 
der Evangelisten, und nur zuweilen wird die Schilderung im 



40 I- ^^ altdeutsche Volkspoesie. 

Tone der Volkspoesie breiter, wenn nämlich der Gegenstand 
zu epißcher Lebendigkeit Gelegenheit biete; z. B. bei der Be- 
schreibung des Kindermordes zu Bethlehem, der Bergpredigt, 
des Sturmes auf dem Meere il s. w. Aber niemals tritt des 
Dichters eigene Persönlichkeit in den Vordergrund: sie ver- 
liert sich selbst im epischen, objektiven Tone. 

Der nicht selten wahrhaft poetischen Erzählung giebt 
das kurze Versmass angemessene Bewegung, und nirgends wird 
die kernige Sprache durch jene hässlichen Flickwörter ent- 
stellt, wie sie bei Otfried, durch den Reimzwang entstanden, 
so oft vorkommen. 

Christus ist hier wirklich der Held eines Volksgedichtes, 
weshalb auch der Titel: „Lied vom Leben Jesu^^, nicht unpas- 
send erscheint. Es umgiebt ihn mit der fiir einen alten Deut- 
schen höchsten Glorie: der eines »mächtigen Völkerfursten, 
der von seinen Dienstmannen umgeben, von unzähligen Volks- 
schaaren gefolgt, das Land durchzieht, um reiche Gaben aus- 
zutheUen. Ein einziges, kurzes Beispiel, das jedoch den Ton 
des Werkes hinlänglich charakterisirt, möge dies deutlich 
machen: ^) 

Wie Wehrschaft zog 

Vor Hierichoburg, 

War der Gottessohn, 

Der mächtige, unter der Menge, 

Da Sassen zwei Männer bei dem Wege, 

Blind waren sie beide 

War ihnen der Besserung Dürft 

Dass sie heilte 

Des Himmels Walter, 

Weil sie so lange 

Lichtes entbehrten. 

Manche Weile. 

Sie hörten da die Menge fahren 

Und fragten sogleich 

Geflissentlich 

Die Starrblinden, 

Was da für ein reicher. Mann 

Unter der Volkschaft, 

Der vornehmste wäre. 

Der hehrste am Haupt. 

^) Aus Heliand oder das Lied vom Leben Jesu in der Urschrift mit 
nebenstehender Uebersetzung y.'Dr. J. R. Köne. Münster 1855. S. 195 u. 196. 



I. Die altdeutsche Vollupoesie. 41 

Da sprach ihnen ein Held entgegen, 

Sagte, dass da Jesus Christ 

Vom Galiläalaude 

Der Heilande bester, 

Der hehrste wäre, 

Führe mit seinem Volke. 

Da ward frohmüthig das Herz 

Beiden den blinden Männern, 

Da sie das Kind Gottes 

Wussten unter der Wehrschaft, 

Biefen ihm da mit ihren Worten zu, 

Laut zu dem heiligen Christe, 

Baten, dass er ihnen Hülfe gewährte : 

Droste, David's Sohn, 

Sei uns mit deinen Thaten milde, 

Rette uns aus dieser Noth, 

Wie du häufigen thust 

Vom Menschengeschlechte, 

Du bist so manchen gut, 

Hilfst und heilest. 

27. Wie der sächsische Sänger, der wohl ein Geist- 
licher war, den Ton der Volkspoesie anschlug, so sahen wir, 
dass auch Otfried die Aufmerksamkeit auf dieselbe lenkte, 
wenngleich auf eine andere Weise. Und es konnte wohl nicht 
anders sein, als dass die Greistlichen,. welche die Dichtkunst 
pflegten, sich auch mit dem Volksgesang beschäftigen mussten. 
Und als sie, Tind mit ihnen der Weissenburger Mönch, danach 
strebten, das ihnen anstössig Scheinende daraus wegzuräumen, 
80 bestand dazu kein besseres Mittel, als sich selbst des Volks- 
liedes zu bemächtigen. 

Und das war in jener Zeit sehr leicht möglich, wo Geist- 
lichkeit und Volk noch eng bei einander standen, wo Aebte 
und Kanonici an weltlicher Freude TheU nahmen, und wo noch 
kein Verbot ausgegangen war, welches dem Priester die Theil- 
nahme am Jagdvergnügen des Edelmanns untersagte. Damals 
konnte bei der Geistlichkeit der Sinn für die Volkspoesie 
bestehen; und dass er wirklich bestand, wird aus dem Eifer 
deutlich, mit welchem man in den Höstem die Volkslieder 
aufzeichnete. In dem Kataloge des E^losters ßeichenau sieht 
man, dass daselbst schon im Jahre 821 eine Handschrift gefun- 
den wurde, welche zwölf deutsche Lieder enthielt. 



42 ^* ^^ altdeutsche Volkspoesie. 

Und nun war nur noch ein Schritt nöthig, um die Hand selbst 
an's Werk (oder an die Leier) zu legen. Dies geschah auch, 
wirklich, und die Volkspoesie kommt bald in die Hände der 
Geistlichkeit Um dies zu beweisen, lenke ich die Aufmerk- 
samkeit auf das sogenannte Ludwigslied, das den Sieg 
feiert, den Ludwig HI. im Jahre 881 bei Saucourt über die 
Normannen erfocht. Es wurde noch vor dem Tode des Sie- 
gers (ö. Aug. 882) gedichtet ; wahrscheinlich von dem berühm- 
ten Hukbald aus dem Kloster St. Amand bei Valßnciennes^ 
dem Vater der modernen Tonkunst. 

Ich lasse den Inhalt des Liedes folgen: 

Einen König weiss ich, Heisset er Ludewig; 

Der gerne Gott dienet, Ich weiss er's ihm lohnet. 

Kind ward er vaterlos, Dessen ward ihm bald Busse(Ersatz^ 
Es hielt ihn Gott, Erzieher ward er sein. 

Gott gab ihm Edle Herrliche Degenschaft; 
Stuhl hier in Franken; Brauch er es lange! 

Das theilt er dann Mit Earlomann, 
Dem Bruder sein Alle seine Wonnen. 

Wie dies war geendet; Da wollt' Gott prüfen, 
Ob er Arbeiten So. jung mochte leiden ? 

Liess er Heidenmänner Ueher See konmien; 
liess seine Franken Den Heiden dienen. 

■ 

Die gingen verloren! Die wurden erkoren! 
Harmbeschwerung erduldete. Der früher misslebte. 

Wer da ein Dieb war. Und dess genoss, 

Nahm seine Fasten, Seitdem ward er guter Mann. 

Der war ein Lügner, Der war ein Räuber, 
Der ein Verräther, Und er büsste sich dess. 

König war entfernt. Das Reich verwirret. 
Erzürnt war Christus, Leider! Dess entgalt es. 

Da erbarmt es Gott, Der wusst' all die Noth, 
HiesB er Ludewigen, Eilig herbeiziehn. 

„Ludwig, König mein. Hilf meinen Leuten, 
Es haben sie J^ormannen Harte bedrängt.'^ 

Dann sprach Ludwig: „Herre, so thu ich; 

Tod nicht entreisse mir es Was Du gebietest." 

Da nahm er Gottes Urlaub, Hob die Kriegsfahn' auf. 
Ritt dahin zu Franken Entgegen den Normannen. 



I. Die altdeutsche Volkspoesie. 43 

Gotte dankten, Die seiner harrten, 

Sprachen : „0 Herre mein, Lange harren wir Dein." 

Dann sprach mit Muthe Ludwig der Gute: 
„Tröstet Euch, GeseUen Meiner Noth Gefährten ! 

„Her sandte mich Gott! Auch mir selbst gebot. 
Ob euch rathsam dünkt, Dass ich hier kämpfe. 

„Mich selbst nicht schone. Bis ich befreit euch: 
Nun will ich, dass mir folgen Alle Gottes Holden. 

„Bescheert ist uns die Hierfrist, So lang es will Christ, 
WiU er unsere Hinfahrt, Dess hat er Gewalt. 

„Wer nun Gottes Willen, . Eilig will erfüllen. 
Kommt er gesund aus, Lohn' ich ihm das. 
Bleibet er drinnen, Lohn' ich'sden Seinen 1" 

Da nahm er Schild und Speer, Ritt eilig daher. 
Wollte irgendwo erreichen Seine Widersacher. 

Da war nicht lange. Fand er die Normannen. 
Gottlob ! rief er, Was er begehrte sah er. 

Der König ritt kühn Sang ein heilig Lied, 
Und alle sungen „Kyrie Eleyson." 

Sang ward gesungen, Kampf ward begonnen, 

Blut schien in den Wangen, Freudig kämpften die Franken, 

Da focht der Helden jeglicher. Keiner wie Ludewig. 

Schnell und kühn War je sein Sinn, 
Jenen durchschlug er, Diesen durchstach er; 

Schenkte zu Händen Seinen Feinden; 
Bitteres Leid, So weh waren sie Leibes. 

Gelobt sei Gottes Bj-aft! Ludwig ward sieghaft; 
Sagt allen Heiligen Dank! Sein war der Siegeskampf. 

wie ward Ludewig König so selig! 
Erhalt ihn Herr Gott! Bei seinen Rechten. 

28. Dass dieses Schlachtlied aus der Feder eines Geist- 
lichen herrührt, und dass deshalb der Ton des Volksliedes 
ohne Zweifel geändert wurde, fällt in's Auge, wenn man 
es mit ähnlichen Gesängen vergleicht. Ich verweise z. B. auf 
das angelsächsische Lied von Athelstans Sieg bei Brunaburg 
im Jahr 934, und auf das baskische Volkslied, das über die Ver- 
nichtung der Armee Karls des Grossen bei RoncesvaUes jubelt. *) 

>) Von beiden Stücken habe ich in meiner Geschichte der Mittel- 
niederländischen Dichtkunst Anmerkung auf Seite 100 — 103, eine Ueber- 
setzung gegeben. 



44 I- ^^6 altdeutsche Volkspoesie. 

Hier werden wir sogleich mitten in den Kampf gefuhrt, 
der den Hauptmoment des Gedichtes bildet; und der Volks- 
dichter jubelt und freut sich am Schlüsse, dass die Adler, Raben 
imd Wölfe ihr Mahl auf dem Schlachtfeld finden und dass 
die Gebeine der erschlagenen Feinde dort in der Sonne bleichen, 
und liegen bleiben werden bis in Ewigkeit. 

Wie ganz anders das LudwigsUed! Da ist der feindliche 
Einfall eine Heimsuchung des auserkornen Königs Gottes, und 
eine Strafe für des Volkes Sünden. Der Kampf .hebt mit 
Gebet an, und das Lied endigt mit frommen Danksagungen, 
Und doch traf das Lied den Volkston: dies wird deutlich, 
wenn wir sehen, wie in der Wirklichkeit die fränkische 
Armee bei Birthen oder auf dem Lechfelde sich, wie im Liede, 
durch frommen Gesang und den Genuss des heiligen Abend- 
mahls zum Kampfe vorbereitet. 

Auch im folgenden Jahrhunderte, unter den Kaisern aus 
dem sächsischen Hause (936 — 1002) weihte die GeistUchkeit 
noch dem Volksgesange Hingabe und Aufmerksamkeit. Aber 
was bei der ersten Betrachtung befremden kann, ist, dass das 
Volkslied nicht in der Sprache des Volkes aufgezeichnet 
wurde, sondern sich in klassische Gewänder hüllte. 

Und doch ist es nicht unerklärUch. Ebenso wie unter 
Karl dem Grossen bestand auch zur Zeit der Ottonen grosse 
Vorliebe für die klassische Literatur. Es entsanden imter 
ihrem Schutze immer neue, berühmte Dom- und Klosterschu- 
len, und von allen Orten wurden Gelehrte an den kaiserlichen 
Hof gezogen. Und dieses Studium durchdrang alle Klassen 
der Gesellschaft. Die erwähnten Kaiser waren selbst nicht 
nur mit der lateinischen, sondern auch mit der griechischen 
Literatur vertraut: an ihrem Hofe las man Plato und Homer. 
Hedwig, die Tochter Heinrichs von Baiern, die früher dem 
griechischen Kaiser zugedacht und dadurch mit der griechi- 
schen Literatur bekannt war, die Horaz und Virgil las, 
wusste den schwäbischen Herzog Burkard, den sie später 
heirathete, für ihr LiebUngsstudium zu gewinnen. Bruno, Erz- 
bischof von Köln, Otto L Bruder, las die alten Schriftsteller, 
und führte selbst auf der Reise seine Bücher bei sich : er Hess 
aus Griechenland Gelehrte kommen. Im Egmonder Kloster 
fand man nicht nur die wunderbare Geschichte von Alexander 
dem Grossen, dem Trojanischen Küeg von Dares Phrygiua, 



I. Die altdeutsche Volkspoesie. 45 

und den Waltharius^ sondern man las auch schon im elften 
Jahrhundert Cicero: de Senectute, de Amicitia^ seine 
orationes; Persius^ Horaz^ Lucian^ Sallust^ und etwas 
später (gegen 1140) auch den Virgil. 

Wie gross der Einfluss der Klassiker war, beweist die 
Art, wie man gegen dieselben kämpfte. Als ungefähr 980 
die berühmte Aebtissin Hroswitha, von der wir noch eine 
Lebensbeschreibung Otto's I. in lateinischen Versen besitzen, 
die Lustspiele des Terenz verdrängen wollte, verfasste sie 
selbst geistliche Komödien, die beweisen, wie sehr sie mit dem 
von ihr verdrängten Schriftsteller bekannt war. 

Das AUes brachte eine Vereinigung deutschen Geistes 
mit lateinischer Form, romantischen Inhaltes mit klassischem 
Grewande zu Stande, die sehr auffallig ist. 

29. Ein merkwürdiges Produkt dieses Geistes war das 
Gedicht, welches den Namen Waltharius fuhrt. 

Es wird in demselben erzählt, wie Wather, der Sohn des 
Königs von Aquitanien, die burgundische Königstochter Hilde- 
gard vom Hofe Attila's entführt, woselbst sich Beide als 
Geissein befanden. Der fränkische König Günther, der nach 
den Schätzen verlangte, welche Walther mit sich führte, ver- 
weigert den Flüchtigen den Durchzug durch sein Land, und 
überfallt sie in der Nähe von Worms. Er wird jedoch mit 
allen seinen Helden in einer Eeihe von Zweikämpfen von 
WaJther besiegt, der Letztere führt seine Braut in die väter- 
liche Wohnung, und vermählt sich mit ihr.- 

Das Gedicht entstand in der ersten Hälfte des zehnten 
Jahrhunderts im Kloster von St Gallen, und wurde, kaum 
ein Jahrhiindert später, durchgesehen imd überarbeitet. Der 
Inhalt versetzt uns ganz in die altdeutsche Heldenzeit mit 
ihren rauhen, aber biedern Sitten, an welcher noch manche 
Erinnerur^ an das germanische Heidianthum hängt. Im schärf- 
sten Gegensatze ihr gegenüber steht die Form, die ganz klas- 
sisch bt, und an Homer und Virgil erinnert, welchem Letzteren 
der Dichter nicht selten Bilder, ja sogar ganze Verse entlehnt, 
um sein eigenes Werk damit zu schmücken. 

Dass dieses Gedicht nicht von dem St. Galler Mönche 
erdacht, sondern dass es eine Nachahmimg einer deutschen 
Volksdichtung ist, wird aus Allem deutlich. Nicht nur spricht 
dafür der echt epische Gang der Erzählung und der darin 



46 I- ^^^ altdeutsche Yolkspoesie. 

herrschende Ton, sondern noch mehrere Einzehiheiten weisen 
darauf hin. Ich bezeichne nur die Schlussworte : ^^Haec est 
Waltharii poesis^^, was zweifellos die Uebersetzung des deut- 
schen: ,,daz ist Waltharies liod^^, welcher Schluss, wie wir 
unter Anderen beim Nibelungenliede sehen, in der altdeutschen 
Poesie sehr gebräuchlich ist. Aber es zeigt sich noch deut- 
licher, wenn wir sehen, wie einer der Helden des Gedichtes: 
,,Hagano spinosus^', genannt wird, was nur dann Sinn 
hat, wenn wir die . Uebersetzung- des deutschen Wortspiels: 
„Haganön haganin", dagegen halten.^) 

Der Gegenstand ging in den Mimd des Volkes über, und 
man besitzt Fragmente des Gedichtes in einer mittelhochdeut- 
schen Bearbeitung aus dem dreizehnten Jahrhundert. 

Ausser diesem Gedichte lassen sich noch viele ähnliche 
nachweisen: in erster Reihe dasjenige, welches unter dem 
Namen ßuodlieb bekannt ist; und in den ersten Jahren 
des elften Jahrhunderts von dem Tegernseeer Mönch Froumunt 
verfasst wurde. 

Es ist zu beklagen, dass von diesem Gedichte nur ver- 
hältnissmässig wenige Fragmente bestehen, der darin herr- 
schende Ton und die geschilderten gesellschaftlichen Formen 
machen gleichsam den Beginn jenes Uebergangs von der 
Volks- zur Ritterpoesie aus. 

Höchst merkwürdig ist ebenfalls die ganze Reihe grösse- 
rer oder kleinerer lateinischen Gedichte, die einen eigenartigen 
Zweig der Volkspoesie behandeln, nehmlich die Thiersage. 
Auf diesen Gegenstand selbst und auf einzelne der Gedichte 
kommen wir später, bei der Betrachtung des vlämischen 
Reinaert zurück : wir beschränken uns hier nur auf Nennung 
der Titel. 

Hier fordert ein Stück zuerst unsere Aufmerksamkeit, 
betitelt: Versus de Gallo, welches man Alkuin zuschreibt, 
und das dem achten Jahrhunderte angehört; ferner ein im 
zehnten Jahrhundert in Lothringen geschriebenes Gedicht: 
Ecbasis Captivi; dann der Luparius aus dem Elften, 
und der Isengrimus aus den ersten Jahren des zwölften, 
vielleicht noch aus dem Ende des elften Jahrhunderts ; endlich 
der Reinardus Vulpes, entstanden in den Jahren 1148 



^) Hagen heisst Dorn, spina. 



I. Die altdeutsche Volkspoesie. 47 

l)is 1160. Die beiden Letzteren stammen aus Flandern. Zum 
SchlusB sei noch der Poenitentiarius erwähnt, der nicht 
höher hinaufreicht, als bis in die ersten Jahre des dreizehnten 
Jahrhunderts. 

Diesen schliessen sich französische, deutsche, vlämische 
und holländische Gedichte an, die wir an ihrer Stelle besprechen 
werden. 

30. Aus dem Vorhergehenden wird es deutlich, wie sich 
-die Geistlichkeit mit der Dichtkunst im Allgemeinen und mit 
der Volkspoesie im Besonderen beschäftigte. Und wie viel 
der Art ist nicht fiir uns verloren gegangen! Wenn man 
wenigstens dem Zeugniss der Bearbeiter von späteren fran- 
ÄÖsischen imd deutschen Dichtern aus dem zwölften und drei- 
zehnten Jahrhundert trauen darf, welche berichten, dass sie 
den einen oder anderen Inhalt ihrer Gedichte einer alten 
Klosterhandschrift entnommen haben, oder dass ihr Text die 
Nachahmung- eines lateinischen Vorbildes sei, das natürlich 
in's zehnte oder elfte Jahrhundert verlegt werden muss. Sind 
die Zeugnisse, die Frankreich betreflfen, nicht allzu authentisch, 
so darf man doch denen über Deutschland nicht ihre Glaub- 
würdigkeit absprechen. 

üebrigens blieb die Poesie, als die Muttersprache das 
Lateinische wieder verdrängte, wie wir bald sehen werden, 
wenigstens in Deutschland noch eine Zeitlang in den Händen 
der GeistHchkeit; denn in den ältesten, mittelhochdeutschen 
Gedichten ist es noch immer ein Pfaffe Konrad, Werner 
oder Lamprecht, der sich als Dichter oder Bearbeiter nennt. 

Li Frankreich war es anders; dort blieb, wie es scheint, 
die Volkspoesie immer mehr das Eigenthum der Laien, oder 
irurde wenigstens schneller wieder säcularisirt. 



IL 

EntwicMung der epischen Poesie in 

Frankreich. 



31. Es war ganz natürlich^ dass die Niederlande anfäng- 
Kch an der literarischen Bewegung in Deutschland Theil nah- 
men. Nach und nach wurde dies aus eben so natürlichen 
Ursachen anders: die literarische Verbindung mit Deutsch- 
land hörte beinahe ganz auf, und die französische Muse wurde 
die Pflegerin unserer Poesie. 

Dies war von dem Augenblicke an der Fall, als die Bil- 
dung in Flandern einen höheren Flug zu nehmen begann, 
wodurch es auch im Gebiete der Literatur zum Vorbild und 
Führer für das übrige Niederland wurde ; bekannt ist es, dass 
Flandern durch Lehensverhältnisse mit Frankreich verbunden 
war, und dass. der gräfliche Hof in lebhafter Verbindung mit 
jenem Reiche stand. 

Es ist deshalb nothwendig, unste Aufmerksamkeit, wenig- 
stens bis zu einem gewissen Grade, auf den Lauf der Begeben- 
heiten in Frankreich zu richten. 

Als die Franken sich des grössten TheiFs von Gallien 
bemächtigt hatten, kamen sie nicht nur in Berührung mit 
der gallo-r^omanischen Bildung, sondern sogar gänzlich unter 
den Einfluss derselben. Die Bekehrung zum Christenthume 
und der sich hieraus entwickelnde vorwiegende Einfluss der 
GeistUchen, die Sucht der Könige, sich mit dem Purpur der 
römischen Patrizier und Auguste zu umhüllen: das war es, 
was wesentlich zu der Eomanisirung der Franken beitrug. 

Während aber die germanischen Eroberer ihre Aufinerk- 
samkeit meistens nur auf dasjenige richteten, was in irgend 



II. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 49 

einer Beziehung zu dem Kriege stand, blieben die Künste des 
Friedens, die Verwaltung, die Rechtspflege, das ausschliess- 
liche Eigenthum der Romanen. Die lateinische Sprache erhielt 
und behielt nicht nur in der Kirche die Oberhand, sondern 
sie wurde selbst die Sprache der Regierung, ja, des täglichen 
Umgangs. Und wie bald der Hof schon romanisirt war, wird 
daraus deutlich, dass Chilperich (f 584) selbst lateinische 
Verse machte, während in der Umgebimg seines Bruders 
Siegbert (f 57 ö) der bekannte Hofpoet Venantius Fortunatus 
lebte. 

Dadurch wurde natürKch das Fortbestehen der alther- 
gebrachten Volksüberlieferungen nicht befördert. Fügt man 
dazu noch die Unruhen, der vielbewegten Zeit, die Gräuel, 
welche die Geschichte des Merowingischen Hauses unter den 
Söhnen Chlotar's des I. im sechsten Jährhundert kennzeichnen, 
und die unaufhörlichen Bürgerkriege, die daraus entstanden, 
so war es nicht anders möglich, als dass die alte Sage ver- 
stummen musste. 

Fragt man, ob damals keine neuen Ueberlieferungen ent- 
standen , . so darf man es wohl für höchst unwahrscheinlich 
halten, dass weder die Verheerung des römischen Gebietes, 
noch die tragischen Schicksale des fränkischen Königsstammes 
Veranlassung zu Volksliedern gegeben haben sollten. Und 
ausserdem berichtet ein Geschichtschreiber des neunten Jahr- 
hunderts, dass Theodorich, doch wohl Chlodwig^s Sohn, der 
dem Frankenreiche eine so grosse Ausbreitung gab, in Volks- 
liedern besungen und gefeiert wurde. ^) Dass diese oder andere 
Sagen in der ältesten Geschichte der Franken von Gregorius 
von Tours selten erwähnt werden, beweist Nichts : der genannte 
Schriftsteller hatte mehr die Absicht, eine kirchliche, als eine 
weltliche Geschichte zu geben. Ueberdiess schrieb er auch 
hauptsächlich über Zeiten, die er selbst erlebt hatte „quae aut 
ipse vidi aut a fidelibus relata cognovi" (V, 6), daher findet man 
nur in den ersten Büchern einen zwar schwachen, aber nichts 



^) Saxo grammaticus sagt in Bezug auf Karl den Grossen : 

Vulgaria carmina magnis 
Laudibus ejus avos et proavos celebrant; 
Pippinos, Carolos, Hludwicos (?) et Theodoricos 
Et Carlomannos Hlotarlosque canunt. 
Der Plural ist ohne Zweifel eine rhetorische Figur. 

Jonckbloet's Gescliicbte der Niederländischen Literatur. Band I. 4 



50 I^' Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 

destoweniger sehr deutlichen Nachhall der Heldensage. . Aber 
was er davon sagt,^) zeigt deutlich^ wie wenig Sympathie der 
Geschichtschreiber dafür hegte. 

Wie dem auch sei, bald sank das Merowingische Greschlecht 
tief unter die Mittelmässigkeit, und die austrasischen Majores 
domus bemächtigten sich erst der königlichen Gewalt, zuletzt 
selbst des Thrones: diess trug sicher nicht dazu bei, den 
merowingischen Sagen viel Lebenskraft zu verleihen. Man 
findet deshalb in späteren Gedichten kaum noch eine Spur 
davon: vielleicht enthält ein hochdeutsches Gedicht die einzige.^) 
In einer Chronik des elften Jahrhunderts heisst es, dass früher 
alle Franken Hugonen genannt wurden, und dieser Name 
kommt auch in dem angelsächsischen Beowulfs - Liede vor: 
wenn nun dieselbe Chronik den austrasischen Theodorich Hugo 
Theodorikus nennt, so wird die Behauptung deutscher Gelehr- 
ten sehr annehmbar, dass zwischen diesem historischen Namen 
und den hochdeutschen Sagen von Hug- Dietrich und ßother 
ein Zusammenhang besteht. Ob in dem Nibelungenliede Spu- 
ren einer austrasischen Siegbertsage zu finden sind, möchte 
ich nicht so unbedenklich beistimmen. 

Mit den Karolingern fand eigentlich eine neue Invasion 
germanischen Geistes in Gallien statt. Die deutsche Sprache 
wurde wieder Hof- wenn auch nicht Landessprache : die deut- 
schen Sitten lebten wieder auf, und es lässt sich leicht begrei- 
fen, dass auch das Interesse an den alten Stammsagen wieder 
erwachte. Aber das Alles war nicht von bleibender Dauer: 
die historischen Ueberlieferungen hielten nicht Stand vor dem 
Zahne der Zeit; und nur die den Germanen zugehörende 
Thiersage erhielt sich, wahrscheinlich wegen ihres allgemeinen 
Charakters, lebendig. 

Dass schon unter Karl dem Grossen sich die Spuren von 
geringer Lebenskraft der germanischen Heldensage zeigten. 



^) Im zweiten Buche , Kap. 2 , der Streit zwischen den Vandalen 
und Sueven; Kap. 12, Childerichs Flucht nach Thüringen; Kap. 27 und 
32, die Berichte über Chlodwig. Buch III , Kap. 4 , die Geschichte der 
thüringischen Könige; Kap. 14 und 15, die Theodorich betreftendeu Er- 
zählungen. 

^) Es besteht sicher keine Verwandtschaft zwischen dieser alten 
' Sage und dem Chanson de geste von Floovant , dem Sohne des Chlovis, 
deren wir später noch gedenken werden. 



IL Eotvkkehiag der epischen Poesie in Fnukracli« 51 

kann man aus der Soi^ erkennen, mit welcher der Kaiser 
sieh derselben annahm, indem er die alten Heldenlieder auf- 
zeichnen Ues&^t 

Diese Sammlung ist fiir uns verloren gegangen, £mu griiss- 
ten Naehth^ für die Geschichte der germanischen Literatiir» 
aber es scheint, als ob ihr Inhalt auch bald aus dem Ginlächt- 
nis8 des Volkes verschwunden sei. 

Und kein Wunder: das neue Fraukenreich ging mit Rie- 
senschritten seiner selbstständigen Entwickelung entgegen, 
wobei das gallo-romanische Element so überwiegend war, dass 
sowohl Franken, als Burgunder, sowohl die Gi>then, als sj>Äter 
die Normannen ihr stolzes Haupt darunter beugen nuissteu. 
Dazu kam noch, dass schon sein* früh das Franki*eich mit 
Deutschland verknüpfende Band gelockert wurde, mn sicli 
zuletzt ganz und gar aufisulösen. Schon zur Zeit Kaiser 
Otto's L machen sich nationale Antipathien bemerklich. 

Ungeachtet der Vorliebe Karl's des Grossen liir seine 
Muttersprache, blieb sie doch wahrscheinlich schon unter sei- 
ner Regierung nicht mehr die Sprache des täglichen Lebens, 
Die bekannten Eidesformulare von Sti'assbui'g vom Jahre 842, 
also aus dem ersten Vierteljahrhunderte nach seinem Tode, 
zeigen deutlich genug, dass das Romanische die Volkssprache 
der Franken verdrängt hatte; und selbst am Hofe Karl's des 
Einfaltigen verstand man im Jahre 912 den sehr gewöhnlichen 
Ausruf bi Got nicht mehr. Ebenso hatten auch die Nor- 
mannen schon ziemlich bald nach ihrer Niederlassung in Frank- 
reich ihre Sprache gegen die romanische vertauscht: RoUo's 
Enkel musste nach Bayeux geschickt werden, mn die Sprache 
seiner Väter zu lernen, die man in Ronen nicht mehr verstand. 

Mit der Sprache der Vorfahren verschwanden auch die 
Lieder und VolksüberHeferungen, die in ihr verfasst waren. 

Dabei kam noch ein anderer Grmid, sie aus der Er- 
innerung zu verbannen; sie wurden nehmlich durch neue 
Gesänge verdrängt, welche mehr Lebensfähigkeit besasson. 
Dies hatte folgende Gründe: Erstens waren sie in einem der 
neuem, südlichen oder nördlichen Volksdialekte abgefasst, 

^) Einhard sagt: ^^Barbara et antiquissima carmina) quibis veterum 
regum actus et bella canebantur, scripsit memoriaeque mandavit.^' Und 
Sazo : „quae veterum depromunt regum Barbara mandavit carnuna 
litterulis/* 

4« 



52 II' Entwickelung der episclien Poesie in Frankreich. 

zweitens besangen sie Begebenheiten, die auch unter dem 
neuen Zustand der Dinge einen mächtigen Eindruck ausübten^ 
und drittens, konnte ihr Inhalt leichter mit späteren Begeben- 
heiten in Verband gebracht werden. 

32. Hatte schon die Eroberung des römischen Gebietes wahr-- 
scheinlich den Stoff für Volkslieder geliefert, so mussten die 
Einfälle, denen das Frankenreich und das Christenthum unab- 
lässig bloss gestellt waren, und durch welche Nationalität^ 
Bildung und Glaube bedroht wurden, auf das Gemüth der 
Bevölkerung einen noch tieferen Eindruck machen, und der 
Jubelruf der Nation, wenn jene Einfalle glücklich zurück- 
geschlagen wurden, musste in Gesänge bleibenderer Art über- 
gehen. 

Dass die Eaubzüge der Normannen zu solchen Volks- 
liedern Veranlassung gaben, sehen wir schon an dem Lud- 
wigsliede; aber auch ausführlichere Gedichte entstanden,^ 
denn ein Chronist aus dem Anfange des 12. Jahrhunderts 
(Hariulfus f 1 1 43) erwähnt sie und bezieht sich auf dieselben. ^) 
Und ein Nachhall dieser Gesänge ist wahrscheinlich bis auf 
uns gekommen.^) 

Aber noch kräftiger, noch allgemeiner war der Eindruck,, 
den ^e wiederholten Einfalle der Mauren im Süden hervor- 
brachten, und der durch dieselben verbreitete Schrecken bebte 
noch Jahrhunderte lang in der Bevölkerung nach. Die Gründe 

^) Hariulfus , der Chronist von St. Eiquier (Chronicon Centu- 
lense), sagt (noch vor dem Jahi*e 1068, s. den Schluss der Chronik 
bei d*Achöry, Spicilegium foL T. III. S. 356): „Post mortem 
Hludogvici , filii ejus Hludogvicus et Karlomannus regnum inter se 
dispertiunt. His ergo regnantibus, contigit Dei judicio innümerabilem 
barbarorum multitudinem limites Franciae pervadere, agente id rege 
corum Guaramundo, qui multis, ut fertur, regnis suo dirissimo imperio 
subactis, etiam Franciae voluit dominari, persuadente id fieri quodam 
Esimbardo francigena nobili, qui regis Hludogvici animos offenderat, 
quique genitalis soli proditor, gentium barbariem nostros fines visere 
,hoi*tabatur. Sed quia quomodo sit factum non solum historiis, sed etiam 
patriensium memoria quotidie recolitur et cantatur, non 
pauca memorantes, caetera on^ittamus, ut qui cuncta nosse anhelat, 
non nostro scripto, sed priscorum auctoritate doceatm\" 

^) Das Fragment, betitelt La mort du Roi Gormont, in Eeif- 
fenbergs Mousk^s II, X. Der Dichter beruft; sich auf ein noch ältere» 
Stück: „Ceo dist la geste k-Seint-Richier*', womit ganz gewiss nicht die 
Chronik von St ßiquier gemeint ist, wie der Herausgeber glaubt. 



II. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 53 

dafür waren nur zu triftig, denn selbst die trockenen Berichte 
der Chronisten über die angerichteten Verwüstungen lassen 
uns noch heute die Haare zu Berge steigen. 

Karl Martell hatte seinen Namen durch die Schlacht in 
der Ebene von Poitiers (732) unsterblich gemacht, und dieser 
Sieg wurde in Volksliedern verherrlicht. Der feindliche Anfall 
wurde unter Karl dem Grossen kräftig erneuert, und 793 zwi- 
schen Narbonne und Carcassone an den Ufern des Orbieux 
eine blutige Schlacht geliefert, in welcher die Franken geschla- 
gen wurden, aber in welcher sie sich doch so tapfer zur 
Wehre setzten, dass der Sieger nicht weiter vordringen konnte, 
sondern, zufrieden mit der eroberten Beute, nach Spanien 
zurückkehrte. 

Auch diese Schlacht lebte im Volksliede fort, das den • 
Muth der Vertheidiger, hauptsächlich aber auch den Schrecken, 
welchen der fürchterliche Anfall hervorgebracht hatte, schil- 
derte, wie aus der noch vorhandenen Umarbeitung der 
poetischen Erzählung deutlich wird. ^) Da die Volksphan- 
tasie sich aber nicht auf die Dauer an der Schilderung 
^iner Niederlage ergötzen konnte, so verknüpfte man damit 
die Ueberlieferung vom Siege bei Poitiers, welche dadurch 
ebenfalls erhalten wurde, und die mit der Sage von der 
Schlacht am Orbieux zu einem Gedichte verschmolz, das 
bis auf uns gekommen ist, und eins der merkwürdigsten Stücke 
des Epos von Wilhelm von Oranien bildet. 

Ebenso hielt die Volkserinnerung den Zug fest, den Karl 
der Grosse 778 in Spanien gemacht hatte: auch hier nicht 
wegen der Lorbeeren, die man dabei errungen, sondern als 
Nachempfinden des Entsetzens, welches die Vernichtung von 
einem Theile des Heeres in den Pyrenäen (Roncesvalles) her- 
vorgebracht hatte, und wobei die vornehmsten fränkischen Anfuh- 
rer umgekommen waren. Und dabei ist sehr augenfällig, dass 
schon zur Zeit von KarFs Sohn die Namen der dort gefallenen 



*) Ganz richtig hat Fauriel darüber in seiner Hist. de la po^sie 
Proven^ale, Band III. S. 66, gesagt: „Nulle autre ^pop^e Karlovingienne 
n^est ßi fortement empreinte que celle-ci d*um certain sentiment d'inqui^tude 
et d*eftroi, que Ton pourrait prendre pour une tradition, pour un reflet 
des ^motions contemporaines , excit^es par cette terrible lutte de deux 
Bi^cles entre le midi de la Gaule et les Arabes andalousiens." 



54 II. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 

Helden im Volksmund gefeiert wurden, wie ein gleichzeitiger 
Schriftsteller bezeugt. ^) 

Aber Karl hat seine Heere weiter geführt. Die Kriegs- 
züge in Italien gegen Langobarden und Sarazenen sind be- 
sungen worden, und Umarbeitungen dieser Sagen sind bis auf 
unsere Zeit gekommen. Auch der dreissigj ährige Krieg gegen 
die Sachsen hat poetische Erinnerungen hinterlassen. 

Diese wiederholten blutigen Kriege, bei denen oft viel^ 
zuweilen Alles auf dem Spiele stand, die also auf Grefühl und 
Phantasie gleich stark einwirkten, mussten-wohl die Erinnerimg 
an frühere ähnliche Begebenheiten fast ganz verwischen, wenn 
sie nicht mit der neuen, im Entstehen begriffenen Ueberlie- 
ferung in Eins verschmolzen. 

Die verschiedenen Helden, welche die Träger der Sage 
wurden, gruppiren sich Alle um einen Mittelpunkt, eine 
Hauptperson, um den grossen Kaiser, den von Gott erwählten 
Vertheidiger und Regierer der Christenheit, dessen Indivi- 
dualität so mächtig wirkte, dass die Legende bald darauf seine 
sittliche Grösse symbolisirte , indem sie ihm Riesengestalt 
zuschrieb. 

Alles, was mit der Regierung dieses Kaisers in Verbin- 
dung stand, musste tiefen und bleibenden Eindruck machen ;^ 
es war also kein Wunder, dass das Frankenvolk voll von 
der ergreifenden Feierlichkeit war, bei der Karl im Septem- 
ber 813 seinen Sohn Lud^^ig auf dem Reichstage zu Aachen 
als seinen Nachfolger und Mitregenten krönen liess. Nicht 
nur wurde jener .Hoftag ausführlich von den Chronisten 
beschrieben (z. B. von Theganus), sondern auch die Kunst- 
und die Volkspoesie wusste davon zu berichten. Ermoldus 
Nigellus widmet ihm den ersten Theil des zweiten Buchs seines 
Carmen de rebus gestis Ludovici Pii und die Volks- 
überlieferung ergötzte sich an derselben Begebenheit, die sie 



^) Der sogenannte Astronomus sagt in seiner Vita Hludovici Piir 
„Dum enim quae api potuerunt in Hispania peracta essent et prospero 
itinere reditum eseet, infortunio obveniente, extremi quidem in eoden^ 
monte regii caesi sunt agminis. Quorum quiavulgata sunt nomin a^ 
dicere supersedi.** 

Dass vielleicht auch eine ältere Sage, aus der Zeit Dagoberts, in die 
jüngere Erzählung einverleibt wurde, ist nicht unwahrscheinlich. Man ver- 
gleiche darüber den zweiten Theil meines Guillaume d'Orange, p. 49. 



IL Entwickelang der epischen Poesie in Fnmkreich. 55 

unter EBnzufägmig von Umständen besangt welche die offieielle 
Geschichte nicht in ihren Bereich ziehen durfte. Der älteste 
Theil von dem noch bestehenden französischen epischen 
Gedichte, das den Titel fuhrt: Le couronnement du roi 
Liouis, und welches mit der Sage von Wilhelm von Oranien 
in Verband gebracht wurde, beweist dies hinlänglich. 

Man sieht aus diesem einen Beispiel, wie viel Neues zu 
der Volksüberlieferung kam. 

33. Das Alles hatte einen mächtigen Eindruck gemacht, 
der nicht so leicht wieder verwischt werden konnte: um so 
weniger, da diese Begebenheiten nicht durch grosse Thaten 
von KarFs Nachfolgern verdunkelt wurden. Mit raschen 
Schritten ging das E^arolingische Haus seinem gänzlichen 
Untergange entgegen. Schwache Fürsten folgten einander, die 
den stets mächtiger werdenden Grossen des Reichs zum Spiel- 
balle dienten; und wenn irgend etwas während ihrer Schein- 
regierung die Aufinerksamkeit hervorrief, so waren es ihr^ 
einheimischen Fehden und Unruhen, die das Reich zerstörten. 
In dem Kampfe, den einmal die Lehnsleute und der König, 
dann wieder die grossen Vasallen unter einander fährten, 
musste das kräftige Auftreten einer aussergewöhnlichen Per- 
sönlichkeit nicht selten Begebenheiten in's Leben rufen, die, 
wenn auch oft nur in beschränktem Kreise, auf die Phantasie 
lebhaft einwirkten. So entstanden neue Sagen, die jedoch 
nicht im Stande waren, den nationalen Riesenheld Karl den 
Grossen von der Bühne zu verdrängen, aber die entweder mit 
den vorhandenen Ueberlieferungen zusammenflössen, oder neben 
denselben fort bestanden. 

Ich muss mich hier auf die Erwähnung einiger Sagen 
letzterer Art beschränken, die auch bis in spätere Jahrhunderte 
fortlebten, und auf flandrischem Boden entstanden waren. 

Die Kämpfe und Fehden der Grafen von Cambray kom- 
men hier zuerst in Betracht. Sie waren in den Streit zwischen 
Karl dem Einföltigefi und Graf Odo von Paris verwickelt, in 
welchen der Letztere KarFs Thron streitig zu machen suchte. 
Rolf (Raoul) von Cambray, der dritte Sohn des flämischen 
Grafen Balduin mit dem eisernen Arm, stand mit seinem Bru- 
der Balduin Herbert von Vermandois gegenüber, welcher zur 
Parthei Odo's von Paris gehörte. Er wurde in diesem Streit, 
wie man sagt von Herbert selbst, erschlagen. Sein Sohn, der 



56 n. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 

eben wie der Vater Rolf hiess , setzte den Kampf gegen Her- 
bert's Kinder fort. Dieser Krieg, in welchem die Einäscherung 
der Abtei von Origni eine der wüstesten Episoden bildet, imd 
in weichem auch der Graf von Cambray auf gewaltsame 
Weise das Leben verlor (943), ist nicht nur von der 
Geschichte verzeichnet, sondern bildet auch den anziehenden 
Inhalt eines epischen Gedichtes, das bis auf unsere Tage erhal- 
ten worden ist, und den Titel führt: Raoul von Cambray. 

Vielleicht hat eine Sage auf dieselbe Fehde Bezug, die 
mit einer anderen vereint, die Grundlage des Gedichtes: 
das Lied der Lotharinger (Chanson desLorrains) 
bildet. Der Streit wurde zwischen Garin von Lothringen, 
und Fromond, Herrn von Lens in Flandern geführt. Die 
Ueberlieferung, von der wir jetzt sprechen, besang wahr- 
scheinlich die persönliche Fehde eines fränkischen Oberhauptes, 
Worin genannt, und eines Kriegsmannes, der augenschein- 
lich Flandern vergegenwärtigt, da in einer alten Chronik 
die Vlämen Fromond's genannt werden. 

Vielleicht ist die Sage, die den vlä,mischen Kern des 
Gedichtes ausmacht, von noch früherer Zeit, was indessen 
nicht ganz wahrscheinlich ist ; auf alle Fälle ist sie mit einem 
anderen Cyklus verbunden, der in Süden seinen Ursprung 
hatte, und sicher bis gegen das Ende des neunten Jahrhunderts 
zurückzuführen ist. 

Fromond ist in dem französischen Gedichte .nicht 
nur Herr von Lens in Französisch - Flandern , sondern auch 
Graf von Bordeaux; und der Garin, der gegen ihn aufsteht, 
ist ursprünglich nicht identisch mit dem, der den Vlämen 
bekämpft. 

Die Vertreibung des merowingischen Königgeschlechtes 
vom Throne hatte eine lange Reihe von Kriegen zwischen 
Süd- und Nordfrankreich zur Folge, die erst zur Zeit KarFs 
des Kahlen beendigt wurden, als Garin, Graf von Macon, die 
Feindseligkeiten Aquitanien's besiegte. ^ Auch dieser Kampf 
hat zu allerlei Volksüberlieferungen Anlass gegeben, deren 
Spuren noch in einzelnen Gedichten aus späteren Jahrhun- 
derten zurückgefunden werden: eine davon hat sich mit 
der Erinnerung an den vlämischen Kampf vermischt ; die Hel- 
denthaten der beiden Garin's, sowie die Thaten der zwei 
Fromond's wurden auf eine Person übertragen , wie das in 



11. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 57 

der Volksüberlieferung so oft geschieht. Denn hier mnss noch 
hinzugeftigt werden, dass im Süden auch wirklich ein Fromond 
bekannt war, der in verschiedenen alten Gedichten vorkonunt ; 
in einem derselben wird er zu gleicher Zeit mit jenem Waifari 
von Bordeaux genannt, welcher der heftigste Widersacher des 
neuen königlichen Stammes der Karolinger gewesen ist. 

34. Es ist höchst merkwürdig, dass sich aus den ausein- 
anderlaufenden Ueberlieferungen des achten, neunten und 
zehnten Jahrhunderts ein allgemeiner Sagenkreis gebildet hat, 
der als der Cyklus Karl's des Grossen bekannt ist. Und doch 
ist diese Thatsache nicht schwer zu erklären. 

KarFs mächtige Persönlichkeit und die grossartigen Be- 
gebenheiten, welche seine Eegierung bezeichneten, hatten so 
lebhaft auf die Phantasie eingewirkt, dass sein Name allen An- 
deren vorleuchtete, und dass die Ueberlieferung, die von ihm 
berichtete, Ereignisse, die in der Wirklichkeit sich auf Jahr- 
hunderte verthellten, in sich aüftiahm. Alles, was man von 
irgend einem Karl wusste, wurde ihm zugeschrieben und so 
verschmolzen die Berichte über Karl Martell, sowie über Kiirl 
den Kahlen mit des grossen Kaisers Legende; kein anderer 
Ludwig fand vor der Volkserinnerung Gnade, als sein Sohn, 
auf dem man selbst das Ereigniss mit Ludwig d'Outremer 
übertrug; wollte, man weiter zurückgreifen, so erzählte man 
von seinem Vater Pipin. 

Dass dadurch die poetische Figur des Kaisers an Einheit 
verlor, indem ihm Charakterzüge, welche man von so ver- 
schiedenen Personen entlehnt hatte, zuertheUt wurden, ist leicht 
zu begreifen. Einmal ist er der von Gott erwählte und von 
Wundern umgebene Schirmherr von Kirche und Staat; dann 
wieder der schwache, durch niedrige Leidenschaften beherrschte 
Tyrann, welcher der Spielball seiner arglistigen oder über- 
müthigen Barone wird. 

Dessen ungeachtet sind die Gedichte dieses Cyklus, im 
Ganzen betrachtet, der reine Ausdruck des Volksgeistes wäh- 
rend des karolingischen Zeitraumes : in ihnen spiegelt sich treu, 
und nicht selten mit den glänzendsten Farben, was die Gemüther 
bewegte ; es sind in Wahrheit Volksgedichte, deren historische 
und nationale Färbung ihnen eben den eigenartigen Charakter 
giebt. 



58 II' Entnickelung der epi»cben Poesie in Frankreicli. 

Hauptsächlich dadurch, theilweiae aber auch durch ihre 
wahrhaft groBsartige Poesie, lebten diese Gedichte nicht nur 
i'urt, sondern fesaelten beinahe aussehliesslich die Aufrnerfesam- 
ki'it von Arm und Reich, von Kdelmann und Bauer, bis unter 
il.'ni Einäuss der Kreuzziige die gesellschaftliche Bildung ihren 
Wendepunkt erreichte. Aber obgleich die Literatur damals 
(■iucEeformation erfuhr, so wurden doch die nationalen Gedichte 
dadurch nicht verdrängt: sie nahmen nur eine mehr oder 
wi'iiiger veränderte Gestalt an, durch welche sie bis zur 
Iti'naissance in der ■ Volksüberlieferung fortlebten. 

35. Es ist hier der Ort, auch über die Form dieser 
ficdichte zu sprechen. 

Man muse zuerst bemerken, dass sie ursprünglich mit 
l'i'gleitung eines Saiteninstrumentes, der Fiedel, gesungen 
iiuräen. Zuweilen, jedoch selten, geschah dies von dem Dich- 
tci- ielbst, der Trouv^re (Finder) hiess; gewöhnlich von 
-Iiiiiand, der aus diesem Vortrage sein Handwerk machte, und 
.lüiigleur genannt wurde. Zuweilen spielte dieser selbst das 
begleitende Instrument, meistens jedoch war er von einem 
Fiedler begleitet. Dass dieseJongl eure ein grosses Repertoire 
(tud ein sehr geübtes Gedächtniss haben mussten, ist begreiflich. 

Zahlreiche Beispiele in den Gedichten selbst beweisen, 
d-.iae sie auf die beschriebene Art vorgetragen wurden. Man 
A-crstehe dies jedoch nicht so, als ob diese Gedichte, die nicht 
selten mehrere Tansende Verszeilen lang waren, ganz ge- 
sungen wurden. Das wäre unmöglich gewesen. Man wählte ein 
Fra^ent, das den meisten Beifall hervorrief, oder das sich zu 
ffcwissen Verhältnissen am Besten eignete. Ich gebe ein Bei- 
spiel davon in der angefügten Note. ') 



^) In dem Roman de la Violette liest man, dass der Held, 
Gerhard von Nevers, sich verkleidet auf seine ihm geraubten Güter 
liLgiebt. 

Lors vesti un viex garnement, 

Et pend k son col une vielle, 

Car G^rars bei et bien viele 

Tant a marcbi^ et piain et val 

Qu'ä la cit6 de Nevers vint. 

Borjois l'esgardent plus de vint 

Qui disaient tont en riant: 

„Cist jongieres vient per noiant, 



II. Eotwick^nng der epischen Poesie in Frankreich. 59 

Qaar toate jor poiroit chanter 
Qoe BUS ne Talast escouter " 

Er begiebt sich indess nach dem Schlosse des Herzogs von Mete: 
A la porte tant atendi 
Qa'ans Chevaliers ens I'apela 
Qai par la cour traiant alla. 
£n la salle Temmene amont 
Et de vieler le semont .... 
Lors comence, si com moi senible, 
Com eil qui moult iert sen<^, 
Ces vers de Guillaume au cort n^s, 
A cl^re vois et k dous son: 
„Granz fu la cort en la sale a Loon, 
Moult ot as tables oisiax et venoison ; 
Qui que menjast la char et le poisson, 
Onques Guillaume n'en passa le menton, 
Ainz manga torte et but eve k foison. 
Moult s'en merveillent eil Chevalier baron. 
Quant ont mengi6 et b^u ä foison 
Les napes ostent escucer et gar^on. 
Li cuens Guillaumcs mist le roi k reison: 
„Que pcnsez-vos, dist-il, li fils Charlon, 
Secorraz-moi vers la jeste Mahon? 
3k d6nst estre 11 olz k Chaalon !'^ 
Dist.Looys: „Et nos en parleron, 
Et le raatin savoir le vos feron 
Ma volonte, se je irai ou non." 
Guillaumes Tot, rougist eoume charbon, 
De raautalent en froncist le guernon: 
„Comment deable, dist-il, si plaideroni 
Est-ce la fable du tor et del mouton? 
Moult a k fere qui plessier veut felon." 
11 s'abessa, si a pris un baston, 
Et dist au roi: „Vostre fi6 vos randon; 
N'en tendrai m^s vaillant un esperon, 
Ne vostre amis ne serai ne vostre homs 
Et si venrez, ou vos voilliez ou noni" 

Ensi lor dit vers dusqu'ä quatre 

Pour aus solacier et esbatre, etc. 
Er sang ihnen also vier Verse vor. 



QO II. Ent^ickelung der epischen Poesie in Frankreich. 

Was nun die Form jener Gedichte betrifft, so bestan- 
den sie aus sogenannten tirades monorimes, äas sind 
Abtheilungen oder Strophen von einer unbestimmten Anzahl 
Verszeilen, die zuweilen vier oder sechs, zuweilen aber auch 
einige Hundert umfassen. Alle Zeilen derselben Strophe endig- 
ten auf demselben Reim, aber man begnügte sich dabei mit 
dem unvollkommenen, sogenannten assonirenden Reime. 

Um einen Reim zu bilden, wird eine Klangübereinstim- 
mung in den Schlussworten zweier oder mehrerer Verszeilen 
verlangt, und zwar so, dass bei dem sogenannten stumpfen 
oder männlichen Reime sowohl Vokal als Consonant und Accent 
gleich sind, während . zu dem klingenden oder Weiblichen Reim 
noch ein gleichlautender, tonloser Zusatz gefligt wird. So 
reimt z. B. Alt und kalt, vergeben auf erleben; aber nicht 
versöhnt auf betliört, oder vergessen auf Ketten. 

Neben diesem vollkommenen oder konsonirenden Reime 
steht die Assonanz, die sich mit der wenige^ vollkommenen 
Uebereinstimmung des Klanges begnügt; bei welcher wohl 
Accent und Vokal, aber nicht die Konsonanten gleich sind; 
z. B. leben: Segen; Lauf: Braut; halten: warten. 

Weiter bestand jede Zeile aus zehn Silben, mit der Cäsur 
nach der vierten Silbe. Jede Strophe wurde mit einem kur- 
zen, sechssilbigen, reimlosen Vers beschlossen, der immer auf 
eine unbetonte Silbe endigte. Dies war der alte, echt epische 
Rhythmus. Dazu kommen später die sogenannten Alexan- 
driner, die sich von den eben beschriebenen Versen nur 
dadurch unterschieden,- dass jede Zeile aus zwölf Silben 
bestand und die Cäsur in der Mitte hatte. 

Ferner gehört zu der Eigenartigkeit dieser Dichtungen, 
welche Heldensagen Chansons de geste Hessen, dass ein 
besonders fesselnder Vorfall zuweilen zwei- ja dreimal in 
eben so viel aufeinanderfolgenden Strophen, besungen wurde. 
Dies geschah wahrscheinlich immer, wenn der Jongleur sah, 
dass die gewählte Schilderung einen besonders tiefen Eindruck 
auf seine Zuhörer machte, er also erwarten konnte, durch 
eine etwas veränderte Wiederholung desselben Gegenstandes 
ihrem Geschmacke entgegen zu kommen, sie günstig für sich 
zu stimmen, und dadurch ihre Freigebigkeit hervorzurufen. 



II. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 61 

36. Diese Form hatte sich mit der Zeit mehr oder weniger 
verändert. Auf diese Umwandlung war sicher die schrift- 
Kehe Aufzeichnung der Gesänge von grossem Einflüsse, und 
bald begann man, dieselben zu lesen, anstatt zu singen. 

Dies war auch der Fall mit deu Chansons de geste, und 
fand seinen Grund in der Aenderung des poetischen Geschmacks 
gegen die Hälfte des 12. Jahrhunderts, deren Ursache wir 
apäter weiter auseinander setzen werden. Wir werden dann 
sehen, dass eine neue Art von Gedichten in Aufnahme kam^ 
bei welchen es sich nicht mehr um die Darstellung grosser 
Schilderungen in breiten Zügen handelte, die sich im Gegen- 
theil auf Analysirung und Detailmalerei beschränkten. Diese 
Erzählungen richteten sich auch mehr an den Verstand, als 
an das naive Gefühl, und wurden deswegen zum Vorlesen 
bestimmt. 

Als dies einmal in die Mode gekommen war, blieb wohl 
bei dem Volke noch geraume Zeit die Gewohnheit in Gebrauch, 
sich die historischen Lieder vorsingen zu lassen, bei den 
gebildeteren Ständen hingegen wurde die neue Art und Weise 
auch bei der alten Volkspoesie in Anwendung gebracht. 

Die erste Folge hiervon war, dass der kurze Schlussvers 
der Tiraden verschwand. Er hatte wahrscheinlich früher dazu 
gedient, um den Fiedler oder vielleicht auch dem Publikum, 
das Ende des Verses und eine neue Weise anzuzeigen; beim 
Vorlesen war dies nicht mehr nöthig. 

, Aber beim Lesen konnten die Assonanzen nicht mehr 
genügen; man fing an, auch für das Auge eine Lautüberein- 
stinunung zu verlangen ; überdies schmeichelten die unvollkom- 
menen Reime dem Ohre nur wenig, wenn sie nicht von ge- 
messenem Rhythmus des Gesanges verdunkelt oder unterstützt — 
wie man es nehmen will — wurden. Daher schreibt sich 
das Bestreben, die Assonanz durch reinere Reime zu ersetzen. 

Die grösste Veränderung jedoch, welche die Vorlesung 
in der Fassung der Gedichte hervorbrachte, bestand darin, 
dass die Wiederholung derselben Beschreibung in mehreren 
aufeinander folgenden Strophen wegfallen musste, wie nach 
dem Gesagten leicht begreiflich wird. 

Die veränderte Vortragsweise bewirkte also einestheils 
die grössere Kunsteinheit des Gedichtes, anderntheils wurde 
durch dieselbe auch eine vollendetere Form nöthig. 



62 JI« Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 

Dies ist deutlich erkennbar , wenn man die späteren Um- 
arbeitungen älterer Volkssagen, wie sie in dem dreizehnten 
Jahrhundert geschrieben wurden, mit den ältesten, bis auf uns 
gekonunenen Stücken derselben Art vergleicht Zwar lassen 
sich die noch vorhandene^ Handschriften nicht weiter, als bis 
zur zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts zurückfuhren, 
aber man kann doch sicher annehmen, dass ihr Inhalt wenig 
oder gar nicht von der Fassung abweicht, die sie ein- oder 
anderthalb Jahrhunderte fi-üher hatten. 

37. Verschiedene Fragen müssen sich jetzt aufdrängen: 
Wie hat sich die Ueberlieferung fortgepflanzt ? Wer zeichnete 
sie zuerst auf? Wann verschmolzen einzelne, für sich bestehende 
Sagen mit anderen zu grossen Gedichten zusammen? 

Es ist nicht leicht, ja selbst nicht rathsam, eine gan^ 
sichere Antwort darauf zu geben, man muss sich grössten- 
theils auf Vemmthungen beschränken. 

Im zwölften und dreizehnten Jahrhunderte sehen wir die 
Volkspoesie in den Händen besonderer zu ihi'em Vortrage 
bestimmten Trouv^res oder Jongleui-s. WahrscheinHch haben 
dieselben sehr bald die Sorge für die epischen Volksgesänge 
übernommen, wahrscheinlich schon lange vorher, ehe von 
ihrer Aufzeichnung die Rede sein konnte. 

Es ist bekannt, dass bei den Kelten die Pflege der poeti- 
schen Ue herlief erungen in den Händen der Barden war. 
Sei es nun, dass die Germanen eine ähnliche Einrichtung hat- 
ten — was übrigens sehr unwahrscheinlich — sei es, dass kel- 
tische Erinnerungen ihren Einfluss ausübten, — bestimmt 
lässt sich annehmen, dass in Frankreich das Volksepos schon 
^ehr bald von den herumreisenden Jongleurs von Fach gepflegt 
und entwickelt wurde. 

So lange die Anzahl der ihnen bekannten epischen Gesänge 
nur gering blieb, konnten sie dieselben wohl im Gedächtniss 
bewahren; aber vom Augenblicke an, als ihre Zahl sich merk- 
lich vergrösserte, wird die Annahme natürhch, dass Einer oder 
der Andere seiner Erinnerung durch schriftliche Aufzeichnung 
zu Hülfe konunen Hess: denn sie selbst waren dazu gewöhn- 
lich nicht befiihigt. Ist es nun so unwahrscheinlich, dass sie 
dazu gewöhnhch den Beistand der Mönche, in deren Klöstern 
sie gastfrei aufgenommen waren, in Anspruch nahmen ? Gewiss 
nicht. Aber daraus folgt immer noch nicht, dass in Frank- 



II. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 63 

reich die Volkspoesie in die Hände der Geistlichen kam^ wie 
dies in Deutschland der Fall war. 

Nicht zu läugnen ist es, dass die Jongleurs wiederholt 
behaupten, ihr Gedicht einer Klosterbibliothek entnommen zu 
haben: ^) aber es ist deutlich, dass dies nur geschieht, 
um ihrem aus mündlicher Tradition erhaltenen, noch nie auf- 
gezeichneten Vortrag mehr Glaubwürdi^eit zu geben, und 



^) Berte aus grans pies, p. 1 — 2: 
En mon euer m'assenti 
Qu'ä Saint Denis iroie pour prier Dieu merci. 
A un meine courtoi» qu'on nommait Savari 
M'acointai telement, Dame- dieu en graci, 
Que le livre as ystoires me montra oü je vi 
L'ystoire de Boertain et de Pepin aussi. 
Comment, n^en quel maniere le lyon assailli. 
Aprentif jugleor et eserivain mari 
Qui Tont de lieus en lieus 9a et lä conqueilli, 
Ont Tystoire fauss^e, onques mes ne vi si. 
Hucques demorai delors jusque mardi, 
Tant que la vraie ystoire emportai avoec mi. • 
Chanson des Saxons, p. 3 : 

Seignor, ceste chan^ons ne muet pas de fabliax, 
Meis de chevalerie, d'amors et de cembiax. 
Cil bastart jugleor qi vont par cez vilax, 
Chantent de Guiteclin si com par asenax, 
Mes eil qui plus en set, ses dires n'est pas biax, 
Car ü ne sevent mie les riches vers noviax 
Ne la chancon riniee que fist Jehan Bordiax, 
Tot.si com li droiz contes Ten fu diz et espiax, 
Dont ancor est l'estoire ä Saint-Faron k Miax. 
■ Lied der Lotharinger, II, Vs. 34 : 

In die stat van Bordeas 

In Sinte Severijus abbie 

Heeft men gesereven oyt ende ye 

Dese veede altemale, 

Ende dat na dien rechte wale. 

In tweenboeker leget daer, 

Die herde groet siju ende swaer 

Daer dat walsce ute es §enomen, 

Daer dit mede ute es comen. 

Daer so leget in tlatine. 



64 II* Entwickelusg der epischen Poesie in Frankreich. 

ihm den Werth unverfölschter Geschichte zuzuschreiben. 
Aus anderen Stellen kann man schliessen, dass die schreibkun- 
digen Mönche und Geistlichen nicht besonders von diesen 
Yolksmässigen Gedichten eingenommen waren, und sie als 
erlogen brandmarkten ; ^) daher appeUiren die Jongleurs zu- 
weilen an das Zeugniss der Geistlichkeit oder versichern, dass 
kein Klosterschreiber ihnen widersprechen werde. ^) 

Ich glaube, dass man in der Regel auch den Stellen 
nicht mehr Vertrauen schenken darf, welche behaupten, dass 
der Jongleur in irgend einem Kloster die alte Handschrift 
eines Gedichtes gefunden, und dass er dasselbe für Geld und 
gute Worte von einem Mönch erhalten, der überdies das 
Stück noch für ihn modernisirt oder verständlich gemacht habe.^) 

Wenn dem so wäre, so müsste man auf die Vermuthung 
kommen, dass die Sage eine Zeitlang verschollen gewesen 
sei; und wir können doch mit Bezug auf Dasjenige, was wir 
von den Chansons de geste schon wissen, ruhig behaupten, 
dass dies nicht der Fall war. Ich möchte nicht geradezu 
widersprechen, dass dann und wann eine einzelne üeberlie- 
ferung für einige Zeit, ich will nicht sagen, in Vergessenheit 
kam, aber doch weniger bekannt war, bis sie durch Einver- 



*i So sagt z. B. Ordericus Vitalis von Wilhelm von Oranien: 
„Vulgo canitur a joculatoribus de illo cantilena, sed jure praeferenda est 
relatio authentica, quae a studiosis lectoribus reverenter lecta est in 
communi Fratrum audientia." 

*) Amis et Amiles. Vers 5 : 

Ce n'est pas fable que dire vos voulons, 
Ansoiz est voirs autressi com sermon; 
Car plusors gens a tesmoing eu traionz, 
Clers et provoires, gens de religion. 

La Prise d'Orange. Seite 11: 

Ge ne cuit mie que ja clers m*en desdie 
Ne escripture qu'en ait trovö en livre. 

*) So liest man im Wilhelm v. Oranien: 

Uns gentis inoines 

Quant il o'i de Guillaume parier, 
Toz li fu viz que toz en fu torblez : 
Cil no» en a les vers renouvelez 
Qui en un rolle ont bien cent ans est^, 
En li a tant et promis et donn^ 
Qu'il a les vers enseigniez et mostr^s. 



II: Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 65 

leibung in eine Sage, die allgemein gefiel und in der Mode 
war, wieder in den Vordergrund trat. Aber bei den hervor- 
ragendsten Volksgesängen ist dies sicher nicht der Fall gewesen; 
bei einigen kann man den Moment der Entstehung aus der 
Tradition und die Greschichte ihrer Umänderung im folgen- 
den (elften oder zwölften) Jahrhunderte, nachweisen. 

38. Niemand wird läugnen, dass die Zeitverhältnisse von 
grossem Einflüsse auf die Verbreitung und Aufrechterhaltung, 
aber auch auf das Aussterben der Ueberlieferungen gewesen 
sind. Wir haben darauf schon oben hingewiesen. Und ebenso 
liegt es in der Natur der Sache, dass die allgemeine Stim- 
mung im elften Jahrhunderte endlich in den Zügen zur Be- 
freiung des heiligen Grabes ihren Ausdruck fand. Diese 
Kreuzzüge, in welchen man gegen dieselben Muhammedaner 
kämpfte, gegen die man früher schon so manchen blutigen 
Strauss bestanden hatte, gab den Sagen von den Kämpfen 
gegen die Ungläubigen neues Leben. 

Das vorherrschend christliche Grefühl, das alle Klassen 
der Gesellschaft in jenen Tagen belebte , hat auch die Epen, 
welche Karl dem Grossen, oder Wilhelm von Oränien gewid- 
met waren, nicht etwa aus einer längeren oder kürzeren Ver- 
gessenheit aufgeweckt, sondern ihnen nur eine grössere Lebens- 
fähigkeit verliehen, wodurch sie vielleicht vor dem Untergang 
bewahrt blieben. 

Hätten die Ueberlieferungen wirklich ein ganzes Jahr- 
hundert lang geschlafen, und wären sie erst nach dem ersten 
Kjreuzzuge, und wie man annimmt, erst durch denselben, aus 
dem Grabe erweckt worden, so hätten sie wahrscheinhch eine 
grössere Formveränderung erlitten, als wirklich an ihnen 
wahrzunehmen ist. 

Dieser Kreuzzug brachte nicht nur in den gesellschaft- 
lichen Zuständen, sondern auch in der Weltanschauung des 
Adels eine volle Umwälzung hervor: von dieser neuen Bil- 
dung ist in dem Inhalte der volksmässigen Gedichte, wie wir 
sie aus dem zwölften Jahrhundert aufgezeichnet finden, auch 
keine Spur zu sehen. Die Einfachheit der Lebensverhältnisse, 
die fürchterliche Sittenrohheit, der vollkommene Mangel an 
Galanterie und an einem ritterlichen Ideale, das Uebergewicht 
der rohen Kraft, welche auch diese Schriften kennzeichnet, 
das Alles führt uns zu einer früheren' Periode zurück, und 

Jonckbloet^s Geschichte der Niederländischen Literatur. Band I. 5 



66 II. Entwickelung der epivchen Poeeic in Frankretch. 

b(:n-(!ist aufs Deutlichste, dase uns diese Gedichte aus dem 
elt'trti, vielleicht sogar auB dem zehnten Jahrhunderte bewahrt 
geblieben sind. Nur hier und da sind einige veraltete Aus- 
drücke durch verständlichere ersetzt worden, die rauhen 
Assonanzen haben zuweilen — nicht immer — reineren Rei- 
UKMi l'latz gemacht, und in seltenen Fallen hat man auch die 
Bi'sclireibungen in glänzendere Farben gekleidet, 

39. Was die Frage betriflft, wann die kleineren, fiir 
sicli selbst bestehenden Gedichte zu einem grösseren Epos ver- 
schmolzen, so ist auf dieselbe keine allgemein giltige Ant- 
wort möglich, da sehr verschiedene Umstände auf die Inein- 
Hiiditrnchmelzung Einäuss ausübten. Man kann jedoch, fussead 
aul' den Errungenschaften der spöciellen Untersuchungen, wohl 
siifT'-Ti, dass es im Allgemeinen schon am Schluss des zehnten, 
Ulli! ziimai im Laufe des elften Jahrhunderts stattgefunden hat. 

Dass in der zweiten Hälfte der genannten Zeit auch die 
Hclu-iilliche Aufzeichnung schon ihren Anfang genommen hatte, 
ist selir wahrscheinlich, wenn es auch bis heute noch nicht 
geglückt ist, eiije Handschrift aus jener frühsten Zeit aufzu- 
finden. 

Schon waren mehr oder weniger umfangreiche Gedichte 
ciitstaaden, die bald auch schriftlich aufgezeichnet wurden; 
danach fing man an, denselben eine noch grössere Ausbrei- 
tung zu geben. Man war nicht mehr zufrieden mit der Schil- 
di'innj der Umstände, unter welchen die einzelnen mehr oder 
wcnigar glücklich an einander gereihten Heldenthaten voU- 
IjriK'lit waren: man beschränkte sich nicht mehr auf das Ein- 
Hechten von Episoden, die einst einen anderen .Namen ver- 
ewigt hatten, jetzt wollte man den ganzen Lebenslauf des 
Helden' kennen. Und so wurde dem oft schon sehr auflallig um- 
siioimenen, ursprünglichen Kerne noch die Erzählung von des 
Helden letzten Aventuren zugefügt, bei denen er, wie nicht selten 
im wirklichen Leben geschah, das Panzerhemd mit der Kutte des 
ItliiiLclieB oder Einsiedlers vertauschte. Und an die Spitze des 
Bf'iiclites wurde dann die getreue Erzählung von seineu ersten 
JiifjHndthaten zur Einleitung gesetzt. So entstanden die poe- 
tiselien Lebensbeschreibungen Wilhelm's von Oranien, Ogier's 
von Ardennen u. s. w. 

Aber auch damit war man im Laufe der Zeiten nicht 
mehr zufrieden. Als man im dreizehnten Jahrhunderte 



II. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 67 

mehr das Bedürfniss fühlte^ seine Wissbegierde zu befriedigen, 
-als seiner Phantasie zu schmeicheln, breitete sich die Lebens- 
beschreibung des Helden nicht selten zu der Geschichte seines 
ganzen Geschlechtes aus. Die Thaten seiner Vorfahren und 
Nachkommen durften nicht der Vergessenheit anheim gegeben 
werden ; und so entstanden die ausgedehnten Erzählungen oder 
Gedichtreihen, welche dickleibige Folianten füUen und in Tau- 
senden von Versen Wiederholimg an Wiederholung derselben 
Situationen, derselben Heldenthaten reihen. 

Wir verwundern uns jetzt über die unästhetische Breite 
dieser zu Reimchroniken herabgekommenen Gedichte, aber 
ihr gar zu üppiger Wuchs lässt sich aus dem Zustand der da- 
maligen Gesellschaft erklären, der sie in's Leben rief. Der 
Hauptcharakter jener Gesellschaft war eine allgemeine Isolirung, 
die Alles und AUe niederdrückte. 

Die fränkischen Oberhäupter, mitten in eine feindliche 
Bevölkerung versetzt, hatten sich wahrscheinlich sogleich in 
befestigte Häuser, inmitten ihrer Besitzungen verschanzt, Einer 
immer ziemlich weit von dem Anderen entfernt. Die Häuser 
waren nach und nach Burgen und Schlösser geworden, auf 
denen der sich mehr und mehr in aristokratischer Richtung 
entwickelte Adel ein eintöniges Leben führte. Der patriarcha- 
lische germanische Sinn wurde bald unter dem Einflüsse gallo - 
romanischer Gewohnheiten abgelegt. Während der Königs- 
sohn Waltharius beim Gedanken an seine Heirath sagt, dass 
ihm dann die Sorge für Haus und Acker zufalle, ^) überlässt 
der fränkische Adel den Gutseigenen und Hörigen Landbau 
und Industrie, und lebt in stolzer Absonderung ohne eigent- 
liche Beschäftigung, übt sich nur in den alten Kriegstugenden, 
und sucht Genuss und Zerstreuung in WaflFenübung und Jagd- 
freude. Aber wenn die rauhe Jahreszeit Üies nicht erlaubte, 
wenn Mangel an gebahnten Wegen den geselligen Verkehr 
mit mehr oder weniger entfernten Nachbarn untersagte, wenn 
der lange, lange Winterabend den Burgbewohner innerhalb 
seiner Mauern hielt, dann war der herumreisende Jongleur 
oder der gelehi'te Hausgeistliche willkommen. Wochenlang 
hinteffeinander konnten sie den Herrn mit dem unerschöpf- 

*) Waltharius, Vers 1 53 : 
Aedificare domos, cultumque intendere ruriö 
Cogar. 

5* 



68 I^* Entwickelang der epischen Poesie in Frankreich. 

Kchen Folianten beschäftigen; mit dem FoKanten, der nicht 
selten nebst dem Missale den ganzen Bücherschatz des Schlos- 
ses bildete. Je länger die Erzählung dauerte, desto besser 
war es; und je öfter darin Ereignisse beschrieben wurden^ 
welche des Zuhörers Geschmack schmeichelten, desto angeneh- 
mer musste ihm dies sein. Unter solchen Umständen war 
also die fast unbegrenzte Ausbreitung eines Gredichtes mit 
seinen Wiederholungen oder verschiedenen Vorstellungen der- 
selben Begebenheit oder desselben Gedankens, mit seiner 
Hypertrophie von Episoden, ein nothwendiges Uebel. 

40. Dieser Zustand der Isolirung beförderte keineswegs 
die Büdung, und was von dem Einzelnen galt, fand auch auf 
die Gesellschaft im Ganzen Anwendung. 

Schon unter den Merowingern wurde das Reich ein zer- 
stückter Feudalstaat: die Immunität musste endlich in voll- 
ständige Unabhängigkeit ausarten, welche vom Lehnsverband 
nur so weit gezähmt wurde, als eben seine Macht ausreichte. 
Die Energie, mit welcher Karl der Grosse die Zügel der 
Regierung geführt hatte, bewahrte das fränkische Reich noch 
einige Zeit vor gänzlichem Verfalle; unter seinen schwachen 
Nachfolgern erfolgte er nur desto schneller. Hunderte von 
kleinen Staaten oder erblichen und dadurch unabhängigen 
Grafschaffeen tauchten auf, die beinahe keine anderen Berüh- 
rungspunkte zu einander boten, als ihren gegenseitigen Has& 
und ihre unaufhörlichen Fehden. 

Die einzige, gemeinschaftliche Idee, welche sich im west- 
lichen Theile Europa's entwickelte, war die religiöse, und am 
Ende des zehnten Jahrhunderts fing dieselbe an, alle anderen 
zu beherrschen. Die Furcht vor dem Untergange der Welt^ 
den man im Jahre 1000 erwartete, trug hierzu nicht wenig bei. 
Das mystische Gefühl hatte indessen auf ein mehr oder weni- 
ger sündhaftes Leben durchaus keinen Einfluss ; desto eifriger 
war man im Bussethun für vergangene Sünden, indem man 
entweder am Schlüsse eines vielbewegten Lebens im Mönchs- 
gewande den Deckmantel für Strafe suchte, oder indem man 
Pilgerfahrten nach den heiligen Orten unternahm; so nach. 
St. Jakob von Compostella, nach Rom, ja selbst nach dem 
gelobten Lande. Von diesem Geiste zeugt die Entstehung der 
sehr strengen Orden der Karthäuser, Cistercienser und Prä- 
monstratenser, welche gegen das Ende des elften Jahrhunderts 



II. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 69 

das im grossen Massstabe ermöglichten, was im vorigen nur 
noch Einzelne gethan hatten. 

Schon zu Ende des zehnten Jahrhunderts hatten die Pil- 
gerfahrten eine grosse Allgemeinheit erreicht 5 und als die 
Türken, in deren Hände Jerusalem gefallen war, die Pilger 
und die morgenländischen Christen beschimpften, lief auf die 
Stimme Peter's des Einsiedlers ganz Europa zusammen, um 
das Grrab des Erlösers aus den Händen der Ungläubigen zu 
befreien. 

Der Einfluss der Kreuzzüge, zumal der ersten, war ausser- 
ordentlich gross. Wir erwähnen hier nicht alle wichtigen 
Veränderungen, welche durch dieselben hervorgebracht wur- 
den; aber diejenigen, die zu unserem Gegenstande in Be- 
ziehung stehen, dürfen wir nicht unerwähnt lassen. 

41. Zuerst wurde durch die grosse, gemeinschaftliche Un- 
ternehmung die Isolirung aufgehoben, in welcher das Indivi- 
duum und die grossen und kleineren Staaten lebten , die ver- 
fichiedensten Nationen und Zungen kamen mit einander in 
Berührung; man lernte fremde Länder, andere Sitten, Ge- 
bräuche, Staatseinrichtungen und Weltanschauungen kennen; 
«8 entstand eine geistige Gemeinschaft, ein geistiger Verkehr. 

Dies musste natürlich die Rohheit der Sitten mildern, imd 
dem Mangel an Bildung abhelfen, der bis jetzt noch immer 
geherrscht hatte ; und überdies wurde das geistige Leben eben 
«0 sehr angeregt und entwickelt, als auf das Gefühl eingewirkt. 

Denn es war hauptsächlich der christlich-ritterliche Geist, 
der sich in den ersten Kreuzzügen entwickelte. Der germanische 
Krieger hatte aus persönlichen Leidenschaften den feiadlichen 
Nachbar bekämpft, um. seine Macht und sein Eigenthum zu 
vergrössern ; seine höchste Befriedigung war das stolze Gefühl 
der Kraft, die sich im Jubel über die Todeszuckungen des 
erschlagenen Feindes Luft machte, — das ward nun mit einem 
Male verändert. 

Jetzt wurde das Schwert nicht in wilder Leidenschaft aus 
der Scheide gezogen; unter dem Panier des Kreuzes kämpfte 
man für eine heiligere Idee. Der wilde kriegerische Geist 
wurde veredelt, die Kampflust hatte ein höheres Ziel gewon- 
nen, und diente zur Ehre Gottes. Muth blieb immer noch die 
erste Tugend, aber er durfte das Schwert nur im Dienste des 
Christenthums führen. 



70 li- Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 

Der Einfluss der ReKgion, deren Lehre zumal auf das- 
Gemüthsleben wirken, und die Aufmerksamkeit der Menschen 
auf das eigene Innere lenken musste, rief auch eine Verän- 
derung im Urtheil über sich selbst hervor; das Ehrgefühl im 
modernen Sinne erwachte. 

Nicht weniger gross war der Einfluss auf materiellem Ge- 
biete. Der Umgang mit und unter Fremden, die Bekannt- 
schaft mit den Herrlichkeiten des Orientes und der Pracht 
des Byzantinischen Hofes, hatten das Bedürfniss an grösseren 
Luxus und Wohlleben, an Pracht und Zurschaustellung des- 
selben in dem noch rauh einfachen gesellschaftlichen Zustande^ 
des Occidents erweckt; der zunehmende gesellige Verkehr 
trug das Seine dazu bei, und wirkte günstig auf die Civili- 
sation des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Zu gleicher 
Zeit wurde man auch in den Stand gesetzt, die neuen Bedürf- 
nisse zu befriedigen. Die Freiheit schlich sich auch zu den 
hauseigenen Hörigen, und weckte sogleich eine ungekannte 
Energie; der Verkehr in den Städten wurde lebhafter, Handel 
und Ladustrie nahmen einen kühnen Aufschwung. Was die 
höheren Stände verlangten oder bedurften, wurde von dem 
Kaufmanne oft a,us den fernsten Weltgegenden herbeigebracht^ 
oder vom Handwerksmann oder Künstler nach fremden Vor- 
bildern nachgebildet. Die prächtigen, golddurchwebten Sei- 
denstoffe des Orients wurden in Sicilien, in Italien, und bald 
auch in Frankreich's eigenen Fabriken gearbeitet, und zu 
Festkleidung oder Hausrath verwendet; getriebenes Gold und 
Silber, zum mannichfachsten Gebrauche, wurde von den Künst- 
lern des Occidents verfertigt; die Baumeister begannen die 
Aufgipfelung jener stolzen kirchlichen und weltlichen Gebäude^ 
die immer, selbst zur Zeit, als der Glaube an den Barbaris- 
mus des Mittelalters herrschend war, die Bewunderung her- 
ausgefordert haben. 

Dieser veränderte Geist und die aus ihm hervorgehenden 
veränderten Lebensverhältnisse zeigten sich auch deutlich bei 
den Festen, die an den Fürstenhöfen oder in den Ritterbur- 
gen gefeiert wurden. Nun war es nicht allein der Triumph 
im Werfen schwerer Steine, den die Jugend wetteifernd ein- 
ander abzugewinnen suchte, — das ritterliche Turnier, mit 
seinem Glanz und seiner Courtoisie, war an seine Stelle ge- 
treten; die Zahl der Gerichte und der Umfang der Schüsseln 



11. £utwlckelang der epischen Poesie in Frankreich. 71 

oder Weinhumpen machte nicht mehr allein den Reiz des Fest- 
mahles aus, — jetzt wurde äussere Pracht im Bunde mit 
geselliger Unterhaltung, bei welcher die Galanterie gegen das 
schöne Geschlecht schon eine Hauptrolle zu spielen begann, 
und ein höherer Genuss , den Dichter und Sänger gewährten, 
Reizmittel für die von der neuen Geschmacksrichtung fort- 
gerissene Aristokratie. 

In den literarischen Erzeugnissen aus der Zeit nach dem 
ersten Kreuzzuge zeigt sich dieser veränderte Geschmack am 
deutlichsten; kein Wunder also, dass auch in der Literatur 
selbst ein grosser Umschwung wahrzunehmen war. Wenden 
wir hierauf unsere Aufmerksamkeit. 

42. Kaum ein Jahrhundert nach der Eroberung Jerusa- 
lems durch die Kreuzfahrer wurden die historischen Volks- 
dichtungen, welche hauptsächUch den Cyklus KarFs des Grossen 
und den Kampf gegen die Ungläubigen zum Gegenstande 
hatten, durch poetische Erzählungen verdrängt, die in jeder 
Hinsicht, sowohl was den Inhalt, als was Form und Richtung 
betrifft, himmelweit von den vorigen verschieden waren. 

Der kräftige Inhalt, der rauhe Ton und die breite Dar- 
stellung der E^rlssagen konnte nun keinen Genuss mehr ge- 
währen, da die Gesellschaft schon anfing, hohen Werth auf 
Form und äussere Gestalt zu legen, und da die natürliche 
Volksentwickelung in eine konventionelle überging, an welcher 
wenigstens die tonangebende Kaste ihr Wohlgefallen fand. 
Der alte epische Volksgesang stimmte nicht mehr mit dem 
Grundtone des Jahrhunderts, der das Ohr lieber leichtern Er- 
zählungen in freierem Style lieh. Diese letztern huldigten 
auch mehr dem herrschenden Geschmacke durch zierliche Be- 
schreibungen, sowie durch passende Beleuchtung der Tugen- 
den und Eigenschaften!, welche immer mehr an die Stelle des 
Ideals germanischer Tugend getreten waren. 

Dazu konnte die Karlssage Nichts beitragen; sie passte 
nicht dazu, weil sie einen viel zu bestimmten Charakter hatte ; 
ihre Helden hatten eine stereotype Form erhalten, imd es war 
eben so undenkbar, sich einen galanten Wilhelm von Oranien, 
als einen lächerlichen Ganelon vorzustellen; solche Typen 
konnten nur mit fremden Namen Lancelot oder Keye belegt 
werden. Man war deshalb genöthigt, sich nach einem anderen 
Inhalte umzusehen; aber man fühlte sich doch noch nicht 



72 II- Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 

stark genug, um sich an ganz freie Schöpfungen zu wagen. 
Bis hierher hatte man sich noch nicht von der Ueberlieferung 
losgemacht; welche immer eine wahre Grundlage hatte; vor- 
läufig bezog man sich auch jetzt noch auf dieselbe. Jedoch 
mit einem Unterschiede; man verliess die nationale Sage und 
wandte sich zu einer fremden, welche, aus weiter Ferne kom- 
mend, und in sich selbst schon wunderbare Elemente tragend, 
auch der Phantasie freieren Spielraum gewährte. Dieser 
Sagenkreis war der bretonische. 

Der Nationalcyklus hatte seinen Helden Karl zum Mit- 
telpunkte und ähnlich war es auch in dem fremden Sagen- 
kreise, dessen Figuren sich beinahe sämmtlich um König 
Arthur bewegen, von welchem diese Dichtungen auch meistens 
den Namen „Arthurromane^^ haben. 

Auch diese Sage hatte einen historischen Kern. Als im 
jpänften Jahrhunderte die Angeln, Sachsen und Friesen in Bri- 
tannien einfielen, vertheidigte sich die keltische Bevölkerung 
mit grosser Tapferkeit, und unter ihren Anführern zeichnete 
sich nebst Vortigem auch König Arthur aus. Die Kelten wur- 
den besiegt, und gingen theilweise zu ihren Stammverwandten 
an der Nordwestküste Frankreichs, in das spätere Bretagne, 
theils wurden sie nach Wales zurückgedrängt, wo sich ihre 
Nationalität bis heute erhalten hat. Dort sangen ihre Barden 
das Lob* der Helden. Der Ton ihrer Lieder, von denen uns 
verschiedene erhalten wurden, war elegisch-lyrisch, wodurch 
die besungenen Thaten gleichsam in einen Nebel gehüllt erschie- 
nen, der nicht wenig zur Umbildung der Sage beitrug. Dies 
Letztere war bald der Fall, und Arthur wurde nach und nach 
die Hauptfigur der Ueberlieferung, um welche her sich die 
anderen gruppiren ; zuerst der Zauberer Merlin, eigentlich der 
Barde Merddhin, der an der Seite seines Fürsten in den Sach- 
senkriegen kämpfte. 

In diesen Erzählungen fanden die Ungeheuer, Riesen 
und Zwerge, von denen die keltische Mythologie wimmelte, 
ebensowohl ihre Stelle, als die geheimniss vollen Symbole der 
Druiden. Alles zusammen bildete ein phantastisches Granze, 
welches sich sehr gut zu dem Materiale eignete, das spä- 
ter die Ritterromane hervorbrachte. 

Die Ueberlieferungen, welche in der walischen Sprache 
verfasst waren, lebten als für sich bestehende Volksdichtun- 



IITr** 



II. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 73 

gen fort, oder sie wurden gesammelt und mit historischen Be- ^ 
gehenheiten in Verband gebracht, und bildeten so die Chro- 
nik, welche, dem Berichte nach, der Erzdekan Walter von 
Oxford in der Bretagne fand, und aus welcher Geoffi-oy von 
Monmouth um das Jahr 1147 seine lateinisch geschriebene 
Geschichte der Britten schöpfte. Die Widmung dieses Buches 
an Heinrich I. Sohn, Robert von Glocester, spricht schon für 
das Interesse des normannischen Königsgeschlechtes an jenen 
Sagen; dies wird noch deuthcher, wenn wir bemerken, wie 
Heinrich 11., der ein grosser Beschützer der Literatur war, 
bretonischen Sängern das Ohr lieh, und Wace, den Dichter 
des Roman de Rou (Rollo) und des Roman de Brut (1150 
nach Geoffi-oy's Chronik in französische Verse übertragen), 
mit Ehren überhäufte. Derselbe König liess auch eine Samm- 
lung walischer Erzählungen, die zumal auf druidischen Sym- 
bolen fussten, unter ihnen die Greschichte Merlin's, im Fran- 
zösischen zusammenfassen, und so entstanden die Prosaromane 
vom Graal, von Merlin und von Lancelot. 

43. Die bretonischen Legenden verbreiteten sich wahr- 
scheinlich theils aus der Bretagne über die Normandie und 
ganz Nordfrankreich; theils, und dies ist wohl sicherer, wur- 
den sie direkt von Wales nach Flandern übergeführt; wenig- 
stens behauptet eine vlämische Dichterin , die am Schluss des 
zwölften Jahrhunderts die Helden von Arthur's Hof besang, 
dass ihre Quelle eine Sammlung von Erzählungen sei, die aus 
einem walischen Kloster abstamme. Darin liegt auch keine Un- 
wahrscheinlichkeit; denn 1108 hatten sich in Wales vlämische 
Auswanderer niedergelassen, die in fortwährender Gemeinschaft 
mit dem Mutterlande blieben. So erklärt es sich auch, dass 
mehrere dieser Erzählungen erst in Flandern nach dem herr- 
schenden Zeitgeschmacke umgearbeitet wurden. 

Das Aufsehen, welches die fremden Stoflfe hauptsächlich 
in Frankreich und in Französisch-Flandern machten, darf wohl 
einigermassen der Vorliebe zugeschrieben werden, welche 
König Heinrich H. für dieselben hegte. Er hatte durch seine 
Heirath mit Eleonore von Gruienne einen grossen Theil Frank- 
reichs unter seinem Scepter vereinigt, ist also auch in die- 
ser Hinsicht von grossem Einflüsse gewesen; und doch wür- 
den die neuen Gedichte wohl nicht so allgemein und auf die 



74 II- Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 

Dauer in Aufnahme gekommen sein, wenn sie nicht den Geist 
der Zeit geathmet hätten. 

Das Hauptthema, das allen Romanen mit mehr oder 
weniger Variationen zu Grunde liegt, ist der Zug eines Rit- 
ters, um irgend ein gefahrliches, beinahe unausflihrbares 
Abenteuer zu bestehen. Er verrichtet dabei natürlich immer 
Wunder der Tapferkeit, und zeichnet sich überdies durch das 
aus , was man bei nins „ hovescheit " (Courtoisie) nannte , fer- 
ner durch die Huldigungen, die er dem schönen Geschlechte 
darbrachte. Zuweilen hingen diese Fahrten mit christlicher 
Mystik zusammen, zuweilen wurden sie nur aus Lust an 
Abenteuern unternommen. Es ist bekannt, dass man sich in 
Arthur's Hofe nicht eher an Tafel begab, bis sich etwas Ausser- 
gewöhnliches zugetragen hatte. 

Nun muss im Auge gehalten werden, dass die Bewohner 
der Normandie auf die Geschmacksrichtung in Frankreich 
grossen Einfluss ausgeübt hatten. Und eine unglaubliche 
Sucht nach Aventüren ist ihnen lange eigen geblieben: sie 
ziehen nach Spanien, Italien, Sicilien, England, und unterwer- 
fen diese Länder ganz oder theilweise ihrer Macht; ja, ihre 
kühnen Seefahrer entdecken schon Amerika; diese Sucht fand 
Wiederhall in den Arthursagen. 

Fügt man hinzu, dass in der Beschreibung von Personen^ 
in der Schilderung von Zuständen, Festen, Wohnungen und 
Hauszierrathen ein Farbenreichthum ausgebreitet ist, der ganz 
in Uebereinstimmung mit dem modernen, üppigen Geschmack 
war, so ist das Geheimniss der Beliebtheit dieser Stücke 
leicht enträthselt; man wird sich nicht wundern, dass sie 
in ihrem französischen Gewände eifrige Leser in Frankreich^ 
England und Flandern fanden , und dass sie durch lieber- 
Setzungen oder Nachahmungen auch ^era Adel Deutschland'» 
und der Bürgerschaft der Niederlande zu Gesicht kamen. . 

44. Die gesellschaftlichen Veränderungen hatten aber nicht 
nur Einfluss auf den Ihhalt der Poesie, sondern auch auf ihre 
Form und die Weise der Behandlung. 

Da die Kunstprodukte der höfischen Dichter hauptsäch- 
lich zum angenehmen Zeitvertreibe dienten, so spricht es wohl 
von selbst, dass es keine ernsten, historischen Gesänge mehr 
sein konnten, deren Figuren, wie in Granit gehauene Basreliefs, 
trotz ihrer Rohheit einen mächtigen Eindruck machten. Ebenso 



II. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 75 

würde der alte, kraftvolle, epische Vers, mit seinem immer- 
wiederkehrenden assonirenden Reime, ganz ausser Zusammen- 
hang mit der leichten Vortragsweise gestanden haben. 

Die Gedichte aus der neuen Schule hiessen deshalb 
auch Erzählungen (contes d'aventures) und das sind sie wahr- 
lich auch. Es wird wohl darin erzählt; aber der Dichter räumt 
auch seinen eigenen Anmerkungen und Beweisflihrungen einen 
grossen Ramn ein; und dadurch hat die Causerie darin ein 
weites Feld. 

Ueberdies weicht diese neue Art der Darstellung himmel- 
weit von der Fassung früherer Volksdichtungen ab. Während 
dort Alles Ernst ist, hat jetzt auch die objektivste Schilderung 
des hitzigsten Gefechtes, der abenteuerlichsten Unternehmung 
einen Beigeschmack, der uns fast zur Vermuthung bringt, als 
ob der Dichter selbst nicht recht an die übernatürliche Kraft 
seiner Helden glaubte: man sieht, dass er nur seine Zuhörer 
angenehm unterhalten wollte. 

Ganz in Uebereinstimmung mit der Darstellung ist die 
Form, die vielleicht an Kunstvollendung und Korrektheit ge- 
wann, was der Inhalt an wesentlich poetischem Werthe verlor. 

Zuerst kam wieder mehr Einheit und Abrundung in die 
Kunstprodukte. • Die unästhetische Ausbreitung, welche die 
historischen Karlslieder mit der Zeit erhalten hatten, machte 
einer grösseren Gedrängtheit Platz, obwohl die Vorliebe für 
Episoden, Abschweifungen und Redefuhrungen die Erzählujig 
noch immer viel länger ausdehnte, als uns jetzt passend 
erscheint. Aber auf alle FäUe ist man zur Einheit des Gegen- 
standes zurückgekommen. 

Auch di6 äussere Umkleidung ist civilisirter, und theils 
mehr mit dem angeschlagenen Tone in Uebereinstimmung 
getreten, theils für Auge und Ohr angenehmer gemacht, da 
die Dichtungen stets vorgelesen oder gelesen wurden. 

So haben die zehnsilbigen, schweren Verse mit demselben, 
nicht selten bis in's Unendliche wiederholten, unvollkommenen 
Reime das Feld geräumt vor den leichtfliessenden achtsilbigen 
Versen, die paarweise durch reine, konsonirende Reime ver- 
bunden sind, und in der Mitte einen Ruhepunkt haben. 

Ein Beispiel möge den Formunterschied zwischen alter und 
neuer Schule deutlich machen; der Unterschied ist so charak- 
teristisch, dass man aus demselben die Kluft erkennt , welche 



76 II. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 

25wischeix der Volkspoesie und den sogenannten höfischen 
Produkten der durch die Kreuzzüge entstandenen Ritterpoesie 
liegt. Ich gebe unten die Beispiele: *) 



M Zur Probe wähle ich eine kurze Stelle aus der Einleitung zu 
dem Gedichte: Li Coronemens Looys, welches zu dem Epos von 
Wilhelm von Oranien gehört: 

Quant Dex eslut nonnante et dix roiaumes, 

Tot le meillor torna en donce France. 

Li maine rois ot ä non Charlemaine; 

Cil aleva volentiers douce France: 

Dex ne fist terre qui envers li n'apende: 

II ala prendre Baivi^re et Alemaigne, 

Et Normandie et Anjou et Bretaigne, 

Et Lombardie et NavaiTe et Tosquane. 
Kois qui de France porte corone d'or 

Preudons doit estre et vaillans de son cors; 

Et s'il est homs qui li face nul tort, 

Ne doit garir n6 ä piain n^ k bors % 

Desi qu-'il Tait ou recr6ant ou mort; 

S'ainsi nel fet dont pert France son los : 

Ce dit Testoire, coronez est k tort 
Dagegengehalten den Anfang des Roman da la Charrette: 

Puis que ma dame de Champaigne 

Vialt que romans ä feire anpraigne 

Je Tanprendrai moult volentiers, 
• Corae eil qui est suens antiers, 

De quanqu'il puet el monde feire, 

Sanz rien de losange avant treire. 

M^s tex s'an poist antremetre 

Qu'il i volsist losange metre 

Si d6ist et jef tesmoignasse 

Que ce est la dame qui passe 

Totes celes qui sont vivant 

Si con li funs passe le vant 

Qui vante en Mai ou en Avril. 

Par foi, je ne sui mie eil 

Qui vuelle losangier sa dame. 

Dirai-je: tant com une jame 

Taut de pailes et de sardines 

Vaut la contesse de reines? 

Naie voir, je n'en dirai rien, 

S'est-il voir maleoit gr6 mien; 



II. Entwickelung der epischen Poesie in FraDkreich. 77 

45. So entstand der Zweig der Literatur, dem man gewölm- 
lieh den Namen ßitterpoesie giebt. Und nun liegt es, auf 
der Hand zu fragen , was denn eigentlich das sie charakteri- 
sirende Ritterliche sei? Welches war das Ritterwesen, 
nach welchem sie genannt wurde? 

Das Ritterwesen wurzelte in der alten germanischen Sitte, 
dem zum Manne erwachsenen Jüngling die Waffen öffentlich 
und feierhch in die Hände zu geben. Seit Gallien's Eroberung 
hatte sich indessen bei den Germanen viel verändert ItL-r 
alte Adel war in Folge verschiedener Ursachen, hauptsächlich 
durch den fortwährenden Kriegszustand, untergegangen. Auch 
der Stand der Freien verschwand beinahe; einestheila fiel er 
unter dem Druck der Zeiten, aus Armuth und Mangel, in 
Leibeigenschaft, anderntheils wurde er in einen neuen Stand auf- 
genommen, der nach und nach aufkam und bald die gaiiz(ai 
gesellschaftlichen Zustände beherrschte. 

Die Diener des Königs, das Hofgesinde und die Beainten 
genossen schon bald Auszeichnung und grosse Vorroclitc: 
schon das salische Gesetz erkennt ihnen dreifaches Wehrgeld au. 
Von den Königen mit hohen und vortheilgebenden Stellen iu 
Hof und Staat belehnt, (durch die sogenannten beneficia, d.h. 
Landbewilligungen), nahmen sie an Ansehen und Macht zu. 
Die hohen Aemter gaben, nur zimi kleinen Theil rechtmässig, 
meistens unrechtmäsig erworbenen Reichthum und Einflusa; 
mit den beneficia wurde auch bald die sogenannte Im- 
munität verbunden; das war nicht nur Befreiung von Ab- 
gabe und Steuer, sondern sogar das Recht, diese selbst zu ' 
erheben; dazu fielen ihnen auch die vieltältigen Bussen mi, ' 
die in Strafsachen gewöhnlich auferlegt wurden. Aus die*:jLiii | 
Grunde erklärt es sich, dass auch die politische und ricliti'i-- 
liche Macht aut den Bevorzugten übergmg; dieser wäre dadurdi 
gänzlich unabhängig von dem Landestursten gewesen, wän,* er * 
nicht durch Commendation wieder enger mit ihm verljuii- i 
den worden. Das war nehmlich eine Empfehlung an den lie- 1 



M6s taut dirai-ge que mialz oevre 
Ses comandemenz an ceste oevre 
Qae Sans ne painne que g'i mete. 
Del' Chevalier de la charrete 
Comance Crestiens son livre. 



78 II. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 

sonderen Schutz (mundium) des Königs^ zufolge welcher u. A. 
alle den Commendirten betreflfenden Rechtsfragen vor des 
Königs Hofgericht gebracht wurden. So wurde der Günst- 
ling dem allgemeinen Rechte entzogen, und fugt man dies zu 
den anderen gesellschaftlichen Vorrechten, welche er genoss, 
so ist es natürlich, dass er von jetzt an einen besonderen 
Stand in der Gesellschaft zu bilden begann. 

Dem mundium, der besonderen Beschirmung des Königs, 
war das homagium gegenübergestellt; die Erklärung, dass 
man zu des Königs Mannen gehöre, und verpflichtet zuna 
Dienste des Fürsten, hauptsächlich zu Kriegszeiten, sei. So 
wurde dieser Stand ausschliesslich der Kriegerstand. 

Die Mitglieder dieses Standes übernahmen den altger- 
manischen Gebrauch, oder wendeten denselben mit einigen 
Veränderungen auf sich selbst an, und die feierliche Dar- 
reichung der WaflFen wurde für ihre Söhne die symbohsche 
Einweihung zu einer engeren Vereinigung, die mit der Zeit 
unter dem Einflüsse der Kirche einen mehr und mehr entschie- 
denen Charakter annahm. 

So entstand aus dem Beneficium und der Commendation 
das Lehnswesen, während dieses zu gleicher Zeit der Anfang 
des Ritterwesens war. 

Je weiter wir zurücksehen, desto weniger geistlich^ und 
desto weltlicher erblicken wir den Charakter des Ritterthums. 
Das Anlegen der WaflFen, die symbolische Uebergabe des 
Rechts, sich durch Führung des Schwertes Ruhm zu erwer- 
ben, ging wohl mit Messe und Opfergabe Hand in Hand ; aber 
das war auch Alles. 

Nach und nach bekommt die Kirche mehr Einfluss auf 
die Einrichtung, und die Ritterweihe wird eine kirchliche 
Feierlichkeit, bei welcher der Priester dem neuen christlichen 
Krieger seine Pflichten vor Augen führt, welche derselbe auf 
das Evangelium beschwört. 

Der Neuaufgenommene weihte sein Schwert AUem, was 
recht und gut war: das grundsätzliche Handeln kennzeich- 
nete also den wahren Ritter mehr, als die goldenen Sporen. 
Muth und Ausdauer waren ihm unentbehrlich, aber diese 
Eigenschaften wurden erst dann ritterlich, wenn sie auf ein 
heiliges Ziel gerichtet waren. Für Kirche und Fürst musste 
er das Schwert führen, zur Beschirmung von Wittwen und 



II. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 79 

Waisen miisste er es aus der Scheide ziehen. Das war in 
einer Gesellschaft, in der wenig Rechtssicherheit herrschte, 
die schöne und praktische Seite des Instituts. Aber dabei 
entwickelte sich auch bald nach dem ersten Kreuzzuge ein 
idealistisches Streben, bei welchem das Gefühl der Ehre zu 
einer kränklichen Empfindsamkeit gesteigert, und abgöttische 
Huldigungen für das schöne Geschlecht das Schiboleth höfischer 
Bildung wurden. Dabei liess man sich durchaus nicht durch 
die Natur, sondern durch sehr wenig natürliche, konventionelle 
Ideen leiten. So wurde bald das Ideal des Ritters in der 
Ausübung von Scheintugenden gesucht, welche in ihrem kran- 
ken Spiritualismus und ihrer unglauWidben üebertreibung das 
meiste Gewicht auf das eigentlich mit der menschlichen Natur 
in ewigem Kampfe Liegende setzten, anstatt in derselben zu 
Tvnrzdn. Die Folge davon war denn auch, dass* die Bil- 
dung, welche keine Wirklichkeit und Wahrheit zur Basis hatte, 
auch keine Tiefe und keine Zukunft haben konnte, und dass 
sie bald im Zusammenleben in blosse AeusserUchkeiten und 
sinnlose Firmen ausarten und in der Literatur vorzugsweise 
das Gebiet des Unmöglichen betreten musste. 

46. Am meisten machte sich dies in der Literatur bemerk- 
lich, denn in ihr spiegelt sich der Geist der Zeit ab. Wäh- 
rend den historischen KarlsUedern durchgehends ein grosser 
Gedanke zu Grunde hegt, kann man durchaus nicht behaupten, 
dass dies auch mit den Arthurromanen der Fall war. 

Der Hauptgegenstand dieser Erzählungen ist immer, wie 
ivir schon bemerkten, die Fahrt des Ritters nach Abenteuern, 
die er aus irgend einem Grunde, der übrigens gar nicht viel 
zur Sache beitrug, unternahm. Es handelte sich dabei nicht so 
sehr um Erreichung des Zieles, als vielmehr um die Schilderung 
der vielen und vielerlei Abenteuer, welche den fahrenden Rit- 
ter dabei erwarteten. Denn er kommt in Berührung mit 
Raubrittern, Riesen und Ungeheuern, die er bekämpfen muss, 
und die er in der Regel besiegt. Diese Unmöglichkeiten wer- 
den meistens zur Ehre dieser oder jener Dame untemonuneu. 

Nun ist es wohl wahr, dass in unseren Augen dieser In- 
halt nicht viel mehr ist als blosses Phantasiespiel ohne Bedeu- 
tung; aber man vergesse doch nicht, dass das im zwölften 
Jahrhundert anders war. Zuerst fielen diese Streifzüge in 
den Geist des nordfranzösischen Adels, wie die historischen 



80 II* Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 

Ereignisse des verflossenen Jahrhunderts bewiesen. Wenn 
man nun solche Fahrten auch in der Wirklichkeit nicht mehr 
unternahm — die Kreuzzüge waren zu etwas Anderem 
geworden — man hatte doch seine Freude daran, wenn sie 
durch die Kunst idealisirt wurden, wenn sich also die Gelegen- 
heit darbot, die Haupttugenden des Ritterthums plastisch vor 
Augen zu haben. Aber gerade das Idealisirte machte die 
schwache Seite derselben aus. 

Auch die Odyssee und die Ilias schildern uns Tugenden 
und Sitten, die uns fremd geworden sind, und doch ist Homer's 
Werk unsterblich, weil uns aus demselben ein echt mensch- 
licher Geist entgegen tritt In welches Kleid sie auch gehüllt 
seien, und welchen gesellschaftlichen Formen sie auch huldi- 
gen mögen, — wir fühlen doch die Blutsverwandtschaft seiner 
Helden öiit uns selbst. Was ihnen die Brust schwellt, lässt 
auch ims nicht kalt, denn ihr Gefühl, ihre Leidenschaft, ihre 
Mängel und Vorzüge, Alles ist ganz menschlich und dadurch 
für alle Zeiten verständlich. 

Dies ist mit den Arthurgedichten nicht der F^: was bei 
ihnen als höchstes Gut betrachtet wird, hat für uns in der 
Regel wenig Werth, weil keine Menschen, sondern Ritter mit 
konventionellen Tugenden vor uns auftreten, die uns nur zu 
oft zum bedauernden Achselzucken zwingen. 

Und gerade dann, wenn eine Leidenschaft geschildert 
wird, die nicht an Zeit und Ort gebunden ist, und die auch 
noch in unserer Zeit ein starker Hebel ist, lässt uns der Man- 
gel an Innerlichkeit und NatürÜchkeit kalt; wie man das frei- 
lich von bloss äusserlicher, formeller Galanterie nicht anders 
erwarten kann. 

Im Allgemeinen ist es, als ob diese Ritter und Edelifrauen 
sich schämten, Menschen zu sein, und sicher war die Welt, 
für welche diese Dichter schrieben, eben so gekünstelt und 
manierirt, wie jene, für welche Bouchez und Watteau ihre 
durch Unwahrheit sich auszeichnenden Gemälde lieferten. 

Indessen ist es doch sehr auffallig, wie der Geist, der 
damals die französische Aristokratie beherrschte, sich in 
Frankreich erhalten hat Die gesellschaftlichen Formen sind 
wohl verändert, aber der Mangel an Innerlichkeit und Na- 
türlichkeit entstellt sowohl das Zeitalter Ludwig XIV. als 
das Louis Phihpp's. 



^ 



II. Entwickelung der epischen Poesie iu Frankreich. 81 

£s ist natürlich^ dass dabei günstige Ausnahmen vorkamen^ 
wir dürfen indessen doch nicht verhehlen, dass die meisten 
Dichter aus dieser Periode sich weder in Erfindung noch in 
Charakterzeichnung über das Mittehnässige erheben. Ja, nach 
Allem, was wir von dem Konventionellen der Haupteigen- 
schaften jener Romanhelden gesagt haben, wird man es nur 
natürlich finden, dass von eigentlicher Charakteristik nicht die 
Rede sein konnte, dass keine eigentlichen Individualitäten, 
sondern nur Typen der allgemeinsten Art gezeichnet wurden. 

Meistens waren aber auch die Dichter zufrieden, wenn sie 
ihr Auditorium mit einer bunten Erzählung voll wunderbarer 
Schwierigkeiten und voll Beschreibungen äusserlichen Glanzes 
angenehm zu unterhalten wussten. Wenn sie dabei durch 
spitzfindige Phrasen über das, was sie Liebe nannten, bewiesen, 
dass sie den Geschmack der Zeit für Dialektik kannten, und den- 
selben zu befriedigen verstanden, so meinten sie Alles gethan zu 
haben, was man von ihnen fordern konnte. Und endlich ist es 
ihr sichtliches Bestreben, durch künstliche Reime und durch 
die Pracht des Rhythmus ihr Auditorium in Entzücken zu 
versetzen, und zugleich ihre Meisterschaft in der Form zu 
beweisen. Aber auch hierin, sowie in der Anlage der meisten 
Werke, zeigt es sich, dass Takt und reiner Geschmack nur 
all zu oft mangelten. 

47. Wenn wir bei dem Gang der epischen Poesie in 
Frankreich so lange verweUt haben, so geschah es, weil sich 
dieselbe bald über ganz Europa ausbreitete. 

Hat man sich zuweilen verwundert und es beklagt, dass 
französische Literatur und französischer Geist in unseren 
Tagen eine so grosse Herrschaft ausüben, im Mittelalter war 
dieser Einfluss nicht geringer. Ueberall ahmte man fran- 
zösische Sitten nach, und schon damals gehörte die Kenntniss 
der französischen Sprache zu einer guten Erziehung; dies 
beweisen sowohl die Zeugnisse der Geschichte als der Romane.^) 



*) So erzählt u. A. Stoke, dass die Vormünderin von Graf Floris V. : 
Dede tkint wel aehterwaren 
Tote het quam tot zulken jaren, 
Dat hi hem selven began verstaen. 
Doe dede rine ter scolen gaen 
Walsch ende Dietsch leren wel. 

Jonckbloet's Geschichte der niederländischen Literatur. Band I. 6 



I 



^2 II' Entwickelnng der epiacben Poesie in Fninkreich. 

Auch in Deutschland wurden verschiedene Gedichte aus 
dem Karolingischen Sagenkreise übersetzt, und die berühmte- 
sten Dichter, wie Gottfried von Straasbui^, Hartmann von 
Am , Wolfram von Eschenbach ahmten die hei-vorragendsten 
Artliurromane nach. Was nun die Niederlande betrifft, so ist 
('^ uatürlich, dass daselbst die Helden beider Sagenkreise 
bmiilunt und beliebt waren. Karl war doch vorzugsweise ein 
niederländischer Fürst. In Niederland stand die Wiege seines 
(Ti;sr;hlechts, hier wurde er geboren, hier oder doch in der 
Näiie hielt er sich am liebsten auf, und manche Sage seines 
Cyklus ist auch sicher hier entstanden. Ich verweise nui- auf 
(Jgier von Ardennen, die Hainionskinder und viele andere, 
Aup,enseheinlich sind die Gedichte, welche jene UeberÜeferun- 
gfii mithielten, über die Grenzen gegangen, und dort mit 
ryiiiauischem Gewände bekleidet worden, aus welcher Ueber- 
sL-txung wir sie dann wieder befreit haben; die Namen der 
Helden und Orte weisen noch deutlich auf „dietsche" Ab- 
staiiimung. 

Und dasB auch die Arthursage hier gedeihen musste, ist 
ufcitürUch. Die Gedichte aus dein Arthursagenk reise, die bald 
den Tou über ganz Em-opa angaben , erblickten am Hofe de» 
vliiiiiiBchen Grafen Phihpp vom Eleass das Licht. Hier blühte 
(.'restien de TroJes, der Vater dieses Genre. Eins seiner 
Gcilichte ist dem ge nannten Fürsten gewidmet, ein anderes der 
Murin von Champagne, die mit dem hennegauiechen , später 
aiicli vlämischen Grafen Balduin von Konstant! nopel vermählt 
Will- imd die Vorliebe für Literatmr und Poesie von ihrem 
Viiti.'r geerbt hatte. Balduin selbst ist als proven9abBcher 
IJiuliter bekannt, während seine älteste Tochter Johanna fran- 
zösische Poeten begünstigte, wie schon die Tliatsache beweist, 
dass ihr ein Gedicht aus dem Arthursagenkreise zuge'eig- 
net ist.') 

Und in dem Roman de Berte aus gTEius piäs liest man S. Iii; 
Tout droit k celui tempe que je ci vous devis 
Avoit une couatume ena ei Tjoh paiia, 
Que tout li grant seignor, li conte et li maTChis, 
Avoieut entour aua gent franfuise tous-dis 
Pour apprendre franQoiB leurs fillee et leur fiU. 

') Der TOD Uaneuier voUeudete Koman de Perceval von Creatien de 



JI. fintwickeluBg der epischen Poesie in Frankreich. 83 

Die Gedichte in einer fremden, nicht volksthümlichen 
Sprache mochten damals in Brügge und noch ungeßlhr ein 
Jahrhundert später auch in Brüssel den Hof und den Adel 
bezaubern, für die vlämisch sprechende Bevölkerung hatten 
sie jedoch keinen Werth. 

Die Bürgerschaft, inmitten eines immer lebhafter werden- 
den Verkehres, wurde nach und nach wohlhabender. Theils 
dui-ch diesen materiellen Fortschritt, aber vor allen Dingen 
auch durch Anstrengungen auf dem Gebiete des Handels und 
der Industrie, hatte eine unerhörte und erstaunliche Entwick- 
lung intellektueller und moralischer Kräfte statt. War es nun 
nicht natürlich, dass bei der sich mehr und mehr entwickeln- 
den Bürgerschaft, die sich durch Vereinigung materieller und 
psychischer Kräfte auf politischem Gebiete bald neben, ja 
über den Adel gestellt sah, nun auch Sinn für mehr als ma- 
teriellen Genuss erwachte? Und war es nicht ebenso natür- 
lich, dass wie man den Schmuck, den Luxus , die gesellschaft- 
liehen Formen des noch immer bevorrechteten Standes nach- 
ahmte, man nim auch an den geistigen Vergnügungen Theil 
nehmen wollte, welche jenem die Poesie bot? 

Die Sucht der Nachahmung, der Assimilation mit den 
Jiigenartigkeiten eines Standes, zu dessen Höhe sich eine 
ursprünglich minder geachtete Klasse erhoben fühlt, ist eine 
so gewöhnliche Erscheinung, dass man sie fast ein gesell- 
schaftliches Gesetz nennen kann. Bleibt man auf dieser Stufe 
des Fortschrittes stehen, so ist das ein Beweis, dass wir es 
eigentlich nur mit Scheinentwickelung zu thun haben : wo 
sich wirklich die Entfaltung eines eignen Lebenskeimes offen- 
bart, da ist die Nachahmung nur ein erstes Rundtasten, das 
zur Auffindung einer eignen Form führt, welche dann der 
passende Ausdruck des eignen Wesens ist. 

So ging es der vlämischen, der niederländischen Gesell- 
schaft. Sie huldigte anfili^glich dem Gesetze der Nachahmung ; 
als sie aber zu vollkommenem Selbstbewusstsein gekommen 
-war, verliess sie die Literatur des Adels, für welche sie doch, 
-weder als Stand, noch in ihrer Eigenschaft als nüchterne 
Prosa-Niederländer Sinn haben konnten; und die Literatur des 
Bürgerstandes, deren Apostel Vater Maerlant war, entstand 
jetzt. Erst aber wurden die Gedichte, an denen der Adel 
sich ergötzte, aus dem Französischen in die Landessprache 



g4 ir. Entwickelung der epischen Poesie in Frankreich. 

übersetzt. Zuerst natürlich die Karlssagen, deren Inhalt, 
Richtung und Sittenschilderung mehr mit dem Geist der kaum 
von der rauhen Schale losgerungenen, vlämischen Bürger über- 
einstimmte. Etwas später wurden auch die Gedichte aus dem 
Arthursagenkreise in ein vlämisches Kleid gehüllt^ und diese 
errangen selbst eine Popularität, über welche man sich wirk- 
lich verwundern müsste, wenn man die dazu beitragenden 
Gründe nicht kennte. So viel ist gewiss, dass sie einen solch 
unerhörten Erfolg hatten, dass alle Schreiber aus der bürger- 
lichen Schule davon sprechen, und dass selbst Maerlant die 
Klage erhebt: 

Cume es hi van mi bekint, 

Di nu leeft ende waerheit mint; 

Maer Tristram ende Lanceloot, 

Perchevael ende Galehoot, 

Ghevensde namen ende ongeboren, 

Hier of willen die liede hören; 

Truffe van minnen ende van stride 

Leest men dor die werelt wide! 
Ehe wir diese Uebersetzungen näher in Augenschein 
nehmen, mögen einige Anmerkungen allgemeiner Art hier 
ihre Stelle finden. 



III. 

Allgemeine Bemerkungen über die Mittel- 
niederländische Dichtkunst, 



48. In Deutschland datirt der Einfluss der französischen 
Literatur aus der Zeit nach dem zweiten Kreuzzuge (1147 bis 
1 149), den Kaiser Konrad lU. mit dem französischen König 
Xiiidwig Vn. unternahm. Wenigstens besitzt man aus dem 
letzten Viertel des zwölften Jahrhunderts verschiedene Gedichte, 
die aus dem Französischen übersetzt oder bloss nacherzählt 
livaren, und die theils dem Cyclus Karl des Grossen, theils de^l 
vom König Arthur zugehören. 

Der Einfluss der Kreuzzüge auf die deutsche Literatur 
bestand darin, dass zuerst neben dem nationalen Elemente, 
xuid später vorzugsweise fremde Stoffe behandelt wurden. 
Ich möchte nicht behaupten, dass es dieser Literatur zum 
Nachtheile gereicht habe; gewiss ist, dass der Einfluss der 
Kreuzzüge in mancher anderen Hinsicht sehr segensreich war. 

Wir sahen die Poesie in Deutschland nicht nur ganz in 
den Händen der Geistlichkeit, sondern wir bemerkten auch, 
"Wie selbst die deutsche Sprache dem klassischen Latein 
Platz gemacht hatte. Dass dieser Zustand auf die Dauer 
unhaltbar war, bedarf keiner Erwähnung, da mit der Sprache 
Kom's auch seine Ideen, Auffassungsweise und Darstellung 
übernonunen werden mussten; und dies um so mehr, da 
man sich eng an die klassischen Dichter anlehnte. Hätte 
dies lange fortgedauert, so wäre die Literatui' wohl bald zu 
Grunde gegangen, weil der Widerspruch zwischen Inhalt und 
Porm mit der Zeit keine lebensfaliigen Früchte hervorbrin- 
gen konnte. 



gö III. Allgem. Bemerkungen über die Mittelniedcrländ. Dichtkunst. 

Diesem Zustande machten die Krenzzüge ein Ende. Hun- 
derttausende waren ausgezogen, das gottgefällige Werk voll- 
bringen zu helfen, aber unendlich grösser noch war die An- 
zahl derjenigen, die zwar zurückgeblieben waren, aber nichts- 
destoweniger jene heilige Begeisterung theilten, und mit der 
höchsten Theilnahme ihr Auge auf das Land jenseit des Mee- 
res, und auf die Schicksale der gewaffneten Pilger richteten. 

Andrerseits fühlte sich mancher Kreuzfahrer angetrieben,, 
das Fremde, Grosse und Merkwürdige, das er erlebt oder 
gesehen hatte, zu erzählen oder zu besingen. Und diese Er- 
zählungen konnten nur in der Landessprache entstehen. 
Theils darum, weil nur auf diese Weise die Neugierde der 
Zurückgebliebenen gestillt werden konnte, theils aber auch^ 
weil es hauptsächlich Weltliche waren, welche, voll von den 
grossen Ereignissen im Osten, nach der Feder griffen. Und 
nichts war natürlicher: denn wer konnte davon ein deut- 
licheres Bild entwerfen, als der, der selbst den Kampf mit- 
gekämpft und die Wunder der orientalischen Welt gesehen 
hatte ! 

Dies zeigt die französische Geschichte sehr deutlich. 
Denn schon im Jahre 1130 schilderte der normannische Rit- 
ter Guillaume Bechada die Heldenthaten des ersten Kreuz- 
zugs in französischen Versen; und ebenso besang der Graf 
von Poitiers seine eigenen Aventüren im Oriente in zierlichen 
Gedichten. So entstand endlich die sogenannte Chanson 
d'Antioche, d. h. die poetische Erzählung von der Ein- 
nahme Antiochiens durch Bohemund von Tarent, von wel- 
cher wenigstens eine sehr alte Bearbeitung bis auf uns gekom- 
men ist. 

Wo solche Erzählungen nach dem Auslande gebracht 
wurden, mussten sie in die Landessprache, und nicht in's La- 
teinische übersetzt werden. 

Nun ist zwar nicht nachzuweisen, dass eins der gemelde- 
ten Stücke die Grenzen Frankreichs überschritten habe, wohl 
war dies jedoch mit anderen Gedichten der Fall, welche dem- 
selben Kreise angehörten, und diesen Uebersetzungen folgten 
bald Gedichte anderen Inhaltes. 

Ich nenne hier in erster Linie das hochdeutsche Gedicht 
Graf Rudolph, von dem nur noch Fragmente erhalten, aus 
denen man aber deutlich schliessen kann, dass es wahrschein- 



III. Allgem. BemerkungeD über die Mitteln iederländ. Dichtkunxt. 87 

lieh zwischen den Jahren 1170 und 1173 aus dem Französi- 
schen übersetzt wurde. Der Inhalt schildert uns, obgleich 
mit poetischer Freiheit, geschichtliche VorföUe, die bald nach 
1130 im heiligen Lande stattfanden. Für uns ist es nicht 
unwichtig; dass ein Graf von Flandern, Philipp viin Klsas», 
darin eine Rolle spielt 

Als einmal die literarische Verbindung mit Frjinkrcich 
ihren Anfang genommen hatte, folgte in Deutechliiiul bald 
Üeberaetzung auf Uebersetzung. 

Zuerst lenke ich die Aufinerksamkeit auf ein (_Tedicht, 
das auch auf historischem Boden entstanden war, iinti eben- 
falls den Kampf gegen die Ungläubigen behandcitf. Das 
sogenannte Rolandslied von einem Pfaffen Koiirad, aus 
dem Französischen zuerst in 's Lateinische, und dariius wiedi^r 
in's Deutsche übersetzt. 

Aber auch Uedichte anderen Inhaltes, eigentliche Rittcr- 
gedichte, folgten bald nach; so der Tristan von Eilhart vuu 
Oberg ungefähr um dieselbe Zeit; und Wimt von Grafcii- 
berg's Wigalois etwas später. (1206—11.) 

Kndlich auch antike Stoffe. Der Alexander doy Plaffcn 
Lamprecht (?) erschien im letzten Viertel des zwölften Jahr- 
hunderts, und schon zwischenll75 und 1184 begann Ikinrich 
von Veldeke die Uebersetzung seiner „Eneit" am Hof von 
Kleve, neun Jahre später vollendete er sie in Thüringen. 

Mit diesem Dichter beginnt in Deutschland das eigeut- 
liche Ritterepos. Er war nicht nur der Erste, der sicli e'iw.y 
abgerundeteren Form bediente, indem er in flicwsendcrt^m 
Rhythmus und reineren Reimen schrieb, sondern sein t.'tdicht 
war auch das erste, das vollkommen den ritterliclitii Ovht 
athmete. Liebe und (Jalanterie bilden den Hauptiuli:ilt sownlil 
seiner Eneit als seiner lyrischen Gedichte. 

Ans seiner Schule gingen die grossen Dichter di'w drei- 
zehnten Jahrhunderts hervor: Hartmann zu Aue (^ivh. \uii 
1170, gest zwischen 1210 und 1220), zumal bekannt dui.h 
Erec (1195—97) undiwein (vor 1^04), beide nach Chrctii-n 
de Troies bearbeitet; Wolfram von Eschenbach, der diinh 
seinen Parcival (1205—1210) und Willehalni vnu 
Oranze (1217) sich unverwelkliche Lorbeeren verdient h;it; 
Gottfried .von Strassburg, dessen Tristan vor 121U voilun- 
det wurde. 



88 III. Allgem. Bemerkungen über die Mittelniederläud. Dielitkuust. 

49. In Deutschland datirt also die Ritterpoesie, oder mit 
anderen Worten, der Einfluss der französischen Trouvferes, 
ungeßlhr vom Jahre 1170. 

Und wie sieht es damit in unserem Lande aus? Diese 
Frage ist wichtiger, als es auf den ersten Blick erscheint; 
denn sie stimmt eigentlich mit der andern überein: Von wel- 
cher Zeit an datirt sich in Niederland die eigentliche Literatur 
in der Volkssprache? 

Die Frage wurde verschieden beantwortet, weil die genaue 
Entscheidung nicht leicht ist. Aus folgenden Grründen: 

Die zu uns gekommenen Werke tragen nicht immer den 
Namen des Verfassers und nur sehr selten das Datum ihrer 
Entstehung; wenn ähnliche Angaben darin vorkommen, so ist 
es gewöhnlich in einem Prologe oder am Schlüsse. Und gerade 
Anfang und Ende vieler unserer alten Dichtungen blieben 
uns unbekannt. 

Als, wie wir später sehen werden, die ritterliche Kunst 
dem bürgerlichen Lehrgedichte Platz machen musste, kamen 
die Handschriften, welche Ritterromane enthielten, in Ver- 
gessenheit; sie fielen bald unter die Scheere des Buchbinders; 
das Pergament wurde in Streifen geschnitten, um zum Ein- 
nähen von Büchern zu dienen, oder imi zu Leim verkocht zu 
werden; einige Blätter wurden beim Einbinden zu Umschlä- 
gen von Rechnungen und dergleichen Papier vei'wendet, und 
von diesen ist, nach dem Verluste des Ganzen, glücklicher- 
weise manches für uns erhalten worden. 

So kommt es, dass wir von vielen unserer ältesten Gre- 
dichte nur Fragmente, zuweilen in kleiner, zuweilen in grösse- 
rer Anzahl besitzen; aber gewöhnlich fehlt der Anfang und 
das Ende des Werks, also auch eine eventuelle Anweisung 
über die Zeit der Entstehung. Und in keinem der ältesten 
Werke, die für uns ganz bewahrt blieben, ist ein solcher Fin- 
gerzeig zu finden. 

Daher die Unsicherheit, die zu Vermuthungen oder Hypo- 
thesen ihre Zuflucht nahm, und wodurch man oft genug sich 
in Extremen erging. 

Als man von mittelalterlicher Literatur im Allgemeinen, 
und von unserer ältesten Literatur im Besonderen noch sehr 
wenig wusste, bezeichnete man das Aufblühen der letzteren 
ganz gewiss mit viel zu spätem Datum. Es war bekannt, 



III. AUgem. Bemerkungen über die Mittelniederläad. Dichtkunst. 89 

daB8 Jakob von Maerlant 1270 eine Reimbibel heraus- 
gegeben hatte: einer seiner Schüler hatte ihn irgendwo „den 
Vater der dieteehen Dichter" genannt, man nahm diesoii Aus- 
spruch nur zu buchstäblich, und rechnete, dasa mit \';ittr 
Maerlant, also mit dem Jahre 1270, die mittelniederländische 
Literatur anfing. 

Das war unrichtig: erstens, weil keine Literatur mit Di- 
daktik anfangt; zweitens aber auch, weil Maerlant sellist eiuc- 
ganze Reihe von Rittergedichten nennt, gegen deren Richtung 
er zu Felde zieht. Der vermuthliche Vater hatte alsu i>-alir- 
echeinlich Voreltern. 

Als man mit der mittelalterlichen Literatur et^\as ver- 
trauter wurde, fühlte man auch nach und nach B^^n^J;lt]lie 
für dieselbe, und dadurch verfiel man bald in's andre Extrem. 
Man wollte sie nun um so weit wie möglich ziu-Uck dntireii, 
und behauptete, man müsse mindestens ein Jahrhundert zurück- 
gehen. Deshalb führte man ein Gedicht an, das ungefähr 
1170 entstanden sein sollte. Dies war der Ee inaer t, und da 
dies Kunstprodukt in fliesaendcn Versen tmd in sehr entwickel- 
ten Sprachwendungen geschrieben war, so konnte auch dieses 
unmöglich ein Erstlingswerk Bein. Der Anfang unserer 
Literatur musste also viel hoher, mindestens bis zur (.'i-stfn 
Hälfte des zwölften Jahrhunderte, zurückreichen. 

Indessen stellte es sich doch bei tieferem Studium inTnus, 
dasB der Reinaert unmöglich aus dem Jahre llTD sein 
konnte; dass er höchstens aus dem ersten, und wahrsclieiniich 
selbst erst aus dem zweiten Viertel des dreizehnten Jahrhun- 
derts stammen konnte. Der Beweis, den man von dem Alter 
dieses Gedichtes herleitete, verfiel also in sich selbst. Nim 
■war man einmal an's Zweifeln gekommen, obgleich man noch 
keine vollkommene Sicherheit hatte, als Professor ßovniaiis 
zu Lüttich einen neuen Beweis für das hohe Alter <\':r mit- 
telniederländischen Literatur gefunden zu haben niciuti' in 
einem Gedicht „Legende von St. Servatius'", von 
einem gewissen Heiin'ich von Veldeke. Dieser Heinrich 
■war kein Anderer, als der Vater der mittelhochdeutschen 
Eitterpoesie. Und damit wurde dann nicht nur da.s Alter 
unserer eigenen Literatur festgestellt, sondern auch liewie- 
sen, daes unsere Dichter Deutschland den Anstoss gugcbeu 
hatten. 



90 Hl. Allgem. Bemerkungen über die MittelniederlSnd. Dichtkunst. 

50. Bei näherer Betrachtung oiubb man jedoch eineefaen^ 
diisB iler Dichter der £ n e 1 1 und der Legende unmöglich die- 
BC-lbi- Person sein kann. 

Der Uebersetzer der mittelhochdeutschen Eneit war 
gdna gewiss ein weltlicher, und höchetwahrscheinlieh 
Liii mlliger Dichter. Das Hauptthema seines grossen Gedich- 
tes, aiiwie seiner Minnelieder, ist die Liebe, und darin lag 
gerade die Ursache seines grossen Erfolgs. Und wir können 
Ger vinus wohl beistimmen, dass dieser Inhalt keine geistliche 
Feder verräth; ja, dass man es damals unerträglich gefunden 
Laben wüi-de, wenn ein Geistlicher öffentlich in der Volks- 
sprache nach dieser Richtung hin als Koncvirrent der ritter- 
lichen Sänger aufgetreten wäre. 

iJer weltliche Sänger kommt zuerst am Hofe von Kleve, 
uiii'n Jahr 1175 vor; später, zwischen 1184 und 90, am Hof der 
Laudgrafen von Thüringen. Wenn er in der Eneit des 
priii:btigen Ritterfestea von Mainz im Jahre 1184 gedenkt, so 
spricht er auch vom ersten Zuge Kaiser Friedrich's nach 
llora, im Jahre 1155, wie von einer Sache, deren er sich per- 
sönlich erinnert. Er war also von Jugend an mit deutschen 
Fürsten in Berührung, und noch im reiferen Lebensalter fin- 
den wir ihn an deutschen Höfen. Dass er schon betagt war, 
beweisen seine Minnelieder, in denen er seine grauen Haare 
eingesteht. 

Er hedient sieh der mittelhochdeutschen Sprache, zuweilen 
mischt er niederdeutsche Reimworte ein. Daraus hat man 
den Hchluas gezogen, dass er ein Niederdeutscher, und aus 
seinen Schicksalen, dass er wahi-scheinlieh aus Westphalen 
stannne. 

Zu seiner Charakteristik dient, dass er reine Reime an- 
wendet, und sich nicht, wie seine Vorgänger, erlaubt, e auf a 
oder (I zu reimen; während er," nach Grimm, mit den Con- 
soiiaiiteo noch weniger willkürlich zu Werke geht. 

Werfen wir nur einen flüchtigen Blick auf den Dichter 
der Legende vom heiligen Servatius. 

Im Jahre 14li2 schrieb ein bairiecher Edelmann, Jakob 
Pitltfiieh von Reichertshausen eine Art poetischen Kata- 
log iil)!r die Rittergedichte, die er hesass, und gab seiner Schrift 
den Xiimen Ehrenbrief Darin steht, dass die Legende dea 
niiistrii/liter Bischofs St. Servatius von Heinrich von Veldeke sei 



111. AUgem. Bemerkungen über die Miitelniederländ. Dichtkunst. 91 

Hat man dabei an den bekannten hochdeutschen Mmne- 
sänger zu denken ? Putterich ist der erste und einzige Schrei- 
ber , der diese Legende erwähnt ; und nun mag es doch gewiss 
befremden, dass ein Werk von einem so gefeierten Dichter 
erst drei Jahrhunderte später, und zwar nur in einem Kata- 
loge, genannt wird. Dies macht es wahrscheinlich, dass wir 
es nicht mit einem Werk des Verfassers der E n e i t , sondern 
mit einer Dichtung aus späterer Zeit zu thun haben. 

Und die Einsicht in die seitdem bekannt gewordene 
Legende bestätigt diese Vermuthung vollkommen. 

Der Schreiber war sicher kein Edelmann, sondern be- 
stimmt ein Geistlicher. Er übersetzt es aus dem Lateini- 
schen, seinem eigenen Zeugniss zufolge, für Ungelehrte, für 
Laien; sich selbst nennt er einen Diener von St. Servatius, 
seines Patron's und Herrn. Er wohnte ohne Zweifel in 
Mastricht. ^) Macht dies nun die Identität des Legendenschrei- 
bers mit dem hochdeutschen Minnesänger sehr zweifelhaft, so 
werden die Bedenken durch den himmelweiten Unterschied in 
ihrer Schreibweise noch verstärkt. 

Die Sprache der Eneit ist Hochdeutsch, mit einzelnen 
niederdeutschen — nicht immer niederländischen 2) — Eei- 
men; hingegen scheint die Legende in einem niederländischen 
Dialekt geschrieben, aber mit einer grossen Zahl hochdeut- 
scher Worte, sowohl zu Gunsten des Reims, als ohne diesen 
Grund, durchmengt zu sein. Während die Form der Eneit 
in Bezug auf Rhythmus und Reim sehr korrekt ist, geht man 
in der Legende mit Beiden sehr frei, sehr leichtsinnig um. 
Da wimmelt es von den willkürlichsten Assonanzen ^) und sehr 



^) G. D. Franquinet, der verdienstliche Archivar von Mastricht, 
sagt im 5ten Theii der Dietsche Warande 8. 372: 

Es ist für mich zweifellos, dass Heinrich von Veldeke, als er die 
Legende dichtete, zu Mastricht wohnte; ich vermuthe selbst, dass er 
Klosterschreiber, oder irgend eine geistliche Person an der St. Servatius- 
kirche gewesen sei. Sein Gedicht verräth in WortbUdung und Laut- 
Verschiedenheiten ganz und gar den Mastrichter Dialekt. 

*) Z.B. gebuozt: muoz, ist ersichtlich gebot: mot, daesnicht geboet: 
moet sein kann. So auch vazze : sazte = vate : säte, nicht vate : sette; 
man : san kein mittelniederl. man: säen u. s. w. 



s 



) Jongheren : apostelen ; vledighen : bedrieghen, veny en : menighen. 



92 in. Allgem. Bemerkungen über die Mittelniederländ. Dichtkunst. 

losen Reimen ; unter denen gerade die, welche der Verfasser 
des Rittergedichts absichtlich venneidet. ^) 

Und was den Styl betrifft; der in der Eneit sehr ,,8org- 
fältig^^ ist — in der Legende ist er so langweilig und matt, 
dass Bormans selbst u. A. sagt: „Von diesen sechs Versen 
könnte man leicht etwas entbehren, so auch an verschiedenen 
anderen Stellen;" (S. 225); oder: „man könnte viele Anmer- 
kungen über Veldeke machen, aber das scheint Alles die 
Folge seiner langdrahtigen Rhetorica zu seiner unersättlichen 
Variationslust zu sein." (S. 229.) 

Der Dichter, der so lange wegen seiner Herrschaft über 
Sprache und Form gepriesen wurde, müsste also in späteren 
Jahren sehr zurückgegangen sein. 

Dabei bemerke man auch mit Hinblick auf den Namen, 
dass der Uebersetzer der Legende sich nicht Heinrich von 
Veldeke nennt, sondern nur sagt: 

In dutschen dichtete dit Heynrijck, 

Die van Veldeken was gheboren. 
Vom Dichter der Eneit heisst es dagegen: 

Dat was von Veldecken Heynrich, 
wobei man wohl an einen Familiennamen denken kann, was 
im anderen Falle nicht so sicher ist. 

Kommen In der Legende auch direkte oder indirekte 
Fingerzeige vor, aus welchen des Dichters Alter abgeleitet 
werden könnte? 

In erster Linie beachte man den Epilog des zweiten 
Buches, in welchem er sagt, dass er auch deshalb schriebe^ 

Des hem oueh bat die Gravinne 

Van Loen, die edel Agnes, 

Te bat lustede hoem des, 

Dat hijt te dutschen keerde. 
Es sind nur drei Gräfinnen dieses Namens in der Geschichte 
bekannt. 

Graf Arnulf von Loon, der schon 1121 vorkommt, und 
1150 starb, war mit Agnes, Tochter des Herzogs von Baiern, 
vermählt; von dieser heisst es, sie habe ihren Gemahl um 
zehn Jahre überlebt und sei kurz nach 1160 gestorben. 

Lüste : beste; priester : meister; ghenade : bode; sameninghen : 
songen; sehenden : sonden; monster : vynster; toende : weende; toerne : 
gherne, u. s. w. 



III. Allgem. Bemerkungen über die Mittelniedeiiänd. Dichtkunst. 93 

Wenn wir nun annehmen, dass der Minnesänger der 
Dichter der Legende sei, so müsste diese Gräfin ihm das 
Werk in seiner Jugend aufgetragen haben; — aber aus 
mancher Stelle wird es deutlich, dass der Legendenschreiber 
ein Mann von reifer Lebzeit, wahrscheinlich selbst hoch- 
bejahrt war; dem stimmt auch Bormans bei. 

Diese Agnes kann also nicht in Betracht kommen; 
selbst nicht in dem Falle, wenn wir nicht an den Dichter der 
Eneit denken, weil die Sprache der Legende ganz gewiss 
nicht bis zur ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts zurück- 
reicht. Ausserdem ist es nicht wahrscheinlich, dass eine 
baierische Fürstin ein Gedicht in limburgischem Dialekte habe 
schreiben lassen. 

Die zweite Agnes, welche die Geschichte erwähnt, war 
die Gemahlin des Grafen Ludwig von Loon, die als Wittwe 
bald nach 1171 starb. Die Dritte war die Tochter des letzt- 
genannten Grafen, imd mit Otto von Witteisbach vermählt, 
der 1180 Herzog von Baiern wurde. Sie war also sicher da- 
mals schon gestorben, da er bei seinem 1183 erfolgten Tode 
einen Sohn aus einer zweiten Ehe hinterliess. 

Auch diese Beiden können nicht gemeint sein. Hätten 
wir es mit dem Dichter der Eneit zu thun, so könnte die 
Legende nicht lange vor 1200 geschrieben sein, da Veldeke erst 
nach 1 190 nach Mastricht hätte kommen können, und doch wohl 
erst einige Zeit verstreichen musste, bis er als Geistlicher an 
die St. Servatius - Kirche kam. Aber auch im andern Fall 
kann diese Legende nicht auf die Bitte einer dieser Fürstin- 
nen geschrieben sein, denn dies hätte vor 1170 geschehen 
müssen; und das Stück ist sicher, zufolge der Sprache und 
einiger Eigenthümlichkeiten nicht so weit zurückzuführen. 
Das kann hier nicht weitläufig aus einander gesetzt werden; 
ich lenke hier die Aufinerksamkeit nur auf zwei Ausdrücke, 
die meine Meinung bestätigen. Vs. 335 des ersten Buches 
heisst es: 

Dat hij van adel was gheboren. 
Dieser Ausdruck kann nicht so alt sein. Und wenn man Vs. 

519 liest: 

In dat monster Sinte Marien 
Burgher ende dienstmann 
Ende dat ghemeyne volc nochtan 
Des was daer voele te samen comen, 



94 m* Allgem. Bemerkungen über die Mittelniederländ. Dichtkunst. 

80 wird jeder Sachverständige zustimmen^ dass in der ersten 
Hälfte des zwölften Jahrhunderts, zumal in Mastricht keine 
Gegeneinanderstellung von Bürger, Dienstmann und dem 
,,ghemeye volc^^ vorkommen konnte. ^) 

Das Eine sowohl wie das Andere verweist uns in die 
letzte Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts. 

Und nun giebt es keinen einzigen Beweis, dass nicht spä- 
ter eine Gräfin von Loon denselben Namen getragen habe. 
Die Geschichte weiss nichts von Gegentheil. Auch der Name 
des Dichters ist im dreizehnten Jahrhundert nicht unmöglich. 
Aus Andeutungen eines Abtes Wilhelm von St Truyden geht 
hervor, dass von 12ö0 bis 1:^^6 ein Ritter Heinrich von Vel- 
deke lebte, der zur Kirche von St. Truyden als Advokat in 
Beziehung stand, und von ihr Güter in Lehn hatte. Vielleicht 
war dieser später in den geistÜchen Stand getreten, und ist 
der Schreiber der Legende; doch kommt es mir wahrschein- 
licher vor, dass man an einen Bewohner von Veldeke zu den- 
ken habe, eines Fleckens in der Nähe von Hasselt, der den 
Vornamen mit dem Gutsherrn, vielleicht seinem Pathen, 
gemeinschaftlich trug. ^) 

5.L Wir mussten in diesem Falle etwas ausftihrlicher zu 
Werke gehen, um zu beweisen, dass die Werke, die man an 
die Spitze unserer mittelalterlichen Poesie stellt , nicht so alt 
sind, wie man glauben machen wollte; dass sie nicht höher, 
als bis zur Hälfte des zwölften Jahrhunderts zurückreichen. 

Man verwundert sich vielleicht über diesen Umstand, und 
sagt: wenn das Dietsche sich doch im Laufe des elften Jahr- 
hunderts zu einer selbstständigen Sprache entwickelt hat 
(S. 6) , ist dann die Annahme so unzulässig, dass schon gegen 
die Hälfte des folgenden Jahrhunderts in dieser Sprache 
geschrieben wurde; ist nicht eher die Behauptung unwahr- 



'; Auch Vß. 2190 beisst es: 

Hij wijsden in sijne schuere 

Buten der burgher muere 
Yielleicht soll das, wie Bormans sagt, burghe Loissen. Ich weiss wohl, 
dass in der Eneit Vs. 11421 und 11945 auch bürgere genannt werden; 
aber augenscheinlich im Sinn von Burgbewohner. 

*) Ob der Minnesänger aus dem Loon'schen Veldeke abstammt, und 
zu der adligen Familie dieses Namens gehörte ^ ist noch nicht erwiesen. 
Auf jeden Fall gehören seine Werke nicht zur mittelniederl. Literatur. 



in. Allgem. Bemerkungen über die Mittelniederländ. Dicbtkunat. ^5 

scheinlicli, dass die ältesten Produkte unserer Literatur erat 
ungefähr im Jahre 1200 das Licht saheni' 

Mit der Hypothese über die frühe Entwickelung der 
Sprache sei man sehr vorsichtig! Mit demselben, wenn nicht 
mit gröBserem Rechte, könnte man daraus schliessen, 'hi^^ die 
Urkunden in der viämiscben Sprache ebenfalls bis zur ersten 
Hälfte des zwölften Jahrhunderts zurückreichen, weil ^i.-radc 
aus jener Zeit sich die Erhebung der viämiscben Ooini'inden 
herdatirt. Und wie würde man sieb täuschen! Die ältest- 
bekannte Urkunde in vlämiscber Sprache ist erat von 12)9'), 
und bis zu 1280 kommen, im Vergleich zu denlateiaisilieit, div 
Urkunden in der Landessprache nur ausuahmsweise vdi-. Von 
1280—1300 wächst ihre Zahl merklich an, und mit dtiii An- 
fang des vierzehnten Jahrhunderts verschwinden die liitciui- 
Bcben Stücke beinahe ganz. 

Man übersehe anderseits nicht, dass die Möglichkeit 
des Vorbandenseins von niederländischen Stücken aus diesei" 
frühen Zeit nicht in Abrede gestellt wird, nur der entschie- 
dene Beweis fehlt; und der ist doch auf dem Gebii^tR der 
Geschichte unerlässlich, wenn wir nicht allen festen Fiiss ver- 
lieren wollen. Was wir von den viämiscben Urkimden wis- 
Bfin, läeat die vermuthete Möglichkeit kaum zur WaliischiMu- 
lichkeit, wie viel weniger zur Gcwissheit werden. 

Nun weiss ich wohl, dass das Datum der ältesten Urkun- 
den aus der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhundifrtrs iiielit 
UQumstösslicb beweist, daes das Vlämische nicht sebun frübi:r 
als Schriftsprache angewandt wurde; aber ich glauijc ducU 
daraus ableiten zu können, dass die viämisehen Städter sicli 
nicht viel früher daran gewöhnt hatten, Vlämisch zu lea^n. 

Gegen diesen Bcbluss kann man vielleicht anfiihn.'u, dass 
in einem officiellen Stücke die Rede von einer niederliindischiMi 
Literatur vor dem Jahr 1200 ist. 

Untersuchen wir diesen Einwurf. 

L. Ph. C. Von den Bergh hat eine Stelle aus einc'r Akte 
des päbstlicben Legaten Guido in's Gedäcbtniss zurückf^eruii^n*), 
zur Organisation des Bisthumes Lüttich, „welches nicJit nur 

') C. A. Serriire, Geschichte der Literatur in der Grafacluift Ftüii- 
dem, S. 86. 

*l Nienwe reeks den Werkeo van de Maatsch. ran Ned. Li^tterk, tc 
Leiden. VIT. D, le St, S. 120. 



96 ni. Allgem. Bemerkungen über die Mittelniederländ. Dichtkunst. 

das romanische, sondern auch einen Theil des dietschen Bel- 
giens umfasste;^^ diese Stelle lautet folgendermassen : 

„Omnes libri Romane vel Teuthonice scripti de divini» 
scripturis in manus tradantur Episcopi, et ipse quos reddendos 
viderit, reddat/^ 

„Nun werden doch," schliesst van den Bergh, „alle die 
dietschen Bücher nicht in ^wei Jahren geschrieben sein, 
zumal in einer Zeit, in welcher man zuweilen Jahre lang über 
einem Bande arbeitete, und so kommen wir von selbst in's 
12te Jahrhundert, und die Massregel einer Büchercensur des 
Bischofs deutet an, dass eine wirkliche Literatur, und wäre es 
auch nur von geistlichen Werken, bestand." 

Gregen diese Folgerung aus dem lateinischen Satze, dass 
im zwölften Jahrhunderte — und das will natürlich nicht sagen : 
in den allerletzten Jahren desselben — eine niederländische 
Literatur im eigentlichen Sinne des Wortes bestanden habe, 
habe ich zwei Einwürfe: 

Zuerst: „libri Theuthonice scripti" sind deutsche 
und nicht, wie van den Bergh übersetzt, dietsche Bücher, 
denn der meistens gebrauchte lateinische Name zwingt uns, 
bei deniselben an hochdeutsche Bücher zu denken. 

Zweitens : Es ist hier die Sprache von Werken, welche über 
die heilige Schrift handeln, also wahrscheinlich Kommentare, 
vielleicht Glossen oder Uebersetzungsproben ; vielleicht auch 
Predigten. Wenn man nun auch zugiebt, dass man diese 
mit etwas gutem Willen (der aber durchaus nicht fehlen darf) 
eine geistliche Literatur nennen kann, so geht man doch zu 
weit, daraus sichere Folgerungen über eine „eigentliche Li- 
teratur" weltlicher Gedichte im Niederländischen zu ziehen. 

Nachdem ich Alles reiflich erwogen, glaube ich jetzt aus- 
sprechen zu können, dass die unpartheiische Kritik auch dieser 
Stelle den Werth absprechen muss, welchen man ihr bis jetzt 
zuschrieb. 

Ich glaube einen deutlichen Fingerzeig geben zu können, 
dass keins der bekannten mittelniederländischen Schriftstücke 
bis zur Hälfte, und wäre es zur zweiten Hälfte des zwölften 
Jahrhunderts, zurückreicht. 

Will man wissen, wie das Niederländische in der ersten 
Hälfte dieses Jahrhunderts noch lautete, so verweise ich auf 



111. Allgem. Bemerkungen über die Mittelniederländ. Dicbtkunet. 97 

die zwar wenigen, aber gerade deshalb desto wichtigeren 
Worte ans dem Jahre 113Ü, die uns Mone nütgetheill Imt:') 
„Tesi eamamunga was edele unde scona." 

Nun lege man daneben irgend ein Stück, welches liir dtii 
ältesten Rest unserer Literatur gilt; und ich frage, ob zwischen 
der Sprache beider nicht der Unterschied von mindestens 
einem Jahrhundert liegt? 

Wenden wir jetzt den Bück auf die ältesten Stücke, und 
Beben wir, ob über die Zeit ihrer Abfassung nicht einigis Licht 
zu verbreiten sei. 

52. Wenn mau auch den bestimmten Datum iiuserer 
ältesten Gedichte nicht mit Sicherheit angeben kann, an ist es 
doch möglich; die Zeit der Entstehung unserer mittchilter- 
lichen Literatur annähernd anzugeben, wenn man nelinilich 
dabei von einem festen Punkte, einer gewissen Zeitminabe 
tiir das Entstehen irgend eines Werkes ausgehen kann. Kiuen 
solchen Punkt finden wir in Maerlant's Alexander, einem 
Gedichte, indem verschiedene frühere Schriftstücke erwulmt sind. 

Wie sich später zeigen wird, ist der Alexander »wi- 
schen den Jahren 1257 und 1260 übersetzt. In demseihen 
werden verschiedene Romanhelden oder Heldinnen jieiiJiiiiLt, 
welche in folgenden Gedichten vorkommen: Tristiui, 
LaUcelot, Parzival, Walewein, Amadit;. die 
Eneidc, Liet von Troye, Parthenopeus und Fiuris. 
X>amit sind ganz gewiss Gedichte in vlämischer Sjiinclie 
gemeint; denn da Maerlant für Dietsch - Sprechende Mlueibt, 
kann er sie nicht auf französische Werke verwiesen liahen. 
Die dietsche Form der Namen, wie Blancefloer mid 
zumal Walewein, stellt dies ausser Zweifel. L'eLer- 
dies werden manche dieser Gedichte in späteren \\'iiken 
Haerlants erwähnt, meistens aus dem Grunde, um die nieder- 
ländische Bürgerei vor diesen Produkten der franz^-iiselien 
Komantik zu warnen, und die niederländischen Bütgei- lasen 
wahrscheinlich keine französischen Verse. Endlich efwiilmt 
Jan van Heelu mehrere dieser Gedichte, und dieser bezeugt 
vt)n sich selbst: „Ic ben des franaoys niet wei meeste]-." 

Von den Originalen dieser Werke kennt man ungefähr 
die Zeit des Entstehens. Der Tristan, der Roman von 

') Anzeiger mr Knnde Teutacher Vorzeit 1834, Kol 165. 

JonclEbloers GtKhichte d«r 1<iedeil&ndiich(D Litentnr. Brad I. 7 



gg IIL Allgem. BemerkuDgen über die Mittelniederländ. Dichtkiuist. 

Troja, die Eneide, sind nicht viel älter, als vom Jahr 
1200; der Walewein ist etwas, aber niclit viel, jünger, da 
ii-L^cnriwo gesagt wird, dass er nicht zu dem Cyclus der Artur- 
Rii;2;rii {jehöre, welche wir der Feder Chretien's de Troyes zu 
virdiinken haben. ^) Partheiiopeus de Blois isi zwischen 1214 
ui!(l li'45 von Denis Piramus gedichtet. Das Alter des Ge- 
diclitos Floire et Blanceflor ist nicht mit Sicherheit anzu- 
gebc'n; aber die Bearbeitung, welcher der vlämische Dichter 
folgt, scheint nicht höher hinauf zu roichen, als bis in die 
crstL'ii Jahre des dreizehnten Jalirhunderts, Die Ueberaetzung 
ist vanDietrich von Aasenede, der als Schreiber oder Secretair 
im Städtchen gleichen Namens von der vlämischeu (Jräfin 
M;irp;ivrethe angestellt war, und 1293 gestorben zu sein scheint 
In lU'iL Urkunden findet man seinen Namen seit 1262. Es ist 
wiiliMcheinlich, dass sein Gedicht aus einer früheren Zeit ist, 
als 11H8 der, in welcher er zuerst in amtlichen Verhältnissen 
erscheint. Ich glaube es auch ungefähr nach 1250 verweisen 
zu müssen. 

Alle diese Stücke, ausser dem Koman von Troje, 
der von Maerlant selbst ist, scheinen sich seit 1200 bis 1250 
in das vlämische Gewand gehüllt zu haben. 

Ausser den hier Genannten können wir noch auf einige 
Audi-re verweisen, deren .Datum nicht ao sehr im Dunkeln 
liegt. In erster Keihe kommt dann der Reinaert in Betracht. 

Ich finde dieses Gredicht zuerat in Maerlants Reimbibel 
vum Jahre 1270 erwähnt; aber es ist älter. Das französische 
Original, von welchem der vlämische Reinaert eine ümar- 
bifitung ist, datirt aus der Zeit zwischen den Jahren 1200 
(oder 1204) und 1209. Die Nachahmung sah vielleicht nicht 
lange- nach dem Originale das Licht; aber schon hatte das- 
selbf Zuthaten und Einschiebsel erhalten ; überdies ist Sprache, 
tityl und Rhythmus so meisterlich vollendet und flieaaend, dass 
ich selbst dieses Gedicht nicht in's Jahi' 1220 verlegen kann, 
wie 0, Serrüre gethan hat; ich glaube, dass es nicht viel älter, 
alfi von 12Ö0 sein kann. 

Unter die ältesten niederländischen Schriftwerke ve'r- 
cbt-iit das Rolandslied gerechnet zu werden. Das fran- 

I) Do Chevalier k l'esp^e, Vs. 18 und flg. In meiner Ausgabe 
(ii}s lioraan ran Walewein II. Theil S. 35, 



III Allgem. Bemerkungen über die Mittelniederländ. Dichtkunst. 99 

zösische Original ist sehr alt: selbst in der bis auf uns ge- 
langten Form reicht es bis in^s elfte Jahrhundert zurück. 
Ebenso kann die mittelniederländische Uebersetzung auf ein 
verhältnissmässig hohes Alter Anspruch machen. Eine Bear- 
beitung in's Hochdeutsche entstand zwischen 1173 und 1 177, und 
die unsrige ist wahrscheinlich nicht viel jünger. Die Fragmente, 
die von verschiedenen mnl. Handschriften übrig geblieben sind, 
gehören noch ins dreizehnte Jahrhundert, xmd der Ueber- 
eetzer folgt augenscheinlich dem alten Texte sehr treu, obgleich 
nicht sehr geschickt. Er versteht oft sein Original nicht; 
und sein trockner Ton, seine ungebildete Sprache, seine miss- 
glückten Verse, seine geringe Bekanntschaft mit dem Fran- 
zösischen, Alles weist darauf hin, dass wir mit einem Erst- 
lingswerke zu thun haben, das vielleicht noch vor, gewiss aber 
nicht lange nach dem Jahre 1200 erschien. 

Zu dieser Periode rechnen wir den WillemvanOranje^), 
und wir werden später sehen, dass Gründe vorhanden sind. 



*) Den Ogier van Ardennen zähle ich jetzt nicht mehr, wie 
früher, zu dieser ältesten Zeit. Wir besitzen von diesem aus dem Fran- 
zösischen übersetzten Gedichte nur noch wenige Fragmente ; die Ueber- 
setzung wurde sicher nicht nach der ältesten Chanson de geste 
von Raimbert de Paris (aus dem zwölften Jahrhundert) gemacht; son- 
dern nach einer Bearbeitung aus späterer Zeit. 

Das Ganze ist uns in einer halbhochdeutschen Fassung bewahrt, 
und in einer Handschrift der Heidelberger Bibliothek vorhanden. Dass 
die Fragmente zu derselben Bearbeitung gehören, mag aus der Vergleichung 
einiger Stellen deutlich werden. In dem heidelberger Codex liest man 
(beiMone, Uebersicht, S. 40): 

Goc wapenden hem die Fransoise 

Die Duutsce entie Aveloise 

Die van Viaendren ende van Brabant; 
ist das nicht der Styl des dritten Fragments, wo man liest : 

Napels wapendem ende die Fransoise 

Entie van Geneven entie Vianoise, 

Entie Duudsce entie Avelanse. 
Ich wage nicht zu entscheiden, ob der Theil, zu welchem die Fragmente 
gehören, nach dem Gedicht des Adenez le Roi aus dem Ende des drei- 
zehnten Jahrhunderts sei, oder nach dem in Alexandrinern verfassten, 
was einige Jahre jünger zu sein scheint; auf alle Fälle gehört es nicht 
zu den ältesten Produkten der niederländischen Poesie. 

Maerlant scheint Ogier nur aus dem Pseudo - Turpin , nicht aus 
einem volksmässigen Bittergedicht zu kennen. 

7* 



100 III. Allgem. Bemerkungen über die Mittelniederländ. Dichtkunst. 

welche dieses Gedicht zwischen den Jahren 1191 und 1222 
in die niederländische Literatur verweisen. 

Vielleicht gehört zu diesem ältesten Zeitfache noch da» 
Eine oder Andere ; z. B. der Bere Wisla u; aber es mangelt 
uns noch an Beweisen, um mit nöthiger Sicherheit darüber 
entscheiden zu können. 

53. Ehe wir die Gedichte selbst näher in Augenschein 
nehmen, mögen hier noch einige Bemerkungen allgemeiner 
Art ihren Platz finden. 

Und so weise ich zuerst auf den Umstand hin, dass un- 
sere mittelalterliche Literatm' beinahe ohne Ausnahme au» 
Uebersetzungen besteht; entweder aus dem Lateinischen, was 
den didaktischen Theil betrifft, oder aus dem Französischen^ 
was die eigentlich weltliche Literatur angeht. Aus dem Hoch- 
deutschen wurde nur sehr selten übersetzt. 

Hat diese übersetzte Literatur wohl ein Anrecht aul* 
den Namen einer nationalen? Ich glaube, dass man diese 
Frage nur mit dem nöthigen Vorbehalt bejahend beantworten 
kann; und dazu muss man sich zuerst deutlich von der Be- 
deutung dieses Wortes Rechenschaft geben. 

Das Nationale einer Literatur hängt nicht von der Quelle 
ab, aus welcher ihre Geistesprodukte hervorgegangen sind. 
Wäre dies der Fall, so hätten die vornehmsten mittelhoch- 
deutschen Gedichte, und zumal die, welche Deutschland's 
Stolz ausmachen, die Werke von Wolfram von Eschenbach 
oder Gottfried von Strassburg, keinen Anspruch darauf. 
Corneille und Lesage haben der spanischen Muse viel ent- 
lehnt, Racine dem Alterthum, und doch hat noch Niemand 
daran gezweifelt, dass sie nationale Dichter waren. 

Der nationale Stempel wird der Poesie erst durch den 
ihr innewohnenden Geist aufgedrückt. Die genannten Dich- 
ter gaben durch ihre Bearbeitung dem aus der Fremde Ent- 
lehnten das eigenthümliche Gepräge ihrer Zeit und ihres Landes ; 
und beseelten so den fremden Stoff mit dem Geiste ihrer Na- 
tion. Sie lieferten auch weniger Uebersetzungen, als Nach- 
ahmungen oder selbstständige Bearbeitungen. 

War dies auch der Fall bei unsern mittelalterlichen Dich- 
tern V Nein: sie geben in der Regel Uebersetzungen, und nur 
allzu getreue Uebersetzungen; sie halten sich ängstlich an ihr 
Vorbild. Dadurch würden diese Werke vollständig antinational 



m. AUgem. Bemerkungen über die Mittelniederländ. Dichtkunst 101 

•erscheinen, behielte man nicht im Auge, dass sowohl ihr 
Inhalt, als der darin athmende Geist etwas Weltbürger- 
liches hatte, was für die, welche Anspruch auf die Bil- 
dung damaliger Zeit machten, eine Umarbeitung überflüssig 
machte. 

Der Einfluss, den Frankreich damals auf uns ausübte, 
war vielleicht noch grösser als heut zu Tage. Ueberdies 
waren die Karlslieder theilweise aus niederländischen Ueber- 
lieferungen entstanden, und schon durch ihren Inhalt national, 
nicht weniger aber auch durch den Greist, der in ihnen lebte. 
Dies beweist ihre lange Erhaltung, wenn auch in oft sehr 
veränderter Form. 

Und wie die Arturromane dazu dienten, französische 
Rittertugenden und höfische Sitten auf hergebrachte Weise 
zu. feiern und zu verbreiten, so machten diese Sitten und 
Tugenden auch in Niederland . das Lebensideal aus ; wohl nicht 
bei der Bürgerschaft, aber doch bei dem grössten Theil des 
Adels; und hauptsächlich natürlich in Flandern. 

Nun ist es nicht abzuläugnen, dass der Adel sich in einer 
einseitigen, nicht gerade nationalen Richtung hin entwickelt 
hatte; aber man bedenke, dass wenn wir auch gewohnt sind, 
vorzugsweise das national zu nennen, was sich unter dem 
belebenden Hauche des bürgerlichen Geistes natürlich und 
praktisch entwickelt — dagegen um's Jahr 1200 nur wenig 
Spuren einer höhern, gesellschaftlichen Entwickelung bei den 
vlämischen Städtern zu finden war. 

Theilweise wurden die fremden Gedichte füi' den Adel 
übersetzt, grösstentheils aber für die Bürgerschaft; und als 
diese Geschmack daran fand, war sie sich ihres Wesens selbst 
noch nicht bewusst. Vielleicht aus Eitelkeit und Modesucht, 
aber auch, weil man eben nichts Besseres hatte, ergötzte man 
sich an dem bis jetzt nur dem Adel erlaubten Vergnügen. 
Darauf folgte eine Periode reiner Didaktik auf wissenschaft- 
lichem und moralischem Boden ; und wenn auch die meistens 
aus dem Lateinischen übersetzten Gedichte dieses Zeitraums 
fichon das ernste Streben nach Tüchtigkeit und praktischer 
Entwickelung verrathen, so gehören sie doch kaum zum 
Gebiete der Poesie. Das Büi'gerthimi machte erst dann 
den ersten Schritt auf dem Felde der Kunst, als der Sinn für 
Beobachtung, mit schalkhaftem Verstände gepaart, das Drama 



102 ni. Allgem. Bemerkungen über die Mittelniederländ. Dichtkunst. 

hervorrief. Der Geist des Mittelalters war zu dieser Zeit 
freilich schon entwichen. 

Dass Vater Maerlant so heftig gegen die „valsche walsche 
poeten" ausfällt, beweist nur, dass die Menge sich eine Zeitlang 
daran ergötzte; aber der von Maerlant angeschlagene Ton^ 
und der von ihm bald erreichte Erfolg bewiesen, dass die 
fremden Pflanzen im niederländischen Boden nicht Wurzel 
gefasst hatten. Selbst bei dem Theile des Adels, der noch 
nicht ganz französirt war, können die Produkte einer üppi- 
geren Phantasie, als unserer Landesart eigenthümlich ist, nicht 
besonders populär gewesen sein. Die ritterlichen Ideale waren 
für die Söhne des kälteren Nordens viel zu sehr Luftgespinnste ; 
und sicherUch gefielen die Arturromane nur darum, weil in 
vielen derselben sich ein mystisch - christliches Element mit 
dem rein ritterlichen vereint. Der ritterliche Geist, der überall 
imd immer dem galanten Helden den Sieg verschaflte, wie 
zahlreich und mächtig auch seine Feinde -waren, zwang sowohl 
den niederländischen Edelmann, als auch dem einfachen Städter 
ein ungläubiges Lächeln ab. Das beweist nicht undeutlich 
der M r i a n , eines der wenigen, ursprünglichen Rittergedichte^ 
die wir besitzen. Und wie sehr man die Macht des Geiste» 
über die rohe Kraft des tapfern Kriegers stellte, beweist der 
grosse, anhaltende Erfolg des Reinaert, der ganz und gar 
von echt-niederländischem Geiste durchdrungen ist. 

Die Ritterpoesie ist also nur in sehr beschränktem Sinne 
national, und könnten wir nicht auf die bürgerHche Didaktik 
und geistliche Poesie mit ihrer Anziehungskraft für alle Stände 
hinweisen, so wären wohl nicht viele Werke zu nennen, die 
als Produkte unserer eigensten, niederländischen Natur anzu- 
sehen wären. Die Ritterpoesie hat also auf unsere spätere 
literarische Entwickelung nur geringen Einfluss gehabt, denn 
die folgende Literatur wird ganz durch das religiöse und 
didaktische Element beherrscht. 

Die niederländische Nation stellte sich nach erlangter 
Reife und Selbstständigkeit als eine nüchterne, bürgerliche 
Nation heraus; wir dürfen uns also nicht verwundern, dass- 
ihre früheste Literatur nur noch spärlich die Färbung des. 
noch nicht zum Bewusstsein gewordenen Charakters trägt, der 
unser Volk in der Geschichte als niederländische Individuali- 
tät auszeichnet. 



III. Allgem. Bemerkungen über die Mitteln iederläad. Dichtkunst. 103 

54. Jetzt noch ein Wort über die Form der mittelalter- 
lichen Geistesprodnkte. 

Poesie und Prosa machen, auch was die Form angeht, 
verschiedene Anforderungen. Die erstere, aus Phantasie und 
Empfindung gezeugt, hüllt sich von selbst in die melodische 
Sprache des Rhythmus; die Prosa dagegen, die hauptsächlich 
ein VerstandeserzeugniBS ist, kann diese musikalUclie Foi-m, 
als seinem Wesen zuwider, nicht annehmen. 

Diese zwei Sphären trennen sich jedoch erst nat-ii imd 
nach, je nachdem der Unterschied zwischen Wiseenseliaft 
und Kunst deutlicher empfunden wird. Von da an belierrsclit 
der rhythmiscBe Ausdruck das Gebiet der Kunst, iiiid die 
freiere Prosa dient ausBchlieBslich den Wissenschaft lic Leu Be- 
weisen; erst wo die Kunst mehr aus der Analyse, als ans di/r 
Phantasie hervorgeht, in Gesehichteerzählimg und ziiiiud im 
modernen Roman, geht die Prosa auch auf das Kunst;f i.'biet über. 

Bei den Völkern steht also die Neigung zum Uüberijfi wicht 
der Prosa im Verhältniss zu der Entwickelung des denken- 
den Verstandes, und zu dem Masse, in welcher derselbe 
Richtschnur des Lebens wird — im Kindesalter der Nntionuti 
findet der umgekehrte Fall statt Die Frische des Natm-- 
lebens offenbart, sich in Lebendigkeit der Phantasie und in 
Gefühlsreichthum , dessen natürlicher Ausdruck der llbytlunus 
ist. Dies bleibt lange Zeit die einzige Form. 8ie erleidet 
zwar Veränderungen, wenn Natur- und Volkslied der Kunst- 
poesie Platz machen muss (S. 61 und 7l);«abcr sie besteht 
selbst dann fort, wenn das Verstandselement in der Literatur 
seine Rolle zu spielen anfangt. Die Didaktik entziehe sich 
im Bezug auf ihren Inhalt — und wäre es auch nur theil- 
weise — dem öcepter der Phantasie, so bleibt ihr <loch noch 
geraume Zeit das poetische Gewand eigen, auch deshiilb, weil 
der Rhythmus dem Gredächtnisse zu Hülfe- kommt. 

Auch unsre ganze mittelalterliche Literatur, nicht nur die 
ritterliche, sondern auch die bürgerlich-didaktische, und ebenso 
die geistliche — ist rhythmisch; Alles ist in Vei'seii stschrie- 
ben; Prosa kommt nur ausnahmsweise vor. 

In der Hauptsache stimmt die Technik jener Verse mit der 
iinserer Tage überein, da der Rhythmus durch den natiulichen 
Accent bestimmt wird; aber in Einzelheiten besteht doch ein 



104 III. AUgem, Bemerkungen über die Mittelniederländ. Dichtkunst, 

SO grosser Unterschied, dass mau früher an dem regehnässigen 
Bau mittelniederländischer Verse wohl zweifeln konnte. 

Alle erzählende Gedichte sind im selben Versmasse geschrie- 
ben, — die grössere Freiheit der lyrischen Kunstprodukte 
besprechen wir später. Sie sind aus paarweise gereimten 
Versen gebildet, deren jeder aus vier Füssen oder betonten 
Silben besteht, mit einem Ruhepunkt in der Mitte der 
Zeile, und -nur zur Abwechselung zuweilen nach dem ersten 
Fusse. Zwischen den accentuirten Silben (Arsis, Betonung) 
kann eine tonlose (Thesis) stehen ; sie kann aber auch unter 
gewissen Umständen fehlen. Die Thesis ist einsilbig: Con- 
ti aktion, Apokope, Synkope, welche durch das nicht hörbare w 
am Schlüsse herbeigeführt wird, machen es leicht, dieser Regel 
zu folgen, ohne in Steifheit zu verfallen. Dem ersten Fuss kann 
ein Auftakt vorhergehen, der ein bis drei Süben umfassen kann : 
bei zwei Silben muss er einen schwachen Accent auf der ersten, 
bei drei Silben auf der mittelsten haben. Dieser Vorschlag wii'd 
bei der Messung des Verses nicht mit gezählt; eine Zeile, die 
denselben hat, kann mit einer ohne Vorschlag verbunden sein. 
Der grosse Unterschied zwischen früheren oder späteren nie- 
derländischen Versen ist also darin zu suchen, dass bei den 
letzteren die Silben gezählt werden und stets an Zahl über- 
einstimmen müssen; während bei der ersten nur die Accente 
in Betracht kommen. Dies giebt dem modernen Leser der 
mnl. Verse beim ersten Anblick den Schein von Unregel- 
mässigkeit, weil' zuweilen Verse von vier Silben mit an- 
deren von elf verbunden sein können; ist man aber einmal 
daran gewöhnt, so sieht man, dass der alte Vers dadurch 
viel grössere Leichtigkeit als der neue hat. Ich muss jedoch 
hinzufügen, dass die Thesis ziemlich regelmässig zwischen der 
Arsis geftinden wird, und dass Verse von vier Silben eine 
Seltenheit sind. Zum Schlüsse noch die Anmerkung, dass 
Verse mit weiblichem Schlüsse auch mit drei Accenten als 
voll gelten, oft jedoch, und zumal in den jüngeren Gedichten, 
haben sie vier. 



IV. 

Die ßitterpoesie. 



55. Ehe wir die Schwelle- der eigentlichen Ritterpoesie 
betreten, die uns von Frankreich herübergebracht wui'de, 
müssen wir noch auf einige Werke verweisen, welche zur 
deutschen Volkspoesie gehören, und uns dadurch noch an die 
einstige enge Verbindung mit Deutschland erinnern. 

Wir erwähnen zuerst das Nibelungenlied, von wel- 
chem auch ein niederländischer Text vorhanden gewesen ist, 
der allem Anschein nach aus dem Hochdeutschen übersetzt 
war. Von dieser Uebersetzung sind nur zwei kleine Fragmente 
bis auf uns gekommen, gross genug, uns eine Zeitbestimmung 
dieser Bearbeitung zu gestatten. 

Es genügt, in kurzen Worten den Inhalt des weltberühm- 
ten Gedichtes zu geben; wegen eingehender Einzelhei- 
ten verweisen wu* auf hochdeutsche Schriftsteller. 

Siegfried, der Königssohn von Xanten am Rhein, hatte, 
nachdem er viele Heldenthaten vollbracht, Hand und Herz 
der schönen Chrimliilde gewonnen. Sie war die Schwester 
des burgundischen Königs Günther. Dieser hatte durch 
Siegfried's Hülfe die kühne Brunliilde zimi Gemahl genommen. 
Gerade diese Hülfe Siegfried's giebt Anleitung zu einem hef- 
tigen Streit zwischen den beiden Schwägerinnen. Brunhilde 
glaubt, Siegfried habe höhnend von ihr gesprochen; sie be- 
schliesst, Rache zu* nehmen, und ihr Dienstmann Hagen bie- 
tet sich an, dieselbe zu vollziehen. Er tödtet Siegfried ver- 
rätherischerweise auf der Jagd. 

Die trostlose Wittwe des Gemordeten schwört, den Frev- 
ler zu strafen, und entdeckt bald, dass Hagen der Schuldige 
ist. Ihre Feinde sind jedoch zu mächtig, und sie ist gezwun- 



106 IV. Die Ritterpoesie. 

gen, unter heissen Thränen und BJagen um den Verlornen^ 
den geeigneten Augenblick zur Rache abzuwarten. 

Nach einiger Zeit wirbt Etzel, der Hunnenkönig, um 
ihre Hand; sie reicht ihm dieselbe, verleitet durch die Hoff- 
nung, auf diese Weise ihr Ziel eher zu erreichen. Hagen 
fürchtet, dass Etzel sie in ihrer Rache imterstützen werde,, 
und widerräth, die Werbung anzunehmen, aber vergebens. 

Nach sieben Jahren lädt Chrimhilde ihre Brüder und 
deren Mannen zu einem Feste an EtzeFs Hof ein. Hagen^ 
der Chrimhilden's Rachsucht kennt, räth wiederum vergebens 
von der Reise ab. Am Ufer der Donau erfährt er von einem 
' Meerweib das Loos, das seiner und seiner Gefährten harrt; 
aber auch dadurch wird sein grimmer Muth nicht gebrochen. 
Während des Festes werden die Burgunder oder Nibelungen, 
wie sie meist genannt werden, auf Chrimhilden's Befehl um- 
gebracht. Vorher aber^nden die entsetzlichsten Gefechte 
statt. Als Hagen sieht, dass man sie tödten will, .schlägt 
er EtzeFs und Chrimhilden's Söhnchen das Haupt ab, dass. 
es der Mutter in den Schooss rollt. Und immer allgemeiner 
wird der Kampf, und immer grässlicher wüthet der Streit. 
Schon sind Viele gefallen , und die erschöpften Burgunder 
wünschen Frieden. Chrimhilde will aber nur unter der Be- 
dingung freien Abzug gestatten, dass ihr Hagen ausgeliefert 
werde. Diese Forderung wird zurückgewiesen. Da lässt Chrim- 
hilde die Gäste in den Burgsaal einschliessen und das Haus an- 
zünden. Als alle ihre Brüder gefallen sind, schlägt sie mit eige- 
ner Hand ihrem Feinde das Haupt ab ; aber als sie diese That 
vollbracht, wird sie selbst von dem alten Hildebrand erschlagen. 

56. Diese flüchtige Skizze genügt natürlich nicht, eine 
richtige Idee von dem grossartigen Eindruck zu geben, den 
das Gedicht nothwendigerweise hervorbringen muss; sie soll 
nur den Charakter des Ganzen andeuten. 

Es ist deutlich erkennbar, dass in diesem Epos verschie- 
dene Sagen vereinigt wurden. Wie jedes Volksepos ist auch 
das Nibelungenlied aus Volksgesängen entstanden, die nach 
und nach zu einem Ganzen vereinigt wurden. Die Einheit, 
welche man ihm nicht absprechen kann, wurde ihm wahr- 
scheinlich schon zu Ende des zehnten Jahrhunderts gegeben 
(S. 18), und der Umarbeiter aus den ersten Jahren des 
dreizehnten Jahrhunderts , der ihm die jetzt bekannte Form 



IV. Die Ritterpoesie. 107 

gab, hat in das Vorhandene keine wichtigen Veränderungen 
gebracht. Er liat wenigstens nicht danach gestrebt, eine 
wahrß Kunstschöpftmg im erhabensten Sinne des Wortes hervor 
zu bringen; eine Kunstschöpfung , in welcher alle TheiJe im 
richtigsten Ebenmass vereint, ein organisches Ganze bilden, 
(las durch sich selbst erklärlich und verständlich wird. 

Anstatt die Ueb erlief erungen zu bearbeiten, hat er sie 
so aneinander gefügt, wie schon sein Vorgänger sii- vtrbiin- 
den hatte. Dadurch ist u. A. der erste Theil zu aiisfiihi-Jifh 
geworden, um nur als Einleitung für die Hauptkataatroplie und 
zum Motive für Chrimhilde's Rache zu dienen : dadurch ist die 
Perspektive mehr oder weniger verschwunden, und wir f^rhalten 
schliesslich zwei Gedichte, die zwar mit einander im fiigcii 
Ziisammenhange stehen, aber doch keine innige, unauflöBÜclie 
Kunsteinheit bilden. 

Indessen ist die Einheit doch mit grösserer und entschie- 
denerer Bewnsstheit zu Stand gebracht worden, als es bei 
den meisten französischen Chansons de geste der Fall iet. 
Die Haupthandlung hängt in sich selbst so eng zus;iijinif;u, 
dass alle besonderen Theile natürlich und nothwemlig sii.'li 
aus einander entwickeln, und durch den Charakter der hiin- 
delnden Personen im Laufe der Begebenheiten motiviit sind. 

Und gerade das zeichnet das Nibelungenlied auf ilii? gün- 
stigste Weise vor den eigentlichen Rittergediehten aus; di'nii 
bei den letzteren hängt fast Alles von der Willkühr des Er- 
zählers ab. Dazu kommt noch, dass wir hier nicht inniitteii 
einer konventionellen Welt stehen. Was hier die Handhmgeu 
bestimmt, wird immer und überall die menschtichi- Seele 
bewegen. Was uns am Meisten fesselt, ist die schauerer weck ende 
Macht des Fatums, geboren aus mensclüicher Leidenschaft 
und dem Drange der Umstände, durch welches die Helden mit 
unwiderstehlicher Kraft ihrem entsetzhchen Ende ['ntgegcii- 
geführt werden. 

Dies hat zumal Bezug auf die Zeichnung der Hauptper- 
sonen: Chrimhilde und Hagen. Wie einmal der Durst nach 
Rache in der früher echt weiblichen und zarten Fi-au waeli 
gerufen ist, nährt sie denselben Jahre lang. Je naciidem ilir 
Ansehen und ihre Macht zunimmt, wächst auch ihre Rache; 
und als endlich der Augenblick der Vergeltung gekommen, 
und allerlei Beleidigungen, zumal der Mord des geliebtin Kiu- 



110 IV. Die Ritterpoesie. 

Wittich oder wenigstens das Gedicht von Dietriches Flucht vor 
Odoacker bekannt waren. Das Erste halte ich für sehr un- 
wahrscheinlich : das Zweite in Verbindung mit Maerlant's An- 
spielungen nicht unmöglich; aber doch beweist Alles, dass die 
alte Heldensage nur sehr kärgliche Spuren zurückgelassen hatte. 

58. Unter den ,,groote boerden", in denen von Karl dem 
Grossen eine lügenhafte Vorstellung gegeben wird, wie Maer- 
lant sich ausdrückt, nennt er auch die, in welchen man 

Van bere Wiselauwe die snodelhede 
liest. Daraus geht hervor, dass das Gedicht, in dem der Bär 
W^islau eine Hauptrolle spielte, zu den Karlromanen gerech- 
net wurde; und doch scheint es auch mit der deutschen Hel- 
densage in Verbindung zu stehen. 

^^on diesem Stücke ist uns nur ein sehr beschädigtes 
Fragment erhalten geblieben, dessen Druck (in Serrüres Mu- 
seum) viel zu wünschen, übrig lässt. Der Inhalt desselben 
ist ungefähr folgender; König Karl ist mit seinem Gefolge 
ins Land des Riesenkönigs Esprian eingedrungen, den er 
zwingt, ihn in seine Burg aufzunehmen. Dieser Sieg ivird 
ihm durch ein Ungeheuer, den Bär Wislau, verschafft, der 
von einem gewissen Gernot besiegt war und diesem nun 
unterthan und dienstbar wurde. Um den Riesen Furcht ein- 
zujagen, befiehlt er dem Bären, mit dem er in einer unbekann- 
ten Sprache „in de gargoensche tale" spricht, sobald 
sie im Schloss angekommen wären, Esprian's Koch in den 
siedenden Suppenkessel zu werfen, dann den Kessel in den 
Speisesaal zu bringen, und in Aller Beisein die verbrannten 
Stücke des Kochs aufzuessen. Man begreift, dass die Riesen 
dadurch in Schreck gejagt werden. Um ihnen auch Achtung 
vor seinen Gefährten einzuflössen, welche man als Zwerge 
betrachtete und geringschätzte, fing Gernot einen Ringkampf 
mit dem Bären an, dem man aber schon vorher befohlen, sich 
besiegen zu lassen. Und so geschah es. 

Man bemerkt daraus, d^ss der Inhalt, wenigstens dieses 
Theils, wildgrotesk ist; und dass die Heldenthaten des Bären 
vollkommen den Namen „snodelhede" verdienen. 

Fragt man nach dem Ursprung dieses sonderbaren Wer- 
kes, so glaube ich, wir haben kein übersetztes Stück vor uns. 
Wohl hat der Name des Kochs, Brugigal, einen französischen 
Klang; aber daneben stehen wieder die Namen Esprian und 



IV. Die Ritterpoesie. 111 

Gernot, die der deutschen Heldensage entlehnt sind. Einen 
näheren Zusanunenhang mit dieser Sage scheint man jedoch 
nicht annehmen zu dürfen. Dagegen wird in einem der 
cyklischen Gedichte, die zum fränkischen Karlskreise gehören, 
der Krieg KarFs gegen Esprian erwähnt, in welchem er von 
Ganelon verrathen wurde ^). Hier ist aber keine Rede von 
einem Bären. 

Hieraus scheint man ableiten zu können, dass in die- 
sem GedichtyReminiscenzen aus vielen alten Ueberlieferungen 
aneinandergefügt sind; aber dass es doch nicht in die älteste 
Zeit gehört. 

Styl und Rhythmus scheinen wohl für ein ziemlich hohes 
Alter zu sprechen, obwohl man darüber, sowenig als über den 
literarischen Werth des Ganzen, bis jetzt ein entscheidendes 
Urtheil aussprechen kann. Dazu mussten grössere Stücke 
des Gedichtes bekannt werden, und vor allen Dingen gehört 
auch eine bessere Ausgabe des Erhaltenen dazu. 

59. Das ältest bekannte französische Gedicht über Karl 
den Grossen ist wohl das Rolandslied (Chanson de 
Roland), dass in fesselnder Weise den völligen Untergang 
der Nachhut von Karl's siegreich aus Spanien zurückkehren- 
dem Heere im Thale von Ronxiesvalles schildert. Dieser Un- 
fall war die Folge von Ganelons Verrath, der des Kaisers 
Neflfen aus Hass an den sarazenischen Emir Marsilie von 
Saragossa verkauft hat. Alle fränkischen Krieger fallen vor 
der Uebermacht des Feindes, unter ihnen die Blüthe von KarFs 
Heer und Hof; Roland, Olivier, der Bischof Turpin; mit einem 
Wort, alle zwölf Pairs. 

Auf den Ruf des Hernes, das Roland zuletzt bläst, um 
den Kaiser zu benachrichtigen, eilt dieser mit dem Heere 
zurück. In Roncesvalles angekommen, ruft er seine zwölf 
Pairs bei Namen, aber Keiner antwortet. In tiefer Trauer 
schwört das Heer, die gefallenen Gefährten zu rächen: man 
setzt dem Feinde nach, und auf Karl's Gebet geht die Sonne 
nicht eher unter, als bis alle Heiden niedergemetzelt sind. 
Der Sieger wirft sich auf die Kniee , um Gott zu danken ; 
und als man die Nacht auf dem Schlachtfelde verbringt, hält 
der Engel Gabriel die Wacht an seinem Lager. 



*) Roman der Lorreinen II. S. 181. 



112 IV. Die Ritterpoesie. 

Die Sarazenen bekommen Verstärkung: es hat ein neuer 
Kampf Platz, in welchem Gott wieder seinen Engel sendet, 
um. den auserwählten Held zu ermuthigen, der dann auch 
siegt. Schliesslich wird der Verräther Ganelon gestraft; er 
wird lebend von vier Pferden zerrissen. 

' Wir bemerkten schon, dass dies auf Volkssagen beruhende 
Gedicht (S. 51) wahrscheinlich noch aus dem elften Jahrhun- 
dert stammt. (S. 98.) Auch im Auslande wurde es schon früh 
übertragen: in Deutschland zwischen 1173 und 77, und bei 
^ns höchstens ein Vierteljahrhundert später. 

Von der mittelniederländischen Uebersetzung besitzen wir 
nur Fragmente, und noch dazu von zwei sehr nachlässig 
geschriebenen Handschriften, die zum dreizehnten Jahr- 
hundert zu gehören scheinen. Der Uebersetzer, vermuthlich 
ein Geistlicher, folgte möglichst sclavisch dem ältesten der 
ziemlich von einander abweichenden Texte. 

Sowohl dieser Umstand, als auch der trockene Ton, die 
Unregelmässigkeit der Verse, des Uebersetzers Mangel an 
Talent; seine Unkenntniss des Französischen, wodurch er 
nicht selten das Ursprüngliche verkehrt auffasst, — dies AUes 
spricht für ein hohes Alter. 

Die Uebersetzung ist nicht geeignet, Geschmack an dem 
Gedichte finden zu lassen, oder eine richtige Idee des Ein- 
drucks zu geben, den das Original hervorbringen musste. 
Das war ein echtes Epos, ein bewusst hervorgebrachtes Kunst- 
produkt, das durch die Einheit des Gegenstands, durch die 
Grösse der Charaktere, durch treffende Zeichnung interessan- 
ter Zustände sich ebenso sehr auszeichnet, als dm'ch einen 
angemessenen, ruhigen, ernsten Ton, und einen Styl, der viel- 
leicht zu sehr allen Schmuckes verschmäht, um durch die 
höchste Einfachheit die Thatsachen desto natürlicher sprechen 
zu lassen. 

Der Glaubenseifer der Helden macht den Hauptcharakter 
des Gedichtes aus. Karl selbst wird als ein Gottgesandter 
geschildert, den der Herr ohne Unterlass von Engeln bewachen 
lässt, und für den er Wunder thut. Dadurch wurde das 
Gedicht der reinste Ausdruck jenes Geistes, der ganz Europa 
nach dem Osten fortriss. Wie in der Wirklichkeit wurde auch 
im Gedichte Gott auf wenig christliche Weise verherrlicht, 
durch Blut und Thränen. Die Vernichtung der Ungläubigen 



IV. Die RitterpoeBie. 113 

wird den Helden von Turpin als eine heilige Pflicht, als Busse 
auferlegt: die Maureniiirsten kommen um, weil sie Heiden 
sind, nicht wegen ihrer Vergehen; einer derselben, Baligant, 
wird selbst höchlich gepriesen. 

Die hier geschilderten Sitten weisen übrigens ganz auf 
jenes frühere Zeitfach hin. Die Sonne des Ritterthunis ist 
noch nicht aufgegangen; obgleich das christliche Element im 
Vordergrunde steht, so ist doch die Rohheit des htiduischeii 
Kriegsmannes noch nicht gebrochen. Zwei Kämpfer luilten 
es noch nicht fiir Unehre, znaamincn einen Heiden ;iuz\ilal- 
len und zu tödten; der gefangene Ganelon wird gi-ausam 
misshandelt und getödtet; der Vorräther wirft dem Kaiser 
vor, er sei kindisch; und Karl nennt ihn dagegen einen leih- 
haften Teufel. 

Dies findet man in beinahe allen Karlsgedichten aus jener 
Periode zurück. 

60. Ein gleicher Geist spricht aus dem Gedichte, das den 
Tjtel Earl und Elegast tragt Ein Engel erscheint Künig 
Karl in der Nacht, und überbringt ihm Gottes Befehl, zu steh- 
len. Karl gehorcht dem Gebote, obgleich er es nicht Ijefrreil't. 
Als er im Geheimen das Schloss von Ingelheim verlassen hat, 
begegnet er dem Ritter Elegast, dem Verbannten, dem nur 
der Raub zum Lebensunterhalte übrig geblieben waj-. Nacli- 
dem sie mit einander gekämpft haben, begeben ^ie sich 
nach dem Schlosse Eggerich's von Eggermonde, des Königs 
Schwager, um diesen zu bestehlen, und dort entdecken sie 
durch ein Zusammentreffen verschiedener Umstände, djiss 
Eggerich in eine Verschwönmg gegen Karl's Leben ver- 
wickelt ist. Dadurch erkennen sie, dass die Eracin.unuiig 
des Engels ein sichtbares Eingreifen der Vorsehung zum 
Besten des Gottesmannes war. Es spricht von selbst, ilass 
der Verräther gestraft, und Elegast wieder zu Gnaden ange- 
nommen wird. 

Dieses Grediclit, das sich durch seine Kürze voi- vielen 
anderen auszeichnet (es zählt nur ungefähr 14011 VerseJ, zieht 
uns an durch seine Abrundung, durch den Gang" der Haud- 
lung, durch die klare und angemessene Sprache, die sieh 
zwar nicht durch besondere Kernhaftigkeit auszeichnet, aber 
doch durchaus nicht kraftlos ist, und durch keine Flickwörter 
entstellt wird. 

Jonckbloet'a Gsacblchte der Nipdsilbidi sehen Litentsr. Bsud I. S 



114 IV. Die Eitterpoesie. 

Gewöhnlich wird Karl und Elegast für ein ursprüng- 
liches, niederländisches Werk gehalten; Alles scheint jedoch 
auch hier darauf hinzuweisen, dass wir es mit einer Ueber- 
setzung einer französischen Chan>son de gestQ zu thun 
haben. Dafür spricht nicht nur die ganze Eintheilung, son- 
dern auch einige aufßlllige Fremdwörter. In Frankreich war 
die hier behandelte Sage nicht unbekannt, wenn auch das 
Original, welchem unser mittelniederländischer Text folgt, 
noch nicht wieder aufgefunden wurde. Merkwürdig ist es, 
dass im Französischen Elegast den Namen Basin trägt, während 
der Verräther Gerin de la Ferte heisst. Wahrscheinlich wur- 
den die ursprünglich deutschen Namen erst in Frankreich 
durch einheimische ersetzt; und ebenso wahrscheinlich ist es, 
dass die Ueberlieferung hier zu Lande fortlebte und dann 
würde es nicht zu verwundern sein, dass man bei der Be- 
arbeitung nach dem Französischen die in der Fremde ange- 
nommenen Namen wieder durch solche ersetzte, welche die 
Volkserinnerung bewahrt hatte. Etwas ähnliches ist öffcer 
geschehen, z, B. im Reinaert, wo Hersint oder Herswint 
wieder an den Platz des französirten Hersant tritt. 

Das mittelniederländische Gedicht, welches wahrscheinlich 
in Brabant übersetzt wurde, findet man im Laienspiegel 
von 1326 erwähnt; auch schon in den Haimonskindern, 
die zwischen 1240 und 1280 in^s Dietsche übersetzt wurden. 
Unstreitig ist unser Gedicht etwas älter, und alle Umstände 
sprechen dafür, es in das zweite Viertel des dreizehnten Jahr- 
hunderts zu verlegen. 

61. Der religiöse, kriegerische Geist, der aus dem Ko- 
landsliede spricht, beseelt auch die Reihe von Gedichten, 
die zu einem Ganzen vereinigt unter den Titel Willem van 
Oranje die poetische Lebensgeschichte eines Glaubenshelden 
bildet. Der Kampf gegen die spanischen Mauren, welche 
. Frankreich und die christliche Civilisation bedrohen, machen 
das Hauptthema aus. 

Verschiedene, früher von einander unabhängige Gedichte, 
welche auch verschiedene historische Begebenheiten besangen, 
sind hier zusammengezogen, und der Ruhm verschiedener 
Helden ist auf ein Haupt gesammelt, zur Verherrlichung des 
fürstlichen Hauses Oranien. Ich erwähne die vornehmsten 
Theile der französischen Chanson de geste. 



rV. Die RifterpoeBie. 115 

LcB enfanceB de Gui]laume. Graf Emmericli von 
Narbonae zieht mit seinen Söhnen an den HofKaiser ivarl's, 
der die Jünglinge zu Rittern schlägt Erste Heldenthiitin von 
des Grafen zweitem Sohne Wilhelm, der dabei die Neigunj^ von 
Orable, der Frau des maurischen Emir's von Oranien, gewinnt. 

Le couronnement du roi Louis, Earl's ach\vat;her 
Sohn Ludwig wird durch Wilhelm's kräftige Daawiaüh An- 
kunft auf den Thron gehoben, der ihm erst von wider- 
spenstigen Grossen streitig gemacht wurde. In diissem 
Theile kommt die Episode vor, bei welcher Wilhelm im Ofii'iiclite 
mit einem maurischen Kiesen durch einen Säbelhieb die Kaue 
verliert; dies giebt Veranlassung, seinen Beinamen Fiere- 
brace (Eiaenarm) mit dem von Guillaume au eort iiez 
zu vertauschen. ^) 

Der undankbare König vergisst die Belohnung des ITeideii, 
dem er seine Krone zu danken hat, und der Jahre lang untci- 
den Waffen war, um die Ruhe des Reichs wieder heraus ti:l!en. 
Endlich belehnt er ihn mit der spanischen Mark, woftru er 
sich diese erst erobere. Dies wird in zwei Abtheilongeii be- 
sungen, wovon die eine, unter dem Titel le Charrui de 
Nimes, erzählt, wie er die Stadt durch eine Kriegslist ein- 
nahm; während die andere, la Prise d'Orange, die ErobeiUTig 
dieses Ortes, und des Helden Vermählung mit Orablf nilIiü- 
dert, die erst getauft wird und den Namen Guibor erhält. 

La Bataille d'Aleschaas*) ist der Titel vun dt-ni 
Haupttheile des Gedichtes: es enthält einen poetischen Xach- 
hall des hartnäckigen Kampfes gegen die Ungläubij,'(;ii im 
achten Jahrhundert. (Vergleiche oben S. 52.) 

Den Schluss des Ganzen bildet die Erzählung viui \\i\- 
Lelm's letzten Lebensjahren, die er in der Klosterzellr und 
Klausnerei zubrachte. (Le Moniage.) 

In einem Werke von so beschränktem Baume, wie uns 
gegenwärtige Greschichte gestattet, ist es unmöglich, in weitere 
Einzelheiten über den Inhalt eines so imifangreichen Gedielit- 
cyklus zu treten. Ich fuge nur noch hinzu, dass dcisrlbe 



') Das Hom (eornet) im Wappen von Oranien hängt e 
Ueberlieferung zuaaurnen. 

') AliecauB, EliBcamps, daa Feld bei Arles , da» von Alters 
BegräbniBsplatz diente. 




116 IV. Die Ritterpoesie. 

nach und nach durch Zuthaten vergrössert wurde, welche 
theils die Geschichte von dem ferneren Schicksale seines Ge^ 
schlechtes vermeldeten, oder auch die seines Vaters oder Gross- 
vaters. Aber das sind entschieden Auswüchse. 

Was (Jen Werth des eigentlichen Gedichtes betrifft, so 
genüge die Bemerkung, dass der Sammler die Unterabthei- 
lungen mehr an einander gefügt hat, als dass er sie zu einem wirk- 
lichen Ganzen vereinigte. Und doch hätte das sicher keine 
grosse Mühe verursacht, da Gang und Geist der Ergebnisse 
der Einheit ganz von selbst in die Hände arbeiten. Aber 
wie man auch über das Gedicht als ein Kunstganzes denken 
möge, so muss man doch nothwendigerweise anerkennen, dass 
es beinahe in allen seinen Theilen eine Menge grossartiger^ 
treffender, echt dichterischer Bilder umfasst, welche eine Ver^ 
gleichung mit dem Schönsten, was die Kunst uns je geschenkt 
hat, bestehen kann. 

Die jüngste Formenveränderung, welche diese Gedichte 
erfuhren, ebenso ihre Verbindung fallt ungefähr in die Mitte 
des zwölften Jahrhunderts. Nach dieser jüngsten Bearbeitung 
ist die holländische Uebersetzung gemacht, wovon aber nur 
wenige Fragmente einer Handschrift aus dem dreizehnten 
Jahrhunderte erhalten geblieben sind. Von dem Uebersetzer 
oder von der Zeit, in welche seine Arbeit fällt, wissen wir 
wohl etwas, wenn auch nicht viel. In Maerlants „Spiegel" wird er 
zum ersten Mal erwähnt. Nachdem der vlämische Patriot ge- 
wissen „waischen boeken" den Vorwurf gemacht hat, es stelle 
Wilhelm von Oranien über Karl den Grossen, fahrt er also fort : 

Willem was een ridder goet, 

Ende störte menechwerf sijn bloet 

Duer Gode; synt wart hl hermite. 



Die walsche boeke lieghen van hem, 
Die Uten Waischen van Haerlem 
Clays, ver Brechten sone, dichte, 
Daer scone werde in sijn ende lichte.^) 

^) Wilhelm war ein Ritter gut, 

Vergoss für Gott sehr oft sein Blut, 
Und ist dann Eremit geworden. 

Viel Falsches fränkische Bücher sagen. 
Die Klaus von Haarlem übertragen; 
Das ist Frau Brechta's Sohn gewesen, 
Bei dem manch schöner Reim zu lesen. 



IV. Die Ritterpoesie. 117 

62. Wer war dieser Klaus von Haarlem, Frau Brechta's 
Sohn? Wenn wir annehmen, dass Wolfram schon in den 
ersten Jahren des dreizehnten Jahrhunderts seinen Willehalm 
schrieb (S. 87) dann ist wohl die Annahme nicht zu gewagt, 
dass auch hier zu Lande die französische Chans on'sehr bald 
die Aufmerksamkeit auf sich zog. 

Ueberlegen wir weiter, dass der Uebersetzer ein Holländer 
ist, so müssen wir unwillkührlich an das Zeltfach des hollän- 
dischen Grafen Wilhelm I. denken. Er war ein grosser Vor- 
kämpfer für die Kreuzzüge. Schon in seiner frühesten Jugend 
hatte er seinen Vater nach dem heiligen Lande begleitet 
{1190); später hatte er selbst in Spanien die Sarazenen be- 
kämpft, und als der beste Held der Sage vier ihrer Fürsten 
besiegt; endlich hatte er Damiette mit erobern helfen. Zu 
seiner Zeit musste ein Gedicht, das einen ähnlichen Kampf 
besang, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und ein williges 
Ohr finden. Und n^n waren es gerade die Haarlemmer, die, 
•der Ueberlieferung zufolge, solch ruhmvollen Antheil an dem 
Kreuzzuge nahmen; und ihr Held, der die Ungläubigen be- 
siegte, hiess gerade Wilhelm. Und war es nicht in Holland, 
wo in jener Zeit die tapfere Aleida in der Abwesenheit ihres 
Gemahls zum Schwert gegriffen hatte, wie die Guibor des 
Gedichtes? War das nicht die geeignetste Zeit, um einen 
haarlemschen Dichter, der vielleicht selbst den Krieg mitge- 
macht und auf dem ersten .Zuge Acre, später Alcazar und 
Damiette hatte erobern helfen, gerade diesen Gegenstand, 
_gerade diesen Helden besingen zu lassen? 

Li dieser Zeit lässt sich auch ein historischer Klaus von 
Haarlem nachweisen. In den holländischen Urkunden kom- 
men um 1200 verschiedene Glieder des adligen Geschlechtes 
von Haarlem vor, und darunter mehr als ein Nikolaus. Es 
konnten also wohl Gründe vorhanden sein, um einem der 
Letzteren noch einen unterscheidenden Beinamen zu geben, 
um einem trthume vorzubeugen. Den Klaus von Haarlem, dem 
wir zuerst in einer Urkunde vom Jahre 1190 begegnen, 
glaube ich für den Uebersetzer des Guillaume d^Orange 
kalten zu müssen. Es ist jedoch nur sehr wenig von ihm be- 
kannt. Da er in der Urkunde, in welcher er als Zeuge auf- 
tritt, mitten unter den Hofbeamten des Grafen erscheint, so 
kann man annehmen, dass er mit zu dessen Hofhalte gehört 



118 IV. Die Ritterpoesie. 

habe. Sehr viel spricht dafür, seine Uebersetzung zwischen 
die beiden Kreuzzüge des holländischen Grafen (1191 — 1217)^ 
zu versetzen. Ist es nicht, als ob man in den geschichtlichen 
Ereignissen einen Nachhall jenes Gedichtes vernähme? Oder 
wäre es ungereimt, dass Wilhelm gerade dadurch angereizt 
wurde, gegen den Wunsch seiner meisten Bundesgenossen, die 
Sarazenen auf der spanischen Halbinsel mit einer kleinen 
Schaar zu bekriegen? Und der junge Friese, der, mit einem 
Dreschflegel bewaffnet, auf den Mauern Damiette's gegen die 
Feinde wüthet, erinnert er nicht an den Renouard, der mit 
seinem unbeschreiblichen Knüppel eine solche blutige Rolle 
im Gedicht spielt? 

Man könnte aus der Uebereinstimmung gewisser Umstände 
aus der Wirklichkeit mit denen des Gedichtes, vielleicht auch 
imigekehrt, wohl schliessen, dass diese Uebereinstimmung dem 
Uebersetzer Anlass gab, der Umarbeitung des Gedichtes seine 
Kräfte zu weihen. Und ich wage nicht, dieser doch wohl begrün- 
deten Vermuthung zu widersprechen. Aber dies würde doch 
keinen grossen Unterschied in der Zeitbestimmung ausmachen. 
Im November 1219 wurde Damiette erobert, und im Anfang des 
Jahres 1222 starb Graf Wilhelm: die Uebersetzung muss also 
zwischen diese beiden Daten verlegt werden, da sie wahr- 
scheinlich schon vor des Grafen Tod vollendet gewesen sein 
wird, also ungefähr in das Jahr 1220 fällt. 

Damit in vollster Uebereinstimmung steht die Form de» 
Werkes: es ist darin mehr Kunstvollendung zu finden, als in 
den früher verfassten Stücken. Wenn sich der Verfasser auch 
noch nicht durch jenen vollkommenen Versbau, durch jene 
fliessende, durchsichtige Sprache auszeichnet, welche die Ge- 
dichte aus der Blüthezeit der Ritterpoesie charakterisiren, so 
ist sein Styl doch deutlich und rein, ganz frei von Bastard- 
worten; und wir wundern uns nicht, dass Maerlant, trotz sei- 
ner Abneigung gegen die romantische Poesie, diesem Gedichte 
doch das Lob zuerkennt, dass 

Daer scone worde in sijn ende lichte. 
Karl's dreissigjähriger Kampf gegen die Sachsen hat nicht 
weniger Anleitung zu verschiedenen französischen Gedichten 
gegeben, als die Kriege gegen die Mauren. Eins derselben ist 
für uns erhalten gebheben; es wurde ums Jahr 1200 von Jean 
Bodel von Atrecht (Arras) verfertigt. Wir besitzen einige zer- 



IV. Die Ritterpoesie. 1]9 

stückelte Fragmente von der Handeclirift eines Gedichtes, das in 
mnl. Versen denselben Gegenstand besang. Es ist zw bf.klii^en, 
dass von diesem gut behandelten Gedichte so wenig bis auf 
ans gekommen ist; wir können nur so viel davon BJifren, dass 
es offenbar aus dem Französischen übersetzt ist, uikI wahr- 
scheinlich sogar nach einer älteren Quelle, als dem <_!ediL'ht 
von Jean Bodel, mit dem es Nichts gemein hat. Dies ist auch 
der Hauptgrund, warum wir hier desselben Erwähnung thun. 

63. Wir gehen nun von dem fränkischen zu dem liritti- 
schen Sagenkreis über. Wir sahen (s. oben 8. 71 und flg.), 
wie imd warum dieser in der Literatur an Stelle der nationalen 
Ueberlieferung trat; und wir deuteten zugleich an, dsias aul' 
dem Festlande die brittischen Erzählungen zuerst in Fhuidern 
nach dem Zeitgeschmacke zu grossen Ritterromanen umgearbei- 
tet wurden. Der Dichter, der allgemein als Haupt der neuen 
Schule betraclitet wird, ist Chrestien de Troyes, der am 
Hofe des vlämischen Grafen Philipp von Elsass, imd unter 
dessen Schutze blühte, ujid seine vornehmsten Artiirromane 
wohl zwischen 1185 und 1200 in französischen Versen schrieb. 
Neben ihm sind seine Zeitgenossen Raoul de Houdauc und 
Guillaume de Normandie zu nennen, die ganz in .^dner 
Manier arbeiteten. 

Es scheint, als habe man kurz vor ihrer Zeit dieselben 
Gegenstände in England auf etwas andere Weise behandelt, 
Während jene eine einzelne Erzählung, im Geschmack der 
damaligen Zeit aufgefasat, in Reime brachten , wurden hier 
eine Keihe Erzählungen zu einem ausführlichen Ganzen ver- 
einigt, und, was am Auflalligsten ist, in Prosa. Dies muss im 
Auftrag König Heinrich II. bald nach 1160 durclt Itobort 
de Borron geschehen sein, der den Gralroman und vielleicht 
auch die Geschichte Merlin's schrieb; ebenso duich 
Wouter Map, der den im Mittelalter allgemein £;ffr-iLrten 
Roman von Lancelot aus verschiedenen Quelliii zusam- 
mensetzte. • 

In Wales und Bretagne waren zahlreiche Elemente für 
die dichterische Phantasie in Bewegung. Zuerst die Hulden- 
sage, mit der Zeit aufgeputzt und lungeformt, aber stets in Ehren 
gehalten; dann die Volkssagen mit ihren Riesen, Zwergen 
imd wunderbaren Zauberkräften, die grösstentheils der kelti- 
schen Mythologie entlehnt waren; und endlieh die gibcimniss- 



120 IV, Die Ritterpoeßie. 

reichen Formen, unter welchen die Druiden ihre Lehi'e vor 
den Uneingeweihten , . und später auch vor den feindlichen 
Christenpriestern verbargen. 

Als König Heinrich, dessen Sinn für die brittische Sage 
hinlänglich bekannt ist, seinen Schreibern auftrug, diese zer- 
streuten Ueberlieferungen zusammen zu stellen, hatten diese 
nur die Form der meisten Erzählungen zu modernisiren , um 
die alten Helden zu christlichen Rittern zu machen ; und darin 
war ihnen die mündliche Ueberlieferung wahrscheinlich schon 
zuvorgekommen. Nur die druidische Symbolik, deren Schlüs- 
sel man nicht besass, lieferte einige Schwierigkeiten ; und doch 
reizte vielleicht gerade diese mehr als alles Andere den mysti- 
schen Sinn der halb weltlichen, halb geistlichen Schreiber. Man 
suchte deshalb nach einer Erklärung des Wunderbaren ; und die 
Art und Weise der vornehmsten Symbole Hess es zu, dass man 
sie mit einzelnen Momenten der christlichen Ueberlieferung 
in Verbindung brachte, mit denen sie doch eine leise Aehn- 
lichkeit hatten. 

So erzählte man von dem wunderbaren Becher oder Ge- 
fass, das, nach der Ueberlieferung eines Barden aus dem sechs- 
ten Jahrhunderte, dichterische Begeisterung schenkte, die Zu- 
kunft und den Schatz aller menschlichen Weisheit enthüllte; 
dessen Betrachtung seinen Verehrern Kraft und Nahrung gab, 
ihre Wunden heilte, ja ihnen sogar das Leben zurückgab. 
Wer aber in seine Geheimnisse eingeweiht war, verlor die 
Sprache. 

Man vermuthet, dass hier die Weisheit der Priesterkaste 
symbolisch dargestellt wurde; deren Eingeweihte durch einen 
feierlichen Eid geloben mussten, das Geheimniss zu bewahren, 
wodurch sie gleichsam den Laien gegenüber stumm wurden. 

Der Nationalkampf gegen die Sachsen brachte ein neues 
Symbol in Aufnahme: einen mit Blut gefärbten Speer; das 
Bild des Vertilgungskampfes gegen die Fremden, auf welches 
die Eingeweihten den Eid der Feindschaft gegen die Ueber- 
wältiger schworen. 

Beide Gegenstände erhielten eine christliche Deutung. Der 
erste spielte unter dem französischen Namen Gral, d. h. Ge- 
fass, eine grosse Rolle; es sollte die Schüssel sein, woraus 
Christus bei der Stiftung des Abendmahls mit seinen Jüngern 
gespeist hatte, die Joseph von Arimathia nach England gebracht 



IV. Die Ritterpoesie. 121 

habe. Der Speer der Sage wurde nun zu dem, nüt dem 
Longinus die Seite des gekreuzigten Christus durchstochen 
hatte. 

Die Geschichte der dadurch bewirkten Wunder bildet den 
Hauptinhalt des GralromanS; in welchem schliesslich 
erzählt wird, wie, in Folge von Sünden der späteren Geschlech- 
ter, der heUige Gral unzugänglich, und erst später von einem 
reinen Ritter aus Joseph's Geschlecht zurückgefunden wird. 

An diese Erzäldung, die beinahe ganz in christUcher 
Mystik aufgeht, in welcher die Erklärung der Messe, des 
Abendmahls und der Dogmatik eine Hauptrolle spielt, schliesst 
sich die Sage von dem' Zauberer Merlin aufs Engste an. Der 
Iloman dieses Namens meldet die Heldenthaten von König 
Artur und von dem Barden Merddhin (Merlin), die natürhch 
in moderner Form geschildert werden. 

Wir werden uns bei der Geschichte Artur's nicht aufhal- 
ten; sie stimmt in ihren Hauptzügen mit den Berichten der 
lateinischen Chronik Gottfried's von Monmouth überein; doch 
müssen wir einen AugenbUck bei der Gründung einer Ein- 
richtung verweilen, von der alle Arturromane berichten: die 
sogenannte Tafelrunde. 

Merlin erzälüt dem König Uther-Pendragon , Artur's Va- 
ter, wie Joseph von Arimathia auf seiner Flucht mit seinen 
Anhängern in eine Wüste kam, in der Viele vor Mangel den 
Tod fanden Als die Uebrigen zu murren anfingen, befahl 
ihm Gott, eine Tafel herzurichten, der gleich, an welcher 
Christus das letzte Abendmahl genossen habe ; auf diese musste 
er einen goldenen Kelch, der noch von dem Herrn herstammtiq 
(den heihgen Gral), stellen, und denselben vor unwürdigen 
Augen stets bedeckt halten Durch die Kraft dieses heihgen 
Gegenstandes wurde ein Jeder, der einen Platz an dieser Ta- 
fel erhielt, nicht nur gesättigt, sondern auch alle seine Wünsche 
wurden erfüllt. Ein Platz an der Tafel bheb immer leer, zur 
Erinnerung an den Erlöser. In späterer Zeit verschwand der 
heilige Gral, wie wir bereits erwähnten. 

Uther musste nun eine solche Tafel einrichten; und er 
that dies zu Pflingsten, wählte dazu fiinfzig Ritter, die, als 
die besten, an der Tafel assen und sich zumal unter Artur's 
Regierung den grössten Ruhm erwarben. Auch an dieser 
Tafel musste ein Platz offen bleiben, der erst später besetzt 



122 IV. Die Ritterpoesie. 

werden sollte^ — von wem, wird geheimnissvoU verschwiegen ; 
aber wir erfahren an anderen Orten, dasß nur der, der die 
Gralabenteuer vollbringt, dazu ein Recht hat; während jeder 
Andere, der sich auf dem „schrecklichen Sitz^^ niederlassen will,, 
vom Feuer des Himmels verzehrt wird. 

64. Diese Werke erhalten durch den Mysticismus eine 
eigenartige Färbung und bringen sie beinahe ganz auf den 
Boden der Legende. Vielleicht lag für uns Niederländer 
gerade hierin ihre Anziehungskraft; was Frankreich betrifft, 
so ist die Frage erlaubt: ob der Gralroman wohl den« 
selben Aufschwung genommen hätte, wenn er vereinzelt 
aufgetreten wäre? Es ist sicher, dass in den verwickelten, 
mystischen Erklärungen und in der Ascetik, die den grössten 
Theü des Inhalts ausmacht, wenig Reizvolles für das Schön- 
heitsgefiihl liegt. Aber auf den Gral folgt der Merlin; 
und in diesem begegnen wir einer Anzahl historischer Ueber- 
lieferungen, denen die darüber ausgegossene ritterliche Fäp- 
bimg Leben und Charakteristik giebt. Der Lancelot end- 
lich setzt Allem die Krone auf; in ihm hat die reichste Phan- 
tasie Alles zu vereinigen gesucht, was Einbildungskraft und 
Gefühl nur reizen kann. 

Es ist nicht möglich, hier den Inhalt des sehr umfang- 
reichen Werkes zu resumiren. Das Hauptthema ist die gegen- 
seitige Liebe des von dem Meerweib Viviane erzogenen Rit- 
ters Lancelot und Artur's Gemahlin Ginevra. Die Geschichte 
dieser Leidenschaft wird verbunden mit der hundertmal wie- 
derkehrenden Erzählung der Abenteuer, die Lancelot selbst, 
oder die andern Ritter der Tafelrunde erleben, wenn sie 
wegen verschiedener, in der Regel ziemlich willkührlich an- 
geführter Gründe, als fahrende Ritter das Land durchkreuzen. 
Dabei wurden wieder allerlei Episoden aus der Geschichte 
des Gral's eingeflochten; deßn Lancelot war dazu ausersehen, 
den heiligen Becher zurückzufinden. Sein unkeusches Leben 
verhindert dies, und sein Sohn, der reine Galaäd, ist dazu 
auserlesen, die geheimnissvollen Gralabenteuer zu vollbringen. 

Schliesslich versöhnt sich König Artur mit seiner Ge- 
mahlin, die ihr Leben in einem Kloster beschliesst, wie ihr 
bekehrter Geliebter das seine in der Zelle eines Einsiedlers. 

Das jGranze endet mit der Erzählung von dem Ver- 
schwinden Artur's, der von der Fee Morguein auf mysteriöse 



IV. Die BitterpoeeJe, I2ä 

Weise weggeführt wird, um — nach dem Glkuben der Brit- 
ten, später zurück zu kommen, und eich siegreich an ihre 
Spitze zu stellen. 

65. Der Verfasser, oder lieber Kompilator dieses emliosdj 
Romans war Wouter Map, der als hochgestellter tiiiifltlicher 
und Freund des Königshauses am Hofe des englischen Kfinigs 
Heinrich II. lebte. 

Man hat dies bezweifelt, aber aus wenig beweisenden 
Gründen, In allen Handschriften wird er ausdrückJicli als 
der Verfasser oder Zusammensteller des Werkes genannt; 
und was wir von seiner Persönlichkeit wissen, widerspriclit 
keineswegs dieser Annahme. 

Dass auch dieser Roman ein Gewebe von verschi eile neu, 
früher von einander unabhängigen Erzählungen ist, fallt schon 
bei einer oberflächlichen Betrachtung in's Auge. Die Aben- 
teuer sind so lose mit einander verbunden, dasa alle innrr- 
licbe Einheit dadurch mangelt. Dessenungeachtet hat der 
Verfasser grosses Talent entwickelt; nicht nur in der lebhaf- 
ten Schilderung der Einzelheiten, der Zustände und Charaktere, 
in gebildetem, fliesaenden Styl, als auch in der grossen Kcimch- 
heit, mit der er seinen geföhrlichen Gegenstand behandelt 
hat. Und dies enthüllt uns auch das Geheimniss des gruseen 
Erfolgs, den das Werk lange Zeit hatte. 

So weit wir dem Ursprung von dera eigentlichen Kern 
dieser Erzählung nachgehen können, wurde früher in dem 
Verhalten Lancelot's zu Artur's Frau nichts Unrechtes geaehen. 
Map theilt diese Ansicht nicht; er zeigt, ohne viel zu morali- 
siren, das Schuldige und Strafbare dieser ehebrecherischen 
liebe. Um indessen zu verhindern, dass dadurch das In- 
teresse für seinen Helden sich vermindere, schildert er ihn nicht 
nur als den ausgezeichnetsten Kitter, als den sehönsioii und 
tapfersten Edelmann; sondern auch als den treuesten Lieh- 
haber, der jeder Verführung widersteht, und der durch seine 
wankeUose Treue die einzige Schwäche seines Heizens 
versöhnt. 

Was das Werk fiir uns ungeniessbar macht, ist seine 
endlose Ausdehnung über mehrere Folianten. Wenn es dein- 
ungeachtet Jahrhunderte lang die Lieblingsleetüre der Gebil- 
deten aller Länder gewesen ist, so muas man dies theilweise 
denselben Ursachen zuschreiben, welche die langen Kailioniaue 



i 

^ 



124 IV. Die Ritterpoesie. 

eiinögHcliten. (S. oben S. 67.) Aber zumeist findet es den 
<_hiin(l dtiriu, daea das Mittelalter daejenige darin ausgedrückt 
und idealisirt fand, was das Wesen jener Zeit ausmachte; 
wiiiireiid die mächtigste aller menschlichen Leidenschaften 
mit L'ljcnso keuschen, als lebendigen Farben geschildert 
wjird, Die dazu verwendeten Mittel entsprechen nicht immer 
dem yuten Gesclmiacke; die Uebertreibung, zumal in den 
Atiusscrungen der Leidenschaft, bringt nicht selten die ent- 
gegengesetzte Wirkung hervor, als die, welche der Dichter 
beabsichtigte. Aber wie oft hat er auch den rechten Ton 
aiif;cM'!il;igen! Wie reiast er uns mit sich fort, wenn er uns 
LaniLclot'B Liebe scliildert, oder Ginevra's Verzweiflung und 
Eifcr:*ucht; wenn er uns den Gesprächen der Gehebten 
lausclicn läast, bei deren Lesung Francesca da Rimini das 
EiTcJi :ius der Hand glitt!') 

Es ist zu vermuthen, dass die grösste Zahl der Ueber- 
liefcrungen, welche Map in sein Werk einschaltete, schon vor 
iluii n.imautisirt waren; vielleicht einzelne sogar in rhythmi- 
sclur Fonn; denn es ist beinahe imdenkbar, dass ein so um- 
fan^niicher, cykhscher Roman sogleich aus dem ursprünglichen 
Bruiiiiin zusammengestellt sein sollte. Von diesen Vorläufern 
ist iudcss keiner bis auf ima gekonuuenj ganz gewiss aber 
Bind dies bekannten französischen Gedichte dieses Cyklus nicht 
als snjchc zu betrachten, da sie eher etwas jünger sind, als Map's 
AW'ik; obgleich sie vielleicht dasselbe Vorbild haben. 

Gü. Wenden wir uns jetzt zu der niederländischen Ueber- 
setÄiinj; dieser Gedichte. 

\^'emge Werke scheinen bei uns so populär gewesen zu 
sein, als diese Romane: bei verschiedenen Schriftstellern zu 

') Noi leggiflvamü un gionio per diletto 
Di Lancilotto, corae amor lo strinse : 
Soli eravamo, e aenz' alcun Bospetto, 
Per piü jiate li occht ci aospiusc 
Quelta lettura, e scolorocci '1 viso: 
Ma Bolo un punto fu quel, che ci vinse. 
Quando ieggemmo il diaiato riso 
EsBer baaiato da cotanto amante, 
QueBti, che mai da me noD fia, diviao, 
La bocca mi baaiJi tutto tremante: 
Quel gionio piu non vi Ieggemmo avante. 

Dante, lofemo V. 



IV. Die Ritterpoesie. 125 

Ende des dreizehnten Jahrhundera , sowohl in Holland und 
Brabant, ab in Flandern, werden sie erwähnt; wahrscheinlich 
kannte man die ganze Trilogie. 

Schon im Alexander (1257—60} wird der Lainilot 
genannt und die „Boeke van Arture"; der Merlin kuiiimt 
zuerst in der Reimbibel (1270) vor; von diesem Werke 
unddemGral wirdzum Öfteren in dem „Spiegel historiael'' 
gesprochen (1284.) 

Nun werfen sich zwei Fragen auf. Erstens: Meinen un- 
sere Chronisten niederländische Gedichte? Ich glaube: ja. 
Sie schrieben iiir die dietsche Bürgerschaft, die wahrschvin- 
lich die fremden Literaturerzeugnisse nicht im Originale las; 
wenn dieselbe nun vor jenen Lügenpoeten gewarnt wird , so 
konnte man dabei wohl nur Ueb er Setzungen im Auge liabeTi. 
Ueberdies war Jan van Heelu (I 1291), der den Lantelot 
kannte, nicht bewandert genug im Französischen, um den 
Roman in dieser Sprache gelesen zu haben. Er bezeugt selbst: 
le ben des fransoys Diet wel nieester. 

Nun ist es wohl wahr, dass Maerlant bei der Erwüliiiung 
dieser Werke von dem Gallischen oder Romanischen 
spricht; ja dass er sogar einmal entschieden sagt: 
Vele meer boerden seit die Wale 
Van deser dinc in siere tale! 
Aber das ist noch kein Beweis ffir die Unrichtigkeit miiner 
Behauptung. 

Die neuesten Herausgeber des „Spiegel" meinten, dass 
mit der bezeichneten Stelle Wace's Brut gemeint sei; aber 
sehr mit Unrecht.') Maerlant hat den Merlin im Auge, und 
trotz der letzten Worte, gewiss die holländische Uebersetzuiig. 
„In siere tale" ist wohl bloss ein ■ gezwungener Aus- 
druck des Reims; und dann bedeutet de Wale hier wie über- 
all 'tWalsch: wasf remden, französischen Ursprungs int. Uiis 
beweisen seine eignen Worte an anderen Stellen. *) 

'J Ausgabe in i", II. Tb., 8.. 309 und 311. DasB der Enil nicht 

gemeint sein kann, zeigt die Vergleichung der ersten Stelle mit B )■ u t I, 

S. 304 und II, S. 10—11. Was in der zweiten Stelle vorkomtiit , Btpht 

auch nicht in dem Brut, sondern augenscheinlich in dem Merlin. 

Man sehe das Inhaltsverzeichniss vonVisscher's Jacob de Costei-, S. 1(1. 

') Vom „Trojanischen Kriege" sagt er im „Spiegel": 

Die dat langbe wille lesen 

Hoe die favden van desen 



t 



126 IV, Die RitterpoeBie. 

Die zweite Frage ist folgende: wenn sich auch im- 
wi'kileglich herausBtellt , dase Lancelot schon vor 1260 im 
Nb<i<Tländiachen bekannt war; ist es dann eben so sicher, 
diiss Gral und Merlin, deren zuerst im Spiegel Hi- 
storiael erwähnt wird, ebenso bald als der erst^nannte 
Rimijiu übersetzt wurden? 

Darüber geben weder einer der damaligen Schriftsteller, 
inji'li die Handschriften des Werkes selbst einige Sicherheit '■). 
Vom L a n ce 1 o t bestanden verschiedene Abschriften. Von einer 
di-rstiben besitzen wir zwei Fragmente') ; von der anderen einen 
dicken Folianten, dem Übrigens das ganze erste Buch des 
Rciiimna fehlt. Das stand sicher in einein anderen Theilä, 
lier vielleicht auch den Gral und den Merlin mufasete. 
Vi t:l leicht, denn es ist nicht unmöglich, dass diese von an- 
dcri'r Hand etwas später übersetzt wurden. 

Die Uebersetzung des Lancelot ist sicher nicht jünger, 
als aus der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts. Dies 
znigt sich aus der Vergleichung mit anderen Werken; zmiial 
auH den vielen, veralteten Worten, die darin vorkommen. 
Am Schlüsse der Handschrift, dem Eigenthum der Königlichen 
Bibliiithek im Haag, hest man: „Hier indet-dboec van Lance- 
lütc, dut heren Lodewijcs es van Velthem", das will wahr- 
sclK'iidich nur sagen, dass diese Handschrift einem brabant- 



Dat WftUch apreect entic poeteu. 
Gha . . . . 

Ten Dieteche, dat w'ide es becaot, 
Ende wi maecten te Maerlänt. 
Um! iuieb au anderem Orte: 

Die Walsche boeke lieghen van hem. 
Die Uten Walache van Haerlem 
Claes, ver Brechten aone, dichte. 
'1 Wenn der Aleiander von denen spricht „die boeke maecten 
Vau Ai'tur^', so BchliesBt das den Merlin nicht aus, wenigstens kann 
mtkii dies auB der Keimbibel entnehmen, wo es heisat: 
Aldufl wert Merlijn gheboren : 
In Arturs boeken leest men dus, 
'-) Vor Kurzem wurde ein Bruchstück im Haag aufgefunden , das 
auf der Königlichen Bibliothek bewahrt wird; höcliet wahrec heinlich 
geliürt es zu derselben Handschrift, von der ein Fragment, welches 
einen Theil aus der Episode des Ritters mit dem Wagen urnfsaat, 
von Scrrüre in seinem Museum veröffentlicht wurde. 



IV. Die RitterpoeBie. 127 

sehen Edelmann dieses Namens zugehörte; nicht dass der 
Chronist desselben Namens^ den wir später noch kennen lernen 
werden, der Uebersetzer des Werkes ist. Die Unmöglichkeit 
dieser Annahme spricht deutlich aus seiner Chronik. ^) 

Von einer Uebersetzung des Gral und des Merlin wis- 
sen wir nicht viel. Der Fürst von Bentheim - Steinfiirt hält 
«ine plattdeutsche Kopie einer niederländischen Uebersetzung 
hinter Schloss und Riegel. In derselben heisst es, dass das 
Werk zu Ehren Albrecht's, Herrn von Voorne, von einem 
gewissen Jakob de Coster von Maerlant verfasst ist. Es 
müsste also zwischen 1260 und 1287 entstanden sein. Aber 
wir wissen zu wenig von dieser Handschrift, um mit irgend 
einer Sicherheit über den Inhalt oder den Bearbeiter sprechen 
zu können. 

Von dem Uebersetzer des Lancelot kann man sagen, dass 
«r sich seiner Aufgabe gut entledigt: seine Sprache ist glatt 
und fliessend, sein Styl lebhaft und den geschilderten Zu- 
ständen entsprechend. 

67. Wenn der Lancelot wegen seines Inhaltes auch zu 
der eigentlichen ritterlichen Literatur gehört, so kann er doch 
vsreder durch seine Einheit, noch durch die ästhetische Ab- 
rundung zu den Kunstproduljten im engern Sinne gerechnet 
werden, welche die neuere Periode kennzeichnen. Es ist, als 
ob man erst den Stoff vollständig zusammenbringen musste, 
«he man sich gänzlich den Anforderungen der Form hingeben 
konnte. 

Indess nahen wir nun mit raschen Schritten der Blüthe- 
zeit unserer Ritterpoesie. An der Schwelle derselben begegnen 
wir einem Gedichte, das nach Inhalt und cyklischer Aus- 
dehnung noch dem vorigen Zeitfach angehört, sich aber durch 
Reinheit der Form sehr günstig vor den bis jetzt behandelten 
Stücken auszeichnet. Es ist dies der sogenannte Roman 
der Lothringer. 



^) Im 34. Kap. des III. BucheeC erwähnt er Artur*s Tod, verweist 
«,ber nur auf den dritten Theil des Spiegel Historiael (S. daselbst 
in der 4'* Ausgabe, Theil II, S. 388.) Würde er, wenn er der Uebersetzer 
des Romans wäre , nicht hauptsächlieh dabin yerwiesen haben ? Dass er 
übrigens mit den Arturromanen wohl bekannt war , ist deutlicb , da er 
Kap. 16 des zweiten Buches Vbn den Gewohnheiten an Artur's Hofe 
s&gt: „dat wi gelesen dicke hebben.** 



128 IV. Die Ritterpoesie. 

Das französische Original^ welches dieser Uebersetzung zu 
Grunde liegt, die Chanson des Lorrains, gehört nicht nur 
zu den ältesten, sondern auch zu den poesievollsten Erzeugnis- 
sen der mittelalterlichen, epischen Muse. Möge auch der In- 
halt zuweilen roher sein, als die neuerblühte Bildung ver- 
langte ; und die Ausdehnung des Gedichtes, zumal in der Ueber- 
setzung, ihm den Namen eines eigentlichen Kunstepos versagen : 
so umfasst es doch, wie jede echte Volkspoesie, Bilder, die zu 
allen Zeiten den tiefsten Eindruck auf Jeden machen werden, 
der Sinn für erhabene Schönheit hat. 

Das Gedicht enthält die Erzählung von der Blutfehde 
zweier Geschlechter, der Lotharinger und Bordelaisen. 

Hervis, Herzog von Liothringen, hat zwei Söhne, Garin 
und Begge, die am Hofe des französischen Königs mit zwei 
Kindern des Hardr^ von Bordeaux auferzogen werden: Fromond 
und Wilhelm. Begge wird von dem Könige mit Gascogne 
belehnt, welches Hardre für Fromond verlangte, und dies 
wurde die Ursache der endlosen Fehde: 

S'en vint la guerre, onques plus ne prist fin, 
Aprös les p^res la reprisent li fil, 
Apr^s les fius 11 plus prochain voisin. 

Der erste Krieg hat lange Zeit gewüthet, endlich ist der 
Friede zu Stande gekommen; da wird Begge auf der Jagd 
von Fromond's Dienern getödtet. Diese Episode ist vielleicht 
die schönste des ganzen Gedichtes : auf alle Fälle giebt das 
Ereigniss die Anleitung, dass der Streit von Neuem beginnt. 
Jetzt, wie schon früher, werden Ritter getödtet, Schlösser 
erstürmt, Städte niedergebrannt, das Land verwüstet. End- 
lich fällt auch Garin in einen Hinterhalt und wird durch die 
Uebermacht der Feinde bezwungen. Er lag unter den Todten 
wie eine Eiche unter Gesträuch! 

Die Söhne übernehmen die Blutfehde; nach ihnen die 
Enkel und Urenkel. Dadurch wird das Gedicht zur Chronik, 
Dies ist zumeist der Fall bei der Uebersetzung, welche Zu- 
thaten enthält, die, obgleich auch sie sicher aus dem Fran- 
zösischen übersetzt sind, in den Handschriften der Chanson 
des Lorrains nicht vorzukommen scheinen. Die Geschichte 
wird fortgesetzt „tot det Keizers Vredrycs (Hendricks ?) 
tiden." Der Uebersetzer war auch überzeugt, dass er „wäre 
ystorien" schrieb, welche er zu nichts Geringerem be- 



IV. Die Ritterpoesie. 129 

stmimte^ als zur „groten dachcortinge " für seine Zuhörer und 
Leser. 

Der Kern des Gedichtes, der Streit zwischen Garin und 
Fromond, ist ganz gewiss sehr alt (S. oben S. 56) und selbst 
in der Fassung, die wir kennen, reicht dieser Theil des Ge- 
dichtes bis zum ersten Viertel des zwölften Jahrhunderts zurück 
(zwischen 1120 und 1130). Die Hinzufugungen mögen aus dem 
Ende dieses Jahrhunderts herrühren: wahrscheinlich darf ihr 
Alter nicht höher angegeben werden, da sie, wenigstens zum 
Theil, noch in Handschriften aus jener Zeit gefunden werden. 

Ich glaube, die Uebersetzung ungefähr in die Mitte des 
dreizehnten Jahrhunderts verlegen zu müssen, ganz gewiss 
noch vor 1250, dem Todesjahre Friedrich's 11., dessen Ende 
bei der Nennung von Kaiser Friedrich's Namen wohl erwähnt 
sein würde, wenn es früher schon erfolgt gewesen wäre. Viel älter 
wage ich sie wegen ihres ganzen Tones, ihrer Sprache, ihres- 
Styles und Rhythmus' nicht zu setzen. Wir besitzen sie 
nicht ganz, aber doch in sehr umfangreichen Fragmenten.^) 

68. Der poetische Werth, zumal vom ältesten Theile dieses 
Gedichtes, wird mit Recht hoch angeschlagen. Es kommen 
unbeschreiblich grossartige und echt dichterische Situationen 
darin vor, die sehr genial erfasst und mit bezeichnender Ein- 
fachheit und Würde geschildert sind; die Charaktere sind 
kräftig gezeichnet, und von angenehmer Verschiedenheit. 
Durch dies Alles könnte das Gedicht den Vergleich mit den 
besten epischen Erzeugnissen des Alterthums aushalten, wäre 
bei dem cyklischen Umfang nicht alles Mass aus den Augen 
verloren, und nicht hierdurch der epische Eindruck abge- 
schwächt worden. Dies ist um so mehr zu beklagen, da man 
deutlich sieht, wie der Dichter nach kunstmässiger Darstellung 
im klaren Selbstbewusstsein strebte: er hat die Ereignisse 
nicht unverändert so aufgezeichnet, wie die Ueberlieferung sie 
ihm zuführte, sondern er veränderte und versetzte auch die 



^) Zwei Fragmente des ersten Theiles, zusammen 820 Verse, die im 
Archive des Utrechter Dom's gefunden worden, sind noch gar nicht 
herausgegeben. Sie stimmen mit dem Texte des Originals überein, 
wie man ihn liest Theil II, S. 240—257, und Theil III, S. 15—26. 

Von den jüngsten Zuthaten sind fünf Fragmente, zusammen 7435 Verse, 
in den Werken der „Vereinigung zur Beförderung der A. N. Literatur" 
abgedruckt. 

Jonckbloet's Gescliichte der Niederlfindischen Literatur. Band I. 9 



130 IV' ^iß Ritterpoesie- 

verschiedenen Details, um Interesse für seine Helden zu 
erwecken, und ihren Zusand dramatischer zu machen. 

Und was die Form betrifft, so fesselt dieselbe durch breite^ 
plastische, echt epische Schilderung. Die Sprache ist gemes- 
sen, oft sogar harmonisch: auch fehlt es nicht an poetischen 
Ausdrücken und Vergleichen. 

Der letzte Theil, wie es scheint neuere Zuthaten (zu der 
Uebersetzung) , steht natürlich an poetischer. Erfindung unter 
dem Anfange, dem er nicht selten bloss nachfolgt. Die fort- 
gesetzte Blutfehde bedingt eine Charakterähnlichkeit zwischen 
Voreltern und Nachkommen; daher kommt dieselbe Persönlich- 
keit später oft wieder vor, und trägt nur einen neuen Namen. 
Mit den Charakteren treten auch ähnliche Ereignisse in der 
Fortsetzung wieder auf, oder einzelne Züge des Originals 
werden darin ausführlicher bearbeitet. Einzelne Schilderungen 
öthnmen selbst bis in die geringfügigsten Einzelheiten mit 
früheren überein. Aber doch enthält auch dieser Theil manche 
Schönheiten. Wir finden eben so viel Handlung darin, 
als in den besten Stücken des ersten Theils; die Ereignisse 
sind zuweilen überraschend treffend geschildert, die Be- 
schreibungen voll Gluth imd Leben. Styl und Darstellung 
sind lebendig und malerisch richtig. 

Der Uebersetzer hat in der Regel seine Aufgabe treu 
erfüllt, obwohl er zu einzelnen Malen auch auffallige Lt- 
thümer begangen hat. Seine Sprache ist ausgezeichnet 
rein und zierlich, und der Rhythmus hat einen Wohl- 
klang und eine Regelmässigkeit, die von besonderer Sorg- 
falt zeigen. 

Was den Inhalt sowohl, als die Form betrifft, verdient 
der Roman der Lotharinger eine Ehrenstelle unter den 
Erzeugnissen aus der Blüthezeit unserer mittelalterlichen Poesie. 

69. Bisher trafen wir die Dichtkunst beinahe ausschliess- 
lich auf historischem Gebiete : wir werden jetzt sehen, wie die 
Poesie auch in einer anderen Welt als der menschlichen ihr 
Reich aufschlug, wie sie selbst nicht zögerte, den Thieren eine 
Geschichte zu schenken, wenn wir uns mit dem niederländi- 
schen Thierepos, dem unvergleichlichen Reinaert beschäftigen. 

Dass ein solches Epos entstehen konnte, wird man nicht 
so wunderbar finden, wenn man an die mannichfachen Eigen- 
schaften und Gewohnheiten der Thiere denkt,, welche mit 



IV. Die Ritterpoeaie. 131 

denen der Menschen oft Uebereinsthmnimg haben ; zumal mit ihren 
Geiuhlen von Liebe und Leid, mit ihren Leidenschaften, die uns 
gleichsam zu der Ueberzeugung zwingen, dass auch sie vuu (li;n- 
aelben Hebeln in Bewegung gesetzt werden, die des Mciisclieii 
Thaten bestimmen. In den frühesten Perioden der Qeselluchjit't 
verfiel man viel eher darauf, da Mensch und Thier einander noch 
näher standen; als Jäger und Hirten, in ihrem engen Vericehr mit 
den Thieren, sowohl mit denen, die man fürchtete, als auch mit 
denen man in nähere Berührung kam, Beinamen erfanden, durch 
welche ein neuer Schein von lieber einstimmung entstand, 
Die Phantasie that natürlich dabei auch das ihre, und ebenso 
wie das Kind den Abstand kaum fühlt, und die Thiere beinahe 
als seines Gleichen betrachtet, so kostete es auch der Saive- 
iät früherer Jahrhunderte nicht viel, die Grenze zwischen 
Mensch und Thier fallen zu lassen. Man glaubte ja an die 
Verwandlung von Menschen in Thiere und umgekehrt; an 
übernatürlichen Verstand der Thiere, an ihr VorauswisBen 
menschlichen Schicksais, mjin schrieb Ihnen bald nitlit nur 
eine eigene, sondern selbst die menschliche Sprache zu. So 
wurde die Brücke geschlagen, über welche ihnen, wenigstens 
in der Poesie, der Zugang auf das Gebiet menschlicher Hand- 
lungen und Schicksale verschafft werden konnte. 

Auf diesem Boden entsprossen nun mancherlei Sagen, die 
sich; wie jede UeberBeferung, nach der Forderung von dem 
Weehsellauf der Jahrhunderte, veränderten. Im Osten entstand 
die Thierfabel, eine kurze Erzählung mit didaktischer 
Tendenz, die nicht breiter ausgeführt wiu'de, als eben nüthjg 
ist, um die Moral derselben auffinden zu können. Bei den 
Germanen wurde das Thierepos geboren, mit seiner breiten 
Schilderung, ohne direkten Zweck der Belehrung, das durch 
die Entwicklung der epischen Handlung aelbat zu fesseln sucht, 
ohne die Erwartung auf eine Nutzanwendung zu spaiiueu, die 
völlig dem Scharfsinn der Zuhörer oder Leser überlassen wird. 
Eine solche Sage konnte weder im Orient, noch bei den Aiteu 
entstehen: sie war nur bei den Germanen möglich, deren 
Sinn für die Natur und Vorliebe für die Jagd bei keinem 
anderen Stamme gefunden wird; und Grimm konnte mit gutem 
Bechte sagen, dass ihm aus dem deutschen Tliiercj)us ein 
uralter Waldgerueh entgegen wehe. 

Man begreift leicht, dass es durchaus nothwendig ist, um 



n 



l 



132 IV, Die Ritterpoebie, 

uns leicht in der phantastischen Thierwelt zu bewegen, uns 
die Thiere mit menschlichem Verstände begabt zu denken ^ 
eint;eweiht in alle Gewohnheiten unseres Lebens, aber mit. 
at'liiirfer Zeichnung der Eigenschaften, welche die verschiede- 
nen Thiere als solche kennzeichnen. Je sorgfältiger die Sage 
diibvi die Natur beobachtet, desto vollkommener wird ihre- 
Wirkung Bein. Beide Elemente sind nSthig: Figuren, nur 
zut'äUig mit Thieraamea bekleidet, würden uns kalt lassen^ 
ebenso Thiere, die nur von natürlichem Instinkte getrieben 
handelten. Der Reiz entsteht gerade aus der Vereinigimg 
dieser verschiedenen Eigenschaften so in einander verwebt, dass- 
miin sich selbst nicht genaue Rechenschaft ablegen kann, 
wckhc eigentlich zum Handeln anspornt 

Natürhch folgt hieraus, dass mit wenigen Ausnahmen nur 
die grossen, edelen Thiere in Betracht kommen. Diejenigen, 
welche seit undenklichen Zeiten v9rzTigsweise zu Helden des- 
Epos gestempelt wurden, waren die Eingeborenen der deut- 
schen Wälder, der Wolf und der Fuchs. Durch List und 
Kriift sich auszeichnend, waren sie dazu besonders geeignet r 
ihr Charakter fiel Jedem ins Auge, deun sie konnten oft 
f^emig beobachtet werden; und obwohl sie unter sich selbst. 
eiiKu auflUlligen Kontrast bilden, so hatten sie doch auch, 
wieder so viele gemeinsame Züge, dass das Verbinden ihrer 
Abenteuer auf ganz imgesuchte Weise statt haben konnte: 

Dass die Thiersage bei den Germanen uralt war, bewei- 
sen die Namen der Hauptpersonen. Die Namen der Thiere^ 
waren nehmlich ursprünglich keine blossen Wortklänge; sie- 
hatteu eine Bedeutung, die der Gestalt und der Eigehthüm- 
lichkeit der Thiere entnonunen war, wenn ihnen nicht ein mensch- 
licher Name beigelegt wurde, oder wegen des etymologischen Sinns, 
des AVortes, oder als satyrische Anspielung auf eine historische 
Person. So hiess der Bär Braun, der Löwe Nobel und 
der Eäel bald Bernhard, Der Name des Fuchses Reinaert 
hiesa früher Keginhard oder Raginohard. Dieser Eigen- 
niime kommt in Urkunden des siebenten bis neunten Jahr- 
hiuiderts vielfaltig vor; aber schon damals stand seine eigent- 
lich'; Bedeutung nicht mehr klar vor Augen. Ragin oder 
regln bedeutet Rath; es kommt noch im Qothischen vor^ 
ist aber in den übrigen deutschen Dialekten nur in Zusam- 
menstellungen bekannt Man erinnere sich nur an den fränki- 



IV. Die Ritterpoesie. 133 

«^chen raginboron,^) den berathenden und urtheilföUenden 
Freien des Gerichtes im saiischen Gesetz. Reginhard be- 
deutet der ßathstarke^ der Rathgeber, und als solcher 
kommt der Fuchs stets in der Sage vor: ja selbst in einem 
französischen Gedichte jüngeren Datums ist die Erinnerung 
dieser Bedeutung noch nicht verwischt. ^) 

Dieser charakteristische Name kann dem Fuchse nur zu- 
«rtheilt worden sein, als die Bedeutung des Wortes ragin 
noch allgemein bekannt war; daraus folgt, dass die Sage bis 
zu dem höchsten Alterthum zurückreicht, und den Franken 
«chon im vierten oder fünften Jahrhundert bekannt sein 
musste; in einer Zeit, in der sie noch rein Deutsch sprachen. 
Seitdem wuchs und blühte sie in dem Munde des Volkes, 
nahm an Ausbreitung zu, bildete sich um, vervollständigte 
«ich zu einem breiten Epos und ging in die geschriebene 
Literatur über; bald unter der Hand eines Geistlichen in der 
klassischen Sprache der Gelehrten, bald wieder im Volks- 
dialekte, im- Französischen oder Vlämischen. Flandern und 
Nordfrankreich liefern den Boden, auf welchem vorzugsweise 
das Thierepos gepflegt wurde, die gegenwärtig bekannte Ge- 
stalt annahm, und sich über ganz Europa verbreitete. 

70. Wir haben schon darauf hingewiesen (S. 46), wie die 
Oeistlichkeit sich auch der Thiersage bemächtigte, und wie 
Tom achten bis zwölften Jahrhunderte lateinische Gedichte 
über diesen Gegenstand erschienen. 

Ueber zwei dieser Werke ein kurzes Wort, weil sie uns 
bei der Beurtheilung des mittelniederländischen Gedichtes von 
Nutzen sind. 

In den ersten Jahren des zwölften, vielleicht noch am 
Ende des elften Jahrhunderts, schrieb ein Geistlicher im 
«üdlichen Flandern oder in Artois ein Gedicht, das nach der 
Hauptperson, dem Wolfe, Isengrimus, genannt wurde, und 
in welchen auf recht lebendige Weise die traurigen Schicksale 
des Wolfs, die ihn durch des Fuchses Schuld treffen, er- 
zählt werden. 



^) Von ragin, Rath, und heran, tragen. 

*) Der Fuchs sagt von sich seihst: 

Si ai maint hon conseil donc, 

Par mon droit nom ai nom Renart. 



134 IV. Die Ritterpoesie. 

Vielleicht besitzen wir in dem Isengrimus nur eine» 
Theil eines ausführlicheren Ganzen. Das Gedicht erzählt 
wenigstens nur zwei Geschichten- Nun wurde in den Jahren 
1148 — 1160 im Kloster Blandinium bei Gent, wahrscheinliche 
von einem Geistlichen, Namens Nivardus, ein ähnliches Werk_ 
geschrieben, das eine Umarbeitung des Isengrimus zu seirt 
scheint, das aber noch zehn neue Geschichten, ausser den oft. 
wörtlich wiederholten des älteren Gedichtes, darbietet. Diese- 
Umarbeitung hat mit Unrecht den Namen Reinardus Vul- 
pes erhalten, da auch in ihr überall die Schicksale des Wolfs- 
besungen werden. 

Diese zwölf Abenteuer waren ersichtlich früher einzelne^ 
selbstständige Erzählungen, die hier nur zu einem Ganzen ver- 
einigt wurden. Der Dichter bezieht sich wiederholt auf ein. 
älteres Werk, die scriptura genannt, womit er wohl deit 
Isengrimus meinte. 

Ob Nivardus nun nach mündlichen Ueberlieferungert 
schrieb, also die verschiedenen Erzählungen erst an einandei^ 
fügte, oder ob er darin schon einen Vorgänger im Lateinischen 
oder in der Volkssprache hatte, kann nicht entschieden wer- 
den; sicher ist es jedoch, dass sich auch in der Sprache des- 
täglichen Lebens bald eine Neigung offenbarte, die vorhande- 
nen Geschichten vom Wolf und Fuchs zu einem Ganzen zvl 
vereinigen. Dies geschah wahrscheinlich erst in beschränktem; 
Grade, nach und nach wurden diese kleinen Gruppen jedoch 
zu grösseren Sammlungen vereinigt. 

Ein solch zusammengestelltes, französisches Gedicht ent- 
stand um das Jahr 1100; es enthielt sechzehn verschiedene 
Geschichten, von denen einige auch in dem Reinardus vor- 
kommen. Dieses alte französische Werk ist verloren gegan- 
gen, aber nicht viel später als 1150 wurde es von Heinrich 
dem Glichesaere ins Deutsche übertragen. Nach der einfachen 
und schmucklosen Darstellung zu urtheilen, ist diese Ueber- 
setzung sehr wahrscheinlich eine treue Wiedergabe des Origi- 
nals; die Form sticht auch auffällig von dem lebendigeren^ 
stark gefärbten Erzählerton späterer Gedichte dieses In- 
haltes ab. 

Solche spätere Bearbeitungen sind auch wirklich noch 
vorhanden: zuweilen findet man ein einzelnes Abenteuer als- 
selbstständiges Stück bearbeitet, dann wieder zusammenhän- 



IV. Die Ritterpoesie. 135 

gende Reihen verschiedener Anekdoten, die ganz auf Art und 
Weise der Arturromane behandelt sind. 

Von den wichtigsten Produkten der letzteren Art kennen 
wir den Dichter. Es ist Pierre de Saint -Cloud, ^) Pastor von 
Croix-en-Brie, der zur Zeit Philipp August's lebte, wahrschein- 
lich 1199 von seiner Pastorig verjagt und endlich 1209 in 
einen Prozess wegen Ketzerei verwickelt wurde, worauf er, 
um dem Feuertode zu entgehen, sich in ein Kloster stecken liess. 

Aus Allem, was wir von ihm wissen, wird ersichtlich, dass 
er seine vornehmsten Gedichte der Reinaertssage kurz nach 
12u0, wahrscheinlich zwischen 1204 und 1209, schrieb. Das 
erste, das ausführlichste, wenigstens 10,000 Verse umfassend, 
führte wahrscheinlich den Titel: Les Aventures de Renart, 
ein zweites, das man als eine Fortsetzung der Aventures an- 
sehen kann, und welches L e Plaid hiess, wurde wahrschein- 
lich nicht von ihm selbst, sondern durch einen seiner Nach- 
folger bearbeitet.^) 

Beide Gedichte bestehen aus einer Verbindung verschie- 
dener Erzählungen. Wenn sie sich auch durch grosse Leich- 
tigkeit des Erzähltones auszeichnen, so entbehren sie doch der 
Einheit, welche sie zu einem Kimstprodukte im höheren Sinne 
des Wortes stempeln würde. Zumal das erste leidet an die- 
sem Fehler; aber auch der Plaid ist davon nicht frei zu 
sprechen. 

Diesem letzten Werk hat der vlämische Dichter den Stoff 
zu seinem berühmten Reinaert entlehnt; zu einem Gedichte, 
dessen Vortrefflichkeit bis auf den heutigen Tag anerkaant 
wird; das auch in Deutschland durch eine niederdeutsche 
Bearbeitung bekannt, ins Englische, Hochdeutsche, Dänische, 
Schwedische und selbst ins Isländische übersetzt; ja, das selbst 
in diesem Jahrhunderte von einem Göthe und Oehlenschläger 
aufs Neue bearbeitet wurde. 

71. Wir betrachten zuerst flüchtig den Inhalt. 

Nobel, der Löwe, der König der Thiere , hält zu Pfingsten 
einen Hoftag. 



^) Siehe über ihn und seine Werke meine Etüde sur le Roman 
de Renart. 

') So Hessen sich auch wohl die Zweifel aus dem Wege räumen, die 
in der Etüde S. 218 aufgeworfen sind. 



136 IV. Die Eitterpoesie. 

Alle Thiere erscheinen bis auf den Fuchs Reinaert, der 
zu viel Böses angestiftet hat, als dass er zu kommen wagte. 
Isegrim (der wie Eisen grimmige Wolf) erhebt die Klage 
gegen den Abwesenden, in welche die anderen Thiere ein- 
stimmen. Zwar verwendet sich Grimbart, der Dachs, fiir ihn, 
und behauptet, er lebe so eingezogen wie 6in Klausner; aber 
da erscheint der Hahn Cantecleer mit der Leiche seiner letzten 
Tochter Coppe auf einer Bahre; sie war mit ihren Schwestern 
das Opfer Reinaerts geworden. 

Es wird beschlossen, den Schuldigen vorzuladen. Braun, 
der Bär, unterzieht sich im stolzen Uebermuthe der Sendung; 
aber Reinaert macht sich Braun's Fressgier zu Nutze, und 
lockt ihn in eine Falle. Er bringt ihn an einen Eichenstamm, 
mit dessen Spaltung man eben beschäftigt ist, giebt vor, 
dieser enthielte Ueberfluss an Honig, und als der Bär sich 
seiner Leidenschaft nach der Speise hingeben wül, zieht 
Reinaert die Stützen aus der Baimispalte, in welcher nun 
der Bär mit den Vorderpfoten und der Schnauze ge- 
fangen bleibt, und von den herbeieilenden Bauern so 
jämmerlich geschlagen wird, dass er kaum mit dem Leben 
davon kommt. 

Nun wird Tibert zu Reinaert gesandt; dieser wird von 
dem schlauen Fuchs in des Pfarrers Speicher gefuhrt, wo es 
von Mäusen wimmelt ; dort war eine Schlinge gestellt, in der 
sich der Kater fängt; die Mäusejagd bekommt ihm sehr übel, 
da er sie beinahe mit dem Tode bezahlen muss. 

^ Der König geräth in furchtbare Wuth über die Schän- 
dung seiner Gesandten. Grimbart, der Dachs, Reinaert's Vet- 
ter, überredet ihn endlich, den Schuldigen nach Recht imd 
Herkommen zum dritten Male zu entbieten, und übernimmt 
selbst diesen Auftrag. Es gelingt ihm, Reinaert zum Mit- 
gehen zu bewegen, der unterwegs dem Dachse seine Sünden 
beichtet, und in Kürze alle seine bösen Streiche aufzählt. 
Nachdem ihm Grimbart Absolution gegeben hat, kommen sie 
an des Königs Hof Nobel wirft dem Fuchse seine Sünden vor, 
und vor allen Dingen den Hohn, mit dem er noch unlängst 
seine Gesandten behandelt hat. Aber Reinaert behauptet, 
dass es stets sein Schicksal sei, verleumdet zu werden : er sei 
immer des Königs treuster Vasall gewesen, und was Braun 
und Tibert betrifft, so sind diese durch eigne Schuld in's Ver- 



IV. Die Ritterpoeaie, 137 

derben gekommen, da sie gegen seinen auBdrilcklicbeo lia.ih auf 
Diebstahl ausgingen. 

Relnaert wird jedoch gefangen genommen und cndliuli 
zum Galgen geführt. Als seine Todfeinde eben Anstalt niaclien, 
ihn aufzuziehen, bittet er, vor aUem Volke noch einmal beich- 
ten zu dürfen. Er lässt dabei, wie absichtslos, etwas von einem 
ungeheuren Schatze fallen, der zur glücklichen Stunde in .seinen 
Besitz gekommen sei, da er sonst dazu gedient hätte, den Kunig 
des Lebens zu berauben. Die erschrockene Königin fordert ihn 
auf, die volle Wahrheit zu sagen, und Reinaert, der bemerkt, wie 
willig man ihm Gehör lieh, be^nnt nun eine ausführliche 
Geschichte, wie in früherer Zeit sein eigener Vater mit Braiui, 
Isegrim und Grimbart eine Verschwörung gegen des Königs 
Ki-one und Leben gebildet habe. Der Schatz, vom Könige 
Henuelink herstammend, war in des alten Roinaerts Hunden, 
der ihn zui- Anwerbung von Söldnern hergeben wollte, welche 
Braun auf Nobels Thron setzen sollten. Grimbart hatte sich 
in der Trunkenheit etwas davon gegen Reinaerts Frau eut- 
fallen lassen; der brave Puchs, der nicht gern den eileliiiüthi- 
gen König von dem bösartigen Bar verdrängt sehen wollte, 
wuBSte kein besseres Mittel, als den Schatz seines Vaters zu 
stehlen, und so den Anschlag zu vereiteln. So rettete er des 
Königs Leben; und doch stehen Braun und Isegrim in 
hohem Ansehen, und er wird verkannt I 

Auf Andringen der Königin verleiht Nobel nun dem Schul- 
digen Gnade, er soll ihm aber den Schatz anweisen. Reinaert 
schenkt ihn dem Könige. Er ist in einer Einöde bei Plulstevlo 
verborgen, wohin er gern dieFürsten fuhren möchte," mu ilineii 
den Ort zu zeigen, aber er hat ein Gelübde gethan, uui^oiiumt 
nach Rom imd dem heiligen Lande zu pilgern, um AI)^iiliitiou 
zu erflehen. Der König verkündet nun Öffentlich, duss er 
Reinaert Alles vergiebt, und die Unzufriedenheit Braun'a und 
laegrim's mit diesem Beschlüsse bestraft der König mit Gc- 
fängniss. Ja, Reinaert wusste es selbst dahin zu bringen, 
dass man Braun ein Stück Fell ausschnitt, um ein Runzel 
für ihn zu machen; während Isegrim und seine Frau 
ihre Schuhe dem Pilger geben müssen, der damit seine liuas- 
fahrt antritt. 

Mit verstellten Thränen nimmt er Abschied, luid fragt 
Alle um Fürbitte; und mit Kuwaert, dem Hasen, und ßeilin, 



I 



138 IV. Die Ritterpoeaie. 

dem Schafbock, die ihn auf seine Bitten nach Beiner Burg ge- 
leiten, reist er ab. 

Vor der Btirg Maupertuis angekommen, musa der Bock 
iiatitrlich draussen bleiben: Kuwaert geht mit hinein, um 
Reiiiaert's Prau über die Abreise zu trösten. Der Betrüger 
(.-rzithlt den Seinen, dass der König ihm Kuwaert zur Ent- 
achiidignng fUr erlittenes Unrecht geschenkt habe; imd der 
>I,'ise wird verzehrt. 

Er steckt dann den abgebissenen Kopf in den Ranzen, 
uiiil übergiebt ihn Beilin. Dieser solle nur vorausgehen, 
Kuwaert wolle noch ein wenig bleiben, um seine trauernde 
Hulime zu trösten; der Ranzen enthalte wichtige Briefe, die 
solle der Schafbock überbringen: wolle er sich beim König 
beliebt machen, dann solle er nur sagen, er habe an dem In- 
hnltu die Hand mit im Spiele gehabt. 

Heinaert flüchtet mit Frau und Kindern. Und zu guter 
.Stunde I Denn" als der König den Inhalt der Reisetasche fin- 
det, wurde er so zornig, und brüllte so fürchterlich, dass alle 
Thicre erzitterten. Die Gefangenen werden auf Fierapeel's, 
doa Leoparden, Rath aus dem Gefängnisse gelassen und er- 
lialtun Beilin und sein ganzes Geschlecht für alle Ewigkeit 
zur Sühne. Reinaert wird für vogelfrei erklärt. 

72. Wir wollen mit dieser Uebersicht nur einen Blick 
über den innigen Zusammenhang der einzelnen Begebenheiten 
fcewilhren. Um die Vortrefflichkeit der Bearbeitung ins rechte 
Licht zu stellen, ist eine solche trockene Skizze am wenig- 
sten geeignet, da die feinen Züge, weiche die ganz bewun- 
dernswerth festgehaltenen Charaktere kennzeichnen, als auch 
dio Schilderung der verschiedenen Einzelheiten, die der Er- 
ziiiilung ihre grosse Lebendigkeit geben, dabei ganz verloren 
gohcn. 

Nun fragt man vielleicht, ob das dem Gedichte reichlich 
gi^spendete Lob wohl der niederländischen Bearbeitung zu- 
kunimt, wenn dieselbe doch nur eine Nachahmung des fran- 
zösischen Originals ist? Wir antworten darauf, dass, obgleich 
dtr vlämische Reinaert grösstentheils nach einem Gedicht 
des Pierre de Saint -Cloud übersetzt wurde, die Bearbeitung 
jedoch durch das Talent des niederländischen Dichters in 
jeder Hinsicht das Original bei Weitem übertrifft. 

Dass wir es wirklich mit einer Ueberarbeitung zu thun 



IV. Die RitterpocBie. 13^ 

haben, und nicht mit einem ursprünglichen Werke des vliimi- 
schen Dichters, zeigt sich unwiderleglich sowohl im Prologe, ') 
im welchem der Verfasser sagt, dass er, da keine Erzählung 
von ReinaertB Abenteuern im Dietsehen bestehe, er sie 
„na den walschen boeken" bearbeitet habe, ale aus der Ver- 
gleichung der französifichen und vlämischen Texte. 

Von dem Dichter wissen wir nur, dass er Willem hicss, 
nnd noch ein Gedicht geschrieben hat, das den NameitMa- 
doc oder Madocs Traum führte. Ob man ein Recht hat, 
dabei an jenen Willem Utenhove zu denken, an den ,jPriester 
van goeden love van Aerdenburch" , dessen Maerlant in seiner 
Naturen bloeme als Verfasser eines Bestiaris nennt, ist 
sehr zweifelhaft und nicht wahrscheinhch ; denn ea wärr: dann 
wohl zu erwarten, dass an jener Stelle auch der Reinaert, 
das viel berühmtere Werk, nicht tmerwähnt gebheben sei. In 
diesem Bestiaris den Reinaert zusuchen, wie wolilschnn 
geschehen, ist ganz unzulässig. 

Das Gedicht Madoc selbst ist nur dem Namen nach be- 
kannt Es wird in der Reimbibel zugleich mit dem 
Reinaert genannt: 

Want dlt en es niet Madocs droom, 
No Reinaerts no Ärtas boerden. 

Ebenso wird es in einem noch ungedruckten Pragiuento 
einer üebersetzung des„Burchgrave van Coetchy" aus 
Haerlant's Zeit erwähnt. Die Frau von Fayel sagt zu ihrL-ni 
Ritter, der ihr eine sehr vei-wickelte Liebeserklänmg macht : 
Noch wanic, her ridder, dat gl slaept, 
Of dat ghi gijt in Madox drome. 

Der Inhalt dieses Gedichtes wird wohl immer ein Räthael 
bleiben , da alle darauf bezüglichen Vermuthungen zn keinem 
Ziele führen. 



■) Willem die van Madoc maecte, 
Daer hi dicke omme waecte, 
Hein vemoyede so haerde, 
Dat davontureD van Reioaerde 
In Dietace onghemaket bleren, 
iDie hi hier hevet vulbcreven) 
Dat hi die vite dede eoeken, 
Ende hise naden walscen hoekeo 
In INetBce duB hevet hegonneu. 



140 IV. Die Ritterpoesie. 

Wenn wir nun den vlämischen Reinaert mit seinem 
Originale vergleichen, so wird bald deutlich, dass er es an ab- 
gerundeter Einheit bei Weitem übertrifft Die zwei grossen 
Gedichte von Pierre de Saint-Cloud, die doch so eng zusam- 
menhängen, bestehen aus einer ganzen Zahl von Abenteuern, 
die oft nur durch einen sehr losen Faden zusammengehalten 
sind. Aus diesen hat der vlämische Dichter mit feinstem 
Takte ausgewählt. Mit Takt: denn er hat ohne Widerrede 
den Theil genommen, der von allen Beurtheilern jfrüherer oder 
späterer Zeit für die beste aller Reinaerterzählungen gehal- 
ten wird. 

Und diesen Theil der Sage hat er nicht bloss übersetzt, — 
er hat ihn auch verändert und verbessert, so dass dadurch 
eine vollkommene Kunstschöpfimg entstand. Die grösste Ab- 
weichung vom ursprünglichen Texte findet man in der Erzäh- 
lung der Begebenheiten nach Reinaert's Erscheinen bei Hofe. 
Im Französischen schenkt der König dem Fuchs auf die blosse 
Fürsprache des Dachses Vergebung, ohne dass für die Ver- 
söhnung ein Grund besteht; bloss unter der Bedingung, dass 
Reinaert eine Pilgerfahrt in's heilige Land unternehme. Kaum 
hat er Vergebung erlangt, als er Kreuz und Pilgerstab von 
sich wirft, und die Flucht ergreift. Darauf folgen noch an- 
dere Abenteuer, mit denen wir hier Nichts zu thun haben. 

Man braucht den Reinaert vomAugenbhck der Verur- 
theilung des Fuchses bis zu seinem Ende nur flüchtig zu durch- 
laufen, um sich von seinem Vorzuge vor dem Original zu überzeu- 
gen. Hier ist Alles mit ausgezeichneter Kunst behandelt: 
Einheit imd Zusammenhang sind vollkommen erhalten, weil 
jede Einzelheit durch den Charakter der handelnden Per- 
sonen gut und natürlich motivirt ist. Der Schatz des Königs 
Hermelink wird so natürlich als möglich in die Erzählung 
eingeführt; das hat den doppelten Nutzen, dass sich Reinaert 
nicht nur des Königs Gunst dadurch gewinnt, sondern auch, 
dass sich nun dessen Ungnade über seine Feinde ergiesst. 

Erscheint dadurch die Auffassung des Vlämen als die 
eines wahren Künstlers, so zeigte er sich auch in der Zeichnung 
imd Ausschmückung der einzelnen Begebenheiten als ein solcher. 
Sein Vorgänger hatte schon in dieser Hinsicht eine schwer zu 
erreichende Höhe erreicht, und doch wusste unser Willem auch 
hierin ihm noch den Preis streitig zu machen durch einzelne 



IV. Die Ritterpoesie. 141 

Zuthaten, welche die Lebendigkeit der Daratellimg , sowie die 
fröhliclie Färbung des Cranzen augenfällig erhöhen. Ich er- 
wähne nur flüchtig, wie in dem ersten Plaidoyör zu Gunsten 
des abwesenden Fuchses einzelne Züge vorkommen, welche die 
Meisterband verrathen; wie die Scene mit Cantedeer viel 
künetierisclier eingeleitet wird, als bei dem Franzosen ; ich ver- 
weise auf den Schluas von Braun's Abenteuer, das mit einem 
ganz eigenartigen Bild bereichert ist. 

. Als der Bär auf der Werft entdeckt wird, laufen Alle 
herbei: der Eine ergreift einen Besen, der Andere einen 
Dreschflegel; dieser einen Schürhaken, ein Dritter eine .'^taiige; 
selbst der Pastor des Dorfes erfasste einen Kreuzstock ; und 
so rückte man dem Bär zu Leibe, der jämmerlich zngL-richtet 
wurde. Endlich glückt es ihm, zu entkommen; aber dabei 
springt er — und hier fängt die Hinzufiigung an, — unter 
einen Haufen alter Weiber, so dass fünf derselben in den 
Fluss fallen, unter ihnen des Pastors Frau. Der erschreckte 
Seelenhirt bot nun Jedem, der seiner Gemahlin zu Hülfe eilte, 
ein Jahr AblasB. Die Pfarrkinder tiefen mit Stricken und liakeu 
an den vom Priester bezeichneten Platz; und während man die 
Frau aus dem Wasser holte, verlor man Braun aus den Au^en, 
der sieh die gute Gelegenheit zu Nutze machte, und flüchten.'. 
Die Anleitung zu seinen Veränderungen undHinzviliiL'^iui- 
gen fand der Dichter meistens in dem Werke seines Y>>ii;iin- 
gers; aberwas dort zuweilen nur mit einem einzigen Woite 
gesagt ist, wird hier mit lebhaften Farben ausgemalt, und 
immer mit dem grössten Talente der Erzählung eingefügt. 
Theilweise hat er dabei von einer Interpolation Gebrauch ge- 
macht, welche das Original schon erlitten hatte. ') Diese- Ein- 
schaltung mag nun bald nach dem Entstehen des Gedichtes 
stattgefunden haben, so beweist sie doch, daas derBearbt-iter, 
dem sie schon bekannt war, nicht aus den ersten Jahren des 
dreizehnten Jahrhunderts sein kann. Fügt man dazu die Voll- 
kommenheit der Sprache, des Styla und Rhythmus jm vlänii- 
schen Gedichte, so wird man dem Urtheile beitreten, das 
oben (S. 99} niedergeschrieben wurde, dass unser Reinacrt 
nicht viel älter als von 1250 sein kann. 



■) Vergleiche meine iltude Bur le loman de Benart, \<. 19U 
Buiv,, mit van den Vob Eeinaerde, Einleitung, S. LXXXVI, 
CVII - CIX 



142 rV- ^ie Ritterpoesie. 

73. Was schliesslich den Keinaert so hoch über jeden 
Vergleich stellt, das ist die plastische Objectivität der Schil- 
derung. 

Oft ist die Thiersage zu Satyre und politischen Anspie- 
lungen gebraucht; vielleicht missbraucht worden. Pierre de 
Saint-Cloud hat wiederholt den Hof von Philipp August ver- 
spottet, und zumal den einflussreichen Prior Bernhard, der ihn 
wahrscheinlich aus seiner Pfarrei vertrieben hatte, und den 
er dadurch strafte, dass er dem Esel die Rolle und den Na- 
men des „Bernard Tarchipretre" zuertheilte. Am Weitesten 
ging in der Satyre der Dichter des Reinardus Vulpes. 
Bei ihm wird die Erzählung Nebensache, imd die Sage wird 
fortwährend als ein Mittel zu Anfallen gegen die Geistlichkeit, 
die Ordensregeln, das Klosterleben und die Uebermacht und 
Habsucht Rom's gebraucht. Sein Spott ist scharf und seine 
ununterbrochene Ironie bewirkt, dass der Eindruck seines 
Werkes grösstentheils dadurch verdorben wird. Denn man 
begreift leicht, dass je nach dem Räume, den Satyre und An- 
spielungen in einem Werke einnehmen, je nach dem dadurch 
bedingten Hervortreten von des Dichters Person — das Ge- 
dicht auch in demselben Masse an epischer Färbung und ob- 
jektivem Kunstwerthe verliert. 

Das will jedoch nicht sagen, dass dem Thierepos jeder 
spottende Gegensatz zu den aus einanderlaufenden Idealen 
der getrennten Stände in der Gesellschaft abgesprochen wer- 
den soll. Gerade die Thiersage brachte dies von selbst mit. 
Sie lud zur Vergleichung ein; und die nicht unbewusste, aber 
doch auch nicht ausdrücklich hervorgehobene Satyre wirft 
^gerade jenen fröhlichen, warmen Lichtstrahl darüber hin, der 
sie für alle Zeiten so anziehend macht. Aber nur der wahre 
Künstler wüsste darin das rechte Mass zu bewahren. 

Im Reinaert fühlt man sogleich den erwachenden mo- 
dernen Geist, der die Macht des Verstandes über die rohe 
Gewalt, in welcher die Vortrefflichkeit von den Helden der 
Ohansons de geste und von den eisernen Baronen der Wirk- 
lichkeit bis jetzt bestanden hatte. Man sieht deutlich, dass 
der Geist, die Errungenschaft des sich entwickelnden Städters, 
sich über die bezwungene Macht materieller Gewalt lustig 
macht; aber man liest dies nur zwischen den Zeilen. 

In echt epischem Geiste wird hier nur wegen des In- 



IV. Die Eitterpocsie. 143 

halts selber erzählt: der Dichter strebt danach, durch lebhafte 
und natürliche Darstellung zu fesseln, ohne durch cip;ene 
Weisheit oder Gelehrsamkeit die Aufmerksamkeit von ai'incm 
Gegenstände oder seiner Behandlungs weise abzuleiten. Und 
■wie natürlich bleibt er! Er giebt seinen Helden so viel menseli- 
lieben Verstand, wie zu dem täglichen Leben, der eigentlichen 
Sphäre der Thiersage, erforderhch ist. Sie handeln wedcir mit 
zu grosser Ueherlegung, noch aus blossem thieriachL-n In- 
stinkte. Indem er mit ausgezeichnetem Takte den Mittelweg 
geht, den der Charakter der Thiere in der Sage verlangt, um 
anziehend zu werden, weiss es unsere Aufmerksamkeit zu fes- 
seln. So stürzt Beinaert den Wolf nicht aus Feindschaft nach 
vorheriger Ueberlegung ins Unglück; sondern es liegt nur in 
seiner Natur, sich an fremdem Leid zu erfreuen. Wie es die 
Umstände mit sich bringen, ist er stolz oder demüthig, ein 
liebender Gatte oder entarteter Sohn, der noch den Schatten 
seines Vaters schmäht; er nimmt seinen Vortheil wahr, wo er 
nur kann, und fuhrt seine schliimnen Streiche ana, nicht liloss, 
weil sie ihm Vortheil bringen, sondern grösstentheils aus 
Leichtsinn, selbst dann, wenn er seine eigene Gefahr dadurch 
vergrössert. 

Der Fuchs Reinaert ist dadurch in gewisser Hiasiclit das 
Bild des alltäglichen Menschen im Allgemeinen, der sich weder 
durch Tugenden, noch durch seinen Verstand über den grossen 
Haufen erhebt; er ist mehr noch das Bild des öüchtigcu Gu.\- 
liers, der leichtsinnigen, aber egoistischen französischen Bour- 
geoisie, die bis zum heutigen Tage ihren Charakter Jioch 
nicht verleugnet hat. Wenn man den Leichtsinn hiuweg- 
rechnet, so war er auch der Typus des vlämischen Städters, 
dem nicht wenige philiströse Selbstsucht, ja selbst Hass gegen 
die zweibeinigen Isegrim's und Braun's anklebte. 

Mit der natürlichen, getreuen Haltung der Personen steht 
auch der Ton ihrer Gespräche in vollkommenster Harmonie; 
es ist der Ton des täglichen Lebens, ohne Schulweisheit, ohne 
philosophische Beweisführungen. Was für uns diesen Ge- 
sprächen das würzende Salz giebt, ist die Wichtigkeit, dio ge- 
rade dem Unbedeutendsten und Trivialsten beigelegt wird, lu 
dem Thun und Lassen herrscht eine humoristische Naivetät, 
ein Zug von Katürlichkeit tmd Gemüthlichkeit, wie Snclluert 
es nannte, der uns nothwendig zum Lachen zwingt, zugleich 



144 IV. Die Ritterpoesie. 

aber auch zur Bewunderung des grossen Talentes, das der 
Dichter dabei an den Tag legt. 

Dieselbe Kunstfertigkeit spricht aus allen seinen Beschrei- 
bungen und Schilderungen, die eine nie übertroffene Lebhaf- 
tigkeit der Phantasie und Feinheit der Auffassung beweisen. 
Wenn man dazu die vollkommenste Herrschaft über Sprache 
und Khythmus fügt, die in ihrer Art ganz einzig dasteht, so 
muss man erkennen, dassder Dichter des Reinaert das Lob 
als grösster Künstler verdient, den Flandern im Mittelalter 
hervorgebracht hat. Denn obwohl er grösstentheils das Werk 
eines Anderen ausführte, so hat er doch durch seine eigen- 
artigen Veränderungen, durch seine selbstständigen Bereicherun- 
gen, durch die meisterlichen Wendungen, die er demselben 
gab, durch eine unübertroffene Herrschaft über die Form erst 
ein Kunstwerk ins Leben gerufen, das sein Vorbild ganz in 
den Schatten stellt, und ebenso viel Anspruch auf den Namen 
eines selbstständigen, ursprünglichen Werkes hat, als auf 
den eines meisterlichen Kunstwerkes. 

74. Wenn unsere mittelalterliche Poesie mit dem Reinaert 
den Boden der eigentlichen Kunst im engeren Sinne betrat, 
so gehört auch ein Gedieht auf diesen Boden, das einen ganz 
anderen Geist athmet, den des idealisirtesten Ritterthums: 
der Roman von Walewein. 

Um eine Idee von dieser Art von Gedichten zu verschaffen, 
wollen wir eine kurze Inhaltsübersicht des Werkes geben; 
um so mehr, da es ein Meisterstück dieses Genre's ist. 

Auf einem Hoftage König Artur's schwebte ein Schach- 
brett von Silber und Elfenbein in die Festhalle, verschwand 
aber sogleich wieder aus dem Gesichte. Walewein erklärt 
sich bereit, dasselbe für seinen König aufzusuchen. Er kommt 
durch eine Felsenspalte, welche ein Drache bewacht, in ein 
Wunderland, bei dessen Könige er das Schachbrett wieder 
findet. Dieser verspricht, ihm dasselbe zu überlassen, wenn 
er ihm dafür „das Schwert mit den wunderbaren Ringen'^ 
bringe, welches die seltsamsten Eigenschaften besitzt, und in 
dem Besitze des Königs Amoris ist. 

Nachdem er verschiedene Aventüren bestanden hat, er- 
reicht Walewein das Schloss des Amoris. Dieser liebt die 
schöne Ysabele, die von ihrem Vater in einem unüberwind- 
lichen Schlosse gefangen gehalten wird. Wenn Walewein sich 



IV. Die RitterpoeBie. 145 

verpflichtet, ihm die Jungfrau zu verschaffen, will ihm der 
£öQig das Wunderschwert schenken, dessen Besitz beständigen 
Sieg verbürgt. Der tapfere Ritter verspricht die Erfiillung 
dieser Bedingung, und begiebt sich auf den Weg, um Ysabeien 
aufzusuchen. 

Auch auf diesem Zuge wird ihm oft Gelegenheit, Beweise 
seines Muthes und Rittersinnes zu geben, da er wieder ver- 
schiedene Abenteuer zu bestehen hat. Endlich erreicht er 
die Burg, in welcher Ysabele eingeschlossen ist, und es gehngt 
ihm, in dieselbe einzudringen, ungeachtet ihm ein Haufen 
Bewaffbeter den Zugang versperren will. Zuletzt wird er 
jedoch übermannt und'gefangen genommen. 

Ysabele hat einen Traum gehabt, in welchem ihr ein Rit- 
ter mit einem Jungfrauenkopfe erschien, der mit einer Löwen- 
haut bekleidet war, und eine feuerspeiende Schlange mit sich 
führte, welche Viele von den Leuten ihres Vaters tödtet. Als 
sie Walewein sah, erkannte sie in ihm den Ritter des Traumes, 
und entbrannte sogleich in heftigster Liebe zu ihm. Auch 
Walewein theilt diese plötzliche Leidenschaft. In einem Selbst-^ 
gespräebe in seinem Kerker sagt er, daas er in ihr das Ideal 
gefiinden habe, welches bis jetzt seiner Seele vorschwebte: 
er glaubt selbst, er habe um ihretwillen seine Fahrt unternom- 
men, und er will Alles wagen, um bis zu ihr zu dringen. 
Ysabele hat die Herzensergiessungen des gefangenen Ritters 
belauscht, wodurch ihre Leidenschaft immer mehr wächst 
Sie will mit ihm entfliehen, wird aber verrathen, und Beide 
werden in einen elenden Kerker geworfen, aus welchem sie 
jedoch auf die wunderbarste Weise durch den Geist eines Bit- 
ters befreit werden, dem Walewein einst einen grossen Dienst 
erwiesen hat 

Sie entfliehen: auf ihrem Zuge findet Walewein wieder 
Gelegenheit, neue Beweise seiner Tapferkeit zu geben, wobei 
er aber das Schwert des Königs Amoris verliert. 

Als Ysabele hört, da^s er sie zu diesem Könige bringen 
will, weil er es beim Empfange des Wimderschwertes bei sei- 
ner Ritterehre geschworen hat, erschrickt sie heftig, und 
erklärt, lieber sterben zu wollen , als einem Anderen anzuge- 
hören. Glücklicherweise gewinnt Walewein das Schwert 
zuxück, mit dem er sie fUr sich einlösen kann. Als sie end- 
lich Amoris Burg erreichen, vernehmen sie, dass derselbe ge- 

Jaiekblont'i OtiDUchte dsi niederUsdiKhen Litentnr. Bud I. 10 



146 IV. Die Ritterpoesie. 

storben ist; zu grosser Freude der Jungfrau, die wiederholt 
versichert, dass sie den Tod der Trennung von dem Geliebten 
vorgezogen hätte. 

Auf der Fahrt zum Könige Wunder wird Walewein noch- 
mals in ein hartnäckiges Grefecht mit einem Ritter verwickelt, 
der ihm seine Schöne rauben wilL Ferner hat er in dem 
Schlosse eines Freundes eine schwere Belagerung zu bestehen ; 
aber er überwindet natürlich Alles. Bei Wunder vertauscht 
unser Held das Schachbrett gegen das Wunderschwert, und 
nun erst kann er an Artur's Hof zurückkehren, wo seine Ver- 
mählung mit Ysabele den Schlussstein seiner Fahrt bildet. 

75. Wie man auch über das mehr» oder weniger Interes- 
sante der Begebenheiten dieses Romans denken möge, so muss 
man doch eingestehen, dass in demselben wirklich bewusste 
Kunsteinheit angetroffen wird. Man wird auch nicht aus dem 
Auge lassen, dass das Interesse flir den Helden immer mehr 
zunimmt. Dadurch zeichnet sich dies Gedicht vor den mei- 
sten, ich möchte beinahe sagen, vor allen anderen Artur- 
romanen aus. 

Mögen uns die Mittel, die angewandt werden, um die 
Aufmerksamkeit zu fesseln, zuweilen ein Lächeln abnöthigen, 
so waren sie doch zu des Dichters Zeiten besonders geeignet, 
tiefen Eindruck zu machen. 

Ist wohl das geheimnissvolle Schachbrett wichtig genug, 
um den gefahrvollen Zug zu rechtfertigen , welchen Walewein 
deswegen unternimmt? Man bedenke nur, dass das Schach- 
spiel die Lieblingserholung des Mittelalters war; dass mau 
nicht nur Spiele von kostbarster Arbeit hatte, sondern dass 
ihnen die Einbildungskraft sogar die wunderbarsten Eigen- 
schaften zuschrieb, z. B. gab es Schachbrette, die von selbst spiel- 
ten, wenn Jemand nur eine Figur vom Platze bewegte, und 
nur der ausgezeichnetste Ritter konnte in einem solchen Spiele 
die Partie gewinnen. 

Dies erklärt des Königs unwiderstehliches Verlangen, 
ein solches Zauberbrett zu besitzen, und Walewein's Be- 
reitwilligkeit, seinen Wunsch zu erfüllen. Aber ein noch edleres 
Gefühl spornte den Ritter dazu an: den Befehl, ja, dem 
Wunsch seines Königs und Lehnsherrn zu gehorsamen; imd 
gerade dies war es, was Walewein den Anspruch auf all- 
gemeine Sympathie erwarb. 



IV. Die Ritterpoeaie. 147 

Femer kommen in dem Romane allerlei Wmider vor, 
die wir in unserer Uebersicht mit Stillschweigen übergangen 
liaben^ weil wir nur den allgemeinen Lauf der Begebenheiten 
:schildem wollten. Wir wollen deshalb auch hier Nichts da- 
von erwähnen, und nur bemerken, dass sie in vollster üeberein- 
Stimmung mit der Entwickelung jener Zeit, imd so geliebt 
-waren, dass die meisten auch in anderen Gedichten vorkom- 
men. Was den Dichter des Walewein über die Verfasser der 
xneisten Ritterromane erhebt, das ist sein eignes fiewusstsein, 
seinen Helden in eine fremde, in eine Wunderwelt zu ver- 
setzen, die mit der Wirklichkeit Nichts gemein hat. Gleich 
im Anfange der Aventüre wagt sich der Ritter in eine dun- 
tele Höhle, in welcher das Schachbrett vei*schwunden wai'. 
Dort muss er einen „Lindwurm" bekämpfen, der ihm den 
Durchzug streitig macht, — jede Wunderwelt wird von einem 
Drachen oder Cherub bewacht. — Als er diesen überwunden 
hat, sprengt er mit seinem Pferde in die Tiefe über einen 
brausenden Strom weg, der am Fusse des Felsens die Grenze 
bildet, und so kommt er in das Land, das der Dichter selbst 
,, Wunderland" nennt. 

Er lässt ihn also mit vollem Bewusstsein die Gi'enze zwi- 
schen Phantasie und Wirkliclikeit überschreiten. 

Einen anderen Beweis seiner Kunst giebt der Dichter 
dadurch, dass er die Aufmerksamkeit in immer höherem Masse 
wach zu erhalten versteht, je nachdem die Schwierigkeiten, die sich 
dem Helden entgegen stellen, unübersteigbarer werden. Als 
er nun auch diese fast unbesiegbaren Hindernisse überwunden 
hat, lässt er das Interesse von einem neuen Elemente reizen: 
dem Konflikte zwischen Liebe und Pflicht. 

Die Leidenschaft, welche Wale wein plötzlich fär Ysabele 
empfindet, macht ihm die Erfüllung seiner Aufgabe sehr 
schwer. Diese Liebe ist keine bloss zufallige, sinnliche Lei- 
denschaft, wie in den meisten Arturgedichten ; die Geliebten 
scheinen vom Schicksale dazu bestimmt zu sein, sich gegen- 
seitig zu lieben. Sein Bild ist ihr in einer Vision erschienen; 
und als er sie zum ersten Male sieht, erkennt auch er das 
Ideal seiner Träume in ihr. 

Ihr tragischer Zustand ist indessen von dem Dichter nicht 

so ausfuhrlich geschildert worden, als man wolil erwarten 

konnte. Walewein vergisst die Veranlassung zu seinem Un- 

10* 



148 IV. Die Kitterpoesie. 

temehmen und giebt sich ganz der Liebe hin. Erst als er 
das Wunderschwert verloren hat, erinnert er sich an sein ver- 
pfandetes Wort; aber er beschhesst auch zu gleicher Zeit, sein 
Wort durch Uebergabe der Jungfrau einzulösen. Sein Seelen- 
streit ist nur schwach geschildert, zeigt sich aber doch deut- 
lich in dem Jammer über das verlorene Schwert, das er hätte 
zurückgeben können, um die Gehebte für sich zu behalten. 
Ebenso spricht sich derselbe in seiner Freude beim Wiederfin- 
den des Schwertes aus. 

Man wird sich wundern, dass Walewein nur an Ysabelen, 
und gar nicht an Artur denkt, für den er doch allein durch da& 
Wunderschwert das Schachspiel erringen kann; aber man be- 
denke, daas in jenen Tagen die Liebe Alles entschuldigte.^) 
Gerade durch seine Haltung in diesem Punkte war Walewein 
die Type des vorzüglichsten Kitters, der nach dem Zeugniss 
eines Schreibers jener Zeit, überall Licht und Gluth ver- 
breitete. 2) 

Auch hierin zeigt sich unser Dichter seiner Zeit 
voraus. Erstens lässt er seinen Helden för seinen Fehltritt büs- 
sen: Ysabele wird ihm entrissen, und erst, als er sein Blut 
für sie vergiesst, erhält er sie zurück. Ferner rettet er ihn 



*) So sagt Cr^tien im Roman de la Char rette: -" 

An ne porroit dire de boche 
Kien qui de par amor yenist, 
Que k reprocbe apartenist; 
Einz est amors et corteisie 
Quan-qu*an puet faire per. s'amie. 

Car sans faille, molt en amande 
Qui fet ce qu'amors 11 comande, 
Et tot est pardonable chose; 
S'est failliz qui feire ne rose. 
*) Derselbe Cr^tien sagt in seinem Chevalier auLion: 

Cil qui des cbevaliers fu sire 
Et qui sor toz fu reclamez, 
Doit bien estre solauz clamez : 
Per mon seignor Gauvain le di; 
Que de lui est tot autresi 
Chevalerie anlumin^e, 
Come solauz la matin^e 
Oevre ses rais et clart^ rant 
Par toz les leus, oü il s^espant 



IV. Die Ritterpoesie. 149 

gewissermassen durch einen Dens ex machina aus der Noth, 
und zwar durch Amoris' Tod, was ihn der Noth wendigkeit 
überhebt, gegen seine bessere üeberzeugung Untreue gegen 
den Lehnsherrn durch Treue gegen die Geliebte zu entschul- 
digen, und wodurch er zu gleicher Zeit die Einheit seiner 
Conception beibehält. 

Beweist dies Alles nun, wie dem Dichter ein höheres 
Kunstideal vor Augen stand, so zeugt auch die übrige Be- 
handlung von wirklichem Talente. Der Monotonie der Haupt- 
handlung geben verschiedene Episoden eine angenehme Ab- 
wechselung. Diese sind jedoch nicht so willkürlich angebracht, 
wie es in den Arturromanen gewöhnlich der Fall ist: Sie hän- 
gen in der Regel mit dem Hauptgedanken des Dichters zu- 
sammen, wie wir schon andeuteten, imd dienen femer noch 
zur treuen Charakterschilderung des Helden. Dazu kommt 
noch die wirklich vortreffliche Weise der Detailmalerei: 
Die plastischen Beschreibungen, der fliessende und lebendige 
Ton des Dialogs, die Naivetät des Styls und das Poetische 
der Bilder. Dies Alles musste den Walewein zu einem Meister- 
stücke seiner Art machen. 

Dass der mittelniederländische Text dieses Bomans eine 
Uebergetzung aus dem Französischen, und zwar eine sehr ver- 
dienstliche Uebersetzung ist, imterliegt keinem Zweifel. Das 
Original datirt wahrscheinlich aus den letzten Jahren des 
zwölften Jahrhunderts: die Uebersetzung, an welcher zwei 
Dichter, Penninc und Bieter Vostaert, gearbeitet haben, scheint 
in die erste Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts zu fallen. 
Dass sie sehr geschätzt war, beweisen die vielen Anspielungen 
auf dieselbe, die bis zu dem Alexander zurückreichen. Sie 
ist uns vollständig in einer Handschrift vom Jahre 1350 auf- 
bewahrt, und auch von einem zweiten Codex werden noch 
Bruchstücke gefunden. 

Die Uebersetzer haben das vortreffliche Gedicht würdig 
und angemessen bearbeitet. Ihre Sprache ist fliessend, rein; 
ihr Versbau regelmässig; ihre Perioden klar und wohllautend, 
2:umal bei Penninc, welcher sichtbar mit grösserer Leichtigkeit 
arbeitete, als sein Nachfolger, der dann und wann, vom Reime 
gezwungen, zu Flickwörtern seine Zuflucht nahm. 

76. Aus dem Sagenkreise des Königs Artur kennen wir 
noch verschiedene niederländische Gedichte, die zu dieser 



350 IV. Die Ritterpoesie. 

Periode gehören , und die ganz oder theilweise fiir uns erhal- 
ten sind. Wir werden uns nicht lange bei denselben aufhal- 
ten; dürfen aber nicht vorübergehen, ohne mit dem Vater 
dieser Dichtart, mit dem Stifter der neuen Schule, welche am 
Hofe des vlämischen Grrafen Philipp vom Elsass blühte, Be- 
kanntschaft zu machen. Wir erwähnten schon öfter seinen 
Namen: es ist Chretien de Troies. 

Er führte seinen Zunamen wahrscheinlich von dem Orte 
seiner Geburt Wahrscheinlich verliess er die Champagne im 
Gefolge der Tochter seines Landesherrn, als sie sich 1185 
mit dem Schwager des Grafen Philipp vermählte. Am Hofe 
des Letzteren fand die Poesie einen Zufluchtsort, seitdem 
Philipp August die Minstrels und Jongleurs 1181 von seinem 
Hofe vertrieben hatte. Chretien starb ungeßlhr im Jahre 1200. 

Ausser einzelnen anderen Gedichten schrieb er verschie- 
dene Arturromane, deren Xi^^l i^ chronologischer Ordnung 
folgende sind: Erec et Enide, Cligfes, Le Chevalier de la 
Charrette (zur Sage von Lancelot gehörig), Le Chevalier au 
Lion (Iwein), Le conte du Saint-Graal (Perceval). Das Dritte 
dieser Werke ist auf des Dichters Ersuchen von Godefroy de 
Laigny vollendet; während das letzte wahrscheinlich von sei- 
nem Tode unterbrochen, und durch verschiedene Nachfolger 
(Gautier de Denet, Gerbert und Manesier) fortgesetzt wurde. 

Aus diesem Cyklus von Romanen sieht man deutlich den 
Geschmack jener Zeit. Man wird sich nicht verwundem,, 
wenn auch Andere in dieselben Fusstapfen traten, wie Raoul 
de Houdanc, der sich in seinem M^raugis de Portleguez in dem- 
selben Sagenkreise bewegte, imd in dem Roman Guillaume 
de Dole, wenn auch nicht denselben Helden, so doch wenig- 
stens derselben Richtung huldigte. Ebenso Guillaume de Nor- 
mandie, der den Roman de Fröjus schrieb. 

Einige dieser Gedichte sind auch in niederländischer 
Uebersetzung bekannt. 

Der Parzival, in welchem die verschiedenen Aventüren 
erzählt werden, welche der Held dieses Namens bei dem Auf- 
suchen des heiligen Grals erlebt, und welchem verschiedene 
Episoden aus dem Leben der übrigen Ritter von der Tafel- 
runde eingeschaltet sind — der Parzival wurde ungeßlhr um 
die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts bei uns übersetzt. Von 
dieser Uebersetzung ist aber nur ein Theil erhalten geblieben^ 



IV. Die Ritterpoesie. 151 

der grösstentheils in die Haagsehe Handschrift des Lance- 
1 o t als Anhang zu den Schicksalen dieses Helden eingeschoben ist. 

Perchevael ist ein junger Edelmann, der sich durch my- 
stischen Sinn für das Himmlische auszeichnet, und sich zu 
einem geistlichen Ritter heranbildet. Den Roman de Fr ^ jus, 
oder der Ferguut, wie er im Vlämischen heisst, kann man 
ein Seitenstück zu diesem Gedichte nennen. 

Der Held, nach welchem der Roman genannt wird, wird 
uns als schön, tapfer, stolz und edehnüthig geschildert. Er 
hat ein hohes Gefühl für Recht, Billigkeit und Ehre, steht in 
der vollsten Kraft der Jugend, die sich im naivsten Selbst- 
vertrauen und dem leichtherzigsten Frohmuthe zeigt, mit dem 
er die gefahrlichsten Aventüren besteht. Er trägt also alle 
Keime zu einem ausgezeichneten Ritter in sich; aber er ist 
der Sohn eines Bauern, und bleibt mit allen Hofinaniereh un* 
bekannt. Der Dichter zeichnet seine Plumpheit mit einigen 
kleinen Zügen; was sie aber in's heUste licht stellt, das ist 
Ferguuts anfängliche Sprödigkeit gegen Liebe, weshalb er 
auch der schönen Galiene seine Liebe versagt, als sie, mit der 
den Frauen dieses Sagenkreises eignen Weise, ihm die ihrige 
gesteht. 

Das war wohl der stärkste Beweis von bäuerischer Grob- 
heit, nach der Auffassung einer Zeit, in welcher Galanterie 
und Frauendienst als die einzigen Erzieher zu feinen, höfischen 
Formen betrachtet werden. Es ist also wohl nicht zweifel- 
haft, dass der Dichter in diesem Roman schildern wollte, wie 
die Liebe den Bauer zu einem vollkommenen Ritter der prak- 
tischen Wirklichkeit formt, als welchen er Walewein aner- 
kannte. Er wollte damit ein Seitenstück . zu dem Perchevael 
Hefem. 

Das ist aber nur sehr undeutlich von dem Dichter gezeigt 
worden, so dass man beim ersten Anblicke diesem Roman 
alle Einheit absprechen möchte. Der Held zieht zu einem 
Abenteuer aus, und macht dabei die Bekanntschaft der schönen 
Galiene; diese Bekanntschaft scheint die Anleitung zu einer 
Episode zu geben, wird aber nach und nach das Hauptthema 
des ganzen Werkes.* 

Dadurch wird das Urtheil über die Composition des Ge- 
dichtes nicht sehr günstig gestimmt. Mit Hinsicht auf die Be- 
arbeitung ist dies ein andrer Fall; denn die meisten Scenen 



152 IV. Die Ritterpoeflie. 

sind, an und 6lr sich betrachtet, MeiaterBtlicke der Darstel- 
lung, die sich durch Lebendigkeit und Wahrheit auszeichnen. 
Wenn er in dieser Hinsicht neben den Wal ew ein gesetzt 
werden kann, so ist doch in der Schreibweise beider Dichter 
ein liiiiimelweiter Unterschied wahr zu nehmen. Der Wale- 
wuiu giebt nur objektive Darstellung; die Persönlichkeit des 
Dicliters tritt nie in den Vorgrund ; dadurch schlieset er sich enger 
an die historischen Gedichte an. Der Verfasser des Ferguat 
dagegen ist ganz der Schüler Chretieu's, dessen Sinn für lange 
Beteachtungen, zumal über die Macht der Liebe, er geerbt hat. 

Wir besitzen von der vlämischen Uebersetaung eine 
HauclEchrift aus dem vierzehnten Jahrhundert, das einen etwas 
inodernisirten Text giebt, wie aus der Nachschrift ersichtlich 
wird. Die Uebersetzung ist fliessend, der Styl glatt, obwohl 
die Sprache von Bastardworten ziemlich entstellt wird, wie es 
die Uewohnheit der vlämischen Schreiber war. Sie scheint 
zwischen 1220 und 1250 entstanden zu sein. 

77. Viel merkwürdiger ist für uns der Roman von 
Müriaan: hauptsächlich wohl darum, weil er nicht aus dem 
Franzüaischen übersetzt zu sein scheint, und mehr deu eigen- 
thümüchen Geist unserer niederländischen Landesart verräth. 

Ich übergehe den Inhalt, den die kaum mit einander zu- 
sau] 111 anhängenden Aventüren Walewein's, Lancelofs und eines 
Rittors bilden, der nach seiner schwarzen Farbe den Namen 
Moriium tr^. 

Wenn eine angenehme Form oder anziehende Behand- 
lung des Details hinreichten, um ein günstiges Urtheil über 
ein Gedicht zu fällen, so müssten wir den Moria an empfeh- 
len, der durchgehend in reiner Sprache, in fliessenden und 
wohllautenden Versen geschrieben ist, und in dem uns über- 
dies verschiedene Scenen durch das Wii-kungsvolle der Situation, 
als auch durch die Lebhaftigkeit der Beschreibung fesseln. 

Aber das Alles wiegt den gänzlichen Mangel an innerer 
Einheit nicht auf, und von Einheit ist in dem Romane keine 
Rede. Wenn man das Gedicht mit dem Namen „der schwarze 
Rittoi" getauft hat, so ist es nur, weil sein Auftreten das ziem- 
lich lose Band ist, durch welches die verschiedenen Aventüren 
aneinander geknüpft sind; nicht weil er wirklich der Mittel- 
punkt der Erzählung ist. Die Hauptperson, die am Meisten 
hervortritt, ist auch hier eher Walewein. 



^»1 



IV. Die Kitterpoeaie. 153 

Dieser Mangel an Einheit wird uns nicht verwundern, 
da wir die innige Ueberzeugung, die aliein ein grosses 
Kunstwerk schaffen kann, bei dem Schreiber selbst vermissen. 
Er war ein belesener Mann, wahrscheinlich ein Schreiber, der 
mehr oder weniger ein Handwerk daraus machte, Romane 
an einander zu fügen, der aber sichtlich keinen Sinn für die 
zündenden Ideale der Kitterwelt hatte. Deshalb lässt er auch 
keine Gelegenheit vorbeigehen, die abenteuerlichen, von ihm 
selbst besungenen Züge selbst zu verurtheilen. So legt 
er dem Walewein eine Rede in den Mund, in welcher er ihm 
sagen lässt, dass der, der immer den Kampf sucht, sicher ein- 
mal unterliegt. Im Widerspruch mit den meisten Roman- 
dichtern seiner Zeit findet er es auch sehr unnatürlich, dass die 
fahrenden Ritter inmier siegen. 

Wenn er dadurch seinen prosaisch-praktischen Sinn be- 
weist, so beweist er auch zu gleicher Zeit seine geringe Vor- 
liebe für die Ideen der gesellschaftlichen Klasse, fiir die er 
doch wahrscheinlich schrieb. 

Auch in einer anderen Beziehung ist er in Streit mit der 
Kitterwelt, und sein Streben, den konventionellen Rittertugen- 
den das einfache menschliche Gefühl entgegen zu setzen, ist 
wahrhaft; merkwürdig. Moriaan's Mutter wurde von ihrem 
Geliebten, trotz seiner Treuversprechen, verlassen. Als 
ihr Vater stirbt, wird sie von ihren Untergebenen enterbt, 
weil sie Mutter ist, ohne Gattin gewesen zu sein. Das 
kränkt sie: 

Nochtan was haer meer die scande 
Dan die scade die sie coos, 
Dat haer sone hiet vaderloos. 

Der Sohn zieht auch später aus, uia seinen Vater auf- 
zusuchen, und ihn zur Herstellung von der Mutter Ehre 
zu zwingen. Wenn dies schon günstig gegen die Motive ab- 
sticht, die gewöhnlich die Ritter in Bewegung setzten, so 
spricht doch auch ein anderer Geist daraus. 

Er war sowohl dadurch, als durch die Kritik über seine 
eignen Helden, der Ausdruck des niederländischen Charakters, 
und sein Werk ist eine unleugbare, vielleicht nur halbbewusste 
Reaktion gegen eine Richtung, gegen welche sich der gesunde 
Menschenverstand auflehnte. Der Protest ist nicht so geistreich, 
wie ihn Reinaert lieferte, wahrscheinlich zufolge der Halbheit 



154 iV. Die Ritterpoesie. 

des gelehrten Dichters, der gegen das von ihm Getadelte 
nicht die frische, lebendige Volksphantasie zu stellen hatte, 
sondern es in einem Geistesprodukte bekämpfte, was gerade 
dem Gegensatze von dem eigentlich Verworfenen zu huldigen 
schien. Er kämpft aber nichtsdestowem'ger auf seine Weise 
gegen die einseitige Richtung seines Jahrhunderts ; noch tastet 
er die bestehenden Formen nicht an, aber doch sind es fiir 
ihn nur leere Formen geworden, und der Standpunkt, aus 
dem er sie betrachtet, lässt uns schon von Weitem das Loos 
der ritterlichen Ideale nach Verlauf eines halben Jahrhunderts 
ahnen. 

78. Wir besitzen noch verschiedene andere Arturromane, 
die aber in ein anderes Zeitfach gebracht werden müssen. 
Für den Augenblick verlassen wir diesen Sagenkreis, um un- 
sere Aufmerksamkeit auf zwei Gedichte zu lenken, die uns in 
den Orient versetzen. 

Zuerst kommt die allerliebste Erzählung in Betracht, 
welche den Titel führt: Parthenopeus en Melior. Der 
Held des Stückes, Graf Parthenopeus von Blois, verirrt sich 
auf der Jagd, und findet am Ufer des Meeres ein Schiffchen, 
in welches er steigt, das von selbst von der Fluth weiter 
getragen wird, und ihn zum Schlosse von Cief-d'Oire 
am Hellespont fiihrt. Dort kommt er bald in Berührimg mit 
einer geheimnissvollen Jungfrau, die ihn im Dunkel der Nacht 
besucht und ihm schliesslich ihre Liebe schenkt ; aber unter der 
Bedingung, dass er sie nie zu sehen verlange. Als er end- 
lich, von bösen Einflüsterungen verleitet, ihr Gebot über- 
tritt, stürzt er Beide ins Unglück. Verzweifelnd und schluch- 
zend erzählt sie ihm, dass sie die Tochter des Kaisers von 
Konstantinopel sei. Nachdem man ihrem Vater einst voraus- 
gesagt, dass er keine anderen Nachkommen haben würde, als 
diese Tochter, hatte er ihr eine ganz aussergewöhnliche Er- 
ziehung geben lassen. Sie hatte nicht nur die schönen Künste 
und die Naturwissenschaften getrieben, sondern sich sogar 
auf Nekromantie und Zauberei verlegt, und es darin auch 
so weit gebracht, dass sie Wunder thun konnte. So be- 
sass sie die Gabe, sich und Andere unsichtbar zu machen, 
imd so hatte sie auch ihn, den Geliebten, aller Augen entrückt 
Aber jetzt, in Folge seiner Unvorsichtigkeit, hat sie alle ihre 
Wunderkräfte verloren. Ihre Barone werden nun erfahren, 



IV. Die Ritterpoesie. 155 

dass sie seine „amie" gewesen ist, und Unglück und Schande 
wird über Beide hereinbrechen. 

Nach allerlei Unfällen ist Parthenopeus genöthigt, sich 
die Schöne, welche Melior heisst, im Turnier mit dem 
Schwerte zu gewinnen, da ihre Hand der Preis des Siegers 
sein soll. So hatten es ihre Lehnsleute bestimmt. Schon hat 
er in diesem Kampfe alle seine Mitstreiter besiegt, als sein 
Nebenbuhler, der Sultan von Persien, der mit dem Ende des 
Gefechts nicht zufrieden ist, ihn auf Leben oder Tod heraus- 
fordert. Aber auch jetzt behält Parthenopeuß die Ober- 
hand, und wird nicht nur der glückliche Gatte der 
Schönen, sondern man huldigt ihm auch als Kaiser von Kon- 
stantinopel. Eine glänzende Hochzeit beschliesst die Erzählung. 

Obwohl der Roman damit so gut wie möglich beschlossen 
war, so hielt es der Dichter doch später für gerathen, einen 
neuen Schluss, oder besser gesagt, einen zweiten Theil hinzu- 
zufügen. In demselben erzählt er, wie der Sultan aus Rache 
über das vermeintlich erlittene Unrecht Parthenopeus belagert. 
Bei diesem Hors-d'oeuvre, das jedoch nicht ganz vollendet ist, 
wollen wir übrigens nicht stehen bleiben. 

Wie wir schon erwähnten (S. 98), war Denys Piramus 
der Schreiber dieses Werkes, das, nach einigen darin vorkom- 
menden Anspielungen zu urtheilen, nach der Schlacht bei 
Bouvines (1214), doch wahrscheinlich nicht viel später als 
1245 geschrieben sein muss. Die Uebersetzimg war ziemlich 
allgemein bekannt; dies zeigen die Fragmente verschiedener 
Handschriften, die « wir besitzen , sowie ihre Erwähnung von 
anderen Dichtem. Zuerst wird im Alexander davon ge- 
sprochen. 

Der Dichter hat sich bei seiner Konception durch Erin- 
nerungen an einige Chansons de geste leiten lassen, z. B. an den 
Ogier und Willem von Oranje; während sein Sinn für 
prachtvolle Beschreibungen und seine Vorliebe für das Wun- 
derbare in den Schilderungen des Luxus am Hofe zu Kon- 
stantinopel und der byzantinischen Kunst Nahrimg fanden. 
Wie Erzählungen dieser Art auf die Phantasie wirkten, zeigen 
verschiedene Gedichte, z. B. die Prise d'Orange und der 
Walewein, in welchem letzteren Roman unter Andern die 
Beschreibung eines mechanischen Wunderbaumes , dessen 
Zweige sich bewegten, und auf dem die Vögel sangen, mit 



156 IV. Pie Kitterpoesie. 

Vorliebe ausgeführt ist. Der Glaube an Wunderkräfte, mit 
denen sowohl Melior als Orable ausgestattet sind, war in jener 
Zeit so allgemein, dass selbst ein Mann, wie Albertus 
Magnus, nicht davon frei war. 

Die Behandlungsweise seines Gegenstandes ist dem Dich- 
ter des Parthenopeus ganz eigenthümlich : überall vereinigt sich, 
das Gefühl mit der Zartheit der Darstellung und der Lieb- 
lichkeit der Form. In seiner Erzählung ist Einheit; und die 
Charaktere sind bei reicher Verschiedenheit sehr gut gezeich- 
net. Zumal zieht uns Parthenopeus an, weil bei ihm mehr 
als in irgend einem der vorhergehenden Werke echt mensch- 
liche Leidenschaft die* Triebfeder seines Handelns ist, nicht 
der konventionelle, ritterliche Zwang. Im Allgemeinen kann 
man sagen, dass in diesem Gedichte die Figuren mehr nach 
der Natur gezeichnet sind. 

Auch die Uebersetzung verdient, was Styl und Form be- 
trifft, vollständig das dem Original zuerkannte Lob. Sie ist 
getreu, und doch nicht steif Ihr einziger Fehler ist die zu- 
nehmende Beimischung von Bastardworten, was in Flandern 
bald allgemeiner Fehler war, wie wir schon gesagt haben. 

79. Wenn sich der Parthenopeus über die oberfläch- 
liche, konventionelle Galanterie der Ritterwelt erhebt, und 
wenn das natürliche und menschliche Element darin Wurzel 
zu schlagen beginnt , so geschieht dies in noch höherem Grade 
in einem Gedichte, das auch die Liebe verherrlicht, und Reiz 
genug besass, um in prosaischer Form selbst bis zu unseren 
Tagen fortzuleben. Es ist Floris und Blancefloer. Der 
vlämische Bearbeiter, Dietrich von Assenede (vergl. S. 98) 
kommt seit 1262 als gräflicher Beamter in den Urkunden vor. 
Vielleicht hatte er diese Anstellung seiner literarischen Be- 
rühmtheit zu verdanken, wenigstens ist sein Floris älter, da 
er schon im Alexander erwähnt wird. 

JOer Gang der Erzählung ist folgender: Der maurische 
Königssohn Floris wird mit Blancefloer erzogen, der Tochter 
einer auf einem Streifzug gefangenen Christin. Beide Kinder 
waren an einem Tage geboren, und schon in zartester Jugend 
fasste Floris eine innige Zuneigung zu dem Mädchen, welche 
diese mit gleicher Liebe erwiederte. Der König, über dieses 
Verhältniss entrüstet, macht demselben ein Ende, indem er 
Blancefloer, die indessen zu einer blühenden Jungfrau heran- 



IV. Die Ritterpoesie. 157 

gewachsen ist, an fremde Kaufleute verkauft, welche sie in 
den Harem des Emir von Babylon bringen. Floris erzählt 
man, dass seine Geliebte gestorben sei, und man zeigt ihm 
das prächtige Grabmal, welches man ihr während seiner Ab- 
wesenheit errichtet hat. Als er sich aber in seiner Verzweiflung 
das Leben nehmen will, entdeckt ihm seine Mutter die Wahr- 
heit. Hierauf begiebt er sich auf den Weg, um Blancefloer 
aufzusuchen. Es gelingt ihm , bis an das Thor des Schlosses, 
in welchem sie verborgen ist, zu gelangen; es glückt ihm fer- 
ner, die Gunst und Mitwirkung des Thorwärters zu erwerben, 
der ihn durch eine List ins Schloss schmuggelt. In 
einem Korbe, tief unter Eosen versteckt, wird er in das 
Gynaekeum getragen. Blancefloer verbirgt ihn dort eine Zeit 
lang; aber endlich werden sie entdeckt, und natürlich zürn 
Tode verurtheilt. Floris klagt sich nun als die Ursache ihres 
Leides an: er allein hat den Tod verdient. Seine Mutter hat 
ihm einen Bing mitgegeben, der den Besitzer desselben vor 
Todesgefahr beschirmt : diesen will er der Geliebten geben. Sie 
aber weigert sich, ihn anzunehmen. Sie dringen sich gegen- 
seitig das Eettungsmittel auf, imd als er es nicht zurück- 
nehmen will, wirft sie es weg. 

Als der Emir dies erfahrt, lässt er Beide, die schon zum 
Feuertod geschleift werden, vor sich bringen. Auch in seiner 
Gegenwart beschuldigen beide Liebende sich selbst gegensei- 
tig als die einzige Ursache des Vorgefallenen imd Jeder bit- 
tet, allein gestraft zu werden, der Andere sei unschuldig. Der 
wüthende Emir will sie mit eigner Hand tödten und greift 
nach dem Schwerte. Schnell springt Blancefloer vor und bietet 
ihr Haupt dem Streiche dar. Thränen brechen aus Floris 
Augen. Er zieht sie zurück und ruft, dass es ihm, dem 
Manne, nicht zieme, sie vor seinen Augen getödtet zu sehen. 
Er bietet seinen Hals dem Emir, indem er ihn auffordert, 
zuzuschlagen, da er bereit sei. Wiederum fasst ihn Blancefloer 
am Gewände und sagt : „Herr, siehst Du nicht, dass ich bereit 
bin? Die Schuld ist mein, warum schlägst Du nicht zu?" 

Das dauerte geraume Zeit, so dass die Barone, die das 
Urtheil gefallt hatten, weinten, und auch der Emir gerührt sein 
Schwert aus der Hand sinken Hess. Nun kostete es wenig 
Mühe, ihn zur Zurücknahm^ des Urtheils zu bewegen. Schliess- 
lich wurden die Geliebten vereinigt; sie kehren in ihr Vater- 



158 IV. Die RilterpoeBie. 



• 



land zurück^ erben doii; den spanischen Thron , und Floris 
lässt sich bei dieser Grelegenheit aus Liebe zu Blancefloer 
taufen. Aus dieser Ehe entsprang eine Tochter, Bertha „mit 
dem grossen Fusse", welche die Mutter des grossen Königs 
Karl von Frankreich wurde. 

80. Dieses Gedicht gehört unter die lieblichsten Erscheinun- 
gen auf literarischem Boden. Sein Reiz liegt theils in dem, 
was der Ausgeber des Werkes, Hoffinann von Fallersleben, 
„den wunderlieblichen, aus lauter Blüthenduft und Farbenglanz 
gewobenen Stoff" nannte; sicher aber auch darin, dass 
uns der Dichter nicht in dem Kreise konventioneller Darstel- 
lung festhält, sondern menschliche Leidenschaft zu schildern 
strebt. Auch in manch anderen Hinsichten versucht ein mo- 
derner Geist in demselben seinen Flügelschlag. 

Denn als Floris seine Geliebte aufzusuchen geht, bewaff- 
net er sich nicht mit Speer und Schwert; er giebt sich fiir 
einen Kaufmann aus, und baut das Gelingen auf List und 
Besonnenheit; früher hätte ihm nur die rohe Kraftentfaltung 
dazu verhelfen können. Der Handelsstand tritt hier zum 
ersten Male auf, ohne dass der Fluch, der auf dem Unadligen 
ruhte, über ihn ausgesprochen wird. Der Ehrenpunkt scheint 
nicht mehr gekränkt zu werden, wie dies noch kurz vorher 
der Fall war, wenn man sich nach friedlichen Hülfsmitteln 
umsieht. Dies ist ein sehr auffalliges Zeichen der Zeit 
Und wie die befestigte, gesellschaftliche Ordnung ausgeübt 
wurde, kann man u. A. auch darin sehen, dass die Rede von 
Zollerhebung ist, die aber nicht mehr wiUkührlich durch hab- 
süchtige Raubritter mit dem Schwerte in der Hand, son- 
dern auf gesetzlichem Wege durch die Obrigkeit eingefor- 
dert wird. 

Daraus geht hervor, dass dieses Gedicht dem wirklichen 
Leben nicht so fremd blieb, als die meisten Arturromane. 

Der Schwerpimkt des Gedichtes liegt jedoch in der gegen- 
seitigen Liebe der beiden Kinder; Kinder, denn sie sind 
kaum funfeehn Jahre alt. Die Schilderung dieser Neigung 
mag manchmal nicht freizusprechen sein von kindischen Zü- 
gen, von Uebertreibung und Affektation — im Allgemeinen 
kann man des Dichters Auffassung weder Gefühlstiefe , noch 
allerliebste Naivetät absprechen. ^ 

Es ist sicher nicht blosser Zufall, dass die Romanhelden 



IV. Die Ritterpoesie. 159 

dieser Periode, sowohl Parthenopeus als Floris, kauiu den 
Kinderschuhen entwachsen sind; die weichliche Sentliiieiitali- 
tät, welche die Ursache zu diesem Umstände gab, miiHs sohr 
gross gewesen sein. Und war dies nicht die nothweiidige 
Folge der Richtung, welche Bildung und Poesie geuomiineii 
hatte, und bei welcher Alles apiritualisirt wurde ? Bei welcher miiii 
ferner so nach Idealen strebte, dass das praktische Leben diihei 
wohl zuweilen aus dem Auge verloren und Gefühl und Seiitiiiicnta- 
lität zum Prüfetein wahrer Bildung gemacht wurde? Uut(;r 
solchen Umständen waren die Dichter gezwungen, ilirc 
Typen innerhalb der Grenzen der Jünglingsjahre zu suchen, 
in welcher die Sentimentalität nicht gar zu unnatürlich 
erschien. Aber der Dichter des Floris Hess sich zu weit 
hinreissen, und gab dadurch seinem Helden eine M'^ciciiheit, 
die nicht selten in Seufzer und Thränen zerfliesst, und jede 
Initiative ausschliesst. Kiemais sehen wir eine kräftige Achs- 
serung seiner Leidenschaft, und selbst in der Seen« vor dem 
ßichterstuhle des Emir wird Floris von Blancefloer in Schatten 
gestellt 

Das giebt dem Gedichte eine gewisse melancholische Kiii- 
formigkeit, die nicht nothwendigerweise im Stoffe hi:fi;n"iiidet 
liegt Der Dichter hat dieselbe vergebens durch Einüi'lialtim- 
gen üppiger Beschreibungen zu neutralisiren gesucht; dcmi 
diese erreichen um so weniger ihre Wirkung, weil sie in dur 
Regel als Hors d'oeuvre zu betrachten sind, die den Eindruck 
der Erzählung nur abschwächeu. 

Eine zweite Anklage gegen den Dichter ist die unnatür- 
liche Weise, in welcher er die Entstehung der Liebi/ bi-ider 
Kinder schildert. Anstatt hier Alles der Natur und der 
„Wahlverwandtschaft", dem ununterbrochenen Zusammenleben 
des Paares, dasa an einem Tage geboren war, in einer AVicgc 
geschlummert imd Alles gemeinschaftUch hatte, zu überlassen, 
nimmt er zu Mitteln seine Zuflucht, welche deutlieh beweisen, 
dass der Bearbeiter der alten, byzantinischen Sage sich mehr 
durch die Berühmtheit des Stoffes leiten liess, als dm^cli eigne 
innige Sympathie. Das Studium des Juvenal, des Ovid und 
Pamphilus, aus welchen sie „die Streiche, die zw Minne 
gehören", lernten; das Reden in der Sprache der Gelehrten; 
der Spaziergang in dem Baumgarten, wo selbst die Vügel von 
Liebe zwitscherten; das Schreiben mit goldenen Griffeln auf 



160 IV*. Die Ritterpoeaie. 

elfenbeinernen Tafeln über den Gesang der Vögel und über 
Blumen und Liebe — das Alles bringt nur einen peinlichen 
Kiiiilriick hervor. 

Wo es dagegen nur auf Erzählung ankonunt, zeigt er 
sioli als Meister, und dieser Umstand, sowie die Lieblichkeit 
dtä Sioäes an und für sich, begründeten den Erfolge den 
das Werk zu allen Zeiten hatte. 

Was nun unseren Dietrich betrifft — er lieferte eine 
niöf:;lichst getreue Uebei^etzung des Originals. Der Gang der 
Erzählung ist derselbe geblieben, und auch die Charaktere 
bIikI treu wiedergegeben. Wo er verschiedene Hors d'oeuvres 
des französischen Originals ausgelassen hat, ist es sicher nicht 
aus besserer Ueberzeugung des Uebersetzera geschehen, da 
die deutlich erkennbaren Einschiebsel nicht in allen fran- 
zö.iischen Ausgaben vorkommen, und also wahrscheinhch nicht 
in ileia von Dietrich benutzten Texte standen. 

Er erzählt selbst, dass ibrn die Uebersetzung sehr viel 
Mühe gemacht habe, wahrscheinhch findet dies seinen Orund 
darin, dass die Arbeit über die Kräfte des Unternehmers 
giu^. Deshalb ist sie nachlässig; darum sind Logik und ge- 
siuidcr Menschenverstand dem Zwang des Reimes oft aufge- 
Dptl-rt; darum kommen so viel Albernheiten darin vor, welche 
ausser allen Zweifel stellen, dass Dietrich im PVanzösischen 
kein Tausendkünstler war. 

Auch in der Rhythmik hatte er es nicht weit gebracht; 
obualil der Text von der allein erhaltenen, vollständigen 
Hiuidachrift seines Gedichtes in dieser Hinsicht etwas ver- 
Btünimelt is^ wie aus der Vergleichung mit Fr^;menten eines 
zweiten Codex ersichtlich. Im Allgemeinen steht er in Kunst- 
Vollendung tief unter dem Uebersetzer des Farthenopeus, 
siclior schon deshalb, weil der Letztere für seinen Gegenstand, 
lür den Helden seines Gedichtes und dessen Leidenschaft, 
sehr eingenommen war. Dietrich dagegen besmgt die Liebe 
nni-, weil sie eine anständige, höfische Neigung ist, die bezeich- 
nende Eigenschaft, welche den gebildeten Mann von dem un- 
gebildeten unterscheidet. Er sagt ausdrücklich, dass er nicht 
glaube, wie Jemand thöricht genug wäre, die Thaten seines 
Helden allein ans Liebe zu unternehmen. 

81. Floris und Blancefloer ist das lefcrte Gedicht 
aus der Blüthezeit der Ritterpoesie hier zu Lande. Ganz ge- 



IT. Die Bitterpoefie. 161 

"wiss ist uns nicht Alles übergeblieben, was uusre Vor£aliren 
beeasBen. Denn der Madoc, der Fierabras, Lenva], 
Trietram oder Ämadas, auf die eich Maerlant iK'^i^ht, 
sind nicht bis auf uns gekommen. Aber doch beBitziii wir 
genug Vorhandenes, um ims ein ziemlich vollständiges Bild M 1 1 L der 
£ntwickelung der epischen Kunst in jenem Zeiträume zu ni^uljon. 

Wenn wir zurücksehen, so finden wir leicht, daea eine 
fortBchreitende Entwickelung unserer Poesie nicht zu verken- 
nen ist. Die mehr oder weniger barbarische Heldenzeit, in 
welche uns die ältesten Gedichte versetzen, weicht langsamor- 
hand vor der feineren, gebildeteren Ritterwelt Was aber die 
Darstellung an Reichthum der Einzelnheiten, an glänzenderen 
Sitten, an kunstmässiger Schilderung gewinnt, das vei-ücrt sie 
auf der anderen Seite durch die Einseitigkeit und Bescliränkt- 
heit des Gedankens, der für uns keine Seele und kein Leben 
hat, weil das eigentlich Menschliche, das allgemein Katilrliche 
vei^ssen ist, um die künstlich zur Schau gestellten Eigen- 
schaften eines kleinen Kreises von Auserlesenen zu feiern. 
Nach und nach verlässt man jedoch auch diesen Pfad, und 
die Kunst stellt sich uns in geläuterterer Form \ind in gedie- 
generem Inhalte dar. Der Mensch, und Alles das, was ilini 
die Brust zu höheren Schlägen entflammt, wird ^viedcr 
der Gegenstand der Gesänge. Aber es ist nicht mehr die rohe Lei- 
denschaft, die den Helden charakterisirt ; weichere zartei-e Ge- 
müthsBtimmungen stempeln ihn von nun an zum Liebling dei* Miirc. 

Aber gerade dadurch kann man diese Kunst kaum uneh 
die ritterliche nennen. Da sie die Exciusivität absch iitteJte, 
^velche dem Ritterwesen eigen war, konnte sie auch nicht 
mehr der Ausdruck desselben sein; oder besser gesagt, mit 
dem Ritterwesen neigte sich auch die Ritterpoesie ihrem L'n- 
tergange entgegen. Die künstlich gepflegte höfische Bildung 
konnte keine Zukunft haben, weil sie sieh mehr und nieiir 
von dem Boden der Wirklichkeit ablöste, und ihre höchste 
^Entwicklung in blosser Form und Nebensache suchte, i_>;iher 
kommt es, dass die Ritterpoesie ganz von selbst in jene Sen- 
timentalität ausartete, die wohl für kurze Zeit durch Israelit 
der Farben die Aufinerksamkeit fesseln konnte, die aber, 
und zumal in Niederland, keine bleibende Anziehungslu-aft 
batte für ein Geschlecht, das mehr und mehr den Eingebun- 
gen seiner reaÜBtiBchen Natur folgte. 

Jonclibliiet-a Gfscbicbts d«r Nisderländischen Lltentat. Bud I. H 



162 IV. Die Ritterpoesie. 

Die eigenartige ßichtung der Ritterpoesie trug in sich 
selbst die Entwicklung von Mängeln, die sich stets vergrössem 
mussten, und also ihren Verfall langsam vorbereiteten. Dieser 
Fall wurde aber durch den alhnählig zunehmenden, praktischen 
Sinn der Gesellschaft beschleunigt, der auch auf dem Grebiete 
der Literatur seinen Einfluss ausübte. In dem Moria an war 
diese Richtung schon deutlich wahrzunehmen und im Floris 
ist das didaktische Element sehr hervortretend, da der Dichter 
ganz gewiss das sittliche Princip, das er bei seiner Erzählung 
im Auge hatte, in den Vorgrund stellt. 

Der Kampf zwischen bestehender Tradition und Kritik, 
zwischen Phantasie und Realismus, zwischen Adel und Bürger- 
thum nahm jetzt seinen Anfang. Das Streben des dritten 
Standes nach einer Richtimg, welche den Charakter der Allge- 
meinheit hatte; die Entwicklung von Handel und Industrie, die 
viel mehr wirkliche, tüchtige Bildung trug, als was man bis zu 
jener Zeit dafür gehalten hatte ; Alles das versprach der Bürger- 
schaft den Sieg in jenem Kampfe. Erst jetzt kann man mit 
Sicherheit das Auftreten der bürgerlichen Literatur erwarten. 

Aber man Hess das literarische Feld nicht kampflos von 
den Unadeligen erobern. Da nun weitere Entwickelung der 
ritterlichen Kirnst nicht mehr möglich war, so musste dieselbe, 
lun am Leben zu bleiben, einen Schritt rückwärts thun. Aber 
wie weit musste man zurückgehen, um einen Schein von 
Leben zu behalten? Auf diese Frage war eine allgemeine Antwort 
unmöglich, da die Meinungen darüber nicht einig waren. Der 
Eine suchte das Feld auf dem Terrain ritterlicher Einseitigkeit 
und adliger Vorurtheile zu behaupten; der Andere glaubte, 
noch weiter gehen zu müssen, und dachte vielleicht auch bei 
der aufblühenden Bürgerschaft durch die Verherrlichung von 
roher Kraft und Heldenmuth ein williges Ohr zu finden. 
So wurde aus den Sagenkreisen Karl's und Artur's die 
Arrieregarde zum Kampfe aufgerufen. Aber es konnten 
nur geistlose Formen sein, die man dem neuen Zeitgeiste 
gegenüber zu stellen hatte. Es spricht von selbst, das da- 
bei das Kunstgefiihl verloren ging. Auch in dieser Hin- 
sicht wurde der Rückschritt zu unvollkommeneren Vor- 
bildern bemerkbar, so dass die folgenden Rittergedichte wirk- 
lich den Verfall der epischen Kunst bezeugen. 

82. Wir haben schon bemerkt (S. 93), dass die Ritter- 



IV. Die RitterpocBie. 163 

gediclite für die Burgerschaft meistens in vlämischea Gewand 
gehüllt, und dass sie von derselben nur 'als ein Ueber- 
gang zu etwas Eigenartigerem, als ein pis-aller gelesen wur- 
den. Im Verhältniss wie der bürgerliche Geist um sich 
gri£r, mu^te auch ein immer mehr ins Auge fallender Mangel 
an innerer Einheit bei den späteren Rittergedichten auftreten. 
Die Erfahrung bestätigt es. 

Die Gedichte, mit denen wir uns in erster Linie beschäf- 
tigen müssen, gehören zu den beiden bekannten Sagenkreisen. 
Dazu kam nun auch der klassische Cyklus, und diese Ge- 
dächte verdienten natürlich den Vorrang, wenn wir nur den 
Datum ihrer Entstehung zu berücksichtigen hätten. Aber es 
kann uns nicht um eine trockene, chronologische Reihenfolge 
zu thun sein. Wir streben nach deutlicher Vorstellung von 
der Entwicklung unserer vorväterlichen Poesie, und dabei 
kommt es mehr auf den besonderen Charakter der verschie- 
denen Werke an, als auf das Jahr ihrer Gehurt. Nur durch 
jenen kann ihnen ihr eigentlicher Platz ip dem ganzen Li- 
teraturhilde angewiesen werden. Nun werden wir bemerken, 
dass die Gedichte, deren Stoff dem Älterthum entlehnt ist, 
schon ganz und gar von dem Geiste des folgenden Zeitfaches 
durchdrungen sind. Sie sind als die Vorläufer desselben zu 
betrachten, wie die von Karl und Artur noch die Nachhut 
von der eigentlich romantischen Periode ausmachen. 

Li welcher Reihenfolge diese letzteren erschienen, ist nicht 
au bestimmen: wahrscheinlich geschah es in abwechselnder 
Folge, Da die Bildung allmählig individueller wurde, als es 
früher der FaD sein konnte, so mussten tausenderlei Umstände 
bei verschiedenen Personen, auf den verschiedensten Plätzen, 
die Wahl auf ein Gedicht aus dem einen oder anderen Kreise 
lenken. Der Unterschied der Richtung berührte ohnedies 
nur wenig die Auönerksamkeit eines Geschlechtes, dem dieser 
Unterschied eigenthch stets fremd blieb, und welches jener Poesie 
nur Interesse schenkte, weil und so lange es selbst keine eigentliche 
Literatur besass, der man das Ohr leihen konnte. Die bekannten 
Gedichte wurden also wiederholt abgeschrieben, aber auch neue 
wurden hinzugedichtet oder übersetzt. Und diese neuen Pro- 
dukte der sterbenden Romantik erblickten das Licht unter 
dem doppelten Einflüsse des wenig gebildeten Geschmacks der 
noch nicht vollständig civilisirten Bürger, und des Streites 

11* 



I 



I 



164 IV. Die Ritterpoesic. 

gegen den bürgerlichen Zeitgeist Daher finden wir auf der 
einen Seite Fonnen ohne Leben und innerliche Bedeutung, 
atil' der anderen Seite AeuBserungen eineB ungebildeten, un- 
hilliwehen GcBchmacka. 

^3. Ich verweise auf ein Gedicht , das den Namen tr&gt 
die Wraak ovcr Ragisel, weil diese Thatsache (die 
Kai'li^') wenigstens eine Art Zusammenhang bildet iiir die 
ziisaiiiinengeflickten Theile des Ganzen. Der wilde Inhalt, 
der Mangel an Einheit, die wüste Bomanük, belehren uns 
jeiloed, dasB es dem Verfasser nur darum zu thun war, die 
Neugierde mit wunderbaren Begebenheiten zu kitzeln. Und 
wi'nii wir sehen, welche verächtliche Rolle die Frauen 
darin spielen, wie unfein das rohe Yerhältnias Walewein's 
(der Hauptperson) zu seiner Schönen geschildert ist; wie 
dieser Held selbst die Hofinanieren abgelegt hat, die ihn 
iiiUier zu einem Musterbilde für Andere machten, — so 
kommt man zu der Ueberzeugung, dase die verfeinerte 
Kitterwelt zu leben aufgehört hat, und dass dieses Flick- 
werk für Ohren imd für Herzen bestimmt war, die nur 
einen heftigen Reiz begehrten, 

Jlan kann auch kein günstigeres Urtheil über ein andere» 
Gedicht föllen, dessen Hauptpersonen Walewein und Keye 
sind ; es ist eben so, wie das vorige, der Haagschen Handschrift 
vuu Lancelot interpohrt. 

Auch der Ritter mit dem Aermel erhebt sich nicht 
üher ilie ebengenannten Werke, ebensowenig als der Roman 
vuii Torec. In Beiden belustigt sich die abenteuerlichste 
Phantasie mit einer Anhäufung von Begebenheiten, die nur 
deshalb ausgedacht und unter einander verbunden sind, um 
Erstaunen zu erregen. Auch hier kann von einer Einheit 
keine Sprache sein, ebenso wenig von dichterischer Beschrei- 
bung oder von Geisteaaufschwung. Auch auf Ursprünglichkeit 
kann der Ritter mit 'dem Aermel keinen Anspruch 
niaclicn; denn augenscheinlich hat der Verfasser mehr sein 
Gediu'.htnisB zu Rathe gezogen, als seine Phantasie. Jeden 
Allgellblick stösst man auf Zustände oder Beschreibungen, 
die anderen Werken entlehnt sind; so den Gedichten von Chre- 
stien de Troies, dem Walewein und dem Ferguut. Höchst- 
wahrscheinlich kannte der Dichter diese Werke im Vlämischen; 
er hat also das Gedicht nicht aus dem Französischen übersetzt 



IV. Die Ritterpoesie. 165 

Torec (im Roman von Torec) unternimmt, wie alle Helden 
dieses Cjklua, einen Zog, auf dem er allerlei wildeBegebenheiteii 
«riebt Er bekämpft Kitter, Riesen, Zwerge, Löwen, ja scn)8t 
Geister; er erobert Schlösser, beschirmt unglücfcliclie Jungfrauen, 
und giebt dabei die wunderbarsten Beweise vonMuth, Kraft und 
Outmütliigkeit. Bei Allem unterstützt ihn der geheininissvolle 
Schutz eines Zauberers. Aber dessen Macht ist unzureichend, 
einen Zusammenhang in die vielen Begebenheiten zu l»rin- 
gen, die willkiihrlich auf einander folgen, um den Mutli des 
Helden in den lebhaftesten Farben zu schildern. Es darf 
uns deshalb auch nicht befremden, dass die vielen Persoueut 
welche auf der Bühne erscheinen, nur so lange erwäliut 
werden, bis das Abenteuer vollbracht ist, zu welchem sie, 
meistens noch ohne alle Ursache, die Anleitung gaben. Es ist 
deshalb auch unnöthig, uns bei den verschiedenen Öceuen 
dieses Romans und der beiden vorhergehenden aufzuhalten. 

Ich musB jedoch auf das Hauptstück verweisen, in wel- 
chem Torec in die „camere van wijsheiden" kommt , woselbst 
er über allerlei Gegenstände auf didaktische Weise urtheilen 
hört. Man spricht über die Fehler und Mangel der Fürsten, 
der Quelle so vielen Uebels; über den verbältnisHinässigen 
Werth von feinen Manieren, Milde, Frömmigkeit, Verstand 
und Massigkeit, und spricht die Klage aus, dass diese Tugenden 
verloren gehen; endlich behandelt man die Fragie, ob die 
Liebe von einer Frau oder Jimgfraa vorzuziehen sei. 

Der Klageton über den Geist des Jahrhunderts, über den 
Verfall des Kunstsinnes, über die Nicht- Würdigung der Minne, 
und über den Verlust von Tugend und Tüchtigkeit liisst ims 
sehen, dass wir auf der Schwelle des didaktisch - bürgerlichen 
Zeitfaches stehen, in welcher dergleichen Beschauiuigen nicht 
selten erscheinen. 

84. Wir kommen zu den Karlgedichten. Zuei-st ein kur- 
zes Wort über jiiejenigen, deren niederländischer Text nicht 
bewahrt zu sein scheint: 

Dazu gehört ein Gedicht, ' welches die Gescliichte von 
Karl's Jugend erzählt: Seine Unterdrückung durch die Bruder 
Hoderic und Ranfrut, seine Flucht nach Toledo, seine Liebes- 
gesehichte und seine Hochzeit mit Gaha oder Galicnii, der 
Tochter des maurischen Admirals Galafer. Wir kcnuen von 
diesem Gedichte nur eine niederdeutsche Abschrift, welulic in 



166 IV. Die RitterpoeBie. 

die Compilatioii^ die den Namen £arlmeiiiet trägt, über- 
gc-j;imgen ist; sie macht den erBtea Theil deBselben aus,') 

Ein zweites, in dieselbe Sammlung aufgeaoramenee Gedicht'). 
Willi ischeinlich nach einem niederländischen Texte abgeschrie- 
Ijeii, ei-zählt die Beschuldigung, welche ein gewisser Graf 
Kiiliiirt^ g^g^Q <li€ Königin aufbringt, daea sie nehmlich mit 
(leiii lütter Morant de la Rivi^re in unerlaubter Verbindung 
ätthi^. Karl war schon im Begriff, seine Gemahlin mit dem 
FeiiL-rtode zu bestrafen, als Rohart in einem richterlichen 
Zwiikampfe von Morant besiegt wurde, also Galienes Unschuld 
!Ln ilcn Tag kam. 

Die in diesem Gedichte behandelte Sage ist, ihrem Haupt- 
^'eilauken nach, dieselbe, welche auch eine französische Chanson. 
de gcste ausmacht, die ins Niederländische übersetzt ist, und 
Königin Sibille*) heisst. Der mittelniederländische Text 
ist verloren gegangen, wurde aber in «nem Prosa- Volksbuch 
bearbeitet, von dem uns Ferdinand Wolf berichtet.*) Die Ge- 
schichte kommt in ihren allgemeinen Zügen beinahe ganz mit 
der so eben erwähnten überein ; jedoch mit dem Unterschiede,. 
ilass der Verräther, der hier Macharis heisst, im Zweikampfe 
uiclit durch den Beschützer der Kfinigin, Auberijn van Mon- 
ilisit-r, besiegt wird, sondern durch seineu Hund, der da» 
Schilmenstück ans Licht gebracht hat. Auberijn ist schon 
veriiitlierisch von Malachis ermordet worden. 

Diese Sage wurde in Frankreich wiederholt besungenr 
im zwölften Jahrhundert in einem . Gedichte mit zehnsilbigen 

't Siehe die Ausgabe von Ad. von Keller, 8. 1—326. 

') Ebendaaelbst, S. 326—^51. Siehe auch über den Ursprung des 
Knilmeinet meinen Carel ende Elegast, S. 172-177. 

'i DaBB mit Galiene und Sibille dieselbe PerBOn gemeint-iat, beweist 
die tiuä derselben Quelle stammende QraD coDquieta de Ultramar, 
ivek'be ausdrücklich sagt, daes Galiene bei ihrer Taufe jenen zweiten. 
NümOD empfing: „porque despuea que tomö christiana ^ la Infsnte 6 \& 
piisü per nombre Scbilla." " 

'. Man lese darüber seine Abhandlung Ueber die beiden wie- 
dcrsiufgefundenen Niederländischen Volksbücher von der' 
Königin Sibille und von Hüon von Bordeaui, bCBOnderer Ab- 
druck auB dem achten Theil der DenkBchriften der Kaiserlichen Aks- 
dcrait der Wissenschaften zu Wien, S. 8 und folgende, 

Siehe daselbst den Inhalt des Gedichtes, im ZuBammenhang mit 
seinem früheren Werke: Ueber die Leistungen der Franzoseo 
u. B. w. 8. 135-155. 



IV, Die Kitterpoesie. 167 

Versen, und ein Jahrhundert später in Alexandrinern, Diese 
letztere Redaction war schon in der ersten Hälfte dea drei- 
zehnten Jahrhunderte in Umlauf, da Alberic de Troie-Fonttiincs, 
der zwischen 12.^9 — 1250 schrieb, aie bereits kannte.'} Die- 
sen Text benutzte der niederländische Bearbeiter, Von der 
Uebersetzung selbst können wir Nichts sagen, da dae Volks- 
buch die Erzählung zu sehr verkürzt hat 

Die Sage von Hugo von Bordeaux, jetzt zumal chuch 
Wieland'e Oberen allgemein bekannt, gab zu einer frun- 
zosischen Chanson de geste Veranlassung, der mau :iLtch bei 
uns zu Lande nachfolgte. Diese Uebersetzung ist iiiolit iür 
uns bewahrt geblieben, aber wir besitzen das Prosa- Volks- 
buch, das sicher eine, wenngleich trockene und diüftifre, 
Bearbeitung derselben ist. Ueberdies bestand auch noeh eine 
sehr abweichende mittelniederländische Bearbeitung dc-sselbcn 
Stofiea, wovon wir noch einzelne Fragmente besitzen, Herr 
de Wind hat dieselben für die Leidscbe MaatachappiJ hf.r:ii.i.^- 
gegeben. *) Ferdinand Wolf schien das französlsclie GedicJit, 
nach welchem diese Bearbeitung übersetzt ist, fiir iilter zu 
halten als den bekannten, jetzt veroffentHchten Text. Gründe 
dafiir sind ihm, weil Oanelon eine Rolle darin spielt, nnd weil 
ferner Personen darin vorkommen, welche in der an<UTu Hc- 
daction nicht genannt sind. Er glaubte deshalb, da^ä das 
>:>tück aus einer Zeit stamme, in welcher die Sage noch inuigt^r 
mit dem Karlcyklus verbunden, und in ihren Besonder- 
heiten noch genauer bekannt war. *) Ich sehe darin lieber 
das Zeichen einer jüngeren Bearbeitung, und stiniuie iu die- 
ser Hinsicht mit der Meinungder französischen Her aiisge her d<:s 
Gedichtes überein. Doch halte ich nicht, wie sie es thiui, l'iii- 
annehmbar, dass die Abweichungen erst durch den niederliindi- 
schen Bearbeiter in die Erzählung gebracht worden sind. ■■) 

') Vergleiche meinen Carel ende Elegaat, S.142— MH DieHe- 
daction in zehne ilbi gen Versen ist unter dem Titel M n c aire von Gueseard 
herausgegeben, in der Sammlung, die unter den allgemeinen Titel „Les 
Anciens poetes de 1a France" erscheint. Daaelbet finden sicli uuch die 
Fragmente der Barbeitung in Aleiandriuem, welche Keiffenberg zuerst 
veröffentlichte. S. 307 und folgende. 

") Nieuwe Heeks van Werken, V, 271. Dass die Fragaiciito liier in 
unrichtiger Keihenfolge abgedruckt sind, fällt sogleich ins Aiif;e. 

') Ueber zwei Niederländische Volksbücher, S. 21. 

') Siehe pag. X der Pr^face der Herren G-ueasard tuid Grand in aiaon 
vor ihrer Ausgabe der Ajiciens poetes de la France. 



168 IV. Die Ritterpoesie. 

Sprache und Styl geben uns keine grosse Idee von dem litera- 
rischen Werthe dieses Werkes, flas die deutlichsten Spuren von 
dem Zeitraum des Verfalls der ritterlichen Epik in sich trägt. 

Wenn . wir auch keine vollständigen Karlgedichte aus 
jener Periode besitzen, so kennen wir doch noch verschiedene 
Bruchstücke, welche den Beweis ihrer Existenz liefern. Ich 
werde sie hauptsächlich nur pro memoria aufzählen: 

Die Fragmente aus dem Ogier von Ardennen, deren wir schon 
erwähnten (S.99) und welche ganz gewiss dieserPeriode zugehören. 

Ein Fragment, in welchem ein gewisser Verräther Laidoen 
die Hauptrolle spielt; man weiss nicht, welchem Gedichte es 
angehört. ^) 

Das Fragment eines Gedichtes, welches zufolge der darin 
vorkommenden Namen (Habigant, Vauclere) der Sage von 
Doon de Mayence zugehört. ^) 

Fragmente einer Uebersetzung des schönen Gedichtes 
von Aubry le Bourgoing, ^) von dem AioH); ebenso 
von einer Nachahmung 'der Chanson de Floovant.*) 

Weiter zwei Bruchstücke einer Uebersetzung des Geraert 
van Viane, die Bilderdijk veröfltentlichte. ^) Es scheint, dass 
der niederländische Bearbeiter einen anderen Text vor sich hatte, 
als den Immanuel Bekker und Tarb^ herausgegeben haben. 

85. Zu dieser Periode gehört noch ein Gedicht, das beson- 
dere Erwähnung verdient. Ich meine dasjenige, T^rin die in 



^) Abgedruckt im Belgischen Museum von 1843, S. 441. 

*) Ausgegeben von Blommaert im V. Theile der Annales du 
Comitäflamandde France. Es wäre zu überlegen, ob zu diesem Werke 
nicht ein Fragment gehört, welches durch Borxnann's bekannt gemacht 
wurde, und das wir unter dem Titel „Saksenkrijg", S. 118, erwähnten. 

^) Ausgegeben durch van den Bergh in den N. ß. van Werken der 
Maatsch. van Ned. Letterk VII. S. 129. 

*) Veröflfentlicht von Professor Deycks und abgedruckt in seinem 
„Carminum epic Germ. saec. XIII et XIV fragmenta", S. 32 
unter dem wenig richtigen Titel Ma karis. Ein anderes kurzes Fragment 
theilte Bormann*s mit. Siehe die Di.etsche Warande von 1865, wo 
Alles mit einer Inhaltsübersicht wieder abgedruckt ist. 

Gehören zu dem Aiol auch die Fragmente, die man in der If. R. 
van Werken der Leidsche Maatschappig , VII, 1, S. 143 und folgende, 
und die in Serrures Vaderl. Museum, I, S. 431 abgedruckt findet? 

'^) Mitgetheilt von ELarl BaHsch in Pfeiffers Germania IX, 405. 

*; Im IV. Theile seiner Verscheidenheden. Unrichtig wird das Werk, 
zu dem die Fragmente gehören, Garijn van Montglaive genannt. 



'iri'-> .- 



IV. Die Ritterpoesie. 169 

Niederland lange einheimische und sehr geliebte Sage der 
Haimonskinder besungen wird, und das nach den vier Brü- 
dern, oder auch, den hervorragendsten derselben Reinout 
van Montalbaan, genannt wird. 

Die Ueberlieferung ist uralt, und entstand in derselben 
Gegend und in derselben Zeit, in welcher auch der andere 
niederländische Held, Ogier von Ardennen, zuerst besungen 
wurde. Innerhalb der niederländischen Grenzen scheint sich 
jedoch die Sage nicht zum epischen Gedicht entwickelt zu ha- 
ben; erst nach einer Auswanderung von einigen Jahrhunder- 
ten, nachdem sie unter den Händen der französischen Jong- 
leurs umgebildet und ausgebreitet war , kam sie in modemer 
Form auch hier wieder in Umlauf. 

In Frankreich hatte die Sage augenscheinlich grossen 
Erfolg gehabt, so dass eine nördliche und eine südliche Re- 
daction des Gedichtes entstanden war. Diese wurden später 
auf wenig verständige Weise verschmolzen, so dass eigent- 
lich alle Begebenheiten zweimal erzählt werden. Einmal 
fallen sie im Ardennerwald, einmal in Südfrankreich vor. Auch 
in Niederland war und blieb die Sage geliebt, und als das 
französische Gedicht hier im dreizehnten Jahrhunderte über- 
setzt wurde, machte es wahrscheinlich gerade darum so viel 
Aufeehen, weil es sich auf die noch nicht in Vergessen- 
heit gerathene Volksüberlieferung stützte. Es besang Helden, 
welche die Sympathie des ganzen Volkes besassen. Die 
Ueberlieferung war nicht nur in Süd-Niederland populär, wie 
aus den Alterthümern mancher Orte ersichtlich ist, sondern das 
Interesse ftir die Haimonskinder war auch im Norden nicht 
weniger gross. Das tapferste Rittergeschlecht HoUand's, 
derer von Arkel, knüpfte seine eigene Geschichte an das 
Haus Haimon's von Dardanien. 

Gerade um dieser allgemeinen Berühmtheit willen, welche 
den Namen der Helden bis auf den heutigen Tag in unserem 
Munde fortleben lässt, hätte ich gewünscht, den Inhalt des Gedich- 
tes in der Kürze mittheilen zu können. Mein beschränkter Raum 
gestattet dies jedoch nicht. ^) Ich erwähne deshalb nur, dass die 
vier Söhne von Haimijn oder Haimo (die Haimonskinder) 

*) Ich verweise auf meine Geschichte der mnl. Dichtkunst 
11, S. 332 und folgende, oder nach Alberdingk Thijm*s „Karoling- 
sehe Verbalen", S. 61—292. 



170 IV. Die EitterpoöBie. 

Ritsart, Adelart, Writsart und Reinout vom Hofe des Königs 
verbannt, und von iLrem eigenen Vater Verstössen sind. Sie 
beginnen den Kampf gegen ihre Unterdrücker, und werden 
(lariii von dem beinahe menschlichen Verstand besitzen- 
den Pferde Beyard imterstützt, welches die vier Brüder auf 
seinem Rücken trug, und sie mehr als einmal der Gefahr ent^ 
riä9. Denn sie waren bei ihrem Umherschwärmen so verarmt, 
daäs sie ihre übrigen Pferde hatten aufzehren müssen, um 
nicht vor Hunger zu sterben. 

Beweist die ganze Anlage des Gedichtes, sowie manche 
raiilie Scene, dass es in frühster Zeit verfasst wurde, so finden 
wir ;uich in demselben vielerlei Hinweise von Umarbeitungen 
in Kpiltcrer Zeit. So gehört z. B. zu den Personen, welche 
den llrüdern Hülfe verleihen, auch ihr Neffe, der Ritter und 
Ziiiilirrer Malagis, der unter Anderen auch die Macht be- 
sitzt, die Gestalt von Menschen und Thieren zu verändern. 
Verrichtet er aber auch di^elben Wunder, welche man frü- 
Ikt dtmEinflusse geheimnissvoller Mächte zuschrieb, so ist doch 
seine Macht die Folge seiner Wissenschaft, seiner Kenntniss 
der Kräuter und Steine. Ist diese Vorstellung nicht deutlich 
der jViisfluss einer Entwickelung, welche Geistesgaben, Verstand 
und Studium schon hoch stellte? Wie ganz anders ist dies in 
den Gedichten, die noch den älteren Geist athnien ! Im Wale- 
w e i 11 z. B. verwandelt sich der König Wunder auch in aller- 
lei Gestalten; aber dies Vermögen ist bei ihm eine wunder- 
tliJitige Kraft, nicht die Folge von Naturstudien. 

Wir können die Zeit der Entstehung dieser Uebersetzung 
wenigstens annähernd feststellen. Man rechnet die jüngste 
französische Redaction aus dem Anfange des dreizehnten Jahr- 
hundei-ts. In den Niederlanden war das Gedicht schon vor 
1242 bekannt, da Philipp Mousk^s, der iranzösische Chronist, 
CS als sehr bekannt und beliebt bezeichnet. In niederländi- 
ücLcni Kleide wird es nicht viel später erschienen sein, da 
Maerlant wiederholt von den Haimonskindern erzählt, 
dereu Geschichte er gelesen hatte. Zwischen 1240 bis 
1280 wird also wohl der Zeitpunkt der Uebersetzung liegen. 
Und nian muss zugestehen, dass das Gedicht in vollster Har- 
uioiuL' mit dem gesellschaftlichen Zustand jener Tage steht: 
voll Anarchie, Verwirrung, Kaubsucht und der Nothwendig- 
keit, !iuf Selbstvertheidigung bedacht zu sein. Man bedenke 



IV. Die Ritterpoesie. 171 

nur, wie noch Herzog Johann von Brabant einen Feldzug^ 
gegen die kecken Raubritter, welche die Wege unsicher mach- 
ten, unternahm. 

86. Der ungebändigtere Ton, der rohere Inhalt diesea 
Werkes und der Karlgedichte, die im vorhergehenden Para- 
graphen erwähnt wurden, ist in Verbindung mit dem ange- 
deuteten, wissenschaftlichen Elemente ein Fingerzeig für die 
Zeit, in welcher diese Werke hier zu Lande entstanden. Wäh- 
rend die ritterliche Bildung diese rauhen Sitten aus ihrer 
Literatur ferne hielt, und also die Schilderungen aus der 
Earlsage mehr in den Hintergrund traten, sehen wir sie hier 
aufs Neue mit Vorliebe behandelt. Nicht selten durchdringt 
ihr Geist auch die Gedichte, die einem ganz anderen Ideen^ 
kreise entlehnt sind. Die Helden werden wieder plump und 
roh, der Galanterie und kränklichen Empfindsamkeit, welche 
der ritterlichen Dichtkunst eigen ist, wieder ganz entfremdet- 
Man spricht jetzt nicht mehr von Liebe , und beinahe jede& 
sanftere Gefühl ist aus der Brust der Helden geflohen. Sie 
hat nur Baum für Blutdurst und Rache. Von der Ehrfurcht 
für die heiligen Einrichtungen der Ritterschaft ist keine Spur 
mehr zu finden; das demokratische Element fangt im Gegen- 
theil an, sich geltend zu machen, ohne Scheu vor dem Nim- 
bus, der einst das königliche Haupt umgab, oder vor AUem^ 
was der Ritter früher heilig hielt. Augenscheinlich ist das 
Publikum, für welches jene Gedichte geschrieben sind, ganz, 
verschieden von demjenigen, welches an den Höfen und in 
den adligen Schlössern dem ritterlichen Sänger williges Gehör 
lieh. Wenn man den Styl jener Dichtungen betrachtet, und 
den vollkommnen Mangel an Zartheit, der sie stets charak- 
terisirt, so wird man diesem Publikum wohl kein Unrecht 
thun, wenn man es sich als eine bunte Reihe von sich 
emancipirenden Bauern und Stadtbewohnern vorstellt. Es war 
der durch Mangel an Geschmack, durch entfesselte Leiden- 
schaft' sich auszeichnende, jüngere Kern eines Volkes, das in 
eine neue Phase eintrat, und sich seiner ungekannten Kraft spie- 
lend bewusst wurde ; wie Alberdingk Thijm es mit Recht nannte. 

Der literarische Werth dieser Gedichte, namentlich der H a i -^ 
monskinder, ist nicht hoch anzuschlagen : der Styl ist matt,, 
kunstlos und ungebildet. Während der Nachfolger sein Vorbild 
so treu wie möglich kopirt, zeigt er sich weder als Meister 



173 IV. Die Ritteipoeaie, 

der Sprache, noch der Technik. Seine Ausdrücke sind oft 
verworren und unklar, und wegen des Reimes musa er oft 
zw Flickworten oder sehr unpassenden Adjectiven seine Zu- 
flmlit nehmen. Wenn er sich gar nicht zu helfen weis», 
i)lui^ er zu fluchen, und )>ei Allem, was heilig ist, zu schwören 
Uli, um nur einen Reim zu finden. 

Glücklicherweise hat mancher Stoff so viel Anziehendes, 
dasü er niemals ganz imd gar zu Grunde gerichtet werden 
kaim, welche Hände ihn auch bearbeiten mögen. Dies ist 
jiiich der Schutzgeist der Haimonskinder : und bis auf den 
heutigen Tag leben dieselben in der Volksbibliothek fort. ' 

Ehe wir noch ein Wort über die Erhaltung der Ritter- 
gf-(!ichte in den sogenannten Volksbüchern sagen, müssen wir 
einem Werke noch kurze Auftnerksamkeit schenken, das den 
Namen Malagis führt. Wir sahen den Helden schon eine 
Kollc in den Haimonskindern spielen. 

Im Malagis treten wieder einzelne Figuren des ersten 
Gedichtes auf; auch das Wunderpferd Beyard, dessen Urspnmg 
und Natur hier näher erklärt wird. Den Hauptinhalt bilden 
Miiiagis' Zauberkünste (die nicht selten bis zu der Belebung 
iiiiil darauf folgenden Todesbeschwörung eines gebratenen 
Kaiiaunen herabsinken). Femer berichtet er von den Hexereien 
Hr.i Zwerges Spiet, der auch die Gabe besass, sich unsichtbar 
XU machen. 

Der Malagis trägt noch deutUcher den Stempel seiner 
Zoit, als die Haimonskinder: sowohl die Form, als der 
Inhalt sind mit der echten Ritterpoesie im Widerspruche. Der 
Tun ist meistens iröhlich und spöttisch, imd der uns daraus 
ciitfi^egenwehende Geist bezeichnet sehr deutlich den zuneh- 
lurnden EinduBs des bürgerlichen Elementes. Denn die Idee, 
dusn der Verstand über die rohe Kraft triumphire, dass intel- 
lektuelle Macht der materiellen (Jewalt vorzuziehen sei, — 
dit^ae Idee, rein bürgerlicher Natur, steht hier überall im Vor- 
dovt^unde. Wenn eine ähnliche Richtung sich früher einmal 
iu einem Rittergedichte offenbarte, so geschah dies nur durch 
Betrachtungen und Ralssonements, wie z. B. im Moriaan; auf 
die Handlung hatte es keinen Ei näuss. Nach und nach wurde 
dii' intellektuelle Entwickelung der Helden eine Hauptsache. 
Ritterliche Thaten sind dem Dichter des Malagis ziemlich 
gleiehgiltig ; dagegen werden die Zauberkünste seines Helden 



IV. Die Kitt«rpoeBie. 173 

mit der grösBten Ausfükrliclikeit und in Öfterer Wiederlidhing 
geBchildert. Diese Künste sind nicht Folge einer dämoniachc-n 
Macht, sie sind durch Büclierstudium erlernt Aber aiali in 
diesen Zaubereien bemerkt man die grösste Bohheit: als Spiet 
mit Malagis im Darstellen von Kunststücken wetteiiert, 
werden die unanständigsten Dinge mit sichtlicher Vorliebe 
ausgeführt. Der begleitende Scherz ist Ubermüth^ und roh. 

Die Uebersetzung , von welcher noch einzeln« Fragmente 
bewahrt sind, ist wahrscheinlich nicht älter, als aus den letz- 
ten Jahren des dreizehnten Jahrhunderts. Eine gewisse Ge- 
wandtheit in der Behandlung der Sprache und des Beim<js ist 
derselben nicht abzusprechen; aber doch trägt der Styl das 
Zeichen des Verfalles in sich. Aus diesem Grunde ist das 
hohe Lob, welches dem Gedichte von mancher Seite auertheilt 
wurde, eine Ueberachätzung. 

87, Mit der Ritterwelt mus naturlich auch ihr Aus- 
druck, ihre Literatur, verschwinden; sie wird durch bürger- 
liche Schriften ersetzt, die einen wissenschaftlicheren Geist 
athmen. Die alte Poesie wurde übrigens von der neuen Richtung 
nicht ganz vernichtet. Da, wo ihr Inhalt wirklich die Herzens- 
saiten der niederländischen Zuhörer gerührt hatte, konnte 
ihr Klang nicht ganz ersterben; um so weniger, als die Di- 
daktik dem Gefühle und der Phantasie gar keine Nahrung 
bot Und Beide verlangten doch selbst in den Tagen der 
kräftigsten Eeaction ihr volles, gutes Recht.. Daher lebten 
die poetischen Erzählungen länger fort, als man vielleiuht 
glauben sollte; wenn aber auch der Inhalt bei einer gewisstii 
Klasse in Ansehen blieb, so wurde doch die Form nach und 
nach verändert. 

Als mit der mehr wissenschaftlichen Richtung der Zeit 
die Prosa den gebundenen Styl verdrängte, wurden mcluere 
dieser poetischen Erzählungen von den Fesseln des Reims 
befreit Dieselben Epopöen, welche in Versen schon IrühLr 
das Gemüth des eben erblühenden Ritterstandes gerührt, 
und später die Phantasie der sieh noch nicht vollkomnieu bc- 
wusBten, kräftigen Bürgerschaft erregt hatten, bÜebiii !ils 
Prosavolksbücher die LiebHngslektüre des grossen li:iu- 
fens. Noch später, als das Niveau der allgemeinen Entivii-ke- 
lung höher gestiegen war, degradirten sie bis zur sogenannten 
Blauen Bibliothek. 



I 



174 IV. We Bilterpoesie 

Da.sn eich aber nicht jede Sdidpfung der mittelalterlichen 
Kunst erhielt, versteht sieh von ßelbst; denn wer begreift 
nicht, da»9 die Erzeugnisse aus dar Blütfaezeit der Ritterpoesie 
mit ihreu conventionellen B^riffen dazu ganz and gar nicht 
geeignet waren? Nur menschliche Leidenschaften konnten auf 
die DaiKir die Sympathie der grossen Masse erwerben; und 
diese, die weniger civilisirte, behielt auch mehr ^nn für die 
ranhon Helden der Earlssage. 

Ind'^äsen mnssten die traditionellen Ueberbleibsel der 
trüberen Literatur einen immer kleineren und ungebildeteren 
Kreb von Anhängern behalten. Dies stand im Verhalt- 
nisä zu der sich entwickelnden Bildung und dem nach und 
nach steigenden Eulturzustande der Gesellschaft; es lag auch 
in der Natur der Dinge selbst Der Charakter dieser Volks- 
<;rzählun<;eii musste deshalb auch einen bestimmten Stempel 
tragen. £a wird uns also nicht verwundern, dass die Schlacht 
bei Rniicesvalles, der Scbwanenritter, Hüon von 
Bordeaux and noch einige dieser Art, bis auf den heutigen 
Tag fortlebten, ohne viel von ihrer ursprünglichen Färbnng 
verlwreu zu haben. In erster Linie beweist dies die Volks- 
dichtaufi Reinaert. 

Die Qedichte des bretonischen SagenkreiseB dagegen 
überlebten das Mittelalter nicht; wenn auch ein einzelnes eine 
Aiisnahnje davon macht, so hat es doch seinen ursprünglichen 
Adel verloren. Wir müssen uns fasst Gewalt anthun, um in 
den Mährchen von „Dem treuen Fuchs" in der„Nieuwe 
Moedci- de Gans" noch den gefeierten Roman Walewein 
zu erkennen. Und dabei ist noch zu bedenken, dass hier von 
keinem eigentlichen Fortleben im Volke die Rede sein kann, 
denn diese Erzählungen fiir die Einderstube sind nicht auf 
dem Felde fortlebender Tradition gepflückt. Sie scheinen 
vieltnijlu' aus einer todten Vergangenheit hervorgezogen zu 
eeiii, um jämmerlich entstellt -und verstümmelt zu werdetL 



V. 

Die geistliche Poesie. 



8tS. Der Mensch hat nicht allein materielle InterCBöeu , i>r 
l^hlt anch das Bedürfniss nach anderem Genuese, als ikr 
weltliche bietet. Die Erfahrung aller Völker zeigt dies auch aul' 
literarischem Gebiete; und neben der weltlichen blüht auch 
die geistliche Poesie. Wir sahen bereits (S. 37) wit- die 
deutBche Geistlichkeit sich schon sehr früh dieaes Feldes bt- 
mächtigte, und wie später die Kreuzzüge Europa mit tinvr 
Fluth von Legeuden überströmten. Es ist hier der geeifjactc 
Platz, einen näheren Blick auf dieBen Zweig der Lilpiatur 
zu werfea. 

In den frühesten Zeiten hatte die GeistUchkeit nicht ge- 
zögert, auch weltliche Gegenstände zu besingen. Aber loui 
Augenblicke an, als sich die Poesie in der ritterlichen Siiliäre 
bewegte, als sie von Ehre und Liebe sang, als sich die Eiiih:iii- 
tik vollkommen entwickelt hatte, musste die Geistlichkeit ;nit' 
diesem Felde den Wettkampf mit den weltlichen Sängern aul- 
geben. Aber doch schwieg auch in der Kunst ihre ötimnic 
nie ganz. Niemals war der Einfluss der Kirche so gross als 
damals; aber nimmer machte sie auch von so vielfachen I^Iit- 
teln Gebrauch, diesen Einfluss auszubreiten. 

Sie wirkte nicht allein durch Predigt und kirch liehe 
Zucht auf die Gemüther; sie hat auch niemals verschmüht, 
in der geweihten Kunst selbst ein Gleichgewicht gegen die- 
Verlockungen der Welt zu suchen. Was Otfrid unternahm, 
verBuchten auch die späteren Legendendichter; die geistliibe 
Poesie trat gegen die höflsche Kunst auf den Kampiplatz. 

Und wie viel gab es nicht, das zum Kampfe hernus- 
lockte! Nicht jede Phantasie wurde durch die Scenen ulicu- 



t 



l76 V. Die geistliche Poesie, 

teuerlichen Muthes und sinnlicher liebe befriedigt, zumal 
nicht, als die Bildung auch die Unadligen durchdrang. Wenn 
man überdies weiss, dass die conventionelle, ritterliche Bil- 
dung nur eine äusserliche war, die das Herz meistens kalt 
und leer liess, und keinen festen Anhaltspunkt für praktische 
Sittlichkeit darbot; wenn man ferner bedenkt, dass bei allem 
vcrtVintTten Wohlstände das Laster nicht abnahm, und die 
Zalil dir Greuelthaten sich nicht verminderte: so wird man es 
niiiit wimderbar finden, dass die Poesie, im Hinblick auf die 
Ziikunl't der Christenheit, sich das Busskleid der Ascetik mn- 
binp, und sich in die Nebelschleier der Mystik hüllte. Dieser 
Tfin fand einen Widerhall in vielen Herzen; denn das ge- 
üngstL^te Gewissen beugte manches Haupt vor dem Kreuze, 
welches dem bereuenden Sünder als Symbol von Gnade und 
Sündenvergebung angeboten wurde. Man lauschte den Ge- 
säugen, wenn sie auch von geringerem Werthe, aber viel 
mächtigeren Helden gewidmet waren, als von denen die Hin- 
atrcls zu erzählen wuseten. 

Wir sahen bereits früher, wie das Geluhl der Sünden- 
schuld sich schon bald in den gesellschaftlichen Zuständen 
äusserte; es fand aber ebenfalls in der Literatur seineu 
Ausdruck. Der Geist, der die Pilger schon vor dem ersten 
Kreuzzuge nach dem heiligen Lande trieb, spiegelt sich am 
Besten in der Heiligenlegende. Was sie auch in dem wun- 
derbaren Orient sahen, sie fühlten sich doch am Meisten an- 
gezogen durch die wundervollen Erzählungen von Heiligen 
und Märtyrern, in deren Fussstapfen Viele der Pilger wandel- 
ten. Die Priester und Gelehrten unter ihnen nahmen die von 
fremden Glaubens brüdern berichteten Legenden begierig in 
sich auf; und bald verbreiteten sich durch ihre Vermittlung 
die geweihten Sagen aus den verschiedensten Himmelsgegen- 
den, aus Osten und Westen stammend, über ganz Europa; 
sowohl die vom indischen Königssohne Josaphat, als die des 
irischen Heiligen Brandanus. Die Verbreitung hatte zuerst 
in der Kirchensprache statt; aber bald drangen diese Legen- 
den auch aus dem Kloster heraus und gingen in die Volks- 
sprache über. Und welchen Erfolg sie hatten, beweist die un- 
iieniibaie Zahl von Heiligengeschichten und Wundermähren, 
die mehrere Jahrhunderte lang in allen Theilen Europa's ver- 
laest wurden. 



V. Die geistliche Poesie. 177 

Die Legende vom 'heiligen Brandanus ist eine der son- 
derbarsten, und in unserer Sprache vielleicht die älteste 
dieser Erzählungen, die mit vollem Recht eine Mönchs-Odyssee 
genannt wird, und ebenso viel heidnische, als christliche Ele- 
mente einschliesst. Die Geschichte ist folgende: 

An der Spitze eines reichen, irischen Klosters stand ein 
heiliger Mann, der Brandanus hiess. Bei seinem Durst nach 
Gelehrsamkeit fiel ihm ein Buch in die Hand, in welchem alle 
Wunder der Schöpfung aufgezeichnet waren , aber so fremd- 
artig und sonderbar, dass er sie nicht glauben konnte, wenn 
er sie nicht mit eigenen Augen sähe. In seiner Entrüstung 
wirft er die Schrift ins Feuer und flucht dem Schreiber dieser 
Lügen. Noch flammte das wunderverkündende Buch, als dem 
Abte ein Engel erschien, der ihm Gottes Zorn über seinen 
Unglauben mittheilte, und ihm zur Strafe auferlegte: er solle 
die Gefahren einer Seereise bestehen, um mit eigenen Augen 
zusehen, was ihm so unglaublich erschienen; diese Wunder 
solle er dann beschreiben. 

Auf dieser Eeise hat er nun allerlei Abenteuer zu erleben^ 
die einmal an die Schicksale des Odysseus oder Sindbad des 
Seemanns erinnern, anderntheils mit druidischer oder christ- 
licher Mystik zusammenhängen, oder auch der Nachhall von 
den Wunderberichten sind, die kühne Reisende von fernen 
Meerfahrten mitgebracht hatten. So landet er z. B. an einer 
Insel, wo Alles von Gold und Karfimkelsteinen schimmert, 
und deren Herrlichkeit man in einem Jahre nicht beschreiben 
kann; so erhält er die Gabe, den Himmel und die HöUe ge- 
öffnet zu sehen. 

Endlich kommt er nach einer Irrfahrt von neun Jahren 
wieder nach Hause. Der Heilige legt das Buch, in welchem 
er alle erlebten Wunder aufgezeichnet, am Altar der heiligen 
Jungfrau nieder, liest noch einmal die Messe, und giebt seinen 
Geist auf, den St. Michael gen Himmel trägt. 

Ein sonderbareres Gemisch aller möglichen Begeben- 
heiten, an sich selbst von wenig innerem Werthe, ist kaum 
zu finden, und schwerlich kann ich denen beistimmen, die 
hier eine Symbolik vermuthen, deren Schlüssel für uns ver- 
loren sei. Wenn eine kranke Einbildungskraft allerlei un- 
gleichartige Blosterschwätzereien zusammenliest, wenn ein 

Jonckbloet's OeBchicbte der Niederländischen Literatur. Band I. 12 



178 V. Die geistliche Poesie. 

Mönch die Erinnerungen seiner heidnischen Jugend mit den 
unförmlichsten Schattenbildern der Klostertradition, und den 
halb verstandenen , verwirrten Gerüchten von einer unbekann- 
ten Welt vermischt — kann man nicht günstiger urtheilen, 
als die BoUandisten , die diesen Zug imter die deliramenta 
apocrypha verwiesen. 

Brandanus hat indessen wirklich existirt. Er war im 
sechsten Jahrhundert Abt eines Klosters in Galloway, und 
scheint nach einer Seereise ein Buch geschrieben zu haben, 
das den Titel de fortunatis insuiis führte. Wie die ihn 
betreffende Sage mit der Zeit immer wunderbarer wurde, 
wird deutlich, wenn man die lateinische Legende, die älter ist, 
als vom elften Jahrhunderte, zu Eathe zieht. Da heisst es, 
dass er von einem gewissen Abte Barintus vernahm, wie die- 
ser das verheissene Land, das Paradies betreten habe, wo sich 
nach dem jüngsten Tage die Seligen aufhalten werden. Es 
sei eine Lisel, die durch einen dichten Nebel jedem mensch- 
lichen Auge entrückt werde, wo ewiger Frühling herrsche, wo 
die köstlichsten Gewächse blühen, und Gold und Edelsteine in 
Ueberfluss gefanden werden. Dieses Land wünschte auch 
Brandanus zu schauen: nach einer Irrfahrt von sieben Jah- 
ren findet er es wirklich und kehrt darauf zurück. 

Ersichtlich ist hier die Rede von einem jener früheren 
Züge nach einer neuen Welt, welche lange vor Columbus von 
einzelnen kühnen Reisenden entdeckt, aber auch wieder ver- 
loren gegangen war. Ein Mönch machte aus diesem Wunder- 
lande das gelobte Land, zeichnete dazu seine heidnischen Er- 
innerungen auf, brachte dies Alles mit christlichen Kloster- 
legenden in Verbindung, und schuf so ein Ganzes, das zur 
Verherrlichung des Schöpfers aller Dinge, und zur Aneiferung 
zum demüthigen Glauben dienen musste. 

Dass das mnl. Gedicht zu den ältesten gehört, die wir 
besitzen, wenn es auch schwer hält, nur annähernd die rich- 
tige Zeit seines Ursprungs anzugeben, wird deutlich aus den 
vielen assonirenden Reimen und den vielen veralteten Wor- 
ten, die darin vorkommen, und die von einem Abschreiber aus 
dem vierzehnten Jahrhimderte, in einer zweiten Handschrift 
meistens durch reinere und verständlichere ersetzt wurden. ^) 



^) Maerlant, der im siebenten Buche seines Alexander*s Vs. 1747 



V. Die geistliche Poesie. 179 

Zumal aus den Reimworten kann man ableiten^ dass die- 
ses Gedieht nach einem hochdeutschen Vorbilde bearbeitet ist. 

Während wir uns im heil. Brandanus noch halb und halb 
auf dem Gebiete heidnischen Alterthums bewegen, betreten 
wir mit der Christuslegende vollständig den mittelalterlichen 
Boden. 

Wie die weltliche Kunst in Karl und Artur den Mittel- 
punkt für einen ganzen Sagenkreis fand, so hatte die fromme 
Poesie in Christus ihren Helden. Um ihn schaarteü sich 
bald in breiter Reihe die Heiligen und Märtyrer, welche mit 
•ebenso viel Begeisterung gefeiert wurden, als Roland oder 
Walewein. 

Christus, der Mittler zwischen Gott und der Menschheit, 
der Ueberwinder von Tod und Hölle, musste gerade in dieser 
Eigenschaft die Aufinerksamkeit des schwachen und sündigen 
-Geschlechtes auf sich ziehen. Als solchen sehen wir ihn denn 
auch in einem Gedichte dargestellt, mit dem wir uns jetzt 
beschäftigen müssen. 

Dieses Gedicht hat den Titel Vanden levene ons 
Heren, und umfasst die Erzählung von dem Leben, dem 
Sterben und der Auferstehung des Erlösers. Der Dichter hat 
einer an sich selbst unästhetischen Lebensbeschreibung einen 
grossen Grad von dichterischer Einheit zu geben gewusst. 
Diese Einheit ist die Erlösung der Menschen: das ist der 
eigentliche Hauptpunkt, der in einer sehr dichterischen Be- 
schreibung von der Erlösung der bis jetzt zu den Schreck- 
nissen der Hölle Verdammten gegeben wird. Dies bildet den 
Hauptgegenstand des Gedichtes, das mit den üppigsten Far- 
ben in echt epischer Gluth gemalt ist. 

Schon der Anfang bereitet darauf vor. Da alle Menschen 
in Folge von Adam's Sündenfall zur Hölle verwiesen waren, 
beschloss endUch Gott, diesem Fluche ein Ende zu machen, 
indem er selbst Menschengestalt annahm, und sich aufopferte. 
Er sendet den Engel Gabriel zu der Jungfrau Maria, um ihr 
anzukündigen, dass er wollte „van hare geboren sijn." Dann 
folgt die Erzählung der Empföngniss und der Geburt mit un- 



und flg. von Brandanas meldet, scheint die lateinische Legende im 
Auge zu haben; aber daraus folgt noch nicht, dass unser Gedicht da- 
mals noch nicht bestand. 

12* 



180 V. Die geistliche Poesie. 

nachahmlicher Naivetät. Die eigentliche Lebensbeschreibung- 
ist nur beschränkt; erst mit der Osterwoche ßlngt die Er- 
zählung an, ausführlicher zu werden. Der Tod des Erlöser» 
gehört zu den vielen gelungenen Parthien des Gedichtes ; aber 
die Niederfahrt zur Hölle ist bei Weitem das beste Bild von 
allen, und kann in mancher Hinsicht wohl die Vergleichung 
mit Dante's berühmter Höllenbeschreibung aushalten. Da bei- 
nahe auf jeder Seite von der Erlösung der in der Hölle 
schmachtenden Seelen gesprochen wird, so setzt diese Be- 
schreibung dem Ganzen die Krone auf. 

Zum Schlüsse wird jedoch noch die Auferstehung und 
Himmelfahrt beschrieben, und endlich eine Schilderung des 
jüngsten Gerichtes gegeben. 

Dieser letzte Theil ist an und für sich nicht übel ge- 
schildert; aber wer nur irgend einen Begriff von epischer 
Kunst hat, muss es beklagen, dass durch diesen Anhang die 
Kunsteinheit zerstört, und das Gedicht zu sehr auf das Gebiet 
der Didaktik geführt wird. Diese Richtung erhält es schon 
durch die mannichfachen, moralischen Betrachtungen und 
Nutzanwendungen, die in die Erzählung verflochten sind. Sie 
scheinen jedoch nur theilweise von dem Dichter herzustam- 
men: die übrigen sind wahrscheinlich aus der Feder eine» 
Abschreibers aus Maerlant's Schule. Derselbe hat auch eine 
Einleitung und einen Schluss dazu gedichtet. 

Das Werk selbst ist aus dem Lateinischen übersetzt. Die 
Reinheit der Sprache, der strenge Ton, der jede poetische 
Zierrath verschmäht, die veralteten Ausdrücke, die Vorliebe,, 
mit welcher dunkele Bilder gemalt sind, — Alles dies zusam- 
men veranlasst uns, diesem Gedichte ein verhältnissmässig 
hohes Alter zuzuschreiben. Später als bis in die erste Hälfte 
des dreizehnten Jahrhunderts kann man es sicher nicht stellen^ 

Hier muss noch mit einem Worte die Legende Van den 
Heute erwähnt werden, welche uns die wunderbare Geschichte 
des Baumes erzählt, aus dem Christi Kreuz geschnitzt worden 
sei. Diese Legende war in ganz Europa sehr beliebt; aber 
obgleich derselben eine gewisse Einheit der Auffassung nicht 
abzusprechen ist, so trägt sie doch in ihrer Bearbeitung zu 
deutlich die Spuren vom Verfalle der Kunst, als dass wir 
länger dabei stillstehen sollten. 

Man schrieb dies Gedicht früher Maerlant zu; eigentlich 



V. Die geiatliche Poesie. 181 

nur, weil sein Name auf dem Titelblatt einer alten Ausgabe 
vorkommen solle; aber Prof. Serrure hat in dem Vader- 
landsch Museum IV, S. 173 u. flg. bewiesen, dass kein 
solcher Druck bekannt ist, und dass der ganze Irrthiun auf 
einer Vermuthung des Verfassers vom Kataloge der Lelonger 
Bibliothek beruht. 

90. Mehr als Christus selbst wurden Heilige und Märtyrer 
gefeiert; besonders die heilige Jungfrau, die man als die beste 
Pürsprecherin bei dem strengen, himmlischen Richter beschaute. 
Dies lässt sich aus der ganzen Richtung des Zeitalters leicht 
erklären. Je nachdem der christliche Geist, der das Ritter- 
wesen ins Leben gerufen hatte, in leere Formen ausartete; 
je nachdem die Kluft zwischen äusserlicher Bildung imd in- 
nerer, sittlicher Entwicklung grösser wurde; und je nachdem 
das lebende Geschlecht nicht nur sündiger, sondern auch 
weichlicher wurde: im selben Masse fand man auch in dem 
Sühnopfef Christi nicht mehr genug Bürgschaft. Es versprach 
ohnehin nur bei Reue und Besserung des Süüders Gnade. 
Darum sah sich die Seelenangst nach anderen Mittlem und 
Fürsprechern bei dem heiligen Richter um, welche näher mit 
der Menschheit verwandt, oder von Natur barmherziger 
waren und die sich dann erbitten Hessen, durch ihre Zwi- 
schenkunft die Schulderlassung zu vermitteln. 

Daher kommt die stets zunehmende Verehrung der Hei- 
ligen und Märtyrer in der Gesellschaft, und ihr lebhafter als 
je blühender Cultus. Daher kommt vor alleif Dingen der 
Alles überflügelnde Mariendienst; daher erscheinen auch in 
der Literatur die vielen Legenden und Heiligengeschichten 
voll Wimder und Ascetik. 

Das Wunder oder Mirakel haben wir hier nicht als Glau- 
bensartikel zu betrachten. Wenn wir nicht übergehen konnten, 
welche gesellschaftlichen Verhältnisse der Verehrung der Heiligen 
und dem Wimderglauben in die Hand gearbeitet, so fügen 
wir jetzt nur noch die Frage hinzu: In wie fern kann das 
Uebernatürliche als poetisches Element Geltung haben? 

Und es ist nicht zu läugnen, dass das Wunderbare, wie 
jede andere Form des Erhabenen, grosse Wirkung hervor- 
bringen kann. Es darf nur nicht ausserhalb des Zauberkreises 
aufgestellt werden, wo das Erhabene aufhört, erhaben zu sein. 

Es ist eine imentbehrliche Forderung des Erhabenen, dass 



182 V. Die geistliehe Poesie. 

es in einem gewissen Nebel gehüllt bleibe. Betritt eine go- 
thiscbe Kirche in der Abenddämmerung, wenn ihre Pfeiler 
und Spitzbogen sich ins Dunkel verlieren, und Dir wird ein 
anderer Eindruck werden, als wenn Du bei hellem Tages- 
lichte die Schönheit ihrer Linien und die UebereiuBtimmungen 
ihrer Verhältnisse bewunderst. Den eigenthümlichen Schauer, 
der Dich dabei überläuft, und der nicht mit phyeischer Furcht 
vti"\\'cchBelt werden darf, diese gewisse Rührung, erweckt daa 
Erli;tbene immer. Die mit dem Horizont verschwimmende 
Oberfläche des Meeres, die unübersehbare Eisfläche, die Wüste 
in ilirer dürren Nacktheit, machen einen um so grösseren Ein- 
druck auf unsem Geist, als der Horizont sich weniger scharf 
und deutlich abzeichnet. Dadurch drängt sich uns der Ge- 
danke an. das Unbegrenzte, Unendliche, Ewige stärker auf. 

Dasselbe Gefühl bemächtigt sich unser, wenn unsre Phan- 
tasie meint, dass die durch die Naturgesetze abgegrenzten 
Ki'L'ii^e auf unbegreifliche Weise überschritten werden. Daher 
kummt der tiefe Eindruck, den sogenannte übernatürliche Er- 
sclifiuungen und Wunder machen können. Aber man begreift 
leicht, dass sie zu dieser Wirkung zwei Anforderungen ent- 
spuciicn müssen. Erstens dürfen keine unedlen, alltäglichen, 
gewöhnlichen Vorfalle vor uns erscheinen; zweitens dürfen sie 
niclit so in den Vorgrund treten, oder sich so vermannich- 
fachfu, dass sie dadurch von selbst unter das Mikroskop der 
Analyse fallen. „Küchenwunder", wie Gervinns sie genannt 
hat, und Wunder Sammlungen können deshalb keine erhabene, 
ästhetische Wirkung ausüben; sie machen vielmehr einen 
komischen Eindruck. Es besteht in ihnen ein Mangel an 
Gl ciihge wicht zwischen dem geringen Ausgange und den aus- 
serge wohnlichen, übernatürlichen Mitteln, die dazu verwendet 
wiirdfu. 

Während Niemand das Eindruckweckeude der Vision 
längrien wird, welche Paulus auf dem Wege nach Damaskus 
batt(-, so ist es doch wohl erlaubt, ein wenig spöttisch zu 
läcLein, wenn eine Faser aus der Kutte des heiligen Francis- 
kus das Werk eines gewohnhchen Maurers verrichtet, sobald 
sie in die Mauerspalte einer baufälligen Hütte gelegt wird. 

Unbestreitbar ist das Mirakel, das die heilige Jungfrau 
in der Legende Beatrijs (siehe weiter unten) thut, sehr rüh- 
rend ; obwohl der innige Glaube bei der geistlichen Schwester 



V.- Die geistliche Poesie. 183 

schon beinahe zum Lippendienste geworden ist ! Aber welches 
Gefühl erfasst uns, wenn wir lesen, dass ein Vogel, der das 
,yAve Maria" gelernt hat, sich dadurch aus den Klauen eines 
Habichts rettet. Und kann der Eindruck wohl ungeschwächt 
bleiben, wenn ein Heiligenleben, oder eine Sammlung Wunder 
uns eine Reihe ähnlicher Mirakel erzählt? Wenn das Wunder 
so vielfach vorkommt, verliert es seine magische Kraft, und 
man darf wohl fragen, ob es dann nicht ganz aufhört, Wun- 
der zu sein oder zu scheinen. 

91. Ein untrennbares Element der Heiligenlegende ist 
die Ascetik, die wir jetzt noch mit einem Worte charakterisi- 
ren wollen. 

Selbstverleugnung ist eine grosse, edle Tugend; den Vor- 
zug des Geistes vor dem Fleische predigte das Christenthum 
von seiner Geburt an. Vom sittlichen Standpunkte aus hat 
der Kampf gegen die Sinne etwas Anziehendes, und als Hebel 
sittlicher Grösse liegt die Ascetik auch nicht ausser dem Ge- 
biete der Kunst. Aber dann muss auch die sittliche Seite 
des Enthaltungsprocesses alles Andere überwiegen. Wo das 
Mittel zur Tödtung des Sinnengenusses dagegen in den Vor- 
dergrund gestellt wird, da hört die ästhetische Wirkung auf: 
wenn zumal das Mittel zu den geschmacklosesten Widerlich- 
keiten seine Zuflucht nimmt. Im Leben der heiligen Christina 
der Wunderbaren z. B. nährt sich dieselbe mit Spülwasser 
und mit der gröbsten Speise, die noch dazu mit Asche ver- 
mengt ist. 

Als Hauptmotiv ist der ascetische Spiritualismus in der 
Kunst wenig anwendbar, weil er sich gegen einen Faktor 
aller Künste richtet. Denn in der Kunst, die immer zu den 
Sinnen sprechen muss, ist die materielle Form ein eben so 
wichtiger Bestandtheil , als die Idee, deren Träger sie ist. 
Die Ascetik dagegen verachtet und verschmäht die Materie, 
die sie ganz und gar dem Geiste unterwerfen will. Dies tritt 
am Deutlichsten in der Plastik hervor: Die Bildhauerkunst 
jener Zeit charakterisirt sich durch magere, fleischlose, hölzerne 
Figuren, die schlecht drapirt und ohne Leben sind. In der 
Dichtkunst machen Heiligenlegenden und Passionsgeschichten 
denselben Eindruck. 

Nur da, wo bei dem Sänger, der sich an dergleichen Ge- 
genstände wagt, das mystische Element noch nicht ganz und 



184 V. Die geieüiche Poesie. 

gar in Aecetik aufgelöst igt, wo neben der Sucht nach dem 
Himmlischen auch noch der Sinn fUr das Irdische besteht, wo 
die Legende noch gröastentheila ein weltliches Mährchen ist: 
mir da ist Kunstgeflihl geblieben, nur da wird unser Geschmack 
nicht beleidigt. 

Dies ist indessen nur sehr selten der Fall. Die meisten 
Legenden entsprechen nicht den Anforderungen der Äesthetik; 
ja, ihre VervieUaltigimg steht damit im offenen Streite, Wenn 
sie aber dennoch einstens fleisaig angehört, abgeschrieben und 
vermehrt wurden, so war es darum, weil das Lesen Seelen- 
h<.-il und Friede schenkte. Schon der Besitz eines solchen 
Werkes wandte alle UnfUUe vom Hause ab •) ; wie viel ver- 
diinEtlicher musste also nicht das Lesen oder gar das Dichten 
Briu! Es war daher kein Wunder, dass dieser Zweig der 
KunHt, wenn man es Kunst heissen darf, die üppigsten Blü- 
tben trieb. 

92. Wir sagten schon, dass hauptsächlich die heilige 
Jungfrau verehrt wurde. Ihr Kultus ist uralt: schon Justinian 
wüihte ihr Tempel, und seit dem siebenten Jahrhunderte wurde 
sio mehr und mehr als die beste Fürsprecherin der sündigen 
Menschheit betrachtet. Diese Verehrung nahm zumal im drei- 
zelmten Jahrhunderte, unter dem Einäuss der ritterlichen Ga- 
lanterie, merklich zu; und ging zuletzt in kirchlichen Kultus 
unter dem Patronate des heiligen Dominikns und Franciskus 
über. Weder Gott der Vater, noch Christus, der ihr als Kind 
Gehorsam schuldig gewesen war, konnten, nach der allgemeinen 
Ueberzeugung, ihrer Fürbitte widerstehen. Ja, als Mutter des 
Heilandes wurde ihr eigentlich die Erlösung der Menschheit 
zugeschrieben. 

Es wird Niemand auffaUen, dass eine leidenschaftliche 
Verehrung die Folge dieser Annahme war; und ebensowenig, 
da^s diese Stimmung in der Literatur ein Echo fand. Daher 
rührten die vielen gereimten Lebensbeschreibungen der heili- 
gen Jungfrau, welche überall verbreitet wurden; daher stam- 
iiien die vielen Hymnen und Geaänge zu ihrer Ehre, sowohl 
iu der Landes- als in der Kirchensprache. Daher kommen 
die rielen Mirakelberichte, in welchen ihre Macht gefeiert 
wird. Die meisten dieser Erzählungen haben wenig ästheti- 

M Siehe den Schluw des Gedichtes Vanden Lerene Ons Heren. 



• V. Die geistliche Poesie. 185 

sehen Werth: eine günstige Ausnahme derselben macht das 
Gedicht Beatrijs, das in jeder Hinsicht in die Blüthezeit 
der mittelalterlichen Romantik gehört. 

Die Hauptperson ist eine Nonne, welche sich vor allen 
Anderen durch Schönheit auszeichnet. Sie war Küsterin ihres 
E^losters und nahm ihres Dienstes treulich wahr. In ihrer 
Brust aber brannte das Feuer der Minne. Wer kann ihrer 
Macht , welche in einer Tirade von mehr als zwanzig Zeilen, 
ganz nach Art der Rittergedichte geschildert wird, wider- 
stehen? Man darf es also der Nonne nicht übel nehmen, dass 
sie dagegen nicht Stand halten konnte : der Teufel, der immer 
auf Betrügen ausgeht, reizte sie sehr mit fleischlichen Lüsten, 
dass sie zu sterben vermeinte. Sie bat Gott um Kraft, aber 
es half Nichts, und so beschloss sie endlich, dem Booster Lebe- 
wohl zu sagen. 

Es war ein Jüngling, den hatte sie seit ihrer frühsten Ju- 
gend lieb: Dieser verleitete sie, mit ihm zu entfliehen. Er 
verlockte sie mit prächtigem Putze imd durch das Versprechen 
ewiger Treue. In der zur Flucht bestimmten Nacht bheb 
Beatrijs, nachdem die Mette gesungen und die Nonnen in den 
Schlafsaal zurückgekehrt waren, im Chore allein. Sie warf 
sich auf die Kniee und schüttete ihr Herz vor der heiligen 
Jungfrau aus, die ihren Kampf angesehen, und deren Ver- 
gebung sie schon im Voraus für die Sünde erflehte, der sie 
nicht widerstehen konnte. Sie legte ihr Klosterkleid und den 
Schlüssel der Sakristei vor dem Marienbilde nieder, damit 
man ihn Morgens sogleich finden sollte; denn wer dort vor- 
beikommt, versäumt nicht, zur Himmelskönigin aufzusehen 
und sie mit einem Ave Maria zu begrüssen. 

Sie ging nun mit ihrem Geliebten, der sie ausserhalb der 
Klostermauer erwartete, ins Weite. Sieben Jahre lebten sie 
in Freude und Glück zusammen, und bekamen zwei Kinder. 
Endlich war ihr Geld verzehrt und die mitgebrachten Kost- 
barkeiten wurden zum halben Preise verkauft. Als auch die- 
ser Brunnen erschöpft war, wussten sie ferner keinen Rath, 
denn sie kannte keine Frauenhandarbeit, um damit Geld zu 
verdienen. Dazu kam noch eine grosse Theuerung ins Land. 
Dadurch wurden sie ganz trostlos, denn sie wollte lieber ster-, 
ben, als betteln. Endlich zwang sie die Armuth, sich zu tren- 
nen, wenn sie es auch ungern thaten. „Aen den man gebrac 



» 



k 



186 V. Die geiBtUche Poeiie. ■ 

deerate trouwe": er verliess die Arme uod kehrte in seinen 
Wohiiplata zurück. 

In ihrer Verzweiflung rief Beatrijs die Fürbitte der hei- 
ligen Jungfrau für sich und die Kinder an. Diese sollte sie 
nicht vor Hunger umkommen lasBen, und sie könnte doch mit 
Handarbeit in zwei Wochen nicht so viel Greld verdienen, um 
ein Bi-ot davon zu kaufen. Es blieb ihr also, im Hinblick auf 
ihre Kleinen, nichts über, als „niet hären lichame te winnen 
ghelt." Das that sie denn auch weitere sieben Jahre lang, 
aber mit blutendem Herzen ; inmitten ihres Kummers vergass 
sie nicht, täglich die sieben Zeiten von unserer lieben Frau 
zu beten, in der Hofiiiung, dass diese sie aus ihrem sündigen 
Leben erlösen werde. 

Endlich sandte ihr Gott so grosse Eeue ins Herz, daes 
sie lieber den Tod erlitten hätte, als noch länger zu sündigen. 
Sie sieht ein, wie tief sie gefallen ist, und dasa sie keine Ver- 
gebiuig zu erwarten hat, wenn nicht Maria, die so Manchen 
schon gerettet, ihr gnädig ist. Und darauf hofft sie; denn 
sie liat täglich ihr Ave gesprochen, und dieser Gruss ist der 
Jungti'Jiu so wohlgefällig, dass Jeder, der sie mit demselben 
anspricht, wie sündig er auch sei, dadurch ihre Fürbitte bei 
dem Sohne erlangt. 

Mit ihren Kindern an der Hand zog nun die Sünderin 
umher, bis sie endlich in die Nähe des einst verlassenen KlosterB 
kam, Sie kehrte bei einer Wittwe ein, die zu ihrer nicht ge- 
ringen Verwunderung erzählt, dass die Küsterin Beatrijs die 
heiligste Schwester des Klosters sei. In der Nacht wird ihr 
dies in einer Vision erklärt. Eine Stimme rief ihr zu, dasa 
ihre Reue sie gerettet, und Maria Gnade fiir sie erworben 
habe. Sie solle nach ihrem Kloster zurückkehren, wo Niemand 
ihre Abrfosenheit bemerkt habe; denn Maria selbst habe un- 
ter iliier Gestalt ihr Amt erfüllt, 

Sie fand das Thor des Klosters offen und ihr geistliches 
Kleid auf dem Altare. Nach einer herzlichen Danksagung an 
die lieilige Mutter Gottes, trat sie aufs Neue ihr Amt an. So 
wurde diese Sünderin durch die Liebe Maria's gerettet, welche 
immer ihren Freunden in der Noth beisteht. Wie sehr nun 
auch Beatrijs über ihre Sünden in tiefe Reue versunken war, 
so wagte sie aus Scham doch nicht, dieselben zu beichtea 
Das war ein neuer Fallstrick, den ihr der Teufel legte; aber 



V. Die geiBtliche Poesie. 187 

eine neue Erscheinung rettet sie auch aus dieser Gefahr. Sie 
beichtete und erhielt Absolution. Ihr Beichtvater war so sehr 
von ihrer Erzählung gerührt, daas er dieselbe, mit Verscfiwei- 
gung ihres Namens, zur Ehre der Mutter Gottes btkiinnt 
machte. 

93. Es fallt von selbst ins Auge, wie viel Verdienstiieb^is 
diese Bearbeitung der Beatrixlegende hat. Die truekenc 
Klostererzählung, welche schon bei Cäsarius vom Heirate rba ob 
und Alanus de ßupe Redivivus vorkommt, ist von dem nie- 
derländischen Bearbeiter zu einem fesselnden, farbenprächti- 
gen Bilde umgeschafifen worden. Das Mirakel ist für den 
Dichter nur die Anleitung zu einer lebendigen Erzählung, in 
welcher eine ebenso plastische, als zarte Schilderunfj jfA^y 
Anforderung der Kunst entspricht. Die Zeichnung der Zu- 
stände und die Analyse von dem Gemüthsleben der Heldin 
nehmen mehr Kaum ein, als das Wunder selbst. Dieats ist 
mit sehr viel Takt im Hintergrunde gehalten, obwohl man 
schon vom Anfange an vermuthen kann, dass die heilige 
Jungfrau die Nonne nicht im Stiche lassen wird, welche duruh 
den Sinnenrausch hindurch ihr mit so vieler Naivetiit an- 
hangen bleibt 

Wie günstig sticht dieses Gedicht gegen andere, iilinliche 
Legenden ab! Ich verweise hier nur auf die Sammlung der 
Marienwunder, welche Maerlant dem Speculum Historiale vou 
Vincent von Beauvais entlehnt Er gab sie erst beaondeis 
heraus, um sie später wieder in seinen Spiegel einzuselialteii. 

Die sechs und dreissig Mirakel, die darin erzählt werden, 
haben den Zweck, Maria's Macht imd Hülffertigkeit zu be- 
weisen. Wer sie nur anruft, ist gerettet, wenn er auch sein 
Lebenlang alle Gesetze überschritten hat. Das beweist der 
Dieb, den sie zwei Tage lang am Galgen lebendig bielr, und 
den sie später so kräftig gegen die Obrigkeit beschützte, diiss 
er die Freiheit erhielt, und in ein Kloster ging! 

Wenn man sich auf den Standpunkt des Sammlera ver- 
setzt, dann findet man über diese Sammlung einen Hauch von 
Naivetät und kindlichen Glauben ausgebreitet, der nicht ulme 
Beiz ist Aber unbestreitbar ist es, dass diese Erzälilunguu 
weder durch plastische Darstellung, noch durch tiei'ert; Auf- 
fassung des Gemüthslebens aut dem Gebiete der Kmisit zu 
rechtfertigen sind. Wie kann das ästhetiache Gefühl befrie- 



188 V. Die geistliche Poesie. 

digt werden, wenn wir das blos mechanische Herplappern des 
Ave Maria von dem allgemeinen Sittengesetz freimachen, 
und wenn wir die Jungfrau für Sünder in die Schranken tre- 
ten sehen, die nur aus Verzweiflung imd Furcht vor zeitlicher 
Strafe die Anne zu ihr erheben! 

Auf der andern Seite bewahrheitet sich auch hier die Be- 
merkung, die, wie ich glaube, von Raumer irgendwo macht, 
dass man sich bei dergleichen Schilderungen am Meisten durch 
die übertriebensten Darstellutigen angezogen fühlt; aber dass 
dieser Reiz, gewiss gegen die Absicht des Erzählers, ein 
komischer ist. 

Oder ist das etwa nicht der Fall, wenn man durch eine 
Erzählung auf uns einwirken will : wie eine gemalte Madonna 
den Arm ausstreckt, imi den Maler, der sein Bild noch nicht 
einmal voUendet hatte, aus der ihm drohenden Lebensgefahr 
zu retten. Der Teufel bedrohte ihn mit dieser aus Rache, 
weil er so viele Marien gemalt hat, deren Anrufung von der 
frommen Gemeinde eine zu geringe Bevölkerung der Hölle zu 
Folge hatte! Wird man sich verwundem, dass schon zuMaer- 
lant's Zeit solche Erzählungen keine Gnade vor den Augen 
der Spötter fanden? 

Wenn auch der Gegenstand dieser Legenden im Allge- 
meinen mit der Sage von Beatrijs übereinstimmt, so besteht 
doch zwischen ihr und den übrigen ein hinunelweiter Unter- 
schied in Auffassung und Behandlung. Dort war ein Streben 
nach der Schöpfung eines Kunstwerkes: Form und Einklei- 
dung galt dem Dichter mehr, als das blosse Wunder. Hier 
dagegen muss der Zweck Alles gut machen, der Form ist 
keine Auftaerksamkeit geschenkt Der Spiritualismus hat in 
ihr, wie in den meisten Legenden, die Kunst getödtet; und 
nur zögernd gebrauchte der weniger vollendete Künstler seinen 
Pinsel, um seinen Bildern so viel Form und Farbe zu geben, 
als eben nöthig war. Aber auch nicht mehr, als durchaus 
nöthig war, um verständlich zu unseren Sinnen zu sprechen. 
Daher erscheinen uns die Figuren so oft dürr und leblos. 

94. Von derselben übermässigen und unästhetischen Ueber- 
treibung zeugt auch das Leben des heiligen Franciskus von 
Assisi. Nur ist es mit den fadesten und ekelhaftesten, also 
noch weniger ästhetischen Proben der Ascetik gewürzt. 

Maerlant war, in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahr- 



V. Die geistliche Poeaie. l>-,f) 

hunderts, auch der Verfaeser dieses Werkes: er übersetzte ea 
nach dem ofSciellen, lateinischen Lebensbericht des li. Duna- 
ventura. 

Die unerEättliche Sucht nach Luxus und Pracht , der 
Mutter der Goldgier, welche wiederum allerlei Unsittljclikeiten 
zeugte, war, nach Maerlant'a Urtheil, der KrebsBciiiidr.'n der 
Zeit. Es war also kein Wunder, dass er dem Reforijuitin- xu- 
jauchzte, welcher dem Luxus und der VerschweiiLlun;; i in 
Ende machen wollte; der vor Nichts zurückbebte, um 1>^ umtii 
und Selbstverleugnung einzuführen, der dazu die ,,luiligc 
Armuth" auf sein Banner schrieb, und dadurch die Zeit des 
ersten Christenthuma wieder herbeiführen wollte. 

Wenn auch der praktische Sinn des höchst praktischen 
Bürgers, den-wir bald näher kennen lernen, seine Eingenom- 
menheit mit dieser sonderbaren, historischen Figur erklärt : so 
bezweifeln wir doch, dass die unparteiische Kritik, weiche 
diese Lebensbeschreibung nach den Regeln der Scliünheitd- 
lehre untersuchen musste, ein günstiges Urtheil dariiliLT aua- 
gesprochen hat. 

Macht schon das historische Auftreten des Friimiskus, 
der sich wie eine zweite Erscheinung des Heilands diirsiellt, 
und, wie Gervinus sich ausgedrückt hat, das Leben des Hei- 
lands parodirt — der sieb dabei mehr geberdete wie Einer, 
der an SinnenstÖrung litt, als wie Einer, den übertriebene 
Schwärmerei mit sieb fortrisa, — macht das, wie gesagt, schon 
einen peinlichen Eindruck, so weckt die XJebertreibmig, die 
Geschmacklosigkeit der Verstellung im höchsten Grade den 
WiderwiQen gegen ein Werk, dessen Ton "und Inhalt unauf- 
hörlich gegen das Schönheitsgefübl streitet. 

Die Krankenpflege ist eine schöne Ajeussenmg cliristKclier 
Demuth; aber den Bruderkuss auf einen Mund und eine 
Wange zu drücken, die von eiternden Schwären entstellt 
sind, ist ekelhaft. Ebenso ist es eine geschmacklose, at^cctischo 
Üebertreibung, wenn zur Kasteiung des Fleisches alle ypeiseu 
mit Asche vermischt wurden. Sowohl das Eine wie das An- 
dere wird in diesem Heiligenleben mit besonderem Nachdruck 
hervorgehoben. ' 

Die Mirakel machen nicht selten einen komischen Ein- 
druck, wie ein Paar Beispiele beweisen mögen. Ein Arzt, der 
den Heiligen behandelt hatte, wird dafür auf folgende Weise 



190 V. Die geistliche Poesie. 

belohnt: Er hatte ein HauS; welches einzustürzen drohte, m 
die Hauptspalte des Hauses legte er ein Stück von der Kutte 
seines Patienten, und siehe, bald war von der Spalte keine 
Spur mehr zu sehen. Nicht weniger ergötzlich ist es, wenn 
man hört, dass eine todtkranke Frau durch die Berührung des 
Zaumes von einem Pferde, welches Franciskus einst geritten 
hatte, plötzlich genas. 

Auch die Liebe des Heiligen für alle Greschöpfe wird 
meistens in lächerlicher Uebertreibung geschildert. Ich lasse 
dahin gestellt, dass er für Lämmer in die Schranken tritt, 
welche geschlachtet werden sollen ; aber als Beweis dient doch 
wohl, dass er eine Sau, die ein Lamm getödtet hatte, ver- 
fluchte. Sie starb darauf nach schweren, dreitägigen Leiden. 
Es wird noch deutKcher, wenn wir hören, dass die Schafe 
aus Liebe von der Weide wegliefen, um ihn zu begrüssen; 
und ich frage, ob der gefühlvollste Leser ein Lächeln bezwin- 
gen kann, wenn der Heilige die Stimmung der Schafe benutzt, 
um sie zu Christen zu machen. Mit einem Schafe kommt er 
auch wirklich so weit, dass es zur Kirche ging, vor dem 
Altar niederkniete, und blökte, und bei der Messe das Sakra- 
ment mit aller Devotion verehrte! Aehnliche Mirakel that er 
mit Vögeln, Fischen und Heimchen. 

Muss diese schreckliche Parodie aller christlichen Tugen- 
den nicht nothwendigerweise eine komische Wirkung ausüben? 
Macht der Mann, der auf diese Weise geschildert wird, nicht 
mehr den Eindruck eines wahnsinnigen Schwärmers, als eines 
Busspredigers ? Und ist schliesslich das Werk damit nicht als 
Kunstschöpfung verdammt? 

95. Es sind noch einige Heiligenleben und Legenden zu 
erwähnen ^) ; nach dem bereits Angeführten können wir unser 
Urtheil über diese Werke in wenigen Zügen zusammenfassen ? 
Wir werden zu gleicher Zeit die vorliegenden Gedichte die- 
ser Art mit einem Male besprechen, selbst wenn sie aus ver- 
schiedenen Jahrhunderten stammen. Denn von dem Augen- 



1) Ich übergehe mit Stillschweigen die Legenden, die in dem so- 
genannten Codex von £nname,*bei Audenaarde, vorkommen, weü es 
Fragmente sind, von denen wir durch Willem*8 Belg. Mus. III, S. 197 
bis 218 nur Auszüge kennen. Sie sind wahrscheinlich aus den letzten 
Jahren des dreizehnten Jahrhunderts. In einem derselben kommt die 
Jahreszahl 1290 vor. 



V. Die geistliche Poesie. 191 

blicke an, dass der Geistliche mehr als der Dichter dergleichen 
Gegenstände behandelte, nicht weil sie literarischen Genuss 
verschafiFten, sondern weil sie die GUäubigen erbauen sollten — * 
ist kaum eine Veränderimg in der Behandlung dieses Stoffes 
im Lauf der Zeiten zu erwarten. Wenn die Zeitströmung 
einigen Einfluss darauf ausgeübt hat, so ist es nur in dem 
Sinne, dass der allgemeine Verfall der Kunst sich auch hier 
in der zunehmenden Geschmacklosigkeit des Inhalts und in 
der Verwahrlosung der Form offenbart. 

Eine günstige Ausnahme hiervon macht noch die aus dem 
Lateinischen übersetzte Legende von Theophilus dem 
Frommen, der, als er bitter verkannt wird, sich dem Teu- 
fel ergiebt, und durch seine Unterschrift Gott und die heilige 
Jungfrau abschwört und verleugnet. Als er später zur Reue 
gekommen ist, ruft* er Marien um Hülfe an: sie erfleht ihm 
Gnade, und im Schlafe erhält er die Schrift zurück, durch 
welche er seine Seele dem Teufel verpfändet hatte. 

Dieses Gedicht fesselt zu gleicher Zeit durch seine Gluth 
und Naivetät; durch seinen lyrischen Ton, der selbst einen 
sehr hohen Flug nimmt, wenn es die Ehre der heiligen Jung- 
frau gilt, welche den Bösen besiegt hat. Wäre das Gedicht 
nicht hier und da etwas zu gedehnt und langathmig, hätte 
der Uebersetzer seine Moralpredigten weglassen können, so 
würden wir es unter die besten Erzeugnisse unserer geistlichen 
Poesie rechnen. 

96. Unter die Heiligengeschichten, welche um so öfter 
vorkonmien, je mehr wir uns dem didaktischen Zeiträume 
nähern, in welchem sich die Kunst ganz und gar der Be- 
lehrung und Besserung der Menschheit zuwendet, konunt in 
erster Reihe die Legende von St. Servatius von Heinrich 
von Veldeke in Anmerkung. Wie wir schon oben (S. 93) 
sahen, stammt sie aus der zweiten Hälfte des dreizehnten 
Jahrhunderts. 

Servatius war ein Blutsverwandter der heiligen Jungfrau ; 
er liess sich auf Ansuchen des Patriarchen in Jerusalem zum 
Priester weihen. Durch die Stimme eines Engels wurde er 
aufgefordert, sich nach Gallien zu begeben, wo er Bischof 
werden sollte. Er machte sich auf den Weg, und kam end- 
lich nach Tongeren, wo der bischöfliche Stuhl seit sieben Jah- 
ren leer stand. Dort begab er sich in die Kirche, wo ihm 



192 V. Die geistliche Poesie. 

der Engel wieder erschien, ihm zu dem Altar führte und den 
Bischofsstab überreichte. Darauf wurde er von Priestern und 
' Laien als Kirchenvorsteher anerkannt. Als er nun den Pre- 
digtstuhl bestieg, um zu der Gemeinde zu reden, wurde er auf 
wunderbare Weise von Allen, ob sie von dietscher oder frän- 
kischer Zunge waren, verstanden, obschon er selbst sich der 
griechischen Sprache bediente. 

Er führte ein heiliges Leben; das konnte aber nicht ver- 
hindern, dass er, auf Einblasungen des Teufels, aus der Stadt 
vertrieben wurde. Ein Engel führte ihn nach Mastricht, wo 
er sich eine Zelle und eine kleine Kapelle erbaute, und den 
Ruhm seiner Heiligkeit vermehrte. Unterdessen kam Attila, 
die Gottesgeissel, und bedrohte Gallien, und nun sandte die 
zitternde Geistlichkeit Servatius nach Rom, damit St. Peter 
Gottes Zorn abwehren solle. Vor seiner Reise setzte er noch 
den ketzerischen Bischof von Köln ab, ohne nur auf seine 
Vertheidigung zu hörqn. Nur diejenigen nahmen daran ein 
Aergerniss; die nicht rein im Glauben waren! Nachdem St. 
Severin des Abgesetzten Stelle erhalten hatte, zog Servatius 
nach Rom. Unterwegs verrichtete er allerhand Wunder, von 
denen ich nur das eine melde, dass er nehmlich zu Metz einen 
zerbrochenen, steinernen Altartisch mit seinem Speichel wieder 
an einander kittete. 

Obgleich er in Rom die Fürbitte aller Heiligen zumal für 
seine Bischofsstadt anrief, verkündigte ihn doch St. Peter in 
einer Vision, dass Alles vergebens sei. Damit aber seine 
Reise nicht ganz fruchtlos sein möge, gab er ihm im Namen 
Gottes einen silbernen Schlüssel, und mit ihm die Macht, auf 
Erden zu lösen und zu binden. 

Auf seiner Heimreise genoss er wiederholt Gottes beson- 
deren Beistand. Als er unterwegs in Schlaf verfiel, schwebte 
ein Adler über ihm, welcher mit dem einen Flügel sein Haupt 
vor den brennenden Sonnenstrahlen beschirmte, während er 
ihm mit dem anderen erfrischende Kühlung zuwehte. Hatte er 
Durst, so brauchte er bloss ein Kreuz auf einen Stein zu 
machen, und gleich wiederholte sich das Wunder des Moses. 

Als er in die Nähe von Tongeren kam, und als die Ein- 
wohner hörten, dass sie mit einem Einfall der Hunnen bestraft 
werden sollten, bereuten sie tief, dass sie den heiligen Serva- 
tius vertrieben hatten. Sie zogen ihm in feierlicher Prozession 



V Die geietlicbe Poesie 193 

entgegen, und riefen Hosiannah! Aber er weigerte sich, Ein- 
kehr bei ihnen zu halten, und ging nacli Mastricht zitrück, 
wohin er aucb die Reliquien mitnahm, damit sie nicht in die 
Hände der Hunnen fallen sollten. Auch auf diesem Wege 
that Gott noch mehrere Wunder zu seiner Ehre, die sich auf 
seinem Grabe, als er kurz darauf starb, in reichem Masse 
wiederholten, 

Der zweite Theil dieser Heiligengesehichte schildert die 
Schicksale des Bisthums Tongereu, dessen Sitz nachJfaatrii'ht 
verlegt wurde. Dabei tritt Alles, was mit den Ueborrestcn 
des Heiligen in Verbindung steht, in den Vordergrund. Man 
könnte diesen Theil; „Geschichte des Heiligen nach äcfim/m 
Tode" nennen. Es braucht kaum einer Erwähnung, djiss zu- 
mal in diesem Abschnitte viele Wunder vorkommen. 

Das grösste Verdienst dieses Gedichtes liegt vielleicht in 
der Einfachheit der Erzählimg; denn weder die Begeljniase, 
die darin erwähnt werden, noch ihre Gruppirung odei' Zt-ich- 
nung können auf irgend einen poetischen Werth Aiisijruch 
machen. Der langgedehnte und einförmige Erzählertun, der 
Mangel an Bildung des lokalen Dialektes, und die Hclnväclie 
der Technik (vergl. S. 91 und 92) macht dies Stück zu keinem 
Gewinn für unsere Literatur. Am besten ist die ziemlich gelun- 
gene Erzählung von des Heiligen Besuch in Tongereu nach 
seiner römischen Reise. Aber das ist nur eine Ausnahme, 

97. Von literarischem Staudpunkte aus betrachtet, ist das 
Lebenvon S t. A m a n d nicht viel besser gedichtet. Ea wurde 
im Jahre 1366. zu Brügge von dem Klosterbruder Giilis de 
Wevel, nach lateinischen Quellen bearbeitet. Auch hier haben _^ 

wir es mit einer langen, gedehnten, tief am Boden liinschlci- ,^ 

chenden Erzählung zu thun, welche jedes poetische Elemi-ut '! , 

entbehrt, weil der Reimer tief unter seiner Aufgabe stand. 
So wird z. B. das wichtige Begebniss, der Sieg des <.'hristi:n- 
thuma über den Götzendienst, ganz und gar nicht in seiucr 
Erhabenheit von ihm eriasst. Die Schilderung der Glaiibens- 
helden ist völlig missglückt. Die zur Erreichung des grossen 
Zweckes angewandten Mittel ähneln auch bei ihm nicJit soltbu 
Karikaturen. Ich übergehe die gewöhnlichen Mirakel und 
Engelerscheinungen, die auch hier oft wiederkehren; luid er- 
innere niir daran, wie Christus an des Heiligen Tischu Platz 
nimmt, und wie Gott ihm einen eigenhändigen Briei' sendet. 

JonckbLoct-B Oaachlchta d«i Nieder) indisclien Liteutar. Bind I. 13 



194 V. Die geistliche Pocisie. 

Auch hier ist plastische Schilderung eine Ausnahme, die 
den geringen Werth des Granzen nur desto mehr vortre- 
ten lässt. Ich meine hiermit den Kampf des Heiligen mit 
Satan, der sicher den besten Theil des Gedichtes bildet. Wie 
das vorige', sticht auch dieses Werk vortheilhafi; vor den an- 
deren, durch eine gewisse gemüthliche Einfachheit der Be- 
handlung, ab. Auch ist es in einem klaren Style geschrieben, 
der wenigstens das Lesen ermöglicht. 

Die Eigenartigkeit dieses Werkes bildet der in ihm sich 
zeigende Beweis, wie nach und nach der Sinn flir dramatische 
Form hier zu Lande erwachte. Zweimal wird uns in dem- 
selben eine Scene auf ganz dramatische Weise, nehmlich im 
imunterbrochenen Dialog dargestellt. 

Im ähnlichen Tone, wie die beiden vorigen Werke ist 
auch das Leben der h. Lütgardis geschrieben, welches 
uns die Geschichte einer überaus frommen Klosterschwester 
erzählt. Dieselbe hat allerhand Visionen, fuhrt mehrmals 
Gespräche' mit Gott, Christus und der heiligen Jungfrau, 
und verrichtet viele Mirakel, sowohl während ihres Lebens, als 
nach ihrem Tode. 

Ein einziges Beispiel möge über den Werth der ange- 
wendeten Mittel urtheilen lassen. Als sie einst den Lobgesang 
zimi Preise der heiligen Jungfrau angestimmt hatte, erschien 
ihr Christus in Lammsgestalt, und welches 

Vriendelec sijn voete nam^ 

Ende sette sijn enen voet over waer 

Op haer rechte scouder daer, 

Ende sijn andren voet sette hi 

Op haer slinke scoudre daer bi; 

Ende hi leide sijn heilcghen mont 

In hären mout ter selver stout. 

Daer uut so trac de maghet vrye 

AI sugende so suete melodye 

Die uter borst so suete quam, . 

Dat men desgelijcs noit en vemam. ^) 

^) Freundlich seine Füsse nahm 

Und setzte den rechten Fuss fürwahr 
Auf ihre rechte Schulter dar, 
Und den andern Fass setzte er 
Auf ihre linke Schulter her; 
Und er legte sein' heiligen Mund 



V. Die geistliche Poesie. igg 

Die Nonnen, die das sateu, wurden dadurcb sehr erbaut; 
aber ich bezweifle, daas diea Bild einen erhebenden Ein- 
druck hervorbringen wird. 

Wenn auch in diesem Werke dem MysticiamuB aiit" die 
übertriebenste Weise gehuldigt wird, so War doch der Dichter 
der uraprüuglichen , lateimachen Legende nicht ohne Sinn tiir 
die Wirklichkeit. £r giebt nicht selten praktische Ratbschläge : 
ich erwähne nur seine Lehre über den Bruderkuss der Geist- 
lichen an die Nonnen, der nicht selten den brüderlichpn Cha- 
rakter verlor. Ebenso spricht er gegen die übertriebene Ka- 
steiung des Fleisches: 

Waat de lichmie es ghegeven 

Den geest ter helpen in dit leven : 

Älsi dan den lichame themale 

Destueren, eo en can nyct walc 

De geest in siere kracht ghebliven. *) 
Zwischen 1232 und 1280 hatte ein gewisser Wilhelm, 
Prior von Afdighem, das Leben der h. Lutgardis dchou in 
dietsche Verse gebracht Diese Uebersetzung ist aber ver- 
loren gegangen. Vielleicht hat sie die Grundlage fOr das eben 
besprochene Gedicht gebildet, welches einen gewissen Bruder 
Geraert zum Verfasser hatte. Er stammte wahrscheinlicli ans 
dem Minorltenkl oster zu St. Truyen, und hatte es auf Ersuchen 
der Klosterschwestem zu Mielen verfertigt; gewiss nitht frü- 
her als in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhundcitu. 

98. Von derselben Hand besitzen wir ein Leben der 
heiligen Christina der Wunderbaren, bei rleni wir 
auch nur kurze Zeit stehen bleiben wollen. 

Von zartester Jugend an übte sich diese Jungfi-au ao sehr 
ia „contemplacien", dass sie davon krank wurde und atarb. 

In ihren Mund zur selben Stund. 
Daraus zog die Jungfrau fein 
Saugend viel süsse Melodein. 
Aus seiner Brust ao süss es kam, 
Wie man auf Erden nie vernahm. 
■) Denn der Körper ist gegeben 

Dem Geiat zu helfen hier im Leben: 
Lässt man den Körper untergehn, 
Sa kann es nicht m leicht getchehn, 
Dass Oeiat in seiner Kraft kann bleiben. 



i 



196 V. THe geistliche Poesie. 

AJs man ihr LeicbeubegängiiisB feierte, äog der Leichnam 
aus dem Sarge heraus auf den Querbalken der Kirche, ron 
dein ilrn nur die kräftige Beschwörung des Prieaters wieder 
liLTiibbrachte. 

Als sie nach Hause zurückgekehrt war, erzählte sie, wie 
sie bei ihrem Verscheiden von Engeln nach dem Fegefeuer 
gL-bracht worden sei; dann sei sie in die Hölle gekommen, 
und endlich in den Himmel. Gott war sehr erfreut über ihr 
Xanimen, und überliess ihr die Wahl, bei ihm zu bleiben, oder 
iu ilize irdische Hülle zurück zu kehren, um „pine der zielen" 
7Ai leiden. Dadurch könne sie alle die Gefolterten, die sie im 
Fegeteuer gesehen, erlösen. Sie hatte das Letzte gewählt,. 
und Gott hatte darauf ihre Seele wieder in den Körper brin- 
j;eii lassen. Sie räth darauf ihren Verwandten, sich über 
Ji'iflits zu verwundern, was auch mit ihr geschehen möge; 
dciiu was Gott durch sie vollbringen werde, das würde über 
iillf menschliche Begrifle gehen, und niemals vorher gesehen 
wiji-den sein. 

Und sie hatte wohl recht, denn nun folgt eine Kette der 
wunderbarsten Vorteile. 

Sie floh vor den Menschen, deren Atmosphäre sie nicht 
vertragen konnte, nicht nur in abgelegene, wilde Orte, sondern 
aiK'li in Baumgipfel und auf Bohnenstangen, oder auf die 
Spitzen der Kirchthürme. Dort sang sie vorzugsweise gern 
ihre Psalmen. Als sie aber beinahe vor Hunger umgekommen. 
wiir, tUlIte Gott ihre jungfräulichen Brüste mit Milch, wovon 
sie sieh labte. Farner kroch sie, ohne dass es ihr schadete, 
in lieisse Oefen, in grosse Feuer oder in Kessel mit kochen- 
dem Wasser. Im Winter sass sie oft Tage lang in der Maa^ 
luiter dem Eise, oder sie hängte sich an den Galgen, mitten 
niiUr die Diebe, und blieb dort ebenfalls Tage lang. Wenn 
die ^'öttliche Gnade über sie kam, rollte sie sich wie ein Ball^ 
ffltiih einem Igel zusammen; und erst, wenn die „geistige 
Tnuikenheit" vorbei war, nahm sie ihre gewöhnliche Gestalt 
wieder an. 

Dies Alles, und noch mehr, litt sie für die Sünden der 
MiLiisctien. Dabei lebte sie von Almosen; aber wenn man ihr 
ctw;is abschlug, nahm sie es mit Gewalt, damit es dem Be- 
raubten später solle zu Gute kommen. Sie trank vorzugsweise 
Spülwasser, und tauchte das gröbste Kleienbrot hinein. 



V. Die geistlicbe Poesie. 197 

dre extatischen Sonderbarkeiten roUbracbte sie gauz im- 
bewuBSt: wenn sie aus dem Zustand wieder zu sich selbst 
kam, und man ihr sagte, was geschehen sei, schlicli sii.' tult 
«iner Miene weg, als ob sie „sot ende snoedel" wäre. 

So ging es weiter bis an ihr Ende. Nach ihier erstBii 
Auferstehung hatte sie 42 Jahre gelebt, und ihr wirklicher 
Tod fiel ins Jahr 1224 

Ist es wohl zu viel gesagt, dass dei^leichen ExL-entrici- 
täten unmöglich den vom Dichter beabsichtigten Eindruck 
hervorbringen können? Dass sie lächerlich werden, austatt 
erhaben zu sein? Dieselbe wilde Romantik, welche den Ver- 
fall der Kunst bei den Kittergedichten charakteriairt , niacht 
sich auch auf dem Felde geistlicher Poesie bemerkbai-. Mit 
dieser Christine kann sich auch der abenteuerlichEte Rittt-r 
nicht messen. Aych mit Hinsicht auf Sprache und Vers- 
bau ist dieses Gredicht ein Bild des vollkommensten Rück- 
schrittes, der auf die ßeimkünsteleien der BhederijkiT xur- 
bereitet, 

99. Wenn der Erfolg dieser Heiligengeschiclitpu und 
Martyrologien grösstentheils eine Folge war von deiu Hedürf- 
uisB nach Fürbitte, das sich überall geltend machte: »'t stellte 
es sich doch bald heraus, dass das Vertrauen auf die Heili- 
gen und die barmherzige Himmelskönigin mehr Ruhe ziuu 
Verharren im Bösen, als Reue oder Busse erweckt'^. Die 
geistliche Poesie hielt nun schreckenerregendere Bildei- für 
nöthig, um das Sitten ver de rbniss zu bekämpfen; sie verwies 
auf die Strafe, welche der Miesethat einstens folgt. Daher 
rühren die zunehmenden Prophezeiungen, das Ende der "Welt 
sei nahe herbeigekommen, und die vielfachen Schilderungen 
des Tages vom jüngsten Gerichte, aber zumal von den Solucckeii 
der Hölle und des Fegefeuers. 

Im Leben Jesu werden sie poetisch geschildert, und 
aach St. Christina's Lebensbeschreibung spricht au vi.rsciiie- 
denen Stellen davon. Auch in dem Brandan wurdeji diesen 
Scenen schon die schrecklichsten Bilder entlehnt. Zumal 
im Norden scheint dieses Genre geliebt gewesen zu sein. 

Ich verweise in erster Linie auf die Geschiclite des iri- 
schen Ritters Tondalus. Er war nach einem sündigen 
Leben gestorben, und wurde nun drei Tage lang dui-cli Hullc 
und Fegefeuer gefiihrt, wo er die Foltern der B<':icii sah. 



198 V. Die geistliche Poesie. 

„Wer sie erzählen hört, muss vor Furcht beben'', bezeugt ein 
Schriftsteller des vierzehnten Jahrhunderts. Als er Alles ge- 
sehen hatte, kehrte seine Seele wieder in den Körper zurück^ 
und der Ritter verkündete dem Volke, was er erschaut, that 
Busse, und starb eines christlichen Todes. 

Die rhythmische Bearbeitung dieser Legende ist verloren 
gegangen: wir besitzen nur noch eine Prosaerzählimg dersel-^ 
ben. Doch hat sie zu geringen Werth, um länger dabei still 
zu stehen. 

Eine ähnliche Erzählung, auch aus Irland stammend,, 
trägt den Namen das Fegefeuer des h. Patrizius, und 
lautet folgendermassen: Im abgelegensten Theile von Irland 
war eine tiefe Schlucht. Jeder, der sich einen Tag darin auf- 
gehalten hatte, bekam Ablass für seine Sünde, und sah daselbst 
den Aufenthalt der Seligen und den Strafplatz der Sünder. Gott 
hatte selbst diese Schlucht dem heiligen Patrizius angewiesen,, 
damit sie ihm zur Bekehrimg der Ungläubigen dienen soUe,. 
auf welche seine SchUderimgen von Himmel und Hölle keinen 
Eindruck machten, und die es Alles mit eigenen Augen sehen 
wollten. Ein Ritter, der ein grosser Sünder war, stieg in die 
fürchterliche Höhle nieder, sah dort die Schrecknisse der 
Hölle und des Fegefeuers, und theilte seine Erlebnisse Ande- 
ren mit, als er auf die Erde zurückgekehrt war. 

Obgleich diese Legende, wie die vorige, sehr alt ist, sa 
scheint sie doch erst in der zweiten Hälfte des vierzehnten 
Jahrhunderts in niederländische Verse gebracht worden zu 
sein. Dies geschah nach französischem Vorbilde. Der ausser- 
gewöhnlich nachlässige Styl, sowie auch die Sprache, verwei- 
sen auf den Zeitraum des tiefsten Verfalles unserer mittel- 
alterlichen Literatur. 

Der Uebersetzer sagte von dieser Legende, dass wer sie- 
anhöre, bis zu seinen letzten Lebenstagen von Furcht und 
Beben erfasst sein werde, imd wenn er ein Herz von Stein 
habe. Er theilt sie auch nur mit, um zur Tugend anzu- 
feuern, obgleich ihr Inhalt unglaublich erscheinen würde,, 
wenn nicht die Heiligen Augustinus und Gregorius die Mög-- 
lichkeit einer solchen Pein der Seelen verbürgten. Was aber 
noch mehr ist, sagt er, wir haben hier das Zeugniss der eig- 
nen Erfahrung. 

Poetischen Werth hat dieses Stück ebenso wenig als das. 



V. Die geistliche Poesie. 199 

vorhergehende. Die Behandlung läBSt uns kalt, oder nöthigt 
HUB ein Lächeln ah; um so mehr, da man bei diesem Gegen- 
stände eine Vergleichung mit Dantes Inferno nicht vermei- 
den kann. 

iOO. An das im vorigen Paragraphen erwähnte Genre 
schliessen sich einige mehr lyrische als epische Gedichte an, 
die aber ganz denselben Geist athmen. Das eine derselben 
trägt den Titel Vander sielen ende vanden lichame, 
und umfasst eine Uebersetzung der sogenannten Visiü Phi- 
libertij eines lateinischen Gedichtes in vierzeiligen , ge- 
reimten Strophen; der Inhalt desselben ist ein Geepriich zwi- 
schen Seele und Körper, welche einander vorwerfen, dass der 
andere Theil die Ursache von der zu erwartenden ewigen 
Strafe sei. Der Stoff ist uralt, und seit dem zwölften Jahr- 
hundert überall . verbreitet : das lateinische Original, nach wel- 
chem das dietsche Stück übersetzt ist, wird dem berühmten 
Walter Map zugeschrieben, und gehört auf alle Fälle ins 
zwölfte Jahrhundert. 

Ueber das mnl. Gedicht, das gewiss nicht älter ist, als 
aus der letzten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, kann man 
nicht viel sagen. Es machte grosses Aufsehen, wie die ver- 
schiedenen Abschriften beweisen; obwohl sich der Styl weder 
durch Kraft noch durch Zierlichkeit auszeichnet. Aber der 
Uebersetzer hatte besondere Schwierigkeiten zu besiegen , da 
er der Form des Originals treu nachfolgte. Er sehiieb in 
vierzeiligen Strophen, deren jede nur einen Reim hat. 

Mit noch grösseren, technischen Schwierigkeiten hatten 
die Uebersetzer eines langathmigen , französischen Strophen- 
gedichtes zu kämpfen, welches nach dem Anfangswort des 
ersten Verses Miserere genannt wird. Der ursprüngliche 
Dichter verbirgt seinen Namen unter dem Pseudonym Le 
Reclus de Moliens. Wahrscheinlich schrieb er in der zweiten 
Hallte des dreizehnten, und nicht wie man gewöhnlich an- 
nimmt, des zwölften Jahrhunderts '), da nicht nur der Einfluss 
des Roman de la Rose, vollendet in der zweiten Hälfte des 

'I Prof. Serräie, der das Gedicht, bo weit es für uds erlialteii ist, 
veröffentlichte, irrt sich, wenii er (Vaderl. Museum III, S. 2i8) sagt, 
dasa Pauli a Paris von verschiedenen Handschriften dieses Workes 
spricht, welche „bis zum zwölften Jahrhundert zurückreichen". Im fünf- 
ten Theile der Manuecrite Franqois, S. 50 steht deutlich: „treizi^me siäcle.', 



200 V- ^i® geistliche Poesie. 

dreizehnten Jahrhunderts, darin bemerklieh wird, sondern auch 
darin von Sitten luid Gebräuchen gesprochen wird, welche 
in dieselbe Zeit verweisen. Dazu gehört z. B. das Schminken 
der Damen und die langen Schleppen der Frauenkleider, 
(Str. 84 u. 101); unsere didaktischen Gedichte des vierzehn- 
ten Jahrhunderts erwähnen dasselbe. 

Das Gedicht ist in künstlichen, zwölfseiligen Strophen ge- 
schrieben, von denen jede nur zwei Reimsilben hat, wovon 
die eine auf die Verse 1, 2, 4, 5, 9 und 12, die andere auf die 
Verse 3, 6, 7, 8, 10 und 11 fällt. Es enthält eine ununter- 
brochene Moralpredigt über Tugend und Laster, und geht 
ganz gewiss aus der Feder eines erfahrenen Dichters hervor. 
Seine religiösen Betrachtungen nehmen nicht selten die Form 
der schärfsten Satyre an. 

Die niederländische Uebersetzung wurde von einem ge- 
wissen Gielis von Molhem begonnen, der aber nicht mehr als 
94 von den beinahe 300 Strophen vollendete. Ein anderer 
Dichter übernahm seine Arbeit; wir wissen von ihm nur, da^s 
er Hendrik hiess, aber es ist uns sogar nie bekannt, ob er die 
Uebersetzung zu Ende führte. Die einzig bekannte Hand- 
schrift ist nehmlich unvollständig. 

Prof. Serrüre hat die Vermuthung aufgestellt, dass Beide 
in die Abtei von AfHighem gehörten, welche nicht weit- von 
Molhem lag. Doch scheint diese Vermuthung nicht annehm- 
bar. Wäre sie richtig, so erschiene es sehr sonderbar, dass 
Hendrik nicht einmal den Grund wüsste, warum sein Vor- 
gänger das Werk unvollendet Hess. Denn er fragt, ob es viel- 
leicht der Tod gewesen sei. 

Früher rechnete man das niederländische Gedicht zimi 
zwölften Jahrhunderte; hauptsächlich wegen der Sprache, in 
welcher es verfasst ist. Aber es scheint, dass der verworrene 
Styl, der durch die geringe Leichtigkeit entstand, mit welcher 
Gielis seinem Vorbilde nachstrebte, auf einen Irrweg gefiihrt 
habe. Die Sprache des Gielis ist die Sprache Maerlant's^), mit 
dessen Werken der wenig jüngere Hendrik wahrscheinlich 
nicht unbekannt war. ^) 

*) Vergl. z. B. Str. 95 und 96, die letzten von Gielis Hand, mit 
Maerl. Sp. Hist. III, P. I. B., C. 39. Vers 33 und C. 42, Vers 1. 

') Der Ausdruck „plucken vanden stove", Str. 112, scheint der ersten 
Strophe des Wapene Martijn entlehnt zu sein. 



. V. Die geistliche Poesie. 201 

Das Gedicht, obwohl es in einigen Theilen nicht schlecht 
ist, zeiclmet sich doch durchaus nicht ab poetisches Produkt 
aus. Wenn es einerseits zur geistlichen Poesie gehört, so 
kann man es jedoch eben so gut in die büi^eriich didaktische 
Schule einreihen, von deren Geiste es durchdrungen ist. 

101. Beim Schlüsse dieser Abtheilung ist die wieclerholtc 
Frage gerechtfertigt: ob wir nicht im Allgemeinen mit iinserui 
absprechenden Urtheile über die myetisch-asee tische Literatur 
zu streng waren. H faut juger les Berits d'aprfes leur date. 
Will dieser Ausspruch nicht sagen, dass diese Werke, wenn 
sie auch keinen absoluten Kunstwerth besitzen, docli einen 
verbältnissmässigen Werth haben können? Und dass dieser 
nur denen verborgen bleibe, „die in den Geist jener Zeiten 
nicht zurückkehren können und wollen?" (Bormans.) 

Gewifis muss die damalige Zeit in Betracht gezogen werden, 
wie wir dies auch bei der Beurtheilung des Walewein gethan 
haben (S. 146), aber man wird wohl zugestehen, dass es be- 
stimmte, ästhetische Wahrheiten gieht, die weder von Zeit 
noch Ort abhängig sind. Es ist hier nicht die Frage, oh mau 
an Wunder oder Mirakel glaube, oder ob man Sinn für Aacetik 
und Verleugniing des Fleisches habe. Alles kommt nui- darauf 
an, ob von den verwendeten Mitteln ein solcher GJebraucli gc-- 
macht wurde, dass sie den vom Dichter beabsichtigten Zweck 
erreichen mussten. Und ohne Zögern muss ich darauf ant- 
worten: nein. Und damit ist auch vom Standpunkte der 
Kunst aus der Stab Über dergleichen Werke gehrochen. 
Wo der Dichter danach strebte, den Forderungen der 
Kunst zu genügen, wie in dem Leben Jesu, dem Theo- 
philus, der Beatrijs, haben wir ihm volle Gerech- 
tigkeit widerfahren lassen. Aber die frömmsten Zwecke kön- 
nen keinen Verstoss gegen die ewigen Gesetze des Schönen 
entschuldigen, ebensowenig wie eine Abweiclnmg vom iSittcn- 
gesetz, ad majorem Dei gloriam verübt, jemals zu verthcidi- 
gen ist. 

Man irrt sich sehr, wenn man sich auf die allgenieine 
Verbreitung dieser Gedichte beruft, um daraus zu schliessen, 
dass sie den allgemeinen Zeitgeschmack betriedigteu , also 
nicht so ganz geschmacklos sein könnten. Denn, wenn erstens 
auch die Verbreitung dieser Art Gedichte gross war, so wai' 
sie doch ganz gewiss nicht allgemein. Aber wäre sie fs auch 



202 V. Die geistliche Poesie. 

gewesen, so würde dies doch nur für die allgemeine Ent- 
artung des Schönheitssinnes zeugen. 

Und davon ist in der That die letzte Periode des Mittel- 
alters nicht frei zu sprechen. Denn eine Uebersicht über die 
ganze Literatur belehrt uns, dass für das wahrhaft Schöne 
kaum noch Sinn bestand. Auf einer Seite forderte der grobe 
Geschmack die gröbsten Reizmittel supra-romantischer Un- 
möglichkeiten, welche dem Zuhörer Zittern und Beben ver- 
ursachten, was wenigstens noch nicht ganz unästhetisch war. 
Auf der andern Seite verlangte das abgestumpfte Gefühl die 
düstersten Bilder, die nur hysterische Rührungen hervorbrin- 
gen konnten. Denn man fiihlte sich nur pathologisch ergrif- 
fen, aus persönlicher Furcht vor der Höllenpein. 

Für diesen Reiz waren diejenigen imempfindlich, welche 
den Blick nur auf den Himmel gerichtet hatten und sich um 
weltliche Schönheit gar nicht kümmerten. 

Ebenso diejenigen, die vorzugsweise Sinn für die prakti- 
schen Fragen des gesellschaftlichen Lebens hatten. Und auch 
diese untersuchten nicht: Was ist schön? sondern: 'Was ist 
wahr? Was ist gut? Was macht uns tüchtiger fürs Leben? 
Und das war die siegende Richtung, die Richtung der rea- 
listischen Mehrheit der Bürgerschaft. 



VI. 
Die bürgerliche Didaktik. 



l02. Wir haben uns jetzt einem neuen Wendepunkte in 
der Geschichte europäischer Bildung genaht : ein neufr, kräf- 
tiger Faktor tritt auf, der zu einer vollständigen Umwälzung 
auf geBellschaftlichem, also auch auf HterariBchem Felde führt. 
Wenn schon die Völkerwanderung, später die Einfülirung 
des Christenthums, auf den gesellschafdichen Zustand und 
die Richtung der Ijteratur grossen Eiufluss ausübte: so waj' 
der Ein£uss vom Auftreten der Bürgerschaft in die Welt- 
geschichte nicht weniger gross. Von diesem Augenbhcke an 
erzitterte die feudale, gesellschaftliche Parthei in ihren 
Grundfesten, und bald wurde auch die aristokratische, idcali- 
sirende Poesie durch die nüchterne Didaktik des positiven 
Bürgers ersetzt 

Wir müssen deshalb die Ursachen beobachten, weiche 
diese grosse Umwälzung ins Leben riefen ; aber ehe wir dazu 
übergehen, erlaube man uns die Bemerkung, dass die bürger- 
liche Didaktik auf literarischem Gebiet das Feld schon vor- 
bereitet fand. 

Praktischer Sinn war von jeher dem „dietschen" Stamme 
eigen, imd sogar bis zu dem Grade, dass die idealistische 
Ritterpoesie niemals tiefe Wurzeln schlagen konnte. Auf 
vlämischem Boden entstanden eigentlich keine ursprünglichen 
Rittergedichte (was am französischsprechenden, gräflichen 
Hofe geschah, ist nicht zu rechnen). Mitten im glänzend.iteu 
Zeiträume der Romantik sahen wir schon mehrere Jlale den 
realistischen Sinn durchschimmern. Er liegt dem Reinaert 
zu Grunde und bemeistert sich sichtbar des Dichters vom 
Morian. Dass dieser Geist die Oberhand gewann, sobald 



I 



1 



204 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

sich der dritte Stand als selbstständiges gesellschaftliches Ele- 
ment geltend machte^ ist natürlich. Aber schon früher bemerkt 
man ihn in einigen Werken, welche man als die Vorläufer 
der eigentlichen, bürgerlichen Schule betrachten kann. 

Ich habe hier in erster Reihe eine Uebersetzung von 
Cato's Disticha de Moribus im Auge, welche unter dem Namen 
Die Dietsche Catoen erschien. Maerlant erwähnt schon 
derselben in seinem Spiegel Historial (1284). Wenn es 
wahr ist, was wohl annehmbar erscheint, dass in den Floris 
einige Zeilen aus diesem Gedichte aufgenommen worden sind, 
so würde es bis kurz vor das Jahr 1250 zurückreichen! Das 
weist uns auf das Ende der Regierung Johanna's von Kon- 
stantinopel, die, wie bekannt, viel für den Unterricht in Flan- 
dern that. Es wäre dann auch nicht zu verwundern, dass 
ein bestimmt in den Schulen eingeführtes Buch ungefähr in 
dieser Zeit entstand. 

Die Disticha sind zweizeilige Verse, welche Lebens- 
regeln enthalten : der Uebersetzer hat jedes Distichon in eine 
vierzeilige Strophe übertragen, doch nicht immer mit der 
wünschenswerthen Treue. Selten giebt er das Lateinische 
glücklich oder vollständig wieder. 

Wegen seines geringen, literarischen Werthes scheint 
dies Werk auch bald in Vergessenheit gerathen zu sein. 

Ausser in der eigentlich didaktischen Form finden wir 
den moralischen Beweis auch zuweilen mit epischer Erzähl- 
weise verbunden. Dies findet in der Fabel statt. Sie schil- 
dert uns gewöhnlich Bilder aus der Thierwelt, deren Haupt- 
zweck jedoch inuner ist, eine sittliche Wahrheit zu veranschau- 
lichen. Gerade dieses unterscheidet sie von dem Thierepos. 
(Vergl. oben S. 31). 

Auch in Niederland kannte schon Maerlant die Fabel- 
dichter Noidekijn und Calfstaf, und spendet der Uebersetzung 
einer Sammlung äsopischer Fabeln, welche beide veröffent- 
lichten, das höchste Lob. 

Höchstwahrscheinlich ist uns ihr Werk grösstentheils er- 
halten geblieben. Wir besitzen wenigstens eine Sammlung 
niederländischer Fabeln, die zweifelsohne aus dem dreizehnten 
Jahrhundert stammt. Sie ist unter dem Namen Esopet be- 
kannt. Vor alten Zeiten trugen alle Fabelversanunlungen den 
Namen Es opus: also auch die mittelniederländische; nur in 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 205 

französischer Form. Esopet ist das französische Ysopet^ 
Nom. Ysop es, und dies wiederum der romanisirte Name des 
Vaters der Fabel. Die fremde Form schreibt sich wahrschein- 
lich daher, dass einer der Verfasser eine französiche Ausgabe 
unter diesem Titel kannte. 

Die Sammlung selbst besteht aus 67, aus dem Lateinischen 
übersetzten Fabeln, denen ein Prolog vorangeht. Die einzige 
Handschrift, in welcher sie vorkommen ist dem Anscheine 
nach nicht vollendet ; es kommt wenigstens kein Epilog in der- 
selben vor, und die letzte Fabel ist nicht einmal beendet. 

Diese Fabeln sind von verschiedener Art: bald echte 
Thierfabeln, dann wieder kleine Apologien, in der Form von^ 
Sprüchen. Meistens zeichnen sie sich durch Kürze imd eine 
klare, saubere Sprache aus 5 imd wir können heute noch Maer- 
lant's Urtheil unterschreiben, dass sie sind 

Ghedicht in rime scone ende fijn, 

(men) vinter inne 

Spellicheit ende wijsheit van sinne. 

103. Wir kommen jetzt zu der eigentlichen bürgerlichen 
Periode, welche die Folge von der Emancipation des dritten 
Standes war. Mit ihr eröffnet sich ein ganz neuer Zeitab- 
schnitt für die gesellschaftliche Entwickelung, und im Reiche 
der Ideen vollzieht sich eine vollständige Umwälzung. 

Die Emancipation war kein Ereigniss, das plötzlich, wie 
aus der Luft gefallen, eintrat. Es war seit anderthalb Jahr- 
hunderten vorbereitet; und wenn man den Leibeigenen der 
Grafschaft die Freiheit schenkte, so geschah es hauptsäch- 
lich, weil diese Freiheit nicht mehr zurückzuhalten war. 

Schon bei den Germanen scheint die Leibeigenschaft nicht 
sehr drückend gewesen zu sein; aber der Hofhörige, der mit 
dem Grund und Boden verkauft wurde, arbeitete doch nur 
für seinen Herrn; diesem kamen die Früchte seiner Arbeit 
ausschliesslich zu Gute, dem Arbeiter blieb nur so viel, als 
er für seine Nothdurft brauchte. Dass Landbau oder Industrie 
dabei nicht sehr vorausgingen, bedarf keiner Erklärung. 

Diesem Zustande machten die Landeigenthümer selbst 
ein Ende, indem sie, um ihre Einkünfte zu verbessern, die 
Zinspflichtigkeit einführten. Dabei behielt der Landmann die 
Früchte seiner Arbeit, musste aber einen gewissen Theil der- 
selben seinem Grundbesitzer abliefern. 



206 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

f Der Wohlstand des Zinspflichtigen' hing während sd- 
nes Lebens von seiner eigenen Thätigkeit und Tüchtigkeit 
ab; aber er besass kein £igenthum. Bei seinem Tode fiel 
Alles wieder an den Herrn zurück, und seine Kinder mussten 
wieder von Neuem beginnen. Der grösste Reiz zum An- 
sammehi eines Kapitals durch Arbeit imd Sparsamkeit, die 
Sorge für die Zukunft der Familie, bestand noch nicht. 

Aber auch dafür kam bald Abhülfe, als der Grundsatz 
der sogenannten Keurmede allgemein wurde. l)er Herr 
hatte das Recht auf die ganze Nachlassenschaft des Zinspflich- 
tigen: er machte aber von diesem Rechte keinen Gebrauch, 
er konstatirte es nur, indem er aus der Nachlassenschaft das 
beste katteel, ( Optimum catallimi) das beste Stück Vieh, 
nahm. Der Rest blieb den Blutsverwandten, die nun erst 
Erben wurden. 

Von diesem Augenblicke an hatte der Landbebauer seinen 
eignen materiellen Wohlstand, sowie den der Seinen, ganz in sei- 
ner Macht. Dies war hauptsächlich der Fall bei denen, welche 
aich in den immer grösser werdenden Centralpunkten, Dörfern, 
Flecken, und bald auch Städten auf Handwerke und Industrie 
verlegten. Dort entwickelte sich die neue Ordnung der Dinge 
sjD. schnellsten. Und das war nicht zu verwundern ; denn der 
zunehmende Luxus unter dem Adel arbeitete schon nach dem 
ersten Kreuzzuge der Arbeitsvertheilung in die Hand. Daraus 
-entstand eine grössere Lebhaftigkeit im Handel, welcher seiner- 
seits wieder auf die Entwickelung der Schiffifahrt zurück- 
wirkte. Die neuen Bedürfnisse, welche sich durch den zuneh- 
menden geselligen Verkehr stets vervielfachten, musaten be- 
friedigt werden; das schärfte den Verstand und erweckte den 
Unternehmungsgeist. Dadurch entstand Wohlfahrt und zuneh- 
mender Reichthum unter den Dorfbewohnern, die bald Städter 
sein sollten; und bald liess sich als natürliche Folge auch die 
Bildung verspüren. 

Dieser Wohlstand, den die neu erstandene gesellschaft- 
liche Klasse unter und mit materiellen Anstrengungen sich er- 
warb, schenkte ihr bald Einfluss und Ansehen. Dazu verhalf 
ihr auch der zunehmende Geldmangel der Fürsten, die bei 
ihr Hülfe suchten. Diesen Einfluss konnte die Bürgerschaft 
erwerben, erhalten und vermehren, weil mit der materiellen 
Entwickelung sich auch die sittliche und intellektuelle ausbrei- 



VI. Die bürgerliche Didakt^. 207 

tete. So wurde endlich der Augenblick geboren, in welchem 
die Fürsten das Band der Leibeigenschaft, dessen Druck für die 
veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse unerträglich gewor- 
den war, freiwillig lösten; denn es drohte von selbst zu springen. 
104. Wir haben schon darauf hingewiesen (S. 83 und 84), 
wie das aufblühende Bürgerthum, welches immer mehr das Be- 
dürfniss noch Geistesnahrung fühlte, sich erst eifrig der Literatur 
des Adels bemächtigte. Wir erwähnten aber schon, dass im 
Verhältniss zum deutlicher werdenden Selbstbewusstsein im 
Kerne des Niederländischen Volkes, sich auch das Bedürfiiiss 
geltend machte, seine eigene Natur ideal in einer eigenen 
Literatur abzuspiegeln, wie sie sich schon real in allen For- 
men des praktischen Lebens abdrückte. 

Man kann wohl mit Sicherheit a priori feststellen, welches 
die Richtung dieser Literatur sein musste, wenn wir auch jeden 
Fingerzeig der historischen Erfahrung dabei entbehrten. 

Unser Volk ist von Natur nüchtern und realistisch. 
Es hat, wie sehr man dies auch hat bestreiten wollen, niemals 
für ideale Darstellungen geschwärmt. Die Poesie ist hier im- 
mer eine Treibhauspflanze gewesen; wenn wir auch eine 
grosse Anzahl Versemacher gehabt haben, und die realistische 
Malerschule des Südens und Nordens beweist ebenfalls unsern 
Ausspruch. 

Wenn sich der Adel an phantastischen Rittergedichten 
ergötzte, welche solchen Idealen huldigten, die mehr und mehr 
in Streit mit der friedlichen Art eiUes ruhigen Volkes standen, 
ja, die sogar in Widerspruch mit der menschlichen Natur 
selbst waren: so kann dieö nur durch ein Fortreissen- Lassen 
durch den fremden Strom erklärt werden. Aber dies war von 
der Bürgerschaft der am frühesten entwickelten, niederländi- 
schen Provinzen nicht zu erwarten. Bei Balduin VI. Tode 
(1070) war die Fehde zwischen dem vlämischen und französi- 
schen Blute schon zum Ausbruche gekommen, und seit dieser 
Zeit war die Vorliebe der vlämischen Grafen für welsche 
Lebensformen und Sitten, lür französische, aristokratische Be- 
griflfe, die französische Dichter genährt hatten, durchaus nicht 
geeignet, dem vlämischen, freiheitliebenden Städter für ein 
Produkt Frankreich's Greschmack einzuflössen. Er sandte 
sein Auge auf das eigene Land, auf die eigene Nation, auf die 
eigenen Bedürfnisse. 



208 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

Daher war es unvermeidlich, dass die bürgerliche Literatur 
einen vorzugsweise praktischen Charakter trug. Die Bürger- 
schaft; hatte sich durch Landbau, Handel und Industrie zu 
einem selbstständigen, einflussreichen Mitglied der mensch- 
lichen Gesellschaft erhoben. Diesen errungenen Standpunkt 
zu erhalten und zu verstärken, war ihr Hauptaugenmerk. 
Dazu brauchte sie zweierlei: einerseits gesunden Menschen- 
verstand und Kenntnisse, um ihre Unternehmungen im grösseren 
Massstabe auszufuhren; zweitens: Verstärkimg des sittlichen 
Gefühls, welches die zügellose Ritter- und Priesterschaft ganz 
verloren hatte. Und gerade dies war hauptsächlich nöthig, 
um die Sicherheit für Verträge und die Ehrfurcht vor allen 
gesellschaftlichen Verhältnissen und Zuständen zu verbürgen. 
Wissenschaft und Sittlichkeit waren die Hebel der neueingetre- 
tenen Periode: die Bürger fühlten, dass sie dadurch den Sieg 
über die Aristokratie errungen hatten. Darin lag ihre Kraft, 
und sie strebten danach, dieselbe immer mehr zu entwickeb 
und zu vervollkommnen. 

Und diejenigen, welche für sie die Feder ergriffen, waren 
ganz natürlich vielmehr berufen, den Durst nach Kenntnissen 
zu löschen und Sittenlehre zu predigen, als dem Ohre und der 
Phantasie mit süssen Klängen und idealistischen Darstellun- 
gen zu schmeicheln. Die bürgerliche Literatur konnte nur 
didaktisch sein. 

105. Nur ausnahmsweise haben jedoch die Schriftsteller 
dieser Schule die Didaktik' in so engem Sinne aufgefasst, dass 
sie dieselbe dem technischen Unterrichte dienstbar machten. 
Nur einzelne Traktate zeigen diese Richtung, und dann ist es 
doch immer die Lehre der Natur, die darin auseinanderge- 
setzt wird. 

Gewöhnlich betrachtete man die Wissenschaft, welche 
Macht verleiht, aus einem erhabeneren Standpunkte; und die 
meisten Schriftsteller dieser Sphäre beschäftigen sich mit Be- 
trachtungen und mit den brennenden Tagesft*agen, welche wich- 
tig genug waren, um für alle Zeit Hauptfragen der Mensch- 
heit zu bleiben. 

Was uns beim ersten Anblick in die Augen filUt, ist der 
breite Raum, den man der Geschichte dabei gönnt. Eine An- 
zahl besonderer oder allgemeiner Chroniken erscheint; die 
besten derselben melden nicht nur die blossen Begebnisse, 



VI. Die bärgerUche Didaktik. 209 

Bondem suchen auch aus dem Geschehenen praktische Lehren 
zu ziehen. Als Beispiel verweise ich hier schon auf Maerlant's 
Spiege^l HistoriaaL Dieser Sinn für Greschichte darf uns 
sieht verwundern: denn weil das Bürgerthum jetst eine Zu- 
kunft hatte, so musste es wohl auch Antheil an der Vergan- 
genheit nehmen. Die Besultate, welche die scholastischen, 
kirchlichen Schriftsteller errungen hatten, bekamen auch für 
sie Interesse, und wurden deshalb dem Volke in der verständ- 
lichen Volkssprache vorgeführt. 

Aber überdies musste die erste Anerkennung eines Theiles 
des Menschengeschlechtes als Menschen, das Auge zumal 
auf das Gemüthsleben, auf Sittlichkeit und Tugend rich- 
ten; auf Alles, was den eigentlichen Werth, den Adel des 
Menschen ausmacht, mehr als die äusseren Lebensumstände. 
Und aus diesem Ideenkreise schöpfte man hauptsächlich die 
Waffen, mit denen man die geschehene Umwälzung gegen 
Vorurtheil und Dünkel zu vertheidigen suchte. 

Was hatte, so fragte man, die abgelebte Ordnung der 
Dinge vollbracht, die Menschen besser und glücklicher zu 
machen, um Ordnung, Friede und Wohlfahrt zu befördern? 

Und die Antwort darauf war: Nichts! Im Gegentheil, was 
gegen Gottes Gebot und die Gesetze der Natur stritt^ das hatte 
sie in einem solchen Grade zu Ehren gebracht, dass man wohl 
an das Nahen des jüngsten Gerichts glauben konnte. Denn 
AUes erinnerte an das Apostelwort: am Ende der Tage wird 
ein Jeder nur sich selbst suchen. Es war so weit gekommen, 
dass Weltliche und Geistliche, Männer imd Frauen, ihre Seele 
fiir irdische Güter aufs Spiel setzten. Nur Schmeichler, die 
gefallig nach dem Munde der Menschen sprachen, waren in 
Ansehen; wer für Recht und Wahrheit zu kämpfen wagte, 
wurde verspottet und verfolgt Treu und Glauben war ein 
leerer Schall geworden, ja, das Pergament, durch der Herren 
Siegel bekräftigt , hatte nicht mehr Werth, als das leere Wort 
des ersten besten Landläufers. So sprach und so schrieb man. 

Wer das beobachtete, und dabei sah, wie der Böse Alles 
gewann, was sein Herz begehrte, der musste zu dem verzwei- 
felten Schlüsse kommen, ein blindes Schicksal regiere die 
Welt, hätte man nicht gewusst, dass Glück in Sünden der 
nächste Weg zur Hölle sei. 

Und wenn man dann nach der Ursache alles Uebels, 

JonckbloeVs Geschichte der'niederländischeh Literatnr. Band I. 14 



210 VI. IMe bfirgeriiche Did&ktik. 

alles Unrechts, aller Gewalt frug, worunter die Q^BellBchaft so 
lange gebückt ging; wenn man femer nach dem Grunde der 
Tyrannei frug, welche der Mächtige über den Schwächeren 
ausübte: 80 trat in jenen Tagen natürlich die Frage der Leib^ 
eigeiischaft vor allen anderen in den Vordergrund. 

Eigennutz und BcholaetiBche Gelehrsamkeit hatten diese 
Jiiiiiiuhtung vertheidigt; aber war sie zu vertheidigen ? 

Wenn alle Menachen von einem Adam abstaomiten, wie 
war es dann möglich, dasB der Eine frei und edel, der Andere 
ein Öclave war? Warum war der Edle gefeiert, und warum 
muBste der Unadlige BtetB hören? 

«Fi, 
Ganc wech, God onoere dil 
Du beet der werelt scarne." 

M.an berief sieh zu seiner Entschuldigung auf die Bibel. 
Die Leibeigenen Bollten von Kain abstammen, dem Bruder- 
m.irdrr, den Gott verflucht habe. Aber lehrte nicht gerade 
die ISibel, dass dessen ganzes Geschlecht in der Sundfluth um- 
kam 'i Andere behaupteten, die Hörigen seien die Nachkonunen 
von Noah's bösem Sohne Ham , den des Vaters Fluch getrof- 
fen hatte. Menschenirrthum ! 

Kein, das deutsche, allgemein gefeierte Gesetzbuch, der 
8aciisonapiegeI, gab besseren Bescheid: auf diese unumstösshche 
p»piil(ire Autorität berief man sich gegenüber den scholasti- 
sclieii TrugschlüBBen. Und darin las man: die Leibeigenschaft 
ist iiiiü Missbrauch der Gewalt hervorgegangen;*) nach einem 
Kampfe verkaufte der Sieger die Gefangenen: das waren die, 
aui' welche man nun so tief niedersah. Aber Gott lässt die 
Geschlechter der Menschen steigen und fallen. Wer sein . 
Gebot verschmäht, wird zum Fall verurtheilt; wer ihm dient, 
deät^eii Geschlecht wird er erheben. Dies erklärt, dies sank- 
tioniit die neue Ordnung der Dinge. 

War der Adel, nach der Lehre des Alanus, des Pariser 
Lehrers, des „doctor universalis", die Folge ererbten Besitzes, 
flo k';unte solcher Adel jeden Augenblick vernichtet werden; 
denn wurde man arm, so war es damit gethan. Nein, riefen 
die bürgerlichen Schriftsteller wie aus einem Munde; nein, der 

') „Nach rechter warh^it so hat eigenachaft begiu von getwange 
und vtia gevenkniaae und von unrechter Gewalt, die maa tod aldere in 
unreclit« gewonhej^ gezogen hat und na ror recht habn wii." 



VI. Die biirgeiliclie Didaktik. 211 

Adel liegt in etwas Anderem. Wer ehrlich und brav ist, das 
iBt der -wahre Edehnann, und wäre er auch ein entlaufener 
Sclave. Und verkaufte man auch einen solchen Mann, ao 
büBste er dadurch doch Nichts von seinem inneren Wcrthe 
ein. Wer darum den Adel erwerben will, der halte dreierlei im 
Auge: Arbeitsamkeit, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit Tugend 
war früher die erste Sprosse zum Adel So ist es auch heute noch, 
1U6.- Das waren die wichtigen Gegenstände, welche beinahe 
«lle unsere didaktischen Dichter aus dem dreizehnten und 
vierzehnten Jahrhunderte behandelten. Und das war natür- 
Hch; denn es waren die questions brälantes des Tages. 
Man beschränkte sich jedoch nicht auf diese demokrati- 
schen Wahrheiten; man lieas sich, zumal im ersten Taumel, 
zu kommunistischen Träumen verleiten. Man gelangte nehm- 
lich zu dem Schlüsse, dass jede Ungerechtigkeit, welche die 
Kinder desselben Adam's veruneinigt, dass Hoffarth imd Mi«s- 
gunst, welche Einen gegen den Andern aufhetzt, nur aus dt-n 
zwei Wörtchen Mein und Dein entstehen. Konnto iii;iii 
diese verschwinden lassen, dann würde Friede und Eintracht 
herrschen, und nirgends würde Sclaverei sein; Mord und Tod- 
■ schlag würden aufhören. Gott hat die Güter der Erde dtr 
ganzen Menschheit gegeben, und es ist genug fiir Alle vor- 
handen. 

Es währte übrigens nicht lange, bis die Bürgerschaft durch 
ihre praktische Vernunft von aolchen übertriebenen Ideen zurück- 
gebracht wurde. Die Demokratie bleibt, obgleich sich echon 
bald die ersten Spuren, welche das Erblühen einer städtist-hc-n 
Aristokratie ahnen lässt; und der Kommunismus war wii; o\no 
drohende Gefahr vorübergezogen. Man behandelte noth nnt 
Vorliebe Fragen staatskundiger und gesellschaftlicher Art r man 
zergliederte das Recht und den Ursprung jeder Autorität, der 
Könige und' der Fürsten; man entwickelte seine Ideen über das 
Wesen guter Fürsten und tüchtiger, städtischer Behörden ; aber 
nach und nach wurde die Polemik weniger heftig, unddorfeind- 
liche Geist gegen frühere Zustände und Einrichtungen {r^ht 
in den Ton der Apologie für das Bestehende über, — Von 
nun an heisst es in bestimmterem Tone, die Welt sei jetzt 
besser als früher, iind zumal seien es die Bürger und die 
Bauern, die sich durch Tugend, Ehrlichkeit und Treu und 
Glauben vor den weltlichen Grossen und Prälaten auezeichiicn. 

11* 



212 VL Die bürgerliche Didaktik. 

Doch ist man nicht blind für die Mängel; welche sich in 
der Bürgerschaft; und zumal in den Städten aus dem zu 
schnell gestiegenen Wohlstande entwickeln. Und auch ihre 
Verschwendung und ihre Eitelkeit wurden von dem Augenblicke 
an öffentlich zur Schau gestellt; als sie in die Verkehrtheiten aus- 
arteten; welche früher in den höheren Ständen getadelt wurden. 

Auf diese Art erlaubt uns die bürgerHche Didaktik einen 
tiefen Blick in die Entwickelung dieses gesellschaftlichen Stan- 
des; der beinahe von seinem ersten Auftreten an einen über- 
wiegenden Einfluss auf den Gang der Weltbegebenheiten aus- 
üben sollte. 

107. Was uns bei den Schriftstellern dieser Schule zumal 
ins Auge fallt, ist ihre Ehrfurcht vor Wissenschaft und Ge- 
lehrsamkeit; die aus ihrer Wahrheitsliebe hervorging. Die Li- 
teratur war nun auch; wie man leicht begreifen kanu; aus den 
Händen der Dichter in die Hände der Schreiber von Beruf 
oder Gelehrten übergegangen. Diese beschränkten sich natür- 
lich nicht bloss auf die Behandlimg der politischen Fra- 
gen des Tages ; sondern strebten auch nach der Ausbreitung 
nützlicher; allgemeiner Kenntnisse. 

Dies geschah, in doppelter Hinsicht. Einestheils durch 
Lehre und Predigt, aufbauend; und zwar mit dem grössten 
Eifer; wie die Zahl der didaktischen Schriften beweist; welche 
grösstentheils aus Uebersetzungen und Nachahmungen nütz- 
licher Werke bestehen; und die bis zu jenem Augenblicke 
nur für die zugängUch waren, welche die Kirchensprache ver- 
standen. Aber man ging auch negativ dabei zu Werke, indem 
man vor den Geistesprodukten eines Zeitraimies varntO; dem 
man nun den Rücken zukehrte ; vor der Lügensprache jener. 
;;fal8chen; französischen Poeteu; die mehr reimen ; als sie wis- 
sen"; und für deren phantastische Schöpfungen der nüchterne 
Verstand keinen Sinn hatte. Hierbei kam es weniger auf 
Studium oder Eifer an ; hier war Wärme der Ueberzeugung' 
erforderlich; und daran fehlte es nirgends; nicht einmal an 
Leidenschaftlichkeit. Man verwarf nicht nur die Poesie, 
welche von Frankreich herübergekommen war; sondern auch 
die aus dem Französischen übersetzten; wissenschaftlichen Werke 
wurden nur aus diesem Grunde verurtheüt. Und die Wärme, 
mit welcher die Zuhörer solcher Sprache lauschten; reizte den 
Eifer der Lehrer. Der Widerwille vor den höfischen Dichtern 



VI. Die bürgerüche Didaktik. 213 

hatte nicht nur Liebe zur Wahrheit zur letzten Ursache, 
sondern auch das Gefühl der verkannten Nationalität; dies 
'war zumal der Fall in Flandern, wo Fürst und Adel aus- 
schliesslich französische Literatur begünstigten und französi- 
schen Ideen huldigten. 

Im Allgemeinen kann man also behaupten, dass die bür- 
gerliche Literatur von einem kritischen Geiste beseelt war. 
Aber man würde sich irren, wenn man glaubt, dass sie in 
Anlegung dieser Kritik immer glücklich war, oder das rechte 
Maass hielt. Man verwechselte nur zu oft die Pfleger der 
"Wissenschaft mit der Wissenschaft selbst; imd durch den 
daraus hervorgehenden Autoritätsglauben entairtete die Eaitik 
zuweilen in eine leere Schaustellung von Scheingelehrsamkeit. 

Der Sinn für Wahrheit, auch fiir historische Wahrheit, 
hatte einen Widerwillen gegen die handgreiflichen Anachronis- 
xnen erweckt, welche die Volksüberlieferung erlaubt; sowie 
gegen die fremden Bestandtheile, mit welchen die Phantasie 
die Geschichte nationaler Helden, wie Karl's des Grossen, 
ausgeschmückt hatte. Aber bei dem Verwerfen der romanti- 
schen Ueberlieferung der Ritterpoesie suchte man eine Stütze 
in den trockneren und deshalb ernster scheinenden Mönchs- 
chroniken, welche in der Kirchensprache geschrieben waren, 
sich auf wichtige Quellen beriefen , sich oft auf das Zeugniss 
^on Heiligen und Kirchenvätern stützten, und dadurch einen 
Schein der Authentie erhielten, vor welcher man das Haupt 
beugte. Aber zugleich übernahm man mit unbeschreiblicher 
Uaivetät jede scheinbar wissenschaftliche Phantasmagorie, 
sowie jede, auch die unbedeutendste Legende. Dazu kam noch 
die Einseitigkeit, welche jede neue Richtung unverträglich 
gegen die vorhergehende macht, und wodurch sie sich gerade 
'auf die Trümmer des von ihr Umgestürzten zu erheben sucht; 
endlich die Eitelkeit, womit die Verfasser ihre neuverkünde- 
ten Wahrheiten, und ihre Brunnen himmelhoch erhoben. 

Dies Alles möge uns, die wir von einer vollständigeren 
Entwickelung verwöhnt sind, zuweilen zu einem Achselzucken 
über die Engherzigkeit der neuen Schule zwingen. Dabei 
dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass die Schriftsteller den 
ersten Schritt auf die neue Bahn setzten, und dass sie nicht 
immer über die nöthigen Mittel verftigen konnten, um den 
rechten Pfad nicht zu verlieren. Hauptsächlich darf ihre Auf- 



214 VI. Die bürgerliche Didaktik, 

richtigkeit nicht in Zweifel gezogen werden, und gerade durch 
diese hat ihr Werk reiche Frucht getragen. 

108. Bei der Richtung, welche der bürgerlichen Literatur 
aus der Natur der Sache selbst vorgezeichnet war, konnte in 
dieser Schule kaum die Rede von Poesie sein. Nur als seltene 
Ausnahme begegneü wir daselbst den Funken dichterischen 
Feuers; und wenn ihre Produkte unter die poetischen ge- 
zählt werden, so geschieht das allein wegen ihrer rhythmischen 
Form, von der sie sich noch nicht ganz losgesagt haben. Erst 
bei grösserer Entwickelung scheiden Poesie und Prosa aucK 
in der Form von einander. (Vergl. S. 103.) 

Dieser Mangel an dichterischem Inhalte darf uns jedoch 
für die literarische Bewegung, welche in der letzten Hälfte 
des dreizehnten Jahrhunderts beginnt, nicht gleichgiltig machen^ 
oder uns veranlassen, ihr weniger Platz in unserm ür 
theile einzuräumen. Sie hat ihren eigenthümlichen Reiz, 
Und nicht bloss, weil sie für die Geschichte der Ent- 
wickelung dieses in so vieler Beziehung merkwürdigen Zeit- 
abschnittes höchst wichtig ist; sondern zumal, weil sie gerade 
durch ihren nationalen Charakter von überwiegendem Enflusse 
auf die Richtung der niederländischen Literatur bis auf unsere 
Zeit geblieben ist. Sie hat für immer ihren Stempel darauf 
gedrückt. 

Die Ritterpoesie, die fremden Ursprungs war, hat bei ims. 
wenige Spuren zurückgelassen; sie hat niemals grossen, und 
durchaus keinen bleibenden Eindruck auf imsern Geist aus- 
geübt. Desto mehr aber die bürgerliche Didaktik. An ihr 
hatte der Verstand mehr Antheil als die Phantasie, und da- 
durch wurde sie der treue Spiegel des sich selbst bewusst 
werdenden, niederländischen Volkes. Der nationale Geist 
hatte in ihr das passende Kleid gefunden; mag nun in späte* 
rer Zeit Schnitt und Zierrath eine Veränderung erfahren ha- 
ben, der Grundstoff des Kleides wurde niemals abgelegt. 

Die bürgerliche Literatur dieses Zeitraumes wird durch 
die Einseitigkeit charakterisirt, welche nur eine grosse Um- 
wälzung hervorbringen kann. Sie verkennt unbestreitbar die 
Forderungen des Gefühls und der Phantasie auf Kosten de» 
Nützlichkeitsprinzipes. Diese Einseitigkeit konnte nicht von 
Bestand sein. Zufolge des Menschen Streben nach geistiger 
Totalität und Harmonie trat die Phantasie bald wieder in ihre 



VI. Me bürgerliche Didaktik. 215 

Bechte; aber das dichterische Aufwallen wurde in seinen 
AeuBBerungen modificirt Die Poesie konnte eich nicht mehr 
Ton dem Einfluss des verständigen, bürgerlichen Faktors ent- 
ziehen. Sie wurde weniger naiv, mehr beschaulich, mehr — 
■vielleicht zu viel — von dem Gedanken befaerrschL Sie malt 
weniger und raisonnirt desto mehr. 

Aber gerade diese Hterarische Bewegung, welche so gros- 
sen, 80 bleibenden Eioflues auf unsere Literatur und die Ent- 
wickelung unsere Geistes ausgeübt, fordert unsre Aulinerk- 
samkeit im reichsten Maasse. Wir schenken dieselbe in erster 
Keihe dem Manne, der mit vollkommenem Bewusstaein die 
neue Bahn betritt, obschon er der Erste auf derselben war; 
dem Manne, der mehr als ein Anderer seine Zeit repräsentirt, 
der als Stifter der didaktischen Schule den Namen „der 
dietschen dichter vader" auf diesem Felde vollkommen verdient. 
Dieser Mann war Jakob von Maerlant. 

109. Beinahe alle Lebensverhältnisse dieses Reformators 
unserer Literatur liegen für uns im Dunkel. Nur so viel 
unterliegt keinem Zweifel, dass er ein Vläme war, wahrschein- 
lich in der Freiherr sc haft Brügge, vielleicht zu Damme, ge- 
boren, an welchem letzten Orte er auch gestorben und be- 
graben ist 

lieber sein Geburtsjahr fehlt jede Andeutung, und über 
sein Sterbejahr herrschen Zweifel; es scheint aber mit Be- 
stimmtheit in oder ums Jahr 1291 gerechnetwerdea zu können. 

Er führte seinen Namen nach einem seiner Wohnplätze; 
und die wahrscheinlichste Annahme unter den angeworfenen 
ist, daas dies Maerlant auf der Insel Voome lag, und eine 
Parochie östlich von Brielle bildete, mit welcher Gemeinde es 
später zusammenschmolz. 

Das Wenige, was wir von ihm wissen oder vermuthen, 
muBS aus seinen Werken entnommen werden, die wir also zu- 
erst von diesem Standpunkte aus einer kurzen Betrachtung 
unterwerfen mussten. 

Als seine ersten Werke gelten die romantischen Gedichte 
Troja und Alexander. In beiden nennt er sich noch 
Jakob, ohne Beinamen. Nun hat man die Frage aufgeworfen, 
ob nicht noch ältere Gedichte von ihm existirt habon, die 
vielleicht verloren gegangen sind. Denn in der Eeinibibel, 
die er im Anfang des Jahres 1271 vollendete, bittet ti- Gott 



216 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

wegen der lügenhaften Werke um Vergebung, mit welchem 
er sich früher befleckt, und die er aus Leichtsinn und 
„wereltlike minne" geschrieben habe. Ausser den zwei ge- 
nannten Gedichten sind keine anderen von ihm bekannt, in 
welchen er den später von ihm verurtheilten Gefühlen hul- 
digt; und deshalb hat man diese Worte der Reimbibel im- 
mer auf diese beiden zugepasst. Aber war das wohl richtig? 
hat man gefragt; und dabei dachte man an die Worte, die er 
später an sich selbst richten lässt: 

Jakob, dit was ooit (alt^d) dijn doen, 

Van vrouweh moetstu dijn sermoen 

Oft beginnen oft enden ^) 
in Verbindung mit dem, was er anderswo sagt, dass ein Ver- 
liebter kaimi Gelegenheit hat 

Om iet te pensene dan om sanc. 
Liess sich daraus nicht ableiten, dass die Gedichte, über welche 
er später Reue fiihlte, nicht nur Rittererzählungen waren; 
sondern dass er vielleicht wirkliche, lyrische Minnelieder 
meint? Daraus Hesse sich dann auch wohl schliessen, dass 
Maerlant in seinen Jünglingsjahren ein Minstrel, ein fahrender 
Sänger gewesen sei? 

Wir können diese Hypothese gewiss ruhen lassen. Zuerst 
gehörten die beiden genannten Rittergedichte in Maerlant's 
Augen gewiss zu den „logentlike saken". Denn obgleich er 
in der Reimbibel wiederholt auf beide verweist, so klagt 
er doch ün Spiegel Historiaal mehr als einmal, dass sie 
„met favelen dorsayet" sind. 

Ueberdies weiss man ganz bestimmt vom Alexander, 
dass er aus weltlicher Neigung verfasst wurde, und es ist 
mehr als wahrscheinlich, dass auch das andere Stück viel über 
Frauen und Minne handelte. 

Das Gedicht Troja ist nach dem Französischen des 
Benoit de Sainte More übersetzt, und es ist bekannt, dass in 
vielen französischen Handschriften der Roman d'En^as darauf 
folgt, welcher gewöhnlich demselben Verfasser zugeschrieben 
wird. In keinem anderen Gedichte wird der Liebe und Ga- 



^) Jakob, das war immer Dein Thun, 
Mit Frauen musstest Du Deine Bede 
Immer anfangen, oder enden. 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 217 

lanterie so viel Platz eingeräumt. Nuh^ dieses Gedicht hat 
Maerlant; als eine Fortsetzung des von Troja mit übersetzt. *) 
I>arauf können also die angezogenen Worte sehr gut hindeu- 
ten, und man braucht an keine weiteren, früheren Werke zu 
denken. 

110. Wann sind diese ältesten Gedichte geschrieben? 
Ueber das von Troja fehlen alle Anhaltspunkte. Ueber 
den Alexander haben wir ziemlich sichere Fingerzeige; 
und da ich früher*) behauptete, dass dies Werk sicher 
ins Jahr 1246 zu zählen ist, jetzt aber der Meinung bin, dass 
es sicher zehn Jahre jünger ist, so muss ich dies zu beweisen 
suchen. 

Diese Beweise sind dem Werke selbst entlehnt, und zwar 
einer Stelle des fünften und einer des siebenten Buches. Ich 
fange mit der letzteren an. 

Der Tod des Darius giebt Maerlant Anleitung zu einer 
Sittenpredigt, mit der Behauptung, man würde rechtschaffener 
leben, wenn man stets an die Qualen der Hölle oder an die 
Seligkeiten des Himmels dächte. Dabei gedenkt er E^aiser 
Friedrich H.: ^ 

Vrederic en hadde, dats mijn waen, 

Den paus niet yerdreven daen, 

Die gebeten was Innocent, 

Hadde hl versien dien torment, 

Dien hi doget al te hant.^) 

Es ist bekannt, dass Innocenz lY., aus Furcht vor des 
Kaisers Armee, den 30. Juni 1244 aus Bom entfloh; dass 
Friedrich darauf in die Acht gethan und des Beiches ver- 
lustig erklärt wurde, und dass er nach manchem Kampfe am 
13. December 1250 starb. Er wird in den angeführten Zei- 
len ersichtlich als todt dargestellt; denn dass mit dem Tor- 
ment, welches er litt, die höllische Strafe gemeint ist, 



^) Man lese den Anfang im Fragment nach Blommaert's zweiter 
Ausgabe des Theophilus, S. 74. 

S) Geschichte der Mnl. Dichtkunst, II. Theil, S. 438. 

*) Friedrich hätte, auf mein Wort 
Den Papst nicht vertrieben von dort, 
Der geheissen war Innocent, 
Hätte er sich versehn des Torment, 
Das er leidet nun zur Stund. 



218 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

unterliegt keinem Zweifel. Der Zusammenhang mit dem gan- 
zen Satze erklärt dies auch deutlich: darin wird erst im 
Allgemeinen von dem „Torment" gesprochen^ in welches die 
Sünde den Menschen stürzt^ und später wird es noch erklärt^ 
als „die rouwe vander heischen pine'^ Und a. a. O. wird 

ebenfalls erwähnt 

die ketel, daar hi wallet, 
Die quade, die in die helle vallet 
Dies führt uns von selbst ins Jahr 1251 oder 52, als des 
Kaisers Tod hier schon bekannt sein konnte. Aber auch vom 
Papste wird als in der vergangenen Zeit gesprochen, und da 
dieser den 7. December 1254 entschlief, so bringt dies die 
Uebersetzung des Alexander ins Jahr 1255 und 1256. Aber 
wahrscheinlich auch nicht viel später, da des Papstes Tod noch 
lebendig im Gedächtniss liegen musste als Anleitimg, um hier 
seines Kampfes mit dem Hohenstaufen zu gedenken. 

Und für diese Zeitbestimmung spricht ebenfalls eine 
Stelle aus dem fünften Buche. Es heisst daselbst, im Hinblick 
auf den Helden des Gedichtes, Vers 1195: 

AI die prijs, dien Julius wan 
Ende Augustus, die edele'man, 
Ende alle die keisere van Rome, 
Dat es gelij enen drome 
Daer men noemet desen here. 
Bedi (darum) hebben sijs cranke ere, 
Die boeke makeden van Arture, 
Van Partenopeuse, van Somagure, 
Sine hadden des mans daet bescreven 
Ende hem groten prijs gegeven. 



Ware sulc een coninc te Parijs, 
Hi soude bejagen groten prijs; 
AI heidenisse soude hi dwingen: 
Men soude van siere (seiner) doget singen 
AI van daer die sonne opgaet 
Tote daer si weder nederslaet. 

Ware ooe die hertoghe van Brabant 
Sulc een ridder wael becant, 
Dien roveren te Rippelmonde 
Soude dünken grote sende 
Toi te nemene met geweit 
Dengenen die varen op die Scelt. 



VI. Die bnrgerliche Didaktik. 219 

' Ich habe auch den Anfang dieser Stelle mitgetheilt, damit 
die Vergleichung mit dem Original beweisen kann, ') wie Maer- 
lant davon abweicht, und auch hierin Anspielungen auf seine 
eigene Zeit macht. Der „coninc te Parijs" giebt wühl den 
^rancorum regem" zurück, aber es ist hier keine f^prache 
■von Philipp August, sondern von Ludwig IX. 

War unsere Erklärung der früher angezogenen Zeilen 
richtig, so kann Maerlant hier nicht den Zeitraum zwischen 
lii44 tmd 48 im Auge gehabt haben, als Ludwig zögernd die 
"Vorbereitungen zu seinem ersten Kreuzzuge machte , weil der 
Dichter selbst sagt, daas er nicht länger ale ein halbe» Jahr 
an seiner Arbeit zugebracht habe. 

Nach seiner Befreiung aus den Händen der MoBlenuDen, 
13Ö0, blieb der König noch geraume Zeit im Orient; «rst 12.t4 
kehrte er nach Frankreich zurück und am 7. September des- 
selben Jahres, hielt er seinen Einzug in Paris. Erst nach 
diesem Zeitpunkte kann also Maerlant's Anmalmung zu 
einem zweiten Kreuzzuge datiren, und damit konnte er keinen 
Tadel gegen diesen Fürsten aussprechen, der, wie bekannt, 
seit seiner Bückkebr beinahe an nichts Anderes dachte. Daas 
Maerlant, der feurige Streiter für die Kreuzzüge, dem vielsei- 
tigen Drängen, mit welchem man dem König zusetzte, bei- 
stimmte, ist nicht zu verwundem. 



■) Der SchluBB des fünften Buches heiest im Uieprünglicheit s 
Tota dncan eeriee, vel quos Hispana po^sie 
Grandiloquo modulatn stylo, vel Claudius altia 
Veraibos ineignit, respectu principia hujus 
Plebü erit, ut pigeat tanto spleudore Lucanuu 
Caesarinm ceciniBse melos, Romaeque ruinam, 
Et Macedfim clarue enccumbit Honorius armis. 

Si genitu commota pio, octisque piorum 
FlebilibuB, divina daret cLementia talem 
Francorum regem, toto radiaret in orbe. 
Haud mora, rera fides, et noetris iracta sab aroiia 
Parthta baptismo renovari posceret ultra, 
Quodqae diu tacuit, eSusia moenibus alta 
Ad nomea Christi Chartitgo refugeret, et qua« 
Sub Carolo meruit Hispania Bolvere poenas 
Exigereat veiilla cnicis, gens omnis Jesum, 
Et netaio caneret, ac nou iuvita subiret 
SacTum Bub sacro Rhemorum presule fontem. 



220 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

Auch diese Periode fuhrt das Gedicht nicht weiter zunick, 
als höchstens bis 1255. Die Schlusszeilen der angezogenen 
Stelle begrenzen die Zeitbestimmung noch deutlicher. 

Sie verweisen augenscheinlich auf Herzog Heinrich HL, 
der 1260 starb. Der Alexander muss also zwischen das 
Jahr 1255 und 1260 fallen. Dies kann noch näher bestimmt 
werden. 

Es ist hier die Rede von einem Zolle , den die Vlämen 
zu Kupelmonde mit Gewalt erhoben; aber wie kommt der 
Herzog von Brabant dabei ins Spiel ? Wie konnte dieser fiir 
die Sachen der Behörde auf vlämischem Gebiete verantwort- 
lich gemacht werden ? Versuchen wir, ob die Staatsereignisse 
uns keine Erklärung geben. 

September 1256 wurde in Peronne, unter der Vermittelung 
des Königs von Frankreich, ein Friede zwischen Flandern 
und Holland geschlossen. Es wurde von beiden Seiten ein 
Waffenstillstand vom 24. September bis zum 13. Oktober an- 
genommen, und von diesem Datum finden wir eine Urkunde *), 
in welcher die Zollfrage, die question brülante zwischen 
beiden Ländern, beigelegt wurde. 

Schon von Alters her bestanden viele Beschwerden be- 
züglich dieser Zollerhebung. Es scheint, dass man in Flan- 
dern nicht zufrieden war mit dem Zolle, den die holländischen 
Grafen erhoben, und dass man sich dafür gewaltsam schadlos 
stellte, indem man den holländischen Handel erschwerte. 
Dass dem so war, beweist das später anzuführende dictum 
des Herzogs von Brabant Nicht nur wurden in Flandern 
Waaren aufgehalten, sondern auch Personen wurden gefangen 
genommen, verwundet und getödtet. Die Vlämen handelten 
wirklich wie Käuber. *) Im Vertrage vom 13. Oktober 1256 



1) Bei Klnit, Bist. Grit. Comitatas Hollandiae, Band 11., S. 681 
u. flgde« 

') In den pi^ces jostificatives nach dem ersten Theile von Wam- 
könig-Gheldolfs Histoire de la Flandre kommt unter Nr. XXI 
eine Sammlung Stücke vor, worunter auch 36^ das folgende: 

„Articuii dati a Florentio apud Kupelmondnm: „Isti 
sunt articnli violati infra treugas. 

„1* l^e Catche unus interfectus, alter vulneratus ad mortem, qui 
adhuc captivus tenetur et alii septem sunt adhuc capti in lapide Bru- 
gis : duas naves habuenmt oneratas avena, valentes centum et octoginta 
lib. Holland. 



VT. Die bfirgwlioie Didaktik. 221 

ivurde festgesetzt, dass den alten Bestimmungen (consuetu- 
dines) von 1168, bezüglich der Zollgesetze nachgelebt wer- 
den sollte. Ausdrü<^ch wird Iunzuge6igt, dass wenn ein 
Holländer oder Seeländer in Flandern beraubt würde, dann 
müsse der Landesherr des Räubers für Ersetzung des Baubes 
sorgen,*) Von beiden Seiten gelobte man, dem Aiw^pruehe 
des Herzogs von Brabant nachzukommen *), und dieser tükiärte 
Bchon am selben Tage, dass die Vlämen verpflichtet seien, den 
gewohnten Zoll an den alten fStellen zu entrichten, und dass 
die vlämischen Grrafen nicht zulassen sollten, dat^ä die 



„2. Item Mbbato acte Laetare Jerns. perdiderunt illi de 
Beymarewall bona valentia viginti octo lib. Lovan. 

„3. Item eodem die perdiderant homioea dni Godefridi de Cnmigge 
bona Tulentia XV. lib. fland. et quaedam mnher fuit vuloerala cum 
telo iu capite; quicquid dicto sabbato coutigit imponitoc famulis dui 
Wlfardi et dni St. dicti FrisoniB; et eiiverunt de portu, ubi MartinuB 
manet ab obpoütis Lille. 

,,4. Item tenentur trea bomines captivi de Kefmajaw»! apud 
Bapelmonde, qui fiierunt capti feria quarta poat Dominicam, (|ua caDta- 
tur IttTOcavit me. 

„ü. Il«m tenentur duo captivi de Harlem, negcimus utrum fuit 
intra treugae vel estra." 

Das kaua nicht auf den WafTenstillstaud von September- Oktober 
13Ei6 bezogen Bein, weil die angeführten Kirohengeaänge in dieai^in Jabre 
am 4. und 2ä März geflungen wurden ; aber es beweist docb , wie ea 
imter dem Vorwande von Schadlosatellung wegen det Zolleiliphung 
zuging. 

■) „Si quiB mercatorum in Flandria de Hollandia sivc Zclaiidia 
fiieritspoliatus, Dominus terrae illius, in qua depraedatio bujusmodi 
facta est, habitatores terrae illius, unde spoliator eititerit, ad Golvendam 
praedam competlat, alioqnin ipee Bolvet." 

'} Im Fried enBtraktate sagt Guy von Dampierre: „Cum auttm super 
teloneis, Btatutis locis, in Hollandia sive Zelandia a mercatoribuä 
Flandrensibos cum suis mercedibua et quibnscumque rebus vfiialibua, 
dicta telonea transeuntibuB , persolvendiB , tarn ex parte matris nustrae, 
quam ex parte dicti Domini Florentii fuerit in illustrem virum. Domi- 
num Henricum, Ducem Lotharingiae et Brabantiae, compramit^siim , ut 
ex utraque parte tarn pro se, quam buIb beredibus in omnlbus i^t per 
omnia super boc een'are piomiBeiint dictum Ducis , nos tarn pro uobia 
quam pro noBtris beredibus, comitibue Flandriae, dictum ipsiuH Ducis, 
quod super boc vel viva voce, vel suis literis, proprio sigillo muiillia, vel 
utroque modo publicaverit, ratnm habentes et gratum servare promitti- 
mue in omnibus et per omnia bona fide, quantum ad nos et bei'edes 
nostroB, comites Flandriae, apectaverit idem dictum." Eloit, S. liBT. 



222 VI. Die bürgerUche Didaktik. 

Holländer deswegen an Person oder Waaren molestirt 
würden. ^) 

Sowohl die vlämischen^ als die holländischen Grafen ver- 
sprachen ^ diesem Ausspruche nachzukommen. ') Vielleicht 
wurde doch bald wieder gegen dieses dictum gesündigt. 
Bedenkt man nun, dass in diesem Falle der Herzog sich ver- 
pflichtet hatte, mit Wort und That fiir Flandern einzuschrei- 
ten, wenn die Holländer sich nicht an die Friedensartikel 
hielten ^) , so mag man wohl annehmen, dass er auc;^ Holland 
das gleiche Versprechen ablegte. Auf alle Fälle ist es nicht 
zu verwundem, dass man ihn fiir die Nichterfüllung seines 
Ausspruches verantwortlich machte. 

Vielleicht wollte auch Maerlant den Herzog nur anspor- 
nen, seinen Ausspruch aufrecht zu erhalten, und zugleich die 
„Räuber^^ warnen, auf ihrer Hut zu sein. VSTäre dem so, so 
könnte es schon bald nach dem dictum, vielleicht noch in den 
letzten Monaten des Jahres 1256 geschrieben sein. Aber wie 
dem auch sei, das Angeführte zeigt deutlich genug, dass die 
angezogenen Verse nicht vor Ende 1 256 geschrieben sein können ; 
imd man kann deshalb als gewiss annehmen, dass der Alexan- 
der zwischen den Jahren 1257 imd 1260 übersetzt wurde. 

111. Die Frage, welche sich nun von selbst aufwirft, ist 
folgende: Wie konnte ein geborener Vläme so für Holland 
und gegen seine Landsleute Partei nehmen? Snellaert hat 
die Vermuthimg aufgeworfen, dass Maerlant „ein Anhänger 

^) Si predictus Dominus Florentius, tutor Hollandiae, et Florentius 
nepos ejus et eorum heredes in Hollandia et Zeelandia in locis illis ubi 
hactenus thelonea reeipi consueverunt a mercantoribus et hominibus 
Flandriae, thelonea reeeperint et reeipi fecerint et permiserint prout 
ab eis hactenus sunt recepta, dieta domina Comitissa et ejus heredes 
Comites Flandriae pro eo quod a mercatoribus Flandrensibus hujusmodi 
reeipi untur et recipientur thelonea, non movebunt nee moveri facient 
nee permittent guerram dictis Domino Florentio et Florentio nepoti suo seu 
eorum heredibus aut hominibus, et dictos Dominum Florentium et Florentium 
nepotem ejus aut eorum heredes vel homines eorumdem in eorum per* 
sonis aut bonis non arrestabunt nee arrestari facient nee permittent, 
nee pignora ab eis nee eorum hominibus capient nee capi facient nee 
permittent, nee super hoc trahent eos in caussam sive Judicium in suam 
curiam nee in aliam nee coram judice ecclesiastico nee etiam seculari.*' 
Bei Kluit, S. 696—97. 

' >) Siehe die Briefe b^i Kluit, S. 697 u. 703, und Mieris Charterboek I, 
S. 297 u. 299. 

») Siehe den Brief bei Kluit, S. 706. 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 223 

der Ayennen war^ und sich deshalb zu jener Zeit ausserhalb 
Flandern's befand". Es ist nicht unwahrscheinlich. Eben so 
annehmbar ist es^ dass er zu dem holländischen ^ gräflichen 
Hofe in einer gewissen Beziehung stand. Aber in welcher? 
Er war kein Geistlicher, das beweisen alle seine Schriften 
deutlich genug ; ein Edelmann war der kühne Wortflihrer der 
Bürgerschaft auch nicht, obgleich ein adliges Geschlecht von 
Maerlant existirte. Er war einer jener halb geistlichen, halb 
^v^eltlichen Personen, die man „klerken^^ nannte; und es ist 
nicht unmöglich, dass er als Solcher auf der Kanzlei des 
Pronotarius Arnold beschäftigt war, und also als Schreiber 
oder Kanzlist dem Könige Wilhelm und später Moris dem 
Vormunde diente. Dies würde dann seine Parteinahme 
für Papst Lmocenz, Wilhelm's Patron, gegen Friedrich ü. 
erklären. Man vermuthet, dass Maerlant wahrscheinlich 
in Utrecht, und in der Abtei zu Egmont gewesen ist; er 
besuchte diese Plätze wahrscheinlich im Gefeige des römischen 
Königs, der sich 1252 und 53 in Utrecht aufgehalten hat, und 
-wiederholt in Egmont war; so z. B. noch in den Jahren 1254 
und 55. So erklärt sich auch seine Beziehung zu dem Herrn 
von Kats und dem Grafen Floris V., welchen Beiden er spä- 
ter ein Buch widmete. Und so begreift man auch, wie er da- 
zu kommen konnte, im vierten Buche des Alexander das 
holländische Wappen, den rothen Löwen im goldenen Felde, 
im Schilde seines Helden prangen zu lassen. 

Das sind übrigens nur Vermuthungen ; aber sie werden 
durch die Thatsache unterstützt, dass Maerlant bald nach dem 
Friedensabschlussse, entweder im Jahre 1257 selbst, oder ein 
Jahr später, beim Tode Floris des Vormunds, das holländische 
Gebiet verlassen, und sich zu Danune niedergelassen hatte. 
Dort soll er, nach der Ueberlieferung, Stadtschreiber oder 
Kanzlist gewesen sein. 

Der schnelle Ortswechsel scheint nicht zweifelhaft zu 
sein: man ziehe nur einige seiner Werke zu Käthe. 

Als er den Alexander schrieb, war er noch jung, imd 
nahm ungeachtet seines ernsten Berufes Theil an den Ver- 
gnügen der Welt; welche ihm, wie er selbst erklärt „soete^' 
waren. Er war verliebt, und schrieb dies Gedicht zu Ehren 
der „edele en aanminnige" Frau oder Jimgfrau, die sein 
Herz erobert („gevaen") hatte. Es ist zu beklagen, dass ihr 



■■*■ 



224 VI. Die bürgerUehe Didaktik. 

Name nicht bis auf ims gekommen ist^ da derselbe wahrscheinlich 
einiges Licht über des Dichters Lebensgeschichte verbreitet hätte. 

Ungefähr gleichzeitig mit dem Alexander schrieb er 
den strophischen Dialog, der unter dem Namen Wapene- 
Martijn bekannt ist. Dass dies ein Werk aus des Dichters 
Jugend ist, geht deutlich aus der Wärme hervor, mit welcher 
er über die Liebe spricht, dem „edelste delijt", wie er sagt 
(Str. 33, 34), welche Leidenschaft er sichtbar nicht bloss 
theoretisch kannte. ^) 

Zu diesem Gedichte schrieb Maerlant eine Fortsetzung, 
gewöhnlich Dander (das heisst der zweite) Martin ge- 
nannt. Zwischen beiden Stücken Hegt gewiss kein gar zu 
grosser Zeitraum, denn auch darin erscheint Jakob noch jung, 
wie er es selbst nennt noch „wilt". Auch hierin spricht er 
von dem, was ihm „upt herte leet (liegt)'', und das ist : miime 
van wiven". Und darauf antwortet dann Martin: „es ist 
wieder wie immer, deine Worte müssen stets mit Frauen an- 
fangen oder enden." Und so war es auch. Jakob erzählt 
nun, dass er eine Frau Hebt^), die durchaus Nichts von ihm 



^) Man siehe z B. Strophe 32, in welcher er Martin, der die Liebe 
ein „ever^ genannt hatte, entgegnet: 

Martijn, du best een vreemde druut, 
Du spreecs recht alse een Vriese ruut, 
Die noch noyt en minde. 
Alrehande edel fruut 
Comt van minnen, uut ende uut, 
Die noyt dorper en kinde, 
Die stille mint ofte overluut, 
Hern can ghehelpen el gheen cruut, 
Dan die hem devel toesinde: 

Deutsch : 

Mai*tin, du bist von sondVer Art, 
Sprichst wie ein Friese rauh und hart, 
Der nie die Minne kannte. 
Viel edle Früchte wunderbar, 
Die bringt die Minne ganz und gar, 
Die nie Gemeines kannte. 
Wer stille minnt, wer überlaut, 
Den heilet nie ein and'res Kraut, 
Als das ihms Uebel sandte. 

^) Ich gebe hier das fünfte Couplet, weil es Uebereinstimmung mit 
dem Alexander hat, in dem es heisst, dass er anfange 



VI. Die bürgerliche Didaktik. ->2ö 

wissen will; eine Zweite liebt ibn, aber er ist ganz gleitli- 
giltig gegen sie, obgleich sie die schöriat« aller Frauen ist, 
Fürweiche soll er sicheutecbeiden ? Ungeachtet einer FUreprailn.' 
Maartens für die, welche JaJtoba Herz gewonnen hat, erklart 
er sieh doch für jene, welche ihn liebt, zum Schaden derjenifftn. 
„die fierleke baren sin 

Te miwaert draecht, ende bare gespin 

Van minnen elre draecht." 
Eb ist, ala ob ein Begebniss aus eigener bitterer Lebens- 
erfahrung die Anleitung zu diesem Gedicht gewesen sei. In dfiii 
vorhergehenden Gredichte kommt neben einer Verherrlichung 
der Liebe auch eine boutade über die Untreue der LiebL-n- 
den vor, die sehr merkwürdig ist. (Couplet 34, 35). Walire 
Liebe, s^;t er, findet man nicht bei denen, 
Die wandet sijn alse die wint 

Doie bare, die mi heeft gevaen. 
Das Couplet lautet: 

MartiJQ, da salt mi verstaen : 

Ene vronve irel gbedaen 

Hevet mi gberaen met minae 

AI dat Gode es onderdaea 

Lietic al om bare gaen, 

Mochticae ghewioaen; 

Nochtan wetic, sonder waen, 

Dat «i mijna niet en acht een'spaea: 

Mine herte doet mi bekinnen, 

AI souder orome die nerelt vergaen, 

Dat soe (sie) mi niet en aoude ontfaen 

In bare berte binnen : 

Hiertoe nee gheeu verwinaen. 

Dentacb : 
Martin, dn musat micb verstebu, 
Gin' fVau, lieblich anzuaehn. 
Hat micb betbSrt mit Minnen. 
All', waB Glottea Augen sebn, 
Lieas icb gerne mir entgehn, 
Könnt' ich sie 'mit gewinnen. 
Und dazu, mnas icb eingest«bn, 
Sie bälts nicbt wertb, mich anzusebn: 
Ich Üihl'a in Herz und Sinnen, 
Und Bollte ringB die Welt vergehn, 
Daas ue nicht duldet, mich zu sehn 
In ihrem Herzen drinnen: 
Dazu ist kein Gewinnen. 

JoKkbloM'i aeschiclite dei nitdultodiKtaen Liteistar. Bud I. 15 



226 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

Treue Liebende sind so selten wie schwarze Schwäne; 
Mancher sagt : ;^ch sterbe aus Liebe zu Dir", und hinter dem 
Kücken lacht er Dich aus! 

Nun ist es sehr bemerkenswerth, dass in dem Alexan- 
der, obgleich dies Gedicht sicher zu Ehren einer geliebten 
Frau geschrieben ist, welcher der Dichter wiederholt die 
Versicherung seiner Neigung giebt, doch an einer Stelle 
der Leichtsinn und die Kälte der Frauen stark getadelt Wer- 
den, während im Gegentheil die Freundestreue himmelhoch 
erhoben wird. ^) 

Man kann aus dem Allen wohl die Folgerung ziehen, dass 
Maerlant eine Frau liebte, welche ihm wahrscheinlich die 
Hoffiiung auf Gegenliebe vorgespiegelt, aber schliesslich von 
oben herab auf ihn niedergesehen und einen Anderen ihm 
vorgezogen hatte. 

Vielleicht hat dies auch dazu beigetragen, dass er Hol- 
land verliess, um sich in Flandern niederzulassen. 

Wahrscheinlich hat er den Wapene Martijn noch in 
Maerlant geschrieben; aber ganz gewiss hatte er diesen Ort 
schon verlassen, als die Fortsetzung erschien. Denn Maarten 
sagt zu ihm : 

Jacob, du woens in den Dam; 

und es unterliegt keinem Zweifel, dass damit die vlämische 
Stadt Damme gemeint Ist, da im vorigen Couplet das „Zwin" 
(Theil der Scheide zwischen Flandern und Seeland) erwähnt wird. 
112. Man findet es vielleicht sonderbar, dass er sich 
in Dinge eingelassen, welche ganz der Art und Weise 
eines ehrsamen, ernsten, gesetzten Gelehrten widersprechen. 
Aber der Gelehrte hatte auch ein* Herz und war jung; und 
überdies waren die weltlichen, feingebildeten, galanten Eanz- ' 



^) Im sechsten Buche heisst es : 

Si siJQ wandelre dan die wint, 
Ende nieloper dan een kint, 
Ende wreder dan enich tirant, 
Ende hard'er dan een adamant. 
Es ist wahr, diese Zeilen sind eine Bearbeitung des Originals ; aber 
der Uebersetzer .würde sie sicher weggelassen haben, wenn sie nicht 
seine eignen Gefühle ausdrückten. Man kann dies um so eher anneh- 
men, da er gerade an dieser Stelle eine bedeutende Abweichung vom 
Original hat eintreten lassen. 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 227 

listen seiner Zeit eben so wenig eine Seltsamkeit, als apjitvr 
in Fraukreieli die petits abb^s. Er selbst bat uns, aU er 
gesetzter worden war, eine ergötzliche und für ^e CliaMi];tt- 
ristik seiner Zeit sehr merkwürdige Schilderung von ditsiT 
Art halb geisthcher, halb weltlicher petits-maltrea ge- 
geben. ') 

Von da an ist jedoch von Liebe kaum noch die Rede : 
er wendet sich ganz und gar, mit I^eib und Seele, zur 
Didaktik. 

Das erste Werk, das weiter in Betracht kommt, fiilirt 
den Titel der Naturen Bloeme, welches er nach dem latoi- 
nischen Buche De naturis rerum von Thomas vonCantim- 
pre bearbeitete. Das Original wurde vor 1256, wahracheinlicli 
schon vor 125Ü vollendet, und man kann annehmen, dasa die 
Uebersetzung nicht lange nach den eben erwähnten Werkei) 
abgefasst wurde, kurz nachher, als sich Maertant wieder aul' 
vlämischem Boden niedergelassen hatte. 

Die Widmung an Herrn lÜaas van Cats verbreitet ülicr 
die Zeit der Entstehung nicht viel l.icht*); aber es ist wohl 
nicht wahrscheinlich, dass der Dichter Beziehiingen zu diesem 
seeländischen Edelmann angeknüpft habe, nachdem er scliun 
Seeland verlassen. Ueberdies widmet er ihm das Bnelit 
weil er eine (Jeldbelohnung dafür erwartete, die er waln- 
scheinlich nöthig hatte: entspricht das nicht dem Zustande 
eines Menschen, der eben erst seinen Wobnplatz verändcvl 
hat, und noch kein neues Amt bekleidet? 

Dazu kommt, dass er hier noch von Liebe spricht, dfn:n 
Ketten er sogar ein Paradies nennt'); ferner wird in iloiii 



1) Siehe Spieg. HiBt. III. Part. 1, B.. C. 39, Vera 33 u. flgde. und 
C. 42, Vera 1 u. flgde. oder: GeBchickte der Mnl. Dichtkunst 1, 
S. 209. 

»} Er kOQUnt in den Diplomen Ton 1270, 72 und 74 noch toc. lli'J 
war er wahrBcheinlich schon gestorben', sein Namensbruder, der aicij in 
diesem Jabre gegen Floris V. auflehnte, war noch nicht Ititter, wfe 
Uaerlant'B Beschützer. Siehe Eluit, Hist. Crit. TI, S. 922, 931 U. e, w. 

Es spricht von selbst, dass mit dem Jüngling, welchen der Dich- 
ter irgendwo anspricht, nicht Herr van Cat« gemeint ist, Bondem jcüsr 
Jiingling im Allgemeinen, der das Buch in die Hände nimmt 

'} Bei Bormana I. , 3. 2S0. Dieser Gedanke kann jedoch deia 
Originale entnommen sein. 

15* 



i 



22 S Vr. Die bürgerliche Didaktik. 

Werke, das ersichtlich auf ylämischem Boden geschrieben ist^ 
der gewöhnliche, dietsche Sprachgebrauch angewendet, wäh- 
rend neben dem allgemein gebräuchlichen Ausdrucke der 
provinzielle, vlämische angegeben wird. Ist es nicht, als ob 
er sich befleissige, auch für seine Landsleute, deren Dialekt 
er sich abgewöhnt, noch verständlich zu schreiben? 

Dies Alles scheint die Rangordnung dieses Werkes nach 
den früher erwähnten zu rechtfertigen. 

Darauf folgt vermuthlich die Heimelijkheid der 
Heimelijkheiden. Auch dieses Werk schrieb Jakob, 
weil er Geldgewinn davon erwartete: daraus kann man ent- 
nehmen, dass seine gesellschaftliche Stellung noch nicht ver- 
bessert war. Es ist einem Vetter des Dichters gewidmet, 
von dem man aber nichts Näheres weiss. Vielleicht stand er 
mit dem holländischen Hofe in Verbindung. Auf alle Fälle 
ist es nicht unmöglich, :dass dieses Gedicht, .welches einen 
Kursus über Staatswissenschaft enthält, in der Absicht ge- 
schrieben wurde, dem einen oder andern heranwachsenden 
Fürsten unter die Augen gebracht zu werden, und dann 
denkt man natürlich zuerst an Floris V., mit" dessen 
Vater und Vormund Maerlant, unserer Meinung nach, in Be- 
ziehung gestanden hat. Wäre diese Vermuthimg richtig, so 
gäbe sie einen Fingerzeig über die Zeit der Entstehung, da 
der junge Graf von Holland 1266 die Regierimg antrat.^) 

Dann folgt die Rijmbijbel, die am ersten Tage des 
Jahres 1271 vollendet, aber sicher einige Jahre früher ange- 
fangen wurde. 

Der Prolog dieses Werkes beweist, dass des Dichters 
Schriften oft Widerspruch gefunden hatten. Das geschah 
zumal von Seiten der Geistlichkeit, welche, wie wir bald 
sehen werden, sehr oft unter Maerlant's Geissei litt. Man 
scheint von der dargebotenen Gelegenheit Gebrauch ge- 
macht \md ihn mm heftiger verfolgt zu haben. Er behauptet 
das selbst in seinem Spiegel Historiaal. Wie weit diese 
Verfolgung sich ausdehnte, sagt er nicht ; und auch nach den 
Worten eines seiner Schüler 2) ist es nicht mit Sicher- 



*) Von Wijn, Nalezing op Wagenaar, S. 138. 
^) Jan de Weert, von Ypern, schrieb kurz vor 1350 in seiner Dis 
putaeie von Hogierende Jan, Strophe 6, über Maerlant: 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 229 

heit zu bestinimen. Aber es beweist doch deutlich, da^s 
er seinem zürnenden Gegner die Stirne bieteu 
und wie die Ueberlieferung sagt, sein Buch einer ,Uuter- 
suchung unterwerfen muBste. Die* Sache scheint Aufsehen ge- 
macht zu haben, da auch der Verfasser einer Prosabibel da- 
von spricht. 

Vierzehn Jahre später begann er sein Hauptwerk, di^ii 
Spiegel Historiaal. 

H3. Hat er in der Zwischenzeit Nichts geschrieljeii V 
Ich weiss nur zwei längere Gredichte anzudeuten, die "alii- 
scheinlich in jenen Zeitraum fallen. Es sind die Lebensbe- 
schreibungen der Heiligen Clara und des Heiligen 
Franciscus, wovon die erste verloren zu sein scheint. Dazu 
kommen wahrscheinlich noch die Marienmirakel, von 
denen wir früher (S. 188) sprachen, und einzelne strophisehi^ 
<3«dichte. 

Vielleicht hatte Maerlant sieh vor dem Bischof von Ut- 
recht vertheidigen müssen: er scheint sich wenigstens in der 
BischolsBtadt aufgehalten zu haben. Dort wurde er wahr- 
scheinlich von den Franciscanem gebeten, das Leben dos 
H. FranciscTis nach dem Lateinischen des H. Bonaventura 
(12ljl) zu übersetzen. Er erfüllte diesen "Wunach viellüiuht 
um so eher, weil er durch die Uebersetzung dieses Werkes 
wieder gut machen konnte, was er durch die Reimbibcl 
verdorben hatte. Dazu diente wohl auch das strophische Gt- 
■dicht Vander Drievoudicheden, das als ein orthodoxei^ 
Olaubensbekenntniss zu betrachten ist, und welches er mit dei' 
Erklärung schloss, daes wer nicht in dieses Credo ein- 
stimme, den Feuertod als Vorgeschmack der Höllenmaiteni 
verdiene. 

Dass dieses Stuck nach der Reimbibel verfasst wurde, 
scheint hinlänglich aus den Anspielungen und Anklängen aul' 
den Prolog und Epilog dieses Werkes hervorzugcheii. 

Want die Bibele hi in Dietscbe ontaloot, 
Ende voor eiju dicht thooft hi boot 

Voor dies hadde toren 
Deutsch; 
Denn die Bibel er im DietBchen schrieb, 
Vertheidigl sich dem Werk zu lieb, 

Vor Jenem, der drum zümte. 



230 Vr. Die bürgerliche Didaktik. 

Willi rsuhöiilich gehören zu dieser Periode auch noch einige 
lindere strophische Gedichte geistlichen Inhalts. 

Kndlich, im Jahre 1284, fing er den Spiegel Histo- 
rtaal an. An jedem der beiden Theile, die er ganz voUen- 
detf, arbeitete er ungeiUhr ein Jahr. Der «ne, der 33,000 
Verse umfasst, ist von 1284 bis 85 geschrieben; der andere, 
40,0fl0 Verse gross, von 1285 bis 86. Seit der Zeit scheint 
(lue Werk nicht mehr so schnell vorwärts gegangen zu sein. 
Vom vierten Theile schrieb er nicht viel mehr als 18,000 
Verse, und er muss wohl drei oder vier Jahre damit beschäf- 
tigt gewesen sein, da der letzte Theil 1290 verfasst zu sein 
sclieiut. ') Der Dichter wurde alt und schwach und war 
vielleicht kränkhch; er bat ja schon am Anfang des Werkes 
lim gesunde Tage. Als er den ersten Theil beendet .hatte, 
aclu'iut es sich ermüdet gefühlt zu haben. Er erklärte, einige 
Zeit rasten zu wollen. Er hoffte das Werk des Vincent von 
Beaiivais, dem er nachfolgte, bis zu Ende zu bringen, wenn 
er es so weit bringen könnte („eonnen wijt geleesten"). Viel- 
leicht iiirehtete er, dass er den Spiegel nicht ganz vollenden 
könnte: er überschlug deshalb den zweiten TheU, der haupt- 
sächlich von Legenden und Märtyrern bandeln sollte, um desto 
schiKÜer mit der neuen Geschichte beginnen zu können. Er 
vollendete den dritten Theil, brach aber mitten im vierten 
ab. Wieder hatte er Ruhe nöthig; aber er schien zu ahnen, 
dasB es nun nicht für eine Stunde sei, sondern dass es viel- 
leicht lange Zeit dauern würde, bis ihm Gott die Fortsetzung 
gestatte. 

Und dies geschah nie: der Tod kam dazwischen, und 
fremde Hände raussten sein Werk vollenden. 

Wie das Ori^nal im Auftrag eines Fürsten geschrieben 
war, so sah auch die Ueberaetzung unter dem Schutze eines 
Fürsten das Liclit, nehmlich des holländischen Grafen Floris V., 
der SU viele Beweise seiner Zuneigung für die Burgerschaft 
{ief,'*1"-n hat. Ihm wurde der Spiegel Hjstoriaal gewid- 
met. Merkwürdig ist es, dass diese Widmung deutlich von 
der Verbesserimg der Maerlant'schen Lebensumstände zeugt Er 
widmete es dem Grafen nicht, weil er auf eine Geldbelohnung 

') Siehe die auegezeichnete Einleitung zum Spieg. Hist. von de 
VricB und Verwüs S. LXII— III. 



VI. Die burgerUche Didaktik. 231 

hoffte, wie früher dem Herrn van Cats: des Grrafen Zufrieden- 
heit war das Einzige, was er für seine Mühe verlaiif^te. 

Sein Schwanengesang war ein warmes Dränget] zu hinein 
neuen Kreuzzuge; er nannte ihn: Van den liindp van 
Overzee. Da die Eroberung von Acres durch dit- Harai^e- 
nen (12. Mai 1291) darin erwähnt wird, so ist schon ilie Ent- 
stehungszeit des Gedichtes angegeben. 

Hiermit ist die Reihe von Maerlant's Werken, suwie das 
Wenige mitgetheilt, was man von seinen äusseren Lebeusver- 
bältniasen vermuthen kann: Er scheint, wie schon gesagt, ums 
Jahr ISJyi gestorben zu sein, und wurde in der Stadt Damme 
begraben. Dort wurde ihm, mehr als anderthalb Jahrhunderte 
später, ein Grabmal errichtet, das eine lateiniaclie Inschrift 
zu seinem Lobe trägt. 

Man behauptet, dasa Maerlant auf einem Ualkün dos 
Stadthauses zu Damme abgebildet stehe; das sei eine Huldi- 
gung gewesen, die man ihm als Gerichtschreiber der Stadt 
dargebracht habe. Die Ueberlieferung hat ihn zwar mit die- 
sem Amte bekleidet; man weiss aber nicht, worauf sie sich 
stützt. Ist es nur auf das zuletzt erwähnte Monuiiietit, so ist 
diese Stütze sehr schwach. Das Stadthaus selbst besteht erat 
seit 146lJ. *) Und wenn man in Betracht zieht, dass das frag- 
liche Bild einen Mann in der Tracht der Gelehrten vorstellt, 
der in ein auf einem Pulte liegendes Buch schreibt; und 
dass femer noch eine J'^gur vorhanden ist, welche den König 
David, auf der Harfe spielend, vorstellt, so ist es waihl mög- 
lich, dass man mit jenen Bildern nur Wissenschaft und Kunst 
oder Poesie darstellen wollte. Und dies ist wohl das Wahr- 
scheinlichste. 

Vor wenigen Jahren hat die belgische Staatsregic-rung dem 
verdienstlichen Mann in Damme ein Denkmal errichtet. 

114. Wie wenig uns auch des Dichters äussorrr Lchcns- 
gang bekannt sei, sein inneres Leben liegt in seinem ganzen 
Reichfhume vor uns. Die Zahl der von ihm verfasaten Werke 
ist sehr gross und alle athmen denselben Geist, selbst die, 
deren Inhalt noch dem Gebiet der Komantik angehört. 

Maerlant begann seine dichterische Laufbahn mit Kitter- 

•) Dr. C. A. Serrüre, J. van Maerlant en zijne werken, zweite 
Auflage, S. II. 



232 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

romanen. Aber schon die Wahl seines Stoffes verräth seine 
Bichtung; denn der Stoff hatte schon den Schein des Historischen. 

Zu den Ueberliefeningen aus der alten Welt gehören 
zwei; die niemals ganz erstorben sind: es sind erstens die- 
jenigen, welche Bezug auf den trojanischen Krieg haben, und 
femer die, welche mit den abenteuerlichen Zügen Alexander 
des Grossen in Verbindung stehen. Diese Sagen wurden zu- 
erst in der Eirchensprache aufgezeichnet, und gingen zuletzt 
in die Volkssprache über. Keine Zeit war geeigneter, sie 
auch dem niederländischen Volke mitzutheilen, als die, in 
welcher sich das Verlangen nach Wissenschaft und Wahrheit 
mit der Reaction gegen die Kitterwelt vereinte. Dem fabel- 
haften Arthur und dem von den französischen Dichtern so oft 
in ganz falschem Lichte geschilderten Karl dem Ghrossen 
stellte man den geschichtlichen oder doch fiir historisch gehal- 
tenen Hektor oder den Alexander gegenüber. Die Gedichte des 
antiken Sagenkreises machen auch gleichsam die Brücke auS; 
welche von der romantischen Zeit in die rein didaktische 
fuhrt. Und dies wird noch deutlicher, wenn inan den Geist 
näher betrachtet, womit jener antike Stoff behandelt wird. 

In seinen späteren Werken spricht Maerlant wiederholt 
von einem Gedicht Van Troyen, das er zu Maerlant aus 
dem Französischen des Benoit de Sainte More übersetzt hatte. 
Diesem Dichter werden verschiedene Werke, welche das klas- 
sische Alterthum zum Gegenstande haben, zugeschrieben: 
Die Romane von Theben, von Aeneas und von Troja. Dies 
letztere, sehr ausfiihrliche Gedicht, das mit Achilles Geburt 
und dem Argonautenzuge beginnt, und bis zum Tode des 
Ulysses fortläuft, war nach sehr authentisch geglaubten Quel- 
len bearbeitet : es waren dies die Werke von Dares 
dem Phrygier, und von Dictys von Greta, welche der von ihnen 
beschriebenen zehnjährigen Belagerung selbst beigewohnt haben 
sollten. Die griechischen Originale waren muthmasslich verloren 
gegangen; aber lateinische Uebersetzungen waren schon sehr 
bald im Umlauf; und aus diesen schöpfte Benoit. Dass jedoch 
Alles eine mittelalterliche Erfindung war, beweisen die eigen- 
artigen Schilderungen. Alle Helden, ihr Kostüm, ihre Denk- 
weise, ihre Sitten und Gebräuche, die ganze Ausstattung, Alles 
ist dem zwölften Jahrhunderte, der Zeit des französischen 
Dichters, entnommen. 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 233 

Dieses Gedicht, das auch bald ins Hodideutschc Ubi.^i-- 
eetzt wurde, war wahrscheinlieh das erste, an welches sich der 
später so berühmte Schriftsteller wagte; es war kuiz nach 
1250. Von seiner Uebersetzung sind nur umfangreiche BrucJi- 
stiicke bis auf uns gekommen , die aber zur Beurtheiluug des 
Werkes hinreichen. 

Das Gedicht Benoit's war sehr ausgedehnt: Maeilaut 
fügte den Roman Äeneas hinzu (vergl. S. 216), dazu noch 
verschiedene Abschweifungen, und dadurch wurde es allzidang. 
Um den Zuhörern und Lesern gefällig zu sein, nahm, nach 
Maerlant's Zeugnias, ein gewisser Seger Dieregodjjaf die 
Hauptscenen heraus; so den letzten Streit unter den Miniern 
der belagerten Stadt, den darauf folgenden Zweikampf 
zwischen Hektor und Achilles , und den Tod des erstereu. 
Dazu fügte er unter dem Namen 't Prieel van Troyon 
eine Einleitung, die eben nicht zu Gunsten seiner poetischen 
Begabung spricht. Aber da er übrigens nicht ohne richtigcu 
Takt seine Wahl aus dem zu umfangreichen Werke Maer- 
lant's traf, so scheint der Auszug dem Ganzen vorge- 
zogen worden zu sein, obwohl der Verfasser des letzteren 
dreissig- Jahre später selbst sagt, dass sein Gfldiclit „wide 
becant" sei. 

Schon aus diesem Werke strahlt des Dichters ernster, 
didaktischer Geist. Er spricht z, B. seinem Vorbild nicht 
Alles nacL Er polemisirt zuweilen gegen den ursprüiJülielien 
Verfasser, wenn er denkt, dass dieser nicht auf dem reiliten 
Wege sei. Und wo Dinge vorkommen, die zwar un;ilauhlich 
erscheinen, aber doch dUrch wichtige Autoritäten hentätigt 
werden, erklärt er das Original aus anderen Quellen. Dass 
er dabei nicht immer mit richtigem ürtheil zu Werke g';lit, 
beweist seine Annahme von dem Dasein der Centauien, weil 
der h. Hieronymus von solchen Ungeheuern spricht. Dass er 
durch seine Polemik oft der Sucht, mit seiner Gelehrsamkeit 
zu glänzen, die Aesthetik opfert, bezeugt, wie viel seliweier 
bei ihm die Ehrfurcht vor Autoritäten wog, ab die eigentlieho 
Kunst. ') 



') In dem Spiegel Historiaal neont er Benott, Virgjl. Statiua, 
Ovid und Homer „den groten clerc", ab die Quellen, aus deneu er 
«ein Gedicht zueammengeBtellt hat. Rb Ist bekannt, dase an dii^ser Stelle 



234 VI. Die .bürgerliche Didaktik. 

* 

115. Die Züge Alexander des Grossen hatten sowohl im 
Orient, als im Occident grosses Aufsehen erregt; man be- 
trachtete sie bald durch das Prisma der Phantasie und färbte 
sie stets abenteuerlicher. Unter den ältesten Geschichtsquellen 
findet man einige, die mehr Roman als Historie sind: man 
denke nur an Quintus Curtius. 

Auch im Mittelalter bot diese Sage den Stoff zu verschie- 
denen Gedichten : Die französisch Geschriebenen waren schon 
in der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts bekannt, und 
wurden ungefähr ums Jahr 1200 imigearbeitet; und zwar 
allem Anschein nach von demselben Pierre de Saint -Cloud, 
welcher auch die Sage vom ßenart modernisirte. Diese 
Volksgedichte wurden bald so bekannt, dass der zwölfsylbige 
Vers, in welchem sie geschrieben sind, bald allgemein ange- 
wendet wurde, und den Namen Alexandriner empfing. 

Aber die Sage von Alexander wurde in Frankreich nicht 

ein Irrthum vorhanden ist: ich vermuthe, dass sie auch interpolirt sei. 
Im Gedicht van Troy en sagt er nur: 

Uten Walsche ende van (Dictise) 
Van Darise ende Vergilise 
Ende uut andren boeken mede 
SuUen wi nemen die waerhede 
Ende in dietscher tale ontbinden. 
Die hier erwähnten anderen „Bücher'S die er in seiner Polemik an- 
führt, sind zu wenig Autoritäten. Die erste Zeile heisst in der Hand- 
schrift Ancise, was doch wohl in Dictise umgeändert werden muss, 
wie der Beim es im französischen Texte lehrt. Vor der Tirade von 
36 Zeilen, deren Schluss die eben angezogenen bilden, liest man im 
Original nur: 

„Mais vos orr^s en qel mani^re 
En fu la fins d^aus et coment 
Avint le grant destrivement ; 
Qi eil furent qi V porparl^rent, 
Ne en qel gise il en ovr^rent; 
Toz lor diz et lor parlemenz 
Et toz lor granz decevemenz; 
Si com Dictis le dist et Daire ; 
Le me porois oi'r retraire. 
Bei Virgil denkt Maerlant wahrscheinlich an den Itoman d'Enäas, 
der eine Nachahmung der Enei's ist. Veldeke nennt auch seine fran- 
zösische Quelle Virgilius. Siehe den Artikel von Alex. Peij im 
Jahrbuch für Itomanische Literatur von Ebert. II. S. 4. 

Dass Maerlant auch den Itoman de Th^bes gekannt hat, sieht 
man aus dem Alexander: Buch'I, Vers 964. 



VI Die bürgerliclie IMdaktik. 235 

nur in der Landessprache beriilunt: sie wurde aucli in der 
Sprache der Gelehrten besungen, denn ebenfalls uni.^ Jjilir 1 2U0 
schrieb Gauthier de Chätillon eine Älexandreia iu ktt^ini- 
schen Hexametern, in denen er haupteäcblich il. Curtius 
nachfolgte. Und dieses Werk wurde bald so berühmt, dass 
man es sogar über die Klassiker stellte. 

Sowohl mitder Älexandreis, als mitder Karo 1 eis, die 
nach dem Vorbilde Gauthier'a von GÜles de Corbeil t,^i«chrieben 
wurde, bezweckte man einen Ereuzzug gegen die Ciiaiisoiis 
de geste. Und es darf uns deshalb nicht verwunderu, dass der 
Mann, der hier zu Lande der eifrigste Bekämpfer di.r Ritterge- 
dichte war, gerade die Älexandreis zur UebersetKuiig wählte. 

Die Bedeutung des Maerlant'schen Gedichtes für unsere Litu- 
ratur liegt nicht so sehr in seinem Gegenstände, s.h iu der Art 
und Weise der Behandlung. Den Inhalt bildet nicht nur die 
Erzählung von Alexanders bekannten Kriegen, sondern uut'h 
der Bericht von seiner wunderbaren Geburt und seiiiLU iibeu- 
teuerlichen Zügen bis ans Ende der Welt, wo er allerki liemd- 
artige Menschen und Thiere und die verschieden ntuu Unge- 
heuer und Wunder sah. 

Bei der Bearbeitung fällt ins Auge, dass Maerlaut in der- 
selben mehr noch als in dem Gedichte Van Troycii seiner 
Sucht nach Abschweifungen, Sittenpredigten und didaktischen 
Episoden gehuldigt hat. Ich erwähne nur die hauptsitchlicli- 
steu, weil hier kein Raum für eine fortlaufende Vergleichung 
des Originals und der Uebersetzung ist. 

So polemisirt er z. B. gegen seinen Gewähi-euiunii über 
Alexander's Abkunft, den er nicht für einen Sohn dL-s Kepta- 
nabus hält; und aJs Gauthier erzählt, wie der Gott des .Suhla- 
fes durch seine Gegenwart selbst die Sterne still stelieu liesa, 
so macht der Uebersetzer unverhohlen seinem Zweii'ei Luft. 
So flicht er auch wiederholt historische Anmerkungen oder 
selbst Erzählungen ein; z. B. einen grossen Theil derjUdiacheu 
Geschichte, oder die des Cäsar und Augustua; d;imi wieder 
entnimmt er einen Beitrag aus andern Dichtern, wiu z. H. den 
Kampf um die Waffen des Achilles aus den Metamorpltoaeu 
des Ovid; oder ein Mährchen über die Freundestieue , das 
in verschiedenen mittelalterlichen Werken gefuudou wird, 
oder er interpolirt gar eine 1000 Verse lange Skizze 
der Geographie. Dabei fehlen auch nicht politisch-inüraliachc 



I' 

■ 



236 Vr. Die bürgerliche Didaktik. 

Anmerkungen^ wozu hauptsächlich die Lehre gehört, welche 
er Aristoteles zum Könige sagen lässt: Ehrt die Guten und 
Weissen; denn 

Elken man, 

AI en hadde hl gheen groot goet, 

Es hl hovesch ende vroet, 

Yan wat lande dat hi si, 

AI en wäre sijn geslachte niet vri, 

Ware hl gebeten van goeden seden, 

Men souden eren tallen steden; 

Want die gene es edel allene, 

Die hovesch van seden es ende rene. ^) 
Das Alles beweist, dass es Maerlant auch hierbei vorzugsweise 
um Belehrung zu thun ist; wie er auch die ganze Erzählung, 
ungeachtet ihrer fremdartigen Elemente, die er selbst zuwei- 
len bezweifelt, seinen Zuhörern als treue Geschichte auftischt. 
Aus seiner Polemik, aus seinen Zuthaten spricht seine Gewis- 
senhaftigkeit, die nicht nach Kunstschönheit strebt, sondern 
sich jeder Mühe unterzieht, um Wahrheit zu liefern, und 
gründliche Kenntnisse zu verbreiten. 

Wenn demzufolge der Alexander als Kunstprodukt 
nicht hoch anzuschlagen ist, so ist doch kein Gedicht für die 
Geschichte unserer Literatur wichtiger, als das genannte, weil 
es uns deutlich zeigt, wie eine Richtung in die andre über- 
geht; weil es uns den Bürgerdichter in seinem ersten Ent- 
keimen zeigt. 

116. Und dieser Keim scheint sich in sehr kurzer Zeit 
entwickelt zu haben. Denn beinahe zu gleicher Zeit mit dem 
Alexander schrieb er den Wapene-Martijn, jenes Ge- 
dicht, das seinen Ruf fest begründete und ihm die Huldigung 
aller seiner Zeitgenossen verschaffte, die um die Wette das- 
selbe erwähnen. 



^) Jeder Mann, 

Und hätt' er auch kein grosses Gut, 
Hätt' er nur edlen, klugen Muth, 
Von welchem Lande er auch sei, 
Und wäre sein Greschlecbt nicht frei 
Besässe er nur gute Sitten, 
War* überall er wohlgelitten. 
Denn nur Der ist edel alleine, 
Der fein von Sitten ist und reine. 



VI. Die bürgerUche Didaktik. 237 

Und kein Wnnder; denn in diesem Dialoge sind alle 
Hauptfragen des Tages anf die vorzüglichste Weise behandelt 

Der Wapene-Martijn ist ein strophisches Gredicht in 
Form eines Gespräches zwischen Jakob und Martin über 
allerlei Gegenstände. — „Wapen (d. L leider!), Martin, ruft 
der Dichter aus, es ist um Treue und Kedlichkeit geschehen !*' 
Und dann widmet er mehrere Strophen den Schmeichlern der 
Grossen, welche die Ursache alles Uebels sind. Weiter kommt 
er auf die Sünde im Allgemeinen, auf die guten Werke, Gott 
und seine Liebe. Dies bringt ihn auch auf die verschiedenen 
Arten der Minne, wobei auch der weltlichen mit Wärme ge- 
dacht wird. 

Hierauf beginnt eine neue Abtheilung, für uns die wich- 
tigste des Ganzen: sie behandelt mit ungewöhnlichem Feuer 
die Leibeigenschaft und ihre Ursachen, woran sich die Frage 
von dem Ursprünge des Adels ganz von selbst anschliesst. 
Dies führt wiederum zu einer konmiunistischen Betrachtung 
über den Einfluss des Mein und Dein. 

Wieder eine neue Wendung: eine Debatte über die Frage, 
ob die liebe im Auge oder im Herzen entspringe, woran sich 
eine Betrachtung über den Weltsinn der Geistlichkeit schliesst. 
Die zuletzt behandelte Frage ist: Tragen die Frauen im All- 
gemeinen die Schuld an unseren Sünden? welche dem Dichter 
die Gelegenheit darbietet, sich begeistert über das schöne Ge- 
schlecht auszusprechen. 

Es ist klar, dass der Hauptwerth dieses Gedichtes nicht 
in abgeschlossener Einheit liegt Die von dem Dichter ge- 
wählte Form, das Gespräch, welches man in jener Zeit sehr 
liebte, wie uns die Geschichte der französischen Literatur 
lehrt, mag dies weniger anstössig machen: es ist und 
bleibt immer ein Mangel, der durch Nichts zu entschul- 
digen ist. Zu erklären ist es wohl, wenn man bedenkt, dass 
Maerlant gerade die Form eines poetischen Quodlibets ge- 
wählt hat, um zwischen den lieblichsten Dingen auch Gegen- 
stände berühren zu können, die er einzeln noch nicht zu be- 
handeln wagte. Man bedenke nur, dass er noch jung war, 
und sich augenscheinlich in einer aristokratischen Welt bewegte. 

Aber es giebt auch ausserdem noch Manches, was uns 
die bunte Verschiedenheit bald vergessen lässt 

Zuerst die bewundernswürdige technische Leichtigkeit 



238 ' VI. Die bürgerliche Didaktik. 

Jede Strophe besteht aus acht paarweise gereimten Versen, 
die alle denselben Reimklang haben; zwischen diesen befin- 
det sich stets ein kurzer Vers der am Ende des Couplets ver- 
doppelt ist, und diese kurzen Verse haben zusammen wieder 
denselben Eeimklang. 

Zweitens ist die Weise der Behandlung bei den mei- 
sten Gegenständen gluthsprühend , voll echt dichterischen 
Gefühls. Und der Griff in das volle Menschenleben seiner 
Zeit,' in die Fehler seines Jahrhunderts ! Der Schutz des ver- 
achteten Bürgers gegen Druck und Verspottung, der Tadel 
und die oft scharfe Züchtigung einer verdorbenen Geistlich- 
keit, die Geisselung der allgemeinen Gebrechen seiner Zeit, 
dieses Aufdecken aller Wimden berührt uns warm, lässt iins 
die fehlerhafte Konception nicht so hoch anrechnen; recht- 
fertigt unsre Eingenommenheit mit dem Manne, der schon in 
der Zeit, als die Welt ihm noch „soete" war, so zu sprechen 
wagte, so sprechen musste; das lässt uns den Enthusiasmus 
begreifen, mit welchem die Zeitgenossen dieses Werkes ge- 
denken. ^) 

117. Von diesem Augenblicke an ist Maerlant unermüd- 
lich thätig, seine Zeitgenossen zu belehren und zu bessern; 
denn Wissenschaft und Moral gehen bei ihm stets Hand in 
Hand. Das wird deutlich in der Naturen Bloeme. 

Das Werk ist eine Uebersetzung des Buches De naturis 
r er um von Thomas Cantipratensis, das lange Zeit, auch von 
Maerlant, dem Albertus Magnus zugeschrieben wurde. Früher 
hatte Wilhelm Utenhove, ein Priester von Aardenburch, ein 
ähnliches Werk, wenn auch von kleinerem Umfange, ange- 
fangen; aber er hatte den Weg der Wahrheit verlassen, 
sagt Maerlant, 

Want hine (d. h. er ihn) uten Walsche dichte. 
Albert von Köln dagegen war eine grosse Autorität, tmd 
schon deshalb war seine Arbeit für ihn glaubwürdig, wie- 
wohl sie viel Sonderbares enthielt. 

Der Naturen Bloeme ist eine Abhandlung über Natm-- 
geschichte in ihrem ganzen Umfange ; sie beschreibt den Men- 
schen, die vierfässigen Thiere, die Vögel, Fische und Eeptilien, 
mit Einschluss der Ungeheuer, die unter denselben gefunden 



^) Das Gedicht wurde auch ins Lateinische und Französische übersetzt. 



Vr. Die bürgerliche Didaktik. 239 

werden; nicht nur Salamander und Drachen, sondern auch 
Cyclopen, Menschen mit einem Fusse, der ihnen zu gleicher 
Zeit als Sonnenschirm dient, und Wesen ohne Köpfe, deren 
Augen in den Schultern liegen; femer Bäume, Kräuter, Ge- 
wässer, Steine und Metalle. 

Die Uebersetzung trug gewiss nicht wenig dazu bei, 
die damalige Wissenschaft populär zumachen; ihr BLauptzweck 
ist aber die Moral. Neben den Eecepten fiir den Körper fin- 
det man darin nicht weniger Heilmittel für die Seele. Diese 
sind in die Form christlicher Allegorieen , Sittenpredigten all- 
gemeiner Art, oder Zurechtweisungen des Adels und der Geist- 
lichkeit gegossen. 

Es ist wahr, er fand dies grosstentheils schon in seiner 
Quelle, aber gerade die Wahl derselben zeigt, welch Geistes 
Kind er war. 

Was den wissenschaftlichen Theil des Werkes betrifft, so 
hat derselbe für uns nur historischen Werth, da die geheim- 
nissvolle Macht, die er z. B. darin manchen Steinen zuschreibt, 
uns bedeutungslos ist. Wir lernen unter Anderm daraus, 
wie bei Maerlant die Kritik noch unter der Vormundschaft 
des Glaubens stand. Wenn er keines der beschriebenen Wun- 
der bezweifelt, so ist dies, weil er an Gottes Allmacht glaubt, 
der Nichts unmöglich ist. Die naive Auffassung, der kindliche 
Glaube, dersoleichtin Aberglauben ausartet, bleibt dem Dichter 
ungeachtet seines Strebens nach Untersuchung und Kritik. 

Das nächstfolgende Werk war wahrscheinlich die Hei - 
melijkheid der Heimelijkheiden. Dies ist, wie schon 
oben gesagt, eine Abhandlung über die Staatswissenschaft, 
und umschliesst hauptsächlich eine Erörterung der Art und 
Weise, wie ein Regent als solcher zu leben habe; damit ist 
eine Gesundheitslehre verbunden, welche von der Sorgfalt 
handelt, die ein Landesherr der Erhaltung seines Lebens und 
seiner Gesundheit schuldig ist. 

Wahrscheinlich sind in diesem Buche verschiedene Abhand- 
lungen ziemlich willkürlich mit einander verbunden. Es 
wurde dem Aristoteles zugeschrieben, dessen griechisches Buch 
in lateinischer Uebersetzung im Mittelalter allgemein verbrei- 
tet war, wonach Maerlant seine Ausgabe bearbeitete, und 
zu welcher er vielleicht die französische Reimübersetzung des 
Pierre de Vernon (?) benutzte. 



240 VI. Die bürgerHche Didaktik. 

Auch in dieses Buch sind unaufhörlich Betrachtungen 
eingeflochten, wodurch es auch andern Lesern, als nur Für- 
sten lesenswerth wird. Man denke nur an die Erklärung des 
praktischen Nutzens der Geschichte, an das Lob, welches dem 
Handel zuertheilt wird, an die Vertheidigung der Städter, den 
Herren gegenüber, an die Lehre von der Gleichheit aller 
Menschen und dergleichen mehr. 

Nicht am wenigsten merkwürdig ist es, was der Verfasser 
VQA dem Einflüsse der gelehrten „klerken^* sagt, da es uns 
beweist, wie hoch er seinen eigenen Beruf stellte. Haltet sie 
wohl in Ehren, sagt er, denn 

Wie verhief wilen- so scone 
In die werelt die griexe crone? 
Daerna Rome? nu Vrancrike? 
Clergie deet (tbat es) al sekerlike; 
Want ridderscap ward nie verheven 
Clergie ne moester raet toe gheven. 

Das ist doch sicher die Sprache des Bürgerthums, das sich 
seiner Kraft bewusst wird. 

118. Das Studium der Natur mag zuMaerlant's Zeit wohl 
besonderen Reiz gehabt haben; für die Bürger, welche sich 
berufen fühlten, eine wichtige, politische Rolle -zu spielen, war 
das Bedürfniss an historischem Unterrichte vorherrschend. 
Maerlant, der solch einen hellen Blick für die Forderungen 
seiner Zeit hatte, befriedigt dieses Bedürfniss mehr als einmal 
In erster Linie durch ein Buch, welches unter dem Namen 
Rijmbijbel bekannt ist. 

Auch diese ist eine Nachfolgung des Lateinischen, der 
Historia scholastica des Petrus Comestor; es ist eine 
heilige Geschichte, worin die Erzählungen des alten und 
neuen Testamentes von der Schöpfung der Welt an ge- 
sammelt und systematisch geordnet waren. Die Hauptquelle 
für sein Werk bildete die Bibel ; dabei gebrauchte der Verfas- 
ser jedoch auch andere Werke zur Ergänzung: vor allen 
Dingen Flavius Josephus. Ausserdem erzählte er die wich- 
tigsten, gleichzeitigen Ereignisse aus der heidnischen Welt, 
nach Ldvius, Justiniip und andern Schriftstellern des Alter- 
thums. Endlich schaltete er seinem Texte auch manchmal 
geographische Erläuterungen oder Erklärungen allerlei Art 



VJ. Die bürgerliche Kdaktik. 241 

ein, Origines, Hieronymua, Äugiifltinus und anderem Kirclii:ii- 
vätem entlehnt 

Die Hiatoria scholastica fand allgemeinen Beitall: 
aie wurde überall beim Geschiclitsuiiterricbte gebraucht, und 
galt für die höchste historische Autorität Im dreizehnti^u 
Jahrhunderte wurde aie in DeutBcMand und Frankreich in die 
Volkssprache übersetzt ; und es darf uns nicht verwundern, 
dass sie auch nach Maerlant's Oeachmack war. 

Er überaeszte das Buch, aber sehr frei; denn er strebte 
durchgehends danach, sein Vorbild abzukürzen. Dagegen hat 
er einen ganz selbstständigen Theil hinzugefügt. 

Der letzte Theil von Comestors Werk bestand aus einer 
synoptischen Darstellung der Evangelien, und endete uiit der 
Himmelfahrt Jesu. ') Auf die Bitte eines ungenannten Freun- 
des liesB Maerlant den Entwurf einer Geschichte des jüdischen 
Volkes seit Christi Tod bis zur Zerstörung Jerusalem's dm-ch 
Titus folgen, welcher nach dem Bellum Judaicum des 
Flaviufl JosephuB übersetzt ist. Der Fall der heiligen .Stadt 
wird darin als eine Strafe für die Kreuzigung des Heiiands 
dai^estellt, und diese Fortsetzung des Werkes ist deshiilb auch 
unter dem Kamen Wrake van Jerusalem bekannt Sie 
athmet den Oreist der Unverträglichkeit und des Jndt-nbassos 
»ind beweist, wie Maerlant trotz seiner aufgeklärten IJeuk- 
weise ein Kind seiner Zeit bHeb. 

Die Reimbibel kann auf keinen literarischen Wcrth 
Anspruch machen: sie umfasst eine ziemHch trockene Ueber- 
sicht der bibhschenOeschichte, ohne Finzelnheiten, ohne poetiBche 
Auffassung oder Behandlung; dasselbe gilt auch vud der 
Fortsetzung, die aas der Katur der Sache mehr epischo Gluth 
zolässt, aber ausser einigen Ausnahmen, ebenso trockeji luid 
cbronikmässig behandelt ist 

Das CharakteristiBche des Werkes liegt in etwas Anderem. 
Zuerst in dem Umstände, daas ein Laie in jenen Taften es 
wagte, dem Volke „der Biblen Heimelichede'' aidzu- 
decken; denn bis jetzt war sie ausschliesslich das Fi^iittiituii 
der Priester gewesen. Dass es wirklich ein Wai,'tstiick 
vrar, haben wir schon gesehen: die Weise der BeliaiuUung 



}) Die Apostelgeacbichte, welche man in den Auigaben ÜDdet, 
scheint eine spätere Zuthat zu sein. 

Jonckblost'g Geachlcbte der NIedetllndiBclian Lileratnr. Bud I. 16 



243 VI. Die biirgerlicbe Didaktik. 

verdoppulte dasselbe, denn auch hier treffen wir, ebenso wie 
in der Niitureo Bloeme neben mancher mystischen Allegorie 
Moralpredigten und 8ittenkritiken, wobei wiederum die Geist- 
lichkeit am SchlechteBten wegkommt. 

Die Greldsucht nnd Simonie der Priester, ihre Unmässig- 
keit und sittliche Erniedrigung, ihre Hodartb, werden unge- 
acheut an den Pranger gestellt. Hieran knüpfen sich allge- 
meine Warnungen ; z, B. vor dem Schwören und Fluchen, vor 
dem ükuben an Zauberei nnd Traumdeuter; und, was auch 
hier wieder zuerst ins Auge fUUt, die unverhohlen auage- 
sproehene Lehre, dass die Annen vor Gott eben so gut sind, 
als die Reichen: die Armen, auf welche nicht nur Prälaten 
und Herren verächtÜcIi niedersahen, sondern die noch über- 
dies, um den Grossen zu gefallen, von den „ministrele" ver- 
spottet wurden. 

Spricht dies Alles nicht für einen sittlichen Muth, der nie 
hoch gonug geschätzt werden kann, und iiir eine Freisinnig- 
keit, (iie hoch über den Vörurtlieilen seiner Zeitgenossen steht? 

119. Ueber Maerlant's Tliätigkeit auf dem Felde der 
Hagiologie und Legende ist (S. o. S. 187 u.88) schon gesprochen 
worden; wir können also gleich zu seinem Hauptwerke, dem 
Spiegel Historiaal übergehen, welches im Allgemeinen 
derselben Richtung huldigt, wie die Keimbibel, aber bei 
welchem das weltÜche Element mehr im Vordergrtmde steht. 

Auch hierbei schöpfte Maerlant aus einer lateinischen Quelle, 

Vincent van Beauvais, ein gelehrter Dominikaner, 
Vorleser, Bücheraufeeher und ßathgeber des französischen 
Königs Ludwig des Heiligen , Verfasser einer Keihe gelehrter 
Werke, hat sich zumal durch die Veröffentlichung einer fiir 
seine Zeit sehr umfassenden Encyclopädie bekannt gemacht. 
Er sammelte nehmlich auf Veranlassung des Königs alles 
Wissenswerthe , was in den vornehmsten Schriftstellern alter 
und neuer Zeit gefunden wurde; diese Sammlung sollte eine 
Uebersicht von den zu jener Zeit gangbaren Kenntnissen 
geben. Diesem „Repertoire aller damals bekannten Wissen- 
acbaft" gab Vincent den Namen Speculum Majus. Er 
nannte es Speculum, weil es für Zeitgenossen und Nach- 
kommen ein Spiegel sein sollte: majus, um es von einem 
früher erschienenen Werke zu unterscheiden, welches Spe- 
culum Mundi hiesB. 



VI- Die bürgerliche Didaktik. 243 

Dieses Kiesenwerk zerfällt in drei Theile: Specuhim 
Naturale, Speculum Doctrinale and Specuium Hi- 
storiale. Wir haben hier nur den letzteren zu betrachten. 

Er omfasst ein Bild der allgemeinen Greschicbte, sowo)il 
der politischen und kirchlichen, als auch der literariscLeu, 
von der SchöpAingsgeacbichte an bis zu Zeiten des \'ert"as- 
sers, bis zum Jahr i250. 

Wenn nun auch Maerlant diese lateinische Autorität zum 
Leitfaden nahm, so hat er beider Bearbeitung seines »Spie- 
gels aufs Neue seine selbstständige Auffassung und seinen 
klaren Blick iur die Bedürftiisee seiner Zeit bewiesen. 

Bruder Vincent schrieb für die Mönche seines Ordens, 
um ihnen das Studium der Wissenscliafl zu erleichteni , und 
um sie mit der nur allzusehr verwahrlosten Greschichte der 
£irche, mit ihrem Kampfe seit der Irühsten Zeit und ihrem 
endlichen Siege bekannt zu machen. Maerlant hatte einen 
anderen Zweck. Er schrieb für Laien, die nicht nötliig; hat- 
ten, in den ganzen Umfang schoIasHscher Gelehrsamkeit, in 
alle Subtilitäten heidnischer Philosophen oder christliclicr Kir- 
chenväter eingeweiht zu werden. „Aber ein desto j^rösseres 
Interesse hatten die Bürger, nie neuere Geschichte, den Ur- 
sprung und die Entwickelung ihrer gegenwärtigen Zustände 
kennen zu lernen, und zu gleicher Zeit zu neuen Ideen und 
zu einer gesunden Lebensanschauung angespornt zu werden. 
Das tat das Verhältniss Maerlant's zu Vincentius. Der Spie- 
gel Historiaal musste einerseits weglassen und abkürzen, 
was im Speculum Historiale einen zu außgespruchcn 
kirchlichen und gelehrten Charakter trug; anderseits musste 
er aber auch dasjenige hinzufügen oder einschalten , was der 
vlämischen Bürgerschaft nützUch sein konnte; und es musste 
zu gleicher Zeit ein Spiegelbild des freien und ursprünglichen 
Geistes des Uebersetzers sein, der sich niemals verläugncte, 
wenn er bei passender Gelegenheit seine liberalen Grundsätze 
aussprechen konnte, um dadurch einen heilsamen Einfluss auf 
den Wohlstand seines Volkes auszuüben."^) 

Maerlant hat sein Vorbild, ungeachtet seiner eigenen Ein- 
schaltungen, mn mehr als die Hälfte verkürzt Diese Ztisam- 
menziehung wurde hauptsächlich durch das Weglassen aller 



') EiDleitung zu dem Spiegel Historiaal, S. IX. 



244 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

theologischen Auseinandersetzungen erzielt ^ die er für die 
Laien ,^u schwer" hielt, und die er deshalb wegliess, um der 
Geistlichkeit kein neues Aergerniss zu geben; denn durch die 
Reimbibel hatte er sich schon ihren Zorn auT den Hai» 
geladen. 

Er konnte auch noch in einem anderen Punkte abkürzen, 
nehmlich bei den biblischen Geschichten. Vincent zieht fort- 
während Stücke aus der Historia Scholastica an; das 
hatte der Uebersetzer nicht nöthig: es genügte, wenn er daa 
dort Behandelte mit einem einzigen Wort berührte, und wenn 
er auf sein früheres Werk verwies. 

Drittens kürzt Maerlant auch die geschichtlichen Erzäh- 
lungen ab, wenn sie vom höchsten Alterthum handeln; da 
diese der ungelehrten Bürgerschaft weniger Interesse einflössen 
mussten, als die Geschichte der neueren Zeit. Zumal in den 
Citaten aus alten Schriftstellern, in ihren „Blumen'^, wie er 
sie in treuer Nachfolge seines Originals nennt, ist diese Ab- 
kürzung sehr bemerklich. 

„Aber während er auf diese Weise durch Weglassung- 
oder Abkürzung den Spiegel mehr in Uebereinstimmung 
mit den Bedürfnissen seiner Leser brachte, hat er anderseits 
einen Theil des gewonnenen Raumes verwandt, um das seinem 
Zwecke entsprechende breiter zu behandeln. Und gerade 
hierin zeigt sich Maerlant's Gelehrsamkeit, die mit den besten 
Schriftstellern alter und neuer Zeit vertraut war, und auch 
über andere Quellen verfügen konnte, um, wenn es nöthig 
war, Vincentius zu ergänzen. Dieser Punkt ist für die rich- 
tige Würdigimg des Spiegel Historiaal von grosser Wich- 
tigkeit; denn er beweist, dass Maerlant's Werk nicht eine 
blosse, freie Uebersetzung, sondern bis zu einem gewissen 
Grade eine selbstständige Arbeit ist; in so fern nehmlich auch 
andere Schriftsteller zu Rathe gezogen, und ihre Berichte mit 
denen von Vincentius zu einem eigenartigen Ganzen verarbei- 
tet worden sind." 

In der gelehrten Einleitung zu dem Spiegel, der wir 
diese Worte entnehmen (S. XII), wird dies mit einer Menge 
Beweisen belegt; ich beschränke mich auf die Andeutung^ 
dass unter den selbstständigen Zuthaten besonders diejenigen 
unsere Aufinerksamkeit auf sich lenken, welche sich auf die 
Geschichte der vornehmsten niederländischen Provinzen be- 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 2 15 

ziehen, ziünal von Flandern und Holland. Dazugehört ferner 
der wichtige Abschnitt über den ersten Kreuzzug, mehr als 
dreimal bo gross als Yincent's Skizze. 

Aber zu dem Merkwürdigsten, was Maerlant's ri|negei 
uns als eigne Zuthat zu seinem Originale zu lesen giL'bt, ge- 
hört ganz gewiss die kräftige, scharfe Bekämpfung di?r fran- 
zösischen Lügenpoeten, die immer wiederkehrt, der :iogar zu- 
weilen ganze Hauptstücke gewidmet sind. Ja, er stellt gieicb- 
sam sein Werk der weltlichen Literatur gegenüber, die nocl] 
viel zu viel in Ehren gehalten würde. Wer fiir die Lügen- 
Sprache des Gral oder des Parziva! keinen Sinn habe, 
ruft er in seinem Prologe aus, der stelle den Spiegel Hi- 
storiaal höher als die Romane des Tags: hier ündet er 
Wahrheit, Weisheit und bessere „dachcortinghe". 

120. Wir können dies Alles natürlich hier nicht weiter 
auseinandersetzea; aber die neusten Herausgeber des Werkes 
haben es mit der grössten Gründlichkeit gethan, und man 
wird sicher ihrem Urtheile beistimmen : ') 

„Da wir nun wissen, daas Maerlant nicht bloss eine tVeii.; 
Uebersetzung gab, sondern dass er theüweise selbststUndi}^ zu 
Werke ging, und nach eigner Wahl andere Schriftsteller zu 
Käthe zog, so tritt uns dadurch nicht nur der ganze Phiu 
and die ganze Zusammenstellung des Spiegel HiBtoriaal 
klarer vor Augen, sondern der Dichter selbst gewinnt niclit 
wenig in unserer Achtung. Mehr als früher, erscheint er luits 
als ein Mann von ausgebreiteter Gelehrsamkeit, der in der 
Geschicbtskunde auf der Höhe seiner Zeit stand, und die 
besten Quellen mit richtigem UrtheÜ verwandte. Aber l'i- ist 
zumal in unserer Achtung gestiegen, weil wir jetzt deutlich 
sehen, wie er seine Wissenschaft mit eben so viel praktisdieni 
Sinne als klarer Besonnenheit der Bildung und der Aufklärung 
seiner Landsleute dienstbar zu machen wusste. Die Verän- 
derui^n, die er in das Speculum des Vincentiua brachte, 
waren nicht willkübrlicli oder zufallig, sondern naoh den Be- 
dürfnissen der vlämischen Bürgerschaft sorgfältig berechnet. 
Ueberall sehen wir in ihm den wackern Wortfiibrer einer 
neuen, literarischen Richtung, der mit vollkommenem Bewusst- 
sein seines Berufes weiss, fiir wen er schreibt, und in weichem 



') Einleitung, S. XXXIX. 



246 VI. Die börgetliche Didaktik. 

Geist er achreiben moss, um den grässten Nutzen *zu stiften, 
und einen Zeitraum höherer Entwickelung vorzubereiten. So 
Ji;it Maerlant aus dem wichtigen und kirchlich-geJehrten Spe- 
e u 1 II m des französischen Dominikaners ein populäres Gre- 
aeliiclitswerk zu schaflen gewuBSt ; einen echten Spiegel für da» 
vliiuiiijche Volk, so recht geeignet, durch einen Schatz heilsamer 
LelLiiii verständige Bürger zu bilden, und dem nach Fortaehritt 
sti-fbL^nden Zeitgeiste eine mächtige Stütze zu gewähren." 

I'nd dazu kommt schliesalich noch, dass auch die mora- 
lisch»' Wirkung der Geschichte ein ebenso grosser Sporn zur 
Hciiiusgafae seines Werkes für ihn war, als die Erzählung 
der Gegebenheiten. Dies wird nicht nur aus den vielen Leh- 
ren und Sittenpredigten deutlich, welche er seiner Ueber- 
setaiujg einschaltet, sondern wir sehen auch aus dem Prologe, 
das» er das ganze Werk dieser Idee dienstbar machen wollte ; 
daijs er den praktischen Zweck hatte, seinen Zeitgenossen zu 
zeigen, wie die Weltgeschichte durch die Sünde eine Kette 
von Kampfesscenen und von Disharmonie war, aus welcher 
ivher viel gelernt werden konnte. 

Neben der Licht- soll jedoch auch die Schattenseite 
nicht verheimlicht werden. 

Auch der Spiegel Historiaal zeigt, dass die Kritik 
noch im Kindeaalter stand, und dasa die Glaubwürdigkeit der 
ßegt;tmi9se nur nach dem kleineren oder grösseren Ansehen 
der (lewährsmänner gemessen wurde. Lateinische und kirch- 
liche Schriftsteller, zumal die Kirchenväter, sind unfehlbar; 
die französischen Poeten sind Lügner. Ihre Werke werden 
zuweilen einander so gegenübergestellt, als ob ihr Inhalt mit 
einander den schärlsten Kontrast bilde; wenn man sie ver- 
gleicht, stellt sich doch oft genug iTeraus, dass Beide dasselbe 
gesafit haben. So wird z. B. hier verworfen, was die Jongleurs 
berichtet haben oder was Maeriant selbst dem Gauthier de 
Chätillon über Alexander den Grossen nacherzählt hat: das war 
„ene t;eveinsde saghe", jetzt soll der wirkliche Öesehichtaher- 
gang gegeben werden, — und dann folgt beinahe wörtlich das- 
selbe, was man auch in deii verurtheilten Schriften findet. 

Auch die Form ist nicht ohne Fehler. Soweit es möglich 
ist, gieht Maerlant Vincent's Erzählung treu, obgleich zuwei- 
len mit einer gewissen Freiheit, zurück. Nur sehr selten ver- 
steht er das Lateinische falsch; aber es geschieht doch zu- 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 247 

-weilen. Der Styl ist gar nicht zu loben; er ist in ikr Regel 
aicht nur nicht kraftvoll, sondern oft sogar „Bchlepptud und 
kraftlos"; nur zu oft beweisen die Flickwörter, von denen 
das Buch wimmelt, dass die Arbeit dem Verfasser nitht gar 
S6U leicht von der Hand ging. ludess lehrt doch die Vtirglti- 
chung mit den Werken seiner Nachfolger, dass Maerlant o.mili 
in dieser Hinsicht vielen seiner Landsleute voraus wai-. 

131. Maerlant hat den Spiegel nicht ganz voUendet. Ak 
die erste Partie, wie er die Theüe nannte, voUenik-t war, 
liesB er (wahrBcheinlich nur vorläufig) die zweite liegen, und 
ging sogleich an die dritte und vierte; von der letzteren 
Bchrieb er nur die zwei ersten Bücher und einige Hauptstücke 
des dritten. Der Tod überraschte ihn vor der Vollendung 
seiner Aufgabe. 

Dieselbe wurde von einem gewissen Philipp Uti^-nlnoL-ke 
aus Damme übernommen, der den unübersetzt gehliebeneu 
zweiten Theil hinzuarbeitete, aber bald darnach auch »tarb.') 
Kach ihm hat Herr Lodewijk van Velthem den vierton TliL-il 
fortgesetzt, und das Werk vollendet. 

Ueber den Ersteren ist nicht viel zu sagen, da uns sein 
Leben gänzlich unbekannt ist: wir wissen nur, dass ir zwi- 
schen 1291 und 1315 schrieb. Er war seiner Aufgabt; sehr 
wohl gewachsen; seine Uebersetzung ist^im Allgemfinen tivu 
und genau, und in der Handhabung von Sprache und Styl 
steht er mit seinem Vorgänger so ziemlich auf einer Linie. 

Herr Lodewijk van Velthem war ein brabanter Priester; 
muthmasslich der jüngere Sobn aus dem adligen Gesehlcchte 
viui Velthem; als Solcher hatte er sich der Kirche gi:widmet. 
Im Jahre 1304 war er Kaplan in Sichem, 1313 l'astor zu 
Velthem, dessen Präbende ihm für Lebenszeit zuertlieilt war. 
Wir wissen nicht viel Näheres von ihm. Es ist uns bi^kannt, 

') Der zweite Theil war bis jetzt verloren, einzelne aufgoftindcne 
Fragmente hielt man daEU geborig. Tor kurzer Zeit (April l^tiO) fand 
Karajan in der Wiener Bibliothek eine Handachrift, welche grösaten- 
theils das Verlorengeglaubte enthält. Es stellt sich nun hei".!!!», dass 
die früher dazu gerechneten Fragmente wirklich einen Theil ileraelbeu 
ausmachen Ferd inand v. Hellwald, der über die entdeckte Hiiiul- 
BChrift in der „Beilage zur Allgemeinen Zeitung" vorn ;hO, Sept. 
16)69 (8. 4214 und 15) berichtet, hält es für wahrscheinlich: „dasa über 
die PerEon des Dichtere wenige und nur spärliche Notixen daruits zu 
schöpfen sein dürften." 



248 VT. Die bürgerliche Didaktik. 

dasB er sich 1293 zu Paris aufhielt; wahrscheinlich noch als 
Student. Schon ein Jahr später^ und seitdem zu wiederholten 
MaleU; sehen wir ihn in Berührung mit verschiedenen hoch- 
gestellten Personen. Weder sein Pastorat, noch seine Verbin- 
dungen hatten ihm viel genützt; denn wir wissen, dass er 
noch später nach einer guten, gesellschaftlichen Stellung strebte. 

Den Schluss des Spiegel Historiaal übersetzte er 
auf Veranlassung einer vornehmen Frau, Maria van Berlaer, 
die wahrscheinüch als Wittwe in der Umgegend von Antwer- 
pen wohnte. Aus den W^orten, mit welchen er ihrer gedenkt, 
kann man entnehmen, dass er in ihrem Dienst stand, ver- 
muthlich als Eiiplan oder Hauspriester. Dass er von ihr be- 
zahlt wurde, ist gewiss. Diesen Umstand meldet er am 
3. August 1315. 

Es scheint, dass diese Frau von Berlaer bald darauf ge- 
storben ist. Velthem hatte eine Fortsetzung des Maerlant- 
schen Spiegel beabsichtigt: ein Jahr später, am 14. August 
1316, hatte er die ersten sechs Bücher des Werkes voUendet, 
kurz darauf fiigte er noch zwei Bücher hinzu, die er auf das 
Verlangen eines gewissen Jan Visier fiir den Herrn van 
Voome (im Lande von Daalhem) schrieb, dessen Hausprie- 
ster er zu werden hoffte. 

Als Velthem Maerlanfs Spiegel vollendete, beschloss er, 
die Geschichte bis zu seiner Zeit fortzusetzen. Dadurch be- 
kam aber der Stoff eine solche Ausdehnung, dass es unmög- 
lich war, denselben in den vierten Theil einzuzwängen, ohne 
das Ebenmass mit den anderen Theilen zu zerstören. Des- 
halb theilte er den Inhalt. Der vierte Theil sollte ungefähr 
dasjenige ausmachen, was in Vincent's Werk enthalten war: 
darauf soUte dann eine mehr selbstständige Arbeit folgen, die 
als fünfter Theil hinzugefügt wurde. 

Dieser Theil, der bis jetzt als eine ganz abgesonderte 
Arbeit betrachtet wurde, geht bis zum Jahre 1316. Er war 
theils nach lateinischen Quellen bearbeitet, und die Ereignisse 
der letzten fünfzehn Jahre waren nach Berichten von Augen- 
zeugen mitgetheilt. Dabei hat der Verfasser eine Anzahl 
Hauptstücke dem später zu erwähnenden Jan van Heelu ent- 
lehnt und eingeschaltet, wie er auch wahrscheinlich die hol- 
ländische Chronik des Melis Stoke zu Rathe zog. 

Die eigentliche Geschichte endigt mit dem sechsten Buche: 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 249 

die beiden anderen umfassen die Prophezeiungen von Daniel, 
Merlin, Hildegard und Joachim, sowie eine Schilderung vom Er- 
scheinen des Antichristen und vom letzten Gericht. Die letzten 
Scenen sind wieder Vincent's Spßculum entnommen. Sie 
bilden den eigenartigen ächluss einer Weltgeschitlitf! , welche 
mit der Schöpfung beginnt, und nicht besser enden konnte, als 
mit einem Hinweis auf den jüngsten Tag und die \'ollenduiig 
des Laufs der Zeiten. 

Velthem erkennt selbst, dass er sich mit seiner Arbeit 
tibereilt hat, und seine Behandlung trägt davon die deut- 
Uchsten Spuren. Sie verrfith zumal in den übersetzten StoUen 
eine beispiellose Unkenntniss und Nachlässigkeit. Ott ist das 
Original bis zur Unkenntlichkeit verändert. Audi Sprache 
und Styl lassen viel zu wünschen übrig: mangelhafte Aus- 
drücke, Flickwörter, schleppende und hinkende Ver.s(;, unreine 
Reime beweisen, wie wenig vollkommen das Werk ist, und 
wie tief es in dieser Hinsicht unter Maerlant's Arbiit steht. 

Als Quelle jedoch für die Historie und fiir die Kenntniss 
der Sitten jener Tage ist dieser fünfte Theil, oder der veltheni- 
Bche Spiegel unschätzbar. Man findet darin über manche 
Begebenheiten sehr wichtige Einzeluheiten aiifgezeiclmet , die 
nii^ends anders vorkommen. Und die Art und Weise, in 
welcher unser Pastor über die Begebenheiten und über seine 
eigienen Beobachtungen urtheilt, macht seine Erzählung sehr 
charakteristisch, und lässt uns oft die Mängel der Form ver- 
gessen. 

122. Nach dieser Abweichung kehren wir einen Augen- 
bhck zu Maerlant zurück. Wir haben uns noch bei einigen 
strophischen Gedichten aufzuhalten, deren Verfasser er ist 

Vom Tweeden Martijn haben wir schon graprochen. 
(S. 224) Als zweite Fortsetzung des Wapene Martijn 
betrachtet man oft das Gedicht VanderDrievoudieheden, 
dem ich jedoch ein jüngeres Alter beilege, als den Ijeiden 
Anderen. 

Die darin von Maerlant entwickelten Ideen scheint er 
zwei Schriften des schon so oft genannten Vincent von 
Beauvab .entnommen zu haben; das eine heiast de Sancta 
Trinitate, das andre: de Deo Filio, raundi Redeni- 
tore. 

In den 39 Couplets dieses Gedichtes wollte Maerlant 



250 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

augenscheinlich ein Glaubensbekenntniss niederlegen. Es han- 
delt von dem Wesen der Gottheit und ihrer Theilung in drei 
Personen; darin wird des Vaters allumfassende Regierung^ 
die Menschwerdung des Sohnes und die Einwirkung des 
heiligen Geistes geschildert. Der Gegenstand ist würdig, 
die Behandlung des Stoffes nicht minder. 

Es kommen in diesem Werke Ausdrücke vor, welche die 
Vermuthung rechtfertigen, dass der Verfasser sich durch die- 
selben gegen den Verdacht der Ketzerei vertheidigen wollte, 
der ihm wahrscheinlich, und vielleicht sogar wegen der Her- 
ausgabe der Reimbibel verfolgte. Einzelne Anspielungen 
beweisen wenigstens, dass dieses Gedicht nach dem genannten 
Werke geschrieben wurde. 

Hierauf folgt in allen Handschriften ein ähnliches Stück 
mit der Aufschrift: Ene disputacie van Onser Vrouwen 
ende van den H. Cruce. Es ist eine mystische Erörterung 
über die Verdorbenheit der Welt, und die Nothwendigkeit 
zur Erhaltung der Seele seine Zuflucht zu Christus und seiner 
jungfräulichen Mutter zu nehmen. 

Auch diesem Gedichte fehlt die Einheit, die es zu einem 
untadelhaften Kunstprodukte erhebt. Die einzelnen Theile 
haben einen sehr verschiedenen Werth : der, in welchem Chri- 
stus selbst sprechend eingeführt w;ird, um den Menschen ihre 
Sünden vor Augen zu halten, und sie zu einem Kreuzzüge 
anzufeuern, ist nicht nur der Gelungenste des Gedichtes, son- 
dern gehört selbst zu dem Ausgezeichnetsten, was die mittel- 
niederländische Poesie überhaupt aufzuweisen hat, und lässt 
sich füglich mit den besten Theilen des Wapene-Martijn 
vergleichen. 

Die Hymne an die heilige Jungfrau, die unter den wenig 
passenden Titel von Die Clausulen van der Biblen 
bekannt ist, fängt mit allerlei mystischen Allegorien an, wie 
sie ähnlich auch in der Reimbibel vorkommen ; darauf folgt 
eine sehr gelungene Schilderung von der Alles übertreffenden 
Schönheit Maria's, wodurch Gott der Vater in Liebe zu ihr 
entbrannte. Den Schluss bildet eine Uebersicht ihres Lebens 
und die Beschreibung ihrer Himmelfahrt, wobei ihre Bezie- 
hung zur Erlösung der Menschheit auseinander gesetzt wird. 

Mehr zieht uns Der Korken Claghe an, deren Inhalt 
eine ununterbrochene Klage über die Verdorbenheit der Welt, 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 251 

zamal der Geistlichkeit, ist; sie Mit ganz in die Art der 
besten strophischen Gedichte Maerlant's. Dieses Stück athmet 
ein Feuer, das sich in den glücklichsten Ausdrücken spie^felt, 
90 dass es mit voilem Recht unter die ausgezeichnetsten Werke 
des Dichters gerechnet werden kann. 

Endlich müBsen wir einen Aufruf zum Kreuzzug erwäli- 
nen: Von den Lande vanOverzee. Die Tendenz dieses 
schönen Gedichtes ist eine Züchtigung von Edlen und PrieBtcrn, 
die mehr nach irdischemBesitze, als nach dem Königreiche Gottes 
strebten. Selbst das Haupt der Christenheit, so helsst es, ist 
vom rechten Wege verirrt: die Kirche von ßom ist trmiken 
und gelrässig, Prälaten und Priester dienen nur der Welt 
und gebrauchen das Gehl der Kirche zur Zügellossigkeit. 
Könige und Fürsten, die Christi Blut saugen, indem sie die 
kirchlichen Zehnten an sich ziehen, kümmern sich nicht darmn, • 
ob das heilige Land verwüstet oder verheert werde; sie Lc- 
kriegen und belagern sich nur unter einander. Und doch wäre 
es jetzt mehr als je von Nöthen, sich Christi Sache anzuneh- 
men; darum sollten die Fürsten ihre Zeit nicht mit Jagd und 
Falkenspiel vergeuden, sondern Christi Schild auinehnien und 
den Klagen der Kirche Gehör schenken! 

Eine Anspielung auf den Fall von Acres (12. Mai 1291) 
bezeichnet das Datum dieses Gedichtes; es ist eine Frucht aus 
Maerlant's späteren Lebenstagen. Wenn man sich erinnei-t, 
daas er überdies krank und schwach war, so wird man sich 
über das Feuer verwundem, welches ihn noäh beseelt und 
welches dieser Arbeit einen echt poetischen Charakter verleiht. 

123. Nachdem wir Maerlant's Schritten kennen f^elernt 
haben, wird es uns nicht schwer fallen, ein Urtheil über den 
Stifter der bürgerlichen Schule zu bilden. 

Er war unstreitig ein aussergewöhnlicher Mann. Vor 
allen Dingen diu-ch seine Gelehrsamkeit. Sein Wissen war 
erstaunlich: ausser seiner Muttersprache kannte er uiich das 
Französische und Lateinische gründlich, und die voniehm- 
sten Produkte beider Sprachen. Er hatt« säniint liehe 
vlämische Gedichte, wie sie damals im Umlauf waren, und 
von welcher Art sie auch sein mochten, gelesen; und lahensü 
sehr war er in den französischen Chansons de geste und 
Contes d'aventure bewandert; während ihm zu gleicbi^r Zeit 
auch die meisten populären Gedichte, z. B, die von Kuttbeul', 



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I 



I 



252 Vi. Die bürgerliche Didaktik. 

bekannt waren. Was das LatcimBcbe betrifft, m war er nicht 
nur vollkommen vertraut mit den neusten wisBenschaftlicben^ 
hiBtoriscben, philosophischen und theologischen Werken seiner 
Zeit; er giebt sogar nicht selten den Beweis, dass er auch in 
di.T khissischeu Literatur nicht fremd war. Endlich war er 
aui'li in die Öeheimnisae der Naturlehre und des deutschen 
Kechtes eingeit^eiht 

Kr vereinigte also die Talente der Jongleurs mit dem 
WissDn der „Klerken": und mit seiner Wissenschaft hat er 
Zuit seines Lebens gewuchert, um Entwickelung und Bildung, 
Frr-ilieit und Recht unter seinen Mitbürgern zu befördern; um 
diu Bürgerschaft zu der gesellschaftlichen Höhe zu erheben, 
auf tvclcher sie nach seiner Meinung stehen musste. Er hatte 
oiflit nur den Muth, allgemeine Vorurtheile und Gebrechen 
zu bekämpfen; sondern er trotzte seilrat dem Zorn der mäch- 
tigen Geistlichkeit, unter der er so Viele sah, die mehr Wöl- 
fen, iüs Schafen glichen. Keine Lästerung, keine Verfolgung 
liess iha von seinem Wege abweichen. 

Dasa die vielen Schriften Maerlant's, aus welchen überall 
dieselbe warme Ueberzeugung hervorstrahlt, kräftig zur Aus- 
breitung und Stärkung des bürgerlichen Elementes beigetragen 
hahtm, unterliegt keinem Zweifel. Mit vollem Recht verdient 
er den Namen eines Reformators. 

Er war dies jedoch weniger im Aufbauen, als im Nieder- 
reissen: für die Zukunft hat er nur die Saat der Grundsätze 
ausgestreut. Er fühlte mehr, wie viel Verkehrtes in der gäh- 
rendi.'ii Gesellschaft war, als dass er deutlich eingesehen hätte, 
wohin seine kräftige Opposition leiten musste. Er begriff, 
dass dem Uebel entgegengetreten werden musste, aber ver- 
stand nicht, wie weit die Wirkung der dagegen angewandten 
Alittel reichte. Er protestirte gegen Gebrechen, ohne sich 
Reolicnachaft abzulegen, ob sie nicht grösstentheils von dem 
Wesen der Dinge untrennbar waren. 

Daher kommt es, dass er ungeachtet seines Streites gegen 
die < reist] ichkeit , ungeachtet seiner kritischen Richtung, doch 
als L'iü treuer Sohn der Kirche ihrer Lehre, den HeiUgen und 
Mirakehl anhing und dem Autoritätsbegriffe huldigte. 

Er predigte Freiheit, Gleichheit und Brüderhchkeit ; aber 
es üel ihm nicht ein, dass er dadurch die ganze gesellschaft- 
liehe Ordnung des feudalen Europa zum Wanken brachte. 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 253 

Er protestirte gegen die Lügensprache der französischen Dich- 
ter; aber er kam nicht auf den Gedanken, dass das Recht 
der Kritik auch auf die lateinischen und kirchlichen Schriften 
angewendet werden konnte und muBSte. 

In Wahrheit muBsten noch Jahrhunderte vergehen, ehe 
dies Alles in seinem ganzen Zusammenhange nntl seiner 
vollständigen Entwickelung dem Volke hell vor die Seele 
trat Maerlant gab nicht mehr, als was Beine Zeit geben 
konnte; aber das gab er auch so vollständig, wie kein An- 
derer seiner Zeitgenossen. Und gerade dadurch wurde er der 
Mann seiner Zeit und seines Volkes, der selbst eine Schule 
stiftete und sich den Namen erwarb: Vater der dietschen 
Dichter. 

Sein glühender Eifer, sein Muth, seine Ausdauer in dem 
Kampfe für Licht, Recht und Wahrheit, den er zmn Vortheile 
seiner Laodsleute führte, liessen immer deutlicher erkennen, 
wo man Btand, wohin man musste und welcher Weg dahin 
führte. Sowohl das nationale, als daa bürgerliche Element in 
Flandern hat ihm viel zu verdanken, und es war kein Irr- 
thum, wenn ein vlämischer Dichter unserer Zeit ^) den Sieg 
bei Kortrijk (1S02) als den ersten grossen praktischen Krfoig 
von Maerlant's PocBie darstellte. 

1:^4. Der Einflusa Maerlant's auf dem Felde- der Literatur 
wird durch die von ihm gegründete Schule deutlich. Die vor- 
nehmsten Schriftatelier aus dem Ende des dreizehnten und 
der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts folgen ihm 
nach, oder verkünden sein Lob. Betrachten wir zuerst die 
GeachichtsBchreiber. 

Kach der Chronologie zieht zuerst eine brabiintiache 
Reimchronik unsre Aufmerksamkeit auf sich, deren Veifasser 
Jan van Heelu (entstanden aus: von Heelen) genannt wird. 
Diese Chronik umfasst ein lebhaftes, zuweilen selbst selir poe- 
tisches Bild der Schlacht bei Woeringen im Jahre 1288, in 
Folge dessen sich Herzog Johann I, von Brabant des tlerzog- 
thums Limburg bemächtigte. Das Werk besteht aus zwei 
Büchern; das erste erzählt die Jugendgeschichte dea llerzogB 
und die Anleitung zum Kriege, das zweite schildert den Kampf 
selbst 

• *) Jan von Beere. 



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254 VI. Die bürgerliche Didaktik, 

■ 

Van Heelu hatte dem von ihm besungenen Ereignisse selbst 
beigewohnt; und dieser Umstand, als auch die Begeisterung, 
welche er für seinen Helden nährt, dessen grosse Persönlich- 
keit er mit kühnen Zügen schildert, geben seinen Bildern 
eine ungewöhnliche Lebendigkeit und Plastik. Dazu kommt 
noch die Einheit des Inhalts und der dichterische Ton , der 
freilich zuweilen an Uebertreibung leidet. Dadurch zeichnet 
sich das Gedicht in einem solchen Grade aus, dass man zuweilen 
zweifeln möchte, ob man es mit einem Epos, anstatt mit einer 
Chronik zu thun habe. 

Von des Dichters Leben ist beinahe Nichts bekannt. Aus 
einzelnen Zügen, wie z. B. 'der Sorge, mit welcher er die 
Wappenschilder beschreibt, hat man wohl nicht ohne Grund 
hergeleitet, dass er unter die Herolde des Herzogs gehörte. 

Er widmete sein Gedicht Margarethen von England, der 
Verlobten von dem Sohne des Herzogs : er bot ihr diese Verse an, 
um die Landessprache aus denselben zu lernen, und sicherlich 
konnte keine schmeichelhaftere Huldigung ersonnen werden, 
als die Erzählimg von ihres Schwiegervaters grossen Thaten. 

Da des Herzogs Tod in demselben nicht erwähnt wird, 
so kann man wohl das Werk zwischen 1291 und 1294 stellen. 

In vielen Hinsichten stimmt mit dem Gedichte über die 
Schlacht bei Woeringen ein anderes überein, welches nach 
«einem Inhalt de Grimbergsche Oorlog genannt wird. 
Der Ton derselben ist beinahe eben so poetisch; aber der 
Styl ist nicht so leicht, und der. Inhalt der Wirklichkeit nicht 
«o genau entsprechend. Der Grimd zu letzterem Umstände 
lag wahrscheinlich darin, dass hier keine histoire contem- 
poraine geschildert worden ist, sondern Scenen aus der 
Vergangenheit. Der Grimbergsche Krieg ist der Kampf, 
der im Anfang des zwölften Jahrhunderts von den Herren von 
Grimberg gegen den mächtigen Herzog von Brabant, Gottfi'ied 
den Bärtigen, geführt wurde, den sie nicht als ihren Lehnsherrn 
anerkennen wollten. Der Kampf, welcher viele Jahre währte, 
wird mit grosser Lebendigkeit geschildert, wiewohl die Darstel- 
lung hie und da an Weitschweifigkeit leidet. Auch dieses Werk, 
wie das vorige, steht zwischen Chronik und Epos. Man hat 
es, gleich Heelu's Arbeit, mit dem letzteren Namen belegt^ 
aber der cyklische Umfang, hauptsächlich aber der auf hi- 
storische Wahrheit gerichtete Zweck des Verfassers beweisen, 



VI. Die bürgerUche Didaktik. 255 

* 

dass wir es nur mit einer sehr poetischen Chronik zu thun 
haben, die ihr Interesse nur der Lebendigkeit zu danken hat, 
mit welcher der Dichter das aus der Volksüberlieferung und 
authentischen Quellen Geschöpfte anschaulich darzustellen 
wusste. 

Der Dichter starb , ehe er sein Werk vollenden konnte; 
die letzten 1400 Verse desselben sind von anderer Hand. 
Wer war der Dichter? Nirgends findet man seinen Namen 
genannt; aber wahrscheinlich schrieb er in der zweiten Hälfte 
des dreizehnten Jahrhunderts. Nicht früher; — das beweisen 
mehrere hist(msche Einzelnheiten; aber auch nicht später, da 
im ersten Theil der Brabantsche Yeesten (1315) eine 
Anspielung auf dieses Werk nicht zu verkennen ist. 

Er hat in seiner Art der Darstellimg und der Auffassung, 
seiner Technik und Sprache viel Uebereinstimmung mit Jan 
van Heelu, so dass sich uns die Vermuthung aufdrängt, der 
Verfasser des Slag van Woeronc, und des Grimberg- 
schen Oorlog sei ein und dieselbe Person. Wohl ist nicht 
zu verkennen, wie der Styl des zuletztgenannten Werkes 
durch Flickwörter abgeschwächt wird, die im anderen nicht 
vorkommen; aber daran konnte das weiter vorgerückte Alter 
des Verfassers wohl Schuld haben. Und man darf auch 
nicht vergessen, dass wir von dem Grimbergschen Oorlog 
kein einziges altes Manuscript besitzen, während die moder- 
nen Eopieen, wonach die unkritische imd wenig brauch- 
bare Ausgabe der vlämischen Bibliophilen besorgt wurde, ganz 
gewiss schon eine interpolirte und umgearbeitete Handschrift 
zu Gnmde haben. 

125. Holland stand ohne Widerrede lange gegen Flan- 
dern zurück, war aber doch nicht ganz ohne literarische Ent- 
wickelung. Die Geistlichkeit war schon früh gebildet, und 
schon im zwölften Jahrhundert hatten die Egmonder Mönche 
eine prächtige Bibliothek. Aber auch der weltlichen Liter^itur 
blieb man nicht fremd. Schon im Anfange des dreizehnten 
Jahrhunderts sahen wir dort den Wilhelm von Oranien er- 
scheinen, und hundert Jahre später huldigte man ebenda der 
Didaktik. 

Aber doch scheint es, dass die sociale Bewegung mehr 
von dem Fürsten als von dem Volke ausging. Floris V. 
feuerte den grossen vlämischen Reformator an, weil sich wahr- 



256 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

scheinlich kein holländischer Schriftsteller fand; der nach 
dieser Richtung hin arbeiten konnte und wollte. Und als 
endlich auch hier eine Chronik in der Volkssprache erschien, 
die wahrscheinlich auch auf Veranlassung des Grafen ge- 
schrieben wurde, so war sie mehr eine Schrift für den Adel, 
als fiir das Volk. Es ist die Chronik von Melis Stoke. 

Sie umfasst eine Erzählung der Begebenheiten in Hol- 
land, von der Stiftung der Grafschaft bis zum Jahre 1305. 
Der erste Theil ist eine hier und da etwas vervollständigte 
Uebersetzung von der bekannten, lateinischen Egmonder 
Chronik, welche für unsre Geschichte des zwölften Jahr- 
hunderts so merkwürdig ist, weil der Verfasser selbst er- 
lebte Begebnisse aufgezeichnet hat. Wo der Chronist die 
lateinische Quelle verliert, wird er sehr oberflächlich, bis er 
wieder die Erlebnisse seines eigenen Lebens schildert In 
denselben liegt in der That viel Wissenswerthes , da er in 
die Gelegenheit gestellt war, selbst viel zu sehen, oder von 
Augenzeugen zu vernehmen. 

Die Chronik von Melis - Stoke ist in viel einfacherem 
Style geschrieben, als die eben behandelten Werke. Ruhig, 
weitläufig, oft bis zur Langweiligkeit, plaudert der Reimkünstler 
meistens über die Ereignisse seiner Zeit; und dabei lässt er keine 
Gelegenheit vorbeigehen, um aus dem Erzählten mehr oder 
weniger passende Nützanwendungen und Sittenpredigten abzu* 
leiten. Ueberdies fehlt es auch nicht an Kleinlichkeiten, 
Mönchsetymologien und Mirakeln. 

Nur einige Male wird der Verfasser warm: bei der Er- 
zählung von der Eroberung Jerusalem's durch die Ungläubi- 
gen; bei dem Bericht von Ada's Vermählung an der Todten- 
bahre ihres Vaters; ferner bei der Ermordung des Grafen 
Floris, wo die Entrüstung den Chronisten selbst zum Dichter 
macht. Dessenungeachtet ist der Hterarische Werth dieser 
Chronik nicht hoch anzuschlagen, wenn man auch zugeben 
muss, dass der Styl reiner ist, als in Maerlant's didaktischen 
Schriften, welche zu viel mit Bastardworten durchflochten 
sind, über welche vlämische Schwäche ihn Melis selbst einmal 
— vielleicht aus Eifersucht — zum Besten hat. 

Es scheint, dass dieses Werk in zwei verschiedenen Ab- 
schnitten geschrieben wurde: zuerst bloss die Uebersetzung 
der lateinischen Chronik, welche der Verfasser Graf Floris zu- 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 257 

eignete ; später die Fortsetzung ; darauf widmete er das Ganze 
dem jungen Grafen Wilhelm HI. 

Der Verfasser, der sich des Grafen „clerk" nannte, war 
allem Anscheine nach ein Geistlicher aas dem E^j^oiider 
Kloster und wahrscheinlich ein Beamter des gräflichen Hofes. 
£8 stellt sich heraus, dass er nicht ohne Einäuss auf die 
Staatsangelegenheiten war. Obgleich er in einem gcwisaeu 
Sinne zu Maerlant's Schule gehörte, und ohne Zweifel mit 
dessen Spiegel bekannt war, so hatte er doch zu wenig Sinn 
und 'Verständniss fUr die demokratische Bewegung seiner Zeit, 
um in Allem mit ihm übereinstimmen zu können. l'Zr steht 
vielmehr auf der Seite der Aristokratie, für welche c-r sein 
Buch eigentlich bestinunte; und er war sicher nicht sehr ein- 
genommen mit den Gemeinden, „die stets neue Wirmisae suchen, 
weil sie die Hoffnung hegen, dadurch grössere Freiheit l'ür 
sich zu erlangen," wie er sich ausdrückt. 

Sein ganzes Werk zeigt eine ziemlich beschränkte Entwicke- 
lung. Wenn er, gleich Maerlant tmd dessen eigentlichen Schü- 
lern, Kleinlichkeiten einen grossen Platz einräumt, so wird dies 
bei ihm nicht durch den philosophischen Sinn jener Schriftsteller 
aufgewogen. Wohl wetteifert er mit dem Vlämen in nioralisi- 
rendeu Betrachtungen, aber er weiss nicht jene Wärme über 
dieselben auszugiessen , durch welche sich Jener auszeichnet. 
£r hat auch nicht seine Belesenheit: der Alexander, die 
„historie van Merlijn", und wahracheinlich der Troja- 
nische Krieg waren ihm bekannt; aber übrigens scheint 
er in der Literatur seiner Zeit ganz fremd zu sein. 

Der erste Theil des Werkes scheint zwischen 1283 und 
1287 geschrieben zu sein; das Ganze wurde wahrathciniich 
1305, oder kurz nachher vollendet 

126. In Brabant sahen wir schon Ludwig van Vehhcm 
als den Nachfolger Maerlant's auftreten. In diesem Ileizog- 
tbnme, und zwar in Antwerpen, trägt der von Maerlant ge- 
pflanzte Baum die reichsten Früchte Dort lebte und wirkte 
auch der ausgezeichnetste seiner Schüler, Jan van Boendale, 
nach seiner bürgerlichen Stellung — ■ er war Gerichtssclireiber 
bei dem Antwerpener Schöffenstuhle — auch Jan de (Jleik 
genannt 

Ueber den Mann selbst und seine Bedeutung für die biir- 
gerhche Literatur sprechen wir bald mehr: hier nur ein Wort 

Jonckbloet'* Qeichichte du NiedsrIbiiliBctaeD LitMitar. Bud I. IT 



258 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

über die historischen Werke, mit welchen er seine Laufbahn 
begann. 

Er schrieb eine Chronik, welcher er den Namen Die Bra- 
bantsche Yeesten beilegte, d. h. die Thaten (gesta) der 
Brabanter, und worin die Geschichte der Herzöge von der 
frühesten Zeit bis 1350 aufgezeichnet war. 

De Clerk beabsichtigte die Verherrlichung seiner Landes- 
fiirsten; aber nicht auf Kosten der Wahrheit. Es ist ihm ge- 
nug, sie als Nachkommen KarFs des Grossen hinzustellen: er 
hat gar nicht nöthig, sich mit ihrer Abkunft von dem Schwan- 
ritter, zu brüsten; ja, gerade um dergleichen lügnerischen Be- 
richte zu widersprechen, schrieb er seine Chronik. Auch er will 
also die Geschichte der Sage, die Wissenschaft der Poesie 
gegenüberstellen und geltend machen. 

Maerlant hatte schon in seinem Spiegel die Yeesten 
der Herzöge aufgezeichnet ; aber sie waren dort von allerhand 
anderen Sachen überwuchert. Deshalb wird hier ein Auszug 
jenes Werkes gegeben. Ausser dieser Quelle kennt der Ver- 
fasser noch van Heelu's Chronik, und einige Male verweist er 
auf ein lateinisches Vorbild; auch der Grimbergsche 
Oorlog war ihm bekannt. Ferner erzählte er seine eignen 
Erlebnisse oder das von Augenzeugen Vernommene. 

Der Styl ist höchst einfach, ohne jeglichen Schwung, und 
zeichnet sich vor dem Maerlant's nur durch leichteren Fluss 
aus. Im Allgemeinen beweisen Boendale's Werke, wie Sprache 
und Styl sich in einem kurzen Zeitraum reich entwickelt* 
hatten. 

Auch diese Chronik ist nicht auf einmal enstanden. Der 
erste Theil, der bis zum 900. Vers des fiinften Buches geht, 
endet mit der Heirath Johann HI. und wurde kurz nach der- 
selben, wahrscheinlich im Jahre 1315 vollendet. Die übrigen 
4000 Verse des Buches beschreiben die Regierung dieses 
Herzogs und die Erzählung bricht mit dem Jahre 1350 ab.- 

Später wurden dieser Chronik noch zwei Bücher hinzu- 
gefügt, worin die Begebenheiten bis zum Jahre 1440 er- 
zählt werden. Obgleich dieser Anhang für die Geschichte von 
ausserordentlichem Interesse, so hat er doch an und fiir sich 
nicht den mindesten literarischen Werth und braucht des- 
halb hier nicht näher besprochen zu werden. 

Wir erwähnen auch nur pro memoria ein anderes Ge- 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 259 

schichtBwerk von de Clerk, unter dem Titel Van den der- 
den Eduard, ebenso nennen wir nur kurz die vlämiaclie, 
von Kausler herausgegebene Reimchronik. Andere Clii'unikcii 
von geringerem Umfange oder die Schriften, welche eine liisto- 
rische Tendenz haben, wie Vaa de Negen Besten, können 
■wir mit Still schweigen übergehen, da sie zur Charakterisiriing 
ihrer Zeit nichts Neues geben. 

Wir kommen nun zu den ethischen Dichtern aua Mjinr- 
Jant's Schule, deren Werke von diesem Standpunkte au« viel 
wichtiger sind. 

127. Unter die wahren Schüler Vater Maerlant's gehört in 
erster Linie der Verfasser des sogenannten Vierden Mar- 
tijn; dies Gedicht erschien im Jahre 1209. Es ist ein stio- 
phischer Dialog, so sehr nach Art ähnlicher Stücke von 
Maerlant, dass man die Behauptung 'aufstellen kann: es 
fehlt ihm alle Ursprünglichkeit. Es kommen auch wiederholt 
Anspielungen oder Beziehungen auf die Martijns, v;in 
den Lande van Overzee und den, Spiegel vor. 

Der Dichter scheint ein Brabanter gewesen zu sein; ;iber 
die Meinung dass es der bekannte Hein von Aken ') gewesen 
sei, ist sehr unzulässig. 

Der literarische Werth dieses Stückes ist nicht gross : die 
Mühe, welche der Verfasser hatte, die Reimklänge in den 
neunzehn Versen jeder Strophe auf zwei zu beschränken, hat 
Klarheit und Kraft seines Styles sehr beeinträchtigt. 

Der Mann, der vor allen anderen unsere Aufmerksamkeit 
verdient, ist der schon genannte Jan van Boendali' oder 
de Clerk. 

Er nannte sich nach einem Flecken in der Näln' ym 
Tervueren, woher sein Vater wahrscheinUch stammtf, und 
wurde selbst, vermuthhch zwischen 1280 und 1290, am letzt- 
genannten Orte geboren, und zum geistlichen Stande bcstiniuit. 
Er zognachAntwerpen, wo er ungefähr ums Jahr 1330 zu 
den Clerken des Schöppenstuhles gehörte; dies wuede die 
Veranlassimg, dass sein Geschl echte name nach und uaeii in 
Vergessenheit kam, und durch die Benennung nach seinem 
Amte ersetzt wurde. * 

Boendale stand mit den angesehensten Männern seiiiar 



') Prof. Serrure, Vaderlandsch Museum, VI, S. 55 u. flgde 



► 



260 VI. Die bürgerliche Did&ktdk. 

Zeit in literariBchem Verkehr. Die YeeBten schrieb er ant 
VciHnlHasung des Herrn Wilhelm Bornecolve , einer der 
einfluH areichsten Personen Änfwerpena. Auch mit dem Herrn 
Kogier van Leefdale, Droet und Kanzler von Brabant, Burg- 
graf von BrüBeel, kam er schon sehr bald in Berührung, und 
widmete ihm verschiedene seiner Werke. 

Man weiss nicht viel mehr von ihm, als dass er in seinem 
Berufe wiederholt die Schöffen auf ihren Reisen begleitete. 
Ueber sein Sterbejahr ist viel gestritten worden. .Wenn man 
diL' Beweisstücke ruhig betrachtet, kann man den sichern 
fichluss ziehen, dase er in der dritten Woche des September» 
im Julir 1365 in hohem Älter gestorben ist 

Sein erstes moralisches Werk, das bis auf uns gekonunen 
ist, nannte er Jans Teestije, d. h. Jans Meinung 
oder Uoberzeugung, eigentlich: was er sich in den 
Kopf gesetzt hat. Es wurde zwischen 1315 und 1325 ge- 
Bchrieben, Wir haben es hier nicht mehr mit Excerpten 
aus den Schriften eines Anderen zu thun, worauf der Verfas- 
ser sich in seiner Jugend beschränkt hatte, sondern mit einem 
sehr merkwürdigen, selbstständigen Werke. 

Die Teestije ist ein Zwiegespräch zwischen zwei „ge- 
Beilen", Johann und Walter, und behandelt allerhand Gegen- 
Btäude von grossem Interesse aus des Dichters Lebzeiten. In 
erster Reihe eine ausfuhrliche Auseinandersetzung, dass die 
Menscliheit jetzt viel besser sei, als je zuvor; ferner eine 
umständliche Abhandlung „van den State alrehande des 
vülx, der papen ende der heren", in welcher zumal 
da» Lob des Ackerbaues und des Handels ausposaunt wird. 
Endlifh eine Schilderung des jüngsten Gerichtes und eine Be- 
trachtung über Himmel und Hölle. 

Wenn irgendwo, so bemerkt man in diesem Werke Maer- 
Iftnt'e Einfluss als Reformator. De Clerk führt ihn stets im 
ILindc, und verfolgt sein System bis zur Spitze. Adel und 
Geistlichkeit unterliegen einer starken Züchtigung; aber es 
wird hier nicht nur verurtheilt, was früher so hoch in Ehren 
gehalten wurde, sondern es wird überdies ausdrücklich erklärt^ 
dns9 es nur zwei Stände gäbe , i6 welchen Sittlichkeit und 
Tugend, ja der gesellschaftliche Zustand selbst aufrecht er- 
halten werden könne: nehmlich die Bürger und die Bauern. 

Auch auf andere Weise machen sich die demokratischen 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 261 

Begriffe geltend: es wird wiederholt darauf hingewiesen, wie 
die Herren und Prälaten das Volk unterdrücken und aus- 
saugen; und wenn auch dabei Geduld gepredigt und nach 
dem himmlischen Lohne verwiesen wurde, so lehrt uns doch 
die Geschichte der vlämischen Gemeinden, wie wenig man 
sich durch die Hoffiiung auf eine einstige Vergeltung ein- 
schläfern Hess. Es wird in dem Werke schon mit sicht- 
barem Trotze auf die Abhängigkeit der Fürsten von den Ge- 
meinden hingewiesen, und das musste natürlich anspornen, 
auf dem eingeschlagenen Wege weiter fortzugehen. 

Ehre, so heisst es, ist von der Fürsten Hofe verbannt, 
nur Verrath und Habsucht wohnen daselbst; ein Jude, der 
Oeld leiht, ist willkommener als ein Ritter, der das heilige 
Grab wiedergewonnen hat. Deshalb ist Schande ihr TheiL 
Man sehe nur, wie Gott alle Herren, Könige imd Grafen heim- 
sucht, und der Dichter könnte sie nöthigenfalls mit Namen 
nennen, erklärt er. Macht, Ehre und Habe sind verloren. 

Höchst merkwürdig ist auch der Ton, den sich der 
Schöppenschreiber über und gegen die städtischen Behörden 
erlaubt, denen er tüchtig den Text liest, und die er zurecht 
weist. 

Die communistische Färbung dagegen ist verschwunden; 
und das ist wohl ein Beweis von der grössern Sicherheit, welche 
die neue Ordnung der Dinge erhalten , und von . den prakti- 
scheren Ideen, die sich dabei entwickelt hatten. 

^ Auf kirchlichem Gebiete hat hier der Liberalismus seinen 
2enith erreicht: Der Verfasser geisselt nicht nur die Fehler 
und Laster der Priester, sondern er sagt schon eine Kirchen- 
reformation voraus, und verraisst sich sogar, die Macht der 
Heiligen zu läugnen. Nur die heilige Jungfrau macht davon 
eine Ausnahme. 

128. Vielleicht noch deutlicher spricht der Zeitgeist aus 
dem Leekenspiegel, des Dichters Hauptwerke, in welchem 
„die didaktische Schule ihre höchste Blüthe erreichte.^' (De Vries). 

Auch dieses Gedicht, das zwischen den Jahren 1325 und 
1330 geschrieben wurde, ist Regier van Leefdale gewidmet. 
Professor de Vries, der eine ausgezeichnete Ausgabe desselben 
besorgt hat, charakterisirt es folgendermassen : 

„Indem der Dichter von dem Gedanken ausgeht, der Un- 
wissenheit der Laien entgegen zu arbeiten, indem er ihnen wie 



264 VI. Die bürgerUche Didaktik. 

wie es in einem der letztenHauptstücke der BrabantshenYee fi- 
te n heisst; mochte diejenigen^ welche sich zu den zwei genannten 
Kategorien rechneten^ wohl zum Nachdenken bringen. So wurde 
die conservative Richtung zu gleicher Zeit mit der städtischen 
Aristokratie geboren. Und dass diese schnell genug zu kaltem 
Egoismus überging , beweisen De Clerk's Werke ' nur zu 
deutlich. Selbst die edelsten Eigenschaften , IVeigebigkeit 
z. B.^ sind nach seiner Lehre hauptsächlich darum zu pflegen, 
weil sie „van groter baten" sind. Die höchste Weisheit um- 
schloss diese Zeilen: 

Boven allen creataren 

Sal die mensche telker aren 

Hein selven rainnen, des sijt vroet ; 

Ende so wie des niet en doet, 

Ende enen andren liever heeft, 

Weet, dat hi önwijslijk leeft. 

Ungeachtet dieser philisterhaften Selbstsucht, NÜeser klein- 
geistigen, kleinbürgerlichen Mittelmässigkeit gehört unser 
Schriftsteller doch zu den sehr liberalen Denkern seiner Zeit, 
so wie zu den achtungswerthesten Bathgebern seiner Zeit* 
genossen. 

129. Ausser den genannten Werken und dem sogenann- 
ten „Exemplaer", das nicht bis auf uns gekommen ist, 
aber das er selbst anfuhrt, schrieb De Clerk noch ein didak- 
tisches Gedicht, das er Die Dietsche Doctrinalenannte 
und 1345 herausgab. 

Die allgemeine Richtung dieses Werkes kommt ganz und 
gar mit dem dritten Buche des Laienspiegels überein; so- 
wohl was Form, Darstellungsweise und Ton, als auch den 
Hauptgedanken betriffik. • 

In diesem Werke spricht jedoch eine noch reifere, ruhigere, 
praktischere Entwickelung; und das kennzeichnende, charak- 
teristische des Doctrinale liegt in der Lehre, dass Forschung, 
Studium, Wissenschaft die Quellen alles irdischen Glückes 
sind. Dieser Gedanke wird hier wiederholt auseinandergesetzt, 
und man wird sich darüber nicht wundern, wenn man weiss, 
wie viel Werth die Scholastiker der doctrina zuschrieben. 

Wenn De Clerk die gesellschaftlichen Fragen aus diesem 
Gesichtspunkte betrachtete, so war es vielleicht, weil er sich 
immer mehr in seine Studienzelle zurückzog, und also mehr 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 265 

in der Bücherwelt lebte ; aber es lässt sich doch auch wAhr- 
nehmen^ dass er es that^ weil diese Quelle gesellschaft- 
licher Wohlfahrt und Entwickelung viel zu sehr verwahrlost 
'wurde. 

Man sieht hieraus deutlich^ wie einflussreich die Be- 
kanntschaft mit den literarischen Produkten des fleissigen 
Mannes für die Geschichte der bürgerlichen Ideen in Nieder- 
land ist. Seine Entwickelung ist ganz die seiner Zeit^ auch in 
den verschiedenen Phasen^ die sie durchläuft. Dieser Dualis- 
mus; der ihn charakterisirt^ ist das eigenartige Merkmal eines 
Jahrhunderts von gänzlicher geseUschaftlicher Reformation^ 
womit natürlich Zweifel, Suchen und Fehlgreifen verbun- 
den ist. Wir dürfen uns deshalb nicht verwimdern, wenn 
wir ihn zu gleicher Zeit höchst freisinnig und äusserst be- 
schränkt finden; kindlich naiv und voll von scholastischer Ge- 
lehrsamkeit; die Ueberlieferung verwegen zertretend, und 
-wieder sich fest an Autoritäten klammernd ; voU warmer Näch- 
stenliebe, und wiederum unbegreiflich selbstsüchtig; mit heUem 
Auge für Studium und Praktik, und doch an der dagegen 
streitenden Theorie festhaltend. 

Aber in was er auch als echter Sohn seiner Zeit schwan- 
kend sein möge. Eins steht fest: die Ueberzeugung, dass die 
Bürgerschaft den Kern der gesellschaftlichen Einrichtungen 
Ausmache, welche bald die Weltgeschichte beherrschen wird, 
unter der Bedingung dass sie sich stets neu verjünget imd ihre 
Kraft durch das Studium und die Ausübung praktischer Wis- 
senschaft imd praktischer Moral nähre. 

Die Wichtigkeit der De Clerkschen Werke, gleich der der 
meisten Schriftsteller aus dieser Schule, ist mehr socialer als 
literarischer Art, liegt also mehi' im Inhalte, als in der Form. 
Doch beweist seine Sprache, wie vortheilhaft auch in dieser 
Hinsicht die bürgerliche Schule gewirkt habe. Im Vergleiche 
zu Maerlant's Werken zeigen die Schriften von De Clerk 
einen merklichen Fortschritt in der Feinheit der Sprache und 
Leichtigkeit des Styls. Ihm zumal gebührt das Lob, durch 
Lehre und Beispiel zu diesem Fortschritte beigetragen zu 
haben. 

130. Die Zahl der moralischen Lehrgedichte, welche aus 
der Schule dieser zwei Hauptträger bürgerlicher Literatur 
hervorgingen, war sehr gross. Wir wollen nur kurz bei den 



266 VI. Die bürgerliche Didaktik. 

votnehmsten still stehen, und denDietsehen Lucidarius, 
t'Boec van Seden, Seneca Leeren, der Historien 
Bloeme, die Bediedenis der Misse, dat Boec van 
öods Wrake, St. Bernards Epistele und Andere mit 
Stillschweigen übergehen. 

Zuerst kommt der Mellibeus in Betracht, ein Gedicht 
in Form eines Gespräches zwischen einem Mann dieses Namens 
und seiner Frau Prudentia, Beide mehr allegorische, als wirk- 
liche Figuren. Darin werden allerlei Gegenstände praktischer 
und philosophischer Art ganz auf Boendale's Weise behandelt, 
mit dem speciellen Zwecke, sittliche Belehrung zu verbreiten. 
Wenn man den Gedankengang des Verfassers, seine Darstel- 
lungsweise, seine Sprache verfolgt, so kommt man in die Ver- 
suchung, dieses Buch, welches zwischen 1345 und 55 in Ant- 
werpen entstand, ebenfalls Jan de Clerk zuzuschreiben; und 
es scheint, dass man mit dieser Annahme nicht weit von der 
Wahrheit ist, da schon in dem Doctrinale auf das Werk 
des Albertanus von Brescia hingewiesen wird, wonach es 
übersetzt ist. 

Wurde es nicht von De Clerk selbst geschrieben, so ge- 
schah es doch von einem seiner Schüler, der sich seine Art 
und Weise ganz angeeignet hatte. 

Ein solcher Schüler Maerlanf s und Boendale's war Jan 
De Weert, ein Heilkünstler von Yperen, der in der ersten 
Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts lebte und wahrscheinlich 
im Anfang des Jahres 1362 starb. 

Gleich Maerlant hat er seine Laufbahn mit Gedichten 
begonnen, die „der werelt genuechde te lesen." Sie sind uns 
unbekannt geblieben. Später veränderte er seine Eichtung 
und schrieb zwei Werke, bei denen wir uns einen Augenblick 
auflialten wollen. 

Das erste, welches wahrscheinlich 1351 das Licht sah, 
ist der Nieuwe Doctrinaal oder Spiegel der Sonden, 
worin über Sünde und Busse gesprochen wird, zwar in pedan- 
tischer Form, aber doch in klarem, fliessenden Style, und mit 
einer Lebendigkeit des Vortrags, der ganz ohne Gleichen 
ist. Die Beispiele sind dem täglichen Leben und der eignen 
Erfahrung entnommen, und tragen zu der Eigenartigkeit des 
Gedichtes wohl das Meiste bei. 

Es giebt vielleicht in der ganzen didaktischen Literatur 



VI. Die bürgerliche Didaktik. 267 

kein anderes Werk, welches einen so klareg Blick in die gesell- 
Bchaftlichen Grundsätze des vierzehnten Jahrhunderts gestat- 
tet, als dieser Spiegel der Sonden. Die Schattenseite der 
Geistlichkeit, ihre Selbstsucht und Habgier, der licrrsulisiicih- 
tige und raubgierige Adel, die hofiahrtige und anssehwfuleiirle 
Bürgerschaft, werden uns hier mit den schärfsten Striohon ge- 
zeichnet. 

Kann man aus diesem Kampfe gegen das Laster auf den 
streng sittlichen Sinn des Verfassers schliessen, so tritt auch 
sein gesunder Menschenverstand deutlich ans Licht, wemi er 
gegen die Ablasskrämer eifert, den Bilderdienst au den Pran- 
ger stellt, und die Wallfahrten verwirft. 

Man sieht hieraus deutlich, wen sich der Verfasser zum 
Muster genonunen hat: es ist zunächst Jan De Clerk, dessen 
Styl er zum Modelle nahm. Dagegenwird der ßhytiimus nach- 
lässiger: die Unkenntniss mit den Regeln des Ver.sbaues, die 
zur Ungebundenheit der Rederijker führte, fängt schon an, 
sich bemerkbar zu machen. 

Im zweiten Gedichte schhesst sich Jan de Weert enger 
an Maerlant an, fiir welchen er sehr eingenommen war, und 
dessen Dialogen er sichtbar nachfolgte in der Dispiitacie 
van Regiere ende van Janne. 

Die Gegenstände, welche in diesem strophischen, in drei 
Abtheilungen verfassten Gedichte behandelt werden, gehören 
zu dem Gebiete theologischer Moralphilosophie: in domselhen 
werden die Hauptzüge der Sittenlehre nach dem scholastisohen 
Systeme, aber auf populäre Weise entwickelt. Es \vird über 
den freien Willen, über die Erbsünde, über den Einfluss des 
Körpers, des Teufels und der Welt auf den Menscheu, über 
Gnade, Natur und dergleichen mehr gehandelt. 

Der Dichter war ein gelehrter und belesener Mann; und 
obgleich er in seinem vorigen Werke gezeigt hatte, dass er 
des Styles und der Sprache mächtig war, und lebemlig zu 
erzählen verstand, so ist doch die Anziehungskraft dieses Ge- 
dichtes nicht so gross, als bei dem vorigen. Die sfliülastiache 
Beweisführung verhinderte ihn hier, einen Wiederacheiii Jener 
Gluth zu zeigen, weiche Maerlant beseelte; und die gekünstelte 
Form der Strophen hat ersichtlich einen wenig günstigen Ein- 
fluss auf Styl und Sprache ausgeübt. 

Wir haben uns lange bei der bürgerlich didiiktistlion 



26S VL Die bürgerliche Didaktik. 

Schule aufgehalten, aber gewise nicht zu lange. Wenn der 
Werth ihrer Schriftsteller früher zu hoch geschätzt, und 
ihre Werke als der vollkommenste Ausdruck des dichterischen 
Geistes aus dem Mittelalter gefeiert wurden , so müssen wir 
uns dagegen hüten, sie zu niedrig anzuschlagen. Möge die 
Didaktik auch unsem Kunstsinn unbefriedigt lassen, so ver- 
dient sie doch unsre volle Aufmerksamkeit wegen ihrer echt 
nationalen Richtung, wegen ihrer tiefen Bedeutung t&r die 
Zukunft. 

Wir betrachten nun zuerst die Periode der Reaktion gegen 
ihre Einseitigkeit und werden bald aeben, wie es der Poesie, 
als sie danach strebte, ihre Rechte wieder geltend zu machen, 
nicht gelang, sich von dem Uebergewicht des niichtemen Ver- 
standes zu befreien. Sie wurde in Niederland stets durch die- 
ses Gewicht an den Füssen zurückgehalten , einen hohen Flug 
zu nehmen. 



VII. 

Poetische Rttckvrtrkung. 



131. Wir haben natürlich nur die Hauptwerke der di- 
daktischen Schule besprochen^ die aber vollständig di<: Rich- 
tung angeben, in welcher sich die O^esellschaft seit dem 
Auftreten des dritten Standes beinahe ausschliesslich bewegte. 
Man begreift jedoch leicht, dass, wie eingreifend die bürger- 
liche GeiateBrichtung auch war, die Literatur unmöglich auf 
die Dauer innerhalb des didaktischen Kreises eingeschlosseu 
bleiben konnte. Sehr bald zeigt sich eine auläugbare Keaktion 
g^gea die ausschliessliche Herrschaft des Lehrgedichtes; aber 
die neuen, poetischen Produkte beweisen, wie Pegasus für 
immer in dies verständige Geschirr eingespannt war. 

Die erste Erscheinung der poetischen Rückwirkung war, 
dass man mit neuem Eifer, wenigstens für kurze Zeit, die Jlit- 
terromane wieder in die Hände nahm. Dies beweist die grosse 
Anzahl von Handschriften romantischer Gedichte, welche im 
vierzehnten Jahrhunderte geschrieben wurden. Man beschränkte 
sich dabei nicht immer auf die Copie der alten Texte, 
man machte sie oft auch dem jüngeren Geschlecht zugäng- 
licher, indem man die unverständlich gewordenen Ausdiücke 
durch neue ersetzte, und den wenig gefeilten Reim iind Rhyth- 
mus glättete. Das Eine jedoch wie das Andere geachali uieht 
immer auf sehr glückliche Weise. 

Man ging weiter: man versuchte auch, einige Ge- 
dichte nach der Methode der alten Schule zu verfertigen. 
Dies geschah entweder in bürgerlichem, oder in reaktieniir- 
ariatokratiscbem Geiste; aber auf keinen Fall zum Vortheil 
unserer Literatur, wie wir bei dem Urtheiie über jene Werke 
schon bewiesen haben (oben S. 165 — 168). 



270 VII. Poetische Rückwirkung. 

Aber die Zeit der grossen Rittergedichte war dahin: 
wenn wir etwas später noch zuweilen ein einzelnes finden, so 
ist das nur eine Ausnahme. Die Zeit für ausgedehnte Ge- 
dichte mit dem traditionellen Inhalt früherer Tage ist vorbei: 
an die Stelle des Ritterromans tritt jetzt die sproke. 

Die sproke ist, gleich dem französischen fablel (von 
fabula) eine kurze Erzählung, deren Inhalt und Form sehr 
verschieden ist. Bald ist es die Erzählung eines ritterlichen 
Liebesabenteuers, oder eine Schilderung der Volkssitten; zu- 
weilen bildet ein Heiligen- oder Marienmirakel den Inhalt, zu- 
weilen eine sittliche Wahrheit, unter dem Gewände der Alle- 
gorie vorgetragen. Hier wählt der Erzähler die Form der 
Satyre, dort die der Betrachtung oder Moral; bald erzählt er 
eine Geschichte im epischen Tone, bald hat das lyrische Ele- 
ment die Oberhand; und nicht selten verbindet sich damit die 
dramatische Form, wenn der Dichter seine Gedanken in einem 
Dialoge mittheilt. 

132. Man könnte die Sproken in dreierlei Arten ver- 
theilen, von denen jede den Charakter einer besonderen gesell- 
schaftlichen Klasse vergegenwärtigt. 

Zuerst kommen die in Betracht, welche auf ritterlichem 
Boden entstanden sind. Aber deren giebt es nur wenige, wie 
sich wohl schon a priori annehmen liess. Die Borch- 
gravinne van Vergi, 1315 aus dem Französischen über- 
setzt; ist die bekannteste. Sie beweist, wie sehr dieses Feld 
erschöpft war. 

Dann folgen die moralisirenden Stücke, die noch oft von 
Liebe handeln, aber die dabei immer mehr die allegorische 
Darstellung wählen. Diese Art ist am Meisten vertreten, und 
man kann daraus schliessen, dass schon im vierzehnten Jahr- 
hunderte die Poesie, an welcher die „Gebildeten^^ Gefallen hat- 
ten, sich grösstentheils auf „erbauliche Betrachtungen" be- 
schränkte. 

Wenn diese Sphäre verlassen wird, und zur eigentlichen 
Darstellung zurückgeht, da zeigt sich die Kunst in der Gestalt 
des nacktesten Realismus, der nicht nur übermüthig und 
spottend, sondern auch oft unzart und gemein in Auffas- 
simg und Darstellung war; der aber doch Jahrhunderte 
lang der kräftige Gegner unserer Erbauungspoesie gewesen 
ist, und woraus sich eine edlere, echt nationale Kunst hätte 



VII. Poetische liückwirkung. 271 

entwickeln können, wenn nicht zu unrechter Zeit im siebzehn- 
ten Jahrhundert die klassische Herrschaft der Veredlung 
echtvaterländischer Kunst hindernd in den Weg getreten^ und 
sie zurückgedrängt hätte. 

In der Poesie, welche der eigentliche Ausdruck des Zeit- 
geistes im vierzehnten und in der ersten Hälfte des fünfzehn- 
ten Jahrhunderts war, findet man also merkwürdigerweise das 
patricische, das trocken- vornehme , und das frische populäre 
Element vergegenwärtigt. 

Das Erstere hat einen mehr lyrischen Charakter, aber der 
Hauptton desselben ist didaktisch und mystisch : Betrachtungen 
und Beweisführungen stehen im Vordergrunde. 

Die meisten Gedichte dieser Kategorie, die am fürstlichen 
Hofe imd in dem Gesellschaftssaale des Edelmanns eben so 
grosses Aufsehen machten, als in den ruhigen Bürgerkreisen, 
Tvaren sehr verschieden an Umfang und Inhalt, und trugen 
die mannigfachsten Namen. Darunter giebt es Stücke in 
durchlaufenden Versen, aber auch andere, in Strophen abge- 
theilt; Fragen über Liebe, Sittlichkeit, die menschliche Natur, 
der Welt Lauf; Disputationen, Dialoge, Klagen über Verlust 
von Liebe, Tugend, Frömmigkeit ; fröhhche Mittheilungen über 
glückliche Minne oder Lehren in der Kunst zu lieben; Er- 
klärung von der Bedeutung der Blumen oder Farben; medi- 
zinische oder ökonomische ßecepte; Lob oder Tadel beider 
Geschlechter und jeden Standes, wobei nicht selten die Frauen 
am Meisten zu leiden haben. 

Die lyrischen und erzählenden Kunstformen schmelzen 
in einander; es ist oft nicht zu unterscheiden, ob man eine 
Sproke oder ein Lied vor sich habe. Das letztere wird spe- 
kulativer, plastischer, dehnt sich zur didaktischen Allegorie 
aus. Die Dekoration oder die Einkleidung hat dabei auch 
etwas sehr Charakteristisches. Meistens besteht sie in .einem 
nächtlichen Abenteuer, einem Traume, einer Vision, welche 
den Dichter zur Aeusserung seiner didaktischen Winke oder 
zur Mittheilung seiner Gefühle veranlassen. 

Diese Art Gedichte tragen meistens den gemeinschaftlichen 
Hamen Sproke, und unter ihnen gewinnen die, welche den 
erotischen Inhalt in ein allegorisches Kleid hüllen, nach und 
nach die Oberhand, wie wir gleich durch einige Beispiele be- 
^weisen werden. 



.■■■ 



272 VII. Poetische Rückwirkung. 

133. Einen starken Gegensatz zu diesen Stücken bildet 
die eigentliche Volkssproke nach ihrem fröhlichen Inhalte auch 
b e r d e (Schwank) genannt. Sie ist mit Recht der Ausdruck für 
^^necken den Muthwillen und spöttische Ausgelassenheit^^ genannt 
worden^ denn diese Bezeichnung charakterisirt am besten den 
herrschenden Ton der aus dem wirklichen Leben entnommenen 
Bilder, welche mit den sprechendsten Farben gemalt sind. 

Es mag in unseren Tagen sonderbar scheinen, aber doch 
ist es wahr, dass das niederländische Volk von Hause aus 
lange nicht so gesetzt ist, wie es sich jetzt, zumal im Norden 
zeigt. „Natur und Wahrheit" werden kaum in den Kreis zu- 
gelassen, der auf konventionelle „ fatsoendelijkheid '' Anspruch 
macht; und ein fröhliches Lachen ist in die untersten Klassen 
unserer Gesellschaft verbannt. Zu dem spanischen Kragen 
mit den steifen Falten passte die gemessene Miene, welche 
den städtischen Aristokraten eigen war, die sich ängstigten, 
wieder mit der Bürgerschaft identificirt zu werden, aus der sie 
doch eben erst hervorgegangen waren; jetzt möchten wir 
wohl gern von diesem Tone erlöst werden. 

Wie dem auch sei, der Ernst, der unsere Nation stets 
charakterisirte , wurde in früherer Zeit merklich gemässigt 
durch eine fröhliche Weltbeschauung und eine angeborene 
und ungezwungene Spottlust, die über die menschlichen Feh- 
ler lieber lachte, als grosses Aufsehen über dieselben machte. 
Das wird noch deutlicher werden, wenn wir über die An- 
fange unseres Nationaltheaters sprechen; hier erinnern wir 
nur daran, dass diese Richtung deutlich durch die Popularität 
bezeichnet wird, welche der Reinaert Jahrhunderte lang im 
ganzen Lande hatte. 

Dass nur das wirkliche Leben für imsere wenig idealisir- 
ten, aber mit grossem Beobachtungsvermögen begabten Bür- 
ger und Dorfbewohner Anziehungskraft hatte, wird ims nicht 
befremden. Deshalb lauschten sie auch gern, wenn sie nicht 
nur Erbauung, sondern auch Erholung suchten, auf die Er- 
zählungen ausdiesenKreisen; auf Erzählungen, die nicht gedehnt, 
sondern kurz, lebendig und geistreich waren, (was man nehm- 
lich damals unter Lebendigkeit und Geistreichsein verstand). 

Und wie viel gab es nicht in jenem „vollen'^ alltäglichen 
Leben, das sich durch seine lustigen Gegensätze imd seine 
seltsamen, handgreiflichen Widersprüche, den boerden 



VII. PoetiÄhe Rückwirkung. 273 

gleichsam aufdrängte! Das VerhättnisB von Mann zu Frau, 
und nicht weniger das von Prieater oder Mönch zu seinen 
Laien, war oft von der Art, dasB es ein spöttisches Lächeln 
hervorrufen musste. 

l)er betrogene Ehemann lieferte, weil er sich oft sein 
Schicksal selbst zugezogen hatte, Stoff genug zum Lachen; 
aber nicht selten wird in unseren boerden der Betoil^'er das 
Opfer seiner Lust, und seine Strafe wird dann auf kumische 
Weise geschildert Dass sich ferner der spottende Laie oft 
an den fröhlichen Bildern ergötzte, in welchen ungetreuo Hir- 
ten der geistlichen Heerde ztxr Schau gestellt sind, wird Nie- 
mand befremden. Die Geistlichen hatten manche schwache 
Seiten und viele verwundbare Stellen: die Folge ihrer eigen- 
thiimlichen Stellung ausserhalb des Familienlebens. Das ge- 
zwungene Cülibat konnte zwar die Hierarchie befördern, da 
es aber die menschliche Natur ganz ausser Acht gelassen 
hatte, vermehrte es weder die Sittlichkeit, noch die Eliifiircht 
vor den heiligsten Familienbanden. Der Eingriff des Geist- 
lichen in das häusliche Leben imd den häuslichen Frieden der 
Bürger und Bauern war denn auch die reiche Quelle, aiia 
der manche lachenerregende boerde geschöpft wurde. 

Viele dieser Erzählungen sind durch ihren Inhalt oder 
durch die unzarte Weise der Darstellung anstössig. lu Be- 
zug auf den Lihalt muss eine billige Kritik erkennen, dass diese 
Stücke ersichtlich nicht den Zweck haben, den Sinnen zu 
schmeicheln oder Leidenschaft zu erwecken; sondern dass sie 
nichts sind als „mit Lebendigkeit skizzirte Genrestüekchen, 
vielmehr geeignet, ein herzHches Gelächter hervor zu rufen." 
(Verwijs.) 

Und was das Unzarte der Darstellung oder der Ausdrücke 
betrifft, so vergesse man nicht, dass es ein Unrecht wäre, hier 
den Massstab unserer superfeinen und hjpergetuhlvollen Zeit 
anzulegen. Noch Jahrhunderte später fanden die Gebildetsten 
in Niederland, selbst hochgestellte Personen und gebildete 
Frauen Gefallen an rohem Scherz. Dies wird sich noch deut- 
licher herausstellen, wenn wir die Geschichte unserer Schau- 
bühne im siebzehnten Jahrhundert skizziren. Ja, es ist nicht 
zu läugnen, dass selbst noch heut zu Tage, ungeachtet unseres 
Stolzes dieser Zug aus unserer Volksnatur nicht ganz ver- 
wischt ist, und dass ein etwas widriger Beigeschmack den 

JaDckUo«t'g GeBcUclite dei FiederlRndischen Litemtu. Band I. IS 



; 



274 VIl. .Poetische Rückwirkung. 

Beiz des Salzes unserer Witze und Scherze zu erhöhen 
acheittt 

134. Die Zahl der bia auf uns gekommenen boerden 
steht nicht im VerhältniBa zu der grossen Menge erbaulicher 
sproken, die wir kennen. Sieht man jedoch, wie gross die 
Zulil der Zuersterwähnten in franzÖBisch-Flandem iet ; beobach- 
tL't man Gebt und Richtung der Reinaertliteratur , auch in ihrem 
lateinischen Gewände; den Ton, den selbst die Moralisten 
im vierzehnten Jahrhunderte anschlagen; denkt man an den 
Inhalt und die Einkleidung der späteren Possen — so muss 
man wohl annehmen, dass der grösste Theil dieses Zweiges 
cIli' Literatur verloren gegangen ist. 

Dazu haben wahrscheinlich zwei Ursachen beigetragen. 
In erster Keihe die dramatische Richtung, welche die eigent- 
liflie Volkspoesie hier zu Lande frühzeitig genommen zu ha- 
Ll'ii scheint; aber gewiss auch die ernstere Färbung, welche 
in dem Zeitalter der Reformation Alles annahm, theils ah 
Folge der puritanischen Empfindlichkeit der Kalvinisten, theils 
durch die Jammerstücke, die an der Tagesordnung wareiL 

Wenn auch vielleicht die Kunst bei diesem Verluste 
Nu:hta verloren hat, so hat doch die richtige Würdigung des 
Tiicderläudischen Volksgeistes und unseres literarischen Ge- 
atliinackes jener Tage Nichts dabei gewonnen. 

Jetzt auch noch ein Wort über die Verfertiger dieser 
Gedichte und Über die Art und Weise ihrer Verbreitung. 

Aus dem vierzehnten und flinfzehnten Jahrhundert ist 
eine verhältnisamässig grosse Anzahl Namen von Dichtem 
»der Deklamatoren bis auf uns gekommen; theils werden sie in 
den Gedichten selbst erwähnt, theils in den Rechnungen fiirst- 
licher oder sonstiger angesehener Haushaltungen. Wir werden 
dieselben eben so wenig aufzählen, als Titel und Lihalt ihrer 
Werke. Bei einigen von ihnen, deren Werke zahlreicher sind, 
dit- also mehr Licht über den herrschenden Zeitgeschmack 
verbreiten, verweilen wir später. Zuerst müssen wir etwas 
über die Zunft sagen. 

In den frühsten Zeiten hieas der germanische Dichter 
sc iiof undsc5p, dasheisstderSchaffende, Findende; aucli 
dor Ausdruck sangari (Sänger) kommt schon früh vor. Im 
Romanischen heisst der Dichter trobador und troverre, 
wilchea dieselbe Bedeutung hat. Unser Wort dichter kommt 



VII. Poetische Rückwirkung. 275 

von dem mittellateinischen dlctare^ das nicht nur sagen 
bedeutete, sondern auch für schreiben, in der Bedeutung 
von entwerfen gebraucht wurde, welche Bedeutung auch 
das mittelniederiändische Wort dichten hatte. 

Von den ältesten Zeiten an trugen die Dichter entweder 
selbst, oder wie zumal in Frankreich , durch den Mund der 
Jongleurs (Oben S. 58), ihre Gedichte an den Höfen der 
Fürsten, auf den Burgen des Adels, bei Hochzeiten und ande- 
ren Festen der Bürgerschaft, und endlich auch vor der grossen 
Menge auf Markt und Plätzen vor. Deshalb zogen sie im 
Lande umher; selbst diejenigen, die im Dienste besonderer 
Fürsten und Herren waren. 

Die Künstler, welche die Gedichte vortrugen, hiessen hier 
noch im dreizehnten Jahrhunderte menestreels, eigentlich 
ministeriales, d. h. Dienstleute, weldier Name mit der 
Zeit von den Dichtem im Dienste eines einzelnen Herren auf 
die herumziehenden Sänger übertragen wurde. Später wurde 
dieser Name, den die Clerken in Verruf brachten, nur 
noch herumreisenden Musikanten gegeben, die ;,pyper8, vede- 
laers, trompenaers", welche mit Possenreissern, „gokelaers'^, 
und Thierbändigem die Deklamatoren auf ihrem Umherschwär- 
men zu begleiten pflegten; wenigstens war dies in Frankreich 
der Fall. 

Der Deklamator selbst wurde im vierzehnten Jahrhunderte 
spreker genannt, auch wohl z egger und dichter. Diese 
Namen wurden nach und nach verwechselt: nur einzelne 
Male kommt das Wort heraut in demselben Sinne vor. Un- 
ter einander nannten sie sich gesellen. Das Deklamiren 
hiess: sproke spreken oder ghedichten segghen. 

135. Jongleurs und Sprecher wurden von ihren Zuhörern 
ssuweilen mit Geschenken, gewöhnlicher aber mit Geld belohnt. 
Je nachdem aber die Kunst von der Burg zur Vorburg imd 
zum Marktplatze herabsank, nahm auch die Freigebigkeit des 
Auditoriums ab. Das blieb nicht ohne Einfluss auf den Werth 
der Künstler, die ihr Talent zu einem Handwerke, zu einem 
täglichen Broterwerb erniedrigten, und wo das gesprochene 
Wort den Enthusiasmus nicht genug erweckte, sich zuweilen 
mit Gauklern, Fiedlern und Possenreissern verbanden. Es 
war deshalb kein Wunder, dass das Ansehen der „Sprecher'^ 
merklich abnahm. Das gilt zwar mehr von der Fremde, als 

18* 



276 ^^I- Poetische Rückwirkung. 

von Nioderland aelbst, wo def Dichter nicht so sehr unter- 
ging, als es in den BildKcheren Ländern der Fall war; aber 
CS wirkte doch auch auf unser Land zurück. 

Auä den GrafHchafts-Bechnungen von Holland und denen 
der Herzöge von Brabant und der Herren van Blois sind 
lins \-ifle Einzelheiten über die Stellung bekannt geworden, 
we!eh(! Poesie und Kirnat gegen das Ende des Mittelalters in 
der Geaellschaft einnahm.^) Wir sehen daraus, dass die Zahl 
der Sprecher sehr gross war. Viele zogen auf eigene Rech- 
nung uralter; nicht Wenige waren jedoch im Dienst von beson- 
dortn Herren, ja aelbst von Städten. So finden wir in einem 
Stück von 1394 „der stat spreker van Gent" erwähnt; viel- 
leicht wohl Balduin van der Loren, der in seinem ums Jahr 
1382 verfassten Gedichte „de Haagd van Gent" erklärt, 
dass die Schutzgöttin von Gent ihn in ihrer Obhut habe. 

Viele dieser Sprecher tragen Eigennamen, die oft dem 
Orte ihrer Geburt entnommen sind, z.B. Johann von Vlaardin- 
gen, AVühelm von Hillegaarsberg , Peter von Breda, Johann 
von ]^[(chelen. Aber nicht selten werden sie auch, einem 
alten (leiitachen Herkommen zufolge, mit sehr charakteristischen 
Eigonniimen genannt, z. B. Peter Freudenreich (Vreugdegaar), 
Jülianii Frauentrost, Schnellriemen, der Junker von der Minne, 
der ivilde Fuchs u. b. w. 

Die Sprecher treten meistens allein auf, nur einzelne 
Male treffen wir sie in Gesellschaft; zuweilen sind sie von Ma- " 
sikanteii begleitet Diese und die Sänger kommen regelmässig 
iji Gruppen hie zu sechs und zehn vor. Zuweilen reisen 
sie in der Gesellschaft von Gauklern, was ich hier zu 
Lande niemals von Sprechern verzeichnet fand; zuweilen füh- 
ren sie selbst Gaukelspiele auf.*) 

Man deht daraus, dass die Kunst bei den Belustigungen 
des Adels eine ziemlich grosse Rolle spielte. Sprecher, Miastrela 
und Sänger Hessen sich gewöhnlich bei Tafel hören; und 
nicht nur die inländischen Künstler fanden daselbst Gehör, 
sondern wir trefen auch Fremde an, wenigstens war es so 

■) Siehe den dritten Theil meiner Gesehichte der Mnl. Dicht- 

^) Gaukler, spelera van appertise, tiunelaere, Tänser, Besitzer tod 
wilden oder künstlicli gearbeiteten Thieren, kommen wiederholt vor. 



VII. Poetische Kückwirkung. 277 

an den fiirstlichen Höfen von Brabant und Holland. Dieser 
charakteristische Verkehr mit der Fremde ist ebenfalls eine 
merkwürdige Erscheinung. 

136. Bei einigen der einflussreichsten Dichter müssen wir 
einen Augenblick verweilen: zuerst bei Hein von Aken. 

Dieser Dichter, vermuthlich zu Brüssel geboren, war Pastor 
in Corbeke, einem Dorfe bei Löwen. Sein frühstes Werk fallt 
ungefähr ins Jahr 1280; er starb im ersten Viertel des vier; 
zehnten Jahrhunderts, vor 1330: denn in dem Laienspie- 
gel, der ihn als Dichter lobend erwähnt, wird er schon als 
todt genannt. 

Er scheint viel geschrieben zu haben; aber nicht Alles 
ist bis auf uns gekommen. Man schreibt ihm ohne hinreichen- 
den Grund einzelne Stücke zu, die wir mit Stillschweigen 
übergehen können, um bei denen zu verweilen, als deren Ver- 
fasser er mit mehr Sicherheit genannt wird. 

Dazu gehört ein nicht sehr imifangreiches, strophisches, 
aus dem Französischen übersetztes Gedicht: Hugo van Ta- 
barie. Darin wird erzählt, wie der Ritter Hugo von Tiberias 
in die Gefangenschaft Saladin's gerieth, der sich von ihm zum 
Kitter schlagen Hess. Hugo erklärte dabei dem Sultan die 
symbolische Bedeutung aller Vorgänge bei einer solchen Feier- 
lichkeit, imd erlangt dadurch seine Freiheit. 

Die Uebersetzung ist grösstentheils wörtHch, dabei aber 
sehr fliessend. Die Tendenz des Stückes ist entschieden 
didaktisch: Erzählung war nicht die Hauptsache, wohl 
aber die Lehre, die daraus zu ziehen ist, wie der Dichter 
selbst sagt. 

Die Zeit der Verfertigung dieses Gedichtes ist nicht mit 
Bestimmtheit anzugeben: wahrscheinUch fiel sie zwischen die 
beiden folgenden, von denen eins, de Kose, eine Jugendarbeit 
des Dichters, das andere, der Koman van Limborch, ein 
Werk aus seinen reiferen Jahren ist. 

Die Kose ist eine Uebersetzung des berühmten Koman 
de la Kose, denGuillaume deLorris angefangen und den 40 
Jahre später, zwischen 1260 und 1270, Jean de Meung vollendete. 

Dieses Gedicht, auch wohl Spiegel der Minne ge- 
nannt^ ist eine allegorische Erzählung in Form eines Traumes. 
Der Träumende bemerkt in einem Lustgarten einen schönen 
Kosenstrauch voll herrlicher Kosen, und fühlt ein unwider. 



278 VII. Poetische Rückwirkung. 

stehliches Verlangen, eine derselben zu brechen. In seinen 
Bemühungen, dieses zu thtin, wird ihm von allerlei Sinnbild-* 
liehen Figuren Hülfe verliehen oder entgegengearbeitet; z. B. 
von dem Liebesgott, der Vernunft, der üblen Nachrede, 
Schande, Freundlichem Willkommen, Eifersucht u. s. w. Zuletzt 
ruft Amor, dem er den Lehnseid geschworen hat, seine Vasal- 
len auf (alle personificirten Eigenschaften, die ein Liebender 
besitzen muss), um die Mauern, hinter denen die Rose ver- 
borgen ist, zu erstürmen. Venus selbst steckt die Veste in 
Brand, und diese muss sich schliesslich ergeben. Der Lie- 
bende pflückt nun den Gegenstand seiner Leidenschaft, und 
damit endigt natürlich die Erzählung und schliesst der Traum. 

Vielleicht ist in Frankreich kein Werk populärer gewesen, 
als der Roman von der Rose. Und doch steht er, was 
die Anlage betrifft, nicht sehr hoch. Allegorie ist ein Ver- 
standesprodukt, kein wahres Kunstelement; und überdies ist 
hier die Einheit viel zu sehr der Mannigfaltigkeit aufgeopfert, 
als dass es einen befriedigenden poetischen Eindruck hinterlas- 
sen könnte. Der Werth ruht nur in Ein^elnheiten, zumal in 
der Lebendigkeit, der Ueppigkeit der Beschreibungen. 

Üeberdies hatte das Gedicht für vielerlei Arten von Lesern 
auch eine vielseitige Anziehungskraft. Das Weltkind fand 
eine verlockende Theorie der Liebespraktik in demselben^ 
und auch Vernunft und Sittlichkeit erheben darin ihre Stimme. 

t 

Die Erstere tritt wiederholt personificirt auf, um ihre War- 
nungen laut werden zu lassen; und die Moral äussert sich in 
Sprüchen, Lehren, Zurechtweisungen. Auch der neuerkeimende 
Geist der E^ritik fand seine Befriedigung in der fortlaufenden 
Satyre, die keinen Fehler verschont, welcher gesellschaftlichen 
Klasse er auch angehöre. 

Die Behandlungsweise ist nicht durchgängig gleich: die 
Manier der beiden Dichter ist himmelweit von einander ver- 
schieden. Dr. Verwijs, der eine ausgezeichnete Ausgabe des 
mnl. Gedichtes veranstaltete, charakterisirt sie folgendermassen : 

„Gmllaume de Lorris ist der gewöhnliche trouv^re, der 
von Minne und Frauen dichtet, ohne viel Aufwand von Ge- 
lehrsamkeit, allem Anscheine nach nur mit Ovidius' Werken 
bekannt. Jean de Meung ist der gelehrte Dichter, mit einem 
Schatz von Wissen ausgerüstet, in nicht geringerem Masse mit 
den Klassikern vertraut. Er setzt das Werk seines Vorgän- 



VII. Poetische Rückwirkung. 279 

gers nur fort^ um es als Mittel zu gebrauchen^ die zu seiner 
Zeit Kirche und gesellschaftliche Zustände berührenden Fra- 
gen darzulegen. Ein Erzfeind von Pietismus und Fana- 
tismus; zieht er mit Eifer gegen den Krebsschaden seiner Zeit 
zu FeldC; gegen die immer mehr an Macht zunehmenden Bet- 
telorden. Ein Verächter des weiblichen Geschlechtes^ vielleicht 
weil er schon ,;ZU viel und zu Viele lieb gehabt hatte", . . . 
liess er keine Gelegenheit vorübergehen, sie mit Spott und 
Schimpf zu überladen. Ein Mann seines Jahrhimderts, den 
demokratischen imd kommunistischen Ideen nicht iremd, die 
immer mehr in vielen Hirnen zu wühlen und zu gähren be- 
gannen, und der dieselben mit schneidender Schärfe verkün- 
digte." 

137. Es darf uns nicht verwundem, dass ein solches 
Werk auch hier zu Lande, in der Zeit des Erfolgs vonMaer- 
lant's Schule, sehr gefiel. Es wurden deshalb bald zwei 
Uebersetzungen davon gemacht. Von der einen sind nur 
Fragmente bekannt "Sie ist unbeholfen und gezwungen, und da 
der Uebersetzer oft zu Umschreibungen seine Zuflucht nehmen 
musste, um das Original treu wieder zu geben, oder um ein 
Reimwort zu finden, so ist das Werk noch länger, als das 
schon sehr gedehnte französische Gedicht. Der Verlust des 
Ganzen ist nicht sehr zu beklagen. 

Von der zweiten Bearbeitimg, der von Hein von Aken, 
sind zwei vollständige Handschriften bis auf uns gekommen, 
deren Texte jedoch zuweilen so von einander abweichen, dass 
man den einen für eine Bearbeitung des anderen ansehen 
kann. Diese Uebersetzung ist im Allgemeinen sehr gelungen : 
in fliessender, geschmeidiger Sprache wird das Original ziem- 
lich treu wiedergegeben. Doch kann die Uebersetzung 
schwerlich eine Vergleichung mit demselben bestehen; denn 
aucb in den gelungensten Stellen vermisst man zuweilen un- 
gern einen feinen Zug, einen eigenartigen Uebergang, einen 
passenderen Ausdruck, der im Kampf mit der Form ver- 
loren ging. Es konamen selbst einzelne Missverständnisse vor, 
ja zuweilen verliess sich der Uebersetzer auf den Ellang eines 
Wortes, ohne nach dessen Bedeutung zu fragen. 

Es ist ein unbestrittenes Verdienst Hein's von Aken, dass 
er das umfangreiche französische Gedicht ansehnlich verkürzt 
hat, ohne dem Ganzen zu schaden. In der Uebertragung von 



280 - yil. Poetische Rückwirkung. 

J{.:un de Meung's Werk ist er sehr taktvoll zu Werke gegan- 
gc'n, indem er die Weitschweifigkeit dieses Dichters rermied. 
Grossere Auslassungen sind theils die Folge des Bestrebens, 
das laQge Werk (22,000 Verse) etwas abzukürzen, theils aber 
anuli die Folge der Ueberzeugung , dass strengphilosophische 
und rEinwisaenschaftliche hora d'oeuvres am Besten wegbl«- 
btui konnten. Vielleicht war der (zukünftige?) Pastor von 
Coi-beke auch der Uebersetzung dieser Stellen nicht ge- 
watliaan. Dass er örtliche Einzelnheiten, die für den nieder- 
liiiHÜschen Leser ohne Interesse waren, wegliess, war nur zu 
lühin, und man wird es ihm wohl auch nicht übel nehmen, 
dass IT aus Furcht vor der geistlichen oder weltlichen Macht 
blcIl zuweilen nicht an die Uebersetzung beleidigender Äeussc- 
ruii^'en wagte. Endlich Hess er auch das ÄnstÖssigste , das 
Unzüchtigste und Schamloseste weg, was zuweilen im Original 
ab hüchste Weltweisheit gepriesen wird. Spricht dies zu 
(juiiBten des Schriftstellers, so spricht es auch zu GKinsten des 
Publikums, dem er dienen wollte. 

Dr. Verwijs hat es sehr wahrscheinhch dargestellt, dass 
diese Uebersetzung ungeföhr luns Jahr 1280 das Licht ge- 
seln-n habe und eine Jugendarbeit Hein's von Aken ge- 
wt'sun sei. 

138. DenRoman van Limborch jedoch hat er erst in 
seiuen alten Tagen vollendet. Dies war ein Werk eigener 
Erfindung und ging i hm wohl nicht sehr leicht von der Hand. 
Lr brachte beinahe sein ganzes Leben damit zu: denn 
das Gedicht scheint 1280 angefangen und nicht vor 1317 voll- 
endet worden zu sein, so dass 36 Jahre damit hingebracht 
milden. ») 



') Diese ZeitbeBtimmnng stUtst aich &uf die Scblusszeilen der eimi- 
I rein mnL HandBchrift. Der Dichter sagt, dass er 
.... begonete in dien tide, 
Dat men acreef ons Heren jaer 
lUIc, dat es waer, 
XX min ende XL gheent 
AI« men den daet ghescreven vent 
XVII[ hondert jaer ende XVII 
(God boede ons van meseciene!) 
Op Sente Sebastiaens dach, 
Die op enen Vridach gelach. 



VII. Poetische Rückwirkung. 281 

Wie sonderbar das auch scheinen möge, so findet man 
doch in dem Werke Andeutungen, die diese Annahme be- 
stätigen. Jedes der zwölf Bücher, aus welchen es besteht, 
fängt mit einer Einleitung an. In den ersten Büchern spricht 
der Dichter stets von der Frau, der zu Liebe er dies 
Gedicht unternahm. Mit dem zehnten Buche wird ein anderer 
Ton bemerkbar. Da spricht ein alter „versleter^^ Mann, dessen 
,,vespertijd" sich naht. Anstatt der Minne preist er nun die 
Tafelfreuden. In dem elften Buche bittet er auch fiir die 
,,ijdelheid'' um Vörzeihung, die in dem Werke zu finden sei; 
im zwölften endlich spricht er als ein Greis, der sich glück- 
lich schätzt, dass seine Arbeit vollbracht ist. 

Der Verfasser nennt sich nur Hendrik j aber dass wir es 
'wirklich mit dem Uebersetzer der Rose zu thim haben, wird 
aus mancherlei Einzelnheiten deutlich, und nicht am wenigsten 
aus des Dichters genauer Bekanntschaft mit diesem Werke. 

Den Inhalt des Komans bilden die Aventuren der Kinder 
eines Herzogs von Limburg; die Tochter wird geraubt und 
nach dem Hofe von Athen entfahrt, und der Bruder zieht aus, 
um sie aufzusuchen. Sie kommen dabei mit allerhand Per- 
sonen in Berührimg, was zu den verschiedensten Episoden 
Veranlassung giebt. 

Die vielen historischen Namen, der wiederholte £ampf 
mit den Sarazenen geben diesem Koman einige Aehnlichkeit 
mit den älteren chansons de geste; die Behandlung hingegen 
führt uns stets die Arthurromane vor die Seele. Augenschein- 
lich war auch der Verfasser mit verschiedenen dieser Werke 
bekannt, die nicht ohne Einfluss auf sein Gedicht geblieben 
sind: zumal war dies der Fall mit der Kose und dem Par- 
thenopeus. 

Mit diesem letzteren Werke hat der Koman vanLim- 
borch manche Aehnlichkeit; aber es stellt sich deutlich her- 
aus, dass die feudale Gesellschaft viel zu abgelebt war, um 



Aus dem Datum der Vollendang muss offenbar die erste V ausge- 
strichen werden, die der Abschreiber wahrscheinlich aus der Zahl am 
Ende der Zeile irrthümlich nahm. Das giebt das Jahr 1317 (1318 n. 
Styls) als St. Sebastianstag (20. Jan.) wirklich auf einen Freitag fiel. 
Die dritte und vierte Zeile müssen wohl folgendermassen gelesen werden 

XIlIc, dat es waer 
XX min; ende was gheent etc. 



282 VlI. PoeÜBche Bäckwirkung. 

noch ein Kunstwerk Lervorzubringen , welches ihr Qeist he- 
secltr;. MaD fühlt, dasa mau es hier mit blosser Gedächtniss- 
arbeit zu thun hat Allerlei Anklänge sind darin auf wUlkür- 
licliii \Vei8e vermischt; Abenteuer werden ohne jeglichen Zu- 
sammenhang an einander gereiht, zuweilen zwar auf recht 
kiinBlIiche Weise, aber nicht so, um nicht zu luhlen, es seien 
liiiissi: Formen, in denen keine Seele mehr lebe. Alles, so- 
wolil Zusammenstellung, als Ausführung, Styl und Rhythmus, 
trä^ (las Kennzeichen von Mattigkeit und Erschöpfiing. 

IXt Itoman van Limborch gehört zu den Werken, 
welilif augenscheinlich eine Beaction gegen die bürgerliche 
Literatur beabsichtigten: er steht übrigens über den meisten 
seiner Art wegen seiner Selbstständigkeit und der grösseren 
Waiii'.'^cbeinlichkeit seines Inhaltes. Eigenartig ist es, dass in 
jilkii iliesen Gedichten die Familienbande grössere Bedeutung 
crhaitoii. 

i '69. Der letzte niederländische mittelalterliche Ritter- 
roman ist derjenige, welcher den Titel fuhrt Segeliju van 
Jerusalem, den vaa Wijn sehr treffend charakterisirt als 
ein „Gewebe toller Erdichtungen". 

Auch hier haben wir es mit einem Kinde zu thun, das 
von seinen Eltern getrennt ist, und allerlei seltsame Abenteuer 
besteht, um sie wieder aufzufinden. Das mystische Element 
spielt dabei eine grosse Rolle, so dass das Gedicht dadurch 
zwischen Roman und Legende steht. Die wildeste Romantik 
paart sich in derselben mit den geschmacklosesteu Legenden- 
Wund eru. 

Ebenso wenig in diesem letzteren Werke, als in dem 
Rum;tn von Limburg findet sich der Schimmer einer fri- 
selun Darstellung; das G^däcbtniss hat den Hauptantbeil an 
der Zusammenstellung! Die Abenteuer der Ritter von der 
Talelrimde und die wunderbaren Erscheinungen aus dem Gral- 
romaii kommen uns jeden Augenblick in die Gedanken, wäh- 
i-eii(l auch den Karlromanen verschiedene Züge entlehnt sind. 

Des Dichters Name ist nicht genau bekannt: er hiess 
wahrscheinlich Loy Latewaert. Ueber die Zeit seiner Wirk- 
Eamkeit kann kein Zweifel bestehen : Gteist und Eintheilung 
der Erzählung, sowie der matte Styl derselben beweisen, dass 
i-K ein Produkt aus der Zeit des äussersten Verfalles der 
litteilichen Poesie ist Weder Herz noch Phantasie werden 



VII. Poetische Rückwirkung. 283 

durch dasselbe befriedigt^ denn der frömmste Zweck kann 
den vollständigen Mangel am inneren Werthe dieses Flick- 
Werkes nicht ersetzen. 

140. Wir kommen zu einigen Sprokensprechern, die zu 
ihrer Zeit sehr berühmt waren, und deren Werke wir ziemlich 
genau kennen : Augustijnken van Dordt und Willem van Hille- 
gaarsberg. 

Der Erste tlühte in den Jahren 1350—1370. Sein Name 
kommt sehr oft in den gräflichen Rechnungen von Holland 
und Bloys vor. 

In einem seiner Gedichte findet man eine Anspielung auf 
die Bjrönimg Kaiser Karls IV. im Jahre 1355. 1358 sprach er 
wiederholt am holländischen Hofe: im September zu Rijnsburg, 
im November und Dezember im Haag, zuletzt in Gesellschaft von 
Meister Johann von Viaardingen. Die drei ersten Male empfing 
er sechs, die beiden letzten Male vier Schillinge zur Belohnung. 

1362 sprach er zu Antwerpen vor dem holländischen 
Grafen, der ihm dafür vier „mottoenen", jeden von 19 St. und 
2 Den. ausreichen liöss. Er befand sich schon: geraume Zeit 
in Brabant, denn sechs Wochen früher treffen wir ihn zu 
Mecheln an; dort spricht er vor dem Herrn von Bloys, und 
wird dafür belohnt mit „zwei Franken, t' stick 18 St." 

Ein Jahr später war er wieder „in den Hage" am gräf- 
lichen Hofe, wo ihm der Herr von Bloys sechs Mottoenen 
schenkte. Wenige Monate später trat er vor demselben Herrn 
zu Gorichem auf und empfing vier Mottoenen. 

Im Februar 1364 finden wir ihn in Schoonhoven, 1866 
in Brüssel und ein Jahr später sowohl zu Bergen inHenegouwen 
als zu Utrecht, endlich 1368 in Aachen, immer im Gefolge 
des Grafen von Bloys. 

Nach diesem Jahre kommt sein Name nicht mehr in den 
Rechnungen vor, wahrscheinlich ist er ums Jahr 1369 gestorben. 

Er war augenscheinlich ein herumreisender Sprokener- 
Zähler, von dem wir Nichts weiter zu sagen wissen, als dass er 
in den ansehnlichsten Ejreisen ziemlich hoch angeschrieben stand. 

Von seinen Gedichten ist uns verhältnissmässig nur wenig 
übrig geblieben, aber doch genug, um ihn imd den Geschmack 
seiner Zeit beurtheilen zu können. 

Sein Talent erhob sich nicht über das Mittelmässige ; er 
zeichnet sich weder durch dichterische Phantasie, noch durch 



284 VII. Poetische Rückwirkung. 

die Form aus. Die Letztere ist selbst ziemlich nachlässig. 
Der Inhalt seiner Gedichte ist entweder moralisirend oder 
allegorisch-mystisch. 

Bald giebt er Sittenlehren, die ihn als einen Dichter aus 
Maerlant's Schule bezeichnen, und züchtigt damit die verdor- 
benen Sitten seiner Zeitgenossen ; dann wieder ergötzt er sich 
an einer mystischen Deutung der Zahl sieben, oder moralisirt 
über den Zusanunenhang der Farben auf dem adeligen Wap- 
pen mit den verschiedenen Zeitabschnitten des menschlichen 
Lebens. Wieder an anderem Orte liefert er eine trockene, 
philosophisch-moralisirende Betrachtung über die Dreieinigkeit, 
nac^ Anleitung des Anfangs vom Evangelium Johannes, oder 
über den Wechsel aller irdischen Güter. 

Die Allegorie , das Lieblingskind jener Tage , wird von 
ihm auch nicht verschmäht. So umfasst sein Gedicht De 
borch van Vroudenryc eine recht hübsche, obwohl ziem- 
lich gesuchte allegorische Beschreibung von dem Kopfe einer 
Jungfrau. Das Scheepje ist in demselben Genre*. Der 
Dichter erzählt darin, wie er die Merwede hinunter- 
fährt und bei einem Schlosse landet, wo sieben Königinnen 
an den Fenstern stehen, während hundert schöne Frauen mit 
dem Bauen eines Schiffes beschäftigt sind. Das Schliff selbst 
heisst „Sekerheit" und die verschiedenen Theile der Ausrüstung 
tragen allegorische Namen. Auf diesem Schiffe müssen die 
sieben Königinnen eingeschifft werden ; sie sind zum NachtheÜe 
von Buhe und Friede aus manchem Lande Verstössen. Sie 
heissen: Verstand, Standhaftigkeit, Ehrbarkeit, Treue, Ge- 
rechtigkeit, Massigkeit und Freigebigkeit. 

Als diese das Schloss verlassen hatten, blieb es unter 
dem Schutze der Frau Ehre; aber ihr Hof, an welchem es 
früher von Rittern und Kjiappen wimmelte, ist jetzt einsam, 
denn ihre Feinde, die personificirten Laster, stehen in grossem 
Ansehen. Die Frau, die dem Dichter dies Alles erklärt, heisst 
„Ontfermicheit". Der Schluss ist eine Bestrafung der Ritter 
und Knappen, welche die Schwestern der Frau Ehre verjagt 
haben. 

Wahrscheinlich wurde dieses Gedicht geschrieben, kurz 
nachdem Herzog Albrecht Statthalter von Holland geworden 
war (1358). Es weist auf den traurigen Zustand des Landes 
nach dem Ausbruch der hoekschen und kabeljauschen Zwiste 



VII. Poetische Eückwirkung. 285 

hin^ und gerade deshalb fand eS; ungeachtet seines Mangels 
an poetischen Gedanken ^ und trotz seiner unpolirten Form^ 
gewiss ein wiDiges Ohr. 

Aus allen Gedichten Augustijnkens geht hervor, dass Poesie 
und guter Geschmack nicht mehr nöthig waren, um selbst in 
den höchsten Kreisen Beifall zu erringen; dasselbe erzählen 
uns auch die meisten Stücke Willem's von Hillegaarsberg. 

141. Dieser Dichter kommt in den holländischen Graf- 
schaftsrechnungen von 1383 — 1407 wiederholt vor. Er führte 
seinen Namen von einem Dorfe in der Nähe Rotterdam's, wo 
er geboren ist. Von seiner Lebensgeschichte ist sehr wenig be- 
kannt: man weiss nur, dass seine Erziehung nicht sehr sorg- 
fältig war, so dass er weder lesen noch schreiben konnte* 
Es war darum auch kein Wunder, dass er fast ganz, 
fremd in der Literatur seiner Zeit war. Er hatte viele Län- 
der durchwandert, erreichte ein hohes Alter und war als Dich- 
ter und Sprecher in den höchsten Kreisen sehr gefeiert. Und 
doch ist er als Künstler von keiner Bedeutung. 

Man schreibt ihm eine grosse Zahl Stücke zu, welche jedoch 
nicht alle von seiner Hand sind. Diejenigen, auf die er An- 
spruch machen kann, bestehen hauptsächlich aus Sittengedich- 
ten, mystischen Betrachtungen, Allegorieen, meistens gedehnt^ 
langweilig, ohne Schwung oder Poesie. Nur hier und da läuft 
eine lebendige Erzählung, zuweilen sogar selbst eine gelun- 
gene boerde unter — wenn diese nehmlich wirklich von ihm 
herrühren. Unter den moralisirenden Stücken sind diejenigen 
bei Weitem die Besten, in denen er alle Gemeinplätze bei 
Seite lässt, das Gebiet der Actualität betritt und die Sitten 
lind Ungerechtigkeit seiner Zeit tadelt. 

Für uns am merkwürdigsten sind seine historischen und 
politischen Gedichte, von denen ein einzelnes wohl nähere 
Erwähnung verdient. Z. B. das mit dem Titel: Van tregi- 
ment van goeden beeren, worin das Lob von Floris V. 
und Wilhelm HI. gesungen wird, welche Sicherheit und Ord- 
nung, und dadurch auch Kaufleute und Bürger beschirmten. 
Der Geschichte des Letzteren ist der Stoff zu dem Stück 
Van drien coren entlehnt, in welchem bewiesen wird, dasa 
die beste Wahl, die ein Fürst treffen kann, die Liebe seiner 
Unterthanen sei. „Hoe dierste pa*rtien in Holland 
quamen" ist von grösster Wichtigkeit für die Geschichte der 



286 VII. Poetische Bückwirkang. 

hoekschen und kabeljauschen Streitigkeiten. Dieses Stück 
gehört zu des Sprechers ersten Gedichten, und trug gewiss 
nicht wenig dazu bei, die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. 

Wilhelm van Hillegaarsberg betrachtete den Beruf des 
Dichters als von ganz praktischer Art : sein Hauptstreben ist 
Besserung seiner Zeitgenossen. Und die war wohl von Nöthen; 
denn das Bild, welches er uns von ihren Sitten entwirft, ist 
ziemlich traurig. Er schildert uns den Egoismus aller Stände 
als die Ursache der betrübenden, politischen Zwiste. Für ver- 
gleichendes Sittenstudium wäre die Ausgabe seiner Werke 
sehr wünschenswerth; es würde sich daraus herausstellen, ob 
und wie weit wir in vier Jahrhunderten vorausgegangen sind. 
Merkwürdig ist die Keaction zu Gunsten der gräflichen Herr- 
schaft, welche überall aus seinen Gedichten spricht, imd seiner 
Didaktik eine charakteristische Färbung giebt. 

Ist der didaktische Inhalt seiner Gedichte an und fiir sich 
selbst wenig ästhetisch, so wird man auch durch die Behand- 
lung derselben nicht entschädigt; denn anstatt poetischer 
Schilderung sehen wir meistens auch die besten Gedanken 
auf trockne, gedehnte Art und Weise dargestellt, und in einer 
Fluth bedeutungsloser Worte untergehen. Er hatte sich, wie 
es scheint, Augustijnken zum Muster genommen; übrigens 
scheint er wenig mit der Literatur bekannt zu sein. Jedoch 
sind ihm Maerlant's strophische Gedichte und der Laien- 
spiegel nicht fremd und wiederholt bezieht er sich auf den 
Eeinaert. 

Das Letztere darf uns nicht verwundern, da er sich höchst 
wsehrscheialich an eine Umarbeitung dieses berühmten Gedich- 
tes gewagt hat. 

142. Wenden wir unsern Blick zuerst auf den Inhalt 
dieser Umarbeitung und untersuchen wir dann, ob sie wirklich 
Wilhelm von Hillegaarsberg zugeschrieben werden kann. 

Das alte Gedicht (S. S. 135) ist ganz beibehalten, nur 
mit einem anderen Prologe, und mit Umänderung des Schlus- 
ses versehen. Der Fuchs verlässt seine Burg nicht: der 
König verlängert den Hoftag und gegen Reinaert werden 
neue Belagen angebracht. Der König, taub gegen jeden Bath^ 
ruft seinen Heerbanq auf, und will Maupertuis belagern. 
Grimbart eilt hin, um seinen Oheim zu warnen. Sie begeben 
sich zusammen an den Hof, wo Reinaert, wie in dem alten 



VII. Poetische Rückwirkung. 287 

Gedichte, seine Sünden beichtet. Er erhält Absolution und 
'wird noch wegen seines Verstandes belobt, der bei allen seinen 
Schelmenstücken ihm geholfen hat. Bei Hofe angekommen, 
behauptet er, an Allem unschuldig zu sein. Der König macht 
ihm Vorwürfe wegen des neulicheü Vorfalls mit Cuwaert's 
Kopf; Eeinaert erbleicht imd verstummt. Frau Rukenau, die 
Aeffin, Eeinaert's Nichte, tritt zwischen beide, und ermahnt 
den König in einer Rede, die mit Worten aus Seneca und der 
Bibel gewürzt ist, zur Barmherzigkeit. Sie erinnert an die 
Tabel von dem Manne und der Schlange, um zu beweisen, 
dass Reinaert des Königs Ruhm vergrössert habe, indem er 
ihn zu einem weisen Urtheile veranlasste. Ueberdies wäre es 
nicht verständig, Rernaert's mächtige Verwandte zu erzürnen, 
wenn man das Haupt ihres Geschlechtes hart verfolge. 
Reinaert erhält nun Erlaubniss, seine Sache zu vertheidigen. 
Er ist erstaunt, sagt er, über das, was er von Belin's Bot- 
schaft hört: er hatte ihm drei kostbare Kleinodien für die 
Königin mitgegeben, und beklagt tief, dass diese verloren sind. 
Er giebt eine umständliche Beschreibung dieser Kostbarkei- 
ten, wobei er verschiedene Fabeln einschaltet. Ferner erin- 
nert er den König daran, "wie der alte Reinaert, der ein gros- 
ser Heilkünstler war, und zu Montpellier studiert hatte, des 
Königs Vater durch eine Wolfsleber von einer tödtlichen 
Krankheit geheilt, und wie Isengrim sich geweigert habe, sich 
damals für seinen Herrn zu opfern. Dieselbe AnhängUchkeit 
an den König war auch auf den jungen Reinaert übergegan- 
gen; er hat das ü. A bewiesen, als er mit dem Könige und 
dem Wolfe jagte, und die Beute besser als Isengrim vertheilt 
hat. Er könne noch mehr Beispiele vorfähren, wenn es die 
Zeit erlaubte. 

Diese Rede ist mit Sittensprüchen imd Betrachtungen ge- 
würzt. Sie stimmt den König zur Gnade; und schon glaubte 
Reinaert frei von dannen gehen zu können, als Isengrim aufs 
Neue zwischen Beide trat, und ihm nochmals vielerlei Miss- 
handlungen vorwarf, die er ihm und seiner Frau angethan 
hatte. Reinaert bemüht sich, alle diese Anklagen zu entkräf- 
ten und alle Schuld auf seine Schlachtopfer zu schieben. Der 
Wolf sieht ein, dass mit Rechten Nichts zu gewinnen ist, for- 
dert nun seinen Gegner zu einem gerichtlichen Zweikampf 
heraus. 



288 VII. Poetische Rückwirkung. 

Das kam Reinaert nicht sehr gelegen; aber bei dem Ge- 
danken^ dass Isengrim seiner Ellauen beraubt sei^ nahm er die 
Herausforderung an. Seine Verwandten blieben über Nacht 
bei ihm. Frau Kukenau schor ihn kahl^ und schmierte ihn 
mit Oel ein, damit er dem Feinde keinen festen Halt böte. 
Sie gab ihm den Kath^ so viel als möglich zu trinken , auf 
dem Kamp^latze seinen dickbehaarten Schwanz mit dem Ge- 
trunkenen nass zu machen und damit dem Wolf in die Augen 
zu schlagen; er solle seine Ohren dicht an den Eopf anlegen^ 
und seinen Widersacher Sand in die Augen werfen. Endlich 
sprach sie einen Zauberspruch über ihn aus, der ihn unüber- 
windlich machen sollte. Man Hess nun den Kämpfer ein wenig 
schlafen, und am andern Morgen brachte ihm die Otter eine 
Ente zum Frühstück. So gestärkt erschien er auf dem Platze. 
Der Kampf war lebhaft; aber endlich geräth eine Pfote 
Reinaert's in Isengrim's Bachen, und nun suchte er sich 
durch schöne Versprechen zu retten : er will für ihn eine Wall- 
fahrt unternehmen, will sein Dienstmann sein, und für ihn 
jagen. Aber Isengrim will nicht auf ihn hören: er zählt alle 
Beschwerden gegen Reinaert noch einmal auf, und das ver- 
doppelt seine Wuth. Indessen greift ihm Reinaert unbemerkt 
mit seiner freien Hand heftig an eine sehr empfindliche 
Stelle . . . Isengrim fallt, von Schmerz übermannt, in Ohn- 
macht und Reinaert schleppt ihn schlagend und stossend durch 
den K^ampfkreis. 

Der König trennt Beide. Reinaert wird natürlich frei- 
gesprochen, zu des Königs Geheimen Rath ernannt, und wird 
souveräner Amtmann über das ganze Land.' Das Ganze 
schliesst mit einer Moral über die Leute „die connen Reinaerts 
conste." 

143. Während der alte Dichter Reinaert's Aventüren be- 
sang, weU sie „in Dietsce onghemaket bleven", sagte der Bear- 
beiter und Fortsetzer dagegen : „een deel es daer afterbleven." 
Das ergänzte er: und nur mit diesem Theile haben wir uns 
hier zu beschäftigen. 

Als Quelle, welcher diese Beifügung entnommen ist, wer- 
den auch hier „walsche boeken" angegeben; aber doch ist 
das Verhältniss zu dem Ursprünglichen hier ganz anders, 
als in dem alten Gedichte. Der Bearbeiter hat zweifelsohne 
verschiedene ünterabtheilungen (branches) des französischen 



VII. Poetische Rückwirkung. 289 

Renart gekannt; aber eben so gewiss zog er bei seiner Be- 
arbeitung sowohl was die eingeschalteten Episoden^ als die 
Haupterzählung betrifft, nur sein G^dächtniss zu Rathe. Zu der 
Letzteren gab wahrscheinlich die neunzehnte Branche An- 
leitung, sie wurde aber so durch und durch verändert, dass 
von Nachahmung kaum noch eine Rede sein kann. 

Dieses Verlassen des Sprechers auf das Gedächtniss an- 
statt auf geschriebene Quellen, wird Niemanden verwundem, 
da Hillegaarsberg weder lesen noch schreiben konnte. Dass 
diese Fortsetzung nicht vor seiner Zeit bestand, wird 
aus den „donrebussen ende bombaerden" deutlich, womit 
der König Reinaert's Schloss beschiessen will. (Vers 3753, 
3811). Die Anwendung dieses Geschützes und des Pulvers 
scheint in Holland nicht älter zu sein, als aus der zweiten 
Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts. Vom Pulver wird erst 
1351 gesprochen, nehmlich bei der Bestürmung des Schlosses 
Rosenburg durch die Kabeljauen; und „donrebussen, cruyt, 
(Pulver) loot", kommen in einer Urkunde von 1374 vor; ^) 
also kurz vor Wilhelm's Blüthezeit.*) • 

Nun heisst der Fortsetzer auch Wilhelm, und lebte zu einer 
Zeit, in welcher die herumziehenden Dichter Sprecher genannt 
wurden (Vers 4255). Obgleich er durchgehends vlämische Loka- 
litäten erwähnt, — was aber für Einen, der so wie er in der 
Welt herumgekommen, kein unmögliches Kunststück war, — 
so versetzt er doch eine seiner Episoden an die Ufer der Maas. 

Dazu kommt noch, dass die Sprache des bearbeiteten 
Reinaert ganz Hillegaarsberg's Sprache ist, und dass 
auch einzelne Ausdrücke vorkommen, die ihm eigenthümlich 
sind. Art und Weise der Darstellung fuhren zu demselben 



») Wagenaar, Vaderl. Historie, III, S. 279, 307. 

*) Einen zu Kom allmächtigen Kardinal von Valois, von dem Vers 
460(> gesprochen wird, hat Willems nicht auffinden können. Ist es zu 
gewagt , ihn in jenem Philipp von Alen^on zu suchen , der aus dem 
Hause Valois stammte, welchen 1378 Urban VI. zum Kardinale und zu 
seinen Greneralvikar machte und mit der ausgedehntesten Macht be- 
kleidete? Er fiel bald darauf in Ungnade und verlor selbst den Kar^ 
dinalshut, den ihm Bonifacius IX. 1389 jedoch zurückgab. 

Enthält der Reinaert wirklich eine Anspielung auf diesen Prä- 
laten, was ich für sehr wahrscheinlich halte, so wurde also die Bearbei- 
tung zwischen 1378 und 1389 geschrieben« 

Jonckbloet's Geschichte der Niederländischen Literator. Band I. 19 



^n • 



290 VII. Poetiache Rückwirkung. 

Resultate. Eine Abschweifung auf die Reinardie seiner 
Zeit schliesst der Bearbeiter folgendermassen^ Vers 7733: 

Wat woudic veel die werelt berechten 

Van saken, die mi seif aenvechten, 

Daer ic ondanc toe af crege? 

So waert beter, dat ic swege u. s. w.^) 
und es ist augenfällig^ wie sehr dies mit einer Stelle in Hille- 
gaarsberg's Gedichte Een exempel van partyen überein- 
stimmt^ worin er sich beklagt, dass seine aufrichtige Sprache 
ihm oft Undank zugezogen habe. ^) 

Was die Manier- und Denkweise betrifft, so wird Nie- 
mand, der auch nur flüchtig die Gedichte Wilhelm's durch- 
gesehen hat, in Zweifel sein, dass er in den Moralsprüchen 
des Reinaert, wie z. B. Vers 7560 und die flg., 7678 und 
flg. wieder zu erkennen sei, ebenso in den Schlussversen des 
ganzen Werkes; ja, man findet daselbst sogar die zwei Verse, 
welche Wilhelm's Fabel Van Reinaert ende van Ave 
beschliessen. *) 

Wii^ richten unsere Aufmerksamkeit noch auf zwei Um- 
stände. Die Bestechlichkeit der Richter ist ein oft behandel- 
tes Thema^ in Wilhehn's Gedichten (z. B. Nr. 14, 59, 69): 
auch im Reinaert wird dieser Fehler nachdrücklich ge- 
tadelt (Vers 4246). Endlich giebt es „exempelen", die sowohl 
in den Gedichten, als auch im Reinaert vorkommen: z. B. 
die Fabel Vanden Serpent (Nr. 21), die sich Vers 4870 
und flg. wiederfindet; die Erzählung: Vanden hont die 
verbroeyt wert (Nr. 41), die auch in den Reinaert auf- 
genommen ist (Vers 7480 und flg.). 

Ich glaube, dass man aus dem Allen den Schluss ziehen 



*) Was könnt* ich viel der Welt erzählen 
Von Dingen, die mich eelher quälen, 
Dafür sie Undank mir bezeigen ; 
Doch ist es besser wohl, zu schweigen. 

«) Vergl. Geschichte der Mnl. Dichtkunst. III., S. 412. 

s) Vers 7699: 

Want men vint nu meer Beinaerde 
AI en dragen si geen rode baerde. 

Man findet* mehr Beinaerte in unseren Tagen, 
Wenn sie auch keine rothen Barte tragen. 



VIL Poetische Eückwirkung. 291 

kann^ dass Niemand anders als Wilhelm von Hillegaarsberg 
im letzten Viertel des vierzehnten Jahrhunderts der Bearbei- 
ter des Reinaert gewesen ist 

Nun bleibt die Frage übrig: Wie hat er seine Aufgabe 
gelöst ? 

144. Obgleich der Anhang nicht eine solche geschlossene 
Einheit ausmacht ^ als das ältere Gedicht; obgleich sich nicht 
undeutlich herausstellt, dass verschiedene von einander unab- 
hängige Aventüren hier zu einer Mosaik vereinigt sind, so 
muss man doch erkennen, dass dies nicht ohne Talent g^ 
schehen, und dass die Darstellungsweise fesselnder ist, als 
man es von dem oft langweiligen und wenig plastischen Mora* 
listen erwarten sollte. Sein grösstes Verdienst besteht darin, 
dass er durchgängig den Charakter der Thiere, den sein Vor- 
gänger so meisterlich dargestellt hatte, treu bewahrt. Uebri- 
gens besteht zwischen beiden Theilen ein grosser Unterschied, 
nicht nur in den Sprachformen, sondern auch im ganzen 
Geiste. Deutlich sehen wir, dass der Dichter in einer anderen 
Zeit lebt, in welcher der frische, epische Ton den didaktischen 
Formen, den Beweisführungen, ja selbst der gelehrten Gross- 
Äprecherei hat Platz machen müssen. Wiederholt werden 
äsopische Fabeln in die Erzählung eingeflochten; man findet 
viele Hinweise a^ Romane und gelehrte Werke; kein Thier, 
und ebensowenig der Dichter selbst am Schlüsse seines Werkes 
lässt die Gelegenheit vorbeigehen, philosophische Betrachtun- 
gen über die bürgerliche Gesellschaft und über alles Bestehende 
anzustellen. 

Ungeachtet dieser Beweisführungen und der didaktischen 
Tendenz herrscht doch eine grosse Lebendigkeit in der 
Darstellung; vor Allem zeichnet sich die Schilderung des 
Kampfes aus. 

Schon sehr bald wurden beide Theile als ein Ganzes be- 
trachtet: und gingen so erst in eine niederdeutsche gereimte 
Uebersetzung und später in holländische Prosa über. Letztere 
wurde schon 1479 zu Gouda gedruckt. 

Der Eindruck, den das Gedicht machte, war so gross, dass 
es nach der niederdeutschen Bearbeitung in beinahe alle Spra- 
chen unsres Welttheüs übersetzt wurde, und dadurch bis heute 
populär blieb. 

Es ist ein besonderes Verdienst des Bearbeiters, dass 

19* 



292 VII. Poetische Rückwirkung. 

seine Znthaten dieser bleibenden Popularität nicht im We^ 
gestanden haben. 

145. Das letzte grosse Gedicht des eigentlichen Mittel- 
alters^ bei welchem wir uns aufhalten müssen^ ist Der Min- 
nenloop von Dirk Potter. 

Der Dichter war ein holländischer Edelmann^ wenigsten» 
seit 1402 ^) bis zum 30. April 1428, seinem Todestage, Geheim- 
schr^ber der verschiedenen einander nachfolgenden Grafen 
von Holland. Ueberdies war er eine Zeitlang Baljuw (Ober- 
amtmann) vom Haag. Seine verschiedenen Herren, von Wil- 
helm VI. an, bis auf Philipp von Burgund, scheinen in seine di- 
plomatische Klugheit grosses Vertrauen gesetzt zu haben ; denn 
Alle haben ihn wiederholt mit wichtigen Sendungen beauftragt. 
Eine derselben führte ihn 1409 nach Rom, wo er sich länger 
als ein Jahr aufhielt; und es ist sehr wahrscheinlich, dass er 
1412 zum zweiten Male nach der ewigen Stadt gereist ist. 

Während seines ersten Aufenthaltes daselb^, also 1409, 
hat er sein Gedicht verfasst *) 

Er schrieb es zur Belehrung und Warnung fiir Andere. 
Das Werk besteht aus vier Büchern, von denen jedes einen 
besonderen Abschnitt des Gegenstandes behandelt. Das erste 
handelt von „ghecke minne", das zweite von „goede, 
reyneminne", die wieder in vier Grade eingetheilt wird, von 
denen drei hier beschrieben werden. 

Das dritte Buch umfasst die „ongeoorloofde minne**; 
das vierte die erlaubte Liebe im vierten Grade. 

Dies Alles wird nicht nur beschrieben, sondern durch 
vielerlei Beispiele erklärt Diese Beispiele sind Liebeshändel, 
die mehr oder weniger ausführlich behandelt sind, und den 



^) Siehe Kluit, Geschichte der Staateregienmg u. s. w. Y, S. 278. 
^ Siehe I. B., Vere 85 flg. Das Jahr 1409 finde ich auch in dem 
Chronostichon (wenn es nehmlich eins ist) auf der letzten Seite in einer 
der Handschriften. 

Daer reYne LIefde pLaCh te zlJn 
Daer bLYft noCh gaem een worteLkIJn. 
Dy (ij)lilcijDlijclij=» 1409. Man erhält 1415, wenn man die 
ij's als 7 nimmt, und die w als vy. 

Ich schloss früher aus II. Vers 2238, dass das Werk erst nach doB 
Dichters Blickkehr aus Italien geschrieben sei. Die Variante im mnL 
Texte beweist, dass ich mich geirrt habe. 



YII. Poetische Bückwirkung. 293 

^ösBten Theil des Werkes ausmachen. Der Dichter erzählt 
aie, weil die plastische Darstellung eine grössere Wirkung aus- 
übt; und sich dem Gedächtnisse besser einprägt ^ als eine 
Sittenlehre. Obgleich also Belehrung sichtbar sein Haupt- 
zweck war, so hat er doch die Erzählungen con amore bear- 
beitet. Seine Hauptquellen ^ obwohl sie nicht die einzigen 
-waren, sind die Herolden und Metamorphosen vonOvid. 

Ungeachtet der verschiedenartigsten Erzählimgen, aus wel- 
chen es besteht; bildet doch das Gedicht ein ziemlich gutes 
Oanze. Den Plan, dergleichen Scenen in einem Bahmen 
zusammen zu fassen, entlehnte Potter vielleicht dem Ovid, wie- 
w^ohl es ebenso wahrscheinlich ist, dass es unter dem Einflüsse 
von Boccaccio's Decamerone geschah. 

Zu dem allgemeinen Zwecke, den Dirk Potter vor Augen 
hatte, kam ersichtlich auch noch der Wunsch, ein Seitenstück, 
oder wenn man lieber will, ein Gegengift für die ß ose zuf 
liefern. Wiewohl dieses Werk nicht ausdrücklich genannt 
wird, so findet man doch eine Anzahl Stellen, welche sehr deut- 
lich eine Anspielung auf dieselbe bilden. 

Wenn nun auch der Zweck beider Werke beinahe der- 
selbe ist, so besteht doch in der Behandlung ein himmelweiter 
Unterschied. Dirk Potter warnt überall vor den Gefahren, 
zu welchen Hein von Aken anspornt. Während ein füvoler 
Ton und eine frivole Tendenz das französische Gedicht kenn- 
zeichnen, regiert die Sittlichkeit immer die Feder des hollän- 
dischen Schriftstellers; und selbst dann, wenn er ein Bild von 
unerlaubter Minne aufrollt, ergötzt er sich nicht an unsittlichen 
Schilderimgen, sondern bleibt immer ehrbar und anständig. 
Doch mache man sich von seiner Moral keine zu hohe Idee: 
sie war das Eind seiner Zeit. Keine Minne ist bei ihm Alles, 
was noch nicht ganz und gar gemein und niedrig ist. Er ist 
aehr nachsichtig, zumal für die Männer; er verlangt nur; dass 
Skandal vermieden werde. Für die Frauen dagegen sind seine 
Fordenmgen strenger. 

Uebrigens liegt über das Ganze eine moderne Färbung 
ausgebreitet: ungeachtet seiner aristokratischen Stellung und 
Geburt steht der Verfasser ganz unter dem Einflüsse bürger- 
licher Begriffe. Der mittelalterliche Geist hat aufgehört zu 
wirken; die mittelalterliche Literatur hat ausgeblüht. 

Der Stji von Der Minnenloop ist leicht und unge- 



I 



294 VII. PoetJBche RSckwirkung. 

Kwungen. Dirk Potter plaudert im vertraolichen Tone mit 
«eÄnen Lesern und Zuhörern; aber er ist dabei unterhaltend 
uikI fesselnd, zumal durch seinen Bilderreiditbuni. Sein grö^a- 
tcr Fehler ist, dass er seinen Gegenstand zuweilen zu sehr 
erechöpft. In dieser Bünsicht ist er ein Vorläufer von Cats, 
mit dem er noch in manchen anderen Punkten übereinstimmt- 
Die Sprache des Gledichtes ist durchaus nicht fein und 
gebildet: &emde, zumal hochdeutsche Worte, die man schon 
Lei Rillegaareberg findet, nehmeu hier immer mehr überband. 
Das war der Ein£usa der bairischen Fürsten, die in Holland 
regierten. Unter den Burgundern hörte das wieder auf; aber 
dann wurde die Sprache wieder von einer ganzen Schaar 
französischer Worteindringlinge bedroht, die daa Dietsche 
bciiialie unleserlich machten. Qlücklicberweise fingen im 
Bcc}izehnten Jahrhunderte die amsterdamer Literaten an, sie 
Vom diesem Unkraute zu reinigen. Ganz frei wurde sie nio- 
mais von demselben; ja in gebildeten Kreisen gilt noch heute 
der Parismus für Pedanterie und Schulfuchserei. 



yiii. 
Lyriselie and dramatisclie Poesie. 



146. ßiaher zogen wir in den Kreia unserer Belrachtungen 
nur das, was wir unter dem atlgemeinen Namen epische, d. h. 
erzählende Poesie zusammenfassen konnten. Nor ak Ausnahme 
im Vorübergehen erwähnten wir Gedichte, die zu einer jinde- 
ren Kategorie, zu der lyrischen Dichtkunst, gehören, wie z. B. 
die strophischen Werke Maeriant's und einzelner seiner Schu- 
ler; und auch nicht wenige sproken gehören mehr oder weni- 
ger dazu. 

Jetzt ist der Augenblick gekonmien, in dem wir das 
Äuge fester auf die Lyrik des Mittelaltere wende» wollen; 
ebenso auf die dramatische Poesie, die hier zu Laude bald 
einen charakteristischen, echt nationalen Charakter annahm. 

Wenn man einen Unterschied zwischen epischen und 
lyrischen Kunstprodukten macht, so ist das keine Willkür; 
der Unterschied liegt in dem sehr verschiedenen Wesen dieser 
beiden Zweige der Poesie. 

Die epische Kunst erzählt geschehene Dinge, schildert zu- 
mal menscliliche Thaten. Diese werden durch zwei Faktoren 
beetinmit: durch des Menschen Willen und durch äusi^cre Um- 
stände. Im Epoa, in welchem der Dichter an keinen be- 
schränkten Zeitabschnitt gebunden ist, wirkt hauptsächlich 
der zweite Paktor : die äussern Verhältnisse spiel wi in demselben 
eine grosse Rolle. Den Umständen wird nicht nur ein grosser 
GinfluBS auf die menschlichen Handlungen zuerkannt ; sondern 
auch der menschliche Wille wird mehr in seiner Wirkung 
hingestellt, als in seinen Bewe^ründen anal^sirt. 

Und dies konnte wohl nicht anders sein, weil das wahre 
£poB sich in der trischen Jugend der Völker entwickelt, in 



i 



296 Vtll. LyriBcbe und dramatiBclie Poesie. 

^er Zeit, in welcher aich viel Sinn für Naturleben und Em- 
pfänglichkeit für sinnliche Eindrücke offenhart, aber in der 
ntycli ^eTiig Anlage zu psychologischer Analyse zu finden ist. 

Die Lyrik dagegen, ein jüngerer Zweig der menschlichen 
Entvs'ickelung, ist inniger: sie verschinäbt in ihrer reinsten 
AeusaeniQg die Welt ausser uns; sie spricht nur Q^müths- 
be^^'(^gLlngeQ aus, sie ist der Spiegel des Seelenlebens. 

In der Wirklichkeit, in der KunstgeBchichte , iat jedoch 
der Gcgrasatz Beider nicht so scharf, nicht so absolut. Epos 
und Lyrik wirken gegenseitig auf einander ein. 

13(4in Epos war dies hier zu Lande ganz unyermeidlicli. 
Die Niederländer waren der Zeit der naiven Eindrücke schon 
grÖHst.iitheils entwachsen und viel zu viel Verstandeamonscben 
gewonlen, ak dass das Epos hiergepflegt werden konnte. Inder 
Schuli; des Chrestien deTroiea macht sich das subjective Element 
mehr gellend: die Eindrücke, die Auffassung des erzählenden 
Dichters, fangen schon an, eine grössere Rolle zu spielen; 
Bewcialiikrungen ersetzen die plastische Schilderung. Auch 
der Gemftthszustand der Helden offenbart sieb, zumal in Mo- 
nologen und Dialogen, mehr auf lyrische, als auf epische 
Weise. 

Und andrerseits lehnt sich oft die Lyrik an äussere 
Ersciif'inungen. Thut sie dies, so geschieht es jedoch nur, um 
deu F.iiidruck zu fhalen, den sie auf den Geist des Beschauers 
ausüben. Ist die lyrische Poesie im engeren Sinne auf Ode 
und IJed beschränkt, so wird man sich nicht verwundem, 
dass nie hier zu Lande bei geringerem poetischen Schwünge 
und ht'i unserm unverkennbaren Sinne ftir Wahrnehmung und 
Realismus sich nicht selten bis zur Ballade und Romanze 
ausdehnt, in welchen mit mehr oder weniger Ausführlichkeit 
die Erscheinungen der äusseren Welt aufgezeichnet w^^^i. 
Aljer der lyrische Charakter wird bewahrt, weil die Schilder- 
ung selbst ganz subjeetiv anfgefasst ist, und weil sie nur dazu 
dient, die Gefühle darzulegen, welche sie bei dem Bescbaoer 
erweckt 

Die Sprecher aus dem Ende des vierzehnten und axa dem 
Anfange des folgenden Jahrhunderts haben meistens diese 
Manit'i- angewendet. Selbst die ausgedehnteren Gedichte, wie 
die Hüse und der Minne nloop. haben ganz und gar diesen 
Charakter. 



VIII. Lyrische und dramatische Poesie. 297 

Wo sie sich mehr auf eigentlich lyrischem Boden bewegen, 
verfallen die Sprecher meistens in erbauliche Betrachtungen, 
die oft alles Mögliche enthalten, aber nur keine Poesie. 

Den dichterischen Ton erhält sich die Lyrik nur im 
Xiiede. 

147. Wie das älteste Epos zerfällt auch das Lied in 
VolksKed und in individuelles EunstliedL 

Die Volkslieder im eigentlichen Sinne gehören natürlich 
ZVL der Periode, in welcher alle Entwickelung beinahe auf 
gleicher Linie steht. In denselben offenbart sich alle Linig- 
keit des Gemüthes, das allgemeine Grefiihl des Volkes; wie der 
mehr epische Volksgesang die mehr äusserlichen Volksein- 
drücke wiedergab, welche durch grosse Begebnisse hervorge- 
bracht waren. 

Die Kenntniss des Volksliedes hat mit eigenthümlichen 
Schwierigkeiten zu kämpfen. Wenn das Lied nicht hinwelkt 
und endlich ganz verschwindet, weil der Eindruck, den es 
hervorrief, durch einen andern ersetzt wird, so ist es doch in 
seiner Form allerlei Veränderungen unterworfen, so dass, wenn 
es auch einige hundert Jahre lang der Ueberlieferung bewahrt 
bleibt, es uns doch nur sehr selten ein treues Bild seiner ur- 
sprünglichen Gestalt liefert. 

Aus den ältesten Zeiten, und wir meinen damit das zwölfte 
jind drdzehnte Jahrhundert, scheint wohl kaum ein Y^lkslied 
uns aufbewahrt zu sein. Aus dem vierzehnten Jahrhunderte 
besitzen wir einzelne, aus dem fünfzehnten schon mehr. Wir 
können jedoch erst dann bei dem Volkslied verweilen, wenn 
wir vorher einen Blick auf den höfischen Kunstgesang i der 
ritterlichen Klasse geworfen haben. 

Prankreich und Deutschland haben eine ganze Reihe 
adeliger Minnesänger aufzuweisen. In den Niederlanden hat 
unter, den vornehmen Edelleuten unsres Wissens nur der bra- 
bantsche Herzog Johann I. in der Volkssprache gesungen, 
Wohl haben auch andere niederländische Fürsten die Leier 
ergriffen, aber sie bedienten sich der französischen Sprache. 
So z. B. Balduin von Konstantinopel, Heinrich HI. von Bra- 
bant und Herzog Wenceslaus. Ueberdies haben sich in Fran- 
zösisch - Flandern eine grosse Zahl hochgebomer Trouvferes 
in ritterlicher Lyrik ausgezeichnet. Der eigentliche nieder- 
ländische Adel scheint also wenig Sinn für das höfische 



298 VIII. Ljrriiebe und dnunatiiche PoeBie. 

Minndied gehabt zu haben: vieUeicht weil sie eich fem von 
iav französischen Bewegung hielten, welche an den Höfen 
vijN Brabant und Flandern den Ton angab, und darum in 
iiberl'einer Bildung etwas zurück waren. 

Eine ' desto merkwürdigere Ausnahme macht Herzog Jo- 
hann I, deseen echt niederländieches Herz ihm verbot, dem 
Beispiele seines Vater» zu folgen; der aber in Dietachen Ver- 
sen mit den französischen Minnesängern zu wetteifern suchte. 
Neun äciner Lieder sind uns erhalten geblieben; aus Allen 
spricht deutlich die Vorliebe ftir das schöne Geschlecht, für 
welches der Sänger, wie man weiss, schwärmte. Während uns 
Fürni und Einkleidung durch Lieblichkeit und unnachahm- 
liche Naivetät bezaubern, erfreut man sich zu gleicher Zeit 
an dem keuschen Ton^ durch welchen sich Johann's GJedichte 
vor dem seines Vaters auszeichnen, in welchen französischer 
J^eichtsinn den Hauptgrundzug bildet 

Wenn die Anzahl der höfischen Minnelieder also nicht 
grw.v, ist, so bleibt uns noch die Untersuchung übrig, ob des 
Volkslied eine reichere Ernte liefert. 

Ira fünfzehnten und sechzehntfin Jahrhunderte besitzen 
wir einen Schatz geistlicher und weltlicher Volkslieder; seit 
Jener Zeit hat sie die klassische Richtung, die zum guten Tone 
gehörte, vertrieben. Wir kennen jetzt nur widerliche Gassen- 
hauer. .Unter den Liedern aus früherer Zeit giebt es einige, 
die sicher noch aus dem vierzehnten Jahrhunderte datiren. 
Abtr wäre dies auch nicht der Fall, und wenn man keins 
der bekannten Stücke höher als bis in das fünfzehnte Jahr- 
hundert zurückßUiren könnte , würde uns dann das Dasein 
einer so grossen Menge Oesänge unter viel ungünstigeren 
Umetänden kein Recht zu der Annahme geben, dass der Volks- 
gesang in früherer Zeit noch viel reicher geblüht habe? 
Diese Wahrscheinlichkeit steigt, wenn man sich erinner^ dass 
noch im sechzehnten Jahrhunderte von den Südiiiederländem 
gesagt wurde, dass sie die natürlichste Anlage zu Musik und 
Gesang hätten, und darin die Lehrmeister Europa's wären.') 



') Ouieciardini schrieb 1550 in seiner Descrittione dei Paeii 
BüBsi roD den Beigen: „Queeti eouo i veri maestri della Mueica, e 
quelli che 1' bauno rcBtaurata e ridotta a peifettione, percbe 1' haano 
tjanto propria e naturale, che hnomini e donne cantan 



VIII. LjriBehe und dramatisclie Poesie. 299 

Wir dürfen also wohl annehmen^ dass wenigstens in Belgien 
während des ganzen Mittelalters das Volkslied geblüht haba 

Nun ist die Frage aufzuwerfen: Wie ist es zu beweisen, 
dass von den ältesten Volksliedern Etwas auf uns gekom- 
men sei? 

In zwei Handschriften des fünfzehnten Jahrhunderts 
kommen geistliche Lieder vor, von denen viele nach der 
Weise älterer, bekannter, weltlicher Lieder gesungen werden. 
Diese Melodie wird durch die Angabe der ersten Verszeile des 
bekannten weltlichen Liedes bezeichnet, dessen Singweise 
immer sehr populär war. 

Im Jahre 1544 erblickte zu Antwerpen bei Jan Koulans ein 
„Liedekens-Boeck" das Licht, in welchem „veelerhande liede- 
kens oude ende nyeuwe" vorkonmaen. Unter den alten 
giebt es verschiedene, deren Anfang schon in den erwähnten 
Handschriften aus dem fünfzehnten Jahrhunderte angeföhrt 
wird. Das Liederbuch aus dem Jahre 1544 hat also sicher 
Lieder aus dem vierzehnten Jahrhundert fiir ims bewahrt 
vielleicht sogar einige, die noch weiter zurückreichen.^) 

Das berühmte Het daget in den Ooste, welchesman 
darin findet, stammt schon aus der ersten Hälfte des Jahr- 
hunderts. Sehr alt ist sicher auch das lied van Halewijn, 
de Jager uit Grieken, Danieelken, Hildebrand, 
Bruneborch, het Heerken van Maldeghem, Ik 
Btond op hoghen bergen, öraaf Floris, und wer 
weiss, wie viele noch mehr. 



naturalmente a misuray con grandissima gratia e melo- 
dia'^ Und Cavallo, der venetianische Gesandte am Hofe Karls V., be- 
zeugt in demselben Jahre: „I Paesi Bassi sono hoggidi 11 fönte della 



mnsica.*^ 



^) Zumal Hoffnümn von Fallersleben hat sich um unsere alten Lie- 
der yerdienstlich gemacht durch die Ausgaben: 

1) Der niederländischen geistlichen Lieder des XV. 
Jahrhunderts, welche den zehnten Theil der Horae Belgicae 
bilden. 

2) Durch die neue Auflage des Liederbuches von Jan Koulans nach 
dem einzig übrig gebliebenen Exemplar (Hör. Belg. pars XI). 

3) Der Niederländischen Volkslieder in der zweiten Auf- 
lage des zweiten Theils der erwähnten Sammlung. 



300 VIII. Lyrische und dramatische Poesie. 

£s kann uns nicht einfallen^ den Inhalt aller dieser Lie- 
der zu analysiren. Einige erinnern an die alte Volksüber- 
lieferung ^ andere an historische Ereignisse; wie z. B. an den 
Mord Floris V.; dies Lied ist in seiner ältesten Form sicher 
nicht jünger ; als aus den ersten Jahren des vierzehnten 
Jahrhundei*ts. Die meisten besingen die Liebe, wobei beson- 
ders Rosen und Wein gefeiert werden, und auch die Nachtigall 
spielt ihre KoUe. In vielen dieser Schilderungen kommt ein Lin- 
denbaum vor, der die Liebenden beschützt, oder unter welchen 
das Mädchen ihren Bräutigam findet, und die Jungfrau den Ritter 
erwartet. Merkwürdig ist es, dass in manchen Gedichten der 
erschlagene Geliebte unter der grünen Linde liegt. Wahrschein- 
lich ist dies noch ein Nachhall von dem alten Richterspruche 
unter dem Lindenbaume. Es bedarf wohl keiner Erwähnung, 
dass auch Trink- und Tanzlieder vorkommen. 

In einzelnen dieser Lieder spricht sich schon der überwie- 
gende Geschmack für Allegorie aus, und nicht selten erweitert 
sich, wie wir schon sahen (S. 272), das Lied zu einer Sproke. Die 
eigentlichen Lieder zeichnen sich zwar nicht immer durch 
reine Form oder streng regelmässigen Rhythmus aus, wohl 
aber durch eine grosse Frische der Auffassung und Lebendig- 
keit der Darstellung. Diese Ueberbleibsel aus grauer Vor- 
zeit sind doppelt anziehend , wenn man sie mit den widerlichen 
Strassenliedern unserer Tage vergleicht. Das gesunde Volks- 
gefiihl, welches sich in jenen offenbart, die Naivetät oder 
Schalkheit, wodurch sie sich charakterisiren, geben einen Ge- 
nuss, der im Hinblick- auf den traurigen Zustand der gegen- 
wärtigen Zeit ebenso erfreuend als überraschend ist. 

148. Wir sprachen schon von geistlichen Liedern in 
Handschriften des ßinfzehnten Jahrhunderts : es ist nicht anders 
möglich, als dass sich auch darunter ältere Stücke befinden. 

Bei dem religiösen Sinne, der unser Volk kennzeichnete^ 
ist es nicht zu verwundem, dass neben dem weltlichen Gesänge 
auch der geistliche blühte. Er wurde oft, gerade wie später die 
Psalmen, nach der Melodie welthcher Lieder gesungen, und 
nicht selten waren die geistlichen Lieder durch eine geringe 
Umarbeitung aus diesen hervorgegangen. Das beweist schon, 
dass sie populär sein mussten, und dass auch diese geistlichen 
Gesänge auf den Namen Volkslieder Anspruch haben. 



Vlir. Lyrische und dramatische Poesie. 301 

Diese geistlichen Lieder lassen sich in verschiedene Kate- 
gorien eintheilen. Zu der ersten rechnete man die Weih- 
nachtsKeder, von denen viele das Zeichen höchsten Alterthums 
tragen; einzelne reichen sicher bis ins vierzehnte Jahrhundert 
zurück. Sie bestehen gewöhnlich aus Scenen der Kindheit 
Jesu, die eben so naiv als lebendig geschildert sind. Hier 
sieht man, wie der Ochse und der Esel bei der Krippe des 
Heilands ihr Futter verlassen, um das Kindlein zu erwär- 
men; dort wird uns das Jesuskind selbst vorgefiihrt, wie es 
lieblich mit den Händen im Bade plätschert, so dass das Was- 
ser aus dem Becken springt. 

Eine andere Klasse bilden die Marienlieder, und die, 
welche Heilige besingen; an denen die Vorzeit besonders 
reich war. Unter den Liedern an die heilige Jungfrau 
finden wir eine Uebersetzung des schönen Kirchenliedes „Dies 
est laetitiae" und mehr als eine des herrlichen „Stabat mater", 
wenn dieselben auch nicht unter die eigentlichen Volkslieder 
gerechnet werden können. 

Endlich die geistUchen Jöesänge, die man „Lieder der 
minnenden Seele ^^ genannt hat. Diese , zumal im fünfzehn- 
ten Jahrhundert sehr zahlreich, bewegen sich gewöhn- 
lich um den Gredanken, dass Christus der Bräutigam ist, nach 
dem die fromme Seele verlangt. Nicht selten steht man in 
Zweifel, ob man nicht ein weltliches Lied vor sich habe, mit 
solch glühenden Farben ist zuweilen die mystische Liebe ge- 
schildert; imd dies darf uns nicht verwundern, wenn man 
weiss, dass Christus oft nur an die Stelle des Geliebten im 
weltlichen Volksliede trat. 

Was schliesslich die Form unserer Lieder betrifft, so be- 
schränken wir uns auf die Bemerkung, dass die Strophe ein- 
facher wird, je nachdem das Lied mehr zum Volksgesang ge- 
hört Die Kimstpoesie baut ihi*e Stanzen viel künstUcher: 
wir sehen dies in den Liedern Herzog Johann. 

149. Wir gehen nun zur dramatischen Dichtkunst 
über. 

Es ist hier noch nicht der Ort, in eine Betrachtung über 
das Wesen der dramatischen Kunst einzugehen, imd an 
ihr den Massstab für die ersten niederländischen Sohau- 
spielprodukte zu suchen. Derselbe kann hier noch nicht 



II 



302 Vni. LfriMihe und drsmatisclie Poesie. 

angele^ Verden. Später werden wir die Nothwendigkeit der 
zwei flauptelemente darstellen, welche ein Gedicht zu einem 
Drama etempeln: Handlung und Charakterzeichnung; jetzt 
erwähnen wir nur kurz, daes 'sie zum Wesen des Drama's 
gehöreu, Und dasB wirklich die ältesten niederländischen 
Schauspiele nicht nur Handlung enthalten, sondern dass den- 
selben auch eine, wenngleich nur oberdächliche Charakteristik, 
nicht fehlt. 

Das Drama tritt im Mittelalter auf zweierlei Weise auf: 
als welthches Schauspiel und als geistliches Mysterienspiel. In 
dem grüssten Theile Europa'» ist das letztere nicht nur dem ersten 
vorangegangen, sondern das weltliche Drama hat sich sogar 
auB ileui kirchlichen entwickelt. In Niederland dagegen scheint 
es sich aus einem selbstständigen Kerne entwickelt zu haben. 

Wir sahen (S. 275), wie die Sprecher ihre Gedichte vor 
Fürsten und Edlen und nach und nach auch vor den Bür- 
gern vortrugen. Dass man dabei die sprechend eingeführten 
Personen auch nachzuahmen suchte, unterliegt keinem Zwei- 
fel; Maerlant nennt es sogar conterfeiten (contre£aire), 
und CS läest sich denken, dass man dabei auch das Kostüm 
der Rolle trug. Zuweilen bildeten die Gedichte Dialoge, die 
dann wahrscheinlich von zwei Sprechern reeitirt wurden; und 
darin liegt, wenigstens was die Form betrifiPt, der Anfang des 
Drama's. 

Eine solche plastische Darstellung war sehr an der Tages- 
ordnung, zumal bei der Bürgerschaft, die sich durch ihren 
Sinn für AnBchauung, und für Alles, was sich den Sinnen dar- 
bot, auszeichnete; und die hörend sehen und sehend hören 
woUtD. Diese Vorliehe für plastische Darstellungen geht ans 
den i-ielen stummen Aufßlhrungen hervor, eine Art tableaux 
vivauts, die seit dem vierzehnten Jahrhunderte in ganz Europa 
mehr und mehr in Auihahme kamen; und der Geschmack an 
dramatischer Auffassung tritt uns deutlich aus den muL 
Gedichten von grösserem Umfange entgegen, deren Dialog 
eine ganz dramatische Ausdehnung erhält Nun war nur noch 
ein Schritt nöthig, die romantischen Scenen nicht nur zu er- 
zählen , sondern darzusteUen, und dies bildete den Anfang zu 
dem ernsten romantischen Drama, damals abel spei genannt 

Lässt sich also die Art der Entstehung des weltlichen 
Drama's grösstentheils aus dem allgemeinen Sinne iUr Plastik 



yill. Lyrische und dramatische Poesie. 303 

erklären^ so wurde diesen Anfängen hier zu Lande auch 
^wiss durch den praktischen Sinn und den Realismus der 
Bürger in die Hände gearbeitet. Wie diese Geistesrichtung 
einen unverkennbaren Einfluss auf den Ton und Inhalt der 
lyrischen und epischen Poesie hatte ; so musste sie auch und 
vor allen Dingen sich auf das dramatische Gebiet fuhren. 

Wenn man mit dem dem Niederländer eigenen Sinn für 
Beobachtung^ die Aufioierksamkeit auf die Vorfälle des täg- 
lichen Lebens wendete, so lockten die darin bemerkten Thor- 
heiten mehr zum Darstellen, als zum Erzählen heraus, weU 
das Komische von Natur plastisch ist; und so wurde neben 
dem abele spei auch das Lustspiel, die Posse, diesotternie 
geboren, die meistens eine treue Abspiegelung des Volkslebens 
und also echt national ist 

Die Veränderung und Ausbreitung von dergleichen plasti- 
schen Scenen ist vielleicht durch dt^s Beispiel der Mysterien- 
spiele befördert worden; wir müssen deshalb erst einen Au- 
genblick bei diesen verweilen. 

Schon im elften Jahrhunderte fing die Geistlichkeit an, 
Bruchstücke aus der biblischen Geschichte, zumal aus dem 
Leben Jesu, und bald auch aus den Legenden der Heiligen, 
dem Volke darzustellen. Diese Darstellungen hatten an 
hohen kirchlichen Festtagen statt; man führte das Festevan- 
gelium, die kirchliche Hysterie, welche man feierte, auf, und 
deshalb hiessen die Vorstellungen, als sie genügende Selbst- 
ständigkeit erhalten hatten, Hysterie-, später auch Hira- 
kel-spelen. 

Ursprünglich war es wohl nichts anderes, als ein drama- 
tisirtes Recitiren oder Singen des FestevangeUums. Bei dem 
Gottesdienste in der Leidenswoche z. B. wurde zwischen dem 
messelesenden Priester, den Diakonen und Subdiakonen und 
dem Chore ein Wechselgesang ausgeftihrt, wobei die Rollen 
der Personen aus der Leidensgeschichte durch verschiedene 
Sänger vorgetragen wurden^ Der Diakonus sang den beschrei- 
benden oder erzählenden Theil im Tone eines Recitativs, der 
messelesende Priester sprach Christus, die Subdiakonen 
Petrus und Pilatus, das Chor die Juden u. s. w. 

Dasselbe fand bei dem Weihnachtsfeste statt. 

Das dramatische Recitiren ging bald in eine eigentliche 
Darstellung des Gegenstandes über; «aber es blieb selbst 



304 VIII. Lyrvche und dramatiBche Poesie. 

nicht bei dieser irÜhBten Ausdehnung. Anstatt einer einzigen 
Scene, stellte man bald eine aufeinanderfolgende Reihe 8ol- 
clic-r Scenen dar: anstatt der Leidensgeschichte oder der Weih- 
uHi'lit kam das ganze Leben Jesu oder die ganze Legende 
einc'!^ Heiligen; ja, nicht selten begann das Spiel mit der 
Scliiipfung der Welt, und wurde erst mit dem Tage des letzten 
Unheils geschlossen. Dazu war natürlich ein grösseres Per- 
sonal nöthig, und auch mehr Raum, als das Kirchengebäude 

Diese Spiele wurden nehmlich ursprünglich in der XIrche 
oder auf dem Kirchhofe von Geistlichen aufgeführt, welche von 
Chor- oder Schulknaben unterstützt waren; anfangs sogar in 
diT Kirchensprache. 

Mit der Zeit wurde das anders. Schon zu Ende dea 
zwiitt'ten Jahrhunderts nahmen Laien an diesen VorstellongeQ 
Thi'il, und in dem folgenden wurden die Gegenstände immer 
weltlicher and nur von Laien, jetzt nicht mehr in oder vor 
der Kirche, sondern auf einer Bühne aufgeführt, die auf Markt 
oder Platz aufgeschlagen wurde. 

150. Die weltlichen Darsteller wurden in officiellen Be- 
richten ghesellen oder ghesellen van den speie ge- 
nannt. Ob man unter diesem Namen die Mitglieder einer 
Brüilcirschaft, einer Gilde oder einer Schanspielergesellschaft zu 
BUL'htin habe, ist nicht ausgemacht; das Eratere ist aber das 
Waiirscheinlichste. lieber den Einäuss, den das Gildewesen 
auf die Poesie und ihre Priester gehabt hat, wird am Besten 
bei tiea Bederijkem gesprochen. 

Ueber die Darsteller wissen wir nicht viel: wir können 
selbst nicht bestimmen, ob hier zu Lande, ebenso wie anders- 
wo, die Prauenrollen durch junge Männer dargestellt wurden. 
Auch über den Ort der Darstellung, über die Einrichtung der 
Bühne hegt noch Manches im Dunkeln. Wir dürfen jedoch 
das Wenige, das uns bekannt ist, nicht mit Stillschweigen 
übcT$<ehen. Von den geisthchen Dramen wissen wir, dass sid^ 
weiiii^steiw als sie in die Hände der Laien übei^egangea 
waren, gewöhnlich auf offenem A^kte dargestellt, wurden. 
Ein hölzernes Stacket wurde aufgeschlagen, welches wahf- 
sclieinlich von drei Seiten geschlossen und oben bedeckt wurde 
und die Bühne bildete. Meistens war sie in drei Abthei- 
lungen getheilt; die oberste stellte den Hinunel, die mittdste 



VIII. Lyrische und dramatische Poesie. 305 

die Erde^.die unterste den HöIIenschlund^ wenigstens den Ein- 
gang zu demselben vor. 

Für die weltlichen Spiele brachte man die Bühne sicher 
sehr bald aus der freien Luft in geschlossene Räume ^ und 
es besteht gegründete Ursache zu der Annahme^ dass man auch 
die Mysterien, welche bald Immer kürzer wurden, in Häusern 
aufführte. Die abele speien und sotternien wurden 
gewöhnlich im obern Stockwerke oder auf dem grossen, offenen 
Boden eines (öffentlichen?) Gebäudes dargestellt. Die Bühne 
war Auch, wenigstens in einzelnen Fällen in verschiedene 
Abtheilungen getheilt, welche verschiedene Lokalitäten vor- 
stellen mussten. Ich denke wohl, dass diese eher neben, 
als über einander lagen: um so mehr, da hier die Bühne 
auf keinem besonderen Stacket ruhte. Es ist selbst nicht 
ausgemacht, ob sie sich über den Fussboden erhob. 

Ob schon Coulissen angewendet wurden, ist schwer zu 
bestimmen; aber dass etwas Aehnliches gebraucht wurde, um 
die Einbildungskraft der Zuschauer zu unterstützen, ist sicher. 
So haben ersichtKch einzelne Bäumchen oder Sträuche den 
Wald vorgestellt, und aus einigen Stücken kann man deutUch 
sehen, dass ein Haus oder ein Gefangniss auf die eine oder 
andere Weise anschaulich gemacht wurde. 

Ueber die Zeit der Auffuhrungen hat man ebenfalls 
keine sichere Nachricht ; dass die Darstellungen im Freien und 
am Tage gegeben wurden, unterKegt keinem Zweifel. Ob die 
kamerspelen ebenso bei Tage aufgeführt wurden, ist nicht 
so bestimmt zu sagen ; schon sehr früh finden wir eine Posse 
für den Abend angekündigt. 

Diese Ankündigung geschah durch Ausrufer und Boten; 
und als diese Darstellungen noch zu den Seltenheiten gehör- 
ten, wurden diese Kimdschafter oft nach ziemlich abgelegenen 
Orten ausgeschickt , mn. Fürsten oder Edle zimi Besuche des 
Festes einzuladen. 

151. Werfen wir jetzt einen Blick auf die ältesten welt- 
lichen Schauspiele, die uns aulbewahrt geblieben sind. Es sind 
zehn an der Zahl: vier ernste Stücke und sechs Possen, und 
aUe stehen in ein und derselben Handschrift. Wie man deutlich 
sieht,- stammen sie auch alle von derselben Hand; und ebenso 
gewiss ist es, das9 sie für die Aufführung bestinmit waren. 
Das wird zpimal dadurch deutlich, dass das Publikum zuweilen 

Joiickb]oet*8 Gescluchte der Niederl&ndischen Literatur. Band I. 20 



306 VIII. Lyrische und dramatische Poesie. 

in denselben angesprochen wird. Sie sind in der Mitte des vierzehn- 
ten Jahrhunderts, und höchstwahrscheinlich in Flandern verfasst. 

Die Titel der abele speien sind: Esmoreit, Glo- 
riant, Lanceloot van Denemarken, und Van den 
winter ende van den somer. 

Um eine Idee von der Entwickelungsstufe unserer dra- 
matischen Kunst Jn jenen Tagen zu geben, diene eine kurze 
Analyse eines einzelnen Sttickes. Ich wähle dazu den Esmoreit. 

Die Personen des Stückes sind : der König von Sicilien ; seine 
Gemahlin; Esmoreit, ihr Sohn; Robrecht, des Königs Neffe; der 
König von Damaskus; Damiette, seine Tochter; Flatus, sein 
Sterndeuter. 

Das Stück fängt man mit einem Monologe Robrecht's an, 
der wüthend ist, weil seinem Oheim ein Sohn geboren wurde, 
wodurch ihm die Aussicht auf den Thron entgeht. Er be- 
schliesst, das Kind umzubringen. 

Die folgende Scene versetzt uns nach Damaskus. Der 
König hört von seinem Sterndeuter Flatus, dass er von dem 
Sohne des Königs von Sicilien ermordet werden soll , der zu 
gleicher Zeit des Königs Tochter zum Christenthum bekehren 
und heirathen würde. Um dies zu verhüten, reist Flatus 
nach Sicilien. Robrecht hat sich des Kindes bemächtigt 
und will es tödten. Flatus bringt ihn von diesem Vor- 
haben ab: Er bietet ihm tausend Ffund für das Kind an; 
und als der Kauf geschlossen ist, zieht er mit ihm nach Da- 
maskus, um es zu einem „goeten payien" aufzuziehen. 

Robrecht freut sich, dass ihm der Knabe aus dem Wege ist, 
und dass er überdies eine grosse Summe Geld in Händen hat 
Der König von Damaskus lässt das Kind, welches Esmoreit ge- 
nannt wird, von seiner Tochter erziehen, und theilt dieser nur mit, 
es sei ein Findelkind. Damiette, durch die Lieblichkeit des klei- 
nen Wesens bestochen, gelobt, ihm Mutter und Schwester zu sein. 

Der König von Sicilien sucht indessen bei seinem Neffen 
Trost über den Verlust seines Kindes. Robrecht benutzt 
diese Gelegenheit, um dem alten Fürsten Verdacht gegen seine 
junge Gemahlin einzuflössen: aus Liebe zu einem Anderen 
trachte sie ihm nach dem Leben, wie sie schon aus Hass gegen 
den Vater ihr Kind getödtet habe. Der König, der sdine Ge- 
mahliQ für einen Engel gehalten hat, lässt . sich nicht so schnell 
überreden und ruft die Beschuldigte vor sich, um. sie zu hören« 

Robrecht flüstert der Königin zu, dass der König wahn- 



yill. Lyrische und dramatische Poesie. 307 

sinnig geworden sei. Auf des alten Mannes heftige Vorwürfe 
über ihre vermeintliche Missethat und die Drohung, dass sie 
dieselbe mit dem Tode büssen solle, giebt sie nur die ein- 
fache Erklärung, dass sie ihn hebe, und folglich so etwas nicht 
im Stande sei. Der aufgeregte Gemahl will auf Nichts hören, 
und befiehlt Robrecht, sie ins Gefangniss zu werfen, was die- 
ser auch unter verstellter Beileidsbezeugung thut. 

Im Ge&ngnisse hält die Königin einen rührenden Mono- 
log, in welchem sie Gott und die heilige Jungfrau um Hülfe 
anruft, damit ihre Unschuld an den Tag komme. 

Der zweite Akt spielt achtzehn Jahre später. Monolog 
von Esmoreit, woraus deutlich wird, dass er seiner schönen 
Schwester sehr zugethan ist. Als er in der folgenden Scene 
ihr Geständniss belauscht, dass sie den imbekannten Findling 
auch liebt, aber dass sie aus Furcht vor ihrem Vater ihre 
Liebe verbirgt, bittet er sie, ihm seine Abkunft zu erklären. 
£r will seine Eltern aufsuchen. Sie fleht ihn, zu bleiben: 
nach ihres Vaters Tod will sie ihn heirathen. Er ist der 
Meinung, dass eine schöne Königstochter keinen Findling 
heirathen darf, und will vor allen Dingen seine Eltern auf- 
suchen. Als er nicht zurückzuhalten ist, giebt sie ihm ein 
Band, das er als Kind getragen hat; wenn er das um sein 
Haupt trüge, würde man ihn daran erkennen. Er zieht fort; 
sie ruft ihm schluchzend nach: Vergiss mich nicht! 

Esmoreit kommt nach Sicilien und vor das Fenster der 
gefangenen Königin, die ihn natürlich als ihren Sohn erkennt 
und ihn mit seiner Abkunft bekannt macht. Er vernimmt 
zugleich, dass sie wegen der Einflüsterungen eines Verräthers 
gefangen gesetzt sei, und er begreift, dass ihn derselbe Böse- 
wicht von seinen Eltern getrennt hat Er eilt zu seinem 
Vater, um ihm den Verrath zu entdecken. 

Robrecht hat voll Entsetzen die Rückkehr Esmoreit's 
vernommen: er beklagt, dass er ihn nicht getödtet habe: 
jetzt wird er vielleicht für seine böse That gestraft werden. 
Auf den Befehl des Königs befi-eit • er die Königin aus dem 
Gefangnisse. Esmoreit erzählt nun seine Geschichte und wie 
sehr er Damiette liebe. Robrecht heuchelt grosse Freude und 
erklärt, dass er den unbekannten Schelm strafen wolle, der 
^en jungen Prinzen geraubt habe. Die Königin will davon 
Nichts hören, sondern ihr Glück ungestört gemessen. 

20* 



308 VIU. Lyrische und dramatische Poesie. 

Indessen kann Damiette die Abwesenheit Esmoreifs 
nicht ertragen: sie begiebt sieh in Flatus' Begleitung auf den 
Weg, um ihn zu suchen. Als sie an den Hof von Sicilien 
kommt, wird sie von ihrem Geliebten erkannt und mit die- 
sem verlobt. Das Verbrechen des falschen Robrecht wird durch 
Flatus an den Tag gebracht, und der Verräther wird gehängt 

Das Stück fUngt mit einem kurzen Frologe an, imd schliesst 
mit einem Epiloge, der auf die in dem Stücke herrschende 
Moral hinweist. 

152. Der Stoff dieser Tragödie, denn so darf man sie 
wohl nennen, scheint dem Komane „De zeven wijze meesters^' 
entlehnt zu sein, ist aber vom Schauspieldichter mit viel Ta- 
lent för seinen Zweck bearbeitet worden. Alle Erfordernisse 
des Dramas sind schon in dieser alten Frobe vorhanden: vor 
allen Dingen Handlimg und Charakterzeichnung. 

Erstere wird uns in einer abwechselnden Reihe von Scenen 
vorgeführt, die wohl von mangelhafter technischer Ausfuhrung, 
aber doch auch von dem richtigen Gefühle für das Wesen 
des Dramas zeugen. 

Alle Charaktere sind gut gezeichnet, obgleich die Haupt- 
personen mehr ausgearbeitet sind, als die Anderen. Alles Licht 
ist auf die Christenkönigin und den Verräther Robrecht concen- 
trirt, während die Figuren Esmoreit's und Damiette's nur in Um- 
rissen gezeichnet und etwas in den Schatten gestellt werden. 

Die Handlung selbst führt uns die Folgen der Leiden- 
schaft vor, wie sie auf die einzelnen Charaktere einwirkt; 
dadurch entsteht eben eine wirkHch dramatische Verknüpftuag. 

Es entgeht uns jedoch nicht, dass überall die Tiefe der 
Auffassung fehlt, welche in unseren weniger naiven Tagen 
verlangt wird, um ein Stück zu einem Kunstwerke zu 
stempeln; aber jeder Unpartheiische wird eingestehen müssen, 
dass die dramatische Kunst, die auf diese Weise ihren An- 
fang nahm, eine ausgezeichnete Zukimft hätte haben müssen, 
wäre sie in ihrer Entwickelung nicht durch das Eindringen 
fremder Bestandtheüe aufgehalten worden; wir werden die- 
selben später kennen lernen. 

Zweitens darf nicht übersehen werden, dass die anderen 
abele speien nicht in jeder Hinsicht eben so gut gelimgen 
sind, als das erwähnte. Der Gloriant, der seinen Lihalt eini- 
gen Romanen aus dem Sagenkreise König Artur's entlehnt zu 



VIII. Lyrische und dramatisclie PoeBie. 309 

haben Bcheiat, steht in Charakterzeiclmuiig weit zurück, im 
Lancelot werden uns die Liebeshändel eines jungen Man- 
nes aus grossem Hause mit einem einfachen Mädchen vorge- 
stellt. Die Mutter des Liebenden, die eine Mesalliance fiiiuli- 
tet, weiss zu bewerkstelligen, dass er das Mädchen verl'ülirt 
und dann von sich stösst. Sandrine nimmt darauf die Fhuht, 
Lancelot ffihlt bald, dass er ohne dieselbe nicht leben kann, und 
läsBt sie überall aufsuchen, um sie zu heirathen. Sandrine hat 
indessen einem anderen Ritter ihre Hand geschenkt und weist 
Lancelot's Beten ab. Dieser wagt nicht, die Wahrheit zu he-.- 
riehten, erzählt seinem Herrn, dass seine Geliebte vor Sehnauclit 
gestorben sei. Lancelot flucht in Verzweiflung seiner Mutler, 
und durchsticht sich selbst zur Strafe für sein Verbrechen. 

Die Situation ist vorzüglich tragisch. Der Kampf zwisolicu 
-dem Ädelstolze der Mutter und der Leidenschaft des Sohnes 
ist an und für sich schon geeignet, unsere Aufinerksamkeit zu 
fesseln; aber die Charaktere sind gar zu oberflächlich darge- 
stellt. Wenn auch die Mutter in einzelnen sprechenden Zü- 
gen gemalt ist, und wenn die Individualität Sandrinens, ol»- 
gleich nur in unsicheren Linien, aber doch nicht ohne A'or- 
Eebe gezeichnet ist, so ist dagegen die Person des Liebhahnra 
«o matt, so nebelig geschildert, dass dadurch das Ganze viel 
von seinem Werthe einbüsst. 

Steht also in dieser Beziehung dieses Drama untei- dem 
Esmoreit, so fallt dagegen ins Auge, dass die Handlung sieh 
Äuch hier mit einer Plastik und Einheit vor uns entfaltet, die v(ui 
der ausgezeichneten dramatischen Begabung des Dichters zeufjcn. 

Diese Stücke haben deutlich erkennbar einen sittliclion 
Zweck und dadurch eine charakteristische Aktualität. Wie 
■die Sitten und Gebrechen der Burgerschaft in den sott er - 
nien getadelt werden, so dienten die abele speien zur 
Oeisselung der Fehler in den höheren Ständen. In dem Y^ s - 
mo reit wird die gewissenlose Selbstsucht an denPrangergeatiilt, 
im Lancelot der verblendete Adelstolz, und im Gloria ut 
ist der Gedanke durchgeführt, dass das einseitige, prahlerische 
Ritterwesen nur durch den Einfluss einer echt menschbtlien 
Leidenschaft, der Liebe, wahrhaft gebildet werden kann. 

Ausser den drei besprochenen Stücken umfasst dieaelho 
Sammlung noch das Spei van den winter ende van 
den somer, das eine ganz andere Färbung trägt und 



310 VIII. LjrUcbe und dramatiscbe Poesie. 

dnrchgäDfpg ein Sinnspiel im Oeiete der späteren Rederijker 
ist. Es ist ein Wortwechsel zwischen den beiden Jahreezei- 
leri ; jede will allein da» Recht des Bestehens haben , weil sie 
mehr Yorlheil bringe. Allerhand eymbolische Figuren nehmen 
für (ider gegen dieselben Parthei. Das Resultat ist, das» 
Winter und Sommer mit einander abwechseln müssen, weil 
der liebe Gott es so gewollt hat. 

1Ö3. Nach einem abel apel wird gewöhnlich eine BOt- 
ternie, eine Posse ( k 1 u c h t ) aufgeiUhrt Klucht bedeu- 
tet eigentUeh Äbtheilung') und steht als Abkürzung für 
BOttc klvcht, d. h. die komische, fröhliche Abtheilnng der 
Vorstellung, 

Solcher Possen enthält die erwähnte Sammlung sechs^ 
obgleich einige nur fragmentarisch. 

Diese sechs Possen schildern uns Scenen aus dem imier- 
sten Volksleben. Sie sind höchst einfach erfunden, da mei- 
stens mir ein einzelner Vorfall , eine einzige Thorheit auf die 
Bühne gebracht wird, wobei es aich weder um individudle 
Charakter Zeichnung, noch um die Aufstellung und Lösung 
einer verwickelten Intrigue tändelt. Ihr Verdienst liegt nicht 
in ihrem Inhalte, sondern beschränkt sich eben so, wie es 
mit der echten Volkssproke der Fall ist, ganz und gar auf 
die Lebendigkeit der Darstellung und die Frische des Kolo- 
rits, womit die aus dem Leben gegriffenen Zustände geschil- 
dert werden. Ich theile den Inhalt eines Stückes mit, um 
eine Idee von dem in allen herrschenden Tone zu geben. 

Die buBsenblaser*). Ein alter Bauer, der eine jungfr 
Frau hat, kehrt vom Markte zurück, auf dem er eine Kuh ver- 
kiiutt bat £r hat eine grosseMeinung von seiner List und Schlao* 
heit. Da begegnet er einem Manne, der sieh für einen Tea- 
fclaküntitler ausgiebt, und dem- alten, häaslichen Bauer weisB- 
maeht, dass er sich verjüngen könne, wenn er in eine Büchse 
blase, die er ihm vorhält. Der Alte, der seiner jungen Frau 
gefallen will, thut es, und giebt dem Fremden aus Dankbar- 
keit seine ganze Börse. Anstatt jünger und schöner gewor- 

') Es ist gleichbedeutend mit klufl, das für Stadtviertel noch in 
Gebrauch iet, und kommt von klievcn (epalten). 

') Üie ibrigen Stücke heissen : Die sotteraie van Lippijn, Die beie, 
Drie daghe bere, Die truwante, Rubben. 



VI II. Lyrische und dramatische Poesie. 311 

den zu sein^ ist er so schwarz wie ein Mohr. Als er zu Hause 
ankommt; ruft er seine Frau^ um -ihn zu bewundern : er habe 
sich in einem Jugendbrunnen gebadet. — ^Wie findest Du 
mich? Na^ meine Schönheit hat mich aber auch das Geld für 
unsere Kuh gekostet." Als er die Wahrheit vernimmt, ist er 
ganz niedergeschlagen. Sein Nachbar giebt ihm den Rath, 
sich mit dem ätzenden Nass zu waschen, das Jeder zur Hand 
hat. Dann kommen die Vorwürfe der Frau, die ihn nicht 
mehr ins Haus lassen wiU. — „Ach geh doch," sagt der Mann, 
„ich habe auch nicht so viel Lärm gemacht, als Du mit Bru- 
der Lollaart das Geld für unsere Blässe durchgebracht hast, 
während ich noch viel ärgere Dinge von Euch gesehen habe." 
Diese ärgeren Dinge werden nun weitläufig auseinander- 
gesetzt. Der Schluss ist, dass ihm die Frau mit Schlägen den 
Mund stopft. 

Ich füge noch eine kurze Uebersicht des Rubben bei, 
weil sich diese Posse in späteren Bearbeitungen noch Jahr- 
hunderte lang auf der Bühne erhalten hat. 

Ein Bauer beklagt sich, dass er erst seit drei Monaten 
verheirathet sei, und dass ihm doch schon seine Frau einen 
Nachkommen geschenkt habe. Als er darüber mit seinem 
Schwiegervater spricht, rechnet ihm dieser vor, dass er ganz 
Unrecht habe, sich zu beimruhigen. Er müsse die drei Monate 
seiner Freierei rechnen, und dann die Nächte seiner Ehe, 
die wiederum' drei Monate ausmachten. Das giebt zusammen 
neun. Und der Narr fühlt sich sehr glücklich, dass er so 
gut imterrichtet ist. 

Man kann wohl sagen, dass der Inhalt dieser Possen 
nicht sehr fein ist ; aber hat man wohl das Recht, sich darüber 
zu ärgern und sie deshalb zu verurtheilen? In unserer Zeit 
würden sie schwerUch auf die Bühne passen , weil sie gegen 
die Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts streiten, weil 
dasselbe feineren Scherz und gesitteteren Ton verlangt; aber 
zur richtigen Beurtheilung dieser Produkte früherer Zeiten ver- 
Uere man nicht aus den Augen, dass Feinheit und Reinheit 
keine Eigenschaften des Lustspiels an und für sich sind, sondern 
Anforderungen, welche von dem Bildungsgrad der Zuschauer 
und Schriftsteller gemacht werden. 

Die verhältnissmässige Rohheit wird reichlich vergütet durch 
die geistreichen EinfaUe, die frohe Laune, die sich in den 



312 yilT. Lyrisch» uiiil dramaüiche Poeiie. 

übermätbigen Aeueserungen kimd thut; durch die Wahrheit 
jener Sittenschildenrngen aus* dem wirklichen Leben, in denen 
flie ^Titur wie auf frischer That ertappt ist. 

Üsrgleichen Possen waren das natürliche Produkt einer 
Zoii und eines Volkes, das sich stets selbst beobachtete, und 
(hiri ,ü;cneigt war, seine Fehler mehr wie Tborheiten als wie 
Tncl^ünden zu betrachten. Die Wirklichkeit lieferte die wun- 
(1< [Karsten Kontraste, und diese sind natürHch komisch. Bei 
•li.')ii Sinne fiir Plastik, der unter dem Volke bestand, musste 
d'uM wohl zu sichtbarer Darstellung, zur Dramatisirung führen. 

Ki war also kein Wunder, dass hier das Lustspiel, die 
l'oNBe entstand, die ganz im Leben und der Wirklichkeit 
wurzelt, und viel mehr die Gabe der Beobachtung und leichter 
Lcijvnganschauung fordert, als Phantasie und'idealen Schwung, 
■vvclibe hier zu Lande niemals einheimisch gewesen sind. 

Die Posse war auch vorzu^weise national, und hat in 
Nord -Niederland noch üppiger, als im Süden fortgelebt, 
oL<rli>ich sie sich niemals zu dem höheren Lustspiele entwickelt 
hat. Die Gründe sind nicht i^eit zu suchen. Während seit 
drill Ende des sechzehnten Jahrhunderts das literarische 
Lcbon in Süd-Niederland für geraume Zeit unterdrückt wurde, 
ecbeii wir im Norden das Volksclement in seiner Entwickelung 
durch die vornehme Klassicität und durch die daraus ent- 
stiiiiileae oberäS«hliche Würde gehemmt, die vor jeder Ge- 
liilijsäusserung zurückbebt. Die höhereu Stände schlagen einen 
Wf-^ ein, auf dem ihnen das Volk unmöghch folgen konnte. 
Dadurch wurde die Pflege und. Veredelung der Posse abge- 
schnitten. 

Ob die Posse eine Zeitlang geschlafen habe, ist schwer 
zu entscheiden; sicher ist es aber, dass man während 
langer Zeit ihre Geschichte nicht verfolgen kann. Die 
Zeiten werden ernster und die Tagesfragen tiefsinniger; 
bald verschwand das frohe Lachen fiir lange Zeit von nieder- 
läiidisthen Lippen. Ja selbst das ernste weltliche Drama 
stiu.int vor den Augen der Rederijker, die das folgende Zeit- 
alter beherrschen, keine Gnade gefandeu zuhaben; es schliessen 
sich diese vielmehr an das geistliche Drama an, aut welches 
wir jetzt die Auünerksamkeit richten müssen. 

154. Die geistlichen Mysterien begannen, wie wir sahen, 
tu ilur Kirche. Noch lange Zeit wurden sie daselbst auf- 



VIII. Ljndsche und dramatische Poesie. 313 

gefuhrt. 1401 spielten die ;,ghesellen" im Haag ,^ der Kerken" 
„ons Heren verrisenisse" (Auferstehung) ; 1418 wird eine Vor- 
stellung des ,,Spel van Herodes" im Dome zu Utrecht er- 
wähnt; und noch 1498 wurde in der Kirche zuDelft ein ;,8pel 
van de drie coningen" aufgeführt; das in einer alten Auf- 
zeichnung folgendermassen beschrieben wird: 

„ Upten sondach nae dertienendach nader Vesperen te 
drie uren, soe werde hier gespeelt een spul van de priesters, 
die tot verschyden doeren der kercken te pairde inne quamen 
rijden, elex met zijn gheselscap vergaderende in 't midden 
der kercken ; ende upten gi'oeten orgel waren engelen singende 
gloria in excelsis, ende benede lagen die harders ende 
speelden; ende daer quam een sterre scietende van after wt 
die kercke nae thoech outair toe, ende bleef dair staen, wij- 
sende die drie coninghen den nieuwen gheboren coninck^ 
twelck ghemaect was mit levendighe persoenen upten hoghe 
outair^ dair dese coninghen eensdeels sprekendC; ende eens- 
deels singhende hair offerhanden deden; ende dair was alsoe 
veel volcx inder kercken beneden ende boven, datter nye zoe 
veel volcx inder kercken gesien en was." 

Aber bei grösserem Umfange und einer grösseren Anzahl 
Personen wurde die Darstellung in der Barche unmöglich: sie 
wurde auf den Markt verlegt. Eine solche ausfuhrliche Hy- 
sterie, aus der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, ist uns 
grösstentheils erhalten geblieben, obgleich nur in einem im- 
reinen, nach dem Hochdeutschen übergehenden Dialekte, wie 
er in Limburg gesprochen wurde. 

Das Stück beginnt mit der Schöpfung der Welt. Nach- 
dem sich Gott zu erkennen gegeben hat, heisst es: „hier 
maket onse Here dat eerste dat was: hemel ende erde." Wie 
dies dargestellt wurde, ist schwer zu errathen. Darauf folgt 
ein Gloria in excelsis von den Engeln gesungen, und 
dann Lucifers Fall. Vom Himmel kommt man nun auf die 
Erde. Adam und Eva im Paradiese; der Sündenfall. Als 
sie aus dem Paradiese vertrieben sind, fragt der Herr die 
„Ontfermhertichheit", ob eine Möglichkeit bestehe, dass der 
Verbannte wieder in seinen Wohnplatz zurückkehren könne? 
Sie giebt Gott den Rath, seine Arme zu öffiien und sich vä- 
terlich über Adam's Kinder zu erbarmen. „ Gerechticheit ", 
Gottes zweite Tochter, will indess nur dann Erbarmen haben, 



I 



314 VIII. Lfriiche und dnunstiiche Poeüe. 

wenn ein Kind, von einer Jungfrau geboren, fllr Adam die 
Strafe auf sich nähme. 

Darauf folgen auf Eraucben der „Vrouw Eccletue" die 
I'i-u}^liG2eiangen über den Messias von Bileam, Jesaias und 
Virgil »1b Einleitung zu der Geschicbte Jesu, die dann in ver- 
Bchicdeoen Bildern dargestellt wird. 

l^ie Verkündigung Maria; danach wünscht Ecclesia der 
Jiuitji'rsu Olück als „rose alre wiven", aus der der Erlöser 
tier .Alensclien geboren werden boU, Der Wecbselgesang der 
Hirtiii; die drei Könige, vom Sterne geleitet. Die Könige 
vcjr Herodes; Darbringung ihres Opfers zu Bethlehem. Die 
Fliu-Jit nach Egypten. Der Kindermord. Rückkehr aas 
Egyptea. Femer sehr ausführlich die bekanntesten Scenen 
aus dem Leben Jesu bis zu der Nacht in Oethsemaue, womit 
die Haadschrift abbricht. 

Sicher lief die G-eschichte bis zu Christi Himmelfahrt, und 
violliiclit selbst bis zum jüngsten Gerichte. 

Mau würde kaum glauben, dass ein so ausgedehntes 
.Stück für die Aufführung bestinmit war, wenn wir nicht 
wüssten, dass ein solches Spiel oft Tage lang dauerte. Und 
aucli diese Hysterie ist allem Anscheine nach nicht nur in 
TcrBfhiedene Abschnitte eingetheilt, sondern auch in grös- 
sere, von einander unabhängige Stücke zerlegt, die ganz ge- 
wiss nicht gleich auf einander folgen konnten, und zwischen 
deren Aufführung wahrscheinlich ein ganzer Tag lag. 

Viel Kunst darf man in diesem Stücke nicht suchen ; selbst 
(las eigentliche dramatische Element fehlt demselben: die 
Handluag wird nicht durch Gemütbszustände oder den Cha- 
raktei' der handelnden Personen bestimmt Wir haben es 
hier vielmehr mit einer epischen Schilderung zu thun; nur 
mit dem Unterschiede, dass der Inhalt nicht erzählt, sondern 
als wirklich geschehend dargestellt wird. 

-Mag aber auch der Kunstwerth des Stückes gering sein, 
die Idee, welche demselben zu Grunde hegt, und welche die 
Verlfindungskette zwischen den verschiedenen Scenen bildet 
ist gros» und erhaben. Sie ist nichts Geringeres, als die Er- 
lömiiig der Menschen aus dem Elende, welches ihnen der eigne 
FaU zugezogen hat. Der Eindruck des Stückes musste also auch 
bei seiner mangelhaften Einrichtung auf ein sinnliches , aber 
tict'gUiubiges Volk sehr gross sein; lun so mehr, da dies Drama 



VIII. Lyrische und dramatische Poesie. 315 

frei von den komisehen Einschaltungen ist^ die anderswo vor- 
kommen^ und gewiss den ernsten ^ erhabenen Eindruck einer 
solchen Mysterie abschwächt. 

155. Im Verhältniss zu der Entwickelung der bürgerUchen 
Gesellschaft und der Regelung ihrer Verhältnisse auf festerer 
Grundliage wurden solche Darstellungen, welche Tage nach ein- 
ander die Bevölkerung aus ihrer gewohnten Arbeit rissen, nach 
und nach unmöglich. Man zögerte deshalb auch nicht, sie 
ganz weigzulassen. Da man jedoch nicht gleich etwas Neues 
hatte, um es an Stelle der allgemein beliebten Mysterienspiele 
zu setzen, so theilte man einfach die Stücke, bearbeitete 
diese Theile, xmd führte sie in langen Pausen auf; oft lag ein 
ganzes Jahr dazwischen. Wir haben ein Beispiel davon in 
dem Stücke Die eerste blischap (Freude) van Maria^ 
das wahrscheinlich den 24. Mai 1444 zum ersten Male auf dem 
Grand-Sablon in Brüssel aufgeführt wurde. Die erste Freude 
der heiligen Jxmgfirau war die Verkündigung des Engels, das» 
aus ihr der Weltheiland geboren werden sollte. Die Zahl der 
ihr zugeschriebenen Freuden war, wie man weiss, sieben: Im 
Prolog und Epilog des Stückes wird mitgetheilt, dass im Auf- 
trage der Stadt jedes Jahr eine andere dargestellt werden 
sollte. 

In diesem ersten Stücke wurde indess nicht nur die An- 
kündigung der Erlösung dargestellt, sondern auch der Grund 
derselben in des Menschen Sündenfall. Und das beweist ge- 
rade, wie wir es mit dem bearbeiteten Theile eines grösseren 
Ganzen zu thun haben. 

Die erste Scene versetzt uns in Lucifers Keich. Nach 
dem Engelfall räth der (personifizirte) „Nijt", sich an den 
Menschen zu rächen, und überredet die Schlange, die auch 
sprechend eingeführt wird, ihr dazu zu verhelfen. Die Hand- 
limg wird dann ins Paradies verlegt: das erste Menschenpaar 
isst von der verbotenen Frucht, darauf tritt Gott selbst auf 
und fordert Bechenschaft; von ihnen. Beide erscheinen nun 
„met enen blade gedect", woraus man wohl schliessen kann, 
dass sie in der vorhergehenden Scene ganz nackt erschienen, 
welche naive Darstellung uns auch aus anderen Stellen be- 
kannt ist. 

Als sie aus dem Paradiese verbannt sind, jauchzt ,;Nijt^^, 
dass nun alle Menschen sterben und eine Beute der Hölle 



316 yiU. Lyrische und dramatische Poesie. 

werden müssen. Der verbannte Adam hoflft jedoch schon auf 
Gottes Gnade. 

Der folgende Akt zeigt uns Adam und seine Kinder in 
der Hölle: hundert Jahre haben sie schon dort mit den übri- 
gen ,, Vätern" zugebracht ^ unter welchen David, Hieb und 
Jesaias sprechend eingeführt werden. Der letztere verweist 
auf seine eigene Prophezeiimg der Erlösung durch ein Kind^ 
von einer Jungfrau geboren. 

Daraufgehen wir wieder auf die Erde, wo ^^itter-Ellende", 
„op crucken, ermelic gecleet", trauert, sich an „Innich-Gebet" 
wendet, und sie um Hülfe fleht, um die „alten Väter" aus der 
Höllenpein zu erlösen: Innich- Gebet bohrt ein Loch in den 
Himmel, durch welches sie eindringt. Sie beredet „Ontferm- 
herticheit", bei Gott fiir die Unglücklichen aufzutreten. Nach 
einer Vertheidigimgsrede , welche diese Tochter Gottes, ihrer 
Schwester „Gerechticheit" und „de Waerheit" führt, geht Gott 
mit seinem Sohne und dem heiligen Geiste zu Käthe, und es wird 
beschlossen, dass der Sohn die Menschheit durch seinen Tod 
erlösen solle. Da erscheint der Friede, und küsst dankbar 
die Gerechtigkeit, welche damit zufrieden gestellt ist. Der Akt 
schliesst mit einem lyrischen Wechselgesange zwischen Gerech- 
tigkeit, Wahrheit und Barmherzigkeit. 

Was nun folgt, kann hier wegbleiben. Es war uns nur 
darum zu thim, darzulegen, wie bei demselben Gegenstande 
die Zahl der sinnbildlichen Personen zunimmt und eine grös- 
sere RoUe im Stücke spielt. Dadurch geht das mysterie- 
8 p e 1 schon beinahe ganz in ein sinne-spel über. 

Das letzte geistliche Drama, welches gewissermassen auf 
der äussersten Grenze steht und das eigentliche Mittelalter 
beschliesst, ist das Spei van den Heiligen Sacramente 
vander Nyeuwerwaert ^) , welches unge&hr 1500 von 
einem gewissen Smeker zu Breda verfertigt, imd im selben 
Jahre daselbst aufgeführt wurde. 

Das Merkwürdige dieses „ speis "* besteht darin, dass es 
den Volkston in das geistliche Drama bringt, indem es Hei- 
liges und Komisches unter einander mischt. Mitten in ernsten 
Scenen treten zwei Teufel auf, welche die Verbindung zwischen 
den sonst wenig zusammenhängenden Theilen herstellen. Diese 



*) Die allein brauchbare Ausgabe ist von Dr. E. Verwijs. 



Vlir. LTrische und dramatiBche Poesie. 317 

komischen Scenen zeugen von des Verfassers Talent, denn 
ohne dieselben wäre das Stück eine Unmöglichkeit. Sie brin- 
gen Leben und Bewegung in dasselbe und verdienen über- 
dies das Lob, dass sie, trotz ihres leichten Tones, doch nie- 
mals die Grenzen überschreiten. 

Indess, wie sehr auch die Verehrer des „Sacra- 
ments" von dem Stücke . erbaut und zugleich belustigt 
sein mögen , so kann man demselben . doch nicht viel 
Kunstwerth zuerkennen. Nur darf man nicht übersehen, 
dass die Teufel, die das grosse Wort darin führen, immer 
noch interessanter sind, als die dürren, kalten, allegorischen 
Figuren, welche kurz darauf die Bühne beherrschten. 

Bei der Betrachtung der Eersten bliscap van Maria 
bemerkten wir schon, wie das, sinne -spei am literarischen 
Horizonte heraufsteigt : bald verdrängt es jede andere drama- 
tische Form. 

Der Name sinne-spel ist leicht zu erklären: sinnen, 
sinnekens nannte man die sinnliche, d. h. för die Sinne 
wahrnehmbare Darstellung, die Personifikation abstrakter 
Eigenschaften und Tugenden. Das Sinnspiel ist ein solches 
Drama, in welchem die zinnekens die Hauptrolle spielen; 
es ist also das dramatische Seitenstück zu der allegorischen 
Erzählung, und sowohl das Eine wie das Andere ist die natür- 
Uche Aeusserung der eigenthümlichen Sichtung der Bürgerschaft. 
Das verständige Element und falscher Greschmack spielen die 
HauptroUe in demselben. Gerade dadurch wurde das Sinnspiel der 
volksthümlichste Ausdruck einer Gesellschaft, die sich wenig 
durch Kunstsinn führen liess, aber doch das Bedürfniss plasti- 
scher Darstellung fühlte; einer Gesellschaft, in welcher grosse 
und neue kirchliche und politische Fragen mehr und mehr in 
den Vordergrund traten, und die allgemeine Aufmerksamkeit 
fesselten. Die Volksmeinung über diese Fragen wurde ausge- 
sprochen, angefeuert und verbreitet durch jene allegorischen 
Darstellimgen, welche die neuen Wahrheiten anschaulich mach- 
ten; sie waren die Vorboten der grossen Umwälzung auf 
kirchlichem und politischem Gebiete. Daher kommt es, dass 
schon kurz nach dem Beginne des folgenden Zeitraums die 
Sinnspiele so allgemein beliebt wurden, dass sie selbst das 
eigentliche, weltliche Drama in den Hintergrund drängten. 

156. Wir haben hiermit das Ende des ersten Zeitraums 



f 



318 VIII. LTTiiclie und dramatische Poesie. 

in der Oeechichte unserer Literatur erreicht. Was unmittelbar 
darauf folgt, ist eine Uebergangsperiode ; eine Periode der 
Gälirung und Vorbereitung, in welcher die Veränderungen, 
welche im sechzehnten Jahrhunderte auf dem Gebiete der Er- 
eigDiase zu Stand kommen sollten, schon auf dem Gebiete des 
Geistis entkeimten. Wir stehen also hier am Ende eines ab- 
geschloBEenen Ganzen, das wohl verdient, noch einmal in sei- 
ner Tot&lität betraditet zu werden. 

Wir haben eine eigenartige, gesellechaftliche Entwickelung 
und Bildimg kennen lernen, die von nun an nicht mehr abzu- 
läugnen ist; und wir haben bemerkt, wie sich dieselbe in 
einer Literatur abspiegelt, die sehr wesentliche Verdienste, 
obgleich auch ihre Schattenseiten au&uweisen hat. 

Auf ihre Schönheiten, ihre ursprünghche Kraft und ihre 
anziehende Naivetät haben wir seiner Zeit hingewiesen; wir 
erinnern nur noch daran, dass wir in den Volksgedichten oft 
nicht nur echt poetische, sondern selbst grossartige Bilder 
trafen, und dass sich auch das Kunstideal nach und nach läu- 
terte, so dass wirkliche Kunstprodukte entstehen konnten, wie 
z. B. der Walewein (siehe S. 144), der Parthenoyeus 
(Ö. 160) und zumal der Reinaert (S. 142), der noch jetzt 
für ein Meisterstück gehalten wird. 

Aber der bleibendste Eindruck ist doch die charakteri- 
sireude Schattenseite der ritterlichen Bildung und Literatur, 
Zuerst ist die Poesie in ihrer höchsten Blüthe nur fllr einen 
kleinen Theil des niederländischen Volkes geschrieben , und 
selbst für den grtissten Theil des Adels war ihre Basis zu 
unnatürlich und zu conventionell. Es wird in ihr nicht 
der mecBchlichen Natur gehuldigt, sondern einem künst- 
lichen, Binem sehr beschränkten und begrenzten Ideale, 
das nicht in der Wirklichkeit wurzelt. Menschenliebe, Va- 
terlandsliebe, HäusUchkeit, Keuschheit und eheliche Treue 
werden Tom ritterlichen Ideale nicht verlangt; das wird aur 
Noth den verachteten Bauern überlassen, Der Edelmann 
musate eich durch höhere Eigenschaften auszeichnen, durch 
Eigenschaften, welche dem gröasten Theil der Menschen 
unerreichbar waren. Er diu-fte im stolzen Hinblick auf seineu 
Namen nur blutige Lorbeeren erjagen; was er seine Ehre 
nannte, muBSte ihm über allen menschlichen Interessen stehen, 
und auf zwecklosen Fahrten musste er seinen Ruhm zu 



VIII. Lyrische und dramatische Poesie. 319 

irermehren streben; eine sinnlose Galanterie, der man den stolzen 
Namen Frauendienst beilegte, reizte die Sinne, Hess aber im 
Allgemeinen das Herz kalt. 

Es war also kein Wunder, dass die so wenig mit der 
menschlichen Natur übereinstimmende Sichtung, wodurch 
uns die Kitterpoesie so kalt lässt, keine Tiefe hatte, auch 
damals nicht in die Seele eingriff und nur äusserliche Formen 
ins Leben rief. Wahre Bildung, wahre SittUchkeit wurden 
dadurch nicht gefördert. Aber andrerseits ist es auch natür- 
Kch, dass die Poesie, welche solchen Idealen nachstrebte, sie 
nicht in Persönlichkeiten voll Griuth imd Leben verwesentlichen 
konnte; dass sie sich auf allgemeine Typen beschränken musste, 
denen aber der echt menschliche, der individuelle Charakter fehlte. 

Es giebt zwar Ausnahmen, aber gerade diese beweisen 
die Allgemeinheit der Regel. Und wenn z. B. der Reinaert 
noch als ein ewiges Zeugnifes von der Kunstempfanglichkeit 
der Vorzeit dasteht, so ist es gerade deshalb, "weil die Helden 
dieser Dichtung in einem ganz anderen Boden wurzeln. 

Was wir jetzt deutlich einsehen, fühlte die niederländische 
Bürgerschaft schon zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts; 
und ihr gebührt die unsterbliche Ehre, gegenüber den aus der 
Fremde aufgenommenen falschen Idealen das nationale Gefühl 
wieder erweckt und das niederländische Selbstbewusstsein ge- 
rettet zu haben. Der jfrauzösische Rxttergeist, die französische 
Galanterie, der französische Leichtsinn waren hier nicht tief 
eingedrungen, wenn das Alles auch eine Zeitlang an den 
Höfen von Brabant und Flandern triumphirte. Als der grös- 
sere Theil der Nation zum Selbstbewusstsein gekommen war, 
fiel diese künstliche Welt zusammen; und gerade weil die 
ritterliche Bildung so wenig national war, konnte es der bür- 
gerlichen Didaktik gelingen, ihre Poesie in so kurzer Zeit zu 
verdrängen. 

Von dieser Zeit an datirt sich eine neue Phase unse- 
rer Entwickelung und Literatur. Erst hat das verständige 
Element ganz und gar die Oberhand, und dabei ist natürlich 
von eigentlicher Kunst keine Rede. Als die Literatur diese 
Richtung aufs Bestimmteste angenommen hatte, zeigte sich eine 
Reaction zum Besten der Poesie; aber die Kunst gewann dabei 
nicht viel; weil es ihren Jüngern eigentlich an einem positi- 
ven Grunde fehlte, von dem Kraft und Wärme ausging. 



320 VIII. Lyrische und dramatische Poesie. 

Ueberdies drückte der bleischwere Mantel der Betrachtung 
und Beweisführung fortwährend auf die Phantasie, bis sie ihn 
nicht mehr von sich werfen konnte. 

Wenn die Kunst neue Lebenskraft erhalten sollte , so 
musste sie aus dem Volke ueu erstehen; aus dem Theile der 
Nation, bei welchem sich die niederländische Natur unge- 
hindert entwickelt, der ihre unverfälschte Eigenartigkeit be- 
wahrt hatte. 

Sie lebt auch neu in den Volkssproken wieder auf, aber 
doch zuerst im Volksdrama. Denn die dramatische Form, welche 
die gesteigerten sinnlichen Forderungen der Zeit ins Leben 
gerufen hatte, und die dem betrachtenden, überredenden Ver- 
stände eben so viel Spielraum Hess, als dem scherzenden und 
spottenden Witze des Volkes, — die sich hier nicht in Be- 
weisen, sondern in lebendigen und aus dem Volke g^riflfenen 
Kunstfiguren und Zixständen äusserte, — diese Form war die 
geeignetste, um das erwünschte Ziel zu erreichen. Man begreift 
jedoch leicht, dass unter solchen Umständen nur das erste 
Samenkorn zum niederländischen Volksdrama gelegt werden 
konnte ; dieses Samenkorn musste erst keimen : die Auffassung 
musste veredelt, die Form gebildet werden. Dies konnte bei 
einer ruhigen Ent Wickelung der Volksgeschi'chte entstehen; aber 
die grossen Ereignisse, welche ungefähr 1500 auf jedem Felde 
eintraten, brachten eine allgemeine Umwälzung hervor, sowohl 
im Reiche der Ideen, als im Reiche der Thatsachen, wodurch 
auch das niederländische Drama in seiner natürlichen Ent- 
wickelung aufgehalten wurde. Denn bald nahm die Bildung 
Niederlands eine solche Wendung, dass sie aller Volkspoesie 
entgegenarbeitete. Welchen Einfluss dies auf die niederlän- 
dische Kunst ausgeübt hat, werden wir ^umal in dem dritten 
Zeitraum imserer literarischen Geschichte sehen, zu welcher 
die Periode der Rederijker den Uebergang bildet. 



IX. 

Die Prosa- 



157. Als wir über die Form unserer mittelalterlichen 
literarischen Produkte sprachen (S. 104 flg.), wiesen wir darauf 
bin, dass die rhythmische Form Kegel, die Prosa nur Ausnahme 
war. Und doch reicht die niederländische Prosa bis zum drei- 
zehnten Jahrhundert zurück ; und wenn man verstehen will, wie 
sie im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert war, was 
sie iix der Feder eines Marnix und Hooft; geworden ist) so 
muss man wohl ihrer frühsten Entwicklung nachspüren, wenn 
die Schriften, aus denen wir uns belehren können, auch nicht 
auf das Gebiet der Kunst gehören. (Vergl. S. 1.) 

Die ältesten uns bekannten Proben mittelniederländischer 
Prosa datiren, wie schon gesagt, aus der Mitte des dreizehn- 
ten Jahrhunderts. Die Urkunden von 1249, 1251 und 1254 *) 
beweisen schon einen ziemlich grossen Grad der Entwicke- 
lung; dass die officiellen Protokollführer ihrer noch nicht 
mächtig waren, lehrt eine Vergleichung mit der vortrefflichen 
Sprache des Reinaert. 

Schon mehr auf literarisches Gebiet gehört die älteste 
Prosaübersetzung der Bibel. Es bestehen verschiedene Aus- 
gaben derselben, von denen die eine etwas mehr, die andere 
etwas weniger enthält; jedoch beschränken sich alle auf das 
alte Testament. Die älteste Ausgabe scheint wohl die zu sein, 
welche man früher, obschon ganz mit Unrecht, Maerlant zu- 
schrieb. *) Es ist schwer, das richtige Alter dieser Ueber- 

*) Bei SeiTÜre, Geschiedenis der Letterk. in het Graaf- 
Bchap yiaanderen, S. 88; Cartuiaiire de St. Bavon, S. 256; 
Mieris, anCharterboek, I, S.271 u.Eünt. Hist. Critica, II, S.654. 

*) Am Besten behandelt von Leendertz in den Navorscher von 
1861 I, S. 337. 

Jonekblo«V8 Q«8cliichte d«r Mied«rUndisehen Liteiatax. Band I. 21 



322 IX. Die Prosa. 

Setzung za bestimmen, sie reicht aber sicher bis ziim Jahre 
1300 xirück. Eine Handschrift derselben ist vom Jahre 1358. 

I >ii>se Bibel hat einen ziemlich beschränkten Inhalt. Der 
crstf Tlioil umfasst den Pentateuch, Josua, die Richter, die 
vier Bücher der Könige. Diese Bücher sind nach der Vul- 
gata übeffietzt, zuweilen etwas frei: manchmal ist etwas ah- 
geJtürzt, oder etwas weggelassen, wenn der Uebersetzer 
meinte , es sei für seine Leser nicht nöthig. ') Dagegen fugt 
er zu seiner Ueberselzung eine Menge Zuthaten, welche er der 
Historia Scholastica entlehnt (Vergl. S. 240). Sie en^ 
halten zuweilen Erklärungen oder erbauliche Bemerkungen; 
aber grösstentheils Erzählungen, welche nicht in den Bibeln 
vorkonmien. Einzelne Zusätze stammen aus anderen Quellen. 

Der zweite Theil enthält Tobias, Godolyas, d. i. Jeremias 
44 mit einigen Zusätzen, meistens nach der Vulgata; dann 
die historiechen Hauptstücke aus Daniel. Die ßeschicbte von 
Dariua und Cyrus, meistentheils nach der Historia Scho- 
lasUca; Judith, Esra und Esther. Femer eine Ab- 
schweifung auf Alexander den Grossen, die Gteschichte der 
Makkabäer, die Geschichte von Joachim und Anna, welcher 
die Weissagung wird, dass sie die Jungfrau Maria zur Welt 
bringen werde; endlich handelt es von Herodes, Cäsar und 
August US. 

Das Bach befasst also, wie Leendertz ganz richtig bemerkt, 
den lii atopischen Theil der Bücher des alten Testamentes, 
ergänzt und fortgesetzt bis zum Anfang der historischen 
Bücher des neuen Testamentes. 

Die Uebersetzung , die allem Anscheine nach in Holland 
verfertigt wurde, ist nicht immer gut gelungen, da der lieber 
Setzer im Lateinischen nicht genug bewandert war. Aber 
seine Sprache ist klar und sein Styl ist fliessend, seihst so, 
daas in.in sich kaum vorstellen kann, ein Prosawerk von so 
hohem Alter vor sich zu haben. 

Diese Bibelübersetzung erfuhr einige Veränderungen und 
erbielt Zusätze; aber sie ist doch im Allgemeinen dieselbf^ 
■welche im Jahre 1477 zu Delft hei Jakob Jakobs -soen und 



') So sagt er 2. B. am Ende vonExod. XXI: „Oec geboet Ged voel 
vrcdUKle dinge vander Joden wet, die al niet eu dienen; daecom laet 
icoe after bliren. 



IX. Die Prosa. 323 

IMauricius Yemants - soen von Middelburg „ter eeren Gods, 
ende tot stichticheit ende Jeerynghe der Kerstenghelovighen 
menschen" gedruckt wurde. 

Dieser Bibel schliesst sich ein Werk an, das unter den 
i^^amen Het leven van Jezus bekannt ist, und voi^ 
dem Groninger Professor Meijer herausgegeben wurde. Es 
ist eine Evangelienharmonie nach der Vulgata aus den 
letzten Jahren des dreizehnten oder den ersten des vierzehnten 
Jahrhunderts: eine Handschrift derselben wurde 1332 ge- 
schrieben. Dieses Werk stammt allem Anscheine nach von 
Südniederland; ob es in der Abtei von St. Truyen, wo lange 
JZeit eine Handschrift desselben bewahrt wurde, übersetzt ist, 
wie Meijer nach dem Dialekt des einzigen ihm vor Augen 
gekommenen Manuscriptes annahm, ist sehr zu bezweifeln. 
Die Erzählung fangt mit der Verkündigung von der Empfang- 
niss des Heilands an und geht „tote an dien tide dat hi sendde 
sinen heilighen geest sinen jongheren in hen te blivene ende 
met hen te sine." Das Ganze war von dem Verfasser auf 
Andringen eines Freundes mit vieler Mühe aus den vier Evan- 
gelien zusammengestellt ; und da der Text selbst für den 
gewöhnlichen Leser noch allerlei Schwierigkeiten bot, sq 
suchte er dies durch Zusätze von Glossen und Erklärungen 
zu erleichtern. 

Auch hier haben wir es mit einer einfachen , klaren 
Sprache zu thun, die uns den besten Beweis für die frühe 
Bildung der vlämischen Städter bietet. 

158. Nach der heiligen Schrift kommen zuerst die Werke 
des glückseligen Johannes van ßuysbroek in Betracht. Die- 
ser mystische Schriftsteller wurde um 1294 in ßuysbroek, 
einem brabantschen Dorfe geboren, war erst Kaplan der St. 
G^idulakirche in Brüssel, und gründete in seinen alten Tagen 
das Kloster Groenendael, zwei Meilen von Brüssel, im Walde 
von Soignies, wo er bis zu seinem Tode (1381) Prior war. 
Er schrieb in seiner Muttersprache eine ganze Keihe geistlicher 
Traktate und Predigten, die nicht nur für dieKenntniss unse- 
rer Sprachformen ^ sondern auch der religiösen Mystik seiner 
Zeit höchst merkwürdig sind. ^) Alle diese Schriften, 

*) Vergleiche Willems in dem Belgisch Museum IX, S. 159 
H. flg. und Van Vloten, Verzameling van Nederl. Prozastuk- 
ken, S. 22 u. s. w. 

21* 



324 IX. Die Prosa. 

deren einzelne Aufzählung hier nicht nöthig ist^ sind ausgezeich- 
net durch Kraft und Innigkeit der Sprache und Darstellung f 
durchgängig auch durch Einfachheit ^ obwohl des Verfasser» 
unerschöpfliche Phantasie ihn zuweilen zu Wortspielereien 
verfahrt. Ferner zeichnen sie sich durch fliessenden Styl aus^ 
so dass Ruysbroek mit Recht Anspruch auf den Namen von 
Niederlands bestem Prosaschreiber des Mittelalters hat. 

•SchliessKch sei noch bemerkt, dass wenn auch die christ- 
liche Mystik in seinen Schriften den grössten Platz einnimmt, 
seine Werke sich doch auch nach der praktischen Seite be- 
thätigen, indem er zumal den Geistlichen manchen ernsten Wink 
fiir das Leben gab. Man wird sich nicht darüber wundern, wenn 
man weiss, dass Ruysbroek zu den genauesten Freunden des^ 
berühmten Gerhard Groote gehörte, der oft Wochen und 
Monate im Stift zu Groenendael zubrachte. 

Auch verschiedene Predigtsammlungen liefern manch gute» 
Beispiel altholländischer Prosa. Dr. van Vloten hat einige 
Proben derselben mitgetheilt — in der Regel waren sie un- 
gedruckt — darunter ein Fragment einer Dreikönigspredigt, 
welche in einer Handschrift des vierzehnten Jahrhunderts 
vorkommt, und aus einem Frauenkloster zu Weesp herrührt. 
Ganz mit Recht sagt er von dieser Predigt, ^) dass sie sich 
„durch innige Frömmigkeit, gewählte Sprache und liebliche 
Beredtsamkeit" auszeichne, so dass er sie „vielleicht das schönste 
Prosastück aus unserer ganzen Literatur" nennt. 

Der berühmteste aller niederländischen Prediger war der 
Pater Brugman, aus dem Orden der Franziskaner, der in der 
zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts blühte und 147ä 
starb. Er predigte in Amsterdam, dem Haag, Arnheim; und 
machte solch grossen Eindruck auf die Menge, dass noch 
heute das Sprüchwort gebräuchlich ist: „al kost gij praten als 
Brugman." Von seinen Reden blieb wenig bewahrt: das 
Wenige zeugt aber von der Lebendigkeit, zumal von dem 
Bilderreichthume seines Styls. 

Unter die geistlichen Schriften des vierzehnten Jahrhun- 
derts rechnen wir auch die Geschichte des Ritters Tondalus^ 
nach dem Lateinischen des Vincent von Beauvais übersetzt; 
dazu gehört auch noch Sin t Patricius Vagevuur; über 

den Inhalt dieser Bücher ist schon oben gesprochen wordem 
/ — 

*) S. Versameling van Nederl. Prosastukken, S. 76. 



IX. Die Prosa. 325 

(S. 197.) Die Erzählung von Tondalus wird schon von Jan 
<ie Clerk im Laienspiegel erwähnt, und ßLllt vielleicht in 
das erste Viertel des genannten Jahrhunderts. 

159. Nicht selten kommen unter diesen ältesten Prosa- 
«chriften Lebensbeschreibungen von Heiligen vor. Es ist in- 
dess kaum der Mühe werth, sie alle zu nennen; ich beschränke 
mich auf eine Uebersetzung der Legendensammlung, welche 
Jakob de Voragine zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts 
unter dem Titel Aurea legend a Sanctorum gesammelt 
hat. Die Uebersetzung ist meistens unter dem Namen 
^t Passionael, Somer- en Winterstuck bekannt, und 
datirt wahrscheinlich aus den ersten Jahren des fünfzehnten 
Jahrhunderts. Schon 1478 wurde sie mit einigen Veränderun- 
gen, und nicht selten sogar verstümmelt, in Delfk bei Gerard 
Leeu gedruckt. 

Aus derselben Zeit scheint das sogenannte Vaderboeck 
oder das Leven der Heiligen Vaderen in der Woes- 
tinen zu sein; es ist eine Uebersetzung eines lateinischen 
Buches nach einer griechischen Quelle des H. Hieronymus. 
Auch dieses Werk wurde bald zu wiederholten Malen ge- 
druckt, z. B. 1480, 1498 u. s. w. 

Unter die moralisirenden Schriften, die nicht unerwähnt 
bleiben dürfen, rechnen* wir das Byenboec, eine Uebersetzung 
des Bonum universale de Apibus von Thomas von 
"Cantimpr^, zwischen 1256 und 1263 geschrieben. Der Ver- 
fasser findet in dem Leben der Bienen Anleitung, „den ge- 
menen staet der menschen, alre meest der prelaten ende onder- 
«aten ende besonderlinge hoe men in den cloester sal leven'' 
zu. behandeln. Vielleicht reicht die Uebersetzung bis in 
die zweite Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts zurück: sie 
war sehr populär und gehörte unter die ersten Bücher, die 
hier zu Lande gedruckt wurden (Zwolle 1488). 

Femer nennen wir Des Conincs Somme, nach dem 
im Jahr 1279 im Französischen erschienenen Somme le 
Boy übersetzt von Jan van Rode, „convaers der cartuser 
oerde tot Seelem" in Brabant. Diese Uebersetzung, welche 
unvollendet blieb, wurde 1408 begonnen: etwas später wurde 
«ie von einer anderen Hand beendet, und das Ganze schon 
1478 in Delft gedruckt. Es ist eine ascetische Schrift, deren 
Tendenz, wie auch die Erklärung des etwas undeutlichen 
Titels, in der Einleitung folgendermassen gegeben wird: 



326 IX. Die Prosa. 

• ,,DiBB Coninx summe: ende heet een summe, want veel 
goede materiell te samen vergadert sijn tot eenre summen 
eens reckeliken levens ; ende heet des Coninx summe, want se' 
den Coninc van Vrancrike ghemaeet was; of gheestelike te 
verstaan, so macht des Coninx summe van hemelrijc heeten^ 
want het leert ons hoe wi onse rekeninghe maken suUen teghen 
den groten rekendach, daer men summam summarum voorden: 
groten Coninck brengen moet." 

Qanz mit Reöht wird das Werk von Van Vloten „wegen 
seiner lebendigen Darstellung menschlicher Dinge und wegen: 
der Anschaulichkeit seiner Sprache und seines Inhaltes ge- 
priesen." 

Unter die Rubrik der didaktischen Schriften jener Zeit 
muss auch das Schaakspel gebracht werden; eine Abhand- 
lung über dieses Spiel, mit allerlei Anwendungen auf das: 
tägliche Leben, aus dem Lateinischen von einem gewissen. 
Franconis übersetzt. Dieses Buch giebt in unterhaltender 
und ungekünstelter Sprache eine Darstellung der menschlichen. 
Gesellschaft nach den herrschenden ZeitbegrifFen, mit vielerlei 
fieispielen erläutert. Die älteste Ausgabe ist von 1479. 

160. Schon frühzeitig regte sich hier zu Lande der Sinm 
ifur Rei^ebeschreibungen, und hat bis jetzt fortbestanden. Um. 
demselben zu genügen, erschienen schx)n gegen das Ende des^ 
vierzehnten Jahrhunderts Uebersetzungen der Berichte, weiche- 
einige berühmte Reisende von ihrien Zügen nach dem fernen. 
Osten gegeben hatten. 

In erster Reihe nennen wir dieReis van Tüandeville. 
Sir John de Mandevile war ein Engländer, der im Jahre 1322^ 
eine Reise durch die Türkei, Armenien, die Tartarei, Persien^ 
Syrien, Arabien, Egypten, einen Theil Aethiopiens, Chaldäa^ 
„Amazonien" und Indien unternahm ; von welchen Ländern er 
die wunderbarsten Dinge zu berichten wusste. Er beschreibt: 
selbst Drachen, Grreife, Riesen, Pygmäen, ungeheuerliche 
Menschen ohne Kopf oder mit Hundeköpfen, und was noclt 
Alles mehr! Aber ausser diesem Fabelhaften findet man in 
'seiner Reisebeschreibung auch eine grosseMenge wirklich wissens- 
'werthe Nachrichten über die aufgesuchten Länder und Völker^ 
Durch Beides erhielt sein Buch eine europäische Berühmtheit. Die- 
niederländische Uebersetzung ist fliessend und in sehr klarer 
Sprache geschrieben ; sie wurde schon 1483 in ZwoUe gedruckt» 



IX. Die Prosa. 327 

Die Reise von Mandevile wurde ursprünglich französiscli 
geschrieben, ,,omdat meeste veel van den Heden bet verstaan 
francoys dan latijn"; die letztere Sprache wählte ein anderer 
Schriftsteller, um seine Reiseeindrücke mitzutheilen. Der Ver- 
fasser hiess Johannes de Hese, und war ein mastrichter Geist- 
licher, der seinen Namen von dem limburgischen Dorf Hees 
führte, und 1389 eine Reise nach Palästina und Egypten un- 
ternahm. Sein lateinischer Bericht wurde wahrscheinlich schon 
1398 von einem gewissen utrechter Pater Johann Voet 
ins Dietsche übersetzt. 

Wiewohl diese Beschreibung, eigentlich mehr ein Reise- 
führer, viel kürzer gefasst ist, als die von Mandevile, so 
steht doch im Aufzählen von Wundern Hesius diesem nicht 
nach. Man findet bei ihm die Erwähnung eines Ortes, 
Paradieswurzel genannt, wo drei volle Tage gleich drei Stun- 
den sind, und wo es niemals Nacht wird; von ßinem Berge, 
von dessen Gipfel man die Mauern des Paradieses sieht, oder 
von einer Insel, auf welcher sich das Fegefeuer befindet ; von 
einer andern, die in das Meer versank, als man Feuer darauf 
anzünden wollte; es stellte sich heraus, dass es ein Fisch war; 
ferner liest man von dem Gresange der Sirenen, von Gog und 
Magog, von Menschen mit zwei Gesichtern, und dergleichen 
starke Uebertreibungen mehr. 

Von der Uebersetzung ist nur noch ein grosses Fragment 
erhalten, welches De Vries herausgegeben hat; derselbe hält 
es verfasst „mit fesselnder Einfachheit und Naivetät des Aus- 
drucks , welche die Lektüre sehr unterhaltend machen." Ich 
halte diesen Ausspruch wohl etwas zu schmeichelhaft: einfach 
und klar ist die Sprache wohl, aber der style hach^ des Ueber- 
setzers macht die Lektüre nicht so unterhaltend, als es dem 
ersten Herausgeber erschien. 

Der Schritt auf das Gebiet der Historie ist von hier nicht 
sehr weit. Wir haben nur wenig davon zu vermelden: zuerst 
und hauptsächlich die Chronik von dem sogenannten „Clerk 
nyten laegen landen byder zee", in welchen man, obgleich er 
„ongenoemt" ist, den berühmten Philippus a Leidis zu erken- 
nen geglaubt hat. Das Werk, welches bis 1316 reicht, scheint 
zwischen 1350 und 13n6 vollendet zu sein. Es ist bis auf einige 
Ausnahmen nach Melis Stoke und nach der Chronik von Beka 
zusammengestellt, zumal nach der letzteren; verdient aber 



328 IX. I>i« Prosa. 

wegen der Reinheit der Sprache und des verhältnissmässig 
fliessenden Uebersetzertons unsere Aufinerksamkeit. Es wurde 
1740 von Fr. von Mieris herausgegeben. 

Um 1350 schrieb Jan van der Beke (Beka); ein utrech- 
ter Canonicus^ eine durch Form und Inhalt auggezeichnete 
Chronik der Bischöfe von Utrecht, die durch einen Ungenann- 
ten sicher noch im selben Jahrhundert ins Holländische über- 
setzt wurde. Das Urtheil über diese Uebersetzung stimmt 
beinahe mit dem über das vorige Werk überein. 

Endlich müssen wir auch noch auf die vielen Prosabear- 
beitungen der beliebtesten mittelalterlichen Reimromane hin- 
weisen. Es ist schwer zu bestimmen, wann diese Bearbeitun-^ 
gen begonnen haben, aber wahrscheinlich waren sie im fünf- 
zehnten Jahrhundert schon geschrieben. Es ist unnöthig, 
über diese sogenannten Volksbücher weitläufig zu sprechen^ 
da sie im Vergleich zu den Originalgedichten zu unbedeutend 
sind, um besondere Anziehungskraft fiir uns zu haben. Van 
den Bergh hat eine ausführliche Monographie derselben ge- 
hefert. i) 

Und hiermit nehmen wir Abschied von der niederländischen 
mittelalterlichen Prosa. Wir besitzen viel mehr als das Er- 
wähnte; aber wir meinten, uns auf die Erwähnung der vor- 
nehmsten Produkte dieses Feldes beschränken zu können, um 
zu beweisen, dass die Prosa im sechzehnten Jahrhundorte nicht 
wie vom Himmel herabgefallen kam. Wenn wir eine Geschichte 
der niederländischen Sprache schrieben, anstatt einer Literatur- 
geschichte, so müssten wir wohl diese und noch viele andere 
Prosaschriften mehr auseinandersetzen und vergleichen; hier, 
wo wir eigentlich nur einen Excurs lieferten, war dies un- 
nöthig. Wer später mit der Eutwickelung der niederländi* 
sehen Prosa von den frühesten Zeiten an bekannt werden will, 
den verweisen wir auf die sehr sorgfältige Ausgabe der Ver- 
zameling von Dr. J. van Vloten. 



^) De Nederlandsche Volksromans, eene bijdrage tot de gescbiedems 
onzer letterkunde, von Mr. L. Ph. C. van den Bergh, Amst. 1837. 



Zweites Bach, 

Die Eederijker. 



I. 
Die Kammern von Kethorica. 



161. Der vor uns liegende Zeitraum ist derjenige, in wel- 
chem nach und nach alle niederländischen Provinzen unter 
eine Regierung, unter das Burgundische Haus kamen; ein 
Zeitraum, der sich durch so grossen materiellen Wohlstand 
auszeichnet, dass man sich kaum eine richtige Idee davon 
machen kann; und in welchem zu gleicher Zeit die Wis- 
senschaften, aber vor allen Dingen die plastischen Künste 
in voller Blüthe standen. Es war aber auch vorzugsweise ein 
Zeitraum, in welchen die grossen Entdeckungen und Erfindungen 
fallen, welche der Thätigkeit des menschlichen Geistes einen ganz 
neuen Wirkungskreis öffneten, und dadurch die Vorboten der 
unbeschreiblichen Umwälzungen wurden, welche in kurzer Zeit 
den Zustand Europas so veränderten, dass, während Philipp 
der Erste seinen Scepter über einen mittelalterlichen Staat 
führte, Karl der Fünfte schon in eine ganz andere Ordnung 
der Dinge versetzt war, die ganz und gar der neueren Gre- 
schichte angehört. 

Die unter einem Scepter vereinigten Niederlande umfas- 
sen gegen Ende des Zeitraumes, nach Guicciardini (1560) 
mehr als zwei hundert mit Mauern umgebene Städte, und un- 
gefähr hundert und fünfzig offene Flecken; die wegen ihrer 
j^welgestaetheyt^^ ebenfalls als geschlossene Städte betrachtet 
werden konnten; ferner mehr als 6300 grosse Dörfer, ohne 
die Gehöfte. Und unter den Städten waren einzelne, deren 
Ansehen, Glanz, Reichthum und Entwicklung eine anderswo 
unbekannte Höhe erreicht hatten, wie Brügge, Gent und 
Antwerpen. 

Schiffifahrt und Handel, die Quellen dieses Wohlstandes 



332 I* I^^c Kammern von Rethorica. 

blühten noch reicher, als am Ende des fünfzehnten Jabrhun- 
derts Amerika entdeckt (1492), und andrerseits ein neuer 
Weg nach Ostindien durch die Umschiffung des Kaps der 
guten Hofinung geöffnet wurde (1498). Dadurch wurde auch 
der Handel verlegt, was sowohl auf den politischen als gesell- 
schaftlichen Zustand des westlichen Europas den grössten Ein- 
fluss ausübte. 

Der Luxus hatte unter dem Schutze und der Anfeuerung 
der zwar mehr pracht- als kunstliebenden burgundischen Für- 
sten auch auf die Künste eine vortheilhafte Rückwirkung, 
zumal auf Baukunst und Malerei. 

Im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert hatte der 
sogenannte gothische Styl die herrlichsten christlichen Bet- 
häuser geschaffen, im fünfzehnten wurde die Bauart noch 
reicher-, an Stelle des einfachen Spitzbogenstyls tritt der so- 
genannte flammende Styl (style flamboyant), der seinen 
Namen von der flammenähnlichen Ornamentik von Rosen und 
Fenstern hatte, und welcher, obgleich Verzierungen und Einzeln- 
heiten schon ein weites Feld einräumend, doch bald von dem 
ailzuüberladenen style fleuri übertroffen wurde. Auch auf 
nicht kirchliche Gebäude sehen wir diese Kunst angewendet: 
1402 wurde das herrliche Stadthaus von Brüssel begonnen, 
1448 das in Löwen, eins der prächtigsten Baudenkmäler des 
späteren Mittelalters. 

Die Kirchen zogen nicht nur durch äussere Pracht die 
Aufmerksamkeit auf sich, sie fesselten auch durch die innere 
Ausschmückung; und dazu trug vor aUen Dingen die auf sehr 
hoher Stufe stehende Malerei das ihrige beL Wir brauchen 
nur die Namen von Hubert und Jan von Eyck zu nennen, 
die sich ungefilhr 1400 in Brügge niederliessen und einen 
völligen Umschwung in ihrer Kunst durch die Kunstvollen- 
dung in der Oelmalerei, welche sie durch die Erfindung von dem 
schnelltrocknenden Firnisse erhielt, zu Stande brachten. Doch 
besteht ihr grosses Verdienst nicht darin, sondern in ihrem 
Talente, in ihrem Sinn ftir die Natur, in der sprechenden 
Darstellung ihrer Figuren, in der Frische der Farben und in 
der Vollendung der Perspektive. Jan von Eyck war der Erste, 
der den byzantinischen Groldgrund mit einem natürlichen Hinter- 
grund vertauschte. Die von beiden Brüdern dargestellten Gegöi- 
stände sind vom mystisch-religiösen Greiste ihrer Zeit durch- 



I. Die Kammern von Rethorica. 333 

druiigen: man denke nur an ihre Anbetung des Lammes^ 
an jenes berühmte Altarwerk mit mehr als dreihundert Rguren^ 
das selbst in seiner Zerstückelung noch die allgemeine Bewun- 
derung hervorruft. 

Von ihren unmittelbaren Schülern nennen wir nur einige: 
Gerhard van der Meire, Rogier van der Weyden, Hans 
Memling. 

Der Letztere, ein späterer Nachfolger, war zugleich ein 
grosser Miniaturmaler. Auch dieser Kunstzweig erfuhr im 
fünfzehnten Jahrhunderte eine durchgreifende Umbildung. 
Die burgundischen Fürsten waren ganz besondere Liebhaber* 
von schönen Handschriften mit farbigen und vergoldeten 
Arabesken, geschmackvollen Zeichnungen und prächtigen 
Miniaturen. Das beweisen noch unsere öffentlichen Bücher- 
Sammlungen. Auch die Glasmalerei und die Kupferstecher- 
kunst standen in Blüthe. 

Die in Belgien heimische Musik wurde endlich in diesem 
Zeiträume von grossen Meistern gepflegt: GuiUaume Dufay, 
Jan Okeghem waren als Tonsetzer in ganz Europa berühmt; 
vielleicht war der Ruhm von des Letzteren Schüler Josquin 
Deprfes noch grösser. 

162. Man sollte meinen, neben der Blüthe der Künste auch 
gleichen Fortschritt auf dem Gebiete der Poesie zu finden, 
aber man findet sich in dieser Ansicht betrogen. In den Produk- 
ten der Rederijker, welche dieses Zeitalter ganz beherrschen^ 
findet man nur selten und ausnahmsweise einen Funken poe- 
tischen Talentes. Die Ursache davon ist nicht schwer nach- 
zuweisen: sie liegt deutlich darin, dass man sich in einem 
Zeiträume des Uebergangs, der Vorbereitung, also auch des 
Schwankens befindet; in einer Zeit des Abbruchs von Allem, 
was durch verjährtes Bestehen wurmstichig geworden war; 
und nicht in einer solchen, in welcher der zxnn vollkommenen 
Bewusstsein entwickelte Zeitgeist sich in adäquaten Formen 
äussert. Nur positive Ideen sind für die Kunst fruchtbar, und 
diese fehlten ganz und gar auf dem Gebiete literarischer Ent- 
wickelung. 

Die Universität von Löwen, 1426 von Herzog Johann IV. 
gestiftet, hatte wohl Gelegenheit zum gründlicheren Studium 
nach der alten scholastischen Methode gegeben, und bildete 
auch einige tüchtige Männer dieser Richtung; aber dies 



334 I- ^^6 Kammern von Rethorica. 

System war an und für sich zu beschränkt^ um auf die Dauer 
zu genügen. 

In gewissem Grade war ein anderer Weg durch die Stif- 
tung des Deventerschen Geert Groote für Nord-Niederland ein- 
geschlagen worden; ich meine die Broederschap van 't 
gemeene leven. 

Auf die von derselben gegründeten Schulen hatte das 
sogenannte Wiederaufleben der Literatur den grössten Einfluss. 

Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken 
im Jahre 1453 siedelten eine Menge griechische Gelehrte mit 
einem Schatze von Handschriften klassischer Schriftsteller 
nach Italien über, wo das Studium des Alterthums immer viel 
Anhänger gehabt hatte, und wo dasselbe nun üppiger als 
je blühte. Das wirkte auf Deutschland ,und die Nieder- 
lande zurück; aus beiden Ländern begaben sich viele Lern- 
begierige nach Italien, und kehrten mit den erworbenen Kennt- 
nissen und vielen hier noch wenig bekannten Büchern wieder 
nach Hause zurück. Darunter gehörte auch der berühmte 
Groninger Rudolf Agricola, der mit seinem Freunde Alexander 
Hegius, dem Rektor der Deventerschen Bruderschule, das 
Studium der Klassiker ausserordentlich beförderte. Deventer 
wurde der literarische Brennpunkt, dessen Strahlen sich über 
Niederland und Deutschland ergossen: in seiner Schule wur- 
den hauptsächUch jene Lehrer gebildet, welche später so gün- 
stig auf den guten Geschmack einwirkten, und mit dem Sinne 
für Quellenstudium auch die neue Methode, welche daraus 
entstehen musste, in weiten Kreisen verbreiteten. 

Die Richtung der sogenannten Poetenschulen, welche bald 
entstanden, und die Wirkung derselben lag nicht in tiefer 
Gelehrsamkeit, oder dem Plan, dieselbe auszubreiten; sondern 
in dem Bestreben, reineren Geschmack und Wahrheitssinn 
auf dem Gebiete der Dialektik in weiteren Kreisen fortzupflan- 
zen; und gerade dadurch wirkten sie unmittelbarer auf das 
Leben ein, bildeten Jünger, und begründeten den Einfluss, 
welchen der Humanismus in den gebildetsten EUassen der 
Gesellschaft bald ausübte. 

Jener Himianismus, aus der breiten Grundlage von Frei- 
sinnigkeit, gesundem Menschenverstände und gutem Geschmacke 
erstanden, war das Reich der wahren Geistesaristokratie, in 
welchem vielleicht dem Selbstgefühle ein zu weiter Raima ge- 



I. Die Kammern von Rethorica. 335 

lassen wurde; aber in welchem man doch auch; müde des 
beschränkten Systems, sich gegen jeden Zwang auf dem Ge- 
biete des Geistes auflehnte. 

So trat die Schule zuerst gegen die scholastische Methode 
auf, welche noch immer auf den Universitäten herrschte; wie 
sie auch später mit der kirchlichen Orthodoxie in Conflict 
kam, welche so oft von ungebildeten, aus den untersten 
Klassen der Gesellschaft hervorgegangenen Eiferern gepredigt 
wurde, welche selbst den Staat ihrer Uebermacht unterwerfen 
wollten. 

Der Kampf zwischen Kirche und Politik, der später in 
Nord-Niederland so lange fortgeführt wurde, war eigentlich eine 
Wirkung von der schnellen imd kräftigen Entwickelung des 
Humanismus im sechzehnten Jahrhundert. 

Die Renaissance hat ohne Zweifel den günstigsten Ein- 
fluss auf Geschmack, Literatur, Künste und allgemeine Ent- 
wickelung ausgeübt; aber sie hatte doch auch ihre Schatten- 
seite, die nach Verlauf eines Jahrhunderts sich inmier mehr 
über Niederland ausbreitete. 

Der eigenthümliche, aristokratische Charakter derselben, 
der noch durch das Bewegen und Zurückversetzen auf klas- 
sischen Boden sich deutlicher ausbildete, und sich in der alten 
aus- und abgelebten Welt ganz verlor, war der wahren 
Nationalbildung nicht förderlich, und schuf zwischen den ver- 
schiedenen Stänien der Gesellschaft eine Kluft, die einerseits 
die humanistische Einseitigkeit vermehrte, andrerseits die 
eigentliche Volksbildung weit zurückdrängte. 

163. Der vorzüglichste Vertreter des Humanismus, der 
mit kräftiger Hand die Scholastik der E3öster und Kloster- 
schulen angriff, war Desiderius Erasmus von Rotterdam 
(1467 — 1536), der in gewissem Sinne ein Schüler des Hegius 
zu nennen ist. 

Erasmus war ein Mann von tiefer Gelehrsamkeit, der 
nicht nur viel für die Kenntniss der griechischen und la- 
teinischen Literatur that, sondern der auch auf gründliche 
Quellenforschung drang. Er bestand u. A. darauf, die Theo- 
logie nicht länger nach Scotus und Thomas von Aquino zu 
Studiren, sondern ihr in den griechischen Kirchenvätern imd 
zumal im neuen Testamente nachzuforschen. 

Wie viel Gutes er auch dadurch gestiftet hat, den gross- 



336 I- ^^ Kaminem von Bethorica. 

ten Ruhm erwarb er sich doch darch sein unvergleichliches 
literarisches Talent; welches er zur Geisselung der vielen 
Thorheiten seiner Zeit anwandte; das populärste seiner Werke 
istdasLob der Thorheit, worin er dieThorheit, welche sich 
in allen menschlichen Verhältnissen geltend macht, auf scharfe 
Weise tadelt. Er iUhrt sie selbst sprechend und ihr eigenes 
Lob verkündigend ein. Moria (AJiooiix) die Tochter des 
PlutuB; auf den glückseligen In&eln geboren, von Trunkenheit 
und Ungebundenheit gepflegt, beherrscht ein mächtiges Reich, 
in welchem die gesellschaftlichen Stände verg^enwärtigt sind 
Sie schildert alle, und verweilt besonders lange bei den Geist- 
lichen, die ihr so viel zu verdanken haben. Sie spottet zumal 
über die Irrwege der theologischen Dialektik, über die Syllo- 
gismen, mit welchen man die Kirche, wie der Atlas den Him- 
mel, stützte; zumal auch über den priesterlichen Eifer in der 
Verdammung Andersdenkender. Dann spricht sie von der 
Unreinheit und Unwissenheit der Mönche, ihren Thorheiten 
und ihrena rohen und streitsüchtigen Predigertone. Auch die 
Bischöfe werden nicht verschont, die sich mehr um Gold, als 
um ihre Seelen bekümmern; selbst die Römische Curie und 
der Papst entgehen nicht der Geissei der Satyre. 

Dies Werk, das allgemein herrschende Ideen in engem 
Rahmen zusammenfasste, und den Geist des Jahrhunderts in 
einer Form ausdrückte, welche allen Anforderungen fortge- 
schrittener Bildung entsprach, hatte einen unbeschreiblichen 
Erfolg. Noch bei Lebzeiten des Verfassers erschienen 27 Auf- 
lagen, und es wurde in alle Sprachen übersetzt. Mehr als 
irgend ein anderes Werk hat es die antiklerikale Richtung 
jener Zeit befestigt. 

164. Die meisten dieser Ideen, inspfem sie zumal die 
Praktik des Lebens berührten, waren hier schon lange ein- 
gebürgert Die Humanisten breiteten nur den Gesichtskreis 
der bürgerlichen Moralisten des vierzehnten Jahrhunderts 
weiter aus, und gaben ihren Beweisen eine breitere und ge- 
diegenere Grundlage. 

Nun muss man nicht glauben, dass diese Lehre., weil sie 
anfänghch in der Sprache der Gelehrten verkündet wurde, 
nur Wenigen bekannt wurde: gerade im Gegentheil! Die 
Kenntniss des Lateinischen war in unglaublich kurzer Zeit 
sehr allgemein geworden, und wo dasselbe noch nicht ver- 



I. Die Kammern von Bethorica. 337 

standen wurde, sprachen die Ueber Setzungen vernehmlich zu 
Allen, welche an den grossen Tagesfragen Interesse hatten. 

Und seit 1423 Laurens Koster zu Haarlem die Buch- 
druckerkunst, d. h. die Kunst, mit beweglichen Lettern zu 
drucken, erfunden hatte, und nachdem dieselbe von- den 
Deutschen in Mainz und Strassburg bald zu grosser Voll- 
kommenheit gebracht war, — seit jener Zeit hatte die all- 
gemeine Entwickelung bei der Bürgerschaft und selbst in den 
niederen Klassen der Gesellschaft Riesenschritte gemacht. 
Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts bezeugt daher 
Guicciardini, nach Kilian's Uebersetzung : „Hier hebben eertijts 
gheweest,. ende syn nu noch veel geleerde mannen, in aJle 
^etenschap ende konsten wel geschict- De gemeyne lieden 
hebben meestendeels wat beginsels in Grammatica; ende können 
Bchier al t'samen, ja ooc de beeren ende lantlieden, ten aller 
minsten lesen ende schrijven. Hebben daerenboven deconste 
ende wetenschap van gemeyne spraken so gemeynsaem, dattet 
te verwonderen is. Want daer synder veel die, hoe wel sy 
Boyt buytens landts en hebben geweest, nochtans können be- 
halven heur moederlijcke tale, veel vreemde talen spreken, 
besonder Fransoys, welc onder hen seer gemeyn is: Veel 
Bpreken Duytsch, Engelsch, Italiaens, en ander vreemde talen.'' 
Und wie viel hier zu Lande gelesen wurde, wird aus dem 
Lobspruche deutlich, welchen derselbe Schriftsteller der be- 
rühmten Buchdruckerei von Plantin zu Antwerpen widmet. ^) 



*) „Wel so lustig ende wonderlijck als alle het voorseyde, is te 
ßien ende t'aenschouwen , onder alle andere cleyne Druckeryen die hier 
zijn, ChristofPel Plantijns des konincklijcken Drückers groote ende beer- 
lijke Druckerye, alleen ende verscheyden ^taende van den Boekwinckel, 
met besondere ende bequame buysi'ngen, welcke Druckerye verhalens 
ende vermarens weerdich is: want tot nu toe geen diergelijcke in 
gantscbe Europa gesien is geweest, nocb gesien en wort, daer^meer 
perssen, meer letteren van allerley soorten, meer printen ende gereed- 
Bchappen, meer bequame ende geschicte mannen, groote loonen winnende 
met wercken, corrigeren ende oversien in alle talen, soo wel Sonderlinge 
als gbemeyne, geen uytgenomen, diemen bet gantsch Cbristenrijck door 
gbebruyct; soo dat al t'samen wel gerekent, in dit buys met synen 
aenbanc ende toebeboorte, meer dan drie bondert bierlantscbe guldens, 
welck meer dan ander balf bondert croonen zijn, alle domelijcke dage 
uytgegeven ende becostiebt werden: welc voorwaer ene edele ende- 
Konincklijke sake*, niet alleen den loffelijken aengever ende meester^ 

Jonclcbloet's Qeschichie der Niederländischen Literatur. Band I. 22 



338 I« ^^6 Kammern von Rhetorica. 

Auch in der eigentlichen Volksliteratur findet man die 
Spuren desselben G-eistes; des Geistes der Opposition, der 
Verurtheilung des Bestehenden, bald auch der Untersuchung 
der grossen Tagesfragen. 

Alle bis jetzt herrschenden Ideen, die sich in den Formen 
von Kirche und Staat verkörpert hatten, wurden mit dem 
grössten Freimuthe der Kritik unterworfen; man fühlt, dass 
sich das Alte überlebt hat, eine neue Weltperiode wird vor- 
bereitet, die Umwälzung auf dem Gebiete des Geistes ist in 
voller Thätigkeit, und aus dieser Gährung wurde bald nachher 
der grosse Umsturz geboren, der auf kirchlichem Gebiete 
Reformation, auf dem Felde der Politik Revolution heisst, und 
in seinem Gefolge der Kampf mit Spanien. 

Ehe nach beiden Richtungen hin eine neue Ordnung der 
Dinge zu Stande gekommen ist, und einen gewissen Grad 
innerer Festigkeit erhalten hat, ist keine reiche Ernte auf 
dem Felde der Poesie zu erwarten. Erst als das Mittelalter 
für die ersten positiven Erscheinungen der neuen Geschichte, die 
durch einen frischen, verjüngten Geist beseelt sind, vollständig 
Platz gemacht hat, erst dann kann wieder von nationaler Kunst 
die Rede sein. Auch das Feld der Poesie musste eine Zeit- 
lang brach liegen, damit später die neuen Blüthen nur desto 
kräftiger hervorbrechen konnten. 

Die Rederijker sind die schwachen Künstler aus dieser 
Uebergangsperiode; ihre Werke haben deshalb mehr eine 
sociale, als- eine literarische Bedeutung. 

Es wird jetzt Zeit, die Vertreter der ersterbenden Kunst 
näher kennen zu lernen. 

165. Dass der Zustand der bürgerlichen Gesellschaft von 
grossem Einfluss auf die Poesie und auf die Poeten sem 
musste, wird Niemand befremden. Wir haben gesehen, wie 
von der Umgestaltung der gesellschaftlichen Einrichtungen auch 
die Kunst stets berührt wurde; beobachten wir auch den 
Einfluss, den die gleiche Ursache auf die Künstler, ausübte. 

So lange der gesellschafkliche Zustand ein rein feudaler 
war, und der Adel zerstreut auf seinen Gütern lebte, und 



maer oock der stadt grootelijk tot profijt ende eere is: want syne 
schoone ende welgestelde wercken worden met groote menicbten de 
gantsche werelt door gevoert ende yerbreydt." 



I. Die Kammern von Kethorica. 339 

Bildung nur in seinen Schlössern oder in den Conventen der 
Geistlichen gefunden wurde, war natürlich die Poesie nur 
eine umherziehende Kunst: durch die Aussicht auf Ehre 
und Gewinn verlockt, reiste der Sprecher von Burg zu Burg, 
von Kloster zu Kloster, um sich daselbst hören zu lassen. 

Als sich das bürgerliche Element zu entwickeln begann, 
sprach der Dichter auch vor reichen Bürgern und endlich selbst 
vor der grossen Menge auf Strasse und Markt. Je nachdem 
sich die Städte ausbreiteten und der Sitz für Bildung wurden, 
je nachdem sie Fürsten und Adelige in ihren Mauern aufnah- 
men : gab auch die Kunst immer mehr ihr herumschwärmendes 
Leben auf; um so mehr, weil die Künstler, welche sich in 
Städten niederliessen, mehr verdienten, als sie auf der „Wan- 
derung^' erringen konnten. 

Als sie einmal in Städten wohnten, kamen natürlich Dichter 
und Sprecher mehr in dauernde Berührung mit einander, und 
dies führte sie ganz von selbst dem Gildewesen entgegen, das 
sie zur Bildung von Vereinen anspornte und nöthigte. 

Der Geist der Association machte sich bei den Völkern 
germanischen Stammes schon sehr früh geltend, und zwar zu- 
erst auf geistlichem Gebiete, wo er zu Verbindungen fiihrte, 
welche gemeinschaftlichen Gottesdienst und gemeinschaftliche 
Liebeswerke bezweckten," und die in England und Frankreich 
schon vom siebenten und achten Jahrhunderte herrühren. Aus 
diesen geistUchen Brüderschaften, wenigstens neben denselben, 
bilden sich später Vereinigungen zu einem weltUchen, einem 
politischen Zwecke: nehmUch zu gegenseitigem Schutze von 
Person und Eigenthum, nicht nur gegen einen allgemeinen 
Feind, sondern auch gegen Unrecht und Unterdrückung. Diese 
V^einigungen hatten die Bildung und Anerkennung von „Ge- 
meinden" zur Folge. 

Wenn man jedoch von Gilden spricht, so versteht man 
darunter weder geistliche, noch politische Vereine, sondern 
eine Association von Leuten desselben bürgerlichen Berufes 
zu einem Körper, mit einer besonderen gesellschaftlichen 
Einrichtung, mit eigenartigen Beziehungen, Pflichten und Li- 
teressen. Das waren die Gilden der Kauf- und Handwerks- 
leute. Die der Kaufleute waren auf grossem Fuss eingerich- 
tet und beschränkten sich nicht auf eine einzelne Stadt 

oder ein einzelnes Land: es waren zuweilen internationale 

22* 



840 ^- ^^ Ksmmern von Rethorics. 

Vereine, Trie die bekannte Hansa. Die eigentlichen Gil- 
den der Genossen desselben Berufs überschritten nicht die 
Gr( iizin der Gemeinde. Sie rühren wahrscheinlich noch aua 
<lem zwölften Jahrhunderte her, aber bekamen, wie man leicht 
beproiten kann, im Verlatif der Zeit grössere Ausbreitung. 
Von da an kommen sie auch in den meisten vlämischen Städ- 
ten vor: schon 1200 finden wir sie in Dordrecht, obwohl ihre 
Blüthezeit in Holland nicht vor die letzten Jahre des drei- 
zeiiiiten Jahrhunderts fällt. 

Nun ist es begreiflich, dass Sprecher und Poeten,- als sie 
(laH iiiiromschweifende Leben aufgeben und sich in Städten 
ni od er lassen mussten, ebenfalls das allgemeine Bedüriniss eines 
nlUiuiin Anschlusses fühlten, wie z. B. auch die Armbrust- und 
H;iT\ilhogen8chutzen eich zur Uebung in Gilden vereinigt hat- 
ten . welche die Art und Weise ihrer Einrichtung und Ver- 
waltung den Hand werker gilden entnahmen. Und dies geschah 
um so eher, da, wie -wir sahen, schon im vierzehnten Jahr- 
hiimlcitc sich die Dichter und Spruchsprecher unter einander 
mit iliTii Namen „ghesellen" begrüssten, wie sie auch in offi- 
ciclli'ii Berichten schon bald „ghesellen vander conste" oder 
„vruiilcn speie" genannt werden. Das weist schon auf ein Ge- 
fühl \'ün Genossenschaft hin, welches den Weg zu einer blei- 
bttirlni Vereinigung anbahnte. Und dazu kam noch die 
zuijihraende Pracht und Ausdehnung der Volksfeste; die 
lialb kirchlichen, halb weltUchen ProzeBsionen, welche durch 
stumme Darstellungen verherrlicht, und oft mit esbatte- ■ 
meuten beschlossen wurden; die oft wiederkehrenden Preis- 
scliii'RseE der Schützengilden, die wiederum durch Schauspiele 
belebt wurden; endlich die Jahresfeate der kirchlichen Schutz- 
patrone von Stadt und Land, welche stets durch die drama- 
tische Aufführung ihrer Legende dem Volke anschaulicher 
gemacht wurden. 

Die dramatische Richtung, welche den Geist der letzten 
Jahre des Mittelalters charakterisirt, und welche zur gemein- 
aclia tätlichen Darstellung von Schauspielen führte, die zusam- 
m<Mi uinstudirt werden mussten, — brachte wiederholte und 
endlicii geregelte Zusammenkünfte von Dichtem und Kunst- 
i'reuiulen mit sich, und so entstanden die literarischen Ver- 
eine, welche unter dem Namen Kamers van Rethorica 
bekaiHit sind und deren Mitglieder Rederijker heissen. 



I. Die Kammern von Bethorica. 341 

166. Der Name dieser Vereine und ihrer Mitglieder ist 
TV^ahrscheinlich mit den Burgundern aus Frankreich zu uns 
gekommen: die Einrichtung selbst scheint sich in den Nieder- 
landen selbstständig entwickelt zu haben. 

Man hat diese Kammern bis in das höchste Alterthum 
zurückfuhren wollen, aber ohne dafür einen Grund angeben 
zu können; selbst da» Jahr 1302, das man für die Kammer von 
IKest, Christus Oogen, angenommen hat, muss in 1502 um- 
geändert werden. ^) Eigentliche Kammern reichen nicht weiter, 
aIs bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurück, und die meisten 
datiren sogar erst aus der zweiten Hälfte desselben. 

Die älteste belgische Kammer scheint das Alpha und 
Omega von Ypern gewesen zu sein; dann folgen: in Brabant 
die Violieren (Levkojen) von Antwerpen, 1400 errichtet, 
und das Buch in Brüssel, 1401. In Flandern besass Kort- 
xijk schon 1427 eine Kammer und Brügge 1428. 

In Nordniederland hält man die middelburgsche Kammer 
für die älteste: sie bestand schon 1430. Dann folgen die von 
Viaardingen 1433, Gouda 1437 und Delft 1487. In Amster- 
dam scheint schon 1496 eine Kammer bestanden zu haben; 
-aber die bekannte, mit dem Wahlspruche InLiebe blühend, 
w^urde erst 1517 gegründet. Haarlem hatte 1503 seine 
Kammer, Utrecht erst 1577. 

Die Kammern entstanden nicht mit einem Male, sie hatten 
Vorläufer. 

Wir sahen, däss hier zu Lande seit dem vierzehnten 

-Jahrhundert der Sinn fiir Schauspieldarstellungen sehr lebendig 

war: dies hatte- zur Folge, dass sich schon ifrühe Vereine für 

kürzere oder längere Zeitdauer bildeten, um diesem Bedür&isse 

zu genügen. 

Die Gesellen, deren wir schon früher Erwähnung 
thaten (S. 304), hiessen später Gesellen van den spele^ 
Gesellen van den esbattemente, Esbattementers, 
oder Gesellen van der edeler conste (von der edlen 
Kunst). 

Zuweilen waren es die jungen Leute aus verschiedenen 



*) Siehe Serrüre, Vaderl. Museum III, S. 117. Auch das Be- 
stehen einer Kammer in Dixmude ums Jahr 1394 ist nicht zu beweisen« 
S. Belg. Museum VI, S. 394. 



342 I« Pie Kammern von Rethorica. 

Stadtvierteln, die sich vereinigten, um an gewissen Festen, 
z. B. zu Fastnacht, Vorstellungen zu geben; wie wir wissen, 
dass es zu Dendermonde im Anfange des fönfzehnten Jahr- 
hunderts von Alters her gebräuchlich war. ^) Dasselbe 
fand 1413 zu Oudenaarde statt bei Gelegenheit der Sakra- 
mentsprocession. *) 

Noch 1467, bei Gelegenheit von KarFs des Kühnen Einzugs 
in Mecheln, führten die „Retorikers van de wijcken^' verschie- 
dene Stücke vor dem Beyaert (dem Stadthause) auf. ^) 

Es ist wahrscheinlich, dass man hierbei nur an sogenannte 
stumme Darstellungen (auf die wir später zurückkommen) zu 
denken hat; aber 1414 führte man zu Oudenaarde auch 
esbattementen auf, womit wahrscheinlich nicht blos tableaux: 
vivants gemeint sind; und doch findet man erst 1441 die 
Ghesellen van der Retorike daselbst genannt, die zu 
dieser Zeit wohl eine feste Verbindung bildeten; denn wir 
sehen, wie sie nach verschiedenen Städten eingeladen werden, 
um ihre esbattementen darzustellen.*) 



^) Man liest in der Stadtrechnung von 1413, angeführt Vad. Mn- 
seum, V., S. 9: 

„Ghegeven . . . groot Vastenavond, ghelijc van ouds esghe- 
coBtumeert, den jongen lieden van der poort, die doen speelden up 
waghene goede solaselike speele omme de goede lieden te verblidene, 
ly wijken , data te wetene de ghesellen van der Scheldstraten , die van 
St. Gillys, de ghesellen van der Savaenstraten , ende de ghesellen van 
np Greffeninghen, elken wyke geschjnct II kannen wijns, co.>te de stoep 
te Lieven van der Sappen ende te Pieter Steems IUI. gr. ende te Jan 
Claus Binsch wijn de stoep VI. gr VI. seh. VIII. d. gr " Ge- 
geben .... Fastnacht, wie es von Alters her der Brauch, den 
jungen Leuten der Stadt, die dort, auf Wagen gute, tröstliche Spiele 
spielten, um die guten Leute zu ergötzen, IV Stadtvierteln, nehmlicli 
den Gesellen von der Scheidestrasse, denen von St. Gilljs, den Gesellen 
von der Savanstrasse und den Gesellen von Greffeningen, jedem Stadt- 
viertel geschenkt II Kannen Wein, kostete die Stoop (ein Weinmas» 
von 4 Schoppen) bei Lieven vander Sappen und bei Peter Steems 
IUI Gr. , und bei Jan Claus der Eheinwein die Stoop VI Gr. , . . VI 
Seh. VIII d. Gr." 

*) S. Belg. Mus. VI., S. 383 ; fünf Stadtviertel nahmen daran TheiL 

^) Gdrard, Recherches historiques concernant les chambres de R^tho- 
rique Stabiles dans les Pays-Bas, Handschrift der K. Bibliothek m 
Haag, I, 113. 

*) Belg. Museum VI. S. 384, 388. 



I. Die Kammern von ßethorica. 343 

Im selben Jahre schenkte der Magistrat. Ton Lier einem 
gewissen Hendrik Bai von Mecheln, der „met zijn gesellen" 
gekommen war, imi das von ihm verfasste Spiel von St. Gom- 
marus darzustellen, zehn Stüber und zwei Stoopen Wein. ^) 
Zwei Jahre später dichtete derselbe Verfasser das Spiel von 
Unsrer lieben Frau; aber dasselbe wurde von den Priestern in 
Lier aufgeführt, während die „gesellen van Antwerpen" bei 
derselben Gelegenheit eine stumme Darstellung „ten omme- 
ganck" gaben, .oder, wie es heisst, „de personagien maekten". *) 

Wir haben es hier mit Mysterien zu thun; aber es 
scheint, dass der Dichter Bai an der Spitze einer festen 
Gesellschaft stand, die sich durch ihre Darstellungen sogar 
einen gewissen Namen errungen hatte. Vielleicht war es eine 
geistliche Verbindung, eine Brüderschaft. Dass sich der- 
gleichen Vereine oder Gilden auf das Darstellen von Myste- 
rien verlegten, ist bekannt, und sie scheinen die Wiege der 
späteren Rederijker gewesen zu sein. 

Im Jahre 1^32 spielte die Barbaragilde zu Herzogen- 
busch bei Gelegenheit des „ommeganck" verschiedene Spiele ; 
z. B. „van de neghen besten (neun Besten) en van de neghen 
quaetsten (Schlechtsten), te peerdemet achtien banieren", und „op 
St. Jans Kerckhoff de legende van St. Jan, item van de seven- 
thien lantsheeren, te peerde." Im selben Jahre führte die St. 
Katharinengilde auf dem Marktplatze die Legende ihrer 
Patronin auf ') In Mecheln wurde oft die Legende von St. 
Reinbald oder das Spiel von Unsrer lieben Frau dargestellt; 
aber es geschah daselbst z. B, in den Jahren 1498, 1531, 
1566 durch die Kammern von Eethorika. *) 

Die zw^i Benennungen bedeuten allem Anscheine nach 
dieselbe Sache. Es ist bekannt, dass kein Gewerbe oder 
Handwerk als freie Korporation bestehen konnte, ohne zugleich 
eine geistliche Brüderschaft zu bilden. Das war eigentlich 



>) Hsch. von G^rard, L, 1, 113-, Belg. Mus. VIII., S. 291. 

•; Belg. Mus. S. 292. Im Jahre 1456 stellten die Steinhauer, welche 
an der Kirche von Lier arbeiteten , und die ,, gesellen van den logien '* 
genannt wurden , bei Gelegenheit des „ommegancks" ( Prozession ) das 
Spiel von der Passion dar. 

8) Hsch. von G^rard, I., 73, 74. 

*) L. c. I, 107, 114. 



344 I« I^ie Kammern von Bethorica. 

das ursprüngliche Band der Vereinigung; und dasselbe gilt 
auch von den Rederijkern. 

In Diest verdankte die älteste Kammer, die Lilie, ihr 
Entstehen den Darstellungen bei Gelegenheit des ,,ommeganck^*, 
beim Feste Unsrer lieben Frauen Hinunelfahrt , und sie er- 
kennt auch 1503, dass ,/t geselcap ende gulde yander Retho- 

rijcken der Lehen van Dieste is geerigeerd ende 

gel'nstitueert ter eeren Onser-Lieven-Vrouwen-Assumptionem 
jaerlyex in derselver Stadt Dieste te eerene ende te ver- 
chierene/' ^) 

Dasselbe ist wahrscheinlich mit allen Kammern der Fall: 
ich verweise z. B. noch auf die unter dem Namen Maria t' 
eeren (Marien zu Ehren) in Gent, und auf Pax vobis zu 
Oudenaarde. *) 

Unter dem Schutze der Kirche aufgewachsen, emancipirten 
sich diese Gesellschaften nach und nach inmier mehr. Obgleich 
sie dort, wo die Reformation nicht gegen sie auftrat, zu 
gleicher Zeit« eine geistUche Bruderschaft bildeten, so wurde 
doch das weltUche Element bald überwiegend, zumal dann, 
als die Poeten grösseren Antheil an den Beschäftigungen 
nahmen. Von dieser Zeit an kann man sagen, dass die eigent- 
lichen Kammern von Rethorica gegründet waren, wenn sie 
auch in ihren Werken ihre Abkunft nie ganz verleugneten. 

167. In kurzer Zeit stieg die Zahl dieser Kanmiern zu 
einer solchen Höhe, dass in der ersten Hälfte des siebzehnten 
Jahrhunderts mehr als zweihundert bekannt waren, zumal in 
Südniederland, wo kaum ein ansehnliches Dorf zu finden war, 
das nicht damit prunken konnte. Li den französischen Pro- 
vinzen blühten sie nicht so üppig, obgleich in DooÄuk, in 
Douai und Atrecht schon früh dergleichen Einrichtungen be- 
standen: in der letzteren Stadt schon vor 1431. 

Die politischen Ereignisse des vielbewegten sechzehnten 
Jahrhunderts hatten übrigens schon grossen Einfluss auf 
Ausbreitung und Blüthe der Kammern gehabt. Alba's Blut- 
rath brachte, zumal in Belgien, die meisten zum Schweigen; 
und erst nach dem Abschlüsse des zwöl^ährigen Waffenstill- 
standes im Jahre 1609 erholten sie sich einigermassen, ob- 



^) Belg. Maseum, III., 98. 

•) Belg. Museum, I., 434; VII, 24. 



T. Die Kammern von Bethorica. 345 

schon sie ihren früheren Glanz nie wieder erreichten. Seit 
dem Anfange des 18. Jahrhunderts erloschen sie immer 
Jtnehr. 

Für Holland dagegen hatte der Kampf mit Spanien 
günstige Folgen. Nach der Uebergabe Antwerpens an Parma 
(1585) zogen eine Anzahl Beigen, die nach dem Ver- 
lassen ihres Vaterlandes erst eine Zeitlang, in der Fremde 
umhergeschwärmt waren, nach Nordniederland, da die Frei- 
heit im Süden für immer verloren schien. Unter ihnen waren 
viele Gelehrte, Literaten, Künstler und Rederijker, wodurch 
die Blüthe der holländischen Kammern mit einem Male sehr 
Äunahm. Aber im Norden bestand damals und besteht noch 
ieute die Vorliebe für Aufzüge und öffentliche Darstellungen 
in viel minderem Grade, als im Süden; und diesem Grunde 
ist es sicher mit zuzuschreiben, dass die Kammern hier nie die 
Blüthe erreicht haben, deren sich Belgien rühmen konnte; 
und dass sie hier auch viel schneller erloschen, als dort. Hier 
hielten sie sich auf den Dörfern am längsten, weil die 
Wirthe, die dabei gute Rechnung machten, sie immer aufs 
Neue anfachten, indem sie die Unkosten ihrer Wettstreite 
trugen. Aber die niedrige Stufe der Entwickelung dieser 
späteren Kammern und der hohe Grad ihrer Ausschweifungen 
Hessen sie endlich zu Anfang des 18. Jahrhunderts gänzlich 
untergehen, während sie in Belgien noch bis zu Ende dieses 
Zeitraumes ihr Leben fristeten. , 

Die Blüthe der Kammern war einestheils die Folge vom 
Schutze der Fürsten und Grossen, die sie nicht allein mit 
Vorrechten beschenkten, sondern zuweilen selbst Mitglieder 
derselben wurden. Philipp der Schöne schenkte der gent- 
schen Kammer Der Balsam, deren Mitglied er war, das 
Wappen; die amsterdamsche In Liebe blühend erhielt 
das ihrige vom Kaiser Karl V.; Herzog Johann von Brabant, 
der Stifter der Löwen'schen Universität, war Mitglied der 
Brüsselschen Kammer, das Buch, und Wilhelm von Oranien 
hielt es nicht unter seiner Würde, Hauptverwalter (Prinz) 
der Antwerpener Vidieren zu sein. 

An der Spitze dieser Kammer finden wir einmal (1510) 
den Herrn von Berchem, dann wieder (1561) den Schöffen 
Melchior Schets, Herrn van Rumst, und Anthoni van Stralen, 
Herrn van Merxem, Bürgermeister der Stadt. 



346 ^* ^^ Kammern ron Kethorica. 

Ebenso ist es bekannt, dass 1581 fönf Bürgermeister und 
acht Schöffen Mitglieder der Kammer In Liebe blühend 
waren; und in den Mitgliederverzeichnissen der Kammer von 
Grammont findet man die Namen Montmorency, de Gavre^ 
Schoorisse, Bouchaute, Hoome, Lannoy, Halewijn, Borluut 
etc., welche wahrscheinlich nur durch Ablasa und andere 
der Vereinigung zugestandene Vorrechte angelockt waren^ 
ihr aber dadurch nichtsdestoweniger grossen Glanz ver- 
liehen. 

168. Die Kammern zeichneten sich natürlich durch ihre 
eigenthümliche Einrichtung aus. Sie wurden in freie und 
unfreie eingetheilt. Die letzteren waren Vereine, die sich^ 
ohne irgend eine Anerkennung oder Sanction, gebil- 
det hatten. Die freien Kammern dagegen waren als 
solche von der Obrigkeit und ihren Schwesterkammern an- 
erkannt. 

Wir besitzen noch einige den Kammern verliehene 
Octroibriefe , worin zugleich ihre Statuten oder Beglementa 
festgestellt waren. Wir melden einige Einzelheiten derselben, 
da sie den Geist der Einrichtung deutlich ausdrücken. 

So mussten die Fonteinisten zu Gent, zufolge des Briefes 
von Schöffen und Rath der Stadt vom 9. Dez. 1448 alle Sonn- 
tage um sieben Uhr die Messe in einer bestimmten Kapelle 
der St. Nikolaikirche hören. Sie bezahlten Eintrittsgeld und 
einen wöchentlichen Beitrag! Das erstere betrug sechzehn 
halbe Stüber, das andere sechs Heller und mindestens zwei 
Schillinge „doodgeld". Ferner waren sie. gewissen Bussen 
unterworfen, z. B. wenn Einer nicht erschien, oder wenn die 
Ordnung der Versammlungen gestört wurde, oder wenn Einer 
den Anderen mit Worten beleidigte, oder wenn Einer Böses 
von Frauen sprach. 

Besondere Artikel regelten den Namen, das. Wappen^ 
die Devise und Verwaltung der Vereinigung; wieder 
andere die eigentliche Wirksamkeit der Gildegenossen. Ueber 
beide Punkte werden wir später sprechen. 

Endlich hatten die Mitglieder ein Unterscheidungs- 
zeichen. Sie waren verpflichtet, sich alle zwei Jahre ein 
„caproen" (Männermütze, mit langen, an den Schultern herab- 
hängenden Enden. Fr. Chaperon) machen zu lassen mit der 



I. Die Kammern von Retborica. 347 

Devise der Kammer und in der von den Verwaltern ange-- 
wiesenen Farbe. ^) 

Man gelobte beim Eintritt als Mitglied diesen Artikeln 
„by trouwen ende eeren^' (bei Treue und Ehre) nachzu- 
kommen. 2) 

In den Statuten der Kammer von Veere, welche 1530 
von Adolf von Burgund, dem Herrn jenes Ortes, neu organisirt 
wurde, kommen hauptsächlich dieselben Bestimmungen vorf 
aber sie enthalten auch noch viele Einzelnheiten. Ich lenke 
die Aufmerksamkeit auf zwei derselben. 

Im Bezug auf die Annahme eines neuen Mitgliedes heisst 
es: „zoe wien belieft int vorseide broederschap te comene, die 
sal den prince ofte dekens bidden, oft doen bidden, onmae int ge- 
selschap te mögen worden ontfangen ; ende dan sal die prince oft 
dekens vragen den medebroeders daar present sijnde, oft den 
versoeker bequaem is am ontfangen te mögen worden. Indien sij 
hem ontfangen willen zoo sal men hem de Carte lesen, op dat 
wete waer voor hij hem wachten sal. Ock moet hij belooven 
ende zweeren op 't tanneel, te honden de puncten ende arti- 
culen hiema volgende."^) 

Augenfällig ist es, dass die Mitglieder in arbeitende und 
nicht arbeitende eingetheilt werden: die ersteren heissen „de 
gezworen, dat zijn die nut zijn om speien." Sie bezahlten nur 
die Hälfte des Geldbeitrags, den die entrichten mussten^ 
die „nyet nut om speien" waren. Die Ersteren waren auch frei 
von allen Schützendiensten. *) 



^) Die Mitglieder der Genf sehen souveränen Kammer Der Balsam 
trugen die ,,bIoeme der Baisemen op die rechter scoudre ende rechter 
burst". 

^) Siehe da^ Stück bei Blommaert, Geschiedenis der Rhetorykkamer 
de Fonteine te Gent, S. 98 flgde. 

^) Wem es beliebt , in die genannte Bruderschaft zu kommen , der 
■oll den Prinz oder die Zunftmeister bitten oder bitten lassen , in die 
Gesellschaft aufgenommen zu werden; und dann soll der Prinz oder die 
Zunftmeister die gegenwärtigen Mitbrüder fragen, ob der Bittsteller ge- 
eignet sei , aufgenommen zu werden. Wenn sie ihn empfangen wollen^ 
so soll man ihm die Karte lesen, um zu wissen, wovor er sich zu hüten 
habe. Auch muss er auf das Wappen geloben und schwören, die nach- 
folgenden Punkte und Regeln zu halten. 

') Siehe den Brief am Schlüsse von Kop's Schets eener Ge- 



348 I* I^ie Kammern von Rethoricft. 

Nicht nur zu Veere, sondern beinahe überall wurde eine 
jährliche Mahlzeit gehalten. 

169. Ich führe einige Besonderheiten im Bezug auf die 
äussere Einrichtung an. 

Die Rederijker versammelten sich gewöhnlich in einer 
durch die städtische Verwaltung angewiesenen ,,kamer'', wo- 
selbst während der Zusammenkünfte das Wappen des Vereins 
aushing. Jede Kammer hatte nehmlich ein eigenes Wappen, 
dem sie ihren Namen entlehnte, und unterschied sich von 
den anderen durch einen Spruch oder eine Devise. 

Das Wappen, auch „tanneel^' oder „kamer-merk^^ genannt, 
war ein rautenförmiges Wappenschild, auf welchem eine sym- 
bolische Darstellung gemalt war; in der obern Ecke des 
Schildes oder des umgebenden Rahmens prangte gewöhnlich 
das Wappen des Soüverains, in den andern Ecken die Wappen 
des Ortes, wohin die Kammer gehörte, und ihres „Prinsen^^. 
Die Malerei dieser Wappen wurde sehr sorgfaltig ausgeführt, 
bei den Festen wurden regelmässig Prei|[e für das am Besten 
gemalte ausgesetzt. 

Hier einige Beispiele dieser Wappen: 

Die brüggesche Kanuner Der Heilige Geist führte in 
ihrem Schüde ein Herz, in welchem sich eine von Wolken 
umgebene Taube befand, und rings herum leuchtete ein 
Strahlenkranz. Es führte den Spruch: Mijn werck es 
hemelic. (Mein Werk ist himmlisch). 

Die älteste Kanuner von Ypern hatte in ihrem Wappen 
eine Frau, welche die Rethorica vorstellte: darüber die sym- 
bolische Darstellung der Dreieinigkeit, unter derselben ein 
Band mit den Buchstaben ^ & ß, das Ganze von einem 
Strahlenkranze umgeben mit dem Spruche: spirat ubi vult, 
d. h. (der Geist) weht, wo er will. ^ 

Die Brüsselsche Kammer das Buch: Gott den Vater, 
der das Buch mit den sieben Siegeln und das Lamm auf 
seinen Knieen hält; er ist umgeben von Aposteln und Prophe- 



Bchiedcnis der Bederijkere, im zweiten Theil der 4® Werke der 
Leidenschen GeseÜBchaft, S. 331 u. flgde. 

Ich verweise auch noch auf das Privilegium und die Statuten der 
Kammer von Hoogstraten, vom Jahre 1534, im Belg. Museum, VIL, 
377; von der Gent'schen Kammer Maria t'eeren, vom Jahre 1478, 
Belg. Mus. I., 434 flgde. etc. 



I. Die Kammern von Rethorica. 349 

ten, welche „Heilig, heilig" etc. singen; mit der Devise: Om 
beters wille. 

Die berühmte Amsterdamsche Kammer de Eglentier 
(der Eosenbaum): Christus auf einem wilden Kosenstrauche 
ausgestreckt, der in der Form eines Kreuzes wächst, mit der 
aus Psalm 1 entlehnten Randschrift: „Wie ein Baum an den 
Wasserbächen, so sind die Frommen", und der Spruch: In 
Liebe blühend. 

Zuweilen enthält das Wappen einen wirklichen Rebus: 
Die Kammer der Barbaristen zu Kortrijk führte St. Barbara^ 
welche im linken Arme einen Thurm xind in der rechten Hand 
einen Kornhalm trug. Rundherum sieht man: oben Gott 
den Vater ; in der linken Ecke einen Fuss (voet), in der rech- 
ten eine Violine (veel), darunter zwei Narrenköpfe, daraus 
sollte man den Spruch lesen: Godt voedt veel zotten. 
(Gott nährt viele Thoren). 

Die Kammern wurden von Vorstehern und Zunftmeistern 
verwaltet : über dem ersten Vorsteher stand eine Art Schirm- 
herr oder Ehren Vorsitzer, der zuweilen Kaiser, meistens 
aber Prinz hiess. Die Seele der Kammer war der Fak- 
tor, der das Amt hatte, im Namen der Kammer in Versen 
zu sprechen, der ^uch am Meisten an ihren Theaterstücken 
und Darstellungen betheiligt war, und dem die RoUenverthei- 
lung oblag. 

Zu dem Personale gehörte ferner der Narr und der Knabe 
oder Bote, welcher u. A. auch die Kammern anderer Städte 
und Provinzen zum Besuche der Feste einladen musste. • 

170. Ueber die Art und Weise, wie sich die Klammern 
unter einander erkannten, ist nicht viel mit Sicherheit zu 
sagen; wir wissen nur, dass man, um in die Genossenschaft 
aufgenommen zu werden, ausser dem Diploma der Obrigkeit 
auch einen Taufbrief von der Hauptkammer der Provinz 
aufweisen musste. Die Taufe bestand wahrscheinlich in dem 
Bekanntmachen von Spruch und Wappen der neuen Gilde. 

Als solche Hauptkammern treten auf: die Fonteine 
(Springbrunnen) zu Gent, das Alpha und Omega von 
Ypern, der H. Geist von Brügge, während die Goldblume 
von St. Nikolas sich Hauptkammer vom Lande von Waa» 
(ein Theil von Westflandern) nannte. 

In Holland dagegen scheint die Taufe in einer Zusammen- 



^0 ^' ^^0 Kammern von Reihorica. 

kunft verschiedener Eammem ertheilt worden zu sein, ohne 
dass hier von einer Hauptkammer die Rede ist. 

Schon sehr bald wollte man durch eine centralisirte Ver- 
waltung Einheit in die Kammern bringen. Philipp der Schöne, 
bekannt durch ,,de goede affectie ende ghenegentheid, die hij 
dragende was totte weerdigher const van der Rethorijcke" hielt 
dies im Interesse der Sache für sehr nothwendig; er berief 
deshalb durch einen offenen Brief vom 20. März 1493 Abge- 
ordnete aller Kammern ,,van der dietscher tonghen" aus Bra- 
bant und Flandern flir den 1. Mai nach Mecheln, um gemein- 
schaftlich darüber zu berathschlagen. 

Dort wurde, nach Ablauf der Theatervorstellungen, eine 
„overste ende souvereyne Camere" (oberste und souveraine 
Kammer) eingerichtet, unter dem Namen Jesus- metter 
balsem bloeme, an deren Spitze der Herzog seinen Kaplan 
Peter Aelturs stellte, mit dem Titel : „Prince souvereyn vander 
Toorseider Rethorijcke". Er verlieh ihm als solchem „volle 
macht omme binnen allen landen ende steden te ordonnerene 
€nde makene nieuwe cameren bruderscepen ofte gheselscepen 
van Rethorijcken" (volle Macht, um im ganzen Lande und in 
allen Städten zu ordonniren und neue Kammern, Brüderschaf ken 
oder Gesellschaften der Rederijker zu gründen). Allen 
Kammern wurde zugleich verboten „van nu voortan eenighe 
nieuwicheyt te ordonneren noch up te stellen, anders dan 
bij ordonnancien deser onser hoofdcameren. " 

Es scheint, dass diese Kammer, die anfanglich in Grent 
ihren Sitz hatte, erst 1503 zu Stande kam. Zwei Jahre später 
wurde ihr Reglement erneut und ausgedehnt; 1507 und 1511 
wurde sie von Maximilian bestätigt, und ihre Rechtsgültigkeit 
a.uch über Holland und Seeland ausgestreckt. Sie fand viel 
Widerstand, wahrscheinlich von den alten Hauptkammern; 
daher hielt man es 1512 für nöthig, ihr ein neues Privilegium 
zu verleihen, welches die Bestätigung ihrer Einrichtung und 
die Abänderung ihrer Statuten umfasste. ^) 

Dieser souveränen Kammer war kein langes Leben ver- 
liehen. Sie begrüsste 1577 noch den Prinz von Oranien; aber 
das war auch ihr letztes Lebenszeichen. 



^) Alle auf die Einrichtung dieser souveränen Kammer bezüglichen 
Schriftstücke findet man in der Hsch. von G^rard, II., 145 — 201. 



I. Die Kammern von Rethorica. 351 

171. Zu derselben Zeit neigten sich die Rederijker 
selbst ihrem Untergange entgegen. Die Kammern hatten sich 
in der ersten Zeit ihres Bestehens des Schutzes von Fürst und 
Obrigkeit erfreut, aber bald mussten sie denselben nicht nur 
entbehren, sondern sie wurden auch durch allerhand Verord- 
nungen beeinträchtigt. Den Grund hiervon bildete die Oppo- 
sition der Rederijker, zumal auf kirchlichem Gebiete, und 
die Verbreitung von revolutionären Ideen, deren sie sich 
schuldig machten, wie wir bald sehen werden. Schon im Be- 
ginne des Jahres 1560 (n. St.) wurde eine Verordnung 
bekannt gemacht, in welcher verboten wurden: alle esbatte- 
menten, Kammerspieie, Lieder, welche Dinge enthielten „offen- 
derende directelick oft indirectelick de catholijcke religio ofke 
geestelicke persoonen",*) während die Sinnspiele und stummen 
Darstellungen unter die Censur der geistlichen Obrigkeit ge- 
stellt wurden. Eine ähnliche Verordnimg wurde 1561 gegeben; 
aber ohne den gewünschten Erfolg. 

1593 versuchte man in Flandern wieder, die Erlaubniss 
zu erlangen „omme anderwaerf up te stellene de cameren, ver- 
gaderinghen ende exercitien van de ßhetoricque^'; aber der Rath 
von Flandern, der in Betracht zog „degroote abuusen, desordren, 
inconvenienten ende schandalen, die hier voormaels daer duere 
(dadurch) zijn ghesciet," befahl streng über die Verbotsbestim- 
mungen zu wachen. Durch dies Alles, aber zumal durch Alba's 
eiserne Hand, wurde die Einrichtung der Rederijker im Süden 
aufgehoben. 

Auch in Holland kümmerte sich 1564 die Kirchenver- 
sanunlung in Haarlem um diese Sache, imd 1583 war der 
Prinz von Oranien gezwungen, wegen der Übeln Nachrede, 
die sie hervorriefen, alle öffentlichen Spiele und Battementen 
in Seeland zu verbieten; dasselbe geschah auch 1587 im Haag. 

Der Beschluss, den die Generalstaaten von Holland 1594 
und 95 gegen die Darstellungen der Rederijker fassten, war 
wahrscheinlich die Folge von Ausschweifungen, die sie sich 
erlaubten, und die zu dem Witzworte: Rederijkers, kan- 
nekijkers, Anlass gaben. Das war zumal der Fall auf den 
Dörfern , weshalb sich auch der Hof von Holland genöthigt 



') Direkt oder indirekt die katholische Religion oder geistliche 
Personen beleidigten. 



352 ^ ^® Kammern von Bethorica. 

Baby 1606 in Wassenaar^ Monster, Naaldwijk und anderen 
Orten die Spiele und öffentlichen Darstellungen ganz zu ver- 
bieten. Dadurch wurde zwar das Uebel nicht mit der Wurzel 
ausgerottet, denn 1609 fasste dasselbe Kollegium denselben 
Beschluss, weil „de speien der Rederijkeren meestal strekkende 
waren ter verkorting en schimp van Gods Woord, de Religio 
en de Regeering van den Lande." 

Während des Waffenstillstandes und unter der Statthalter- 
schaft der Erzherzöge tauchte die verschwindende Ein- 
richtung in Belgien wieder auf, brachte es aber doch nur 
zu einem schwachen, hinsterbenden Leben. In Nordniederland 
ging sie in den kirchlichen Streitigkeiten von 1618 grössten- 
theils zu Grunde. 

172. Die Arbeiten der Kammermitglieder bestanden in 
Pflege der Poesie, oder desjenigen, was sie dafür hielten; 
theils, und man kann wohl sagen : hauptsächlich, im Auffuhren 
von Schauspiel- oder anderen Vorstellungen. 

So fasste es auch der Zeitgenosse Guicciardini auf. Nach 
seiner Meinung war der Zweck der „gilden van Rethorijcke'',. 
„om in sekere tyden ende gelegentheden , in heur openbare 
(öffentlich) bestelde plaetse, 't volk fonderhouden ende 
vrolijc te maecken met Comedien, Tragedien ende andere 
historien, met lustige, rüstige ende stichtende byspelen, ge- 
dichten ende refereynen." 

Um schliesslich eine Idee von der Wirksamkeit und dem^ 
Ursprünge der Kammern zu geben, wähle ich die Skizze von 
Van Meteren, welche er am Schluss des ersten Buches seiner 
Historie als Einleitung zu der Beschreibung von den glän- 
zenden Festen der Jahre 1539 und 1561 giebt. 

„In de Nederlanden is van ouder herkomen een loffelijck 
gebruyck, dat in elcke Stadt, vrijheden ofte groote dorpen^ 
eenige Gilden (dat zijn broederschappen) opgerecht zijn ghe- 
weest, die haer op sekere daghen oeffenden in wapenen als 
schutters, met den voet-boge, met den hantboge, ende scher- 
mers met alle maniereYi van wapenen: ende in onse vaders- 
tijden zijn oock bussenschutters opgherecht. Dese dienden 
niet alleene tot beschuttinge ende defensie van haer stadt^ 
maer oock tot garde ende lijfbewaringhe vande Princen ende 

Lantsheeren Also dese broederschappen oft gilden 

tot oeffeninghe der wapenen, dienden tots lants ende Princen 



I. Die Kammern von Kethorica. 353 

versekertheyt, so waren daer ooc diergelycke gilden ofte 
broederschappen, daer inne den geest ende sinnen geoeffent 
werden, in geleertheyt, konstige ende manierlijcke welsprekent- 
heyt ofte Eethorijcke, dat is soo veel te seggen als Reden- 
rijcke, waer onder men altijt vont sulcke als den Lantsheere 
ende gemeente met eerlicke speelen, als tragedien, comedien 
ofte esbastementen, baladen, liedekens ende refereynen kon- 
den den geest ende sinnen verbeugen ende verquicken .... 
Dese lieten haer gebruycken in alle blyde inkomsten der 
Lantsheeren te congratuleren, te willekomen, ende met alle 
triumphe vercieren. Maer in tyden van oorlogen (Kriegen) 
ende ordinaerlick , badden sy haer private oeffeninghe op haer 
Kamers .... In tyden van payse werden onder de steden 
van dese gilden prijsen opgestelt van kleynen weerde, om 
maticbeyt te toonen, daertoe sy de gilden van haerder ghe- 
bueren steden nooden, om meet haer die prijsen met beste 
schieten, ofte in ander wapenen te oeffenen, te gewinnen. Die 
Stadt, die dat gewon, was gehenden ter gelegener tijdt die 
weder op te stellen, ende hen ghebueren te nooden ofte 
bidden. Dese brachten gemeynlick de ander gilden van 
Rethorisüjnen mede : ende also vergaderden de gilden, steden, 
ende ghemeynten, in alle deucht ende eerbaerheyt, in grooter 
triumphe ende kostelijckheydt , dickmaels te vele, ende was 
een onderhout van alle eenicheyt, vriendelijckheyt, vrient- 
scbappen, ende oeffeninghe van deucht ende eerbaerheyt." ^) 

^) „In den Niederlanden besteht von Alters her ein löblicher Ge- 
brauch, dass in jeder Stadt, in jeder Landgemeinde und jedem grossen 
Dorfe einige Gilden (das sind Brüderschaften) aufgerichtet sind, die sich 
an gewissen Tagen als Schützen in den Waffen übten; mit dem Fuss- 
bogen, mit dem Handbogen und in aller Art Waffen: zu unserer Väter 
Zeit wurden auch Büchsenschützen eingerichtet. Diese dienten nicht 
nur zum Schutze und zur Vertheidigung ihrer Stadt, sondern auch zur 

Garde und Leibwache der Prinzen und Landesherren Wie 

diese Brüderschaften oder Gilden sich in den Waffen übten zu dest 
Landes und der Prinzen Sicherheit, so gab es auch ähnliche Gilden^ 
oder Brüderschaften, in welchen Geist und Verstand in Gelehrsamkeit,, 
künstlicher und manierlicher Beredtsamkeit oder Bethorica, das ist so* 
viel wie Redenrijcke, geübt wurden, unter ihnen fand man stets. 
Solche, welche den Geist und die Sinne der Landesherren und Gemein- 
den mit anständigen Spielen, als da sind Tragödien, Komödien oder 
Esbattementen , Balladen, Liedern und Refrains erfreuten und erquick- 
ten u. s. w.** 

Jonckbloet*s Oescliichte der niederl&idischen Literatur. Band I. 23 



354 I- ^^ Kammern von Rethorica. 

Diese Vorstellung, welche uns Van Meteren von der 
Sache giebt, ist sehr richtig. So sehen wir die Theilnahme der 
Rederijker an den Festlichkeiten beim fröhlichen Einzüge 
des Landesherni; und sie erhöhen dieselben gewöhnlich durch 
stumme Darstellungen. 

173. Als Philipp der Ghite 1440 seinen Einzug in Brügge 
hielt, nachdem die aufständische Stadt wieder unterworfen 
war, begegnete er auf seinem Wege zuerst einem Wagen, der 
eine Wüste vorstellte; darauf sass eine Person als Johannes 
der Täufer. Auf dem Wagen las man: „Ego- vox clamantis 
in deserto; parate viam Domini." Vor dem Thore sass der 
nackte Hieb auf dem Düngerhaufen mit seiner Frau und seinen 
Freunden. Darüber las man die Worte der Vulgata: „Der 
Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, des Herrn 
Wille ist geschehen." Die Anspielung auf die Zeitumstände 
ist deutlich. 

Ferner standen auf Plätzen und Brücken verschiedene 
tableaux vivants, z. B. Abraham's Opfer, die Geschichte 
der Königin Esther, die Geburt und Auferstehung Christi, die 
Verklärung auf dem Berge Tabor. 

Als derselbe Fürst 1458 seinen Einzug in Gent hielt, 
trugen die Rederijker nicht wenig zum Glänze dieses Festes 
bei. Ich entnehme die Hauptzüge der Beschreibung Blom- 
maert's. ^) 

Der Magistrat setzte verschiedene Preise für die Gilden, 
Stadtviertel und Stadttheile aus, welche den festlichen Einzug 
am schönsten feiern, und am folgenden Tage das beste batte- 
ment darstellen würden. 

Die Strassen, durch welche der Herzog kommen musste, 
waren an beiden Seiten mit Tuch in des Herzogs Farben: 
schwarz, grau und roth, behangen, und von ungefähr 800 
Fackeln erleuchtet. Auf einer Bühne, die beim Torrethore 
aufgeschlagen war, wurde der Freudengesang der Seligen bei 
dem Opfern des Paschalammes dargestellt. Die Bühne bestand 
aus drei übereinander liegenden Abtheilungen. Als beim Nahen 
des Herzogs der Vorhang auseinander geschoben wurde, sah 
man in der Mitte der obersten Abtheilung Gott den Vater unter 
einem goldnen Thronhimmel zwischen der H. Jungfrau und 



*) Geschiedenis der Rhetorykkamer: de Fonteine, S. 20. 



I. Die Kammern Yon Rethorica. 355 

St. Johannes sitzen: rund umher standen lobsingende Engel. 
Gott sass auf. einem Throne von Elfenbein, die kaiserliehe 
Krone auf dem Haupte und den Scepter in der Hand. Im 
mittleren Geschoss stand ein reich verzierter Altar, auf wel- 
•chem ein Lamm lag, dessen Brust ein Blutstrahl entquoll, der 
in einem Kelche aufgefangen wurde; goldene Strahlen, die 
von öott dem Vater ausströmten, bildeten den Hintergrund; 
AUS der Mitte desselben flog eine weisse Taube auf, als. Sym- 
bol des heiligen Geistes. An beiden Seiten des Altars stan- 
den Gruppen von Märtyrern, Heiligen, Patriarchen, Aposteln 
u. s. w. Vor dem Gerüste war ein schöner Springbrimnen 
angebracht, welcher den Brunnen des Lebens vorstellte und 
drei Ströme Weins ergoss. Das war allem Anscheine nach 
•das personificirte Wappen der Kammer die Fonteine. Am 
folgenden Tage fanden die Wettstreite statt, an welchen sie- 
ben Gesellschafken Theil nahmen: zwei Rederijkerkammem, 
vier Stadtviertel und „Jan de Cuelenare met sinen gesellen", 
womit wahrscheinlich eine reisende Schauspielertruppe gemeint 
ist. Die Fonteinisten erwarben den Preis fiir das beste Stück ;• 
und das Stadtviertel des Freitagmarktes den für die beste 
Aufführung. 

Auch bei den grossen, städtischen Processionen, die in 
Belgien noch immer nicht ganz aus der Mode gekommen 
sind, wirkten die Rederijker mit — So stjellten die Brüder 
der Jenettebloem in Lier im Jahre 1480 die drei Könige 
dar, und lieferten was man, ich weiss nicht warum, den 
Molen (moles ?) von Paris nannte. Das war nach Kops ' 
Beschreibung ein ausserordentlich grosser Wagen, auf welchem 
der himmlische Vater als alter Mann abgebildet war. Neben 
ihm sass die heilige Jungfrau auf einem Throne, etwas tiefer stan- 
den die zwölf Apostel, die vier grgssen Kirchenlehrer, der Papst 
und ein ßepr^sentant von den hierarchischen Rangordnungen 
der Kirche. Ferner der Kaiser, der König von Frankreich, 
ein Herzog, ein Bannerherr, ein Amtmann, ein Drost und viele 
andere Personen, die zusammen die kirchliche und weltliche 
Regienmg personificirten. 

In Holland gingen diese stununen Darstellungen bald in 
gemalte Bilder mit Reiminschriften über. Noch im Jahre 
1594, bei Gelegenheit der Ankunft Moritz' in Amsterdam, 
nach der Eroberung Groningens, hatte auf dem Damme von 

23* 



■ • 



356 



I. Die Kammern von Rethorica. 



Seiten der Kaxomer die Eglentieren (wilde Rosenstrauch) 
eine sinnbildliche^ stumme Darstellung statt ^ wobei u. A. der 
Schöflfe und berühmte Schriftsteller Koornhert den König- 
Sa ul vorstellte. 1609 wurde der Abschluss des Waffenstill- 
standes durch ^neun Aufführungen" gefeiert, welche die 
Tyrannei Tarquin's und Brutus' Eifer für die Freiheit dar- 
stellten; aber es waren keine plastischen Darstellungen mehr,, 
bondern gemalte Bilder; Hooft schrieb die Erklärungen zu 
denselben. Auch 1618 fand eine ähnliche Auffuhrung zu Moritz' 
Ehren auf neun „steigerschuiten" statt. Sieben Bilder stell- 
ten je eine Provinz dar, auf dem achten war ein Kriegsheld 
zu sehen, der die Provinzen mit einem doppelten orangefar- 
bigen Schleier vereinigte, das neunte Boot (schult) war für 
die Musik bestimmt. Auch hier haben wir es mit gemalten 
Darstellungen zu thun, ebenso im Jahre 1648 bei der Feier 
des „ewigen Friedens", welche Bilder wahrscheinlich unter der 
Aufsicht des Dr. Samuel Coster verfertigt waren, der wenig- 
stens eine „kurze Erklärung" derselben gegeben hat. 

174. Die Kammer brüder* beschränkten sich nicht auf da& 
Geben von Darstellungen und das Aufführen von Theater- 
stücken in der Stadt, wo sie wohnten: nicht selten statteten 
sie auch den Kunstbrüdern in den Nachbargemeinden Besuche 
ab. Dies geschah stets mit einer gewissen Feierlichkeit 
und in den alten Stadtrechnungen finden wir noch oft der- 
gleichen festliche Besuche unter dem Namen von „intreyen" 
erwähnt, weil der Magistrat den Gästen gewöhnlich ein Ge- 
schenk an Wein machte. So sehen wir 1528 am Frohnleich- 
namstag die Rederijkerkammer von Douai zu Oudenaarde, 
wo sie ein Ebattement französisch aufführte, welches bei den 
vielen hohen Persönlichkeiten, die demselben beiwohnten^ 
grossen Beifall fand. ^) 

Aber diese entreyen (Einzüge) in kleinem Genre wur- 
den bald von den sogenannten landjuweelen oder grossen 
Rederijker - Wettkämpfen in den Schatten gestellt Sowohl 
Idee als Name entlehnte man den grossen Schützenfesten. Wir 
hörten schon von Van Meteren, dass die Rederijker die 
Schützengilden bei solchen Gelegenheiten begleiteten und das 
ihrige zur Verherrlichung des Festes beitrugen. Bald sehen 



1) Belg. Museum, VII, S. 3!. 



I. Die Kammern von Rethoiii». 357 

wir, wie die Kammern auf eigene Faust dergleichen Festlich- 
keiten* anstellten. 

Um eine Idee von solchen Schützenfesten zu geben und 
um zu beweisen, dass sie wirklich den Rederijker - Zusammen- 
künften zum Vorbilde dienten, gebe ich einen Auszug aus 
•einer Chronik des fünfzehnten Jahrhunderts, in welcher ein 
solches Volksfest beschrieben wird. ^) 

„Int jaer 1408, den achtsten in Julio, do was deerste 
incommen vander scutterie van Audenaerde van den voetboghe. 
<iwelc een de meeste ende scoenste scutterie*) was, met al 
•datter toe behoorde van batementene, van te vieme in alle 
ieirbeerghen, van scoenen speien te spelene, die daer te 
Toren hadde gheweest in 60 jaren, alzo die goede lieden 
meiden, die daer ter scutterie commen waren om te schietene, 
ende oec om te ziene den staet ende die ordonnancie vander 
stede van Audenaerde, ende van den steden, die daer commen 
w^aren om naer prijs te schietene. Zij zeiden dat zij noyt 
rijckelicker spei van den voetboghe en zagen, noch zo wel 
gheordinört, elc up tzijne. Want alle die poerters van der 
stede ende die Wet ende die Qtezwoemen van Pamele, ende 
andere rijcke lieden waren alleleens ghecleet, met keerls ^) 
»deen zijde groene ende dandere zijde wit; ende alle met 
caproenen. Ende die Overdeken (Obergildemeister) van St. 
Joris gulde, ende die gezwoernen vander gulde, ende die 
twaalf scutters die scoten in der name vander stede, die 
waren ooc alleleens ghecleet; ende alle die poerters ende alle 
dandre lieden vander stede, die yet rijcke waren, die hadden 
<5aproenen groene ende wit. Ende den grave Jan vanVlaen- 
deren, Hertoghe van Bourgonie, ende mijn geduchte Vrauwe, 
zijn wijf, waren beide ter scutterie. Ende den grave Jan 
scoet metter stede van Audenaerde, ende noch menich edel- 
man, die in die gulde van St. Joris te Audenaerde was. Ende 
den grave Jan moeste selve zijnen boghe draghen op zijnen 
hals, end Jan Jacops die spien hem zijnen boghe. 

„Den uppersten prijs waren twee selverin cannen, weert 
^ijnde 18 ponden groot vlaemsch. Den tweetsten, twee selverin 

^) Ich entnehme ihn einem Artikel des Herrn van der Meersch im 
Eelg. Museum, VI, S. 380. 

') Scutterie wird hier in der Bedeutung von Schützenfest geliraucht. 
■) Keerl ist ein langer üeberrock, eine Tunica, 



358 I'« I^'B Kauunem von RethoricA. 

potten, weert zijnde 14ponden groot; denderden, tweeaelverin 
vierendeelen (daa sind kleine Kannen), weert zijnde 10 ponden 
gtwit; ende den vierden, twee selverin verdecte coppen, 
wt'Tt zijnde 6 ponden groot. 

,^nde daer waren 44 steden ter scutterien; ende daer 
scricter twee sdaecbe. Ende die van Gent wonnen den. 
iipperBten (höchsten) prijs; ende die van Maubeuge, in Hene- 
goiiwe, den anderen, ende die van Brugghe den derden; ende 
die vEin A . . . . den vierden. Ende dese acatterie gheduerde 
24 daghen; ende zij achiet ende vei^hinc met pri&e ende met 
groeter eeren." ') 

175. Es kann nicht befremden, dasa die Kammern von. 
Keihtrica, sobald sie einen gewissen Grad der Entwiekeiung 
crtficht hatten, und sich über Niederlands Boden ausbreiteten^ 
tiitlit länger im Schlepptau der Schiltzengilden blieben, sondern 
iinih deren Vorbild eigene literarische Feste feierten. 

Diese Feste, bei denen oft eine beträchtliche Anzahl 
Kitiiimern nicht nur aus Nachbarstädten, sondern zuweilen. 
atlbat aus entfernten Gegenden erschienen, trugen den Namen 
Lanij uweelen, und auch dieser Name war den Schützen- 
festen entlehnt. *) 

Das Wort hatte ursprünglich eine andere Bedeutung. Die 
au.'is^eäetzten kostbaren Preise nannte man Juwelen, welcher 



I) „Im Jahre 1408, am achten Juli war der ente Einzug der Faas- 
bugt^ncehützen von Oudenaarde ; welches eine der schönsten Schützen' 
feste rar, mit allem was von Battementen dazu gehSrte , welthe man. 
iu itllen Herbergen feierte, von achönen SpielCB, die da gespielt wurden^ 
sf^ii dcu letzten 60 Jahren; wie die guten Leute sagten, die zu dem. 
Suliützenfeate gekommen waren um zu Bchiesiien, und auch um den. 
Olaiiz und die Anordnungen der Stadt Oudeoaarde zu sehen, und die 
gehüinmen waren, um sich einen Preis zu erschiessen. Sie sagten, dass 
eis uiemals ein glänzenderes Fussbogenfest sahen, noch ein so wohl ge- 
onliietes, beides in seiner Weise. Denn alle Bürger der Stadt, und die- 
tirst^zgeber , und die Geschwomen von Paroelu und andere reiche 
Leute, waren alle gleich gekleidet, mit langen Oberrocken, weiss und 
grün; und alle trugen Mützen u. s. w." 

') In einer Handschrift Van de Antiquitejiten der stadt 
Lier leisst es, Belg. Mus., VIU, S. 291 : 

„In 't joer 1466 «iert tet Lier gehouden een groot lofielijck 
laiitBJuweel van schietspelen van den edelen voetbogen" u. b. w. 



X. Die Kammern von Rethoripa. 359 

Ausdruck früher in viel weiterem Sinne aufgefasst wurde, 
als jetzt. ^) 

In Oudenaarde z. B. wurden 1413 von den Schöffen sehr 
kostbare Preise ausgesetzt, nach deren Aufzählung die Stadt- 
rechnung ^ welche dieses Umstandes erwähnt,*) sagt: ,^welcke 
juweelen ghegheven waren den ghesellen die tscoenste (das 
schönste) ende beste spei maecten ter eeren van den Heleghen 
Sacramente/^ Und aus dem Jahre 1426 findet man im selben 
Stücke, •) dass die Gesellen von Oudenaarde zu Dtinkirchen 
„Wonnen tweejuweelen, die zij der stede presenteerden." 

Landjuweel war also der Preis, der officiell von 
Seiten der Obrigkeit (publice) ausgesetzt oder aufgehan- 
gen wurde, wie man zu jener Zeit sagte. Dies erhellt aus 
einer alten Rechnung der Stadt Lier. *) 

„Item geschoncken der Eethorijck camere van de Pren- 
sen (von Löwen), den 30. Augusti, doen syhier quaem (kam) 
ter feestvan d'Ongeleerde, dry stoopen rijnschen wijn. De 
Stadt schonck tot tjuweel datse op hinghen 27 stuyv. 
6 grooten.^^ 

Noch im Jahre 1777 war das Wort in dieser Bedeutimg 
im Gebrauch: denn in der Beschreibimg eines Ausfluges einer 
Kammer von Lier nach St. Nikolas, erzählt einer der Brüder, 
dass, als sie nach errungenem Siege bei der Rückkehr von 
den Autoritäten bewillkommt wurden, sich in ihrem Gefolge 
auch ein „maegdeken te peert zittende^^ befand und „in haer 
rechter haut droeg zij het Landjuweel, den zilveren 
caffepot". *) 

Ich finde auch in der Excellente Chronijcke van 
Viaenderen, im Bezug auf das Rederijkerfest in Antwer- 
pen vom Jahre 1496, den Ausdruck gebraucht, dass dort 



^) Juweel war eigentlich Alles, was kostbar ist, oder worauf man 
grossen Werth le^; siehe das Gloss. zu Der Minnenloop. Kiliaen 
übersetzt es „Bes preciosa, chara, et gaudio afficiens. Res sive supellex 
pretioea elegansque.*' 

«) Belg. Museum, VI., S. 383. 

>) Ebendaselbst, S. 385. 

*) Aus der schon angezogenen Hsch. Van de Antiquiteiten u. s. w. 
Belg. Mus., Vin, 299. 

«) Belg. Mus. Vin, S. 323. 



360 I- ^^6 Kammern von Rethorica. 

,;Was gehouden dye grote ende schoone triumphe ende den 
lantprijs von Rethorijcke/' 

Während die grossen Feste nach und nach den Namen 
Landjuweelen erhielten , wird auch noch eine Art von 
Zusammenkünften erwähnt; welche Haagspeien genannt 
wurden. 

Der Hauptunterschied Beider scheint darin bestanden zu 
haben; dass zu den Ersteren nur Kammern aus den grossen 
und kleinen Städten zugelassen wurden^ zu den Letzteren 
aber auch Landgemeinden und Dörfer. 

Als im Anfange des Augustmonates 1561 das weitbe- 
rühmte Landjuweel zu Antwerpen gehalten wurde — über 
welches wir bald näher sprechen — feierte man drei Wochen 
nach dem Anfange des ersten Festes ein zweites, woran erstens 
die städtischen Kammern theilnehmen sollten^ welche nicht auf 
dem Landjuweel hatten erscheinen können; wo aber femer 
auch die Landgemeinden Zutritt hatten. 

Die Einladungskarte lehrt uns, dass dies eine Neuerung 
war, die hier zum ersten Mal in Anwendung kam. Das Her- 
kommen brachte es mit sich, dass der Sieger vom Land- 
juweel in. seiner Heimath zu einer gewissen Zeit ein ähn- 
liches Fest ausschreiben musste, aber für die Haagspeien 
war dies nicht obligatorisch. ^) 

*) Ich theile hier den Bericht „totten goetwillighen leser" (dem ge- 
neigten Leser) mit, welcher der Ausgabe der Geschichte des antwer- 
pener Haagspels vorangeht: 

„Aengaende den haechspelen, es te weten dat die van andere natuere, 
observatien ende ordonnancien zijn dan de Landt Juweelen, niet hou- 
dende eenighen zekeren tijd van weder op te hanghen etc. Dan wort 
sulcz ghemeynlijc ghebruyct in alle heerlijcke triumphen zoo wel in 
Bhetorijcke als schietspeien van importancie, betre£Pende de groote 
steden ende solemnele feesten, om door zulckz hunnen triumph te 
besluyten met een nieu recreatie van minder costen, maer niet altijt 
van minder conste ofte ghenuechte, ghelijck hier genoech blijckt;, oock 
en is niemant tot zulcx ghehouden te comen dan dient vuyt jonsten 
belieft, ende moghen sodanighe haechspelen also wel op de dorpen 
ende Vrijheden, als in de Steden ghehouden worden, ja dat meer is, 
op alle plaetsen daer besworen gülden van Bhetorijcke, Bussen, ende 
Boghen z3n, gheene vuytghesteken, opdat alle Liefhebbers der voomoem- 
der consten jonstich zouden mögen vergaderen ende by malcanderen 
comen zonder zodanighe excessive costen, triumphen van incomen, 
vieringhen ende dierghelijck tot groote beswaringhe te doene." 

(Was die Haagspiele betrifi%, so ist zu merken, dass diese von an- 



a 



I. Die Kammern von Rethorica. 361 

Was die Bedeutung des Wortes betrifft, so würde ich 
es nicht durch ländliches Spiel, sondern durch beson- 
deres, nicht officielles, weniger ansehnliches Spiel 
übersetzen; nach der Analogie ähnlicher Zusammensetzungen.^) 

Als die Landjuweelen einmal in der Mode waren, machten 
die damit in Verbindung stehenden Beschäftigungen die 
Hauptarbeit der Kammern aus, und man gab sich mehr Mühe 
um den Preis für die festlichsten Einzüge, als um die Pflege 
der Kunst. 

Es ist unglaublich, wie viele und prächtige Feste der Art 
in ganz Niederland gefeiert , und von wie vielen E^ammern 
dieselben besucht wurden. Die aufgeführten Stücke mancher 
Landjuweelen sind gedruckt, von anderen bestehen mehr oder 
weniger ausführliche Beschreibimgen, die meisten werden nur 
kurz erwähnt. Ich habe von 1431 bis 1620 nicht weniger 
als 65 aufgezeichnet Man wird diese Zahl nicht für unbe- 
deutend halten, wenn man sich erinnert, wie oft der politische 
Zustand diesen Volksfesten ein Hinderniss in den Weg legte; 
und doch bin ich überzeugt, dass mir noch ^Mele unbekannt 
geblieben sind. In der beigefügten Anmerkung zähle ich die 
mir bekannten auf, mit Hinzufugung, wie viel Kammern bei 
jedem, so viel wir wissen, erschienen sind. ^) 



derer Art sind und andere Gebräuche und Gewohnheiten haben, als die 
Landjuweelen, indem sie keine bestimmte Zeit festsetzen, wieder Spiele 
auszuschreiben u. s. w. Dies geschieht jedoch gewöhnlich bei allen herr- 
lichen Triumphen sowohl in Kethorika, als in den Schützenspielen von 
einiger Bedeutung, was die grossen Städte und officiellen Feste betri£Pt, 
um damit ihren Triumph durch ein neues Fest mit wenigen Kosten 
zu beschliessen etc.) 

^) Kiliaen übersetzt haegh-spel durch: „ludi pagani, non publice 
aut conimunes, non celebres'* ; eine ähnliche Erklärung giebt er auch von 
haegh-schole, haegh-tap. 

*) 1431 Brügge, 1432 Gent, 1442 Sluis, 1452Kortrijk, 1458 Mechek, 
1460 Kortrijk, 1462 Oudenaarde, 1464 Dendermonde, 1466 Lier, 1480 
Veume, 1483 Hülst, 14S8 Lier, 1490 Diest, 1491 Brüssel, 1492 Lier (?), 
1493 Brüssel und Mecheln, 1496 Dendermonde, Gent und Antwerpen 
<28 K.), 1498 Mecheln, 1499 Oudenaarde (Referein-Fest), 1502 Antwer- 
pen (Referein-Fest), 1504 Löwen (Referein-Fest), 1507 Reimerswaal, 1510 
Herenthale, 1512 Kortrijk, 1514 Mecheln (15 K.), 1518 Löwen, 1521 
Nickerspoele und Diest (S K.), 1530 Gent, 1532 Brüssel (14 K.), 1533 
Doomik, 1535 Mechehi, Honschoten und Gent, 1539 Gent (19 K.), 1540 
Oudenaarde, 1541 Diest (10 K.), 1545 Gerartsberge, 1551 Brüssel, 1560 



362 I* ^® Kammern von Bethorica. 

Die Kammern Hessen also viel von sich hören, ja so viel^ 
dass man wohl mit jenem Schriftsteller ^) sagen kann : ,,dat 
men bijna niet anders en hoorde spreken, als van cartellen 
en brieven, die het een of het ander konstgenootschap zond 
in verscheyde steden, dorpen of vlekken, of daarvan ontfing^ 
elkander noodigende om op haere speien te komen, de prijzen 
te winnen, de vriendschap te vermeerderen, de konsten te 
verbeteren (1?) en alle herten op te wekken tot zoo eerlijke 
tijdkortingen" (Zeitvertreib). 

Schon sehr bald wurden diese Feste mit grossem Glänze 
gefeiert, wie er eben nur in einem so wohlhabenden Lande^ 
als Niederland unter den Burgundern war, möglich sein 
konnte. Das älteste, von dem uns einige nähere Umstände 
bekannt sind, war das Landjuweel im Mai 1496 zu Ant- 
werpen. Nach allen Seiten waren Boten ausgeschickt wor- 
den, um die Kammern zur Theilnahme am Ringen nach 
den reichen Preisen einzuladen. Acht und zwanzig Kammern 
aus Flandern, Brabant, Seeland und selbst aus Holland folgten 
der Einladung.' Aus Flandern kamen elf Gesellschaften, unter 
ihnen drei aus Gent, aber keine einzige aus Brügge. Zwei 
und zwanzig dieser Kammern feierten am selben Tage ihren 
Einzug zu Lande, sechs einen Tag später zu Wasser, nehm- 
lieh de Fonteine von Gent, nebst der von Bergen opZoom, 
Reimerswaal, Sluis, Ostende und Amsterdam; „in welcke 
intreyen, „sagt die Excellente Chronijcke van Vlaen- 
deren," beide te watere ende te lande grote ende onbegripe- 
licken cost (Pracht; eigentlich: was viel kostet) ende triumphe 



Vilvoorde (Haagspiel), 1561 Rotterdam, Antwerpen (U K.) und BrüsseU 
1562 Brüssel (Referein - Fest) , 1560 Brüssel und Lier (Beferein - Fest), 
1564 Oadenaarde (9 K.), 1566 Brüssel (Haagspiel), 1566 Brüssel, 1571 
Brügge (?), 1581 Delft (10 K.), 1596 Leiden, 1600 Ninove (40 K.), 1601 
Brüssel, 1603 Schiedam (7 K), 1606 Haarlem (12 K.), 1610 Antwerpen, 
1613 Haarlem und Amsterdam (12 K.), 161 5 Herzogenbusch, 1616 Ylaar- 
dingen (13 K.), 1620 Mechehi (28 K.) 

Das Fest in Mecheln war das letzte grosse Landjuweel. Später kom- 
men noch einige vor, z. B. 1777 St. Nikolas 1782 Poperinge, aber „die 
Zeit ihrer früheren Blüthe war dahin !'^ 

^) Historie, regels en bemerkingen wegens de Neder- 
duytscheBymkonst, Antwerpen 1773, erwähnt im B e 1 g. Museum, 
I, S. 143. 



I. Die Kammern von Rethorica. S63 

ghedaeu was, so dattet (dass es) met lettel redenen niet schrij- 
velick en ware".^) Es war daher kein Wunder, dass der 
Schreiber der Chronik, welcher „als ghenouchte hebbende 
in die Rethorijcke, track van Brugghe daer onune te Ant- 
werpen, ende sach al diesser of ghebeurde", davon zeugte, 
dass es war „dye grote ende schoone triumphe ende den 
lantprijs van Rethorijcke, daer of den upperprijs vanden 
speie van sinüe waren drij sulveren cannen, welcken upper- 
prijs Wonnen die Ongheleerde van Liere." 

Die auffällige Pracht, welche die Kammern bei solchen 
Gelegenheiten entfalteten, äusserte sich zumal in der Menge der 
reichgeschmückten Gildebrüder, welche am Zuge Theil nahmen. 
So liest man, dass auf dem Laüdjuweele zu Herenthals im 
Jahre 1510 die zwei Antwerpener Kammern de Vidieren 
und die Goudblomme mit vierhundert Mann aufzogen, 
„ende waeren seer costelijck" 1514 gewannen die Brüder 
der antwerpener Violieren zu Mecheln den Preis für den 
schönsten Einzug, „ende hadden wel ses hondert mannen alsoo 
te paerde ende te voet, ende hadden al eenderley cleederen 
aen ende hoeyen". *) 

177. Das prächtigste Fest dieser Art, das je gefeiert 
wurde, war das Landjuweel zu Antwerpen, welches am 3. Au- 
gust 1561 anfing. 

Am festgesetzten Tage wurden die Kammern unter dem 
Geläute der Glocken und dem Schmettern der Trompeten von 
den Violieren eingeholt. Die Stadt zeigte eine erstaunliche 
Lebendigkeit: überall, wo der Zug vorbeikam, schienen die 
Häuser die kunstliebenden Bürger und den Adel um die 
Wette zur Freude einzuladen; jede Wohnung war aufs zier- 
lichste geschmückt; die Strassen hingen voll wehender Blumen- 
festons, und es war, als ob das Volk den Triimiphzug eines 
vaterländischen Erretters feierte. (SneUaert.) 

Wir wollen, als ein merkwürdiges Bild der Zeit, den Ein- 
zug nach dem ausführlichen Bericht des Herausgebers der 
damals aufgefiihrten speien van sinne näher beschreiben: 



') Sowohl zu Wasser als zu Lande grosse und unbeschreibliche 
Pracht und Triumph aasgebreitet war, so dass es gar nicht zu be- 
schreiben ist. 

'«) Hs. von G^rard, I, 127. 



364 I- I^ic Kammern Yon Retborica. 

^;Opdat die ghene die dese feeste niet ghesien en hebben, vol- 
comelijck van alß souden onderricht worden min noch meer 
oft zij teghenwoordich Tandwerpen (zu Antwerpen) hadden 
geweest ende alles met hen ooghen ghesien/' 

Hier folgt die Beschreibung: 

,,Erst ende al vore zijn die voorghenoemde Cameren van 
Ketorijcke; soo wel van buyten, als van binnen der Stadt van 
Antwerpen, inghehaelt gheweest vande Camefe ende gulde- 
broeders vande Violieren, opsetters derselver feesten, van- 
den welcken Prince was Heer Melchior Schets, Schepen ende 
Heere van Eumst; ende Ho'ofdman Heer Anthonis van Stra- 
len Ridder, Heere van Merxem, ter selver tijt (zu jener Zeit) 
Borghemeester der voorzeide Stadt; ende waren 65 te peerde, 
alle seer rijckelijck ghecleet in violette rijtabbaerts, hoeyen 
ende sluyers van den selven, haer wambaisen^ coussen ende 
leerskens wit, die plumagien violet, root ende wit. Den sot 
seide: ,;Ick ben soo fray ick en kenne my selven niet." 

^^Inden eersten presenteerden hem die öoubloeme van 
Andtwerpen, 48 te peerde, met roode mantels binnen groen, 
roode hoeyen, haer wambaysen, coussen, cranssen^) ende 
plumagien wit; eenen ghecierden speelwagen opt antijcx met 
acht personagien. Den sot sat op een oubollich vreemt ghe- 
maect peerd ende seyde: „Ick en kenne my selven niet." 

„Ten tweeden den Olijftack van Andtwerpen, 47 te 
peerde, met groene hoeyen, haer wambayen, coussen, plumagien 
ende cranssen wit; eenen speelwaghen toegerust opt antijcx 
met vier personagien. Den sot sat jnet twee jonghe sottekens 
op eenen esel; segghende: „Ick en salse niet Verliesen." 

„Ten derden der Vreuchdenbloeme van Berghen op 
den Zoome, 54 te peerde, met toneyte (hellbraun) casacken^ 
roode hoeyen ende wambaysen, swerte coussen, witte leerskens 
(Stiefeln), die plumagien wit ende swert, die cranssen root 
ende gheel; twee speelwaghenen opde maniere der antiquen 
met personagien daerop; twelf waghens, die huyven overdect 
met toneyt laken, op elck twee guldebroeders, houdende twee 
toortssen, achter uut elcken waghen staken twee vierpannen. 



^) Die cranssen umgaben den Hut, gerade wie die sluyers; 
die letzteren hingen wahrscheinlich in Zipfeln herunter, nach Art der 
späteren Flore. 



I. Die Kammern von itethorica. 365 

Den BOt hadde een catte inde. band, segghende: „Ick hebse 
vonden." 

,,Ten vierden die Pione van Mechelen, 356 te peerde^ 
ghecleet in rocken van fijn incarnaet stammet ^), gheboort met 
gouden passement, roode hoeyen, wambaysen, coussen, pluma- 
gien gheel, die cranssen gout, swerte leerkens; seven welghe- 
cierde antijxe Bpeelwaghens met personagien, waeraf dleste 
pxmt Boo constich ende excellentelick ghemaect ende toegerust 
was, datment onghepresen niet en behoort voorbij te gaen, 
wesende een os, daer eenen J. Lucas op sat, ende S. Jan 
Evangelist, met sijnen arent beneven hem; noch sesthien 
andere hübsche waghens, boven viercant ghemaect, seer pla- 
santelijck, elx verciert met acht diveersse schoone blasoenkens, 
overdect met root laken, ende guldebroeders daerop, houdende 
een paer toortssen, ende twee vierspannen achte uut stekende. 
Den sot seyde : .„Waer kijct den sot ute mouwe". (Woran er- 
kennt man den Narren?) 

„Ten vijfden den Groeyenden Boom van Liere, 108 te 
peerde, in groene rocken met wit geboort, groene hoeyen, roode 
sluyers, wambaysen ende coussen wit, met roode ende witte pluma- 
gien, swerte leerskenselceentoortsse inde handt; twee speelwa- 
gens gheciert nade maniere vanden ouden antiquen, met hen 
personagien, die al singhende hare incomst deden; 15 andere 
Wagens, overdect met gruen laken, met guldebroeders daerop, 
die twee toortssen hielden, ende achteruut staken twee vierpan- 
nen. Den sot sat eerseling^) te peerde, met een net inde hant, 
segghende: „Ick vange al quade tonghen."^) 

„Ten Besten die Lisbloeme van Mechelen, 46 te peerde, 
elck met een lisbloeme inde handt, hen hoeyen, zadels ende 

*) Eine Art sehr feines Tuch. 

2) Verkehrt. 

*) Zum fünften der wachsende Baum von Lier, 108 zu Pferde, 
in grünen Röcken mit Weiss eingefasst, grünen Hüten, rothen Schleiern, 
weissen Keitkollern und Strümpfen mit rothen und weissen Federn, 
schwarzen Stiefeln; jeder hatte eine Fackel in der Hand; zwei Spiel- 
wagen, nach Art der Antike verziert, mit ihren „Personagien" (Göttern 
und Heroen), die singend ihren Einzug hielten; 15 andere Wagen, mit 
grünem Tuch bedeckt, darauf Gildegenossen, von denen jeder zwei 
Kerzen hielt; an der Rückseite des Wagens zwei. Pechpfannen. Der 
Narr sass rückwärts zu Pferde, hatte ein Netz in der Hand und sagte: 
„Ich fange alle bösen Zungen!" 



366 ^' I^ie Kammern von Bethoiica. 

rocken blau^ geboort met silveren passement; den sluyer toque 
d'argent^ hen wambaysen ende coussen root met witte pliuna- 
gien^ hen leerskens swert; twee waghens met guldebroeders 
ende vierpannen. Den sot droech een cat in eens menschen 
hert, segghende: ,;Sy is daer." 

„Ten sevensten die Cauwoerde van Herenthals, 51 te 
peerde, in bruyne taneyte casacken, groene hoeyen, peersche 
sluyers met witte plumagien, hen wambaisen ende coussen 
(Strümpfe) root, hen leerskens swert; acht wagens, overdect 
met bniin tanneyt laken, op elcken waghen vier guldebroeders, 
houdende twee toortssen, ende achter staken uut twpe vier- 
pannen. Den sot reedt op een houten peerdeken, segghende: 
„Wildy mee, sit op." 

„Ten achtsten dieöoubloeme van Vilooirden, 40 te 
peerde, groeAe rocken, ende hoeyen, roode stuyers, wambaisen 
ende plumagien wit, coussen root met swerte leerskens; eenen 
speelwaghengheciert optantijcx met personagien daerop; sestien 
waghens, overdect met groen laken, met guldebroeders, hou- 
dende twee toorsen, ende achter uut den wagens staken twee 
vierpannen. Den sot hadde een kinder-oft kermisslanghe in 
de handt, die hij open ende toe dede, ende daer waren vier 
cleyne sottekens op ghemaect, ende seyde: „Tis al pays." 

„Ten negenden die Leliebloeme van Diest, 25 te 
peerde, met taneyte casacken, groene hoeyen, die sluyers ende 
wambaisen root, plumagien en de cranssen gheel ende wit 
coussen swert met witte leerskens; acht waghens overdect 
met taneyt laken. Den sot hadde een catte segghende: „Siet 
waerse kijct". 

„Ten tienden die Lelikens uuten Dale van Leeu- 
wen, 40 te peerde, elck met een toortsse inde haut, rocken 
ende hoeyen taneyt, roode wambaysen, gheele coussen, plu- 
magien gheel ende wit, die cranssen gheel (gelb) ende root; 
ses waghens met guldebroeders ende vierpannen. Den sot 
ghinck in eenen rolwaghen op twee blaesbalken, die int gaen 
al gheluyt gaven, ende seyde: „Jck moet daer oock zijn." 

„Ten elfsten die Christus Ooghe van Diest, 38 te 
peerde, elck met een toortsse inde handt, in rouwaensche oft 
goudgheele rocken, hoeyen ende coussen root, wambaysen 
bläuwe, plumagien ende leerskens wit, groen sluyers; 20 
waghens overdect met rouwaensch laken, met guldebroeders 



I. Die Kammern von Bethorica. 367 

ende vierpannen; eenen speelwaghen toegherust nader antiquer 
maniere met personagien. Den sot sat te peerde, hebbende 
eenen boeck, die vol brillen gheschildert was, ende seyde : „Ick 
lese al brillen." 

„Ten twaalfsten die Roose van Loven, 40 te peerde, 
met incarnate oft lijfv^erwe rocken met wit gheboort, swerte 
hoeyen met roode sluyers, wambaysen ende coussen swert, 
plimiagien root ende wit; vijf waghens met guldebroeder», 
toortsen ende yierpannen daerop. Den sot sat in sodanigher 
manieren op eenen ezel, dat hij al rijdende eenen cordewaghen 
voor hem crayden, segghende: „Hoe suUen zy dit scheyden?" 

„Ten 13en den VierighenDoern van sHertoghenbosche; 
125 te peerde, ghecleet in groene rocken met gouden passe- 
ment gheboort; met een root hanghende mouken, wambaysen, 
coussen, hoeyen (Hüte) oock root, met witte plumagien ende 
«werte leerskens; eenen ghecierden antij eschen waghen met 
personagien; thien wagens overdect met groen ende root 
lakenen, op elck twee guldebroeders, ende .vier toortsen, den 
sot segghende: „Salt soo zijn?" 

„Ten 14en ende leste het Marien Cransken van 
Brüssel, 340 te peerde alle ghecleet in roode cramoiside lange 
easacken, gheboort met silveren passement, roode hoeyen ghe- 
maect in fatsoene van antijcse helmetten, wambaysen pluma- 
gien, leerskens wit, ghegort met eenen gordel zeer curioselijck 
ghevlochten van gouden tocque, van vierderley coleuren : gheel, 
root, blau ende witte. Seven antijcksche speelwagens, seer lustich 
ende plaisantelijck toegherust met diveersse personagien; die 
voorghenoemde waghens werden van binnen zeer behendelijck 
ghedraghen. Boven desen noch 73 schoone, herlycke waghens 
met toortsen, alle overdect met root laken met wit ghestreept 
ende gheboort; alle die waghelieden hadden roode mantels, 
ende op dese waghens säten diveerse personagien, represente- 
rende veelderlei schoone antijcxsche figuren, wiens bediedin- 
ghe was, hoe datmen wet jonsten sal versamen ^) ende vriende- 
lijck scheyden, dwelck alle dandere steden oock figuerlijck 
ende moralijck deden." 

178. Man kann sich eine Vorstellung von der bei solchen 
Gelegenheiten zur Schau getragenen bunteü Pracht machen, 
wenn wir auch die Zahl der Edlen noch nicht aufgezählt 

^) Eine Anspielung auf den Spruch der Violieren. 



368 ^* I^e Kammern von Rethorica. 

haben ^^die haer in dese compaingie in grooter getale hebben 
laten vinden'', noch ook, ,,hoe vele datier van elcx ghecleet 
waren in fluweel, satijn^ damaet^ camelot; torx grouegreyn" etc.^) 

Und wenn man bedenkt^ wie viele Menschen auf den 
Fü88en waren, um einen solchen Aufzug zu sehen! Vier- 
zehnhundert Reiter, zweiundzwanzig prächtige Triumph- 
wagen mit symbolischen Figuren, 196 andere Wagen, eben- 
falls prächtig verziert und glänzend erleuchtet, auf denen, 
wenigstens noch dreihundert Eammeristen sassen, während 
über dem Ganzen eine grosse Anzahl „antijxsche banieren'* 
flatterten, und eine Menge „trompetten, scalmeyen (Schalmeien), 
pijpen ende trommen^^ die Luft mit ihrem Schall erfüllten, — 
geben wohl einen Begriflf von dem Eindruck, den das Ganze 
auf die Menge hervorbrachte. 

Gewiss wird man sich über die grossen Kosten wundern^ 
die auf ein solches Fest gewendet wurden, und die Frage 
wirft sich von selbst auf: wer trug diese Kosten? Die ge- 
wöhnlichen Beiträge der Kammerbrüder reichten dazu nicht aus. 

Die Ortseitelkeit machte zumal viel Aufhebens von den 
Einzügen, und man war sehr ehrgeizig auf den Preis dea 
„triumphantelijcst^incomen" Waren in einer Stadt mehrere 
Kammern, dann liessen sie das Loos unter sich entscheiden, 
wer von ihnen nach dem Preise ringen sollte. *) War auf 
diese Weise eine Kammer dazu ausgewählt, so mussten auch 
diejenigen Mitglieder , welche am Zuge theizunehmen verhin- 
dert waren, einen Geldbeitrag liefern. Im Reglement der 
Fonteinisten von Gent war derselbe schon 1449 auf 
„vier Schellingen parisis^' (vier pariser Schillinge) festgesetzt.') 



') Die sich in grosser Anzahl eingefunden hatten, auch nicht wie 
viele derselben in Sammt, Atlas, Damast, Kamelot, scharlachroth. 

^ So liesst man in der Stadtrechnung von Diest, Yad. Museum III, 
S. 107: 

„Op den24en dach Maii anno 1561 hebben de gesellen vander Game- 
ren van der Lelien ende die Christus- ooghen alhier op der stadt 
huys geloet, soe wye van hun tot Antwerpen om hH scoenste innecomen 
van den cleyne steden soude trecken. Soe eest selve gevallen den ge- 
sellen van den Christus -ooghen alhier bij cavelinghe en loetiuge om 
het schoenste innecomen te trecken. 

') „Item, zoc wanneer tvorseide ghezelschip werdt vermaendt te 
treckene teenegher stede omme prijs te winnene, ende daer eeneghea 
beliefde te treckene, zo zuUen de ghuene die thuus bliven gehoaden 



I. Die Kammern von Bethorica. 369 

Aber das reichte noch nicht aus; auch die Obrigkeiten 
mussten dazu beitragen. Und das thaten sie meistens auf sehr 
freigebige Weise. Hier einige Beispiele: 

Als 1426 die Gildenbrüder von Oudenaarde zu Dünkirchen 
zwei Preise gewonnen hatten^ wurden sie bei ihrer Rückkehr 
nicht nur festlich empfangen, sondern sie erhielten von der 
Stadt auch noch ein Geschenk von zwölf Stoopen^) Wein, 
nebst einer „hofschede" (Gratifikation) von 48 Pariser Pfunden 
zur Bestreitung der gemachten Unkosten. 2) 

Man war sehr freigebig im Austheilen von Wein an 
eigene oder besuchende Kammern; nicht weniger auch im 
Gewähren einer Beisteuer, wenn es die Ehre der Stadt galt. 
Ich lasse einige Posten aus den städtischen Rechnungen von 
Mecheln folgen; das war die Stadt, in welcher man sehr viel 
für die Rederijker that. 

Als daselbst im Jahre 1515 das Landjuweel gefeiert 
wurde, schenkte die Stadt der Kammer dePeoen als Ent- 
schädigung für die Kosten 75 Brabanter Pfunde, imd der Lis- 
blomme (Lilie) 7 Pfund, 15 St. Jede der fünfzehn am Fest 
theilnehmenden Kammern erhielt sechs Stoopen Rheinwein, 
von denen jede 18 Grooten kostete; der Zunftmeister der 
Antwerpener Vidieren ausserdem noch vier Stoopen. Die 
Musikanten, die sich bei dieser Gelegenheit hören Hessen, em- 
pfingen 38 St., 3 D. 

1566 gab dieselbe Stadt der Kammer de Peoen die 
Summe von 85 Gulden zur Ausgleichung der Unkosten, welche 
sie bei der Theünahme des Landjuweeles zu Brüssel gehabt 
hatte. ') 

Zum Beitritt für das eben beschriebene Antwerpener Fest 
im Jahre 1561 vergütete die Stadt Lier ihrer Kammer die 
Summe von 200 Gulden.*) 

Zu demselben Feste gewährte die Stadt Diest jeder ihrer 

sijn elc te ghevene te hulpen thaerlieder costen, vier schellingen parisis, 
behoudens altijts haerlieder goede jonste boven dien." Bei Blommaert, 
Geschichte der Rhetorijkerkammer die Fonteine, S. 102. 

^) Ein Weinmass von vier Schoppen. 

2) Belg. Museum VI., S. 385. 

8) Hsch. von G^rard, I, 106. 

*) Hsch. von G^rard, I., 8. 
Jonckbloet's Geschichte der Niederländischen Literatur. Band I. 24 



370 % I* ^ic Kammern von Bethorica. 

beiden Kammern eine Unterstützung von 60 rheinischen Gul- 
den; diese Summe wurde für diejenige, welche sich mit um 
den schönsten Einzug bewerben wollte, noch um 20 Gulden 
erhöht. 

Als in derselben Stadt Diest im Jahre 1541 ein Landjuweel 
gehalten werden sollte, gewährte der Magistrat dazu folgenden 
Beitrag : 

Zweihundert siebenzig Carolus-Gulden, den Ehren wein, 
der den fremden Vereinen angeboten werden sollte, 

Accisefreiheit für ein Gebräu Halbstüber-Bier, 

Steuerfreiheit von Allem, was sonst noch verzehrt wurde, 

die Unkosten für das Bauen und Abbrechen der Bühne. 

Dafür sollten die Gesellen der Kammer die Lelie „die 
eere van die voerscreven stadt, gelyk (wie) dat behoert, ge- 
waeren." ^) 

Man sieht, wie die Summen immer grösser werden, je 
nachdem der Luxus bei den Einzügen zunimmt ; oder vielleicht 
auch umgekehrt. 

Wie weit die allgemeine Begeisterung und das Wohl- 
wollen der städtischen Behörden für diese Feste ging, wird 
aus dem Vorfall in Oudenaarde bei Gelegenheit des Gent'schen 
Landjuweeles im Jahre 1539 deutlich. 

Im Februar genannten Jahres brachte ein Bote der Kammer 
de Fonteine die Einladungskarte nach Oudenaarde. Die 
Mitglieder von Pax Vobis holten ihn eiii und schenkten 
ihm überdies eine silberne Medaille mit dem Stadtwappen 
geschmückt. Dafür brachten sie der Stadt 22 Pariser Pfand 
in Rechnung. 

Gleich darauf wurde der grosse Kath zusammengerufen, 
um die Massregeln zur glanzreichen Beiwohnimg des Festes 
zu bestimmen. Der damals gefasste Beschluss ist leicht aus 
folgendem Posten der Stadtrechnimg zu erkennen: 



*) Vaderl. Museum, IlL, S. 107, 105. Die Kammer hatte die Un- 
kosten folgendermassen festgesetzt: 

„Aen pryzen .... 80 onzen zilvers. 

Den maeltijt den beeren gesellen gegeven 100 car. gülden; 

Voor die spelluyden 30 car. guldens ; 

Het uitscbryven van den Bode, voer eene silvere tasse, etc. G guld. 
Somma totalis 336 Carolas guldens.^' 
Ebendaselbst S. 106, Anmerkong. 



I. Die Kammern von Bethorica. 371 

„Item betaelt diversche oncosten by dese stede ghesup- 
porteert ende ghedoocht int reysen metten gheselscepe vander 
retorijcke deser stede naar Grhendt, ende aldaer intreye ende 
alle manieren van triumphen ghedaen, omme ende naer dbe- 
wijs vande quaerte der retorijcke vanden Fontanisten van 
Gbendt, danof uutghegheven ende by hemlieden beschreven; 

„Met welc gheselscip alle, emmers den meesten deel van 
den edelmannen, poorters, coopmannen ende andere inwoo- 
nende ende ghebueren, mede trocken, in grooten ghetalle ende 
menichte, teeren deser stede ende omme de stede van Ghendt 
als hoofdstadt vanden lande van Viaenderen te eerene; 

„Van welcken gheselscepe (Gesellschaft) Edele ende Weerde 
Heere Mr. Joos Van Joingny, Baron von Pamele, beere van- 
den lande van tusschen Maercke ende Rönne, enz. Prinche 
was, ende Daer toe ghecoren by den voorseyden gheselschepe, 
die hem alle accompaignierden met cleedinghen van oraigne 
colueren, met roode coussen, riemen, hoeyen, ende daerop 
schoone witte plumen ; daerinne dat vele groote ende excessive 
costen ghedaen waren, behourelic omme de eere vanden selven 
prinche ende deser stede; loopende tot groote sommen, soot 
blijckt by zekere rekeninghe danof ghehauden, ende inhau- 
dende particulariteit; bedraghende de somme van 2280 ponden, 
19 schiD. en 3 den. parisis." 

Man wird zugestehen müssen, dass dies eine sehr beträcht- 
liche Ausgabe für die Ehre einer kleinen Stadt war. Aber 
doch wurde diese Ausgabe von den Kommissarien, welche mit 
dem Abschluss der Rechnung beauftragt waren, genehmigt; 
sie bemerkten dabei: „transeat, omme dat tvoyaige ende den 
cost ghedaen es gheweest, volghende der resolutie vanden 
Ghemeenen." ^). 

179. Die Einzüge mögen einen Haupttheil der Land- 
juweelen ausgemacht haben, doch waren sie noch nicht das 
Ganze. Sehen wir also, wie es im Allgemeinen auf solch einem 
Feste zuging! 

Man begann damit, die Erlaubniss zum Ausschreiben 
desselben zu erbitten. 

Im Jahre 1539 wandten sich die Schöffen von Gent an 
die Statthalterin, mit dem Ersuchen, das Landjuweel, welches 



*) Belg. Museum VII., S. 38, 40. 

24 



372 !• I^ie Kammern von Rethorica. 

die Rederijker in ihrer Stadt geben wollten, in allen Ländern 
und Gebieten des Kaisers verkünden zu dürfen; ferner bat 
man um freies Geleite für einen Jeden, während des Feste» 
und vierzehn Tage vor und nach demselben, so dass Niemand 
an Person oder Vermögen wegen Schulden oder bürgerlichen 
Rechtssachen könne angehalten werden. Diese Erlaubnis» 
wurde gewährt. ^) 

Ebenso geschah es im Jahre 1561 für das Antwerpener 
LandjuweeL Mit der Bittschrift wurde die Einladungskarte 
der Regierung zur Einsicht vorgelegt, sowie 24 Fragen für 
das Sinnspiel, damit man daraus eine Wahl treflfen könne. 
Die Obrigkeit bestimmte drei aus der Zahl, und überliess efr 
der Kammer, welche von den dreien sie ausschreiben wolle. 
Der Erlaubniss war die Bedingung beigefügt, dass alle theil- 
nehmenden Kammern gewarnt werden sollten, Nichts gegen 
die Religion oder die fürstliche Hoheit zu thun, unter Andro^ 
hung von richterlicher Strafe und Verlust der Privilegien. 2) 

Wenn bei dem Magistrate oder der Regierung keine 
Schwierigkeit entstand, so wurde der Knappe oder Bote der 
Kammer, welche das Fest ausschrieb, ausgeschickt, um dasselbe 
zu verkündigen und die Preiskarte herum zu tragen. ^) 



*) S. den Octroibrief bei Blommaeit, Geschichte der Reder ij- 
kerkammer de Fonteine, S. HO. 

^) S, die betr. Stücke Vaderl. Mus. I., S. 105 flgde. Merkwürdig 
ist das Folgende aus der Bittschrift des Antwerpener Magistrats: „la 
dicte Guide est obligd vers les autres fconfr^ryes et Guides de Ja 
Rh^torique des autres Villes et Franchises en Brabant et de Malines^ 
d*äriger le septi^me, qui est le demier Lantjuweel de la Eh^torique 
en Brabant, dont du sixi^me ils ont emportd le prix en la ville de Diest^ 
en Tan 1541. Et puisque ceux de Vilvoirde, qui ont eu k Diest le se- 
' cond prix et ont l'ann^e pass^ (sans estre tenu), pr^venu ceux d'Anvers, 
ne pouroient les Remonstrans , sans blasme et grande obloquation , plus 
diff<ärer k satisfaire k leur Obligation, attendu le tems de paix, et que 
plusieurs des autres villes ou places sont desjk tr^s-mal contents et mur- 
murent, et reprochent aux Remonstrans que ceux de Vilvoirde, avecq 
leur second prix, les ont pr^cddd.** 

Den eigentlichen Octroibrief im Vlämischen findet man in der Hsch. 
von G^rard. 

^) Der Bote wurde gewöhnlich festlich eingeholt und erhielt nicht 
selten eine silberne Medaille. S. oben S. 370 und vergl. Belg. Mus. 
VI., 385, 389; VII., 22, 33, 34, 38; VIIL, 304, Blommaert, Geschichte 



I. Die Kammern von Bethorica. 373 

Die Preiskarte war gewöhnlich in Versen^): ihr Inhalt 
meldet den Verlauf des Festes. Wir verweilen noch einen 
Augenblick bei dem Antwerpener: 

Die Karte enthielt erstens die Einladung, mit Angabe 
Ton Tag und Stunde der Versammlung. 1561 wurde hinzu- 
gefügt : 

Maer niet min dan sesthiene compt ten feeste 
(Kommt aber mit nicht Wenigem als sechzehn zum Feste). 

Dann folgte die Aufzählung der ausgesetzten Preise, Als 
«erster Preis war „eene schale van ses oncen" bestinmit für 

Wie triumphanst incompt vanden meerder steden, 
Schoonst, figuurlijcst, met meest volcx. * 

Ein zweiter Preis „eene schale van vier oncen" war für die 
^, minder steden'^ bestimmt. Bei der ,,incomst" musste etwas 
Symbolisches dargestellt werden; im vorliegenden Falle war 
es: „Hoe dat wt jonsten versaemt, als broeders eerlijck, en 
minnelijck sal scheyden." Es wurde durch Gruppen darge- 
stellt, welche ihren Platz auf den schon erwähnten „antycxe" 
(antiken) Wagen hatten. Auch dafür waren zwei Preise aus- 
gesetzt, eine silberne Treue, vier Unzen schwer, und eine 
Liebe von zwei Unzen. 

Jede Kammer musste ihr zierlich gemaltes Wappen mit- 
bringen, welches bei dem Einzüge vor ihr her getragen und 
der festgebenden Kammer überreicht wurde. Dazu gehörte 
eine Erklärimg, welche diesmal aus „vier derthienen", d. i. 
•einem Refrain von vier dreizehnzeiligen Strophen bestand. 

Wenn sie an das „logijs" (Wohnung) angekommen waren, 
«0 wollte der Gebrauch, dass jede Kammer es am Abend vor 



<ler Fonteine, S. 113, 114 Ich nehme hier einen einzelnen Posten 
aus der Stadtrechnung von Lier auf: 

,fAnno 1561 quam tot Lier eenen bode van Antwerpen van de Vio- 
lier-Camer, onde brachte aen de Groyende ende d^Ongeleerde 
eene caerte van den lantsjuweele, te houden den 3. Augusti daer naer, 
•ende de stadt schonck tot haerder costen , om den bode te tracteren, 
16 Gulden. De Guoyende trocken (zogen) te Lantsjuweele ende de 
Stadt schonck haer tot hunder cost 200 gülden. De Groyende hehael- 
den vier prijsen, bedraeghende 16 oncen silvers.*' 

Belg. Museum VIII., S. 307. 

^) Eine Prosa-Preiskarte der Kammer von Hülst, vom Jahre 1483, 
findet man Belg. Museum V., S. 411. 



374 I> Die Kammern von Betfaorica, 

ihrem Auftreten auf der Bühne eine Stunde lang ,,vercierde''y 
mit ein^m sogenannten „poetelijk punt" (poetischen Punkt) 
über einen bestimmten Gegenstand. Zu Antwerpen war dazu 
der Friede (von 1559) gewählt, der es möglieh machte^ ein 
solches glänzendes Fest zu feiern. Dieser „poetelijk punt'^ 
bestand aus einem symbolischen Gemälde, welches mit einem 
Eefrain von einer bestimmten Anzahl Strophen erklärt werden 
musste. 

Ich wähle zu einem Beispiele die Verzierung von der Wohnung^ 
des Marien Cr ansken von Brüssel. Sie bestand aus einem 
Doppelbilde. Auf der einen Seite ein Schiff mit Trojanern auf 
bewegter Fluth hin und her schwankend; Jupiter droht aus 
den Wolken mit seinem Blitzstrahle; im Vordergrunde glättet 
Neptun die See. Auf der andern Seite ein „orator" inmitten 
einer aufgeregten Menge, welche von einem höllischen Unge- 
heuer angeführt wird. Darunter ein Citat aus Virgil. ^) 
Ich lasse eine Strophe der Erklärung folgen: 

Dit poetelijck punt, der zee vol baren, 
Beteekenet trasende werregaren 
Der quader ghemeynten, roerich int wesen, 
En Eneasy saechtmoedich en vervaren 
Deuchdelijck leytsman der Troyaenscher scharen, 
Beteekent der steden Hoofdcn gepresen, 
Dewelcke dicwils (om dnicx ghenesen) 
Van dwanrckelbaer volck versoeckelt seere," 
(Sonder acht heurer deuxhtj sijn tonder gheresen, 
Verstooten, verworpen, maer weder na desen 
Voorts ghecomen tot seer grooter eere, 
Nimmermeer verlaten van Godt den beere, 
Hoe seere de twistighe daer sijn thegen, 
Wel hem die sijn tot vrede bedeghen. 

Wenn das Volk aufrührerisch wird, heisst es weiter^ 
dann sind es nicht nur die schönen Worte der Poeten, die 
den Sturm beschwören können, sondern die Rethorica: 

Das segghen wy, dat meest in alle staten, 

Dwel spreken donpaeyse (Unfriede) tot vrede can säten. 



^) Aeneidel., 124: „Interea magno misceri murmure pontam*' etc.^ 
und 141 : „Ac veluti magno in populo cam saepe coorta est sedi- 
tio** etc. 



I. Die Kammern von Bethorica. 375 

Am Tage nach dem Einzüge wurde „in presentie vande 
Borghemeesteren ende beeren der stadt, Hoofbnannen^ Prineen, 
Dekens ende facteurs der Rethorijeken^^ die Rangordnung der 
Spiele durch das Loos bestimmt. ^) 

Am Tage darauf wieder ein Aufzug: dann hielten die 
Kammern ihren ,,8olemnelen ende figuerlijcken kerckgang"; 
und damit auch das mit dem nöthigen Glänze vor sich gehe, 
wurden auch dafür Preise ausgesetzt. 

Am selben Mittag führten die Violieren ein symboli- 
sches Willkommstück auf. 

Der Tag darauf war nicht selten der Thorheit gewidmet. 
So hatte in Antwerpen der Zot oder Narr der Violie- 
ren „alle dande're sotten ghenoot (eingeladen) opte scena oft 
speelhuis om te comen drincken de längste toghen, aldaer de 
selve sotten veel belachlijcke cluchten bedreven ende voorstelden'^ 
(alle anderen Narren auf die Bühne oder in das Spielhauß 
eingeladen, um zu sehen, wer den Preis im Trinken davon 
tragen würde; daselbst führten die Narren viele lustige Pos- 
sen auf). 

Einen Tag später, — denn man dehnte meistens die 
Feier so lange wie möglich aus — Festmahlzeit: „een rijcke- 
lijck banquet met retorijck ende musijck", von den „beeren 
vander stadt" gegeben für „alle de princen, hooftmannen, edel- 
lieden, dekens ende facteurs." 

Erst am sechsten Tage begannen die Vorstellungen oder 
der eigentUche Wettkampf. Jede Kammer trug ein spei van 
sinne über einen aufgegebenen Gegenstand, einen Prolog 



^) Nur in Gent brauchten die Fonteinisten nicht mit zu loosen: 
sie hatten den Vorrang zufolge eines Privilegiums, welches ihnen 1476 
Karl der Kühne gegeben hatte, und worin es heisst: „que d'ores en 
avant, tant qu'il nous plaira, ils puissent k leurs despens faire faire et 
porter robes et chaperons broud^es de notre devise du fusü et de nos 
Couleurs de noir et de sanguin, toutes les fois que bon leur semblera, 
eulz estants en la dicte confrarie, et que ceulx d'icelle confrairie 
soient avant tous aultres preferez k jouer esbatements, mist^res et 
histoires qui se feront en nostre dicte ville de Gand, sans qu'ilz 
Boyent tenus de lothir ou geter sort, ainsy qu'il a est^ faict par cyde- 
vant/^ S. das ganze Stück bei Blommaert, Geschiedenis der Fon- 
teine, S. 104 flgde. 



376 I* I^ie Kammern von Bethorica. 

und eine faktie (Posse) vor, die mit einem Liede beschlossen 
wurde. 

Wie die Violierendie Festlichkeit mit einem poetischen 
Willkomm eröflfhet hatten, so beschlossen sie dieselbe auch 
mit einem dramatischen „verloff oft adieu". 

Aber man hatte an diesem prächtigen Feste, das tage- 
lang gedauert, noch nicht genug; gleich danach (23. Aug.) 
fing man ein ha ag spei an, das nicht viel weniger glän- 
zend war, bei dessen Einzelnheiten wir uns aber nicht auf- 
halten wollen. 



II. 



Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 



180. Welche Stücke brachten die Gildegenossen zur Auf- 
führung? 

In erster Reihe kommen die Speien van zinne in 
Anmerkung (Vergl. S. 317). Es sind dies dialogisirte Be- 
trachtungen über eine moralische Frage, in vollständig alle- 
gorischer Form, selbst so, dass kein einziges Wesen von Fleisch 
und Bein auftritt, sondern nur symbolische Figuren. Selbst 
wenn der Mensch auf dem Verzeichniss der „personagien^^ 
vorkommt, wird damit nicht eine bestimmte, konkrete Person 
gemeint, sondern blos eine personificirte Abstraktion. *) 



^) Ich bin mit mir selbst nicht ganz einig, ob spei van sinne 
(in der Einheit, selten: van sinnen) nicht nur die Bedeutung von Ver- 
standesspiel, d. h. allegorisches Drama habe. Denn obgleich alle auf- 
tretenden Personen in der Kegel symbolische Figuren sind, so werden 
doch nicht alle, sondern nur einzelne als sinnekens bezeichnet. Ich 
lasse der Deutlichkeit wegen einige Verzeichnisse von „personagien^* 
( Personenverzeichniss ) folgen, welche ich den Antwerpener Sinnspielen 
aus dem Jahre 1561 entnehme: 

1 . Vemuftighen sin, een jonck man fray (schön) ghecleet. Wetenschap, 
een cierlijcke vrouwe, Voorsichticheyt, een vrouwe . nae hären eysc. 
Eendrachticheit , een vrouwe. Tbehendich ordonneren, sinnewijs. 
De wijsheyt op ten throou sittende. Tvierich beminnen, sinnewijs." 

2. „Tgoethertich vermneghen. In consten verheughen. Dlscoordich 
Voortstel en Onwetenthey t , twee sinnekens. Simpel van verstände. 
Hechte kennisse. Des waerheyts bewijs.** 

3. „Sinnelijcken appetijt, een neefken of sinneken. Onghe- 
hoorstaemheyt, een nichtken. Dwerck Gods, een jonckman. Sgeests 
gracie. Bedene, een vrouwe. Kennisse, een vrouwe. Liefde, een vrouwe. 
Conste, een vrouwe. Loon, eenen man seer rijckelijck ghecleet." 

4. Twist, als een crijsman ; Ledicheyt, als een vrouwe, Sinnekens. 



378 !'• Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

Wir beginnen mit der Inhaltsbetrachtung eines solchen 
Spieles, um eine Idee von der Einrichtung dieser Stücke zu 
geben. Ich wähle dasjenige, welches in dem berühmten Ant- 
werpener Wettstreite den Preis errang. 

Die Frage war: „Wat den mensch aldermeest tot conste 
verwect ?^^ ^) 

Zu Anfang des Stückes sieht man das Verlangend- 
Herte, in der Kleidung van „een statelijk man", in Gedanken 
versunken. Derselbe hält einen ziemlich langen Monolog, in 
welchem er über seinen verlassenen Zustand klagt. Der 
Greest-der-Wijsheid erscheint ihm in der Grestalt eines 
Engels mit dem geflügelten Merkurstab in der Hand; er hört 
seine IGagen willig an, verspricht ihm,- seiner Trauer ein 
Ende zumachen, und bedeutet ihm, dass er von der Liebe 
gesandt sei. Darauf sagt das Herz, wie ein Ding es am 
tiefsten bedrücke, nehmlich die Ungewissheit über die Frage: 
„dwelck den mensche tot conste verwect aldermeest." Wenn 
es dies wisse, dann wolle es ruhig sein. Der Geist antwor- 
tet ihm, dass er „ter liefden der Jonckheyt" ihm die Auflösung 
geben, oder besser sie ihm „figuerlijck toonen" wollte. 

Die folgende Scene beginnt mit zwei Frauengestalten^ 
Natuurlijke-Inclinatie und Begeerte-om weten. 



Den Mensche, met sijn vijf sinnen altoos neven hem, ghecleet als jonghe 
nymphen. Annoede, een vrouwe. Arbeyt, eenen man. Liefde, een 
vrouwe. Godt den Hemelschen Vader. Grods gheest." 

In einem anderen Stücke kommen „Ydel blijschap, een vrouwe*S 
und „Dwase dolinghe, als eenen sot*' mit der Beifügung: „twee 
Sinnekens'' vor. 

In den vier anderen Stücken, welche damals aufgeführt wurden, 
findet man das Epitheton nicht, aber sie werden doch alle speien van 
sinne genannt. Mehr als zwei sinnekens findet man niemals. 

Worin der eigentliche Unterschied zwischen diesen und den übrigen 
„personagien" eigentlich bestand, ist nicht klar; vielleicht nur in der 
Kleidung, die wohl etwas Phantastisches hatte, während die anderen 
Personen die gewöhnliche menschliche Kleidung trugen. 

Kiliaen giebt nicht viel Licht; er sagt: ,,Sinneken int spei, in 
boetsen maecker;" und er erklärt es : „ Atellannus, scenicus, gesticula- 
tor, histrio, pantomimus, mimus, ludio." Und „Nefken", ebenso: „Atel- 
lanus scenicus, prodigus.'* 

Zuweilen repräsentiren die sinnekens das komische, wenigstens 
das alltägliche Element. 

^) Was den Menschen am Meisten zur Kunst erweckt. 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 379 

die sich in ziemlich gewöhnlicher Sprache den Vorrang strei- 
tig machen. Indessen schläft der Mensch ,,in den stoel 
der onwetentheit^^ Er erwacht und fragt, wer sie seien? 
Beide spornen ihn an, nicht länger unentwickelt fortzuträumen. 
Der Mensch gesteht zu, dass er gern verstehen möchte^ 
was er um sich her sieht: den Lauf der Planeten am Firma- 
mente, Sonne und Mond, Blume imd Gras, das Meer und die 
Gewässer, Vögel, Fische und Thiere: 

„Die dat mocht weten, hoe soumense achten !** ^) 
Aber des Menschen Gedanken sind viel zu stumpf! Auf 
Anrathen vom Verlangen will er sich jedoch auf die Wis- 
senschaft verlegen. Er erhält den Kath, sich zuerst auf dafr 

Wenigste zu beschränken: 

„Met lesen en schrijven, sijt daermede content, 

Sijt doch obedient, leert diversche talen •/' ^) 
das ist das Fundament alles Wissens. Dieser Rath bietet 
zugleich die Gelegenheit, eine Anrede an das Publikum über 
die Erziehung der Jugend einzuflechten. 

Zwischenscene , in welcher der Geist der Weisheit 
mit dem Herzen über den Antrieb des Menschen zum Stu- 
dium in der Jugend sich unterhält. Hierauf sieht man den 
Menschen in einer folgenden Lebensperiode : er sitzt pfeifend 
an einem Tische, der mit Musikinstrumenten und Erdkugeln 
bedeckt ist, und malt. Er bekommt einen Besuch von „een 
personagie geheeten Arbeit, met een spade in de handt", 
welche ihn ernstlich zum Studium der schönen Künste und 
der Literatur antreibt. Der Mensch jammert über die Schwie- 
rigkeiten, die man dabei zu bekämpfen habe, 

„Arbeyt overvloedich, wie sou dat behagen? 

Want ghy sijt een plage boven alle plagen!" 
ruft er aus; giebt aber schliesslich doch den Vorstellungen 
der Arbeit Gehör. Er ist jedoch ganz ermüdet, und fallt 
wieder in Schlaf 

Nach einer neuen Pause wird der Mensch von Hope- 
tot-hoocheit (Hoffnung auf Ansehen), und Sorge-voor- 
schande aus dem Schlummer geweckt, welche ihm vorwer- 
fen, wie elend es sei, sein Leben ohne alle Kultur zu- 

*) Wer das wüsste, wie war' er zu achten! 
*) Mit Lesen und Schreiben seid damit content, 
Seid doch gehorsam, lernt verschied'ne Sprachen. 



380 II> Sinnspiele, Possen^ Balladen und Refrains. 

zubringeiL Nach kräftiger Ermunterung versprechen sie 
ihm ihren Unterricht^ zählen ihm dann weitläufig auf^ was er 
Alles lernen müsse und schliessen mit der Andeutung^ bis zu 
welcher Höhe Künste und Wissenschaften den Menschen brin- 
gen können. In einem Tableau erscheint ihm ,,Eere; Bit- 
tende in eenen troon, met een ghelasen werelt ende eenen 
Bcepter in haer banden; by haer sitten de philosopheU; poeten, 
doctoren, ambassaten^ raetsheeren en advokaten, ende andere 
desgelijcx eerlijcx volcx, lesende ende schrijvende." 

Als der Mensch dies sieht, wird er überzeugt und ver- 
spricht, alle seine Kräfte einzusetzen, um Weisheit zu erlan- 
gen; denn „lof, eere en prijs" ist der grösste Sporn, der den 
Menschen antreiben kann. 

181. Wir haben vorzugsweise das Spiel der Löwenschen 
Kammer de Roos zu unserem Beispiele gewählt, weil es 
ohne Einmischung irgend eines politischen oder kirchlichen 
Elementes der reinste Ausdruck des allegorisch - didaktischen 
Greschmackes der Zeit ist, also das ganze Genre am Besten 
charakterisirt. 

Das gilt indessen nur von der Form, dem Verlaufe des 
Stücks. Was die Behandlimgsweise betrifft, so vermisst man 
hier den klassischen Beigeschmack, der schon in jenen Tagen 
überwiegend wurde und in den meisten Stücken vorkonmit. 
Um deutlich zu machen , bis zu welchem Grade dies der Fall 
war, ist es wohl hier am Platze, auch die Analyse des Sinn- 
spieles von dem Groeyenden Boom von Lier folgen zu 
lassen, welches bei jener Gelegenheit den zweiten Preis errang. 

Auch in diesem Stücke sitzt Anfangs der Mensch schla- 
fend ; hier aber auf einem Stuhl „genoemt dencleynen staet". 
Der Friede, welchen man bei diesem Feste „minlijck is 
feesterende" (freundlich feiert), tritt auf und freut sich, dass 

„Die goede Venus, diet al heeft verbeden 

Dee Aeolus met sijn winden vertrecken, 

Phebus stralen blincken hier beneden, 

Op dat de mensch sijn gave sou entdecken. 

Nou 't dus ghevreedt (befriedigt) is, wat sal bera verwecken 

Meest tot der consten goet en sucadich?'^ (gut und süss). 

Die Liebe giebt Antwort auf diese Frage; sie tritt mit 
ihren beiden Kindern auf; eins derselben „Onsterfelijke- 
Glorie" hat sie „op den hals", das andere „Treck-der- 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 381 

Naturen" an der Hand. Das Letztere schickt sie zu dem 
Menschen; es soll versuchen, ihn „door hope der glorien on- 
sterfelijk, claer" zu consten anzuspornen. Bist Du, so fragt 
es, nicht von Gott erschaffen 

„Met den hoofde opwaerts, dat ghy sout aanschouwen 
Themels loop, naer Ovidius ontvouwen?" 

Deshalb den Kopf in die Höhe gerichtet, und durch löb- 
liche Künste nach Ruhm gestrebt. 

Der Mensch will dem Rathe nicht folgen: er hält es für 
„hooverdije", er will sich aber doch auf die Bücher verlegen, 
um daraus das Nöthige zu lernen. Treck verweist ihn auf 
Schriftsteller 

„Als Cleantes, Menander en Cicero 

Als Ovidius, Virgilius en Plato, 

Welx lof men daghelijcx noch hoort vermeeren." 

Nach der Pause treten Dwaze-Dolinghe (die Thor- 
heit), „als eenen sot" gekleidet, und Ydel-Blijschap auf, 
und führen mit Famo ein Gespräch. Was hast Du je dem 
Menschen geschenkt? fragt man sie. — Unsterblichen Ruhm, 
lautet die Antwort. — Das ist was Rechtes, entgegnet 
Dwaze-Dolinghe, 

„Want wie haer oyt socht, heeft druck ghevonden: 
Euripides wert verscheurt vanden honden, 
Cleantes van honger sijn leven liet, 
Thaies moest door dorst en bitte sneven, ziet." 

Weiterverweisen sie noch auf Anaxagoras, Empedocles, The- 
mistocles, Plato, Pericles, Menander, deren Unglücksfalle er- 
zählt werden. Diesen Beispielen stellt Fame die von Diodo- 
rus Siculus und Isocrates gegenüber, und schliesst folgender- 
massen : 

„ . . . . Cicero meer naer glorie haecte 

Dan naer spijse, die hy ook niet en versaecte. 

Staet daer niet Metamorphosi int sluyten? 

My Ovidium heeft desen boeckdoen uyten, 

Om als my de doot sal comen benouwen 

Soo sal ick dalder beste behouwen. 

Dat naer mijn doot zal bliven onbederflijck 

Hemels, en hier eenen naem onsterflijck, 

Welck van water oft vier en sal werden verslint.'' 

Der Mensch weiss nicht, zu was er sich entschliessen soll, 



382 ^^* Sinuapiele, Possen, Balladen und Refrains. 

als er dieses Geschwätz hört; und nun auch die Sinne schei- 
ten. Dwase sagt: willst Du Dich auf die Künste verlegen, 
thu' es dann ,,om ghewin". Dagegen sträubt sich Farne, 
und der Mensch leiht ihr Gehör und verjagt die beiden niedri- 
gen Prosaisten. 

In der folgenden Scene studiert der Mensch „in diversche 
boeken, met* een sphera bij hem en andere instrumenten (in 
verschiedenen Büchern, einen Globus und andere Instrumente 
um sich her), zu grosser Freude von Welbehaghen und 
Neerstich-Useren (Eifrige Arbeit), die ihn unterrichten in 

„de rechte inanieren 
Die nootlijck sijn tot der consten vercoren." 

Der Mensch hat des Kopfzerbrechens genug und will 
spazieren gehen, aber Neerstich hält ihn zurück, spornt 
ihn zum Fleisse an, und führt ihm das Beispiel verschiedener 
fleissiger Personen des Alterthums vor die Augen; des Aure- 
lius Alexander, ApoUonius von Tyana, Orpheus. Der Mensch 
lässt sich überreden, geht aber doch mit ihr ins Freie, um 

43ich zu 

„vermaken int groene 
Door bosschen, velden en schoon valeyen/'^) 

Neue Scene. Gespräch zwischen Fame, Dwase-Dolinghe 
und Ydel-Blijschap. Die beiden Letzteren wollen die 
Faam überreden, bei ihnen zu bleiben; diese aber will fort, 
um des Menschen Namen überall bekannt zu machen, 

Midts dat hope der onsterflijcker glorien 
Hem tot consten verwect, die met victorien 
Wt den Clären hemel comen ghesproten. *) 
Sie macht ihm eine Beschreibung von den sieben schönen 
Künsten, imd widmet der Poesie und Malerkunst das grösste 

Lob; 

„Want een Schilder een swijghende poete es, 
Er oock is een poete, verstaghet expres, 
Een sprekende schilder met luyder faconden: 
Met Rhetorica sijn sy verbonden, 
Als Cicero seyt." 



^) „vergnügen im Grünen, 

In Hainen, Feldern und schönen Thälern." 

*) Weil Hoffnung auf unsterbliche Glorie 
Ihn zu Künsten erweckt, die mit Viktorie 
In dem klaren Himmel sind entsprungen. 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 383 

— 7,Der Mensch wird sich noch toll studieren , wie Grates 
von Theben, sagt Dwase-Dolinghe. — Oder wie Demokrit; 
fügt Ydel-Blijschap hinzu. Die Erstere, welche den 
niedrigsten Positivismus vergegenwärtigt, greift die Faam 
folgendermassen an; 

„Versiet u van hier, ghy clapachtige Fame, 
Die overal maect sog veel ghesnaters: 
Wat overvliegt ghy al lants en waters, 
Heel uwen persoon en is maer een wint!" 
Faam, voller Freude, dass der Mensch durch Hoffnung 
auf Unsterblichkeit zu den Künsten geführt ist, fliegt hin, um 
dies überall auszuposaunen. 

Die beiden Gregner sind nun ganz entmuthigt und gehen weg, 

„tot die ydel dwase, 
Die cm ghelt willen ondersocken säen 
Wercken die onder den hooehsten constenaer staen;" 
denn hier fühlen sie sich „met rechte doctrijne .... zu Boden 
geworfen.'^ 

Eine neue Scene fuhrt uns den Menschen in der Gre- 
seüschaft von Neerstich-Useren, Welbehaghen en 
Trek-der-Naturen vor. Er ruft die Musen an, ihm ihre 
Gaben zu schenken, bittet seine Begleiterinnen, ihm ferner 
-Schutz zu verleihen, und überlässt sich dann aufs Neue seinem 
Studium. 

Darauf erscheint ihm wirklich die Conste, „int gülden 
ghecleet, met eenen spiegel in haer hant", die nach ihrer 
eigenen Aussage wird 

• „Gheestimeert boven alle Godinnen."^) 
Als der Mensch sie bemerkt, wird er durch ihre Schönheit 
und Pracht ganz entzückt. Sie lobt ihn, dass er sie um des 
Ruhmes, nicht um Goldes oder Silbers willen liebe; und ver- 
weist ihn auf das Vorbild des Anaxagoras und Demokrit, die 
einst dasselbe thaten. Der Mensch seinerseits bezieht sich 
auf Lucian. — „Hope van glorien" ist der beste Sporn, sagt 
Kunst. Zur Belohnung lässt sie ihn eine Vision sehen. In 
den Wolken erscheint „de name Gods in Hebreusche, om- 
meringt met Cherubinnen", und Fame ruft aus: 

„Aensiet dat nu, dat eewich blijft tot allen daghen, 
Daer de Antiqoiteyt met nauwer listen 



^) Mehr als alle Göttinen geehrt wird. 



384 II' Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

Altijt op ghehoopt hebben sonder yertraghen, . 
Om te kennen daer sy niet af en wisten.'' 
Nachdem sie wiederholt ihr eigenes Lob verkündet, und 

sich auf „VirgiliuB Ma!ro" berufen, befiehlt sie ihren Schützling 
in die Obhut von Neerstich-Useren, und dieser erklärt 

nochmals, dass er auf das hofffc, was ist 

„Yanden Poeten ghenoemt Elisius dat 

Daer de sielen onsterflijck eeuwich regneren/' 

182. Man sieht, wie das Studium der Alten Feld gewon- 
nen hat und allgemein geworden ist Die ritterliche Helden- 
sage scheint vergessen zu sein: man findet keine einzige An- 
spielung auf vaterländische Ueberlieferung oder Volkspoesia 
Und wie hier, ist dies auch anderwärts der Fall. Der poetische 
Gesetzgeber jener Zeit, Matthijs De Castelein, der in den 
alten Dichtern sehr belesen ist, macht nur ein einziges Mal, 
in einem politischen Liede (Nr. 6) eine Anspielung aui „Gra- 
weloen"; und von seinen Gedichten ertönt nur ein einziges 
in populärem Tone „der Sermoen van Sente Reinuut". 
Dagegen werden überall, auch in den Sinnspielen, römische 
oder griechische Dichter, Philosophen und Künstler genannt 
und angezogen. 

Wenn man hört, wie die Rederijker über Kunst und 
Pbesie sprechen, ja, wie selbst die griechischen Tragödien als 
Muster dargestellt wurden ^) und dabei sieht , wie wenig die 



*) In dem 1561 von der Antwerpener Gouds bloem dargestellten 
Stücke sagt dieLoflijcke Fame: 

Homerus hier af de vader certeyn is 

En thoot van alle Griexse Poeten 

Euripides heeft hem oock wel ghequeten (seine Aufgabe gelost) 

Hier inne, als schrijver der Tragediep, 

Aristophanes constighe Comedien 

Sijn prijselijck om verheven noch te sijne, 

En Sophocles heeft ghetoont een schoon doctrijne, 

Die seer weerdich hier oock is om noemen; 

Dus segghe ick int corte, sou ick my beroemen 

AI der Griexser Poeten lof te verbalen, 

Ick behoefde beter te sijne ter talen 

Dan Mercurius selve, seer facondich; 

Ja, al haddick hondert monden wel mondich 

En hondert tonghen, ick segghe noch int sluyten 

Den grooten lof waer seer quaet om uyten 

Vander Griexser Poesie, die laudabele 

En wecrt alder eeren sijn. 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Befraias. 385 

Praxis mit der Lehre in Uebereinstimmung war; welch eine 
weite, unübersteigliche Kluft zwischen den Vorbildern und 
diesen unbeholfenen Sinnspielen sich ausdehnt; dann fühlt 
man, dass die Volksdichter noch lange nicht in den Geist 
ihres Gegenstandes eingedrungen waren. Von eigentlichem 
Wiederauf blühen der Klassiker war noch keine Rede; aber das 
Studium der alten Zeit hatte die zahllosen Rederijker an 
Bilder und Klänge gewöhnt. Diese wurden aus Eitelkeit 
übernommen, das gehörte schon damals zur Bildung ; und aus 
den zuletzt angezogenen Strophen des Spiels von Lier sieht 
man, wie dabei zugleich die für eine christliche Gesellschaft 
ganz sinnlose heidnische Mythologie auf den Thron erhoben 
wurde ; dies machte aber die Poesie bald für einen Jeden unver- 
ständlich, der nicht mit Olymp und Acheron vertraut war. Denn 
wenige Dichter hatten den Muth und den gesunden Menschen- 
verstand, um, wie die Kammer von Herzogenbusch, zusagen: 

De neghen Musen, soo sy som versieren 

Die men als voesters van dese (consten) voor sou setten, 

Laet ic driven, opdat men sou letten 

Op den geest der wijsheyt, daer sy alle wt spruyten. ^) 
Wenn nun auch der klassische Geist und Geschmack 
wenig ins Volk eingedrungen war, so war dies doch um so 
mehr der Fall mit der Kritik, welche auch die Renaissance 
charakterisirte. Und nun verwundert man sich vielleicht, dass 
nach unserem Ausspruche über die sociale Bedeutung der 
Rederijker, (S. 338) in der Stadt, die bald der Brennpunkt 
der Reformation und des Aufstandes gegen Philipp wurde, 
die Sinnspiele so ganz frei von Anspielungen auf die grossen 
Tagesfragen blieben, welche alle Gemüther in Bewegung 
setzten. Aber man behalte im Auge, dass dies gerade bei 
dieser Gelegenheit bei strengen Strafen verboten war, und 
dass das drückende Plakat von 1660 „van de strafheit van 
dien (nach Bor's Ausdrucke) vele onpartijdige rechteren hen 
seer waren verwonderende ende ontsettende," vor kaum einem 
Jahre erschienen war. Dennoch wagte man schon ziemlich 
deutliche Anspielungen. Es ist unmöglich, nicht an Inquisi- 

^) Und die neun Musen, ob sie oft auch schmücken, 
Als Pflegerinnen von der Kunst zu nennen, — 
Das lass ich unerwähnt; doch soll man kennen 
Den Geist der Weisheit, aus dem sie entsprossen. 

Jonckbloet's Geschichte der Niederlfindischen Literatur. Band I. 25 



\ 



386 U> Siimspiele, Possen, Balladen und Befrains. 

tion und Ketzerrerfolgung zu denken ^ wenn man Verse, wie 
die folgenden liest, welche im Spiel der Kammer von Bergen- 
op-Zoom vorkommen: 

Laet ons liefde onder malcanderen houwen, 

Sy is vriendelijck, sy en begheert niemants haet, 

Sy bemint den vrede ende des wijsheits raet, 

Sy is gaedertieren (barmherzig) en gheeft langmoedicheyt, 

Daer sy domineert is dlant in voorspoedicheyt. 

De liefde ghebruyct goede ordenantie, 
De ghemeente blijft in concordantie, 
De hoocheyt sietmen totter ghemeenten voeghen. 
Auch am Schlüsse des Stückes der brüsseler Kammer 
das Marien Cransken findet man eine Bemerkung über 
Liebe und Einigkeit; aber zumal Herzogenbusch sprach es 
ziemlich deutlich aus: 

Christlijck huyshouden vriendelijck en ghednldich 
Teghen een yeghelijck en is gheen cleyn conste, 
Daer elc mensche, midts der liefden jonste 
Op hoort te achtene vrij, sijn leven lanck. 



"Waertoe is de kennisse ons ingheplant 
Er tredelijck verstant ons ghecomen by, 
Dan dat wy malcanderen als broeders vry 
Tot dienst souden leven naer der liefden aert. 

Hebt lief uwen naesten, is God vercleerende, 

Als u selven, so volbrengdy de wet. 

Aldus dan, die de liefde achterset, 

Den Gheest Gods seer net hy oock van hem jaecht 

Wer erkennt nicht willig an, dass die Männer, welche unge- 
achtet des Damoklesschwertes über ihrem Haupte, ungeachtet 
der Beispiele von Verfolgungssucht und Erbitterung, die ihnen 
überall entgegentraten, so zu sprechen wagten, und die dabei 
von Liebe für Wissenschaft und Kunst glühten, die Träger 
der wahren Bildung waren; wenn sie auch abscheuliche Verse 
machten, und wenn die Art ihrer Darstellung auch zuweilen 
schulmeisterlich pedantisch war! 

183. Man beschränkte sich jedoch nicht auf einzelne An- 
spielungen: zuweilen behandelt ein ganzes Landjuweel die 
Fragen der Zeit. 

Das Sinnspiel war immer, wie Hoofk es genannt hat : „een 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 387 

stichtelyke vermaakelykheit^' (ein erbauliches Vergnügen) 
und hatte ; wie wir schon bemerkten, von Alters her eine 
«ittlich- religiöse Richtung. Man sieht dies schon aus der 
Frage, welche 1496 in Antwerpen zur Beantwortung vorge- 
legt wurde: ,,welck aldermeest mysterie oft gratie wäre, dat 
Godt verleent heeft tot des menschen salicheyt?" Damals lau- 
tete die Antwort der Kammer von Herenthals, welche den 
«rsten Preis errang: „het Sakrament des altaars;" — aber 
welch ein verschiedener Geist sprach aus den Stücken, die 
1539 zu Gent aufgeführt wurden! 

Die damals ausgeschriebene Frage hatte in Betracht der 
Zeitverhältnisse eine wichtige Bedeutung; sie lautete: „welc 
den mensche stervende meesten troost es?^' 

Neunzehn Kammern antworteten darauf, ^) und die mei- 
sten Antworten athmen durchaus keinen katholischen Geist: 
im Gegentheil, aus beinahe allen damals aufgeführten Spielen 
spricht schon vernehmlich der Flügelschlag der Reformation. 
Man bildet sich jedoch über den Inhalt dieser Stücke eine 
verkehrte Idee, wenn man meint, dass sie durchweg scharfen 
Tadel gegen den Papst, die Mönche, den Ablasskram, die 
Wallfahrten und andere Eigenthümlichkeiten der römischen 
Kirche enthielten. Im Gegentheil : dergleichen Ausfalle kommen 



*) „Hier naer volghen de reglen van solucyen van den 19 Cameren 
van Ehetorijcken , in summa, ghegheven op de vraghe voomomt, naer 
•dordonancye dat die haer speien vertooght hebben: 

„Leffijnghe: Hope der ghenaden Christi. Brugghe: Tbetrauwen 
duer twoordt, op Christum alleene. M e e s e n e : Tbetrauwen op dont- 
fermihertigheyt Godts, met berau van zonden. Iperen: Tlevende 
woordt Godts. Nieukaerke: In Christo Jesu sterven en verryzen, dit 
ghelooven duer sgheests bewyzen. Nieuport: Christus moet alleen des 
menschen troost zijn. Antwerpen; De verryzenis des vleeschs. 
Thielt: Tbejbrauwen dat met Christo alle dijngh ghegheven es, 
Thienen: De ontfermhertigheyt des beeren. Axele: Een goe wel 
gheruste conscyencye. Bruesel: De Beloftenesse Godts. Meenene: 
De roerijnghe sgheests, betughende denpays met Godt. Audenaerde: 
De ghetughenesse des gheests dat wy kinderen Godts zijn. Caperijcke: 
De ontfermhertigheyt Gods midts hope. Corterijcke: Godts ontferm- 
hertigheyt int onderdanigh maken des vleeschs onder den gheest. Loo 
in Vueren-ambocht: Jesus Christus advocaet en vuldoender voor 
Godt den Vader. Edijnghen: De verryzenisse Christi. Winnocx- 
Berghe: Tbetrauwen dat u Christus en zynen gheest ghegheven es 
Deynze: Hope duer schriftuere." 

26* 



V J 



388 II- Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

nur ausnahmsweise vor. Die grosse Bedeutung der gentschen 
Sinnspiele vom Jahre 1539 beruht in der darin gepredigten 
Lehre: gepredigt, denn sie sind wirklich nichts Anderes, 
als gereimte und dialogisirte Predigten, in welchen die Lehre 
von der Rechtfertigung aus Gnade, gegenübergestellt 
den guten Werken, verkündet, in welchen überall auf die 
Bibel und Augustin, niemals auf Thomas von Aquino oder 
Scotus hingewiesen; in welchen endlich das Lesen der heili- 
gen Schrift als ein Recht der Laien dargestellt wird. ^) Merk- 
würdig ist es, dass in allen neunzehn Stücken, die einen 
ganzen Band füllen, die heilige Jungfrau nur ein einziges 
Mal, und auch dann nur im Vorübergehen erwähnt wird. 
Nicht nur Verkehrtheiten werden getadelt, wie z. B. der Ab- 
lass, selbst in dem sehr katholischen Stücke von Meesen, *) 
sondern auch gute Werke, wie Fasten, Wallfahrten, Ver- 
ehrung der Heiligen, finden Tadel; 3) jedoch ohne Heftig- 



*) Im Spiele der Kammer von Brügge liest man : 
Voorwaer onder alle ghiften ghemeene 
Van Godt den vadere oiis ghelaten 
Oorboorlicker gheene, tot onzer baten 
Dan dhelighe schriftuere, waer duer men kendt 
Van onzen gheloove hem recht fondament. 
(Fürwahr, unter allen Gaben auf Erden, 
Von Gk)tt dem Vater zu uns gekommen, 
Ist keine mehr nütze zu unsern Frommen, 
Als die heilige Schrift, durch welche man kennt 
Vom Glauben das richtige Fundament.) 

Darauf fragt Twijffelic-Zin: 

Eyst niet ghenough datse de gheleerde weten? 
Op dat zy ons waerschuwen van ghebreken 
Daer wy in misdoen? 

Aber die Antwort von Schrift uerlic-Troost, eine Person, die 
in vielen Stücken vorkommt, lautet: 

Hoort Paulum spreken: 
AI datter gheschreven es, verre of naer, 
Es tot onzer leerijnghe gheschreven vorwaer, 
Ende een andere gheift ons verstandt 
Dat elc magh nemeu boucken inde handt 
En lezen, erlezen, waer dat zy gaen, 
Tot dat zyze duer veil lezens verstaen. 
Zo cryghende een vast gheloove expres. 

2) Siehe die Stelle bei Kops, S. 245. 

^) In demselben Spiele von Brügge heisst es: 



IL Sinnspiele, PQssen, Balladen und Befrains. 389 

keit oder Ironie. Im Allgemeinen ist der Ton ernst und er- 
baidich. Es darf uns darum nicht verwundern, dass man die- 
sem Landjuweele grossen Einfluss auf die Ausbreitung der 
Keformation beigelegt hat. 

Wat heet ghy goe ghewaercken? 

— Pelgremagen, vasten, 
Bidden en feestelicke daghen vieren, 
Messe hooren, en al zulcke mannieren; 
Kaercken stickten, aultaren, eapellen, 
Voor de zanten en zantinnen kaerskins stellen 
Op dat zij ons verwachten voor thelsche refuus. 
Und wie lautet nun die Entgegnung: 

De mondt es in de kaerke, therte es thuus, 
Wy drijncken drancke, wy vieren de daghen, 
Wy hooren de messe, wy vloucken, wy plaghen, 
Wy stiebten kaerken met ander liens goet, 
Wy vesten kaerskins, wy stillen den moedt 
Omme tanziene eens anders meszit, 
Wy loopen tot smeikens, wy laten den smit, 
Wy dienen de zanten, God stelwy bezyen. 



Voort de ghewaercken die ghy daer verhaelt 
En mueghen niet helpen teenygher ueren 
Want zy moghen zonder gheloove ghebueren. 
En Paulus zeght wt jonstygben gronde, v 
AI dat niet wt gheloove gheschiedt es zonde. 

Die von Meesen lassen den Menschen sagen: 
Ware trijcdom van haven in my prezent, 
Zo moghtic brieven van pardoenen coopen, 
üutvaerden, jaaerghetyden stiebten by hoopen, 
Om daer duere te zyne wt purgacye; 

Worauf ihm Ghetughe-de s-gbeests entgegnet: 
Neen, mensche, dat wäre God difamacye: 
Moght ghy duer eyghen invencye zijn zaligh, 
Zo en hadde Christus niet ghezijn betalich 
Voor tmenschelicke gheslaghte. 

Und als im Spiele derer von Nieukerk der Mensch fragt : 
Zal ic dan ter waerelt in gheenen houcken 
Pardoenen noch afiact van zonden zoucken, 
Dan alleene in Christum en nieuwers el? 
60 antwortet Scbriftuerlic-Troost: 

En trauwen neen, dit verstaet ghy wel: 
Duer hem es ghegbeven den grooten aflaet. 
Dat es verghevinghe van alder mesdaet : 
Totten Romeynen staet, alzo wy lezen, 
God helft zijn liefde jeghen ons bewezen 
Dat Christus gheprezen voor ons es ghestorven. 



390 U* SinnBpiele, Possen, Balladen und Refrains. 

184. Aber dieser ruhige Ton wurde nicht immer ange- 
schlagen: zuweilen kam auch die schärfste Satyre in Anwen- 
dung. Dies geschah zumal in einem Stücke, welches im sel- 
ben Jahre, wenige Monate später, zu Middelburg gespielt 
wurde, und den Titel hat: Den boom der schriftu eren. 
Es fangt mit einer Zwiesprache Christi, der nicht ge- 
nannt^ aber als „de Medicijn der zielen" (Arzt der 
Seelen) angedeutet wird, mit Elc-Bysonder, einer Frau 
im Nonnengewande an. Er sagt ihr : so lange Du meinen Wil- 
len erfüllst, will ich Dich behüten wie meinen Augapfel; und 
er warnt sie zugleich vor den falschen Propheten, von wel- 
chen er sagt: 

Si verleyden mijn schapen aen elcken cant 
Duer tsophistich verstant dat si useren: 
Diet wil contrarieren, moet werden verbrant 
Oft verdreven wt het lant. 
Ferner giebt er ihr noch folgenden Rath, der aus diesem 
Munde allerdings sonderbar klingt: 

Jaecht menschen leeringe van u, als dief wijt, 
Eygen wijsheyt, natuerlijc begheren laet, 
Leeft hier in ... . 

Van onder desen boom niet wech en gaet, 
Blijft in dit prieel, vliet smenschen aflaet 
Die puerlic staet op eyghen Verdienste. 
Ist paus, prelaet, potestaet, legaet, 
Die sulcke daet defendeert, tis quaet 
Ypocrytich raet, seer obstinaet. 

In einer folgenden Scene treten die Eigenschaften personi- 
ficirt auf, vor welchen eben gewarnt worden ist: Mensche- 
lijke-Leeringhe mit ihren Dienern Eyghen-Wijsheyt 
und Natuerlycke - Begheeren, denen er aufträgt, ihm 
Elc-Bysönder herbeizuholen , mit welcher er den Ehebund 
schliessen will, und die in der Laube von Suver-Conscien- 
tie unter dem boom der schriftueren ruht. — Ich will 
mein Möglichstes thun, verspricht Eyghen-Wijsheyt, und 
ich habe wohl die Macht dazu: 

Alle schriftueren can ic controlueren 

Devangelische doctueren can ic versteken, 

Aristoteles, Ovidius, daer wt can ic preken, 

Virgilius, Plato en Thomas d'Aquijn 

De Lyra, Scotum, Donatianum, ic hebse al duerkeken^ 



n. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 391 

Met vernufte woordekens onder een duechdelic schijn 
Breng ic tvolc en mi in deewich gepijn; 
Is dat niet fijn? 
Sie erhalten den Befehl, „der schriftueren boom" zu ver- 
nichten. Beide bereiten sich zu den^ Zuge vor, indem sie 
sich verkleiden. Eyghen-Wijsheyt hüllt sich in das Ge- 
wand „tberoemen van duechdelike wercken," ihre Schwester 
bekleidet sich ,,met tschijn van duechten." Bei der Frau an- 
gelangt, reden sie dieselbe mit lieblichen Schmeichelworten 
an, und richten ihren Auftrag aus. Sie antwortet, es sei schon 
Einer da, der sie 

Als bruyt, suster en vriendinne heeft ghecocht 
Met zijnen bloede. 
Zum Unterpfande seiner Treue hat sie „het testament synder 
woorden" empfangen, worin sie oft liest, um ihr Leid zu be- 
schwichtigen. 

Die Gesandten schelten den Abwesenden, der sie einsam 
lasse; und was das Lesen der Schrift angeht, 

Daer isser om verbrant, onthalst, versmoort, 
Dus laet toch dryven die mametterye, 
De meeste menichte houwent voor ketterye, 
Latet goeden nacht hebben, sonder veel gepijns. 
Sie überreden sie, indem sie ihr einerseits Furcht ein- 
jagen, anderseits schöne Versprechungen machen; sägen hier- 
auf den Baum der schriftueren, der in ihrem „rosier" steht, 
um, und führen die Braut zu ihrem Herren, den sie folgender- 
massen schildern: 

Sijnen rechten naem is 's menschen leeringhe: 

Int geestelijcke Sodoma is zijn verkeeringhe 

Binnen Babilon, die groote, heeft hi zijn geweit; 

Leviathan is sijns rijcx vermeeringhe, 

Apollion alle sijn vianden quelt, 

Pluto den godt heeft hem machtich ghestelt 

Boven alle coninghen hier oepter aerden, 

Tduyestere Egypten is syn triumphantict velt, 

Hi sidt opt beest met seven hoofden, vol eerweerden. 

Die Braut wird darauf in das Gewand der „Ypocrisie" ge- 
kleidet, welches mit Götzendienst und Simonie verziert ist; ihr 
Haupt bedeckt sie mit „blaaunwe (betrügerische) devocie". Wäh- 
rend sie mit ihrem Bräutigame zur Tafel geht, geben die beiden 
Diener eine Beschreibung von der Burg ihres Herren; die Mauern 



392 II* Sinuspielef Possen, Balladen und Befrains. 

heissen Eigensinn^ Unwissenheit, Verschwendung und unrecht- 
mässiger Gewinn, und sind aus dem Blute und Schweisse von 
Wittwen und Waisen erbaut. Herr und Diener unterhalten 
sich ferner während des Trinkens über ihr Wesen und ihre 
Macht. Endlich ruft die Braut, die schon manchen Becher 

geleert hat, aus: 

Tsal met desen vnjn dient wel ghenet 
Elck zijn kele, dus doe ic aldus. 
En dees brocken souwen mi schier maken vet: 
Hoe heet dit? habeamus en rapiamns, 
Ende dits date, dits requiem ende dit gandeamus, 
Ende de schotele die heet „dies heb ics vre." 
En bey hola, laet mi spellen tsus, tsus tot vlus, 
Tis in manibus meis portabunt te, 
Brenghet al in mijn bant, dat is goe ze; 
Ic houdt so me, wiet anders ontkeert. 
Peceavi, dats baest tgoet vermeert, 
Neen, daer wil ic al me te neste draven. 
Wogegen der Herr sich in folgenden fröhlichen Ausdrücken 
ergeht : 

Elc-Bysondre heeft baest menscbelike leeringe gbeleert, 

En tis beter dan wereken en slaven. 

Vercoopet al, sacramenten en graven, 

Doopsel, kerckganck, keerssen en pellen, 

Scbeert, trect, pluct af tvolcs baven, 

Verbuert de steden om de kisten de stellen, 

Glocken en schellen, orgbels, sanck ende bellen, 

Wilt u toi verbueren poogben tsal u profijt zijn, 

Diet goet beeft siet, tsy kereken oft cellen, 

Sl sijn wijs gbeaebt al mogense sot somtijts toesien, 

Ende voor tvolc suldy gbebenedijt zijn, 

Doer blau devocie en ypocrisye. 

Wildic met u tavent niet in jolijt zijn, 

Ic sou u Jeeren al de weerlycke boeverye, 

Ontwegben, ontmeten met allen fraudye, 

Ontsweren, ontkennen en sulcke dingben. 

Als es so weit gekommen ist, ruft Medi cij n der zielen 

den Glauben auf, dem Reiche von Menschelijke 

Leeringhe ein Ende zu machen und Elc-Bysonder aus 

seinen Klauen zu erretten. Die beiden Diener begegnen dem 

Glauben mit harten Worten: 

Sydy oock een van die duytscbe doctoren? 

In mijnen tboren doe ic branden en versmoren. 



II. Sitinspiele, Possen, Balladen und Befrains. 393 

Oft onthalsen al voren; gbi wilt mijn rechten verstoren, 
Prelaetscepen en choren, die wi heylichlic orboren. 
Wy gheleerde zijn van God vercoren boven andere tresoren 
Oft costelike yvoren ; en suchte doren willen scriftuere stören 
Wech, ruyde mooren! Wy geleerde geschoren 
Nemen schriftuere byden ooren, tis in ons macht, 
Meendy dat Elc-Bysonder op u preken acht! 
Aber der Glaube streitet mit dem ,,tsweertvan twoort Gods", 
imd so gelingt es ihm endlieh, Elc-Bysonder zu ihrer 
,;ersten Liebe" zurückzuführen. 

Als der Glaube seinen Widersachern tüchtig die Wahr- 
heit gesagt hat, erscheint endlich dieMedicijn der Zielen 
am Kreuze und ruft mit ausgebreiteten Armen Alle die müh- 
seKg und beladen sind, zu sich; darauf folgt eine Anrede an 
das Publikum, in welcher es u. A. heisst : 

Ic bidde elc byzonder, dat hi bewaert 
Tgoddelic woort der heyligher schriftueren ; 
AI u wercken, hoe duechdelic vermaert, 
En Süllen in Gods aenscbijn niet staende gedueren. 
Niet dat gbi meynt, redelicke creatueren, 
Dat men u goe wercken misprijst: 
Tbeste werc is barmherticheyt in liefden gebueren, 
Dwelck wt Gods woort doer tgheloove rijst.^) 
Das Ganze schliesst mit einem Segenswunsche für „dees 

Neerlanden", den Kaiser und „alle beeren, die ons regeeren." 
185. Aus diesen Beispielen, denen wir noch eine Menge 

andere hinzufügen könnten, 2) zeigt sich deutlich, wie eifrig 

*) Ich bitt* jed' Kreatur, dass sie bewahrt 
Der heil'gen Schriften göttlich hohe Lehren, 
Denn alles Werk, ist's auch von frommer Art, 
Muss doch vor Gott den rechten Werth entbehren, 
Nicht dass man darum hält in niedem Ehren, 
Ihr treuen Menschen, eure gute That : 
Barmherzigkeit, die Lieb nur kann gewähren, 
Find't erst in Gottes Wort des Glaubens Saat. 
*) In demselben Buche, in welchem das zuletzterwähnte Stück vor- 
kommt, steht noch een spei van sinnen op tderde, tvierde 
ende tvijfde capittel van dwerck der Apostolen, im selben 
Jahre von den scholieren aufgeführt. Die Zeitanspielungen sind sehr 
augentällig: zumal wird die Verfolgungssucht gegen die „nieuwe pre- 
dicanten*' an den Pranger gestellt. 

Als de gheestelicheyt is verwoet 

So doetse dat den duvcl niet en doet. 



394 II. Sinnspiele, PoBsen, Balladen und Befrains. 

die Rederijker an der Verbreitung des Reformationsgeistes 
Antheil nahmen; und aus der Art und Weise, in welcher dies 
geschah; und welche sie anwendeten, um des Volkes Aufinerk- 
samkeit und Interesse zu erwecken, kann man wohl schliessen, 
wie gross ihr Einfluss gewesen sein muss. 

Zweifel und Meinungsverschiedenheit auf kirchlichem Ge- 
biete war in jenen Tagen der Anfang von Empörung gegen die 
Obrigkeit auf politischem Gebiete. Das lag in der Natur des 
damaligen Zustandes ; und wie die protestantischen politischen 
Schriftsteller die Theorie erkannten und vertheidigten , ^) so 
haben Karl V., Philipp und Alba mit eiserner Hand gegen 
ihre praktische Ausführung gekämpft. Daher kommt es auch, 
dass unter den Sententien des Letzteren gerade die Re- 
derijker so viele Todesurtheile trafen ; man denke nur an 
jenen Hauptmann der Antwerpener Vidieren, den Bürger- 
meister van Stralen, der eines der ersten Schlachtopfer wurde. 

Wie eng der Zusammenhang zwischen politischen und 
kirchlichen Meinungen war, erhellt aus der 1562 in Brüssel 
ausgeschriebenen Frage: Wat den Landen can houden 
in rüsten? Die Refrains, womit diese Frage beantwortet 
wurde, schildern den jammervollen Zustand des Landes, „so 
entsetzlich durch Glaubensverschiedenheit zerrissen, um des- 
sentwillen man einander, gegen Gottes ausdrücklichen Befehl, 
hasst und verfolgt", und ermahnen „einen Jeden, den Zwist 
zu scheuen, und sich zu bestreben, nur an Gott zu glauben, 
und seinen Nebenmenschen zu lieben". 2) Rein politische 
Poesie finden wir im sechszehnten Jahrhunderte weniger 



In der „conclusie" wird auch darauf hingewiesen: 

Hoe nu wort geschent des waerheyts predicatie, 
und im Stücke selbst wird daran erinnert: 

En hoorde ghi niet van tghebot spreken 

Hoe datser niet mueghen af clappen en muyten, 

Ende groote correctie ende buyten, 

Hooft en voeten 't wäre al verbuert. 
Vor Verfolgungssucht wird nachdrücklich gewarnt, 

Want malcander te baten en is gheeu duecht, 

Maer in paciencie leyt die rechte vruecht. 

*) Man sehe z. B. Vindiciae contra Tyrannos, die Hubert 
Languet herausgab. 

») Kops, Schets, S. 260. 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 395 

auf der Bühne, als in Liedern, Balladen und Refrains. Eine 
ganze Sammlung politischer Balladen, Refrains, Lie- 
der und Spottgedichte, alle gegen die Reformation und 
den Aufstand gerichtet, wurde durch die „Maatschappij der 
Vlaamsche Bibliophilen^^ herausgegeben, und bildet gewiß- 
sermassen ein Seitenstück zu dem Greusen Liedt-boeck. 
Erst auf dem Rederijkerfeste, welches im Sommer 1616 zu 
Viaardingen gefeiert würde, und an welchem die vornehmsten 
Kammern von ganz Holland Theil nahmen, tritt die eigent- 
liche Politik in den Vordergrund. Die Frage für das Sinn- 
spiel lautete: 

Wat middel dat best dient ghenomen byder handt, 
Die 't Gemeen nodigst is, en vorderlijkst voor 't Land? 
Zum Stoff eines Liedes wurde folgendes Thema aufgegeben: 

Door eendracht die macht maeckt, is een Landt sterck en krachtich^ 
Maer door inlandsch' onvree winnelijck en onmachtich. 

Endlich wurde für die sogenannten Knie-gedichte die 
Refrainzeile vorgeschrieben: 

Dus baert OQvrede vree, en vrede weer onvree. 
Die damals auf „Vlaerdings Redenrijck-bergh" gepflanzten 
Blumen waren nichts weniger, als duftend: wir schweigen 
deshalb darüber, um so mehr, da wir wahrscheinlich bei der 
Besprechung des theologisch -politischen Dramas von Coster 
und Vondel wieder darauf zurückkommen müssen; dasselbe 
entstand beinahe zu gleicher Zeit. 

186. Man beschränkte sich nicht bloss auf Stücke mit nur 
symbolischen Figuren: es kamen auch solche in die Mode^ 
worin historische Personen auftraten, die man der Bibel, der 
klassischen Geschichte oder auch den vaterländischen Chroni- 
ken und Sagen entnahm. Darin spielten aber die Zinne- 
kens noch immer ihre Rolle; meistens beschränkten sie sich 
auch darin auf zwei. Li den eben erwähnten Spielen vom 
Jahre 1616 führte die Delftsche Kammer ein Stück auf, worin 
neben den Helden aus der griechischen Geschichte Themisto- 
kles, Aristides, Pausanias u. s. w., auch Eintracht, Liebe 
und Treue vorkommen: im Stück von Schiedam bemerkt 
man neben Licinius, Brutus, Marcus Valerius u. s. w., 
auch Roma, die Geunieerde Provincien und Godde- 
lijcken Raedt. Endlich ist es bekannt genug, wie noch 
in Hooft's Gerard van Velzen ausser den historischen 



396 II- Sinnspiele, Possen, Balladen und Befrains. 

Personen Twist, Geweldt, ^Bedrogh, Eendraght, 
Trouw und Onnozelheidt auftreten; des stroomgodts 
de Vecht gar nicht zu gedenken. Es ist merkwürdig, 
dass der Inhalt der ältesten, nicht symbolischen Stücke der 
ritterlichen Komantik entlehnt ist. 1431 spielten die Gresellen 
von Deinze ein spei van Arnoute, 1444 führten sie tspel 
van den wijgh (Streit) van Ronchevale, und 1483 das 
vanFlorysse ende van Blanchefloereauf. 1498 wurde 
von „den gheseUen van der Rhetorijcke van Peteghem tspel 
van Gryselle (Griseldis) dargestellt.^) Aber bald darauf 
sah man verächtlich auf die Ueberlieferung herab, und die Eo- 
mantik musste der EJassicität Platz machen. Schon im An- 
fange des sechzehnten Jahrhunderts hatte Houwaert Proben 
von dem antikhistorischen- oder Heldendrama in seinem Ae n e as 
€n Dido und einigen anderen Stücken gegeben, welche 
hauptsächlich „den handel der amoureusheyt'^ darstellten. 

Unter allen heroischen Stücken dieses Zeitabschnittes ist 
kein einziges, das wegen seines Kunstwerthes eine Besprechung 
verdient, und die Art und Weise dieser Arbeiten liefert selbst 
zu wenig Charakteristisches, um aus diesem Grrunde länger 
dabei zu verweilen. Erst in der folgenden Periode hat das 
niederländische ernste Drama Anspruch auf ausführlichere Be- 
sprechung. ' 

Wie ehrsam-didaktisch auch der Greschmack der Zeit in 
der Blütheperiode der Rederijker war, so hatte man den 
Volksgeschmack nicht so verleugnet, dass das Komische 
keinen Reiz mehr für die Menge gehabt hätte. Von der 
ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts an kann man 
wenigstens das Gregentheil nachweisen. Wie man sich zuweilen 
wieder, gleichsam zum offenen Widerspruche gegen die un- 
poetische Allegorie, an das abele spei des Mittelalters an- 
schloss, so gab man auch die Posse nicht ganz auf; ja, es 
scheint, dass neben dem Mysterien- und Sinnspiele das komische 
Drama, wenn auch nicht durch innerliche Vortrefflichkeit, 
doch wenigstens durch zahlreiches Erscheinen, wirkhch geblüht 
habe. 

187. Ueberall hören wir seit dem fünfzehnten Jahrhun- 



*} Serrüre, Vaderl. Museum V., 11. 



n. Sinnspiele, Possen, Balladen «nd Kefrains. 397 

\ 

I 

derte von „comedien rffce esbattementen'^ sprechen^); das sind 
die lustigen Nachfolger der alten Posse , welche in Analogie 
und Tendenz nicht von der des vierzehnten Jahrhunderts ab- 
weichen. 

Man führt noch immer Bilder aus dem Volksleben auf; 
sie sind sämmtlich ohne viel Verwickelung und Intrigue 
verfasst, eigentlich nur dramatisirte Sproken, in welchen Miss- 
bräuche und Volksmängel in naiver Unverhülltheit ans Licht 
gezogen, aber eben dadurch scharf gegeisselt werden. Sie 
mögen deshalb wohl oft von sehr zügellosem Inhalte und un- 
zarter Behandlung^ sein (vergl. 311); aber man erhält auch 
bei ihnen den Eindruck, dass nicht Erregung der Leiden- 
schaften, sondern Sittengeisselung, also Besserung, das Ziel 
der Dichter war. 

Viele dieser Possen sind für uns verloren gegangen, und 
die Namen der Verfasser meistens nicht bis auf uns gekommen. 
Zu den bekannten, und günstig bekannten gehört Kornelius 
Everaert; er schrieb von 1509 an eine Zahl Esbattementen 
und tafelspelen (Tischspiele); das sind kleine Stücke, die bei 
Gastmählern vorgeführt wurden. Ungefähr dreissig derselben 
sind uns handschriftlich aufbewahrt geblieben, und Willems' 
sagt von ihnen: sie seien „wirklich geistreich, bühnengemäss 
bearbeitet, und die komischen Situationen, welche darin vor- 
kommen, haben sicher die Lachmuskeln des Brügge'schen 
Publikums im Theater der Drie Sanctinnen in Bewegung 
gesetzt."^) Everaert war nehmlich Faktor der unter jenem 
Namen in Brügge bestehenden Kammer. Zur Probe, aus 
welcher man das Grenre kennen lernt, folge hier eine kurze 
Uebersicht des Stückes: Stout ende Onbescaemt (keck 
und unverschämt) ; ausdrücklich heisst es, dass es eine b o e r d e 
sei, dem Faktor der Kammer „uut jonsten verteld^^. 

Das Stück beginnt mit dem Monologe einer Frau, die 
sich über ihren Mann beklagt. 

Die juecht noch vruecht er helft in tlijf, 
während sie sich selbst als „een wel lustich wijf^^ bezeichnet. 
Sie will sich gern von einem anderen amüsiren lassen , und 
wäre er „coster of clerc^^ In dieser Stimmung trifft Bie der 



*) Vergleiche S. 340 u. a. a. 0. 
«) Belg. Museum VI., S. 41. 



398 II- Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

Küster des Dorfes, und Beide werden bald einig, Nachts in 
der Scheuer zusammenzukommen, wo ein „aerdich chierken'^ 
von gutem Essen und Wein bereit stehen soll. Unterdessen 
bricht der Abend herein, und zwei Spielleute, St out und 
Onbescaemt, die eine Nachtherberge suchen, klopfen bei 
der Frau an, werden aber mitleidslos abgewiesen. Sie schlei- 
chen darauf in die Scheuer und legen sich dort zur Euhe. 
Gegen zehn Uhr kommt das verliebte Paar, und nun spielt eine 
Scene, gegen welche, wie Willems sich ausdrückt, die fünfte Scene 
im vierten Akte von Molifere's Tar tuf fe nur Kleinigkeit ist. — 
„My dunct," sagt der eine Musikant, „tsal gaen bruloft wesen." 
— „Ja," flüstert der andere, „en ic zai de bruloft pypen." Und 
wirklich fangen sie zu pfeifen und zu trommeln an, dass die 
Scheuer davon erbebt. Weib und Küster fliegen vor Schreck 
auf, und nehmen eilig die Flucht, denn sie meinen, dass es 
der „necker is ofte eenich ander ghedrochte". Darauf schmau- 
ssen die zwei Landstreicher wohlgemuth die zurückgelassenen 
Leckerbissen. Am anderen Tage gehen sie zu der Frau 
und verlangen Bezahlung für die Musik. „Uut ontsienisse 
by bedwangho." (aus Furcht vor Zwang) ist sie genöthigt, 
ihnen den Willen zu thun, und das Stück schliesst mit On- 
bescaemt's Moralisation: 

Ofse alle zo voeren, die zijn van dien, 

Sen zouden sulc werck niet so lichte ghetemen. 

Nun mag unsere jetzige Wohlanständigkeit sich schämen, 
über solche Witze zu lachen : die Frische dieser aus dem Leben 
gegriffenen Possen muss uns doch um so mehr in die Augen fallen, 
wenn man sieht, was das Komische unter den Händen der 
moralisirenden Kammerbrüder werden konnte. Auf dem Ant- 
werpener Landjuweele im Jahre 1561 führte man nach den 
ernsten Spielen auch noch „boerderlijcke ende zeer belache- 
lijcke Factien of Cluchtspelen" auf, wie der Herausgeber sie 
genannt hat. Sie haben aber wenig Recht auf diesen Namen; 
denn es sind bloss dialogisirte, didaktisch-allegorische Be- 
trachtungen ohne Duft imd Leben, deren Witz so tief ver- 
borgen liegt, dass sie zur Ueberschrift wohl die Verszeile 
haben könnten, welche in einer derselben wirklich vorkonunt. 
Wy sijn soo vrolijck al laghen wy opt sterven. 

188. Noch einige Bemerkungen allgemeiner Art über die 
Bühnendarstellungen ! 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen and Refrains. 399 

Zuerst erinnere man sich, dass die Länge der mitbewer- 
benden Stücke immer vorher festgesetzt wurde: sie bestanden 
durchgängig aus vier-, fünf- bis sechshundert Zeilen. 

Die Einrichtung der Bühne wird aus der Zeichnung deut- 
lich, welche die Ausgabe der gent'schen Spiele vom Jahre 
1539 begleitet. Die auf dem Marktplatze errichtete Bühne 
ist an drei Seiten offen: nur der Hiutergrund wird durch 
den Vordergiebel eines im Renaissancestyl erbauten Hauses 
begrenzt, und besteht aus einer in der Mitte befindlichen hal- 
ben Rotunde, an die sich zu beiden Seiten ein doppelter Ehren- 
bogen von viel geringerem Umfange anschliesst. Der mittlere 
Theil ist in zwei Stockwerke geschieden, beide ruhen auf vier 
Säulen, deren mittelste natürlich noch weit in das Proscenium 
hervortreten; diese Rotunde wird ebenso wie die Seitenbogen 
durch eine Kuppel gekrönt, welche ebenfalls auf Pilastern 
ruht. Die oberste Kranzleiste des Mittelstückes ist mit ver- 
schiedenen Waffenschilden geschmückt, und auf jeder der drei 
Kuppeln steht ein Bild. 

Das obere Geschoss diente wahrscheinlich zur Darstellung 
von Tableaux oder allegorischen Scenen, welche in allen 
Sinnspielen vorkommen (vergl. z. B. S. 383). Wahrschein- 
lich waren sie meistens gemalt, aber zuweilen scheinen es 
auch Wachsfiguren gewesen zu sein; wenigstens stellte 1496 
die Kammer von Nivelle zu Antwerpen die Penitentie „int 
was" (in Wachs) dar. 

Die Bühne, ohne Dekoration im jetzigen Sinne, war viel- 
leicht für die Aufführung der pomphaften Sinnspiele ohne 
Localßlrbung nicht ungeeignet; für historische Stücke war sie 
sicher nicht passend. Als aber die Bühne aus der freien Luft 
in Theatergebäude gebracht wurde, änderte sich dies wahr- 
scheinlich auch. Wohl sieht man aus den Abbildungen des 
ersten Theaters in Amsterdam ^) wie primitiv diese Einrichtung 
noch im siebzehnten Jahrhunderte war; dass man aber bald 
einen Werth auf Kostüm und Ausstattung legte, stellt sich 
wiederholt heraus. Welche „kunst en vliegwerk" man in 
Bewegung setzte, wie Kosp sich ausdrückt, um auf die 
Einbildungskraft der Zuschauer zu wirken, beweisen die 



1) In Van Lennep's Vondel, III., 320. 



400 i^' Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

Mittel, welche van Mander, der bekannte Maler und Dich- 
ter, bei der Aufführung seiner Stücke anwandte. In dem 
Stücke Salomon en Koninginne Seba führte er 
Kameele und andere fremde Thiere, die er eigens dazu 
gemalt hatte, über das Theater; und in seinem Noach ging 
er noch weiter. Er hatte, um die Sündfluth darzustellen, auf 
einer grossen Leinwand Leichen von im Wasser treibenden 
Menschen und Thieren gemalt. Diese wurde über die Bühne 
gezogen, während durch Pumpen und Wasserleitungen, welche 
das Wasser hoch in die Höhe führten, ein so heftiger Platz- 
regen niederfiel, dass die Zuschauer genöthigt waren, rück- 
wärts zu flüchten. Die Arche schien wirklich auf den Fluthen 
zu treiben, und in van Mander's Lebensbeschreibung ist zu 
lesen, wie die weichherzigen, alten Leute beim Erblicken einer 
so natürlichen Darstellung die Thränen nicht zurückhalten 
konnten, so gross war ihr Mitleiden mit der Menge der Er- 
trunkenen , und mit der Angst und dem Entsetzen der in 
Lebensgefahr schwebenden Menschen. 

Was das Kostüm betrifft, so ist in vielen Sinnspielen die 
reiche Kleidung der vornehmsten Personen abgegeben; ^) ja, 
öfters wurden nicht nur für die beste Aussprache, sondern 



^) Ich wähle einige Beispiele aus den Antwerpener Sinnspielen Yom 
Jahre ]561: 

„Loon, eenen man seer ryckelijck ghecleet. De lief de, verciert 
nae der consten aert, op haer hooft hebbende eenen crans van roode 
roosen. Bechts, in gülden cleederen, met eenen lauwer crans op haer 
hooft. Farne van eeren, vol ooghen, tonghen en monden en twee 
vloghels op haer lijf. Dengheest der Wijsheyt, als een engel met 
Mercurius scepter met vluegelen. Ledicheyt, een cierlycke vrouw. 
Beh oefticheyt, een vrouwe armelyck ghecleet. Natuerlijck 
Leven, een vrouwe ghecleet int hemelsblau met groen cruyden inde 
handt. Vreese des Heeren, een mans personagie na de Jodenscbe 
wyse ghecleedt. (Lohn, ein sehr reich gekleideter Mann. Die Liebe, 
nach Art der Künste geschmückt, auf dem Kopfe einen Kranz von 
rothen Hosen. Becht, in goldenen Kleidern mit einem Lorbeerkranze 
auf dem Kopfe. Fama, voll Augen , Zungen und Münder und zwei 
Flügel am Körper. Geist der Weisheit, in Gestalt eines Engels 
mit geflügeltem Merkurstabe. Müssiggang, eine zierliche Frau. 
Dürftigkeit, eine ärmlich gekleidete Frau. Naturleben, eine 
Frau in himmelblauem Gewände, mit grünen Zweigen in der Hand» 
Furcht des Herrn, ein Mann auf jüdische Weise gekleidet.) 



II. Sinnspiele^ Possen, Balladen und Refrains. 401 

auch für die schönste Kleidung Preise ausgesetzt. Das war 
in den Jahren 1509 und 1620 in Mecheln der FaU.i) 

Obgleich es nicht zu bestimmen war, ob früher Frauen- 
rollen von Männern gespielt wurden, so scheint im sechzehnten 
Jahrhundert das Auftreten von Frauen keinen Anstoss mehr 
gefunden zu haben. Das kann man aus den Statuten der 
Kammern von Veere erkennen, welche den Frauen und Mäd- 
chen verboten, in die Versammlungen mitzukommen, „ten 
waeren eerbaer vrouwen oft maeghdekens, die mede in speien 
speelden"^) (es müssen ehrbare Frauen oder Mädchen sein, die 
in den Spielen mitwirken). 

Die RoUenvertheilung fand wohl mehr oder weniger nach 
allgemeiner Berathschlagung statt ; ^) aber man war bei Strafe 
verpflichtet, die vom Prinzen oder Zunftmeister zuertheilte BoUe 
auszufiihren. Verlor man seine Abschrift, so musste man die- 
selbe auf eigene Kosten wieder roileeren lassen. Hatte 
man einmal die Rolle „ontfaen", und den „last daeraf aen- 
veerd", so musste man dann auch den Uebungen oder Pro- 
ben beiwohnen, so oft die befugte Macht, gewöhnlich der 
Zunftmeister oder Faktor, es verlangte. Weigerte man die 
Rolle während man „abele ende idoine ten spele'^ (zum Spiele, 
d. h. für die Rolle geschickt , oder vieUeicht noch allgemeiner, 
nicht verhindert mitzuspielen) war, so konnte fremde Mitwir- 
kung verlangt werden.*) 

In Lier hatten die Gesellen bei dem „proberen" eines 
Esbattements das Recht, „eene kanne biers op den kost der 
Camer" zu trinken, und bei einem Sinnspiele zwei;*) und so 
war es wahrscheinlich anderwärts auch. 

Da gute Spieler und Dichter selten waren, so lockte die 
Ortseitelkeit oft renoüimirte Künstler durch angebotene Vor- 
theile aus ihren Wohnplätzen. So liest man in den Stadtrech- 



^) Hbch. von G^rard, I., 1Ü4, 111. 

^ S. Kops, Schets, S. 334. 

^) Vergl. die Statuten der Kammer von Hoogstraten, Belg. Museum 

VII«, S. 382. 

*) Siehe die Statuten der Fonteine bei Blommaert I. c., S. 101; 
die von Veere bei Kops, Schets, S 333; die von den Christus. 
Oogen zu Diest, Vaderl. Museum III., S. 119. 

*) Z. a. St. S. 119. 

Jonckbloet's Oescliiolite der Niederlftndisclien Literatur. Band I. 26 



402 I^- Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

nungen von Oudenaarde *) aus den Jahren 1513 und 1514 
von einem gewissen ,^oos van Coye, retorisien, den welcken 
in meeninghe was uit deser stede te vertreckene , onune te 
gaen wonene in de stede van Aelst, daer hij versocht was te 
commene om zijne conste van rhetorijcken; daaromme hem ont- 
hauden ende gheordonneert te ghevene 12 pond parisis." 

189. Die Rederijker waren fiir ihre Arbeit sehr einge- 
nommen : ich verweise z. B. auf das Lob, das der Herausgeber 
der Antwerpener Spiele vom Jahre 1561 den in seinen Augen 
unnachahmlichen Poeten seiner Zeit zuertheilt; eine so auf 
Stelzen gehende Lobeserhebung, dass sie uns unwiderstehlich 
zum Lachen reizt. ^) Denn wer diese Stücke kennen gelernt 
hat, die weder durch Inhalt, noch durch poetische Form an- 
ziehen, muss Kop's Ueberzeugung beistimmen, „dass die bei 
solchen Gelegenheiten herrschende Pracht sich mehr als die 
Poesie hervorgethan hat" 

Und das konnte in der That nicht anders sein. Auf den 
Namen dramatischer Kunstprodukte können auch die geprie- 
sensten Sinnspiele keinen Anspruch machen. 

Eine erste Bedingung an das Drama ist, dass es Hand- 



^) Belg. Mnseum VII., 22. 

^) In der Beschreibung des Festes heisst es , dass ,, die conste der 
Poesien inde voorgi Landt-Juweelen noyt soo seer gefloreert en heeft, 
als na in onsen tijden, noch die conste in sodanigher abundancien byden 
Componisten ghebruyct als in dese feeste .... Want die Yoorgaende 
Landt-Juweelen en hebben maer een Batement verthoocht (sehen lassen), 
maer nu als die verstanden cloecker zijn ende alle consten in meerder 
kennisse, der Poeten vele ende der liefhebbers sonder ghetal, ende Ca- 
stalius fonteyne hären vloet nu ter tijt door dese Nederlanden wtghe- 
sprejt heeft, zijn Apollinis kinderen Sonderling verwect geweest, om te 
laten blijcken den lieffelijcken smaeck die zy inde Musen, inwoonerssen 
des berchs Helicon, bevinden, hebbende OYervloedelijck met sonder- 
linghe harmonie te samen ghevoecht ende verthoont, diveerse materien 
deser consten, soo in Comedien, Ebatementen, Moralen, als inde Poe- 
tijcse punten, Epigrammen, Baiaden, Retrograden ende Devijsen, sah 
datmen met recht soude moghen segghen dat den berch Pamassus by 
ons nu opgheresen is ende Castalides Nymphae hun wooninghe by ons 
yercoren hebben, hopende dat wy eer langhen tijt sullen monsteren ende 
paragonneren moghen met onse Poeten, ghelijck Italien met hären Pe- 
trarcha ende Ariosto, Yranckrijck met Cl. Marot, Ronssar d enz. tot 
yercieringhe der edeler consten Retorica ende vercieringhe van onse 
Nederlandsche tale/' 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Befrains. 403 

lung enthalte: ohne dieselbe läset uns die Darstellung unbe- 
friedigt. Und von eigentlicher Handlung ist bei jenen Stücken 
nirgends die Rede. Wäre man auch geneigt, in den dialek- 
tischen Wortgefechten, welche das Wesen der Sinnspiele aus- 
machen, Handlung zu sehen, so kann uns dieselbe doch 
nicht fesseln, weil hier nur abstrakte Personen auftreten, 
anstatt Menschen von Fleisch und Bein, anstatt Individuen, 
die uns plastisch dargestellt werden, indem sie, durch Lei- 
denschaft, welche in ihrer Wirkung auf die verschiede- 
nen Charaktere modificirt wird, zum Handeln gezwungen 
werden.. Bewusste Handlung charakteristischer Individuen 
stempelt das Drama erst als ein solches, wie wir bei der Be- 
trachtung unserer Bühnendichtungen aus dem XVH. Jgihr- 
hundert näher auseinander setzen werden; nur dadurch er- 
liält es vor unseren Augen Kunstwerth und wird für uns fes- 
selnd. . Das vermag Allegorie und Dialektik nicht. 

Wären aber alle diese Sinnspiele als Drama noch nicht 
so verwerflich, so könnten sie als allegorische Scenen auf 
jenem Kunstgebiete doch nicht viel bedeuten. 

Allegorie ist eine Verstandesarbeit, kein Produkt der 
flchaflfenden Phantasie. 

In der Kunst muss die Form der augenblickliche und 
greifbare Ausdruck eines Gedankens sein, der unseren Sinnen 
plastisch wahrnehmbar gemacht werden kann. Wo die Form 
den Gedanken nicht vollständig ausdrückt, oder wo die Idee 
nicht unmittelbar durch die Form heraustritt, wird das Ge- 
fühl des Schönen nicht geboren, und es kann von Kunst, 
welche dieses Gefühl erwecken sollte, keine Rede sein. 

Abstrakte Begriffe, der Begriff von Vergleichung oder 
quantitativem Verhältniss und dergl., sind nicht sinnlich dar- 
zustellen, und gehören also nicht in das Gebiet der Kunst. 
Weder der Begriff von grösser oder kleiner, noch das „zwei 
mal zwei ist vier", kann durch Plastik, Tonkunst oder Poesie 
ausgedrückt werden. Auch die Tugend kann nicht ästhetisch, 
d. h. für die Sinne wahrnehmbar dargestellt werden: wohl 
eine specielle Tugend, die sich unter gegebenen Umständen 
in der Handlung einer konkreten Individualität offenbart. 
Deshalb ist Zwist, Faulheit, Liebe und Kunst unmög- 
lich auf die Bühne zu bringen. Wenn man „eenen man seer 
rijckelijck ghecleet" (gekleidet) auftreten sieht, so besteht kein 

26* 



404 n. Sinnepiele, PosseD, Balladen und BefVains. 

einziger Grund, in ihm, nach der Absicht der Rederijker: 
Lohn zu sehen ; ebensowenig als man , ohne sich auf das 
Feld verstandesmässiger Vergleichung oder konventioneller 
Bildersprache zu verirren, auf den Gedanken kommen kann^ 
dass eine sich in den Schwanz beissende Schlange die Ewig- 
keit vorstellt. 

Das Verstandeselement herrscht ganz ausschliesslich in 
den Sinnspielen. Man mag wegen des ,, Grossmüthigen und 
Menschlichen" (Snellaert), welches diese moralisirenden Dialoge 
regiert, die stets eine sittliche oder gesellschaftliche Frage 
dialektisch zu lösen versuchen, sich zu den Männern hingezogen 
fühlen, welche so furchtlos eine neue Ordnung der. Dinge 
verbreiteten: aber man hat kein Recht, sich über die Form 
hinwegzusetzen, oder dieselbe zu entschuldigen. 

190. Auch in den untergeordneten Besonderheiten, in 
Beschreibungen oder Betrachtungen , erwartete man * keine 
Poesie: man würde sie vergebens darin suchen! 

Ein schlecht entworfenes Gemälde kann immer noch 
durch technische Behandlung oder durch Detailschönheiten 
die Aufmerksamkeit fesseln; man mag in Daneckers Ariadne 
das von Theseus verlassene und von Bacchus getröstete Opfer 
nicht zurückfinden, so bleibt sie doch immer eine vortreffliche 
Frauengestalt; ebenso wie Murillo's Madonnen nicht ohne tiefen 
Eindruck selbst auf diejenigen bleiben, welche in ihnen ge- 
rade das vermissen, was Raphaels Marien zu Madonnen 
stempelt. 

Aber auch das fehlt bei den Rederijkern. Ich erinnere 
mich nicht, zwei poetische Gedanken oder eine einzige hin- 
reissende Schilderung in dem Meere der Sinnspiele aufgefunden 
zu haben. Man ist froh, bei ihrem Durchlesen das luctor 
et emergo aussprechen zu können. 

Aber nach Poesie strebten diese „excellente poeten'^ auch 
nicht. Sie schrieben „den töehoorders tot een stichtelijck ver- 
maen;" und der Antwerpener Oelzweig drückte vollkommen 
die Zeitrichtung aus, als er seine Muse sagen liess: 

Ick Rhetorica 

Wilt dichten tot stiebten van des menschen gemoet. 

(Ich Rhetorica 

Will dichten zur Erbauung des menschlichen Gemüths). 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 405 

Und sie waren fest überzeugt, damit eine Bürgerpflicht zu 
erfüllen, denn sie erkannten der Poesie eine grosse Rolle in 
der Entwickelung der Menschheit zu. Als van Meteren von 
Frankreichs tiefem »sittlichen Verfalle unter Heinrich 11. 
«pricht, lässt er diese Worte folgen: „Daer seer toe hielpen 
veel Fransoysche poeten ende rijmers, die veel vuyle 
{schmutzige), lichtveerdighe poesien dagelijcx voortbrochten, 
die veel goede, wijze lieden toeschrijven de verdiende straflfe, 
den rijcke van Vranckrijck overvallen." 

Einen anderen , einen gegenüberliegenden Weg einzu- 
fichlagen, war das eigenartige, wenngleich nicht poetische 
Verdienst der niederländischen Rederijker. 

Nur im Battement, in der Posse, versetzten sie sich auf 
einen für die Kunst fruchtbareren Boden. Nach Allem, was 
wir darüber schon gesagt haben (S. 310, 311 u. flgde.), bi'au- 
chen wir auf das Erblühen des niederländischen Drama's 
nicht weiter einzugehen. 

191. Die poetische Form suchten die Rederijker sowohl 
in ihren dramatischen, als auch in ihren lyrischen Produkten 
hauptsächlich in Reimkünsteleien, worüber wir sogleich einige 
Andeutungen geben werden. Aber wie gekünstelt auch ihre 
Poesie ist, so waren sie doch durchaus keine Meister 
der Sprache; ja nichts verwundert uns mehr, als wenn wir 
den ersten Herausgeber von Sinnspielen sprechen hören von 
den „ vercieringhe van onse Nederlandsche tale" (Sprache), 
zu welcher die Dichtwerke der Rederijker beitragen sollten. 
Der Mann war hier, wie vielleicht niemals mehr, das Opfer 
-einer sonderbaren Täuschung; denn die Sprachverwilderung 
nahm unter ihren Händen auf schreckenerregende Weise zu. 

Während der Regierung der Grafen aus dem bairischen 
Hause war die niederländische Sprache, und zumal in Hol- 
land, durch hochdeutsche Worte, Sprachformen und Germa- 
nismen entstellt. Der Uebergang der Regierung an das bur- 
gundische Haus machte dem ein Ende; aber jetzt zeigte sich 
eine neue Gefahr, welche bald viel drohender wurde, als die 
frühere (vergl. S. 294). 

Der Einfluss eines französisch sprechenden Hofes war 
immer nachtheilig für die Reinheit der Muttersprache gewesen. 
Das Vlämische und Brabantische war deshalb auch viel mehr 
äIs das Dietsche, das in Holland selbst unter den Hennegauern 



4<)6 H- Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

geschrieben wurde , von Bastardworten entstellt. Als die Bur- 
gunder das Französische als Hof- und Kanzleisprache in allen 
Provinzen verbreiteten, erreichte das Uebel bald eine unge- 
kannte Höhe. Aus jener Zeit datirt «ich die Französirung 
vieler unserer grammatikalischen Formen ; damals kamen eine 
Menge neuer Ausdrücke und dem Französischen entlehnte 
Sprechweisen auf; damals kamen allerlei welsche, sogenannte 
„Ötadthausworte^^ (Kanzleiausdrücke) im täglichen Leben in 
Aufnahme, und ebenso die Mode, in einem quasi- vlämischen 
Satze so viel Bastard werte als nur immer möglich war, auf- 
zuhäufen. Einige Beispiele mögen beweisen, wie weit das 

ging-') 

') 1339 hörte man in Gent in einem der Sinnspiele: 
Ig wilde wel coopen, maer ic en hebbe niet 
Daer ic mede zoude mueghen doen payment, 
Ware trijcdom van haven in my present, 
Zo mochtic brieven van pardoenen coopen, 
üutvaerden, jaerghetyden stiebten bij hoopen, 
Om daer doere te zyne uut purgacie. 

— Neen, mensche, dat wäre God defamatie 
Moght ghy duer eyghen invencye zijn zaligh 
Zoo en hadde Christus niet ghezijn betaligh etc. 
(Ich möcht' wohl kaufen, doch besitze Nichts, 
Womit dafür ich leisten könnt* Paiement, 

War aller Reichthum dieser Welt in mir present, 
So könnt ich Ablassbriefe dafür kaufen, 
Messen und Jahrestage stiften in grossen Haufen, 
Um dadurch zu kommen zu Purgation. 

— Nein, Mensch, das wäre Gott Defamation. 

Wenn du durch eigne Invention wolltest selig werden,. 
So hätte Christus nicht für uns bezahlt auf Erden.) 

In einem anderen: 

Tes tijt dat hier werdt in't beqwame gheprouft 

Den zin der Chaeii;en duer ons arguweren, 

Op dat wy mueghen int clare solveren 

Met apetyte ongheveynst propoost es 

Welc den mensche stervende meesten troost es. 

Im Middelburg hört man im selben Jahre folgende Spracher 
Lamenterende blyvic in desperacien, 
Jont (gönnt) mi wat gracien, in corter spacien, 
Ter confortacien van mi arme s lichte, 
Oft doer de turbacien dwingt mi de desolacien 
Ter murmuracien en arguacien 
Daer ic in desperacien by sou comen lichte. 



n. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 407* 

192. Wenn auch die Theaterstücke in der Regel von den 
Faktoren der Kammer verfertigt wurden, so beschränkten sich 
doch auch die übrigen Gildebrüder nicht nur auf die Dar- 
stellung von Rollen und der Theünahme an glänzenden in- 
treyen (Einzügen), sondern Alle übten sich an bestimmten 
Tagen in der edlen Reimkunst. Wie es dabei zuging, wird 
aus dem darauf bezüglichen Artikel der Gent'schen Fontei- 
nisten deutlich; denn wie es dort war, war es überall. 

„Item, zal men alle drie weken tsondaeghs ten tween 
naer noene up de camere vander Fonteine gheven een hoe- 
deken, ende de ghuene dien 't ghegheven zal worden, zal 
zijn ghehouden binnen derden daghe daer naer over te ghe- 
vene een refrain , von alzo vele veersen als hem ghelieven 
zal, omme 't ghezelschip binnen den drye weken daer naer 
te dichtene. Ooc zal hy upstellen eenen prijs, zulc ende alzo 
deine van prise als hem ghelieft, omme te hebbene den 
ghueiien diene best nae doen zal. Ende tsondaechs ter drie 
weken omme commende, zal elc ghehonden (gehalten) zijn ten 
twee ueren naer noene, ende ter plaetse voorseit, over te 
ghevene voor 't ghemeeen ghezelschip 't ghuent, dat hy daer 
naer ghedaen zal hebben. Ende de ghuene die 't hoedeken 
alzo ghehadt zal hebben, zal dan den ghezelschepe te voren 
gheven eenen pot wijns van zes grooten, ende voort by haer- 
lieder rade 't hoedeken overgheven in de manieren voren 
verclaert. Emmers wel verstaende, dat de commende ten 
referaine, ghehouden werde ten incommene voor 't ghezelschip 



Houwaert schrieb z. B. folgende Zeilen: 

Nu ghepresupponeert, dat iemant is eloquent 
En dat hy inder Bhetorijcke is exellent, 
Dat hy Philosophelijck can argumenteeren, 
Dat hy de harmony der Musijcken kent, 
Mitsgaders den loop weet van 't firmament, 
En dat hy alle hantwereken can useren, 
Dat hy de republycke weet te regeren, 
Dat hy kennis heeft van Nigromancye, 
Dat men hem in de rechten heeft sien doceren, 
Dat hy gheleert is in alle const en cleergye, 
So en weet hy nochtans niet ten selven tye, 
Ten sy dat hy weet te doen de wille von Godt. 
Die buyten Godts woort wilt wijs zijn, is sot. 



408 I^- Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

te dißhtene twee veersen, of meer, ofte zynghene of anders yet 
bourdelicx te doene^ up verbuerte van eenen grooten/^ 

Man begreift leicht, das» diese dreiwöchentlichen Liefe- 
rungen nicht viel Bürgschaft für die Vortrefflichkeit der ent- 
standenen Kunstprodukte gewährten. Aber doch war noian 
über die Schnelligkeit der Arbeit noch nicht zufrieden, und 
erstrebte noch grössere Grewandtheit im Handwerke. Diesem 
Umstände verdankten die sogenannten Kniegedichte ihren 
Ursprung, die jedoch allem Anscheine nach nur in Holland 
bekannt waren, denn Matthijs De Kastelein erwähnte sie 
nicht. 

Kniegedicht bedeutet: Epigramm, extempore 
das gleichsam auf dem Knie geschrieben wurde. Gleich- 
sam, denn ob es im eigentlichen Sinne des Wortes je statt- 
geftmden hat, ist sehr zu bezweifeln. Auf dem vlaardingschen 
Rederijkerfest im Jahre 1616 wurde auch ein Preis für ein 
Kniegedicht ausgesetzt, das in einem Refrain von vier 
dreizehnzeiligen Strophen bestehen und deren letzter lauten 
musste : 

Das baert onvrede vree en yrede weer onvree (Unfriede). 

Diese Frage wurde früh um 10 Uhr aufgegeben, mit der 
Bestimmung: 

De antwoordden besteldt ten tween op het tooneel 
In banden van degeen die zitten ten oordeel. 

Es waren also vier Stunden zur Arbeit gegeben, und 
über die Ausführungsart war nichts bestimmt. 

Der Faktor der vlaardingschen Kammer der Akerboom, 
welche den Wettstreit ausgeschrieben hatte, der Reimschmied 
Hieb Van de Wael, schrieb bei der Ausgabe von „der Kameren 
Proefstuk", wie er die Sammlung der damals eingereichten 
Kniegedichte nannte, eine in Knüttelversen abgefasste Er- 
klärung „wat het is op de knie te dichten", worin er allerlei 
Besonderheiten über die Weise mittheilt , wie dies ehemals 
geschehen sei.^) 



*) Warum man von Kniegedicht 
Bei den Rhetorijkem spricht? 
WeU vor Zeiten dies Gedicht 
Wurde auf dem Knie verrichtet. 
Und das Knie war's Schreibkontor, 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 409 

Aber nirgends finden wir eine Bestätigung, dass es wirk- 
lich so zuging. Es scheint vielmehr, dass die Sache im Jahre 

Auf dem Knie kam es hervor, 

Auf dem Knie kam es zu Tag, 

Was in Dichters Kopfe lag. 

Das ging zu auf diese Weis*: 

Der Vorsteller stellt den Preis 

Auf den Vorschlag, rief darauf 

Dichter all zusammen auf. 

Der dann Knieiloet wollt sein. 

Stellt sich unverzüglich ein. 

Und bekam, (so war's Manier) 

Erst ein rein Blatt Postpapier, 

Und geschnittene Federn zwei, 

Tintenfass und Tint* dabei; 

Streusandbüchs' mit feinem Sand, 

Von dem besten, den man fand: 

Jeder seinen Platz dann nahm, 

Nach der Reihe, wie er kam. 

Jedem wurd* die Kart* gebracht, 

Danach sein Gredicht er macht. 

Als man wohlgelesen sie, 

Legt's Papier man auf das Knie, 

Denn nicht Tafel gab's noch Plank*, 

Keinen Tisch und keine Bank : 

Da war auch nicht dies, noch das, 

Dass man drauf mocht' legen was; 

Der Gebrauch Hess es nicht zu, 

Dass man Etwas nahm dazu. 

So genau man Alles nahm, 

Dem, der mit zum Werben kam, 

Dass auch nicht das kleinste Ding 

Dort zur Hülfe man empfing. 

Das, wovon's den Namen trug, 

Musst* zur Arbeit sein genug. 

War's ein Liedchen oder Sang, * 

Grab man Frist 'ne Stunde laug. 

Ein Re - vier - ein, (ein Refrein) 

Hatt' zwei Stunden allgemein. 

Nach der Grösse vom Gedicht, 

War die Frist stets eingericht't. 

Und so schrieben sie im Kreis, 

Jeder that's mit Kunst und Fleiss; 

Um beschämt nicht dazustehn. 

Sucht man schnell den Schluss zu sehn. 

Keiner gern der Letzte war, 



410 n. Sinnspiele, Possen, Balladen und Befrains. 

1616 noch ziemlich neu war ^) und dass selbst der Name noch 
einer Erkläxung bedurfte. 

Dass dieses Dampf-Dichten bei den häufigen Refe rein- 
festen, auf denen verschiedene Kammern nach dem Preis 
fürs beste Referein rangen, angefeuert und ausgeführt 
wurde, ist eine durch Nichts bewiesene Vermuthung. 

Aber dass diese Elniegedichte nicht viel zu bedeuten 
hatten, wird durchaus nicht auffallen. Selbst dem ehrsamen 
Van de Wael kamen sie nicht fehlerfrei vor, wie das Sonett 
beweist, das er zum Besten gab, und welches wir abschreiben, 
um zu zeigen, wie tief die holländischen Kammern in jenem 
Zeitraimi gesunken waren. 

Ghy Dichters, die veel tijdt, wanneer dat ghy sult dichten, 
Zit heele (ganze) daghen lang en zindt en weer-verzindt, 
En alst a trage Pen alschoon heeft voor de windt, 
Salse thien regeis nau des daegs können verrichten. 

En3wilt ghy door den druck yet brengen in het lichte, 
Tien kladden maeckt ghy oock eer dat het komt in 't print, 
Ist Wunder datmen u ghedichten netter vindt, 
Dan die u dach-werck in een quartier uurs besuchte? 

Doch ghy sult seggen, dat wel-doen veel is ghedaen: 
^t* Is waer, ick staet u toe: maer doerziet eens de blaen, 
In 't Kameren Proef- stuck ghemaeckt met haeste vaerdigh; 

Ghy vindt daer dichten, die niet en zijn te versmaen (verschmähen) 

Die ick, om de haestigheyts wille souw verstaen, 

Meer eere, sQs de verlangzame te zijn waerdigh. 

Man sieht, die Geschwindigkeit war der Prüfstein 
der Kunst! 

193. Um über die Technik der Rederijkerpoesie urthei- 
len zu können, braucht man sich nur mit De konst van 
Rethoriken von dem Faktor der Oudenaard'schen Kammer 
Pax vobiscum, Matthijs De Kasteleyn, bekannt zu machen, 
worin man Anleitung findet „niet alleen in allen soorten ende 

Jeder bracht sein Bestes dar; 
Denn der Letzte wurd' verlacht, 
Und wer es nicht fertig bracht', 
Musste Vorwurf hören an: 
Zauderdiehter hiess er dann! 

^) Ich finde das Wort zuerst im Jahre 1613 angewendet; siehe 
Kops, Schets, S. 290. 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 411 

« 
sneden von dichten , maar oock in alles dat der edeler konst 

van Poesien aankleeft." 

Der Verfasser dieses Werkes lebte in den Jahren 1488 
bis 1550 in Oudenaarde;.er war Geistlfcher und apostolischer 
Notar, ^) aber hauptsächlich Faktor der Paxvobianen und der 
Kersauwieren. Als Solcher war er die Seele der Rederijker- 
kammern seiner Vaterstadt, für deren Vorsteher er ein un- 
entbehrlicher Mann geworden war; einmal durch das Verfer- 
tigen von Gelegenheitsgedichten, anderntheils durch die Ein- 
richtung von öffentlichen Volksfesten. 

Obschon ein Geistlicher, war De Kasteleyn doch ein 
lustiger Geselle: das wird aus vielen seiner Refrains und Lie- 
der deutlich,^) unter welchen wir nicht nur Trink-, sondern 
auch manche ziemlich lose Minnelieder antreffen.^) Er ge- 
steht es ein, dass er von Jugend auf mit fröhlichen Kameraden,, 
die er alle mit Namen aufführt „den wijn ghedroncken en 
goet chier (bonne chere) ghemaect" hat. Er war nichtsdesto- 
weniger ein sehr gebildeter Mann, mit den Klassikern voll- 
ständig bekannt, und durchaus nicht geistlos, so dass man 
viele seiner Balladen und Refrains, die er als Beispiele in 
seine Rijmkonst einschaltet, noch jetzt gern liest. 

Sein Hauptwerk, um welches es sich für uns hauptsäch- 
lich handelt, war eben diese Rijmkonst, welche er schrieb, 
weil die Kunst doch von „veel Facteurs" gar zu übel zuge- 
richtet wurde; indem sie nur „crepel dichten^^ in die Welt 
schickten. Er konnte wohl gute Lehren geben, denn er hatte 
eine lange Praktik für sich; und hatte so viele Gedichte ge- 
schrieben. 

Säht Ihr den Haufen, Ihr würdet Euch verwundern. 

Ausser einer grossen Anzahl Theaterstücke*) und einer 

^) Der gewöhnliche Titel der Notare aus geistlichem Stande. 
2) Ausgabe von 1616, S. 70, 84, 160. 

8) Ebenda, S. 111 , 113, 135, 145, 149. Zur Charakteristik diene 
Folgendes: S. 51. 

Naer dat ick beseffe ende klaer aenschauwe, 

Zoo en isser in des warelts landauwe 

Niet importuundere dan een preussche vrauwe. 
Man sehe auch die Ballade van zevenen, S. 56. 
*) Siehe seine eigene Angabe, S. 171, Strophe 212: 

Ick hebbe ghedicht met bliden talenten, 

In Mercuriuß tenten van minen beghinne, 



412 ^^* Sinnspiele, PoBsen» Balladen und Refrains. 

Menge kleinerer Gedichte veröffentlichteer; die Historie van 
Pyramus endeThisbe, die BalladenvanDoornycke 
und ein Liedekens-boek. 

Die Rijmkonst ist in neunzeiligen, sehr künstlich be- 
reimten Strophen geschrieben, und jede Vorschrift wird stets 
mit einem Beispiele aus des Meisters eigenen Werken erklärt. 
Wir halten uns natürlich nur bei den Andeutungen auf, welche 
den Geschmack der Zeit charakterisiren 

So findet man hier die von allen Rederijkern in Anwen- 
dung gebrachte Vorschrift, dass es in der Poesie nicht sowohl 
auf poetische Gedanken, als auf „schoon termen" (Str. 60) 
ankommt, oder wie er an anderen Orten sagt (Str. 101): 
Int paeien (schmeicheln) der ooreü leit de scientie meest. 
Ferner giebt er auch die Lehre (Str. 66): 

Das verheft dijn redenen vul staten statelick, 
Wilt naer schoon vocabelen op elck saeysoen spoen, 
Men zietse verachten ende baten hatelick, 
Die alle haer redenen met daghelicks sermoen voen. 
Das Versmass weicht sowohl von der mittelniederländi- 
schen, als von der gegenwärtigen Regel ab. Früher wurden 
dieSylben nicht gezählt, sondern nur dieAccente(Vergl. S. 103); 
jetzt, muss jeder Vers ausser der Ode, aus einer gleichen 
Zahl Sylben im gleichen Tonfalle bestehen. Bei den Re- 
derijkern herrschte in beiden Fällen Willkür, wodurch ihre 
Verse viel zu holprig für unser Ohr, und viel zu wenig 
rhythmisch sind, um unserm Taktgefühle angenehm zu klin- 
gen. Nach Kasteleyn konnte man nach Belieben gleiche Syl- 
benzahl in der Zeile anwenden, oder nicht. Gewöhnlich 
nimmt man Verszeilen von neun bis zwölf Sylben, aber das ist 
keine Nothwendigkeit, sagt er. Man mag bis zu fünfzehn 
gehen, wie die „auwers^^ das thaten. ^) 

Onder veuren en naei*, zesse en dertich esbatementen, 
Achte en dertich tafel - speien, zom in prenten, 
Ende in twaleve staende speien van zinne. 
Voort hebbick ghemaect (met paeis en minne) 
Dertich waghen - speien, ick moet vermanen, 
Als ick Factuer was te kleenen ghewinne 
Vanden Keersauwieren ende Paxvobianen. 
*) S. 29, Str. 102: 

Angaende van langden, end der metren verstant, 
Dat blijckt voor de handt, zoo elck mach weten : 



lt. Sinnspiele, Possen, Balladen nnd Refrains. 41ä 

Beinahe alle Gedichte waren in Abschnitte (sneden) ein- 
getheilt: die Zahl der Verse, welche die einzelnen Kouplet» 
bildeten, war unbestimmt. In einem Referein durfte man 
jedoch nur bis zwanzig gehen. 

Er warnt auch gegen Neuerungen: 

Met tgeent dat vonden es haudt u te vreden, 
Maect gheen nieu sneden. 

Die gebräuchlichsten Formen waren die Ballade, der 
Refrain und das Rondeau. 

Die Ballade umfasst nach Einigen 

Allerande dichten, hoedanich sy zijn: 
gewöhnlich besteht sie aus sieben-, acht- oder neunzeiligen 
Versen. Ein aus zehn- oder zwanzigzeiligen Strophen zusam- 
mengestelltes Gedicht, in welchem der Schlussvers sich immer 
wiederholt, heisst Refrain. „Van refererene heetet een 
referein", 

Wt causen cm dat den stock wordt gherefereert. 

Rondeaux bestehen aus Abschnitten von acht Zeilen, von 
denen die erste, vierte und siebente, und die zweite und letzte 
gleich lauten. 

Femer kommen noch Kettengedichte und Retro- 
gaden in Betracht, obgleich diese schon zu den fremden 



Neghene en twaleve usiertmen hier int lant, 
Niet min, elcke Kamere heeft haer verbant, 
Waer ghy dicht, dat en zult ghy niet vergheten : 
Wy leeren nochtans uten Poeten, 
(Wiens compositie ick ooit vul weerden zagh) 
Dat een reghel duert, onghetelt, onghemeten, 
Also laughe alst eenen aesseme heerden magh. 

Doet u oock een syllebe, oft twee, quellage, 
Lact liden, en maeckt daer gheen yerdeelen in, 
Want ick advertere u, in dit passage, 
Een syllabe bedeerft eenen gheheelen zin. 

Als ghy dicht wt ghenouchte, niet öm prijs, 
Laedt u ghcsegghen, volght mijn advijs, 
Stelt van uwen sylleben tot vijftienen, 
Yeel schoon sententien zollen u dienen 
Die u zonden dat, zouen vallen fautelick: 
0ns Auwers, die in dees konst kroone spienen^ 
Hebbent dus gheuseert, dus volghet stautelick. 



414 1^- Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

gneden gerechnet werden. Die ersteren sind so genannt, 
weil der Reim jedesmal im Anfang der folgenden Zeile wie- 
derholt wird, wodurch das Ganze wie an eine Kette gereiht 
erscheint. Z. B. : 

Wy lesen dat Socrates wijs boven scbreven, 
Verheven in sijn leven ende vul practijcken 
Tkijken der sterren hebbende begheven, 
Beneven den kinders vreucht heeft bedreven, u. s. w. 
Retrogaden konnten ebenso gut von hinten nach vorn, 

als umgekehrt gelesen werden. Hier ein Beispiel von dem 

Antwerpener Fest vom Jahre 1561: 

Versaemt, jonstich, broeders, hout peysen vrede 
Lustelijcken^ comt in Andtwerpen binnen 
Bescbaemt, en straft discoert vol onsede 
Rustelijcken, prijs en eere wilt w innen. 
Noch künstlicher bei Anna Bijns: 
Betamelic vreese ic u schepper almachtich 
Warachtich eeuwich woort geboren lichamelijc 
Blamelijc gegeesselt gecroont onsacbticb 
Gedachtich weest ons verlosser namelijc. 
Das Gedicht besteht aus 24 dergleichen Strophen, deren 

Anfangsbuchstaben noch überdies das Alphabet bilden. 

Endlich erwähnt er noch gewisse fremde Formen, die 

er unter dem Namen „ rethorike extraordinaire " zusam- 

menfasst; es genügt, ihre Namen zu kennen, wozu ich nach 

der Anmerkung verweise. ^) 



*) S. 172, Str. 216: 

Hier zuldy gaen lesen, dan vry zonder swichten. 
Om aerbeidts verlichten, of, God macht beletten, 
Intricate. Baiaden, die menighen ontstichten, 
Dobbel steerten ende Ketendichten 
Vremde sneden, schaeckbert, vry van smetten, 
Veersen in dichte, Simpletten Dobbletten, 
Ricqneracken, Baguenäuden, als qua juweelen, 
Met twee stocken, al dichten en hart om zetten, 
Linien, of Defiianchen, ende ande Rondeelen. 
207. Tbegin ende hende van zommighen speien, 
Benedicite zal ick qnelen metter gratien 
Supei-flue dicht en zal u niet vervelen 
Parabolen, Cocorullen en mach ick niet helen 
Muralen, Begheldicht noch Comparatien 
Hendelveers, Sproken ende Interrogatien, 



n. Sinnspiele, Possen, Balladen und Keirains. 415 

Aus den letzten Proben sahen wir schon, welche Stelle 
die Reimkunst im eigentlichen Sinne bei ihnen einnimmt. 
Ich verweise auch noch auf die sogenannten dobbelsteer- 
ten (Verse, die auf zwei Reimworte enden), wovon sich in 
dem Citate S. 412 eine Probe befindet. Man war nicht 
zufrieden, den Reim am Schlüsse der ZeUe anzubringen, man 
hielt auch grosse Stücke auf den Mittelreim, der schon im 
Mittelalter als Schönheit gesucht war. Er bestand in der 
Wiederholung des Reimes mitten im Verse, so dass er in 
zwei Zeilen wenigstens dreimal vorkam. Bei Balladen und 
Refrains war dies beinahe ein Erforderniss : dass man bei den 
ersteren auch noch auf den oft wiederholten Reim einen Werth 
legte, beweist z. B. die zuletzt angeführte Probe. Der Gipfel- 
punkt aller Kunst war natürlich das al dicht (Allreim), in 
welchem sich jedes Wort reimte, z. B: 

Voort, zijt niet moe, wilt mi säen versinnen, 
Hoort, zwijt, siet toe: stildt, wij gaen beginnen. 

194. Nach dem, was wir schon über den geringen Werth 
der Rederijker - Poesie gesagt ^haben, wird man nicht er- 
warten, dass wir lange bei den Werken der uns mit Namen 
bekannten Dichter still stehen. Nur sehr wenige verdienen 
kurze Betrachtung. 

Es genügt, Jakob Vilt von Brügge zu erwähnen, der von 
1462 — 66 eine theils in Prosa, theils in Versen verfasste Ueber- 
setzung von Boetius Werk De Consolatione Philoso- 
ph iae, herausgab. Eben so wenig ist über Lambert Goet- 
man und seinen Spiegel der Jongens zu sagen, welcher 
ums Jahr 1488 zu Antwerpen gedichtet und gedruckt wurde. 
Zu seiner Zeit war der Brüggener Anthonis de Rovere sehr 
berühmt, schon im Jahre 1466 wurden verschiedene Spiele 
von ihm aufgeführt, und seine Rethoricale Werken er- 
schienen 1562; aber zur Charakterisirung seiner Zeit haben 
wir uns nicht bei ihm aufzuhalten, ebensowenig bei einigen 
Anderen, deren Namen wir nicht einmal der Erwähnung 
werth halten. 

Wie imwichtig auch die Genannten waren, die Un- 



£pitaphien, Properbien, ick verklare 
Gheraetsels ende Eed der Bethorijcscher natien: 
Ende dit heete ick Bethorike extraordinäre. 



416 I^* Sinn8piele> PosBen» Balladen und Befrains. 

genannten sind noch unbedeutender. Und man wird sich 
darüber nicht wundem, wenn man weiss, dass im Anfang des 
sechzehnten Jahrhunderts der vlämische Sänger wenig Er- 
muthigung fand: wenigstens war es so am Hofe zu Brüssel, 
wo Margarethe von Oestreich Alles that, um französische 
Kunst und Poesie populär zu machen, und wo auch ihre 
Nachfolgerin, die Königin Maria, nur der französischen Muse 
huldigte. 

Der vlämische Geist bedurfte eines neuen und kräftigen 
Antriebes, um etwas Charakteristisches vorzubringen: diesen 
Antrieb gab die Reformation. 

Wir sahen schon ihre Wirkung auf dramatischem Ge- 
biete; aber auch auf dem Felde der lyrischen Poesie blieb 
ihr Einfluss nicht aus. Während auf der Bühne sich der An- 
fall auf die römische Kirche „ triomphantelic " (triumphi- 
rend) geltend machte, sehen wir Lied, Befrain und Ballade 
durchgängig zu ihrer Vertheidigung verwendet; und es ist 
sicher nicht zu gewagt, aus diesem Umstände den Schluss zu 
ziehen, dass die Mehrzahl der Poeten, und sicher auch das 
Publikum, welches sich für die Theatervorstellungen interes- 
sirte, in der neuen Richtung mit fortging; welche Annahme 
auch durch die politische Geschichte Niederlands bestätigt 
wird. Um so achtungswerther erscheinen deshalb die Weni- 
gen, welche ungeachtet der sichtbaren, wenngleich nur tem- 
porären Unpopularität der katholischen Grundsätze im Süden, 
muthig für ihre Ueberzeugung einstanden, und mit den schärf- 
sten Geisteswaflfen die neue Irrlehre bestritten. Dies ist um 
so bemerkenswerther, weü einer der muthigsten und begab- 
testen Vertheidiger eine Frau war. 

195. Diese Frau war Anna Bijns. Und es sei sogleich 
bemerkt, dass sie als Dichterin in dieser Richtung nicht allein 
stand. Während sie nur gegen die lutherische Ketzerei auf- 
trat, stand in den Reihen der Bekämpfer Kalvins Katharina 
Boudewijns obenan. 

Wir glauben jedoch mit der nähern Bekanntschaft der 
ersten und berühmtesten zu genügen, da sie grossen Einfluss 
auf ihre Zeit ausgeübt hat. 

Anna Bijns lebte in der ersten Hälfte des sechzehnten 
Jahrhunderts. 

Ihre erste Gedichtsammlung wiu'de 1528 herausgegeben^ 



II. Sinnspiele , Possen, Balladen und Refrains. 417 

die letzte 1567; zu welcher Zeit sie wahrscheinlicli schon ge- 
storben war. Sie lebte und wirkte in Antwerpen, wo sie nach 
der gewöhnlichen Annahme Lehrerin war. Das ist aber auch 
beinahe Alles , was man von ihr weiss. Und doch ist aus 
ihren Gedichten mancher Umstand ihrer Lebensgeschichte zu 
erklären. 

Zeitgenossen gaben ihr den Namen der Brabantschen 
Sappho; und man hat sich stets darüber verwundert, da die- 
ser Name sehr wenig für das ,,godvruchtig kwezeltje" (gottes- 
förchtige Betschwester) zu passen schien, welche abgeschieden 
von der Welt lebte. Und doch wird man diesen Namen nicht 
mehr so anstössig linden, wenn man ihre Geschichte verfolgt. 

In ihrer dritten Sammlung kommt eine ganze Reihe Re- 
frains vor, in welchen sie deutlich die Geheimnisse ihrer früh- 
sten Jugend entrollt, und woraus erhellt, dass sie nicht immer 
so gottselig gelebt hat, als man gewöhnlich annimmt. 

Bis jetzt war man immer geneigt, sich Ann^a Bijns als 
eine ehrsame, betagte Lehrerin vorzustellen, die sich nur in 
so weit um die weltlichen Dinge bekümmerte, als sie dieselben 
durch den Erzketzer Martin Luther bedroht glaubte. Und 
doch scheint nichts ferner von der Wahrheit zu sein, als diese 
Annahme. Sie mag am Ende ihres Lebens so gewesen sein, 
aber bei aufmerksamem Durchlesen ihrer Werke erscheint ihre 
Person in ganz anderem Lichte. 

Sie ist jung und schön gewesen und hat während einer 
langen Reihe von Jahren den Verlockungen der Welt ein 
viel willigeres Ohr geliehen, als sie es in reiferer Lebzeit vor 
ihrem Gewissen verantworten konnte. Daher stammen die 
Refrains, welche in der erst nach ihrem Tode erscheinenden 
Sammlung vorkommen, in welchen sie »wehmüthig über die 
Sünden ihrer Jugend seufzt. Bald heisst es: 

Ock costelijckem tijt, waer zijt ghy ghevaren. 
Die ic in mijn jeucht soo onnuttelijc verquiste? 



Ic heb den tijt verloren eer icken ghemiste 
In senden overbracht door quade costuyme.^) 

^) Ach, köstliche Zeit, wo bist du geblieben, 

Die ich in meiner Jugend unnütz hab' verschwendet. 

Ich hab die Zeit verloren, eh' ich sie verwendet ; 
In Sünden sie verlebt, in böser Sitte. 

Jonckbloet*s Oeschichte der Niederländischen Literatur. Band I. 27 



418 II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

Dann wieder: 

Alle fionden ben ic gewoonlic, 

Yleeschlijc levende, als mensche sinlic. 

Ihre Sünden nennt sie „ontellijc^f: ihre Zahl ^^passeert 
boven tsant der zee''. Sie hatten lange gedauert, und be- 
schränkten sich sicher nicht nur auf Kleinigkeiten, da sie sich 
anklagt „onredelic geleeft'^ zu haben „als een beeste"; ja, so- 
gar den starken Ausdruck gebraucht: 

Ic heb liggen wroeten (herumgewühlt) jaren, maenden en wekeii 
In den dreck der senden. 

Das hatte schon in ihrer Jugend angefangen und war niit 
den Jahren inuner ärger geworden. ^) 

Was sie sich vorzuwerfen hatte, wird uns aus manchen 
Einzelheiten deutlich. Es gab eine Zeit, in der sie sagen 
konnte : 

Ic ben volmact van leden, gesont van lijve. 

Auf diese Tage bezieht sich hauptsächlich ihr Bekenntniss : 
Ic heb 

My selven ghesocht en de werelt ghemint ... 
Mijn ooren hebben nae ydelheyt gehoort . . . 
Waer 66n ydelheyt wil plegen ben ic de tweeste . . . 
Och ic ben verleyt door eertsche weelde, 
Vleeschelijc onder de sonde vercocht, 
Den costelijcken tijt heb ick overbrocht 
In ydelheden. 



*) Hier einige Beweisstellen aus verschiedenen Gedichten: 
Van mijnder jeucht began ic te dwalene . . 
Ic heb, Heere, u eere en u leere versaect, 
Ter onduecht, genuecht, mijn jeucht versleten . . . 
Want ic vinde my selven, ic moet U clagen, 
Vol der onreynicheyt, ja d' onreynicheyt selve 
Ben ic en geweest hebbe van kintschen dagen. 
Siende mijn onsuyverheyt crijge ic mishagen, 
Want ic my daerdoor vinde in Gods haet .... 
Als Ghy my riept, ic steldet wte tot merghen 
Van jare te jare nemende 't verstreck, 
En hoe langer gheleeft, hoe dieper in den dreck . . 

Ic heb den wolven gheslacht, 

Hoe onder, hoe arger, vol van fenijne .... 
Want tot noch toe heb ic geweest verblint: 
Hoe onder, hoe arger, van jare te jare. 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Befrains, 419 

Die Fehler, die sie dazu rechnet, waren wohl so gross 
nicht. Sie hing ihi* Herz an Musik und Theatervorstellungen, 
auf welche sie später verächtlich niedersah: 

AI hoor ic Gods woort, ic en stelt niet te wercke, 
Maer lacen (leider), ic hercke meer nae sötte cluyten; 
Ic hoorde veel liever herpen en luyten, 
Bommen en fluyten, oft een ander Instrument 
Dan tgodlijc woort. 
Auch die Poesie hatte grossen Reiz fär sie; und kein 
Wunder, denn sie konnte mit vollstem Rechte sagen: 
Heere, Ghy hebt my veel gaven 

Gegeven, beyde geestelijc en natuurlijc 

Ghy hebt my verleent cloecke sinnen, 

Subtijl verstant. 
Aber das hatte sie „al misbruyct" ; nicht zu „Gods glorie", 
Maer tot ydelheit der werelt, so ic schrijve .... 
In ydelheden ben ic mijn verstant scherpende, 
Om der werelt lof ic studere, ic dichte 
De godlijcke inspraken vander hant werpende ... 
In ydel glorie ken ic my schuldich, 
*t Werels lof begerende 
Die Poesie, die sie hiermit meint, war sicher von ganz 
anderer Art, als die Gedichte, welche wir von ihr kennen; 
und es ist zu hoffen, dass die Jugendwerke einer so begabten 
Frau einst noch aufgefunden werden. 

Rechtfertigt schon diese weltliche Poesie in gewissem 
Grade den Namen der Brabantschen Sappho, so gab es gewiss 
noch mehr, was zu diesem Beinamen Anlass geben konnte. 

Der Hang nach weltlichen Vergnügen war unwidersteh- 
lich in ihr, obgleich sie die Gefahr kannte: 

't Vleesch steect tegen den geest altijd rebellick 
En de werelt vecht mij ane seer sterkelick 
Ic luyster na haer, want ic ben gesellic. 
Wohl kämpfte sie dagegen, aber vergebens: 
En altijt (immer) gevoele ic in my de voncke 
Der quader (bösen) begeerten, contrarie Gods wet, 
AI wil ic 't goet volbrengen, 't wert my belet, 

Das doe ic dicwils 't gene dat ic lake 

Den geest soude geerne wat goets aenveerden, 
*t Vleesch soect wellust, nae zijn onde plege. 
Und die Folge davon war, dass sie endlich zu dem Be- 

kenntniss kommen musste: 

27* 



420 ^I- Sinnspiele, PoBsen, Balladen und Befrains. 

Mijn lichamelijcke gaven, die heb ic meest 
Tegen God gebruyct. 
Sinnengenuss, ,,wellust"; wie sie es nennt, ging ihr über 
Alles. 

Ic Iiebbe geleeft alsoo wellustelic» 
De siele vergetende .... 
Ded tot wellust des lichaems scheen profijtelijc 
Heb ic gesocht, seer appetijtelijck, 
Niet achtende, al wast der sielen schadelijc. 
Van eertscher genuchten was ic onversadelijc .... 
Speien en singen, alomme in de feest, 
Is 's vleesch begeerte ; te leven als een beeste. 
Um diese Genusssucht befriedigen zu können, strebte sie 
nach Geld und Gut; aber nicht immer auf die ehrenhafteste 
Weise. 

Om dlichaem te voeden heb ic gedaen list, 
Daer toe gbebruyckende al mijn engien .... 
Daermen wat nieus sal sluyten ben ick geeme onti*ent, 
Duor quade coustuyme ter onduecht gewent, 
Seer diligent int winnen van eertschen goede. 
Sie gesteht es nicht offen ein, wie weit das wohl ging: 
En al en heb ick niet ghestolen, goet ront, 
Ick heb door bedroch, wt mijnen gierigen gront, 
Om goet te vercrijgen geleyt veel lagen, 
Heb ic my door dwerc niet oncuyschlijc misdragen. 
Ic heb door consent^) gesondicht misschien. 
In gleichem Sinne äussert sie sich^, indem sie sich, mit 
kleinem Vorbehalte, der sieben Todsünden schuldig erklärt: 
In onsuyverheyt, ten minsten metten gedachten, 
Ken ic my schuldich. 
Geht man zu weit, wenn man dabei an leichtsinnige Lieb- 
schaften denkt, die nur wegen des Gewinnes angeknüpft wur- 
den? Und ob es ihr dabei wohl immer geglückt ist, den 
Rubicon nicht zu überschreiten? Die Frage wird bedenklich^ 
wenn man Herzensergiessungen, wie die folgende, liest: 
AI heb ic deertsch goet bemint seer gierlijc, 



^) Der Sinn dieser Zeilen wird durch Vergleichung mit folgender 
Stelle deutlich: 

De boose geest die is my ooc quellic (quälend) : 
Dit heeft my dicwils doen sondegen merckelic, 
Met wille en consente en ook werekehc. 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Kefrains. 421 

Gulsich, oncuysch en seer putertierlijck, 
Gram, traech geweest, mijnen naesten benydelic ; 
wenn sie erklärt^ dass sie ist 

Als Eva verleyt vander helscher slanghen, 
Tcleet der onnooselheyt onachtsaem verloren, 

oder wenn sie sich den „dwase maechden" vergleicht, oder 

ausruft : 

Ic minne God lauwelijc, maer vierich blake ick 
In eertsche liefde: nae creaturen hake ic; 
Heel nachten wake ic, en 't is my cleyn zeer 
In der werelt dienst. 
Höchst merkwürdig sind denn auch folgende Stossseufzer : 
Herr, iclj muss beben, 
Denn ich muss vor Dir, ich kann nicht entgehn, 
Rechenschaft von jedem Augenblicke geben, 
Den ich missbraucht. Du weisst mit wem es geschehn, 
Ich schäme mich, wenn meiner Sünden ich denke, 
Ich weiss, Du Herr, kannst alle meine Thaten sehen, 
Wie tiefgeheim, kann keine Dir entgehen. 

Obgleich sie sich nach „creaturen" sehnte, scheint sie sich 
besonders an einen Freund gehangen zu haben: er wurde 
ihr durch den Tod geraubt, und in einem Refi*ain ruft sie 
,,met tränen ootmoedich" (demüthig) Gottes Gnade fiir ihn an. 
Wie lange sie dies Leben gefiihrt hat, ist nicht zu be- 
stimmen ; dass es aber geraume Zeit währte, bekennt sie selbst. 
Sie scheint auch ihr Schäfchen dabei ins Trockne gebracht 
zu haben, da sie mehr als einmal von dem Gute spricht, das 
«ie gesammelt hat. ^) Reifere Jahre und Krankheit scheinen 
sie zu besserer Einsicht gebracht zu haben. Sie war wahr- 
scheinlich immer von schwacher Gesundheit;*) endlich ist sie 
zu dem Ausrufe gezwungen: 

Het lichaem (Körper) is cranc, vol ongesonden 



^) Als sie von ihrer Sterbensstunde spricht, sagt sie: 
Tgene dat ic heb vergaert en gespaert met liste 
Moet ic hier laten. 
Und sie spricht auch von: 
Mijn vrienden, 

Die meer mijn goet dan mijn leven begheeren. 
^) Sie weist wiederholt auf ihr Leiden hin, in welchem sie keinen 
Trost bei Gott, „maer inde creaturen", gesucht;, und gegen die Vorsehung 
„gemurmureert" hat. 



422 . I^- Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

En d'edel siele, na u beeide ghewrocht, 
Is Tol gfaebreken en dootlijcke wonden. 

Damals scheint ihr besseres Selbst den Sieg dayon getra- 
gen zu haben ^ und sie wurde die fromme Dichterin, die wir 
kennen: Maria Magdalena wäre ein eben so passender Beiname 
für sie, als Sappho. 

196. Das älteste ihrer bekannten Gedichte ist eine Bai- 
lade ,,op den geheelen a b c^', welche in ihre erste Gedicht- 
sammlung aufgenommen, und am 21. November 1523 geschrie- 
ben ist. Daraus erhellt, dass sie gegen das Ende des fünf- 
zehnten Jahrhunderts, sagen wir mit dem Herrn Moons: im 
Jahre 1494 geboren ist. Ihr Sterbejahr steht nicht fest. Im« 
März 1566 war sie ganz sicher schon gestorben. Damals 
wurde das Privilegium unterzeichnet, eins ihrer Bücher zu 
drucken, welches von Henrick Pippinck, ,ßlinister Provinciael 
van Nederduytsland " „int openbaer gebracht" wurde, und 
welcher in der Vorrede von der Verfasserin spricht wie von 
„een godlijcke wijse catholicke maget .... die altijt in het 
recht geloove heeft ghepersevereert ende die joncheyt (Jugend) 
onderwesen met groote love, die tegen Luthers doctrine vol 
fenijne over vijftich jaer oft daeromtrent, vromelijc heeft. 
gescreven, als twee diversche boecken, die noch in die banden 
der menschen zijn, wel getuygen." 

Man hat das Jahr 1540 als ihr Todesjahr angenonomen; 
Andere lassen sie bis 1548 leben. Dass sie im Jahre 1540 
noch nicht gestorben war, beweist die von Pippinck heraus- 
gegebene Sammlung, in welcher eine Anspielung auf da& 
Konzil von Trente vorkommt, also zwischen 1545 und 1551 
geschrieben ist. Ueberdies ist das Privilegiinn für den Druck 
der zweiten Sammlung vom 17. November 1548, und darin 
heisst es, dass diese Refrains waren „ghemaect nu nieus by 
Anna Bijns^^ Man kann also annehmen, dass sie zwischen 
1550 und 1566 gestorben ist. 

Das erste uns bekannte Werk dieser Dichterin erschien 
1528 in Antwerpen. Von dieser Ausgabe scheint nur ein 
einziges Exemplar erhalten zu sein, welches sich jetzt in der 
Bibliothek von Professor Serrure in Gent befindet. Ein 
neuerer Druck, „gheprint (gedruckt) inden gülden Eenhoren 
by Märten Nuyts", fährt folgenden Titel: 

„Het yerste boeck inhoudende veel scoone constige re- 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Kefrains. 423 

fereynen vol scrifturen ende doctrinen, van diverscen ma- 
terien, na wtwisen der regulen, als hier int register na volgen, 
Beer wel gemaect vander eersame ende ingeniöse maecht 
Anna Bijns^ subtilic ende retorikelic, refuterende inder waer- 
heit alle dese dolingen ende groote abusien comende wt die 
vermaledide luytersce secte. Die welcke niet alleen van allen 
doctoren ende universiteiten mer ooc van de keyserlike maje- 
steit rechtverdelije gecondemneert is/' 

Der Ausdruck yerste boeck beweist, dass schon ein 
zweites Buch bekannt war, und dieses erschien wahrschein- 
lich gleichzeitig, mit der zweiten Auflage des ersten im Jahre 
1540 unter dem Titel: 

,yHet tweede Boeck vol schoone ende constige Refereynen, 
vol scrifturen ende leeringhen van menigherhanden (mancher- 
lei) saken, na wtwijsen der regulen die hier int register 
navolghen, seer subtylijck ende Rethorijckelijck ghemaeckt 
vander eersame ende verstandighe maecht Anna Bijns, seer 
treffelijck straffende alle Ketterijen ende dolingen van desen 
onsen tijde. — Gheprint Thantwerpen inden gülden Eenhoren 
by Märten Nuyts gheswooren printer by Keyserlijcke gracie 
ende Privilegie." 

Man hat behauptet, ^) dass dieses zweite Buch auch schon 
im Jahre 1528 erschienen sei : ein Blick in die Sammlung lehrt das 
Gegentheü. Der sechste Refrain datirt von 1532. Der drei- 
zehnte enthält eine Anspielung auf die Ki'önung Jan's van Leiden 
als „Coninc van Israel", ist also nach 1535 geschrieben. 

Eine dritte Sammlung erschien 1567 „Tanwerpen (sie) 
by Peeter van Keerberghe" und führte den Titel: 

„Een seer scoon ende suyver boeck, verclarendediemogent- 
heyt Gods, ende Christus ghenade, over die sondighe menschen. 

„Daer boven die warachtighe oorsake vander plaghen 
groot die wy voor ooghen sien, met veel scoone vermaninghe 
totter duecht, bewijsende dat een oprecht gheloove, met een 
nieu leven in Christo is den rechten wech. 

„Om Gods toom van ons te keeren , hier pays te vercri- 
ghen, ende hier namaels het eeuwich leven, ghemaect met groo- 
ter const, door de eer werdige Godvruchtige Catholijcke ende 
ser vermaerde maghet Anna Bijns, inden oprechten Gheest 



^) S. Dietsche Warande VII. S. 43. 



424 II* Sinnfipiele, PoBsen, Balladen und Befrains. 

Christi; seerhooghe verlicht; woonende binnen Antwerpen, ende 
die jonckheyt instruerende in het oprechte Catholijck geloove. 

,,Nu eerst int openbaer gebracht door B. Henrick Pip- 
pinck, Minister Provinciael van deser Nederduytslanden, tot 
Christus eere ende salicheyt der menschen alle te samen/^ 

Es sind Zweifel aufgeworfen, ob diese Sanmdung von 
der Hand unserer Dichterin, oder von Pippinck herrühre. 
Diese Zweifel müssen aber beim Lesen des Buches weg- 
fallen. Der Ton, die Sprache, die Reimweise, die Dar- 
stellungsart und Ausdrucksweise sind ganz wie in den 
beiden vorigen Heften. Ueberdies konunt Anua's Wahlspruch: 
Meer suer dan soets wiederholt darin vor; und was noch 
mehr sagen will, auch in dieser Sammlung bilden die An- 
fangsbuchstaben einer Strophe oft den Namen der Dichterin.^) 

^) Ich theile einige Proben daron mit. In der ersten Sammlung 
liest man gleich nach dem Inhaltsrerzeichniss 

Artificiael gheesten die na conste haect 
Niet en eest gemaect, dan wt rechter trouwen sterc 
Neemt hier aen gemerc, op dat ghi jonste smaect 
AI isser yet misraect, peyst tis al vrouwen - werck 
Bequame sinnen, onder correctie reene 
Ic mi stelle mach wijsheit in mi vermeert zijn 
Jn consten kenne ic mijn perfectie deene 
Noch leerkint dus meesters moeten gheeert zijn 
Seer gheeme wil ic van constenaers geleert zijn.*) 
Eine ähnliche Strophe liest man am Schlüsse der zweiten Sammlung, 
und wohl zehn dergleichen in der dritten, wovon ich einige wegen ihrer 
Künstelei abschreibe: 
Aerdighe Notabele Natuerlijcke Artisten goet 
Aensiet Neerstelic Neemt dit AI tsamen waer 

AI en eest Niet constich Nochtans Abel mercuristen (weise Dichter) vroet 
Aenveert Nu hier Nieuwelijc so Aengenaem jaer 
Bidt lesum Jnnichlijc Naeht en dach Seere ooc 
Be8lu3rt lesum Jnt herte Nu gy en Sult soe falen niet 
Begeert iesus Jonste Nuttelijc $yn eere ooc 
Besoect lesum Jnt cribbeken Naect Sonder dralen ziet. ' 

*j Artisten-Seele, die nach Künsten strebt, 
Nicht ist zu finden, als in Treue gut, 
Nehmt das zum Zeichen, dass ihr Gunst erlebt; 
Alles ist nicht geglückt, denkt, dass ein* Frau es thut. 
Befugte Geister, gern lass ich mich schelten. 
Ich fleh um wachsend* Weisheit stets Euch an. 
Ja, ich weiss wohl, wie wenig ich kann gelten. 
Nicht Schüler, Meister nur preis* man fortan, 
Sehr gerne nehme ich von Künstlern Lehre an. 



n. Sinnspiele, Possen, Balladen und Kefrains. 425 

Unter den Refrains, in welchen ihr Name vorkommt, befindet 
sich auch einer, der Andeutungen über ihr früheres Leben 
enthält. 

Aus dem Angeführten kann man schon entnehmen, wie 
wenig Glaubwürdigkeit wir der zuweilen ausgesprochei^en Ver- 
muthung zuschreiben, als habe Anna Bijns die Gedichte nicht 
selbst geschrieben, sondern habe nur ihren Namen hergegeben, 
um denselben vor das Werk eines Andern, Pippinck's z. B., 
zu setzen. Als Gründe dafür gab man an , es sei nicht anzu- 
nehmen, dass eine Frau die Verfasserin von Gedichten sein 
könne, welche „von so grosser Bekanntschaft mit weltlichen 
und biblischen Schriften und selbst mit der Polemik zeugen."^) 
Dieser Grund entbehrt aber allen Haltes, da die Spuren die- 
ser Gelehrsamkeit im Refrain nicht von der Art sind, dass 
sie die Grenze weiblicher Fassungskraft überschreiten: zumal 
nicht bei einer Frau wie diese, die mit Literaten in literari- 
schen Beziehungen stand, wie aus ihrer zweiten Sammlung 
deutlich wird, in welcher ein ihr geweihter Refrain von frem- 
der Hand vorkommt, und worin sie „princesse alder Rethori- 
sienen^^ genannt wird, und worin man ihr sagt: „onder con- 
stenaers zydy (bist Du) een robyne fier." 

Wie war dies bei einer einfachen Schullehrerin mög- 
lich? fragt man vielleicht. Man erlaube uns die Gegenfrage: 
steht es unumstösslich fest, dass sie Lehrerin gewesen sei? — 



Oder auch so, nach unten und nach oben: 

Artificiael Subtijl Abele geesten 

Nae conste Natuerlijc Noch 't herte haect 

Neemt danclijc Jonste bringt Nu vreucht tees feesten 
Aenmerckende Jugeert wel AI den sin wel smaect 

(seht auf den Kern, den Inhalt) 
Besiet keest Binnen, ic Begeert eer ghijt laect 

Ingenieuse Aerdige Jonstige sinnen 

Jck bidden Neerstelijc Js hier iet misraect 

Noteert dat Notabele Nu laet jonste kinnen 

Schont nijt Altijt, wt Soeter minnen. 

Ebenso findet man in den Anfangsbuchstaben der letzten Strophe 
des zweiten Befrains in der ersten Sammlung, und im dreiundzwanzig- 
sten des zweiten Buches ihren Namen; dasselbe findet auch zweimal im 
dritten Hefte statt. Bei einem anderen Gedichte fangt jede Strophe mit 
einem Buchstaben ihres Namens an. 
») Dietsche Warande, VII, S. 54. 



'f 



426 ^I- SinnBpiele, Possen, Balladen und Beframs. 

Man hat Pippinck's Versicherung. Hat der aber wirklich mit 
seinen Worten das gemeint^ was man darin findet? Der 
Zweifel ist wohl erlaubt, wenn man auf dem Titel der Ghees- 
telijcken Nachtegael liest : Eertijts wtghegheven tot pro« 
fijt ende stichtinghe van alle menschen. Nu tot behoefte der 
Jonckheidt oversien ende verbetert.^' Und überdies kommt sie 
auf keiner der noch vorhandenen Listen von Antwerpener 
Lehrerinnen vor. 

Obgleich eine Anzahl ihrer Refrains gedruckt ist, so ist 
es doch wahrscheinlich, dass nicht alle ihre Gedichte veröffent- 
licht sind ; *) denn eine ehemals in Willems Besitze befindliche 
Handschrift, die jetzt in der Burgundischen Bibliothek zu 
Brüssel ist, enthält eine Menge Gedichte, grösstentheils von 
ihrer Hand, wenn man ihr auch nicht alle zuschreiben kann; 
Willems hat uns den Beweis durch mitgetheilte Proben ge- 
liefert.^) Dass die Stücke „van erotischen en van boertigen 
aard", die darunter gefunden werden, nicht von Anna Bijns 
sein können, kann nach dem Mitgetheilten ohne nähere Unter- 
suchung nicht so fest behauptet werden.*) 

197. Was nun auch davon wahr sei, die gedruckten 
Werke unserer Dichterin wurden lange sehr hoch gehalten^ 
wie die vielen Ausgaben derselben beweisen. Und diese Be- 
liebtheit war vollständig verdient. Wenn auch hoher dichte- 
rischer Schwung nicht den Hauptcharakter ihres Talentes 
bildet, so übertriflFt dasselbe doch an poetischem Werthe, so- 
wohl was Form, als Lihalt betrifft, weit das ihrer Zeitgenossen. 
Obgleich ihr Gedankenkreis ziemlich beschränkt ist, so entfaltet 
sie doch innerhalb dieses Kreises eine sehr lebhafte Phantasie 
und so viel scharfen, in durchgängig helle, klare, nicht selten 
sogar kräftige Sprache eingekleideten Witz, dass sie dadurch 
jetzt noch unsere Aufmerksamkeit fesselt. Ausser wenn der 
Reim sie dazu zwingt, kommen bei ihr viel weniger Bastard- 
worte vor, als bei ihren Zeitgenossen, imd wenn ihre Verse 
auch nicht vollständig unserem gegenwärtigen Begriff von 



1) Das Werk, das den Titel Den gheestelijcken Nachtegael 
führt , welches ich aber nicht selbst gesehen habe , scheint mir eine 
neue Auflage ihrer früheren Bücher zu sein. 

«) Belg. Museum VII., 73. 

8) Siehe Dietsche Warande VII., S. 48. 



II. Sinnepiale, Possen, Balladen und Refrains. 427 

Bbythmus entsprechen, so besass sie doch ein angebornes Ge- 
fühl für Harmonie, wodurch dieselben noch heute unserem Ohre 
angenehm klingen, und welches ihnen wirklich , eene gratie van 
liefelijkheid" giebt; dabei erstaunen wir über ihre Fertigkeit im 
Auffinden von Reimworten, die ihr wie von selbst in die Feder 
zu fliessen scheinen. Dass sie mit allzu derben Ausdrücken 
freigebiger ist, als uns jetzt wünschenswerth erscheint, ist ein 
Vorwurf, der sie nur halb trifft, da wir bald sehen werden^ 
wie damals der Massstab für Feinheit ein anderer war, ala 
jetzt. 

Alle ihre gedruckten Schriften haben eine sittlich-religiöse 
Richtung. Die merkwürdigsten, die ihren Namen weit und 
breit bekannt gemacht haben, sind die, in welchen sie gegen 
die lutherische Ketzerei zu Felde zieht. Der Anfall ist heftig- 
und man findet dies vielleicht sonderbar bei einer Frau; aber 
aus ihren Gedichten erhellt, dass sich oft Frauen mit Theologie 
beschäfdgiten , zumal um der neuen Lehre Eingang zu ver- 
schaffen. 

Man ghelooft precaren oft observanten niet, 

Maer den spinroc i Spinnrocken) devanglie exponeert. 

Doctoren, pastoren, licenciaten 
Werden nu vanden wijfs onderwesen, 

ruft sie aus; und obgleich sie dies tadelt^) und gegen die 
„duytsche doctorinnen" zu Felde zieht, lässt sie sich doch auch 
durch jenes Beispiel verführen und wafihet sich zur Verthei- 
digung der römischen Kirche. Es. ist nicht zu verwundern^ 
dass sie dies in Versen that, denn der Anfall geschah ge- 



*) Ich grüss* Euch, Doktorinnen, kommt zur Stell', 
Vergäss* den Gruse ich, könntet Ihr wohl klagen, 
Der Flachs ist theuer, spinnet nicht zu schnell, 
Doch das Studieren wird Euch wohl behagen. 
Ihr müsst die Sorge nun auch helfen tragen, 
In der Kirche würd* es sonst übel gehn. 
Närrinnen, die Ihr seid, Gott wird danach nicht fragen: 
Ich rath Euch an, aufs eigne Haus zu sehn. 
Wollt* besser Ihr die heiPge Schrift verstehn 
Als jene Männer, die voll von "Doktrinen? 
Ich schweige, Alles ist verkehrt geschehn: 
Seit Weisheit nur beruht auf Spinnern und Baginen, 
Ist mir der Glaub' auf Glatteis wohl erschienen. 



428 I^' Sinnspide, Possen, Balladen und Befrains. 

wohnlich auf gleiche Weise. Man denke nur an die anti- 
katholischen Verse von dem Faktor der Haarlem'schen alten 
Kammer^ Hendrik Adriaanse^ die er 1568 mit dem Leben be- 
zahlen muBste.^) Anna Bijns sagt selbst: 

AI hebbie hier gescreven wat verwytelijc (tadelnswerth) iet 

Tegen de Luteranen, ten es gheen won^er vry 

Want sy scryven wel noch eens so spytelijc siet 

Teghen de heyliche kerke, daer sy tonder by 

Brenghen tgheloove, ic fundere bysonder my 

Opt woort dat de wijseman sonder spot speyt: 

Ghy seldt den sot antwoorde naer sijn sotheyt. 

Und wiederholt sind ihre Refrains die Entgegnung auf 
ein ketzerisches Gedicht.*) 

,^ür den Glauben eifernd'^, sagt ein katholischer Kritiker 
mit Recht*), „bekämpfte sie in ihren Refrains mit beissender 
Schärfe und einer ausserordentlichen Kraft des Ausdrucks 
die immer weiteres Feld gewinnenden neuen Ideen, und zumal, 
wie sie sagt, die vermaledijde lutherse secte. Sie 
erhebt ihr Feldgeschrei und warnt Alle vor dem Uebel. Sie 
ermuthigt die Treuen und bedroht die Abgefallenen. Sie er- 
innert an die Erfüllung der Weissagungen und an die neuen 

*) S. Kops, Schets, S. 261—62. 

^) Bei einem Gedichte mit dem ,,Btock*reghel^* : 

En onder 't schijn van duechden soect gby der lien kiste, 
bemerkt sie: 

Teghen een Luters Kefereyn vol venijns 
Es dnavolghende ghemaeckt duer vrients begeeren, 
Daer den stock af was, tdocht selcken wat fijns: 
En onder t^schijn van duechden sy de schapen scheeren. 
Bei einem anderen mit dem stock: 

Dit sijn de ghene die Martinum Luter minnen, 
sagt sie: 

Teghen een Luters Kefereyn was dit ghemaect 
Ter eeren Gk>ds wt rechter charitaten, 
Daer den stock af was, den sin wel smaeckt: 
Dit sijn de ghene die Martinum Luter baten. 
Nicht übel ist folgender Kommentar zu einem anderen Gre> 
dichte: 

Wt Heften totter waerheyt es dit volendt vry 

Hoe mijn sinnen licht int onthouden gedwaelt hebben, 

Hadt ic dlnyters refreyn ghehadt ontrendt my, 

Ic soude den facteur licht beter betaeldt hebben. 

») Dr. H. Kollaes in der Dietsche Warande VII., S. 60. 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 429 

Gelübde Gottes. Sie deckt die Fehler, die Laster und Betrü- 
gereien der Ketzer auf und beklagt ihre Anmassung und die 
aenstaende desolatie der seden. Sie warnt vor der 
Gefahr des Umganges mit Bösen und vor den Strafen, die 
den Ungehorsamen bereitet werden. Sie zeigt den Ursprungs 
die Ursachen und vor allen Dingen die Folgen der lutherischen 
Ketizerei. In den zwei ersten Büchern, sagt Pippinck, „ver- 
claert si die vruchten wt (aus) Luthers schole geresen, ende 
alle anderen Seiten van diverscher conditio, si vertoont die 
groote perijckelen ende schaden, daer dorpen, steden ende 
landen toe comen door valsche opinien, door secten diemen 
vry ende vranc laet geworden." Sie zeigt auf Falschheiten^ 
Lrrungen und Ungerechtigkeiten des Lutherthums hin und 
ruft die Hülfe der Gottesgelehrten, Prediger und weltlichen 
Fürsten gegen dasselbe auf" 

Obgleich sie zuweilen auch die Verkehrtheiten der hohen 
Geistlichkeit dabei bekämpft und die Mängel der Priester und 
Nonnen mehr entschuldigt, als verschont, so ist sie doch nicht» 

weniger als versöhnlich in ihrer Polemik. 

. Die anders seyt te rechte ic hate, 
sagt sie; oder auch: 

Snijt af de quay leden eer theel lichaem verrot/) 
ruft sie irgendwo aus; und ihr Wahlspruch Meer suer 
dan soets passt vollkommen als Motto fiir ihre anti- luthe- 
rische Poesie. 

198. In ihrer dritten Gedichtsammlung ruft Anna Bijn& 

ihren Zeitgenossen zu: 

Maer schout (scheut) de sangen die ketterye smaken 

Die alsnu in veel landen werden geuseert. 
Ohne sie zu scheuen, wollen wir jedoch nicht bei ihnen 
still stehen. Das Geusen-Liedtboek ist vielleicht der 
reinste Ausdruck der theologisch-politischen Eichtimg der Menge ; 
aber wir brauchen es nicht erst zu durchblättern, um die 
Stimmung, welche es hervorrief, kennen zu lernen. Unter 
die wichtigsten Stücke in demselben gehört sicher das Marnix 
zugeschriebene Wilhelmus-Lied, dessen Text wohl in 
Vergessenheit gerathen sein mag, doch dessen (neue) Melodie 
noch immer der Ausdruck des vaterländischen Gefühles ist^ 
welches in den Fürsten aus dem Hause Oranien die Nachkom- 



^) Schneidet ab die kranken Glieder, eh der ganze Leib verfault. 



430 U. Sinnspiele, PoBsen, Balladen und Refrains. 

men jenes Willem van Nassouwen, des Retter des Vader- 
landes^ ehrt und liebt. 

Je nachdem der Protestantismus Boden gewann, machte 
sich auch bei den Katholiken das Bedürfhiss nach Erbauungs- 
gesängen geltend. Diesem Bedürfniss kam 1539 Jhr. Willem 
van Zuylen van Nyevelt entgegen durch seine Souter Lie- 
dekens, eine Uebersetzung der Psalmen so eingerichtet, „om 
in die plaetse van sötte vleescelike liedekens^' auf die bekann- 
testen, weltlichen Melodien gesungen zu werden, zur Erbauung 
der katholischen Jugend. Sie dienten jedoch nicht nur zum 
häuslichen Gebrauche, sondern wurden auch bei der protestan- 
tischen Predigt gesungen. Diese Ausgabe entsprach so sehr 
dem allgemeinen Bedürfnisse, dass binnen Jahresfrist sechs 
Auflagen erschienen. Die Uebersetzung ist nicht ohne künst- 
lerischen Werth: sie zeichnet sich hauptsächlich durch Ein- 
fachheit und Reinheit der Sprache aus. Indess hielt man sie 
doch auf die Dauer für den protestantischen Kirchengebrauch 
weniger geeignet, und im Jahre 1566 wurde sie von den Lie- 
dern Jan'sWtenhoven verdrängt; das war ein Gent'scher Edel- 
mann, ein grosser Freund der Reformation, dessen Werk aber, 
vom literarischen Standpunkte aus betrachtet, gegen das seines 
Vorgängers sehr in den Schatten trat. Auch diese Uebersetzung 
wurde durch die des berühmten oder berüchtigten Zeloten Petrus 
Dathemus verdrängt. Dieselbe war nach dem Französischen des 
dement Marot bearbeitet, und erschien noch im selben Jahre, 
um bald und oft neue Auflagen zu erleben, und blieb bis zum 
Ende des achtzehnten Jahrhunderts das officielle Gesangbuch 
für die Reformirten Nord - Niederlands. 

Es ist unnöthig, sich lange bei diesen Psalmen aufzu- 
halten, ebensowenig bei denen, die der Maler Lucas de Heere 
1566 veröffentlichte, oder bei denen, welche Willem van Haecht 
1579 lur die lutherische Gemeinde zu Antwerpen drucken 
liess. Die Bemerkung genüge, wie aus den vielen Ausgaben 
der verschiedenen Psalmdichtungen sich herausstellt, bis 
^u welchem Grade der protestantisch-religiöse Sinn auch in 
Süd-Niederland erweckt war; zumal in Gent, wo, wie bekannt, 
Dathen mit Hembyse geramne Zeit an der Spitze einer cal- 
vinistischen Republik stand. 

Unter den protestantischen Schriftstellern, die wegen ihres 
Einflusses oder wegen des Werthes ihrer Werke eine einge- 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 431 

hendere Erwähnung verdienen, nimmt Philipp von Marnix, 
Herr von St. Aldegonde, die erste Stelle ein. Hier folge Mot- 
ley's Charakterisirung dieses vortrefflichen Niederländers: 

,,St. Aldegonde war einer der ausgezeichnetsten Männer 
«einer Zeit, der an die Grösse der alten Helden erinnert. Er 
war ein Dichter mit kräftiger Phantasie; ein Prosaist, dessen 
Styl von keinem seiner Zeitgenossen übertroffen wurde; ein 
Staatsmann, auf dessen Tüchtigkeit und Umsicht sich Wilhelm 
von Oranien in den wichtigsten und verwickeltsten Unterhand- 
lungen immer verliess; ein Redner, der als solcher in ver- 
schiedenen politischen Angelegenheiten die Aufmerksamkeit 
Europa's auf sich zog; ein Soldat, dessen Tapferkeit sich auf 
mehr als einem Schlachtfelde, in mehr als einem blutigen 
Kampfe bewies; ein im religiösen Federkriege so erfahrener 
Gottesgelehrter, dass er in einer Versammlung von Bischöfen, 
in ihrem specialen Fache den Sieg davon trug. Kurz, er war 
ein so durch und durch gelehrter Mann, dass er nicht nur 
die klassischen und verschiedene lebencie Sprachen sprach 
und schrieb, sondern auch die Davidischen Psalmen aus dem 
Hebräischen zum Gebrauche des Volkes in vlämische Verse 
übertrug; und dass er gegen das Ende seines Lebens von 
den Generalstaaten der Batävischen Republik beauftragt wurde, 
die ganze heilige Schrift zu übersetzen; eine Arbeit, deren 
Vollendung der Tod unterbrach." 

Wir haben ihn hier nur als Dichter und Prosaist zu be- 
trachten. Und es ist nicht zu läugnen, dass seine Psalmdich- 
tungen, die er theils in der Verbannung, theils im Gefangnisse 
und unter Kümmernissen anderer Art geschrieben, die meisten 
Uebersetzungen seiner Zeit durch fliessenden und regelmässigen 
Rhythmus, durch zierliche, kernige und reine Sprache bei Wei- 
tem übertreffen. Uebrigens steht er als Prosaist im Allgemeinen 
noch höher. 

Er veröffentlichte eine Anzahl Schriften, sowohl französische, 
als vlämische, kirchlichen und poHtischen Inhalts: obgleich 
sich alle durch einen klaren und kräftigen Styl auszeichnen, 
öo hat doch vorzüglich ein Werk vom literarischen Stand- 
punkte hohen Werth, und sichert ihm als Satyriker und Pro- 
saist den ersten Rang zu: DeByenkorf (Bienenkorb) der 
H. Roomsche Kercke. 

Dieses Werk erschien 1569. Ein französischer Theolog, 



432 n. Sinnspiele, Possen, Balladen und Refiains. 

Gentian Hervet, hatte eine Schrift veröffentlicht, um die katho- 
lische Religion gegen die Reformirten zu vertheidigen. Mamix 
benutzte diese Gelegenheit, um der katholischen Kirche einen 
empfindKchen Hieb beizubringen. Er gebrauchte dazu die 
scharfe Waffe des Spottes und der Ironie. Scheinbar schliesst 
er sich Hervet an, und bestätigt dessen Behauptung mit neuen 
Texten; aber die Beweisstellen sind so gewählt, dass sie den 
verkehrten Standpunkt der Gegenpartei erst ins rechte Licht 
treten lassen, zumal die Thorheiten und Skandale, deren sich 
die Priester schuldig machten. Um seiner Spötterei die Ejrone 
aufeusetzen, widmet er sein Buch jenem Sonnius, Bischof van 
der Bosch, der als heftigster Ketzerjäger bekannt war. 

Niemals hat die kathoHsche Kirche einen heftigeren An- 
fall erduldet; und den bitteren Spott dieses giftigen Buches 
konnte sie nicht überwinden, ungeachtet der vielen con- 
futatien, die davon aufgestellt wurden. 

Ganz mit Recht sagte der letzte Herausgeber : „Ein treues 
Bild des Byenkorf zu geben, ist keine leichte Aufgabe: 
Allerhand Geist, allerhand Styl — zornige und fluchende 
Ausrufimgen — beissender, schneidender Tadel, fröhlicher, 
geistreicher Spott — hochtrabende Gedanken, rauhe Aus- 
drücke — das Alles kommt in dem Byenkorf vor, in scharf 
kontrastirendem Gemisch, aus deren Reibung der Blitz her- 
vorspringt, der die mittelalterliche Kirche vernichten sollte." 

Der Verfasser giebt in der Widmung folgende Erklärung 
des Titels: „Ende, om dat dit van velerley en menigerhande 
bloemkens by een geraept is, so hebbe ick het selve genaemt 
Den Byen-Korf der Roomscher Kercken, om te ken- 
nen te geven, dat ghelijcker-wijs als een Honich-bey niet uyt 
einderhande bloeme alleene, maer uyt vele verscheydeü hären 
honich bereyt, also en staet de Roomsche Kercke oock niet op 
einderhande Schrift, Bybel, Concilie oftDecreetboec, dan sy raept 
het uyt een yegelijck, 't geene dat haer alderbest dient*' etc.^) 

^) Und weil dies von vielerlei und mannichfachen Blümelein ge- 
sammelt wurde, so habe ich es selbst den Bienenkorb der römi« 
sehen Kirche genannt, um zu erkennen zu geben, dass, wie eine 
Honigbühne nicht aus einer Blume allein, sondern aus vielen verschie- 
denen ihren Honig bereitet, so stützt sich auch die katholische Eörche 
nicht auf einerlei Schrift, Bibel, Konzilium oder Dekretbuch, sondern 
sie sammelt es aus einem Jeglichen, das ihr am Besten dazu scheint etc. 



II. SiDnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 433 

Unwillkührlich wird man zu einer Vergleichung zwischen 
Marnix und Anna Bijns gedrängt : Beide beseelte ein gleiches 
Feuer, beide geboten über ein aussergewöhnliches Talent. 
Beide hatten Geist, beide schwangen nicht nur die Geissei des 
Spottes und der Satyre, sondern auch den Hammer der Be- 
weisführung gegen kirchliche Gegner. Und doch besteht ein 
Unterschied zwischen Beiden; er liegt am wenigsten darin, 
dass Er aus Hochmuth, Sie aus Demuth spricht, wie 
man behauptet hat; nicht darin, dass sie „eene hemelsche 
vrouw, gene een ingelijfde (eingefleischter) plaeggeest" war, 
sondern der Unterschied offenbart sich darin : dass die begabte 
Frau für die Erhaltung einer Lebensansicht kämpft, welche Aus- 
druck für eine überlebte Zeit der Geschichte war, während Mar- 
nix der kräftige Wortführer der neuen Zeit ist. Worin er sie 
überdies weit überragt, das ist die Feinheit seines Geistes und 
die Schönheit seiner Sprache. Die Sprache der Antwerpener 
Frau ist das letzte Aufflackern des Mittelniederländischen, wie 
ihre Eefrains auch die letzten Blüthen der mittelalterlichen 
Poesie sind. Die Prosa von Marnix ist schon die Prosa Hooffs, 
Brandt's, Van der Palms und Opzoomer's. Die niederländische 
Prosa, welche mit der Bürgerschaft geboren w^r, hatte mit 
ßuysbroeck einen grossen Schritt vorwärts zu ihrer Entwicke- 
lung gethan; aber erst in Marnix' Feder erhält sie die Kraft, 
die Zierlichkeit und Geschmeidigkeit, die sie zum geeigneten 
Ausdrucksmittel der modernen Ideen macht. 

199. Wir müssen noch einen Dichter nennen, ehe wir 
von den südniederländischen Rethorikern Abschied nehmen: 
es ist Johann Baptista Houwaert, der zu seiner Zeit für den 
berühmtesten Literaten Brabant's galt. 

Houwaert war der allgemeinen Annahme nach im Jahre 
1533 zu Brüssel „van edelen geslachte" geboren. Ueber 
seinen Lebenslauf wissen wir nicht viel mitzutheilen. Er 
bekennt selbst, dass er „ delicatelijck (sorgfaltig) opghe- 
voedt" war, was seine Poesie auch genugsam bestätigt. Aus 
einigen, von seinen Freunden ihm gewidmeten Gedichten wis- 
sen wir, dass er thätigen Antheil an den politischen Begeben- 
heiten seiner Zeit nahm, und als Soldat dem Banner Wilhelm's 
von Oranien folgte, obgleich er nicht öffentlich zur Reformation 
überging. Er starb 1599 auf seinem Landgute „Cleyn Vene- 
gien by de Princelijcke Stadt van Brüssel'^ 

Jonckbloefs GeBchicbte der Niederländischen Literatur. Band I. 28 



434 I^* Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

Ungeachtet seiner bewegten Soldatenlaufbahn hat er doch 
Zeit zum Vielschreiben gefunden. Ausser einzelnen Theater- 
stücken hat er hauptsächlich didaktische Gedichte hinterlassen. 
Wir erwähnen davon nur: De vier wtersten van den 
Doot, van het oordeel, van deeuwiche Leven, 
van de Pyne der Helle, schrifturelijck gheinven- 
teert ende rhetorijckelyck ghecomponeert by 
J. B. H. Ferner Den generalen Loop der Werelt, 
begrepen in zes vermakelijcke boecken; undPara- 
nesis Politica, Politycsche Onderwysinghe tot 
dienste van alle menschen, om te gebruycken 
matigheit in voorspoet en standvastigheid in 
tegenspoet. Endlich sein Hauptwerk : Pegasides Pleyn 
ofte Den Lust-Hof der Maechden, wobei wir uns einen 
Augenblick aufhalten müssen. 

Es ist ein Gedicht in sechzehn Büchern und in elfzeiligen 
Strophen verfasst; das Ganze trägt den Ton häuslicher Unter- 
haltung. Im ersten Buche erzählt der Dichter, wie er früher 
bei Venus auf „der weiden berch^^ lustig lebte. Dabei spielen 
allerhand allegorische Personen ihre EoUe , denn „so wanneer 
Poeterye ghelesen wort met Allegoria (dat is met eenen 
deughdelijcken sin) soo is sy seer orboorlijc (nützlich) ende 
profijtelick.^^ Pallas errettet ihn aus diesem Zustande und 
sagt: 

Nun komm und folge mir aus diesen Auen, 

Ich lass als Freundin, die Dir ist gewogen, 

Des Pegasides Thal Dich jetzund schauen, 

Und solch ein- Ort find't sich in keinen Gauen, 

Für Kunstliebhaber, geistreich holde Jugend. 

Dort kann auch Jedermann auf l^rost und Hülfe bauen, 

Und jener Ort, den wir nun wollen suchen^;, 

Heisst Pamass, Helicon, der Berg der Tugend, 

Wo Phöbus hält sein' Habitation, 

Wo ew^ge Freud' ist ohne Delation. 

An diesem Ort magst Du in Frieden leben. 
Dort wird man Dir voUkommne Künste lehren, 
Phöbus wird frohen Unterricht Dir geben, 



*) Gezwungener (im Original jedoch reiner) Keimkiaug, den die 
fast unüberwindliche Schwierigkeit der Uebersetzung dieser Stellen ent- 
schuldigen möge. 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Befrains. 435 

Und seiner Leier Kunst Dir bald bescheeren, 
So dass, wer Kunst dort hielt in Ehren, 
Der wird sogleich berühmt in allen Reichen, 
Denn Phöbus Kunst wird seinen Ruhm vermehren, 
Weil keine Kunst auf Erden ihr kann gleichen, 
Der Rethorijkerkunst muss jede weichen, 
Weil man den Sinn an Dichtung kann erlaben, 
An sehr erbaulich tugendreichen Gaben. 
Besonders die Frauen will er „erbauen^^: das ganze Ge- 
dicht ist eine fortgesetzte Warnung gegen die Gefahren der 
Liebe ^ und mehr oder weniger ein Seitenstück zum Roman 
de la Rose^ den er ganz gewiss kannte. Die didaktische 
Eichtung spricht deutlich aus den Worten der Vorrede: 

„Want ghy, eersame Lesers, in dese sesthien (sechzehn) 
boecken deughdlijcke instructie ghenoech vinden sult om ma- 
nierUjck, betamelijck, eerbaerlijck ende deughdlijck te leyen: 
al. waren eenighe dochters oft vrouwen oock soo siecht (d. h. 
einfach), dat sy maer onthouwen en consten sommighe stichte- 
lijcke (erbauliche) sententien, als dese« oft dergelijcke: Kent 
u selven oft Houdt middelmate/^ 

Houwaert zeichnet sich nicht durch Poesie aus; man sucht 
sie vergebens in seinen Betrachtungen, oder in den Erzählungen, 
welche im Werke selbst als Beispiele vorkonmien. Er giebt nicht 
nur meistens bloss gereimte Prosa, sondern ist nicht selten 
sogar recht platt in seinen Ausdrücken.^) Und wenn er eine 
anstössige Erzählung giebt, die sich nicht gut zu Frauenlektüre 
eignet, dann verweist er zu seiner Entschuldigung immer auf 
die Bibel, in welcher auch Historien zu finden wären „die 
onstichtelijck ende ondeughdeiijck zijn, ende oock onsen leven 
schadelijck, alsmen die naer de lettereu soude willen verstaen, 
ende naervolghen." Von einem Dichter fordert er, dass er muss 

Als Cato prolixiteit verfoeyende zijn; 
aber gerade Prolixität ist seine schwache Seite. Das 
Genre seiner Poesie brachte dies mit sich;' einmal erzählt 



») Z B.: 

Wij en willen de jonckheit besmetten niet, 
Men behoort de luys in den pels te setten niet. 
Oder anderswo: 

Soo veel gaten en maken der sterren stralen 
In de wolcken niet, noch in deerde die pieren (Regenwürmer), 
* Daer en quamen meer beeren etc. 

28* 



436 n» Sinnspiele, Possen, Balladen und Refrains. 

er, wie er durch fievre quarteyne am Schreiben verhin- 
dert sei; dann wieder widmet er der Beschreibung seines 
Landgutes^ im Anfange des neunten Buches, nicht weniger als 
29 Strophen. Wir können es ihm Dank wissen, dass er nur 
sechzehn Bücher geschrieben hat, denn er hätte wohl „materie" 
gefiinden 

Om te schrijven, zoo Chrysippus dede, 
Zeven hondert boecken met goet vermaen (voll guter 

Lehre). 

Wenn schon die Unbedeutendheit des poetischen Inhalts, 
sowie die Unreinheit der Sprache und grosse Freiheit des 
Reimes seine Zeit charakterisirt, so ist dies nicht weniger 
der Fall mit der klassischen Behandlung. Keine einzige An- 
spielung auf vaterländische Ueberlieferung, Literatur oder Ge- 
schichte kommt in den sechzigtausend Versen vor; dagegen 
fehlt kaum ein Name aus der klassischen Mythologie und 
Geschichte. Ja, sein Klassizismus geht sogar so weit, dass er 
nicht nur von 

Jovem den hooghen, lieven Godt 
spricht, sondern sogar erzählt, wie er beim Sprunge von einem 
Pulverthurme durch grosse die Luft durchsausende Steine in 
ernstliche Gefahr kam, 

Maer Juppiter houwende syn moghende hant 
Voor my, hiel van 't gheschut de weghen vry. 
Demungeachtet wird er von seinen Freunden bis in den 
Himmel erhoben. Ein gewisser Peeter Custodis schrieb: 
Ghy wort als een Poeet voor elcken ghepresen: 
Ich dencke datter eenen nieuwen Virgilius in verresen, 
Homerus oft Petrarcha, vol constighe conserven, 
Ovidius die leeft noch al moest hy sterven: 



Homerus, Maro, Ovidius alle dilje 

Syn gheweest seer groote verstanden wijt, 

In hären tijt, maer tis seker dat ghije (du) 

Ku den fleur van alle dese landen zijt. 

Und dieses Urtheil stimmte so ziemlich mit seiner eige- 
nen Meinung überein. Nicht bald, sagt er, wird ein Anderer 
in so kurzer Zeit (in sechs Monaten) etwas Gleiches inven- 
teeren. ^) 



^) Die schimpflichen Tadel fürs Werk bereit, 



II. Sinnspiele, Possen, Balladen und Befrains. 437 

Dieses Selbstgefiihl lag in der Luft. Junker Jan Van der 
Noot, der eine Menge Lobgedichte auf Houwaert geschrieben 
hat, sagt ebenfalls von sich selbst ;*,qu'il est devenu en sa 
langue, par ses perfections, graces et vertuzs poete tant bon, 
tant grand et tant perfaict, en toutes sortes de vers et djoeu- 
vres poetiques, luy tout seul, comme entre les Latins Virgile 
Test seulement es vers heroiques, Horace es vers liriques, 
Ovide es elegies, Tibulle es öpigrammes, et autres en autres 
sortes de vers/^ An anderer Stelle sagt er von sich selbst: 

Sog dat ick, snydende myn eere 

Diep in der Famen tempel sterck, 

Bekendt sal zijn tot allen keere 

Ovar t*gants* eerdtrijck, deur mijn werck. 

Deur het straf Duitsl^indt, over Rijn, 

Bebaeydt (gebadet), Verfraeydt 

Van de Denouwe, sal ick zijn 

Eeuwich bekent, medt lof besaeydt. 
Uebrigens zeichnet sich dieser Dichter durch sorgfaltige, 
reine Sprache und durch aufiallig regelmässigen Versbau aus. 
Er scheint der Erste gewesen zu sein, der den Alexandriner 
mit regelmässig abwechselnden Hebungen anwandte, lange vor 
Hooft; denn er lebte von 1538 bis kurz nach 1595. 



Die es verachten und vituperiren (tadeln), 
Möchten die so fleissig und in kurzer Zeit, 
Gleiche sechzehn Bücher inventiren, 
Und (ohne Hülfe) in Rethorica couchiren: 
Man würde in ihren Aventüren sehen 
Viel mehr Fehler, um zu corrigiren; 
Und will ich mich das auch nicht unterstehen, 
Viel Esel, bei denen niemals Kunst zu sehen, 
Hört man in Unehr\ wie Midas judiciren, 
Und oft will die Sau Minerven dociren. 



IIL 



Sprachstudium und Sprachreinigung. 



200. Zeiten gesellschaftKcher Gährung sind nicht vortheil- 
haft für die Kunst; aber noch weniger Tage der Umwälzung 
und allgemeiner Empörung. Poesie und Kunst verlangen eine 
ruhige Atmosphäre, imd wo der Dichter den Kampf zwischen 
Gnade und guten Werken, zwischen inniger Ueberzeugung^ 
und dem Scheiterhaufen der Inquisition, zwischen absoluter 
Monarchie und Mitregierung der Generalstaaten, zwischen 
spanischen Söldnern und niederländischen Bürgern vor Augen 
hatte und selbst auf dem Kampfplatze erschien, da konnte 
wohl ein Geusenlied entstehen oder ein Refrain gegen oder 
für Luther und Calvin; aber eigentliche Kunst entwickelt 
sich nicht in einer solchen Atmosphäre. ^) 

Bald sollte es in Südniederland noch schlimmer wer^ 
den: in den spanischen Unruhen ging Kunst und Wissen- 
schaft zu Grunde, und die ganze allgemeine Entwickelung 
für lange Zeit zurück, weil Alles, was an der Spitze dieser 
Bildung stand, oder den Ton angab, den neuen Begriffen in 
Kirche und Staat huldigte, sich also unter der spanischen 

^) Sehr mit Recht sagt Houwaert: 

Heb ick mj in ^t dichten niet wel ghequeten? (entledigt) 

Oft is u de materie niet aenghename? 

Oft heb ick daer in te stellen iet vergheten ? 

Ick bid u, laet dat toch onverweten, 

Want dat is toekomen door den wonderlijcken tijt. 

H Is qualyck moghelijck dat de divijn Poeten 

Haren gheest können baren in tyen van strijt. 

Als ick. meynde wercken, heb ick dickwijls subyt 

Voor de penne de wapen moeten aenveirden, 

En Yoor de boecken de briesschende peirden (schnaubenden Pferde). 



II T. Sprachstudium und Sprachreinigung. 439 

Regierung nicht sicher hielt und das Land verliess. Schon 
vor, aber hauptsächlich während Alba's Verwaltung wan- 
derten Tausende aus: in so grosser Zahl, dass einst 
blühende Städte in Verfall geriethen, und das Gras in den 
Strassen wuchs. Die Politik Parma's war nicht im Stande, 
das verlorne Vertrauen wieder zu erwecken: er waj eben- 
so exclusiv wie seine Vorgänger. -41s durch die Ueber- 
gabe Antwerpens 1585 Nord und Süd für immer getrennt 
wurden, und der Kampf zum Vortheile der absolutistischen 
Politik geendet zu sein schien, begriffen Staatsleute, Gelehrte, 
Künstler und Literaten, dass sie die lang genährte Hoffiaung 
aufgeben mussten, einst in das geliebte Vaterland zurückzu- 
kehren. Aber man konnte nicht immer in der Fremde ohne 
Haus und Hof seine Tage verbringen; man wandte den Blick 
nach Nord-Niederland, wo Sitten und Gebräuche nicht viel 
von denen Brabant's und Flandern's verschieden waren; wo 
dieselbe dietsche Sprache gesprochen wurde, und wo die 
Ideen, für die man das Märtyrerthum erlitten, siegten; man 
beschloss, sich dort niederzulassen und Holland zum Vater- 
land zu wählen. . 

So kam es, dass Holland seit den letzten Jahren des sech- 
zehnten Jahrhunderts die Wiege der modernen niederländi- 
schen Entwickelung wurde; dass Wissenschaft, Kirnst und 
Literatur hier in unbeschreiblich kurzer Zeit einen unbeschreiblich 
hohen Flug nehmen konnten, der Europa in Erstaunen setzte. 

Wir müssen deshalb von jetzt an hauptsächlich bei Nord- 
Niederland verweilen, und besonders bei der literarischen Be- 
wegung, welche von Amsterdam und der daselbst bestehenden 
Rederijkerkammer mit dem Sinnspruche In Liefde bloey- 
ende (In Liebe blühend) ausging. 

201. In jener Stadt, welche bald die Hauptstadt Holland's 
wurde, bestand schon gegen das Ende des fünfzehnten Jahr- 
hunderts eine Kammer von Rethorica, deren Name und Spruch 
nicht bis auf uns gekommen sind , und von der wir nur wis- 
sen, dass sie bei dem antwerpener Literarischen Fest 1496 
vergegenwärtigt war. Sie scheint kurz darauf eingegangen 
zu sein, wenigstens wurde erst 1516 eine andere Kammer er- 
richtet, die gewöhnlich die O u d e genannt wurde, nach ihrem 
Wappen den Namen de Eglentieren trägt und zum Sinn- 
spruche hat: In Liefde bloeyende (vergl. S. 349). 



1 



440 in. Sprachstudium und Sprachreinigung. 

Seit den letzten Jahren des sechzehnten Jahrhunderts fin- 
den wir daselbst eine zweite, die sogenannte Brabantsche 
Kamer, von Auswanderern aus dem Süden errichtet unter dem 
Namen: de Lavender Bloom, und dem Spruche: Uut 
levender jonste. 

Die erstere ist die berühmteste, und fesselt als solche 
unsere Aufinerksamkeit. Von der Brabantischen Kammer 
diene zur Nachricht, dass sie sich hauptsächlich auf Schauspiel- 
vorstellungen im bekannten Style der belgischen Rederijker 
verlegte. Zu ihren vornehmsten Mitgliedern gehörte Karl 
van Mander, als Maler und Dichter ein Schüler Lucas de 
Heere's; ferner Zacharias Heyns, Jan Colm und Abraham de 
Koningh, während Vondel in ihrer Mitte die ersten Schritte 
in seiner Dichterlaufbahn machte, welche er später so glänzend 
durcheilte. Bei seiner Besprechung kommen wir noch auf 
ihre Einrichtung zurück. 

Die Alte Kammer blühte unter dem Schutze von Fürst 
imd Obrigkeit: Kaiser Karl schenkte ihr ein schönes Wappen, 
und die Vorliebe der städtischen Behörde zeigt sich theils in 
Unterstützungen durch Bewilligung von Lokalen und Erthei- 
limg von Hülfsgeldern, theils aber auch in der Thatsache, 
dass Bürgermeister, Schöffen und ßathsleute bald ziemlich 
zahlreich unter den Mitgliedern der Kammer vergegenwärtigt 
sind (vergl. S. 345). 

Erst als die Stadt im Jahre 1578 zu den Geusen über- 
ging, erhebt sich diese Kammer in Bedeutung über andere. 
Von dieser Zeit an, nachdem ihr keine Hindernisse mehr in 
den Weg gelegt wurden, als die Grebüdetsten und Angesehen- 
sten sich ihr anzuschliessen wagten, nahm sie bald einen neuen 
Aufschwung; und schon im Jahre 1581 treffen wir eine grosse 
Menge ßegierungsbeamte unter . ihren Vorstehern und Mit- 
gliedern. 

Die Vorsteher, die eigentUch belebenden Geister der Kam- 
mer , waren Eoemer Visscher und Heinrich Lorensz. Spieghel ; 
diese Männer gaben ihr eine wissenschaftliche Richtung, ihnen 
schloss sich in Beziehung auf Sprachreinigung Dirk Volkertsz. 
Koornhert an. 

Eine Geschichte unserer Literatur darf die Namen dieser 
Männer nicht mit Stillschweigen übergehen. Obgleich Koorn- 
hert in entfernteren Beziehungen zu den Eglentieren stand. 



III. Sprachstudium und Sprachreinigung. 441 

deren „dienstwillighe ende jonstighe (wohlaflFektionirter) mede- 
broeder'^ er »ich jedoch nennt, so bildet er mit den beiden Ande- 
ren ein durch Richtung und Freundschaft eng verbundenes 
Kleeblatt. Ihm, als den ältesten, gebührt der Vorrang. 

202. Dirk Volkersz. Koornhert wurde 1522 zu Amsterdam 
geboren, wo sein Vater ein vermögender Tuchhändler war. 
Er hatte noch zwei ältere Brüder, welche grossen Antheil an 
der Einiuhrung der Reformation genommen haben. Er selbst 
hatte in seiner Jugend eine Reise durch Portugal und Spanien 
gemacht, wobei er die Strafgerichte der Inquisition in der 
Nähe kennen gelernt hatte. Von jener Zeit datirt man gewöhn- 
lich seinen Abscheu vor Grewissenszwang und Fanatismus, der 
sein ganzes Leben charakterisirt. 

Bald nach seiner Rjückkehr ins Vaterland, ums Jahr 1540, 
vermählte er sich mit der Schwester einer Maitresse 
Graf Reinoud's von Brederode; wegen dieser Heirath wurde 
er von seiner Mutter Verstössen und dadurch gezwungen, ein 
Handwerk zu ergreifen, um seinen Lebensunterhalt zu ver- 
dienen. Er Hess sich zu Haarlem als Kunstgraveur und Aetzer 
nieder, und brachte es in seiner Kunst so weit, dass Golius 
später sein Lehrhng wurde. Koornhert war von der Natur 
mit sehr viel Kunstsinn begabt, und von Jugend an ein gros- 
ser Freund von Musik und Poesie. 

Indess leitete der Ernst der Zeiten seine Gedanken auf 
ernstere Dinge. Zimial beschäftigte ihn die grosse religiöse 
Frage des Tages. Um die lateinischen Kirchenväter, nament- 
lich deh Augustinus, lesen zu können, lernte er noch im dreis- 
sigsten Lebensjahre Lateinisch. Diese selbstständige Unter- 
suchung, welche er auch auf die philosophischen Schriften der 
Alten ausdehnte , leitete ihn zu der Selbstständigkeit der 
Ueberzeugung , oder bestärkte ihn immer mehr in derselben 
und liess ihn in Glaubenssachen jede Autorität ausser der 
Bibel verwerfen. Deshalb protestirte er, obgleich er sich aus- 
serhalb der katholischen Kirchengemeinschaft stellte, ebenso 
sehr gegen Alles, was ihm in der Lehre oder Kirchenverord- 
nung der Reformirten unbiblisch vorkam; zumal gegen jenen 
Geist der Ausschliessung und Verketzerung, welcher sehr bald 
den Kalvinismus charakterisirte, und der ihm unchristlich er- 
schien. Er war in dieser Hinsicht einer der reinsten Reprä- 
sentanten des Humanismus (vergl. S. 334). 



442 ^U. SprachBtudium und Spracbreinigung. 

In einer grossen Anzahl von Schriften hat er für diese 
Richtung gekämpft und ist ihr Märtyrer geworden. 

Unterdessen war Koomhert Notar, und bald Sekretair 
der Bürgermeister von Haarlem geworden, und wurde als 
Solcher zumal in „politique saken ghebruyckt" (verwendet). 

Es ist nicht unsere Absicht, seine politischen Arbeiten zu 
verfolgen; wir erinnern nur daran, dass sie in jene Richtung 
fielen, welche man jetzt die conciliante nennen würde; 
eine Richtung, die zwar in der Religion Verträglichkeit und 
christliche Liebe sucht, aber in der Politik meistens in Halb- 
heit und unpraktisches Wanken ausartet. 

Sein Laviren zwischen den Partheien verhinderte nicht, 
dass er September 1567 gefangen genommen und nach dem 
Haag geführt wurde. Er wusste sich jedoch bei dem „Raad 
van Beroerten" (Blutrathe) zu rechtfertigen, imd wurde auf 
freien Fuss gestellt. Anfangs hielt er sich in der Fremde auf^ 
und lebte in Kleve und Xanten wieder vom Verdienste seiner 
Aetznadel. 

In seiner Verbannung wurde er zuweilen von Oranien 
benutzt: 1572 kehrte er mit demselben in sein Vaterland zu- 
rück, und auf des Prinzen Wunsch wurde ihm die Stelle 
als Secretair der Staaten Hollands übertragen. Er be- 
kleidete dieselbe nicht lange; denn er flüchtete aus Furcht 
vor der Rache Lumey's, dessen Erpressungen er ein Ende zu 
machen suchte, abermals nach Xanten. Erst nach der Qenter 
Pacifikation kehrte er zurück, und ergriff in Haarlem wieder 
seine notariellen Beschäftigungen. Seit dieser Zeit lebt^ er in 
beinahe fortwährendem Streit mit den meisten orthodoxen 
Predigern, und liess eine Fluth von Streitschriften, „Kijfboecken'^ 
(Scheltbücher), wie seine Parthei sie nannte, veröffentlichen. 
Seine letzten Lebensjahre wurden durch die Verfolgungssucht 
seiner Gegner sehr verbittert und unruhig gemacht. Auch 
aus Delft, woselbst er sich nach dem Tode seiner Frau nie- 
derlassen wollte, wurde er vertrieben ; endlich siedelte er nach 
Gouda über, wo er 1590, fast mit der Feder in der Hand^ 
verschied. 

Wie scharf sein Kampf war, geht aus dem Zeugnisse 
des Verlegers seiner Werke hervor: 

„Hij is van veele deses-tijts wet kundighe Priesters, ende 
Levijtsche Schrift-geleerden op 't lijf gevallen met dese vin- 



III. Sprachstudium und Sprachreimgung. 443' 

nichste bejegeningen van Hollantsche Boeve, Rasenden Hondt^ 
Onbesneden Goliath, aenblaser des Satans, Prins der Liber- 
tijnen, oproerighen Teudas, of Judas, ende sulcx, als meer 

blijct in druc, teghen hem nyt-ghegalt Hy werd 

uyten name van de Kercke voor al de wereldt uytgheroepen 
voör een valsch oproerder, aldermeest waerdigh by d' Overheyt 
ghestraft te worden, voor een rasent mensche, Bedriegher^ 
Nieu Machiavel, Calumniateur, Pluymstrijcker, Vermetel, On- 
schamel Propheet, Droomer, Kerckuyl, ende Sniit van alle 
Ketteryen, een Procureur van quade saecken ende van quade 
conscientie, ende die van de H. H. Staten immers soo quade 
ghevoelen soude hebben, als van de Predikanten, ende met 
dierghelijcke bloenkens meer."^) 

Zu seinem Lobe muss man hinzufügen, dass er solche 
Scheltworte meistens mit der Kraft seiner Beweise, und nicht 
mit gleicher Münze beantwortete. 

203. Die Menge der politisch - theologischen oder ethi- 
schen Traktate und Pamphlets , die Koornhert veröffentlichte, 
füllt zum grössten Theile drei dicke Foliobände, welche ungefähr 
7000 Druckspalten imifassen. Diese Aufsätze werden für alle 
Zeiten ein Monument von des Verfassers unbefangenem Gemüthe, 
klarem Kopfe, muthigem und echt christlichem Sinne bleiben.^) 
Ueberdies zeigen sie, welch ein ausgezeichneter Stylist und 
gründKcher Sprachkenner er war. Er steht in dieser Hinsicht 
mit Mamix auf gleicher Höhe , und mit vollstem Rechte wer- 



*) „Er ist von vielen zu dieser Zeit gesetzeskundigen Priestern 
und Levitischen Schrifkgelehrten angegriffen worden mit den schärfsten 
Ausdrücken; wie Holländischer Bube, Rasender Hund, Unbeschnit- 
tener Goliath, Teufelseinbläser, Prinz der Libertinen, Aufrühreri- 
scher Teudas oder Judas, und dergleichen mehr, wie in Druck zu 

sehen ist, Er wurde im Namen 

der Kirche als ein falscher Rebell öffentlich ausgerufen, der werth sei, 
von der Obrigkeit bestraft zu werden: als ein rasender Mensch, Betrü- 
ger, Neuer Macchiavell, Verleumder, Fuchsschwänzer, Tollkühner, Un- 
verschämter Prophet, Träumer, Rircheneule, und Schmidt aller Ketzereien, 
ein Procureur von schlechten Dingen und von Grewissenlosigkeit, der 
von den H.H. Generalstaaten gewiss eben so schlechte Gedanken hätte, 
*l^ls von den Predigern, und mit dergleichen Zierrathen mehr." 

*) Man vergleiche die „Chronologische rangschikking van Koorn- 
herts geschritten" in Dr. J. ten Brink's „D. V. Coornheert en zijne 
Wellevenskunst", S. 188 u. flg. 



444 ni. Sprachstudium und Sprachreinigung. 

den diese beiden Männer die Reformatoren unserer Prosa 
genannt. 

Unter Koomhert'ß Prosa werken verdienen, vom literarischen 
Standpunkte aus, die üebersetzungen einiger philosophischen, 
klassischen Werke unsere Aufmerksamkeit: die Officia von 
Cicero, welches Werk er schon 1561 unternommen hatte, und 
das Büchlein von Boethius , „Van de Vertroostingh der Wys- 
heit", 1585 von ihm verbessert und veröflfentlicht , meistens 
mit der Absicht, um „tot optimmeringhe (zum Aufbaue) van 
't Neerlantsche Welsprekenheyds tempelken te moghen eenighe 
hantreyckinghe helpen doen." Diese Abhandlung ist gewid- 
met „aen de Qildebroeders des Rederijcx Kamer tot Amstelre- 
dam In Liefd' Bloeyende." Noch mehr kommt sein Haupt- 
werk auf dem Felde der Ethik in Betracht, weil es zugleich 
auch seine philosophische Richtung charakterisirt. Die Schrift: 
Zedekunst, dat is Wellevens kunste (Wohllebens- 
kunst), welche im Jahre 1586 auf Spieghels Antrieb verfasst 
und demselben gewidmet wurde. 

Lipsius nannte das Werk, wie die meisten von Koorn- 
hert's Schriften, „subtyl ende wijslijck geschreven"; und mit 
vollem Rechte; denn es ist ein Musterbild von philosophischer 
Auseinandersetzung erhabener und zugleich praktischer Ge- 
danken in eben so klarer als kräftiger Sprache. Diese Ueber- 
einstimmung von Form und Inhalt ist um so augenfölliger, 
wenn man sich die Schwierigkeit klar macht, die richtigen 
niederländischen Ausdrücke für Ideen zu finden, welche nur 
sehr selten von einer niederländischen Feder festgehalten 
wurden. Merkwürdig ist, was er darüber an Spieghel schreibt : 
„Soo veele de tale by my hier inne gebruyckt magh beroeren, 
ben ick gedrongen geweest in 't handelen van nieuwe stof in 
Neerlandtsch, bywylen oock nieuwe woorden te gehi'uycken: 
als die al in mijne jonckheydt, daar ick mochte, vermijdt 
hebbe vreemde bedel läppen te brodden (flicken) opten rijcken 
mantele der Neerlantsche talen". 

Und gerade dieser Umstand macht seine Prosa so an- 
ziehend; denn es ist wohl im Auge zu behalten, dass trotz 
seiner sichtbaren Nachahmung Seneca's,^) er doch nicht wie 
Hooft in fortdauernde Latinismen verfallen ist. 



^) Siehe sein Urtheil über diesen Schriftsteller in seinem 17. Brief, 
an Spieghel, im III. Theile seiner Werke, Fol. 9Ö. 



III. Sprach Btudium und Sprachreinigung. 445 

Aber Koornhert verdient nicht nur als Philosoph und 
Prosaist, sondern auch als Rederijker und Dichter Erwähnung. 

Auf dramatischem Gebiete finden wir mannichfache Spuren 
seiner Thätigkeit. Er liebte, auch in seinen Traktaten, ja selbst 
in seinen Briefen die Form des Dialoges. Einzelne philo- 
sophische Abhandlungen tragen das Gewand der Allegorie 
und die Form eines Prosa-Dramas. So z. B. Der Maegh- 
dekens School und Vanden thien (zehn) Maegden. 

Selbst seine Theater- oder lieber Sinnspiele sind nichts^ 
Anderes, als gereimte und dialogisirte ethische Abhandlungen. 
Dasi gilt sowohl von Abrahams Uytgang, als von der 
Comedie van de Blinde van Jericho (eine Bearbei- 
tung nach Markus X, 46), und von der Comedie van 
Israel, vertoonende Israels zonden, straffinghe, 
belydinghe, ghebedt, beteringe ende verlossinghe, 
wt het thiende Capit. Judicum als een claere spie- 
gele der tegenwordige tijden gemaect anno 1575. 

Es ist für uns darimi auch sehr zweifelhaft, ob diese 
Spiele je aufgeführt wurden, ja, ob sie zur Auffuhrung be- 
stimmt gewesen sind. Wenigstens sagt der Dichter selbst 
von der Comedie van de Blinde van Jericho: 
„Dees commedie was gheschreven 
Om in druck te worden ghemeen." 

Das zuerst genannte Stück scheint eine imunterbrochene 
Anspielung auf Koornhert's erste Auswanderung zu seinf 
und als solche liefert es einen wichtigen Beitrag zur Kennt- 
niss seines Familienlebens. 

• Keins dieser Spiele zeichnet sich durch Richtimg oder 
Form vor den gewöhnlichen Rederijker -Sinnspielen aus; 
aber doch erkannte man in denselben deutlich den Mann von 
Talent. Wie seine übrigen Werke erheben sich auch diese 
Spiele, was Reinheit und Kraft der Sprache betrifit, weit 
über das gewöhnliche Niveau; zugleich haben sie auch den 
Vorzug einer Gedankentiefe, die man vergebens bei der 
grossen Masse der Rederijkers sucht. Sie sind alle in 
fiinf Akte eingetheilt, welche von einem Chore, der ein 
psalmähnliches Lied singt, beschlossen werden. Eins und 
das Andere war eine nothwendige Folge des Einflusses, den 
die Klassiker auch in dieser Hinsicht auszuüben begannen^ 
und der bald vorherrschend wurde. 



446 U^* Sprachstudium und Sprachreinigung. 

Schliesslich noch ein Wort über seine didaktische und 
lyrische Poesie. 

Ausser einer grossen Zahl lyrischer Gedichte ^ die oft in 
seine Prosaaufsätze eingestreut sind, und einigen Stücken grös- 
seren Umfanges, wie das Lof van de ghevangenisse, das 
Protest teghen den slaep, den Lof^zang van 't 
Goudt u. s. w. schrieb Koornhert noch ein besonderes Werk 
unter dem Titel Recht ghebruyck en misbruyck van 
tydtlijcke have, welches eine Sanunlung von Bibelsprüchen 
und Gedichten im lyrischen Tone enthält. In derselben Samm- 
lung erschien 't Bedrogh des Werelds, of van weel- 
dighe ende veylighe ledigheydt (Müssiggang), ein 
didaktisches Gedicht nach dem Lateinischen. Ferner hinter- 
liess er: Medicyn der Sielen, ein unvollendetes Werk, 
mit vielen Dialogen, ganz nach der Weise der früher be- 
sprochenen protestantischen Sinnspiele (s. S. 390); einiger an- 
deren ethisch -didaktischen Betrachtungen nicht zu gedenken. 

Endlich komiht noch sein Lied-boeck in Aomerkung, 
das, zu verschiedenen Zeiten verfasst, 1575 gesammelt und 
herausgegeben wurde. Es zeichnet sich mehr durch Erbau- 
lichkeit, als durch „einen Schatz von Poesie" aus. An Leben- 
digkeit des Ausdruckes und Plastik der Vorstellung steht 
Koornhert weit hinter Anna Bijns zurück; und es ist auch 
nicht zu verwundern, dass der Mann der philosophischen 
Dialektik sich nicht so leicht von der Phantasie hinreissen 
Hess. Mit Anna Bijns hat er die Spielereien mit seinem eige- 
nen Namen, oder den seiner Frau oder seiner Freunde ge- 
mein, welche nicht selten in den ersten Sylben der Strophen 
^ines Liedes zu finden sind. Ich erinnere an das Kuriosum, 
dass die ersten Zeilen von 24 verschiedenen Liedern zusam- 
men wieder ein selbstständiges Gedicht bilden. 

Mag Koornhert auch nicht der vortreffliche Dichter sein, 
aIs welchen man ihn in der letzten Zeit hat darstellen wollen, 
-so nimmt er doch als christlicher Philosoph eine hervorragende 
Stellung in den Geschichtsbüchern der niederländischen Bildung 
ein; und als Pfleger einer kräftigen, reinen Sprache hat er 
^in kaum erreichtes Verdienst. 

204 Zu den Vorsteherrf der Eglentieren (Mitglieder 
der Kammer zum wilden Kosenbaum) in der Zeit, als sie sich 
über das gewöhnliche Niveau zu erheben begannen, gehörte ein 



III. Sprachstudium und Sprachreinigung. 447 

Mann; der mit grossem Kunstsinne ein ungewöhnliches Mass 
von Geist und sprudelnder Laune vereinigte : der Amsterdamer 
Kaufimann Roemer Visscher. 

Er war^ gleich seinen Geistesverwandten Koomhert und 
Spieghel, ebenso aufgeklärt als gemässigt imd zugleich ver- 
träglich in Bezug auf Religion ; und obgleich er römisch-katho- 
lisch geblieben war, ging er doch sehr vertraulich mit den 
eifrigsten Protestanten um, wenn sie nur als Künstler, als 
Kunst - oder Literaturfreunde seiner Gesellschaft würdig waren. 

Gerade dadurch wurde das Haus des vermögenden Vis- 
scher, von welchem Vondel mit Recht sagen konnte: 

Sein* Flur bewandelt wird, sein' Schwelle abgetreten 
Von Malern, Künstlern und von Sängern und Poeten. 

der Mittelpunkt , in welchem sich die ausgezeichnetsten 
Männer seiner Zeit vereinigten, angezogen durch den geist- 
reichen Kreis von Freunden, unter denen Talente wie Coster, 
Brederoo, Hooft imd der sich entfaltende Vondel. Durch die 
Herzlichkeit des Wirthes und zumal durch die Liebenswür- 
digkeit seiner hochbegabten Töchter Anna imd Tesselschade, 
die erst im folgenden Zeiträume in ihrem vollen Glänze auf- 
treten werden, als Seele des Muiderkreises , der in der Ge- 
schichte unserer Literatur so berühmt dasteht, wurde dieses 
Haus das „zaligh Roemer's huys", welches Vondel besang. 

Roemer Visscher war ein Kaufinann gleich Spieghel; aber 
auch ebenso wie dieser ein warmer Verehi'cr der klassischen 
Schriftsteller. Unter den Dichtern zog ihn wegen der Ueberein- 
stimmung des Geistes am meisten Martial an ; daher unter den 
vielen Bearbeitungen, die wir von seiner Hand besitzen, die 
jenes Epigrammatikers am zahlreichsten sind: daher haben 
ihm auch seine Verehrer nach Dousa's Vorgange den Namen 
des Holländischen Martial gegeben. 

Visscher hielt es gar nicht der Mühe werth, die Blüthen 
seines Geistes zu sammeln: erst spät, 1614, im sieben und 
sechzigsten Lebensjahre, beschloss er, seine Gedichte zu ver- 
öflfentlichen ; und zwar auch nur aus dem Grunde , weil seine 
Freunde ohne sein Wissen „om zijne eere te verbreyden", 
schon einzelne davon hatten drucken lassen. 

1612 erschien nehmlich zu Leiden 4 Loff vande 
Mutse ende van een blaeuwe scheen, met noch 



448 11^« Sprachstudium und Sprachreinigung. 

andere ghenoeghelicke boerten ende quicken 
(Scherze), soo uyt het Griekx, Latij d, en Franchoys 
in rij m overgheset, als selffsPoeetelick ghedicht. 
In der Vorrede sagte der Setzer, dass zwar der Name 
des Dichters nicht bekannt sei, „dan ick heb wel hodren 
segghen en roemen van eenen Roemer, wiens gelijck niet en 
was in dusdanige Quicken ende Boerten: die oock over 
sulcx ghenoemt werde de tweede Martialis." 

Diese Stücke gab er endlich „by hem selven oversien, 
en meer als de helft vermeerdert" neu heraus unter dem wohl 
etwas gesucht - bescheidenen Titel „Brabbelingh" (Ge- 
schwätz). Diese Sammlung umfasst 1) sogenannte Quicken, 
das sind Epigramme oder wie man früher sagte, snel- Gedichte 
oder auch Schwanke (kwinkslagen) , in sieben Schocken oder 
einer Anzahl von 60 Nummern mit einer Zugabe ; ferner 2) 
allerhand E^einigkeiten unter dem Namen Rommelsoo (Al- 
lerlei); 3) Raedtselen, 4) Tuyters oder Sonnette; 5) 
Jammert Jens oder Klagelieder; und endlich 6) vermischte 
Gedichte unter dem Titel: Tepel wercken. 

Man darf in dieser, meistens aus Scherzen bestehenden 
Sammlung, nicht viel Poesie suchen: Geist und gesunder 
Menschenverstand machen ihr Wesen aus, und in dieser 
Hinsicht erfüllt die Brabbelingh vollständig ihren Zweck. 
Zumal die Quicken sprechen von des Verfassers frischem 
Sinne, obgleich viele derselben in unseren Tagen gar zu un- 
delikat, ja selbst gemein heissen würden; in des „ronden 
Roemers" Zeit bedurften sie indess keiner Entschuldigung. 

Aber auch an den Stellen, wo er einen andern Ton an- 
schlägt, zeichnet sich sein Werk weder durch poetische Auf- 
fassung, noch durch geläuterte Kunstform aus. Jedoch begriff 
er sehr gut, dass das Wesen der Kunst noch in etwas Ande- 
rem bestand, als in den Reimkünsteleien, welche die Rederij- 
ker pflegten. Zum Beweise führe ich sein Epigramm an, mit 
welchem er ein Kreeftdicht oder retrograde (Vergl. S. 
413) SpiegheFs beantwortete: 

Steur, bokken, wijting, en zulke visch 

Eoomen altemet wel op onzen disch 

Dan met uw present zal ik mij niet beslabben; 

Recht uit gekalt, ik en mag geen krabben. 

Aber demungeachtet war er kein grosser Künstler; und 



III. Sprachstudium und Sprachreinigung. 449 

dies wird Niemand verwundern , der mit des Verfassers Ideen 
über Kunst bekannt ist, deren Zweck er in Lehre und Er- 
bauung suchte. ^) 

Von diesem Standpunkte aus gab er noch eine andere 
Sammlung, sogenannte Zinne-poppen heraus; diesen Titel 
erklärt er selbst folgendermassen : ,,dat het werck principael 
bestaet half in een Poppe ofte Beeldt, en de ander helft by 
een sententie, spreeckwoort of geggetjen" und er glaubte, dass 
„in 't woort Sinne -pop de beteeckenisse van 't voorstel im- 
mer soo wel getroffen te wesen, als in 't Italiaensch, die 't 
Impresa, ofte in Griecx en Latijn, die 't Emblema inti- 
tuleeren." 

Es sind also Bilder, poppen, mit einer sinnreichen Un- 
terschrift, um sie zu erklären. Wenn ein solches Werk seine 
Absicht erreichen soll, so müssen- die Bilder schön, imd die 
Erklärung, — in Prosa oder in Versen — witzig und nicht 
zu gesucht sein. Beiden Anforderungen entsprachen die 
Zinne-poppen. 

Charakteristisch ist es, dass er diesen Titel gewählt hat 
„bysonder om dat het onse suyvere Moeders tael is, die wy 
genegen zijn te volgen, en na ons vermögen te verrijcken 
(bereichern).^' 

Dieses Ziel stand ihm stets vor Augen; und seinGedächt- 
niss wird zumal deshalb in Ehren gehalten, weil er den Wir- 
kungskreis seiner Kanuner in diesem Sinne erweiterte, wie 
wir bald noch deutlicher sehen werden. 

205. Der eifrige Mitarbeiter Roemer Visscher's, der treue 
Freund und Geistesverwandte Koomhert's war Hendrik Lau- 



*) In seinem Lof van Rethorica sagt er z. B. von der Poesie: 
Sy is een klare spiegel voor de leecken, 
Een berispende (tadelnde) stemme van alle ghebreken, 
Een scherp gebit om de Ketters te mennen, 
Een preker daer de Gemeente veel af onthout, 
Een bril daer een Vorst sijn gebreken door schouwt, 
Een spore die na deught en eere doet rennen. 

Sy is den kinderen een groote vermakelijckheyt, 
Den jongers geeftse een vrolijcke sprakelijckheyt, 
Een solacelijck overdencken voor d'oude bedaeghden, 
Sy is 800 eerlijcken kortswijl als men mach noemen, 
Sy is de Studenten een bogaert vol bloemen, 
Een rege Ivan alle eerbare Vrouwen en Maeghden. 

Jonckbloet's Geschichte der Niederländischen Literatur. Band I. 29 



450 1^^- Sprachstudium und SprachreiDigung. 

rensz. Spieghel, der 1549 zu Amsterdam aus angesehener 
Familie geboren war. Der Ehrenämter überdrüssig, ^^eer- 
zucht'S; gheldliefds en staatzuehts strik (Schlinge) ont- 
worstelt (entkoDMnen)", wie er es selbst nennt, verlegte er sieh 
theils auf den Handel, theils auf das Studium der Literatur. 
Mit besonderer Vorliebe studierte er die Klassiker: er ver- 
stand sowohl Griechisch als Lateinisch, und dies gestattete ihm 
ernste philosophische Studien. 

Er war ein freisinniger Mann, der die grösste Abneigung 
vor aller Partheisucht hatte. Von diesem Standpunkte aus 
war er selbst gegen die Reformation eingenonmoien, obgleich er 
eine Reformation der katholischen Kirche wünschenswerth 
hielt. ^) Hierdurch , sowie durch sein Studium der Klassiker, 
war auch er ein würdiger Repräsentant des Humanismus. 

*) In dem Nieuwe Jaarslied von 1573 sang er (Ausgabe Vla- 
ming, S. 205): 

Eylaes perty 

Die zal ons noch daen sneven, 

Die eerst was bly, 

Om in vryheit te leven, 

Die is nu vry (bis), 

En wil geen vryheyt geven. 

Eylaes perty! 

(0 du Partheischaft 

Wirst uns zu Falle bringen, 

Wie warst Du freudhaft 

Zur Freiheit durchzudringen: 

Frei ist nun Kraft, frei ist nun Kraft, 

Und will nicht Freiheit bringen! 

du Partheischaft! 
Im Jubel- Jaar-Liedt vom Jahre 1600 (S. 218) heisst es: 
Ons ouders waaren siecht en recht: 
Zoo was ook haar ghelove. 

Weetzuchtigheid (Wissensdurst) broedt dit ghevecht, 
Hont siecht en recht verschoven. 
Zy bruykten Gods woort, tot Gods min; 
Dat duid nu elck een na zyn zin; 
Dit doet ons dus partyen. 
Begheeft alzulcke twist beghin, 
Haalt siecht en recht gheloof weer in, 
Zoo moghen w'al verblyen. 
Und ein Jahr später sagte er (S. 221): 
*t Vervormen van de kerk schynt my een gholde zaak, 
Maar ik vervorm gheen ding, als ik het ding ontmaak. 



III. Sprachstudium und Sprachreinigung. 451 

Wie er seinen Freund anfeuerte, seine Wellevens- 
kunst herauszugeben, legte er auch selbst die Früchte seiner 
philosophischen Betrachtungen in einem Gedichte nieder, das 
unvollendet blieb, und erst zwei Jahre nach seinem im Jahre 
1612 erfolgten Tode, gedruckt wurde. Dieses Gedicht ist sein 
Hauptwerk, und heisst der Hertspieghel (der Herzens- 
spiegel). 

Er hatte den Plan, es in neun Büchern zu schreiben, von 
denen jedes den Namen einer Muse tragen sollte; die beiden 
letzten Bücher bUeben ungeschrieben. Das Ganze ist in geschmack- 
los steifen Alexandrinern verfasst, deren Sprache bis zur Un Ver- 
ständlichkeit zugespitzt ist. Das Verlangen nach kernigen 
Ausdrücken verführte den Dichter zu harten Wortfügungen, 
welche in Verbindung mit fremdartigen, gesuchten, und zu 
häufig angewandten Wortverbindungen das Lesen so erschwerte, 
dass ein Kommentar, wie ihn Vlaming zu seiner Ausgabe lie- 
ferte, zum rechten Verstehen des Werkes nicht überflüssig ist 
Erziehung zur Selbstkenntniss und zur Ausübung der 
Tugend ist der Zweck des Buches. „Dueghd ver- 
huecht", sagt er; „de hele toeleg van mijn Hertspiegel 
zuix is te bewysen." Er drückt dieselbe Idee in den folgen- 
den Zeilen des ersten Buches aus, die ich auch zum Beweise 
für seinen gesunden Sinn, der die Irrfahrten auf den klassi- 
schen Parnassus lächerlich fand, abschreibe. 

0ns Toeleg (Absicht) waarheids kund, ook zedevormings duegd 

In ^t zielgronderen is: wat ziel stuert of verhueght. 

Dat ons dit onderzoek een beil-trap magh verstrekken. 

*t Is buyten kans, kant andVen ook tot dueghd verwekken. 

Op dees voet, ik doorwroet ons grondwoord-ryke taal, 

En mj^) uytheemse pronk: kort valt myn dicht an schraal: 

Licht werd* ik Ketter dies, by Rimers en Poeeten. 

Kan doch gheen duitsche sant na griex mirakel beten. 

Dies Juppyn-dochters kunst vreemdwoordig niet verwacht 

Oheen Demogorgons kroost, noch Herebus geslacht, 

Nereus noch Doris Nimf, noch bosch-god, my behaghen, 

Naiaden of Napeen, die ons lui noit en zaghen. 

D^onduitse Hamadrijen wy zelf met voorsicht vlien : 

Zouw ons wantaligh spook hand-reiking konen bien? 

Den Phoox en myter bergh, diens dubbei toppen dringen 



') Vermeide. 

29 



4512 III, Spracbttudium nnd äprachreinigung. 

Door wolcken hemelwaart, mijn scbinkels iiiet begiiighen. 
Ode lippen hebbeu noit den hoefslach-brun ghcnaakt, 
Die 't vollik, 't botte volk, volmaakte dichters maakt 
Dies kunstgodinnen wijs cn zijn my ni§t zoo gunstigh 
"Nocb ook Latoues Zoon, dat ick recht-cierlik-kunstigh 
lilk na wel-dichtens eisch alhier vernoeghen zouw. 
Sioutmoedigh ben ik, nechtigh, schimp-getroost, en tron. 
Mott juyst een duyis Poeet nu nodich zyn ervaren 
In Öriex-Latijn? daar d'eerste en beste herders wären. 
I'arpassus is te wijd, bier is gheen Helikon, 
Maar duynen, boscb, en beek, een lucht, een selfde zon. 
Dies nutter dit landsbeek, veld, stroom, en boonigodiDDen. 
Met machtelooze Hefd wy hartelik beminnen: 
Dock will ik nu noch stroom, bergh, of bosch, of foiiteyn, 
Nach eenich vetd-goddin, liefkozen: maar allein 
D'unnoemelike God, die alder dingen Vader 
Kn hoeder is, alwys en goed, om wysheyds ader. 
tipieghel hat noch einzelne kleinere Gedichte in mehr 
vt-r ständlicher Sprache und in sangbarem Rhythmus geschrie- 
ben. Dazu gehören seine Lieden op het vaders on& 
und vor allen Dingen seine Ueber Setzungen aus dem Fran- 
züslschen nnd Lateinischen, unter welchen sich ciL Maylied 
iiiis dam Jahre 1588 besonders auszeichnet Dies rechtfertigt 
jeduch den Ausspruch XHaming's noch immer nicht, „Spieghel 
is \ ader der taele (Sprache) die wy schryven en onzer Dicht- 
kuiidtj." 

"Wenn auch das Erstere bis zu einem gewissen Grade 
wiihr ist, das Zweite trifift nicht zu ; denn obgleich mitten unter 
erbaulichen Betrachtungen in steifer, gekünstelter Form zu- 
weilen eine dichterische Naturbeschreibung hervorleuchtet, sa 
war doch die Poesie eigentlich nicht Spieghel's Element, und 
sein grösates Verdienst wird wohl für die Dauer darin beste- 
llen, dass er das Panier des Sprachstudiums und der Sprach-. 
rciiiigiing in Holland hoch emporschwang. 

206. Die Amsterdamer Kammer hatte auf dem Felde 
dcts Sprachstudiums Vorläufer gehabt. Schon die Bruder des 
Geineiiwamen Lebens hatten danach gestrebt, die Kenntnias 
diii- niederländischen und lateinischen Grammatik zu fördern, 
null deshalb betrieben sie die Herausgabe lateinisch-niederlän- 
disi'htr Wörterbücher. Aber erst in der zweiten Hälfte des 
sei'bzehnten Jahrhunderts kümmerte man sich ernstlich um 



III. Sprachstudium und Sprachreinigung. 453 

Sprachregeln. Damals erschienen zum ersten Male eigentliche 
sprachwissenschaftliche Schriften: 1530 in Gent die Neder- 
lantsche Spellinghe von Joos Lambrecht; in Löwen 1576 
^ie Orthographia Linguae Belgicae von Anton Tsestich; 
1581 die Nederduitse Orthographie von Pontus de 
Heuiter von Delft, bei Plantin. 

Der Letztere erklärt zwar, dass ,,onze tale, sedert (seit) 
die naeste hond^rt jaren zeer geschaeft en gezuivert van de 
gemeente zelve is geweest*/^ aber dies Zeugniss kann doch 
die Alles beherrschende Ausartung der Sprache nicht weg- 
läugnen , an welcher das Dietsche gerade seit dem letzten 
Jahrhunderte litt. Wohl richtete Jan van de Werve die Auf- 
merksamkeit darauf, indem er schon 1533 einen Tresoor 
der Duytscher Talen herausgab; eine Schrift die in 
wiederholten Auflagen erschienen ist und worin die fremden 
Worte besprochen und erklärt werden ; wohl Hess im selben Jahre 
der Westvläme Jan van Mussem ein Vocabularius van 
:sommige wtlantsche woorden drucken, — dadurch 
verschwanden aber die fremden Eindringlinge noch nicht aus 
der Sprache, sie wurden vielmehr als eine Zierrath betrachtet, 
ungeachtet Männer wie Marnix und Koornhert ein besseres 
Beispiel gegeben hatten. 

Indess leitete das Sprachstudium doch zur Sprachreini- 
gung. Dieses Studium wurde wesentlich durch ausgebreitete 
und wirkKch vortreffliche Wörterbücher unterstützt; durch 
dieselben lernte man unsern ganzen Sprachschatz übersehen. 

Eine Erklärung der Kleveschen Sprach eigenthümlichkeit 
von Gerard van der Schueren war schon 1475 — -77 zu Köln 
unter dem Titel: Teutonista ofDuytschlender erschie- 
nen. Für tüchtige Kenntniss des eigentlichen Niederländisch 
■sorgte zuerstPlantin's The säur US Theutonicae Linguae, 
Schat der Nederduytscher Spraken, 1573 in Antwer- 
pen gedruckt. Drei Jahre später gab Matthias Sasbout in 
derselben Stadt ein Vlaamsch-Fransch-Woordenboek 
heraus, das trotz seiner Vorzüge das vorige doch nicht ver- 
drängen konnte, wdches noch heut zu Tage von Freunden 
unserer alten Sprache mit Erfolg benutzt wird. Beide Werke 
wurden jedoch von Kiliaan's Wörterbuche weit übertroflfen 
und grösstentheils in den Schatten gestellt. 

Kornelis Kilianus, d. h. von Kiel, einer der verdienstlich- 



454 UI> Sprachstudium und Sprachreinigung. 

ßten Gelehrten seiner Zeit, war in Düffel bei Antwerpen ge- 
boren, studierte zu Löwen und kam ungefähr 1557 als Kor- 
rektor an die berühmte Plantinsche Druckerei (vergl. S. 337). 
Dass er ein ausgezeichneter Kenner und Freund seiner Mut- 
tersprache war, bewiesen verschiedene TJebersetzungen von 
seiner Hand, imter welchen die von der Geschichte Lud- 
wig XI., vom berühmten Philipp de Komines, und Guicciar- 
dinis Beschryvinghe derNederlanden am bekanntesten 
sind. Aber zumal in dem Etymologeticon Theutonicae 
Linguae, das zuerst 1583 bei Plantin, und seitdem wieder- 
holt, erschien, trat sein Wissen an den Tag; ein Werk, von dem 
der berühmte Sprachkenner Balthasar Huydecoper bezeugt, das* 
es „die einzige Fackel (war) an der wir noch heut zu Tage 
unsere Kerzen anzünden müssen." 

Kiliaan gab in diesem Buche durch lateinische Umschrei- 
bung nicht nur eine richtige Erklärung aller Worte der da- 
mals lebenden Sprache, wie sie in den verschiedenen Dialek- 
ten gesprochen wurde, sondern auch von einer grossen Menge 
schon damals veralteter Ausdrücke; er strebte auch über- 
dies danach, Licht über den Ursprung der Sprache zu ver- 
breiten. Wenn er nun den ersten Theil seiner Aufgabe in 
ausgezeichneter Weise löste, so dass sein Wörterbuch in die- 
ser Hinsicht für uns noch immer ein wichtiger Eathgeber ist,, 
so kann er doch als Etymolog für uns durchaus kein Führer 
sein, da er meistens die Verwandtschaft vom Klange herlei- 
tet, selbst da, wo die vorgeschrittene Wissenschaft lehrt, dass- 
zwischen beiden durchaus kein Zusammenhang besteht. 

Wie weit das allgemeine Sprachstudiiun noch zurück^ 
wie ungezügelt die Etymologie jener Tage war, lehren un& 
die Origines Antwerpianae von Johannes Goropius 
Becanus, welche 1569 auch bei Plantin erschienen. 

Jan van Gorp, geboren zu Hilvarenbeek, — denn da& 
bedeutet der vornehme latinisirte Name — war ein übergelehr- 
ter Arzt, zuerst im Dienste der beiden Schwestern Karl's V. ; 
später praktizirte er zu Antwerpen. Obgleich mit viel Talent 
für Sprachforschung und grossem Eifer begabt, Hess er sich 
doch zu den gewagtesten, ja zu lächerlichen Etymologien hin- 
reissen, so dass er schliesslich behauptete, die ursprüngliche 
Sprache der Menschen im urältesten Alterthume sei reines. 
Vlämisch gewesen. 



III. Sprachstudium und Sprachreinigung. 455 

207. Ihm schloss sich die Kammer InLiefd' bloeyende 
an, und obgleich sie seinen Träumereien nicht ganz fremd 
war, blieb sie doch nicht bei denselben stehen/) sondern 
fühlte sich durch dieselben zu neuen Sprachforschungen ange- 
spornt, um so viel als möglich „het Duyts op te helpen, ver- 
cieren ende verryken.^^ Das gehörte ihrer Meinung nach zu den 
Pflichten der Rederijker, „alzö alle kamers van Rederyck als 
ghemene scholen des Land-taals behören gheacht te zyn, waar 
toe een yghelyck (ein Jeder), niemand uytghezonderd (de 
bloem wtstekende) vrye toeghang heeft, dies hen luy het 
zuyveren, verryken ende vercieren des taals (ende niet het 
rymen alleen) eyghentlyck betaamt, zö ööck de betekenis des 
naams, tsy men die ons öfte den Grrieken eygen maackt, mede 
brengt." 

Dies ist also eine ganz neue Richtung, welche diese Kam- 
mer einschlägt, und sie hat gerade die grosse Bedeutimg fiir 
unsere Literatur erhalten, weil sie mit einer eigenartigen Re- 
formation endete. 

Die erste Frucht dieses Studiums war eine tüchtige, 
sprachwissenschaftliche Schrift, welche im Sommer 1584 er- 
schien und in der Folge grossen Einfluss ausüben sollte. Der 
Titel lautete: Kort begrip, leerende recht Duidts 
spreken, oock waarheitvan valsheit te scheyden^ 
bestaande in vier deelen: 1) Tw^^spraack van de Ne- 
derduytsche letterkunst, 2) Ruygh-bewerp (Roher 
Entwurf) va'n de Redenkaveling, 3) Kort begrip des 
redenkavelings, in siechten rym, 4) Rederijck- 
kunst, in rijm X)p 't kortst vervat. 

Als Hauptverfasser dieses Werkes gilt allgemein Spie- 
ghel, 2) der dasselbe dem Urtheile Koornhert's unterwarf, wie 

*) „Een Bekanus isser gheweest onder de gheleerde, die na de 
rechte grond des zelfs taals met ernst ghespoort heeft, ghave God 
dat hy langher gheleeft ofte wat meer in het te recht brenghen onses 
taals, als int bewyzen des zelfs oude heerlyckheyd ghearbeyd had." 
(„Unter den Gelehrten ist ein Bekanus gewesen, der mit Ernst nach 
den rechten Gründen derselben (nl. der Sprache) geforscht hat ; es wäre 
zu wünschen, dass er länger gelebt, oder dass er mehr in der Anord- 
nung unserer Sprache, als an den Beweisen ihrer alten Herrlichkeit 
gearbeitet hätte.") 

*) Wir wissen aus einem Briefe Brederoo*s, dass ausser diesem, 
Gedeon Fallet und Boemer Visscher an diesem Büchlein mitarbeiteten. 



456 ni. Sprachstudium und Sprachreinigung 

aus der Vorrede des Letzteren deutlich wird. Wir entnehmen 
einige wichtige Sätze aus demselben: „Het zyn nu gheleden 
XX jaren, dat ick bemerkende de overvloedighe ryckdommen 
onzer Nederlandscher talen enighen onlust, daar inne nam 
datmen zoo ghantschelyck zonder alle nööd ghewoon was te 
lenen ende te lortsen (entlehnen) van vreemde talen, t' geen 
wy zelve meer ende beter t' huys hadden, derhalven ick voor 
my nam myn moeders taal weder in haar oude ere te bren- 
ghen ende haar kleed, dat van zelfs ryckelyck was ende cier- 
lyck, vande onnutte läppen ende vuyle brödderyen te zuyveren, 
na myn klein vermoghen, welck myn voomemens beginne 
men heeft mögen zien komen int werck in enighe boexkens 
by my vertaalt ende in druck uyt gegeven ende zonderling 
inde Offiicien van Cicero." Da er selbst nicht mehr thun 
konnte, begrüsste er die Bemühungen der Kammer von gan- 
zem Herzen. „In den jare 83 my vertoont zynde dit boecxen, 
was my het lezen vant zelve niet nim lustich dan het zien 
van dien ghants buyten myn hope , te meer noch na dien ick 
t' zelve boecxken zö zonderling nut vand tot myn nu dick 
verhaalde voornemen voorschreven, te weten tot beteringhe van 
onze Nederlandsche tale, daaromme icks in my zelven zulx 
moste pryzen dat ick myn penne niet en mocht bedwinghen, 
met dit myn gheschrift allen Nederlanders oud ende jong, 
man ende wyf tot het lezen van dien te raden .... 

„Dat onzer *voorouderen Nederlandsche tale verstandich 
ende ryck is gheweest, zietmen in hare sctriften ghants 
vreemd zynde van alle schuim der vreemder talen : de welcke 
namaals door vreemde Heren ende vreemdttogighe landvooghden 
met der zelver gezinde, begraven is gheweest met invoeringhe 
eens bastaards tale. Deze heeft tot noch toe als een slavonische 
Ismael den meester ghemaeckt ende t' huis inne gehad. Daar- 
uyt hy haast verstoten zal worden, Indien daar komen vele 
liefhebbers vande echte taal, nu weder als vanden döden 
uyter aarden niet zonder gröte ende moeyelijke arbeyd opghe- 
graven ende int leven ghebracht door den schryvers van dit 
boexken." 

Daraus spricht deutlich der Hauptzweck des Büchleins. 



Die Tweespraack wird diesen beiden Männern in den Mund gelegt; 
es ist ein Dialog zwischen Boemer und Gedeon. 



III. Sprachstudium und Sprachreinigung. 457 

Um denselben zu erreichen, mussten sich nicht nur Dichter 
und Rederijker beeifern, wie Brederoo es ausdrückt ,,met een 
kloeksinnighe yver dese noodeloose pracherye (Bettelei) eens 
af te schaffen, en de trogghel-sack (Bettelsack) met al de 
bedel-brocken • eens nae Vranckeryck (ofte eiders daer sy ar- 
mer van schoone woorden als wy zyn) te senden"; sondern 
die Gelehrten sollten es auch nicht mehr unter ihrer Würde 
halten, sich in der Wissenschaft ihrer Muttersprache zu be- 
dienen. Dann würde sie bald geeignet sein, jeden Gedanken 
klar und kräftig auszudrücken; dann würde sie ihren vollen 
ßeichthimi entfalten. 

Um dahin zu gelangen, wandte- sich die Kammer in ihrer 
Widmung des zweiten Stückes aus der Sammlung an die 
„Bezörghers ende Hoöfden des Höghen Schööls van Leyden'^, 
mit der Bitte , dass sie „alzö de schole an ghene tale ghebon- 
den is, maar in alles de bequaamste , tot meeste vörderingh 
bezieht .... van onse moederstale een moeder-taal aller 
ghoeder kunsten maken, dese sake behertighen, ende de gröte 
nutbaarheid die den Vaderlande hier duer magh gheschieden, 
overwegen" möchten. Sie gab selbst das Beispiel, indem sie 
das Lehrbuch der Logika in niederländischem Gewände er- 
scheinen liess: das, meinte sie, wäre der beste Beweis von 
der Möglichkeit einer sehr wünschenswerth geachteten Neue- 
rung. Man urtheilte folgendermassen : „Nopende (hinsichtlich) 
de moghelyckheid, die mooghdy hier an afnemen, bemerckende, 
wat leerlingen niet verder siende als om zelf de sake wys te 
werden, in een körte wyle hebben können doen: overleggen 
wat een geleerder, in langheid van tyd, mits hope van löön, 
in zulx zoude vermoghen, dies u vervorderen (onghetwyfelt tot 
gröten löf des ghemeenen Vaderlands , ende zonderlingh des 
Höghen schools) d' eerste te zijn, om door alghemeene lessen 
voort eerste int werck te stellen, niet dit siechte werck, maar 
deze hööghwaardighe kunst met zulc werc dat dit (na ons 
höögste wenschen) te schände make, ende metter tyd andere 
kunsten meer, tot onuytsprekelyc voordeel van elck leeck- 
mensche, die zonder moeyelycke arbeyt int leeren der talen, 
met lust alle kunsten dies zullen moghen wys werden." 

Aber diese freisinnige, echt holländische Bemühung scheiterte 
an der vornehmen Zurückhaltung, die selbst in unseren Tagen 
nur zögernd die Wissenschaft von den Fesseln einer fremden 



458 ^I^> Sprachstudiam und Sprachreinigang. 

Sprache befreite, in welcher doch unmöglich die Ideen unserer 
gegenwärtigen Bildung ausgedrückt werden können. 

Mochte man auch der Universität noch so dringend zu- 
rufen : • 

Laat dit Land, in landstaal, u gheleerdheid ghenieten, 

wie es in einem, dem Werke vorausgeschickten Verse heisst, 
die hochgelehrten Herren wären und blieben taub. 

208. Mangel an allgemeiner Mitwirkung hielt auch die 
' Sprachreinigung auf, mit welcher man ebenfalls nicht so 
glücklich war, als man es wünschte. Denn Brederoo klagt 
noch Jahre danach, dass es zu bejammern sei, wie „een soo 
spits-sinnighe (scharfsinniges) volck" seine Sprache so ver- 
wahrlose. ,jt' Is doch een geckelicke saeck van eenighe op- 
gheblasen verwaende sotten, die haer redeneeringh soecken te 
vercieren met latijnsche, fransche, spaensche oft italiaensche 
tarmen, recht oft eenighe bevalligheydt inbrachte, het welcke 
by de recht-sinnighe recht anders verstaen werdt. Lust ye- 
mant syn wetenschap te bewysen, die toontet in een onghe- 
valscht suyvere tael, niet als dese Nederlandtsche papegayen, 
die veel tydts niet en weten wat sy rabblen (plappern), als 
sy haer ghestolen, of met groote moeyten aenghewende woor- 
den spreken .... O vremde hoverdy! die ons eygen lants- 
ingheboren een revelduytsch, een krom tongh, en een koeter- 
waal maeckt ! O gy Nederlanders ! waect op, schnürt u betoo- 
verde oogen open, aenschout u eygen bUntheydt, laet niet lan- 
ger dese onwetende duytsterheydt u helder ghesicht benevele : 
jaeght dese hooghmoedige vreemdelingh, di« hier dus lang de 
meester gemaeckt heeft, onweerdigh, wederom naar huys." 

Ebenso äussert sich Petrus Scriverius in der Vorrede zu 
den Nederduytsschen Poemata von Daniel Heinsius, 
wo er u. A. nach der Auseinandersetzung, dass bei allen ande- 
ren Völkern die „geleerden hebben haer met haer eygen tale 
bemoeyt, en die altijdt getracht te verheerUcken ," also 
fortßlhrt: 

„Wy alleen ondanckbaer tegen ons landt, ondanckbaer 
tegen onse sprake, hebben tot noch toe meest al of de selfde 
veracht, ofte laten schoffieren (beschimpfen) van die gene die 
gehen ander en conden, ende teenemael blindt ende onwetende 
waeren. Daer wy nochtans connen toonen, dat jae seif de 



III. Sprachstudium und Sprachreinigung. 459 

voornaemste Franzoysen in de hare veel fauten begaen hebben^ 
niet leitende op den toon ende mate van de woorden, die zy 
merckelicken ghewelt doen. Gelyck oock meest de onse, die 
tot noch toe eenich ghedicht in haer moeders tale geschreven 
ende uytgegeven hebben/^ 

Es ist unbestreitbar, dass die Rederijker nicht ,, op den 
toon ende mate van de woorden" geachtet haben. Auch in 
dieser Hinsicht führte die Amsterdamsche Kammer eine segens- 
volle Veränderung herbei. Ihre ersten Dichter versäumen 
im Allgemeinen nicht die Regelmässigkeit der Hebungen, und 
geben dadurch selbst das Beispiel; aber sie lehrten auch in 
ihrer Rederyck-Kunst: 

Der Takt acht' auf den Klang von kurz und langen Füssen, 
Der zu den Versen passt, und kann den Sinn versüssen. 

Mitten in der Unbedeutendheit, welche die Rederijker 
immer mehr^charakterisirte, die um so auffalliger wurde, als 
die Sonne der modernen Bildung am Horizonte aufstieg^ 
und als ein neues nationales Leben mit voller Kraft er- 
wachte — inmitten dieser Unbedeutendheit und Entartung 
erstand die Amsterdam'sche Kammer als ein Vorbote der 
Zukunft. 

Wenn mit dem siebzehnten Jahrhunderte ein Zeitalter des 
Ruhms, sowohl für Niederland's Kunst und Poesie, als für 
Niederland's Muth und Handelsgrösse anbrach, wenn zu diesem 
Ruhme die Zeitumstände ohne Widerrede einen vdchtigen 
Faktor bildeten, so hat ebenso auch die unauslöschliche Energie^ 
die unbesiegbare Begeisterung für alles Gute und Schöne^ 
welche so viele Herzen entflammte, so Viele zu Vorläufern und 
Bahnbrecher^;^ stempelte, dazu beigetragen. 

Auf dem Gebiete der Literatur gebührt der Amsterdam'- 
sehen Kammer die Ehre, Tüchtigkeit des Gedankens, Schön- 
heit und Harmonie der Form durch Lehre und Beispiel ins 
Leben gerufen und dadurch den Weg gezeigt zu haben; 
sie verlieh auch der Poesie und der Kunst jene vaterländische 
Färbung, welche „das Zeitalter Frederik Hendrik's" charak- 
terisirt. 

Und der Wahrheit gemäss konnte Scriverius, obgleich er 
einsah, dass die Kunst im Allgemeinen noch in den Händen 
jener Schwätzer war. 



460 ^^^- Sprachstudium und Sprachreinigung. 

Die mit Unrecht nur bekannt, 

Und Rederijker sind und Reimer gar genannt, 
hinzufügen: 

Du nur bist andern Geist's, o kunstreich Amsterdam! 

Auf deiner Bühne hat die Kunst, die lang verloren, 

Den Athem neu geschöpft, ist neu bei dir geboren. 

Du hebst das Haupt empor: ich seh' aus sumpf gem Land 

Es reichen in die Luft: Parnassus neu erstand. 

Den Weg hast du gesehu; zum herrlichen Vollbringen 

Wirst du, was dir noch fehlt, vom Helikon erringen. 



Inhaltsverzeichniss. 



A. 

Abele -Speie, S. 303, 305. 

Aeiturs (Peter), 350. 

Afflighem (Wühelm van), 195. 

Agricola (Rudolph), 334. 

Aiol, 168. 

Aken (Hein van), 277. 

Alberic de Trois-Fontaines, 166. 

Alexander, vom Pfaffen Lambrecht, 

87. 
Alexander van Maerlant, 222, 235. 
Alexandersage, 234. 
Alexandreis, 235. 
Allegorie, 403. 
Altdeutsche Volkspoesie, 15. 
St. Amand, 193. 
Aelteste mnl. Gedichte, 97. 
Amsterdamsche alte Kammer, 439. 
Anfang von Li Coronemens Looys, 

76. 

— des Roman de la Charette, 76. 

— unserer Literatur, 88, 94 — 97. 
Anna Roemers, 447. 

Arbeiten der Rederijkerkammern, 
407. 

Arturgedichte, 82. 

Artursage, Ursprung, 73. 

Ascetik als Kunstelement, 183. 

Associationsgeist, 339. 

Assonnance, 60. 

Aubry le Bourgoing, 168. 

Aufftlhrung, Weise der, von mit- 
telalterlichen Stücken, 305. 

Augustijnke von Dordt, 283. 

Aventures de Renaert, 130. 



Bai, Hendrik, 343. 

Balduin von Konstantinopel, 297. 

Balduin van der Loren, 27H- 

Bastardworte, 294, 405. 

Bataille d'Aleschans, 115. 

Baukunst, 332. 

Beatrijs, 184. 

Becanus, 454. 

Beka, 327. 

Beneficia, 77. 

Bibel- (Prosa), 321. 

Bijenboek, 325. 

Bijenkorf (Bienenkorb) der R. K.,. 
431. 

Bibliothek zu Egmond, 38. 

Bildung der Rederijkerkammern 
nach van Meteren, 352. 

Blüthe der Niederlande, 331. 

Bodel (Johann), 119. 

Boendale (Jan van), genannt De 
Klerk, 257, 259—268. 

Boerden, 272. 

Borron (Robet de), 119. 

Brabantsche Yeesten, 257, 258. 

Brabantsche Kammer zu Amster- 
dam, 440. 

Brabbelingh von Roemer Visscher, 
448. 

I Brandanus, 117. 

Brederoo, 455. 

Brittische Legenden, Ursache ihrer 
Popularität im westlichen Europa,. 
73. 123. 

Brüder des gemeinschaftlichen Le- 
bens, 334. 



462 



InhaltsverzeichnisB. 



Brugman (Pater), 324. 
Bürgerschaft (ihr Entstehen), 83. 
Bürgerschaft (Entwickelang der) 

164. 
Bürgerschaft und adlige Literatur, 

82. 
Bürgerliche Literatur, 207. 
Burgundische Regierung, 33 L 
Bussenhlaser (Die), 310. 
Bijns (Anna), 416 u. flg. 

c. 

Calfstaf und Noidekyn, 204. 
Chanson des Lorrains, 127. 
Chansons de geste, gesungen, 58, 

59. 
Chansons de geste, Form, 60. 
Chansons de geste, gelesen, 61. 

Einfluss auf die Form, 61. 
Chansons de geste, Umfang, 66. 
Charakter der mnl. Dichtkunst, 3 1 8. 
Charroi de Nimes, 115. 
Christenthum , Einfluss auf die 

Volkssage, 70. 
Christina die Wunderbare, 195. 
Christliche Poesie, älteste Spuren 

in Deutschland, 38. 
Christlich -ritterlicher Geist, 69. 
St. Clara, 229. 

Clerk uyten laegen landen, 327. 
Codex von Eename, 190. 
Commendatio, 77. 
Conincs Somme, 325. 
Contes d^aventures, Charakter der, 

75, 79. 
Contes d'aventures. Form der, 75, 

77. 
Couronnement du roi Louis, 115. 
Crestien de Troies, 150. 

D. 

Darsteller (Schauspieler), der alten 

Bühnenstücke, 304. 
Dathenus (Petrus), 430. 
Denys Piramus, 155. 
Didaktik, 203. 
Didaktische Gedichte, 265. 



Dieregodgaf (Seger), 233. 
Dietrich van Assenede, 98. 
Dietsch, vlämisch, niederländisch, 

'12, 
Dietsche Catoen, 204. 
Dietsche Doctrinale, 264. 
Disputacie van Rogier und von 

Janne, 267. 
Doon de Mayence, 168. 
Drama (Charakter desselben), 402. 
Dramatische Poesie, 301. 
Dritter Stand, 205. 

E. 

Eduard (Van den derden), 258. 
Eerste bliscap van Maria, 315. 
Einrichtung der Rederijkerkam- 

mem, 346. 
Einrichtung der Bühne, 304, 399. 
Einfluss der Gesellschaft auf die 

Literatur, 338. 
Einfluss der französischen Literatur 

in Deutschland seit 1147, 85. 
Emancipation der Leibeignen, 205. 
Enfances Guillaume, 115. 
Entreyen, 356. 

Entwickelung der Ritterpoesie, 162. 
Epische Poesie (Charakter), 296. 
I^os entsteht aus Volkssage, 17. 
Erhabene, Das, 183. 
Erasmus, 335. 
Erbauungspoesie der Rederijker, 

387. 
Esbattementen, 397. 
Esmoreit, 306. 
Esopet, 205. 
Everaert, Kornelis, 397. 
Eyck (Jan und Hubert van), 332. 
Eyck (Schüler der Gebrüder van), 

333. 

F. 

Fahrende Ritter, 79. 

Fallet, Gedeon, 525. 

Ferguut, 151. 

Festlicher Einzug Philipp's des 

. Guten in Gent, 354. 



Inhaltsverzeichniss. 



463 



Fiedler, 275. 

Floovant, 168. 

Floris und Blancefloer, 98, 160. 

Fonn der mnl. Gedichte, 103. 

St. Franciscus Leben van Maer- 
lant, 229. 

Fränkisch durch Romanisch ver- 
drängt, 48. 

Französische Literatur, ihr Ein- 
fluss, 85, 100. 

Frauenrollen, 401. 

G. 

öauthier de Chätillon, 235. 
• Oeistlichkeit und die Volkspoesie, 
41—47. 

Geistliche in den Sproken, 274. 

Geistliche Lieder, 300. 

Geistliche Poesie, 179. 

Genealogie der nl. Sprache,. 7. 

Geraert (Bruder), 195. 

Geschichte der Literatur, 1. 

GeseUschaftlicher Zustand Euro- 
pas nach dem ersten Kreuz- 
zuge, 69. 

Gesellschaftliche Fragen der btlr- 
gerlichen Didaktik, 211. 

GheseDen van den Speie, 304. 

Geusen -Liedtboek, 429. 

Gilden, 339. 

Giles de Korbeil, 234. 

Gloriant, 308. 

Gothische Volkssagen, 16. 

Gottfried von Strassburg, 87. 

Graalroman, 121. 

Grimbergscher Krieg, 254. 

Groote (Geert), 334. 

Gudrun, 32. 

Guillaume au cort nez, 119. 

H. 

Haagspiel, 360. 
Haarlem (Klaas van), 117. 
Haecht (Wilhelm van), 430. 
Haimonskinder, 171. 
Handschriften, 333. 
Hartmann von Aue, 87. 
Hauptkammern in Belgien, 349. 



Heelu (Jan van), 253. 

Heere (Lucas de), 430. 

Hegius, 334. 

Heiligenlegenden in Prosa, 325. 

Heimlichkeit der Heimlichkeiten, 

228, 239. 
Hein van Aken, 277. 
Heinrich III. von Brabant. 297. 
Heljand, 39. 
Heroische Stücke der Rederijker, 

394. 

Hertspieghel, 451. 

Hese (Johannes de), 327. 

Hildebrandslied, 20. 

Historia Scholastica, 241. 

Historische Richtung der bürger- 

Hchen Didaktik, 208. 
Holland steht in d. Entwickelung 

Flandern nach, 255. 
Hommagium und mundium, 78. 
Hoch- und Niederdeutsch, 11. 
Houte (Vanden), 180. 
Houwaert, 433. 
Hugo von Bordeaux, 167. 
Hugo von Tabarie, 277. 
Humanisten, 334. 

I. 

Immunität, 77. 

Indo- germanische Sprachfamilien, 

17. 
Inhalt eines Sinnspiels, 377. 
Isengrimus, 134. 
Isolirung des Individuums und der 

Staaten, durch die Kreuzzüge 

aufgehoben, 69. 

J. 

Jan I. (Johann) von Brabant, 147. 
Jongleurs, 58, 274. 

K. 

Kammern von Rethorica, 340. 

Kampf zwischen adligem und bür- 
gerlichem Elemente, 163. 

Karl der Grosse, sein Einfluss auf 
seine Zeit, 37. 



464 



InhaltsverzeichniBB. 



Karl der Grosse in der Sage, 57. 
Karl und Elegast, 113. 
Karlgedichte aus der Zeit ihres 

Verfalles, 168. 
Karl Meinet, 204. 
Karoleis, 235. 
Kilian, 453. 

Kirche, ihr Einiluss auf das Rit- 
terwesen, 7S. 
Klaas, Frau Brechtsz. von Haar- 

lem, 114. 
Klassische Literatur im zehnten 

Jahrhundert^ 44. 
Klassische Färbung der Sinnspiele, 

380. 
Kleine Gedichte Maerlant's , 249. 
Klucht iPossej, 310. 
Kniegedichte, 408. 
Koornhert, 441. 
Königin Sibille, 166. 
Kort begrip etc., veröffentlicht durch 

die Kammer In Liebe blühend, 

455. 
Kosten der Landjuweelen, 368. 
Kreuzztige, ihr Einfluss, 65. 
Kritik der Didaktiker, 214. 
Kritik der Rederijker, 385. 

l: 

Laidoen, 168. 

Leekenspiegel, 261. 

Lambrecht (Joos\ 453. 

Lancelot du lac, 125. 

Lancelot, mnl. Uebersetzung, 127. 

Lancelot lAbel spei van), 308. 

Lande van Overzee (Van den), 23 1. 

Landjttwcel v. 1561 zu Antwerpen, 
363. 

Landjuweelen, 358. 

Lateinische Gedichte über die 
Thiersage, 46. 

Lateinische Sprache bei den Fran- 
ken, 48. 

Lautverschiebung, 9. 

Legende, 105. 

Lehnswesen, 77. 

Leven ons Heren, 181. 



Leben Jesu (in Prosa) 323. 
Lied der Lothringer, 56. 
Lieder bei den Germanen, 15. 
Limborch (Roman von), 280. 
Literarische Verbindung mit 

Deutschland hört bald auf, 48. 
Lob der Thorheit, 336. 
Longobardische Gesänge, 16. 
Lotharinger (Roman der) 128. 
Lorris (Guillaume de), 278. 
Loy Latewaert, 282. 
Ludwigslied, 42. 
Lutgardis (St), 194. 
Lyrische Poesie, 295. 

M. 

Maerlanfs Lebensumstände, 215 
u. a. 0. 

— Gedicht von Troja, 215. 

— Alexander, Alter desselben, 217. 

— Inhalt und Kritik, 234. 

— Wapene Marti jn und Fort- 
setzungen, 224. 

r- Naturen Bloeme, 227. 

— Heimlichkeit der Heimlichkei- 
ten, 228 

— Reimbibel, 228. 

— Wrake van Jerusalem, 241. 

— St. Franciscus Leben, 229. 

— Marienwunder, 229. 

— St. Clara, 229. 

— Spiegel Historiaal, 229. 

— vanden Lande van Overzee, 231. 

— Disputacie van Onzer Vrouwen, 
250. 

— Clausulen van der Biblen, 250. 

— der Kerken Claghe, 250. 

— Kritik, 251. 

— Verdienste, 252. 
Malagis, 172. 
Malerkunst, 332. 
Mandeviles Reise, 326. 
Map (Walter), 124. 
Mariendienst, 184. 

Mamix von St. Aldegonde, 430. 
Mauren, Einfluss ihrer Einfälle 
auf die Volksüberlieferung, 50. 



Inhaltsverzeichniss. 



465 



Melübeus, 266. 

Merlin, 122. ^ 

Meung (Jean de), 278. 

Minnenloop (Der), 293. 

Minnesänger, 297. 

Mirakel, ihr ästhetischerWerth,! 83. 

Miserere du Reclus de Moliens, 199. 

Mittelalter, 13—329. 

Molhem (Gielis van), 200. 

Moralisirende Sproken, 270. 

Morian, 152. 

Mandium und hommagium, 78. 

Mussem (Jan van), 453. • 

Musik, 333. 

N. 

Namen von Sprechern, 276. 

Naturen Bloeme, 227. 

Nieuwe Doctrinaal, 266. 

Nibelungenlied, mnlUebersetz., 1 09. 

Nibelungenlied, Inhalt, 105. 

— Analyse, 107. 

Niederl. Literatur und Sprache, 
in drei Perioden eingetheilt, 3. 

Niederländische Sprache, Zeit ihrer 
Bildung, 5 — 7. 

.Niederländische Sprache, ihre Aus- 
artung, 294. 

Niederländischer Charakter, 273. 

Noidekeyn, 20 4. 

Nordniederlands Armuth an Volks- 
sagen, 27. 

0. 

Ogier von Ardennen, 99, 168. 
Otfried, 38—40. 
Ot tonen, 44. 

Parcival, 150. 

Parthenopeus und Melior, 154. 

Passionael, Sommer- und Winter- 
stück, 325. 

Patricius, Fegefeuer, 198, 324. 

Pegasides-Pleyn, 434. 

Petrus Comestor, 240. 

Philipp Utenbroke, 247. 

Philosophische Richtung der bür- 
gerlichen Didaktik, 209. 



Pierre de St. Cloud, U.o, 234. 

Piramus (Denys), 155. 

Plaid, le, v. Pierre de St. Cloud, 

135. 
Plackate gegen dieRederijker, 351. 
Plantin's Druckerei, 337. 

— Thesaurus, 453. 
Plastischer Sinn der Bürgerschaft, 

302. 
Poetenschulen, 334. 
Poetische Rückwirkung, 269 u. flg. 
Poesie und Prosa, 103. 
Politische Richtung der Rederijker, 

394. 
Pontus de Heuiter, 453. 
Potter (Dirk), 292. 
Pracht der Rederijkerfeste, 361. 
Predigtsammlungen, 324. 
Prieel van Troyen, 233. 
Prise d'Orange, 1 1 5. 
Prosa, 321. 

R. 

Raoul de Cambrai, 55. 
Raoul de Houdanc, 119. 
Realistische Natur unseres Volks- 
charakters, 102. 
Rederijker, 338 u. flgde. 
Rederijkerfest, Verlauf, 371. 
Refrainfeste, 407. 
Reformation tmd Rederijker, 387, 

394. 
Reimbibel, 22S, 241. 
Reimübersetzung der Psalmen, 430. 
Reimkunst der Rederijker, 410. 
Reimkünsteleien, 405. 
I Reinardus , Vulpes, 134. 
Reinaert, Alter, 89, 98. 

— Inhalt, 135—138. 

— Kritik, 142. 

Reinaert (Umarbeitung des) , 286. 
Reinaertsage, Alter, 133. 
Reinout van Mantalbaan, 169. 
Reisebeschreibungen, 326. 
Religiöser Sinn im zehnten Jahr- 
hundert, 68. 
Renaissance, 335. 



Jonckbloet'8 Geschichte der Niederländischen Literatur. Band I. 



30 



466 



lahattflyerzeichiiifis. 



Rhythmische Form der Sage, 16. 
Ritter mit dem Aermel, 164. 
Ritterliche Grundsätze, 77. 
Ritterpoesie, 105. 
Ritterpoesie gewinnt hier zu Lande 

kein Feld, 102. 
Ritterpoesie in Deutschland seit 

1170, 88. 
Ritterwesen, Ursprung, 77. 
Rolandslied, 98, 114. 
Rose (Die), 277. 
Roulans (Jan), Liedekens - Boeck, 

299. 
Rovere (Anthonis de), 415. 
Rubben, 310. 
Rückwirkung auf die didaktische 

Richtung, 269. 
Rudolf (Graf), mhd. Gedicht, 86. 
Ruodlieb, 46. 
Ruolands-Liet, 87. 
Ruysbroek (Jan van), 323. 



S. 



Sachsenkrieg) 
Sage, Begriff der, !7. 
Sage, Bildung der, 17, 18. 
Sagen aus altgermanischer Zeit, 
16. 

Sangari, 274. 

Sasbout (Matthias), 453. 

Satyre der Redefijker gegen die 

Kirche, 390. 
Satyrein der Thiersage, 142. 
Schachspiel, 326. 
Schueren (Gerard van der), 453. 
Schützenfeste, 357. 
Schwanenritter, 24 — 26. 
Scriverius (Petrus), 
Scuof, scöp, 274. 
Segelin von Jerusalem, 282. 
Seger Dieregodgaf, 233. 
St Servatiuslegende, 89 u. flg. 

Inhalt, 191. 

SiegMed-Kama, 17. 

Siele ende vanden Lichame (Van- 

der), 199. 



Sinnspiele, 377. - 

Sotternie, 310. 

Souveräne Kammer, 350. 

Speculum Majus: Speculum na- 
turale, historiale, ^42. 

Spei van den Winter en den Somer, 
309. 

Spßlen van Zinne, 377. 

Spiegel der Sünden, 266. 

Spiegel Historiaal van Maerlant, 
229 u. flgd. 

Spieghel, 450. 

Spur«n altgermanischer Poesie in 
den Niederlanden, 23. 

Sprache, 7. 

Sprachreinigung, 455. 

Sprecher, 275. 

Sprecher im Dienste besonderer 
Herren, 276. 

Sproken, dramatisch vorgetragen, 
302. 

Sprüche der Rederijker, 348. 

Spruchsprecher, 275. 

Stabreim, 21. 

Stoke (Melis), 256. 

Stout ende Onbescaemt, 397. 

Stumme Darstellungen, 352. 

Studium der Muttersprache in 
Deutschland seit Karl dem Gros- 
sen, 37. 



T. 



Tacitus über Germ. Gesänge, 15. 
Tafelrunde, 121. 
Teestye, 260. 
Tesselschade, 447. 
Theophüus, 191. 
Thierfabel und Epos, 131. 
Thomas van Gantimpr6, 227. 
Tirade monbrime, 60. 
Tondalus, 197, 324. 
Torec, 164. 

Tristan von Eilhart von Oberg, 87. 
Trobador, troverre, 274. 
Troje (Van), Gedicht von Maer- 
lant, 217, 232. 



Inhaltsverzeichniss. 



467 



Trouveres und JoDgleurs, 58, 62. 
Tsestich (Anton), 453. 

U. 

Uebertreibung in den Legenden, 
187. 

Uebersetzte Literatur, 100. 

Universität zu Löwen, 333. 

Unpoetischer Inhalt der didakti- 
schen Poesie, 214. 

Unsicherheit über das Alter der 
ältesten mnl. Gedichte, 88. 

Urkunden (älteste niederländische), 
321. 

Ursprung der weltlichen Dramen, 
302. 

Ursachen von Hollands Entwicke- 
lung, 439. 

ütenhove (Wilhelm), 238. 

Uutenhoven CJan)i 430. 

V. 

Vaderboeck, 325. 

Veldeke's Enei'de- (Heinrich von), 

87. 
Velthem (Ludwig von), 247. 
Verfall der ritterlichen Kunst, 164. 
Verunreinigung der Sprache, 247. 
Vier Heeren Wenschen, 109. 
Vierte Martin, 259. 
Vilt (Jakob), 415. 
Vincent von Beauvais, 242, 249. 
Visio Philiberti, 199. 
Visscher (Roemer), 447. 
Vlämisch, Dietsch, Niederländisch 

12. 
Völkerwanderung, 19. 
Volksbücher, 328. 
Volkselement in der Sproke, 272. 
Volksepos, Zeit seiner Entstehung, 

in Deutschland und Frankreich, 

19, 20, 67. 
Volksgesang unter dem Einfluss 

der Geistlichkeit, 64. 



Volkslied, 298. 
Volksüberlieferung, 19. 
Volkssage bei den Franken, 49. 

W. 

Walewein, 97, 144. 

Waltharius, 45. 

Wapene Martijn mit den Fort- 
setzungen, 224. 

Weert (Jan de), 266. 

Wellevenskunste, 444. 

Weltliches Schauspiel, 302. 

Weltliche Volkslieder des fünfzehn- 
ten und sechzehnten Jahrhun- 
derts, 297. 

Werve (Jan van de), 453. 

Wigalois von Wimt von Grafen- 
berg, 87. 

Wilhelmus, 429 

Wilhelm von Hillegaarsberg, 283. 

Wilhelm von Oranien, 99, 114. 

Wiselauw, HO. 

Wissenschaft in der Landessprache 
zu pflegen, 455. 

Wissenschaftlicher Sinn der bür 
gerlichen Schriftsteller, 211. 

Woeronc (Schlacht bei), 254. 

Wolfram von Eschenbach, 87. 

Wörterbücher, 453. 

Wraak over Ragisel, 163. 

Wrake van Jerusalem, 241. 

Wunder, ihr ästhetischer Werth, 
181. 



Z. 



Zeitumstände, Einfluss auf Sage, 

165. 
Zinnekens, 317. 
Zinnepoppen von Roemer Visscher, 

449. 
Zinnespei, 377. 
Zuylen van Nyevelt (Wilhelm von), 

430. 



Beriehtigung, 

Einige Errata imd HoUandismen, die dem lange in Holland leben- 
den Deutsehen auch bei der Korrektur entgangen sind, möge der gütige 
Leser entschuldigen; z B. Anleitung statt Anlass (nach dem nieder- 
ländischen Worte aanleiding), es spricht von selbst, statt: es ver- 
steht sich von selbst u. A. 
S. 116, Anm. *) 1. welsche st. fränk'sche. 
S. 125, Z. 20 V. o. 1. Welschen st. Gallischen. 



^* 



Druck der Hoibuohdruckerei (H. A. Pierer) in Altenbnrg. 



•Vn 



Verlag Ton F. C. W. VOGEL in LEIPZIG. 




Bartseh, Dr. Karl. Ckrestomathle de rat^elen franfais (YIII— XY. JlBiedes). 
Accompagn^e d*une Grammaire et d'un Glossaire. 4. 18G6. ^ 3'ThIn 

- — AhfranitoUche Romanien und PastourelleB. gr. 8. 1870. 

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th oldy. 2 Bände u. Reg. gr. 8. 1868. 5 Thh-. 

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des Mittelalters und ihre antiken Quellen, gr. 8. 1869. 16 'Ngr. 

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gr. 8. 1864. - * 1 .Thk. 10 Ngr. 

C^roeber, Dr. Gnstav. Die HandschrinilcheB fiestallangen der (JhaiiseB de Heste 
„Flerabras" und ihre Vorstufen, gr. 8. 1869. 24 Ngr. 

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Hügel, Dr. RIcbard. lieber Olfrld's Tersbetonung. gr. 8. 1869. 10 Ngr. 

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KSIiler, Dr. Reinbold. Herder's Cid und seine französische Qttelie. gr. 8. 
1867. 12 Ngr 

Körting, Dr. Quslav. L'art d^aiiiors und li remedes d'amors. Zwei altfranz. 
Lehrgedichte von Jaqucs d*Amiens. Nach der Dresdener Handschrift zum 
ersten Male vollständig herausg. gr. 8. 1S68. 28 Ngr. 

Lelirs, K. ^. Horallus Flaccus. Mit vorzugsweiser Rücksic)it auf, die unechten 
Stellen und Gedichte herausgeg. gr. 8. 1869. 2 Thlr. 26 Ngr. 

Fasse w, Frani. Handwörterbuch der firlecbischen Sprache. 2 Bände. Fünfte 
Auf 1 age. ; 4. 6 Thlr. 20 Ngr. 

Schmidt, Dr. f, U. Heinr. Leitfaden In der Rhythmik und Üfetrik der elassischen 
Sprachen für Schulen. Nebst einem Anhange, enthaltend die Ijr* Partien 
im Ajax und in der Antigene des Sophokles mit rhythmischen Schemen 
und Commentar. gr. 8. 1869. l Thh:. 

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WestphaPschen Annahmen. Text ,und Schemata sämmtlicher Chorika des 
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